Von Sonnen und Sonnenstäubchen : Kosmische Wanderungen

By Wilhelm Bölsche

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Title: Von Sonnen und Sonnenstäubchen
        Kosmische Wanderungen

Author: Wilhelm Bölsche

Release date: September 15, 2025 [eBook #76878]

Language: German

Original publication: Berlin: Georg Bondi, 1906

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VON SONNEN UND SONNENSTÄUBCHEN ***


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                     Anmerkungen zur Transkription

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                     Von Sonnen und Sonnenstäubchen




                     Von Sonnen und Sonnenstäubchen

                         Kosmische Wanderungen

                                  von

                            Wilhelm Bölsche

                  Vierzehntes bis zwanzigstes Tausend

                              Volksausgabe

                             [Illustration]

                                 Berlin

                              Georg Bondi
                                  1906




Inhaltsverzeichnis


  =Die Rätsel in der Milchstrasse.= Aus dem Tagebuche einer
  Gebirgswanderung                                                     1

  =Die Entstehung der deutschen Landschaft.= Träumereien auf einer
  Eisenbahnfahrt                                                      47

  =Der Kampf um die Haut des Riesenfaultiers.= Ein Kapitel aus
  Wahrheit und Dichtung                                               93

  =Der erste Vogel=                                                  126

  =Die Weltgeschichte des Nilpferdes=                                169

  =Die Wunderwelt der Radiolarien.= Ein Blick in die Tiefsee         201

  =Warum die urweltlichen Tiere ausgestorben sind?=                  244

  =Vom Leben im Weltraum=                                            260

  =Die Küche der Urzeit=                                             275

  =Das Ende der Tierwelt=                                            282

  =Die Anfänge der Kultur bei den Tieren=                            300

  =Die Affensprache=                                                 311

  =Das Schnabeltier.= Vom Säugetier, das Eier legt                   320

  =Das Tierleben der Grossstadt=                                     347

  =Kepler’s Traum vom Mond=                                          356

  =Vom Krebs, der vom Himmel fällt=                                  381

  =Osterglaube=                                                      416




Vorwort.


„Von Sonnen und Sonnenstäubchen“ nenne ich dieses Buch. Ein
Sonnenstäubchen nur ist diese ganze lustige alte Erde. Ein Stäubchen
dieses Sonnenstäubchens ist der Mensch.

Aber Sonnenstäubchen sind wir Menschen auch im Sinne, daß wir selbst
Kinder sind der großen Sonne, geboren und genährt von ihr. Sonnenblut
rinnt durch unsere Adern, Sonnenträume rauschen durch unser Gehirn.

Wie ein Sonnenstrahl durch ein dunkles Gemach fällt und die grauen
Staubteilchen schimmern plötzlich selber in ihm wie kleine Sonnen
auf -- so tanzt unser Leben in dem Ausschnitte, den Sonnenlicht und
Sonnenwärme durch den kalten Raum ziehen. Und doch sind wir alle auch
wieder, jeder für sich, ganze strahlenwerfende Sonnen. Da schleudern
unsere Gedanken ungeheure Strahlenbänder in die geheimnisvolle Nacht,
und in diesen Lichtschweifen des Denkens tauchen alle die Zauberdinge
erst auf, die wir leben. Da tanzen ganze Weltsysteme, Milchstraßen aus
Millionen Sonnen als Sonnenstäubchen dieses unseres Gedankens. Sie
tanzen und verwehen. Unendliche Jahrmillionen spinnen sich durch das
Sonnenstäubchen Zeit unseres Lebensaugenblicks, -- Urwelten, in denen
Nebelflecke zu Fixsternen zerfallen und Sonnen zu Planeten und ein
Planet zu Menschen, die das Brot brechen und sprechen: „Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst✹...“

Einen unermeßlichen Wust Staub hat die Naturforschung unserer Tage
aufgewühlt. Manchem ist zu Mute, er solle darin ersticken mit Leib
und Seele. Mir scheint es eine ernste Aufgabe, kleine Lichtkegel
gelegentlich hindurchzuwerfen, damit dieser graue Natur-Staub
wenigstens auf Momente zu dem auferstehe, was er doch in seiner
Verkleidung tatsächlich ist und bleibt: Sonnenstaub. Was für Stäubchen
gerade vorüber flirren, darauf kommt es mir weniger an. Es mögen
Lebenskeime dabei sein und auch Mumienstaub. Wenn der Lichtkegel sie
nur faßt und vergoldet. Er ist die Einheit dieses Buches -- nicht die
Staubteilchen selbst.

Meine siebzehn Kapitel sind in ziemlich kurzer Frist hintereinander
niedergeschrieben, alle aus der gleichen Laune und Weltanschauung
heraus. Sie wurden niedergeschrieben mit der festen Absicht, daß ein
Buch daraus werde, -- nicht aber ist dieses Buch erst entstanden durch
nachträgliches loses Aneinanderreihen unzusammenhängender Feuilletons.
Wenn die Stücke zunächst da und dort in Zeitschriften einzeln
erschienen sind, so war es das zerstückelte Buch, das so erschien,
nicht erst das planlose Baumaterial. Einzelne Tatsachen-Wiederholungen
sind dabei mit Absicht in den Text gebracht, ich halte es für
aussichtsvoller, eine Sache kurz noch einmal zu sagen, wenn sie noch
einmal als Beweisstück nötig wird, als den Leser zum Zurückblättern
aufzumuntern.

                                                +Wilhelm Bölsche.+




Die Rätsel in der Milchstraße.

Aus dem Tagebuche einer Gebirgswanderung.


Ein Oktoberabend versank in schweren grauen Nebeln.

Ich war im Laufe des Tages durch den schwarzen Fichtenwald von
Schreiberhau her auf den Kamm des Riesengebirges geklettert.

Unser höchstes, wildestes, schroffstes Grenzgebirge hinter der
norddeutschen Ebene, ist das Riesengebirge doch heute fast unser
bequemstes für den Wanderer. Der Fußweg auf dem Kamm läuft eben und
glatt dahin wie ein Parkpfad. Ohne jede Gefahr kann man ihn selbst
bei Nacht wandeln, obwohl man oft wie auf einer Mauer über Abgründen
schwebt.

Ich hatte mir mit etwas Touristentrotz eine ziemlich entfernte Baude
zum Nachtquartier angesetzt und scheute eine Stunde Dunkelheit nicht,
-- trotz Rübezahl.

Wer nicht zum „Erraffen und Jagen“ das Gebirge kreuzt, sondern in
Gedanken still für sich bei Botanik und Geologie ist, dem tun die
Naturgeister nichts.

Gespenstisch genug trat ja in diesem letzten Zwielicht das Ruinenhafte
der obersten Felsöde hervor. Wie alle unsere Hochgebirge, ist auch
dieses nur noch ein morscher Rest, zernagt von Luft und Wasser und
Wintereis wie ein hohler Zahn. Der Naturforscher nennt das Wirkung
der Erosion. Dem Abergläubischen ragen überall groteske Fratzen aus
dem Nebel: Nasen und Ohren Rübezahls. Ein solches Granitprofil schien
mir ganz und gar der alte Goethe mit dem Geheimrats-Unterkinn. Andere
glichen jenen wohl ewig unerklärten steinernen Gigantenköpfen, die als
Denkmal einer uralt verschollenen Kultur auf der einsamen Osterinsel
in der Südsee von hohem Plateau aufs blaue Korallenmeer starren -- kein
Mensch weiß, wie lange schon.

Es ist charakteristisch für diesen Riesengebirgskamm, daß man sich auch
selber wie zu Rübezahl-Größe darauf ins Riesige gestreckt vorkommt.
Stundenlang ist man unter turmhohen Fichten gewandert. Da war man
selber ein Zwerg, ein Pilz nur. Plötzlich rührt man an den Kamm und der
Forst sinkt zum winzigen, flach gebreiteten Krummholz herab. Die Stämme
scheinen verschluckt vom Stein, nur noch die Aeste kriechen wirr über
die Fläche. Und man ragt darüber, sieht darauf herab wie auf Gebüsch,
-- ein Riese.

Dann erloschen alle Formen, der Nebel spann sich einförmig darum.

Nur ein dumpfes Gefühl der nahen Abgrundtiefe blieb, die man doch nicht
sah. Weiche Luft atmete aus den schlafenden Waldhängen. Ich dachte an
die silbernen Murmelbäche, die darin abwärts stiegen, an die hohen
Stauden blauen Enzians, die darin wuchsen.

Und meine Gedanken wanderten weiter. In die Vergangenheit. Ich gedachte
der Eiszeit. Der fünf Grad Durchschnittskälte mehr, deren es nach
Rechnung der Kundigen bloß bedürfte, um hier wieder Gletscher zu Tal
sinken zu lassen, die das eiszersprengte Gestein Stück um Stück in
die Ebene tragen würden, alle diese Nasen, Götzen, Goetheprofile als
erratische Blöcke tief, tief da unten, wo die Quellen schon Flüsse
sind, absetzen würden, daß der Volksmund nachher fabelte, der Teufel
habe sie herabgekegelt✹....

Wie lange würde aber auch ohne Gletscher-Rutschbahnen die einfache
Erosion brauchen, den hohlen Zahn des Gebirges an seiner zerfressensten
Stelle, zwischen Schneegruben und Elbgrund, ganz einzuschlagen? Dann
würde hier, wo jetzt der Gebirgspfad schwindelnd über den Grat kriecht,
ein offener Paß, eine Fahrstraße nach Böhmen zu leiten. Vielleicht
würde die Eisenbahn, die eben an anderer Stelle über das Gebirge
geführt wird, dieses neue, bequemere Tor benutzen. Aber werden die
Menschen dann noch auf Eisenbahnen fahren?

Der Weg dehnte sich.

Im unsichtbaren Gelände röhrte dumpf ein Hirsch. Jetzt blinkte fern ein
Licht. Ob es die Baude war?

Es schwebte nah und doch so hoch. Ein zweites kam daneben. Also
wirklich wohl erleuchtete Fenster. Aber noch eins, schief darüber.
Und plötzlich wußte ich, daß es Sterne waren. Der Nachtwind, leise
fächelnd, daß man ihn kaum spürte, hatte doch einen Riß in den Nebel
gefegt. Er rollte das weiße Tuch von oben her auf, in achtlosen Fetzen.
Und wo das Zelt klaffte, blitzten Sterne vor, immer mehr, zuletzt ganze
Sternbilder, bloß noch durch schmale weiße Bänder voneinander getrennt.

Gebirgssterne haben ein anderes Feuer als die der Ebene, es ist wie
Brillanten zu Simili. Einen Augenblick meinte ich, am Rande eines
Nebelschweifs explodiere eine Leuchtkugel, rote, blaue, gelbe Strahlen
streuten sich umher; aber dann kam das weiße Licht einheitlich vor und
es war bloß die altvertraute Capella im Sternbild des Fuhrmanns, -- der
Fixstern, der von allen vielleicht unserer Sonne am ähnlichsten ist; er
warf hier oben wirklich Flammen wie eine kleine Sonne.

Als mein Auge von ihm weiter ging, war schon der ganze Zenith frei,
eine Kuppel von unvergleichlicher Schönheit.

Die Milchstraße floß in ganzer Pracht hindurch, mit ihrer Silberwelle
aus Myriaden von Welten. Wie Meerleuchten im Kielwasser eines Schiffes
erschien sie mir. Welches ungeheure Weltenschiff ließ diese schimmernde
Bahn hinter sich? Und wohin steuerte es? Wer war der Steuermann?
Auch die Milchstraße war hier oben ein ganz verändertes, wildes,
phantastisches Gebilde. Nicht Milch, sondern Glut. Wie ein brennendes
Auge stieg sie aus den Granitzacken neben mir herauf, das unheimliche
Auge einer fernen Feuersbrunst, das die Nacht stört und die Menschen
weckt.

Sie brannte ja wirklich, brannte von Sonnen.

Ich dachte an die alten Träume, die Märchen aus der Gemüts-Astronomie
kindlicher Völker. Here’s Milch war hier verschüttet, -- daher das Wort
„Milchstraße“.

Es liegt schon eine Welt des Gedankens zwischen diesem naiven Bildchen
und dem tiefsinnigen Pythagoräer-Mythus: es habe die Sonne einst
eine andere Bahn am Himmelsgewölbe gehabt und dieses helle Band sei
gleichsam noch das ausgefahrene Geleise, das alte Strombett des
rollenden Weltenlichts. Die Gestirne liefen auf krystallenen Schalen
um die ruhende Erde, -- warum sollte die Spur sich nicht einprägen?
Erst hinter der letzten Sphäre öffnete sich die offene Ueberwelt, sie,
die keine Sonne mehr brauchte, da das große Gotteslicht, das „Licht an
sich“, sie seit Ewigkeit durchflutete.

Einem Gedankengange, der in den Fixsternen Löcher der äußersten
Kugelschale sah, Fenster jenes Ueberhimmels, durch die ein paar
verlorene Funken jenes Gottesäthers auch in unsere kleine Heimat unter
den acht Käseglocken der Kristallsphären glimmten, konnte es aber
auch wenig Not machen, den Milchstraßenring unmittelbar mit jener
Ueberwelt zu verknüpfen. Der weise Theophrast findet als höchsten Sinn
seines Grübelns, daß dort die Nietstelle, die schwach verkittete Fuge
durchschimmere, bei der die beiden Hälften der obersten Himmelsglocke
aufeinandergepaßt wären.

Wohl erhebt sich vereinzelt die Stimme eines echten Naturdenkers
aus dem Griechentum, des Demokrit: es sei die Milchstraße nichts
anderes als ein Gewimmel von Sternen, ein Bereich des Himmels, da
die Sternlein sich so dicht drängten, daß sie als einheitliches
Licht zusammenschmölzen, wie die Sandkörner eines fernen Ufersaums
dem Seefahrer sich vereinheitlichen zu einer gelben Düne über dem
blauen Meer. Doch diese Stimme verhallte. Ahnend hatten diese viel
verschrieenen Materialisten des Altertums schon einen Blick getan
in eine Welt, die kein Oben und Unten, keinen Unter- und keinen
Ueberhimmel kannte, sondern deren Raum offen in die Ewigkeit reichte,
durchschwirrt von freischwebenden Gestirnen wie von kugelförmigen
Riesen-Atomen, durchschwirrt auch von der Erde als einem solchen
Staubkörnlein nur des Alls. Aber es war, als sei die Menschheit im
Herzen ihrer Kultur noch nicht reif für dieses schwindelnde Bild.

Als weit über ein Jahrtausend später Dante mit der Kraft des Dichters,
der Himmel und Erde beschwört mit seinem Runenstabe, die Welt malt als
Scene seiner „göttlichen Komödie“, da ragen immer noch jene Sphären.

Im Zentrum der Weltenschwere ruht immer noch die Erde, aber Satanas
ruht jetzt in ihrem Mittelpunkt. Eine Stufenleiter recht eigentlich der
moralischen Welt ist diese ganze verzwickte Himmelszwiebel mit ihren
vielen umeinandergeschachtelten Häuten geworden. Und ganz im alten
Sinne schlägt erst die letzte oben Bresche in das wahre Weltenlicht,
die Insel der Seligen, wo die „Komödie“ endlich ihre harmonische Lösung
erlebt.

Es ist ein magisches Bild, heute noch von berückender Pracht, diese
Welt des Dante, deren ganze Astronomie und Physik aufgelöst ist in
moralische Werte, die durch Sonne und Planeten und Fixsterne in
Wahrheit nur vom Bösen zum Guten, vom Teufel zu Gott führt. Was wir
heute in der Physik Schwere, Gravitation nennen, das ist bei Dante
der Weg zur Hölle. Wo wir die Eisfelder des Südpols kennen, da öffnet
sich der grause Schlund zum Fegefeuer. Wo unsere Geologie von einem
Zentralfeuer des Erdinnern träumt, da brennen die Verdammten im
Schwefelbad. Die Schwungkraft aber, die nach Newtons Formel heute uns
die Planeten und Monde in ihrer Bahn erhält, ist die ewige Liebe, --
die brennende Liebessehnsucht, die nicht in den Schlund der Hölle
hinab, sondern aufwärts will, -- jede Planetenbahn ist eine Stufe
höher empor, eine Station dieser inbrünstig ringenden Weltenliebe,
die pyramidisch das Geschaffene zu Gott heraufgipfelt durch alle
Geschehnisse, Kräfte und Körper auch der physikalischen und der
astronomischen Welt.

Weit entfernt sind wir heute von der wunderbaren Einheitlichkeit dieser
Welt, dieser Einheit von Natur und Moral. Und doch mußte sie fallen,
weil ihre Einheitsklammer eines Tages sich als zu eng erwies auch nur
für die bescheidensten Maßstäbe der wirklichen Natur.

Mein Geist folgte, während die Milchstraße immer dämonischer über
das Gebirge flammte, dem großen Schauspiel des geschichtlichen
Zusammenbruchs jener Dante’schen Welt.

Wie vorhin der erste Stern mir rötlich durch den sich lösenden Nebel
brach, so schimmert der Menschheit ein erstes Lichtlein. Es ist Nacht,
das Schiff des Kolumbus liegt vor Guanahani, noch ist das neue Land
nicht entdeckt. Aber am verschleierten Ufer hat ein Wilder eine Fackel
entzündet, wie ein Stern glüht sie, bewegt sich, -- Kolumbus fühlt die
Gewißheit, daß er dicht vor einem Lande sei. Als die Sonne steigt,
liegt es in seiner Tropenpracht vor seinem Blick. Und es ist mehr, als
bloß ein Land.

Es ist eine neue Erde für den Menschengeist. Die Rückseite der
Erde. Wenig später: und Magalhaes umsegelt die ganze Kugel. Es ist
die Rundfahrt zugleich durch eine neue Weltanschauung. An diesem
Riesenerdteil Amerika lernt die Kulturmenschheit das Größte, was sie
als Morgengabe einer jungen Zeit empfangen kann: sie lernt, wie wenig
sie bisher weiß. Von allen Geheimnissen des Himmels und der Erden und
der Menschenbrust hatte sie den Schleier schon fortgezogen geglaubt --
und sie hatte noch nicht einmal Amerika gekannt. In jener Nacht vor
Guanahani ist die innere starre Kristallsphäre des Menschengeistes von
Jahrtausenden tatsächlich zersprungen.

Der Blick, der den Kolumbus und Magalhaes um die neue Seite des
Erdglobus herum folgte, ist fast augenblicklich wie von einer alten
Verzauberung erlöst.

Warum soll diese Erdkugel, die ohne stützende Hand frei im Weltenraume
schwebt, sich nicht auch bewegen können? Was in den Tropenhainen
von Guanahani gesät worden, das zieht Kopernikus an einem grauen
ostdeutschen Nebeltag still ans Licht: zu der neuen Erde fügt er den
neuen Himmel. Im Gedanken zunächst, -- auch er ein Dichter in seiner
Weise wie Dante, aber ein Dichter, der das Geheimnis der Dinge in
vereinfachter Linie zu denken sucht. Die Erde kreist, ist ein Planet
unter anderen, sie macht durch eigene Drehung Tag und Nacht. Wie die
Moral sich mit diesen Dingen abfinden soll, muß sich eben zeigen,
zunächst geht die Astronomie jetzt weiter.

Und wieder ist es Nacht -- und ein Stern glimmt, diesmal ein echter
Himmelsstern: der Jupiter. Auf seiner Sternwarte steht Galilei und
beobachtet ihn mit dem neuerfundenen Werkzeug-Auge, das das alte
Organ-Auge ins Niegeahnte überbietet, mit dem Fernrohr. Er sieht
die Monde, die den großen Planeten umwandeln, ein Abbild unseres
Sonnensystems im Engeren. Diesmal kommt der neue Himmel greifbar nahe,
greifbar mit einem menschlich vervollkommneten Sinnesorgan, nicht bloß
mit dem logischen Gedanken.

Und nun, als sei die Schleuse gelöst, Schlag um Schlag.

Giordano Bruno steht auf dem Scheiterhaufen. Aber über den blauen
Rauch hinweg sieht sein brechendes Auge noch den Himmel offen, den
ganzen Himmel der neuen Astronomie. Es gibt keine oberste Sphäre, keine
Kristallschale, durch deren Löcher das Ueber-Licht zu uns glimmt. Auch
dort ist freier Raum und jeder Fixstern ist eine goldene Welt gleich
der Sonne hier. Myriaden Welten durchziehen das All, lauter Sonnen, um
die Planeten kreisen, und auf jedem Planeten wohnen Menschen gleich
uns. Einen Augenblick scheint es, als müsse der Blick der Menschheit
ertrinken in der verwegenen Größe dieser Perspektive, wie der Philosoph
von Nola selber untergegangen ist in den Wirrnissen seiner Zeit. Die
Sphären sind zertrümmert, der Geist fällt in die Ewigkeit. Wer soll
aus dieser bodenlosen Welt wieder einen Kosmos schmieden, wie ihn
Pythagoras und Dante geschaut✹.....?

Aber wieder steht ein Denker einsam in seinem Garten, -- vom grünen
Apfelbaum, in dem der Wind einer nochmals freieren Zeit rauscht, fällt
eine Frucht. Und sein Gehirn, geschult an dieser Weltperspektive schon
der Galilei und Bruno, sucht die Brücke zwischen dem Fall dieses
Apfels und der Schwungbahn und Schwere des riesigen Apfels da oben am
Weltenbaum, des Mondes. Newton findet ein „Naturgesetz“, das die beiden
mit mathematischer Genauigkeit zusammen umfaßt, den kleinen Apfel hier
zwischen Erde und Ast, und den Mond da oben, der 51000 Meilen von uns
entfernt hohe Gebirge trägt.

Das ist die neue Klammer: das Naturgesetz. Es wird eine neue Harmonie
durch das All knüpfen bis zum fernsten Doppelstern. Nichts fällt aus
ihm heraus. Beruhigt wandelt an seinem goldenen Seil der logische
Menschengeist wieder über alle Millionenfernen.

Noch bleibt lange ein banges Geheimnis, ob die Naturkraft, die Sterne
und Aepfel hält, sterben kann. Wenn der Hammer auf den Amboß fällt,
-- wohin geht die Bewegung? Gibt es noch eine mystische Tiefe dieser
naturgesetzlichen Natur, in die sie stürzt, ein mystisches Nichts?
Robert Mayer schürzt den letzten Knoten im vollkommenen Ring. Die
Bewegung wird Wärme. Die eine Form der Naturkraft geht über in eine
andere. Unter dem Strom der Formen aber bleibt die Ewigkeit der Kraft
wie der Granit, über den die Wasser rauschen.

Und die einfache Folge der Gedanken streift hier schon die letzte
Krönung des Gebäudes.

Kräfte entwickeln sich auseinander.

Ein Pilger, noch tief verträumt in Dante’s Welt, steigt über die
Alpen. Sein Fuß rührt an Muscheln, die mitten aus dem Gestein brechen,
fernab vom Meer. Einst war es anders als jetzt. Wo jetzt das Gebirge
in Eisschroffen sich zum Himmel reckt und der Lämmergeier kreist, war
vormals Meer, voller Seesterne und Muscheln. Schlicht kommt der Gedanke
und doch öffnet er nochmals eine Welt.

Zu der neuen Erde und dem neuen Himmel tritt die Vergangenheit.

Wie dort in unendliche Fernen des Raumes, so sinkt der Blick hier in
unendliche Folge der Zeit, der Jahre, Jahrmillionen. Und in dieser Zeit
haben die Dinge sich verwandelt. Eine Entwickelung hat stattgefunden.
Von der versteinerten Muschel pilgert der erweckte Neugedanke zum
Farrnwalde, der Steinkohle geworden ist, zum Ichthyosaurus-Grab. Eines
Tages ist er oben bei dem Menschen, der mit Steinbeilen gegen Mammut
und Höhlenlöwe kämpft; und unten bei einem Aeonentag, da die ganze
Erde als glühender Tropfen von der Sonne fällt und die Sonne aus einem
kosmischen Nebel sich verdichtet.

Was die Verwandlung der Kräfte in ihrem einfachen Spiel schon ahnen
ließ, wird nun eine ungeheure Geschichtswahrheit: ein einziges
Verwandeln lebt in allem Sein. Doch mehr als ein Verwandeln. Eine
Entwickelung vom Niederen zum Höheren. Vom Nebelfleck geht die Linie
auf den Menschengeist. Vom Höhlenmenschen der Mammutzeit auf Galilei
und Newton.

Erst hier ist das neue Weltbild seiner Höhe nahe. Erst jetzt vollzieht
sich langsam in ihm die Heimkehr zu der Größe und Einheitlichkeit
der alten Dante’schen Weltvorstellung, -- die Heimkehr und die
Ueberbietung zugleich. Abermals nähern sich Physik und Astronomie einem
moralischen Wert. Der unhemmbare Aufstieg der Dinge vom Niederen zum
Höheren, von der Nacht zum Licht erscheint jetzt in dieser ungeheuren
Kette der Vergangenheit, der zeitlichen Welt-Entwickelung. Nicht die
einzelnen Planetenbahnen ringen sich bloß auf zum Licht, -- das Ganze
steigt. Vom fernsten Nebelfleck bis zu dem höchsten Gedanken, den ein
Mensch hier in dieser Stunde denkt, ein einiges Aufwärtsringen im
gesamten Kosmos, -- eine Welt, die Gott werden will.

Riesiger ist das Gebäude jetzt, in dem sich diese göttliche Komödie
des modernen Naturforschers abspielt, eine unendliche Zeit, die
Jahrmillionen des Naturforschers sind darin verrechnet, -- was bei
Dante in künstlich enger Pyramide bloß räumlich übereinander sich
gipfelte, das steigt jetzt aus einem zeitlichen Hintereinander, dem die
ganze Ewigkeit zu Gebote steht.

Und doch erscheint auch hier zwischen allen bunten Doppelsonnen des
Alls und allen Farrnwäldern und Ungetümen der Urwelt schließlich das
große Lichtband einer moralischen Idee, mit der diese ganze Welt erst
wieder restlos eingeht in die Menschenbrust. Die ewige Liebessehnsucht
Dantes, die in den Sternen brannte, wird zur ewigen Fortentwickelung,
in der Gravitation und Menschenliebe nur zwei Stufen, zwei Glieder sind
auf der Bahn hinan.

So war der Weg -- und da schaute der Mensch wieder zur Milchstraße auf.

Auf einen Berg war er geklettert, -- ihn grüßte das alte glimmernde
Lichtband mit seinem gleichen magischen Antlitz, wie es vor
Jahrtausenden schon den ersten Himmelsschauern in der Euphratniederung
erschienen war.

Was bedeutet diese größte aller Arabesken der Welt, dieses Zeichen
aller Zeichen, dieser Ring, der den Himmel umfaßt?

Der Augenblick, da die Fixsterne nicht mehr als Löcher in einer ehernen
Himmelswölbung genommen wurden, sondern als frei schwebende Sonnen, die
bloß die unfaßbare Ferne so klein erscheinen ließ, war der erste große
Wendepunkt auch in der Deutung der Milchstraße.

Noch war das Fernrohr nicht auf sie gerichtet, da sah Kepler es
schon mit der ganzen Klarheit seiner unvergleichlichen deutschen
Geistesaugen: der alte Demokrit hatte recht. Die Milchstraße war ein
Sternenring. Zur Wolke ballten sich die Sternpunkte darin. Aber diese
Sternenwolke schwebte frei wie jeder Einzelstern im leeren Raum, einen
Ring bildend wie ein in sich selbst verlaufender Kometenschweif.
Und unsere Sonne, um die wir mit der Erde kreisten, lag nahezu im
Mittelpunkte dieses Ringes, denn die Milchstraße erschien uns annähernd
als größter Kreis.

Rund fünfzig Jahre später folgte das leibliche Auge dem Gedankenflug.
Huygens sah im Fernrohr tatsächlich eine Masse einzelner Lichtpunkte
aus dem Nebelgrunde des Ringes blicken. Noch kein halbes Jahrhundert
war das Fernrohr selber alt. Man hatte das Gefühl, daß es noch
schlecht, noch in jeder Hinsicht verbesserungsbedürftig sei. Als
Huygens sein Rohr absetzte, erschien es ihm nicht zweifelhaft, daß der
nächste, der ein noch etwas brauchbareres Glas verwerten könne, die
ganze „Milch“ in solche Sternpunkte tatsächlich auflösen werde.

Der Moment hat geschichtlich etwas ungemein Feierliches.

Die ganze Größe der neuen Welt schien symbolisch nahe gerückt. Sonnen,
die sich perspektivisch so aneinanderschoben, daß sie wie eine milchige
Masse erschienen.

Schon begann man damals zu ahnen, was für Räume unter Umständen Sonne
von Sonne trennen könnten. Uns heute ist die vage Vermutung zur
wirklichen Rechnung geworden, die mindestens klare Annäherungswerte
gibt. Ein Bild mag veranschaulichen, was den Astronomen heute in diesem
Punkt geläufig ist. Unser ausgezeichneter Potsdamer Astrophysiker
Scheiner hat es gelegentlich benutzt, es stammt also aus denkbar bester
Quelle.

Denken wir uns unsere Sonne einmal verkleinert auf das Maß der neuen
Domkuppel in Berlin, also auf etwa vierzig Meter Durchmesser. Und malen
wir uns die Entfernungen im Raum um sie her entsprechend aus.

Die Sonne als Berliner Domkuppel wirklich gesetzt, würde zunächst
von ihrem kleinen Planeten Merkur umkreist werden in einer Bahn, die
räumlich noch vollkommen innerhalb der engeren Stadt Berlin läge.
Herr Merkur sauste im Westen quer durch das Reichstagsgebäude, im
Norden durch die Zionskirche und im Süden nahezu durch die königliche
Sternwarte. Frau Venus, der nächste Planet, fühlte sich schon nicht
mehr so im eigentlichen Häusermeer wohl. Im Westen flanierte sie durch
den Tiergarten mitten zwischen dem großen und kleinen Stern, im Norden
durch den Humboldthain, und im Süden böge sie wenigstens bis in die
York- und Gneisenaustraße aus. Nun kommt die Erde. Sie will ernstlich
hinaus. Im Westen schneidet sie den Bahnhof Tiergarten als Grenze, im
Süden ist sie schon einen halben Kilometer jenseits des Kreuzberges.
Mars berührt den Zoologischen Garten gerade noch, südlich geht er durch
Tempelhof. Jupiter ist endgiltiger Vororts-Besucher, er hat Erkner und
Wannsee schon hinter sich und beglückt Spandau. Saturn ist nur mehr
Tourist in der Mark Brandenburg. Er besucht Liebenwalde und Nauen.
Uranus als märkischer Wanderer bringt es schon bis Wittenberg und
Frankfurt a. O. Endlich unseren entferntesten Planeten, den Neptun,
leidet es gar nicht mehr ganz im Königreiche Preußen. Er passiert
Stettin, Landsberg, Magdeburg und schneidet nur fünfzehn Kilometer vor
Leipzig ab. Das ist unser Sonnensystem.

Nun aber: von dieser Sonnen-Domkugel in Berlin müßte man im gleichen
Verhältnis ganz Europa, ja die Erdkugel verlassen und dann noch
nahezu doppelt so weit in den freien Raum hinausfliegen, als der Mond
wirklich von uns absteht, nämlich zweimal 51000 Meilen, -- um auf die
nächste Fixstern-Sonne zu gelangen, auf den roten Doppelstern Alpha
im Sternbild des Centauren. Die wirkliche Entfernung beträgt mehrere
Billionen von Meilen und das Licht, das in jeder Sekunde über 40000
Meilen zurücklegt, braucht mindestens vier Jahre, um von dort bis zu
uns zu kommen.

Erst mit solchem Maßstabe wird klar, was Kepler und Huygens eigentlich
wagten.

Sonnen mit der Möglichkeit solcher Abstände voneinander sollten sich
perspektivisch so zusammenschieben, daß im ganzen ein dämmernder
Lichtring -- eine Milchstraße -- entstand. Für dieses Sonnengewimmel
mußte der neue, erweiterte Weltraum Platz haben. Platz mußte auch der
Menschengeist in sich schaffen, um solche Dimensionen zu begreifen.
Und doch war selbst das nur der Anfang. Aus diesem Wolkenband von
Sonnen sollten alsbald die weiteren Rätselfragen auf diesen Geist
niederprasseln, -- hageldicht.

In der genialsten Naturgeschichte, die uns aus dem Altertum überliefert
ist, dem Epos vom Weltall des Römers Lukretius, kommt ein prachtvoll
anschauliches Bild vor. Die Unendlichkeit des Raumes soll verdeutlicht
werden. Denke dich ans Ende aller bekannten Dinge Himmels und der
Erden, sagt der Dichter. Und wirf einen Speer in die Weite vor dir,
-- er findet immer noch Raum! Man wird an dieses gigantische Bild des
Speerwerfers vor der Unendlichkeit erinnert bei einem bestimmten Moment
im Stern-Denken der Menschheit des achtzehnten Jahrhunderts.

Der Weltenraum war geöffnet, die alten Sphären waren daraus verweht wie
Nebel. In diesem Raum schwebten die Sterne. Und diese Sterne drängten
sich in der Milchstraße in solchen Massen zusammen, daß sie einen
Schein erzeugten wie auf langer Bahn verträufelte Milch. Seefahrer
waren auf die Südhalbkugel der Erde vorgedrungen, Cooks Schiff
umsegelte zuletzt in kühner Schleife den südlichen Pol. Und auch dort
umzog dieser Milchring aus Sternen den Himmel.

Kein Zweifel: die ungeheuere Sternanhäufung ging als ein nahezu größter
Kreis durch unsern gesamten Himmel, wie wir ihn von der Erde sahen, --
eine glühende Schlange mit Millionen Sternenaugen, die sich selber in
den Schwanz biß.

Oberhalb und unterhalb dieses Ringes aber flammten vereinzeltere
Sterne wie versprengte Posten der großen, geschlossen marschierenden
Armee. Düster, öde erschien dem bloßen Auge und selbst dem Fernrohr
der Raum hier zwischen den einzelnen Lichtaugen, -- er erschien
hier wirklich als solcher, als der anscheinend leere Raum. Wie
tief mochte das spähende Auge hier in ihn einsinken, -- einsinken
wie der in die gähnende Leere abstürzende Speer des römischen
Dichterphilosophen✹......?

Da jetzt mischte sich ein neues Wirklichkeitsbild ein, überwältigender
noch als alle früheren.

Jenseits aller dieser Sterne, die sich dort zur Milchstraße häuften,
hier vereinzelter, raumlassend schwebten, -- -- erschien nebelhaft
dämmernd die Küste einer ganzen neuen Welt, -- eines ganzen, selber
wieder eine Milchstraße bildenden neuen Fixsternsystems.

In der Milchstraße schwebt als geheimnisvolle Rune, einem lateinischen
_W_ vergleichbar, das zierlichste Sternbild unseres Nordhimmels:
die Kassiopeja. Von dieser Gegend der Milchstraße her bilden, aus dem
Milchdunst heraus, ein paar Prachtsterne eine schräge Brücke zu einem
riesigen Stern-Quadrat. Es ist das Quadrat des Pegasus, und die Brücke
ist die Andromeda.

In diesem Sternbild der Andromeda, zwischen der Kassiopeja und dem
zweiten großen Brückenstern, hatte in der Nacht des 15. Dezember 1612
der Astronom Simon Marius mit dem neu erfundenen Fernrohr eine blaß
dämmernde Himmelsstelle entdeckt, die weder ein Stern war noch eine
schwarze Raumstelle. Als schimmere Lampenlicht durch eine Scheibe von
Horn, -- so war ihm das rätselhafte Gebilde erschienen. Der alten
Sphärenlehre wäre das willkommen gewesen. Die abblendende Hornlaterne
war die große letzte Schildkrötenschale des Himmels selbst, und
hindurch schimmerten die Gefilde der Seligen. Das galt aber fortan ja
nicht mehr. Auch dieses Nebelflöckchen mußte im offenen Raum schwimmen,
abgrundfern von uns. Aber was konnte es sein?

Nicht lange, und es hatte Gesellschaft gefunden. Im Sternenbilde des
Orion zeigte sich eine ähnliche Wolke glimmernden Himmelsdunstes. Bis
endlich Herschel in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die
„Nebelflecke“ nach hunderten in seine Himmelskarte eintrug. Um diese
Zeit kam der Moment, den ich meinte.

Vor diesem Dämmerschein der Andromeda dämmerte einem Menschengehirn
der ungeheuerlichste Gedanke auf, der nach der Erkenntnis, daß die
Milchstraße eine Anhäufung aus Millionen von Sonnen sei, in der
Sternkunde noch möglich war. Vom Rain der Milchstraße, mitten hindurch
zwischen den loser gestellten Fixsternen des offeneren Himmelsteils,
sank der Blick hier durch und durch und durch wie der Speer des
Lukretius bis auf ein Gebilde, so groß noch einmal wie diese unsere
ganze Fixsternwelt, aber so klein wie ein Nebelflöckchen für unser
Fernrohr wegen der unfaßbaren Strecke Raumes, die nochmals zwischen
unserem äußersten Fixstern und diesem zweiten Weltgestade lag. Der
Nebelfleck eine Milchstraße, gesehen aus solcher Perspektive, daß
diesmal der Ring (der doch unsern ganzen Himmel noch umspannte,
obwohl jede Sonne darin der Entfernung wegen nur mehr ein Pünktchen
war) überhaupt fast zu einem Punkt, zu einem einzigen kleinen, dem
bloßen Auge kaum mehr wahrnehmbaren Tröpfchen verspritzter Milch
zusammenschmolz.

Der Mann, der zuerst diesen Gedanken ausdachte, war wieder, wie
es einst Dante gewesen, der größte Seelenforscher und Kenner der
moralischen Welt in seinem Jahrhundert: Kant.

Er kannte keinen Schwindel, -- also auch nicht vor dem Gedanken einer
Milchstraße auf dem Raum eines Senfkorns. Mit der Ruhe eines Feldherrn,
der einen halben Erdteil vor sich liegen sieht wie eine Landkarte, sah
er bloß, daß der große Gedanke eine große praktische Folgerung umschloß.

In unsere eigene, nächste Milchstraße sahen wir von innen hinein,
ihr Kreis umspannte uns, als säßen wir nahezu genau im Zentrum. Das
erschwerte offenbar den Ueberblick. Wenn aber der Nebelfleck etwa in
der Andromeda eine ebensolche Milchstraße enthielt, so sahen wir dort
die Dinge unzweifelhaft von außen. Folgerung: wir konnten aus diesem
Dämmerwölkchen da drüben etwas über den Bau unseres eigenen Systems
lernen, -- so wie der Seefahrer von weitem das ganze Profil einer
Gebirgskette deutlich vor sich sieht und abzeichnen kann, während
der Alpenkletterer im Gebirge selbst den großen Umriß vor lauter
Einzelbergen, den Wald vor Bäumen verliert.

Zwei praktische Fortschritte glaubte Kant auf diesem Wege gewinnen zu
können.

Der eine ging ins geschichtliche Gebiet. Die besten Fernrohre der
Zeit hatten nicht vermocht, einen Nebelfleck wie den der Andromeda
wirklich in Einzelsterne aufzulösen. Das konnte an der unfaßbaren
Entfernung liegen. Es konnte aber auch seinen Grund darin haben, daß
diese am Welthorizont auftauchende neue Weltinsel gar nicht in Sterne
gegliedert war, -- noch nicht gegliedert war. Eine einheitliche, lose
Nebelmasse bildete sie vielleicht, nebelige Materie.

Kant träumte sich seherisch in einen Urzustand solcher Weltsysteme
hinein, da alle Sternmaterie noch einen Gasball ohne innere Ordnung
darstellte. Dort war es vielleicht noch so, -- bei uns war es vor
Jahrmillionen vielleicht einmal so gewesen. Im Ausbau dieses Gedankens
baute Kant seine berühmte Weltbildungstheorie auf, die kreisende Sterne
aus losen Gasringen sich aufrollen ließ. Unser Fixsternsystem sollte so
entstanden sein und in ihm, enger wieder, unser Planetensystem. Diese
Linie verfolge ich hier nicht, sie führt in eine andere Gedankenebene
als die, mit der wir uns beschäftigen. Unmittelbar in das heute vor
Augen gestellte Milchstraßen-Problem dagegen leitete Kants zweiter
Schluß.

Sei der Andromeda-Nebel nun wirklich noch Weltennebel, oder sei auch
er schon ein in Fixsterne aufgelöstes System genau gleich dem unseren:
auf jeden Fall zeigte er im Gesamtumriß eine ganze bestimmte, höchst
charakteristische Gestalt. Er glich einer flachen Linse. Mehr Scheibe
als Kugel. Warum sollte das nicht auch das von außen gesehene Bild
unseres eigenen Systems sein?

Auf den ersten Anblick schien hier allerdings gerade ein Widerspruch
vorzuliegen.

Durch unser System zog sich die Milchstraße als geschlossener
Sternenring. Lag es nicht viel näher, daß jener Nebelfleck, wenn er ein
von fern gesehenes ganzes System darstellte, ebenfalls als Ring und
nicht als einheitlich helle, linsenartige Scheibe erschien?

Im Gegenteil, sagt Kant.

Die Milchstraße würde uns in der Tat so als Ring am Himmel erscheinen,
wenn ihre gedrängten Sternmassen einen riesigen Sternenring in unserem
System bildeten, -- das ist richtig. Aber sie würde uns genau ebenso
erscheinen, wenn es einen solchen Ring tatsächlich nicht gäbe, dagegen
das ganze System die Form einer flachen Linse oder Scheibe hätte. Und
weil nun jene ferne zweite Welt im Andromeda-Nebel diese Linsenform
wirklich hat und nicht jene Ringform, so wird es deshalb wohl auch
bei uns so sein, -- auch unsere Sterne werden als Ganzes eine flache
Linsenscheibe bilden.

Der Witz dieses wirklich haarscharfen Gedankens steckt in folgender
Tatsache.

Hier liegt eine deutsche Reichsmark, das Ideal geradezu einer
flachen Scheibe. Das Metall dieses Geldstücks denken wir uns einmal
zusammengesetzt aus Tausenden von kleinen Körperchen, Kügelchen etwa.
Aus Molekülen, würde der Chemiker sagen. Doch auf den Ausdruck kommt
nichts an. Nun denken wir uns von einem dieser Kügelchen etwa in der
Mitte des Silberstücks, es sei von unfaßbar kleinen Bazillen bewohnt.
Diese Bazillchen sollen Aeugelchen besitzen, die mit der wunderbaren
Fähigkeit begabt sind, nach allen Seiten hin die übrigen losen
Kügelchen in der Metallmasse zu sehen. Wie würde ihnen die Anordnung
dieser Kügelchen in der Mark von ihrem Standpunkte aus erscheinen?

Zunächst würden sie in der dünnen Metallplatte etwa nach der Seite
sehen, wo sich der Reichsadler befindet. Die Metallmasse, die sie
hier zu durchdringen hätten, wäre sehr dünn, und sie würde sich
ihnen also wohl in ein ziemlich loses Netz einzelner Metallkügelchen
auflösen, zwischen denen die Poren des Metalls freien Ausblick in
die Welt außerhalb der Mark -- also vielleicht auf andere, entfernte
Markstücke eines Portemonnaies oder auch auf eine schwarze Hosenwand
-- erlaubten. Jetzt würden sie den Blick wenden und umgekehrt nach der
Seite schauen, wo die Schrift in ihrem Eichenkranze steht. Abermals
dasselbe Schauspiel, -- denn auch hier bohrt sich der Blick durch die
geringe Dicke der Silberscheibe und ist fast unmittelbar zwischen
wenigen Kügelchen ganz aus dem Silber heraus im Portemonnaie oder in
der Hosentasche. Wie aber, wenn der Blick jetzt eine dritte Richtung
wählte?

Er versenkte sich spähend nach irgend einer Seite auf den gekerbten
Rand der Mark zu. Aber vergebens suchte er auch hier so leicht durch
die Kügelchen zu dringen. Sähe er doch jetzt von innen gegen die ganze
Hälfte der Fläche des Markstücks an, also in ein sehr viel tieferes
Stück Silber als vorhin. Wohl löste das Silber sich auch hier vorne in
Kügelchen auf. Aber hinter diesen ersten Kügelchen käme jetzt nicht
sofort die Portemonnaie- oder Hosenwand, sondern es stellte sich
dahinter eine zweite Reihe glänzender Metallteilchen, dahinter noch
eine und so eine ganze lange, lange Kette. Und da die Hintermänner
sich in die Lücken der vorderen Kolonnen drängten, so hörte schon
nach kurzem Wege jede Durchsicht in Lücken überhaupt auf: die ganze
Armee der Kügelchen erschiene schließlich als einheitliche Mauer, als
Silberwand, die jeder Auflösung durch den Blick trotzte. Dieses letzte
Schauspiel nun wiederholte sich aber, wo immer das Bazillenäuglein
in der Richtung auf den gekerbten Rand sich einstellte. Der gekerbte
Rand läuft bekanntlich als Ring um die ganze Markscheibe. Entsprechend
stellte sich dem herumirrenden Blick in bestimmter Ebene ein ganz
fester Ring solcher einheitlichen Silbermasse ohne Portemonnaie- oder
Hosen-Ausblicke dar.

Dieses Bild, trivial wie es ist, malt doch genau die angenommene
Sachlage am Himmel.

Unser ganzes engeres Sternensystem soll die Gestalt einer flachen
Scheibe gleich einem Markstück haben. Wie das Markstück aus winzigen
Silberkügelchen, so besteht die Riesenscheibe des Sternhimmels aus
einer Unmasse einzelner Sterne in ziemlich gleichmäßiger Verteilung.
Das Kügelchen ungefähr in der Mitte ist unsere Erde, und die Bazillen
mit lichtfrohen Aeugelchen sind wir Menschen. Wir schauen gegen die
Fläche der Sternscheibe -- und rasch durchdringt unser Auge die paar
Einzelsterne dieses kurzen Stücks, -- schon taucht in den Lücken der
leere, schwarze, kalte Weltraum -- die Hosenwand oder Portemonnaiewand
unseres Bildes -- auf. Nach beiden Seiten ist es so, wenn wir die
Fläche treffen. Hier wie dort einzelne Sternbilder auf dunklem Grunde.

Aber wir wollen gegen den Rand der Sternscheibe vordringen -- und die
Welt vernagelt sich. Sternreihe schiebt sich auf dieser langen Bahn
hinter Sternreihe, die eine füllt die Zwischenräume der vorhergehenden,
-- die leuchtenden Punkte werden zur einheitlichen Leuchtmasse wegen
ihres Hintereinanders in die Tiefe hinein, ohne daß sie in jeder
einzelnen Reihe darum dichter ständen. Und diese kompakte Leuchtmasse
begegnet uns, wo immer der Blick in die Ebene gegen den Rand der
Sternscheibe eindringen will, -- genau wie das Markstück seinen
gekerbten Rand als Ring um sich trägt, so bildet auch der Rand der
Sternscheibe einen Ring für den, der im Mittelpunkte steht, -- --
und in diesem Ring glänzt dem Auge folgerichtig jene einheitliche
Leuchtmasse, in der das Gewimmel der Sterne die Einzelformen löscht und
die Durchblicke in den schwarzen Raum überdeckt.

Wir stehen bei der Milchstraße.

Sie ist kein wirklicher Sternenring, sondern nur eine zufällige
Projektionserscheinung für das Auge von Beobachtern, die fast genau
in den Mittelpunkt einer flachen Scheibe aus gleichmäßig verteilten
Sternen gesetzt sind und diese zwangsweise Lage ihrer Sternwarte nicht
verschieben können.

Nicht umsonst kam dieser Gedankengang von einem König unter den
Logikern. Kein Kärrner hat ihn in den hundertfünfzig Jahren seither
auf seinem eigenen Felde besiegen können. Sollte er je wieder ins
Wanken gebracht werden, so konnte es nur geschehen, indem gewisse
Voraussetzungen aus dem Tatsachen-Material heraus hinfällig wurden.

Zwei ganz scharf umrissene Angriffe konnten ihn nur mehr fällen.

Entweder die ganze Deutung des Andromeda-Nebels als der unsern ähnliche
Fixstern-Insel war schließlich doch noch falsch. Dann fiel die Analogie
von dort. Oder eine genauere Betrachtung der Milchstraße selbst machte
doch aus greifbaren Beobachtungs-Gründen jene „optische“ Erklärung
Kants unmöglich. Dann fiel von hier die Analogie.

In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, als Kant schrieb,
mußte ein ehrlicher Sinn zugeben, daß beides denkbar war. Denn die
Ausnutzung des Fernrohrs stand tatsächlich noch immer in ihren
Anfängen. Wilhelm Herschel enthüllte ja eben mit seinem Rohr einen
ganzen neuen Himmel. Aber da gerade wurde offenbar, wie wenig wir noch
wußten. Als Herschel in der Nacht des 13. März 1781 nach Doppelsternen
gesucht und dabei die uralt heilige Zahl der Planeten, auf der ganze
Religionen, die tiefsinnigsten philosophischen Betrachtungen und
Hunderttausende von persönlichen Horoskopen aufgebaut worden waren,
durch Entdeckung des Planeten Uranus zertrümmert hatte, -- da beschlich
auch den Kühnsten ein Ahnen, was jetzt erst alles folgen werde.

Und wieder, wie so oft, begann in der Tat hier eine jener wunderbar
verzweigten Arabesken der Forschung, die auf den Beschauer später
einen so köstlichen Reiz ausüben. Meint er doch, ein Pflänzlein dem
ungestalten Keim sich entringen zu sehen, es reckt sich, spaltet
Hüllen, biegt und kringelt sich empor, setzt erst fremdartige Blättchen
an, als sollte etwas ganz anderes werden -- bis endlich jäh der Typus,
die Art, die wirklich entstehen sollte, sieghaft vorbricht. So erlebt
auch er das Keimen und Reifwerden einer Wahrheit, einer Erkenntnis im
Menschengeiste, und er erlebt sie in einer unendlich feineren, geistig
anregenderen Form, als wenn die neue Weisheit plötzlich blitzeblank vom
blauen Himmel fiele.

Wenn der Andromeda-Nebel ein ganzes Fixsternsystem in Linsenform
umschloß, das seinen Zentralbewohnern ebenso als Milchstraße erschien
wie uns unser milchiges Himmelsband: dann mußte dieser Nebel enorm weit
von uns entfernt sein. Denn er hatte ja wirklich beinahe nur noch die
Größe einer echten Linse für uns.

Gab es solche Entfernungen?

Gab es eine Rechnung, die da nachkam?

Es ist der erste verzwickte Arm der Arabeske, der sich hier aufreckt.

Der nächste Fixstern unseres Systems jenseits der Sonne steht, wie
gesagt, so weit von uns ab, daß das Licht rund vier Jahre braucht,
um zu uns zu gelangen. Das bedeutet mehrere Billionen Meilen. Es
läßt sich mit Sicherheit behaupten, daß diese Ziffer keineswegs zu
groß, dagegen eher noch um ein beträchtliches zu klein ist. Das ist
der nächste Stern! Bei anderen Sternen gerät man auf einige dreißig
solcher Lichtjahre. Was wir heute von ihnen sehen, ist ihr Bild, wie
es vor dreißig Jahren von ihnen durch Lichtpost herübergeworfen wurde.
Für die entferntesten Sternpünktchen, die aber immer noch in unsere
Fixsterninsel hineingehören, gibt es einen Annäherungswert von 22000
Lichtjahren. Da wir uns fast im Mittelpunkte der Insel befinden und
solche äußersten Pünktchen nach zwei Seiten auftauchen, so gibt das
einen ungefähren Längendurchmesser des Systems -- sagen wir in Kants
Sinn, der Scheibe oder Linse -- von 44000 Lichtjahren. Unsere ganze aus
unmittelbarer Ueberlieferung stammende Kultur auf Erden hatte also noch
nicht begonnen, als jene äußersten Systemecken das ausstrahlten, was
heute als ihr Licht in unser Fernrohr rinnt. Und dabei ist die Ziffer
sicherlich noch nicht das volle Maß.

Als man anfing, zuerst einmal ganz im Umriß und noch ohne feinere
Nachweise, mit ähnlichen Ziffern für unsere Milchstraße zu spielen,
erfolgte sofort der Schluß: das alles jetzt muß, als innerhalb unseres
eigenen Systems gelegen, doch nur erst eine Bagatelle sein gegen den
Abstand der nächsten ganzen Fixstern-Insel von uns, -- also gegen
die Entfernung des Andromeda-Nebels. Wie wenn ich einem sage: dieser
Hausgiebel hier steht von dem dort zehn Meter weit ab, -- was du dort
im Ausschnitt der Straße aber wie zwerghafte Zuckerhütchen ragen
siehst, das ist die ganze Alpenkette, -- wie weit muß die entfernt
sein! 44000, -- das ist schon fast halb Hunderttausend. Bloß zehnmal
Hunderttausend gibt eine Million. Eine Million Lichtjahre also. Aber
das ist in Anbetracht der Sache noch immer nicht viel, im Gegenteil.
Riskieren wir ein paar, eine Anzahl Millionen.

Es war wieder ein Riesendenker, jetzt schon im neunzehnten Jahrhundert,
der hier den Kopf auf die Hand stützte und in Gedanken eine gewisse
Bilanz zog vom überschauenden Standpunkte aus.

Zehn, oder zwanzig, oder gar hundert Millionen Lichtjahre, -- das
berührte eine andere Ziffer der Naturforschung.

So viel Millionen einfache Jahre erreichten oder überschritten gar
schon unsere gesamte Kenntnis von der geschichtlichen Entwickelung
der Welt. Sie datierten zurück hinter den Menschen auf Erden, hinter
die Ichthyosaurier, die Steinkohlenwälder, die Bildungszeit der
kristallinischen Schiefer, die Entstehung der ersten Erkaltungsrinde
unseres Planeten, -- ja schließlich gar noch hinter jene wilde Genesis
des ganzen Sonnensystems, wie sie Kant träumte, und zuletzt noch hinter
die der Milchstraßeninsel selber.

In diesem Falle, sagte sich Humboldt, ist ein solcher Nebel wie der in
der Andromeda mit seiner vor Hunderten von Jahrmillionen abgegangenen
und jetzt erst bei uns ankommenden Lichtpost einfach das älteste
sinnfällige Zeugnis vom Dasein der ganzen Materie, das wir überhaupt
noch besitzen!

War dieser Nebel heute für unseren Anblick noch glühender Urstoff ohne
innere Gliederung in Einzel-Sonnen, so war das wirklich kein Wunder.
Vor so viel Millionen Jahren war unser Milchstraßensystem das ja in
Kants Sinne auch gewesen. Wir sahen aber tatsächlich dort, was damals
war. Kam die Lichtpost von uns selber umgekehrt dorthin, so langte auch
sie ja mit derselben Verspätung an und dort erschien unsere Sterninsel
entsprechend ebenfalls erst in ihrem chaotischen Urzustande.

Das war nun ein pompöses Wort, und der alte Humboldt war der nötige
pompöse Redner, um es aller Welt als kosmisches Bonmot einzuprägen.

Die Anhänger der Kant’schen Milchstraßen-Theorie aber freuten sich
doppelt dabei, denn es gab nur Wasser auf ihre Mühle, -- erhöhte
nämlich nur die Wahrscheinlichkeit, daß der Andromeda-Nebel unser
Lehrmeister in Kants Sinne bleiben dürfe.

Indessen die Arabeske begann ihre Krümmung.

Mit dem Jahre 1880 setzt für unsere Kenntnis der Nebelflecke eine ganz
neue Epoche ein. Draper photographiert den Orion-Nebel.

Die Photographie eroberte auch hier den Himmel -- ein unvergleichlicher
Fortschritt.

Es war, als sei dem Menschenauge eine neue Netzhaut geschenkt, weit
empfindlicher als die alte organische des Wirbeltierauges, die wir von
der Natur mitbekommen haben.

Auf dieser Netzhaut der photographischen Platte erschien auf einmal
der ganze Fixsternhimmel wie durchsetzt, durchsponnen von lauter
nebelhaften Gebilden, die kein Mensch hatte ahnen können. Was Herschel
und Lord Rosse, die größten Nebelforscher bisher, für einzelne
Nebelflecke gehalten, das verknüpfte sich vielfach, Lichtbänder
liefen als Brücken herüber und hinüber, die scharfen Umrisse, die man
gezeichnet und nach allerlei Aehnlichkeiten benannt hatte, lösten sich.
Ueber ganze Sternbilder war glimmender Dunst ausgegossen, allerorten
badeten Fixsterne geradezu in Nebelwellen.

Was sollte das?

Die Sache wurde noch komplizierter. An gewissen Stellen wurde
geradezu ein Zusammenhang deutlich zwischen großen, längst bekannten
Fixsternen, die jeder zu unserem System rechnete, und dieser
Nebelmaterie. Diese Sterne standen nicht perspektivisch bloß zufällig
vor dem Nebel. Sie glühten aus ihm heraus, bildeten Verdichtungen in
ihm. Nebelstrahlen und Schweife flossen unmittelbar von ihnen aus wie
ungeheure Kometenschwänze.

Es war ein absolutes Stück der Unmöglichkeit, vor diesen neuen
Karten an dem alten Humboldt’schen Gedanken in seinem ganzen Umfange
festzuhalten. Waren auch diese neuen Nebelgebilde ferne Weltsysteme, so
mußten unbedingt auch einzelne echte Sterne, beispielsweise im Orion,
aus unserem Milchstraßensystem ganz herausfallen. Wie unfaßbar groß
sollten sie aber dann sein, daß man sie doch noch einzeln im Nebel sah?

Aber es standen ja Nebel über Nebel in der Milchstraße selbst? Mitten
also in der angeblichen Flächenachse unseres eigenen Systems, wo die
gehäuften Sterne uns die Aussicht gerade in den weiteren Raum sperren
sollten!

Eine große Reaktion trat ein.

Die Nebelflecke sind überhaupt keine Welteninseln außerhalb unseres
Systems, wurde Parole. Inmitten unserer eigenen Sterninsel schwimmen
Nebelwolken allenthalben herum. Alle jene Rechnungen über Entfernungen
von Millionen Lichtjahren sind eitel. Schon in ein paar Lichtjahren
Entfernung können Nebel liegen.

Weit fort vom alten Ziel bog sich die Arabeske.

Wenn nun auch der alte Baustein der ganzen Theorie, der
Andromeda-Nebel, schließlich nur einige zwanzig oder dreißig Lichtjahre
von uns abstand, wenn er ganz friedlich innerhalb unseres Systems,
diesseits am Ende gar noch von Plejaden oder Orion, schwebte✹......?

Stimmen wurden laut, die schlechterdings jede Möglichkeit eines
Hindurchsehens zwischen unseren Systemsternen bis auf andere Systeme
leugneten. Mochte es immerhin solche Systeme in der Unendlichkeit
des Raumes noch geben, -- mit nichts schien auf einmal bewiesen,
daß wir sie überhaupt sehen müßten. Der Zwischenraum konnte so groß
sein, daß die Lichtwelle darin starb, daß das Licht von den feinsten
Materieteilchen, die den Weltraum unsichtbar doch noch überall
erfüllten, einfach aufgezehrt, absorbiert wurde.

Und es gab eine Betrachtungsweise, die dem sogar scheinbar noch zu
Hilfe kam.

Sie ging aus von der inneren stofflichen Beschaffenheit der Nebelflecke.

Die Arabeske hatte hier ihren Sonderarm getrieben seit Kants und
Herschels Zeit. Dreimal hatten die Lehrbücher an diesem Punkte in
hundert Jahren umgeschrieben werden müssen, -- jetzt eben nahte das
vierte Mal.

Als ein Eroberer großen Stils war Herschel im achtzehnten Jahrhundert
durch die Sternenwelt gezogen. Welten hatte er vergeben dürfen, uralte
Traditionen brechen und neue Bande schlingen. Aber auch für ihn gab es
einen Punkt, wo sein Rohr versagte. Eine Anzahl jener Nebelgebilde,
die Kants Interesse so lebhaft geweckt, vermochte er noch in Sterne
aufzulösen. Andere nicht mehr. Und es war in der Tat gerade der
Andromeda-Nebel einer der zähen gewesen, der seine Milchstraße aus
Fixsternen, wenn er sie besaß, doch dem Weltbezwinger nicht mehr öffnen
wollte.

Woran lag das?

Im Sinne der späteren Humboldt’schen Betrachtungsweise konnte es keine
einfachere Erklärung geben, als daß diese Sterneninsel eben wirklich
so unfaßbar weit von uns ab im offenen Raumozean schwebe, daß wir mit
stärksten Fernrohren doch kein einzelnes Sternflämmchen mehr darin
unterscheiden könnten.

Herschel war selbst aber schon vorsichtiger. Der unlösbare Nebel konnte
auch deshalb unlösbar scheinen, weil nichts zu lösen in ihm war: er
konnte ein Chaos glühender Nebelmaterie wirklich sein. Und dafür war
Herschel, obwohl es im Grunde ja Meinungssache blieb.

Im neunzehnten Jahrhundert stellte Lord Rosse jedoch in England ein
noch viel größeres Rohr auf und setzte den Feldzug an dieser Ecke des
Herschel-Reiches noch nachhaltiger fort. Diesmal fiel wieder eine Reihe
angeblich unlösbarer Nebel in Sternstaub auseinander. Und die Erfolge
kamen so Schlag auf Schlag, daß die Schale zu Herschels Ungunsten zu
sinken begann. Das Problem kam nun doch, schien es, aus der reinen
„Meinung“ heraus. Wer die Dinge verfolgte, erwartete eines Tages zu
lesen, daß der nebelerpichte Lord auch den Andromeda-Nebel atomisiert
und damit diese ganze Sachlage endgiltig geklärt habe.

Auch die äußersten Nebel, wäre dann sicher gewesen, waren
Milchstraßen-Systeme im Sinne Kants, -- aber ihre Lösbarkeit gab auf
der anderen Seite aus sich keinerlei Beweis für übermäßig große Ziffern
der Entfernung.

Statt dieser wahrscheinlichen Entscheidung durchzitterte aber plötzlich
wie ein Alarmsignal die Kunde von einer ganz anderen Entdeckung die
astronomische Welt.

Kirchhoff und Bunsen hatten abermals -- nicht einen neuen Stern oder
Nebelfleck, sondern ein neues Auge entdeckt. Ein Werkzeug-Auge, gleich
den Linsen des Fernrohrs, aber noch viel wunderbarer. Ein chemisches
Auge durfte man es nennen.

Zwischen Stern und echtes Menschenauge wurde diesmal nicht eine Linse,
sondern ein geschliffenes Glas, das man Prisma nennt, eingeschoben.
Dieses Glas wirkte auf das Licht wie die Sieböffnung einer Gießkanne
auf den Wasserstrahl des Gießkannen-Rohres: es zerlegte seinen Strahl
in ein Bündel Einzelstrahlen. Dabei kam je nach der Art des Lichtes
ein besonderes Geflecht gewissermaßen dieser Einzelstrahlen zu Tage,
das sich in allerhand Lücken, dicken und dünnen Fäden, dieser und
jener Anordnung, größerer oder geringerer Vollzähligkeit und so weiter
offenbarte. Indem man irdische Lichtstrahlen, deren Quelle bekannt
war, durch dieselbe Gießkanne laufen ließ und die Verschiedenheiten
ihres inneren Aufbaues dabei studierte, glückte es, das Licht gleichsam
zu einer Aussage zu zwingen, ihm eine uns verständliche Sprache
aufzunötigen. Das Licht, das von einem weißglühenden Körper ausging,
spritzte anders aus der Gießkanne des Prismas als das, das von einem
glühenden Metalldampf kam. Die Metalldämpfe unter sich gaben wieder
verschiedene Bündel, und vollends noch wieder anders wirkte Weißglut,
die quer durch einen solchen Metalldampf hindurch strahlte. Hatte
man das einmal in so und so viel Fällen unter Kenntnis der Quelle
festgestellt und aufgezeichnet, so konnte man jetzt umgekehrt bei
Lichtstrahlen, deren Quelle man zunächst nicht kannte, einen Schluß
aus dem Gießkannen-Ergebnis auf diese Quelle nach Analogie jener
anderen Proben machen. Und das traf auch die Sterne.

Sofort war klar, daß die Sonne ein weißglühender Körper hinter einer
Schicht glühender Metalldämpfe sein müsse, denn genau dem entsprach das
Strahlenbündel, das das Sieb des Prismas aus ihrem Licht ergoß. Ein
sinnreicher Schluß erlaubte sogar, die Einzeldämpfe dabei noch wieder
besonders herauszusieben und so ein Bild der chemischen Zusammensetzung
wenigstens dieser Sonnenhülle zu erzielen, als hätten wir ihre
Bestandteile handgreiflich in unserem irdischen Laboratorium beisammen
und könnten sagen: hier dampft Eisen, hier Nickel, hier Natrium,
hier dieses oder jenes andere Metall, von ungeheurer Glut zu Wolken
verflüchtigt.

Der nächste Schachzug war dann eine wundervolle Bestätigung des alten
welterschütternden Gedankens des Giordano Bruno. Die Fixsterne waren
ihrem Licht nach ebenfalls solche Sonnen. Einige glichen unserer Sonne
geradezu in jedem Zuge. Andere waren etwas verschieden, aber doch nur
so viel, daß man sah: es glühte hier eine noch etwas heißere Sonne oder
dort eine, die umgekehrt schon ein wenig mehr abgekühlt war als unser
treuer Helios.

Der dritte Streich aber sprang auf die Nebelflecke über. Und im
gleichen Moment lag Lord Rosse trotz seines Riesenfernrohrs wieder
unten und der alte Herschel mit dem kleineren Rohr war glänzend
rehabilitiert.

Wenn die Nebelflecke sämtlich echte Schwärme schon vollständig
ausgebildeter Fixsterne waren, so mußte die neue Untersuchungsart mit
dem Prisma (die Spektral-Analyse, wie man es wissenschaftlich nannte)
notwendig ebenfalls ein sonnenähnliches Lichtbündel bei ihnen liefern.
Denn ob nun eine Sonne oder hunderttausend, -- diese Lichtprobe läßt
sich nicht auf Verschwimmen zu Nebelmassen ein: sie liefert in der
Summe einfach nur wieder den gleichen Ausweis, den jedes einzelne
Sternflämmchen darin aushändigen müßte.

Nun denn: einer ganzen Anzahl der längst bekannten Nebelflecke fiel es
tatsächlich nicht ein, den bewußten Sonnen-Ausweis zu liefern. Statt
der Weißglut hinter Metalldämpfen zeigten sie schlechterdings bloß
das Bild, das auf Erden von einem einzigen glühenden Gase ausging:
nämlich von Wasserstoff. Sie lieferten es kompliziert noch durch
einige Anzeichen einer Mischung dieses Gases mit anderen Gasarten, die
zunächst niemand aus irdischer Aehnlichkeit deuten konnte. Seither
haben wir entdeckt, daß mindestens ein solcher Mischungsbestandteil das
ungemein merkwürdige Helium ist, -- ein Stoff, den man zuerst nur eben
mit Hilfe der Spektral-Analyse auf der Sonne nachgewiesen und danach
Helium (von Helios) benannt hat, der aber zu guter Letzt doch auch noch
auf unserer braven Erde selber gefunden worden ist, auf daß das kleine
kosmische Museum, das uns in dieser Erde gegeben ist, auch in diesem
Punkte sich als vollständig erweise.

Diese Nebel waren also, was das Wort sagte: wirklich Nebel, -- frei
im Raum schwebende Wolken glühenden Stoffs im Zustande des Gases, --
vornehmlich leuchtende Nebelwolken aus Wasserstoff.

Gegen diese Deutung des neuen Werkzeug-Auges Prisma gab es keine
Instanz mehr, -- die Natur hatte gesprochen.

Die Anhänger jener Kant’schen Weltbildungstheorie, nach der
Milchstraßensysteme sich erst allmählich aus losem Weltennebel zu
Fixstern-Haufen entwickelt hatten, waren zufrieden. Mit Rosse war ihre
Sache bedenklich geworden. Jetzt stand sie wieder. Diese Nebelflecke
waren eben noch keine Milchstraßen-Welten in unserem Sinne, aber
Welt-Embryonen, werdende Keime, bei denen alles noch im Nebel lag.
Vielleicht war der Wasserstoff das Ur-Element, aus dem sich die andern
erst durch Abkühlung bildeten.

Noch einmal wurde an dieser Wende das Humboldt-Bonmot mit besonderem
Nachdruck vorgebracht. Diese Nebelflecke erschienen uns deshalb noch
im Werdezustand, als wahre Ur-Nebel, weil sie so unausdenkbar weit
von uns abstanden, daß jetzt erst die Lichtpost ihrer millionenalten
Vergangenheit, ihrer Ur-Zeit, das Lichtsieb unseres Prismas erreichte.

Nicht lange aber -- und auch die Skeptiker fanden vor der gleichen
Sachlage Mut.

Echter Nebel blieb Nebel -- ob nah, ob fern. Ein Nebel, der bloß
perspektivisch aus unzähligen Sternpunkten zusammenfloß, war
sicherlich recht fern. Konnte gar das beste Fernrohr ihn nicht mehr
auflösen, so war er ganz gewiß sehr, sehr fern. Ein Nebel aber, der
auch auf zehn Schritt Entfernung eben Nebel geblieben wäre, da er eine
Wolke glühender Luft ohne Sternpunkte darin war, -- er „konnte“ eben
auch, wenn man’s sonst wollte, dicht vor unserer Nase stehen. Dieses
„Sonst wollen“ wurde nun lebhaft bestärkt, seit die Photographie
jenen allgemeinen Umschlag in der Nebel-Deutung angebahnt hatte. Alle
möglichen ketzerischen Ansichten wollten sich nicht mehr beruhigen
lassen.

Also die Nebelflecke bestanden in der Mehrzahl aus leuchtendem Gas. Wie
hatte man sich das eigentlich zu denken?

Die Vorstellung einer frei über ungeheure Räume verteilt schwebenden
Gaswolke im eisig kalten Raum ist rein physikalisch eine überaus
schwierige. Das Gas muß in einer Weise verdünnt sein, daß ein Chemiker,
der mitten hinein geriete, es zunächst gar nicht als solches fassen
könnte. Wir denken uns seit Kant so gern unser Sonnensystem, wie
es heute dasteht, als ein Verdichtungsprodukt aus einem ähnlichen
Gasnebel. Nun: alle heute vorhandenen Massen der Sonne, der Planeten
und Monde dieses Systems bis zur Neptunbahn als Gaskugel nebelhaft
gleichartig über diesen Raum, den jetzt die Neptunbahn als Aequator
umgürtet, verteilt, ergäben einen Nebel, der von unserer gewöhnlichen
irdischen Luft um mehr als das 240000millionenfache an Dichtigkeit
übertroffen wird. Wo sind die Instrumente der Chemie, die diesen
Nebelstoff noch nachweisen sollten! Nun soll man sich aber Nebel
vorstellen, die ganze Sternbilder durchqueren, also um ein vielfaches
mindestens die Abstände von Fixsternen untereinander übertreffen und
in sich schließen, -- Abstände, die nach Billionen von Meilen, nach
Lichtjahren, nach dreißig und mehr solcher Lichtjahre zählen✹.....

Es lag ungemein nahe, sich zu sagen, daß ein Nebel im Zustande solcher
feinsten Verflüchtigung keine eigene Wärme gegenüber seiner Umgebung
mehr besitzen könne, -- und es wurde nachdrücklich gesagt.

Der Weltraum ist kalt, ein Eiskeller. Viele Astronomen wollen geradezu,
daß er die Temperatur des sogenannten absoluten Nullpunktes besitze,
nämlich minus 273 Grad. So eisig müßte der Nebel auch sein. Ein ganz
neues Bild taucht hier auf. Nicht ein glühender Urnebel, sondern eine
kalte Wolke Wasserstoff.

Aber die Wolke leuchtet ja?

Leuchten gilt im allgemeinen doch als ein Zeichen der Hitze. Metall
leuchtet im Moment, da es in Glut gerät. Indessen es gibt auch ein
Leuchten kalter Körper: die sogenannte Phosphoreszenz. Und gerade
sie scheint zuzunehmen beim Sinken der Temperatur. Wenn nun mit der
Annäherung an den absoluten Nullpunkt viele oder alle Körper anfingen,
ein geheimnisvolles Phosphorlicht, -- ein Kälte-Licht, auszustrahlen?
Und wenn also auch die losen, unglaublich verdünnten Gase des Weltraums
bei diesem äußersten Nullstand aufglimmten? Es gibt vielleicht noch
andere Glüherscheinungen dieser Art, bisher unerklärlich: die Schweife
der Kometen, das Nordlicht.

Aber, so kommt der Gegeneinwurf wieder von der Physik selbst: wenn nun
die Nebelfleck-Gase die volle Weltraumkälte in sich tragen, -- wie
können überhaupt bei solcher Kälte Gase bestehen? Diese Kälte bannt
jedes Geschehen in absolute Starre, sie ist der wahre Bewegungstod. Was
aber ist ein Gas in absoluter Starre?

Doch diese Nebelgase in ihrer tollen Verdünnung wären ja so wie so
jenseits jeder Vorstellung, die wir mit Gasen verknüpfen. Näherten sie
sich nicht schon dem geheimnisvollsten aller Stoffe, dem berühmten
Weltenäther, der den kalten Raum in seiner Ganzheit erfüllen soll und
in dem nach unserer Licht-Theorie die Lichtwellen laufen? Waren sie
nicht am Ende nur Verdichtungen dieses wundersamsten Geheimstoffs
der modernen Physik, etwas festere Inseln im Aetherozean, die doch
als solche, als Aetherinseln, noch immer allen groben Gesetzen der
gangbaren Körperlichkeit ein Schnippchen schlugen?

Ich breche die Linie hierher ab. Sie führt, wie man sieht, an
schwindelerregende Ränder. Wo der absolute Nullpunkt, wo der Aether,
wo diese und verwandte Begriffe in wissenschaftlichen Hypothesen
heute auftauchen, da schwebt der Geist noch über dem Abgrund und --
trotz Licht-Aethers über der Finsternis. Aber man begreift, in welche
Verwickelung die Sachlage geriet, wenn solche Vermutungen überhaupt
schon bei den ernsthaftesten Köpfen, denen jedes Spiel fern stand,
auftauchen konnten.

Der Aether wogte ja nicht bloß zwischen unserer Milchstraße und
fernen anderen Systemen. Er war um uns, in uns, war überall. War ein
„Nebelfleck“ nichts anderes als eine vor Kälte phosphoreszierende
Aether-Verdickung, eine leuchtende Wolke der Weltluft zwischen Stern
und Stern, -- -- so war wirklich von hier aus ganz und gar nicht
einzusehen, warum solche Wolken nicht tausendfach sich mitten durch
unsere eigene Fixsterninsel, warum sie nicht mitten durch unsere
Milchstraße sich ziehen sollten.

Ja, es wurde, von allem Tatsächlichen abgesehen, theoretisch sogar
unwahrscheinlicher, daß sie gerade aus der Ferne von Millionen von
Lichtjahren überhaupt noch sollten gesehen werden können, -- sie mit
ihrer bloß glimmenden Phosphoreszenz, die schwerlich der Leuchtkraft
wirklich glühender Kolosse wie einzelner echter Fixstern-Sonnen auch
nur gleichkommen konnte.

Mochten sie immerhin, wie vielleicht der ganze Aether, der
unaufgebrauchte Rest eines Kant’schen Ur-Nebels sein, aus dem alle
Sonnen unseres Systems sich im Zeitenlaufe bereits herauskristallisiert
hatten wie aus einer Mutterlauge.

Jedenfalls blieb es auch mit ihnen bei dem einen einzigen Ur-Nebel für
unsere Kenntnis, -- eben dem, aus dem unsere Milchstraße sich geformt
hatte. Nirgendwo, auch in keinem Nebelfleck, sahen wir aus unserem
Milchstraßengeheimnis hinaus auf ein zweites.

Vielleicht gehörte der ganze Lichtäther als solcher wirklich noch zu
uns, war mit umschlossen in unserem System.

Jenseits gähnte dann der absolut leere oder wenigstens auch ätherleere
Raum.

Keine Lichtwelle konnte durch ihn mehr zu uns fließen.

Nie würde ein Menschenauge innerhalb unserer Sternenlinse von außen
eine Lichtpost erhalten, da der Träger fehlte.

Mochten Welten sein, unzählige, wie Philosophen träumten. Nie kamen sie
zusammen, auch in Form einer dämmernden Nebelinsel nicht. Hinter dem
letzten Fixstern begann für uns -- das Nichts, -- -- das Nichts des
ewig Blinden.

An dieser Stelle, wo der Speerwurf des alten Lukretius wirklich vor
der schaudervollen Leere scheint, ist es nun doch der alte freundliche
Andromeda-Nebel gewesen, der uns gezwungen hat, etwas weniger straffe
Saiten aufzuziehen.

Die Arabeske wächst sich wieder ein. Allerdings, um nun endlich gerade
das doch noch umzuwerfen, was von Anfang an das allersicherste Ergebnis
schien.

Die Beweiskraft der ganzen Nebelfleck-Forschung für das
Milchstraßenrätsel ist zu dieser Stunde -- so viel bleibt fest --
hinfällig, so weit es sich um wirklich gasförmige Nebel handelt.

Ihre Entfernung ist mindestens in einer Anzahl kontrollierbarer Fälle
nicht so groß, wie man geglaubt hatte.

Und ihre Beweiskraft überhaupt hinkt angesichts der Tatsache, daß
ihre ganze Beschaffenheit sie einstweilen selbst den schlechterdings
rätselhaften Naturgebilden einreiht, die zwar selber immerzu in
Vermutungen locken, die aber als feste Stütze anderer Vermutungsketten
(wie des Milchstraßen-Problems) ehrlicherweise vorerst noch nicht
benutzt werden dürfen.

Nun ist es aber auch der vollkommensten Spektral-Analyse unserer
Zeit +keineswegs+ eingefallen, +sämtliche+ Nebel, die von
Herschel, Rosse und den Späteren mit dem Fernrohr nicht aufgelöst
werden konnten, als solche echten Gas-Nebel anzusprechen.

Als die Sache zuerst so hübsch losging mit der Licht-Zerlegung und
dem Gas-Nachweis vor Nebelflecken überhaupt, da wurde diese Tatsache
ja wohl so etwas obenhin behandelt. Alle, die durchaus aus den
Nebelflecken Embryonen oder Nebel-Keime werdender Milchstraßen-Systeme
machen wollten, sahen die Fälle, wo der Nebel laut dem Prisma einmal
entschieden nicht aus losem Gas bestehen wollte, als minderwertig über
die Schultern an. Und die Arabeske mußte erst beim wahren Bankrott der
ganzen Gasnebel-Theorie im alten Sinne angekommen sein, damit diese
scheinbar belanglosen Ausnahmen selber wieder Theorie-Wert bekamen.

Es ist so: eine gewisse Reihe von Nebeln bleibt trotz ihrer
Unauflöslichkeit durch das Fernrohr unter der Licht-Gießkanne des
Prismas ein Fixstern-Haufen.

Es kommt ein Strahlenbündel aus dem Sieb, das nicht die leiseste
Aehnlichkeit mit jenem Wasserstoff-Bilde oder überhaupt einem reinen
Gas-Bilde besitzt. Es kommt vielmehr das vor, was vorkommen müßte, wenn
dieser Nebelfleck tatsächlich eine einzelne Fixsternsonne wäre. Das
kann er aber seiner Größe und Erscheinung nach nicht sein. Es bleibt
also kein Schluß übrig, als daß er (im oben besprochenen Sinne) das
Produkt aus dem Lichte einer Masse solcher Fixsterne sei. Warum können
wir aber diese Einzelsterne gleichwohl mit dem besten Fernrohr nicht
erkennen?

Es gibt nur eine Antwort auf diese Frage, die Sinn und sogar sehr
viel Sinn hat: dieser Haufen Fixsterne steht diesmal wirklich so weit
von uns ab, daß wir auch im vorzüglichsten Fernrohr seine Milchstraße
als „Milch“ sehen ohne Einzelpunkte. Und das muß ganz gewaltig weit
sein✹.....

Gerade in diesem Falle befindet sich aber der Andromeda-Nebel.

Der Andromeda-Nebel trotzt noch heute seiner Auflösung.

Wohl erscheinen im starken Rohr auf seiner Nebelfläche viele kleine
Sternchen. Aber sie machen den Eindruck, als seien sie selbst
perspektivisch davor geschoben. Die eigentliche Nebelmasse schwimmt
dahinter in mildem Licht als echte „Milch“. Diese Milch hat im ganzen
noch wieder ihre Struktur, Andeutungen eines geheimnisvollen Baues,
-- wir reden noch davon. Aber das ist offenbar Grundriß: Zimmer,
Stockwerke, -- nicht Ziegelsteine. Und doch löst der Zauberstab des
Prismas auf seinem Umwege unzweideutig die Existenz auch dieses
„Ziegelsteins“ heraus. Fixstern-Sonnen sind die Ziegelsteine.

Auch die Spektral-Analyse hat lange werben müssen um diesen Schleier
der schönen Andromeda.

Bei dem überaus schwachen Lichte dieser Nebelflecke ist jede
Prismauntersuchung ja überhaupt eine schwere, eine langwierige,
gedulderprobende Arbeit.

Zuerst ergab der Andromeda-Nebel ein einfaches Farbenbündel, wie es
dem simpelsten Beispiel aller Lichtquellen: einem Körper in Weißglut
entspricht. Mit solchem Licht strahlt uns der eigentliche innere
Hauptkörper unserer eigenen Sonne an. Oberflächlich konnte das also
schon genügen, um wahrscheinlich zu machen, daß dieser Nebel aus
sonnenhaften Fixsternen bestehe. Indessen gibt es hier noch einen
Einwurf. Auch Gase zeigen tatsächlich dieses Licht, wenn sie durch
einen furchtbaren Druck irgend welcher Art gepreßt werden. War ein
solcher Druck aus irgend einer unbekannten Ursache dort vorhanden, so
konnte der Nebel also doch aus einheitlicher Gasmasse bestehen.

Man hat dieses Argument freilich auch bei unserer Sonne selbst schon
vorgebracht. Während die nächstliegende Anschauung den eigentlichen
lichtstrahlenden Körper unserer Sonne für eine weißglühende Masse hält,
glauben andere Forscher auch ihn als Gaskugel ansprechen zu müssen, die
nur eben unter so kolossalem Druck steht, daß das Gas dasselbe Licht
strahlt, wie ein viel festerer Körper in Weißglut. Einerlei, wie es nun
damit bei der Sonne sei, -- sicher ist, daß diese Sonne gleich allen
echten Sonnensternen ein zweites Merkmal in ihrem Lichte zeigt, das
erst recht eigentlich charakteristisch für sie ist.

Das Licht des Sonnenkörpers passiert, ehe es zur Erde hinüberstrahlt,
noch eine Art Decke oder Hülle dieser Sonne selbst. Diese Decke besteht
aus glühenden Metalldämpfen. Indem das Licht nun diese Dampfschicht
zunächst noch vor seinem Austritt passiert, erleidet es eine höchst
eigentümliche Veränderung: es erscheint jenseits, wenn es im Prisma
ausgesiebt wird, durchsetzt mit einer Masse feiner dunkler Striche. Man
nennt diese Striche die Fraunhofer’schen Linien, und man folgert aus
ihnen die merkwürdigsten Dinge über jene Dampfschicht der Sonne selbst,
die uns aber hier weiter nichts angehen.

Für uns wesentlich ist, daß, wo immer Fraunhofer’sche Linien im
Prisma-Lichte eines selbstleuchtenden Weltkörpers auftreten, mit
Sicherheit auf einen Sonnenstern, eine echte Sonne nach unserer Art,
geschlossen werden kann. Und hier jetzt ist ein neuester Fund von
höchster Bedeutung.

Scheiner in Potsdam, dessen grundlegende Forschungen auf diesem Gebiet
im voraufgehenden schon mehrfach gestreift und benutzt sind, hat
es mit zäher Ausdauer ganz kürzlich fertig gebracht, im Lichte des
Andromeda-Nebels die dunkeln Fraunhofer’schen Linien tatsächlich zu
sehen und in ihrer Lage zu messen. Damit ist der Beweis erbracht,
daß dieser Nebel endgiltig aus sonnenähnlichen Fixsternen besteht.
Er besteht daraus, obwohl kein bestes Fernrohr unserer Technik diese
Einzelsonnen in ihm noch wirklich unterscheiden kann.

Nehmen wir die Größe seiner Sonnen dabei im Normalmaße unserer
Fixsterne an, so ist dieses doppelte Verhalten jetzt nur noch erklärbar
durch einen wirklich ungeheuren Abstand des Nebels von uns, -- durch
einen Abstand, der in diesem Falle nun doch unbedingt über die Grenzen
unseres eigenen Milchstraßensystems hinausführt.

Der Andromeda-Nebel ist doch ein zweites Milchstraßen-System, frei im
Raume schwebend jenseits unseres eigenen.

Scheiner läßt als allgemeine Möglichkeit zu, daß der Nebel eine halbe
Million Lichtjahre von uns entfernt sei. Für einen zweiten Nebel,
auf den dieselben Verhältnisse zutreffen und der im Sternbild der
Jagdhunde leuchtet, kämen dann entsprechend 6½ Millionen Lichtjahre
heraus, -- also immerhin annähernd Humboldt’sche Ziffern. Vor 6½
Millionen Jahren, als die heute eintreffende Lichtpost von dort abging,
schwamm bei uns auf Erden der Ichthyosaurus noch und der erste Mensch
schlummerte noch tief im Schicksalsschoße.

Die Arabeske wächst zurück, greift wieder ein.

Also wir dürfen nun dennoch vom Andromeda-Nebel etwas über unsere
Milchstraße zu erfahren hoffen, -- eine Antwort hoffen, die über eine
halbe Million Lichtjahre zu uns reist. Aber hatten wir diese Antwort
nicht schon?

Ein letzter Schleier hebt sich.

Dem alten Marius glühte der Andromeda-Nebel wie ein Lichtlein durch
eine Hornlaterne. Ein Lichtscheibchen, eine nebelhafte Linse, -- so
erhielt ihn Kant als Material für sein kühnes Denken. Anderthalb
Jahrhunderte verrauschen nach Kant. Da kehrt der Gedanke zu jener
Denklinie zurück. Aber diesmal reicht der Astronom dem Sinnenden,
dem Träumenden ein ganz anderes Blatt: eine Photographie des
Andromeda-Nebels. Auch sie erfaßt die einzelnen Sternpunkte in ihm
nicht. Aber sie erreicht etwas anderes, nochmals völlig Unerwartetes.

Und noch einmal, zum letztenmal, muß die Phantasie in eine ganz neue
Bahn.

Wahrheit, -- was ist Wahrheit?

Die alte Pilatusfrage klingt durch die ganze Geschichte der
Naturforschung.

Auf der „Wahrheit“ ruht diese Forschung. Vorsichtige Gemüter sagen
schon etwas bescheidener: auf dem lauteren „Streben nach Wahrheit“. In
diesem Sinne ist Wahrheit ein moralischer Wert. Wenn aber selbst das
nur nicht so verzweifelte Ecken haben wollte!

Es scheint so brav: hier steht eine Tatsache; jetzt kommt einer, hat
jenen lauteren Wahrheitsdrang in sich, schaut hin, beschreibt die
Sache; damit ist die Geschichte für immer erledigt; der eine gilt für
alle, die der gleiche Drang beseelt, und ob Tausende kommen, ob nach
Jahrtausenden welche kommen, alle können nur bestätigen.

Die wahre Wahrheit in diesem Falle, die von aller Erfahrung bestätigte,
ist, daß derselbe Gegenstand von hundert und mehr Beobachtern, die
sämtlich wahre Engel an Wahrheitsmoral sind, beschrieben werden kann
und daß unter Umständen jeder etwas anderes sieht.

Ich will gar nicht reden davon, daß die Augen verschieden sehen, obwohl
das schon gewaltig viel tut. Aber die ganzen Menschen sind verschieden.
Unser physisches Sehen ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was
wir wirklich „Sehen“ nennen. Der Rest ist individuelle Zutat. So und
so viel Tropfen mitgebrachte Erfahrung, so und so viel mitspielende,
unbewußt sofort abrundende, ausspinnende Phantasietätigkeit, so und so
viel bestimmtes, längst ins Unbewußte eingewachsenes und von keiner
„Moral“ aus mehr kontrollierbares Vorurteil, -- kurz ein derartiges
Rezept, daß die reine neue Beobachtung als solche darin untergeht
wie ein unschuldiger Schuß _Aqua destillata_ in irgend einer
schwarzbraunen Apothekerbrühe. So geschieht es schon, wenn mehrere
nebeneinander beobachten. Vollends, wenn Jahrhunderte dazwischen
liegen, geht die Verschiedenheit ins Unglaubliche. Man schlägt sich
vor den Kopf, wenn man irgend ein altes Tierbuch oder eine alte Karte
vornimmt, die ein paar hundert Jahre alt sind. Wie konnten die Leute
dies und das nicht sehen, was jetzt ein Kind sieht, wie konnten sie
Mücken für Elefanten halten? Und wir lesen, daß es Leute von einer
Reinheit des Wahrheitsstrebens waren, die uns beschämt, -- Leute, die
sich für den Mut ihrer Ueberzeugungen verbrennen ließen, was, Hand aufs
Herz, doch nicht jeder tut. Wenn heute ein Seetier ans Land kriecht,
das einen Leib wie eine Walze hat, vier flossenhafte Füße und einen
lustigen klugen Hundskopf ohne Hunde-Ohren, so sagt der kleine Junge
auf der Düne schon: ein Seehund. Der Weise von Anno dazumal sagte: aha,
ein Meerweibchen, -- ging nach Hause und zeichnete ein Ungetüm, hinten
Fisch, vorne Mensch. Und der Weise schrieb gleichzeitig ein Buch über
die Heiligkeit der Wahrheit, während der kleine Bengel täglich noch
Prügel bekommt wegen absichtlichen Lügens✹.....

Von dieser moralischen Betrachtung aus bedarf es durchaus keines Salto
mortale, um auf die Nebelflecke zu kommen.

Ein Nebelfleck im Fernrohr ist von Anfang an ein wahres Zwitterding an
der Grenze von Sehen und Phantasieren noch in ganz besonders erhöhtem
Sinne gewesen. Ein Lichtwölkchen, eben angedeutet, zerfließend,
verdämmernd. Und das sollte nun einer mit rohen Zeichenmitteln aufs
Papier bannen! Man versuche doch eine gewöhnliche blasse Federwolke
unseres Tageshimmels „exakt“ nachzuzeichnen. Mancher, der sich gar
geschickt dünkt, wird sich als Polonius, der Kamele zeichnet, dabei
ertappen.

Gleich die ersten Nebelforscher, die auf den alten Simon Marius
folgten, erkannten eins deutlich: die Nebelflecke sahen unbedingt nicht
alle gleich aus.

Das einfache Bild einer Linse, wie es aus der Andromeda glänzte, war
nicht das absolute. Bald dieser, bald jener kühne Pionier in dem neuen
Weltenwalde brachte eine völlig andersartige Zeichnung mit.

Da erschien auf dem Papier ein Nebel, der anzuschauen war wie der
griechische Buchstabe Omega. Einer trat in Gestalt eines Krebses auf,
einer sollte einer Hantel oder (nach andern) einem Ei mit doppeltem
Dotter gleichen.

Wieder andere sahen täuschend aus wie eine losrollende Spirale, eine
Uhrfeder etwa, bis zu dem Bilde eines platzenden Schwärmers und
ähnlicher Feuerwerkskörper.

Und der Anhänger der Kant’schen Ideen sah sich mit einiger Unruhe
sogar einer Figur gegenüber, die aus dem Sternbild der Leier (nahe
dem herrlichen Sterne Wega) stammte und ganz unzweideutig einen
regelrechten geschlossenen Ring bildete, -- just so, wie die
Milchstraße von fern nun doch aussehen würde, wenn sie eben ein echter
Sternenring wäre.

Fragte sich nun bloß, ob diese hübsche Musterkarte stichhaltig sei vor
den Augen mehrerer Beobachter.

Als diese sich allmählich meldeten, schien die Sache allerdings fast
überall zu hapern. Was der eine so sah, sah der andere total anders.
Wo der eine eine Spirale malte, malte jener ein Billardspiel loser
Nebelkugeln. Sah einer wenig, etwa nur ein Streifchen oder dünnes
Viereck, so setzte der nächste einen Spiralschweif daran, der abermals
folgende aber kassierte wieder die Details. Ganz vorsichtige Kritiker
verfehlten nicht, den Bankrott aller vorhandenen Nebelbilder überhaupt
als noch einmal möglich zu prophezeien. Und besonders die ganz
extravaganten Fratzen sollten mehr Menschen- als Himmelsphantasie sein.

In all diese Mühen, Zweifel und Wunder, aus denen einstweilen gar keine
Theorie recht Kapital zu schlagen wußte, platzte nun ebenfalls wie eine
Bombe jene große neue Erfindung, die für die Anzahl und Verbreitung der
Nebel so wichtig geworden war: die Photographie.

Jedermann weiß, daß auch die photographische Platte noch nicht das
vollkommene Ideal der schwindelfreien Wahrheits-Wiedergabe ist. Auch
sie hat noch ihr Lügenrezept, obwohl es nicht mehr aus dem Unbewußten
schöpft. Wie sie heute ist, ist sie sozusagen noch ein etwas dreckiges
Auge. Aber bei alledem ist der Fortschritt kolossal, ja über jede
Erwartung. Und er war es auch für die Festnagelung der Nebelformen.

Man legte sich im großen Stil ins Zeug. Eine halbe Nacht wurde die
Platte genau auf den Nebel eingestellt, dann tagsüber peinlich genau
verhüllt und die nächste Nacht nochmals fast ebenso lange exponiert.
Jetzt gab es unzweideutig sicherere Bilder, ohne Phantasie, Vorurteil
und Augentatterich aufs Papier geprägt. Die Ueberraschungen drängten
sich.

Da war beispielsweise gleich der bewußte Nebel in Ringgestalt aus der
Leier. Seit man mit dem anderen chemischen Auge, dem Prismaglas der
Spektral-Analyse, die Nebel aufs Korn genommen, war er allerdings
der Kant’schen Milchstraßen-Theorie schon von dort her ziemlich
ungefährlich geworden. Denn er bestand nachgewiesenermaßen aus
echtem Gas, zählte also zu den so wie so jetzt beweisunkräftigen
Nebelmassen. Immerhin war aber seine Ringform selber ein Aergernis,
das die bösen Zweifler lockte, wenn es so schwarz auf weiß im Buche
stand. Die photographische Platte lieferte jetzt den Beweis, daß man
sich mit diesem starren Individualisten auch der Form wegen besser
in gar keiner allgemeinen Theorie beschäftigte. Schon das Fernrohr
hatte im Innern des länglichen Ringes gelegentlich ein zentrales
Sternchen gezeigt, das möglicherweise hineingehörte. Daraus machte
die Platte einen großen, im Ring umschlossenen inneren Nebelfleck,
der auf der Photographie wirksamer sogar war als der Ring selbst.
Warum sah man ihn mit unserm Auge trotz aller Rohre nicht? Dieser
Zentralkörper warf einfach Lichtstrahlen aus, auf die unser Sehnerv
nicht mehr eingerichtet ist: jene berühmten ultravioletten Strahlen,
die zwar auf der photographischen Platte einen Eindruck hinterlassen,
den wir dort als Ergebnis dann auch gewahren, -- die als unmittelbar
einfallende Lichtwirkung unser Auge aber blind finden. Kein Physiker
hat zur Zeit eine Ahnung, was das für eine Sorte Weltkörper sein kann,
die da leuchtet. Ist dieses ganze Gebilde doch vielleicht kein Ring,
sondern eine einheitliche Gaskugel, deren Schichten sich aber in der
Art ihres Leuchtens, ihrer Phosphoreszenz im früher angedeuteten
Sinne, unterscheiden? Einstweilen reißt mit diesem Funde jedes Band.
Mit unserm Milchstraßen-System hat dieser krause Geselle mit seinem
ultravioletten Gas-Herzen jedenfalls gar nichts zu tun, weder so, noch
so. Hier waren die Andromeda-Freunde in Kants Sinne also glänzend noch
einmal wieder gerettet.

Doch auch bei den Platten war noch nicht aller Tage Abend.

Nach dem Ring kamen die Spiralen, die Frösche und Schwärmer an die
Reihe. Sie waren ja nicht ganz so unbequem wie der nackte Ring. Aber
schließlich ist eine Spirale, wenn sie einigermaßen regelmäßig ist,
einem Ring immer noch ähnlicher als eine solide Scheibe oder Linse.

In Anbetracht dessen war es Musik in den Ohren der strengen Kantianer
gewesen, als ein äußerst gewissenhafter neuerer Kritiker, der Astronom
Tempel, gerade diese Spiralnebel, die sich in der Zeit nach Herschel
gar aufdringlich vorgetan, schlechthin hatte aus der Welt schaffen
wollen als „Phantasietrug“. Tempel war ein Wunderkind im Gebiete der
menschlichen Netzhaut. Vom Lithographen zum Sternforscher war er
wesentlich heraufgekommen eben wegen seiner einzigartigen körperlichen
Sehschärfe. Er sah das Doppelte fast seiner Kollegen -- und gerade mit
diesem Doppelten leugnete er die Spiralform bei Nebeln.

Wir Menschen, meinte er, sind nun einmal unverbesserliche Aesthetiker.
In Fleisch und Blut stecken uns rhythmische Gebilde. In ein Chaos sehen
wir Kunstfiguren hinein. So soll eine chaotisch versprühte Lichtmaterie
gleich einem Feuerwerkskörper ähneln, wie ihn unsere Kunst baut. Aber
wir beschwindeln uns, und alle Nebelspiralen, so nett sie im Buche
aussehen, sind solche mit Phantasiezutat erschwindelten „Kunstformen
der Natur“.

Hinter solchem Zweifel steckt im Grunde ja eine Weltanschauung. Die
Weltanschauung der Angst, es könnte in der Natur irgendwo rhythmische,
ästhetisch schöne Gebilde geben auch ohne Zutun des Menschen. Es
gibt Leute, die meinen, ihre ganze freie Naturauffassung falle in
Mystik zurück, wenn so etwas möglich sei, -- wobei die guten Leute
nur leider vergessen, daß sie selber ja den Menschen aus dieser Natur
hervorwachsen lassen und also in ihm schließlich doch an das Wunder
glauben, daß die Natur auf natürlichem Wege rhythmische Kunstgebilde
schaffe. Doch das jetzt beiseite.

Sachlich hatte Tempel in seinem Falle sogar guten Grund zur Skepsis, --
das heißt bis zu dem Tage, da die Photographie auch hier ohne Rücksicht
auf Sachlichkeit oder Weltanschauung des einen oder andern die Sache
selbstherrlich in die Hand nahm.

Mochte nun im Weltall Kunstfeuerwerke abbrennen, wer wollte: bessere
Schwärmer und Frösche, als jetzt in korrektester Spiralform auf den
photographischen Platten wirklich erschienen, ließen sich einfach nicht
ausdenken, -- trotz Tempel.

Es gab Spiralnebel genau im Sinne der brauchbaren älteren Zeichnungen.
Man denke sich, um das Bild klar zu bekommen, einen nebelhaft glühenden
Hauptkörper, eine Kugel etwa. Von dieser Kugel wickeln sich Arme los.
Einmal etwa genau zwei, links einer, rechts einer. Jeder ist nach der
entgegengesetzten Seite krumm gebogen. Oder es gehen drei solcher
Schweife in Windrosenlage ab, also in regelmäßiger Stellung wie
arabeskenhaft geschweifte Radspeichen. Oder: von dem Hauptkörper rollt
sich ein einziger fast gleich dicker Arm wurmhaft heraus und umkringelt
ihn als einzelner Spiralstreifen fast vollständig, nur eine kleine
Oeffnung lassend. Oder endlich, noch verzwickter: von dem Zentralkörper
fließen mehrere solcher fast konzentrischen Spiral-Ringe aus, die sich
auch noch gegenseitig ein Stück weit umkringeln, dann aber, als sei die
Spirale verbogen, übereinander hinlaufen, sich schneiden und getrennt
endigen. Der eine oder der andere Arm hat dabei wohl noch die besondere
Eigenheit, an der offenen Spitze wie in einem Knopf in einen zweiten
Kernball auszulaufen.

Und nun: -- gerade diese seltsamen Spiral-Nebel, einmal sicher als
vorhanden festgestellt, zeigten zwei weitere, im höchsten Grade
bemerkenswerte Eigenschaften.

Zunächst fiel ihre Menge auf. Ging allmählich die Anzahl der
Nebelflecke überhaupt in die Tausende und Abertausende (über
7000 sind heute fest bestimmt, über 100000 werden mindestens als
Wahrscheinlichkeitsabschätzung vermutet), so vermehrte sich mit dem
Photographieren gerade die Zahl der unverkennbaren Spiralen aufs
überraschendste dabei.

Dazu aber trat als weiterer Umstand, daß ausgesucht diese Spiralnebel
nicht aus Gas, sondern aus echten Sternen bestehen wollten, wo immer
die Spektral-Analyse ihnen zu Leibe ging. Ich habe schon den Nebel
im Sternbild der Jagdhunde einmal berührt, den Scheiner etwa 6½
Millionen Lichtjahre von uns entfernt sein läßt und entsprechend als
echte Milchstraßenwelt, als zweites, unabhängiges Weltsystem gleich dem
unserigen faßt. Nun denn: gerade dieser Jagdhund-Nebel war von allen
der erste, der sicher als Spirale erkannt wurde, schon vom Lord Rosse.
Seitdem ist auch er in Amerika photographiert und in seiner Gestalt
genau in Rosses Sinne bestätigt worden.

Auch die Forschungs-Arabeske um den Andromeda-Nebel und unsere
Milchstraßenform nähert sich hier offenbar ihrer letzten, aber
bedenklichsten Spirale.

Der Andromeda-Nebel schwebte noch einmal vor uns, gerettet als
selbständiges Milchstraßen-System. Aber mit ihm ist der Jagdhund-Nebel
auf dieselbe Deutung gerettet. Und dieser Jagdhund-Nebel ist keine
einheitliche Stern-Linse, sondern doch ein wenigstens annähernd
ringförmiges Gebilde: eine ungeheure Spirale aus Fixsternschwärmen.

Wem gleicht nun endgültig unser eigenes Milchstraßensystem: der Linse
der Andromeda -- oder dem spiralig gewundenen Feuerwerkskörper der
Jagdhunde?

Diese Doppel-Frage aber ist im Jahre 1888 durch Anwendung der
Himmelsphotographie nochmals vereinfacht und im Prinzip gelöst worden.
Der Andromeda-Nebel selbst wurde von Roberts photographiert. Und
die photographische Platte erwies ihn selber -- -- ebenfalls +als
Spiral-Nebel+.

Es war eine der ersten Errungenschaften des Nebel-Photographierens, daß
es uns auf eine bestimmte Möglichkeit bei den Spiralnebeln überhaupt
aufmerksam machte.

Nehmen wir eine platte Uhrfeder. Und bringen wir diese platte Spirale
in verschiedene Lagen zu unserm Gesichtsfeld. Es ergibt sich, daß
bei bestimmten Lagen das Erkennen der Spirale schwer, ja zuletzt
geradezu unmöglich wird. Wenn ich genau gegen die Kante der Spirale
sehe, so sehe ich nur mehr ein senkrechtes Streifchen, -- genau wie
beim senkrechten Blick auf den gekerbten Rand eines Markstückes. Aber
auch wenn ich die Spirale etwas mit der Fläche um die Ecke lugen
lasse, sehe ich gerade die Spiral-Natur noch nicht als solche. Die
Spiralringe schieben sich ja perspektivisch so aneinander, daß ich
einen geschlossenen Körper zu sehen glaube. Ein solides Markstück,
ebenso ein wenig um die Ecke balanciert, schaut tatsächlich noch genau
so aus. Und erst ein ungemein scharfer Blick würde schließlich die
ganz feine Zeichnung der aneinandergeschobenen Spiralreifen doch in der
Fläche noch herausfinden können und so die wahre Natur enträtseln.

Aus dieser Betrachtung folgt, daß auch Spiralnebel im Raum, die mit der
schmalen Kante senkrecht gegen uns stehen, uns bloß als leuchtendes
Streifchen, solche aber, die ein wenig mehr schräg stehen, als schmale
Spindel, Scheibe, Linse erscheinen müssen. Und erst eine kolossal
verschärfte Detailschau würde wenigstens im letzteren Falle noch gerade
die Spiralnatur enthüllen aus feinsten Linienandeutungen, spiralig
gewundenen Strichen in der Scheibe oder Linse. Eben diese Detailschau
nun hat die Photographie uns beim Andromeda-Nebel ermöglicht.

Schon längst hatten scharfe Beobachter im Fernrohr etwas in dem
Linsenscheibchen dieses Nebels wie eine feine Struktur gesehen, -- eine
Art dämmerhaft angedeuteten engeren Grundrisses. Im Mittelpunkt schien
eine undeutlich begrenzte Verdichtung sich merkbar zu machen.

Dann sah Trouvelot in Washington mit einem besonders brauchbaren Rohr
zwei dunkle Streifen, die den Nebel fast längelang durchsetzten.

Was sollte das sein?

Die Skepsis im Sinne Tempels sagte: Augentäuschung. Das Auge der
photographischen Platte aber sah den Dingen auf den Grund.

Auf der Photographie erscheint die ganze Nebel-Linse mit einer
endgiltig durchschlagenden Unzweideutigkeit als eine -- Spirale in
außerordentlich schiefer Projektion.

In der Mitte genau wie bei dem Nebel der Jagdhunde ein Zentral-Ball.
Von ihm sich loswindend mehrere riesige Spiralenarme, die an sich
offenbar frei herum greifen, für unsere zufällige Beobachterstelle
auf der Erde aber so aneinandergeschoben sind, daß ihre Zwischenräume
nur mehr als ganz feine, dunkle, elliptische Längsbogen die schmale
Gesamtlinse durchsetzen.

Mit diesem Funde war die Kant’sche Idee inmitten ihres vollen Triumphes
noch einmal geschlagen.

Es gab ferne Welteninseln gleich unserm ganzen Milchstraßensystem.
Aber es gab sie nur in Spiralform. Auch der Andromeda-Nebel wies diese
Form. Wir wußten aus der Spektral-Analyse, daß er aus einem unendlichen
Gewimmel sonnenähnlicher Fixsterne bestand. Aber diese Fixsterne
durchwimmelten nicht eine einheitliche Linse, die, vom Mittelpunkt
angesehen, das rein perspektivische Bild eines Milchstraßenringes
ergab, sondern im Mittelpunkt schwebte zunächst ein rundlicher, oben
und unten abgeplatteter Sternhaufen. Von ihm aber ging in flacher
Ebene ein spiralig gewundener Strom weiterer Fixsterne aus, der die
Zentralmasse im ganzen nun doch wirklich ringförmig umgürtete. Freilich
nicht als regelmäßiger Ring. Denn in Wahrheit schoben sich ja mehrere
Spiralreifen hintereinander darin mit dunklen Zwischenräumen.

Kant selbst hätte als ehrlicher Logiker vor dieser völlig verwandelten
Sachlage zugeben müssen, daß seinem ganzen Ideengang die sachliche
Grundlage unter den Füßen fortgezogen sei. Und nur eins konnte er
schließlich noch vorbringen.

Die Nebelflecke -- das Wort einmal für das Ganze gebraucht -- hatten
ja doch verschiedene Gestalt. Warum sollten nicht auch neben jenen
spiralförmigen Weltnebeln tatsächlich noch anders geformte existieren?
Und warum sollte nicht gerade unser Fixsternsystem anders gebaut sein?
Wenn die Milchstraße sich so hübsch auch aus einer Linsengestalt mit
gleichmäßiger Sternverteilung erklären ließ: warum sollten wir nicht
Linsengestalt trotz so und so vieler spiraliger Brüder im All besitzen?

Dieser neue Schluß wäre eine Rettung, -- aber eine äußerst dürftige,
wie man sieht. Die sichtbaren Nebelwelten, die früher ein Glied der
Schlußkette waren, das erklärte, sind jetzt ein Ballast, der selber mit
Mühe forterklärt werden muß. Aber es bedarf der ganzen Spitzfindigkeit
zum Glück nicht. Denn ein allerletzter Schleier reißt: und damit ist
die Situation klar.

Denken wir uns doch noch auf einen Augenblick in jenen wirklichen
Spiralnebel der Andromeda so hinein, wie wir es früher taten, als
wir ihn für eine einheitliche Sternenlinse hielten. Stellen wir uns
beobachtende Menschen vor auf einem Weltkörper fast oder ganz im
Mittelpunkt.

Wie würden sie den Himmel jetzt sehen?

Sie befänden sich zunächst im Mittelpunkt des inneren Sternhaufens,
jener glänzenden Mittelstelle im Nebel. Nach allen Seiten ständen
Sterne, viele groß und nah, und alle immerhin so, daß nirgendwo ein
Gedränge nach Milchstraßenart entstände, da der Sternhaufen vielleicht
abgeplattet, aber immer doch noch annähernd eine Kugel wäre. Aber in
bestimmter Ebene erschiene gleichwohl eine solche Milchstraße als
größter Kreis rings um den Himmel. Das wäre nämlich jetzt das ganze
Spiralsystem, dessen Ringe sich so glatt hintereinanderlegten, daß sie
von innen nur mehr als einziger Reifen erschienen. Immerhin würde eine
gewisse Ungleichheit in dieser Milchstraße sich bemerkbar machen. Denn
die Spirale kommt ja doch an einer Stelle aus dem Zentralfixsternhaufen
heraus und verläuft an einer anderen ins Weite. Eine Seite der
Milchstraße würde näher aussehen, sich leichter noch in Sterne auflösen
lassen: die, wo die Spirale sich von der Mitte losringt, -- eine andere
umgekehrt verlöre sich mehr in völlige Milch. Und selbst das könnte
recht wohl noch weit überboten werden durch einen zweiten Umstand.

Die Spirale mit ihren Windungen liegt in diesen Nebeln anscheinend,
wie gesagt, flach in einer und derselben Ebene. Aber sie könnte für
den engeren Anblick gleichwohl sehr gut wenigstens gewisse kleinere
Verschiebungen auch über die Horizontallage hinaus besitzen.

Dann würde die von ihr gebildete Milchstraße einer solchen Welt die
Spuren davon zeigen in Gestalt von Spalten, von dunklen Lücken.

Stellenweise, wo zwei Spiralwindungen eben übereinander weg ragen,
würde sie wie verdoppelt erscheinen. Man hätte den Eindruck nicht einer
kompakten Masse, sondern eines in sich höchst verwickelten Gebildes,
in das man in schrägster Projektion hineinschaute. Findige Astronomen
dort würden immerhin aus der Summe dieser Anzeichen auf eine Spirale
schließen, -- niemals aber würden sie eine so gebaute Milchstraße
für die rein optische Wirkung einer einheitlichen Sternenlinse im
Sinne Kants halten können. Wie sollten in die hinein Spalten geraten,
durch die man in den schwarzen Weltraum blickt? Die Fläche der Linse
müßte durchsetzt sein mit tiefen Röhren und, -- abgesehen von dieser
Verschiebung schon des ganzen Bildes, -- wie sollte man sich das im
Einzelnen ausdenken? Undenkbar! Kein Mensch dort würde zweifeln, daß
er sich in einem Spiralnebel befindet und daß jeder Augenaufschlag zur
schönen Milchstraße ihn in diese Spirale tauchen läßt✹.....

Mein Blick sucht die Milchstraße selber wieder, unsere Milchstraße, das
alte liebe Silberband.

Im Geist durchfliege ich sie ganz, wie sie unsern Nordhimmel der Erde
überwallt.

Seltsam: bin ich doch noch dort drüben in der Andromeda-Welt, -- oder
wirklich hier?

Was ich eben beschrieben habe, ist ja Zug für Zug unsere
Milchstraße✹.....

Sie ist es, die hier nah, scharf gerandet, glänzend erscheint, dort
wolkenhaft blaß, als wolle sie verschweben. Sie ist es, die dunkle
Stellen umschließt, und die sich endlich auf eine weite Strecke ganz
gabelt, in zwei Arme auflöst, die breit voneinanderklaffen.

Schon das schlichte Auge sieht das, -- einem Kinde kann man es
zeigen. Im Fernrohr wird alles nur noch unendlich viel deutlicher. In
wolkenartigen Klumpen schieben sich dort ihre Teile voreinander, --
dann reißt aber gelegentlich das ganze Gedränge und der Blick fällt jäh
in den schwarzen Raum.

So lange Kants Idee durch die Köpfe pilgerte, so lange hatte der
Zweifel immer wieder gefragt, was diese Zeichen und Wunder sollten.
Aber leichtfüßig war die Idee darüber weggehüpft. Zufällige
Nebenerscheinungen sollten es sein. Und so muß der Gedankenflug in
seiner ganzen Schwere vom Andromeda-Nebel selber zurückkommen mit dem
Bilde eines Spiral-Systems, um uns die Augen endlich zu öffnen.

Wir selber leben in einem Spiralnebel des Alls.

Kant hat unrecht -- und hat recht. Recht hat er, daß unser System dem
des Andromeda-Nebels gleicht. Recht hat er, daß wir von dort etwas
lernen können über uns. Unrecht aber hat er im Vergleichungspunkt,
unrecht in dem, was wir lernen sollten. Hier wie dort ist keine Linse,
sondern ein kugeliger Zentralhaufen von Fixsternen, den eine ungeheure
Spirale aus Millionen Fixsternsonnen umwindet. Und unsere Schau in die
Milchstraße ist der Blick auf unsere Spirale. Wo die Milchstraße sich
teilt, klaffen die Reifen der Spirale voneinander.

Ein in seiner Größe fast grausiges Bild.

Diese Spirale, in der sich ein Sonnenstrom, ein Strom von Sonnen
ergießt, wird nicht ruhen.

Wir wissen es ja: alles fließt. Unsere Sonne selber wandert, vom Orion
fort, auf die Sterne des Herkules zu, dorthin, wo die Sterne sich
auseinanderlösen wie die Pappeln einer Allee vor dem Pilger.

Auch in jenen Wirbeln wird eine ungeheure Bewegung sein, ein
unablässiges Dahinziehen der Fixsterne wie das Strömen der
Rauchpartikelchen in dem blauen Wirbel einer Zigarre. Schwindelnder
Traum✹.....

Auf meiner einsamen Gebirgswanderung, das flimmernde Silberband über
mir, wollte eine dumpfe Angst mich überkommen.

Die Angst des Menschen, über dem das All zusammenstürzt.

Aber ein friedlicher Gedanke trat zwischen die aufgeregten Geister
meines Hirns.

Was siehst du dort? Im Grunde ja nur dich.

Im Grunde ist diese ungeheuerliche Himmelsspirale mit all ihren
Sonnen nur ein ferner, schöner Abschlußreifen in deiner eigenen
Individualität. Du umgreifst alle diese Welten, du mit deinem Ich.
Warum bangt dir vor dir selbst?

Dein Gedanke hat diesen Spiralnebel erobert. Er wird noch mehr Welten
finden. Und er wird nicht ruhen, bis das alles wieder eine feste
moralische Leiter ist in dir selbst, wie es einst die Himmels- und
Höllenwelt des Dante war.

Vielleicht ist gerade die Spiralgestalt dieser Milchstraße eine feine
Brücke dazu. Zu dir, wenn du selbst ein Schaffender wirst, kehrt sie
wieder -- als Schönheitslinie.

Du gräbst einen alten Grabhügel auf, aus vorhistorischer Zeit.
Goldschmuck kommt zu Tage. Und schon dort ist die Spirale
Kunst-Ornament. Als goldene Ringelschlange lag sie vor Jahrtausenden
schon um den nackten Arm eines schönen Mädchens. Der Mann, der es
liebte, suchte eine ästhetische Form, die Naturschöne dieses Armes
noch zu erhöhen. Er schuf. Ein anderes naturschönes Gebilde nahm er:
Gold. Und dem gab er eine Kunstform: die Spirale eines Armreifs.
Dem Menschenauge war das wohlgefällig. Es glitt angenehm über diese
Schlangenlinie hin, die sich wohl um sich selbst wand, rhythmisch sich
selbst wieder zustrebte und sich doch dann wieder löste zu höherer,
weiter ausgreifender, im Unendlichen verklingender Harmonie, anstatt
sich selber in den Schwanz zu beißen und so der platten Wiederkehr zu
verfallen.

Das Menschenauge mit seinem Sinnen und mit seiner Sehnsucht ist das
gleiche geblieben bis heute. Lege deiner Liebsten diese Spirale, diese
jahrtausendalte Goldspirale um den weißen Arm und sie jubelt: Wie
schön! Der Goldschmied von heute, der den Geschmack seiner Leute kennt,
nimmt sie dir aus der Hand und benutzt sie als neues Modell.

Warum das alles?

Zu solcher einsamen Gebirgsnacht, wenn der Hirsch schreit und die
Sternenkrone zum Greifen über dir schwebt, hat man Träume✹.....

Rübezahl, der Naturgeist, denkt mit.

Warum diese Gleichartigkeit der Linien, der Erfindung, des Schaffens,
in dieser ungeheuren Natur, -- vom Andromeda-Nebel bis zum
prähistorischen Goldreif, von der Milchstraße bis zu mir?

Ein Narr fragt viel.

Aber aus Narrenfragen sind Weltanschauungen erstanden, Gebilde des
menschlichen Gedankens, riesiger noch als Nebelflecke und Milchstraßen,
denn diese alle sind mit darin. Jede dieser Weltanschauungen begann mit
irgend einer dummen Frage und hat an einer solchen Frage auch wieder
den Endpunkt gehabt, wo die Spirale der Ideen-Entwickelung sich von ihr
abbog, höheren Sternen und Ideen zu.

Wer in dieses Geheimnis dränge, warum menschliche Kunstformen und
fernste Gebilde des Alls auf dieselbe Figur, dieselbe Schaffensform
hinauslaufen, der wäre ein solcher Frager für uns.




Die Entstehung der deutschen Landschaft.

Träumereien auf einer Eisenbahnfahrt.


Mir war in diesem Frühjahr eine lange Fahrt über deutsche Erde
beschieden: von den Marschwiesen Worpswedes bei Bremen fast ohne
Unterbrechung bis ins schlesische Riesengebirge.

Die Eisenbahn wird so oft gescholten, weil sie eine Generation ohne
Naturfreude erziehen helfe. Ich danke ihr umgekehrt etwas, was
frühere Zeiten unbedingt nicht so besessen haben: die Möglichkeit
vergleichenden Landschaftsstudiums.

Wie über eine wunderbar belebte Karte, die doch dabei das Umfassende
einer wirklichen Karte bewahrt, fliegt der Blick. Auf solcher Fahrt
lernt man nicht Landschaft in Deutschland kennen, sondern deutsche
Landschaft. Und der Gedanke wühlt sich ein in diesen Begriff, während
das Auge den Totaleindruck erlebt.

In diesem Auge hing noch das Gold der fett und naß blühenden
Caltha-palustris-Felder der Marschen, ein endloser gelber Teppich bis
zum Horizont, über dem eine bläuliche Hügelwelle eben vorragt.

Dieser Hügel ist in Wahrheit schon eine Düne. Unter dem Schilfkranz
hier, in dem der Wind unter dem blaßblauen, wolkenbefederten
Wasserhimmel singt, rauscht zu Zeiten der murmelnde Spiegel höher,
denn die Flut des Ozeans spielt schon hinein. Zwischen die Lerchen
des Landes, die Kiebitze und Störche des Binnensumpfs mischen sich
Seeschwalben und lustige Kampfschnepfen.

Aber dazu jetzt in schneller Wandeldekoration die braune Lüneburger
Heide, dürre Erika, rote Bauernhöfe zwischen lichtgrünen Birkenalleen:
die trockene Sand- und Birkenebene Osteuropas tief einschneidend ins
deutsche Land.

Und wieder die dichten, dunkeln Waldungen der Mark, auf roten Säulen
wie eine endlose graue Wolkenbank die Nadelkronen der Kiefern.

Und abermals öde, ganz öde, ganz platte Ebene mit Birken, bis die
blaue, noch leicht beschneite Silhouette der Rübezahlberge die
Landesgrenze gegen den Himmel schreibt und mit der Erhebung des Bodens
auf einmal in schwarzer Pracht die Fichte da ist.

Die Bahn steigt, und der schwere, zottige Fichtenpelz kriecht mit
ihr den Hang empor. Bis für beide der rauhe Urgebirgsfels zu steil
wird. Noch einmal triumphiert die Kiefer, aber in ihrer Zwergform,
die auf gebeugtem Rücken als „Krummholz“ dem ungeheuren Winterschnee
Trotz zu bieten wagt. Hier liegt die deutsche Ebene schon unabsehbar
zu Füßen wirklich wie eine grell kolorierte Karte. Am Krummholzhang
der Schneegrube aber blüht im Hochsommer ein seltsames rosenrotes
Glöckchen, das lieblich nach Vanille duftet. Das malt am deutlichsten,
wo wir sind. Der Südrand der deutschen Landschaft hat durch vertikales
Ansteigen noch einmal Nordlandscharakter erreicht, stärker sogar, als
ihn der meerbespülte Nordrand selber besitzt. Dieses Pflänzlein ist
die _Linnaea borealis_, das eigene Patenkind des großen Linné
bei seiner riesigen Massentaufe des Lebendigen auf Erden und insofern
ein bevorzugtes Wesen in dieser ganzen Fülle für immer. Der Name des
Meisters von Upsala weist aber auch schon den Weg: erst in Skandinavien
findet die Linnäa sich wieder, noch weit nördlich von Worpswede.

Es braucht nicht mehr als diese Fahrt, um alle Bilder in der Seele wach
werden zu lassen vom geschichtlichen Werden dieser Landschaft.

Wer seine deutsche Erde liebt, für den gibt es nicht leicht einen
rührenderen Moment in der Geschichte, als das erste Auftauchen
deutscher Landschaft in den Augen von Menschen, deren Entwickelung reif
war, einen Landschaftscharakter als solchen reflektierend zu erfassen.

Ein Zufall warf dem Römer dieses Los zu.

Bei ihm erscheint das Urbild, das lange, bis ganz nahe an unsere
Gegenwart heran, jede historische Betrachtung unserer Landschaft als
Ausgangspunkt beherrscht hat, hinter dem man überhaupt nichts mehr
wußte.

Vom Rhein her kommt der Römer mit seinen goldenen Adlern und seinem
stolzen Weltgefühl des absoluten Kulturträgers. Er stößt auf eine
starre Mauer von Wald. Die Berge liegen begraben in diesem unwegsamen
Forst. Im Tal lauert Moorboden, über den erst hölzerne Stege mühsam
gelegt werden müssen. Wo aber dieser lebendige Wall und Graben
enden, am Meer, da lastet auf der eisigen Flut ewiger Nebel, eine
Tartaruslandschaft. Armselige Sanddünen mit wehendem Hafer bilden
den Rand. An sie speit die geheimnisvolle Tiefe den goldschimmernden
Bernstein.

Eine auffallend wenig bekannte Stelle aus der Naturgeschichte des
Plinius (also aus dem ersten Jahrhundert nach Chr.) zeichnet das
packend.

Ein „Wunder“ bieten ihm diese deutschen Wälder. Sie steigern die
Kälte durch ihren Schatten und sperren, abstürzend, die Seen. „Die
Ufer nehmen die üppigsten Eichen ein. Unterwühlt sie die Flut oder
reißen Stürme sie los, so gehen in ihren Wurzeln ganze Inseln mit. Im
Gleichgewicht stehend mit dem Takelwerk ihrer gewaltigen Aeste, segeln
sie daher. So haben sie oft unsere Flotten geschreckt, wenn sie wie
mit Absicht in der Nacht gegen die verankerten Schiffe trieben, daß es
ein Seegefecht für diese gegen Bäume galt. In Jahrhunderten unberührt,
wie mit der Welt entstanden, ragen die Riesenstämme des herkynischen
Waldes, das Wunder aller Wunder durch ihr fast unsterbliches Los.
Durch den Druck der kämpfenden Wurzeln wölben sich Hügel auf. Oder die
Krümmungen brechen im Zwist aus dem Boden hervor und bilden bis zu den
Aesten hinauf Torbogen, daß Reitergeschwader hindurchpassieren können.“

Zu diesem Wald nun die Seeküste, bei den Chaucern, -- sagen wir
heute, den Leuten von Jever, Worpswede, den Halligen. „Mit ungeheurem
Andrange“, erzählt Plinius, „rollt dort zweimal in vierundzwanzig
Stunden der Ozean daher, breitet sich ins Unermeßliche aus und bedeckt
ein ewiges Streitgebiet der Natur, von dem man nicht weiß, ist es
noch Festland, noch Meer. Hier haust das armselige Volk, auf Hügeln
oder mit der Hütte auf künstlichem Gerüst über der höchsten Flutlinie,
Seefahrer, wenn das Wasser alles ringsum bedeckt, Schiffbrüchige bei
der Ebbe, Jäger hinter den Fischen her, die im Umkreis der Hütten mit
dem Meere entweichen. Vieh zu halten und Milch zu trinken, wie die
Nachbarn, ja auch nur Jagd auf Wild ist diesen Leuten nicht vergönnt,
denn weit und breit wächst kein Strauch. Aus Seegras und Sumpfbinse
flechten sie Fischnetze. Mit den Händen heben sie Torf auf und trocknen
ihn mehr am Winde, als an der Sonne, ihre Speisen damit zu wärmen und
die vom Nord starrenden Eingeweide. Ihr Trank ist der Regen, in der
Grube vor dem Hause gesammelt. Und doch: wenn sie heute vom Römervolke
überwunden würden, so sprächen diese Stämme von Sklaverei!“

In diese Landschaft dringt jetzt die Kultur. Sie weckt ein Volk
von Riesenkräften gleich jenen Eichenwurzeln des Plinius zu
zweitausendjährigem Aufwärtsringen. Im Sturm dieser zweitausend
Jahre Kampf entsteht aus dem weltenalten Walde und der unfruchtbaren
Fischerküste das, was wir heute deutsche Landschaft nennen, in allen
feineren Zügen jetzt selbst ein Werk der Kultur.

Das ist das hergebrachte Geschichtsbild.

Ich aber dachte, während mein Blick dem Wechselbilde da draußen
nachging vom Nordseestrande bis zu den sudetischen Grenzbergen, wie
viel für unser Erkennen hinzugekommen ist in den letzten fünfzig Jahren.

Zu zwei Jahrtausenden Jahrmillionen.

Erst wir heute fangen an, die deutsche Landschaft durch und durch zu
sehen, nicht bloß bis auf die Wälder des Tacitus und Plinius. Wer
mit dem Auge des Wissenden, des Naturwissenden heute in die Dinge
schaut, dem vollzieht sich ein immer gewaltigeres Wunder. Schicht um
Schicht erscheinen ihm die Zeiten in ihnen, die Aeonen der großen,
planetengroßen Weltgeschichte, -- nicht als ledern begrifflicher
Paragraph eines Lehrbuchs, sondern heute noch lebend in der greifbaren
Wirklichkeit. Im Grunde, so paradox es klingen mag: es gibt gar keine
Vergangenheit. Alles, was wir von ihr wissen, ist ja heute noch da,
sonst wüßten wir es nicht. Nur um feine Schleier handelt es sich, die
aufgedeckt, die gesondert werden müssen. Jeder Baum und Quell und Stein
der deutschen Landschaft ist durchsponnen bis ins Mark von solchen
Schleiern.

Das erste, woran wir denken müssen bei unserer Landschaft, ist ihr
Grund.

Das Auge, das dem folgt vom Meer zum Fels, verliert zunächst den
Menschen, ob Römer, ob Germanen, ganz. Es sieht den uralten Planeten
Erde schwebend im Raum, schwebend, sich um und um rollend, der Sonne
folgend, wie wir ihn kennen seit Kopernikus. Denken wir uns eine
Riesenhand, die um diese harte Kugel fingert, wie wir einen Block
Korallenkalk umgreifen. Was wäre dem Tastgefühl dieser Hand unser
Deutschland? Die Finger rührten an seine Vorsprünge, etwa gegen
den Grat des Riesengebirges, oder den Brocken, oder den Odenwald.
Dazwischen Vertiefungen, Lücken wie in einem morschen Zahn. Bis endlich
das Ganze gegen die Nord- und Ostsee abstürzte in zwei wahre Zahnlücken.

Es läge eine Wahrheit in diesem oberflächlichen Gefühl.

Diese deutsche Erde, auf der alle unsere Herrlichkeit sich aufbaut, ist
als geologischer Grund ein einziges großes Trümmerfeld.

Sie muß es sein. Denn sie gehört so in urbestimmter
Schicksalsverknüpfung einem weiteren, umfassenderen Ringe der
Weltentwickelung an als wir selbst.

Es ist den meisten Menschen heute noch ein fremder, ein schwer
faßlicher Gedanke, daß der Boden, auf dem wir wandeln, streben
und hoffen, als solcher das Ergebnis ist eines gigantischen
+Zusammensturzes+. Und doch zielen alle neueren geologischen
Gedanken mehr oder minder dahin.

Die ältere Geologie, wie sie noch in Humboldts Tagen herrschte,
sah in der gesamten Erdenlandschaft etwas wie eine grüne Wiese mit
Maulwurfshaufen. Das Niveau der Wiese blieb selbst sich so gut wie ewig
gleich. Aber von unten stießen geheime Kräfte mit furchtbarer Gewalt
Berge auf. Wenn man von Worpswede nach dem Riesengebirge fuhr, so fuhr
man ganz allmählich ins Bereich der immer leistungsfähigeren Maulwürfe,
bis endlich in der Schneekoppe das norddeutsche Meisterstück vor Augen
war. Heute hat die Geologie überall ein unverkennbares Streben, genau
umgekehrt, von oben nach unten, zu gehen.

Sollen wir auch für ihre Vorstellung ein Bild vom Leben eines wühlenden
Tieres nehmen, so müßte es nicht der hügelwerfende Maulwurf, sondern
etwa das Kaninchen sein. Es wühlt Röhren unter der grünen Wiese
und plötzlich bricht da und dort die Fläche ein. Löcher und Höhlen
entstehen, in denen die mitabgestürzte Grasdecke tief unten, weit unter
dem alten Niveau, fortgrünt, während die stehengebliebenen Teile wie
Pfeiler und Berge darüberragen.

Das große Karnickel, das diese Arbeit im Erdenleib besorgt hat, war
aller Wahrscheinlichkeit nach der Erdkern selbst. Wie alle freien
Körper im All, wie die kolossale Sonne selbst, zog die Erde sich im
Laufe ihrer unaufhaltsamen Eigenentwickelung zusammen, verdichtete
sich. Und ihre oberflächlichen Schichten sanken dabei nach wie der
Rockärmel über einem abmagernden Arm, oder die Haut eines schrumpfenden
Apfels. Eisenharte Gesteinsbänke von so und so viel Quadratmeilen
Ausdehnung sind ja gerade kein sehr williges Material für solchen
Abstieg. Im buchstäblichen Sinne ging die Erdenrinde in die Brüche
dabei. Hier sanken weite Gebiete gutwillig ab und bildeten eine neue
Sohle tief unter dem alten Stand. Dort blieb ein Pfeiler alte Rinde
mit abgeknickten Kanten trotzig stehen: er war jetzt im Verhältnis zu
den Stücken da unten ein hoher Berg, ohne sich tatsächlich gerührt zu
haben. Anderswo freilich staute sich auch der ganze Boden in seitlichem
Druck zu einer Falte auf, die mit dem Kamm wirklich berghaft noch über
die alte Normalhöhe hinaus geriet. Im ganzen aber blieb auf alle Fälle
der Stieg nach unten als Grundzug unverkennbar.

Die Ozeane mußten sich, selber mit ihren Becken sinkend, auf das neue
Maß einstellen, wobei es in dem Durcheinander nicht ohne Ueberflutung
zu tief gesunkener alter Landteile abging. Zum Ueberfluß quoll noch aus
ganz tiefen Bruchspalten glühendes Tiefengestein, vom Druck entlastet,
und warf jetzt selber noch wirkliche kleine Maulwurfshaufen, die
nachmals zu Basalthügeln erstarrten, mitten im Senkungsfeld.

In gewissen Zügen ist es für uns ja immer noch ein überaus
geheimnisvolles Ding um diese Zusammenziehungen der Erde.

Sehr möglich ist, daß sie nach einem periodischen Gesetz in der
Erdgeschichte sich vollzogen haben, -- nicht ruckweise natürlich als
wüste Katastrophen, aber doch mit bestimmten Perioden der Steigerung
und dann wieder anderen der Ruhe. Vielleicht wird es noch einmal
glücken, in diesem Rhythmus eine bedeutsam treibende Macht zu erkennen
auch für die Entwickelung der Tiere und Pflanzen. Sicherlich waren
solche Zeiten, da das ganze Erdniveau sank, die alte Ebene hier
sich als Niederung tief unten erst wiederfand, dort als Pfeiler
stehenbleibend plötzlich Gebirge war, dort endlich gar als wolkenhoher
Faltenwulst noch höher aufquoll, zwingendster Anlaß neuer Anpassungen,
sie werden auch das Niveau des Lebendigen, die Normalruhe der Arten und
Gattungen in wilde Schwankungen und Fluß gebracht haben.

Jedenfalls aber ging aus jeder dieser Schrumpfungen das rein
geologische Landschaftsbild als ein furchtbares Zerstörungsfeld hervor,
eine Wiese, die die Kaninchen glücklich um und umgestülpt hatten.

Dann jedoch setzte ebenso folgerichtig ein neuer Prozeß ein, der sich
mühte, diese Ungleichheit, dieses Trümmerhafte nach Kräften wieder
abzustellen zu Gunsten einer neuen Glättung des Grundes zu neuem
Normalniveau. Den eingesunkenen Rindenteilen des schrumpfenden Apfels
war die Atmosphäre nachgesunken. Die stehengebliebenen alten Horste und
Wülste stießen aus der dicksten Luftschicht folgerichtig bei diesem
Nachsinken heraus, deckten sich mit Schnee und erlitten alle jene
hübschen Erlebnisse, die wir Erosion nennen, zu deutsch Ausnagung.
Das nagende Karnickel war jetzt ganz oben in Gestalt von Wasser, das
in Gesteinsritzen gefror und den Fels sprengte wie Glas, oder das als
Bach vom Berg zum Tal sprang, die losgesprengten Blöcke mahlend und
zerkleinernd, bis sie endlich als atomisierte Sandbarre tief unten in
den tiefsten Stellen des neuen Niveaus, nämlich in der Meerestiefe
lagen. Block um Block kam so und endlich das ganze Gebirge. Aber auch
das Tiefland kam, bis das Meer voll war.

Dieser Prozeß, in ungezählte Jahrmillionen ausgedehnt, hätte
schließlich immer wieder eine absolute grüne Normalwiese wirklich
herstellen müssen, die im ganzen allerdings mathematisch genau so und
so viel Meter +unter+ der vorigen lag. Aber lange, ehe es völlig
dahingekommen ist, war wohl jedesmal die innere Periode des Planeten
längst erfüllt: ein neues allgemeines Absinken begann, das abermals so
und soviel Meter tiefer das gleiche Spiel von neuem beginnen hieß.

Begründete Anzeichen lehren uns, daß die letzte große Rutschpartie
der Erdrinde in die erste Hälfte der sogenannten Tertiär-Zeit fällt.
Damals haben die Alpen sich gebildet als ein großer emporgestauter
Faltenwulst. Damals ist unser gesamtes deutsches Gebiet annähernd
wenigstens in das Niveau gestürzt, in dem es heute steht. Seit einer
Million mindestens von Jahren (es wird mehr sein) hält es sich
notdürftig in der hier gegebenen Balance bis jetzt.

Das Trümmerfeld dieser letzten Senkungsfelder, stehengebliebenen
Pfeiler und Wülste ist es, das das Auge streift auf der Fahrt von den
Marschen zum Trümmerkegel aus Glimmerschiefer der Schneekoppe.

Ganz ist auch das freilich längst nicht mehr. In die Nordsee hinein
dehnt sich das versandende Wattenmeer. Das ist die mahnende Station,
daß der Zeiger unserer Tage im Zeichen des wachsenden Normalniveaus
schon wieder steht: die Gebirge sind es, die da unten ankommen, das
Riesengebirge, das aus seiner blauen Wolkenhöhe, wo die _Linnaea
borealis_ blüht, zur winzigen Sanddüne von Worpswede abschmilzt, zu
den Halligen, wo der alte Plinius das wunderbare zähe Völklein fand,
das lieber von der nivellierenden Welle der Erdgeschichte sich fressen
lassen wollte, als von der jungen Kulturweisheit der sieben Wolfshügel
am Tiberstrand.

Bereits sind alle unsere deutschen Gebirge nur mehr Ruinen. Scholle
um Scholle bricht oben nieder, reibt sich zu Kieseln im Fluß, endet
als Sand im Meer. Ab und zu aber zuckt ein Erdbeben durch den Grund.
Die Phänomene kreuzen sich bereits. Dort der Niedergang einer Epoche,
wachsende Annäherung an einen neuen Sieg einer spiegelblanken
Normalnivellierung, die mit der wüsten Trümmerstätte aufräumt, --
hier das dumpfe Deuten von der Tiefe her. Das Deuten, das meldet:
alle jene Mühe ist umsonst. Der Kern wird von neuem schrumpfen, die
Schale muß über kurz oder lang abermals nach. An dem Tage kann die
Schneekoppe, dreiviertel abrasiert durch die Verwitterung, wie sie
vielleicht dann schon ist, absinken bergetief zur neuen Sohle, -- der
flache Marschengrund bei Worpswede aber kann stehen bleiben als zäher
Pfeiler über dem ungeheuren neuen Abgrund ringsum und kann „Gebirge“
sein, -- Gebirge, das jetzt das Abströmen des frostzersprengten,
wasserzermahlenen Gesteins in Jahrhunderttausenden langsam abträgt in
Sanddünen und Schlick eines Wattenmeeres am alten Schneekoppenfleck.

Das war mein erstes Zeitenbild, das ich träumend hinter meiner
Landschaft sah. Ein unaufhaltsamer Weltprozeß. Vergangenheit und
Zukunft zugleich, schicksalsbestimmt durch das Los eines Planeten.

Mein Blick suchte unwillkürlich den blauen Himmel über der flachen
Birkenebene.

Dort oben war sie einst gewesen, die Wölbung der alten Erde, auf
der die Farrnwälder gegrünt, die Iguanodon-Eidechsen sich getummelt
hatten, bergeshoch, wolkenhoch über dem heutigen Plan. Ein tiefer
Schacht eigentlich war diese Ebene, hier und da nur überragt noch von
einzelnen Ruinen des alten Grundes. So müßte es sein, wenn wir heute
unser Reich auf dem ausgetrockneten Boden etwa des atlantischen Ozeans
hätten, Tausende von Metern tief, mit ungeheuren Gebirgen über uns,
die heute kaum als Inselspitzchen, als Untiefe aus dem Wasser kommen.
Schwindelndes Bild: wir selber mit unserer deutschen Erde sind zu
Zeiten ja solche Ozeanssohle schon gewesen.

In der Ostsee ragt der weiße Kreidefelsen von Rügen, Kreide geht
vielfältig unter die norddeutsche Tiefebene hinein. Eine seichte Mulde
nur ist heute diese ganze Ostsee, ein Teich gegen die Weltmeere.
Dennoch deckt ihre Flut den Rügener Kreideblock nicht mehr zu, er
ragt darüber fort, von grünen Buchen umkränzt. Vor der Eiszeit ist er
sogar wahrscheinlich viel höher gewesen. Die Eismassen, die damals von
Schweden herüberdrängten, haben ihn schon geköpft, zerrissen, sein
Bruchmaterial weit verschleppt.

Und doch ist diese ganze weiße Schreibkreide nichts als echter
Tiefseeschlamm. Ein Pfeiler tiefsten Ozeangrundes ragt hier noch in
die Lüfte. Wir wissen heute, wie die Landschaft solchen Ozeangrundes
ausschaut. Eine Wassersäule lastet darauf von drei, vier, ja bis zu
acht- und neuntausend Metern, ja von mehr als Gaurisankarhöhe. Erst
jenseits dieser Höhe kommt der Wasserspiegel, tauchen flache Küsten
über ihm auf, blaue Bergketten über den Küsten. Finster ist es da
unten, lichtlose Nacht. Keine Pflanze grünt mehr, nur tierische
Seelilien ragen, die sich hier erhalten können mit ihrem glasartig
gebrechlichen Schaft, da kein Sturm mehr hier hinab wühlt. Um sie
kreisen gespenstische Leuchtfische mit wahren Scheinwerfern über den
Augen und Tintenfische, um den Leib illuminiert mit regenbogenbunten
Flämmchen. Von oben her, aus der ganzen Wassersäule aber regnen fort
und fort mikroskopische Stäubchen aus Kalkmasse: die toten Gehäuse
winzigster Urtierchen. Sie bauen, zahllos in zahllosen Jahren sich
häufend, den eigentlichen Schlamm der Tiefsee. Solche Schlammbänke
werden bergesdick und werden Stein, werden Kreide.

Träumend, wahre Vergangenheit noch einmal erträumend, sah ich große
Gebiete deutscher Landschaft verzaubert in solchen Tiefseegrund. Die
blaue Luft da oben war eine Wassersäule von Gaurisankarhöhe. Und erst
aus diesem Ozean stiegen die Länder, die Gebirge von damals. Länder
mit himmelragenden Gebirgen. Auch die seltsamen Sandsteinwürfel der
sächsischen Schweiz stammen aus jener Kreidezeit. Doch ihr Baustoff ist
nicht Tiefseeschlamm, sondern Sand. Sand von einer Küste, vielleicht
von einem riesigen Flußdelta. In diesem Mississippi oder Ganges der
böhmischen Grenze kam, zu Sand vermahlen, irgend ein unbekanntes großes
Gebirge damals langsam meerwärts herab, herab so wie heute der Rhein
die Alpen nach Holland schleppt.

Es ist ein ruheloser, ahasverischer Gedanke, diese ewig sich
zusammenziehende, sich verdichtende Erdkugel, deren Haut ewig nach muß,
ewig sich sinkend und faltend dem verengten Kern anschmiegen muß. Und
auf diese Haut gerade sind wir, ist das ganze Leben festgebannt. Eine
Ruhelosigkeit mehr zu den andern, die uns die Forschung allmählich
beschieden hat: der Umdrehung der Kugel, den Schwankungen und
Drehungen der Erdachse, dem Lauf um die Sonne, der Fortbewegung mit
dieser Sonne auf das Sternbild des Herkules los.

Möglich ist, daß an dieser innerlichsten, individuellsten Tätigkeit der
Erdkugel auch Geheimnisse ihres Klimawechsels hingen.

Jede Verdichtung mußte naturgesetzlich in dem ganzen Ball Wärme
erzeugen. Ist es doch heute wohl bloß noch ihre Verdichtungswärme, die
selbst der Sonne im eisigen Raum ihre Glut konstant erhält. Vollzog
sich aber dieser Verdichtungsvorgang bei der Erde, wie schon oben
vermutet, mit einem gewissen Rhythmus, mit langen Pausen jetzt und dann
wieder einer raschen Steigerung, so mochte das sehr wohl in fühlbaren
Wärmeschwankungen auch für die Rinde sich geltend machen. Vielleicht
gipfelte jede Verdichtungspause, bei der die Weltraumkälte die
Innenwärme überbot, in einer Eiszeit für die gemäßigten Zonen, während
jede Periode gesteigerter Verdichtungstätigkeit das Tropenklima weiter
nach den Polen trieb.

Es stimmte dazu die neuere Behauptung, daß Eiszeiten die Erde nicht
bloß einmal, sondern periodisch durch alle älteren Epochen hindurch
betroffen haben. Es stimmte dazu das wärmere Klima der älteren
Tertiärzeit, das bei uns in Deutschland Palmen gedeihen ließ. Gerade
damals fanden die letzten ganz großen Niveauverschiebungen, Senkungen
und Faltungen ja statt, die wir kennen, also Verdichtungsanzeichen.

Die sogenannte große Eiszeit, die zwischen jener heißen und unruhigen
Zeit und unserer Menschenüberlieferung liegt, bedeutete dann umgekehrt
das letzte Maximum einer Ruhe- und also Kältepause. Wir heute ständen
bereits wieder jenseits dieses Maximums, immerhin noch der Eiszeit nah,
aber schon hinter ihr.

Und wie in Erdbeben der Grund schon jetzt gelegentlich wieder unter
uns sich regt, sich zerrt und spannt, so möchte eines Tages, eines
Jahrtausends eine ganz langsame, aber stetige Wärmezufuhr auch von
unten her sich wachsend wieder geltend machen, die vielleicht den
gefrorenen Boden Sibiriens wieder auftaut und die Palmenmöglichkeit
nach Thüringen und Sachsen zurückbringt.

Doch mein Bahnzug streifte das Gebiet einer Stadt. Schlote rauchten.
Mich faßte ein neues Bild.

Denken wir uns einen Astronomen auf fremdem Stern, der unser deutsches
Land im Fernrohr schaute.

Vieles würde er gewiß leicht erkennen. Meer schiede sich vom Festland.
Schatten der Gebirge zeichneten sich ein. Als bunte Stickerei aus
dunklem Waldgrün, hellem Wiesengrün, goldenem Kornstand läge das
Flachland da. Aber ein Gebild machte wohl am meisten Kopfzerbrechen:
kleine Bezirke hier und dort, über denen es wie eine dickere, anders
reflektierende Luftschicht trotz wolkenfreier Atmosphäre lagerte.

Jedesmal nämlich unter solcher Schicht, solchem Flecken im farbigen
Tuche steckte eine unserer größeren Fabrikstädte, und das zähe Medium
wäre die Qualmwolke der vereinten Schornsteine. Würden wir eine so
faustdicke Trübung etwa wie die edle Schlotwolke „Berlin“ auf dem roten
Mars gewahren, so dürfte findige Phantasie auf eine seltsame Vegetation
an dieser Stelle raten, die periodisch ab- und zunähme. Auf dem Mars
(und von einigen Astronomen sogar auf dem Monde) werden veränderliche
Schatten ja heute mit besonderer Liebhaberei auf Pflanzenwuchs
gedeutet, der bald verdorren, bald wieder Blätter treiben soll.

Und doch: so ganz schösse der Gedanke gar nicht am Ziel vorbei. Bloß
verwirrte er wieder einmal etwas Vergangenheit und Gegenwart.

Mein Blick aus dem Wagen-Abteil streifte die Silhouette einer
solchen gerade aus vollen Teufelsbacken heraufpaffenden Stadt mit
Abendhintergrund.

Gespenstisch wuchsen die einzelnen schwarzen Schlote und Rauchsäulen
vor dem blutroten Himmel in eine gemeinsame dichte Krone lastenden
Qualmes hinein.

Und wie sie so scheinbar reglos vor der flammenden Röte standen,
glichen sie dem Schattenbilde ungeheurer Pflanzen -- Urwaldbäumen,
jeder kerzengerade Stamm von Domturm-Höhe und oben die Gigantenäste zu
unentwirrbarem Laubdach verfilzt, eine zweite, dem Himmel schon so viel
nähere Etage über der Ebene bildend.

Und waren sie nicht wirklich noch einmal schemenhaft für eine
Geisterstunde auferstanden, die kolossalen Farrnwälder der Urwelt, die
zu ihren Lebzeiten nie ein Menschenfuß betreten, weil noch kein Mensch
damals bestand?

Aus der zertrümmerten, einsinkenden Ruine der Erdkruste holte dieser
Mensch heute den ältesten deutschen Wald. Selbst zu Stein geworden, als
„Steinkohle“, ruhte er dort seit Jahrmillionen, tief unter der Sohle
des heutigen Lebens.

Nun löste ihn die Flamme und als ein Heer von Rauchbäumen stieg er für
diese Geisterstunde noch einmal empor.

Träumend sah ich diese Steinkohlenschlote gereiht über ganz
Deutschland, die Kulturwälder überragend, das Bild der Städte
bestimmend, eine Vegetation, die abermals Länder, Erdteile umspann wie
jene der wirklichen Steinkohlen-Periode, -- ein mystisches Schattenbild
der alten, das den ganzen Weg aber inzwischen durchmessen durch die
menschliche Technik und mit dieser in gewissem Sinne quer durch den
Menschengeist selbst.

War es nicht ein Schachtelhalm dort, der große Schlot gerade vor der
sinkenden Rotglut der Sonnenesse selber, ein Schachtelhalm von der Höhe
der Kölner Domtürme? Und dort mit der pinienhaft auseinanderwachsenden
Krone ein imposanter Farrnbaum oder einer jener rätselhaften
Siegelbäume (Sigillarien), die in einem besenartigen Schopf endeten?

Und die Sonne glühte diese Rauchflora an, wie sie, dieselbe Sonne,
einst in die feuchten Sumpfwälder der echten Schachtelhalm-Zeit
Deutschlands geglüht hatte✹.....

Meine Phantasie folgte noch ihrem freien Spiel, da hatte der rastlos
eilende Zug schon die Scene jäh geändert.

Er schnitt schon wieder in den wirklichen Wald von heute ein. Die
letzten roten Kiefernstämme verglühten oben langsam wie erkaltende
Metallpfeiler eines ausgebrannten modernen Warenhauses von
Eisenkonstruktion. Unten aber leuchtete ganz hart und starr in dieser
Abendstimmung das zackige Blätterwerk des Niederwaldes im Hochwalde
vor: der Farrnkräuter.

In drei Gefächern, drei Stufen baut sich besonders der märkische
Wald ja so gern auf, drei Farbenunterschieden. Lichtgrünes oder je
nachdem herbstlich rotgelbes Farrnkraut unten; dann höher der bläuliche
Wachholder; endlich die roten Kiefernsäulen.

Auch in diesen Stufen steckt Geschichte. Und zwar ist die unterste
dabei der Rest des ältesten Waldes: der noch lebende degenerierte
Steinkohlen-Urwald selbst.

Einförmig, wie diese heutige Unterstufe, müssen diese Wälder
kryptogamischer Pflanzen damals unser Vaterland überzogen haben,
aber in Hochwald-Größe. Das war ihr Entscheidendes, diese Größe. Das
Farrnkraut im Verein mit dem heute noch niedriger kriechenden Bärlapp
und dem formschönen Schachtelhalm besaß damals die ganzen drei Stufen,
auch die oberste.

Völlig geschwunden ist dieser wahre Urwald im historischen Sinne
niemals bei uns, er ist bloß heruntergekommen. Ein kleiner Bengel, der
heute den Wald betritt, fühlt sich stolz schon Herr dieser Farrnstufe.
Mit Zwergen bevölkert sie die Märchenpoesie, größeres hätte nicht darin
Raum zum Herbergen.

Damals barg der Farrn-Hochwald krokodilgroße Panzeramphibien mit
grotesken Froschköpfen. Auch sie sind heute zum kleinen goldgefleckten
Molch herabgekommen, den nur die Sage noch einmal riesengroß gelogen
hatte, der in Wahrheit aber über unseren kriechenden Bärlapp als
schweres Hindernis mühsam wegrutscht, wie seine Lindwurm-Ahnen der
Steinkohlenzeit über gefallene Urwaldriesen von ein paar Metern
Stammdicke sich wälzten.

Eine so gewaltige Periode der Erdgeschichte hat ein liliputisches Ende
bei uns genommen.

Durchfliegt man tagelang deutsche Landschaft immer wieder an diesem
Farrnteppich lang, denkt man an die ungeheuren Strecken Moorland,
das von geselligen Torfmoosen einförmig besiedelt ist, zählt man die
Massen und Massen der bunten Pilze dazu, hört man den Kröten-Triller
aus dem nassen Bruch, den Froschgesang aus jedem Dorfteich, -- so
empfindet man durchaus, wie diese Kryptogamen- und Amphibien-Zeit
über die Jahrmillionen hinweg unser deutsches Landschaftsbild noch
ganz energisch beherrscht in räumlichem Bodenumfang, in der Fülle der
Individuen.

Aber immer auch fühlt man das Herabsinken in eine Art Unterschicht
unserer Hauptlandschaft, in ein Zwergenreich, zu dem selbst wir
mittelgroßen Menschen nicht mehr empor, sondern niederblicken: ein
Froschmäuseler und Pilzmännchen ist die Steinkohlenzeit im Märchen
unserer Heimat geworden.

Warum das? Lag es im Klima oder in unbekannten Gesetzen der
Lebensentwickelung? Das Klima der alten Riesenfarrnwälder Europas ist
heute eine ganz verzwickte Frage der Geologie geworden, -- der eine
sagt: glutheiß, weil heute baumgroße Farrn nur in den Tropen wachsen,
-- der andere sagt: ausgesprochen kühl, weil die Steinkohle Torfbildung
zur Voraussetzung hat und Torfmoore nur in der gemäßigten Zone
vorkommen. Da kann man nun wählen.

Eine solche schlichte Frage wie „Klein und Groß“ in der Natur
umschließt offenbar die tiefsten Rätsel. Warum sind die Insekten,
die es doch bis zum Ameisengehirn gebracht haben, seit jener
Steinkohlenzeit, da sie schon lebhaft schwärmten, bis heute immer
Liliputaner geblieben, ohne ihr Maß irgendwie zu ändern? Fragen!

In stolzer Schöne ragt die Kiefer über dem verkrüppelten Farrnkraut,
-- ohne Antwort. Und doch verkörpert auch sie ein Kapitel deutscher
Urwelt, just das nächste nach der Steinkohlen-Zeit.

Wie sie heute noch da steht, ist sie der Sieg eines Weltalters, das im
ganzen doch auch schon wieder seine Jahrmillionen hinter uns zurück ist.

Eines Tages schwanden die Farrnwälder auf dem deutschen Boden. Die
Pflanzenentwickelung hatte einen Ruck getan: aus den Kryptogamen, aus
dem Bärlapp waren Nadelhölzer geworden. Ohne diesen Ruck gäbe es heute
keine Kiefern, keine Fichten und keinen Wachholder, die noch jetzt
zur großen Heeresfolge der Nadelhölzer gehören. Es war die Zeit der
reptilischen Ungeheuer, der Ichthyosaurier und anderen Drachen vom
Eidechsentypus. Was von dieser Bande im deutschen Walde hauste, das
hauste jetzt durchweg im Schatten von Nadelhölzern.

Die Trias- und Jura-Zeit ist es in Wahrheit, die als mittleres und
oberes Stockwerk in unserm Kiefernforst da draußen die verkommene
Steinkohlen-Zeit der Bärlapp- und Farrn-Schicht überragt.

Als Pflanze ist sie stattlich oben geblieben, denn noch kann, wer die
deutsche Landschaft im Dampfwagen durchquert, ernstlich zweifelhaft
sein, wer der echtere deutsche Charakterbaum sei: das Nadelholz in
Kiefer, Fichte und Tanne -- oder der Laubbaum in Eiche, Buche oder
Birke.

Es ist in diesem Falle ziemlich sicher, daß das Nadelholz seinen
zähen Sieg über so viel Jahrmillionen diesmal wirklich seiner
Wetterfestigkeit verdankt, seiner Gabe, auch ein rauhes Klima zu
ertragen.

Vertraut als Heimatbild allerersten Ranges ist uns die Fichte geworden,
wie sie mutig kleine Lawinen von Schnee trägt, und gerade als
„Weihnachtsbaum“ im Winter ist sie unser tiefster Gemütsbaum geworden.
Nicht eigentliche Polarpflanze ist ja auch dieses Nadelholz. Dafür
kann viel eher sein typischer Begleiter bei uns, die Birke (also ein
echter Laubbaum) gelten. Und niemals auf der andern Seite hat das
Nadelholz ganz auf die warmen Länder verzichtet: schon den Leuten des
Columbus fiel im tropischen Mittelamerika wie ein Wunder auf, daß
gelegentlich Palmen und Tannen im gleichen Walde nebeneinander wuchsen.
Sein Lieblingsklima aber ist und bleibt heute das gemäßigte bis zur
nordischen Baumgrenze hinauf, und auf diese Neigung hin ist es deutsch
geblieben trotz aller Wandlungen deutschen Klimas.

Ueber die klimatischen Verhältnisse jener Ichthyosaurus-Zeit, da
das Nadelholz zuerst bei uns triumphierte, ist ein sicheres Urteil
ebenfalls nicht zu fällen. Die üppige Bevölkerung des Landes mit
Reptilien spricht für eine warme Zeit, denn nur in der molligen Sonne
durchwärmt sich das indifferente, von innen her nicht geheizte Blut
der Eidechse und Schildkröte, an dieser Blutwärme hängt aber ihre
Regsamkeit, ihre Daseinsenergie.

Möglich immerhin ist, daß die ursprüngliche Entstehungsstätte
des ganzen Nadelholztypus mit seinem merkwürdig wetterharten Bau
auf Gebirgen mit kühlerem Höhenklima gewesen ist. Lange vor der
großen Reptilienzeit und während unten überall die Farrnwälder noch
herrschten, hätte er dann da oben sich gebildet, auf Höhenrücken, von
denen längst jede äußere Spur verloren ist. Denkbar ist auch, daß
gegen Ende der Steinkohlenzeit ein allgemeines Sinken der europäischen
Temperatur vorübergehend eingetreten sei, bei dem diese kältefeste
Gebirgsflora als die jetzt auch im Tale beste Anpassung sich vom
Gebirgsfuße in die ganze Ebene hinein als Herrscherin ausdehnte. Als
dann die Wärme in die Reptilienzeit hinein abermals stieg, müßte sie
dem standgehalten haben.

In der noch späteren Tertiär-Zeit besteht kein Zweifel, daß Deutschland
ein geradezu heißes Klima wirklich hatte, prachtvolle Fächerpalmen,
Drachenbäume und Bananen grünten bei uns, in denen Affen kletterten
und zu denen die Giraffe ihren langen Hals aufstreckte. In deutschen
Braunkohlenlagern der mittleren Tertiär-Zeit ragen riesige Stämme,
die das Nadelholz in Gestalt der schönen Sumpfcypresse zeigen, wie
sie heute nur noch in Amerika vorkommt. Bei Groß-Reschen in der
Niederlausitz ist die bekannteste Fundstelle, dort stehen die ganzen
Stümpfe noch in der Tiefe, als sei eben erst ein tausendjähriger Forst
abgehackt worden. Auch unser Bernstein ist nichts anderes als das
versteinerte Harz einer tertiären deutschen Fichte, -- wie unglaublich
groß müssen aber diese Nadelholzwälder damals gewesen sein, wenn man
der Bernsteinmassen gedenkt, die das Meer seit Plinius’ Tagen an die
Küsten treibt und die aus dieser Küste gegraben werden.

Dieser Wärmeanpassung des Weihnachtswaldes hat erst wieder die Eiszeit
ein Ende gemacht. Als sie ganz Norddeutschland unter Grönlandeis
warf, mußte dort wenigstens auch der Fichtenwald fliehen. Als sie
wich, kam er aber erst recht zurück, denn es kehrte ja für ihn gerade
die Temperatur wieder, die vielleicht sein Ausgangspunkt war: die
gemäßigte. Und nur eins machte ihm vorübergehend noch einmal Not, --
doch davon gleich.

Blieb so die Flora der deutschen Reptilien-Groß-Zeit in gewissem Sinne
durch ihre Zähigkeit uns bis heute treu, so ist das Tiervolk von damals
dafür um so gründlicher gesunken. Die elefantengroßen, hausgroßen
Saurier sind verschwunden, das traf aber Deutschland nicht allein,
sondern die ganze Erde. Nur in zwei urweltlich kolossalen Gruppen ist
diese Hochblüte der Reptilien ja überhaupt lebend auf uns gekommen:
als Krokodil und als Riesenschildkröte. Beide waren Deutschland noch
in jener Tertiär-Zeit, als es mit allen Ichthyosauriern und Iguanodons
längst alle war, treu: bei Ulm krochen Landschildkröten mit zolldicken
Panzerplatten, zwischen Mainz und Darmstadt schwamm der Alligator.
Dann aber hat die Eiszeit hier eine Aufräumearbeit von unerbittlicher
Gründlichkeit besorgt.

Im ganzen und auch für die allerkleinsten Formen hat sie unsere
Eidechsen-, Schlangen- und Schildkrötenwelt auf einen Nullpunkt
gebracht (ihr Nullpunkt im Klima wurde für diese armen wechselwarmen
Sonnenkinder ja auch Nullpunkt jeglicher Blut- und Lebenswärme), von
dem diese sich bis heute nicht eigentlich erholt hat.

Das Reptil als auffälliges Charaktertier der Landschaft existiert für
ganz Deutschland nicht mehr.

Wenn man über die Alpenmauer nach Italien wandert, so ist ein erstes
charakteristisches Anzeichen der zum Mittelmeer sich wendenden
italienischen Landschaft das emsige Geschwänzel der Eidechslein auf
jeder Bruchsteinmauer. Es sind keine Lindwurm-Saurier mehr, aber
man empfindet doch, daß man in einer Gegend ist, die wenigstens ihr
kleines Reptilvolk nie verloren hat. Ich bin persönlich (vielleicht
im Gegensatz zu vielen Lesern) ein großer Freund der Eidechsen und
empfinde einen ästhetischen Verlust der Landschaft da, wo sie spärlich
werden.

Radikal herausgewalzt aus unserer Heimat durch die große Frostwalze
der Mammutzeit, ist das Reptilvolk erst in der folgenden wieder
milderen Epoche, sozusagen innerhalb also schon unserer „deutschen
Geschichte“, ganz langsam und hier und da von Süden her wieder zu uns
hereingekrochen. An einer größeren Rückwanderung hat freilich die
Alpenmauer gehemmt. Wo eine solche ostwestliche Barriere nicht bestand,
wie in Nordamerika, das zu großen Teilen doch auch seine Eiszeit
durchgemacht hat, ist der Norden wieder ohne viel Mühe reptilienreich
geworden. Bei uns kann man noch jetzt ziemlich genau beobachten, wie
die großen südnördlichen Flußtäler nicht bloß den Wanderungen der
Menschen, sondern auch denen der Schlangen und Eidechsen noch am
ehesten geholfen haben, -- vor allem das Rheintal, an dem sich Schritt
für Schritt noch gegenwärtig fortbestehende Stationen der südnördlichen
Einwanderung von Schlangen und Eidechsen nachweisen lassen.

Was sonst noch Fremdartigeres im Nadelwalde der Saurierzeit bei uns
räuberte, ist so gut wie ganz verschollen.

Der Ur-Vogel Archäopteryx liegt nur noch im zierlichen Stein-Abdruck
vor.

Selbst der famose _Ceratites nodosus_ hat uns für immer verlassen
und mit uns die Welt überhaupt. Es war ein großer Tintenfisch, der
in einer hübschen gedrehten Schale saß wie heute der Nautilus auf
Amboina. Er lebte im Meer, und Meer mußte die deutsche Scholle decken,
wenn er hinkommen und seine Gehäuse auf ihr ablagern sollte. Aber es
ist drollig, wie dieser alte Krake sich dabei mit der auffälligsten
Konsequenz wirklich immer nur auf solchem Boden gehalten hat, der
später einmal deutsch werden sollte, -- mit Ausnahme eines ganz kleinen
Streifchens Frankreich, von dem er jedenfalls annahm, es würde noch
einmal annektiert werden. Auf diesem Deutschboden vermehrte er sich
mit Glück in wahrhaft biblischer Weise und hinterließ ungeheuerliche
Schalenmassen, -- sonst bekam ihn kein Erdenfleck zu sehen. Schon
Leopold von Buch hat den guten Witz von ihm gemacht, daß er um seiner
prophetischen Treue willen verdiene, ins deutsche Wappen aufgenommen zu
werden.

Durch das offene Fenster meines Coupés träumte ich in die milde
Frühlingsnacht hinein von Primeln und Anemonen in den dunklen
Wiesengründen.

Dann stieg der Mond höher und tauchte die Zweige am Bahndamm in ein
Silberlicht, als ginge die Fahrt durch eitel blühende Kirschbäume.

Wunderliche Vorstellung, daß unsere Landschaft einmal keine Blumen
hatte!

Die Primelwiese, der Veilchengrund, die rote Heide und der goldene
Caltha-palustris-Sumpf, Dornröschen und der Lenzschnee der süddeutschen
Obstgärten: sie alle sind eine späte, eine verhältnismäßig junge
Erfindung der Natur, gegen die das Farrnkraut und die Kiefer ehrwürdige
Patriarchen sind.

Abermals ist es eine höhere geologische Schicht, die durch dieses bunte
Blütenparadies der deutschen Landschaft schneidet. Sie geht nur mehr
bis auf die zweite Hälfte der sogenannten Kreide-Zeit zurück.

Weite Gebiete Deutschlands waren damals Tiefsee. Aber aus dem Ozean
hoben sich gegen Schlesien und Böhmen zu Länder mit reichem Waldstand.
Und wieder hatte in diesem Waldstand sich ein Ruck vollzogen. Da war
zuerst aus dem Nadelholz ein Laubbaum geworden. Die Palme, die Magnolie
war „erfunden“ worden, und -- uns für heute interessanter -- die Eiche,
die Buche, die Kirsche. Neben die Nadel stellte sich das grüne Blatt,
doch ein anderes als das ehemalige des Farrnkrauts, das Eichenblatt und
Haselnußblatt, das Blatt des echten Laubbaumes.

In jenem Bericht des Plinius erscheinen die deutschen Urwald-Eichen
wie die Türhüter der Ewigkeit am ersten Schöpfungstage in die Welt
gestellt und nun ewig fortgrünend. Auf einer Esche, also ebenfalls
einem Laubbaume, ruhte dem alten Deutschen selber die Welt. Der Blick
aber des Geologen sucht in der größten Eiche und Esche doch immer
nur das Kind, die Jugend dieser Landschaft, neben dem der blaugraue
Nadel-Wacholder ein Greis und gar Bärlapp und Farrnkraut gespenstische
Urahnen sind.

Aber wiederum die Eiche selbst und der Haselstrauch in ihrem Schatten
sind alt gegen das Maiglöckchen, das verborgen im Schatten dieses
Haselstrauches blüht. Das Maiglöckchen und die Dornrose und der
weiße Flieder, so viel alter romantischer Zauber sie nun wieder
umspinnen mag, sind erst recht ganz die Jungen und die Neuen in dieser
geologischen Schichtung unserer Landesvegetation.

Eine Liebesgeschichte mischt sich hier ein.

Der Haselbusch macht es noch genau so wie die Kiefer: er streut seinen
goldenen Blütenstaub vom Kätzchen dem Wind in die Arme und läßt ihn
so zur weiblichen Blüte tragen. So hatten es die ersten Laubbäume
der Kreidezeit alle noch gelernt. Aber diese Kreidezeit war lang,
endlos lang. Und so glückte noch in ihr vor Schluß eine zweite, für
das Landschaftsbild reichlich ebenso wichtige „Erfindung“ wie die des
grünen Laub-Blattes.

Früh mit dem Farrnblatt in der Steinkohlen-Zeit waren die Insekten
entstanden. Während die Saurier zu Goliaths wuchsen, blieben sie immer
relativ klein, aber dafür wurden sie beweglich, klug wie keine zweite
Tiergruppe der Urwelt. An diese Insekten paßte sich die Pflanze an. Sie
bepuderte die Fliege, die Biene mit ihrem Lebensstaub und ließ ihn
so zur weiblichen Blüte tragen. Das war unvergleichlich viel sicherer
als die Fahrt auf gut Glück mit dem Winde. Um das Insekt zu locken,
wurde das stäubende Kätzchen, das unscheinbare weibliche Blütlein zur
„Blume“, zum bunten, auffälligen Gebilde, das über seinen Honig ein
weithin prangendes Wirtshausschild hing, bald blau, bald rot, bald in
sinnreichster Reklame-Verbindung verschiedener Farben.

Die Blätter hatten nach uraltem Pflanzenbrauch die grüne Farbe
mitübernommen, -- so machte es die Blume, um sich dagegen von fern
schon dem Insekt kenntlich zu machen, ausgesucht in möglichst
anderen Farben, als da sind Feuerlilien-Rot, Vergißmeinnicht-Blau,
Kirschen-Weiß und Löwenzahn-Gelb.

Aus diesem Wettbewerb um immer wirksamere Reklameschilder des
Insekten-Wirtshauses mit dem Hintergedanken eines Briefstellers für
Liebende erwuchs der herrliche Blutteppich der „Heide“, der Erika,
in dem Westfalen glüht, -- es erwuchs der tiefblaue Kristallbecher
des Enzians am Riesengebirge, das Caltha-Gold von Worpswede und das
liebliche Gewebe blauer Anemonen und gelber Primeln an den Jura-Hängen
der schwäbischen Alb, unter deren Hut der Ichthyosaurus schläft.

Das alles, wie gesagt, geschah noch im letzten Kapitel jener
tatenreichen Kreidezeit. Als im Tertiär die Bernsteinfichte ihre
goldenen Tränen weinte (sie träumte damals noch nicht von der Palme im
Süden, denn die stand noch in prangender Fülle neben ihr, eingewurzelt
wie sie im deutschen Lande), da rann dieses Harz schon um beide: die
Fliege als Liebespostillon und die Blume als Animierkneipe, -- beide
begegnen uns heute im Bernstein, zu dem das Fichtenharz sich verhärtet
hat.

Einsam rasselte mein Zug durch die Nacht.

Walpurgisschauer mochten durch den mondhellen Wald ziehen. Die Eulen
riefen ihr altes Wodanslied. Wodan und die Eisenbahn, -- mir war, als
stürze der Blick wieder durch Aeonen vom Aeltesten ins Jüngste ab. Und
doch ist auch diese Eule als Vogel ganz oben erst im Reigen. Den Vogel,
das Säugetier des heutigen Deutschland hat uns erst eben jene Zeit der
weinenden Bernstein-Fichte, die Tertiär-Zeit, geschenkt.

Als der Alligator noch in den Sümpfen bei Mainz schwamm, da fielen
schon Scharen echter Enten dort auf dem Wasserspiegel ein. Um dieselbe
Zeit war am heutigen Hahnenberg bei Nördlingen im bayrischen Schwaben
ein Brutplatz des Pelikans. Längst offenbar war der Vogel vom
eidechsenschwänzigen Urgreif Archäopteryx damals also schlicht zu Ente
und Pelikan geworden. Heute kann der Pelikan selbst freilich nicht mehr
als deutscher Vogel gelten. Er verfliegt sich ab und zu noch einmal zu
uns, aber er brütet nirgendwo mehr.

Der Verwandtschaft nach vielleicht unser altertümlichster deutscher
Vogel, den wir noch massenhaft haben (z.✹B. als wahren Nationalvogel
auf dem Müggelsee bei Friedrichshagen) ist der Haubensteißfuß.

Denn eng an diese Taucher schließt sich ein geheimnisvolles Wesen,
dessen Knochenreste in Nordamerika in Gestein noch der Kreidezeit
gefunden worden sind, der „königliche Westvogel“ (_Hesperornis
regalis_), der, ein ganz flügelloser Haubensteißfuß von Gestalt,
doch im Schnabel noch eine Rinne hat, in der oben 28 und unten 66 echte
Zähne wurzelten -- eine Eigenschaft, die also noch deutlich an die
ebenfalls bezahnte Archäopteryx erinnerte.

Umgekehrt unser ältester noch lebender Säuger ist ziemlich sicher kein
anderer als der Igel.

Die überhaupt urweltlichste Säugetierform der Erde ist das australische
Schnabeltier, dessen sehr igelähnliche Landsorte (es gibt auch eine
im Wasser) heute im Herzen Deutschlands nur in einem lustigen Pärchen
des Berliner Zoologischen Gartens lebt. Dieses Schnabeltier legt noch
Eier wie die Eidechse, von der es (in allerdings noch sehr dunklem
Zusammenhang) zwischen dem Ende der Steinkohlenzeit und der Blüte der
Riesenreptile irgendwann und irgendwo entsprungen sein muß. Die nächst
höhere Stufe war dann das Beuteltier.

In der ganzen Ichthyosaurus-Epoche war das Beuteltier das
Charaktersäugetier Europas, also ziemlich sicher auch Deutschlands; die
beweisendsten Knochenfunde sind zufällig in England gemacht worden, das
aber durchaus mit dem Kontinente sonst übereinstimmte. Nach heutigem
Maß muß es der Landschaft einen australischen Charakter verliehen
haben. Noch in der Tertiärzeit hatten wir die echte Beutelratte, das
heutige Opossum der Nordamerikaner, in Weisenau bei Mainz und in
Eckingen bei Ulm. Möglicherweise haben dem letzten deutschen Beutler
auch erst die Vorwehen der Eiszeit den Garaus gemacht.

Im heutigen deutschen Klima würde allerdings ein Grund auf keinen Fall
stecken, daß wir nicht Känguruhs in der deutschen Heide haben sollten
so gut wie Kaninchen. Zweimal ist nämlich in den letzten Jahrzehnten
versucht worden, an dieser Stelle durch Menschenkunst das Rädlein der
Dinge noch einmal rückwärts zu drehen und dieses Stück Urwelt bei uns
leibhaftig wieder auferstehen zu lassen. Zuerst hat 1887 der Freiherr
von Böselager auf Heimerzheim im Rheinland Känguruhs frei in seinen
Wald gesetzt, und sie sind sofort wirklich „wild“ geworden wie die
Hasen, ohne sich durch den nordischen Winter irgendwie anfechten zu
lassen.

In noch größerem Stil ist das dann seit 1889 dem Grafen Witzleben
im Buschwalde von Altdöbern in der Niederlausitz geglückt. Die
Känguruhs haben sich dort nicht nur regelrecht als freies Jagdtier
eingebürgert und fortgepflanzt, sondern sie haben sich auch mit dem
übrigen echtdeutschen Wild aufs beste vertragen. Witzleben preist
die Schmackhaftigkeit des Wildprets und besonders die Suppe aus
Känguruh-Schwanz.

Wie die Dinge liegen, würde solche Verpflanzung übrigens mehr sein als
ein bißchen menschliches Hineinpfuschen in den Lauf der Erdgeschichte
nach rückwärts. Das Känguruh, eine der possierlichsten, malerisch
merkwürdigsten Tiergestalten der Erde, könnte nur so überhaupt auf
unsere Enkel gerettet werden, da es in Australien selbst hoffnungslos
der Ausrottung verfällt, ja in großen Gebieten schon verfallen ist.

Als dritte Säugergruppe haben nun offenbar ganz früh schon unter
die Schnabler und Beutler der Saurierzeit sich die sogenannten
„Insektenfresser“ gemischt. Drei von denen sind uns treu geblieben:
der Igel, der Maulwurf und die Spitzmaus. Den Igel kennzeichnet sein
altertümliches, schnabeltierhaftes Stachelkleid als die urweltlichste
Form. Sehr wahrscheinlich gehört auch die Fledermaus noch eng hierher.
Ganz früh, fast an der Wende noch der Saurierepoche zur Tertiärzeit,
drei Millionen Jahre mindestens vor der Eiszeit, tritt sie völlig
unvermittelt fix und fertig auf, recht ein Rätseltier, dessen Ableitung
von den Ur-Säugetieren noch völlig dunkel ist. Ihre fruchtfressenden
tropischen Verwandten, die sogenannten „Fliegenden Hunde“, sind
möglicherweise sogar noch viel älter.

So spiegelt sich in diesen ganz Harmlosen, Stillen, Verkannten und in
ihrer Insektenjagd doch so Nützlichen unserer Landschaft wieder eine
weit tiefere Schicht Urwelt als etwa im großen Hirsch oder im Pferde
und vollends als im Menschen, den heute die tosende Eisenbahn durch die
rote Heide und den stillen Hochwald führt.

Sie raste in die Mondnacht hinein, meine Bahn.

Gespenstisch fahl ragten jetzt die jungen Birken aus der Ebene draußen,
-- ich träumte weiter.

Auf der Schwelle der Erdperiode, der wir angehören, ringen drei
Gewalten um die deutsche Landschaft.

Wenn die Sagen der deutschen Stämme so weit zurückgingen, müßten sie
als drei Riesen darin erscheinen, mit einer ungeheuren Axt, einer
Schaufel, einer Keule in der Hand.

Der eine rollt Eisblöcke.

Der andere pustet Sand.

Der dritte häuft Urwaldstämme.

Lange Jahrtausende ist die deutsche Erde in ihre Faust gegeben. Zwar
den Grund des Gesteins, den längst gefestigten Stamm des Gebirges
müssen sie stehen lassen. Aber die Oberfläche dürfen sie verwandeln,
verwüsten, neu bauen nach ihrer Lust.

Ein Faustschlag des einen -- und die Zinnen Skandinaviens zerbrechen
zu Scherben und diese Scherben rollen über ganz Norddeutschland. Wie
ein Gärtner Wasseradern durch seine Wiese zieht, so drängt er ganze
Stromsysteme vor sich auf, windet Ströme ineinander, schiebt ihre
gestauten Wasser stufenweise hin und her. Was der eine nackt gerodet,
überzieht der andere mit Wald. Auf den Wald aber stürzt jener den
Sandsturm der Steppe. Und doch geht aus dem Todeskampf dieser ringenden
Elementargeister zuletzt, wie so oft im Märchen, ein Segensreiches
hervor: eine Erde, die zwar längst kein Paradies mehr ist mit Bananen
und Brotfruchtbäumen, deren Boden aber jederzeit sich als Schatz
heben läßt für die strenge Kulturarbeit; der fruchtbare Kornboden
Deutschlands geht daraus hervor.

Tundra, Gras-Steppe und Sumpfwald lassen die drei Riesen sich botanisch
benennen.

Geologisch knüpft die Tundra an die Eiszeit an. Die Gras-Steppe an den
eigentümlichen Lehm weiter deutscher Gebiete, den sogenannten Löß. Der
Sumpfwald endlich an eine Zwischen- und Nachstufe beider mit feuchtem
Klima ohne Vergletscherung, aber auch ohne Wüstenglut.

Es ist die große Errungenschaft der letzten fünfzig Jahre, daß wir
auch diese drei Gestalter unseres Landes jetzt wenigstens alle drei
als historische Figuren kennen, -- als die letzten Naturriesen, die an
unserer Heimat gebaut haben, ehe der deutsche Mensch selber das Heft
in die Hand nahm und den Landschaftscharakter in den Grenzen seines
Könnens nach dem Bilde seiner Sehnsucht modelte. Wer ihr Antlitz nicht
auch noch durchleuchten sieht, der versteht nichts vom feinen Gewebe
heutiger deutscher Landschaft trotz aller Kenntnis vom Heraufgang
dieser nachfolgenden Menschenkultur.

Geheimnisvoll verschleiert sich nur auch unserm geologisch
vorgeschrittenen Schauen das zeitliche Verwandtschaftsverhältnis
jener drei Ur-Bauer und Ur-Verwüster diesseits der paradiesischen
Tertiär-Zeit. Wer war der Vater, der Sohn, der Enkel? Oder waren sie zu
ihrer Zeit gleichaltrige Brüder, die nur um die Oberherrschaft stritten?

Der noch urweltlich riesige, feuchte, mit Moorgrund abwechselnde,
mangels jeder Forstkultur unwegsame deutsche Stammwald mit stofflich
ähnlicher Zusammensetzung wie heute: das ist das vertrauteste, das
plausibelste Bild zunächst von den dreien. So fing ja die deutsche
Landschaft bei Plinius geschichtlich im Sinne von Kulturüberlieferung
an. Rückwärts haben wir gesehen, wie in solchem Urwalde die Farrn-Flora
sank, wie die Nadelhölzer ihn in Ichthyosaurus-Tagen eroberten, wie
zwischen das Nadelholz sich dann Laubbäume mischten. Diese deutschen
Laubbäume waren in der heißen Tertiärzeit noch Eichen und Palmen. Von
jenen Plinius-Tagen herauf bis zu uns gestattet das deutsche Klima
keinen Palmenwuchs mehr. Wir haben Anzeichen, daß dieses Klima-Sinken
noch gegen Ende der Tertiär-Zeit selber eintrat. So wäre damals
schon das letzte für uns Fremdartige ausgemerzt worden: ein Rest
südländischer Formen in unserm Walde. Damit aber schlösse sich glatt
das Bild: die Urwelt einmündend in den germanischen Forst des Plinius.

In diesen Forst bricht +von da ab+ dann die Kultur ein. Hier rodet
sie ihn ganz, um Raum zu gewinnen für die Ausnutzung des schlummernden
Korn-Bodens. Dort nimmt sie ihm wenigstens seine sumpfig-unhandliche
Ur-Form. Die Forstkultur kommandiert mehr und mehr den rohen Genossen
der alten Bären und Elentiere in eine Art Baumkaserne um mit strammer
Militärhaltung und einem Zug auf ein „Normalschema“. Schließlich greift
sie aber auch in die Art des Waldbestandes ein. Sie begünstigt Bäume,
die der Mensch in ihrer Lebensart und Leistung besser gebrauchen kann,
und wirft so in hundert Jahren mehr Abwechselung und Neuerung in die
deutsche Waldlandschaft, als ganze Perioden der Erdgeschichte kaum
vermocht haben.

So weit wäre alles so glatt wie möglich, -- von einer beruhigenden
Einfachheit. Die Natur tut uns aber leider nicht den Gefallen, es dabei
zu lassen.

Seit fünfzig Jahren hat sie uns mit einem ganzen Arsenal von Tatsachen
bombardiert, um uns aufzurütteln aus dem Gedanken, es lasse sich der
Sumpfwald des Plinius ohne Bruch und Ruck angliedern an den schon
palmenfreien deutschen Wald der spätesten Tertiär-Zeit.

Zwei deutsche Landschaften schieben sich da mit der größten Energie
noch dazwischen, und es sind ausgespart die unmöglichsten für eine
glatte Entwickelung.

Die eine entspricht dem, was wir heute auf der Erde „Tundra“ nennen.
Und die andere etwa nach asiatischem Bilde der echten „Steppe“.

Die Wälder des Plinius verstehen wir noch, wenn wir auch kaum hier und
dort mehr ein winziges Restchen davon haben. Was aber eine Tundra ist,
weiß der Durchschnittsdeutsche höchstens aus dem Konversations-Lexikon.

Wer das Glück hat, wie ich, seit Jahren an einem unserer großen
märkischen Seen zu wohnen, dem ist ein Vogel lieb geworden, der zu
Zeiten dort das Landschaftsbild geradezu aufdringlich beherrscht: die
Wildgans.

Schnurgerade geht der Bahndamm durch den brausenden Kiefernwald,
mit der letzten blassen Rainflora oder am Wärterhäuschen ein paar
welkenden Sonnenblumen. Hinter den Kiefern liegt auf der einen Seite
der blaue See. Dahin wandern sie, endlose, schnatternde Keilstreifen
dieser Gänse. Lange schon hört man ihr Geplapper, ehe noch der
Kronenrand der schwarzen Bäume sie entläßt. Dann sind sie da, Schatten
werfend wie eine Wolke, endlos. Oft ist die Spitze des Keils mit
ihrer ewig wechselnden Vorfliegerin schon jenseits hinter die Kiefern
hinabgetaucht und hier rinnt und rinnt noch immer der Doppelarm der
beiden Gabeln nach.

Nun denn: die meisten dieser Wildgänse kennen die Tundra ganz genau.
Alljährlich wandert die Saatgans im Sommer dorthin, um zu brüten. Im
Herbst kommt sie dann in ungezählten Geschwadern zu uns zurück, um im
Winter oft noch viel weiter nach Süden zu gehen, vielfach bis nach
Afrika. In der rauhen Zeit des Jahres ist es ihr in der Tundra zu kalt.
Denn diese Tundra ist heute hoch, hoch im Norden: die Mooswüste des
Polargebietes.

Die Tundra umgürtet den Nordpol, ein letzter Kümmerversuch des Lebens.

Wer die Schneekoppe besteigt, der sieht die Waldgrenze unter sich
schwinden und endlich auch den steppenartigen Grasteppich mit seinen
blauweißen Anemonen und roten Primeln. Zuletzt klebt nur noch an den
grauen Verwitterungsflächen des Glimmerschiefers die Flechte, hier
goldgelb, hier bräunlich, das letzte, selber schon beinah steinhaft
erstarrte Leben, das sich anklammert.

Ein solcher nackter Fels aber, endlich von ewigen Eismassen bedeckt,
ragt der Pol des ganzen Erdballs, einem ungeheuren Hochgebirgsgipfel
vergleichbar, in den kalten Raum. Auch gegen ihn hin schwindet,
weit nördlich allerdings erst vom deutschen Gebiet, nahezu auf der
Breite des Nordkaps, wo Europa im ganzen endet, der Baumwuchs. Jene
Liliputanergestalt kryptogamischer Gewächse, die schon in unserm
Walde merkbar wird, wird noch ein Stück weiter dort zur vollkommenen
Herrscherin. Moose und Flechten überziehen unermeßliche Wüsteneien als
Charakterpflanze. Die Birke kriecht noch hier und da dazwischen, aber
auch sie ist ein Zwerg geworden, ein armer verkrüppelter Eskimo, dessen
„Krone“ kaum ein paar Zentimeter über den Boden ragt, während der
„Stamm“ die Dicke eines Zündhölzchens weist.

Sieht man auf diesen Pflanzenwuchs, der längst nicht mehr ein Kleid,
sondern kaum noch ein färbender Bodenanstrich dieser Oede ist, so
sollte man das Tierleben dort völlig erloschen wähnen.

Gerade umgekehrt aber ist es, als hefte sich eine uralte, eine
unverwüstliche Liebe ungezählter Tiere an diesen unwirtlichen Fleck.
Wie Dampfsäulen schießen die Mückenschwärme auf, wenn der steinhart
gefrorene Boden im kurzen Sommer oberflächlich eine kleine Schicht weit
taut. Nagetiere kriechen in Scharen hervor. Stellenweise wandern wilde
Ochsen in Herden an und äsen sich an den elenden paar Blättchen der
Zwergbirken. Ganz unerschöpflich aber ist der sommerliche Reichtum der
Vögel, die ausgesucht in diese Polarwüste den Höhepunkt ihres Daseins
verlegen, hier ihr Nest bauen und ihre Jungen aufziehen.

Seltsam fürwahr, der Geschmack einer solchen Wildgans.

Ihre strammen Flugmuskeln geben die Welt von der Nordgrenze Sibiriens,
wo Nordenskjöld gesegelt ist, über ganz Europa, über das lachende
Mittelmeer hinweg bis ins heiße Afrika hinein in ihren Willen.
Alljährlich überschauen sie das, -- und suchen doch die Tundra, um ihr
Nest dort zu bauen.

Diese ausgesprochenen Heimatsgefühle der Wandervögel -- ausgesprochen
in einem Maße, daß unser Kulturvolk-„Patriotismus“ fast beschämt
daneben steht -- haben aber nicht nur für das Gemüt etwas Rührendes,
sondern sie sind auch wissenschaftlich gerade für unsere Fragen
vom allergrößten Interesse. Der Vogel, der heute in der Tundra
nistet, bewährt vielleicht nicht nur Patriotismus im einfachen
Sinne der Anhänglichkeit an eine bestimmte Landschaft. Er ist
möglicherweise dieser Landschaft +nachgezogen+, als sie sich durch
geschichtliches Verhängnis selber von der Stelle bewegte.

Wenn die Saatgans heute in Deutschland nur durchreisender Zugvogel
ist, der uns nicht der Ehre würdigt, seine Nestfreuden zu erleben,
so ist sehr wohl denkbar, daß sie es tut, nicht obgleich, sondern
+weil+ sie ein ursprünglich deutscher Vogel ist.

Ihr ist etwas passiert, dem ihr Gänseverstand in höherem Ueberschauen
nicht nachkommen konnte: das Vaterland ist ihr vor Zeiten sozusagen auf
der Landkarte ins Rutschen geraten, -- es hat sich ihr verschoben nach
Norden zu. Ihre Tundra, an die sie sich gewöhnt hatte, lag einst statt
in Sibirien quer durch Deutschland. Sie war im übrigen Tundra genau wie
heute. Auch sie fror und schneite im Winter zur absoluten Hungerkammer
ein, aus der es dem Vogelvolk nur einen Ausweg gab: bis über die Alpen
hinaus nach dem warmen Afrika wandern. Lange Zeiten, viele Jahrtausende
lang, paukte sich diesen Gänsegenerationen ein: Heimat ist die Tundra,
aber im Winter geht’s nach Afrika, denn am vollkommen hereinbrechenden
Nordpol mit Weltraumkälte scheitert auch der wärmste Patriotismus.

Aber diesen Generationen schmuggelte sich eins unter der Hand dazu.
Von Jahrhundert zu Jahrhundert schob sich ihnen die liebe Tundra
immer ein paar Meilchen weiter nach Norden. Das Vaterland hatte sich
als vom Klima bedingte „Landschaft“ unmerklich in Bewegung gesetzt
wie ein Flechtenüberzug, der an einem sinkenden Gebirge Schritt für
Schritt höher kriecht, um die alten Höhenverhältnisse beizubehalten.
Die Tundra kroch so nordwärts an dem Polargipfel der Erde -- bildlich
gesprochen -- höher. Da die Sache langsam einstudiert wurde, machte
es den Enkel-Gänsen nicht viel, daß sie etwas länger heimflogen, als
ihre Ahnen. Und schließlich flogen sie mit alter Treue über das ganze
alte Deutschland weg bis nach Lappland und Nordsibirien, der wandernden
Tundra nach. Einigen scheint ja die Riesenstrecke von dort bis Afrika
schließlich doch zu viel geworden zu sein: so hat die andere Wildgans,
die Graugans, heute doch gelernt, vielfach wieder auf deutscher Erde zu
nisten.

Es ist nicht diese Zauberkraft des Vogelfluges allein, die uns von
einer Tundra im Herzen Deutschlands erzählt. Dieses Auspizium könnte
immerhin noch trügen, wie so manches getrogen hat.

Aber es sind jetzt mehr als drei Jahrzehnte über dem denkwürdigen
Sommer hingegangen, da in Oberschwaben bei Schussenried die Quelle des
Schussen reguliert wurde.

Ein Graben wurde gezogen und dabei kam etwas Unwahrscheinliches zutage:
ein einziges Stücklein Deutschland, das in seiner Weise auftreten
durfte gegen das ganze übrige. Denn es war ein leibhaftig im Erdboden
alle die Jahrtausende hindurch wohlkonserviertes Restchen noch der
echten deutschen Tundra.

Gletscherschutt lag da, -- in dieser Gegend, die heute weit und breit
nichts mehr von Gletschern weiß. Zwischen dem Schutt aber hatte sich
der ganze uralte Moospolster erhalten, Moosarten, wie sie heute in den
Gletschertümpeln Grönlands vorkommen. Und wiederum das Moos, tadellos
überliefert, wie es war, so daß man es sofort ins Herbarium legen
konnte, hatte Tierknochen und rohe, vorgeschichtliche Menschengeräte
in seinem Schoße bewahrt: Knochen des Renntiers und des arktischen
Eisfuchses und Steingeräte des Eiszeit-Menschen. Wie Dornröschen
versponnen und vergessen, starrte die alte Tundra hier tatsächlich noch
einmal in unsere Zeit hinein.

Dann kamen an anderen Orten, auch in Deutschland bis weit an die
Südwestgrenze hinab, die Knochen des Moschusochsen ans Licht. Wir
Berliner haben im Sommer 1901 das seltene Schauspiel genossen, in
unserem (von Heck jetzt so unvergleichlich gut geleiteten) Zoologischen
Garten den Moschusochsen lebend zu sehen. Es war ein zoologisches
Ereignis, denn der lebende Moschusochse muß heute wirklich aus der
grönländischen Tundra herübergeholt werden, was in diesem Falle zum
allerersten Male geglückt war. So lange man diesen seltsamen Gesellen
mit seinem struppigen, bis auf die Hufe herabwallenden Haar-Talar
kennt, hat er geradezu als das Symbol, als die wandelnde Verkörperung
der Tundra gegolten. In Herden durchstreift er sie, zufrieden bei
all seiner Größe mit der kargen Nahrung, die sie ihm bietet. Seit
unanzweifelbare Knochenreste gerade ihn als ehemaligen Bürger auch der
deutschen Landschaft erwiesen haben, ist der letzte Zweifel geschwunden
an eine deutsche Tundra-Zeit.

Und wir wissen ja auch heute ganz genau, warum sie einmal kam, warum
sie in unabwendbarem Verhängnis kommen mußte.

Wie sie heute das ewige Polareis umgibt als der Rain, wo das letzte
Leben noch mit der Allmacht der Eiskönigin ringt, so ist sie im
Ausgang der Tertiär-Zeit zu uns gewandert als der Teppichrand, den
das ungeheure Eisfeld des Pols vor sich herschob, als es sich selber
bis zu uns ausdehnte. Was der alte Dichter-Geologe Goethe schon klar
erkannt hatte, das ist uns heute eine unumstößliche Tatsache: auch
über Deutschland ist einmal die große Eiszeit hingegangen. Ganz
Norddeutschland mindestens hat sie einheitlich unter Eis gebracht.

Will man es sich in großem Bilde umrißhaft zusammenfassen, so mag man
sich eine einzige kolossalste Eisscholle denken, die hauptsächlich
von der Richtung Skandinaviens her anrückte, ganz so, wie wenn etwa
das gesamte heutige Grönland nach hier herüber auf eine Rutschfläche
geraten wäre.

Auf dieser Scholle lasteten halbe losgesprengte nordische Gebirge
in Gestalt unzähliger loser Gesteinsscherben, die jeder Riß im Eis
und jedes Abschmelzen auf die verwüstete Sohle des deutschen Landes
niederkollern ließ, -- erratische Blöcke dort bildend. Im ganzen war
die Ebene ziemlich flach, in die dieses Ungetüm von Scholle sich
schob. Wo aber aus ihr selber ein urgeborener Block, ein aufgebäumtes
Stück alter, längst abgesunkener Erdkruste noch entgegen stand,
wie der Muschelkalkfelsen von Rüdersdorf, da krallte sich die
Tatze der Eisscholle hinein, rieb und ritzte und polierte sie, daß
die unverkennbare, unseren Geologen genau lesbare Schrift wie ein
Keilschrift-Dokument für späte Tage sichtbar blieb.

Wo immer diese zermalmende Scholle das deutsche Land überwalzte, da
brach zunächst das ganze Leben der Landschaft überhaupt zusammen.

Es erhöhte die Furchtbarkeit, daß zu der einen skandinavisch-russischen
Hauptscholle, die sich von Schweden bis ans Elbtal bei Dresden drängte,
kleinere Schollen von den Alpen, ja selbst vom Riesengebirge traten.
Deutschland im Sinne einer eigenen Landschaft stand auf dem Punkt
damals, endgiltig unterzugehen. Die Nadelholz- wie Laubwälder der
Tertiär-Zeit versanken unter dem Schollendruck wie die Pinienwälder am
Vesuv unter Lava und Asche stürzen. Auf dem Höhepunkt der Katastrophe,
deren Ursache uns noch immer so dunkel ist, hat ziemlich sicher von
der Nordspitze Rügens bis in die Gegend von Pirna hinter Dresden kein
Baum Norddeutschlands mehr gestanden, kein Heidekraut geblüht, kein
winzigstes Käferlein gekrabbelt.

Dieser Höhepunkt war nicht einmal mehr Tundra. Er war nicht Rand des
Teppichs, wo noch Leben ringt, sondern einheitliches Eisfeld selbst.

Der Planet auf diesem ganzen Gebiet -- die gesamte Strecke, die ich
auf meiner Bahnfahrt von Worpswede in den Marschen bis Schreiberhau im
Riesengebirge durchmaß -- war gemordet.

Wären nicht im westlichen und südlichen Deutschland gewisse Felder der
Karte auch jetzt eisfrei geblieben, so hätte man von einem wenigstens
zeitweisen Radikaluntergang der deutschen Flora und Fauna reden können.
So retteten sie das Inventar, das sich, vor dem Eisschrecken fliehend,
vorübergehend in ihnen wie in einer Arche Noäh zusammengedrängt haben
muß. Vor dieser berghoch anwandelnden Kristallwand mußte ja selbst die
Tundra flüchten. In dieser Gipfelzeit sind die Moschusochsen bis an den
Bodensee gedrängt worden, -- die Moschusochsen und der andere, der,
unbekannt woher, plötzlich auch in dieser flüchtenden Tundra war: der
Mensch. Was hatte +ihn+ hierher gebracht? Die Knochen des Wesens,
das ihn mit dem Tier, dem Gibbon-Affen, verknüpft, liegen in der heißen
Sonneninsel Java, fern am Aequator. Das weitere Blatt der Chronik
fehlt✹....

Doch der Eisschrecken überschritt seine eigene Schicksalsgrenze.

Auf wessen Gebot?

Lag es in den Tiefen der Erde, die sich wieder stärker zu verdichten
begann? Oder weit draußen im Kosmos, in Stellungen der Erdachse und
Wandlungen der Erdbahn, die vielleicht in der endlosen Verkettung der
Dinge in den Wirbeln der Milchstraße ihre letzte Instanz fanden, -- wer
weiß es.

Es ist mit solchen Naturgewalten wie mit Menschenschicksalen. Warum hat
Alexander nicht wirklich die Welt erobert?

Das Weichen der lähmenden Eisscholle nach Norden zu bedeutete zunächst
zweifelsohne eine Vollherrschaft erst der eigentlichen Tundra jetzt
in Norddeutschland. Der Teppichrand lag jetzt Stufe um Stufe auf
unserer Landschaft: der Teppichrand der Teiche am Gletscherfuß mit
Grönlandmoosen, -- der Moschusochsen, Polarfüchse, Renntiere und
Eskimo-Menschen.

Man träumt sich in eine Zeit, da etwa Berlin zum erstenmal
zurückerobert wurde von einer nachschiebenden deutschen -- nicht
Urwaldlandschaft im Sinne des Plinius, sondern Tundralandschaft im
Sinne des heutigen Nordsibirien. Die Wildgans und der Singschwan (der
heute in Lappland brütet) erkannten zum erstenmal die Möglichkeit
wieder, in der norddeutschen Ebene sich häuslich einzurichten.
Prachtvoll, wie ein großes Schauspiel, können wir heute dieses
Zurückgehen der Eismauer noch in wirklichen Stufen verfolgen. An
den Steinfrachten, die der sterbende Gletscherriese, der sich einst
ein halbes Gebirge auf den Buckel geladen hatte, in seinen letzten
Zuckungen hat fallen lassen, können wir es noch nachleben. Aber wie
viel besser noch an den heutigen Flußläufen Norddeutschlands.

Als die Eismauer bis gegen Dresden hin stand, gab es keine deutschen
Ströme, die zur Ostsee abflossen. Nur die Elbe war möglich, die um das
Eis herum nach der Nordsee sich wandte.

Als dann das Eis langsam nordwärts zurückging, bildete sich vor ihm
ein Strom abtröpfelnder Schmelzwasser, der von Ost nach West in
diese Elbe floß. In diesen Ur-Strom, der nicht senkrecht zur Ostsee,
sondern zunächst parallel dem deutschen Grenzgebirge senkrecht auf
der Elbe stand, mündete damals der Quelllauf sowohl der Oder wie der
Weichsel. Beide waren also auf weitem Ostwest-Weg Nebenflüsse der
Elbe. Je weiter aber die ungeheure Scholle schmolz, desto weiter zog
sie die Schmelzrinne naturgemäß auch nach Norden, nach der Ostsee
zu vor sich mit. Noch sind die alten Ostwest-Rinnen auf dieser
Wanderschaft stufenweise zu verfolgen. So eine, in der die Oder längs
des Gletschersaumes zur Elbe floß, über Luckenwalde. Eine weitere,
heute noch auf jeder Karte deutliche führte quer über Berlin, in die
Spree- und Havellinie hinein. Eine nochmals spätere schnitt etwa
Eberswalde, Oranienburg und Fehrbellin. Und erst ganz zuletzt, als die
Eisscholle kläglich in der Ostsee sich auflöste, rissen die Oder sowohl
wie die Weichsel sich, dahin ihr direkt folgend, ein Bett unabhängig
von der Elbe auf diese Ostsee zu. Erst seit man dieses Urnetz vor der
Eisbarriere dem Rätsel unserer seltsam geknickten, durch rätselhafte
Ostwest-Linien verknüpften norddeutschen Ströme zugrunde legt, hat man
rein geographisch seinen Kern erfaßt.

Dem Träumer, der mit dem Dampfroß durch die deutsche Tiefebene jagt,
steigt aber das neue gewaltige Bild herauf verschollener deutscher
Riesenströme mit Tundrastaffage.

Berlin im Bett eines solchen Stromes, der mindestens die Breite einer
Meile gehabt haben muß. In der Ferne blinkt, ein vermeintliches
nördliches Gebirge der Ebene, der weiße Gletscherrand. Zum Strom kommen
Herden dick bepelzter Moschusochsen. Moossteppe weithin, kein Wald. Die
hungrige Schar äst sich an winzigem, kriechendem Birkengestrüpp. Mücken
wirbeln in Säulen über der gletschergespeisten Flut. Und Wildgänse
ziehen, zum endlosen Keil gereiht, schnatternd dahin.

Diese Wildgänse sind das einzige, was uns davon treu geblieben ist.

Denn auch die Tundra schwand.

Heute haben unerquickliche Ereignisse so aufdringlich Deutschland
und China auf das gleiche Blatt Geschichte gebracht. Vor Jahr und
Tag aber ist schon einmal auf chinesischem Boden ein Blatt deutscher
Landschaftsgeschichte entziffert worden.

Will man China gleichsam auf eine einzige Farbe hinaus spielen, so
gibt es keine bessere als „gelb“. Nicht nur die gelbe Hautfarbe des
Mongolen ist damit bezeichnet. Aus den Tiefen des Riesenreiches kommt
der Hoangho, der „gelbe Fluß“. Gelb ist er, weil ungeheure Flächen
des Landes, durch das er sich wühlt und dem er bei dieser Wühlarbeit
Teilchen entreißt, aus „gelber Erde“ bestehen, einem einheitlichen
gelben Lehm von merkwürdiger Beschaffenheit.

An diesen unabsehbaren, Hunderte von Metern mächtigen Lehmlagern Chinas
hat das Auge eines deutschen Reisenden, unseres großen Richthofen,
einst das Walten einer Naturmacht erkannt, die bis dahin in alten wie
neuen Landschaftsbildern übersehen worden war: die Tat des Sandsturmes
in der freien Steppe.

Kein Märchenstrom der Urwelt, keine Sintflut hatte diesen dicken
gelben Lehmteppich gebreitet. Aber Jahr um Jahr hatte zur dürren
Zeit der Steppenwind die trockenen Gräser der Steppe mit seinen
Staubwolken überpudert, bis eine ganze Generation Gras begraben lag.
Eine neue hatte sich auf dem Staubgrab gebildet und war zu ihrer Zeit
abermals verschüttet worden. So ging das Jahrtausende hindurch, bis
die Erdkruste sich in dieser Gegend einheitlich erhöht hatte zu einer
einzigen, über ein ganzes Landgebiet ausgedehnten Sanddüne.

Es fehlte dieser Staub-Formation die innerliche schöne Schichtung,
wie sie der Schlamm alter Wasserablagerungen behält, auch wenn er zu
lehmiger Erdmasse wird. Dafür zeigte sie sich dem prüfenden Blick
aber noch durchzogen von zahllosen feinen Röhrchen: den Abgüssen der
Würzelchen jener übereinander folgenden Generationen verschütteten
Graswuchses. Und ebenso verschüttet lagen in ihr die Gehäuse der
Landschnecken, die immer wieder die Grasoberfläche bis zu ihrem
Staub-Ende bewohnt hatten, und die Knochen gewisser Steppenfreunde
unter den Säugetieren: der Antilope, die in Herden über den Grasteppich
schwärmte, des Nagetiers, das seinen Bau in den Sandboden grub.

Diese Beobachtungen eines deutschen Reisenden im entlegenen China
gaben aber dem Heimgekehrten plötzlich den Schlüssel zu einem längst
bestaunten Rätsel seiner deutschen Heimat selbst.

Denn so wenig wir heute von Chinesentum auf deutscher Erde wissen
wollen, so sicher bleibt, daß eine Riesenhand voll solcher chinesischer
gelber Erde zu einer Zeit auch über unser Vaterland ausgegossen worden
ist. Das heißt: nicht echten Chinalehmes selber, sondern eines nur
ebenso entstandenen Streusandes von Steppenstürmen, deren prickelnde
Staubwolke auch bei uns damals auf echtes Steppengras niederging.

Vor allem das romantische Rheintal ist es, das förmlich im Mittelpunkt
dieses Streusand-Ergusses einmal gestanden haben muß. Aber auch sonst
ist der gelbe Segen reichlich genug an allen Ecken und Enden über uns
erfolgt.

Das wissenschaftlich anerkannte deutsche Wort für diese Sorte Lehm ist
„Löß“, was (nach einer Ableitung, die ich nicht beschwören will) von
„Lose“, „Gelöst“, „leicht sich ablösend“ herstammen soll.

Genau wie der chinesische, ist auch dieser deutsche Löß ungeschichtet,
dagegen durchsetzt von jenen Röhrchen verwitterter Graspolster. Gehäuse
von Landschnecken stecken massenhaft in ihm. Und nachdem man einmal
danach suchte, sind endlich auch die schönsten Knochen typischer
Steppen-Säugetiere der heutigen asiatischen Steppe auf dem echtesten
deutschen Boden haufenweise darin gefunden worden.

Nach alle dem blieb nichts übrig, als in das große Wandelbild alter
deutscher Landschaften auch eines aufzunehmen, das ausgesprochen der
heutigen innerasiatischen Grassteppe entspricht.

Die Landschaft taucht als „deutsche“, beispielsweise als die
Rheinlandschaft oder als die Elblandschaft zwischen Meißen und
Pirna, so auf, wie sie einst Humboldt für Zentralasien in ein paar
wirkungsvolle Sätze gedrängt hat. „Der schönere Teil der Ebenen, von
asiatischen Hirtenvölkern bewohnt, ist mit niedrigen Stämmen üppig
weißblühender Rosaceen, mit Kaiserkronen, Tulpen und Cypripedien
geschmückt. Wie die heiße Zone sich im ganzen dadurch auszeichnet, daß
alles Vegetative baumartig zu werden strebt, so charakterisiert einige
Steppen der asiatischen gemäßigten Zone die wundersame Höhe, zu der
sich blühende Kräuter erheben. Wenn man in den niedrigen tatarischen
Fuhrwerken sich durch weglose Teile dieser Krautsteppen bewegt, kann
man nur aufrecht stehend sich orientieren, und sieht die waldartig
dichtgedrängten Pflanzen sich vor den Rädern niederbeugen. Einige
dieser asiatischen Steppen sind Grasebenen; andere mit saftigen,
immergrünen, gegliederten Kalipflanzen bedeckt; viele fernleuchtend von
flechtenartig aufsprießendem Salze, das ungleich, wie frischgefallener
Schnee, den lettigen Boden verhüllt.“

Ueber solche Steppe, die zu Zeiten dürr, aber niemals eine gefrorene
Tundra ist, gingen die Sandwehen, die unseren Löß am Rhein oder an
der Elbe gehäuft haben. Auf ihr lebte die Saiga-Antilope, die heute
erst im europäischen Rußland auftaucht und dann bis zum Altai geht,
jene kleine, plumpe Steppen-Antilope, die sich durch ein so stark
entwickeltes semitisches Profil auszeichnet; ihre Knochen liegen
südlich und westlich noch weit über Deutschland hinaus im Löß. Es
lebte die Springmaus, die selbst das ungeübteste Laienauge für eine
glänzende Anpassung an weite, mehr oder minder öde Sandsteppen halten
muß; ferner der Bobak oder das Steppen-Murmeltier; das Stachelschwein
und die Pfeifhasen und Zieselmäuse der Steppe. Endlich schwärmten wilde
Pferde und wilde Esel. In jedem Zuge, in jedem Knöchelchen und jedem
sandbegrabenen Pflanzenwürzelchen ein einheitliches Bild: Zentralasien,
Nordchina versetzt -- nach Deutschland.

Aber wann jetzt war das wieder?

Unser Löß liegt, wo immer er liegt, so, daß seine
Streusandbüchsen-Epoche unmöglich weit von der Eiszeit entfernt werden
kann.

Als man ihn noch nicht auf Sandverwehungen einer Steppe deutete,
sondern auch bei ihm wie bei anderem Lehm auf Wasserniederschläge riet,
hatte man ihn mit Vorliebe als Absatz geradezu der großen Schmelzwasser
sich gedacht, die von den tauenden Eismassen jener Eiszeit eines Tages
niederrieselten. Damit ist es nun nichts, aber die Eiszeit-Nähe bleibt.

Bisweilen schien es, als schiebe der Löß sich stellenweise unter
Gletschergerölle der Eiszeit, sei also älter mindestens als eine
letzte Periode der Vereisung. Die Eiszeit scheint Schwankungen in sich
besessen zu haben, vielleicht längere Intervalle, da alles schon einmal
getaut war, ja das Klima so mild wurde, daß die Tundra aus großen oder
allen Teilen Deutschlands wich. Damals, in solchem Zwischenreich,
müßte die Steppe Deutschland erobert haben, in einer relativ warmen,
mindestens überaus trockenen Zeit.

Andere haben das nicht gelten lassen. Sie legen die gesamte Löß-Periode
erst zwischen die letzte Eiszeit und die Urwälder des Plinius.

Eine dritte Partei endlich rechnet mit beiden Möglichkeiten. Also
zuerst Eiszeit Numero eins, die große Teile Deutschlands ganz in Eis
begrub und den Rest zur Tundra degradierte. Dann Kälte-Pause, Abzug
des Eises und ihm nach der Tundra nach dem Pol zu. Trockenes Klima.
Deutschland wird Steppe mit unendlichem Grasteppich voller Bobaks,
Saigas und Wildpferde. Dann Rückkehr der Tundra vor südwärts abermals
vorrückendem Eise her. Höhepunkt einer zweiten Eiszeit. Endlich zum
zweitenmal und jetzt bis heute endgiltig Abzug von Eis sowohl wie
Tundra. Eine zweite Hochblüte der Steppe wiederum mit Bobak, Saiga,
Wildpferd und mit den nötigen Sandstürmen, die Löß häuften, indem
sie Steppengras begruben und gelegentlich die Tiere mit. Erst dieser
zweiten Steppe wäre -- offenbar durch einen neuen Klima-Wandel, der,
wenn nicht viel kälter, doch mindestens viel feuchter machte, --
der „deutsche Urwald“ gefolgt, in dem Plinius und Tacitus die alten
Deutschen fanden.

Die Lösung steht noch dahin. Und so wenig wir ernsthaft heute von den
Ursachen der Eiszeit wissen, so wenig verstehen wir, warum eine so
ausgesprochene Zeit der Steppendürre sie durchsetzte oder abschloß. Das
Tatsachen-Bild selbst läßt sich dagegen leicht noch etwas verwickelter
machen.

Tundra wie Grassteppe waren sich in einem Punkte sehr ähnlich: in ihrem
Widerstande gegen den Wald.

Die Tundra ließ ihn nicht aufkommen, weil ihr gefrorener Boden die
Wurzeln nicht gedeihen ließ. Die Steppe war das Eldorado der Kräuter
im Gegensatz zum echten Baum. Aber wenn wir uns eine Tundra tauend
denken, entfesselt zunächst durch die Wärme in all ihrer Feuchtigkeit,
so wird sich, ehe sie Steppe werden kann, ziemlich sicher ein gewisses
Zwischenreich einschalten, das, wofern es nur lange genug anhält,
den Wald sogar besonders begünstigen muß, einen feuchten Urwald im
Plinius-Sinne. Laubwald wird es wohl zuerst sein. Dann, wenn die
Steppendürre schon näher rückt, nur noch Nadelholzwald. Bis auch der
erliegt. Jedesmal, wenn die Tundra vor der Steppe wich, wäre eine
solche Eroberung der deutschen Erde durch den Wald dazwischen getreten,
und umgekehrt: wenn im Zwischenraum der Eiszeiten abermals die Steppe
der Tundra wieder Raum gab, hätte sich ebenso der Wald auf die Dauer
des Uebergangs dazwischen geschmuggelt.

Es gibt mancherlei Anzeichen für solchen Urwald, der kam und wieder
ging zwischen den anderen Bildern.

Und am seltsamsten will den träumenden Gedanken hier das letzte Glied
der Kette anregen. Die letzte Eisperiode wich eines Tages. Zwischen
die letzte Tundra und die letzte, nacheiszeitliche Steppe zog sich,
bildlich gesprochen, ein Urwaldstreifen. Dann verging auch diese letzte
Steppe. Wodurch? Weil es offenbar wieder weniger dürr wurde, das Klima
feuchtkühler wurde. Das rief den Wald zurück. Aber wo sind wir jetzt?
Beim feuchten Sumpfwald jetzt wirklich schon der alten Germanen!

Es gibt leise Anzeichen, daß dieser Wald mit seinen Eichen schon
eine zweite Station war: daß ihm ein ausgesprochener Nadelholzstand
voraufgegangen war.

In Dänemark wenigstens ist beim Studium unberührter alter Moore überall
aufs klarste festgestellt worden, daß lange Zeiten hindurch der Urwald
so gut wie ausschließlich Fichtennadelwald gewesen sein muß. Damals
war der Charaktervogel Dänemarks der Auerhahn, der erklärte Freund
der jungen Fichtentriebe. Heute gibt es dort weder einheimische
Auerhähne noch Fichten. Jeder kennt dafür die Herrlichkeit der heutigen
Buchenwälder Dänemarks. Die Moorschichten deuten genau an, wie zu ganz
bestimmter Wende der Zeiten die Fichte wieder zurückgegangen sein muß
zu gunsten einwandernder Laubbäume, zuerst der Eiche und Erle, dann,
als das bis heute entscheidend Dauernde, der Buche. Denkt man sich das
einigermaßen auch als giltig für Deutschland, so wäre der germanische
Eichenwald schon ein Zeichen gewesen, daß das Klima sich sehr weit
bereits vom Steppenhaften, Trockenwarmen zum Feuchtkühlen gewendet
hatte.

Nun denn: dieser Germanenwald würde aber heute noch bei uns herrschen,
wenn wir nicht mit unserer Forst- und Feldkultur in ihn eingegriffen
hätten.

Seiner ungehemmten Wachstums-Freiheit zurückgegeben, würde er seinen
Kampf gegen den Nadelholzwald und die letzten Steppen-Reste in
Deutschland vom Klima begünstigt fortsetzen und wenigstens das Tiefland
dauernd erobern. Bis wohin?

Die Frage dämmert auf, ob unsere ganze Periode deutscher Landschaft
von den Eichenforsten des Plinius bis heute nicht bloß ein solches
Urwald-Zwischenreich abermals sein könnte zwischen schwindender Steppe
und -- neu von Norden her gegen uns anwachsender Tundra?

Unsere ganze deutsche Waldherrschaft verdankten wir dann nur einem
(über eine Reihe von Jahrtausenden ausgedehnten) Feuchtkühlwerden des
Klimas, wie es als Vorbote einer neuen Eiszeit-Stufe in Kraft tritt.

Alles, was wir deutsche Geschichte nennen, hätte sich abgespielt in
einem schon verhältnismäßig vorgeschrittenen Abteil einer Waldepisode
deutscher Landschaft zwischen der letzten Steppe und einer kommenden
neuen Eiszeit-Tundra.

Und das Los unserer Enkel wäre es, in weiteren Jahrtausenden eine ganz
langsame, aber fortgesetzte Klima-Verschlechterung nach dem Naßkalten
zu erleben, bis endlich in noch fernerer Zeit echte Polarerscheinungen
den vollzogenen Beginn einer neuen Eiszeit ankündigten.

Eine völlig zwingende Beweisführung liegt in alle dem nicht.

Es wäre ganz gut auch denkbar, daß die Steppe selbst ihre
Zwischenzeiten hätte, die zwar feuchtkühler waren und Jahrtausende des
Waldwuchses begünstigten, aber doch noch lange nicht jedesmal zu einer
Eiszeit führten. Dann könnte unsere geschichtliche deutsche Landschaft
ein Interregnum zwischen zwei Steppenzeiten darstellen und ihr
Zukunftskampf wäre nicht der zwischen Wald und Tundra, sondern zwischen
einem Höhepunkt des feuchten Waldes und dem immer trockeneren bis zu
einem Maximum des Untergangs jeglichen Waldwuchses wieder zu Gunsten
der echten Steppe.

In diesem Falle würden unsere Enkel gerade umgekehrt heißere, dürrere
Sommer zu erwarten haben. Die russische Landschaft würde sich in einer
unaufhaltsamen Bewegung auf uns an befinden. Das plötzliche oder
periodische Auftauchen russischer Steppentiere in Norddeutschland, das
wiederholt beobachtet worden ist, wäre ein Vorzeichen gewichtiger Art.
So ist das Steppenhuhn geradezu von den echten chinesischen Wüsten her
in den letzten vierzig Jahren zweimal bei uns aufgetaucht auf einer
Vogel-Völkerwanderung, deren Ursache uns ebenso verschleiert ist wie
die große der geschichtlichen deutschen Völkerwanderung. Ein alter
Freund unserer Steppen-Zeit, der kleine, mäuseartige Ziesel, den die
zunehmende Waldperiode nach Osten gedrängt hatte, wandert neuerdings
in Schlesien langsam wieder westwärts. Auch unsere braune Hausratte
ist bekanntlich erst seit nicht ganz zweihundert Jahren als solcher
russischer Vorposten bei uns mit glänzendstem Erfolge eingekehrt.

So spannen sich, während mein Bahnzug immer tiefer in die schwarze
Nacht hineinsank, meine Gedanken ins Nebelhafte der Zukunft, wo
die festen Landschaftsbilder sich selber schließlich auflösen in
phantasierende Gedanken.

Und nur ein letztes greifbares Einzelbild drängte sich mir noch mit der
Wucht innerer Logik zu den andern vor die Seele.

Ich befand mich vor nicht langer Zeit auf dem Landgute eines lieben
Freundes, des Dichters Wilhelm von Polenz in der Oberlausitz.

Ein altes Schloß mit so viel feinen Individualzügen der Geschichte,
daß man es unter einer Glasglocke in ein Museum stellen möchte.
Wendische Mädchen, ein Stück lebendiger Geschichte. Alter Urgrund
kristallinischen Gesteins, in dessen Mulden jene drei Riesen der
Diluvial-Zeit kulturfähigen Boden geschaufelt. Der Blick faßt ein
weites Stück deutscher Landschaft, begrenzt wie durch erstarrte blaue
Kämme eines versteinten Meeres, Bruchtrümmer der sinkenden, sich
werfenden, aus Spalten wieder hochquellenden alten Erdrinde. Der flache
Klotz des Erzgebirges. Die trotzigen Basaltkuppen Böhmens, einst in
der palmenfrohen Tertiär-Zeit durch Entlastung des Tiefengesteins
vulkanisch aufgeworfen wie kolossale Maulwurfshaufen. Ganz fern die
lange violette, vom Zahn der Himmels-Wasser zernagte Granitmauer
des Riesengebirges. Und dann die Ebene, die unendlich weite, durch
die die Spree abfließt wie ein murmelnder Bach in einer einzigen
endlosen platten Wiese, -- man träumt, man müsse über den Kirchturm
von Hochkirch hinweg bis Berlin sehen können .... Das war naturechter
Ausblick, unverrückbar einstweilen für Menschenhand. Deutsche
Landschaft in der Hand der Erde, die sie geschaffen hatte, die sie, in
Krisen neuer Faltung, allein auch wieder vernichten mochte.

Aber sonst überall Menschenwerk.

Wir sprachen vom Walde. Ich ließ mir erzählen, wie der Gutsbesitzer
von heute aus praktischen Gründen seines Geldbeutels keinen Laubwald
mehr mag und so gut wie ausschließlich den Nadelholzstand hegt und
weiter treibt.

Das stand nicht mehr in der Linie von Tundra, Sumpfwald, Nadelholzwald
und Steppe. Hier herrschte einstweilen der für sich rechnende Mensch.
Auf lange Jahrhunderte mindestens entschied er in der norddeutschen
Landschaft kraft seiner Kulturmittel für das Nadelholz als den nüchtern
praktischen deutschen Geld-Baum.

Am Rande einer solchen Schonung waren aber edle Weymouths-Kiefern
gepflanzt.

Die erste ist im achtzehnten Jahrhundert von Kanada nach England
gebracht worden, von dem Lord, dessen Namen sie noch trägt.

In jenen alten Tagen der größten Baumpracht Deutschlands, in der
Tertiär-Zeit, ging eine wirkliche Landbrücke von Europa nach
Nordamerika. Frei flutete der grüne Strom schöner Bäume herüber
und hinüber. Als die Eiszeit mit ihrer entsetzlichen Walze und die
baumfeindliche Steppe für Deutschland vorüber waren, bestand solche
transatlantische Brücke längst nicht mehr. Was das verödete Land
jetzt an Bäumen langsam von Süden her zurückerhielt, das war nur eine
kümmerliche Auslese im Vergleich zu der alten Pracht, die kleine
Auslese dessen, was eben in Südeuropa sich noch gehalten hatte,
keineswegs aber die ganze Fülle mehr, die dem gemäßigten Klima nach
jetzt wieder hätte bei uns gedeihen können. Wahrscheinlich hat die
große Barriere der Alpen, die Europa im Süden noch einmal abschloß
und der vor der Nord-Kälte flüchtenden Tertiärflora dort eine neue
Kältemauer in den Weg warf, vernichtend auf den größten Teil der Flora
im entscheidenden Moment gewirkt.

In Nordamerika lagen die Dinge besser, dort war die gute Waldflora
vor der Kälte einfach südlich gewichen, ohne zwischen zwei Eiswände
zu geraten, da gegen den warmen Busen von Mexiko zu (den die Eiszeit
so wenig erreichte wie das Mittelmeer) keine stauende Alpenschranke
mit eigener Gletscherentwickelung lag. Als die Kälte wich, kam sie
im ganzen unbeschädigt zurück auch wieder ins nördlichere, gemäßigte
Amerika. Europa hatte davon aber zunächst auf Jahrtausende nichts, da
die Landbrücke gerade jetzt fehlte.

Doch seltsamer Schicksalsweg.

Der Baumstamm, die Planke aus Fichtenholz, lehrte den Menschen, wohl
noch in Eiszeit-Tagen, wie man trennendes Wasser künstlich überwindet.
Und auf dieser Schiffsplanke des Menschen, diesem schwimmenden
Pflanzenleib selber hat sich dann doch eines Tages die große
transatlantische Brücke, die der Erdball versagte, gerade für die Flora
wiedergefunden.

Der tote Baum, vom Menschen vergeistigt durch die Zweckmäßigkeitsidee
des Werkzeugs, trug den lebendigen zurück.

Ueber den blauen Ozean sah ich sie im Geiste so anschwimmen: die
Geretteten vor der Eiszeit in Nordamerika, die die alte deutsche Erde,
die losgelöste Ecke des Europaamerika von ehemals, neu begrüßten.

Gleich jene Weymouths-Kiefer war ein Beispiel: sie war in der
Tertiär-Zeit über ganz Europa weit verbreitet gewesen.

Im Schloßgarten meines Freundes ragte aber ein anderes, noch viel
prächtigeres. Da stand auf der einen Seite eine ungeheure, ehrwürdige
Linde, also einer der schönsten deutschen Bäume, die mit dem Walde
überhaupt vor alters schon zu uns zurückgekommen sind. Gärtnerhand
hatte freilich auch dieses Riesenexemplar von früh auf in die
seltsamste Kunstform gezwungen, -- also doch schon halbes Menschenwerk.
Auf der anderen Seite aber wurde als zweite Merkwürdigkeit mir ein
lichtgrüner Tulpenbaum gezeigt.

Auch er hatte hier schon förmliche Altersrechte. Und doch sind
alle Tulpenbäume unserer Gärten erst durch Menschenhand wieder
herüberverpflanzt aus Nordamerika in den vierhundert Jahren seit
Columbus. In der Kreide-Zeit, als zuerst Laubbäume überhaupt
auftauchten, wuchs der Tulpenbaum schon ganz nahe dieser Stätte, in
Böhmen, wild. In der Tertiär-Zeit ging er bis Island und Grönland
hinauf und war über ganz Europa verbreitet. Aber kein lebendiger Stamm
überdauerte bei uns die Eiszeit, auch in Südeuropa nicht. Gestrichen
war er als deutscher Baum aus dem Buch des Lebendigen, bis die
Nachfolger des Columbus ihn in Nordamerika neu auffanden -- und als
fremdländische Seltenheit wieder heimbrachten und unter anderem auch
hier in der Lausitz zur deutschen Linde in den Schloßpark pflanzten.

Mein Freund, der ja nicht nur Landwirt, sondern der treffliche, weit
bekannte Dichter ist, wird vielleicht einmal einen Baum daneben setzen,
der eben so lichtes, lustiges Smaragdlaub hat und dabei geweiht ist
durch liebliche Verse Goethes: den Gingko. Der hat nun noch einen
verwickelteren Roman.

Zunächst ist er, was ihm freilich kein Laie ansieht, ein echtes
Nadelholz, das sich aber erlaubt, statt Nadeln die zierlichsten
grünen Blätter zu tragen, doppelt gelappte Blätter, deren jedes wie
aus einem Zwillingspaar verwachsen erscheint. Die Eigenart erklärt
sich, wenn man hört, daß der Gingko bis in die Zeit der Erdgeschichte
zurückreicht, da die Grenze zwischen Farrnkraut und Bärlapp einerseits
und den Nadelhölzern überhaupt noch schwankte. Sein Blattwerk steht
sozusagen auf der Kippe zwischen Farrnblatt- und Nadelholzmerkmalen.
Solcher Gestalt begann er schon in der Steinkohlenzeit. Als der
Ichthyosaurus schwamm, grünte er als deutscher Baum bei Bayreuth. In
der Kreide-Periode wuchs er in der Schweiz, in der Tertiär-Zeit von
Italien bis Grönland. Dann ist es, als habe eine Hand ihn fortgewischt
von der Tafel der Erde. Auch Amerika, das treue, hat ihn nicht mehr. Da
plötzlich wird er vor zweihundert Jahren in Japan als „heiliger Baum“
in Tempelhainen entdeckt. Wie er dahin gekommen und wo er wild wächst,
weiß an Ort und Stelle niemand. Und unsere Botaniker wissen es heute
noch nicht. Der importierte Zierbaum ist im Garten aber so wetterhart,
daß man ihn ohne Gefahr unserm kältesten deutschen Winter aussetzen
kann.

So kommt aus Winkeln der Erde durch Menschenschlauheit unser ältester
Heimatsbesitz Stück um Stück wieder zusammen.

Sie hat ja auch gelegentlich ganz neues hinzugeliefert, diese
„überseeische“ Epoche unserer Landschaftsgeschichte. Ich erinnere nur
an unsere südamerikanische Kartoffel, die für uns Charakterpflanze
geworden ist wie nur irgend eine.

Es ist mit ihr gegangen wie am Mittelmeer mit der Agave und dem
Feigenkaktus. Beide sind waschechte Amerikaner. Aber sie beherrschen
heute einfach das Landschaftsbild. Preller, als er seine odysseischen
Landschaften malte, hat den Dulder Odysseus und die schöne Circe naiv
zwischen hohe Agavenblüten und Kaktushecken gestellt, als hätte es
nie anders sein können. Wenn dazu am italischen Meer australische
Eukalyptus-Bäume ihre Säulenstämme zum blauen Himmel recken, so
empfindet man, was das Wort heißt: der Mensch Herr der Erde.

An dem gleichen Bahndamm meines Heimatortes Friedrichshagen, über den
ich alljährlich die Keilgeschwader der Wildgänse dahinziehen sehe,
freut mich ebenso jährlich die gelbe Blütenpracht der _Oenothera_,
-- der Nachtkerze. Weithin überzieht sie den ganzen Bahnabhang, --
Ideen weckend beim stillen Wanderer, der den Fragen der modernen
Biologie folgt. Denn es ist der Gattung nach die Wunderpflanze, aus
der De Vries eine ganze neue geistvolle Variante der Darwinschen
Entwickelungstheorie herausgelesen hat. Wer würde sie nicht für eine
Charakterpflanze ersten Ranges unserer märkischen Landschaft halten?
Und doch ist auch sie aus Nordamerika erst eingeführt und dann
verwildert. Die erste Art kam 1614 aus Virginien zu uns.

Europa ist heute zahm wie wild ein Garten des Menschen. Und ein Beet
nur mehr dieses Gartens ist die deutsche Landschaft.

Wird der Mensch bei allem überwältigenden Reichtum seiner Mittel aber
immer ein umsichtiger Gärtner sein?

Durch meinen Sinn, wie ich so in die Nacht hineinfuhr, zogen auch trübe
Stimmungen.

Ich dachte an leichtsinnig zerstörte deutsche Landschaftsschönheit.
Die wundervollen Elbsandsteinfelsen bei der Bastei, von roher
Steinbrucharbeit angenagt. Das idyllische Siebengebirge, die Perle der
gesamten Rheinlandschaft, schon in weiten Teilen fortgefressen durch
gleichen Raubbetrieb. Die Urwaldpracht des Spreewaldes von Jahr zu Jahr
eingeengt, aufgesaugt von winzigen Augenblickszwecken einer wahren
Pygmäenkultur. Dazu eine nivellierende staatliche Forstkultur, die, um
das Aergernis eines hohlen Baumes zu beseitigen, eine schöne deutsche
Vogelart um die andere am Mangel an Nistgelegenheit aussterben läßt.
Landschaftliche Schutzgesetze, die zu spät kommen an Orten, wo ein
Narr in einer Woche mehr roden und ausrotten kann, als die Natur in
Jahrtausenden schenkt. Noch ist es zum Glück an unzähligen Orten nicht
zu spät. Aber „Heimatschutz“ muß eine Tat werden, eine Gewalt, -- nicht
bloß ein Wort.

Wie unsere deutsche Landschaft dasteht, ist sie ein +Kunstwerk+,
aus all seinem Zeitenwandel doch mit allen Mitteln der großen
Zauberkünstlerin Natur einheitlich herausgestellt.

Nun ist diese Natur eingesunken in uns, wir sind ihre Augen, ihre Hand.

Und wir, die wir uns unserer „bewußten Kunst“ so stolz zu rühmen
pflegen, -- sollten wir uns nicht auch hier bewähren? Bewähren, --
indem wir vor allem begreifen, daß in solcher Landschaft wirklich
ein großes Kunstwerk uns anvertraut ist, das wir wohl organisch
weiterentwickeln, aber nicht plump zerstören sollen.




Der Kampf um die Haut des Riesenfaultiers.

Ein Kapitel aus Wahrheit und Dichtung


Im äußersten Süden Südamerikas, an der Westküste Süd-Patagoniens, da,
wo der Stille Ozean sich in so viel Fjorden und Kanälen in das Land
einfrißt, daß es förmlich zerlumpt aussieht, liegt ein Kanal mit dem
vertrauenerweckenden Namen Ultima Esperanza.

An diesem Kanal wohnt auf seiner Besitzung ein Kapitän mit dem völlig
harmlosen Namen Eberhard.

Auf dieser Besitzung steht ein Busch und an diesem Busche hing in der
Zeit von 1895 bis 1897 ein Tierfell.

Es hatte anfangs die Größe einer Ochsenhaut, war anderthalb Zentimeter
dick, durch in die Haut eingebettete kleine, bohnengroße Knöchelchen
steinhart, und auf der Oberfläche mit zolllangen, rotgelben Haaren
bedeckt; Kopf und Beine fehlten. Später schmolz es in der Größe mehr
und mehr zusammen, denn jeder Durchreisende nahm sich ein Stückchen
davon zum „Andenken“ mit.

Ohne besondere zoologische Skrupel merkten diese harmlosen Passanten
doch, daß es weder ein Fell des ortseinheimischen Lamas, noch des
Silberlöwen (Puma), noch eines Hirsches oder Fuchses war. Schließlich
hing es aber nun einmal da und irgendwo mußte es schon herstammen. Man
schnitt sich also sein Streifchen herunter, zog ab und vergaß die Sache.

Bis solche Fellstücke plötzlich in die Hände von Naturforschern
gerieten.

Da änderte sich die friedliche Sachlage mit einem Schlage. Es trat
der Fall ein, sehr ähnlich etwa dem, wenn ein Naturforscher aus
seinem Museum heraus zufällig in die große Berliner Markthalle geriete
und fände in einem der hübschen appetitlichen Fischkästen einen
frischgeschlachteten Ichthyosaurus zum Verkauf ausliegen.

An jenem Busch in Patagonien hing nämlich einfach das leibhaftige Fell
eines jener antediluvialen Muster-Scheusale, die unsere Lehrbücher an
erster Stelle aufzuführen und abzubilden pflegen: eines sogenannten
Riesenfaultiers.

Auf einmal rissen die Gelehrten, die Museen sich um ein winzigstes
Anteilfleckchen an diesem unglaublichen Fell.

Der Professor Ameghino in La Plata brachte zuerst die weitesten
Fachkreise in Aufruhr durch die lakonische Nachricht: das
Riesenfaultier, dieses auffälligste, seltsamste, berühmteste aller
vorweltlichen Ungetüme, lebe heute noch! Es müsse noch leben! In
offener Sonne führen Stücke seines Fells wie etwas Selbstverständliches
im Lande herum, gingen von Hand zu Hand, -- bloß unsere
Geologen-Weisheit hinke bisher hintennach. Auf zur Suche nach diesem
Stoff aller Stoffe für den Tierkundigen am Ausgang des neunzehnten
Jahrhunderts!

Seit diesem ersten Aufschrei eines tiefbewegten Entdecker-Herzens
ist gesorgt, daß die Haut von Ultima Esperanza in den Annalen der
Naturforschung mindestens den Ruhm erwirbt, den in der Geschichte
die sagenhafte Kuhhaut Frau Didos seit alters sich wahrt. Denn die
wunderbaren Nachrichten haben sich seitdem fortgesetzt gehäuft zu einem
nachgerade ganz einzigartigen Buch der Chronika.

In der Stunde, als zum erstenmal jenes mysteriöse rote Fell an seinem
Busch in Patagonien hing und das Messer des ersten unwissenden
Beschauers dort in ein (wissenschaftlich bis dahin nicht anders zu
bezeichnendes) wirkliches Stück „Urwelt“ schnitt, -- zu jener Stunde
hatte das betreffende Ungetüm, das Riesenfaultier, selber bereits
mehr als ein Jahrhundert lang ideell sich eine Gasse im tiefsten
naturphilosophischen Denken der Menschheit ausgelaufen.

Auf diesem neuen Behemot hatten, bildlich gesprochen, die
scharfsinnigsten Leute mit Aufbietung all ihrer Weisheit wie Klügelei
der Reihe nach geritten.

Voran kein geringerer als Altmeister Goethe.

Dann in seiner bedeutsamsten Lebensstunde Darwin. Und so und so viele
mehr.

Die Wurzeln der Geschichte gehen rund zurück bis auf die Entdeckung
von Amerika. Weiter können sie füglich nicht gehen, denn es ist bisher
weder von Riesenfaultieren noch von anderen zoologisch echten und nicht
bloß symbolischen Faultieren irgend etwas lebend oder tot je in der
„alten Welt“ entdeckt worden.

Columbus, wie allbekannt, fand Amerika nicht weil, sondern trotzdem.
Was er suchte und gefunden zu haben glaubte, war die Ostküste Asiens.
Im Angesicht der üppigen Tropenwälder Cubas und Haytis fahndete
er auf die Tier- und Pflanzenformen Chinas und der Sundainseln,
soweit man von solchen damals überhaupt schon in der höchst
schwachen naturgeschichtlichen Lesefibel etwas wußte. Und erst als
dieser geographische Grundirrtum überwunden war, begann bei seinen
Nachfolgern das Interesse an der Neuheit und den Wundern einer wirklich
„amerikanischen Tierwelt“. Im Kulturreich Mexiko, auf dessen Golddächer
die Eisenfaust der Spanier zunächst niederprallte, war das Studium
verhältnismäßig bequem gemacht, denn der Hof von Mexiko unterhielt
schon regelrechte Tiergärten, die alle wichtigsten Landesformen vor
Augen stellten. Da fiel aber nun eins alsbald auf.

Die Tierwelt der neuen Welt hat für den ersten Anblick etwas
Verkommenes. Die wichtigsten Gestalten ähneln solchen der alten Welt
bis zu einem gewissen Grade, stellen sich aber dann gegenüber wie
ein armer Rest, ein versprengtes Fragment. Ein einziger Büffel. Eine
einzige Antilopenart. Der eine kleine Tapir anstatt der Elefanten,
Nilpferde, Nashörner. Das kleine Lama für das große Kamel. Die Affen
durchweg winzige Gesellen, eher Eichhörnchen ähnlich. Und so weiter.

Nur ein Trost für sehnsüchtige Zoologenherzen schien offen. Wenn schon
alles einen armen Anstrich da drüben zu haben schien, so gab es unter
diesen Duodez-Gestalten mindestens eine gewisse Reihe ganz besonders
merkwürdiger, nirgendwo so zu fassender Einzel-Gesellen, die dennoch
dem Begriff „Fauna von Amerika“ ihren Ruf im Engeren wahrten.

Als ein Kabinett-Stück dieser bescheideneren Ecke ist nun sehr früh
schon in Ruf gekommen -- das Faultier.

Selber auch nur so ein kleiner Kerl, etwa einer stattlichen Katze
gleich, schien es Lebensgewohnheiten zu haben, die ihm Weltruf
bedingten. Festgekrallt fand man es im dicksten Urwaldgezweige,
schlafend. Und die Legende wußte alsbald nicht genug von seiner
„Faulheit“ zu melden. Ist es doch in der Zeit seither sprichwörtlich
geworden bis in unsere Kinderfibeln, unser Zeitungsdeutsch hinein, die
beide nicht im Geruch von allzuviel vorgeschrittener Zoologie stehen.

Heute wissen wir, daß das Faultier wie so viele steifnackige
Individualisten in den meisten Zügen böse verleumdet worden ist.
Gewiß: es hängt, eher wie ein zufällig dahinauf geschleuderter
Strohwisch, denn wie ein rechtschaffenes bewegliches Säugetier
anzuschauen, tagsüber schlafend in seinem immergrünen tropischen
Blätterversteck, -- die Beine nach oben am Ast verankert und den Kopf
mit dem greisenartig zahnarmen Maule in den eigenen Haarwust versenkt.
Ein Teil unserer Leser wird es in dieser belehrenden Stellung aus dem
Berliner Zoologischen Garten kennen. In eine beliebige Ecke planlos
zwischen Kletterbaum und Gitter gezwängt, erscheint es in seiner
schier unmöglichen Stellung wie herausgeschnitten aus einem jener
köstlichen Bilder Wilhelm Buschs, wo ein schwer umnebelter Student jäh
entschlummert ist, das eine Bein über der harten Bettlehne und belastet
mit zwei im Sturz mitgerissenen Uhrperpendikeln, der eine Arm im
Waschbecken und der Kopf eingezwängt in die Zange des Stiefelknechts.
Und wer nun diesen wirr verstapelten Haarklumpen herunterholt, auf den
Boden legt und zum „Auftauen“ bringen möchte, daß er etwa dahin renne
wie eine Ratte oder hüpfe wie ein Känguruh: der erlebt jetzt vollends
zunächst ein Tier, das sich auch wachend sehr wenig anders benimmt, als
ein verzauberter Strohwisch.

Das alles aber besagt nicht viel. Man muß den eigensinnigen
Individualisten mit den Augen jener Lehre von der „Anpassung“ aller
Wesen an ihre Umgebung anschauen und auch er wird in seiner Weise ein
Kunstwerk.

Das Faultier ist der Höhepunkt einer Anpassung an das Leben im
ewig grünen, ewig dichten, Meile um Meile nirgendwo unterbrochenen
Blätterdickicht des amerikanischen Tropenurwaldes. Für dieses sein
Element ist es statt beweglicher Pfoten mit den schauerlichen
Hakenkrallen versehen, wie sie kein zweites Säugetier so am Leibe
besitzt, -- die aber der kluge Mensch später, als er über alle Tiere
heraufkam durch die Erfindung des äußerlichen Werkzeuges, sich genau
so noch einmal äußerlich erfinden mußte in Gestalt des unentbehrlichen
Kleiderhakens.

Für diese seine konsequent bodenabgewandte Kletterei hat es ferner
seine ganzen hinteren Gliedmaßen sich so einkrümmen lassen, wie
Beine eines Embryo im Mutterleibe, daß sie allerdings zum Laufen
schlechterdings untauglich geworden sind. Mit dem ganzen Leibe hat
es sich dazu dermaßen aufs Abwärtshängen eingerichtet, daß der
Scheitel seines dickborstigen Haarkleides an den stets oben liegenden
Bauch anstatt an den Rücken geraten ist. Es hat sich (wenigstens in
einer Gattung) mehr Halswirbel angeschafft, neun statt der sonst
gebräuchlichen Säugetier-Ziffer Sieben, auf daß es beim Abwärtshängen
das Gesicht ohne Körperänderung wie die Eule der Legende regelrecht
nach hinten drehen könne. Und es hat sich gewisse besondere
Aderverzweigungen im Blutnetz seiner Glieder zugelegt, die diese
ewig krumm eingekrallten Leibesträger vor dem „Einschlafen“ durch
Blutstockung bewahren.

Kurz: ein geradezu geniales Anpassungskunststück ist es, das mit einem
so dummen Schlagwort wie „faul“ gar nicht zu fassen ist, geschweige
denn, daß man damit grob moralisierend über es aburteilen könnte.

Auf diesem vernünftigen und milden Betrachtungsboden war man nun
freilich vor hundert und einigen Jahren noch lange nicht. Gerade
damals aber feierte das verlästerte Faultier einen Triumph noch ganz
besonderer Art. Es widerlegte nämlich ganz allein in gewissem Sinne
jenen anderen Ruf Amerikas als des Landes der kleinen und verarmten
Tierformen.

Im Jahre 1789 ist das. Ein Jahr nach dem Tode des großen Buffon, der
damals zur rechten Zeit starb, ehe ihn, den Hof-Tier-Historiographen
von Paris, die Charybdis der Revolution verschlingen konnte. Buffon,
der die geistreichen Antithesen liebte, hatte sich so recht satt
schwelgen können in dem Gegensatz der tierfrohen alten und der
tierarmen neuen Welt, und die Faulheit des Faultiers hatte er bis ins
Aschgraue rednerisch ausgemalt.

In diesem Jahre aber kommt in Südamerika das Gerippe eines Ungeheuers
zu Tage, das der ganzen Verarmungslehre mindestens für vorsündflutliche
Tage den Gnadenstoß gibt.

Da, wo Südamerika über die Südhalbkugel der Erde tief hinab immer mehr
sich zuspitzt, treten in den Raum vom Hochgebirge zur See allmählich
immer mehr an Stelle der tropischen Walddickichte jene unermeßliche
Ebenen, die man Pampas nennt. Den Grund bilden gelbe und braune
Lehmmassen, ungeheure Sandaufschüttungen, teils Schwemmland der großen
Ströme, teils alte Meeresdünen, teils endlich wahre Sandfluten, die
wilde Wüstenstürme hier zu irgend einer Zeit einmal in rieselnde, lose
nur zusammengebackene Sandwellen geworfen haben. Alljährlich in der
feuchten Zeit ergrünen diese endlosen Flächen von Steppengras. Lamas,
Hirsche und amerikanische Nandu-Strauße bergen sich in dem grünen Plan;
seit die europäischen Ansiedler von der Küste aus ihr Vieh eingeführt
und lässig zur Verwilderung in der uferlosen Fruchtbarkeit gebracht
haben, auch halbwilde Rinder und Pferde in unzähligen Massen.

In diesem Pampasgebiet, in der regellosen Scholle seines Lehms -- sei
es, daß ein Fluß wühlend förmliche Querschnitte bloßlegt, sei es, daß
der Mensch herumbuddelt und Gräben und Sandgruben auswirft --: überall
da bieten sich, nur ganz lose verscharrt, massenhaft +Knochen+
dar. Knochen von Säugetieren zunächst fremdester Art. Und Knochen
vielfach von einer geradezu riesenhaften Größe.

Sie liegen keineswegs bloß für Sonntagskinder alle Jubeljahr einmal
sichtbar da, diese Knochen. Alle drei Schritte beinahe lang stößt
der schlichteste Wanderer darauf. Kinder wühlen kolossale Schädel
aus der Sandgrube, wo sie spielen. Im Flußufer erscheinen dem
Ruderer gespenstisch scheußliche Gerippe, vom Wasser losgenagt.
Steinharte Panzer wölben sich aus der Tiefe vor, wie im Sand begrabene
Eskimohütten.

Der naive Mann behilft sich damit, daß in diesem Pampas-Lehm ein Volk
ungeheurer Maulwürfe wühle. Kommen sie ans Licht, dann sterben sie und
lassen ihre Knochen liegen. Der Naturforscher aber sagt sich, daß hier
früher einmal ein ganzer Hexensabbat fratzenhafter Säugetiere wirklich
die Oberfläche belebt haben müsse. Sandstürme, Dünenbildung einer öfter
wechselnden Seeküste und das Schwemm-Material periodisch zu wilder
Ueberschwemmung losstürzender Flüsse mit flachem Ufer haben die Gebeine
dieser Riesen gelegentlich verschüttet. Wo sich jetzt der Sand spaltet,
gibt er sie wieder frei wie ein alter Hügel bei uns, der seit grauer
Heidenzeit eine Grabstätte wahrt, plötzlich aber durch den Bau einer
Eisenbahn oder einen Absturz bei Hochwasser seltsame Aschenkrüglein,
Spangen und Rüstungsteile eines verschollenen ehrwürdigen Altvordern an
die profane Sonne wirft.

Also geschah’s auch in jenem Jahre 1789.

Was der Pampas-Lehm aber damals ans Licht spie, das war doch noch etwas
mehr als ein beliebiges altes Tiergeripp und Totenbein. In Lujan bei
Buenos-Ayres war es. Es handelte sich nicht um einen einzelnen großen
Knochen. Was kam, war ein vollständiges Gerippe von rund vierzehn Fuß
Länge bei acht Fuß Höhe. Das ging in der Länge also über den Elefanten,
das größte lebende Landtier der alten Welt, hinaus. Und dazu maßen die
Oberschenkel allein in der Breite nahezu das Dreifache von denen des
stärksten Elefanten.

Ein solches Säugetier war bisher einfach unerhört. Der Vizekönig
Marquis di Loretto schickte den ganzen Knochenberg seiner Regierung in
Madrid ein. Der Prosektor Jean Baptiste Bry setzte die Ungestalt im
Museum naturgetreu wieder zusammen und Don J. Garriga lieferte 1796 den
ersten offiziellen Bericht.

Mit diesem Goliath konnte Amerika jetzt kühn sein Jahrhundert in die
Schranken fordern. Von allen Säugetieren der Erde war ihm bloß noch der
Walfisch über und der gehörte dem internationalen Weltmeer an.

Freilich war es ein ehemaliges, ein, wie es schien, längst ausgelebtes
Geschöpf. Was konnte aber noch wieder mehr überraschen als eine
Darlegung des größten damals lebenden Zoologen, Georg Cuviers. Er
bewies schlagend, daß dieser Goliath des Pampas-Lehmes nichts anderes
sei, als ein ins Kolossale übersetztes -- Faultier.

Der gesamte Knochenbau entsprach unverkennbar dem des Faultiers.

Allerdings mußte man sich entschieden einiges in der Lebensweise
dabei umdenken. Die Erde hat in altvergangenen wie jungen Tagen
gewaltige Bäume hervorgebracht. Der Eukalyptus Australiens wächst so
hoch empor wie die Kölner Domtürme, und der dicke afrikanische Baobab
bildet Laubkronen von fünfzig Metern Durchmesser. Aber Bäume, die ein
Klettertier von Elefantengröße und viel mehr als Elefantenschwere
getragen hätten, hat es doch wohl zu keiner Zeit gegeben. Das
Riesenfaultier sah denn auch gar nicht unmittelbar nach Klettern aus.
Seine ungeheuren Krallenklauen hatten ihm zweifellos das Umbrechen oder
Wurzelausgraben ganzer Bäume zum Kinderspiel gemacht. So mochte es
recht wohl in einer Grasebene mit nur vereinzelt stehenden Gehölzen auf
flachem Boden gehaust haben. Von Busch zu Busch trabend, schlug es sich
bald hier, bald da seinen Stamm ab oder grub sich ganze Baumwurzeln zum
Frühstück aus der Erde.

Das alles natürlich in längst verschollener Zeit.

Cuvier, der das Studium gerade der ausgestorbenen, der „urweltlichen“
Tiere mit besonderem Eifer als etwas damals Neues betrieb, zweifelte
keinen Augenblick, daß er die Knochen auch hier eines heute ganz
unmöglichen Vorwelt-Riesen vor sich habe, der allerdings im System zu
den noch lebenden kleinen Faultieren zu stellen sei.

In anbetracht, daß es an Größe der König aller Landsäugetiere sei,
taufte er das Geschöpf schlechtweg Megatherium, was eine Uebersetzung
von „Großtier“ sein will. Der Name hat sich unausrottbar eingebürgert,
obwohl sprachlich „Megalotherium“ richtig gewesen wäre.

Die Zeit, wann solche Megatherien noch lebend ihr Land unsicher
gemacht haben könnten, schob er dabei sehr ins Weite zurück. Irgend
eine fürchterliche Ueberschwemmung oder sonst etwas derart mochte
sie radikal vernichtet und ihre Knochen im Pampas-Lehm, den die Flut
angeschwemmt, begraben haben.

Wer damals noch fest an gewisse alte Ueberlieferungen glaubte, der nahm
wohl schlicht an, es sei die berühmte Sintflut selber gewesen, die das
vollbracht hätte.

Cuvier freilich wollte die Geschichte schon noch weiter zurücklegen.
Er glaubte an mehrere Epochen der Erdgeschichte noch vor dem Auftreten
des Menschen, von denen jede ihr besonderes Tiervolk und ihre besondere
vernichtende Schlußkatastrophe besessen haben sollte. In einem solchen
Epochen-Schlußakt waren ihm auch die Megatherien schon bis auf den
letzten Kopf vertilgt und begraben worden, lange ehe der erste
Mensch die Erde betreten hatte. Darüber ließ sich ja im einzelnen
noch streiten, auf alle Fälle schob sich das Datum aber gehörig weit
zurück. Für die Sintflut-Anhänger kamen doch mindestens ein paar
tausend Jahre in Betracht. Die Cuvierianer aber gerieten in der Folge
meist in immer längere Rechnungen hinein. Im Lauf des Jahrhunderts
konnte man in populären geologischen Werken ab und zu lesen, daß wohl
sicher Millionen Jahre verflossen seien seit dem Aussterben jener
amerikanischen Riesenfaultiere.

Jedenfalls gab es für Fachleute und Laien fortan kaum ein
interessanteres, die Gedanken mehr aufrüttelndes Geschöpf der ganzen
Urwelt als dieses „Großtier“.

Als der geniale, wissenschaftlich geschulte Zeichner d’Alton 1821 ein
Heft famoser Kupfertafeln über die Gerippe der Faultiere herausgab,
ergriff der alte Goethe selber dazu das Wort.

Er widmete dem Megatherium einige Seiten, die nachmals zu einem seiner
wichtigsten Bekenntnisse geworden sind. Mit größter Klarheit hat er
sich nämlich gerade darin als Vorläufer Darwins erwiesen.

Indem er das lebende und das ausgestorbene Faultier miteinander
vergleicht, betont er, er glaube „an die ewige Mobilität aller Formen
in der Erscheinung“.

In allgemeinster Fassung mochte das ja so damals schon Gemeingut gar
vieler bedeutender Köpfe sein. Es steckte die Anerkennung einer ewigen
Fortentwickelung der Welt darin. Herder und so mancher andere hätte es
gewiß nicht verleugnet.

Aber was Goethes Stellung scharf individualisiert, ist die Anwendung
der allgemeinen Idee bereits auf einen so streng zoologischen Fall wie
das Geripp der Faultiere.

Er verschanzt sich im weiteren der Stelle zwar etwas hinter „einigen
poetischen Ausdruck“, den er anwende, „da überhaupt Prosa wohl nicht
hinreichen würde“. Aber dann gibt er ein Bild, wie er sich die Dinge
denkt, dessen „Poesie“ eigentlich nur darin besteht, daß es prophetisch
schon vollständig die strengste darwinistische Denkweise beinahe
vierzig Jahre vor Darwin betätigt.

Für Goethe trennt keinerlei vernichtende Katastrophe das Riesenfaultier
vom heutigen Faultier. Das letztere hat sich einfach restlos aus
ersterem entwickelt.

Da das Riesenfaultier nur noch einen Rivalen an Körpergröße unter den
Säugetieren besitzt: den Walfisch, -- so möchte es selber sich nach
ihm vielleicht geradezu aus diesem Walfisch entwickelt haben. Ein
Walfisch „stürzt sich in ein sumpfig-kiesiges Ufer einer heißen Zone“.
Dort entwickelt er sich zum Landtier. Aber es entsteht doch eigentlich
ein rechtes Monstrum. „Er verliert“, sagt Goethe, „die Vorteile des
Fischs, ihm fehlt das tragende Element, das dem schwersten Körper
leichte Beweglichkeit durch die mindesten Organe verleiht. Ungeheure
Hilfsglieder bilden sich heran, einen ungeheuren Körper zu tragen. Das
seltsame Wesen fühlt sich halb der Erde, halb dem Wasser angehörig und
vermißt alle Bequemlichkeit, die beide ihren entschiedenen Bewohnern
zugestehen“.

Ueber dieses ungeschickte Zwitterwesen, einen schwerfällig kriechenden
Sumpf-Walfisch, sei dann die Entwickelung weitergegangen zum heutigen
Faultier. Dessen Wunderlichkeit sei jetzt nur das groteske Endprodukt
solcher Bahn. „Jener ungeheure Koloß, der Sumpf und Kies nicht
beherrschen, sich darin nicht zum Herrn machen konnte, überliefert,
durch welche Filiationen auch, seiner Nachkommenschaft, die sich aufs
trockene Land begibt, eine gleiche Unfähigkeit, ja sie zeigt sich
erst recht deutlich, da das Geschöpf in ein reines Element gelangt,
das einem inneren Gesetz sich zu entwickeln nicht entgegensteht. Aber
wenn je ein geistloses schwaches Leben sich manifestiert hat, so
geschah es hier; die Glieder sind gegeben, aber sie bilden sich nicht
verhältnismäßig, sie schießen in die Länge, die Extremitäten, als wenn
sie, ungeduldig über den vorigen stumpfen Zwang, sich nun in Freiheit
erholen wollten, dehnen sich grenzenlos aus, und ihr Abschluß in den
Nägeln sogar scheint keine Grenze zu haben.“

Zum Schluß betont Goethe noch, daß die eine der beiden heute noch
lebenden Faultier-Gattungen doch schon etwas mehr Aussicht zu einer
endlich doch noch glückenden Harmonie der Kletter-Anpassung zeige --
dort habe der „animalistische Geist sich schon mehr zusammengenommen,
sich der Erde näher gewidmet, sich nach ihr bequemt und an das
bewegliche Affengeschlecht herangebildet; wie man denn unter den Affen
gar wohl einige findet, welche nach ihm hinweisen mögen.“

In dieser Goethe’schen Faultier-Philosophie sind im einzelnen Irrwege
genug, wenn wir den Maßstab heutiger Tierkunde anlegen. Das Megatherium
war kein Sumpftier, und auch der verwegenste Darwinianer würde es
heute nicht mehr vom Walfisch herleiten wollen, der sich gerade
umgekehrt aller Wahrscheinlichkeit nach aus vierfüßigen landbewohnenden
Säugetieren erst wieder rückentwickelt und dem Wasser angepaßt hat.
Auch die heutigen Faultiere werden schwerlich in so unmittelbarer Linie
vom Megatherium abstammen, wenn schon hier ein Verhältnis mindestens
wie Onkel und Neffe vorliegt. Und die angebliche Ungestalt der lebenden
Baum-Faultiere bedarf der Begründung von hierher gar nicht, da sie
in Wirklichkeit ja bloß ein wahres Muster echter Baum-Anpassung ist
und das nicht bloß, wie Goethe schon ahnt, bei der einen, sondern bei
beiden lebenden Sorten.

Fällt das alles fort, so bleibt im Kern bei Goethe aber um so
bewundernswerter die folgerichtig darwinistische Denkart.

Klar sind in jener Stelle die Hauptbegriffe, die Darwin berühmt
gemacht haben, schon angewendet: die Macht der Vererbung, der Zug zur
Anpassung, die großen Wandlungen vom Wassertier bis zum Klettertier,
und die unmittelbare Abstammung späterer Tierarten von gänzlich
verschiedenen früheren Tieren.

Die wüst einschneidende Katastrophe, die das Megatherium der Vorwelt
vom Faultier der Gegenwart nach Cuvier getrennt haben soll, ist dabei
nicht bloß überflüssig, sie ist unmöglich für Goethe, der in der Welt
nicht eine Polterkammer mit gespenstischen Schaffensakten, sondern ein
einheitliches Ganzes ohne Riß sieht.

Unmittelbar nach Goethes Tod kommt Darwin als blutjunger Anfänger nach
Südamerika.

Es ist wohl so gut wie sicher, daß er des Altmeisters geistreiche
Abhandlung niemals gelesen hatte. Auf dem wirklichen Schauplatz der
alten Megatherien-Herrlichkeit aber ist er jetzt ebenso sicher der
erste Forscher mit unbefangenem Eigendenken.

Er zum erstenmal sieht das Gerippe des Ungetüms nicht bloß im
Dämmerlicht eines europäischen Museums oder auf einer dort kopierten
Abbildung. Vor seinem Geistesauge entrollt sich ein großartiges
Panorama der Dinge an Ort und Stelle selbst.

Allenthalben stößt auch er im Pampas-Lehm auf die Zeugen der
Megatherien-Zeit. Zu dem Riesenfaultier fügt sich eine ganze Arche
anderer Ungeheuer, von denen jedes wieder besonders merkwürdig ist.
Da sind die Knochen eines Lamas, das aber volle Kamelgröße hatte. Da
sind die Panzer von Gürteltieren, die dem Rhinozeros gleichkamen. Da
sind Stoßzähne eines echten Elefanten, des Mastodon. Da endlich sind
Pferdezähne.

Der letztere Fund war von erhöhtem Reiz. Denn es stand damals fest
und ist heute noch nicht ernstlich widerlegt, daß die Spanier,
Portugiesen und Engländer bei ihrer Besitzergreifung Amerikas seit
1492 in dem ganzen gewaltigen Kontinent keinerlei Pferde vorfanden.
Bei den hochentwickelten Kulturvölkern Mexikos und Perus, die mit
Bewußtsein so gut wie alles in ihrem Lande schon vor der Berührung
mit der Kultur Europas ausgenutzt hatten, erregte der erste berittene
Spanier die Panik eines gespenstischen Centauren. Und alle jene
regellos schweifenden, halb wilden Pferdeherden des heutigen Amerika
sind erst wieder zurückverwildert aus europäischem Kultur-Import. In
jener Zeit der Riesenfaultiere aber muß die neue Welt noch ihr eigenes,
landeseigentümliches Pferd besessen haben.

Darwin sah aber noch mehr als dieses allgemeine Bild.

Er sah, daß all diese Knochen in einer oberflächlichen Schicht des
Landesbodens lagen, die in keinem einzigen Merkmal auf irgend eine
fürchterliche allgemeine Katastrophe zwischen damals und jetzt hinwies.
Stellenweise machte es geradezu nur den Eindruck, als wenn diese alten
Scheusale ganz gemütlich auf der Pampas-Fläche selber gelebt hätten,
wie heute ein beliebiger Strauß oder Hirsch dort lustwandelt. Als sie
starben, blieben ihre Knochenlasten und steinharten Gehäuse friedlich
auf dieser Fläche liegen. Und dann kam einfach dasselbe, was heute
auch noch in flachen Staubebenen in der Zeit der Dürre sich einfindet:
der Wind warf Staub darüber, ganze Hügel von Staub, bis das Gerippe im
Sande tief begraben war.

Weil aber die Katastrophe ersichtlich fehlte, kam nun der junge Darwin
ganz aus sich auf des alten Goethe Sprünge.

Er sagte sich, daß Tier-Arten aus ganz schlicht natürlichen Gründen
gelegentlich aussterben könnten auch ohne gewaltsames Donnerwetter. Das
Land, in dem er reiste, machte ihm noch heute so hübsch wie nur möglich
vor, wie das etwa geschehen könne. Da gab es von Zeit zu Zeit Zustände
der „_gran secco_“ oder großen Dürre. Der Regen blieb aus und der
ganze Pflanzenwuchs ging ein, selbst bis auf die zähesten Disteln.
In solchem Notstande gingen zahllose Rinder zu Grunde. Zu Tausenden
drängten sie sich an die Flüsse, stürzten erschöpft in die Flut und
ertranken, so daß das Flußbett ein großes Knochengrab wurde. Wer später
eine solche Schädelstätte aufdeckte, der mochte wohl meinen, hier habe
mindestens die Sündflut gehaust, und doch war’s nur ein zufällig etwas
dürreres Jahr.

Es mochte aber der Ursachen des Aussterbens gewisser Tiere gelegentlich
noch andere, noch feinere, noch verwickeltere geben. Eines Tages waren
sie fort. Und andere ersetzten sie. In diesem Ersatz aber walteten
offenbar auch wieder ganz schlichte Gesetze.

Darwin sah, daß dasselbe Amerika, das einst jene tolle Riesentierwelt
besessen hatte, heute zwar viel verloren hatte, -- aber in dem
wenigen, was es noch besaß, waren doch mit seltsamer Zähigkeit gewisse
alte Formen im Kleinen gerettet: auch heute noch Lamas, Faultiere,
Gürteltiere.

Darwins Blick schweifte wie der Goethes vom Megatherium zum heutigen
Kletterfaultier, und wenn er auch schon nicht mehr den Mut hatte,
das eine so glatt vom anderen abzuleiten, so tauchte doch auch ihm
gerade hier der Gedanke auf, ob nicht Tierarten ebenso, wie sie auf
natürlichem Wege vergehen können, auch sich durch den Zwang äußerer
Verhältnisse umwandeln, fortentwickeln könnten. Die Idee tauchte ihm
auf damals, vor den Knochen des Riesenfaultiers, unbestimmt, wie einem
auf der Reise unter sehr starker Suggestion der Wirklichkeit etwas
einfällt.

Es war aber diesmal ein zäher Kerl, dem das einfiel, zäh nach ganz
bestimmter Seite.

Er hatte nicht Goethes Weltberuf, den ungeheuren Beruf, den man in
seinen späteren Jahren oft mit dem der Schildkröte in der indischen
Legende vergleichen möchte, die den Elefanten trägt, der die Weltkugel
stützt. Darwin brauchte nicht den zweiten Teil des Faust zu vollenden.
Er konnte dem einen schlichten zoologischen Problem sein Leben widmen,
das bei Goethe nur ein, allerdings im kleinen gigantisches Intermezzo
gewesen war.

An dem Stück Gürteltierpanzer und den paar Knochen des Riesenfaultiers
spann Darwin daheim in England in den folgenden dreißig Jahren wie
an einem zauberhaften Rocken seine weltberühmte Entwickelungslehre
herunter. Wenn je einer einen Stoß in die große menschliche Denkmaterie
getan hat, dessen Wellenschlag das ganze letzte Jahrhundertdrittel
durchschauert hat, so ist es, rein der aufrüttelnden Leistung nach,
Darwin mit dieser Lehre gewesen. Zum zweitenmal aber hatte das alte,
plumpe, scheußliche Riesenfaultier seinen Anteil daran, als wäre seine
groteske Dickleibigkeit mit den dreifachen Elefantenbeinen nötig
gewesen, um der Wahrheit -- oder sagen wir mindestens, der neuen Suche
nach der Wahrheit -- eine Gasse zu bahnen.

Inzwischen kamen ab und zu immer auch einmal wieder Frachtkisten mit
wirklichen Megatherien-Knochen in Europa an. Eine Reihe der größten
Museen erwarben mehr oder minder vollständige Skelette. Man merkte,
daß es da eine ganze Musterkarte verschiedener Gattungen, ja mehrere
gut unterscheidbare Familien von Riesenfaultieren gebe. So wurde vom
echten Großtier oder Megatherium der Mühlenzahn oder Mylodon getrennt.
Unterformen wieder dieser Mylodon-Faultiere bekamen die schwierigen
Namen Skelidotherium und Grypotherium, und so weiter.

Gerade von einem solchen Mylodon kam nun 1841 bei Buenos Aires ein
wahres Prachtskelett, volle elf Fuß lang, zu Tage.

Dieses Skelett wanderte in ein Londoner Museum und der große Anatom
Richard Owen machte sich darüber her. Es wies neben vielen andern
Merkwürdigkeiten noch etwas ganz besonderes auf, das zu denken geben
mußte.

An zwei Stellen war ihm nämlich zu seinen Lebzeiten sozusagen
der Schädel eingehauen worden, ohne daß es doch diesen grausigen
Verletzungen erlegen zu sein schien. Die eine war ganz, die andere
nahezu wieder verheilt. Owen leitete daraus einerseits eine
außerordentliche Lebenszähigkeit des Riesen ab, andererseits erklärte
er sich die Ursache der Wunden unmittelbar aus der Lebensweise des
Tieres. Es hatte eben wohl große Bäume mit seinen Klauen ausgegraben
und zweimal war ihm dabei der kippende Stamm auf die Nase gefallen.
Kein schlauer Riese offenbar.

Schon damals aber wurden einzelne andere Stimmen laut, die meinten, es
möchte am Ende der +Mensch+ gewesen sein, der dem alten Herrn die
Löcher in den Kopf gehauen hätte.

In diesen Jahrzehnten vollzog sich ja gerade der große Umschwung in
unserer geschichtlichen Auffassung des Menschen, den das neue Wort
„prähistorische Forschung“ umschließt.

An den verschiedensten Orten entdeckte man, anfangs fast widerwillig
und sehr ungläubig, die Spuren einer menschlichen Existenz jenseits
aller unmittelbaren geschichtlichen Ueberlieferung. Aus dem Lehm alter
Flußbetten, aus Höhlen im Kalkgebirge, aus dem Moorboden von Seen kamen
rohe Werkzeuge einer Kultur zu Tage, die den Gebrauch der Metalle noch
nicht gekannt hatte und ihre Messer aus Feuerstein fertigte.

Diese vorgeschichtlichen Steinzeitmenschen hatten aber, und das war
wieder besonders merkwürdig, offenbar noch mit Tieren zusammengelebt,
die heute ausgestorben sind und deren Lebenszeit die Wissenschaft
bisher über Jahrhunderttausende, wo nicht Millionen von Jahren,
zurückdatiert hatte.

Mit diesen alten Kulturwesen lagen Knochen des Mammut-Elefanten, des
europäischen Nashorns, des Riesenhirsches und des Höhlenbären in völlig
gleichartiger Erhaltung zusammen, und diese letzteren Knochen zeigten
vielfach die unzweideutigen Spuren davon, daß sie in frischem Zustande
von Menschenhand bearbeitet worden waren. Sie waren auf Markinhalt
zerspalten, beim Braten des Fleisches geschwärzt, mit Rötel bemalt,
durch Schnitte verunstaltet, und so weiter.

Man sah keinen Ausweg, als daß auch der Mensch schon vor
Jahrhunderttausenden gelebt haben müsse, als jene Ungeheuer noch
wirklich bei uns herumliefen. Wie nun, wenn das auch auf Amerika
Anwendung fände? Wenn auch dort in Ur-Urzeiten eine prähistorische
Menschenkultur geblüht hätte: wilde Steinzeit-Menschen, die das
scheußliche Megatherium und den grimmen Mylodon noch gejagt hätten?

Stammten jene Kopfwunden statt von einem Baume von einem Weltending
her, das ein ganzes Stockwerk höher ansagte: von einem menschlichen
„Werkzeug“, -- etwa einem geschleuderten Stein? Vielleicht war es auch
der Keulenschlag eines Riesen gewesen. Man glaubte damals allgemein,
daß gerade Patagonien noch heute die riesigste aller Menschenrassen
beherberge, -- eine Sache, die sich vor den Ergebnissen neuerer genauer
Messungen nicht in dem Maße als stichhaltig erwiesen hat.

Die Ueberwältigung eines solchen Riesenfaultiers müßte jedenfalls auch
sehr herkulischen Ur-Amerikanern nicht leicht gefallen sein.

Hatte doch gerade die Firma Mylodon und Genossen noch etwas besonderes
an sich, auf das man erst ganz zuletzt geriet.

Im Anfang, bei den ersten Megatherien-Funden, war ein Irrtum mit
untergelaufen. Man hatte zwischen den echten Faultier-Knochen
Panzerstücke jenes anderen gleichzeitigen Riesen, des
Riesengürteltiers, gefunden. Man meinte nun, die beiden hätten ein
und dasselbe Ungeheuer gebildet: ein Riesenfaultier, verpackt in
einen soliden Gürteltier-Panzer. Nachher lernte man die Teile besser
auseinander kennen und sah, daß zwei ganz verschiedene Tiere vorlagen.
Und da heute die kleinen Kletter-Faultiere keinerlei harte Rüstung,
sondern nur struppiges Haar auf dem Leibe haben, so nahm man auch vom
alten Riesen-Faultier an, es sei entweder bloß behaart, oder gar wie
ein Nilpferd ganz nackthäutig gewesen.

Jetzt machten aber die Mylodons doch noch wieder einen Strich durch
diese Rechnung. Bei ihren Knochen fanden sich nämlich auch da,
wo das Gerippe ganz für sich allein lag, regelmäßig kleine, lose
Knochenstückchen, wie dicke Bohnen, die in das eigentliche Gerippe
schlechterdings nicht einzuordnen waren. Sie mußten auf oder in der
Haut gesessen haben und durch mosaikartige Aneinanderhäufung also nun
doch eine Art Panzer gebildet haben.

So kam auch diesen Kolossen zu all ihrer Größe und Kraft noch eine
gewisse Unverletzlichkeit zu, die den Kampf zum wahren Kunststück
gemacht haben muß.

Das Riesenfaultier stand also auf dem Punkt, zum dritten Male in eine
große Debatte des Jahrhunderts hineinzugeraten: in die Urgeschichte des
Menschen.

Eigentlich diskussionsfähig sollte diese neue Sache aber doch erst
etwa mit den achtziger Jahren werden. Bis dahin wurde selbst von sehr
tüchtigen Autoritäten jede Beziehung zwischen Mensch und Megatherium
gelegentlich immer wieder abgeleugnet, ja niedergelacht. Ein Veteran
deutscher Forschung in Südamerika, der alte treffliche Kerndeutsche
Hermann Burmeister, der seit den sechziger Jahren in Argentinien
saß und Megatherien-Gerippe sammelte, ein Mann von umfassendster
Gelehrsamkeit gerade für dieses Spezialgebiet, goß die ganze Schale
seiner nicht unbedeutenden Grobheit über den aus, der auch nur von so
etwas zu träumen wage. Aber weder Grobheit noch Gelehrsamkeit helfen in
der großen Weltlogik wider Tatsachen.

Während der achtzigjährige alte Herr in Buenos-Aires bei seinem (von
Durchreisenden hoch gepriesenen) orangeroten Muskateller aus Valencia
saß und gegen die neuen Phantastereien donnerte, gruben Ameghino, Roth
und andere aus dem Pampas-Lehm ein Beweisstück ums andere dafür aus,
daß Mensch und Megatherium wirklich noch Zeitgenossen gewesen sein
+mußten+.

Menschliche Gerippe fanden sich in demselben Lehm, der die Tierknochen
birgt, und genau in derselben Erhaltung vor. An den Tierknochen selber
ließen sich künstliche Einschnitte und Verkohlungsspuren nachweisen,
genau so, als handle es sich um die Reste von einer menschlichen
Mahlzeit, bei der mit Werkzeugen geschnitten und an künstlich erzeugtem
und erhaltenem Herdfeuer gebraten worden war. Einmal wusch das
Hochwasser eines Baches ein Riesenfaultier frei, bei dem die Beine noch
fest im Boden zusammenhielten, während die Wirbelknochen und Rippen
regellos darauf in einer Asche- und Kohlenschicht lagen. Es sah fast so
aus, als sei ein solcher Riese irgendwo in weichem Terrain, etwa dem
Morastufer eines Tümpels, mit den Beinen stecken geblieben, und die
Jäger hätten dann die hilflose Fleischmasse von oben her angebraten, so
wie sie da steckte, und zum Teil aufgegessen.

Noch deutlicher war die handgreifliche Nähe des Menschen merkbar
bei einigen jener erwähnten Panzer nashorngroßer Gürteltiere. Da
zeigten sich solche Tonnenpanzer inwendig von allen Gerippteilen
sorgfältig gereinigt und aufrecht gestellt, als sollten sie ein
kleines Schilderhäuschen, mit dem Bauchspalt als Tür, bilden. Einmal
hockte in solchem Gürteltierhäuschen ein menschliches Skelett. Ein
andermal deckte der Panzer eine ältere, harte Bodenfläche und auf
deren Vertiefung lagen offen noch Steingeräte von Menschenhand,
gespaltene Tierknochen, künstlich geschärfte Tierzähne und die schwarze
Kohlenasche einer Feuerstätte. Die meterhohe Schalenwölbung hatte
offenbar als Versteck gedient nach Art einer Eskimohütte.

Gegen die Wucht dieser Funde ließ sich schließlich doch nichts mehr
einwenden. Und es blieb nur eine ganz heikle Frage noch übrig.
Wann etwa war das gewesen, dieses Zusammenleben von Mensch und
Riesenfaultier?

Die Frage schneidet ja eines der schwierigsten Kapitel der ganzen
prähistorischen Wissenschaft an. Wann ist bei uns etwa das Mammut
ausgerottet worden?

So viel steht fest, daß über das Mammut keine Traditionen mehr leben.
Es existierte nicht einmal mehr als Sagentier, als die Sonne der
Geschichtsüberlieferung über Nordeuropa aufging. Bei gewissen Tieren,
die auch in die Mammutzeit als Charaktertiere hineinreichen, ist das
aber mindestens Streitobjekt.

Aus Cäsar wird herausgelesen, daß das Renntier zu seiner Zeit noch in
Deutschland gelebt habe, -- vielleicht irrtümlich. Mindestens aber
zwei Wildochsen existierten damals noch dort, das ist unanzweifelbar:
der noch lebende Wisent (Auerochse) und der wahrscheinlich durch
Zähmung in unser Rind übergegangene Ur. Vom Riesenhirsch, dessen
Gerippe besonders in den irischen Mooren stecken, wurde bis vor kurzem
mit großer Sicherheit behauptet, daß er gar noch im Nibelungenlied
vorkomme, die hübsche Sache ist aber, scheint mir, nunmehr endgiltig
widerlegt; der „grimme Schelch“, den Siegfried dort erlegt, wird
jetzt sehr gut als Wildhengst („Schelch“ von Beschäler abgeleitet)
gedeutet. Wilde Pferde hat es aber wieder bei uns bestimmt noch bis ins
Mittelalter hinein gegeben.

Immerhin ist so viel sicher, daß uns in Europa jene summarisch so
benannte „Mammutzeit“ doch immer näher geschichtlich auf den Hals
rückt, mag auch bei den Einzelheiten noch so viel gesündigt worden
sein. Daß die prähistorischen Menschen, die mit Renntier, Wildpferd und
Nashorn lebten, im Schädelbau nicht irgendwie merkbar „affenähnlicher“
gewesen seien, als wir braven Deutschen von heute, steht auch
jetzt so gut wie absolut fest. Ein einziger immer noch strittiger
Schädelfund, der berühmte Neanderschädel, muß dabei aus dem Spiel
bleiben, da er zwar (trotz Virchow) affenähnlich ist, aber überhaupt
nicht dem Fundbereich nach in irgend eine chronologisch zu bestimmende
Schicht, die mit Mammut oder Renntier zu tun hat, eingeordnet werden
kann, sondern in einem neutralen Blau schwebt etwa zwischen der
Tertiär-Zeit, weit jenseits aller Eiszeit-Mammute, und der +sehr+
geschichtlichen Zeit, da Kosaken nach Deutschland kamen; auf einen
solchen Kosaken ist er nämlich auch einmal gedeutet worden, während
andere ihn neben den tertiären Affenmenschen stellen, dessen Schädel
auf Java unlängst gefunden worden ist.

Uebertrug man das nun auf Südamerika, so war auch dort wirklich Tür und
Tor offen, die Megatherien-Zeit mindestens in ihren „letzten Zügen“ der
Gegenwart so nahe zu rücken wie nur irgend tunlich.

Wie ein Traum lagen alle Ideen fern jetzt von einer großen, trennenden
Katastrophe! Diese Megatherien-Jäger, deren Schädel man gleichsam
zwischen den Beinen der Megatherien liegend fand, waren so wenig
„Affenmenschen“ gewesen wie unsere Nashorn-Jäger aus Taubach bei
Weimar oder unsere Renntier-Menschen von Schussenried. Tatsache aber
ist, daß heute noch im Herzen von Südamerika, am Schingu-Flusse in
Zentral-Brasilien, hübsche und lebensfrohe Indianerstämme leben, die
bis gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts keine Kenntnis von
Metallen besaßen, also buchstäblich noch der „Stein-Zeit“ wie unsere
Mammut- und Renntier-Europäer angehörten. Man möchte sagen: vom
Menschen aus stand hier überhaupt nichts mehr im Wege, jene mythische
Zeit der letzten Urwald-Tiere einfach an die Gegenwart anzulenken.

Und das einzige, was noch einen scharfen Schnitt machte, war eben der
zoologische Umstand, daß seit 1492, also seit der Entdeckung Amerikas
durch die europäische Kultur, in dem ganzen Riesenkontinent +kein+
Vertreter jener alten Tierwelt mehr lebend gesehen worden war: kein
Mastodon-Elefant, kein wildes Pferd, kein Riesengürteltier und kein
Megatherium oder Mylodon.

Auf diesen Gipfel der Streitfragen muß man sich stellen, um die
Tragweite der plötzlichen Behauptung zu ermessen: auch dieser äußerste
Umstand sei hinfällig und mindestens eines der alten Charaktertiere
+lebe+ noch -- das Riesenfaultier.

Es ist nun mit solchen Nachrichten so eine Sache.

Die Phantasie der Menschen, sagt der Skeptiker, korrigiert auch
das launische Glück der Wahrheitsfunde gern etwas. Seitdem man aus
Knochen, Eiern und Federn weiß, daß auf Neu-Seeland noch vor gar nicht
langer Zeit riesige Vögel, die Moas, gelebt haben, vergeht keine
Neuerschließung irgend eines Fjords der neuseeländischen Südinsel,
daß nicht die kühne Phantasie eines Kolonisten im nächtlich schwarzen
Urwalde einen Riesenvogel hat stolzieren sehen -- oder wenigstens
gesehen hat, daß etwas dämonisch Gräßliches im Dunkeln Zweige knickte
und die Hunde in Schrecken setzte. Geschossen ist aber noch kein Moa
worden und wird es vielleicht so wenig wie der berüchtigte Tatzelwurm,
der auch noch vor ein paar Jahren im Kanton Glarus leibhaftig gesehen
worden sein soll. In diesem Sinne waren die ersten Nachrichten vom
„lebenden Megatherium“ denn auch ziemlich problematische.

Die Indianer der Pampas erzählten von einem entsetzlichen Vieh,
ochsengroß, mit langen Krallen und langem Haar, das in selbstgegrabener
Höhle sich tagsüber berge und nur nachts herauskomme. Das seltsamste
an ihm sei aber -- seine Unverwundbarkeit für Flintenkugeln. Als
wenn es unter dem Pelz noch einen stahlharten Panzer trüge! Indianer
erzählen nur leider mancherlei, wenn Weiße es gern hören wollen.
Dieselben großen Kinder der patagonischen Grassteppe berichteten auch
von mehrköpfigen Schlangen, unbekannten Riesen-Vögeln und anderem mehr.
Wer wollte da ohne weiteres Spreu vom Weizen sondern.

Nun kam aber ein Kulturmensch, ein Reisender, sogar ein sehr
angesehener Mann im Lande, der eine Zeitlang Gouverneur des
Territoriums Santa Cruz war, Ramon Lista; er ist später tragisch durch
Mord untergegangen.

Dieser Ramon Lista erzählte auch eine „Jägergeschichte“, aber eine
selbsterlebte und dazu eine, die allerdings auffällig in jenes
Feld wies. Er hatte im Innern Patagoniens in der Nacht ein Tier
aufgescheucht, das einem Pangolin glich, aber rötlichen Pelz trug.
Es reagierte nicht auf Flintenkugeln, die ihm auf den Pelz gebrannt
wurden, schien also ebenfalls unverwundbar. Und weil es das war, entkam
es dem Jäger.

Der Vergleich mit dem Pangolin ist dabei sehr merkwürdig. Unter
Pangolin versteht man das sogenannte Schuppentier. Die Schuppentiere
sind kuriose Gesellen, die allerdings nicht in Amerika, sondern in
Afrika und Südasien leben. Sie sehen aus wie Tannenzapfen, da sie
dick mit hornigen Schuppen bewehrt sind. In ihrem Körperbau haben sie
aber eine entschiedene Aehnlichkeit mit den ebenfalls verpanzerten
Gürteltieren Amerikas, über der zwar noch ein gewisses Geheimnis
schwebt, die aber als solche nicht gut bestreitbar ist. Wenn das
fragliche Tier also wie ein Pangolin aussah, so hatte es mindestens
irgend eine Aehnlichkeit im Wesen mit jenen alten Riesen, die ja auch
teils Gürteltiere, teils nah verwandte erdgrabende Faultiere waren.
Sollte Ramon Lista freilich bloß die Größe dabei im Auge gehabt haben,
so ist zu sagen, daß die heutigen Schuppentiere oder Pangolins ganz
kleine Geschöpfe sind. Aber wie kam er dann überhaupt auf ein Pangolin
als Vergleich? Zumal, da er nicht Schuppen, sondern Haare sah? Es mußte
doch eine besondere Aehnlichkeit ins Auge gefallen sein. Immerhin
seltsam.

Und da jetzt taucht auf einmal jenes leibhaftige Fellstück auf.

Es ist das Fell eines großen Tieres. Es hat einen rötlichen Haarpelz.
Unter diesem Pelz aber liegen in der Haut genau jene steinharten
Panzerknöchelchen, wie sie der alte Mylodon an sich getragen hat.

Kein zweites Säugetier aus alter oder neuer Zeit ist bekannt, das diese
Sorte versteckten und doch höchst wirksamen Panzers in der Haut trüge,
-- außer dem Riesenfaultier aus der Unterfamilie Mylodon.

Das Stück Fell gehörte einem Mylodon an!

Professor Ameghino in La Plata gab auf Grund eines ersten
Fellstückchens, das in seine Hand gelangt war, dem im Nebel
aufdämmernden Geschöpf zunächst einmal einen Namen. Er taufte es
Neomylodon Listai, also den Neu-Mylodon.

Das Beiwort verewigte jenen Ramon Lista als -- allerdings nur
hypothetischen -- Entdecker. Die erste Notiz darüber erschien 1898.
Dabei ist höchst bemerkenswert, daß gerade diese allererste Fell-Probe
unmittelbar aus den Händen eines patagonischen Indianers entnommen
worden ist, ohne daß sich nachweisen ließe, daß sie wirklich von dem
bewußten größeren Fell von Ultima Esperanza stammt. Erst die nächsten
auftauchenden Stücke wiesen sicher dorthin.

Es ist nicht zu leugnen, daß, wenn man die Kette der Tatsachen
so anordnet, wie ich es im Voraufgehenden versucht habe, die
Wahrscheinlichkeit der wirklichen Existenz des lebenden Tieres eine
außerordentlich hohe war. Immerhin aber mußte noch ein sehr dringlicher
Punkt dabei weiter aufgeklärt werden.

Woher stammte jenes Fell von Ultima Esperanza? Wie kam es an seinen Ort?

Es gibt einige wenige Fälle, wo wir tatsächlich noch die echten
frischen Hautüberzüge von Tieren besitzen, die doch als solche mehr
oder minder lange ausgestorben sind.

In unseren größeren Museen finden sich noch ausgestopfte Exemplare des
Riesenalk-Vogels, der heute, wie es scheint, vollständig ausgerottet
ist. In diesem Falle ist das Tier allerdings erst innerhalb der Zeit,
da diese Museen bestehen, im neunzehnten Jahrhundert ausgestorben.
Einen schon etwas älteren Sachverhalt bieten die Federn jener
Moa-Strauße Neu-Seelands, wie sie zum Beispiel im Dresdener Museum
aufbewahrt werden. Sie finden sich in Höhlen und im Moorboden der Insel
da, wo die letzten Moas von den Eingeborenen gebraten und aufgegessen
worden sind. Immerhin ist das auch vielleicht nicht viel länger her
als hundert Jahre, und die Legende, wie gesagt, läßt diese Riesenvögel
heute noch in unerforschten Wäldern Neu-Seelands hausen. Den jedenfalls
merkwürdigsten Anblick gewähren die Mammutleichen Sibiriens. In einer
Zeit, die mindestens jenseits aller geschichtlichen Ueberlieferung
nordischer Völker liegt, sind hier große, heute überall ausgestorbene
Elefanten im Morastboden, den ein etwas wärmerer Sommer oberflächlich
aufgetaut hatte, versunken, unmittelbar danach ist der ganze Fleck
mitsamt dem Kadaver wieder hart gefroren und bis auf unsere Tage nicht
mehr aufgetaut. In diesen natürlichen Eiskellern haben sich die ganzen
Tierkörper derartig frisch erhalten, daß die Hunde und Füchse heute
noch, wenn der Eisboden sie frei gibt, ihr Fleisch fressen, und die
Haut ist tadelloses Museumsobjekt. Wir wissen so (was kein Knochenfund
je gelehrt hätte), daß das Mammut rötliches Wollhaar trug, und von
einem ebenso erhaltenen Rhinozeros erfahren wir, daß es rot und weiß
gescheckten Pelz besaß.

Solche Fälle waren entschieden auch bei dem Fetzen Mylodonfell in
Betracht zu ziehen.

Nahm man ihn als das einzige schlagende Beweisstück, so war zu
beachten: erstens konnte es das Fell eines Tieres sein, das in
gefrorenem Erdreich erhalten geblieben war, obwohl seit seinen
Lebzeiten Jahrtausende verflossen waren; man muß nicht vergessen, daß
Patagonien von dem Kordillerengebirge durchzogen wird, das in seinen
oberen Teilen unter Eisgletschern begraben liegt wie Grönland, und
daß auch das Gesamtklima gegen die Feuerland-Spitze zu immer rauher
und kälter wird; wie in Europa und Sibirien, so ist übrigens vormals
auch hier noch eine besondere große Eiszeit nachweisbar über das Land
hingegangen.

Die zweite Möglichkeit war, daß das Fell in irgend einer Höhle oder
sonst wo in irgend einem alten Müllhaufen gesteckt hatte gleich
jenen Moafedern Neu-Seelands; dann konnte es zu den Resten einer
Indianer-Mahlzeit wenigstens vor hundert oder einigen mehr Jahren
gehören, und bei dieser Mahlzeit konnte, wie dort der letzte Moa, so
hier der letzte Mylodon verzehrt worden sein.

Immerhin wäre in diesem letzteren Falle die wenigstens relative
„Neuheit“ der Sache überaus wertvoll, -- wir Kulturmenschen wären dann
gerade wie auf Neu-Seeland bloß um eines Jahres Länge vielleicht zu
spät für das „lebende“ Tier ins Land gekommen, -- das Riesenfaultier
bliebe aber immer noch ein echter, erst kürzlich gleich dem Moa und
Riesenalk vom Menschen ausgerotteter Bürger unserer „Jetztzeit“, --
kein Urweltstier.

An dieser Ecke haben sich nun bei den Gelehrten von La Plata wirklich
alsbald zwei scharfe Parteien voneinander gesondert.

Der Theorie, die das Tier leben läßt, hat sich mit großem Eifer die
Müllhaufen-Theorie entgegengesetzt. Und die Anhänger dieser letzteren
Theorie haben zunächst das jedenfalls große Verdienst sich erworben,
den Tatbestand über die Herkunft jenes Zauber-Vließes als getreue
Argonauten festzustellen. Dabei sind sie aber selber dann wieder zu
neuen und noch kühneren Folgerungen verführt worden.

Jenes Fell hing an seinem Busch am Kanal Ultima Esperanza nicht seit
Anno dazumal, sondern erst seit Januar 1895.

In diesem Monat entdeckten der bewußte Kapitän Eberhard und zwei andere
Herren ungefähr eine Stunde von Eberhards Besitzung eine große Höhle.
Sie war nicht ganz zweihundert Meter tief, weniger als die Hälfte so
breit und nicht völlig ein Viertel so hoch. In dieser Höhle lag ganz
oberflächlich im Schutt abgebröckelter Deckenteile das Fell, und von
dort haben die Herren es als Kuriosität auf Eberhards Gut gebracht.
Diese Grundtatsache wurde zunächst festgelegt und das Interesse
konzentrierte sich folgerichtig jetzt auf die Höhle.

Nachdem Moreno den Rest des ersten Felles dem Britischen Museum
überwiesen und der Reisende Otto Nordenskjöld flüchtig einige weitere
Stücke aus der Höhle selbst mitgenommen hatte, besuchten in kurzer
Folge jetzt mehrere Naturforscher ausdrücklich zum Zweck die Höhle und
veranstalteten oberflächliche Ausgrabungen. Zuerst Eimar Nordenskjöld
von einer schwedischen Expedition. Dann der Chefgeologe des Museums
in La Plata, Hauthal. Beide auch noch nicht sehr gründlich, aber doch
schon mit gleichartig reicher Ausbeute. Nach dieser Seite erklärte sich
die rätselhafte Sache wie folgt.

Die Höhle liegt wie ein großer Spalt in der Seite eines sechshundert
Meter hohen Berges, selber noch zweihundertfünfzig Meter über dem Kanal.

Vor dem Eingang des Spaltenschlundes stehen hohe alte Bäume, über deren
Wipfel hinweg der Blick auf den Kanal und die Kordillere schweift.
Der Eingang zum Bergspalt ist ganz vorne verrammelt durch eine Reihe
von der Decke gestürzter Felsblöcke. Nur an der einen Seite fehlt der
Verschlußblock, als sei hier künstlich eine Tür ins Innere aufgetan.

Im Innern selbst ragt zunächst an der einen Seite ein Hügel von
etwa zwölf Meter Höhe, ebenfalls gebildet aus voreinst einmal
herabgestürzten, heute schon sehr zermürbten Steinmassen. Weiter
nach hinten folgt noch eine Art Wall aus später erst abgefallenem,
frischerem Deckengestein. Also das ganze wie ein riesiges Zimmer
mit schlechtem Deckenbelag, der früher und später immer einmal
wieder heruntergekommen ist. Es ist eben eine Spalte in wackeligem
Quarzit-Gestein, gelegentlich in schon gewölbten Schichten entstanden
und zu ewig neuen Nachstürzen neigend. Jetzt aber das Seltsamste.

Im vordersten Raum der Höhle bildet den Boden eine ziemlich
selbstverständliche Schicht von Sand, zersetztem Gestein und
hereingewehten dürren Blättern des Waldes draußen. In dieser Schicht
liegen Hirschknochen, Straußknochen, Knochen des Guanako-Lamas -- alles
wie nach der heutigen Tierwelt des Landes zu erwarten.

Da hinten aber, zwischen dem alten Hügel und dem ganz innerlichsten,
neueren Wall findet sich unter der dünnen Sandschicht ein mindestens
mehr als ein Meter tiefes Nest einer ganz anderen Sache, -- nämlich von
Mist.

Dieser Mist hat einen höchst seltsamen Geruch: er riecht nämlich nach
Gürteltier, -- also einem der noch lebenden kleinen Vertreter gerade
jener alten Wundertiere.

Inmitten der Mistschicht kommen nun auch die wahren Zeichen und Wunder.

Hier ist jenes erste große Fellstück gefunden worden. Hier kamen
auch jetzt bei grober Ausgrabung weitere Fellbrocken zutage. Hauthal
hat einen Fetzen von nahezu Quadratmeter-Größe als Hauptfund
geborgen. Neben dem Pelzwerk lagen Knochen die Fülle. Teils Zähne,
Klauen, Schädel des zugehörigen Riesenfaultiers. Dann aber auch
Fellproben anderer Tiere und eine Menge fremder Gerippteile. Außer
dem Riesenfaultier kamen da ans Licht die Reste eines mächtigen,
einem Bernhardinerhunde an Größe gleichen Nagetiers; einer noch viel
kolossaleren Katze von mehr als Löwengröße; endlich eines jener
einheimischen Wildpferde, die schon früher als Zeitgenossen der
Megatherien von Darwin und andern festgestellt worden waren; also
mindestens von drei nach der gangbaren Meinung heute nicht mehr
lebenden Tierarten.

Endlich enthüllten sich unzweideutige Spuren hier von der Anwesenheit
des Menschen.

An die Mistschicht stieß nach innen zu eine Aschenschicht wie von
einem Herdfeuer. Jenes größte Fellstück, das Hauthal geborgen hat, war
ganz augenscheinlich an den Seiten mit einem schneidenden Instrument
zugeschnitten. Es lagen keine Knochen unmittelbar unter ihm, es war
also als vom Tier abgezogenes und zugeschnittenes Fell schon hierher
gelegt worden. Mehrere der Knochen zeigten Einschnitte, die Schädel
waren eingehauen. Im Mist lagen Knochenpfriemen von sicherlich
menschlicher Arbeit. An einer Stelle war trockenes Gras über die
Mistschicht gehäuft, in einer unbedingt künstlichen Weise, also wohl
auch von Menschenhand. Zum Ueberfluß zeigten sich auch noch offen
zutage in einer Wandnische Rippen eines Menschenskeletts. Bei der
ersten Entdeckung der Höhle durch Eberhard soll das ganze Skelett noch
vorhanden gewesen sein.

Auf Grund dieses Sachverhaltes haben jetzt Hauthal und sein berühmter
Kollege Santjago Roth in La Plata folgende ganz neue Theorie
aufgestellt.

Zunächst hat Roth sich mit dem nun auch vorliegenden reichen
Knochenmaterial des geheimnisvollen Fellträgers wissenschaftlich
befaßt. Er verwirft Ameghmos Namengebung, -- das Tier sei kein
Neu-Mylodon, sondern es gehöre genau der schon aus Knochen bekannten
Mylodon-Gattung an, die man längst +Grypotherium+ getauft hatte.
Doch das ist schließlich keine so wichtige Frage und mehr eine kleine
Debatte der Knochenkenner unter sich, die an dem Riesenfaultier im
ganzen nichts ändert. Auch Grypotherium bleibt ein Riese von mehr als
Ochsen-Größe.

Viel wichtiger ist die weitere Bezeichnung, die Roth vorschlägt. Dieses
Grypotherium soll nämlich das Beiwort _domesticum_ erhalten. Das
heißt: das „gezähmte“, das „als Haustier gehaltene“.

Das Riesenfaultier, so belehren uns Hauthal und Roth, lebt heute nicht
mehr. Es hat aber vor 300 bis 400 Jahren noch gelebt. Damals ist es von
den Indianern in Westpatagonien als +Haustier+ gehalten worden.
Die bewußte Höhle hat lange Zeiträume hindurch als „Kraal“ gedient, in
dem zeitweise Menschen wohnten, jedenfalls aber viele Jahrzehnte lang
„Vieh“ gehalten wurde. Und dieses Vieh waren eben Riesenfaultiere. Wie
der Cyklop der Odyssee hatten die Viehbesitzer den Ausgang der Höhle
mit großen Steinblöcken verbarrikadiert, damit ihnen ihre Schäflein
nicht entwischen konnten. Ein Cyklopen-Idyll der neuen Welt, -- endlich
einmal auch mit den nötigen Cyklopentieren.

So amüsant das nun wieder für sich klingt, so kann ich doch nicht
finden, daß es aus Hauthals eigenem Fundbericht irgendwie als
Notwendigkeit hervorginge. Roth will allerdings an den Knochen und
Zähnen der betreffenden Faultier-Individuen kleine Abweichungen
entdeckt haben, wie sie gerade bei Haustieren häufig eintreten. Das
ist aber an sich noch ein ganz strittiges Gebiet heute, auch liegen
Detailangaben noch nicht vor.

Die Sachlage in der Höhle selbst aber beweist vorläufig bloß die
ganz allgemeine Tatsache, daß die Höhle +zeitweise sowohl+ von
Menschen, +als+ von Riesenfaultieren benutzt worden ist. Die
Faultiere haben hier ihre Hinterlassenschaft meterhoch angehäuft.
Der Mensch aber hat Feuer gebrannt und die Felle erlegter Faultiere
zu Kleidungsstücken, wie es scheint, verarbeitet, -- es müssen ja
geradezu Panzerkleider gewesen sein, die unverwundbar machten. Dabei
kann aber genau dasselbe +Nacheinander+ obgewaltet haben, das uns
bei europäischen Höhlen aus alter Zeit begegnet, in deren Lehmboden
die verschiedensten, einander widersprechenden Knochen liegen, --
sintemalen diese Höhlen nämlich im Laufe langer Zeit abwechselnd
+bald+ dem Bären und +bald+ dem Menschen als Versteck gedient
haben.

Der Mensch mag gelegentlich auch jene Höhle erobert und ein
Riesenfaultier darin überwältigt haben, das dann am Fleck zerlegt
wurde. Als er längst wieder fort war, mögen aber die Ungetüme einer
folgenden Generation dasselbe gute Versteck wieder besetzt und zu der
Hinterlassenschaft ihrer Ahnen eine neue Schicht zugefügt haben, die
jetzt die Menschenspuren wieder begrub.

Welchen Zweck die Leute gehabt haben sollten, gerade diese grotesken
Riesen als Vieh sich zu halten und, was gewiß keine Kleinigkeit war, im
Höhlenschlunde zu füttern, ist schon rein theoretisch sehr schwer zu
begreifen.

Bei dem kleinen, aber unendlich wichtigen Haustier Südamerikas, dem
Lama, erhellt der Nutzen der Zähmung sofort. Das Lama stellte als
lebend gehegtes Tier zugleich seine Kraft als Lastträger und seine
Wolle als unerschöpfliche Vorratskammer der Weberei in den Dienst
des Menschen. Die Panzerhaut des Mylodon dagegen mußte dem getöteten
Tier vom Leibe gerissen werden, und zum Transporttier war es wohl
das ungeeignetste Geschöpf der Erde mit seinen krummen Grabklauen.
Stumpfsinnig mag das Scheusal ja schon gewesen sein, so daß auch der
schlecht bewehrte Indianer es trotz seiner Panzerhaut und seiner
Krallen verhältnismäßig oft bewältigen mochte. Aber gerade sehr dumme,
plumpe Tiere hat der Mensch, wo immer er Haustiere sich heranzog, aus
guten Gründen für diesen Zweck ausdrücklich verschmäht.

Auch darin liegt ein Widerspruch, daß gerade das gehegte Haustier
dieses Landes, das Riesenfaultier, in den letzten Jahrhunderten völlig
ausgestorben sein soll, während das wilde Lama desselben Landes, das
Guanako, das hier in Patagonien niemals gezähmt worden ist, dessen
Knochen aber auch in der Höhle liegen, heute noch in ungezählten Mengen
die Gegend belebt. Wenn das Faultier (in vielleicht schon lange nicht
mehr beträchtlicher Kopfzahl) wild lebte und freies Jagdobjekt war,
dessen unverwundbare Siegfried-Haut sich jeder Jäger gern für sich
aneignen wollte, so ließe sich begreifen, daß es schließlich den
Nachstellungen ganz erlag, -- zumal es eben wohl ein stumpfes Vieh war,
das keine List mehr dem Verfolger gegenüber lernte. Umgekehrt dagegen
nicht.

Damit wären wir aber von selbst wieder auf dem alten Hauptpunkt: ob das
Riesenfaultier überhaupt schon ausgestorben +ist+.

Es fragt sich, wie viel oder wenig da der ganze Höhlenfund beweist.

Er beweist ja zunächst zweifellos, daß die uns jetzt vorliegenden
Hautstücke von Ultima Esperanza nicht gestern oder vorgestern erst von
einem frischen Kadaver abgezogen sind -- und das ist in gewissem Sinne
etwas kaltes Wasser auf die allzu sichere Siegeshoffnung.

Aber selbst Hauthal wagt nicht mehr, seinen wunderbaren
Grypotherium-Kraal weiter zurück zu datieren, als über einige hundert
Jahre, vielleicht knapp jenseits der Entdeckung von Amerika. Die Sache
scheint mir nun sehr diskussionsfähig, ob sich im Klima Patagoniens und
in einer offenen Höhle, von deren nasser Decke beständig Feuchtigkeit
abtropfte, eine Schicht Mist mit ungegerbten, mit Fäulnisspuren
behafteten Häuten auch nur für einen viel kürzeren Zeitraum tadellos
erhalten konnte. Der Verwitterungsschutt, der sie bedeckte, scheint
mir, soweit die Beschreibung ein Urteil zuläßt, in einer Höhle mit
derartig lose abbröckelnder und einstürzender Decke nicht viel für die
Zeitdauer zu beweisen. Nach dieser ganzen Seite hin spräche wieder
die rein theoretische Wahrscheinlichkeit wohl für ein noch jüngeres
Datum. Man möchte sagen, die Ungetüme haben ihr Versteck schließlich
hier aufgegeben, nicht weil sie „ausstarben“, sondern weil immer mehr
Einstürze erfolgten und +diesen+ altbewährten Boden denn doch
+zu+ ungemütlich machten. Anderswo könnten sie deshalb ruhig
fortleben.

Der einzige Punkt, der mich ernstlich stutzig macht, ist die Existenz
jener anderen Tierknochen, des Riesennagetiers (größer als alle heute
bekannten), des Löwen, des einheimischen Pferdes. Waren das echte
Zeitgenossen der Grypotherien -- und sollen diese heute noch leben, --
wo sind diese anderen auffälligen Tiere geblieben?

Das Pferd ist am merkwürdigsten. Vielleicht kein Land der Erde ist
günstiger für wilde Pferde als Südamerika. Als die Europäer welche
hier einführten, schienen sie in ihr Eldorado gelangt zu sein. Ein
einheimisches Pferd aber existierte allen bisher für sicher gehaltenen
Nachrichten zufolge damals +nicht+ im Lande. Die Pferdezähne
der Höhle gehören nun keineswegs dem eingeführten Pferde an, sondern
einer wohlgesonderten, wirklich einheimisch amerikanischen Art, die
also damals, als die europäischen Pferde kamen, schon total wieder
ausgestorben sein müßte.

Das führte also recht weit zurück, mindestens bis weit über die
Gründung von Buenos Aires um 1535 hinaus, durch die zuerst verwildernde
europäische Pferde in die Pampas und in die Hände der Indianer gekommen
sein sollen. Unser Faultier würde da jedenfalls in die Gesellschaft
eines Tieres geraten, das zwar gewiß nicht „urweltlich“ war, aber
doch schon vor vierhundert Jahren keinenfalls mehr existierte. Die
Höhle mit all ihrem Inhalt würde so weit zurückdatieren, -- und wie
das einheimische amerikanische Pferd um 1535 nach dieser Anschauung
ausgestorben war, genau so könnte der Mylodon, unbeschadet aller
Müllhaufen-Reliquien, damals schon bis auf den letzten Kopf das
Zeitliche gesegnet haben.

Aber es hilft nichts; selbst das, obwohl ein recht schweres Geschütz,
ist noch immer durchaus kein reines Argument.

Es gibt zunächst deutsche Höhlen, in deren Lehmboden ein Durcheinander
ohnegleichen herrscht. Ursprünglich lagerten sich uralte Knochen
des ausgestorbenen Höhlenbären darin ab. Dann kam Menschenplunder
aus so und so viel Kulturstufen. Vom Steinmesser der wirklichen
Höhlenbären-Zeit bis auf einen gußeisernen Topf oder gar die
Porzellantasse eines modernen Eisenbahn-Arbeiters, der hier genächtigt.
Das alles sank regellos in den geduldigen Lehm und äffte auferstehend
die sorgsamste Archäologen-Weisheit.

Wenn nun der Mensch, der die Mylodon-Höhle gelegentlich besetzte,
hierher Pferdezähne verschleppte, die er nicht einem lebenden Pferde
entnommen, sondern im Lehmboden gefunden hatte, wo sie heute noch
allenthalben in Patagonien massenhaft herumliegen? Wenn er sie
irgendwie als Werkzeuge sich so gesammelt und hier liegen gelassen
hatte?

Wenn gar in der Höhle selber viel ältere Tierreste noch von Anno
dazumal oberflächlich im Schutt herumlagen und durch den Menschen erst
herausgeholt und zwischen die Abfälle seiner Arbeit zerstreut wurden?
In solchen Höhlen ist theoretisch geradezu +alles+ möglich, -- wer
da mit dem kleinen Finger im Lehm buddelt, kann Jahrtausende der Natur-
und Kulturgeschichte durcheinander rühren.

Schließlich bleibt auch das wahr: das Guanako-Lama lebte denn also doch
auch damals schon -- und es lebt unanzweifelbar in Massen heute noch.
Sei die Höhle also ein paar hundert Jahre alt. Sei das Pferd von damals
längst ausgestorben, und ebenso das große Nagetier und der Löwe. So
kann das Riesenfaultier immer noch leben so gut wie das Guanako.

Professor Florentino Ameghino, dieser altbewährte Kenner und Erforscher
der lebenden und toten Tierwelt Südamerikas, hat aber den Kampf nach
dieser Seite noch viel energischer aufgenommen. Er bestreitet einfach
selbst das Aussterben jener anderen Beweistiere der Höhle.

Nach ihm lebt heute noch ein großer Jaguar vereinzelt in Patagonien,
den die Eingeborenen genau kennen und mit Namen bezeichnen, -- und
auf diese riesige Katze bezieht sich der „Löwenrest“. Desgleichen
aber sollen nach ihm die alten Wildpferde in Südpatagonien überhaupt
niemals ausgestorben sein bis auf den heutigen Tag, so daß jene
radikale Neubevölkerung Amerikas mit europäischen Pferden in der
nachkolumbischen Zeit wenigstens für diesen entlegensten, südlichsten
Fleck bloß eine wissenschaftliche Mythe wäre!

Sollte sich das in der Folge wirklich nach und nach scharf beweisen
lassen, so verkehrte sich natürlich nicht nur das schärfste Argument
vollständig in sein Gegenteil, sondern es eröffnete sich überhaupt ein
ganz neuer Ausblick in die Schicksale der amerikanischen Tierwelt. Und
hier kommen nun noch einmal die ersten Folgerungen mit neuer Wucht
zurück.

Schließlich erzählen doch die Indianer heute noch von einem Tier,
dessen Beschreibung Schritt für Schritt auf den alten Mylodon paßt.
Sie geben ihm einen Namen, der aus leerer Phantasie heraus unmöglich
so erdacht sein kann: nämlich +Jemisch+, zu deutsch das Tier, das
kleine Steinkörnchen an sich trägt, also offenbar eine Anspielung auf
jene kleinen Knochenkörnchen in der Mylodon-Haut.

Dabei ist doch wohl ebenso unmöglich, daß alle diese Indianer ihre
Weisheit aus der Eberhard-Höhle mit ihrem bis 1895 anscheinend völlig
unberührten Mistboden geschöpft haben sollten.

Jenes erste Fell-Stückchen, das Ameghino von ihnen erhielt, erweckt
viel eher den Eindruck, daß sie sonst noch Felle des Tieres heute
besitzen, -- und warum dann nicht vom lebenden Tier?

Auch das ist sehr wertvoll, daß in alten Chroniken über die Geschichte
des Landes mit seltsamer Konsequenz gerade ein ähnliches Geschöpf sein
Wesen treibt. Der Geschichtsschreiber Lozano verzeichnet um 1740 ein
Ungetüm, Su oder Succarath mit Namen. Es gleiche dem Ameisenfresser
(also einem noch lebenden nahen Verwandten der Faultiere) und trage
seine Jungen auf dem Rücken mit sich herum, eine Sache, die die
Faultiere heute noch ähnlich so machen; die Indianer jagten es, um sich
aus dem Fell Mäntel zu fertigen.

Ich finde zufällig eine noch bedeutend ältere Angabe über dieses Tier
Su in der Forer’schen deutschen Uebertragung von Gesners Tierbuch.
Der Druck, der mir vorliegt, ist von 1606. Auf Seite 148 steht ein
grotesker, offenbar wesentlich mit freier Phantasie hinzuerfundener
Holzschnitt eines langgeschwänzten Tieres mit Menschenkopf, das einen
ganzen Haufen Junge auf dem Rücken sitzen hat.

Dazu heißt es im Text: „Das aller Scheutzlichest Thier so gesehen mag
werden, +Su+ genannt in den Neuwen landen. Es ist ein ort in den
Neuw erfundnen land welches ein volck ein wohnet Patagones in ihrer
spraach genent, und dieweil daß ort nit sehr warm ist, so bekleiden
sie sich mit beltzwerck von einen Thier, welches sie Su nennen das ist
Wasser, auß ursach daß es der mehrer theil bei den Wässeren wonet.
Ist sehr reubig, scheußlich wie diese Gestalt außweißt. So es von den
Jegern gejagt, nimpt es seine jungen auff seinen rucken, deckt sie mit
einem langen schwantz, fleucht also darvon, wird mit grüben gefangen
und mit pfeilen erschossen.“

Im ersten Moment könnte man beim Wortlaut an eines der
südamerikanischen Beuteltiere denken, das am Wasser lebt und seine
Jungen mitschleppt. Aber das sind kleine Geschöpfe, während die
Beschreibung mit ihrem Fangen in Gruben und auch sonst eher auf ein
sehr großes Tier deutet. Für Patagonien fehlt jeder Anhalt, was es
sonst sein sollte.

Jedenfalls ist es erstaunlich über alle Maßen, wie diese Geschichten
sämtlich wie Radien auf denselben Mittelpunkt loslaufen. Hauthal
sagt zwar: Das sind alte Traditionen von Vorvätern, die noch mit dem
Tier lebten. Das sieht aber doch seltsam nach einer Ausrede um jeden
Preis aus. Schließlich hat auch Ramon Lista ein Tier gesehen und
angeschossen, das in der Hauptsache paßte. Hauthal meint, weder in den
Grasebenen, noch in der Waldregion Patagoniens könne ein so auffälliges
großes Tier den Ansiedlern entgangen sein, wenn es noch lebte. Und im
vergletscherten, nahrungslosen Hochgebirge werde man es nicht suchen
wollen. Ich meine aber, gerade hier gibt die geheimnisvolle Höhle
einen Fingerzeig. Sie zeigt uns den alten Recken mit seiner hörnernen
Siegfrieds-Haut als den Bewohner schmaler, finsterer Erdklüfte.
Wie viele solcher Klüfte mag das rauheste, südlichste Patagonien
gegen Feuerland herab noch enthalten. Und wer ist dort bei Nacht
herumgeschweift, um den Gast der Tiefe auf seinen streng nächtlichen
Streifereien zu beobachten.

So ist es trotz allem noch immer so wahrscheinlich, wie solche heiklen
Dinge überhaupt wahrscheinlich sein können, daß das Riesenfaultier doch
noch in einer Glücksnacht der Tierkunde lebend gefaßt und auf seine
Ausweispapiere streng geprüft werden könnte.

Wenn nicht, -- dann hat es aber auch seine Schuldigkeit getan. Es hat
uns über Goethes Darwinismus, über die Entwickelungslehre Darwins, über
den Urmenschen und so und so viel anderes belehrt.

Gönnen wir ihm seinen Platz in der Kulturgeschichte.

Und wenn es auf der Messerschneide jener letzten paar Jahrhunderte, bis
zu denen es sicherlich +heranreicht+, wirklich nicht mehr leben
sollte, so gehört es erst recht hinein.

Denn was ist die menschliche Kulturgeschichte anders als die liebe,
lustige Geschichte menschlicher Hoffnungen, Träume -- und Irrtümer.




Der erste Vogel.


Wenn man den Reliquienschrein durchmustert, auf dem sich unsere
Kenntnis der Weltgeschichte aufbaut, so meint man bisweilen ins Reich
der bösen Kobolde verschlagen zu sein.

Wunderbare Dichtungen, die wie herrliche Leitsprüche über der
Menschheits-Entwickelung schweben, sind überliefert ohne den Namen
des Verfassers. Und der Text liegt uns in der Form eines liederlichen
Korrekturbogens vor, bei dem der Setzer ein Idiot und der Korrektor
betrunken war. Inschriften, die uns wie ein Blitz eine ganze
Kulturepoche aufhellen könnten, sind gerade an der Stelle verstümmelt,
wo die Hauptsache kommt. Die Pyramide, die fünftausend Jahre lang der
List der Grabschänder von zwanzig Nationen getrotzt hatte, ist vier
Wochen vor ihrer wissenschaftlichen Eröffnung durch Fach-Archäologen
von irgend wem ausgeräumt worden; ihr unschätzbarer Inhalt wird
vielleicht einmal zwischen dem zweideutigen Gerümpel einer bekannten
Fälscherbude auftauchen und unbeachtet dort verkommen. Ein Kobold
führt ein Grabscheit in die Erde einer griechischen Insel, dieses
Grabscheit klirrt auf etwas, wirft ein paar Steinbrocken herauf, die
auf den Abfall kommen; und diese Brocken sind die Arme der Venus
von Milo gewesen, die bei ihrer endlichen Auferstehung einen wahren
Kultur-Triumphzug feiert, -- aber leider ohne Arme. Der kühnste
Aufwand der Weltgeschichte läßt einen Vesuv seine heiße Brei-Asche
über eine römische Provinzialstadt regnen. Diese Stadt wird nach
anderthalb Jahrtausenden entdeckt und ausgegraben. Man findet unter
anderem die Bibliothek eines Gelehrten. Es wird eine besondere Methode
ausgeklügelt, um die verkohlten Rollen doch noch auszuwickeln und
lesbar zu machen, mit allen Hilfsmitteln der Mechanik und Chemie.
Als die Rollen aber zum Teil entziffert sind, zeigt sich, daß der
Besitzer gerade dieser Bibliothek den einseitigsten Geschmack hatte
und bloß engste epikureische Philosophie besaß, statt der verlorenen
Sophokles-Tragödien, dem vollständigen Livius -- oder gar dem
Ur-Evangelium.

Will man gerecht sein, so muß man freilich auch neben den bösen an gute
Kobolde glauben, wie im Märchen.

Ein braver Hausgeist mindestens läßt Schliemann, der unter beinah
komischen Voraussetzungen den Hügel von Hissarlik nach „Troja“
durchsucht, einen weltgeschichtlichen Komposthaufen von mindestens
fünf Städten aufdecken, der, wenn nicht Troja, so doch ein ganzes
Kapitel Menschheit wirklich gibt. Und ein ebenso freundlicher läßt die
Aegyptologen 1881 ein wüstes Diebsversteck mit Beschlag belegen, wobei
die Mumie Ramses des Großen aus der Diebsbeute fällt.

Wenn irgend einer, so hat auch der Naturforscher von solchen Dingen in
Gut und Böse ein Lied zu singen. Seit einem Jahrhundert jetzt wühlt er
einer „verlorenen Handschrift“ nach, -- der Handschrift der Erde.

Blätter von Schiefergestein, ohne Einband, mit wüsten Rissen, hier
und da nur ein geheimnisvoller Buchstabe, verzerrt, halb zerpreßt,
die Schrift von furchtbaren Mäusen zernagt: Bewegungen der Erdrinde,
losdonnernden Vulkanen mit Basaltregen, nachträglichem Faltenwurf,
bei dem die Erdrinde sich hob, senkte, platzte, Risse bildete wie
eine Rhinozeroshaut. Und dazu auch diese Bibliothek, wie jene
von Herkulaneum, niemals vollständig, gleichsam ein wahlloses
Liebhaberprodukt, das die Kobolde zusammengetragen.

Einmal haben sie doch wohl gewollt, diese Hausgeister auch der Geologie.

In Berlin, in der Invalidenstraße, im Museum für Naturkunde,
ist ein kleines Plätzchen, ein Inselchen im großen Getriebe der
Weltenschicksale und ihrer Koboldarbeit. Da glaubt man an gute Geister.

Das Berliner Museum für Naturkunde ist an sich schon eine Insel im
wilden Trubel der Großstadt, eine Geistes-Insel. Wenn es nur in seinen
öffentlichen Besuchsstunden nicht so geisterhaft öde wäre. Gerade der
Fleck, den ich jetzt in ihm meine, der, wo die ältesten Ungeheuer,
die Vorsintflutler von Ichthyosaurus- und Mammuts-Tagen stehen, kommt
mir immer selbst wie eine graue, leere, hallende Katakombe vor. Der
Berliner hat dieses Museum so recht noch gar nicht entdeckt. Die Art
und Weise, wie hier volkstümliche Wissenschaft dargebracht wird,
ist daran gewiß nicht schuld. Zwar der Bau selbst, 1887 vollendet,
ist etwas wunderlich. Er wurde im Umriß fertig gestellt, ehe sich
der rechte Mann fand, den schönen Inhalt hineinzuordnen, der alte
treffliche Karl Möbius. So sieht man jetzt noch wunderliche Arabesken:
ungeheure, auf Massen berechnete Treppen führen zum Oberstock, aber
dieser Oberstock ist (nach sehr weiser Möbius’scher Einteilung) dem
großen Publikum gar nicht nötig und also auch nicht zugänglich, und
so scheint der Zweck dieser wunderbaren Raumverschwendung wesentlich
die äußerst üppige Erhellung eines Schildes „Hier ist kein Aufgang“.
In der Sammlung selbst läßt dafür die oberste Pflicht des Baumeisters
für Museen, die Beleuchtung, aufs empfindlichste zu wünschen. Und so
wäre noch manches von den Schatten, echten und idealen, des Gebäudes
zu verzeichnen. Aber um so gewaltiger die geniale Kraft, wie nun eine
köstliche Sammlung in diese Hallen eingegliedert ist, -- mit allen
Mitteln systematischer, ästhetischer und auch echt volkstümlicher
Aufstellungskunst. Nichtsdestoweniger: die Brote und Fische, die
Tausende nähren können, sind da, -- aber die Tausende fehlen. Mir ist
das Museum ein Ort, wo man seinen Schritt hallen hört, -- wohin man
sich aus dem Geklingel der Straße rettet zur Einsamkeit. Die Zeit
änder’s! Doch davon wollte ich hier nicht eigentlich reden.

Also in der paläontologischen Abteilung dieses Museums ist der engere
Fleck, den ich meine.

Der Saal ist für den Laien nicht gerade äußerlich aufregend.

Berlin hat vorläufig keine gigantischen Zugstücke, kein ganzes Mammut
oder Mastodon, kein Megatherium, nicht einmal die nötigen imponierenden
Gipsabgüsse. Im Grunde des Saales steht ein kleines braunes
Nilpferd-Gerippe von Madagaskar, das dem Besucher zunächst nicht viel
mehr sagt, als das etwas hellere vom lebenden Nilpferd im Lichthofe
nebenan. In Wahrheit ist es freilich einer jener ausgestorbenen Herren,
die auf der großen Wunderinsel ihrer Zeit noch mit dem auch jetzt
verschollenen Riesenvogel Aepyornis zusammen die Ufer der Binnenseen
unsicher machten. Dieser Riesenvogel selber war wieder ein naher
Verwandter der großen Moa-Strauße von Neu-Seeland, die inzwischen,
wahrscheinlich unter Nachhilfe des hungrigen Menschen, das Zeitliche
gesegnet haben gleich ihnen. Solcher Moas stehen einige, in übrigens
nicht gerade bedeutenden Gerippen, links gegen das Fenster zu im
Schrank. Hinter diesem freien Glasschrank aber, ganz in des Fensters
Nische, ragt ein schlichter Tisch mit Glasdecke.

Der Blick des Laien begegnet zwei flachen gelblichen Steintafeln ohne
jeden reklamehaften Reiz. Und doch ist das jetzt ein Ort, wo er den
Hut abziehen soll. Dieser ganze Saal orientiert sich hierher als in
seinen Mittelpunkt. Das ganze Museum hat kein kostbareres Objekt.
Und unsichtbar über diesem Kasten schweben die Händchen des besten
Schutzgeistes der ganzen Geologie.

Auf beiden Steinplatten sieht der naive Beschauer, wie mir mehrfache
Erfahrung bestätigt, zunächst überhaupt nichts. Eine nähere Erläuterung
ist gerade hier auf dem lateinischen Namensschilde leider nicht
gegeben, und er würde also wohl ganz gleichgiltig vorübergehen, -- mit
jenem Museumsblick des Laien, der sich aus einem Teil Staunen über die
„Masse“ der verschiedenen Naturgegenstände und zwei Teilen Langeweile
vor so viel Unverständlichem chemisch zusammensetzt.

Aber einer der Museumsdiener hat ihn beobachtet, tritt hinzu und macht
ihn mit Nachdruck darauf aufmerksam, diese links liegende eine Platte
habe zwanzigtausend Mark gekostet. Unter der Wucht dieser goldenen
Tatsache geht der Besucher also hilflos, aber willig noch einmal an den
Glaskasten.

Mit Aufbietung all seines gesunden Lebenswitzes entziffert er nun
wirklich auf der Zwanzigtausendmarkplatte einige lose Spuren eines
denkbaren Ereignisses. Auf einem schmutzigen, klebrigen Lehmboden ist
eine Krähe oder ein ähnlicher Vogel gerupft worden. Beim Hin- und
Herwerfen haben sich einzelne Federn in dem Morast abgedrückt. Der
Kadaver scheint schließlich am Fleck liegen geblieben und fortgefault
zu sein, denn es stecken auch noch ein paar morsche Knöchelchen
selber im Lehm. Das mag ja nun lange her sein, denn der Morast ist
nachgerade steinhart geworden, so viel sieht man. Das Alte gilt in der
Wissenschaft teuer. Aber es ist doch ein starkes Stück, solche alte
Müllkastenprobe mit zwanzigtausend Mark zu bezahlen!

In Wahrheit sind diese zwanzigtausend Mark nur die Schale des
Zauberwortes, das ihm einer hätte sagen müssen, nicht das Wort selbst.

Das erste Bild, das vor dieser gelben Platte auftauchen sollte, ist ein
Bild aus dem heißesten Ringen der denkenden Kulturmenschheit. Andrées
Ballon, der ins Ungewisse gegen den Pol zu verschwindet. Der Ballon,
der mit dem großen Alpenforscher Heim an Bord die Alpen überfliegt.
Der unglückliche Lilienthal, der den Märtyrertod des Einzel-Fluges
stirbt, vielleicht ganz nahe an der Schwelle der Lösung. Der Mensch,
der immer wieder das Organ neu und verbessert als Werkzeug baut, will
auch den Vogel so erobern, den Flügel des Vogels durch ein Werkzeug --
und dann, wie immer, an diesem Werkzeug mehr als bloß diesen schwachen
Flügel: ein neues Weltmittel seiner Kultur. Herauf, herab vor unsern
Augen wogt dieser Kampf. Er hat so viel bezwungen, der Mensch, seitdem
er in grauen prähistorischen Tagen, zwischen schwarzen Eibenwäldern und
roten Mammuten, das erste Werkzeug erfunden. Längst hat er das Auge des
Adlers unendlich weit überboten mit seinem Fernrohr, das in die Welt
der Nebelflecke dringt. Das elektrische Organ, mit dem der Aal in den
Sümpfen Venezuelas sich verteidigt, ist ihm zum transatlantischen Kabel
geworden, durch das er Ozeane mit dem Geistesmittel seiner Sprache
durchdringt. Warum soll er nicht fliegen wie die Schwalbe, die das
Mittelmeer kreuzt, wie der Albatros, der Weltmeere übersegelt, wie
die Rosenmöve, die sich seit alters über die Eiswüste jenseits Franz
Josefs-Land, die wir erst durch Nansen kennen, schwingt?

Gerade dieser Zukunftsflug aber führt zurück auf diesen altersgrauen
Stein.

Dieser Stein ist für uns ein Grundstein. Auf ihm beginnt das Organ, das
wir im Werkzeug überbieten möchten.

Diese paar Federabdrücke im einstmals weichen Schlamm, diese paar
Knöchelchen, die auch der Laie schließlich herausbuchstabiert hat, sind
der schattenhafte Abdruck des +ältesten Vogels+, den wir kennen,
-- des „Ur-Vogels“.

Auf diesen Knöchelchen und Federchen begann das Wirbeltier, das sich
vom Fisch zur Eidechse gesteigert, ein neues Leben, -- das Leben in der
blauen Höhe, das Leben des Adlers, der Schwalbe, des Albatros.

Auch wir Menschen sind unserem zoologischen Bau nach Wirbeltiere.
Auch unser Vogel-Flug wird, wie immer er nun werde und falls er
wird, in gewisse Schranken und Gesetze dieses Wirbeltier-Baues
eingegliedert bleiben. Bloß daß wir noch ein Organ mehr dazu in Arbeit
setzen, als Knochen und Federn: eben das ausgesprochene Organ der
Werkzeugerfindung, -- das Gehirn.

Daß uns aber gerade dieser Eckpfeiler noch der ganzen Flug-Entwickelung
des Wirbeltieres heute vor Augen steht, das verdanken wir einer
Verkettung der Zufälle, wie sie ähnlich in der ganzen Forschung
nach den Urweltsdingen nicht wiederkehrt. Um bei jenen bewußten
zwanzigtausend Mark zu enden, die schließlich auch nichts gerade
Alltägliches waren, mußte ein Netz des Märchens sich schon vor
Millionen von Jahren anspinnen und die Kobolde der Geschichte mußten
daran fortwirken bis auf unsern Tag, mit einem immer erneuten Einsatz
jenes Wahren, das, mathematisch angeschaut, jedesmal das denkbar
Unwahrscheinlichste war.

Es war gegen das Ende der großen erdgeschichtlichen Epoche, die man die
Jura-Zeit nennt, -- also in der Zeit noch des Ichthyosaurus.

Mit der Faust des Gedankens muß der Leser sich die Dinge auf deutscher
Erde von damals rasch noch einmal umkneten, -- Berge glätten, Land
unter Wasser drücken, den Wald vertauschen und eine ganz andere Arche
Noäh hineinstülpen.

Fort, noch nicht heraufgefaltet aus der runzligen Erdrinde, sind
die Alpen. Zwischen Vulkaninseln mit Korallenriffen blaut das
Mittelmeer bis nach Deutschland tief hinein. Schwaben und Franken
liegen unter Wasser. Wo heute ein kleiner grüner Eidechs sich auf dem
Schiefergestein einer Berghalde sonnt, da schäumt die Salzflut auf und
es ragen der groteske Krokodilkopf, die delphinartige Rückenflosse des
wilden Ur-Räubers Ichthyosaurus heraus. In den purpurnen Wassergründen
unter diesem Scheusal aber blüht und wuchert allenthalben in
unendlicher Ueppigkeit das Kleinleben des echten Ozeans. Winzige bunte
Korallentierchen, zierlichen Röschen und Vergißmeinnicht-Sternchen
vergleichbar, haben Jahrtausende lang ihre kleinen Kalkhäuschen
aufeinandergehäuft, bis Untiefen entstanden sind, bei denen eine solche
massive Kalkstadt der Korallenarbeit wie eine steile Festung die
Gewässer durchragt. In unabsehbaren Feldern haben dicke Schwammtiere
sich gesellig darum angesiedelt. Sehr tief unten, wo die Bewegung der
Wellen sie nicht knicken kann, bilden herrliche gefiederte Seelilien
-- Tiere aus der Verwandtschaft der Seesterne, die aber auf langem
wurzelnden Stiel gleich Blumen schweben -- geheimnisvolle Wälder. Auch
ihr fester, dauernder Bestandteil, der liegen bleibt, wenn das schöne
Tier selber abstirbt, ist Kalk. In weiten Bänken liegt Muschel an
Muschel, Austern und Pilgermuscheln, alle mit harten Kalkgehäusen. Aus
dem freien Wasser aber regnet unablässig Kalk in mikroskopisch kleinen
Teilchen frei herunter: jedes Teilchen ist das niedliche Kalkgerippe
eines sonst formlosen Ur-Tiers, eines lebendigen Schleim-Klümpchens von
der Sorte, wie sie heute noch in unausdenkbaren Myriaden unsern Ozean
in allen Tiefen durchwimmeln und Foraminiferen genannt werden. Wie eine
feine Schneedecke einheitlich reinsten Kalkschlammes legt sich diese
nicht endende Fracht noch einmal über alles sonstige Kalkmaterial der
Tiefe.

Lang, unfaßbar lang rauschen diese hohen Wasser der Jura-Zeit über
deutsches Land und überrauschen still in all der Zeit immer dieses fort
und fort schaffende, häufende, Kalk ablagernde Leben ihrer Kleinen und
Kleinsten im feuchten Schoß.

Auch im Herzen des Frankenlandes, da, wo heute die Eisenbahn von
München nach Nürnberg quer durchschneidet, ist es so.

Aber die Zeit läuft, wie Busch sagt, „eins-zwei-drei im Sauseschritt“.

Und eines Tages, eines Jahrtausends sagt sich hier besser, erfährt
denn doch gerade diese mittelfränkische Gegend eine ganz eigentümliche
Wandlung.

Die gewaltige Jura-Periode, wie gesagt, neigt sich unaufhaltsam ihrem
Ende zu. Ein ungeheurer Tag der Erdgeschichte versinkt einmal wieder.
Der eigentliche Anlaß zum Wechsel mag in fernen, tiefen Ursachen
der ganzen Erdgestaltung, Erdentwickelung liegen. Jedenfalls macht
sich hier im kleinen Frankenwinkel zunächst eine vielleicht weit
voraufbrandende, aber an sich ganz unzweideutige Wirkung geltend: das
Meer beginnt langsam in der Richtung von Nord nach Süd zurückzuweichen,
als hätten sich ihm fern drüben in den Mittelmeergegenden, oder noch
viel weiter südlich, gegen den Aequator an, neue Abzugsbecken aufgetan.
Oder auch, als wölbe sich die ganze Nordhalbkugel zeitweilig höher auf
und lasse ihr Naß abströmen wie ein auftauchender Seehund. Die rechte
Grunderklärung wissen wir heute noch nicht. Genug aber: der Ozean sank
langsam, ganz langsam etwas mehr südwärts ab.

Eines Tages stießen die Untiefen aus Kalkmasse, die von den
Korallentieren aufgebaut worden waren, vom Wasser befreit als steile
weiße Kalkinseln aus dem blauen Spiegel heraus. Bald aber dann in den
nördlichsten Teilen unseres Mittelfranken werden auch ganze Stücke
Seeboden zwischen den Korallenklippen sichtbar. Der Meeresgrund hatte
seit alters hier immer eine geringe Neigung von Nord nach Süd gehabt.
So kamen mit dem Sinken des Seespiegels naturgemäß zuerst die höchsten,
nördlichsten Teile der Schrägfläche als „Land“ ans Licht.

Ans Licht kamen aber mit ihr die Schwammfelder, die Austernbänke, die
zerbrochenen Trümmerstätten der Seelilien, endlich in unendlichen
Massen der lose Schlammteppich jener mikroskopischen Kalkgerippchen der
kleinsten der Kleinen, der Ur-Tierchen.

Ein ödes Land natürlich anfangs, das da aus der Sintflut stieg. Morsche
Kalkmassen überall, die sich in den Jahrhunderttausenden vorher zu
wahren Gesteinsschichten in der Tiefe übereinander gelagert. Und von
diesem Grundmaterial im Sturmwind aufdampfend Wolken, Sandhosen von
weißem Kalkstaub, zu dem jener feinste Grundschlamm sofort zerfiel.
Erst allmählich brachte der Wind selber von fernem, nördlicherem,
älterem Festlande Pflanzensamen herüber, der die Kalkwüste mit grünem
Kleide überzog. Erst allmählich wanderten Landtiere von dort ein,
fliegende Insekten, Landeidechsen, was es um diese Wende der Jurazeit
eben auf trockenem Boden schon an seltsamem Getier gab zu der gleichen
Periode, da die Meerflut noch einen so kuriosen Gesellen wie den
Ichthyosaurus beherbergte.

Längst aber, als diese „Erregung“ des neuen Landes von Tieren und
Pflanzen glücklich erfolgt war, hatte sich ein anderer natürlicher
Vorgang vollzogen.

Die Wasser des Himmels, der Atmosphäre, hatten den Boden erobert, den
die Wasser des Ozeans frei gegeben.

Wolken hatten sich um die alten Korallenriffe gehäuft, -- diese waren
ja jetzt Berge. Das Regenwasser sammelte sich oben in Mulden, sickerte
in die Risse des Gesteins, trat unten am Fuße der Kalkschroffen als
murmelnder Silberquell hervor. Der Quell brach sich durch das immer
noch südwärts geneigte Flachland weiter Bahn, -- bis er endlich das
Meer doch noch erreichte. Freilich nicht mehr das tiefe, abgrundtiefe
Meer, in dem einst Seelilien geblüht hatten. Sondern bloß das alte
Frankenmeer auf dem Punkt seines Abzuges, -- an der äußersten Stelle,
da es, unablässig sinkend, die schräge Ebene des aufsteigenden Landes
mit oberster Welle gerade noch beleckte. Draußen ragten überall schon
einzelne trockene Korallenklippen vor. Zwischen ihnen und dem jüngsten
Festlande dehnte sich der Ozean nur mehr in Form einer flachen Bucht
aus, -- so seicht, daß man weithin wohl schon bei einer Kahnfahrt den
bunten Seegrund mit seinen Tiergärten hätte durchschimmern sehen.
Menschen und Kähne gab’s freilich noch lange nicht!

In diese seichte Bucht also fiel jetzt das Flüßchen ein, das lustig
plaudernde Kind der schon längst freien Kalkhügel da drinnen im Lande.

Sein Süßwasser, das Geschenk der violetten Wolken da hinten, einte sich
der friedlichen Salzwelle, die alle ihre Ozeanswildheit längst selber
hier verloren hatte; stand sie doch schon auf dem Aussterbeetat und
mußte erwarten, in wieder tausend Jahren -- einer Nachtwache! -- selber
nur noch ein ganz stiller, rings von Festland umgebener See zu sein,
der dann gar bald von den einströmenden Bergwassern auch ausgesüßt sein
würde.

Einstweilen war das Wasser der mittelfränkischen Bucht allerdings noch
Meer, hatte noch offenen Zusammenhang mit der ozeanischen Welt da
im Süden, so sehr auch deren goldene Zeit im ganzen um schien. Noch
sollte es den Bergwässerlein, und kämen ihrer noch so viele, nicht
gelingen, sie diesem Versüßungs-Schicksal unrettbar auszuliefern. Aber
die Silberflüßlein brachten nicht bloß Süßwasser zu ihr. Sie trugen
noch etwas anderes, derberes mit. Und das mußte die Bucht sich gefallen
lassen. Kam es doch zu ihr wie ein alter Bekannter.

Wo immer die Bäche sich vom Gebirge loswanden: sie waren versetzt mit
+Kalk+.

Durch Kalkgestein hatten sie sich gewühlt, Kalk hatte der Wind mit
jeder Staubwolke in sie hineingeweht, Kalk war um sie und, zerstäubt,
in ihnen bis zur Meeresmündung. Wie Milch ging er in ihnen mit, und
wo die Mündung sich öffnete, da schwamm er mit ins Meer, um dort, im
stillen, salzigen Buchtwasser, alsbald zu Boden zu sinken.

Im Grunde war’s eine Heimkehr. Das alte Kalkmaterial der Korallen,
Muscheln, Seelilien, Foraminiferen, einst im Ozean gebildet, kehrte
in den Ozean zurück. Fels geworden, den der Regen peitschte, wurde
es abermals Meeresschlamm. Freilich jetzt Schlamm einer Flußmündung
in einer ohnehin verkommenden, verflachenden Bucht eines abziehenden
Ozeans, dessen Stunde geschlagen hatte.

Hier ist jetzt die erste große Station, die uns zur Kenntnis des
Ur-Vogels verholfen hat, der wundersamen Handlung erster Akt.

Also Kalk wurde von den Bächen immerfort in die seichte Bucht des
fränkischen Jura-Meeres hinabgespült, Kalk lagerte sich Häutchen um
Häutchen, Schicht um Schicht auf dem Boden dieser Bucht ab. Dabei aber
erhielten diese feinen Kalkhäutchen ganz von selbst eine eigentümliche
Rolle im Naturhaushalt dieses Winkels.

Sie wirkten nämlich als Totengräber.

Wo Wasser ist, da ist reges Leben. Das galt damals wie heute.

Zwar das Leben der tiefen See war mit dem langsamen Rückgang des hohen
Meeresspiegels auch allmählich geschwunden. Aber um so üppiger grünte
und tummelte sich alles, was zu solcher flachen Ozeansbucht nahe einem
reich belebten Ufer gewohnheitsmäßig gehörte.

Grüne Wiesen von Seetang dehnten sich unter dem ruhigen Spiegel aus.
Im Tangbusch bargen sich zahllose Fischlein, und die Krebse hatten
hier so recht ihr gesegnetes Reich. Wehte der Wind von der offenen
südlichen See herein, so trieb die Strömung endlose Ketten blauer
oder orangeroter Quallen und Herden bunter, dem Chamäleon gleich
farbenwechselnder Tintenfische landwärts mit sich. Vom Lande umgekehrt
kamen mit dem Luftzug große Libellen und anderes flatterndes Getier,
das wenigstens dicht über die blauen Wellen dahingaukelte.

Wiederum indessen: wo Leben ist, da ist auch ein ewiges Sterben.
Generationen sinken ins Grab. Das Grab jedes losgerissenen
Pflanzenblattes, jedes abgestorbenen Tier-Körpers aber war in diesem
Falle immer nur wieder der Grund der Bucht, also derselbe stille Grund,
den der einströmende Kalk in gar nicht so sehr langsamer Folge immer
wieder schichtweise zudeckte. So wurden die feinen Kalkschichten ganz
unabänderlich zugleich die Leichentücher all dieses toten Materials.

Und es gab da immerfort genug so einzusargen. Von oben fielen die
Libellen und andere Land- und Lufttiere, vom Sturm überwältigt, ins
Wasser, ertranken und gerieten auf den Grund. Aus dem Tang-Wald kamen
tote Fische, tote Krebse herab, dazwischen losgeschaukelte Zweiglein
der Tangpflanzen selbst. Auch der einströmende Kalkbach brachte wohl
schon das eine oder andere Kirchhofsgut mit: einen Cypressenzweig,
den schönen Wedel eines Palmfarrnbaumes von den Wäldern landeinwärts;
oder den Kadaver einer Eidechse, die irgendwo weiter innen verunglückt
war. Jeder Sturm von der Seeseite aber warf jene Quallen- und
Tintenfischschwärme nicht nur in die Bucht, sondern erbarmungslos so
hoch bis ins äußere Strandwasser hinauf, daß sie sich die zarten
Fangarme und weichen Leiber elendiglich am Sande zu Fetzen schlugen, --
auch sie eine Beute dann des ewig nivellierenden, schnell zudeckenden
Kalkschlammes.

Die Schichten des Kalkes wurden allmählich ganz von selber ein
Herbarium, ein Museum.

Weich, wie sie zunächst waren, nahmen sie die Umrißgestalt aller der
kleinen Leiblein, die da in ihren Arm fielen zum ewigen Schlaf, wie
durch eine Art feinsten Naturselbstdruckes in sich auf. War auch der
Leib selber längst entschwunden, so wahrte der Kalk an seiner Stätte
doch noch das treueste, das feinste Schattenbild.

Die Natur hat ja auch in späteren Tagen noch manchesmal Mittel und Wege
gefunden, in einer wenigstens verwandten Weise Lebensumrisse durch
Steinabdruck aufzubewahren. Das wunderbarste Beispiel aus unserer
Menschheitsgeschichte sind die Leichen aus der Römerstadt Pompeji, die
vielleicht der eine oder andere Leser aus eigener Anschauung kennt. Als
Pompeji im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt vom Vesuv verschüttet
wurde, ergoß sich ein Gemisch von vulkanischer Asche und kochendem
Wasser breiartig über arme Flüchtlinge, die sich verspätet hatten. Sie
erstickten im heißen Brei. Als dann die weiche Masse, die ihre Leiber
wie zäher Teig umhüllte, allmählich hart wurde, blieb der Abdruck, die
Form eines jeden Menschenkörpers wie eine grausige Totenmaske im Stein
stehen. Nach achtzehnhundert Jahren, als Pompeji ausgegraben wurde,
geriet man auf diese zwangsweisen Gräber. Die Körper selbst in ihrer
Höhle waren längst zermorscht bis auf schlotternde Gerippe. Aber die
Höhlung mit ihrem Körperrelief war um jedes Gerippe her noch treu da.
Man bohrte sie an, goß flüssiges Gips hinein und gewann so künstliche
Ausgüsse, die, als man die versteinte Aschenmasse jetzt herunterschlug,
grausig realistische Umrißbilder der Leichen im Todeskampf ergaben: ein
schönes junges Mädchen, einen alten Mann und anderes; auch ein Hund,
der zuckend die Beine über den Kopf schlägt, ist dabei. So stehen diese
armen Zeugen eines Schreckenstages heute im Museum zu Pompeji.

Im Grunde jener fränkischen Bucht muß das Natur-Verfahren aber noch
sehr viel intimer, viel sorgfältiger gewesen sein.

Jedes Fiederblättchen, jedes durchsichtige Libellenflügelchen kam in
dem butterweichen Kalkbrei zum zierlichsten Abdruck. Selbst die Qualle,
die doch tot wie ein Gallerttropfen alsbald dahinschwindet, daß keiner
ihre Spur mehr ahnt, prägte ihre charakteristische Gestalt gerade noch
ab, ehe sie zerfloß. Und die Krebse, die Fische, die Tintenfische (der
Tintenfisch ist kein Fisch, sondern ein schneckenartiges Weichtier!)
malten sich auf, als hätte sie einer zuerst in braune Farbe getaucht
und dann so fest gegen eine frisch gestrichene weiße Wand gepreßt,
daß jedes Spitzchen und Fühlerchen der Silhouette nur ja haarscharf
herauskomme.

Es war in diesem Kalkgrunde, als schreibe und drucke die fränkische
Uferwelt der letzten Jura-Tage ihr eigenes Tagebuch, ein Tagebuch aus
Photographien, Bilderbuch und Lebensbuch zugleich.

Aber selbstverständlich: so reizend exakt wie dieses Tagebuch auf
Kalkblättern wurde, -- es wurde zunächst unabänderlich ein ganz
verborgenes Tagebuch, ein Geheimbuch. Hatte sich heute eine feine
Kalkhaut wie ein Herbariumblatt über einen Tangzweig oder eine
Hummerschere gelegt, so lagerten sich morgen schon wieder neue Häutlein
darüber und übermorgen abermals welche. Abdruck um Abdruck verschwanden
so alsbald wieder in dem stets dicker anschwellenden Folianten, ohne
daß irgend ein Wesen damals in dem Wassergrün und Himmelsblau oben
darüber ein Interesse daran gehabt hätte, die steinerne Familienbibel
noch einmal aufzublättern.

Denn es fehlte ja gänzlich noch auf dieser Erde das große
„Interessen-Wesen“, -- der Mensch.

Und der fehlte noch lange.

Jahrmillionen rauschten dahin. In ihnen versiegten schließlich die
Kalkbäche, in ihnen schwand die ganze fränkische Meeresbucht. Das
Getier, das sie belebt hatte, starb aus oder stellte sich selber durch
Fortentwickelung so gründlich auf den Kopf, daß keiner es mehr wieder
gekannt hätte. Zuletzt gab es in ganz Franken und weiter in ganz
Deutschland kein Land mehr mit Cypressen- und Palmfarrn-Wäldern, und
es gab auch kein Meer mehr tief drinnen im Lande, weder tiefes, noch
seichtes.

Da, wo die Frankenbucht einst in der Sonne geglitzert, bildete der
alte Grund der Bucht jetzt soliden deutschen Vaterlandsgrund, den die
Berghacke als festen Kalkstein aufschlug.

Hoch über der uralten Familienbibel aus Jura-Tagen grünte stattlicher
deutscher Wald.

Und alle die alten Seiten, zwischen denen die Portraits der mythisch
urältesten Cypressenzweige, Tangbüschel, Fische, Krebse und Quallen
immer noch fein säuberlich eingedruckt lagen, stellten zäh miteinander
verwachsen einen ungeheuren Gesteinsblock dar, fremd und gleichgültig
jetzt erst recht zunächst für das neue Geschlecht wimmelnder Erdwesen,
das als „Mensch“ sich Straßen durch die Täler dieses Frankenlandes
baute, Dörfer gründete und für Berg und Tal und Fluß Namen erfand.

Nun wird die Geschichte fromm. Der heilige Sola, ein Schüler des
Bonifatius, lebt als Eremit im Lande. Von ihm heißt heute ein Ort im
Herzen des klassischen Bodens Solnhofen. Es wird der Heiligkeit des
Mannes keinen Abbruch tun, wenn man versichert, daß er weder von einer
Jura-Zeit noch von einem eventuell in diesem Erdenschoße verborgenen
Tagebuche dieser Zeit auch nur die leiseste Ahnung besessen habe.

Uns aber tut not, daß wir auch über den heiligen Sola hinweg noch
tausend und einige Jahre springen bis auf einen zweiten Menschen, der
zwar nicht heilig gesprochen worden ist, aber trotzdem ein unverkennbar
wertvolles Glied der Menschheit war, -- nämlich auf den braven Aloys
Senefelder.

Hier beginnt das zweite Kapitel des weltgeschichtlichen Romans.

Senefelder glückte nämlich etwas, was der heilige Sola wahrscheinlich
in der Zukunftsperspektive so wenig geahnt hatte, wie er rückschauend
die fränkische Bucht des Jura-Meeres gekannt hatte. Er machte den
Ort Solnhofen von einem Tag zum andern weltberühmt, ja einzig in
seiner Art. Er schuf einen Zusammenhang zwischen der gesamten
Menschheitskultur und diesem unscheinbaren verborgenen fränkischen
Dorfe.

Senefelder erfand nämlich um den Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts
die Kunst der Lithographie, die Kunst, auf Stein zu zeichnen und durch
bestimmte genial vereinigte Methoden von solcher Zeichnung beliebige
Abbilder mit Hilfe des Steines selbst zu drucken.

Diese Erfindung aber war im buchstäblichen Sinne einer einzigen
Stein-Art der Welt „auf den Leib“ erfunden, und das war der Kalkstein
von Solnhofen. Er allein bot die wahren Grundlagen des neuen
Verfahrens, er ließ sich entsprechend färben und bearbeiten, daß
die „lithographische Platte“ wirklich entstand, er ließ sich ohne
Ausfaserung haarscharf schneiden, er ließ sich in der Druckpresse
unglaublich belasten, ohne zu springen, -- kurz, die neue Kunst hätte
besser den Namen „Solnhofener Kunst“ als allgemein Steindruck verdient,
so eng gehörte gerade dieser Stein als Grundlage dazu. Heute noch, nach
hundert Jahren und nach unzähligen Versuchen, in denen alle Nationen
gewetteifert haben, steht der Stein Frankens ohne ernstliche Konkurrenz
da, ein deutsches Nationalprodukt so ausgesprochen wie wenige. Die
ganze Welt holt ihre Platten aus Solnhofen und nicht auszusagen ist
der Gewinn, den Kunst wie Wissenschaft der gesamten Kultur in diesen
hundert Jahren diesem ihrem wahren „Bilderstein“ danken.

Wunderbares Zusammentreffen der Dinge! Am Tage, da Aloys Senefelder
seinen Fund der Oeffentlichkeit offenbarte, stand also in der
Notwendigkeit der Folgen fest geschrieben, gleichsam lapidar in Stein
geritzt: daß auf der Hochfläche westlich von Solnhofen und noch an
einigen anderen Punkten unbedeutend weiter davon der Wald fallen
werde, die Picke einsetzen und Steinbruch um Steinbruch sich in den
Boden eingraben werde, -- daß der Mensch mit seiner ganzen fabelhaften
Zähigkeit sich über diesen Block alten Jurakalkes stürzen und ihn
Platte für Platte herausbauen werde, als sei die Parole ausgegeben:
hier liegt Gold. Es lag ja bares Gold tatsächlich genug darin neben
allem Kunst- und Wissenschaftszweck. Und bei dieser Gelegenheit also
mußten jetzt das gesamte Tagebuch von Anno dazumal, die gesamten
Chronikblätter der Familienbibel jener Ichthyosaurus-Zeit mit zutage
kommen, Seite um Seite, mit all ihren Fratzen-Bildern und urweltlichen
Handschriften -- zutage kommen mitten im hellen Licht des neunzehnten
Jahrhunderts.

Wohl schien der Sinn dieser Auferstehung zunächst noch etwa
vergleichbar jener Art, wie in barbarischen Tagen köstliche Pergamente
alter Klassiker-Handschriften wohl behandelt worden sind: Schülerhände
benutzten die alten Pergamentblätter noch einmal rein als „Papier“ und
überkritzelten die unschätzbare Handschrift mit ihren Stümpereien, als
sei sie selber das absolut Gleichgültige und nur der „Stoff“ wertvoll.
Aber in Wahrheit war das neunzehnte Jahrhundert doch schon viel zu klug
zu solchem einseitigen Streich.

Schließlich hätte die ganze Kunst der Lithographie selber gar keinen
Zweck gehabt, wenn nicht die Wissenschaft als solche gleichzeitig
geblüht hätte. Und diese Wissenschaft verstand alsbald auch zum Mittel
den Text.

Als Senefelder seine Erfindung machte, kam Smith in England gerade auf
eine erste klare Tabelle der verschiedenen Epochen der Erdgeschichte,
zu denen auch die Jurazeit gehörte. Und als die Lithographie ihren
Triumphzug durch die Welt begann, da hatte Leopold von Buch schon
meisterhaft diese Jurazeit aus ihren hinterlassenen Gesteinsschichten
beschrieben und eingeteilt, und die neue Technik selber half die
Bilder von Gerippen des Ichthyosaurus und der anderen Juraungeheuer in
wissenschaftlichen Kreisen verbreiten.

Auch in den Steinbrüchen von Solnhofen ließ sich diese Stimme der Zeit
nicht mehr unterdrücken.

Dem schlichten Arbeiter fiel auf, daß seine Platten, die er roh erst
für den menschlichen Bilderdruck brach, des öfteren schon „illustriert“
aus dem Gestein kamen. Krebse waren darauf gemalt, Fische und allerhand
anderes Getier. Langgeflügelt, aber spindeldürr von Leib zeigten sich
die Bildchen riesiger Libellen, und gerade die kamen so regelmäßig
wieder, daß die Leute sich bald volkstümliche Namen dafür erfanden:
„Schladenvögel“ und „Stangenreiter“.

Es war das uralte Tagebuch, das langsam aufgeblättert zurückzukehren
begann!

Den ersten echten Forschern, denen irgend ein Steinbruchbesitzer
so eine Reliquie abließ, ward sofort klar, daß man da vor einer
geologischen Handschrift ersten Ranges stehe. Und zum gleißenden
Weltrufe Solnhofens trat gar bald noch ein feinerer, vergeistigter
Schmelz: der Ruf als Fundstätte von Tier- und Pflanzenresten der
Jurazeit in einer Art der Erhaltung, wie sie eben auch nur dieser
köstlichste lithographische Kalkschiefer einmal in der ganzen Welt
uns gewährte. Die Museen meldeten sich, man bot stattliche, immer
gesteigerte Summen für jede schon von der Natur bemalte Platte.

Und so begann denn die wahre Auferstehung der fränkischen Bucht in
ihrem +ganzen+ Inhalt und Sinn. Wie ein echter Kodex des Tacitus
oder Aristoteles kam jede Seite ihres Tagebuchs unter Glas und Rahmen,
und hundert Weise der Weisesten schrieben den Kommentar dazu, der bald
selbst wieder dicke Bände füllte.

Hier jetzt ist der Punkt, wo die engere Geschichte unseres Ur-Vogels
erst möglich wird, -- auf so weitem Umweg vom Stoff zum Geist.

Es war im Jahre 1860.

Man hatte jetzt, dank der Forschung von hundert Jahren und dank
gewissen großartigen Fundstellen, ein ziemlich klares Bild von der
längstverflossenen Jura-Zeit. Man träumte sich mit mehr oder weniger
„wissenschaftlicher Exaktheit“ in ihre Länder und Meere zurück, meinte
ihre Araukarien- und Cycadeen-Wälder in Deutschland wieder rauschen
zu hören und wußte nachgerade sehr gut, daß bei Solnhofen einmal eine
flache Meeresbucht bestanden hatte und in Schwaben einmal ein tiefes
Meer, durch das der Ichthyosaurus scharenweise dahingeschwänzelt war.

Man hatte aber auch sonst Ideen über allerlei, kluge und dumme, wie das
der Weltweisheit besonders in Geschichtsfragen so der Lauf ist.

Man hatte unwiderleglich klar vor Augen, daß in der Jura-Zeit vieles
grundverschieden gewesen sei von heute. Dieser Solnhofener Kalkschlamm
hatte die zarteste gallertige Qualle abkonterfeit und selbst die
flüchtige Fußspur bewahrt, die zur Ebbezeit ein spazierenwandelndes
Reptil in ihn abgedrückt, ganz richtig die alten Tatzen, wie ein
Mensch etwa in die berüchtigte rote Erde Westfalens nach einem braven
Landregen die Nägel seiner Schuhsohlen drückt. Aber keine Rede, daß
in diesem Juramorast wirklich schon einmal auch ein zierliches
Menschenfüßchen mitversteinert sich fände. Man merkte recht wohl:
Menschen hatte es damals nun ganz gewiß noch nicht gegeben. Dafür fand
man Tiere vom Volk der Eidechsen, der Reptile in den aufdringlichsten
Mengen, und man hatte sich längst gewöhnt, die ganze Jura-Zeit als die
recht eigentliche Blütezeit der Reptilien zu bezeichnen.

Das Reptil steht aber in der Reihe der höheren und höchsten Tiere,
der sogenannten Wirbeltiere, immerhin noch ziemlich tief bei der
Rangordnung unseres Systems.

Diese Rangordnung wird wesentlich durch den Gedanken bestimmt, daß
der Mensch die Krone aller Lebensentfaltung sei. An ihm mißt man
unwillkürlich. Dem Menschen stehen nun Säugetier und Vogel sehr viel
näher als eine Eidechse oder Schildkröte. Sie haben dauer-warmes Blut
wie er, ihr Gehirn ist viel verwickelter gebaut und was der Merkmale
mehr sind.

Da nun die Jura-Periode so aufdringlich gerade Eidechsen und verwandte
Reptile wies, nahm man also an, die ganze Tierwelt sei damals gleichsam
noch um eine Stufe zurück gewesen. Zu den höchsten Wirbeltieren „habe
es noch nicht recht gelangt“, -- einerlei nun, wie man sich dieses „es“
damals ausmalen wollte. Der Glaube an Darwins Entwickelungsgesetze
war ja 1860 erst in den nüchternsten, allerdünnsten Anfängen, und die
meisten Naturforscher neigten viel mehr zur Annahme übernatürlicher
Eingriffe bei Vernichtung wie Entstehung der Tierwelt in den
verschiedenen Epochen der Erdgeschichte.

Jedenfalls aber schienen die Tatsachen so viel zu lehren, daß sowohl
Vögel wie Säugetiere damals nur erst eine ganz untergeordnete, wenn
nicht gar keine Rolle gespielt hätten.

Von Säugetieren besaß man neuerdings ein paar einzelne versteinerte
Unterkiefer aus Gestein der Jura-Zeit, aber das war auch alles. Sie
gehörten der nahezu niedrigsten Säugergruppe, den Beuteltieren, an und
schienen noch ganz vereinzelte Vorläufer erst anzudeuten.

Von Vögeln aber wußte man überhaupt eigentlich noch nichts rechtes
aus so entlegener Zeit. Da waren wohl ein paar riesige dreizehige
Fußstapfen auf uralten Steinplatten gelegentlich (+nicht+ in
Solnhofen) entdeckt worden. Waren es Vogelspuren? Von ungeheuern,
beinahe haushohen Störchen?

Die einen ließen es zu, die andern bestritten es. Und diese andern
haben recht behalten. Denn was da herumgestapft war, sind, wie wir
heute wissen, auch nur Reptilien gewesen, zehn Meter lange Saurier, die
nach Art der Känguruhs auf den Hinterbeinen hüpften.

Um so mehr mußte bei solcher Sachlage nun ein kleiner Fund in Erstaunen
setzen, der im genannten Jahre so recht nebensächlich wie etwas ganz
Harmloses zwischen all den Fischen, Krebsen und „Stangenreitern“ von
Solnhofen auftauchte.

Auf einer frischgebrochenen lithographischen Platte zeigte sich ein
zierliches Federchen.

Den Fisch erkennt man an den Flossen, den Vogel an der Feder, lautet
ein altes Wort der Volksnaturgeschichte. Für den Fisch stimmt es ja
nun nicht ganz, und das ist eine Quelle ungezählter Mißverständnisse
geworden. Denn der Walfisch zum Beispiel hat auch, äußerlich
angeschaut, Flossen, und doch ist er ein so echtes Säugetier wie jede
Katze oder jedes Meerschweinchen. Um so mehr hat der Satz aber seine
Richtigkeit für den Vogel. Ein Tier, das Federn trüge, gibt es in der
Tat außer dem Vogel nicht.

Wir wissen heute so genau, wie man überhaupt auf solchen Gebieten etwas
weiß, daß die Feder nichts wesentlich anderes darstellt, als eine
umgewandelte, verfeinerte, höheren Bedürfnissen angepaßte Schuppe,
also etwa als eine Eidechsenschuppe. Aber ein Tier, das bei seiner
Körperbedeckung gerade diese höchst charakteristische Umwandlung
durchgemacht hätte, kennen wir außer dem Vogel schlechterdings nicht.

Fragte sich also bloß, ob jenes Naturselbstdruck-Bildchen im
Solnhofener Stein eine echte Feder war.

War es nicht doch ein täuschend ähnliches Pflanzenblatt?

Es ist anzunehmen, daß das einen langen und vielleicht aussichtslosen
Gelehrtenzwist gegeben hätte, wäre das treue Bilderbuch von Solnhofen
nicht wenig hinterher abermals helfend eingesprungen.

In einem Steinbruch der sogenannten Langenaltheimer Haardt nahe bei
Solnhofen kam schon im nächsten Jahre, also 1861, eine größere Platte
zutage, die denn nun den allersonderbarsten Anblick gewährte.

Eine Anzahl wüst zerstreuter Knochenteile. Und darum herum der denkbar
deutlichste Abdruck einer ganzen Masse von Federn!

Ein Arzt in Solnhofen, Ernst Häberlein, trat als glücklicher Besitzer
der Wunderplatte auf. Er schickte die allgemeine Kunde davon in die
Welt, verlangte aber einen kolossalen Preis. Gelehrte dürften das Ding
besehen, aber einstweilen nicht abzeichnen. Der Fachforscher Oppel kam
als Erster hinzu. Da er nicht nach dem Original zeichnen durfte, machte
er einen Hauptstreich; er lernte das ganze Bild bis in jede Einzelheit
auswendig und zeichnete es -- eine Prachtleistung -- daheim aus dem
Gedächtnis nieder. Auf Grund dieser ersten wissenschaftlich ernst zu
nehmenden Skizze gab dann Andreas Wagner in München dem „neuen Tier“
einen lateinischen Namen.

Die Umstände waren aber so sonderbare, daß ein dritter Fachmann, der
Zoologe Giebel, rundweg die ganze Platte für regelrechten Schwindel
erklärte. Oppels Zeichnung wies, so schien es, Eidechsenknochen mit
Federn vereint. Wagner hatte also auf eine befiederte Eidechse geraten.
Das wollte aber Giebel, der ein Fanatiker der natürlichen Schranken im
System der Tiere war, nicht in den Kopf. Wenn die Knochen von einer
Eidechse stammten, so waren die Federn hinzugelogen! Menschliche Kunst
hatte sie nachträglich in den echten Fund „hineinlithographiert“!

Dieses Hin und Her der Ideen machte eine ferne Geldmacht sich zu
Nutzen: ehe noch die Oppel und Giebel sich geeinigt hatten, hatte das
Britische Museum zu London auf den Rat seines großen Helfers Richard
Owen hin das Streitobjekt für bare 14000 Mark angekauft.

Es ist die Platte, die heute in unserm Berliner Museum im Kasten
+rechts+ in einer täuschend ähnlichen Gips-Nachahmung steht. Das
Original ist heute noch in London.

Die Platte mit dem seltsamen Tier war echt. Darüber blieb kein Zweifel
weiter.

Aber sie war zugleich unverkennbar schlecht.

So köstlich sonst der Solnhofener Stein seine Abdrücke zu liefern
pflegte und so fein er sich auch hier darin bewährt hatte, daß die
zarten Vogelfedern tatsächlich wie auf einer von Menschenhand besorgten
Lithographie zum Ausdruck kamen, -- der Gegenstand selber war diesmal
ein überaus mangelhafter gewesen schon damals, als der Kalkschlamm ihn
deckte.

Ein geflügeltes, vogelähnliches Geschöpf war auf den Schlammgrund
der Bucht geraten, tot jedenfalls schon, und es war im Seichtwasser,
so schien es, von irgend welchen räuberischen Tieren, wahrscheinlich
den Allerwelts-Totengräbern, den Krebsen, angefressen und
auseinandergezerrt worden. Diese armen Krebse wußten ja nicht, daß sie
einen Gegenstand zernagten, der nach Millionen von Jahren noch einmal
weltgeschichtliche Bedeutung erlangen sollte. Sie verschleppten Kopf,
Hals und Brust vollständig, so daß sie auf der Platte überhaupt fehlen.
Den Rest aber warfen sie so hübsch durcheinander, als sollte es ein
wahrer Rösselsprung für die Gelehrten werden.

Und nur ein Glück dabei: die Federn, Füße, Krallen und Wirbel hatten
keinerlei kulinarisches Interesse, und so hatten wir also alles
glücklich behalten, was gleichsam bei der Mahlzeit auf den Tellerrand
kam. Die Naturforscher mußten genügsam sein. War es doch gerade noch
genug, um sie -- gründlich zu verwirren.

Der alte Professor Giebel hatte darin ganz recht gesehen: wenn’s
diesen Vogel +gab+, dann brach ein ganzes Stockwerk menschlicher
System-Kunst zusammen.

Man sah auf der schlechten Platte aufs deutlichste noch die Umrisse
eines Tieres mit Federn, dessen Vorderbeine durchaus in der Art eines
Vogels zu Flügeln mit großen Schwungfedern und Deckfedern umgebildet
waren.

Jedermann kennt ja das charakteristische Bild eines Vogels: der Vogel
fliegt mit den Vorderbeinen oder, menschlich gesprochen, den Armen und
den Federn, die an den Arm- und Handknochen sitzen wie die Zähne eines
großen Kammes. Mit den Hinterbeinen dagegen stützt er beim Sitzen und
Laufen allein den Körper auf: er ist hier ein echter Zweibeiner.

Vogelflügel und Vogelhinterbeine ganz in diesem Sinne hatte nun das
alte Rätselwesen offenbar auch gehabt. Die Hinterfüße zumal waren so
gut wie gar nicht von denen eines heutigen Vogels zu unterscheiden, und
auch die Schwingen selbst waren Vogel in jeder Faser. Man schloß also
von hier aus unmittelbar auf ein Tier, das eine Stufe höher stand als
die Eidechse, das im Leben dauernd warmes Blut und ein Herz nicht nur
mit zwei Vorkammern, sondern auch zwei wohl getrennten Hauptkammern
besessen hatte, -- kurz, das im System als Vogel zu gelten hatte.

Ein Vogel von Krähengröße -- und dieser Vogel Zeitgenosse der
Ichthyosaurier.

Das war ja immerhin sehr merkwürdig, doch jenen großen System-Sturz
bedingte es an sich noch nicht. Aber die Sache ging eben noch weiter
und zwar ging sie gerade +nicht+ so weiter, wie es jetzt logisch
hätte sein sollen, -- das heißt „logisch“ im Sinne der Tierkunde von
1861.

Auf derselben Platte lag als Bestandteil eines und desselben Tieres
ein Rückgrat aus Wirbeln von der Form einer Sanduhr, wie sie in dieser
Gestalt nirgendwo bei lebenden Vögeln, dagegen wohl bei Reptilien,
zum Beispiel gerade beim Ichthyosaurus, vorkommen. An dieses Rückgrat
schloß sich in einer Deutlichkeit, die selbst dem Laien auf der Platte
auffallen muß, ein geradezu riesiger Schwanz an. Dieser Schwanz bestand
aus zwanzig Schwanzwirbeln, die gegen Ende immer schlanker wurden. An
jedem Wirbel saßen je zwei große Federn, so daß der ganze Schwanz etwa
das Ansehen eines jener Palmwedel in unsern Begräbniskränzen gehabt
haben muß.

Wir alle kennen ja unsern schönen Pfau und wissen, daß der auch einen
echten Federschweif von ganz gewaltiger Länge gravitätisch hinter
sich herschleppt. Aber auch beim stattlichsten Pfauhahn reicht kein
Knochen in jener Weise bis tief in den Schwanz hinein, so daß die Form
eines jederseits befiederten Blattes entstände. Kurz nur ist das echte
Knochenschwänzchen am Gerippe des Pfaues wie bei allen lebenden Vögeln.
Die Anzahl der Schwanzwirbel keines Vogels geht über neun hinaus,
und allermeist spitzen selbst diese sich nicht wie ein Rattenschwanz
nach hinten zu, sondern das letzte Schwanzstück bildet einen derben
Knochen in der Form einer Pflugschar, von dem die großen Schwanzfedern
fächerartig ausstrahlen. Auch die Länge des Pfauenschweifs ist in
diesem Sinne nur ein Ergebnis der ungeheuren Länge jeder einzelnen
Prachtfeder, nicht aber der wahren Länge des Schwanzknochenstücks.

Ganz anders aber auf der Platte dort. Dieses Palmblatt da war eben
gar kein Pfauen- oder sonst ein großer Vogelschwanz: der lange,
zugespitzte, durch und durch von knöchernen Wirbeln getragene Schwanz
einer +Eidechse+ war es, dem bloß Vogelfedern äußerlich ansaßen.

Und ein drittes Wunder, ein dritter Widerspruch. Der Flügel war ein
Vogelflügel und doch war er’s in einem Punkte auch wieder nicht.
Im echten Vogelflügel, sagte ich eben, stecken Arm und Hand des
Vogeltieres. Aber sie stecken auch +ganz+ darin und zumal die
Hand ist völlig verarbeitet gleichsam in den Flügel hinein. Bei dem
Solnhofener „Vogel“ ragte dagegen die Hand als solche noch über den
Flügel hinaus, an der Flügelecke saßen drei scharfe Krallen auf
getrennten Fingern, -- dieses Tier konnte in gewisser Weise mit dem
Flügel also auch noch greifen, sich mit ihm beim Klettern oder Kriechen
festhaken. Auch dieser Vogelflügel war, mit einem Wort, noch halb eine
echteste Eidechsenklaue.

Das Fazit aus all diesen Sonderbarkeiten: das neue Tier war
+entweder+ eine fliegende Eidechse mit Vogelfedern; +oder+ es
war ein Vogel mit so und so viel Merkmalen noch der nächstniedrigeren
Tierklasse, der Eidechsen.

Dieses Entwederoder spiegelte sich zunächst in der wissenschaftlichen
Namengebung wieder. Der Professor Wagner in München war für die
befiederte Eidechse und taufte also _Griphosaurus_, zu deutsch der
Greifer-Saurier; Saurier dabei soviel wie eidechsenartiges Tier; der
Greif der bekannte Vogel der Sage.

Umgekehrt Hermann von Meyer in Frankfurt vertrat den Vogel und nannte
ihn seiner Urtümlichkeit halber _Archaeopteryx_, das ist: Urvogel.
Das griechische Wort ist, nebenbei bemerkt, weiblich, man muß also
korrekt sagen: +die+ Archäopteryx; durch die unwillkürlich
untergelegte Uebersetzung in „+der+ Urvogel“ hat sich freilich in
die Mehrzahl aller Bücher der männliche Artikel eingeschmuggelt und ist
heute kaum noch wieder zu verbannen.

Am britischen Museum, wo man den Schatz selber jetzt fest besaß, wurde
Archäopteryx als Name übernommen und so ist diese Taufe endgültig
geworden. Mit dem Zwist über die Sache war’s aber damit noch nicht
getan, der ging jetzt erst recht los.

In den folgenden zehn Jahren nahm die Lehre Darwins ihren ersten
Hochflug.

Die Darwinianer brachten einen ganz neuen Gärungsstoff in die
Tierkunde. Wo die Systematik wackelte, da freuten sie sich, denn das
war gerade ihr Fall. Wenn es ein Tier gab wie den wunderlichen Fisch
Amphioxus, den der eine Systematiker für einen Fisch hielt und der
andere für ein wirbelloses Tier, so schossen sie Viktoria: hier lebte
uns also eine Uebergangsform vom wirbellosen Wurm zum Fisch, ein Zeuge
noch der alten Entwickelung, die da vor Zeiten einmal vom Wurm zum
Fisch geführt hatte. Und wenn die Systematiker wetterten, es gebe in
Südamerika einen leibhaftigen „Molchfisch“, ein Tier mit Merkmalen halb
des Molches und halb des Fisches, das man schlechterdings nicht in die
Museumsschränke und ihr „Hie Molch, hie Fisch“ einzuordnen wisse --, so
war das abermals Wasser auf ihre Mühle: -- der Molch hatte sich eben
über diesen Molchfisch hinweg aus dem Fisch entwickelt.

Durch diese Darwinianer wurde nun auch die Archäopteryx-Platte alsbald
im weitesten Kreise berühmt, ja für die Gegner berüchtigt.

Der „Ur-Vogel“ wurde hier aus einem bloß zeitlichen Alterspräsidenten
des Vogelgeschlechts umgedeutet in einen wahren Patriarchen
der Federwelt, -- maßen dessen auch er so eine wirkliche
entwickelungsgeschichtliche Uebergangsform sei: nämlich das leibhaftige
Bindeglied zwischen Eidechse und Vogel.

In jener entlegenen Jura-Zeit, hieß es, waren die Dinge da noch in
vollem Fluß gewesen. Gerade wollte der Vogel sich herauskristallisieren
aus dem Reptil, der Eidechse. Und so hatte dieser kleine Gast der
Solnhofener Bucht noch die Scheide zweier Welten in sich verkörpert.
Zwei Tiere wohnten schon in seiner Brust, wie die zwei Seelen in der
des Doktors Faustus. Das eine Tier haftete noch nach Reptiliums-Art
am Boden „mit klammernden Organen“, es hakte sich mit seinen Krallen
an die Rinde des Urwaldbaumes und schleppte schwänzelnd ein langes
Eidechsenanhängsel hinter sich her. Das andere Tier im selben Leibe
aber „hebt gewaltsam sich vom Dust“, -- es flog schon als beschwingter
Vogel lustig frei über Wald und Meer dahin.

Von alledem wollten aber wieder, wie sich versteht, die Gegner nicht
ein Sterbenswörtchen wahr haben. Ihnen war das ärgerliche Tier trotz
allem entweder ein echter Vogel oder eine echte Eidechse, und sie
hofften bloß auf den Retter, der das durch eine noch im Quadrat und
Kubus verfeinerte Bestimmung eines Tages doch noch unwiderleglich
dartun werde, -- auf daß die heilige Ordnung im Museumsschrank Ruhe
finde und das leidige Herumdenken angesichts einer bombenfesten
„Nummer“ im System aufhöre. War doch für viele dieser Herren die
Systematik wirklich „heilig“, sie war der „Schöpfungsplan“, und wer
daran rüttelte, der war nicht mehr ein Naturforscher, sondern ein
Gottesleugner, ein Bedroher der sittlichen Weltordnung und Anarchist.

Für beide Lager aber blieb ein gemeinsamer Wunsch.

Es möchte nämlich das Tagebuch von Solnhofen noch ein zweites Stück des
Urvogels hergeben, damit man in der Sache selbst sicherer unterrichtet
sei.

Es geschah im Jahre des Heils 1877, daß dieser Wunsch in einer Weise
erfüllt wurde, die den guten Geistern von Solnhofen die Krone aufsetzte.

Noch einmal beginnt das geheimnisvolle Versteckenspiel wie vor sechzehn
Jahren.

Der Steinbruchbesitzer Dürr findet auf seinem Grundstück auf dem
Blumberg bei Eichstätt, also dreieinhalb Wegstunden von jener
Langenaltheimer Haardt, wo das erste Stück lag, im lithographischen
Schiefer eine neue Platte mit vorlugendem Federrest. Sogleich ist auch
der bewußte Herr Häberlein wieder zur Stelle, erwirbt (um welchen Preis
ist nicht überliefert) den rohen Stein und spaltet ihn mit einem lang
bewährten Geschick so auseinander, daß der ganze Inhalt nach Entfernung
der Deckscheibe wie auf einer feinen Druckplatte vor Augen tritt.

Diesmal ist’s eine geradezu +tadellose+ Archäopteryx.

Unzerfressen, frisch hingeworfen, als solle sie für ein Museum eben
ausgebalgt werden: Kopf, Hals, alles ist diesmal daran.

Herr Häberlein weiß allsogleich, was er hat, und er weiß auch, wie die
Dinge betrieben werden müssen. Ganz wie damals geht zuerst ein dunkles
Munkeln in die Naturforscherkreise. Die Platte soll nicht abgezeichnet,
nicht photographiert werden, ehe sie nicht verkauft ist. Und zwar ist
ein Verkaufspreis angesetzt, der, wie man in Berlin sagen würde, „nicht
von schlechten Eltern ist“. Wie der Vogel aus dem Reptil, so hat er
sich nämlich aus den 14000 Mark, die seiner Zeit in London geboten,
„entwickelt“. Zusammen mit einer Anzahl schlichterer Solnhofener
Sachen, soll die Platte diesmal bloß 36000 Mark kosten, -- ein guter
Entwickelungsfortschritt.

Trotz dieses Riesenpreises lag die Möglichkeit nahe, daß England oder
noch wahrscheinlicher Amerika (wo beispielsweise Professor Marsh in
New Haven ebensoviel Geld wie Unternehmungslust vor solchen Dingen zu
bewähren pflegte) sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen würden.

Der alte Volger, Geologe und Obmann zugleich des von ihm gestifteten
sogenannten Freien Deutschen Hochstifts zu Frankfurt am Main, --
derselbe Mann, der durch Ankauf das Frankfurter Goethe-Haus gerettet
hat -- versuchte also einen Hauptstreich für dieses Tier, das ganz
gewiß den Geheimrat Goethe auch nicht wenig interessiert haben würde.
Und zwar für die „Deutschheit“ des Tieres. Er schloß einen Vertrag mit
Häberlein des Inhalts, daß die Platte zunächst für sechs Monate dem
Hochstift anvertraut werden solle. In dieser Frist werde das Hochstift
entweder selber die Mittel zum Kauf aufbringen, oder irgend eine
deutsche Körperschaft oder Anstalt dafür zu gewinnen suchen.

Auch das Hochstift mußte sich wunderlicherweise bei diesem Kontrakt
noch einmal ausdrücklich verpflichten, keinerlei Abzeichnen oder
Photographieren der Platte zu gestatten, ehe der Kauf endgültig sei.

Nun begannen von Frankfurt aus die nachdrücklichsten Bemühungen.

Das Hochstift selber konnte keine 36000 Mark beschaffen. Das Deutsche
Reich wurde als solches angerufen, es erfolgte aber der büreaukratische
Bescheid, daß ein „Reichs-Museum“ nicht bestehe, also auch kein Ankauf
von reichswegen erfolgen könne. Die Museen der Einzelstaaten besaßen
sämtlich nicht die Mittel. Man verhandelte, verlängerte die Frist,
focht tapfer mit allen Waffen des Idealismus und der Rechenkunst, --
umsonst. Eines Tages holte Häberlein seinen seltenen Vogel wieder
heim und die Sache mündete abermals ins ausschließlich geschäftliche
Fahrwasser ein.

Es erfolgten jetzt Verhandlungen mit der Universität Genf, wo damals
der dicke Vogt die Entwickelungslehre vertrat und dieses Prachtstück
ersten Ranges natürlich gern gehabt hätte. Auch die Genfer fielen aber
schließlich vor der Summe ab. Der gute Erfolg war diesmal wenigstens,
daß Häberlein im Preise etwas herunterging. Er ließ 10000 Mark nach.
Blieben also 26000, und auf die hin geschah jetzt nochmals der
Radikalstreich eines deutschen Idealisten.

Auch an das preußische Kultusministerium, dem die Berliner Sammlung
untersteht, war eine Aufforderung zum Ankauf auf Grund des so
verminderten Preises ergangen. Die Berliner paläontologische Sammlung
gehörte ihrem Umfang und Inhalt nach damals nicht eben zu den
bedeutendsten und konnte eine Auffrischung durch dieses Glanzstück
wahrlich gebrauchen. Man war denn auch nicht gerade ganz abgeneigt,
aber die Sache sollte ihren gemächlichen Instanzenweg gehen, wobei
sich schließlich herausstellen mochte, ob oder ob besser nicht. Ein
Geheimrat wurde nach Pappenheim zum Meister Häberlein entsandt, auf
daß er ein erstes Gutachten abgebe. Man befand sich inzwischen im
April 1880 -- nachdem der Fund 1877 erfolgt war. Noch immer gab es
keine wissenschaftliche Beschreibung der Platte. Gerüchte aller Art
liefen um. Man wußte, daß von Pappenheim aus, unbekümmert um alle
Instanzenpausen der Berliner, immer regere Verhandlungen mit dem fernen
Ausland im Gange waren. Man mußte sich, schien es, damit abfinden,
wenn plötzlich das unersetzliche Objekt in einer Kiste irgend eines
Schiffsbauches auf dem Atlantischen Ozean schwebte. Frühere Fälle
haben gelehrt, wie zerbrechliche Versteinerungen dabei fahren. Der
einzigartige Schädel des Dinotherium-Elefanten von Eppelsheim bei
Worms, dessen Gypsabguß heute im Berliner Museum steht, war seiner Zeit
schon auf der kurzen Fahrt über den Kanal nach London zu Splittern
zertrümmert worden.

In diesem kritischsten Augenblick war es denn kein Geringerer als unser
Werner Siemens, der die gute Tat des Hochstifts auf besserer Grundlage
noch einmal tat und zwar ganz aus eigener Initiative und eigener Tasche.

Auch er legte provisorisch Beschlag auf die Platte, aber in sehr viel
wirksamerer Weise. Er zahlte nämlich von einem Tag zum andern dem
Häberlein die ganze geforderte Summe -- es waren jetzt schon nur mehr
20000 Mark -- bar aus und war von Stunde an also jetzt selber Herr des
Geschäfts. Die fremden Bewerber wurden abgewiesen und dem preußischen
Kultusministerium das Vorkaufsrecht auf alle Fälle gewahrt. Nach
einiger Zeit kam der Kauf denn auch von hier aus wirklich zustande. Die
Archäopteryx ging aus Siemens’ Hand gegen die ausgelegte Summe in den
Besitz des preußischen Staates über und wanderte ins Berliner Museum
für Naturkunde.

So hatte das arme Jura-Vöglein, das vor einigen Millionen Jahren an
irgend einem schweren Tage den bitteren Sturz in den Tod und in das
weiche Grab des Kalkschlammes getan, endlich seine Ruhe unter einem
blanken Glasdeckel und vor einer hellen Fensterscheibe.

Um so stürmischer und lauter aber erhoben über seinem gläsernen
Schneewittchen-Sarge dafür jetzt die kämpfenden Parteien der
Naturforschung ihren Schlachtruf.

Das zweite Fundstück, das fortan das „Berliner“ hieß im Gegensatz zu
dem Londoner, führte rein sachlich sofort ein Stück weiter. Es zeigte
zum ersten Male den +Kopf+ der Archäopteryx. War es ein Vogelkopf
-- oder ein Eidechsenkopf?

Wie mancher hatte sich in den Zwischenjahren seit 1861 seinen weisen
Menschenkopf über dieser Frage weidlich zerbrochen. Jetzt rissen die
Schleier. An einem langen, auf der Platte rückwärts gebogenen Halse saß
ein Köpfchen, das im ersten Augenblick ganz und gar nur Vogel schien.
Formgröße des Gehirnraums, Lage der Nasenlöcher, Verschmelzung der
Knochennähte, -- alles war Vogel, nicht Eidechse. Aber der Blick suchte
den Vogelschnabel, -- war’s ein Entenschnabel oder Krähenschnabel? Der
Vogel mußte doch einen Schnabel haben! Der Vogel war aber in diesem
Falle unentwegt aufgelegt, aller Schablone immer wieder ein Schnippchen
zu schlagen, und so hatte er also jetzt überhaupt keinen echten
Vogelschnabel, sondern er trug +Zähne+ im Ober- wie Unterkiefer.
Zähne einmal wieder wie eine Eidechse!

Gerade diese Geschichte kam ja damals nicht so ganz überraschend.

Nunmehr vor sieben Jahren schon, in dem weltgeschichtlichen Winter von
1870, hatte in Nordamerika ein Naturforscher, der das Herausbuddeln
urweltlicher Geschöpfe in echt amerikanischem Großstile betrieb,
Marsh, in Gesteinsschichten aus der Kreide-Zeit die Gerippe von Vögeln
gefunden, die ebenfalls Zähne in den Kiefern trugen. Da war ein
großer Schwimmvogel, den Marsh als „schwimmenden Strauß“ beschrieb --
auf lateinisch: _Hesperornis regalis_, das ist: der königliche
Westvogel. Er hatte in den Kiefern oben wie unten Rinnen und in diesen
Rinnen steckten echte, unverkennbare Zähne. Im übrigen war er ja ganz
und gar keine Archäopteryx mehr, sondern ein sozusagen waschechter
Vogel wie jeder andere von heute. Aber man wußte jetzt, daß es alte
Vogelformen mit Zähnen gegeben hatte, -- noch in viel späteren Tagen
als der Jura-Zeit.

Nun sah man: die Archäopteryx selber war also auch noch ein
„Zahn-Vogel“, wie man hinfort zu sagen pflegte, gewesen.

Da sie indessen in allem sonst so sehr ein Gemisch von Eidechse und
Vogel darstellte, so fiel auf die Zähne auch ein neues Licht. Es waren
offenbar auch diese Zähne noch Eidechsen-Zähne, ein Erbe der Eidechsen,
die ja durchweg das bissigste Zahnzeug haben.

Der Zwist entbrannte sofort wieder lichterloh.

Zwar die eigentlichen Gegner der ganzen Entwickelungsidee
wurden damals, ums Ende der siebziger Jahre, schon merklich
dünner. Dafür gab es aber +innerhalb+ eines allgemeinen und
vorsichtigen Darwinismus gerade zum Falle Ur-Vogel gar gewichtige
Meinungsverschiedenheiten.

Man ließ den Kern der Sache zu. Die Mehrzahl der Tierkundigen einigte
sich dahin, daß dieser Solnhofener Schwerenöter eben nicht Fisch, nicht
Fleisch sein +könne+, weil er wirklich im natürlichen Werden
der Dinge zwei später widerspruchsvolle Reiche noch geschichtlich
+verknüpfe+: die Eidechse und den Vogel. Man mochte sich ja über
die Gesetze dieses Werdens selbst seine Gedanken machen. Die Tatsache
war zu scharf vor Augen, daß die Natur, mochte nun in ihr arbeiten,
was da wollte, keine Sprünge gemacht, keine Systemlücken und scharfen
Abgrenzungsstriche selber erzeugt hatte. Als sie von der Eidechse zum
Vogel wollte, brauchte sie einfach einen Eidechsenvogel als Leiter. Und
der lag uns im Solnhofener Tagebuch vor.

Aber nun die engeren Fragen. Die Archäopteryx war streng genommen doch
auch gewiß noch nicht die ganze Leiter, sondern nur eine Sprosse. War
sie nun eine Sprosse noch näher zur Eidechse -- oder schon näher zum
Vogel? Hierüber ist viel Papier verschrieben worden.

Der Professor Vogt von Genf, einst ein toller Heißsporn der
„revolutionären Zoologie“, jetzt aber grau von Haaren und bedächtig von
Geist, meinte, das rätselhafte Vieh sei im Grunde doch noch, wie der
alte Wagner behauptet hatte, eine echte Eidechse, die bloß im Punkte
der Befiederung sich dem Vogel nähere.

In Berlin aber setzte sich der treffliche Wilhelm Dames über die
Platte selbst, feilte alle Einzelheiten zunächst aus dem Stein noch
heraus, die irgendwie zu fassen waren (zum Beispiel ganz zuletzt
noch den täuschend vogelähnlichen Schulter- und Beckengürtel)
und veröffentlichte die fleißigsten Einzelbeschreibungen, -- mit
dem wirklich unwiderleglichen Ergebnis, daß gerade umgekehrt die
Leitersprosse der Entwickelung hier schon viel näher beim Vogel als bei
der Eidechse stehe.

Aus diesem Zwist zwischen Leuten, die alle im ganzen +innerhalb+
des Entwickelungsgedankens standen, ist in weiteren Kreisen dann leider
vielfach die grundverkehrte Folgerung gezogen worden, die Archäopteryx
sei überhaupt darwinistisch wertlos. Zumal Dames sollte sie entwertet
haben. Das ist aber der helle Unsinn, denn man kämpfte hier gar nicht
mehr um die +Leiter+ -- die stand ein- für allemal fest -- sondern
um die eidechsennahe Tiefe oder die vogelnahe Höhe der +Sprosse+,
die gerade Frau Archäopteryx vertritt.

Mag man diese Sprosse aber auch ansetzen, wo man will, so bleibt des
Lehrreichen für ein allgemeines Denken genug.

Denn wie es nun auch noch wieder mit den darwinistischen Theorien
stehe: der Ur-Vogel führt uns eben als solcher -- als Vogel -- vor
eines der großartigsten Probleme der Weltgeschichte überhaupt: vor das
Problem vom Fliegen.

In der Geschichte des Ur-Vogels von Solnhofen wirkt eine bestimmte
Verknüpfung der Zufälle ganz besonders drollig. Der Vogel, der als
erster kühn die Luft erobert hatte, die freie Luft sogar jenseits des
festen Erdbodens, hoch über diesem Erdboden, -- dieser Vogel ist uns
nur erhalten geblieben, weil er am Ende seiner frohen Luftfahrten --
ins Wasser gefallen ist. Auf dem Grunde des Wassers nur konnte ihm zu
teil werden, was Wolke und Fels ihm nie gewährt hätten: Einbalsamierung
im feinen Kalkschlamm und damit eine körperliche Unsterblichkeit.

Zufall, sagen wir. Und Zufall war es. Aber hinter diesem Zufall des
Augenblicks liest, wie so oft, der Wissende eine feine Geistesschrift,
eine dunkle vergeistigte Beziehung, die den Fall ganz leise ins
Symbolische rückt.

Diese kleine Archäopteryx, die uns Kunde wahren sollte von den
Anfangserfolgen einer großen Kunst, kehrte sterbend an den Fleck
heim, von wo in Wahrheit diese Kunst selber in ihrem tiefsten Keime
ausgegangen war.

Es kann ein Satz nicht leicht paradoxer klingen als der: das Fliegen
ist im Wasser erfunden worden. Und doch ist er wahr.

Wenn man von einer „Erfindung“ des Fliegens spricht, so muß man sich
das Wörtchen Fliegen selber freilich zunächst etwas enger umgrenzen.

Es gibt zweierlei Methoden des Fliegens: eine sozusagen handelnde --
und eine leidende.

Wenn der arme Lilienthal und jetzt der alte Graf Zeppelin fliegen
wollten oder noch wollen, so ist dieser Flug das Ergebnis der
schärfsten geistigen wie körperlichen „Handlung“, es soll ein neues
Stück Welt dabei für den aktiven Menschen erobert werden. Wenn
dagegen ein Pulverschuppen in die Luft fliegt und es gehen so und so
viel unglückliche Opfer mit hoch; oder wenn einer jener furchtbaren
nordamerikanischen Wirbelstürme einen Stall mit samt der Kuh in die
Höhe wirbelt und fortträgt: so zählt das in ein ganz anderes, passives
Feld, wie jeder sofort merkt.

So weit rückwärts wir uns nun auf der Erde bewegte Luft denken können
und gleichzeitig organisches Leben, so alt müssen wir uns auch
diese letztere rein passive Art des „Fliegens“ als ewig wiederholte
Möglichkeit vorstellen, die keiner erst zu „erfinden“ brauchte. Es war
das wesentlich eine Frage einerseits der Stärke der Luftbewegung, die
lebende Wesen einfach _nolens volens_ mitreißen konnte, -- und
andererseits der Größe dieser Wesen und damit der Wahrscheinlichkeit,
daß sie sich’s gefallen lassen mußten.

Ob es in urweltlichen Tagen stärkere Stürme gegeben hat als heute, läßt
sich nicht nachweisen. Wir haben bei uns in Europa zu gewissen Zeiten
offenbar gewaltige Steppenstürme gehabt, damals, als bei uns auch noch
ausgesprochene Steppentiere lebten. Und so haben die Dinge sicherlich
oft gewechselt. Aber für eine allgemeine Zunahme der Luftbewegung
in die älteren Tage hinein spricht rund gar nichts. In all diesen
äußeren Dingen, Stürmen, Ueberschwemmungen, Aufsteigen und Absinken
von Ländern und so weiter, galt ja früher die liebe Urwelt für den
wahren Hexensabbat. Wir denken heute, daß es in den Hauptzügen kaum je
gewaltsamer zugegangen ist als jetzt, nur die Zeiträume selbst sind so
ungeheuer gewesen, daß sich alles ins Aeußerste schließlich summieren
konnte.

Dagegen ist etwas anderes recht sinnfällig.

Je tiefer man im Reich des Lebenden hinabsteigt, desto kleiner und
leichter pflegen die Einzelwesen zu werden. Die tiefste Stelle, noch
jenseits von Tier und Pflanze, nehmen die sogenannten Bakterien oder
Bazillen ein, Wesen, wie sie einfacher in ihrem Bau nicht mehr gedacht
werden können, die aber zugleich an Kleinheit das schier Unglaubliche
leisten. Wie bekannt, entziehen sie sich durchweg unserm unbewaffneten
Auge überhaupt, und an eine Gewichtsbestimmung ist schon gar nicht mehr
zu denken. Nicht nur der Wind, sondern recht schon jedes geringste
Regen und Bewegen der Luft schaukelt mindestens die Keimsporen dieser
Leichtesten der Leichten mit und treibt sie dahin und dorthin. Um
die ganze Erde fliegen sie in dieser Weise passiv herum, sie fallen
auf die unzugänglichsten Alpengipfel nieder wie in den entlegensten
Polarschnee, und wir wissen ja, wie sie unsere Häuser durchqueren, aus
der blauen Luft sich uns auf die Nase setzen und rein allgegenwärtig
sind, wo immer nur Luft uns erreicht. Es steht nun durchaus nichts im
Wege, sich diese allereinfachsten Lebewesen auch als die allerältesten
auf der Erde zu denken. Und dann wäre der passive Allerwelts-Flug
dieser Bakterien auch die erste Flugform im weiten Sinne gewesen.

Diese Flugart muß aber ihre natürliche Grenze gefunden haben bei den
allmählich entstehenden größeren und schwereren Geschöpfen.

Jedes Bakterium jener Art besteht als ganzes Wesen nur aus einer
einzigen Zelle. Die echten Tiere und Pflanzen aber pflegen sich aus
Millionen und Abermillionen lebender Zellkörperchen zusammenzusetzen.
Da wächst denn das Gewicht im einfachen Additions-Verhältnis.

Nehmen wir als die Gruppe lebendiger Wesen, die sich vielleicht zuerst
in dieser Weise „vielzellig“ gebildet haben, die Pflanzen an, -- nun
so hatte das lustige Fliegen mit jedem Druck der Luft alsbald seine
ordentlichen Schranken. Ein nordamerikanischer Tornado größten Stils
entwurzelt schließlich auch einen Eichbaum und wirbelt ihn mit. Aber
wie seltene Ausnahme das ist, sieht man sofort, wenn man sich an das
einfache Dasein tausendjähriger Eichen erinnert, die also in dieser
ganzen Zeit niemals ein Windstoß hat auch nur von der Stelle rücken
können. Tatsächlich ist die Pflanze mit ihrem Prinzip des festen
Einwurzelns sogar ein einziger Protest gegen jeden unfreiwilligen Flug.
Und nur in einem Punkte ist sie seiner Arbeit froh gewesen, nämlich
in ihrem Liebesleben. Der Blütenstaub der Pflanzen, der befruchtend
das Leben der Art im Wechsel der Zeiten fortsetzt, kehrt noch einmal
gleichsam in den sonst längst verlassenen Bakterien-Zustand zurück.
Jedes einzelne Stäubchen da besteht nochmals wieder nur aus einer
einzigen Zelle und ist also auch wieder winzig klein und unglaublich
leicht. Entsprechend faßt es, so bald es sich von der großen Pflanze
gelöst, dann auch sogleich wieder der leichteste Wind und wirbelt
es umher, wobei sich den Pflanzen mit Doppelgeschlecht die günstige
Wahrscheinlichkeit ergibt, mit ihrem Staube den Griffel einer anderen
Blüte fliegend zu erreichen, wo die Befruchtung erfolgen kann. Wo die
Haselkätzchen ihren goldenen Staubregen verpulvern, wo die Kiefern
stäuben oder der Bärlapp sein Hexenmehl reift, da überall erfolgt
dieser passive, aber äußerst zweckgerechte „Flug“ der Pflanzen. Und das
ist sicher schon gewesen in jenen Urtagen, da Bärlapp-Gewächse hoch wie
Palmen bei uns zu Lande wuchsen, und es war im wesentlichen auch so in
der Jura-Zeit, als an Stelle der Farrnkraut- und Bärlappwälder große
Forsten von Nadelhölzern getreten waren. Gerade die Nadelhölzer wissen
es ja noch heute gar nicht anders.

Aber auf der Wende eben von damals, etwa in den Tagen, da die
Archäopteryx an der Solnhofener Bucht ihr Wesen trieb, lernten diese
Pflanzen auch etwas Neues, bisher Unerhörtes kennen.

Es fanden sich andere Wesen, die auch weit, weit über das Bakterium
hinausgestiegen waren. Diese Wesen waren auch schwerer geworden. Und
doch war diese Schwere kein endgültiges Hindernis für sie geworden
-- zu fliegen. Sie flogen nämlich aktiv, nicht bloß als loser
Spielball des Windes und keineswegs bloß in ihrer bakterienhaften
Befruchtungsform als einzelne Samenzelle, sondern als ganzes Wesen,
das selbsttätig sich in der Luft nach einer gewollten Richtung
vorwärtsbewegte.

Es waren Tiere, -- diese Wesen. Also Genossen jener großen zweiten
Entwickelungslinie, die wohl ebenfalls aus dem Bakterium heraufgekommen
ist, aber im Punkte der Ernährung und der Vereinheitlichung des
gesamten Organismus eine Bahn höchstens parallel zu den Pflanzen,
im übrigen aber ganz für sich eingeschlagen hatte. Und zwar waren
es zunächst Tiere aus jener engeren Gruppe, die auch im Tagebuch
von Solnhofen so reichlich vertreten ist, -- Verwandte der kuriosen
Schladenvögel oder Stangenreiter, die nichts anderes sind als
Wasserjungfern oder Libellen, -- also Insekten.

Fliegende Insekten.

Die Pflanzen haben damals, wie, wollen wir hier nicht untersuchen,
mit diesen Insekten eine Art von Bündnis geschlossen. Sie boten den
Insekten Leckereien dar, Honig, und im Moment, wo die Insekten den
Honig schlürften, bepuderten sie sie mit ihrem Blütenstaub. Dann flog
das Insekt weiter, kehrte im nächsten Blumenwirtshaus ein und streifte,
ohne darauf zu achten, den Samenstaub hier auf den Blütengriffel ab.
Das Insekt übernahm also einfach die Rolle des Windes, wurde der
_postillon d’amour_ der Pflanze in einer Weise, die entschieden
sehr viel sicherer war als die alte lose Post durch den Wind.

Aber wo hatten jetzt diese Tiere das Fliegen gelernt? Mit ihrem
Auftreten war offenbar der große Schritt von „Passiv“ zu „Aktiv“ getan.
Wenn die Pflanze nachträglich davon profitierte -- und alle unsere
bunten, duftenden, honigabsondernden Blumen von heute schwören einzig
auf diese „Insekten-Befruchtung“ --, so war der Umschwung selber doch
entschieden ganz und gar Werk des Tieres.

Wie war das zugegangen?

Das Tier kam aus dem Wasser.

Alles Lebendige hatte eine tiefe Beziehung zum Wasser.

Die chemische Formel _H₂O_, die Wasser bedeutet, ist ein
wahres heiliges Pentagramma auch des Lebens. Aus dem Wasser ist wohl
zweifellos das erste Bakterium gekommen. Im Wasser hat auch die Pflanze
ihre Bahn begonnen. Im Wasser sind die ältesten Tiergeschlechter samt
und sonders entstanden. Wasser ist ein Hauptbestandteil der lebenden
Körper selbst. Unser Menschenleib setzt sich zu 58 Prozent aus Wasser
zusammen. Wie Venedig auf seinen Pfählen im Meer, so schwebt unser
ganzes Dasein, schwebt die Erscheinungsform alles Lebendigen auf Erden
in sich selbst über den Wassern.

Kein Wunder, daß das erste Leben, ein Schaumgebilde der blauen Flut wie
Aphrodite, aus dem Wasser sich auch äußerlich gar nicht herauswagte,
hier seine erste Jungkraft erstarken ließ und in seine erste
Entwickelungsschule ging.

Das Tier, also zunächst das Wassertier, war aber zu Bakterium und
Pflanze der erste ganz große Triumph dieser Entwickelung. Und es
war gleichsam der Angelpunkt dieser Entwickelung, daß das Tier
sich im Wasser frei bewegen lernte. Die losgerissene Pflanze trieb
widerstandslos mit dem Zug der Welle dahin genau so, wie das Bakterium
oder der Haselnußstaub oben mit dem Winde wehten. Die Qualle, der Wurm,
der Krebs, der Fisch dagegen begannen ein himmelweit neues Prinzip: sie
entwickelten eigene Bewegungsarten, Bewegungsorgane zur Beherrschung
des Wassers.

Auch die Tiere haben ja die Pflanzenneigung zur Seßhaftigkeit bis zu
einem gewissen Grade in sich durchgemacht. Der Korallenpolyp, die
Seelilie, die Auster, der Rankenkrebs sind gute Beispiele. Aber das
Tier hat diese Neigung überwunden.

Der Wurm, in vieler Hinsicht eine Grundform der ganzen höheren
Tierheit, fing an zu kriechen. Aus einem haftenden, polypenartigen
Tier, das wie ein Becher mit dem Munde nach oben da saß, erhob er sich
zur Schlauchform, mit einer vorderen und hinteren Oeffnung. Und dieser
Schlauch jetzt kroch geradlinig dahin.

Aber dieses Tier fing zugleich recht klein an, und lange ist es als
Einzelindividuum merkwürdig klein geblieben. So lag nahe, daß die
ab- und anflutende Welle das kriechende Tier immer wieder emporriß,
mitstrudelte. Es wurde eine frühe zweite Aufgabe (vielleicht ist es
gleich die erste sogar gewesen), sich durch aktive Bewegung auch zu
erhalten inmitten der bewegten Wassersäule. Neben das aktive Kriechen
stellte sich das aktive Schwimmen.

Nun beachte man aber wohl: Schwimmen im freien Wasser war im Wesen
schon ein +erster Flug+. Der Flug in einem dickeren, zäheren
Medium als die Luft. Aber im Verhältnis zum Kriechen am Boden unbedingt
ein Flug.

Der Polyp, der am Grunde festsaß, der Wurm, der auf dem Grunde sich
dahinschlängelte: sie begannen zu fliegen in ihrem Element, indem sie
zu schwimmen begannen.

Und wirklich nun: beim Schwimmen im Wasser jetzt sind die beiden
grundlegenden Methoden erfunden worden, die von der Libelle und der
Archäopteryx von Solnhofen bis auf den ersten Luftballon Montgolfiers,
die Flügelplatten Lilienthals und den aus Ballon und Flugmaschine
kombinierten Riesenapparat des Grafen Zeppelin auch das ganze echte
Fliegen als Leitmotive beherrscht haben.

Erfunden wurde da erstens der schwebende Ballon und zweitens das Ruder.

Das Prinzip des Ballons trat im Wasser naturgemäß in der Form der
„Schwimmblase“ auf. Noch für uns Menschen ist der Rettungs-Ballon
des Ertrinkenden der hohle, luftgefüllte, stets obenauf treibende
Schwimmgürtel. Das Wassertier bildete irgendwo in seinem Leibe einen
entsprechenden wasserleeren Hohlraum aus, der seinem ganzen Körper
die Vorteile eines von Natur angewachsenen Schwimmgürtels verlieh.
Die eigentlichen Erfinder dieses Grundprinzips sind gewisse Quallen,
also polypenähnliche, aber bereits frei schwimmende Tiere. Diese
Sorte Quallen (sogenannte Siphonophoren) schwimmen, zu Klumpen
aneinandergewachsen, als Kolonie dahin und das Schweben der ganzen
Gesellschaft an der Oberfläche des Meeres wird tatsächlich schon
durch eine regelrechte Ballonblase ermöglicht, die von der lustigen
Genossenschaft als gemeinsamer Rettungsgürtel aufgebläht und mit Luft
vollgepumpt wird.

Dasselbe Prinzip kehrt dann viel feiner bei den Fischen wieder, die
eine echte und auch so genannte „Schwimmblase“ besitzen, das prall
aufgepustete Organ, das jeder Köchin bekannt ist. Die Schwimmblase ist
ursprünglich bloß eine Art Falte, ein kleiner Hautsack am Darm des
Fisches gewesen. In diese Falte wurde Luft gepumpt, die das Fischmaul
verschluckt hatte. Nachher hat sich der Sack aber ganz vom Darm
getrennt, hat sich tief ins Leibesinnere zurückgezogen und unmittelbar
von den Blutgefäßen her mit Luft füllen lassen. In dieser Form ist
die Schwimmblase ebenfalls zum echten Ballon geworden, oder besser
noch: der ganze Fisch hat mit ihr die Fähigkeiten eines Wasserballons
erhalten. Bei unsern meisten Fischen hat sich die Sache so glänzend
ausgestaltet, daß der Fischkörper genau auf das Gewicht des Wassers
eingestellt ist, also positiv im Wasser gar nichts mehr wiegt. Wo er
will, da kann er inmitten der Wassersäule stehen bleiben, -- sein
spezifisches Gewicht ist dem des Wassers genau gleich und er kann so
wenig von selbst sinken, wie Wasser in Wasser sinkt.

Aber dieser Fisch ist deswegen nun nicht etwa zur Untätigkeit verdammt
wie ein Luftballon in absolut unbewegter Luft. Er gerade hat auch jene
zweite Methode bereits wunderbar ausgebildet: das Ruder. An seinem
Körper haben sich flache Auswüchse entwickelt, die Flossen, und diese
Flossen arbeiten in der allbekannten Weise als Ruder der trefflichsten
Art, Schlagruder und Steuerruder zugleich. Mit ihrer Hilfe und im Bunde
noch mit der famosen, hinten und vorn spitzen Körperform, die der
Mensch in seinen Booten treu dem Fisch nachgebildet hat, schießen der
riesigste Kabeljau so gut wie der kleinste Stichling durch ihr Element,
daß es eine wahre Pracht ist. Ein Lachs schnellt sich in einer Sekunde
bis acht Meter weit vorwärts.

Das Wasser liegt auf der Feste. Auf dem Wasser liegt die Luft. Mit der
Luftblase und der Flosse war das Wasser bezwungen. Warum nicht genau so
weiter auch in die Luft hinaufsteigen?

Der Kampf ums Dasein tobte, im Wasser wurde es gelegentlich ungemütlich
eng. Warum nicht die Schwimmblase wirklich zum Ballon machen und mit
den Flossen auch die Luft peitschen?

Mit der Flosse bringen in bescheidenem Maße wenigstens ein paar Fische
das Kunststück tatsächlich fertig. Der „fliegende Fisch“ saust mit
einem hohen Anlauf aus der Wasserfläche herauf und schwebt ein ganzes
Stück weit -- bis zu hundert Metern -- allen Ernstes auf seinen Flossen.

Mit der Schwimmblase wollte die Sache dagegen so einfach nicht
glücken. Ein Wasserballon braucht bloß schlichte Luft zu enthalten,
um alles nötige zu leisten. Ein Luftballon erfordert, wie jeder weiß,
Füllung mit einer Gasart, die leichter ist als gewöhnliche Luft. Die
hatten Fisch und Qualle zunächst nicht zur Verfügung. Die fliegende
Siphonophorenqualle, die bei der blumenhaften Schönheit dieser Tiere
einem schwebenden märchenhaft bunten Orchideenzweig geglichen haben
müßte, hat uns die Natur leider versagt. Und schließlich war auch der
fliegende Fisch nur ein rechter Stümper in dieser unbeholfenen Form.
Was ihm vor allem abgeht, ist die innere Lebensmöglichkeit, in dem
Luftreich, das er erobern möchte, zu atmen. Mag er seine hundert Meter
abfliegen: viel länger ginge die Sache selbst bei bester Flugkraft
nicht, denn er würde ersticken.

So wurden die Atmungsverhältnisse der höheren Tiere von entscheidender
Wichtigkeit in der Flugfrage.

Es ist nun höchst eigenartig zu sehen, wie gerade das Atmungsorgan
schon in seiner Wasserform (als sogenannte Kieme) bei verschiedenen
Tiergruppen früh mit der Bewegungsfrage überhaupt in Berührung kam.

Die vier Hauptflossen des Fisches sind wahrscheinlich hervorgegangen
aus gewissen stacheligen Anhängseln der Kiemenbogen. Und ebenso
scheinen, obwohl in recht verschiedener Einzelweise, bei den Insekten
blattförmige Kiemen, also auch Atmungsorgane, an der Rückenseite des
Körpers zunächst zu flossenartigen Gebilden sich umgeformt zu haben,
die beim Schwimmen helfen.

Da glückte es eines Tages sowohl Fischen wie Insekten, ihre Atmungsart
selber so von Grund aus umzukrempeln, daß das Wasser ohne weitere
Erstickungsgefahr dauernd verlassen werden konnte. Die Luft wurde von
der Atmung her fest erobert.

Alsbald aber bekamen jetzt auch wieder jene Flossenanhänge neue, die
Luft betreffenden Möglichkeiten und Aufgaben. In dem Wie unterschieden
sich fortan freilich Fische und Insekten gründlich.

Das Insekt hatte sich, unabhängig von den rückseitigen Flossenfalten,
schon im Wasser an der Bauchseite drei Paare regelrechter Beine
zum Kriechen und Festhalten ausgebildet. Die benutzte es jetzt auf
dem Lande glatt weiter. Aus jenen (zur Atmung fortan nicht mehr
gebrauchten) Rückenflossen dagegen schuf es sich nach und nach die
hübschesten Flügel. Es lernte, sie gegen die Luft so einzustellen, daß
sie seinen Körper wirklich dahintrugen, -- wobei die Kleinheit und die
durch viele luftgefüllte Körperröhren noch erhöhte Leichtigkeit der
Insekten helfend beitrug. So ist die Fliege, ist der Schmetterling
entstanden. Und so hatte es die Libelle schon erreicht am Strande von
Solnhofen.

Viel verwickelter verlief die Sache dagegen beim Fisch.

Der Fisch brachte es als „Molchfisch“ fertig, ebenfalls Luftatmer zu
werden und zwar auf die äußerst sinnreiche Weise, daß er gerade den auf
dem Lande doch so nicht mehr brauchbaren Ballon-Apparat seines Innern,
die Schwimmblase, als geschlossenen Ballon ganz abschaffte und in das
nötige neue, offene Luftatmungs-Organ, nämlich eine Lunge, verwandelte.
Einmal auf dem Lande, schaffte dann der Fisch -- oder wie er jetzt
genannt werden muß -- der Molch aber auch seine Ruderflossen ab und
schuf sie zu vier regelrechten Beinen um, die zum Kriechen, Springen,
Laufen, Klettern nach und nach sich aufs schönste einschulten.

So schien hier beim Wirbeltier allerdings für eine Weile das
Flugprinzip nicht vorwärts-, sondern eher rückentwickelt, trotz des
Aufenthalts auf dem Lande. Aber es kam auch da schon wieder zu seiner
rechten Zeit. Und als es kam, da war es, als habe die Natur nur eine
Pause gemacht, um sich endlich zum Hauptstreich zu sammeln. Wir sind
mit dem Fisch und Molch ja ohnehin in der höchststeigenden Linie der
ganzen Lebensentwickelung, wo alles an kühnen Möglichkeiten Angelegte
und Aufgespeicherte in wahrem Feuerwerk losbrennt.

Die Wirbeltiere, zu denen Fisch und Molch gehören, waren durchweg
größere, viel schwerere Tiere als die Insekten. Es geschah ihnen nicht
so leicht, daß der Wind sie mitriß und so auf Versuche zu aktivem
Fliegen führte. Schließlich kamen sie aber doch wie die Insekten auch
auf Gelegenheiten, die zum Fliegen geradezu drängten.

Aus den Kriechbeinen wurden Kletterbeine und Springbeine. Bäume wurden
erklettert auf der Jagd nach Beute oder auch auf der Flucht vor fremdem
Beutegelüst.

Der Laubfrosch zum Beispiel kroch hoch ins grüne Blätterdach, er hat ja
die Farbe dazu auf den Leib gemalt. Der Frosch stand dem Wasser aber
noch so nahe, daß er zwischen seinen Zehen flossenartige Schwimmhäute
trug. So sehen wir heute noch einen Laubfrosch der Sundainseln
(_Rhacophorus_) sich zum „fliegenden Frosch“ bilden. Will er
von hohem Ast rasch zur Erde, so benutzt er die vier Füße mit ihren
riesigen Schwimmhautflächen als Fallschirm und flattert darauf abwärts.
Es war ein erster Versuch, den fliegenden Fisch unter ganz neuen
Verhältnissen gleichsam zurückzuerobern.

Auf denselben Sundainseln „fliegt“ eine kleine farbenbunte Eidechse,
der sogenannte Flugdrache (_Draco volans_). Ihr stehen jederseits
ein halbes Dutzend falscher Rippen wie Fischgräten aus dem Leibe und
darüber spannt sich eine Hautfalte als Fallschirm.

Viel weiter war schon eine Eidechse gekommen, die heute ausgestorben
ist, in Solnhofen aber zur Archäopteryx-Zeit überall herumflatterte:
der Flugfinger oder Pterodaktylus. Bei ihr spannte sich eine ähnliche
flossenartige Haut von einem Finger der Hand in kühner Sichel zu den
Hinterschenkeln herüber. Mit echter Schwimmhaut hatte das jetzt gar
nichts mehr zu tun, es war eigens zum Flattern erfunden. Die Gliedmaßen
saßen in der Flatterhaut wie die Fischbeine in einem Regenschirm. Auf
dem Schirm aber schwebte tatsächlich das ganze Tier durch die freie
Luft dahin. Dieses Regenschirmprinzip ist viel später von einem kleinen
Säugetier, der Fledermaus, noch einmal nachgemacht worden, die aber
nicht bloß einen Finger, sondern fast die ganze Hand durch den Flügel
gesteckt hat. Ein Ideal schließlich war es aber immer noch nicht, zu
dem mußten zu allerletzt noch einmal die Atmungs-Verhältnisse verhelfen.

Es traten Eidechsen auf mit warmem, von innen her geheiztem Blut.
Vielleicht hat gerade die lebhafte Bewegungsart kletternder und
springender Tiere viel dazu beigetragen. Man hat auch an zeitweise
Verschlechterung des Klimas, große Eiszeiten noch jenseits der
Jura-Periode gedacht, wobei das dauernd warme Blut eine Anpassung
dargestellt hätte, einen Notausweg. Wie es nun damit gewesen sein
mag: die Warmblütigkeit war plötzlich als Tatsache da. Diese innere
Blutdurchwärmung wiederum aber stand in Zusammenhang mit Umwandlungen
und Neuerungen in der Haut der Tiere. Die Haut bildete eigentümliche
Schutzmittel der kostbaren Innenwärme aus, erzeugte sich schlechte
Wärmeleiter nach außen. Da geschah es, daß einerseits feine
Hautfäserchen zwischen den Schuppen sich zum Haarpelz des Säugetiers
ausreckten. In einer anderen Entwickelungslinie aber zeigte sich
die hornige, harte Eidechsenschuppe willig, ein ebenso brauchbares
Wärmeschutzmittel unmittelbar aus sich hervorgehen zu lassen in Gestalt
der +Feder+. Bei gewissen Eidechsen bedeckten sich Leib und
Gliedmaßen mit dichtem Federkleid.

Nun denn aber: gerade unter diesen Federträgern waren ausgesprochenste
Kletterer und Springer, echteste Baumtiere, gewohnt, von Ast zu Ast zu
sausen.

Es waren keine sehr großen Herren dabei, die ganz dicken trug
von vornherein das schwankende Geäst nicht. Also das Gewicht wog
schon nicht zu schlimm bei Sprüngen. Doch jetzt gab die vermehrte
Körperheizung selbst eine neue Möglichkeit auch noch der Erleichterung.

Schon beim Pterodaktylus und anderen Reptilen der Ichthyosaurus-Zeit
war eine Verminderung des Körpergewichts vielfach dadurch angebahnt
worden, daß die Knochen Hohlräume im Innern zeigten. Da gab es schon
Saurier, deren Skelett wie aus Kartonpapier aufgebaut schien, und
mancher der reptilischen Landriesen von damals hätte seinen eigenen
Knochenberg ohne dieses Prinzip gar nicht mehr von der Stelle bewegen
können.

Jetzt bot die innere Zentralheizung des Vogelkörpers eine neue
Möglichkeit: nämlich diese Knochenhöhlen mit Luftheizung zu
durchdringen.

Die Lungen bildeten verzweigte Säcke, die bis in die hohlen Knochen
eindrangen, eine neue Variante der alten Schwimmblase. Und die erwärmte
Luft erfüllte sie dabei wie eine Montgolfiere und machte den ganzen
Körper noch ein Teil leichter im Sinne jetzt des alten Ballonprinzips.

Immer kühner durften da die Sprünge dieser Leichtfüße werden von Ast
zu Ast. Alle Kletterer werden aber gedrängt, die Hinterbeine mehr als
Stützpunkt zu nehmen und die Vorderbeine mehr zum Greifen, als Arme
also, zu gebrauchen. Beim Sprung gaben die Hinterbeine den Ausschlag,
die Arme ruderten. Und da ein Triumph.

An diesen Armen saßen ja die Federn. Der Luftzug blies sie auf, --
auch sie halfen tragen. Was geübt wird, nimmt zu, -- ein altes wahres
Wort. Die Federn nahmen zu, reckten sich. Auf einmal hatten sie alle
Vorteile vereint in sich des Ruders und des Fallschirms. Und der harte
Knochenarm in ihnen bot gleichzeitig den sicheren, aktiven Ruderstil.

In dieser Kette der Dinge +ist der Vogel entstanden+.

Die größte Lösung des Flugproblems, das die Natur unterhalb des
Menschen fertig gebracht hat.

Der Urvogel von Solnhofen war der erste klare Vertreter.

Noch trug er Zähne im Maul, noch hatte er Fingerkrallen oben am
Flügel, als traue er dem Fluge nicht allein, müsse auch noch greifen
und klettern, noch schleppte er als ein recht unbeholfenes Steuer den
langen Eidechsenschwanz grob befiedert hinter sich her. Aber der Vogel
war mit ihm da, unwiderruflich.

Der Fisch hatte die Luft erobert, nicht bloß atmend am Boden, sondern
aktiv schwimmend wieder in ihrer Ganzheit, wie er einst die volle
Wassersäule für sich gewann.

Ueber diesen Erfolg ist wieder ein Zeitraum von Jahrmillionen
hingegangen. Jetzt sind wir an der Reihe.

Werden wir Menschen den Vogel überbieten, -- das letzte abstreifen, was
an ihm noch unbehülflich, was unlösbarer Rest seiner Vergangenheit ist?

Es ist ein wunderbarer Glaube, daß der Mensch endlich mit dem Werkzeug
alles erringen und überbieten werde, was die Natur als Organ geschaffen
hat. Die ganze Bahn der menschlichen Technik ist eine einzige
Triumphstraße in dieser Linie. Wie sollte dieses einzelne Problem nicht
auch bezwungen werden!

Vielleicht aber, wenn unsere Enkel die Luft besitzen, wird an ihre
Gedankentür das abermals Höhere klopfen. Das Wasser liegt auf der
Feste, auf Feste und Wasser die Luft. Die Luft hüllt den Planeten
abermals wie eine Haut. Zwischen Planet und Planet aber spannt sich --
der Aether. Werden wir zuletzt auch in ihn auftauchen?




Die Weltgeschichte des Nilpferdes.


Die Wasser brausen -- und nun kommt etwas Ungeheures.

Zuerst eine meterlange blau-rötliche Platte wie ein flacher
Klippenkopf, von dem die Ebbe abläuft. Auf dieser Klippe wippen zwei
kleine Dinger hin und her, überschlagen sich, spritzen Wasser, als
seien es zwei zurückgebliebene Meergeschöpfchen, die in ihr Element
zurück wollen. Aber die Dinger haben die Gestalt von Ohren, und nun
hebt sich ein fürchterlicher Klotz herauf, ein Tierhaupt. Wie die
Märcheninsel zum Kraken wird, so die Klippe zum Nilpferd. Ein Maul
spaltet sich auf, im buchstäblichen Sinne wie ein aufklappender Kasten.
Zwischen roten Fleischwülsten liegen Zähne, aber nicht nach der Art
von Zahnreihen, denen man zutraut, daß sie etwas kauen, sondern
derartig verwirrt, schief, lückenhaft, abgehackt, mit dem untersten zu
oberst, als habe das fürchterliche Maul sie selber eben erst in sich
hineingebissen und zerkaut.

Dieser Kopf allein ist schon ein Riesentier. Aber die Charybdis
kreiselt auseinander und jetzt rollt der Leib nach, eine endlose,
fleischig schillernde Wurst, länger und immer länger. Erst wenn das
Ganze wie eine violette Viermeter-Pflaume am Ufer steht und ganze Bäche
von seiner nackten Haut zurückrieseln läßt, erkennt man, daß die Walze
nicht nach Seehundsart auf dem Bauch heraufgerutscht ist, sondern fast
verborgen unter ihrem quetschenden Bauchwanst vier winzige Beinchen
hat, deren jedes vier Hufe trägt.

Indem der Leib sich mit seinen fünfzig Zentnern Gewicht unter Aufwerfen
breiartig quellender Falten auf diesen kurzen Stempelchen mühsam
einstellt, entlastet sich die Tiefe der Brust zu einem Prusten, als
sei in einem _D_-Zug die Notleine gezogen worden und träten alle
Bremsvorrichtungen zugleich in Kraft.

Das ist das Nilpferd, wie es der Besucher unserer großen Zoologischen
Gärten jetzt gewohnheitsmäßig erlebt.

Was sind uns Entfernungen, fremde Landschaft, fremdes Klima noch!
Inmitten der märkischen Sandebene ein roter Ziegelbau -- und in diesen
Bau mit seinem geheizten Becken verpflanzt ein Sumpfwinkel aus dem
Papyrusdickicht des Tsadsees samt seinem Riesen, dem Nilpferd. Das
bringt unsere Kultur schon fertig, als sei es selbstverständlich.

Was sie aber durchweg noch nicht vermag, das ist, dem Alltagsbesucher
eines solchen Zoologischen Gartens nun auch den rechten „Geist“
mitzugeben, der ihm die grotesken Bilder verklären soll.

Dieses ungeschlachte violette Riesenhaupt, das da aus den Wassern
taucht, ist ein Stück Weltgeschichte.

Nicht umsonst wandert die Phantasie bei seinem Namen nach dem heiligen
Nil, wo aus der gelben Sandflut des Wüstenrandes jenes andere, noch
viel gewaltigere, zu Stein erstarrte Haupt ragt: das Antlitz der Sphinx.

Und doch ist all der Wüstensand von heute nur ein Stäubchen in der
großen Sanduhr der Weltgeschichte, die unendlich weit über die ältesten
Pharaonen und Sphinx-Erbauer hinunter reicht, -- der Sanduhr, die mit
rinnenden Körnlein, mit unmeßbar kleinen Schlammteilchen im Laufe
von Jahrmillionen Sandsteingebirge aufgebaut hat, und mit wühlenden
Tropfen, winzig wirklich wie ein Regentropfen, ganze Gebirge auch
wieder abgetragen hat.

Wenn der Mensch, der die Geschichte an seinem Schulbuch mißt, sich in
recht entfernte Tage denken will, so träumt er von den Pyramiden, --
wie sie gebaut worden sind. Cheops taucht ihm auf, Erbauer der großen
Pyramide. Als aber Cheops regierte, lag die große Sphinx schon in der
Wüste. Und sie war uralt. Sie hatte keinen Namen eines Erbauers, so alt
war sie. Sie mußte wegen hohen Alters schon ausgebessert werden unter
der Regierung des Cheops, wie eine Inschrift lehrt.

Doch was ist dieses Alter der Sphinx gegen das Alter des Nilpferdes,
dieses zoologischen Sphinxkopfes, der aus den schäumenden Wassern
glotzt.

Das Gestein, aus dem die große Sphinx herausgemeißelt ist, zeigt
eigentümliche Streifen oder Schichtungen, wie schon auf jeder guten
Photographie sichtbar wird. Der ganze Löwenleib mit Menschenkopf ist
nun nicht etwa erst von Menschenhand aus Steinen zusammengeschichtet.
Ein einziger Naturblock oder besser noch gesagt, eine natürliche
Felsklippe, die im Sande seit alters vorsprang, ist einheitlich
als Ganzes in die Sphinxform umgehauen, als Kunst und Technik eine
cyklopenhafte Leistung. Die Schichtungen lagen entsprechend von
Beginn an im Gestein, und sie verraten uns in Verbindung mit dem
Gesteinsstoff selber, daß es sich dabei um eine uralte Sandstein-Klippe
handelt, deren Material in grauen Tagen einmal durch strömendes Wasser
schichtenweise als Schlamm wie Scheiben eines Butterbrotes (zum Teil
allerdings sehr schief) abgelagert worden sein muß.

Es läßt sich nachweisen, daß das zu einer Zeit geschehen ist, die
der Naturforscher in das letzte Drittel der sogenannten Tertiär-Zeit
rechnet.

Es war vor der berühmten großen Eiszeit. Kein bekannter Menschenrest
der Erde, auch die vielbesprochenen Knochen des Pithekanthropus von
Java nicht, geht streng nachweisbar so weit zurück. Eben erst hatte
sich durch einen kolossalen Einbruch, eine sogenannte Grabenversenkung,
das Rote Meer als Arm des Indischen Ozeans gebildet. Wo heute sich
jenseits der Landenge von Suez frei das Mittelmeer öffnet, lag streng
trennendes Festland. In der Gegend der griechischen Kykladen schäumte
das Meer an einem Küstengebirge. Sizilien hing mit Afrika zusammen und
die heutige schöne Insel Malta war damals ein Fleck tief im Lande, zu
dessen Sumpfseen die Elefanten kamen.

Damals aber schon war die eigentliche Blütezeit der Nilpferde.

Ihre kleinen vierzehigen Beine, ganz genau so gebaut wie heute, konnten
sich in den weichen Schlamm schon eindrücken, der dann erst Stein, erst
Felsklippe in der Wüste geworden ist und als solche verlorene Klippe
der Sandöde ein eingewandertes Menschenvolk wunderbarer Techniker und
mystischer Grübler zu phantastischem Ausbau in eine Tierform, die nie
existiert hat, reizte.

Sie trugen damals ihren quetschenden Pflaumen-Leib auf den spaßhaften
Stempelchen aber nicht bloß durch Afrika, diese Nilpferde. Ihr Reich
ging noch ganz wo anders hin.

Die wenigsten Besucher eines Zoologischen Gartens ahnen die Gewalt der
Frage: Alt und Neu, vor all diesen Tieren.

Da bewegt sich ganz junges Erdenvolk auf vier oder zwei oder gar keinen
Beinen dahin -- und daneben, in diesem oder jenem Käfig oder Tümpel,
hockt ein Urgreis aus altverschollenen Planetentagen, grau wie so ein
Planet selber, mit Backen und Zähnen und Bauch, die ein wandelnder
Anachronismus, eine mühsam noch keuchende Versteinerung sind. Lustiges
Bellen, Krähen, Gurren erschallt ... das sind die Jüngsten des
zoologischen Reichs, die Schöpfungskinder, nicht nur jung, sondern
sozusagen schon aus zweiter Hand: die Hunderassen, Hühnerrassen,
Taubenrassen. Als der Urmensch jagte, liefen ihm Schakale und Wölfe
nach. Daraus ist erst und durch sein Zutun der Hund geworden -- und
in ein paar kurzen Jahrtausenden alle die unzähligen Hunderassen.
Und genau so die Hühnerrassen, die Taubenrassen, -- Neuigkeiten der
jüngsten Planetenmode und dazu Kunstprodukt, bei denen der Mensch die
alten, auf Jahrmillionen eingerichteten Zuchtwahlgesetze der Natur mit
einer geradezu unehrerbietigen Weise auf Dampf und Schnellfeuerwerk
gesetzt hat. Umgekehrt aber: in dem roten Warmhause dort der
fletschende Fleischklotz im trüben Becken, -- das ist Patriarchenzeit,
unverfälschte, vormenschliche Urwelt.

Vor mir liegt ein alter Foliant, in seiner Weise auch ein kleines
Nilpferd an Unhandlichkeit, -- aus den guten alten Zeiten, da man im
Kloster saß, Raum hatte, sich ein Bäuchlein zu züchten und doch noch
Platz dazu, solche Bände von 1300 Folioseiten und mit goldgepreßten
Lederdeckeln von der Dicke je eines Zentimeters zu wälzen. Unsereins
heute weiß das nicht mehr so recht in Einklang zu bringen, -- es ist
jedenfalls schlechterdings unmöglich, solche Bücher abends im Bett zu
lesen.

Mein Foliant geht zurück auf 1558. Es ist das vierte Buch der großen
_Historia animalium_, der Tiergeschichte des Konrad Gesner,
gedruckt zu Zürich bei Christoph Froschauer.

Gesners Tierbuch bedeutete in seiner Zeit einen Wendepunkt der
Zoologie. Die Antike war wieder erstanden. Nun griff ein genialer
Geist alles zusammen, was sie von den Tieren gewußt, und ergänzte
es durch eine Fülle des Neuen. Das waren Leute, diese Gelehrten von
Fünfzehnhundert! Als Philologen setzten sie ein. Aber die Philologie
war ihnen ideale Basis einer Weltwissenschaft. Um den Aristoteles und
den Plinius zu erklären, wurde so ein Polyhistor Vater einer neuen
Epoche der Naturforschung, wurde selber mehr als ein Aristoteles.
Wir sind solchen Leuten wie Gesner gegenüber heute ein undankbares
Geschlecht. Von diesem köstlichen Tierbuch gibt es weder eine neuere
Ausgabe des lateinischen Urtextes, noch selbst einen Neudruck der
(wenig später veröffentlichten) deutschen Bearbeitung, die schon um
des wunderbaren derben Humors und Sprachreichtums ihres Lutherdeutschs
willen einen Platz unter unseren klassischen Büchern verdiente.

In diesen schönen alten Blättern Gesners mit ihrem monumentalen Druck
und ihren trefflichen Holzschnitten geschah es, daß das Nilpferd für
das Gedächtnis der Kulturmenschheit eine Art Auferstehung feierte.

Von den Wassertieren handelt der bewußte Foliant. Land und Wasser
sonderte ja schon die Bibel in ihrem Schöpfungsbericht mit strenger
Schärfe. Auch dem Gesner zog sich ein tiefer Strich zwischen allem,
was da kreucht und fleucht, und dem, was schwimmt. Bei den Walfischen
und Seeschlangen, den Heringen, Karpfen und Austern taucht auch das
Nilpferd folgerichtig auf.

Graue Traditionen, die an das Wort Hippopotamus zunächst dem Philologen
anknüpften, gleißende Bilder aus dem wilden bunten goldenen Rausch des
römischen Cäsarentums, in vergilbten Klassikerstellen gespenstisch noch
einmal belebt. Als Augustus über die Kleopatra triumphierte, gingen
im Festzuge ein Nashorn und ein Nilpferd mit. Als unter dem Cäsar
Philippus Arabs die ewige Roma ihr Jahrtausend feierte (248 n. Chr.),
erschien im Zirkus ein Nilpferd. Die Römer hatten das Ungetüm bestaunt,
hatten es auf Münzen geprägt. Aber das Römerreich brach zusammen.
Mythischer blauer Duft sammelte sich über seinen Cäsarenköpfen, er
umspann auch ihre Tiere.

Als die höhere Geisteskultur, die Wissenschaft, langsam, inselartig
aus den großen Zwischenwassern wieder auftauchte, als endlich eine
deutsche Naturgeschichte sich zum erstenmal ernsthaft regte -- da
war das Nilpferd auf dem Punkt, völlig verschollen zu sein. Mit
allegorischen Gebilden, den Meerpferden und Sirenen, verschmolz es,
wo es in der Kunst sich erhalten hatte. Der Tierkunde aber mischte es
sich unter die jüngeren, dem Norden geläufigeren Gestalten der Robben
und Walrosse, zu denen dunkle Reiseberichte von Seekühen der fernen
ozeanischen Gestade traten.

Da aber dringt zu Gesners, des großen Sammlers, Ohr eine wunderbare
Zeitung.

Petrus Bellonius (Pierre Belon) war von Frankreich bis Konstantinopel
gewandert. Im alten Palast des Constantin lassen ihn die Türken dort
ein lebendig gefangenes Ungeheuer sehen, „umb kleines Gelt“, wie der
deutsche Bearbeiter Gesners sagt. „Welchem, so man ein Kappißhaupt
oder große Kürbsen darstreckt, so soll er sein Rachen so mercklich
außsperren, daz es sich zu verwundern ist, daz der Hüter solche speiß
in iren Rachen als in ein sack würfft.“

Der Schlund, in den man ganze Salatköpfe und Kürbisse wirft, dürfte
selbst von einem schlichten Laienbesucher unserer Zoologischen Gärten
wohl nur auf das Nilpferd bezogen werden. Herr Bellonius riet auf
Grund der alten römischen Münzen auf den klassischen Hippopotamus,
von dem die Türken selber natürlich keine Ahnung hatten. Damit war
das Sagentier endgültig wieder entdeckt, wenn man vorläufig auch bloß
auf Grund der alten Quellen eine Heimat Afrika mutmaßen konnte. Diese
Quellen wiesen -- höchstwahrscheinlich in Verwechselung mit der Seekuh,
also einem echten Seesäugetier -- allerdings auch nach Indien, --
immerhin in ferne, heiße Länder.

Der gute Gesner war aber kaum dieser wieder errungenen Wissenschaft
froh, als ihm etwas durchaus Sonderbares zum Fall Nilpferd in den Weg
lief. Etwas so recht, um alle Gedanken eines klugen Mannes von 1558 auf
den Gefrierpunkt zu bringen.

Bellonius beschrieb ziemlich anschaulich in seinem Bericht die Zähne
des Nilpferdes. Wer vergäße sie je, der sie einmal gesehen hat, diese
entsetzlichen Hauer, die krumm und schief im Maule herumliegen, jeder
oben abgestutzt wie ein gekappter Baumstumpf?

Just genau einen solchen Hauer bringt nun ein glaubwürdiger guter
Freund dem Gelehrten eines Tages mit, aber nicht aus Konstantinopel,
sondern frisch, wie er ihn gefunden, -- -- aus einem Bachbett bei
Zürich!

Von anderer Seite kommt ein ähnliches Geschenk, und als in Solothurn
(also ebenfalls in der Schweiz) ein Haus gebaut wird, da stößt gar die
Hacke auf einen ganzen Schädel voll solcher Zähne; der Schädel zerfällt
zwar alsbald zu Staub, aber die Zähne dauern auch diesmal.

Nilpferde in der Schweiz? Darauf konnte sich auch ein Mann von Gesners
Wissen keinen Vers mehr machen. Er erinnert an Riesengebeine, die man
in Sizilien gefunden, und überläßt die Sache dem Leser. „Ob dieser
oder dergleichen Zan,“ so gibt der Uebersetzer die Entscheidung
resolut wieder, „Menschenzän oder von Wasserrossen oder sonst etlichen
grausamen Thieren gewesen seyen, lassen wir hie bleiben.“ Und die
Forschung ließ es „hie bleiben“. Diese Sache war denn doch noch zu
schwierig für 1558.

Fünfzig Jahre gingen hin, -- da kam eine neue Nachricht über das
lebende Tier. Diesmal erschien es endgültig lokalisiert auf Aegypten.
Ein Wundarzt aus Narni in Italien, Federiko Zerenghi, hatte das
Nilpferd leibhaftig wieder am Nil entdeckt, an seiner klassischen
Stätte. Er hatte sogar zwei Stück gefangen.

Die Scene spielt bei Damiette, also im Nildelta. „In der Absicht,
einen Hippopotamus zu erlangen,“ erzählt Zerenghi, „stellte ich Leute
am Nil auf. Sie mußten abpassen, daß zwei Tiere den Fluß verließen,
und auf dem Wege eine große Grube graben. Sie wurde mit dünnem
Holzgeflecht, Erde und Gras bedeckt, und als es Abend wurde und die
Flußpferde zum Wasser heimkehrten, fielen sie alle beide in das Loch.
Meine Leute holten mich und ich kam mit meinem Janitschar und wir
gaben jedem der beiden Tiere drei Schüsse in den Kopf aus einer Büchse
von größerem Kugelmaß, als gewöhnliche Musketen haben. Fast auf der
Stelle starben sie mit einem Schmerzgeschrei, das mehr Büffelbrüllen
als Pferdewiehern war. So geschah es am 20. Juli 1600. Tages darauf
ließ ich sie aus der Grube ziehen und sorgsam abhäuten. Es war ein
Männchen und ein Weibchen. Die Häute wurden eingesalzen und mit
Zuckerrohr-Stroh gefüllt. In Kairo wiederholte man das Salzen noch
einmal mit mehr Muße, auf jede Haut kamen 400 Pfund Salz. 1601, als ich
aus Aegypten heimkam, brachte ich die Häute erst nach Venedig, dann
nach Rom, wo mehrere erfahrene Aerzte sie besichtigten. Nur der Doktor
Hieronymus Aquapedente und der berühmte Aldrovandi erkannten darin den
Hippopotamus.“

Die Bilder dieser Häute erschienen fortan in den Naturgeschichten.
Aber die glückliche Jagd, die dem Ort nach schon fast etwas fabelhaft
klingt, wiederholte sich selber nicht. Im achtzehnten Jahrhundert,
in den Zeiten Linnés und Buffons, nimmt die Tierkunde abermals im
ganzen einen gewaltigen Aufschwung. Alles mögliche ferne Getier kommt
in dieser lebhafteren Zeit wieder lebend nach Europa. Buffon pflegt
in Paris schon einen ganzen Tiergarten. Auf Jahrmärkten zieht zum
erstenmal der indische Riese, das Rhinozeros, herum, so berühmt, daß
eine (übrigens vortreffliche) Denkmünze mit „Porträt“ darauf geschlagen
wird. Den alten braven Gellert können wir uns heute gar nicht mehr
anders vorstellen, als wie er ausgeht, „um das Rhinozeros zu sehen“.

Arme Märtyrer der erwachten Wissenschaft waren sie zumeist, diese
umgetriebenen Menagerie-Riesen.

Lenz, der tierkundige Professor zu Schnepfenthal, hat eine
tragikomische Geschichte derart aus der guten alten Zeit (allerdings
aus verhältnismäßig immer schon jüngeren Tagen) bewahrt. Zwischen
Eisenach und Gotha trottelt ein ungeheurer Elefant. Um ihn unschädlich
zu machen und zugleich zum Marsch zu zwingen, ist ihm ein riesiger,
unten offener, auf kleinen Rädern rollender Kasten wie ein Möbelwagen
übergestülpt. Vorne sind Pferde vorgespannt und in der hinteren
Innenwand des Kastens kitzeln große Stacheln den Unglückselefanten
beständig so hinterwärts, daß er mit Pferden und Kasten Schritt halten
muß. Die Erfindung ist zu sinnreich, um nicht zu einer Katastrophe zu
führen. Dem alten Brahminen wird die Kitzelei gelegentlich zu arg, er
bockt und brüllt, darob werden die Pferde scheu, ziehen schneller,
entsprechend bohren sich die Stacheln ein, das Toben des Kolosses wird
furchtbar, -- bis die geängstigten Pferde endlich schief ziehen und die
ganze Schreckenspyramide, Elefant und Schilderhaus, kopfüber in den
Chausseegraben stürzt. Der Elefant bricht sich einen Stoßzahn dabei ab,
wird aber schließlich nach endlosen Mühen im Zustande des geschundenen
Raubritters doch noch wieder hervorgeholt und im Triumph unter seiner
Kiste gen Gotha gebracht. Als er dort aus dem Kasten kommt, tobt
er aber in berechtigter Auflehnung gegen diese Art der Behandlung
derartig, daß niemand ihm zu nahen wagt. Die Gothaer rufen in ihrer
Angst die Bürgerwehr zusammen, der Herr Hauptmann, Andreas Heyn hieß
der Brave, verfällt jedoch sogleich auf ein Mittel, das auch bei
erregten Menschen bisweilen mehr Erfolg haben soll als Kanonenkugeln:
er spielt dem Rasenden nämlich eine Flasche mit Rum in den Rüssel.
Im gleichen Augenblick war der Zorn des edlen Recken verflogen, mit
dankbarem Blick betrachtete er die Flasche, leerte sie auf einen Zug
und umarmte dann den Geber mit dem Rüssel so zärtlich, daß, laut Lenz’
Bericht, alle Anwesenden sich vor Rührung nicht zu lassen wußten.

Bei all diesen zugkräftigen Ungetümen fehlte aber das Nilpferd.

Ein besonderer Unstern schien über ihm neu zu walten. Schon zu Buffons,
des großen Sprachmeisters in der beschreibenden Tierkunde, Zeiten,
also Mitte etwa des achtzehnten Jahrhunderts, stand die Tatsache fest,
daß das Nilpferd im unteren Nilgebiet, also in Aegypten, zwar einst
in Masse gelebt habe, nunmehr aber nahezu oder ganz verschwunden sei.
Zerenghis Jagd schien nicht nur die erste, sondern auch die letzte
wissenschaftliche Nilpferd-Jagd auf ägyptischem Boden gewesen zu sein.
Wahrscheinlich war das Nilpferd sogar schon zu seiner Zeit nur noch ein
verspäteter Nachzügler im Lande gewesen. Die anderthalb Jahrhunderte
seither aber hatten auch die letzten der letzten in die bewußten
Fallgruben gebracht.

Es half nichts mehr, daß gerade auf den Ausgang dieses achtzehnten
Jahrhunderts das alte Fabelland Aegypten durch Napoleons tolle
Expedition und ihre wissenschaftliche Ausnutzung auf einmal heller
wurde, als es zu den Tagen des alten Herodot der europäischen Forschung
gewesen war. Jetzt geriet die rasch emporblühende ägyptologische
Wissenschaft ja auf Denkmal über Denkmal einer ehemaligen Beschäftigung
eines hochbegabten Volkes mit dem Nilpferd, wie sie mit solchem
Nachdruck kaum ein zweites Riesentier der Erde erlebt hat.

Auf bunten lustigen Wandgemälden der uralten Gräber sah man die Nimrode
des alten Reichs, wie sie dem Hippopotamus, unverkennbar getroffen, mit
entsprechend riesigen Metallhaken, wahren Walfisch-Harpunen, zu Leibe
gingen. Und nicht nur gejagt hatten sie ihn. In diesem wunderlichen
Lande, wo die Tiere Götter wurden, war auch das Nilpferd schließlich
unter die Ueberirdischen geraten. Wahrhaft überirdisch scheußlich,
wie es uns ja heute noch erscheint, stand es in verzerrter, grotesk
dickbäuchig vermenschlichter Gestalt auf dem Gottespiedestal und seine
Mumie lag in geweihter Wickelung im Tempelgrab.

Von diesen alten Aegyptern, die das Nilpferd bis in den Kultus
hineintrieben, hatte jedenfalls auch der Dichter des Buches Hiob seine
Weisheit geschöpft, wenn er in dem kleinen Kolleg, das dem Knechte Hiob
über Naturgeschichte von oben her gelesen wird (dichterisch einer der
schönsten Stellen des ganzen alten Testaments), vom „Behemot“ spricht,
der das Maul aufreißt, als wolle er einen ganzen Jordan verschlucken;
wieder wie bei den Kohlköpfen des Bellonius ist es dieses über alle
Maßen fürchterliche Maul, an dem man das Nilpferd herauskennt.

Aber was nützte das.

Nicht umsonst tauchte der Riese hier in Mumiengräbern und auf
Grabbildern, die erst die von Fledermäusen umschwärmte Fackel des
Archäologen rot erhellte, auf. Kein lebendes Nilpferd war mehr im Lande.

Wie so viele lehrreiche Tiere der Naturgeschichte schien es
zurückgewichen vor der Wissenschaft, als sie endlich kam. So war der
Ur-Ochse, von dem Gesner noch einen guten Holzschnitt gibt, just im
Augenblick, da die Tierbeschreibung ihn festlegen wollte, unter den
Händen den Forschern aus dem deutschen Forste herausgestorben. So ist
der Biber, den Gesner noch als das gemeinste Tier aller deutschen und
schweizerischen Flüsse kennt, mit der zoologischen Aera, die seine
kunstvollen Bauten, seine seltsamen Schmarotzertiere und anderes
mehr erforschen wollte, hingeschwunden bis fast auf den letzten Kopf.
Von den romantischen Tieren, wie der Seekuh von Kamtschatka und dem
Vogel Dronte ganz zu schweigen, die der Tierkundige nicht erwähnt ohne
eine Zähre im Auge, sintemalen sie gleich von ihren ersten Entdeckern
gesehen, beschrieben -- und mangels besserer Verproviantierung
aufgegessen worden sind.

Das Nilpferd zog sich offenbar in die Tropen zurück, abermals in ein
recht dunkles Gebiet. Nur das dunkle Afrika kam übrigens in Betracht.
Denn Indien bot, so stellte sich allmählich ganz fest, endgiltig keine
Nilpferde. Man mochte die Seekühe des Meeres dafür gehalten haben.
Vielleicht auch den großen indischen Tapir, der in Cuviers Tagen
ganz unerwartet ans Licht kam. Aber indische Lotosblumen hatte der
ungeschlachte Gigant auf keinen Fall abgeweidet, so lange wenigstens
die Kulturgeschichte zurückreichte.

Langsam, wie eine Morgenlandschaft, über der die weißen Nebel Wolke
um Wolke feierlich abdampfen, wächst das Bild des inneren Afrika
im neunzehnten Jahrhundert der Kulturmenschheit herauf. Auf den
alten leeren Fleck der Karte stellte sich Stück um Stück alles, was
die kühnste Phantasie sich nur wünschen konnte: endloser Urwald,
Ströme, die in brausenden Katarakten vom Hochplateau niederstürzen,
Quellgebiete sagenumwobener Riesenflüsse, wo sich ungeheure blaue
Seespiegel plötzlich öffnen, Schneegipfel über Tropenland, menschliche
Pygmäenvölker und Gorillaaffen, die stärker sind als ein Mensch✹.....

Vor dieser immer spannenderen Wandeldekoration taucht nun endlich auch
der alte Zirkusriese der Römer wieder auf: das Nilpferd.

Zuerst lernt man es in seinen heimischen Sümpfen selbst ordentlich
kennen. Der treffliche Frankfurter Rüppell begegnete ihm in Nubien,
andere im Sudan, noch andere, als sie vom Kap her in den schwarzen
Erdteil dringen. Wie das wahre Sinnbild des tropischen Afrika erscheint
es jetzt, das seltsamste Monstrum des dunkelsten Landes, an dem der
Reisende erkennt, in welche bedenkliche Ferne er sich vorgewagt.
Als Nachtigall es am Tsadsee findet, kommt ihm auf einmal hell zum
Bewußtsein: er ist im Herzen von Afrika. Die geheimnisvollen, von
Gefahren umringten Ströme des Innern macht es noch unsicherer. Wie eine
Klippe stößt es plötzlich unter das Boot Livingstones, dieses besonders
Glückbegünstigten, den auch der Löwe schon einmal in den Klauen hatte.

Inzwischen ist aber in England der erste neuzeitlich erdachte
„Zoologische Garten“ in Ueberbietung aller alten Menagerien begründet
worden (1838), der in kurzer Frist an tausend verschiedene Tierarten
lebend vereinigte.

Hier zuerst erscheint es auch als eine Art Ehrensache, den Behemot
in Person vor europäischen Augen zu zeigen. Politische Macht und
diplomatische Höflichkeiten werden in Bewegung gesetzt um ein
lebendiges Nilpferd. Endlich glückt es -- und es ist ein Ereignis für
die Londoner Gesellschaft, auch solche, die sonst für Zoologie nichts
übrig hat.

Von Kairo kommt es, natürlich nicht dort, sondern viel weiter
nilaufwärts gefangen. Ein zahmes Tier, wie einst das des alten
Bellonius zu Konstantinopel. Ein besonderer Transportkasten wird
ihm zur Ueberfahrt gebaut, echtes Nilwasser zum täglichen Bade geht
fässerweise auf dem Schiffe mit. Anfangs bekommt es, ein junges Tier,
bloß Milch mit Reis und Kleie. Es ist ja nicht eben leicht, einem
Nilpferd-Baby die Flasche zu besorgen: das Nilpferdlein fordert binnen
kurzem die Milch von nicht weniger als vier Kühen oder zwölf Ziegen.
Aber alles wird glücklich überwunden und im Triumph wie ein König
erscheint diesmal der Behemot wirklich in London. Die Zeitungen der
ganzen Kulturwelt nehmen Notiz davon.

Erst Ende der fünfziger Jahre hat dann eine wandernde Menagerie zwei
Nilpferde auch in Deutschland gezeigt. Und seither sind sie dem
Großstädter das „Selbstverständliche“ geworden, das jeder Schuljunge
kennt.

Eigenartiger Zug aber der Dinge.

Der Tag, da der erste Behemot seine plumpen vier Hufe auf englischen
Boden setzte, -- es war in uralter Schicksalsverkettung ein Tag der
+Heimkehr+.

Um das zu verstehen, gilt es, in Gedanken noch einmal ganz ins
Ungemessene zu wandern -- weit hinaus über alles bisher Erzählte.

In der grotesken Dreieinigkeit der Inder, Brahma, Vischnu und Siva,
ist Siva die wunderlichste Gestalt. Ein Cyklopenauge trägt er auf der
Stirn, fünf Arme regt er wie ein riesiger Tintenfisch, sein Haar wallt
nieder wie eine Pferdemähne und um seinen Hals schlingt sich ein Kranz
von Totenschädeln. So träumt ihn der fromme Inder, wie er auf dem ewig
unbetretbaren Schneekamm des höchsten Himalaya in grauser Majestät
thront, scheußlich, wie nur irgend ein antediluviales Ungeheuer.

An den Namen dieses phantastischen Glaubensungetüms mahnt die
geographische Bezeichnung einer niedrigen Hügelkette, die sich
nordwärts von Delhi und Lahor dicht vor dem hohen Himalaya hinzieht:
die Sivalik-Hügel. Diese Sandstein- und Ton-Hügel sind eine Katakombe.
Wenn der Inder aus dem Gestein riesenhafte Knochen vorragen sah, so mag
er sich in dem Gedanken gefallen haben von einer geheimen Urschöpfung
Sivas, der in seiner Gebirgsöde einst zum Gigantenspielzeug sich Tiere
geschaffen, ihm selber ähnlich an überweltlicher Scheußlichkeit, um sie
dann in einer anderen Laune wieder unter Felsblöcken zu zermalmen und
zu begraben.

Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aber kamen englische
Naturforscher an den Ort, setzten ihren profanen Spaten ein und
brachten viele Kisten voll Schädel und Gebein heim nach London
ins Britische Museum, wo sie heute in schönen Glaskästen vornehm
aufgestellt sind: die Wunderwelt des Siva als köstliche Zeugnisse jener
längst verschollenen Epoche der Erdgeschichte, die der Forscher als
Tertiärzeit bezeichnet.

Im letzten Drittel dieser Tertiärzeit (der Geologe braucht dafür
den engeren Namen der Pliocän-Periode) lebte in diesem Lande vor
dem Himalaya tatsächlich eine höchst eigenartige Tierwelt. „Vor dem
Himalaya“ ist dabei eigentlich nicht der ganz zutreffende Ausdruck.
Denn diese größte Falte der gesamten Erdrinde stand (so weit geht die
Zeit zurück!) damals noch gar nicht in ihrer heutigen imposanten Höhe
da.

Die Rinde unseres alten, wahrscheinlich durch Erkaltung immerfort
einschrumpfenden Planeten arbeitete in jener Tertiärperiode mit
besonderem Eifer. Noch war es nicht allzu lange her, da hatte der
Planet, sich runzelnd wie ein dorrender Apfel, in Europa den großen
Faltenwulst langsam heraufgetrieben, den wir heute Alpen nennen.
Seit so und so viel tausend Jahren (geologisch ist das ja immer eine
kleine Spanne) gährte und drängelte es jetzt in ähnlicher Weise auch
in Asien: die Himalayafalte wollte sich ebenfalls heraufstauen. Aber
noch war das im Werden zur Zeit, von der wir sprechen. Man muß sich ja
solche Gebirgsbildung nicht als ruckweise Katastrophe mit entsetzlichen
Erdbeben und allerhand vulkanischen Knalleffekten denken. Das stieg
und stieg von unten auf ganz, ganz allmählich, so daß endlose Zeiten
hindurch Matten und Wälder, Gewässer und Getier ruhig mitgingen, recht
nach Goethes Wort: „Waldung, sie schwankt heran, Felsen sie lasten
dran.“

Bloß die Flüsse, die vom Lande aus gegen die See abflossen, mußten
nach und nach ein immer stärkeres Gefälle zeigen. Wie heute, kamen
aber damals schon aus der Himalaya-Gegend, auch als sie noch flaches
Hügelland war, Flüsse herab, und je mehr das Innenland sich dann hob,
desto kräftiger häuften diese Flüsse im Tieflande davor Sand und
Gerölle auf.

Was von Tieren gelegentlich in den Strom geriet, zufällig einzeln,
oder bei Ueberschwemmungen in ganzen Massen, das kam als Knochenrest
zur Ablagerung inmitten dieser Anschwemmsel. Später, als das Gebirge
in seiner Schneeglorie ganz stand, hat dann die Faltenbildung auch
noch teilweise auf diesen alten Schwemmboden selber übergegriffen,
die Ströme haben ihr Bett auch da vollständig verlassen müssen und
die alten Sandmassen sind als fester Sandstein noch einmal zu Hügeln
darüber emporgestiegen: zu den heutigen Sivalik-Bergen.

In diesen Bergen lag also jetzt, was die Weltgeschichte uns von der
Tierwelt jener Tage hat aufbewahren wollen.

Wir schauen in eine muntere Zeit. In Scharen tummelt sich eine reiche
Tierwelt. Viel Nahrung muß in den Grasebenen und Buschwäldern dieser
tertiären Flußufer hier gewesen sein, denn Riesen und Zwerge wollten
in stattlichster Zahl allerorten davon leben und müssen gelebt haben.

Nachts im Mondschein mag es zu den Tränken herangetrabt sein, wie
es in den älteren Reiseberichten (heute haben die Jäger schon stark
aufgeräumt) aus Südafrika berichtet wird: Herde um Herde schwerfälliger
Dickhäuter, Antilopen in hellen Haufen, ein schleichendes, sich
duckendes, selber jägerndes großes Raubtier ums andere -- Gebrüll und
Geschnaufe und Geplätscher, als komme ein ganzer zoologischer Garten in
dieser spukhaften Beleuchtung entfesselt daher.

Der König dieser Sivaliker, dessen Knochenreste sonst nirgends in
der Welt bisher gefunden worden sind, war das Tier, das in Achtung
seiner kongenialen Verschrobenheit von den Zoologen mit Recht den
unmittelbaren Namen „Sivatier“ (Sivatherium) erhalten hat. Es kommt
annähernd zustande, wenn man die Giraffe und das Elentier aufeinander
pfropft und dem Ganzen die Größe ungefähr des Elefanten gibt. Mit der
Giraffe hatte es zweifellos eine starke innere Verwandtschaft, es
fehlte ihm nur gerade der lange Giraffenhals, ja es muß eher einen
kurzen Büffelnacken gezeigt haben. Auf dem plumpen Kopf in der Breite
und Länge von mehr als einem halben Meter saßen vorne in der Stirn
zwei scharfe Knochenspieße und dahinter zwei dem Elch vergleichbare
zackig geschweifte Schaufeln, -- also im ganzen vier Hörner. Mit diesem
wehrhaften Siva-Haupt stelzte der tolle Geselle auf fast zwei Meter
hohen Giraffenbeinen.

Ihm zur Seite wandelten ein ähnliches Vischnu-Tier und ein Brahma-Tier,
und zur Vervollständigung fehlte auch die echte Giraffe in der ganzen
Pracht ihres Halses an den Sivalik-Tränken nicht. Rinder kamen in
Scharen, Antilopen, Hirsche und Kamele. Aus dem Sumpf aber hob sich
prustend und röhrend das „Schreckenstier“ (Dinotherium). Es war
ein Elefant, aber massiger noch als unsere heutigen, und statt der
Stoßzähne im Oberkiefer bogen sich ihm zwei kolossale Hauer unter dem
Rüssel vom Unterkiefer abwärts, die ihm eher eine Aehnlichkeit mit dem
Walroß gegeben haben müssen.

Wieder dann nahten trappelnde Wildpferde, deren Fuß damals neben der
großen Hufzehe noch zwei kleinere trug, also noch regelrecht dreizehig
war, -- dann echte Elefanten, neben dem Mastodon, das vier Stoßzähne
statt zweien, oben zwei und unten zwei, trug, -- Nashörner mit Hörnern
und auch eines, das gerade einmal gar kein Nasenhorn hatte, -- endlich
Schweine und Tapire.

In das Trompeten, Grunzen und Wiehern dieser Arche scholl das Gebrüll
von Löwen, denen die Reißzähne wie krumme Dolche aus dem Rachen
wuchsen, und in den Baumkronen kreischten aufgeschreckte Affen, Makaken
und Schimpansen.

Vom Menschen, -- ja, wie gern man von dem etwas wissen möchte! Aber
kein Rest ist bisher dort gefunden worden, und wahrscheinlicher auch,
als daß man ihn je dabei antreffen wird, möchte wohl gelegentlich
der Fund eines Knochenstückes hier von jenem rätselhaften, aufrecht
gehenden Wesen sein, dem Affenmenschen Pithekanthropus, der auf Java
versteinert zwischen echten Sivalik-Tieren vorkommt.

Hübsch in das alte Bild aber paßt die Kolossochelys, die
Kolossalschildkröte, die zwanzig Fuß lang und acht Fuß über der
Panzerwölbung hoch wurde, -- ihr wird kein Tritt eines Dinotherium oder
Mastodon am Sumpfufer Gefahr gebracht haben. Romantisch genug, daß
gerade dieses Land, wo der indische Priestertraum die Welt auf einer
kosmischen Schildkröte ruhend dachte, vor Jahrhunderttausenden die
größte wirkliche Schildkröte der Erde beherbergt hat!

Nun und hier denn, an den Sivalikhügeln, taucht zum erstenmal in der
uns erkennbaren Folge der Dinge auch das Nilpferd auf.

Also doch in Indien!

Freilich in einem Indien, das noch ein Stück Urwelt war und in dem die
Tierwelt Asiens kunterbunt gemischt erscheint mit der des heutigen
Afrika.

Wenn man von einem kleinen Unterschied in der Zahl der Schneidezähne
absieht, so ist das Siva-Nilpferd just schon genau unser jetzt
lebendes. Schaut man das ganze Tier aber überhaupt im Gerippe an, so
wird der Weg, den es gekommen, noch ein Stück weiter zurück klar.

Der Blick irrt herum bei seiner damaligen Gesellschaft am Sivasumpf
und fragt, wer von denen allen dort denn am engsten verwandt mit ihm
gewesen sei. Verwandt heißt ja im Sinne Darwins wirklich stammverwandt.
Aus welchen noch älteren Formen konnte dieses Siva-Nilpferd sich
herausentwickelt haben?

Da will nun der Name sogleich einen Anhalt geben, -- der Name, wie wir
ihn uns gemacht haben. Hippopotamus: das ist ein Flußpferd. Weil der
Fluß zunächst für menschliche Weisheit der Nil war, so ist daraus erst
folgerichtig Nilpferd geworden.

Es steckt eine alte, unverwüstliche Liebhaberei in allen
pferdeliebenden Völkern, das Pferd überall in neuen großen Tieren
wieder zu finden. Wo ein seltsamer Kopf aus den Wassern sah, da mußte
es ein Pferd sein, ein Wasserpferd, ein Nilpferd. Die Phantasie
dichtete ihm dann die nötigen Flossenfüße und den geringelten
Fischschwanz zu, -- dieselbe Phantasie, die entgegen aller
Naturgeschichte gar zu gern ein Flügelpferd gehabt hätte. Beim Nilpferd
schien nun vollends die Sache echt: ein ungeheures Pferd, das tauchen
konnte wie eine Otter.

Besieht man sich die Sache aber etwas vom Standpunkte heutiger
Naturforschung und stellt ein echtes Pferdeskelett gegen ein
Nilpferdgerippe, so schmelzen die Aehnlichkeiten eine nach der andern
dahin.

Beide sind Säugetiere, das steht natürlich fest. Und noch enger sind
sie beide Huftiere, mit Hufen an den Zehen. Aber solcher Huftiere gibt
es außer Pferd und Hippopotamus noch gar viele. Auch das Rhinozeros
ist ein Huftier, der Büffel ist eines, die Giraffe und jenes häßliche
Siva-Tier sind welche.

Sieht man auf die ganze Bauart, so erscheint nicht leicht etwas
verschiedener, als das stolze, hochgebaute, pfeilschnell dahinfliegende
Roß, diese Freude aller Künstleraugen, so lange es Künstler gibt, --
und diese schlecht gestopfte Fleischwurst, die ihre Beine fast unter
sich selber zerquetscht. Morastpfütze und freie luftige Ebene scheinen
sich in zwei radikalen Anpassungen gegenüber zu stehen.

Aber da sind ja andere Huftiere zur Auswahl.

Wer sich vom alten Namen losmachen kann, dem muß eine wirkliche
Anpassungsähnlichkeit unbedingt auffallen. Wer wirft sich kopfüber in
denselben Morast, wo das Nilpferd sein Heim hat, badet und puddelt sich
nach Herzenslust? Das Rhinozeros. In den Morast wühlt sich das Schwein,
wühlt sich der Tapir, zu ihm kommt nach des Tages Hitze der Elefant.
Was diese Tiere wirklich einander so ähnlich macht, ist die dicke Haut,
die gerade bei den größten, Nashorn und Elefant, auch fast ebenso nackt
ist wie beim Nilpferd. So haben die Tierkundigen allen Ernstes einmal
versucht, diese saubere Gesellschaft in einen Strauß zu binden: man
erfand eine Säugetier-Ordnung der „Dickhäuter“ für Elefant, Nashorn,
Nilpferd, Tapir und Schwein.

Das Wort war echt und hat Kurswert im Volksmunde gefunden. Aber die
Sache war ein großer Schnitzer.

Es kam die Zeit Darwins, und in dieser Zeit wurde es, wie gesagt,
„ernst“ mit dem System. Bis dahin hatte man das System der Tiere
eigentlich mehr für ein großes Haushaltsverzeichnis der Arche genommen,
eine Art möglichst übersichtlichen Adreßbuchs für die Tierkenner.
Jetzt hieß es plötzlich: was das System zusammenbindet, das gehört
geschichtlich eng zusammen, es gehört an einen gemeinsamen Ast
des großen Stammbaumes der Tiere. Und was solchen geschichtlichen
Verwandtschaftsbeweis nicht erbringen kann, das gehört eben nicht
nebeneinander im System, das System ist danach zu verbessern.

In diesem Moment flogen die Tiere herüber und hinüber, die ältesten
Ketten brachen wie Glas und ganz neue Sammelgruppen holte die neue
Posaune herbei.

Zunächst flog der Elefant, dieser alte kluge Charakterkopf der
Säugetierwelt, weit von der Dickhäuter-Ecke, ja überhaupt von allen
übrigen Huftieren fort. In einer großen Leere blieb er stehen,
eine Ordnung für sich, -- und noch zu dieser Stunde weiß kein noch
so scharfsichtiger Darwinianer, von wannen er eigentlich in der
Entwickelung gekommen ist.

Zum zweiten aber zitierte die Posaune an einen ganz bestimmten Fleck
zusammen das echte Pferd, das Nashorn und den Tapir.

Es ließ sich nicht bloß ahnungsweise, sondern mit großem Aufwand
echten geschichtlichen Materials nachweisen, daß diese drei Tiere
tatsächlich „auf demselben Ast ritten“, das heißt: alle drei echte
uralte Blutsverwandte im engsten Sinne waren.

Alle Huftiere, so hat sich zunächst äußerst anschaulich darlegen
lassen, stammen ursprünglich von Grundformen, von Stammesältesten, die
fünf wohlentwickelte Zehen an allen vier Beinen trugen. Ja es stammen
sogar nicht bloß alle Huftiere von solchen reinlichen Fünfzehern ab,
sondern überhaupt alle höheren Säugetiere. Mit dem Dezimalsystem
haben die Fußverhältnisse des Säugerstammes einfach eingesetzt.
Wobei nebenher, da das Wort gerade fällt, daran erinnert sei, daß
das Dezimalsystem bei uns Menschen eben daher in Brauch gekommen
ist, weil wir selber zehn Finger und zehn Zehen haben. Daß wir aber
diese Fünfzahl an Händen und Füßen tragen, ist einer der sonnenklaren
zoologischen Beweise, daß auch wir aus dem großen Stammbaum der übrigen
Säugetiere herausgewachsen sind.

Wie es nun damit sei -- jedenfalls haben wir Menschen in dem Falle
gerade den Urtypus der Fünferpfoten in wahrer Musterform treu bewahrt.
Das aber ist lange sonst nicht überall so gewesen. Gerade bei den
Huftieren erlaubten sich die Füße mit fortschreitender Anpassung an
allerlei besondere Lebensbedürfnisse die tollsten Abschweifungen oder,
besser gesagt, Abkürzungen.

Je nach bestimmtem Zweck wurde im Laufe ungezählter Generationen bald
diese, bald jene Zehe einfach unterschlagen, -- sie verkümmerte zu
gunsten der anderen, etwa wie wenn bei uns Menschen plötzlich die Mode
aus irgend einem Grunde aufkäme, bloß noch mit Nachdruck auf die große
Zehe aufzutreten oder bei der Hand nur noch mit dem Zeigefinger und
Mittelfinger zu greifen.

Und zwar machten sich hier von früh auf zwei ganz bestimmte, unter
sich grundverschiedene Richtungen geltend, wie diese einseitige
Zehenunterschlagung geübt wurde. Es spiegelten sich darin unverkennbar
zwei verschiedene Bedürfnisse.

Hier waren Tiere auf eine endlos weite, schwellende Grasebene gesetzt.

Ihre Lust war, zu traben, dahinzufliegen, so gut es auf vier Beinen
irgend ging, über den grünen Teppich, -- im schnellsten Lauf, da der
Fuß kaum mit der Spitze den Boden schlug, wanderten sie der üppigsten
Nahrung zu, im Lauf entrannen sie ihren Feinden, den riesigen Katzen.
Kurz: Sausen war Trumpf.

Und die Krone dieses Sausens wurde -- das Pferd.

Sein ganzes prachtvolles Knochengerüst steht nicht mehr auf vier
Füßen, sondern nur noch auf vier Fingern. An jedem Fuß ist von den
ursprünglichen fünf Zehen bloß die mittelste einzig übrig geblieben
und auch die steht mit ihrem Huf so, daß der ganze Fuß nur noch in ihr
gerade eben auf den Boden tippt.

Das ist nun natürlich nicht an einem Tage gewonnen worden. Viele,
ungezählte Generationen mußten ganz, ganz langsam ihre vier anderen
Zehen sozusagen einschlafen lassen, bis das volle Kunststück geleistet
war. Diese Generationen bezeichnen wir, wo sie uns voll entgegentreten,
natürlich Stufe um Stufe mit besonderen Namen. So zeigt jenes
Wildpferd, das einst auf den Ebenen bei den heutigen Sivalik-Hügeln
lebte, an seinen Gerippen heute noch, wie gesagt, neben der großen
Mittelzehe zwei kleinere, immerhin schon mehr verkümmerte. Noch
früher aber haben pferdeähnliche Tiere gelebt, die nachweislich noch
wenigstens regelrechte drei Zehen zum Auftreten benutzten und davor
Vierzeher, bis endlich die Stammform mit allen Fünfen ganz im Blauen
der Zeit auftaucht.

Diese älteren, noch mehrzehigen Pferde-Ahnen aber, von denen man
besonders aus Nordamerika sehr gute versteinerte Reste hat, nähern
sich in ihrem übrigen Habitus jetzt ganz unverkennbar jenen beiden
heute noch lebenden Huftier-Typen: dem Nashorn und dem Tapir. Ja diese
Aehnlichkeit geht so weit, daß man mit ziemlich reinem Gewissen sagen
kann: der Tapir sowohl wie das Nashorn sind stehengebliebene alte Aeste
des großen Pferde-Stammbaumes.

Eine groteske alte faltige Tante ist dieses Nashorn, die in einem
Winkel noch dasitzt, während das junge Enkelvolk längst eine ganz
andere graziöse Höhe erreicht hat und als stolzes Roß dahinfliegt.
Tatsächlich hat das Rhinozeros, wie jeder im Zoologischen Garten
abzählen kann, an allen vier Füßen noch drei Hufe, von denen immerhin
der mittelste -- in bedeutsamem Hinweis auf das Pferde-Ideal -- schon
etwas stärker entwickelt ist.

Der Tapir aber steht noch eine Entwickelungsstufe weiter zurück,
maßen er vorne vier und hinten drei Zehen mit Hufen hat, -- also halb
die Nashorn-Stufe des Pferde-Ideals darstellt, halb noch eine ältere,
vierzehige verkörpert. Er ist in jeder Hinsicht ein zwitterhaft
urweltliches Tier, dieser Tapir, der in unsere Welt nicht mehr paßt.
Sieht man aber auf dieses abweichende Zehenverhältnis vorn und hinten,
so möchte man geradezu sagen: der kleine dickfellige Phlegmatiker
mit seinem kurzen Rüssel steht heute noch auf dem Sprung zwischen
zwei Stufen der Entwickelung, mitten im Akt erstarrt wie der Diener
in Dornröschens Schloß, der mit dem Kredenzbrett in der Hand steif
eingeschlafen war.

So die Linie auf der Grasebene.

Eine andere Sorte Huftier aber geriet auf weichen Boden, Sumpf- oder
wenigstens Waldboden, was in Urwald-Ländern ja im Grunde dasselbe ist,
weil da jeder Waldgrund dreiviertel mindestens Sumpfpfütze ist.

Auf dieser weichlichen, nachgiebigen Unterlage entstand mit der Zeit
ein ganz anderes Fuß-Ideal. Nicht +eine+ hüpfende Zehe, -- sondern
+zwei+ Zehen mit einem scharfen, auseinanderspringenden Hufpaar:
der Fuß des Hirsches, der Fuß des Rindes.

Die mittelste und die zweitäußerste Zehe wurden diesmal Trumpf, --
Mittelfinger und Ringfinger. Auf ihnen stelzen vorsichtig Ochse,
Hirsch, Antilope, Giraffe dahin. Im übrigen aber auch hier dieselbe
langsame Ueberleitung. Aus Fünfzehern erst Vierzeher, bei denen
Zeigefinger und kleiner Finger zusehends als Ballast absterben. Endlich
die reinen Zweizeher. Ungeheuer war diesmal die Zahl der zweizehigen
Geschlechter, die herauskamen: alle die unzähligen Völker der Hirsche,
Antilopen, Giraffen, Ochsen, Schafe und so weiter, der Wiederkäuer, um
ein älteres ordnendes Versuchswort, das den Bau des Magens zu grunde
legte, zu benutzen. Aber daneben auch ganz genau so wie dort das
Stehenbleiben, das anachronistische Ueberleben einzelner Vorstufen.

Wir sind am Ziel.

Eine dieser Vorstufen ist das Schwein. Noch sind hier durchweg vier
Zehen, aber nur zwei treten noch wirklich auf. Das ist schon hart an
der Brücke zum echten Zweizehen-Ideal.

Dann aber: -- das Nilpferd.

Vier Zehen mit derben Hufen berühren an allen vier Füßen den Boden.

Ein urtümlicher Fuß in jedem Bezug.

Die alte Tante des Ochsen- und Hirschvolkes steht vor uns, wie dort im
Rhinozeros die des Pferdestamms.

Von der klassischen Erde Indiens wandern wir auf den altklassischen
Boden Europas, -- nach Griechenland, wo die Marmorklippen des
Pentelikon ragen.

Eine flache Ebene fällt von diesen kunstgeweihten Höhen gegen das blaue
Inselmeer ab, dieses Wundermeer alter Kultur, in dem jedes Inselchen
ein Brückenpfeiler der aufwärts strebenden Menschheitsseele ist.

Ein Bergbach geht durch die Ebene ins Meer, ein Stück südlich von
Marathon. Oleander schattet über die Ufer. Hirten weiden ihr Vieh. Sie
gehören zu einer kleinen Meierei dicht am Bache, die Pikermi heißt.

Jeder noch so kleine Bach ist ein stiller Geologe, ein emsiger Helfer
der menschlichen Geologie, wenn sie ihn nur beachten will. Besser
als es lange Arbeit mit Hacke und Spaten vermöchte und kostenlos
(die Geologie hat heute noch gar leere Taschen) schließt er durch
eine Rinne, die er tief und immer tiefer in den Boden schürft, alte
Erdschichten und Gesteinsschichten wie mit dem Messer auf. Jedes
Bachufer wird mit der Zeit ein geologisches Profil, ein Querschnitt
durch die unterschiedlichen Brot- und Wurstschnitten, die im großen
Butterbrot der Erdrinde aufeinander liegen.

Während die Menschen lange Zeit nur den pentelischen Marmor der
Berge herunterbauten, um unsterbliche Kunstwerke daraus zu formen,
wühlte das Wässerlein von Pikermi unten in der Ebene auf eigene
Faust den oberflächlichen Sand, den verhältnismäßig junge Tage hier
aufgeschüttet, Korn für Korn auseinander, bis endlich eine derbere
Unterlage von hart verbackenem rotem Lehm und Gerölle darunter zum
Vorschein kam.

Das jetzt war schon im besseren Sinne urweltlicher Boden. Verschollene
Flüsse, vom Gebirge her hier einst dahinrauschend, mußten diese
Grundschicht abgelagert haben. Sie waren längst vertrocknet und das
Bächlein, neu von oben eingreifend, konnte nicht einmal als ihr
unmittelbarer Epigone gelten. Aber es wies wenigstens durch seine
stille Maulwurfsarbeit endlich wieder das uralte Bett, das der junge
Sand sonst allenthalben verschüttet und den Blicken entzogen hatte.

Aus der Geschichte ist bekannt, daß im neunzehnten Jahrhundert ein
Bayernprinz König von Griechenland wurde und damit Geistesfäden sowohl
wie Zufallsfäden sich anspannen zwischen Athen und München.

Man könnte sich streiten, welche Sorte von Schicksalsfaden mehr
beteiligt war, als im Jahre 1838 ein braver bayerischer Soldat aus
einer der Garnisonen König Ottos sich bei dem Meierhofe Pikermi zu
schaffen machte und von ungefähr aus dem bewußten roten Lehm, den der
Bach erschlossen, einen seltsamen Schädel herausstöberte.

Dieser Schädel wurde nach München verschickt, unterlag der
wissenschaftlichen Bestimmung des gelehrten Professors Andreas Wagner
-- und erwies sich als Schädel eines Affen. Ein Affe im klassischen
Boden zwischen Athen und Marathon war denn doch ein etwas starkes
Stück. Pikermi, bislang kaum den nächsten Hirten bekannt, erhielt eine
Art geistiger Weltberühmtheit. Die Geologen kamen fortan in hellen
Haufen und entlasteten den alten Bach von seiner weiteren Arbeit, indem
sie selber jetzt die Lehmschicht systematisch aufhackten.

Das Ergebnis war noch überraschender. In der ganzen Lehmmasse zeigte
sich eine bestimmte engere Schicht, gleichsam eine besondere Einlage
des großen Butterbrots, die ungefähr so ihren Meter gerade dick war, --
und diese Schnitte war in der Tat die eigentliche Wurstschnitte.

Wie in einer regelrechten Blut- oder Leberwurst feingehackte Fleisch-
und Fett-Teilchen kunterbunt durcheinanderliegend die ganze Wurstmasse
zusammensetzen, so bot diese Schicht das Bild einer Hackmasse aus alten
Knochen, die fast ebenso dicht als Mosaik den ganzen Bestand hier
bildeten.

Ein österreichischer Forscher löste sich gelegentlich einen Erdenkloß
von kaum dem Sechstel eines Kubikmeters heraus und fand darin: das
ganze Vorderbein und drei große zersplitterte Röhrenknochen einer
Art Giraffe, Hörner und Unterkiefer einer Antilope, ein Stück
Kiefer und ein paar Zähne eines jener dreizehigen Ur-Pferde, drei
Rhinozerosknochen und noch etwa ein Dutzend unterschiedlicher kleinerer
Knöchelchen. In der Weise aber geht das weiter durch die ganze Schicht.

Man hat das Gefühl, daß hier vor Zeiten mit einer Unmasse von
Tieren plötzlich etwas passiert sei. Man denkt zuerst an eine wahre
Art Sintflut, die hier wenigstens im kleinen _tabula rasa_
gemacht. Aber die Knochen verraten keine Spuren, daß sie durch Wasser
verschwemmt sind. Sie zeigen im Gegenteil die unverkennbarsten
Abzeichen von Raubtierzähnen, die Leichen müssen also zunächst offen
als Beute für Löwe und Hyäne dagelegen haben. Vielleicht hat ein
Sandsturm eine riesige flüchtende Tiermasse eingeholt, überschüttet,
erstickt und dann wieder freigeweht. Vielleicht hat eine anhaltende
schreckliche Dürre die armen Pflanzenfresser einer ganzen Gegend um
eine letzte Tränke zusammengeschart, und dann, als auch die erschöpft
war, am Fleck alle doch hingerafft. Das sind so Rätselfragen der
Geologie, die in das schwere Gebiet der ganzen Existenzverhältnisse
urweltlicher Tiere übergreifen. Wer will aber aus Knochen das Leben mit
seinen tausend Möglichkeiten wieder auferstehen lassen! Eins nur ist
sicher und gerade das ist uns hier die Hauptsache.

Diese irgendwie gestorbene und verdorbene vorklassische Tierwelt von
Pikermi war himmelweit verschieden von allem, was wir heute in Europa
erwarten.

Gleich der Affe, ein Makak, weist auf die Tropen. Dazu eine Grassteppe
mit Giraffen, Antilopen, Elefanten und Nashörnern. Unter den
giraffenähnlichen Tieren fällt das Hellas-Tier (Helladotherium) auf,
das nicht ganz den langen Hals der echten Giraffe hat und auch sonst
etwas plumper ist. In neuester Zeit ist im innerafrikanischen Urwald
endlich ein schon lange als „Okapi“ signalisiertes großes Säugetier
festgestellt worden, das von allen Lebenden diesem Helladotherium am
nächsten kommt.

Ein weiterer Blick aber zeigt, daß wir nahezu vor derselben Tierwelt
stehen, die jenes Land der heutigen Sivalik-Berge am Himalaya unsicher
machte. Und nun eröffnet sich eine großartige Perspektive, die beide
klassischen Orte unmittelbar miteinander verbindet.

Reste einer solchen Tierwelt lassen sich verfolgen auf der ganzen
ungeheuren Linie von Pikermi bei Marathon bis zu den Vorhügeln des
Himalaya. Eine Schädelstätte, vergleichbar der am Pikermi-Bach, ist
aufgedeckt worden auf der Insel Samos, also dicht vor dem Festland
von Kleinasien, im alten Reiche des glücklichen Polykrates. Weitere
unverkennbare Fundstücke sind entdeckt worden auf der Urstätte
sozusagen alles Griechenzaubers: auf dem heiligen Boden der Ebene von
Troja, wo die Wühlerei des neunzehnten Jahrhunderts einsetzte mit
der „verbrannten Stadt“ Schliemanns und dem Goldschatz des Priamos,
um endlich bei tertiären Knochen der Elefanten- und Giraffenzeit
abzuschließen. Die nächste Station ist Persien und so geht es bis
Indien selbst. Ja von da noch östlich scheinen die Katakomben dieser
Giraffen- und Elefantenwelt bis tief nach China hinein zu gehen und
sicherlich reichen sie südöstlich bis Java, also unmittelbar bis über
den Aequator hinaus.

Aber umgekehrt ist auch bei Pikermi in Griechenland west- und
nordwestwärts kein Halt. Ungarn, Italien, Spanien haben ihre durchaus
entsprechenden Fundstätten. Die Razzia auf dieses geheimnisvolle
Tiervolk, die auf Java unter Palmen beginnt, endet nach modernen
Begriffen buchstäblich beim guten deutschen „Aeppelwein“, -- bei
Eppelsheim zwischen Alzey und Worms. Dort ist schon 1835, also drei
Jahre vor dem Affenknochen von Pikermi, ein wahrhaft fürchterlicher
Schädel ausgegraben worden, -- zum nicht geringen Schrecken der
trefflichen Pfälzer, die sich in ihrem gemütlichen Lande solcher
unbehaglichen Vergangenheit nicht versehen hatten. Mit seinen abwärts
gekehrten Hauern erwies er sich als Kopf jenes „Schreckenstiers“ oder
Dinotherium, das uns auch in den Sivalik-Hügeln selber begegnet ist und
das ebenso in Pikermi lebte.

Kein Zweifel: eine einzige Welle großer Tiere, die wir heute ohne
weiteres Tropentiere nennen müßten, ist in diesen grauen Tagen -- in
ihrer warmen Sonne werden sie nicht grau, sondern sehr blau gewesen
sein -- quer durch ganz Asien herangekommen und abgeströmt durch das
ganze südliche und mittlere Europa bis zur atlantischen Küste und bis
nach Deutschland hinauf.

Es spricht mancherlei dafür in einer hier und da bemerkbaren
Reihenfolge des Auftretens, daß der Verlauf wirklich diese Form hatte:
einer Einwanderung von Osten, von Asien über Kleinasien hinweg,
westwärts nach Europa und dann tief in dieses hinein.

Und in dieser Pfeilrichtung, von Sonnenaufgang abendwärts, ist damals
auch der ungeschlachte Geselle vom Schweine- und Paarhufer-Stamm auf
die Wanderschaft gegangen: der Hippopotamus.

Es macht den Eindruck, als seien die Tiere schubweise gekommen. Wir
wissen ja aus historischer Zeit, wie das manchmal so geschieht. So
kam im achtzehnten Jahrhundert die braune Wanderratte zu uns aus der
asiatischen Steppe. Als die ersten Kolonisten das Land nördlich vom
Kap besiedelten, wurden sie alle paar Jahre durch das jähe Vordringen
unglaublicher Massen von Antilopen, sogenannter Springböcke, in Angst
versetzt. Diese einzeln so harmlosen Grasfresser bewohnten weite
wasserarme Steppen des Binnenlandes. In guter, futterreicher Zeit
vermehrten sie sich dort wie Sand am Meer. Dann trat, durchweg alle
vier, fünf Jahre, eine große Dürre ein, und nun kam die Armee der
Hungernden in Fluß. Wie ein zappelnder Fleischkoloß von einheitlicher
Masse ergossen sie sich, dichtgedrängt zu Millionen, südwärts in das
Ansiedlerland, -- wehe jedem Hälmchen Grün dort, dieser Heerwurm des
Antilopenvolkes wütete in den Kulturen schlimmer als Löwen und Panther.
Heute ist das freilich, dank der schnellen Aufräumearbeit, die das
erbarmungslos angewandte Feuergewehr unter der Hochtierwelt Südafrikas
allgemein besorgt hat, nur noch eine alte Ueberlieferung.

Aber in solchen stoßweisen Massenbewegungen, müssen wir uns denken, hat
damals auch Asien seine Tierwelt zu uns herüber geschickt.

In unerschöpflicher Weite müssen sich westwärts immer neue fruchtbare
Weidegründe von ziemlich gleichförmiger Beschaffenheit aufgetan
haben, in die der langsame Strom eintreiben konnte je nach Bedarf.
Als das Dinotherium schon bei Eppelsheim war, waren andere noch weit
zurück. Ein Trupp ging schneller, andere ganz langsam, im Verlauf
erst unzähliger Generationen. Es war wie bei der so viel späteren
Völkerwanderung der Menschen, die auch westwärts zunächst abfloß und in
hundert verschiedenen Formen sich ausgestaltete.

Das Nilpferd, scheint es, gehörte zu den langsamen Wanderern. Das ist
ja so verständlich bei seiner Lebensweise. Es ging sicherlich immer mit
den Flußnetzen, stromaufwärts, -abwärts, wo es sie traf, bis endlich
eine besonders schmale Wasserscheide die Brücke in ein neues Netz gab.
Sie sind selber verschollen, diese Flüsse. Aus ihnen können wir den Weg
nicht mehr konstruieren. Aber die Reste des Riesen geben hier und da,
unverwüstlicher als ganze Stromsysteme, gleichsam Marksteine ab.

Jetzt endlich, aus dieser Linie vom Himalaya bis Eppelsheim, verstehen
wir, wie dem guten Doktor Gesner zu Zürich Nilpferdknochen zukommen
konnten aus unverfälschter Schweizererde, ohne daß Menschenschabernack
oder Teufelshilfe im Spiele war.

In Pikermi selbst ist zwar bisher kein Nilpferd gefunden worden.
Vielleicht bloß zufällig. Vielleicht aber war es damals noch nicht
so weit auf seiner gemächlichen Westwanderung. Wenig später ist es
jedenfalls gekommen, -- gekommen auch aus diesem ewig rätselvollen
Asien, das immer wieder wie eine Wiege der Dinge in der Geschichte
auftaucht. Damals entsandte es Giraffen, Mastodonten und Nilpferde, wie
es Jahrhunderttausende später Menschenvölker entsandt hat. Woher im
letzten Schoße, -- das lehrt uns auch die alte Tierstraße nicht, deren
Spuren wir eben aufdecken.

Es ist abermals eine klassische Station, wo wir dem Behemot zuerst
in Europa begegnen: im Tale des Arno, des Flusses von Florenz. Lange
Zeiträume hindurch muß es hier von Nilpferden geradezu gewimmelt
haben. Die weite Wanderung war ja nicht ohne eine gewisse Wandlung
hingegangen. Dieses Arno-Nilpferd hatte schon einen Schneidezahn
jederseits weniger als der alte Ur-Behemot der Sivalik-Hügel, und damit
entsprach es so gut wie ganz unserm Alt-Aegypter. Bloß noch etwas
größer scheint es gewesen zu sein, -- _Hippopotamus major_ ist es
deshalb getauft worden.

Dieses Groß-Nilpferd taucht dann ganz entsprechend auch in Frankreich
auf, in Süddeutschland, ja in wahrhaft überwältigender Fülle in
England. Im Britischen Museum zu London steht eine ganze Mustersammlung
englischer Nilpferde, aus South Wales, Kent, Suffolk, Essex, ja
unmittelbar aus dem Tal der Londoner Themse. Hierher gehört natürlich
auch der Schweizer Hippopotamus Gesners. Einmal im Besitze Europas,
zählte der Behemot dann sogar zu den zähen Eroberern. Er dauerte noch
lange aus, als mit dem Ende der Tertiär-Zeit das Klima in ganz Europa
fort und fort schlechter wurde.

Es nahte damals bekanntlich die große Eiszeit, die sich in ganz
Nordeuropa wie ein langer, lebentötender Polarwinter zwischen die
warme Tertiär-Zeit und die gemäßigte Temperatur von heute schob. Aber
diese Eiszeit ist, wie alle großen Umwälzungen der Erdgeschichte, ganz
langsam herangekommen. Affen und Giraffen gingen dabei unter oder
wanderten aus. Andere, zähere Gesellen aber versuchten es mit der
Anpassung an die zunehmende Kälte. Elefant und Nashorn hüllten sich in
ein dickes, warmes Zottelkleid, als die Gletscher überall aufblinkten.
Eine besonders anpassungsfähige Antilope blieb ihren Bergen treu trotz
aller Schneelawinen: dauert sie doch heute noch als unsere allvertraute
Gemse im Schweizer Hochgebirge aus. Lange, scheint es, hat auch das
Nilpferd sozusagen getrotzt gegen den immer mehr verlängerten Winter,
den immer kargeren Sommer.

Besonders aus dem Main- und Rheintal wollte es sich rein nicht
verdrängen lassen. Es muß das eine Gegend gewesen sein, die
jahrtausendelang alle nur ausdenkbaren Nilpferd-Bedingungen bot, --
seltsam genug, wenn man an heute denkt.

Als aber die Flüsse allzu dauernd mit Eis gingen oder wohl ganz von
ihrem Quellgletscher auch talabwärts erobert wurden (wuchsen doch die
Schweizer Gletscher bis in den Bodensee und Genfer See), da scheint es
endlich doch auch langsam nach Süden zu Reißaus genommen zu haben. Die
eigentliche sibirische Kälteanpassung der Mammute und Pelz-Nashörner
hat es jedenfalls nicht mitgemacht.

In der Eiszeit ist der Mensch schon da, als Urmensch freilich erst
ohne schriftliche Ueberlieferung. Dann, diesseits der Eiszeit von uns
aus, kommt jenes eigenartige Interregnum: die Kulturepoche, die bei
den Aegyptern, Babyloniern, bei den Mykenä-Königen in Griechenland
und so weiter zuerst für uns hell wird, setzt ein, -- aber sie setzt
ein in faustdickem geschichtlichem Nebel. Noch fehlen alle Fäden, die
herüberleiten. Woher sind die Aegypter gekommen? Woher die Hellenen?
Düsternis, Nacht, Fragezeichen überall. Und genau unter diesem
Nebelreif, der vielleicht wieder Jahrtausende umfaßt, verschwindet das
Nilpferd ganz aus Europa, -- auch aus dem Mittelmeergebiet.

Es hat durchaus den Anschein, als sei es auf der Flucht vor der Eiszeit
zuerst nur auf die Mittelmeerländer eingeschränkt worden. Diese müssen
eine Zeitlang noch sehr viel Landgebiet auch da gewährt haben, wo heute
das Mittelmeer selber rauscht: Landgebiete, die zugleich Brücken nach
Afrika bildeten.

Sehr wahrscheinlich war unser Freund schon in jener Zeit, als die ganze
bunte Tiergesellschaft der Sivalik-Hügel zuerst in Europa erschien,
gleich mit einem Seitenstrom dieser Tierwelle auch nach Nordafrika
hinübergegangen. Ein Siva-Hippopotamus mit sechs Schneidezähnen liegt
nämlich in alten Schichten Algiers. Möglich, daß erst jetzt, also viel
später, das echte Nilpferd mit vier Schneidezähnen im Rückstoß von
Europa her Afrika berührte. Und so ist es wahrscheinlich damals an den
Nil erst in seiner echten Gestalt gekommen als ein später Flüchtling
aus dem ungastlichen Europa.

Höchst originelle Spuren dieses letzten Aktes liegen für uns auf
einigen Inseln des Mittelmeers.

Sizilien sowohl wie Kreta stecken voll von ganz jungen, oberflächlich
herumgestreuten Nilpferdresten. Kreta ist der sonderbarste Fall. Auf
absolut wasserarmen Hochebenen liegen die Nilpferdgerippe heute dort im
trockensten Geröll. Hier müssen einst Seen gewesen sein, von Flüssen
gespeist. Aber die Insel böte keinen Raum, keinen Anhalt, sich das
auch nur in der Phantasie noch wieder zu gestalten. Es muß eben zu
jener Zeit keine Insel hier gewesen sein. Der heutige Felsstock der
langen dünnen Insel kann nichts anderes sein, als ein stehengebliebener
Pfeiler alten Festlandes, das sich noch in verhältnismäßig jungen
Tagen dort dehnte und auf dem die Flußpferde gemächlich Station gemacht
haben. Das Untersinken weiter Landstrecken im Mittelmeer, das breite
Kontinentrücken zu einzelnen schaumgepeitschten Inseln zersplitterte,
besiegelte erst ihr Schicksal.

Diese Mittelmeergebiete, im Bereich der Griecheninseln sowohl wie
zwischen Sizilien und Afrika, sind ja bis auf diesen Tag Schauplatz
gärender Erdbewegungen. Erdbeben erschüttern die noch stehenden
Landsockel, im Meeresgrunde platzen vulkanische Eruptionen los,
ja neues Inselland steigt (wie die berühmte Insel Ferdinandea von
1831) gelegentlich gespenstisch aus der Tiefe. Vielleicht lebt noch
sagenhafte Tradition von jenem großen Sinken, das Kreta zur Insel
machte und seine Nilpferde tötete, in der schönen Geschichte der
Griechen vom Untergang der Atlantis, -- eine Sage, die wahrscheinlich
erst viel später in den entlegenen atlantischen Ozean „verlegt“ worden
ist, wie so oft Sagen mit erweiterter Weltkenntnis umprojiziert werden.

Auf Malta scheint der Vorgang gerade bei den Nilpferden noch eine
höchst lehrreiche Zwischenstation gehabt zu haben.

Als hier die alte Festlandbrücke, die Sizilien oder besser noch das
Festland von Italien trocken mit Afrika verband, ins Splittern kam,
als Sizilien sich nach beiden Seiten losriß, die Afrikabrücke in
ganzer Breite unter Wasser tauchte und nur Malta wie eine einsame
Säule, zeugend von entschwundener Pracht, mitten in den blauen Wassern
stehen blieb: da geschah den einheimischen Nilpferden etwas ganz
Eigentümliches. Sie starben nicht gleich aus, aber sie verkümmerten
bei lebendigem Leibe. Das Nilpferd ist, wie wir gesehen haben, wenig
anderes als ein ins Riesenhafte vergrößertes Schwein. „Flußschwein“
träfe seinen Charakter als Namen viel besser als „Flußpferd“. Nun
scheint es, daß von alters in diesem wahren Ueberschwein an Größe eine
gewisse Neigung liegt, gelegentlich wieder Rückschläge zu liefern auf
die einfache Normalfigur schweineartiger Tiere. Heute noch lebt in
Ober-Guinea eine Nilpferd-Sorte, die gewohnheitsmäßig noch nicht zwei
Meter lang wird. Dabei handelt es sich keinenfalls um eine etwa ältere
und deshalb noch schweineähnlichere Stammform des großen Behemot,
denn dieses Liberia-Nilpferd hat nicht sechs Schneidezähne gleich den
Siva-Ahnen, sondern es hat im Unterkiefer nicht einmal mehr vier wie
der Nilriese.

Eine ganz ähnliche kleinere Art findet sich nun in zahlreichen
Knochenresten bei Palermo in Sizilien. Auf Malta aber stößt man auf die
Gerippe eines wahrhaften Duodez-Nilpferdes. Und diese Zwergform wird
vollends merkwürdig durch Elefantenknochen, die damit zusammenliegen
und die in der Zusammensetzung ausgewachsene Elefäntchen von zwei und
(in der kleinsten Art) sogar nur +einem+ Meter Höhe ergeben, also
Tiere, schließlich nur noch wie ein Kalb so groß.

Das muß einen Sinn haben. Und es ist von allen der wahrscheinlichste
eben der, daß die Riesentiere, Elefant und Nilpferd, des alten
Festlandes an dieser Stelle +verkümmerten+, als das Festland
sich auflöste und schließlich nur noch die kleine Insel Malta als
letztes Asyl der Riesen aus den Fluten ragte. Das Futter wurde dünn
und immer dünner, -- und so entstand in einer Art zwangsweiser
Hemmungs-Anpassung ein Pygmäengeschlecht, Elefanten wie Kälber und
Nilpferde wie Schweine. Malta wird von Philologen bisweilen für die
Insel Ogygia der Odyssee, das selige Eiland der Nymphe Kalypso, von
andern auch wohl für das Heim der Zauberin Kirke gehalten. Man träumt
unwillkürlich, wie der Dulder Odysseus noch zu diesen Zwergelefanten
und Zwergnilpferden geraten wäre. Aber das war wohl lange hin, als
die Phönizier zum erstenmal Malta fanden und Schiffermärchen darüber
verbreiteten. Kirkes Schweine werden so wenig die Schweinenilpferdchen
Maltas gewesen sein, wie der grause Minotaurus im Labyrinth auf Kreta
ein überlebender Riesenhippopotamus dieser Insel war. Geschichtlich im
Sinne menschlicher Schrift- und Bildertradition taucht das Nilpferd
zuerst in Aegypten auf.

Damit wären wir aber im Verlauf unseres Kreises der Dinge wieder auf
dem Punkt, von wo wir ausgegangen sind.

Mit dem vollen strahlenden Aufgange der Kultursonne erscheint der
Behemot dann auf der Flucht auch von Aegypten fort, ins tropische
Innere Afrikas hinein, das er wahrscheinlich längst schon auf andern
Wegen erreicht hatte.

Diesmal war es nicht mehr Flucht vor Landzerstörungen durch die See.
Es war Flucht vor dem Menschen. Ein Zurückweichen, bedingt durch ein
stetiges Anwachsen des systematisch erweiterten Ausrottungsgebiets.

Die Hilflosigkeit des „großen“ Tiers vor dem menschlichen Werkzeug,
vor allem dem Feuergewehr, drückt sich darin mit erbarmungsloser
Folgerichtigkeit aus. Die Kleinen, die Unsichtbaren, die Bazillen
und Bakterien, trotzen uns Menschen noch, weil zu ihnen das grobe
Schießgewehr nicht langt. Der Riese ist für uns das leichteste
Angriffsobjekt. Ein Leitwort der Urwelt kommt aus diesem violetten
Fleischkoloß; es hieß Zertrampeln. Das aber gerade hat für uns gar
keine Bedeutung mehr. Hier ist der Mensch der große Bändiger, der große
Ueberwinder, der spielend die Urwelt umwirft, wie Odysseus den Polyphem.

Noch einmal, auch im tropischen Afrika, ist dem Nilpferd eine
Insel gefährlich geworden im Sinne seiner alten Abenteuer. Auf
Madagaskar hatte es sich angesiedelt, zwischen riesigen Halbaffen
und flugunfähigen Vögeln von der Größe der fabelhaften Greife. Aber
auch dort ist es zuerst verkümmert zu einer Zwergform und dann ganz
eingegangen.

Im großen Festlande von Afrika wird es nicht verkümmern, sondern es
wird zwischen zwei Jägerfeuern enden: den Schießgewehren derer, die von
Norden, und derer, die auf dem Burenwege von Süden kommen.

Und der letzte Behemot, das steht sicher in seinen Sternen, wird
in einem europäischen zoologischen Garten, satt gefüttert, aber
altersschwach, das Zeitliche segnen, betrauert vom Naturforscher, der
wieder einmal ein Körnlein Urwelt im unerbittlichen Stundenglase der
Zeit verrinnen sieht -- ein stattliches Körnlein, aber doch nur Staub,
wie es einst der ganze noch viel stattlichere Planetenkörper, der es
erzeugt hat, sein wird.

Aus Erde bist du genommen, zu Erde sollst du werden. Und nur der
Gedanke lebt, -- der große Naturgedanke, aus dem du geworden bist; und
der Menschengedanke, der dein Werden noch einmal zurücksucht, -- -- du
Stück Weltgeschichte -- Nilpferd.




Die Wunderwelt der Radiolarien.

Ein Blick in die Tiefsee.


Wir alle kennen das alte liebe Märchenbild vom „Schatz in der Tiefe“.

Durch einen Zauberspruch gelöst, öffnet sich der Berg und im roten
Licht eines Geisterflämmchens glühen unendliche Reichtümer auf.
Oder dem Sonntagskinde in der Maiennacht klärt sich der tiefe Strom
zu durchsichtigem Kristall und im Blau da unten schimmert es von
versunkenem Golde. Das schlaue „Venediger Männlein“ aber bringt gleich
einen Zauberspiegel mit, in dem sich jede verborgene Kostbarkeit klar
abspiegeln muß und läge sie noch so tief.

Alte Schnurren -- die Zeiten haben sich verwandelt, wunderbarer, als
das Volksmärchen träumt. Der Naturforscher ist das wahre Venediger
Männlein geworden, das durch Bergwände schaut und in Wassergründen
liest.

Neben mir, wie ich das schreibe, steht einer seiner stärksten
Zauberspiegel: das Mikroskop. Ich werfe einen Blick hinein. Und auch
mir ist, ich schaue in einen Nibelungenhort.

Da liegt es unendlich gehäuft, ganz so, wie man sich einen
verwunschenen Schatz der Zwergentiefe malt. Im halben Schein des etwas
abgeblendeten Lichtes köstlichste Geschmeidearbeit aus gediegenem
Silber. Blanke Schilde mit Stacheln am Rande. Alte wunderliche Helme
mit Pickelhaubenspitze und langen Ohrklappen. Kugeln und Becher,
Schüsseln und silberne Flaschen, strahlende Teller mit kunstvoller
Verzierung wie aus dem berühmten Silberschatz von Hildesheim.
Medaillons und Körbchen in zierlichstem Filigran. Vogelbauer und
Kinderspielzeug, Rasseln und kleine Windmühlen, aber alles durch
äußerste Kunst zum Wertstück erhöht. Die Kronen verschollener Könige,
doch auch silberne Dornenkronen wie ein mahnendes Gegenstück aller
Erdenmacht. Große prunkende Ordenssterne mit den schönsten Kreuzen
darauf. Scepter und Schwerter, Hellebarden und Streitäxte, lateinische
und russische Kreuze an langem Schaft. Einiges ist zerbrochen, wie es
uralten Schätzen der Sagenzeit geziemt. Aber noch jedes Trümmerstück,
jeder Fetzen eines Kettenpanzers, jeder abgebrochene Dolchgriff ein
Kunstwerk, wie es keinem Waffenschmiede der Epigonenzeit mehr glückt.

Wo liegt dieser Schatz?

Ich ziehe ein kleines Glasplättchen unter dem Mikroskop hervor.
Zwischen zwei Gläsern dieses Plättchens erscheint dem freien Auge etwas
wie eine schwache Trübung. Eine Anzahl winzigster Pünktchen, etwa als
sei eine leichte Prise Schnupftabak hier eingeklemmt. Ein kleiner
Zettel an der Seite des Plättchens gibt dazu lakonisch dunklen Bericht.
„_Radiol. Ooze. Chall. Stat. 271. C. Pacif. 2425 Fd._“

Ooze (englisch) heißt Schlamm. Radiolarian-Ooze ist Schlamm, der
fast ganz aus den Kieselschalen gewisser Geschöpfe besteht, die der
Naturforscher als +Radiolarien+ bezeichnet. Die vorliegende
Probe solchen Schlammes ist von den Gelehrten des englischen
Schiffes „Challenger“ (zu deutsch „Der Herausforderer“) auf der
zweihunderteinundsiebenzigsten Station ihrer wissenschaftlichen
Expedition um die Erde gesammelt worden. Und zwar geschah es im
Zentral-Pacific, also im Herzen des Stillen Ozeans. Es handelt sich
um eine Schlammprobe vom Grunde des Ozeans. 2425 Faden maß die Tiefe
dieses Ozeans an jener Stelle. Ein englischer „Faden“ mag zu etwa ein
Meter achtzig gerechnet werden. Das gibt eine Wassersäule von über
4350 Metern. Die Jungfrau im Berner Oberland ist nur 4167 Meter hoch.
Man könnte sie an jener Stelle in den Stillen Ozean versenken, und das
größte Schiff würde noch über ihren Gipfel wegfahren, ohne an eine
Klippe zu stoßen.

Aus solcher ungeheuerlichen Tiefe ist die kleine Probe „Schnupftabak“
heraufgeholt. In Kanada-Balsam zwischen zwei Glasstückchen konserviert,
hat sie eben unter meinem Mikroskop gelegen. Sie war der „Schatz“, der
bei langsamer Bewegung des Glasplättchens in silberner Schöne an meinem
staunenden Auge vorüberzog.

Jedes der Schatzstücke, das ich sah, war in Wahrheit nur die
Vergrößerung eines Pünktchens, dem bloßen Auge einzeln kaum oder gar
nicht mehr wahrnehmbar. Und jedes dieser Pünktchen ist die einzelne
Schale eines einzelnen Lebewesens -- eine Schale, in der einmal ein
lebendiges Wesen gehaust hat, eine Schale, die dieses lebendige Wesen
selbsttätig sich gebildet hatte, wie ein kleines Menschenkind sich
Zähne bildet oder ein Schmetterling sich seine bunten Flügel baut.

Jede Art dieser Geschöpfchen baut sich auch nach besonderer Art ihr
Schälchen, in dem sie wohnt, ihr Skelett gewissermaßen, das ihren sonst
weichen Körper stützt. Eine ganze Fülle solcher Arten aber barg die
eine winzige Schlammprobe.

Sie sind nicht wirklich von Silber, diese Schalen. Aus Kieselsäure
sind sie zumeist aufgezimmert, demselben Stoffe, der den schönen
Bergkristall baut.

Wunderbar aber vor allem: diese Kieselschalen treten uns entgegen
als Gebilde, allen Ernstes sehr vergleichbar den herrlichsten Proben
menschlichen Kunsthandwerks. Sie zeigen sich wirklich zu Kronen und
Sternen, Helmen und Bechern aufs vollkommenste geformt. Aesthetisches
Wohlgefallen wird in kühnster Form in uns geweckt. Und das alles in
einer Welt verschwindender Kleinheit, heraufgeholt aus Meerestiefen,
in denen eine Jungfrau versinkt, von uns getrennt nicht bloß durch die
Ferne des Tropenozeans, sondern auch dort noch durch eine halbe Meile
Wasser, in der das letzte Stäubchen Sonnenlicht längst erloschen ist,
ehe die ganz große, ganz schaurige Tiefe sich auftut✹....

Der Blick schweift vom Mikroskop fort über eine lange Kette seltsamer
Zusammenhänge, die dieses Bild, diesen Gedanken ermöglicht haben. Ueber
ein Stück Kosmos und ein Stück menschlicher Geistestat.

Tiefseeforschung!

Was man vor hundert Jahren noch unter diesem Worte sich gedacht hätte!

Man hat wohl gesagt, der Ozean sei die Wiege der menschlichen Kultur.
Es ist vielleicht wahrer, daß er der Prüfstein der Kultur ist, der
Prüfstein einer Kultur, die zugleich Erderoberung war.

Der Kulturmensch hatte den Urwald, die Wüste, das Hochgebirge
überwunden, als er vor der endlosen Fläche des Ozeans noch immer mit
dem Grauen wie vor einem unergründbaren Ungeheuer stand. Und als er
dann endlich, im Zeitalter der großen Entdeckungen, nun doch wagte,
den gewölbten Rücken dieses Ungetüms zu überklettern, da blieb ihm das
eigentliche Grauen noch lange treu. Auf Holzplanken steuerte er sich
hinüber. Aber da drunter war’s fürchterlich, Kraken und Seeschlangen.
Und ein unmeßbarer schwarzer Schlund, der immer bereit war, Schiffe zu
fressen, aber sonst auf nichts Antwort gab. Tief, entsetzlich tief ging
das hinab.

Wie tief, darüber hatte man allerdings keinerlei Erfahrungen, sondern
nur alte Mythen.

Aus dem Altertum überkommen war eine Art philosophischer Messung,
offenbar im einsamen Grüblerstübchen zuerst ausgeheckt. Alles in der
Welt folgt strengen Gesetzen der Symmetrie. Tiefe und Höhe stehen in
einem geheimen Wechselverhältnis. Also wird die höchste Bergerhebung
der äußersten Meerestiefe auf Erden entsprechen. So schloß man. Wie
hoch die obersten Bergspitzen wirklich waren, wußte man damals freilich
auch noch nicht. Immerhin riet man auf ein paar tausend Meter nach oben
und unten.

An tatsächliche Messungen in die großen Ozeantiefen konnten aber
selbst Kolumbus, Vasco da Gama und Magalhaes noch nicht denken. Die
kurzen Lotleinen von höchstens vierhundert Metern Länge, die an den
Küsten genügten, verloren im freien Ozean jeden Wert. Vergebens lotete
Magalhaes auf seiner Weltumsegelung damit, er fand keinen Grund. Und
da, wo selbst jene philosophische Deduktion nicht hingedrungen war,
zweifelte man noch in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts
ernstlich daran, ob das Weltmeer +überhaupt+ allerorten einen
Grund habe. Der treffliche Lüneburger Geograph Bernhard Varenius mußte
noch 1671 diesen Glauben ausdrücklich widerlegen.

Hundert Jahre später befuhr der große Cook den Stillen Ozean und das
südliche Eismeer, ausgerüstet mit aller Wissenschaft seiner Zeit.
Diesmal ging das Lot auf vierhundertfünfzig Meter hinab, ohne den
Boden zu treffen. Fast um dieselbe Zeit, Anfang der siebziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts, ließ Phipps bei Spitzbergen gar zwölfhundert
Meter Leine laufen, noch immer ohne Erfolg. Endlich, 1818, glaubte sich
John Roß in der Baffinsbai einer großen Lösung nah: sein Lotapparat
stieß bei fast zweitausend Metern auf und brachte sogar mit Hilfe einer
kunstvoll ersonnenen Kneifzange eine Probe des Grundschlammes (mit
lebenden Tieren darin) ans Licht.

Um diese Zeit wußte man aber bereits sehr gut, daß zweitausend Meter
noch nichts bedeuteten gegen die wirkliche Höhe der stolzesten
Bergriesen auf der Erde. Sollte also der antike Glaube recht haben,
so mußte Roß’ Zweitausendmeterstelle immer noch eine verhältnismäßig
seichte Stelle sein, und von anderen Punkten ließ sich weit mehr
erwarten, nachdem überhaupt so lange Lotleinen einmal erfunden waren.

Einstweilen sollte es aber gerade mit diesen Leinen noch eine böse
Sache werden. Im Juli 1843 meinte der jüngere Roß auf seinem dritten
Vorstoß gegen den Südpol eine Tiefe von über achttausend Metern
festgestellt zu haben, ohne noch dabei Grund gefunden zu haben. In
dieser Zeit war durch die Engländer schon die Höhe des Dhawalagiri im
Himalaya auf mehr als achttausend Meter bestimmt, die alte Forderung
schien also ungefähr erfüllt.

Als aber in den fünfziger Jahren gar Angaben über Tiefenmessungen bis
zu vierzehn- und fünfzehntausend Metern Seetiefe folgten, begann die
Kritik stutzig zu werden. Man verwertete allerdings jetzt die nötige
Schnurlänge zu kolossalsten Messungen, und jeder Beobachter modelte
an der Art dieser Schnur und ihrer Lote herum. Aber es stellte sich
gleichwohl heraus, daß man die Ablenkung der Leine durch Strömungen
und andere wichtige Störungen nicht beseitigt, ja nicht einmal in
Betracht gezogen hatte. Und so wurden gerade diese neueren Ziffern, mit
Einschluß auch der von Roß aus dem Südmeer, nachträglich alle wieder
illusorisch. Die ganze Arbeit stand abermals beim Anfang.

Diesmal griffen aber die Amerikaner alsbald mit höchster Energie ein.

Für sie trat mit den fünfziger Jahren die Tiefseefrage aus dem Nebel
allgemein philosophischer Betrachtung oder auch dem engeren Zweck rein
geographischen Fachstudiums heraus in das grelle Licht einer äußerst
dringlichen +praktischen+ Forderung.

Die Idee eines unterseeischen Telegraphenkabels zwischen Europa und
Amerika tauchte auf.

Die endliche Erfüllung dieser grandiosen Idee bedeutet technisch den
Moment, da der Kulturmensch sein altes Grauen vor dem „Ungeheuer Meer“
endgültig abgeschüttelt und den Ozean bis in seinen Abgrund hinab
dauernd für sich erobert hat. Für die Tiefseefrage im alten Sinne aber
bedeutete sie zugleich die Epoche der Lösung.

M. F. Maury von der Marine-Sternwarte zu Washington (1806-1873)
revidierte jetzt die ganze Theorie und Praxis des Problems, und die
Kabelarbeiten selbst führten allmählich zur genauesten Kartenaufnahme
zunächst des Atlantischen Seebodens zwischen Irland und Nordamerika, in
der auch exakte Tiefenmaße ihre Stelle fanden.

Zum erstenmal bekam man in Maurys Zusammenfassung nicht bloß einige
vage Ziffern, die der Phantasie aufhalfen, sondern es erschien das
regelrechte Bild eines ganzen Ozeanbodens, wie er sich in Ebene, Tal
und Gebirge darstellen müßte, wenn das deckende Wasser fortgedacht wird.

Maury selbst und mit viel mehr Glück noch Brooke und Baillie
verbesserten auch das Tiefenlot selbst, das schließlich doch zum
annähernd fehlerfreien Registrierapparat umgeschaffen werden sollte und
zugleich das Heraufziehen von Grundproben auch aus den gigantischsten
Tiefen ermöglichte. So ließ Brooke das Lotseil in einer Eisenstange
enden, die unten ein paar vorstehende, beim Druck leicht in die Stange
selbst hineinzustoßende hohle Federspulen trug. Um diese Stange war
eine durchbohrte schwere Kanonenkugel so befestigt, daß sie Stange und
Lotseil zunächst durch ihr Gewicht bis auf den Grund mitriß, im Moment
des Aufschlagens aber sich automatisch löste. Die befreite Stange und
Leine konnten dann leicht wieder aufs Schiff hinaufgezogen werden, und
in den Federspulen, die der Stoß unten zuerst in den Schlamm hinein-
und dann in die schützende Stange zurückgetrieben hatte, kamen zugleich
Proben des Tiefseeschlammes selber mit herauf. Diese Methode wurde von
Ballie dann noch wesentlich verfeinert und ist in der Folge bis auf
ein gewisses Maximum der Brauchbarkeit innerhalb der Prinzip-Grenzen
getrieben worden.

Jedenfalls gingen die Sachen im Sinne des alten Problems jetzt mit
Riesenschritten vorwärts. Und nachdem man inzwischen den Gaurisankar
im Himalaya-Gebirge als wohl endgültig größte Bergerhebung der
Erde mit 8840 Metern festgestellt, fanden sich in den folgenden
Jahrzehnten jetzt wenigstens +einige+ Seetiefen im Atlantischen
und Pacifischen Ozean hinzu, die diesem Gaurisankar nun doch ungefähr
entsprachen, auch bei Anwendung der schärfsten Lotapparate. Wie die
Dinge heute liegen, scheint es allen Ernstes, daß jene Maße unseres
Planeten nicht ganz, aber doch annähernd sich die Stange halten:
wenig über eine deutsche Meile vom Meeresspiegel an aufwärts in das
Luftreich hinein und etwas über eine Meile abwärts in die Wassernacht.
Vielleicht ist es nur zufällig so. Vielleicht aber auch hat es wirklich
sein Gesetz. Die größte zur Zeit gemessene Seetiefe liegt bei der
Ladronen-Insel Guam (also im Stillen Ozean, nicht allzu weit von Japan)
mit vollen 9644 Metern. Das Wasser muß auf diesem Loch mit annähernd
tausend Atmosphären lasten!

Wie es aber so oft in der Geschichte menschlicher Forschung gegangen
ist: in dem Moment, da das antike Problem der „reinen Tiefe“ erledigt
war oder wenigstens dicht vor seiner Erledigung stand, erschien es in
gewissem Sinne schon gar nicht mehr als so ausschließlich interessant.
Ein ganz anderes „Tiefseeproblem“ rückte nicht technisch, aber
allgemein wissenschaftlich in den Vordergrund.

Gut, die Lotleine mochte so und so viel tausend Meter abrollen. Die
wichtigere Frage aber stellte sich sofort dahinter: Wie sieht es, wenn
es denn so schaurige Abgründe da unten gibt, in diesen Abgründen aus?
Vor allem: gibt es +Leben+ da unten?

Von der Länge der Lotleine schweifte der Blick des Forschers hinweg
zu jenen Schlammproben, die der Apparat heraufbrachte. Und abermals
war es eine reiche Kette der Meinungen, Behauptungen, Irrtümer, die
vor diesem neuen Problem aus den Tiefen menschlichen Denkens sich mit
heraufzog.

Vom „unfruchtbaren Meere“ singt der Grieche der Homerischen Zeit -- in
Liedern, die das Meer doch schon so gewaltig schildern. Es klang etwas
davon fort bis tief in unser Jahrhundert hinein in dem festen Glauben,
daß der Ozean, wenn auch auf seiner Fläche nicht wirklich lebensarm, so
doch abwärts in die Tiefe hinunter ein +einziges ungeheures Grab+
ohne jedes Stäubchen fortdauernden Lebens sei.

Im Grunde: was wußte man bis an unser neunzehntes Jahrhundert heran
selbst vom Leben der Meeresfläche? Ein paar große Merkwürdigkeiten. Daß
Fische darin wimmelten, die gelegentlich wie die Heringe wahre Inseln
bildeten, niemand ahnte woher, und ein andermal wieder geheimnisvoll
fehlten. Daß der Walfisch sich heraufhob wie eine Berglast dem Menschen
nützlicher Artikel, die man sich allerdings nicht entgehen lassen
durfte; man nahm das so gründlich, daß dieser Riese der Salzflut
beinahe ausgerottet war, ehe man sonst vom Leben im Ozean etwas Rechtes
kannte.

Der Hering wie das fälschlich „Walfisch“ getaufte Seesäugetier waren
beide noch Vertreter der Wirbeltiere. Das ist +einer+ der großen
Tierstämme, die wir heute unterscheiden. Das Meer beherbergt aber
zahllose Tierformen aus mindestens acht Stämmen -- außer Wirbeltieren
noch Manteltiere (Ascidien, Salpen), Mollusken (Schnecken, Muscheln,
Tintenfische), Stachelhäuter (Seeigel, Seesterne, Seegurken),
Gliederfüßer (Krebse), Würmer, Cölenteraten (Schwämme, Polypen,
Medusen) und endlich Angehörige des Mischstammes der sogenannten
Protozoen oder Urtiere. Und von diesen acht Stämmen kommen zwei, die
Manteltiere und die Stachelhäuter, ganz, einer, die Cölenteraten,
fast ausschließlich im Meere vor. Wie wenig die ältere Tierkunde
damit noch rechnete, zeigt am besten die Systematik bis auf die Mitte
unseres Jahrhunderts. Linné warf alles unterhalb der Wirbeltiere und
Gliederfüßer in einen Topf als „Würmer“. Cuvier löste wenigstens
die Mollusken noch als besondere Hauptgruppe heraus, ließ aber den
ganzen Riesenrest (mit Ausnahme eines Teiles der echten Würmer) immer
noch unter einer haltlosen Rubrik „Radiärtiere“, deren mangelhafte
Definition nur zu gut bewies, wie schwach bis in die dreißiger Jahre
hinein die allgemeine Kenntnis gerade der tieferen, wesentlich
meerbewohnenden Gruppen geblieben war.

Das änderte sich erst in den Tagen der rastlosen Tätigkeit unseres
großen deutschen Physiologen Johannes Müller. Auch Karl Vogt hat nicht
wenig zu dem Umschwung beigetragen.

Auf einmal begriff der Tierkundige, daß das Meer für ihn alles eher als
eine Wüste oder besten Falles ein gelegentliches Raritätenkabinett sein
dürfe. Eines seiner wichtigsten ständigen Beobachtungsgebiete mußte
es werden, das er wie ein kluger Feldherr mit seinen besten Truppen
und einem Netz sicherer Küstenstationen zu umgeben hatte. Johannes
Müller zog mit seinen Schülern, so oft es irgend anging, an die See
und richtete sich mit „fliegendem Laboratorium“ bald an der Nordsee,
bald am Mittelmeer ein, so gut es eben ging. Und es war, als sinke
eine Schranke, die bisher die ganze zoologische Forschung gelähmt, als
jetzt zum erstenmal Naturforscheraugen auch die kleinere und kleinste
Tierwelt des Salzwassers am lebendigen Stück beobachten konnten.
Die Epoche war ohnehin gerade angebrochen, wo man das Mikroskop --
verbessert, wie die Technik es jetzt bot -- als das entscheidende
Geschütz des Tierforschers endgültig anerkannt hatte. Die Zellenlehre,
von Schwann auch für das Tierreich begründet, bot einen ganz neuen
Anhalt zu einer früher nie gewagten einheitlichen Auffassung des
tierischen Organismus in seinem mikroskopischen Innengefüge. Und das
Studium der Jugendformen und Keimformen der Einzelindividuen, durch
Karl Ernst von Bär entscheidend angeregt, verhieß noch einen besonderen
Gewinn, dem wieder gerade eine Menge von Seetieren (zum Beispiel die
ausschließlich marinen Stachelhäuter) aufs glücklichste entgegenkamen.

Indessen auch diese ganze Epoche, wie sie die Namen von Müller,
Schwann, Bär bezeichnen, ging zunächst nur an das Strandgebiet und
die Oberfläche des Meeres heran. Müller fischte die Meeresfläche nach
kleinem und kleinstem Getier mit einem feinen Gazenetz ab wie mit
einem Schmetterlingsnetz. Das war für den Augenblick ein gewaltiger
Fortschritt, der das Material zu einer ganzen Bibliothek köstlichster
Forschung, ja in gewissem Sinne zu einer ganz neuen Zoologie geliefert
hat. Aber die Tiefe des Ozeans kam dabei noch gar nicht in Betracht.
Und die Frage konnte einstweilen noch lange eine offene bleiben, ob
diese Tiefe überhaupt für diesen meerbeflissenen Zoologen irgend
welches Interesse biete.

Allerdings lagen schon in Müllers Zeiten ein paar Versuche vor.
Der alte John Roß hatte, wie erwähnt, bereits 1818 bei seiner
Tiefensondierung von -- behaupteterweise -- fast zweitausend Metern
in der Baffinsbai einen leibhaftigen Seestern heraufgezogen. Kam
er wirklich aus solcher Abgrundstiefe? Dann verhieß das ja ein
unabsehbares Arbeitsfeld. Die ganze Wassersäule von zweitausend Metern
an bis zur Fläche, ja am Ende von jenen Gaurisankar-Tiefen an bis oben
hinauf belebt allenthalben von dem unerschöpflich wimmelnden Groß- und
vor allem Kleingetier, wie es die oberste Schicht dem Mullnetz bot ...
ein grandioses Bild, gegen das alle tierische Lebensfülle des Landes
zurücktrat!

Einige gründliche Züge mit dem Schleppnetz der Austernfischer, die
besonders Michael Sars in Christiania, dem trefflichen Pastor und
späteren Zoologieprofessor, glückten, schienen das ums Ende der
vierziger Jahre nur zu bestätigen. Sars fand reiches Tierleben noch bei
etwas über achthundert Meter Tiefe.

Aber rund um dieselbe Zeit erhob sich gegen alle Behauptungen der Art
die gewichtige Stimme eines Mannes, von dem die Mitlebenden allerdings
meinten, daß er als absolute Autorität reden dürfe.

Edward Forbes (1815-1854) hatte sich sehr eingehend und kritisch mit
der Bevölkerung der englischen Meere und ganz besonders auch des
Mittelmeeres beschäftigt. Er kam im wesentlichen zu dem Ergebnis, daß
von einem eigentlichen Tiefseeleben schlechterdings keine Rede sei.
Tiefer als rund fünfhundertfünfzig Meter sollte überhaupt kein Leben
mehr vorkommen. Schon eine ganze Strecke früher erloschen die Pflanzen.
Dort aber auch die Tiere. Es wurden Gründe vorgebracht, warum es so
sein müsse, -- die alte Geschichte: „Der Philosoph, der tritt herein
und beweist euch, es müßt’ so sein.“!

Forbes war ein zu guter Beobachter, als daß man ihm nicht auch da hätte
folgen sollen, wo er bloß deduktiv schloß. Man übersah aber, daß seine
Verallgemeinerung, die aller Tiefsee das Leben absprach, tatsächlich
eine solche war und sich bloß auf die eine strenge Tatsache stützte,
daß er im Mittelmeer (also keineswegs einem offenen großen Ozean) eine
Abnahme des Lebens nach unten im Sinne jener Ziffern stellenweise
konstatiert hatte. Eine ganze Weile galt Forbes’ Behauptung als
Glaubenssatz. Dem Zoologen gehörte bloß ein winziger Bruchteil des
obersten Meeres. Der Rest war Oede. Oede, deren Finsternis schon
sehr bald das pflanzliche Leben, deren enormer Wasserdruck aber
verhältnismäßig früh auch schon das tierische Leben erstickte.

Bloß, wie gewöhnlich: einige Skeptiker blieben nun doch. Und ihre
letzte Hoffnung richtete sich eben auf jene so rasch aufblühende
Tiefseeforschung im Gefolge der Terrainstudien zur Legung des
transatlantischen Kabels.

Nicht lange, und die Ergebnisse sollten hier wirklich so merkwürdig
werden, daß sie allein jene kostspieligen Studien gerechtfertigt
hätten, auch wenn das große technische Experiment unterseeischer
Telegraphenleitung an sich mißlungen wäre.

Zuerst kam bei den Arbeiten der Engländer und Amerikaner mit dem
Brookeschen Sondierungsapparat Schlamm vom Talboden des Atlantischen
Ozeans herauf, der zahllose Kalkschälchen von Urtieren enthielt.
Das konnten aber immerhin, wenn man skeptisch sein wollte, noch die
abgesunkenen toten Schalen von Geschöpfen sein, die lebend sämtlich
sich ganz oben herumtrieben. Es mußten bessere Beweise heran.

Doch auch die kamen alsbald. Der für diese Studien günstige Zufall
wollte, daß mehrfach Kabelleitungen, nachdem sie bereits jahrelang auf
dem Meeresgrunde gelegen hatten, rissen. Man mußte sie wieder empor
winden und in einem Falle dieser Art, bei dem Kabel zwischen Sardinien
und Algier, zeigte sich das Kabel besetzt mit lebenden Tieren. Seit
drei Jahren hatte es in einer Tiefe von 3600 Metern gelegen. In diesen
drei Jahren hatten sich fünfzehn verschiedene Tierarten in zahlreichen
Exemplaren darauf angesiedelt. Hier war also -- und gerade in Forbes’
„unfruchtbarem“ Mittelmeer -- unzweideutig Leben noch bei 3600 Metern!

Die Beweise wurden aber vollends schlagend, als man anfing, aus
ähnlichen Tiefen Tiere heraufzuholen, denen an der Stirn geschrieben
stand, daß sie an Tiefenverhältnisse +angepaßt+ waren.

Man muß sich erinnern, was dieses Wörtchen „Anpassung“ seit der Wende
zu den sechziger Jahren bedeutete.

Es war keine leere Phrase mehr. Darwin hatte seine große Lehre
aufgestellt. Alles Lebendige der Erde, Tier wie Pflanze, erschien
als der Spielball entscheidender Anpassungsgesetze. Das weiße, dick
bepelzte Polartier zeigte sich den Eisverhältnissen des Poles angepaßt,
das gelbe Wüstentier der heißen Sandöde, der grüne Laubfrosch dem
Blätterwerk, auf dem er saß. Im Lichte dieser Lehre dünkte es wie
etwas Selbstverständliches, daß das Tiefseetier, wenn es überhaupt
existierte, den seltsamen Umständen der Tiefsee angepaßt sein
müsse. Forbes hatte allerdings gerade an der „Möglichkeit“ solcher
Anpassung bis hier herab gezweifelt. Sollte es wirklich denkbar
sein, daß organische Wesen, diese zartesten, gebrechlichsten Gebilde
unseres Planeten, sich noch an Wasserverhältnisse angepaßt haben
könnten, wo schon bei vierhundert Metern finstere Nacht herrschte,
bei achtzehnhundert Metern aber schon ein Wasserdruck von ungefähr
zweihundert Atmosphären auf jedem Bewohner lastete und wahrscheinlich
auch die Temperatur schließlich bis nahe an Null Grad herunterging?

Immerhin hatte die Anpassung ja sonst im Tierreich Fabelhaftes
geleistet. Auch die Schlünde der Adelsberger Grotte und der Mammuthöhle
Nordamerikas sind völlig finster. Und doch hausen hier farblose, blinde
Molche (Olm), blinde Spinnen und blinde Käfer (_Leptoderus_),
dort blinde Fische in den stygisch schwarzen Gewässern. Die Blindheit
scheint dabei gleichsam zu den Anpassungen selber zu gehören: das Auge
ist eingegangen, weil es nicht mehr gebraucht wurde.

Da war es denn gewiß interessant, daß aus den ozeanischen Abgründen
jetzt allen Ernstes Tiere heraufkamen, die verwandte Anpassungen
aufwiesen. Zunächst gerade auch +blinde+ Tiere. Blinde Fische,
blinde Krebse. Das +mußten+ echte Bewohner der dunklen, also
tiefen Teile der See sein, die ihr Augenlicht aus Anpassungsgründen
aufgegeben hatten, gleich jenem Adelsberger Molch.

Dann fanden sich aber auch Tiere, die umgekehrt sehr +große+ Augen
hatten. Das schien verdächtig. Indessen die Lösung folgte auf dem Fuße.

Eine dritte Gruppe der Ankömmlinge aus der ozeanischen Nacht zeigte
nämlich äußerst kräftige +Leuchtorgane+. Auch diese Anpassung hat
der Sache nach nichts Ungewöhnliches. Wie allbekannt, leuchten eine
ganze Masse auch von Landtieren im Dunklen. Bei unseren „Glühwürmchen“,
kleinen Käfern, locken sich die liebenden Gatten mit dem grünen
Sternchen, das von gewissen Stellen ihres Leibes ausstrahlt. Der
Cucujo-Käfer Brasiliens glänzt gar so hell, daß man wie beim Schein
einer Laterne daneben lesen kann. Und an der Oberfläche des Meeres
erzeugen Myriaden meist winzig kleiner Seetiere jenes entzückende
Schauspiel, das der Laie „Meerleuchten“ nennt. In der ewig finsteren
Tiefsee mußte solche Gabe aber ein Anpassungsmittel ersten Ranges
werden. Der Fisch, der Krebs hellte sich selbst seinen Weg.

Wundervoll gewahren wir diese Selbsthilfe besonders bei einzelnen
Fischen. Der Leuchtapparat sitzt ihnen direkt über dem Auge: es ist,
als sei das lichtempfangende Organ hier zugleich das lichtstreuende
geworden.

Bei dem Fische _Malacosteus_, der schon aus Tiefen von 5000 Metern
gezogen worden ist, sitzt je eine Laterne dicht unter jedem Auge und
je eine zweite etwas weiter zurück. Die ersteren werfen rubinrotes
Licht, die letzteren smaragdgrünes. Bei dem Fisch _Echiostoma_
flammt hinter jedem Auge ein dreieckiges Organ von schönstem Blaufeuer.
Noch wieder bei andern Fischsorten scheint der Leuchtapparat sogar
wie eine freischwebende Glühlichtbirne an langem, drahtartigem
Hautauswuchs vor der Stirn herzupendeln. Dabei sind diese Apparate
selber aufs sinnreichste konstruiert. Besondere Nervenleitungen führen
zu ihnen hin, die es in die Willkür des Tieres stellen, sein Lichtlein
aufblitzen oder verlöschen zu lassen. Und Linsen und Hohlspiegel geben
dem Leuchtorgan alle Feinheiten einer kunstvollen Laterne. Es sind
übrigens nicht Fische allein, die da unten leuchten. Krebse, Polypen,
Würmer und Seesterne tun es ihnen gleich und selbst Tintenfische
„illuminieren“ in den prachtvollsten Farben.

Natürlich ließ ein so bewehrtes Tier seine eigenen Augen nicht
verkümmern. Die vielfältigen hellen Stellen der Meeresnacht, die aber
von solchen Fackelträgern überhaupt erzeugt wurden, mochten auch
andere, selbst nicht leuchtende Geschöpfe da unten bewogen haben, ihre
Augen nicht eingehen zu lassen, sondern im Gegenteil recht riesig
aufzutun. So war dieses Rätsel mit erklärt.

Freilich traf das alles nur das Tier. Die Pflanze, die das Sonnenlicht
nicht als Lampe bei der Nahrungssuche oder als Liebessignal
gebrauchen kann, sondern in ihm eines ihrer unentbehrlichen direkten
Lebenselemente besitzt, konnte es schlechterdings nicht zu solchen
Anpassungen, die ihre chemische Lebensküche negierten, bringen. Und da
hat Forbes wirklich recht behalten: das Pflanzenleben hört im Ozean
durchweg mit ein paar hundert Metern Tiefe gänzlich auf. Um so reicher
und merkwürdiger wurde dafür mit jedem neuen Funde das Tierbild.

Eine wahre Märchenwelt. Zu den Anpassungen an die Dunkelheit traten
andere an den Wasserdruck und die übrigen Besonderheiten dieser
Existenz unter völlig abnormen Bedingungen. Fische und Krebse zeigten
wahre Fratzenformen. Da gab es sammetschwarze Fische mit einem solchen
Riesenmaul, daß das ganze Tier eher einem schwimmenden Löffel glich als
einem Fisch. Krebse streckten ihre unglaublich verlängerten Beine und
Fühler wie ein ungeheures Netz um sich her, um im Dunklen möglichst
weit tasten und schon an der leisesten Erschütterung des Wassers
auf weiteste Entfernung hin einen nahenden zweiten Styx-Bewohner
signalisieren zu können. Krebsartige Geschöpfe, die sonst in
bescheidenster Größe auftreten, wie unsere friedliche Hausfreundin, die
Assel oder das „Kellertier“, krochen hier in wahrer Gigantenform daher,
und ebenso regte es sich da unten von spinnenartigen Riesen, groß
beinahe wie Vogelspinnen, aber unendlich dünnbeinig stelzend gleich
unseren Weberknechten.

Fern ab von allen Stürmen der Oberfläche liegt ja dieses Abgrundwasser,
und die gebrechlichsten Wesen, die oben jede harte Welle zerschlüge,
durften hier offenbar sich frei zu unerhörter Größe entfalten. Eine
Weile glaubte man sogar, in dieser Welt der Wunder noch einer ganz
besonderen Spur nahe zu sein. Diese abgeschiedenen Unterweltsgründe
sollten die Tierwelt aus verschollensten Urtagen der Erdgeschichte
zum Teil lebendig gerettet haben. Oft ist ja dergleichen vom
Ozean und seinen Geheimnissen geglaubt worden. Seit die Gerippe
der ausgestorbenen Seereptilien Ichthyosaurus und Plesiosaurus in
unseren Museen stehen, hat immer einmal wieder ein phantasievoller
Kapitän berichtet, er sei einem lebenden Untier der Art, etwa einem
Plesiosaurus mit langem Schwanenhals, begegnet. Seitdem man durch die
großartigen Funde in Nordamerika weiß, daß in der Kreideperiode --
also allerdings Millionen von Jahren vor unserer Zeit -- den damaligen
Ozean enorme, schlangenartig dünne Reptile von über hundert Fuß Länge,
die sogenannten Mosasaurier, durchschwommen haben, ist die berüchtigte
fabelhafte „Seeschlange“ gern als eine noch überlebende Art solcher
vorsintflutlichen Ungetüme aufgefaßt worden. An Humboldt wandte sich
einst ein wunderlicher Grübler, der untrügliche Beweise zu haben
glaubte, daß die Erdkugel nahe dem Nordpol ein Loch habe, das in eine
ungeheure Höhle voll noch lebender urweltlicher Saurier führe, eine
Idee, die der geistreiche Jules Verne zu einer glänzend erfundenen,
leider nur im zoologischen und geologischen Detail recht erbärmlichen
Dichtung verwertet hat. Träumereien und fromme Wünsche!

Tatsache aber war, daß jetzt aus der Seetiefe wirklich Vertreter einer
Tiergruppe heraufkamen, die unter den Versteinerungen aus früher Zeit
der Erdgeschichte eine bedeutende Rolle spielen. Die Meere der Jura-
und Kreidezeit hatten zahllose Mengen überaus zierlicher Geschöpfe
beherbergt, die der Naturforscher als „Seelilien“ bezeichnet. Obwohl
am Boden mit langem Stengel haftend und oben zu einer blütenartigen
Krone entfaltet, haben diese Geschöpfe doch mit echten Lilien, ja mit
Pflanzen überhaupt nicht das mindeste zu tun. Es sind echte Tiere aus
der Verwandtschaft der Seeigel und Seesterne. In der Gegenwart, so
schien es, war diese ebenso absonderliche wie schöne Tiergruppe, die
einst wahre Wälder in der See gebildet hatte, bis auf verschwindende
Nachzügler in den amerikanischen Tropenmeeren ausgestorben. Da zog
Sars 1864 bei den Lofoten eine Gattung, die sich äußerst eng an Formen
der Kreideperiode anschloß, aus der Tiefe von fünfhundertfünfzig
Metern, also genau von der Grenze, wo nach Forbes überhaupt kein Leben
mehr vorkommen sollte. Und nun stellte sich allmählich heraus, daß
gerade in großen Tiefen solche lieblichen Seelilien noch in allerlei
Formen und beträchtlicher Anzahl wurzelten. Der Ozean der unendlich
fern verschollenen Kreidezeit schien ganz tief da unten noch einmal
wiederzukehren. Es hat aber bei dem einen Fall im wesentlichen doch
sein Bewenden gehabt, und die Idee, daß man im Meeresabgrund noch
einmal wie in einem Schacht in die Vergangenheit der Erde rückwärts
steige, hat sich sonst nicht halten lassen.

Alle diese Erfolge wie Probleme kamen natürlich nicht auf einen Tag.
Und sie kamen in ihrer Fülle auch schon nicht mehr bloß als Abfall von
den Kabelarbeiten.

Sobald man im Gefolge dieser Arbeiten einmal fest wußte, daß es trotz
Forbes’ Zweifeln da unten überhaupt noch tierisches Leben gab, regte
sich der Eifer zu +Tiefsee-Expeditionen+, die eigens diesen
+zoologischen+ Zweck ins Auge faßten.

Zwei englische Gelehrte, William Carpenter und Wyville Thomson, machten
diese engere Sache ums Ende der sechziger Jahre zu ihrer Lebensaufgabe.

Obwohl das Problem jetzt als ein rein fachwissenschaftliches den
eigentlich praktischen Zweck entbehrte, wußten diese vortrefflichen
Männer doch den großen Stil der Untersuchung zu wahren, ja schließlich
zu steigern. Beide waren längst Physiologen und Zoologen von Ruf, als
sie dieses Feld wählten. Auf Thomson hatte besonders jene Entdeckung
von Seelilien in der Tiefsee Eindruck gemacht. Er glaubte an eine
noch zu entdeckende Urwelt-Fauna dort unten, was sich, wie gesagt,
allerdings durch die Untersuchungen selbst nachher nicht so bewähren
sollte.

Der alte Carpenter erlangte alsbald die Unterstützung der englischen
Regierung, die zunächst zu drei Fahrten das Schiff stellte. 1868
wurde mit dem Kanonenboote „Lightning“ (Blitz) das Meer bei den
Faroer-Inseln sondiert. Bei neunhundert Metern ergab sich reiches
Tierleben! 1869 und 1870 setzten Fahrten des Wachtschiffes „Porcupine“
(Stachelschwein) bis nach dem Golf von Biscaya und bis Malta die
Studien höchst erfolgreich fort. Diesmal wurden noch weit größere
Tiefen belebt gefunden: bei Malta ging das Leben bis über dreitausend
Meter hinab.

Alle Welt wurde jetzt aufmerksam. Carpenter wandte sich an die
Regierung, ob sie nicht eine regelrechte Weltumsegelung eigens für
Tiefsee-Zwecke ausrüsten wolle. Da die materiell wichtige Kabelfrage
diesmal ganz im Hintergrund stand, war die Forderung immerhin eine
ziemlich starke Probe auf den rein wissenschaftlichen Idealismus
der englischen Staatsleitung. Die Probe ist aber, wie rückhaltlos
anzuerkennen ist, in umfassendstem Maße bestanden worden.

Die größte Tat in der ganzen Tiefsee-Forschung des neunzehnten
Jahrhunderts setzt hier ein: die ruhmreiche Weltfahrt der englischen
Korvette „Challenger“. England bewilligte zunächst die Kleinigkeit
von zwei Millionen Mark. Später mußte die Summe noch um eine weitere
Million und 360000 Mark erhöht werden. Ein Kriegsschiff wurde
durch Entfernen von anderthalb Dutzend Kanonen und Einbauen eines
Laboratoriums in ein treffliches Naturforscherschiff verwandelt. Das
Kommando erhielt ein Kapitän, der auch von der wissenschaftlichen
Aufgabe etwas verstand, George Nares; er ist später durch seine
glänzende Nordpol-Expedition, die an der Westküste von Grönland bis
über den 83. Breitengrad hinausdrang, berühmt geworden. Die engere
fachwissenschaftliche Leitung aber kam, wie recht und billig, in
Thomsons bewährte Hand.

Bei den sehr ausgiebigen materiellen Verhältnissen, die herrschten,
konnte dieser Tiefsee-Chef aber noch einen ganzen Stab ergänzender
Kräfte um sich sammeln, Fachmänner für Zoologie, Botanik, Chemie,
Zeichnen und andere. Seine glücklichste praktische Wahl war dabei der
erste Assistent John Murray. Auch ein junger deutscher Zoologe aus
Siebolds Schule, Rudolf von Willemoes-Suhm, durfte an der Expedition
teilnehmen; er sollte leider zu ihren Opfern gehören, da ihn das
glühende Tropenklima der zentralen Südsee im dritten Jahr der Reise
hinraffte.

Sie sollte Jahre dauern, diese ganze Weltumsegelung -- seit den Tagen
des großen Cook wohl die eigenartigste, die unserem Planeten gewidmet
worden ist. Sonst war der Ozean immer nur die Brücke gewesen, die den
Naturforscher von Land zu Land trug. Diesmal kam ein Schiff, das die
Absicht zu haben schien, auf dem Wasser -- je offener, desto besser
-- geradezu heimisch zu werden. Das Land, das man hier suchte, lag
Tausende von Metern senkrecht unter dem Kiel. Dafür war es aber, wo
immer man es traf, ein „neuer“ Erdteil mit allem Reiz des Unbekannten.

Die ganze Fahrt dauerte vom 21. Dezember 1872 bis zum 25. Mai 1876.
Das erste Jahr galt dem Atlantischen Ozean in seiner vollen Breite und
einem großen Teil seiner Länge. Dann ging es nach einigem Aufenthalt
in Kapstadt tief in das immer noch so mysteriöse südliche Eismeer
hinein, bis vor jene dräuende Eismauer, die jetzt noch wie vor mehr
als hundert Jahren, als Cook segelte, unser Wissen dort abschnitt wie
ein verriegeltes Tor, zu dem unsere Technik noch keinen Schlüssel
besaß. Auch der „Challenger“ mußte schließlich vor den Eisbergen
flüchten und kam mit Mühe 1874 nach Australien. Zwanzig Monate hindurch
widmete er sich jetzt dem Stillen Ozean. Die Heimfahrt endlich führte
durch die Magalhaes-Straße wieder in das atlantische Becken zurück,
das von Montevideo bis zu den Azoren nochmals vollständig durchquert
wurde. Siebenhundertneunzehn Tage hatte das wackere Schiff, als es in
Portsmouth wieder vor Anker ging, auf offener See zugebracht, unter den
Schneeschauern des Antarktischen Meeres wie, was die Leistungsfähigkeit
der Teilnehmer noch wesentlich mehr in Anspannung setzte, unter den
sengenden Glutstrahlen der äquatorialen Sonne.

Im ganzen waren 68890 Seemeilen zurückgelegt worden. Und das alles
unter fortgesetzter beobachtender Tätigkeit der Naturforscher an Bord.

Auf jener ungeheuren Meilenbahn, die sich im verwegensten
Zickzack um die ganze Planetenkugel schlang, hatten nicht weniger
als dreihundertundsiebzig Tiefsee-Lotungen stattgefunden,
zweihundertfünfundsiebzig Temperaturmessungen in die Tiefsee hinab und
zweihundertvierzig Züge mit dem Schleppnetz. Darunter befand sich eine
erfolgreiche Lotung mit emporgeretteter Schlammprobe aus 8235 Metern,
also mehr als Dhawalagiri-Tiefe; der Ort war im Stillen Ozean nicht
weit von den Philippinen.

Einem derartig systematischen Angriff widerstand das Geheimnis der
Tiefsee nicht mehr; es gab jetzt reine Bahn. Sechshundert Kisten mit
zoologischem und sonstigem Material, die in tadelloser Erhaltung daheim
anlangten, boten der Wissenschaft fortan ein „Tiefsee-Museum“, das
aller vagen Spekulation ein Ende machte und mit „Tatsachen“ redete.

Unter diesen Tatsachen war eine von besonderer Bedeutung. Ja man konnte
sie die wichtigste von allen nennen, da sie die räumlich größten
Gebiete umspannte.

Schon jene ersten Untersuchungen des nordatlantischen Bodens
bei Gelegenheit der Kabellegung hatten, wie oben erwähnt, die
Aufmerksamkeit auf eine seltsame Grundzusammensetzung des
Ozeanschlammes in gewissen Tiefen gelenkt. Die heraufgeholten
Schlammproben wiesen immer und immer wieder Unmassen kleiner Schälchen
auf, die als die Gehäuse oder Skelette äußerst niedriger Organismen von
der unbestimmten unteren Grenze des Tierreiches gedeutet werden mußten.
Der engere Sachverhalt schien dabei folgender.

Um die Küsten der Festländer und Inseln herum zeigte sich ganz
regelmäßig zunächst ein flacher Kranz rein mineralischer Massen --
Schlicklager, deren Schlamm und Sand deutlich seine Herkunft vom
Lande selbst, als Küstentrümmer, die das Süßwasser beständig ins Meer
hineinwusch, verriet. Dieser Kranz mochte sich hundertfünfzig bis
zweihundert Seemeilen von der Küste hinausziehen.

Dann aber änderte sich der Schlamm in seiner Beschaffenheit gänzlich.
Er wurde freier Ozeanschlamm. Was aber bildete den?

Die Untersuchung der Proben ergab eine gelbliche Masse, die beim
Trocknen weiß wurde wie Kreide. Kreide ist reine Kalkmasse. Der Schlamm
war denn jetzt unzweideutig auch Kalkschlamm. Und unter dem Mikroskop
zeigte sich sofort, wo der Kalk herkam. Der ganze Schlamm war ein
dichtes Gemisch aus den winzigen Kalkschalen jener Geschöpfe.

Es hat sich in der Folge herausgestellt, daß gerade diese Wesen
selbst in lebendem Zustande nicht da unten herumkriechen, so reich
auch sonst das Tiefseeleben ist. Sie schweben mit ihren Kalkschälchen
frei im Ozeanwasser, zum Teil geradezu an der Oberfläche. Erst wenn
das Tier abgestorben ist, fällt das Schälchen in die Tiefe hinab.
Man bekommt aber einen Begriff, welche unerhörten Massen dieser
Geschöpfchen das Ozeanwasser erfüllen müssen, wenn man bemerkt, daß
Quadratmeile um Quadratmeile ganzer Riesengebiete des Ozeangrundes mit
einer einzigen Schlammmasse aus solchen Kalkschälchen bedeckt sind!
Es ist übrigens dies offenbar die ganz gleiche Methode, der unsere
heutige Kreide einst ihren realen Ursprung verdankt hat. Was wir heute
Kreide nennen, das war in der alten Epoche der Erdgeschichte, die wir
als Kreideperiode bezeichnen, genau solcher Tiefseeschlamm aus den
Kalkgehäusen abgestorbener Lebewesen. Erst die Bewegungen und Faltungen
der Erdrinde haben in den seitdem verflossenen gewaltigen Zeiträumen
diesen alten Meeresgrund trocken gelegt und hoch zu Inseln und Gebirgen
heraufgetürmt. Noch jetzt aber weist das Mikroskop in der Kreide
unverkennbar die Schälchen ihrer ehemaligen unfreiwilligen Erbauer.
Doch das nebenbei.

Die Stelle im System, die der Naturforscher jenen lebenden Besitzern
der schlammbildenden Kalkschalen anweist, ist bei den sogenannten
+Urtieren+. Enger gehören sie nach gangbarer Schablone zu den
+Wurzelfüßern oder Rhizopoden+.

Der Laie, der sich ein solches Wesen vorstellen will, muß fast alles
dabei über Bord werfen, was ihm an einem „Tier“ gewöhnlich vor Augen
schwebt.

Ein Hund, ein Frosch, eine Auster, ein Seestern sind echte Tiere.
Diese Tiere bestehen, wenn man sie unter dem Mikroskop betrachtet,
aus Millionen winzigster lebendiger Körperchen oder Klümpchen, --
den sogenannten +Zellen+. Auch der Körper des Menschen ist aus
Myriaden solcher Zellen zusammengesetzt. Diese Zellen bilden aber
gleichzeitig in jedem höheren tierischen Körper nicht eine gleichartige
Masse, sondern sie treten gruppenweise zu Organen zusammen. Der Magen,
das Gehirn, das Herz sind solche Organe. Beim Menschen, Hund oder
Frosch auch die Beine und Füße.

Ein solches Wurzelfüßergeschöpf besteht aber nun ganz im Gegensatz dazu
nicht aus vielen Zellen, sondern eben nur aus +einer einzigen+.
Diese eine einzige Zelle ist sein ganzer Leib. Von echten Organen
in jenem Sinne ist natürlich nicht die Rede. Nur eine ganz geringe
Gliederung zeigt sich innerhalb des einzigen Zellenleibes. Aber
nicht einmal ein Magen ist da: die ganze Leibesmasse nimmt Nahrung
auf und verdaut sie. Kein Blut kreist, kein Herz schlägt. Und es
gibt auch keine ständigen bewegenden Gliedmaßen. Wenn das Urtier
trotzdem kriecht und schwimmt, so geschieht es, indem der ganze weiche
Schleimleib beliebig bald hier bald dort wurzelartige Zipfelchen
aus sich herausfließen läßt, die im Augenblick als Hand oder Ruder
dienen, um gleich darauf wieder in der weichen Leibesmasse zu
zerschmelzen. Nur eines ist bei vielen dieser Sonderlinge allerdings
ganz konsequent entwickelt: sie vermögen aus ihrem fast organlosen
Leibe +harte Skelette+ auszuscheiden, die ihrem gallertigen Körper
als Schutz, als Stütze dienen. Und zwar besteht dieses Skelett bei
den genannten Wurzelfüßern aus Kalk: es bildet jene Kalkschälchen des
Tiefseeschlammes. Insbesondere die Gattung Globigerina wurde als eine
hervorragende Werkmeisterin des Kalkschlammes erkannt.

An sich würde nun nichts im Wege stehen, sich mit solchem
„Globigerinen-Schlamm“, wie man ihn getauft hat, tatsächlich den
+ganzen+ Ozeanboden der Erde, soweit er etwa zweihundert Meilen
von der nächsten Küste abliegt, bedeckt zu denken. Man käme auf eine
runde Fläche von mindestens drei Achteln der gesamten Erdoberfläche --
ungefähr ebensoviel, wie alle fünf Kontinente zusammen beanspruchen.

Hier war es aber die Challenger-Expedition, die dargetan hat, daß die
Sache, wenn schon in der Wirkung ebenso gigantisch, doch nicht so ganz
einfach über einen Leisten gearbeitet ist.

Thomson und seine Leute stellten fest, daß bei einer Tiefe zwischen
viertausend und fünftausend Metern der +Globigerinenschlamm mehr
und mehr aufhört+. Meist ist er schon bald nach Ueberschreiten der
viertausend Meter-Grenze zu Ende.

Es tritt dann in den noch entlegeneren Abgründen an seine Stelle ein
Teppich von nochmals wesentlich andersartigem Schlamm, dem gerade das
Charakteristische des Globigerinenschlammes vollständig fehlt, nämlich
die Kalkschälchen und überhaupt der Kalk.

An und für sich mußte das überraschen. Die Kalkschälchen der
Globigerinen und verwandten Wurzelfüßer sinken, wie wir gesehen haben,
allenthalben im Ozean von oben nach unten ab. Das lebende Geschöpf
treibt sich im freien Wasser herum, die tote Schale fällt auf den
Grund. Dabei kann es für dieses Absinken selber doch ganz einerlei
sein, wie tief der Ozeangrund liegt. Liegt er näher als viertausend
Meter, so lagern sich die Schälchen eben schon bei weniger als
viertausend Metern fest auf und bilden Kalkschlamm. Liegt er dagegen
fünftausend oder sechstausend oder gar achttausend Meter tief: warum
sollten sie dann nicht bei fünf- und sechs- und achttausend Metern
genau ebenso zur Ruhe und zur Schlammbildung kommen?

Es war nötig, eine Hilfserklärung zu suchen. Und sie fand sich in der
Tatsache, daß in den riesigen Tiefen jenseits der viertausend Meter,
also da, wo die Montblanc-Tiefe allmählich zur Gaurisankar-Tiefe
wächst, eine Macht auftritt, die die absinkenden Kalkschälchen
+auflöst+. Diese Macht ist aller Wahrscheinlichkeit nach das
mit Kohlensäure erfüllte, unter gewaltigem Druck stehende Meerwasser
selbst. Es gewinnt in solcher Tiefe einfach die Kraft, das absinkende
Kalkmaterial vollkommen aufzulösen, wie der heiße Kaffee ein Stück
Zucker löst. Und so wird die Bildung irgend welchen Kalkschlammes
hier unmöglich trotz des Faktums, daß auch auf dieses tiefste Terrain
unablässig Millionen und Abermillionen von Kalkschälchen herabregnen.

Indessen: Schlamm liegt darum doch auch dort, wenn schon kein
Kalkschlamm. Wo kommt nun dieser Schlamm her?

Man hat ihn im Gegensatz zu dem Globigerinenschlamm seiner vielfach
bemerkbaren Farbe nach den „+roten Tiefseeschlamm+“ genannt.

Es ist eben der Teppich eines neuen, tieferen Stockwerkes, in allem
durchaus verschieden.

Die rote Farbe rührt von Eisen- und Manganoxyd her. Die chemische
Untersuchung zeigt das. Sie zeigt aber auch sofort, daß ein sehr großer
Teil der Schlammbestandteile vulkanische Masse ist, Asche, Bimsstein,
Lava. Man muß sich erinnern, daß fast alle tätigen Vulkane der Erde dem
Meere nahe liegen und jede Eruption eine Unmenge solcher Stoffe ins
Wasser wirft. Es finden auch Vulkanausbrüche gelegentlich direkt im
Ozean selbst statt. Und furchtbare Explosionen, wie die des Krakataua
an der Sundastraße, wo das Meerwasser in den Krater einbrach und ihn
wie einen Kessel platzen ließ, haben auf Zeiten die ganze Erdatmosphäre
mit vulkanischem Staub durchsetzt, -- Staub, der allmählich dann
niedergesunken sein muß und zweifellos zu großen Teilen vom Ozean
aufgesaugt ist. Dort sank er dann nochmals durch die ganze Wassersäule
bis auf den Grund.

Ganz absonderlicher Natur scheinen winzige metallische Kügelchen
zu sein, die besonders im roten Schlamm des Stillen Ozeans von der
Challenger-Expedition nachgewiesen worden sind. Nur ein fünftel
Millimeter und noch weniger groß, bestehen sie aus metallischem Eisen
mit einem charakteristischen Zusatz oft von Nickel und Kobalt. Nach
außen überzieht sie eine schwarzglänzende Hülle von Magneteisen. Was
kann das sein? Der geheimnisvolle chemische Bau weist unmittelbar auf
+kosmischen+ Ursprung. So sind Meteorsteine zusammengesetzt,
die aus dem Weltraum zu uns herabstürzen! Es besteht eine hohe
Wahrscheinlichkeit, daß wir es mit feinstem Meteor-Staub zu tun haben,
der unablässig vom All her auf die Erde herabregnet und sich in dieser
Tiefe allmählich häuft. Wunderbares Bild: in dieser Abgrundtiefe, wohin
kein Sonnen-, Mond- und Sternen-Licht mehr dringt, rücken uns plötzlich
die fernen Weltenräume wieder nah, durch die in ewigem, stillem Fall
der Staub verpulverter Gestirne rinnt✹....

Doch das alles erschöpft lange noch nicht den roten Schlamm. Es
bleibt noch ein Hauptbestandteil: +Kieselerde+. Wie oberhalb der
viertausend Meterlinie Kalk, so hier Kiesel. Woher aber gerade dieser
Stoff?

Wir rufen uns zurück, daß jener Kalk des oberen Schlammteppichs auch
nicht „von selbst“ dahin kam, sondern seinen Weg durch lebendige
Leiber tierähnlicher Lebewesen genommen hatte. Er erschien in der Form
von Myriaden abgelagerter Kalkschälchen solcher Wesen. Nun wird aber
von lebendigen Geschöpfen der Erde wie Kalk, so auch Kiesel häufig
verarbeitet. Es lag also nahe genug, auch für die Kieselbestandteile
des roten Schlammes an organischen Ursprung zu denken. Der Expedition
des „Challenger“ war es vergönnt, in der Linie dieser Tatsachen und
Wahrscheinlichkeiten gerade eine ihrer fruchtbarsten und schönsten
Entdeckungen zu machen.

Schon im kalkigen Globigerinenschlamm lassen sich zahlreich mit
eingebettete Kieselkörperchen nachweisen. Unter das Mikroskop gebracht,
enthüllt sich ein solches Kieselkörperchen durchweg als die Schale,
das Skelett eines den Globigerinen zwar verwandten, aber doch durchaus
nicht gleichartigen Geschöpfes: eines Urtiers vielmehr von jenem
Wurzelfüßertypus, den man als Gruppe der „+Radiolarien+“, zu
deutsch „Strahlinge“, von den übrigen sondert.

Neben anderen feinen Unterschieden im Bau ihres (auch hier durchaus nur
aus +einer+ Zelle gebildeten) Leibes trennt die Radiolarien von
den Globigerinen und Verwandten vor allem die Art eben ihrer Skelette
oder Schalen: statt aus Kalk sind diese hier in den meisten Fällen aus
+Kiesel+ aufgebaut.

Im übrigen sinken diese Kieselschälchen aber genau so nach dem Ableben
ihrer Besitzer auf den Grund wie die Kalkschälchen. Auch das lebende
Radiolar lebt mit seinem Kieselskelett vergnüglich im Wasser des Ozeans
(allerdings diesmal noch bis in große Tiefen hinab) und nicht auf
dem Schlammgrunde unten. Während aber jene Kalkschalen, wie erwähnt,
jenseits der ersten viertausend Meter vom gepreßten, kohlensäurereichen
Wasser erfolgreich gleichsam aufgefressen, aufgezehrt, verflüchtigt
werden, ist das bei den Kieselschalen nicht möglich. Es liegt also
theoretisch auf der Hand, daß da, wo der Globigerinenschlamm aufhört,
nach unten zunächst ein Schlamm beginnen muß, der von Lebensresten
jetzt wesentlich nur noch Radiolarien enthält. Der „Challenger“ durfte
das aber nun zum wirklichen Bilde gestalten, und zwar kam die Sache
doch noch ganz wesentlich imposanter heraus, als sie rein theoretisch
zu erwarten war.

Es war vor allem der Stille Ozean, der da das großartigste Schauspiel
bot.

Der Stille Ozean ist trotz seiner vielen Inseln (es sind wesentlich
steile Korallenriffe) verhältnismäßig sehr tief. Der Durchschnitt
der Tiefe geht auf dreieinhalbtausend bis fünfeinhalbtausend Meter
hinab. Man ist also vielfach jenseits der Globigerinengrenze. Und
wirklich: an einer ganzen Reihe von Stellen fand sich nun auch die
ganze Tiefe hier in der prachtvollsten Weise bedeckt mit +reinem
Radiolarienschlamm+. Die Radiolarien erschienen da so hageldicht,
wie oberhalb der viertausend Meter etwa im Atlantischen Ozean die
Globigerinen. An vielen anderen Stellen freilich machte es den
Eindruck, als unterlägen auch die Radiolarien mit absteigender Tiefe
ziemlich rasch einem geheimnisvollen Zerstörungsprozeß. An ihre
Stelle trat dann der eigentliche und reine „rote Schlamm“, der zwar
noch in hohem Maße kieselhaltig ist, aber in dem doch die sichtbar
erhaltenen Radiolarienschalen auffallend abnehmen, bis schließlich die
individuelle organische Form kaum noch in letzten Spuren wahrnehmbar
ist. Wer diese Zerstörung besorgt -- die hier offenbar keine chemische
Verflüchtigung wie bei dem aufgelösten Kalk der Globigerinen, sondern
nur eine Lösung der individualisierten Form bedeutet -- bleibt
einstweilen dunkel. Aber das ist ja auch nebensächlich.

Die interessanteste neue Tatsache war die Entdeckung wirklicher
Radiolarienlager von prächtigster Erhaltung in der Tiefsee.

Wieder sollte es eine besondere Erkenntniskette sein, die hier
heranlenkte und den eigentlichen Gewinn abbekam.

Wenn der Laie von einer solchen systematischen Gruppe wie
„Radiolarien“ hört, so erscheint ihm das wie etwas sehr Einfaches,
Selbstverständliches. Eines Tages sind diese Tiere oder Urtiere,
oder wie das System sie nun nennt, von diesem oder jenem Forscher
„entdeckt“ worden. Dann hat er ihnen die richtige Stelle in der
Schablone des Systems, wie es im Lehrbuch steht, gesucht, hat ihnen
einen Namen gegeben, für den das lateinische oder griechische Lexikon
den Anhalt bot, und da stehen sie nun für alle Zeiten. So gemütlich
geht es aber in Wirklichkeit nicht mit der Erkenntnis. Und gerade die
Erkenntnisgeschichte der kleinen Radiolarien ist ein sehr hübsches
Beispiel dafür, wohl wert, erzählt zu werden, da zugleich ein Stück
Geschichte der modernen Tierforschung überhaupt darin steckt.

In den dreißiger und vierziger Jahren, damals, als die Tiefseefragen
zuerst dunkel aufdämmerten, wußte man von dem Dasein der Radiolarien im
heutigen Sinne noch gar nichts.

Aber mehr noch: man hatte im System der Lebewesen, wie es die
Lehrbücher damals vorführten, noch überhaupt die ganze Ecke, die ganze
Rubrik nicht, in die sie sich nachmals einordnen sollten.

Dagegen begann man eben in zunehmender Stärke auf etwas aufmerksam zu
werden, das ganz allgemein ein neues Licht in die Tierkunde brachte.
Man merkte, daß es eine geradezu unerhörte Masse von Geschöpfen und
darunter besonders auch Tieren gebe und immer gegeben habe, die man
wegen ihrer mikroskopischen Kleinheit bisher gänzlich übersehen hatte.

Die ersten Beobachter mit dem Mikroskop im siebzehnten und achtzehnten
Jahrhundert hatten ja schon beobachtet, wie in jedem faulenden
Wassertropfen eine Welt des bislang unsichtbaren Lebens wimmelte.

Jetzt aber trieb ein deutscher Naturforscher, +Christian Gottfried
Ehrenberg+ in Berlin, die Sache ins Große, -- ins Große tatsächlich
des Kleinsten.

Vor Ehrenbergs Glas begann sich alles allenthalben zu beleben oder
wenigstens Spuren ehemaligen Lebens zu weisen. Der Teichschlamm wie der
trockene Staub in der Dachrinne, die losen Sonnenstäubchen der Luft wie
das harte Kreidegestein, Schieferplatten und Kalksteinbrocken, -- alles
wimmelte teils von lustigstem Leben, teils erwies es sich in dem Sinne,
wie wir es oben schon von der Kreide besprochen, als zusammengebacken
aus Milliarden und Milliarden kleiner tierischer oder pflanzlicher
Schälchen der Vergangenheit. Die kleinsten Organismen erschienen als
die stärksten Mithelfer im Bau der Erdrinde, als gewaltige Faktoren im
Aufbau des großen Gebirgsgerüstes, das uns heute vor Augen steht.

Mit Staunen vernahm man von Ehrenbergs immer neuen, unermüdlichen
Feldzügen in dieses Gebiet, die in eine Milchstraße des Winzigsten
eindrangen wie die Teleskope der Herschel und Rosse in die der
Riesensonnen am Firmament.

Aber was waren das nun für Tiere, für Pflanzen, diese Liliputer mit
Herkuleswucht?

Heute wissen wir, daß die überwältigende Mehrzahl zu jenen niedrigsten
aller Lebewesen gehört, die gleichsam die Basis der ganzen eigentlichen
Tier- und Pflanzenentwickelung erst bilden. Urtiere und Urpflanzen
nennt man sie, wobei die Grenze des Tierischen und Pflanzlichen
aber überhaupt schwimmt. Das Wesentliche, in dem sich alle durchweg
einig sind, ist jene schon erwähnte Beschränkung des Individuums auf
+eine+ Zelle, ein einziges jener Klümpchen lebendigen Stoffes, die
bei den höheren Pflanzen und Tieren zu unendlicher Masse vereint den
Körper bilden.

Von alledem hatte aber der gute Ehrenberg inmitten seines köstlichen
Beobachtungsmaterials selber ja nun noch keine leiseste Ahnung. Er
heckte sich aus freier Phantasie vielmehr eine gerade gegenteilige
Theorie aus. Ihm war es nicht genug mit der Allverbreitung und
Massenanhäufung dieser kleinsten Organismen auf der Erde. Diese
Liliputer sollten noch eine erhöhte Merkwürdigkeit dadurch erhalten,
daß die Tiere darunter tatsächlich eine +hohe+ Organisation
besäßen. Diese „Infusorien“, wie er noch mit dem alten Wort das
ganze kleine Gesindel zusammenfassend nannte, sollten in ihrer Art
„vollkommene Organismen“, das heißt echte Tiere mit allen wesentlichen
Organen der höheren Tiere, sein.

Es war leider in diesem Umfang und vor allen echten Urtieren
vollkommener Unsinn. Aber Ehrenberg ritt auf seinem Prinzip unentwegt
bis zu seinem Ende, also bis 1876, wo man sonst in der Forschung den
wahren Sachverhalt seit langen Jahren genau kannte.

In der Verknüpfung der Dinge lag aber auf alle Fälle, daß, wenn irgend
einer, so gerade Ehrenberg bei seinen Studien zuerst auch auf die
schönen Panzer der Radiolarien und so schließlich auf diese selbst
stoßen mußte. Die ganze Welt arbeitete ja in der Mitte des Jahrhunderts
für Ehrenberg mit. Von überall her sandte man ihm Schlamm-, Staub- und
Gesteinsproben ein, begierig, was er für mikroskopische Lebenswunder
herauslesen werde. So erhielt er denn auch wirklich von mehreren
Seiten allmählich Radiolarienproben. Er erkannte sehr wohl die überaus
zierlichen Kieselpanzer und benannte sie, -- übrigens noch nicht als
Radiolarien, der Name fand sich erst später.

Gerade weil die Schalen -- lebende Tiere erhielt er zunächst nicht --
aber so über alle Begriffe kunstvoll waren, wurde er nur doppelt in
seiner alten Meinung bestärkt, daß solches Kunstskelett nur ein auch
im weichen Leibesbau äußerst künstlich und hoch organisiertes Tier
herstellen könne. Und so stellte er die neue Tiergruppe schließlich
zu den Stachelhäutern, also den Seesternen, Seeigeln und Seegurken,
wohl an die denkbar unmöglichste Stelle, die ihr im System der Tiere
überhaupt anzuweisen war.

In Ehrenbergs Proben waren aber teils die Schälchen noch lebender,
teils die schon längst ausgestorbener Radiolarien enthalten. 1846
brachte man ihm Felsenstücke von der Antillen-Insel Barbados, die
vollkommen aus zierlichsten Radiolarienschälchen zusammengesetzt
waren. Diese Felsen stammten aber noch aus der sogenannten Miocänzeit,
einer Zeit, da bei uns in Europa noch Giraffen, Antilopen, Affen und
Papageien lebten und in Sachsen Palmen wuchsen. Damals müssen offenbar
Radiolarien ganz nach der heutigen Art schon als Meeresschlamm ihre
Schalen abgelagert haben, und dieser Meeresschlamm ist dann in der
Folge zu Fels verhärtet und als Gebirge der Insel Barbados hoch über
den Spiegel des Ozeans heraufgehoben worden.

Doch auch heutige Tiefseeproben erhielt Ehrenberg, die ersten, die
es überhaupt gab, und es waren sogleich Radiolarien darin. Der schon
erwähnte Amerikaner Maury sandte 1854 acht Proben, in denen Ehrenberg
vierzig verschiedene Arten von Kieselskeletten unterschied. 1860
erhielt der Berliner Mikroskopiker durch den Leutnant Brooke aber gar
ein Tiefseepräparat, das aus über sechstausend Metern Tiefe im Stillen
Ozean kam und entsprechende Kieselschälchen zeigte. Das war die spätere
große Fundstätte des „Challenger“. So nahe war man schon dem höchsten
Triumph aller Radiolarienforschung -- und doch wußte Ehrenberg noch
immer nicht, was ein Radiolar überhaupt sei und wo es hingehöre.

Diese Unwissenheit war allerdings jetzt bei ihm schon subjektives
Mißgeschick als Folge einer willkürlichen Nichtbeachtung der neueren
Literatur. Denn zwei Jahre vorher hatte sein großer Berliner Kollege
Johannes Müller gleichsam noch aus dem Grabe heraus -- in einer
nachgelassenen Schrift -- gerade diese Frage bis zu einer gewissen
Grenze endgültig erledigt. Müller faßte sie dabei von ganz anderer
Seite.

Ehrenberg hatte die Bewohner seiner Tiefsee-Schälchen ohne Skrupel
auch für wirkliche Bewohner der tiefsten Ozeangründe gehalten. Es ist
aber oben schon gesagt, daß die Radiolarien ausnahmslos schwimmende
Geschöpfe sind und, allerdings von den großen Tiefen unten an, bis zur
Oberfläche herauf alle Schichten der kolossalen Wassersäule je nach
Neigung der einzelnen Arten beleben. Dieser wahre Sachverhalt legt
nahe, daß die damalige Zoologenschule, die anfing, die Meeresoberfläche
mit dem Mullnetz abzusuchen, ebenso auf Radiolarien stieß wie der alte
Ehrenberg daheim vor seinen trockenen Schlammproben der Tiefsee, und
zwar diesmal auf +lebendes+ Material.

In Wahrheit gesehen und sogar beschrieben hatte schon Anfang
der dreißiger Jahre der Weltreisende Meyen solche lebendigen
Radiolarien-Tiere, ohne daß sich aber jemand um den Zusammenhang
gekümmert hätte. Jetzt war es der treffliche Zoologe Thomas Huxley,
nachmals Darwins begeisterter Vorkämpfer, der als bescheidener
Schiffsarzt annoch auf einem Australienfahrer unabhängig wieder auf das
gleiche Objekt geriet. Er fand 1851 winzige lebende Schleimklümpchen
im Ozean, die zu Kolonien zusammenhielten und jedes für sich ein
zierlichstes Kieselskelett besaßen. Unglücklicherweise wußte aber
Huxley jetzt wieder nichts von Ehrenbergs Kieselschälchen. Er beschrieb
seine Wesen ganz unabhängig als neue Seetiere. Doch erkannte er sehr
klar schon, daß jedes dieser bepanzerten Schleimklümpchen nichts
anderes darstelle als eine einzige Zelle. Und da inzwischen von
Siebold im System für alle derartigen einfachsten tierähnlichen Formen
die gute Gruppe der Urtiere oder Protozoen vorgeschlagen worden war
-- ein großer Fortschritt --, so zählte Huxley seine Einzeller mit
Kieselschalen folgerichtig hierher. Sie waren jetzt wenigstens im
richtigen Schubfach des Museums!

Erst Müller aber sollte zeigen, welche gewaltige zweite Schublade
noch mit hier einging: nämlich all das Material, das Ehrenberg an
Kieselskeletten aus der Urwelt und aus der heutigen Tiefsee besaß.

Es ist erzählt, wie Müller jahrelang an die Seeküste zog und die kleine
Lebewelt der Welle am Fleck studierte. Dabei geriet er schon 1849 auf
rätselhafte Gallertfäden. Durch Meyen und Huxley wurden ihm die Augen
geöffnet, was es sein könne. Seit 1855 widmete er sich der seltsamen
neuen Urtiergruppe mit wachsender Liebe.

Zuerst schienen es ihm allerdings drei ganz verschiedene Sorten
zu sein, die nichts Gemeinsames besaßen. Mindestens aber war die
eine davon identisch mit Ehrenbergs geheimnisvollen Tiefsee- und
Barbadosgeschöpfen. Und als es endlich doch glückte, alle drei unter
einen Hut zu bringen, da erstand, jetzt auch von Müller endgültig so
benannt, die wirkliche Klasse der „Radiolarien“, ein neuer Zweig der
großen Gruppe der Wurzelfüßer bei den Urtieren.

Müller hätte seine Radiolarienstudien gleich zu Anfang beinahe mit
dem Leben bezahlt, indem sein Schiff 1855 an der norwegischen Küste
unterging; nach furchtbarem Kampfe mit den Wellen rettete er sich
schwimmend ans Ufer, während einer seiner Schüler ertrank. Immerhin
lähmte das böse Ereignis etwas seine Leistung, da er fortan sich nicht
mehr entschließen konnte, auf seinen Exkursionen an die See selber ein
Boot zu besteigen. Auch raffte ihn der Tod ein paar Jahre danach in
Berlin in der Fülle der Kraft hin. Noch aber löste er gerade vorher
jene Hauptfrage und öffnete damit der ganzen Erkenntnis der Radiolarien
eine offene Bahn. Und er gab noch etwas mit, was vollends die reichsten
Früchte getragen hat.

Johannes Müller war nicht nur ein Forscher, sondern ein Lehrer ersten
Ranges.

Die besten Köpfe der folgenden Zeit auf physiologischem Fachgebiet
waren von ihm eingeschult. Und einer seiner letzten Schüler war
+Ernst Haeckel+.

Dieser Name sollte fortan bis zum Ausgang des Jahrhunderts die ganze
Radiolarienkunde beherrschen. Ein Jahr nach Müllers Tod, im Herbst
1859, kam Haeckel, damals fünfundzwanzigjährig und in der ersten
Leidenschaft zur Zoologie, nach Messina. Die ersten Fischzüge in dem
tierreichen Hafen führten ihn auf die schwimmenden Radiolarien. Das
war bestimmend für viele Jahre seiner Bahn.

Er studierte das Material an der Hand der letzten Müllerschen
Abhandlung, fand eine Masse neuer Arten hinzu, ersann Methoden, wie die
schönen Skelette zu isolieren seien, zeichnete und malte die Weichteile
nach der Natur, die Kieselschalen mit Hilfe der _Camera lucida_
und arbeitete sich in alle irgend hierher gehörigen Probleme spezieller
wie allgemeiner Art mit einer Energie ohnegleichen ein. Schon 1862
erschien im Verlage von Reimer in Berlin seine große Monographie der
Radiolarien, ein Folioband Text von fünfhundertzweiundsiebzig Seiten
und ein Bilderatlas von fünfunddreißig Kupfertafeln, sämtlich von
Haeckels künstlerischer Meisterhand selbst entworfen. Das Werk ist
noch heute eine der schönsten zoologischen Monographien, die das
ganze Jahrhundert hervorgebracht hat. Es zeichnete sich vor ähnlichen
Versuchen, eine kleine Provinz des Tierreichs bis in jeden Winkel
erschöpfend darzustellen, ganz besonders durch die glänzende, in einem
Guß dahinströmende stilistische Behandlung, sowie die Fülle weiter
Gesichtspunkte für die allgemeinen biologischen Probleme der Zeit aus.
Die Radiolarien, so lange vernachlässigt, zählten fortan unter die
Paradebeispiele fachwissenschaftlicher Durcharbeitung.

In Haeckels Leben selbst bedeutete das Buch gleichzeitig noch eine
große Wende. Auf Seite 231 findet sich ein Bekenntnis, das heute ein
geschichtliches Interesse hat. Haeckel erklärte sich darin öffentlich
für Darwin, dessen entscheidendes Buch vier Jahre früher erschienen
war. Der äußere Erfolg war, daß für die nächsten Jahre der „Kampf um
Darwin“ zu Haeckels Lebensaufgabe wurde. Diese Linie, deren Ausläufe
allgemein bekannt sind, ja in weiten Kreisen, wenn die Rede auf Haeckel
kommt, eigentlich +nur+ bekannt zu sein pflegen, braucht hier
nicht verfolgt zu werden. Sie erklärt aber, warum in den folgenden
vierzehn Jahren seine Tätigkeit wesentlich auf anderen und zum Teil
allgemeineren Gebieten lag als bei den Radiolarien selbst.

In dieser Zeit ruhte der Fortschritt in der Erkenntnis unserer
seltsamen Kieselorganismen runde neun Jahre gleichsam auf den Lorbeeren
des großen Haeckelschen Vorstoßes aus. Und erst 1871 kam Cienkowski
mit einer neuen Entdeckung von hoher Bedeutung, einer Entdeckung,
die abermals eine wahrhaft brennende Probe für die Verwickelung
tiergeschichtlicher Fragen geliefert hat.

Haeckel hatte sich natürlich gehütet, zu der Anschauung Ehrenbergs
zurückzukehren, daß die Besitzer so köstlicher Kieselskelette deshalb
notwendig hoch organisierte Tiere etwa vom Range eines Seesterns sein
müßten. Auch ihm blieben sie äußerst niedrigstehende Wurzelfüßer von
der untersten Grenze des Tierreiches. Gleichwohl mußte er 1862 von
seinem Wissensboden aus bestreiten, daß diese Radiolarientiere noch
nicht zu der Stufe der Zusammensetzung aus +mehreren Zellen+
fortgeschritten seien. In der weichen Gallertmasse ihres äußeren Leibes
jenseits einer gewissen immer vorhandenen innersten Zentralkapsel
lagen nämlich gelbe Körper, die unzweideutig echte Zellen waren.
Echte Zellen in der Mehrzahl. Da half nichts: diese Geschöpfe waren
mindestens vielzellig, mochten sie auch sonst noch so echte Urtiere vom
Wurzelfüßerschlage sein.

Die Frage über Einzelligkeit und Vielzelligkeit der lebenden Wesen
überhaupt wurde nun in den folgenden Jahren gerade im Gefolge der
Darwinschen Idee besonders wichtig. Im Sinne Darwins hatten sich
die höheren Wesen aus niedrigeren entwickelt. Das führte zuletzt
notwendig darauf, daß alle Wesen, die aus einer Mehrheit von Zellen
zusammengesetzt waren, von solchen abstammten, deren ganzen Leib nur
eine einzige Zelle bildete. Die Einzeller waren die wirklichen Urformen
aller vielzelligen Tiere und Pflanzen. Das aber rückte diese Einzeller
plötzlich in ein blendendes Licht und den ganzen Gegensatz mit. Haeckel
selbst beschrieb echt einzellige Wesen, die sogenannten Moneren, die
dem strengen Begriffe der Einzelligkeit im verwegensten Sinne zu
entsprechen schienen und als die wahren Ahnenbilder der äußersten
Stammbaumecke jenseits von Tier und Pflanze angesprochen wurden.

Inmitten dieser Debatten bedeutete es nun einen wirklich sehr mächtigen
Fortschritt für die Radiolarienkunde, daß Cienkowski den Nachweis
führen konnte, daß doch auch diese Radiolarien +echte „Einzeller“+
seien, also der großen Urgruppe im Stammbaum angehörten.

Jene gelben Zellen in der Leibesmasse der kleinen Kieselwesen, zeigte
er, gehörten gar nicht zu diesem echten Leibe: es waren +fremde+
Geschöpfe, die sich bloß gewohnheitsmäßig inmitten des Radiolars
aufhielten. Und zwar waren es selber einzellige Geschöpfe, doch solche,
die in ihrer Atmungs- und Ernährungsart mehr den +Pflanzen+
ähnelten, -- also sogenannte „Urpflanzen“.

Die Sache klingt ja an sich schier unbegreiflich. Und doch ist sie
nicht so sonderbar, wie man meinen sollte. Sie wiederholt nur, was im
verwickelten Getriebe des Lebens noch öfter vorkommt. Wir alle wissen,
wie gewisse Tiere in anderen schmarotzern: der Bandwurm im Hund, in
der Katze, ja in uns selbst. Auch Pflanzen schmarotzern auf anderen:
so die Mistel auf den Kiefern des Waldes. Daß einzellige, noch völlig
urtümliche Wesen in höheren Tieren schmarotzern, ist eine Tatsache, die
wir neuerdings in immer bedenklicherem Umfange kennen gelernt haben:
sind doch alle die bösen Bazillen, die unser Leben bedrohen, nichts
anderes als solche winzigen Eindringlinge, die in uns leben wollen und
uns dabei in Mark und Bein hinein vergiften. Warum sollen also nicht
auch einmal im einzelligen Urtier, dem Radiolar, einzellige Urpflanzen
schmarotzern?

Die Sache scheint tatsächlich aber noch wieder etwas anders zu liegen.
Das häusliche Leben dieser gelben Pflanzenzellen im Leibe des Radiolars
scheint nicht auf ein Schmarotzertum im groben Sinne hinauszulaufen,
sondern vielmehr auf eine Art willkommener Schutzgemeinschaft zwischen
Radiolar und Pflanze. Auch für solche Schutzgemeinschaften, bei denen
jeder Teil auf seine Kosten kommt, gibt es Beispiele genug im Reich
des Lebendigen. Den bekanntesten Fall bilden die sogenannten Flechten.
Früher führte man sie im System als besondere Pflanzengruppe auf. Heute
weiß man, daß sie zustande kommen durch eine engste Genossenschaft von
Pilzen und Algen, die sich zu einem Ganzen miteinander verschlingen.
Der Pilz nützt dabei durch seine Lebensgewohnheiten und Fähigkeiten der
Alge und die Alge umgekehrt wieder dem Pilz. Aehnlich müssen wir uns
den Sachverhalt bei den Pflanzenzellen in der Zellmasse des Radiolars
vorstellen. Der gegenseitige Nutzen liegt auch hier auf der Hand.
Das Radiolar hat die Atmungsart der Tiere: es braucht Sauerstoff und
scheidet Kohlensäure aus. Die in ihm lebende Pflanze dagegen zersetzt
wie alle Pflanzen im Lichte Kohlensäure und gibt Sauerstoff ab. So
kommt jede Partei zu Gewinn bei der Genossenschaft. Man bezeichnet
diese und ähnliche Vorgänge als „Symbiose“ oder „gemeinschaftliches
Leben“.

Nachdem diese verwickelte Geschichte einmal durchschaut war, stand
natürlich nichts mehr im Wege, nunmehr das Radiolar selber wieder als
nur aus einer einzigen Zelle bestehend aufzufassen. Richard Hertwig hat
das im Verlaufe der siebziger Jahre in korrekter Weise dargelegt und
allgemein eingeführt.

Inzwischen hatte aber auch der alte Ehrenberg, der immer noch lebte,
mikroskopierte und systematisierte, seine Radiolarienstudien keineswegs
aufgegeben. 1872 und 1875 faßte er alles noch einmal genau zusammen,
was er über die Radiolarien der versteinerten Vorwelt wußte. Er
kam aber nach wie vor über einfaches Abzeichnen und Benennen der
Kieselschälchen nicht hinaus. Alles, was die Zwischenzeit über den
lebendigen Organismus seiner Lieblinge gebracht, ignorierte er. Für
ihn gab es keine „Radiolarien“ als Gruppe der einzelligen Urtiere.
Die ganze Zellentheorie, seit bald vierzig Jahren jetzt die Grundlage
aller biologischen Forschung, war ihm eine Modetorheit, die er nicht
mitmachen mochte. Von Haeckels Monographie kannte er nicht einmal
den richtigen Titel. Und bis zu allerletzt meinte er, es habe wohl
überhaupt noch kein Forscher ein lebendes Radiolar tatsächlich
beobachtet.

Es ist, als gehe durch eine solche Gestalt wie Ehrenberg die Scheide
zweier Epochen der Naturforschung: der alten, die im Museum saß
und mit Naturmerkwürdigkeiten spielte wie mit kuriosen Raritäten;
und der neuen, die mit der lebendigen Natur wirklich lebte wie ein
Freund und aus dieser Freundschaft Welten des Gedankens schöpfte.
Für die Radiolarienforschung war es kein Verlust mehr, daß Ehrenberg
genau in dem Jahre starb, da der „Challenger“ mit dem größten
Radiolarienmaterial, das je gesehen worden war, in Portsmouth einlief.

Hier aber beginnt tatsächlich das letzte und das großartigste Kapitel
in der Geschichte unserer Radiolarienkenntnis.

Von den dreiundeindrittel Millionen der Challenger-Unkosten waren
mehr als zweiundeindrittel für die Expedition selbst verbraucht
worden. Den Rest hat in den folgenden zwanzig Jahren die Herstellung
des wissenschaftlichen Reisewerkes aufgezehrt. Heute ist das Werk
vollendet, schon räumlich ein Reisebericht von Dimensionen, mit denen
sich nur ein Werk ganz vom Anfang des Jahrhunderts im Plan vergleichen
läßt, das aber nie fertig geworden ist: die Riesenarbeit Alexander
von Humboldts über seine Fahrten in Süd- und Mittelamerika. Humboldt
hat schließlich dreißig Quartanten und Folianten herausgebracht. Der
„Challenger-Bericht“ umfaßt fünfzig Bände mit rund dreißigtausend
Quartseiten Text und über dreitausend lithographischen und
Kupfertafeln. Es war von Beginn der zwanzigjährigen Arbeit an
außer Frage, daß diese Herkuleslast nicht ein einzelner Bearbeiter
tragen könne. Auch Humboldt hat ja seiner Zeit die ganze Elite der
Forschung in Bewegung gesetzt. Aber schon die Verteilung der Arbeit
und Oberleitung erforderte eine vorzügliche und ausdauernde Kraft.
Thomson, der die Expedition selbst so glücklich geleitet, brach schon
zu Beginn der Ausarbeitung daheim zusammen. Die Strapazen der Fahrt
waren ungeheure gewesen. Mehrere der besten Teilnehmer büßten sie noch
nachträglich mit dem Leben. So auch Thomson, den ein Gehirnleiden aus
der Bahn warf. 1882 hat ihn der Tod erlöst. An seine Stelle trat John
Murray, sein erster Assistent. Keine bessere Kraft konnte sich der
Sache widmen. Mit Hilfe von sechsundsiebzig Mitarbeitern wurde von ihm
das grandiose Unternehmen nun wirklich bis zur Neige durchgeführt. Als
ein schönes Zeugnis englischer Unbefangenheit war dabei zu vermerken,
daß die Mitarbeiter lediglich nach wissenschaftlichen Rücksichten
gewählt wurden, also, wo es not tat, auch unter Nicht-Engländern. Und
gerade dieser Zug wurde bedeutsam für die Radiolarien.

Haeckel war jetzt für sie die unbestritten höchste Autorität unter den
Zoologen aller Nationen. Also wurde Haeckel damit betraut.

Erst unter seinen Händen ist dann offenbar geworden, +was+ für
einen Reichtum man auf dem Radiolariengebiet eingeheimst hatte in jenen
sechshundert Kisten heimgebrachter Naturalien.

„Ich werde nie“, erzählt Haeckel selbst, „das Erstaunen beim ersten
Anblick derselben vergessen, als ich im August 1876, der freundlichen
Einladung meines lieben Freundes Paul Rottenburg in Glasgow folgend,
der dort tagenden British Association beiwohnte; ein großer Teil
der Sammlungen war dort ausgestellt, und die allgemeine Uebersicht
über die Resultate der Expedition wurde mitgeteilt. Unvergeßlich ist
mir insbesondere ein Sonntag-Vormittag, den ich zusammen mit Sir
Wyville Thomson, Carpenter und John Murray zubrachte; Hunderte von
„Stationspräparaten“ wurden gezeigt, d.✹h. von jenen mikroskopischen
Präparaten, welche unmittelbar nach dem Heraufziehen des feinen Netzes
durch Behandlung mit Alkohol, Färbung mit Carmin und Einbettung in
Kanadabalsam auf den einzelnen 354 Beobachtungsstationen angefertigt
waren. Jedes einzelne dieser Präparate enthielt zahlreiche (oft mehr
als hundert verschiedene) Lebensformen, die vielen verschiedenen
Klassen angehörten; alle aber wurden übertroffen von den wunderbaren
Gestalten einer einzigen Klasse einzelliger Urtierchen, den
Radiolarien.“

Der Eindruck dieses Sonntag-Morgens entschied bei Haeckel über die
Arbeit von zehn Jahren. Er hatte auf drei bis fünf gerechnet, es
wurden aber zehn. Dann erschienen 1887 als achtzehnter Teil des
„Challenger-Berichts“ drei Bände von im ganzen 2750 Druckseiten aus
seiner Feder: eine zweite Monographie der Radiolarien, unvergleichlich
umfangreicher als die erste. 140 Bildertafeln illustrierten sie.

Wie reich das Material auf einmal geworden war, lehrt die einfache
Ziffer der +neu+ beschriebenen Arten: es waren 3508! Müller hatte
fünfzig lebende Radiolarienarten gekannt. In Haeckels Prachtwerk von
1862 kamen 14 neue Arten hinzu. Im ganzen stand die Kenntnis bis auf
das „Challenger-Werk“ bei 810 Arten. Jetzt wuchs die Ziffer sofort
auf 4318. Und diese 4318 Arten verteilten sich über 739 Gattungen, 85
Familien, 20 Ordnungen und 4 Legionen. Ein unglaublicher Formenreichtum
-- bei Urtieren von so einfacher Grundorganisation! Vielleicht gibt es
keine zweite Tatsache, die so angetan ist, Respekt vor dem zu wecken,
was man „Leben“ nennt. Die Kraft dieses Lebens, Formen und immer wieder
Formen in unerschöpflicher Fülle aus sich heraus zu gebären, erscheint
vor diesen Kleinsten in ihrer vollen Größe. Es mag zum Vergleich der
4318 Radiolarienarten dienen, daß die ganze Klasse der Säugetiere noch
nicht dreitausend Arten umfaßt. Haeckel selbst ist aber der Ansicht,
daß mit seiner Arbeit noch lange nicht einmal das „Challenger-Material“
erschöpft sei, geschweige denn alles, was die Ozeane der Erde wirklich
an Radiolarien noch besitzen mögen.

Der Text auch des Radiolarienteiles des „Challenger-Berichts“ ist
selbstverständlich in englischer Sprache erschienen. Inzwischen
hat der deutsche Verfasser aber (1887 und 1888) erfreulicherweise
auch eine deutsche Ausgabe der wichtigsten Textteile als zweiten,
dritten und vierten Band seiner Monographie im Reimerschen Verlage
veröffentlicht. 106 Bildertafeln der englischen Ausgabe sind auch
hier beigefügt. Leider liegt es in der Natur der Dinge, daß derartige
Prachtbände größten Formats mit luxuriösen Tafeln im Buchhandel auch
einen Preis vom „größten Format“ besitzen. Ein vollständiges Exemplar
aller vier Bände der deutschen Monographie kostet 180 Mark. Für
die Spezialforschung selbst ist das weniger wichtig, da es hier ja
wesentlich darauf ankommt, daß Bibliotheken und Institute das Werk für
den gemeinsamen Gebrauch vieler anschaffen. Sehr schade ist dagegen,
daß in weiteren Bildungskreisen diese wundervollen Bildertafeln bisher
so sehr wenig bekannt geworden sind.

Es handelt sich dabei keineswegs bloß um Tierbilder für das zoologische
Interesse. Auch das wird ja bei uns mit jedem Jahr ein allgemeineres.
Wie viel tausend und tausend Gebildete, die gewiß nicht zum „Fach“
gehören, haben sich nicht in den letzten Jahrzehnten an den köstlichen
zoologischen Bilderbüchern von Brehm und Mützel, Vogt und Specht, Heck
und anderen immer wieder erfreut und weitergebildet. Aber hier kommt
noch etwas viel umfassenderes in Fluß.

Die +ästhetischen Interessen+ werden aufs nachhaltigste berührt.

Das erweitert den Interessentenkreis aber alsbald ins unendlich Größere.

Ich meine das jetzt nicht bloß der vorzüglichen Ausführung dieser
Radiolarientafeln wegen. Ganz gewiß ist sie schlechtweg allerersten
Ranges. Haeckel, treu unterstützt durch die kunstfertige Hand von
Adolf Giltsch in Jena, hat das Schöne, das wiederzugeben war, seinem
Rang entsprechend mit allen Mitteln höchster Kunst dem Bilde gewonnen.
Aber das Grundlegende ist eben doch die Natur selbst. Diese Natur,
die im Reiche des atomistisch Winzigen, jenseits unserer leiblichen
Sehgrenzen, den weichen, an sich formlosen Protoplasmaleib niedrigster
Urtiere mit der Gabe ausgerüstet hat, +rhythmische Gebilde von
vollkommener Schönheit+ hervorzubringen. Das Bild sagt hier alles.
Es reicht die Hand zu einem Wege, der bei der Aesthetik anfängt und in
den tiefsten Gründen der Philosophie endigt.

Haeckel hat nun kürzlich die ersten Hefte eines neuen Werkes in die
Welt geschickt, das ebenfalls eine Fülle schöner, zum Teil farbiger
Tafeln bringen soll, dabei aber diesmal ausgesprochen zum Zweck
volkstümlicher Belehrung gedacht ist. Es erscheint in zwanglosen Heften
von je zehn Tafeln mit populärem Text, jedes Heft einzeln verkäuflich
zu dem überaus geringen Preise von drei Mark. Das Werk behandelt alle
möglichen Objekte aus dem Tier- und Pflanzenreich, ausgewählt nach
einem einzigen Gesichtspunkt. Auch Radiolarien sind gleich auf dem
ersten Blatt in schönster Auswahl vereinigt. Aber der Gesamttitel
heißt: „Kunstformen der Natur“. Prägnant faßt dieses Wort den Begriff,
unter den auch das „Merkwürdige“ der Radiolarien fällt.

Haeckel denkt sich, daß diese von ihm gewählten und künstlerisch
wiedergegebenen Objekte der organischen Natur +ausübenden
Künstlern+ eine Fülle geradezu von Vorlagen, Motiven, Anregungen
gewähren könnten. Zweifellos ein bedeutender, fruchtbringender Gedanke.
Immer ist es ja die Natur gewesen, aus der der Künstler als ewigem
Lebensborn geschöpft hat. Aber keineswegs immer, ja man kann mit gutem
Recht sagen: so gut wie gar nicht bisher (mit wenigen Ausnahmen!)
ist es der +Naturforscher+ gewesen, der dem Künstler dabei
entgegengekommen ist.

Die Ecke, wo er die Welt des sinnlich Sichtbaren am meisten erweitert
hat -- im vergrößernden Mikroskop -- ist dem Künstler durchweg fremd
geblieben. Und nicht nur dem Künstler. Der Aesthetiker vom Fach wußte
nichts davon zu sagen. So blieben Beziehungen lange unfruchtbar, die
im rechten Bruderbund das Beste für beide Teile zeugen könnten. Denn
der Gewinn liegt unverkennbar auf beiden Seiten gleich stark. Der
Naturforscher beschreibt seine Naturgegenstände zunächst als einfacher
Registrator. Nun hat er aber seine Radiolarien auf dem Blatt, treu mit
dem Apparat des Mikroskopes und der _Camera lucida_ reproduziert.
Da kommt der Aesthetiker, der Künstler hinzu und bricht in den Ruf der
innigen Begeisterung aus: wie +schön+ ist das! Der Naturforscher
stutzt und besinnt sich. Er besinnt sich darauf, daß sein Beruf doch
auch noch ein höherer ist als der des einfachen Registrierens von
Tatsachen. Er soll ja doch auch der „Geschichtschreiber“ der Natur
sein. Radiolar und Mensch, alles gehört in diese Geschichte. Der
Mensch arbeitet als Künstler eine Welt des Schönen aus sich heraus,
und als Aesthetiker schafft er eine Lehre vom Schönen. Das Radiolar
in den Schlünden der Tiefsee, in den untersten Schichten vielleicht
einer Wassersäule von beinahe Meilenhöhe -- oder auch treibend auf
dem sonnigen Blau der Mittelmeerwelle von Messina --: es arbeitet
Gebilde aus seinem weichen einzelligen Protoplasmaleibe heraus, die wir
Menschen als „schön“ bezeichnen. Wir Menschen -- Vertreter der Spitze
aller tierischen Organisation, Vertreter der „Kultur“, die nochmals
diese tierische Stufe um einen ganzen Oberbau überboten hat -- wir
Menschen, Phidias und Michelangelo und Raffael, Homer und Goethe. Und
das sollte nicht zu denken geben?

Es ist gar keine Frage: die „Natur“ auch unterhalb des Menschen ist
voll von Objekten, die unserem menschlichen Sinn noch als vollkommene
künstlerische Leistung erscheinen, die zweifellos Objekt der Lehre
vom Schönen, der Aesthetik, sein müssen. Und das hebt in solchen
Entwickelungstiefen schon an, wie beim Radiolar, ja dort setzt es mit
einer Energie ein, die verblüfft. Im Grunde und ganz bei Licht besehen,
setzt es sogar noch viel früher ein. Man betrachte ein Schneekristall
oder eine Säule Bergkristall. Da ist die Anlage dieser Dinge schon im
Anorganischen, im sogenannten „Toten“. Nach geheimnisvollen Gesetzen
der Natur erscheint eine rhythmische, eine harmonische Ordnung der
Stoffteilchen, die uns als „künstlerisch“, als „schön“ entzückt -- und
das selbst noch jenseits der Grenze des sogenannten „Lebendigen“.

Für den Laien hat allerdings die Frage immer am meisten Gewicht,
ob diese Gestalten nur rein „mechanisch“ oder ob sie durch einen
bewußten künstlerischen Willensakt geschaffen seien. Wenn er hört,
daß diese köstlichen Kieselskelette der Radiolarien doch von lebenden
Wesen geformt seien, so neigt er dazu, noch an die letztere Art zu
denken. Beim Kristall aber erscheint ihm alles notwendig bereits als
„mechanisch“. Wenn man aber nun die Gebilde selbst vergleicht, wenn
man die Aehnlichkeit zwischen Kristall und Radiolarienschale erkennt
und wenn man sich sagt, daß gerade das „Schöne“ in beiden unverkennbar
für unser Auge das Gleiche ist, so muß man schwankend werden, ob jene
Unterscheidung wirklich etwas Scharfes aussagt.

Wie allbekannt, führt eine große Schule moderner Naturforscher alle
Erscheinungen auch des Lebens nach Möglichkeit zurück auf die Gesetze
des einfachen mechanischen Geschehens, wie es auch jede Kristallbildung
beherrscht und im Weltall von Stern zu Stern waltet.

Das erscheint dem begeisterten Betrachter der Lebenserscheinungen
nun wieder leicht als etwas Herabziehendes: das „Leben“ scheint ihm
minderwertig gemacht, herabgedrückt, weil es „mechanisch“ erklärt
werden, ins rein „Mechanische“ eingegliedert werden soll.

Man vergißt aber dabei, daß die Lebenserscheinungen als solche ja in
ihrer ganzen Größe und Herrlichkeit bestehen bleiben, daß dagegen
umgekehrt der Begriff des „Mechanischen“ in solchem Falle ungeheuer
gesteigert und in ein ganz neues Licht gerückt werden muß.

Wenn ich eine wirkliche Einheit der Natur annehme, in der sich der
Gegensatz von mechanisch und lebendig +aufhebt+, und wenn ich das
Wörtchen „mechanisch“ dann als die Gesamtbezeichnung wähle, so gebe ich
eben diesem Wörtchen eine ungeheure Bedeutung: das ganze Weltmysterium
geht darin ein. Wir vertauschen im gewöhnlichen Sprachgebrauch gern
„mechanisch“ mit natürlich im Sinne von „selbstverständlich“. Aber das
paßt auf diesen hohen Begriff dann eigentlich gar nicht mehr. +Das
Mechanische bleibt das einzige letzte größte Wunder im Majaschleier der
Welt.+

Diese Gedanken führen weit hinaus. Ich sagte ja: die Aesthetik der
Radiolarien geht unmittelbar in die Philosophie. Immerhin mag die
kurze Andeutung zeigen, wie diese Aesthetik aufzufassen ist. Es ist
in der verhältnismäßig kurzen Zeit, da wir die Radiolarien genauer
kennen, doch schon der eine oder andere Versuch gemacht worden, auch
ihre Bildung ästhetisch schöner Formen wirklich rein „mechanisch“ zu
erklären. Die einzelnen Erfolge sind noch problematisch und brauchen
uns hier nicht zu beschäftigen. Aber mag in der Folge dergleichen
glücken: im Sinne jener allgemeinen Betrachtungsweise ändert das ja an
der eigentlich interessanten +ästhetischen+ Frage +nichts+.

Jene höchste, ganz weltumfassende Definition von „mechanisch“ würde ja
auch das Gehirn eines Phidias oder Goethe umspannen: in +diesem+
Punkte unterschieden sich der Meister des olympischen Zeus und des
Faust nicht von einem beliebigen Radiolar, das in Montblanc-Tiefen
des Ozeans schwimmt. Was bleibt, ist der Unterschied des Grades, der
eben ein menschliches Gehirn der höchsten Art und einen menschlichen
Organismus überhaupt von einem nahezu organlosen einzelzelligen Urtier,
wie es das Radiolar darstellt, trennt.

Schon beim höheren Tier, das dem Menschen in etwas näher kommt, sehen
wir das Bilden ästhetischer Dinge aus dem einfachen kristallartigen
Ausscheiden übertretend in gewisse verwickeltere Handlungen, die
sich unserer Kunstbetätigung unverkennbar nähern. Die Heuschrecke,
der Frosch, die Nachtigall, der Gibbon-Affe bringen rhythmische
Laute von mehr oder minder musikalischem Werte hervor. Es geschieht
in der Zeit der lebhaftesten Erregung des ganzen Organismus: in der
Zeit der Liebe. Und die Laute werden erzeugt und vernommen als etwas
Angenehmes, Erfreuliches, der höchste Lebens- und Glücksgehalt des
Tieres konzentriert sich darin. Weibliche Vögel wählen sich das in den
Farben ihnen am meisten sympathische: das „schönste“ Männchen aus und
züchten so unmittelbar schönere Rassen heran. Der Mensch vollzieht dann
noch den riesigen Schritt, daß er das Organ zum Werkzeug erweitert: er
erfindet Musikinstrumente, züchtet sich nicht mehr durch jene Auswahl
bunte Farben am eigenen Leibe, sondern beginnt zu malen, sucht sich
Farbstoffe, projiziert seine Wünsche nach außen in ornamentale Gebilde,
die er sich mit Hilfe von Werkzeugen „schafft“, er bildet in Marmor,
er malt auf Leinewand, bis eine Welt der Kunst um ihn her erwächst,
die wie ein höherer, gemeinsamer Bau sich über der Menschheit wölbt.
Gleichzeitig werden die rhythmischen Mittel der Sprache zur Dichtung
gesteigert. Gedankenharmonien mischen sich in die rein formalen
Harmoniegebilde, die Ideale des Geistes verketten sich mit denen der
Form.

Dieser große Weg braucht nicht weiter angedeutet zu werden. Jeder fühlt
aber wohl dabei den Nerv von selbst, die ungeheure, aber konstante
Linie, die wirklich von dem rhythmisch gebauten Panzer des Radiolars
bis zur schaffenden Kunst des Menschen reicht -- den Weg von einer
Anlage zu einer Erfüllung.

Es besteht für mich kein Zweifel darüber, daß es +dasselbe+
Prinzip ist, das den rhythmisch schönen Panzer des Radiolars schafft
-- und die Kunst des Menschen. Will man mir entgegenhalten, daß das
Radiolar doch sein Kieselgebilde nicht „bewußt“ schaffe, während der
Mensch mit Bewußtsein auf seine Kunst ausgehe, so muß ich schlicht
entgegenhalten, daß ich zwar über den Grad des Bewußtseins im
Radiolar nichts sicheres weiß, daß ich aber eines ganz sicher weiß:
daß nämlich unser menschliches Kunstschaffen ganz gewiß nicht von
unserm menschlichen Bewußtsein ausgeht. Triebhaft im Sinne einer vom
unbekannten Innern unseres Daseins aus vordringenden und fortreißenden
Macht, die wir weder rufen noch abweisen können, vollzieht sich gerade
unser menschliches Dichten und Kunstschaffen, -- des rufe ich jeden
echten Schaffenden zum Zeugen an.

Die Kunst läßt sich nicht kommandieren. Sie ist ein Geschenk,
allerdings eines aus uns selbst. Das Naturprinzip, das in ihr
durchbricht, läuft ja nicht übernatürliche Bahnen hinter uns. Es läuft
in uns, ist ein Teil von uns, ein Bestandteil unseres tiefsten Seins.
Da ich aber selbst im Sinne natürlicher Entwickelung vom einzelligen
Urwesen nur getrennt bin durch einen Unterschied des Grades, nicht
der Art, -- so scheint es mir kein großes Wagnis, zu sagen: dieses
in mir enthaltene, in meiner Menschenkunst so und so durchbrechende
Naturprinzip sei auch da unten schon, wenn auch auf einer anderen
Stufe, im Radiolar vorhanden und schaffend wirksam. Es dichtet keinen
Faust, dieses Radiolar, und malt kein jüngstes Gericht. Aber in seinem
triebhaften Gestalten zierlicher, rhythmischer Gebilde beweist es
in seiner Weise doch schon, daß auch in ihm eine Durchbruchsstelle
ist jenes gewaltigen, auch aller höchsten Kunst letztlich zugrunde
liegenden Naturprinzips, das auf rhythmische, harmonische, „schöne“
Gebilde geht.

Es war kein Silberschatz, kein wirklicher Nibelungenhort, von dem wir
ausgegangen sind. Winzige Schälchen meerbewohnender Tiere niedrigster
Art lagen unter dem Mikroskop, eine Messerspitze voll wie eine Prise
Schnupftabak.

Und doch -- welche Bilder dahinter!

Meerestiefen, gegen die der grüne Grund des Rheinstroms, der in der
Sage das Nibelungengold verschlingt, ein seichtes Rinnlein mit ein
paar dünnen Tropfen wird. Und in diesen schwarzen Gaurisankar-Tiefen,
nur vom gespenstischen Licht phosphorescierender Fische noch magisch
erhellt, ein unendlich geheimnisvoller Schatz, so wunderbar, wie
ihn keine Sage träumt: die heilige Natur-Knospe des Großartigsten,
Edelsten, Glückseligsten, was der Menschheit oben im freien Sonnenlicht
verliehen wurde: -- der Kunst.




Warum die urweltlichen Tiere ausgestorben sind?


Es war an einem wundervollen Sommermorgen auf der Insel Rügen.

Ich war eine Weile pfadlos durch den dichten Wald geschritten, zwischen
hohen Farrnkräutern, nach oben und allen Seiten ganz eingesponnen in
das lückenlose Smaragdgrün der kleinen, hart gerippten, zitternden und
flimmernden Buchenblätter.

Auf einmal eine Lücke, als tauche das Auge aus einem tiefen, tiefen
grünen See. Und da unendlich weit das blaue Meer, das alte, immer
schöne.

Ich kletterte von der Buchenhöhe herab zum schmalen, steinigen Strande
und setzte mich auf einen grauen Block, ein paar Minuten still
versonnen in der Folge eines weißen Dampfers, der fern, klein wie ein
Spielzeug, die Meereswölbung schnitt.

Dann kam mein Blick, wie sich ausruhend von dem unendlichen Bilde, aufs
Nächste zurück.

Dicht vor meinen Füßen lag um eine Vertiefung ein kleiner Steinring.
Kinder hatten ihn spielend gebaut, eine Art Burg, in der eines gesessen
hatte, während die andern einen Kreis darum bildeten und sangen.

Aber mich fesselten die Steine selbst.

Weiße Kreidebrocken; einer war zerschlagen und wies einen schwärzlichen
Kern: Feuerstein. Ein rötliches Geröllstück von ganz anderer
Mineralart. Ein kleiner, halb abgebrochener gelblicher Steincylinder
wie ein länglicher Fingerhut. Ein bläuliches rundes Ding, seltsam
wie mit undeutlichen Ornamenten verziert, im ganzen einer harten,
eingetrockneten Cypressenfrucht nicht unähnlich. Zwischen allerhand
größeren Trümmern auch ein winziges Körnchen von auffallendem Rotgelb:
Bernstein.

Meine Gedanken begannen zu wandern.

Diese Kinder hatten mit Jahrmillionen der Erdgeschichte gespielt ohne
eine Ahnung davon. Jede kleine Quader da in ihrer Festung war ein Stück
Urwelt mit einer ungeheuren Perspektive.

Dieses Körnchen Bernstein war versteinertes Harz eines Fichtenbaumes,
dessen Art heute auf Erden nicht mehr gefunden wird, ein Gruß aus
längst verschollenem Urwalde einer deutschen Küste in Tagen, da es noch
keinen Begriff „deutsch“ gab, weil es noch keinen Begriff „Menschheit“
gab.

Diese Kreide, wie sie jetzt die steilen Wände der Stubbenkammer
auf Rügen zusammensetzt, war einst Tiefseeschlamm des Ozeans.
Die Kalkschalen mikroskopisch kleiner Tierchen, die diesen Ozean
belebten, sanken jahrhunderttausendelang unablässig in die Tiefe und
bildeten dort allmählich diesen Schlamm. Dann kamen Faltungen der
Erdrinde, verschoben Land und Wasser und stauten den uralten, zu Stein
verhärteten Schlamm als Hügel empor. Gegen diesen Hügel quetschten
sich Millionen Jahre später die Gletschermassen der Eiszeit, die, von
Norden kommend, die ganze Ostsee ausfüllten. Mit diesen Gletschern ist
der rote Stein dort von den Gebirgen Schwedens bis hierher geschleppt
worden. Zugleich rissen diese mit Steinen wie ein Reibeisen besetzten
Gletscher hier die weiche Kreide Rügens auf, wühlten gleichsam ihre
Eingeweide heraus, daß sie in nackter Blöße, zersplittert und zerfetzt,
offen blieben, wie sie heute stehen.

Aus dem zerrissenen Fels aber lösten sich schwärzlich-gelbbraune
Einlagen. Von da stammt der Feuerstein. Als der Kreidefels noch
weicher Schlamm war, betteten sich in diesen Schlamm schichtenweise
seltsame Knollen aus Kieselstoff, auch sie das Erzeugnis wahrscheinlich
kleinster Tiere, vielleicht hauptsächlich Radiolarien, die unzählige
Gehäuse aus stahlhartem Kiesel aufbauten und zu solchen Klumpen sich
ballen ließen. Das ist unser heutiger Feuerstein.

Zwischen diesem Feuerstein fiel aus der Kreide noch mancherlei
anderes Gebild, auch das urzeitlicher Rest verschollenen tierischen
Lebens. Dieses zerbrochene gelbe Röhrchen, „Donnerkeil“ im Volksmunde
genannt, war einst ein Körperteil eines Tintenfisches vom Schlage der
sogenannten „Belemniten“. Diese wie mit Hieroglyphen besetzte blaue
Steinfrucht ist der Ausguß der Schale ebenfalls eines Tieres, eines
See-Igels, der zugleich mit jenem Tintenfisch lebte, als der Feuerstein
und die Kreide sich bildeten.

In jenem Ozean der Kreidezeit schwammen 120 Fuß lange Eidechsen,
die Mosasaurier, dünn wie das Schiffermärchen die große Seeschlange
träumt. Und am Strande des Meeres stapften reptilische Scheusale von
zehn Metern Länge, die aufrecht auf den Hinterbeinen gingen wie unser
Känguruh. In Belgien liegen heute noch die Reste; beim Bergwerksbetrieb
sind sie zutage gekommen tief unter der Sohle des heutigen Lebens, eine
versunkene Welt.

An solchem Fleck, wo die Geschichte des Kosmos sich in ein Kinderspiel
drängt, tauchen einem von selbst allerhand Fragen auf.

Es ist immer eine der nächsten gewesen: wo ist das alles hingekommen?
Warum ist es heute nicht mehr da?

Das Meer blaut noch in unabsehbarer Weite wie je, hat noch immer
Tiefen, in denen der Gaurisankar sich untertauchen ließe, noch heute
bietet es dem Walfisch, der auch hundert Fuß lang wird, Nahrung und
Raum. Wo sind die Mosasaurier, die Iguanodons, wo der Ichthyosaurus
hingekommen, dessen Steinmumien in Schwaben dicht beisammenliegen wie
die Heringe, wo die Mammute, deren rotwollige Leiber noch blutig frisch
im sibirischen Eis stecken wie in einer Konservenbüchse der Ewigkeit?

+Eine+ Antwort scheint ja die erste, rascheste.

Unendliche Zeit ist seit damals hin. In dieser Zeit hat die Erde
hundert Akte des wildesten Spektakelstücks durchgespielt. Das
Land ist geborsten und hat feurige Lava und kochenden Wasserdampf
gespieen, Sintfluten haben sich darüber ergossen. Da wurden die Fische
gebraten und die Sumpfreptile ertränkt. Und über die Mammute gar ist
klafterhohes Eis gestürzt.

Aber davon will die heutige Wissenschaft nicht mehr viel wissen, wenn
es auch in Jugendbüchern und Romanen noch erzählt wird.

Wir haben gelernt, daß die Mühlen der Weltgeschichte in der
Ichthyosaurus-Zeit wahrscheinlich genau so langsam gemahlen haben wie
heute. Es brodelt wohl einmal ein Vulkan. In Jahrhunderttausenden frißt
sich ein Strom auch ein neues Bett, versandet ein See, sinkt eine
Küste Millimeter um Millimeter abwärts, bis endlich ganz, ganz langsam
der Ozean ins Wattenmeer zwischen Inseln, in die Marschen, ja endlich
über ein ganzes Tiefland bis zur nächsten Hügelmauer dringt. Daß es
aber niemals jene allvernichtenden Katastrophen, die gleichsam mit dem
Schwamm über alles Lebendige wischten, seit ältesten Erdentagen in
Wahrheit gegeben habe, davon liegt ein schlichtestes Zeugnis vor.

Es leben nämlich heute noch einzelne Tiergeschlechter munter neben
uns, die schon mit dem Ichthyosaurus und noch weiter zurück blühten.
Ein solcher leibhaftiger überlebender Urweltler ist der Molchfisch
Ceratodus Australiens, der recht im Sinne Darwins eine Uebergangsform
darstellt zwischen Fisch und Molch, weil er nämlich noch Kiemen zum
Wasseratmen besitzt wie ein Fisch und doch zugleich schon eine Lunge,
wie die Landtiere sie vom Molch an aufwärts haben. Dieser Molchfisch
ist genau der Gattung nach +älter+ als der älteste Ichthyosaurus
und erfreut doch noch jetzt die Australneger Queenslands durch sein
wohlschmeckendes, lachsrotes Fleisch. Ja, die Lingula, ein kleines,
halb wurm-, halb muschelähnliches Tier aus der Gruppe der sogenannten
Brachiopoden, lebt im Ozean, so lange wir überhaupt Kenntnis und Reste
von lebenden Wesen besitzen: von der kambrischen Epoche an, mit der all
unsere Weisheit beginnt, bis auf den heutigen Tag.

Umgekehrt das Mammut war ausgestorben, als unsere
Geschichtsüberlieferung begann, kein Lied, kein Heldenbuch meldet mehr
von diesem „deutschen Elefanten“ mit seinen ungeheuren Stoßzähnen.
Und doch hat der Mensch, wie wir heute sicher wissen, dieses Mammut
noch gejagt, sein Fleisch hat er verspeist, aus dem Elfenbein seiner
Zähne hat er Schnitzereien gefertigt, ja auf ein solches Knochenstück,
das in einer französischen Höhle bei Kulturresten der Steinzeit
(also der ältesten Menschheits-Kultur jenseits aller schriftlichen
Ueberlieferung) entdeckt worden ist, hat ein Künstler jener Urtage mit
roher Hand, aber noch wohl erkennbar, das Umrißbild eines solchen
Elefanten mit Pelz, Stoßzähnen und Rüssel eingekritzelt. Den Menschen
hat offenbar keine Erdkatastrophe fortgefegt seither, -- die Mammute
aber sind alle tot. Warum?

Man hat beim Mammut vermutet, es sei dann wohl der Mensch selber
gewesen, der es vertilgt hat.

Kein Zweifel ist ja, wie dieser Mensch wahrhaft verheerend eingebrochen
ist in die Tierwelt der Erde. Wo ist all das wilde Getier der alten
Germanen-Wälder, wie es die Römer bei uns fanden, in den zweitausend
Jahren hingekommen? Bären, Wölfe, Luchse gab es die Masse, Ur-Stiere
und Auerochsen und Elentiere sielten sich im Sumpf, und aus jedem
Flußarm stiegen die seltsamen Kuppelbauten und Dämme der Biber.
Verschwunden ist das alles vor der Kultur. Hier und da nur noch ein
letztes Häufchen Biber, ein paar künstlich gehegte Elentiere. Der
deutsche Auerochs und Bär sind längst ganz verschollen, der schwarze
Ur-Stier ist sogar überhaupt ausgestorben. Warum soll es dem Mammut,
dessen Knochen heute noch im Kies bei Berlin, im Flußbett der Lippe,
auf dem Elbplateau jenseits Dresdens gefunden werden, nicht schon ein
paar Jahrtausende vor Cäsar genau so ergangen sein?

Aber auf jene Seeschlangen der Kreidezeit und den Ichthyosaurus vom
Fuße der schwäbischen Alb paßt auch das wieder nicht, denn mit ihnen
ist zu ihren Lebzeiten überhaupt noch kein Mensch zusammengetroffen.
Millionen von Jahren liegen zwischen dem ersten Auftreten des Menschen
und dem letzten Ichthyosaurus. Kein Siegfried kann diese Lindwürmer
erlegt haben. Aber wer war es denn?

Es ist erst ein paar hundert Jahre her, da hatte man bezüglich dieser
versteinerten Ungeheuer noch ganz anders verwegene Fragen.

Haben diese Tiere überhaupt je gelebt? fragte man. Im Gestein selber
sollte eine mystische Bildungskraft stecken, die den toten Stein
gelegentlich spielend zu tierähnlichem Gebilde formte. So wäre ein
solches vermeintliches Drachen-Gerippe gar kein echter Rest eines
Tieres, das einst im Sonnenlicht sich gefreut und seine Tatzen geregt
wie wir, -- sondern es wäre das Ergebnis einer Art geheimnisvollen
Kristallisationsprozesses erst in der schwarzen Erdentiefe.

So lustig das erdacht war: es hielt doch den Tatsachen nicht lange
stand. Es läßt sich an den sinnfälligsten Merkmalen beweisen, daß diese
Urweltler einmal +gestorben+ sind. Was aber stirbt, muß gelebt
haben.

In goldig durchschimmernden Stückchen dieses Bernsteins hier gewahrt
der Kundige nicht selten Mücklein, Spinnen und Ameisen. Sie sind genau
des Todes verstorben, der heute ähnliche kleine Tiere ereilt, wenn die
Fichte tränt und der Kirschbaum zähes Harz aus seiner Rinde träufelt:
vom klebrigen Harztropfen sind die Vorwitzigen gefangen und umhüllt
worden wie die Einwohner Pompejis anno dazumal vom Aschenschlamm des
Vesuv, -- zum Bernstein verhärtet, ins Meer verschwemmt, hegt sie noch
heute die alte Harzmasse als gläserner Sarg.

Tief im Gestein, wo der Ichthyosaurus heute schläft, liegen eng bei
ihm, auch zu Stein geworden, die Verdauungsreste seiner Nahrung. Der
Forscher schleift sie auf und gewahrt auf der Schlifffläche die wohl
erkennbaren unverdaulichen Ueberreste dessen, was der alte Drache
verschlungen hat. Fischschuppen sind es, Gräten und die Trümmerstücke
von Tintenfischen. Dieses kleinere Getier ist also gefressen worden vom
großen, -- gestorben im dicht bezahnten Rachen eines hungrigen Räubers.
Damals wie heute gab es offenbar Hader und „Kampf ums Dasein“, es gab
Fresser und Gefressene, Ueberwinder und Unterliegende.

Wir ahnen aber noch andere Ursachen des Todes und zwar nicht nur bei
Kleinen, sondern auch bei den Gewaltigen selbst.

Jene Rieseneidechse Iguanodon, von der ich gesprochen habe und die
auf den Hinterbeinen trottete wie ein Känguruh, ist im sogenannten
Wälderton bei Bernissart in Belgien in einer ganzen Herde von
dreiundzwanzig Stück ausgeschachtet worden. Dieses ganze Regiment
Kolosse stand derart aufrecht im Tongrund, daß man nicht anders
annehmen kann, als es ist voreinst einmal in einer Unglücksstunde die
ganze Kavalkade aufrecht so im weichen Sumpfgrunde eingesunken und
erstickt. Wunderbar kann das ja nicht sein bei Reptilien von zehn
Metern Länge, die wahrhafte Drachenschwänze hinter sich herschleiften
und nach vorne Hängebäuche wie die Fettgänse gehabt haben müssen,
während der vogelartige Schnabelkopf sich auf hohem Schwanenhalse
haushoch über das ganze reckte. Ein ähnlicher Unhold, den man in
Amerika gefunden hat und der seine siebzig Fuß lang wurde, der
Brontosaurus, wird auf ein Gewicht von zwanzig Tonnen, das sind
zwanzigtausend Kilogramm, geschätzt. Ein solches Tier auf einem
genügend tiefen urweltlichen Moorboden war rettungslos verloren; es
ging unter wie ein leckes Schiff mit Steinfracht.

Gerade dieser letztere Fall muß uns aber nun besonders zu denken geben.

Er macht auf etwas aufmerksam, was am Ende nicht nur das einzelne
Sterben, sondern das ganze endgültige „Aussterben“ solcher Urweltler in
seinem Grunde aufhellen könnte, wenn man es nur recht erwägt.

Ein solcher wandelnder Fleischberg wie der Iguanodon oder der
Brontosaurus hatte etwas unverkennbar Uebertriebenes in sich. Etwas
Uebertriebenes, das sich unter besonderen Umständen hatte heranbilden
können und in seiner Weise eine Zeitlang Herr der Situation war, -- das
aber über kurz oder lang doch dem Lose aller Uebertreibungen verfallen
mußte: unpraktisch zu sein.

Wenn wir das Gerippe eines solchen Brontosaurus, wie es von dem
amerikanischen Geologen Marsh im Museum zu New Haven wieder
zusammengesetzt worden ist, genau betrachten, so erscheint in ihm ein
groteskes Mißverhältnis.

Alle Wucht der Entwickelung dieses Riesenleibes ist in die reine
Masse verlegt. Dieses Tier konnte, so lange es sich um Größe allein
handelte, wenig Feinde haben, denn es trampelte da alles nieder. Ein
ausgewachsener Elefant wiegt bloß 6000 Kilogramm. Dieses Reptil hätte
ihn also gründlich zerquetscht, wenn es nur über ihn wegkroch. Viele
dieser Drachen waren auch noch am ganzen Leibe verpanzert, trugen
riesige Hörner auf Stirn und Nase wie Stiere und Rhinozerosse, oder
sie hatten aufrechtragende steinharte Kämme aus soliden Platten den
ganzen Rücken entlang und auf dem Schwanz halbmeterlange Stacheln, die
ein anspringendes Raubtier von Tigergröße durchlöchern mußten wie die
zusammengefaßten Speere den Winkelried.

Aber diese riesengleichen Lindwürmer hatten umgekehrt Gehirne, so
+winzig+, daß ein Spatzenhirn sich im Verhältnis über sie erhebt,
wie das Gehirn eines Menschen über ein Spatzenhirn. Mehrfach war bei
ihnen das Rückenmark in der Beckengegend viel dicker als das ganze
Gehirn, so daß man fast sagen möchte: sie haben mehr mit den Beinen
gedacht als mit dem Kopf. Es kann aber mit dem ganzen Denken nicht
weit her gewesen sein. Der ungeheuerlichen Leibesfülle entsprach
eine ungeheuerliche Dummheit. Wenn man die Höhle im Schädel mit Gips
ausgießt, so erhält man die Maße ihrer Hirne heute noch ziemlich genau:
sie sind erschreckend klein. Das Wort scheint wahr geworden vom Berge,
der eine Maus erzeugt. Sie besaßen aber noch lange keine Gehirne, die
sich dem eines kleinsten Mäusleins vergleichen ließen. Und das war denn
doch schließlich wohl der Punkt, wo sie sterblich waren.

Ihre Körperlast, sonst unangreifbar, machte sie zum Opfer jeglichen
Terrains, das nachgab, -- des Sumpfbodens wie des Flugsandes.

Und ihre wahrhaft monumentale Dummheit führte Generation um Generation
wohl immer wieder auf so verfänglichen Boden. In diesen kleinen
Gehirnchen speicherten sich keine Erfahrungen an, warfen Falten des
vererbten Denkens auf, lehrten die Enkel in Schläue meiden, was den
Ahnen Verderben gebracht. Sie trotteten jahrtausendelang ihren gleichen
Weg, und wenn auf diesem Wege eines Tages ein Moor entstand, so sanken
sie in dieses Moor und erstickten, als müßte es so sein.

Bis an einem letzten Tage der letzte Lindwurm so das Zeitliche gesegnet
hatte.

Es mag ebenso geschehen sein, daß viel kleinere Tiere ihrer doch Herr
wurden trotz aller zwanzig Tonnen Gewicht, und zwar aus dem einfachen
Grunde, weil diese Tiere sich inzwischen im Verhältnis größere, also
klügere Gehirne erworben hatten.

Gegen einen solchen schwachköpfigen Saurier war ein Vogel, wie gesagt,
ein Genie. Es gab aber in der letzten Drachenzeit nachweisbar bereits
Vögel, und zwar sind in Südamerika neuerdings auch Vogelriesen gefunden
worden, die über drei Meter hoch waren und Raubvogelschnäbel und
Krallen gehabt haben müssen wie aus Stahl. Wenn ein solcher Greif
sich dem Lindwurm unversehens auf dem Rücken festhakte, vermöge
seiner viel feineren geistigen Gewitztheit geschickt den Schlägen des
Stachelschwanzes auswich und seinen Schnabel zwischen die Panzerplatten
einhieb, so half dem Herkules schließlich all sein Gewicht nichts mehr,
und der schlimme Vogel schlug ihm endlich den Leib auf, wie ein Igel
sich mit seinen spitzen Zähnen in eine Viper frißt.

Darwin hat uns im neunzehnten Jahrhundert auf das große Prinzip in der
Entwickelung des Lebens auf Erden aufmerksam gemacht, das mit dem Worte
„Anpassung“ ausgesprochen ist. Ueberblicken wir die heutige Tierwelt,
so sehen wir jede Tierart in einer bewundernswürdigen Weise ihrer
Lebenslage angepaßt. Der Fisch ist wie eine kunstvolle Maschine auf
das Leben im Wasser hin gebaut, der Vogel auf die Luft, der Maulwurf
auf die Wühlarbeit im dunklen Erdreich, das Roß auf die Ebene, die
Gemse auf das Gebirge, der Affe auf den Baum. Auch die Tiere der Urwelt
zeigen in all ihren Abdrücken und Gerippresten, die uns von ihnen im
Gestein erhalten sind, solche Anpassungen in Hülle und Fülle. Schon da
hat der uralte Fisch seine Flossen, die verschollene Schildkröte ihren
Schutzpanzer, der Ichthyosaurus seine scharfen Zähne und der älteste
Vogel seine Federflügel. Und schon aus diesen Organen der Anpassung
allein, die so deutlich noch vor Augen stehen, kann man den sicheren
Schluß ziehen, daß diese Tiere wirklich einmal gelebt haben. Aber man
kann aus dem Prinzip gerade der Anpassung auch herleiten, daß und warum
viele einst vorhandene Arten vollständig wieder ausgestorben sind.

Gab es auch in der Erdgeschichte nicht jene wüsten Katastrophen, die
ganze Tiervölker in Lava brieten oder in Sintfluten ersäuften, so hat
sich doch die Erdoberfläche im Laufe der Jahrmillionen langsam, aber
sicher fort und fort ganz respektabel verändert.

Das aber schuf für das bunte Tiervolk im ganzen immer wieder andere
Grundlagen, andere Nötigungen der „Anpassung“.

„Andere Zeiten, andere Vögel!“ Der alte Vers hat zoologisch eine
tiefste Wahrheit. Was für die Zeit der Erdgeschichte etwa, da der
heutige Jura-Schiefer als Meeresschlamm sich absetzte, gut war im
Sinne vollkommener Anpassung, das genügte für die spätere Epoche, da
die heutige Kreide sich in der Tiefsee bildete, nicht mehr, -- und so
fort. Einzelne stille Winkel hat es zwar immer gegeben, wo diese oder
jene Art allen Wechsel überstand, ohne sich wesentlich dem Fortgang
anzubequemen: so erklären sich jene überlebenden letzten Mohikaner
urältester Tage wie jener Molchfisch und jenes Lingula-Tier. Für die
Masse aber schuf jede neue Epoche der großen Erdentwickelung ein
scharfes Entweder -- oder.

Entweder die Tiere paßten sich den neuen Verhältnissen entsprechend
+neu+ an, oder sie +starben+ als unbrauchbar, als reaktionär
geworden aus.

Beide Fälle sind in Masse immer wieder eingetreten. Welche Veranlagung
dabei über das „Wie“ des Weges entschied, ist freilich auch dem
darwinistisch gesinnten Naturforscher von heute noch keine ohne
weiteres beantwortbare Frage. Man ist versucht zu sagen, daß es
jedesmal die Genies der Tierwelt waren, die sich umformten zu neuer
Anpassung, und andererseits die Tröpfe und Trottel, die den Anschluß
nicht finden konnten und unter den Tisch fielen. Wobei die Worte
selbst freilich, von uns Menschen entnommen, vorläufig noch keine
echte, tiefere Erklärung umschließen. Denn wir wissen durchaus nicht,
auf Grund welcher innerlichen Weltverknüpfung nun etwa in unserem
Menschenleben selbst hier ein Genie geboren wird und dort ein Trottel.
Bloß das sehen wir klar, daß das Genie, wenn es einmal da ist, seine
Zeit beim Schopfe nimmt und mit ihr hochschwimmt, -- während der arme
Tropf in ihrer Welle elendiglich ertrinkt. Und dieses Verhältnis ist
(hier hat Darwin zweifellos den Nagel auf den Kopf getroffen) für die
alten Tiere jedenfalls ebenso maßgebend gewesen.

Wer in veränderter neuer Zeitlage die entsprechende neue Anpassung
darbot, der +erhielt+ sich, war Herr der Situation, -- wer sie
aber nicht hatte, der +versank+.

Immerhin läßt sich aus jenem guten Beispiel von den ungeheuer
körperschweren, aber ebenso verstandesdürren Lindwürmern der Kreidezeit
aber noch ein engerer Schluß zu diesem Hauptgedanken wagen.

Je extremer, je einseitiger, je fanatischer, möchte ich sagen, eine
Tiersorte zu einer Zeit ihre Anpassung an ganz bestimmte enge
Verhältnisse getrieben, desto geringer scheint die Wahrscheinlichkeit
gewesen zu sein, daß sie jene goldene Straße des Fortschritts noch
einmal einschlagen konnte, desto größer der Zwang, daß sie tragisch
unterging.

Ziemlich unzweifelhaft liegt hier der Grund, daß so viele gerade der
sonderbarsten barocksten und uns unbegreiflichsten Riesentiere der
Vorwelt eben bloß noch als Gerippe im alten Gestein liegen, -- sie
waren solche Extreme der einseitigen, nicht mehr beweglichen Anpassung
ihrer Zeit.

In neueren Tagen sind insbesondere von dem Privatdozenten Brandes
in Halle interessante Vermutungen über dieses Aussterben extrem
veranlagter Tiere geäußert worden.

Noch in der sogenannten Diluvialzeit, also in den ersten Tagen, aus
denen wir die Knochenreste von Menschen und die ersten Anzeichen einer
eskimo-artigen, ganz niedrigen Kultur besitzen, lebte in Europa sowohl
wie besonders in Amerika ein Geschlecht großer, löwenartiger Katzen
von sonderbarstem Aussehen. Machairodus hat man sie getauft, das ist
zu deutsch: der Säbelzahn. In der Tat führten diese Ungeheuer im
Oberkiefer Eckzähne, die nicht bloß wie echte Raubtierzähne von heute
als derbe Wehr und Angriffswaffe im Maule saßen, sondern die wie wahre
krumme Säbel oder Messer über den Unterkiefer hinweg aus dem Maule
vorsprangen.

Man hat sich mit Recht gefragt, wie ein solches Tier überhaupt
entstehen konnte?

Es ist nicht mehr ein regelrechter Löwe, sondern eher die Karikatur
eines solchen.

Diese wahren Walroß-Hauer im Maul einer Katze scheinen durch
Uebertreibung des Prinzips mehr einen Ballast darzustellen, denn eine
Waffe, die wirklich noch zum Beißen Sinn hat. Man glaubt den Räuber,
der ein Wild angesprungen hat, sich damit festbeißen zu sehen in einer
Weise, die ihn förmlich festnagelt an den eigenen Zähnen, ohne daß er
doch damit richtig packen kann.

Wie soll eine so abstruse Anpassung überhaupt je zustande gekommen
sein, -- an was hatte dieser Säbelzahn sich überhaupt angepaßt.

Nun ist gewiß auffällig, daß wenigstens in Amerika, also gerade da,
wo die Machairodus-Löwen mit üppigster Zahnentfaltung in Masse gelebt
haben, aus derselben Zeit uns die Knochenreste kolossaler Säugetiere
überliefert sind, die +steinharte Panzer+ trugen.

Bekanntlich gibt es noch heute einige recht solid verpanzerte Säuger,
-- so das Gürteltier, das in einem festen Hornpanzer steckt wie
ein Krebs in seiner Schale. Heute noch gibt es solche Gürteltiere
ausschließlich in Amerika, es sind aber durchweg ziemlich kleine
Tiere. In den Tagen jenes Machairodus aber existierten im Lande
dort Riesen aus der Verwandtschaft der Gürteltiere und der nah
dazugehörigen Faultiere, die die Größe von Elefanten und Nashörnern
erreichten, ja zum Teil noch massiver gebaut waren als der Elefant.
Und auch von diesen Patriarchen besaßen viele den echten knochigen
Gürteltierpanzer, bloß auch übersetzt in die Dimensionen eines
Rhinozeros. Die sogenannten Glyptodonten steckten ganz darunter wie
enorme Schildkröten. Einige Riesenfaultiere (Vettern des berühmten
Megatherium) trugen den Panzer wie ein geheimes Kettenhemd innerhalb
ihres dicken, obenauf mit gelbroter Wolle belegten Felles.

Es scheint nun ein ganz plausibler Gedanke, daß die Existenz so
zahlreicher Panzertiere am Ort, wo der Machairodus jagte, einen
Fingerzeig abgebe dafür, wie sein abnormes Gebiß doch einmal einen
echten Anpassungszweck gehabt haben könnte.

Diese Ungeheuer im Schildkrötenrock hatten keine andere Waffe gegen
ein aufspringendes Raubtier, als eben ihren Rock. Dumm waren sie ihren
Gehirnen nach auch über alle Maßen, und ihr Gebiß war auf Blätter- oder
Wurzelkost gebaut wie das von harmlosen Wiederkäuern. Aber ein Löwe
oder Tiger von heute hätte ihnen immerhin ja auf den Buckel springen
mögen zum „Löwenritt“: -- kein gewöhnlicher Raubtierzahn hätte diese
harte Nuß aufknacken und dem Schalenbesitzer wirklich ans Blut kommen
können. Ganz anders dagegen unser Machairodus. Seine Säbelzähne mochten
allen Ernstes in die Hornwand einschneiden, mochten Panzerplatten
losreißen und so den leckeren Braten bei lebendigem Leibe tranchieren.
Ein fürchterliches, aber zum Zweck sinnreiches Tranchiermesser für
Gürteltiere wäre also der Eckzahn des Machairodus gewesen seiner
ursprünglichen Anpassung nach.

Es ist aus diesem Gedankengang dann selbst wieder ersichtlich,
daß diese enge Anpassung für so einseitigen Zweck später doch ein
Entwickelungshemmnis und eine Ursache schließlich des Unterganges der
Machairodus-Löwen aus sich heraus werden konnte.

Denn eines Tages starben die Panzergürteltiere, dauernd bezwungen vom
siegreich angepaßten Machairodus, +selber+ ganz oder doch mehr
und mehr aus, -- der Angreifer sah sich auf anderes, nicht bepanzertes
Wild, Pferde, Hirsche, Lamas und so weiter, angewiesen, -- und jetzt
rächte sich plötzlich die +zu tolle+ Anpassung, die Säbelzähne
brachten ihm Nachteil im Daseinskampfe statt Gewinn, -- er blieb zurück
gegen schwächer, aber bequemer bezahnte Raubtiere, und damit war sein
Schicksal besiegelt. Tatsächlich hat der Machairodus mit dem Glyptodon
zusammen das Feld geräumt, während der Jaguar und Puma, diese großen
Katzen mit sehr viel kleineren Eckzähnen, heute noch Amerika unsicher
machen.

Es ist eine Schwierigkeit der Theorie, die ich nicht verhehlen will,
daß sie bloß auf Südamerika zugeschnitten ist. Niemals haben in der
alten Welt verpanzerte Glyptodon-Arten gelebt, wohl aber liegen
Reste säbelzähniger Raubtiere auch hier in Menge. Immerhin läßt sich
bei einer großen Reihe auch der altweltlichen Säugetiere von damals
wenigstens auf dicke, rhinozerosartige Häute schließen, die schon ein
Machairodus-Gebiß als Gegen-Anpassung herausfordern konnten. Und auch
von dieser tertiären Tierwelt ist nachher viel ausgestorben, was den
Angreifer mitgerissen haben könnte.

Ein anderes vielleicht noch besseres Beispiel scheint dann das Mammut
zu bieten.

Von allen lebenden und ausgestorbenen Elefantenarten trug das Mammut
die kuriosesten Stoßzähne. In gewaltiger Krümmung biegen sie sich
aufwärts am Rüssel vorbei wieder der Stirn zu, als wollten sie nach
kühnstem Bogen geradezu in den Kopf, von dem sie unten ausgegangen,
oben wieder hineinwachsen.

Vergleicht man mit diesen Bogenzähnen die Zahnwehr eines lebenden
Elefanten, so machen auch sie in der Tat den Eindruck einer ins
Unsinnige umschlagenden Uebertreibung.

Der Laie ist ja geneigt, sich unter dem Mammut gerade dieser enormen
Zähne wegen ein besonders entsetzliches Tier zu denken, -- wobei
er gewöhnlich noch die an sich irrige Meinung mitbringt, daß das
Mammut bedeutend größer als der heutige indische oder afrikanische
Elefant gewesen sei. In Wahrheit ist dieser alte Eiszeit-Elefant aber
durch diese seine Riesenzähne +wehrloser+ gemacht worden, da er
überhaupt mit ihnen nicht mehr als Stoßwaffe arbeiten konnte und bloß
durch die außerordentliche Schwere dieser zwecklosen Kopfzier in seiner
freien Bewegung ärgerlich gehemmt wurde.

Wie aber sind diese unpraktischen Uebertreibungshauer zustande gekommen?

In jedem zoologischen Garten kann man beobachten, daß die gewöhnlichen
Stoßzähne des Elefanten aus dem Oberkiefer sich herausbiegen. Es sind
zwei wurzellose Schneidezähne dieses Kiefers, die mit den Eckzähnen der
Raubtiere nichts zu tun haben.

Ihr Nutzen besteht für den Elefanten vor allem darin, daß er beim
Abbrechen von Zweigen im Urwalde sie als Gegenstütze benutzt: er
faßt den Zweig mit dem Rüssel und knackt ihn über dem kurzen krummen
Stoßzahn ab.

Genau so haben es aller Wahrscheinlichkeit nach schon die Vorfahren des
Mammut gemacht, waldbewohnende Elefanten jener sogenannten Tertiärzeit,
in der Europa noch dichte tropische Urwälder besaß. Als eine höchst
sinnreiche Anpassung an dieses Zweigknicken im Walde waren die
Stoßzähne dort erworben worden.

Nun änderten sich aber die Dinge. Am Ende der Tertiärzeit brach die
große Eiszeit los. Ihr kalter Hauch vertilgte die Urwälder, karg und
armselig wurde der Pflanzenwuchs am Gletscherrande, und was von Tieren
sich hielt, das mußte fortan damit vorlieb nehmen.

Das Mammut bestand die Kälte selbst. Es paßte sich ihr an durch
einen dicken Wollpelz und dauerte jahrtausendelang dicht am Eisrande
unentwegt aus. Nur so konnten seine Kadaver gelegentlich in das Eis
selbst geraten und unter guten Umständen (wie in Sibirien, wo in der
Eiszeit gefrorener Boden bis heute nicht getaut ist) bis auf unsere
Zeit darin erhalten bleiben.

Doch die Stoßzähne, auf den Wald berechnet, wurden dabei allmählich
total überflüssig.

Sie hätten ganz eingehen können.

Aber da gerade mischte sich ein Gesetz ein, das für diese Sorte Zähne
allgemeine Gültigkeit zu haben scheint. Diese wurzellosen Schneidezähne
der Säugetiere haben, scheint es, allgemein eine Tendenz, während des
ganzen Lebens der Tiere für ihr Teil +immer weiter zu wachsen+,
wenn sie nicht durch äußeres Abschleifen gehemmt werden, -- etwa so,
wie unsere Fingernägel und Haare immer langsam vorwärts wachsen, wenn
man sie nicht künstlich kürzt.

Man kann das sehr hübsch bei Nagetieren beobachten. Für gewöhnlich
stehen da die oberen und unteren Schneidezähne so gegeneinander, daß
sie sich stets an der Spitze aneinander abreiben und abschleifen, also
trotz permanenten inneren Nachwachsens im ganzen nicht größer noch
kleiner werden. Kommt aber der Fall vor, daß etwa unten die Zähne durch
einen Mißwachs oder Unfall fehlen, also das gegenseitige Abarbeiten
ausbleibt, so wachsen die oberen Zähne ins Blaue hinein weiter, krümmen
sich zur tollen Spirale und bohren sich wohl gar rückwärts wieder in
den Schädel ein.

Dieses Schicksal erlitt das Mammut im großen.

Solange seine Stoßzähne als Aesteknacker dienten, schliffen sie sich
dabei von selbst ständig auf ihr Normalmaß herab. Als aber diese
Tätigkeit aufhörte und damit auch das regulierende Abschleifen, --
da entstanden aus ungehemmtem Wachstums-Uebermut jene kolossalen
Bogenkrümmungen, es kamen die stirnwärts und wieder auswärts wie kranke
Kartoffeltriebe gekrümmten Riesenhauer zustande: die Stoßzähne des
Mammut.

Ihr Sinn stand zunächst jenseits jeder Anpassung. Bald aber zeigte
sich ein „Unsinn“ geradezu in Hinsicht solcher Anpassung darin.
Diese Krummstäbe aus schwerer Elfenbeinmasse wurden reiner Ballast.
Und es ist sehr möglich, daß dieses am Kopfe sinnlos belastete
Ungeheuer gerade deshalb gewissen Angreifern (zu denen zweifellos
in erster Linie schon der Mensch gehört hat) früh und endgültig zum
Opfer gefallen ist. Die Elefanten der Tropenländer, die nie diesem
krankhaften Zahnwachstum verfallen waren, weil ihnen die Baumzweige zum
Abnutzen niemals gefehlt hatten, blieben dagegen erhalten bis auf den
heutigen Tag, wo freilich von einer neuen Seite her die Stoßzähne auch
ihnen zum Verderben werden: indem nämlich der Mensch sie in schnellem
Tempo jetzt ausrottet des Elfenbeins dieser Zähne wegen.

So träumte ich am Strande Rügens über den Steinchen der Kinderburg.

Die alte Erde erschien mir, bebend unter der Last ewig neu gezeugten
Lebens. Aber wie der Saturnus der Sage verschlang sie ihre Söhne auch
wieder zu ihrer Zeit.

Die Meisterin Natur baute in Millionen von Jahren ihr Kinderspiel aus
Machairodus-Löwen und Mammuten wie diese Kinder hier ihren Ring aus
uralten Tintenfischen und Seeigeln, und sie zerwarf es ebenso mit einem
Schlage der Hand.

Aber das Leben, die Entwickelung des Ganzen wogte, schwoll unablässig
dabei, selber nie ruhend, nie verschwindend, wie das ewig blaue Meer da
draußen vor meinem Blick.

Eines Tages war aus diesem dunklen Spiel der Mensch heraufgestiegen,
der dieses ganze Werden noch einmal übersah und in der Urwelt las wie
in einem Buche. Was wird sein Los sein? Wird er auch in eine Sackgasse
der Anpassung einst einmünden? Oder ist er das endgültige Meisterstück
der Weltentechnik, -- die vollkommene Anpassung, für die es keinen
Stillstand mehr gibt?

Ich folgte dem letzten Rauchstreifchen des weißen Dampfers am
Horizontstrich, und ich tröstete mich, daß die Menschheit auf alle
Fälle noch Millionen von Jahren vor sich habe, um in dieser Frage zu
einem Schluß zu kommen, -- Jahrmillionen der grandiosesten Entfaltung
zum Herrn der Erde über alle Länder und Ozeane hinweg.




Vom Leben im Weltraum.


Es gehört zu den liebenswürdigsten Ergebnissen der Naturforschung, daß
sie den Menschen von seiner Einsamkeit erlöst.

Jeder von uns wird ja aus dem Geheimnisse ins Geheimnis hineingeboren;
jedem kommt auch einmal die Stunde, wo er sich ohne Anschluß fühlt
an die Welt. Hier ich, auf einsamen Planeten verschlagen für ein
Menschenleben; und über mir die fremden kalten Sterne.

Auch die Menschheit im ganzen, selber ja nur wieder ein großer
Uebermensch mit allen Sorgen und Lieben des einzelnen, hat diesen
Moment durchgemacht. Die Natur war ihr ein banger Traum, an dem sie
kein Teil zu haben glaubte. Der erste Chemiker, der genau nachwies,
daß ein Teilchen Eisen, ein Körnlein Salz, ein Tropfen Wasser, die in
den Menschen eingehen und ihn bauen helfen, dort dieselben bleiben wie
draußen in der Erzstufe des Erdengrundes, in der Salzflut des Ozeans,
in den blauen Wassern der Himmelswolke: er hat diesen Bann zuerst
energisch gelöst.

Am Nachthimmel glüht jäh eine Feuerkugel auf, sie zerplatzt, ein Donner
rollt und heiße Steine fallen auf die Erde nieder.

Meteorsteine sind es, Bruchstücke eines fremden kleinen Weltkörpers,
der in rasendem Fluge unsere Erde gestreift, an ihrer Atmosphäre sich
entzündet hat, geborsten, herabgestürzt ist. Der Chemiker untersucht
diesen Weltallsfremdling, der sich zwischen Monden und Planeten,
ja seiner Bahn nach offenbar in ganz anderen Fixsternsystemen
herumgetrieben hat, und er stellt auch in ihm Eisenteile fest. Dasselbe
Eisen wie in uns!

Hier zieht sich ein Band vom roten Blutsaft unserer Adern zum
Siriusstern, zum Nebelfleck des Orion, die unserem Auge aus den
unendlichsten Fernen des Alls heraufglimmen, im buchstäblichen Sinne
ein eisernes Band. Und dieses Eisen wallt um die Sonne als glühender
Dampf. Es webt in den grünen Blättern des Eichbaumes über dir: --
wenn du der wachsenden Pflanze das Eisen entziehst, wenn du sie nicht
fütterst damit, so bleibt ihr Blatt bleich und krank.

Wenige Menschen noch haben heute eine Ahnung, +wie+ fest sie in
der übrigen Natur hängen.

Unser Blick schweift über die endlose Wogenfläche des Meeres: wie
fremd, wie ungeheuerlich, wie unfaßbar erscheint das alles von der
schmalen Klippe, die uns Pygmäen Raum gibt, aus. Und doch: wenn wir
den rechten Blick hätten, so erschiene der eigene Leib uns als solches
Meer. 58 Prozent, mehr also als die Hälfte unseres ganzen Körpers,
besteht aus reinem Wasser; jeder Muskel enthält 75 Prozent. Ueber
diesem schwankenden See baut sich das Feste unserer Existenz nur wie
ein dünnes luftiges Gitterwerk in uns selber auf.

Ja dieser Körper, der sich einsam fühlt und im Gegensatz zu aller Welt,
er hat nicht einmal eine feste Grenze gegen diese Welt. Scheinbar
bildet die Haut ja eine. Aber unablässig verflüchtigen sich von dieser
warmen, feuchten, atmenden Haut unsichtbar winzige chemische Teilchen
und verbreiten sich ins Freie hinaus. Der Chemiker sagt dir, daß keine
wirkliche Scheidewand ist zwischen einem Stoff und dem feinen Hauch,
der von ihm ausgeht. Dieser Hauch, vielleicht nur noch als zartester
Duft mit dem chemisch feinsten der Sinne wahrnehmbar, ist ja nichts
als unendlich verteilter Stoff selbst. Schärfte sich das Auge für
dieses unablässige Zu- und Abströmen über der Haut, so verlöre sich
augenblicklich der ganze feste Körperumriß: wie ein immer feinerer
Nebel flösse der ganze Mensch in einer losen Wolke dahin. Bis wohin? Wo
hat dieser chemische Wellenschlag sein Ende?

Vielleicht nirgendwo. Unser Auge ist stark, die Lichtwellen des Sirius
noch zu empfinden. Wer sagt uns, ob es nicht bloß Sache der Feinheit
des chemischen Apparats wäre, umgekehrt den feinen Duft einer schönen
irdischen Haarlocke auf dem Sirius aufzufangen, ein Beweis, daß unser
Leib tatsächlich bis dorthin reicht?

Wir bewundern die Rosenfarbe einer Wange. Nach Jahren kehrt die
Erinnerung dazu zurück, als sei der ganze Zauber einer lieben
Menschenindividualität darin enthalten gewesen. Und doch -- was war
diese Farbe? Sonnenlicht war es, von dieser reflektierenden Fläche
Menschenhaut zurückgestrahlt auf unser eigenes Auge. Zwanzig Millionen
Meilen von uns entfernt, von der ganzen Erde entfernt, hat die riesige
Sonne, dieser Weltallshochofen mit seinem weißglühenden Kern und seiner
Hülle glühender Metalldämpfe, dieses Licht und in diesem Lichte dieses
entzückende Rot gekocht. Durch diese ganzen zwanzig Millionen Meilen
eiskalten öden Raumes hat das Licht sich erst durchquälen müssen, damit
du es von der lieben Mädchenwange erhalten kannst. Wem gehört es mehr
an: der Sonne oder der Individualität des Mädchens?

Wer in diese Gedanken sich einmal resolut eingelebt hat, dem hat es
nichts so sehr Fremdartiges mehr, daß auch außer der Erde im All noch
wirkliches Leben existieren sollte.

Zwölf Grundstoffe oder Elemente mindestens bauen bei uns das
Lebendige. Wo aber das All eine Sprache hat, um uns von seiner Chemie
zu erzählen, da tauchen immerfort Elemente dieses gleichen Stammes
in ihm auf. Im Nebelfleck, wo er wirklich aus Gas besteht, leuchtet
Wasserstoff. Der Meteorstein, das einzige Ding der Sternenferne, an
das unsere Hand greift, besteht durchweg, wie gesagt, aus Eisen. In
der Sonne glühen nachweislich eine ganze Reihe, wahrscheinlich sogar
alle Lebenselemente. Im Kometen glänzt Natrium, das dem Leben so
unentbehrliche Kochsalzelement. Da schwebt im Fernrohr eine ferne Welt:
der Mars. Bläulich glänzen seine Wasser um den Pol, und an diesem Pol
selber blinkt eine weiße Kappe von Schnee. Warum sollen in diesem Meere
nicht silberne Fische spielen, nicht rosenrote und orangegelbe Medusen
in stillem Zuge dahintreiben, warum sollen nicht weißbrüstige Möven um
die Ränder dieses Schnees kreisen?

Vor etwas über 300 Jahren war es, da kam die Idee eines Lebens im All
über diese enge Erde hinaus einem großen Denker der Menschheit wie eine
strahlende Offenbarung.

Kopernikus hatte die Erde als ein bewegtes Sternlein unter die Sterne
geworfen. Giordano Bruno war es jetzt, der zum erstenmal träumte, auf
all diesen tausend und tausend Lichtpunkten der Sternennacht möchte
Leben blühen wie bei uns. Phantastisch, als die Vision eines Dichters,
kam das zuerst.

Aber zur gleichen Stunde fast, da Bruno für diese und andere
Gedanken, die seinen Zeitgenossen Sünde schienen, den Martertod auf
dem Scheiterhaufen erlitt, zur gleichen Stunde wurde das Fernrohr
erfunden. Ein neuer wirklicher Blick tat sich auf in die Sternenwelt.
Vom Monde herüber glänzten auf einmal Berge, in der Sonne dräuten
schwarze Flecken, der ganze Himmel erschien wunderbar verwandelt
und nähergerückt. Und unter den Schauern dieser grandiosen neuen
Sichtbarkeit der Dinge verlor jener Gedanke selbst seine Kühnheit.

Der Blick, dem das Rohr als neues Auge zu seinem alten Organe gefügt
war, suchte unwillkürlich nach Spuren fremden Lebens im Sternenall,
nach wirklich sichtbaren Spuren.

Da dünkte dem einen, die Sonne weise in ihren schwarzen Flecken
gleichsam Fenster einer geheimnisvollen Innenwelt. Diese Innenwelt
der Riesenkugel sollte an sich fest und dunkel sein, ohne die
eigentliche Sonnenglut. Erst über ihr schwebte eine hohe Atmosphäre,
eine Luftschicht, deren oberste Lage weiß glühte wie ein beständiges
riesenhaftes Nordlicht und jene Wärmestrahlen nach außen warf, die
uns Erdbewohner noch in einer Entfernung von zwanzig Millionen Meilen
einen warmen Tag machen. Auf jener schwarzen Innensonne aber, die nur
durchlugte, wenn die Lichthülle im „Sonnenfleck“ zerriß, sollte das
Leben der Sonne blühen, ihre Wälder, ihre Tiere, ihre Sonnenmenschen.

Ein anderer studierte mit dem Fernrohr den Mond, und vermeinte
Festungen zu sehen, die die Mondbewohner sich errichtet, Höhlen, in
denen sie ihre Städte bauten, um dem furchtbaren Sonnenbrande zu
entgehen.

Ein dritter träumte von organischer, lebendiger Substanz, die frei im
Weltraum fliege und bisweilen als leuchtender Gallert auf die Erde
gleich den Meteorsteinen niederfalle.

Aber mit alledem räumte die Forschung, die das scheinbar geschaffen,
fortschreitend auch ebenso rasch wieder auf.

Der wahre Kern der Sonne, den uns die Untersuchung des Sonnenlichtes
durch die sogenannte Spektralanalyse enträtselt, erwies sich
als weißglühende Kugel geradezu von unfaßbarer Hitze, und die
Sonnenflecken waren nicht Löcher zu einer schwarzen Gespensterwelt
unseres Lichtballs, sondern höchstens rostartige Erkaltungswolken, die
vielleicht auf ein in der Millionenfolge der Jahre dereinst einmal
nahendes Ausglühen des ganzen Riesen von der Oberfläche her deuteten.
Die Mondburgen waren tatsächlich nur zackige Gebirge von grotesker
Zerrissenheit. Jene lebendigen Meteore aber erwiesen sich, wo ein
kritischer Naturforscher sie faßte, als über Nacht jäh entstandene
Schleimteller braver irdischer Algen, ja als Eingeweide von Fröschen
und ähnliches, das bloß die Seltsamkeit des plötzlichen Anblickes mit
den Sternschnuppen der Sommernacht willkürlich verknüpft hatte.

Nun sank auf einmal der Phantasie wieder der Mut.

Alle die Fixsterne des Nachthimmels da oben waren Sonnen wie unsere,
zum Teil bloß noch viel heißer. In Gluten, sagte man sich, wo das Eisen
als schimmerndes Wölkchen verdampft, kann kein Leben bestehen. Zwischen
diesen lohenden Herden des Alls aber dehnte sich ein im Gegensatz
unglaublich kalter, luftleerer Raum, der mit seiner Kälte von über
hundert Grad umgekehrt jede Lebensmöglichkeit durch Frost erstickte. In
dieser nackten Raumeskälte schwamm schutzlos, ohne eigene Lufthülle und
ohne jedes Tröpflein Wasser, der Mond -- also ebenfalls leblos.

So zog der Gedanke, der einst Sternbilder belebt, langsam wieder die
bunten Flügel überall ein. Am Ende war doch diese rätselreiche Erde,
wenn auch nicht der Weltmittelpunkt, so doch das einzige Pünktlein
Welt, wo lebendige Herzen schlugen und das stille Wandeln des
Naturgesetzes als Freude und Schmerz empfanden✹....

Menschengedanken kommen und gehen wie Wolkenzüge über einer Landschaft.

Auch was wir „Wissenschaft“ nennen, ist nur ein solcher ewig
wechselnder Wolkenzug. Heute, auf der Wende des zwanzigsten
Jahrhunderts, hat sich abermals gar viel Stoff über dieser großen Frage
angesammelt, der die Wage wiederum wohl zum Gegenteil belasten könnte.

Es ist aber zunächst eine ganze andere Ecke, die uns heute zu denken
gibt. Nicht die Sterne trifft sie ohne weiteres, sondern das Leben
selbst.

Zu den wunderbarsten Errungenschaften der Forschung in den letzten
Jahrzehnten gehört das Bild, das wir gewonnen haben von der schier
märchenhaften +Zähigkeit+, die dem Leben innewohnt.

Wohl, die Sonnen im All bleiben glühend, der Weltraum dazwischen bleibt
grabeskalt, der Mond bleibt nahezu ohne Luft, und so weiter.

Nur daß wir zu dieser Stunde uns ernstlich zu fragen anfangen: beweist
das wirklich etwas gegenüber der Zähigkeit, die wir neuerdings
wenigstens an gewissen Formen des Lebens entdeckt haben?

Vor langen Jahren machte einmal eine Sache gewaltiges Aufsehen.
Man wußte nicht, war es ein Stück ernsthafte Wissenschaft oder ein
Zeitungsscherz.

Aus Pyramidensärgen sollten Weizenkörner gefallen sein, und diese
Körner, alt wie Sesostris und Moses, sollten in der hellen Sonne
des neunzehnten Jahrhunderts noch einmal aufgeblüht sein bis zur
leibhaftigen Aehre. „Mumienweizen“ taufte man das Wunder.

Hübsch, wie die Geschichte klang, war sie in diesem Falle doch
nur hübsch erfunden. Wohl haben diese alten Aegypter ja das
Menschenmöglichste geleistet im Einbalsamieren ihrer ganzen Zeit, vom
Nilpferd bis zur Katze, vom König bis zum Kärrner, als hätten sie mit
Gewalt in unsere Museen kommen wollen. Wir besitzen die leibhaftige
Mumie jenes Ramses, der zu Herodots Tagen schon ein Fabelheld war. Und
so ist auch der uralt ägyptische Weizen wirklich auf uns gekommen,
genau so, wie wir aus dem Moorboden der Schweizer Seen die verkohlten
Früchte noch gezogen haben, von denen die Pfahlbauer sich nährten. Aber
auch dieser Mumienweizen ist allemal völlig in sich zu schwärzlicher
Kohle geworden, und wenn er ins Wasser kommt, so löst er sich, anstatt
zu keimen, in schmutzigen Brei auseinander.

Man hatte eben hier gleich zu viel verlangt vom Leben: jahrtausendelang
sollte es mumienhaft in der Gruft liegen können und dennoch seine Kraft
nicht verlieren. Was aber nicht so theaterhaft in die Welt posaunt
worden ist, das sind andere, schlichtere, aber dafür wahre Geschichten
vom zähen Leben.

In alten Herbarien aus dem achtzehnten Jahrhundert fanden sich
getrocknete, sauber gepreßte Moospflänzchen. Man nahm sie heraus,
befeuchtete sie -- und erzog aus den Sporen, den Zeugungsteilen eine
neue, tadellos lebendige Moosgeneration. Hier hatte das Leben wirklich
geschlafen, eingesargt schon als scheinbar totes Museumsobjekt -- und
das über hundert und mehr Jahre fort. Dem großen Botaniker Robert
Brown ist es geglückt, sogar den Samen der Lotospflanze nach vollen
hundertfünfzig Jahren aus solchem Herbarium zum Leben aufzuwecken.

Mit diesem Falle hat eine große Aehnlichkeit das Kunststück winziger
Tiere, der sogenannten „Bärtierchen“ (_Macrobiotus_). Sie sind
klein, aber nicht ganz niedrig organisiert, etwa den Spinnen annähernd
noch vergleichbar. Ihr Aufenthaltsort sind gern alte Dachrinnen.
Ist es nun dort feucht, so tummeln sie sich munter herum. Wenn aber
Dürre kommt, so erstarren sie scheinbar zu absolut totem Staube, und
dieser Staub mag +Jahre+ hindurch hierhin, dorthin wehen, als
Sonnenstäubchen schweben, im Winkel der Dachrinne gehäuft liegen:
kommt nach all den Jahren endlich nun wieder Wasser hinzu, so quillt
das formlose Körnlein auf, streckt Beinchen heraus -- und ist,
auferstanden, wieder ein regelrechtes Bärtierchen, das frißt, wächst
und liebt, als wäre nichts geschehen. Dieselbe Auferstehungskraft kommt
wurmähnlichen Kleintieren, den Rädertierchen, zu.

Man hat sogar von Kröten, die, in Stein eingeschlossen, lange erstarrt
fortgelebt haben sollen, ähnliches behauptet, es hat sich aber bei
Experimenten nicht bestätigt. Und man behauptet es von Menschen heute
noch: indische Fakirs sollen sich lebendig begraben lassen, sollen
einschnurren wie die Bärtierchen und doch wieder auferstehen -- auch
das bis jetzt ohne Gewähr. Gleichviel: die alten Herbarienmoose und die
Bärtierchen sind unzweifelbar echt.

Doch sie erzählen bloß vom Sieg des Lebens über jahrzehntelanges,
jahrhundertlanges Vertrocknen ohne jede Spur von Wasser. Weit
staunenswerter noch ist der Kampf dieses Lebens gegen Hitze und Kälte.

Wie selbstverständlich scheint es, wenn wir an uns denken, daß
kochendes Wasser verbrüht, Frostkälte erfrieren macht. Pflanze wie Tier
erliegt dem, wohin wir sehen. Das Maiglöckchen im Strauß an unserer
Brust wird nach wenigen Minuten strenger Winterkälte welk, der Krebs
in der kochenden Brühe stirbt elendiglich und sein roter Rock, den er
dabei anzieht, ist sein Marterkleid, wie die bunten Mäntel, die man
einst in Spanien den Ketzern umhing, wenn es auf den Scheiterhaufen
ging. Und doch ist das, wie wir heute wissen, nicht mehr allgültig für
das ganze Leben.

Schon vor fast fünfzig Jahren zog der Berliner Naturforscher Ehrenberg,
der es besonders auf die Kleinsten der Kleinen in Luft, Erde und Wasser
abgesehen hatte, auf der Insel Ischia bei Neapel aus einer heißen
Quelle von achtzig Grad Hitze lebende Wasserpflanzen (Algen) und jene
Rädertierchen, denen es gar nicht einfiel, sich da drinnen verbrühen
zu lassen, sondern die offenbar seit alters fidel in aller Hitze
hausten und sich vermehrten. Auf derselben Insel leben Algen (also
Pflanzen) in kochendem Dampf (die Insel ist vulkanisch und glüht und
kocht allenthalben von unten her) von über vierundsechzig Grad Celsius.
Und im berühmten Yellowstonepark in Nordamerika, wo kochendes Wasser
in turmhohen Fontänen aus der Erde spritzt, sind gar noch viel höhere
Temperaturen gemessen worden, und immer noch grünten die Pflanzen in
dieser Kochbrühe.

Das alles aber ist endlich noch nichts gegen gewisse jener
allerniedrigsten Lebewesen, die wir Bazillen nennen und von denen
heute so viel die Rede ist. Streng genommen ist so ein Bazillus nicht
recht Tier und nicht recht Pflanze. Aber er lebt und ist sozusagen der
ganz schlichte, einfachste Ausgangspunkt sowohl des tierischen wie des
pflanzlichen Lebens. Nun denn: einige solcher Bazillen, zum Beispiel
der böse Milzbrandbazillus und der Heubazillus, sind nicht umzubringen
mit einer Glut von über hundert Grad. Ja im äußersten Falle überstanden
Bazillenkeime einen dreistündigen Aufenthalt in einer trockenen Hitze
von hundertvierzig Grad.

Und seltsam: es ist, als sei auch das höhere Leben da noch wenigstens
annähernd so gewappnet, wo es selber noch gleichsam wieder von einem
bazillenhaften Stadium, als Keim oder Samenkorn, für sich ausgeht:
Getreidekörner ertragen ebenfalls ein stundenlanges Ausdörren in
der vollen Hitze von wenigstens hundertzehn Grad Celsius, ohne ihre
Keimkraft zu verlieren.

Die gleichen Bazillen sind es denn auch, die mit noch unerhörterer
Bravour der Kälte trotzen.

Auch bei der Kälte war man schon früh auf gewisse Merkwürdigkeiten bei
höheren Tieren aufmerksam geworden. Der eine sah Quallen einfrieren,
daß der ganze Leib mit Eiskristallen durchsetzt war, und doch wieder
tauend weiterleben. Dem andern froren auf einer Nordpolfahrt die
Karpfen hart wie die Steine, und als er sie ans Feuer brachte, sprangen
sie ihm noch aus dem Topf, so wenig wirklich „erfroren“ waren sie
gewesen. Ich selbst habe grüne Frösche in einem Glase mit Wasser dem
Froste ausgesetzt, das Wasser wurde zu einem Eisklumpen, der das Glas
sprengte, und durch das Eis schimmerten die grünen Leiber der Tiere;
als aber der Klumpen im warmen Zimmer taute, krochen die Frösche
heraus, als sei nichts geschehen. Das mußte schon zu denken geben.

Aber erst als Raoul Pictet, der große Physiker, in seinem Laboratorium
anfing, nicht nur wahre Polarkälte, sondern schon über Weltraumskälte
künstlich herzustellen, da begannen die ganz großen Wunder. Pictet
erzeugte jene ungeheuerlichen Kältegrade, bei denen schließlich
die Luft gefriert und ihre Gase in Tropfen, ja in Schneeflocken
herabfallen. In solchen Eiskammern wurde nun gelegentlich auch das
Leben geprüft -- und es bestand Proben, die keiner je geträumt hätte.
Ertrugen Frösche eine Kälte von achtundzwanzig Grad Celsius unter Null,
so kam der Tausendfuß noch lebendig davon bei fünfzig Grad und die
Schnecke hielt es gar noch mit hundertzwanzig Grad aus. Auch diesen
Rekord aber schlug im Triumph der Bazillus, der mit zweihundert Grad
Kälte noch nicht umzubringen war. Auch in diesem Falle gingen aber
ebenfalls die Samen höherer Pflanzen fast den ganzen Weg mit: mittelst
flüssiger Luft wurde eine Kälte von hundertzweiundneunzig Grad Celsius
erzeugt und der sorgfältig ausgetrocknete Samen von Kürbissen und
Erbsen hundertzehn Stunden lang hineingebracht, -- er verlor seine
Keimkraft, also sein Leben nicht!

Nun setzte man Bohnen und Rettigsamen auch noch sechzehn Monate lang in
Glasröhren, aus denen die Luft ausgepumpt war, also in ein künstliches
Stück luftleeren Weltraums: es half alles nichts, sie dauerten und
keimten, der Luft, der Feuchte und der Wärme zurückgegeben, lustig auf,
als sei das alles noch nichts gewesen.

Diese ganz schlichten Tatsachen haben nun praktisch sehr viel mehr
Bedeutung für die Frage nach dem „Leben im Weltall“, als alle
allgemeinen astronomischen Träumereien über Mondfestungen oder
Marsmenschen. Sie eröffnen uns zunächst eine wirklich diskutierbare
Möglichkeit, wie Leben von einem Weltkörper auf andere übertragen
werden könnte.

Wie unsere Erde unablässig vom Weltraum her fremde Bestandteile
empfängt (bald derbe Meteorsteine, bald nur ganz feinen Eisenstaub,
der sich auf dem unberührten Eise der Polarlande und in den Tiefen des
Ozeans ablagert), so auch verliert sie zweifellos fort und fort eigene
Teile in den Raum hinein.

An den Grenzen ihrer Lufthülle verflüchtigen sich bei ihrem rasenden
Laufe schwebende Teilchen und bleiben hinter ihrer Bahn zurück. Winzige
Stäubchen hochgewirbelter Asche von feuerspeienden Bergen und was sonst
da hinaufkommt, mag sich so abstreifen. Auch Meteorsteine selbst,
die bloß als leuchtende Sternschnuppe unsere oberste Luftschicht
durchschneiden, aber aus dem Bereiche der Erde vermöge ihrer kolossalen
eigenen Geschwindigkeit doch wieder halbverbrannt (die Reibung an der
Luft erhitzt sie) entrinnen, werden Luftteile mit allem, was darin
schwebt, losreißen und in den Raum werfen.

Jetzt in dieser Luft schweben aber auch organische Teilchen, lebende
Wesen in jenem staubhaft vertrockneten, aber doch noch lebensfähigen
Zustande. Bazillenkeime, vom Wind dahingewirbelte Bärtierchen,
flugfähige Pflanzensamen, allerlei mag da mit hinaufgelangen.

Und wenn es nun mit verloren geht?

Kälter als hundertfünfzig bis zweihundert Grad setzt selbst kühnere
Rechnung die Temperatur des Weltraumes zwischen den Sternen durchweg
nicht an; genau weiß man ja von ihr nur, +daß+ sie recht kalt
sein muß. Ohne große Mühe läßt sich denken, daß auf diese Weise
wenigstens einzelne Lebenskeime als fakirhaft schlummernde Lebensreste
von einem Weltkörper zum andern kommen könnten, das Leben der einen,
schon bewohnten Welt auf andere übertragend. Mag sie hundert Jahre
dauern, diese Sternfahrt. Wir wissen ja jetzt, daß das Leben in solchem
trockenen Samenkorn ein Jahrhundert lang ruhig schlummern kann, ohne zu
sterben.

Wenn Darwins Lehre recht hat, so würde aber ein einziger Bazilluskeim,
auf einen noch gänzlich lebensleeren Weltkörper solchermaßen verweht,
genügen, um die ganze herrliche Fülle aller Tier- und Pflanzenarten
durch allmähliche Entwickelung im Laufe vieler Millionen von Jahren aus
sich hervorgehen zu lassen.

Unsere Erde selbst könnte so einst von irgend einem unbekannten Stern
aus befruchtet worden sein. Wie das göttliche Weizenkorn von Eleusis
im Mythus des Altertums symbolisch die ganze Formenfülle der zeugenden
Natur umschloß, so wäre ein erstes, unsichtbar kleines Keimstäubchen
eines Bazillus Urmutter alles Lebendigen bei uns gewesen.

Wir wissen nicht, was Leben eigentlich ist.

Wir wissen nicht, wie es ursprünglich entsteht. Möglich wäre im Sinne
solcher Betrachtungsweise, daß es unter Verhältnissen sich gebildet
hat, die wir gar nicht kennen, da sie in Urtagen auf äonenfernem
Stern vielleicht nur einmal gegeben waren. Zu uns wäre das Leben erst
spät als längst fertiges Bazilluskörnlein herübergewandert. Oft,
immer wieder kamen solche fliegenden Körnlein im Trockenheits- und
Kälteschlaf des Raumes zu uns heran. Lange aber glühte die Urerde
gleich der Sonne, da hielt sich nichts. Bis die Erdrinde sich auf
hundert Grad etwa abgekühlt hatte, da faßte der erste Bazillus Fuß,
mehrte sich, änderte, entwickelte sich und umgrünte die Erde endlich
als Wiese und Wald, umschwebte sie als Vogel und Schmetterling, ja
bezwang sie zuletzt als denkender Mensch.

Das ist +eine+ Linie, wie wir uns auf Grund der Tatsachen gut den
Verlauf der Dinge denken könnten. Aber es ist nicht zu leugnen, daß man
den Gedankenfaden auch noch nach einer ganz anderen Seite von hier aus
spinnen könnte.

Diese wunderbare Fähigkeit des Lebens, sich an extreme Temperaturen so
prachtvoll anzupassen, schlägt nicht bloß eine Brücke durch den kalten,
luftleeren Raum, sie macht auch wahrscheinlich, daß Weltkörper belebt
sein können, denen wir es nach unserer gewöhnlichen, älteren Auffassung
vom Leben +nie zutrauen würden+.

Wo immer wir auf unserer Erde das Leben studieren, da zeigt es sich
den Verhältnissen dieser Erde wahrhaft genial angepaßt. Der Fisch
ist dem Wasser, der Vogel der Luft angepaßt. Die Fische der Tiefsee
sind gebaut, den furchtbaren Druck einer Wassermasse von mehreren
tausend Metern Dicke auszuhalten, und sie ertragen die Finsternis da
unten, indem sie selber Licht erzeugen. Der Mensch aber ist gar die
Universalanpassung der Erde, die schließlich alles in einem kann und
erträgt, was die ungezählten Tier- und Pflanzenarten jede für sich an
Anpassungen an ihr Milieu ausgeheckt haben.

Nun fragt sich, ob nicht aber das Ganze, was wir als „Leben“ auf der
Erde kennen, noch wieder eine Grundanpassung gerade bloß an diesen
Erdenstern sei.

Das „Leben“ selber aber könnte sich im weiten All noch in ganz andern
Anpassungen bewähren.

Unsere Erde bietet uns viel Luft, viel Wasser, sie bietet durchweg
keine allzu tollen Wärme- und Kältekontraste. So hätte sich unser Leben
von früh an auf diese irdische Sachlage im wesentlichen eingestellt, so
fest, daß es nun in seinen Vertretern gar nicht mehr anders als gerade
+so+ leben kann, genau wie der Tiefseefisch heute nur noch in der
Tiefsee und der Vogel nur auf dem Lande, der Affe auf dem Baum und der
Maulwurf in der Erde leben können.

Aber es +brauchte+ ursprünglich keineswegs überall so zu sein.

Und wenn wir heute noch gerade unsere älteste, niedrigste Lebensform
auf Erden, den Bazillus, einer Hitze von hundertvierzig Grad, einer
Kälte von zweihundert Grad trotzen sehen, so kommt uns die Vermutung,
ob hier nicht noch +Reste+ auftauchen einer +allgemeineren+
Anpassungsfähigkeit des Urlebens an noch ganz andere Wärme- und
Kältegegensätze und an anderes mehr.

Der geistvolle Physiologe Preyer hat gelegentlich im vollen Ernste
die Frage aufgeworfen, ob man sich nicht eine Form des Lebens denken
könne, die einfach an Tausende von Hitzegraden angepaßt wäre. Das
gäbe aber die Möglichkeit lebender Wesen mitten in den Metalldämpfen
des Sonnenballs. Als die Erde einst selber noch glühend war, ein
leuchtender Stern, auf dem der glühende Wasserdampf in roten Fontänen
aufspritzte, wie jetzt auf der Sonne, da mochte sie solche Glutwesen
beherbergt haben. Und erst als ihre Rinde starr, hart und kühl wurde,
als die chemische Verbindung, die wir Wasser nennen, sich darauf
niederschlug -- erst da hätte dieses Urleben sich dem Umschwunge der
Dinge „angepaßt“ und es wäre nun +das+ Leben entstanden, das
fortan ohne Wasser, ohne eine gewisse Kühle nicht mehr bestehen kann.

Umgekehrt ein Weltkörper etwa wie der Mond, der furchtbare Kontraste
von wochenlanger permanenter Mittagsglut und wiederum wochenlangem
Nachtfrost zeigt und der wahrscheinlich nur geringste Reste von Luft
und Wasser besitzt, könnte das Leben zu einer Anpassung von Anfang an
genötigt haben, die eben wieder das ertrüge: einer Wechselanpassung
nämlich im Temperaturwiderstand und einer ganz aparten Diät für ein
Minimum von Luft und Wasser dazu.

Es klingt ja für unser Erdenleben so plausibel: kein Leben ohne Luft,
denn kein Leben ohne beständige Fütterung mit Sauerstoff. Und selbst
der Rettigsame unter der Luftpumpe bleibt bei uns doch „scheintot“.
Ein +beständig+ scheintotes Leben könnte aber doch nicht mehr für
„Leben“ rechnen.

Gewiß, aber man vergißt dabei, daß zwar der Sauerstoff zur dauernden
Erhaltung des Lebens absolut nötig sein kann, daß aber nicht damit
gesagt ist, daß dieser Sauerstoff nun gerade der Luft entnommen werden
muß. Wir kennen hier auf Erden schon Bazillen (immer wieder müssen
die als Urbeispiel heran!), die tatsächlich ganz ohne Luftsauerstoff
gedeihen, ja es gibt welche, die dieser direkte Sauerstoff tötet wie
ein Gift. Auch diese Bazillen aber fressen Sauerstoff trotzdem --
sie ziehen ihn nämlich aus +festen+ Stoffen, festen chemischen
Verbindungen nach derselben Methode, wie jede Pflanzenwurzel so und so
viel nötige Sachen sich einfach aus der schwarzen Gartenerde saugt.

Wie denn, wenn also die Mondwesen nun auch ihre Atmungsnährstoffe
wurzelhaft aus sauerstoffhaltigen Mondmineralien zögen -- eine
einfache Anpassung des Lebens an einen Stern ohne Luft? Es sei daran
erinnert, daß man auf dem Monde wirklich seltsame Färbungen beobachtet
hat, die manche Kraterhöhlen allmählich annehmen, wenn die Sonne sie
bescheint. Auch sehr gewissenhafte Astronomen glauben, daß diese
Farben durch eine aufsprießende Art Pflanzenwuchs hervorgerufen werden
könnten. Aber man sieht: es +könnten+, wenn schon Pflanzen,
so doch gar seltsam fremdartige Pflanzen sein -- Pflanzen eben mit
Mondanpassung.

Tatsächlich haben erst vor solchen Gedankengängen alle die echten oder
angeblichen Spuren, die man von lebenden Wesen jenseits der Erde auch
heute wieder entdecken möchte, ein tieferes Interesse.

Der einzige wirklich ernsthafte Fall ist da ja gegenwärtig der
Mars. Je näher wir die Karte des Mars kennen lernen, desto stärker
drängt sich das Bild auf, daß dieser Planet an seiner Oberfläche
von intelligenten Wesen systematisch „bearbeitet“ sei. Die grünen,
kanalartigen Linien, die seine rötlichen Länder durchqueren, bilden
ein Netz von mathematischer Schärfe, wie Straßen einer irdischen Stadt
oder künstlich angelegte Vegetations- und Bewässerungsstreifen einer
großen Kultur. Man ahnt den Sinn dieser Streifen, man sieht kürzeste
Verbindungen so angelegt, wie ein irdischer Baumeister sie auf einem
Grundplane ebenfalls anlegen +müßte+. Nicht die fahrigen und
phantastischen, sondern gerade die nüchternen, besonnenen Astronomen
von heute raten hier auf einen großen, einheitlichen Marsbaumeister:
nämlich menschenähnliche Intelligenz.

Wenn Darwin recht hat, lag die höchste irdische Menschenintelligenz der
+Anlage+ nach schon im ersten Bazillus. Sie ist eine Grundanlage
des Lebens. Auf dem Mars konnte sie als Blüte der Anlage so gut
entwachsen wie bei uns, und sie bleibt dort so gut Intelligenz wie bei
uns. Auf Milliarden Sternen mag sie genau so aus der Knospe brechen,
wenn ihre Zeit erfüllt ist.

Darum aber kann der +Weg+, den die Lebensentwickelung bis hierher
genommen hat, auf andern Sternen im Sinne des oben Gesagten ein
unendlich +verschiedener+ sein.

Die Marsmenschen, an positiver Intelligenz uns vielleicht schon weit
überlegen (denn der Mars ist wahrscheinlich älter als die Erde),
können an Gestalt, also in der äußeren Form der Anpassung, die das
„Leben“ sich dort geleistet hat, sich von uns um so viel und mehr noch
unterscheiden, als hier auf Erden ein Bazillus sich von Goethe oder
Darwin unterscheidet.

Ihre +Kraft+ ist die gleiche; die äußere Gestaltung ihres
+Stoffes+ könnte uns vielleicht entsetzen, wenn wir sie sähen,
so absolut fremd, dämonisch fremd wäre sie uns. Sind wir doch auf
Erden von solchen Dämonen allerorten schon umgeben! Ein Tier konnte
der innewohnenden Gotteskraft nach, der Urkraft der Entwickelung nach,
Mensch werden. Und doch welcher Kontrast: ein Elefant, ein Walfisch --
und ein Mensch auf der Sonnenhöhe Goethes!

Andererseits ist allerdings mit Sicherheit anzunehmen, daß mit einer
gewissen Intelligenzhöhe, wenn sie einmal errungen ist, auch gewisse
ethische Eigenschaften zum Durchbruch kommen +müssen+, einerlei,
wie nun die +äußere+ Schale sei. Die Entwickelung dieser höheren
Ethik ist so gut eine logische Naturnotwendigkeit, wie die der
Intelligenz selbst. Der schlichte Kern christlicher Ideen wie das:
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ wird sich mit der gleichen
Folgerichtigkeit auf einer gewissen Entwickelungshöhe einstellen, wie
etwa die Erkenntnis des Pythagoreischen Lehrsatzes, der durch die
gleichartige Macht der Logik auf allen Sternen, wo immer Intelligenz
bis zum echten Denken steigt, ewig neu geboren werden wird.

Nur wer den Mut hat, sich zu diesen und ähnlichen Gedanken
durchzukämpfen, für den tritt ein Wort wie „Leben im Weltall“ aus der
kindlichen Spielerei über ins Gebiet der tiefen und ernsten Fragen, bei
denen es sich zu verweilen lohnt.

Ein Stück Weltanschauung taucht ihm dahinter auf.




Die Küche der Urzeit.


In der uralten Tradition stehen jene beiden Bilder: der Mensch am
Anfang seiner Existenz in einem schönen grünen Paradiesgarten, wo ihm
die süßen Früchte in den Mund hängen, -- und der Mensch, hinausgejagt
ins Dornenfeld, in Not und Mühe sein karges Brot sich suchend, frierend
und hungernd.

Es ist, als hätten das achtzehnte und das neunzehnte Jahrhundert sich
in diese Bilder geteilt. Im achtzehnten träumte man den wirklichen
Menschen der Urzeit in einem paradiesischen Naturzustand. Man dachte an
jene köstlichen Südseeinseln, wo der Brotfruchtbaum wächst und ewiger
Sommer ist. Und der gute Rousseau baute sich daraus eine selige Urinsel
auf, wo eitel Tugend, Liebe und Sättigung des Leibes und der Seele
herrschten.

Im nüchternen neunzehnten Jahrhundert umgekehrt grub man alte Knochen,
Scherben, Pfahlbaumpflöcke und Müllhaufen aus Höhlen und Sümpfen, und
es erschien der Steinzeitmensch, ein armer, nackter, vertriebener
Adam, der mit Höhlenbären und Mammuten kämpfte, während hinter ihm die
Lawinen der Eiszeit donnerten.

Mit gebratenem Mammutrüssel und Höhlenbärenschinken beginnt in der Tat
der nachweisbare Ur-Speisezettel der Menschheit.

An den Ostküsten der dänischen Inseln liegen allenthalben dicht am Meer
seltsame Dämme. Bis zu drei Metern werden sie hoch, bis zu sechzig
manchmal breit. Kjökkenmöddinger nennt man sie im Lande. Das sind
buchstäbliche Müllhaufen, Küchenabfallhaufen. Es ist ein ungeheures
Monument, das unsere entlegensten Altvordern sich selbst gesetzt haben,
indem sie etwas sehr Schlichtes taten, das sonst nicht mit Denkmälern
gefeiert zu werden pflegt: nämlich tapfer aßen.

Der vielbewährte Brauch der Berliner Grunewaldbesucher stand bei ihnen
bereits in hohen Ehren, alle Schalen, Knochen, Gräten und zerbrochenen
Geschirre hübsch am Fleck der Mahlzeit liegen zu lassen.

Ort der Mahlzeit war traditionell in ungezählten Generationen die
Meeresküste. Und da niemand wehrte, so kam im Lauf der Zeiten
folgerichtig zustande, was dem Grunewald auch winkt: es bildete
sich rings um die Inseln eine Art geologischer Kulturschicht,
ein unverwüstlicher Damm von Küchenkehricht. Andersen, der liebe
Dänendichter, sagt so hübsch: „Vergoldung vergeht, Schweinsleder
besteht.“ Die ganze Nation von Steinzeitmenschen, die da gearbeitet,
verging endlich bis auf die letzte Spur. Aber die Kjökkenmöddinger
bestehen heute noch✹....

Es war ein Volk jener vorgeschichtlichen Steinzeit, das hier gehaust
und getafelt hat.

Die große wilde Eiszeit, in der ganz Dänemark unter Gletschereis
begraben lag, war allerdings schon vorüber. Aber das Klima war
noch wesentlich unwirtlicher als jetzt. Der wundervolle lichtgrüne
Buchenkranz, der heute Dänemarks Stolz ist, existierte noch nicht.
Düstere Fichtenwälder, wie sie heute wild dort nirgendwo sich finden,
bedeckten Land und Küste.

Arm war die Kultur der Menschen im Schatten dieses Fichtenurwaldes. Wir
sehen an den Resten ihrer Habe in den Müllhaufen selbst ihre Armut:
rohe Messer und Werkzeuge von Feuerstein, Knochengerät, verarbeitete
Geweihstücke, ganz ungefüges Tongeschirr, aber keinerlei Metall und
kein Anzeichen von Ackerbau.

Und doch wie es geht: ein Feinschmecker von heute vor die
Kjökkenmöddinger gestellt, möchte am Ende doch gar meinen, er stehe
auf der Kehrichtkiste des Rousseau’schen Paradieses. In der Stadt
Kopenhagen wird noch heute, wie weltbekannt, eine gar gute Tafel
geführt. Aber es ist kein Gedanke mehr an die Austernverschwendung, die
jene Stein- und Hornleute des Fichtenwaldes offenbar jahrhundertelang
systematisch betrieben haben. Den ganzen Grundstock jener Mülldämme
nämlich bilden Austernschalen. Der philanthropische Zukunftstraum war
hier schon einmal Vergangenheitstatsache: Austern als Volksnahrung.

Die Möglichkeit beweist zugleich, wie weit diese Tage zurückgehen.
Denn die Auster ist heute überhaupt kein Freund der Ostsee mehr, weil
sie salzigeres Wasser vorzieht. Als über dem dänischen Ostseestrand
noch die Fichte ragte, da muß auch das Wasser dieser Ostsee noch
weniger durch Zuflüsse versüßt gewesen sein, als es heute der Fall
ist. Man erinnert sich, daß während der ganzen Eiszeit die großen
Flüsse, die heute in die Ostsee fließen, Oder und Weichsel, hinter der
Eisbarriere nach der Elbe zu abflossen und mit dieser in die Nordsee
gingen. Wie dem nun sei: die dänische Auster war damals Trumpf. Mit
andern eßbaren Muscheln mag sie das eigentliche Zugericht zu allem
„Konsistenteren“ gebildet haben, die Kartoffel der Urzeit, die man als
selbstverständlich rechnete.

Wo die Schale der Auster sich treu durch alle Jahrtausende erhalten
hat, da ist natürlich auch der Knochen des zugehörigen Bratens liegen
geblieben.

Braten konnten sie schon, die Vorgeschichtler. Steppenbrände, bei
denen Tiere unfreiwillig gebraten wurden, haben den Urmenschen
wahrscheinlich zuerst auf den Geschmack am Bratfleisch gebracht. Das
schmeckte in seiner salzigen Aschenkruste köstlich und hielt sich sehr
viel länger als frisches. In der großen Eiszeit mit ihren furchtbaren
Wintern ist dann wohl die stolze Kulturtat geschehen, daß das Feuer
vom Menschen eingefangen, zur Herdflamme gezähmt wurde. Er lernte es
als Funken auffangen, der aus dem zerschlagenen Feuerstein sprühte. Er
lernte es beim Schaben von Holzmehl gewinnen -- erst wollte er bloß
solches Schabemehl herstellen, um die Glut, die ein Blitzstrahl oder
Vulkanbrand gegeben, zu bewahren -- dann lernte er, daß beim Schaben
das Holz selbst warm wurde, sich entzündete, -- und Prometheus war
fertig. Er ist auch der größte Küchenheilige.

Mit der Herdflamme begann die Kochkunst.

In den Kjökkenmöddingern liegen immerzu Feuerstellen, geschwärztes,
verkohltes Holz, Asche, angeglühte Steine, gesengte Knochen. Gedampft
und gebrodelt hat es schon bei diesen Austernessern nach Herzenslust zu
den Urwaldfichten empor.

Es war Getier dieses Urwalds, das in der Asche briet. Wie nicht zu
leugnen: auch durchweg schlemmerhaft schmackhaftes Getier.

Da liegen im Müllgrund Knochen des Auerochsen. Wem hat nicht einmal das
Herz höher geschlagen, wenn er im „Lederstrumpf“ vom köstlichen Buckel
und der noch köstlicheren Zunge des Büffels las, die der alte Trapper
mit unnachahmlicher Kunst nach glücklicher Jagd bereitet? Verschollene
Küchenromantik der Menschheit! Die echten Lederstrümpfe haben seitdem
dafür gesorgt, daß der nordamerikanische Büffel bis auf eine kleine,
künstlich gehegte Herde ausgerottet ist. Und damit teilt er nur das Los
jenes europäischen Wisents oder fälschlich so genannten „Auerochsen“,
den unsere Uraltvordern sich schmecken ließen. Von der überlebenden
kleinen Wisentherde im kaiserlichen Forst von Bjelowjehsa in Rußland
ist zur Not heute noch einmal ein Stück für einen Zoologischen Garten
durch Gnadenakt des Zaren zu haben, aber einen Wildbrethändler für
Wisentbraten gibt es längst in der ganzen Welt nicht mehr. Noch ist
überliefert, wie er schmeckte: zwischen Rindfleisch und Hirsch soll er
die Mitte gehalten haben, und im alten Polen galt eingesalzener Wisent
als Fürstenmahl.

An gewöhnlichem Ochsenfleisch war übrigens bei den Steinzeitleuten auch
kein Mangel, bloß wird es ebenfalls damals noch einen Beigeschmack von
„Wild“ gehabt haben. Denn ungezähmt als wilder Forstschrecken hauste
neben dem Wisent auch noch die echte Stammform unseres heutigen zahmen
Rindes im Fichtenwalde: der schwarze „Urstier“, der heute einfach nicht
mehr existiert, weil er in unsern Kulturrassen aufgegangen ist.

In den dänischen Kehrichthaufen kommen, soweit bekannt, keine
Küchenabfälle mehr vom Rhinozeros vor. Aber an andern Orten Europas
liegen sie um so reichlicher.

Mitten im Herzen Deutschlands, am Fleck, wo Schiller und Goethe
gewandelt sind, in alten Kalkablagerungen der Ilm bei Weimar, steckt
ein vorgeschichtlicher Müllhaufen, der auf ein jahrhundertelang
fortgesetztes Rhinozerosfestessen deutet. Die Nashörner müssen damals
im Thüringerwald so häufig gewesen sein, wie heute die Rehe. Es war
nicht genau dieselbe Sorte wie heute in den warmen Ländern. Ein dicker,
rot und weiß gescheckter Pelz bedeckte die Haut als Schutzmittel
gegen die Kälte. Noch heute schmeckt dem Neger das Nashornfleisch
vortrefflich, obwohl die Europäer nichts davon wissen wollen. Den
Weimaranern der Steinzeit aber ist es wahrscheinlich noch mehr auf
die Masse, die solch ein Koloß an Nahrung für einen ganzen Stamm
bot, angekommen, als auf die Feinschmeckerei. Immerhin merkt man an
den Knochen, die heute noch angebrannt auf der alten Feuerstätte
herumlagen, als man den Kalktuff aufgrub, recht gut, wie die
Steinzeitler sich hauptsächlich über junge Tiere hergemacht haben. Sie
ließen sich zweifellos leichter fangen und schmeckten obendrein zarter.

Alles in allem dürfte das Rhinozeros in Europa vom Menschen schließlich
„aufgegessen“ worden sein. Die Menschen mehrten sich rasch und erfanden
immer mehr Fallgruben, Giftpfeile und andere hübsche Sachen zu
Gunsten ihrer Küche. Damit konnten die schwerfälligen Ungetüme nicht
Schritt halten, und zu irgend einer Stunde hat die letzte deutsche
Nashornkalbskeule sang- und klanglos an irgend einem Bratspieß ihre
Bestimmung erfüllt.

Elefantenfleisch ist gröber als Ochsenfleisch. Ein Stück Vorderfuß muß
vierundzwanzig Stunden gekocht werden, um zart zu werden, aber Fleisch
und Bouillon sind dann gleichermaßen vortrefflich. Der Rüssel, in der
Asche gebraten, gehört zur Feinschmeckerei. So ähnlich, denke ich,
werden die Dinge also auch beim Mammut gelegen haben, das ja nur ein
großer, dick mit rotem Wollpelz bekleideter Elefant mit toll gekrümmten
Stoßzähnen war.

Aber es gibt gerade über den Mammutbraten einen gelehrten Streit. In
Predmost in Mähren ist sozusagen wieder einmal die Knochenkiste einer
vorgeschichtlichen Volksküche ausgegraben worden, und diesmal ergab sie
eine solche Ueberfülle zerspaltener und angebrannter Mammutknochen, daß
man hier offenbar vor den Tafelresten einer wahren Mammutorgie steht.

Doch ist behauptet worden, die Elefantenesser von Predmost hätten nicht
frisches Fleisch, sondern Eisfleisch gegessen. Als Eisfleisch ist
nämlich Mammut heute noch in Sibirien zu haben. Im dauernd gefrorenen
Boden dort liegen seit vielen Jahrtausenden wohlkonservierte
Mammutkadaver, die sich beim Auftauen so frisch erweisen, daß das
Fleisch wieder anfängt zu bluten und die splitterdürren, verhungerten
Hunde der Tungusen dort mit Gier darüber herfallen, als sei es frische
Jagdbeute. Solche Eiskadaver sollen nun schon in der Steinzeit die
Predmoster ausgegraben und ebenfalls mit Seelenruhe gebraten und
verzehrt haben.

Die Geschichte hat den Zweck, Mensch und Mammut möglichst auseinander
zu bringen, das Mammut vor die Eiszeit, den Menschen hinter die
Eiszeit. Aber an andern Orten ist neuerdings mit aller nur möglichen
Sicherheit erwiesen, daß der Steinzeitmensch tatsächlich auch das
lebende Mammut gejagt und mit Pfeilen angeschossen hat. Und jene
uralten Weimaraner haben sogar noch eine andere ausgestorbene deutsche
Elefantenart, den sogenannten Altelefanten, gewohnheitsmäßig erlegt
und verspeist. In Südamerika brieten die Urleute gleichzeitig das
Megatherium, ein Faultier, das noch größer als der Elefant war, und den
Glyptodon, ein Gürteltier von Rhinozerosgröße.

Wo immer man in den Kjökkenmöddingern wühlt: immer stellt sich eine
gewisse epikureische Wehmut ein, wie viel Gutes unserer Küche seitdem
verloren gegangen ist.

Da liegen die großen gelben Nagezähne des Bibers. Den kennt nun unsere
deutsche Luxusküche auch schon nicht mehr -- und damals war er ein
Volksgericht. Es gibt noch alte Rezepte: daß er mit Seerosen sich
gemästet haben müsse, um gut zu schmecken, und ähnliche schöne Sachen.
Es hat sogar sicher nicht zum wenigsten an der Ausrottung des deutschen
Bibers mitgetan, daß er einen so exquisiten Braten gab. Die Pfäfflein
haben ihn ihrer Zeit, als sie ins Land kamen und fromme Klöster bauten,
wo allerwege gut gegessen wurde, für ein „Fischgericht“ erklärt, damit
er auch am Fasttag aufgetischt werden dürfe, -- dieselbe Praxis, die am
Orinoko durchgehalten wurde, wo die Missionare die fette Seekuh, ein
schwimmendes Säugetier von ausgesuchtem Wohlgeschmack, sofort als Fisch
bezeichneten, um es für ihre Freitagstafel zu retten.

Und wer möchte nicht auch vom „Riesenalk“ gekostet haben, einem großen,
flugunfähigen Tauchvogel, dessen abgeknabberte Gerippteilchen in dem
uralten Kehricht stecken. Total ausgestorben heute, steht er bloß als
ausgestopfter Balg noch in einigen Museen. Zehntausend Mark zahlt man
für einen Balg, sechstausend für das Ei. Damals war er ein ständiger
Gast unserer Küsten. Massenhaft mögen die Federn beim Rupfen mit dem
Wind zerstoben sein. Am Ende hat das Fleisch wie bei den meisten dieser
Seevögel stark nach Tran geschmeckt. Aber welcher Genuß des Aparten,
ein Spiegelei, das sechstausend Mark wert ist!

Ein anderer großer Vogel, den die Kjökkenmöddingerschlemmer fleißig
aßen, war der Auerhahn. Gerade er ist ein Beweisstück, daß damals
Dänemark noch Fichtenwald hatte. Denn er ist selbst ein Schlemmer in
jungen Fichtentrieben. Heute ist er vor dem Laubwald, der das Land
erobert hat, längst völlig verschwunden.

Unsere Kulturküche ist zweifellos sauberer und appetitlicher geworden.
Aber das alte Sprichwort bleibt ewige Weisheit: der eine hat den
Beutel, der andere das Geld. Es war stofflich noch lange nicht das
schlechteste Jugendabenteuer der Menschheit, die Kjökkenmöddingerküche.




Das Ende der Tierwelt.


_Morituri te salutant_✹....

Wie ein Tier sozusagen am hellichten Tage mitten in Europa verloren
gehen kann, dafür gibt es ein lehrreiches Exempel.

Im sechzehnten Jahrhundert schrieb Konrad Gesner zu Zürich ein
Tierleben in riesigen Folianten. Er schrieb es lateinisch, und es
ist dann erst in eine Art Lutherdeutsch übertragen worden. In dem
„Vogelbuch“ dieses ehrwürdigen zoologischen Kirchenvaters wird ein
Vogel beschrieben, der anno 1555 in der Schweiz und benachbarten
Ländern offenbar so männiglich bekannt war wie der Specht oder der
Geier.

Dafür zeugt, daß er nicht weniger als sechs verschiedene Namen im
Volksmund hatte: Waldrapp, Steinrapp, Klausrapp, Meerrapp und Scheller.

„Rapp“ ist Rabe, und schwarz mit grünem Schiller auf den Federn war er
gleich diesem. Wie die Dohlen nistete er „in hohen schrofen oder alten
einöden thürmen und schlössern“, wie es bei Gesner heißt, und an den
wilden Felsen beim Bade Pfäffers mußte der Vogelsteller sich an Seilen
tollkühn hinablassen, um die Jungen aus den Nestern zu holen. Man holte
sie, weil diese Nestküken „für einen schläck“ gehalten wurden, „denn sy
habend ein leiblich fleisch und weich gebein“.

Sonst aber glich der Waldrapp nach Bild und Beschreibung keineswegs
einem Raben. Der Kopf hatte oben eine Glatze und hinten ein „streußlin“
(Federsträußchen), und ein langer, spitzer, roter Schnabel saß daran,
geschaffen, das Gewürm aus den engsten Felsenritzen zu ziehen. Der alte
Gesner selbst, Muster eines sorgsamen Beobachters überall da, wo er
aus erster Hand gibt, hatte ihm den Magen geöffnet und seine Nahrung
festgestellt. Kurz, so recht ein unbestrittenes Tier, nach dem man
jeden Bauern im Lande und jeden feinen Schlemmer nur zu fragen brauchte.

Zweihundert Jahre später sitzt Meister Linné zu Upsala in Schweden vor
der großen Schöpfungsarche noch einmal wie der erste Mensch und soll
jedem Tier auf Erden einen lateinischen Doppelnamen geben.

Wie er aber die Häupter seiner Lieben aus allen vorhandenen Folianten
zusammenzählt, gerät er auch auf das Gesnersche Protokoll in Sachen
„Waldrapp“.

Nun, in Schweden gibt’s den Vogel nicht, das steht fest. Der zu
vergebende Name muß also auf Gesner gebaut werden. Der lange Schnabel
und die Federholle am Kopf sprechen für einen Wiedehopf, also erfolgt
Upupa (das ist: Wiedehopf). Zum Unterschied von dem gewöhnlichen
Wiedehopf kommt aber dazu eremita, entsprechend dem Volkswort
„Klausrapp“, also ein Vogel, der in einsamer Klause wie ein Eremit
haust.

Rund fünfzig Jahre genügte Linnés Ansehen, um den Vogel so auch streng
wissenschaftlich noch außer Diskussion zu halten. 1805 aber hält unser
Bechstein neue Generalmusterung der deutschen und verwandten Vogelwelt.
Er kennt die Vögel unvergleichlich viel besser als Linné und weiß auch
in der Schweiz Bescheid. Und er erklärt plötzlich zum Kapitel Waldrapp,
dieser Vogel sei weder ein Wiedehopf noch ein Rabe, und in Schweden
könne es ihn allerdings nicht gut geben, denn es gebe ihn überhaupt
nicht. Man müsse den alten Gesner mit einem Kunstprodukt angeschwindelt
haben, einem Vogelbalg, halb Krähe, halb Hopf, der heute wie damals
unmöglich sei.

Hieran war nun unbestreitbar wahr, daß weder im Bade Pfäffers noch
in Zürich noch in Bayern und Lothringen noch wo sonst ihn Gesner
hinbeschrieben, irgend ein anno 1805 lebender Mensch einen Vogel auch
nur annähernd dieses Ansehens mehr kannte. Das Standesamt der strengen
Wissenschaft sah keinen Ausweg, als ihn wirklich zu streichen.

Jetzt vergehen nochmals über neunzig Jahre.

Dann sitzen zwei tüchtige Vogelkundige modernsten Schlages, Hartert
und Kleinschmidt, im Rothschild’schen Museum in England beisammen,
besehen den alten Gesnerschen Holzschnitt und ein ähnliches altes Bild
und überlegen, wie bloß der Züricher Altvater auf seinen mysteriösen
Rapp habe kommen können. In diesem Augenblick tritt der Vogelkenner W.
von Rothschild selbst herein und erklärt nach einem raschen Hinblick,
der Vogel stände in einem modernen Bildwerk auch noch. Es stimmt, aber
er steht dort als ein afrikanischer Vogel, der seit den dreißiger
Jahren aus Afrika, Arabien und Klein-Asien wissenschaftlich bekannt
ist und von dort her ausgestopft sogar im Rothschildmuseum selbst sich
findet.

Es ist in der Tat weder ein Wiedehopf noch ein Rabe, sondern mit
metallisch schwarzem Gefieder, langem, rotem Hakenschnabel, dem
Kahlkopf und dem Hinterhauptbüschel -- ein +Ibis+.

Dieser Schopf- oder Mähnenibis nistet heute noch nach Dohlenart in
Schwärmen in altem Gemäuer, z.✹B. an einem Sarazenenschloß am Euphrat,
und holt sich das Gewürm mit dem langen Schnabelhaken heraus.

Es ist einfach derselbe Vogel.

Und das schlichte Resultat ist, daß Süddeutschland, Tirol, die
Schweiz, Italien im sechzehnten Jahrhundert einen echten Ibis
besessen haben, der nach Rabenart ihre alten Burgen und schroffen
Felsen umschwärmte, massenhaft gejagt und gegessen wurde, -- kurz,
ein typischer Landesvogel war. _Geronticus eremita_ lautet der
wiederhergestellte wissenschaftliche Name, er umfaßt den lebenden
asiatisch-afrikanischen Vogel und den ehemaligen Europäer. In der eben
erscheinenden, nicht genug zu empfehlenden prachtvollen Neuausgabe von
Naumanns Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas (zwölf Foliobände,
in Koehlers Verlag zu Gera) ist der Verschollene nach Exemplaren, die
Rüppell aus Afrika mitgebracht hat, auf trefflichster Farbentafel zum
erstenmal als wenigstens ehemaliger „Mitteleuropäer“ dargestellt.

Man muß sich vergegenwärtigen, welch fremdartiges Tier ein Ibis für uns
heute ist. Jeder denkt dabei an Afrika, an Krokodile und Pyramiden.
Ibismumien liegen in den altägyptischen Katakomben. Eine kleine, im
Hochzeitskleid schön rote Ibisart lebt ja heute noch in Ungarn und der
Türkei und verfliegt sich ab und zu auch einmal vereinzelt bis nach
Deutschland, doch kann das nicht mitrechnen; denn als versprengter
Irrgast sind auch der afrikanische Geier und der Flamingo schon so in
Schlesien aufgetaucht. Um 1555 war aber der große gehaubte Ibis oder
Waldrapp einfach „unser“, wie Kuckuck und Nachtigall. Und erst seitdem
ist er bei uns ausgestorben bis auf den letzten Kopf -- ausgestorben
buchstäblich fast bis auf jenen Holzschnitt bei Gesner.

Die paar Worte des Altmeisters von dem „schläck“, den er abgab,
zeichnen vielleicht sein Schicksal.

Es heißt da schon, daß die Leute an den Vogelwänden bei Pfäffers immer
ein Junges im Nest ließen, um die Vögel nicht ganz zu verscheuchen. Es
waren aber böse Zeiten damals im Punkte Vogelschutz. „Immer“ wird’s
doch wohl nicht geschehen sein. Und eines Tages sind die Ibisse
ausgeblieben, -- verscheucht vielleicht, vielleicht auch ausgerottet.
Still hat sich das vollzogen. Während oben die Wissenschaft
registrierte, Akten anlegte, mit Linné ein Standesamt für Taufzwecke
einrichtete, fiel unten eine ganze altvertraute Tierart einfach unter
den Tisch -- und was für eine interessante.

Der Zufall will, daß sie im fernen Afrika, wohin unsere Waldrapp-Ibisse
jedenfalls alljährlich wie unsere Störche, unsere Schwalben gewandert
sind, sich noch bis heute erhalten hat.

Aber wie dünn ist der Faden dieses Zufalls! Heute haschen die Forscher,
ob nicht noch, in einem alten Schweizer Naturalienkabinett etwa, ein
einziger wurmstichiger ausgestopfter Balg des deutschen Waldrapp übrig
sein könnte. Kleinschmidt hat geradezu einen Aufruf erlassen, danach
zu suchen. 1740, so weiß man schon, gab es noch einen, aber auch der
ist längst verschollen. Oder soll es nicht am Ende doch noch einen
ganz versteckten Felswinkel, eine in diesem Sinn ganz märchenhaft
zoologisch-romantische Ruine geben, um die heute noch statt Krähen und
Dohlen der deutsche Ibis leibhaft lebendig kreist?

Schwerlich. Der Blick, der heute nach kreisenden Vögeln über
Felsschroffen sucht, findet ja überhaupt so manches nicht mehr. Was
hat der Lämmergeier als Nationalvogel der Alpenromantik nicht für eine
Rolle gespielt. Im achtzehnten Jahrhundert, zu Buffons Zeiten, war er
noch der vollkommene Fabelvogel. Dann rückte ihm das neunzehnte auf
den Leib. Die ganz entsetzlichen Räubergeschichten gingen auf ihr Maß
zurück. Der treffliche Girtanner in St. Gallen beschrieb, ordnete,
klärte. Im Zoologischen Garten bekam auch der Laie den bärtigen
Banditen, ästhetisch eine Glanzleistung der Natur, leibhaftig zu sehen.

Heute, wenn man auf dem Dampfer über den Thuner- oder
Vierwaldstättersee fährt und im Blau taucht ein kreisender Raubvogel
auf, so ruft alles: „Seht, ein Lämmergeier.“ Der Zoologe aber schreibt
still in sein Tierbuch, daß seit sechs Jahren in den ganzen Schweizer-
und Tiroleralpen kein Lämmergeier mehr gesehen worden ist.

Die Schußwaffen und gleichzeitig der Wandel der Dinge durch die Kultur
überhaupt haben, wie es scheint, auch hier einen deutschen Vogel
ersten Ranges, für meinen Geschmack fast den allerschönsten, endgültig
vernichtet. Außerdeutsche Gebirge (Albanien, die Pyrenäen) erhalten
auch ihn zur Stunde noch als zoologische Art -- wie lange, steht dahin.
Und einst ging er bis auf die schwäbische Alb. In Bayern ist der
letzte bei Berchtesgaden 1855 geschossen worden. Die letzten beiden
Steierer, heute im Wiener Hofmuseum, fielen schon 1809. Der letzte
Oberösterreicher, ein altes Weibchen, wurde am 3. Februar 1824 bei der
Ruine Scharnstein am Tissenbach heruntergeholt. _Tempi passati!_

Der Waldrapp ist nicht der einzige Fall, wo man heute in ferne Erdteile
gehen muß, um die letzten Trümmer der älteren Tierwelt Deutschlands
noch wiederzufinden.

Im Zoologischen Garten bestaunen wir manchen wilden Gast aus
entlegenstem Erdenwinkel und ahnen nicht, wie eng er einst als
Landsmann zu uns gehörte. So hat uns unser schöner Berliner Garten,
der sich neuerdings zum wissenschaftlich wertvollsten der ganzen
Welt entwickelt, im vorigen Sommer zum erstenmal den Moschusochsen
gezeigt. Struppig wie ein Eskimo kommt er hoch aus Grönland herab,
systematisch ein Wundertier zwischen Schaf und Rind. Er ist eine
Reliquie der Mammutzeit: wie die Mammute tot, so ist er uns lebend
erhalten im ewigen Polareis. Als aber die Mammute noch lebten, war er
mit diesen ein deutsches Tier, unsere Urväter haben ihn gejagt. Seine
Knochenreste finden sich in England und Frankreich, in Deutschland und
Rußland. Bis an die Pyrenäen schweifte er heran und im Rheintal war er
ständiger Gast, so lange die großen Gletscher ragten.

Derselbe Garten beherbergt jene wundervollen Tiger aus Nordasien,
Kolosse mit dem dicken Pelz, der nach Sibirien deutet. Im Bild dieses
sibirischen Tigers aber erscheint wieder nichts Geringeres als der
deutsche Tiger. Mit solcher Mähne, solchen Zottelhaaren kamen diese
wilden Riesenkatzen einst bis zu uns, kämpften mit Pfahlbauern und
Höhlenmenschen und scheuten den Eishauch der Gletscher nicht, die
damals von Rübezahls Bergen tief nach Schlesien und nach Böhmen
hineinlagen.

Die Griechen, als sie die Cyklopenmauern von Mykenä türmten und von
Herakles zu fabeln begannen, kannten noch von Angesicht zu Angesicht
den europäischen Löwen.

Heute wandeln allsommerlich Tausende von Touristen den herrlichen
Fichtenwald vom Elbfall nach Spindelmühle im Riesengebirge herab und
streifen einen Fleck dabei, der im Bädeker der „Bärengrund“ heißt. Er
erinnert sagenhaft noch an eine der letzten Stationen dieser alten,
bedrohlichen Invasion menschenfressender großer Raubtiere in unserm
Heimatland: 1726 wurde hier der letzte Bär erlegt.

Rund dreißig Jahre später endete die Kugel eines Wilddiebs bei Tilsit
in Ostpreußen ein anderes Tierdrama: sie tötete den letzten Wisent oder
Auerochsen auf deutscher Erde. Gesner hatte noch den zweiten deutschen
Waldstier, den eigentlichen Urochsen, lebendig gekannt, der schwarz
war mit hellem Rückenstreif und lange, leierförmig geschwungene Hörner
trug. Er ist längst von der Erde verschwunden, während ein letztes
Häuflein Auerochsen in Litauen durch Inzucht langsam, aber unrettbar
heute zugrunde geht. Erreicht das gleiche Schicksal über kurz oder
lang eine andere, kaum größere Schar am Nordwestabhang des Kaukasus,
die zwar noch als „wild“ gerechnet wird, aber doch schon unter
Schutzgesetzen (der Anfang meist vom Ende!) steht, -- so ist auch der
Wisent für immer in der Welt dahin!

Die Inzucht bei mangelnder Blutauffrischung ist es, an der überhaupt
der Versuch durchweg scheitern wird, solche aussterbenden Tiere
wenigstens in zoologischen Gärten zu retten. Wohl gelingt es
gelegentlich uns noch, ein schon verlassenes Land durch Massenimport
wieder mit einer sonst noch vollkräftig erhaltenen Tierart zu
bevölkern. So war in ganz Großbritannien schon 1762 der letzte Auerhahn
geschossen worden. Seit 1837 wurden dann systematisch ganze Massen
lebender Auerhähne aus Norwegen eingeführt und heute hat Schottland
einen der großartigsten Auerhahnbestände der ganzen Welt, der diesen
zweitschönsten Vogel Europas vielleicht noch einmal retten wird,
wenn wir auf dem Kontinent mit ihm aufgeräumt haben. Aber überall,
wo kleine Restkolonien einer Tierform abgeschnittene Inseln ohne
Zuzugsmöglichkeit bilden, da ist ihr Schicksal besiegelt.

So wird die winzige Station europäischer Affen auf dem Felsen von
Gibraltar kaum mehr lange ausdauern. Auch mit ihnen geht ein Stück
Weltgeschichte zu Grabe, etwas wie ein letztes Lichtstreifchen der
Erinnerung an eine Zeit, da Europa noch bis nach Schwaben von Affen
bewohnt war.

Zu Ende geht, in solche hoffnungslose Robinsonlage verbannt, der
europäische Biber, heute nur noch in einer Kolonie von hundertfünfzig
Stück an der Elbe und Mulde vorhanden.

Merkwürdig ist, wie mit solchem größeren Tier, wenn es ausstirbt, fast
immer auch noch die eine oder andere Kleintierart mitgerissen wird, wie
die Ratte vom untersinkenden Schiff. An den deutschen Biber hatte sich
(ebenso wie an den amerikanischen) ein höchst seltsamer flügelloser
Käfer schmarotzernd nach Läuseart angepaßt, der nur allein in seinem
Pelz vorkommt. Geht der Biber ein, so fällt ihm der Käfer nach, wie
Fiesko seinem Mantel. Als die Seekuh der Beringsinsel, das sogenannte
Borkentier, im achtzehnten Jahrhundert ausgerottet wurde, verschwanden
mit ihr eine Walfischlaus und ein Spulwurm, die sich ihr so angepaßt
hatten, daß sie nicht mehr anderswo leben konnten.

Dieses Wechselverhältnis, das ein Wesen bis in den Tod an ein anderes
kettet, ist leider auch eine der mißlichsten Ursachen zur ungewollten
Verwüstung unserer liebenswürdigsten, ästhetisch reizvollsten kleineren
deutschen Tierwelt heute.

Mit vollem Recht geht unsere Kultur gegen häßliche und giftige
Unkräuter vor. Der Förster wütet gegen jedes alte Gerümpel von Baum,
der Parkliebhaber holzt aus, um alle feuchten Winkel, wo die Bäume
sich formlos durcheinanderflechten, aufzuhellen, im Garten stört uns
jedes ungepflegte Stück, jede Dornecke ohne Schermesserspuren. Aber mit
der Brennessel vernichten wir einen unserer schönsten Schmetterlinge,
den goldbraunen „Kleinen Fuchs“, dessen Raupe diese scharf gewürzte
Kost braucht, und ein ähnlich enges Band verknüpft andere, teils
giftige, teils unschöne Unkräuter mit diesen lieben Gesellen, den
bunten Schmetterlingen, ohne die der gepflegteste Garten arm bleibt.
Und mit den hohlen Bäumen und dem Dorngestrüpp nehmen wir unsern
farbenprächtigsten und sangesfrohesten Vögeln die Gelegenheit zum
Nestbau, mit roher Hand schlägt unsere Forst- und Parkkultur all den
uralten Anpassungen und Gewohnheiten, die da über viele Jahrtausende
heraufkommen, ins Gesicht.

Der Erfolg ist ein Veröden der Landschaft, ein Stillwerden. Wir haben
uns so gewöhnt, alles den bösen Italienern in die Schuhe zu schieben,
die uns die Singvögel wegfangen und verspeisen. Daß wir selber daheim
mit unserm bloß noch auf praktische Holz-Rücksichten reglementierten,
kasernenhaft strammen und geputzten Walde beständigen Vogelmord
treiben, wollen wir durchweg nicht Wort haben.

Schon wächst bei uns eine Generation heran, die von der ursprünglichen
Schönheit unserer deutschen Vogelwelt kaum noch eine Ahnung hat. Ich
las unlängst ein paar Verse von Karl Busse, eine Sommerstimmung.
Zuletzt hieß es da: „Und einsam streicht die Mandelkrähe, weiß Gott
wohin, weiß Gott wohin ...“ Ich weiß nicht, ob unser Lyriker wirklich
an die Mandelkrähe (die mit den Krähen nichts zu tun hat) gedacht
und nicht bloß einen Namen aufgegriffen hat. Was ich aber weiß, ist,
daß ich seit Jahren eine ausgestopfte Mandelkrähe mit ihrer wahrhaft
leuchtenden Farbenfülle in Grün, Blau und Zimmetbraun im Zimmer stehen
habe und in all diesen Jahren fast von jedem Besucher die Frage gehört
habe, aus welchem tropischen Papageienlande dieser Prachtkerl stamme.
Daß er noch jetzt ein urtümlich deutscher Vogel sei, wußte keiner.
Aber auch dies Juwel wird alljährlich freilich seltener. Es teilt das
Schicksal des Uhus, des Schwarzspechts, der Trappe, des schwarzen
Storchs, die alle rapid eingehen.

Ein Kampf der Kultur mit der Schönheit!

Mir schwebt da immer ein drastisches Beispiel vor.

Zweimal im neunzehnten Jahrhundert, 1863 und 1888 war es, als habe die
Natur vor, uns in Deutschland statt des ewigen Nehmens einmal auch
etwas Zoologisches neu zu schenken.

Aus Zentralasien kamen Schwärme lieblicher Vögelchen, Steppenhühner,
in der weichen, gelblichen Farbe wie aus Wüstensand aufgebaut. Niemand
weiß, warum sie plötzlich wanderten. Behalten haben wir sie auch nicht,
trotz lebhafter Hoffnungen aller Vogelfreunde. Die armen Vögelchen
sollten merken, daß sie sich ins Reich der Kultur gewagt hatten. In
reißendem Flug kamen sie an. Es war ihnen nichts, in einem Tage von
Jütland quer über die ganze Nordsee nach England zu sausen. Aber genau
in ihrer Flughöhe zogen sich allenthalben die Telegraphendrähte dahin
-- sie prallten an und kamen in Menge um. Der freie Wüstenvogel, der
gegen das metallene Netz der Kultur stieß -- zu seinem Verderben.

Wenn ich manchmal durch die schönen Räume des Berliner Museums für
Naturkunde wandere, so überfällt mich eine seltsame Träumerei.

Ich habe das Gefühl einer verschollenen Welt, eines untergegangenen
Planeten. Nicht bloß in dem Mumiensaal, wo von steinerner Platte
wirklich die uralt verschollenen Ichthyosaurier mich anglotzen, die
vor Jahrmillionen bis auf den letzten Kopf ausgestorben sind. Auch
all das frisch ausgestopfte Getier, die bunten Vögel, die Affen und
Elefanten und Löwen, die Schmetterlinge in ihren Glaskästen, die
getrockneten Korallen und Seesterne -- sie haben mir einen Todeszug,
ein hippokratisches Gesicht, -- Gruß der Sterbenden.

Ich sehe im Geiste ein Riesenmuseum der Menschheit in ein paar tausend
Jahren.

Da stehen die Tiere wie heute, noch viel schöner in der Erhaltung,
präpariert für die Ewigkeit mit den vollkommenen Konservierungsmitteln,
die wir heute noch nicht kennen. Aber an Tier um Tier, an der Giraffe,
dem Tiger, dem Nashorn, der Wildgans und dem Sperling -- überall steht
ein Zettelchen angeklebt mit einem geheimnisvollen Zeichen.

Wer in der Geheimsprache der Zoologen bewandert ist, kennt es sogleich,
aber auch der Laie mag den Sinn schon ahnen.

Ein Totenkopf.

Er besagt, daß diese Tierart ausgestorben ist.

Dieser Gedanke ist mehr als ein paradoxer Einfall. Er entspringt einer
Wahrscheinlichkeit, ja einer unerbittlichen Logik. Der Südseeinsulaner
singt ein schwermütiges Liedchen von der Palme, die wächst, der
Koralle, die sich breitet, und dem Menschen, der untergeht. In
den Sternen der Kulturmenschheit steht aber das genau Umgekehrte
geschrieben. Der Mensch wird Herr der Erde sein, eines Tages. Und alles
Getier, das nicht unmittelbar in seiner Kultur aufgeht, wird an dem
Tage verschwunden sein.

In der köstlichen Vogelsammlung des Zwingers zu Dresden haben sie
schon jetzt einen besonderen Schrank eingerichtet für Tiere, die
der Mensch in der kurzen Zeit, da er für Museen sammelt, bereits im
Leben ausgerottet hat und nur noch in Museumsbälgen besitzt: der
Takahevogel und der Dünnschnabelnestor, ein Papagei von Neuseeland, die
Labradorente und der Riesenalk, der 1844 auf Island untergegangen ist.
Diese Vogelbälge sind heute schon so köstlich, daß man sie dem Licht
nicht mehr auszusetzen wagt, aus Furcht, sie verbleichen.

In demselben Schrank liegen ein paar einzelne Federn der kolossalen
Moastrauße, flugunfähiger Vögel, die von den Neuseeländern bis
auf den letzten Kopf vertilgt wurden, als die tierarme Insel dem
eingewanderten, rasch wachsenden Volk keine andere Fleischnahrung bot;
nachher sind die Leute in ihrer Not Kannibalen geworden.

Selbst diese kostbare Sammlung rühmt sich aber schon keines Balges
mehr von der Dronte, jener grotesken, ebenfalls völlig flugunfähigen
Riesentaube der Insel Mauritius, die größer als ein fetter Schwan war.
Die Matrosen der holländischen Schiffe, die im siebzehnten Jahrhundert
dort landeten, verproviantierten sich fröhlich mit diesen wandelnden
Fetttöpfen. Nach hundert Jahren war die Freude zu Ende: die letzte
Dronte war gegessen.

Und nochmals fünfzig Jahre später warf der weise Konservator
des Museums zu Oxford auch noch das letzte ausgestopfte Stück
wegen Mottenfraß aus der Sammlung; damit war endgültig auch die
Schattenexistenz im Museum dahin; nur Bilder und Knochen sind übrig.

Im Britischen Museum zu London steht das Gerippe jenes Seesäugetiers
vom Geschlecht der sogenannten Seekühe, des Borkentiers. Es war ein
Ungetüm, das zehn Meter lang und achtzig Zentner schwer wurde. Wie
Borke war seine verfilzte Schwartenhaut anzusehen, darunter aber lag
vier Finger dick der reinste Speck. Um dieses Speckes willen hat das
Borkentier daran glauben müssen. Auch diesen Riesen der rätselvollen
Einsamkeit, einen wahrhaft urweltlichen Gesellen, entdeckte hungriges
Matrosenvolk eines gestrandeten Schiffes auf einer Insel bei
Kamtschatka im achtzehnten Jahrhundert. Siebenundzwanzig Jahre reichten
diesmal hin, um den Koloß verschwinden zu lassen auf Nimmerwiedersehen.

Solche absonderlichen Fälle klingen uns wie hübsche zoologische
Geschichtchen, jedes Lehrbuch verzeichnet sie. Aber es ist mehr darin:
es ist die Schicksalsstimme der Allgemeinheit.

Es wird leer um den Menschen, wohin er kommt.

Als der Mensch auf der Erde erschien, war die Frage zunächst keineswegs
selbstverständlich, wer in dem Kampf zwischen Mensch und Tier Sieger
bleiben würde.

Furchtbar verbarrikadiert mit ihren unzähligen Anpassungen in
Verteidigungs- und Angriffsmitteln stand die Tierwelt da, ein
Meisterstück von Jahrmillionen. Denn in all diesen Jahrmillionen der
Erdgeschichte hatte der Daseinskampf selbst immerfort alles Schwache,
Ungenügende unerbittlich ausgemerzt. Nur das Wehrhafteste, nur die
wahrhaft raffinierte Schutzanpassung war aus dem langen Spiel sieghaft
emporgestiegen.

Im Gestein der Erdentiefe schliefen die ungezählten falschen
Experimente, alle die alten Saurier und Scheusäler, denen schließlich
Hai, Delphin und Riesenvogel oder auch die eigene Unförmlichkeit
den Garaus gemacht. Bis in jedes Winkelchen umspann eine wahrhaft
vollkommene Tierwelt diesen alten Planeten, Luft, Wasser, Erde,
schwimmend, fliegend, kletternd, laufend, selbst im Erdreich wühlend
wie der Maulwurf. Die Erdenarche zitterte unter der Last.

Und dahinein eines Tages -- der nackte Mensch.

Was war er zunächst? Ein Stück Fleisch, gut zu fressen. So und so
viel Tiervölker hatten sich in ihrer Lebensanpassung gewöhnt, Fleisch
anderer Geschöpfe zu fressen. Der Mensch ein Objekt der hungrigen
Raubtiere also!

Das Nächste, was da in Betracht kam, war die Größe des Menschen, die
Körpergröße.

Es ist in neuerer Zeit ein paarmal behauptet worden, der Urmensch sei
ein Zwerg gewesen. Wir wissen ja heute durch Schweinfurth und Stanley,
daß es in Afrika noch jetzt regelrechte Zwergvölker gibt. Der ebenfalls
fast zwerghafte Stamm der Weddas in den Urwäldern Ceylons wird von
manchen Kennern für die unterste, urtümlichste aller Menschenrassen
gehalten, die heute noch lebt. Und in Schweizersbild bei Schaffhausen
sind allen Ernstes ja auch die Knochenreste sogar prähistorischer
Zwerge gefunden worden. Gleichwohl ist die Vermutung aus diesen Gründen
allein kaum haltbar.

In alten wie in neueren Zeiten kann auch Verkümmerung nachträglich das
Normalmaß bei ganzen Völkern herabgedrückt haben. Jenes geheimnisvolle
Wesen von der Insel Java, das einen halben Affenkopf hatte und dazu
schon echte Menschenbeine, der Pithekanthropus, über dessen 1891
entdeckte Gebeine sich die darwinistischen und antidarwinistischen
Forscher seither so mächtig in den Haaren liegen: es hatte mindestens
volle Militärgröße.

Brachte der Mensch die aber mit, so teilte das sogleich das Tierreich
vor ihm in einen größeren und einen kleineren Teil.

Im allgemeinen war alles, was größer war als der Mensch, ihm
gefährlich, alles Kleinere dagegen trat unter ihn. Der Maulwurf war
ihm ein lächerliches, ein verächtliches Tier, obwohl das Gebiß dieses
Maulwurfs, gegen ein noch kleineres Tier gehalten, furchtbarer ist
als ein Tigergebiß. Das erste kleine Geschöpf, bei dem er eine
ganz besondere, auch ihm gefährliche Angriffswaffe entdeckte trotz
der Körperkleinheit, war die giftige Schlange. Wenige Geschöpfe
haben seine Phantasie denn auch so erregt, wie dieses Ausnahmetier.
Der Schlangenkultus beweist es. Die Allerkleinsten und doch
Allerschlimmsten hat freilich erst das Mikroskop des neunzehnten
Jahrhunderts entdeckt: die Trichinenwürmer, die sich ins Muskelfleisch
des Riesen bohren, und die allerdings nicht mehr eigentlich tierischen,
wenn auch lebenden Bazillen, die seine Lunge als Schwindsuchterzeuger
zerstören, seinen Darm als Cholera bedrohen.

Im wesentlichen aber ging sein Blick damals nach oben. Was ihn angriff,
mußte größer sein als er.

Der Naturforscher von heute unterscheidet mindestens sieben
Hauptgruppen oder „Stämme“ im Tierreich. Davon kommen sechs kaum in
Betracht als Größengegner des Menschen.

Die Urtiere (vom Laien meist Infusorien genannt) fallen ganz fort,
denn sie sind durchweg mit bloßem Auge überhaupt nicht sichtbar. Vom
farbenbunten Volk der Pflanzentiere (also den Schwämmen, Korallen,
Seerosen, Quallen) könnte zur Not einem Schwimmer im Ozean einmal die
einzige Qualle _Cyanea arctica_ gefährlich werden. Denn sie hat
einen Schirm von zwei Metern Breite und darunter abwärtsbaumelnde
Fangarme von vierzig Metern Länge. Das alles ist zwar weich wie
Gallert, aber diese Quallenarme nesseln wie Brennesseln, und vielleicht
dürfte der Taucher denn doch verloren sein, um dessen nackten Leib sich
diese vierzig Meter Giftschnur wickeln.

Vom Molluskenstamm (Schnecken, Muscheln und Tintenfische)
dräuen nur zwei, und beide auch nur in der purpurnen Tiefe: die
indische Riesenmuschel _Tridacna gigas_, deren zwei Meter
breite Klappschalen gar wohl einen unvorsichtigen Menschen durch
blitzschnellen Schluß guillotinieren können -- zur leckeren Mahlzeit
für das ungeheure, zehn Kilogramm schwere Muscheltier im Innern. Und
der Kraken, der Riesentintenfisch, der mit den Fangarmen wohl zwanzig
Meter lang wird und mit seinem harten Hornschnabel dann einen Menschen
zerknacken würde wie ein Affe eine Haselnuß.

Ganz ausscheiden wieder die so unendlich formenreichen Gliedertiere
-- Krebs und Insekt. Einzelne Krebse mögen unheimliche Gäste
sein, ernsthaft gefährlich sind sie nicht, trotz ihrer „tausend
Gelenke“. Auch gegen den größten aller Regenwürmer, den Riesenwurm
_Megascolides australis_ von Gipsland in Australien, der zweimal
so lang wie der Mensch wird, bedürfte es nicht einmal bei einem Kinde
besonderer Herkuleskraft zur Verteidigung.

Und vollends der dickste Seeigel vom Geschlecht der Stachelhäuter wird
noch nicht einmal so dick wie das Stachelschwein, das die Jäger in der
römischen Kampagna durch einen einfachen Klaps auf die schnüffelnde
Nase töten.

Erst im Stamm der Wirbeltiere fangen die echten Größen zahlreicher an,
nochmals freilich mit Unterschied auch da nach den einzelnen Klassen.

Ein paar Fische machen in der Reihenfolge von unten nach oben den
Anfang. Der Hai als Menschenfresser ist altberüchtigt. Im Süßwasser
aber ist der kolossal bewehrte Hecht durchweg zu klein, wenn schon
ich mich eines Ungetüms aus dem tiefen tückischen Wallensee im Kanton
Glarus erinnere, das auf der Tafel wahrhaft zu Koteletten zerschnitten
erschien, da es jeder Schüssel spottete -- diesem anderthalb
Meterriesen hätte ich beileibe nicht in dem kalten Gebirgssee beim
täglichen Bade begegnen mögen.

Vom Wels, dessen größte, zwei Meter lange Exemplare, einer
kohlschwarzen Riesenkaulquappe gleich, hier bei Friedrichshagen als
wahre „Seeschlange“ des Müggelsees gelten, ist sicher überliefert, daß
er Hunde, große Wasservögel und gelegentlich selbst ein Kind schluckt.

Dagegen kommt von der ganzen nächsthöheren Klasse der Amphibien
nicht einmal der Riesensalamander Japans auf. Und seitdem auch die
wahnsinnige Angst vor dem „Gift“ der Molche und Kröten sich dahin
verflüchtigt hat, daß der Schutzsaft dieser nützlichsten Tiere einen
kleinen Schnupfen erzeugt, wenn er just auf die Schleimhäute gebracht
wird, kann das ganze Lurchvolk geradezu als Typus der Harmlosen gelten.

Von den Reptilien kommen ihrer Größe nach nur drei in Betracht:
die Riesenschlange, deren Gefährlichkeit aber, wie die so vieler
Tropentiere, in älteren Quellen arg übertrieben worden ist;
das Krokodil; und endlich zur Not noch die nordamerikanische
Schnappschildkröte, die über ein Meter lang wird und dem Schwimmer
mit einem stahlharten Schnabel zu Leibe geht, der in zentimeterdicke
Ruderschaufeln Löcher beißen kann.

Als der erste Mensch die Erde betrat, war die „große“ Zeit dieser
Reptilien im ganzen längst herum.

Verschwunden war der Iguanodon von Bernissart in Belgien, der auf
den Hinterbeinen trabte wie ein Känguruh, der zehn Meter maß und
dessen Daumen rechtwinklig abstanden wie mächtige Dolche, bereit,
jeden Angreifer umarmend zu spießen wie das Folterwerkzeug der
eisernen Jungfrau. Verschwunden war der Hadrosaurus von Dakota,
der nicht weniger als 2072 Zähne im Maul trug, verschwunden der
Atlantosaurus, der mit 115 Fuß Länge auf dem Lande dahinwatschelte, und
der Mosasaurus, der ebenso lang im Ozean sich schlängelte. Die Idee
wäre so hübsch: den Urmenschen sich noch im Kampf zu denken mit den
Ichthyosauriern. In einer „Deutschen Geschichte“ (von Pfahler, aus der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts) habe ich gelegentlich den
Satz wirklich gefunden, daß die alten Germanen ihre weltgeschichtlich
so bekannte Kraft gestählt hätten im Drachenkampf mit diesen
Ichthyosauriern. Leider stören dieses gute Bild aber die mindestens
drei Millionen Jahre der Tertiärzeit, die zwischen den Germanen auf der
Bärenhaut und der Ichthyosaurusepoche der Erdgeschichte liegen und in
denen schon kein einziges jener Ueberreptile mehr gelebt hat.

Auch die Gigantenzeit der Vögel war vorbei oder doch im raschen Abzuge,
als der Mensch kam. Den Brontornis von Patagonien, der zu einem
wahrhaft schauerlichen Raubvogelschnabel fast zwei Meter lange Beine
besaß und wahrscheinlich selbst noch jenes Saurierhochwild jagte, hat
er wohl nicht mehr erlebt. Die großen Strauße kann man nicht als ernste
Gegner mitrechnen, und wo er sie auf Inseln fand, wie auf Neu-Seeland
die Moas und auf Madagaskar den drei Meter hohen Aepyornis, da ist er
damit rasch so gründlich fertig geworden, daß der Naturforscher schon
für sein Museum zu spät kam.

So bleiben die Säugetiere. Und damit die wahren Größengegner.

Die Tertiärzeit, die dem Menschen unmittelbar voraufgeht, hatte sie
in ihrer ganzen Kraft entfaltet. Im Moment, da der Mensch für uns
in erkennbaren Kulturresten in Europa auftaucht, sieht er sich vor
Mammutelefanten, Nashörnern, Nilpferden, wilden Ochsenarten, dem
Riesenhirsch, dem Renntier und den größten aller bekannten Raubtiere,
dem Höhlenbären und dem Tiger.

Der erste Kühne, der sich auf schwankendem Boot in die Salzflut wagt,
sieht Dampf aufwallen und glaubt, eine schwarze Insel entsteige der
Tiefe: er erlebt den Walfisch, das Säugetier, das es jetzt auf jene 15
Fuß des Mosasaurus gebracht hat.

Ganz unglaublich muß das Gedränge jener großen und größten Säuger noch
in den ersten Urwäldern, Steppen und Wassern gewesen sein, in die der
Mensch geriet. Nur die wildesten Gebiete Zentralafrikas, wo abends
um die Tränke alles dröhnt und zittert von dem Stampfen ungezählt
antrampelnder Elefantenherden, Nashörner, Giraffen, Antilopen, oder das
Getümmel großer Seesäugetiere, Robben, Seebären, Seeelefanten auf neu
entdeckten Klippen der arktischen und antarktischen Vorgegend können
uns heute noch einen Begriff davon geben. Und auch sie nicht lange
mehr, denn die Büchse knallt von Jahr zu Jahr die Elefanten nieder,
und die großen Robben und Wale sind an ihren älteren bekannten Plätzen
schon so gut wie ausgerottet.

Von Säugergruppen, die heute klein sind wie das Gürteltier, lebten
noch Riesenformen, groß wie das Nashorn (der Glyptodon), als der
Mensch den Kampf begann. Waren doch in dem gleichen Südamerika dieser
Riesengürtler (in allerdings noch etwas älteren Zeiten) selbst die
Mäuse einmal zu solcher Rhinozerosgröße heraufgewachsen.

Die furchtbarsten angreifenden Gegner aber waren zweifellos gleich
von Beginn an die Raubtiere. Deutschland hatte damals noch so viel
Tiger wie Indien, und dabei war auch noch der Machairodustiger, der im
Oberkiefer jene zwei Eckzähne in Gestalt gekrümmter, aus dem Maul wie
beim Walroß vorspringender Messer trug.

Ein nicht zu verachtendes Gegenüber waren gewiß auch die Affen in
einigen Arten: der Gorilla, an Größe dem Menschen gleich, gilt heute
noch als „ernste“ Sache trotz des Feuergewehrs, und ganz kürzlich erst
ist auf Madagaskar das Gerippe eines Halbaffen gefunden worden, der,
wie es scheint, den Gorilla noch an Höhe übertraf.

Und doch das alles eines Tages im Absturz.

Ein paar Säugetiere und Vögel gerettet durch Kultivieren als ein Stück
Menschenhaushalt selbst, als Haustiere.

Ein anderer Rest noch eine Weile erhalten als Jägerfreude. Jagdgesetze
müssen selbst ihn schon schützen.

Ganze Länder schon in ein paar Geschichtsjahrhunderten ihrer
Charaktertiere beraubt: Aegypten ohne Nilpferde, Deutschland ohne die
Ure und Schelche seiner Nibelungenzeit. Und durch welche Macht das
alles?

Ich wandere an meinem märkischen See hier draußen hin, mein Fuß stößt
an ein Stück Feuerstein.

Im tiefen Meer der Kreidezeit ist das aus den Kieselschalen
mikroskopischer Urtierchen zusammengebacken. Die Gletscher der Eiszeit
haben es aus der Kreide von Rügen, dem alten Tiefseeschlamm jener Tage,
gerissen und hierher transportiert. In solchem Stückchen Feuerstein
liegt des ganzen Rätsels Kern.

Das hat der Mensch gefunden, eines Tages, damals am Rande der
Eiszeitgletscher.

Und seine Intelligenz war soweit vorgeschritten, daß er es zum
Werkzeug, zur Waffe zurechtschlug.

Und an dieser neuen Kapitelüberschrift der kosmischen Entwickelung,
diesem kleinen Wörtchen „Werkzeug“ sind sie alle abgeprallt, die harten
Köpfe der übrigen Tierwelt -- der elfenbeinerne Stoßzahn des Mammut und
das natürliche Messer im Maul des Machairodustigers, der Panzer des
Riesengürteltiers und die Speckschwarte des ungeheuren Walfisches.

Aus diesem Feuersteinmesser hat sich in einer geraden Linie geistigen
Fortschritts das Bronzeschwert entwickelt und aus dem die Eisenwaffe
bis zum Rohr der Kanone, deren Kugel einen Elefanten fällt wie ein
Schlag mit der flachen Hand eine Mücke.

In diesem Stückchen Feuerstein wurde die schwache Hand des Menschen
hart wie Stein, hart wie Stahl, brennend und verheerend wie der Funke,
der aus diesem Feuerstein, wenn er geschlagen wird, sprüht.

Und an dieser Werkzeugwende brach die Tierwelt zusammen, wie
schließlich der Granitberg der Alpen davor zum Tunnel einbrach und die
Landenge von Suez zum Kanal sich spaltete.

Im Menschenmuseum ist ihr Grab, ihr Ziel.

Mit dem kleinen Zeichen des Totenkopfs auf der Etikette, das da besagt
„ausgestorben“ -- ausgerottet durch den Menschen. Das Ende der Tierwelt!




Die Anfänge der Kultur bei den Tieren.


Natur und Kultur sind keine Gegensätze.

Stufen sind es einer fortschreitenden Entwickelung.

Jedes kleine Menschenkind kann uns das lehren. Was in grauen Tagen der
Urgeschichte wie ein Mysterium erscheint, das erlebt jede Mutter in
schlichtem Bild noch einmal mit. Wunderbare Kräfte haben in stiller,
pflanzenhafter Arbeit den Leib des Kindes gebaut. Eines Tages erscheint
er im Lichte und die feinen Saiten des Kunstwerks beginnen ihre Melodie
zu spielen. Jene Kräfte haben in festem Ziel die Organe des Körpers
geschaffen: wie Magen und Herz, so auch Gehirn und Hand. Auf einmal
aber ist es, als sinke die ganze Schaffensmacht, nachdem sie dort ihr
Werk getan, jetzt konzentriert hinein in das kleine Kindergehirn.

Zu ihm geht, was die Aeuglein schauen, von ihm aus regt sich auf solche
Lichtpost des Auges hin die Hand.

Und die Hand greift nach Dingen der Außenwelt. Der erste Griff geht
nach Stoffen der Ernährung. Dann wird spielerisch nach allem möglichen
gefaßt. Holzklötzchen werden aufeinandergetürmt, Sandhügelchen gehäuft
wie kleine Bauten. Das rosige Händchen lernt einen Löffel greifen, um
die Suppe zu bewältigen. Mit einem Bleistift wird gekritzelt. Zugleich
hat die Sprache eingesetzt, ebenfalls Muskelarbeit im Dienste des
Gehirns. Und die ersten moralischen Empfindungen bilden sich aus,
begründet auf das Zusammenleben mit andern Menschen und die Anpassung
daran.

So erobert die junge Menschenblüte, aus der Natur heraus geboren, sich
in organischer Folge, ohne Riß und ohne ein größeres Wunder, als es in
jeder Entwickelung liegt, die höhere Stufe der Kultur.

Jedes Kind ist aber ein „erster Mensch“.

Es erlebt noch einmal die Schauer der Schöpfung. So wie bei ihm, fing
die große neue Melodie „Kultur“ einst überhaupt einmal auf der alten
Erde an zu spielen, eine höhere Sinfonie der Natur, zu der sie sich
nach Jahrmillionen einförmigen Summens und Klingens plötzlich in
grandiosem Schwunge erhob.

Wie aber das Kind, noch schlafend im Naturschoß, ehe es das Licht der
Welt erblickt, sich bisweilen traumhaft schon regt, so raunten längst,
ehe der Mensch kam, durch die Tierwelt schon präludierende Laute dieser
Kultursinfonie.

Ueberall da vernehmen wir sie, wo im Tier schon ein ahnender Anlauf
sich zeigt, über die Ausbildung von Organen des Leibes -- Knochen,
Klauen, Zähnen, Panzern, angewachsenen Schalen -- hinauszugehen zu
+Werkzeugen+, zu totem Material, das erst indirekt durch die
Absicht und Arbeit des Tieres in gewissem Maß „vergeistigt“ wird.

Da liegt in seiner wunderbaren Bläue der märkische Müggelsee. Rote
Kiefern lassen ihr grotesk verknäultes Wurzelwerk an den Sandabhängen
des Ufers herabschleifen.

Der Blick sucht ein schimmerndes Feuersteinstückchen, einen Zeugen
der Eiszeit, im gelben Sand. Dabei gewahrt er winzige Trichterchen in
dieser Sandfläche, regelmäßig, als sei es eine Tierfährte. Aber kein
Tier stößt solche spitzen Trichter im Schreiten ein. Ein „Kulturtier“
hat hier gebaut: der Ameisenlöwe.

Als ausgewachsenes Insekt gleicht er einer Libelle. Dann langen
seine Körperorgane aus zum Lebenskampf, große Flügel tragen ihn dem
größten Ereignis auf dem Scheitel seiner Bahn zu: der Liebe. Aber
als unentwickelte Larve, auf der Stufe, die beim Schmetterling die
ungeflügelte, ewig hungrige Raupe darstellt, geht es ihm weniger gut.
Sein Körper gleicht dann einer kleinen weichen Rübe, an der zwar vorne
mächtige Kieferzangen sitzen, die zugleich kneifen und saugen, aber nur
mangelhafte Beine und gar keine Flügel.

Eine Rettung war es so für ihn, als er auf weichen Sand geriet.
Er drehte und wurschtelte sich so lange hinterwärts herum, bis er
glücklich bis an den Kopf eingemummt saß. Da lauerte er nun mit
seinem knurrenden Larvenmagen. Ging ein großer, bedrohlicher Schatten
vor ihm über, so duckte er sich ganz in den Sand. Kroch aber ein
wehrloseres Insekt, als er, arglos dicht vorbei, so erspähte er mit
seinen zahlreichen Augen den guten Moment, schoß vor und stieß der
Beute seine bösen Sauggabeln in den Leib. So mögen es die Ameisenlöwen
jahrhunderttausendelang getrieben haben. Der lose Sand war ihr Mantel:
immerhin schon ein ganz, ganz vager Anlauf zu etwas Werkzeugähnlichem,
also zur Kultur.

Da führte die Sache selbst weiter.

Das ungestüme Drehen beim Einwühlen ins Sandbett erzeugte in diesem
losen Flugsand einen kleinen Wirbel, dessen Ergebnis meist eine
rundliche, trichterartige Einsenkung wurde. Im Grunde des Trichters
saß jedesmal der Räuber. Dieser Trichter aber lieferte jetzt selbst
zum Sandrock ein neues Kulturwerkzeug: er bildete eine Falle. Ein
Insekt lief heran, geriet achtlos über den Rand und fiel ins Zentrum.
Im Schreck über den Sturz und zugleich in der Enge des Trichtergrundes
wurde selbst ein Tier zur leichten Beute, das sonst entronnen wäre:
eine wehrhafte Spinne, Ameise oder Raupe.

Und die Ameisenlöwen begannen den Doppelzweck resolut zu erfassen:
die Einbuddelei wurde in ihrer Energie so verstärkt, daß jedesmal
regelrechte Fallentrichter entstanden von ausreichender Tiefe. Dabei
mochte es geschehen, daß mitten in der Arbeit schon eine Ameise über
den Rand kam. Noch stockte sie oben, wollte nicht. Gerade aber flog
durch die Wucht des kreiselnd sich einwühlenden Löwen eine Garbe Sand
von unten her auf den Trichterrand: sie traf das fremde Insekt und ließ
es kopfüber herabfliegen trotz seines Widerstrebens. Zu Rock und Falle
war ein drittes gesellt: das Wurfgeschoß.

Was auch hier das erste Mal zufällig mitgeschehen war, wurde ein
weiterer Schritt in der Ameisenlöwenkultur. Auch aus dem fertigen
Trichter heraus gewöhnte er sich fortan, vorsichtig zögernde Besucher
seines Fallenrandes durch gut gezielte Sandwürfe aus der Balance zu
schmettern und in die Mörderhöhle herabzuzwingen, wo ihr Schicksal
besiegelt war. So hat der kleine Löwe sein Werk bei uns getrieben, in
üppigster Entfaltung wahrscheinlich damals, als in vorhistorischer Zeit
Deutschland einmal größtenteils gelbe Sandsteppe mit Springmäusen und
Saigaantilopen war. Wo von dieser Steppe noch ein hübsches Teil Sand
übriggeblieben ist, wie zwischen unsern märkischen Heidekiefern, da
treibt er es unentwegt heute noch.

Ich glaube nicht, daß es allzu kühn ist, sich den Hergang dieser
kleinen tierischen Kulturentwickelung so zu denken. Die einzelnen
Stufen liegen so nah. Gar kein mystischer Wille des Tieres ist dazu
nötig, nur eine Kette ganz schlichter Anpassungen. Und doch hat das
Resultat alle charakteristischen Züge eines „Kulturanfangs“.

Unwillkürlich steigen vor diesem Höhlen- und Fallgrubenjäger aus der
Insektenwelt Bilder auf aus der menschlichen Urzeit.

In einer Grube, ganz nach ähnlichem Prinzip erfunden, hat der Urmensch
jener Eiszeit seine Mammute und Nashörner gefangen. Bloß daß er sich
nicht selbst unten hineinsetzte; bei seinen Mammuten wäre die Last
zu schwer geworden. Er setzte sich nach dem Fall oben an den Rand
und warf den abgestürzten Riesen, in Erweiterung des Wurfsystems des
Ameisenlöwen, mit Steinen und Speeren vom sicheren Boden aus zu Tode.

Auch er aber barg seinen nackten Leib, wie in einem ersten
Schutzpanzer, im Gestein, in Höhlen. Und ein Triumph war es für ihn
zweifellos, als er vor dieser Höhle die erste Tür erfand, den ersten
Verschluß, den außen Laub überdeckte, der sich aber von innen öffnen
ließ. Gerade dieses „Werkzeug“ hat aber lange vor ihm die kleine
Minierspinne _Cteniza fodiens_ auf Korsika erfunden. Sie baut sich
halbmeterlange Kellerschachte ins Erdreich hinein, die sie kunstvoll
mit selbstgesponnenem Seidengewebe austapeziert. Vor die Kellerluke
aber setzt sie die eleganteste Falltür ebenfalls eigenen Fabrikats,
einen Deckel in Nut und Angel aus Seidenpolster, der außen mit einer
Erdschicht täuschend beklebt ist und automatisch auf einen leisen Druck
von innen aufklappt.

Ein Beobachter, der die Tür von außen her gewaltsam mit einer Nadel
öffnen wollte, bemerkte mit Staunen einen Widerstand, als sei gar ein
Riegel vorgeschoben. Es war aber die Spinne selbst, die von innen
zuhielt. Sie ermöglichte es, indem sie mit einigen ihrer Klauen in
feine Löcher des Seidengewebes sich einhakte und zugleich den ganzen
Körper nach Kräften rückwärts gegen die Wand ihrer Höhle preßte. Sie
verteidigt übrigens nicht nur sich so, sondern auch ihre Eier und junge
Brut, die sie nach Spinnenart treu behütet.

Viele Jahrtausende nach Anfang der Menschenkultur hat Horaz noch von
dem kühnen Uebermenschen gesungen, der zum erstenmal in ungeheurem
Wagnis dem Wasser ein Schiff anvertraut. Der große, pechschwarze
Wasserkäfer des Müggelsees _Hydrophilus piceus_ löst das Problem
alljährlich noch.

Sein kunstvolles Schifflein, vielleicht das älteste der Welt, ist eine
schwimmende Wiege gleich dem biblischen, das den Moses trug. Im April
sucht der weibliche Käfer sich ein schwimmendes Blatt im See. Unter dem
legt er sich, den Bauch nach oben, festgeklammert vor Anker. Nun spinnt
er aus feinen Röhren des Hinterleibs ein dichtes seidiges Gespinst
hervor, das in Zeit noch nicht einer ganzen Stunde den Bauch wie eine
Art Seidenhemdlein überwölbt. Unter diesem halben Hemd dreht er sich
dann selbst um, so daß es ihm auf den Rücken rutscht, und sofort spinnt
er abermals vor der Bauchseite eine zweite Hälfte, deren Rand fest
in die andere verwebt wird, also daß nunmehr ein ganzes Hemd da ist
oder, besser noch, eine Art großen, hoch heraufgerutschten Fußsacks,
da auch das hintere Ende des Ganzen fest vernäht ist. In diesen Sack
jetzt endlich legt der Käfer seine Eier, indem er sich gleichzeitig
langsam nach vorn aus ihm herauszieht. Im Moment des gänzlichen
Entschlüpfens spinnt er auch noch die letzte offene Seite wasserdicht
zu und formt aus steifen Fäden eine Art Mastspitze auf dem Ganzen. So
darf er sein Mosesschifflein getrost treiben lassen: die Eierfracht,
in den Grund des Bootes gesunken, hält als Ballast die Balance, die
wasserdichte, luftgefüllte Blase sichert das Schwimmen, und der kleine
Mast, über den Spiegel vorragend und von einem feinen Kanal durchbohrt,
sorgt für den nötigen Luftaustausch im Innern genau nach dem Prinzip
der vorspringenden Spitze eines sonst gänzlich eingetauchten
unterseeischen Bootes modernster Konstruktion.

Der alte Horaz hatte schon seit mehr als anderthalb Jahrtausenden seine
irdischen Wein- und Liebesfahrten beschlossen, da erfand der Mensch
die Taucherglocke. Im Reich des schwarzen Wasserkäfers besaß auch sie
längst die Wasserspinne, die _Argyroneta aquatica_.

Ihr Leben verrinnt im Wasser, aber ihre Sehnsucht ist Luft. Auf Luft
sind ihre Atmungsorgane gebaut, ohne Luft kann sie sich in der Tiefe
nicht wohl fühlen. Für ihren Privatgebrauch des Moments weiß sie ja
beim Tauchen an ihrem fettigen und haarigen Leib genügend Luft in Form
einer anhängenden Perle mitzuführen.

Aber das ist ihr lange noch nicht bequem, noch nicht häuslich genug.
Wie der weise Schildbürger einst Licht portionenweise einzufangen
und in sein fensterloses Haus zu tragen gedachte, so geht sie -- und
mit mehr physikalischem Glück -- auf den systematischen Luftfang. Im
Teichgrund baut sie, an Wasserpflanzen geheftet, aus dem firnißdichten
Seidenstoff ihrer Spinndrüsen eine feine Glocke von der Größe eines
halben Taubeneies, unten richtig glockenhaft offen. Dann saust sie
zum Teichspiegel, hebt den Gegenpol ihres Leibes darüber hinaus und
fährt, mit einer großen haftenden Luftblase bewaffnet, in den Grund
zurück. Schnell würde die Luftblase, da unten befreit, wieder nach der
Oberfläche hinaufperlen. Aber die Spinne setzt sie unter ihr Glöckchen,
wo das unmöglich wird. Und Perle um Perle des lieben Stoffes räubert
sie sich so hinab, bis die Glocke eine regelrechte Taucherglocke
geworden ist, ein wohliges Lufthäuschen tief in den Wassern. Burg ist
es zugleich und Hochzeitshaus. Von seiner Glocke baut das Männchen
einen verdeckten Gang zur Glocke der Spinnenbraut. In der Glocke auch
wird die Kinderwiege bereitet. Eine solche Spinnenglocke müßten wir
klugen Menschen uns bauen, wenn wir den luftarmen Mond bereisen wollten!

Auf einsamen Waldgipfeln Deutschlands liegen heute noch geheimnisvoll
altertümliche, rohe Steinwälle, zum Beispiel auf dem Altkönig im
Taunus. Uralt jedenfalls, gehen sie vielleicht bis in vorgeschichtliche
Tage zurück. Es war der erste Menschen-Versuch einer selbsterbauten
schirmenden Festung im Gegensatz zur Höhle, -- noch kein Mauerwerk,
sondern bloß lose gehäufte Ringwälle von wildem Stein.

Genau solche Festung aus Bruchsteinen baut sich tief im Ozean der
Tintenfisch. Mit seinen langen wimmelnden Krakenarmen umklammert
er jeden einzelnen Stein, saugt sich fest, schiebt den dicken Leib
hebelartig darunter und schafft die Quadern so zum Bau an eine
ausgewählte Stelle. Dort ordnet er die Blöcke kunstvoll, daß sie wie
ein Krater eine innere Höhle zum Versteck umgeben. In der Höhlung
lauert er dann regungslos mit funkelndem Auge, ein ebenso schlimmer
Wegelagerer im Großen wie der kleine Ameisenlöwe.

Das erste echte Haus des beginnenden Kulturmenschen, das wir kennen,
stand auf eingerammten Baumstämmen im Wasser als Pfahlbau. Noch ragen
in den Schweizer Seen die alten Pfähle aus dem Moorgrund.

Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß in diesem Fall der Mensch
unmittelbar sein Bauprinzip von einem kleinen, tief unter ihm stehenden
Nagetier gelernt hat, das die Gewässer von damals allerorten mit den
zweckmäßigsten Pfahlbauten umsäumte: dem Biber. Der Biber ist das
Tier, dessen Kulturarbeit im Großen imstande ist, eine Landschaft
umzugestalten. Er baut Dämme, die mehrere hundert Meter lang und drei
Meter hoch sind, wenn man ihn ungestört läßt. Mit solchen Dämmen
verändert er nach seinen Wünschen das Niveau des Wassers. Bäche
verwandelt er in Teichreihen, an deren Ufern sich Moore bilden. Den
wilden Urwald durchsetzt er mit weiten Lichtungen, indem er mannsdicke
Stämme einen um den andern fällt und in Stücke zerschneidet. Und aus
dem Teich läßt er dann durch eigene Neuarbeit die Biberstadt erstehen,
kuppelförmige Wohnhäuser mit Gesellschafts- und Vorratsräumen auf
Pfahlbaurosten.

Als der große Vollender kam, mußte der kleine Erfinder freilich
weichen: vor dem Menschen ist der Biber nahezu auf der Erde schon
hingeschwunden. Aber denken wir uns einen Planeten unter besonders
günstigen Umständen Jahrmillionen hindurch ausschließlich in seiner
Hand. Und denken wir uns, ein Menschenfernrohr sollte die Karte
dieses Planeten in ihre Einzelheiten hinein enträtseln. Im Verhältnis
von Wald und Lichtung, in der Ausgestaltung der Wasserläufe würde ein
künstliches Prinzip, ein Kulturprinzip erkennbar werden, wie wir es
heute in den geradlinigen Kanalsystemen des Mars vermuten. Und doch
wären diese Planetenbildner nicht Menschen, sondern Biber.

Doch der Blick will mehr als einen bloßen Steinwall am Berggipfel,
einen Rost auf Pfählen im See, wenn er an Menschheitskultur in ihrem
stolzen Anstieg denkt. Er schweift über goldene Saatwellen, die der
Mensch gepflanzt. Er sieht diesen Menschen als Viehzüchter Kühe melken.
Ueber den Bauernhöfen erhebt sich die Burg, ein fest gemauerter
wirklicher Bau mit Treppen und Gängen. Aus dem Tor dieser Burg reiten
geharnischte Ritter mit abnehmbaren Schutzpanzern. Es wandeln schöne
Frauen mit Blumen im Haar hernieder, mit bunten Ziergewändern,
künstlich genäht und befestigt. Gesang erklingt. Auf dem Herd daheim
flackert die Flamme. Und von diesem Herd strahlt Gemütswärme, das
Mitleid, die Menschenliebe, die zuletzt Palast und Hütte einen und die
Rüstung überflüssig machen wird, da es keinen Kampf mehr gibt. Ein
Weltalter der Liebe dämmert, eine Zeit der Kunst✹....

Aber auch die ackerbautreibende Ameise in Texas hegt die Reisart,
die sie besonders liebt, umgibt sie mit Mauern, jätet das Unkraut
und erntet die Körner zu ihrer Zeit. Allen Schwärmern für „Pilze als
billige Volksnahrung“ sind die pilzzüchtenden Ameisen Brasiliens längst
voraus. Sie schleppen ungeheure Massen von Blättern, ganze Gärten
entlaubend, in ihre Nester und züchten darauf durch besondere Pflege
einen leckeren Pilz, dessen unterirdisches Geflecht kohlrabiartige
Knollen erzeugt, ähnlich wie unsere Kartoffel ihre eßbaren
Wurzelanhängsel.

Melkende Kühe besitzen die Ameisen in den Blattläusen, deren süßen Saft
sie abmelken und schlecken. Ihr wahres Haustier sind diese Blattläuse
geworden. Gegen jeden Feind werden die Hilflosen verteidigt, wie Schafe
gegen den Wolf. Und wie der Mensch das wilde Schaf schließlich ganz
der Natur entzogen und in einen künstlichen Stall, einen Kulturstall,
gepfercht hat, so baut die Ameise aus Erde zierliche Häuschen über
ihren Blattlauskolonien auf den Futterpflanzen selbst und setzt diese
Hürden durch bedeckte Gänge mit ihren eigenen Wohnungen in Verbindung.

Burgen, viel größer noch als Domtürme im Verhältnis zu ihrer Größe,
führt die Termite auf.

Was uns noch wie ein amerikanischer Traum erscheint: Häuser aus
Papiermasse erbaut, -- macht die Papierwespe. Ihr Papier stellt
sie her, indem sie Pflanzenstoffe zerkaut und mit ihrem zähen,
chitinhaltigen Speichel dabei vermischt.

Im Müggelsee, wo der Wasserkäfer Mosesschifflein spinnt, hüllt die
raupenartige Larve der Köcherfliege sich in den schönsten Panzer.
Auch sie hat den Leimtopf gleich im Leibe als Organ gewachsen, und
mit seinen Kleberfäden webt sie sich prächtig ihr Kleid. Die eine
reiht Holzstückchen schindelartig aneinander, die andere Steinchen,
die dritte Pflanzenteile. Immer aber entsteht ein solider Panzer,
der zugleich schützt und unkenntlich macht: ein Panzer nicht im Sinn
der am Leib angewachsenen Schale des Krebses oder der Schuppen des
Schuppentiers, sondern ein Kleid, bei dem das Tier beliebig ein- und
auskriechen kann, ein selbstverfertigtes Panzerkleid. Mehrere Arten
reihen sogar kleine Schneckenhäuschen als Glieder ihres Panzerhemdes
aneinander, lieblichste Kunstarbeit. Und das höchste Wunder gipfelt
endlich in der Leistung, daß eine amerikanische Art dem Gesamtrock
die Form eines Schneckenhauses ganz getreu nach dem Muster einer
echten Schnecke zu geben weiß, so täuschend echt, daß ein gewiegter
Schneckenkenner zuerst ein echtes Schneckenhaus zu sehen glaubte und
schon einen Schneckennamen dazu gesetzt hatte.

Eine kleine Lücke bleibt: denn kein Tier, scheint es, ist unmittelbar
jemals zur künstlichen Feuererzeugung übergegangen. Die rein
organbildende Natur hat ja zwei Kunststücke ausgezeichnet vollbracht:
sie hat den Vogel und das Säugetier von innen wie automatische Oefen
geheizt und sie so gegen Eiszeiten und Polarschnee gefeit, und sie hat
dem Leuchtkäfer seine Laterne auf den Leib genäht; hat sie doch sogar
dem elektrischen Aal eine wuchtige elektrische Batterie als Schutzwaffe
in Gestalt eines Organs wachsen lassen. Aber als „Werkzeug“, äußerlich
projiziert, scheint der Prometheusfunke wirklich reines Menschengenie,
solange wir an wirklich leuchtende und brennende Funken, an die
Herdflamme, denken.

Wenn es sich dagegen bloß um die Erzeugung einer gewissen Hitze durch
Kulturtechnik handeln soll, so hat das Talegallushuhn Australiens auch
dieses Problem endgültig gelöst. Statt ein Nest zu bauen und seine Eier
durch die eigene organische Körperwärme auszubrüten, errichtet dieses
australische Truthuhn kolossale Hügel von mehreren Metern Durchmesser
und Höhe aus faulendem Laub, fetter Pflanzenerde und Pilzen, stopft
seine Eier bis metertief in diese Pyramide und läßt sie durch die
künstliche Wärme ausbrüten, die der Fäulnisprozeß der verwesenden
Pflanzenstoffe allmählich erzeugt. Der alte Vogel weiß dabei genau,
was er tut, er sieht täglich nach, prüft den Grad der Wärme, ordnet
die Eier eventuell um und hilft schließlich den ausgeschlüpften Küken
aus ihrer Gruft. Kürzlich noch hat Richard Semon in seinem famosen
Reisebericht aus dem australischen Busch diese fast märchenhaft
klingenden Tatsachen wieder aus eigener Schau bestätigt.

Wenn der Mensch das Nähen verlernte, so würde der indische
Schneidervogel die Kunst retten, der beim Nestbau Baumwollfäden spinnt
und Blätter regelrecht damit aneinandernäht.

Wenn der Mensch aufhörte, Kränze zu winden: der Paradiesvogel auf
Neuguinea und der australische Laubenvogel würden fortfahren, ihre
Nester und Hochzeitslauben mit bunten Blüten schönheitstrunken
zu schmücken. Die Grille hat ihr Lied schon gezirpt, als der
Ichthyosaurus schwamm und der ganze Mensch in Leid und Liebe noch
ein blauer Zukunftstraum war. Auch im Tier waltet schon das Gesetz,
daß jede Entlastung vom rohen Daseinskampf eine Befreiung des tiefen
Schönheitsdranges, des ästhetischen Prinzips in der Natur, bedingt.

Und die Liebe? Brehm, der das „Tier“ kannte wie vielleicht kein
zweiter vor ihm, hat einmal von den Vogelkolonien der dummen Lummen
und Pinguine erzählt. Er fand dafür folgende Sätze, die Bände reden:
„Unbeschreibliches Leben regt sich, und dennoch herrscht ewiger
Frieden unter der Gemeinde, die an Anzahl die unserer größten
Städte übertrifft. In diesen geschieht es, daß der Mensch an seinem
verhungernden Mitbruder kalt vorübergeht: in den Gemeinden der
tiefstehenden Vögel finden sich Hunderte, die nur auf die Gelegenheit
warten, Barmherzigkeit zu üben. Das Junge, das seine Eltern verlor, ist
nicht verloren. Die Gesamtheit steht ein für das Wohl des Einzelnen.
Unendliche Liebe kommt auf diesen öden Felsen im Meer zur Geltung. Die
Eltern vergessen über ihren Kindern sich selbst.“

So erscheint die Tierwelt allerwege wie ein großer Keim dessen, was der
Mensch erfüllen sollte.

Armselig beschränkter Sinn meint wohl, es ziehe das den Menschen
herab. In Wahrheit gibt es gar keine über den Menschen hinausgreifende
Betrachtungsweise, die ihm irgend etwas ab- oder zutun könnte. Das
Tiefste an Verkommenheit in der ganzen uns bekannten Welt, mit dem
wir messen können, ist der tiefverkommene Mensch selbst. Ebenso,
wie allerdings das höchste Maß der ganz große Mensch, der Buddha,
Christus, Goethe, ist. Hier, im Menschentum selber, ist die große
Kluft, die wir allerorten immer wieder zu überbrücken haben. Das arme
Tier, so fern unter uns, ist im Vergleich zu diesem immerwährenden
Kampfe zwischen Niedermensch und Höhenmensch wahrlich indifferent, was
„Werte“ anbetrifft. Unbefangen besehen, hat aber sein Ringen um eigene
Kulturanfänge etwas Rührendes und etwas unendlich Lehrreiches zugleich.




Die Affensprache.


Wir saßen auf Capri, unter dem alten, schönen, dunkelgrünen
Johannisbrotbaum oberhalb der Faraglioniklippen.

Himmel und Meer verschmolzen in einem wunderbaren Abendviolett -- eine
Märchenstimmung!

Wir hatten von Homer gesprochen, weil einer den Fels da unten, an dem
die Welle sich zu Schaum schlug, mit dem versteinerten Phäakenschiff
verglichen hatte. Damals gab es zwar das Buch von Theodor Zell
noch nicht, das augenblicklich die Philologen beschäftigt und in
dem ernsthaft erwogen wird, ob Polyphem nicht ein Gorilla gewesen
sein könne. Aber unser Gespräch ging auch von der Odyssee zur
Naturgeschichte.

Ich erzählte von der himmelblauen Eidechse, die dort auf den
Faraglionifelsen hause und über die der Zoologe Eimer ein ganzes Buch
geschrieben hat. Von den orangegelben Polypengärten bei der blauen
Grotte. Vom Tintenfisch und von seinen verrückten Liebesgeschichten.

Schließlich, wie der heilige Capri bianco die Geister ganz löste, sagte
einer: „Laßt uns anstoßen auf die neue Romantik -- die Romantik des
Naturforschers. Wir erleben eine geheimnisvolle Zeit: die Erfüllung der
Märchen. Was wollen die paar Wunder der homerischen Götter gegen uns,
die wir über Wolken fliegen und durch Wände schauen. Was ist Proteus,
der Verwandlungsreiche, gegen Darwin, der Schnabeltiere aus Eidechsen
und Fische aus Würmern zieht. Der Dichter hat es geträumt -- der
Naturforscher aber hat es gemacht. Heil dem Märchenprinzen!“

Ich muß an jene gute Stunde denken, da ich ein Buch von der „Sprache
der Affen“ lese.

Es ist ein ernsthaftes Buch -- und das ist der gute Witz der Sache.

Im Märchen liegt die Welt verzaubert, zum Schweigen verzaubert, weil
der böse Mensch sich sehen läßt, der naturfremde. Wenn er fort ist,
wird der Wald plaudern, und die Nixen werden aus dem Brunnen kriechen
und hinter dem Schulmeister Nasen drehen, der das alles für stumm
erklärt.

Wir heute haben aber den Spieß umgedreht. Was ist im Grunde die ganze
Naturforschung anders als ein einziger grandioser Versuch, die Natur
zum Reden zu bringen.

Die Sonne steht zwanzig Millionen Meilen weit von uns entfernt, und
wir haben uns doch auf ein Alphabet mit ihr geeinigt. Wir stellen ein
glühendes Kalklicht hinter verdampfendes Eisen und werfen das Licht,
durch ein Prisma sortiert, auf die Wand. Im Regenbogenband erscheinen
dunkle Streifen. Das ist der erste Buchstabe, den wir brauchen. Wir
nehmen statt Eisen Natrium, und es gibt andere Striche im Spektrum:
der zweite Buchstabe. Und so fort mit so und so viel Metallen. Und
wir fangen das Licht der fernen Sonne durch dasselbe Prismaglas auf
unsere irdische Wand: es ist ein ungeheures Kryptogramm aus lauter
solchen Buchstaben. Wir setzen es zusammen und schreiben als Diktat
der Sonne nieder: Meine äußere Hülle besteht aus Eisen und aus Natrium
und aus so und so viel Metallen in Form glühender Dämpfe vor einem
Kern in Weißglut. Aeonenlang hat die Sonne das in die Planetenräume
hinausgesprochen. Wir endlich entziffern es, und zwar wesentlich
zuverlässiger als hier auf Erden selbst etwa die Anhänger der
Bacontheorie die angeblichen Chiffernwunder Shakespeares.

Wir haben mit Sprengel und Darwin die wahre Blumensprache endlich
herausgefunden: das gelbe Kränzlein im Vergißmeinnicht meldet dem
Insekt, das es zu seinen Liebeswundern braucht, daß hier Honig sei;
die rote Kirsche will gern gegessen werden, da ihr Kern dem Magensaft
widersteht und Vorteil von diesem Spaziergang hat; die grüne Kastanie
im Stachelrock umgekehrt will abwehren, will sich im grünen Laub
verstecken -- sie schweigt demonstrativ sozusagen. Wir wissen, daß das
Feuergelb des Salamanders und der Wasserkröte offen ruft: ich bin
Gift -- und daraufhin von klugen Tieren respektiert wird. Wir wissen,
daß der Farbenrausch des entfalteten Pfauenschweifs mit seinen blauen
Kugeln im Goldgrün ein Liebesbrief ist, der meldet: ich bin stark, ich
bin schön, liebe mich.

Warum sollen sich Schimpansen und Orang-Utans auf ihren Urwaldbäumen
nicht auch unterhalten?

Es ist freilich noch ein Unterschied.

Alle jene „Sprachen“ der Natur, die wir da dechiffriert haben, gehören
dem an, was wir gewöhnlich „unbewußt“ nennen.

Das Wörtlein sagt ja nicht mehr so sehr viel in einer Zeit, wo die
Forschung auch das „Bewußte“ als ein naturgesetzlich Gewordenes
aufzufassen sucht und man also mit beiden Begriffen hübsch innerhalb
der gleichen Natur bleibt. Aber gelte es einmal als Grenze.

Nun, so hat der Orang-Utan allerdings schon ein so feines,
hochentwickeltes Geistesorgan in seinem Gehirn, daß eine Sprache bei
ihm unbedingt bereits ins Gebiet des Bewußtseins fiele. Aber in dieses
Bewußte streift auch die Ameise mit ihrem dicken Knoten Gehirnsubstanz,
und wie lange hat man jetzt schon davon geplaudert, ob die Ameise nicht
eine Sprache habe.

Forel, der große Alkoholbekämpfer, ist neuerdings sogar der Ansicht,
daß Ameisen sich gewohnheitsmäßig einer Art Alkoholismus ergeben können
und dann tatsächlich ganz regelrechte Münchener Bierbäuche bekommen.
Der Rausch aber, sagt uralte Weisheit, ist der Rede Vater.

Lubbock hat vor Jahren schon einmal einen ganzen kribbelnden
Ameisenhaufen mit dem Mikrophon geprüft: es soll aber bloß ein
allgemeines furchtbares Getrampel hörbar geworden sein.

Wie es aber auch mit den Ameisen stehe: sicher ist, daß das Heimchen
am Herd sein Liebchen heranzirpt. Der Klopfkäfer haut es gewissermaßen
mit dem Kopf herbei durch wahre spiritistische Pochlaute im Holz. Die
Wespe (die auch jenes gelbgeringelte Abschreckekleid trägt) warnt durch
ihr Gebrumm. Mögen das auch unbeholfene Sprechversuche sein, mit Beinen
und Kopfstößen. Das Johanniswürmchen (ein Käfer) weiß es sogar nicht
besser, als es die alte Sonne macht: es lockt seinen Liebespartner
durch Lichtsprache. Gerade von Leuchttieren, die besonders in den
schwarzen Abgründen der Tiefsee ihr Wesen treiben, wissen wir aber
jetzt genau, daß ihr Leuchtapparat vielfach mit einer regelrechten
Nervenleitung zum Gehirn versehen ist, also auf Wunsch sich betätigen
und versagen kann genau wie unsere Zunge und Kehle.

Zunge und Kehle in unserm echten Sinn sind ja in der Natur erst
eine engere, ziemlich späte Errungenschaft. Sie beginnen an der
Stelle, wo das Wirbeltier zuerst aufs Land geht. Der Fisch macht
sich zum Molchfisch, der neben den Wasserkiemen Lungen zum Luftatmen
ausbildet. Der Frosch wirft die Kiemen, die er noch als Kaulquappe
besitzt, im erwachsenen Zustand ganz ab. Ganz stumm sind ja die
Fische strenggenommen schon nicht mehr, einige wissen mit Hülfe ihrer
Schwimmblase schon eine regelrechte Art Musik zu machen. Aber erst der
Frosch mit seiner Lunge quakt doch offen hinaus. Er ist der Urtypus von
Sänger und Sprecher in unserem Sinn, -- der reinen Möglichkeit nach.

Mit alledem ist aber noch nicht gesagt, daß der Sprung vom Froschquaken
zur Menschensprache nicht enorm sei.

Die Menschensprache hat in ihrem Ursprung etwas tief Geheimnisvolles.
Sie ist die letzte große Organentwickelung des Menschen. Bekanntlich
geht der große Schnitt zwischen Mensch und Tier durch die dauernde
Ausgestaltung des Werkzeugs. Der Mensch, der Werkzeuge baute, schuf
sich darin eine neue Art äußerlicher Organe. Seine eigentliche
leibliche Organbildung, die bis dahin seinen Körper geschaffen,
stand dafür fortan so gut wie absolut still. Strenggenommen war
freilich diese ganze Werkzeugschaffung nur selbst wieder ein Ergebnis
der unglaublich über jedes Tier fortgeschrittenen Ausbildung eines
einzelnen Körperorgans, des Geistesträgers Gehirn.

Nun denn, an der Kante genau dieses Umschwungs steht jene letzte
unmittelbare Organbildung am Leibe des Menschen: die Ausgestaltung von
Kehlkopf und Zunge zur Sprache, unterstützt durch den aufrechten Gang
des Menschen. In jedem Zug ist gerade diese letzte Organbildung auch
bereits abhängig vom Gehirn, ist eine Geistestat, bloß noch eine, die
in den Innenbau des Leibes selbst eingriff.

Erst viele Jahrtausende später hat im Telephon auch diese
Sprachentwickelung sich noch der äußeren Werkzeugtechnik bemächtigt,
nachdem freilich bei dem Zwillingsbruder der Sprache, der Schrift,
äußere Materialien wie Stein, Pergament, Papier längst eine
entscheidende Rolle gespielt hatten.

Zu leugnen ist nun nicht, daß schwache Anläufe zu dieser
Organentwickelung der Sprache gerade bei höchsten Tieren auch schon
sichtbar werden.

Der Vogel, der ja den aufrechten Gang schon für sich erfunden hat, hat
auch die Singkehle in unverkennbar weit gediehener Weise sich bereits
erworben. Und wahr ist, wenn auch vielfach nicht gekannt, daß einer
der menschenähnlichen Affen, der Hylobates oder Gibbon in Südasien,
von allen Säugetieren das einzige ist, das vollkommen klar die
Tonleiter singen kann. Singen und Sprechen sind aber bei uns Menschen
stets aufs engste beieinander gewesen und eigentlich erst auf einer
gewissen Höhe der Kultur, wie so vieles dort, scharf in zwei Zweige
auseinandergefallen.

Und es erhebt sich bloß die Frage, ob die Gehirnentwickelung
gleichzeitig bei irgend einem dieser höheren Tiere auch schon eine
Stufe erreicht habe, die mit diesen rein physikalischen Möglichkeiten
einer Sprache auch vom Gehirn aus, also von dem eigentlichen geistigen
Sprachmotor aus, schon etwas anzufangen wußte -- sich also ernstlich
einer „Sprache“ strikt in unserm Sinn näherte.

Es würde dem Menschen, dessen unendliches Ueberragen ja doch stets
garantiert bleibt, nichts zu- und nichts abtun, wenn irgend etwas
bejahend zu dieser Frage entdeckt werden könnte, -- es wäre eben ein
Punkt mehr für die große Einheitlichkeit nur der Naturentwickelung
überhaupt.

Nimmt man die Dinge so ganz schlicht vom Boden echter
„Naturforscherromantik“ aus, so versteht man recht gut die
Stellungnahme verschiedener Kreise zu einem solchen Büchlein, wie
es der Amerikaner R. L. Garner kürzlich über „_The Speech of
Monkeys_“, die Sprache der Affen, veröffentlicht hat.

Als eine Notiz davon durch die Blätter lief, wurde sie dort rein
humoristisch genommen. Ein verrückter „Amerikaner“, der mit dem
Phonographen in Kamerun auf die Affenbäume klettert und den Schimpansen
ihre Sprache abnimmt! Es muß gewaltsam geschehen, denn, wie der Neger
sagt, sie wollen das Geheimnis, daß sie reden können, nicht verraten,
sonst gelten sie für voll und müssen arbeiten. Das war so recht ein
Bild für Witzblätter.

Auf der andern Seite aber erleben wir, daß einer unserer zugleich
liebenswürdigsten und fachwissenschaftlich vielseitig gebildetsten
deutschen Zoologieprofessoren, der Leipziger William Marshall, das
ominöse Garnerbuch in unsere Sprache übersetzt und mit größter
Anteilnahme weitläufig kommentiert hat. Marshall hat auch an der Arbeit
im einzelnen ein gut Teil auszusetzen. Aber gerade die Grundabsicht
erkennt er als moderner Fachnaturforscher um so bereitwilliger an und
findet durchaus nichts Witzblattmäßiges darin.

In der Tat: die Resultate Garners sind äußerst simpel. Für
Sensationsleute eigentlich viel zu simpel. Garner ist keineswegs
nach Kamerun zu den Schimpansen gegangen, dazu hatte er vorerst
offenbar kein Geld. Er hat sich in Chicago und New-York im Affenhaus
der zoologischen Gärten etwas intimer festgesetzt als die meisten
Besucher und gelegentlich hat er sich eine „Nelly“, oder wie sonst
ein Aeffchen hieß, ins Studierzimmer genommen und nach seiner Methode
interviewt. Garner ist dabei ein graunüchterner Kerl, das hat man
nach drei Seiten Lektüre heraus. Er hat wirklich ganz und gar nicht
das Zeug zum Oberförster Fröhlich. Wo er etwas spekulieren will, da
macht er es so unbeholfen, so abstrakt und leer, daß man vor seiner
zufassenden Phantasie keinerlei Angst bekommt. Mitten im hübschesten
Stoff ist er ehrlich bis zur gähnenden Langeweile. Aber gerade so
kommen eine Anzahl Lichtpunkte heraus, die aus der Wirklichkeit, aus
dem feinen Phantasieschatz der Meisterin Natur stammen müssen, da wir
der Phantasie dieses Erzählers unmöglich zutrauen können, daß er sie
erfunden haben sollte. Man muß nur in den anderthalbhundert Seiten Text
danach angeln wie nach den drei Forellen eines ganzen Gebirgsbachs.
Forellen aber sind’s wenigstens, schließlich.

Also Herr Garner befand sich eines Tages im zoologischen Garten in
Chicago vor einem großen doppelten Affenkasten. Beide Flügel bewohnten
gemeinsam ein alter böser Mandrill und eine Bande kleiner Aeffchen,
die den Alten verzweifelt fürchteten. Es fiel Garner nun auf, daß
die Aeffchen aus dem einen Raum denen, die gerade im andern waren,
bestimmte Rufe zuschrien, je nachdem der Mandrill irgend etwas vor
ihren Augen vornahm. Einmal war ihm, als riefen sie: er schläft,
und ein solches Signal kam öfter wieder in der Folge. Garner wurde
aufmerksam und begann die Sache zu verfolgen.

Man sieht aus dieser schlichten Geschichte schon, daß es sich zunächst
nicht um eine verwickelte Sprache handelt, etwa um Sätze -- sondern
um ein +Signalwort+. Solche Signaltöne haben aber eine Menge
sozial lebender Tiere. Stellen doch Tiere förmlich Wachen aus, und die
Wache pfeift, wenn Gefahr im Anzug ist. Nichts ist leichter, als sich
von diesem Warnsignal eine Modulation zu denken, die das Gegenteil
besagt: die Luft ist rein! Der Laut, den der kleine Affe beim Anblick
des schlafenden Feindes ausstieß, brauchte nichts zu sein als dieses
einfache Locksignal vor der geringeren Gefährlichkeit. Mit dieser Sorte
Affensprache wären wir also noch keinen Zoll über das hinaus, was wir
längst von gesellig lebenden Tieren auch sonst wissen.

Aber Garner hatte trotzdem recht, daß gerade diese einfache Tatsache
immer noch höchst studierenswert sei. Und bei diesem Studium verfiel er
auf den eigentlich neuen, den originalen Gedanken seiner Arbeit.

Er setzte einen Phonographen vor seine Affen und fing allerhand Laute
auf, die sie je nachdem erzeugten.

Wie die photographische Platte Nebelflecke faßt, die des Menschen
Netzhaut unmittelbar nicht sehen kann, so faßte der Phonograph
absonderliche Laute der Affenkehle und gab sie auf Verlangen so oft
wieder, wie man wollte.

Und nun wird ein fremder Affe geholt, und die Laute werden ihm
vorgedreht, und er reagiert darauf!

Damit hatte man klare Bahn für Experimente. Ein Alarmzeichen wirkte mit
voller Sicherheit. Aber das Signal erwies sich nuanciert. Es gab ein
leises, noch fast bloß verwundertes Unruhezeichen, dann ein echtes
Gefahrsignal, schrill und hoch, und endlich auch noch ein indifferentes
Wort im Sinne von „da kommt ein gleichgültiges Ding“. Das Gelächter des
Affen wurde aufgenommen im Apparat und der einfache Laut, um jemand zu
rufen. Ein Ton wird von Garner als „Fressen“ gedeutet, doch bot ihn
der Affe auch wie einen Gruß dar, und wieder diente er als Imperativ
„Gieb!“ „Trinken“ schien dagegen sicherer fixiert. Ob „Wetter“ im
Wortschatz lebt, wurde nicht völlig klar, obwohl ein Kapuzineräffchen
jedesmal seinen besonderen Laut hatte, wenn ein Regenschauer ans
Fenster schlug.

Wichtiger eigentlich als diese Einzelheiten waren gewisse allgemeine
Erfahrungen. Die Laute gingen unzweideutig an bestimmte Individuen, mit
dem Zweck, etwas mitzuteilen. Daß das Wort und nicht die gleichzeitige
Gebärde den Ausschlag gab oder wenigstens allein geben konnte, bewies
der Phonograph, der verstanden wurde, ohne doch ein Affengesicht
zu haben. War ein Laut erfolgt, so wurde pausiert, eine Antwort
erwartet, dann der Laut wiederholt. Sehr wichtig: ein Affe, der allein
gelassen ist und niemand in der Nähe weiß, redet nicht. Und ebenfalls
außerordentlich interessant: verschiedene Affenarten verstehen sich
zunächst untereinander nicht, da ihre Worte offenbar verschieden sind.
Nach einiger Zeit schien es, als lernten auch solche fremden Affen
sich gegenseitig verstehen, doch lernt in der Regel keiner des andern
Dialekt oder Sprachform wirklich sprechen. Auch der Affe flüstert, wenn
er nicht von allen gehört sein will. Und so findet Garner noch eine
ganze Menge kleiner Züge heraus, die alle zusammen eine recht lustige
Mosaik geben.

Wenn andere nach ihm denselben Weg gehen, ebenso schlicht beobachten
und ihre Beobachtungen etwas besser erzählen werden, so sind wir über
kurz oder lang eines kleinen Wörterbuchs gewiß, das, in so und so viel
einzelnen Lauten, uns die Elemente der Affenverständigung überliefert
in der Weise, wie eine Mutter schließlich weiß, daß ihr Kindchen mit
„Baba“ Schlafengehen und „Hottepürr“ Wagenfahren meint.

Und so wäre die ganze Sache wirklich alles eher als lächerlich, sie
bedeutet einmal wieder nichts anderes als ein kleines, fest umrissenes
Arbeitsprogramm für kluge, nüchterne Menschen, denen kein Ding in
der Natur zu gering ist, ihm nicht heilige Inbrunst der Hingabe
entgegenzubringen. Nur unglaubliche, himmelstürmende Resultate muß
man nicht erwarten, und gerade zu dieser Ernüchterung erzieht Garners
unbeholfen-schlaues Büchlein am allerbesten.

Schließlich ist das größte Wunder in der ganzen Sache doch der
menschliche Phonograph. Und damit wären wir glücklich wieder ganz oben
im Sonnenglanz unserer Menschenherrlichkeit.




Das Schnabeltier.

Vom Säugetier, das Eier legt.


Vor mir steht ein drolliger Geselle. In fernem Erdteil der Südhalbkugel
hat er sein Leben lassen müssen. Nun ziert er ausgestopft ein stilles
Arbeitszimmer in der märkischen Kiefernheide.

Ziert, -- ja ist das nicht zuviel gesagt? Meine meisten Besucher finden
dich einfach scheußlich. Ich aber meine, du siehst humoristisch aus.
Du teilst das mit dem Igel dort, der auch noch ausgestopft ein kleiner
Komiker ist. Deine winzigen Aeuglein über dem Entenschnabel grinsen so
schalkhaft-fröhlich, ich kann es nicht leugnen, ich habe dich gern und
wenn ich von der Arbeit aufblicke, ruht mein Auge mit einer gewissen
Behaglichkeit auf dir aus. Schön bist du nicht, aber so unsagbar
merkwürdig.

Heute will ich deine Geschichte erzählen, die wie ein Märchen klingt.
Das Märchen vom Schnabeltier, -- vom Säugetier, das sich herausnimmt,
Eier zu legen.

Bis ins vorige Jahrhundert war die Tierkunde so recht ein wüstes
Raritätenkabinett.

Man hatte überall aufs „Absonderliche“ hin gesammelt und beschrieben,
ins Blaue hinein, etwas Wahrheit und viel Dichtung. Schlimmer aber als
alle Dichtung war die Konfusion.

Da kam der große Linné und stellte sein System auf. Es war noch ein
schlechtes, ganz rohes Erstlings-System, aber, bildlich gesprochen,
war es, als würde eine Rumpelkammer zum erstenmal gelüftet und als
würde ihr Inhalt plötzlich über eine Reihe reinlicher, nüchtern
weiß getünchter Stuben verteilt, jede Stube mit einer Aufschrift an
der Tür, und in jeder Stube so und so viel Schränke mit Nummern.
Linné gab feste Namen, und er brachte diese Namen zugleich in eine
Reihenfolge mit größeren Rubriken, die eine Uebersicht ermöglichte. Ein
unvergleichlicher Fortschritt war’s, das hat nie wieder einer geleugnet
seither.

Gewiß, es ging ein Stück Romantik dabei verloren. Die Romantik des
ungeheuren Chaos, aus dem die Fratzenformen regellos wie in einer
Fiebervision heraufdrängten. Mit den paar Klassen und Ordnungen
der Tiere, die Linné aufstellte, schien die Fülle zunächst seltsam
eingeschmolzen.

Man staunte, daß man auf einmal so wenig hatte.

Aber die Erde war ja noch weit, es mochte wohl noch viel dazukommen.
Gerade diesem Neuen, dachte Linné, sollte sein System besondere
Früchte tragen. Wie bei einem guten Bibliothekskatalog sollte jeder
Nachtrag mit der größten Bequemlichkeit einzuregistrieren sein. Und
als an Linnés großartige Anregung wirklich eine Zeit erfolgreicher
wissenschaftlicher Reisen sich schloß, die der Tierkunde Unendliches
an Material hinzufügten, da schien der ordnende Gedanke tatsächlich
der große Helfer, der diesmal in kürzester Frist selbst den größten
Stoffzuwachs handlich bewältigen ließ.

Und doch: das Jahrhundert Linnés war selbst noch nicht zu Ende, da
stand man auch schon vor einer neuen Schwierigkeit, die der große
Meister von Upsala noch gar nicht hatte ahnen können.

Einer Schwierigkeit, die diesmal unmittelbar aus der „Ordnung“, aus dem
System selber erwuchs.

Linné hatte seinen grundlegenden Ordnungsversuch auf einer ganz
bestimmten Voraussetzung aufgebaut. Zu seiner Zeit war es die
selbstverständliche. Er nahm an, daß es in der Natur +selbst+,
in dem Tierreich, wie es „von Gott geschaffen“ seit alters vor Augen
stand, gewisse scharfe Grenzen, scharfe Unterschiede, scharf gesonderte
Rubriken wirklich +gebe+.

Hier stand ein Vogel -- hier ein Fisch -- hier ein Säugetier. Da
war eines stets grundverschieden vom andern. Jedes bildete eine
unzweideutige Klasse für sich. Und in dieser Klasse sonderten sich
wieder scharf voneinander so und so viel Ordnungen, Familien,
Gattungen, endlich Arten, jede eisern fest in ihrer Existenz gegen
alle andern abgetrennt. Augenschein und theologiegenährte Philosophie
vereinigten sich dem Meister zu dieser Annahme. Seine philosophische
Ueberzeugung ging dahin, daß die Tiere im Anfang der Dinge genau
dem Bibel-Wortlaut entsprechend durch einen festen Akt „erschaffen“
worden seien. Bei diesem Akt waren die Unterschiede allsogleich
„miterschaffen“ worden. Nach sicherer Norm waren heute Vögel erschaffen
worden, heute Säugetiere, jede Klasse absolut unabhängig von der
andern. Und innerhalb der größeren Gruppen hatte enger wieder jede Art
ihren besonderen Schöpferakt hinter sich, auf ihm stand sie, ihn gab
sie in unendlicher Folge der Generationen ewig gleich weiter, indem sie
ihre anerschaffene Form bis in alle Ewigkeit hinein durch Fortpflanzung
treu bewahrte.

Dieser philosophische „Glaube“ verlieh dem System eigentlich erst
die höchste Weihe. Nachdem man einmal an gewissen Merkmalen erkannt
hatte, wodurch sich etwa ein gewöhnlicher Vogel von einem gewöhnlichen
Säugetier unterschied, hatte man nun, so schien es, das unbedingte
Recht, eine Kammer des zoologischen Museums ausschließlich für die
Vögel, eine andere für die Säugetiere zu reservieren, -- und was an
neuen Entdeckungen hinzukam, das fand entsprechend seinen Ort: es
+mußte+ ihn finden, da es ja nur ein Einzelobjekt aus der also
geschaffenen Welt war. Das „System“ war der vom Menschen nachgedachte
zoologische Bauplan Gottvaters selbst, in dem es keine Irrungen und
Zweifel geben konnte.

Unter solcher Voraussetzung konnte nun nicht leicht etwas Mißlicheres
passieren, als der Fall, den die Tierkundigen fast genau auf der Wende
des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert erleben mußten.

In der Zeit seit Linné war ein neuer Erdteil zoologisch erschlossen
worden: Australien. Eine ungemein seltsame Welt, wie man alsbald
bemerken sollte, ja sozusagen eine ärgerliche, irreguläre, ketzerische
Welt.

Im Jahre 1799 beschrieb der Konservator Shaw vom Britischen Museum ein
kleines Monstrum, das aus diesem Australien sich als trockener Balg in
eine englische Privatsammlung verirrt hatte.

Es erschien ein vierfüßiges Tier, anzuschauen etwa wie eine
Fischotter, mit braunem Haarpelz und vier regelrechten Beinen, also
wohl unzweideutig im Sinne Linnés ein Säugetier.

Dieses „Säugetier“ aber erlaubte sich, vorn am Kopf statt eines
gewöhnlichen Fischotter-Mauls einen echten +Schnabel+ zu tragen,
der in jeder Hinsicht einem Entenschnabel glich.

Wenn dieses Tier „zu recht bestand“, so drohte im Sinne Linnés
etwas überaus Bedenkliches. Man hatte ein lebendiges Geschöpf, das
+zwischen+ Säugetier und Vogel zu stehen schien, und gerade das,
sagte die Theorie, +konnte+ es doch nicht geben. Wie der Astronom
sagte, dem sein Assistent meldete, es stehe in dem und dem Sternbild
plötzlich ein großer Stern: „Das +darf+ nicht sein.“

Shaw gab dem zweifelhaften Vieh auf alle Fälle einmal einen offiziellen
Namen, hatte aber kein Glück dabei. Er nannte es _Platypus
anatinus_, den entenhaften Plattfuß. Das Wort _Platypus_ war
aber längst für einen kleinen Borkenkäfer vergeben, mußte also wieder
fallen.

Eine kurze Weile schien überhaupt der Ausweg möglich, daß nur ein
Scherzbold die ernsthafte Wissenschaft geäfft und einfach einen
Fischotterbalg an einen Entenkopf genäht habe.

Schon 1800 ließ sich das aber nicht mehr halten. Der treffliche
Blumenbach in Göttingen, dessen Autorität in solchen Dingen damals
unanfechtbar war, erhielt von demselben Banks, der einst in Cooks
Gefolge das Känguruh entdeckt hatte, also einer zweiten „Autorität“,
den bösen Ketzer im System leibhaftig zugesandt. Er erkannte ihn
als zweifellos echt an und taufte ihn endgültig _Ornithorhynchus
paradoxus_: das „widerspruchsvolle Vogelschnabel-Tier“.
+Schnabeltier+ hat sich in der Folge als kürzeste deutsche
Bezeichnung überall eingebürgert.

Für Widersprüche war in der Tat gesorgt, mehr jedenfalls, als den
strikten Anhängern Linnés lieb war.

Der entenähnliche Schnabel war eigentlich nur das äußere grobe
Merkzeichen, daß im anatomischen Innenbau erst recht alles
durcheinander liege. Gewisse Einzelheiten im Bau der Schulterknochen
und vor allem die Anlage der Ausfuhrgänge aus dem Körper wichen
gänzlich von dem ab, was man sonst für die Klasse der Säugetiere als
Norm aufgestellt. Die Ausfuhrgänge bildeten eine sogenannte „Kloake“,
nämlich eine gemeinsame Oeffnung für Kot, Harn und Geschlechtsprodukte,
just also das, was Vögel und Reptilien allgemein haben im Gegensatz zum
Säugetier.

Und doch hatte das Tier im Ganzen einen unverkennbaren Säugetier-Typus!
Jene Abweichungen hätten es den Vögeln oder auch den Reptilien
beigesellt. Aber ein Vogel mit vier Beinen? Oder eine Eidechse mit
Haaren und dem ganzen sonstigen Habitus eines viel höher stehenden,
dauernd warmblütigen Tieres? Man versuchte sich auf die strengste
Definition des Säugetiers zu beschränken. Säugetier ist ein Tier, das
lebendige Junge zur Welt bringt und diese Jungen „säugt“. Wie war es
damit beim Schnabeltier?

Australien war weit. Das Schnabeltier hauste in entlegenen Sümpfen. Wer
wollte seine Kinderstube überwachen?

Aber man untersuchte den in Spiritus eingesandten Körper und
behauptete, es seien bei dem Weibchen keine Milchdrüsen nachweisbar.
Dann half alles nichts: es war +kein+ Säugetier. Aber was war es
denn?

Wenig später kam aus dem Mutterlande die Wundermär, es hätten Wilde
im Schilf des Schnablers Nest entdeckt und zwei regelrechte Eier wie
Hühnereier hätten darin gelegen. Wenn das auch noch wahr war, so blieb
nur eins übrig: man gründete für das einzige Schnabeltier eine ganz
neue Klasse der Wirbeltiere.

Linné hatte solcher Klassen vier unterschieden: die Säugetiere, Vögel,
Amphibien und Fische. Zwischen Säugetiere und Vögel wären denn also
jetzt die Schnabeltiere zu setzen gewesen -- immerhin eine etwas
bedenkliche Sache. Eine ganz neue Klasse um +eines+ Vertreters
willen! Ein ganzes Kämmerchen im Museum für diesen paradoxen Gesellen
ganz allein?

Es dauerte aber nicht allzulange, so war dieser ganze Ausweg überhaupt
als Fehlgriff entlarvt.

1826 kam ein großes Prachtwerk von Meckel heraus -- und Meckel hatte
nun doch die Milchdrüsen des Schnabeltiers bei erneuter sorgsamster
Zergliederung entdeckt. Man bestritt ihm die Sache, es stellte sich
auch in der Folge heraus, daß der feinere Bau dieser Drüsen immerhin
recht absonderlich sei, aber die Grundtatsache war schlechterdings
nicht abzuleugnen.

Eine Hauptschwierigkeit hatte darin gelegen, daß keine äußerlich
vortretenden Brustwarzen da waren. Die Haut über den Milchdrüsen war
nur wie durchsiebt. Bis in die allerneueste Zeit hat man sich darüber
gestritten, wie das Tier mit solchem Apparat überhaupt Junge säugen
könne. Semon hat schließlich vom Landschnabeltier nachgewiesen, daß
das Kleine, das hier in einem Beutel (einer Hautfalte) am Mutterbauche
liegt, die abträufelnde Milch einfach fortleckt. Komplizierter aber
noch ist die Geschichte beim Wasserschnabeltier. Hier legt sich die
Alte auf den Rücken und die Jungen, zwei an der Zahl, klopfen und
drücken mit ihren Schnäbelchen so lange an dem Milchsieb herum, bis
Milch austritt. Diese Milch jetzt fließt in eine Rinne im Bauch der
Alten wie in einen Trog und aus dem löffeln die Kleinen endlich mit den
Schnäbeln ihre Suppe.

Jetzt war der leidige Schnabler also im Sinne der Linnéschen Definition
+doch+ ein Säugetier. Man hatte ein echtes Säugetier, das aber in
so und so viel Punkten die gute Straße sämtlicher übrigen Säugetiere
verließ und einsam für sich ging, -- einsam für sich auf Straßen, wo im
System ordnungsgemäß nur Vögel und Reptilien wandelten.

Es gab, wie erwähnt werden muß, in dieser Zeit, in den zehner und
zwanziger Jahren des Jahrhunderts, schon ganz vereinzelte Köpfe unter
den Tierkundigen (Lamarck, Geoffroy St. Hilaire und andere), die an
die Unfehlbarkeit jener Linnéschen Voraussetzungen überhaupt nicht
mehr glaubten. Sie bestritten, daß das „System“ mit seinen scharfen
Unterschieden etwas wirklich so in der Natur Gegebenes sei. Warum von
Beginn der Dinge an Reptilien, Vögel, Säugetiere? Warum nicht eine
langsame natürliche Entwickelung, bei der Art sich aus Art, Ordnung aus
Ordnung, Klasse aus Klasse erst allmählich entwickelt hatte? Konnte
es nicht früher bloß Vögel gegeben haben, aus denen dann im Laufe der
Zeiten sich erst Säugetiere entwickelt hatten? Und wie, wenn nun ein
solches Geschöpf wie das Schnabeltier, das von +beiden+ noch
etwas hatte, das +noch lebende Zeugnis eines solchen Uebergangs+
zwischen den beiden Klassen leibhaftig uns vor Augen stellte?

Das war nun damals wirklich noch böse Ketzerei. Sie wurde von der
großen Mehrzahl der Forscher herzhaft ausgelacht, gleichsam an den
Pranger gestellt als unwürdige Albernheit und dann -- ging man zur
Tagesordnung über. Auch bei solchen Gelehrten, die nach Gott und
seinem Schöpfungsplan nicht viel mehr fragten, hatte das System
eine Art selbstherrlicher Heiligkeit angenommen. Wer es im Sinne
von Entwickelung irgendwo beweglich, flüssig machen wollte, der war
ein Dilettant, ein Bönhase, ein durch und durch unwissenschaftlich
denkender Mensch.

Man fühlte dort aber um so mehr Mut, als es gerade jetzt schien, als
sei die ganze Sache mit dem Stein des Anstoßes, dem Schnabeltier
selber, wirklich sehr übertrieben worden.

Wer hatte doch behauptet, daß es Eier lege? Unsinn! 1832 reiste der
englische Zoologe Bennett eigens nach Australien, um dieser „Tatsache“
einmal ernstlich auf den Grund zu gehen. Und das Ergebnis war ein so
rundes Nein, wie nur irgend denkbar schien.

Was hatte, so hörte man, Bennett sich nicht für Mühe gegeben!

Das Wasser-Schnabeltier, von wirklich ähnlicher Lebensweise wie unsere
Fischotter, gräbt sich tiefe Kessel in den Flußwänden aus, in denen
es sich verbirgt und seine Jungen hegt. Sie sind nicht ohne Kunst
gemacht, diese Verstecke. Eine lange, schief aufwärtssteigende Röhre
leitet zu dem Zentralkessel, von sechs bis fünfzehn Meter lang. Die
Röhre aber hat meist zwei Ausgänge, einen unter dem Wasserspiegel und
einen darüber. Innen ist alles hübsch mit trockenen Wasserpflanzen
austapeziert.

Nun denn: Kessel um Kessel wurde aufgedeckt. Und da lagen sie, die
jungen und anscheinend allerjüngsten Schnabler, winzige Tierchen,
an die Mutter geschmiegt. Aber keine Eier, kein einziges, auch kein
Bruchstück einer Schale -- nichts. Die Eingeborenen hatten einmal
wieder gelogen und das System war noch einmal gerettet✹....

Das Jahrhundert rückte vor. Vom Schnabeltier war weniger die Rede. Aber
für die ganze Tierkunde kamen allmählich neue Zeiten, ja eine neue Aera.

Im Jahre 1859 veröffentlichte Darwin sein großes Buch über die
Entstehung der Arten. Es war ein Angriff auf die ewige Leichen-Starre
des Systems nicht vom Schnabeltier oder sonst einem Einzelfall aus,
sondern generaliter. Zehn Jahre weiter: und die ganze Tierkunde war
übergegangen ins darwinistische Lager. Nun hatte aus tausend Gründen
jene ketzerische Lehre doch recht behalten, die in der ganzen Tierwelt
das Ergebnis einer allmählichen Entwickelung sah.

Das alte System bekam damit ein völlig neues Gesicht. Nicht, daß man
leichtsinnig jetzt etwa wieder jede Systematik über Bord geworfen
hätte. Man mußte das System nur philosophisch umdeuten. Als „Stammbaum“
mußte es fortan gefaßt werden. Wohl blieben gewisse Gruppen auch
so bestehen. Ein gewöhnliches Reptil, ein gewöhnlicher Vogel, ein
gewöhnliches Säugetier blieben +verschieden+, darüber bestand
auch jetzt kein Zweifel. Aber früher hatte der Nachdruck darauf
gelegen, daß alle, schlechterdings alle Vögel von allen Reptilien, alle
Reptilien und alle Vögel von allen Säugetieren durch ursprünglichste
Schöpfungsverschiedenheit getrennt wären. Jetzt richtete man sein
Augenmerk darauf, ob nicht dieses oder jenes Reptil doch dem Vogel noch
näher stände als die andern, ob nicht dieses oder jenes Säugetier noch
mit niedrigeren Tieren wenigstens teilweise zusammenpasse. Weil man
an Entwickelung der einen Klasse aus einer andern glaubte, suchte man
jetzt als besonders wichtig nach +Uebergangsformen+.

Freilich merkte man alsbald eines und das war wieder mißlich. So vor
aller Welt Augen liefen gerade diese Uebergangsformen offenbar durchaus
nicht in Menge herum. Die meisten schienen heute gar nicht mehr auf der
Erde vorzukommen. Allzu verwunderlich war das nicht. Jene Umwandlung
der großen Tiergruppen ineinander, wie sie Darwin lehrte und immerhin
ziemlich anschaulich auf Gesetze zurückführte, hatte ja durchweg schon
in sehr alten Tagen der Erdgeschichte stattgefunden. Lange vor dem
Auftreten des Menschen konnte die Mehrzahl jener Vermittelungsglieder
recht gut schon spurlos wieder ausgestorben sein. Wohl durfte man
hoffen, gelegentlich im verhärteten Meeresschlamm jener Urzeiten, der
heute Gebirge bildete, noch versteinerte Reste dieser verschollenen
Geschöpfe aufzufinden. Aber das war immer mehr oder minder Zufallssache
und konnte mindestens noch endlos lange sich hinziehen, da der
menschlichen Forschung bisher nur ein verschwindend kleiner Teil der
irdischen Gebirge und Gesteinslager, wo Versteinerungen vorkommen,
erschlossen ist.

Je weniger man aber einstweilen hatte, desto sorgsamer mußte man mit
dem haushalten, was man besaß.

Die neue darwinistisch gefärbte Tierkunde vermerkte mit stärkstem
Nachdruck, daß sie in dem ganzen riesigen Gewimmel der Fische einen
einzigen -- den sogenannten Amphioxus -- noch lebend im Inventar
mitführte, der allem Anschein nach den Uebergang von wirbellosen,
wurmähnlichen Tieren zum Fisch in sich verkörperte. Sie vermerkte
ferner, daß eine ganz kleine Gruppe (von nur drei Gattungen)
fischähnlicher Tiere -- die Molchfische -- den entsprechenden Uebergang
vom Fisch zum Amphibium heute noch ziemlich deutlich vor Augen stellte.
Dann gab es da auf soviel tausend Amphibien und Reptilien wieder eine
einzige absonderliche Eidechsenart -- die Hatteria aus Neuseeland
--, die eine uralte Reliquie darstellte, in der sich das molchartige
Amphibium noch auffällig mischte mit dem echten eidechsenartigen und
krokodilartigen Reptil. Von diesem Reptil, also etwa einer echten
Eidechse, zum Vogel lieferte dann jene Versteinerungsurkunde das
passende Mittelglied in dem wunderbaren Urvogel Archäopteryx des
Juraschiefers von Solnhofen: noch erkennbare versteinerte Reste eines
längst ausgestorbenen Wesens, das einerseits noch langschwänzige
Eidechse mit scharfen Zähnen im Maul und andererseits schon richtig
befiederter, geflügelter Vogel gewesen war.

Das gab so alles in allem wirklich ein gutes Stück „Stammbaum“ für
die obersten Tierklassen. Aus Würmern waren, so sah man ungefähr,
die Fische gekommen. Aus Fischen die Amphibien. Aus Amphibien die
Reptilien. Aus Reptilien endlich gar unzweideutig die Vögel. Blieb aber
die alleroberste Klasse noch: die wichtigste von allen, die Säugetiere.
Welche Tierform, lebend oder tot, vermittelte den Uebergang zu denen
hinauf? Und den Uebergang von wo aus?

Hier jetzt kam die neue Situation, wo das Schnabeltier abermals überaus
bedeutsam werden mußte.

Von allen Säugern hatte es den niedrigsten Bau. Obwohl echtes
Säugetier, zeigte es doch Merkmale, die unverkennbar an den Vogel
oder sogar an das noch niedrigere Reptil, an die Eidechse erinnerten.
Was Lamarck und Geoffroy St. Hilaire lange vor Darwin und Haeckel
ausgesprochen hatten, weil sie zu ihrer Zeit schon an natürliche
Entwickelung glaubten -- was aber damals allgemein verlacht worden
war -- das kam jetzt offen zu Tage: das Schnabeltier war ebenfalls
eine prächtige Uebergangsform und das „Paradoxe“ an ihm war eben diese
Zwiespältigkeit einer Vermittelung zwischen der Klasse der Säugetiere
und einer tieferen, noch geringer entwickelten Klasse.

Abermals aber war es gerade jetzt, als wenn die neue Theorie neue
Entdeckungen hinsichtlich dieses Schnabeltiers förmlich programmmäßig
herauslockte -- und diesmal sozusagen die umgekehrte Entdeckung wie
damals durch Bennett.

Es ist nachzuholen, daß im Verlauf des Jahrhunderts das alte
Schnabeltier noch einen lebendigen Bruder im Register der Tierkunde
erhalten hatte.

Die ersten Ansiedler im australischen Busch glaubten in einem Lande
so vieler Wunder wenigstens auf etwas Heimisches zu stoßen: den Igel.
Aber was sie dafür hielten, trug zwar ein scharfes Stachelwams gleich
diesem Freund aus den europäischen Weinbergen, in Wahrheit war es
aber nur erst recht ein seltsamster Australier: nämlich ein zweites
und zwar landbewohnendes Schnabeltier, das mit langer Zunge Ameisen
schleckte und danach der Ameisenigel getauft wurde. Lateinisch erhielt
es den großen mythologischen Namen Echidna zur Erinnerung an das alte
griechische Zwitterscheusal aus Schlange und Mensch.

Auch dieser stachelige Land-Schnabler bewährte in allem Wesentlichen
die Uebergangs-Natur, wie man sie schon am Wasserschnabeltier
festgestellt.

Nun geschah es aber im August 1884, daß ein deutscher Zoologe, Wilhelm
Haacke, sich auf australischem Boden aufhielt und in den Besitz eines
Pärchens lebender Ameisenigel kam. Haacke hatte in Jena bei Gegenbaur
gehört, daß die weiblichen Schnabeltiere an der Bauchseite angeblich
gewisse Falten zeigen sollten, die an einen Beutel für die Jungen, wie
sie die sogenannten Beuteltiere (zum Beispiel das Känguruh) besitzen,
erinnerten. Der Einfall kommt ihm, das einmal rasch zu untersuchen.
Sein Diener muß ihm den weiblichen Ameisenigel bei den Hinterbeinen
hoch heben, und richtig: da sind nicht nur ein paar Fältchen, sondern
da ist ein regelrechter Beutel. Die Existenz dieses Beutels selber aber
ist noch nichts gegen den unmittelbar folgenden Fund. Unser Forscher
greift zu und zieht aus dem Beutel ein unzweideutiges Ei. Er war im
Augenblick so überrascht, daß er das Ei in der Hand zerquetschte. Aber
die Entdeckung war für immer gemacht. Das Land-Schnabeltier legte also
auf alle Fälle wirklich Eier wie ein Vogel oder eine Eidechse✹....

Wie es mit dem Zufall aber in der Welt geht: gerade jetzt und
gleichzeitig mit Haacke war in einer andern Ecke Australiens ein
Engländer, Caldwell, auf ein Nest des Wasserschnabeltiers geraten, in
dem wahrhaftig auch Eier lagen. Der alte Bennett mußte seiner Zeit
ausgesuchtes Pech gehabt haben: sicherlich war er jetzt widerlegt und
die Tatsache stand zum erstenmal +ganz+ fest: beide Schnabeltiere
legten Eier!

In den Jahren 1891 und 1892 ist der Beweis dann gleichsam systematisch
und im größten Stil noch einmal wiederholt und ausgebaut worden. Das
Interesse für darwinistische Probleme war jetzt so hoch gediehen,
daß ein trefflicher deutscher Zoologe, Schüler und Kollege Haeckels
in Jena, Richard Semon, eigens auf zwei Jahre nach Australien gehen
konnte, um die Naturgeschichte der Schnabeltiere und daneben die
eines anderen darwinistisch interessanten Uebergangs-Tieres -- des
Molchfisches Ceratodus -- gründlich zu studieren.

Semon hat viele Monate lang sein zoologisches Laboratorium mitten
im wilden australischen Busch nahe der Ostküste auf Queensländer
Gebiet aufgeschlagen. Das Ergebnis war die Enträtselung der ganzen
Entwickelungsreihe der Keimformen im Ei bei Ceratodus, eine
zoologische Tat ersten Ranges, nach der sich längst alle Vertreter der
Entwickelungslehre gesehnt hatten. In den Mußestunden von dieser einen
Arbeit aber sandte Semon seine schwarzen einheimischen Jäger auf die
Suche nach Schnabeltieren, so viel sie nur bekommen könnten. Tüchtige
Geldprämien wurden ausgesetzt, bis zu zweieinhalb Mark für jeden
weiblichen Ameisenigel.

Das half. An einem Tage allein kamen acht solcher Landschnabler an,
zwei davon mit Eiern noch im Leibe, zwei mit welchen im Beutel und drei
mit schon ausgekrochenen Beuteljungen. Ueber vierhundert lebende Tiere
der Art gingen schließlich durch des emsigen Forschers Hände. Früh
gegen Sonnenaufgang pürschte er selbst mit der Flinte auf das scheue
Wasserschnabeltier und brannte dem Schwimmenden feine Schrotsorten auf
den Pelz. Da gab es denn auch von diesem in Europa immer noch kostbaren
Sammlungsobjekt bald solche Mengen, daß Semon zuletzt anfing, die
überflüssigen Felle zu gerben als späteres Material für Pelzmützen,
während die Eingeborenen sich über das Fleisch der überzählig
gewordenen Ameisenigel als einen köstlichen Leckerbissen hermachten.

Für das zoologische Kochbuch sei mitgeteilt, daß das Echidna-Tier
zubereitet wird ganz nach der Methode, wie unsere Zigeuner ihren
famosen Igelbraten machen. Der Igel wird da bekanntlich über sein
ganzes Stachelkleid hinweg mit weichem Lehm beknetet und so, als dicke
Lehmkugel, übers Feuer gebracht, wobei viel auf fleißiges Wenden
zur rechten Zeit ankommt. Ist der Lehm hart, so läßt man den Braten
abkühlen, bricht dann die Hülle herunter, wobei zugleich die Stacheln
mitgehen, und hat nun das feinste Fleisch im voll erhaltenen Saft. In
Amerika wird ähnlich der Tatu (das Gürteltier) in seinem eigenen Panzer
gebraten und soll mit spanischem Pfeffer und Citronensaft eine Leckerei
ersten Ranges abgeben, das weiße Fleisch wie Huhn, das Fett wie von
Kalbsniere. Und so denn auch wird das Stachelschnabeltier ausgenommen,
aber nicht gehäutet, sondern in seinen Stacheln auf der heißen Asche
geröstet. Besser als Rindfleisch sei so ein fetter Schnabler, urteilt
der Schwarze, und das ist für ihn der Gipfel der Ehre. Semon selber
spricht sich weniger günstig aus. Das Wasserschnabeltier ähnelt auch
darin den meisten Wasservögeln, daß es abscheulich nach Tran schmeckt.
Gleichwohl findet es bei manchen schwarzen Stämmen auch seine Freunde,
die auf den Braten erpicht sind. Lebten beide Arten nicht so nächtlich
verborgen, so möchte diese ihre fatale Küchendisposition wohl in
absehbarer Zeit ihr Schicksal im Lande besiegeln.

Durch Semons Studien, eine mustergültige Leistung deutschen
Gelehrtenfleißes, sind wir jetzt nicht bloß über die allgemeine
Tatsache des Eierlegens der Schnabeltiere überhaupt, sondern auch über
eine Fülle zugehöriger Einzelheiten genau unterrichtet.

Semon hat zahlreiche Keime oder Embryonen des Ameisenigels aus dem Ei
untersucht und abgebildet, und er hat wenigstens die Grundzüge auch
dieser ganzen verwickelten Jugendentwickelung des geheimnisvollen
Geschöpfes aufgehellt.

Wie der Vogel (nicht aber sonst das Säugetier), bildet der weibliche
Ameisenigel nur an +einem+, nämlich dem linken Eierstock reife
Eier.

Nachdem diese sich noch im Mutterleibe mit einer Schale umgeben,
wachsen sie aber innerhalb ihrer elastischen Hülle nachträglich noch
um ein Bedeutendes, indem nährende Stoffe aus den Geweben der Mutter
immer noch in sie eintreten, -- ein Vorgang, der sich allerdings so
nun wieder +nicht+ bei Reptil und Vogel findet und recht zeigt,
daß wir eben doch der Uebergangsstelle zum Säugetier nahe stehen;
bei Reptil und Vogel ist das Ei der Stoffmenge nach fertig und außer
Verband mit der Mutter vom Augenblick an, da die Schale es umschließt.

Reif zum Legen, ist das Schnabeltier-Ei im Durchmesser etwa fünfzehn
Millimeter groß und birgt in sich einen rund fünf Millimeter langen
Keim oder Embryo. Wie bei jedem höheren Wirbeltier, sei es nun ein Huhn
oder eine Schildkröte oder ein Krokodil, sei es ein Känguruh oder eine
Katze, so zeigt sich auch auf einer frühen Stufe dieses Embryos die
unerwartet seltsame Gestalt eines Wesens mit flossenartig formloser und
vollkommen gleichartiger Anlage der vier Gliedmaßen und mit deutlichen
Kiemenbogen am Halse, wie sie der Fisch zum Zweck des Atmens im Wasser
besitzt. Seitdem die Tierkundigen darwinistisch denken gelernt haben,
wissen sie dieser eigentümlich fischartigen Keimform der höheren
Wirbeltiere eine höchst lehrreiche Bedeutung beizulegen. Aus tausend
und abertausend Fällen im ganzen Tierreich hat man den Schluß gezogen,
daß vielfältig die jungen, noch unreifen Tiere als Keim im Ei oder als
Larve vorübergehend erst noch einmal gewisse Formen ihrer +Ahnen+
wiederholen, ehe sie die eigene typische Gestalt annehmen. So zeigt das
junge Fröschlein noch einmal als Kaulquappe einen Schwanz wie ein Molch
oder Fisch.

Im Mutterleibe muß aber selbst das Säugetier noch einmal ein
Stadium durchmachen, das auf seine fisch- und molchähnlichen Ahnen
zurückweist. Und zwar muß es das höchste Säugetier, der Mensch, so
gut wie das niedrigste, das Schnabeltier. Auf gewisser Stufe sind
sich Menschen-Embryo und Schnabeltier-Embryo frappant ähnlich: beide
wiederholen die gemeinsame fischähnliche Urstufe.

Wird das Ei des Ameisenigels endlich wirklich gelegt, so erscheint die
Schale lederartig und frei von eingelagerten Kalksalzen, es erinnert
vollkommen an das Ei etwa einer Schildkröte. Um diese Zeit der Eiablage
hat sich an der Unterseite der Mutter jener erwähnte Beutel, eine Art
Hautfalte, die eine regelrechte Tasche bildet, entwickelt, und in diese
Tasche schiebt, so scheint es, alsbald das mütterliche Schnabeltier mit
der langen Schnauze das Ei, auf daß es hier an geschütztester Stelle
sich fertig ausbilden könne. Nicht lange, und der kleine Embryo darin
hat das Dottermaterial, das ihm in seinem Ei-Kerker als Speisevorrat
mit auf den Weg gegeben war, zur Neige aufgezehrt, hat sich selbst
jetzt bis zur Länge von fünfzehn Millimetern herausgefüttert, und macht
jetzt zwangsweise Anstalt, die lederharte Wand seines nunmehr allzu
engen Gefängnisses zu sprengen.

Das letztere würde nun nicht so ganz leicht sein, wenn nicht gerade zum
Zweck hier das junge Schnabeltierchen eine ähnliche Waffe erhielte,
wie sie ein kleines Vogelküken oder junges Eidechslein zum Sprengen
der Eischale benutzt. Es wächst ihm nämlich auf der Schnauzenspitze
eine besondere kleine Hornspitze, die mit Leichtigkeit die Schalenwand
durchstößt. Ist das geschehen, so rutscht der immer noch winzige
Schnabler frei in den warmen Beutel. Alsbald entfernt die Mutter die
leere Eihülle, das Junge aber benimmt sich jetzt zum erstenmal als
echtes und rechtes „Säugetier“: es leckt die von den Milchdrüsen
abgesonderte Milch -- eine Milch, die sich übrigens in ihrer chemischen
Zusammensetzung nicht unerheblich von der der übrigen Säugetiere zu
unterscheiden scheint, da mindestens die Phosphorsäure darin fehlt.

Erst wenn die Länge des Beuteljungen achtzig bis neunzig Millimeter
erreicht hat, beginnen die igelartigen Stacheln hervorzusprossen. Das
Kleine ist jetzt annähernd zehn Wochen alt, wenn man die +ganze+
Entwickelung einrechnet.

Der Aufenthalt im schützenden Beutel ist in dieser Zeit keine zwingende
Notwendigkeit mehr. Doch bleibt noch längere Zeit ein intimes
Verhältnis zwischen Mutter und Kind bestehen. „Die Schwarzen“, erzählt
Semon, „gaben mir übereinstimmend an, daß die Alte zunächst noch einige
Zeit lang zum Jungen zurückkehrt, um es in den Beutel aufzunehmen und
zu säugen. Wenn sie nachts ihren Streifereien nachgeht, entledigt sie
sich der beträchtlichen, ihr unbequem werdenden Last, indem sie für
das Junge eine kleine Höhle gräbt, zu der sie nach beendigter Streife
wieder zurückkehrt. Daß sich das wirklich so verhält, kann man aus den
frischen Spuren der Alten in der Nähe des Lagers des Jungen und auch
daraus entnehmen, daß der Magen und Darm solcher Jungen Milch enthält.“

Semon hat die Schnabeltiere aber nicht bloß auf ihre Jugendgeschichte
hin geprüft. Auch über das erwachsene Tier und seine Besonderheiten hat
er in umfassender Weise Material gesammelt.

Zunächst hat er einige höchst interessante Beobachtungen mitgeteilt
über das Geistesleben der Landschnabler.

„Es ist ungemein schwierig,“ sagt er, „von dem Seelenleben und der
Intelligenz von Geschöpfen eine richtige Vorstellung zu gewinnen,
die in ihrer ganzen Organisation noch so bedeutend von der unserigen
abweichen. Es gibt wohl kein zweites Gebiet der Erkenntnis, in dem
es so schwer, ja unmöglich ist, den anthropocentrischen Standpunkt
zu verlassen, als das der Tierpsychologie. Der Schluß, den wir aus
dem Gebahren eines Tieres auf seine Intelligenz machen, ist meist ein
ganz oberflächlicher, einfach weil wir so häufig die eigentlichen
Triebfedern dieses Gebahrens nicht verstehen. Die Außenwelt wird
sich eben in einem Geschöpfe anders projizieren, bei dem diese
Projektion durch ganz andere Pforten erfolgt, bei dem Geruchssinn,
Gehör, Gefühlssinn viel vollkommener, der Gesichtssinn ganz anders
ausgebildet ist als bei uns. Ein Tier, das sich schwer oder gar nicht
an die veränderten Lebensbedingungen der Gefangenschaft gewöhnt,
ist deshalb noch nicht notwendigerweise dumm; eines, das auf solche
Reize, die uns stark beeinflussen, nur träge reagiert, noch nicht
schlechthin stumpfsinnig. Eine gefangene Echidna erscheint, wenn wir
dennoch einen solchen ganz rohen Maßstab anlegen wollen, ziemlich
dumm und stumpfsinnig. Eine große Furchtsamkeit verhindert, daß die
Tiere eigentlich zahm werden, obwohl sie sich allmählich an ihren
Pfleger gewöhnen. Unstreitig ist ihre Intelligenz viel größer als
die wohl aller Reptilien, obwohl sie weit unter der der Vögel und
höheren Säugetiere und wohl auch unter der der meisten Beuteltiere
steht. Auffallend ist ihr ungemein stark ausgeprägter Freiheitsdrang.
Der Gefangenschaft suchen sie sich mit allen Mitteln zu entziehen
und wenden zu diesem Zwecke eine gewaltige Energie auf. Tagsüber
verhalten sie sich meist ruhig in ihrem Gefängnis und scheinen ganz
in ihr Schicksal ergeben. Bei Nacht aber erwacht in dem scheinbar so
lethargischen Tiere eine staunenswerte Regsamkeit und Willenskraft.
Aus Kisten klettern sie leicht hinaus, lose aufgelegte Kistendeckel
werden herabgeworfen, leicht zusammengenagelte Kisten, deren Bretter
nicht überall dicht gefugt sind, vermittels der kräftigen Extremitäten
gesprengt. Da ich den Schwarzen nur für lebende Exemplare den vollen
von mir festgesetzten Preis bezahlte, und die Leute von ihren
weiten Streifereien nicht immer noch an demselben Tage zu meinem
Lager zurückkehren konnten, mußten sie häufig die Tiere über Nacht
gefangen halten, ohne natürlich zu diesem Zweck passende Behälter
mit sich führen zu können. Wurden die Tiere nun mit starken Schnüren
an einem oder zwei Beinen gefesselt, so gelang es ihnen über Nacht
fast regelmäßig, die Banden abzustreifen, so fest dieselben auch
zugeschnürt sein mochten. Auf ihre eigene Haut nahmen die Tiere dabei
nicht die geringste Rücksicht. Die Schwarzen waren über die ihnen
hieraus erwachsenen Verluste sehr ungehalten und halfen sich damit,
daß sie die Beine der Tiere durchbohrten und die Schnüre durch die
Wunde zogen. Das war denn ein sicheres Mittel, aber so grausam, daß
ich seine Anwendung untersagte, als ich davon erfuhr. Ich gab dann
den Schwarzen kleine Säcke mit, in die sie die Tiere über Nacht
einbinden konnten. Waren die Säcke dicht und wurden sie sorgfältig
zugebunden, so erfüllten sie ihren Zweck; waren die Schwarzen aber mit
dem Zubinden leichtsinnig, so gelang es dem willensstarken Ursäugetier
über Nacht, die ersehnte Freiheit zu erkämpfen. Bei einer derartigen
Gelegenheit konnte eine interessante Beobachtung über den Ortssinn
der Ameisenigel gemacht werden. Ein gefangener Ameisenigel wurde
aus seinem Skrub (Dickicht im australischen Busch) sechs Kilometer
weit bis zu meinem Lager in einem Sack getragen. Ueber Nacht gelang
es ihm, sich zu befreien. Einer meiner Schwarzen ging seinen Spuren
nach, die in gerader Richtung zu dem fast eine Meile entfernten
Punkte zurückführten, an dem das Tier gefangen worden war. In der
Nähe der alten Fangstelle fand es sich denn ruhig schlummernd in
einer selbstgegrabenen Höhle. Erwägt man, daß das Tier in einem Sack
in mein Lager getragen worden war und daß es in gerader Richtung
zu seinem alten Aufenthalt zurückging, so liegt es am nächsten, an
den Geruchssinn zu denken, von dem sich das Tier zurückleiten ließ.
Besonders in der Brunstzeit verbreiten beide Geschlechter einen
ausgesprochenen Geruch, der wohl zum gegenseitigen Auffinden der
Geschlechter und zur sexuellen Erregung dienen mag. Er ist es auch,
der dem Fleisch der in der Haut gerösteten Tiere den eigentümlichen
Beigeschmack verleiht.“

Diese Mitteilungen über den Stachler Echidna werden ergänzt durch
ebenso wertvolle Studien Semons über das Wasserschnabeltier.

„In der Zeit des australischen Winters, also Juni bis Ende August, wenn
die Nächte kalt sind, darf man sicher sein, die Tiere bei Sonnenaufgang
und Sonnenuntergang im Fluß zu finden. Ist man morgens frühzeitig am
Fluß und erwartet das Anbrechen des Tages, so kann man, sobald die
ersten Sonnenlichtstrahlen die Wasserfläche treffen und die Gegenstände
unterscheidbar machen, im Fluß einen Gegenstand von ein bis zwei Fuß
Länge unterscheiden, der wie ein Brett flach im Wasser schwimmt.
Zuweilen liegt er eine Zeitlang regungslos da, dann plötzlich wieder
ist er verschwunden, um nach einigen Minuten an einer andern Stelle
aufzutauchen. Es ist dies das Schnabeltier, welches im Schlamm des
Flußbettes sein Morgenfrühstück nimmt.“ -- (Ich zitiere weiter nicht
aus Semons populärem Reisebericht, sondern seinem großen zoologischen
Fachwerk über die Ergebnisse seiner Fahrt.) „Gewöhnlich liegt das
Tier unbeweglich an der Oberfläche. Nach einigen Minuten taucht es
plötzlich und geräuschlos unter, verweilt zwei bis drei Minuten unter
Wasser und taucht dann wieder ebenso plötzlich und geräuschlos auf.
Während des Tauchens hat es am Grunde mit seinem platten Schnabel nach
Entenart allerlei Wassergetier, Würmer, Insektenlarven, Schnecken
und Muscheln aufgestöbert und seine Backentaschen reichlich gefüllt.
Am Burnett bilden unstreitig die Muscheln seine Hauptnahrung; die
Backentaschen fand ich gewöhnlich mit zehn bis fünfzehn Millimeter
langen Exemplaren von _Corbicula nepeanensis Lesson_ strotzend
gefüllt. Das Auftauchen geschieht, um Luft zu schöpfen und um den
Inhalt der Backentaschen zu zermalmen und zu verschlucken. Ab und zu
sah ich das Tier auch spielend an der Oberfläche herumschwimmen und
plätschernd auf kurze Zeit tauchen, gleichwie um sich zu vergnügen.
In zwei verschiedenen Fällen beobachtete ich ein Schnabeltier im
Trockenen, auf dem Grase der Flußbank liegen, sich dehnen und strecken
und seinen Pelz reinigen und putzen. In beiden Fällen glitten die
Tiere, als sie meine Gegenwart bemerkten, ins Wasser, tauchten unter
und waren verschwunden, indem sie ihren Bau durch die unter dem
Wasserspiegel befindliche Wohnung gewannen. Der oberirdische Zugang
wurde in beiden Fällen nicht benutzt, dient aber ebenfalls als Zu- und
Ausgang, wie man aus den Spuren des Tieres entnehmen kann, und nicht
lediglich zur Durchlüftung des Baues. Auch sind mir Fälle bekannt,
daß die Tiere in Schlingen, die man vor dem oberirdischen Zugang
anbrachte, gefangen worden sind. Allerdings scheint für gewöhnlich die
unter dem Wasserspiegel gelegene Oeffnung als Hauptpforte benutzt zu
werden, denn ich selbst habe in den vielen Schlingen, die ich vor dem
oberirdischen Zugang anbrachte, niemals ein Schnabeltier gefangen.
Wird das Tier, wenn es sich im Wasser befindet, erschreckt, so taucht
es sofort und verschwindet auf Nimmerwiedersehen durch den unter dem
Wasser befindlichen Zugang. Obwohl _Ornithorhynchus_ ein guter
Taucher ist, kann er natürlich nur eine gewisse Zeit lang unter Wasser
verweilen. Solche, die sich nachts zufälligerweise in ein Fischnetz
verwickeln und längere Zeit unter Wasser festgehalten werden, findet
man am Morgen regelmäßig ertrunken vor. Die Jagd auf unser Tier ist
nicht schwierig, wenn man seine Lebensgewohnheiten kennt. So klein das
Auge des Ornithorhynchus ist und so tief die Ohröffnung im Pelzwerk
versteckt liegt, so scharf ist doch Gesicht und Gehör. Deshalb ist es
auch ein fruchtloses Beginnen, sich heranschleichen zu wollen, so lange
das Tier über Wasser verweilt. Die Lage der Augen ermöglicht es ihm,
genau zu beobachten, was über ihm am ansteigenden Flußufer vorgeht.
Uebrigens erkennt es die Gefahr nur, wenn der Verfolger sich bewegt,
nicht, wenn er sich regungslos verhält. Aber schon das Erheben der
Flinte genügt, um das Tier zu verscheuchen. Auch jeder verdächtige Laut
bringt es zum Verschwinden. So sah ich einmal eins sofort untertauchen,
als in ein Kilometer Entfernung ein Schuß fiel. Es kam aber bald
wieder zum Vorschein, was es entschieden nicht getan haben würde, wenn
es durch einen Laut in größerer Nähe erschreckt worden wäre. Einmal
verscheucht, suchen die Tiere fast stets ihren Bau auf und kommen an
dem betreffenden Morgen oder Abend nicht mehr zum Vorschein. Doch ist
es, wie gesagt, leicht, das Tier zu erlegen, wenn man sich ihm nur
nähert, so lange es untergetaucht ist, und sofort regungslos stehen
bleibt, wenn es wieder auftaucht. Man hat es anzuspringen, ähnlich wie
einen Auerhahn.“

Zu den vielfältigen körperlichen Absonderlichkeiten der Schnabeltiere
gehört die Existenz eines regelrechten Sporns an jedem Hinterbein
des Männchens, eines Sporns, wie er jedem vom Hahn bekannt ist.
Lange hat man sich den Kopf zerbrochen, was dieses Abzeichen für
einen Sinn haben könnte. Jeder Sporn ist durchbohrt und steht mit
einer Drüse in Zusammenhang. So tauchte vor diesem Ausbund aller
Unwahrscheinlichkeiten die phantastische Idee eine Weile auf, das Ding
funktioniere wie der Giftzahn einer Schlange und sei die schrecklichste
aller Säugetier-Waffen. Aber es paßte schlecht dazu, daß bloß das
Männchen diese Waffe führen sollte. Warum war das Weibchen schutzlos?
Schon Bennett legte denn auch erste Bresche in den Glauben. Er ließ
sich von seinen Schnabeltiermännchen absichtlich kratzen und verspürte
nichts von Gift. Die Schnabler zeigten auch gar keine Lust, absichtlich
mit dem Sporn zu stoßen. Semon hat jetzt den Sachverhalt auch hier
wenigstens negativ ganz sicher gestellt. Kein einziger unter Hunderten
von Stachelschnablern hat je versucht, sich mit dem Sporn zu wehren und
von Gift war keine Rede. Die Schutzwaffe des Tieres, meint Semon, ist
Einrollen und Eingraben, aber nicht Spornstechen. Positiv scheint ihm
keine andere Lösung denkbar, als daß der Sporn, einseitig männlich, wie
er nun einmal ist, auch eine reine Geschlechtsbedeutung habe: er dient
als sexuelles Erregungsorgan in der Liebeszeit der Schnabler.

Selbst dieser geheimnisvolle Sporn bildet aber noch nicht die Krone der
Zeichen und Wunder dieses paradoxen Geschlechts. Schon der russische
Forscher Mikloucho-Maclay hatte 1883/84 darauf hingewiesen, daß die
beiden Gattungen der Schnabeltiere sich in einem ganz entscheidend
wichtigen Punkte noch von allen übrigen Säugern unterschieden, -- einem
Punkte, der allerdings nur am +lebenden+ Objekt und nicht daheim
im Museum vor Spiritus-Präparaten und Bälgen studiert werden konnte.

Wasserschnabeltier sowohl wie Ameisenigel besitzen nämlich von
sämtlichen Säugetieren die niedrigste Bluttemperatur.

Wir Menschen haben normal eine Blutwärme von etwas über 37 Grad
Celsius. Dem entspricht der Affe mit 38 Grad. Eine Anzahl Säugetiere
(einzelne Huftiere, Nagetiere, Raubtiere) gehen darüber hinaus bis
vierzig Grad. Bei anderen Huftieren und Nagetieren sinkt die Ziffer
dagegen, zum Beispiel ist sie beim Nilpferd nur noch 35 Grad. Bei den
Beuteltieren, die schon sehr tief unten in der Reihe der Säuger stehen,
kommen schon Temperaturen bis zu 33 Grad herab vor. Der Durchschnitt
hält sich aber auf 36 Grad. Immerhin sind das alles aber noch
Schwankungen innerhalb der Dreißiger aufwärts.

Nun aber das Landschnabeltier zeigt unter Umständen nur mehr die runde
Dreißig, und das Wasserschnabeltier geht gar bis auf 25 Grad herunter,
-- fünfundzwanzig Grad bei 20 Grad Luftwärme, also nur 5 Grad mehr als
diese!

Semon fügte dazu nun noch die Entdeckung, daß diese Bluttemperatur der
Schnabler in den weitesten Grenzen +schwankt+, also bald höher,
bald tiefer ist in einer beim höheren Säugetier unerhörten Weise. Es
wurden Schwankungen bis zu 8 Grad und mehr nachgewiesen.

Für den ersten Anblick scheint diese neue Differenz unserer
eierlegenden Australier gegen ihre ganzen Mitsäuger allerdings eine
untergeordnete Sache. Und doch läßt sich gerade hier der Faden
darwinistischen Denkens weiterspinnen.

Der Laie, der ein Schnabeltier, zumal das charakteristische
Wasserschnabeltier betrachtet, der ein Säugetier vor sich sieht
mit einem hornigen, zahnlosen Entenschnabel, der dazu noch hört,
daß dieses Geschöpf Eier lege, und der allgemein weiß, daß der
moderne Naturforscher an gewisse Uebergänge auch der großen, scharf
getrennten Tierklassen ineinander glaubt, -- er wird als geradezu
selbstverständlich hinnehmen, daß dieses Schnabeltier den Uebergang
bilde vom +Vogel+ zum Säugetier.

Und die ersten Forscher, die solche Dinge überhaupt für möglich
hielten, dachten in der Tat auch zunächst an diese Möglichkeit und
keine andere.

Und doch: wie so oft, geht es auch hier, -- das Nächstliegende ist noch
nicht das Richtige.

Wir wissen heute, seit dem merkwürdigen Funde jenes Ur-Vogels
Archäopteryx von Solnhofen, mit einer Bestimmtheit, die kaum etwas
zu wünschen übrig läßt, daß der Vogel vom Reptil, von der Eidechse
abstammt. Stammt nun das offenbar noch höher organisierte Säugetier vom
Vogel ab und bildet das Schnabeltier diesmal den Uebergang?

Es läßt sich mit einer Fülle von Tatsachen beweisen, daß es tatsächlich
+nicht so+ ist.

Und zwar gibt einen ersten guten Fingerzeig gleich jene Entdeckung über
die Blutwärme.

Das Schnabeltier hat sehr viel kälteres Blut, als alle übrigen
Säugetiere. So sollte man denn wohl meinen, die noch niedrigeren
Tiere, von denen es selbst nun wieder abstammt, müßten nochmals in der
Temperaturstufe heruntergehen, also noch kaltblütiger sich erweisen.

Jetzt ist aber der Vogel ganz ausnahmslos mit einer Blutwärme von
über 40 Grad (bis zu 42) ausgestattet -- also faktisch noch ein Teil
blutwärmer, als die wärmsten unter den höchsten Säugetieren. Ein
Vogel, dessen Blut gewaltsam auch nur bis auf die Normalwärme des
Schnabeltierblutes, 25 Grad, abgekühlt wird, stirbt. Das paßt also ganz
und gar nicht.

Dafür sehen wir aber etwas anderes. Wir messen die Dinge beim Reptil,
bei Eidechsen, Schlangen, Krokodilen und Schildkröten, und wir finden
hier eine gänzlich veränderte Sachlage. Das Reptil hat durchweg so gut
wie gar keine „eigene“ Blutwärme mehr: das heißt solche Wärme, die von
innen heraus im Organismus erzeugt wird. Sein Blut ist „wechselwarm“:
es richtet sich nach der äußeren Lufttemperatur. Liegt die Schlange
in der backofenheißen Sonne, so erhitzt sich ihr Blut zu hohen
Temperaturgraden. Wird es umgekehrt draußen kalt, so durchkältet sich
auch ihr Blut entsprechend. Bei Messungen zeigt sich so natürlich ein
ganz willkürlich +schwankendes+ Maß, je nach der äußeren Luftwärme
oder Luftkälte.

Nur in einigen wenigen Ausnahmefällen nimmt auch das Blut von Reptilien
schon einen ersten Anlauf zu eigener Innenheizung: so erhitzt sich die
weibliche Python-Schlange zur Zeit, da sie brütend über ihren Eiern
sitzt, bis zu 20 Grad Celsius über die umgebende Luftwärme hinaus.

Jenen schwankenden Reptilien-Verhältnissen, so sieht man deutlich,
nähert sich nun das Schnabeltier, -- nicht aber der dauerhaft höheren
Vogel-Temperatur. Es +ist+ natürlich noch kein Reptil, -- ganz
gleich liegen die Dinge also noch nicht. Aber schon gewahrt man den
starken Herabgang der Eigenwärme im ganzen, schon tritt die auffällige
Neigung zu sehr großen +Schwankungen+ im Normalmaße ein, -- kurz,
man fühlt sich durchaus der Grenze zum Reptil näher, als bei irgend
einem höheren Säugetier. Nicht der Grenze zum Vogel, sondern zum
Reptil, zur Eidechse!

Sollten die Säugetiere also über das Schnabeltier fort unmittelbar von
eidechsenähnlichen Tieren der Vorwelt abstammen, anstatt von Vögeln?

Sie bildeten dann im Stammbaum der ganzen Wirbeltierkette nicht einen
höheren Sproß der Vögel, sondern einen Parallelast zu diesen. Das
Schema des Stammbaums ergäbe etwa: aus den Würmern kamen die Fische;
aus den Fischen die Amphibien (Molche); aus den Amphibien die Reptilien
(Eidechsen); aus den eidechsenartigen Reptilien aber entwickelten sich
als parallele Aeste nebeneinander hier die Vögel (vermittelt durch
den Urvogel Archäopteryx), dort die Säugetiere (vermittelt durch das
Schnabeltier).

Das Eierlegen wäre dabei alles eher als ein Hindernis. Denn die
Eidechse, die Schlange, das Krokodil, die Schildkröte, alle diese
Reptilien legen ja durchweg +auch+ Eier, gerade wie der Vogel. Und
die Eier der Schnabeltiere gleichen im Aeußeren sogar mehr denen der
Schildkröten, als denen des Vogels. In andern Punkten, wie erwähnt,
gleichen sie weder den einen noch den andern, sondern sind ganz
individuell.

Bliebe nur eins: nämlich das erste aller am Schnabeltier bestaunten
Wunder, -- der seltsame Vogelschnabel!

Aber auch er beweist weit weniger, als man denken sollte, sobald man
nur einmal in diese Linie des Schließens eingetreten ist.

Der wirkliche Uebergang vom Vogel zum Säugetier über das Schnabeltier
hinweg müßte ja doch in sehr alten und entlegenen Zeiten der
Erdgeschichte stattgefunden haben. Sagen wir einmal im Zeitalter der
Ichthyosaurier, -- wahrscheinlich datiert die Entstehung der ersten
Säuger noch weiter zurück. Damals aber hatten ja die Vögel selber
noch Zähne im Maul! Sowohl der berühmte Ur-Vogel Archäopteryx von
Solnhofen wie die ältesten Vögel der Kreide Nordamerikas besitzen die
echtesten Zähne, wie nur je eine Eidechse sie so gut gehabt hat. Von
Entenschnäbeln keine Spur.

Also vom Vogel von +damals+ konnte das Schnabeltier gar keinen
Schnabel erben!

Umgekehrt gibt es heute noch und gab es damals schon Reptilien mit
unverkennbaren zahnlosen Schnabelkiefern: die Schildkröten. Damals
lebten sogar einzelne Gattungen von Ichthyosauriern, die gänzlich
zahnlos waren, und ein 38 Fuß langes, nach Känguruh-Art auf den
Hinterbeinen hüpfendes Riesen-Reptil, der Hadrosaurus, führte den
prächtigsten Entenschnabel am Kopf; hinter diesem Schnabel saßen bei
diesem Monstrum in den Kieferwinkeln allerdings +auch+ noch
winzige Zähnchen in fabelhafter Menge, -- über zweitausend.

Es scheint aber, daß unsere heutigen Schnabler nicht einmal mit dieser
Schnabelei der Reptilien etwas zu tun haben. Ganz gut können ihre Ahnen
Eidechsen mit dem solidesten Zahnbau gewesen sein. Denn sie selber,
scheint es, haben ehemals Zähne besessen und der ganze Schnabel von
heute ist bei ihnen nur eine spätere, nachträgliche Erwerbung der
paar überlebenden Mohikaner des heutigen Australien. Hier beginnt ein
letztes, aber fast das eigenartigste Kapitel.

Aus Gesteinsschichten jener uralten Tage, in denen wir die Umbildung
niederer Wirbeltiere zu Säugetieren etwa erwarten mögen, sind uns in
den verschiedensten Gegenden (von Südafrika bis Schwaben) versteinerte
Knochen erster echter Säugetiere überliefert.

Unwillkürlich denkt man: es müssen Schnabeltiere sein.

Nun muß man sich aber wieder einmal klar vergegenwärtigen, +was+
solche mehr oder minder fragmentarischen Gerippteile in altem
Gestein überhaupt von einem Tiere zu überliefern pflegen. Man kann
solchem Knochenüberrest nicht ansehen, wie die innere anatomische
Beschaffenheit der Weichteile gewesen sei. Man kann wenigstens in der
Mehrzahl der Fälle nicht ohne weiteres herauslesen, ob das betreffende
Geschöpf Eier gelegt oder lebendige Jungen zur Welt gebracht habe --
und so weiter. Auf solchen Punkten müßte aber in der Hauptsache gerade
der Beweis stehen, ob jene Ursäuger Schnabeltiere waren oder nicht.

Mit dem Skelett allein ist die Sache sehr viel schwieriger. Immerhin
aber: das Schnabeltier hat ja auch da seine charakteristischen
Nücken, und die gälte es dort wiederzufinden. Am besten müßte es
sein, wenn etwa der Schnabel selber erhalten wäre oder wenigstens die
eigentümlichen in ihn eingehenden zahnlosen Kieferknochen.

Fatal aber jetzt: just von jenen Ur-Säugern hat man in erster Linie
ausgesucht gerade +Zähne+ gefunden! Zähne und ganz und gar nichts,
was auf einen zahnlosen Schnabel _à la_ Schnabeltier deutete.

Das müßte doch als eine mehr als gewagte Sache erscheinen: Tiere als
Schnabeltiere zu bestimmen, von denen man als Hauptbeweisstück nichts
besitzt, als Zähne, also gerade das, was das lebende Schnabeltier
+nicht+ hat.

In diesem Dilemma ist es aber das lebende Schnabeltier selber gewesen,
das ein letztes Mal heraus und weiter geholfen hat.

Jene Zähne der bewußten Ur-Säugetiere aus der Triaszeit haben eine ganz
bestimmte, höchst charakteristische Form.

Bei dem Tiere _Microlestes antiquus_ beispielsweise, dessen
Zähnchen schon 1847 von Plieninger bei Echterdingen in Württemberg
entdeckt worden sind, gleichen sie einem kleinen Schüsselchen
mit einer Kette kleiner Höcker am Rande. Kein lebendes bezahntes
Säugetier besitzt in erwachsenem Zustande so sonderbar ausschauende
„Vielhöcker-Zähne“.

Und doch kommen sie ein einziges Mal noch „lebendig“ vor, freilich
nicht als dauernder Besitz, sondern vorübergehend als Jugendform.

Wir haben von dem Gesetz gehört, das vielfach die jungen, unreifen
Tiere noch einmal schattenhaft die Merkmale ihrer Ahnen wiederholen
läßt. Das gibt alsbald sehr zu denken. Man ist gespannt, +welches+
Säugetier da noch einmal heute „Ursäuger-Zähne“ vorübergehend in
Ahnen-Wiederholung weisen möge.

Und wunderbar genug: es ist eben das Schnabeltier selber.

Das Wasserschnabeltier!

Das +junge+ Wasserschnabeltier besitzt nach der Art etwa, wie wir
als Kinder ein nachher fortfallendes Milchgebiß entwickeln, oben und
unten noch +je vier echte und rechte Zähne+. Und diese Zähne des
unreifen Schnabeltiers, diese Zähne, die nicht mehr zum wirklichen
Lebensgebrauch auftreten, sondern nur flüchtig sich noch zeigen wie
im Banne jenes geheimnisvollen Gesetzes, das die Enkel noch einmal
die Ahnen wiederspiegeln heißt -- diese Zähne sind ebenfalls winzige
Schüsselchen mit Höckerchen auf dem Rande, -- -- was kein Säugetierzahn
von heute sonst noch weist, das weisen sie: den charakteristischen
Bau gewisser Ursäuger-Zähne vom Schlage jenes schwäbischen
_Microlestes_.

Mit dieser schlichten Tatsache sieht jener Beweis denn nun sehr
viel besser aus. Obwohl bezahnt, ja gerade, weil bezahnt, hatten
jene Ur-Säuger etwas ganz unverkennbar Gemeinsames mit dem heutigen
Wasserschnabeltier, etwas, was kein zweites Säugetier von heute so
besitzt.

Und so dürfen wir allerdings sagen: es besteht die höchste
Wahrscheinlichkeit, daß jene Ur-Säuger, deren Reste wir im Gestein
der Trias-Zeit finden, +echte Schnabeltiere+ mit dem Eierlegen,
dem inneren anatomischen Bau, der geringen Blutwärme u.✹s.✹w. der
heutigen Schnabeltiere waren -- bloß mit der einzigen Abweichung, daß
sie +keine Schnäbel+ hatten, sondern Zeit ihres Lebens jenes Gebiß
vielhöckeriger Zähne trugen, das heute das junge Schnabeltier noch als
vorübergehendes Milchgebiß zeigt.

Das Belanglose, Nachträgliche der Schnabelentwickelung ist damit
gleichzeitig zur Genüge gekennzeichnet. Wir müssen gerade den Schnabel
vom Schnabeltier abziehen, um die eigentliche reine Uebergangsform zu
erhalten: -- die Uebergangsform abwärts zum bezahnten Reptil, aufwärts
zum bezahnten Beuteltier und so fort zum höheren Säugetier überhaupt.

Wie es geschehen konnte, daß die noch lebenden Schnabeltiere ihr
ursprüngliches gutes Gebiß zu Gunsten eines zahnlosen Schnabels
verloren, dafür gibt uns bei beiden Schnablern ihre Ernährungsweise
wohl eine ganz gute Aufklärung. Semon hat uns erzählt, wie das
Wassertier seine Muscheln knackt wie Haselnüsse. Dabei müssen die
Zähne sich rasch abnutzen, die hornig verdickten Kiefernränder dagegen
bieten dauernd das beste Werkzeug. Zum Gründeln im Schlamm ist der
Schnabel gleichzeitig das denkbar praktischste Instrument. Umgekehrt
der igelhafte Landschnabler mit seiner langen Zunge hat die Zähne
abgeschafft nach demselben Prinzip wie andere Ameisenfresser, -- so
das Schuppentier und der Ameisenbär. Immerhin mag aber doch in der
raschen Fähigkeit, solche extremen Schnäbel zu entwickeln, eine Art
altertümlicher Form-Beweglichkeit mitgespielt haben, die den höheren
Säugern nicht mehr so gegeben gewesen ist.

Und spaßig bleibt nur: der Schnabel, mit dem das ganze Kopfzerbrechen
und die ganze „Ketzerei“ anhub, ist also schließlich etwas völlig
Nebensächliches außerhalb des großen Problems „Schnabeltier“.

Das ist deine Legende, du krauser Geselle da drüben.

Wie viel Weltenweisheit steckt in deiner Häßlichkeit, deinem Pelz,
deinem Gerippe, deinem Sporn, selbst deinem Hinterteil! Wie viele
Jahrmillionen sind in dir, seit der Triaszeit, da deine Ahnen
noch Zähne hatten. Und ich selber war damals in dir, ich, der ich
heute neben dir sitze und mit Menschenzeichen deine Geschichte
aufschreibe✹....




Das Tierleben der Großstadt.


Vor so etwa zehn Jahren wurde in der Weltstadt Paris ein gar seltsamer
Fang gemacht.

Es war in den bekannten großen Weinmagazinen des linken Seineufers.
Arbeiter hatten längst schon nächtlicherweile einen gespenstischen
Schatten mit langer Schnabelnase herumhuschen sehen. Man fahndete
endlich systematisch auf den Kobold, und im grellen Laternenschein fand
sich im Versteck hinter roten Bordeauxfässern -- ein Kiwi.

Der Kiwi, ein Strauß von der Größe eines Hahns, lebt in den
Farndickichten Neuseelands. Er ist der überlebende Verwandte der
riesigen Moas, deren Knochen heute noch, dick fast wie die von
Elefanten, in den Höhlen dieser geheimnisvollen Südseeinsel liegen.
Dieses Pariser Exemplar war aber aus dem benachbarten Jardin des
Plantes entsprungen, und zwar schon geraume Zeit vorher. Die
Gelehrten der Direktion hatten es schmerzlich beklagt und den nicht
unbeträchtlichen Preis des seltenen Vogels auf ihr Verlustkonto
gebucht. Ihm aber gefiel die „freie Großstadt“ an einer ihrer
unsolidesten Stellen, und er überwinterte ohne Beschwerde hinter den
Fässern der _Halle aux vins_, die ihm lange Zeit ein ebenso gutes
Versteck boten, wie seine neuseeländischen Farnkrautwurzeln.

Diese kleine Geschichte ist lehrreich für das allgemeine Verhältnis von
Tier und Großstadt auf der Erde.

Unsere Großstädte sind durch die Bedürfnisse der menschlichen
Intelligenz zu einer Art Arche Noäh geworden. Tiergärten und Aquarien
holen die Tierwelt unseres ganzen Planeten wie in einen Brennpunkt
zusammen. Es sind Tiere dabei, wie der nordamerikanische Bison und die
Riesenschildkröte der Insel Aldabra, die in kurzer Frist in ihrer
wilden Heimat ausgerottet sein und dann nur noch als buchstäbliche
Großstadttiere existieren werden.

Was die Wissenschaft aber nicht schafft, das bringt der Handel, bald
mit, bald ohne ausdrückliche Absicht.

Gleich jenem Kiwi ist in Danzig die große, ausgesucht scheußliche
brasilianische Vogelspinne plötzlich aufgetaucht, wahrscheinlich
eingeschleppt mit importierten Hölzern.

Im Jahre 1766 entstand in Paris auf offener Straße eine Panik, weil
ein Wesen daherschwirrte, das ein grasgrünes Licht mit der Helligkeit
einer Laterne fliegend ausstrahlte. Offenbar war das in dieser Zeit
miserabler Straßenbeleuchtung ein sehr außergewöhnliches Ereignis --
heute fürchte ich, daß man es auf der Leipziger Straße in Berlin gar
nicht bemerkt hätte. Es war der Cucujo, der riesige Leuchtkäfer der
Havana, der ebenfalls mit amerikanischem Holz als „blinder Passagier“
herübergekommen war.

Wenn Berlin, wenn Paris einmal wieder versänken bis auf eine Art
geologischer Schicht mit spärlichen Kulturresten wie Babylon oder
die Stadt, die Schliemann als Troja ausgegraben hat, so würde der
Naturforscher sich den Kopf zerbrechen über die unendlichen Massen
von Austernschalen in diesem Schutt. Vielleicht würde er Theorien
ersinnen über eine andere Lage der Meeresküste, würde die Nordsee bei
Berlin branden lassen. Denn eine Weltstadt etwa wie Paris verbraucht in
einem Jahr über hundert Millionen Austern, die alle künstlich vom Meer
herbeigeschafft werden und alle einmal in ihr gelebt haben müssen.

Aber eigentlich doch noch viel interessanter ist die Tierwelt der
Großstadt, die der Mensch nicht zu holen brauchte, -- die von selbst
einwandernde Tierwelt, die dieses Häusermeer aufgefaßt hat wie ein
Stück neuer Landschaft, wie eine neu zu bevölkernde Insel.

Zwiefach ist diese Eroberung gewesen, zwiefach wie das Bild der
Großstadt selbst.

Auf der einen Seite ist diese Stadt ein Triumph des Lichts, der
Oeffentlichkeit. Das intimste Privatleben scheint beständig
hineingerissen in den Strudel der Straße, mit hunderttausend Fenstern
starrt der Himmel in jeden Winkel, nachts flammt das Ganze in blauem
und gelbem Licht wie ein einziger ungeheurer Leuchtkäfer.

Die Kehrseite ist der Umschlag in größte Verborgenheit, ein beständiges
Verlorengehen ungezählter Spuren in der dunklen Unterschicht dieses
Häuserozeans, in einem einzigen großen Keller gleichsam, neben dem
Licht das Geheimnis der Großstadt.

Beides nun hat sich das Tier zu nutze gemacht.

Es ist ein alter Satz der Naturgeschichte, daß das menschliche Haus
dem ungezähmten Tier von jeher erschienen ist unter dem Begriff der
„Höhle“. Das wird angefangen haben, als der Steinzeitmensch wirklich
noch in Höhlen wohnte, aus denen er bei uns den Höhlenbären und in
Amerika das Riesenfaultier erst vertreiben mußte und an deren Decke
die Fledermäuse hingen. Aber auch als er Häuser aus Holz und Steinen
aufbaute, behielten sie dem Tier den Höhlencharakter. Türen, Fenster,
Dachluken waren die Höhleneingänge, Keller, Speicher, jeder unbewohnte
Raum erwünschtes Versteck.

Höhlentiere ausgesprochener Art haben sich von jeher denn auch als
stille, ungerufene Teilhaber der menschlichen Wohnungen gezeigt,
Nachttiere, die im Dunkeln Bescheid wußten, wie die Maus und die Ratte,
die Fledermaus, der Marder und die Eule.

So beredt wir die Weltstadt preisen mögen: in der Kritik dieser Tiere
ist auch sie nach wie vor bloß die ins Labyrinthische vergrößerte Höhle.

Ihr höchster Speicher ist das gotische Zackenwerk des höchsten
Domturms, ihr tiefster Keller der Kanalisationsraum. Da oben und da
unten haben sich parallel zum Heranwachsen der Großstadt spannende
kleine Romane der „wilden“ Tierwelt abgespielt.

Mit dem Uebergang einst von Dörfern in Städte überhaupt war manches
patriarchalische Verhältnis von Mensch und Vogel unwiderbringlich
verfallen: so das Storchnest auf dem Dach. Aber aus dem Dächermeer
wuchs der Domturm ins Blaue -- und in ihm siedelte sich mit treuer
Liebe der kleine, edelgeformte Turmfalke an. Kein Kunstfreund aus den
Tagen Meister Erwins oder der Brüder Boisserée hat fester zur Gotik
gehalten als dieser zierliche Raubvogel. Das Straßburger Münster, der
Kölner Dom waren ihm die erwünschtesten „Höhlen“. Aber ihn selbst
umspann die Romantik menschlicher Träumerei. Es heftete sich ihm die
Legende an, daß er einem andern Höhlenvogel, den der Mensch offiziell
in seinen Schutz genommen, nach Leib und Leben stelle, nämlich der
Taube. In Wahrheit ist er zu schwach, um auch der dümmsten Taube ein
Leides anzutun, und seine wirkliche Nahrung -- Mäuse und schädliche
Insekten -- sollte ihn selbst zum ausgesprochenen Schützling des
Menschen stempeln. Aber der Wahn sitzt fest, und immer wieder muß der
Unschuldige als böser Taubenstößer bluten. Ehe der Irrtum ausgerottet
ist, wird er es sein.

Umgekehrt in der Tiefe hat sich das Tierdrama des Rattenkampfes,
zunächst unabhängig vom Menschen, vollzogen.

In der mittelalterlichen Stadt und noch in jener etwa, wo der junge
Goethe aufwuchs, lebte die schwarze Hausratte überall. Dunkel war sie,
in echter Schutzfarbe finsterer „Höhlenwinkel“ des altertümlichen
deutschen Stadthauses. Auch sie ist einmal „gekommen“, aber keiner weiß
mehr woher. Gewiß ist, daß die Griechen und Römer sie nicht kannten,
gewiß aber auch, daß sie in den Tagen des Albertus Magnus (um 1250)
allgemein da war.

Dann aber, eben in der Zeit, da die Großstadt sich in ersten Anfängen
zeigte, kam (mit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts) die
braune Wanderratte aus Rußland herüber und eroberte Kultureuropa.
Im Herbst 1727 war sie beobachtet worden, wie sie in unermeßlichem
Gewimmel aus der asiatischen Steppe kommend bei Astrachan die Wolga
überschwamm. 1750 hatten sich die ersten Vorposten in Ostpreußen
gemeldet. Dreißig Jahre später war ganz Mitteldeutschland voll. 1809
erschien sie in der Schweiz, nachdem sie lange vorher schon England
erobert hatte. Mit der englischen Flotte ist sie dann buchstäblich um
die Welt gegangen.

Bei uns warf sie sich sofort mit der Kraft des Bauern auf die
Städterin. Und indem sie die schwarze fortbiß, nahm sie selbst Besitz
von der Stadt und mit dieser wachsend von der Großstadt. Kaum daß in
einem alten Patrizierhaus noch die Ratte der guten alten Zeit fortlebt.

Sie war ein kleinstädtisch verträgliches, ängstliches Tier gewesen,
diese dunkle Ratte. Die neue mit ihrer Lehmfarbe feuchter Neubauten
wurde rücksichtslos, derb wie die neue Großstadtkultur. Die alte war
für eine gewisse Solidität ihrer „Höhle“, Trockenheit und Reinlichkeit
gewesen. Die neue nahm Feuchtigkeit als eine Pioniernotwendigkeit des
Weltfortschritts, sie stieg in die Keller und vom Hauskeller zuletzt in
die Großstadtkeller: in das ganz düstere unterirdische Kanalnetz.

Die Pariser Belagerungsratte taucht hier auf, die vielgefürchtete
„Kanalratte“, eine Weile die Tyrannin geradezu eines kolossalen
Großstadtorgans, die der Mensch aus seinem eigenen kunstvollen Werk
nicht wieder herausbringen kann. Aber auch ihr Alexanderpunkt in der
Welteroberung ist überschritten. Gegen sie wendet sich diesmal nicht
die Legende, sondern die Wissenschaft, und die wird sicher mit ihr
fertig werden. Es hilft ihr nichts mehr, daß sie allmählich auch noch
anfängt, ihre Farben zu wechseln und nachzudunkeln gleich der alten
Hausratte, die, wenn nicht alle Anzeichen trügen, ganz vor Zeiten
ebenfalls einmal braun war und erst in der Höhle des mittelalterlichen
Hauses schwarz geworden ist.

Je heller das Haus der eleganten Großstadtteile wird und je mehr
die teuren Mieten den Luxus einer „Rumpelkammer“ einschränken, um
so rapider geht es auch mit der Hausmaus abwärts. Kein Mensch kennt
ihre Herkunft. Auch sie war auf einmal da, eine schier unzertrennbare
Genossin des Menschen. Ihre Urheimat wird wohl nie mehr festzulegen
sein, doch ist es schwerlich wie bei der Ratte die asiatische Steppe
gewesen. Die „Erfindung“ der Stadt war aber auch für sie ein Ereignis
ohnegleichen. Ihre Idealwelt war dann das alte, winkelige Stadthaus
mit morschem Holzwerk, die alte, enge, finstere Gasse, die ohne Mühe
überquert wurde. Manchmal, wenn ich heute durch den elektrischen
Sonnenglanz der Leipziger Straße wandle und als Vision der Zukunft eine
Weltstadt sehe, bloß noch aus Eisen und Glas, unzählige Stockwerke
übereinander, mit Aufzügen statt Treppen, und alles nächtlich
durchflutet vom blauen Strahl, tags vom unerbittlich grellen Licht --
dann denke ich an die Maus in ihrer letzten Phase: auf der Wohnungsnot.

Im Grunde war sie ein lustiges Tier, das der Menschheit doch auch Spaß
gemacht hat. Hin und wieder hat sie einen alten, ohnehin wurmstichigen
Gedanken aus unsern Bibliotheken und damit dem Menschengedächtnis
herausgenagt -- ob das in der Ueberfülle so schlimm war? Schließlich
ist alles Vernünftige doch siebenmal siebenmal immer wieder gesagt
worden.

Sicherlich wird es einmal ein Museum ausgestorbener Großstadttiere in
der Großstadt selbst geben. Ob auch der Sperling dann dort ist?

Als Straßentier im heutigen Sinn höchst wahrscheinlich.

Welcher Abstand: zwischen der afrikanischen und indischen Stadt, wo ein
so riesiger Vogel, wie der Marabustorch, in Scharen die Straßen belebt
und doch noch nicht mit dem ganzen Berg von Abfällen fertig werden
kann, den jeder Tag neu anhäuft, und der Weltstadtstraße, die in ihrer
polizeilich geregelten Reinlichkeit schließlich nicht einmal mehr ein
Spätzlein sättigen kann!

Heute ist von allen Tieren der Großstadt der Spatz mir das
interessanteste. Nie ist er im ganzen zahm geworden, obwohl er sich
im einzelnen Fall sehr gut zähmen läßt, und obgleich die Freude aller
sinnigen Menschenkinder an diesen Herrgottsnärrchen immer groß genug
gewesen ist. Die scheue, wilde Felsentaube hat der Mensch aus ihrer
natürlichen Höhle herausgeholt und als Haustier an sich gewöhnt, die
Katze sogar ist bedingt zahm geworden: der Sperling in der gleichen
Zeit nicht. Aber sein Lernen, sein eigenes, unbeeinflußtes Lernen ist
darum doch Hand in Hand gegangen mit der ansteigenden Kultur.

Er hat ein großes Sündenregister auf sich, der gute Spatz, -- wer will
es leugnen. Er ist keineswegs so nützlich, als Maikäferjäger und sonst
als Ungeziefertilger, wie es eine Zeitlang seinen ornithologischen
Gönnern schien. In Nordamerika, wo man ihn ob dieses auf Treu und
Glauben genommenen Nutzens künstlich aus Europa eingeführt hat, ist
er zum Lohn aller Liebe zur wahren Landplage geworden. Dort wie
bei uns nimmt er viel besseren Vögeln die ohnehin heute so knappen
Nistgelegenheiten fort. Er verscheucht uns den lieben Rotschwanz,
seit alter Germanenzeit ein segenbringendes Hausgeistchen des
Menschenheims. Selbst den Star bedrängt er durch seine Masse.

Aber wer ihn vom Maßstab der Intelligenz aus nimmt, der muß ihn
bewundern, muß ihn schließlich lieben in seiner Eigenart. Alle Höhe
kleiner Vogelklugheit steckt in ihm. Selbst jener Schönheitssinn, den
wir gemeiniglich nur in fernen Landen, beim Paradiesvogel Neu-Guineas
und beim Laubenvogel des australischen Busches suchen, ist ihm nicht
fremd. Kleinschmidt, also ein unanfechtbarer Kenner, hat beobachtet,
wie er einen Nistkasten, den er besetzt, mit einem Stengel blauer
Hyazinthen geschmückt hatte.

Sein Triumph aber ist die Großstadt.

Er bildet in ihr den Gipfel der Eroberung gerade des lichtesten,
öffentlichen Gebiets, der hellichten Straße im Gegensatz zur Höhle.

Man muß das Bild nebeneinander sehen: eines wackeren Provinzlers unter
uns Kulturmenschen selbst, der zum erstenmal etwa in die Wogen des
Berliner Alexanderplatzes sich geworfen fühlt, eingekeilt zwischen
die donnernden Kolosse der Pferdebahnen und elektrischen Wagen, mit
jedem ängstlichen Schritt tastend auf ein neues, gefahrdrohendes
Geleise, betäubt vom Lärm, verzweifelt, hilflos -- und dazu eines
waschechten Großstadtsperlings, der gemächlich wie ein uralt
routinierter Weltfahrer in diesem wirbelnden Ozean der hastenden
Kultur beiseite -- nicht fliegt, sondern trippelt, wenn das Gebirge
eines solchen Straßenbahnwagens sich gegen ihn heranwälzt. Nur ein,
zwei Menschenschritte weit trippelt er fort, keinen Zoll mehr, als
unumgänglich nötig ist, nicht die Spur nervös -- wie kann man denn
bloß, es ist ja immer dasselbe, und je größer der rollende Berg, desto
sicherer, daß er auf seinen Schienen vorbeischmettert, ohne individuell
von mir Notiz zu nehmen.

Brentano erzählt aus seiner Jugend die lustige Geschichte von zwei
hitzigen Rabbinern, die so weltvergessen über eine Stelle des Talmud
stritten, daß schließlich einige Eimer Wasser über sie ergossen
werden mußten, um sie wieder in die Wirklichkeit zurückzurufen. Die
Notwendigkeit, den Leipziger Platz in Berlin zu überschreiten, dürfte
den gleichen Erfolg erzielt haben. Der ausgepichte Großstadtspatz aber
läßt mitten im Getümmel und Ausweichen auch nicht eine Sekunde ab von
seinem Keifen, wenn er gerade recht dabei ist -- er wechselt ein
Dutzend mal in wenigen Augenblicken das Geleise, um Platz zu machen,
schwätzt und schwadroniert aber unentwegt dabei weiter.

Jahrelang haben mich die Sperlinge der großen Berliner Bahnhofshalle
am Schlesischen Bahnhof amüsiert. Der riesige Schildkrötenpanzer des
Hallendachs bot ihnen Unterkunft, der heiße Dampf der Lokomotive
heizte ihnen das Heim, und da summten und zwitscherten sie nun in
einem solchen Massenton, daß er zwischen allem Pfeifen und Dröhnen
der unablässig ein- und ausrollenden Züge immer noch wie eine feste
Grundmelodie zu vernehmen war.

In den ungeheuren Dimensionen menschlicher Kultur wiederholte dieses
Dach den Vögelchen etwas, was findiger Spatzenverstand im fernen Afrika
im kleinen selbst sich zu bauen weiß. Da haust im Mimosenwald der
sogenannte Siedelsperling. Gleich den lustigen Vögeln bei Aristophanes
ist er zu einer Art Staatenbildung übergegangen. Zu Tausenden bauen sie
aus Gras ein gemeinsames Dach, das wie ein großer Heuschober in den
Zweigen hängt, unter diesem Gemeinschaftshaus aber sitzen dann erst die
Einzelnester, jedes mit seinem Eingang wie ein Häuschen in einer im
ganzen wohlbefestigten Stadt.

Ein Seitenstück zu jenem Gesumme lustiger Großstadtvögel sind im
Frühjahr die Frösche im Berliner Friedrichshain.

Ringsum die Mietskasernen himmelhoch wie Mauern um den grünen Fleck.
Den ganzen Tag lärmt der wildeste Großstadttrubel daran hin. Nun in
der Nacht aber ebbt das Geräusch langsam ein, bis gegen Morgen eine
förmlich feierliche Ruhe kommt. Der Duft der zahllosen violetten
Fliederblüten fließt vom Hain her in die öden Straßen. Und nun
der Triller der Frösche, schmetternd laut, die Stimme des freien
Eindringlings auf eine Weile Sieger über das ganze Maschinenwerk der
Großstadt.

Unwillkürlich denkt man in solchem Moment an die Kraft dieses kleinen
und kleinsten Tiervolks, an der sehr gut Wohl und Wehe einer ganzen
Weltstadt hängen können.

Eine Weltstadt -- und trüge sie die Traditionen der ewigen Roma, die
Traditionen einer Weltherrschaft: sie muß veröden, als unbewohnbar
endlich doch noch verlassen werden, wenn eine ganz simple statistische
Ziffer steigt -- die Ziffer der Malariaanfälle. Die Malaria, das
tückische Sumpffieber, aber wird, wie wir heute zu wissen beginnen,
eingeimpft durch eine Mücke. Ein gewisser Prozentsatz Mücken -- gegen
Rom, das kein Barbarensturm in Jahrtausenden ernstlich hat bedrohen
können!

Wir lassen eine andere Ziffer in Gedanken steigen, die Anzahl der
Individuen des berüchtigten „Bohrwurms“, einer wurmartig gestalteten
Muschel, die den solidesten Holzpfahl durchlöchert und verdirbt --
und eine Großstadt auf solchen Pfählen, wie Amsterdam, gerät ins
Wanken, stürzt Vineta nach. Es war im Jahre 1730, als schon einmal
die furchtbarste Panik durch Holland ging, aufregender als aller
Kriegsschrecken dieses geprüften Landes: alle Dämme sollten stürzen,
weil der Bohrwurm, winzig selbst nur wie ein Regenwurm, sich ins
Ungemessene zu mehren beginne. Die Gefahr verzog sich noch einmal. Sie
wäre, erfüllt, der absolute Untergang der ganzen Niederlande gewesen.

Dagegen aber das umgekehrte Bild: Trillionen und Abertrillionen,
märchenhaft unfaßbare Zahlen winzigster, einzelliger Tierchen, der
sogenannten Miliolideen, häufen ihre Kalkschalen aufeinander, bis aus
dem Ganzen ein fester Kalkstein wird. Und aus solchem Kalkstein baut
der Mensch eine Großstadt, baut sie, dank der Arbeitsleistung jener
tierischen Baumeister, die Millionen von Jahren vor seiner Zeit lebten.
Große Teile von Paris sind so entstanden.

Vor solchen Bildern gewinnt das Tierleben der Großstadt einen
dämonischen Zug: die wirkende Kraft des Planeten erscheint darin,
auf dem auch die meilenbreite Weltstadt nur ein Pünktchen, ein
Schimmelfleckchen ist.




Keplers Traum vom Mond.


In unsern Tagen ist ein altes Buch wieder ausgegraben und lesbar
übersetzt worden: Keplers „Traum“.

Dem äußeren Gewande nach ein launiges Märchen, enthält das Werk doch
alles, was Kepler aus dem Wissen seiner Zeit und den Tiefen eigenen
Forschergeistes über unsere Nachbarwelt, den Mond, zu sagen wußte.

Das kleine Buch verdient seine Auferstehung, die zugleich eine
Rückverwandlung aus einem farblosen, angelernten Latein in die eigene
Muttersprache des großen, liebenswürdigen Kerndeutschen Johannes Kepler
ist. Und es verdient sie nicht bloß als eine besonders liebenswürdige
Gabe des großen Mannes. Wer sie aufmerksam liest, dem erscheint wie
eine seltsame, traumhafte Nebelgestalt hinter dem „Traum“ etwas viel
Gewaltigeres.

Jahrhunderte menschlichen Erkenntnisdranges ziehen vorbei. Am Himmel
glänzt geisterhaft die erleuchtete Mondscheibe, -- mitten im Vollglanz
mit dem Rätsel ihrer dunklen Flecken. Geist, Auge und künstliches
Sehwerkzeug des Menschen mühen sich darum. Immer neue Erklärungen --
und Irrtümer. Und das bis heute.

Kepler wollte ein Märchen vom Mond schreiben und gab eigentlich alle
seine Weisheiten und Wahrheiten. Nun sind dreihundert Jahre darüber
hin, und wir geben Weisheiten und Wahrheiten. Ob wohl eine dritte Zeit
kommt, die uns nachweist, daß wir eigentlich Märchen geschrieben haben?

Es trifft das auf große Teile unserer wissenschaftlichen Forschung
überhaupt zu, und der Gedanke lehrt Bescheidenheit. Der Mond ist
nur ein einzelnes Beispiel. Aber er ist ein ganz besonders gutes,
wohl wert, daß man sich einen Augenblick von ihm erzählen läßt, --
nicht wie er wirklich beschaffen ist, denn das ist ja von Kepler bis
heute eben die Streitfrage; sondern wie mehr oder minder schlau die
Menschenkinder fünfzigtausend Meilen weit von ihm entfernt auf der Erde
sind.

In unsern Schulbüchern erscheint Kepler als der arme Mensch, der
nach den Sternen schaute und darüber auf Erden verhungert ist. Das
mag auf sein äußeres Leben zutreffen, obwohl es auch da beträchtlich
übertrieben ist.

Innerlich aber ist Kepler einer der glücklichsten Menschen gewesen, die
je gelebt haben. Er stand auf der Grenze zweier Zeiten und empfand das
doch nicht als Bitterkeit. Der tiefe, befreiende Glaube seines Lebens
war die Harmonie der Sterne. Und doch rangen sich gerade innerhalb
dieses Harmonie-Gedankens damals zwei Welten des menschlichen Denkens,
der menschlichen Deutung voneinander los.

Die eine Deutung reichte herauf von den Gefilden Chaldäas an der grauen
Grenze aller höheren Menschheitskultur bis an den Hof Rudolfs des
Zweiten von Habsburg und Wallensteins.

Sie suchte die erste und wichtigste Beziehung, die dem Menschengeiste
zugänglich sei, in einem mystischen Harmonie-Verhältnis zwischen
Stern und Mensch. Die Astrologie setzt hier ein. Das Schicksal
jedes Einzelmenschen war das Schicksal seiner Sterne, die über der
Geburtsstunde strahlten.

Man muß dieser Auslegung lassen, daß sie einen Punkt der Größe hatte:
eben den Gedanken einer ewigen, ehernen Weltharmonie. Im letzten Gefüge
des Kosmos hängt ja wirklich alles zusammen: der fernste, unserem
Auge kaum noch glimmende Fixstern und das kleine Menschenkind, das in
diesem oder jenem Augenblick auf dem Planeten Erde geboren wird. Aber
um +diesen+ Zusammenhang in seinen Fäden zu erraten, gehörte eine
ungeheuerliche Kenntnis des ganzen Kosmos dazu. Der Blick müßte das
ganze Netz all der unzähligen Goldfäden wieder auseinanderspinnen,
die durch die Millionen des Raumes, durch die Millionen der Zeit in
diesem Kosmos gehen. Einem solchen schrankenlosen Blick würde die ganze
sichtbare Welt wie ein unermeßlich sich breitender Baum erscheinen.
Dort ein Sproß: der entlegene Fixstern; und hier einer: das Erdenkind,
das zum erstenmal die blauen Augen gegen die Sonne kehrt.

Aber eine scherzhafte Vorstellung: solche wahre Weltenschau für eine
Zeit, die noch nicht einmal die großen Planeten der Sonne alle kannte
und weder recht ahnte, was ein Stern war, noch was ein Menschenkind
war! Aus dem gesuchten Harmonie-Verhältnis wurde eine mehr oder minder
grobe Spielerei, die ein Wissen vorspielte, das tatsächlich nicht
bestand.

In Keplers Tagen erlosch trotz Rudolf und Wallenstein langsam das
bleiche Gestirn dieses übereilten Glaubens an die astrologische
Harmonie.

Kepler kämpfte das noch mit durch. Er stellte Horoskope, und die
Menge feierte ihn als den König der astrologischen Propheten. Er aber
mußte sich in unbefangener Stunde gestehen, daß sein nach Harmonien
dürstendes Gemüt hier ein Feld beackere, das eitel Stein und Dornen
war. „Wahrlich in aller meiner Wissenschaft der Astrologie“, schrieb
er einmal, „weiß ich nit so viel Gewißheit, daß ich eine einzige
Spezialsach mit Sicherheit dürfte vorsagen.“

Die Dinge spitzten sich scharf genug zu, daß ein faustischer Zweifler
mit aller Bitterkeit des Zweifels sich hätte entwickeln können, -- bis
zum Verzweifeln.

Aber es lag in der Gunst dieser gleichen Menschheitsstunde, daß sie
die Sehnsucht nach Harmonie auf ein neues Gebiet von unvergleichlich
fruchtbarerer, wenn schon schwererer Art hinüberleiten sollte.

Neben diese Astrologie trat die durch Kopernikus eben in neue Bahn
gelenkte Astronomie. Sank auch die erträumte Harmonie zwischen Stern
und Mensch, so bot sich doch ein neuer, eigentlich ebenso wunderbarer
Einblick in harmonische Verhältnisse der bewegten Sterne des
Sonnensystems unter sich.

Und der Mensch, wenn er auch aus dem Prophezeien seiner kleinen
Lebensgeheimnisse herausgeriet, durfte sich doch auf einmal als
Mitwisser fühlen erhabenster kosmischer Zusammenhänge. Eine neue
Gottesflamme loderte in seinem Blick. Ein riesengroßes Stück Welt
erwies sich erbaut auf Maß und Verhältnis -- ein Stück Welt, in dem
ganze Planetenabstände und Umläufe nur Stationen, nur rhythmische
Wellen, nur Ziffern einer mathematischen Gleichung waren.

In dieser neuen Harmonie der Sterne lag Keplers wahres Schicksal, und
sein wahres Glück war zugleich, wie glatt er den Weg hier hinüber fand.
Der zweifelnde Astrolog entdeckte die unanzweifelbaren „Keplerschen
Gesetze“ des Planetensystems. Freilich mußte er dazu sich auf ganz
andere Hülfsmethoden einschulen, und es war eben seine geistige
Größe, die ihm das ermöglichte, die Geisteskraft, die ihn zum Schüler
und Erben des großen Beobachters Tycho Brahe werden ließ und ihm
schließlich den Rang auch des kenntnisreichsten und gerade streng
wissenschaftlich logisch schärfsten Astronomen seiner Zeit errungen hat.

Und doch immer der gleiche Grundgedanke: Weltenharmonie!

Kepler hörte auf, Astrolog zu sein. Aber nur, weil er ein besseres
Gebiet für seine tiefe +künstlerische+ Sehnsucht fand. Der Traum
erlosch ihm, daß etwa die Stellung des Planeten Mars an dieser oder
jener Himmelsstelle das Glück oder Unglück einer armen umgetriebenen
Menschenseele bedeuten sollte. Sein ganzes inbrünstiges, echt
künstlerisches Verlangen aber fand Befriedigung in der sicheren
Erkenntnis, daß sich etwa die Quadrate der Umlaufszeiten aller Planeten
wie die Würfel ihrer mittleren Entfernungen von der Sonne verhalten.

In einem Gemisch von kühn herumversuchender Phantasie und schärfster
Nachrechnung auf Grund der vorhandenen Beobachtungen gewonnen,
beruhigte solche Erkenntnis zugleich sein Harmoniebedürfnis vollkommen.
Es war ein Fall für viele. Dieser eine exakt begründet und sicherlich
„stimmend“, -- das genügte ihm. Mit Phantasie sah er dann dahinter
zahllose Zusammenschlüsse ähnlicher Art, -- bis zu dem goldenen
Endziel einer Welt, wo alles in der Seligkeit +unermeßlich+
ineinandergeschachtelter Harmonien hing.

Man muß sich diese Dinge kurz vergegenwärtigen, wenn man Keplers
strahlenden Lebensinhalt in seiner Freudigkeit und seiner, man möchte
wohl sagen, Skrupellosigkeit recht verstehen will.

Phantasie und Wirklichkeit, das Ideal harmonisch schaffender Kunst und
die langsam von Fall zu Fall kritisch vorschreitende Forschung der
Wissenschaft stellten sich diesem großen Pfadfinder an der Scheide
zweier Zeiten in vollkommener Versöhnung dar. Jede war ihm nur eine
Schale desselben Kerns. Phantasie und Forschung strebten beide auf
dasselbe Endziel. Und die Wahrheit war nicht ein leidiger Kompromiß
beider, sondern ihre Begegnung im Sinne, wie sich zwei Bergleute
endlich begegnen, die von zwei Seiten her einen Tunnel gegraben haben.

In unserem Jahrhundert ist Fechner eine verwandte Natur gewesen.
Ich glaube, daß die Zeit nahe ist, wo wir allgemein wieder mehr das
Bedürfnis empfinden werden, zu solchen Gestalten gerade wie Kepler oder
Fechner zurückzukehren, -- zu unserer Beruhigung im vollen Ideal ohne
Zwiespalt.

In diesem innerlich sonnigen Leben spielte nun der Mond allezeit seine
bedeutende Rolle.

Kopernikus hatte die Welt neu gemacht. Tycho hatte noch nicht daran
geglaubt. Jetzt für Kepler aber bestand kein Zweifel mehr. Durch das
ganze Geistesleben der Menschheit schillerten die Lichter des neuen
großen Gedankens: die Erde ist bewegt, die Sonne ruht, alle Planeten
umwandeln sie. Der Mond war dabei der einzige, der in seiner alten Bahn
blieb. Von allen blieb er auch +nach+ Kopernikus noch der Erde
treu. Und doch mußte auch für ihn mancherlei umgedacht werden.

Wenn man sich mit Phantasie auf ihn selber hindachte, die Erde, die
Planeten, das ganze System von ihm aus beobachtet dachte, -- wie würden
die Dinge jetzt aussehen? Die Phantasie hatte eine ganz neue Basis, auf
der sie aufbauen konnte. Wenn es Mondbewohner gab -- das klassische
Altertum hatte schon an so etwas gedacht --, wenn diese Mondbewohner
Astronomie trieben, die Gestirne beobachteten, -- wie erschienen ihnen
die Verhältnisse, die Bewegungen, die Kopernikus lehrte, da oben?

Aus solchen Ideen ist Kepler auf das kleine Buch gekommen, das Ludwig
Günther übersetzt hat: eine „Astronomie des Mondes“ in dem Sinne, daß
die kopernikanische Astronomie dargelegt wird vom Standpunkt des Mondes
als Sternwarte aus.

Heute erscheint uns das an sich nicht mehr als etwas so
Außergewöhnliches. Wir sind alle an volkstümliche Werke über
Himmelskunde gewöhnt, die von Schilderungen und Abbildungen strotzen,
wie etwa die Erde vom Mond gesehen ausschaut, oder die Sonne vom
Jupiter, oder der Ring des Saturn von seinem Planeten aus.

Damals aber war es in seiner Art ein geradezu kolossaler Gedanke, so
etwas aus gutem Wissen und einer Phantasie, die sich nicht scheute, auf
dem Kopf zu laufen, in einem ersten Beispiel zusammenzubrauen.

Kepler hat viele Jahre an dem Büchlein herumgefeilt. Erst hat er
es im Umriß rasch improvisiert, bis gegen 1609 hin. Dann hat er es
lange liegen lassen, um in reifsten Jahren selber eine Art kritischen
Kommentar dazu wie zu einer wiedergefundenen Jugendarbeit zu schreiben.
Trennen konnte er sich auch jetzt noch nicht so davon, daß er es der
Oeffentlichkeit anvertraut hätte. 1629 schrieb er an einen Freund in
scherzendem Tone darüber als eine Art Bädecker für Mondreisende, wie
wir heute sagen würden: „Verjagt man uns von der Erde, so wird mein
Buch als Führer den Auswanderern und Pilgern zum Monde nützlich sein.“

Es war ein Jahr vor seinem Tode, in einer Zeit höchster materieller
Bedrängnis, wo er auf Zahlungen aus Wallensteins leerer Kasse wartete,
die nie erfolgt sind. Im letzten Moment, da es ihm selber schon eine
Reise galt, größer als ins Mondland, scheint er den Druck doch noch
begonnen zu haben. Tatsächlich erschienen ist das Büchlein aber erst
Jahre nach seinem Ende, herausgegeben vom Sohne, 1634. Und auch dann
noch ist es redlich übersehen und vergessen worden. Selbst Astronomen,
die Keplers innerste Art nicht begriffen hatten, hielten es für einen
wertlosen Scherz.

Die äußere Form ist auch wirklich eine scherzhafte, wenn schon mit
hübscher Vertiefung. Kepler liegt auf dem Ruhebett und schläft. Die
Uebersetzung bietet ein vorzügliches Bild von ihm als willkommene
Beigabe, in den hohlen Wangen mancher Gram, manche Resignation, auch
gewiß physisches Leiden; aber im Auge dabei über dem steifen Halskragen
und modischen Knebelbart ein ganz leiser schalkhafter Zug, als habe er
einzelne Sätze des Mondbuchs auf der Zunge. Etwa die gute Stelle: „Im
Traum wird Freiheit des Denkens gefordert, zuweilen auch dafür, was in
Wirklichkeit wohl nicht besteht.“

Den Schlafenden fesselt alsbald wirklich ein Traum. Ihm ist zu Sinne,
als habe er sich ein Buch auf der Messe gekauft und lese darin. Und er
liest ein Märchen. Ein Sohn Islands ist zum weisen Tycho gekommen und
hat sich dort in die Astronomenweisweisheit über den Mond einweihen
lassen. Nach Jahren kehrt er in seine rauhe Heimat zurück. Er findet
seine Mutter wieder, ein altes Kräuterweib. Und staunend erfährt er,
daß sie noch tiefere Kenntnis vom Monde hat als alle Tychos der Welt.
Was dort nur Rechnung und Theorie ist, das ist für sie ein magischer
Zauber, der ihr das Geheimnis ferner Welten leibhaftig offenbart.
Mit dem Zauberwort „Kopernikanische Astronomie“ beschwört sie nicht
Ziffern, sondern einen wirklichen Geist. Und der Geist erhebt seine
Stimme und schildert das Wunderland Levania, fünfzigtausend Meilen weit
draußen im Aetherblau. Es ist der Mond. Aber der Name „Levania“ zeigt,
daß wir das Bereich der registrierenden kalten Wissenschaft verlassen
haben und auf den Flügeln der Phantasie gehen, die alles mit eigener
Lebenswärme und individuellen Namen von innen heraus durchseelt. Immer
wird die Darstellung so weit an der Grenze der Symbolik gehalten, daß
der sinnige Leser die Laune nicht verliert, und nur ab und zu schlägt
ein besonders guter Einfall um des Witzes oder der Belehrung willen
über die Stränge.

Keplers Geister -- die verkörperten Gedanken und Beobachtungen der
Astronomie -- schweben lustig zwischen Erde und Mond. Aber doch mit
einer gewissen Regel. Sie scheuen das Tageslicht, ihr rechtes Reich ist
von Natur die Nachtseite der Erde, der Schattenkegel, den die Erdkugel
in den Raum hinauswirft. Geht dieser Schattenkegel über den Mond
selber hinweg -- also bei der Mondfinsternis, -- so ist die ganze Bahn
frei, und die Geister schweben bis zum Mond, wobei sie sich freilich
etwas beeilen müssen, da der Spaß nicht lange dauert. Umgekehrt die
Heimkehr ist nur ermöglicht, wenn der Mond selber zwischen Sonne und
Erde steht, also seinerseits -- in der Sonnenfinsternis -- einen vollen
Schattenraum zwischen sich und der Erde erzeugt.

Die symbolische Beziehung auf die Hauptgelegenheiten astronomischer
Mondforschung: in der Nacht überhaupt und vor allem bei den
Finsternissen, liegt auf der Hand. Der Scherz kommt gröber zu seinem
Recht, indem Kepler hinzusetzt: es flögen bei jeder guten Gelegenheit
der Art die Geister zwar leicht dahin und zurück, verzweifelt schwer
aber sei es, erdgeborene Menschenkinder mitzuschleifen. Besonders
die Dicken und noch ein paar andere hätten viel Gefahr. Mit Humor
wird die Reise dann wirklich ausgemalt: wie die Geister die Menschen
zuerst blitzschnell emporreißen bis auf den Punkt, wo, wie Kepler
sich ausdrückt, die „magnetischen Wirkungen“ des Mondes die der Erde
überwiegen, so daß der Absturz gegen den Mond von selber ohne weitere
Hülfe erfolgt.

Die Schilderung ist weit vom Scherz fort interessant wegen ihrer
Stellungnahme zur Lehre von der Schwere. Für Kepler ist das, was wir
heute Gravitation oder Massenanziehung (also beispielsweise Anziehung
der Erde gegenüber dem Monde) nennen, noch eine Art Magnetismus. Wir
stehen, wohl bemerkt, noch weit über ein halbes Jahrhundert vor der
Tat Newtons. Immerhin war aber Kepler in der Sache Newton schon so
nahe, daß man fast sagen kann: Newton hat bloß in einen scharfen Satz
gebracht, was Kepler oft schon fast als etwas Selbstverständliches
handhabt.

Sehr drollig und zugleich doch auch in diesem Sinne lehrreich ist,
wenn er unmittelbar danach sagt, es ballten sich an jenem kritischen
Punkte (also im Moment, da die Erdschwere und Mondschwere sich in dem
Fliegenden die Wage halten) die Körper zusammen „wie die Spinnen“,
-- und das durch den charakteristischen Satz erläutert: „Indem die
magnetischen Wirkungen von Erde und Mond durch gegenseitige Anziehung
die Körper in der Schwebe halten, ist es gleichsam, als ob keine von
beiden anziehe. Dann also zieht der Leib selbst als Ganzes seine
Glieder, als den geringeren Teil, durch das Ganze an.“

Auf dem Monde angekommen, verstecken sich die lichtscheuen Geister
alsbald in den tiefen Höhlungen, um der jäh wiederkehrenden Sonne
zu entgehen. Kepler macht dazu die hübsche Randnote: es deute
das allegorisch auf die gelehrte Abgeschlossenheit, die vor dem
„Sonnenschein“ der Geschäfte des gemeinen Lebens flüchte, um in ihrer
Stille das astronomische Resultat der Mondfinsternis durchzurechnen.
„Ich hatte“, fügt er hinzu, „zu Prag eine Wohnung, wo kein Ort bequemer
war, um den Durchmesser der Sonne zu beobachten, als der Bierkeller;
aus demselben richtete ich durch ein Loch in der Decke den Tubus nach
der Mittagssonne um den längsten Tag.“

Die Stelle ist nicht ganz unverfänglich. Denn der gute Kepler kam aus
der Schule Tychos, und Herr Tycho wiederum war dafür bekannt, daß seine
verdienstlichen Studien über Mond und Mars nicht weniger gründlich
zu sein pflegten, als seine Studien im Fassesgrund. Tycho erfreute
sich dabei noch einer Eigenschaft, um die ihn manche verwandte Seele
beneidet haben mag: die Naturfärbung seiner Nase war nämlich nicht
festzustellen, da ihm schon in hitziger Jugend die ganze Nase beim
Duell heruntergeschlagen worden war und einen Ersatz in Silber gefunden
hatte.

Die symbolisch spielende Einleitung bricht hier ab. Kepler hat uns,
wo er uns haben will: auf dem Monde selbst. Und auf einmal ist es,
als raffe sich jetzt im Träumenden der Astronom zu Keplers wirklicher
Größe auf, mit allem Ernst der Logik, vor deren Sonne die Traumgeister
tatsächlich in ihre Löcher kriechen.

In einem großen hellen Panorama zieht die Himmelswelt, vom Monde
gesehen, vorbei. Der Mond erscheint, wie es vollkommen richtig ist,
mit seiner strengen Teilung in eine der Erde zugewandte und eine ewig
abgewandte Seite.

Noch heute ist es dem Laien ja durchweg ein schwierige Gedankenschluß,
wie es kommt, daß der Mond uns Erdbewohnern immerfort dieselbe Seite
zukehrt. Sein nächster eigener Schluß ist, daß der Mond eben deswegen
keinerlei eigene Umdrehung um seine Achse haben könne. Und doch
+muß+ er sie gerade haben, +damit+ uns seine eine Seite treu
bleibe. Es genügt, die eigene Hand aufrecht gestreckt um eine Lampe
oder Kerzenflamme einmal im Kreise herumgehen zu lassen, um sofort zu
merken, was nötig wird. Führe ich die Hand steif um die Flamme, so
kehrt sich auf dieser Seite der Bahn die Handfläche gegen das Licht
und auf jener der Handrücken. Die Flamme soll nun die Erde sein: sie
sähe auf je einem Mondumlauf beide Seiten des Mondes genau so, wie die
Kerze beide Handseiten bestrahlt. Aber das Kunststück ist eben, daß
der Mond +nicht+ wie die steife, niemals gedrehte Hand läuft. Er
läuft so, daß immer dieselbe Seite nach innen schaut, also bei der Hand
etwa immer die innere Handfläche und niemals der Handrücken. Machen
wir es an der Hand, die um die Flamme geführt wird, nach: damit die
Handfläche stets nach innen bleibe, muß ich beim Herumführen der Hand
um die Flamme diese Hand selbst gerade einmal auch um sich selbst
drehen. So dreht sich der Mond auf einem Lauf um die Erde genau gerade
auch einmal um seine eigene Achse, und der Erfolg erst +davon+
ist das uns ewig gleich treue alte Mondgesicht, -- die ewige innere
Handfläche des Mondes, während der Handrücken noch von keines
Erdbewohners Auge je überschaut worden ist.

Vor Keplers Traumauge stand das alles schon in voller Klarheit.

Nie ganz untergehend, schwebt ihm über der inneren Mondseite ein
ungeheures Gestirn, nach der unablässigen Umwälzung um seine Achse
die Volva genannt: die Erde. Dem Beschauer in der Mitte der inneren
Mondfläche erscheint sie wie ein gigantischer Ballon im Zenit, -- wer
aber gegen den Mondrand wandert, sieht sie am Horizont gleich einer
fernen glühenden Kuppel sich wölben. Man wird heute das „Glühen“
streichen müssen, da der Mond wahrscheinlich nur eine sehr geringe
Lufthülle besitzt, die Dämmerungsgluten kaum heraufzaubern könnte.
Kepler sah trotz gewisser Zweifel noch keinen scharfen Grund, diese
Atmosphäre zu leugnen. So läßt er auch auf der von der Erde abgekehrten
Seite seiner Levania, deren fünfzehntägige Nacht weder Sonnenschein
noch Mondschein, noch selbst den Schein der erleuchteten Volva kennt,
alles von Eis und Schnee starren unter „eisigen wütenden Winden“.

Vor fünfzig Jahren etwa, als man sich zuerst in den festen Gedanken
eingelebt hatte, daß der Mond eine Welt fast oder ganz ohne Luft sei,
hätte man auch das Eis streng zurückgewiesen. Luftlos, wasserlos
lautete die harte These. Merkwürdig aber, wie solche Lehrsätze immer
wieder auf- und abpendeln. Heute gibt es wieder eine ganze Anzahl von
Astronomen, die an Eis auf dem Monde glauben. Sie finden keine andere
Erklärung dafür, warum gewisse Stellen auf dem Monde so verräterisch
viel heller strahlen als andere. Zum Teil sind es tiefe Kraterböden,
also Stellen, wo Wasser, auch wenn es nur in geringer Menge auf dem
Monde vorhanden wäre, sich am wahrscheinlichsten angesammelt haben
könnte. Zum Teil auch gerade hohe Bergspitzen, von denen an sich
nicht recht zu begreifen ist, warum sie stets hellere Stoffe als ihre
flache Umgebung, etwa weißen Marmor, weisen sollten, während der
Schluß nach irdischer Lage der nächste wäre, daß sie eben einfach
Schneekappen tragen wie unsere Chimborazos und Montblancs. Solche
Eisablagerung gerade auf den großen Höhen (die Mondberge sind zum
Teil außerordentlich hoch) macht auf der andern Seite freilich wieder
etwas Lufthülle nötig, die allein Höhenunterschiede in der Temperatur
bedingen könnte. Aber man behauptet ja auch heute nicht mehr den
absoluten Luftmangel auf dem Mond: für „etwas“ Luft sprechen eine ganze
Reihe von Anzeichen, nur muß es unvergleichlich viel weniger sein, als
die dick mit Luft verpelzte, gleichsam in ein großes Wattekissen wohlig
hineingelagerte Erde besitzt.

Doch wir kehren mit unserm Träumer zur Erdseite zurück.

Da schwebt die Volva, das erhabenste Schauspiel des Himmels. Sie dreht
sich und weist die wechselnden Flecken ihrer Länder und Meere.

Wir reden auf der Erde vom „Mann im Mond“, die Märchen aller Völker
singen und sagen davon. Nun sind wir auf dem Monde selbst, und da hat
umgekehrt die Erde ein Gesicht. Zweigestaltig ist es freilich, da ja
beide Erdseiten in vierundzwanzig Stunden sichtbar werden. Kepler
verrät uns, wie die Gesichter ausschauen.

Jetzt ist die Ostkugel hell. Man erkennt „das Bild eines bis an die
Achseln abgeschnittenen menschlichen Kopfes, dem sich ein Mädchen
in langem Gewande zum Kusse hinneigt, mit dem nach rückwärts
ausgestreckten Arm eine heranspringende Katze anlockend“. Umgekehrt die
Westkugel zeigt eine an einem Strick hängende, nach Westen geschwungene
Glocke. Die südlichen Teile werden dabei möglichst übergangen, heißt
es, „weil Magellanika ein durch Süden sich lang hinstreckendes Land,
noch unbekannt ist und sich immer weiter erstrecken soll in beide
Hemisphären sowohl der neuen als auch der alten Welt.“

Zwischen den Zeilen dieser Schilderung sieht man auf einmal in eine
andere Schicht der menschlichen Kenntnisse von damals. Keplers
Phantasie pflanzt ihre Fahne schon auf den Mond. Wie auf ein
überwundenes Reich sieht sie die alte Erde da oben als Volva schweben.
Aber nun tritt die Schwäche der irdischen Geographie auf einmal hervor,
-- es war noch ein gut Stück Weges nötig, nur die Erde selber im
äußeren Umriß festzustellen.

Das Bild des abgeschnittenen Kopfes gibt, deutlich genug, Nordafrika:
die Wölbung des Scheitels westlich bei Kap Verde, das Gesicht auf
Europa zu, Gibraltar gegenüber die Nasenspitze, bei Tunis das Kinn. Den
Büstenabschnitt bildet roh die Ostküste hinter Madagaskar.

Dann das liebe Mägdelein, das dem Riesenmann die Nasenspitze drückt:
Europa mit Spanien als Kopf, Italien als dem einen Arm und England als
dem andern; die Katze ist Skandinavien.

Die schwingende Glocke war wohl ein schief verzeichnetes Südamerika. In
Magellanika flossen das wirkliche Australien und das sagenhafte Südland
dunkel zusammen.

Von den riesigen, blinkend weißen Eisfeldern der Pole erwähnt Kepler
kein Wort. Und doch sind es wohl die grellsten Objekte des ganzen
Bildes, Objekte, die selbst weit draußen in den Planetenräumen noch mit
geringer Vergrößerung wahrnehmbar sein müssen. Auf dem Planeten Mars,
dessen physische Beschaffenheit der Erde so auffällig nahe kommt, haben
sich entsprechende weiße Polarflecke von wechselnder Stärke mit einer
wunderbaren Deutlichkeit gezeigt, seitdem ihn halbwegs gute Fernrohre
bei uns aufs Korn genommen haben.

Das ist, was man vom Monde aus sieht. Aber was sähe man nun auf dem
Monde selbst?

Wenn wir heute so fragen, schwebt uns eine unserer großen Mondkarten
vor: eine Karte in vielen Blättern, vom Umfange eines stolzen
Atlas, mit unzähligen Einzelheiten: Kratern, Wallebenen, Gebirgen,
Strahlensystemen, Rillen, -- das Werk unendlichen Gelehrtenfleißes, an
das stille Arbeiter ihr ganzes Leben gesetzt haben. Und hinter dieser
Karte erscheinen als ihre Voraussetzung die Kuppeln von Sternwarten,
prachtvolle Instrumente, Nacht um Nacht dem Monde auflauernd wie
ein Ring unablässig wachsamer Belagerungsgeschütze, -- bis auf jene
Riesenkanonen des Geistesauges, die der Amerikaner heute auf die
luftklaren Höhen der Felsengebirge und der Anden gepflanzt hat. Wo war
das alles zu Keplers Zeit!

Wohl gab es Sternwarten, deren Ruhm durch die Welt ging. Kepler hatte,
wie erzählt, bei Tycho Brahe gelernt. Das war in Prag. Aber ehe der
alte Faust Tycho nach Prag kam, hatte er für seine Zeit ein wahres
Märchenleben als Astronom größten Stils geführt. Friedrich II. von
Dänemark hatte ihm im Sund die Insel Hveen geschenkt, und auf diesem
Hveen war unter Tychos Leitung die weltbekannte Uranienburg erwachsen,
Beobachtungstürme, Laboratorien, eine Druckerei, eine Papiermühle,
ein ganzes astronomisches Dorf schließlich, über dem der trinkfeste
Däne mit der silbernen Nase wie ein kleiner König stand. Erst 1597 zog
Tycho, verleumdet und in Krach mit dem Hof, von Hveen fort nach Prag,
worauf die Uranienburg zur romantischen Ruine zerfiel. Rund zehn Jahre
später ist das erste Fernrohr hergestellt worden.

Es ist, als sänke das ganze Bild in den Erdboden.

Auf dieser märchenhaften Uranienburg mit ihren beiden fünfundsiebzig
Fuß hohen Türmen, wo die prachtvollen Marsbeobachtungen gemacht
wurden, die für Kepler nachher die Grundlage seiner ersten beiden
Planetengesetze werden sollten, arbeitete man noch -- ohne
vergrößerndes Fernrohr! Und auch der ursprüngliche Text von Keplers
Traum ist geschrieben, ohne daß Kepler selbst damals auch nur eine
Ahnung von der Möglichkeit des Fernrohrs gehabt hätte!

Wer heute mit bloßem Auge den Mond anschaut, der sieht auch als Laie
schon ein mehr oder minder angelerntes Schulbild hinein.

In den Flecken und Runzeln sieht er die Löcher und Zacken einer
ausgebrannten Schlacke. Ungeheure Vertiefungen wie Meeresbecken, in
denen doch kein Ozean mehr wogt. Trümmerfelder, vulkanisch zerborstene,
durchlöcherte Rinde, in der doch jede Zuckung erstarrt ist. Alles
starr und tot, aber in einer schauerlich romantischen Verwüstung mit
den schroffsten Gegensätzen von hoch und tief. Ja, wir sehen das
„hinein“, weil uns allen ungefähr beigebracht ist, wie die Geschichte
im Fernrohr wirklich aussieht. Für Menschenkinder, die noch kein
Fernrohr hatten, war die Sache aber nicht so selbstverständlich.

Schon die antike Forschung hatte sich vom Märchen des Mondgesichts frei
gemacht und nahm die blanke Scheibe da oben als kreisenden Weltkörper.
Aber wie auf diesen Körper Flecken kamen, war zunächst Streitfrage.

Eine etwas dreckige Vorstellung ließ den Mond von Natur spiegelblank
sein, die Flecken aber sollten sich erklären als wirkliche
Schmutzflecken: Absatz der rußgeschwärzten Erdendünste, die da
hinaufqualmten und hängen blieben. Der alte Plinius, der das
überliefert hat, kannte den Qualm der modernen Großstadt leider
noch nicht, sonst hätte er ihn jedenfalls in erster Linie als
mondschwärzend seiner Theorie zu Grunde gelegt. Aber dieser selbe
Plinius ist zu rühmlichem Abschluß seines Naturforscherlebens erstickt
im Aschenregen des großen Vesuvausbruchs vom Jahre 79 n. Chr., der
Pompeji verschüttete. In leidiger Probe am eigenen Leibe konnte er
hier die jedenfalls kolossalste Form von Qualmentwickelung auf der
Erde erfahren. Hat doch in unseren Tagen der Vulkan Krakataua an der
Sundastraße, den das einströmende Meerwasser zur Explosion brachte,
gelegentlich auf Jahre hinaus, wie es scheint, die ganze Erdatmosphäre
in ihren höchsten Schichten mit Aschenteilchen so durchsetzt, daß
gewisse absonderliche Dämmerungserscheinungen erzeugt wurden.

Aber bis zum Monde reicht doch auch die schauerlichste Kraft des
größten Vulkans, und wenn er auch wie ein Dampfkessel platzt, nicht
hinauf. Erdenasche und Erdenruß gehen so wenig dorthin, wie umgekehrt
der Mond selber aus seinen Kratern Steine auf uns herunterspuckt.
Das Letztere ist nämlich auch einmal geglaubt worden: zur Zeit,
als man zuerst sicher zugeben mußte, daß ab und zu sogenannte
Meteorsteine tatsächlich vom Himmel herab auf die Erde fallen. Heute
wissen wir, daß solche Meteoriten in zahllosen Schwärmen das ganze
Planetensystem durchschweifen, unsere Sternschnuppen und vielleicht
die Hauptbestandteile der Kometen bilden, kurz, eine ganz anders
weitgehende Rolle im Weltgetriebe spielen, als es ein paar überkühne
Wurfbomben aus Mondkratern vermöchten.

Im Gegensatz außerordentlich zart und anmutig war eine zweite antike
Theorie der Mondflecken, die den strahlenden Silberschild des Gestirns
so blank wie nur denkbar poliert glaubte. Ja, +so+ blank poliert
sollte er sein, daß seine Fläche einfach die Erde unten, über die er
dahinwandelte, +abspiegelte+. Die Flecken sollten einfach die
wiedergespiegelten Meere der Erde sein: das Mittelmeer, der atlantische
und indische Ozean. Da aber die Flecken auch nur so, wie man sie mit
dem bloßen Auge sieht, wirklich beim besten Willen nicht zu diesen
Erdmeeren passen, so durfte man in der irdischen Geographie nicht allzu
bewandert sein, um so etwas dauernd zu glauben. Und die Idee, daß der
Mond der Toilettenspiegel der Frau Erde sei, verlor sich schließlich
und lange vor Keplers Zeit ebenso sanft wie jene andere, die ihn zu
ihrem himmlischen Müllkasten gemacht hatte.

Die dritte und zweifellos beste Vorstellung vom Mond in der ganzen
Antike findet sich bei Plutarch, also etwa in der Zeit Trajans.

Die Flecken werden erklärt teils als die regelrechten Schatten hoher
Mondberge, teils als graue, das Licht schwächer reflektierende
Meeresflächen. Wie der gewaltige Marmorkegel des Athosberges seinen
Schatten übers blaue Griechenmeer bis zur Insel Lemnos warf, so sollte
das Schattenband auch der Mondgebirge verdunkelnd über weite Flächen
wandern. Der Zufall wollte aber, daß der betreffende, höchst geistvolle
Text des Plutarch Kepler zur Zeit, als er seinen Traum schrieb, nur
unvollkommen bekannt war. Die Idee, es möchten die grauen Mondgebiete
Meere, die hellen gebirgiges Land sein, dünkte ihm geradezu falsch, da
er bei Graz auf einen Berg gestiegen war und bemerkt hatte, daß von
oben geschaut das Land dunkler, die Flüsse dagegen viel greller im
Sonnenlicht hervortraten. Erst viel später hat er diese Meinung fallen
gelassen, -- nebenbei bemerkt, eine Streitfrage, die heute wieder bei
Betrachtung der hellen, rotgelben und der dunkleren, grünlichblauen
Gebiete auf der Oberfläche des Planeten Mars bedeutsam geworden ist,
ohne daß sich bisher die Astronomen hier fest darüber hätten einigen
können; die meisten allerdings halten die rötlichen Flecken für Land
und die dunkleren entweder wirklich dort für Wasser oder aber für
dichten Pflanzenwuchs.

Jedenfalls war Kepler damals wesentlich auf sich selbst angewiesen,
und wenn auch er wenigstens für Mondberge eintrat, so war das nicht
Nachrede Plutarchs, sondern eigene Neu-Erfindung. „Obgleich ganz
Levania“, so hören wir bei ihm, „nur ungefähr 1400 deutsche Meilen im
Umfang hat, d.✹h. nur den vierten Teil unserer Erde, so hat es doch
sehr hohe Berge, sehr tiefe und steile Täler und steht so unserer Erde
sehr viel in Bezug auf Rundung nach. Stellenweise ist es ganz porös und
von Höhlen und Löchern allenthalben gleichsam durchbohrt.“ Im Folgenden
wird dann von den Mondgeschöpfen erzählt, wie sie sich, zumal auf der
von der Erde abgekehrten Seite, in diesen Löchern gegen die furchtbaren
Kontraste einer fünfzehntägigen unausgesetzten Sonnenglut und einer
abermals fünfzehntägigen Eisnacht schützten. Es liegt nahe, daß dieser
letztere Gedanke rückwirkend zum Teil erst Anlaß gegeben hat zur
Erfindung der allgemeinen Durchlöcherung der Mondoberfläche. Aber wie
hübsch war die Phantasie dabei an die Grenze des Wirklichen gelangt,
-- nicht mit den nach wie vor problematischen Mondbewohnern selbst,
wohl aber mit den „Löchern“, bei denen unser Gedanke heute sofort die
zahllosen Kraterhöhlen ergreift.

Es sollte Kepler selbst noch vergönnt sein, hier seinen kleinen Triumph
zu feiern. Denn in dieses glückselige Menschenleben fiel noch nach
der Vollendung des „Traumes“ jenes ungeheure Ereignis selbst: die
+Erfindung des Fernrohrs+.

Das liebenswürdige Büchlein erzählt uns selbst noch davon, -- meinem
Gefühl nach die schönste Stelle des Ganzen, bei der man so recht das
Gefühl hat, in einer heiligen Weihestunde der Menschheitskultur mit
dabei zu sein. Ich habe erwähnt, daß der eigentliche Text des Traumes
etwa um 1609 herum vollendet ist, in ihm also auch jene Stelle vom
durchlöcherten Mond, in dem die Mondungeheuer sich vor Frost und Hitze
bargen. Viel später erst sind die Anmerkungen beigefügt. Man merkt es.
Denn zu der Stelle kommt jetzt folgendes charakteristische Geständnis
als Note hinzu: „Hier (das heißt bei den bewohnten Mondlöchern) ist
der Verstand, verlassen von allen Beweisen des Auges, auf sich selbst
angewiesen. Aber wenn ich damals gewußt hätte, daß der Mond so viele
tiefliegende Höhlen habe, wie sie das Fernrohr des Galilei ans Licht
bringt, oder wenn ich den von der Grotte der Hekate fabelnden Plutarch
gelesen hätte, so würde ich, glaube ich, diese Sätze mit freierer Feder
geschrieben haben.“ Also Plutarch hatte er jetzt ganz gelesen. Aber
das war nur das Belanglose. Ein allgewaltig Größeres, Nachhaltigeres,
Umwälzendes war in der Zwischenzeit geschehen. Der Name Galileis umfaßt
es.

Galilei war damals, als Kepler 1609 seinen „Traum“ vollendete, in
seiner besten Zeit. In weiter Ferne noch lag die nie ganz aufgeklärte
Tragödie seines Lebensabends. Seine Augen waren stark, sein Geist zum
Größten aufgelegt. Sein Lehrstuhl ragte zu Padua, wo ihn die Venetianer
schützten, und von diesem Lehrstuhl ging es in unablässiger Folge
wie ein Leuchten durch die gebildete Welt. Der hellste Strahl, ein
Strahl, wie er Jahrhunderten so nur einmal zuteil wird, flammte aber im
Frühjahr 1610 herüber.

Wenige Monate vorher hatte Galilei über Paris Kunde von einem
geheimnisvollen Instrument erhalten, das in Holland erfunden sein
sollte. Es war das Fernrohr, das wie aus einer mystischen Versenkung
auf einmal erstanden war. Noch heute weiß man nicht sicher, wer es
zuerst zusammengesetzt hat, -- die Legende erzählt, Kinder hätten beim
Spiel geschliffene Glaslinsen hintereinander gestellt, bis der Vater
aufmerksam geworden sei. Aber es bleibt dunkel, wer der schlaue Vater
war. Genug: das Instrument war gegeben. Aber erst in Galileis Händen
bedeutete es eine neue Welt.

Die Nachricht reichte für den auch im Handwerk geschickten Meister aus:
er selbst baute sich in bleierner Röhre seine Gläser hintereinander,
und schon nach kürzester Frist durfte eine Senatskommission zu Venedig
auf dem Glockenturm von San Marko sich von der Kraft des neuen
Zauberrohrs überzeugen.

Die weitere Welt erfuhr dann davon in einer köstlichen Flugschrift,
dem „_Sidereus nuncius_“ (Sternenbote) Galileis, -- und zwar
gleich gründlich. Denn in den dazwischenliegenden Nächten hatte das
bleierne Rohr einen himmlischen Feldzug vollführt, gegen den die
unbewaffneten Augen sämtlicher Beobachter des Sternenplanes von den
urältesten Tagen chaldäischer Sternguckerei bis auf Kopernikus, Tycho
und Kepler bescheiden zurücktreten mußten.

Die Monde des Jupiter waren entdeckt, ein Planetensystem im kleinen
von unendlicher Wichtigkeit für die junge Kopernikanische Lehre. Die
Milchstraße war in ein Gewimmel dicht gedrängter Sterne aufgelöst und
damit zugleich eine Streitfrage, die schon von Demokrit und Aristoteles
ungeschlichtet heraufkam, gelöst. Das Sternbild der Plejaden war
seiner heiligen Siebenzahl entsetzt und bot auf einmal über vierzig
Einzelsterne dar. Wenig später -- und Galilei hatte Flecken in der
Sonne gesehen und er hatte nachgewiesen, daß die Venus Phasen (z.✹B.
Sichelgestalt) zeigte wie der Mond. Schließlich gewahrte er etwas
ganz Unbegreifliches, nämlich tolle Auswüchse oder Henkel an dem
altvertrauten Planeten Saturn, -- erst später ist klar geworden,
daß es sich um das fortan so berühmte große Ringsystem des Saturn
handelte. Vom Monde aber las man, las Kepler, der mit Galilei längst
korrespondierte, las alles, was nur entfernt an Sternkunde dachte
in der Zeit, im „Sternenboten“ das erlösende Wort: es gab wirklich
Mondberge, gab schattenwerfende Zackenränder über Vertiefungen -- kurz:
es gab den Mond zum erstenmal im losesten, aber immerhin doch schon
erkennbaren Umriß so, wie wir ihn heute zu sehen gewohnt sind.

Keine Entdeckung Galileis hat Kepler so bis in die tiefsten Gründe
seiner Phantasie hinein erregt wie diese. Bald hatte er selbst ein
Fernrohr in Händen und konnte beobachten. Es wühlte und gärte in
ihm wie in einem Schatzgräber, der ein Menschenleben lang mit dem
Gedanken an einen Schatz gespielt, das Gold im Traum hundertmal hat
blinken sehen und nun in einsamer Nacht bei bleichem Scheine wirklich
und greifbar vor der Erfüllung steht und die +geträumten+ Dinge
+sieht+.

Die allerletzten, spät zugefügten Blätter des Buches malen das in
lebendigstem Bild.

Die Praxis riß ihn jetzt weit hinaus über alle Theorie. Einst, vor
Jahren, hatte der Geist des Träumenden die Mondlöcher „erfunden“
als Zufluchtsorte fabelhafter Mondgeschöpfe. An schlangenartige
Ungetüme hatte er damals gedacht, die bald aus ihren Löchern in die
Sonne krochen, bald in den kühlen Schlund wieder hinabhuschten, --
Spielereien des schweifenden Gedankens. Jetzt hatte er umgekehrt die
Löcher vor sich als sichtbare Wirklichkeit, Schlund an Schlund, Kreis
neben Kreis, die ganze Mondoberfläche wie ein Sieb durchlocht bis zu
einer Steigerung, die der tollsten Phantasie vorher zu toll gewesen
wäre.

Kein Wunder, daß sich jetzt in Keplers Ideengang die Sache umdrehte.
In vollem Ernst legte er sich diesmal die Frage vor, ob diese immer
wiederkehrenden wirklichen Kreisgebilde nicht wissenschaftlich nur zu
erklären wären unter der tatsächlichen Annahme lebender Wesen auf dem
Mond. Allerdings jetzt nicht im Sinne von Lindwurmhöhlen, sondern als
+Werke intelligenter Geschöpfe von Menschenart+.

Der Text des „Traumes“ wird zur Erläuterung dieser Dinge nicht wieder
aufgenommen. Er schließt in dem Buche einfach ab mit dem Losbrechen
eines prasselnden Sturmes, der den Schläfer weckt. Der erzählende Dämon
und die anderen, heißt es, die ihre Köpfe verhüllt hatten, kehrten zu
mir selbst zurück, und ich fand mich in Wirklichkeit, das Haupt auf dem
Kissen, meinen Leib in Decken gehüllt, wieder.

Die neue, vom Fernrohr inspirierte Theorie intelligenter, bauender
Mondmenschen aber, niedergeschrieben erst in den zwanziger Jahren des
siebzehnten Jahrhunderts, gibt sich in Form eines angehängten Briefes
und einer Anzahl fester Thesen ganz ohne scherzende Beimischung.

Die interessanteste Stelle ist folgende: „Jene auf dem Mond
befindlichen Höhlungen, die zuerst von Galilei beobachtet wurden,
bezeichnen, wie ich beweise, vorzugsweise Flecken, d.✹h. tiefgelegene
Stellen in der ebenen Fläche wie bei uns die Meere. Aber aus dem
Aussehen der Höhlungen schließe ich, daß diese Stellen meist sumpfig
sind. Und in ihnen pflegen die Endymioniden (Mondbewohner) den Platz
für ihre befestigten Städte abzumessen, um sich sowohl gegen sumpfige
Feuchtigkeit, als auch gegen den Brand der Sonne, vielleicht auch
gegen Feinde zu schützen. Die Art der Einrichtung ist folgende: in
der Mitte des zu befestigenden Platzes rammen sie einen Pfahl ein, an
diesen Pfahl binden sie Taue, je nach der Geräumigkeit der zukünftigen
Festung, lange oder kurze, das längste mißt fünf deutsche Meilen. Mit
dem so befestigten Tau laufen sie zum Umfang des künftigen Walles
hin, den das Ende des Taues bezeichnet. Darauf kommen sie in Masse
zusammen, um den Wall aufzuführen, die Breite des Grabens mindestens
eine deutsche Meile, das herausgeschaffte Material nehmen sie in
einigen Städten ganz von inwendig fort, in anderen teils von innen,
teils von außen, indem sie einen doppelten Wall schaffen mit einem sehr
tiefen Graben in der Mitte. Jeder einzelne Wall kehrt in sich zurück,
gleichsam einen Kreis bildend, weil er durch den immer gleichen Abstand
des Tauendes vom Pfahl beschrieben wird. Durch diese Herstellung kommt
es, daß nicht nur der Graben ziemlich tief ausgehoben ist, sondern
daß auch der Mittelpunkt der Stadt gleichsam wie der Nabel eines
schwellenden Bauches eine Art Weiher bildet, während der ganze Umfang
durch Anhäufung des aus dem Graben gehobenen Materials erhöht ist.
Denn um die Erde vom Graben bis zum Mittelpunkt zu schaffen, ist der
Zwischenraum allzu groß. In dem Graben wird nun die Feuchtigkeit des
sumpfigen Bodens gesammelt, wodurch dieser entwässert wird, und wenn
der Graben voll Wasser ist, wird er schiffbar, trocknet er aus, ist
er als Landweg zu benutzen. Wo immer also den Bewohnern die Macht der
Sonne lästig wird, ziehen diejenigen, welche im Mittelpunkt des Platzes
sich befinden, sich in den Schatten des äußeren Walles und diejenigen,
die außerhalb des Mittelpunkts in dem von der Sonne abgewendeten Teile
des Grabens wohnen, in den Schatten des inneren zurück. Und auf diese
Weise folgen sie während fünfzehn Tagen, an welchen der Ort beständig
von der Sonne ausgedörrt wird, dem Schatten, kurz, sie wandeln umher
und ertragen dadurch die Hitze.“

Man sieht: es sind wahre Mondstädte, um die es sich handelt,
Mondstädte, deren Hauptzweck allerdings auf etwas gerichtet ist, das
wir auf der Erde nicht so beachten: auf Erzeugung von Schatten während
des halbmonatlich unausgesetzten Sonnenbrandes.

Der Leser von heute wird lächeln wie über eine tatsächlich nun doch
vollkommen spaßhafte Sache✹.....

Und doch ist im Grunde Keplers Scharfsinn bewundernswert, und wenn wir
auf die Methode gehen, so schließt er ungefähr genau so, wie wir Weisen
von heute vor neuen Objekten immer wieder schließen würden und auch
schließen müssen. In seiner Ausführung begegnen wir folgendem durchaus
logischen Gedankengang.

Er hat den Mond bedeckt gefunden mit höchst seltsamen, absolut
kreisförmigen Gebilden. Die Frage entsteht: wie soll das „natürlich“
entstanden sein? Kepler fragt: was nennen wir überhaupt „natürlich
entstanden“? Hier steht ein Gegenstand, bei dem ich eine bestimmte
Ordnung der Teile bemerke. Es gibt zwei Fälle: die Ordnung kann im
gewöhnlichen Sinne „natürlich“ sich gebildet haben. Oder es kann eine
Intelligenz im Spiele sein. „Wenn die Ursache“, sagt Kepler, „der
Ordnung von dem, was sich in der Ordnung befindet, weder aus der
Bewegung der Elemente, noch aus dem Zwang des Stoffes hergeleitet
werden kann, so ist es höchst wahrscheinlich, daß sie von einer
des Verstandes mächtigen Ursache herrühre.“ Ein Beispiel für eine
natürlich entstandene Ordnung wäre ihm der Flug einer abgeschossenen
Flintenkugel. „Die gerade Linie ist etwas Regelmäßiges, eine bleierne
Kugel, herausgeschleudert aus einem Geschoß, bewegt sich schnell in
einer geraden Linie, diese Bewegung rührt nicht von irgend einem
Verstande her, sondern sie ist die Folge einer unabweislichen
Notwendigkeit des Materials. Denn die salpeterhaltige Materie des
Schießpulvers verbrennt, von der Zündung erfaßt, und treibt die Kugel
heraus, die sich einer Ausdehnung widersetzt, und zwar, da sie sich
durch die ganze Länge des eisernen Rohres widersetzt, so wird durch
diesen gewaltsamen Druck eine geradlinige Bewegung hervorgerufen.“ Auch
im organischen Leben gibt es noch solche Beispiele natürlichen Werdens,
meint Kepler, und führt gewisse Beispiele zeitgemäßer Naturgeschichte
an.

Dagegen eine organische Tatsache wie etwa die Fünfzahl in den Teilen
von Blumen, meint er, sei schon nicht mehr im gewöhnlichen Sinne
„natürlich“ zu erklären, sie könne nicht aus der „Natur des Materials“
hergeleitet werden, sondern müsse einer Bildungskraft entspringen, „der
man den Begriff der Zahl und so gleichsam Vernunft“ zuzuschreiben habe.

Dem würde nun, als Beispiel, der moderne Darwinianer zwar auch noch
widersprechen. Aber man sieht, was Kepler will. Und man versteht
vollkommen nun seine Nutzanwendung auf den Mond.

„Im großen und ganzen zwar“, sagt er durchsichtig klar, „herrschen
auf der Oberfläche des Mondkörpers, was die Verteilung der hohen
und tiefen Stellen anbelangt, der Zufall und die durch das Material
bedingte Notwendigkeit vor; die Erde wird von unterirdischen Felsen
abgeschabt, Täler werden ausgewaschen, so daß Berge stehen bleiben,
die Wässer fließen in die tiefer liegenden Regionen ab und werden dort
durch das Bestreben aller Teile nach dem Mittelpunkt des Mondkörpers
im Gleichgewicht gehalten. +Aber+ in den fleckigen Partien
des Mondes ist die Gestalt der +genau runden+ Höhlen und die
Anordnung derselben oder die gewisse Gleichmäßigkeit der Zwischenräume
etwas Gemachtes und zwar +gemacht von einem architektonischen
Verstande+. Denn eine solche Höhle kann nicht ohne Zutun in Form
eines Kreises von irgend einer elementaren Bewegung gemacht sein ... Es
scheint also, daß wir aus dem Vorhergehenden schließen müssen, daß auf
dem Monde lebende Wesen vorhanden sind, mit so viel Vernunft begabt, um
jene Ordnungen hervorzubringen, wenn auch ihre Körpermasse nicht mit
jenen Bergen in Vergleich zu setzen ist. Denn so machen auch auf der
Erde die Menschen zwar die Berge und Meere nicht (denn die Xerxesse und
die Neros sind selten, und auch ihre Werke kann man mit dem Natürlichen
der Berge und Meere nicht vergleichen), aber sie bauen auf ihr Städte
und Burgen, in denen man Ordnung und Kunst zu erkennen vermag.“

Daß die Mondbewohner -- einmal ihre Existenz vorausgesetzt -- gerade
solche Riesenwerke zustande gebracht haben, wird noch mit einem Satz,
der direkt an Darwin anklingt, begründet: die Mondmenschen entsprechen
in ihrer Kraft eben ihrem Planeten genau in derselben Weise, „wie
bei uns es durch Gebrauch kommt, daß die Menschen und Tiere sich der
Beschaffenheit ihres Landes oder ihrer Provinz +anpassen+!“

Kepler stand vor dem Mond. Wir heute stehen vor einem viel ferneren
Weltkörper und wenden doch aufs Haar dieselbe Methode mit Recht an. Ich
meine bei der Enträtselung des Planeten Mars.

Bekanntlich sind die rötlichen Gebiete des Mars, also der gangbaren
Annahme nach seine Länder, durchkreuzt von einem wunderlichen
Netz mathematisch scharfer Linien, den sogenannten „Kanälen“.
Alles in diesen Kanälen spricht gegen grob „natürliche Erklärung“
in Keplers Sinn. Alles spricht für das Werk intelligenter Wesen,
für eine „Ordnung“, geschaffen nicht im Sinne einer vom Pulvergas
getriebenen Kugel, sondern einer von denkenden Gehirnen ausgehenden
Gedankentat. Selbst die skeptischsten Astronomen unserer Tage
raten auf Marsmenschen, die dieses Netz kürzester Verbindungen und
mathematisch strenger Linien (seien es nun wirkliche Wasserkanäle oder
nur Kulturstreifen irgend welcher Art im Wüstengebiet) hervorgebracht
haben. Keplers Schluß, -- bloß auf den Mars übertragen!

Stellt man sich Keplers Denkgröße so als solche klar vor Augen, so
ändert es wenig, wenn man hinzufügt, daß, unbeschadet aller Logik,
+sein+ Fall tatsächlich +falsch+ war.

Die Ringwälle der uns sichtbaren Mondseite sind aller
Wahrscheinlichkeit nach keine Städte geheimnisvoller menschenähnlicher
Mondbewohner. Die Voraussetzung Keplers ist schon falsch. Die „runden“
Mondgebilde sind alles eher als so mathematisch schöne Zirkel, wie sein
schlechtes Fernrohr sie ihm wies. Was er als ideal schöne Festungswälle
sah, sind wüste Gebilde, mit Zacken oben und tausend Unregelmäßigkeiten
an den Seiten. Was wir für den Mars ganz in der Linie von Keplers
Schlüssen annehmen müssen, dafür liegt gerade hier keinerlei echter
Beweis mehr vor, sobald wir eine moderne Mondkarte eingehender mustern.

Immerhin: es verdient gesagt zu werden, daß wir auch +heute+
deshalb noch nicht klar wissen, +was+ die ringförmigen Mondgebilde
nun +wirklich+ sind.

Sind es erloschene Vulkankrater, wie es gegenwärtig schon fest in den
Schulbüchern steht?

Kepler vergleicht inmitten seiner Darlegung einmal gewisse Mondlöcher
mit Butzenscheiben und zieht den Krater des Aetna dabei als Ebenbild
heran. So streifte er nahe genug an die später gültige Theorie.
Diese Theorie war sicher ein großer Fortschritt. Sie führte die
seltsamen Kreisgebilde anstatt auf Menschenwerk auf etwas zweifellos
„Natürliches“ zurück: auf die von der Erde genügend bekannte
Vulkanform. Aber hat sie deshalb recht?

Je mehr man im einzelnen die Form der Mondkrater studiert hat, desto
weiter hat sie sich tatsächlich von der Gestalt irdischer Krater
entfernt. Eine Anzahl winziger Kegelchen auf dem Mond gleicht unseren
Vulkanen äußerlich wirklich. Die großen Wallebenen dagegen ganz und gar
nicht. Und diese Wallebenen gehen allmählich in die ganz kolossalen
Tiefebenen der sogenannten „Meere“ über. Soll das alles vulkanisch sein?

Die irdische Analogie hört mindestens auf, und auf sie kommt doch
eigentlich alles an.

Es gibt in der neuesten Astronomie viel kühnere Anschauungen. Wenn nun
die Mondlöcher, von der kleinsten Wallebene bis zum riesigen „Mare“
(wasserlosen Hohlflächen vom Umfang eines Meeres), das Ergebnis des
Abstürzens von oben kommender Massen wären, -- von Massen, vielleicht
einbrechend in einer Zeit, da der Mondkörper noch nicht völlig erhärtet
war? Das Bild läßt sich immerhin ausmalen. Die Erde besaß danach
einst nicht einen Mond, sondern einen Ring von in bestimmtem Abstand
kreisenden Körperchen. Der heute noch bestehende Saturnring, von dem
man jetzt fast sicher weiß, daß er aus vielen kleinen Teilchen besteht,
führt so etwas noch heute vor Augen. Aber allmählich vereinigten sich
die kleinen Trabanten. Zuerst bildete sich der „Mond“ als festes
Zentrum. Ab und zu dann noch immer ein Absturz gegen ihn hin. Bis er
alle die „Kleinen“ aufgenommen hatte, -- vorausgesetzt, daß nicht noch
immer welche als bisher unentdeckte Nebenmonde uns umschwärmen. Die
letzten Abstürze in die zähe Mondmasse hätten die heute sichtbaren
Mondlöcher erzeugt. Wobei immerhin vulkanische Reaktion des Mondkörpers
von innen heraus noch +mitgewirkt+ und auch kleine echte „Krater“
wie Maulwurfshaufen zwischen die riesigen Fallhöhlungen hinaufgetrieben
haben könnte✹....

Das mag als Bild genügen, -- als Bild, wie wenig wir noch heute „über
den Berg“ sind.

Den Mondberg!

Kepler, heute mitten unter uns, würde lächeln, -- mit jenem Lächeln
aus Schalkhaftigkeit und Resignation. Und würde uns sagen, daß es zwar
Gewißheit nirgendwo gibt, aber daß eines not sei: unentwegt kühnes
Vorschreiten mit den Waffen der Logik, diesem Prometheusfunken des
Menschengeistes.

Ich setze hinzu: und noch eines, ohne das alle Wissenschaft „Tiergeripp
und Totenbein“ im Sinne Fausts bleibt: die Versöhnung in Keplers Geist,
der große Friede zwischen Forschung und Phantasie, -- der „Traum im
Leben“, die Erkenntnis einer innerlichen heiligen Harmonie in aller
Zerrissenheit des „Wirklichen“.




Vom Krebs, der „vom Himmel fällt“.


Es war an einem der letzten Apriltage dieses Jahres.

Richtiges Aprilwetter: jetzt die Sonne glühend heiß, und jetzt eine
weiße Wolke starr ins Blaue schattend und ein Eiseshauch von ihr
niederfahrend, als wollte es wieder Winter werden.

Aber im Forst bei Finkenkrug hinter Spandau äugte der Frühling aus
allen Ecken, mit erstem Sproßgrün von jedem Buchenbusch, mit weißen
Sternchen und smaragdenen Blättchen der Anemonen und des Sauerklees aus
der alten roten Laubdecke im Waldesgrund.

Vom Forsthaus Finkenkrug zieht sich ein breiter, grasbewachsener
Weg waldeinwärts, still und einsam. Kleine Eichen stehen am Rand,
mit ihrem Flechtenpelz auf der gefurchten Rinde, sie allein noch
ganz und gar nicht vom Lenz berührt. Dann jederseits ein Graben und
drüben ein dichtes Gewirre der Stämme über halb welkem, halb grünem
Polster von hohem Büschelgras. Die glatten Erlen zu mehreren aus einer
Wurzel, nur eben erst angeflogen wie von grünem Reif. Die Birken
einzeln, grell weiß, und alle oben mit dem gleichen Troddelvorhang
baumelnder gelbgrüner Kätzchen. Auf höchstem Ast jubelte mit wahrhaft
impertinentem Juchzer ein verliebter Specht. Die Finken zirpten
immerfort leise in den halb warmen, halb fröstelnden Aprilzauber hinein.

Doch mich lockte der Graben. Um seinetwillen war ich hergefahren.

Ein zoologisches Wunder ersten Ranges hatte dieser Frühling gebracht.
In diesem Waldgraben, unscheinbar wie alle echten Wunder der Natur,
sollte es sich bergen.

Im Graben stand seichtes Wasser. Aber man sah ihm an, daß hier kein
echter, dauernder Tümpel bestand.

In dickem Wulst lag das staubig harte, zerkrümelte graubraune
Eichenlaub vom vorigen Herbst an beiden Rändern gehäuft, um ohne feste
Grenze unter den nassen Spiegel einzutreten, aus dessen ganzem Grunde
es dann undeutlich weiterschimmerte. Das vorige Jahr war hier sehr
trocken gewesen. Frei mochte das fallende Blätterwerk durch den leeren
Graben geraschelt sein. Jetzt hatten starke Frühlingsregen die alte
Laubgruft gefüllt zu vergänglichem Miniaturteich.

An solcher Grenze des feuchten Waldes bleibt aber auch die kleinste
Pfütze nicht einen Moment leer. Aus jedem Winkel, hinter jedem
dürren Blatt lauert ja durstiges Leben. In unzählbarer Masse wimmeln
plötzlich winzige Insektenlarven. Ein Frosch, eine Kröte hüpfen heran.
Schwärmende Wasserkäfer fallen ein und fühlen sich zu Hause. Wer aber
ein zoologisches Sonntagskind ist, der trifft in solcher Stunde hier
noch ein ganz anderes, rätselvolleres Geschlecht.

Wie der Schatz im Märchen zeigt es sich meist launisch nur alle
Jubeljahr. Und da die strenge Rechnung auch dafür fehlt, so kann der
Naturfreund, der jedes Tümpelchen und Aederchen seiner Gegend kennt,
ein Menschenalter auf der Suche verbringen und erlebt es nie. Mir aber
in dieser stillen Morgenstunde, da der Zaubervogel der deutschen Sage,
der Specht, vom Baume seinen Segen sprach, öffnete sich die Tiefe und
ich sah.

Eine Wolke ließ eben langsam die Sonne wieder frei. Das Wasser,
bisher dunkel wie altes Holz, begann sich aufzuhellen und nahm einen
lichtbraunen Ton an, in dem hier und dort ein Umriß dämmerte. Jetzt hob
sich aus der Tiefe dicht zur Oberfläche ein winziges weißliches Gebilde
wie ein ganz zartes, ganz feines kleines Federchen. Wie es rasch
aufstieg, schwirrte an seiner Oberseite wirklich eine Art vom Fluß
bewegten Federbartes. Aber das Zittern war willkürlich, es schnurrte
von dem Ding selber aus da oben etwas gleich dem wundervollen Rädchen
der Rückflosse unserer zierlichen Seepferdchen im Aquarium. Nun ist es
fast oben und liegt plötzlich regungslos, als trinke es das langsam
sich steigernde Licht tief in sich hinein. Je heller es wird, desto
deutlicher wird der Umriß des Elfchens. Es liegt ganz unzweideutig auf
dem Rücken, die wimmelnden Federbeinchen nach oben. Vorne ein Kopf,
hinten ein langer, schwanzartig gespitzter Anhang. Die Grundfarbe ist
wie weißrötliche, durchsichtige Menschenhaut, in der eine blaue Ader
schimmert; von den Beinchen kommt es bisweilen wie ein Blitz intensiven
Grüns. Das Ganze mahnt an ein vertrautes Bild aus den Tümpeln am
Seestrande: die allbekannte „Krabbe“ oder Garneele. Bloß daß diese noch
ein Riese ist, im Verhältnis zu unserm Elfchen wie ein ganzer kleiner
Finger zu seinem ersten Gliede. Aber es ist wahr: auch das Nixchen ist
ein Krebs, -- im Süßwasser, wo es keine Krabben gibt.

Weil seine Beine zugleich die Atmungsorgane, die Kiemen, tragen, heißt
er der Kiemenfuß, lateinisch (wörtlich übersetzt) der _Branchipus_.

Mir aber hat das wirbelnde Federchen heute etwas von dem weißen
Flämmchen, das über vergrabenen Schätzen schwebt. Denn wo der
Branchipus schon sich meldet, da erwacht die Wahrscheinlichkeit für
eine noch unvergleichlich bedeutsamere und kostbarere zoologische
Begegnung, deren Bedingungen ganz ähnliche zu sein pflegen wie die für
den Branchipus.

Die Sonne hat sich jetzt ganz aus der Wolke gearbeitet. Hier, dort,
überall steigen gespensterhaft lautlos die weißen Krebs-Nixchen zum
erwärmten Spiegel an, wimmeln wie ein Kamm und liegen dann plötzlich
starr im Sonnenbade gleich herabgeschneiten Blütenblättchen eines
Kirschbaums. Doch nun hat die Sonne den Grabengrund selber erreicht.
Als die alte Künstlerin, die alles verschönt, weckt sie die Schicht
naßfaulender Eichenblätter zu einem schillernden Goldrot, als sei der
Graben im untersten Geheimnis mit Kupferplatten belegt. Unerbittlich
scharf wird jetzt vor diesem metallisch gleißenden Teppich jedes
wandelnde, wirbelnde Leben deutlich. Eine blutrote Milbe eilt dahin,
ein plumper schwarzer Hydrophilus karaboides, ein Wasserkäfer, fegt
vorüber. Dann aber kommt ein Geschöpf langsam vom Boden höher, das
zunächst sich keinem vertrauten Tierbilde anpassen will.

Der Leser kennt aus unsern Aquarien ein großes, scheußliches Tier:
den sogenannten Molukkenkrebs. Man sagt ihm dort, daß es ein Krebs
sei, sonst würde er es nicht ohne weiteres erraten. Von oben sieht
er nämlich bloß eine mächtige, fußbreite, gewölbte Schale wie von
einer Schildkröte, doch mehr aus einem Stück. Aus dieser Schale
brechen wie Warzen jederseits ganz oben auf der Wölbung die Augen
heraus, und hinten schweift ein langer Stachel als Schwanz nach. Beine
sieht man zunächst überhaupt nicht, obwohl der groteske Deckel sich
gespensterhaft auf dem Sandboden des Wasserbeckens dahinschiebt. Erst
wenn die hemmende Aquariums-Scheibe zum Aufbäumen nötigt oder gar
zum Kippen bringt, erscheint der Krebs: unter der Deckschale wimmeln
unten eine stattliche Anzahl krebsartig gegliederter Beine, die sogar
richtige kleine Krebsscheren tragen. Das Monstrum kommt weit her,
meist von den Sunda-Inseln. Wissenschaftlich heißt es der Limulus oder
„Schieler“.

Aus den kupferroten Eichenblättern da unten vor mir also kam jetzt ein
Geschöpf, von allem Lebenden am meisten äußerlich vergleichbar solchem
abenteuerlichen Limulus der fernen Korallensee.

Klein wie mein Regentümpel war, war auch er ins kleine übersetzt. Wie
dort, so kam eine solide Schale gewackelt, gewölbt wie ein Uhrglas und
in der Größe auch ungefähr entsprechend dem Deckglase einer kleinen
Taschenuhr. Auch hier schleifte hinten ein schwanzartiges Anhängsel
nach. Und das Ganze bewegte sich wie die wandelnde Glocke in Goethes
Gedicht wuschelnd und wühlend dahin, ohne daß man Beine sah. Die Farbe
war ein Braungrün, doch wie metallisch poliert und zugleich etwas
durchsichtig, so daß bald im Sonnenglanz ein ganz blanker Spiegel
aufblitzte, dann wieder ein schillerndes reines Grün sich hob und jetzt
wieder ein tieferes Rotbraun durchzuschimmern schien.

Das Geschöpf kam aus der Tiefe, wo die zersetzten Blätter in weichsten
Schlamm sich lösten. Dann ging es von Blatt zu Blatt, mit einer
nervösen Rastlosigkeit seines ganz bewegten, an sich aber dabei
fast starren Körpers, die ich mit nichts Genauerem zu vergleichen
wüßte, als der raschelnden, wimmelnden Geschäftigkeit des Gürteltiers
im Zoologischen Garten, wenn es das Stroh seines Käfigs immer neu
durchstöbert.

Aber plötzlich ein Stoß nach oben und nun kommt es hoch und schwebt
in halber Wasserhöhe rasch dahin. Die Aehnlichkeit ist jetzt am
stärksten mit einer sehr großen schwimmenden Kaulquappe. Im Gegensatz
zum Branchipus schwimmt es ausgesprochen nicht auf dem Rücken, keines
der vielen Exemplare, die allmählich bei immer weiterrückender
Durchleuchtung des Grabengrundes lebhaft und sichtbar werden.

Denn in der Tat: das ist nicht einer, das sind Hunderte da unten,
Hunderte im engsten Raum. Jetzt ist einer auf dem Wege gerade unter
der Stelle, wo die weißen Nixchen, die Branchipus-Krebschen, sich
sonnen. Er scheint mit Absicht dahin zu halten. Ob er sie sieht? Seine
Augen müßten dann auch wie beim Molukkenkrebs irgendwie oben aus der
Schildkrötenschale herausvisieren. Aber auch der Rückenschwimmer, der
ihm oben zunächst ist, hat ihn gesehen und wirbelt blitzschnell wie ein
Boot, das alle Ruder einschlägt, davon. Unsere wandelnde Glocke zögert,
-- und ein rascher Griff ins seichte Wasser bringt sie in meine Gewalt.
Sie zappelt, windet sich, dreht sich verzweifelt auf meiner Hand. Mir
aber ist einer der Momente beschieden, wie sie nur der intim sich
einlebende Naturfreund als Glücksstationen seines Lebens zählt.

Zum erstenmal lebt, bewegt sich vor mir ein Exemplar des wunderbaren,
sagenumwobenen _Apus_, des „Ohnfußes“, wie das lateinische
Wort übersetzt heißt, des „Kiefenfußes“, wie er in sehr schlechter
Unterscheidung vom Kiemenfuß deutsch benannt zu werden pflegt.

Nun, da die zappelnde Schildkröte abwechselnd sich auf Rücken und
Bauch dreht, genügt ein Blick, um den Umriß des Leibesbaues erkennen
zu lassen, -- des über alle Maßen kuriosen Baues! Die Augen sitzen in
der Tat, zwei an der Zahl, fast zum Verschmelzen dicht nebeneinander
vorn auf dem Scheitel der Schale. Und ganz wie beim Molukkenkrebs
enthüllt auch hier der umgewälzte Deckel an der Bauchseite ein Gewimmel
von Beinen, die allerdings im übrigen nicht den scherentragenden
Limulus-Beinen gleichen, sondern in der Mehrzahl viel eher an die
des kleinen Branchipus gemahnen wollen. Der ganze weiche Leib hängt
in der Deckschale nach einem Prinzip, wie wenn wir uns denken, eine
Maus soll sich etwa in die leere Rückenschale einer griechischen
Schildkröte eingenistet haben. Sie nagt zwei kleine Löcher in den
Schildkrötendeckel, preßt Kopf und Buckel bis zum Anwachsen von innen
gegen die Wölbung und treibt ihre Augen vor, bis sie oben aus den
Löchern gucken. Ein absurdes Bild -- und doch steckt der Apus genau
so in seiner Glocke, mit Kopf und Nacken angewachsen, die Augen oben
durchbrechend und der übrige Leib lose unten nachschleifend. An diesem
Leibe sitzen an die vierzig Paar Beine. Nur das erste Pärlein ist aber
in eine Art Pfote aus Borsten ausgezogen, die andern sind wirklich wie
beim Branchipus gleichartige Wimmelapparate, die nicht nur als Ruder,
sondern auch ebenso intensiv als Vermittler der Atmung wirken: also
„Kiemenfüße“.

Im Näherbesehen erschien die Schale ganz bernsteingoldig darüber,
der eigentliche Leib glühte blutrot und die Füßchen wimmelten
braungelblich. Nach hinten lief das Ganze in zwei lange rote
Schwanzfäden aus, zwischen denen sich gerade bei dieser Art (dem
_Apus productus_) noch ein Spitzchen vorschob, das noch in etwas
an den wirklichen Schwanzstachel des Molukkenkrebses entfernt gemahnen
konnte.

Rasch füllte ich mir ein Glas mit den Wundertieren. Ich fügte ein paar
Branchipus-Elfchen bei und war im Laufe der nächsten zehn Minuten
über die Ernährung der Schildträger belehrt: wie die Tiger fielen die
Unholde über die im engen Raum ratlosen Elfen her und begannen sie zu
verschlingen. Andere haben gesehen, wie sie sich an junge Kröten hingen
und ihnen die Beine abbissen.

Das Jahr der Schrecken 1806 war über Weimar hingerauscht. Nun ebbte
die Flut, man fing an, sich wieder einzurichten. Goethe, um sich „von
allen diesen Bedrängnissen loszureißen“ und seine „Geister ins Freie
zu wenden“, kehrte „an die Betrachtung organischer Naturen zurück“.
Als er so die Metamorphose der Lebewesen im Kopf, eines Tages sich bei
Jena erging, brachte jemand einen Apus. Und wie er in das Gewimmel der
unzähligen Beine des „Ohnfußes“ schaute, blitzte ihm stärker als je
auch für das Tierreich das Gesetz auf, das er im Pflanzenreich entdeckt
zu haben glaubte. Alle verwickelten Teile waren Differenzierungen
eines einfachsten Urschemas: wie aus der schlichten Form des Blattes
dort alle vielfältig verschiedenen Gebilde der Pflanze sich logisch
ableiten ließen, so bei dem Krebs aus dem Grundtypus des einfachsten
Beingliedes, das „immer dasselbige bleibt“ und sich doch im Zwange
des Bedarfs in so viel andere Gestalten verwandelt, eine unendliche
Komplizierung der Gliedmaßen.

Von diesem Prachtexemplar auf seine Theorie mußte er mehr haben. So bot
er einen Speziestaler für einen zweiten Kiefenfuß, für einen dritten
einen Gulden und so bis auf sechs Pfennige herunter. Jetzt suchte
die ganze Umwohnerschaft von Jena ihre Pfützen und Teiche ab für die
verschwenderische Marotte des Herrn Geheimrats. Aber auch ein Minister,
der zugleich Goethe war, konnte nicht hemmen, daß er wider das
wunderbare Geheim-Gesetz dieser Krabbeltiere stieß und unverrichteter
Sache heimziehen mußte. Voraussetzungslos, wie er anscheinend im
Jenenser Gebiet einmal aufgetaucht, war der Apus auch ebenso wieder
spurlos fortan verschwunden. Goethe erhielt keinen mehr. Immerhin war
ihm die Sache wichtig genug, ihr in den „Tages- und Jahresheften“ mehr
Raum zu gönnen als der Erzählung vom Tode der Herzogin Amalia.

Die Bauern bei Jena aber werden sich über den verlorenen Speziestaler
mit dem getröstet haben, was seit langem fester Volksglaube zur
Erklärung des mysteriösen Lebensgesetzes des Apus ist: es war gerade
damals +einmal wieder ein Stück vom Himmel gefallen+.

Diesem Glauben lag eine feste Beobachtung zu Grunde, die wahrscheinlich
lange gemacht worden ist, ehe ein Naturforscher sich mit dem Apus
beschäftigt hat.

Ein großes, auffälliges Tier, lebt er doch niemals da, wo man ständig
sich erhaltende Geschlechter von Wassertieren naturgemäß sucht und
findet: in dauernden, sei es fließenden, sei es stehenden Gewässern.
Kein Fluß, kein Bach, kein Mühlteich und kein grüner Unkensumpf
beherbergt ihn. Jahr aus Jahr ein stellt sich dort das Volk der
Fische, der gewöhnlichen Krebse, der Muscheln, Schnecken, Blutegel,
Wasserwanzen ein, -- wenn auch nicht streng zoologisch, so doch dem
Anblick nach jeder neu erwachsenden Generation auch von Dorfjungen
bekannt. Aber der Kiefenfuß tritt absolut anders in die Erscheinung.

Ein Platzregen fällt, in flachen Gräben, Wegvertiefungen, Radspuren
und Gossen quillt es von himmlischem Wasser vorübergehend -- und hier
auf einmal tauchen die dicken Schilder auf, oft gleich zu hunderten,
wimmeln wie die Gürteltiere und sind ebenso im Nu wieder fort, wenn die
Sonne die Regenpfütze aufgetrocknet hat.

Keineswegs jeder Regen aber hat diese Zaubergabe, die Kobolde zu
bringen. Jahrzehnte gehen am gleichen Fleck hin, ein Menschenalter und
mehr, -- jedes Frühjahr prasselt der Regen so und so oft herab und
füllt jede Vertiefung bis zum Strotzen: aber die Wasser bleiben leer,
als fehle das Schöpferwort. Und dann kommt ein bestimmter Guß plötzlich
wieder und alles ist voller Tiere.

Wie soll es nicht der Regen selber sein, der eben in ganz bestimmtem
Ausnahmefall die Eigenschaft hat, Tiere mitzubringen?

Regen und Himmel sind dem Volkswitz eins. Was herabregnet aus den
Wolken, das „fällt vom Himmel“. Vierzehn Jahre nach jener Begegnung mit
Goethe, in der Nacht vom 12. zum 13. August 1821, rauschte über die
Vorstädte von Wien ein gewaltiger Gewitterregen. Wochenlang blieben
die Rinnsteine im Zustand der Ueberschwemmung -- und in diesen Lachen,
mitten im Bereich des Straßengetriebes, erschien plötzlich der Apus in
wahrhaft ungeheuerlichen Regimentern. Diesmal fühlte der gemeine Mann
sich seiner Himmels-Theorie schlechterdings sicher.

Ja, was fällt nicht alles vom Himmel!

Solchem Volksglauben ist theoretisch viel schlechter beizukommen, als
die meisten Menschen denken.

Vom Himmel, das heißt wirklich aus dem Weltraum, stürzen Meteorsteine
und wirbelt feiner, im Polarschnee und in der Ozeanstiefe
nachgewiesener Eisenstaub. Ernsthafte Naturforscher haben im
neunzehnten Jahrhundert erwogen, ob wir nicht auch Lebenskeime aus
dem All beziehen. Wenn Bazillensporen eine Kälte von zweihundert Grad
überstehen, wenn trockene Pflanzensamen zweihundert Jahre keimfähig
bleiben, wenn monatelanges Liegen unter der Luftpumpe solche Samen
nicht tötet, dann scheint sich ein Weg aufzutun für eine Lebenspost
zwischen Stern und Stern. Man braucht diese Dinge nicht für zwingend
zu halten, aber in der Theorie muß man mit ihnen rechnen. Doch „vom
Himmel“ aus einer Regenwolke -- das fordert ja noch nicht einmal
wirklich kosmische Zusammenhänge! Eine Wasserhose wirbelt einen Teich
in die Höhe samt Inhalt und läßt an einem entfernten Fleck niedergehend
die mitgestrudelten Fische tatsächlich „regnen“. Wenn der Vulkan
Cotopaxi in Südamerika heißen Schlamm speit, so kommen Legionen toter
Fische mit, die wahrscheinlich aus unterirdischen Gewässern mitgerissen
sind, und auch sie fallen wie Asche und Bimsstein „vom Himmel“. Nur daß
das gerade auf den Apus wieder nicht passen will. Ausgesucht er lebt ja
gar nicht in Teichen und ständigen Wassern, aus denen ihn irgend eine
Gewalt in die Lüfte entführen könnte. Immer, wo er erscheint, erscheint
er schon als ein Produkt des Regens.

Das Wunder im Lebensgesetz des Apus ist schließlich doch aufgeklärt
worden. Gegangen aber ist’s dabei, wie so oft. Die wissenschaftliche
Enträtselung hat eine viel wunderbarere Sachlage aufgedeckt, als das
einfache Herabfallen mit einem Gewitterregen umschließen würde. Dieses
wäre ein Zufall amüsanter Art, mit endlich doch irgend einer Ursache
nach Art jener Vulkanfische. Der wahre Sachverhalt aber führt in
tiefste Bildungsgeheimnisse der Natur, vor denen all unsere Weisheit
eigentlich noch in den Kinderschuhen steckt.

Die offizielle Naturforschung kennt unsern Kobold auch nur dem Aeußern
nach noch keine zweihundert Jahre.

In den Zwanzigern und Dreißigern des achtzehnten Jahrhunderts gab
Johann Leonhard Frisch eine „Beschreibung von allerley Insekten in
Teutschland“ in Quartbänden heraus. Dazu hatte man ihm aus Preußen
ein Kuriosum übersandt, das er als „flossenfüßigen Seewurm mit dem
Schild“ beschrieb. Er wurde aber auch sofort Vater des mißlichen Namens
Apus selbst und zwar auf Grund folgenden Gedankengangs. „Die Füsse“,
schreibt er, „haben das allersonderbarste an diesem Wasserwurm; wenn
es anders Füsse können genennet werden und nicht vielmehr Floß-Federn,
für welche ich sie ansehen muß. Also daß dieses Insekt bei denen, die
es für Füsse ansehen, ein _polypus_ heißen muß, bei mir aber
_apus_.“

Nach dem Muster gewisser lateinischer Namen in der Zoologie hätte sich
die hübsche Bildung vorschlagen lassen: Vielfüßiger Ohnfuß. Es blieb
aber beim Ohnfuß schlechthin, nachdem Linné die Sache sanktioniert
hatte. Die nächste Streitfrage war: was es überhaupt für ein Tier im
System sein könne?

Klein um 1737 riet auf einen Wasser-Tausendfuß. Damit war der Sprung
wenigstens vom Wurm zum Gliederfüßler gemacht. Gliederfüßler sind
aber auch die Krebse. Und zu denen verwies den Apus mit sieghafter
Energie 1756 der treffliche Zoologe und Pfarrer von Regensburg, Johann
Christian Schäffer.

Er ist der Altmeister aller unserer Apus-Weisheit, und wenn
herrschende Zeitmeinungen nicht stärkere Fäuste hätten als stille
Beobachterehrlichkeit, so hätte er allein schon den ganzen Knäuel der
Streitfrage glücklich auseinander gewickelt.

Jeder Feinschmecker kennt die Eier unseres Flußkrebses, wie sie zu
Hunderten das Weibchen an seinem Hinterleibe noch lange nach der
Ablage wie in einem Nest mit sich herumträgt. Und wer diese durchaus
irdische Vorsorge für die Unsterblichkeit der Gattung betrachtet, der
wird schwerlich vermuten, daß dieser Krebs durch eine Sorte kosmischer
Urzeugung „vom Himmel falle“. Die gleiche Wahrscheinlichkeit wurde
denn auch für Herrn Apus ziemlich gering in dem Moment, da Schäffer
nachwies, daß auch hier die Weibchen unter ihrer Schale ebenso
mütterlich brav die Eilein in stattlicher Zahl mitführen.

Und die Frage spitzte sich zunächst jetzt auf die engere zu, was aus
diesen Eiern würde. Die Regenpfützen mit den Kiefenfüßen trockneten
eines Tages aus. Das bedeutete den Tod der Kobolde, deren Kiemenatmung
einzig dem Wasser angepaßt war. Aber welches Schicksal erfuhren die
Eier dabei?

Hier kann nur die Untersuchung an Ort und Stelle helfen. Diese lehrt
mit vollkommenster Sicherheit, daß im trockenen Bodensatz eines leeren
Tümpels, in dem eine Apusgeneration gehaust hat, die kugelförmigen
rotbraunen Eier noch wohl erkennbar vorgefunden werden. Man kann sie
aufnehmen, trocken bewahren, jahrelang bewahren, -- und wenn man dann
einen Guß Wasser darauf gießt, so erwachen sie wie Dornröschen, ein
Embryo gestaltet sich, endlich kriecht eine etwas über einen halben
Millimeter lange, höchst possierliche Larve mit drei Paar derben
Ruderfüßen und einem Cyklopenauge aus, und aus der wird durch eine
fortgesetzte Kette rascher Verwandlungen -- der echte Apus.

Damit ist ein Streitpunkt sofort klar.

Das plötzliche Auftreten des Ohnfußes in einem jahrelang trockenen
Graben kann zwar indirekt Ergebnis eines Regens sein, doch nur auf dem
Wege, daß jahrelang vorher abgelegte und im Staube konservierte Eier
durch die neuerdings hinzukommende Feuchtigkeit „erweckt“ werden und
plötzlich eine Apusgeneration in dieses Regenwasser hineinproduzieren.

Der Naturweg ist dabei der durchaus hergebrachte, bloß schaltet sich
die Tatsache ein, daß zwar der eigentliche Apus in Person nur gedeihen
kann im Wasser, daß dagegen seine Eier eine schier unzerstörbare
Trocken-Festigkeit haben.

Ein weiterer Schluß wird möglich.

In diesem feinem Staub-Dasein kann ein solches Apus-Ei von der
Stelle, da es abgelegt wurde, mit dem zugehörigen Staube auf die
Wanderschaft kommen. Es ist -- neuere Staubfälle haben es erst wieder
bewiesen -- schier unglaublich, wie weit Staub fliegt. Hat sich
eine Apus-Generation draußen im Felde in einem tiefen Weggeleise
oder einer Wegunebenheit einmal entwickelt gehabt und bleiben ihre
Eier hier liegen, so ist es fast selbstverständlich, daß der Wind
sie nachher mitwirbelt und verfrachtet. Wie viel Staubwolken mögen
jenem Gewitterregen von 1821 in Wien vorausgegangen sein! Wie viel
Grabeninhalt mag da zusammengeweht, in die Vorstädte hineingeblasen
sein! Staub -- und im Staube Apus-Eier. Wo dicke Steinkörner fliegen,
warum nicht sie! Nun liegen sie im Rinnstein und der Regen strömt:
warum soll hier nicht glücken, was dem Beobachter, der mitgebrachte
Apus-Eier in seiner Studierstube befeuchtet, ausnahmslos gelungen ist?

Schäffer zu seiner Zeit geriet aber schon auf eine geradezu raffinierte
Komplizierung der Sache. Er untersuchte so und so viele Einzeltiere des
Apus und stellte fest, daß es immer und immer und immer wieder Weibchen
waren. Es gelang ihm mit allem Fleiß nicht, ein einziges Männchen zu
entdecken. Was bedeutete wieder das?

Herr Schäffer beobachtete aber noch mehr, und zwar jetzt etwas, was
nach den Regeln der in seiner Schule hervorgebrachten Logik und
Wissenschaft einfach nicht sein +durfte+.

Er sammelte eine Anzahl Eier einer solchen ausschließlich weiblichen
Generation. Aus diesen Eiern gingen junge Apuslein hervor. Wieder
waren es Weiblein. Schäffer brachte „jedes besonders“ und erwartete,
was diese Einzelhaft ergeben würde. „Es gelung mir,“ erzählt er, „daß
einige fortlebten, und ich erhielte auch von diesen Eyer und von
denselben Junge. Dieses war mir Beweises genug, daß diese Kiefenfüße
auch ohne Befruchtung fruchtbare Eyer müßten in sich gehabt und von
sich gegeben haben.“

Hier aber fiel dem braven Meister das Herz in die Hosentasche.

Das ging nicht. Das verstieß gegen das urverbriefteste Adam- und
Eva-Gesetz der Natur. Nachdem er den wahren Sachverhalt praktisch
gesehen, dekretierte er also kraft seiner Schultheorie etwas, was weder
beobachtet noch richtig war.

Er behauptete nämlich, der Apus sei heimlicher Zwitter, also Mann und
Weib in einem Leib.

Schäffer, anderthalb Jahrhunderte vor Darwin, merkte nicht, daß in
der mysteriösen Fähigkeit der Apus-Weiblein, wie er sie erlebt hatte,
eigentlich eine ganz famose Anpassung stecken mußte.

Der Ohnfuß hatte sich nun einmal darauf eingestellt, statt in echten
Dauergewässern in zufälligen Regentümpeln seine Bahn fortzusetzen.
Schon das war wohl alte Anpassung: in solchen Tümpeln gab es ja keine
bösen Fische, die ihn fressen konnten, dagegen kleineres Gesindel für
seine eigene Lebenstafel die Menge. Nun -- mit diesem Tümpel-Leben war
wieder verknüpft der Staubtransport der Eier. Wie sinnreich aber griff
hier jene Gabe der einsamen Weiblein ein, falls sie wirklich bestand!

Ein einziges windverwehtes Ei, wofern es einen weiblichen Apus
lieferte, konnte das ganze Volk an seiner Stelle auf lange Generationen
hin retten. Es war ja bei solcher Luftpost ganz und gar nicht sicher,
daß gerade stets Keime zu beiden Geschlechtern in der gleichen
Regenpfütze zusammengeweht werden sollten. Wie oft mochte nur eines
kommen. Und war das dann nur weiblich, so rettete es doch das Haus
Apus. War aber alles eine Weile im Gange so gewesen, dann mußte die
Geschichte eines Tages sogar noch viel wichtiger werden.

Denn wenn es, wie in Schäffers Experiment, immer so ging, daß von
all den Apus-Weibern, die sich jungfräulich fortpflanzten, abermals
nur Weiber kamen, so mußte gar bald ein gewaltiges Plus überhaupt
von Apusfrauen in der Welt entstehen gegenüber der Zahl der Männer.
Doppelt und dreifach unwahrscheinlich dann, daß jede Regenpfütze beide
Geschlechter erhalten sollte, doppelt und dreifach von Nöten also jene
glückliche Gabe der einsamen Jungfrauen! Waren doch tatsächlich die
Männchen heute im Ganzen so selten, daß Schäffer an seinem Fundort
überhaupt keine gefunden hatte.

Doch das alles wollte unser Forscher selber nicht haben, es widersprach
ihm in der Grundtatsache einem „Naturgesetz“. Daß ein vom ersten Tage
an in Isolierhaft gesetzter Krebs Nachkommen bringen solle, schien ihm
und seiner Schule noch ein Teil lächerlicher, als daß ein leibhaftiger
Krebs vom Himmel fiel.

Die Zeit lief, und eines Tages wurde, wie es schien, das Unzulängliche
gar auch noch Ereignis.

Im neunzehnten Jahrhundert, 1841, zergliederte Zaddach den Apus
und behauptete, Schäffer habe ernstlich recht: die vermeintlichen
Apus-Weibchen besäßen auch einen heimlichen männlichen Bau, seien also
echte Zwitter im Sinne einer Blüte, die Staubgefäße und Griffel in ein
und derselben Blumenkrone trägt. Und das wollte der Mann jetzt gesehen
haben.

Die Wahrheit meldete sich diesmal schon nach sechzehn Jahren. 1857
führte sie nämlich einen Forscher, Kozubowsky, an einen Tümpel bei
Krakau, in dem wohlentwickelte, in jedem Betracht unverkennbare
Männchen des Apus sich tummelten.

Nunmehr war aber die Sache auf der Spitze. Der Apus kämpfte gegen ein
„Naturgesetz“. Wer würde siegen?

Inzwischen war indessen über den alten Schulmeinungen etwas Gras
gewachsen. Eine Zoologen-Generation stand im Vordergrund, die
mindestens eins nicht mehr hatte: philosophische Angst innerhalb ihres
Fachs. Im achtzehnten Jahrhundert hatte die Philosophie die Zoologie
vergewaltigt. Was man sich dort nicht denken konnte, das durfte hier
nicht sein. In der Zeit der Schelling und Hegel schlug das um. Jetzt
in der zweiten Jahrhunderthälfte des Neunzehnten riß schon sozusagen
ein frecher Ton ein. Die Philosophie hatte sich hinter die Erfahrung
zu konzentrieren! Wenn es der Zoologie Spaß machte, alle ihre eigenen
Lehrsätze zur Abwechselung noch einmal in die Luft zu sprengen, so
hatte die Philosophie das eben hinzunehmen. Schließlich mußte sie ja
sogar den Darwin schlucken. Und gegen den war die „Jungfernzeugung“
doch immer noch eine kleine Sache!

So wenig Skrupel diese Forschergeneration vor philosophischen
Traditionen oder Traditionen überhaupt hatte, so viel hatte sie aber
vor der Sorgfalt ihrer Detailstudien. Keine Zeit vorher hatte in der
Biologie auch nur eine blasseste Ahnung gehabt von den Anforderungen
an Genauigkeit, die jetzt gestellt wurden. Darwin selber, der heute
so gern schon wieder zu den „Theoretikern“ verrechnet wird, war ein
Mustertypus dieser Sorte genauer Beobachter, hinter dessen Sätzen,
mochten sie noch so theoretisch klingen, eine Arbeitsleistung an
kleiner Materialprüfung stand, vor denen älteren Naturforschern gegraut
hätte. Unsagbar viel Mühe und Arbeit ist die Zoologie des neunzehnten
Jahrhunderts gewesen.

In die Hände eines solchen „Arbeiters“ fiel denn endlich in den
sechziger Jahren auch der Apus.

Siebold hatte sich als Lebensaufgabe gestellt, dem Rätsel jener
„Jungfernzeugung“ (Parthenogenesis) endlich einmal „mit Hebeln und mit
Schrauben“ auf den Leib zu rücken.

Er ging daran jenseits von Theorie und Gegentheorie. Die wirkten auf
ihn bloß wie die Sage von einem Schatz. Da stand ein Sandberg. Der
Schatz lag entweder darunter oder nicht. Das würde sich ja zeigen. Aber
einstweilen war jedenfalls nötig, daß man ein Sieb nahm und den ganzen
Berg Probe für Probe durchsiebte. War auch nur eine Goldmünze darin, so
wurde sie so jedenfalls gefaßt. Und das Resultat stand für immer. In
diesem Sinne behandelte Siebold auch den Apus.

Von 1864 bis 1869 unterzog er eine Lehmpfütze bei Goßberg in Franken,
in der sich der Apus gezeigt hatte, einer systematischen Ausforschung;
das Wort ist in diesem Fall das umfassend-richtige. Jahr für Jahr wurde
die Pfütze auf ihren Apus-Inhalt geprüft, wurden die Apus-Individuen
bei lebendigem Leibe auf ihr Geschlecht untersucht. Mehrfach in den
Jahren wurde das so radikal betrieben, daß kein Stück in der ganzen
durch- und durchgesiebten Pfütze ohne einen kritischen Blick des
Professors passierte. Im ganzen kamen so 8521 Krebslein zur Musterung.

Das Ergebnis der Statistik war, daß in diesen sechs Jahren in den sechs
Generationen des Hauses Apus kein einziges Männchen aufgetreten war,
während das Volk sich doch gemehrt hatte wie der Sand am Meer.

Damit war endgültig festgelegt, daß im Hause Apus eine pragmatische
Sanktion stattgefunden hat, kraft derer das uralte Adam- und Eva-Gesetz
auf mindestens sechs Jahre hier außer Geltung gesetzt und dafür eine
weibliche Erbfolge durch Jungfernzeugung eingeführt werden kann.

Wir wissen heute genau, daß die Dynastie Ohnfuß nicht die einzige ist,
die im Drang der Sachlage solche Ausnahmeparagraphen des natürlichen
Ehekodex sich selber gesetzt hat.

Die Blattläuse haben es genau so gemacht. Im Frühjahr kriecht hier
aus befruchteten und überwinterten Eiern eine erste Generation, das
sind nur Weibchen. Diese Weibchen erzeugen, ohne jemals Liebe und
Heirat kennen zu lernen, eine neue Folge lebendig geborener Läuslein,
-- abermals lauter Töchter. Diese also schon aus Jungfernzeugung
stammende Töchtergeneration erzeugt genau so ein Volk Enkelinnen. Und
das geht jetzt fort im Eilschritt durch neun Generationen noch in dem
gleichen Sommer. Endlich die neunte Amazonenschar gerät wieder aus dem
Ausnahmeparagraphen heraus in den Adam- und Eva-Kodex, wenigstens für
ihre Kinder: sie bringt sowohl Söhne als Töchter hervor. So entsteht
im zehnten Gliede im Herbst endlich wieder eine Normal-Heirat, deren
Ergebnis die befruchteten Eier sind, die jetzt überwinternd das ganze
Märchen wieder von vorne beginnen lassen.

Am meisten Aufsehen aber hat mit Recht die Entdeckung gemacht, daß
auch unser vertrautester Freund aus dem ganzen Insektenvolk, die
Biene, seit alters ganz gemütlich dicht neben uns jene Sanktion des
„Unmöglichen“ besitzt. Dzierzon (Dsjärschon ausgesprochen), der
Altmeister unserer Bienenkunde, der heute noch als Neunziger lebt,
hat schon 1845 nachgewiesen, daß die Bienenkönigin in ihrer Person
die wundersame Doppelgabe vereinigt, entweder normal befruchtete Eier
zu legen, aus denen aber hier allemal nur Töchter (Arbeiterinnen oder
wieder Königinnen) hervorgehen, -- oder aber durch Jungfernzeugung
unbefruchtete, denen jedesmal ein Sohn -- eine Drohne -- entwächst. Im
verwickelten Haushalt dieser sozial lebenden Bienen ist die Sanktion
eben noch zu einem viel verwickelteren Hausgesetz geworden, das
schriftlich aufgezeichnet manches Pergamentblatt füllen würde.

Es war auch gerade Siebold, der diese große Bienen-Entdeckung des
Imkers Dzierzon durch streng wissenschaftliche Nachprüfung seiner
Zeit zur unbestrittenen Geltung bringen sollte. Erst in den letzten
Jahren des eben abgeschlossenen Jahrhunderts ist die Sache hier dann
noch einmal mit großer Energie bezweifelt worden. Dickel in Darmstadt
und andere Bienenkenner haben Siebolds Angaben über das unbefruchtete
Drohnen-Ei aufs Heftigste angegriffen, und wenig hätte gefehlt, so
wäre das ganze Problem wenigstens an dieser Ecke schließlich doch noch
wieder neu aufgerollt worden. In den letzten drei Jahren haben indessen
minutiös genaue mikroskopische Untersuchungen der Bieneneier, die im
Freiburger zoologischen Institut von zwei Schülern August Weismans,
Paulcke und Petrunkewitsch, angestellt worden sind, die Sache endgültig
entschieden -- und zwar genau im Sinne Dzierzons und Siebolds. Das
Drohnen-Ei bleibt unbefruchtet und entwickelt sich trotzdem zu einem
fertigen Tier.

So war das Liebesleben des wunderlichen Heiligen erträglich aufgehellt
und sein besonderes Mirakel hatte wenigstens Gesellschaft in der großen
Tierarche gefunden.

Kleine Rätsel blieben ja noch immer in seinem Gesamtleben und sie sind
noch heute da.

Ich sagte: man versteht als glückliche „Anpassung“, daß Freund Apus die
kleinste Bodenrinne, wofern sie nur Regenwasser enthält, dem schönsten
Dauerteich vorzieht, weil er dort keine Fische findet, die ihn bedrohen
könnten. Aber darum bleibt doch wunderbar, wie er heute dieses Prinzip
durchsetzt. In der erdrückenden Mehrzahl der Fälle scheint es eine
absolute Notwendigkeit, daß die Pfütze, in der er sich in diesem Sommer
etwa entwickelt hat, hinterher austrocknet, wenn seine Eier überhaupt
entwickelungsfähig bleiben sollen. Zwar im Wasser abgelegt von Eltern,
die nur im Wasser leben können, bedürfen die Eier selbst geradezu eines
Interregnums von absoluter Dürre, eines Staub-Stadiums, wenn sie bei
dann wieder erfolgender Befruchtung wirklich junge Kiefenfüße ergeben
sollen. So wie die Pfütze sich zur Dauer wendet, etwa durch eine
Folge regenreicher Monate über ihre gewöhnliche Zeit naß bleibt, naß
überwintert, kurz, überhaupt eine Neigung zum Uebergang in einen echten
kleinen Teich zeigt, -- bleiben die Apus-Eier im nassen Grunde liegen,
+ohne+ sich zu entwickeln.

Schopenhauer würde sagen, der Wille zur Arterhaltung ist hier bis ins
Ei mächtig: wo das fertige Tier Gefahr laufen würde, da macht schon das
Ei Kehrt. Regentümpel will es, keine Teiche, und wenn die Pfütze sich
zum Teich macht, so streikt es einfach und liefert dieser abtrünnigen
Dauer-Pfütze schon gar kein Material an Apus für ihre gefährlichen
Neuerungen aus.

Wir benutzen heute vor solchem Vorgang das Wort „Vererbung“, das
aber auch nur ein Wort eben für die allgemeine Tatsache ist, daß es
Wirkungen und Handlungen in der Natur gibt, die nicht bei dem Halt
machen, was wir Individuum zu nennen pflegen, -- Handlungen, bei
denen die ganze „Art“ mit ihrer Generationenfolge nur wieder als ein
geschlossenes Ganz-Individuum erscheint mit durchlaufenden Wirkungen.

Aber der Apus müßte kein Krebs und noch dazu ein außergewöhnlicher
Krebs sein, wenn der Faden seiner Legende bei diesen kleineren Sachen
schon abreißen sollte.

Ein außergewöhnlicher Krebs will etwas heißen.

Unerschöpflich schier ist ja, was das Volk der Krebse geleistet hat
an abenteuerlichen Formen und Verwandlungen. Ein bunter Maskenzug
rollt dem Auge des Naturforschers da vorbei, grausig oft, oft
lächerlich und oft wieder sinnvoll bis zum Hinreißen gleich der tollen
Phantasmagorie, die dem heiligen Antonius in Flauberts wilder Dichtung
vorüberzieht.

Da kommt der Makrocheira-Krebs Japans, dessen Riesenbeine drei Meter
klaftern und daneben das winzige Temora-Krebschen unserer deutschen
Meere, von dem 60000 Individuen im Magen eines einzigen Herings
gefunden worden sind.

Da kommt der Pyrocypris-Krebs, der, wie der Tintenfisch seine
Tinte, eine smaragdgrüne oder azurblaue Leuchtflüssigkeit aus sich
heraussprudelt, die so grell leuchtet, daß sie selbst bei Tage
vorblitzt; gleich dem Tintenfisch, den seine pechschwarze Wolke
plötzlich den Blicken der Verfolger entzieht, dient auch diesem
Leuchtkrebs sein ausgeschüttetes Lichtbad als Tarnkappe, da er selber
in dem allgemeinen Glanz verschwimmt.

Es kommen die Krebse, die ein Oelreservoir im Leibe führen, das sie wie
ein Schwimmgürtel immer „oben“ schwimmen läßt.

Der Schmetterlings-Krebs Notopterophorus naht, dessen Rückenhaut zu
riesigen Ruderflügeln ausgezerrt ist. Die grüne Pontellina fliegt
wirklich auf solchen Fallschirmen wie ein fliegender Fisch über den
Meeresspiegel dahin, und der Pfauenkrebs Calocalanus des Mittelmeers
schwebt in der Flut mit einem besonderen Apparat an der Hinterspitze
aus acht orangeroten Pfauenfedern.

Der Einsiedler-Krebs birgt nicht nur seinen weichen Hinterleib in einem
leeren Schneckenhause, sondern er schleppt auf diesem Schutzhause auch
noch eine dort festhaftende lebendige Seerose herum, mit der er in
gegenseitiger Schutzgemeinschaft lebt, denn die Seerose verteidigt ihn
mit ihrem furchtbaren Nessel-Apparat, während er sie, die von Natur
nicht laufen kann und doch, Tier wie sie ist, fressen will, neuen
Futterplätzen zuführt.

Aber dieser Krebs mit seiner Schnecke huckepack klimmt nächtlich als
Birgus-Krebs auch auf die Koralleninseln der Tropenmeere, um wie
eine Ratte sich über die leckeren Kokusnüsse herzumachen, und die
„Landkrabbe“ Westindiens, der Gecarcinus, ist gar zum reinen Landtier
geworden, das gleich der Kröte nur noch zur Fortpflanzungszeit einmal
das Heimatelement zu kurzem Badeaufenthalt besucht. Doch auch aus
unsern dunkeln Hauswinkeln kriecht ein solcher Landkrebs, seit Urtagen
völlig dem Wasser entzogen, wenn auch noch an feuchte Orte gebannt:
das Kellertier oder der Kelleresel.

Wieder im Wasser aber naht die Hyperia mit ihren Riesenaugen, sie wohnt
in einem herrlichen bunten Kristallschiff, nämlich mitten in einer
lebendigen großen blauen Meduse.

Umgekehrt im zierlichsten glashellen Tönnchen, das ihr gerade Raum
genug gibt, steuert samt ihrer Brut die Frau Phronima: das Tönnchen ist
auch hier nichts anderes als der innen hohl ausgefressene Leib eines
hilflosen anderen Tieres, einer sogenannten Salpe.

Die chilenische Fabia haust wie ein Bandwurm im Darm eines lebendigen
Seeigels, ein anderes Krebschen wandert schon als Larve ins Innere der
Seegurken ein und läßt in der stygischen Finsternis da drinnen sogar
seine Augen als überflüssig zuwachsen.

Die Lernäonema bohrt sich mit dem Kopf ins Auge des Herings.

Und ein Krebs ist auch die berühmte „Walfischlaus“, die schon Goethe
besungen hat. Mysis-Krebschen, noch nicht einen Zoll lang, sind es,
die diesen Koloß, den Walfisch, zugleich mästen, daß er seine 30000
Kilogramm Speck ansetzen kann -- jede Schätzung erlahmt vor der Zahl,
die dazu nötig ist.

Immer spukhafter marschiert die Reihe daher. Da ist der scheußliche
Wurzelkrebs, der sich an einen Taschenkrebs anheftet und ein
schauerliches Gespinnst wie eine wirkliche Pflanzenwurzel schmarotzernd
durch das ganze Innere des unfreiwilligen Wirtes treibt.

Da ist die „Entenmuschel“, ein Krebs, der sich auf den Kopf stellt,
mit einem festen Stil anheftet wie eine Auster und die Beine nach
oben aus der Schale streckt wie Staubfäden einer Blüte; bei diesen
Entenmuscheln, die kein Laie je für Krebse halten wird, sind die
eigentlichen großen Exemplare wirklich Zwitter, wie Schäffer es einst
beim Apus argwöhnte, außerdem leben aber noch kleine Zwergmännchen
parasitisch wie Läuse an ihrem Leibe.

Da sind die Tiefsee-Krebse, die dem kolossalen Druck da unten stand
halten, teils blind, weil sie keine Augen brauchen in der sonnenfernen
Finsternis dieser Wasserkatakombe, teils leuchtend und mit Riesenaugen
durch diesen eigenen Laternenschein spähend.

Da sind die Farbenänderer, die Garneelen, die auf diesem hellen
Bodengrunde hell aussehen, auf jenem dunkeln dunkel je nach Bedarf,
-- und die Ganzdurchsichtigen, wie der Krebs Thaumops (Wunderauge
zu deutsch) im atlantischen Ozean, der so absolut glashell ist, daß
kein Fisch ihn im blauen Wasser erkennen kann, und die lichthellen
„Krabben“, die so lichtdurchlässig sind, daß sie in der Sonne keinen
Schatten werfen, sondern einen Lichtreflex wie ein Brennglas✹......

Wieder in diesem ganzen Zauberzuge sind es aber doch nur zwei
Gestalten, an die der Apus gemahnt hat, so lange man sie und ihn
kennt. Freilich die allerseltsamsten. Jeder steht am Himmel unseres
Denkens wie ein einsamer Stern, losgerissen zunächst von jedem
größeren Sternbilde, wie von der Milchstraße des bekannteren, eng
zusammengehörigen Haupt-Krebsgeschlechts.

Das erste dieser Tiere mußte ich schon erwähnen, um den Apus selber
überhaupt beschreiben zu können.

Es ist der Limulus, der „Molukkenkrebs“. Unsere Aquarien haben ihn
so populär gemacht, daß manches Berliner Kind in seiner Kenntnis dem
ganzen klassischen Altertum hier über ist. Selbst der große Aristoteles
und das Sammelgenie Plinius hatten noch keine Ahnung von diesem
Schildkrötenkrebs. Mit dem lebhafteren direkten Molukkenhandel, wie
er im Gefolge der Umsegelung Afrikas sich allmählich ergab, fanden
die ersten getrockneten Exemplare als ein schaudernd angestauntes
Mittelding zwischen Schildkröte und Riesenspinne im sechzehnten
Jahrhundert ihren Weg nach Holland. 1603 gab Clusius das erste
Bild. Von da ab wurde der groteske Geselle ein beliebtes Objekt für
die Zeichner von Naturwundern. Im neuen System aber war man um so
besorgter, wohin damit.

Er hatte Krebsscheren und hauste im Meer, also mochte er ein Krebs sein.

Schäffer aber, als er seinen Apus aus dem Süßwasser als Krebs
feststellte, bemerkte sogleich die äußere Aehnlichkeit des großen
Molukkengastes und des kleinen Landsmanns, die heute noch jedem
auffällt: er nahm den Limulus schlankweg als eine riesige Apus-Art.

Im neunzehnten Jahrhundert sickerte aber erst langsam, dann
unaufhaltsam wachsend eine Neigung durch, den Molukkenkrebs, wenn er
denn einmal Krebs bleiben sollte, gänzlich von allen andern (also auch
dem Apus) loszutrennen und für sich als Ordnung ohne jeden engeren
Anschluß zu verrechnen.

Inzwischen war ein geographisches Faktum bekannt geworden, das noch
wieder zu denken gab: der paradoxe Limulus war nämlich, nachdem man ihn
so treffsicher bisher Molukkenkrebs nach seiner Heimat getauft hatte,
auch an der Küste von Florida, also in Amerika, entdeckt worden.

Ihn konnte kein Sturm dahin verfrachtet haben wie den kleinen Apus.

Dieser Apus hat ja eine geradezu kosmopolitische Verbreitung. Er ist
bis jetzt nachgewiesen außer in Europa in Algier, am Himalaya, bei
Peking, in Australien, Tasmanien, Neu-Seeland und Nordamerika, -- ja
der Gletscherapus (_Apus glacialis_) geht am Kap Krusenstern in
Nordamerika (68½ Grad nördlicher Breite) und bei Jakobshafen in
Grönland bis dicht an die äußerste Polargrenze tierischen Lebens auf
Erden. Leicht begreift man das bei ihm, dem Sturmfrohen, der mit der
Staubwolke über Land, Meer und Eis reist. Ihn könnte man sich träumen,
wie er als Ei mit Krakataua-Asche rund um die Erde fliegt.

Aber beim großen Limulus der Tropenmeere fällt das alles fort und nur
die vage Vermutung kann aus solcher extremen Vereinzelung an zwei
verschiedensten Erdstellen den Schluß ziehen, es möchte sich um ein
uraltes Tier halten, das in Zeiten zurückdeutet, da anders gestaltete
Meere und Festländer die Erdkugel bedeckten, andere Lücken und Brücken
die Wanderungen der Tiere bestimmten. Und diese Vermutung wird in der
Tat sogleich bestätigt durch den Bau des Geschöpfes.

Was an diesem für Trennung von allen übrigen Krebsen sprach, war von
Anfang an vor allem die Art der Freßwerkzeuge.

Wir erinnern uns, wie der alte Goethe sich als tief denkender, seiner
Zeit weit voraufeilender Naturforscher an den vielen gleichartigen
Wimmelbeinen des Apus erfreute. Sie schienen ihm noch eine einfache
Grundform der Beine darzustellen, die beim höheren Krebs schon
unendlich differenziert sich erweist.

Indessen zeigt sich doch bei diesem Apus genau wie bei den übrigen
bekannten Krebsen eins schon deutlich gesondert: neben den Beinen
finden sich ausgesprochene Körperorgane, die als Zangen, Kauer,
Verarbeiter für die engeren Ernährungszwecke, mit einem Wort als
„Freßwerkzeuge“ dienen. Wenn mein Apus im Glase den kleinen Branchipus
packte und auffraß, so geschah das mit regelrechten Kiefern in der
Nähe seines Schlundes, Kiefern, die mit den vielen Wimmelbeinen
zunächst nichts zu tun hatten. Immerhin aber könnte man sich, wenn
man solche Beißkiefern sinnend in Goethes Gedankenzug beschaut, recht
wohl ausdenken, noch ein Stück weit ursprünglicher wären auch diese
Kieferzangen nur packende Greifbeine gewesen, Mundbeine mit der
Aufgabe, die gepackte Nahrung klein zu zupfen.

Und da jetzt ist es, als trete der Limulus zur Probe ins Exempel.

Er hat noch gar keine Kiefer, sondern er kaut buchstäblich mit den
Beinen.

Man denke sich, bei uns wäre der Mund mitten auf die Brust gerutscht
und die Zähne säßen ziemlich weit nach oben auf den Armen und die
Nahrungsbissen würden zwischen diese Oberarme geklemmt und von denen
so lange hin und hergerieben, bis sie ordentlich zerkaut wären. So im
Prinzip macht es der Molukkenkrebs.

Der Molukkenkrebs kaut nicht nur mit den Beinen. Er atmet auch mit
ihnen, hat regelrechte „Kiemenfüße“ wie unser Apus. An den Fühlern, von
denen im Gegensatz zu den echten Krebsen nur ein Paar da ist, trägt er
Scheren wie ein Skorpion. Und im Blute führt er nicht Eisen, sondern
Kupfer.

So will er in kein System.

Noch heute gibt es angesehene Forscher, die ihn für ein verkapptes
Spinnentier, einen urtümlichen Wasser-Skorpion halten.

Uralt ist er sicher. Eine Welt taucht hinter ihm auf, in der die Fugen
unseres Tiersystems sich wirklich noch lösen, -- in der das Bild der
Spinne und des Skorpions verschwimmt mit dem des Krebses, verschwimmt
zu Stammformen, deren Urenkel erst getrennte Linien einschlugen. Das
war aber nicht gestern oder vorgestern. Die Melodie der Jahrmillionen
erklingt.

Ihr Leitmotiv führt uns zunächst bis an den fränkischen Strand, wo
der Urvogel Archäopteryx über das seichte Wasser strich und sich wie
eine Möwe gelegentlich mit den zahnbewehrten Kiefern einen Krebs
herausgeräubert haben mag. Im steingewordenen Schlamm von Solnhofen
liegen unverkennbar deutlich abgeprägt schon echteste Molukkenkrebse,
-- auf deutscher Erde, nicht allzu weit von der Gegend, wo Siebold die
Wunder des Apus studiert hat.

Aber die Melodie rauscht noch viel weiter. Sie lockt bis hinter die
Steinkohlenzeit. Da taucht dieser Molukkenkrebs auf wie in einem Nebel,
halb schon er selbst, halb noch ein wieder anderes, in seiner Art noch
wieder seltsameres Wesen.

Sein groteskes Schild wird zur schmalen Sichel, zwischen Schild und
Schwanzstachel aber löst der Hinterleib sich in einzelne Ringel auf wie
bei einem Kelleresel, und diese Ringel lassen sich einrollen, daß der
ganze Kerl wie ein Murmelstein unserer spielenden Kinder sich kugelt.

Immer aber sind es noch die sicheren Vorfahren unseres großen
krabbelnden Aquariumsgastes. Denn heute noch, wenn der sich aus dem Ei
bilden soll, wächst er sich zuerst zu einer Larve aus, die hastig auf
dem Rücken schwimmt, wie unser Branchipus, -- und diese Larve zeigt den
gleichen asselhaft zerkerbten Hinterleib jenseits des sichelförmigen
Schildes. Es ist die Handschrift jenes geheimnisvollen Gesetzes, das
die Kinder von heute noch einmal die Züge der Urahnen vor Millionen von
Jahren traumhaft flüchtig annehmen läßt: des Gesetzes, das auch dein
Hühnlein im Ei noch einmal die Kiemenspalte des Fisches in den Hals
gräbt.

Dem Blicke aber, der sich so weit in die Schöpfungsmeere der Vorwelt
hat verlocken lassen, wächst dort neben den Ahnen des Molukkenkrebses
eine neue, fortreißende Vision wundersamster Krebstiere, die heute
allerdings völlig die Erde verlassen haben.

Kein Aquarium zeigt sie mehr. Da ist der „Seraphim“, der Stein-Engel,
ein Koloß, für den unsere Aquarien freilich ganz anders große Becken
herstellen müßten, als für den molukkischen Limulus. Die schottischen
Arbeiter nennen ihn so, wenn aus ihrem Steinbruch plötzlich ein
Ungetüm fällt wie eine nahezu zwei Meter lange versteinte Mumie mit
zwei riesigen Flügeln. Die Flügel sind aber Krebsscheren und das Ganze
ist der Pterygotus, der Flügel-Krebs, an Leibeslänge gewaltiger als
je wieder ein Krebs geworden ist. Hier tritt die Aehnlichkeit mit dem
Skorpion schon äußerlich stark hervor. Aber auch dieser Flügler war
wohl immer noch ein Verwandter jener Ur-Molukkler, deren Zeitgenosse
er auch gewesen ist. Beide doch waren noch nicht da, als bereits
ein kleineres Krebsvolk viel tausend- und tausendköpfig die Ozeane
eroberte, -- das Volk, in dem alle Linien unserer letzten Kenntnis
vom krebslichen Wesen auf unserm Planeten zusammen- und -- vor eine
verschlossene Tür laufen.

Im tiefsten Abendrot des siebzehnten Jahrhunderts lenkte der Engländer
Lhwyd (Luidius) noch die Aufmerksamkeit der Forscher auf etwas, was er
gefunden hatte. Ja was? Etwas Versteinertes, -- es schienen ihm unklare
Bruchstücke von Fischen zu sein.

Die ersten Nachprüfer, die den Gegenstand selber auch an anderen Orten
ohne Mühe in uralten Gesteinsschichten auffanden, rieten eher auf
Muscheln. Seltsame, dreigeteilte Muscheln müßten’s schon gewesen sein.
_Concha Triloba_ nannte man’s in der Gelehrtensprache. Daraus
ist nachher das Wort „Trilobiten“, die Dreigeteilten, Dreiteiler,
Dreilapper, geworden, das bis heute bei der Sache geblieben ist, obwohl
man jetzt sicher weiß, daß es sich nicht um Muscheln handelt.

Was so umdeutet anfängt, pflegt ja eine große Merkwürdigkeit zu werden,
vollends wenn sich herausstellt, daß es ein -- Krebs ist.

Shaw im achtzehnten Jahrhundert betrachtete annähernd vollständige
Exemplare und riet auf versteinerte Raupen. Das müßten aber schon hart
gepanzerte Raupen gewesen sein. Wie nahe berührt sich das im äußeren
Bilde bereits mit einem Kelleresel, also einem Krebs!

Nun hatte Klein eben den Apus für einen Tausendfuß erklärt, und so kam
1750 Mortimer auf die Idee, der raupenartige Trilobit sei am Ende eine
Art Apus. Der Apus war aber trotz Klein in Wahrheit ein Krebs und so
geriet auch der Trilobit als Apus-Sorte bei Linné glücklich zu denen.

Gezweifelt worden ist aber bis ins neunzehnte Jahrhundert. Noch ein
Kenner wie Latreille schrieb 1821, daß er das Tier so lange bei den
Muscheltieren festhalte, bis einer Beine daran entdeckte und dann sei
es halt doch ein Tausendfuß. Diese Beine haben noch viel Mühe gemacht,
gerade an ihnen aber ist die Krebsnatur schließlich am deutlichsten
nachgewiesen worden.

Auch der Trilobit ist dem Apus in der Tat äußerlich zunächst auffallend
ähnlich. Er hat das große schildkrötenhafte Schild, aus dem nach oben
die Augen lugen. Aber auch bei ihm ist es durchweg dann, als sei in
dieses Schild ein langes Kellertier mit dem Kopf eingewachsen, so, daß
die Ringelreihe des Leibes hinten nachschleife. Und dieser Ringelleib
erst wieder beschließt sich mit einem soliden Schwanzschild. Beweglich
in seinen Reihen wie das kellertierartige Mittelstück ist, gibt es
in vielen Fällen auch jene Gabe des Einkugelns, wobei das versteinte
Tier eher ausschaut wie ein Seeigel oder auch eine Cypressenfrucht.
Völlig verborgen in der Kugel lagen dann wie bei Igel oder Gürteltier
die weichen Teile der Unterseite. An dieser Sohlenseite wimmelte es
nämlich genau wie beim Apus von dünnen Beinen. Zu oberst reckte sich
ein (einzelnes) langes Fühlerpaar vor, dann kamen um den Mund wie beim
Molukkenkrebs die „Kaufüße“, deren Wurzel-Teil die Nahrung zerrieb,
und endlich folgten in stattlicher Reihe die „Kiemenfüße“, Ruder und
Atmungsorgan jeder zugleich.

Wenig hätte freilich gefehlt, so wäre auch dieser „Vielfuß“ der Urwelt
in unserem Schulbuch ein „Ohnfuß“ geworden gleich dem falsch getauften
Apus von heute.

Zu Myriaden fand man im neunzehnten Jahrhundert allmählich seine Reste,
stellenweise so hageldicht, daß sie das ganze Gestein zusammensetzten.
Aber ob gekugelt, ob gestreckt im Todeskampf: -- alle hatten sie nur
ihre harten Rückenteile abgeprägt, von Beinen aber wies die Unterseite
nichts.

Man bestritt ihnen also die Existenz, diesen Beinen. Schließlich konnte
nur einmal wieder ein Wunder von Gelehrtenfleiß das Wunder lösen.
Walcott in Nordamerika machte sich an die Arbeit, einige tausend
igelhaft eingerollte Trilobiten in feinsten Querschnitten auseinander
zu spalten. Gab es Beine, so mußten sie ja in diesen Rolligeln mit
verpackt liegen. Ein Steinbruch wurde an gutem Ort eigens zum Zweck
angelegt. Drei Meter Stein wurden abgebaut und bei der Gelegenheit 3500
gekugelte Trilobiten gewonnen. Bei 270 Exemplaren kamen im Querschnitt
die Beine noch sichtbar zu Tage. Seitdem ist im Jahre 1894 zur
Beruhigung aller Gemüter auch noch im Staate New-York ein ungerollter
Trilobit entdeckt worden, bei dem die Fühler vorne und die Wimmelbeine
seitwärts noch offenklar herausstehen.

Der Trilobit sieht nicht umsonst dem Apus so ähnlich. Ging von dem die
Sage, daß er alle Jahrzehnte einmal „vom Himmel falle“, so ist der
Trilobit in der Geologie recht eigentlich das Rätseltier, das im Anfang
alles uns bekannten Lebens auf Erden plötzlich wie aus einer Versenkung
herabgeschneit dasteht.

Hinter jener Steinkohlenzeit, da die Molukkenkrebse sich schon
andeuten, kommen noch zwei große tierdurchwimmelte Perioden der
Erdgeschichte: die Devon-Zeit und die Silur-Zeit. Dann aber hebt sich
wie in Frühlicht-Umrissen heran noch eine äußerste Epoche, die nennen
wir das Kambrium, so getauft nach einem englischen Gebirge. In diesem
Kambrium geht für uns der Vorhang auf über dem großen Schauspiel des
Lebens auf Erden.

Ganz an der untersten, ältesten Stelle dieses Kambriums aber steht wie
mitten im brennenden Morgenrot dieser Krebs, der Trilobit.

Unser Geist sucht das Urwesen dort von einfachster Art, die Urzelle,
aus der sich alles gebildet haben soll.

Und er starrt in den Fels, der damals Sand am Meeresufer war. Ueber
diesen Sand kriecht ihm die Flut. Und wie er aus den steinernen
Spuren noch einmal das alte Bild leibhaftig auferstehen läßt, da ist
es plötzlich, als schaue er in jenen Graben bei Finkenkrug: aus der
sonnenerhellten Schlamm-Tiefe wackeln gespenstische Schilder an mit
aufwärts glotzenden Augen. Von Trilobiten, Hunderten, Tausenden,
Millionen wimmelt dieser Ozean des Anfangs. Wo sind sie hergekommen?

Einen Stoß weiter mit dem Spaten in das alte steinerne Tagebuch der
Erdrinde, hinab noch über dieses Trilobiten-Kambrium -- und die Chronik
schweigt auf einmal absolut still von allem, was Leben heißt.

Da gähnt der Stein, Tausende von Metern tief, hinab und hinab, eine
noch ältere Erdenschale, -- aber nichts mehr, kein Buchstabe mehr von
-- Leben. Tot scheint es, tot lag diese Erde wie die ausgeglühte Lava
eines Vulkans. Und da plötzlich stürzten darauf, myriadenviel wie die
Schneeflocken, wie die wehenden Kirschblütenblätter des Frühlings die
Trilobiten. Vom Himmel -- aus dem All -- woher?

Mancher Denker, der gern an natürliche Entwickelung auch im Lebendigen
geglaubt hätte, ist vor diesem Urwelts-Spuk der kambrischen
Trilobiten-Invasion schier verzweifelt.

Der Trilobit ist ja vom Entwickelungsboden aus unmöglich ein
„Anfangstier“. Gewiß, er ist niedriger entwickelt als der Flußkrebs
unserer Tafel. Aber er steht nur ein kurzes Stück hinter dem Apus. Und
er steht nahezu schon neben dem lebendigen Molukkenkrebs. Er hat einen
prächtigen Leibesbau, mit großen Facetten-Augen glotzte er schon in
die Welt wie eine Libelle, alles an ihm ist bereits in einer gewissen
Reife des tierischen Werdens, hoch über Wurm oder Polyp. Und damit
soll das Leben angefangen haben? Das soll plötzlich, von einem Tag zum
andern, „dagewesen“ sein, ohne Stammbaum, als der stolze Erstling, der
da sagte, mit mir hebt die Chronik an, ich bin der erste Satz auf dem
annoch weißen ersten Blatt?

Der Blick schaut nicht mehr auf eine Regenwolke, die eine Apus-Salve
bringen könnte, er sucht die Sterne.

Hat das Leben am Ende doch sein erstes Kapitel auf einem anderen
Planeten gehabt? War dort bis zum Krebs angestiegen und hat diese
Krebse in Trilobitenform dann irgendwie in den Weltpostkasten des
leeren Raumes geworfen, von wo sie zur guten Stunde auf die kambrisch
bereite Erde herabgeregnet sind als Krebs, der nun wirklich „vom
Himmel“, vom astronomischen Himmel, fiel?

Vor dieser Frage gibt es mindestens fünfundzwanzig verschiedene
Theorien, von denen mir der Leser verzeiht, wenn ich sie nicht alle
aufführe.

Die einfachste behauptet, daß jenseits des Kambriums ein Blatt aus
der Chronik gerissen sei. Auf diesem fehlenden Blatte stand die ganze
Linie der natürlichen Lebensentwickelung auf Erden von den einfachsten
einzelligen Urwesen bis zum Krebs und einigen andern, im Kambrium
gleichzeitig auftauchenden höheren Tieren. Das Blatt muß aber fehlen,
weil unterhalb der kambrischen Gesteinsschichten alle noch älteren
Meeresablagerungen durch nachträgliche Kristallisationsprozesse so
vollständig in ihrer innersten Struktur zerpulvert und zerhackt sind,
daß nicht die leiseste Spur eines versteinerten Lebensumrisses,
sei es von Tier oder Pflanze, sich darin erhalten konnte. Die alte
Erdentante hat hier einfach ihre Urschrift vom Leben auf dem ersten
Blatt in irgend einer Laune wieder ausradiert, und wir lesen also
das Stichwort Trilobit heute als Anfangswort, obwohl es in Wahrheit
ursprünglich schon tief im Text stand, -- so wie es bisweilen mit alten
Handschriften geht, die vor aller Philologie von hungrigen Mäusen
gelesen worden sind.

Das ist die, wie gesagt, einfachste Erklärung, die der
Entwickelungslehre nichts abtut und mit geologischen Tatsachen rechnet,
die als solche dick vor Augen liegen.

Wer aber von vornherein sich als fanatischer Gegner zur
Entwickelungstheorie stellt, der wird sich als „exakt“ hier fühlen und
sagen: unsere Weisheit vom Leben fängt mit Trilobiten an und damit
basta, genau wie der Bauer sagte: der Apus kommt vom Regen und da ist
weiter nichts zu fragen. Wie ja auch der Inder sagt: die Welt steht auf
einem Elefanten und der Elefant steht auf einer Schildkröte; wer aber
fragt, worauf die Schildkröte steht, der wird hinausgeworfen.

Indessen auch die Entwickelungslehre, die ja selber alles eher sein
soll als ein behagliches Autoritäten-Winkelchen, hat vor dem Trilobiten
noch vielerlei zu fragen.

Der Trilobit ist im Moment seines Auftauchens nicht nur überhaupt ein
hoch entwickeltes Tier, das eine sehr lange Ahnenkette hinter sich
haben mußte: er ist auch unter seinen ersten Zeitgenossen die Spitze
der Entwickelung.

Er kann es sein, denn noch fehlt in diesen ältesten kambrischen
Schichten, so weit wir sie kennen, jede Spur von dem Tierstamm,
der in Wahrheit der absolute Gipfel aller tierischen Entwickelung
auf Erden geworden ist, -- von den Wirbeltieren. Noch vergeht erst
eine gewisse Zeit, in den nächstoberen Schichten chronikalisch
festgelegt: dann schwimmen auf einmal im Urmeer die ersten Fische.
Damit ist der Trilobit entthront. Dieser Fisch sitzt auf der höchsten
Entwickelungssprosse. Immer und immer wieder hat sich aber da der
Gedanke leise geregt: sollte in dieser Ablösung nicht am Ende selber
eine gerade Fortentwickelung liegen? Sollte nicht der Trilobit, der
Urgipfel, aus sich die noch höhere Spitze geboren haben, den Fisch?

Es war in den Tagen des alten Oken, des „Naturphilosophen“.

Ein halbes Jahrhundert vor Darwin lehrte der seinen Vor-Darwinismus,
eine unverkennbare Entwickelungstheorie nämlich in praktischer
Anwendung auf Tiere und Pflanzen. Das System war ihm einfach die
Abstammungskette. Das Säugetier kam vom Vogel, der Vogel vom Reptil,
das Reptil vom Fisch. Jetzt woher der Fisch? Nun, doch wohl vom höchst
entwickelten wirbellosen Tier, vom Insekt und Krebs.

In diesem einfachen nackten Ideengang wäre es absolut nichts
Auffälliges gewesen, den ältesten Fisch der Urwelt vom damals höchst
entwickelten Krebs, dem Trilobiten, abzuleiten. Man warf ein (feine
Sachkenner warfen es ein), der Krebs habe doch ein Bauchmark und der
Fisch ein Rückenmark, diese beiden Tiere seien in jedem Zuge so zu
sagen anatomisch entgegengesetzt aufgebaut. Macht nichts, meinte der
Philosoph, dann sind eben die Wirbeltiere auf dem Rücken laufende
Krebse. Das gab damals viel Heiterkeit und eine Weile ist nicht bloß
der engere Stammbaum, sondern die ganze Entwickelungstheorie an dieser
Lächerlichkeit gestorben.

Als sie nachher von Darwin wissenschaftlich neu begründet wurde,
vermied man zunächst mit Fleiß diese riskanten Auswüchse. Man nahm den
Stammbaum nicht als starre Leiter, sondern als wirklichen Baum, dessen
große Aeste nicht alle auseinander hervorzuwachsen brauchten, sondern
parallel gehen und vielleicht bloß ganz unten zusammenhängen konnten.
War der Krebs eine Astspitze mit dem Mark nach unten, so war der Fisch
eine parallele andere mit dem Mark nach oben, Parallelen schnitten sich
hier aber so wenig wie in der Mathematik und wenn ihre Enden nach oben
auch ins Unermeßliche hineinwuchsen.

Als aber die Lehre im ganzen anfing wie eine sichere Sache die
Tierkunde zu beherrschen, da wurde schließlich doch wieder der eine und
andere kühn.

Warum sich vor dem alten Oken fürchten? Zuerst probierte einer, ob man
nicht die Fische an die Vorstufe wenigstens der Krebse, die sogenannten
Ringelwürmer, zu denen Regenwurm und Blutegel zählen, anleimen könnte.
Semper hat das so weit verteidigt, wie es irgend anging.

Dann aber sind die schon ganz wieder Kühnen gefolgt. W. Patten,
Professor zu Hanover in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, hat
auf dem Berliner Zoologen-Kongreß vom vorigen Sommer seine schon seit
Jahren im Umriß bekannte Meinung wieder öffentlich begründet: der
große entwickelungsgeschichtliche Schritt der kambrischen Periode
gehe in der Tat direkt vom Trilobitenkrebs zum Fisch. Die Trilobiten,
der Molukkenkrebs und unser Apus würden da zusammen etwa eine uralte
Vermittelungsgruppe darstellen, zu der von der Seite der Fische der
sogenannte „Schildkopf“ den Brückenkopf bildete.

Solche Vermutungen könnten nicht aufkommen, wenn nicht in jener
urweltlichen Morgenrotsgegend auch die Fische wirklich die paradoxesten
äußeren Gestalten annähmen.

Dieser besagte Schildkopf (Kephalasspis) ist ein echter Fisch und doch
steckt auch er allen Ernstes mit dem Kopf unter einem riesigen flachen
Schild wie ein vollkommener Apus, und genau wie bei dem glotzen die
Augen oben aus diesem Deckel hervor, so hoch heraufgerückt bei gewissen
Arten, daß sie im Scheitel brillenartig fast verschmelzen.

Im alten roten Sandstein Schottlands stecken zu Tausenden andere
kleine Urwelts-Fischlein, die so sehr aus jedem Fisch-Typus
herausfallen, daß der eine sie für große Wasserkäfer, der andere für
Schildkröten, der dritte selber für Krebse gehalten hat. Cope hat
sie neuerdings noch an die Ascidien, also Geschöpfe etwa von der
Entwickelungshöhe eines höchsten Wurms, anschließen wollen. Simroth
gar sieht in ihnen Landtiere, die wie die Seehunde über den Moosboden
krochen und eine landbewohnende Vor-Form des Fisches darstellen sollen.
„Flügelfisch“ (Pterichthys) hat man sie in der Not getauft. Auch bei
ihnen steckt der Kopf und Hauptrumpf in einer Art Kasten von mächtigen
Knochenplatten, aus dem hinten der „Fisch“ förmlich lächerlich
heraushängt. Von diesem Panzer aber angelt jederseits eine riesige
gepanzerte Brust-Flosse ab, die durch ein regelrechtes Ellenbogengelenk
in einen Oberarm und Unterarm getrennt ist. Und oben auf der Kiste
sind wieder die durchbrechenden Augen so zusammengerückt, daß jetzt
wirklich nur noch eine einzige Oeffnung den Schädel durchlöchert, in
der möglicherweise auch nur noch ein einziges großes Cyklopenauge --
ein Scheitelauge -- saß.

Solche Monstra, die dem Wörtchen „Fisch“ denn doch noch einen Spielraum
weit über das Geläufige hinaus für die Urwelt geben, muß man sich
vergegenwärtigen, wenn einer vom Trilobiten oder Apus den roten Faden
zum Fisch ziehen will. Aber zu glauben braucht man an die Linie darum
doch noch nicht.

Das alte Argument gegen Oken bleibt einstweilen in unwiderlegter Kraft.
Fisch und Krebs sind ihrem inneren anatomischen Bau nach Gegensätze der
schärfsten Art -- und sähe äußerlich ein Urfisch auch leibhaftig wie
ein Apus und ein Trilobit zum Verwechseln wie ein Fisch aus.

Wohl läßt sich denken, daß eine neutrale Wurzel, die nur bei niedrigen
Würmern gelegen haben kann, die beiden Extreme nach zwei unabhängigen
Seiten fast oder nahezu gleichzeitig erzeugte, -- aber nicht, daß ein
Extrem sich noch wieder umänderte in sein Gegenextrem.

Und wohl läßt sich noch ein zweites denken, was auch jene äußerliche
Aehnlichkeit so getrennter Tiergruppen in gleicher Urzeit recht gut
erklärt.

Viel hat man sich den Kopf zerbrochen über die Lebensweise des kuriosen
Trilobitenvolks. Denkt man sich ihre kurzen Krabbelbeine unter dem
großen wackelnden Schild, ihre Fähigkeit, bei nahender Gefahr sich
einzurollen wie ein Igel, so scheint alles auf ein Tier zu weisen, das
sich am Grunde hinbewegte, nicht aber in der Hochsee gewohnheitsmäßig
als freier Schwimmer paradierte.

Nun mischt sich aber noch ein Besonderes da ein. Eine Menge von
Trilobiten-Arten hat sehr schön entwickelte, große Augen. Eine Menge
aber auch hat gar keine Augen, sie war unzweideutig blind.

Wo ein Tier bei sonst lebensfähigem Bau seine Augen abgelegt hat,
da liegt allemal eine Anpassung an Verhältnisse vor, wo Augen nicht
mehr nötig sind. Der Käfer, die Spinne, der Krebs, der Fisch in
stygisch schwarzer Höhle verlernt das Sehen, er wird schließlich ohne
Augen geboren und fährt wohl dabei. So ist die Adelsberger Grotte,
ist die amerikanische Mammuthöhle ein Heim der Blinden im Tierreich
geworden. Sollen wir uns die blinden Trilobiten alle heimisch denken in
ungeheurem Geklüft jener Ur-Erde?

Nicht der leiseste Anhaltspunkt weist sonst darauf hin, weder im
Gestein, das sie heute hegt, noch in dem übrigen Tiervolk, das mit
ihnen ihre Wasser belebte.

Lag über der gesamten Erde damals noch eine dicke Wolkenschicht wie
über dem Jupiter, die das Licht der Sonne abschnitt? Unmöglich, denn
wie hätten sonst so unzählige Augen sich entwickeln, wie hätten grüne
Pflanzen sich entfalten können.

Aber Augen sind auch abgeschafft worden von den Bewohnern eines
offenen Ozeangebietes, das heute besteht und damals bestanden haben
wird, nämlich in der Tiefsee. Wo die Wassersäule endlich bis zu einer
Meile dick wird, da gibt es kein Licht mehr von oben. Wohl aber
gibt es, wie wir heute wissen, da unten noch Tiere. Und auch diese
Tiere sind zum großen Teil blind. So ist die Ansicht von Süß und
Neumayr vertreten worden, alle blinden Trilobiten seien Bewohner der
ganz großen Meerestiefen gewesen. Noch heute lebt der Goliath unter
den Kellerasseln, die Riesen-Assel Bathynomus, die dreiundzwanzig
Zentimeter lang wird, bei Yukatan in der Tiefsee. Warum soll nicht so
einst ein Hauptheer dieser asselhaften Trilobiten auch im schwärzesten
Abgrund sein Wesen getrieben haben?

Aber der Tiefsee-Schlamm hat zu allen Zeiten andere Gesteinsschichten
erzeugt als etwa eine flache Sandküste oder seichte Meeresbucht.
Und doch liegen gerade blinde Trilobiten in ungeheuren Massen
begraben in solchem Kirchhof von Sandhängen und Seichtwassern. Wer
soll sie in dieses fremde Grab verschwemmt haben? Mir erscheint am
wahrscheinlichsten, daß sie da gestorben und begraben sind, wo sie auch
gelebt haben. Und es brauchte, um alle ihre Anpassungen zu erklären,
keines anderen Bildes, als jenes einfachen von heute, das der Apus in
seiner Regenpfütze uns bietet.

Im Schlamm des Grundes liegt dieser Apus. In diesen Schlamm wühlt
er sich mit seiner Schale und äugt nach oben mit den kleinen
Deckfensterchen. Ab und zu kommt er aus ihm hoch, sinkt aber bei jeder
Verfolgung blitzschnell in ihn wieder ein, als sein Asyl.

Eine solche typische Schlamm-Anpassung der Urwelt war auch der Trilobit.

Unwillkürlich mißt das Auge im Geist die kolossalen Steilwände heutigen
Gesteins, von denen der Geologe erzählt, daß sie alle einst nichts
anderes waren als Urwelts-Schlamm. Der Trilobit ist das Tier dieses
Schlamms, aus dem Gebirge geworden sind.

Es war wohl hauptsächlich Uferschlamm. Noch heute ist der Mohikaner
jener Tage, der Molukkenkrebs, ein Freund des Ufers, seine Eier legt
er in eine Grube im Bereich der Ebbe und Flut und ohne Mühe erträgt er
eine ganze Weile sogar die freie Luft.

Im tiefen Schlamm hat ein Teil der Trilobiten seine Augen abgeschafft,
wie wir allenthalben bei Schlammtieren das Auge winzig und immer
winziger werden sehen. In den Schlamm ließ sich der Trilobit als
igelhaft gerollte Kugel hinabfallen. Im Schlamm lag er platt mit
seinem Schild wie die Plattfische, die Schollen, und die breiten
Rochen im Sand, die sich so einwühlen, daß nur die listigen Augen oben
herauslauern wie bei einem unterseeischen Boot aus dem Wasserspiegel
die Fensterchen des Kapitäns.

Weil er im Schlamm lag, der von allem das sicherste Erhaltungs-,
das sicherste Versteinerungsmittel gewesen ist, liegen gerade seine
Stein-Mumien so unglaublich massenhaft noch in den alten Schichten,
daß man fast meint, es habe wirklich damals Trilobiten geregnet. Diese
Schlammheimat aber war es auch, die andere Tiere des gleichen Ortes ihm
äußerlich allmählich immer ähnlicher gemacht hat, auch wenn es sonst
Tiere waren, die ihm ganz fernstanden.

Im Schlamm hat auch jener Schildkopf vom ältesten Fischvolk sich
verborgen, daher das Schild, die schlecht bewehrte Hinterseite,
die nach oben rückenden Augen; wie einen Bernhardiner-Krebs seine
Muschel über dem unbepanzerten Hinterleib, so schützte den Fisch über
dem schwächer verteidigten Schwänzchen der Schlamm. Und in diesem
Schlamm ebenso steckten die Flügelfischlein, denen es genau so ging.
Trilobitengleiche Lebensart machte sie schließlich trilobitenähnlich,
wie die ewig gleiche Arbeitsleistung zwei Menschen ähnlich macht, ihre
Glieder in gleicher Richtung krümmt, ihren Blick auf den gleichen Ort
dressiert, mag auch von Haus aus der eine in keinem Zuge dem andern
geglichen haben und mögen ihre Wiegen tausendmeilenfern voneinander
gestanden haben.

Ist es so wohl doch nichts mit Trilobit und Fisch, so bleibt um
so fester die uralte Verknüpfung jener verschiedenen seltsamen
Krebsgeschlechter, die wir besprochen haben.

Eng zu einander fügen sich der Trilobit, der riesige Seraphim-Krebs und
der Molukkenkrebs. Die beiden ersten sind schon an der Schwelle der
Ichthyosaurus-Zeit vollständig ausgestorben, der dritte allein lebt im
hellen Tag von heute noch ein gespenstisches Urwelt-Dasein.

Von allen echten Krebsen aber der verwandteste wieder zu diesen
Patriarchen der großen Erdenkrebserei ist unser Apus. Wie er unter
seinem Deckschilde, mit den Augen nach oben, daherwackelt, ist es,
als führe er uns noch einmal im kleinen und im äußersten Nachklang
zurück in jene Schlammwellen der Vorzeit, in jenen unendlichen Mudd
und Schlick, aus dem unsere Berge geworden sind und in dem die Erde
ihr Tagebuch, ihr altes Tierbuch, ihr urweltliches Kräuterbuch durch
Naturselbstdruck auf erhärtenden Schlamm uns überliefert hat.

So hellte mein kleiner Apus-Tümpel bei Finkenkrug sich mir auf zu einem
Querschnitt durch Jahrmillionen.

Ich hatte auf einmal das Gefühl: du bist dabei gewesen. Was ist unsere
Forschung anders als ein ungeheurer Triumph über das Ungetüm Zeit, das
begraben wollte! Geschlecht um Geschlecht wischte sie aus und warf
es in den Stein. Nun ist gerade dieser Stein für uns die Stimme der
Unsterblichkeit.

Die Welt, niemals in ihren ausströmenden Wirkungen ganz erloschen, da
Sein nie wieder zu Nichts wird, findet sich selber wieder, und in dem
Augenblick rinnen die Aeonen der Zeit nichtig dahin wie eine Nachtwache.




Osterglaube.


Ueber dem Müggelsee liegt eine erste Duftstimmung des Frühlings, doch
noch ohne starke Farben.

Der Himmel wie von leichtem Rauch verdunkelt, in dem die Sonne als
gelbweiße Insel mit verwaschenem Umriß schwimmt. Der See gibt das
wieder mit einem zartesten Perlmuttergrau, durch das ein Reflexband aus
tanzenden Silberpunkten schaukelt. Drüben das Waldufer blaßblau darauf
und über ihm die Müggelberge wie ein blaugrünes Wölkchen, ganz weich,
in den Himmelsrauch verfließend. Gegen die Kirche von Rahnsdorf eine
Mauer von ausgebleichtem, gelbem Schilf.

Ab und zu geht durch die tiefe Feierstille ein singender Ton und ein
eigentümlich rhythmisches Rauschen: ein großer Keil von einigen fünfzig
Wildgänsen kehrt zu seiner gewohnten Fünfuhrstunde von den Aeckern heim
auf sein Wasserrevier.

In diesem Winter hat der See hier am Ufer unheimlich gewütet.

Mehrfach hat er seinen losen, tauenden Eisteller in wilder Sturmnacht
heraufgepreßt, daß der Sand samt seinem Grasrain zu hohen Wällen
aufgetürmt worden ist. Einer alten Erle, die als äußerster Vorposten,
mir seit Jahren vertraut, fast im Wasser stand, hat ein solcher
Eisstoß die Hälfte ihrer polypenhaften schwarzen Wurzelstelzen glatt
wegrasiert. Zerrissene Schilfmassen liegen allerorten wie Garbenbündel
gehäuft.

Aber gerade aus diesem wüsten Damm der Zerstörung kommen jetzt die
ersten wirklich leuchtenden Farben des echten Frühlings.

Aus der umgestürzten Grasscholle heben sich unzählige brennend
karminrote Punkte: die noch zusammengefalteten Köpfchen der
Maßliebchen. Dazwischen hier und da ein schon breit offener,
tiefgoldener Stern: die Blüte des Huflattichs, die auf ihrem
Schuppenstil dem Blätterkranz weit vorauseilt.

Es ist, als habe der um und um gewühlte Boden ihre Lenzfahrt zum Lichte
nur beschleunigt.

Wie diese kleinen Sonnenaugen so aus dem wirren Strandgut der
Sturmnacht lächeln, steckt ein unverwüstlicher Auferstehungs-Zauber
darin: das ganze Feiertags-Wunder der Natur, ihre trotzige Osterstimme,
die unser Grübeln auslacht. „Neu!“

Diese gelbe Huflattich-Blüte erlebt zum erstenmal die Sonne. Als Wunder
erlebt sie sie.

Du hast gut reden, daß diese Pflanze so und so entstehen mußte, aus
einer Keimzelle, und daß die Sonne da drüben hinter dem Wolkenflor, in
ihrer einsamen Schwebe im eisig kalten Raum, zwanzig Millionen Meilen
fern von hier, ebenfalls so und so entstanden ist, aus einem Urnebel in
äonenfernen Tagen.

„Neu!“

Wir sind heute so alt geworden in unsern Gedanken, so weltenalt.

Wie ich den silbergrauen See hier anschaue, ist es, als flimmerten
durch seinen Sonnenstreifen dort ungezählte geisterhafte Bilderreihen.
Das alles war er einst! Die Luft weht auf einmal eisig kalt. Da wälzen
sich an Stelle dieser märkischen Seen die gelben Schmelzwasser von der
tauenden Wand des ungeheuren skandinavisch-norddeutschen Gletschers
der Eiszeit von Ost nach West vorbei. Gerade über Berlin ging ein
solches Urstrombett. Mit den Gletscherwassern der nordwärts weichenden
berghohen Eiswand mischten sich noch die vor dem Eis gestauten Wasser
der Oder und Weichsel und flossen mit ihnen der Elbe zu. Aus diesen
Tagen stammt der unendliche Sand, in dem dieses Land begraben lag, als
es in der menschlichen Geschichte auftauchte, dieser Sand, der Berg und
Tal nivelliert hat durch einheitliches Ausfüllen✹...

An diesem Nordufer des Müggelsees hier ist neulich gebohrt worden.
Eine dünne Braunkohlenschicht kam zu Tage. Wieder ein Bild, ein noch
älteres: die immergrünen Wälder der warmen Tertiärzeit, wo die riesigen
Sumpfcypressen des heutigen Nordamerika hier in der Mark wuchsen.

Ueber diese Urwälder ragte die Muschelkalkmasse von Rüdersdorf,
vom Sande noch nicht verschüttet, vom Eiszeit-Binneneis noch nicht
verwüstet, vielleicht noch als blauer Höhenzug, wie heute die
lieblichen Muschelkalkberge Thüringens.

Als der Schlamm selbst sich aber absetzte, der diesen Kalkstein
bildete, war hier Meer, tiefes Meer, Ozean mit Tintenfischen und
Haifischen und Korallen.

Wenn die Wildgänse heute hier ans Ufer kommen oder die Krähen aus dem
Walde anfliegen und im Schwemm-Moder herumstochern, so prägen sich ihre
Füße zierlich im weichen Schlammstreifen der Wassergrenze ab. In der
Epoche der Erdgeschichte, in der auch der Muschelkalk sich bildete, ist
ein froschähnliches, aber viel größeres Scheusal bei Hildburghausen
über solchen nassen Schlammgrund gelaufen, und seine eingeprägten
Patschen, im Stein nachmals verewigt, zu dem der Schlamm geworden,
stehen heute noch im Berliner Museum.

Es war eine austrocknende Salzlake, wo dieses Monstrum sein Wesen
trieb, die Abdrücke von Salzkristallen beweisen es noch. So liegen
auch bei uns in der Mark die riesigen Salzlager noch tief unter Sand
und Braunkohle, Reste ausgedampfter Meeresbuchten. Sie sind noch eine
Erdepoche älter als der Muschelkalk. Eine Landschaft gehört dazu, wie
wenn wir uns heute an das Kaspische Meer versetzten.

An diesem Meer von damals aber wuchsen turmhohe Schachtelhalme statt
Kiefern, und der Bärlapp, der jetzt wie ein Moos da drüben hinter den
Müggelbergen auf dem Sumpfboden kriecht, bildete Bäume wie die Eiche.

Auf diesem ungeheuren Wandelpanorama von Bildern stehen wir. Es gibt
nichts Neues, kein Wunder, nur eine ununterbrochene Folge.

Daß diese Lattichblüte hier keimt, lag schon in der uranfänglichen
Stellung der Weltatome begründet.

Dieser Gedanke hat eine so riesige Gewalt über uns heute. Immer wieder
sinkt er wie ein Block auf uns, schwer und schwerer.

Alles ist gekommen, und alles wird wieder gehen, immer nach dem
gleichen Gesetz.

Und den Ostersucher gähnt ein Wort an, in dem die Welt mit all ihrem
Neuen versinkt wie in einem furchtbaren grauen Trichter -- das Wort:
„selbstverständlich“.

Wo dieses Wort die Gedanken nivelliert wie der diluviale Sand das
Gesteinsprofil der Mark, da gibt es kein Osterwunder mehr in Natur
und Menschheit. Der Frühling ist nicht ein Zauber, der uns alle immer
wieder mit jung macht, sondern eine ziemlich langweilige Bestätigung:
mal wieder einer. Es werden sich Millionen aneinanderreihen, dann liegt
der Kiefernwald hier auch wieder als eine irgendwie benannte zolldicke,
schwarze Schicht in der Tiefe, und es ist wieder eine Epoche der
Erdgeschichte um. Der große Trott des Selbstverständlichen aber geht
weiter.

Und doch ist die Sehnsucht nach dem Wunderbaren in uns so heiß, heute
wie nur je.

Nicht tot zu kriegen ist sie.

Weil sie unterdrückt wird, bricht sie an den tollsten Stellen aus. Wie
der Schildbürger, der das Licht in der Mausefalle fangen will, zieht
der Spiritist auf die Jagd nach dem Wunderbaren um jeden Preis. Ein
Flüchtling vor dem zermalmenden „Selbstverständlich“, kommt er aus
der Natur hier draußen und setzt sich hinter verhängten Fenstern an
den Tisch, bildet eine Kette aus nervös zitternden Händen, die alle
das Wunder greifen möchten. Es klopft, ein altes Stuhlbein knackt --
das ist das „Wunderbare“. Hier draußen am freien See, wo die violette
Erlenknospe bricht und das Silberband der Sonne flimmert, hat er es
nicht finden können.

Ich aber möchte rufen wie der schlichte Wanderer, der von ungefähr
in das vermauerte Rathaus zu Schilda kam: „Kinder, schlagt doch die
Fenster ein!“

Was wollt ihr denn mit dem „Selbstverständlich“?

Dieses Selbstverständliche ist ja jetzt endlich das große Wunder
unserer Zeit, das Wunder aller Wunder.

Nicht, daß mystische Blumen im dunklen Kabinett aus den Lüften regnen,
ist das wahre Wunder für den echten Ostersucher von heute, sondern
daß überhaupt auch nur die schlichteste Blume nach schlichtestem
Naturzusammenhang aus dem Erdboden wächst!

Nur eine Rettung gibt es, daß unsere Sehnsucht den großen Osterpfad
wieder findet durch unser sternenweit gedehntes modernes Wissen.

Es ist nämlich die: sich wieder resolut darauf zu besinnen, wie
wunderbar das Natürliche selber ist.

Als Natürliches!

Ich will ihm nichts fortnehmen im strengsten Naturforschersinne. Ich
will es nirgendwo durchbrechen. Aber gerade diese absolute, in sich
geschlossene, durch und durch einheitliche Natur ist mir dann auch
wieder das höchste Wunder.

Was für ein unsagbar Geheimnisvolles ist diese „Gesetzmäßigkeit“ allen
Geschehens.

Warum ist die Welt nicht wirklich ein Haufen regellos stäubender Atome?
Warum ist sie diese Blume und dieser See und dieser Frühlingshauch?

Im Grunde schon: welch Wunder ist es, daß überhaupt etwas ist!

Und dann, da dieses erste Wunder uns immer wieder wie ein
Auferstehungsmorgen geschenkt ist -- das zweite, nicht minder große:
daß es Verschiedenes gibt.

Immer, wohin wir sinnen und forschen mögen, bewegt uns dieses dunkle
Ahnen, daß alles in einem ewig Einen schwimmt, eine tiefste kosmische
Einheit bildet. Und doch ist dieses Eine auseinandergespannt zu dem
unendlichen Majaschleier des Vielfältigen. Nicht bloß Sonne, sondern
auch See, der sie spiegelt. Und am See dieses liebliche Blumenauge,
eine Individualität wie ich. Und ich selbst, in dessen ostersuchendem
Auge noch wieder das alles schwimmt.

Wieder in diesem Verschiedenen, diesen verschiedenen Möglichkeiten
aber das vielleicht allerhöchste Wunder, das freilich oft am wenigsten
beachtet wird: -- daß nämlich in der Konkurrenz dieser Möglichkeiten
das Bessere, das Zweckmäßigere, das Harmonische fort und fort sich
erhält, während das Disharmonische beständig fällt und fällt.

Millionen Würfel fliegen mit Unzweckmäßigem gegen zehn gute -- diese
zehn aber siegen, weil sie gut sind. Auf ihnen triumphieren die
Entwickelung, der Fortschritt.

Es ist so ungeheuer leicht, gerade dieses Weltgesetz als
„selbstverständlich“ abzutun. Aber das ist ja gerade das Wunderbare,
daß es uns so fest umfängt als ein Ur-Weltgegebenes, daß wir es wie
Luft und Sonne als das Allerselbstverständlichste hinnehmen.

Und doch hat sich an diesem Gesetz, diesem urgesetzten Grundwunder die
Welt zu einem Kosmos emporgegipfelt, anstatt ins bodenlose Chaos zu
fallen. Dieses Sieb des Gesetzes, daß das Harmonische, das Zweckmäßige
einen Erhaltungsvorsprung hat vor dem Disharmonischen -- es hat
gesiebt und gesiebt, immer wieder eine Auslese des noch Besseren, noch
Zweckmäßigeren aus der rinnenden Atomwolke des Seins herausgesiebt. An
der Leiter dieses Gesetzes ist die Liebe aufgestiegen, vom schlichten
Anfang des Wurms bis zum strahlenden Kelch der Menschenliebe. An ihr
ist die Kunst heraufgekommen. Aus diesem Gesetz ist der schlichte
Imperativ des Guten immer wieder auferstanden an tausend und tausend
Ostermorgen der Weltgeschichte. Wie Wunder sind diese Dinge aufgesproßt.

Der nüchterne Verstand meinte sie für die Nüchternheit seines
„Selbstverständlich“ eingefangen, wenn er ihr gesetzmäßiges Werden
erwies. Aber gerade in höchster Wahrheit war dieses Werden nur
möglich durch die Tatsache des einen großen Weltenwunders: eben der
Gesetzmäßigkeit. Und selbst diese Gesetzmäßigkeit hätte sie nicht vom
Baum pflücken können, wenn nicht die Wurzel dieses Baumes in dem andern
großen Ur-Wunder lag.

Das Wunder des Natürlichen!

Mir war, als hauchte es jetzt wirklich in leisen Osterglocken über den
einsamen See.

Die Sonne hatte sich mehr befreit. In dem breiter strömenden
Silberbande zuckte etwas wie das Lachen eines schönen Mädchens, das
schelmisch die blanken Zähne zeigt.

Geh heim mit deinem „Selbstverständlich“.

Gerade das Tiefste, der Weltboden, auf dem du mit all deinem Grübeln
stehst, ist in jedem Augenblick immer nur wieder ein Geschenk, das dir
verliehen wird, ohne daß du einen Grund weißt.

Es ist, -- mit der ganzen jubelnden Oster-Kraft, die den Fels von der
dunklen Höhle wirft.


Ende.




„=Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung=“
vereinigt eine Anzahl hervorragender Männer der Wissenschaft,
die aus Anlaß des +Jahrhundertwechsels+ die letzten hundert
Jahre deutscher Entwicklung auf den wichtigsten Kulturgebieten
historisch-kritisch behandelt haben. Bisher sind folgende Einzelwerke
im Verlage von =Georg Bondi= in Berlin erschienen:

_Dr._ =Theobald Ziegler=, ord. Professor a. d. Univ.
Straßburg: Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts.

_Dr._ =Cornelius Gurlitt=, ord. Professor a. d. Kgl. techn.
Hochschule zu Dresden: Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts.

_Dr._ =Richard M. Meyer=, Professor a. d. Univ. Berlin: Die
deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts.

_Dr._ =Georg Kaufmann=, ord. Professor a. d. Univ. Breslau:
Politische Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert.

_Dr._ =Siegmund Günther=, ord. Professor a. d. techn.
Hochschule München: Geschichte der anorganischen Naturwissenschaften im
19. Jahrhundert.

_Dr._ =Franz Carl Müller= in München: Geschichte der
organischen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert.

_Dr._ =Werner Sombart=, Professor a. d. Univ. Breslau: Die
deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert.


Die folgenden Bände der Sammlung sind =in Vorbereitung=:

_Dr._ =Heinrich Welti= in Berlin: Das musikalische Drama und
die Musik des 19. Jahrhunderts in Deutschland.

_Dr._ =Paul Schlenther=, Direktor des K. K. Hofburgtheaters
zu Wien: Das deutsche Theater im 19. Jahrhundert.

=Colmar Freiherr v. d. Goltz=, General d. Infanterie: Deutsche
Kriegsgeschichte des 19. Jahrhunderts.


Ein jeder Band umfaßt etwa 800 Seiten groß Oktav, bildet ein
abgeschlossenes Ganzes und ist unabhängig von den andern zum Ladenpreis
von M. 10.-- (broschiert) und M. 12.50 (Halbfranz gebunden) zu haben.




Stereotypplattendruck von +F. E. Haag+, Melle i. Hann.





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK VON SONNEN UND SONNENSTÄUBCHEN ***


    

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