Der Untergang des Abendlandes, Zweiter Band

By Oswald Spengler

The Project Gutenberg eBook of Der Untergang des Abendlandes, Zweiter Band
    
This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and
most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
of the Project Gutenberg License included with this ebook or online
at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States,
you will have to check the laws of the country where you are located
before using this eBook.

Title: Der Untergang des Abendlandes, Zweiter Band

Author: Oswald Spengler

Release date: October 13, 2025 [eBook #77043]

Language: German

Original publication: München: C.H. Beck, 1919


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER UNTERGANG DES ABENDLANDES, ZWEITER BAND ***





                     DER UNTERGANG DES ABENDLANDES

               ZWEITER BAND: WELTHISTORISCHE PERSPEKTIVEN




    _Von diesem Werke wurde eine kleine Auflage auf feinstem Papier
   abgezogen und teils in Halbpergament, teils in Ganzleder gebunden_




                             DER UNTERGANG
                            DES ABENDLANDES

                       UMRISSE EINER MORPHOLOGIE
                           DER WELTGESCHICHTE

                                  VON

                            OSWALD SPENGLER

                              ZWEITER BAND

                      WELTHISTORISCHE PERSPEKTIVEN

            EINUNDDREISSIGSTE BIS ZWEIUNDVIERZIGSTE AUFLAGE

               EINUNDFÜNFZIGSTES BIS SIEBZIGSTES TAUSEND

                             [Illustration]

                  C. H. BECK’SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
                        OSKAR BECK MÜNCHEN 1922




        Copr. München 1922. C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung

      Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten




INHALT


  =I. Kapitel: Ursprung und Landschaft=                                1

  =A. Das Kosmische und der Mikrokosmos=                               3

  Pflanze und Tier 3. Dasein und Wachsein 7. Empfinden, Verstehen,
  Denken 11. Bewegungsproblem 18. Massenseele 22.

  =B. Die Gruppe der hohen Kulturen=                                  25

  Geschichtsbild, Naturbild 25. Menschen- und Weltgeschichte 32.
  Zwei Zeitalter: Primitive und hohe Kulturen 38. Überblick der hohen
  Kulturen 46. Der geschichtslose Mensch 57.

  =C. Die Beziehungen zwischen den Kulturen=                          62

  „Einwirkung“ 62. Das römische Recht 68. magisches Recht 78.
  Recht des Abendlandes 88.

  =II. Kapitel: Städte und Völker=                                    99

  =A. Die Seele der Stadt=                                           101

  Mykene und Kreta 101. Der Bauer 104. Weltgeschichte ist
  Stadtgeschichte 106. Stadtbild 109. Stadt und Geist 114. Geist der
  Weltstadt 117. Unfruchtbarkeit und Zerfall 122.

  =B. Völker, Rassen, Sprachen=                                      132

  Daseinsströme und Wachseinsverbindungen 133. Ausdruckssprache
  und Mitteilungssprache 135. Totem und Tabu 137. Sprache und
  Sprechen 138. Das Haus als Rasseausdruck 142. Burg und Dom 144.
  Die Rasse 146. Blut und Boden 151. Die Sprache 156. Mittel und
  Bedeutung 160. Wort, Grammatik 164. Sprachgeschichte 173. Schrift
  180. Morphologie der Kultursprachen 183.

  =C. Urvölker, Kulturvölker, Fellachenvölker=                       189

  Völkernamen, Sprachen, Rassen 189. Wanderungen 193. Volk und
  Seele 197. Die Perser 199. Morphologie der Völker 202. Volk und
  Nation 204. Antike, arabische, abendländische Nationen 207.

  =III. Kapitel: Probleme der arabischen Kultur=                     225

  =A. Historische Pseudomorphosen=                                   227

  Der Begriff 227. Actium 230. Das Russentum 231. Arabische
  Ritterzeit 237. Der Synkretismus 241. Juden, Chaldäer, Perser der
  Vorkultur 246. Mission 253. Jesus 256. Paulus 269. Johannes,
  Marcion 275. Heidnische und christliche Kultkirche 279.

  =B. Die magische Seele=                                            283

  Dualismus der Welthöhle 283. Zeitgefühl (Ära, Weltgeschichte,
  Gnade) 289. Consensus 296. Das „Wort“ als Substanz, der Koran 298.
  Geheime Tora, Kommentar 301. Die Gruppe der magischen Religionen
  304. Der christologische Streit 314. Dasein als Ausdehnung
  (Mission) 318.

  =C. Pythagoras, Mohamed, Cromwell=                                 323

  Wesen der Religion 323. Mythus und Kultus 327. Moral als
  Opfer 331. Morphologie der Religionsgeschichte 336. Die Vorkultur:
  Franken, Russen 339. Ägyptische Frühzeit 341. Antike 345. China
  350. Gotik (Marien- und Teufelsglaube, Taufe und Buße) 354.
  Reformation 362. Die Wissenschaft 368. Puritanismus 371.
  Rationalismus 375. „Zweite Religiosität“ 382. Römischer und
  chinesischer Kaiserkult 386. Das Judentum 390.

  =IV. Kapitel: Der Staat=                                           401

  =A. Das Problem der Stände: Adel und Priestertum=                  403

  Mann und Weib 403. Stamm und Stand 406. Bauerntum und
  Gesellschaft 408. Stand, Kaste, Beruf 409. Adel und Priestertum als
  Symbole von Zeit und Raum 412. Zucht und Bildung, Sitte und
  Moral 421. Eigentum, Macht und Beute 424. Priester und Gelehrte 427.
  Wirtschaft und Wissenschaft: Geld und Geist 430. Geschichte der
  Stände: Frühzeit 432. Der dritte Stand: Stadt -- Freiheit --
  Bürgertum 439.

  =B. Staat und Geschichte=                                          446

  Bewegtes und Bewegung, „In-Form-sein“ 446. Recht und Macht 449.
  Stand und Staat 453. Der Lehnsstaat 459. Vom Lehnsverband zum
  Ständestaat 465. Polis und Dynastie 467. Der absolute Staat, Fronde
  und Tyrannis 479. Wallenstein 484. Kabinettspolitik 487. Von der
  ersten zur zweiten Tyrannis 490. Die bürgerliche Revolution 496.
  Geist und Geld 499. Formlose Gewalten (Napoleonismus) 505.
  Emanzipation des Geldes 512. „Verfassung“ 516. Vom Napoleonismus
  zum Cäsarismus (Zeitalter der „kämpfenden Staaten“) 521. Die großen
  Kriege 525. Römerzeit 528. Vom Khalifat zum Sultanat 530. Ägypten
  535. Die Gegenwart 537. Der Cäsarismus 541.

  =C. Philosophie der Politik=                                       548

  Das Leben ist Politik 548. Politische Begabung 551. Der Staatsmann
  551. Tradition schaffen 555. Physiognomischer (diplomatischer)
  Takt 557. Stand und Partei 561. Das Bürgertum als Urpartei
  (Liberalismus) 562. Vom Stand über die Partei zum Gefolge von
  Einzelnen 565. Die Theorie: Von Rousseau bis Marx 567. Geist und
  Geld (Demokratie) 571. Die Presse 577. Selbstvernichtung der
  Demokratie durch das Geld 582.

  =V. Kapitel: Die Formenwelt des Wirtschaftslebens=                 585

  =A. Das Geld=                                                      587

  Die Nationalökonomie 587. Die politische und die wirtschaftliche
  Seite des Lebens 589. Erzeugende und erobernde Wirtschaft (Landbau
  und Handel) 593. Politik und Handel (Macht und Beute) 595.
  Urwirtschaft und Wirtschaftsstil der hohen Kulturen 597. Stand und
  Wirtschaftsklasse 598. Das stadtlose Land: Denken in Gütern 601.
  Die Stadt: Denken in Geld 603. Weltwirtschaft: Mobilisierung der
  Güter durch das Geld 607. Das antike Geld: die Münze 610. Der Sklave
  als Geld 612. Das faustische Denken in Geld: der Buchwert 614. Die
  doppelte Buchführung 615. Die Münze im Abendland 616. Geld und
  Arbeit 618. Der Kapitalismus 620. Wirtschaftliche Organisation 621.
  Erlöschen des Denkens in Geld: Diokletian; Das Wirtschaftsdenken
  des Russen 623.

  =B. Die Maschine=                                                  624

  Geist der Technik 624. Primitive Technik und Stil der hohen
  Kulturen 626. Antike „Technik“ 626. Die faustische Technik: Der
  Wille zur Macht über die Natur. Der Erfinder 627. Rausch der
  modernen Erfindungen 628. Der Mensch als Sklave der Maschine 631.
  Unternehmer, Arbeiter, Ingenieur 631. Ringen zwischen Geld und
  Industrie 633. Endkampf zwischen Geld und Politik; Sieg des
  Blutes 634.




ERSTES KAPITEL

URSPRUNG UND LANDSCHAFT




DAS KOSMISCHE UND DER MIKROKOSMOS


1[1]

Betrachte die Blumen am Abend, wenn in der sinkenden Sonne eine nach
der andern sich schließt: etwas Unheimliches dringt dann auf dich ein,
ein Gefühl von rätselhafter Angst vor diesem blinden, traumhaften, der
Erde verbundenen Dasein. Der stumme Wald, die schweigenden Wiesen,
jener Busch und diese Ranke regen sich nicht. Der Wind ist es, der
mit ihnen spielt. Nur die kleine Mücke ist frei; sie tanzt noch im
Abendlichte; sie bewegt sich, wohin sie will.

Eine Pflanze ist nichts für sich. Sie bildet einen Teil der Landschaft,
in der ein Zufall sie Wurzel zu fassen zwang. Die Dämmerung, die Kühle
und das Schließen aller Blüten -- das ist nicht Ursache und Wirkung,
nicht Gefahr und Entschluß, sondern ein einheitlicher Naturvorgang, der
sich neben, mit und in der Pflanze vollzieht. Es steht der einzelnen
nicht frei, für sich zu warten, zu wollen oder zu wählen.

Ein Tier aber kann wählen. Es ist aus der Verbundenheit der ganzen
übrigen Welt gelöst. Jener Mückenschwarm, der noch am Wege tanzt, ein
einsamer Vogel, der durch den Abend fliegt, ein Fuchs, der ein Nest
beschleicht -- sie sind +kleine Welten für sich in einer andern
großen+. Ein Infusor, welches dem menschlichen Auge nicht mehr
sichtbar im Wassertropfen ein Dasein führt, das eine Sekunde dauert
und dessen Schauplatz ein winziger Winkel dieses kleinen Tropfens ist
-- +es ist frei und unabhängig dem gesamten All gegenüber+. Die
Rieseneiche, an deren einem Blatt dieser Tropfen hängt, ist es nicht.

+Verbundenheit und Freiheit+: das ist der tiefste und letzte
Grundzug in allem, was wir als pflanzenhaftes und tierhaftes Dasein
unterscheiden. Doch nur die Pflanze ist +ganz+, was sie ist. Im
Wesen eines Tieres liegt etwas Zwiespältiges. Eine Pflanze ist nur
Pflanze, ein Tier ist Pflanze und noch etwas außerdem. Eine Herde, die
sich zitternd vor einer Gefahr zusammendrängt, ein Kind, das weinend
seine Mutter umklammert, ein verzweifelter Mensch, der sich in seinen
Gott hineindrängen möchte, sie wollen alle aus dem Dasein in Freiheit
zurück in jenes verbundene, pflanzenhafte, aus dem sie zur Einsamkeit
entlassen sind.

Der Samen einer Blütenpflanze zeigt unter dem Mikroskop zwei
Keimblätter, welche den später dem Licht zugewandten Sproß mit seinen
Organen des Kreislaufs und der Fortpflanzung bilden und schützen, und
gleichsam ein drittes, den Wurzelschoß, welcher das unwiderrufliche
Schicksal der Pflanze andeutet, wieder den Teil einer Landschaft zu
bilden. Bei höheren Tieren sehen wir, wie das befruchtete Ei in den
ersten Stunden des sich ablösenden Daseins ein äußeres Keimblatt
bildet, welches das mittlere und innere, die Grundlage künftiger
Kreislauf- und Fortpflanzungsorgane, also des pflanzenhaften Elements
im Tierleib, umschließt und gegen den mütterlichen Leib und damit
+die ganze übrige+ Welt abhebt. Das äußere Keimblatt ist das
Sinnbild des eigentlich tierhaften Daseins. Es unterscheidet die beiden
Arten von Lebendigem, welche in der Erdgeschichte hervorgetreten sind.

Es gibt alte schöne Namen dafür: die Pflanze ist +etwas
Kosmisches+, das Tier ist +außerdem ein Mikrokosmos in bezug
auf einen Makrokosmos+. Erst damit, daß ein Lebewesen sich derart
aus dem All absondert, daß es seine Lage zu ihm bestimmen kann, ist
es ein Mikrokosmos geworden. Selbst die Planeten sind in ihrer Bahn
an die großen Kreisläufe gebunden; nur diese kleinen Welten bewegen
sich frei im Verhältnis zu einer großen, deren sie sich als ihrer
Umwelt bewußt sind. Erst damit hat für unser Auge das, was das Licht
im Raume darbietet, den Sinn eines +Leibes+ bekommen. Etwas in
uns widerstrebt, wenn wir auch der Pflanze einen eigentlichen Leib
zuschreiben möchten.

Alles Kosmische trägt das Zeichen der Periodizität. Es besitzt
+Takt+. Alles Mikrokosmische hat Polarität. Das Wort „gegen“
drückt sein ganzes Wesen aus. Es besitzt +Spannung+. Wir
sprechen von gespannter Aufmerksamkeit, von gespanntem Denken, aber
alle wachen Zustände überhaupt sind ihrem Wesen nach Spannungen;
Sinne und Gegenstände, Ich und Du, Ursache und Wirkung, Ding und
Eigenschaft, alles das ist zerdehnt und gespannt, und wo die mit tiefer
Bedeutung sogenannte Abspannung sich meldet, tritt alsbald Müdigkeit
der mikrokosmischen Seite des Lebens, zuletzt der Schlaf ein. Ein
schlafender, aller Spannungen entledigter Mensch führt nur noch ein
Pflanzendasein.

Kosmischer Takt aber ist alles, was sich auch mit Richtung, Zeit,
Rhythmus, Schicksal, Sehnsucht umschreiben läßt, vom Hufschlag eines
Gespanns von Rassepferden und dem dröhnenden Schritt begeisterter Heere
an bis zum schweigenden Sichverstehen zweier Liebenden, zum gefühlten
Takt einer vornehmen Gesellschaft und zum Blick des Menschenkenners,
den ich früher schon als physiognomischen Takt bezeichnet habe.

Dieser Takt kosmischer Kreisläufe lebt und webt noch unter jeder
Freiheit mikrokosmischer Bewegungen im Raume und löst zuweilen die
Spannung aller wachen Einzelwesen in einen großen gefühlten Einklang
auf. Wer je einen Vogelzug im Äther verfolgt hat, wie er in immer
gleicher Gestalt aufsteigt, wendet, wieder abbiegt und sich in der
Ferne verliert, fühlt das pflanzenhaft Sichere, das „es“, das „wir“ in
dieser Gesamtbewegung, das keiner Brücke der Verständigung zwischen dem
Ich und Du bedarf. Das ist der Sinn der Kriegs- und Liebestänze unter
Tieren und Menschen; so wird ein stürmendes Regiment im feindlichen
Feuer zur Einheit geschmiedet, so ballt sich die Menge bei einem
aufregenden Vorfall plötzlich zu einem Körper zusammen, der jäh, blind
und rätselhaft denkt und handelt und nach wenig Augenblicken wieder
zerfallen sein kann. Hier sind die mikrokosmischen Grenzen aufgehoben.
+Es+ tobt und droht, +es+ drängt und zieht, +es+ fliegt,
biegt und wiegt. Die Glieder verschlingen sich, der Fuß stürmt,
+ein+ Schrei erklingt aus aller Munde, +ein+ Schicksal liegt
über allen. Aus einer Summe kleiner einzelner Welten ist plötzlich eine
Ganzheit entstanden.

Das Gewahrwerden kosmischen Taktes nennen wir +Fühlen+,
das mikrokosmischer Spannungen nennen wir +Empfinden+. Das
doppeldeutige Wort Sinnlichkeit hat diesen klaren Unterschied der
allgemein pflanzlichen und der nur tierhaften Seite des Lebens
verdunkelt. Sagen wir für die eine Geschlechtsleben, für die andere
Sinnenleben, so erschließt sich ein tiefer Zusammenhang. Jenes
trägt immer das Merkmal der Periodizität, des Taktes, noch in seinem
Einklang mit den großen Kreisläufen der Gestirne, in der Beziehung
der weiblichen Natur zum Monde, des Lebens überhaupt zur Nacht, zum
Frühling, zur Wärme; dieses besteht aus Spannungen: des Lichtes zum
Belichteten, des Erkennens zum Erkannten, des Schmerzes zur Waffe,
die ihn verursacht hat. Beides hat sich in den höher entwickelten
Gattungen zu besonderen Organen ausgeprägt. Je vollkommener sie sich
gestalten, desto offener reden sie von der Bedeutung der beiden
Lebensseiten. Wir besitzen zwei +Kreislauforgane des kosmischen
Daseins+: den Blutkreislauf und das Geschlechtsorgan, und zwei
+Unterscheidungsorgane der mikrokosmischen Beweglichkeit+: Sinne
und Nerven. Wir müssen annehmen, daß ursprünglich der +ganze+ Leib
Organ des Kreislaufs und zugleich Tastorgan gewesen ist.

Das Blut ist für uns das Sinnbild des Lebendigen. Es kreist ohne Pause
durch den Leib von seiner Zeugung bis zum Tode, aus dem mütterlichen
Leibe in den des Kindes hinüber, im Wachen und Schlafen, niemals
endend. Das Blut der Ahnen fließt durch die Kette der Geschlechter
und verbindet sie zu einem großen Zusammenhange des Schicksals, des
Taktes und der Zeit. Ursprünglich geschah das nur durch Teilung und
immer neue Teilung der Kreisläufe, bis zuletzt ein eigenes Organ der
geschlechtlichen Zeugung erschien, das einen Augenblick zum Sinnbild
der Dauer machte. Wie nun diese Wesen zeugen und empfangen, wie
das Pflanzenhafte in ihnen danach drängt, sich fortzupflanzen, den
ewigen Kreislauf über sich selbst hinaus dauern zu lassen, wie der
+eine+ große Pulsschlag durch entfernte Seelen hindurch anziehend,
treibend, hemmend und auch vernichtend wirkt, das ist jenes tiefste
aller Lebensgeheimnisse, das alle religiösen Mysterien und alle großen
Dichtungen zu durchdringen versuchen und dessen Tragik Goethe in dem
Gedicht „Selige Sehnsucht“ und in den „Wahlverwandtschaften“ angerührt
hat, wo das Kind sterben mußte, weil es aus entfremdeten Kreisen des
Blutes und also gleichsam durch eine kosmische Schuld ins Dasein
gezogen worden war.

Für den Mikrokosmos, insofern er sich im Verhältnis zum Makrokosmos
frei bewegt, tritt das Unterscheidungsorgan hinzu, „der Sinn“, der
ursprünglich Tastsinn ist und nichts anderes. Was wir heute noch, auf
so hoher Stufe der Entwicklung, ganz allgemein Tasten nennen, mit dem
Auge, dem Gehör, dem Verstande tasten, ist die einfachste Bezeichnung
für die Bewegtheit eines Wesens und damit die Notwendigkeit, sein
Verhältnis zur Umgebung unaufhörlich festzustellen. Fest-stellen aber
bedeutet ein Bestimmen des +Ortes+. Deshalb sind alle Sinne, sie
mögen noch so ausgebildet und ihrem Ursprung noch so entfremdet sein,
ganz eigentlich +Ortssinne+; es gibt keine andern. Das Empfinden
jeder Art unterscheidet Eignes und Fremdes, und um die Lage des Fremden
in bezug auf das Eigne festzustellen, dient die Witterung des Hundes so
gut wie das Gehör der Rehe und das Auge des Adlers. Farbe, Helligkeit,
Töne, Gerüche, alle überhaupt möglichen Empfindungsweisen bedeuten
Abstand, Entfernung, Ausdehnung.

Ursprünglich ist, wie der kosmische Kreislauf des Blutes, so auch die
unterscheidende Tätigkeit des Sinnes eine Einheit; ein tätiger Sinn
ist immer auch ein verstehender Sinn; Suchen und Finden sind in diesen
einfachen Verhältnissen eins, eben das, was wir sehr verständlich
mit Tasten bezeichnen. Erst später und bei hohen Forderungen an
ausgebildete Sinne ist Empfinden nicht zugleich auch Verstehen des
Empfindens, und allmählich setzt sich das Verstehen immer deutlicher
gegen das bloße Empfinden ab. Im äußeren Keimblatt trennt sich das
+kritische+ Organ vom Sinnesorgan -- und dieses sehr bald wieder
in scharf abgesonderte Einzelsinne -- wie das Geschlechtsorgan vom
Blutkreislauf; wie bestimmt wir alles Verstehen als abgeleitet
aus dem Empfinden auffassen und wie gleichartig beide noch beim
Menschen in ihrer unterscheidenden Tätigkeit wirken, bezeugen Worte
wie scharfsinnig, feinfühlig, Einsicht, gelehrte Schnüffelei,
Tatsachenblick, ganz zu schweigen von den Ausdrücken der Logik wie
Begriff und Schluß, die sämtlich aus der Welt des Sehens stammen.

Wir sehen den Hund unaufmerksam, dann aber plötzlich gespannt
aufhorchend und witternd: das Verstehen wird zum bloßen Empfinden
hinzugesucht. Aber auch ein Hund kann nachdenklich sein -- da ist
das Verstehen fast allein tätig und spielt mit matten Empfindungen.
Die älteren Sprachen haben diese Steigerung sehr klar ausgedrückt,
indem sie jeden neuen Grad als Tätigkeit von besondrer Art scharf
unterschieden und mit einem eignen Namen belegten: hören, horchen,
lauschen; riechen, wittern, schnüffeln; sehen, spähen, beobachten: in
solchen Reihen wird der Gehalt an Verstehen immer stärker im Verhältnis
zu dem an Empfinden.

Endlich aber entfaltet sich ein höchster Sinn unter den anderen. Ein
Etwas im All, das unserm Verstehenwollen für immer unzugänglich bleiben
wird, weckt sich ein leibliches Organ: Das Auge entsteht und im Auge,
mit dem Auge entsteht als Gegenpol das Licht. Mag abstraktes Denken
vom Licht das Licht fortdenken wollen und ein Gedankenbild von Wellen
und Strahlen zeichnen, als Wirklichkeit ist von nun an das Leben
+durch die Lichtwelt des Auges+ umfaßt und einbezogen. Dies ist
das Wunder, dem alles Menschliche untersteht. Erst in der Augenwelt
des Lichtes gibt es Fernen als Farben und Helligkeiten, erst in dieser
Welt gibt es Tag und Nacht, sichtbare Dinge und sichtbare Bewegungen
in einem weitgedehnten Lichtraum, eine Welt unendlich ferner Gestirne,
die über der Erde kreisen, einen Lichthorizont des einzelnen Lebens,
der weit über die Nachbarschaft des Leibes hinausreicht. In dieser
Lichtwelt, welche alle Wissenschaft nur durch mittelbare, innerliche
Augenvorstellungen -- „theoretisch“ -- umdeutet, geschieht es, daß
auf dem kleinen Erdenstern menschliche sehende Scharen wandern, daß
das ganze Leben mitbestimmt ist davon, ob die Lichtflut des Südens
über der ägyptischen und mexikanischen Kultur oder Lichtarmut über dem
Norden liegt. Für sein +Auge+ zaubert der Mensch seine Bauten und
setzt damit das leibliche Tastempfinden der Tektonik in lichtgeborne
Beziehungen um. Religion, Kunst, Denken sind für das Licht entstanden
und alle Unterschiede beschränken sich darauf, ob sie sich an das
leibliche Auge oder an das „Auge des Geistes“ wenden.

Damit hat sich in voller Deutlichkeit ein Unterschied offenbart,
den wieder ein unklares Wort, Bewußtsein, zu trüben pflegt. Ich
unterscheide +Dasein und Wachsein+. Das Dasein hat Takt und
Richtung, das Wachsein ist Spannung und Ausdehnung. Im Dasein waltet
ein Schicksal, das Wachsein unterscheidet Ursachen und Wirkungen. Dem
einen gilt die Urfrage nach dem Wann und Warum, dem andern die nach dem
Wo und Wie.

Eine Pflanze führt ein Dasein ohne Wachsein. Im Schlaf werden alle
Wesen zu Pflanzen: die Spannung zur Umwelt ist erloschen, der Takt
des Lebens geht weiter. Eine Pflanze kennt nur die Beziehung zum Wann
und Warum. Das Drängen der ersten grünen Spitzen aus der Wintererde,
das Schwellen der Knospen, die ganze Gewalt des Blühens, Duftens,
Leuchtens, Reifens: das alles ist Wunsch nach der Erfüllung eines
Schicksals und eine beständige sehnsüchtige Frage nach dem Wann.

Das Wo kann für ein pflanzenhaftes Dasein keinen Sinn haben. Es ist
die Frage, mit welcher der erwachende Mensch sich täglich wieder auf
seine Welt besinnt. Denn nur der Pulsschlag des Daseins dauert durch
alle Geschlechter an. Das Wachsein beginnt für jeden Mikrokosmos von
neuem: das ist der Unterschied von Zeugung und Geburt. Die eine ist
Bürgschaft der Dauer, die andere ist ein Anfang. Und deshalb wird eine
Pflanze erzeugt, aber nicht geboren. Sie ist da, aber kein Erwachen,
kein erster Tag spannt eine Sinnenwelt um sie aus.


2

So tritt uns nun der Mensch entgegen. Nichts in seinem sinnlichen
Wachsein stört mehr die reine Herrschaft des Auges. All die Klänge
der Nacht, der Wind, das Atmen der Tiere, der Duft der Blumen wecken
nur +ein Wohin und Woher in der Welt des Lichtes+. Von der Welt
der Witterung, in die noch der nächste Begleiter des Menschen, der
Hund, seine Seheindrücke ordnet, haben wir keinen Begriff. Wir wissen
nichts von der Welt des Schmetterlings, dessen Kristallauge kein Bild
entwirft, nichts von der Umwelt sinnbegabter, aber augenloser Tiere.
+Uns ist nur der Raum des Auges geblieben.+ Und die Reste anderer
Sinnenwelten, Klänge, Düfte, Wärme und Kälte, haben darin Platz
gefunden +als „Eigenschaften“ und „Wirkungen“ von Lichtdingen+.
Wärme geht vom gesehenen Feuer aus; die im Lichtraum erblickte Rose
duftet und wir reden vom Ton einer Geige. Was die Gestirne betrifft, so
beschränken sich unsre wachen Beziehungen zu ihnen darauf, daß wir sie
+sehen+. Über unserm Haupte leuchten sie und ziehen ihre sichtbare
Bahn. Tiere und selbst primitive Menschen besitzen ohne Zweifel von
ihnen noch deutliche Empfindungen ganz andrer Art, die wir zum Teil
mittelbar durch wissenschaftliche Vorstellungen, zum Teil überhaupt
nicht mehr erfassen können.

Diese Verarmung des Sinnlichen bedeutet zugleich eine unermeßliche
Vertiefung. Menschliches Wachsein ist nicht mehr die bloße Spannung
zwischen Leib und Umwelt. Es heißt jetzt: Leben +in+ einer rings
geschlossenen Lichtwelt. Der Leib bewegt sich +im+ gesehenen
Raume. Das Tiefenerlebnis ist ein gewaltiges Eindringen in +sichtbare
Fernen von einer Lichtmitte aus+: es ist jener Punkt, den wir Ich
nennen. „Ich“ ist ein Lichtbegriff. Von nun an ist das Leben des Ich
ein Leben unter der Sonne, und die Nacht dem Tode verwandt. Und daraus
bildet sich ein neues Angstgefühl, das alle andern in sich aufnimmt:
+die Angst vor dem Unsichtbaren+, vor dem, was man hört, fühlt,
ahnt, wirken sieht, ohne es selbst zu erblicken. Tiere kennen ganz
andere, dem Menschen rätselhafte Formen der Angst, denn auch die Angst
vor der Stille, die urwüchsige Menschen und Kinder durch Lärm und
lautes Reden unterbrechen und verscheuchen wollen, ist bei höheren
Menschen im Verschwinden begriffen. Die Angst vor dem Unsichtbaren aber
bezeichnet die Eigenart aller menschlichen Religiosität. Gottheiten
sind geahnte, vorgestellte, erschaute Lichtwirklichkeiten. Der
„unsichtbare Gott“ ist der höchste Ausdruck menschlicher Transzendenz.
Das Jenseits liegt dort, wo die Grenzen der Lichtwelt sind; Erlösung
ist Befreiung aus dem Banne des Lichts und seiner Tatsachen.

Eben darin beruht für uns Menschen der unnennbare Zauber der Musik und
ihre wahrhaft erlösende Kraft, daß sie die einzige Kunst ist, deren
Mittel außerhalb der Lichtwelt liegen, welche für uns längst mit der
Welt überhaupt gleichbedeutend geworden ist, so daß Musik allein uns
gleichsam aus der Welt hinausführen, den stählernen Bann der Herrschaft
des Lichts zerbrechen und uns die süße Täuschung einflößen kann, daß
wir hier das letzte Geheimnis der Seele berühren, eine Täuschung, die
darauf beruht, daß der wache Mensch von einem einzelnen seiner Sinne
beständig derart beherrscht ist, daß er aus den Eindrücken seines Ohres
nicht mehr eine Welt des Ohres bilden kann, sondern sie nur noch seiner
Augenwelt einfügt.

Und deshalb ist menschliches Denken Augendenken, sind unsre Begriffe
vom Sehen abgezogen, ist die gesamte Logik eine imaginäre Lichtwelt.

Dieselbe Verengerung und eben deshalb Vertiefung, welche alles
Empfinden dem Sehen einordnet, hat die unzähligen dem Tier bekannten
Arten sinnlicher Mitteilung, die wir unter dem Namen Sprache
zusammenfassen, durch die eine Wortsprache ersetzt, welche +durch
den Lichtraum hindurch+ als Brücke der Verständigung zwischen zwei
Menschen dient, die einander redend ansehen oder als Angeredete dem
inneren Auge vorstellen. Die andern Arten des Sprechens, von denen sich
Reste erhielten, sind als Mienenspiel, Geste, Betonung längst in der
Wortsprache aufgegangen. Der Unterschied zwischen allgemein tierischer
Laut-und rein menschlicher Wortsprache besteht darin, daß Worte und
Wortverbindungen ein Reich innerer Lichtvorstellungen bilden, das unter
der Herrschaft des Auges entwickelt worden ist. Jede Wortbedeutung hat
einen Lichtwert, auch wenn es sich um Worte wie Melodie, Geschmack,
Kälte oder um ganz abstrakte Bezeichnungen handelt.

Schon unter höheren Tieren bildet sich infolge der Gewohnheit
wechselseitiger Verständigung durch eine Sinnensprache ein deutlicher
Unterschied von bloßem Empfinden und +verstehendem+ Empfinden
aus. Bezeichnen wir diese beiden Arten mikrokosmischer Tätigkeit als
+Eindruck der Sinne+ und +Urteil der Sinne+, also etwa Urteil
des Geruchs, des Geschmacks, des Ohres, so ist schon bei Ameisen und
Bienen, bei Raubvögeln, Pferden und Hunden das Schwergewicht sehr oft
deutlich nach der Urteilsseite des Wachseins hin verschoben. Aber
erst unter Einwirkung der Wortsprache tritt innerhalb des tätigen
Wachseins ein offener +Gegensatz+ zwischen Empfinden und Verstehen
hervor, eine Spannung, die bei Tieren ganz undenkbar ist und selbst
unter Menschen nur als ursprünglich selten verwirklichte Möglichkeit
angenommen werden darf. Die Entwicklung der Wortsprache führt etwas
ganz Entscheidendes herbei: +die Emanzipation des Verstehens vom
Empfinden+.

An Stelle des völlig einheitlichen verstehenden Empfindens erscheint
oft und öfter ein Verstehen der Bedeutung von kaum noch beachteten
Sinneseindrücken. Endlich werden diese Eindrücke durch die empfundenen
Bedeutungen gewohnter Wortklänge verdrängt. Das Wort, ursprünglich
der Name eines Sehdings, wird unvermerkt zum Kennzeichen eines
Gedankendings, des „Begriffs“. Wir sind weit entfernt, den Sinn solcher
Namen scharf zu erfassen -- das geschieht nur bei ganz neu auftretenden
Namen -- wir gebrauchen nie ein Wort zweimal in derselben Bedeutung;
niemand versteht je ein Wort genau so wie der andere. Aber eine
Verständigung ist trotzdem möglich durch die den Menschen derselben
Sprache mit und durch den Sprachgebrauch anerzogene Weltanschauung,
in der beide so leben und weben, daß bloße Wortklänge genügen, um
verwandte Vorstellungen wachzurufen. Es ist also ein mittelst der
Wortklänge vom Sehen abgezogenes, +abs-traktes+, Begreifen, das,
so selten es in dieser Selbständigkeit ursprünglich unter Menschen
vorkommen mag, dennoch eine scharfe Grenze zwischen der allgemein
tierischen und einer dazukommenden, rein menschlichen Art des Wachseins
zieht. Ganz ebenso hatte auf einer früheren Stufe das Wachsein
überhaupt eine Grenze zwischen dem allgemein pflanzenhaften und dem
rein tierhaften Dasein gesetzt.

+Das vom Empfinden abgezogene Verstehen heißt Denken+. Das Denken
hat für immer einen Zwiespalt in das menschliche Wachsein getragen.
Es hat von früh an Verstand und Sinnlichkeit als hohe und niedere
Seelenkraft gewertet. Es hat den verhängnisvollen Gegensatz geschaffen
zwischen der Lichtwelt des Auges, die als Scheinwelt und Sinnentrug
bezeichnet wird, und einer im wörtlichen Sinne vor-gestellten Welt, in
der die Begriffe mit ihrer nie abzustreifenden leisen Lichtbetonung
ihr Wesen treiben. Das ist nun für den Menschen, solange er „denkt“,
die wahre Welt, die Welt an sich. Das Ich war anfangs das Wachsein
überhaupt, insofern es sich sehend als Mitte einer Lichtwelt empfand;
jetzt wird es „Geist“, nämlich reines Verstehen, das sich selbst
als solches „erkennt“ und nicht nur die fremde Welt +um sich+,
sondern sehr bald auch die übrigen Elemente des Lebens, den „Leib“,
+dem Werte nach unter sich+ sieht. Ein Zeichen davon ist nicht nur
der aufgerichtete Gang des Menschen, sondern auch die durchgeistigte
Ausbildung seines Kopfes, an dem immer mehr der Blick und die Bildung
von Stirn und Schläfen Träger des Ausdrucks werden.[2]

Es wird deutlich, daß das selbständig gewordene Denken eine neue
Betätigung für sich entdeckt hat. Zum praktischen Denken, das sich auf
die Beschaffenheit der Lichtdinge im Hinblick auf diesen oder jenen
vorliegenden Zweck richtet, tritt das theoretische, durchschauende,
das Grübeln, welches die Beschaffenheit dieser Dinge +an sich+,
das „Wesen der Dinge“ ergründen will. Vom Gesehenen wird das Licht
abgezogen, das Tiefenerlebnis des Auges steigert sich in mächtiger
Entwicklung ganz deutlich zum Tiefenerlebnis im Reich lichtgefärbter
Wortbedeutungen. Man glaubt, daß es möglich sei, in die wirklichen
Dinge hinein-, mit dem innern Blick hindurchzusehen. Man bildet
Vorstellungen über Vorstellungen und gelangt endlich zu einer
Gedankenarchitektur großen Stils, deren Bauten in voller Deutlichkeit
gleichsam in einem inneren Lichte daliegen.

Mit dem theoretischen Denken ist innerhalb des menschlichen Wachseins
eine Art von Tätigkeit entstanden, welche nun auch den Kampf zwischen
Dasein und Wachsein unvermeidlich gemacht hat. Der tierische
Mikrokosmos, in dem Dasein und Wachsein zu einer selbstverständlichen
Einheit des Lebens verbunden sind, kennt nur ein Wachsein im
+Dienste+ des Daseins. Das Tier „+lebt+“ einfach, es denkt
nicht nach über das Leben. Die unbedingte Herrschaft des Auges aber
läßt das Leben als Leben eines sichtbaren Wesens im Licht erscheinen
und das sprachgebundene Verstehen bildet alsbald einen +Begriff+
des Denkens und +als Gegenbegriff+ den des Lebens aus und
unterscheidet endlich das Leben, wie es ist, von dem, wie es sein
sollte. An Stelle des unbekümmerten Lebens erscheint der Gegensatz
„Denken und Handeln“. Er ist nicht nur möglich, was er im Tiere
nicht ist, er wird bald in jedem Menschen zur Tatsache und zuletzt
zur +Alternative+; das hat die gesamte Geschichte des reifen
Menschentums und alle ihre Erscheinungen gestaltet, und je höhere
Formen eine Kultur annimmt, desto mehr beherrscht dieser Gegensatz
gerade die bedeutenden Augenblicke ihres Wachseins.

Das Pflanzenhaft-Kosmische, das schicksalhafte Dasein, das Blut,
das Geschlecht besitzen die uralte Herrschaft und behalten sie. Sie
+sind+ das Leben. Das andre dient nur dem Leben. Aber das andre
will nicht dienen. Es will herrschen und glaubt zu herrschen; es
ist einer der entschiedensten Ansprüche des Menschengeistes, den
Leib, die „Natur“ in der Gewalt zu haben; es ist aber die Frage, ob
dieser Glaube nicht selbst dem Leben dient. Warum denkt unser Denken
so? Vielleicht weil das Kosmische, das „es“, es will? Das Denken
beweist seine Macht, indem es den Leib eine Vorstellung nennt, seine
Armseligkeit erkennt und die Stimme des Blutes zum Schweigen verweist.
Das Blut aber herrscht wirklich, indem es schweigend die Tätigkeit
des Denkens beginnen oder enden läßt. Auch das ist ein Unterschied
zwischen Sprechen und Leben. Das Dasein kann des Wachseins, das Leben
des Verstehens entbehren, nicht umgekehrt. Das Denken herrscht, trotz
allem, nur im „Reich der Gedanken“.


3

Es ist nur ein Unterschied in Worten, ob man das Denken als Schöpfung
des Menschen oder den höheren Menschen als Schöpfung des Denkens
betrachtet. Aber das Denken selbst wird seinen Rang innerhalb des
Lebens stets falsch und viel zu hoch ansetzen, weil es andere Arten
der Feststellung neben sich nicht bemerkt oder anerkennt und damit auf
einen vorurteilslosen Überblick verzichtet. In der Tat haben sämtliche
Denker von Beruf -- und sie führen hier in allen Kulturen fast allein
das Wort -- kaltes, abstraktes Nachdenken für die selbstverständliche
Tätigkeit gehalten, durch die man zu den „letzten Dingen“ gelangt. Sie
sind ebenso selbstverständlich überzeugt, daß das, was sie auf diesem
Wege als „Wahrheit“ erreichen, dasselbe ist, was sie als Wahrheit
erstrebt haben und nicht etwa ein vorgestelltes Bild an der Stelle
unverständlicher Geheimnisse.

Aber wenn der Mensch ein denkendes Wesen ist, so ist er doch weit davon
entfernt, ein Wesen zu sein, dessen Dasein im Denken +besteht+.
Das haben die geborenen Grübler nicht unterschieden. Das Ziel des
Denkens heißt Wahrheit. Wahrheiten werden festgestellt, d. h. aus
der lebendigen Unfaßlichkeit der Lichtwelt in der Form von Begriffen
abgezogen, um in einem System, einer Art von geistigem Raum, einen
dauernden Ort zu erhalten. Wahrheiten sind absolut und ewig, d. h. sie
haben mit dem Leben nichts mehr zu tun.

Aber für ein Tier gibt es nur Tatsachen, keine Wahrheiten. Das ist
der Unterschied zwischen praktischem und theoretischem Verstehen.
Tatsachen und Wahrheiten unterscheiden sich wie Zeit und Raum, wie
Schicksal und Kausalität. Eine Tatsache ist für das ganze Wachsein im
Dienste des Daseins vorhanden, nicht nur für eine Seite des Wachseins
unter vermeintlicher Ausschaltung des Daseins. Das wirkliche Leben,
die Geschichte kennt +nur+ Tatsachen. Lebenserfahrung und
Menschenkenntnis richten sich nur auf Tatsachen. Der tätige Mensch,
der Handelnde, Wollende, Kämpfende, der sich täglich gegen die Macht
der Tatsachen behaupten und sie sich dienstbar machen oder unterliegen
muß, sieht auf bloße Wahrheiten als etwas Unbedeutendes herab. Für den
echten Staatsmann gibt es nur politische Tatsachen, keine politischen
Wahrheiten. Die berühmte Frage des Pilatus ist die eines jeden
Tatsachenmenschen.

Es ist eine der gewaltigsten Leistungen Nietzsches, das Problem +vom
Werte+ der Wahrheit, des Wissens, der Wissenschaft aufgestellt zu
haben -- eine frivole Lästerung in den Augen jedes geborenen Denkers
und Gelehrten, der damit den Sinn seines ganzen Daseins angezweifelt
sieht. Wenn Descartes an allem zweifeln wollte, so doch gewiß nicht am
Wert seiner Frage.

Aber es ist ein anderes, Fragen zu stellen, ein anderes, an Lösungen zu
glauben. Die Pflanze lebt und weiß es nicht. Das Tier lebt und weiß es.
Der Mensch erstaunt über sein Leben und fragt. Eine Antwort kann auch
der Mensch nicht geben. Er kann nur an die Richtigkeit seiner Antwort
+glauben+ und darin besteht zwischen Aristoteles und dem ärmsten
aller Wilden nicht der geringste Unterschied.

Warum müssen denn Geheimnisse enträtselt, Fragen beantwortet werden?
Ist es nicht die Angst, die schon aus Kinderaugen spricht, die
furchtbare Mitgift des menschlichen Wachseins, dessen Verstehen, von
den Sinnen abgelöst, nun vor sich hin brütet, in alle Tiefen der
Umwelt dringen muß und nur durch Lösungen erlöst werden kann? Kann das
verzweifelte Glauben ans Wissen von dem Alpdruck der großen Fragen
befreien?

„Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.“ Wem +das+
vom Schicksal versagt worden ist, der muß versuchen, Geheimnisse
aufzudecken, das Ehrfurchtgebietende anzugreifen, zu zerlegen, zu
zerstören und seine Beute an Wissen davonzutragen. Der Wille zum System
ist der Wille, Lebendiges zu töten. Es wird fest-gestellt, starr
gemacht, an die Kette der Logik gelegt. Der Geist hat +gesiegt+,
wenn er sein Geschäft des Erstarrenmachens zu Ende geführt hat.

Was man mit den Worten Vernunft und Verstand zu unterscheiden pflegt,
ist das pflanzenhafte Ahnen und Fühlen, das sich der Sprache des
Auges und Wortes nur +bedient+, und auf der anderen Seite das
tierhafte, sprachgeleitete Verstehen selbst. Die Vernunft ruft Ideen
ins Leben, der Verstand findet Wahrheiten, Wahrheiten sind leblos
und lassen sich mitteilen, Ideen gehören zum lebendigen Selbst ihres
Urhebers und können nur mitgefühlt werden. Das Wesen des Verstandes
ist Kritik, das Wesen der Vernunft ist Schöpfung. Die Vernunft erzeugt
das, worauf es ankommt, der Verstand setzt es voraus. Das besagt
jener tiefe Ausspruch von Bayle, daß der Verstand nur ausreiche, um
Irrtümer zu entdecken, nicht um Wahrheiten zu finden. In der Tat:
verstehende Kritik wird zuerst geübt und entwickelt an der damit
verbundenen sinnlichen Empfindung. Hier, im Sinnesurteil, lernt das
Kind begreifen und unterscheiden. Von dieser Seite abgezogen und mit
sich selbst beschäftigt, bedarf die Kritik eines Ersatzes für die zum
Objekt dienende Sinnentätigkeit. Dieser kann nur durch eine +schon
vorhandene+ Denkweise gegeben sein, an der sich nun die abstrakte
Kritik übt. Ein anderes Denken, eins, das frei und aus dem Nichts
aufbaut, gibt es nicht.

Denn lange, bevor der ursprüngliche Mensch abstrakt dachte, hatte
er sich ein religiöses Weltbild geschaffen. Das ist der Gegenstand,
an dem nun der Verstand kritisch arbeitet. Alle Wissenschaft ist an
einer Religion und unter den gesamten seelischen Voraussetzungen einer
Religion erwachsen und sie bedeutet nichts anderes als die abstrakte
Verbesserung dieser als falsch betrachteten, weniger abstrakten
Lehre. Jede trägt in ihrem ganzen Bestand von Grundbegriffen,
Problemstellungen und Methoden den Kern einer Religion mit sich fort.
Jede neue Wahrheit, die der Verstand findet, ist nichts als ein
kritisches Urteil über eine andere, die schon da war. Die Polarität
zwischen neuem und altem Wissen bringt es mit sich, daß es nur relativ
Richtiges in der Welt des Verstandes gibt, nämlich Urteile von
größerer Überzeugungskraft als andre Urteile. Kritisches Wissen ruht
auf dem Glauben an die Überlegenheit des Verstehens von heute über das
von gestern. Es ist wieder das Leben, das uns zu diesem Glauben zwingt.

Kann also Kritik die großen Fragen lösen oder nur ihre Unlösbarkeit
feststellen? Am Anfang des Wissens glauben wir das erste. Je mehr wir
wissen, desto sichrer wird uns das zweite. Solange wir hoffen, nennen
wir das Geheimnis ein Problem.

Es gibt also für den wachen Menschen ein doppeltes Problem: das des
Wachseins und das des Daseins, oder das des Raumes und das der Zeit,
oder die Welt als Natur und die Welt als Geschichte, oder die der
Spannung und die des Taktes: das Wachsein sucht nicht nur sich selbst
zu verstehen, sondern außerdem etwas, das ihm fremd ist. Mag eine
innere Stimme ihm sagen, daß hier alle Möglichkeiten des Erkennens
überschritten sind, die Angst überredet dennoch jedes Wesen, weiter zu
suchen und lieber mit dem Schein einer Lösung vorlieb zu nehmen als mit
dem Blick in das Nichts.


4

Das Wachsein besteht aus Empfinden und Verstehen, deren gemeinsames
Wesen eine fortdauernde Orientierung über das Verhältnis zum
Makrokosmos ist. Insofern ist Wachsein gleichbedeutend mit
„Feststellen“, ob es sich nun um das Tasten eines Infusors oder um
menschliches Denken vom höchsten Range handelt. Das sich selbst
betastende Wachsein gelangt also zuerst zum +Erkenntnisproblem+.
Was heißt Erkennen? Was heißt Erkenntnis des Erkennens? Und wie verhält
sich das, was man ursprünglich damit meinte, zu dem, was man nachher in
Worte gefaßt hat? -- Wachsein und Schlaf wechseln wie Tag und Nacht mit
dem Gang der Gestirne. Das Erkennen wechselt ebenso mit dem Träumen ab.
Wie unterscheiden sich beide?

Wachsein und zwar sowohl empfindendes wie verstehendes ist aber auch
gleichbedeutend mit dem Bestehen von Gegensätzen, etwa zwischen
Erkennen und Erkanntem, oder Ding und Eigenschaft, oder Gegenstand
und Ereignis. Worin besteht das Wesen dieser Gegensätze? -- Hier
erscheint als zweites das +Kausalproblem+. Es werden zwei
sinnliche Elemente als Ursache und Wirkung oder zwei geistige als
Grund und Folge bezeichnet: das ist die Feststellung eines Macht-und
Rangverhältnisses. Wenn das eine da ist, muß das andere auch da sein.
Die Zeit bleibt dabei ganz aus dem Spiele. Es handelt sich nicht um
Tatsachen des Schicksals, sondern um kausale Wahrheiten, nicht um ein
Wann, sondern um eine gesetzliche Abhängigkeit. Dies ist ohne Zweifel
die hoffnungsvollste Tätigkeit des Verstehens. Der Mensch verdankt
solchen Funden vielleicht seine glücklichsten Augenblicke. Und so geht
er von den Gegensätzen, die ihn in unmittelbarer alltäglicher Nähe und
Gegenwart berühren, nach beiden Seiten in endlosen Schlußreihen fort zu
ersten und letzten Ursachen im Gefüge der Natur, die er Gott und den
Sinn der Welt nennt. Er sammelt, ordnet und überblickt sein System,
sein Dogma von gesetzlichen Zusammenhängen und findet in ihm eine
Zuflucht vor dem Unvorhergesehenen. Wer beweisen kann, fürchtet sich
nicht mehr. -- Aber worin besteht das Wesen der Kausalität? Liegt sie
im Erkennen oder im Erkannten oder in der Einheit von beiden?

Die Welt der Spannungen müßte an sich starr und tot sein, nämlich
„ewige Wahrheit“, etwas jenseits aller Zeit, ein Zustand. Die wirkliche
Welt des Wachseins ist aber voller Veränderungen. Ein Tier erstaunt
darüber nicht, das Denken des Denkers jedoch wird ratlos: Ruhe und
Bewegung, Dauer und Änderung, Gewordenes und Werden -- bezeichnen diese
Gegensätze nicht bereits etwas, das über die Möglichkeit des Verstehens
hinausgeht und eben deshalb einen Widersinn enthalten +muß+? Sind
das Tatsachen, die sich nicht mehr in Form von Wahrheiten von der
Sinnenwelt abziehen lassen? Da liegt etwas Zeithaftes in der zeitlos
erkannten Welt; Spannungen erscheinen als Takt, zur Ausdehnung tritt
die Richtung. Alles Fragwürdige des verstehenden Wachseins sammelt
sich im letzten und schwersten, im +Bewegungsproblem+, und an
ihm scheitert das freigewordene Denken. Hier verrät es sich, daß das
Mikrokosmische heute und immer vom Kosmischen abhängig ist, wie es
schon in den Uranfängen jedes neuen Wesens das äußere Keimblatt als
die bloße Hülle eines Leibes beweist. Das Leben kann ohne Denken
bestehen, das Denken aber ist nur eine Art des Lebens. Das Denken mag
sich selbst noch so gewaltige Ziele setzen, in Wirklichkeit bedient
sich das Leben des Denkens zu +seinem+ Zwecke und gibt ihm ein
lebendiges Ziel ganz unabhängig von der Lösung abstrakter Aufgaben.
Für das Denken sind Lösungen von Problemen richtig oder falsch, für
das Leben sind sie wertvoll oder wertlos. Wenn das Erkennenwollen am
Bewegungsproblem scheitert, so ist die Absicht des Lebens vielleicht
eben damit erreicht. Trotzdem und eben deshalb bleibt dieses Problem
der Mittelpunkt alles höheren Denkens. Alle Mythologie und alle
Naturwissenschaft sind aus dem Staunen über das Geheimnis der Bewegung
entstanden.

Das Bewegungsproblem rührt bereits an die Geheimnisse des Daseins, die
dem Wachsein fremd sind und deren Druck es sich dennoch nicht entziehen
kann. Es ist ein Verstehenwollen des Niezuverstehenden, des Wann und
Warum, des Schicksals, des Blutes, alles dessen, was wir in der Tiefe
fühlen und ahnen und was wir, zum Sehen geboren, darum auch vor uns
im Lichte sehen wollen, um es im eigentlichen Sinne des Wortes zu
begreifen, uns seiner durch Tasten zu versichern.

Denn das ist die entscheidende Tatsache, deren sich der Betrachtende
nicht bewußt ist: sein ganzes Suchen richtet sich nicht auf das
Leben, sondern das Leben-sehen, und nicht auf den Tod, sondern das
Sterben-sehen. Wir suchen das Kosmische so zu begreifen, wie es dem
Mikrokosmos im Makrokosmos erscheint, als das +Leben eines Leibes im
Lichtraum+, zwischen Geburt und Tod, zwischen Zeugung und Verwesung,
und mit jener Unterscheidung von Leib und Seele, die mit innerster
Notwendigkeit aus dem Erlebnis des Innerlich-Eigenen als eines
Sinnlich-Fremden folgt.

Daß wir nicht nur leben, sondern um „das Leben“ +wissen+, ist das
Ergebnis jener Betrachtung unseres leibhaften Wesens im Licht. Aber das
Tier kennt nur das Leben, nicht den Tod. Wären wir rein pflanzenhafte
Wesen, so würden wir sterben, ohne es je zu bemerken, denn den Tod
fühlen und sterben wäre eins. Aber auch Tiere hören den Todesschrei,
sie erblicken den Leichnam, sie wittern die Verwesung; sie sehen das
Sterben, aber sie verstehen es nicht. Erst mit dem reinen Verstehen,
das sich durch die Sprache vom Wachsein des Auges abgelöst hat, taucht
für den Menschen der Tod rings in der Lichtwelt als das große Rätsel
auf.

Erst von nun an ist Leben die kurze Spanne Zeit zwischen Geburt
und Sterben. Erst im Hinblick auf den Tod wird uns die Zeugung zum
+anderen+ Geheimnis. Erst jetzt wird die Weltangst des Tieres zur
menschlichen Angst vor dem Tode und +diese ist es+, welche die
Liebe zwischen Mann und Weib, das Verhältnis der Mutter zum Sohn, die
Reihe der Ahnen bis zu den Enkeln herab und darüber hinaus die Familie,
das Volk und zuletzt die Geschichte der Menschen überhaupt als Fragen
und Tatsachen des Schicksals von unermeßlicher Tiefe erstehen läßt.
An den Tod, den jeder zum Licht geborne Mensch erleiden muß, knüpfen
sich die Ideen von Schuld und Strafe, vom Dasein als einer Buße, von
einem neuen Leben jenseits der belichteten Welt und von einer Erlösung,
die aller Todesangst ein Ende macht. Erst aus der Erkenntnis des
Todes stammt das, was wir Menschen im Unterschiede von den Tieren als
Weltanschauung besitzen.


5

Es gibt geborene Schicksalsmenschen und Kausalitätsmenschen. Der
eigentlich lebendige Mensch, der Bauer und Krieger, der Staatsmann,
Heerführer, Weltmann, Kaufmann, jeder, der reich werden, befehlen,
herrschen, kämpfen, wagen will, der Organisator und Unternehmer, der
Abenteurer, Fechter und Spieler, ist durch eine ganze Welt von dem
„geistigen“ Menschen getrennt, dem Heiligen, Priester, Gelehrten,
Idealisten und Ideologen, mag dieser nun durch die Gewalt seines
Denkens oder den Mangel an Blut dazu bestimmt sein. Dasein und
Wachsein, Takt und Spannung, Triebe und Begriffe, die Organe des
Kreislaufs und die des Tastens -- es wird selten einen Menschen von
Rang geben, bei dem nicht unbedingt die eine Seite die andre an
Bedeutung überragt. Alles Triebhafte und Treibende, der Kennerblick
für Menschen und Situationen, der Glaube an einen Stern, den jeder
zum Handeln Berufene besitzt und der etwas ganz anderes ist als die
Überzeugung von der Richtigkeit eines Standpunktes; die Stimme des
Blutes, die Entscheidungen trifft, und das unerschütterlich gute
Gewissen, das jedes Ziel und jedes Mittel rechtfertigt, das alles ist
dem Betrachtenden versagt. Schon der Schritt des Tatsachenmenschen
klingt anders, wurzelhafter, als der des Denkers und Träumers, in dem
das rein Mikrokosmische kein festes Verhältnis zur Erde gewinnen kann.

Das Schicksal hat den einzelnen so oder so gemacht, grüblerisch
und tatenscheu oder tätig und das Denken verachtend. Aber der
Tätige ist ein +ganzer+ Mensch; im Betrachtenden möchte ein
einzelnes Organ ohne und gegen den Leib wirken. Um so schlimmer,
wenn es auch die Wirklichkeit meistern will. Dann erhalten wir jene
ethisch-politisch-sozialen Verbesserungsvorschläge, die sämtlich ganz
unwiderleglich beweisen, wie es sein sollte und wie man es anfangen
muß, Lehren, die ohne Ausnahme auf der Voraussetzung beruhen, daß
alle Menschen so beschaffen sind wie die Verfasser, nämlich reich an
Einfällen und arm an Trieben, vorausgesetzt, daß der Verfasser sich
selbst kennt. Aber keine einzige dieser Lehren, und wenn sie mit der
vollen Autorität einer Religion oder eines berühmten Namens auftrat,
hat bis jetzt das Leben selbst im geringsten verändert. Sie ließen
uns nur anders vom Leben +denken+. Gerade das ist ein Verhängnis
später, viel schreibender und viel lesender Kulturen, daß der Gegensatz
von Leben und Denken immer wieder verwechselt wird mit dem vom Denken
über das Leben und Denken über das Denken. Alle Weltverbesserer,
Priester und Philosophen sind einig in der Meinung, daß das Leben
eine Angelegenheit des schärfsten Nachdenkens sei, aber das Leben der
Welt geht seine eigenen Wege und kümmert sich nicht um das, was von
ihm gedacht wird. Und selbst wenn es einer Gemeinschaft gelingt, „der
Lehre gemäß“ zu leben, so erreichen sie damit bestenfalls, daß in einer
künftigen Weltgeschichte in einer Anmerkung davon die Rede ist, nachdem
das Eigentliche und einzig Wichtige vorher abgehandelt wurde.

Denn nur der Handelnde, der Mensch des Schicksals, lebt letzten Endes
in der +wirklichen+ Welt, der Welt der politischen, kriegerischen
und wirtschaftlichen Entscheidungen, in der Begriffe und Systeme
nicht mitzählen. Hier ist ein guter Hieb mehr wert als ein guter
Schluß und es liegt Sinn in der Verachtung, mit welcher der Soldat und
Staatsmann zu allen Zeiten auf die Tintenkleckser und Bücherwürmer
herabgesehen hat, die der Meinung waren, daß die Weltgeschichte um des
Geistes, der Wissenschaft oder gar der Kunst willen da sei. Sprechen
wir es unzweideutig aus: Das vom Empfinden freigewordne Verstehen
ist mir eine Seite des Lebens und nicht die entscheidende. In einer
Geschichte des abendländischen Denkens darf der Name Napoleons fehlen,
in der wirklichen Geschichte aber ist Archimedes mit all seinen
wissenschaftlichen Entdeckungen vielleicht weniger wirksam gewesen als
jener Soldat, der ihn bei der Erstürmung von Syrakus erschlug.

Es ist ein gewaltiger Irrtum theoretischer Menschen, wenn sie
glauben, ihr Platz sei an der Spitze und nicht im Nachtrab der großen
Ereignisse. Das heißt die Rolle, welche die politisierenden Sophisten
in Athen oder Voltaire und Rousseau in Frankreich gespielt haben,
durchaus verkennen. Ein Staatsmann „weiß“ oft nicht, was er tut, aber
das hindert ihn nicht, mit Sicherheit gerade das Erfolgreiche zu tun;
der politische Doktrinär weiß immer, was getan werden muß; trotzdem ist
seine Tätigkeit, wenn sie sich einmal nicht auf das Papier beschränkt,
die erfolgloseste und damit die wertloseste in der Geschichte. Es
ist eine nur zu häufige Anmaßung in unsicher gewordnen Zeiten wie
der attischen Aufklärung oder der französischen und der deutschen
Revolution, wenn der schreibende und redende Ideologe statt in Systemen
in den wirklichen Geschicken der Völker tätig sein will. Er verkennt
seinen Platz. Er gehört mit seinen Grundsätzen und Programmen in die
Geschichte der Literatur, in keine andere. Die wirkliche Geschichte
fällt ihr Urteil nicht, indem sie den Theoretiker widerlegt, sondern
indem sie ihn samt seinen Gedanken sich selbst überläßt. Mögen Plato
und Rousseau, um von kleinen Geistern ganz zu schweigen, abstrakte
Staatsgebäude aufführen -- das ist für Alexander, Scipio, Cäsar,
Napoleon und ihre Entwürfe, Schlachten und Anordnungen ganz ohne
Bedeutung. Mögen jene über das Schicksal reden, ihnen genügt es, ein
Schicksal zu sein.

Unter allen mikrokosmischen Wesen bilden sich immer wieder +beseelte
Masseneinheiten+, Wesen höherer Ordnung, die langsam entstehen oder
plötzlich da sind mit allen Gefühlen und Leidenschaften des einzelnen,
in ihrem Innern rätselhaft und dem Verstande unzugänglich, während
der Kenner ihre Regungen wohl durchschaut und berechnen kann. Auch
hier unterscheiden wir allgemein tierhafte, gefühlte Einheiten aus
tiefster Verbundenheit des Daseins und Schicksals wie jenen Vogelzug am
Himmel oder jenes stürmende Heer und rein menschliche verstandesmäßige
Gemeinschaften auf Grund gleicher Meinungen, gleicher Zwecke und
gleichen Wissens. Die Einheit des kosmischen Taktes hat man, ohne es
zu wollen; die Einheit der Gründe eignet man sich an, wenn man will.
Eine geistige Gemeinschaft kann man aufsuchen oder verlassen; an ihr
nimmt nur das Wachsein teil. Einer kosmischen Einheit +verfällt+
man und zwar mit seinem +ganzen+ Sein. Solche Mengen werden von
den Stürmen der Begeisterung ebenso schnell gepackt wie von einer
Panik. Sie sind rasend und verzückt in Eleusis und Lourdes oder von
einem männlichen Geist ergriffen wie die Spartaner bei Thermopylä
und die letzten Goten am Vesuv. Sie bilden sich unter der Musik von
Chorälen, Märschen und Tänzen und unterliegen wie alle Rassemenschen
und Rassetiere der Wirkung von leuchtenden Farben, von Schmuck, Tracht
und Uniform.

Diese beseelten Mengen werden geboren und sterben. Die geistigen
Gemeinschaften, bloße Summen im mathematischen Sinne, sammeln,
vergrößern, verkleinern sich, bis zuweilen eine bloße Übereinstimmung
durch die Gewalt ihres Eindrucks ins Blut dringt und aus der Summe
plötzlich ein Wesen macht. In jeder politischen Zeitenwende können
Worte zu Schicksalen, öffentliche Meinungen zu Leidenschaften werden.
Eine zufällige Menge wird auf der Straße zusammengeballt, sie hat ein
Bewußtsein, +ein+ Fühlen, +eine+ Sprache, bis die kurzlebige
Seele erlischt und jeder seiner Wege geht. Das geschah in dem Paris von
1789 täglich, sobald sich der Ruf nach der Laterne erhob.

Diese Seelen haben ihre besondere Psychologie, auf die man sich
verstehen muß, um mit dem öffentlichen Leben fertig zu werden. Eine
Seele haben alle echten Stände und Klassen, die Ritterschaften und
Orden der Kreuzzüge, der römische Senat und der Jakobinerklub, die
vornehme Gesellschaft unter Ludwig XIV. und der preußische Adel,
der Bauernstand und die Arbeiterschaft, der großstädtische Pöbel,
die Bevölkerung eines abgelegenen Tales, Völker und Stämme der
Wanderzeiten, die Anhänger Mohameds und überhaupt jede eben begründete
Religion oder Sekte, die Franzosen der Revolution und die Deutschen
der Freiheitskriege. Die gewaltigsten Wesen dieser Art, die wir kennen,
sind die hohen Kulturen mit ihrer Geburt aus einer großen seelischen
Erschütterung, die in einem tausendjährigen Dasein alle Mengen
kleinerer Art, Nationen, Stände, Städte, Geschlechter zu einer Einheit
zusammenfassen.

Alle großen Ereignisse der Geschichte werden durch solche Wesen
kosmischer Art getragen, durch Völker, Parteien, Heere, Klassen,
während die Geschichte des Geistes in losen Gemeinschaften und Kreisen,
Schulen, Bildungsschichten, Richtungen, „-ismen“ verläuft. Und hier ist
es wieder eine Schicksalsfrage, ob solche Mengen in dem entscheidenden
Augenblick ihrer höchsten Wirkungskraft einen Führer finden oder blind
vorwärtsgetrieben werden, ob die Führer des Zufalls Menschen von
hohem Range oder gänzlich bedeutungslose Persönlichkeiten sind, die
von der Woge der Ereignisse an die Spitze gehoben werden wie Pompejus
oder Robespierre. Es kennzeichnet den Staatsmann, daß er all diese
Massenseelen, die sich im Strome der Zeit bilden und auflösen, in ihrer
Stärke und Dauer, Richtung und Absicht mit vollkommener Sicherheit
durchschaut, aber trotzdem ist es auch hier eine Frage des Zufalls, ob
er sie beherrschen +kann+ oder von ihnen mitgerissen wird.


    [1] Was im Folgenden angedeutet ist, habe ich einem metaphysischen
    Buch entnommen, das ich in kurzem vorzulegen hoffe.

    [2] Daher das im stolzen oder gemeinen Sinne Animalische im Gesicht
    der Menschen, welche die Gewohnheit des Denkens nicht besitzen.




DIE GRUPPE DER HOHEN KULTUREN


6

Aber gleichviel, ob ein Mensch für das Leben oder das Denken geboren
ist, solange er handelt oder betrachtet, ist er +wach+ und als
Wachender ist er beständig „im Bilde“, nämlich eingestellt auf einen
Sinn, den die Lichtwelt um ihn herum gerade in diesem Augenblick für
ihn besitzt. Es ist schon früher bemerkt worden, daß die zahllosen
Einstellungen, die im Wachsein des Menschen wechseln, sich deutlich
in zwei Gruppen unterscheiden, Welten des Schicksals und Taktes und
Welten der Ursachen und Spannungen. Jeder erinnert sich der beinahe
schmerzhaften Umstellung, wenn er etwa eben einen physikalischen
Versuch beobachtet und plötzlich genötigt wird, über ein Tagesereignis
nachzudenken. Ich nannte die beiden Bilder die „Welt als Geschichte“
und die „Welt als Natur“. In jenem bedient sich das Leben des
kritischen Verstehens; es hat das Auge in seiner Gewalt; gefühlter Takt
wird zur innerlich geschauten Wellenlinie, erlebte Erschütterungen
werden im Bilde zur Epoche. In diesem herrscht das Denken selbst;
kausale Kritik läßt das Leben zum starren Prozeß werden, den lebendigen
Gehalt einer Tatsache zur abstrakten Wahrheit, die Spannung wird zur
Formel.

Wie ist das möglich? Beides ist ein Augenbild, aber doch so, daß
man sich dort den nie wiederkehrenden Tatsachen hingibt, und
hier Wahrheiten in ein unveränderliches System bringen will. Im
Geschichtsbilde, das nur +gestützt+ ist auf Wissen, bedient
sich das Kosmische des Mikrokosmischen. In dem, was wir Gedächtnis
und Erinnerung nennen, liegen die Dinge wie im inneren Licht und vom
Takt unseres Daseins durchflutet da. Das chronologische Element im
weitesten Sinne, die Daten, Namen, Zahlen, verrät, daß Geschichte,
sobald sie +gedacht+ wird, der Grundbedingungen alles Wachseins
nicht entbehren kann. Im Naturbilde ist das stets vorhandene Subjektive
das Fremde und Trügende, in der Welt als Geschichte trügt das ebenso
unvermeidliche Objektive, die Zahl.

Die naturhaften Einstellungen sollen und können bis zu einem gewissen
Grade unpersönlich sein. Man vergißt sich selbst darüber. Das Bild der
Geschichte aber besitzt jeder Mensch, jede Klasse, Nation, Familie
+in bezug auf sich selbst+. Natur enthält das Merkmal der
Ausdehnung, die +alle+ umschließt. Geschichte aber ist das, was
aus dunkler Vergangenheit +auf den Schauenden+ zukommt und von
ihm aus weiter in die Zukunft will. Er ist als der Gegenwärtige stets
ihr Mittelpunkt und es ist ganz unmöglich, in der sinnvollen Anordnung
der Tatsachen die Richtung auszuschalten, die dem Leben und nicht dem
Denken angehört. Jede Zeit, jedes Land, jede lebendige Menge hat ihren
eignen historischen Horizont und der berufene Geschichtsdenker zeigt
sich eben darin, daß er das von seiner Zeit geforderte Geschichtsbild
wirklich entwirft.

Deshalb unterscheiden sich Natur und Geschichte wie echte und
scheinbare Kritik, Kritik verstanden als Gegensatz zur Lebenserfahrung.
Naturwissenschaft ist Kritik und nichts andres. In der Geschichte aber
kann Kritik nur die Voraussetzung an Wissen schaffen, an dem dann der
historische Blick seinen Horizont entwickelt. +Geschichte ist dieser
Blick selbst+, gleichviel wohin er sich richtet. Wer diesen Blick
besitzt, kann jede Tatsache und jede Lage „historisch“ verstehen. Natur
ist ein System, und Systeme kann man erlernen.

Die +historische+ Einstellung beginnt für jeden mit den frühesten
Eindrücken der Kindheit. Kinderaugen sehen scharf und die Tatsachen der
nächsten Umgebung, das Leben der Familie, des Hauses, der Straße werden
bis in ihre letzten Gründe gefühlt und geahnt, lange bevor die Stadt
mit ihren Bewohnern in den Gesichtskreis tritt und während noch die
Worte Volk, Land, Staat keinen irgendwie greifbaren Inhalt besitzen.
Ein ebenso gründlicher Kenner ist der primitive Mensch für alles, was
ihm in seinem engen Kreise als Geschichte lebendig vor Augen steht. Vor
allem das Leben selbst, das Schauspiel von Geburt und Tod, Krankheit
und Alter, dann die Geschichte der kriegerischen und geschlechtlichen
Leidenschaften, die er selbst erlebt oder an andern beobachtet hat, die
Schicksale der Nächsten, der Sippe, des Dorfes, ihre Handlungen und
deren Hintergedanken, Erzählungen von langer Feindschaft, Kämpfen, Sieg
und Rache. Die Lebenshorizonte weiten sich; nicht ein Leben, sondern
+das+ Leben entsteht und vergeht, nicht Dörfer und Sippen, sondern
ferne Stämme und Länder, nicht Jahre, sondern Jahrhunderte treten vor
das Auge. Die wirklich miterlebte, in ihrem Takt noch mitgefühlte
Geschichte reicht niemals über die Generation des Großvaters hinaus,
weder für die alten Germanen und die heutigen Neger, noch für Perikles
oder Wallenstein. Hier schließt ein Horizont des Lebens ab und es
beginnt eine neue Schicht, deren Bild sich auf Überlieferung und
historische Tradition gründet, welche das unmittelbare Mitfühlen einem
deutlich gesehenen und durch lange Übung gesicherten Gedächtnisbilde
einordnet, ein Bild, das für die Menschen verschiedener Kulturen in
sehr verschiedener Weite entwickelt ist. Für uns beginnt mit diesem
Bilde die eigentliche Geschichte, in der wir sub specie aeternitatis
leben, für die Griechen und Römer hört sie hier auf. Für Thukydides
hatten schon die Ereignisse der Perserkriege,[3] für Cäsar die
punischen Kriege keine lebendige Bedeutung mehr.

Über das alles hinaus aber entstehen neue historische Einzelbilder
von den Schicksalen der Pflanzen- und Tierwelt, der Landschaft, der
Gestirne und fließen mit den letzten Bildern der Natur zusammen in
mythischen Vorstellungen von Weltanfang und Weltende.

Das +Naturbild+ des Kindes und des Urmenschen entwickelt sich
aus der kleinen Technik des Alltags, die beide immer wieder zwingt,
sich von dem angstvollen Schauen in die weite Natur den Sachlagen der
nächsten Umgebung kritisch zuzuwenden. Wie die jungen Tiere entdeckt
ein Kind seine ersten Wahrheiten durch das Spiel. Das Spielzeug
untersuchen, die Puppe zerbrechen, den Spiegel umkehren, um zu sehen,
was dahinter ist, das Triumphgefühl, etwas als richtig festgestellt
zu haben, was nun immer so bleiben muß -- darüber hinaus ist keine
Naturforschung je gedrungen. Diese kritische Erfahrung erwirbt sich
der Urmensch an seinen Waffen und Werkzeugen, an den Stoffen für seine
Kleidung, Nahrung und Wohnung, an Dingen also, +insofern sie tot
sind+. Das gilt auch von Tieren, die er jetzt plötzlich nicht mehr
als Lebewesen versteht, indem er als Verfolger oder Verfolgter ihre
Bewegungen beobachtet und berechnet, sondern als eine Zusammensetzung
von Fleisch und Knochen, die er im Hinblick auf einen bestimmten Zweck
unter Absehen von der Eigenschaft des Lebendigseins ganz mechanisch
betrachtet, genau so wie er ein Ereignis eben noch als die Tat eines
Dämons und gleich darauf als Kette von Ursache und Wirkung auffaßt.
Es ist dieselbe Umstellung, die auch der reife Kulturmensch täglich
und stündlich immer wieder vollzieht. Auch um diesen Naturhorizont
legt sich eine weitere Schicht, die aus den Eindrücken von Regen,
Blitz und Sturm, Tag und Nacht, Sommer und Winter, dem Mondwechsel und
dem Gang der Gestirne gebildet wird. Hier zwingen religiöse Schauer
voller Angst und Ehrfurcht ihn zu einer Kritik von ganz anderem Range.
Wie er in jenem Geschichtsbilde die letzten Tatsachen des Lebens
ergründen wollte, so sucht er hier die letzten Wahrheiten der Natur
festzustellen. Was jenseits aller Grenzen des Verstehens liegt, nennt
er die Gottheit, und alles diesseits Liegende sucht er als Wirkung,
Schöpfung und Offenbarung der Gottheit kausal zu begreifen.

Jede Sammlung von naturhaft Festgestelltem hat also eine doppelte
Tendenz, die von Urzeiten her unverändert geblieben ist. Die eine
richtet sich auf ein möglichst vollständiges System +technischen+
Wissens, das zu praktischen, wirtschaftlichen und kriegerischen
Zwecken dient, das viele Tierarten in hoher Vollendung ausgebildet
haben und das von da an über die frühmenschliche Kenntnis des Feuers
und der Metalle in gerader Linie zur Maschinentechnik der heutigen
faustischen Kultur führt. Die andre hat sich erst mit der Ablösung des
rein menschlichen Denkens vom Sehen durch die Wortsprache gebildet und
erstrebt ein ebenso vollständiges +theoretisches+ Wissen, das wir
in seiner ursprünglichen Form +religiös+ und in der in späten
Kulturen daraus abgeleiteten +naturwissenschaftlich+ nennen. Das
Feuer ist für den Krieger eine Waffe, für den Handwerker ein Teil
seines Werkzeuges, für den Priester ein Zeichen der Gottheit und für
den Gelehrten ein Problem. Das alles aber gehört der naturhaften
Einstellung des Wachseins an. In der Welt als Geschichte erscheint
nicht das Feuer überhaupt, sondern der Brand von Karthago und Moskau
und die Flamme der Scheiterhaufen, auf denen Huß und Giordano Bruno
verbrannt wurden.


7

Ich wiederhole: Jedes Wesen erlebt das andre und dessen Schicksale
+nur in bezug auf sich selbst+. Den Taubenschwarm, der sich auf
ein Feld niederläßt, verfolgt der Besitzer des Feldes mit ganz anderen
Blicken als der Naturfreund auf der Straße und der Habicht in der Luft.
Der Bauer sieht in seinem Sohn den Nachkommen und Erben, der Nachbar
den Bauern, der Offizier den Soldaten, der Fremde den Eingebornen.
Napoleon hat als Kaiser die Menschen und Dinge anders erlebt wie als
Leutnant. Man versetze einen Menschen in eine andre Lage, man mache
einen Revolutionär zum Minister, einen Soldaten zum General, und die
Geschichte mit ihren Trägern wird für ihn mit einem Schlage etwas
anderes. Talleyrand durchschaute die Menschen seiner Zeit, weil er
zu ihnen gehörte. Er hätte Crassus, Cäsar, Catilina und Cicero, wäre
er plötzlich unter sie versetzt worden, in allen ihren Maßregeln und
Absichten falsch oder gar nicht verstanden. Es gibt keine Geschichte an
sich. Die Geschichte einer Familie nimmt sich für jeden Angehörigen,
die eines Landes für jede Partei, die Zeitgeschichte für jedes Volk
anders aus. Der Deutsche sieht den Weltkrieg anders als der Engländer,
der Arbeiter die Wirtschaftsgeschichte anders als der Unternehmer,
der Historiker des Abendlandes hat eine ganz andre Weltgeschichte vor
Augen als die großen arabischen und chinesischen Geschichtsschreiber,
und nur aus sehr großer Entfernung und ohne innere Beteiligung könnte
die Geschichte einer Zeit objektiv dargestellt werden, aber die
besten Historiker der Gegenwart beweisen, daß sie nicht einmal den
peloponnesischen Krieg und die Schlacht bei Actium ganz ohne Beziehung
auf gegenwärtige Interessen beurteilen und darstellen können.

Die tiefste Menschenkenntnis schließt nicht aus, sondern fordert sogar,
daß ihre Einsichten durchaus die Farbe dessen tragen, der sie hat.
Gerade der Mangel an Menschenkenntnis und Lebenserfahrung ergeht sich
in Verallgemeinerungen, die alles Bedeutende, nämlich das Einmalige
der Geschichte verzerren oder völlig übersehen, am schlimmsten jene
materialistische Geschichtsauffassung, die man beinahe erschöpfend als
Mangel an physiognomischer Begabung definieren kann. Aber trotzdem und
eben deshalb gibt es für jeden Menschen, +weil+ er einer Klasse,
Zeit, Nation und Kultur angehört, und wieder für diese Zeit, Klasse,
Kultur im ganzen ein typisches Bild der Geschichte, wie es in bezug
auf sie vorhanden sein +sollte+. Als höchste Möglichkeit besitzt
das +Gesamtdasein+ jeder Kultur ein für sie symbolisches Urbild
ihrer Welt als Geschichte, und alle Einstellungen der einzelnen und
der als lebendige Wesen wirkenden Mengen sind Abbilder davon. Wenn man
die Anschauung eines andern als bedeutend, flach, originell, trivial,
verfehlt, veraltet bezeichnet, so geschieht dies stets, ohne daß
jemand sich dessen bewußt wäre, im Hinblick auf das +im Augenblick
geforderte+ Bild als der beständigen Funktion der Zeit und des
Menschen.

Es versteht sich, daß jeder Mensch der faustischen Kultur sein eignes
Bild der Geschichte besitzt, und nicht nur eines, sondern unzählige
von seiner Jugend an, die je nach den Erlebnissen des Tages und der
Jahre unaufhörlich schwanken und sich verändern. Und wie verschieden
ist wieder das typische Geschichtsbild der Menschen verschiedener
Zeitalter und Stände: die Welt Ottos des Großen und die Gregors VII.,
die eines Dogen von Venedig und die eines armen Pilgers! In wie
verschiednen Welten haben Lorenzo von Medici, Wallenstein, Cromwell,
Marat, Bismarck gelebt, ein Höriger der gotischen, ein Gelehrter der
Barockzeit, Offiziere des dreißigjährigen, des siebenjährigen und des
Befreiungskrieges und allein in unsern Tagen ein friesischer Bauer,
der nur mit seiner Landschaft und deren Bevölkerung wirklich lebt, ein
Hamburger Großkaufmann und ein Physikprofessor! Und trotzdem hat das
alles, unabhängig von Alter, Stellung und Zeit des einzelnen einen
gemeinsamen Grundzug, der die Gesamtheit dieser Bilder, ihr Urbild, von
dem jeder andern Kultur unterscheidet.

Was aber das antike und indische Geschichtsbild vollständig von
dem chinesischen und arabischen und noch viel schärfer von dem
abendländischen trennt, ist die Enge des Horizonts. Was die Griechen
von der altägyptischen Geschichte wissen konnten und wissen mußten,
haben sie nie in ihr eignes Geschichtsbild eintreten lassen, das
für die meisten mit den Ereignissen abschloß, von denen die letzten
Überlebenden noch erzählen konnten, und in dem selbst für die besten
Köpfe mit dem trojanischen Kriege eine Grenze gesetzt wurde, jenseits
deren es kein geschichtliches Leben mehr geben +sollte+.

Die arabische Kultur hat zuerst und zwar im Geschichtsdenken sowohl
der Juden wie der Perser etwa seit Kyros den erstaunlichen Griff
gewagt, die Weltschöpfungslegende durch eine echte Zeitrechnung mit der
Gegenwart zu verbinden und bei den Persern sogar eine chronologische
Festlegung des Jüngsten Gerichts und der Erscheinung des Messias
vorzunehmen. Diese scharfe und sehr enge Abgrenzung der gesamten
Menschengeschichte -- die persische umfaßt im ganzen zwölf, die
jüdische bis jetzt noch nicht sechs Jahrtausende -- ist ein notwendiger
Ausdruck des magischen Weltgefühls und scheidet die jüdisch-persische
Schöpfungssage ihrer tieferen Bedeutung nach vollständig von den
Vorstellungen der babylonischen Kultur, denen sie viele äußere Züge
entnommen hat. Aus einem ganz andern Gefühl heraus hat das chinesische
und ägyptische Geschichtsdenken eine weite Perspektive ohne Abschluß
eröffnet und zwar durch eine chronologisch gesicherte Reihe von
Dynastien, die sich über Jahrtausende hin in graue Ferne verlieren.

Das faustische Bild der Weltgeschichte setzt sogleich, vorbereitet
durch die christliche Zeitrechnung,[4] mit einer ungeheuren Erweiterung
und Vertiefung des von der abendländischen Kirche übernommenen
magischen Bildes ein, das von Joachim von Floris um 1200 zur Grundlage
einer tiefsinnigen Deutung aller Weltschicksale als der Folge dreier
Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes genommen
wurde. Dazu trat eine immer wachsende Erweiterung des geographischen
Horizonts, der schon in gotischer Zeit durch die Wikinger und
Kreuzfahrer von Island bis zu entlegenen Teilen Asiens gedehnt
wurde.[5] Für den höheren Menschen des Barock seit 1500 wird nun zum
ersten Male und im Unterschied von allen andern Kulturen die gesamte
Oberfläche des Planeten zum Schauplatz menschlicher Geschichte.
Zum ersten Male haben Kompaß und Fernrohr für die Gebildeten dieser
Spätzeit aus der bloßen theoretischen Annahme einer Kugelgestalt der
Erde das wirkliche Gefühl gemacht, auf einer Kugel im Weltraum zu
leben. Der Länderhorizont hört auf und ebenso der zeitliche durch die
doppelte Unendlichkeit der Jahreszählung vor und nach Christi Geburt.
Und unter dem Eindruck dieses planetarischen, zuletzt alle hohen
Kulturen umfassenden Bildes vollzieht sich heute die Auflösung jener
gotischen, längst flach und leer gewordnen Einteilung in Altertum,
Mittelalter und Neuzeit.

In allen andern Kulturen fallen die Aspekte Weltgeschichte und
Menschengeschichte zusammen; der Weltanfang ist der Anfang des
Menschen; das Ende der Menschheit ist auch das Ende der Welt. Der
faustische Hang zum Unendlichen läßt während des Barock zum ersten Male
beide Begriffe auseinandertreten und macht die Menschengeschichte in
einer noch nie bekannten Ausdehnung dennoch +zu einer bloßen Episode
in der Weltgeschichte+, und die Erde, von der andre Kulturen nur ein
Oberflächenstück als „Welt“ überblickten, zu einem kleinen Stern unter
Millionen Sonnensystemen.

Diese Ausdehnung des historischen Weltbildes macht es in der heutigen
Kultur noch viel notwendiger als in jeder andern, sorgfältig zwischen
der Alltagseinstellung der meisten Menschen und der Maximaleinstellung
zu unterscheiden, deren nur die höchsten Geister fähig sind, die sich
aber auch in diesen nur für Augenblicke vollzieht. Der Unterschied
zwischen dem historischen Horizont des Themistokles und dem eines
attischen Bauern ist vielleicht geringfügig, aber schon der zwischen
dem Geschichtsbild Kaiser Heinrichs VI. und dem eines Hörigen seiner
Zeit ist ungeheuer, und mit dem Aufstieg der faustischen Kultur
werden die höchstmöglichen Einstellungen so erweitert und vertieft,
daß es immer engere Kreise sind, denen sie zugänglich bleiben. Es
bildet sich gleichsam eine Pyramide von Möglichkeiten, auf der jeder
einzelne seiner Veranlagung nach eine Stufe einnimmt, welche durch die
höchste ihm erreichbare Einstellung bezeichnet wird. Damit aber gibt
es zwischen abendländischen Menschen eine Grenze der Verständigung
in geschichtlichen Lebensfragen, wie sie in dieser verhängnisvollen
Schärfe ohne Zweifel keiner andern Kultur bekannt war. Kann heute
ein Arbeiter einen Bauern wirklich verstehen? Oder ein Diplomat einen
Handwerker? Der historisch-geographische Horizont, aus dem heraus beide
ihre wichtigsten Fragen in Worte fassen, ist so verschieden, daß aus
der Mitteilung ein Vorbeireden wird. Ein wirklicher Menschenkenner
versteht wohl auch noch die Einstellung des andern und richtet seine
Mitteilung danach ein -- wie wir es alle machen, wenn wir mit Kindern
sprechen --, aber die Kunst, sich auch noch in das Geschichtsbild
eines Menschen der Vergangenheit, Heinrichs des Löwen oder Dantes so
einzuleben, daß man seine Gedanken, Gefühle und Entscheidungen als
selbstverständlich begreift, ist bei dem gewaltigen Abstände beider
Wachseinszustände so selten, daß sogar die Aufgabe als solche um 1700
noch gar nicht geahnt und erst seit 1800 zu einer sehr selten erfüllten
Forderung der Geschichtsschreibung geworden ist.

Die echt faustische Trennung der eigentlichen Menschengeschichte
von der viel weiteren Weltgeschichte hat zur Folge, daß seit dem
Ausgang des Barock sich in unserm Weltbilde mehrere Horizonte in
getrennten Schichten hintereinander lagern, für deren Untersuchung sich
Einzelwissenschaften von mehr oder weniger ausgesprochen historischem
Charakter ausgebildet haben. Die Astronomie, Geologie, Biologie,
Anthropologie verfolgen der Reihe nach die Schicksale der Sternenwelt,
der Erdrinde, der Lebewesen, des Menschen, und erst dann beginnt
die heute noch so genannte „Weltgeschichte“ der hohen Kulturen, an
welche sich weiterhin die Geschichte einzelner Kulturelemente, die
Familiengeschichte, zuletzt die gerade im Abendlande sehr ausgebildete
Biographie anschließen.

Jede dieser Schichten fordert eine Einstellung für sich und mit
dem Augenblick dieser Einstellung hören die engeren und weiteren
Schichten auf, lebendiges Werden zu sein, und sind schlechthin
gegebene Tatsachen. Untersuchen wir die Schlacht im Teutoburger
Walde, so ist die Entstehung dieses Waldes innerhalb der Pflanzenwelt
Norddeutschlands vorausgesetzt. Fragen wir nach der Geschichte des
deutschen Laubwaldes, so ist die geologische Schichtung der Erde
die Voraussetzung und eine in ihren besonderen Schicksalen nicht
weiter zu untersuchende Tatsache. Fragen wir nach dem Ursprung der
Kreideformation, so ist das Vorhandensein der Erde selbst als eines
Planeten im Sonnensystem kein Problem. Oder anders betrachtet: daß es
in der Sternenwelt eine Erde, daß es auf der Erde das Phänomen „Leben“,
daß es in diesem die Form „Mensch“, daß es in der Menschengeschichte
die organische Form der Kulturen gibt, ist jedesmal ein Zufall im Bilde
der nächst höheren Schicht. Goethe hatte von seiner Straßburger bis
zur ersten Weimarer Zeit einen starken Hang zur Einstellung auf die
Weltgeschichte -- die Entwürfe zum Cäsar, Mahomet, Sokrates, Ewigen
Juden, Egmont zeugen davon --, aber seit jenem schmerzlichen Verzicht
auf eine politische Wirksamkeit großen Stils, der aus dem Tasso noch
in dessen endgültiger, vorsichtig resignierter Fassung zu uns redet,
schaltete er gerade diese aus und lebte fortan mit der fast gewaltsamen
Beschränkung auf das Bild der Pflanzen-, Tier- und Erdgeschichte,
seiner „lebendigen Natur“ und andrerseits in der Biographie.

Alle diese Bilder haben, in denselben Menschen entwickelt, dieselbe
Struktur. Auch die Geschichte der Pflanzen und Tiere, auch die der
Erdrinde und der Sterne ist fable convenue und spiegelt in der
äußeren Wirklichkeit die Tendenz des eignen Daseins wider. Eine vom
subjektiven Standpunkt des betrachtenden Menschen, seiner Zeit, seines
Volkes und selbst seiner sozialen Stellung abgelöste Betrachtung
der Tiere oder der Gesteinsschichtung ist ebensowenig möglich, wie
die der Revolution oder des Weltkrieges. Die berühmten Theorieen
von Kant und Laplace, Cuvier, Lyell, Lamarck, Darwin haben auch
eine politisch-wirtschaftliche Färbung und zeigen gerade durch den
gewaltigen Eindruck, den sie auf ganz unwissenschaftliche Kreise
hervorgerufen haben, den gemeinsamen Ursprung der Auffassung all
dieser historischen Schichten. Was sich aber heute vollendet, ist die
letzte dem faustischen Geschichtsdenken noch vorbehaltene Leistung:
die organische Verbindung dieser Einzelschichten untereinander und
ihre Eingliederung in eine einzige ungeheure Weltgeschichte von
einheitlicher Physiognomik, in welcher der Blick vom Leben des
einzelnen Menschen nun ohne Unterbrechung bis zu den ersten und
letzten Schicksalen des Universums reicht. Das 19. Jahrhundert hat
-- in mechanistischer, also ungeschichtlicher Fassung -- die Aufgabe
+gestellt+. Es gehört zu den Bestimmungen des 20., sie zu lösen.


8

Das Bild, welches wir von der Geschichte der Erdrinde und der
Lebewesen besitzen, wird augenblicklich noch immer von Anschauungen
beherrscht, welche das zivilisierte englische Denken seit der
Aufklärungszeit aus den englischen Lebensgewohnheiten entwickelt hat.
Die „phlegmatische“ geologische Theorie Lyells von der Bildung der
Erdschichten und die biologische Darwins von der Entstehung der Arten
sind tatsächlich nur Nachbilder der Entwicklung Englands selbst. Sie
setzen an die Stelle unberechenbarer Katastrophen und Metamorphosen,
wie sie der große Leopold von Buch und Cuvier anerkannten, eine
methodische Entwicklung mit sehr langen Zeiträumen und erkennen als
Ursachen nur +wissenschaftlich erreichbare und zwar mechanische+
Zweckmäßigkeitsursachen an.

Diese „englische“ Art von Ursachen ist nicht nur flach, sondern
auch viel zu eng. Sie beschränkt die möglichen Zusammenhänge
erstens auf Vorgänge, die sich in ihrem +ganzen+ Verlauf an
der Erdoberfläche vollziehen. Damit werden alle großen kosmischen
Beziehungen zwischen den Lebenserscheinungen der Erde und Ereignissen
des Sonnensystems oder der Sternenwelt überhaupt ausgeschaltet und
die ganz unmögliche Behauptung vorausgesetzt, daß die Außenseite der
Erdkugel ein allseitig isoliertes Gebiet des Naturgeschehens sei. Und
man setzt zweitens voraus, daß Zusammenhänge, die mit den Mitteln des
heutigen menschlichen Wachseins -- Empfinden und Denken -- und ihrer
Verfeinerung durch Instrumente und Theorien nicht erfaßbar sind, auch
nicht vorhanden sind.

Es wird das naturgeschichtliche Denken des 20. von dem des 19.
Jahrhunderts unterscheiden, daß dieses System von Oberflächenursachen,
dessen Wurzeln in den Rationalismus der Barockzeit zurückreichen,
beseitigt und durch eine reine Physiognomik ersetzt wird. Wir sind
Skeptiker allen kausal erklärenden Denkweisen gegenüber. Wir lassen die
Dinge reden und bescheiden uns damit, das in ihnen waltende Schicksal
zu fühlen und in seinen Gestaltungen zu schauen, dessen Ergründung
nicht im Bereich menschlichen Verstehens liegt. Das Äußerste, was wir
erreichen können, ist die Auffindung ursachenloser, zweckloser, rein
seiender Formen, die dem wechselnden Bilde der Natur zugrunde liegen.
Das 19. Jahrhundert hat unter „Entwicklung“ einen Fortschritt im Sinne
steigender Zweckmäßigkeit des Lebens verstanden. Leibniz in seiner
hochbedeutenden Protogäa (1691), die auf Grund seiner Studien über die
Silbergruben des Harzes eine durch und durch Goethesche Urgeschichte
der Erde entwirft, und Goethe selbst verstanden darunter die Vollendung
im Sinne eines steigenden Formgehaltes. Zwischen den Begriffen der
Goetheschen Formvollendung und der Evolution Darwins liegt der ganze
Gegensatz von Schicksal und Kausalität, aber auch der zwischen
deutschem und englischem Denken und zuletzt deutscher und englischer
+Geschichte+.

Es kann keine bündigere Widerlegung Darwins geben als die Ergebnisse
der Paläontologie. Die Versteinerungsfunde können nach einfacher
Wahrscheinlichkeit nur Stichproben sein. Jedes Stück müßte also eine
andre Entwicklungsstufe darstellen. Es gäbe nur „Übergänge“, keine
Grenzen und also keine Arten. Statt dessen finden wir aber vollkommen
feststehende und unveränderte Formen durch lange Zeiträume hin,
die sich nicht etwa zweckmäßig herausgebildet haben, sondern die
+plötzlich+ und +sofort in endgültiger Gestalt+ erscheinen,
und die nicht in noch zweckmäßigere übergehen, sondern seltener werden
und verschwinden, während ganz andre Formen schon wieder aufgetaucht
sind. Was sich in immer größerem Formenreichtum entfaltet, sind die
großen Klassen und Gattungen der Lebewesen, die +von Anfang an und
ohne alle Übergänge+ in der heutigen Gruppierung da sind. Wir
sehen, wie unter den Fischen die Selachier mit ihren einfachen Formen
in zahlreichen Gattungen zuerst in den Vordergrund der Geschichte
treten und langsam wieder zurücktreten, während die Teleostier eine
vollendetere Form des Fischtypus allmählich zur Herrschaft bringen,
und dasselbe gilt von den Pflanzenformen der Farne und Schachtelhalme,
die heute mit ihren letzten Arten in dem voll entwickelten Reich der
Blütenpflanzen fast verschwinden. Aber dafür zweckmäßige und überhaupt
sichtbare Ursachen anzunehmen, fehlt jeder wirkliche Anhalt.[6] Es
ist ein Schicksal, welches das Leben überhaupt, den immer wachsenden
Gegensatz von Pflanze und Tier, jeden einzelnen Typus, jede Gattung
und Art in die Welt berief. Und mit diesem Dasein ist zugleich eine
bestimmte +Energie der Form+ gegeben, mit welcher sie sich im
Fortgang der Vollendung rein behauptet oder matt und unklar wird und
in viele Abarten ausweicht oder zerfällt, und damit zugleich eine
+Lebensdauer dieser Form+, die wiederum zwar durch einen Zufall
verkürzt werden kann, sonst aber zu einem natürlichen Alter und
Verlöschen der Art führt.

Und was den Menschen betrifft, so zeigen die diluvialen Funde immer
deutlicher, daß alle damals vorhandenen Formen den heute lebenden
entsprechen und nicht die geringste Spur einer Entwicklung zu einer
zweckmäßiger gebauten Rasse zeigen, und das Fehlen aller tertiären
Funde deutet immer mehr darauf hin, daß die Lebensform des Menschen
wie jede andre ihren Ursprung einer plötzlichen Wandlung verdankt,
deren Woher, Wie und Warum ein undurchdringliches Geheimnis bleiben
wird. In der Tat, gäbe es eine Evolution im englischen Sinne, so
könnte es weder abgegrenzte Erdschichten noch einzelne Tierklassen
geben, sondern nur eine einzige geologische Masse und ein Chaos
lebender Einzelformen, die im Kampf ums Dasein übrig geblieben wären.
Aber alles, was wir sehen, zwingt uns zu der Überzeugung, daß immer
wieder tiefe und sehr plötzliche Änderungen im Wesen des Tier- und
Pflanzendaseins vor sich gehen, die von kosmischer Art und niemals auf
das Gebiet der Erdoberfläche beschränkt sind und die dem menschlichen
Empfinden und Verstehen in ihren Ursachen oder überhaupt entzogen
bleiben.[7] Und ganz ebenso sehen wir, wie diese raschen und tiefen
Verwandlungen in die Geschichte der großen Kulturen eingreifen, ohne
daß von sichtbaren Ursachen, Einflüssen und Zwecken irgendwie die
Rede sein kann. Die Entstehung des gotischen und des Pyramidenstils
vollzog sich ebenso plötzlich wie die des chinesischen Imperialismus
unter Schi hoang ti und des römischen unter Augustus, wie die des
Hellenismus, des Buddhismus, des Islam, und ganz ebenso steht es
mit den Ereignissen in jedem bedeutenden Einzelleben. Wer das nicht
weiß, ist kein Menschenkenner, vor allem kein Kinderkenner. Jedes
tätige oder betrachtende Dasein schreitet +in Epochen+ seiner
Vollendung zu, und eben solche Epochen müssen wir in der Geschichte des
Sonnensystems und der Welt der Fixsterne annehmen. Der Ursprung der
Erde, der Ursprung des Lebens, der Ursprung des frei beweglichen Tieres
+sind+ solche Epochen und eben deshalb Geheimnisse, die wir als
solche hinzunehmen haben.


9

Was wir vom Menschen wissen, scheidet sich klar in zwei große Zeitalter
seines Daseins. Das erste wird für unsern Blick begrenzt einerseits
durch jene tiefe Fuge im Schicksal des Planeten, die wir heute als
Anfang der Eiszeit bezeichnen und von der wir innerhalb des Bildes der
Erdgeschichte nur feststellen können, +daß+ hier eine kosmische
Änderung stattgefunden hat; andrerseits durch den Beginn der hohen
Kulturen am Nil und Euphrat, womit der ganze Sinn des menschlichen
Daseins plötzlich ein anderer wird. Wir entdecken überall die scharfe
Grenze von Tertiär und Diluvium und wir finden diesseits den Menschen
vor als fertig ausgebildeten Typus, mit Sitte, Mythus, Kunst, Schmuck,
Technik vertraut und von einem Körperbau, der sich seitdem nicht
merklich verändert hat.

Wenn wir das erste Zeitalter das der primitiven Kultur nennen, so ist
das einzige Gebiet, auf dem sich diese Kultur, allerdings in einer sehr
späten Form, lebendig und ziemlich unberührt während des ganzen zweiten
Zeitalters und heute noch erhalten hat, das nordwestliche Afrika. Dies
klar erkannt zu haben, ist das große Verdienst von L. Frobenius.[8]
Die Voraussetzung war, daß hier +eine ganze Welt+ primitiven
Lebens und nicht etwa nur eine Anzahl primitiver Stämme dem Eindruck
hoher Kulturen entzogen blieb. Was die Völkerpsychologen gern in allen
fünf Weltteilen zusammensuchen, sind dagegen Völkerfragmente, deren
Gemeinsames in der rein negativen Tatsache besteht, daß sie mitten
unter den hohen Kulturen leben, ohne innerlich an ihnen beteiligt zu
sein. Es sind also teils zurückgebliebene, teils minderwertige, teils
entartete Stämme, deren Äußerungen noch dazu unterschiedslos vermengt
werden.

Die primitive Kultur war aber etwas +Starkes+ und +Ganzes+,
etwas höchst Lebendiges und Wirkungsvolles; nur ist sie so verschieden
von allem, was wir Menschen einer hohen Kultur als seelische
Möglichkeiten besitzen, daß man daran zweifeln darf, ob selbst
jene Völker, mit denen das erste Zeitalter noch tief in das zweite
hineinreicht, in ihrer heutigen Art des Daseins und Wachseins Schlüsse
auf den Zustand der alten Zeit erlauben.

Das menschliche Wachsein steht seit Jahrtausenden unter dem Eindruck
der Tatsache, daß die beständige Fühlung der Stämme und Völker
untereinander etwas Selbstverständliches und Alltägliches ist. Wir
haben aber für das erste Zeitalter damit zu rechnen, daß der Mensch
in einer äußerst geringen Anzahl kleiner Scharen sich in den endlosen
Weiten der Landschaft, deren Bild durchaus von den gewaltigen Massen
großer Tierherden beherrscht wird, vollständig verliert. Die Seltenheit
der Funde beweist das mit Sicherheit. Zur Zeit des Homo Aurignacensis
schweiften auf dem Boden Frankreichs vielleicht ein Dutzend Horden von
einigen hundert Köpfen umher, für die es ein rätselhaftes Ereignis
von tiefstem Eindruck war, wenn sie einmal das Vorhandensein von
Mitmenschen bemerkten. Können wir uns überhaupt vorstellen, wie es sich
in einer fast menschenlosen Welt lebte? Wir, für die die gesamte Natur
längst zum Hintergrunde der massenhaften Menschheit geworden ist? Wie
mußte sich das Weltbewußtsein ändern, als man in der Landschaft außer
Wäldern und Tierherden immer häufiger Menschen „ganz wie wir selbst“
antraf! Die zweifellos wieder sehr plötzliche Zunahme der Zahl, welche
den „Mitmenschen“ zu einem beständigen, alltäglichen Erlebnis machte,
den Eindruck des Staunens durch die Gefühle der Freude oder Feindschaft
ersetzte und damit von selbst eine ganz neue Welt von Erfahrungen
und von unwillkürlichen und unvermeidlichen Beziehungen heraufrief,
ist für die Geschichte der Menschenseele vielleicht das tiefste und
folgenreichste Ereignis gewesen. Erst an fremden Lebensformen wurde
man sich nun der eignen bewußt, und zugleich trat zu der Gliederung
innerhalb der Sippe der ganze Reichtum äußerer Beziehungsformen der
Sippen untereinander, der von nun an das primitive Leben und Denken
vollständig beherrscht. Bedenken wir, daß damals aus sehr einfachen
Arten sinnlicher Verständigung die Ansätze von Wortsprachen (und
damit des abstrakten Denkens) entstanden sind und unter diesen einige
sehr glückliche Konzeptionen, von deren Beschaffenheit wir uns keine
Vorstellung machen können, die wir aber als frühesten Ausgangspunkt der
späteren indogermanischen und semitischen Sprachgruppen annehmen dürfen.

Aus dieser primitiven Kultur einer durch Beziehungen von Stamm zu
Stamm überall zusammenhängenden Menschheit wächst nun plötzlich
um 3000 die ägyptische und babylonische Kultur auf, nachdem sich
vielleicht während eines weiteren Jahrtausends in beiden Landschaften
etwas vorbereitet hat, das sich in der ganzen Art und Absicht der
Entwicklung, der inneren Einheit sämtlicher Ausdrucksformen und der
Richtung alles Lebens auf ein Ziel vollkommen von jeder primitiven
Kultur unterscheidet. Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß sich damals
an der Erdoberfläche überhaupt oder zum mindesten im inneren Wesen des
Menschen eine Veränderung vollzogen hat. Was später noch als primitive
Kultur von Rang überall zwischen den hohen Kulturen besteht und erst
nach und nach vor ihnen verschwindet, wäre dann etwas anderes als die
Kultur des ersten Zeitalters. Was ich aber als Vorkultur bezeichne und
was man am Anfang jeder hohen Kultur in einem durchaus gleichförmigen
Verlauf nachweisen kann, ist jeder Art von primitiver Kultur gegenüber
etwas andersartiges und vollständig neues.

In allem primitiven Dasein ist das „es“, das Kosmische, mit so
unmittelbarer Gewalt am Werke, daß alle mikrokosmischen Äußerungen
in Mythus, Sitte, Technik und Ornament nur dem ganz augenblicklichen
Drange gehorchen. Es gibt keine für uns erkennbare Regeln für die
Dauer, das Tempo, den Gang der Entwicklung dieser Äußerungen. Wir
sehen etwa eine ornamentale Formensprache, die man nicht Stil nennen
sollte, die Bevölkerung weiter Gebiete beherrschen, sich verbreiten,
sich verändern und endlich erlöschen. Daneben und vielleicht mit
ganz anderem Verbreitungsgebiet zeigen Art und Gebrauch der Waffen,
Gliederung der Sippen, religiöse Gebräuche je eine eigne Entwicklung
mit selbständigen Epochen und mit Anfang und Ausgang, der durch kein
anderes Formgebiet mitbestimmt wird. Wenn wir in einer prähistorischen
Schicht eine uns genau bekannte Art von Keramik festgestellt haben,
so läßt das auf die Sitte und Religion der zugehörigen Bevölkerung
keine Schlüsse zu. Und wenn einmal zufällig eine gewisse Form der Ehe
und etwa eine Art der Tätowierung ein ähnliches Verbreitungsgebiet
besitzen, so liegt dem nie eine Idee zugrunde, wie sie die
Erfindung des Schießpulvers und der Malperspektive verbindet. Es
finden sich keine notwendigen Beziehungen zwischen Ornament und
Altersklassenorganisation, oder zwischen dem Kult einer Gottheit und
der Art des Ackerbaus. Was sich hier entwickelt, sind immer wieder
einzelne Seiten und Züge der primitiven Kultur, nicht diese selbst. Das
ist es, was ich als chaotisch bezeichnet habe: die primitive Kultur ist
weder ein Organismus noch eine Summe von Organismen.

Mit dem Typus der hohen Kultur tritt an die Stelle jenes „es“ eine
starke und einheitliche +Tendenz+. Innerhalb der primitiven Kultur
sind außer den einzelnen Menschen nur die Stämme und Sippen beseelte
Wesen. +Hier aber ist es die Kultur selbst.+ Alles Primitive
ist eine Summe und zwar von Ausdrucksformen primitiver Verbände.
Hohe Kultur ist das Wachsein eines einzigen ungeheuren Organismus,
der nicht nur Sitte, Mythus, Technik und Kunst, sondern auch die
ihm einverleibten Völker und Stände zu Trägern einer einheitlichen
Formensprache mit einheitlicher Geschichte macht. Die älteste
Sprachgeschichte gehört zur primitiven Kultur und hat ihre eignen
regellosen Schicksale, die man aus denen des Ornaments oder etwa der
Geschichte der Ehe nicht ableiten kann. Die Geschichte der Schrift
aber gehört zur Ausdrucksgeschichte der einzelnen hohen Kulturen. Je
eine besondere Schrift hat sich schon in der Vorzeit der ägyptischen,
chinesischen, babylonischen und mexikanischen Kultur ausgebildet.
Daß das in der indischen und antiken nicht geschah, daß man die
hochentwickelten Schriften alter Nachbarzivilisationen erst sehr spät
übernahm, während in der arabischen Kultur jede neue Religion und
Sekte alsbald eine eigne Schrift ausbildete, das steht im tiefsten
Zusammenhang mit der gesamten Formengeschichte dieser Kulturen und
deren innerer Bedeutung.

Auf diese beiden Zeitalter beschränkt sich unser wirkliches Wissen
vom Menschen und das reicht nicht aus, um irgendwelche Schlüsse auf
mögliche oder gewisse neue Zeitalter oder gar deren Wann und Wie
zu ziehen, ganz abgesehen davon, daß die kosmischen Zusammenhänge,
welche das Schicksal der Gattung Mensch beherrschen, unsrer Berechnung
vollständig entzogen sind.

Meine Art zu denken und zu beobachten beschränkt sich auf die
Physiognomik des Wirklichen. Wo die Erfahrung des Menschenkenners
seiner Mitwelt, die Lebenserfahrung eines Tatgewohnten den Tatsachen
gegenüber aufhört, da findet auch dieser Blick seine Grenze.
Das Vorhandensein jener zwei Zeitalter ist +eine Tatsache der
historischen Erfahrung+ und weiterhin besteht unsre Erfahrung
von der primitiven Kultur darin, daß wir hier etwas Abgeschlossenes
in seinen Resten übersehen können, dessen tiefere Bedeutung von uns
aus einer innern Verwandtschaft heraus noch eben erfühlt werden
kann. Das zweite Zeitalter aber erlaubt uns noch eine Erfahrung von
ganz andrer Art. Daß innerhalb der Menschengeschichte plötzlich der
Typus der hohen Kultur erscheint, ist ein Zufall, dessen Sinn nicht
nachzuprüfen ist. Es ist auch ungewiß, ob nicht ein plötzliches
Ereignis im Dasein der Erde eine ganz andre Form zum Vorschein bringt.
Aber die Tatsache, daß acht solcher Kulturen vor uns liegen, alle
von gleichem Bau, gleichartiger Entwicklung und Dauer, gestattet uns
+eine vergleichende Betrachtung+ und damit ein Wissen, das sich
über verschollene Epochen rückwärts und über bevorstehende vorwärts
erstreckt, immer unter der Voraussetzung, daß nicht ein Schicksal
anderer Ordnung diese Formenwelt überhaupt plötzlich durch eine neue
ersetzt. Ein Recht dazu gibt uns die allgemeine +Erfahrung+ vom
organischen Dasein. Wir können in der Geschichte der Raubvögel oder
der Nadelhölzer nicht voraussehen, ob und wann eine neue Art, und
ebensowenig in der Kulturgeschichte, ob und wann in Zukunft eine neue
Kultur entsteht. Aber von dem Augenblick an, wo ein neues Wesen im
Mutterleib empfangen oder ein Samenkorn in die Erde versenkt ist,
kennen wir +die innere Form des neuen Lebenslaufes+, die durch
alle andringenden Gewalten nur in der Ruhe ihrer Entfaltung und
Vollendung gestört, nicht aber in ihrem Wesen geändert werden kann.

Diese +Erfahrung+ lehrt weiterhin, daß die Zivilisation, welche
heute die ganze Erdoberfläche ergriffen hat, nicht ein drittes
Zeitalter ist, sondern ein notwendiges Stadium ausschließlich der
abendländischen Kultur, das sich von dem jeder andern nur durch die
Gewalt der Ausdehnung unterscheidet. Hier ist die Erfahrung zu Ende.
Darüber zu grübeln, in was für neuen Formen der künftige Mensch sein
Dasein führen wird, +ob überhaupt+ andre kommen werden, oder gar
auf dem Papier majestätische Umrisse mit einem „So soll es, so wird
es sein“ zu entwerfen, ist eine Spielerei, die mir zu unbedeutend
erscheint, um die Kräfte eines irgendwie wertvollen Lebens daran zu
wenden.

Die Gruppe der hohen Kulturen ist keine organische Einheit. Daß sie
in dieser Zahl, an diesen Orten und zu dieser Zeit entstanden, ist
für das menschliche Auge ein Zufall ohne tieferen Sinn. Dagegen tritt
die Gliederung der einzelnen mit solcher Deutlichkeit hervor, daß die
chinesische, arabische und abendländische Geschichtsschreibung und oft
schon das übereinstimmende Gefühl der Gebildeten eine Reihe von Namen
geprägt hat, die sich gar nicht verbessern lassen.[9]

Das historische Denken hat also die doppelte Aufgabe, eine
vergleichende Betrachtung +der einzelnen Lebensläufe+ vorzunehmen,
eine Aufgabe, die klar gefordert, aber bis jetzt nicht beachtet worden
ist, und die andre, die zufälligen und regellosen +Beziehungen der
Kulturen untereinander+ auf ihren Sinn zu prüfen. Das ist bis jetzt
in der bequemen und oberflächlichen Weise geschehen, daß man das ganze
Gewirr mit kausaler Erklärung in den „Gang“ einer Weltgeschichte
brachte. Damit wird aber die sehr schwierige und aufschlußreiche
Psychologie dieser Beziehungen ebenso unmöglich wie die des Innenlebens
der Kulturen selbst. Diese zweite Aufgabe setzt vielmehr die erste
als gelöst voraus. Die Beziehungen sind sehr verschieden, zunächst
schon nach dem räumlichen und zeitlichen Abstand. In den Kreuzzügen
steht eine Frühzeit einer alten und reifen Zivilisation gegenüber,
in der kretisch-mykenischen Welt des ägäischen Meeres eine Vorkultur
einer blühenden Spätzeit. Eine Zivilisation kann aus unendlicher Ferne
herüberstrahlen wie die indische von Osten in die arabische Welt, oder
sich erstickend und greisenhaft über eine Jugend lagern, wie die Antike
von Westen her. Aber auch nach Art und Stärke: die abendländische
Kultur sucht Beziehungen auf, die ägyptische weicht ihnen aus; jene
erliegt ihnen immer wieder in tragischen Erschütterungen, die Antike
nützt sie aus, ohne zu leiden. Das alles hat aber seine Bedingungen
wieder im Seelischen der Kultur selbst und lehrt diese Seele zuweilen
besser kennen als ihre eigne Sprache, die oft mehr verbirgt als
mitteilt.


10

Ein Blick über die Gruppe der Kulturen erschließt Aufgaben über
Aufgaben. Das 19. Jahrhundert, dessen Geschichtsforschung von der
Naturwissenschaft, dessen Geschichtsdenken von den Ideen des Barock
geleitet wurde, hat uns nur auf einen Gipfel geführt, von dem wir die
neue Welt zu unsern Füßen sehen. Werden wir je von ihr Besitz ergreifen?

Die ungeheure Schwierigkeit, der eine gleichmäßige Behandlung jener
großen Lebensläufe heute noch begegnet, besteht darin, daß es an
ernsthaften Bearbeitungen der fernliegenden Gebiete durchaus fehlt.
Es zeigt sich wieder der herrische Blick des Westeuropäers, der nur
erfassen will, was von irgend einem Altertum her über ein Mittelalter
sich ihm nähert, und alles, was seine eignen Wege geht, mit halbem
Ernst behandelt. In der chinesischen und indischen Welt sind soeben
einige Gebiete: Kunst, Religion und Philosophie, in Angriff genommen
worden. Die politische Geschichte wird, wenn überhaupt, im Plauderstil
vorgetragen. Niemand denkt daran, die großen staatsrechtlichen Probleme
der chinesischen Geschichte, das Hohenstaufenschicksal des Li-Wang
(842), den ersten Fürstenkongreß von 659, den Kampf zwischen den
Prinzipien des von dem „Römerstaate“ Tsin vertretenen Imperialismus
(Lienheng) und der Völkerbundidee (Hohtsung) zwischen 500 und 300,
den Aufstieg des chinesischen Augustus Hoang-ti (221) mit derselben
Gründlichkeit zu behandeln, wie es Mommsen mit dem Prinzipat des
Augustus getan hat. Die Staatengeschichte Indiens mag noch so gründlich
von den Indern vergessen sein, aus der Zeit Buddhas liegt trotzdem mehr
Material vor als aus der antiken Geschichte im 9. und 8. Jahrhundert,
aber wir tun noch heute, als hätte „der“ Inder ganz in seiner
Philosophie gelebt wie die Athener, welche nach der Ansicht unsrer
Klassizisten ihr Leben, an den Ufern des Ilissos philosophierend,
in Schönheit verbrachten. Aber auch über die ägyptische Politik ist
kaum nachgedacht worden. Hinter dem Namen der Hyksoszeit haben die
späten ägyptischen Historiker dieselbe Krisis verborgen, welche die
chinesischen als „Zeit der kämpfenden Staaten“ behandeln. Das hat noch
niemand untersucht. Und in der arabischen Welt reicht das Interesse
genau so weit wie das antike Sprachgebiet. Was ist nicht über die
Staatsschöpfung Diokletians geschrieben worden! Und was für ein
Material hat man etwa über die ganz gleichgültige Verwaltungsgeschichte
der kleinasiatischen Provinzen zusammengetragen -- weil es griechisch
geschrieben war! Aber das Vorbild Diokletians in jeder Beziehung, der
Sassanidenstaat, fällt nur insoweit in den Kreis der Betrachtung,
als er gerade Krieg mit Rom führte. Wie steht es aber mit dessen
+eigener+ Verwaltungs- und Rechtsgeschichte? Was ist über Recht
und Wirtschaft in Ägypten, Indien und China gesammelt worden, das sich
neben den Arbeiten über antikes Recht halten könnte?[10]

Um 3000[11] setzen nach einer langen „Merowingerzeit“, die in
Ägypten noch deutlich übersehbar ist, die beiden ältesten Kulturen
in äußerst kleinen Gebieten am untern Nil und Euphrat ein. Früh- und
Spätzeit sind hier längst durch die Namen Altes und Mittleres Reich,
Sumer und Akkad unterschieden worden. Der Ausgang der ägyptischen
Feudalzeit zeigt mit seiner Entstehung eines Erbadels und dem dadurch
bedingten Verfall des frühen Königtums seit der sechsten Dynastie
eine so erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Verlauf der Dinge in der
chinesischen Frühzeit seit I-Wang (934-909) und der abendländischen
seit Kaiser Heinrich IV., daß eine vergleichende Untersuchung einmal
gewagt werden sollte. Am Anfang des babylonischen „Barock“ erscheint
der große Sargon (2500), der bis ans Mittelmeer vordringt, Cypern
erobert und sich im Geschmack Justinians I. und Karls V. den „Herrn
der vier Weltteile“ nennt. Am Nil um 1800, in „Akkad und Sumer“ etwas
früher, beginnen nun auch die ersten Zivilisationen, von denen die
asiatische eine gewaltige Expansionskraft zeigt. Die „Errungenschaften
der babylonischen Zivilisation“, vieles, was mit Messen, Zählen,
Rechnen zusammenhängt, ist von da an vielleicht bis zur Nordsee und
zum Gelben Meer getragen worden. Manche babylonische Fabrikmarke an
einem Werkzeug mag da von germanischen Wilden als Zauberzeichen
verehrt und zum Ursprung eines „urgermanischen“ Ornaments geworden
sein. Aber indessen ging die babylonische Welt selbst aus einer Hand
in die andere. Kossäer, Assyrer, Chaldäer, Meder, Perser, Makedonier,
lauter kleine[12] Heerhaufen mit einem kräftigen Führer an der Spitze,
haben sich da in der Hauptstadt abgelöst, ohne daß die Bevölkerung
sich ernsthaft dagegen wehrte. Das ist das erste Beispiel einer
„römischen Kaiserzeit“. In Ägypten entwickelten sich die Dinge nicht
anders. Unter den Kossäern setzen die Prätorianer die Herrscher ein
und ab; die Assyrer haben wie die Soldatenkaiser seit Commodus die
alten staatsrechtlichen Formen aufrecht erhalten; der Perser Kyros
und der Ostgote Theodorich haben sich als Reichsverweser gefühlt,
Meder und Langobarden als Herrenvölker im fremden Lande. Aber das
sind staatsrechtliche, nicht tatsächliche Unterschiede. Die Legionen
des Afrikaners Septimius Severus wollten genau dasselbe wie Alarichs
Westgoten, und in der Schlacht bei Adrianopel waren „Römer“ und
„Barbaren“ kaum noch zu unterscheiden.

Seit 1500 entstehen drei neue Kulturen, zuerst die indische im oberen
Pendschab, um 1400 die chinesische am mittleren Hoangho, um 1100 die
antike am ägäischen Meere. Wenn die chinesischen Historiker von den
drei großen Dynastien -- Hsia, Schang, Dschou -- reden, so entspricht
das etwa der Meinung Napoleons, der sich als den Begründer der vierten
Dynastie nach den Merowingern, Karolingern und Capetingern bezeichnete.
In Wirklichkeit hat jedesmal die dritte den ganzen Verlauf der
Kultur miterlebt. Als 441 der Titularkaiser der Dschoudynastie zum
Staatspensionär des „östlichen Herzogs“ und als 1792 „Louis Capet“
hingerichtet wurde, ging jedesmal auch die Kultur zur Zivilisation
über. Aus der letzten Schangzeit haben sich einige hochaltertümliche
Bronzen erhalten, die zur späteren Kunst in demselben Verhältnis stehen
wie die mykenische zur frühantiken Keramik und die karolingische Kunst
zur romanischen. Die vedische, homerische und chinesische Frühzeit
zeigen mit ihren Pfalzen und Burgen, mit Rittertum und Feudalherrschaft
das ganze Bild der Gotik, und die „Zeit der großen Protektoren“
(Ming-dschu 685-591) entspricht durchaus der Zeit Cromwells,
Wallensteins, Richelieus und der älteren antiken Tyrannis.

480-230 setzen die chinesischen Historiker die „Zeit der kämpfenden
Staaten“ an, die zuletzt in eine hundertjährige ununterbrochene Folge
von Kriegen mit Massenheeren und furchtbaren sozialen Erschütterungen
auslief und aus welcher der Römerstaat Tsin als Begründer des
chinesischen Imperiums hervorging. Das erlebte Ägypten 1780-1580 (seit
1680 die „Hyksoszeit“), die Antike von Chäronea und in furchtbarster
Form von den Gracchen an bis Actium (133-31); es ist das Schicksal der
westeuropäisch-amerikanischen Welt im 19. und 20. Jahrhundert.

Der Schwerpunkt wird unterdessen, wie von Attika nach Latium, so vom
Hoangho (bei Ho-nan-fu) zum Jangtse (heute Provinz Hupei) verlegt. Der
Sikiang war den chinesischen Gelehrten damals so undeutlich wie den
alexandrinischen die Elbe, und von der Existenz Indiens hatten sie noch
keine Ahnung.

Wie auf der andern Seite der Weltkugel die Kaiser des
julisch-claudischen Hauses, so erscheint hier der gewaltige Wang
Dscheng, der in den Entscheidungskämpfen Tsin zur Alleinherrschaft
führt und 221 den Titel Augustus („Schi“ bedeutet genau dasselbe) und
den Cäsarennamen Hoang-ti annimmt. Er begründet den „chinesischen
Frieden“, führt in dem erschöpften Imperium seine große Sozialreform
durch und beginnt bereits, ganz römisch, den Bau des chinesischen
Limes, der berühmten Mauer, für die er 214 einen Teil der Mongolei
erobert. (Bei den Römern beginnt sich seit der Varusschlacht der
Begriff einer feststehenden Grenze gegen die Barbaren zu bilden; die
Befestigungen sind dann noch im 1. Jahrhundert angelegt worden.) Er
hat auch als der erste in großen Kriegszügen die barbarischen Stämme
südlich des Jangtse unterworfen und das Gebiet durch Militärstraßen,
Ansiedlungen und Kastelle gesichert. Ebenso römisch ist aber auch die
Familiengeschichte seines Hauses, das in neronischen Greueln rasch
zu Ende ging, in denen der Kanzler Lui-Schi, der erste Gatte der
Kaisermutter, und der große Staatsmann Li-Sze, der Agrippa seiner
Zeit und Begründer der chinesischen Einheitsschrift, eine Rolle
spielten. Es folgen die beiden Handynastien (die westliche 206 v.–23
n., die östliche 25-220), unter denen die Grenze sich immer weiter
ausdehnte, während in der Hauptstadt Eunuchenminister, Generale und
Soldaten die Herrscher ihrer Wahl ein- und absetzen. Es sind seltsame
Augenblicke, als unter den Kaisern Wu-ti (140-86) und Ming-ti (58-76)
die chinesisch-konfucianische, die indisch-buddhistische und die
antik-stoische Weltmacht sich dem kaspischen Meer so weit genähert
hatten, daß eine Berührung leicht hätte eintreten können.[13]

Der Zufall hat es gefügt, daß die schweren Angriffe der Hunnen
sich damals an dem chinesischen Limes brachen, der gerade jedesmal
durch einen kräftigen Kaiser verteidigt wurde. Die entscheidende
Niederlage der Hunnen erfolgte 124-119 durch den chinesischen Trajan
Wu-ti, der auch Südchina endgültig einverleibte, um einen Weg nach
Indien zu bekommen, und der eine ungeheure, festungsartig gesicherte
Militärstraße nach dem Tarim baute. Sie wandten sich endlich nach dem
Westen und erschienen später, mit einem Schwarm germanischer Stämme
vor sich her, vor dem römischen Grenzwall. Hier gelang es ihnen.
Das römische Imperium ging zugrunde und die Folge war, daß nur das
chinesische und indische Imperium noch heute bestehen als bevorzugte
Objekte immer wechselnder Gewalten. Heute sind es die „rothaarigen
Barbaren“ des Westens, die in den Augen der hochzivilisierten Bramanen
und Mandarinen keine andere und bessere Rolle spielen als die Moguln
und Mandschu, und die ebenfalls ihre Nachfolger finden werden. Auf dem
Kolonisationsgebiet des zerstörten römischen Imperiums bereitete sich
dagegen im Nordwesten die Vorkultur des Abendlandes vor, während sich
im Osten bereits die arabische Frühzeit entwickelt hatte.

Diese arabische Kultur ist eine Entdeckung.[14] Ihre Einheit ist von
späten Arabern geahnt worden, den abendländischen Geschichtsforschern
aber so völlig entgangen, daß nicht einmal eine gute Bezeichnung
für sie aufzufinden ist. Der herrschenden Sprache nach könnte man
Vorkultur und Frühzeit aramäisch, die Spätzeit arabisch nennen.
Einen wirklichen Namen gibt es nicht. Die Kulturen lagen hier dicht
beieinander und deshalb haben sich die ausgedehnten Zivilisationen
mehrfach übereinander geschichtet. Die arabische Vorzeit selbst, die
sich bei Persern und Juden verfolgen läßt, lag völlig im Bereiche der
alten babylonischen Welt, die Frühzeit aber von Westen her unter dem
mächtigen Bann der antiken, eben erst voll ausgereiften Zivilisation.
Ägyptische und indische Zivilisation reichen fühlbar herüber.
Arabischer Geist hat dann aber, meist in spätantiker Maske, seinen
Zauber auf die beginnende Kultur des Abendlandes ausgeübt, und die
arabische Zivilisation, die sich in der Seele des Volkes in Südspanien,
der Provence und Sizilien über die heute noch nicht ganz erstorbene
antike geschichtet hat, wurde das Vorbild, an dem gotischer Geist
sich erzog. -- Die zugehörige Landschaft ist merkwürdig ausgedehnt
und zerrissen. Man muß sich nach Palmyra oder Ktesiphon versetzen und
von da aus hineindenken: im Norden Osrhoëne; Edessa wurde das Florenz
der arabischen Frühzeit. Im Westen Syrien und Palästina, wo das neue
Testament und die jüdische Mischna entstanden, mit Alexandria als
ständigem Vorposten. Im Osten erlebte der Mazdaismus eine gewaltige
Erneuerung, welche der Geburt des Messias im Judentum entspricht
und von der wir aus den Trümmern der Awestaliteratur nur schließen
können, +daß+ sie stattgefunden haben muß. Hier sind auch der
Talmud und die Religion Manis entstanden. Tief im Süden, der künftigen
Heimat des Islam, hat sich eine Ritterzeit voll entfalten können wie
im Sassanidenreich. Noch heute liegen dort die Ruinen unerforschter
Burgen und Schlösser, von denen aus die Entscheidungskriege zwischen
dem christlichen Staat von Axum an der afrikanischen Küste und dem
jüdischen der Himjariten an der arabischen geleitet wurden, die man
von Rom und Persien aus diplomatisch schürte. Im äußersten Norden
liegt Byzanz mit seinem sonderbaren Gemisch spätzivilisierter antiker
und früher ritterlicher Formen, das sich vor allem in der Geschichte
des byzantinischen Heerwesens so verwirrend ausspricht. Der Islam
hat dieser Welt endlich und viel zu spät das Bewußtsein der Einheit
verliehen und darauf beruht das Selbstverständliche seines Sieges,
das ihm Christen, Juden und Perser fast willenlos zuführte. Aus dem
Islam hat sich dann die arabische Zivilisation entwickelt, die in ihrer
höchsten geistigen Vollendung stand, als vorübergehend die Barbaren
des Abendlandes hereinbrachen und nach Jerusalem zogen. Wie mag sich
dies Schauspiel in den Augen vornehmer Araber ausgenommen haben? Etwas
bolschewistisch vielleicht? Für die Politik der arabischen Welt waren
die Verhältnisse in „Frankistan“ etwas, auf das man herabsah. Noch als
während des dreißigjährigen Krieges, der von hier aus betrachtet „im
fernen Westen“ vor sich ging, der englische Gesandte in Konstantinopel
die Türkei gegen das Haus Habsburg aufzubringen versuchte, hat man dort
sicherlich in dem Bewußtsein gehandelt, daß diese kleinen Raubstaaten
am Horizont der arabischen Welt für die großen Verhältnisse der Politik
von Marokko bis nach Indien hin kaum in Betracht kämen. Eine Ahnung von
der Zukunft werden weite Kreise selbst bei der Landung Napoleons in
Ägypten noch nicht gehabt haben.

Inzwischen war in Mexiko eine neue Kultur entstanden. Sie liegt
so weit von allen andern entfernt, daß keine Kunde je hinüber und
herüber gedrungen ist. Um so erstaunlicher ist die Ähnlichkeit ihrer
Entwicklung mit der antiken. Das wird die Philologen mit Entsetzen
erfüllen, wenn sie vor diesen Teokallis an ihre dorischen Tempel
denken, und doch ist es gerade ein antiker Zug, der mangelnde Wille zur
Macht in der Technik, der die Art der Bewaffnung bestimmt und damit die
Katastrophe möglich gemacht hat.

Denn diese Kultur ist das einzige Beispiel für einen gewaltsamen Tod.
Sie verkümmerte nicht, sie wurde nicht unterdrückt oder gehemmt,
sondern in der vollen Pracht ihrer Entfaltung gemordet, zerstört wie
eine Sonnenblume, der ein Vorübergehender den Kopf abschlägt. Alle
diese Staaten, darunter eine Weltmacht und mehr als ein Staatenbund,
deren Größe und Mittel denen der griechisch-römischen Staaten zur Zeit
Hannibals weit überlegen waren, mit ihrer gesamten hohen Politik, mit
sorgfältig geordnetem Finanzwesen, hochentwickelter Gesetzgebung, mit
Verwaltungsgedanken und wirtschaftlichen Gewohnheiten, wie sie die
Minister Karls V. nie begriffen hätten, mit reichen Literaturen in
mehreren Sprachen, einer durchgeistigten und vornehmen Gesellschaft
in großen Städten, wie das Abendland damals keine einzige aufzuweisen
hatte -- das alles wurde nicht etwa durch einen verzweifelten Krieg
gebrochen, sondern durch eine Handvoll Banditen in wenigen Jahren
so vollständig vertilgt, daß die Reste der Bevölkerung bald nicht
einmal eine Erinnerung bewahrten. Von der Riesenstadt Tenochtitlan
blieb kein Stein über dem Boden, in den Urwäldern von Yukatan liegen
die Großstädte der Mayareiche dicht beieinander und fallen rasch der
Vegetation zum Opfer. Wir wissen von keiner einzigen, wie sie hieß. Von
der Literatur sind drei Bücher übrig geblieben, die niemand lesen kann.

Das Furchtbarste an diesem Schauspiel ist, daß es nicht einmal zu
den Notwendigkeiten der abendländischen Kultur gehörte. Es war eine
Privatsache von Abenteurern, und niemand in Deutschland, England
und Frankreich hat damals geahnt, was hier vor sich ging. Wenn
irgendwo auf Erden, so wurde hier gezeigt, +daß es keinen Sinn
in der Menschengeschichte+, daß es nur eine tiefe Bedeutung in
den Lebensläufen der einzelnen Kulturen gibt. Ihre Beziehungen
untereinander sind ohne Bedeutung und zufällig. Der Zufall war hier
so grauenhaft banal, so geradezu lächerlich, daß er in der elendesten
Posse nicht angebracht werden dürfte. Ein paar schlechte Kanonen und
einige hundert Steinschloßgewehre haben die Tragödie eingeleitet und zu
Ende geführt.

Eine gesicherte Kenntnis auch nur der allgemeinsten Geschichte dieser
Welt ist für alle Zeiten unmöglich. Ereignisse vom Range der Kreuzzüge
und der Reformation sind spurlos der Vergessenheit verfallen. Erst in
den letzten Jahrzehnten hat die Forschung wenigstens die Umrisse der
späteren Entwicklung festgestellt und mit Hilfe dieser Daten vermag
die vergleichende Morphologie das Bild durch das der andern Kulturen
zu erweitern und zu vertiefen.[15] Danach liegen die Epochen dieser
Kultur je etwa 200 Jahre später als die der arabischen und je etwa 700
Jahre vor denen der abendländischen. Eine Vorkultur, die wie in Ägypten
und China Schrift und Kalender entwickelt hat, war vorhanden, ist
aber für uns nicht mehr erkennbar. Die Zeitrechnung begann mit einem
Anfangsdatum, das weit vor Christi Geburt liegt, dessen Lage zu diesem
Datum aber mit Sicherheit nicht mehr festzustellen ist. Sie beweist
jedenfalls den außerordentlich stark entwickelten historischen Sinn des
mexikanischen Menschen.

Die Frühzeit der „hellenischen“ Majastaaten ist durch die datierten
Reliefpfeiler der alten Städte Copan[16] (im Süden), Tikal und etwas
später Chichen Itza (im Norden), Naranjo, Seibal bezeugt (etwa
160-450). Am Ausgang dieser Periode wird Chichen Itza mit seinen
Bauten für Jahrhunderte vorbildlich; daneben die prachtvolle Blüte von
Palenque und Piedras Negras (im Westen). Das würde der Spätgotik und
Renaissance entsprechen (450-600, abendländisch 1250-1400?). In der
Spätzeit (Barock) erscheint Champutun als Mittelpunkt der Stilbildung;
jetzt beginnt die Einwirkung auf die „italischen“ Nahuavölker auf der
Hochebene von Anahuac, die künstlerisch und geistig nur empfangend,
in ihren politischen Instinkten den Maya weit überlegen sind (etwa
600-960, antik 750-400, abendländisch 1400-1750?). Nun beginnt der
„Hellenismus“ der Maya. Um 960 wird Uxmal gegründet und bald eine
Weltstadt vom ersten Range wie die ebenfalls an der Schwelle der
Zivilisation gegründeten Weltstädte Alexandria und Bagdad; wir finden
daneben eine Reihe glänzender Großstädte wie Labna, Mayapan, Chacmultun
und wieder Chichen Itza. Sie bezeichnen den Höhepunkt einer großartigen
Architektur, die keinen neuen Stil mehr hervorbringt, aber die alten
Motive mit erlesenem Geschmack und in gewaltigen Maßen verwendet. Die
Politik wird durch die berühmte Liga von Mayapan (960-1195) beherrscht,
ein Bündnis von drei führenden Staaten, welche die Lage trotz großer
Kriege und wiederholter Revolutionen, wie es scheint, doch etwas
künstlich und gewaltsam aufrecht erhalten (antik 350-150, abendländisch
1800-2000).

Der Ausgang dieser Periode wird durch eine große Revolution bezeichnet
und im Zusammenhang damit greifen die „römischen“ Nahuamächte endgültig
in die Verhältnisse der Maya ein. Mit ihrer Hilfe hat Hunac Ceel
einen allgemeinen Umsturz herbeigeführt und Mayapan zerstört (um
1190, antik etwa 150). Was jetzt folgt, ist die typische Geschichte
einer ausgereiften Zivilisation, in welcher einzelne Völker um die
militärische Vormacht ringen. Die großen Mayastädte versinken in das
beschauliche Glück des römischen Athen und Alexandria. Inzwischen
entwickelt sich aber am äußersten Horizont des Nahuagebietes das
jüngste dieser Völker, die Azteken, urwüchsig, barbarisch und mit einem
unersättlichen Willen zur Macht. Sie gründen 1325 Tenochtitlan (antik
etwa Zeit des Augustus), das sich bald zur gebietenden Hauptstadt der
ganzen mexikanischen Welt erhebt. Um 1400 beginnt die militärische
Expansion im großen Stil; die eroberten Gebiete werden durch
Militärkolonien und ein Netz von Heerstraßen gesichert, die abhängigen
Staaten durch eine überlegene Diplomatie im Zaume und von einander
getrennt gehalten; das kaiserliche Tenochtitlan wuchs zu riesenhaftem
Umfange heran mit seiner internationalen Bevölkerung, unter der keine
Sprache des Weltreichs fehlte. Die Nahuaprovinzen waren politisch und
militärisch gesichert; man drang rasch nach Süden vor und schickte sich
an, die Hand auf die Mayastaaten zu legen; es ist nicht abzusehen,
welchen Gang die Dinge innerhalb der nächsten hundert Jahre genommen
haben würden, da kam das Ende.

Das Abendland befand sich damals etwa auf der Stufe, welche die Maya
um 700 schon überschritten hatten. Erst die Zeit Friedrichs des Großen
wäre reif gewesen, die Politik der Liga von Mayapan zu verstehen.
Was die Azteken um 1500 organisierten, liegt für uns noch in weiter
Zukunft. Was aber schon damals den faustischen Menschen von dem
jeder andern Kultur unterschied, war sein unstillbarer Drang in die
Ferne, der letzten Endes auch die Vernichtung der mexikanischen und
peruanischen Kultur veranlaßt hat. Dieser Drang ist ohne Beispiel
und meldet sich auf allen Gebieten. Gewiß, der ionische Stil ist
in Karthago und Persepolis nachgeahmt worden, der hellenistische
Geschmack hat in der indischen Gandarakunst Bewunderer gefunden;
wieviel Chinesisches in die urgermanische Holzbaukunst des hohen
Nordens gedrungen ist, wird vielleicht eine künftige Forschung
aufdecken. Der Moscheenstil herrschte von Hinterindien bis in das
nördliche Rußland und das westliche Afrika und Spanien. Aber alles das
verschwindet gegen die Expansionskraft der abendländischen Stile. Es
ist selbstverständlich, daß die Stilgeschichte selbst sich nur auf
ihrem Mutterboden vollendet, aber ihre Resultate erkennen keine Grenze
an. Auf dem Platz, wo Tenochtitlan gestanden hatte, errichteten die
Spanier eine Kathedrale im Barockstil mit Meisterwerken der spanischen
Malerei und Plastik; die Portugiesen haben bereits in Vorderindien,
italienische und französische Baumeister des späten Barock tief in
Polen und Rußland gearbeitet. Das englische Rokoko und vor allem Empire
hat eine weite Provinz in den Pflanzerstaaten Nordamerikas, deren
wundervolle Zimmer und Möbel in Deutschland viel zu wenig bekannt sind.
Der Klassizismus wirkte bereits in Kanada und am Kap; seitdem gibt es
keine Schranke mehr. Und auch auf jedem andern Formgebiet bestand die
Beziehung dieser jungen zu den alten noch bestehenden Zivilisationen
darin, daß sie sie sämtlich durch eine immer dichtere Schicht
westeuropäisch-amerikanischer Lebensformen überdeckte, unter denen die
alte eigne Form langsam dahinschwindet.


11

Vor diesem Bilde der Menschenwelt, welches bestimmt ist, das heute
noch in den besten Köpfen befestigte von Altertum, Mittelalter und
Neuzeit abzulösen, wird auch eine neue und, wie ich glaube, für unsere
Zivilisation endgültige Antwort auf die alte Frage möglich: Was ist
Geschichte?

Ranke (im Vorwort zu seiner Weltgeschichte) sagt: „Die Geschichte
beginnt erst, wo die Monumente verständlich werden und glaubwürdige
schriftliche Aufzeichnungen vorliegen.“ Das ist die Antwort eines
Sammlers und Ordners von Daten. Ohne Zweifel ist hier das, was
geschehen ist, mit dem verwechselt, was innerhalb des Blickfeldes der
jeweiligen Geschichtsforschung geschehen ist. Daß Mardonios bei Platää
geschlagen wurde -- hat das aufgehört Geschichte zu sein, wenn 2000
Jahre später ein Gelehrter davon nichts mehr weiß? Ist das Leben nur
dann eine Tatsache, wenn in Büchern davon geredet wird?

Der bedeutendste Historiker seit Ranke, Ed. Meyer,[17] sagt:
„Historisch ist, was wirksam ist oder gewesen ist ... Erst durch
die historische Betrachtung wird der Einzelvorgang, den sie aus
der unendlichen Masse gleichzeitiger Vorgänge heraushebt, zu einem
historischen Ereignis.“ Das ist ganz im Geschmack und Geiste
Hegels gesagt. Es kommt erstens auf die Tatsachen an und nicht auf
unser zufälliges Wissen davon. Gerade das neue Bild der Geschichte
zwingt uns, Tatsachen ersten Ranges in großen Folgen als vorhanden
anzunehmen, von denen wir im Gelehrtensinne nie etwas wissen werden.
Wir müssen lernen, im weitesten Umfange mit dem Unbekannten zu
rechnen. Und zweitens: Wahrheiten gibt es für den Geist; Tatsachen
gibt es nur in bezug auf das Leben. Historische Betrachtung, in meiner
Ausdrucksweise +physiognomischer Takt+: das ist die Entscheidung
des +Blutes+, die auf Vergangenheit und Zukunft erweiterte
Menschenkenntnis, der angeborne Blick für Personen und Lagen, für das,
was Ereignis, was notwendig war, was dagewesen sein +muß+, und
+nicht+ die bloße wissenschaftliche Kritik und Kenntnis von Daten.
Die wissenschaftliche Erfahrung kommt bei jedem echten Historiker
nebenher oder nachher. Sie beweist mit den Mitteln des Verstehens und
Mitteilens umständlich noch einmal und zwar für das Wachsein, was in
+einem+ Augenblick der Erleuchtung für das Dasein schon bewiesen
war.

Gerade weil die Gewalt des faustischen Daseins heute einen Umkreis
innerer Erfahrungen herausgebildet hat, wie sie nie ein anderer Mensch
und nie eine andere Zeit erwerben konnten, gerade weil für uns in
immer wachsendem Maße fernste Ereignisse einen Sinn und eine Beziehung
erhalten, der für alle andern und auch die nächsten Miterlebenden nicht
vorhanden sein +konnte+, ist heute für uns vieles Geschichte,
nämlich Leben im Einklang mit unserm Leben geworden, was es noch vor
hundert Jahren nicht war. Für Tacitus hat die Revolution des Ti.
Gracchus, deren Daten er vielleicht „wußte“, keine wirkliche Bedeutung
mehr, wohl aber für uns. Für keinen Bekenner des Islam bedeutet
die Geschichte der Monophysiten und ihre Beziehungen zur Umgebung
Mohameds irgend etwas; +wir+ lernen da die Entwicklung des
englischen Puritanismus unter andern Bedingungen noch einmal kennen.
Für den Weltblick einer Zivilisation, deren Schauplatz die ganze Erde
geworden ist, gibt es zuletzt nichts ganz Unhistorisches mehr. Das
Schema Altertum -- Mittelalter -- Neuzeit, wie es das 19. Jahrhundert
verstand, enthielt nur eine Auswahl +handgreiflicher+ Beziehungen.
Aber die heute beginnende Wirkung frühchinesischer und mexikanischer
Geschichte auf uns ist von feinerer, geistigerer Art: wir machen da
Erfahrungen von den letzten Notwendigkeiten des Lebens überhaupt. Wir
lernen dort an einem andern Lebensverlauf uns selbst kennen, wie wir
sind, wie wir sein müssen und sein werden; das ist die große Schule
unserer Zukunft. Wir, die wir noch Geschichte haben und Geschichte
machen, erfahren hier an der äußersten Grenze der historischen
Menschheit, was Geschichte +ist+.

Wenn unter zwei Negerstämmen des Sudan oder den Cheruskern und
Chatten zur Zeit Cäsars oder, was wesentlich dasselbe ist, unter zwei
Ameisenvölkern eine Schlacht stattfindet, so ist das lediglich ein
Schauspiel der lebendigen Natur. Wenn die Cherusker aber im Jahre
9 die Römer schlagen, oder die Azteken die Tlaskalaner, so ist das
+Geschichte+. Hier ist das Wann von Bedeutung; hier wiegt jedes
Jahrzehnt, selbst jedes Jahr. Es handelt sich um das Fortschreiten
eines großen Lebenslaufs, in dem jede Entscheidung den Rang einer
Epoche einnimmt. Es ist ein Ziel da, auf das alles Geschehen zutreibt,
ein Dasein, das seine Bestimmung erfüllen will, ein Tempo, eine
organische Dauer und nicht das regellose Auf und Ab der Skythen,
Gallier, Karaiben, dessen Vorfälle im einzelnen ebenso belanglos sind
wie die in einer Biberkolonie oder einer Steppe voller Gazellenherden.
Dies ist +zoologisches Geschehen+ und gehört in eine Einstellung
von ganz andrer Art: es kommt da nicht auf das Schicksal von einzelnen
Völkern und Herden an, sondern das Schicksal +des+ Menschen und
das +der+ Gazelle oder Ameise +als Art+. Der primitive Mensch
hat Geschichte nur im biologischen Sinne. Auf ihre Ermittlung läuft
alle prähistorische Forschung hinaus. Die zunehmende Vertrautheit mit
Feuer, Steinwerkzeugen, Metallen und den mechanischen Gesetzen der
Waffenwirkung kennzeichnet nur die Entwicklung des Typus und der in ihm
ruhenden Möglichkeiten. Was mit diesen Waffen bei einem Kampf zwischen
zwei Stämmen erzielt wird, ist im Rahmen dieser Art von Geschichte
völlig gleichgültig. Steinzeit und Barock: das sind Altersstufen
im Dasein einer Gattung und einer Kultur, also zweier Organismen,
die im Bereich zweier grundverschiedener Einstellungen liegen. Ich
protestiere hier gegen zwei Annahmen, die alles historische Denken bis
jetzt verdorben haben: gegen die Annahme eines Endziels der gesamten
Menschheit und gegen die Leugnung von Endzielen überhaupt. Das Leben
+hat+ ein Ziel. Es ist die Erfüllung dessen, was mit seiner
Zeugung gesetzt war. Aber der einzelne Mensch gehört durch seine Geburt
entweder einer der hohen Kulturen an oder nur dem menschlichen Typus
überhaupt. Eine dritte große Lebenseinheit gibt es für ihn nicht. Aber
damit liegt sein Schicksal entweder im Rahmen der zoologischen oder der
„Weltgeschichte“. Der „historische Mensch“, wie ich das Wort verstehe
und wie es alle großen Historiker immer gemeint haben, ist der Mensch
einer in Vollendung begriffenen Kultur. Vorher, nachher und außerhalb
ist er +geschichtslos+. Dann sind die Schicksale des Volkes, zu
dem er gehört, ebenso gleichgültig wie das Schicksal der Erde, wenn man
es nicht im Bilde der Geologie, sondern der Astronomie betrachtet.

Und daraus folgt eine ganz entscheidende und hier zum erstenmal
festgestellte Tatsache: daß der Mensch nicht nur vor dem Entstehen
einer Kultur geschichtslos ist, sondern +wieder geschichtslos
wird+, sobald eine Zivilisation sich zu ihrer vollen und endgültigen
Gestalt herausgebildet und damit die lebendige Entwicklung der Kultur
beendet, die letzten Möglichkeiten eines sinnvollen Daseins erschöpft
hat. Was wir in der ägyptischen Zivilisation seit Sethos I. (1300)
und in der chinesischen, indischen und arabischen noch heute vor uns
sehen, ist wieder das zoologische Auf und Ab des primitiven Zeitalters,
mag es sieh auch in noch so durchgeistigte religiöse, philosophische
und vor allem politische Formen hüllen. Ob in Babylon die Kossäer als
wüste Soldatenhorde oder die Perser als feine Erben sitzen; wann, wie
lange und mit welchem Erfolg sie das tun, ist von Babylon aus gesehen
ohne Bedeutung. Für das Behagen der Bevölkerung war es gewiß nicht
gleichgültig, aber an der Tatsache, daß die Seele dieser Welt erloschen
war und deshalb alle Ereignisse einer tieferen Bedeutung entbehrten,
änderte sich damit nichts. Eine neue, fremde oder einheimische
Dynastie in Ägypten, eine Revolution oder Eroberung in China, ein
neues Germanenvolk im römischen Reiche, das gehört zur Geschichte der
Landschaft wie eine Änderung im Wildbestand oder der Ortswechsel
eines Vogelschwarmes. Was in der wirklichen Geschichte höherer
Menschen immer auf dem Spiel stand und allen tierhaften Machtfragen
zugrunde lag, auch wenn der Treibende oder Getriebene sich nicht im
geringsten der Symbolik seiner Taten, Absichten und Geschicke bewußt
wurde, das war die Verwirklichung von etwas durchaus Seelenhaftem,
die Ueberführung einer Idee in eine lebendig historische Gestalt. Das
gilt ebenso von dem Ringen zwischen großen Stilrichtungen in der Kunst
-- Gotik und Renaissance -- oder zwischen Philosophien -- Stoiker und
Epikuräer -- oder Staatsgedanken -- Oligarchie und Tyrannis -- oder
Wirtschaftsformen -- Kapitalismus und Sozialismus.

Von alledem ist nicht mehr die Rede. Was übrig bleibt, ist der Kampf um
die bloße Macht, um den animalischen Vorteil an sich. Und wenn vorher
selbst die scheinbar ideenloseste Macht noch in irgend einer Weise der
Idee dient, so ist in späten Zivilisationen selbst der überzeugendste
Schein einer Idee nur die Maske für rein zoologische Machtfragen.

Was die indische Philosophie vor und nach Buddha unterscheidet, ist
dort die große Bewegung auf ein mit der indischen Seele und in ihr
gesetztes Ziel des indischen Denkens, und hier das immer neue Hin-
und Herwenden eines Denkbestandes, der dadurch nicht anders wird.
Die Lösungen sind da, aber man ändert den Geschmack in der Art,
sie auszusprechen. Und dasselbe gilt von der chinesischen Malerei
vor und nach dem Beginn der Handynastie -- mögen wir sie kennen
oder nicht -- und von der ägyptischen Architektur vor und nach dem
Beginn des Neuen Reiches. In der Technik steht es nicht anders.
Die abendländischen Erfindungen der Dampfmaschine und Elektrizität
kommen unter den Chinesen heute in ganz derselben Weise -- und mit
derselben religiösen Scheu -- in Aufnahme wie vor viertausend Jahren
die Bronze und der Pflug und noch viel früher das Feuer. Beides
unterscheidet sich seelisch vollständig von den Erfindungen, welche
die Chinesen der Dschouzeit selbst gemacht haben und die für ihre
innere Geschichte jedesmal eine Epoche bedeuteten.[18] Vorher und
nachher spielen Jahrhunderte nicht entfernt mehr die Rolle wie die
Jahrzehnte und oft einzelnen Jahre innerhalb der Kultur, +denn die
Zeiträume der Biologie kommen allmählich wieder zur Geltung+.
Das gibt diesen sehr späten Zuständen, welche für ihre Träger etwas
ganz Selbstverständliches haben, den Charakter jener feierlichen
Dauer, den echte Kulturmenschen wie Herodot in Ägypten und seit
Marko Polo die Westeuropäer in China im Vergleich mit dem Tempo der
eigenen Entwicklung staunend wahrgenommen haben. Es ist die Dauer der
Geschichtslosigkeit.

Ist nicht mit Aktium und der _pax Romana_ die antike Geschichte
zu Ende? Große Entscheidungen, in denen sich der innere Sinn einer
ganzen Kultur zusammendrängt, kommen nicht mehr vor. Der Unsinn, die
Zoologie beginnt zu herrschen. Es wird gleichgültig -- für die Welt,
nicht für die handelnden Privatpersonen --, ob ein Ereignis so oder
so ausgeht. Alle großen Fragen der Politik sind gelöst, wie sie in
allen Zivilisationen zuletzt gelöst werden: indem man Fragen nicht
mehr als solche empfindet; indem man nicht mehr fragt. Es dauert nicht
lange und man versteht auch nicht mehr, was bei früheren Katastrophen
an Problemen eigentlich zugrunde lag. Was man nicht an sich selbst
erlebt, erlebt man auch nicht an andern. Wenn die späten Ägypter von
der Hyksoszeit, die späten Chinesen von der entsprechenden „Zeit der
kämpfenden Staaten“ reden, so beurteilen sie das äußere Bild nach ihrer
Art zu leben, die keine Rätsel mehr kennt. Sie sehen da bloße Kämpfe
um die Macht; sie sehen nicht, daß diese verzweifelten äußeren und
inneren Kriege, in denen man die Fremden gegen die eigenen Mitbürger
aufrief, um eine Idee geführt wurden. Wir verstehen heute, was um die
Ermordung des Ti. Gracchus und des Clodius in furchtbaren Spannungen
und Entladungen vor sich ging. 1700 konnten wir es noch nicht und 2200
werden wir es nicht mehr verstehen. Genau so steht es mit jenem Chian,
einer napoleonischen Erscheinung, für welche die ägyptischen Historiker
später nur noch die Bezeichnung „Hyksoskönig“ ausfindig machten. Wären
die Germanen nicht gekommen, so hätte die römische Geschichtsschreibung
ein Jahrtausend später vielleicht aus Gracchus, Marius, Sulla und
Cicero eine Dynastie gemacht, die von Cäsar gestürzt wurde.

Man vergleiche den Tod des Ti. Gracchus mit dem Neros, als die
Nachricht von der Erhebung Galbas nach Rom kam, oder den Sieg Sullas
über die Marianer mit dem des Septimius Severus über Pescennius Niger.
Hätte das entgegengesetzte Ergebnis im zweiten Falle am Gange der
Kaiserzeit irgend etwas geändert? Es geht bereits viel zu weit, wenn
Mommsen und Ed. Meyer[19] einen sorgfältigen Unterschied zwischen der
„Monarchie“ Cäsars und dem „Prinzipat“ des Pompejus oder Augustus
machen. Das sind jetzt leere staatsrechtliche Formeln; fünfzig Jahre
vorher wäre es noch der Gegensatz zweier Ideen gewesen. Wenn Vindex und
Galba 68 „die Republik“ wiederherstellen wollten, so spielten sie mit
einem Begriff in einer Zeit, für die es Begriffe von echter Symbolik
nicht mehr gab. Es stand nur noch in Frage, in wessen Hände die rein
materielle Gewalt kommen würde. Die immer negerhafteren Kämpfe um den
Cäsarentitel hätten sich noch durch Jahrhunderte fortspinnen können, in
immer primitiveren und deshalb „ewigeren“ Formen.

Diese Bevölkerungen haben keine Seele mehr. Sie können deshalb keine
eigne Geschichte mehr haben. Sie können höchstens in der Geschichte
einer fremden Kultur die Bedeutung eines Objektes erhalten und es
ist ausschließlich dieses fremde Leben, welches von sich aus den
tieferen Sinn dieser Beziehung bestimmt. Was auf dem Boden alter
Zivilisationen überhaupt noch geschichtsartig wirkt, ist also nie
der Gang der Ereignisse, insofern der Mensch dieses Bodens selbst
in ihnen mitspielt, sondern insofern andre es tun. Aber damit ist
das Gesamtphänomen „Weltgeschichte“ wieder in seinen zwei Elementen
sichtbar geworden: Lebensläufe großer Kulturen und die Beziehungen
zwischen ihnen.


    [3] Er habe festgestellt, daß sich vor seiner Zeit nichts von
    Bedeutung ereignet habe, schreibt er -- um 400! -- auf der ersten
    Seite seines Geschichtswerkes.

    [4] 522 unter der Ostgotenherrschaft in Rom entstanden, aber
    erst seit Karl dem Großen rasch über das germanische Abendland
    verbreitet.

    [5] Mit einer sehr bezeichnenden Verengerung des tatsächlich
    erlebten Geschichtsbildes im Bewußtsein des echten
    Renaissancemenschen.

    [6] Den ersten Beweis dafür, daß die Grundformen der Pflanzen- und
    Tierwelt sich nicht entwickeln, sondern plötzlich da sind, gab
    H. de Vries seit 1886 in seiner Mutationslehre. In der Sprache
    Goethes: Wir sehen, wie eine geprägte Form sich +in den einzelnen
    Exemplaren+ entwickelt, nicht, wie sie +für die ganze Gattung+
    geprägt wird.

    [7] Damit wird auch die Annahme ungeheurer Zeiträume für die
    Ereignisse der menschlichen Urzeit überflüssig und man kann den
    Abstand der ältesten bisher bekannten Menschen vom Beginn der
    ägyptischen Kultur sich in einem Zeitmaß denken, dem gegenüber die
    5000 Jahre historischer Kultur durchaus nicht verschwinden.

    [8] Und Afrika sprach 1912. Paideuma, Umrisse einer Kultur- und
    Seelenlehre, 1920. -- Frobenius unterscheidet +drei+ Zeitalter.

    [9] Goethe hat in seinem kleinen Aufsatz „Geistesepochen“ eine
    Charakteristik der vier Abschnitte jeder Kultur, der Vorzeit,
    Frühzeit, Spätzeit und Zivilisation, von solcher Tiefe gegeben,
    daß sich heute noch nichts hinzufügen läßt. Vgl. die damit genau
    übereinstimmenden Tafeln in Bd. I.

    [10] Es fehlt ebenso an einer +Geschichte der Landschaft+ (also
    des Bodens, der Pflanzendecke und der Witterung), in der sich die
    Menschengeschichte seit fünftausend Jahren abgespielt hat. Aber
    die Menschengeschichte ringt sich so schwer von der Geschichte
    der Landschaft ab und bleibt mit tausend Wurzeln mit ihr so tief
    verbunden, daß man ohne sie das Leben, die Seele, das Denken gar
    nicht verstehen kann. Was die Landschaft Südeuropas betrifft,
    so macht seit dem Ende der Eiszeit ein unbändiger Überfluß der
    Pflanzenwelt allmählich der Dürftigkeit Platz. In der Folge der
    ägyptischen, antiken, arabischen, abendländischen Kultur hat sich
    um das Mittelmeer herum eine Wandlung des Klimas vollzogen, wonach
    der Bauer aus dem Kampf +gegen+ die Pflanzenwelt in den +für+ sie
    eintreten mußte, erst gegen den Urwald, dann gegen die Wüste sich
    behauptend. Die Sahara lag zur Zeit Hannibals weit im Süden von
    Karthago, heute dringt sie bereits in das nördliche Spanien und
    Italien ein; wo war sie zur Zeit der ägyptischen Pyramidenbauer
    mit den Wald- und Jagdbildern auf ihren Reliefs? Als die Spanier
    die Moriskos vertrieben, erlosch der nur noch künstlich aufrecht
    erhaltene Charakter des Landes als einer Wald- und Ackerlandschaft.
    Die Städte wurden Oasen in der Wüste. Zur Römerzeit hätte das keine
    derartige Folge gehabt.

    [11] Die neue Methode der vergleichenden Morphologie gestattet
    eine sichere Nachprüfung der bis jetzt mit ganz andern Mitteln
    versuchten Zeitansätze alter Kulturen. Aus demselben Grunde,
    weshalb man auch bei Verlust aller andern Nachrichten Goethes
    Geburt nicht hundert Jahre vor den Urfaust verlegen oder in der
    Laufbahn Alexanders des Großen die eines älteren Mannes vermuten
    würde, kann man aus einzelnen Zügen des Staatslebens, dem Geist
    von Kunst, Denken und Religion beweisen, daß der Anbrach der
    ägyptischen Kultur um 3000 und der chinesischen um 1400 erfolgt
    ist. Die Berechnungen französischer Forscher und neuerdings von
    Borchardt (Die Annalen und die zeitliche Festlegung des Alten
    Reiches, 1919) sind von vornherein ebenso verfehlt wie die
    chinesischer Historiker über die Dauer der fabelhaften Hsia-
    und Schangdynastien. Ebenso ist es völlig unmöglich, daß der
    ägyptische Kalender im Jahre 4241 eingeführt worden ist. Wie bei
    jeder Zeitrechnung hat man eine Entwicklung mit tiefgreifenden
    Kalenderreformen anzunehmen, womit der Begriff eines Anfangsdatums
    überhaupt gegenstandslos wird.

    [12] Ed. Meyer hat Gesch. d. A. III, 97 das kleine Perservolk,
    vielleicht noch zu hoch, auf eine halbe Million im Verhältnis
    zu den fünfzig Millionen des babylonischen Imperiums berechnet.
    Ein Größenverhältnis derselben Ordnung besteht zwischen den
    Germanenvölkern und den Legionen der Soldatenkaiser des 3. Jahrh.
    der römischen, und den Truppen der Ptolemäer und Römer der
    ägyptischen Bevölkerung gegenüber.

    [13] Denn selbst Indien hatte damals imperialistische Tendenzen in
    der Maurya- und Sungadynastie zum Ausdruck gebracht, die bei dem
    ganzen indischen Wesen nur wirr und folgenlos sein konnten.

    [14] Vgl. das ganze Kap. III dieses Bandes.

    [15] Der folgende Versuch beruht auf den Angaben von zwei
    amerikanischen Werken: L. Spence, _The civilization of ancient
    Mexico_, Cambr. 1912, und H. J. Spinden, _A study of Maya art,
    its subject, matter and historical development_, Cambr. 1913, die
    unabhängig voneinander den Versuch einer Chronologie machen und zu
    einer gewissen Übereinstimmung gelangt sind.

    [16] Diese Namen sind die der heutigen Dörfer nahe bei den Ruinen.
    Die wirklichen Namen sind verschollen.

    [17] Zur Theorie und Methodik der Geschichte, Kl. Schr. 1910, bei
    weitem das beste Stück Geschichtsphilosophie, das ein Gegner aller
    Philosophie geschrieben hat.

    [18] Der Japaner gehörte früher zur chinesischen und gehört heute
    +auch noch+ zur abendländischen Zivilisation; eine japanische
    Kultur im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es nicht. Der
    japanische Amerikanismus ist also anders zu beurteilen.

    [19] Cäsars Monarchie und das Principat des Pompejus, 1918, S. 501
    ff.




DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEN KULTUREN


12

Obwohl sie das zweite und die Kulturen selbst das erste sind, so
urteilt das moderne historische Denken doch umgekehrt. Je weniger es
die eigentlichen Lebensläufe erkennt, aus denen sich die scheinbare
Einheit des Weltgeschehens zusammensetzt, desto eifriger sucht es das
Leben im Gewebe der Beziehungen, desto weniger versteht es mithin auch
von diesen. Wie reich ist die Psychologie dieses Aufsuchens, Abwehrens,
Wählens, Umdeutens, Verführens, Eindringens, Sichanbietens, und zwar
sowohl zwischen Kulturen, die sich unmittelbar berühren, bewundern,
bekämpfen, als zwischen einer lebenden Kultur und der Formenwelt einer
toten, deren Reste noch sichtbar in der Landschaft stehen! Und wie eng
und arm sind die Vorstellungen, welche demgegenüber der Historiker mit
den Worten Einfluß, Fortdauer und Fortwirkung verbindet!

Das ist echtes 19. Jahrhundert. Man sieht nur noch eine Kette von
Ursachen und Wirkungen. Alles „folgt“, nichts ist ursprünglich. Weil
überall Formelemente der Oberfläche älterer Kulturen sich bei jüngeren
wiederfinden, so haben sie „fortgewirkt“, und wenn man eine Reihe von
solchen Einwirkungen beisammen hat, so glaubt man etwas Rechtes getan
zu haben.

Zugrunde liegt dieser Betrachtungsweise das Bild der
sinnvoll-einheitlichen Menschengeschichte, wie es einst den großen
Gotikern aufging. Da sah man, wie auf Erden Menschen und Völker
wechselten und die Ideen blieben. Der Eindruck dieses Bildes war
gewaltig und hat sich noch heute nicht verloren. Ursprünglich war es
der Plan, den Gott mit dem Menschengeschlecht verfolgte; aber auch
später noch konnte man die Dinge so sehen, solange der Bann des Schemas
Altertum -- Mittelalter -- Neuzeit anhielt und man nur das scheinbar
Dauernde, nicht das tatsächlich sich Verändernde bemerkte. Inzwischen
ist unser Blick anders geworden, kühler und weiter, und unser Wissen
hat die Grenzen dieses Schemas längst überschritten. Wer heute noch
so sieht, steht auf der falschen Seite. Nicht das Geschaffene „wirkt
ein“, sondern das Schaffende „nimmt an“. Man verwechselt Dasein und
Wachsein, das Leben mit den Mitteln, durch die es sich zum Ausdruck
bringt. Das theoretische Denken, selbst bloßes Wachsein, sieht
überall theoretische Einheiten in Bewegung begriffen. Das ist echt
faustisch-dynamisch. In keiner andern Kultur haben die Menschen sich
Geschichte so vorgestellt. Ein Grieche mit seinem durchaus körperhaften
Verstehen der Welt würde nie bloße Ausdruckseinheiten wie „das attische
Drama“ oder „die ägyptische Kunst“ in ihren „Wirkungen“ verfolgt haben.

Das erste ist, daß man ein +System von Ausdrucksformen+ mit
einem Namen bezeichnet. Damit hebt sich ein Komplex von Beziehungen
vor dem Auge ab. Es dauert nicht lange, und man denkt sich unter dem
Namen ein Wesen und unter der Beziehung eine Wirkung. Wer heute von
der griechischen Philosophie, dem Buddhismus, der Scholastik spricht,
meint irgendwie etwas Lebendiges, eine Krafteinheit, die herangewachsen
und mächtig geworden ist und nun von den Menschen Besitz ergreift,
ihr Wachsein und sogar ihr Dasein sich unterwirft und sie zuletzt
zwingt, in der Lebensrichtung dieses Wesens weiterzuwirken. Das ist
eine vollkommene Mythologie, und es ist bezeichnend, daß nur Menschen
der abendländischen Kultur, deren Mythus noch mehr Dämonen von dieser
Art kennt -- „die“ Elektrizität, „die“ Energie der Lage --, in und mit
diesem Bilde leben.

In Wirklichkeit sind diese Systeme +nur im menschlichen Wachsein+
vorhanden, und zwar als Tätigkeitsarten. Religion, Wissenschaft, Kunst
sind +Tätigkeiten des Wachseins+, denen ein Dasein zugrunde
liegt. Glauben, Nachdenken, Gestalten und alles, was an sichtbarer
Tätigkeit durch diese unsichtbaren gefordert wird, Opfern, Beten, das
physikalische Experiment, die Arbeit an einer Statue, die Fassung
einer Erfahrung in mitteilbare Worte sind Tätigkeiten des Wachseins
und nichts anderes. Die übrigen Menschen sehen davon nur das Sichtbare
und hören nur die Worte. Sie erleben dabei etwas in sich selbst, über
dessen Verhältnis zu dem, was der Schöpfer in sich selbst erlebt hatte,
sie sich keine Rechenschaft geben können. Wir sehen eine Form, aber wir
wissen nicht, was in der Seele des andern sie erzeugt hat. Wir können
darüber nur etwas glauben und wir glauben es, indem wir unsre eigene
Seele hineinlegen. Mag eine Religion in noch so deutlichen Worten sich
verkünden, es sind Worte, und der Hörer trägt seinen Sinn hinein. Mag
ein Künstler in seinen Tönen und Farben noch so eindringlich wirken,
der Betrachter sieht und hört in ihnen nur sich selbst. Kann er das
nicht, so ist das Werk für ihn bedeutungslos. Die äußerst seltene und
ganz moderne Gabe einiger extrem historischer Menschen, sich „in die
andern hineinzuversetzen“, kommt hier nicht in Frage. Ein Germane, den
Bonifatius bekehrt, versetzt sich nicht in den Geist des Missionars
hinein. Jenes frühlinghafte Aufschauern, das damals durch die ganze
junge Welt des Nordens ging, bedeutete nichts anderes, als daß jeder
für seine eigne Religiosität durch die Bekehrung plötzlich eine Sprache
fand. Die Augen eines Kindes leuchten auf, wenn man ihm zu einem
Gegenstand, den es in der Hand hält, den Namen nennt. So war es auch
hier.

Nicht die mikrokosmischen Einheiten also wandern, sondern die
kosmischen Einheiten wählen sie aus und eignen sie sich an. Wäre es
anders, wären diese Systeme wirkliche Wesen, die eine Tätigkeit ausüben
können -- denn „Einfluß“ ist eine organische Tätigkeit --, so wäre das
Bild der Geschichte ein vollkommen anderes. Man sollte doch die Blicke
darauf lenken, daß jeder heranwachsende Mensch und jede lebendige
Kultur beständig ungezählte Tausende von möglichen Einflüssen um sich
hat, von denen ganz wenige als solche +zugelassen+ werden, die
große Mehrzahl aber nicht. Sind es die Werke oder die Menschen, welche
die Auswahl treffen?

Der auf Kausalreihen erpichte Historiker zählt nur die Einflüsse,
die vorhanden sind; es fehlt die Gegenrechnung. Zur Psychologie der
positiven gehört die der „negativen“ Einwirkungen. Gerade das wäre eine
äußerst aufschlußreiche und die ganze Frage erst entscheidende Aufgabe,
an die sich noch niemand herangewagt hat. Geht man ihr aus dem Wege,
so entsteht das in seinen Grundzügen falsche Bild eines fortlaufenden
welthistorischen Geschehens, in dem nichts verloren geht. -- Zwei
Kulturen können sich von Mensch zu Mensch berühren oder der Mensch
der einen die tote Formenwelt der andern in ihren mitteilbaren Resten
sich gegenübersehen. Tätig ist in jedem Falle der Mensch allein. Die
gewordene Tat des einen kann von einem andern nur aus dessen Dasein
heraus beseelt werden. Sie wird damit sein inneres Eigentum, sein Werk
und ein Teil seines Selbst. Nicht „der Buddhismus“ ist von Indien
nach China gewandert, sondern es wurde aus dem Vorstellungsschatz
der indischen Buddhisten ein Teil von den Chinesen einer besondern
Gefühlsrichtung angenommen und zu einer +neuen+ Art des religiösen
Ausdrucks gemacht, die ausschließlich für chinesische Buddhisten
etwas bedeutete. Es kommt nie auf den ursprünglichen Sinn der Form
an, sondern nur auf die Form selbst, in welcher das tätige Empfinden
und Verstehen des Betrachters die Möglichkeit zu +eigner+
Schöpfung entdeckt. Bedeutungen sind unübertragbar. Die tiefe
seelische Einsamkeit, die sich zwischen das Dasein zweier Menschen
von verschiedener Art legt, wird durch nichts gemindert. Mögen sich
damals Inder und Chinesen gemeinsam als Buddhisten empfunden haben, sie
standen sich innerlich deshalb nicht weniger fern. Es sind dieselben
Worte, dieselben Bräuche, dieselben Zeichen -- aber zwei verschiedene
Seelen, die ihre eignen Wege gehen.

Man kann daraufhin alle Kulturen durchsuchen, man wird überall
bestätigt finden, daß statt der scheinbaren Fortdauer der früheren
Schöpfung in der späteren es immer das jüngere +Wesen+ war, das
eine ganz geringe Anzahl von Beziehungen zu älteren +Wesen+
angeknüpft hat, und zwar ohne die ursprüngliche Bedeutung dessen zu
beachten, was es damit für sich erwarb. Wie steht es denn mit den
„ewigen Errungenschaften“ in der Philosophie und Wissenschaft? Wir
müssen immer wieder hören, wieviel von der griechischen Philosophie
noch heute fortlebt. Aber das bleibt eine Redensart ohne eine
gründliche Aufstellung dessen, was erst der magische und dann der
faustische Mensch mit der tiefen Weisheit ungebrochener Instinkte
abgelehnt, nicht bemerkt oder unter Beibehaltung der Formeln planmäßig
anders verstanden hat. Der naive Glaube gelehrter Begeisterung täuscht
sich hier. Die Liste würde sehr lang sein und die andre völlig zum
Verschwinden bringen. Wir pflegen Dinge wie die Bilderchentheorie
Demokrits, die sehr körperhafte Ideenwelt Platos, die zweiundfünfzig
Kugelschalen der Welt des Aristoteles als unwesentliche Irrtümer zu
übergehen. Das heißt die Meinung der Toten besser kennen wollen als
sie selbst. Es sind wesentliche Wahrheiten -- nur nicht für uns. Was
wir in Wirklichkeit von der griechischen Philosophie auch nur an
Äußerlichem besitzen, ist so gut wie nichts. Man sei doch ehrlich und
nehme die alten Denker beim Wort: nicht ein Satz Heraklits, Demokrits,
Platos ist für uns wahr, wenn wir ihn nicht erst zurechtmachen. Was
haben wir denn von der Methode, dem Begriff, der Absicht, den Mitteln
der griechischen Wissenschaft angenommen, von den überhaupt nicht
verständlichen Grundworten zu schweigen? Die Renaissance stand ja wohl
ganz unter dem „Einfluß“ der antiken Kunst? Wie war es aber mit der
Form des dorischen Tempels, mit der ionischen Säule, dem Verhältnis
von Säule und Gebälk, der Farbenwahl, Hintergrundbehandlung und
Perspektive der Gemälde, den Grundsätzen der figürlichen Gruppierung,
dem Vasenbild, dem Mosaik, der Enkaustik, der Tektonik der Statue, den
Proportionen des Lysippos? Warum übte das alles keinen Einfluß?

+Weil es von vornherein feststand, was man ausdrücken wollte+,
und man also von dem toten Bestand, den man vor sich hatte, nur
das wenige wirklich sah, was man wünschte, und zwar so, wie man es
wünschte, nämlich in der Richtung der eignen Absicht und nicht der des
Schöpfers, über die keine lebendige Kunst je ernstlich nachgedacht
hat. Man muß den „Einfluß“ der ägyptischen auf die frühgriechische
Plastik Zug um Zug verfolgen, um endlich zu sehen, daß ein Einfluß gar
nicht vorhanden ist, sondern daß das griechische Form wollen jenen
alten Kunstbeständen einige Merkmale entnahm, die es auch ohne sie
in irgend einer Art gefunden hätte. Rings um die antike Landschaft
hatten Ägypter, Kreter, Babylonier, Assyrer, Hethiter, Perser,
Phöniker gearbeitet und die Griechen haben ihre Werke in sehr großer
Zahl gekannt, Bauten, Ornamente, Kunstwerke, Kulte, Staatsformen,
Schriftarten, Wissenschaften -- was von alledem hat die antike Seele
als Mittel zum eignen Ausdruck herangezogen? Ich wiederhole: Man sieht
immer nur die Beziehungen, die zugelassen worden sind. Was alles ist
aber +nicht+ zugelassen worden? Warum befinden sich z. B. die
ägyptischen Pyramiden, Pylonen, Obelisken, die Hieroglyphen- und
Keilschrift nicht darunter? Was hat die gotische Kunst, das gotische
Denken in Byzanz, in dem maurischen Orient, in Spanien und Sizilien
+nicht+ angenommen? Man kann die gänzlich unbewußte Weisheit
der Auswahl und der ebenso entschlossenen Umdeutung gar nicht hoch
genug ansetzen. Jede Beziehung, die zugelassen wird, ist nicht nur
eine Ausnahme, sondern auch ein Mißverständnis und die innere Kraft
eines Daseins äußert sich vielleicht nirgends so deutlich wie in
dieser +Kunst des planmäßigen Mißverstehens+. Je lauter man die
Prinzipien eines fremden Denkens rühmt, desto gründlicher hat man
sicherlich ihren Sinn verändert. Man gehe doch dem Lobe Platos im
Abendlande einmal genau nach! Von Bernhard von Chartres und Marsilius
Ficinus bis zu Goethe und Schelling! Je demütiger man eine fremde
Religion annimmt, desto vollkommener hat sie bereits die Form der
neuen Seele angenommen. Es sollte wirklich einmal die Geschichte der
„drei Aristoteles“ geschrieben werden, nämlich des griechischen,
arabischen und gotischen, die nicht einen Begriff, nicht einen Gedanken
gemein haben. Oder die Geschichte der Verwandlung des magischen
in das faustische Christentum! Wir hören und lernen, daß diese
Religion sich im Wesen unverändert von der alten Kirche aus über das
Abendland verbreitet hat. In Wirklichkeit entwickelte der magische
Mensch aus der ganzen Tiefe seines dualistischen Weltbewußtseins
eine Sprache seines religiösen Wachseins, die wir „das“ Christentum
nennen. Was von diesem Erlebnis mitteilbar war, Worte, Formeln,
Gebräuche, nahm der Mensch der spätantiken Zivilisation als Mittel
für +sein+ religiöses Bedürfnis an; von Mensch zu Mensch ging
diese Formensprache bis zu den Germanen der abendländischen Vorkultur,
in den Wortklängen immer dasselbe, in den Bedeutungen immer etwas
anderes. Man würde nie gewagt haben, die ursprüngliche Bedeutung
der heiligen Worte zu +verbessern+, aber man hat sie gar nicht
gekannt. Wer das bezweifelt, der betrachte „die“ Idee der Gnade, wie
sie sich bei Augustin im dualistischen Sinne auf eine Substanz im
Menschen, bei Kalvin im dynamischen Sinne auf den Willen im Menschen
richtet. Oder die uns kaum verständliche magische Vorstellung vom
„_consensus_“,[20] welche in jedem Menschen ein _pneuma_ als
Ausfluß des göttlichen _pneuma_ voraussetzt und infolgedessen
in der übereinstimmenden Meinung der Berufenen die unmittelbare
göttliche Wahrheit findet. Auf dieser Gewißheit beruht die Würde der
frühchristlichen Konzilsbeschlüsse ebenso wie die wissenschaftliche
Methode, die heute noch in der Welt des Islam herrscht. Da der
Mensch des Abendlandes dies nicht begriff, so wurden die Konzile
der spätgotischen Zeit für ihn zu einer Art von Parlament, das die
geistige Bewegungsfreiheit des Papsttums beschränken sollte. So hat
man die konziliare Idee noch im 15. Jahrhundert aufgefaßt -- man denke
an Konstanz, Basel, an Savonarola und Luther -- und sie mußte endlich
als frivol und sinnlos vor dem Gedanken der päpstlichen Unfehlbarkeit
verschwinden. Oder der allgemein früharabische Gedanke der Auferstehung
des Fleisches, der ebenfalls die Vorstellung vom göttlichen und
menschlichen _pneuma_ voraussetzt. Der antike Mensch nahm an, daß
die Seele als Form und Sinn des Leibes irgendwie mit ihm entstehe. Im
griechischen Denken ist davon kaum die Rede. Ein solches Schweigen
kann zwei Gründe haben: entweder kennt man den Gedanken nicht, oder er
ist so selbstverständlich, daß er als Problem gar nicht zum Bewußtsein
kommt. Das ist hier der Fall. Ebenso selbstverständlich ist es für
den arabischen Menschen, daß sein _pneuma_ als Ausfluß aus dem
Göttlichen in seinem Leibe Wohnung genommen hat. Daraus folgt, daß
etwas da sein muß, wenn am jüngsten Tage der menschliche Geist wieder
erstehen soll: daher die Auferstehung ἐκ νεκρῶν, aus den Leichen.
Dies ist in seiner Tiefe für das abendländische Weltgefühl völlig
unverständlich. Am Wortlaut der heiligen Lehre wurde nicht gezweifelt,
aber unbewußt wurde ihr bei geistig hochstehenden Katholiken und sehr
deutlich bei Luther ein andrer Sinn untergeschoben, den wir heute mit
dem Wort Unsterblichkeit, d. h. Fortdauer der Seele als eines reinen
Kraftmittelpunktes für alle Unendlichkeit kennzeichnen. Könnten Paulus
oder Augustin unsre Vorstellungen vom Christentum einmal kennen lernen,
sie würden alle Bücher, alle Dogmen und alle Begriffe als durchaus
mißverständlich und ketzerisch zurückweisen.

Als das stärkste Beispiel eines Systems, das scheinbar in seinen
Grundzügen unverändert durch zwei Jahrtausende gewandert ist, während
es in Wirklichkeit in drei Kulturen drei vollständige Entwicklungen
von jedesmal ganz andrer Bedeutung durchgemacht hat, gebe ich hier die
+Geschichte des römischen Rechts+.


13

+Das antike Recht ist ein Recht, das von Bürgern für Bürger
geschaffen wird.+ Es setzt als selbstverständliche Staatsform
die Polis voraus. Erst aus dieser Grundform des öffentlichen Daseins
ergibt sich, und zwar wieder mit Selbstverständlichkeit, der Begriff
der Person als des Menschen, der in seiner Gesamtheit mit dem Körper
(σῶμα)[21] des Staates identisch ist. Aus dieser formalen Tatsache des
antiken Weltgefühls hat sich das gesamte antike Recht entwickelt.

+_Persona_ ist also ein spezifisch antiker Begriff, der nur
innerhalb dieser einen Kultur Sinn und Geltung besitzt.+ Die
einzelne Person ist ein Leib (σῶμα), der zum Bestande der Polis gehört.
Das Recht der Polis bezieht sich +nur+ auf ihn. Es geht nach unten
über in das Sachenrecht -- die Grenze bildet das Rechtsverhältnis
des Sklaven, der ein Leib, aber keine Person ist -- nach oben in das
göttliche Recht -- Grenze bildet der Heros, der aus einer Person
zur Gottheit geworden ist und nun den Rechtsanspruch auf einen Kult
besitzt, wie in griechischen Städten Lysander und Alexander und später
in Rom die zu _Divi_ erhobenen Kaiser. Aus dem in dieser Richtung
immer schärfer entwickelten antiken Rechtsdenken erklärt sich auch ein
Begriff wie die _capitis deminutio media_, der dem abendländischen
Menschen sehr fremd ist: wir können uns denken, daß einer Person in
unserem Sinne gewisse oder auch alle Rechte entzogen werden; der antike
Mensch hört aber durch diese Strafe auf, +eine Person zu sein+,
obwohl er körperlich weiterlebt. Erst im Gegensatz zu diesem Begriff
der Person, als ihr Objekt, ist der spezifisch antike Begriff der
Sache, _res_, zu fassen.

Da die antike Religion durchaus Staatsreligion ist, so besteht in der
Rechtserzeugung kein Unterschied: Sachenrecht und göttliches Recht
werden ebenfalls von Bürgern geschaffen. Sachen und Götter stehen in
einem genau geregelten Rechtsverhältnis zu den Personen. Es ist nun
für das antike Recht von entscheidender Bedeutung, daß es aus der
unmittelbaren öffentlichen Erfahrung heraus erzeugt wird und zwar nicht
aus der beruflichen des Richters, sondern der praktisch-allgemeinen
des Mannes, der im politisch-wirtschaftlichen Leben überhaupt eine
bedeutende Stellung einnahm. Wer in Rom die Ämterlaufbahn einschlug,
wurde mit Notwendigkeit Jurist, Heerführer, Verwaltungschef und
Finanzbeamter. Er sprach als Prätor Recht, nachdem er sich eine große
Erfahrung auf ganz anderen Gebieten angeeignet hatte. Der Richter als
Stand, der für diese eine Tätigkeit fachmännisch und sogar theoretisch
ausgebildet wird, ist der Antike durchaus unbekannt. Das hat die
ganze, spätere Rechtswissenschaft ihrem Geiste nach bestimmt. Die
Römer waren hier weder Systematiker noch Historiker noch Theoretiker,
sondern lediglich glänzende Praktiker. Ihre Jurisprudenz ist eine
+Erfahrungswissenschaft von Einzelfällen+, eine durchgeistigte
Technik, kein Gebäude von Abstraktionen.[22]

Es ergibt ein falsches Bild, wenn man griechisches und römisches Recht
wie zwei Größen gleicher Ordnung gegenüberstellt. Das römische Recht
ist in seiner ganzen Entwicklung ein einzelnes Stadtrecht unter vielen
Hunderten gewesen und ein griechisches Recht als Einheit hat es nie
gegeben. Wenn die griechisch sprechenden Städte vielfach sehr ähnliche
Rechte ausgebildet haben, so ändert das nichts an der Tatsache,
daß jede ihr eignes besitzt. Nie ist der Gedanke an eine allgemein
dorische oder gar hellenische Gesetzgebung aufgetaucht. Dem antiken
Denken lagen solche Vorstellungen gänzlich fern. Das römische _jus
civile_ galt +nur+ für Quiriten; Fremde, Sklaven, die ganze
Welt außerhalb der Stadt kam dafür nicht in Betracht, während schon
im Sachsenspiegel tiefgefühlt der Gedanke liegt, daß es eigentlich
nur ein Recht geben könne. Bis in die späte Kaiserzeit bestand in Rom
der strenge Unterschied zwischen dem _jus civile_ für Bürger
und dem _jus gentium_ -- das etwas ganz anderes ist als unser
Völkerrecht -- für die „andern“, die im Machtbereich Roms als Objekte
von dessen Rechtsprechung weilten. Nur weil Rom dahin gelangte, als
einzelne Stadt das antike Imperium zu beherrschen -- was bei einer
andern Entwicklung der Dinge auch Alexandria möglich gewesen wäre --,
ist das römische Recht, nicht durch seine innere Überlegenheit, sondern
zuerst durch den politischen Erfolg und dann durch den Alleinbesitz
der praktischen Erfahrung großen Stils an die Spitze getreten. Die
Ausbildung eines allgemein antiken Rechts hellenistischen Stils --
wenn man damit den verwandten Geist +vieler Einzelrechte+
bezeichnen darf -- fällt in eine Zeit, wo Rom eine politische Größe
dritten Ranges war. Und als das römische Recht begann, großartige
Formen anzunehmen, war das nur eine Seite der Tatsache, daß römischer
Geist den Hellenismus unterworfen hatte: die Ausbildung des antiken
Spätrechts geht vom Hellenismus auf Rom über, und damit von einer Summe
von Stadtstaaten, die dabei unter dem Eindruck der Tatsache standen,
daß keine von ihnen wirkliche Macht besaß, an eine einzige, deren ganze
Tätigkeit schließlich in der Ausübung dieser Vormacht aufging. Deshalb
ist es nicht zur Ausbildung einer Rechtswissenschaft in griechischer
Sprache gekommen. Als die Antike in ein Stadium trat, wo sie für
diese Wissenschaft, die letzte von allen, reif war, gab es nur noch
+eine+ rechtsetzende Stadt, die dafür in Betracht kam.

Es wird also nicht genügend beachtet, daß es sich bei griechischem
und römischem Recht nicht um ein Nebeneinander, sondern um ein
Nacheinander handelt. Das römische Recht ist das jüngste; es setzt die
andern mit ihren langen Erfahrungen voraus[23] und wurde unter deren
vorbildlichem Eindruck spät und sehr rasch ausgebaut. Es ist wichtig,
daß die Blütezeit der stoischen Philosophie, die auf das Rechtsdenken
tief gewirkt hat, der Blüte der griechischen Rechtsbildung folgte, der
römischen aber voranging.


14

Diese Ausbildung geschah aber im Denken einer extrem unhistorischen
Menschenart. Infolgedessen ist das antike Recht durchaus +ein
Recht des Tages, ja des Augenblicks+. Es wird der Idee nach in
jedem einzelnen Fall für diesen Fall geschaffen und hört mit dessen
Erledigung auf, Recht zu sein. Seine Geltung auch für künftige Anlässe
würde dem antiken Gegenwartssinn widersprechen.

Der römische Prätor stellte zu Beginn seines Amtsjahres ein Edikt
auf, in dem er die Rechtssätze mitteilt, nach denen er zu verfahren
gedenkt, aber sein Nachfolger ist in keiner Weise an sie gebunden. Und
selbst diese Begrenzung des geltenden Rechtes auf ein Jahr entspricht
nicht der tatsächlichen Dauer. Vielmehr formuliert der Prätor in jedem
einzelnen Falle für das von den Geschworenen zu fällende Urteil den
konkreten Rechtssatz -- namentlich seit der _lex Aebutia_ --, nach
welchem dies Urteil und nur dies eine gesprochen werden muß. Er erzeugt
damit im strengsten Sinne des Wortes ein „gegenwärtiges Recht“ ohne
jede Dauer.[24]

Scheinbar ähnlich, aber dem Sinne nach ganz anders und eben deshalb so
geeignet, die tiefe Kluft zwischen antikem und abendländischem Recht
aufzudecken, ist ein genialer, echt germanischer Zug im englischen
Recht: die rechtsschöpferische Gewalt des Richters. Er soll ein Recht
anwenden, das der Idee nach ewige Geltung besitzt. Schon die Anwendung
der bestehenden Gesetze im Gerichtsverfahren, in dessen Anordnung ihr
Zweck erst zur Erscheinung kommt, kann er durch seine „_Rules_“,
Ausführungsvorschriften (die mit der erwähnten prätorischen
Schriftformel nichts gemein haben) nach eignem Ermessen regeln. Kommt
er aber zu dem Schluß, daß in einem einzelnen Fall ein Tatsachenstoff
vorliegt, für den das geltende Recht eine Lücke aufweist, so kann er
diese +sofort schließen+ und also mitten im Prozeß ein neues
Recht schaffen, welches -- die Billigung durch den Richterstand in
ganz bestimmten Formen vorausgesetzt -- +von nun an zum dauernden
Bestande gehört+. Gerade dies ist so unantik wie möglich. Nur weil
der Lauf des öffentlichen Lebens innerhalb eines Zeitalters sich
wesentlich gleich bleibt und die wichtigsten Rechtslagen also immer
wiederkehren, bildet sich allmählich ein Bestand von Sätzen heraus, der
+erfahrungsgemäß+ -- +nicht+, weil man ihnen Gewalt für die
Zukunft verliehen hat -- sich immer wieder einstellt, gewissermaßen
immer aufs neue erzeugt wird. Die Summe dieser Sätze, kein System,
sondern eine Sammlung, bildet jetzt „das Recht“, wie es in der
späteren Ediktalgesetzgebung der Prätoren vorliegt, deren wesentliche
Bestandteile ein Prätor aus Gründen der Zweckmäßigkeit von dem andern
übernimmt.

Erfahrung bedeutet also im antiken Rechtsdenken etwas anderes als bei
uns: nicht den Überblick über eine lückenlose Gesetzesmasse, die alle
möglichen Fälle voraussieht, und die Übung in ihrer Anwendung, sondern
das Wissen, daß gewisse Urteilslagen sich immer wieder einstellen, so
daß man es sich ersparen kann, das Recht für sie immer aufs neue zu
formen.

Die echt antike Form, in welcher der Gesetzesstoff sich langsam
sammelt, ist also eine fast von selbst erfolgende Summation
der einzelnen _nomoi_, _leges_, _edicta_, wie zur Zeit des
prätorischen Amtsrechts in Rom. Alle sogenannten Gesetzgebungen
des Solon, Charondas, der XII Tafeln sind nichts als gelegentliche
Zusammenfassungen solcher Edikte, die sich als brauchbar erwiesen
haben. Das Recht von Gortyn, etwa gleichzeitig mit den XII, stellt eine
Novellengruppe zu einer älteren Sammlung dar. Eine neugegründete Stadt
legte sich alsbald eine solche Sammlung an, wobei viel Dilettantismus
unterlief. So hat Aristophanes in den Vögeln die Gesetzfabrikanten
verspottet. Von einem System ist nirgends die Rede, noch weniger von
der Absicht, das Recht damit für lange Zeit festzulegen.

Im Abendlande besteht im stärksten Gegensatz dazu die Tendenz,
von vornherein den gesamten lebenden Rechtsstoff in ein für immer
gegliedertes und erschöpfendes Gesamtwerk zu bringen, in dem jeder
überhaupt denkbare Fall der Zukunft im voraus entschieden ist. Alles
abendländische Recht wird für die Zukunft, alles antike für den
Augenblick geprägt.


15

Dem scheint die Tatsache zu widersprechen, daß es in Wirklichkeit
antike Gesetzwerke gegeben hat, die von Berufenen und zwar zu
dauernder Anwendung hergestellt worden sind. Allerdings wissen
wir vom frühantiken Recht (1100-700) nicht das Geringste, und
es ist wohl sicher, daß eine Aufzeichnung der bäuerlichen und
frühstädtischen Gewohnheitsrechte im Gegensatz zu denen der gotischen
und früharabischen Zeit (Sachsenspiegel, syrisches Rechtsbuch) nicht
stattgefunden hat. Die älteste für uns noch erkennbare Schicht
bilden die seit 700 entstandenen Sammlungen, welche mythischen oder
halbmythischen Persönlichkeiten zugeschrieben wurden: Lykurg,
Zaleukos, Charondas, Drakon[25] und einigen römischen Königen.[26]
Sie waren vorhanden, das ergibt die Gestalt der Sage, aber weder ihre
wirklichen Urheber noch die wirklichen Vorgänge der Kodifizierung noch
der ursprüngliche Inhalt sind den Griechen der Perserzeit noch bekannt
gewesen.

Eine zweite Schicht, dem Codex Justinians, der Rezeption des römischen
Rechts in Deutschland entsprechend, knüpft sich an die Namen Solon
(600), Pittakos (550) und andere. Das sind bereits ausgebildete Rechte
von städtischem Geist. Sie wurden als _politeia_, _nomos_
bezeichnet, gegenüber den alten Namen der _thesmoi_ oder
_rhetrai_.[27] Wir kennen also in Wirklichkeit nur die Geschichte
des spätantiken Rechts. Woher nun diese plötzlichen Kodifikationen?
Schon ein Blick auf jene Namen lehrt, daß es sich bei diesen
Vorgängen letzten Endes überhaupt nicht um ein Recht handelt, das als
Ergebnis reiner Erfahrungen niedergelegt werden soll, sondern um die
+Entscheidung politischer Machtfragen+.

Es ist ein großer Irrtum, wenn man glaubt, daß es ein gleichsam über
den Dingen schwebendes, von politisch-wirtschaftlichen Interessen
ganz unabhängiges Recht überhaupt geben könne. Man kann es sich
vorstellen, und die Menschen, welche das Vorstellen politischer
Möglichkeiten für eine politische Tätigkeit halten, haben es sich
immer so vorgestellt. Das ändert aber nichts daran, daß ein solches
Recht von abstraktem Ursprung in der geschichtlichen Wirklichkeit
nicht vorkommt. Jedes Recht enthält in abgezogener Form das Weltbild
seiner Urheber, und jedes geschichtliche Weltbild enthält eine
politisch-wirtschaftliche +Tendenz+, die nicht von dem abhängt,
was dieser oder jener sich theoretisch denkt, sondern von dem, was der
Stand praktisch +will+, welcher die tatsächliche Macht und damit
die Rechtsschöpfung in Händen hat. Jedes Recht ist von einem einzelnen
Stande im Namen der Allgemeinheit geschaffen worden. Anatole France
hat einmal gesagt, „daß unser Recht in majestätischer Gleichheit dem
Reichen wie dem Armen verbiete, Brot zu stehlen und an den Straßenecken
zu betteln“. Ohne Zweifel ist das die Gerechtigkeit der einen. Die
„andern“ werden aber stets versuchen, dafür ein Recht aus +ihrer+
Lebensperspektive als das allein gerechte durchzusetzen. Jene
Gesetzgebungen sind also sämtlich politische und zwar parteipolitische
Akte. Sie enthalten entweder wie die demokratische des Solon eine
Verfassung (_politeia_) in Verbindung mit einem Privatrecht
(_nomoi_) von gleichem Geiste oder setzen wie die oligarchischen
des Drakon und der Dezemvirn[28] eine _politeia_ voraus, die
durch ein Privatrecht befestigt werden soll. Erst die abendländischen
Historiker, an ihre Dauerrechte gewöhnt, haben diesen Zusammenhang
unterschätzt. Der antike Mensch wußte sehr wohl, was da vorging.
Die Schöpfung der Dezemvirn war in Rom das letzte Recht von rein
patrizischem Geiste. Tacitus bezeichnet es als Ende des gerechten
Rechtes (_finis aequi juris_, Ann. III, 27). Denn ebenso wie
nach dem Sturz der Dezemvirn mit deutlicher Symbolik die Zehnzahl der
Tribunen erscheint, so setzt gegen das _jus_ der Zwölftafeln
und die ihr zugrunde liegende Verfassung die langsam untergrabende
Arbeit der _lex rogata_, des Volksrechtes ein, das mit römischer
Zähigkeit anstrebt, was Solon durch eine einzige Tat gegen das Werk
Drakons, die πἁτριος πολιτεῖα, das Rechtsideal der attischen Oligarchie
vollbracht hatte. Drakon und Solon sind von nun an die Schlachtrufe in
dem langen Kampf zwischen Oligarchie und Demos. In Rom waren es die
Institutionen des Senats und Tribunats. Die spartanische Verfassung
(„Lykurg“) hat das Ideal des Drakon und der Zwölftafeln nicht nur
dargestellt, sondern auch festgehalten. Die beiden Könige gehen, wenn
man die nah verwandten römischen Verhältnisse vergleicht, allmählich
aus der Stellung der tarquinischen Tyrannen in die der Tribunen vom
gracchischen Schlage über: Der Sturz des letzten Tarquiniers oder die
Einsetzung der Dezemvirn -- die irgendwie ein Staatsstreich gegen das
Tribunat und dessen Tendenzen war -- entspricht etwa dem Untergang des
Kleomenes (488) und Pausanias (470), die Revolution des Agis III. und
Kleomenes III. (um 240) der einige Jahre später beginnenden Wirksamkeit
des C. Flaminius, ohne daß die Könige gegen die der Senatspartei
entsprechenden Ephoren je einen durchgreifenden Erfolg erzielt hätten.

Inzwischen war Rom eine große Stadt im Sinne der antiken Spätzeit
geworden. Die bäuerlichen Instinkte werden mehr und mehr von der
städtischen Intelligenz zurückgedrängt.[29] In der Rechtsschöpfung
erscheint demnach, etwa seit 350, neben der _lex rogata_, dem
Volksrecht, die _lex data_, das Amtsrecht der Prätoren. Der Kampf
zwischen dem Geist des Zwölftafelrechts und der _lex rogata_ tritt
in den Hintergrund und die Ediktalgesetzgebung der Prätoren wird zum
Spielball der Parteien.

Der Prätor ist sehr bald der unbedingte Mittelpunkt der Rechtsetzung
wie der Rechtspraxis, und zwar entspricht es der politischen Ausdehnung
der römischen Macht, daß das _jus civile_ des städtischen Prätors,
was den Umfang des Anwendungsgebiets betrifft, hinter dem _jus
gentium_ des _praetor peregrinus_, dem Recht der „andern“
zurücktritt. Als zuletzt die ganze Bevölkerung der antiken Welt,
soweit sie nicht das Bürgerrecht der Stadt Rom besaß, zu den „andern“
gehörte, wird das _jus peregrinum_ der Stadt Rom tatsächlich zu
einem imperialen Recht; alle übrigen Städte -- und selbst Alpenvölker
und wandernde Beduinenstämme sind verwaltungsrechtlich als „Städte“,
_civitates_, organisiert worden -- behielten ihr eigenes Recht
nur, soweit das römische Fremdenrecht keine Bestimmungen enthielt.

+Das Ende der antiken Rechtschöpfung überhaupt bildet also das
_edictum perpetuum_+, das auf Veranlassung Hadrians (um 130)
die jährlich erlassenen Rechtsätze der Prätoren, unter denen sich
längst ein fester Bestand ausgebildet hatte, in eine endgültige Form
brachte und weitere Abänderungen verbot. Der Prätor war wie immer
verpflichtet, das „Recht seines Jahres“ öffentlich anzuschlagen; es
galt nur vermöge seiner Amtsgewalt und nicht als Reichsgesetz, aber er
mußte sich an den festgelegten Text halten.[30] Das ist die berühmte
„Versteinerung des Amtsrechts“, das echte Sinnbild einer späten
Zivilisation.[31]

Mit dem Hellenismus beginnt die antike Rechtswissenschaft, das
planmäßige Begreifen des Rechtes, welches man anwendet. Da das
Rechtsdenken politische und wirtschaftliche Verhältnisse als Substanz
ebenso voraussetzt wie das mathematische Denken physikalische und
technische Kenntnisse,[32] so wurde Rom sehr bald +die Stadt der
antiken Jurisprudenz+. Ganz ebenso waren es in der mexikanischen
Welt die siegreichen Azteken, die an ihren Hochschulen wie der von
Tezcuco vor allen das Recht pflegten. Die antike Jurisprudenz ist eine
Wissenschaft der Römer und es ist ihre einzige geblieben. Gerade als
mit Archimedes die schöpferische Mathematik zum Abschluß kam, begann
mit der Tripertita des Aelius (198, ein Kommentar zu den XII) die
Rechtsliteratur.[33] Um 100 hat M. Scaevola das erste systematische
Privatrecht geschrieben. 200-0 ist die eigentliche Zeit der klassischen
Rechtswissenschaft -- eine Bezeichnung, die heute allgemein und bizarr
genug auf eine Periode des früharabischen Rechts angewendet wird. An
den Resten dieser Literatur läßt sich der ganze Abstand des Denkens
zweier Kulturen ermessen. Die Römer behandeln nur Fälle und deren
Einteilung, nie die Analyse eines grundlegenden Begriffs wie etwa
den des Rechtsirrtums. Sie unterscheiden sorgfältig die Arten von
Verträgen; den Begriff des Vertrags kennen sie nicht und ebensowenig
eine Theorie etwa der Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit. „Nach alledem
ist klar, daß uns die Römer ganz und gar nicht Vorbilder der
wissenschaftlichen Methode sein können.“[34]

Den Ausgang bilden die Schulen der Sabinianer und Proculianer, von
Augustus an bis gegen 160. Es sind wissenschaftliche Schulen wie
die philosophischen in Athen; möglich ist es, daß in ihnen sich
der Gegensatz von senatorischer und tribunizischer (cäsarischer)
Rechtsauffassung zum letzten Male regte; unter den besten Sabinianern
waren zwei Nachkommen von Cäsarmördern; einen der Proculianer hatte
Trajan zu seinem Nachfolger ausersehen. Während die Methodik im
wesentlichen abgeschlossen war, geht hier die praktische Verschmelzung
von altem _jus civile_ und prätorischem _jus honorarium_ vor
sich.

Das letzte für uns sichtbare Denkmal des antiken Rechts sind die
Institutionen des Gajus (um 161).

+Das antike Recht ist ein Recht der Körper.+ Es unterscheidet im
Bestand der Welt körperliche Personen und körperliche Sachen und stellt
als eine euklidische Mathematik des öffentlichen Lebens die Beziehungen
zwischen ihnen fest. Das Rechtsdenken ist dem mathematischen am
nächsten verwandt. Beide wollen von den optisch gegebenen Fällen
das Sinnlich-zufällige absondern, um das Gedanklich-prinzipielle zu
finden: die +reine+ Form des Gegenstandes, den +reinen+ Typus
der Lage, die +reine+ Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Da
das antike Leben in der Gestalt, wie es sich dem antiken kritischen
Wachsein darstellt, durchaus euklidische Züge besitzt, so entsteht
ein Bild von Körpern, von Lageverhältnissen zwischen ihnen und von
wechselseitigen Einwirkungen durch Stoß und Gegenstoß wie bei den
Atomen Demokrits. +Es ist eine juristische Statik.+[35]


16

Die erste Schöpfung des arabischen Rechts war +der Begriff der
nichtkörperlichen Person+.

Um diese für das neue Weltgefühl so bezeichnende Größe ganz zu
würdigen, die im echt antiken Recht fehlt[36] und bei den „klassischen“
Juristen, die sämtlich Aramäer waren, plötzlich da ist, muß man den
wahren Umfang des arabischen Rechtes kennen.

Die neue Landschaft umfaßt Syrien und das nördliche Mesopotamien,
Südarabien und Byzanz. Hier ist überall ein neues Recht im Werden,
mündliches oder geschriebenes Gewohnheitsrecht frühen Stils, wie
wir es aus dem Sachsenspiegel kennen. Und da ergibt sich etwas
Erstaunliches: aus dem +Recht einzelner Stadtstaaten+, wie es auf
antikem Boden selbstverständlich war, ist hier in aller Stille das
+Recht von Glaubensgemeinschaften+ geworden. Das ist ganz magisch. Es
ist stets ein _pneuma_, +ein+ gleicher Geist, +ein+ identisches Wissen
und Verstehen der alleinigen Wahrheit, welches die Bekenner derselben
Religion jedesmal zur Einheit des Wollens und Handelns, +zu einer
juristischen Person+ zusammenfaßt. Eine juristische Person ist also ein
kollektives Wesen, das als Ganzes Absichten hat, Entschlüsse faßt und
Verantwortungen trägt. Der Begriff gilt schon, wenn man das Christentum
betrachtet, von der Urgemeinde in Jerusalem[37] und reicht hinauf bis
zur Dreieinigkeit der göttlichen Personen.[38]

Schon das spätantike Recht der kaiserlichen Erlasse vor Konstantin
(_constitutiones_, _placita_) gilt, obwohl die römische
Form des Stadtrechts streng gewahrt wird, ganz eigentlich +für die
Gläubigen der „synkretistischen Kirche“+[39], jener Masse von
Kulten, die alle von derselben Religiosität durchdrungen sind. Während
im damaligen Rom das Recht von einem großen Teil der Bevölkerung
sicher noch als das Recht eines Stadtstaates empfunden wurde, verlor
sich dies Gefühl mit jedem Schritt nach Osten. Die Zusammenfassung der
Gläubigen zu einer +Rechtsgemeinschaft+ geschah in aller Form
durch den Kaiserkult, der durchaus göttliches Recht war. In bezug auf
ihn haben sich Juden und Christen -- die persische Kirche ist nur in
der antiken Form des Mithraskultes und also im Rahmen des Synkretismus
auf antikem Boden erschienen -- als Ungläubige eigenen Rechts in einem
fremden Rechtsgebiet eingenistet. Als der Aramäer Caracalla 212
durch die _constitutio Antonina_[40] allen Bewohnern außer den
_dediticii_ das Bürgerrecht gab, war die Form dieses Aktes echt
antik, und es gab zweifellos viele Menschen, die sie so verstanden.
Die Stadt Rom hatte damit die Bürger aller andern sich buchstäblich
„einverleibt“. Der Kaiser selbst aber empfand ganz anders. Er hatte
damit alle zu Untertanen des „Herrschers der Gläubigen“ gemacht,
des als _divus_ verehrten Oberhauptes der Kultreligion. Mit
Konstantin kam die große Wandlung: er hat als Objekt des kaiserlichen
Khalifenrechts an die Stelle der synkretistischen die christliche
Glaubensgemeinschaft gesetzt und damit +die christliche Nation
konstituiert+. Die Bezeichnungen fromm und ungläubig wechseln ihren
Platz. Seit Konstantin wird das „römische“ Recht ganz unvermerkt
immer entschiedener +zum Recht der rechtgläubigen Christen+ und
als solches ist es von den bekehrten Asiaten und Germanen aufgefaßt
und angenommen worden. Damit ist ein ganz neues Recht in alter
Form entstanden. Nach antikem Eherecht war es unmöglich, daß etwa
ein römischer Bürger eine Bürgertochter aus Capua heiratete, wenn
zwischen diesen Städten keine Rechtsgemeinschaft, kein _conubium_
bestand.[41] Jetzt war die Frage, nach welchem Recht ein Christ
oder Jude, ob er der Heimat nach Römer, Syrer oder Maure war, eine
Ungläubige heiraten könne. Denn in der magischen Rechtswelt besteht
kein _conubium_ zwischen +Andersgläubigen+. Daß ein Ire
eine Negerin in Byzanz heiratet, wenn beide Christen sind, begegnet
keiner Schwierigkeit, aber wie sollte in demselben syrischen Dorf ein
monophysitischer Christ eine Nestorianerin heiraten? Sie stammten
vielleicht beide aus dem gleichen Geschlecht -- aber sie gehörten zu
zwei rechtsverschiedenen „Nationen“.

Dieser +arabische+ Begriff der Nation ist eine neue und ganz
entscheidende Tatsache. Die Grenze zwischen Heimat und Fremde lag in
der apollinischen Kultur zwischen je zwei Städten, in der magischen
+zwischen je zwei Glaubensgemeinschaften+. Was dem Römer der
_peregrinus_, der _hostis_, das ist dem Christen der Heide,
dem Juden der Amhaarez. Was für die Gallier oder Griechen zur Zeit
Cäsars der Erwerb des römischen Bürgerrechts war, +das ist jetzt
die christliche Taufe+: man tritt damit in die führende Nation
der führenden Kultur ein.[42] Die Perser der Sassanidenzeit kennen,
im Gegensatz zu denen der Achämenidenzeit, ein persisches Volk nicht
mehr als Einheit der Abkunft und Sprache, sondern als Einheit der
Mazdagläubigen im Gegensatz zu den Ungläubigen, mochten sie wie die
meisten Nestorianer von noch so reiner persischer Abstammung sein.
Und ebenso haben die Juden, später die Mandäer und Manichäer und noch
später die christlichen Kirchen der Nestorianer und Monophysiten sich
als Nationen, als Rechtsgemeinschaften und juristische Personen im
neuen Sinne empfunden.

Und damit entsteht eine Gruppe früharabischer Rechte, die ebenso
entschieden nach Religionen gesondert ist, wie die Gruppe der antiken
Rechte nach Stadtstaaten. Im Sassanidenreich entwickeln sich eigne
Rechtsschulen zoroastrischen Rechts; die Juden, die einen gewaltigen
Teil der Bevölkerung von Armenien bis Saba bilden, schaffen sich
ein Recht im Talmud, der einige Jahre vor dem _Corpus Juris_
abgeschlossen wird. Jede dieser Kirchen besitzt unabhängig von
den jeweiligen Landesgrenzen eine eigne Rechtsprechung wie noch
im heutigen Orient, und nur bei einem Streit zwischen Bekennern
verschiedener Religionen entscheidet der Richter, welcher der im Lande
herrschenden angehört. Den Juden hat im römischen Reich niemand ihre
eigene Gerichtsbarkeit streitig gemacht, aber auch die Nestorianer
und Monophysiten haben bald nach ihrer Lostrennung die Ausbildung
eines eignen Rechts mit eigner Rechtsprechung begonnen, und so wird
auf „negativem“ Wege, nämlich durch allmähliches Abscheiden aller
Andersgläubigen, das römische Kaiserrecht endlich zum Recht der
Christen, welche sich zum Glauben des Kaisers bekennen. Das gibt dem
in vielen Sprachen erhaltenen syrisch-römischen Rechtsbuch seine
Bedeutung. Es ist[43] wahrscheinlich vorkonstantinisch und in der
Kanzlei des Patriarchen von Antiochia entstanden, ein ganz unverkennbar
früharabisches Gewohnheitsrecht in unbeholfener spätantiker Fassung,
das, wie die Übersetzungen beweisen, seine Verbreitung der Opposition
gegen die orthodoxe kaiserliche Kirche verdankt. Es ist zweifellos die
Grundlage des Monophysitenrechts und herrscht bis zur Entstehung des
islamischen Rechts auf einem Gebiet, welches den Geltungsbereich des
_Corpus Juris_ weit übertrifft.

Es entsteht die Frage, welchen praktischen Wert in dieser Welt von
Rechten der lateinisch geschriebene Teil wirklich besitzen konnte.
Die Rechtshistoriker haben ihn mit der philologischen Einseitigkeit
des Fachs bis jetzt allein beachtet und konnten deshalb nicht einmal
bemerken, +daß+ hier ein Problem vorliegt. Ihre Texte waren das
Recht schlechthin, das Recht, welches von Rom zu uns kam. Für sie
handelte es sich einzig darum, die Geschichte dieser Texte, nicht
die ihrer tatsächlichen Bedeutung im Leben der östlichen Völker
zu untersuchen. Aber hier ist das hochzivilisierte Recht einer
greisen Kultur der Frühzeit einer jungen aufgenötigt worden. Es kam
als gelehrte Literatur herüber und zwar infolge der politischen
Entwicklung, die ganz anders geworden wäre, wenn Alexander und Cäsar
länger gelebt oder Antonius bei Aktium gesiegt hätte. Wir müssen die
früharabische Rechtsgeschichte von Ktesiphon und nicht von Rom aus
betrachten. Ist das innerlich längst abgeschlossene Recht des fernen
Westens hier mehr als bloße Literatur gewesen? Welchen Anteil hatte es
am wirklichen Rechtsdenken, der Rechtsschöpfung und Rechtspraxis dieser
Landschaft? Und wieviel Römisches, ja Antikes überhaupt ist in ihm
selbst erhalten geblieben?[44]

Die Geschichte dieses lateinisch geschriebenen Rechts gehört seit 160
dem arabischen Osten; es ist vielsagend, daß sie in genauer Parallele
zur Geschichte der jüdischen, christlichen und persischen Literatur
verläuft.[45] Die klassischen Juristen (160-220) Papinian, Ulpian,
Paulus waren Aramäer; Ulpian hat sich mit Stolz einen Phöniker aus
Tyrus genannt. Sie entstammen also derselben Bevölkerung wie die
Tannaim, welche bald nach 200 die Mischna abschlössen, und die meisten
Apologeten des Christentums (Tertullian 160-223). Gleichzeitig ist von
christlichen Gelehrten der Kanon und Text des Neuen, von jüdischen
der des hebräischen Alten Testaments -- unter Vernichtung sämtlicher
andern Handschriften -- von persischen der des Avesta festgestellt
worden. +Es ist die Hochscholastik der arabischen Frühzeit.+ Die
Digesten und Kommentare dieser Juristen stehen zum erstarrten antiken
Gesetzesstoff in genau demselben Verhältnis wie die Mischna zur Tora
des Moses und viel später die Hadith zum Koran; sie sind „Halacha“,[46]
neues Gewohnheitsrecht, welches in der Form einer Interpretation der
autoritativ überlieferten Gesetzesmasse erfaßt wurde. Die kasuistische
Methode ist überall genau die gleiche. Die babylonischen Juden
besaßen ein ausgebildetes Zivilrecht, das an den Hochschulen von Sura
und Pumbadita gelehrt wurde. Es bildet sich überall ein Stand von
Rechtsgelehrten, die _prudentes_ der christlichen, die Rabbiner
der jüdischen, später die Ulemas (persisch Mollas) der islamischen
Nation; sie stellen Gutachten aus, _responsa_, arabisch Fetwa.
Wird der Ulema staatlich anerkannt, so heißt er Mufti (byzantinisch
„_ex auctoritate principis_“): die Formen sind überall ganz
dieselben.

Um 200 gehen die Apologeten in die eigentlichen Kirchenväter, die
Tannaim in die Amoräer, die großen Kasuisten des Juristenrechts
(„_jus_“) in die Erklärer und Sammler des Konstitutionenrechts
(„_lex_“) über. Die Konstitutionen der Kaiser, seit 200 die einzige
Quelle neuen „römischen“ Rechts, sind wieder eine neue „Halacha“ zu der
in den Juristenschriften niedergelegten; sie entsprechen damit genau
der Gemara, die sich sofort als Auslegung der Mischna entwickelt. Beide
Richtungen sind gleichzeitig im Corpus Juris und Talmud zum Abschluß
gekommen.

Der Gegensatz von _jus_ und _lex_ im arabisch-lateinischen
Sprachgebrauch kommt in der Schöpfung Justinians sehr deutlich zum
Ausdruck. Institutionen und Digesten sind _jus_; sie haben
durchaus die Bedeutung kanonischer Texte. Konstitutionen und Novellen
sind _leges_, neues Recht in Form von Erläuterungen. In demselben
Verhältnis stehen die kanonischen Schriften des Neuen Testaments zur
Tradition der Kirchenväter.

Am orientalischen Charakter der Tausende von Konstitutionen zweifelt
heute niemand mehr. Es ist echtes Gewohnheitsrecht der arabischen Welt,
das unter dem Druck der lebendigen Entwicklung den gelehrten Texten
unterschoben werden mußte.[47] Die zahllosen Erlasse des christlichen
Herrschers in Byzanz, des persischen in Ktesiphon, des jüdischen, des
Resch Galuta, in Babylonien, endlich des islamischen Khalifen haben
genau die gleiche Bedeutung.

Aber welche Bedeutung hatte das +andere+ Stück dieser
Scheinantike, das alte Juristenrecht? Hier genügt es nicht, Texte
zu erklären. Man muß wissen, in welcher Beziehung der Text zum
Rechtsdenken und zur Rechtsprechung steht. Es kann sein, daß ein
und dasselbe Buch im Wachsein zweier Völkergruppen den Wert zweier
grundverschiedener Werke besitzt.

Es hat sich sehr bald die Gewohnheit ausgebildet, daß man überhaupt
nicht mehr die alten Gesetze der Stadt Rom auf den Tatsachenstoff
der Einzelfälle anwandte, sondern die Juristentexte wie die Bibel
zitierte.[48] Was bedeutet das? Unsern Romanisten ist es ein Zeichen
des tiefsten Verfalls im Rechtswesen. Von der arabischen Welt aus
betrachtet ist es das Gegenteil: ein Beweis dafür, daß es diesen
Menschen endlich gelungen ist, eine fremde, ihnen aufgedrungene
Literatur sich in der einzigen Form innerlich anzueignen, die für
ihr eignes Weltgefühl in Betracht kam. Hier eröffnet sich der ganze
Gegensatz von antikem und arabischem Weltgefühl.


17

Das antike Recht wird von Bürgern auf Grund praktischer Erfahrungen
geschaffen; das arabische stammt von Gott, der es durch den Geist
der Berufenen und Erleuchteten verkündet. Der römische Unterschied
von _jus_ und _fas_ -- deren Inhalt noch dazu stets aus
menschlicher Überlegung hervorgeht -- wird damit sinnlos. Jedes Recht
ist, ob weltlich oder geistig, _deo auctore_ entstanden, wie
die ersten Worte der Digesten Justinians lauten. Das Ansehen antiker
Rechte beruht auf dem Erfolg, dasjenige arabischer auf der Autorität
des Namens, den sie tragen.[49] Es ist aber ein gewaltiger Unterschied
im Gefühl des Menschen, ob er ein Gesetz als Willensausdruck eines
Mitmenschen oder als Bestandteil der göttlichen Ordnung hinnimmt. Im
einen Falle sieht er das Richtige ein oder weicht der Gewalt, im andern
beweist er seine Ergebung („_islam_“). Der Orientale verlangt
weder den praktischen Zweck des Gesetzes, das auf ihn angewendet wird,
noch die logischen Gründe des Urteils einzusehen. Das Verhältnis des
Kadi zum Volk läßt sich deshalb mit dem des Prätors überhaupt nicht
vergleichen. Dieser stützt seine Entscheidungen auf eine in hohen
Stellungen erprobte Einsicht, jener auf einen Geist, der irgendwie in
ihm wirksam wird und aus ihm spricht. Daraus folgt aber ein vollkommen
verschiedenes Verhältnis des Richters zum geschriebenen Rechte -- des
Prätors zu seinem Edikt, des Kadi zu den Juristentexten. Jenes ist die
Quintessenz von Erfahrungen, die er sich zu eigen gemacht hat, diese
sind eine Art Orakel, das man in geheimnisvoller Weise befragt. Denn
die praktische Absicht, der ursprüngliche Anlaß der Textstelle kommt
für den Kadi gar nicht in Betracht. Er befragt die Worte und sogar
die Buchstaben und zwar nicht nach ihrer Bedeutung im alltäglichen
Leben, sondern nach der +magischen+ Beziehung, in der sie zu
dem vorliegenden Fall stehen müssen. Wir kennen dies Verhältnis des
Geistes zum Buch aus der Gnosis, der frühchristlichen, jüdischen,
persischen Apokalyptik und Mystik, der neupythagoräischen Philosophie,
der Kabbala, und es besteht gar kein Zweifel, daß die lateinischen
Codices in der niederen aramäischen Rechtspraxis ganz ebenso gebraucht
worden sind. Die Überzeugung, daß der Geist Gottes in den Geheimsinn
der Buchstaben eingegangen ist, findet einen sinnbildlichen Ausdruck
in der schon erwähnten Tatsache, daß alle Religionen der arabischen
Welt eigene Schriftarten ausbilden, mit denen die heiligen Bücher
geschrieben sein müssen und die sich mit erstaunlicher Zähigkeit
als Kennzeichen der „Nationen“ behaupten, auch wenn sie die Sprache
wechseln.

Die Wahrheit ergibt sich aber bei einer Mehrzahl von Texten auch
im Recht aus dem _consensus_ der geistig Berufenen, dem
_idjma_.[50] Diese Theorie hat die islamische Wissenschaft
konsequent herausgearbeitet. Wir suchen jeder für sich die Wahrheit
durch eigne Überlegung zu finden. Der arabische Gelehrte aber prüft
und ermittelt jedesmal die allgemeine Überzeugung der Zugehörigen,
die deshalb nicht irren kann, weil der Geist Gottes und der Geist der
Gemeinde dasselbe sind. Ist ein _consensus_ erzielt, so steht die
Wahrheit fest. „_Idjma_“ ist der Sinn aller frühchristlichen,
jüdischen und persischen Konzile. Es ist aber auch der Sinn des
berühmten Zitiergesetzes Valentinians III. von 426, das unter völliger
Verkennung seiner geistigen Grundlagen die allgemeine Verachtung der
Rechtsforscher gefunden hat. Das Gesetz schränkt die Zahl der großen
Juristen, deren Text zitiert werden darf, auf fünf ein. Damit ist
ein Kanon im Sinne des Neuen und Alten Testaments geschaffen, die
beide ebenfalls die Summe der Texte enthalten, die als kanonisch
zitiert werden dürfen. Bei Meinungsverschiedenheit entscheidet die
Stimmenmehrheit, bei Stimmengleichheit Papinian.[51] Aus derselben
Anschauung ist auch die Methode der Interpolationen hervorgegangen,
die Tribonian in großem Stil beim Digestenwerk Justinians angewendet
hat. Ein kanonischer Text ist der Idee nach zeitlos wahr und also nicht
verbesserungsfähig. Die tatsächlichen Bedürfnisse des Geistes aber
ändern sich. Es entsteht daher eine Technik der geheimen Abänderungen,
welche die Fiktion der Unveränderlichkeit nach außen wahrt und die an
allen religiösen Schriften der arabischen Welt, auch denen der Bibel,
reichlich geübt worden ist.

Nach Mark Anton ist Justinian die verhängnisvollste Persönlichkeit der
arabischen Geschichte. Wie sein „Zeitgenosse“ Karl V. hat er alles
verdorben, wozu er berufen war. Wie im Abendlande der faustische Traum
von einer Auferstehung des heiligen römischen Reiches durch alle
politische Romantik zog und noch über Napoleon und die fürstlichen
Narren von 1848 hinaus den Tatsachensinn verdunkelte, so war Justinian
von der Donquijoterie der Wiedereroberung des gesamten Imperiums
besessen. Statt auf +seine+ Welt, den Osten, hat er den Blick
stets auf das ferne Rom gelenkt. Schon vor seiner Thronbesteigung hat
er mit dem römischen Papst verhandelt, der damals unter den großen
Patriarchen der Christenheit noch nicht einmal als _primus inter
pares_ allgemein anerkannt war. Das dyophysitische Symbol von
Chalcedon wurde auf dessen Verlangen eingeführt -- und damit gingen die
monophysitischen Landschaften für immer verloren. Die Folge von Aktium
war, daß die Ausbildung des Christentums in den entscheidenden ersten
zwei Jahrhunderten nach Westen, auf antikes Gebiet herüber gezogen
wurde, wo die geistige Oberschicht sich von ihr ausschloß. Dann hatte
der urchristliche Geist sich in Monophysiten und Nestorianern wieder
aufgerichtet. Justinian stieß ihn zurück und beschwor dadurch den Islam
+als neue Religion+ und nicht als puritanische Strömung innerhalb
des morgenländischen Christentums herauf. Und ebenso hat er in dem
Augenblick, wo die östlichen Gewohnheitsrechte für eine Kodifikation
reif geworden waren, einen lateinischen Kodex geschaffen, der im Osten
schon aus sprachlichen und im Westen aus politischen Gründen dazu
verurteilt war, Literatur zu bleiben.

Das Werk selbst ist wie die ihm entsprechenden des Drakon und Solon
an der Grenze der Spätzeit und in politischer Absicht entstanden. Im
Westen, wo die Fiktion der Fortdauer des _Imperium Romanum_ die
völlig sinnlosen Feldzüge des Belisar und Narses veranlaßt hatte,
waren um 500 von den Westgoten, Burgundern und Ostgoten lateinische
Gesetzbücher für die unterworfenen „Römer“ zusammengestellt worden.
Dem mußte von Byzanz aus ein eigentlich römisches Gesetzbuch
entgegengestellt werden. Im Osten hatte die jüdische Nation ihren
Kodex, den Talmud, eben abgeschlossen; bei der ungeheuren Zahl derer,
die im byzantinischen Reiche unter seinem Recht standen, wurde ein
Gesetzbuch für die eigne Nation des Kaisers, die christliche, zur
Notwendigkeit.

Denn das in seiner Abfassung überstürzte und technisch mangelhafte
_Corpus Juris_ ist trotz allem eine arabische und also eine
+religiöse+ Schöpfung; das beweist die christliche Tendenz
vieler Interpolationen,[52] die auf das Kirchenrecht bezüglichen
Konstitutionen, die im theodosianischen Kodex noch am Schluß, hier
aber am Anfang stehen, und sehr nachdrücklich die Vorreden zu vielen
seiner Novellen. Trotzdem ist das Buch kein Anfang, sondern ein
Ende. Das längst wertlos gewordene Latein verschwindet jetzt völlig
aus dem Rechtsleben -- schon die Novellen sind meist griechisch
geschrieben -- und mit ihm das törichterweise darin abgefaßte Werk.
Die Rechtsgeschichte aber setzt den Weg fort, den das syrisch-römische
Rechtsbuch gewiesen hatte, und führt im 8. Jahrhundert zu Werken, in
der Art unsrer Landrechte des 18. Jahrhunderts, wie die Ekloga des
Kaisers Leo[53] und das Corpus des persischen Erzbischofs Jesubocht,
eines großen Juristen.[54] Damals lebte bereits der größte Jurist des
Islam, Abu Hanifa.


18

Die Rechtsgeschichte des Abendlandes beginnt ganz unabhängig von
der damals vollständig verschollenen Schöpfung Justinians. Von
deren völliger Bedeutungslosigkeit zeugt die Tatsache, daß sich der
Hauptteil, die Pandekten, in einer einzigen Handschrift erhalten hat,
die um 1050 zufällig -- leider -- gefunden wurde.

Die Vorkultur hat seit 500 eine Reihe germanischer Stammesrechte --
das west- und ostgotische, burgundische, fränkische, langobardische
-- hervorgebracht. Sie entsprechen denen der arabischen Vorkultur,
von denen uns nur die jüdischen[55] erhalten geblieben sind: das
Deuteronomion (um 621, jetzt etwa Mos. V, 12-26) und der Priesterkodex
(um 450, jetzt etwa Mos. II-IV). Sie beschäftigen sich beide mit den
Grundwerten eines primitiven Daseins: Familie und Habe, und benützen
beide in urwüchsiger und doch kluger Weise ein altes zivilisiertes
Recht -- die Juden und sicherlich ebenso die Perser und andere das
spätbabylonische,[56] die Germanen einige Reste der stadtrömischen
Literatur.

Das politische Leben der gotischen Frühzeit mit seinen bäuerlichen,
feudalen und einfachsten Stadtrechten führt sehr bald zu einer
Sonderentwicklung in drei großen Rechtsgebieten, die heute noch in
der gleichen Schärfe fortbestehen. Es fehlt an einer einheitlichen und
vergleichenden Rechtsgeschichte des Abendlandes, welche den Sinn dieser
Entwicklung bis in seine letzte Tiefe verfolgt.

Bei weitem das wichtigste wurde infolge der politischen Schicksale
das aus dem fränkischen entlehnte normannische Recht. Es hat nach der
Eroberung Englands 1066 das einheimische sächsische unterdrückt, und
seitdem ist in England „das Recht der Großen das Recht des ganzen
Volkes“. Seinen rein germanischen Geist hat es von einer unerhört
strengen feudalen Fassung bis zur heute geltenden ohne Erschütterung
fortgebildet und es ist in Kanada, Indien, Australien, Südafrika und
den Vereinigten Staaten herrschendes Recht geworden. Ganz abgesehen
von dieser Macht ist es auch das lehrreichste von Westeuropa. Im
Unterschied von den andern lag seine Weiterbildung +nicht+ in den
Händen theoretischer Rechtslehrer. Das Studium des römischen Rechts
in Oxford wird der Praxis ferngehalten. Der hohe Adel lehnt es 1236
zu Merton ausdrücklich ab. Der Richterstand selbst bildet den alten
Rechtsstoff durch schöpferische Präjudizien fort, und aus diesen
praktischen Entscheidungen (_reports_) gehen dann die Rechtsbücher
hervor wie dasjenige Bractons (1259). Seitdem und heute noch gehen das
durch die Entscheidungen fortgesetzt lebendig erhaltene Statutenrecht
und das aus der Gerichtspraxis jederzeit erkennbare Gewohnheitsrecht
nebeneinander her, ohne daß einmalige Gesetzgebungsakte der
Volksvertretung nötig wären.

Im Süden herrschten die erwähnten germanisch-romanischen Codices, in
Südfrankreich der westgotische als _droit écrit_ im Gegensatz zum
fränkischen _droit coutumier_ des Nordens, in Italien bis tief in
die Renaissance der bedeutendste von ihnen, der fast rein germanische
der Langobarden. In Pavia entstand eine Hochschule deutschen Rechts,
aus welcher um 1070 die weitaus bedeutendste rechtswissenschaftliche
Leistung dieser Zeit, die Expositio, und gleich darauf ein Gesetzbuch,
die Lombarda, hervorging.[57] Die Rechtsentwicklung des gesamten Südens
wurde durch den _Code civil_ Napoleons abgebrochen und ersetzt.
Dies Buch ist in allen romanischen Ländern und weit darüber hinaus die
Grundlage weiterer Gestaltung geworden und damit nach dem englischen
Recht das wichtigste.

In Deutschland zerrann die mit den gotischen Stammesrechten
(Sachsenspiegel 1230, Schwabenspiegel 1274) gewaltig einsetzende
Bewegung im Nichts. Ein Gewirr kleiner Stadt- und Territorialrechte
kam auf, bis die lebensfremde politische Romantik von Träumern und
Schwärmern wie dem Kaiser Maximilian, die im Elend der Tatsachen
aufblühte, auch das Recht ergriff. Der Reichstag zu Worms schuf 1495
nach italienischem Muster die Kammergerichtsordnung. Zum Heiligen
Römischen Reich trat das kaiserlich römische als gemeines deutsches
Recht. Das altdeutsche Prozeßverfahren wurde gegen das italienische
vertauscht, die Richter mußten jenseits der Alpen studieren und sie
empfingen ihre Erfahrung statt aus dem Leben, das sie umgab, aus einer
begriffespaltenden Philologie. Nur in diesem Lande gibt es seitdem
Ideologen des römischen Rechts, welche das _Corpus Juris_ wie ein
Heiligtum gegen die Wirklichkeit verteidigen.

Was war es denn, das unter diesem Namen in den geistigen Besitz
einer kleinen Anzahl gotischer Menschen überging? Um 1100 hatte an
der Hochschule zu Bologna ein Deutscher, Irnerius, jene einzige
Pandektenhandschrift zum Gegenstand einer echten Rechtsscholastik
gemacht. Er übertrug die langobardische Methode auf den neuen Text,
„an dessen Wahrheit als einer _ratio scripta_ geglaubt wird
wie an die Bibel und den Aristoteles“.[58] Wahrheit -- aber das
gotische Verstehen, an die gotische Lebenshaltung gebunden, war weit
davon entfernt, den Geist dieser Sätze, der die Prinzipien eines
zivilisierten und weltstädtischen Lebens in sich schloß, auch nur
von fern zu ahnen. Diese Glossatorenschule stand wie alle Scholastik
im Banne des Begriffsrealismus -- das eigentlich Wirkliche, die
Substanz der Welt, sind nicht die Dinge, sondern die allgemeinen
Begriffe -- und es war für sie über allen Zweifel erhaben, daß man
das wahre Recht nicht aus Gewohnheit und Sitte wie die „elende und
schmutzige“ Lombarda, sondern durch Hin- und Herwenden abstrakter
Begriffe finde.[59] Sie hatten ein rein dialektisches Interesse an
dem Buch[60] und dachten nicht im geringsten an eine Anwendung ihrer
Gelehrsamkeit auf das Leben. Erst nach 1300 dringen ihre Glossen und
Summen gegen die lombardischen Rechte der Renaissancestädte langsam
vor. Die Juristen der Spätgotik, Bartolus vor allem, haben kanonisches
und germanisches Recht zu einem für die praktische Anwendung bestimmten
Ganzen verschmolzen. Sie trugen wirkliche Gedanken hinein und zwar
die einer beginnenden Spätzeit, die etwa der Gesetzgebung Drakons und
den Erlassen der Kaiser von Diokletian bis Theodosius entspricht.
+Die Schöpfung des Bartolus+ ist in Spanien und Deutschland
als „römisches Recht“ geltend geworden; nur in Frankreich ging die
Jurisprudenz des Barock seit Cujacius und Donellus vom scholastischen
zum byzantinischen Text zurück.

Neben der abstrakten Leistung des Irnerius ist aber, und zwar auch
in Bologna, etwas ganz Entscheidendes geschehen. Hier schrieb um
1140 der Mönch Gratian sein berühmtes Decretum. Er schuf damit die
abendländische +Wissenschaft vom geistlichen Recht+, indem
er[61] das altkatholische -- magische -- Kirchenrecht von dem
früharabischen[62] Ursakrament der Taufe her in ein System brachte.
Nun hatte das neukatholische -- faustische -- Christentum eine Form
gefunden, in der es sein Dasein rechtlich zum Ausdruck brachte. Es
geschah von dem gotischen Ursakrament des Altars (und dessen Stütze,
der Priesterweihe) aus. 1234 ist im _Liber extra_ das Hauptstück
des _Corpus Juris Canonici_ fertig geworden. Was das Kaisertum
nicht vermocht hatte, +die Schöpfung eines allgemein abendländischen
_Corpus Juris Germanici_+ aus all den reichen Ansätzen der
Stammesrechte, das gelang dem Papsttum. Ein vollständiges Privatrecht
mit Strafrecht und Prozeßordnung entstand mit germanischer Methode
aus dem geistlich-weltlichen Rechtsstoff der Gotik. Es ist das
„römische“ Recht, dessen Geist seit Bartolus auch das Studium des
justinianischen Werkes durchdrang. Und damit erscheint auch im Recht
der große faustische Zwiespalt, welcher den riesenhaften Kampf zwischen
Kaisertum und Papsttum heraufgeführt hat. Wie in der arabischen Welt
der Widerspruch zwischen _jus_ und _fas_ unmöglich, so ist
er in der abendländischen unvermeidlich. Sie sind beide Ausdruck eines
Willens zur Macht über das Unendliche: der weltliche Rechtswille
stammt aus der Sitte und legt seine Hand auf die Generationen der
Zukunft, der geistliche stammt aus einer mystischen Gewißheit und gibt
ein zeitlos ewiges Gesetz.[63] Dieser Kampf ebenbürtiger Gegner ist nie
beendet worden und steht uns heute noch im Eherecht, in dem Gegensatz
von kirchlicher und ziviler Trauung vor Augen.

Mit dem Anbruch des Barock erhebt das Leben, das städtische und
geldwirtschaftliche Formen angenommen hat, die Forderung nach einem
Recht, wie es die antiken Stadtstaaten seit Solon gaben. Man versteht
jetzt den Zweck des geltenden Rechts, aber an dem verhängnisvollen Erbe
der Gotik, daß ein Gelehrtenstand die Schöpfung des „Rechtes, das mit
uns geboren ist“, als sein Privilegium betrachtet, vermochte niemand
etwas zu ändern.

Der städtische Rationalismus wendet sich wie in der sophistischen und
stoischen Philosophie dem Naturrecht zu, von seiner Begründung durch
Oldendorp und Bodinus bis zu seiner Zerstörung durch Hegel. In England
hat sein größter Jurist, Coke, das germanische, sich in der Praxis
fortbildende Recht gegen den letzten Versuch verteidigt, den die Tudors
zur Einführung des Pandektenrechts machten. Auf dem Festlande aber
entwickelten sich die gelehrten Systeme in +römischen+ Formen
bis zu den deutschen Landrechten und den Entwürfen des _ancien
régime_, auf die Napoleon sich stützte. Und so ist Backstones
Kommentar zu den _Laws of England_ (1765) der +einzige rein
germanische Kodex+ an der Schwelle der abendländischen Zivilisation.


19

Hiermit bin ich am Ziel und ich blicke um mich. Drei Rechtsgeschichten
liegen vor dem Auge, verknüpft nur durch die Elemente der sprachlichen
und syntaktischen Form, welche die eine von der andern nahm oder nehmen
mußte, ohne durch deren Gebrauch das fremde Dasein, das ihnen zugrunde
lag, auch nur zu Gesicht zu bekommen. Zwei von ihnen sind vollendet. In
der dritten stehen wir selbst und zwar an der entscheidenden Stelle,
wo die aufbauende Arbeit großen Stils erst beginnt, welche dort
ausschließlich den Römern und dem Islam zugefallen ist.

Was war uns bis jetzt das römische Recht? Was hat es verdorben? Was
kann es uns in Zukunft sein?

Durch unsere Rechtsgeschichte geht als Grundmotiv der Kampf zwischen
Buch und Leben. Das abendländische Buch ist nicht Orakel und
Zaubertext mit magischem Geheimsinn, sondern +ein Stück aufbewahrter
Geschichte+. Es ist gedrängte Vergangenheit, die Zukunft werden
will, und zwar durch uns, die Leser, in denen sein Inhalt wieder
auflebt. Der faustische Mensch will nicht wie der antike sein Leben als
etwas in sich Geschlossenes vollenden, sondern ein Leben fortsetzen,
das weit vor ihm anhob und lange nach ihm zu Ende geht. Für den
gotischen Menschen, insofern er über sich nachsann, stand es nicht
in Frage, ob, sondern wo er sein Dasein historisch anknüpfen sollte.
Er brauchte eine Vergangenheit, um der Gegenwart Sinn und Tiefe zu
geben. Wie vor dem geistlichen Blick das alte Israel, so tauchte vor
dem weltlichen das alte Rom auf, dessen Trümmer man allenthalben sah.
Man verehrte es, nicht weil es groß, sondern weil es alt und fern war.
Hätten diese Menschen Ägypten gekannt, sie würden Rom kaum bemerkt
haben. Die Sprache unserer Kultur wäre anders geworden.

Da sie eine Bücher- und Leserkultur war, so ist überall, wo es noch
antike Schriften gab, eine „Rezeption“ eingetreten, und die Entwicklung
nahm die Form einer langsamen und widerwilligen Befreiung an. Rezeption
des Aristoteles, des Euklid, des _Corpus Juris_ heißt -- im
magischen Osten bedeutet sie etwas anderes -- ein Gefäß für die eignen
Gedanken fertig und viel zu früh entdecken. Aber damit wird ein
historisch veranlagter Mensch der Sklave von Begriffen. Nicht daß ein
fremdes Lebensgefühl in sein Denken kommt, denn es kommt nicht hinein,
aber es hindert sein eignes Lebensgefühl daran, eine unbefangene
Sprache zu entwickeln.

Nun ist das Rechtsdenken gezwungen, sich auf etwas Greifbares zu
beziehen. Rechtsbegriffe müssen von irgend etwas abgezogen werden. Und
da liegt das Verhängnis: statt sie aus der starken und strengen Sitte
des sozialen und wirtschaftlichen Daseins zu gewinnen, wurden sie
vorzeitig und zu schnell aus lateinischen Schriften abstrahiert. Der
abendländische Jurist wird Philologe, und an die Stelle praktischer
Lebenserfahrung tritt eine gelehrte Erfahrung von der rein logischen
Zerlegung und Verknüpfung der Rechtsbegriffe, die ausschließlich in
sich selbst begründet wird.

Darüber ist uns eine Tatsache vollständig abhanden gekommen, daß
nämlich +das Privatrecht den Geist des jeweiligen sozialen und
wirtschaftlichen Daseins darstellen soll+. Weder der _Code
civil_ noch das preußische Landrecht, weder Grotius noch Mommsen
sind sich dieser Tatsache deutlich bewußt. Weder die Ausbildung des
Juristenstandes noch die Literatur lassen auch nur die geringste Ahnung
von dieser eigentlichen „Quelle“ des geltenden Rechts aufkommen.

Infolgedessen besitzen wir ein Privatrecht auf der schattenhaften
Grundlage +der spätantiken Wirtschaft+. Die tiefe Erbitterung,
welche mit dem Beginn des zivilisierten abendländischen
Wirtschaftslebens die Namen Kapitalismus und Sozialismus einander
entgegenstellt, beruht zum großen Teil darauf, daß das gelehrte
Rechtsdenken und unter seinem Einfluß das Denken der Gebildeten
überhaupt so entscheidende Begriffe wie Person, Sache und Eigentum
an Zustände und Einteilungen des antiken Lebens anknüpft. Das Buch
stellt sich zwischen die Tatsachen und ihre Auffassung. Der Gebildete
-- und das heißt der durch Bücher Gebildete -- wertet heute noch
wesentlich antik. Der nur Tätige und nicht zum Urteil Erzogene fühlt
sich mißverstanden. Er bemerkt den Widerspruch zwischen dem Leben der
Zeit und seiner rechtlichen Erfassung und sucht nach dem, welcher ihn,
seiner Meinung nach aus Eigennutz, hervorgebracht hat.

Es ist wieder die Frage: Von wem und für wen wird das abendländische
Recht geschaffen? Der römische Prätor war Grundbesitzer, Offizier,
in Verwaltungs- und Finanzfragen erfahren und erst damit für
seine richterliche und zugleich rechtsetzende Tätigkeit geschult.
Der _praetor peregrinus_ entwickelte das Fremdenrecht als
wirtschaftliches Verkehrsrecht einer spätantiken Weltstadt, und zwar
ohne Plan und Tendenz, nur aus wirklich vorliegenden Fällen heraus.

Der faustische Wille zur Dauer aber verlangt ein Buch, das „von nun
an für immer“ gilt,[64] ein System, das jeden überhaupt möglichen
Fall vorwegnehmen soll. Dies Buch, eine gelehrte Arbeit, schuf sich
mit Notwendigkeit einen gelehrten Stand von Rechtsschöpfern und
Rechtsverwaltern: die Doktoren der Fakultäten, die alten deutschen
Juristenfamilien, die französische _noblesse de robe_. Die
englischen Judges, wenig mehr als hundert, werden zwar dem höheren
Verteidigerstand (den _barristers_) entnommen, stehen aber im Rang
selbst über den Ministern.

Ein gelehrter Stand ist weltfremd. Er verachtet die Erfahrung, die
nicht aus dem Denken stammt. Es erhebt sich ein unvermeidlicher Kampf
zwischen der fließenden Sitte des praktischen Lebens und dem „Stand
der Wissenschaft“. Jene Pandektenhandschrift des Irnerius ist durch
Jahrhunderte „die Welt“ gewesen, in welcher der gelehrte Jurist
lebte. Selbst in England, wo es keine Rechtsfakultäten gibt, nahm die
Juristenzunft die Ausbildung des Nachwuchses ausschließlich in die
Hand und sonderte damit die Entwicklung der Rechtsbegriffe von der
allgemeinen Entwicklung ab.

Was wir bis heute Rechtswissenschaft nennen, ist also entweder
Philologie der Rechtssprache oder Scholastik der Rechtsbegriffe. Es
ist die einzige Wissenschaft, die heute noch den Sinn des Lebens aus
„ewigen“ Grundbegriffen ableitet. „Die deutsche Rechtswissenschaft
von heute stellt in sehr bedeutendem Maße ein Erbe der Scholastik
des Mittelalters dar.[65] Ein rechtstheoretisches Durchdenken der
Grundwerte unseres +wirklichen+ Lebens hat noch nicht angefangen.
Wir kennen diese Werte noch gar nicht.“

Dies ist eine Aufgabe, welche dem deutschen Denken der Zukunft
vorbehalten ist. Es handelt sich darum, aus dem praktischen Leben
der Gegenwart dessen tiefste Prinzipien zu entwickeln und sie zu
grundlegenden Rechtsbegriffen zu erheben. Die großen Künste liegen
hinter uns, die Rechtswissenschaft liegt vor uns.

Denn die Arbeit des 19. Jahrhunderts war, sie mochte sich selbst für
noch so schöpferisch halten, lediglich Vorbereitung. +Sie hat uns
von dem Buche Justinians befreit, nicht von den Begriffen.+ Die
Ideologen des römischen Rechts unter den Gelehrten kommen nicht mehr in
Betracht, aber die Gelehrsamkeit alten Stils ist geblieben. Eine andere
Art von Rechtswissenschaft ist notwendig, um uns auch vom Schema
dieser Begriffe zu befreien. Die philologische muß durch eine soziale
und wirtschaftliche Erfahrung abgelöst werden.

Ein Blick auf das deutsche Privatrecht und Strafrecht enthüllt die
Lage. Es sind Systeme, die von einem Kranz von Nebengesetzen umgeben
sind. Es war unmöglich, deren Stoff dem Hauptgesetz einzuverleiben.
Hier fällt begrifflich und also syntaktisch auseinander, was mit dem
antiken Schema noch eben erfaßbar war und was nicht.

Warum mußte der Diebstahl von elektrischer Kraft, nach einem grotesken
Streit, ob es sich um eine körperliche Sache handle, 1900 durch ein
Notgesetz unter Strafe gestellt werden? Warum kann der Inhalt der
Patentgesetze nicht in das Sachenrecht hineingearbeitet werden? Warum
vermag das Urheberrecht die geistige Schöpfung, deren mitteilbare
Gestalt als Manuskript und das gegenständliche Druckwerk begrifflich
nicht auseinanderzuhalten? Warum mußte im Widerspruch zum Sachenrecht
an einem Gemälde das künstlerische und das materielle Eigentum durch
die Trennung vom Erwerb des Originals und des Reproduktionsrechtes
unterschieden werden? Warum ist die Entwendung einer geschäftlichen
Idee oder eines Organisationsplanes straffrei, die Entwendung des
Papierstückes, auf dem der Entwurf steht, aber nicht? Weil wir heute
noch von +dem antiken Begriff der körperlichen Sache+ beherrscht
sind.[66] Wir leben anders. Unsere instinktive Erfahrung steht unter
den +funktionalen+ Begriffen der Arbeitskraft, des Erfinder-
und Unternehmergeistes, der geistigen, körperlichen, künstlerischen,
organisatorischen Energien, Fähigkeiten und Talente. Unsere Physik,
deren weit fortgeschrittene Theorie ein genaues Abbild unserer heutigen
Lebensweise ist, kennt den alten Begriff des Körpers, wie gerade die
Lehre von der elektrischen Kraft beweist, überhaupt nicht mehr. Warum
ist unser Recht begrifflich ohnmächtig gegenüber den großen Tatsachen
der heutigen Wirtschaft? Weil es auch die Person +nur als Körper+
kennt.

Wenn das abendländische Rechtsdenken antike Worte übernahm, so blieb
nur das Oberflächlichste der antiken Bedeutung an ihnen haften. Der
Textzusammenhang erschließt nur den +logischen+ Wortgebrauch und
nicht das Leben, das ihm zugrunde lag. Die stille Metaphysik alter
Rechtsbegriffe ist durch keinen Gebrauch im Denken fremder Menschen
wieder zu erwecken. Gerade das Letzte und Tiefste ist in keinem Recht
der Welt ausgesprochen, weil es selbstverständlich ist. Jedes von ihnen
setzt das Wesentliche schweigend voraus; es wendet sich an Menschen,
die außer der Satzung auch das nie Auszusprechende und gerade dieses
innerlich verstehen und zu gebrauchen wissen. Jedes Recht ist in einem
nie zu überschätzenden Maße Gewohnheitsrecht: mag das Gesetz die Worte
definieren; das Leben +deutet+ sie.

Wenn aber eine von Gelehrten behandelte fremde Rechtssprache mit ihrem
Begriffschema das eigne Recht binden will, so bleiben die Begriffe
leer und das Leben stumm. Das Recht wird nicht zur Waffe, sondern
zur Last und die Wirklichkeit schreitet nicht mit, sondern neben der
Rechtsgeschichte fort.

Und deshalb ist der von den Tatsachen unserer Zivilisation geforderte
Rechtsstoff dem antiken Schema der Rechtsbücher zum Teil äußerlich, zum
Teil gar nicht eingegliedert, und damit für das Rechtsdenken und also
das Denken der Gebildeten noch formlos und mithin nicht vorhanden.

Sind Personen und Sachen im Sinne unserer heutigen Gesetzgebung
überhaupt Rechtsbegriffe? Nein! Sie ziehen nur eine banale Grenze
zwischen dem Menschen und dem übrigen, sie treffen eine sozusagen
naturwissenschaftliche Unterscheidung. Aber an dem römischen Begriff
_persona_ haftete einst die ganze Metaphysik des antiken Seins:
Der Unterschied von Mensch und Gottheit, das Wesen der Polis, des
Heros, des Sklaven, des Kosmos aus Stoff und Form, das Lebensideal
der Ataraxie sind die selbstverständliche Voraussetzung, die für uns
durchaus verschwunden ist. Das Wort Eigentum ist in unserem Denken mit
der antiken +statischen+ Definition behaftet und fälscht deshalb
in allen Anwendungen den dynamischen Charakter unserer Lebensführung.
Wir überlassen solche Definitionen weltfremden und abstrakten Ethikern,
Juristen, Philosophen und dem verständnislosen Gezänk politischer
Doktrinäre, und dennoch beruht das +ganze+ Verstehen der
Wirtschaftsgeschichte dieser Tage +auf der Metaphysik dieses einen
Begriffes+.

Und deshalb sei es hier in aller Schärfe gesagt: Das antike
Recht war ein +Recht von Körpern+, unser Recht ist das von
+Funktionen+. Die Römer schufen eine juristische Statik, unsere
Aufgabe ist eine juristische Dynamik. Für uns sind Personen nicht
Körper, sondern Einheiten der Kraft und des Willens, und Sachen nicht
Körper, sondern Ziele, Mittel und Schöpfungen dieser Einheiten. Die
antike Beziehung zwischen Körpern war die Lage, die Beziehung zwischen
Kräften heißt aber Wirkung. Für einen Römer war der Sklave eine Sache,
die neue Sachen hervorbrachte. Der Begriff des geistigen Eigentums ist
einem Schriftsteller wie Cicero nie gekommen, geschweige denn der des
Eigentums an einer praktischen Idee oder den Möglichkeiten einer großen
Begabung. Für uns aber ist der Organisator, Erfinder und Unternehmer
+eine erzeugende Kraft+, die auf andere, +ausführende Kräfte+
wirkt, indem sie ihnen Richtung, Aufgabe und Mittel zu eigner Wirkung
gibt. Beide gehören dem Wirtschaftsleben an nicht als Besitzer von
Sachen, sondern als Träger von Energien.

Eine Umstellung des gesamten Rechtsdenkens nach Analogie der höheren
Physik und Mathematik wird zur Forderung der Zukunft. Das gesamte
soziale, wirtschaftliche, technische Leben wartet darauf, endlich in
diesem Sinne begriffen zu werden; wir brauchen mehr als ein Jahrhundert
schärfsten und tiefsten Denkens, um dies Ziel zu erreichen. Und dazu
bedarf es einer ganz andern Art der Vorbildung des Juristen. Sie fordert

  1. eine unmittelbare ausgedehnte und +praktische+ Erfahrung im
  Wirtschaftsleben der Gegenwart,

  2. eine genaue Kenntnis der Rechtsgeschichte des Abendlandes, unter
  beständiger Vergleichung der deutschen, englischen und romanischen
  Entwicklung,

  3. die Kenntnis des antiken Rechts und zwar +nicht+ als eines
  Musters der heute geltenden Begriffe, sondern als glänzendes Beispiel
  dafür, wie ein Recht sich rein aus dem +praktischen+ Leben der
  Zeit entwickelt.

Das römische Recht hat aufgehört, für uns der Ursprung der für immer
gültigen Grundbegriffe zu sein. Aber das Verhältnis zwischen dem
römischen Dasein und den römischen Rechtsbegriffen macht es uns von
neuem wertvoll. Wir können an ihm lernen, wie wir unser Recht aus
+eignen+ Erfahrungen herauszubilden haben.


    [20] Arabisch idjma, vgl. Kap. III A.

    [21] R. Hirzel, Die Person, 1914, S. 17.

    [22] L. Wenger, Das Recht der Griechen und Römer, 1914, S. 170. R.
    v. Mayr, Römische Rechtsgeschichte II, 1, S. 87.

    [23] Die „Abhängigkeit“ des antiken Rechts vom ägyptischen ist
    zufällig noch festzustellen: der Großkaufmann Solon hat in seiner
    attischen Rechtsschöpfung Bestimmungen über Schuldknechtschaft,
    Obligationenrecht, Arbeitsscheu und Erwerbslosigkeit der
    ägyptischen Gesetzgebung entnommen, Diodor I, 77, 79, 94.

    [24] L. Wenger, Recht der Griechen und Römer, S. 166 f.

    [25] Beloch, Griech. Gesch. I, 1, S. 350.

    [26] Hinter denen das etruskische Recht steht, die Urform des
    altrömischen. Rom war eine etruskische Stadt.

    [27] Busolt, Griech. Staatskunde S. 528.

    [28] Das historisch Wichtige für uns ist am Zwölftafelrecht also
    nicht der angebliche Inhalt, von dem zur Zeit Ciceros kaum noch ein
    echter Satz erhalten sein konnte, sondern der politische Akt der
    Kodifikation selbst, dessen Tendenz dem Sturz der tarquinischen
    Tyrannis durch die Oligarchie des Senats entspricht, und ohne
    Zweifel diesen Erfolg, der gefährdet war, für die Zukunft
    sicherstellen sollte. Der Text, den zur Zeit Cäsars die Knaben
    auswendig lernten, wird dasselbe Schicksal gehabt haben wie die
    Konsulnliste der älteren Zeit, in die man Namen über Namen von
    Geschlechtern hineinbrachte, die viel später zu Reichtum und
    Einfluß gelangt waren. Wenn neuerdings Pais und Lambert diese ganze
    Gesetzgebung bestreiten, so mögen sie für die zwölf Tafeln Recht
    haben, insofern in ihnen das gestanden haben soll, was später als
    ihr Inhalt galt, nicht aber in bezug auf den politischen Vorgang um
    450.

    [29] Vgl. Kap. II A.

    [30] Sohm, Institutionen¹⁴, S. 101.

    [31] Lenel, Das _Edictum perpetuum_, 1907. L. Wenger S. 168.

    [32] Selbst das Einmaleins der Kinder setzt die Bekanntschaft mit
    den Elementen der Bewegungsmechanik beim Abzählen voraus.

    [33] v. Mayr II, 1, S. 85. Sohm S. 105.

    [34] Lenel in der Enzykl. d. Rechtswiss. I, S. 357.

    [35] Das ägyptische Recht der Hyksoszeit, das chinesische der „Zeit
    der kämpfenden Staaten“ müssen im Gegensatz zum antiken Recht und
    dem indischen der Darmasutras auf ganz andern Grundbegriffen als
    denen der +körperlichen+ Personen und Sachen aufgebaut gewesen
    sein. Es wäre eine große Befreiung vom Drucke der römischen
    „Altertümer“, wenn es der deutschen Forschung gelänge, sie
    festzustellen.

    [36] Sohm S. 220.

    [37] Apostelgesch. 15; hier liegt die Wurzel des Begriffs von einem
    Kirchenrecht.

    [38] Der Islam als jurist. Person: M. Horten, Die religiöse
    Gedankenwelt des Volkes im heutigen Islam 1917, S. XXIV.

    [39] Vgl. Kap. III A. Der Ausdruck kann gewagt werden, weil die
    Anhänger aller spätantiken Kulte durch ein frommes Gemeingefühl
    ebenso zusammengehalten wurden wie die christlichen Einzelgemeinden.

    [40] v. Mayr III, S. 38. Wenger S. 193.

    [41] Die XII hatten das _conubium_ sogar zwischen Patriziern und
    Plebejern verboten.

    [42] Vgl. Kap. II C.

    [43] Lenel I, S. 380.

    [44] Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht, S. 13 hat schon 1891 auf
    den orientalischen Zug in der Gesetzgebung Konstantins aufmerksam
    gemacht. Collinet, _Études historiques sur le droit de Justinien
    I_ (1912) führt, übrigens meist auf Grund deutscher Forschungen,
    unendlich vieles auf hellenistisches Recht zurück; aber wieviel
    von diesem „Hellenistischen“ war wirklich griechisch und nicht nur
    griechisch geschrieben? Die Ergebnisse der Interpolationenforschung
    sind für den „antiken“ Geist der Digesten Justinians wahrhaft
    vernichtend.

    [45] Vgl. Kap. III A.

    [46] Fromer, Der Talmud, 1920, S. 190.

    [47] Mitteis, Röm. Privatrecht bis auf die Zeit Diokletians, 1908,
    Vorwort, bemerkt „wie unter Beibehaltung der antiken Rechtsformen
    das Recht selbst doch überall ein anderes geworden ist“.

    [48] v. Mayr IV, S. 45 f.

    [49] Daher die fingierten Verfassernamen auf zahllosen Büchern
    aller arabischen Literaturen: Dionysius Areopagita, Pythagoras,
    Hermes, Hippokrates, Henoch, Baruch, Daniel, Salomo, die
    Apostelnamen der vielen Evangelien und Apokalypsen.

    [50] M. Horten, D. rel. Gedankenwelt d. Volkes im heut. Islam, S.
    XVI. Vgl. Kap. III A.

    [51] v. Mayr. IV, 45 f.

    [52] Wenger S. 180

    [53] Krumbacher, Byzant. Lit.-Gesch. S. 606.

    [54] Sachau, Syr. Rechtsbücher Bd. III.

    [55] Bertholet, Kulturgeschichte Israels S. 200 ff.

    [56] Eine Ahnung davon gibt das berühmte Gesetz Hammurabis, ohne
    daß wir wissen können, wie dies einzelne Werk sich dem innern Range
    nach zu dem in der babylonischen Welt überhaupt erreichten Recht
    verhält.

    [57] Sohm, Inst. S. 156.

    [58] Lenel I, S. 395.

    [59] Das Wortspiel von lombardischer _faex_ und römischer _lex_ ist
    von Huguccio (1200).

    [60] W. Goetz, Arch. f. Kulturgesch. 10, 28 ff.

    [61] Nach Sohms letzter Abhandlung: Das altkatholische Kirchenrecht
    und das Dekret Gratians, 1918.

    [62] Vgl. Kap. III A.

    [63] Vgl. Kap. IV A.

    [64] Was in England für immer gut, ist die ständige Form der
    Weiterbildung des Rechtes durch die Praxis.

    [65] Sohm, Inst. S. 170.

    [66] BGB. § 90.




ZWEITES KAPITEL

STÄDTE UND VÖLKER




DIE SEELE DER STADT


1

Am ägäischen Meer liegen um die Mitte des zweiten Jahrtausends v.
Chr. zwei Welten sich gegenüber, eine, die in dumpfen Ahnungen,
hoffnungsschwer und trunken von Leid und Tat der Zukunft leise
heranreift: die mykenische -- und eine andere, die sich heiter und
gesättigt hinlagert unter den Schätzen einer alten Kultur, fein und
leicht, alle großen Probleme weit hinter sich: die minoische auf Kreta.

Wir werden diese Erscheinung, die eben heute in den Mittelpunkt der
Forschung rückt, nie wirklich verstehen, wenn wir den Abgrund der
Gegensätze nicht ermessen, der zwischen beiden Seelen liegt. Die
Menschen von damals müssen ihn tief gefühlt, aber kaum „erkannt“
haben. Ich sehe es vor mir: das ehrfürchtige Hinaufschauen der
Burgbewohner von Tiryns und Mykene zu der unerreichten Geistigkeit
der Lebensgewohnheiten in Knossos; die Verachtung, mit welcher dessen
gepflegte Bevölkerung auf jene Häuptlinge und ihr Gefolge herabblickte;
und doch wieder ein heimliches Gefühl von Überlegenheit bei diesen
gesunden Barbaren, wie es jeder germanische Soldat den greisenhaften
Würdenträgern Roms gegenüber hatte.

Woher wir das wissen dürfen? -- Es gab mehr solcher Augenblicke, wo die
Menschen zweier Kulturen sich ins Auge sahen. Wir kennen mehr als ein
„zwischen den Kulturen“. Es kommen da Stimmungen zum Vorschein, welche
zu den aufschlußreichsten der Menschenseele gehören.

Wie ohne Zweifel zwischen Knossos und Mykene, so war auch das
Verhältnis zwischen dem byzantinischen Hofe und den deutschen Großen,
die wie Otto II. dorthin heirateten, das helle Verwundern der Ritter
und Grafen, und als Antwort darauf das verächtliche Erstaunen einer
feinen, etwas welken und müden Zivilisation über die bärenmäße
Morgenfrühe und Frische der deutschen Lande, wie es Scheffels Ekkehard
beschreibt.

In Karl dem Großen tritt jene Mischung urmenschlichen Seelentums kurz
vor dem Erwachen und einer späten darüber gelagerten Geistigkeit
hell zutage. Wir können ihn nach gewissen Zügen seiner Herrschaft
als den Khalifen von Frankistan bezeichnen; andererseits ist er noch
der Häuptling eines germanischen Stammes; in der Mischung von beidem
liegt das Symbolische der Erscheinung, wie in den Formen der Aachener
Palastkapelle, die nicht mehr Moschee und noch nicht Dom ist. Die
germanisch-abendländische Vorkultur schreitet unterdessen langsam
und unterirdisch vor, aber jenes plötzliche Aufleuchten, das wir
ungeschickt genug als karolingische Renaissance bezeichnen, kam durch
einen Strahl von Bagdad her. Man übersehe nicht, daß die Zeit Karls des
Großen eine Episode der Oberfläche ist. Mit ihm ist etwas gleich wieder
zu Ende, etwas Zufälliges und Folgenloses. Nach 900, nach einer tiefen
Senkung beginnt etwas Neues, das mit der Wucht eines Schicksals und mit
einer Tiefe, die Dauer verheißt, zur Wirkung gelangt. Aber um 800 ging
die arabische Zivilisation von den Weltstädten des Orients wie eine
Sonne über den Ländern auf, ganz wie einst die hellenistische, die ohne
Alexander und sogar vor ihm ihren Glanz bis zum Indus warf. Alexander
hat sie weder aufgeweckt noch ausgebreitet; er zog auf ihrer Bahn nach
dem Osten und nicht an ihrer Spitze.

Was auf den Hügeln von Tiryns und Mykene steht, sind +Pfalzen und
Burgen+ nach urwüchsiger germanischer Art. Die kretischen Paläste
-- nicht Königsschlösser, sondern gewaltige Kultanlagen für eine
zahlreiche Gemeinschaft von Priestern und Priesterinnen -- sind mit
einem weltstädtischen, wahrhaft spätrömischen Luxus ausgestattet.
An den Fuß jener Burghügel drängen sich die Hütten der Ackerbürger
und Hörigen; auf Kreta werden -- wie in Gurnia und Hagia Triada --
Städte und Villen ausgegraben, welche hochzivilisierte Bedürfnisse
und eine Bautechnik mit langen Erfahrungen erkennen lassen, die mit
den verwöhntesten Ansprüchen an Möbelform und Wanddekoration, mit
Lichtschächten, Kanalisationsanlagen, Treppenhäusern und ähnlichen
Aufgaben durchaus vertraut ist. Wir haben den Grundriß des Hauses
dort als strenges Lebenssymbol, hier als Ausdruck einer raffinierten
„Zweckmäßigkeit“. Man vergleiche diese kretischen Kamaresvasen und
Fresken auf geglättetem Stuck mit allem echt Mykenischen. Das ist
durch und durch +Kunstgewerbe+, fein und leer, und nicht etwa
eine große und tiefe Kunst, von schwerer, unbeholfener Symbolik, wie
sie dort dem geometrischen Stil entgegenreift. Es ist überhaupt kein
Stil, sondern ein Geschmack.[67] In Mykene haust eine ursprüngliche
Rasse, die ihre Sitze nach dem Bodenertrag und der Sicherheit vor
Feinden wählt; die minoische Bevölkerung siedelt nach geschäftlichen
Gesichtspunkten, wie es ganz deutlich die Stadt Philakopi auf Melos
zeigt, die des Obsidianexports wegen angelegt wurde. Ein mykenischer
Palast ist ein Versprechen, ein minoischer ist etwas Letztes. Aber
ganz ebenso lagen um 800 die fränkischen und westgotischen Gehöfte und
Edelsitze von der Loire bis zum Ebro, und südlich davon die maurischen
Schlösser, Villen und Moscheen von Kordova und Granada.

Es ist gewiß kein Zufall, daß die Blüte des minoischen Luxus genau in
die Zeit der großen ägyptischen Revolution, vor allem die Hyksoszeit
fällt (1780-1580).[68] Damals mögen die ägyptischen Kunsthandwerker auf
die friedlichen Inseln und bis zu den Burgen des Festlandes geflüchtet
sein, wie in einem späteren Falle die byzantinischen Gelehrten nach
Italien. Denn das gehört zur Voraussetzung jedes Verständnisses: die
minoische Kultur ist ein Bestandteil der ägyptischen. Wir würden das
besser wissen, wenn nicht der entscheidende Teil der ägyptischen
Kunstschöpfungen, alles was im westlichen Delta entstanden ist, der
Feuchtigkeit des Bodens zum Opfer gefallen wäre. Wir kennen nur die
ägyptische Kultur, soweit sie auf dem trockenen Boden des Südens
blühte, aber es besteht längst kein Zweifel mehr, daß hier nicht der
Schwerpunkt der Entwicklung gelegen hat.

Eine scharfe Grenze zwischen der alten minoischen und der
jungen mykenischen Kunst läßt sich nicht ziehen. In der ganzen
ägyptisch-kretischen Welt ist eine höchst moderne Liebhaberei für diese
fremdartigen und primitiven Dinge zu bemerken und umgekehrt haben die
Heerkönige auf den Burgen des Festlandes die kretischen Kunstsachen,
wo sie nur konnten, geraubt, gekauft und jedenfalls bewundert und
nachgeahmt, wie ja auch der früher als urgermanisch gepriesene
Völkerwanderungsstil seiner gesamten Formensprache nach orientalischer
Herkunft ist.[69] Sie ließen ihre Pfalzen und Grabmäler von gefangenen
oder herbeigerufenen Künstlern des Südens bauen und verzieren. Das
„Atreusgrab“ in Mykene stellt sich damit völlig neben das Grab
Theoderichs in Ravenna.

Ein Wunder dieser Art ist Byzanz. Man muß hier sorgfältig Schicht um
Schicht abheben, zuerst damals, als Konstantin 326 die von Septimius
Severus zerstörte Großstadt +als spätantike Weltstadt+ ersten
Ranges wieder aufbaute und nun von Westen her apollinisches Greisentum,
von Osten magische Jugend hereinströmte; und dann noch einmal, als
1096 vor den Mauern der jetzt +spätarabischen Weltstadt+ die
Kreuzfahrer unter Gottfried von Bouillon erschienen -- von denen die
geistreiche Anna Komnena in ihrem Geschichtswerk ein schonungslos
verächtliches Bild entwirft[70] -- wo in die letzten Herbsttage dieser
Zivilisation etwas Frühlingshaftes hereinbricht. Diese Stadt hat als
die Östlichste der antiken Zivilisation die Goten, und ein Jahrtausend
später als die nördlichste der arabischen die Russen bezaubert:
da steht die gewaltige Basiliuskathedrale in Moskau von 1554, die
russische Vorkultur einleitend, „zwischen den Stilen“, wie über einen
Raum von zwei Jahrtausenden hinweg der salomonische Tempel zwischen der
Weltstadt Babylon und dem frühen Christentum.


2

Der ursprüngliche Mensch ist ein +schweifendes+ Tier, ein Dasein,
dessen Wachsein sich ruhelos durch das Leben tastet, ganz Mikrokosmos,
ortsfrei und heimatlos, mit scharfen und ängstlichen Sinnen, immer
darauf bedacht, der feindlichen Natur etwas abzujagen. Eine tiefe
Wandlung beginnt erst mit dem Ackerbau -- denn dies ist etwas
+Künstliches+, wie es Jägern und Hirten durchaus fern liegt: Wer gräbt
und pflügt, will die Natur nicht plündern, sondern +abändern+. Pflanzen
heißt etwas nicht nehmen, sondern +erzeugen+. +Aber damit wird man
selbst zur Pflanze+, nämlich Bauer. Man wurzelt in dem Boden, den man
bestellt. Die Seele des Menschen entdeckt eine Seele in der Landschaft;
eine neue Erdverbundenheit des Daseins, ein neues Fühlen meldet sich.
Die feindliche Natur wird zur Freundin. Die Erde wird zur +Mutter+
Erde. Zwischen säen und zeugen, Ernte und Tod, Kind und Korn entsteht
eine tiefgefühlte Beziehung. Eine neue Frömmigkeit richtet sich in
chthonischen Kulten auf das fruchttragende Land, das mit dem Menschen
zusammenwächst. Und als vollkommener Ausdruck dieses Lebensgefühls
entsteht überall die +sinnbildliche Gestalt des Bauernhauses+, das
in der Anlage seiner Räume und in jedem Zuge seiner äußeren Form vom
Blut der Bewohner redet. Das Bauernhaus ist das große Symbol der
Seßhaftigkeit. Es ist selbst Pflanze; es senkt seine Wurzeln tief in
den „+eigenen+“ Boden. Es ist +Eigentum+ im heiligsten Sinne. Die guten
Geister des Herdes und der Tür, des Grundstücks und der Räume: Vesta,
Janus, die Laren und Penaten haben ihren festen Ort so gut wie der
Mensch selbst.

Dies ist die Voraussetzung jeder Kultur, die selbst wieder pflanzenhaft
aus ihrer Mutterlandschaft emporwächst und die seelische Verbundenheit
des Menschen mit dem Boden noch einmal vertieft. Was dem Bauern
sein Haus, +das ist dem Kulturmenschen die Stadt+. Was dem
einzelnen Hause die guten Geister, das ist jeder Stadt ihr Schutzgott
oder Heiliger. Auch die Stadt ist ein pflanzenhaftes Wesen. Alles
Nomadenhafte, alles rein Mikrokosmische liegt ihr ebenso fern wie dem
Bauerntum. Deshalb ist jede Entwicklung einer höheren Formensprache
an die Landschaft gebunden. Weder eine Kunst noch eine Religion
können den Ort ihres Wachstums verändern. Erst die Zivilisation mit
ihren Riesenstädten verachtet wieder diese Wurzeln des Seelentums und
löst sich von ihnen. Der zivilisierte Mensch, +der intellektuelle
Nomade+ ist wieder ganz Mikrokosmos, ganz heimatlos, +geistig+
frei wie die Jäger und Hirten es sinnlich waren. _Ubi bene
ibi patria_ -- das gilt vor +und+ nach einer Kultur. Im
Vorfrühling der Völkerwanderung war es die jungfräuliche und doch
schon mütterliche Germanensehnsucht, die im Süden eine Heimat suchte,
um für ihre künftige Kultur ein Nest zu bauen. Heute, am Ende dieser
Kultur, schweift der wurzellose Geist durch alle landschaftlichen und
gedanklichen Möglichkeiten. Dazwischen aber liegt die Zeit, wo der
Mensch für ein Stück Erde +stirbt+.

Es ist eine ganz entscheidende und in ihrer vollen Bedeutung nie
gewürdigte Tatsache, daß alle großen Kulturen Stadtkulturen sind.
Der höhere Mensch des zweiten Zeitalters ist +ein städtebauendes
Tier+. Dies ist das eigentliche Kriterium der „Weltgeschichte“,
das sie von der Menschengeschichte überhaupt aufs schärfste abhebt --
+Weltgeschichte ist die Geschichte des Stadtmenschen+. Völker,
Staaten, Politik und Religion, alle Künste, alle Wissenschaften beruhen
auf +einem+ Urphänomen menschlichen Daseins: der Stadt. Da alle
Denker aller Kulturen selbst in Städten leben -- auch wenn sie sich
körperlich auf dem Lande befinden -- so wissen sie gar nicht, ein wie
bizarres Ding die Stadt ist. Wir müssen uns ganz in das Erstaunen eines
Urmenschen versetzen, der zum ersten Mal inmitten der Landschaft diese
Masse von Stein und Holz erblickt, mit ihren steinumgebenen Straßen und
steinbelegten Plätzen, ein Gehäuse von seltsamster Form, in dem es von
Menschen wimmelt.

Das eigentliche Wunder ist die Geburt der +Seele+ einer Stadt.
Als Massenseele von ganz neuer Art, deren letzte Gründe für uns ein
ewiges Geheimnis bleiben werden, sondert sie sich plötzlich ab aus dem
allgemeinen Seelentum ihrer Kultur. Ist sie erwacht, so bildet sie sich
einen sichtbaren Leib. Aus der dörflichen Sammlung von Gehöften, von
denen jedes seine eigene Geschichte hat, entsteht +ein Ganzes+.
Und dieses +Ganze+ lebt, atmet, wächst, erhält ein Antlitz und
eine innere Form und Geschichte. Von nun ist außer dem einzelnen Hause,
dem Tempel, dem Dom, dem Palast auch das Stadtbild als Einheit der
Gegenstand einer Formensprache und Stilgeschichte, welche den ganzen
Lebenslauf einer Kultur begleitet.

Es versteht sich, daß nicht der Umfang, sondern das Vorhandensein einer
Seele Stadt und Dorf unterscheidet. Es gibt nicht nur in primitiven
Zuständen wie im heutigen Inner-Afrika, sondern auch im späten China
und Indien und in allen Industriegebieten des modernen Europa und
Amerika sehr große Siedlungen, die trotzdem keine Städte sind. Sie
sind Mittelpunkte des Landes, aber sie bilden innerlich keine Welt
für sich. Sie haben keine Seele. Jede primitive Bevölkerung lebt
durchaus bäuerlich und landmäßig. Das Wesen „Stadt“ ist für sie nicht
vorhanden. Was sich äußerlich vom Dorfe abhebt, ist nicht eine Stadt,
sondern ein Markt, ein bloßer Treffpunkt ländlicher Lebensinteressen,
bei welchem von einem Sonderleben keine Rede sein kann. Die Bewohner
eines Marktes, auch wenn sie Handwerker oder Kaufleute sind, leben und
denken doch als Bauern. Wir müssen genau nachfühlen, was es heißt,
wenn aus einem urägyptischen, urchinesischen oder germanischen Dorf,
einem Pünktchen im weiten Lande, eine Stadt wird, die sich äußerlich
vielleicht durch nichts unterscheidet, die aber seelisch der Ort ist,
von dem aus der Mensch +das Land jetzt als „Umgebung“ erlebt+,
als etwas anderes und Untergeordnetes. Von nun an gibt es zwei Leben,
das drinnen und das draußen, und der Bauer empfindet das ebenso
deutlich wie der Bürger. Der Dorfschmied und der Schmied in der Stadt,
der Dorfschulze und der Bürgermeister leben in zwei verschiedenen
Welten. Der Landmensch und der Stadtmensch sind verschiedene Wesen.
Zuerst fühlen sie den Unterschied, dann werden sie von ihm beherrscht;
zuletzt verstehen sie sich nicht mehr. Ein märkischer und ein
sizilischer Bauer stehen sich heute näher als der märkische Bauer dem
Berliner. Von dieser Einstellung an gibt es wirkliche Städte und diese
Einstellung ist es, welche dem gesamten Wachsein aller Kulturen mit
Selbstverständlichkeit zugrunde liegt.

Jede Frühzeit einer Kultur ist zugleich die Frühzeit eines neuen
Städtewesens. Den Menschen der Vorkultur erfüllt eine tiefe Scheu
vor diesen Gebilden, zu denen er innerlich kein Verhältnis gewinnen
kann. Am Rhein und der Donau siedelten sich die Germanen vielfach --
z. B. in Straßburg -- vor den Toren der Römerstädte an, die unbewohnt
liegen blieben.[71] In Kreta haben die Eroberer auf dem Trümmerschutt
der niedergebrannten Städte wie Gurnia und Knossos ein Dorf angelegt.
Die Orden der abendländischen Vorkultur, die Benediktiner, vor allem
die Cluniazenser und Prämonstratenser siedeln wie die Ritter auf
freiem Lande. Erst die Franziskaner und Dominikaner bauen sich in den
frühgotischen Städten an: da ist die neue Stadtseele eben erwacht. Aber
auch da liegt in allen Bauten, in der gesamten Franziskanerkunst noch
eine zarte Schwermut, eine fast mystische Furcht des einzelnen vor dem
Neuen, Hellen, Wachen, das von der Gesamtheit noch dumpf hingenommen
wird. Man wagt es kaum, kein Bauer mehr zu sein. Erst die Jesuiten
leben mit dem reifen und überlegenen Wachsein echt großstädtischer
Menschen. Es ist ein Symbol der unbedingten Vorherrschaft des Landes,
das die Stadt noch nicht anerkennt, wenn die Herrscher jeder Frühzeit
in wandernden Pfalzen Hof halten. Im ägyptischen Alten Reiche liegt der
stark bevölkerte Verwaltungssitz an der „Weißen Mauer“ beim Ptahtempel
im späteren Memphis, aber die Residenzen der Pharaonen wechseln
unaufhörlich wie im sumerischen Babylonien und im Karolingerreich.[72]
Die frühchinesischen Herrscher der Dschoudynastie haben seit 1109 ihre
Pfalz in der Regel zu Loh-yang (heute Ho-nan-fu), aber erst seit 770,
was unserem 16. Jahrhundert entspricht, wird der Ort zur dauernden
Residenzstadt erhoben.

Nirgends hat sich das Gefühl der Erdverbundenheit, des
Pflanzenhaft-Kosmischen so mächtig ausgesprochen wie in der Architektur
dieser winzigen frühen Städte, die kaum mehr sind als ein paar Straßen
um einen Markt, eine Burg oder ein Heiligtum. Wenn es irgendwo
deutlich wird, daß jeder große Stil selbst eine Pflanze ist, so
hier. Die dorische Säule, die ägyptische Pyramide, der gotische Dom
+wachsen+ streng, schicksalhaft, ein Dasein ohne Wachsein aus dem
Boden; die jonische Säule und die Bauten des Mittleren Reiches und des
Barock ruhen voll erwacht, selbstbewußt, frei und sicher +auf+
ihm. Da ist, von den Mächten der Landschaft abgetrennt, durch das
Pflaster unter den Füßen gleichsam abgeschnitten, das Dasein matter,
das Empfinden und Verstehen immer mächtiger geworden. Der Mensch wird
„Geist“, „frei“ und dem Nomaden wieder ähnlicher, aber enger und
kälter. +„Geist“ ist die spezifisch städtische Form des verstehenden
Wachseins.+ Alle Kunst, alle Religion und Wissenschaft wird langsam
geistig, dem Lande fremd, dem erdhaften Bauern unverständlich. Mit
der Zivilisation tritt das Klimakterium ein. Die uralten Wurzeln des
Daseins sind verdorrt in den Steinmassen ihrer Städte. Der freie
Geist -- ein verhängnisvolles Wort! -- erscheint wie eine Flamme, die
prachtvoll aufsteigt und jäh in der Luft verlodert.


3

Die neue Seele der Stadt redet eine neue Sprache, die sehr bald mit
der Sprache der Kultur überhaupt gleichbedeutend wird. Das freie
Land mit seinen dörflichen Menschen ist betroffen; es versteht diese
Sprache nicht mehr; es wird verlegen und verstummt. Alle echte
Stilgeschichte spielt sich in Städten ab. Es ist ausschließlich das
Schicksal der Stadt und das Erleben städtischer Menschen, das in der
Logik sichtbarer Formen zum Auge redet. Die allerfrüheste Gotik wuchs
noch aus der Landschaft auf und ergriff das Bauernhaus mit seinen
Bewohnern und Geräten. Aber der Renaissancestil wächst nur in der
Renaissance+stadt+, der Barockstil nur in der Barock+stadt+,
von der ganz großstädtischen korinthischen Säule, vom Rokoko nicht
zu reden. Es geht vielleicht noch ein leiser Zug von dort über
die Landschaft hin, aber das Land selbst ist nicht der kleinsten
Schöpfung mehr fähig. Es schweigt und wendet sich ab. Der Bauer und
das Bauernhaus sind in allem Wesentlichen gotisch geblieben und sind
es noch heute. Das hellenische +Land+ hat den geometrischen, das
ägyptische Dorf den Stil des Alten Reiches bewahrt.

Vor allen Dingen ist es „das Gesicht“ der Stadt, dessen Ausdruck eine
Geschichte besitzt, dessen Mienenspiel beinahe die Seelengeschichte
der Kultur selbst ist. Da sind es erst die kleinen Urstädte der Gotik
und aller anderen Frühkulturen, die sich fast in der Landschaft
verlieren, echte Bauernhäuser noch, die im Schatten einer Burg oder
eines Heiligtums sich aneinander drängen und ohne Veränderung der
inneren Form Stadthäuser werden, nur weil sie nicht aus der Umgebung
von Feldern und Wiesen, sondern von Nachbarhäusern hervorwachsen. Die
Völker der Frühkultur sind allmählich Stadtvölker geworden und es gibt
also ein spezifisch chinesisches, indisches, apollinisches, faustisches
Stadtbild und wieder eine armenische oder syrische, eine jonische
oder etruskische, deutsche, französische oder englische Physiognomie
der Stadt. Es gibt eine Stadt des Phidias, eine Stadt Rembrandts,
eine Stadt Luthers. Diese Bezeichnungen und die bloßen Namen Granada,
Venedig, Nürnberg zaubern sofort ein festes Bild herauf, denn alles,
was eine Kultur hervorbringt an Religion, Kunst und Wissen, ist in
solchen Städten entstanden. Die Kreuzzüge entsprangen noch aus dem
Geist der Ritterburgen und ländlichen Klöster, die Reformation ist
städtisch und gehört zu schmalen Gassen und steilen Häusern. Das
große Epos, das vom Blute redet und singt, gehört zur Pfalz und Burg,
aber das Drama, in dem das +wache+ Leben sich selbst prüft, ist
Stadtpoesie, und der große Roman, der Blick des +befreiten+
Geistes auf alles Menschliche, setzt die Weltstadt voraus. Es gibt,
wenn man das echte Volkslied ausnimmt, nur Stadtlyrik, und wenn man
von der „ewigen“ Bauernkunst absieht, nur eine städtische Malerei und
Architektur mit einer raschen und kurzen Geschichte.

Und nun die laute Formensprache dieser großen Steingebilde, wie sie
die Stadtmenschheit selbst, ganz Auge und Geist, im Widerspruch zur
leiseren Sprache der Landschaft, in ihre Lichtwelt hineinträgt! Die
Silhouette der großen Stadt, die Dächer mit ihren Schornsteinen, die
Türme und Kuppeln am Horizont! Welche Sprache redet +ein+ Blick
auf Nürnberg und Florenz, auf Damaskus und Moskau, auf Peking und
Benares! Was wissen wir vom Geist antiker Städte, da wir ihre Linien
am südlichen Himmel, im Licht des Mittags, unter Wolken, am Morgen,
in der sternhellen Nacht nicht kennen! Diese Straßenzüge, gerade oder
krumm, breit oder schmal, die niedrigen, steilen, hellen, düsteren
Häuser, welche mit ihren Fassaden, ihren +Gesichtern+, in allen
abendländischen Städten auf die Straße herabblicken und in allen
morgenländischen fensterlos und vergittert ihr den Rücken kehren;
der Geist der Plätze und Winkel, Abschlüsse und Durchblicke, der
Brunnen und Denkmäler, der Kirchen, Tempel und Moscheen, Amphitheater
und Bahnhöfe, Bazare und Rathäuser; und dann wieder die Vorstädte,
Gartenhäuser und Haufen von Mietskasernen zwischen Unrat und Äckern,
die vornehmen und armen Viertel, die Subura im antiken Rom und der
Faubourg St. Germain in Paris, das alte Bajä und das heutige Nizza, die
kleinen Stadtbilder von Rothenburg und Brügge und das Häusermeer von
Babylon, Tenochtitlan, Rom und London! Alles das hat Geschichte und ist
Geschichte. Ein großes Ereignis der Politik -- und das Gesicht einer
Stadt legt sich in andere Falten. Napoleon hat dem bourbonischen Paris
und Bismarck dem kleinstaatlichen Berlin eine andere Miene gegeben. Das
Bauerntum aber steht unbewegt, mürrisch und zornig daneben.

In der frühesten Zeit beherrscht das +Landschaftsbild+ das
menschliche Auge +allein+. Es formt die Seele des Menschen, es
schwingt mit ihm. Ein gleicher Takt geht durch sein Fühlen und das
Rauschen der Wälder. Seine Gestalt, sein Gang, seine Tracht sogar
schmiegen sich den Wiesen und Gebüschen an. Das Dorf mit seinen
stillen, hügelartigen Dächern, dem Rauch am Abend, den Brunnen, Zäunen
und Tieren liegt ganz in die Landschaft verloren und eingebettet.
Die Landstadt +bestätigt+ das Land, sie ist eine Steigerung
seines Bildes; erst die späte Stadt trotzt ihm. Mit ihrer Silhouette
widerspricht sie den Linien der Natur. Sie +verneint+ alle
Natur. Sie will etwas anderes und Höheres sein. Diese scharfen
Giebel, diese barocken Kuppeln, Spitzen und Zinnen haben in der Natur
nichts Verwandtes und wollen es nicht haben, und zuletzt beginnt die
riesenhafte Weltstadt, +die Stadt als Welt+, neben der es keine
andere geben +soll+, die Vernichtungsarbeit am Landschaftsbilde.
Einst hatte die Stadt sich ihm hingegeben, jetzt will sie es dem
eigenen gleich machen. Da werden draußen aus Feldwegen Heerstraßen, aus
Wäldern und Wiesen Parks, aus Bergen Aussichtspunkte, eine künstliche
Natur wird in der Stadt selbst erfunden, Fontänen statt der Quellen,
Blumenbeete, Wasserstreifen, beschnittene Hecken statt der Wiesen,
Teiche und Büsche. In einem Dorfe liegt das strohgedeckte Dach noch
wie ein Hügel, die Gasse wie ein Rain da. Hier aber eröffnen sich
die Schluchten hoher und langgestreckter steinerner Straßen, voll
von farbigem Staub und fremdartigem Lärm; Menschen hausen darin, wie
kein natürliches Wesen sie je geahnt hatte. Die Trachten, selbst die
Gesichter sind auf einen Hintergrund von Stein abgestimmt. Des Tags
entfaltet sich ein Straßentreiben in seltsamen Farben und Tönen, des
Nachts ein neues Licht, das den Mond überstrahlt. Und der Bauer steht
ratlos auf dem Pflaster, eine lächerliche Gestalt, nichts verstehend
und von niemand verstanden, gut genug für die Komödie und um dieser
Welt das Brot zu schaffen.

Daraus folgt aber, und das ist wesentlicher als alles andere: alle
politische, alle Wirtschaftsgeschichte kann nur begriffen werden, wenn
man die vom Lande sich mehr und mehr absondernde und das Land zuletzt
völlig entwertende Stadt als das Gebilde erkennt, welches den Gang und
Sinn der höheren Geschichte überhaupt bestimmt. +Weltgeschichte ist
Stadtgeschichte.+

Ganz abgesehen davon, daß der antike Mensch aus seinem euklidischen
Daseinsgefühl den Staatsbegriff mit dem Verlangen nach einem Minimum
von Ausdehnung verbindet und also den Staat immer nachdrücklicher
mit dem Steinkörper der einzelnen Polis gleichsetzt, erscheint in
jeder Kultur sehr bald der Typus der +Hauptstadt+. Es ist, wie
der bedeutungsvolle Name sagt, die Stadt, deren Geist mit seinen
politischen und wirtschaftlichen Methoden, Zielen und Entscheidungen
das Land beherrscht. Das Land mit seinen Bewohnern wird Mittel und
Objekt dieses führenden Geistes. Es versteht nicht, um was es sich
handelt. Es wird auch nicht gefragt. Die großen Parteien in allen
Ländern aller späten Kulturen, die Revolutionen, der Cäsarismus, die
Demokratie, das Parlament sind die Form, in welcher der hauptstädtische
Geist dem Lande mitteilt, was es zu wollen und wofür es unter Umständen
zu sterben hat. Das antike Forum, die abendländische Presse sind
durchaus geistige Machtmittel der herrschenden Stadt. Wer auf dem
Lande überhaupt begreift, was in diesen Zeiten Politik ist und sich
ihr gewachsen fühlt, geht in die Stadt, vielleicht nicht körperlich,
ganz gewiß aber geistig. Die Stimmung und öffentliche Meinung des
bäuerlichen Landes, soweit es dergleichen gibt, wird von der Stadt
durch Schrift und Rede vorgeschrieben und geleitet. Theben ist Ägypten,
Rom ist der _orbis terrarum_, Bagdad ist der Islam, Paris ist
Frankreich. Die Geschichte jeder Frühzeit spielt sich in vielen kleinen
Mittelpunkten einzelner Landschaften ab. Die ägyptischen Gaue, die
homerischen Griechenvölker, die gotischen Grafschaften und freien
Städte haben einmal Geschichte gemacht. Aber die Politik sammelt sich
nach und nach in ganz wenigen Hauptstädten und alle anderen bewahren
nur noch einen Schein politischen Lebens. Daran hat auch die antike
Atomisierung der Welt in Stadtstaaten nichts geändert. Schon im
peloponnesischen Kriege haben nur noch Athen und Sparta eigentliche
Politik gemacht. Die anderen Städte am Ägäischen Meer gehörten nur noch
in den Machtbereich der einen oder andern Politik. Von einer wirklichen
+eigenen+ ist nicht mehr die Rede. Zuletzt ist es das Forum
der Stadt Rom allein, wo die antike Geschichte spielt. Mag Cäsar in
Gallien, mögen die Cäsarmörder in Makedonien oder Antonius in Ägypten
kämpfen: was dort geschieht, erhält seinen Sinn +erst durch die
Beziehung auf Rom+.


4

Alle wirkliche Geschichte beginnt damit, daß +die Urstände+,
Adel und Priestertum, sich als solche bilden und über das Bauerntum
erheben. Der Gegensatz von großem und kleinem Adel, König und
Vasallen, weltlicher und geistlicher Macht ist die Grundform aller
frühhomerischen, altchinesischen, gotischen Politik, bis mit der
Stadt, +dem Bürgertum, dem dritten Stande+ sich der Stil der
Geschichte verwandelt. Aber es sind ausschließlich diese Stände, in
deren Standesbewußtsein sich der gesamte Sinn der Geschichte sammelt.
+Der Bauer ist geschichtslos.+ Das Dorf steht außerhalb der
Weltgeschichte, und die ganze Entwicklung vom „trojanischen“ bis zum
mithridatischen Kriege und von den Sachsenkaisern bis zum Weltkrieg
geht über diese kleinen Punkte der Landschaft hinweg, sie gelegentlich
vernichtend, ihr Blut verbrauchend, aber ohne je ihr Inneres zu
berühren.

Der Bauer ist der ewige Mensch, unabhängig von aller Kultur, die in
den Städten nistet. Er geht ihr vorauf, er überlebt sie, dumpf und von
Geschlecht zu Geschlecht sich fortzeugend, auf erdverbundene Berufe
und Fähigkeiten beschränkt, eine mystische Seele, ein trockener, am
Praktischen haftender Verstand, der Ausgang und die immer fließende
Quelle des Blutes, das in den Städten die Weltgeschichte macht.

Was die Kultur dort in den Städten ersinnt, an Staatsformen und
Wirtschaftssitten, Glaubenssätzen, Werkzeugen, an Wissen und Kunst,
nimmt er mißtrauisch und zögernd endlich hin, ohne deshalb je seine Art
zu ändern. So nahm der westeuropäische Bauer alle Lehren der großen
Konzile vom großen lateranischen bis zu dem von Trient äußerlich
entgegen wie die Ergebnisse der Maschinentechnik und der französischen
Revolution. Er blieb deshalb doch, was er war, was er vor Karl dem
Großen schon gewesen war. Die heutige Frömmigkeit des Bauern ist älter
als das Christentum. Seine Götter sind älter als jede höhere Religion.
Nehmt den Druck der großen Städte von ihm und er wird ohne Entbehrung
in seinen natürlichen Urzustand zurückkehren. Seine wirkliche Ethik,
seine wirkliche Metaphysik, die kein Stadtgelehrter je der Entdeckung
für würdig gehalten hat, liegen außerhalb aller Religions- und
Geistesgeschichte. Sie haben überhaupt keine Geschichte.

Die Stadt ist Geist. Die Großstadt ist der „freie Geist“. Das
Bürgertum, der Stand des Geistes, beginnt mit einer Auflehnung gegen
die -- „feudalen“ -- Mächte des Blutes und der Tradition sich seines
Sonderdaseins bewußt zu werden. Er stürzt Throne und beschränkt alte
Rechte im Namen der Vernunft und vor allem im Namen des „Volkes“,
womit von nun an ausschließlich das Volk der Städte gemeint ist.
Demokratie ist die politische Form, in welcher von dem Bauern die
Weltanschauung des Stadtmenschen gefordert wird. Der städtische Geist
reformiert die große Religion der Frühzeit und setzt neben die alte
ständische eine bürgerliche Religion, die +freie Wissenschaft+.
Die Stadt übernimmt die Leitung der Wirtschaftsgeschichte, indem sie an
die Stelle der Urwerte des Landes, wie sie vom bäuerlichen Leben und
Denken nie zu trennen sind, den von den Gütern +abgelösten Begriff
des Geldes+ setzt. Das uralte ländliche Wort für den Güterverkehr
ist +Tausch+. Selbst wo es sich um die Vertauschung eines
Dinges gegen Edelmetall handelt, liegt dem Vorgang kein „Gelddenken“
zugrunde, welches vom Dinge den Wert begrifflich trennt und in eine
fiktive oder metallene Größe bindet, deren Bestimmung es von da an
ist, das „andere“, die „Ware“ zu +messen+. Karawanenzüge und
Wikingerfahrten zur Frühzeit erfolgen zwischen ländlichen Siedlungen
und bedeuten Tausch und Beute. Zur Spätzeit erfolgen sie zwischen
Städten und bedeuten „Geld“. Das unterscheidet die Normannen vor und
die Hanseaten und Venezianer nach den Kreuzzügen, die antiken Seefahrer
in der mykenischen Zeit und die zur Zeit der großen Kolonisationen. Die
Stadt bedeutet nicht nur Geist, sondern auch Geld.[73]

Eine Epoche tritt ein, wenn die Stadt sich so gewaltig entwickelt
hat, daß sie sich nicht mehr gegen das Land behaupten muß, gegen
Bauerntum und Ritterschaft, sondern daß das Land mit seinen Urständen
eine hoffnungslose Verteidigung gegen die Alleinherrschaft der
Stadt führt, geistig gegen den Rationalismus, politisch gegen die
Demokratie, wirtschaftlich gegen das Geld. In dieser Zeit ist die
Zahl der Städte, welche als historisch führende in Betracht kommen,
schon sehr klein geworden. Es entsteht der tiefe, vor allem seelische
Unterschied +von Großstadt und Kleinstadt+, welch letztere unter
dem sehr bezeichnenden Namen Landstadt ein Teil des aktiv nicht mehr
mitzählenden Landes wird. Der Gegensatz zwischen dem Landmenschen und
Stadtmenschen ist in diesen kleinen Städten nicht geringer geworden,
aber er verschwindet vor dem neuen Abstand, der sich zwischen sie
und die Großstadt legt. Bäuerlich-kleinstädtische Schlauheit und
großstädtische Intelligenz sind zwei Formen verstehenden Wachseins,
zwischen denen eine Verständigung kaum möglich ist. Es ist klar, daß
es sich auch hier nicht um die Einwohnerzahl, sondern um den Geist
handelt. Es ist auch deutlich, daß in allen großen Städten sich Winkel
erhalten, in denen Fragmente einer fast ländlich gebliebenen Menschheit
in ihren Gassen wie auf dem Lande leben, wo die Bewohner über die
Straße weg in fast dörflichen Beziehungen zueinander stehen. Es führt
eine Pyramide von immer städtischer geprägten Wesen von diesen fast
bäuerlichen Menschen über immer engere Schichten bis zu der geringen
Zahl echter Großstadtmenschen, die überall zu Hause sind, wo ihre
seelischen Voraussetzungen erfüllt werden.

Damit hat auch der Begriff Geld seine volle Abstraktheit erlangt. Er
+dient+ nicht mehr dem Verstehen des wirtschaftlichen Verkehrs;
er unterwirft den Warenumlauf seiner +eigenen+ Entwicklung. Er
wertet die Dinge nicht mehr untereinander, sondern in +bezug auf
sich+. Seine Beziehung zum Boden und dem damit verwachsenen Menschen
ist so vollständig verschwunden, daß sie für das wirtschaftliche
Denken der führenden Städte -- der „Geldplätze“ -- nicht mehr in
Betracht kommt. Das Geld ist jetzt eine Macht und zwar eine rein
geistige, durch das Metall nur repräsentierte Macht im Wachsein der
Oberschicht der wirtschaftlich tätigen Bevölkerung geworden, welche
die mit ihm beschäftigten Menschen ebenso von sich abhängig macht, wie
früher die Erde den Bauern. Es gibt ein „Denken in Geld“, wie es ein
mathematisches und juristisches Denken gibt.

Aber der Boden ist etwas Wirkliches und Natürliches, das Geld etwas
Abstraktes und Künstliches, eine bloße Kategorie wie „die Tugend“ im
Denken der Aufklärung. Daraus folgt, daß jede ursprüngliche, also
stadtlose Wirtschaft von den kosmischen Mächten, dem Boden, dem Klima,
dem Menschenschlage abhängig und damit in Schranken gehalten ist,
während das Geld als reine Verkehrsform innerhalb des Wachseins einen
von der Wirklichkeit ebenso wenig begrenzten Kreis von Möglichkeiten
hat wie die Größen der mathematischen und logischen Welt. Wie kein
Blick auf die Tatsachen uns hindert, nichteuklidische Geometrien in
beliebiger Zahl zu konstruieren, liegt innerhalb der ausgebildeten
großstädtischen Wirtschaft kein Hindernis mehr vor, das „Geld“ zu
vermehren, gewissermaßen in andern Gelddimensionen zu denken, was mit
der etwaigen Vermehrung des Goldes oder überhaupt der wirklichen Werte
durchaus nichts zu tun hat. Es gibt keiner Maßstab und keine Art von
Gütern, an denen man den Wert eines Talentes zur Zeit der Perserkriege
und in der ägyptischer Beute des Pompejus vergleichen könnte. Das
Geld ist für den Menschen als ζῷον οἰκονομικόν eine Form des tätigen
Wachseins geworden, die keinerlei Wurzeln im Dasein mehr besitzt.
Darauf beruht seine ungeheure Macht über jede beginnende Zivilisation,
die jedesmal eine unbedingte +Diktatur dieses „Geldes“+ in einer
für jede Kultur verschiedenen Gestalt ist, darin aber auch der Mangel
an Halt, durch den es zuletzt seine Macht und seinen Sinn verliert
und aus dem Denken einer späten Zivilisation wie der Zeit Diokletians
völlig verschwindet, um den bodenständigen Urwerten wieder Platz zu
machen.

Es entsteht endlich das ungeheure Symbol und Behältnis des völlig
frei gewordenen Geistes, die Weltstadt, der Mittelpunkt, in dem sich
endlich der Gang der Weltgeschichte vollkommen konzentriert: jene ganz
wenigen Riesenstädte aller reifen Zivilisationen, welche die gesamte
Mutterlandschaft ihrer Kultur durch den Begriff Provinz ächten und
entwerten. Provinz ist jetzt alles, Land, Kleinstadt und Großstadt,
mit Ausnahme dieser zwei oder drei Punkte. Es gibt nicht mehr Adlige
und Bürger, nicht mehr Freie und Sklaven, nicht mehr Hellenen und
Barbaren, nicht mehr Rechtgläubige und Ungläubige, sondern nur noch
+Weltstädter und Provinzler+. Alle anderen Gegensätze verblassen
vor diesem einen, der alle Ereignisse, Lebensgewohnheiten und
Weltanschauungen beherrscht.

Die frühesten aller Weltstädte waren Babylon und das Theben des Neuen
Reiches -- die minoische Welt auf Kreta gehört trotz ihres Glanzes zur
ägyptischen Provinz. In der Antike ist Alexandria das erste Beispiel;
das alte Hellas ist mit einem Schlage Provinz geworden. Auch Rom und
das neu bevölkerte Karthago, auch Byzanz haben es nicht verdrängt. In
Indien waren die Riesenstädte Udjein, Kanaudj, vor allem Pataliputra
bis nach China und Java hin berühmt; der märchenhafte Ruf von Bagdad
und Granada im Abendlande ist bekannt. In der mexikanischen Welt ist,
wie es scheint, das 950 gegründete Uxmal die erste Weltstadt der
Majareiche gewesen, die mit dem Emporkommen der toltekischen Weltstädte
Tezcuco und Tenochtitlan Provinz wurden.

Man vergesse nicht, wo das Wort _provincia_ zuerst auftaucht: es
ist die staatsrechtliche Bezeichnung der Römer für Sizilien, mit dessen
Unterwerfung zum ersten Mal eine ehemals führende Kulturlandschaft
zum unbedingten Objekt herabsinkt. Syrakus war die früheste wirkliche
Großstadt der antiken Welt gewesen, als Rom noch eine bedeutungslose
Landstadt war. Von nun an ist es Rom gegenüber eine Provinzstadt. Und
ganz in demselben Sinne waren im 17. Jahrhundert das habsburgische
Madrid und das päpstliche Rom führende Großstädte, bis sie von den
Weltstädten London und Paris seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts
zum Range der Provinz herabgedrückt wurden. Der Aufstieg von New York
zur Weltstadt durch den Sezessionskrieg 1861-65 ist vielleicht das
folgenschwerste Ereignis des vorigen Jahrhunderts.


5

Der Steinkoloß „Weltstadt“ steht am Ende des Lebenslaufes einer jeden
großen Kultur. Der vom Lande seelisch gestaltete Kulturmensch wird von
seiner eigenen Schöpfung, der Stadt, in Besitz genommen, besessen,
zu ihrem Geschöpf, ihrem ausführenden Organ, endlich zu ihrem Opfer
gemacht. Diese steinerne Masse ist die +absolute+ Stadt. Ihr Bild,
wie es sich mit seiner großartigen Schönheit in die Lichtwelt des
menschlichen Auges zeichnet, enthält die ganze erhabene Todessymbolik
des endgültig „Gewordenen“. Der durchseelte Stein gotischer Bauten ist
im Verlauf einer tausendjährigen Stilgeschichte endlich zum entseelten
Material dieser dämonischen Steinwüste geworden.

Diese letzten Städte sind +ganz+ Geist. Ihre Häuser sind nicht
mehr wie noch die der jonischen und Barockstädte Abkömmlinge des alten
Bauernhauses, von dem einst die Kultur ihren Ausgang nahm. Sie sind
überhaupt nicht mehr Häuser, in denen Vesta und Janus, die Penaten und
Laren irgendeine Stätte besitzen, sondern bloße Behausungen, welche
nicht das Blut, sondern der Zweck, nicht das Gefühl, sondern der
wirtschaftliche Unternehmungsgeist geschaffen hat. So lange der Herd im
frommen Sinne der wirkliche, bedeutsame Mittelpunkt einer Familie ist,
so lange ist die letzte Beziehung zum Lande nicht geschwunden. Erst
wenn auch das verloren geht und die Masse der Mieter und Schlafgäste in
diesem Häusermeer ein irrendes Dasein von Obdach zu Obdach führt, wie
die Jäger und Hirten der Vorzeit, ist der intellektuelle Nomade völlig
ausgebildet. Diese Stadt ist eine Welt, ist +die+ Welt. Sie hat
+nur als Ganzes+ die Bedeutung einer menschlichen Wohnung. Die
Häuser sind nur die Atome, welche sie zusammensetzen.

Jetzt beginnen die alten gewachsenen Städte mit ihrem gotischen
Kern aus Dom, Rathaus und spitzgiebligen Gassen, um deren Türme
und Tore die Barockzeit einen Ring von geistigeren, helleren
Patrizierhäusern, Palästen und Hallenkirchen gelegt hatte, nach allen
Seiten in formloser Masse überzuquellen, mit Haufen von Mietskasernen
und Zweckbauten sich in das verödende Land hineinzufressen, das
ehrwürdige Antlitz der alten Zeit durch Umbauten und Durchbrüche zu
zerstören. Wer von einem Turm auf das Häusermeer herabsieht, erkennt
in dieser steingewordenen Geschichte eines Wesens genau die Epoche,
wo das organische Wachstum endet und die anorganische und deshalb
unbegrenzte, alle Horizonte überschreitende Häufung beginnt. Und
jetzt entstehen auch die künstlichen, mathematischen, vollkommen
landfremden Gebilde einer reingeistigen Freude am Zweckmäßigen, +die
Städte der Stadtbaumeister+, die in allen Zivilisationen dieselbe
schachbrettartige Form, das Symbol der Seelenlosigkeit anstreben.
Diese regelmäßigen Häuserquadrate haben Herodot in Babylon und die
Spanier in Tenochtitlan angestaunt. In der antiken Welt beginnt die
Reihe der „abstrakten“ Städte mit Thurioi, das Hippodamos von Milet
441 „entwarf“. Priene, wo das Schachbrettmuster die Bewegtheit der
Grundfläche vollkommen ignoriert, Rhodos, Alexandria folgen als
Vorbilder zahlloser Provinzstädte der Kaiserzeit. Die islamischen
Baumeister haben seit 762 Bagdad und ein Jahrhundert später die
Riesenstadt Samarra am Tigris[74] planmäßig angelegt. In der
westeuropäisch-amerikanischen Welt ist das erste große Beispiel der
Grundriß von Washington (1791). Es kann kein Zweifel bestehen, daß die
Weltstädte der Hanzeit in China und die der Mauryadynastie in Indien
dieselben geometrischen Formen besessen haben. Die Weltstädte der
westeuropäisch-amerikanischen Zivilisation haben noch bei weitem nicht
den Gipfel ihrer Entwicklung erlangt. Ich sehe -- lange nach 2000 --
Stadtanlagen für zehn bis zwanzig Millionen Menschen, die sich über
weite Landschaften verteilen, mit Bauten, gegen welche die größten der
Gegenwart zwerghaft wirken, und Verkehrsgedanken, die uns heute als
Wahnsinn erscheinen würden.

Selbst in dieser letzten Gestalt seines Daseins ist das Formideal des
antiken Menschen noch der körperliche Punkt: während die Riesenstädte
der Gegenwart unseren ganzen Hang zum Unendlichen zur Schau tragen: die
Durchsetzung einer weiten Landschaft mit Vororten und Villenkolonien,
ein mächtiges Netz von Verkehrsmitteln jeder Art nach allen Seiten und
innerhalb des dicht bebauten Geländes ein geregelter Schnellverkehr in,
unter und über breiten Straßenzügen, will die echt antike Weltstadt
sich nicht ausbreiten, sondern immer mehr +verdichten+: die
Straßen eng und schmal, jeden Eilverkehr ausschließend, wie er doch
auf den römischen Heerstraßen voll ausgebildet war; keine Neigung,
+vor+ der Stadt zu wohnen oder auch nur die Voraussetzungen dafür
zu schaffen. Die Stadt soll auch jetzt noch ein Körper sein, dicht und
rund, _soma_ im strengsten Sinne. Der Synoikismos, der in der
antiken Frühzeit allenthalben die Landbevölkerung in die Stadt gezogen
und damit erst den Typus der Polis geschaffen hatte, wiederholt sich
am Ende noch einmal in absurder Form: jeder will in der Mitte der
Stadt wohnen, in ihrem dichtesten Kerne, sonst fühlt er sich nicht als
Mensch einer Stadt. Alle diese Städte sind nur City, nur Innenstadt.
Der neue Synoikismos bildet statt der Vorortzone +die Welt der
oberen Stockwerke+ aus. Rom hatte im Jahre 74 trotz der ungeheuren
Kaiserbauten den geradezu lächerlichen Umfang von 19½ km.[75] Dies
führt dahin, daß diese Körper überhaupt nicht in die Breite, sondern
unablässig in die Höhe wuchsen. Die Mietskasernen Roms wie die
berüchtigte Insula Feliculae erreichten bei einer Straßenbreite von
3-5 Metern[76] Höhen, die im Abendlande noch nirgends und in Amerika
nur in wenigen Städten vorkommen. Beim Kapitol hatten die Dächer unter
Vespasian schon die Höhe des Bergsattels erreicht.[77] Ein grauenvolles
Elend, eine Verwilderung aller Lebensgewohnheiten, die schon jetzt
zwischen Giebeln und Mansarden, in Kellern und Hinterhöfen einen neuen
Urmenschen züchten, hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte.
Das ist in Bagdad und Babylon nicht anders gewesen wie in Tenochtitlan
und heute in London und Berlin. Diodor erzählt von einem abgesetzten
ägyptischen König, der zu Rom in einer jämmerlichen Mietswohnung in
einem hochgelegenen Stockwerk hausen mußte.

Aber kein Elend, kein Zwang, selbst nicht die klare Einsicht in
den Wahnsinn dieser Entwicklung setzt die Anziehungskraft dieser
dämonischen Gebilde herab. Das Rad des Schicksals rollt dem Ende zu;
die Geburt der Stadt zieht ihren Tod nach sich. Anfang und Ende,
Bauernhaus und Häuserblock verhalten sich wie Seele und Intelligenz,
wie Blut und Stein. Aber „Zeit“ ist nicht umsonst ein Wort für die
Tatsache der Nichtumkehrbarkeit. Es gibt hier nur ein Vorwärts, kein
Zurück. Das Bauerntum gebar einst den Markt, die Landstadt, und
nährte sie mit seinem besten Blute. Nun saugt die Riesenstadt das
Land aus, unersättlich, immer neue Ströme von Menschen fordernd und
verschlingend, bis sie inmitten einer kaum noch bevölkerten Wüste
ermattet und stirbt. Wer einmal der ganzen sündhaften Schönheit dieses
letzten Wunders aller Geschichte verfallen ist, der befreit sich nicht
wieder. Ursprüngliche Völker können sich vom Boden lösen und in die
Ferne wandern. Der geistige Nomade kann es nicht mehr. Das Heimweh
nach der großen Stadt ist stärker vielleicht als jedes andere. Heimat
ist für ihn jede dieser Städte, Fremde ist schon das nächste Dorf.
Man stirbt lieber auf dem Straßenpflaster, als daß man auf das Land
zurückkehrt. Und selbst der Ekel vor dieser Herrlichkeit, das Müdesein
vor diesem Leuchten in tausend Farben, das _taedium vitae_, das
zuletzt manche ergreift, befreit sie nicht. Sie tragen die Stadt mit
sich in ihre Berge und an das Meer. Sie haben das Land in sich verloren
und finden es draußen nicht wieder.

Was den Weltstadtmenschen unfähig macht, auf einem anderen als diesem
künstlichen Boden zu leben, ist das Zurücktreten des kosmischen
Taktes in seinem Dasein, während die Spannungen des Wachseins immer
gefährlicher werden. Man vergesse nicht, daß in einem Mikrokosmos
die tierhafte Seite, das Wachsein, zum pflanzenhaften Dasein
+hinzutritt+, nicht umgekehrt. Takt und Spannung, Blut und Geist,
Schicksal und Kausalität verhalten sich wie das blühende Land zur
versteinerten Stadt, wie etwas, das für sich da ist, zu einem andern,
das von ihm abhängt. Spannung ohne den kosmischen Takt, der sie
durchseelt, ist der Übergang zum Nichts. Aber Zivilisation ist nichts
als Spannung. Die Köpfe aller zivilisierten Menschen von Rang werden
ausschließlich von dem Ausdruck der schärfsten Spannung beherrscht.
Intelligenz ist nichts als Fähigkeit zu angespanntestem Verstehen.
Diese Köpfe sind in jeder Kultur der Typus ihres „letzten Menschen“.
Man vergleiche damit Bauernköpfe, wenn sie im Straßengewühl einer
Großstadt auftauchen. Der Weg von der bäuerlichen Klugheit -- der
Schlauheit, dem Mutterwitz, dem Instinkt, die wie bei allen klugen
Tieren auf gefühltem Takt beruhen -- über den städtischen Geist zur
weltstädtischen Intelligenz -- das Wort gibt schon in dem scharfen
Klange die Abnahme der kosmischen Unterlage vortrefflich wieder --
läßt sich auch als die beständige Abnahme des Schicksalsgefühls und
die hemmungslose Zunahme des Bedürfnisses nach Kausalität bezeichnen.
Intelligenz ist der Ersatz unbewußter Lebenserfahrung durch eine
meisterhafte Übung im Denken, etwas Fleischloses, Mageres. Die
intelligenten Gesichter aller Rassen sind einander ähnlich. Es ist die
Rasse selbst, die in ihnen zurücktritt. Je weniger ein Gefühl für das
Notwendige und Selbstverständliche des Daseins besteht, je mehr die
Gewohnheit um sich greift, sich alles „klar zu machen“, desto mehr wird
die Angst des Wachseins kausal gestillt. Daher die Gleichsetzung von
Wissen und Beweisbarkeit und der Ersatz des religiösen Mythus durch
den kausalen, die wissenschaftliche Theorie. Daher das abstrakte Geld
als die reine Kausalität des wirtschaftlichen Lebens im Gegensatz
zum ländlichen Güterverkehr, der Takt ist und nicht ein System von
Spannungen.

Die intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die spezifisch
weltstädtische Form der Erholung: +die Entspannung+, die
„Zerstreuung“. Das +echte+ Spiel, die Lebensfreude, die Lust,
der Rausch sind aus dem kosmischen Takte geboren und werden in ihrem
Wesen gar nicht mehr begriffen. Aber die Ablösung intensivster
praktischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die mit Bewußtsein
betriebene Trottelei, die Ablösung der geistigen Anspannung durch
die körperliche des Sports, der körperlichen durch die sinnliche des
„Vergnügens“ und die geistige der „Aufregung“ des Spiels und der
Wette, der Ersatz der reinen Logik der täglichen Arbeit durch die mit
Bewußtsein genossene Mystik -- das kehrt in allen Weltstädten aller
Zivilisationen wieder. Kino, Expressionismus, Theosophie, Boxkämpfe,
Niggertänze, Poker und Rennwetten -- man wird das alles in Rom
wiederfinden und ein Kenner sollte einmal die Untersuchung auf die
indischen, chinesischen und arabischen Weltstädte ausdehnen. Um nur
eins zu nennen: wenn man das Kamasutram liest, versteht man, was für
Leute am Buddhismus +ebenfalls+ Geschmack fanden; und man wird nun
auch die Stierkampfszenen in den kretischen Palästen mit ganz anderem
Auge betrachten. Es liegt ein Kult zugrunde, ohne Zweifel, aber es ist
ein Parfüm darüber gebreitet wie über den fashionablen stadtrömischen
Isiskult in der Nachbarschaft des Zirkus Maximus.

Und nun geht aus der Tatsache, daß das Dasein immer wurzelloser, das
Wachsein immer angespannter wird, endlich jene Erscheinung hervor,
die im stillen längst vorbereitet war und jetzt plötzlich in das
helle Licht der Geschichte rückt, um dem ganzen Schauspiel ein Ende
zu bereiten: +die Unfruchtbarkeit des zivilisierten Menschen+.
Es handelt sich hier nicht um etwas, das sich mit alltäglicher
Kausalität, etwa physiologisch, begreifen ließe, wie es die moderne
Wissenschaft selbstverständlich versucht hat. Hier liegt eine durchaus
+metaphysische+ Wendung zum Tode vor. Der letzte Mensch der
Weltstädte +will+ nicht mehr leben, wohl als einzelner, aber
nicht als Typus, als Menge; in diesem +Gesamtwesen+ erlischt
die Furcht vor dem Tode. Das, was den echten Bauern mit einer tiefen
und unerklärlichen Angst befällt, der Gedanke an das Aussterben der
Familie und des Namens, hat seinen Sinn verloren. Die Fortdauer des
verwandten Blutes innerhalb der sichtbaren Welt wird nicht mehr als
Pflicht dieses Blutes, das Los, der Letzte zu sein, nicht mehr als
Verhängnis empfunden. Nicht nur weil Kinder unmöglich geworden sind,
sondern vor allem, weil die bis zum äußersten gesteigerte Intelligenz
keine Gründe für ihr Vorhandensein mehr findet, bleiben sie aus. Man
versenke sich in die Seele eines Bauern, der von Urzeiten her auf
seiner Scholle sitzt oder von ihr Besitz ergriffen hat, um dort mit
seinem Blute zu haften. Er wurzelt hier als der Enkel von Ahnen und
der Ahn von künftigen Enkeln. +Sein+ Haus, +sein+ Eigentum:
das bedeutet hier nicht ein flüchtiges Zusammengehören von Leib und
Gut für eine kurze Spanne von Jahren, sondern ein dauerndes und
inniges Verbundensein von +ewigem+ Land und +ewigem+ Blute:
erst damit, erst aus dem Seßhaftwerden im mystischen Sinne erhalten
die großen Epochen des Kreislaufs, Zeugung, Geburt und Tod, jenen
metaphysischen Zauber, der seinen sinnbildlichen Niederschlag in
Sitte und Religion aller landfesten Bevölkerungen findet. Das alles
ist für den „letzten Menschen“ nicht mehr vorhanden. Intelligenz
und Unfruchtbarkeit sind in alten Familien, alten Völkern, alten
Kulturen nicht nur deshalb verbunden, weil innerhalb jedes einzelnen
Mikrokosmos die über alles Maß angespannte tierhafte Lebensseite die
pflanzenhafte aufzehrt, sondern weil das Wachsein die Gewohnheit einer
kausalen Regelung des Daseins annimmt. Was der Verstandesmensch mit
einem äußerst bezeichnenden Ausdruck Naturtrieb nennt, wird von ihm
nicht nur „kausal“ erkannt, sondern auch gewertet und findet im Kreise
seiner übrigen Bedürfnisse den angemessenen Platz. Die große Wendung
tritt ein, sobald es im alltäglichen Denken einer hochkultivierten
Bevölkerung für das Vorhandensein von Kindern „Gründe“ gibt. Die
Natur kennt keine Gründe. Überall, wo es wirkliches Leben gibt,
herrscht eine innere organische Logik, ein „es“, ein Trieb, die
vom Wachsein und dessen kausalen Verkettungen durchaus unabhängig
sind und von ihm gar nicht bemerkt werden. Der Geburtenreichtum
ursprünglicher Bevölkerungen ist eine +Naturerscheinung+,
über deren Vorhandensein niemand nachdenkt, geschweige denn über
ihren Nutzen oder Schaden. Wo Gründe für Lebensfragen überhaupt
ins Bewußtsein treten, da ist das Leben schon fragwürdig geworden.
Da beginnt eine weise Beschränkung der Geburtenzahl -- die bereits
Polybius als das Verhängnis von Griechenland beklagt, die aber schon
lange vor ihm in den großen Städten üblich war und in römischer Zeit
einen erschreckenden Umfang angenommen hat --, die zuerst mit der
materiellen Not und sehr bald überhaupt nicht mehr begründet wird.
Da beginnt denn auch, und zwar im buddhistischen Indien so gut wie
in Babylon, in Rom wie in den Städten der Gegenwart, die Wahl der
„Lebensgefährtin“ -- der Bauer und jeder ursprüngliche Mensch wählt
+die Mutter seiner Kinder+ -- ein geistiges Problem zu werden.
Die Ibsenehe, die „höhere geistige Gemeinschaft“ erscheint, in welcher
beide Teile „frei“ sind, frei nämlich als Intelligenzen, und zwar vom
pflanzenhaften Drange des Blutes, das sich fortpflanzen will; und
Shaw darf den Satz aussprechen, „daß die Frau sich nicht emanzipieren
kann, wenn sie nicht ihre Weiblichkeit, ihre Pflicht gegen ihren Mann,
gegen ihre Kinder, gegen die Gesellschaft, gegen das Gesetz und gegen
jeden, außer gegen sich selbst, von sich wirft“.[78] Das Urweib, das
Bauernweib ist +Mutter+. Seine ganze von Kindheit an ersehnte
Bestimmung liegt in diesem Worte beschlossen. Jetzt aber taucht das
Ibsenweib auf, die Kameradin, die Heldin einer ganzen weltstädtischen
Literatur vom nordischen Drama bis zum Pariser Roman. Statt der Kinder
haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche
Aufgabe und es kommt darauf an, „sich gegenseitig zu verstehen“. Es
ist ganz gleichgültig, ob eine amerikanische Dame für ihre Kinder
keinen zureichenden Grund findet, weil sie keine Season versäumen
will, eine Pariserin, weil sie fürchtet, daß ihr Liebhaber davongeht,
oder eine Ibsenheldin, weil sie „sich selbst gehört“. Sie gehören
alle sich selbst und sie sind alle unfruchtbar. Dieselbe Tatsache in
Verbindung mit denselben „Gründen“ findet sich in der alexandrinischen
und römischen und selbstverständlich in jeder anderen zivilisierten
Gesellschaft, vor allem auch in der, in welcher Buddha herangewachsen
ist, und es gibt überall, im Hellenismus und im 19. Jahrhundert so
gut wie zur Zeit des Laotse und der Tscharvakalehre eine Ethik für
kinderarme Intelligenzen und eine Literatur über die inneren Konflikte
von Nora und Nana.

Kinderreichtum, dessen ehrwürdiges Bild Goethe im Werther noch zeichnen
konnte, wird etwas Provinziales. Der kinderreiche Vater ist in
Großstädten eine Karikatur -- Ibsen hat sie nicht vergessen; sie steht
in seiner Komödie der Liebe.

Auf dieser Stufe beginnt in allen Zivilisationen das mehrhundertjährige
Stadium einer entsetzlichen Entvölkerung. Die ganze Pyramide des
kulturfähigen Menschentums verschwindet. Sie wird von der Spitze herab
abgebaut, zuerst die Weltstädte, dann die Provinzstädte, endlich das
Land, das durch die über alles Maß anwachsende Landflucht seiner
besten Bevölkerung eine Zeitlang das Leerwerden der Städte verzögert.
Nur das primitive Blut bleibt zuletzt übrig, aber seiner starken
und zukunftreichen Elemente beraubt. Es entsteht +der Typus des
Fellachen+.

Wenn irgend etwas, so beweist der allbekannte „Untergang der Antike“,
der sich lange vor dem Einbruch der germanischen Wandervölker
vollendete, daß Kausalität mit Geschichte nichts zu tun hat.[79] Das
Imperium genießt den vollkommensten Frieden; es ist reich, es ist
hochgebildet; es ist gut organisiert; es besaß von Nerva bis Mark Aurel
eine Herrscherreihe, wie sie der Cäsarismus keiner zweiten Zivilisation
aufzuweisen hat. Und trotzdem schwindet die Bevölkerung rasch und in
Masse hin, trotz der verzweifelten Ehe- und Kindergesetzgebung des
Augustus, dessen _lex de maritandis ordinibus_ auf die römische
Gesellschaft bestürzender wirkte als die Niederlage des Varus, trotz
der massenhaften Adoptionen, der ununterbrochenen Ansiedlung von
Soldaten barbarischer Herkunft, um Menschen in die verödende Landschaft
zu bringen, trotz der ungeheuren Alimentationsstiftungen des Nerva
und Trajan, um die Kinder unbemittelter Eltern aufzuziehen. Italien,
dann Nordafrika und Gallien, endlich Spanien, das unter den ersten
Kaisern am dichtesten von allen Teilen des Reichs bevölkert war,
sind menschenleer und verödet. Das berühmte und bezeichnenderweise
in der modernen Volkswirtschaft immer wiederholte Wort des Plinius:
_latifundia perdidere Italiam, jam vero et provincias_,
verwechselt Anfang und Ende des Prozesses: der Großgrundbesitz hätte
nie diese Ausdehnung gewonnen, wenn das Bauerntum nicht vorher
von den Städten aufgesogen worden wäre und das Land zum mindesten
innerlich bereits preisgegeben hätte. Das Edikt des Pertinax von
193 enthüllt endlich den erschreckenden Stand der Dinge: In Italien
und den Provinzen wird jedem gestattet, verödetes Land in Besitz zu
nehmen. Wenn er es bebaut, soll er Eigentumsrecht darüber erhalten.
Die Geschichtsforscher brauchten sich den übrigen Zivilisationen nur
ernsthaft zuzuwenden, um die gleiche Erscheinung überall festzustellen.
Im Hintergrund der Ereignisse des Neuen Reiches, vor allem von der
19. Dynastie an, ist eine gewaltige Abnahme der Bevölkerung deutlich
zu verspüren. Ein Stadtbau, wie ihn Amenophis IV. in Tell el Amarna
ausführte, mit Straßenzügen bis zu 45 m Breite, wäre bei der früheren
Bevölkerungsdichte undenkbar gewesen und ebenso die notdürftige
Abwehr der „Seevölker“, deren Aussichten auf Besitznahme des Reiches
damals sicherlich nicht schlechter waren als die der Germanen vom 4.
Jahrhundert an und endlich die unaufhörliche Einwanderung der Libyer
in das Delta, wo um 945 einer ihrer Führer -- genau wie 476 n. Chr.
Odoaker -- die Herrschaft über das Reich an sich nahm. Aber dasselbe
fühlt man aus der Geschichte des politischen Buddhismus seit dem
Cäsar Asoka heraus.[80] Wenn die Mayabevölkerung in ganz kurzer Zeit
nach der spanischen Eroberung geradezu verschwand und die großen
menschenleeren Städte dem Urwald anheimfielen, so beweist das nicht
allein die Brutalität der Eroberer, die in diesem Punkte einer jungen
und fruchtbaren Kulturmenschheit gegenüber wirkungslos gewesen wäre,
sondern ein Erlöschen von innen heraus, das ohne Zweifel schon längst
begonnen hatte. Und wenn wir uns der eigenen Zivilisation zuwenden, so
sind die alten Familien des französischen Adels zum weitaus größten
Teil nicht durch die französische Revolution ausgerottet worden,
sondern seit 1815 ausgestorben; die Unfruchtbarkeit breitete sich von
ihm auf das Bürgertum und seit 1870 auf die gerade durch die Revolution
fast neu geschaffene Bauernschaft aus. In England und noch weit mehr
in den Vereinigten Staaten und zwar gerade in deren wertvollster,
alteingewanderter Bevölkerung im Osten hat der „Rasseselbstmord“, gegen
den Roosevelt sein bekanntes Buch geschrieben hat, längst im großen
Stile eingesetzt.

Deshalb finden sich überall in diesen Zivilisationen schon früh
die verödeten Provinzstädte und am Ausgang der Entwicklung die
leerstehenden Riesenstädte, in deren Steinmassen eine kleine
Fellachenbevölkerung nicht anders haust als die Menschen der Steinzeit
in Höhlen und Pfahlbauten. Samarra wurde schon im 10. Jahrhundert
verlassen; die Residenz Asokas, Pataliputra, war, als der chinesische
Reisende Hsiuen Tsiang sie um 635 besuchte, eine ungeheure, völlig
unbewohnte Häuserwüste, und viele der großen Mayastädte müssen schon
zur Zeit des Cortez leer gestanden haben. Wir besitzen eine lange Reihe
antiker Schilderungen von Polybius an:[81] die altberühmten Städte,
deren leerstehende Häuserreihen langsam zusammenstürzen, während auf
dem Forum und im Gymnasium Viehherden weiden und im Amphitheater
Getreide gebaut wird, aus dem noch die Statuen und Hermen hervorragen.
Rom hatte im 5. Jahrhundert die Einwohnerzahl eines Dorfes, aber die
Kaiserpaläste waren noch bewohnbar.

Damit findet die Geschichte der Stadt ihren Abschluß. Aus dem
ursprünglichen Markt zur Kulturstadt und endlich zur Weltstadt
herangewachsen, bringt sie das Blut und die Seele ihrer Schöpfer
dieser großartigen Entwicklung und deren letzter Blüte, dem Geist der
Zivilisation zum Opfer und vernichtet damit zuletzt auch sich selbst.


6

Bedeutet die Frühzeit die Geburt der Stadt aus dem Lande, die
Spätzeit den Kampf zwischen Stadt und Land, so ist Zivilisation
der Sieg der Stadt, mit dem sie sich vom Boden befreit und an dem
sie selbst zugrunde geht. Wurzellos, dem Kosmischen abgestorben und
ohne Widerruf dem Stein und dem Geiste verfallen, entwickelt sie
eine Formensprache, die alle Züge ihres Wesens wiedergibt: nicht die
eines Werdens, sondern die eines Gewordenen, eines Fertigen, das sich
wohl verändern, aber nicht entwickeln läßt. Und deshalb gibt es nur
Kausalität, kein Schicksal, nur Ausdehnung, keine lebendige Richtung
mehr. Daraus folgt, daß jede Formensprache einer Kultur samt der
Geschichte ihrer Entwicklung am ursprünglichen Orte haftet, daß aber
jede zivilisierte Form überall zu Hause ist und deshalb, sobald sie
erscheint, auch einer unbegrenzten Verbreitung anheimfällt. Gewiß haben
die Hansestädte in ihren nordrussischen Stapelplätzen gotisch und die
Spanier in Südamerika im Barockstil gebaut, aber es ist unmöglich, daß
auch nur der kleinste Abschnitt der gotischen +Stilgeschichte+
außerhalb Westeuropas verlaufen wäre und ebensowenig konnte der Stil
des attischen und englischen Dramas oder die Kunst der Fuge oder
die Religion Luthers und der Orphiker von Menschen fremder Kulturen
fortgebildet oder auch nur innerlich angeeignet werden. Was aber mit
dem Alexandrinismus und unserer Romantik entsteht, das gehört allen
Stadtmenschen ohne Unterschied. Mit der Romantik beginnt für uns das,
was Goethe weitschauend die Weltliteratur nannte; es ist die führende
welt+städtische+ Literatur, der gegenüber sich eine bodenständige,
aber belanglose Provinzliteratur überall nur mit Mühe behauptet. Der
Staat Venedigs oder Friedrichs des Großen oder das englische Parlament,
so wie es wirklich ist und arbeitet, lassen sich nicht wiederholen,
aber „moderne Verfassungen“ lassen sich in jedem afrikanischen und
asiatischen Lande und antike Poleis unter Numidern und Britanniern
„einführen“. Nicht die Hieroglyphen-, aber die Buchstabenschrift, ohne
Zweifel eine technische Erfindung der ägyptischen Zivilisation,[82]
ist in allgemeinen Gebrauch gekommen. Und ebenso sind nicht echte
Kultursprachen wie das Attische des Sophokles und das Deutsch Luthers,
aber die Weltsprachen, die sämtlich wie die hellenistische Koine, das
Arabische, Babylonische, Englische aus der alltäglichen Praxis der
Weltstädte hervorgegangen sind, überall erlernbar. Deshalb nehmen in
allen Zivilisationen die modernen Städte ein immer gleichförmigeres
Gepräge an. Man kann gehen, wohin man will, man trifft Berlin, London
und New York überall wieder; und wenn ein Römer reiste, konnte er in
Palmyra, Trier, Timgad und in den hellenistischen Städten bis zum Indus
und Aralsee seine Säulenstellungen, statuengeschmückten Plätze und
Tempel finden. Was aber hier verbreitet wird, ist nicht mehr ein Stil,
sondern ein Geschmack, keine echte Sitte, sondern Manieren, und nicht
die Tracht eines Volkes, sondern die Mode. Damit ist es denn möglich,
daß ferne Bevölkerungen die „ewigen Errungenschaften“ einer solchen
Zivilisation nicht nur annehmen, sondern in selbständiger Fassung
weiterstrahlen. Solche Gebiete einer „Mondlichtzivilisation“ sind
Südchina und vor allem Japan, die erst seit dem Ausgang der Hanzeit
(220) „sinaisiert“ wurden, Java als Verbreiterin der brahmanischen
Zivilisation und Karthago, das seine Formen von Babylon empfing.

Alles das sind Formen eines extremen, von keiner kosmischen Macht mehr
gehemmten und gebundenen Wachseins, rein geistig und rein extensiv und
deshalb von einer solchen Gewalt der Ausbreitung, daß die letzten und
flüchtigsten Ausstrahlungen sich fast über die ganze Erde verbreitet
und übereinander gelegt haben. Fragmente zivilisierter chinesischer
Formen finden sich +vielleicht+ im skandinavischen Holzbau,
babylonische Maße +vielleicht+ in der Südsee, antike Münzen in
Südafrika, ägyptische und indische Einflüsse vielleicht im Inkalande.

Während aber diese Ausbreitung alle Grenzen überschreitet, vollzieht
sich und zwar in großartigen Verhältnissen die Ausbildung der inneren
Form in drei deutlich unterscheidbaren Stufen: Ablösung von der Kultur
-- Reinzucht der zivilisierten Form -- Erstarrung. Diese Entwicklung
hat für uns eingesetzt und zwar sehe ich in der Krönung des gewaltigen
Gebäudes die eigentliche Mission der Deutschen als der letzten Nation
des Abendlandes. In diesem Stadium sind alle Fragen des Lebens, nämlich
des apollinischen, magischen, faustischen Lebens zu Ende gedacht und
in einen letzten Zustand des Wissens oder Nichtwissens gebracht. Um
Ideen kämpft man nicht mehr. Die letzte, die Idee der Zivilisation
selbst, ist im Umriß formuliert und ebenso sind Technik und Wirtschaft
im +Problemsinne+ fertig. Aber damit beginnt erst die mächtige
Arbeit der Ausführung aller Forderungen und der Anwendung dieser
Formen auf das gesamte Dasein der Erde. Erst wenn diese Arbeit getan
und die Zivilisation nicht nur ihrer Gestalt, sondern auch ihrer Masse
nach endgültig festgestellt ist, beginnt das Festwerden der Form.
Stil ist in Kulturen der +Pulsschlag des Sicherfüllens+. Jetzt
entsteht -- wenn man das Wort gebrauchen will -- der zivilisierte
Stil als +Ausdruck des Fertigseins+. Er ist vor allem in Ägypten
und China zu einer prachtvollen Vollkommenheit gelangt, die alle
Äußerungen eines im Innern von nun an unveränderlichen Lebens vom
Zeremoniell und Ausdruck der Gesichter bis zu den äußerst feinen und
durchgeistigten Formen einer Kunstübung erfüllt. Von einer Geschichte
im Sinne des Zutreibens auf ein Formideal kann nicht die Rede sein,
aber es herrscht eine beständige leise Bewegtheit der Oberfläche,
welche der ein für allemal gegebenen Sprache immer wieder kleine Fragen
und Lösungen artistischer Art ablockt. Darin besteht die gesamte uns
bekannte „Geschichte“ der chinesisch-japanischen Malerei und der
indischen Architektur. Und ebenso wie diese Scheingeschichte sich von
der wirklichen des gotischen Stils, so unterscheidet sich der Ritter
der Kreuzzüge von dem chinesischen Mandarin +als der werdende von dem
fertigen Stand+. Der eine +ist+ Geschichte, der andere hat sie
längst überwunden. Denn, wie schon festgestellt wurde, die Geschichte
dieser Zivilisationen ist +Schein+ und ebenso die großen Städte,
deren Antlitz sich fortwährend verändert, ohne anders zu werden.
Und ein Geist dieser Städte ist nicht vorhanden. Sie sind Land in
steinerner Form.

Was geht hier unter? Und was bleibt? Es ist ein bloßer Zufall,
daß germanische Völker unter dem Druck der Hunnen die romanische
Landschaft besetzten und damit die Entwicklung des „chinesischen“
Endzustandes der Antike abbrachen. Den Seevölkern, die seit 1400 in
einer bis ins einzelne gleichen Wanderung gegen die ägyptische Welt
vordrangen, glückte es nur im kretischen Inselgebiet. Ihre mächtigen
Züge an der libyschen und phönikischen Küste unter Begleitung von
Wikingerflotten sind ebenso gescheitert wie die der Hunnen gegen
China. So ist die Antike das einzige Beispiel einer im Augenblick
ihrer vollen Reife abgebrochnen Zivilisation. Trotzdem haben die
Germanen nur die Oberschicht der Formen zerstört und durch das Leben
ihrer eigenen Vorkultur ersetzt. Die „ewige“ Unterschicht erreichte
man nicht. Sie bleibt, versteckt und durch eine neue Formensprache
vollständig überzogen, im Untergrunde der ganzen folgenden Geschichte
bestehen und besteht noch heute in Südfrankreich, Süditalien und
Nordspanien in fühlbaren Resten fort. Es gibt hier eine spätantike
Färbung der katholischen Volksreligion, die sie von dem kirchlichen
Katholizismus der westeuropäischen Höhenschicht sehr deutlich abhebt.
In süditalienischen Kirchenfesten findet man heute noch antike und
vorantike Kulte wieder und ebenso überall Gottheiten (Heilige), deren
Verehrung durch den katholischen Namen hindurch eine antike Fassung
erkennen läßt.

Hier aber tritt ein anderes Element in Erscheinung, das seine eigene
Bedeutung hat. Wir stehen vor dem +Problem der Rasse+.


    [67] Das erkennt jetzt auch die Kunstforschung: v. Salis, Die Kunst
    der Griechen, 1919, S. 3 ff. H. Th. Bossert, Alt Kreta 1921, Einl.

    [68] D. Fimmen, Die kretisch-mykenische Kultur, 1921, S. 210.

    [69] Dehio, Gesch. d. deutsch. Kunst, 1919, S. 16 ff.

    [70] Dieterich, Byz. Charakterköpfe S. 136 f.

    [71] Dehio, Gesch. d. deutsch. Kunst, 1919, S. 13 f.

    [72] Ed. Meyer, Gesch. d. Altertums I, S. 188.

    [73] Vgl. Kap. V A.

    [74] Samarra zeigt wie die Kaiserfora in Rom und die Ruinen von
    Luxor und Karnak amerikanische Verhältnisse. Die Stadt erstreckt
    sich 33 km lang am Flusse hin. Der Palast Balkuwara, den der
    Khalif Mutawakkil für einen seiner Söhne erbauen ließ, bildet ein
    Quadrat von 1250 m Seitenlänge. Eine der Riesenmoscheen mißt 260
    × 180 m. Schwarz, Die Abbasidenresidenz Samarra, 1910. Herzfeld,
    Ausgrabungen von Samarra, 1912.

    [75] Friedländer, Sitt.-Gesch. Roms I, S. 5; man vergleiche
    dies mit dem nicht entfernt so stark bevölkerten Samarra; die
    „spätantiken“ Großstädte auf arabischem Boden sind auch in dieser
    Hinsicht nicht antik. Die Gartenvorstadt von Antiochia war im
    ganzen Osten berühmt.

    [76] Die Stadt, welche der ägyptische Julian Apostata, Amenophis
    IV., sich in Tell el Amarna baute, hatte Straßen bis zu 45 m
    Breite. Borchardt, Ztschr. f. Bauwesen LXVI, 524.

    [77] Pöhlmann, Aus Altertum u. Gegenwart 1910, S. 211 ff.

    [78] B. Shaw, Ibsenbrevier S. 57.

    [79] Zum Folgenden vgl. die Darstellung bei E. Meyer, Kl. Schriften
    1910, S. 145 ff.

    [80] Wir kennen in China im 3. Jahrh. v. Chr. -- also in
    der chinesischen Augustuszeit! -- Maßnahmen zur Hebung der
    Bevölkerungsziffer, v. Rosthorn, Das soziale Leben d. Chinesen
    1919, S. 6.

    [81] Strabo, Pausanias, Dio Chrysostomus, Avien u. a., E. Meyer,
    Kl. Schriften, S. 164 ff.

    [82] Nach der Entdeckung von Sethe. Vgl. Rob. Eisler, Die
    kenitischen Weihinschriften der Hyksoszeit usw., 1919.




VÖLKER, RASSEN, SPRACHEN


7

Das wissenschaftliche Geschichtsbild während des ganzen 19.
Jahrhunderts wird verdorben durch eine aus der Romantik stammende
oder von ihr doch vollendete Vorstellung, den Begriff des „Volkes“ in
sittlich-begeistertem Sprachgebrauch. Wenn irgendwo in früher Zeit eine
neue Religion, Ornamentik, Bauweise, Schrift oder auch ein Reich oder
eine große Verwüstung hervortritt, so stellt der Forscher seine Frage
sofort in der Fassung: wie hieß +das Volk+, das diese Erscheinung
hervorgebracht hat? Diese Fragestellung ist dem westeuropäischen Geist
in seiner heutigen Beschaffenheit eigentümlich, sie ist aber in allen
Einzelheiten so falsch, daß das mit ihr heraufgerufene Bild vom Gang
der Ereignisse notwendig verfehlt sein muß. „Das Volk“ als die Urform
schlechthin, in welcher Menschen historisch wirksam sind, die Urheimat,
die Ursitze, die Wanderungen „der“ Völker -- darin spiegelt sich der
große Schwung der Begriffe Nation von 1789 und Volk von 1813, die
beide letzten Endes auf das englisch-puritanische Selbstbewußtsein
zurückgehen. Aber gerade weil der Begriff ein hohes Pathos birgt,
entzieht er sich gern der Kritik. Selbst scharfsinnige Forscher
bezeichnen hundert ganz verschiedenartige Dinge damit, ohne es zu
bemerken, und so entwickelt sich „Volk“ zu der vermeintlich eindeutigen
Größe, welche alle Geschichte +macht+. Weltgeschichte gilt uns
heute, was durchaus nicht selbstverständlich ist und dem Denken der
Griechen und Chinesen ganz fern lag, als die Geschichte von Völkern.
Alles andere, Kultur, Sprache, Kunst, Religion, wird von den Völkern
geschaffen. Der Staat ist die Form eines Volkes.

Dieser romantische Begriff soll hier zerstört werden. Was seit der
Eiszeit die Erde bewohnt, sind Menschen, nicht „Völker“. Ihr Schicksal
wird zunächst dadurch bestimmt, daß die leibliche Folge von Eltern und
Kindern, der Zusammenhang des Blutes, natürliche Gruppen bildet, welche
den deutlichen Hang verraten, in einer Landschaft Wurzel zu fassen.
Auch Nomadenstämme halten ihre Bewegungen in einer landschaftlichen
Grenze. Damit ist eine Dauer der kosmisch-pflanzenhaften Lebensseite,
des Daseins, gegeben. Dies nenne ich +Rasse+. Stämme, Sippen,
Geschlechter, Familien -- das sind sämtlich Bezeichnungen für die
Tatsache des durch Zeugungen in einer engeren oder weiteren Landschaft
fortkreisenden Blutes.

Aber diese Menschen besitzen auch noch die mikrokosmisch-tierhafte
Lebensseite des Wachseins, des Empfindens und Verstehens, und die Form,
in welcher das Wachsein des einen zu dem der übrigen in Beziehung
tritt, nenne ich +Sprache+, die zunächst nichts ist als unbewußter
lebendiger Ausdruck, der sinnlich wahrgenommen wird, der sich aber
allmählich zu einer bewußten +Mitteilungstechnik+ entwickelt,
welche auf einem übereinstimmenden Bedeutungsgefühl für Zeichen beruht.

Zuletzt ist jede Rasse ein einziger großer Leib, und jede Sprache die
Tätigkeitsform +eines+ großen, viele Einzelwesen verbindenden
Wachseins. Man wird über beide nie zu den letzten Aufschlüssen
gelangen, wenn man sie nicht gemeinsam und in beständiger Vergleichung
behandelt.

Man wird aber auch die Geschichte des höheren Menschentums nie
verstehen, wenn man übersieht, daß der Mensch als Element einer
Rasse und als Besitzer einer Sprache, oder der Mensch, soweit er
einer Einheit des Blutes entstammt und soweit er einer Einheit der
Verständigung eingereiht ist, daß also Dasein und Wachsein des Menschen
ihre besonderen Schicksale haben. Und zwar sind Ursprung, Entwicklung
und Dauer der Rasseseite und der Sprachseite in ein und derselben
Bevölkerung +durchaus unabhängig+ voneinander. Rasse ist etwas
Kosmisches und Seelenhaftes. Irgendwie ist sie periodisch und in ihrem
Innern von den großen astronomischen Verhältnissen mitbedingt. Sprachen
sind kausale Gebilde; sie wirken durch die Polarität ihrer Mittel. Wir
sprechen von Rasseinstinkten und vom Geist einer Sprache. Aber das sind
zwei verschiedene +Welten+. Zur Rasse gehört die tiefste Bedeutung
der Worte Zeit und Sehnsucht, zur Sprache die der Worte Raum und Angst.
Das alles ist bis jetzt unter dem Begriff „Volk“ verschüttet geblieben.

Es gibt also +Daseinsströme+ und +Wachseinsverbindungen+.
Jene besitzen eine Physiognomie, diesen liegt ein System zugrunde.
Rasse ist, im Bilde der Umwelt betrachtet, der Inbegriff aller
leiblichen Kennzeichen, soweit sie für das Sinnesempfinden wacher Wesen
vorhanden sind. Hier müssen wir bedenken, daß ein Leib die mit seiner
Zeugung gesetzte und ihm innerlich eigene Form von der Kindheit bis
zum Greisentum entfaltet und vollendet, während gleichzeitig das, was
der Leib abgesehen von seiner Form ist, unaufhörlich erneuert wird.
Von einem Knaben ist also im Manne nichts wirklich geblieben als der
lebendige Sinn seines Daseins, und wir erkennen davon nicht mehr, als
was sich in der Welt des Wachseins darbietet. Obwohl sich für den
höheren Menschen der Rasseeindruck fast ganz auf das beschränkt, was in
der Lichtwelt seines Auges erscheint, Rasse also ganz wesentlich ein
Inbegriff +sichtbarer+ Merkmale ist, so sind doch auch für ihn
bedeutsame Reste nichtoptischer Merkmale vorhanden, der Geruch, die
Stimmen der Tiere, vor allem aber die Sprechweise des Menschen. Für
höhere Tiere dagegen wird der gegenseitige Rasseeindruck ohne Zweifel
durchaus nicht vom Sehen beherrscht. Die Witterung ist wichtiger; es
kommen aber Empfindungsarten hinzu, die sich dem menschlichen Wissen
vollständig entziehen. Es ergibt sich daraus, daß eine Pflanze,
weil sie Dasein besitzt, auch +Rasse hat+ -- die Obst- und
Blumenzüchter wissen das sehr wohl -- daß aber nur Tiere Rasseeindrücke
+empfangen+. Es hat für mich immer etwas Erschütterndes, wenn
ich im Frühling sehe, wie all diese blühenden Gewächse, die sich nach
Zeugung und Befruchtung sehnen, mit der ganzen Leuchtkraft ihrer Blüten
einander nicht anziehen und nicht einmal bemerken können, sondern auf
Tiere angewiesen sind, für die es allein diese Farben und Düfte gibt.

Sprache nenne ich die gesamte freie Tätigkeit des wachen Mikrokosmos,
insofern sie etwas +für andere+ zum Ausdruck bringt. Pflanzen
besitzen kein Wachsein und keine Beweglichkeit und also keine Sprache.
Das Wachsein tierischer Wesen aber ist durch und durch ein Sprechen,
ob nun der Sinn der einzelnen Akte ein Sprechen sein soll oder nicht
und wenn auch der bewußte oder unbewußte Zweck des Tuns in einer ganz
anderen Richtung liegt. Ein Pfau spricht sicherlich bewußt, wenn
er seinen Schweif entfaltet, aber eine junge Katze, die mit einem
Garnknäul spielt, spricht durch die Zierlichkeit ihrer Bewegungen
unbewußt zu uns. Jeder kennt den Unterschied in seinen Bewegungen, je
nachdem er sich beobachtet weiß oder nicht. Man beginnt plötzlich mit
allem, was man tut, bewußt zu „sprechen“.

Damit ergibt sich aber ein sehr bedeutsamer Unterschied in den Arten
der Sprache: Sprache, die nur +Ausdruck für die Welt+ ist und
deren innere Notwendigkeit in der Sehnsucht alles Lebens liegt, sich
vor Zeugen zu verwirklichen, sein Dasein sich selbst zu bezeugen, und
Sprache, die +von bestimmten Wesen verstanden+ sein will. Es
gibt also +Ausdruckssprachen+ und +Mitteilungssprachen+.
Jene setzen nur ein Wachsein, diese eine Wachseinsverbindung voraus.
Verstehen heißt mit dem eigenen Bedeutungsgefühl auf den Eindruck
eines Zeichens antworten. Sich verständigen, „Zwiesprache halten“, zu
einem „Du“ sprechen, heißt also in ihm ein dem eigenen entsprechendes
Bedeutungsgefühl voraussetzen. Die Ausdruckssprache vor Zeugen beweist
nur das Vorhandensein eines Ich. Die Mitteilungssprache setzt ein Du.
Ich ist das Sprechende, Du ist das, was die Sprache des Ich verstehen
soll. Für den primitiven Menschen kann ein Baum, ein Stein, eine Wolke
ein Du sein. Alle Gottheiten sind Du. Im Märchen gibt es nichts, was
nicht mit dem Menschen Zwiesprache halten könnte. Und wir brauchen uns
nur in Augenblicken zorniger Erregung oder dichterischen Schwunges zu
ertappen, um zu wissen, daß noch heute jedes Ding ein Du für uns werden
kann. Und endlich spricht jeder denkende Mensch mit sich selbst wie
mit einem Du. Erst am Du erwacht auch das +Wissen+ von einem Ich.
„Ich“ ist also eine Bezeichnung für die Tatsache, daß eine Brücke zu
einem anderen Wesen vorhanden ist.

Eine strenge Grenze zwischen religiöser und künstlerischer
Ausdruckssprache und reiner Mitteilungssprache zu ziehen ist
unmöglich. Das gilt ganz besonders auch für hohe Kulturen mit der
Sonderentwicklung ihrer Formgebiete. Denn einerseits kann niemand
sprechen, ohne in die Art seines Sprechens noch einen bedeutsamen
Ausdruck zu legen, der ihm selbst oft nicht bekannt ist und der
jedenfalls nicht der Mitteilung dient. Und andererseits kennen wir alle
das Drama, mit dem der Dichter etwas „sagen“ will, was er ebensogut und
besser auch durch einen Aufruf hätte sagen können, das Gemälde, das
durch seinen Inhalt belehren, mahnen, bessern soll -- die Bilderreihen
in jeder griechisch-orthodoxen Kirche bilden einen strengen Kanon und
dienen dem ausgesprochenen Zweck, dem Betrachter, dem ein Buch nichts
sagt, die Wahrheiten der Religion eindringlich klar zu machen -- die
Stiche von Hogarth, welche Kanzelreden ersetzen, und endlich das
Gebet, das unmittelbare Sprechen mit Gott, das auch durch die Ausübung
einer kultischen Handlung vor seinen Augen, deren Sprache er versteht,
ersetzt werden kann. Der theoretische Streit um den Zweck der Kunst
beruht auf der Forderung, daß eine künstlerische Ausdruckssprache keine
Mitteilungssprache sein soll, und der Erscheinung des Priestertums
liegt die Überzeugung zugrunde, daß es allein die Sprache kennt, in
welcher der Mensch sich Gott mitteilen kann.

Alle Daseinsströme haben historische, alle Wachseinsverbindungen
religiöse Prägung. Was von jeder echten religiösen oder künstlerischen
Formensprache feststeht und was insbesondere die Geschichte der Schrift
uns überall enthüllt -- Schrift ist die Wortsprache fürs Auge --
das gilt ganz ohne Zweifel auch von der Entstehung der menschlichen
Lautsprache überhaupt. Die Urworte, von deren Beschaffenheit wir nicht
das geringste mehr wissen, besaßen sicherlich auch eine kultische
Farbe. Aber in einem entsprechenden Zusammenhang steht die Rasse mit
allem, was wir das Leben als Kampf um die Macht, was wir die Geschichte
als Schicksal, was wir heute Politik nennen. Es ist vielleicht
verwegen, in dem Suchen einer Kletterpflanze nach Haftpunkten, womit
sie einen Baum umklammert, seinen Widerstand überwindet und ihn zuletzt
erwürgt, um sich über seinen Wipfel hoch in die Luft zu recken, etwas
von politischem Instinkt, in dem Gesang einer aufsteigenden Lerche
etwas von religiösem Weltgefühl zu verspüren, aber es ist sicher, daß
von hier aus in ununterbrochener Reihe die Äußerungen des Daseins und
des Wachseins, des Taktes und der Spannung bis zu den ausgebildeten
politischen und religiösen Formen jeder modernen Zivilisation führen.

Und daraus ergibt sich endlich der Schlüssel für jene zwei
merkwürdigen Worte, welche die völkerkundliche Forschung an zwei
ganz verschiedenen Stellen der Erde entdeckt hat und zwar in einer
nicht sehr umfangreichen Anwendung, die dann aber unvermerkt immer
mehr in den Vordergrund der Untersuchung gerückt sind: +Totem und
Tabu+. Je rätselhafter und vieldeutiger sie werden, desto mehr hat
man gefühlt, daß mit ihnen die letzten Lebensgründe nicht nur der
primitiven Menschheit angerührt wurden. Und aus der hier vorgelegten
Untersuchung folgt nunmehr die eigentliche Bedeutung beider: Totem und
Tabu bezeichnen den letzten Sinn von Dasein und Wachsein, Schicksal
und Kausalität, Rasse und Sprache, Zeit und Raum, Sehnsucht und Angst,
Takt und Spannung, Politik und Religion. Die Totemseite des Lebens ist
pflanzenhaft und gehört allen Wesen an, die Tabuseite ist tierhaft
und setzt die freie Bewegung des Wesens in einer Welt voraus. Wir
besitzen die Totemorgane des Blutkreislaufs und der Fortpflanzung
und die Tabuorgane der Sinne und Nerven. Alles was zum Totem gehört,
besitzt Physiognomie, alles was Tabu ist, hat System. Im Totemistischen
liegt das Gemeingefühl von Wesen, die ein und demselben Daseinsstrome
angehören. Es läßt sich nicht übertragen und nicht beseitigen, es ist
eine +Tatsache+, +die+ Tatsache im eminenten Sinne. Alles
was Tabu ist, kennzeichnet Wachseinsverbindungen; es ist erlernbar und
übertragbar und eben deshalb ein behütetes Geheimnis von Kultgemeinden,
Denkerschulen und Künstlergilden, die alle eine Art von Geheimsprache
besitzen.[83]

Aber das Dasein kann ohne das Wachsein gedacht werden; das Wachsein
nicht ohne Dasein. Daraus folgt, daß es Rassewesen ohne Sprache gibt,
aber keine Sprache ohne Rasse. Deshalb besitzt alles Rassemäßige seinen
eigenen und vom etwaigen Wachsein unabhängigen, den Pflanzen so gut
wie den Tieren zugehörigen Ausdruck -- wohl zu unterscheiden von der
Ausdrucks+sprache+, welche in der +aktiven Veränderung+ des
Ausdruckes besteht -- der nicht für Zeugen bestimmt, sondern einfach
da ist: die Physiognomie. In jeder mit tiefer Bedeutung sogenannten
lebenden Sprache aber ist außer der Tabuseite, die erlernbar ist, ein
gänzlich unerlernbarer Rassezug nachzuweisen, der mit den Trägern
der Sprache dahinstirbt: er liegt in Melos, Rhythmus und Betonung, in
Farbe, Klang und Schritt der Aussprache, im Sprachgebrauch, in der
begleitenden Geste. Man sollte deshalb die Sprache und das Sprechen
unterscheiden. Jene ist ein an sich toter Bestand von Zeichen, diese
ist die Tätigkeit, welche mit den Zeichen wirkt.[84] Wenn man von
einer Sprache nicht mehr unmittelbar hören +und sehen+ kann,
wie sie gesprochen wird, so kennt man von ihr nur den Knochenbau
und nicht den Leib. Das ist beim Sumerischen, Gotischen, Sanskrit
und allen andern Sprachen der Fall, die wir nur aus Texten und
Inschriften entziffert haben und mit vollem Recht tot nennen, weil die
menschliche Gemeinschaft verschwunden ist, welche durch diese Sprache
gebildet worden war. Wir kennen die ägyptische Sprache, aber nicht
das ägyptische Sprechen. Wir kennen vom Latein der augusteischen Zeit
annähernd den Lautwert der Buchstaben und den Wortsinn, aber wir wissen
nicht, wie eine Rede Ciceros von den Rostra herab erklang und noch viel
weniger wissen wir, wie Hesiod und Sappho ihre Verse sprachen und wie
sich ein Gespräch auf dem Markt von Athen anhörte. Wenn in der Gotik
das Latein wirklich wieder gesprochen wurde, so war damit etwas Neues
entstanden; die Ausbildung dieses gotischen Latein hat vom Takt und
Klang des Sprechens, von dem wir uns heute ebenfalls keine Vorstellung
mehr machen können, bald auf den Wortbestand und die Wortverbindung
übergegriffen. Aber auch das antigotische Latein der Humanisten, das
ciceronianisch sein sollte, war nichts weniger als eine Auferstehung.
Die ganze Bedeutung der Rasseseite im Sprechen ermißt man, wenn man das
Deutsch Nietzsches und Mommsens, das Französisch Diderots und Napoleons
vergleicht und bemerkt, daß Lessing und Voltaire im Gebrauch der
Sprache sich näher stehen als Lessing und Hölderlin.

Und ebenso steht es mit der bedeutendsten Ausdruckssprache, die es
gibt, der Kunst. Die Tabuseite, nämlich der Formenschatz, die Regeln
der Konvention, der Stil, soweit er einen Inbegriff feststehender
Wendungen bedeutet, was mit dem Wortschatz und der Syntax der
Wortsprachen zu vergleichen ist, stellt die Sprache selbst dar, die
erlernt werden kann. Sie wird erlernt und im Gebrauch überliefert in
den großen Malerschulen, der Bauhüttentradition, überhaupt in der
strengen Handwerkszucht, welche für jede echte Kunst selbstverständlich
ist und deren Zweck zu allen Zeiten die sichere Beherrschung einer ganz
bestimmten, gerade damals lebendigen Sprechweise war. Denn es gibt
auch hier lebendige und tote Sprachen. Die Formensprache einer Kunst
läßt sich nur dann als lebendig bezeichnen, wenn die Künstlerschaft
in ihrer Gesamtheit sie wie eine gemeinsame Muttersprache anwendet,
deren man sich bedient, ohne an ihre Beschaffenheit auch nur zu denken.
In diesem Sinne war der gotische Stil im 16. Jahrhundert eine tote
Sprache, das Rokoko um 1800. Man vergleiche die unbedingte Sicherheit,
mit welcher Baumeister und Musiker des 17. und 18. Jahrhunderts sich
ausdrücken, mit dem Stammeln Beethovens, den mühsam, gewissermaßen
durch Selbstunterricht erworbenen Sprachkenntnissen Schinkels und
Schadows, dem Radebrechen der Prärafaeliten und Neugotiker und endlich
den hilflosen Sprechversuchen heutiger Künstler.

Das Sprechen einer künstlerischen Formensprache, wie es in den
Werken vorliegt, läßt die Totemseite, die Rasse erkennen und zwar
von einzelnen Künstlern so gut wie von ganzen Künstlergeschlechtern.
Die Schöpfer der dorischen Tempel Unteritaliens und Siziliens und
die der norddeutschen Backsteingotik waren eine starke Rasse und
ebenso die deutschen Musiker von Heinrich Schütz bis Sebastian Bach.
Zur Totemseite gehören der Einfluß der kosmischen Kreisläufe, dessen
Bedeutung für die Gestalt der Kunstgeschichte man kaum ahnt und
niemals im einzelnen feststellen wird, und die schöpferischen Zeiten
des Frühlings und des Liebesrausches, die ganz unabhängig von der
Sicherheit der Formgebung über die Formgewalt, die Tiefe der Konzeption
einzelner Werke und ganzer Künste entscheiden. Wir verstehen den
Formalisten aus Tiefe der Weltangst oder aus Mangel an Rasse und den
großen Formlosen aus Überschwang des Blutes oder Mangel an Zucht. Wir
verstehen, daß es einen Unterschied gibt zwischen der Geschichte von
Künstlern und der von Stilen und daß man die Sprache einer Kunst von
Land zu Land tragen kann, die Meisterschaft, sie zu sprechen, aber
nicht.

Eine Rasse hat Wurzeln. Rasse und Landschaft gehören zusammen. Wo
eine Pflanze wurzelt, da stirbt sie auch. Es hat wohl einen Sinn,
nach der Heimat einer Rasse zu fragen, aber man sollte wissen, daß
dort, wo die Heimat ist, eine Rasse mit ganz wesentlichen Zügen des
Leibes und der Seele auch bleibt. Ist sie dort nicht zu finden,
so ist sie nirgends mehr. Eine Rasse wandert nicht. Die Menschen
wandern; ihre Geschlechterfolgen werden dann in immer wechselnden
Landschaften geboren; die Landschaft erhält eine geheime Gewalt über
das Pflanzenhafte in ihnen und endlich ist der Rasseausdruck von Grund
aus verändert, der alte erloschen und ein neuer aufgetaucht. Nicht
Engländer und Deutsche sind nach Amerika ausgewandert, sondern diese
Menschen sind +als+ Engländer und Deutsche gewandert; +als+
Yankees sind ihre Urenkel jetzt dort, und es ist seit langem kein
Geheimnis mehr, daß der Indianerboden seine Macht an ihnen erwiesen
hat: Sie werden von Generation zu Generation der ausgerotteten
Bevölkerung ähnlicher. Gould und Baxter haben gezeigt, daß Weiße aller
Stämme, Indianer und Neger dieselbe durchschnittliche Körpergröße und
Wachstumszeit erhalten und zwar so schnell, daß jung eingewanderte Iren
(mit einer sehr langen Wachstumszeit) die Macht der Landschaft noch
an sich selbst erfahren. Boas hat gezeigt, daß schon die in Amerika
geborenen Kinder langköpfiger sizilischer und kurzköpfiger deutscher
Juden dieselbe Kopfform haben. Aber das gilt überall und sollte zur
größten Vorsicht gegenüber historischen Wanderungen mahnen, von denen
wir nur gewisse Namen der Wanderstämme und geringe Sprachreste kennen,
wie es in der antiken Vorgeschichte mit Danaern, Etruskern, Pelasgern,
Achaiern, Dorern der Fall ist. Für die Rasse dieser „Völker“ folgt
daraus gar nichts. Was unter den Namen der Goten, Langobarden, Vandalen
in die südeuropäischen Länder einströmte, war zuerst ohne Zweifel
eine Rasse für sich. Sie war aber schon zur Zeit der Renaissance in
die wurzelhaften Rassemerkmale des provençalischen, kastilischen und
toskanischen Bodens vollständig hineingewachsen.

Nicht so die Sprache. Die Heimat einer Sprache bedeutet nur den
zufälligen Ort ihrer Bildung, der zu ihrer inneren Form in keiner
Beziehung steht. Sprachen wandern, indem sie von Stamm zu Stamm
verbreitet und von Stämmen fortgetragen werden. Vor allem werden
sie gewechselt und einen +Sprachenwechsel der Rassen+ kann
man in früher Zeit gar nicht oft genug annehmen. Es ist, um das zu
wiederholen, der Formbestand und nicht das Sprechen der Sprache, was
man sich aneignet, ebenso wie primitive Bevölkerungen sich unaufhörlich
ornamentale Motive aneignen, um sie mit vollkommener Sicherheit
als Elemente der eigenen Formensprache zu gebrauchen. Es genügt in
frühen Zeiten die Tatsache, daß ein Volk sich als stärker erwiesen
hat, oder ein Gefühl, daß dessen Sprache in der Anwendung überlegen
ist, um -- oft aus wirklicher religiöser Scheu -- die eigene Sprache
dafür aufzugeben. Man verfolge den Sprachwechsel der Normannen, die
in der Normandie, in England, in Sizilien, vor Byzanz mit einer
andern Sprache erschienen und jedesmal bereit waren, sie wieder gegen
eine andere einzutauschen. Die Ehrfurcht vor der Muttersprache, mit
dem ganzen sittlichen Gewicht, das an diesem Worte haftet und das
immer wieder zu erbitterten Sprachkämpfen führt, ist ein Zug der
+späten+ abendländischen Seele und dem Menschen andrer Kulturen
kaum, dem primitiven gar nicht bekannt. Er wird von unsern Historikern
aber stillschweigend überall vorausgesetzt und führt zu einer Unzahl
falscher Schlüsse über die Bedeutung von Sprachfunden auf die Geschicke
von „Völkern“. Man denke an die Rekonstruktion der „dorischen
Wanderung“ aus der Verteilung der späteren griechischen Dialekte.
Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit, aus bloßen Ortsnamen, Eigennamen,
Inschriften, Dialekten, der Sprachseite überhaupt auf die Geschicke der
Rasseseite von Bevölkerungen zu schließen. Wir wissen von vornherein
nie, ob ein Völkername einen Sprachkörper oder einen Rasseteil
bezeichnet, beides oder keins von beiden, und dazu kommt noch, daß die
Völkernamen und sogar die Ländernamen ihre eigenen Schicksale besitzen.


8

Das Haus ist der reinste Rasseausdruck, den es überhaupt gibt. Von dem
Augenblick an, wo der seßhaft werdende Mensch nicht mehr mit einem
Obdach vorlieb nimmt, sondern eine feste Wohnung für sich baut, ist
dieser Ausdruck vorhanden und er unterscheidet innerhalb der Rasse
„Mensch“, welche dem +biologischen+ Weltbilde[85] angehört, die
Menschenrassen der eigentlichen Weltgeschichte, Daseinsströme von einer
viel seelenhafteren Bedeutung. Die Urform des Hauses ist durchaus
gefühlt und gewachsen. Man weiß gar nichts von ihr. Wie die Schale des
Nautilus, wie der Bienenstock, wie die Nester der Vögel ist sie von
innerer Selbstverständlichkeit und alle Züge ursprünglicher Sitte und
Form des Daseins, des Ehe- und Familienlebens, der Stammesordnung haben
im Grundriß und seinen Haupträumen, Diele, Halle, Megaron, Atrium,
Hof, Kemenate, Gynaikeion ihr Ebenbild. Man braucht nur die Anlage des
altsächsischen und des römischen Hauses zu vergleichen, um zu fühlen,
daß die Seele dieser Menschen und die Seele ihres Hauses ein und
dasselbe sind.

Die Kunstgeschichte hätte sich dieses Gebietes nie bemächtigen sollen.
Es war ein Irrtum, den Bau des Wohnhauses für einen Teil der Baukunst
zu halten. Diese Form ist aus der dunklen Gewohnheit des Daseins,
nicht für das Auge entstanden, welches Formen im Licht sucht, und kein
Architekt hat je daran gedacht, die Raumverteilung des Bauernhauses
wie die eines Domes zu behandeln. Diese bedeutsame Grenze der Kunst
ist der Forschung entgangen, obwohl gelegentlich Dehio[86] bemerkt,
daß das altgermanische Holzhaus nichts mit der späteren großen
Architektur zu tun habe, die ganz unabhängig davon entstanden sei.
Deshalb besteht eine immerwährende methodische Verlegenheit, welche die
Kunstwissenschaft wohl empfunden, aber nicht begriffen hat. Sie bringt
in allen Vor- und Frühzeiten unterschiedslos Geräte, Waffen, Keramik,
Gewebe, Grabstätten und Häuser und zwar sowohl der Form als der
Verzierung nach zusammen und gewinnt erst mit der +organischen+
Geschichte der Malerei, Plastik und Architektur, also der in sich
geschlossenen Sonderkünste, festen Boden. Aber hier scheiden sich klar
und deutlich zwei +Welten+, die des Seelen+ausdrucks+ und
die der Ausdrucks+sprache+ für das Auge. Das Haus und ebenso die
völlig unbewußten Grund-, d. h. Gebrauchsformen der Gefäße, Waffen,
Kleidung und Geräte gehören zur Totemseite. Sie kennzeichnen nicht
einen Geschmack, sondern die Kampfweise, Wohnweise und Arbeitsweise.
Jedes ursprüngliche Sitzgerät ist der Abdruck einer rassemäßigen
Körperhaltung; jeder Griff eines Gefäßes verlängert den +bewegten+
Arm. Die Malerei und Schnitzarbeit am Hause, das Kleid als Schmuck,
die Verzierung der Waffen und Geräte dagegen gehören zur Tabuseite
des Lebens. In diesen Mustern und Motiven liegt für den frühen
Menschen auch eine Zauberkraft. Wir kennen die Germanenklingen der
Völkerwanderung mit orientalischem Ornament und die mykenischen Burgen
mit minoischer Kunstarbeit. So unterscheiden sich Blut und Sinne, Rasse
und Sprache -- +Politik und Religion+.

Es gibt also -- und das wäre eine der dringendsten Aufgaben künftiger
Forschung -- noch keine Weltgeschichte des Hauses und +seiner
Rassen+, die mit ganz anderen Mitteln behandelt werden müßte als
die Geschichte der Kunst. Das Bauernhaus ist im Verhältnis zum Tempo
aller Kunstgeschichte „ewig“ wie der Bauer selbst. Es steht außerhalb
der Kultur und damit außerhalb der höheren Menschengeschichte; es kennt
ihre örtlichen und zeitlichen Grenzen nicht und erhält sich der Idee
nach unverändert durch alle Wandlungen der Baukunst, +die sich nur
an ihm, nicht mit ihm vollziehen+. Die altitalische Rundhütte kennt
man noch in der Kaiserzeit.[87] Die Form des rechteckigen römischen
Hauses, das Existenzzeichen einer zweiten Rasse, findet sich in Pompeji
und sogar in den Kaiserpalästen auf dem Palatin. Man entlehnt jede
Art von Schmuck und Stil aus dem Orient, aber kein Römer hätte daran
gedacht, etwa das syrische Haus nachzuahmen. Und ebensowenig ist die
Megaronform von Tiryns und Mykene und die des von Galen beschriebenen
altgriechischen Bauernhauses von den Städtebaumeistern des Hellenismus
angetastet worden. Das sächsische und das fränkische Bauernhaus haben
ihren Wesenskern vom ländlichen Gehöft über das Bürgerhaus der alten
freien Reichsstädte bis zu den Patrizierbauten des 18. Jahrhunderts
unberührt erhalten, während der gotische, Renaissance-, Barock- und
Empirestil darüber hingleiten, an der Fassade und in allen Räumen vom
Keller bis zum Dache ihr Wesen treiben, ohne die Seele des Hauses
zu beirren. Und dasselbe gilt von den Möbel+formen+, die man
psychologisch von ihrer künstlerischen Behandlung sorgfältig trennen
sollte. Insbesondere ist die Entwicklung der nordeuropäischen Sitzmöbel
bis zum Klubsessel ein Stück Rasse- und nicht etwa Stilgeschichte.
Jedes andere Kennzeichen kann über das Schicksal einer Rasse täuschen;
der Etruskername unter den Seevölkern, die Ramses III. schlug, die
rätselhafte Inschrift von Lemnos, die Wandgemälde in den Gräbern
von Etrurien gestatten keinen sicheren Schluß auf den leiblichen
Zusammenhang dieser Menschen. Wenn gegen Ende der Steinzeit in dem
weiten Gebiet östlich der Karpathen eine hochbedeutende Ornamentik
entsteht und andauert, so kann trotzdem Rasse auf Rasse sich hier
abgelöst haben. Besäßen wir in Westeuropa aus den Jahrhunderten von
Trajan bis Chlodwig nur die Keramik, so würden wir von dem Ereignis
der Völkerwanderung nicht das geringste ahnen. Aber das Vorkommen
eines Ovalhauses im ägäischen Gebiet,[88] eines anderen sehr seltsamen
Ovalhauses in Rhodesia,[89] die vielbesprochene Übereinstimmung des
sächsischen Bauernhauses mit dem libysch-kabylischen verraten ein Stück
Rassegeschichte. Ornamente verbreiten sich, wenn eine Bevölkerung sie
ihrer Formensprache einverleibt; eine Hausform wird nur mit einer Rasse
verpflanzt. Verschwindet ein Ornament, so hat sich nur eine Sprache
verändert, verschwindet ein Haustyp, +so ist eine Rasse erloschen+.

Daraus ergibt sich nun eine notwendige Berichtigung der
Kunstgeschichte. Man muß auch in ihrem Verlauf die Rasseseite
sorgfältig von der eigentlichen Sprache trennen. Am Anfang einer
Kultur erheben sich über das Bauerndorf mit seinen Rassebauten zwei
ausgeprägte Formen höheren Ranges als Ausdruck des Daseins und
als Sprache des Wachseins, +Burgen und Dome+.[90] In ihnen
steigert sich der Unterschied von Totem und Tabu, Sehnsucht und
Angst, Blut und Geist zu gewaltiger Symbolik. Die altägyptische,
altchinesische, antike, südarabische, abendländische Burg als der Sitz
von Geschlechterfolgen steht dem Bauernhaus nahe. Sie bleiben beide
als Abdruck wirklichen Lebens, Zeugens und Sterbens außerhalb aller
Kunstgeschichte. Die Geschichte der deutschen Burgen ist durchaus
ein Stück +Rassegeschichte+. An beide wagt sich zwar die frühe
Ornamentik heran und verschönert hier das Balkenwerk und dort das
Tor oder Treppenhaus, aber sie kann so oder so +gewählt+ werden
oder überhaupt fehlen. Eine innerlich notwendige Beziehung zwischen
Baukörper und Ornament ist nie vorhanden. Der Dom dagegen ist nicht
ornamentiert; er +ist ein Ornament+. Seine Geschichte -- und
ebenso die des dorischen Tempels und aller andern frühen Kultbauten
-- fällt mit der gotischen Stilgeschichte zusammen und zwar so
vollständig, daß es hier wie in allen frühen Kulturen, von deren Kunst
wir überhaupt noch etwas wissen, niemandem aufgefallen ist, daß die
strenge Architektur, die nichts ist als reine Ornamentik von höchster
Art, sich ausschließlich auf den Kultbau beschränkt. Alles was an
schönen Bauformen in Gelnhausen, Goslar und der Wartburg erscheint,
ist von der Domkunst +herübergenommen+, ist Verzierung und nicht
von innerer Notwendigkeit. Eine Burg, ein Schwert, ein Tongefäß können
diese Verzierung vollständig entbehren, ohne ihren Sinn oder auch
nur ihre Gestalt zu verlieren; bei einem Dom oder einem ägyptischen
Pyramidentempel läßt sich das nicht einmal vorstellen.

So unterscheidet sich der Bau, +der Stil hat+, von dem, +in
welchem+ man Stil hat. Denn in Kloster und Dom ist es +der
Stein+, welcher Form besitzt und sie den Menschen mitteilt, die in
ihrem Dienste stehen, in Bauernhaus und Ritterburg ist es die volle
Stärke des bäuerlichen und ritterlichen Lebens, welche aus sich heraus
das Gehäuse bildet. Der Mensch und nicht der Stein ist hier das erste,
und wenn von einem Ornament auch hier die Rede sein soll, so besteht es
in der strengen, gewachsenen, unerschütterlichen +Form der Sitten und
Bräuche+. Das wäre der Unterschied von lebendigem und starrem Stil.
Aber ebenso wie die Macht dieser lebendigen Form auf das Priestertum
hinübergreift und in vedischer wie in gotischer Zeit einen ritterlichen
Priestertypus herausbildet, so ergreift die romanisch-gotische
+heilige+ Formensprache alles, was mit diesem weltlichen Leben in
Verbindung steht, Tracht, Waffen, Zimmer und Geräte, und stilisiert
ihre Oberfläche. Aber die Kunstgeschichte sollte sich über diese ihr
fremde Welt nicht täuschen; es ist die +Oberfläche+.

Etwas Neues kommt in den frühen Städten nicht hinzu. Zwischen den
Rassehäusern, welche nun Straßen bilden und in ihrem Innern die
Einrichtung und Sitte des Bauernhauses treu bewahren, liegt eine
Handvoll Kultbauten, welche Stil +haben+. Sie sind weiterhin
unbestritten +der Sitz der Kunstgeschichte+ und strahlen ihre
Form auf Plätze, Fassaden und Innenräume aus. Mögen aus den Burgen
Stadtpaläste und Patrizierhäuser, aus dem Palas, der Männerhalle,
die Gilden- und Rathäuser geworden sein, sie alle haben keinen Stil,
sondern empfangen und tragen ihn. Das echte Bürgertum hat nicht mehr
die metaphysische Gestaltungskraft der frühen Religion. Es bildet das
Ornament weiter, aber nicht +den Bau als Ornament+. Von hier an,
mit der reifen Stadt, zerfällt die Kunstgeschichte in die Geschichte
von Einzelkünsten. Das Bild, die Statue, das Haus sind Einzelobjekte
der Stilanwendung. Auch die Kirche ist jetzt ein solches Haus. Ein
gotischer Dom +ist+ Ornament, eine barocke Hallenkirche ist ein
Baukörper, der mit Ornamentik überzogen ist. Was der jonische Stil und
das Barock des 16. Jahrhunderts vorbereiten, führt die korinthische
Ordnung und das Rokoko zu Ende. Hier haben sich Haus und Ornament
endgültig und entschieden getrennt und selbst die Meisterwerke unter
den Kirchen und Klöstern des 18. Jahrhunderts können nicht darüber
hinwegtäuschen, daß alle diese Kunst weltlich geworden ist, nämlich
Verzierung. Mit dem Empire geht der Stil in einen Geschmack über
und mit seinem Ende die Baukunst in ein Kunstgewerbe. Damit hat die
ornamentale Ausdruckssprache und also die Kunstgeschichte ein Ende
gefunden. Aber das Bauernhaus mit seiner unveränderten Rasseform lebt
weiter.


9

Sieht man vom Rasseausdruck des Hauses ab, so bemerkt man erst die
ungeheure Schwierigkeit, dem Wesen der Rasse nahe zu kommen. Nicht
ihrem inneren Wesen, ihrer Seele, denn davon redet unser Gefühl
deutlich genug. Was ein Mensch von Rasse ist, wissen wir alle auf den
ersten Blick. Aber welches sind die Merkmale für unser Empfinden,
vor allem fürs Auge, an denen wir Kassen erkennen und unterscheiden?
Ohne Zweifel gehört dies zur Physiognomik, so gut wie die Einteilung
der Sprachen zur Systematik gehört. Was alles müßte man da aber vor
sich haben! Wie vieles geht mit dem Tode, wie vieles weiterhin mit der
Verwesung endgültig verloren! Was verrät ein Skelett +nicht+, das
einzige, was wir bestenfalls vom vorgeschichtlichen Menschen besitzen?
Es ist so gut wie alles. Die prähistorische Forschung ist mit naivem
Eifer gleich bereit, von einem Kiefer oder Armknochen Unglaubliches
abzulesen, aber man braucht nur an ein Massengrab in Nordfrankreich zu
denken, von dem wir +wissen+, daß darin Menschen aller Rassen,
Weiße und Farbige, Bauern und Städter, Jünglinge und Männer bestattet
sind. Wenn dies die Zukunft nicht aus anderer Quelle weiß, wird sie es
durch eine anthropologische Untersuchung sicherlich nicht entdecken. Es
können also gewaltige Rasseschicksale über ein Land dahingegangen sein,
ohne daß der Forscher an den Skelettresten der Gräber das Geringste
davon bemerkt. Der Ausdruck liegt also vorwiegend im +lebendigen+
Körper; nicht im Bau der Teile, sondern in ihrer Bewegung, nicht im
Gesichtsschädel, sondern in der Miene. Aber wie vieles an möglichem
Rasseausdruck ist selbst für die schärfsten Sinne heutiger Menschen
vorhanden? Wie vieles hören und sehen wir +nicht+? Für was fehlt
uns, sicherlich im Unterschied von vielen Tierarten, überhaupt das
Sinnesorgan?

Die Wissenschaft im darwinistischen Zeitalter hat sich die Frage leicht
gemacht. Wie flach, wie plump, wie mechanistisch ist der Begriff, mit
dem sie arbeitet! Er umfaßt erstens eine Summe grobsinnlicher Merkmale,
soweit sie im anatomischen Befunde, also auch an Leichen festzustellen
sind. Vom Beobachten des Körpers, insofern er lebt, ist nicht die
Rede. Und zweitens untersucht man nur Kennzeichen, die sich einem sehr
wenig feinen Auge aufdrängen, und nur, insofern sie sich messen und
zählen lassen. Das Mikroskop gibt den Ausschlag, nicht das Taktgefühl.
Wenn man die Sprache als unterscheidendes Merkmal heranzieht, so
denkt niemand daran, daß es menschliche Rassen nach der Art +des
Sprechens+ gibt und nicht nach dem grammatischen Bau +der
Sprache+, der auch nur ein Stück Anatomie und System ist. Daß die
Erforschung dieser +Sprechrassen+ eine der wichtigsten Aufgaben
der Forschung sein könnte, ist überhaupt noch nicht bemerkt worden.
In Wirklichkeit wissen wir alle als Menschenkenner aus täglicher
Erfahrung, daß die Art des Sprechens einer der bezeichnendsten
Rassezüge heutiger Menschen ist. Die Beispiele dafür sind unübersehbar
und jedem in großer Zahl bekannt. In Alexandria sprach man dasselbe
Griechisch nach sehr verschiedener Rasseart aus. Wir sehen es heute
noch an der Schreibweise der Texte. In Nordamerika sprechen die im
Lande Geborenen ohne Zweifel völlig gleich, ob es nun das Englische,
Deutsche oder gar Indianische ist. Was ist im Sprechen osteuropäischer
Juden Rassezug der Landschaft und also auch im Russischsprechen der
Russen vorhanden, was ein Rassezug des Blutes und also den Juden
unabhängig vom Wohngebiet ihrer Wirtsvölker beim Sprechen aller ihrer
europäischen „Muttersprachen“ gemeinsam? Wie verhält es sich hier im
einzelnen mit der Lautbildung, der Betonung, der Wortstellung?

Aber die Wissenschaft hat nicht einmal bemerkt, daß Rasse bei
wurzelnden Pflanzen und beweglichen Tieren nicht das gleiche ist,
daß mit der mikrokosmischen Lebensseite eine Gruppe von Zügen neu
auftritt und zwar die für tierisches Wesen entscheidende. Sie sehen
nicht, daß „Menschenrassen“ +innerhalb der einheitlichen Rasse
„Mensch“+ wieder etwas völlig anderes sind. Sie reden von Anpassung
und Vererbung und verderben also durch eine seelenlose Kausalverkettung
von Oberflächenzügen, was hier der Ausdruck des Blutes und dort die
Macht des Bodens über das Blut ist, Geheimnisse, die man nicht sehen
und messen, sondern nur von Auge zu Auge erleben und fühlen kann.

Sie sind nicht einmal über den Rang der Oberflächenmerkmale
untereinander einig. Blumenbach hat die Rassen nach Schädelformen,
Friedrich Müller ganz deutsch nach Haar und Sprachenbau, Topinard
echt französisch nach Hautfarbe und Nasenform, Huxley echt englisch
sozusagen sportsmäßig eingeteilt. Das letzte wäre an sich ohne Zweifel
sehr zweckmäßig, aber ein Pferdekenner würde ihm sagen, daß man mit
einer Gelehrtenterminologie keine Rasseeigenschaften trifft. Diese
Rassesteckbriefe sind sämtlich ebenso wertlos wie die, an welchen ein
Schutzmann seine theoretische Menschenkenntnis erprobt.

Von dem Chaotischen im Gesamtausdruck des menschlichen Leibes macht
man sich offenbar keine Vorstellung. Abgesehen vom Geruch, der
z. B. für den Chinesen ein charakteristisches Kennzeichen der Rasse
bildet, und vom Gehör, welches im Sprechen, Singen und vor allem
im Lachen gefühlsmäßig tiefe Unterschiede feststellt, die keiner
wissenschaftlichen Methode zugänglich sind, ist der Bildbefund fürs
Auge so verwirrend reich an wirklich sichtbaren und an für den tieferen
Blick sozusagen fühlbaren Einzelheiten, daß an eine Zusammenfassung
nach wenigen Gesichtspunkten gar nicht zu denken ist. Und alle diese
Seiten und Züge im Bilde sind unabhängig voneinander und haben ihre
eigene Geschichte. Es gibt Fälle, wo der Knochenbau und vor allem
die Schädelform sich vollkommen verändert, ohne daß der Ausdruck der
Fleischteile, also des Gesichtes, anders würde. Die Geschwister ein
und derselben Familie können fast alle unterscheidenden Merkmale
nach Blumenbach, Müller und Huxley darstellen und ihr lebendiger
Rasseausdruck ist doch für jeden Beobachter völlig der gleiche. Noch
viel häufiger ist die Gleichheit im Körperbau bei einer durchgreifenden
Verschiedenheit des lebendigen Ausdrucks. Ich brauche nur an den
unermeßlichen Unterschied zwischen einer echten Bauernrasse wie
den Friesen oder Bretonen und echter Stadtrassen zu erinnern.[91]
Aber zur Energie des Blutes, das durch Jahrhunderte immer wieder
dieselben leiblichen Züge prägt -- „Familienzüge“ -- und der Macht des
Bodens -- „Menschenschlag“ -- tritt noch jene rätselhafte kosmische
Kraft des gleichen Taktes eng verbundener Gemeinschaften. Was man
das Versehen der Schwangeren nennt, ist nur eine wenig bedeutende
Einzelheit aus einem der tiefsten und mächtigsten Gestaltungsprinzipien
alles Rassehaften. Daß greise Eheleute nach einem langen innigen
Zusammenleben sich überraschend ähnlich geworden sind, hat jeder
schon gesehen, obwohl die messende Wissenschaft ihm vielleicht das
Gegenteil „beweisen“ würde. Man kann die Gestaltungskraft dieses
lebendigen Taktes, dieses starken innerlichen Gefühls für die
Vollkommenheit des eigenen Typus gar nicht hoch genug anschlagen.
Das Gefühl für Rasseschönheit -- im Gegensatz zu dem sehr bewußten
Geschmack reifer Stadtmenschen für geistig-individuelle Schönheitszüge
-- ist unter ursprünglichen Menschen ungeheuer stark und kommt ihnen
eben deshalb gar nicht zum Bewußtsein. Ein solches Gefühl ist aber
+rassebildend+. Es hat ohne Zweifel den Krieger- und Heldentypus
von Wanderstämmen immer reiner +auf ein leibliches Ideal+
hin geprägt, so daß es einen Sinn gehabt hätte, vom Rassebild des
Normannen oder Ostgoten zu sprechen, und dasselbe ist bei jedem
alten Adel der Fall, der sich stark und innig als Einheit fühlt und
eben damit ganz unbewußt zur Ausbildung eines körperlichen Ideals
gelangt. Kameradschaft züchtet Rassen. Französische _noblesse_
und preußischer Landadel sind echte Rassebezeichnungen. Aber gerade
das hat auch den Typus des europäischen Juden mit seiner ungeheuren
Rasse-Energie in einem tausendjährigen Ghettodasein herangezüchtet
und wird immer wieder eine Bevölkerung zu einer Rasse schmieden,
sobald sie sich einem Schicksal gegenüber seelisch für lange Zeit fest
aneinander schließt. Wo es ein Rasse-Ideal gibt, und das ist in jeder
frühen Kultur, in der vedischen, homerischen, staufischen Ritterzeit
im höchsten Grade der Fall gewesen, da bewirkt die Sehnsucht einer
herrschenden Klasse nach diesem Ideal, der Wille, so und nicht anders
zu sein, ganz unabhängig von der Wahl der Frauen, daß dieses Ideal
sich endlich verwirklicht. Und dazu kommt noch eine zahlenmäßige
Erwägung, die bei weitem nicht genug beachtet wird. Jeder heute lebende
Mensch hat um das Jahr 1300 schon eine Million, um das Jahr 1000 eine
Milliarde Ahnen. Diese Tatsache besagt, daß jeder lebende Deutsche mit
jedem Europäer der Kreuzzüge ohne Ausnahme blutsverwandt ist und daß
sich dies, je enger man die Landschaftsgrenze zieht, zu einer hundert-
und tausendfachen Verwandtschaft steigert, so daß die Bevölkerung eines
Landes im Verlaufe von kaum zwanzig Generationen +zu einer einzigen
Familie+ zusammengewachsen ist; und das führt ebenso wie die Wahl
und Stimme des durch die Geschlechter kreisenden Blutes, welches immer
wieder Rassemenschen zueinander treibt, die Ehe löst und bricht und
alle Widerstände der Sitte mit List und Gewalt überwindet, zu zahllosen
Zeugungen, die ganz unbewußt +den Willen der Rasse+ erfüllen.

Das sind erst die pflanzenhaften Rassezüge, die „+Physiognomie der
Lage+“ unter Absehen von der Bewegung des Beweglichen, also alles,
was den lebendigen und toten Tierleib +nicht+ unterscheidet und
was auch in den starren Teilen ausgedrückt sein muß. Ohne Zweifel
liegt im Wuchs einer Steineiche und italienischen Pappel und dem
eines Menschen -- „gedrungen“, „schlank“, „schmächtig“ -- etwas
Gleichartiges. Und ebenso ist die Rückenlinie eines Dromedars und
die Zeichnung eines Tiger- oder Zebrafelles ein pflanzenhaftes
Rassemerkmal. Dahin gehört auch die Wirkung von Bewegungen, welche
die Natur +an und mit einem Wesen+ vornimmt. Eine Birke oder ein
zartes Kind, die sich im Winde biegen, eine Eiche mit zersplitterter
Krone, das ruhige Kreisen oder ängstliche Flattern von Vögeln im Sturm
gehört zur Pflanzenseite der Rasse. Aber auf welcher Seite stehen
solche Merkmale +in dem Kampf zwischen Blut und Boden+ um die
innere Form einer „verpflanzten“ Tier- oder Menschenart? Und wieviel
von der Gestalt der Seele, der Sitte, des Hauses gehört hierher?

Ein ganz anderes Bild ergibt sich, sobald man den Eindruck des
rein Tierhaften ins Auge faßt. Es handelt sich, wenn man sich des
Unterschiedes vom pflanzenhaften Dasein und tierhaften Wachsein
erinnert, nicht um das Wachsein selbst und seine Sprache, sondern
darum, daß hier Kosmisches und Mikrokosmisches einen frei beweglichen
Leib bilden, einen Mikrokosmos im Verhältnis zu einem Makrokosmos,
dessen selbständiges Leben und Tun einen ganz eigenen Ausdruck besitzt,
der sich zum Teil der Organe des Wachseins bedient und der wie bei
Korallentieren mit der Beweglichkeit großenteils wieder verloren geht.

Wenn der Rasseausdruck der Pflanze ganz vorwiegend in der Physiognomie
der Lage besteht, so liegt der tierhafte Ausdruck in einer
+Physiognomie der Bewegung+, nämlich in der Gestalt, insofern sie
sich bewegt, in der Bewegung selbst und in der Form der Glieder,
soweit sie den Sinn der Bewegung darstellen. Von diesem Rasseausdruck
offenbart ein schlafendes Tier sehr vieles nicht, ein totes, dessen
Teile der Forscher wissenschaftlich untersucht, noch viel weniger,
der Knochenbau eines Wirbeltieres fast nichts mehr. Deshalb sind für
Wirbeltiere die Gelenke ausdrucksvoller als die Knochen, deshalb
die Gliedmaßen der eigentliche Sitz des Ausdrucks im Gegensatz zu
den Rippen und Schädelknochen -- nur das Gebiß macht eine Ausnahme,
weil es in seinem Aufbau den Charakter der tierischen Ernährung
zeigt, während die Ernährung der Pflanze ein bloßer +Naturvorgang+
ist -- deshalb das Insektenskelett, weil es den Körper umkleidet,
ausdrucksvoller als das Vogelskelett, das ihn nur hält. Es sind vor
allem die Organe des äußeren Keimblattes, die mit steigender Kraft den
Rasseausdruck in sich sammeln, nicht das Auge an sich nach Form und
Farbe, sondern +der Blick+, +der Gesichtsausdruck+, der Mund, weil
er durch die Gewohnheit des Sprechens den Ausdruck des Verstehens
trägt, überhaupt nicht der Schädel, sondern der „+Kopf+“ mit seinen
nur durch das Fleisch gebildeten Linien, der ganz eigentlich der Sitz
der nichtpflanzlichen Seite des Lebens geworden ist. Man bedenke,
woraufhin man dort Orchideen oder Rosen und hier Pferde oder Hunde
züchtet und woraufhin man eine Menschenart am liebsten züchten möchte.
Aber diese Physiognomie ergibt sich, es sei noch einmal gesagt, nicht
aus der mathematischen Form der sichtbaren Teile, sondern einzig und
allein aus dem Ausdruck der Bewegung. Wenn wir den Rasseausdruck eines
unbewegten Menschen auf den ersten Blick begreifen, so beruht das auf
einer Erfahrung des Auges, das in den Gliedern schon die zugehörige
Bewegung sieht. Die wirkliche Rasseerscheinung eines Wisent, einer
Forelle, eines Königsadlers läßt sich nicht durch die Aufzählung
der Umrisse und Maße wiedergeben, und sie würde nie auf bildende
Künstler eine so tiefe Anziehungskraft ausgeübt haben, wenn nicht das
Geheimnis der Rasse +erst durch die Seele+ im Kunstwerk und nicht
schon durch die Nachahmung des Sichtbaren sich offenbarte. Man muß
es sehen und sehend fühlen, wie die ungeheure Energie dieses Lebens
sich in Kopf und Nacken zusammendrängt, aus dem geröteten Auge redet,
aus dem kurzen gedrungenen Horn, aus dem Adlerschnabel, dem Profil
des Raubvogelkopfes, was alles durch eine Wortsprache verstandesmäßig
nicht mitzuteilen und nur durch die Sprache einer Kunst für andere
auszudrücken ist.

Aber mit den Merkmalen dieser edelsten Tierarten sind wir schon dem
Rassebegriff ganz nahe gekommen, der innerhalb des Typus Mensch
Unterschiede schafft, die über die pflanzenhaften und tierhaften
hinausgehen, die geistiger sind und eben deshalb den Mitteln der
Wissenschaft noch viel weniger zugänglich als diese. Die groben
Merkmale des Knochenbaues haben überhaupt keine selbständige Bedeutung
mehr. Schon Retzius († 1860) hat dem Glauben Blumenbachs ein Ende
gemacht, daß Rasse und Schädelbildung übereinstimmen, und J. Ranke
faßt seine Ergebnisse so zusammen: „Was die Menschheit bezüglich ihrer
verschiedenen Schädelformen im ganzen darstellt, das stellt jeder
Volksstamm, ja oft schon jede größere Gemeinde eines solchen im kleinen
dar: eine Vereinigung der verschiedenen Schädelformen, die Extreme
vermittelt durch auf das feinste abgestufte Zwischenformen.“[92]
Ohne Zweifel lassen sich ideale Grundformen heraussuchen, aber man
sollte sich eingestehen, daß es Ideale sind und daß trotz aller
objektiven Meßmethoden der Geschmack hier die wirklichen Grenzen
zieht und Einteilungen trifft. Viel wichtiger als alle Versuche,
ein Ordnungsprinzip zu entdecken, ist die Tatsache, daß innerhalb
der einheitlichen Rasse Mensch alle diese Formen von der frühesten
Eiszeit an sämtlich vorkommen, sich nicht merklich verändert haben und
unterschiedslos sogar in denselben Familien auftreten. Das einzige
gesicherte Ergebnis der Wissenschaft ist die Beobachtung Rankes, wonach
bei einer Anordnung der Schädelformen in Reihen mit Uebergängen gewisse
Durchschnittsziffern ein Merkmal nicht der „Rasse“, wohl aber der
Landschaft sind.

In der Tat verträgt sich der Rasseausdruck eines Menschenkopfes mit
jeder überhaupt denkbaren Schädelform. Das Entscheidende sind nicht die
Knochen, sondern das Fleisch, der Blick, das Mienenspiel. Es wird seit
der Romantik von einer indogermanischen Rasse gesprochen. Aber gibt es
Arier- und Semiten+schädel+? Kann man Kelten- und Franken- oder
auch nur Buren- und Kaffernschädel unterscheiden? Wenn aber nicht, was
für eine Rassegeschichte kann dann ohne irgendein Zeugnis für uns über
die Erde gegangen sein, die uns nichts als Knochen aufbewahrt hat.
Wie gleichgültig diese für das sind, was wir unter höheren Menschen
Rasse nennen, ließe sich durch einen drastischen Versuch zeigen: man
beobachte Menschen von den denkbar stärksten Rasseunterschieden durch
einen Röntgenapparat und stelle sich dabei geistig auf die „Rasse“
ein. Es wird ein geradezu lächerlicher Eindruck sein, wie mit der
Durchleuchtung die „Rasse“ plötzlich vollständig verschwunden ist.

Und das wenige, was am Knochenbau bezeichnend bleibt, ist, es muß
immer wieder betont werden, ein Gewächs der Landschaft und nicht
eine Funktion des Blutes. Elliot Smith hat in Ägypten, v. Luschan
auf Kreta ein ungeheures Material aus Gräbern von der Steinzeit bis
zur Gegenwart untersucht. Es sind von den „Seevölkern“ um die Mitte
des 2. Jahrtausends v. Chr. bis zu den Arabern und Türken immer neue
Menschenströme über diese Gebiete gegangen, aber der durchschnittliche
Knochenbau blieb unverändert. Die „Rasse“ wanderte gewissermaßen
als Fleisch über die feststehende Skelettform des Bodens hin. Im
Alpengebiet sitzen heute germanische, romanische und slawische „Völker“
der verschiedensten Abstammung und man braucht nur den Blick rückwärts
zu wenden, um hier immer neue Stämme, darunter Etrusker und Hunnen zu
entdecken, aber der Knochenbau ist in der menschlichen Gestalt überall
und immer wieder derselbe geworden und verliert sich allenthalben nach
dem Flachlande in andere, ebenso feststehende Formen. Deshalb beweisen
die berühmten prähistorischen Knochenfunde vom Neandertalschädel bis
zum _homo Aurignacensis_ für die Rasse und die Rassewanderungen
des primitiven Menschen nicht das geringste. Sie zeigen -- wenn man von
gewissen Schlüssen aus der Gestalt des Kiefers auf die Ernährungsweise
absieht -- lediglich die Grundform des Landes an, die man heute noch
dort findet.

Es ist dieselbe geheimnisvolle Kraft des Bodens, die sich in jedem
lebenden Wesen nachweisen läßt, sobald man ein Kennzeichen findet, das
von den plump zugreifenden Methoden des darwinistischen Zeitalters
nicht abhängig ist. Die Römer haben den Weinstock vom Süden an den
Rhein gebracht und er hat sich dort gewiß nicht sichtbar, nämlich
botanisch verändert. Aber hier läßt sich die „Rasse“ einmal mit andern
Mitteln feststellen. Es gibt einen bodenständigen Unterschied nicht
nur zwischen Südwein und Nordwein, zwischen Rhein- und Moselwein,
sondern auch noch für jede einzelne Lage an jedem einzelnen Berghange.
Und dasselbe gilt von jeder edlen Obstrasse, vom Tee und vom Tabak.
Dies Aroma, ein echtes Gewächs der Landschaft, gehört zu den nicht
meßbaren und deshalb um so bedeutungsvolleren Merkmalen echter
Rasse. Edle Menschenrassen unterscheiden sich aber in ganz derselben
geistigen Weise wie edle Weine. Ein gleiches Element, das sich nur
dem zartesten Nachfühlen erschließt, ein leises Aroma in jeder Form
verbindet unterhalb aller hohen Kultur in Toskana die Etrusker mit der
Renaissance, am Tigris die Sumerer von 3000, die Perser von 500 und die
anderen Perser der islamischen Zeit.

Alles dieses kann für eine messende und wägende Wissenschaft nicht
erreichbar sein. Es ist für das Fühlen mit untrüglicher Gewißheit und
auf den ersten Blick da, aber nicht für die gelehrte Betrachtung. Ich
komme also zu dem Schluß, daß Rasse ebenso wie Zeit und Schicksal etwas
ist, etwas für alle Lebensfragen ganz Entscheidendes, wovon jeder
Mensch klar und deutlich weiß, solange er nicht den Versuch macht, es
durch verstandesmäßige und also entseelende Zergliederung und Ordnung
begreifen zu wollen. Rasse, Zeit und Schicksal gehören zusammen. In
dem Augenblick, wo das wissenschaftliche Denken sich ihnen nähert,
erhält das Wort Zeit die Bedeutung von Dimension, das Wort Schicksal
die von Kausalverkettung und Rasse; wofür wir eben noch ein sehr
sicheres Gefühl besaßen, wird zu einem unübersehbaren Wirrwarr ganz
verschiedener und verschiedenartiger Merkmale, die nach Landschaften,
Zeiten, Kulturen, Stämmen regellos durcheinanderlaufen. Einige klammern
sich dauernd und zäh an einen Stamm und lassen sich forttragen, andere
gleiten wie Wolkenschatten über eine Bevölkerung dahin und manche
sind wie Dämonen des Landes, die von jedem Besitz ergreifen, solange
er sich dort aufhält. Einige schließen sich aus und andere suchen
sich. Eine feste Einteilung der Rassen, der Ehrgeiz aller Völkerkunde,
ist unmöglich. Der bloße Versuch widerspricht schon dem Wesen des
Rassemäßigen, und jeder überhaupt denkbare systematische Entwurf ist
eine unvermeidliche Fälschung und Verkennung dessen, worauf es ankommt.
Rasse ist, im Gegensatz zu Sprache, durch und durch unsystematisch.
Zuletzt hat jeder einzelne Mensch und jeder Augenblick seines Daseins
seine eigene Rasse. Deshalb ist das einzige Mittel, der totemistischen
Lebensseite nahe zu kommen, nicht die Einteilung, sondern der
physiognomische Takt.


10

Wer in das Wesen der Sprache eindringen will, der lasse alle gelehrten
Wortuntersuchungen beiseite und beobachte, wie ein Jäger mit seinem
Hunde spricht. Der Hund folgt dem ausgestreckten Finger; er horcht
angespannt auf die Wortklänge und schüttelt dann den Kopf: er versteht
diese Art Menschensprache nicht. Dann macht er ein paar Sätze, um
+seine+ Auffassung anzudeuten, bleibt stehen und bellt: das
ist ein Satz in seiner Sprache, der die Frage enthält, ob der Herr
etwa dies gemeint hat. Dann folgt, ebenfalls in einer Hundesprache
ausgedrückt, die Freude, wenn er begreift, daß er recht hatte. Genau
so versuchen sich zwei Menschen zu verständigen, die keine einzige
Wortsprache wirklich gemein haben. Wenn ein Landpfarrer einer Bäuerin
etwas erklärt, so sieht er sie scharf an und unwillkürlich legt er
alles in seine Gebärde, was sie in der kirchlichen Ausdrucksweise ja
doch nicht verstehen würde. Die heutigen Wortsprachen können sämtlich
nur in Verbindung mit anderen Spracharten zur Verständigung führen. Für
sich allein sind sie nie und nirgends in Gebrauch gewesen.

Wenn der Hund nun etwas will, so wedelt er mit dem Schwänze,
ungeduldig, daß der Herr so töricht ist, diese sehr deutliche und
ausdrucksreiche Sprache nicht zu verstehen. Er ergänzt sie durch eine
Lautsprache -- er bellt -- endlich durch eine Gebärdensprache -- er
macht etwas vor. Hier ist der Mensch der Dummkopf, welcher noch nicht
sprechen gelernt hat.

Endlich geschieht etwas sehr Merkwürdiges. Wenn der Hund alles
erschöpft hat, um die verschiedenen Sprachen seines Herrn zu begreifen,
stellt er sich plötzlich vor ihn hin und sein Blick bohrt sich in das
Auge des andern. Hier geht etwas sehr Geheimnisvolles vor sich: das
Ich und Du treten unmittelbar in Fühlung. Der „Blick“ befreit von den
Schranken des Wachseins. Das Dasein versteht sich ohne Zeichen. Hier
wird der Hund zum Menschenkenner, der den Gegner scharf ins Auge faßt
und damit hinter dem Sprechen den Sprechenden begreift.

Diese Sprachen reden wir heute noch sämtlich, ohne es zu wissen.
Das Kind spricht lange bevor es das erste Wort gelernt hat, und
die Erwachsenen sprechen mit ihm, ohne irgendwie an die gewohnte
Wortbedeutung zu denken; das heißt, die Lautgebilde dienen hier einer
ganz anderen als der Wortsprache. Auch diese Sprachen haben ihre
Gruppen und Dialekte; sie können gelernt, beherrscht und mißverstanden
werden; sie sind für uns so unentbehrlich, daß die Wortsprache den
Dienst versagen würde, wenn wir je den Versuch machten, sie für sich
allein, ohne Ergänzung durch Ton- und Gebärdensprachen anzuwenden.
Selbst unsere Schrift, diese Wortsprache fürs Auge, würde ohne die
Gebärdensprache der Interpunktion fast unverständlich sein.

Es ist der Grundfehler der Sprachwissenschaft, daß sie Sprache
überhaupt und menschliche Wortsprache verwechselt, nicht theoretisch,
aber regelmäßig in der Praxis aller Untersuchungen. Das hat zu einer
maßlosen Unkenntnis der unübersehbaren Menge von Spracharten geführt,
die unter Tieren und Menschen im allgemeinen Gebrauch sind. Das Reich
der Sprache ist viel weiter, als alle Forscher bemerken, und die
Wortsprache in ihrer heute noch nicht verlorenen Unselbständigkeit
nimmt in ihm einen viel bescheidneren Platz ein. Was die „Entstehung
der menschlichen Sprache“ betrifft, so ist die Frage falsch gestellt.
Die Wortsprache -- denn sie ist gemeint, was wieder durchaus nicht
dasselbe ist -- ist überhaupt nicht entstanden in dem Sinne, der hier
vorausgesetzt wird. Sie ist weder etwas erstes, noch etwas einziges.
Die gewaltige Bedeutung, welche sie von einem gewissen Zeitpunkt
ab innerhalb der Menschengeschichte erlangt hat, sollte über ihre
Stellung in der Geschichte der freibeweglichen Wesen überhaupt nicht
hinwegtäuschen. Mit dem Menschen darf eine Untersuchung der Sprache
sicherlich nicht beginnen.

Aber auch die Vorstellung „Anfang der tierischen Sprache“ ist verkehrt.
Sprechen ist mit dem lebendigen Dasein des Tieres im Gegensatz zum
Dasein der Pflanze so eng verknüpft, daß nicht einmal einzellige Wesen
ohne alle Sinnesorgane sprachlos gedacht werden dürfen. Ein Mikrokosmos
im Makrokosmos sein und sich anderen mitteilen können ist ein und
dasselbe. Es hat keinen Sinn, innerhalb der Tiergeschichte vom Anfang
der Sprache zu reden. Denn es ist etwas ganz Selbstverständliches,
daß mikrokosmische Wesen +in Mehrheit+ vorhanden sind. Über
andere Möglichkeiten nachzudenken ist Spielerei. Die darwinistischen
Phantasien über Urzeugung und erste Elternpaare sollten doch dem
Geschmack der Ewig-gestrigen überlassen bleiben. Aber Schwärme, in
denen stets ein innerliches Gefühl des „Wir“ lebendig ist, sind auch
wach und trachten nach Wachseinsbeziehungen vom einen zum andern.

Wachsein ist Tätigkeit im Ausgedehnten und zwar willkürliche Tätigkeit.
Das unterscheidet die Bewegungen eines Mikrokosmos von der mechanischen
Beweglichkeit einer Pflanze und auch der Tiere und Menschen,
solange sie Pflanzen, nämlich im Zustande des Schlafes sind. Man
beobachte die animalische Nahrungs-, Fortpflanzungs-, Verteidigungs-,
Angriffstätigkeit: eine Seite davon besteht regelmäßig im Abtasten
des Makrokosmos durch die Sinne, mag es sich um das undifferenzierte
Empfinden einzelliger Wesen oder um das Sehen eines hochentwickelten
Auges handeln. Hier besteht ein deutlicher +Wille zum Empfangen
von Eindrücken+; wir nennen das Orientierung. Dazu aber kommt von
Anfang an der +Wille zum Erzeugen von Eindrücken bei anderen+; sie
sollen angelockt, erschreckt, verjagt werden. Dies nennen wir Ausdruck
+und mit ihm ist das Sprechen als Tätigkeit des tierischen Wachseins
gegeben+. Seitdem ist nichts grundsätzlich Neues hinzugekommen.
Die Weltsprachen hoher Zivilisationen sind nichts als äußerst
verfeinerte Ausgestaltungen von Möglichkeiten, welche sämtlich schon
in der Tatsache des gewollten Eindrucks einzelliger Wesen aufeinander
enthalten sind.

Dieser Tatsache liegt aber das Urgefühl der Angst zugrunde. Das
Wachsein trennt Kosmisches voneinander; es spannt einen Raum zwischen
Vereinzeltem, Entfremdetem. Sich allein fühlen ist der erste Eindruck
des täglichen Erwachens. Und daher der Urtrieb, sich inmitten dieser
fremden Welt aneinander zu drängen, sich der Nähe des andern sinnlich
zu versichern, eine bewußte Verbindung mit ihm zu suchen. Das Du ist
die Erlösung von der Angst des Alleinseins. +Die Entdeckung des
Du+, indem man es als ein anderes Selbst, organisch, +seelisch+
aus der Welt des Fremden herauslöst, ist der große Augenblick in der
Frühgeschichte des Tierischen. +Damit gibt es Tiere.+ Man braucht
nur die Kleinwelt eines Wassertropfens unter dem Mikroskop lange und
aufmerksam zu betrachten, um überzeugt zu sein, daß die Entdeckung des
Du +und damit des Ich+ in der denkbar einfachsten Form hier schon
voraufgegangen ist. Diese kleinen Wesen kennen nicht nur das andere,
sondern auch den anderen; sie besitzen nicht nur Wachsein, sondern auch
Wachseinsbeziehungen, und damit nicht nur Ausdruck, sondern auch die
Elemente einer Ausdrucks+sprache+.

Erinnern wir uns hier des Unterschiedes der beiden großen
Sprachgruppen. Eine Ausdruckssprache betrachtet den andern als Zeugen
und erstrebt nur einen Eindruck auf ihn; eine Mitteilungssprache
betrachtet ihn als Mitredner und erwartet eine Antwort. Verstehen
heißt, Eindrücke mit dem eigenen Bedeutungsgefühl empfangen; hierauf
beruht die Wirkung der höchsten menschlichen Ausdruckssprache,
der Kunst.[93] Sich verständigen, Zwiesprache halten bedeutet, im
andern das gleiche Bedeutungsgefühl voraussetzen. Das Element einer
Ausdruckssprache vor Zeugen nennen wir +Motiv+. Die Beherrschung
der Motive ist die Grundlage jeder Ausdruckstechnik. Auf der andern
Seite heißt der zum Zweck der Verständigung erzeugte Eindruck
+Zeichen+ und er bildet das Element jeder Mitteilungstechnik, im
höchsten Falle also der menschlichen Wortsprache.

Von dem Umfang beider Sprachwelten im menschlichen Wachsein macht man
sich heute kaum eine Vorstellung. Zur Ausdruckssprache, die überall
in frühester Zeit mit dem vollen religiösen Ernst des Tabu auftritt,
gehört nicht nur die schwere und strenge Ornamentik, die ursprünglich
mit dem Begriff der Kunst schlechthin zusammenfällt und alle starren
Dinge zu Trägern des Ausdrucks macht, sondern auch das feierliche
Zeremoniell, das mit seinen Formeln das gesamte öffentliche Leben
und selbst noch das der Familie überspinnt,[94] und die „Sprache der
Tracht“, nämlich der Kleidung, der Tätowierung und des Schmuckes,
die eine +einheitliche+ Bedeutung besitzen. Die Forscher des
vorigen Jahrhunderts haben sich vergeblich bemüht, die Kleidung aus
dem Schamgefühl oder aus Zweckmäßigkeitsgründen abzuleiten. Sie
wird nur als Mittel einer Ausdruckssprache verständlich und sie
ist das in großartigster Weise in allen hohen Zivilisationen, auch
heute noch. Man braucht sich nur der das ganze öffentliche Leben
und Treiben beherrschenden Mode, der vorschriftsmäßigen Kleidung
bei allen wichtigen Akten und Festen zu erinnern, der Abstufungen
des Gesellschaftsanzuges, der Brauttracht, der Trauerkleidung, der
militärischen Uniform, des Priesterornates; man denke an Orden und
Abzeichen, Mitra und Tonsur, Allongeperücke und Stock, Puder, Ringe,
Frisuren, an alles mit Bedeutung Verhüllte und Entblößte, an die Tracht
von Mandarinen und Senatoren, Odalisken und Nonnen, an den Hofstaat des
Nero, Saladin und Montezuma, um von den Einzelheiten der Volkstracht
und der Sprache der Blumen, Farben und Edelsteine ganz zu schweigen.
Die Sprache der Religion braucht nicht genannt zu werden, denn alles
dieses +ist+ Religion.

Die Mitteilungssprachen, an denen keine überhaupt denkbare Art der
Sinnesempfindung ganz unbeteiligt ist, haben für den Menschen hoher
Kulturen allmählich drei vorherrschende Zeichen entwickelt, das
Bild, den Laut und die Geste, die sich in der Schriftsprache der
abendländischen Zivilisation zur Einheit von Buchstabe, Wort und
Interpunktion zusammenschließen.

Im Verlauf dieser langen Entwicklung vollzieht sich endlich +die
Ablösung der Sprache vom Sprechen+. Es gibt in der Sprachgeschichte
keinen Vorgang von größerer Tragweite. Ursprünglich sind ohne Zweifel
alle Motive und Zeichen aus dem Augenblick geboren und nur für einen
einzelnen Akt der Wachseinstätigkeit bestimmt. Ihre wirkliche, gefühlte
und also gewollte Bedeutung sind ein und dasselbe. Das Zeichen ist
Bewegung und nicht ein Bewegtes. Sobald aber ein fester Zeichenbestand
dem lebendigen Zeichen-geben +entgegentritt+, wird das anders.
Es löst sich nicht nur die Tätigkeit von ihren Mitteln, sondern auch
+das Mittel von seiner Bedeutung+. Die Einheit beider hört nicht
nur auf etwas Selbstverständliches zu sein, sondern sie wird unmöglich.
Das Bedeutungsgefühl ist lebendig und wie alles, was mit Zeit und
Schicksal zusammenhängt, einmalig und nie wiederkehrend. Kein Zeichen,
und sei es noch so bekannt und gewohnt, wird je in genau derselben
Bedeutung wiederholt. Deshalb kehrte ursprünglich kein Zeichen jemals
in genau derselben Form wieder. Das Reich der starren Zeichen ist etwas
unbedingt Gewordenes und rein Ausgedehntes, +kein Organismus, sondern
ein System+, das seine +eigene, kausale+ Logik besitzt und den
unvereinbaren Gegensatz von Raum und Zeit, Geist und Blut auch in die
Wachseinsverbindung zweier Wesen trägt.

Dieser feste Bestand von Zeichen und Motiven mit seiner vermeintlich
festen Bedeutung muß gelernt und eingeübt werden, wenn man an der
zugehörigen Wachseinsgemeinschaft teilnehmen will. +Zu der vom
Sprechen abgelösten Sprache gehört unvermeidlich der Begriff der
Schule.+ Sie ist unter höheren Tieren vollkommen ausgebildet und
in jeder in sich geschlossenen Religion, in jeder Kunst, in jeder
Gesellschaft die Voraussetzung dafür, daß man wirklich ein Gläubiger,
ein Künstler oder ein Mensch von Erziehung ist. Von hier an gibt es
eine scharfe Grenze für jede Gemeinschaft. Man muß ihre Sprache,
das heißt ihre Glaubenssätze, Sitten, Regeln kennen, um Mitglied
zu sein. Gefühl und guter Wille führen im Kontrapunkt so wenig wie
im Katholizismus zur Seligkeit. Kultur bedeutet eine unerhörte
Steigerung der Tiefe und Strenge der Formensprache auf allen Gebieten;
sie besteht damit für jeden einzelnen, der ihr angehört, als seine
+persönliche+ -- religiöse, sittliche, gesellschaftliche,
künstlerische -- Kultur in einer das ganze Leben ausfüllenden Erziehung
und Schulung +für+ dieses Leben; es wird darum in allen großen
Künsten, in den großen Kirchen, Mysterien und Orden, in der hohen
Gesellschaft vornehmer Stände eine Meisterschaft der Formbeherrschung
erreicht, die zu den Wundern des Menschentums gehört und die an der
Höhe ihrer Forderungen zuletzt zerbricht. Das Wort dafür ist in allen
Kulturen, ob es nun ausgesprochen wird oder nicht, Rückkehr zur Natur.
Diese Meisterschaft erstreckt sich auch auf die Wortsprache; neben
der vornehmen Gesellschaft zur Zeit der griechischen Tyrannen und der
Troubadoure, neben den Fugen Bachs und den Vasengemälden des Exekias
steht die Kunst der attischen Rede und der französischen Konversation,
die beide wie jede andere Kunst eine strenge und langsam erarbeitete
Konvention und für den einzelnen eine lange und anspruchsvolle Übung
voraussetzen.

Metaphysisch kann die Bedeutung dieser Abtrennung einer starren Sprache
nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die tägliche Gewohnheit des
Verkehrs in festen Formen und die Beherrschung des gesamten Wachseins
durch solche Formen, die nicht mehr empfunden werden, während sie noch
in der Bildung begriffen sind, sondern die ganz einfach da sind und
nun im eigentlichsten Sinne verstanden werden müssen, führt zu einer
immer schärferen Absetzung des Verstehens vom Empfinden innerhalb des
Wachseins. Ein ursprüngliches Sprechen wird verstehend empfunden; der
Gebrauch einer Sprache verlangt ein Empfinden des +bekannten+
Sprachmittels und dann ein Verstehen der ihm +diesmal+ unterlegten
Absicht. Der Kern aller schulmäßigen Erziehung besteht demnach im
Erwerb von +Kenntnissen+. Jede Kirche spricht es laut und deutlich
aus, daß nicht das Gefühl, sondern das Wissen zu ihren Heilsmitteln
führt; jedes echte Künstlertum beruht auf dem sicheren Wissen von
Formen, die der einzelne nicht zu erfinden, sondern zu lernen hat. „Der
Verstand“ ist das Wissen als Wesen gedacht. Er ist das, was dem Blut,
der Rasse, der Zeit durchaus entfremdet ist; aus dem Gegensatz der
starren Sprache zum fließenden Blut, zur werdenden Geschichte entstehen
die +verneinenden+ Ideale des Absoluten, Ewigen, Allgemeingültigen
-- die Ideale der Kirchen und Schulen.

Daraus folgt aber endlich das Unvollkommene aller Sprachen und der
beständige Widerspruch, in dem ihre Anwendung sich zu dem befindet,
was das Sprechen wollte oder sollte. Man darf sagen, daß die Lüge mit
der Trennung der Sprache vom Sprechen in die Welt gekommen ist. Die
Zeichen sind fest, die Bedeutung ist es nicht: das fühlt man zuerst,
dann weiß man es, endlich macht man es sich zunutze. Es ist eine
uralte Erfahrung, daß man etwas sagen will und die Worte „versagen“,
daß man sich falsch ausdrückt und in Wirklichkeit etwas anderes sagt,
als man meint, daß man richtig spricht und falsch verstanden wird.
Endlich entsteht die schon unter Tieren, z. B. Katzen, weit verbreitete
Kunst, „Worte zu gebrauchen, um die Gedanken zu verbergen“. Man sagt
nicht alles, man sagt etwas ganz anderes, man spricht förmlich,
um wenig, man spricht begeistert, um gar nichts gesagt zu haben.
Oder man ahmt die Sprache eines andern nach. Der rotrückige Würger
(_Lanius collurio_) imitiert die Strophen kleiner Singvögel, um
sie anzulocken. Das ist eine allverbreitete Jägerlist, aber sie setzt
feste Motive und Zeichen ebenso voraus, wie die Nachahmung alter
Kunststile oder die Fälschung einer Unterschrift. Und alle diese Züge,
die man in Haltung und Mienenspiel so gut wie in Handschrift und
Aussprache antrifft, kehren in der Sprache jeder Religion, jeder Kunst,
jeder Gesellschaft wieder. Es sei nur an die Begriffe des Heuchlers,
Frömmlers, Ketzers, den englischen _cant_, an den Hintersinn der
Worte Diplomat, Jesuit und Schauspieler, an die Masken und Klugheiten
des gebildeten Verkehrs und an die heutige Malerei erinnert, in der
nichts mehr echt ist und die in jeder Ausstellung alle überhaupt
denkbaren Formen der Lüge im Ausdruck vor Augen führt.

In einer Sprache, die man stammelt, kann man nicht Diplomat sein. In
ihrer Beherrschung liegt aber die Gefahr, das Verhältnis zwischen
Mittel und Bedeutung zu einem neuen Mittel zu machen. Es entsteht die
geistige Kunst, mit dem Ausdruck zu +spielen+. Die Alexandriner
und Romantiker gehören dahin, in der Lyrik Theokrit und Brentano, in
der Musik Reger, in der Religion Kierkegaard.

+Sprache und Wahrheit schließen sich zuletzt aus.+[95] Aber
gerade damit kommt im Zeitalter der starren Sprachen der Typus des
Menschenkenners zur Geltung, der ganz Rasse ist und weiß, was er von
einem sprechenden Wesen zu halten hat. Jemandem scharf ins Auge sehen,
hinter der Sprache einer Volksrede oder philosophischen Abhandlung den
Sprecher, hinter dem Gebet das Herz, hinter dem guten Ton den inneren
gesellschaftlichen Rang erkennen und zwar sofort, unmittelbar, mit der
Selbstverständlichkeit alles Kosmischen, das ist es, was dem echten
Tabumenschen abgeht, der an +eine+ Sprache wenigstens glaubt. Ein
Priester, der zugleich Diplomat ist, kann kein echter Priester sein.
Ein Ethiker vom Schlage Kants ist niemals Menschenkenner.

Wer in seiner Wortsprache lügt, verrät sich in seiner Gebärdensprache,
auf die er nicht achtet. Wer in den Gebärden heuchelt, verrät sich
im Ton. Gerade weil die starre Sprache Mittel und Absicht trennt,
erreicht sie ihr Ziel für den Kennerblick niemals. Wer Kenner ist,
liest zwischen den Zeilen und versteht einen Menschen, sobald er
seinen Gang oder seine Handschrift sieht. Je tiefer und inniger eine
Seelengemeinschaft ist, desto eher verzichtet sie deshalb auf Zeichen,
auf eine Verbindung durch das Wachsein. Eine echte Kameradschaft
versteht sich ohne viel Worte, der echte Glaube schweigt. Das reinste
Sinnbild für ein Einverständnis, welches die Sprache wieder überwunden
hat, ist ein altes bäuerliches Ehepaar, das abends vor dem Hause
sitzt und sich schweigend unterhält. Jeder weiß, was der andere
denkt und fühlt. Worte würden den Einklang nur verwirren. Von diesem
Sich-verstehen reicht irgend etwas tief in die Urgeschichte alles
freibeweglichen Lebens, weit zurück über das Gemeinschaftsleben der
höheren Tierwelt. Hier ist die Erlösung vom Wachsein für Augenblicke
fast erreicht.


11

Unter allen starren Zeichen ist keines folgenreicher geworden als das,
welches wir in seinem heutigen Zustand „Wort“ nennen. Es gehört ohne
Zweifel der rein menschlichen Sprachgeschichte an, aber die Vorstellung
„Ursprung der Wortsprache“ ist, so wie sie regelmäßig durchdacht und
behandelt wird, mit allen daran geknüpften Folgerungen ebenso sinnlos
wie die Vorstellung von einem Anfangspunkt der Sprache überhaupt.
Diese besitzt keinen denkbaren Anfang, weil sie mit dem Wesen des
Mikrokosmos zugleich gegeben und in ihm enthalten ist, jene nicht,
weil sie sehr vollkommene Mitteilungssprachen schon voraussetzt, in
deren ruhig fortentwickelter Gestalt sie nur den Rang eines Einzelzuges
hat, der sehr langsam das Übergewicht erhält. Es ist der Fehler so
entgegengesetzter Theorien wie derjenigen Wundts und Jespersens,[96]
daß sie das Sprechen in Worten wie etwas ganz Neues und
Fürsichstehendes untersuchen, was notwendig zu einer durchaus falschen
Psychologie führt. Es ist aber etwas sehr Spätes und Abgezweigtes,
eine letzte Blüte am Stamme der Lautsprachen und nicht etwa ein junges
Gewächs.

Eine reine Wortsprache gibt es in Wirklichkeit überhaupt nicht.
Niemand spricht, ohne außer dem starren Wortbestand in Betonung,
Takt und Mienenspiel noch ganz andere Spracharten anzuwenden, die
viel ursprünglicher und mit der angewendeten Wortsprache im Gebrauch
vollständig verwachsen sind. Man muß sich vor allem hüten, das in
seinem Bau äußerst verwickelte Reich heutiger Wortsprachen für eine
innere Einheit mit einheitlicher Geschichte zu halten. Jede uns
bekannte Wortsprache hat sehr verschiedene Seiten und diese haben
ihre +eigenen+ Schicksale innerhalb der Gesamtgeschichte. Es
gibt keine Sinnesempfindung, die für die Geschichte des Wortgebrauchs
ganz belanglos gewesen wäre. Man muß auch sehr streng zwischen Laut-
und Wortsprache unterscheiden; die erste ist selbst sehr einfachen
Tiergattungen schon geläufig, diese ist zwar nur in einzelnen, aber
desto bedeutsameren Zügen etwas grundsätzlich anderes. In jeder
tierischen Lautsprache sind ferner Ausdrucksmotive (Brunstschrei) und
Mitteilungszeichen (Warnungsschrei) deutlich zu unterscheiden und das
gilt sicherlich auch von den frühesten Worten, aber ist die Wortsprache
nun als Ausdrucks- oder als Mitteilungssprache +entstanden+? War
sie in sehr frühen Zuständen von irgendwelchen Sprachen fürs Auge
(Bild, Geste) verhältnismäßig unabhängig? Auf solche Fragen gibt es
keine Antwort, weil wir von den Vorformen des eigentlichen „Wortes“
keine Ahnung haben. Die Forschung ist recht naiv, wenn sie das, was
wir heute primitive Sprachen nennen und was nur unvollkommene Gebilde
sehr später Sprachzustände sind, zu Schlüssen auf den Ursprung der
Worte benützt. Das Wort ist in ihnen ein längst feststehendes,
hochentwickeltes und selbstverständliches Mittel, aber gerade das gilt
von dem „Ursprung“ +nicht+.

Das Zeichen, mit welchem ohne Zweifel die Möglichkeit zur Ablösung
der künftigen Wortsprachen aus den allgemein tierischen Lautsprachen
gegeben war, nenne ich +Namen+ und verstehe darunter ein
Lautgebilde, das als Kennzeichen eines als wesenhaft empfundenen
Etwas in der Umwelt dient, welches durch die Benennung zum
_numen_ geworden ist. Wie diese ersten Namen beschaffen waren,
darüber nachzudenken ist überflüssig. Keine uns noch erreichbare
Menschensprache gibt den leisesten Anhaltspunkt dafür. Aber das halte
ich im Gegensatz zur modernen Forschung für das Entscheidende: nicht
eine Veränderung des Kehlkopfes oder eine besondere Art der Lautbildung
oder sonst etwas Physiologisches, das in Wirklichkeit Rassemerkmal ist,
liegt hier vor -- wenn dergleichen damals überhaupt eingetreten ist --
und auch nicht eine Steigerung der Ausdrucksfähigkeit der vorhandenen
Mittel, etwa der Übergang vom Wort zum Satz (H. Paul),[97] sondern eine
tiefe Verwandlung der Seele: mit dem Namen ist ein neuer Blick auf die
Welt entstanden. Ist das Sprechen überhaupt aus der Angst geboren,
aus einer unergründlichen Scheu vor den Tatsachen des Wachseins, die
alle Wesen zueinander treibt und die Nähe des andern durch Eindrücke
bezeugt sehen will, so erscheint hier eine mächtige Steigerung. Mit dem
Namen ist gleichsam +der Sinn+ des Wachseins und +die Quelle+
der Angst angerührt worden. Die Welt ist nicht nur da; man fühlt ein
Geheimnis in ihr. Man benennt über alle Zwecke der Ausdrucks- und
Mitteilungssprache hinaus das, +was rätselhaft ist+. Ein Tier
kennt keine Rätsel. Man kann sich die ursprüngliche Namengebung nicht
feierlich und ehrfürchtig genug denken. Man soll den Namen nicht immer
nennen, man soll ihn geheim halten, es liegt eine gefährliche Macht in
ihm. +Mit dem Namen ist der Schritt von der alltäglichen Physik des
Tieres zur Metaphysik des Menschen vollzogen.+ Es war die größte
Wendung in der Geschichte der menschlichen Seele. Die Erkenntnistheorie
pflegt Sprache und Denken nebeneinander zu stellen, und wenn man
allein die heute noch erreichbaren Sprachen beachtet, trifft das zu.
Ich glaube aber, daß man viel tiefer greifen kann: mit den Namen ist
die eigentliche, +bestimmte+ Religion innerhalb einer formlosen,
allgemein religiösen Scheu entstanden. Religion in diesem Sinne
heißt religiöses +Denken+. Es ist die neue Verfassung des
vom Empfinden abgelösten schöpferischen Verstehens. Mit einer sehr
bezeichnenden Wendung sagen wir „+über+ etwas nachdenken“. Mit
dem Verstehen benannter Dinge ist +über+ allem Empfindungswesen
eine +höhere+ Welt in Bildung begriffen, höher in klarer Symbolik
und Beziehung auf die Lage des Kopfes, den der Mensch als die Heimat
seiner Gedanken oft in schmerzhafter Deutlichkeit spürt. Sie gibt
dem Urgefühl der Angst ein Ziel und den Blick auf eine Befreiung.
Von diesem religiösen Urdenken ist alles philosophische, gelehrte,
wissenschaftliche Denken später Zeiten bis in seine letzten Gründe
abhängig geblieben.

Wir haben uns die ersten Namen als ganz vereinzelte Elemente im
Zeichenbestand hoch entwickelter Laut- und Gebärdensprachen zu denken,
von deren Reichtum und Ausdrucksfähigkeit wir keine Vorstellung
mehr besitzen, seit die Wortsprachen alle anderen Mittel von sich
abhängig gemacht und deren Weiterbildung nur in Rücksicht auf sich
selbst geleitet haben.[98] Eins aber war bereits gesichert, als mit
den Namen eine Umwendung und Durchgeistigung der Mitteilungstechnik
begann: die Herrschaft des Auges über die anderen Sinne. Der Mensch
war wach in einem Lichtraum, sein Tiefenerlebnis war eine Ausstrahlung
des Sehens zu den Lichtquellen und Lichtwiderständen, er empfand sein
Ich als einen Mittelpunkt im Lichte. Die Alternative Sichtbares und
Unsichtbares beherrscht durchaus dasjenige Verstehen, in welchem die
ersten Namen entstanden sind. Waren vielleicht die ersten _numina_
Dinge der Lichtwelt, welche man empfand, hörte, in ihren Wirkungen
beobachtete, +aber nicht sah+? Die Gruppe der Namen hat ohne
Zweifel wie alles, was im Weltgeschehen Epoche macht, eine sehr
schnelle und gewaltige Ausbildung erfahren. Die gesamte Lichtwelt, in
der jedes Ding die Eigenschaften der Lage und Dauer im Raume besitzt,
wurde mit allen Spannungen zwischen Ursache und Wirkung, Ding und
Eigenschaft, Ding und Ich sehr bald mit zahllosen Namen bezeichnet
und damit im Gedächtnis befestigt. Denn was wir heute Gedächtnis
nennen, ist die Fähigkeit, +Benanntes+ mittelst der Namen für das
Verstehen aufzubewahren. Es entsteht über dem Reich der verstandenen
Sehdinge ein geistigeres Reich der Benennungen, das mit jenem die
logische Eigenschaft teilt, rein extensiv, polar geordnet und vom
Kausalprinzip beherrscht zu sein. Alle -- sehr viel später entstehenden
-- Wortgebilde wie Kasus, Pronomina, Präpositionen haben einen kausalen
oder lokalen Sinn in bezug auf benannte Einheiten; Adjektiva und
auch Verba sind vielfach in Gegensatzpaaren entstanden; es ist oft
wie in der von Westermann untersuchten Ewesprache anfangs dasselbe
Wort, das tief oder hoch gesprochen wird, um etwa groß und klein,
fern und nah, passiv und aktiv zu bezeichnen. Später geht dieser Rest
von Gebärdensprache ganz in der Wortform auf, wie es im griechischen
μακρός und μικρός und den U-lauten in ägyptischen Bezeichnungen des
Leidens noch deutlich erkennbar ist. Es ist die Form des Denkens in
Gegensätzen, die von gegensätzlichen Wortpaaren ausgehend der gesamten
anorganischen Logik zugrunde liegt und jedes wissenschaftliche Finden
von Wahrheiten zu einer Bewegung in begrifflichen Gegensätzen macht,
unter denen der zwischen einer alten Ansicht als Irrtum und einer neuen
als Wahrheit immer der vorwaltende ist.

Die zweite große Wendung erfolgt +mit dem Entstehen der
Grammatik+. Indem zum Namen der Satz, zum Wortzeichen die
Wortverbindung tritt, wird das Nachdenken -- das Denken in
Wortbeziehungen, nachdem man etwas wahrgenommen hat, wofür es
Wortbezeichnungen gibt -- für den Charakter des menschlichen Wachseins
bestimmend. Es ist eine müßige Frage, ob die Mitteilungssprachen vor
dem Auftreten echter Namen schon wirkliche „Sätze“ enthielten. Der Satz
im +heutigen+ Sinne hat sich zwar aus eigenen Bedingungen und mit
eigenen Epochen innerhalb dieser Sprachen entwickelt, aber er setzt
dennoch das Dasein der Namen +voraus+. Erst die geistige Wendung,
die mit ihrer Geburt eingetreten ist, macht Sätze als gedankliche
Beziehungen möglich. Und zwar müssen wir annehmen, daß in den sehr
entwickelten wortlosen Sprachen, unter fortwährendem Gebrauch, ein Zug
nach dem andern in Wortformen umgesetzt und damit einem mehr und mehr
geschlossenen Gefüge, der Urform aller heutigen Sprachen, eingegliedert
worden ist. Der innere Bau aller Wortsprachen beruht also auf viel
älteren Strukturen und ist in seiner Weiterbildung von dem Wortschatz
und dessen Schicksalen +nicht+ abhängig. Das Umgekehrte ist der
Fall.

Denn mit dem Satzbau verwandelt sich die ursprüngliche Gruppe einzelner
+Namen+ in ein System von +Worten+, deren Charakter nicht
mehr durch ihre eigene, sondern ihre grammatische Bedeutung bestimmt
wird. Der Name tritt als etwas Neues ganz für sich auf. Die Wortarten
aber entstehen als Satzelemente; und nun strömen in unübersehbarer
Menge die Wachseinsinhalte heran, die bezeichnet, in dieser Welt von
Worten vertreten sein wollen, bis zuletzt „alles“ für das Nachdenken in
irgendeiner Weise Wort geworden ist.

Der Satz ist von da an das Entscheidende. Wir sprechen in Sätzen und
nicht in Worten. Beides zu definieren ist unendlich oft versucht worden
und nie gelungen. Nach F. N. Finck ist die Wortbildung eine zerlegende,
die Satzbildung eine zusammenfügende Tätigkeit des Geistes und zwar
geht die erste der zweiten vorauf. Es zeigt sich, daß die empfundene
Wirklichkeit sehr verschieden verstanden und die Worte also nach sehr
verschiedenen Gesichtspunkten abgegrenzt werden können.[99] Aber nach
der gewöhnlichen Definition ist der Satz der sprachliche Ausdruck
eines +Gedankens+, nach H. Paul ein Symbol für die Verbindung
mehrerer +Vorstellungen+ in der Seele des Sprechenden. Alle
diese Bestimmungen widersprechen sich. Es scheint mir ganz unmöglich,
das Wesen des Satzes aus dem Inhalt zu ermitteln. Tatsache ist
lediglich, daß wir die relativ größten +mechanischen Einheiten+
im Sprachgebrauch Sätze, die relativ kleinsten Worte nennen. So
weit erstreckt sich die Geltung grammatischer +Gesetze+. Das
fortlaufende Sprechen ist kein Mechanismus mehr und gehorcht nicht
Gesetzen, sondern dem +Takt+. Es liegt also schon ein Rassezug
in der Art, wie das Mitzuteilende in Sätze gefaßt wird. Sätze
sind bei Tacitus und Napoleon nicht dasselbe wie bei Cicero und
Nietzsche. Der Engländer teilt den Stoff syntaktisch anders auf als
der Deutsche. Nicht Vorstellungen und Gedanken, sondern das Denken,
die Art des Lebens, +das Blut+ bestimmen in den primitiven,
antiken, chinesischen, abendländischen Sprachgemeinschaften die
typische Abgrenzung der Satzeinheiten und damit das +mechanische+
Verhältnis des Wortes zum Satz. Die Grenze zwischen Grammatik und
Syntax sollte dort angesetzt werden, wo das Mechanische der Sprache
aufhört und das Organische des Sprechens beginnt: der Sprachgebrauch,
die Sitte, die +Physiognomie+ der Art eines Menschen, sich
auszudrücken. Die andere Grenze liegt dort, wo die mechanische
Struktur des Wortes in die organischen Faktoren der Lautbildung und
Aussprache übergeht. An der Aussprache des englischen th -- einem
Rassezug der Landschaft -- erkennt man oft noch die Kinder der
Eingewanderten. Nur was zwischen beiden liegt, „+die Sprache+“,
hat System, ist ein technisches Mittel und wird deshalb erfunden,
verbessert, gewechselt, abgenützt; Aussprache und Ausdruck haften an
der +Rasse+. Wir erkennen eine uns bekannte Person, ohne sie zu
sehen, an der Aussprache, ebenso aber den Angehörigen einer fremden
Rasse, auch wenn er ein vollkommen richtiges Deutsch spricht. Die
großen Lautverschiebungen wie die althochdeutsche in karolingischer und
die mittelhochdeutsche in spätgotischer Zeit haben eine landschaftliche
Grenze und berühren nur das Sprechen, nicht die innere Form von Satz
und Wort.

Die Worte sind, wie gesagt, die relativ kleinsten mechanischen
Einheiten im Satz. Nichts ist vielleicht für das Denken einer
Menschenart bezeichnender als die Art, wie diese Einheiten gewonnen
werden. Für den Bantuneger gehört ein Ding, das er sieht, zunächst
einer sehr großen Zahl von Kategorien der Auffassung an. Das Wort dafür
besteht also aus einem Kern (Wurzel) mit einer Anzahl einsilbiger
Präfixe. Wenn er von einer Frau auf dem Felde spricht, so ist das Wort
dafür etwa: Lebendig -- Einzahl -- Groß -- Alt -- Weiblich -- Draußen
-- +Mensch+; das sind sieben Silben, aber sie bezeichnen einen
einzigen, scharfen und uns sehr fremden Akt der Auffassung. Es gibt
Sprachen, in denen das Wort beinahe mit dem Satze zusammenfällt.

Der Schritt für Schritt erfolgende Ersatz von körperlichen oder
klanglichen durch grammatische Gebärden ist also für die Ausbildung
des Satzes das Entscheidende, aber er ist nie vollendet worden. Reine
Wortsprachen gibt es nicht. Die Tätigkeit des Sprechens in Worten, wie
sie immer schärfer hervortritt, besteht darin, daß wir durch Wortklänge
Bedeutungsgefühle wecken, die durch den Klang der Wortverbindungen
weitere Beziehungsgefühle wachrufen. Wir sind durch die Schule des
Sprechenlernens geübt, in dieser abkürzenden und andeutenden Form
sowohl die Lichtdinge und Lichtbeziehungen wie die daraus abgezogenen
Denkdinge und Denkbeziehungen zu verstehen. Worte werden nur genannt,
nicht definitionsgemäß gebraucht, und der Hörer muß fühlen, was gemeint
ist. Ein anderes Sprechen gibt es nicht und eben deshalb haben Gebärde
und Ton am Verständnis des heutigen Sprechens einen weit größeren
Anteil, als man gewöhnlich annimmt.

Das letzte große Ereignis in dieser Geschichte, mit welchem die
Bildung der Wortsprache gewissermaßen zum Abschluß gelangt, ist die
Entstehung des Verbums. Sie setzt bereits einen sehr hohen Grad von
Abstraktion voraus, denn Substantiva sind Worte, welche im Lichtraum
+sinnlich+ abgegrenzte Dinge -- „Unsichtbares“ ist ebenfalls
abgegrenzt -- auch für das Nachdenken herausheben; Verba bezeichnen
aber +Typen+ der Veränderung, die nicht gesehen, sondern aus
dem grenzenlosen Bewegtsein der Lichtwelt durch Absehen von den
besonderen Merkmalen des einzelnen Falles festgestellt und als Begriffe
erzeugt werden. „Fallender Stein“ ist eine ursprüngliche Einheit des
Eindrucks. Hier wird aber zunächst Bewegung und Bewegtes getrennt
und dann „fallen“ als eine +Art von Bewegung+ aus zahllosen
anderen mit unzähligen Übergängen -- sinken, schweben, stürzen,
gleiten -- abgegrenzt. Den Unterschied „sieht“ man nicht; er wird
„erkannt“. Substantivische Zeichen kann man sich für manche Tiere
vielleicht noch vorstellen, verbale aber nicht. Der Unterschied von
Fliehen und Laufen oder Fliegen und Gewehtwerden geht weit über das
Gesehene hinaus und ist nur für ein wortgewohntes Wachsein faßbar.
Es liegt ihm etwas Metaphysisches zugrunde. Aber mit dem „Denken in
Zeitwörtern“ ist nun auch das Leben selbst dem Nachdenken erreichbar
geworden. Von dem lebendigen Eindruck auf das Wachsein, dem Werden --
das die Geberdensprache ganz unproblematisch nachahmt und das an sich
also unberührt bleibt -- wird das Einmalige, also das Leben selbst,
unvermerkt abgesondert und der Rest als Wirkung einer Ursache (der Wind
weht, es blitzt, der Bauer pflügt) mit lauter extensiven Bestimmungen
dem Zeichensystem eingeordnet. Man muß sich ganz in die starren
Unterscheidungen von Subjekt und Prädikat, Aktivum und Passivum,
Präsens und Perfektum versenken, um zu sehen, wie hier der Verstand die
Sinne meistert und das Wirkliche entseelt. Bei Substantiven darf man
das Denkding (Vorstellung) als +Abbild+ des Sehdinges betrachten,
beim Verbum ist aber für etwas Organisches +etwas Anorganisches
eingesetzt+ worden. Die Tatsache, daß wir leben, nämlich daß
wir jetzt eben etwas wahrnehmen, wird zur Dauer +als einer
Eigenschaft+ des Wahrgenommenen; verbal gedacht: das Wahrgenommene
dauert an. Es „ist“. So bilden sich endlich die Kategorien des Denkens,
abgestuft nach dem, was ihm natürlich ist und was nicht; so erscheint
die Zeit als Dimension, das Schicksal als Ursache, das Lebendige als
chemischer oder psychischer Mechanismus. So entsteht der Stil des
mathematischen, juristischen, dogmatischen Denkens.

Damit ist jener Zwiespalt gegeben, der uns vom Wesen des Menschen
unzertrennlich erscheint und der doch nur ein Ausdruck der Beherrschung
seines Wachseins durch die Wortsprache ist. Dieses Mittel der
Verbindung zwischen Ich und Du hat durch seine Vollkommenheit aus dem
tierischen Verstehen des Empfindens ein das Empfinden bevormundendes
Denken in Worten gemacht. Grübeln heißt, mit sich selbst in
Wortbedeutungen verkehren. Es ist die Tätigkeit, die in jeder anderen
Sprachart ganz unmöglich ist und die mit der Vollendung der Wortsprache
die Lebensgewohnheiten ganzer Menschenklassen kennzeichnet. Wenn mit
der Ablösung einer starren entseelten Sprache vom Sprechen die Wahrheit
im Gesprochenen unvereinbar wird, so gilt das in verhängnisvollem
Maße vom Zeichensystem der Worte. Das abgezogene Denken besteht im
Gebrauch eines endlichen Wortgefüges, in dessen Schema der unendliche
Gehalt des Lebens gepreßt wird. Begriffe töten das Dasein und fälschen
das Wachsein. Einst, in der Frühzeit der Sprachgeschichte, als das
Verstehen sich noch gegen das Empfinden zu behaupten suchte, war diese
Mechanisierung bedeutungslos für das Leben. Jetzt ist der Mensch aus
einem Wesen, das zuweilen dachte, ein denkendes Wesen geworden und das
Ideal aller Gedankensysteme ist es, das Leben endgültig und vollständig
der Herrschaft des Geistes zu unterwerfen. Das geschieht in der
Theorie, indem nur Erkanntes als wirklich gilt und das Wirkliche als
Schein und Sinnentrug gebrandmarkt wird. Das geschieht in der Praxis,
indem die Stimme des Blutes durch allgemein ethische Grundsätze zum
Schweigen verwiesen wird.[100]

Beide, Logik wie Ethik, sind Systeme absoluter und ewiger Wahrheiten
vor dem Geist und beide sind eben damit Unwahrheiten vor der
Geschichte. Im Reich der Gedanken mag das innere Auge noch so unbedingt
über das äußere triumphieren; im Reiche der Tatsachen ist der Glaube
an ewige Wahrheiten ein kleines und absurdes Schauspiel in einzelnen
Menschenköpfen. Ein wahres Gedankensystem kann es gar nicht geben, weil
kein Zeichen die Wirklichkeit ersetzt. Tiefe und ehrliche Denker sind
immer zu dem Schlüsse gelangt, daß alles Erkennen von seiner eigenen
Form im Voraus bestimmt ist und nie erreichen kann, was man mit dem
Worte meint, mit Ausnahme wiederum der Technik, in welcher die Begriffe
Mittel und nicht Selbstzweck sind. Und diesem Ignorabimus entspricht
die Einsicht aller echten Weisen, daß abstrakte Lebensgrundsätze sich
nur als Redensarten einbürgern, unter deren täglichem Gebrauch das
Leben so weiterströmt, wie es immer gewesen war. Die Rasse ist letzten
Endes stärker als die Sprache und deshalb besaßen unter allen großen
Namen nur die Denker eine Wirkung auf das Leben, die Persönlichkeiten
waren und nicht wandelnde Systeme.


12

Die innere Geschichte der Wortsprachen zeigt demnach bis jetzt drei
Stufen. Auf der ersten erscheinen innerhalb hochentwickelter, aber
wortloser Mitteilungssprachen die ersten Namen als Größen eines
neuartigen Verstehens. Die Welt erwacht +als Geheimnis+. Das
religiöse Denken beginnt. Auf der zweiten wird nach und nach eine
vollständige Mitteilungssprache in grammatische Werte umgesetzt.
Die Geste wird zum Satz und der Satz verwandelt die Namen in Worte.
Der Satz wird zugleich die große Schule des Verstehens gegenüber
dem Empfinden, und das immer feinere Bedeutungsgefühl für abstrakte
Beziehungen im Satzmechanismus ruft einen überquellenden Reichtum
von Flexionen hervor, die sich vor allem an Substantiv und Verb, das
Raumwort und das Zeitwort, heften. Es erscheint die Blütezeit der
Grammatik, für die man -- mit großer Vorsicht -- +vielleicht+
die zwei Jahrtausende vor Beginn der ägyptischen und babylonischen
Kultur ansetzen darf. Die dritte Stufe wird durch einen raschen
Flexionsverfall und damit den Ersatz der Grammatik durch die Syntax
bezeichnet. Die Durchgeistigung des menschlichen Wachseins ist so weit
vorgeschritten, daß es der Versinnlichung durch Flexionen nicht mehr
bedarf und sich statt durch eine bunte Wildnis von Wortformen durch
kaum merkliche Andeutungen im knappsten Sprachgebrauch (Partikel,
Wortstellung, Rhythmus) sicher und frei mitteilen kann. Am Sprechen
in Worten ist das Verstehen zur Herrschaft über das Wachsein gelangt;
heute ist es im Begriff, sich vom Zwange des sinnlich-sprachlichen
Mechanismus zugunsten einer reinen Mechanik des Geistes zu befreien.
Nicht die Sinne, die Geister treten in Fühlung.

In diese dritte Stufe der Sprachgeschichte, welche an sich im
biologischen Weltbild[101] verläuft und also +dem Menschen als
Typus+ zugehört, greift nun die Geschichte der hohen Kulturen ein,
die mit einer ganz neuen „Sprache der Ferne“, der Schrift, und durch
die Gewalt ihrer Innerlichkeit dem Schicksal der Wortsprachen eine
plötzliche Wendung gibt.

Die ägyptische Schriftsprache ist schon um 3000 in rascher
grammatischer Zersetzung begriffen, das Sumerische in der
_eme-sal_ (Weibersprache) genannten Literatursprache ebenfalls,
das Schriftchinesisch, das allen Umgangssprachen der chinesischen
Welt gegenüber längst eine Sprache für sich bildet, ist schon in
den ältesten bekannten Texten so gänzlich flexionslos, daß erst in
neuester Zeit festgestellt werden konnte, daß es wirklich einmal eine
Flexion besessen hat. Das indogermanische System kennen wir nur im
vollsten Verfall. Von den Kasus des Altvedischen -- um 1500 -- sind
in den antiken Sprachen ein Jahrtausend später nur Trümmer erhalten.
Seit Alexander dem Großen ist in der hellenistischen Umgangssprache
der Dual aus der Deklination und das ganze Passiv aus der Konjugation
verschwunden. Die abendländischen Sprachen, obwohl sie von denkbar
verschiedenster Herkunft sind, die germanischen aus primitiven, die
romanischen aus hochzivilisierten Verhältnissen stammen, verändern
sich in gleicher Richtung: die romanischen Kasus sind bis auf einen
verschwunden, die englischen mit der Reformation sämtlich. Die deutsche
Umgangssprache hat den Genitiv im Anfang des 19. Jahrhunderts endgültig
eingebüßt und ist im Begriff, den Dativ aufzugeben. Nur wer einmal den
Versuch macht, ein Stück schwerer und bedeutungsreicher Prosa etwa
aus Tacitus oder Mommsen in eine sehr alte flexionsreiche Sprache
„rückwärts“ zu übertragen -- unsere gesamte Übersetzungsarbeit erfolgt
aus älteren in jüngere Sprachzustände --, wird den Beweis erhalten, daß
die Zeichentechnik sich inzwischen in eine Denktechnik verflüchtigt
hat, welche der verkürzten, aber mit Bedeutungsgehalt durchsättigten
Zeichen gleichsam nur zu Anspielungen bedarf, die ausschließlich ein
Eingeweihter der betreffenden Sprachgemeinschaft versteht. Dies ist der
Grund, weshalb ein westeuropäischer Mensch vom Verstehen der heiligen
chinesischen Bücher unbedingt ausgeschlossen bleibt, aber ebenso von
dem Verständnis der Urworte jeder anderen Kultursprache, dem λόγος, der
ἀρχή im Griechischen, dem _atman_ und _braman_ im Sanskrit,
die auf eine Weltanschauung hinweisen, in der man aufgewachsen sein
muß, um ihre Zeichen zu begreifen.

Die äußere Sprachgeschichte ist für uns gerade in den wichtigsten
Abschnitten so gut wie verloren. Ihre Frühzeit liegt tief im primitiven
Zeitalter, und es sei noch einmal darauf hingewiesen,[102] daß wir
uns die „Menschheit“ hier in Gestalt vereinzelter ganz kleiner Trupps
vorzustellen haben, die sich im weiten Raume verlieren. Eine Wandlung
der Seele tritt ein, wenn die wechselseitige Fühlung Regel und zuletzt
selbstverständlich geworden ist, aber eben deshalb besteht kein
Zweifel, daß diese Fühlung mittelst der Sprache zuerst gesucht und dann
geregelt oder abgewehrt wird, und daß erst mit dem Eindruck der von
Menschen erfüllten Erde das einzelne Wachsein gespannter, geistiger,
klüger wird und die Wortsprache emporzwingt, so daß vielleicht die
Entstehung der Grammatik mit dem Rassemerkmal der großen Zahl in
Verbindung steht.

Seitdem ist kein grammatisches System mehr entstanden; es haben
sich nur aus vorhandenen neuartige abgezweigt. Über diese
+eigentlichen+ Ursprachen, ihren Bau und Klang, wissen wir
nichts. Soweit wir zurückblicken können, werden fertig ausgebildete
Sprachsysteme als etwas ganz Natürliches von jedermann gebraucht,
von jedem Kinde gelernt. Daß es je anders gewesen sein könne, daß
einst vielleicht ein tiefer Schauder das Hören solcher seltenen und
geheimnisvollen Sprachen begleitet hat -- wie es in historischer
Zeit mit der Schrift der Fall war und noch ist --, erscheint uns
unglaubwürdig. Und doch sollten wir mit der Möglichkeit rechnen,
daß Wortsprachen in einer Welt wortloser Mitteilungsweisen einmal
Standesvorrecht gewesen sind, ein eifersüchtig behüteter Geheimbesitz.
Daß ein Hang dazu vorliegt, zeigen tausend Beispiele, das Französisch
als Diplomaten-, das Latein als Gelehrten-, das Sanskrit als
Priestersprache. Es gehört zum Stolz rassiger Kreise, miteinander reden
zu können, ohne von „den andern“ verstanden zu werden. Eine Sprache
für jedermann ist gemein. „Mit einem reden dürfen“ ist ein Vorzug oder
eine Anmaßung. Noch der Gebrauch der Schriftsprache unter Gebildeten
und die Verachtung des Dialekts ist ein Zeugnis echten Bürgerstolzes.
Nur wir leben in einer Zivilisation, in welcher die Kinder mit
Selbstverständlichkeit das Schreiben wie das Gehen lernen. In allen
früheren Kulturen war es eine seltene und nicht jedem zugängliche
Kunst. Ich bin überzeugt, daß es mit der Wortsprache einmal nicht
anders gewesen ist.

Das Tempo der Sprachgeschichte ist ein ungeheuer geschwindes.
Ein Jahrhundert bedeutet da schon viel. Ich erinnere an jene
Gebärdensprache der Indianer Nordamerikas, die notwendig wurde, weil
die rasche Veränderung der Dialekte eine andere Verständigung zwischen
den Stämmen ausschloß. Man vergleiche auch die kürzlich entdeckte
Foruminschrift (um 500) mit dem Latein des Plautus (um 200) und dieses
mit der Sprache Ciceros. Nimmt man an, daß die ältesten Vedatexte den
Sprachzustand von 1200 v. Chr. festgehalten haben, so kann schon
der Zustand von 2000 so gänzlich anders gewesen sein, daß ihn kein
indogermanischer Forscher mit seiner Methode der Rückschlüsse auch nur
von fern vermutet. Aber das Allegro wird zum Lento in dem Augenblick,
wo die Schrift, die Sprache der Dauer, eingreift und die Systeme
auf ganz verschiedenen Altersstufen festhält und lähmt. Gerade das
macht diese Entwicklung so undurchsichtig: wir besitzen nur Reste von
Schriftsprachen. Aus der ägyptischen und babylonischen Sprachenwelt
gibt es noch Originale von 3000, aber die ältesten indogermanischen
Reste sind +Abschriften+, deren Sprachzustand viel jünger ist als
ihr Inhalt.

Das alles hat die Schicksale von Grammatik und Wortschatz in ganz
verschiedener Weise bestimmt. Die erste haftet am Geist, der zweite an
Dingen und Orten. Einer natürlichen inneren Veränderung unterliegen
nur grammatische Systeme. Zu den psychologischen Voraussetzungen
des Wortgebrauchs gehört es dagegen, daß zwar die Aussprache sich
verändert, die innere mechanische Lautstruktur aber desto fester
gehalten wird, denn auf ihr beruht das Wesen der Benennung. +Die
großen Sprachfamilien sind lediglich grammatische Familien.+ Die
Worte sind in ihnen gewissermaßen heimatlos und wandern von einer
zur anderen. Es ist ein Grundfehler der Sprachforschung, voran der
indogermanischen, Grammatik und Wortschatz als Einheit zu behandeln.
Alle Fachsprachen, die Jäger-, Soldaten-, Sport-, Seemanns-,
Gelehrtensprache, sind in Wirklichkeit +nur Wortbestände+,
die innerhalb eines jeden grammatischen Systems gebraucht werden
können. Der halbantike Wortschatz der Chemie, der französische der
Diplomatie, der englische des Rennplatzes hat sich in allen modernen
Sprachen gleichmäßig eingebürgert. Redet man hier von Fremdworten,
so gehören die „Wurzeln“ aller alten Sprachen zum weitaus größten
Teil dazu. Alle Namen haften an den Sachen, die sie bezeichnen, und
teilen deren Geschichte. Im Griechischen sind die Metallnamen fremder
Herkunft, Worte wie ταῦρος, χιτών, οἲκος sind semitisch. In den
hethitischen Texten von Boghazköi[103] kommen indische Zahlworte vor
und zwar in Fachausdrücken, die mit der Zucht des Pferdes dorthin
gelangt sind. Lateinische Verwaltungsausdrücke sind in Menge in
den griechischen Osten,[104] deutsche seit Peter dem Großen in das
Russische gedrungen, arabische Worte in die Mathematik, Chemie und
Astronomie des Abendlandes. Die Normannen, selbst Germanen, haben das
Englische mit französischen Worten überschwemmt. Im Bankwesen der
germanischen Sprachgebiete wimmelt es von italienischen Ausdrücken
und in noch viel höherem Grade müssen in primitiver Zeit mit dem
Getreidebau, der Viehzucht, den Metallen, den Waffen und überhaupt mit
jedem Handwerk, dem Tauschverkehr und allen rechtlichen Beziehungen der
Stämme untereinander Massen von Bezeichnungen von einer Sprache zur
anderen gewandert sein, ganz wie auch der Bestand an geographischen
Namen immer in den Besitz der gerade herrschenden Sprache übergeht, so
daß ein großer Teil der griechischen Ortsnamen karisch, der deutschen
keltisch ist. Man darf ohne Übertreibung behaupten: je allgemeiner
ein indogermanisches Wort verbreitet ist, desto +jünger+ ist es,
desto wahrscheinlicher ist es Fremdwort. Gerade die altertümlichsten
Namen sind streng bewahrter Eigenbesitz. Latein und Griechisch haben
nur ganz junge Worte gemeinsam. Oder gehören Telephon, Gas, Automobil
zum Wortbestand des „Urvolkes“? Angenommen einmal, daß von den arischen
„Urworten“ drei viertel aus dem Ägyptischen oder Babylonischen des 3.
Jahrtausends stammten, so würden wir im Sanskrit nach einem Jahrtausend
schriftloser Entwicklung nichts mehr davon bemerken, denn auch die
zahllosen lateinischen Lehnworte im Deutschen sind längst völlig
unkenntlich geworden. Die Endung -ette in Henriette ist etruskisch --
wie viele „echt arische“ oder „echt semitische“ Endungen mögen sonst
noch fremd und als Fremdlinge nur nicht mehr nachweisbar sein? Wie
erklärt sich die auffallende Ähnlichkeit vieler Worte in australischen
und indogermanischen Sprachen?

Das indogermanische System ist sicherlich das jüngste und deshalb
das geistigste. Die von ihm abgeleiteten Sprachen beherrschen heute
die Erde, aber ist es um 2000 als grammatische Sonderkonstruktion
überhaupt schon vorhanden gewesen? Bekanntlich wird heute eine
einzige Ausgangsform für das Arische, Semitische und Hamitische als
wahrscheinlich angenommen. Die ältesten indischen Schriftreste
fixieren den Sprachzustand vielleicht von 1200, die ältesten
griechischen vielleicht von 700. Aber indische Personen- und
Götternamen kommen zugleich mit dem Pferde schon viel früher in Syrien
und Palästina vor[105] und zwar erscheinen ihre Träger wohl zunächst
als Söldner, dann als Machthaber.[106] Man erinnere sich, wie die
spanischen Feuerwaffen einst auf die Mexikaner gewirkt haben. Sollten
diese Landwikinger, diese ersten Reiter -- mit dem Pferd verwachsene
Menschen, deren schreckenerregenden Eindruck noch die Kentaurensage
spiegelt -- sich um 1600 überall abenteuernd in den nordischen Ebenen
festgesetzt und die Sprache und Götterwelt der indischen Ritterzeit
mitgebracht haben? Zugleich mit dem arischen Standesideal der Rasse
und Lebensführung? Nach dem, was oben über Rasse gesagt worden ist,
würde das ohne alle „Wanderungen“ eines „Urvolkes“ das Rasseideal
arisch sprechender Gebiete erklären. Die ritterlichen Kreuzfahrer haben
ihre Staaten im Morgenlande nicht anders begründet und zwar an genau
derselben Stelle wie 2500 Jahre früher die Helden mit den Mitanni-Namen.

Oder war dies System um 3000 nur ein bedeutungsloser Dialekt einer
Sprache, die verloren ist? Die romanische Sprachfamilie beherrschte
um 1600 n. Chr. alle Meere. Um 400 v. Chr. besaß die „Ursprache“
am Tiber ein Gebiet von 50 Quadratmeilen. Es ist sicher, daß das
geographische Bild der grammatischen Familien um 4000 noch ein sehr
buntes war. Die semitisch-hamitisch-arische Gruppe -- +wenn+ sie
einmal eine Einheit gewesen ist -- hatte damals wohl kaum sehr große
Bedeutung. Wir stoßen bei Schritt und Tritt auf die Trümmer alter
Sprachfamilien, die sicherlich einst zu sehr verbreiteten Systemen
gehörten: das Etruskische, Baskische, Sumerische, Ligurische, die
alten kleinasiatischen Sprachen sind darunter. Im Archiv von Boghazköi
sind bis jetzt acht neue Sprachen festgestellt worden, die um 1000 im
Gebrauch gewesen sind. Bei dem damaligen Tempo der Veränderung kann das
Arische um 2000 eine Einheit mit Sprachen gebildet haben, von denen wir
es heute nicht erraten würden.


13

Die Schrift ist eine ganz neue Sprachart und bedeutet eine völlige
Abänderung der menschlichen Wachseinsbeziehungen, indem sie sie +vom
Zwange der Gegenwart befreit+. Bildersprachen, die Gegenstände
bezeichnen, sind viel älter, älter wahrscheinlich als alle Worte; hier
aber bezeichnet das Bild nicht mehr unmittelbar ein Sehding, sondern
zunächst ein Wort, etwas vom Empfinden bereits Abgezogenes. Es ist das
erste und einzige Beispiel einer Sprache, welche ein ausgebildetes
Denken als vorhanden fordert und nicht mit sich bringt.

Die Schrift setzt also eine vollentwickelte Grammatik voraus, denn die
Tätigkeit des Schreibens und Lesens ist unendlich viel abstrakter als
die des Sprechens und Hörens. Lesen heißt ein Schriftbild +mit dem
Bedeutungsgefühl für die zugehörigen Wortklänge verfolgen+. Die
Schrift enthält Zeichen nicht für Dinge, sondern für andere Zeichen.
Der grammatische Sinn muß durch augenblickliches Verstehen ergänzt
werden.

Das Wort gehört zum Menschen überhaupt; die Schrift gehört
ausschließlich zum Kulturmenschen. Sie ist im Gegensatz zur Wortsprache
von den politischen und religiösen Schicksalen der Weltgeschichte nicht
nur teilweise, sondern ganz und gar bedingt. Alle Schriften entstehen
in +einzelnen+ Kulturen und zählen zu deren tiefsten Symbolen.
Aber es fehlt noch durchaus an einer umfassenden Schriftgeschichte,
und zu einer Psychologie der Formen und Formverwandlungen ist nicht
einmal der Versuch gemacht worden. +Die Schrift ist das große
Symbol der Ferne+, also nicht nur der Weite, sondern auch und vor
allem der Dauer, der Zukunft, des Willens zur Ewigkeit. Sprechen und
Hören erfolgt nur in Nähe und Gegenwart; durch die Schrift redet
man aber zu Menschen, die man nie gesehen hat oder die noch nicht
geboren sind, und die Stimme eines Menschen wird noch Jahrhunderte
nach seinem Tode gehört. Sie ist eins der ersten Kennzeichen
+historischer+ Begabung. Aber eben deshalb ist nichts für eine
Kultur bezeichnender als ihr innerliches Verhältnis zur Schrift. Wenn
wir vom Indogermanischen so wenig wissen, so liegt das daran, daß
die beiden frühesten Kulturen, deren Menschen sich dieses Systems
bedienten, die indische und die antike, infolge ihrer ahistorischen
Veranlagung nicht nur keine eigene Schrift geschaffen, sondern selbst
die fremden bis in die Spätzeit hinein abgelehnt haben. In der
Tat ist die ganze Kunst der antiken Prosa unmittelbar für das Ohr
geschaffen. Man las vor, als ob man redete; wir reden im Vergleich
dazu alle „wie ein Buch“ und sind deshalb, wegen des ewigen Schwankens
zwischen Schriftbild und Wortklang, nie zu einem in attischem Sinne
ausgebildeten Prosastil gelangt. Dagegen hat in der arabischen Kultur
jede Religion ihre eigene Schrift entwickelt und auch bei einem Wechsel
der Sprache behalten: die Dauer der heiligen Bücher und Lehren und
die Schrift als Sinnbild der Dauer gehören zusammen. Die ältesten
Zeugnisse der Buchstabenschrift liegen in südarabischen, zweifellos
nach Sekten getrennten minäischen und sabäischen Schriftarten vor, die
vielleicht bis ins 10. Jahrhundert v. Chr. hinaufreichen. Die Juden,
Mandäer und Manichäer in Babylonien sprachen Ostaramäisch, hatten aber
sämtlich eigene Schriften. Seit der Abbassidenzeit wird das Arabische
herrschend, aber Christen und Juden schreiben es weiterhin mit eigener
Schrift. Der Islam hat die arabische Schrift überall unter seinen
Anhängern verbreitet, mochten sie semitische, mongolische, arische oder
Negersprachen reden.[107] Mit der Gewohnheit des Schreibens entsteht
überall der unvermeidliche Unterschied zwischen Schriftsprache und
Umgangssprache. Die Schriftsprache bringt die Symbolik der Dauer
auf den eigenen grammatischen Zustand in Anwendung, der nur langsam
und widerwillig den Wandlungen der Umgangssprache nachgibt, die
mithin stets einen jüngeren Zustand darstellt. Es gibt nicht eine
hellenische κοινή, sondern zwei,[108] und der ungeheure Abstand des
geschriebenen vom lebendigen Latein in der Kaiserzeit wird durch den
Bau der frühromanischen Sprachen hinreichend bezeugt. Je älter eine
Zivilisation, desto schroffer ist der Unterschied bis zu jenem Abstand,
der heute zwischen dem Schriftchinesischen und dem Kuanchua, der
Sprache der nordchinesischen Gebildeten, besteht. Das sind nicht mehr
zwei Dialekte, sondern zwei einander ganz fremde Sprachen.

Darin kommt aber bereits die Tatsache zum Ausdruck, daß die Schrift im
höchsten Grade Standessache und zwar uraltes Vorrecht des Priestertums
ist. Das Bauerntum ist geschichtslos +und also schriftlos+. Es
besteht aber auch eine ausgesprochene Abneigung der Rasse gegen die
Schrift. Dies scheint mir von höchster Bedeutung für die Graphologie
zu sein: Je mehr Rasse der Schreiber hat, desto souveräner behandelt
er den ornamentalen Bau der Schriftzeichen und ersetzt ihn durch ganz
persönliche Liniengebilde. Der Tabumensch allein hat beim Schreiben
eine gewisse Achtung vor den Eigenformen der Zeichen und sucht sie
unwillkürlich immer wieder hervorzubringen. Es ist der Unterschied des
tätigen Menschen, der Geschichte macht, und des Gelehrten, der sie
nur aufzeichnet, sie „verewigt“. Die Schrift ist in allen Kulturen im
Besitz des Priestertums, dem Dichter und Gelehrte zuzurechnen sind.
Der Adel verachtet das Schreiben. Er läßt schreiben. Diese Tätigkeit
hatte von jeher etwas Geistiges und Geistliches. Zeitlose Wahrheiten
werden es ganz nicht durch die Rede, sondern erst durch die Schrift.
Es ist wieder der Gegensatz von Burg und Dom: Was soll hier dauern --
die Tat oder die Wahrheit? Die Urkunde bewahrt Tatsachen, die heilige
Schrift Wahrheiten. Was dort die Chronik und das Archiv, ist hier das
Lehrbuch und die Bibliothek. Und deshalb gibt es außer dem Kultbau noch
etwas, das nicht mit Ornamenten verziert wird, sondern +Ornament
ist+[109] -- +das Buch+. Die Kunstgeschichte aller Frühzeiten
sollte die Schrift, und zwar die kursive eher noch als die monumentale,
an die Spitze stellen. Was gotischer und was magischer Stil ist,
erkennt man hier am reinsten. Kein Ornament hat die Innerlichkeit einer
Buchstabenform oder Schriftseite. Die Arabeske erscheint nirgends
vollendeter als in den Koransprüchen an den Wänden einer Moschee. Und
dann die große Kunst der Initialen, die Architektur des Seitenbildes,
die Plastik der Einbände! Ein Koran in kufischer Schrift wirkt auf
jeder Seite wie ein Wandteppich. Ein gotisches Evangeliar ist wie
ein kleiner Dom. Es ist bezeichnend für die antike Kunst, daß sie
jeden Gegenstand ergreift und verschönert -- mit Ausnahme allein der
Schrift und der Schriftrolle. Ein Haß gegen die Dauer liegt darin, die
Verachtung gegen eine Technik, die trotz allem mehr als Technik ist.
Es gibt weder in Hellas noch in Indien eine Kunst der monumentalen
Inschrift wie in Ägypten, und daran, daß ein Blatt mit der Handschrift
Platos eine Reliquie war, daß man etwa auf der Akropolis ein kostbares
Exemplar der Dramen des Sophokles hätte aufbewahren können, scheint
niemand gedacht zu haben.

Indem sich über das Land die Stadt erhebt, zu Adel und Priesterschaft
das Bürgertum tritt und der städtische Geist die Herrschaft in Anspruch
nimmt, wird die Schrift aus einer Verkünderin adligen Ruhmes und ewiger
Wahrheiten zu einem Mittel des geschäftlichen und wissenschaftlichen
Verkehrs. Jenes hatte die indische und antike Kultur abgelehnt,
dies ließ sie aus der Fremde zu; als verächtliches, alltägliches
Werkzeug dringt langsam die Buchstabenschrift ein. Gleichzeitig und
gleichbedeutend mit diesem Ereignis ist in China die Einführung der
phonetischen Zeichen um 800 und vor allem im Abendlande die Erfindung
des Buchdrucks im 15. Jahrhundert: das Symbol der Dauer und Ferne
wird durch die große Zahl bis zum äußersten verstärkt. Endlich haben
die Zivilisationen den letzten Schritt getan, um die Schrift in eine
zweckmäßige Form zu bringen. Wie erwähnt, war die Erfindung der
Buchstabenschrift in der ägyptischen Zivilisation um 2000 eine rein
technische Neuerung; im gleichen Sinne hat Li Si, der Kanzler des
chinesischen Augustus, 227 die chinesische Einheitsschrift eingeführt
und endlich ist unter uns, was wenige in seiner wirklichen Bedeutung
erkannt haben, eine neue Schriftart entstanden. Daß die ägyptische
Buchstabenschrift keineswegs etwas Letztes und Vollendetes ist, beweist
die der Erfindung des Alphabets ebenbürtige der Stenographie, die nicht
nur Kurzschrift, sondern +die Überwindung der Buchstabenschrift durch
ein neues, äußerst abstraktes Mitteilungsprinzip+ ist. Es ist wohl
möglich, daß Schriftformen dieser Art in den nächsten Jahrhunderten die
Buchstaben völlig verdrängen.


14

Darf heute schon der Versuch gewagt werden, eine Morphologie der
Kultursprachen zu schreiben? Gewiß ist, daß die Wissenschaft diese
Aufgabe bisher nicht einmal entdeckt hat. Kultursprachen sind Sprachen
des +historischen+ Menschen. Ihr Schicksal vollzieht sich nicht
in biologischen Zeiträumen; es folgt der organischen Entwicklung
streng bemessener Lebensläufe. +Kultursprachen sind historische
Sprachen.+ Das bedeutet einmal: es gibt kein geschichtliches
Ereignis und keine politische Institution, die nicht auch durch den
Geist der dabei verwendeten Sprache mitbestimmt worden wären und die
nicht ihrerseits auf Geist und Form dieser Sprache eingewirkt hätten.
Der lateinische Satzbau ist auch eine Folge römischer Schlachten,
welche das gesamte Denken des Volkes für die Verwaltung des Eroberten
in Anspruch nahmen; die deutsche Prosa trägt in ihrem Mangel an
festen Normen noch heute die Spur des 30jährigen Krieges, und die
frühchristliche Dogmatik hätte eine andere Gestalt gewonnen, wenn die
ältesten Schriften nicht sämtlich griechisch, sondern wie die der
Mandäer syrisch abgefaßt worden wären. Das bedeutet aber weiterhin:
die Weltgeschichte ist von dem Vorhandensein +der Schrift als des
eigentlich historischen Mittels der Verständigung+ in einem Grade
beherrscht, dessen sich die Forschung noch kaum bewußt ist. Der Staat
im höheren Sinne hat den Schriftverkehr zur Voraussetzung; der Stil
aller Politik ist durch die jeweilige Bedeutung der Urkunde, des
Archivs, der Unterschrift, der Publizistik im politisch-geschichtlichen
Denken eines Volkes schlechthin bestimmt; der Kampf um das Recht ist
ein Kampf für oder gegen ein geschriebenes Recht; Verfassungen ersetzen
die materielle Gewalt durch die Fassung von Paragraphen und erheben
das Schriftstück zu einer Waffe. Sprache und Gegenwart, Schrift und
Dauer gehören zusammen, aber mündliche Verständigung und praktische
Erfahrung, Schrift und theoretisches Denken tun es nicht weniger. Man
kann den größten Teil der innerpolitischen Geschichte aller Spätzeiten
auf diesen Gegensatz zurückführen. Die ewig wechselnden Tatsachen
widerstreben der Schrift, +die Wahrheiten fordern sie+ -- das ist
der welthistorische Gegensatz zweier Parteien, die in irgend einer
Form in den großen Krisen aller Kulturen vorhanden sind. Die eine lebt
in der Wirklichkeit, die andere hält ihr eine Schrift entgegen; alle
großen Revolutionen setzen eine Literatur voraus.

Die Gruppe der abendländischen Kultursprachen tritt im zehnten
Jahrhundert in Erscheinung. Die vorhandenen Sprachkörper, nämlich
die germanischen und romanischen Mundarten, das klösterliche Latein
einbegriffen, werden aus einheitlichem Geiste zu Schriftsprachen
ausgebildet. Es +muß+ in der Entwicklung des Deutschen,
Englischen, Italienischen, Französischen, Spanischen von 900 bis
1900 einen gemeinsamen Zug geben und ebenso in der Geschichte der
hellenischen und italischen Sprachen einschließlich des Etruskischen
von 1100 an bis zur Kaiserzeit. Aber was ist hier, unabhängig vom
Verbreitungsgebiet der Sprachfamilien und der Rassen, allein durch
die +landschaftlichen Grenzen der Kultur+ zusammengefaßt? Welche
Veränderungen haben das Hellenistische und das Latein seit 300
gemeinsam, und zwar in der Aussprache, im Wortgebrauch, metrisch,
grammatisch, stilistisch, welche das Deutsche und Italienische seit
1000, das Italienische und Rumänische aber nicht? Dergleichen ist noch
nie planmäßig untersucht worden.

Jede Kultur findet bei ihrem Erwachen +Bauernsprachen+ vor,
Sprachen des stadtlosen Landes, die „ewig“, an den Ereignissen der
großen Geschichte kaum beteiligt, als schriftlose Dialekte noch durch
Spätzeit und Zivilisation gehen und langsame unbemerkte Verwandlungen
erleiden. Darüber erhebt sich nun die Sprache der beiden Urstände als
die erste Erscheinung einer Wachseinsbeziehung, die Kultur +hat+,
Kultur +ist+. Hier, im Kreise von Adel und Priestertum, werden
Sprachen zu Kultursprachen und zwar gehört +das Sprechen zur
Burg, die Sprache zum Dom+: so scheidet sich an der Schwelle
der Entwicklung das Pflanzenhafte vom Tierhaften, das Schicksal
der lebendigen von dem der toten, das der organischen von dem der
mechanischen Seite der Verständigung. Denn die Totemseite bejaht,
die Tabuseite verneint das Blut und die Zeit. Da finden sich überall
schon ganz früh die starren Kultsprachen, deren Heiligkeit durch
ihre Unveränderlichkeit verbürgt ist, zeitlose, längst abgestorbene
oder dem Leben entfremdete und künstlich gelähmte Systeme mit
einem streng festgehaltenen Wortschatz, wie er zur Fassung ewiger
Wahrheiten Bedingung ist. So ist das Altvedische als religiöse und
daneben das Sanskrit als Gelehrtensprache erstarrt. Das Ägyptische
des Alten Reiches wurde dauernd als Priestersprache festgehalten, so
daß die heiligen Formeln im Neuen Reiche ebensowenig mehr verstanden
worden sind wie das _Carmen Saliare_ und das Arvalbrüderlied
zur Zeit des Augustus.[110] In der Vorzeit der arabischen Kultur
sind das Babylonische, Hebräische und Awestische gleichzeitig als
Umgangssprachen abgestorben -- wahrscheinlich während des zweiten
Jahrhunderts v. Chr. -- aber eben deshalb wurden sie in den heiligen
Schriften der Chaldäer, Juden und Perser dem Aramäischen und dem
Pehlewi entgegengestellt. Dieselbe Bedeutung hatte das gotische Latein
für die Kirche, das Humanistenlatein für die Gelehrsamkeit des Barock,
das Kirchenslawisch in Rußland und wohl auch das Sumerische in Babylon.

Im Gegensatz dazu ist die Pflege des Sprechens an den frühen Höfen
und Pfalzen zu Hause. Hier sind die +lebendigen+ Kultursprachen
ausgebildet worden. Sprechen ist Sprachsitte, Sprachzucht, der gute
Ton in Lautbildung und Wendungen, der feine Takt in Wortwahl und
Ausdrucksweise. Alles das ist Merkmal der +Rasse+; das lernt man
nicht in Klosterzelle und Gelehrtenstube, sondern im vornehmen Umgang
und am lebendigen Vorbild. Im adligen Kreise und als Standesmerkmal ist
die Sprache Homers[111] und ebenso das Altfranzösische der Kreuzzüge
und das Mittelhochdeutsche der Stauferzeit aus ländlichen Gewohnheiten
emporgebildet worden. Bezeichnet man die großen Epiker, die Skalden und
Troubadours als ihre Schöpfer, so sollte man nicht vergessen, daß sie
für diese Aufgabe durch den Standeskreis, in dem sie sich bewegten,
+auch sprachlich+ erst geschult worden sind. Diese große Tat, mit
welcher die Kultur mündig wird, ist die Leistung einer Rasse und nicht
die einer Zunft.

Die geistliche Sprachkultur geht auf Begriffe und Schlüsse aus.
Sie arbeitet daran, die dialektische Tauglichkeit der Worte und
Satzformen bis aufs Äußerste zu steigern: so entsteht ein immer
wachsender Unterschied zwischen dem scholastischen und höfischen,
verstandesmäßigen und gesellschaftlichen Sprachgebrauch, und es gibt
über alle Grenzen der Sprachfamilien hinaus etwas Gemeinsames in der
Ausdrucksweise Plotins und des Thomas von Aquino, in Veda und Mischna.
Hier liegt der Ausgangspunkt jeder reifen Gelehrtensprache, die im
Abendland, ob deutsch, englisch oder französisch, noch heute nicht die
letzten Spuren ihrer Herkunft aus dem scholastischen Latein abgestreift
hat, und also auch der Ursprung aller Methodik der Fachausdrücke und
der Satzformen des Schlusses. Bis tief in die Spätzeit hinein pflanzt
sich dieser Gegensatz zwischen den Verständigungsweisen der großen
Welt und der Wissenschaft fort. Der Schwerpunkt der französischen
Sprachgeschichte liegt mit Entschiedenheit auf seiten der Rasse, also
des Sprechens, am Hofe zu Versailles und in den Pariser Salons. Hier
ist der _esprit précieux_ der Arthurromane fortgepflanzt und zu
der das ganze Abendland beherrschenden Konversation, der klassischen
Kunst des Sprechens, erhoben worden. Es hat der griechischen
Philosophie die größten Schwierigkeiten bereitet, daß auch das
Jonisch-Attische durchaus an Tyrannenhöfen und in Symposien ausgebildet
worden ist. Es war später fast unmöglich, in der Sprache des Alkibiades
über Syllogistik zu reden. Andererseits schwankt die deutsche Prosa,
die in der entscheidenden Zeit des Barock überhaupt keinen Mittelpunkt
für eine hohe Ausbildung fand, stilistisch noch heute zwischen
französischen und lateinischen -- höfischen und gelehrten -- Wendungen
hin und her, je nachdem man sich gut oder genau ausdrücken will,
und auch unsere Klassiker haben es dank ihrer sprachlichen Herkunft
von Kanzel und Gelehrtenstube und ihrem Aufenthalt als Erzieher in
Schlössern und an kleinen Höfen wohl zu einem persönlichen Stil,
den man nachahmen kann, aber nicht zur Schöpfung einer für alle
verbindlichen, spezifisch deutschen Prosa gebracht.

Zu diesen Standessprachen tritt mit der Stadt die dritte und letzte,
die des Bürgertums, die eigentliche Schriftsprache, verständig,
zweckmäßig, Prosa im strengsten Sinne des Wortes. Sie schwankt leise
zwischen vornehm geselligen und gelehrten Ausdrucksweisen, dort auf
immer neue Wendungen und Modeworte bedacht, hier an den vorhandenen
Begriffen eigensinnig festhaltend. In ihrem Wesenskern aber ist
sie +wirtschaftlicher+ Natur. Sie fühlt sich durchaus als
Standeskennzeichen gegenüber der geschichtslos-ewigen Redeweise des
„Volkes“, deren sich Luther und andere zum großen Ärger ihrer feinen
Zeitgenossen bedienten. Mit dem endgültigen Siege der Stadt nehmen
diese Stadtsprachen auch die der vornehmen Welt und der Wissenschaft in
sich auf. Es entsteht in der Oberschicht weltstädtischer Bevölkerungen
eine gleichförmige, intelligente, praktische, den Dialekten und der
Poesie abgeneigte κοινή, wie sie zur Symbolik jeder Zivilisation
gehört, etwas ganz Mechanisches, präzis, kalt und mit einer auf ein
Minimum beschränkten Geste. Diese letzten, heimat- und wurzellosen
Sprachen können von jedem Händler und Lastträger gelernt werden, das
Hellenische in Karthago und am Oxus, das Chinesische in Java, das
Englische in Schanghai, und das „Sprechen“ ist für ihr Verständnis
bedeutungslos. Fragt man nach ihrem eigentlichen Schöpfer, so ist es
nicht der Geist einer Rasse oder einer Religion, sondern lediglich der
Geist der Wirtschaft.


    [83] Es versteht sich, daß totemistische Tatsachen, insofern sie
    vom Wachsein bemerkt werden, auch eine Tabubedeutung erhalten, wie
    vieles im Geschlechtsleben, das den Menschen mit einer tiefen Angst
    erfüllt, weil es seinem Verstehenwollen entzogen bleibt.

    [84] W. v. Humboldt („Über die Verschiedenheit des menschlichen
    Sprachbaues“) war der erste, welcher betonte, daß eine Sprache kein
    Ding, sondern eine Tätigkeit ist. „Will man den Ausdruck scharf
    nehmen, so läßt sich wohl sagen: +es gibt keine Sprache+, so wenig
    wie es +Geist gibt+; aber der Mensch spricht, und der Mensch wirkt
    geistig.“

    [85] Vgl. oben S. 33.

    [86] Gesch. d. Deutsch. Kunst, 1919, S. 14 f.

    [87] W. Altmann, Die ital. Rundbauten, 1906.

    [88] Bulle, Orchomenos S. 26 ff.; Noack, Ovalhaus und Palast
    in Kreta S. 53 ff. Die in späterer Zeit noch feststellbaren
    Hausgrundrisse des ägäisch-kleinasiatischen Gebietes gestatten
    vielleicht, in den Bevölkerungsstand der vorantiken Zeit Ordnung zu
    bringen. Die Sprachreste können es nicht.

    [89] Mediaeval Rhodesia, London 1906.

    [90] Vgl. Kap. IV A.

    [91] Hierzu sollte einmal jemand physiognomische Studien an
    den massenhaften ganz bäuerlichen Römerbüsten, den Bildnissen
    der frühgotischen Zeit und der schon ausgesprochen städtischen
    Renaissance und noch mehr an den vornehmen englischen Porträts seit
    dem Ausgang des 18. Jahrhunderts machen. Die großen Ahnengalerien
    enthalten ein unübersehbares Material.

    [92] J. Ranke, Der Mensch, 1912, II, S. 205.

    [93] Die Kunst ist unter Tieren vollkommen ausgebildet. Soweit
    sie dem Menschen durch Analogie zugänglich ist, besteht sie in
    rhythmischer Bewegung („Tanz“) und Lautbildung („Gesang“). Damit
    ist aber der künstlerische Eindruck auf die Tiere selbst bei weitem
    nicht erschöpft.

    [94] Luk. 10, 4 sagt Jesus zu den Siebzig, die er aussendet: „Und
    grüßet niemand auf der Straße.“ Das Zeremoniell des Grüßens im
    Freien ist so umfangreich, daß Eilige darauf verzichten müssen. A.
    Bertholet, Kulturgeschichte Israels, 1919, S. 162.

    [95] „Jede Form, auch die gefühlteste, hat etwas Unwahres“
    (Goethe). In der systematischen Philosophie deckt sich die Absicht
    des Denkers weder mit den geschriebenen Worten noch mit dem
    Verstehen der Leser noch, da es ein Denken in Wortbedeutungen ist,
    im Verlauf der Darstellung mit sich selbst.

    [96] Der die Sprache aus Poesie, Tanz und besonders der
    Liebeswerbung ableitet. Progress in language, 1894, S. 357.

    [97] Satzartige Lautkomplexe kennt auch der Hund. Wenn der
    australische Dingo mit dem Rückschritt vom Haustier zum Raubtier
    auch wieder vom Bellen zum Wolfsgeheul übergegangen ist, so
    darf man das wohl als einen Übergang zu sehr viel einfacheren
    Lautzeichen deuten, aber mit „Worten“ hat es nichts zu tun.

    [98] Die heutigen Gebärdensprachen (Delbrück, Grundfragen d.
    Sprachforsch. S. 49 ff. mit dem Hinweis auf das Werk von Jorio über
    die Gesten der Neapolitaner) setzen sämtlich die Wortsprache voraus
    und sind von deren gedanklicher Systematik vollkommen abhängig,
    so z. B. die, welche die nordamerikanischen Indianer ausgebildet
    haben, um sich bei der großen Verschiedenheit und Veränderlichkeit
    der einzelnen Wortsprachen von Stamm zu Stamm verständigen zu
    können (Wundt, Völkerpsychologie I, S. 212. Mit dieser Sprache
    ist es möglich, folgenden komplizierten Satz auszudrücken:
    „Weiße Soldaten, die von einem Offizier von hohem Range, aber
    geringer Intelligenz geführt wurden, nahmen die Mescalero-Indianer
    gefangen“), oder die Mimik der Schauspieler.

    [99] Die Haupttypen des Sprachbaus, 1910.

    [100] Ganz wahr ist allein die Technik, weil die Worte hier nur den
    Schlüssel zur Wirklichkeit bilden und die Sätze so lange abgeändert
    werden, bis sie nicht etwa „wahr“, sondern wirksam sind. Eine
    Hypothese erhebt nicht den Anspruch auf Richtigkeit, sondern auf
    Brauchbarkeit.

    [101] Vgl. S. 33 f.

    [102] Vgl. S. 33 f.

    [103] Paul Jensen, Sitz. Preuß. Akad., 1919, 367 ff.

    [104] L. Hahn, Rom und Romanismus im griech.-röm. Osten, 1906.

    [105] Ed. Meyer, Gesch. d. Alt.² I, § 455, 465.

    [106] S. d. nächsten Abschnitt.

    [107] Lidzbarski, Sitz. Berl. Akad., 1916, S. 1218. Reiches
    Material bei M. Mieses, Die Gesetze der Schriftgeschichte, 1919.

    [108] P. Kretschmer in Gercke-Norden, Einl. i. d.
    Altertumswissenschaft I, S. 551.

    [109] Vgl. S. 145.

    [110] Deshalb glaube ich auch, daß das Etruskische in den römischen
    Priesterkollegien noch sehr spät eine bedeutende Rolle gespielt hat.

    [111] Man muß sich gerade deshalb klar machen, daß die erst in der
    Kolonialzeit schriftlich fixierten Gesänge nur in einer städtischen
    Literatur- und nicht in der höfischen Umgangsprache vorliegen
    können, in welcher sie zuerst vorgetragen worden sind.




URVÖLKER, KULTURVÖLKER, FELLACHENVÖLKER


15

Nun endlich ist es möglich, mit äußerster Vorsicht dem Begriffe „Volk“
näher zu treten und Ordnung in das Chaos von Völkerformen zu bringen,
das die Geschichtsforschung der Gegenwart nur noch gesteigert hat. Es
gibt kein zweites Wort, das so oft und zugleich so völlig kritiklos
gebraucht worden ist, keines, das der schärfsten Kritik so dringend
bedurft hätte. Selbst sehr vorsichtige Historiker setzen, nachdem
sie sich um eine theoretische Klärung bis zu einem gewissen Grade
bemüht haben, im Verlauf der weiteren Untersuchung Völker, Rasseteile
und Sprachgemeinschaften wieder völlig gleich. Finden sie einen
Völkernamen, so gilt er ohne weiteres auch als Sprachbezeichnung,
entdecken sie eine Inschrift von drei Worten, so haben sie einen
Rassezusammenhang festgestellt. Stimmen einige „Wurzeln“ überein, so
taucht ein Urvolk mit einer Urheimat in der Ferne auf. Das moderne
Nationalgefühl hat dies „Denken in Volkseinheiten“ nur noch gesteigert.

Aber sind die Hellenen, die Dorer oder die Spartaner ein Volk? Die
Kelten, Gallier oder Senonen? Waren die Römer ein Volk, was waren
dann die Latiner? Und was für eine Einheit ist mit dem Etruskernamen
innerhalb der Bevölkerung Italiens etwa um 400 gemeint? Hat man nicht
gar ihre „Nationalität“ vom Bau ihrer Sprache abhängig gemacht und
ebenso die der Basken und Thraker? Und was für Volksbegriffe liegen den
Worten Amerikaner, Schweizer, Juden, Buren zugrunde? Blut, Sprache,
Glaube, Staat, Landschaft -- was von alledem ist für die Völkerbildung
maßgebend? Im allgemeinen werden Sprach- und Blutsverwandtschaft nur
auf gelehrtem Wege festgestellt. Der Einzelne ist sich ihrer durchaus
nicht bewußt. Indogermane ist nichts weiter als ein wissenschaftlicher
und zwar philologischer Begriff. Der Versuch Alexanders des Großen,
Griechen und Perser zu verschmelzen, ist völlig gescheitert und die
Stärke des englisch-deutschen Gemeingefühls erleben wir gerade jetzt.
Volk ist aber ein Zusammenhang, dessen man sich +bewußt+ ist.
Man beachte doch den üblichen Sprachgebrauch. Jeder Mensch bezeichnet
die Gemeinschaft, die ihm innerlich am nächsten steht -- und er
gehört vielen an -- mit Pathos als sein „Volk“.[112] Er ist dann
geneigt, diesen ganz besonderen Begriff, der aus einem persönlichen
Erlebnis stammt, auf die verschiedenartigsten Verbände anzuwenden.
Für Cäsar waren die Arverner eine _civitas_, für uns sind die
Chinesen eine „Nation“. Deshalb waren nicht die Griechen, sondern
die Athener ein Volk, und nur einzelne von ihnen wie Isokrates haben
sich +vor allem+ als Hellenen gefühlt. Deshalb kann von zwei
Brüdern der eine sich einen Schweizer und der andere mit dem gleichen
Recht einen Deutschen nennen. Das sind nicht gelehrte Begriffe,
sondern geschichtliche Tatsachen. Volk ist ein Verband von Männern,
der sich als Ganzes fühlt. Erlischt das Gefühl, so kann der Name und
jede einzelne Familie fortbestehen -- das Volk aber hat zu bestehen
aufgehört. Die Spartiaten fühlten sich in +diesem+ Sinne als Volk,
die „Dorer“ vielleicht um 1100, um 400 sicherlich +nicht+. Die
Kreuzfahrer wurden durch den Schwur von Clermont zu einem echten Volke,
die Mormonen durch ihre Vertreibung aus Missouri (1839),[113] die
Mamertiner, entlassene Söldner des Agathokles, durch die Notwendigkeit,
sich einen Zufluchtsort zu erkämpfen. Ist das volksbildende Prinzip
bei den Jakobinern und den Hyksos sehr verschieden gewesen? Wie viele
Völker mögen aus einem Häuptlingsgefolge entstanden sein oder aus einer
Schar von Flüchtlingen? Ein solcher Verband kann die Rasse wechseln
wie die Osmanen, die als Mongolen in Kleinasien erschienen sind, die
Sprache wie die sizilischen Normannen, den Namen wie die Achäer oder
Danaer. Solange das Gemeingefühl dauert, ist das Volk als solches
vorhanden.

Von dem Schicksal der Völker haben wir das der Völker+namen+
zu unterscheiden. Sie sind oft das einzige, wovon eine Kunde übrig
bleibt; aber kann man von einem Namen irgendwie auf die Geschichte,
die Abstammung, die Sprache oder auch nur die Identität seiner
Träger schließen? Es ist wieder ein Fehler der Forscher, daß sie
das Verhältnis zwischen beiden nicht theoretisch, aber praktisch so
einfach aufgefaßt haben wie etwa bei heutigen Personennamen. Hat
man überhaupt eine Vorstellung von der Zahl der hier vorliegenden
Möglichkeiten? Unendlich wichtig ist schon der Akt der Namengebung
unter frühen Verbänden. Mit dem Namen hebt sich eine Menschengruppe
selbstbewußt mit einer Art sakraler Größe heraus. Aber hier können
Kult- und Kriegernamen nebeneinander stehen, andere können im Lande
vorgefunden oder ererbt sein, der Stammname kann gegen den eines
Helden ausgetauscht werden wie bei den Osmanen und endlich können in
unbegrenzter Zahl an allen Grenzen Fremdnamen entstehen, die vielleicht
nur einem Teil der Volksgenossen bekannt und geläufig sind. Sind
+nur+ solche Namen überliefert, so führt beinahe jeder Schluß auf
die Träger notwendig zu einem Irrtum. Die zweifellos sakralen Namen
der Franken, Alemannen und Sachsen haben die große Menge von Namen
aus der Zeit der Varusschlacht abgelöst. Wüßten wir das nicht, so
wären wir längst überzeugt, daß hier eine Verdrängung oder Vernichtung
älterer Stämme durch neu eindringende stattgefunden hätte. Die
Namen Römer und Quiriten, Spartaner und Lakedämonier, Karthager und
Punier bestehen nebeneinander -- da war die Möglichkeit vorhanden,
zwei Völker anzunehmen. In welcher Beziehung die Namen Pelasger,
Achäer, Danaer untereinander gestanden haben und welche Tatsachen
dem zugrunde liegen, werden wir nie erfahren. Hätten wir nur diese
Worte, so würde die Forschung längst einem jeden ein Volk -- nebst
Sprache und Rassezugehörigkeit -- unterlegt haben. Hat man nicht aus
der Landschaftsbezeichnung Doris auf den Gang der dorischen Wanderung
schließen wollen? Wie oft mag ein Volk einen Ländernamen eingetauscht
und mitgenommen haben? Der Fall liegt bei der heutigen Bezeichnung
Preußen vor, aber auch bei den modernen Parsen, Juden und Türken, der
umgekehrte in Burgund und der Normandie. Der Name Hellenen entstand
um 650; eine Bevölkerungsbewegung ist damit also nicht verknüpft.
Lothringen erhielt den Namen eines gänzlich bedeutungslosen Fürsten
und zwar infolge einer Erbteilung und nicht durch ein eingewandertes
Volk. Die Deutschen hießen in Paris 1814 Allemands, 1870 Prussiens,
1914 Boches; zu anderen Zeiten hätte man drei verschiedene Völker
dahinter entdeckt. Die Westeuropäer heißen im Orient Franken, die Juden
Spaniolen -- das geht auf historische Umstände zurück; aber was hätte
ein Philologe aus den Worten +allein+ geschlossen?

Es ist nicht abzusehen, zu was für Ergebnissen Gelehrte im Jahre
3000 kommen könnten, wenn sie dann noch nach heutigen Methoden mit
Namen, Sprachresten und den Begriffen von Urheimat und Wanderung
arbeiten. Die Deutschritter haben im 13. Jahrhundert die heidnischen
Preußen vertrieben. 1870 erscheint dies Volk auf seiner Wanderung
plötzlich vor Paris. Die Römer, von den Goten bedrängt, sind vom
Tiber an die untere Donau ausgewandert. Oder sollte gar ein Teil
nach Polen gelangt sein, wo man auf dem Reichstag lateinisch sprach?
Karl der Große schlug die Sachsen an der Weser, die daraufhin in
die Gegend von Dresden auswanderten, während die Hannoveraner --
dem Dynastienamen nach von ihren Ursitzen an der Themse kommend --
das Land einnahmen. Die Historiker haben statt der Geschichte von
Völkern die von Namen geschrieben, aber Namen haben ihre eigenen
Schicksale und ebensowenig wie diese beweisen die Sprachen, ihre
Wanderungen, Änderungen, Siege und Niederlagen etwas auch nur für das
Vorhandensein zugehöriger Völker. Dies ist ein Grundirrtum vor allem
der indogermanischen Forschung. Wenn in historischer Zeit die Namen
Pfalz und Kalabrien gewandert sind, das Hebräische von Palästina nach
Warschau, das Persische vom Tigris nach Indien verschlagen wurde, was
läßt sich dann aus der Geschichte des Etruskernamens und der angeblich
„tyrsenischen“ Inschrift von Lemnos schließen? Oder haben die Franzosen
mit den Haitinegern, wie die gemeinsame Sprache beweist, einst ein
Urvolk gebildet? In dem Gebiet zwischen Budapest und Konstantinopel
werden heute zwei mongolische, eine semitische, zwei antike und drei
slawische Sprachen geredet und diese Sprachgemeinschaften fühlen sich
sämtlich als Völker.[114] Wollte man daraus eine Wanderungsgeschichte
aufbauen, so würde ein seltsames Produkt verfehlter Methoden die Folge
sein. Das Dorische ist eine Dialektbezeichnung; weiteres wissen wir
nicht. Zweifellos haben sich einige Dialekte dieser Gruppe schnell
verbreitet, aber für die Verbreitung oder selbst das Vorhandensein
eines zugehörigen Menschenschlages ist das durchaus kein Beweis.[115]


16

Hier stehen wir vor dem Lieblingsbegriff des modernen
Geschichtsdenkens. Trifft ein Historiker heute auf ein Volk, das etwas
geleistet hat, so ist er ihm gewissermaßen die Frage schuldig: von
woher kam es? Es gehört zum Anstand eines Volkes, von irgendwoher
gekommen zu sein und eine Urheimat zu haben. Daß es auch dort zu Hause
sein könne, wo man es vorfindet, ist eine fast beleidigende Annahme.
Wandern ist ein beliebtes Sagenmotiv ursprünglicher Menschheit, aber
seine Anwendung in der ernsthaften Forschung ist nachgerade zu einer
Manie geworden. Ob überhaupt die Chinesen nach China, die Ägypter nach
Ägypten eingedrungen sind, danach wird nicht gefragt; nur das Wann und
Woher steht in Frage. Man würde lieber die Semiten aus Skandinavien und
die Arier aus Kanaan stammen lassen, als auf den Begriff einer Urheimat
verzichten.

Nun liegt die Tatsache einer starken Bewegtheit aller frühen
Bevölkerungen unzweifelhaft vor. Das Libyerproblem birgt ein solches
Geheimnis. Die Libyer oder ihre Vorfahren sprachen hamitisch, waren
aber körperlich, wie schon die altägyptischen Reliefs beweisen,
hochgewachsen, blond und blauäugig und also zweifellos von
nordeuropäischer Herkunft.[116] In Kleinasien sind wenigstens drei
Wanderschichten seit 1300 gesichert, die vielleicht zu den Angriffen
der nordischen „Seevölker“ auf Ägypten in Beziehung stehen, und
Ähnliches ist für die mexikanische Welt nachgewiesen. Aber wir wissen
über das Wesen dieser Bewegungen gar nichts und von Wanderungen, wie
sie sich der Historiker heute gern vorstellt, wonach geschlossene
Völker wie große Massenkörper die Länder durchziehen, einander
verdrängen und bekämpfen, um sich zuletzt irgendwo festzusetzen, kann
gewiß nicht die Rede sein. Es ist nicht die Veränderung an sich,
sondern diese Vorstellung von ihr, welche unsere Ansichten vom Wesen
der Völker verdorben hat. Völker im heutigen Sinne wandern nicht und
was damals wanderte, bedarf einer sehr vorsichtigen Bezeichnung und
verträgt nicht überall dieselbe. Auch das ewig wiederholte Motiv
dieser Wanderzüge ist platt und des vorigen Jahrhunderts würdig: die
materielle Not. Hunger hätte zu ganz anderen Versuchen geführt und
ist sicherlich der letzte aller Gründe gewesen, der Rassemenschen
aus ihrem Neste trieb -- obwohl man es verstehen wird, daß er am
häufigsten geltend gemacht wurde, wenn solche Scharen plötzlich auf
ein militärisches Hindernis stießen. Es ist ohne Zweifel in diesen
starken und einfachen Menschen der ursprüngliche mikrokosmische Drang
nach Bewegung im weiten Raume gewesen, der sich aus tiefster Seele
als Abenteuerlust, Wagemut, Schicksalszug, als Hang nach Macht und
Beute erhob, als eine leuchtende Sehnsucht nach Taten, wie wir sie
uns gar nicht mehr vorstellen können, nach fröhlichem Gemetzel und
heldenmütigem Tod; oft wird es heimatlicher Zwist und Flucht vor der
Rache des Stärkeren gewesen sein, aber stets etwas Männliches und
Starkes. Und das steckte an. Der war ein Feigling, der auf seinem
Gute sitzen blieb. Oder sind etwa noch die Kreuzzüge, die Fahrten
des Cortez und Pizarro und noch in unseren Zeiten die Abenteuer der
Trapper im wilden Westen der Union durch die gemeine Not des Lebens
veranlaßt worden? Wo in der Geschichte eine kleine Schar siegreich in
weite Gebiete einbricht, da ist es regelmäßig die Stimme des Blutes,
die Sehnsucht nach einem großen Schicksal, das Heldentum echter
Rassemenschen, das sie treibt.

Man muß aber auch ein Bild der Lage in den durchstreiften Ländern
besitzen. Diese Züge sind beständig etwas anderes geworden, und das
hing nicht nur vom Geist der Wanderer ab, sondern mehr und mehr vom
Wesen der seßhaften Bevölkerung, die zuletzt in entschiedener Überzahl
vorhanden war. Es ist klar, daß in fast menschenleeren Räumen ein
einfaches Ausweichen des Schwächeren möglich und Regel ist.

In den Zuständen späterer Dichte handelt es sich aber um ein
Heimatloswerden des Schwächeren, der sich verteidigen oder um ein neues
Land kämpfen muß. Man drängt sich bereits im Raume. Kein Stamm lebt
ohne beständige Fühlung nach allen Seiten und ohne eine mißtrauische
Bereitschaft zum Widerstand. Die harte Notwendigkeit des Krieges
züchtet Männer. Völker wachsen an Völkern und gegen Völker zu innerer
Größe heran. Die Waffe wird zur Waffe gegen Menschen, nicht gegen
Tiere. Endlich ist jene Wanderungsform da, von der in historischer
Zeit allein die Rede sein kann: streifende Scharen bewegen sich in
durchaus bewohntem Gebiete, dessen Bevölkerung als ein wesentlicher
Bestandteil des Eroberten seßhaft und erhalten bleibt; die Sieger sind
in der Minderzahl und es treten damit ganz neue Lagen ein. Völker von
starker innerer Form schichten sich über viel größere, aber formlose
Bevölkerungen, und die weitere Verwandlung der Völker, Sprachen, Rassen
hängt von sehr verwickelten Einzelheiten ab. Seit den entscheidenden
Untersuchungen von Beloch[117] und Delbrück[118] wissen wir, daß
alle Wandervölker -- und Völker in diesem Sinne waren die Perser des
Kyros, die Mamertiner und die Kreuzfahrer ebensogut wie die Ostgoten
und die „Seevölker“ der ägyptischen Inschriften -- im Verhältnis
zur Bewohnerschaft der besetzten Gebiete sehr klein waren, wenige
tausend Krieger stark und den Eingebornen überlegen allein durch ihre
Entschlossenheit, ein Schicksal zu sein und nicht zu erleiden. Nicht
bewohnbares, sondern bewohntes Land wird in Besitz genommen: damit wird
das Verhältnis beider Bevölkerungen auch zu einer Standesfrage, die
Wanderung zu einem Feldzuge und das Seßhaftwerden zu einer politischen
Aktion. Und hier, wo der Erfolg einer kleinen Kriegerschar mit seiner
Wirkung: der Ausbreitung von Namen und Sprache der Sieger, aus
historischer Ferne allzu leicht als „Völkerwanderung“ erscheint, muß
die Frage noch einmal gestellt werden: Was alles kann wandern?

Der Name einer Landschaft oder eines Verbandes -- es kann auch der
eines Helden sein, den das Gefolge trägt --, indem er sich verbreitet,
dort erlischt und hier von einer ganz anderen Bevölkerung angenommen
oder ihr gegeben wird, indem er vom Lande auf Menschen übergeht und
mit ihnen zieht oder umgekehrt; die Sprache der Sieger oder Besiegten
-- oder auch eine dritte, die beide zu ihrer Verständigung annehmen;
die Gefolgschaft eines Häuptlings, die ganze Länder unterwirft und
sich durch erbeutete Weiber fortpflanzt, oder ein zufälliger Haufe von
Abenteurern verschiedenster Herkunft oder eine Völkerschaft mit Weib
und Kind, wie die Philister, die ganz nach germanischer Art um 1200
v. Chr. mit ihren vierspännigen Ochsenwagen längs der phönikischen
Küste nach Ägypten zogen.[119] Und deshalb muß noch einmal gefragt
werden: Darf man aus dem Schicksal von Sprachen oder Namen auf das von
Völkern oder Rassen schließen? Es ist nur eine Antwort möglich: ein
entschiedenes Nein.

Unter den „Seevölkern“, die Ägypten im 13. Jahrhundert immer wieder
angriffen, erscheinen die +Namen+ der Danaer und Achäer, aber bei
Homer sind beide fast mythische Bezeichnungen; dann der +Name+
der Lukka, der später an Lykien haftet, aber dessen Bewohner nennen
sich Tramilen; endlich die +Namen+ der Etrusker, Sarden und
Sikuler, aber daraus folgt +nicht+, daß diese Turscha das
spätere Etruskisch sprachen, +nichts+ für ihren leiblichen
Zusammenhang mit den gleichnamigen Bewohnern Italiens; und selbst wenn
beides gesichert wäre, nichts für das Recht, von „ein und demselben
+Volke+“ zu sprechen. Angenommen, die Inschrift von Lemnos wäre
etruskisch, und das Etruskische indogermanisch -- so würde daraus
für die Sprachgeschichte manches, für die Rassegeschichte gar nichts
folgen. Rom ist eine Etruskerstadt. Ist das nicht für die +Seele+
des römischen Volkes vollkommen gleichgültig? Sind die Römer deshalb
Indogermanen, weil sie zufällig einen lateinischen Dialekt sprachen?
Die Ethnographen kennen eine mittelländische und eine Alpenrasse und
südlich und nördlich davon eine auffallende leibliche Verwandtschaft
zwischen Nordgermanen und Libyern, aber die Philologen wissen, daß
die Basken ihrer Sprache wegen der Rest einer „vorindogermanischen“ --
iberischen -- Bevölkerung sind. Beide Meinungen schließen sich aus.
Waren die Erbauer von Mykene und Tiryns „Hellenen“? Man könnte ebenso
fragen, ob die Ostgoten Deutsche gewesen sind. Ich gestehe, daß ich
solche Fragestellungen nicht begreife.

Für mich ist „Volk“ eine +Einheit der Seele+. Alle großen
Ereignisse der Geschichte sind nicht eigentlich von Völkern ausgeführt
worden, +sondern haben Völker erst hervorgerufen+. Jede Tat
verändert die Seele des Handelnden. Mag man sich zuerst um einen
berühmten Namen geschart haben -- daß hinter seinem Klange nicht ein
Haufe, sondern ein Volk steht, das ist die Wirkung und nicht die
Voraussetzung großer Ereignisse. Erst durch ihre Wanderschicksale sind
Goten und Osmanen geworden, was sie später waren. „Die Amerikaner“ sind
+nicht+ aus Europa eingewandert; der Name des florentinischen
Geographen Amerigo Vespucci bezeichnet heute zunächst einen Erdteil,
aber außerdem ein echtes Volk, das durch die seelische Erschütterung
von 1775 und vor allem durch den Sezessionskrieg von 1861-65 seine
Eigenart erhalten hat.

Einen anderen Inhalt des Wortes Volk gibt es nicht. Weder die Einheit
der Sprache noch der leiblichen Abstammung ist entscheidend. Was
ein Volk von einer Bevölkerung unterscheidet, es aus dieser abhebt
und wieder in ihr aufgehen läßt, ist stets das innere Erlebnis des
„Wir“. Je tiefer dieses Gefühl, desto stärker ist die Lebenskraft
des Verbandes. Es gibt energische, matte, flüchtige, unverwüstliche
Völkerformen. Sie können Sprache, Rasse, Namen und Land wechseln; so
lange ihre Seele dauert, eignen sie sich Menschen jeder denkbaren
Herkunft innerlich an und formen sie um. Der römische Name bezeichnet
zur Zeit Hannibals ein Volk, zur Zeit Trajans nur noch eine Bevölkerung.

Wenn trotzdem mit vielem Rechte Völker und Rassen zusammengestellt
werden, so ist damit nicht der heute übliche Rassebegriff der
darwinistischen Zeit gemeint. Man glaube doch nicht, daß je ein Volk
durch die bloße Einheit der leiblichen Abstammung zusammengehalten
wurde und diese Form auch nur durch zehn Generationen hätte wahren
können. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß diese
physiologische Herkunft nur für die Wissenschaft und niemals für das
Volksbewußtsein vorhanden ist und daß kein Volk sich je für dieses
Ideal des „reinen Blutes“ begeistert hat. Rasse haben ist nichts
Stoffliches, sondern etwas Kosmisches und Gerichtetes, gefühlter
Einklang eines Schicksals, gleicher Schritt und Gang im historischen
Sein. Aus einem Mißverhältnis dieses ganz metaphysischen Taktes
entspringt der Rassehaß, der zwischen Franzosen und Deutschen nicht
weniger stark ist als zwischen Deutschen und Juden, und aus dem
gleichen Pulsschlag andererseits die wirkliche, dem Haß verwandte
Liebe zwischen Mann und Weib. Wer keine Rasse hat, der kennt diese
gefährliche Liebe nicht. Wenn ein Teil der Menschenmasse, die sich
heute indogermanischer Sprachen bedient, einem gewissen Rasseideal sehr
nahe steht, so deutet das auf die metaphysische Kraft dieses Ideals,
das züchtend wirkte; und nicht auf ein Urvolk im gelehrten Geschmack.
Es ist doch von höchster Bedeutung, daß dieses Ideal niemals in der
gesamten Bevölkerung, sondern vorwiegend in ihrem kriegerischen Element
und vor allem dem echten Adel ausgeprägt ist, also unter den Menschen,
welche ganz in einer Tatsachenwelt, im Banne geschichtlichen Werdens
leben, Schicksalsmenschen, die etwas wollen und wagen, obwohl gerade
in früher Zeit die Aufnahme in den Herrenstand einem Stammfremden
von äußerem und innerem Range nicht schwer fiel und zumal die Weiber
nach ihrer „Rasse“ und gewiß nicht ihrer Abstammung gewählt worden
sind. Am schwächsten sind die Rassezüge gleich daneben, wie man heute
noch beobachten kann, in den echten Priester- und Gelehrtennaturen
ausgeprägt,[120] obwohl sie mit den andern vielleicht in engster
Blutsverwandtschaft stehen. Ein starkes Seelentum züchtet den Leib
wie ein Kunstwerk heran. Die Römer bilden, mitten in dem italischen
Wirrwarr der Stämme und selbst von verschiedenartigster Herkunft, eine
Rasse von der allerstrengsten inneren Einheit, die weder etruskisch
noch latinisch oder allgemein „antik“, sondern ganz spezifisch römisch
ist.[121] Wenn man irgendwo die Stärke eines Volkstums vor Augen sehen
kann, so ist es an den Römerbüsten der letzten republikanischen Zeit.

Als Beispiel nenne ich noch die Perser. Es gibt kein stärkeres für
die Irrtümer, welche diese gelehrten Vorstellungen von Volk, Sprache
und Rasse nach sich ziehen mußten. Hier liegt auch der letzte und
vielleicht entscheidende Grund, weshalb der Organismus der arabischen
Kultur bis heute nicht erkannt worden ist. Persisch ist eine arische
Sprache, also sind „die Perser“ „ein indogermanisches Volk“. Also sind
persische Geschichte und Religion ein Thema der „iranischen“ Philologie.

Zunächst: Ist das Persische eine dem Indischen gleichgeordnete
Sprache, von einer gemeinsamen Ursprache stammend, +oder nur ein
indischer Dialekt+? 700 Jahre schriftloser, also schnellster
Sprachentwicklung liegen zwischen dem Altvedischen der indischen Texte
und den Behistun-Inschriften des Darius. Nicht größer ist der Abstand
zwischen dem Latein des Tacitus und dem Französischen der Straßburger
Eide (842). Nun kennen wir aber aus der Mitte des 2. Jahrtausends --
also aus vedischer Ritterzeit -- durch die Amarnabriefe und das Archiv
von Boghazköi zahlreiche „arische“ Personen- und Götternamen, und zwar
in Syrien und Palästina. Indessen Ed. Meyer[122] bemerkt, daß diese
Namen indisch und nicht persisch sind, und dasselbe gilt von den jetzt
entdeckten Zahlworten.[123] Von Persern ist keine Rede, noch weniger
von einem „Volk“ im Sinne unserer Historiker. Es waren indische Helden,
die nach Westen ritten und mit ihrer kostbaren Waffe, dem Reitpferde,
und ihrem Tatendrang allenthalben in der alternden babylonischen Welt
eine Macht bedeutet haben.

Seit 600 erscheint mitten in dieser Welt die kleine Landschaft Persis
mit einer politisch geeinigten bäuerlich-barbarischen Bevölkerung.
Herodot berichtet, daß von ihren Stämmen nur drei eigentlich persischer
Nationalität gewesen seien. Hat sich die Sprache jener Ritter in
diesem Gebirge erhalten und ist „Perser“ +ein Landname+, der auf
ein Volkstum überging? Auch die sehr ähnlichen Meder tragen nur den
Namen eines Landes, dessen kriegerische Oberschicht sich durch große
politische Erfolge als Einheit fühlen gelernt hat. In den assyrischen
Urkunden Sargons und seiner Nachfolger (um 700) finden sich neben den
nichtarischen Ortsnamen zahlreiche „arische“ Personennamen, durchweg
von führenden Männern, aber Tiglat Pileser IV. (745-727) nennt das Volk
schwarzhaarig.[124] Das „persische Volk“ des Cyrus und Darius kann sich
erst von da an aus Menschen verschiedener Herkunft, aber aus einer
starken Einheit des Erlebens heraus gebildet haben. Als die Makedonier
aber kaum zwei Jahrhunderte später ihre Herrschaft auflösten -- waren
da die Perser in dieser Form +überhaupt noch vorhanden+? Gab es um
900 in Italien wirklich noch ein langobardisches Volk? Es ist sicher,
daß die weithin verbreitete persische Reichssprache und die Verteilung
der wenigen tausend erwachsenen Männer aus Persis über den ungeheuren
Kreis von militärischen und Verwaltungsaufgaben das Volkstum längst
aufgelöst und an seine Stelle als Träger des persischen Namens eine
sich als +politische+ Einheit fühlende Oberschicht gesetzt hatten,
von deren Ahnen nur sehr wenige aus Persis sein konnten. Ja -- es gibt
nicht einmal ein Land, das man als +den+ Schauplatz der persischen
Geschichte bezeichnen kann. Was sich von Darius bis auf Alexander
ereignet, hat seinen Ort teils im nördlichen Mesopotamien, also unter
einer aramäisch sprechenden Bevölkerung, teils im alten Sinear,
jedenfalls nicht in Persis, wo die von Xerxes begonnenen Prachtbauten
gar nicht fortgesetzt worden sind. Die Parther waren ein mongolischer
Stamm, der eine persische Mundart angenommen hatte und inmitten dieser
Bevölkerung das persische Nationalgefühl in sich zu verkörpern suchte.

Hier erscheint neben der persischen Sprache und Rasse nun auch
die Religion als Problem.[125] Die Forschung hat sie mit diesen
zusammengebracht, als ob das selbstverständlich wäre, und also
in beständiger Beziehung auf Indien behandelt. Aber die Religion
jener Landwikinger war mit der vedischen nicht verwandt, sondern
identisch, wie die Götterpaare Mitra-Varuna und Indra-Nasatya
der Boghazköitexte beweisen. Und innerhalb dieser mitten in der
babylonischen Welt aufrecht erhaltenen Religion erscheint nun
Zarathustra als Reformator aus dem unteren Volke. Daß er kein Perser
war, ist bekannt. Was er schuf -- ich hoffe das nachzuweisen -- war
die Überführung der +vedischen+ Religion in die Formen +des
aramäischen Weltdenkens+, in welchem sich ganz leise schon die
magische Religiosität vorbereitet. Die _daevas_, die Götter des
altindischen Glaubens, werden zu den Dämonen des semitischen, den
_dschins_ der Araber. Jahwe und Beelzebub stehen sich nicht
anders gegenüber als Ahura Mazda und Ahriman in dieser durch und
durch aramäischen, also aus einem sittlich-dualistischen Weltgefühl
entsprungenen Bauernreligion. Ed. Meyer hat[126] den Unterschied
zwischen indischer und „iranischer“ Weltanschauung durchaus
richtig gezeichnet, seinem Ursprung nach infolge der falschen
Voraussetzungen aber nicht erkannt. +Zarathustra ist ein Weggenosse
der israelitischen Propheten+, welche den mosaisch-kananäischen
Volksglauben ebenso und gleichzeitig umgewendet haben. Es ist
bezeichnend, daß die gesamte Eschatologie ein Gemeinbesitz der
persischen und jüdischen Religion ist und daß die Awestatexte zur
Partherzeit ursprünglich aramäisch geschrieben und dann erst in Pehlewi
übertragen worden sind.[127]

Aber schon in der Partherzeit hat sich bei Persern wie bei Juden jene
tief innerliche Wandlung vollendet, welche den Begriff der Nation
nicht mehr nach der Stammeszugehörigkeit, sondern der Rechtgläubigkeit
bestimmt.[128] Ein Jude, der zum Mazdaglauben übertrat, +ist damit
Perser geworden+; ein Perser, der Christ wurde, gehörte dem
nestorianischen „Volke“ an. Die sehr starke Bevölkerung des nördlichen
Mesopotamiens -- des Mutterlandes der arabischen Kultur -- ist teils
jüdischer, teils persischer Nation in diesem Sinne, der mit Rasse
nichts und mit Sprache wenig zu tun hat. „Der Ungläubige“ ist schon zur
Zeit von Christi Geburt die Bezeichnung für den Nichtperser wie für den
Nichtjuden.

Diese Nation ist das „persische Volk“ des Sassanidenreiches. Damit
hängt es zusammen, daß Pehlewi und Hebräisch gleichzeitig aussterben
und das Aramäische die Muttersprache beider Gemeinschaften wird.
Will man die Bezeichnung Arier und Semiten verwenden, so waren die
Perser zur Zeit der Amarnabriefe Arier, aber kein „Volk“, zur
Zeit des Darius ein Volk, aber ohne Rasse, zur Sassanidenzeit eine
Glaubensgemeinschaft, aber von semitischer Abstammung. Es gibt weder
ein persisches Urvolk, das sich von einem arischen abgezweigt hätte,
noch eine persische Gesamtgeschichte; und es läßt sich nicht einmal
für die drei Einzelgeschichten, welche lediglich durch gewisse
Sprachbeziehungen zusammenhängen, ein einheitlicher Schauplatz angeben.


17

Damit ist endlich der Grund zu einer +Morphologie der Völker+
gelegt. Sobald man ihr Wesen kennt, entdeckt man auch eine innere
Ordnung im Völkerstrom der Geschichte. Völker sind weder sprachliche
noch politische noch zoologische, sondern seelische Einheiten. Aber
gerade auf Grund dieses Gefühls unterscheide ich nun +Völker vor,
innerhalb und nach einer Kultur+. Es ist eine von jeher tief
empfundene Tatsache, daß Kulturvölker etwas Bestimmteres sind als
andere. Was vorauf geht, nenne ich +Urvölker+. Das sind jene
flüchtigen und verschiedenartigen Verbände, die sich ohne erkennbare
Regel im Wandel der Dinge bilden und lösen, die zuletzt im Vorgefühl
einer noch ungeborenen Kultur, etwa in vorhomerischer, vorchristlicher
und germanischer Zeit, in ganzen Schichten von immer deutlicherem Typus
die Bevölkerung in Gruppen zusammenfassen, während deren Menschenschlag
sich kaum verändert. Eine solche Schichtenfolge führt von den Kimbern
und Teutonen über die Markomannen und Goten zu den Franken, Langobarden
und Sachsen. Urvölker sind die Juden und Perser der Seleukidenzeit,
die „Seevölker“, die ägyptischen Gaue zur Zeit des Menes. Was einer
Kultur folgt, nenne ich +Fellachenvölker+ nach ihrem berühmtesten
Beispiel, den Ägyptern seit der Römerzeit.

Im 10. Jahrhundert erwacht plötzlich die faustische Seele und
offenbart sich in zahllosen Gestalten. Unter diesen, neben Ornament
und Architektur, erscheint eine deutlich ausgeprägte Völkerform.
Aus den Volksgebilden des Karolingerreiches, den Sachsen, Schwaben,
Franken, Westgoten, Langobarden sind plötzlich die Deutschen,
Franzosen, Spanier, Italiener entstanden. Die gesamte bisherige
Geschichtsforschung hat, ob sie es wußte und beabsichtigte oder nicht,
diese Kulturvölker als etwas an sich Vorhandenes und Primäres aufgefaßt
und die Kultur selbst als sekundär, als ihr Erzeugnis behandelt. Die
Inder, die Griechen, die Römer, die Germanen galten als die schlechthin
schöpferischen Einheiten der Geschichte. Die griechische Kultur war das
Werk der Hellenen und diese mußten demnach als solche schon viel früher
vorhanden gewesen, also eingewandert sein. Eine andere Vorstellung von
Schöpfer und Schöpfung erschien nicht denkbar.

Ich betrachte es als eine entscheidende Entdeckung, daß aus den hier
vorgelegten Tatsachen das Umgekehrte folgt. Mit aller Schärfe soll
festgestellt werden: die großen Kulturen sind etwas ganz Ursprüngliches
und aus den tiefsten Gründen des Seelentums Aufsteigendes. Völker
im Banne einer Kultur dagegen sind ihrer inneren Form, ihrer ganzen
Erscheinung nach nicht Urheber, sondern +Werke+ dieser Kultur.
Diese Gebilde, in welchen das Menschentum wie ein Stoff gefaßt
und gestaltet wird, haben Stil und eine Stilgeschichte ganz wie
Kunstgattungen und Denkweisen. Das Volk von Athen ist nicht weniger wie
der dorische Tempel, der Engländer nicht weniger wie die moderne Physik
ein Symbol. Es gibt Völker apollinischen, faustischen und magischen
Stils. „Die Araber“ haben die arabische Kultur +nicht+ geschaffen.
Die magische Kultur, zur Zeit Christi beginnend, hat vielmehr als ihre
letzte große Völkerschöpfung das arabische Volk hervorgebracht, das wie
das jüdische und persische eine Glaubensgemeinschaft, die des Islam,
darstellt. Weltgeschichte ist die Geschichte der großen Kulturen. Und
Völker sind nur die sinnbildlichen Formen, in welche zusammengefaßt der
Mensch dieser Kulturen sein Schicksal erfüllt.

In jeder dieser Kulturen, der mexikanischen wie der chinesischen, der
indischen wie der ägyptischen -- ob unser Wissen dahin reicht oder
nicht --, gibt es +eine Gruppe großer Völker von ein und demselben
Stil+, die am Eingang der Frühzeit entsteht und die, Staaten bildend
und Geschichte tragend, im ganzen Lauf der Entwicklung auch die ihr
zugrunde liegende Form einem Ziel entgegenführt. Sie sind untereinander
höchst verschieden. Es scheint kein stärkerer Gegensatz denkbar als der
zwischen Athenern und Spartanern, Deutschen und Franzosen, Tsin und
Tsu, und die gesamte Kriegsgeschichte kennt den nationalen Haß als das
vornehmste Mittel, historische Entscheidungen einzuleiten, aber sobald
ein kulturfremdes Volk in den Gesichtskreis tritt, erwacht allenthalben
ein übermächtiges Gefühl der seelischen Verwandtschaft, und der Begriff
des Barbaren als des Menschen, der einer Kultur innerlich +nicht+
angehört, ist unter den ägyptischen Gauvölkern und in der chinesischen
Staatenwelt ebenso scharf ausgeprägt wie in der Antike. Die Energie der
Form ist so stark, daß sie Nachbarvölker ergreift und umprägt -- so
stehen die Karthager als Volk halbantiken Stils in der römischen und
die Russen als Volk abendländischen Stils in unserer Geschichte von der
großen Katharina an bis zum Untergang des petrinischen Zarentums.

Völker im Stil einer Kultur nenne ich +Nationen+ und unterscheide
sie schon durch das Wort von den Gebilden vorher und nachher. Es ist
nicht nur ein starkes Gefühl des „Wir“, das diese bedeutsamsten aller
großen Verbände innerlich zusammenschließt. +Der Nation liegt eine
Idee zugrunde.+ Diese Ströme eines Gesamtdaseins besitzen ein sehr
tiefes Verhältnis zum Schicksal, zur Zeit und zur Geschichte, das in
jedem einzelnen Falle anders ist und auch die Beziehung des Volkstums
zu Rasse, Sprache, Land, Staat, Religion bestimmt. Wie die Seele
altchinesischer und antiker Völker, so unterscheidet sich auch der Stil
chinesischer und antiker Geschichte.

Was Urvölker und Fellachenvölker erleben, ist jenes oft genannte
zoologische Auf und Nieder, ein planloses Geschehen, bei dem ohne Ziel
und ohne bemessene Dauer sich sehr vieles und in einem bedeutenden
Sinne zuletzt doch nichts ereignet. Historische Völker, Völker,
deren Dasein +Weltgeschichte ist+, sind allein die Nationen.
Man verstehe wohl, was das bedeuten will. Die Ostgoten erlitten ein
großes Schicksal und hatten -- innerlich -- doch keine Geschichte.
Ihre Schlachten und Ansiedlungen waren ohne Notwendigkeit und deshalb
episodisch. Ihr Ende war bedeutungslos. Was um 1500 in Mykene und
Tiryns lebte, war +noch+ keine Nation, im minoischen Kreta war
man es +nicht mehr+. Tiberius war der letzte Herrscher, der
eine römische +Nation+ geschichtlich weiter zu führen, sie für
die Geschichte zu +retten+ suchte, Mark Aurel hat nur noch eine
romanische Bevölkerung verteidigt, für die es wohl Begebenheiten,
aber keine Geschichte mehr gab. Wieviele Generationen hindurch
ein medisches oder achäisches oder Hunnenvolk bestand, in was für
Volksverbänden die vorhergehenden und nachfolgenden Geschlechter
lebten, ist unbestimmbar und von keiner Regel abhängig. Die Lebensdauer
einer Nation aber ist bestimmt, und ebenso der Schritt und Takt, in
welchem ihre Geschichte sich erfüllt. Die Zahl der Generationen vom
Beginn der Dschoudynastie bis zur Regierung des Schi Hoang Ti, von
den Ereignissen, welche der trojanischen Sage zugrunde liegen, bis
auf Augustus, von der Thinitenzeit bis zur 18. Dynastie ist etwa
dieselbe. Die Spätzeit der Kulturen, von Solon bis Alexander, von
Luther bis Napoleon umfaßt etwa zehn Generationen, nicht mehr. In
solchen Abmessungen vollziehen sich die Schicksale echter Kulturvölker
und damit die der Weltgeschichte überhaupt. Die Römer, die Araber, die
Preußen sind spätgeborene Nationen. Wieviele Generationen der Fabier
und Junier hatten zur Zeit von Cannä schon +als Römer+ gelebt?

Nationen sind aber auch +die eigentlich städtebauenden Völker+.
In den Burgen sind sie entstanden, mit den Städten reifen sie zur
vollen Höhe ihres Weltbewußtseins und ihrer Bestimmung heran, in den
Weltstädten erlöschen sie. Jedes Stadtbild, das Charakter hat, hat
auch nationalen Charakter. Das ganz rassemäßige Dorf besitzt ihn noch
nicht, die Weltstadt nicht mehr. Man kann sich diesen Wesenszug, der
das gesamte öffentliche Dasein einer Nation in eine gewisse Farbe
taucht und noch die geringste Äußerung zum Kennzeichen erhebt, nicht
stark, nicht selbständig, nicht +einsam+ genug denken. Wenn
zwischen den Seelen zweier Kulturen eine undurchdringliche Scheidewand
liegt, so daß kein Mensch des Abendlandes hoffen darf, den Inder oder
Chinesen ganz zu verstehen, so gilt das auch und zwar im höchsten
Grade von ausgebildeten Nationen. Nationen verstehen sich so wenig
wie einzelne Menschen. Jede versteht nur ein selbstgeschaffenes Bild
der andern, und wenige ganz vereinzelte Kenner dringen tiefer. Den
Ägyptern gegenüber mußten alle antiken Völker sich verwandt und als
Ganzes fühlen, untereinander haben sie sich nie begriffen. Gibt es
einen schrofferen Gegensatz als den von athenischem und spartanischem
Geiste? Es gibt nicht erst seit Bacon, Descartes und Leibniz, sondern
schon in der Scholastik eine deutsche, französische und englische
Art, philosophisch zu denken, und noch in der modernen Physik und
Chemie sind die wissenschaftlichen Methoden, die Auswahl und Art der
Experimente und Hypothesen, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihre
Bedeutung für Gang und Ziel der Forschung innerhalb jeder Nation
merklich verschieden. Deutsche und französische Frömmigkeit, englische
und spanische Sitte, deutsche und englische Lebensgewohnheiten
stehen sich so fern, daß das Innerste jeder fremden Nation für den
Durchschnittsmenschen und damit die öffentliche Meinung der eigenen ein
ständiges Geheimnis und die Quelle beständiger, folgenschwerer Irrtümer
bleibt. In der römischen Kaiserzeit beginnt man sich allenthalben
zu verstehen, aber eben deshalb gibt es nichts mehr, was in antiken
Städten zu verstehen sich noch lohnte. Mit dem Sichverstehen hatte
diese Menschheit aufgehört, in Nationen zu leben; +damit hat sie
aufgehört, historisch zu sein+.[129]

Gerade der Tiefe dieser Erlebnisse wegen ist es unmöglich, daß ein
ganzes Volk +gleichmäßig+ ein Kulturvolk, eine Nation ist. In
Urvölkern hat jeder einzelne Mann das gleiche Gefühl volksmäßiger
Verbundenheit. Das Erwachen einer Nation zum Bewußtsein ihrer selbst
erfolgt aber ohne Ausnahme in Stufungen und also vornehmlich in einem
einzelnen Stande, dessen Seele die stärkste ist und die der übrigen
durch die Macht ihres Erlebens im Banne hält. +Jede Nation wird vor
der Geschichte durch eine Minderheit repräsentiert.+ Zu Beginn der
Frühzeit ist es der erst hier und zwar als die Blüte des Volkstums
entstehende Adel,[130] in dessen Kreise der nicht bewußte, aber in
seinem kosmischen Takt um so mächtiger gefühlte Nationalcharakter
großen Stil erhält. Das „Wir“ ist die Ritterschaft, in der ägyptischen
Feudalzeit von 2700 so gut wie der indischen und chinesischen von
1200. Die homerischen Helden sind die Danaer. Die normannischen Barone
sind England. Noch der etwas altfränkische Herzog von Saint Simon
pflegte zu sagen „Ganz Frankreich war im Vorzimmer versammelt“, und
es gab eine Zeit, wo Rom und der Senat wirklich dasselbe waren. Mit
den Städten wird das Bürgertum Träger des Nationalen und zwar, der
wachsenden Geistigkeit entsprechend, eines National+bewußtseins+,
das es vom Adel empfängt und zur Vollendung führt. Es sind immer
und immer wieder einzelne Kreise in zahllosen Abstufungen, die +im
Namen+ des Volkes leben, fühlen, handeln und zu sterben wissen, aber
diese Kreise werden größer; im 18. Jahrhundert ist der abendländische
+Begriff+ der Nation entstanden, der den Anspruch erhob und unter
Umständen energisch verfolgte, von jedem ohne Ausnahme vertreten zu
werden. In Wirklichkeit waren, wie man weiß, die Emigranten so gut wie
die Jakobiner überzeugt, +das+ Volk, +die Repräsentanten+
der französischen Nation zu sein. Ein Kulturvolk, das mit „allen“
zusammenfällt, gibt es nicht. Nur unter Urvölkern und Fellachenvölkern,
nur in einem Völkerdasein ohne Tiefe und ohne historischen Rang ist
das möglich. Solange ein Volk Nation ist, das Schicksal einer Nation
erfüllt, gibt es in ihm eine Minderheit, die im Namen aller seine
Geschichte vertritt und vollzieht.


18

Die antiken Nationen sind, wie es der statisch-euklidischen Seele
ihrer Kultur entspricht, denkbar kleinste körperhafte Einheiten.
Nicht Hellenen oder Ionier sind Nationen, sondern der Demos jeder
einzelnen Stadt, ein Verband erwachsener Männer, der nach oben gegen
den Typus des Heros, nach unten gegen den Sklaven rechtlich +und
damit national+ abgegrenzt ist.[131] Der Synoikismos, jener
rätselhafte Vorgang der Frühzeit, bei welchem die Bewohner einer
Landschaft ihre Dörfer aufgeben und sich zu einer Stadt vereinigen,
ist der Augenblick, wo die zum Selbstbewußtsein gelangte antike Nation
sich als solche konstituiert. Es läßt sich noch verfolgen, wie von
homerischer Zeit[132] an bis zur Epoche der großen Kolonialgründungen
diese Form der Nation sich durchsetzt. Sie entspricht durchaus dem
antiken Ursymbol: jedes Volk war ein sichtbarer +und übersehbarer+
Körper, ein σῶμα, das den Begriff des geographischen Raumes entschieden
verneint.

Es ist für die antike Geschichte gleichgültig, ob die Etrusker in
Italien leiblich oder sprachlich mit den Trägern dieses Namens unter
den Seevölkern identisch sind, oder was für ein Verhältnis zwischen
den vorhomerischen Einheiten der Pelasger oder Danaer und den späteren
Trägern des dorischen oder hellenischen Namens bestand. Wenn es um
1100 vielleicht ein dorisches und etruskisches Urvolk gegeben hat,
+so gab es doch niemals eine dorische und etruskische Nation+.
In Toskana wie im Peloponnes bestanden nur Stadtstaaten, +nationale
Punkte+, die sich in der Kolonialzeit durch Siedlungen +vermehren,
aber nicht erweitern konnten+. Die Etruskerkriege der Römer sind
stets gegen eine oder mehrere Städte geführt worden und weder die
Perser noch die Karthager haben eine andere Art von „Nation“ vor sich
gehabt. Es ist völlig falsch, in der gewohnten Art, welche heute noch
die des 18. Jahrhunderts ist, von „Griechen und Römern“ zu reden.
Ein griechisches „Volk“ in unserem Sinne ist ein Mißverständnis; die
Griechen haben diesen Begriff überhaupt nie gekannt. Der Hellenenname,
der um 650 aufkam, bezeichnet kein Volk, sondern den Inbegriff antiker
Kulturmenschen, die +Summe+ der Nationen,[133] im Gegensatz zum
Barbarentum; und die Römer, ein echtes Stadtvolk, haben ihr Reich nicht
anders „denken“ können als in der Form zahlloser nationaler Punkte, der
_civitates_, in welche sie alle Urvölker ihres Imperiums denn auch
rechtlich aufgelöst haben. In dem Augenblick, wo das Nationalgefühl in
+dieser+ Gestalt erlosch, ist es auch mit der antiken Geschichte
zu Ende.

Es wird zu den schwierigsten Aufgaben künftiger Geschichtsforschung
gehören, in den Ostländern des Mittelmeeres von einer Generation zur
andern zu verfolgen, wie in antiker Spätzeit die antiken Nationen
unvermerkt verlöschen, während das magische Nationalgefühl sich immer
mächtiger durchsetzt.

Eine Nation magischen Stils ist die Gemeinschaft der Bekenner, der
Verband aller, welche den rechten Weg zum Heil kennen und durch
das _idjma_[134] dieses Glaubens innerlich verbunden sind.
Einer antiken Nation gehört man durch den Besitz des Bürgerrechts
an, einer magischen durch einen sakramentalen Akt, der jüdischen
durch die Beschneidung, der mandäischen oder christlichen durch
eine ganz bestimmte Art der Taufe. Was für ein antikes Volk der
Bürger einer fremden Stadt, ist für ein magisches der Ungläubige.
Mit ihm gibt es keinen Verkehr und keine Ehegemeinschaft, und diese
nationale Abgeschlossenheit geht so weit, daß sich in Palästina
ein jüdisch-aramäischer und ein christlich-aramäischer Dialekt
nebeneinander ausgebildet haben.[135] Wenn eine faustische Nation
wohl mit einer gewissen Art von Religiosität, aber nicht mit einem
Bekenntnis notwendig verbunden ist, wenn eine antike überhaupt keine
ausschließlichen Beziehungen zu einzelnen Kulten besitzt, +so
fällt die magische Nation mit dem Begriff der Kirche schlechthin
zusammen+. Die antike ist mit einer Stadt, die abendländische mit
einer Landschaft innerlich verbunden, die arabische kennt weder ein
Vaterland noch eine Muttersprache. Ein Ausdruck ihres Weltgefühls ist
lediglich die Schrift, deren jede „Nation“ gleich nach ihrer Entstehung
eine eigene entwickelt. Aber gerade deshalb ist das im vollsten
Sinne des Wortes +magische+ Nationalgefühl ein so innerliches
und festes, daß es auf uns faustische Menschen, welche den Begriff
der Heimat vermissen, völlig rätselhaft und unheimlich wirkt. Dieser
schweigende und selbstverständliche Zusammenhalt, z. B. noch der
heutigen Juden unter ihren abendländischen Wirtsvölkern, ist in das
+von Aramäern behandelte+ „klassische“ römische Recht als Begriff
der juristischen Person eingegangen,[136] die nichts anderes bedeuten
will als eine magische Gemeinschaft. Das nachexilische Judentum war
eine juristische Person, lange bevor ein Mensch den Begriff selbst
entdeckt hatte.

Die Urvölker, welche dieser Entwicklung voraufgehen, sind vorwiegend
Stammesgemeinschaften, darunter seit Beginn des 1. Jahrtausends v.
Chr. die südarabischen Minäer, deren Name um 100 v. Chr. verschwindet,
die ebenfalls um 1000 als Stammesgruppe auftauchenden, aramäisch
sprechenden Chaldäer, welche 625-539 die babylonische Welt regierten,
die Israeliten vor dem Exil[137] und die Perser des Cyrus,[138] und
diese Form ist so stark im Fühlen der Bevölkerung, daß die seit
Alexander sich überall entwickelnden Priesterschaften die Namen
verschollener oder fiktiver Stämme erhalten. Bei den Juden und den
südarabischen Sabäern heißen sie Leviten, bei Medern und Persern Magier
-- nach einem ausgestorbenen medischen Stamme --, bei den Anhängern der
neubabylonischen Religion nach der inzwischen ebenfalls zerfallenen
Stammesgruppe Chaldäer. Aber hier wie in allen anderen Kulturen hat
die Energie des nationalen Gemeingefühls die alte Gliederung dieser
Urvölker zuletzt völlig überwunden. Wie im _populus Romanus_ ganz
zweifellos Volksteile von sehr verschiedener Abstammung enthalten
sind und wie die Nation der Franzosen die salischen Franken ebenso
aufnahm wie die romanischen und altkeltischen Eingebornen, so kennt
die magische Nation die Abstammung nicht mehr als unterscheidendes
Merkmal. Das hat sich sehr langsam durchgesetzt, und unter den Juden
der Makkabäerzeit wie unter den ersten Nachfolgern Mohammeds spielt
der Stamm noch eine große Rolle, aber bei innerlich ausgereiften
Kulturvölkern dieser Welt wie den Juden der talmudischen Zeit bedeutet
er nichts mehr. Wer dem Glauben angehört, gehört zur Nation; es würde
frevelhaft sein, ein anderes Merkmal auch nur anzuerkennen. Der Fürst
von Adiabene[139] trat in urchristlicher Zeit mit seinem ganzen
Volk zum Judentum über. Damit waren sie der jüdischen +Nation+
einverleibt. Dasselbe gilt von dem Adel Armeniens und sogar der
kaukasischen Stämme, der damals in großer Zahl jüdisch geworden sein
muß, und andererseits von den Beduinen Arabiens bis zum äußersten Süden
und darüber hinaus sogar von afrikanischen Stämmen bis zum Tschadsee
hin. Ein Zeugnis dafür sind jetzt noch die Falascha, die schwarzen
Juden in Abessinien. Das Einheitsgefühl der Nation ist offenbar
selbst durch solche Rasseunterschiede nicht erschüttert worden. Es
wird versichert, daß Juden unter sich noch heute ganz verschiedene
Rassen auf den ersten Blick unterscheiden können und daß man in den
osteuropäischen Ghettos „die Stämme“ im alttestamentlichen Sinne
deutlich erkennt. Aber ein Unterschied der +Nation+ ist das nicht.
Unter den nichtjüdischen kaukasischen Völkern ist nach v. Erckert[140]
der westeuropäische jüdische Typus ganz allgemein verbreitet, nach
Weißenberg[141] unter den langköpfigen südarabischen Juden fast gar
nicht vorhanden. Die Sabäerköpfe der südarabischen Grabsteinplastik
zeigen einen Menschenschlag, den man fast als römisch oder germanisch
ansprechen möchte; ihm entstammen die durch Mission mindestens seit
Christi Geburt gewonnenen Juden.

Aber diese Auflösung der nach Stämmen gegliederten Urvölker in die
magischen Nationen der Perser, Juden, Mandäer, Christen und andere
muß ganz allgemein und in gewaltigem Maßstabe vor sich gegangen
sein. Ich hatte schon auf die entscheidende Tatsache verwiesen, daß
die Perser lange vor Beginn unserer Zeitrechnung lediglich eine
religiöse Gemeinschaft darstellen, und es ist gewiß, daß ihre Zahl
durch Übertritte zum mazdaischen Glauben sich unendlich vermehrt
hat. Die babylonische Religion ist damals verschwunden -- ihre
Anhänger sind also teils „Juden“ teils „Perser“ geworden --, aber
es gibt eine aus ihr hervorgegangene, ihrem inneren Wesen nach
+neue+ und der persischen wie jüdischen verwandte Astralreligion,
welche den Chaldäernamen trägt und deren Anhänger eine echte,
aramäisch redende Nation bilden. Aus dieser aramäischen Bevölkerung
chaldäisch-jüdisch-persischer Nation sind sowohl der babylonische
Talmud, die Gnosis und die Religion Manis wie in islamischer Zeit,
nachdem sie beinahe ganz zur arabischen Nation übergegangen war, der
Sufismus und die Schia hervorgegangen.

Von Edessa aus erscheint nun auch die Bevölkerung der antiken Welt als
Nation magischen Stils: „die Griechen“ des östlichen Sprachgebrauchs;
es ist der Inbegriff aller Menschen, welche den synkretistischen Kulten
anhängen und durch das _idjma_ der spätantiken Religiosität
zusammengehalten sind. Man erblickt nicht mehr die hellenistischen
Stadtnationen, sondern nur noch eine Gemeinde der Gläubigen, der
„Mysterienanbeter“, die unter dem Namen Helios, Jupiter, Mithras,
θεὸς ὕψιστος eine Art Jahwe oder Allah verehren. Griechentum ist im
ganzen Osten ein fester +religiöser+ Begriff, und er entspricht
durchaus der damaligen Wirklichkeit. Das Gefühl der _polis_ ist
fast erloschen, und eine magische Nation bedarf keines Vaterlandes
und keiner Einheit der Abstammung. Schon der Hellenismus des
Seleukidenreiches, der in Turkestan und am Indus Proselyten warb, war
seiner inneren Form nach dem nachexilischen Judentum und Persertum
verwandt. Der Aramäer Porphyrios, Schüler Plotins, hat später den
Versuch gemacht, dieses Griechentum als Kultkirche nach dem Vorbilde
der christlichen und persischen zu organisieren und Kaiser Julian
hat sie zur Staatskirche erhoben. Das war nicht nur ein religiöser,
sondern vor allem auch ein nationaler Akt. Wenn ein Jude dem Sol
oder Apollon opferte, so war er Grieche geworden. So tritt Ammonios
Sakkas († 242), der Lehrer des Plotin und wahrscheinlich des Origenes,
„von den Christen zu den Griechen“ über und ebenso Porphyrios, der
wie der römische Jurist Ulpian[142] ein Phöniker aus Tyrus war und
ursprünglich Malchus hieß.[143] Juristen und Beamte nehmen in diesem
Falle lateinische, Philosophen griechische Namen an. Das genügt heute
einer von philologischen Gesichtspunkten beherrschten Geschichts- und
Religionsforschung, um sie als Römer und Griechen im Sinne antiker
Stadtnationen zu behandeln. Wie viele unter den großen Alexandrinern
mögen aber Griechen nur im +magischen+ Sinne gewesen sein? Waren
Plotin und Diophant vielleicht der Geburt nach Juden oder Chaldäer?

Aber ebenso fühlten sich die Christen von Anfang an als Nation
magischen Stils und sie sind von den übrigen, Griechen („Heiden“)
wie Juden, nicht anders aufgefaßt worden. Diese haben ihren Abfall
vom Judentum ganz folgerichtig als Hochverrat und jene das werbende
Eindringen in die antiken Städte als Eroberung behandelt. Die Christen
aber bezeichneten die Andersgläubigen als τὰ ἔθνη. Als die Monophysiten
und Nestorianer sich von den Orthodoxen trennten, waren mit den neuen
Kirchen zugleich neue Nationen entstanden. Die Nestorianer werden seit
1450 durch den Mar-Schamun regiert, der zugleich Fürst und Patriarch
des Volkes ist und dem Sultan gegenüber genau die Stellung einnimmt,
die einst der jüdische Resch Galuta im Perserreich besaß. Man darf
dies aus einem ganz bestimmten Weltgefühl stammende und daher mit
Selbstverständlichkeit vorhandene Nationalbewußtsein nicht außer
acht lassen, wenn man die späteren Christenverfolgungen verstehen
will. Der magische Staat ist mit dem Begriff der Rechtgläubigkeit
untrennbar verbunden. Khalifat, Nation und Kirche bilden eine
innere Einheit. Adiabene trat +als Staat+ zum Judentum über,
Osrhoëne schon um 200 vom Griechentum zum Christentum, Armenien im
6. Jahrhundert von der griechischen zur monophysitischen Kirche.
Damit war jedesmal zum Ausdruck gebracht, daß der Staat mit der
Gemeinschaft der Rechtgläubigen als juristischer Person identisch
sei. Wenn im islamischen Staate Christen, im persischen Nestorianer,
im byzantinischen Juden leben, so gehören sie als Ungläubige ihm doch
nicht an und sind deshalb ihrer eigenen Gerichtsbarkeit überlassen (S.
79 ff.). Bedrohen sie durch ihre Zahl oder Mission den Fortbestand der
Identität von Staat und rechtgläubiger Kirche, so wird ihre Verfolgung
zur nationalen Pflicht. Deshalb sind im persischen Reiche zuerst die
Orthodoxen („Griechen“), später die Nestorianer verfolgt worden.
Diokletian, der als Khalif -- _dominus et deus_ -- die heidnische
Kultkirche mit dem Imperium verbunden hatte und sich durchaus als
Beherrscher +dieser+ Gläubigen fühlte, konnte sich auch der
Pflicht nicht entziehen, die zweite Kirche zu unterdrücken. Konstantin
wechselte die „wahre“ Kirche +und damit zugleich die Nationalität+
des Reiches von Byzanz. Von jetzt an geht der Griechenname langsam
und ganz unvermerkt auf die christliche Nation über und zwar auf die,
welche der Kaiser als Herrscher der Gläubigen anerkannte und auf den
großen Konzilen vertreten ließ. Daher das Ungewisse im geschichtlichen
Bilde des byzantinischen Reiches, das um 290 als antikes Imperium
organisiert und trotzdem von Anfang an ein magischer Nationalstaat
gewesen war, der unmittelbar danach (seit 312) die Nation wechselte,
ohne den Namen zu verändern. Unter dem Namen Griechen hat zuerst das
Heidentum als Nation die Christen, dann das Christentum als Nation
den Islam bekämpft. In der Verteidigung gegen diesen, die „arabische“
Nation, hat sich die Nationalität immer schärfer ausgeprägt und so sind
die heutigen Griechen ein Gebilde der magischen Kultur, das zuerst
durch die christliche Kirche, dann die heilige Sprache dieser Kirche,
endlich durch den Namen dieser Kirche entwickelt worden ist. Der Islam
hatte aus der Heimat Mohammeds den Arabernamen als Bezeichnung seiner
nationalen Einheit mitgebracht. Es ist ein Irrtum, diese „Araber“
mit den Beduinenstämmen der Wüste gleichzusetzen. Diese neue Nation
mit ihrer leidenschaftlichen und charaktervollen Seele ist durch den
_consensus_ des neuen Glaubens geschaffen worden. Sie ist so wenig
wie die christliche, jüdische und persische eine Einheit der Rasse und
mit einer Heimat verbunden; sie ist also auch nicht „ausgewandert“ und
hat vielmehr ihre ungeheure Ausdehnung durch die Aufnahme des größten
Teils der frühmagischen Nationen in ihren Verband erhalten. Diese
Nationen gehen mit dem Ende des ersten Jahrtausends sämtlich in die
Form von Fellachenvölkern über und als solche haben die Christenvölker
der Balkanhalbinsel unter türkischer Herrschaft, die Parsen in Indien
und die Juden in Westeuropa seitdem gelebt.

Die Nationen faustischen Stils treten seit Otto dem Großen in immer
bestimmteren Umrissen hervor und lösen die Urvölker der Karolingerzeit
sehr bald auf.[144] Um das Jahr 1000 bereits empfinden sich die
bedeutenderen Menschen überall als Deutsche, Italiener, Spanier oder
Franzosen, während kaum sechs Generationen früher ihre Ahnen sich im
Grunde ihrer Seele als Franken, Langobarden oder Westgoten gefühlt
hatten.

Der Völkerform dieser Kultur liegt wie der gotischen Architektur und
der Infinitesimalrechnung ein Hang zum Unendlichen zugrunde und zwar
im räumlichen wie im zeitlichen Sinne. Das Nationalgefühl umfaßt
einerseits einen geographischen Horizont, der für eine so frühe Zeit
und ihre Verkehrsmittel ungeheuer genannt werden muß und in keiner
anderen Kultur seinesgleichen hat. Das Vaterland +als Weite+,
als ein Gebiet, dessen Grenzen der Einzelne kaum je erblickt hat und
für dessen Schutz zu sterben er doch bereit ist, kann in seiner
symbolischen Tiefe und Mächtigkeit von Menschen fremder Kulturen nie
verstanden werden. Die magische Nation besitzt als solche überhaupt
keine irdische Heimat; die antike besitzt sie nur als Punkt, auf dem
sie sich zusammendrängt. Daß es schon in gotischer Zeit wirklich etwas
gab, worin sich Menschen im Etschtal und in den Ordensschlössern
Litauens als Glieder eines Verbandes fühlten, ist im alten China und
Ägypten völlig undenkbar und bildet den schroffsten Gegensatz zu Rom
oder Athen, wo alle Mitglieder des Demos sich gewissermaßen beständig
im Auge hatten.

Noch stärker ist das Pathos der Ferne im +zeitlichen+ Sinne. Es hat
der Idee des Vaterlandes, die aus dem nationalen Dasein +folgt+, eine
zweite vorangestellt, welche die faustischen Nationen überhaupt erst
+erzeugt+: +die dynastische+. Faustische Völker sind historische
Völker, Gemeinschaften, die sich nicht durch den Ort oder _consensus_,
sondern durch Geschichte verbunden fühlen; und als Sinnbild und Träger
des gemeinsamen Schicksals erscheint weithin sichtbar das herrschende
Haus. Für den ägyptischen und chinesischen Menschen war die Dynastie
ein Symbol von ganz anderer Bedeutung. +Hier+ bedeutet sie die Zeit,
insofern sie wollend und handelnd ist. Was man gewesen war, was man
sein wollte, das erblickte man im Dasein eines einzelnen Geschlechts.
Dieser Sinn wurde so tief empfunden, daß die Würdelosigkeit eines
Regenten das dynastische Gefühl nicht erschüttern konnte; die Idee,
nicht die Person stand in Frage. Und es geschah um der Idee willen,
daß Tausende für einen genealogischen Streit mit Überzeugung in den
Tod gingen. Antike Geschichte war für das antike Auge eine Kette von
Zufällen, die von Augenblick zu Augenblick führte; magische Geschichte
war für ihre Menschen die fortschreitende Verwirklichung eines von
Gott entworfenen Weltplanes, der sich zwischen Schöpfung und Untergang
an den Völkern und durch sie vollzog; faustische Geschichte ist für
unsern Blick ein einziges großes Wollen von bewußter Logik, in dessen
Vollendung die Nationen durch ihre Herrscher geführt und vertreten
werden. Das ist ein Zug der Rasse. Begründen läßt es sich nicht. So
hat man es empfunden und deshalb hat sich aus der Gefolgstreue der
germanischen Wanderzeit die Lehnstreue der Gotik, die Loyalität des
Barock und das nur scheinbar undynastische Nationalgefühl des 19.
Jahrhunderts entwickelt. Man täusche sich nicht über Tiefe und Rang
dieser Gefühle, wenn man die endlose Reihe der Eidbrüche von Vasallen
und Völkern und das ewige Schauspiel höfischer Kriecherei und gemeiner
Unterwürfigkeit mustert. Alle großen Symbole sind seelenhaft und können
nur in ihren höchsten Formen begriffen werden. Das Privatleben eines
Papstes steht zur Idee des Papsttums in keiner Beziehung. Gerade der
Abfall Heinrichs des Löwen bezeugt in einer Zeit der Nationenbildung,
wie stark ein bedeutender Herrscher das Schicksal „seines“ Volkes in
sich verkörpert fühlte. Er vertritt es vor der Geschichte und ist ihm
unter Umständen das Opfer seiner Ehre schuldig.

Alle Nationen des Abendlandes sind dynastischen Ursprungs. Noch in
der romanischen und frühgotischen Baukunst schimmerte die Seele
der karolingischen Urvölker durch. Es gibt keine französische
und deutsche Gotik, sondern eine salfränkische, rheinfränkische,
schwäbische, und ebenso eine westgotische -- Südfrankreich und
Nordspanien verbindende --, langobardische und sächsische Romanik.
Aber darüber breitet sich doch schon die Minderheit von Rassemenschen
aus, welche ihre Zugehörigkeit zu einer Nation im Sinne einer großen
historischen Sendung empfinden. Von ihnen gehen die Kreuzzüge aus,
in denen es wirklich ein deutsches und französisches Rittertum gibt.
Es ist das Kennzeichen faustischer Völker, daß sie sich der Richtung
ihrer Geschichte bewußt sind. Diese Richtung aber haftet an der
Geschlechterfolge. Das Rasseideal ist durchaus +genealogischer+
Natur -- in dieser Hinsicht ist der Darwinismus mit seinen Vererbungs-
und Abstammungslehren beinahe eine Karikatur der gotischen Heraldik --
und die Welt als Geschichte, in deren Bild jeder einzelne lebt, enthält
nicht nur den +Stammbaum der einzelnen Familie+, der herrschenden
voran, sondern auch den der Völker als Grundform alles Geschehens. Man
muß sehr genau zusehen, um zu bemerken, daß den Ägyptern und Chinesen
das faustisch-genealogische Prinzip mit den eminent historischen
Begriffen der Ebenbürtigkeit und des reinen Blutes ebenso fremd ist wie
dem römischen Adel und dem byzantinischen Kaisertum. Dagegen ist weder
unser Bauerntum noch das Patriziat der Städte ohne diese Idee denkbar.
Der gelehrte Begriff Volk, den ich oben zergliedert hatte, stammt
wesentlich aus dem genealogischen Empfinden der gotischen Zeit. Der
Gedanke eines Stammbaums der Völker hat den Stolz der Italiener, Erben
der Römer zu sein, und die Berufung der Deutschen auf ihre germanischen
Vorfahren zur Folge gehabt, und das ist etwas ganz anderes als der
antike Glaube an die zeitlose Abkunft von Helden und Göttern. Er hat
zuletzt, als seit 1789 die Muttersprache dem dynastischen Prinzip
hinzugefügt wurde, die ursprünglich rein wissenschaftliche Phantasie
von einem indogermanischen Urvolk zu einer tiefgefühlten Genealogie
der „arischen Rasse“ ausgestaltet, wobei das Wort Rasse fast eine
Bezeichnung für Schicksal geworden ist.

Aber die „Rassen“ des Abendlandes sind nicht die Schöpfer der
großen Nationen, sondern +ihre Folge+. Sie sind sämtlich zur
Karolingerzeit noch nicht vorhanden gewesen. Es ist das Standesideal
der Ritterschaft, das in Deutschland wie in England, Frankreich und
Spanien in verschiedener Richtung züchtend gewirkt und in weitem
Umfange das durchgesetzt hat, was heute innerhalb der einzelnen
Nationen als Rasse gefühlt und erlebt wird. Darauf beruhen, wie
erwähnt, die +historischen+ und deshalb der Antike ganz fremden
Begriffe des reinen Blutes und der Ebenbürtigkeit. Weil das Blut
des herrschenden Geschlechts das Schicksal, das Dasein der gesamten
Nation verkörpert, hat das Staatensystem des Barock eine rein
genealogische Struktur und die Mehrzahl der großen Krisen die Form von
Erbfolgekriegen angenommen. Noch die Katastrophe Napoleons, welche der
Welt für ein Jahrhundert ihre politische Gliederung gab, vollzog sich
in der Gestalt, daß ein Abenteurer es wagte, durch sein Blut das der
alten Dynastien zu verdrängen und daß dieser Angriff auf ein Symbol
dem Widerstand gegen ihn die historische Weihe gab. Denn alle diese
Völker waren +die Folge+ dynastischer Schicksale. Daß es ein
portugiesisches Volk gibt und damit auch einen portugiesischen Staat
Brasilien mitten im spanischen Südamerika, ist die Folge der Heirat
des Grafen Heinrich von Burgund (1095). Daß es Schweizer und Holländer
gibt, ist die Folge einer Auflehnung gegen das Haus Habsburg. Daß es
Lothringen als Namen eines Landes, aber nicht als Volk gibt, ist die
Folge der Kinderlosigkeit Lothars II.

Es ist die Kaiseridee, welche eine Anzahl von Urvölkern der
karolingischen Zeit zur deutschen Nation verschmolzen hat. Deutschland
und Kaisertum sind untrennbare Begriffe. Der Untergang der Staufer
bedeutete den Ersatz einer großen Dynastie durch eine Handvoll kleiner
und kleinster; er hat die deutsche Nation gotischen Stils noch vor dem
Beginn des Barock innerlich gebrochen, gerade damals, als in führenden
Städten -- Paris, Madrid, London, Wien -- das Nationalbewußtsein auf
eine geistigere Stufe gehoben wurde. Wenn der Dreißigjährige Krieg
nicht etwa die Blüte Deutschlands vernichtete, sondern im Gegenteil
dadurch, daß er in dieser trostlosen Form überhaupt möglich war, den
längst vollzogenen Verfall nur bestätigte und offenbarte, so war das
die letzte Folge des Sturzes der Hohenstaufen. Es gibt vielleicht
keinen stärkeren Beweis dafür, daß faustische Nationen dynastische
Einheiten sind. Aber die Salier und Staufer haben auch aus Romanen,
Langobarden und Normannen zum mindesten der Idee nach die italienische
Nation geschaffen, die erst über das Kaisertum hinweg an die Römerzeit
anknüpfen konnte. Wenn hier auch die fremde Gewalt den Widerstand
des Bürgertums hervorrief, der beide Urstände spaltete und den Adel
auf die kaiserliche, die Kirche auf die städtische Seite zog; wenn
auch in diesem Kampfe zwischen Ghibellinen und Guelfen der Adel früh
seine Bedeutung verlor und das Papsttum durch die antidynastischen
Städte zur politischen Vormacht emporstieg; wenn auch zuletzt nur ein
Gewirr winziger Raubstaaten übrig blieb, deren „Renaissancepolitik“
dem überfliegenden weltpolitischen Geiste der kaiserlichen Gotik
mit derselben Feindseligkeit gegenübertritt, wie Mailand einst dem
Willen Barbarossas, so ist doch das Ideal der Una Italia, für welches
Dante den Frieden seines Lebens geopfert hat, eine rein dynastische
Schöpfung der großen deutschen Kaiser. Die Renaissance hat mit dem
geschichtlichen Horizont des städtischen Patriziats die Nation von
seiner Erfüllung so weit abgeführt, als es möglich war, und das
Land während des ganzen Barock zum Objekt fremder Hausmachtpolitik
erniedrigt. Erst die Romantik von 1800 hat das gotische Gefühl wieder
erweckt und zwar in einer Stärke, welche das Gewicht einer politischen
Macht besaß.

Das französische Volk ist durch seine Könige aus Franken und Westgoten
zur Einheit verschmolzen worden. Es hat 1214 bei Bouvines zum ersten
Male gelernt, sich als Ganzes zu fühlen; und noch bedeutsamer ist die
Schöpfung des Hauses Habsburg, das aus einer Bevölkerung, die weder
Sprache noch Volkstum noch Überlieferung verband, die österreichische
Nation entstehen ließ, die ihre Proben -- die ersten, auch die
letzten -- in der Verteidigung Maria Theresias und im Kampfe gegen
Napoleon abgelegt hat. Die politische Geschichte der Barockzeit ist
im wesentlichen die Geschichte der Häuser Bourbon und Habsburg. Der
Aufstieg der Wettiner an Stelle der Welfen ist der Grund, weshalb
„Sachsen“ um 800 an der Weser und heute an der Saale liegt. Dynastische
Ereignisse, zuletzt das Eingreifen Napoleons haben bewirkt, daß die
Hälfte der Bayern an der Geschichte Österreichs teilnahm und daß der
bayerische Staat zum größeren Teil aus Franken und Schwaben besteht.

Die späteste Nation des Abendlandes ist die preußische, eine
Schöpfung der Hohenzollern, wie die Römer die letzte Schöpfung des
antiken Polisgefühls und die Araber die letzte aus einem religiösen
_consensus_ gewesen sind. Bei Fehrbellin hat sich die junge Nation
legitimiert, bei Roßbach siegte sie für Deutschland. Es war Goethe,
der mit seinem unfehlbaren Blick für geschichtliche Epochen die damals
entstandene Minna von Barnhelm als die erste deutsche Dichtung von
spezifisch nationalem Gehalt bezeichnete. Es ist wieder ein sehr tiefes
Zeugnis für die dynastische Bestimmtheit abendländischer Nationen,
daß Deutschland jetzt mit einem Schlage seine dichterische Sprache
wiederfand. Mit dem Zusammenbruch des staufischen Kaisertums war auch
die deutsche Literatur gotischen Stils zu Ende gewesen. Was in den
folgenden Jahrhunderten, der Großzeit aller westlichen Literaturen,
hier und da hervortrat, verdient diesen Namen nicht. Mit dem Siege
Friedrichs des Großen beginnt eine neue Dichtung: von Lessing bis
Hebbel, das heißt von Roßbach bis Sedan. Wenn damals der Versuch
gemacht wurde, den verlornen Zusammenhang durch bewußtes Anknüpfen erst
an die Franzosen, dann an Shakespeare, an das Volkslied, endlich durch
die Romantiker an die Poesie der Ritterzeit wiederherzustellen, so hat
das zum mindesten die einzigartige Erscheinung einer Kunstgeschichte
hervorgerufen, die fast ganz aus genialen Ansätzen besteht, ohne je ein
Ziel wirklich erreicht zu haben.

Am Ende des 18. Jahrhunderts vollzieht sich jene merkwürdige geistige
Wendung, durch welche das Nationalbewußtsein sich von dem dynastischen
Prinzip emanzipieren will. Scheinbar ist das in England schon früher
der Fall gewesen; manche werden an die Magna Charta von 1215 denken;
andern wird es nicht verborgen sein, daß gerade diese Anerkennung
der Nation durch ihren Repräsentanten dem dynastischen Gefühl eine
ungezwungene Vertiefung und Verfeinerung gegeben hat, von welcher
die Völker des Kontinents weit entfernt blieben. Wenn der moderne
Engländer der konservativste Mensch der Welt ist, ohne es zu scheinen,
und wenn infolgedessen seine Politik so viel von dem Notwendigen durch
nationalen Takt und schweigend statt durch laute Auseinandersetzungen
erledigt und deshalb bis jetzt die erfolgreichste gewesen ist, so
beruht das auf der frühen +Emanzipation des dynastischen Gefühls+
von dem Ausdruck der monarchischen Gewalt.

Dagegen bedeutet die französische Revolution in dieser Richtung
nur einen Erfolg des Rationalismus. Sie hat weniger die Nation als
den Begriff der Nation befreit. Den abendländischen Rassen ist das
Dynastische ins Blut gedrungen; dem Geist ist es eben deshalb ein
Ärgernis. Denn eine Dynastie repräsentiert die Geschichte, ist die
fleischgewordne Geschichte eines Landes, und der Geist ist zeitlos und
ungeschichtlich. Alle Ideen der Revolution sind „ewig“ und „wahr“.
Allgemeine Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit sind Literatur
und Abstraktion, keine Tatsachen. Man mag das alles republikanisch
nennen; gewiß ist, daß es wieder eine Minderheit war, welche im Namen
aller das neue Ideal in die Welt der Tatsachen einzuführen suchte.
Sie wurde eine Macht, aber auf Kosten des Ideals. Sie hat in der Tat
nur die gefühlte Anhänglichkeit durch den überzeugten Patriotismus
des 19. Jahrhunderts ersetzt, durch einen nur in unserer Kultur
möglichen zivilisierten Nationalismus, der selbst in Frankreich
und heute noch unbewußt dynastisch ist, durch den Begriff +des
Vaterlandes als dynastischer Einheit+, der zuerst in der spanischen
und preußischen Erhebung gegen Napoleon, dann in den deutschen und
italienischen +dynastischen+ Einigungskämpfen hervortrat. Es
beruht auf dem Gegensatz von Rasse und Sprache, von Blut und Geist, daß
man dem Genealogischen nun das ebenfalls spezifisch abendländische
Ideal der Muttersprache entgegenstellt; es gab in beiden Ländern
Schwärmer, welche die einigende Gewalt der Kaiser- und Königsidee
durch die Verbindung von Republik und Poesie ersetzen zu können
glaubten. Es war etwas Rückkehr -- von der Geschichte -- zur Natur
darin. Die Erbfolgekriege sind durch Sprachenkämpfe abgelöst worden,
in denen eine Nation Fragmenten einer anderen ihre Sprache und damit
ihre Nationalität aufzuzwingen sucht. Aber niemand wird übersehen,
daß auch der rationalistische Begriff der Nation als Spracheinheit
vom dynastischen Gefühl zwar absehen, es aber nicht aufheben kann,
sowenig ein hellenistischer Grieche das Polisbewußtsein oder ein
moderner Jude das nationale _idjma_ innerlich überwindet. Die
„Muttersprache“ ist bereits ein Produkt dynastischer Geschichte. Ohne
die Capetinger würde es keine französische Sprache geben, sondern eine
romanisch-fränkische im Norden und eine provençalische im Süden; die
italienische Schriftsprache ist ein Verdienst der deutschen Kaiser,
vor allem Friedrichs II. Die modernen Nationen sind zunächst die
Bevölkerungen alter dynastischer Gebiete. Trotzdem hat der zweite
Begriff der Nation als schriftsprachlicher Einheit im Laufe des 19.
Jahrhunderts die österreichische vernichtet und die amerikanische
vielleicht geschaffen. Es gibt seitdem in allen Ländern zwei Parteien,
welche die Nation in einem entgegengesetzten Sinne vertreten, als
dynastisch-historische und als geistige Einheit -- Parteien der Rasse
und der Sprache --, aber diese Erwägungen greifen schon in die Probleme
der Politik hinüber (Kap. IV).


19

Im stadtlosen Lande war es der Adel, welcher zuerst die Nation in
einem höheren Sinne vertrat. Das Bauerntum, geschichtslos und „ewig“,
war Volk vor dem Anbruch der Kultur; es bleibt in sehr wesentlichen
Zügen Urvolk und es überlebt die Form der Nation. „Die Nation“ ist
wie alle großen Symbole der Kultur innerer Besitz weniger Menschen.
Man wird dazu geboren wie zur Kunst und zur Philosophie. Es gibt
auch da etwas, das dem Unterschied von Schöpfer, Kenner und Laien
entspricht und zwar in einer antiken Polis ebenso wie im jüdischen
_consensus_ und in einem Volk des Abendlandes. Wenn eine Nation in
Begeisterung aufsteht, um für ihre Freiheit und Ehre zu kämpfen, so
ist es immer eine Minderheit, welche die Menge im eigentlichsten Sinn
des Wortes „begeistert“. Das Volk wacht auf -- das ist viel mehr als
eine Redensart. Das Wachsein des Ganzen tritt wirklich erst jetzt in
Erscheinung. Alle diese einzelnen, die gestern noch mit einem Wirgefühl
einhergingen, das sich lediglich auf die Familie, den Beruf, vielleicht
den Heimatort erstreckte, sind heute plötzlich vor allem Männer ihres
Volkes. Ihr Fühlen und Denken, ihr Ich und damit das „Es“ in ihnen hat
sich bis in die Tiefe umgewandelt: es ist +historisch+ geworden.
Dann wird auch der geschichtslose Bauer Glied seiner Nation und es
bricht für ihn eine Zeit an, in der er Geschichte erlebt und nicht nur
vorüberziehen läßt.

Es sind die Weltstädte, in denen neben einer Minderheit, welche
Geschichte hat und die Nation in sich erlebt, vertreten fühlt
und führen will, eine zweite entsteht, zeitlose, geschichtslose,
literarische Menschen, Menschen der Gründe und Ursachen, nicht des
Schicksals, welche, dem Blut und dem Dasein innerlich entfremdet, ganz
denkendes Wachsein, für den Begriff der Nation keinen „vernünftigen“
Inhalt mehr entdecken. Sie gehören ihr wirklich nicht mehr an, denn
Kulturvölker sind Formen von Daseinsströmen; Kosmopolitismus ist
eine bloße Wachseinsverbindung von „Intelligenzen“. Es ist Haß gegen
das Schicksal darin, vor allem gegen die Geschichte als Ausdruck des
Schicksals. Alles Nationale ist rassehaft bis zu dem Grade, daß es
keine Sprache findet und in allem, was Denken fordert, ungeschickt und
hilflos bis zum Verhängnis bleibt. +Kosmopolitismus ist Literatur+
und bleibt es, sehr stark in den Gründen und sehr schwach in ihrer
Verteidigung nicht mit neuen Gründen, sondern mit dem Blute.

Aber eben deshalb kämpft diese geistig weit überlegene Minderheit
mit geistigen Waffen und sie darf es, weil Weltstädte reiner
Geist, wurzellos und an sich schon zivilisierter Gemeinbesitz
sind. Die gebornen Weltbürger und Schwärmer für Weltfrieden und
Völkerversöhnung -- im China der kämpfenden Reiche, im buddhistischen
Indien, im Hellenismus und heute -- sind +die geistigen Führer des
Fellachentums+. _Panem et circenses_ -- +das ist nur eine
andere Formel für Pazifismus+. Ein antinationales Element ist in
der Geschichte aller Kulturen stets vorhanden gewesen, ob wir davon
Kunde haben oder nicht. Das reine auf sich selbst gestellte Denken
war immer lebensfremd und also geschichtsfeindlich, unkriegerisch,
rasselos. Es sei an den Humanismus und Klassizismus, an die Sophisten
Athens erinnert, an Buddha und Laotse, um von der leidenschaftlichen
Verachtung alles nationalen Ehrgeizes durch die großen Verteidiger
priesterlicher und philosophischer Weltanschauungen zu schweigen. Diese
Fälle mögen noch so verschieden sein, sie gleichen sich darin, daß
das Weltgefühl des Rassemäßigen, der politische und deshalb nationale
Tatsachensinn -- _right or wrong, my country!_ --, der Entschluß,
Subjekt und nicht Objekt der historischen Entwicklung zu sein --
denn etwas Drittes gibt es nicht --, kurz der Wille zur Macht durch
eine Neigung überwältigt wird, deren Führer sehr oft Menschen ohne
ursprüngliche Triebe, aber desto mehr auf Logik versessen sind, in
einer Welt der Wahrheiten, Ideale und Utopien zu Hause, Büchermenschen,
welche das Wirkliche durch das Logische, die Gewalt der Tatsachen durch
eine abstrakte Gerechtigkeit, das Schicksal durch die Vernunft ersetzen
zu können glauben. Es fängt an mit den Menschen der ewigen Angst,
die sich aus der Wirklichkeit in Klöster, Denkerstuben und geistige
Gemeinschaften zurückziehen und die Weltgeschichte für gleichgültig
erklären, und endet in jeder Kultur bei den Aposteln des Weltfriedens.
Jedes Volk bringt solchen -- geschichtlich betrachtet -- Abfall hervor.
Schon die Köpfe bilden physiognomisch eine Gruppe für sich. Sie nehmen
in der „Geschichte des Geistes“ einen hohen Rang ein -- eine lange
Reihe berühmter Namen ist darunter --, vom Standpunkt der wirklichen
Geschichte aus betrachtet sind sie minderwertig.

Das Schicksal einer Nation mitten in den Ereignissen ihrer Welt hängt
davon ab, wie weit es der Rasse glückt, diese Erscheinung geschichtlich
unwirksam zu machen. Es ist vielleicht heute noch nachzuweisen, daß in
der chinesischen Staatenwelt das Reich von Tsin um 250 v. Chr. deshalb
den Endsieg erfocht, weil seine Nation allein sich von den Stimmungen
des Taoismus frei erhalten hatte. Jedenfalls hat das römische Volk
über den Rest der Antike gesiegt, weil es die Fellacheninstinkte des
Hellenismus für die Haltung seiner Politik auszuschalten wußte.

Eine Nation ist Menschentum in lebendige Form gebracht. Das praktische
Ergebnis weltverbessernder Theorien ist regelmäßig eine +formlose und
deshalb geschichtslose+ Masse. Alle Weltverbesserer und Weltbürger
vertreten Fellachenideale, ob sie es wissen oder nicht. +Ihr
Erfolg bedeutet die Abdankung der Nation innerhalb der Geschichte,
nicht zugunsten des ewigen Friedens, sondern zugunsten anderer.+
Der Weltfriede ist jedesmal ein einseitiger Entschluß. Die _pax
Romana_ hat für die späteren Soldatenkaiser und germanischen
Heerkönige nur die eine praktische Bedeutung: eine formlose
Bevölkerung von hundert Millionen zum Objekt des Machtwillens kleiner
Kriegerschwärme zu machen. Dieser Friede kostete die Friedlichen Opfer,
gegen welche die der Schlacht von Cannä verschwinden. Die babylonische,
chinesische, indische und ägyptische Welt gingen aus einer Erobererhand
in die andere und bezahlten den Kampf mit ihrem eigenen Blute. Das war
ihr -- Friede. Als die Mongolen 1401 Mesopotamien eroberten, haben
sie aus 100000 Schädeln der Bevölkerung von Bagdad, die sich nicht
gewehrt hatte, ein Siegesdenkmal aufgeschichtet. Allerdings, mit dem
Erlöschen der Nationen ist eine Fellachenwelt über die Geschichte
geistig erhaben, endgültig zivilisiert, „ewig“. Sie kehrt im Reich der
Tatsachen in einen natürlichen Zustand zurück, der zwischen langem
Dulden und vorübergehendem Wüten auf und ab schwankt, ohne daß mit
allem Blutvergießen -- das durch keinen Weltfrieden je geringer wird
-- sich etwas ändert. Einst hatten sie für sich geblutet, jetzt müssen
sie es für andere und oft genug nur zu deren Unterhaltung -- das ist
der Unterschied. Ein handfester Führer, der zehntausend Abenteurer
versammelt, kann schalten, wie er will. Gesetzt, die ganze Welt wäre
ein einziges Imperium, so wäre damit lediglich der Schauplatz für die
Heldentaten solcher Eroberer der denkbar größte geworden.

Lever doodt als Sklaav: das ist ein altfriesischer Bauernspruch. Die
Umkehrung ist der Wahlspruch jeder späten Zivilisation und jede hat
erfahren müssen, wieviel er kostet.


    [112] Das geht so weit, daß die großstädtische Arbeiterschaft sich
    als +das+ Volk bezeichnet und damit das Bürgertum, mit dem sie kein
    Gemeingefühl verbindet, von diesem Begriffe ausschließt, aber das
    Bürgertum von 1789 hatte es nicht anders gemacht.

    [113] Ed. Meyer, Ursprung und Geschichte der Mormonen (1912) S. 128
    ff.

    [114] In Mazedonien haben Serben, Bulgaren und Griechen im
    19. Jahrhundert christliche Schulen für die türkenfeindliche
    Bevölkerung gegründet. Wenn in einem Dorfe zufällig serbisch
    unterrichtet wurde, so bestand schon die folgende Generation aus
    fanatischen Serben. Die heutige Stärke der „Nationen„ ist also
    lediglich eine Folge der früheren Schulpolitik.

    [115] Über die Skepsis Belochs bezüglich der angeblichen dorischen
    Wanderung vgl. seine Griechische Gesch. I, 2, Abschn. VIII.

    [116] C. Mehlis, Die Berberfrage (Archiv f. Anthropologie 39,
    S. 249 ff.), wo auch über die Verwandtschaft norddeutscher und
    mauretanischer Keramik und sogar vieler Fluß- und Bergnamen
    berichtet wird. Die alten Pyramidenbauten in Westafrika sind
    einerseits den nordischen Hünengräbern, andererseits den
    Königsgräbern des Alten Reiches nahe verwandt. (Einige Abbildungen
    bei L. Frobenius, Der kleinafrikanische Grabbau, 1916.)

    [117] Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt, 1886.

    [118] Geschichte der Kriegskunst, zuerst 1900.

    [119] Ramses III., der sie schlug, hat ihren Zug in seinen Reliefs
    von Medinet Habu abgebildet, W. M. Müller, Asien und Europa 366.

    [120] Die eben deshalb den sinnlosen Begriff Geistesadel erfunden
    haben.

    [121] Obwohl gerade in Rom die Freigelassenen, also in der Regel
    Menschen ganz fremden Blutes, das Bürgerrecht erhalten und schon
    der Zensor Appius Claudius (310) Söhne ehemaliger Sklaven in
    den Senat aufnahm. Einer von ihnen, Flavius, ist damals schon
    kurulischer Ädil geworden.

    [122] Die ältesten datierten Zeugnisse der iranischen Sprache,
    Zeitschr. f. vgl. Sprachf. 42, S. 26.

    [123] S. oben S. 177.

    [124] Ed. Meyer a. a. O., S. 1 ff.

    [125] Zum folgenden vgl. Kap. III.

    [126] Gesch. d. Altertums, I, § 590 f.

    [127] Andreas und Wackernagel, Nachr. d. Gött. Ges. d. Wiss., 1911,
    S. 1 ff.

    [128] S. weiter unten.

    [129] Vgl. S. 125 ff.

    [130] Vgl. Kap. IV A.

    [131] S. oben S. 68 ff. Der Sklave gehört nicht zur Nation. Die
    Einstellung von Nichtbürgern in das Heer einer Stadt, die in
    Zeiten der Not unvermeidlich wurde, ist deshalb auch immer als
    Erschütterung des nationalen Gedankens empfunden worden.

    [132] Schon die Ilias verrät den Hang, sich im Kleinen und
    Kleinsten als Volk zu fühlen.

    [133] Man sollte doch beachten, daß weder Plato noch Aristoteles
    in ihren politischen Schriften sich das ideale Volk anders als in
    der Polisform denken können, aber ebenso natürlich ist es, daß
    die Denker des 18. Jahrhunderts auch „die Alten“ als Nationen im
    Geschmack Shaftesburys und Montesquieus sahen; nur sollten +wir+
    darüber hinaus sein.

    [134] S. oben S. 79 ff.

    [135] F. N. Finck, Die Sprachstämme des Erdkreises (1915) S. 29.

    [136] Wohl gegen Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. Vgl. S. 78 ff.

    [137] Eine lose Gruppe edomitischer Stämme, die mit Moabitern,
    Amalekitern, Ismaeliten u. a. damals eine ziemlich gleichförmige,
    hebräisch sprechende Bevölkerung bildeten.

    [138] Vgl. S. 199.

    [139] Südlich vom Wansee. Die Hauptstadt ist Arbela, die alte
    Heimat der Göttin Ischtar.

    [140] Arch. f. Anthrop. Bd. 19.

    [141] Ztschr. f. Ethnol. 1919.

    [142] Digesten 50, 15.

    [143] Geffcken, Der Ausg. des griech.-röm. Heident. (1920) S. 57.

    [144] Ich bin überzeugt, daß die Nationen Chinas, die zu Beginn
    der Dschouzeit im Gebiet des mittleren Hoangho in großer Zahl
    entstanden, ebenso wie die Gauvölker des ägyptischen Alten Reiches,
    von denen jedes eine Hauptstadt und eine besondere Religion besaß
    und die noch zur Römerzeit förmliche Religionskriege gegeneinander
    führten, ihrer inneren Form nach den Völkern des Abendlandes
    verwandter gewesen sind als den antiken und arabischen. Indessen
    ist die Forschung auf solche Fragen noch gar nicht aufmerksam
    geworden.




DRITTES KAPITEL

PROBLEME DER ARABISCHEN KULTUR




HISTORISCHE PSEUDOMORPHOSEN


1

In einer Gesteinsschicht sind Kristalle eines Minerals eingeschlossen.
Es entstehen Spalten und Risse; Wasser sickert herab und wäscht
allmählich die Kristalle aus, so daß nur ihre Hohlform übrig bleibt.
Später treten vulkanische Ereignisse ein, welche das Gebirge sprengen;
glühende Massen quillen herein, erstarren und kristallisieren ebenfalls
aus. Aber es steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun;
sie müssen die vorhandenen ausfüllen und so entstehen gefälschte
Formen, Kristalle, deren innere Struktur dem äußeren Bau widerspricht,
eine Gesteinsart in der Erscheinungsweise einer fremden. Dies wird von
den Mineralogen Pseudomorphose genannt.

Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde
alte Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier
zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung
reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen
Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt. Alles was aus der Tiefe
eines frühen Seelentums emporsteigt, wird in die Hohlformen des fremden
Lebens ergossen; junge Gefühle erstarren in ältlichen Werken und statt
des Sichaufreckens in eigener Gestaltungskraft wächst nur der Haß gegen
die ferne Gewalt zur Riesengröße.

Dies ist der Fall der arabischen Kultur. Ihre Vorgeschichte liegt ganz
im Bereiche der uralten babylonischen Zivilisation,[145] die seit zwei
Jahrtausenden die Beute wechselnder Eroberer war. Ihre „Merowingerzeit“
wird durch die Diktatur der winzigen persischen Stammesgruppe[146]
bezeichnet, eines Urvolkes wie die Ostgoten, dessen zweihundertjährige,
kaum bestrittene Herrschaft eine unendliche Müdigkeit dieser
Fellachenwelt zur Voraussetzung hat. Aber seit 300 v. Chr. geht eine
große Erweckung durch die jungen Völker dieser vom Sinai bis zum Zagros
aramäisch redenden Welt.[147] Ein neues Verhältnis des Menschen
zu Gott, ein völlig neues Weltgefühl durchdringt wie zur Zeit des
trojanischen Krieges und der Sachsenkaiser alle bestehenden Religionen,
mögen sie die Namen des Ahura Mazda, Baal oder Jahwe tragen; überall
drängt es einer großen Schöpfung zu, aber in eben dem Augenblick und
so, daß ein innerer Zusammenhang nicht ganz unmöglich ist -- denn
die Macht des Persertums beruhte auf seelischen Voraussetzungen, die
gerade jetzt verschwanden --, erschienen die Makedonier, von Babylon
aus gesehen ein neuer Schwarm von Abenteurern wie alle früheren, und
breitete eine dünne Schicht antiker Zivilisation über die Länder bis
nach Indien und Turkestan. Die Diadochenreiche hätten zwar unvermerkt
Staaten vorarabischen Geistes werden können; das Seleukidenreich,
das sich mit dem aramäischen Sprachgebiet geradezu deckte, war es
schon um 200. Da aber wurde es seit der Schlacht bei Pydna in seinem
westlichen Teile nach und nach dem antiken Imperium eingefügt und also
der mächtigen Wirkung eines Geistes unterworfen, dessen Schwerpunkt in
weiter Ferne lag. Hier bereitet sich die Pseudomorphose vor.

Die magische Kultur ist geographisch und historisch die mittelste
in der Gruppe hoher Kulturen, die einzige, welche sich räumlich und
zeitlich fast mit allen andern berührt. Der Aufbau der Gesamtgeschichte
in unserem Weltbilde hängt deshalb ganz davon ab, ob man ihre innere
Form erkennt, welche durch die äußere gefälscht wird; aber gerade
sie ist aus philologischen und theologischen Vorurteilen und mehr
noch infolge der Zersplitterung der modernen Fachwissenschaft bis
jetzt nicht erkannt worden. Die abendländische Forschung ist seit
langem nicht nur dem Stoff und der Methode, sondern auch dem Denken
nach in eine Anzahl von Fachgebieten zerfallen, deren widersinnige
Abgrenzung es verhindert hat, daß man die großen Fragen auch nur sah.
Wenn irgendwo, so ist das „Fach“ für die Probleme der arabischen
Welt zum Verhängnis geworden. Die eigentlichen Historiker hielten
sich an das Interessengebiet der klassischen Philologie, aber deren
Horizont endete an der antiken Sprachgrenze im Osten. Infolgedessen
haben sie die tiefe Einheit der Entwicklung diesseits und jenseits
dieser seelisch gar nicht vorhandenen Schranke nie bemerkt. Das
Ergebnis war die Perspektive Altertum -- Mittelalter -- Neuzeit, die
+durch den griechisch-lateinischen Sprachgebrauch+ abgegrenzt
und zusammengehalten wird. Axum, Saba und auch das Sassanidenreich
waren für den Kenner der alten Sprachen, der sich an „Texte“
hielt, nicht erreichbar und deshalb geschichtlich so gut wie nicht
vorhanden. Die Literaturforscher, ebenfalls Philologen, verwechselten
den Geist der Sprache mit dem der Werke. Was im aramäischen
Gebiet griechisch geschrieben oder auch nur erhalten war, wurde
einer „spätgriechischen“ Literatur einverleibt und daraufhin eine
eigene Periode dieser Literatur angesetzt. Die Texte in anderen
Sprachen fielen nicht in ihr Fach und wurden deshalb zu anderen
Literaturgeschichten künstlich zusammengefaßt. Aber gerade hier lag
das stärkste Beispiel dafür vor, daß keine Literaturgeschichte der
Welt sich mit einer Sprache deckt.[148] Es gab hier eine geschlossene
Gruppe magischer Nationalliteraturen von einheitlichem Geist, aber in
+mehreren+ Sprachen, darunter auch den antiken. Denn eine Nation
magischen Stils hat keine Muttersprache. Es gibt eine talmudische,
manichäische, nestorianische, jüdische, sogar eine neupythagoräische
+National+literatur, aber keine hellenische oder hebräische.

Die Religionsforschung zerlegte das Gebiet in Einzelfächer nach
+westeuropäischen+ Konfessionen, und für die christliche Theologie
ist wieder die „Philologengrenze“ im Osten maßgebend gewesen und ist
es noch. Das Persertum fiel in die Hände der iranischen Philologie.
Weil die Awestatexte in einem arischen Dialekt nicht abgefaßt, aber
verbreitet wurden, ist dies gewaltige Problem als Nebenaufgabe für
Indologen betrachtet worden und verschwand damit völlig aus dem
Gesichtskreis der christlichen Theologie. Für die Geschichte des
talmudischen Judentums ist endlich, da die hebräische Philologie
mit der alttestamentlichen Forschung +ein+ Fach bildet, kein
weiteres Fach abgegrenzt worden und es wurde deshalb in allen großen
Religionsgeschichten, die ich kenne, die jede primitive Negerreligion
-- weil es eine Völkerkunde als Fach gibt -- und jede indische
Sekte in Betracht ziehen, vollständig +vergessen+. Das ist
die gelehrte Vorbereitung der größten Aufgabe, welche der heutigen
Geschichtsforschung gestellt ist.


2

Die römische Welt der Kaiserzeit hat ihre Lage wohl geahnt. Die
späten Schriftsteller sind voll von Klagen über die Entvölkerung
und geistige Verödung Afrikas, Spaniens, Galliens und vor allem der
antiken Stammgebiete, Italiens und Griechenlands. Ausgenommen von
diesem verzweifelten Umblick sind regelmäßig die Provinzen, welche zur
magischen Welt gehören. Syrien besonders ist dicht bevölkert und blüht
wie das parthische Mesopotamien dem Blute wie der Seele nach prachtvoll
auf. Das Übergewicht des jungen Ostens ist jedem fühlbar und mußte
endlich auch politisch zum Ausdruck kommen. Die revolutionären Kriege
zwischen Marius und Sulla, Cäsar und Pompejus, Antonius und Oktavian
sind von hier aus betrachtet ein Stück Vordergrundsgeschichte, hinter
welcher immer deutlicher der Versuch einer Emanzipation dieses Ostens
von dem geschichtslos werdenden Westen, einer erwachenden von einer
Fellachenwelt hervortritt. Die Verlegung der Hauptstadt nach Byzanz
war ein großes Symbol. Diokletian hatte Nikomedien gewählt, Cäsar an
Alexandria oder Ilion gedacht; Antiochia wäre in jedem Falle richtiger
gewesen. Aber dieser Akt vollzog sich drei Jahrhunderte zu spät: es
waren die entscheidenden der magischen Frühzeit.

Die Pseudomorphose beginnt mit Aktium -- +hier hätte Antonius siegen
müssen+. Es war +nicht+ der Entscheidungskampf zwischen
Römertum und Hellenismus, der zum Austrag kam; der ist bei Cannä und
Zama ausgefochten worden, von Hannibal, der das tragische Geschick
hatte, in Wirklichkeit nicht für sein Land, sondern für das Hellenentum
zu kämpfen. Bei Aktium stand die ungeborne arabische Kultur gegen die
greisenhafte antike Zivilisation. Es handelte sich um apollinischen
oder magischen Geist, um die Götter oder den Gott, um Prinzipat oder
Khalifat. Antonius’ Sieg hätte die magische Seele befreit; seine
Niederlage führte die starre Kaiserzeit über ihre Landschaft herauf.
Der Ausgang würde den Folgen der Schlacht von Tours und Poitiers 732
vergleichbar sein, wenn dort die Araber gesiegt und „Frankistan“ zu
einem Khalifat des Nordostens gemacht hätten. Arabische Sprache,
Religion und Gesellschaft wären in einer herrschenden Schicht heimisch
geworden, Riesenstädte wie Granada und Kairuan wären an Loire und
Rhein entstanden, das gotische Gefühl wäre gezwungen worden, sich in
den längst erstarrten Formen von Moschee und Arabeske auszudrücken
und statt der deutschen Mystik besäßen wir eine Art von Sufismus. Daß
das Entsprechende in der arabischen Welt wirklich geschah, war die
Folge davon, daß die syrisch-persische Bevölkerung keinen Karl Martell
hervorgebracht hat, der mit Mithridates, Brutus und Cassius oder
Antonius und über sie hinaus Rom bekämpfte.

Eine zweite Pseudomorphose liegt heute vor unseren Augen: das
petrinische Rußland. Die russische Heldensage der Bylinenlieder
erreicht ihren Gipfel in dem Kiewschen Sagenkreise vom Fürsten
Wladimir (um 1000) und seiner Tafelrunde und dem Volkshelden Ilja von
Murom.[149] Der ganze unermeßliche Unterschied zwischen der russischen
und der faustischen Seele liegt schon zwischen diesen Gesängen und
den „gleichzeitigen“ der Artus-, Ermanarich- und Nibelungensagen
der Wanderzeit in der Form des Hildebrand- und Walthariliedes. Die
russische Merowingerzeit beginnt mit dem Sturz der Tartarenherrschaft
durch Iwan III. (1480) und führt über die letzten Ruriks und die ersten
Romanows bis auf Peter den Großen (1689-1725). Sie entspricht genau
der Zeit von Chlodwig (481-511) bis zur Schlacht von Testri (687),
mit welcher die Karolinger tatsächlich die Herrschaft erhielten. Ich
rate jedem, die fränkische Geschichte des Gregor von Tours (bis 591)
und daneben die entsprechenden Abschnitte bei dem altväterischen
Karamsin zu lesen, vor allem die über Iwan den Schrecklichen, Boris
Godunow und Schuiski. Die Ähnlichkeit kann nicht größer sein. Auf
diese Moskowiterzeit der großen Bojarengeschlechter und Patriarchen,
in der beständig eine altrussische Partei gegen die Freunde westlicher
Kultur kämpfte, folgt mit der Gründung von Petersburg (1703) die
Pseudomorphose, welche die primitive russische Seele erst in die
fremden Formen des hohen Barock, dann der Aufklärung, dann des 19.
Jahrhunderts zwang. Peter der Große ist das Verhängnis des Russentums
geworden. Man denke sich seinen „Zeitgenossen“ Karl den Großen, der
planmäßig und mit seiner ganzen Energie das durchsetzt, was Karl
Martell durch seinen Sieg soeben verhindert hatte: die Herrschaft
des maurisch-byzantinischen Geistes. Es bestand die Möglichkeit,
die russische Welt nach Art der Karolinger oder der Seleukiden zu
behandeln, altrussisch nämlich oder „westlerisch“, und die Romanows
haben sich für das letzte entschieden. Die Seleukiden wollten Hellenen,
nicht Aramäer um sich sehen.

Der primitive Zarismus von Moskau ist die einzige Form, welche noch
heute dem Russentum gemäß ist, aber er ist in Petersburg in die
dynastische Form Westeuropas umgefälscht worden. Der Zug nach dem
+heiligen+ Süden, nach Byzanz und Jerusalem, der tief in allen
rechtgläubigen Seelen lag, wurde in eine weltmännische Diplomatie
mit dem Blick nach Westen verwandelt. Auf den Brand von Moskau,
die großartig symbolische Tat eines Urvolkes, aus welcher der
Makkabäerhaß gegen alles Fremde und Fremdgläubige redet, folgt der
Einzug Alexanders in Paris, die heilige Allianz und die Stellung im
Konzert der westlichen Großmächte. Ein Volkstum, dessen Bestimmung es
war, noch auf Generationen hin geschichtslos zu leben, wurde in eine
künstliche und unechte Geschichte gezwängt, deren Geist vom Urrussentum
gar nicht begriffen werden konnte. Späte Künste und Wissenschaften
wurden hereingetragen, Aufklärung, Sozialethik, weltstädtischer
Materialismus, obwohl in dieser Vorzeit Religion die einzige Sprache
war, in der man sich und die Welt verstand; in das stadtlose Land mit
seinem ursprünglichen Bauerntum nisteten sich Städte fremden Stils wie
Geschwüre ein. Sie waren falsch, unnatürlich, unwahrscheinlich bis in
ihr Innerstes. „Petersburg ist die abstrakteste und künstlichste Stadt,
die es gibt,“ bemerkt Dostojewski. Er hatte, obwohl er dort geboren
war, ein Gefühl, als ob sie sich eines Morgens mit den Sumpfnebeln
zugleich auflösen könnte. So, geisterhaft, unglaubwürdig, lagen die
hellenistischen Prunkstädte überall im aramäischen Bauernland. So hat
Jesus sie in seinem Galiläa gesehen. So muß Petrus empfunden haben, als
er das kaiserliche Rom erblickte.

Alles was rings umher entstand, ist von dem echten Russentum seitdem
als Gift und Lüge empfunden worden. Ein wahrhaft apokalyptischer Haß
richtet sich gegen Europa auf. Und „Europa“ war alles, was nicht
russisch war, auch Rom und Athen, ganz wie für den magischen Menschen
damals auch das alte Ägypten und Babylon antik, heidnisch, teuflisch
war. „Die erste Bedingung der Befreiung des russischen Volksgefühls
ist: von ganzem Herzen und aus voller Seele Petersburg zu hassen,“
schreibt Aksakow 1863 an Dostojewski. Moskau ist heilig, Petersburg
ist der Satan; Peter der Große erscheint in einer verbreiteten
Volkslegende als der Antichrist. Genau so redet es aus allen
Apokalypsen der aramäischen Pseudomorphose, vom Buche Daniel und Henoch
zur Makkabäerzeit bis auf die Offenbarung Johannis, Baruch und den IV.
Esra nach der Zerstörung Jerusalems, gegen Antiochus, den Antichrist,
gegen Rom, die babylonische Hure, gegen die Städte des Westens mit
ihrem Geist und Pomp, gegen die gesamte antike Kultur. Alles was
entsteht, ist unwahr und unrein: diese verwöhnte Gesellschaft, die
durchgeistigten Künste, die sozialen Stände, der fremde Staat mit
seiner zivilisierten Diplomatie, Rechtsprechung und Verwaltung. Es
gibt keinen größeren Gegensatz als russischen und abendländischen,
jüdisch-christlichen und spätantiken Nihilismus: den Haß gegen das
Fremde, das die noch ungeborene Kultur im Mutterschoß des Landes
vergiftet, und den Ekel vor der eignen, deren Höhe man endlich satt
ist. Tiefstes religiöses Weltgefühl, plötzliche Erleuchtungen, Schauder
der Furcht vor dem kommenden Wachsein, metaphysisches Träumen und
Sehnen stehen am Anfang, bis zum Schmerz gesteigerte geistige Klarheit
am Ende der Geschichte. In diesen beiden Pseudomorphosen mischen
sie sich. „Alle grübeln sie jetzt auf den Straßen und Marktplätzen
über den Glauben“, heißt es bei Dostojewski. Das hätte auch von
Jerusalem und Edessa gesagt werden können. Diese jungen Russen vor dem
Kriege, schmutzig, bleich, erregt, in Winkeln hockend und immer mit
Metaphysik beschäftigt, alles mit den Augen des Glaubens betrachtend,
selbst wenn sich das Gespräch dem Anschein nach um Wahlrecht, Chemie
oder Frauenstudium bewegte -- das sind die Juden und Urchristen
der hellenistischen Großstädte, die der Römer mit so viel Spott,
Widerwillen und heimlicher Furcht betrachtete. Es gab im zarischen
Rußland kein Bürgertum, überhaupt keine echten Stände, sondern
nur Bauern und „Herren“ wie im Frankenreiche. Die „Gesellschaft“
war eine Welt für sich, das Produkt einer westlerischen Literatur,
etwas Fremdes und Sündhaftes. Es gab keine russischen Städte. Moskau
war eine Pfalz -- der Kreml -- um den sich ein riesenhafter Markt
ausbreitete. Die Scheinstadt, die sich hineindrängt und herumlagert,
und alle die andern auf dem Boden des Mütterchen Rußland sind des
Hofes, der Verwaltung, der Kaufleute wegen da; aber was in ihnen
lebt, ist oben eine fleischgewordne Literatur, die „Intelligenz“ mit
angelesenen Problemen und Konflikten, und in der Tiefe entwurzeltes
Bauernvolk mit all der metaphysischen Trauer, Angst und dem Elend,
das Dostojewski mit ihm erlebt hat, mit dem beständigen Heimweh nach
der weiten Erde und dem bitteren Haß gegen die steinerne greisenhafte
Welt, in die der Antichrist sie verlockt hatte. Moskau besaß keine
eigene Seele. Die Gesellschaft war von westlichem Geist und das Volk
unten führte die Seele des Landes mit sich. Zwischen beiden Welten
gab es kein Verstehen, keine Vermittlung, keine Verzeihung. Will man
die beiden großen Fürsprecher und Opfer der Pseudomorphose verstehen,
so war Dostojewski ein Bauer, Tolstoi ein Mensch der weltstädtischen
Gesellschaft. Der eine konnte sich innerlich vom Lande nie befreien,
der andere hat es trotz allen verzweifelten Bemühens niemals gefunden.

+Tolstoi ist das vergangene, Dostojewski das kommende Rußland.+
Tolstoi ist mit seinem ganzen Innern dem Westen verbunden. Er ist der
große Wortführer des Petrinismus, auch wenn er ihn verneint. Es ist
stets eine westliche Verneinung. Auch die Guillotine war eine legitime
Tochter von Versailles. Sein mächtiger Haß redet gegen das Europa, von
dem er selbst sich nicht befreien kann. Er haßt es in sich, er haßt
sich. Er wird damit der Vater des Bolschewismus. Die ganze Ohnmacht
dieses Geistes und „+seiner+“ Revolution von 1917 spricht aus den
nachgelassenen Szenen: „Das Licht leuchtet in der Finsternis.“ Diesen
Haß kennt Dostojewski nicht. Er hat alles Westliche mit einer ebenso
leidenschaftlichen Liebe umfaßt. „Ich habe zwei Vaterländer, Rußland
und Europa.“ Für ihn hat das alles, Petrinismus und Revolution, bereits
keine Wirklichkeit mehr. Aus +seiner+ Zukunft blickt er wie aus
weiter Ferne darüber hin. Seine Seele ist apokalyptisch, sehnsüchtig,
verzweifelt, aber dieser Zukunft gewiß. „Ich werde nach Europa
fahren,“ sagt Iwan Karamasoff zu seinem Bruder Aljoscha, „ich weiß
es ja, daß ich nur auf einen Friedhof fahre, doch auf den teuersten,
allerteuersten Friedhof, das weiß ich auch. Teure Tote liegen dort
begraben, jeder Stein über ihnen redet von einem so heißen vergangenen
Leben, von so leidenschaftlichem Glauben an die vollbrachten eigenen
Taten, an die eigene Wahrheit, an den eigenen Kampf und die eigene
Erkenntnis, daß ich, ich weiß es im voraus, zur Erde niederfallen,
diese Steine küssen und über ihnen weinen werde.“ Tolstoi ist durchaus
ein großer Verstand, „aufgeklärt“ und „sozial gesinnt“. Alles was er um
sich sieht, nimmt die späte, großstädtische und westliche Form eines
Problems an. Dostojewski weiß gar nicht, was Probleme sind. Jener ist
ein Ereignis innerhalb der europäischen Zivilisation. Er steht in der
Mitte zwischen Peter dem Großen und dem Bolschewismus. Die russische
Erde haben sie alle nicht zu Gesicht bekommen. Was sie bekämpfen,
wird durch die Form, in der sie es tun, doch wieder anerkannt. Das
ist nicht Apokalyptik, sondern geistige Opposition. Sein Haß gegen
den Besitz ist nationalökonomischer, sein Haß gegen die Gesellschaft
sozialethischer Natur; sein Haß gegen den Staat ist eine politische
Theorie. Daher seine gewaltige Wirkung auf den Westen. Er gehört
irgendwie zu Marx, Ibsen und Zola. Seine Werke sind nicht Evangelien,
sondern späte, geistige Literatur. Dostojewski gehört zu niemand, wenn
nicht zu den Aposteln des Urchristentums. Seine „Dämonen“ waren in der
russischen Intelligenz als konservativ verschrien. Aber Dostojewski
sieht diese Konflikte gar nicht. Für ihn ist zwischen konservativ und
revolutionär überhaupt kein Unterschied: beides ist westlich. Eine
solche Seele sieht über alles Soziale hinweg. Die Dinge dieser Welt
erscheinen ihr so unbedeutend, daß sie auf ihre Verbesserung keinen
Wert legt. Keine echte Religion will die Welt der Tatsachen verbessern.
Dostojewski wie jeder Urrusse bemerkt sie gar nicht; sie leben in
einer zweiten, metaphysischen, die jenseits der ersten liegt. Was hat
die Qual einer Seele mit dem Kommunismus zu tun? Eine Religion, die
bei Sozialproblemen angelangt ist, hat aufgehört, Religion zu sein.
Dostojewski aber lebt schon in der Wirklichkeit einer unmittelbar
bevorstehenden religiösen Schöpfung. Sein Aljoscha ist dem Verständnis
aller literarischen Kritik, auch der russischen, entzogen; sein
Christus, den er immer schreiben wollte, wäre ein echtes Evangelium
geworden wie jene des Urchristentums, die gänzlich außerhalb aller
antiken und jüdischen Literaturformen stehen. Aber Tolstoi ist ein
Meister des westlichen Romans -- Anna Karenina wird von keinem zweiten
auch nur entfernt erreicht --, ganz wie er auch in seinem Bauernkittel
ein Mann der Gesellschaft ist.

Anfang und Ende stoßen hier zusammen. Dostojewski ist ein Heiliger,
Tolstoi ist nur ein Revolutionär. Von ihm allein, dem echten Nachfolger
Peters, geht der Bolschewismus aus: nicht das Gegenteil, sondern
die letzte Konsequenz des Petrinismus, die äußerste Herabwürdigung
des Metaphysischen durch das Soziale und eben deshalb nur eine neue
Form der Pseudomorphose. War die Gründung von Petersburg die erste
Tat des Antichrist, so war die Vernichtung der von Petersburg aus
gebildeten Gesellschaft durch sich selbst die zweite: so muß das
Bauerntum es innerlich empfinden. Denn die Bolschewisten sind nicht
das Volk, auch nicht ein Teil von ihm. Sie sind die tiefste Schicht
der „Gesellschaft“, fremd, westlerisch wie sie, aber von ihr nicht
anerkannt und deshalb vom Haß der Niedrigen erfüllt. Alles das ist
großstädtisch und zivilisiert, das Sozialpolitische, der Fortschritt,
die Intelligenz, die ganze russische Literatur, die erst romantisch und
dann nationalökonomisch für Freiheiten und Verbesserungen schwärmt.
Denn alle ihre „Leser“ gehören zur Gesellschaft. Der echte Russe ist
ein Jünger Dostojewskis, obwohl er ihn nicht liest, obwohl +und
weil er+ überhaupt nicht lesen kann. Er ist selbst ein Stück
Dostojewski. Wären die Bolschewisten, die in Christus ihresgleichen,
einen bloßen Sozialrevolutionär erblicken, geistig nicht so eng, sie
würden in Dostojewski ihren eigentlichen Feind erkannt haben. Was
dieser Revolution ihre Wucht gab, war nicht der Haß der Intelligenz.
Es war das Volk, das +ohne Haß+, nur aus dem Trieb, sich von
einer Krankheit zu heilen, die westlerische Welt durch ihren Abhub
zerstörte und diesen selbst ihr nachsenden wird, das stadtlose Volk,
das sich nach seiner eigenen Lebensform, seiner eigenen Religion,
seiner eigenen künftigen Geschichte sehnt. Das Christentum Tolstois
war ein Mißverständnis. Er sprach von Christus und meinte Marx. Dem
Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend.


3

Außerhalb der Pseudomorphose und um so kräftiger, je geringer die
Macht antiken Geistes im Lande liegt, drängen alle Formen einer echten
Ritterzeit hervor. Scholastik und Mystik, Lehnstreue, Minnesang,
Kreuzzugsbegeisterung -- das war alles in den ersten Jahrhunderten
der arabischen Kultur vorhanden, man muß es nur zu finden wissen. Es
gibt auch nach Septimius Severus noch dem Namen nach Legionen, aber
sie sehen im Osten aus wie das Gefolge eines Herzogs; Beamte werden
ernannt, aber eigentlich hat man einem Grafen ein Lehen übertragen;
während der Cäsarentitel im Westen in die Hände von Häuptlingen
fällt, verwandelt sich der Osten in ein frühes Khalifat, das mit dem
Lehnsstaat der reifen Gotik die erstaunlichste Ähnlichkeit hat. Im
Sassanidenreich, im Hauran, in Südarabien bricht eine echte Ritterzeit
an. Ein König von Saba, Schamir Juharisch, lebt wie Roland und König
Artus durch seine Heldentaten in der arabischen Sage fort, die ihn
durch Persien bis nach China ziehen läßt.[150] Das Reich von Maan im
ersten vorchristlichen Jahrtausend bestand neben dem israelitischen und
läßt sich in seinen Überresten mit Mykene und Tiryns vergleichen; die
Spuren reichen tief nach Afrika hinein.[151] Jetzt aber erblüht in ganz
Südarabien und selbst im abessinischen Gebirge die Feudalzeit.[152]
In Axum entstehen in frühchristlicher Zeit mächtige Schlösser und die
Königsgräber mit den größten Monolithen der Welt.[153] Hinter den
Königen steht ein Lehnsadel der Grafen (_kail_) und Statthalter
(_kabir_), Vasallen von oft zweifelhafter Treue, deren großer
Besitz die Hausmacht der Könige mehr und mehr einengt. Die endlosen
christlich-jüdischen Kriege zwischen Südarabien und dem Reich von
Axum[154] haben ritterlichen Charakter und lösen sich oft in
Einzelfehden auf, die von den Baronen von deren Burgen aus geführt
werden. In Saba herrschen die -- später christlichen -- Hamdaniden.
Hinter ihnen steht das christliche und mit Rom verbündete Reich von
Axum, das um 300 vom weißen Nil bis zur Somaliküste und dem persischen
Golf reicht und 525 die jüdischen Himjariten stürzt. 542 fand hier
der Fürstenkongreß von Marib statt, auf dem Byzanz und Persien durch
Gesandte vertreten waren. Noch heute liegen überall im Lande die
zahllosen Ruinen mächtiger Schlösser, von denen man in islamischer Zeit
sich nur denken konnte, daß sie von Geisterhänden erbaut seien. Die
Burg Gomdan war eine Festung von zwanzig Stockwerken.[155]

Im Sassanidenreich herrschte die Ritterschaft der Dinkane, und der
glänzende Hof dieser „Staufenkaiser“ des frühen Ostens ist in jedem
Betracht für den byzantinischen seit Diokletian vorbildlich geworden.
Noch viel später wußten die Abbassiden in ihrer neugegründeten Residenz
Bagdad nichts Besseres, als das Sassanidenideal eines höfischen
Lebens in großer Form nachzuahmen. In Nordarabien entwickelte sich an
den Höfen der Ghassaniden und Lachmiden eine echte Troubadour- und
Minnepoesie, und ritterliche Dichter fochten zur Kirchenväterzeit
„mit Wort, Lanze und Schwert“ ihre Wettkämpfe aus. Darunter war
auch ein Jude, Samuel, Burgherr auf Al Ablaq, der um fünf kostbarer
Panzer willen eine berühmte Belagerung durch den König von El Hira
aushielt.[156] Dieser Lyrik gegenüber ist die spätarabische, wie sie
seit 800 namentlich in Spanien blühte, nichts als Romantik, die zu
jener altarabischen Kunst in ganz demselben Verhältnis steht wie Uhland
und Eichendorff zu Walter von der Vogelweide.

Für diese junge Welt der ersten nachchristlichen Jahrhunderte hatten
unsere Altertumsforscher und Theologen keinen Blick. Mit den Zuständen
des spätrepublikanischen und kaiserlichen Roms beschäftigt, sehen sie
hier nur primitive und jedenfalls unbedeutende Verhältnisse. Aber die
Partherscharen, die wieder und wieder gegen römische Legionen anritten,
waren ritterlich begeisterte Mazdaisten. Es lag Kreuzzugsstimmung über
ihren Heeren. So hätte es mit dem Christentum werden können, wenn es
nicht ganz der Pseudomorphose verfallen wäre. Die Stimmung war auch
hier vorhanden. Tertullian sprach von der _militia Christi_
und das Sakrament wurde als Fahneneid bezeichnet. In den späteren
Heidenverfolgungen war Christus der Held, für den sein Gefolge zu Felde
zog, aber einstweilen gab es statt christlicher Ritter und Grafen
römische Legaten und statt der Schlösser und Turniere diesseits der
römischen Grenze nur Lager und Hinrichtungen. Aber trotzdem war es ein
echter Kreuzzug der Juden und kein eigentlicher Partherkrieg, der 115
unter Trajan losbrach und in dem als Vergeltung für die Zerstörung von
Jerusalem die ganze ungläubige -- „griechische“ -- Bevölkerung von
Cypern, angeblich 240000 Menschen, niedergemacht wurde. Nisibis ist
damals in einer vielbewunderten Belagerung von Juden verteidigt worden.
Das kriegerische Adiabene war ein Judenstaat. In allen Parther- und
Perserkriegen gegen Rom haben die bäuerlich-ritterlichen Aufgebote der
mesopotamischen Juden in der ersten Linie gefochten.

Aber nicht einmal Byzanz hat sich dem Geiste der arabischen
Feudalzeit ganz entziehen können, die unter einer Schicht spätantiker
Verwaltungsformen namentlich im Innern Kleinasiens zur Entstehung eines
echten Lehnswesens führte. Es gab da mächtige Geschlechter, deren
Vasallentreue unzuverlässig war und die alle den Ehrgeiz hatten, den
byzantinischen Thron in ihren Besitz zu bringen. „Anfänglich an die
Hauptstadt gebunden, die nur mit Erlaubnis des Kaisers verlassen werden
durfte, saß dieser Adel später auf seinen weitgedehnten Domänen in der
Provinz und bildete seit dem 4. Jahrhundert als Provinzaristokratie
einen wirklichen Stand, der im Laufe der Zeit für sich eine gewisse
Unabhängigkeit von der kaiserlichen Macht beanspruchte.“[157]

Das „römische Heer“ hat sich im Osten in weniger als zwei Jahrhunderten
aus einer modernen Armee in ein Ritterheer zurückverwandelt.
Die römische Legion ist durch die Maßnahmen der Severer um 200
verschwunden.[158] Im Westen sanken sie zu Horden herab; im Osten
entstand im 4. Jahrhundert ein spätes, aber echtes Rittertum.
Den Ausdruck gebraucht schon Mommsen, ohne seine Tragweite zu
erkennen.[159] Der junge Adlige erhielt eine sorgfältige Ausbildung
im Einzelkampf, zu Pferde, mit Bogen und Lanze. Kaiser Gallienus, der
Freund Plotins und Erbauer der Porta Nigra, eine der bedeutendsten und
unglücklichsten Erscheinungen aus der Zeit der Soldatenkaiser, bildete
um 260 aus Germanen und Mauren eine neue Art von berittener Truppe,
seine Gefolgstreuen. Es ist bezeichnend, daß in der Religion des
römischen Heeres die alten Stadtgottheiten zurücktreten und unter den
Namen des Mars und Herkules die germanischen Götter des persönlichen
Heldentums an die Spitze gelangen.[160] Die _palatini_ Diokletians
sind nicht ein Ersatz für die von Septimius Severus aufgelösten
Prätorianer, sondern ein kleines wohldiszipliniertes Ritterheer,
während die _comitatenses_, das große Aufgebot, in _numeri_,
„Fähnlein“ geordnet werden. Die Taktik ist die einer jeden Frühzeit,
welche auf persönliche Tapferkeit stolz ist. Der Angriff erfolgt in der
germanischen Form des Gevierthaufens („Eberkopfes“). Unter Justinian
ist das der Zeit Karls V. genau entsprechende System der Landsknechte
voll ausgebildet, die von Kondottieri[161] in der Art Frundsbergs
angeworben werden und unter sich Landsmannschaften bilden. Der Zug des
Narses wird von Prokop[162] ganz wie die großen Werbungen Wallensteins
beschrieben.

Aber daneben erscheint in diesen frühen Jahrhunderten auch eine
prachtvolle Scholastik und Mystik magischen Stils, die an den
berühmten Hochschulen des gesamten aramäischen Gebiets zu Hause ist:
den persischen von Ktesiphon, Resain, Dschondisabur, den jüdischen
von Sura, Nehardea und Pumbadita, denen anderer „Nationen“ in
Edessa, Nisibis, Kinnesrin. Hier sind die Hauptsitze einer blühenden
Astronomie, Philosophie, Chemie und Medizin, aber nach Westen hin
wird diese große Erscheinung durch die Pseudomorphose verdorben. Was
magischen Ursprungs und Geistes ist, geht zu Alexandria und Beirut in
die Formen griechischer Philosophie und römischer Rechtswissenschaft
über; es wird in antiken Sprachen niedergeschrieben, in fremde und
längst erstarrte Literaturformen gepreßt und durch die greisenhafte
Denkweise einer ganz anders angelegten Zivilisation verfälscht. Damals
und nicht mit dem Islam beginnt die arabische Wissenschaft. Aber weil
unsere Philologen nur das entdeckten, was in spätantiker Fassung in
Alexandria und Antiochia erschien, und von dem ungeheuren Reichtum der
arabischen Frühzeit und den wirklichen Mittelpunkten ihres Forschens
und Schauens nichts ahnten, konnte die absurde Meinung entstehen, „die
Araber“ seien geistige Epigonen der Antike gewesen. In Wirklichkeit
ist so gut wie alles, was -- von Edessa aus gesehen -- jenseits der
Philologengrenze dem heutigen Auge als Frucht spätantiken Geistes gilt,
nichts als der Widerschein früharabischer Innerlichkeit. Damit stehen
wir vor der Pseudomorphose der magischen Religion.


4

Die antike Religion lebt in einer ungeheuren Zahl von
+Einzelkulten+, die, in dieser Gestalt dem apollinischen Menschen
natürlich und selbstverständlich, jedem Fremden in ihrem eigentlichen
Wesen so gut wie verschlossen sind. Sobald Kulte von solcher Art
entstanden, gab es eine antike Kultur. Sobald sie in später Römerzeit
ihr Wesen veränderten, war die Seele dieser Kultur zu Ende. Außerhalb
der antiken Landschaft sind sie niemals echt und lebendig gewesen. Das
Göttliche ist stets an einen +einzelnen Ort gebunden+ und auf ihn
beschränkt. Das entspricht dem statischen und euklidischen Weltgefühl.
Das Verhalten des Menschen zur Gottheit hat die Form eines ebenfalls
ortsgebundenen Kultes, dessen Bedeutung +im Bilde+ der rituellen
Handlung und nicht in deren dogmatischem Hintersinn liegt. Wie die
Bevölkerung in zahllose nationale Punkte, so zerfällt ihre Religion
in diese winzigen Kulte, deren jeder von jedem andern vollständig
unabhängig ist. +Nicht ihr Umfang, sondern nur ihre Anzahl+ kann
zunehmen. Es ist die einzige Form des Wachstums innerhalb der antiken
Religion und sie schließt jede Mission vollständig aus. Denn diese
Kulte übt man aus, aber man gehört ihnen nicht an; es gibt keine
antiken „Gemeinden“. Wenn spätes Denken in Athen etwas Allgemeineres im
Göttlichen und Kultischen annimmt, so ist das nicht Religion, sondern
Philosophie, die sich auf das Denken einzelner beschränkt und auf das
Empfinden der Nation, nämlich der Polis, nicht im geringsten einwirkt.

Im schärfsten Gegensatz dazu steht die sichtbare Form der magischen
Religion, die Kirche, die Gemeinschaft der Rechtgläubigen, die keine
Heimat und keine irdische Grenze kennt. Von der magischen Gottheit gilt
das Wort Jesu: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da
bin ich mitten unter ihnen.“ Es versteht sich, daß für jeden Gläubigen
nur ein Gott der wahre und gute sein kann, die Götter der andern aber
falsch und böse sind.[163] Die Beziehung zwischen diesem Gott und dem
Menschen ruht nicht im Ausdruck, sondern in der geheimen Kraft, in der
Magie gewisser symbolischer Handlungen: damit sie wirksam sind, muß
man ihre Form und Bedeutung genau kennen und sie danach ausüben. Die
Kenntnis dieser Bedeutung ist ein Besitz der Kirche -- sie ist die
Kirche selbst als die Gemeinschaft der Kenner -- und damit liegt der
Schwerpunkt jeder magischen Religion nicht im Kult, sondern in einer
Lehre, im +Bekenntnis+.

Solange die Antike sich seelisch aufrecht hielt, bestand die
Pseudomorphose darin, daß alle Kirchen des Ostens in Kulte
westlichen Stils überführt wurden. Das ist eine wesentliche Seite
des Synkretismus. Die persische Religion dringt als Mithraskult ein,
die chaldäisch-syrische in den Kulten der Gestirngötter und Baale
(Jupiter Dolichenus, Sabazios, Sol invictus, Atargatis), das Judentum
in Gestalt eines Jahwekultes, denn die ägyptischen Gemeinden der
Ptolemäerzeit lassen sich nicht anders bezeichnen,[164] und auch das
früheste Christentum, wie die paulinischen Briefe und die römischen
Katakomben deutlich erkennen lassen, als Jesuskult. Mögen alle diese
Kulte, die etwa seit Hadrian die der echt antiken Stadtgötter völlig
in den Hintergrund drängen, noch so laut den Anspruch erheben, eine
Offenbarung des einzig wahren Glaubens zu sein -- Isis nennt sich
_deorum dearumque facies uniformis_ --, so tragen sie doch
sämtliche Merkmale des antiken Einzelkultes: sie vermehren deren Zahl
ins Unendliche; jede Gemeinde steht für sich und ist örtlich begrenzt;
alle diese Tempel, Katakomben, Mithräen, Hauskapellen sind Kultorte, an
welche die Gottheit nicht ausdrücklich, aber gefühlsmäßig gebunden ist;
aber trotzdem liegt magisches Empfinden in dieser Frömmigkeit. Antike
Kulte +übt man aus+, und zwar in beliebiger Zahl, von diesen
+gehört man einem einzigen an+. Die Mission ist dort undenkbar,
hier ist sie selbstverständlich, und der Sinn religiöser Übungen
verschiebt sich deutlich nach der lehrhaften Seite.

Mit dem Hinschwinden der apollinischen und dem Aufblühen der magischen
Seele seit dem zweiten Jahrhundert kehrt sich das Verhältnis um. Das
Verhängnis der Pseudomorphose bleibt, aber es sind jetzt Kulte des
Westens, +die zu einer neuen Kirche des Ostens werden+. Aus der
Summe von Einzelkulten entwickelt sich eine Gemeinschaft derer, welche
an diese Gottheiten und Übungen glauben, und nach dem Vorgange des
Persertums und Judentums entsteht ein neues Griechentum als magische
Nation. Aus der sorgfältig festgelegten Form der Einzelhandlung bei
Opfern und Mysterien wird eine Art Dogma über den Gesamtsinn dieser
Akte. Die Kulte können sich gegenseitig vertreten; man übt sie nicht
eigentlich aus, sondern „hängt ihnen an“. Und aus der +Gottheit des
Ortes+ wird, ohne daß jemand sich der Schwere dieser Wandlung bewußt
wäre, +die am Orte gegenwärtige Gottheit+.

So sorgfältig der Synkretismus seit Jahrzehnten durchforscht ist,
so wenig hat man doch den Grundzug seiner Entwicklung, zuerst die
Verwandlung östlicher Kirchen in westliche Kulte und dann mit
umgekehrter Tendenz die Entstehung der Kultkirche erkannt.[165] Aber
die Religionsgeschichte der frühchristlichen Jahrhunderte ist anders
gar nicht zu verstehen. Der Kampf zwischen Christus und Mithras als
Kultgottheiten in Rom erhält jenseits von Antiochia die Form eines
Kampfes zwischen der persischen und der christlichen Kirche. Aber
der schwerste Krieg, den das Christentum zu führen hatte, nachdem
es selbst der Pseudomorphose verfallen und deshalb mit dem Antlitz
seiner geistigen Entwicklung nach Westen gerichtet war, galt nicht der
wirklichen antiken Religion, die es kaum noch zu Gesicht bekam und
deren öffentliche Stadtkulte innerlich längst erstorben und ohne jede
Macht über die Gemüter waren, sondern dem Heidentum oder Griechentum
+als einer neuen und kraftvollen Kirche+, die aus demselben Geist
entstanden war wie es selbst. Es gab zuletzt im Osten des Imperiums
nicht eine Kultkirche, sondern zwei, und wenn die eine nur aus
Christusgemeinden bestand, so verehrten die Gemeinden der andern unter
tausend Namen mit Bewußtsein ein und dasselbe göttliche Prinzip.

Es ist viel über antike Toleranz geredet worden. Man erkennt das
Wesen einer Religion vielleicht am klarsten aus den Grenzen ihrer
Toleranz und es gab auch für die alten Stadtkulte solche Grenzen. Daß
sie stets in Mehrzahl vorhanden waren und ausgeübt wurden, gehört zu
ihrem eigentlichen Sinn und bedurfte deshalb überhaupt keiner Duldung.
Aber man setzte von jedem voraus, daß er vor der kultischen Form als
solcher Achtung habe. Wer, wie manche Philosophen oder auch Anhänger
fremdartiger Religionen, diese Achtung durch Wort oder Tat versagte,
lernte auch das Maß antiker Duldung kennen. Etwas ganz anderes liegt
den Verfolgungen magischer Kirchen untereinander zugrunde; da ist
es die henotheistische Pflicht gegen den wahren Glauben, welche
die Anerkennung des falschen verbietet. Antike +Kulte+ hätten
den Jesuskult unter sich ertragen. Die Kult+kirche+ mußte die
Jesuskirche angreifen. Alle großen Christenverfolgungen, denen die
späteren Heidenverfolgungen genau entsprechen, sind von ihr und
nicht vom „römischen“ Staate ausgegangen und sie waren nur insofern
politisch, als auch die Kultkirche zugleich Nation und Vaterland
war. Man wird bemerken, daß unter der Maske der Kaiserverehrung
sich +zwei+ religiöse Bräuche verbergen -- in den antiken
Städten des Westens, Rom an der Spitze, entstand der Einzelkult des
_divus_ als letzter Ausdruck jenes euklidischen Gefühls, wonach
es einen rechtlichen und also auch sakralen Übergang vom _soma_
des Bürgers zu dem eines Gottes gab; im Osten wurde daraus ein
Bekenntnis zum Kaiser als dem Heiland und Gottmenschen, dem Messias
aller Synkretisten, das deren Kirche durch eine höchste nationale
Form zusammengefaßt hat. Das Opfer für den Kaiser ist das vornehmste
+Sakrament+ dieser Kirche; es entspricht durchaus der christlichen
Taufe und man versteht, was die Forderung und Verweigerung dieser Akte
in den Zeiten der Verfolgung symbolisch zu bedeuten hatte. Alle diese
Kirchen besitzen Sakramente: heilige Mahlzeiten wie den Haomatrank der
Perser, das Passah der Juden, das Abendmahl der Christen, ähnliche
für Attis und Mithras; die Taufriten der Mandäer, der Christen, der
Isis- und Kybeleverehrer. Man könnte deshalb die einzelnen Kulte
der Heidenkirche fast als Sekten und Orden bezeichnen und würde für
das Verständnis ihrer scholastischen Kämpfe untereinander und die
gegenseitige Proselytenmacherei damit viel gewonnen haben.

Alle echt antiken Mysterien wie die von Eleusis und die, welche von
den Pythagoräern um 500 in unteritalischen Städten begründet worden
waren, sind an den Ort gebunden und durch einen sinnbildlichen Vorgang
bezeichnet. Innerhalb der Pseudomorphose lösen sie sich vom Orte;
sie können überall, wo Eingeweihte beisammen sind, vollzogen werden
und haben nun das Ziel der magischen Ekstase und eines asketischen
Lebenswandels: aus den Besuchern der Mysterienstätte hat sich ein
Orden entwickelt, der sie ausübt. Die Gemeinschaft der Neupythagoräer,
um 50 v. Chr. gegründet und den jüdischen Essäern nahe verwandt,
ist nichts weniger als eine antike Philosophenschule; sie ist ein
echter Mönchsorden und zwar nicht der einzige, der innerhalb des
Synkretismus die Ideale der christlichen Eremiten und islamischen
Derwische vorwegnimmt. Diese Heidenkirche besitzt ihre Einsiedler,
Heiligen, Propheten, Wunderbekehrungen, heiligen Schriften und
Offenbarungen.[166] In der Bedeutung des Götterbildes für den Kult
vollzieht sich eine sehr merkwürdige und noch kaum untersuchte
Wendung. Der größte Nachfolger Plotins, Jamblich, hat endlich um 300
das gewaltige System einer orthodoxen Theologie und priesterlichen
Hierarchie mit strengem Ritual für diese Heidenkirche entworfen, und
sein Schüler Julian hat sein ganzes Leben daran gesetzt und zuletzt
geopfert, um diese Kirche für die Ewigkeit aufzurichten.[167] Er
wollte sogar Klöster für meditierende Männer und Frauen einrichten
und eine Kirchenbuße einführen. Eine mächtige Begeisterung, die sich
bis zum Martyrium steigerte und weit über den Tod des Kaisers hinaus
andauerte, hat diese gewaltige Arbeit unterstützt. Es gibt Inschriften,
die man kaum anders übersetzen kann als: „Es ist nur ein Gott und
Julian ist sein Prophet.“[168] Zehn Jahre mehr und diese Kirche wäre
eine geschichtliche Tatsache von Dauer geworden. Endlich hat das
Christentum nicht nur ihre Macht geerbt, sondern in wichtigen Stücken
auch Form und Gehalt. Es ist nicht ganz richtig, wenn man sagt, die
römische Kirche habe sich den Bau des römischen Reiches angeeignet.
Dieser Bau +war+ schon eine Kirche. Es gab eine Zeit, wo beide
sich berührten. Konstantin der Große war Urheber des Konzils von Nicäa
und zugleich Pontifex Maximus. Seine Söhne, eifrige Christen, haben ihn
zum _divus_ erhoben und ihm den vorgeschriebenen Kult gewidmet.
Augustin wagte den kühnen Ausspruch, daß die wahre Religion vor dem
Erscheinen des Christentums in Gestalt der antiken vorhanden gewesen
sei.[169]


5

Wenn man das Judentum von Cyrus bis Titus überhaupt verstehen will, muß
man sich immer wieder drei Tatsachen ins Gedächtnis rufen, welche die
philologisch und theologisch voreingenommene Forschung zwar kennt, aber
in ihren Erwägungen nicht mitzählen läßt: die Juden sind eine „Nation
ohne Land“, ein _consensus_, und zwar in einer Welt +von lauter
Nationen gleicher Art+. Jerusalem ist zwar ein Mekka, ein heiliger
Mittelpunkt, aber weder die Heimat +noch das geistige Zentrum+
des Volkes. Endlich sind die Juden nur so lange eine einzigartige
Erscheinung der Weltgeschichte, als man sie von vornherein als solche
behandelt.

Gewiß sind die nachexilischen Juden im Gegensatz zu den „Israeliten“
vor dem Exil, was wohl zuerst Hugo Winckler erkannt hat, ein Volk
von ganz neuer Art, aber sie sind es nicht allein. Die aramäische
Welt begann sich damals in eine ganze Anzahl solcher Völker, darunter
Perser und Chaldäer,[170] zu gliedern, die alle in demselben Gebiet
und trotzdem in strenger Abgeschlossenheit voneinander lebten und
vielleicht schon damals die rein arabische Wohnart des Ghetto
aufgebracht haben.

Die ersten Vorverkünder der neuen Seele sind +die prophetischen
Religionen+, die mit einer großartigen Innerlichkeit um 700
entstanden und den urwüchsigen Gebräuchen des Volkes und seiner
Herrscher entgegentraten. Auch sie sind eine allgemein aramäische
Erscheinung. Je mehr ich über Amos, Jesaja, Jeremia und dann über
Zarathustra nachdenke, desto verwandter erscheinen sie mir. Was sie
zu trennen scheint, ist nicht ihr neuer Glaube, sondern das, was
sie bekämpfen: die einen jene wilde altisraelitische Religion, die
in Wirklichkeit ein ganzes Bündel von Religionen ist[171] mit dem
Glauben an heilige Steine und Bäume, mit zahllosen Ortsgöttern zu Dan,
Bethel, Hebron, Sichem, Beerseba, Gilgal, einem Jahwe (oder Elohim),
mit dessen Namen eine Menge ganz verschiedenartiger Numina bezeichnet
wird, mit Ahnenkult und Menschenopfern, Derwischtänzen und heiliger
Prostitution, untermischt mit undeutlichen Überlieferungen von Moses
und Abraham und vielen Bräuchen und Sagen der spätbabylonischen Welt,
die in Kanaan längst zu bäuerlichen Formen herabgesunken und erstarrt
waren; der andere jenen altvedischen, sicherlich ebenso vergröberten
Helden- und Wikingerglauben, der es wohl nötig hatte, durch das
immer wiederholte Lob des heiligen Rindes und seiner Zucht an die
Wirklichkeit erinnert zu werden. Zarathustra hat um 600, oft im Elend,
verfolgt und verkannt gelebt und ist als Greis in einem Kriege gegen
die Ungläubigen umgekommen,[172] ein Zeitgenosse des unglücklichen
Jeremia, der von seinem Volke seiner Prophezeiungen wegen gehaßt,
von seinem König gefangen gesetzt und nach der Katastrophe von den
Flüchtlingen nach Ägypten mitgeschleppt und dort erschlagen wurde.
Ich glaube nun, daß diese große Epoche noch eine dritte prophetische
Religion hervorgebracht hat.

Es darf die Vermutung gewagt werden, daß auch die „chaldäische“
Religion mit ihrem astronomischen Tiefblick und ihrer jeden neuen
Betrachter überraschenden Innerlichkeit damals und zwar durch
schöpferische Persönlichkeiten vom Range eines Jesaja aus Restgebilden
der altbabylonischen Religion entstanden ist.[173] Die Chaldäer
waren um 1000 wie die Israeliten eine Gruppe aramäisch redender
Stämme im Süden von Sinear. Noch heute wird die Muttersprache Jesu
zuweilen chaldäisch genannt. Zur Seleukidenzeit bezeichnet der Name
eine verbreitete religiöse Gemeinschaft und im besonderen deren
Priester. Die chaldäische Religion ist eine Astralreligion, was die
babylonische -- vor Hammurabi -- +nicht+ gewesen ist. Sie stellt
die tiefsinnigste Deutung des magischen Weltraumes, der Welthöhle mit
dem in ihr waltenden Kismet dar, die es gibt, und sie ist deshalb bis
in die spätesten Zustände der islamischen und jüdischen Spekulation die
Grundlage geblieben. Von ihr und nicht von der babylonischen Kultur
ist seit dem 7. Jahrhundert eine Astronomie als exakte Wissenschaft --
nämlich +als priesterliche Beobachtungstechnik+ von erstaunlichem
Scharfblick -- ausgebildet worden.[174] Sie hat die babylonische
Mondwoche durch die Planetenwoche ersetzt. Die volkstümlichste Gestalt
der alten Religion war Ischtar gewesen, die Göttin des Lebens und der
Fruchtbarkeit. Jetzt ist sie ein Planet. Tammuz, der sterbende und
im Frühling wieder auferstehende Vegetationsgott, wird ein Fixstern.
Es meldet sich endlich das henotheistische Gefühl. Für den großen
Nebukadnezar ist Marduk der eine und wahre Gott der Barmherzigkeit
und Nabu, der alte Gott von Borsippa, sein Sohn und Sendbote zu den
Menschen. Chaldäerkönige haben ein Jahrhundert hindurch (625-539) die
Welt beherrscht, aber sie waren auch die Verkünder der neuen Religion.
Sie selbst haben zu den Tempelbauten Ziegel getragen. Von Nebukadnezar,
dem Zeitgenossen des Jeremia, besitzen wir noch das Gebet an Marduk bei
seiner Thronbesteigung. An Tiefe und Reinheit steht es neben den besten
Stücken israelitischer Prophetendichtung. Die chaldäischen Bußpsalmen,
auch in Rhythmus und innerem Bau den jüdischen eng verwandt, kennen
die Schuld, deren der Mensch sich nicht bewußt ist, und das Leid, das
durch reumütiges Bekennen vor dem zürnenden Gott abgewehrt werden kann.
Es ist dasselbe Vertrauen auf die Barmherzigkeit der Gottheit, das
auch in den Inschriften des Baalstempels von Palmyra einen wahrhaft
christlichen Ausdruck gefunden hat.[175]

Der Kern der prophetischen Lehre ist bereits magisch: Es gibt einen
wahren Gott als Prinzip des Guten, mag es Jahwe, Ahura Mazda oder
Marduk-Baal sein; die andern Gottheiten sind ohnmächtig oder böse.
An ihn knüpft sich die messianische Hoffnung, sehr deutlich bei
Jesaja, aber mit innerer Notwendigkeit in den folgenden Jahrhunderten
überall durchbrechend. Es ist der magische Grundgedanke; in ihm
liegt die Annahme eines welthistorischen Kampfes zwischen Gut und
Böse, mit der Macht des Bösen über die mittlere Zeit und dem Endsieg
des Guten am jüngsten Tage. Diese Moralisierung der Weltgeschichte
ist Persern, Chaldäern und Juden gemeinsam. Aber mit ihr wird
auch schon der Begriff des bodenständigen Volkes aufgelöst und
die Entstehung magischer Nationen ohne irdische Heimat und Grenze
vorbereitet. Der Begriff des auserwählten Volkes taucht auf,[176] aber
es ist begreiflich, daß die Menschen von starker Rasse, die großen
Geschlechter voran, solch allzu geistliche Gedanken innerlich ablehnten
und dem Prophetentum gegenüber auf den alten kräftigen Stammesglauben
verwiesen. Nach den Untersuchungen von Cumont war die Religion der
persischen Könige polytheistisch und ohne das Haomasakrament, also
nicht ganz diejenige Zarathustras; dasselbe gilt von den meisten
israelitischen Königen und aller Wahrscheinlichkeit nach von dem
letzten Chaldäer Naboned, der gerade wegen seiner Ablehnung der
Mardukreligion von Cyrus mit Hilfe des eignen Volkes gestürzt werden
konnte. Die Beschneidung und die -- chaldäische -- Sabbatfeier sind als
Sakramente erst Erwerbungen des Exils.

Aber das babylonische Exil hatte zwischen Juden und Persern doch einen
gewaltigen Unterschied geschaffen, nicht in den letzten Wahrheiten
des frommen Wachseins, aber in allen Tatsachen des wirklichen Lebens
und damit auch in den tiefsten Gefühlen diesem Leben gegenüber. Es
waren die Jahwegläubigen, die heimkehren +durften+, und die
Anhänger Ahura Mazdas, die es ihnen +erlaubten+. Von zwei kleinen
Stammesgruppen, die zweihundert Jahre vorher vielleicht die gleiche
Zahl von waffenfähigen Männern besaßen, hatte die eine die Welt in
Besitz genommen, und während Darius im Norden die Donau überschritt,
dehnte seine Macht sich im Süden über Ostarabien bis zur Insel
Sokotra an der Somaliküste aus;[177] die andere war ein gänzlich
bedeutungsloses Objekt fremder Politik.

Das hat die eine Religion so herrenmäßig, die andere so unterwürfig
gemacht. Man lese Jeremia und dann die große Behistuninschrift des
Darius -- was für ein prachtvoller Stolz des Königs auf seinen
siegreichen Gott! Und wie verzweifelt sind die Gründe, mit denen die
israelitischen Propheten das Bild ihres Gottes in sich zu retten
suchen. Hier, im Exil, wo durch die persischen Siege die Augen
aller Juden sich auf die zarathustrische Lehre richteten, geht das
rein jüdische Prophetentum (Amos, Hosea, Jesaja, Jeremia) in das
+apokalyptische+ über (Deuterojesaja, Hesekiel, Sacharja). Alle
die neuen Visionen vom Menschensohn, vom Satan, den Erzengeln, den
sieben Himmeln, dem jüngsten Gericht sind +persische Fassungen des
gemeinsamen Weltgefühls+. Jesaja 41 erscheint Cyrus selbst, wie
der Messias gefeiert. Hat der große Schöpfer des zweiten Jesaja seine
Erleuchtung von einem Zarathustrajünger empfangen? Ist es möglich, daß
die Perser selbst die innere Verwandtschaft beider Lehren empfanden
und die Juden deshalb in die Heimat entließen? Gewiß ist, daß beide
die volkstümlichen Vorstellungen von den letzten Dingen geteilt und
den gleichen Haß gegen die Ungläubigen der altbabylonischen und
antiken Religion gefühlt und ausgesprochen haben, gegen alle fremden
Glaubensweisen überhaupt, nur nicht gegeneinander.

Aber man muß diese „Heimkehr“ doch auch einmal von Babylon aus
betrachten. Es war die große und rassekräftige Menge, die diesem
Gedanken in Wirklichkeit ganz fern stand, ihn nur als Gedanken,
als Traum gelten ließ, ohne Zweifel ein tüchtiger Bauern- und
Handwerkerschlag mit einem in Bildung begriffenen Landadel, der
ruhig in seinen Besitzungen blieb, und zwar +unter einem eigenen
Fürsten+, dem Resch Galuta, der seine Residenz in Nehardea
hatte.[178] Die Heimziehenden sind die Wenigsten, die Hartköpfigen,
die Eiferer. Es waren 40000, mit Weib und Kind. Das kann kein
Zehntel, nicht einmal ein Zwanzigstel der Gesamtzahl gewesen sein.
Wer diese Ansiedler und ihr Schicksal mit dem Judentum überhaupt
verwechselt,[179] der vermag in den tieferen Sinn aller folgenden
Ereignisse nicht einzudringen. +Die judäische Kleinwelt führte ein
geistiges Sonderleben, das von der gesamten Nation geachtet, aber
durchaus nicht geteilt wurde.+ Im Osten blühte die apokalyptische
Literatur, die Erbin der prophetischen, prachtvoll auf. Hier war eine
echte Volksdichtung zu Hause, von der ein Meisterwerk, das Buch Hiob,
mit seinem islamischen und gar nicht judäischen Geiste[180] übrig
geblieben ist, während eine Menge anderer Märchen und Sagen, darunter
Judith, Tobit, Achikar, sich als Motive durch alle Literaturen der
„arabischen“ Welt verbreitet haben. In Judäa gedieh nur das Gesetz; der
talmudische Geist erscheint zuerst bei Hesekiel[181] und verkörpert
sich seit 450 in den Schriftgelehrten (Soferim) mit Esra an der
Spitze. Von 300 v. bis 200 n. Chr. haben hier die Tannaim die Tora
ausgelegt und also die Mischna entwickelt. Weder das Auftreten Jesu
noch die Zerstörung des Tempels haben diese abstrakte Beschäftigung
unterbrochen. Jerusalem wurde das Mekka der Strenggläubigen; als
Koran wurde ein Gesetzbuch anerkannt, dem nach und nach eine ganze
Urgeschichte mit chaldäisch-persischen Motiven, aber in pharisäischer
Umgestaltung eingeordnet wurde.[182] Aber in diesem Kreise war kein
Platz für eine weltliche Kunst, Poesie und Gelehrsamkeit. Was im
Talmud an astronomischem, medizinischem und juristischem Wissen steht,
ist ausschließlich mesopotamischer Herkunft.[183] Wahrscheinlich
begann dort +schon im Exil+ jene chaldäisch-persisch-jüdische
Sektenbildung, die zu Beginn der magischen Kultur bis zur Stiftung
großer Religionen fortschritt und in der Lehre Manis den Gipfel
erreichte. „Das Gesetz und die Propheten“ -- +das ist beinahe der
Unterschied von Judäa und Mesopotamien+. In der späteren persischen
und jeder andern magischen Theologie sind beide Richtungen vereinigt,
nur hier haben sie sich +örtlich+ getrennt. Die Entscheidungen
von Jerusalem wurden allenthalben anerkannt; es fragt sich aber,
wie weit sie befolgt worden sind. Schon Galiläa war den Pharisäern
verdächtig; in Babylonien durfte kein Rabbiner geweiht werden. Von
dem großen Gamaliel, dem Lehrer des Paulus, wird gerühmt, daß seine
Verordnungen von den Juden „selbst im Auslande“ befolgt würden. Wie
unabhängig man in Ägypten lebte, beweisen die kürzlich entdeckten
Urkunden von Elefantine und Assuan.[184] Um 170 bittet Onias den
König um Erlaubnis, einen Tempel „nach den Maßen des jerusalemischen“
errichten zu dürfen, mit der Begründung, daß die vielen gesetzwidrig
bestehenden Tempel einen ewigen Hader unter den Gemeinden erregten.

Es ist noch eine zweite Betrachtung nötig. Das Judentum hat sich wie
das Persertum seit der Zeit des Exils aus sehr kleinen Stammesverbänden
ins Ungeheure vermehrt und zwar durch Bekehrung und Übertritte.
+Es ist die einzige Form der Eroberung, deren eine Nation ohne
Land fähig ist und den magischen Religionen deshalb natürlich und
selbstverständlich.+ Im Norden drang es über den Judenstaat Adiabene
schon früh bis zum Kaukasus vor, im Süden, wahrscheinlich längs des
persischen Golfes, nach Saba; im Westen gab es in Alexandria, Kyrene
und Cypern den Ausschlag. Die Verwaltung von Ägypten und die Politik
des Partherreiches lagen zum großen Teil in jüdischen Händen.

+Aber diese Bewegung geht einzig von Mesopotamien aus.+ Es ist
apokalyptischer und nicht talmudischer Geist darin. In Jerusalem
erfindet das Gesetz immer neue Schranken gegen die Ungläubigen. Es
genügt nicht, daß man auf Bekehrungen verzichtet. Man darf nicht einmal
einen Heiden unter seinen Vorfahren haben. Ein Pharisäer erlaubt sich,
dem allgemein beliebten König Hyrkan (135-106) zuzurufen, er solle
das Hohepriesteramt niederlegen, weil seine Mutter sich einmal in
der Gewalt der Ungläubigen befunden habe.[185] Es ist dieselbe Enge,
welche in der christlichen Urgemeinde Judäas als Widerstand gegen die
Heidenmission zum Vorschein kommt. Im Osten wäre niemand auch nur auf
den Gedanken gekommen, hier eine Grenze zu ziehen, es widerspricht
dem ganzen Begriff der magischen Nation. Aber daraus folgt +die
geistige Überlegenheit des weiten Ostens+. Mochte das Synedrion in
Jerusalem von unbestrittener religiöser Autorität sein, politisch und
damit geschichtlich ist der Resch Galuta eine ganz andere Macht. Das
übersieht die christliche wie die jüdische Forschung. Soviel ich weiß,
hat niemand die bedeutsame Tatsache beachtet, daß die Verfolgung durch
Antiochus Epiphanes sich überhaupt nicht gegen „das Judentum“, sondern
gegen Judäa richtete, und das führt zu einer Einsicht von noch viel
größerer Tragweite.

Die Zerstörung Jerusalems traf nur einen sehr kleinen Teil der Nation
und +politisch wie geistig bei weitem den unbedeutendsten+. Es
ist nicht wahr, daß das jüdische Volk seitdem „in der Zerstreuung“
gelebt hätte. Es lebte seit Jahrhunderten und nicht allein, sondern
zugleich mit dem persischen und anderen in einer Form, die an kein Land
gebunden war. Und man mißversteht auch den Eindruck dieses Krieges auf
das eigentliche Judentum, das von Judäa wie ein Zubehör betrachtet und
behandelt wurde. Man empfand den Sieg der Heiden und den Untergang
des Heiligtums in tiefster Seele[186] und hat in dem Kreuzzug von 115
die schwerste Rache genommen, aber das galt dem jüdischen und nicht
dem judäischen Ideal. Mit dem „Zionismus“ ist es damals wie früher
unter Cyrus und heute nur einer ganz geringen und geistig beschränkten
Minderheit ernst gewesen. Hätte man das Unglück wirklich als „Verlust
der Heimat“ empfunden, wie wir uns das nach abendländischem Gefühl
vorstellen, so wäre die Rückeroberung seit Mark Aurel hundertmal
möglich gewesen. Aber sie hätte dem magischen Nationalgefühl
widersprochen. Die ideale Form der Nation war die „Synagoge“, der
reine consensus wie die urkatholische „sichtbare Kirche“ und wie der
Islam, und gerade sie ist durch die Vernichtung von Judäa und dem hier
geltenden Stammesgeiste +erst ganz verwirklicht worden+.

Der Krieg Vespasians, der sich nur gegen Judäa richtete, war eine
Befreiung des Judentums. Denn erstens verschwand damit der Anspruch
der Bevölkerung dieses winzigen Gebietes, die eigentliche Nation
zu sein, und die Gleichsetzung ihrer kahlen Geistigkeit mit dem
Seelenleben des Ganzen. Die gelehrte Forschung, die Scholastik und
Mystik der östlichen Hochschulen kam zu ihrem Recht. Der Oberrichter
Karna hat, etwa gleichzeitig mit Ulpian und Papinian, an der Hochschule
von Nehardea das erste Zivilrecht zusammengestellt.[187] Und zweitens
rettete es diese Religion vor den Gefahren der Pseudomorphose, denen
das Christentum gleichzeitig erlag. Es hatte seit 200 v. Chr. eine halb
hellenistische Judenliteratur gegeben. Der Prediger Salomo (Koheleth)
enthält pyrrhonische Stimmungen. Die Weisheit Salomos, das zweite
Makkabäerbuch, Theodot, der Aristeasbrief und anderes folgen; es gibt
Stücke wie die Spruchsammlung Menanders, bei denen sich überhaupt nicht
ermitteln läßt, ob sie griechisch oder jüdisch sein sollte. Es gab um
160 Hohepriester, die aus hellenistischem Geist die jüdische Religion
bekämpften, und spätere Herrscher wie Hyrkan und Herodes, die dasselbe
mit politischen Mitteln versuchten. Diese Gefahr ist mit dem Jahre 70
sofort und endgültig zu Ende.

Es gab zur Zeit Jesu in Jerusalem drei Richtungen, die man +als
allgemein aramäische+ betrachten darf: die Pharisäer, Sadduzäer und
Essäer. Obwohl die Begriffe und Namen schwanken und die Ansichten der
christlichen wie der jüdischen Forschung sehr verschieden sind, darf
doch gesagt werden:

Die erste Gesinnung tritt am reinsten im Judaismus, die zweite im
Chaldäertum, die dritte im Hellenismus hervor.[188] Essäisch ist die
Entstehung des ordensartigen Mithraskultes im östlichen Kleinasien,
pharisäisch ist in der Kultkirche das System des Porphyrius. Die
Sadduzäer, obwohl sie in Jerusalem selbst als kleiner vornehmer Kreis
erscheinen -- Josephus vergleicht sie mit den Epikuräern --, sind
allgemein aramäisch durch ihre apokalyptischen und eschatologischen
Stimmungen, durch das, was in dieser Frühzeit dem Geiste Dostojewskis
verwandt ist. Sie und die Pharisäer verhalten sich wie Mystik und
Scholastik, wie Johannes und Paulus, wie Bundehesch und Vendidad
der Perser. Die Apokalyptik ist volkstümlich und in vielen Zügen
seelisches Gemeingut der ganzen aramäischen Welt. Das talmudische und
awestische Pharisäertum ist exklusiv und sucht jede Religion so schroff
als möglich abzusondern. Nicht der Glaube und die Visionen, sondern
der strenge Ritus, der gelernt und eingehalten werden muß, ist ihm das
Wichtigste, so daß nach seiner Ansicht der Laie aus Unkenntnis des
Gesetzes gar nicht fromm sein kann.

Die Essäer erscheinen in Jerusalem als Mönchsorden wie die
Neupythagoräer. Sie besaßen geheime Schriften;[189] im weiteren Sinne
sind sie die Vertreter der Pseudomorphose und sie verschwinden deshalb
mit dem Jahre 70 vollständig aus dem Judentum, während gerade jetzt die
christliche Literatur eine rein griechische wurde, nicht zum wenigsten
deshalb, weil das hellenisierte westlichste Judentum den nach Osten
weichenden Judaismus verließ und allmählich im Christentum aufging.

Aber auch die Apokalyptik, eine Ausdrucksform des stadtlosen und
stadtfeindlichen Menschentums, ist innerhalb der Synagoge sehr bald zu
Ende, nachdem sie unter dem Eindruck der Katastrophe noch einmal eine
wunderbare Blüte erlebt hatte.[190] Als es sich entschieden hatte, daß
die Lehre Jesu nicht zu einer Reform des Judentums, sondern zu einer
neuen Religion heranwuchs, und um 100 die tägliche Fluchformel gegen
die Judenchristen eingeführt wurde, verblieb die Apokalyptik für den
kurzen Rest ihres Daseins der jungen Religion.


6

Das Unvergleichliche, womit das junge Christentum sich über alle
Religionen dieser reichen Frühzeit hinaushebt, ist die Gestalt Jesu. Es
gibt in all den großen Schöpfungen jener Jahre nichts, was sich ihr zur
Seite stellen ließe. Wer damals seine Leidensgeschichte las und hörte,
wie sie sich kurz vorher begeben hatte: den letzten Zug nach Jerusalem,
das letzte bange Abendmahl, die Stunde der Verzweiflung in Gethsemane
und den Tod am Kreuz, dem mußten alle Legenden und heiligen Abenteuer
von Mithras, Attis und Osiris flach und leer erscheinen.

Hier gibt es keine Philosophie. Seine Aussprüche, von denen manche den
Gefährten noch im hohen Alter Wort für Wort im Gedächtnis hafteten,
sind die eines Kindes mitten in einer fremden, späten und kranken Welt.
Es gibt keine sozialen Betrachtungen, keine Probleme, keine Grübelei.
Wie eine stille selige Insel ruht das Leben dieser Fischer und
Handwerker am See Genezareth mitten in der Zeit des großen Tiberius,
fernab von aller Weltgeschichte, ohne irgendeine Ahnung von den Händeln
der Wirklichkeit, während rings die hellenistischen Städte leuchten
mit ihren Tempeln und Theatern, der feinen westlichen Gesellschaft
und den lärmenden Zerstreuungen des Pöbels, den römischen Kohorten
und der griechischen Philosophie. Als seine Freunde und Begleiter
Greise geworden waren und der Bruder des Hingerichteten dem Kreise in
Jerusalem vorstand, sammelte sich aus den Worten und Erzählungen, die
überall in den kleinen Gemeinden im Umlauf waren, ein Lebensbild von
so ergreifender Innerlichkeit, daß es eine eigene Darstellungsform
hervorrief, die weder in der antiken noch in der arabischen Kultur
Vorbilder hat: das Evangelium. Das Christentum ist die einzige Religion
der Weltgeschichte, in welcher ein Menschenschicksal der unmittelbaren
Gegenwart zum Sinnbild und Mittelpunkt der gesamten Schöpfung geworden
ist.

Eine ungeheure Erregung, wie die germanische Welt sie um das Jahr
1000 kennen lernte, ging damals durch das ganze aramäische Land. Die
magische Seele war erwacht. Was in den prophetischen Religionen wie
eine Ahnung lag, was zur Zeit Alexanders in metaphysischen Umrissen
hervortrat, das erfüllte sich jetzt. Und diese Erfüllung weckte in
unnennbarer Stärke das Urgefühl der Angst. Es gehört zu den letzten
Geheimnissen des Menschentums und des freibeweglichen Lebens überhaupt,
daß die Geburt des Ich und die der Weltangst ein und dasselbe sind. Daß
sich vor einem Mikrokosmos ein Makrokosmos auftut, weit, übermächtig,
ein Abgrund von fremdem, lichtüberstrahltem Sein und Treiben, das läßt
das kleine, einsame Selbst scheu in sich zurückweichen. Eine Angst
vor dem eigenen Wachsein, wie sie Kinder zuweilen überfällt, lernt
kein Erwachsener in den schwärzesten Stunden seines Lebens wieder
kennen. Diese Todesangst lag auch über dem Anbruch der neuen Kultur. In
dieser Morgenfrühe magischen Welthewußtseins, das verzagt, ungewiß,
dunkel über sich selbst war, fiel ein neuer Blick auf das nahe Ende
der Welt. Es ist der erste Gedanke, mit dem bis jetzt jede Kultur zum
Bewußtsein ihrer selbst kam. Ein Schauer von Offenbarungen, Wundern,
letzten Einblicken in den Urgrund der Dinge überfiel jedes tiefere
Gemüt. Man dachte, man lebte nur noch in apokalyptischen Bildern. Die
Wirklichkeit wurde zum Schein. Seltsame und grauenvolle Gesichte wurden
geheimnisvoll herumerzählt, aus wirren und dunklen Schriften verlesen
und sofort, mit unmittelbarer innerer Gewißheit begriffen. Von einer
Gemeinschaft zur andern, von Dorf zu Dorf, wanderten solche Schriften,
von denen sich gar nicht sagen läßt, daß sie einer einzelnen Religion
angehören.[191] Sie sind persisch, chaldäisch, jüdisch gefärbt, aber
sie haben alles aufgenommen, was damals in den Gemütern umging. Die
kanonischen Bücher sind national, die apokalyptischen international
im wörtlichen Sinne. Sie sind da, ohne daß jemand sie verfaßt zu
haben scheint. Ihr Inhalt verschwimmt und lautet heute so und morgen
anders. Sie sind aber auch nichts weniger als „Dichtung“.[192] Sie
gleichen den furchtbaren Portalgestalten an den romanischen Kathedralen
Frankreichs, die ebenfalls keine „Kunst“, sondern steingewordene
Angst sind. Jeder kannte diese Engel und Dämonen, diese Himmel- und
Höllenfahrten göttlicher Wesen, den Urmenschen oder zweiten Adam, den
Gesandten Gottes, den Heiland der letzten Tage, den Menschensohn, die
ewige Stadt und das jüngste Gericht.[193] In den fremden Städten und
an den Hochsitzen des strengen persischen und jüdischen Priestertums
mochte man die Unterscheidungslehren begrifflich feststellen und um sie
streiten, hier unten im Volk gab es fast keine Einzelreligion, sondern
eine allgemeine magische Religiosität, die alle Seelen erfüllte, die
sich an Einblicke und Bilder jedes denkbaren Ursprungs heftete. Der
jüngste Tag war nahe herangekommen. Man erwartete ihn. Man wußte, daß
„er“ jetzt erscheinen müsse, von dem in allen Offenbarungen die Rede
war. Propheten standen auf. Man schloß sich zu immer neuen Gemeinden
und Kreisen zusammen, in der Überzeugung, die angeborene Religion
nun besser erkannt oder die wahre gefunden zu haben. In dieser Zeit
ungeheuerster, von Jahr zu Jahr wachsender Spannung ist, ganz nahe
der Geburt Jesu, neben zahllosen Gemeinschaften und Sekten auch die
mandäische Erlösungsreligion entstanden, deren Stifter oder Ursprung
wir nicht kennen. Wie es scheint, stand sie trotz ihres Hasses
gegen den Judaismus von Jerusalem und ihrer Vorliebe gerade für die
persischen Fassungen des Erlösungsgedankens dem volkstümlichen Glauben
des syrischen Judentums sehr nahe. Aus ihren wundervollen Schriften
tritt jetzt ein Stück nach dem andern zutage. Überall ist „er“, der
Menschensohn, der in die Tiefe gesandte Erlöser, der selbst erlöst
werden muß, das Ziel der Erwartung. Im Johannesbuch spricht der Vater,
im Hause der Vollendung hoch aufgerichtet, von Licht umflossen, zu
seinem eingeborenen Sohn: Mein Sohn, sei mir ein Bote -- gehe in die
Welt der Finsternis, in der es keinen Lichtstrahl gibt -- der Sohn ruft
empor: Vater der Größe, was habe ich gesündigt, daß du mich in die
Tiefe gesandt hast? Und endlich: Ohne Fehler stieg ich empor und nicht
war Fehl und Mangel an mir.[194]

Alle Züge der großen prophetischen Religionen und der ganze Schatz
tiefster Einsichten und Gestalten, der sich seitdem in der Apokalyptik
gesammelt hatte, liegen hier gemeinsam zugrunde. Von antikem Denken und
Fühlen ist in diese Unterwelt des Magischen nicht ein Hauch gedrungen.
Die Anfänge der neuen Religion sind wohl für immer verschollen. Eine
geschichtliche Gestalt des Mandäertums aber tritt mit ergreifender
Deutlichkeit hervor, tragisch in ihrem Wollen und Untergang wie Jesus
selbst: es ist Johannes der Täufer.[195] Dem Judentum kaum noch
angehörig und von einem mächtigen Hasse -- er entspricht genau dem
urrussischen Hasse gegen Petersburg -- gegen den Geist von Jerusalem
erfüllt, predigt er das Ende der Welt und das Nahen des Barnasha, des
Menschensohns, der +nicht mehr der verheißene nationale Messias der
Juden, sondern der Bringer des Weltbrandes ist+.[196] Zu ihm ging
Jesus und wurde einer seiner Jünger.[197] Er war dreißig Jahre alt, als
die Erweckung über ihn kam. Die apokalyptische und im besonderen die
mandäische Gedankenwelt erfüllte von nun an sein ganzes Bewußtsein.
Nur scheinhaft, fremd und bedeutungslos lag die andere Welt der
geschichtlichen Wirklichkeit um ihn her. Daß „er“ jetzt kommen und
dieser so unwirklichen Wirklichkeit ein Ende machen werde, war seine
große Gewißheit und für sie trat er wie sein Meister Johannes als
Verkünder auf. Noch jetzt lassen die ältesten ins Neue Testament
aufgenommenen Evangelien diese Zeit hindurchschimmern, in der er in
seinem Bewußtsein nichts war als ein Prophet.[198]

Aber es gibt einen Augenblick in seinem Leben, wo die Ahnung und
dann die hohe Gewißheit über ihn kommt: Du bist es selbst. Es war
ein Geheimnis, das er zuerst kaum sich selbst, dann seinen nächsten
Freunden und Begleitern eingestand, die nun die selige Botschaft in
aller Stille mit ihm teilten, bis sie die Wahrheit endlich durch den
verhängnisvollen Zug nach Jerusalem vor aller Welt zu offenbaren
wagten. Wenn irgend etwas die vollkommene Reinheit und Ehrlichkeit
seiner Gedanken verbürgt, so ist es der Zweifel, ob er sich nicht doch
vielleicht täusche, der ihn immer wieder ergriffen hat und von dem
seine Jünger später ganz aufrichtig erzählt haben. Da kommt er in seine
Heimat. Das Dorf läuft zusammen. Man erkennt den ehemaligen Zimmermann,
der seine Arbeit verlassen hat, und ist entrüstet. Die Familie, seine
Mutter, die zahlreichen Brüder und Schwestern schämen sich seiner und
wollen ihn festnehmen. Da, als er all die bekannten Augen auf sich
gerichtet fühlt, wird er verwirrt und die magische Kraft weicht von ihm
(Mark. 6). In Gethsemane mischen sich Zweifel an seiner Sendung[199]
mitten in die entsetzliche Angst vor dem Kommenden und noch am Kreuz
vernahm man den qualvollen Ruf, daß Gott ihn verlassen habe.

Selbst in diesen letzten Stunden lebte er ganz im Bilde seiner
apokalyptischen Welt. Er hat nie eine andere wirklich um sich gesehen.
Was den Römern, die unter ihm Wache standen, als Wirklichkeit
galt, war ihm ein Gegenstand ratlosen Staunens, ein Trugbild, das
sich unversehens in nichts auflösen konnte. Er besaß die reine und
unverfälschte Seele des stadtlosen Landes. Das Leben der Städte,
der Geist im städtischen Sinne waren ihm gänzlich fremd. Hat er das
halbantike Jerusalem, in das er als der Menschensohn einzog, wirklich
gesehen und in seinem geschichtlichen Wesen verstanden? Das ist das
Ergreifende der letzten Tage, dieser Zusammenstoß von Tatsachen und
Wahrheiten, von zwei Welten, die sich nie verstehen werden: daß er gar
nicht wußte, was mit ihm geschah.

So ging er in der Fülle des Verkündens durch sein Land, aber dieses
Land war Palästina. Er war im antiken Imperium geboren und lebte unter
den Augen des Judaismus von Jerusalem, und sobald seine Seele aus ihrem
Schauen und dem Gefühl ihrer Sendung heraus um sich blickte, stieß sie
auf die Wirklichkeit des römischen Staates und des Pharisäertums. Der
Widerwille gegen dieses starre und eigensüchtige Ideal, den er mit dem
ganzen Mandäertum und ohne Zweifel mit dem jüdischen Landvolke des
weiten Ostens teilte, geht als erstes und dauerndes Merkmal durch alle
seine Reden. Ihm graute vor diesem Wust verstandesmäßiger Formeln, der
der einzige Weg zum Heil sein sollte. Dennoch war es nur eine andre
Art von Frömmigkeit, die seiner Überzeugung mit rabbinischer Logik das
Recht bestritt.

Hier stand nur das Gesetz gegen die Propheten. Als Jesus aber vor
Pilatus geführt wurde, +da traten sich die Welt der Tatsachen und
die der Wahrheiten unvermittelt und unversöhnlich gegenüber+, in
so erschreckender Deutlichkeit und Wucht der Symbolik, wie in keiner
zweiten Szene der gesamten Weltgeschichte. Der Zwiespalt, der allem
freibeweglichen Leben von Anfang an zugrunde liegt, schon damit,
daß es ist, daß es Dasein +und+ Wachsein ist, hat hier die
höchste überhaupt denkbare Form menschlicher Tragik angenommen. In
der berühmten Frage des römischen Prokurators: Was ist Wahrheit? --
das einzige Wort im Neuen Testament, das Rasse hat -- +liegt der
ganze Sinn der Geschichte+, die Alleingeltung der Tat, der Rang
des Staates, des Krieges, des Blutes, die ganze Allmacht des Erfolges
und der Stolz auf ein großes Geschick. Darauf hat nicht der Mund,
aber das schweigende Gefühl Jesu mit der andern, über alles Religiöse
entscheidenden Frage geantwortet: +Was ist Wirklichkeit?+ Für
Pilatus war sie alles, für ihn selbst nichts. Anders kann echte
Religiosität der Geschichte und ihren Mächten niemals gegenüberstehen,
anders darf sie das tätige Leben nie einschätzen, und wenn sie es
dennoch tut, so hat sie aufgehört Religion zu sein und ist selbst dem
Geist der Geschichte verfallen.

+Mein Reich ist nicht von dieser Welt+ -- das ist das letzte
Wort, von dem sich nichts abdeuten läßt und an dem jeder ermessen muß,
wohin Geburt und Natur ihn gewiesen haben. Ein Dasein, das sich des
Wachseins bedient, oder ein Wachsein, welches das Dasein unterwirft;
Takt oder Spannung, Blut oder Geist, Geschichte oder Natur, Politik
oder Religion: hier gibt es nur ein Entweder-Oder und keinen ehrlichen
Vergleich. Ein Staatsmann kann tief religiös sein, ein Frommer kann
für sein Vaterland fallen -- aber sie müssen beide wissen, auf
welcher Seite sie wirklich stehen. Der geborne Politiker verachtet
die weltfremden Betrachtungsweisen des Ideologen und Ethikers mitten
in seiner Tatsachenwelt -- er hat recht. Für den Gläubigen sind aller
Ehrgeiz und Erfolg der geschichtlichen Welt sündhaft und ohne ewigen
Wert -- er hat auch recht. Ein Herrscher, der die Religion in der
Richtung auf politische, praktische Ziele verbessern will, ist ein Tor.
Ein Sittenprediger, der Wahrheit, Gerechtigkeit, Frieden, Versöhnung
in die Welt der Wirklichkeit bringen will, ist ebenfalls ein Tor. Kein
Glaube hat je die Welt verändert und keine Tatsache kann je einen
Glauben widerlegen. Es gibt keine Brücke zwischen der gerichteten
Zeit und dem zeitlos Ewigen, zwischen dem Gang der Geschichte und dem
Bestehen einer göttlichen Weltordnung, in deren Bau „Fügung“ das Wort
für den höchsten Fall von Kausalität ist. +Das ist der letzte Sinn
jenes Augenblicks, in dem Pilatus und Jesus sich gegenüberstanden.+
In der einen, der historischen Welt ließ der Römer den Galiläer ans
Kreuz schlagen -- das war sein Schicksal. In der andern war Rom der
Verdammnis verfallen und das Kreuz die Bürgschaft der Erlösung. Das war
„Gottes Wille“.[200]

+Religion ist Metaphysik, nichts anderes+: _Credo, quia
absurdum._ Und zwar ist erkannte, bewiesene, für bewiesen
gehaltene Metaphysik bloße Philosophie oder Gelehrsamkeit. Hier ist
+erlebte+ Metaphysik gemeint, das Undenkbare als Gewißheit, das
Übernatürliche als Ereignis, das Leben in einer nichtwirklichen,
aber wahren Welt. Anders hat Jesus auch nicht einen Augenblick
gelebt. Er war kein Sittenprediger. In der Sittenlehre das letzte
Ziel der Religion sehen, heißt sie nicht kennen. Das ist neunzehntes
Jahrhundert, „Aufklärung“, humanes Philistertum. Ihm soziale Absichten
zuschreiben ist eine Lästerung. Seine gelegentlichen Sittensprüche,
soweit sie ihm nicht nur zugeschrieben sind, dienen lediglich der
Erbauung. Sie enthalten gar keine neue Lehre. Es waren Sprichwörter
darunter, wie sie damals jeder kannte. Seine +Lehre+ war einzig
die Verkündigung der letzten Dinge, deren Bilder ihn beständig
erfüllten: der Anbruch des neuen Weltalters, die Herabkunft des
himmlischen Gesandten, das letzte Gericht, ein neuer Himmel und
eine neue Erde.[201] Einen andern Begriff von Religion hat er nie
gehabt und einen andern besitzt überhaupt keine wahrhaft innerliche
Zeit. +Religion ist durch und durch Metaphysik, Jenseitigkeit+,
Wachsein inmitten einer Welt, in welcher das Zeugnis der Sinne nur
den Vordergrund aufhellt; Religion ist das Leben in und mit dem
Übersinnlichen, und wo die Kraft zu solchem Wachsein, die Kraft,
auch nur daran zu glauben, fehlt, da ist die wirkliche Religion zu
Ende. Mein Reich ist +nicht+ von dieser Welt -- nur wer das
ganze Gewicht dieser Einsicht ermißt, kann seine tiefsten Aussprüche
begreifen. Erst späte, städtische Zeiten, die solcher Einblicke
nicht mehr fähig waren, haben den Rest von Religiosität auf die Welt
des äußeren Lebens bezogen und die Religion durch humane Gefühle
und Stimmungen, die Metaphysik durch Sittenpredigt und Sozialethik
ersetzt. In Jesus findet man das gerade Gegenteil. „Gebt dem Cäsar, was
des Cäsars ist“ -- das heißt: Fügt euch den Mächten der Tatsachenwelt,
duldet, leidet und fragt nicht, ob sie „gerecht“ sind. Wichtig ist nur
das Heil der Seele. „Sehet die Lilien auf dem Felde“ -- das heißt:
Kümmert euch nicht um Reichtum +und Armut+. Sie fesseln beide
die Seele an die Sorgen dieser Welt. „Man muß Gott dienen oder dem
Mammon“ -- da ist mit dem Mammon die +ganze+ Wirklichkeit gemeint.
Es ist flach und feige, die Größe aus dieser Forderung fortzudeuten.
Zwischen der Arbeit für den eignen Reichtum und der für die soziale
Bequemlichkeit „aller“ hätte er überhaupt keinen Unterschied
empfunden. Wenn er vor dem Reichtum erschrak und wenn die Urgemeinde
in Jerusalem, die ein strenger Orden war und kein Sozialistenklub,
den Besitz verwarf, so liegt darin der größte überhaupt denkbare
Gegensatz zu aller „sozialen Gesinnung“: nicht weil die äußere Lage
alles, sondern weil sie nichts ist, nicht aus der Alleinschätzung,
sondern aus der unbedingten Verachtung des diesseitigen Behagens gehen
solche Überzeugungen hervor. Aber es muß allerdings etwas da sein,
dem gegenüber alles irdische Glück zu nichts versinkt. Es ist wieder
der Unterschied von Tolstoi und Dostojewski. Tolstoi, der Städter
und Westler, hat in Jesus nur einen Sozialethiker erblickt und wie
der ganze zivilisierte Westen, der nur verteilen, nicht verzichten
kann, das Urchristentum zum Range einer sozialrevolutionären Bewegung
herabgezogen und zwar aus Mangel an metaphysischer Kraft. Dostojewski,
der arm war, aber in gewissen Stunden fast ein Heiliger, hat nie an
soziale Verbesserungen gedacht -- was wäre der Seele damit geholfen,
wenn man das Eigentum abschafft?


7

Unter den Freunden und Schülern, die der furchtbare Ausgang des Zuges
nach Jerusalem innerlich vernichtet hatte, verbreitete sich nach
einigen Tagen die Kunde von seiner Auferstehung und Erscheinung. Was
das für solche Seelen und eine solche Zeit bedeutete, können späte
Menschen niemals ganz nachempfinden. Damit war die Erwartung der
gesamten Apokalyptik jener magischen Frühzeit erfüllt: am Ende des
gegenwärtigen Aion der Aufstieg des erlösten Erlösers, des zweiten
Adam, des Saoshyant, Enosh oder Barnasha oder wie man „ihn“ sonst noch
vorstellen und nennen mochte, in das Lichtreich des Vaters. Damit war
die verkündete Zukunft und das neue Weltalter, „das Himmelreich“,
unmittelbare Gegenwart geworden. Man befand sich im entscheidenden
Punkt der Heilsgeschichte. Diese Gewißheit hat den Weltblick des
kleinen Kreises vollkommen verändert. „Seine“ Lehre, wie sie aus
seiner milden und edlen Natur geflossen war, sein inneres Gefühl
vom Verhältnis zwischen Mensch und Gott und dem Sinn der Zeiten
überhaupt, das mit dem einen Wort Liebe erschöpfend bezeichnet war,
trat zurück und die +Lehre von ihm+ trat an ihre Stelle. Als
„der Auferstandene“ wurde ihr Lehrer eine neue Gestalt innerhalb der
Apokalyptik und zwar die wichtigste und abschließende. Aber damit war
aus dem Zukunftsbilde ein Erinnerungsbild geworden. Es war etwas ganz
Entscheidendes und in der gesamten magischen Gedankenwelt Unerhörtes,
dies Eintreten einer selbsterlebten Wirklichkeit in den Kreis der
großen Gesichte. Die Juden, darunter der junge Paulus, und die Mandäer,
darunter die Jünger des Täufers, haben es leidenschaftlich bestritten.
Für sie war er ein falscher Messias, von dem schon die ältesten
persischen Texte gesprochen hatten.[202] Für sie sollte „er“ auch
fernerhin noch kommen; für die kleine Gemeinde war er eben dagewesen.
Sie hatten ihn gesehen, mit ihm gelebt. Man muß sich ganz in dies
Bewußtsein versetzen, um seine ungeheure Überlegenheit in einer solchen
Zeit zu begreifen. Statt eines Ungewissen Blickes in die Ferne ein
Stück ergreifender Gegenwart, statt der wartenden Angst die befreiende
Gewißheit, statt einer Sage ein miterlebtes Menschenschicksal. Es war
wirklich eine „frohe Botschaft“, die man verkündete.

Aber wem? Schon in den ersten Tagen erhebt sich die Frage, welche
über das ganze Schicksal der neuen Offenbarung entschied. Jesus und
seine Freunde waren Juden von Geburt, aber sie gehörten nicht zum
judäischen Lande. Hier in Jerusalem erwartete man den Messias der alten
heiligen Bücher, der allein für das jüdische Volk im ehemaligen Sinne
einer Stammesgemeinschaft kommen sollte. Das ganze übrige aramäische
Land aber erwartete den Erlöser +der Welt+, den Heiland und
Menschensohn aller apokalyptischen Schriften, mochten sie jüdisch,
persisch, chaldäisch oder mandäisch abgefaßt sein.[203] Im einen
Falle waren Tod und Auferstehung Jesu nur ein örtliches Ereignis, im
andern bedeuteten sie eine Weltwende. Denn während überall sonst die
Juden eine magische Nation ohne Heimat und Einheit der Abstammung
geworden waren, hielt man in Jerusalem an der Stammesauffassung fest.
Es handelte sich nicht um „Juden-“ oder „Heidenmission“: der Zwiespalt
liegt viel tiefer. Das Wort Mission bedeutet hier durchaus zweierlei.
Im Sinne des Judaismus bedurfte es eigentlich keiner Werbung; im
Gegenteil, sie widersprach der Messiasidee. Die Begriffe Stamm und
Mission schließen sich aus. Die Angehörigen des auserwählten Volkes
und im besonderen die Priesterschaft hatten sich lediglich +zu
überzeugen+, daß die Verheißung jetzt erfüllt war. Im andern
Falle aber lag in der Idee der magischen, auf dem _consensus_
beruhenden Nation, daß mit der Auferstehung die volle und endgültige
Wahrheit und also mit dem _consensus_ über sie +die Grundlage
der wahren Nation+ gegeben war, die sich nun ausdehnen mußte, bis
sie alle älteren, der Idee nach unvollkommenen in sich aufgenommen
hatte. „Ein Hirt und eine Herde“ -- das war die Formel für die neue
+Weltnation+. Die Nation des Erlösers war mit der Menschheit
identisch. Überblickt man die Vorgeschichte dieser Kultur, so ergibt
sich, daß die Streitfrage des Apostelkonzils[204] schon 500 Jahre
vorher durch die Tat entschieden war: das nachexilische Judentum mit
einziger Ausnahme des in sich abgeschlossenen Kreises von Judäa hatte
wie die Perser, die Chaldäer und alle andern im ausgedehntesten Maße
unter den Ungläubigen geworben, von Turkestan bis nach Innerafrika,
ohne Rücksicht auf Heimat und Abkunft. Darüber stritt man nicht. Es
kam dieser Gemeinschaft gar nicht zum Bewußtsein, daß es anders sein
könne. Sie selbst war ja bereits das Ergebnis +eines nationalen
Daseins, das in Ausdehnung bestand+. Die altjüdischen Texte waren
ein sorgfältig behüteter Schatz und die richtige Auslegung, die
Halacha, behielten sich die Rabbiner vor. Die apokalyptische Literatur
bildete dazu das äußerste Gegenteil: geschrieben, um schrankenlos
alle Gemüter zu wecken, war sie in der Ausdeutung jedem einzelnen
anheimgestellt.

Wie seine ältesten Freunde es auffaßten, zeigt die Tatsache, daß sie
sich als die Gemeinde der Endzeit in Jerusalem festsetzten und im
Tempel verkehrten. Für diese einfachen Leute, darunter seine Brüder,
die ihn anfangs durchaus abgelehnt hatten, und die Mutter, die nun an
den hingerichteten Sohn glaubte,[205] war die Macht der judäischen
Überlieferung noch stärker als der apokalyptische Geist. Ihre Absicht,
die Juden zu überzeugen, mißlang, obwohl anfangs sogar Pharisäer
übertraten; sie blieben eine der vielen Sekten innerhalb des Judentums
und man kann das Ergebnis, das „Bekenntnis des Petrus“, wohl so
ausdrücken, daß sie selbst das wahre, das Synedrion aber das falsche
Judentum vertraten.[206]

Das letzte Schicksal dieses Kreises[207] ist in Vergessenheit geraten
unter der Wirkung, welche die neue apokalyptische Lehre in der ganzen
Welt magischen Fühlens und Denkens sehr bald hervorrief. Unter den
späteren Anhängern Jesu waren viele, die wirklich rein magisch
empfanden und von pharisäischem Geiste ganz frei waren. Sie haben
lange vor Paulus die Missionsfrage stillschweigend für sich gelöst.
Sie konnten gar nicht leben, ohne zu verkünden, und sie haben vom
Tigris bis zur Tiber überall kleine Kreise gesammelt, in denen die
Jesusgestalt in allen denkbaren Auffassungen mit der Masse schon
vorhandener Gesichte und Lehren verschmolz.[208] Hier ergab sich ein
zweiter Zwiespalt, der ebenfalls in den Worten Heiden- und Judenmission
enthalten ist und der viel wichtiger wurde als jener im voraus
entschiedene Streit zwischen Judäa und der Welt: Jesus hatte in Galiläa
gelebt. Sollte die Lehre von ihm nach West oder Ost gerichtet sein? Als
Jesuskult oder als Erlöserorden? In engster Fühlung mit der persischen
oder der synkretistischen Kirche, die damals beide in Bildung begriffen
waren?

Darüber hat Paulus entschieden, die erste große Persönlichkeit in der
neuen Bewegung, die erste, die sich nicht nur auf Wahrheiten, sondern
auch auf Tatsachen verstand. Als junger Rabbiner aus dem Westen und
Schüler eines der berühmtesten Tannaim hatte er die Christen als
eine innerjüdische Sekte verfolgt. Nach einer Erweckung, wie sie
damals oft vorkam, wandte er sich den vielen kleinen Kultgemeinden
des Westens zu und schuf aus ihnen eine Kirche +seiner+ Prägung.
Von hier an haben sich die heidnische und die christliche Kultkirche
im Gleichschritt und in engster Wechselwirkung bis zu Jamblich und
Athanasius (beide um 330) entwickelt. Im Angesicht dieses großen
Ziels hat er für die Jesusgemeinde in Jerusalem eine kaum verhehlte
Verachtung. Es gibt im Neuen Testament nichts Peinlicheres als den
Anfang des Galaterbriefes: er hat seine Tätigkeit auf eigene Faust
unternommen und so gelehrt und aufgebaut, wie es ihn gut dünkte.
Endlich, nach vierzehn Jahren, geht er nach Jerusalem, um die alten
Gefährten Jesu durch seine geistige Überlegenheit, den Erfolg und
die Tatsache seiner Unabhängigkeit von ihnen zu dem Eingeständnis zu
zwingen, daß seine Schöpfung die wahre Lehre enthalte. Petrus und die
Seinen, allem Tatsächlichen fremd, haben die Tragweite der Besprechung
nicht erkannt: von da an war die Urgemeinde überflüssig.

Paulus war Rabbiner dem Geiste und Apokalyptiker dem Gefühl nach.
Er erkannte den Judaismus an, aber +als Vorgeschichte+.
Infolgedessen gab es von nun an zwei magische Religionen mit derselben
heiligen Schrift, nämlich dem Alten Testament. Aber dazu gehörte eine
doppelte Halacha, die eine in der Richtung auf den Talmud, durch
die Tannaim zu Jerusalem seit 300 v. Chr. entwickelt, die andere
durch Paulus begründet und durch die Kirchenväter vollendet, in der
Richtung auf das Evangelium. Die ganze Fülle der Apokalyptik aber
mit ihrer Erlöserverheißung, die damals umging,[209] zog er in die
Erlösungs+gewißheit+ zusammen, so wie sie +ihm allein+ vor
Damaskus unmittelbar offenbart worden war. „+Jesus ist der Erlöser
und Paulus ist sein Prophet+“: das ist der volle Inhalt seiner
Verkündigung. Die Ähnlichkeit mit Mohamed kann nicht größer sein. Weder
die Art der Erweckung noch das prophetische Selbstbewußtsein noch die
Folgerungen daraus für das alleinige Recht und die unbedingte Wahrheit
ihrer Auslegung sind verschieden.

Mit Paulus erscheint der +Stadtmensch+ und mit ihm die
„Intelligenz“ in diesem Kreise. Die andern, mochten sie auch
Antiochia und Jerusalem kennen, haben doch das Wesen solcher Städte
nie begriffen. Sie lebten erdverbunden, ländlich, ganz Seele und
Gefühl. Hier erschien ein in den Großstädten antiken Stils gewachsener
Geist, der nur in Städten leben konnte, der das bäuerliche Land weder
begriff noch achtete. Mit Philo hätte er sich verständigen mögen, mit
Petrus nicht. Er zuerst hat das Auferstehungserlebnis +als Problem
gesehen+, und das selige Schauen der ländlichen Jünger verwandelte
sich in seinem Kopfe in einen Streit geistiger Prinzipien. Wie war das
doch anders -- das Ringen in Gethsemane und die Stunde von Damaskus:
ein Kind und ein Mann, Seelenangst und geistige Entscheidung, Ergebung
in den Tod und Entschluß zum Wechsel der Partei. Er hatte in der
neuen Judensekte zuerst eine Gefahr für die pharisäische Lehre von
Jerusalem gesehen; plötzlich begriff er, daß die Nazarener „recht
hatten“ -- ein Wort, an das man bei Jesus gar nicht denken kann; nun
verteidigt er ihre Sache gegen den Judaismus und erhebt sie damit zu
einer +geistigen Größe+, während sie bisher das Wissen um ein
Erlebnis gewesen war. Eine geistige Größe -- aber damit drängt er das
Verteidigte ganz unbewußt den andern geistigen Mächten näher, die es
damals gab: +den Städten des Westens+. Im Umkreis der reinen
Apokalyptik gab es keinen „Geist“. Die alten Gefährten konnten ihn gar
nicht verstehen. Sie müssen ängstlich und traurig auf ihn geblickt
haben, als er auf sie einredete. Ihr lebendiges Jesusbild -- Paulus
hatte ihn ja nie gesehen -- verblaßte vor diesem grellen Licht der
Begriffe und Sätze. Von nun an wurde aus der heiligen Erinnerung ein
Schulsystem. Aber Paulus hatte ein ganz richtiges Gefühl für die wahre
Heimat seiner Gedanken. Er hat seine Missionsreisen sämtlich nach
Westen gerichtet und den Osten überhaupt nicht beachtet. +Er hat das
antike Staatsgebiet nie verlassen.+ Warum ging er nach Rom, nach
Korinth und nicht nach Edessa oder Ktesiphon? +Und warum nur in die
Städte und niemals von Dorf zu Dorf?+

Paulus +allein+ hat diese Entwicklung der Dinge veranlaßt. Seiner
praktischen Energie gegenüber kamen die Gefühle aller andern nicht
in Betracht. Damit war über die städtische und westliche Tendenz
der jungen Kirche entschieden. Die letzten Heiden wurden später
_pagani_ genannt, die Leute auf dem Lande. Es erhob sich eine
ungeheure Gefahr, die nur durch die Jugend und urwüchsige Kraft des
werdenden Christentums abgewehrt worden ist: das Fellachentum der
antiken Weltstädte griff mit beiden Händen danach und die Spuren
blieben deutlich zurück. Wie weit entfernt war das doch vom Wesen Jesu,
der ganz mit dem Lande und seinen Menschen verbunden gelebt hatte! Er
hatte die Pseudomorphose gar nicht bemerkt, in deren Mitte er geboren
war, und trug auch nicht den leisesten Zug von ihr in seiner Seele, und
nun, ein Menschenalter hernach, als seine Mutter vielleicht noch lebte,
war das, was aus seinem Tode aufgewachsen war, schon ein Mittelpunkt
für das Formwollen der Pseudomorphose geworden. Die antiken Städte
waren bald der einzige Schauplatz der kultischen und dogmatischen
Entwicklung. Nach Osten breitete sich die Gemeinschaft nur verstohlen
aus, wie um nicht bemerkt zu werden.[210] Um das Jahr 100 gab es schon
Christen jenseits des Tigris, aber sie sind samt ihren Überzeugungen
für den Gang der kirchlichen Entwicklung so gut wie nicht vorhanden.

Aus der nächsten Umgebung des Paulus ist nun auch die zweite Schöpfung
hervorgegangen, welche die Gestalt der neuen Kirche wesentlich bestimmt
hat. Daß es Evangelien gibt, ist, so sehr die Persönlichkeit und
Geschichte Jesu eine dichterische Gestaltung forderte, die Tat eines
einzelnen, des Markus.[211] Was Paulus und Markus vorfanden, war
eine feste Tradition in den Gemeinden, +das+ „Evangelium“, ein
fortgesetztes Hörensagen und Weiterberichten, das durch formlose und
unbedeutende Aufzeichnungen in aramäischer und griechischer Sprache
gestützt, aber keineswegs dargestellt wurde. Daß einmal wichtige
Schriften entstehen würden, war gewiß, aber aus dem Geist des Kreises,
der mit Jesus +gelebt+ hatte, und dem Geist des Ostens überhaupt
wäre eine kanonische Sammlung seiner Aussprüche, die auf den Konzilien
ergänzt, abgeschlossen und mit einem Kommentar versehen wurde, das
Natürliche gewesen und dazu eine Jesusapokalypse mit der Parusie als
Mittelpunkt. Die Ansätze dazu wurden durch das Evangelium des Markus,
das um 65, gleichzeitig mit den letzten Paulusbriefen und griechisch
wie diese geschrieben ist, gänzlich abgebrochen. Damit ist der
Verfasser, der die Bedeutung seines kleinen Werkes gar nicht ahnte,
eine der allerwichtigsten Persönlichkeiten nicht nur des Christentums,
sondern der arabischen Kultur überhaupt geworden. Alle älteren Versuche
verschwanden. Nur Schriften in Evangelienform blieben als Quellen
über Jesus zurück. Das war so selbstverständlich, daß von nun an
„Evangelium“ aus der Bezeichnung eines Inhalts zu der einer Form
wurde. Das Werk stammt aus dem Wunsch paulinischer, literaturgewohnter
Kreise, die nie einen Gefährten Jesu von ihm hatten reden hören. Es
ist ein +apokalyptisches Lebensbild aus der Ferne+; das Erlebnis
ist durch Erzählung ersetzt, so schlicht und aufrichtig, daß man die
apokalyptische Tendenz gar nicht bemerkt.[212] Aber sie bildet dennoch
die Voraussetzung. Nicht die Worte Jesu, sondern die Lehre von ihm in
der paulinischen Fassung ist der Stoff. Das erste christliche Buch geht
aus der Schöpfung des Paulus hervor, aber diese selbst ist ohne das
Buch und seine Nachfolger sehr bald nicht mehr zu denken.

Denn jetzt entstand, was Paulus, ein inbrünstiger Scholastiker, nie
gewollt, was er aber durch die Richtung seiner Tätigkeit unvermeidlich
gemacht hatte, +die Kultkirche christlicher Nation+. Während
die synkretistische Glaubensgemeinschaft in dem Maße, wie sie zum
Selbstbewußtsein gelangte, die zahllosen alten Stadtkulte und die
neuen magischen zusammenzog und diesem Gefüge durch einen höchsten
Kult henotheistische Form gab, wurde der Jesuskult der ältesten
Westgemeinden so lange zerlegt und bereichert, bis aus ihm eine ganz
ähnlich gebaute Masse von Kulten entstanden war.[213] Um die Geburt
Jesu, von der die Jünger nichts gewußt haben, bildete sich eine
Kindheitsgeschichte. Bei Markus kommt sie noch nicht vor. Zwar sollte
schon in der altpersischen Apokalyptik der Saoshyant als Heiland der
letzten Tage von einer Jungfrau geboren werden; der neue westliche
Mythus aber war von ganz anderer Bedeutung und hatte unermeßliche
Folgen. Denn nun erhob sich im Gebiet der Pseudomorphose neben Jesus
als dem Sohne und weit über ihn hinaus die Gestalt der Gottesmutter,
der Mutter Gottes, ebenfalls ein schlichtes Menschenschicksal von so
ergreifender Gewalt, daß es all die tausend Jungfrauen und Mütter
des Synkretismus, Isis, Tanit, Kybele, Demeter und alle Mysterien von
Geburt und Leiden überragte und zuletzt in sich aufnahm. Nach Irenäus
ist sie die Eva einer neuen Menschheit. Origenes verficht ihre dauernde
Jungfräulichkeit. Durch die Geburt des Erlösergottes hat eigentlich
+sie+ die Welt erlöst. Die Theotokos Maria, die Gottesgebärerin,
war das große Ärgernis der Christen jenseits der antiken Grenze, und
die aus dieser Vorstellung entwickelten Lehrsätze gaben zuletzt den
Anlaß für Monophysiten und Nestorianer, sich abzulösen und die reine
Jesusreligion wiederherzustellen. Aber als die faustische Kultur
erwachte und eines großen Symbols bedurfte, um ihr Urgefühl für die
unendliche Zeit, die Geschichte und die Folge der Geschlechter sinnlich
zu fassen, da hat sie +die Mater dolorosa und nicht den leidenden
Erlöser+ in die Mitte des germanisch-katholischen Christentums der
Gotik gestellt, und durch ganze Jahrhunderte blühender Innerlichkeit
ist diese Frauengestalt der eigentliche Inbegriff faustischen
Weltgefühls und das Ziel aller Dichtung, Kunst und Frömmigkeit gewesen.
Noch heute nimmt im Kult und in den Gebeten der katholischen Kirche
und vor allem im Gefühl der Gläubigen Jesus den zweiten Platz nach der
Madonna ein.[214]

Neben dem Marienkult entstanden die unzähligen Kulte der Heiligen,
deren Zahl die der antiken Ortsgottheiten sicherlich aufwog, und als
die heidnische Kirche zuletzt erlosch, konnte die christliche den
ganzen Schatz örtlicher Kulte unter der Form der Heiligenverehrung in
sich aufnehmen.

Aber Paulus und Markus haben noch etwas anderes entschieden, dessen
Tragweite gar nicht überschätzt werden kann. Es war die Folge
+seiner+ Mission, daß das Griechische die Sprache der Kirche
und ihrer heiligen Schriften, voran des ersten Evangeliums, wurde,
wofür ursprünglich nicht einmal die Wahrscheinlichkeit vorlag. Eine
heilige +griechische+ Literatur -- man bedenke, was das alles
einschloß. Die Jesuskirche wurde von ihrem seelischen Ursprung
künstlich abgetrennt und einem fremden, gelehrten angeheftet. Die
Fühlung mit dem Volkstum des aramäischen Mutterlandes ging verloren.
Von da anhatten die beiden Kultkirchen die gleiche Sprache, die gleiche
begriffliche Überlieferung, die gleichen Bücherschätze derselben
Schulen. Die viel ursprünglicheren aramäischen Literaturen des Ostens,
die eigentlich magischen, geschrieben und gedacht in der Sprache Jesu
und seiner Gefährten, waren damit von der Mitwirkung am Leben der
Kirche abgeschnitten. Man konnte sie nicht lesen, man verfolgte sie
nicht mehr, man vergaß sie endlich. Möchten auch die heiligen Texte
der persischen und jüdischen Religion awestisch und hebräisch abgefaßt
sein, so war doch die Sprache ihrer Urheber und Erklärer, die Sprache
der gesamten Apokalyptik, aus welcher die Lehre Jesu und die Lehre
von ihm herangewachsen waren, und endlich die der Gelehrten an allen
Hochschulen Mesopotamiens das Aramäische. Das alles entschwand nun aus
dem Gesichtskreis und an seine Stelle traten Plato und Aristoteles, die
von den Scholastikern beider Kultkirchen in gemeinsamer Arbeit und in
gleichem Sinne mißverstanden wurden.

Den letzten Schritt in dieser Richtung wollte der Mann tun,
welcher Paulus an organisatorischer Begabung gleich, an geistiger
Gestaltungskraft weit überlegen war, der an Sinn für das Mögliche
und Tatsächliche aber hinter ihm zurückstand und deshalb mit seinen
großartigen Absichten gescheitert ist: Marcion.[215] Er erblickte in
der Schöpfung des Paulus mit allen ihren Folgen nur die Unterlage zur
Stiftung der eigentlichen Erlöserreligion. Er empfand das Sinnlose
der Tatsache, daß Christentum und Judentum, die sich rücksichtslos
verwarfen, dieselbe heilige Schrift, nämlich den +jüdischen+ Kanon
besitzen sollten. Es erscheint uns heute unfaßlich, daß es hundert
Jahre lang wirklich so war. Man bedenke, was der heilige Text für jede
Art magischer Religiosität bedeutet. Hierin sah er die eigentliche
„Verschwörung gegen die Wahrheit“ und eine dringende Gefahr für die
von Jesus gewollte und nach seiner Ansicht noch nicht verwirklichte
Lehre. Paulus, der Prophet, hat das Alte Testament +für erfüllt und
abgeschlossen+ erklärt; Marcion, der Religionsstifter, erklärt es
für +überwunden und abgeschafft+. Er will alles Jüdische bis
auf den letzten Rest ausschalten. Er hat sein Leben hindurch nichts
bekämpft als das Judentum. Wie jeder echte Religionsstifter und jede
im Religiösen schöpferische Zeit, wie Zarathustra, die israelitischen
Propheten, wie die homerischen Griechen und die zum Christentum
bekehrten Germanen hat er die alten Götter in verworfene Mächte
verwandelt.[216] Jehovah ist als der Schöpfergott das „gerechte“ +und
also das böse+,[217] Jesus als Verleiblichung des Erlösergottes
in dieser bösen Schöpfung das „fremde“, also das gute Prinzip. Das
magische und im besonderen persische Grundgefühl ist ganz unverkennbar.
Marcion stammte aus Sinope, der alten Hauptstadt des mithridatischen
Reiches, dessen Religion schon durch die Namen seiner Könige bezeichnet
wird. Hier war einst der Mithraskult entstanden.

Aber zu dieser neuen Lehre gehörte auch eine neue heilige Schrift.
Das für die ganze Christenheit bis dahin kanonische „Gesetz und die
Propheten“ war +die Bibel des Judengottes+, die gerade damals
vom Synedrion in Jabna endgültig zusammengestellt worden war. Die
Christen hatten also ein teuflisches Buch in Händen. Marcion stellte
ihr nun die Bibel des Erlösergottes entgegen und zwar in gleicher
Weise aus Schriften geordnet, die bis dahin als bloße Erbauungsbücher
ohne kanonisches Ansehen in den Gemeinden umliefen:[218] an die Stelle
der Tora setzte er das -- +eine und wahre+ -- Evangelium, das er
aus mehreren, nach seiner Überzeugung verdorbenen und verfälschten
Einzelevangelien einheitlich aufbaute, an die Stelle der israelitischen
Propheten die Briefe des +einzigen Jesuspropheten+ Paulus.

Damit wurde Marcion der eigentliche Schöpfer des Neuen Testaments.
Aber deshalb muß nun die ihm eng verwandte Gestalt jenes rätselhaften
Unbekannten genannt werden, der nicht lange vorher das Evangelium „nach
Johannes“ geschrieben hatte. Er wollte damit die +eigentlichen+
Evangelien weder vermehren noch ersetzen, sondern er hat, anders als
Markus, mit vollem Bewußtsein etwas ganz Neues geschaffen, +das erste
„heilige Buch“+ im christlichen Schrifttum, den Koran der neuen
Religion.[219] Das Buch beweist, daß man diese Religion bereits als
etwas Fertiges und Dauerndes empfand. Der Jesus ganz erfüllende und
noch von Paulus und Markus geteilte Gedanke, daß das Weltende da sei,
liegt hinter „Johannes“ und Marcion weit zurück. Die Apokalyptik ist
zu Ende und die Mystik beginnt. Nicht die Lehre Jesu, auch nicht die
paulinische von ihm ist der Inhalt, sondern das Geheimnis des Weltalls,
der Welthöhle. Von einem Evangelium ist keine Rede; nicht die Gestalt
des Erlösers, sondern das Prinzip des Logos ist Sinn und Mitte des
Geschehens. Die Kindheitsgeschichte wird wieder verworfen: ein Gott
wird nicht geboren; er ist da und wandelt in Menschengestalt auf
Erden. Und dieser Gott ist eine Dreiheit: Gott, der Geist Gottes, das
Wort Gottes. Dies heilige Buch des frühesten Christentums enthält zum
erstenmal das magische Substanzproblem, das die folgenden Jahrhunderte
ausschließlich beherrscht und endlich zum Zerfall der Religion in drei
Kirchen geführt hat; und zwar steht es, was auf manches hindeutet, der
Lösung am nächsten, die der nestorianische Osten als wahr vertreten
hat. Es ist trotz oder gerade wegen des griechischen Wortes Logos das
„+östlichste+“ der Evangelien und dazu kommt, daß es Jesus gar
nicht als Bringer der letzten und ganzen Offenbarung gelten läßt. Er
ist der zweite Gesandte. Es wird +noch ein anderer+ kommen (14,
16. 26; 15, 26). Das ist die erstaunliche Lehre, die Jesus selbst
verkündet, und das Entscheidende in diesem geheimnisvollen Buche. Hier
enthüllt sich plötzlich der Glaube des magischen Ostens. Wenn der
Logos nicht geht, kann der Paraklet[220] nicht kommen (16, 7), aber
zwischen beiden liegt der letzte Aion, das Reich Ahrimans (14, 30).
Die von paulinischem Geist beherrschte Kirche der Pseudomorphose hat
das Johannesevangelium lange bekämpft und erst anerkannt, nachdem die
anstößige, dunkel angedeutete Lehre durch eine paulinische Deutung
verdeckt worden war. Wie es eigentlich damit stand, lehrt die auf
mündliche Tradition hinweisende Bewegung der Montanisten (um 160 in
Kleinasien), die in Montanus den erschienenen Paraklet und das Weltende
verkündeten. Sie fanden ungeheuren Zulauf. In Karthago bekannte sich
Tertullian seit 207 zu ihnen. Um 245 hat Mani, der mit den Strömungen
des östlichen Christentums sehr vertraut war,[221] in seiner großen
Religionsschöpfung den paulinischen, menschlichen Jesus als Dämon
verworfen und den johanneischen Logos als den wahren Jesus anerkannt,
sich selbst aber als den Paraklet des Johannes bezeichnet. In Karthago
wurde Augustin Manichäer und es will viel sagen, daß beide Bewegungen
endlich mit derjenigen Marcions verschmolzen sind.

Kehren wir zu Marcion selbst zurück, so hat er den Gedanken des
„Johannes“ durchgeführt und eine Christenbibel geschaffen. Und nun
ging er, fast ein Greis, als die Gemeinden des äußersten Westens
entsetzt vor ihm zurückwichen,[222] daran, eine eigene Erlöserkirche
von meisterhaftem Aufbau zu gründen.[223] Sie war 150-190 eine Macht
und erst im folgenden Jahrhundert gelang es der älteren Kirche, die
Marcioniten zum Range einer Sekte herabzudrücken, obwohl sie noch viel
später im weiten Osten bis nach Turkestan hin eine große Bedeutung
hatten und zuletzt, was für ihr Grundgefühl sehr bezeichnend ist, mit
den Manichäern verschmolzen sind.[224]

Trotzdem ist seine gewaltige Tat, bei welcher er das Beharrungsvermögen
des Vorhandenen im Vollgefühl seiner Überlegenheit unterschätzt hatte,
nicht fruchtlos gewesen. Er war wie Paulus vor ihm und Athanasius nach
ihm ein Retter des Christentums in einem Augenblick, wo es zu zerfallen
drohte, und es tut der Größe seiner Gedanken gewiß keinen Eintrag,
daß der Zusammenschluß nicht durch sie, sondern im Widerstand gegen
sie erfolgt ist. Die frühkatholische Kirche, das heißt +die Kirche
der Pseudomorphose+, ist in ihrer großen Form erst um 190 und zwar
aus der Notwehr gegen die Kirche Marcions entstanden, indem sie deren
ganze Organisation übernahm. Aber sie hat auch die Bibel Marcions
durch eine andere von genau derselben Anlage ersetzt: Evangelien
und Apostelbriefe, die sie dann mit dem Gesetz und den Propheten zu
einer Einheit verband. Und sie hat endlich, nachdem schon durch die
Verbindung der beiden Testamente über die Auffassung des Judentums
entschieden war, auch Marcions dritte Schöpfung, seine Erlöserlehre,
bekämpft, indem sie mit der Ausbildung einer eigenen Theologie auf
Grund +seiner+ Stellung der Probleme begann.

Aber diese Entwicklung erfolgte ausschließlich auf antikem Boden
und damit war auch die gegen Marcion und seine Ausschaltung des
Judaismus aufgerichtete Kirche für das talmudische Judentum, dessen
geistiger Schwerpunkt jetzt ganz in Mesopotamien und an dessen
Hochschulen lag, lediglich ein Stück hellenistischen Heidentums. Die
Zerstörung Jerusalems war ein grenzsetzendes Ereignis, das in der
Tatsachenwelt durch keine geistige Macht überwunden werden konnte.
Wachsein, Religion und Sprache sind innerlich viel zu nahe verwandt,
als daß die vollständige Trennung eines griechischen Sprachgebiets
der Pseudomorphose und eines aramäischen der eigentlich arabischen
Landschaft nicht seit dem Jahre 70 zwei Sondergebiete magischer
Religionsentwicklung geschaffen hätte. Am Westrande der jungen Kultur
waren die heidnische Kultkirche, die von Paulus dorthin verwiesene
Jesuskirche und das griechisch redende Judentum vom Schlage Philos
sprachlich und literarisch so ineinandergedrängt, daß das letzte dem
Christentum noch im ersten Jahrhundert anheimfiel und dieses mit dem
Griechentum eine +gemeinsame+ frühe Philosophie ausbildete. Im
aramäischen Sprachgebiet vom Orontes bis zum Tigris aber standen
Judentum und Persertum, die jetzt beide in Talmud und Awesta eine
strenge Theologie und Scholastik schufen, in enger Wechselwirkung, und
beide Theologien haben seit dem 4. Jahrhundert +den stärksten Einfluß
auf das der Pseudomorphose widerstrebende Christentum aramäischer
Sprache+ ausgeübt, bis es sich in Gestalt der nestorianischen Kirche
abgelöst hat.

Hier im Osten entwickelte sich der in jedem menschlichen Wachsein
angelegte Unterschied von empfindendem Verstehen und sprachlichem
Verstehen -- also von Auge und Buchstabe -- zu rein arabischen Methoden
der Mystik und Scholastik. Die apokalyptische Gewißheit, die Gnosis
im Sinne des 1. Jahrhunderts, wie sie Jesus verleihen wollte,[225]
das ahnende Schauen und Fühlen ist das der israelitischen Propheten,
der Gathas, des Sufismus und sie ist noch bei Spinoza, dem polnischen
Messias Baalschem[226] und bei Mirza Ali Mohamed, dem schwärmerischen
Begründer der Babistensekte (in Teheran hingerichtet 1850), erkennbar.
Die andere, die Paradosis, ist die eigentlich talmudische Methode der
Worterklärung, wie sie Paulus vollkommen beherrschte[227] und die
alle späteren Awestawerke durchdringt und ebenso die nestorianische
Dialektik[228] und die ganze Theologie des Islam.

Demgegenüber ist die Pseudomorphose ein völlig einheitliches
Gebiet sowohl des magischen gläubigen Hinnehmens (Pistis) als des
metaphysischen Innewerdens (Gnosis).[229] Den magischen Glauben
westlicher Form haben für die Christen Irenäus und vor allem Tertullian
formuliert. Des letzteren berühmtes _Credo quia absurdum_ ist der
Inbegriff dieser Glaubensgewißheit. Das heidnische Seitenstück bieten
Plotin in den Enneaden und Porphyrios besonders in der Schrift „Von der
Rückkehr der Seele zu Gott“.[230] Aber auch für die großen Scholastiker
der Heidenkirche gibt es den Vater (Nus), Sohn und das mittlere Wesen,
so wie es schon für Philo den Logos als erstgeborenen Sohn und zweiten
Gott gegeben hatte. Die Lehre von der Ekstase, von den Engeln und
Dämonen, von den beiden Seelensubstanzen ist ihnen allen geläufig und
Plotin wie Origenes, beide Schüler desselben Lehrers, zeigen, wie die
Scholastik der Pseudomorphose darin besteht, daß man die magischen
Begriffe und Gedanken an der Hand platonischer und aristotelischer
Texte durch planmäßiges Andersverstehen entwickelt.

+Der eigentliche Kernbegriff des gesamten Denkens der Pseudomorphose
ist der Logos+,[231] in seiner Anwendung und Entwicklung ihr
getreues Sinnbild. Von einer Einwirkung „griechischen“ -- antiken
-- Denkens kann gar keine Rede sein; es lebte damals kein Mensch,
in dessen geistiger Anlage der Logosbegriff Heraklits und der Stoa
auch nur von fern Platz gefunden hätte. Aber ebensowenig ist die
magische Größe, die gemeint war und die in persischen und chaldäischen
Vorstellungen als Geist oder Wort Gottes eine ebenso entscheidende
Rolle spielt wie in der jüdischen Lehre als Ruach und Memra, in
diesen Theologien, die in Alexandria nebeneinandersaßen, zur reinen
Entwicklung gekommen. Mit der Logoslehre ist eine antike Formel auf
dem Wege über Philo und das Johannesevangelium, dessen unauslöschliche
Wirkung auf den Westen auf scholastischem Gebiete liegt, nicht nur
ein Element der christlichen Mystik, sondern zuletzt ein +Dogma+
geworden.[232] Das war unvermeidlich. Dieses Dogma +beider+
Kirchen entspricht als Wissensseite durchaus der Glaubensseite,
welche durch die synkretistischen Kulte einerseits, die Marien- und
Heiligenkulte andrerseits dargestellt wurde. Gegen beides, Dogma wie
Kult, hat sich das Gefühl des Ostens seit dem 4. Jahrhundert erhoben.

Für das Auge aber wiederholt sich die Geschichte dieser Gedanken und
Begriffe in der Geschichte der magischen Architektur.[233] +Die
Grundform der Pseudomorphose ist die Basilika+; sie war vor den
Christen schon den Juden des Westens und den hellenistischen Sekten der
Chaldäer bekannt. Wie der Logos des Johannesevangeliums ein magischer
Urbegriff in antiker Fassung, so ist die Basilika ein magischer
Raum, dessen Innenwände den antiken Außenflächen eines Tempelkörpers
gleichen, ein verinnerlichter Kultbau. Die Bauform des reinen Ostens
ist der +Kuppelbau+, die +Moschee+, die ohne Zweifel lange
vor den ältesten christlichen Kirchen in den Tempeln der Perser und
Chaldäer, den Synagogen Mesopotamiens und vielleicht den Tempeln von
Saba angelegt war. Die Ausgleichsversuche zwischen West und Ost auf
den Konzilen der byzantinischen Zeit endlich werden durch die Mischform
der Kuppelbasilika symbolisiert. Denn in diesem Stück kirchlicher
Baugeschichte ist auch die große Wandlung zum Ausdruck gekommen,
welche mit Athanasius und Konstantin, den letzten großen Rettern des
Christentums eintrat. Der eine schuf das feste westliche Dogma und
das Mönchtum, in dessen Hände die erstarrende Lehre allmählich von
den Hochschulen hinüberglitt; der andere begründete den Staat der
christlichen Nation, auf den der Griechenname endlich überging: die
Kuppelbasilika ist das architektonische Symbol dieser Entwicklung.


    [145] Vgl. S. 199 ff. u. 209 ff.

    [146] Sie machte weniger als ein Hundertstel der Gesamtbevölkerung
    des Reiches aus.

    [147] Es ist zu bemerken, daß das Stammland der babylonischen
    Kultur, das alte Sinear, in den kommenden Ereignissen keinerlei
    Bedeutung hat. Für die arabische Kultur kommt nur das Gebiet
    nördlich, nicht südlich von Babylon in Betracht.

    [148] Dies ist auch für die Literaturen des Abendlandes wichtig:
    die deutsche ist zum Teil lateinisch, die englische zum Teil
    französisch geschrieben.

    [149] Wollner, Untersuchungen über die Volksepik der Großrussen,
    1879.

    [150] Schiele, Die Religion in Geschichte und Gegenwart I, 647.

    [151] Bent, The sacred City of the Ethiopians (London 1893) S.
    134 ff. über die Trümmer von Jeha, deren südarabische Inschriften
    Glaser in das 7.–5. Jahrh. v. Chr. setzt. d. h. Müller, Burgen u.
    Schlösser Südarabiens (1879).

    [152] Grimme, Mohammed S. 26 ff.

    [153] Deutsche Aksum-Expedition (1913) Bd. II.

    [154] Von Persien führt eine uralte Völkerstraße über die Meerengen
    von Ormus und Bab el Mandeb durch Südarabien nach Abessinien und
    dem Nil. Sie ist geschichtlich wichtiger als die nördliche über die
    Landenge von Suez.

    [155] Grimme S. 43; Abbildung der ungeheuren Ruine von Gomdan S.
    81. Vgl. auch die Rekonstruktionen im deutschen Aksumwerk.

    [156] Brockelmann, Gesch. d. arab. Lit. S. 34.

    [157] Roth, Sozial- und Kulturgesch. d. Byzant. Reiches S. 15.

    [158] Delbrück, Gesch. d. Kriegskunst II, S. 222.

    [159] Ges. Schriften IV, S. 532.

    [160] v. Domaszewski, Die Religion des röm. Heeres S. 49.

    [161] _buccellarii_, Delbrück II S. 354.

    [162] Gotenkrieg IV, 26.

    [163] Und nicht etwa „nicht vorhanden“. Es heißt das magische
    Weltgefühl mißverstehen, wenn man in die Bezeichnung „der wahre
    Gott“ eine faustisch-dynamische Bedeutung legt. Der Götzendienst,
    den man bekämpft, setzt die volle Wirklichkeit der Götzen und
    Dämonen voraus. Die israelitischen Propheten haben nicht daran
    gedacht, die Baale zu leugnen, und ebenso sind Mithras und Isis für
    die frühen Christen, Jehovah für den Christen Marcion, Jesus für
    die Manichäer teuflische, aber höchst reale Mächte. Daß man „an sie
    nicht glauben“ soll, ist ein Ausdruck ohne Sinn für das magische
    Empfinden; man soll sich nicht an sie +wenden+. Das ist, nach einer
    längst geläufigen Bezeichnung, Henotheismus, nicht Monotheismus.

    [164] Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu
    Christi III S. 499. Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur S.
    192.

    [165] Infolgedessen erscheint er als formloser Mischmasch aller
    denkbaren Religionen. Nichts ist weniger richtig. Die Formenbildung
    geht erst von West nach Ost, dann von Ost nach West.

    [166] J. Geffcken, Der Ausgang des griech.-röm. Heidentums (1920)
    S. 197 ff.

    [167] Geffcken S. 131 ff.

    [168] Geffcken S. 292 Anm. 149.

    [169] _Res ipsa, quae nunc religio Christiana nuncupatur, erat apud
    antiquos nec defecit ab initio generis humani, quousque Christus
    veniret in carnem. Unde vera religio, quae jam erat, coepit
    appellari Christiana_ (Retractationes I, 13).

    [170] Auch der Chaldäername bezeichnet vor der Perserzeit eine
    Stammesgruppe, später eine Religionsgemeinschaft.

    [171] A. Bertholet, Kulturgesch. Israels (1919) S. 253 ff.

    [172] Nach W. Jackson, Zoroaster, 1901.

    [173] Die chaldäische Religion ist wie die talmudische ein
    Stiefkind der religionsgeschichtlichen Forschung. Alle
    Aufmerksamkeit richtet sich auf die Religion der babylonischen
    Kultur, als deren Ausklang sie behandelt wird. Aber diese
    Einschätzung schließt von vornherein jedes Verständnis aus. Das
    Material ist ohne grundsätzliche Absonderung in allen Werken
    über die assyr.-babyl. Religion zerstreut (H. Zimmern, Die
    Keilinschriften u. d. alte Testament II; Gunkel, Schöpfung und
    Chaos; M. Jastrow, C. Bezold usw.), wird aber andrerseits z. B. bei
    Bousset, Hauptprobleme der Gnosis (1907) als für sich durchforscht
    vorausgesetzt.

    [174] Daß die chaldäische Wissenschaft den babylonischen Versuchen
    gegenüber etwas ganz Neues ist, hat Bezold klar erkannt:
    Astronomie, Himmelsschau und Astrallehre bei den Babyloniern (1911)
    S. 17 ff. Das Ergebnis ist von vereinzelten antiken Gelehrten nach
    deren Methode weiter behandelt worden, als angewandte Mathematik
    nämlich, wobei kein Gefühl für Fernen mitsprach.

    [175] J. Hehn, Hymnen und Gebete an Marduk, 1905.

    [176] Chaldäer und Perser brauchten ihn sich nicht zu beweisen;
    sie hatten durch ihren Gott die Welt besiegt. Die Juden aber
    mußten sich an ihre Literatur klammern, die jetzt aus Mangel an
    tatsächlichen zu einem theoretischen Beweise umgestaltet wurde.
    Dieser einzigartige Besitz verdankt seinen Ursprung letzten Endes
    der beständig drohenden Selbstverachtung.

    [177] Glaser, Die Abessinier in Arabien und Afrika (1895), S.
    124. Gl. ist überzeugt, daß man hier abessinische, Pehlewi- und
    persische Keilinschriften wichtigster Art finden werde.

    [178] Dieser „König der Verbannung“ war eine angesehene und
    politisch maßgebende Persönlichkeit im persischen Reiche und ist
    erst durch den Islam beseitigt worden.

    [179] Die christliche und die jüdische Theologie tun es beide. Sie
    unterscheiden sich nur, indem sie die israelitische Literatur, die
    später in Judäa mit der Richtung auf den Judaismus umgearbeitet
    worden ist, weiterhin in der Richtung entweder auf die Evangelien
    oder auf den Talmud deuten.

    [180] Aber ein pharisäischer Kopf hat es später doch durch die
    Einfügung von Kap. 32-37 entstellt.

    [181] Kap. 40 ff.

    [182] Wenn die Annahme eines chaldäischen Prophetentums neben dem
    des Jesaja und Zarathustra richtig ist, so ist es diese +junge,
    innerlich verwandte und gleichzeitige+ Astralreligion und nicht
    die babylonische, welcher die Genesis ihre merkwürdig tiefen
    Weltschöpfungssagen ebenso verdankt, wie der persischen die
    Visionen vom Weltende.

    [183] S. Funk, Die Entstehung des Talmuds. 1919, S. 106.

    [184] E. Sachau, Aram. Papyros und Ostraka aus Elefantine (1911).

    [185] Josephus, Antiqu. 13, 10.

    [186] Wie etwa die katholische Kirche die Zerstörung des Vatikans
    empfinden würde.

    [187] Vgl. S. 81.

    [188] Bei Schiele, Die Religion in Gesch. u. Gegenwart III, 812
    werden die beiden letzten mit vertauschten Namen bezeichnet; das
    ändert aber nichts an der Erscheinung.

    [189] Bousset, Rel. d. Jud. S. 532.

    [190] Baruch, IV. Esra, die Urschrift der Offenbarung Johannis.

    [191] So das Naassenerbuch (P. Wendland, Hellenist.-röm. Kultur,
    S. 177 ff.), die „Mithrasliturgie“ (hrsg. von Dieterich), der
    hermetische Poimandres (hrsg. von Reitzenstein), die Oden Salomos,
    die Apostelgeschichten des Thomas und Petrus, die Pistis Sophia
    usw., die ein noch viel primitiveres Schrifttum zwischen 100 v. und
    200 n. Chr. voraussetzen.

    [192] Ebensowenig wie Dostojewskis „Traum eines lächerlichen
    Menschen“.

    [193] Entscheidende Einblicke in diese frühmagische
    Vorstellungswelt verdanken wir jetzt den Handschriftfunden von
    Turfan, die seit 1903 nach Berlin gekommen sind. Damit wird endlich
    das fälschende, durch die ägyptischen Papyrusfunde noch gesteigerte
    Übergewicht des westlich-hellenistischen Stoffes aus unserem Wissen
    und vor allem aus unseren Erwägungen beseitigt und alle bisherigen
    Ansichten von Grund aus verändert. Jetzt endlich kommt der echte
    und fast unberührte Osten zur Geltung in all den Apokalypsen,
    Hymnen, Liturgien, Erbauungsbüchern der Perser, Mandäer, Manichäer
    und zahlloser Sekten. Das Urchristentum wird damit erst wirklich in
    den Kreis gerückt, dem es seinen inneren Ursprung verdankt. (Vgl.
    H. Lüders, Sitz. Berl. Ak. 1914 und R. Reitzenstein: Das iranische
    Erlösungsmysterium, 1921.)

    [194] Lidzbarski, Das Johannesbuch der Mandäer, Kap. 66. Ferner
    W. Bousset, Hauptprobleme der Gnosis (1907); Reitzenstein, Das
    mandäische Buch des Herrn der Größe (1919), eine mit den ältesten
    Evangelien etwa gleichzeitige Apokalypse. Über die Messiastexte,
    die Höllenfahrttexte und die Totenlieder: Lidzbarski, Mandäische
    Liturgien (1920) und das Totenbuch (vor allem das zweite und
    dritte Buch des linken Genza) bei Reitzenstein, Das iran.
    Erlösungsmysterium (vor allem S. 43 ff.).

    [195] Hierzu Reitzenstein S. 124 ff. und die dort genannte
    Literatur.

    [196] Im Neuen Testament, das seine endgültige Fassung ganz im
    Gebiet westlich-antiken Denkens erhielt, wird die mandäische
    Religion und die ihr zugehörige Sekte der Johannesjünger nicht
    mehr verstanden, wie überhaupt alles östliche hier wie versunken
    erscheint. Es besteht aber außerdem eine fühlbare Feindseligkeit
    zwischen der damals weitverbreiteten Johannesgemeinde und
    den Urchristen (Apostelgesch. Kap. 18-19. Vgl. Dibelius, Die
    urchristliche Überlieferung von Johannes dem Täufer). Die Mandäer
    haben das Christentum später ebenso schroff abgelehnt wie das
    Judentum; Jesus war für sie ein falscher Messias; in ihrer
    Apokalypse vom Herrn der Größe wird das Erscheinen des Enosh
    weiterhin verkündet.

    [197] Nach Reitzenstein, Das Buch vom Herrn der Größe S. 65 ist er
    als Johannesjünger in Jerusalem verurteilt worden. Nach Lidzbarski
    (Mand. Lit. 1920, XVI) und Zimmern (Ztschr. d. D. Morg. Gesellsch.
    1920 S. 429) weist der Ausdruck Jesus der Nazaräer oder Nasoräer,
    der später von der christlichen Gemeinde auf Nazareth bezogen wurde
    (Matth. 2, 23 mit einem unechten Zitat), auf die Zugehörigkeit zu
    einem mandäischen Orden hin.

    [198] z. B. Mark. 6 und dazu die große Wendung Mark. 8, 27 ff. Es
    gibt keine zweite Religion, aus deren Entstehungszeit Stücke von so
    treuherziger Berichterstattung erhalten sind.

    [199] Ähnlich Mark. 1, 35 ff., wo er noch in der Nacht aufsteht und
    eine einsame Stelle aufsucht, um sich im Gebet aufzurichten.

    [200] Die Betrachtungsweise dieses Buches ist historisch. Sie
    erkennt also die entgegengesetzte +als Tatsache+ an. Dagegen muß
    die religiöse Betrachtung mit Notwendigkeit sich selbst +als wahr+,
    die andere +als falsch+ erkennen. Dieser Zwiespalt läßt sich nicht
    überwinden.

    [201] Deshalb ist Mark. 13, aus einer noch älteren Schrift
    übernommen, vielleicht das echteste Beispiel eines Gesprächs,
    wie er sie täglich führte. Paulus zitiert I. Thess. 4, 15-17
    ein anderes, das in den Evangelien fehlt. Dahin gehören die
    unschätzbaren und von den Forschern -- die sich von dem
    Evangelienton beherrschen lassen -- mißachteten Angaben des Papias,
    der um 140 noch eine Menge guter mündlicher Überlieferung sammeln
    konnte. Das Wenige, was von seinem Werk erhalten ist, genügt
    vollständig, um den apokalyptischen Inhalt der täglichen Gespräche
    Jesu erkennen zu lassen; Mark. 13 und nicht die „Bergpredigt“ gibt
    den wirklichen Gesprächston. Aber als +seine+ Lehre sich in die
    Lehre +von ihm+ verwandelt hatte, ging auch dieser Stoff aus seinen
    Reden in den Bericht von seiner Erscheinung hinüber. In diesem
    einen Punkte ist das Bild der Evangelien notwendig falsch.

    [202] Jesus selbst wußte davon: Matth. 24, 5 u. 11.

    [203] Die Bezeichnung Messias (Christus) ist altjüdisch, die
    Bezeichnungen Herr (κύριος, _divus_) und Heiland (σωτήρ, Asklepios)
    waren ostaramäischen Ursprungs. Innerhalb der Pseudomorphose wird
    Christus +zum Namen+ und Heiland +zum Titel+ Jesu; Herr und Heiland
    waren aber schon vorher die Titel des hellenistischen Kaiserkultes
    geworden: darin liegt das ganze Schicksal des westlich gerichteten
    Christentums. (Vgl. jetzt Reitzenstein, Das iran. Erlös.-Myst. S.
    132 Anm.)

    [204] Apostelgesch. 15; Gal. 2.

    [205] Apostelgesch. 1, 14; vgl. Mark. 6.

    [206] Matthäus vertritt Lukas gegenüber diese Auffassung. Es ist
    das einzige Evangelium, in dem das Wort Ekklesia vorkommt und zwar
    sind damit die +wahren Juden+ gemeint gegenüber der Masse, die
    den Ruf Jesu nicht hören will. Das ist nicht Mission, so wenig
    als Jesaja Mission getrieben hat. Gemeinde bedeutet hier einen
    innerjüdischen Orden. (Die Vorschriften 18, 15-20 sind mit einer
    allgemeinen Ausbreitung ganz unvereinbar.)

    [207] Er zerfiel später selbst in Sekten, darunter die Ebioniten
    und Elkesaiten (mit einem seltsamen heiligen Buch, dem Elxai:
    Bousset, Hauptprobleme d. Gnosis S. 154).

    [208] In der Apostelgeschichte und in allen Paulusbriefen werden
    solche Sekten angegriffen; es gab wohl keine spätantike und
    aramäische Religion oder Philosophie, die nicht eine Art Jesussekte
    aus sich entstehen sah. Die Gefahr war sicherlich vorhanden, daß
    die Leidensgeschichte nicht der Kern eines neuen Glaubens, sondern
    ein integrierender Bestandteil aller schon vorhandenen wurde.

    [209] Er hat sie genau gekannt. Viele seiner innerlichsten
    Anschauungen sind ohne persische und mandäische Eindrücke
    nicht denkbar, so Röm. 7, 22-24; I. Kor. 15, 26; Ephes. 5, 6
    ff. mit einem Zitat persischen Ursprungs: Reitzenstein, Das
    iran. Erlös.-Myst. S. 6 u. 133 ff. Aber für eine Vertrautheit
    mit persisch-mandäischer Literatur beweist das nichts. Diese
    Geschichten waren damals verbreitet wie die Sagen und Volksmärchen
    früher bei uns. Man hörte als Kind davon erzählen; sie waren das
    tägliche „Hörensagen“. Man wußte gar nicht, wie tief man in ihrem
    Banne stand.

    [210] Die frühe Mission im Osten ist kaum untersucht worden und
    auch schwerlich noch in Einzelheiten festzustellen. Sachau, Chronik
    von Arbela, 1915. Dors., Die Ausbreitung des Christentums in Asien,
    Abh. Pr. Ak. d. Wiss., 1919. Harnack, Mission und Ausbreitung des
    Christentums II, S. 117 ff.

    [211] Die Forscher, die sich viel zu gelehrtenhaft um einen
    Urmarkus, die Quelle Q, die Zwölferquelle u. a. streiten,
    übersehen das grundsätzlich Neue. +Markus ist das erste „Buch“ des
    Christentums+, etwas Planvolles und Ganzes. Dergleichen ist nie das
    natürliche Ergebnis einer Entwicklung, sondern das Verdienst eines
    einzelnen Mannes und es bedeutet gerade hier eine geschichtliche
    Wendung.

    [212] Markus ist eigentlich +das+ Evangelium. Nach ihm beginnen
    die Parteischriften wie Lukas und Matthäus; der Ton des Berichtes
    geht in den der Legende über und endet jenseits des Hebräer- und
    Johannesevangeliums bei Jesusromanen wie den Evangelien des Petrus
    und Jakobus.

    [213] Wenn man das Wort katholisch im ältesten Sinne (Ignatius ad
    Smyrn. 8) anwendet: die Allgemeinde als +Summe+ der Kultgemeinden,
    so sind +beide+ Kirchen „katholisch“. Im Osten hat das Wort keinen
    Sinn. Die Nestorianerkirche ist so wenig wie die persische eine
    Summe, sondern eine magische Einheit.

    [214] Ed. Meyer, Urspr. u. Anfänge d. Christentums, 1921, S. 77 ff.

    [215] Etwa 85-155, vgl. jetzt Harnack, Marcion: Das Evangelium vom
    fremden Gott (1921).

    [216] Harnack a. a. O. S. 136 ff. N. Bonwetsch, Grundr. d.
    Dogmengesch., 1919, S. 45 f.

    [217] Es gehört zu den tiefsten Gedanken der gesamten
    Religionsgeschichte und wird dem frommen Durchschnittsmenschen
    immer unverständlich bleiben, daß Marcion das „Gerechte“ mit
    dem Bösen gleichsetzt und in diesem Sinne das Gesetz des Alten
    Testaments dem Evangelium des Neuen gegenüberstellt.

    [218] um 150, vgl. Harnack a. a. O. S. 32 ff.

    [219] Über die Begriffe Koran und Logos s. unten. Es ist wieder
    wie bei Markus nicht die wichtigste Frage, welches seine Vorlagen
    gewesen sind, sondern wie der ganz neue Gedanke zu einem solchen
    Buch, das den Plan Marcions von einer Christenbibel vorwegnimmt
    und überhaupt erst möglich macht, entstehen konnte. Das Buch setzt
    eine große geistige Bewegung (im östlichen Kleinasien?) voraus,
    die von Judenchristen kaum etwas weiß und auch der paulinischen --
    westlerischen -- Gedankenwelt fernsteht, von deren Ort und Art wir
    aber gar nichts wissen.

    [220] Vohu mano, der Geist der Wahrheit, in Gestalt des Saoshyant.

    [221] Auch Bardesanes und das System der Thomasakten stehen ihm und
    „Johannes“ nahe.

    [222] Harnack S. 24. Der Bruch mit der bestehenden Kirche erfolgte
    144 in Rom.

    [223] Harnack 181 ff.

    [224] Sie hatten wie jede magische Religion auch eine eigene
    Schriftart, die der manichäischen immer ähnlicher geworden ist.

    [225] Matth. 11, 25 ff. und dazu Ed. Meyer, Urspr. u. Anf. d.
    Christ. S. 286 ff., wo gerade die alte und östliche, also echte
    Form der Gnosis beschrieben ist.

    [226] Vgl. weiter unten.

    [227] Ein drastisches Beispiel Gal. 4, 24-26.

    [228] Loofs, Nestoriana, 1905, S. 165 ff.

    [229] Die beste Entwicklung der den beiden Kirchen gemeinsamen
    Gedankenmasse gibt Windelband, Gesch. d. Philosophie (1900) S.
    177 ff.; eine Darstellung der Dogmengeschichte der Christenkirche
    Harnack, Dogmengeschichte (1914); die genau entsprechende
    „Dogmengeschichte der Heidenkirche“ bietet -- unbewußt -- Geffcken,
    Der Ausgang des griechisch-römischen Heidentums (1920).

    [230] Geffcken S. 69.

    [231] Vgl. den nächsten Abschnitt.

    [232] Harnack, Dogmengeschichte S. 165.

    [233] Bd. I, Kap. III.




DIE MAGISCHE SEELE


8

Die Welt, wie sie sich vor dem magischen Wachsein ausbreitet, besitzt
eine Art von Ausgedehntheit, die höhlenhaft genannt werden darf,[234]
so schwer es dem Menschen des Abendlandes auch ist, im Vorrat seiner
Begriffe auch nur ein Wort ausfindig zu machen, mit dem er den Sinn des
magischen „Raumes“ wenigstens andeuten könnte. Denn „Raum“ bedeutet für
das Empfinden beider Kulturen durchaus zweierlei. Die Welt als Höhle
ist von der faustischen Welt als Weite mit ihrem leidenschaftlichen
Tiefendrang ebenso verschieden wie von der antiken Welt als Inbegriff
körperlicher Dinge. Das kopernikanische System, in dem die Erde sich
verliert, muß dem arabischen Denken wahnwitzig und frivol erscheinen.
Die Kirche des Abendlandes hatte vollkommen recht, wenn sie einer
Vorstellung widerstrebte, die mit dem Weltgefühl Jesu unvereinbar war.
Und die chaldäische +Höhlenastronomie+, die für Perser und Juden,
die Menschen der Pseudomorphose und des Islam etwas ganz Natürliches
und Überzeugendes hatte, wurde den wenigen echten Griechen, die sie zur
Kenntnis nahmen, nur durch ein Andersverstehen der räumlichen Grundlage
zugänglich.

Die mit dem Wachsein identische Spannung zwischen Makrokosmos und
Mikrokosmos führt im Weltbild jeder Kultur zu weiteren Gegensätzen
von symbolischer Bedeutung. Alles Empfinden oder Verstehen, alles
Glauben oder Wissen eines Menschen wird durch einen Urgegensatz
gestaltet, der sie zwar zu Tätigkeiten des Einzelnen, aber zum Ausdruck
der Gesamtheit macht. In der Antike kennen wir den jedes Wachsein
beherrschenden Gegensatz von Stoff und Form, im Abendlande den von
Kraft und Masse. Aber die Spannung verliert sich dort im Kleinen und
Einzelnen und entlädt sich hier in Wirkungszügen. In der Welthöhle
verharrt sie schwebend und im Hin und Her eines ungewissen Ringens
und erhebt sich damit zu jenem -- „semitischen“ -- Urdualismus, der
tausendgestaltig und doch immer derselbe die magische Welt erfüllt.
Das Licht durchschimmert die Höhle und wehrt sich gegen die Finsternis
(Joh. 1, 5). Beides sind magische Substanzen. Oben und Unten, Himmel
und Erde werden zu wesenhaften Mächten, die sich bekämpfen. Aber diese
Gegensätze des ursprünglichsten Sinnesempfindens mischen sich mit
denen des grübelnden und wertenden Verstehens: Gut und Böse, Gott und
Satan. Der Tod ist für den Schöpfer des Johannesevangeliums wie für
den strengen Moslim nicht das Ende des Lebens, sondern ein Etwas, eine
Kraft neben ihm, und beide streiten um den Besitz des Menschen.

Aber wichtiger als das alles erscheint der Gegensatz von +Geist und
Seele+ -- hebräisch _ruach_ und _nephesch_, persisch _ahu_ und _urvan_,
mandäisch _monuhmed_ und _gyan_, griechisch _pneuma_ und _psyche_ --,
der zuerst im Grundgefühl der prophetischen Religionen auftaucht, dann
die gesamte Apokalyptik durchsetzt und endlich alle Weltanschauungen
der erwachten Kultur bildet und leitet: bei Philo, Paulus und Plotin,
bei Gnostikern und Mandäern, bei Augustin und im Awesta, im Islam und
in der Kabbala. Ruach bedeutet ursprünglich den Wind, nephesch den
Atem.[235] Die nephesch ist immer irgendwie dem Leibe und Irdischen
verwandt, dem Unten, dem Bösen, der Finsternis. Ihr Streben ist das
„Hinauf“. Die ruach gehört zum Göttlichen, zum Oben und zum Lichte. Sie
bewirkt im Menschen, indem sie sich herabsenkt, das Heldentum (Simson),
den heiligen Zorn (Elias), die Erleuchtung des Richters, der ein Urteil
fällt (Salomo)[236] und alle Arten von Weissagung und Ekstase. Sie wird
ausgegossen.[237] Seit Jes. 11, 2 ist der Messias die Verkörperung der
ruach. Nach Philo und der islamischen Theologie zerfallen die Menschen
von Geburt in Psychiker und Pneumatiker (die „Auserwählten“ -- ein
echter Begriff der Welthöhle und des Kismet). Alle Söhne Jakobs sind
Pneumatiker. Für Paulus (I. Kor. 15) liegt der Sinn der Auferstehung
in dem Gegensatz von einem psychischen und einem pneumatischen
Leibe, der sich bei ihm, Philo und in der Baruchapokalypse mit dem
Gegensatz von Himmel und Erde, von Licht und Dunkelheit deckt.[238] Der
Heiland ist für ihn das himmlische Pneuma.[239] Im Johannesevangelium
verschmilzt er als Logos mit dem Lichte; im Neuplatonismus tritt er als
Nus oder das All-Eine nach antikem Begriffsgebrauch in Gegensatz zur
Physis.[240] Paulus und Philo haben nach „antiker“, also westlicher
Begriffsteilung Geist und Fleisch mit Gut und Böse gleichgesetzt,
Augustin als Manichäer[241] setzt beides mit persisch-östlicher
Begriffsverteilung als von Natur böse Gott als dem allein Guten
entgegen und begründet darauf seine Lehre von der Gnade, die sich in
gleicher Gestalt ganz unabhängig von ihm auch im Islam entwickelt hat.

Aber die Seelen in der Tiefe sind etwas Vereinzeltes; das Pneuma ist
eins und immer dasselbe. Der Mensch +besitzt+ eine Seele, aber
am Geiste des Lichts und des Guten +nimmt er nur teil+; das
Göttliche läßt sich in ihn herab, es verbindet so alle Einzelnen dort
unten mit dem Einen in der Höhe. Dieses Urgefühl, welches das gesamte
Glauben und Meinen aller magischen Menschen beherrscht, ist etwas ganz
einziges und trennt nicht nur ihre Weltanschauung, sondern auch jede
Art magischer Religiosität im Kern ihres Wesens von jeder andern. Diese
Kultur war, wie gezeigt worden ist, ganz eigentlich die der Mitte.
Sie hätte von den meisten andern deren Formen und Gedanken entlehnen
können; aber daß sie das nicht tat, daß sie trotz allen Aufdrängens
und Sichanbietens in diesem Grade Herrin ihrer eigenen inneren Form
geblieben ist, beweist die unüberbrückbare Tiefe des Unterschieds. Aus
den Schätzen der babylonischen und ägyptischen Religion hat sie kaum
einige Namen zugelassen; die antike und indische Kultur oder vielmehr
deren zivilisiertes Erbe: Hellenismus und Buddhismus haben ihren
Ausdruck verwirrt bis zur Pseudomorphose, aber ihr Wesen nicht einmal
berührt. Alle Religionen der magischen Kultur von den Schöpfungen des
Jesaja und Zarathustra bis zum Islam bilden eine vollkommene innere
Einheit des Weltgefühls, und so wenig im Awestaglauben auch nur ein
bramanischer Zug, im Urchristentum auch nur eine Spur antiken Gefühls
zu finden ist, sondern nur Namen, Bilder und äußere Formen, so wenig
hat das germanisch-katholische Christentum des Abendlandes auch nur
einen Hauch vom Weltgefühl jener Jesusreligion herübernehmen können,
als es deren ganzen Bestand an Sätzen und Bräuchen übernahm.

Während der faustische Mensch +ein Ich+ ist, eine auf sich
selbst verwiesene Macht, die in letzter Instanz über das Unendliche
entscheidet, während der apollinische Mensch als ein _soma_ unter
vielen nur für sich selbst einsteht, ist der magische Mensch mit seinem
geistigen Sein nur +Bestandteil eines pneumatischen Wir+, das
von oben sich herabsenkend in allen Zugehörigen ein und dasselbe ist.
Als Leib und Seele gehört er sich allein; aber etwas anderes, fremdes
und höheres weilt in ihm und deshalb fühlt er sich mit all seinen
Einsichten und Überzeugungen nur als Glied eines consensus, der als
Ausfluß des Göttlichen den Irrtum, aber auch jede Möglichkeit eines
wertsetzenden Ich ausschließt. Wahrheit ist für ihn etwas anderes
als für uns. Alle unsre auf +eigenem Einzel+urteil beruhenden
Erkenntnismethoden sind für ihn Wahnwitz und Verblendung, und ihre
wissenschaftlichen Ergebnisse ein Werk des Bösen, der den Geist
verwirrt und über seine Anlagen und Ziele getäuscht hat. Hier liegt das
letzte, uns ganz unfaßbare Geheimnis des magischen Denkens in seiner
höhlenhaften Welt: Die Unmöglichkeit eines denkenden, glaubenden,
wissenden Ich ist die Voraussetzung aller Grundvorstellungen
aller dieser Religionen. Während der antike Mensch seinen Göttern
gegenübersteht wie ein Körper dem andern, während das faustische,
wollende Ich in seiner weiten Welt das allmächtige Ich der ebenfalls
faustischen und wollenden Gottheit überall wirken fühlt, ist die
magische Gottheit jene ungewisse, rätselhafte Kraft der Höhe, die nach
Gutdünken zürnt oder Gnade spendet, sich in das Dunkel herabläßt oder
die Seele in das Licht hinaufhebt. An einen eigenen Willen auch nur zu
denken ist sinnlos, denn „Wille“ und „Gedanke“ im Menschen sind schon
Wirkungen der Gottheit auf ihn. Aus diesem unerschütterlichen Urgefühl,
das sich durch alle Bekehrungen, Erleuchtungen und Grübeleien nur
in seinem Ausdruck, nicht in seiner Art verändern läßt, ist mit
Notwendigkeit die Idee des göttlichen Mittlers entsprungen, dessen, der
diese Lage aus einer Qual in eine Seligkeit verwandelt, eine Idee, die
alle magischen Religionen zusammenfaßt und sie von den Religionen aller
andern Kulturen trennt.

Die Logosidee im weitesten Sinne ist, abgezogen aus dem magischen
Lichtempfinden der Höhle, dessen genaues Seitenstück im magischen
Denken. Sie bedeutet, daß von der unerreichbaren Gottheit sich ihr
Geist, ihr „Wort“ als Träger des Lichts und Bringer des Guten löst
und in Beziehung zum menschlichen Wesen tritt, um es emporzuheben, zu
erfüllen, zu erlösen. Dies Unterschiedensein dreier Substanzen, das
ihrem Einssein im religiösen Denken nicht widerspricht, ist bereits
den prophetischen Religionen bekannt. Ahura Mazdas lichtschimmernde
Seele ist das Wort (Jascht 13, 31) und sein heiliger Geist (_spenta
mainyu_) unterredet sich in einem der ältesten Gathas mit dem bösen
Geiste (_angra mainyu_, Jasna 45, 2). Die gleiche Vorstellung
durchzieht das ganze altjüdische Schrifttum. Wie der Gedanke bei
den Chaldäern in der Trennung von Gott und seinem Wort und in der
Gegenüberstellung von Marduk und Nabu ausgebildet ist und dann in
der gesamten aramäischen Apokalyptik mit Macht hervorbricht, so
ist er dauernd wach und schöpferisch geblieben, ist über Philo und
Johannes, Marcion und Mani in die talmudischen Lehren und von da in
die kabbalistischen Bücher Jezirah und Sohar, in die Konzile und die
Schriften der Kirchenväter, in das spätere Awesta und endlich in den
Islam eingegangen, wo Mohamed allmählich zum Logos geworden ist und als
der mystisch gegenwärtige, +lebende+ Mohamed der Volksreligion
mit der Christusgestalt verschmilzt.[242] Diese Vorstellung ist dem
magischen Menschen so selbstverständlich, daß sie sogar die streng
monotheistische Fassung des ursprünglichen Islam durchbrochen hat und
neben Allah als das Wort Gottes (kalimah), der heilige Geist (ruh) und
das „Licht Mohameds“ erscheint.

Denn für die Volksreligion ist das erste aus der Weltschöpfung
hervorgegangene Licht dasjenige Mohameds, in Gestalt eines Pfaus[243],
„aus weißer Perle“ erschaffen und von Schleiern umwallt. Aber der Pfau
ist schon bei den Mandäern der Gesandte Gottes und die Urseele[244]
und auf altchristlichen Sarkophagen das Sinnbild der Unsterblichkeit.
Die lichtspendende Perle, die das dunkle Haus des Leibes erhellt, ist
der in den Menschen eingegangene Geist, als Substanz gedacht, bei den
Mandäern wie in der Apostelgeschichte des Thomas.[245] Die Jezidi[246]
verehren den Logos als Pfau und Licht; sie haben die altpersische
Fassung der substanziellen Dreiheit nächst den Drusen am reinsten
bewahrt.

So kehrt der Logosgedanke immer wieder in das Lichtempfinden zurück,
aus dem er durch das magische Verstehen abgezogen worden war.
+Die Welt des magischen Menschen ist von einer Märchenstimmung
erfüllt.+[247] Teufel und böse Geister bedrohen den Menschen, Engel
und Feen schützen ihn. Es gibt Amulette und Talismane, geheimnisvolle
Länder, Städte, Gebäude und Wesen, geheime Schriftzeichen, das
Siegel Salomos und den Stein der Weisen. Und über alles ergießt sich
schimmernd das höhlenhafte Licht, das immer davon bedroht ist, durch
eine gespenstische Nacht verschlungen zu werden. Wem diese Bilderpracht
wunderlich erscheinen will, der bedenke, daß Jesus in ihr lebte und
daß seine Lehren nur aus ihr zu verstehen sind. Die Apokalyptik ist
nur eine zu höchster tragischer Gewalt gesteigerte Märchenvision.
Schon im Buche Henoch erscheinen der Kristallpalast Gottes, die
Edelsteinberge und das Gefängnis der abtrünnigen Sterne. Märchenhaft
ist die ganze erschütternde Vorstellungswelt der Mandäer und später
die der Gnostiker, der Manichäer, das System des Origenes und die
Bilder des persischen Bundehesch; und als die Zeit der großen Visionen
vorüber war, gingen diese Vorstellungen in eine Legendendichtung und
zahllose religiöse Romane über, von denen wir die christlichen Werke
der Kindheitsevangelien Jesu, der Thomasakten und der gegen Paulus
gerichteten Pseudo-Clementinen kennen. Es gibt eine Geschichte der von
Abraham geprägten 30 Silberlinge des Judas und ein Märchen von der
„Schatzhöhle“, in der tief unter dem Hügel von Golgatha der Goldschatz
des Paradieses und die Gebeine Adams ruhen.[248] Was Dante dichtete,
war eben Dichtung; dies alles aber war Wirklichkeit und die einzige
Welt, in der man beständig lebte. Ein solches Empfinden liegt Menschen,
die mit und in einem dynamischen Weltbilde leben, unerreichbar fern.
Wenn man ahnen will, wie fremd das Innenleben Jesu uns allen ist --
eine schmerzliche Einsicht für den Christen des Abendlandes, der seine
Frömmigkeit gern auch innerlich an ihn anknüpfen möchte -- und wie es
heute eigentlich nur von einem frommen Moslim nacherlebt werden kann,
so versenke man sich in diese Märchenzüge eines Weltbildes, das auch
das seinige war. Dann erst wird man erkennen, wie wenig das faustische
Christentum aus dem Reichtum der pseudomorphen Kirche herübergenommen
hat, nämlich nichts vom Weltgefühl, wenig von der inneren Form und viel
an Begriffen und Gestalten.


9

Aus dem Wo folgt das Wann der magischen Seele. Es ist wieder nicht das
apollinische Haften an der punktförmigen Gegenwart und ebensowenig das
faustische Treiben und Drängen nach einem unendlich fernen Ziel. Hier
hat das Dasein einen andern Takt und daraus folgt für das Wachsein
ein anderer Sinn der Zeit als Gegenbegriff zum magischen Raume. Das
erste, was der Mensch dieser Kultur vom ärmsten Sklaven und Lastträger
bis zum Propheten und Khalifen als Kismet über sich fühlt, ist nicht
die grenzenlose Flucht der Zeiten, die den verlorenen Augenblick nie
wiederkehren läßt, sondern ein Anfang und ein Ende „dieser Tage“, die
unverrückbar gesetzt sind und zwischen denen das menschliche Dasein
eine von allem Ursprung an bestimmte Stelle einnimmt. Nicht nur der
Weltraum, auch die Weltzeit ist höhlenhaft, und daraus folgt eine
innerliche, echt magische Gewißheit: +daß alles „eine Zeit“ hat+,
von der Herabkunft des Erlösers an, deren Stunde in alten Texten
geschrieben stand, bis zu den kleinsten Verrichtungen des Alltags,
bei denen die faustische Eile sinnlos und unverständlich wird. Darauf
beruht auch die frühmagische, im besonderen chaldäische Astrologie.
Auch sie setzt voraus, daß alles in den Sternen geschrieben steht und
daß der wissenschaftlich berechenbare Gang der Planeten auf den Gang
der irdischen Dinge schließen lasse.[249] Das antike Orakel antwortete
auf die einzige Frage, die apollinische Menschen ängstigen konnte:
nach der Gestalt, dem Wie der kommenden Dinge. Die Höhlenfrage ist
das Wann. Die ganze Apokalyptik, das Seelenleben Jesu, seine Angst in
Gethsemane und die große Bewegung, die von seinem Tode ausgeht, werden
unverständlich, wenn man diese Urfrage magischen Daseins und ihre
Voraussetzungen nicht begreift. Es ist ein untrügliches Kennzeichen
für das Schwinden der antiken Seele, daß die Astrologie nach Westen
vordringend Schritt für Schritt die Orakel verdrängt. Niemand verrät
den Zwischenzustand klarer als Tacitus, dessen verwirrte Weltanschauung
seine Geschichtsschreibung ganz und gar beherrscht: Tacitus führt
einerseits, als echter Römer, die Macht der alten Stadtgottheiten ein;
daneben hat er, als intelligenter Weltstädter, eben diesen Glauben
an die Einwirkung der Götter als Aberglauben bezeichnet, endlich
aber als Stoiker -- und die Stoa war damals eine +magische+
Geistesverfassung -- von den sieben Planeten gesprochen, die das
Los der Sterblichen regieren. So kommt es, daß in den folgenden
Jahrhunderten die schicksalhafte Zeit selbst, nämlich die Höhlenzeit,
als beiderseitig begrenztes und deshalb dem inneren Auge erfaßbares
Etwas in der persischen Mystik als Zrvan über das Licht der Gottheit
gestellt wird und den Weltkampf zwischen Gut und Böse regiert. Der
Zrvanismus ist 438-457 in Persien Staatsreligion gewesen.

Auf dem Glauben, daß alles in den Sternen geschrieben steht, beruht
es auch im letzten Grunde, wenn die arabische Kultur die der Ären
geworden ist, das heißt der Zeitrechnungen von einem Ereignis an, das
man als ganz besondere Schickung empfand. Die erste und wichtigste
ist die allgemein aramäische, die um 300 mit dem Anwachsen der
apokalyptischen Spannung als „Seleukidenära“ entstand. Auf sie sind
viele andere gefolgt, darunter die sabäische um 115 v. Chr., deren
Ausgangspunkt wir nicht näher kennen; die diokletianische; die jüdische
Weltschöpfungsära, die 346 vom Synedrion eingeführt wurde;[250] die
persische vom Regierungsantritt des letzten Sassaniden Jezdegerd
(632) und die der Hedschra, welche in Syrien und Mesopotamien die
seleukidische erst abgelöst hat. Was außerhalb dieser Landschaft
entstand, ist lediglich praktische Nachahmung, wie die varronische
Zählung _ab urbe condita_, die der Marcioniten vom Bruch ihres
Meisters mit der Kirche (144) und auch die christliche von der Geburt
Jesu an (bald nach 500).

Weltgeschichte ist das Bild der lebendigen Welt, in das der Mensch
sich durch seine Geburt, durch Vorfahren und Nachkommen hineinverwebt
sieht und das er aus seinem Weltgefühl heraus zu begreifen sucht.
Das Geschichtsbild des antiken Menschen drängt sich um das rein
Gegenwärtige zusammen. Es enthält ein Sein, kein eigentliches Werden,
und als abschließenden Hintergrund den zeitlosen Mythus, rationalisiert
als goldenes Zeitalter. Dieses Sein aber war ein buntes Gewimmel
von Aufstieg, Niedergang, Glück und Unglück, ein blindes Ungefähr,
eine ewige Veränderung, aber in allem Wechsel doch immer dasselbe,
ohne Richtung, ohne Ziel, ohne „Zeit“. Das Höhlengefühl fordert
eine übersehbare Geschichte mit Weltanfang und Weltende, +die
zugleich Anfang und Ende der Menschheit sind+, als Akten einer
zaubergewaltigen Gottheit und dazwischen, in die Grenzen der Höhle
gebannt und von vorbestimmter Dauer, das Ringen des Lichtes mit der
Finsternis, der Engel und Jazatas mit Ahriman, Satan, Iblis, in
das der Mensch mit Geist und Seele verwickelt ist. Die gegenwärtige
Höhle kann von Gott zertrümmert und durch eine neue Schöpfung ersetzt
werden. Die persisch-chaldäischen Vorstellungen und die Apokalyptik
gewährten den Blick über eine Reihe solcher Aionen, und Jesus wie seine
ganze Zeit erwartete das Ende des bestehenden.[251] Daraus ergibt
sich ein historischer Blick über die gegebene Zeit, wie er heute noch
dem Menschen des Islam durchaus natürlich ist. „Die Weltanschauung
des Volkes zerfällt naturgemäß in die großen Teuer Weltentstehung,
Weltentwicklung, Weltuntergang. Für den so tief ethisch empfindenden
Moslim ist in der Weltentwicklung das Wesentlichste die Heilsgeschichte
und der ethische Lebensweg, die als ›Menschenleben‹ zusammengefaßt
werden. Dasselbe mündet in den Weltuntergang, der die Sanktion der
sittlichen Menschheitsgeschichte enthält.“[252]

Für das magische Menschendasein aber ergibt sich aus dem Gefühl von
+dieser+ Zeit und dem Erblicken +dieses+ Raumes eine ganz
einzige Art von Frömmigkeit, die ebenfalls höhlenhaft genannt werden
darf, eine +willenlose+ Ergebung, die das geistige Ich überhaupt
nicht kennt und das geistige Wir, das in den beseelten Leib eingegangen
ist, als bloßen Widerschein des göttlichen Lichtes empfindet. Das
arabische Wort hierfür ist „islam“, Ergebung, aber „islam“ war auch
die beständige Fühlweise Jesu und die jeder andern Persönlichkeit
von religiösem Genie, die in dieser Kultur hervorgetreten ist.
Antike Frömmigkeit ist etwas ganz anderes,[253] und wenn man aus
der Frömmigkeit der heiligen Teresia, Luthers oder Pascals das Ich
fortdenken wollte, das sich gegen das Göttlich-Unendliche behaupten,
sich vor ihm beugen oder in ihm erlöschen will, so wird nichts übrig
bleiben. Das faustische Ursakrament der Buße setzt ein starkes und
freies Wollen voraus, das sich selbst überwindet. Aber „islam“ ist
gerade +die Unmöglichkeit eines Ich als einer freien Macht+ dem
Göttlichen gegenüber. Jeder Versuch, der Wirkung Gottes mit einer
eigenen Absicht oder auch nur Ansicht entgegenzutreten, ist „masija“,
das heißt nicht ein böses Wollen, sondern der Beweis, daß die Mächte
der Finsternis und des Bösen Besitz von einem Menschen ergriffen und
das Göttliche daraus verdrängt haben. Das magische Wachsein ist der
bloße +Schauplatz+ eines Kampfes zwischen beiden Mächten und
nicht etwa eine Macht für sich. In dieser Art von Weltgeschehen gibt
es auch keine einzelnen Ursachen und Wirkungen mehr und vor allem
keine das All durchherrschende -- dynamische -- Kausalverkettung,
mithin auch keine +notwendige+ Verknüpfung von Schuld und
Strafe, keinen +Anspruch+ auf Lohn, keine altisraelitische
„Gerechtigkeit“. Dergleichen sieht die echte Frömmigkeit dieser Kultur
tief unter sich. Die Naturgesetze sind nichts für immer Gegebenes,
das Gott nur durch ein Wunder aufheben kann, sondern gewissermaßen
der Gewohnheitszustand des selbstherrlichen göttlichen Wirkens und
ohne innere -- logische, faustische -- Notwendigkeit. Es gibt in
der ganzen Welthöhle nur +eine+ Ursache, die allen sichtbaren
Wirkungen +unmittelbar+ zugrunde liegt, die Gottheit, die selbst
keine Gründe für ihre Handlungen mehr hat. Über solche Gründe auch nur
nachzudenken ist Sünde. Aus diesem Grundgefühl ergibt sich die rein
magische Idee der Gnade. Sie liegt allen Sakramenten dieser Kultur,
vor allem dem magischen Ursakrament der Taufe zugrunde und bildet den
innerlichsten Gegensatz zur Buße im faustischen Sinne. Die Buße setzt
den Willen eines Ich voraus, die Gnade kennt ihn gar nicht. Es war ein
großes Verdienst Augustins, diesen vollkommen islamischen Gedanken
mit unerbittlicher Logik entwickelt zu haben -- so eindringlich, daß
die faustische Seele seit Pelagius auf jedem Wege versucht hat, diese
für sie an Selbstvernichtung streifende Gewißheit zu umgehen und den
Ausdruck ihres eigenen Gottbewußtseins jedesmal in einem tiefen und
innigen Mißverstehen augustinischer Sätze fand. In Wirklichkeit ist
Augustin der letzte große Denker der früharabischen Scholastik und
nichts weniger als ein abendländischer Geist.[254]

Er war nicht nur zeitweise Manichäer, sondern ist es in sehr
wesentlichen Zügen auch als Christ geblieben; seine Nächstverwandten
findet man unter den persischen Theologen des jüngeren Awesta mit ihren
Lehren vom Gnadenschatz der Heiligen und der absoluten Schuld. Für ihn
ist Gnade die +substanzielle+ Einflößung von etwas Göttlichem in
das menschliche, ebenfalls substanzielle Pneuma.[255] Die Gottheit
strahlt es aus, der Mensch empfängt es, aber erwirbt es nicht. Bei
Augustin wie noch bei Spinoza[256] fehlt der Begriff der Kraft, und
das Freiheitsproblem bezieht sich bei beiden +nicht auf das Ich
und seinen Willen+, sondern auf den in einen Menschen versenkten
Teil des allgemeinen Pneuma und dessen Verhältnis zu dem Übrigen. Das
magische Wachsein ist der +Schauplatz+ eines Kampfes zwischen
den beiden Weltsubstanzen des Lichtes und der Finsternis. Die frühen
faustischen Denker wie Duns Scotus und Occam erblicken im dynamischen
Wachsein +selbst einen Kampf+ und zwar der beiden Kräfte des Ich,
des Willens und des Verstandes.[257] Und damit verwandelt sich die
Fragestellung Augustins unvermerkt in eine andere, die er selbst nie
begriffen hätte: Sind Wollen und Denken freie Kräfte oder nicht? Mag
man sie beantworten wie man will, so ist eins gewiß: Das einzelne Ich
hat diesen Kampf +zu führen und nicht zu dulden+. Die faustische
Gnade bezieht sich auf den Erfolg des Wollens und nicht die Art einer
Substanz. „Gott hat geruht,“ heißt es im Westminsterbekenntnis (1646),
„gemäß dem unerforschlichen Rat seines eigenen Willens, nach welchem
er Erbarmen erweist oder versagt, wem er will, den Rest der Menschheit
zu übergehen.“ Die andere Auffassung, daß die Idee der Gnade jeden
eigenen Willen und jede Ursache ausschließt mit Ausnahme der einen,
daß es Sünde ist, auch nur zu fragen, warum ein Mensch leidet, ist
in einer der gewaltigsten Dichtungen der Weltgeschichte zum Ausdruck
gekommen, die mitten in der arabischen Vorzeit entstanden ist und an
innerer Größe in dieser ganzen Kultur nicht ihresgleichen hat: Das Buch
Hiob.[258] Es sind die Freunde Hiobs, die nach einer Schuld suchen,
denn der letzte Sinn alles Leidens in dieser Welthöhle ist ihnen --
wie den meisten Menschen dieser und jeder anderen Kultur und also auch
den heutigen Lesern und Beurteilern dieses Werkes -- aus Mangel an
metaphysischer Tiefe unzugänglich. Nur der Held selbst ringt sich zur
Vollendung durch, zum reinen Islam, und er wird damit zu der einzig
möglichen tragischen Gestalt, die magisches Fühlen neben den Faust
stellen kann.[259]


10

Das Wachsein jeder Kultur gestattet zwei Wege des Innewerdens, je
nachdem das schauende Empfinden das kritische Verstehen durchdringt
oder umgekehrt. Das magische Schauen ist bei Spinoza als _amor
intellectualis dei_ bezeichnet, bei den gleichzeitigen Sufisten
Mittelasiens als _mahw_ (Auslöschen in Gott). Es kann sich bis
zur magischen Ekstase steigern, die Plotin mehrmals und seinem Schüler
Porphyrios im hohen Alter einmal zuteil geworden ist. Die andere Seite,
die rabbinische Dialektik, erscheint bei Spinoza als geometrische
Methode und in der arabisch-jüdischen Spätphilosophie überhaupt als
Kalaam. Beides aber beruht auf der Tatsache, daß es ein magisches
Einzel-Ich nicht gibt, sondern ein einziges, in allen Erwählten
zugleich vorhandenes Pneuma, das zugleich Wahrheit ist. Es kann
nicht oft genug betont werden, daß der hieraus folgende Grundbegriff
des _idjma_ mehr ist als Begriff, daß er ein Erlebnis von
erschütternder Gewalt werden kann und daß alle Gemeinschaft magischen
Stils auf ihm beruht und damit von der aller anderen Kulturen abgehoben
ist. „Die mystische Gemeinde des Islam erstreckt sich vom Diesseits
in das Jenseits; sie reicht über das Grab hinaus, indem sie die
verstorbenen Muslime früherer Generationen, ja sogar die vorislamischen
Gerechten umfaßt. Mit ihnen allen fühlt sich der Muslim zu einer
Einheit verbunden. Sie helfen ihm und auch er kann ihre Seligkeit
noch durch Zuwendung eigener Verdienste steigern.“[260] Ganz dasselbe
haben sowohl die Christen wie die Synkretisten der Pseudomorphose
mit den Worten _polis_ und _civitas_ bezeichnet, die einst
eine Summe von Körpern bedeuteten und jetzt einen _consensus_
der Zugehörigen. Am berühmtesten ist Augustins _civitas dei_,
die weder ein antiker Staat ist noch eine abendländische Kirche,
sondern genau wie die Mithrasgemeinde, der Islam, der Manichäismus
und das Persertum eine Ganzheit von Gläubigen, Seligen und Engeln.
Da die Gemeinschaft auf dem _consensus_ beruht, so ist sie in
geistigen Dingen unfehlbar. „Mein Volk kann niemals in einem Irrtum
übereinstimmen“ hat Mohamed gesagt, und genau dasselbe setzt Augustin
in seinem Gottesstaat voraus. Von einem unfehlbaren päpstlichen
Ich oder irgendeiner andern Instanz zur Feststellung dogmatischer
Wahrheiten ist bei ihm keine Rede und kann es nicht sein: Das würde
den magischen Begriff des _consensus_ völlig zerstören. Das gilt
in dieser Kultur allgemein und nicht nur vom Dogma, sondern auch
vom Recht[261] und vom Staate überhaupt: Die islamische Gemeinschaft
umfaßt wie die des Porphyrios und Augustin die +ganze+ Welthöhle,
das Diesseits wie das Jenseits, die Rechtgläubigen wie die guten
Engel und Geister, und in dieser Gemeinschaft bildet der Staat nur
+eine kleinere Einheit der sichtbaren Seite+, deren Wirksamkeit
also durch das Ganze geregelt wird. Eine Trennung von Politik und
Religion ist also in der magischen Welt theoretisch unmöglich und
widersinnig, während der Kampf zwischen Staat und Kirche auch der
Idee nach in der faustischen Kultur notwendig und ohne Ende ist.
Weltliches und geistliches Recht sind schlechthin dasselbe. Neben
dem Kaiser von Byzanz steht der Patriarch, neben dem Schah der
Zarathustrotema, neben dem Resch Galuta der Gaon, neben dem Khalifen
der Scheich ül Islam, Vorgesetzter zugleich und Untergebener. Mit dem
gotischen Verhältnis von Kaiser und Papst hat das nicht die leiseste
Verwandtschaft und auch der Antike war jeder Gedanke daran fremd. In
der Schöpfung Diokletians ist zum ersten Mal diese magische Einbettung
des Staates in die Gemeinschaft der Gläubigen Wirklichkeit geworden,
und Konstantin hat sie ganz durchgeführt. Es war schon gezeigt
worden, daß Staat, Kirche und Nation eine geistige Einheit bilden,
eben den in der lebenden Menschheit sichtbar hervortretenden Teil des
rechtgläubigen _consensus_. Es war deshalb für die Kaiser eine
selbstverständliche Pflicht, als Beherrscher der Gläubigen -- das
ist der Teil der magischen Gemeinschaft, den Gott ihnen anvertraut
hat -- die Konzile zu leiten, um den _consensus_ der Berufenen
herbeizuführen.


11

Außer ihm gibt es aber noch ein anderes Offenbarwerden der Wahrheit,
das „Wort Gottes“ in einem ganz bestimmten rein magischen Sinne,
der dem antiken und abendländischen Denken gleich fern liegt und
deshalb die Quelle unzähliger Mißverständnisse geworden ist. Das
heilige Buch, in dem es sichtbar in Erscheinung getreten, in das
es mittels einer heiligen Schrift gebannt worden ist, gehört zum
Bestande jeder magischen Religion.[262] In diese Vorstellung sind drei
magische Begriffe verwoben, von denen jeder einzelne uns die größten
Schwierigkeiten bereitet, während ihr Getrenntsein und gleichzeitiges
Einssein unserem religiösen Verständnis unzugänglich bleibt, so
gern man sich immer wieder darüber getäuscht hat: +Gott+,
+der Geist Gottes+, +das Wort Gottes+. Was im Prolog des
Johannesevangeliums angedeutet ist: Im Anfang war das Wort und das
Wort war bei Gott und Gott war das Wort, das ist lange vorher in den
persischen Vorstellungen von Spenta Mainyu -- dem heiligen Geist, der
von Ahura Mazda verschieden und doch mit ihm eins ist, im Gegensatz zum
bösen (Angra Mainyu) -- und von Vohu Mano[263] und den entsprechenden
jüdischen und chaldäischen Begriffen wie etwas ganz Natürliches zum
Ausdruck gekommen und bildet den Kernpunkt in den Streitigkeiten des
vierten und fünften Jahrhunderts um die Substanz Christi. Aber ebenso
ist die „Wahrheit“ für das magische Denken +eine Substanz+[264]
und Lüge oder Irrtum die zweite. Es ist derselbe wesenhafte Dualismus
wie in dem Widerstreit von Licht und Finsternis, Leben und Tod, Gut
und Böse. Als Substanz ist die Wahrheit bald mit Gott, bald mit dem
Geiste Gottes, bald mit dem Wort identisch. Nur so kann man die ganz
substanziell gemeinten Aussprüche verstehen: „Ich bin die Wahrheit und
das Leben“ und „Mein Wort ist die Wahrheit“. Nur so begreift man auch,
mit welchen Augen der religiöse Mensch dieser Kultur das heilige Buch
betrachtete: In ihm ist die unsichtbare Wahrheit in eine sichtbare
Seinsart eingegangen, ganz ähnlich der Stelle Ev. Joh. 1, 14: Das Wort
ward Fleisch und wohnte unter uns. Nach dem Jasna ist das Awesta vom
Himmel herabgesandt worden und im Talmud heißt es, daß Moses die Tora
Band für Band von Gott empfangen habe. Eine magische Offenbarung ist
ein mystischer Vorgang, in welchem das ewige und unerschaffene Wort
der Gottheit -- oder +die Gottheit als Wort+ -- in einen Menschen
eingeht, um durch ihn die „offenbare“, sinnliche Gestalt von Lauten und
vor allem von Buchstaben zu erhalten. +Koran bedeutet „Lesung“+.
Mohamed hat in einer Vision im Himmel verwahrte Schriftrollen erblickt,
die er „im Namen des Herrn“ -- obwohl er nicht lesen gelernt hat --
entziffern konnte.[265] Das ist eine Form der Offenbarung, die in
dieser Kultur Regel und in den andern nicht einmal Ausnahme ist,[266]
aber sie hat sich erst seit Kyros herangebildet. Die altisraelitischen
Propheten und sicherlich auch Zarathustra sehen und hören in der
Verzückung Dinge, die sie später verbreiten. Das deuteronomische
Gesetzbuch ist 621 „im Tempel gefunden worden“, das heißt, es soll als
Weisheit der Väter gelten. Das erste und zwar sehr bewußte Beispiel
eines „Koran“ ist das Buch des Hesekiel, das der Autor in einer
ausgedachten Vision von Gott empfängt und „verschlingt“ (Kap. 3). Hier
ist in der denkbar gröbsten Form ausgedrückt, was später dem Begriff
und der Gestalt des gesamten apokalyptischen Schrifttums zugrunde
liegt. Aber allmählich gehörte eine solche +substanzielle+ Form
der Empfängnis zu den Bedingungen jedes kanonischen Buches. Aus
nachexilischer Zeit stammt die Vorstellung von den Gesetzestafeln,
die Moses am Sinai erhält. Später wurde für die ganze Tora, etwa seit
der Makkabäerzeit für die meisten Schriften des Alten Testaments ein
solcher Ursprung angenommen. Seit dem Konzil von Jabna (um 90 n. Chr.)
gilt das ganze Werk als „Eingebung“ im buchstäblichen Sinne. Aber ganz
dieselbe Entwicklung hat in der persischen Religion stattgefunden bis
zur Heiligsprechung des Awesta im 3. Jahrhundert, und der gleiche
Begriff der Eingebung erscheint in der zweiten Vision des Hermas,
in den Apokalypsen, den chaldäischen, gnostischen und mandäischen
Schriften und er liegt endlich wie etwas ganz Natürliches den
Vorstellungen der Neupythagoräer und Neuplatoniker von den Schriften
ihrer Meister stillschweigend zugrunde. Kanon ist der technische
Ausdruck für die Gesamtheit der Schriften, die von einer Religion als
eingegeben betrachtet werden. Als Kanon sind seit 200 die hermetische
Sammlung und das Corpus der chaldäischen Orakel entstanden, das letzte
ein heiliges Buch der Neuplatoniker, das der „Kirchenvater“ Proklos
allein neben Platons Timaios gelten ließ.

Die junge Jesusreligion hat ursprünglich wie Jesus selbst die jüdischen
Schriften als Kanon anerkannt. Die ersten Evangelien erheben durchaus
nicht den Anspruch, „das Wort“ der Gottheit in sichtbarer Gestalt zu
sein. +Das Johannesevangelium ist die erste christliche Schrift,
die mit offenbarer Absicht als Koran gelten will+, und von ihrem
unbekannten Schöpfer geht überhaupt erst der Gedanke aus, daß es einen
christlichen Koran geben könne und müsse. Die schwere Entscheidung, ob
die neue Religion mit der von Jesus geglaubten brechen solle, kleidet
sich mit innerer Notwendigkeit in die Frage, ob man die jüdischen
Schriften als Inkarnationen der +einen+ Wahrheit noch anerkennen
dürfe; sie ist von „Johannes“ schweigend und von Marcion laut verneint,
von den Kirchenvätern aber, was unlogisch war, bejaht worden.

Aus dieser metaphysischen Auffassung vom Wesen des heiligen Buches
ergibt sich, daß die Ausdrücke „Gott spricht“ und „die Schrift sagt“
in einer unserem Denken ganz fremden Weise völlig identisch sind. Es
erinnert an manche Märchenzüge in 1001 Nacht, daß Gott selbst in diese
Worte und Buchstaben gebannt ist und von dem Berufenen entsiegelt und
zum Offenbaren der Wahrheit gezwungen werden kann. Die Auslegung ist
wie die Eingebung ein Vorgang von mystischem Hintersinn (Mark. 1, 22).
Daher die Ehrfurcht, mit welcher diese kostbaren Handschriften verwahrt
werden, ihre so ganz unantike Verzierung mit allen Mitteln der jungen
magischen Kunst und die Entstehung immer neuer Schriftarten, die in den
Augen ihrer Gebraucher allein die Kraft besitzen, die herabgesandte
Wahrheit in sich zu bannen.

Aber ein solcher Koran ist dem Wesen nach unbedingt richtig und deshalb
unveränderlich und keiner Verbesserung fähig.[267] Es entwickelt sich
deshalb die Gewohnheit der geheimen Interpolationen, um den Text mit
den Überzeugungen der Zeit in Einklang zu bringen. Ein Meisterstück
dieser Methode sind die Digesten Justinians. Aber außer sämtlichen
Schriften der Bibel gilt das zweifellos auch von den Gathas des Awesta
und sogar von den damals umlaufenden Schriften des Plato, Aristoteles
und andrer Autoritäten der heidnischen Theologie. Viel wichtiger noch
ist die in allen magischen Religionen nachweisbare Annahme einer
geheimen Offenbarung oder eines geheimen Schriftsinns, die nicht durch
Aufzeichnung, sondern durch das Gedächtnis berufener Männer erhalten
und mündlich fortgepflanzt werden. Nach jüdischer Anschauung hat
Moses am Sinai außer der schriftlichen +noch eine geheime mündliche
Tora+ empfangen,[268] deren Aufzeichnung untersagt war. „Gott sah
voraus,“ heißt es im Talmud, „daß einst eine Zeit kommen werde, in der
sich die Heiden der Tora bemächtigen und zu Israel sprechen werden:
Auch wir sind Söhne Gottes. Dann wird der Herr sagen: Nur wer meine
Geheimnisse kennt, der ist mein Sohn. Und was sind die Geheimnisse
Gottes? Die mündliche Lehre.“[269] Der Talmud enthält also in seiner
allgemein zugänglichen Gestalt nur einen Teil des religiösen Stoffes,
und ebenso stand es mit den christlichen Texten der Frühzeit. Es ist
oft bemerkt worden,[270] daß Markus von der Versuchung und Auferstehung
nur in Andeutungen spricht und daß Johannes auf die Lehre vom Paraklet
nur anspielt und die Einsetzung des Abendmahls ganz fortläßt. Der
Eingeweihte verstand, was gemeint war, und der Ungläubige sollte es
nicht wissen. Später gab es eine wirkliche „Arkandisziplin“, wonach die
Christen über das Taufbekenntnis, Vaterunser, Abendmahl und anderes
Ungläubigen gegenüber Stillschweigen beobachteten. Bei den Chaldäern,
Neupythagoräern, Kynikern, Gnostikern und vor allen den Sekten von
den altjüdischen bis zu den islamischen hat das einen solchen Umfang
angenommen, daß uns ihre Geheimlehren zum großen Teil unbekannt sind.
Über das nur im Geist aufbewahrte Wort gab es einen +_consensus_
des Schweigens+, eben weil man des „Wissens“ der Zugehörigen sicher
war. Wir sind geneigt, gerade von dem Wichtigsten nachdrücklich und
deutlich zu reden, und kommen deshalb in Gefahr, magische Lehren
mißzuverstehen, weil wir das Ausgesprochene mit dem Vorhandenen und
den profanen Wortsinn mit der eigentlichen Bedeutung gleichsetzen. Das
gotische Christentum hatte keine Geheimlehre und deshalb ein doppeltes
Mißtrauen gegen den Talmud, in dem es mit Recht nur den Vordergrund der
jüdischen Lehre sah.

Aber rein magisch ist auch die Kabbala, die aus Zahlen,
Buchstabenformen, Punkten und Strichen einen geheimen Sinn erschließt
und die so alt sein muß wie das als Substanz herabgesandte Wort
überhaupt. Die Geheimlehre von der Schöpfung der Welt aus den
zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets und die vom
Thronwagen in der Vision des Hesekiel sind schon zur Makkabäerzeit
nachweisbar. Eng damit verwandt ist die allegorische Auslegung der
heiligen Texte. Alle Traktate der Mischna, alle Kirchenväter, alle
alexandrinischen Philosophen sind voll davon; in Alexandria hat man den
ganzen antiken Mythus und sogar Platon nach dieser Methode behandelt
und mit den jüdischen Propheten -- Moses heißt dann Musaios --
verglichen.

Die einzige streng +wissenschaftliche+ Methode, welche ein
unveränderlicher Koran für die Fortentwicklung der Meinungen übrig
läßt, ist die kommentierende. Da der Theorie nach das „Wort“ einer
Autorität nicht verbessert werden kann, so kann es nur anders ausgelegt
werden. Man würde in Alexandria nie gesagt haben, daß Plato irre,
aber man „deutete“ ihn. Das geschieht in den streng ausgebildeten
Formen der Halacha, und deren schriftliche Festlegung hat die Gestalt
eines Kommentars, die alle religiösen, philosophischen und gelehrten
Literaturen dieser Kultur vollständig beherrscht. Nach dem Vorgang
der Gnostiker haben die Kirchenväter Schriftkommentare zur Bibel
verfaßt; zum Awesta entstand sogleich der Pehlewikommentar des Zend,
zum jüdischen Kanon die Midrasche, aber auch die „römischen“ Juristen
um 200 und die „spätantiken“ Philosophen, d. h. die Scholastiker der
werdenden Kultkirche gingen denselben Weg -- die seit Poseidonios
immer wieder ausgelegte Apokalypse dieser Kirche war Platons Timaios.
Die Mischna ist ein einziger großer Kommentar zur Tora. Aber als die
ältesten Ausleger selbst Autoritäten und ihre Schriften also Korane
geworden waren, schrieb man Kommentare zu Kommentaren wie der letzte
Platoniker Simplikios im Westen, die Amoräer, welche der Mischna
die Gemara hinzufügten, im Osten und in Byzanz die Verfasser der
kaiserlichen Konstitutionen zu den Digesten.

Am schärfsten ist diese Methode, welche jeden Ausspruch der Fiktion
nach bis zu einer unmittelbaren Eingebung zurückführt, in der
talmudischen und islamischen Theologie ausgebildet worden. Eine
neue Halacha oder ein Hadith sind nur gültig, wenn sie durch eine
ununterbrochene Kette von Gewährsmännern auf Moses oder Mohamed
zurückgeführt werden können.[271] Die feierliche Formel hierfür
lautete in Jerusalem: „Es komme über mich! So habe ich es von meinem
Lehrer gehört.“[272] Im Zend ist die Anführung der Gewährsmännerkette
Regel, und Irenäus hat seine Theologie damit gerechtfertigt, daß
von ihm eine Kette über Polykarp zur Urgemeinde gehe. In der
frühchristlichen Literatur tritt diese halachische Form mit solcher
Selbstverständlichkeit auf, daß man sie als solche gar nicht bemerkt
hat. Sie erscheint, abgesehen von der beständigen Berufung auf das
Gesetz und die Propheten, in den Überschriften der vier Evangelien
(„+nach+ Markus“), die einen Gewährsmann an der Spitze nennen
müssen, um für die von ihnen angeführten Worte des Herrn Autorität
zu sein.[273] Damit war die Kette bis zu der in Jesus verkörperten
Wahrheit hergestellt und man kann sich diese Verbindung im Weltbilde
eines Augustin oder Hieronymus nicht realistisch genug denken. Hierauf
beruht nun auch die seit Alexander sich allgemein verbreitende Sitte,
religiöse und philosophische Schriften mit Namen zu versehen wie
Henoch, Salomo, Esra, Hermes, Pythagoras, die als Gewährsmänner und
Gefäße göttlicher Wahrheit galten, in denen also einst „das Wort
Fleisch“ geworden war. Wir besitzen noch eine Anzahl von Apokalypsen
mit dem Namen Baruch, der damals mit Zarathustra gleichgesetzt wurde,
und wir machen uns kaum eine Vorstellung davon, was an Schriften unter
den Namen des Aristoteles und Pythagoras umlief. Die „Theologie des
Aristoteles“ war eins der einflußreichsten Bücher des Neuplatonismus.
Dies ist endlich die metaphysische Voraussetzung für Stil und
tieferen Sinn des Zitierens, das bei Kirchenvätern, Rabbinern,
„griechischen“ Philosophen und „römischen“ Juristen in ganz derselben
Weise geübt wird und das einerseits das Zitiergesetz Valentinians
III.[274] und andrerseits die Abscheidung von Apokryphen -- ein
grundlegender Begriff, der einen +Substanzunterschied+ innerhalb des
Schriftenbestandes feststellt -- aus dem jüdischen und christlichen
Kanon zur Folge gehabt hat.


12

Auf Grund solcher Untersuchungen wird es in Zukunft möglich sein,
eine Geschichte +der Gruppe magischer Religionen+ zu schreiben.
Sie bildet eine untrennbare Einheit des Geistes und der Entwicklung
und man glaube nicht, die einzelnen für sich unter Absehen von den
übrigen wirklich begreifen zu können. Ihre Entstehung, Entfaltung und
innere Festigung umfaßt die Zeit von 0-500. Sie entspricht genau dem
abendländischen Aufstieg von der kluniazensischen Bewegung bis zur
Reformation. Ein wechselseitiges Geben und Nehmen, ein verwirrend
reiches Aufblühen, Reifen, Umbilden, ein Überschichten, Wandern,
Einfügen, Abstoßen erfüllt diese Jahrhunderte, ohne daß sich irgendeine
Abhängigkeit des einen Systems von dem andern behaupten läßt; nur
die Formen und Fassungen werden getauscht; in der Tiefe ruht ein und
dasselbe Seelentum, das in allen Sprachen dieser Welt von Religionen
stets sich selbst zum Ausdruck bringt.

In dem weiten Reich altbabylonischen Fellachentums leben junge Völker.
Da bereitet sich alles vor. Die erste Ahnung regt sich um 700 in den
prophetischen Religionen der Perser, Juden und Chaldäer. Ein Bild
der Weltschöpfung von der Art, wie es später an den Anfang der Tora
trat, zeichnet sich in klaren Umrissen ab und damit ist ein Einsatz,
eine Richtung, ein Ziel der Sehnsucht gegeben. In weiter Zukunft wird
etwas erschaut, unbestimmt und dunkel noch, aber mit der innerlichsten
Gewißheit, daß es kommt. Mit dem Blick darauf, mit dem Gefühl einer
Sendung lebt man von nun an.

Die zweite Welle erhebt sich steil in den apokalyptischen Strömungen
seit 300. Hier erwacht das magische Weltbewußtsein und erbaut sich
eine Metaphysik der letzten Dinge in gewaltigen Bildern, denen schon
das Ursymbol der kommenden Kultur, die Höhle, zugrunde liegt. Die
Vorstellung von den Schrecken des Weltendes, dem jüngsten Gericht, der
Auferstehung, von Paradies und Hölle und damit der große Gedanke einer
Heilsgeschichte, in der das Schicksal von Welt und Menschheit eins
sind, brechen überall hervor, ohne daß man einem einzelnen Land und
Volk die Schöpfung zuschreiben könnte, und kleiden sich in wunderbare
Szenen, Gestalten und Namen. Die Messiasgestalt ist mit einem Schlage
fertig. Die Versuchung des Heilands durch den Satan wird erzählt.[275]
Aber zugleich quillt eine tiefe und sich beständig steigernde Angst
auf vor dieser Gewißheit einer unverrückbaren und sehr nahen Grenze
des Geschehens, vor dem Augenblick, in dem es nur noch Vergangenheit
gibt. Die magische Zeit, die „Stunde“, das höhlenhafte Gerichtetsein
gibt dem Leben einen neuen Takt und dem Worte Schicksal einen neuen
Inhalt. Der Mensch steht plötzlich ganz anders vor der Gottheit da.
In der Weihinschrift der großen Basilika von Palmyra, die lange als
christlich galt, wird Baal der Gute, Barmherzige, Milde genannt, und
dies Gefühl dringt mit der Verehrung des Rahman bis nach Südarabien; es
erfüllt die Psalmen der Chaldäer und die Lehre von dem gottgesandten
Zarathustra, die an die Stelle seiner Lehre getreten ist; und es bewegt
das Judentum der Makkabäerzeit, in der die meisten Psalmen entstanden,
und alle die längst vergessenen übrigen Gemeinschaften zwischen der
antiken und indischen Welt.

Die dritte Erschütterung erfolgt in der Zeit Cäsars und führt zur
Geburt der großen Erlösungsreligionen. Damit bricht der helle Tag
dieser Kultur an. Was nun folgt, ein oder zwei Jahrhunderte hindurch,
ist von einer Höhe des religiösen Erlebens, die nicht überboten, aber
auch nicht länger ertragen werden kann. Eine solche an Vernichtung
grenzende Spannung haben auch die gotische Seele, die vedische und jede
andere nur einmal in ihrer Morgenfrühe kennen gelernt.

Jetzt entsteht der große Mythus im persischen, mandäischen, jüdischen,
christlichen Glaubenskreise und in dem der westlichen Pseudomorphose,
nicht anders als zur indischen, antiken und abendländischen Ritterzeit.
So wenig als in dieser Kultur sich Nation, Staat und Kirche, göttliches
und weltliches Recht trennen können, so wenig gibt es einen deutlichen
Unterschied ritterlichen und religiösen Heldentums. Der Prophet
verschmilzt mit dem Streiter und die Geschichte eines großen Dulders
erhebt sich zum nationalen Epos. Die Mächte des Lichtes und der
Finsternis, fabelhafte Wesen, Engel und Dämonen, der Satan und die
guten Geister ringen miteinander; die ganze Natur ist ein Kampfplatz
vom Anfang der Welt bis zu ihrer Vernichtung. Tief unten in der
Menschenwelt ereignen sich die Abenteuer und Leiden der Verkünder,
religiösen Heroen und heldenmütigen Märtyrer. Jede Nation in dem Sinne,
wie er dieser Kultur angehört, besitzt ihre Heldensage. Im Osten wird
aus dem Leben des persischen Propheten eine epische Dichtung von
gewaltigem Umriß. Bei seiner Geburt erschallt das Zarathustralachen
durch alle Himmel und die ganze Natur antwortet ihm. Im Westen entsteht
zu der immer weiter ausgestalteten Leidensgeschichte Jesu, +dem
eigentlichen Epos der christlichen Nation+, der Märchenkreis um
seine Kindheit, der zuletzt eine ganze poetische Gattung ausfüllt.
Die Gestalt der Mutter Gottes und die Taten der Apostel werden wie
die Geschichten der abendländischen Kreuzzugshelden zum Mittelpunkt
ausgedehnter Romane (Thomasakten, Pseudoklementinen), die während
des 2. Jahrhunderts überall vom Nil bis zum Tigris entstehen. In
der jüdischen Haggada und in den Targumen sammelt sich eine Fülle
von Märchen um Saul, David, die Patriarchen und die großen Tannaim
wie Jehuda und Akiba[276] und die unerschöpfliche Phantasie dieser
Zeit ergreift auch den ganzen ihr erreichbaren Stoff spätantiker
Kultlegenden und Stifterromane (Leben des Pythagoras, Hermes,
Apollonios von Tyana).

Mit dem Ende des 2. Jahrhunderts klingt diese Erregung ab. Die Blüte
der epischen Dichtung ist vorüber und es beginnt die mystische
Durchdringung und dogmatische Zergliederung der religiösen Stoffe.
Die Lehren der neuen Kirchen werden in theologische Systeme gebracht.
Das Heldentum weicht der Scholastik, die Dichtung dem Denken, der
Seher und Sucher dem Priester. Die Frühscholastik, die um 200 endet
(entsprechend der abendländischen Epoche von 1200), umfaßt die gesamte
Gnosis im allerweitesten Sinne, das große Schauen: den Verfasser des
Johannesevangeliums, Valentinus, Bar Daisan und Marcion, die Apologeten
und ältesten Väter bis auf Irenäus und Tertullian, die letzten Tannaim
bis auf den Vollender der Mischna, Rabbi Jehuda, in Alexandria die
Neupythagoräer und Hermetiker. Das alles entspricht im Abendlande
der Schule von Chartres, Anselm von Canterbury, Joachim von Floris,
Bernhard von Clairvaux und Hugo von St. Victor. Die Hochscholastik
beginnt mit dem Neuplatonismus, mit Clemens und Origenes, den ersten
Amoräern und den Schöpfern des jüngeren Awesta unter Ardeschir
(226-241) und Schapur I., vor allem dem mazdaischen Hohepriester
Tanvasar. Zugleich beginnt die Ablösung einer höheren Religiosität von
der bäuerlichen, noch immer in apokalyptischer Stimmung verweilenden
Frömmigkeit des Landes, die sich von da an fast unverändert unter
wechselnden Namen bis in das Fellachentum der Türkenzeit erhält,
während in der städtischen und geistigeren Oberwelt die persische,
jüdische und christliche Gemeinschaft von der des Islam aufgenommen
werden.

Langsam vollenden sich nun die großen Kirchen. Es hat sich entschieden
-- das wichtigste religiöse Ergebnis des 2. Jahrhunderts --, daß aus
der Lehre von Jesus keine Umgestaltung des Judentums, sondern eine
neue Kirche hervorgeht, die ihre Richtung nach Westen nimmt, während
das Judentum, ohne an innerer Kraft eingebüßt zu haben, sich dem
Osten zuwendet. Das 3. Jahrhundert gehört den großen Gedankenbauten
der Theologie. Man hat sich mit der geschichtlichen Wirklichkeit
abgefunden. Das Weltende ist in die Ferne gerückt und es entsteht
eine Dogmatik, welche das neue Weltbild erklärt. Der Anbruch der
Hochscholastik hat zur Voraussetzung, daß man an die Dauer der zu
begründenden Lehren glaubt.

Überblickt man diese Gründungen, so ergibt sich, daß die aramäische
Mutterlandschaft ihre Formen nach drei Richtungen hin entwickelt. Im
Osten bildet sich aus der zarathustrischen Religion der Achämenidenzeit
und den Resten ihrer heiligen Literatur die mazdaische Kirche mit
einer strengen Hierarchie und peinlichem Ritual, mit Sakramenten,
Messe und Beichte (_patet_). Wie erwähnt, ist durch Tanvasar
die Sammlung und Ordnung des +neuen+ Awesta begonnen worden;
unter Schapur I. sind, wie gleichzeitig im Talmud, die profanen Texte
medizinischen, juristischen und astronomischen Inhalts hinzugekommen;
der Abschluß erfolgte durch den Kirchenfürsten Mahraspand unter Schapur
II. (309-379), und es ist für die arabische Kultur selbstverständlich,
daß sogleich ein Kommentar in Pehlewisprache, der Zend, hinzukommt.
Das neue Awesta ist wie die jüdische und christliche Bibel ein
Kanon einzelner Schriften und wir erfahren, daß unter den seitdem
verlorenen Nasks (ursprünglich 21) sich ein Evangelium Zarathustras,
die Bekehrungsgeschichte des Vischtaspa, eine Genesis, ein Rechtsbuch
und ein Geschlechterbuch mit Stammbäumen von der Schöpfung bis zu den
Perserkönigen befanden, während bezeichnenderweise der Vendidad, nach
Geldner der „Levitikus“ der Perser, sich vollständig erhalten hat.

Ein neuer Religionsstifter erscheint 242 zur Zeit Schapurs I. in Mani,
der unter Verwerfung des „erlöserlosen“ Judentums und Griechentums
die gesamte Masse magischer Religionen zu einer der gewaltigsten
theologischen Schöpfungen aller Zeiten zusammenfaßt, für die er 276
durch die mazdaische Priesterschaft ans Kreuz geschlagen wurde.
Durch seinen Vater, der noch in späten Jahren seine Familie verließ
und in einen Mandäerorden trat, mit dem ganzen Wissen seiner Zeit
ausgerüstet, hat er die Grundgedanken der Chaldäer und Perser mit
denen des johanneischen, östlichen Christentums vereinigt, was vor ihm
ohne die Absicht einer Kirchengründung in der christlich-persischen
Gnosis des Bar Daisan versucht worden war.[277] Er faßt die mystischen
Gestalten des johanneischen Logos, den er mit dem persischen Vohu Mano
gleichsetzt, den Zarathustra der Awestalegende und den Buddha der
späten Texte als göttliche Emanationen auf und verkündet sich selbst
als den Paraklet des Johannesevangeliums und Saoshyant der Perser. Wie
wir jetzt aus den Turfanfunden wissen, unter denen sich auch Teile
der bis jetzt völlig verlorenen Schriften Manis befinden, war die
Kirchensprache der Mazdaisten, Manichäer und Nestorianer, unabhängig
von den jeweiligen Umgangssprachen, das Pehlewi.

Im Westen entwickeln, und zwar in griechischer Schriftsprache,[278]
die beiden Kultkirchen eine Theologie, die nicht nur verwandt, sondern
in ausgedehntem Maße identisch ist. Zur Zeit Manis beginnt die
theologische Verschmelzung der aramäisch-chaldäischen Sonnenreligion
und des aramäisch-persischen Mithraskultes zu einem System, dessen
erster großer „Kirchenvater“ um 300 Jamblich wird, ein Zeitgenosse
des Athanasius, aber auch Diokletians, der 295 den Mithras zum
henotheistischen Reichsgott erhebt. Seine Priester unterscheiden
sich seelisch wenigstens in nichts von den christlichen. Proklos,
ebenfalls ein echter Kirchenvater, empfängt in Träumen Erleuchtungen
über eine schwierige Textstelle und möchte außer Platons Timaios
und dem chaldäischen Orakelbuch, die für ihn kanonisch sind, alle
Philosophenschriften vernichtet sehen. Seine Hymnen, Zeugnisse der
Zerknirschung eines echten Eremiten, flehen Helios und andere Helfer
um Schutz gegen böse Geister an. Hierokles schreibt ein Moralbrevier
für Gläubige der neupythagoräischen Gemeinschaft, das man genau ansehen
muß, um es nicht für christlich zu halten. Der Bischof Synesios wird
von einem neuplatonischen zu einem christlichen Kirchenfürsten, ohne
daß eine Bekehrung stattgefunden hätte. Er behielt seine Theologie bei
und veränderte nur die Namen. Der Neuplatoniker Asklepiades konnte es
unternehmen, ein großes Werk über die Gleichheit aller Theologien zu
schreiben. Wir besitzen heidnische so gut wie christliche Evangelien
und Heiligenleben. Apollonios hat das Leben des Pythagoras, Marinos
das des Proklos, Damaskios das des Isidoros geschrieben: es besteht
gar kein Unterschied zwischen diesen Schriften, die mit einem Gebet
anfangen und schließen, und christlichen Märtyrerakten. Porphyrios
bezeichnet als die vier göttlichen Elemente Glaube, Liebe, Hoffnung und
Wahrheit.

Zwischen diesen Kirchen des Westens und Ostens entwickelt sich, von
Edessa aus gesehen nach Süden, die talmudische (die „Synagoge“) mit
aramäischer Schriftsprache. Die Judenchristen (z. B. Ebioniten und
Elkesaiten), Mandäer und Chaldäer waren nicht imstande, gegen diese
großen Gründungen aufzukommen, wenn man nicht die Kirche Manis als
neue Verfassung der chaldäischen Religion betrachtet. Sie sanken zu
Sekten herab, die zahllos im Schatten der großen Kirchen dahindämmerten
oder in ihren Verbänden aufgingen, wie die letzten Marcioniten und
Montanisten im Manichäertum. Es gab um 300 außer der heidnischen,
christlichen, persischen, jüdischen und manichäischen Kirche keine
magische Religion von Bedeutung mehr.


13

Mit der Hochscholastik beginnt seit 200 auch das Streben, die
+sichtbare+ und immer strenger gegliederte Gemeinschaft der
Gläubigen mit dem Organismus des Staates gleichzusetzen. Das folgt
mit Notwendigkeit aus dem Weltgefühl des magischen Menschen und führt
zur Verwandlung der Herrscher in Khalifen -- Beherrscher vor allem
der Gläubigen, nicht eines Gebietes -- und damit zur Auffassung der
Rechtgläubigkeit als der Voraussetzung wirklicher Staatsangehörigkeit,
zur Pflicht der Verfolgung falscher Religionen -- der heilige Krieg
des Islam ist so alt wie diese Kultur selbst und hat ihre ersten
Jahrhunderte vollkommen erfüllt --, zur Stellung der im Staate nur
geduldeten Ungläubigen unter eigenes Recht und Verwaltung -- denn das
göttliche Recht ist Ketzern versagt -- und damit zur Wohnweise des
Ghetto.

Zuerst ist im Mittelpunkt der aramäischen Landschaft, in Osrhoëne,
das Christentum um 200 Staatsreligion geworden. 226 wurde im
Sassanidenreich der Mazdaismus und unter Aurelian († 275) und vor
allem Diokletian (295) der durch den Divus-, Sol- und Mithraskult
zusammengefaßte Synkretismus im römischen Imperium Staatsreligion.
Konstantin geht seit 312, König Trdat von Armenien um 321, König Mirian
von Georgien einige Jahre später zum Christentum über. Im Süden muß
Saba schon im 3. und Axum im 4. Jahrhundert christlich geworden sein,
aber gleichzeitig wird das Himjarenreich jüdisch und Kaiser Julian
versucht noch einmal, die Heidenkirche zur Herrschaft zu bringen.

Den Gegensatz dazu bildet, wieder in allen Religionen dieser Kultur,
die Ausbreitung des Mönchtums mit seiner radikalen Abwendung von Staat,
Geschichte und der Wirklichkeit überhaupt. Der Widerstreit von Dasein
und Wachsein, von Politik also und Religion, Geschichte und Natur
läßt sich durch die Form der magischen Kirche und ihre Gleichsetzung
mit Staat und Nation doch nicht ganz überwinden; die Rasse bricht im
Leben dieser geistlichen Schöpfungen doch hervor und überwältigt das
Göttliche, eben weil es das Weltliche in sich aufgenommen hat. Aber
hier gibt es keinen Kampf zwischen Staat und Kirche wie in der Gotik
und deshalb bricht er innerhalb der Nation aus zwischen dem Weltfrommen
und dem Asketen. Eine magische Religion wendet sich ausschließlich
an den göttlichen Funken, das pneuma im Menschen, das er mit der
unsichtbaren Gemeinschaft der gläubigen und seligen Geister teilt. Der
übrige Mensch gehört dem Bösen und der Finsternis. Das Göttliche --
kein Ich, sondern gleichsam ein Gast -- soll aber in ihm herrschen und
das andere überwinden, unterdrücken, vernichten. In dieser Kultur ist
der Asket nicht nur der wahre Priester -- der Weltpriester genießt wie
im Russentum niemals wirkliche Achtung; meist darf er auch heiraten
--, sondern überhaupt der eigentlich Fromme. Außerhalb des Mönchtums
ist eine Erfüllung der religiösen Forderungen gar nicht möglich und
deshalb nehmen Büßergemeinschaften, Einsiedlertum und Kloster schon
früh einen Rang ein, den sie aus metaphysischen Gründen weder in Indien
noch in China erhalten konnten, vom Abendland ganz zu schweigen, wo die
Orden arbeitende und kämpfende, also dynamische Einheiten sind.[279]
Deshalb trennt sich die Menschheit der arabischen Kultur nicht in
„die Welt“ und in mönchische Kreise mit genau getrennten Gebieten der
Lebensart und den gleichen Möglichkeiten, die Gebote des Glaubens
zu erfüllen. Jeder Fromme +ist+ eine Art Mönch.[280] Zwischen
Welt und Kloster besteht kein Gegensatz, sondern nur ein Unterschied
des +Grades+. Magische Kirchen und Orden sind +gleichartige
Gemeinschaften+, die sich nur durch den Umfang unterscheiden lassen.
Die Gemeinschaft des Petrus war ein Orden, die des Paulus eine Kirche,
und die Mithrasreligion ist für die eine Bezeichnung fast zu groß, für
die andre zu klein.

+Jede magische Kirche ist selbst ein Orden+ und nur mit
Rücksicht auf die menschliche Schwachheit werden Stufen und Grade
der Askese nicht gesetzt, sondern erlaubt wie bei den Marcioniten
und Manichäern (_electi_ und _auditores_). Und eigentlich
ist eine magische Nation nichts andres als die Summe, +der Orden
aller Orden+, die in ihr immer kleinere und strengere Kreise
ziehen bis zum Eremiten, Derwisch und Säulenheiligen, an denen nichts
Weltliches mehr ist, deren Wachsein nur noch dem Pneuma gehört. Sieht
man von den prophetischen Religionen ab, aus und zwischen denen
mit der apokalyptischen Erregung immer zahlreichere ordensartige
Gemeinschaften entstanden, so waren es die beiden Kultkirchen des
Westens, deren zahllose Einsiedler, Wanderprediger und Orden sich
zuletzt nur durch den Namen der angerufenen Gottheit unterschieden.
Alle empfehlen sie Fasten, Gebet, Ehelosigkeit und Armut. Es ist sehr
fraglich, welche von beiden Kirchen um 300 asketischer gerichtet war.
Der neuplatonische Mönch Sarapion geht in die Wüste, um nur noch die
Hymnen des Orpheus zu studieren, Damaskios zieht sich, durch einen
Traum bestimmt, in eine ungesunde Höhle zurück, um beständig zu Kybele
zu beten.[281] Die Philosophenschulen sind nichts als asketische Orden;
die Neupythagoräer stehen den jüdischen Essäern nahe; der Mithraskult,
ein echter Orden, gestattet nur Männern den Zutritt zu seinen Weihen
und Gelübden; Kaiser Julian wollte heidnische Klöster erbauen. Das
Mandäertum scheint eine Gruppe von Ordensgemeinschaften verschiedener
Strenge gewesen zu sein, unter denen sich die Johannes’ des Täufers
befand. Das christliche Mönchtum beginnt nicht mit Pachomius (320),
der nur das erste Kloster gebaut hat, sondern mit der Urgemeinde in
Jerusalem. Das Matthäusevangelium[282] und fast alle Apostelgeschichten
sind Zeugnisse einer streng asketischen Gesinnung. Paulus hat es
nie gewagt, dem ausdrücklich zu widersprechen. Die persische und
nestorianische Kirche haben die mönchischen Ideale weiter entwickelt
und der Islam hat sie sich endlich in vollem Umfange zu eigen gemacht.
Die orientalische Frömmigkeit wird heute durchaus von den moslimischen
Orden und Bruderschaften beherrscht. Die gleiche Entwicklung nahm das
Judentum von den Karäern des 8. bis zu den polnischen Chassiden des 18.
Jahrhunderts.

Das Christentum, das noch im 2. Jahrhundert nicht viel mehr als ein
verbreiteter Orden gewesen war, dessen öffentliche Macht über die
Zahl der Mitglieder weit hinausging, wächst etwa seit 250 plötzlich
ins Ungeheure. Es ist die Epoche, in welcher die letzten Stadtkulte
der Antike verschwinden, +nicht vor der christlichen, sondern vor
der neu entstehenden Heidenkirche+. 241 brechen die Akten der
Arvalbrüder in Rom ab; 265 erscheinen die letzten Kultinschriften
in Olympia. Die Häufung der verschiedensten Priestertümer auf
eine Person wird gleichzeitig Sitte,[283] das heißt man empfindet
diese Bräuche nur noch als die einer einzigen Religion. Und diese
Religion tritt +werbend+ auf und verbreitet sich weit über
das griechisch-römische Stammgebiet hinaus. Dennoch ist um 300 die
christliche Kirche die einzige, welche sich über das ganze arabische
Gebiet ausgedehnt hat, aber gerade daraus folgt nun die Notwendigkeit
innerer Gegensätze, die nicht mehr auf der geistigen Anlage einzelner
Menschen, sondern auf dem Geist der einzelnen Landschaften beruhen und
die deshalb zum Zerfall des Christentums in mehrere Religionen geführt
haben und zwar für immer.

+Der Streit um die Wesenheit Christi+ ist das Feld, auf dem der
Kampf zum Austrag kommt. Es handelt sich um +Substanzprobleme+,
die in ganz derselben Form und Richtung auch das Denken aller andern
magischen Theologien erfüllen. Die neuplatonische Scholastik,
Porphyrios, Jamblich und vor allem Proklos haben solche Fragen
in westlicher Fassung und in enger Fühlung mit der Denkweise des
Philo und selbst des Paulus behandelt. Das Verhältnis zwischen
dem Ur-Einen, Nus, Logos, dem Vater und dem Mittler wird auf das
Substanzielle hin betrachtet. Handelt es sich um Ausstrahlung,
Teilung oder Durchdringung? Ist eins im andern enthalten, sind sie
identisch oder schließen sie sich aus? Ist die Trias zugleich Monas?
Im Osten, wo schon die Voraussetzungen des Johannesevangeliums und
der bardesanischen Gnosis eine andere Fassung dieser Probleme zeigen,
hat das Verhältnis Ahura Mazdas zum heiligen Geiste (Spenta Mainyu)
und das Wesen des Vohu Mano die awestischen „Väter“ beschäftigt,
und gerade in der Zeit der entscheidenden Konzile von Ephesus und
Chalcedon bezeichnet der vorübergehende Sieg des Zrvanismus (438-457)
mit dem Vorrang des göttlichen Weltlaufs (_zrvan_ als historische
Zeit) über die göttlichen Substanzen den Höhepunkt eines dogmatischen
Kampfes. Der Islam hat endlich die ganze Frage noch einmal aufgenommen
und mit Beziehung auf die Wesenheit Mohameds und des Koran zu lösen
versucht. Vorhanden ist das Problem, seit es ein magisches Menschentum
gibt, so gut wie mit dem faustischen Denken auch schon die spezifisch
abendländischen Willensprobleme an Stelle der Substanzprobleme gegeben
sind. Man braucht nicht nach ihnen zu suchen; sie sind da, sobald das
Denken der Kultur beginnt. Sie sind die Grundform dieses Denkens und
dringen in allen Untersuchungen hervor, auch wo man sie nicht sucht
oder gar nicht bemerkt.

Aber auch die drei landschaftlich vorbestimmten christlichen Lösungen
des Ostens, Westens und Südens sind von Anfang an vorhanden und schon
in den Hauptrichtungen der Gnosis -- etwa durch Bardesanes, Basilides
und Valentinus -- angelegt. In Edessa treffen sie zusammen. Hier
hallten die Straßen wider von dem Kampfgeschrei der Nestorianer gegen
die Sieger auf dem Konzil zu Ephesus und später von den εἶς-θεὀς-Rufen
der Monophysiten, die verlangten, daß der Bischof Ibas den Tieren im
Zirkus vorgeworfen werde.

Athanasius hatte, und zwar ganz aus dem Geist der Pseudomorphose heraus
und seinem heidnischen Zeitgenossen Jamblich in vielem verwandt, die
große Frage formuliert. Gegen Arius, der in Christus einen Halbgott
-- dem Vater nur wesens+ähnlich+ -- erblickte, behauptet er:
Vater und Sohn sind von +derselben+ göttlichen Substanz (θεότης),
die in Christus ein menschliches _soma_ angenommen hat. „Das
Wort ward Fleisch.“ Diese Formel des Westens ist abhängig von
anschaulichen Tatsachen der +Kult+kirche, das Verstehen der Worte
vom beständigen Erblicken des Bildhaften. Hier im bilderfreundlichen
Westen, wo eben jetzt Jamblich sein Buch über die Götterstatuen
schrieb, in denen das Göttliche substanziell anwesend ist und Wunder
wirkt,[284] ist neben dem abstrakten Verhältnis der Dreieinigkeit das
sinnlich-menschliche von Mutter und Sohn stets wirksam, und gerade
dieses ist aus den Gedankengängen des Athanasius nicht fortzudenken.

Mit der anerkannten Wesensgleichheit von Vater und Sohn war das
eigentliche Problem erst gestellt: das der geschichtlichen Erscheinung
des Sohnes selbst, wie sie aus dem magischen Dualismus aufgefaßt
werden müsse. In der Welthöhle gab es die göttliche und weltliche
Substanz, im Menschen den Anteil am göttlichen Pneuma und die mit dem
„Fleisch“ irgendwie verwandte Einzelseele. Wie stand es mit Christus?

Es ist entscheidend, eine Folge der Schlacht von Aktium, daß der
Streit in griechischer Sprache und auf dem Boden der Pseudomorphose
geführt wurde, ganz im Machtgebiet des „Khalifen“ der westlichen
Kirche. Schon Konstantin hat das Konzil von Nikäa, wo die Lehre des
Athanasius siegte, einberufen und beherrscht. Im aramäisch schreibenden
und denkenden Osten verfolgte man diese Ereignisse kaum, wie die
Briefe des Aphrahat beweisen. Man stritt nicht über das, was man
für sich längst entschieden hatte. Der Bruch zwischen Ost und West,
eine Folge des Konzils von Ephesus (431), trennte zwei christliche
+Nationen+, die der „Perserkirche“ und der „Griechenkirche“, aber
innerlich bestätigte er nur die ursprüngliche Verschiedenheit von zwei
landschaftlich durchaus getrennten +Denkweisen+. Nestorius und der
ganze Osten erblickten in Christus den zweiten Adam, den göttlichen
Gesandten des letzten Aion. Maria hat +einen Menschen+ geboren,
in dessen menschlicher und geschaffener Substanz (_physis_) die
göttliche, ungeschaffene +wohnt+. Der Westen sah in Maria die
Mutter +eines Gottes+: die göttliche und die menschliche Substanz
bilden in seinem Leibe (_persona_ in antikem Sprachgebrauch)[285]
eine Einheit (von Kyrill als ἕνωσις bezeichnet).[286] Als das Konzil
von Ephesus die „Gottesgebärerin“ anerkannt hatte, kam es in der Stadt
der berühmten Diana zu einer wahrhaft antiken Festorgie.[287]

Aber vorher schon hatte der Syrer Apollinaris die „südliche“ Fassung
verkündet: Im lebenden Christus ist nicht nur eine Person, sondern
eine einzige Substanz vorhanden. Die göttliche hat sich verwandelt,
nicht mit einer menschlichen vermischt (keine κρᾶσις, wie Gregor
von Nazianz gegen ihn behauptete; diese monophysitische Auffassung
läßt sich, was bezeichnend ist, am besten durch Begriffe Spinozas:
die +eine+ Substanz in einem andern Modus, ausdrücken). Die
Monophysiten nannten den Christus des Konzils von Chalcedon (451), wo
wieder der Westen seine Fassung durchgesetzt hatte, das „Götzenbild mit
den zwei Gesichtern“. Sie fielen nicht nur von der Kirche ab; es kam zu
erbitterten Aufständen in Palästina und Ägypten; als unter Justinian
die persischen Truppen, also Mazdaisten, bis zum Nil vordrangen, wurden
sie von den Monophysiten als Befreier begrüßt.

Der letzte Sinn dieses verzweifelten Kampfes, in dem es sich ein
Jahrhundert lang nicht um gelehrte Begriffe, sondern um die Seele
der Landschaft handelt, die +in ihren Menschen+ befreit sein
wollte, +war die Zurücknahme der Tat des Paulus+. Man muß sich
ganz in das Innerste der beiden neu entstehenden Nationen versetzen
und alle kleinen Züge der bloßen Dogmatik beiseite lassen: dann sieht
man, wie die Richtung des Christentums nach dem griechischen Westen
und seine geistige Verbindung mit der Heidenkirche ihren Gipfel
in der Tatsache erreicht hatte, daß der Herrscher des Westens das
Oberhaupt des Christentums überhaupt geworden war. Für Konstantin war
mit Selbstverständlichkeit die paulinische Gründung innerhalb der
Pseudomorphose +das+ Christentum; die Judenchristen petrinischer
Richtung waren eine ketzerische Sekte, die Ostchristen „johanneischer“
Art hat er gar nicht bemerkt. Als der Geist der Pseudomorphose auf
den drei entscheidenden Konzilen zu Nikäa, Ephesus und Chalcedon das
Dogma ganz und endgültig nach +seiner+ Veranlagung gefaßt hatte,
richtete sich die eigentlich arabische Welt mit Naturgewalt auf und zog
eine Grenze zwischen sich und ihm. Mit dem Ende der arabischen Frühzeit
tritt der endgültige Zerfall des Christentums in drei Religionen
ein, die sich symbolisch mit den Namen Paulus, Petrus und Johannes
bezeichnen lassen und von denen keine mehr die eigentliche und wahre
genannt werden darf, wenn man nicht historischen und theologischen
Vorurteilen nachgibt. Sie sind zugleich drei Nationen im Stammgebiet
der älteren griechischen, jüdischen und persischen, und sie bedienen
sich der von diesen entlehnten Kirchensprachen des Griechischen,
Aramäischen und Pehlewi.


14

Die Ostkirche hatte sich seit dem Konzil von Nikäa durch eine
Episkopalverfassung mit dem Katholikos von Ktesiphon an der Spitze,
mit eigenen Konzilen, Liturgie und Recht organisiert; 486 wurde die
nestorianische Lehre als bindend angenommen und damit die Verbindung
mit Byzanz gelöst. Von da an haben die Mazdaisten, Manichäer und
Nestorianer ein gemeinsames Schicksal, das in der bardesanischen
Gnosis im Keime angelegt war. In der monophysitischen Südkirche kommt
der Geist der Urgemeinde wieder ans Licht und zu weiter Verbreitung;
sie steht mit ihrem starren Monotheismus und ihrer Bilderfeindschaft
dem talmudischen Judentum am nächsten und ist, was der Kampfruf εἷς
εός[288] schon vorausgedeutet hatte, mit jenem der Ausgangspunkt des
Islam geworden. Die Westkirche blieb mit dem Schicksal des römischen
Reiches, das heißt der zum Staat gewordenen Kultkirche verbunden. Sie
hat allmählich die Bekenner der Heidenkirche in sich aufgenommen.
Ihre Bedeutung liegt von nun an nicht mehr in ihr selbst, denn der
Islam hat sie fast vernichtet, sondern in dem Zufall, daß die jungen
Völker der neuen Kultur des Abendlandes das christliche System +von
ihr+ als Grundlage einer neuen Schöpfung empfingen,[289] und
zwar in der lateinischen Fassung des äußersten Westens, die für die
Griechenkirche selbst gar keine Bedeutung besaß. Denn Rom war damals
eine Griechenstadt und das Latein weit eher in Afrika und Gallien zu
Hause.

Was zum Wesen der magischen Nation gehört, ein Dasein, das in
Ausdehnung besteht, war von Anfang an wirksam gewesen. Alle diese
Kirchen trieben Mission und zwar nachdrücklich und mit gewaltigem
Erfolge. Aber erst in den Jahrhunderten, in welchen das Weltende
in die Ferne gerückt war und das Dogma für ein langes Dasein in
dieser Welthöhle aufgebaut wurde, in denen die Gruppe der magischen
Religionen sich an dem Substanzproblem endgültig klärte, nimmt die
Ausdehnung jenes leidenschaftliche Tempo an, das diese Kultur von
allen anderen unterscheidet und das in der Ausbreitung des Islam sein
eindrucksvollstes und letztes, aber keineswegs einziges Beispiel
gefunden hat. Die abendländischen Theologen und Historiker geben
von dieser gewaltigen Tatsache ein vollständig falsches Bild. Mit
dem Blick auf die Länder des Mittelmeers gebannt, bemerken sie nur
die Westrichtung, die mit ihrem Schema Altertum -- Mittelalter --
Neuzeit verträglich ist, und auch da beachten sie nur das vermeintlich
einheitliche Christentum, das für sie zu einer gewissen Zeit aus der
griechischen in eine lateinische Form übergeht, worauf der griechische
Rest ihren Blicken entschwindet.

Aber schon vor ihm hatte die Heidenkirche, was in seiner ungeheuren
Tragweite nicht beachtet und +als Missionsarbeit+ überhaupt
nicht erkannt wird, den größten Teil der Bevölkerung von Nordafrika,
Spanien, Gallien, Britannien und längs der Rhein- und Donaugrenze
für die synkretistischen Kulte gewonnen. Von der Druidenreligion,
die Cäsar in Gallien angetroffen hatte, war zur Zeit Konstantins
wenig mehr vorhanden. Die Angleichung einheimischer Ortsgötter an
die Namen der großen -- magischen -- Gottheiten der Kultkirche, vor
allem Mithras-Sol-Jupiter, hat seit dem 2. Jahrhundert den Charakter
einer werbenden Tätigkeit und dasselbe gilt von der Ausdehnung des
späteren Kaiserkultes. Die Mission des Christentums würde hier nicht
so erfolgreich gewesen sein, wenn die ihr nahe verwandte andre
Kultkirche nicht vorangegangen wäre. Aber diese Mission beschränkte
sich durchaus nicht auf Barbaren. Noch im 5. Jahrhundert hat der
Missionar Asklepiodot die karische Stadt Aphrodisias vom Christentum
zum Heidentum bekehrt.

Die Juden haben, wie schon gezeigt worden ist, eine großartige
Mission nach Süden und Osten getrieben. Über Südarabien sind sie
bis ins innere Afrika gedrungen, und zwar vielleicht vor oder kurz
nach Christi Geburt, im Osten sind sie schon im 2. Jahrhundert in
China nachzuweisen. Im Norden trat später das Chazarenreich mit der
Hauptstadt Astrachan zum Judentum über. Von dort aus sind Mongolen
jüdischer Religion bis ins Innere Deutschlands gedrungen und 955 mit
den Ungarn auf dem Lechfeld geschlagen worden. Jüdische Gelehrte der
spanisch-maurischen Hochschulen baten um 1000 den Kaiser von Byzanz um
Schutz für eine Gesandtschaft, welche die Chazaren befragen sollte, ob
sie die Nachkommen der verlornen Stämme Israels seien.

Mazdaisten und Manichäer haben vom Tigris aus beide Imperien, das
römische und chinesische, bis zu den äußersten Grenzen durchzogen.
Als Mithraskult gelangte das Persertum bis nach Britannien; die
manichäische Religion war um 400 eine Gefahr für das griechische
Christentum geworden; manichäische Sekten gab es noch zur Zeit der
Kreuzzüge in Südfrankreich; aber beide Religionen waren gleichzeitig
in östlicher Richtung längs der chinesischen Mauer, wo die große
mehrsprachige Inschrift von Kara Balgassun die Einführung des
manichäischen Bekenntnisses im Uigurenreich meldet, bis nach Schantung
gelangt. Persische Feuertempel entstehen im Innern Chinas, seit 700
erscheinen in chinesischen astrologischen Schriften persische Ausdrücke.

Die drei christlichen Kirchen sind überall diesen Spuren gefolgt.
Als die Westkirche den Frankenkönig Chlodwig bekehrte (496), war die
Mission der Ostkirche schon bis nach Ceylon und in die chinesischen
Garnisonen am Westende der großen Mauer gelangt, die der Südkirche
in das Reich von Axum. Als seit Bonifatius (718) Deutschland bekehrt
wurde, waren die nestorianischen Missionare nahe daran, das chinesische
Mutterland zu gewinnen. 638 sind sie in Schantung eingewandert. Kaiser
Gaodsung (651-84) ließ in allen Provinzen Kirchen errichten, um 750
wurde im kaiserlichen Palast christlich gepredigt, 781 war nach einer
noch erhaltenen Denksäule in Singanfu mit aramäisch-chinesischer
Inschrift „ganz China von den Palästen der Eintracht bedeckt“. Aber
es ist im höchsten Grade bedeutsam, daß die in religiösen Dingen doch
erfahrenen Konfuzianer die Nestorianer, Mazdaisten und Manichäer für
Anhänger einer einzigen „persischen“ Religion gehalten haben,[290] so
wie die Bevölkerung der weströmischen Provinzen Mithras und Christus
nicht deutlich unterschied.

Den Islam muß man als den Puritanismus der gesamten Gruppe
frühmagischer Religionen betrachten, der nur in Form einer neuen
Religion aufgetreten ist und zwar im Bereich der Südkirche und des
talmudischen Judentums. In dieser tieferen Bedeutung und nicht
allein in der Wucht des kriegerischen Ansturms liegt das Geheimnis
seiner märchenhaften Erfolge. Obwohl er aus politischen Gründen
eine erstaunliche Toleranz übte -- der letzte große Dogmatiker der
Griechenkirche, Johannes Damaszenus, war unter dem Namen Al Mansor
Schatzmeister des Khalifen --, sind Judentum und Mazdaismus und die
christlichen Süd- und Ostkirchen sehr rasch und so gut wie vollständig
in ihm verschwunden. Der Katholikos von Seleukia, Jesujabh III.,
klagt, daß gleich bei seinem ersten Auftreten Zehntausende von
Christen übergegangen seien, und in Nordafrika, der Heimat Augustins,
fiel die gesamte Bevölkerung sofort dem Islam zu. Mohamed starb 632.
641 schon war das ganze Gebiet der Monophysiten und Nestorianer und
also das des Talmud und Awesta in islamischem Besitz. 717 stand man
vor Konstantinopel und auch die Griechenkirche war in Gefahr, zu
verschwinden. Schon 628 hatte ein Verwandter Mohameds dem chinesischen
Kaiser Tai Dsung Geschenke überbracht und die Erlaubnis zur Mission
erhalten. Seit 700 gibt es in Schantung Moscheen, und 720 wird von
Damaskus aus den längst in Südfrankreich stehenden Arabern der Befehl
erteilt, das Frankenland zu erobern. Zwei Jahrhunderte später, als
im Abendland aus den Resten der Westkirche eine neue religiöse Welt
entstand, war der Islam im Sudan und auf Java angelangt.

Aber der Islam bedeutet doch nur ein Stück +äußerer+
Religionsgeschichte. Die innere Geschichte der magischen Religion
ist mit Justinian ebenso zu Ende wie die der faustischen mit Karl
V. und dem Konzil von Trient. Jeder Blick in irgend ein Buch über
Religionsgeschichte lehrt, daß „das“ Christentum +zwei Zeitalter
großer Gedankenbewegung+ kennen gelernt hat, 0-500 im Orient
und 1000-1500 im Okzident.[291] Aber das sind +zwei Frühzeiten
zweier Kulturen+ und sie umfassen auch die Religionsentwicklung
zugehöriger, aber nichtchristlicher Formen. Justinian hat nicht, wie
es immer heißt, durch die Schließung der Hochschule von Athen (529)
der antiken Philosophie ein Ende gemacht. Dergleichen gab es seit
vielen Jahrhunderten nicht mehr. Er hat, vierzig Jahre vor der Geburt
Mohameds, +die Theologie der Heidenkirche+ abgeschlossen und
ebenso, was man hinzuzufügen vergißt, durch die Schließung der Schulen
von Antiochia und Alexandria +auch die christliche+. Die Lehre
war fertig, wie sie es im Abendland mit dem Konzil von Trient 1564 und
dem Augsburger Bekenntnis 1540 ebenfalls war. Mit der Stadt und dem
Geiste ist die religiöse Schöpferkraft zu Ende. Um 500 wird der Talmud
abgeschlossen und 529 wurde in Persien die Reformation des Mazdak, die
den Wiedertäufern des Abendlandes nicht unähnlich eheliches Leben und
weltlichen Besitz verwarf und die von König Kobad I. gegen die Macht
der Kirche und der Adelsgeschlechter unterstützt worden war, durch
Chosru Nuschirwan blutig unterdrückt und die awestische Lehre damit
endgültig festgelegt.


    [234] Nach einem Ausdruck von L. Frobenius, Paideuma (1920) S. 92.

    [235] Auch die Seelensteine auf den jüdischen, sabäischen und
    islamischen Gräbern heißen nephesch. Sie sind unverkennbar
    Sinnbilder des „Hinauf“. Zu ihnen gehören die ungeheuren
    Stockwerkstelen in Axum aus dem 1.–3. Jahrh. n. Chr., also der
    großen Zeit magischer Frühreligionen. Die längst umgestürzte
    Riesenstele ist der größte Einzelstein, den die Kunstgeschichte
    überhaupt kennt, größer als alle ägyptischen Obelisken. (Deutsche
    Aksum-Expedition Bd. 2, S. 28 ff.).

    [236] Hierauf beruht die gesamte Idee und Praxis des magischen
    Rechts, vgl. S. 85.

    [237] Jes. 32, 15; IV. Esra 14, 39; Apost-Gesch. 2.

    [238] Reitzenstein, Das iran. Erlösungsmysterium S. 108 f.

    [239] Bousset, Kyrios Christos S. 142.

    [240] Windelband, Gesch. d. Phil. (1900) S. 189 ff.;
    Windelband-Bonhöffer, Gesch. d. antiken Phil. (1912) S. 328 f.;
    Geffcken, Der Ausgang des griech.-röm. Heidentums (1920) S. 51 f.

    [241] Jodl, Geschichte der Ethik I S. 58.

    [242] M. Horten, Die religiöse Gedankenwelt des Volkes im heutigen
    Islam (1917) S. 381 ff. Von den Schiiten ist der Logosgedanke auf
    Ali übertragen worden.

    [243] Wolff, Muhammedanische Eschatologie 3, 2 ff.

    [244] Johannesbuch der Mandäer Kap. 75.

    [245] Usener, Vortr. u. Aufs. S. 217.

    [246] Die „Teufelsanbeter“ in Armenien: M. Horten, Der neue Orient
    (1918), März. Der Name entstand, weil sie den Satan nicht als
    Wesen anerkannten und deshalb das Böse durch sehr verwickelte
    Vorstellungen vom Logos selbst ausgehen ließen. Dasselbe Problem
    hat unter dem Eindruck sehr alter persischer Lehren auch die Juden
    beschäftigt; man beachte den Unterschied von II. Sam. 24, 1 und I.
    Chron. 21, 1.

    [247] M. Horten, a. a. O. S. XXI. Das Buch ist die beste Einführung
    in die wirklich bestehende Volksreligion des Islam, die von der
    offiziellen Lehre beträchtlich abweicht.

    [248] Baumstark, Die christl. Literaturen d. Orients I, S. 64.

    [249] Vgl. S. 248. Die babylonische Himmelsschau hat zwischen
    astronomischen und atmosphärischen Elementen nicht deutlich
    unterschieden und z. B. die Bedeckung des Mondes durch Wolken
    ebenfalls als „Finsternis“ behandelt. Ihren Wahrsagungen diente das
    jeweilige Himmelsbild +nur als Anhalt+, wie andrerseits die Leber
    des Opfertiers. Aber die Chaldäer wollten den +wirklichen+ Gang der
    Gestirne vorausberechnen. Hier setzt die Astrologie also eine echte
    Astronomie voraus.

    [250] B. Cohn, Die Anfangsepoche des jüd. Kalenders, Sitz. Pr.
    Akad., 1914. Aus einer totalen Sonnenfinsternis wurde damals,
    natürlich mit Hilfe der chaldäischen Astronomie, das Datum des
    ersten Schöpfungstages berechnet.

    [251] Die persische Gesamtzeit ist 12000 Jahre. Für die heutigen
    Parsen ist 1920 das 11550. Jahr.

    [252] M. Horten, Die religiöse Gedankenwelt des Volkes im heutigen
    Islam, S. XXVI.

    [253] Es ist eine große Lücke in unserer Forschung, daß wir eine
    Reihe von Werken über die antike Religion und besonders ihre Götter
    und Kulte besitzen, aber keines über antike Religiosität und ihre
    Geschichte.

    [254] „Er ist in Wahrheit Abschluß und Vollendung der christlichen
    Antike, ihr letzter und größter Denker, ihr geistlicher Praktiker
    und Volkstribun. Von hier aus muß er zuerst verstanden werden. Was
    dann spätere Zeiten aus ihm gemacht haben, ist eine andere Frage.
    Seinen eigentlichen, antike Kultur, kirchlich-episkopale Autorität
    und innerlichste Mystik zusammenfassenden Geist können sie gar
    nicht fortgesetzt haben, da sie, von anderen Verhältnissen umgeben,
    andere praktische Aufgaben vor sich hatten.“ (E. Troeltsch,
    Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter (1915) S.
    7.) Seine Macht beruht wie die Tertullians auch darauf, daß seine
    Schriften nicht ins Lateinische übersetzt, sondern in dieser
    +heiligen+ Sprache der abendländischen Kirche +gedacht+ waren. Eben
    das schließt beide von dem Gebiet aramäischen Denkens aus. Vgl.
    oben S. 274 f.

    [255] _Inspiratio bonae voluntatis_ (_De corr. et grat. 3_).
    „Guter Wille“ und „böser Wille“ sind ganz dualistisch die zwei
    entgegengesetzten Substanzen. Dagegen ist für Pelagius Wollen eine
    +Tätigkeit+ ohne moralische Qualität. Erst was man will hat die
    +Eigenschaft+, gut oder böse zu sein, und die Gnade Gottes besteht
    in der _possibilitas utriusque partis_, der Freiheit, dieses
    oder jenes zu wollen. Gregor I. hat die augustinische Lehre ins
    Faustische umgedeutet, wenn er lehrte, daß Gott einzelne Menschen
    verworfen habe, weil er ihren bösen Willen vorauswußte.

    [256] Bei Spinoza finden sich alle Elemente der magischen
    Metaphysik, mag er auch noch so sehr bemüht sein, die
    arabisch-jüdische Vorstellungswelt seiner spanischen Lehrmeister,
    vor allem des Moses Maimonides, durch die abendländische des frühen
    Barock zu ersetzen. Der einzelmenschliche Geist ist für ihn kein
    Ich, sondern nur ein Modus des einen göttlichen Attributes, der
    _cogitatio_ (= Pneuma). Er protestiert gegen Vorstellungen wie
    „Wille Gottes“. Gott ist +reine Substanz+ und an Stelle unserer
    dynamischen Kausalität im All entdeckt er nur die Logik der
    göttlichen _cogitatio_. Alles das findet sich auch bei Porphyrios,
    im Talmud, im Islam und ist faustischen Denkern wie Leibniz und
    Goethe so fremd wie möglich (Allgem. Gesch. d. Philos. in Kultur
    der Gegenwart I, v, S. 484, Windelband).

    [257] „Gut“ ist hier also eine Wertschätzung und keine Substanz.

    [258] Seine Entstehungszeit entspricht der Karolingerzeit. Ob
    damals eine Dichtung von gleichem Range wirklich entstanden ist,
    wissen wir nicht. Daß es möglich war, beweisen Schöpfungen wie die
    Völuspa, Muspilli, der Heliand und die Gedankenwelt des Johannes
    Scotus.

    [259] Der Hinweis auf den Islam ist längst geschehen, so Bertholet,
    Kulturgesch. Israels S. 242.

    [260] Horten a. a. O. S. XII.

    [261] Siehe oben S. 78.

    [262] Es bedarf kaum der Erwähnung, daß die Bibel in allen
    Religionen des germanischen Abendlandes in einem ganz anderen
    Verhältnis zum Glauben steht, nämlich in dem einer +Urkunde+ im
    streng historischen Sinne, gleichviel ob man sie als inspiriert
    und deshalb jenseits aller Textkritik stehend betrachtet oder
    nicht. Ähnlich ist das Verhältnis des chinesischen Denkens zu den
    kanonischen Büchern.

    [263] Von Mani mit dem johanneischen Logos gleichgesetzt. Vgl. auch
    Jascht 13, 31: Ahura Mazdas lichtschimmernde Seele ist das Wort.

    [264] So wird _aletheia_ (Wahrheit) überall im Johannesevangelium
    und _drug_ (Lüge) für Ahriman in der persischen Kosmologie
    gebraucht. Ahriman erscheint oft wie ein Diener der Drug.

    [265] Sure 96, vgl. 80, 11 und 85, 21, wo es in einer andern Vision
    heißt „Dies ist ein herrlicher Koran auf einer verwahrten Tafel“.
    Das Beste hierüber hat Ed. Meyer gesagt, Geschichte der Mormonen S.
    70 ff.

    [266] Der antike Mensch erhält im Zustande höchster leiblicher
    Erregung die Kraft, bewußtlos Künftiges zu verkünden. Aber
    diese Visionen sind sämtlich ganz unliterarisch. Die antiken
    sibyllinischen Bücher, die mit der späteren christlichen Schrift
    gleichen Namens gar nichts zu tun haben, wollen nichts sein als
    eine Sammlung von Orakeln.

    [267] Vgl. S. 86.

    [268] IV. Esra 14; S. Funk, Die Entstehung des Talmuds S. 17;
    Hirschs Kommentar zu Exod. 21, 2.

    [269] Funk a. a. O. S. 86.

    [270] So Ed. Meyer, Urspr. u. Anf. d. Christ. S. 95.

    [271] Im Westen sind Plato, Aristoteles und vor allem Pythagoras
    als Propheten in diesem Sinne behandelt worden. Was bis zu ihnen
    zurückgeführt werden konnte, galt als Wahrheit. Deshalb ist die
    Reihe der Schulhäupter immer wichtiger geworden und man hat auf
    ihre Feststellung -- oder Erfindung -- oft mehr Arbeit verwendet
    als auf die Geschichte der Lehre selbst.

    [272] Fromer, Der Talmud S. 190.

    [273] Wir verwechseln heute Autor und Autorität. Das arabische
    Denken kennt den Begriff des geistigen Eigentums nicht. Er würde
    sinnlos und sündhaft sein, denn es ist das +eine+ göttliche
    _pneuma_, das den einzelnen zum Gefäß und Mundstück wählt. Nur
    insofern ist er „Autor“, gleichviel ob er das Empfangene auch
    selbst niederschreibt oder nicht. „Evangelium nach Markus“
    bedeutet: Markus +bürgt+ für die Wahrheit dieser Botschaft.

    [274] S. 86.

    [275] Vendidad 19, 1 ist es Zarathustra, der versucht wird.

    [276] M. J. ben Gorion, Die Sagen der Juden, 1913.

    [277] Die dem Johannesevangelium zugrunde liegende Lehre muß
    er durch mündliche Überlieferung sehr genau gekannt haben.
    Auch Bar Daisan († 254) und die aus seinem Kreise stammende
    Apostelgeschichte des Thomas stehen der paulinischen Lehre
    ganz fern, was sich bei Mani zu schroffer Feindschaft und der
    Bezeichnung des geschichtlichen Jesus als bösen Dämon steigert. Wir
    erhalten hier einen Einblick in das Wesen des fast unterirdischen
    östlichen Christentums, das von der griechisch schreibenden
    Kirche der Pseudomorphose nicht beachtet wurde und deshalb der
    Kirchengeschichte bis jetzt entgangen ist. Aber aus dem Osten
    Kleinasiens stammten auch Marcion und Montanus; hier ist das
    in der Grundlage persische, aber jüdisch und dann christlich
    überschichtete Naassenerbuch entstanden, und weiter östlich,
    vielleicht im Matthäuskloster bei Mossul, hat um 340 Aphrahat jene
    seltsamen Briefe geschrieben, an deren Christentum die westliche
    Entwicklung von Irenäus bis Athanasius spurlos vorübergegangen ist.
    Die Geschichte des nestorianischen Christentums beginnt tatsächlich
    schon im 2. Jahrhundert.

    [278] Denn die lateinischen Schriften z. B. des Tertullian und
    Augustin sind, soweit sie nicht übersetzt wurden, durchaus
    wirkungslos geblieben. In Rom selbst war Griechisch die eigentliche
    Sprache der Kirche.

    [279] Der faustische Mönch bezwingt seinen bösen Willen, der
    magische die böse Substanz in sich. Dualistisch ist nur das zweite.

    [280] Die Reinheits- und Speisegesetze des Talmud und Awesta
    greifen viel tiefer in das tägliche Leben ein als etwa die
    Benediktinerregel.

    [281] Asmus, Damaskios (Philos. Bibl. 125 (1911)). Das christliche
    Anachoretentum ist +jünger+ als das heidnische: Reitzenstein, Des
    Athanasius Werk über das Leben des Antonius (Sitz. Heid. Ak. 1914,
    VIII, 12).

    [282] Bis zu der Forderung 19, 12, die Origenes wörtlich befolgt
    hat.

    [283] Wissowa, Religion und Kultus der Römer S. 493; Geffcken S. 4
    u. 144.

    [284] Das ist auch die metaphysische Grundlage der bald beginnenden
    christlichen Bilderverehrung und der Erscheinung wundertätiger
    Marien- und Heiligenbilder.

    [285] Vgl. S. 69.

    [286] Die Nestorianer protestierten gegen die Maria _theotokos_,
    die Gottgebärende, der sie den Christus _theophoros_, den Gott in
    sich tragenden, entgegenstellten. Darin kommt zugleich der tiefe
    Unterschied zwischen einer bilderfreundlichen und bilderfeindlichen
    Religiosität zum Vorschein.

    [287] Man beachte die „westlichen“ Substanzfragen in Proklos’
    gleichzeitigen Schriften, vom doppelten Zeus, der Trias von πατήρ,
    δύναμις, νόησις, die zugleich νοητόν sind usw., Zeller, Philosophie
    der Griechen V, 857 ff. Ein wirkliches Ave Maria ist der schöne
    Hymnus des Proklos an Athene: „Wenn aber ein böser Fehl meines
    Daseins mich in Banden schlägt -- ach, ich weiß es ja selbst,
    wie ich von vielen unheiligen Taten hin und her geworfen werde,
    die ich in meiner Verblendung begangen --, so sei mir gnädig, du
    Sanftmütige, du Heil der Menschheit, und laß mich nicht furchtbaren
    Strafen zur Beute am Boden liegen, denn ich bin und bleibe dein
    Eigentum“ (Hymn. VII, Eudociae Aug. rel. A. Ludwich, 1897).

    [288] Allah il Allah.

    [289] Und ebenso das Russentum, das den Schatz bisher verschlossen
    aufbewahrt hat.

    [290] Hermann, Chines. Geschichte (1912) S. 77.

    [291] Ein drittes, „gleichzeitiges“, wird in der ersten Hälfte des
    nächsten Jahrtausends in der russischen Welt folgen.




PYTHAGORAS, MOHAMED, CROMWELL


15[292]

Religion nennen wir das Wachsein eines Lebewesens in den Augenblicken,
wo es das Dasein überwältigt, beherrscht, verneint, selbst vernichtet.
Das rassehafte Leben und der Takt seiner Triebe werden klein und
dürftig vor dem Blick in die ausgedehnte, gespannte und lichterfüllte
Welt; +die Zeit weicht dem Raume+. Die pflanzenhafte Sehnsucht
nach Vollendung erlischt und das tierhafte Urgefühl der Angst vor dem
Vollendetsein, dem Richtungslosen, dem Tode bricht hervor. Nicht Hassen
und Lieben, sondern Fürchten und Lieben sind die Grundgefühle der
Religion. Haß und Furcht unterscheiden sich wie Zeit und Raum, wie Blut
und Auge, wie Takt und Spannung, wie Heldenhaftes und Heiliges. Aber
ebenso verschieden ist Liebe im rassehaften und Liebe im religiösen
Sinne.

Alle Religion ist dem Lichte verwandt. Das Ausgedehnte wird auch
religiös als Augenwelt von dem Ich als Lichtmitte aus erfaßt. Gehör und
Getast werden dem Gesehenen eingeordnet und das +Unsichtbare+,
dessen Wirkungen man sinnlich verspürt, wird zum Inbegriff des
Dämonischen. Alles, was wir mit den Worten Gottheit, Offenbarung,
Erlösung, Fügung bezeichnen, ist irgendwie ein Element der belichteten
Wirklichkeit. Der Tod ist für den Menschen etwas, das er sieht und
sehend erkennt, und im Hinblick auf den Tod ist die Geburt das
+andre+ Geheimnis: beide begrenzen für das Auge das gefühlte
Kosmische als Leben eines Leibes im Lichtraum.

Es gibt eine tiefe, auch den Tieren bekannte Furcht +vor+ dem
mikrokosmischen Freisein im Raume, vor dem Raume selbst und seinen
Mächten, vor dem Tode, und eine andere Furcht +für+ das kosmische
Strömen des Daseins, das Leben, die gerichtete Zeit. Die erste weckt
eine dunkle Ahnung, daß die Freiheit im Ausgedehnten eine neue und
tiefere Art von Abhängigkeit als die pflanzenhafte ist. Sie läßt das
Einzelwesen im Gefühl seiner Schwäche die Nähe und Verbindung mit
anderen suchen. Die Angst führt zum Sprechen und eine Art von Sprache
ist jede Religion. Aus der Angst vor dem Raume erheben sich die Numina
+der Welt als Natur+ und die +Götterkulte+. Aus der Angst für die Zeit
entstehen die Numina +des Lebens+, des Geschlechtes, des Staates mit
ihrem Mittelpunkt im +Ahnenkult+. Das ist der Unterschied von _tabu_
und _totem_,[293] denn auch das Totemistische erscheint stets in
religiöser Form, aus einer heiligen Scheu vor dem, was dem Verstehen
selbst entzogen und ewig fremd ist.

Die höhere Religion bedarf der wachen Spannung gegen die Mächte des
Blutes und Daseins, die immer in der Tiefe lauern, um ihr uraltes
Recht über diese +jüngere+ Seite des Lebendigen wieder an sich zu
nehmen: „+Wachet+ und betet, daß Ihr nicht in Anfechtung fallet.“
Trotzdem ist Erlösung ein Grundwort jeder Religion und ein ewiger
Wunsch für jedes wache Wesen. In diesem allgemeinen, fast vorreligiösen
Sinne bedeutet er das Verlangen nach Befreiung von den Ängsten und
Qualen des Wachseins, nach +Entspannung der Spannungen+ des
furchtgebornen Denkens und Grübelns, nach Lösung und Aufhebung des
Bewußtseins von der Einsamkeit des Ich im All, der starren Bedingtheit
aller Natur und dem Blick auf die unverrückbare Grenze alles Seins, das
Alter, den Tod.

Auch der Schlaf erlöst. Der Tod selbst ist der Bruder des Schlafs.
Auch der heilige Wein, der Rausch bricht die Strenge der geistigen
Spannungen und ebenso der Tanz, die dionysische Kunst und jede andere
Art von Betäubung und Außersichsein. Das ist ein Entrinnen aus dem
Wachsein mit Hilfe des Daseins, des Kosmischen, des „es“, +die
Flucht aus dem Raume in die Zeit+. Aber höher als das alles steht
die eigentlich religiöse Überwindung der Angst +durch das Verstehen
selbst+. Die Spannung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos wird
zu etwas, das man liebt, in das man sich ganz versenken kann.[294]
Dies nennen wir +Glauben+ und mit ihm beginnt das menschliche
Geistesleben überhaupt.

Es gibt nur kausales Verstehen, ob es hingenommen oder angewandt, ob
es vom Empfinden abgezogen ist oder nicht. Es ist gar nicht möglich,
Verstandensein und Kausalität zu unterscheiden: beide Worte drücken
dasselbe aus. Wo etwas für uns „wirklich“ ist, sehen und denken wir
es in ursächlicher Form, so wie wir uns selbst und unser Tun als
Ur-Sache empfinden und kennen. Dies Ansetzen von Ursachen ist aber
nicht nur in der religiösen, sondern in der anorganischen Logik des
Menschen überhaupt von Fall zu Fall verschieden. Zu einer Tatsache wird
soeben dies und im Augenblick darauf etwas ganz anderes als Ursache
gedacht. Jede Art des Denkens hat für jedes ihrer Anwendungsgebiete
ein eigenes „System“. Im alltäglichen Leben kommt es nie vor, daß
derselbe Kausalzusammenhang genau so noch einmal gedacht wird. Noch in
der modernen Physik sind Arbeitshypothesen, das heißt Kausalsysteme
nebeneinander im Gebrauch, die sich teilweise ausschließen wie
die elektrodynamischen und thermodynamischen Vorstellungen. Dies
widerspricht dem Sinn des Denkens nicht, denn man „versteht“ bei
dauerndem Wachsein stets in Gestalt einzelner Akte, deren jeder seine
eigne kausale Einstellung besitzt. Die Ansicht, daß die ganze Welt als
Natur in bezug auf ein Wachsein durch eine einzige Kausalverkettung
geordnet sei, ist durch unser Denken, das stets nur Einzelzusammenhänge
denkt, gar nicht zu vollziehen. Sie bleibt ein Glaube; sie ist sogar
+der Glaube+ schlechthin, denn auf ihm beruht das religiöse
Weltverstehen, das überall, wo es etwas bemerkt, mit Denknotwendigkeit
Numina annimmt, flüchtige für Zufallsereignisse, an die es nie wieder
denkt, und dauernde, die etwa in Quellen, Bäumen, Steinen, Hügeln, den
Sternen, also an bestimmten Orten hausen oder wie die Gottheiten des
Himmels, des Krieges, der Weisheit überall gegenwärtig sein können.
Begrenzt sind sie nur innerhalb jedes einzelnen Denkaktes. Was heute
Eigenschaft eines Gottes, ist morgen selbst ein Gott. Andere sind
bald eine Vielheit, bald eine Person, bald ein unbestimmtes Etwas. Es
gibt unsichtbare (Gestalten) und unbegreifliche (Prinzipien), die dem
Begnadeten entweder erscheinen oder begreiflich werden können. Das
Schicksal[295] ist in der Antike (εἱμαρμένη) und in Indien (_rta_)
etwas, das als Ur-Sache über den vorstellbaren Gestaltgöttern steht;
das magische Schicksal ist aber eine Wirkung des einzigen und
gestaltlosen höchsten Gottes. Das religiöse Denken geht stets dahin,
in der Ursachenfolge Ordnungen des Wertes und Ranges zu unterscheiden
bis zu allerhöchsten Wesen oder Prinzipien, die allererste „waltende“
Ursachen sind. Fügung ist das Wort für das umfassendste aller auf
Wertung beruhenden Kausalsysteme. Wissenschaft ist im Gegensatz dazu
ein Verstehen, das von einem Rangunterschied der Ursachen grundsätzlich
absieht: was sie findet, ist nicht Fügung, sondern Gesetz.

Das Verstehen von Ursachen erlöst. Der Glaube an die gefundenen
Zusammenhänge bringt die Weltangst zum Weichen. Gott ist die Zuflucht
des Menschen vor dem Schicksal, das sich fühlen, erleben, aber nicht
denken, vorstellen, nennen läßt, das versinkt, solange das „kritische“
-- +scheidende+ -- furchtgeborne Verstehen Ursachen hinter
Ursachen greifbar, d. h. für das äußere oder innere Auge in optischer
Aufreihung feststellt, aber auch nur so lange. Es ist die verzweifelte
Lage des höheren Menschen, daß sein mächtiges Verstehenwollen sich in
beständigem Widerspruch zu seinem Dasein befindet. Es dient dem Leben
nicht mehr; herrschen kann es auch nicht; so bleibt etwas Ungelöstes in
allen bedeutenden Lagen. „Es darf sich einer nur für frei erklären, so
fühlt er sich den Augenblick als bedingt. Wagt er es, sich für bedingt
zu erklären, so fühlt er sich frei.“ (Goethe.)

Einen kausalen Zusammenhang innerhalb der Welt als Natur, von dem wir
überzeugt sind, daß er durch weiteres Nachdenken unmöglich verändert
werden könne, nennen wir Wahrheit. Wahrheiten „stehen fest“ und zwar
zeitlos -- absolut bedeutet +abgelöst von Schicksal und Geschichte,
abgelöst aber auch von den Tatsachen unseres eignen Lebens und
Sterbens+ --, sie befreien innerlich, trösten und erlösen, denn
die unberechenbaren Geschehnisse der Tatsachenwelt werden durch sie
entwertet und überwunden. Oder, wie es sich im Geiste spiegelt: mag die
Menschheit vergehen, die Wahrheit bleibt.

In der Umwelt wird etwas fest-gestellt, d. h. gebannt; der verstehende
Mensch hat das Geheimnis in Händen, sei es vor Zeiten einen mächtigen
Zauberspruch oder heute eine mathematische Formel. Ein Triumphgefühl
begleitet jede Erfahrung im Reiche der Natur, heute noch, durch die
über Absichten und Kräfte des Himmelsgottes, der Gewittergeister,
der Flurdämonen, oder über die Numina der Naturwissenschaft --
Atomkerne, Lichtgeschwindigkeit, Gravitation -- oder auch nur über die
abgezogenen Numina des mit seinem eigenen Bilde beschäftigten Denkens
-- den Begriff, die Kategorie, die Vernunft -- etwas festgestellt
und damit in den Kerker eines unveränderlichen Systems kausaler
Beziehungen gebracht wird. Erfahrung in diesem anorganischen, tötenden,
festmachenden Sinne, die etwas ganz anderes ist als Lebenserfahrung
und Menschenkenntnis, erfolgt aber in doppelter Weise: +als Theorie
und als Technik+,[296] religiös gesprochen +als Mythus oder Kultus+,
je nachdem der Gläubige die Geheimnisse seiner Umwelt erschließen oder
bezwingen will. Beides fordert eine hohe Entwicklung des menschlichen
Verstehens. +Beides kann aus dem Fürchten oder dem Lieben geboren
sein.+ Es gibt einen Mythus der Furcht wie den mosaischen und den
primitiven überhaupt und einen der Liebe wie den des Urchristentums und
der gotischen Mystik und ebenso eine Technik der abwehrenden und eine
andre der flehenden Beschwörung. Dies ist wohl auch der innerlichste
Unterschied von Opfer und Gebet:[297] so trennen sich primitives und
höheres Menschentum. Religiosität ist ein Zug der Seele, aber Religion
ist ein Talent. „Theorie“ fordert die Gabe des Schauens, die nicht
alle und wenige in erleuchtender Eindringlichkeit besitzen. Sie ist
Weltanschauung im ursprünglichsten Sinne, Anschauung der Welt, ob man
nun in ihr das Walten und Weben von Mächten, oder mit städtischem und
kälterem Geist, nicht fürchtend und liebend, sondern +neugierig+, den
Schauplatz gesetzmäßiger Kräfte erblickt. Die Geheimnisse von Tabu
und Totem werden im Götterglauben und Seelenglauben angeschaut und in
der theoretischen Physik und Biologie errechnet. „Technik“ setzt die
geistige Begabung des Bannens und Beschwörens voraus. Der Theoretiker
ist kritischer Seher, der Techniker Priester, der Erfinder Prophet.

Das Mittel aber, in dem die ganze geistige Kraft sich sammelt, ist die
durch die Sprache vom Sehen abgezogene +Form+ des Wirklichen,
deren Quintessenz sich nicht jedem Wachsein erschließt: die begriffene
Grenze, das mitteilbare Gesetz, der Name, die Zahl. Deshalb beruht jede
Beschwörung der Gottheit auf der Kenntnis ihres wirklichen Namens, auf
der Ausübung der nur dem Wissenden bekannten und zu Gebote stehenden
Riten und Sakramente in genau der richtigen Form und unter Gebrauch
der richtigen Worte. Das gilt nicht nur vom primitiven Zauberwesen,
sondern auch von jeder physikalischen Technik und noch viel mehr von
jeder Medizin. Deshalb ist Mathematik etwas Heiliges, das regelmäßig
aus religiösen Kreisen hervorgeht -- Pythagoras, Descartes, Pascal
-- und die Mystik heiliger Zahlen, der 3, 7, 12, ein wesentlicher
Zug aller Religion,[298] deshalb das Ornament und seine höchste Form
im Kultbau etwas Zahlenhaftes in gefühlter Gestalt. Es sind starre,
zwingende Formen, Ausdrucksmotive oder Mitteilungszeichen,[299] durch
welche innerhalb der Welt des Wachseins das Mikrokosmische mit dem
Makrokosmos in Verbindung tritt. In der priesterlichen Technik heißen
sie Gebote, in der wissenschaftlichen Gesetze. Beide sind Name und
Zahl, und der primitive Mensch würde keinen Unterschied finden zwischen
der Zauberkraft, mit welcher der Priester seines Dorfes die Dämonen und
der, mit welcher der zivilisierte Techniker seine Maschinen beherrscht.

Das erste und vielleicht das einzige Ergebnis des menschlichen
Verstehenwollens ist der +Glaube+. „Ich glaube“ ist das große Wort
gegen die metaphysische Angst und zugleich ein Bekenntnis der Liebe.
Mag das Forschen und Kennenlernen seinen Gipfel in einer plötzlichen
Erleuchtung oder einer erfolgreichen Berechnung haben, so wäre doch
alles eigene Empfinden und Begreifen ohne Sinn, wenn nicht die innere
Gewißheit von „etwas“ sich einstellte, das als das Andre und Fremde und
zwar genau in der ermittelten Gestalt in der Verkettung von Ursache und
Wirkung „+ist+“. Der Mensch als Wesen des sprachgeleiteten Denkens
kennt also als seinen höchsten geistigen Besitz den endlich errungenen
festen Glauben an dieses der Zeit und dem Schicksal entrückte Etwas,
das er schauend abgesondert und durch Name und Zahl gezeichnet hat.
Aber was das ist, bleibt zuletzt dennoch dunkel. Wurde die geheime
Logik des Alls damit selbst berührt oder nur ein Schattenbild? Das
ganze Ringen und Leiden, die ganze Angst des grübelnden Menschen
richtet sich auf diesen neuen Zweifel, der Verzweiflung werden
kann. Er braucht in seinem geistigen Tiefendrang den Glauben an
ein +letztes+ Etwas, das sich denkend erreichen, ein Ende des
Zertrennens, das keinen Rest von Geheimnis mehr übrig läßt. Die Winkel
und Abgründe seiner geschauten Welt müssen sämtlich durchleuchtet sein
-- nichts anderes kann ihn erlösen.

Hier geht der Glaube über in das aus dem Mißtrauen erwachsene Wissen
oder, was wahrer ist, in den Glauben an ein solches Wissen. Denn
diese Form des Verstehens ist durchaus abhängig von jener, später,
künstlicher und fragwürdiger. Es kommt hinzu, daß die religiöse
Theorie -- das gläubige Schauen -- zu einer priesterlichen Praxis
+führt+, die wissenschaftliche Theorie aber sich umgekehrt durch
jene aus der Praxis, dem technischen Wissen des alltäglichen Lebens
+ablöst+.[300] Der feste Glaube, der sich aus Erleuchtungen,
Offenbarungen, plötzlichen Tiefblicken ergibt, kann kritischer Arbeit
entbehren. Das kritische Wissen aber setzt den Glauben voraus, daß
seine Methoden genau zu dem führen, was man sucht, nicht zu neuen
Bildern, sondern zu „Wirklichem“. Aber die Geschichte lehrt, daß der
Zweifel am Glauben zum Wissen führt und der Zweifel am Wissen nach
einer Zeit des kritischen Optimismus wieder zurück zum Glauben. Je mehr
das theoretische Wissen sich vom gläubigen Hinnehmen befreit, desto
näher kommt es der Selbstaufhebung. Was übrig bleibt, ist einzig und
allein die technische Erfahrung.

Der ursprüngliche, dunkle Glaube erkennt überlegene Quellen der
Wahrheit an, durch welche Dinge, die eigenes Grübeln nie enträtseln
würde, offenbar, also gewissermaßen aufgeschlossen werden: prophetische
Worte, Träume, Orakel, heilige Schriften, die Stimme der Gottheit.
Der kritische Geist dagegen will, und er glaubt dessen fähig zu
sein, alle Einsichten nur sich selbst verdanken. Er mißtraut fremden
Wahrheiten nicht nur, er verneint sogar ihre Möglichkeit. Wahrheit
ist für ihn nur selbstbewiesenes Wissen. Die reine Kritik schöpft
ihre Mittel allein aus sich, aber es ist bald bemerkt worden, daß
eben damit das Wesentliche des Ergebnisses schon vorausgesetzt wird.
Das _de omnibus dubitandum_ ist ein Vorsatz, der sich gar nicht
verwirklichen läßt. Man vergißt, daß kritische Tätigkeit auf einer
+Methode+ beruhen muß, die nur scheinbar ebenfalls auf kritischem
Wege gefunden werden kann; in Wirklichkeit folgt sie aus der jeweiligen
Anlage des Denkens,[301] so daß also das Ergebnis der Kritik durch
die zugrundeliegende Methode bestimmt wird, diese selbst aber durch
den Daseinsstrom, der das Wachsein trägt und durchläuft. Der Glaube
an ein voraussetzungsloses Wissen kennzeichnet nur die ungeheure
Naivität rationalistischer Zeitalter. Eine naturwissenschaftliche
Theorie ist nichts als ein geschichtlich voraufgegangenes Dogma in
anderer Form. Den Vorteil davon hat allein das Leben in Gestalt einer
erfolgreichen Technik, zu welcher die Theorie den Schlüssel gibt. Es
war schon gesagt worden, daß über den Wert einer Arbeitshypothese
nicht die „Richtigkeit“, sondern die Brauchbarkeit entscheidet, aber
Einsichten von anderer Art, Wahrheiten im optimistischen Sinne, können
überhaupt nicht das Ergebnis rein wissenschaftlichen Verstehens sein,
das stets schon eine Ansicht voraussetzt, an der es sich kritisch,
+zerlegend+ betätigen kann: die Naturwissenschaft des Barock ist
eine fortschreitende Zerlegung des religiösen Weltbildes der Gotik.

Was Glaube und Wissen, Furcht und Neugier erzielen, ist nicht
Lebenserfahrung, sondern Erkenntnis der Welt als Natur. Die Welt als
Geschichte wird durch beides ausdrücklich verneint. Das Geheimnis
des Wachseins ist aber ein doppeltes: zwei angstgeschaffene, kausal
geordnete Bilder entstehen für das innere Auge: die „Außenwelt“ und als
ihr Gegenbild die „Innenwelt“. In beiden liegen echte Probleme; das
Wachsein ist durchaus in seinem eignen Reiche tätig. Das Numen heißt
dort Gott, hier Seele. Das kritische Verstehen denkt die Gottheiten des
gläubigen Schauens im Verhältnis zu ihrer Welt in mechanische Größen
um, ohne doch den Wesenskern zu verändern: Stoff und Form, Licht und
Finsternis, Kraft und Masse; und es zergliedert das Seelenbild des
ursprünglichen Seelenglaubens in gleicher Weise und mit dem gleichen
+vorbestimmten+ Ergebnis. Die Physik des Innern heißt systematische
Psychologie und sie entdeckt im Menschen als antike Wissenschaft
dingartige Seelen+teile+ (νοῦς, θυμός, ἐπιθυμία), als magische
Seelen+substanzen+ (_ruach_, _nephesch_), als faustische Seelen+kräfte+
(Denken, Fühlen, Wollen). Es sind die Gebilde, welche das religiöse
Nachdenken fürchtend und liebend in den kausalen Beziehungen von
Schuld, Sünde, Gnade, Gewissen, Lohn und Strafe weiter verfolgt.

Das Geheimnis des Daseins führt, sobald Glauben und Wissen sich ihm
zuwenden, zu einem verhängnisvollen Irrtum. Statt das Kosmische
selbst zu erreichen, das völlig außerhalb aller Möglichkeiten des
tätigen Wachseins liegt, wird das Bewegtsein des Leibes im Bilde
der Augenwelt sinnlich und das von ihm abgezogene Gedankenbild als
mechanisch-kausaler Zusammenhang begrifflich zergliedert. Aber das
wirkliche Leben +führt+ man; man erkennt es nicht. +Wahr ist
nur das Zeitlose.+ Wahrheiten liegen jenseits der Geschichte und
des Lebens; dafür ist das Leben selbst etwas jenseits aller Ursachen,
Wirkungen und Wahrheiten. Beides, die Kritik am Wachsein und am
Dasein, ist geschichtswidrig und lebensfremd. Aber im ersten Falle
entspricht das durchaus der kritischen Absicht und der inneren Logik
des Gegenstandes, den man meint, im letzten nicht. Der Unterschied von
Glauben und Wissen oder Furcht und Neugier oder Offenbarung und Kritik
ist also nicht der letzte. Wissen ist nur eine späte Form des Glaubens.
Aber +Glaube und Leben+, Liebe aus der geheimen Furcht vor der
Welt und Liebe aus dem geheimen Haß der Geschlechter, die Kenntnis
der anorganischen und das Fühlen der organischen Logik, Ursachen und
Schicksale -- das ist der tiefste aller Gegensätze. Hier entscheidet
es sich nicht, was für eine Art zu denken man hat -- ob religiös oder
kritisch -- oder worüber man denkt, sondern ob man ein Denker ist --
gleichviel über was -- +oder ein Täter+.

In das Gebiet der Tat greift das Wachsein erst dann hinüber, wenn es
+Technik+ wird. Auch religiöses Wissen ist Macht und Kausalitäten
kann man nicht nur feststellen, sondern auch handhaben. Wer das
geheime Verhältnis zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos kennt, der
beherrscht es auch, sei es ihm offenbart worden oder habe er es den
Dingen abgelauscht. Und so ist der echte Tabumensch der Zauberer und
Beschwörer. Er zwingt die Gottheit durch Opfer und Gebet; er übt die
wahren Riten und Sakramente aus, weil sie Ursachen von unvermeidlichen
Wirkungen sind und jedem dienen +müssen+, der sie kennt. Er liest
in den Sternen und heiligen Büchern; in seiner geistigen Gewalt liegt
zeitlos und allem Zufälligen entrückt das +kausale+ Verhältnis
von Schuld und Sühne, Reue und Lossprechung, Opfer und Gnade. Durch
die Verkettung heiliger Gründe und Folgen ist er selbst ein Gefäß
geheimnisvoller Macht geworden und damit ebenfalls eine Ursache neuer
Wirkungen, an die man glauben muß, um ihrer teilhaftig zu werden.

Von hier aus versteht man, was die europäisch-amerikanische Welt
der Gegenwart so gut wie ganz vergessen hat, den letzten Sinn der
religiösen Ethik, der +Moral+. Sie ist überall dort, wo sie stark und
echt ist, ein Verhalten, das durchaus die Bedeutung +ritueller Akte und
Übungen+ besitzt, ein beständiges _exercitium spirituale_, mit Ignaz
von Loyola zu reden, nämlich +vor der Gottheit+, die dadurch besänftigt
und beschworen werden soll. „Was soll ich tun, daß ich selig werde?“
Dieses „Daß“ ist der Schlüssel zum Verständnis aller wirklichen Moral.
Ein Wozu und Weshalb liegt in der Tiefe, selbst in jenen feinsten
Fällen einiger Philosophen, die eine Moral „um ihrer selbst willen“
erdacht haben, also doch auch mit einem tiefgefühlten Wozu, das nur
von wenigen ihresgleichen gewürdigt werden kann. +Es gibt nur kausale
Moral+, d. h. eine +sittliche Technik+ auf dem Hintergründe einer
gläubigen Metaphysik.

Moral ist eine bewußte und planmäßige Kausalität des Sichverhaltens,
unter Absehen von allen Besonderheiten des wirklichen Lebens
und Charakters, etwas, das ewig und für alle gilt, zeitlos und
zeitfeindlich also und eben deshalb „wahr“. Auch wenn die Menschheit
gar nicht existierte, würde die Moral wahr und gültig sein -- so
ist die sittlich-anorganische Logik der als System begriffenen Welt
wirklich schon ausgesprochen worden. Nie würde man zugeben, daß sie
sich geschichtlich entwickeln oder vervollkommnen könne. Der Raum
verneint die Zeit: die wahre Moral ist absolut, ewig fertig und stets
dieselbe. In ihrer Tiefe liegt immer etwas Lebenverneinendes, ein
Enthalten, Entsagen, Entselbsten bis zur Askese, bis zum Tode. Schon
die sprachliche Fassung drückt es aus: die religiöse Moral enthält
Verbote, nicht Gebote. Das tabu ist, auch wo es scheinbar bejaht,
eine Summe von Verzichten. Sich befreien von der Tatsachenwelt, den
Möglichkeiten des Schicksals entfliehen, die Rasse in sich als den
beständig lauernden Feind betrachten: dazu bedarf es eines harten
Systems, der Lehre und der Übung. Keine Handlung sollte zufällig
und triebhaft sein, d. h. dem Blute überlassen bleiben. Sie soll
nach Gründen und Folgen bedacht und den Geboten entsprechend
„+ausgeführt+“ werden. Die äußerste Anspannung des Wachseins
ist notwendig, um nicht beständig der Sünde zu verfallen. Zuerst
Enthaltsamkeit von allem, was zum Blute gehört: der Liebe, der Ehe.
Liebe und Haß unter Menschen sind kosmisch und böse; die Liebe der
Geschlechter ist das äußerste Gegenteil der zeitlosen Liebe und Furcht
vor Gott und deshalb die Urschuld, um derentwillen Adam aus dem
Paradiese verstoßen wurde und die Erbsünde die Menschheit belastet.
Zeugung und Tod begrenzen das Leben des Leibes im Raume. Daß es der
+Leib+ ist, macht das eine zur Schuld, das andere zur Strafe.
Σῶμα σῆμα -- der antike Leib ein Grab! -- war das Bekenntnis der
orphischen Religion. Aischylos und Pindar haben das Dasein als Schuld
begriffen. Als Frevel empfinden es die Heiligen aller Kulturen, um es
durch Askese oder die tief mit ihr verwandte Vergeudung im Orgiasmus
abzutöten. Böse ist das Wirken innerhalb der Geschichte, die Tat,
das Heldentum, die Freude an Kampf, Sieg und Beute. Darin klopft der
Takt des kosmischen Daseins und übertönt und verwirrt das geistige
Schauen und Denken. Die Welt überhaupt, womit die Welt als Geschichte
gemeint ist, ist infam. Sie kämpft, statt zu entsagen; sie kennt die
Idee des Opfers nicht. Sie meistert die Wahrheit durch Tatsachen. Sie
entzieht sich, indem sie Trieben folgt, dem Denken von Ursache und
Wirkung. Und deshalb ist es das höchste Opfer, das der geistige Mensch
bringen kann, wenn er sie selbst den Mächten der Natur darbringt.
+Ein Stück von diesem Opfer ist jede moralische Handlung.+ Ein
sittlicher Lebenslauf ist eine ununterbrochene Kette solcher Opfer.
Vor allem das des Mitleids: da bringt der innerlich Mächtige dem
Machtlosen seine Überlegenheit dar. Der Mit-Leidende tötet etwas in
sich. Aber man verwechsle das Mitleid im großen religiösen Sinne nicht
mit der haltlosen Stimmung des alltäglichen Menschen, der sich nicht
beherrschen kann, und vor allem nicht mit dem +Rassegefühl der
Ritterlichkeit+, die überhaupt keine Moral der Gründe und Gebote
ist, sondern eine vornehme, +selbstverständliche Sitte+ aus dem
unbewußten Taktgefühl eines hochgezüchteten Lebens heraus. Was man in
zivilisierten Zeiten Sozialethik nennt, hat mit Religion gar nichts zu
tun und beweist durch sein Vorhandensein nur die Schwäche und Leere der
Religiosität, aus der alle Kraft metaphysischer Gewißheit und damit
die Voraussetzung einer echten, glaubensstarken und entsagenden Moral
verschwunden ist. Man denke etwa an den Unterschied von Pascal und
Mill. Sozialethik ist nichts als praktische Politik. Sie gehört als
sehr spätes Produkt derselben geschichtlichen Welt an, in der +die
Sitte+ auf der Höhe aller Frühzeiten als Edelmut und Ritterlichkeit
starker Geschlechter erscheint, gegenüber denen, die es im Leben der
Geschichte und des Schicksals schlecht haben, das was man heute in
wohlerzogenen Kreisen, die Takt und Zucht besitzen, gentlemanlike oder
Anstand nennt und dessen Gegenstück nicht die Sünde ist, sondern die
Gemeinheit. Das ist wieder der Unterschied von Dom und Burg. Diese
Gesinnung fragt nicht nach Geboten und Gründen. Sie fragt überhaupt
nicht. Sie liegt im Blute -- eben das bedeutet Takt -- und sie fürchtet
sich nicht vor Strafe und Vergeltung, sondern vor Verachtung, im
besonderen der Selbstverachtung. Sie ist nicht selbstlos, sondern folgt
gerade aus der Fülle eines starken Selbst. Aber das Mitleid hat, eben
weil es ebenfalls innere Größe verlangt, in ganz denselben Frühzeiten
seine heiligsten Diener wie Franz von Assisi und Bernhard von Clairvaux
gefunden, die eine Durchgeistigung des Entsagens besaßen, eine
Seligkeit in dem Sich-selbst-darbringen, eine ätherische, blutlose,
zeitlose, geschichtslose Caritas, in welcher die Furcht vor dem All
sich ganz in reine, fleckenlose Liebe verwandelt hat, eine Höhe der
kausalen Moral, deren späte Zeiten überhaupt nicht mehr fähig sind.

Um sein Blut zu bezwingen, muß man welches haben. Deshalb gibt es ein
Mönchtum großen Stils nur in ritterlichen und kriegerischen Zeiten,
und das höchste Symbol für den vollkommenen Sieg des Raumes über die
Zeit ist der zum Asketen gewordene Krieger, nicht der geborene Träumer
und Schwächling, der von Natur ins Kloster gehört, oder der Gelehrte,
der in seiner Stube an einem Moralsystem baut. Man sei doch kein
Heuchler -- was heute sich Moral nennt, die maßvolle Nächstenliebe und
die Betätigung anständiger Gesinnungen oder die Ausübung der Caritas
mit dem Hintergedanken der Erwerbung politischer Macht, ist nach dem
Maßstabe der Frühzeit nicht einmal Rittersinn von irgendwelchem Rang.
Noch einmal: Eine große Moral gibt es nur im Hinblick auf den Tod,
aus einer das ganze Wachsein erfüllenden Furcht vor metaphysischen
Gründen und Folgen, aus einer Liebe, die das Leben überwindet, aus
dem Bewußtsein, unentrinnbar im Banne eines kausalen Systems heiliger
Gebote und Zwecke zu stehen, das man als wahr verehrt und dem man
ganz angehören oder ganz entsagen muß. Eine beständige Spannung,
Selbstbeobachtung, Selbstprüfung begleitet die Ausübung dieser Moral,
die eine Kunst ist und neben der die Welt als Geschichte zu nichts
versinkt. Man sei Held oder Heiliger. In der Mitte liegt nicht die
Weisheit, sondern die Alltäglichkeit.


16

Gäbe es Wahrheiten abgelöst von den Daseinsströmen, so könnte es keine
Geschichte der Wahrheit geben. Gäbe es eine einzige, ewig richtige
Religion, so wäre Religionsgeschichte eine unmögliche Vorstellung. Aber
mag die mikrokosmische Lebensseite eines Einzelwesens noch so mächtig
entwickelt sein, sie liegt dem werdenden Leben doch wie eine Haut an,
durchschauert vom Takt des Blutes und ein beständiges Zeugnis von den
verborgenen Trieben kosmischen Gerichtetseins. Die Rasse beherrscht und
formt das gesamte Begreifen. Die Zeit verschlingt den Raum -- das ist
das Schicksal jedes wachen Augenblicks.

Trotzdem gibt es „ewige Wahrheiten“. Jeder Mensch besitzt sie in
Menge, insofern er verstehend sich in einer Gedankenwelt befindet,
in deren Zusammenhang sie unveränderlich feststehen, nämlich „eben
jetzt“, im Augenblick des Denkens, nach Grund und Folge, Ursache
und Wirkung eisern verklammert. Nichts in dieser Ordnung kann sich
verlagern, wie er glaubt, aber +eine+ Woge des Lebens hebt
sein waches Ich +und+ seine Welt. Der Einklang bleibt, aber er
hat +als Ganzes+, +als Tatsache+ eine Geschichte. Absolut
und relativ verhalten sich wie Querschnitt und Längsschnitt einer
Generationenfolge: der zweite sieht vom Raume ab, der erste aber von
der Zeit. Wer systematisch denkt, bleibt in der kausalen Ordnung
eines Augenblicks. Nur wer physiognomisch die Folge der Einstellungen
überblickt, erkennt die beständige Veränderung dessen, was wahr ist.

Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis -- das gilt auch von den
ewigen Wahrheiten, sobald man ihrer Bahn im Strom der Geschichte folgt,
wo sie eingeschlossen im Weltbilde lebender und sterbender Geschlechter
weitertreiben. Für jeden Menschen und seines Daseins kurze Spanne ist
die +eine+ Religion ewig und wahr, die das Schicksal ihm durch Ort
und Zeit seiner Geburt bestimmt hat. Mit ihr fühlt er, aus ihr bildet
er die Anschauungen und Überzeugungen seiner Tage. An ihren Worten
und Formen hält er fest, obwohl er sie beständig anders meint. Ewige
Wahrheiten gibt es in der Welt als Natur; in der Welt als Geschichte
gibt es ein ewig wechselndes Wahrsein.

Eine +Morphologie der Religionsgeschichte+ ist deshalb eine
Aufgabe, die nur der faustische Geist sich stellen und nur auf seiner
gegenwärtigen Stufe lösen kann. Die Forderung ist gegeben; der Versuch,
sich ganz von der eignen Überzeugung abzulösen, um sie alle als
gleichmäßig fremd vor sich zu sehen, muß gewagt werden. Wie schwer ist
das! Wer es unternimmt, muß die Kraft besitzen, nicht nur scheinbar
aus den Wahrheiten seines Weltverstehens herauszutreten, seien sie für
ihn auch nur als Summe von Begriffen und Methoden vorhanden, sondern
wirklich das eigne System bis auf den letzten Rest physiognomisch zu
durchdringen. Und ist es ihm selbst dann überhaupt möglich, in einer
einzigen Sprache, die doch in ihrem Bau und Geist die ganze geheime
Metaphysik seiner Kultur enthält, mitteilbare Einsichten über die
Wahrheiten anders sprechender Menschen zu gewinnen?

Da ist zuerst, über die Jahrtausende des ersten Zeitalters hin,[302]
das dumpfe Gewühl primitiver Bevölkerungen, die in eine chaotische
Umwelt starren, deren drückende Rätsel ihnen, ohne daß irgend jemand
ihrer logisch Herr werden könnte, stets gegenwärtig sind. Selig ist
ihnen gegenüber das Tier, das wach ist, aber nicht denkt. Ein Tier
ängstet sich nur vor einzelnen Gefahren, der frühe Mensch zittert vor
der ganzen Welt. Dunkel und ungelöst bleibt alles in und außer ihm.
Das Alltägliche und das Dämonische sind unentwirrbar und regellos
verstrickt. Eine furchtsame und peinliche Religiosität erfüllt den
Tag und um so seltener ist auch nur die Andeutung einer vertrauenden
Religion. Denn aus dieser elementaren Form der Weltangst führt kein
Weg zur verstehenden Liebe. Jeder Stein, auf den man tritt, jedes
Werkzeug, das man zur Hand nimmt, jedes Insekt, das vorüberschwirrt,
die Nahrung, das Haus, das Wetter können dämonisch sein, aber man
glaubt an die in ihnen lauernden Mächte nur, solange sie schrecken
oder solange +man sie braucht+. Es sind ihrer auch so genug.
Lieben kann man nur etwas, an dessen +dauerndes+ Dasein man
glaubt. Liebe setzt das Denken einer Weltordnung voraus, die Festigkeit
gewonnen hat. Die abendländische Forschung hat sich viel Mühe gegeben,
Einzelbeobachtungen aus allen Weltteilen zu ordnen und zwar nach
vermeintlichen Stufen, die vom Seelenglauben oder irgend einem andren
Anfang zu ihrem eigenen Glauben „hinaufführen“. Leider haben sie das
Schema nach den Wertschätzungen einer einzelnen Religion entworfen,
und Chinesen oder Griechen würden es ganz anders gemacht haben. Aber
eine solche Stufenfolge, die eine allgemeine Entwicklung auf ein
Ziel hin voraussetzt, gibt es überhaupt nicht. Die chaotische, aus
dem jeweiligen Verstehen des einzelnen Augenblicks geborne und doch
sinnvolle Umwelt primitiver Menschen ist stets etwas Gewachsenes
und in sich selbst Vollkommenes und Abgeschlossenes, oft von einer
jähen und schauerlichen Tiefe metaphysischer Ahnung. Sie enthält
immer ein System, und es macht wenig aus, ob es aus dem Schauen der
Lichtwelt teilweise abgezogen oder ganz darin verblieben ist. Ein
solches Weltbild „schreitet nicht fort“ und ebensowenig ist es eine
feststehende Summe von Einzelzügen, aus der man ohne Rücksicht auf
Zeit, Land und Volk den einen oder andern herausnehmen und vergleichen
dürfte, wie es gewöhnlich geschieht. Sie bilden vielmehr +eine Welt
von organischen Religionen+, die über die ganze Erde hin eigene
und sehr bezeichnende Arten des Entstehens, Reifens, Sichverbreitens
und Vergehens und eine vollkommene Eigenart in Aufbau, Stil, Tempo
und Dauer besaßen und in ihren letzten Gebieten heute noch besitzen.
Die Religionen der hohen Kulturen sind nicht entwickelter, sondern
anders. Sie liegen heller und geistiger im Lichte da, sie kennen
die verstehende Liebe, sie haben Probleme und Ideen, strenggeistige
Theorien und Techniken, aber die religiöse Symbolik des gesamten
Alltagslebens kennen sie nicht mehr. Die primitive Religiosität
durchdringt alles, die späten Einzelreligionen sind geschlossene
Formenwelten für sich.

Um so rätselhafter sind die Vorzeiten der großen Kulturen, durch und
durch primitiv noch, aber mit steigender Deutlichkeit vorwegnehmend
und in eine bestimmte Richtung weisend. Gerade diese Zeiten vom Umfang
mehrerer Jahrhunderte sollten für sich genau untersucht und verglichen
werden. In welcher Gestalt bereitet sich da das Kommende vor? Die
magische Vorzeit hat, wie wir sahen, den Typus der prophetischen
Religionen hervorgebracht, der zur Apokalyptik hinüberleitet. Worin
ist gerade +diese+ Form im Wesen +dieser+ Kultur tiefer
begründet? Oder weshalb ist die mykenische Vorzeit der Antike mit den
Vorstellungen tiergestaltiger Gottheiten ganz und gar erfüllt?[303]
Es sind nicht die Götter der Krieger oben im Megaron der mykenischen
Burgen, wo der Seelen- und Ahnenkult eine großartige, noch heute in
den Gräbern bezeugte Pflege findet, sondern die dort unten, in den
Hütten der Bauern geglaubten Mächte. Die großen menschenartigen
Götter der apollinischen Religion, die um 1100 durch eine gewaltige
religiöse Erschütterung entstanden sein müssen, tragen allenthalben
noch Züge ihrer dunklen Vergangenheit. Es gibt unter diesen Gestalten
kaum eine, die nicht durch Beinamen, Attribute oder verräterische
Verwandlungsmythen jenen Ursprung verriete. Hera ist für Homer
beständig die kuhäugige; Zeus erscheint als Stier und der Poseidon
der thelpusischen Legende als Roß. Apollon wird der Name für zahllose
primitive Numina; er war einmal Wolf (Lykeios) wie der römische Mars,
Widder (Karneios), Delphin (Delphinios), Schlange (der pythische
Apollon von Delphi). Als Schlange erscheinen Zeus Meilichios auf
attischen Grabreliefs, Asklepios, die Erinyen noch bei Aischylos (Eum.
126). Die auf der Akropolis gehaltene heilige Schlange wurde als
Erichthonios gedeutet. In Arkadien sah Pausanias noch das pferdeköpfige
Demeterbild im Tempel von Phigalia; die arkadische Artemis-Kallisto
erscheint als Bärin, aber auch die Priesterinnen der brauronischen
Artemis in Athen hießen _arktoi_. Dionysos, bald Stier bald Bock,
und Pan haben immer etwas Tierisches behalten. Psyche ist wie die
ägyptische Körperseele (_bai_) der Seelenvogel und damit beginnen
die zahllosen halbtierischen Gebilde, wie die Sirenen und Kentauren,
die das frühantike Naturbild ganz und gar erfüllen.

Aber mit welchen Zügen deutet die primitive Religion der
+Merowingerzeit+ den gewaltigen Aufschwung der Gotik voraus? Daß
es scheinbar dieselbe Religion ist, „das“ Christentum, beweist nichts
gegen den völligen Unterschied in der Tiefe. Denn wir müssen uns
darüber klar sein, daß der primitive Charakter einer Religion nicht
eigentlich in ihrem Bestande an Lehren und Bräuchen liegt, sondern im
Seelentum der Menschen, die sie sich aneignen, die mit ihnen fühlen,
sprechen und denken. Der Forscher muß sich mit der Tatsache vertraut
machen, daß das magische Christentum, und zwar das der Westkirche,
zweimal das Ausdrucksmittel einer primitiven Frömmigkeit geworden
ist und damit selbst eine primitive Religion, nämlich 500-900 im
keltisch-germanischen Abendland und heute noch im Russentum. Aber wie
hat sich die Welt in diesen „bekehrten“ Köpfen gespiegelt? Was hat man
sich -- einige Kleriker von byzantinischer Schulung etwa ausgenommen
-- bei diesen Zeremonien und Dogmen wirklich gedacht und vorgestellt?
Der Bischof Gregor von Tours, der doch immerhin den höchsten geistigen
Stand seiner Generation anzeigt, preist einmal das abgeschabte Pulver
vom Grabstein eines Heiligen: „O himmlisches Abführmittel, das alle
ärztlichen Rezepte übertrifft -- das den Unterleib reinigt wie
Skammoniensaft -- und alle Flecken vom Gewissen abwäscht!“ Es ist nicht
der Tod Jesu, der ihn als bloßes Verbrechen mit Zorn erfüllt, sondern
seine Auferstehung, die ihm dunkel wie eine athletische Kraftleistung
vorschwebt, was den Messias als großen Zauberer und damit den wahren
Heiland legitimiert. Daß die Leidensgeschichte einen mystischen Sinn
hat, ahnt er gar nicht.[304]

In Rußland sind die Beschlüsse der „Hundertkapitelsynode“ von 1551
ein Zeugnis allerprimitivster Gläubigkeit. Das Bartscheren und das
falsche Anfassen des Kreuzes erscheinen hier als Todsünde. Die
Dämonen werden dadurch beleidigt. Die „Synode des Antichrist“ von
1667 hat zu der ungeheuren Sektenbewegung des Raskol geführt, weil
das Kreuz fortan mit drei statt mit zwei Fingern geschlagen und der
Name Jesu Jissus statt Issus gesprochen werden sollte, wodurch für
die Strenggläubigen die Kraft dieser Zaubermittel über die Dämonen
verloren ging. Aber diese Wirkung der Furcht ist doch nicht alles
und nicht einmal das Mächtigste. Warum hat die Merowingerzeit nicht
die leisesten Spuren jener glühenden Inbrunst und Sehnsucht nach dem
Untergang im Metaphysischen aufzuweisen, welche die magische Vorzeit
der Apokalyptik und die ihr so nah verwandte russische im Zeitalter
des heiligen Synod (1721-1917) ausfüllt? Was ist es, das alle die
Märtyrersekten der Raskolniken seit Peter dem Großen zur Ehelosigkeit,
Armut und Pilgerfahrt, zu Selbstverstümmlungen, zu den furchtbarsten
Formen der Askese führte und im 17. Jahrhundert Tausende aus religiöser
Leidenschaft zu freiwilliger Selbstverbrennung getrieben hat? Die Lehre
der Chlüsten von den „russischen Christussen“, deren bis jetzt sieben
gezählt werden, die Duchoborzen mit ihrem Lebensbuch, das sie als Bibel
benützen und das von Jesus mündlich überlieferte Psalmen enthalten
soll, die Skopzen mit ihren grausigen Verstümmelungsgeboten, Dinge,
ohne die Tolstoi, der Nihilismus und die politischen Revolutionen
gar nicht verständlich sind[305] -- warum erscheint die Frankenzeit
dem gegenüber so stumpf und flach? Ist es richtig, daß nur Aramäer
und Russen religiöses Genie besitzen, und was hat man dann von dem
kommenden Rußland zu erwarten, jetzt, wo gerade im entscheidenden
Jahrhundert das Hemmnis der gelehrten Orthodoxie zerstört worden ist?


17

Primitive Religionen haben etwas Heimatloses wie Wolken und Winde.
Die Massenseelen der Urvölker haben sich zufällig und flüchtig zu
+einem+ Dasein geballt und zufällig bleibt das Irgendwo der
Wachseinsverbindungen aus Angst und Abwehr, die sich darüber breiten.
Ob sie bleiben oder wandern, ob sie sich ändern oder nicht, hat mit
ihrer innern Bedeutung nichts zu tun.

Eine tiefe Erdverbundenheit trennt die hohen Kulturen von diesem Leben
ab. Hier gibt es eine +Mutterlandschaft+ aller Ausdrucksgebilde,
und wie die Stadt, wie Tempel, Pyramide und Dom dort, wo ihre Idee
entstanden ist, auch ihre Geschichte vollenden +müssen+, so
ist die große Religion jeder Frühzeit mit allen Wurzeln des Daseins
dem Lande verbunden, über dem ihr Weltbild sich erhebt. Mögen die
heiligen Bräuche und Sätze später noch so weit getragen werden, ihre
innere Entwicklung bleibt trotzdem an den Ort ihrer Geburt gebannt.
Es ist ganz unmöglich, daß sich auch nur der leiseste Entwicklungszug
antiker Stadtkulte in Gallien fände oder ein dogmatischer Schritt des
faustischen Christentums in Amerika getan würde. Was sich vom Lande
löst, wird starr und hart.

Wie ein Aufschrei beginnt es jedesmal. Das dumpfe Gewühl von Scheu und
Abwehr geht plötzlich in ein reines und inbrünstiges Erwachen über,
das von der Mutter Erde aus, ganz pflanzenhaft aufblühend, die Tiefe
der Lichtwelt mit +einem+ Blick umfaßt und begreift. Wo überhaupt
ein Sinn für Selbstbetrachtung lebt, hat man diese Wandlung als innere
Wiedergeburt empfunden und begrüßt. In diesem Augenblick, niemals
früher und mit der gleichen Macht und Innigkeit niemals wieder, geht es
wie ein großes Leuchten durch die auserwählten Geister der Zeit, das
alle Furcht in seliger Liebe auflöst und das Unsichtbare plötzlich in
metaphysischer Verklärung hervortreten läßt.

Jede Kultur verwirklicht hier ihr Ursymbol. Jede hat ihre Art von
Liebe, nennen wir sie himmlisch oder metaphysisch, mit der sie ihre
Gottheit schaut, umfaßt, in sich aufnimmt, und die allen andern
unerreichbar oder unverständlich bleibt. Mag eine Lichthöhle die
Welt überwölben wie vor dem Blick Jesu und seiner Begleiter, mag die
kleine Erde in einer sternerfüllten Unendlichheit verschwinden, wie es
Giordano Bruno empfand, mögen die Orphiker den leibhaftigen Gott in
sich aufnehmen, mag Plotins Geist mit dem Geiste Gottes in der Ekstase
zur Henosis verschmelzen, mag der heilige Bernhard in der Unio mystica
mit dem Wirken der unendlichen Gottheit eins werden -- der Tiefendrang
der Seele ist immer dem Ursymbol dieser einen und keiner andern Kultur
unterworfen.

In der fünften Dynastie Ägyptens (2680-2540), welche auf die großen
Pyramidenbauer folgt, verblaßt der Kult des Horusfalken, dessen Ka
im regierenden Herrscher weilt. Die älteren Ortskulte und selbst
die tiefsinnige Thoutreligion von Hermopolis treten zurück. Die
Sonnenreligion des Re erscheint. Von seiner Pfalz aus westwärts
errichtet jeder König neben seinem Totentempel ein Reheiligtum, jener
ein Sinnbild des gerichteten Lebens von der Geburt bis zur Kammer mit
dem Sarkophag, dieses eins der großen und ewigen Natur. Zeit und Raum,
Dasein und Wachsein, Schicksal und heilige Kausalität stehen in dieser
gewaltigen Doppelschöpfung einander gegenüber wie in keiner zweiten
Architektur der Welt. Zu beiden führt ein gedeckter Weg empor; der zu
Re wird von Reliefs begleitet, welche die Macht des Sonnengottes über
die Pflanzen- und Tierwelt und den Wechsel der Jahreszeiten schildern.
Kein Götterbild, kein Tempel, nur ein Altar von Alabaster schmückt die
mächtige Terrasse, auf die bei Tagesanbruch hoch über dem Land der
Pharao aus dem Dunkel tritt, um den großen Gott zu begrüßen, der sich
im Osten erhebt.[306]

Diese frühe Innerlichkeit geht immer aus dem stadtlosen Lande
hervor, aus den Dörfern, Hütten, Heiligtümern, einsamen Klöstern und
Einsiedeleien. Hier bildet sich +die+ große Wachseinsgemeinschaft
der geistig Erwählten, die von dem großen Daseinsstrome des Helden-
und Rittertums innerlich durch eine ganze Welt geschieden ist. Die
beiden Urstände, Priestertum und Adel, das Schauen in den Domen und
die Taten von den Burgen aus, Askese und Minne, Ekstase und vornehme
Sitte, beginnen von hier aus ihre eigene Geschichte. Mag der Khalif
auch weltlicher Herrscher der Gläubigen sein, der Pharao in beiden
Heiligtümern opfern, der germanische König seine Ahnengruft unter
dem Dom begründen, nichts hebt den abgrundtiefen Gegensatz von Raum
und Zeit auf, wie er sich hier in den beiden Ständen spiegelt.
Religionsgeschichte und politische Geschichte, Geschichte der
Wahrheiten und der Tatsachen stehen sich unvereinbar gegenüber. In den
Domen und Burgen beginnt es, um sich in den stets wachsenden Städten
als Gegensatz von Wissenschaft und Wirtschaft fortzusetzen und in den
letzten Stufen der Geschichtlichkeit im Ringen von Geist und Gewalt zu
enden.

Aber beide Geschichten bewegen sich ganz auf der +Höhe+ des
Menschlichen. Das Bauerntum bleibt geschichtslos in der Tiefe. Es
begreift die Staaten so wenig wie die Dogmen. Aus der mächtigen
Frühreligion heiliger Kreise entwickeln sich in den frühen Städten
Scholastik und Mystik, in dem wachsenden Gewirr von Gassen und
Plätzen Reformation, Philosophie und weltliche Gelehrsamkeit, in den
Steinmassen der späten Großstädte Aufklärung und Irreligion. Der
Bauernglaube draußen ist „ewig“ und immer derselbe. Der ägyptische
Bauer verstand nichts von jenem Re. Er hörte den Namen und verehrte
weiterhin, während ein gewaltiges Stück Religionsgeschichte in den
Städten vorüberging, seine Tiergötter aus der Thinitenzeit, die mit
dem Fellachenglauben der 26. Dynastie wieder zur Herrschaft kamen.
Der italische Bauer betete zur Zeit des Augustus, wie er es lange
vor Homer getan hatte, und er tut es heute noch. Namen und Sätze
ganzer Religionen, die aufblühten und starben, sind aus den Städten
zu ihm gedrungen und haben den Klang seiner Worte verändert. Der
Sinn blieb ewig derselbe. Der französische Bauer lebt noch in seiner
Merowingerzeit: ob Freya oder Maria, ob Druiden oder Dominikaner, Rom
oder Genf: nichts berührt das Innerste seines Glaubens.

Aber auch in den Städten bleibt eine Schicht nach der andern
geschichtlich zurück. Es gibt über der primitiven Religion des Landes
noch eine Volksreligion der kleinen Leute im Untergrund der Städte
und in der Provinz. Je höher eine Kultur steigt, im Mittleren Reich,
in der Bramanazeit, zur Zeit der Vorsokratiker, der Vorkonfuzianer
und des Barock, desto enger wird der Kreis derer, denen die letzten
Wahrheiten ihrer Zeit wirklicher Besitz sind und nicht nur Name und
Schall. Wie viele Menschen gab es, die Sokrates, Augustin und Pascal
damals begriffen haben? Die Pyramide der Menschen spitzt sich auch
im Religiösen rasch und immer rascher zu, um mit dem Ende der Kultur
vollendet zu sein und von da an langsam zu zerfallen.

Um 3000 beginnen in Ägypten und Babylon die Lebensläufe zweier großer
Religionen. In Ägypten wird in der „Reformationszeit“ am Ausgang des
Alten Reiches der solare Monotheismus als Religion der Priester und
Gebildeten fest begründet. Alle alten Götter und Göttinnen -- die das
Bauerntum und die kleinen Leute in ihrer ursprünglichen Bedeutung
weiterhin verehrten -- sind nun Inkarnationen oder Diener des einen
Re. Auch die Sonderreligion von Hermopolis wird mit ihrer Kosmologie
dem großen System eingeordnet, und eine theologische Abhandlung bringt
selbst den Ptah von Memphis als das abstrakte Urprinzip der Schöpfung
mit dem Dogma in Einklang.[307] Es ist wie unter Justinian und Karl
V.: der städtische Geist hat die Herrschaft über die Seele des Landes
ergriffen; die Gestaltungskraft der Frühzeit ist zu Ende; die Lehre ist
innerlich fertig und wird von nun an durch vernunftgemäße Betrachtung
eher abgebaut als verfeinert. Die Philosophie beginnt. Dogmatisch
bedeutet das Mittlere Reich so wenig wie das Barock.

Seit 1500 setzen drei neue Religionsgeschichten ein, zuerst die
vedische im Pendschab, dann die urchinesische am Hoangho, zuletzt die
antike im Norden des ägäischen Meeres. So deutlich das Weltbild des
antiken Menschen mit seinem Ursymbol des stofflichen Einzelkörpers
vor uns steht, so schwer ist es, Einzelheiten der großen antiken
Frühreligion auch nur zu ahnen. Die Schuld tragen die homerischen
Gesänge, welche die Erkenntnis eher verhindern als unterstützen. Das
neue und dieser Kultur allein vorbehaltene Ideal der Gottheit war der
menschengestaltige Leib im Lichte, der Heros als Mittler von Mensch
und Gott -- das wenigstens bezeugt die Ilias. Mochte dieser Leib
apollinisch verklärt oder dionysisch in alle Lüfte verstreut werden, er
war in jedem Falle die Grundform alles Seins. Das _soma_ als Ideal
des Ausgedehnten, der Kosmos als Summe dieser Einzelkörper, das „Sein“,
das „Eine“ als das Ausgedehnte an sich, der Logos als dessen Ordnung
im Licht -- das alles trat damals in großen Gesichten vor das Auge
priesterlicher Menschen hin und zwar mit der vollen Gewalt einer neuen
Religion.

Aber die homerische Dichtung ist reine Standespoesie. Von den beiden
Welten des Adels und Priestertums, des Tabu und Totem, des Heldentums
und der Heiligkeit lebt hier nur die eine. Sie versteht die andere
nicht nur nicht, sie verachtet sie sogar. Wie in der Edda ist es
höchster Ruhm der Unsterblichen, die adlige Sitte zu kennen. Wenn
den Denkern der antiken Barockzeit von Xenophanes bis Platon diese
Götterszenen frech und flach erschienen, so hatten sie recht; es sind
dieselben Gefühle, aus welchen Theologie und Philosophie des späteren
Abendlandes die germanische Heldensage betrachtet haben, aber auch die
Dichtungen von Gottfried von Straßburg, Wolfram und Walter. Wenn die
homerischen Epen nicht verschollen sind wie die von Karl dem Großen
gesammelten Heldensänge, so ist das nur eine Folge davon, daß ein
ausgebildeter antiker Priesterstand nicht vorhanden war und die spätere
Geistigkeit der Städte also von einer ritterlichen und nicht einer
religiösen Literatur beherrscht worden ist. Die ursprünglichen Lehren
dieser Religion, die sich aus Widerspruch gegen Homer an den vielleicht
noch älteren Namen Orpheus knüpften, sind niemals aufgezeichnet worden.

Gleichwohl waren sie einmal da und wer weiß, was alles sich hinter
den Gestalten des Kalchas und Teiresias verbirgt. Eine mächtige
Erschütterung muß auch am Anfang dieser Kultur stehen, vom ägäischen
Meere bis nach Etrurien hin, aber man wird in der Ilias von ihr so
wenig finden, wie im Nibelungen- und Rolandslied von der Mystik und
Inbrunst des Joachim von Floris, des heiligen Franz, der Kreuzzüge
oder von der inneren Glut des „_Dies irae_“ jenes Thomas von
Celano, das an einem Minnehof des 13. Jahrhunderts vielleicht Gelächter
erregt hätte. Es müssen große Persönlichkeiten gewesen sein, welche
damals den neuen Weltblick in eine mythisch-metaphysische Form
brachten, aber wir wissen nichts von ihnen und nur die fröhliche,
helle, leichte Seite davon ist in den Gesang der Ritterhallen
eingegangen. War der „trojanische Krieg“ eine Fehde oder auch ein
Kreuzzug? Was bedeutet Helena? Auch die Eroberung Jerusalems ist
geistlich +und+ weltlich aufgefaßt worden.

In der homerischen Adelsdichtung blieben Dionysos und Demeter als
priesterliche Götter unbeachtet.[308] Aber auch bei Hesiod, dem Hirten
von Askra, der aus seinem Volksglauben heraus schwärmt und grübelt,
kann man so wenig wie bei dem Schuster Jakob Böhme die reinen Ideen
der großen Frühzeit finden wollen. Das ist die zweite Schwierigkeit.
+Auch die große Frühreligion war Standesbesitz+ und dem breiten
Volke weder erreichbar noch verständlich; auch die Mystik der frühesten
Gotik ist auf enge Kreise von Auserwählten beschränkt, durch das Latein
und die Schwere der Begriffe und Bilder versiegelt und weder dem
Bauerntum noch dem Adel seinem Vorhandensein nach überhaupt deutlich
bekannt. Deshalb sind auch die Ausgrabungen zwar für die antiken
Landkulte wesentlich, aber von jener Frühreligion lehren sie nichts,
so wenig wir aus einer Dorfkapelle über Abälard und Bonaventura lernen
können.

Aber Aischylos und Pindar standen allerdings im Banne einer großen
priesterlichen Tradition, vor ihnen die Pythagoräer, die den
Demeterkult in die Mitte stellten und damit verrieten, wo der Kern
jener Mythologie zu suchen ist, noch früher die Mysterien von Eleusis
und die orphische Reformation des 7. Jahrhunderts und endlich die
Fragmente des Pherekydes und Epimenides, der +letzten+ -- +nicht
der ersten!+ -- Dogmatiker einer uralten Theologie. Hesiod und
Solon kennen die Idee des Erbfrevels, der an Kindern und Kindeskindern
gerächt wird, und die ebenfalls apollinische Lehre von der Hybris.
Platon aber schildert als Orphiker und Gegner einer homerischen
Lebensauffassung im Phaidon sehr alte Lehren von der Hölle und vom
Totengericht. Wir kennen die erschütternde Formel der Orphik, das
Nein der Mysterien gegenüber dem Ja der Agone, das ganz ohne Zweifel
schon um 1100 entstanden ist und zwar als Protest des Wachseins gegen
das Dasein: _soma sema_ -- dieser blühende antike Leib ein Grab!
Hier +fühlt+ er sich nicht mehr, in Zucht, Kraft und Bewegung; er
+erkennt+ sich und er erschrickt vor dem, was er begreift. Hier
beginnt die antike Askese, die durch strengste Riten und Sühnungen,
selbst durch den freiwilligen Tod die Befreiung von diesem euklidischen
Körperdasein sucht. Man versteht die vorsokratischen Philosophen
gründlich falsch, wenn sie gegen Homer reden: sie taten das nicht
als Aufklärer, sondern als Asketen, weil sie, die „Zeitgenossen“
des Descartes und Leibniz, in der strengen Überlieferung der großen
alten orphischen Religion herangewachsen waren, die in diesen
halbklösterlichen Denkerschulen im Schatten altberühmter Heiligtümer
ebenso treu bewahrt worden ist wie die gotische Scholastik an den ganz
geistlichen Universitäten des Barock. Vom Selbstmord des Empedokles
führt der Weg vorwärts zu dem der römischen Stoiker und rückwärts zu
„Orpheus“.

Aus diesen letzten Spuren erhebt sich nun doch ein leuchtender Umriß
der antiken Frühreligion. Wie alle gotische Inbrunst sich auf die
Himmelskönigin Maria richtete, die Jungfrau und Mutter, so entstand
damals ein Kranz von Mythen, Bildern und Gestalten um Demeter, die
Gebärende, um Gaia und Persephone, und um Dionysos, den Zeugenden,
chthonische und phallische Kulte und Feste und Mysterien von Geburt
und Sterben. Auch das war antik und leibhaft-gegenwärtig gedacht. Die
apollinische Religion betete den Leib an, die orphische verwarf ihn,
die der Demeter feierte die Augenblicke seiner Entstehung: Zeugung und
Geburt. Es gab eine das Geheimnis des Lebens scheu verehrende Mystik in
Lehren, Symbolen und Spielen, aber gleich daneben den Orgiasmus, denn
die Vergeudung des Leibes ist der Askese ebenso tief verwandt wie die
heilige Prostitution dem Zölibat; sie verneinen beide die Zeit. Es ist
die Umkehrung des apollinischen „Zurück“ vor der Hybris. Der Abstand
wird nicht geachtet, sondern aufgehoben. Wer das in sich erlebt hat,
ist „aus einem Sterblichen ein Gott geworden“. Es muß damals große
Heilige und Seher gegeben haben, die über die Gestalten des Heraklit
und Empedokles ebensoweit hinausragten wie diese über die kynischen
und stoischen Wanderredner. Dergleichen geschieht nicht ohne Name
und Person. Es gab, als überall die Sänge von Achill und Odysseus
erschollen, eine große, strenge Lehre an den berühmten Kultstätten,
eine Mystik und Scholastik mit ausgebildetem Schulwesen und mündlicher
Geheimtradition wie in Indien. Aber alles das ist versunken und die
Trümmer der Spätzeit beweisen kaum noch, daß es einmal da war.

Läßt man die Ritterpoesie und die Volkskulte ganz beiseite, so ist es
heute noch möglich, von dieser -- der -- antiken Religion etwas mehr
festzustellen. Aber dann muß auch der dritte Fehler vermieden werden:
die Gegenüberstellung von „römischer“ und „griechischer“ Religion.
Einen solchen Gegensatz gibt es gar nicht.

Rom ist nur +eine+ unter zahllosen antiken Städten der großen
Kolonisationszeit, von Etruskern gebaut und unter der etruskischen
Dynastie des 6. Jahrhunderts religiös erneuert; es ist wohl möglich,
daß die kapitolinische Göttergruppe Juppiter, Juno, Minerva, die
damals an Stelle der uralten Dreiheit Juppiter, Mars, Quirinus der
„Religion des Numa“ trat, irgendwie mit dem Familienkult der Tarquinier
zusammenhängt, wobei die Stadtgöttin Minerva ganz unverkennbar der
Athena Polias nachgebildet ist.[309] Man darf die Kulte dieser einen
Stadt nur mit denen +einzelner+ griechisch sprechender Städte
auf gleicher Altersstufe vergleichen, etwa Spartas oder Thebens, die
nicht im geringsten farbenreicher gewesen sind. Das wenige, was sich
da als allgemein hellenisch herausstellt, wird auch allgemein italisch
sein. Und was die Behauptung betrifft, daß die „römische“ Religion
im Unterschiede von derjenigen griechischer Stadtstaaten den Mythus
nicht gekannt habe -- woher wissen wir das? Wir würden von der großen
Göttersage der Frühzeit überhaupt nichts wissen, wenn wir auf den
Festkalender und die öffentlichen Kulte griechischer Einzelstädte
angewiesen wären, so wenig wie die Akten des Konzils von Ephesus von
der Frömmigkeit Jesu oder eine Kirchenordnung der Reformation etwas von
der franziskanischen Mystik ahnen lassen. Menelaos und Helena waren für
den lakonischen Staatskult Baumgötter, nichts weiter. Der antike Mythus
stammt aus einer Zeit, wo es die Polis mit ihren Festen und sakralen
Satzungen noch gar nicht gab, Athen so wenig als Rom. Er hat mit ihren
religiösen Aufgaben und Absichten, die sehr verstandesmäßig sind,
überhaupt nichts zu tun. Mythus und Kultus berühren sich in der Antike
noch weniger als anderswo. Und er ist auch gar keine Schöpfung des
ganzen hellenischen Kulturgebietes, nicht „griechisch“, sondern ebenso
wie die Kindheitsgeschichte Jesu und die Gralsage in hochbewegten
Kreisen engumgrenzter Gebiete entstanden, die Vorstellung vom Olymp
z. B. in Thessalien; von da aus wurde er Gemeinbesitz +aller+
Gebildeten von Zypern bis nach Etrurien hin und also auch in Rom. Die
etruskische Malerei setzt ihn als allbekannt voraus und mithin haben
ihn die Tarquinier und ihr Hof ebenfalls gekannt. Man mag mit dem
Ausdruck: an diesen Mythus „glauben“, jede Vorstellung verbinden, die
man will; sie wird von dem Römer der Königszeit ebenso gelten wie von
den Einwohnern Tegeas oder Korkyras.

Die beiden ganz verschiedenen Bilder, welche die heutige Wissenschaft
zustande gebracht hat, sind das Ergebnis nicht der Tatsachen, sondern
+der Methode+, die hier (Mommsen) vom Festkalender und den
Staatskulten, dort von der Dichtung ausgeht. Man braucht nur die
„lateinische“ Methode, die zu dem Bilde Wissowas geführt hat, auf die
griechischen Städte anzuwenden, um ein ganz ähnliches zu erhalten (etwa
in Nilssons „Griechischen Festen“).

Bedenkt man das, so erscheint die antike Religion durchaus als
innere Einheit. Die gewaltige, frühlinghafte Götterlegende des 11.
Jahrhunderts, die mit ihren seligen und tottraurigen Stimmungen an
Gethsemane, an Balders Tod, an Franziskus erinnert, ist durch und
durch „Theorie“, nämlich Schauen, ein Weltbild vor dem innern Auge und
zwar aus dem gemeinsamen inbrünstigen Wachwerden erlesener Kreise
fern von der Ritterwelt.[310] Die viel späteren Stadtreligionen aber
sind durchaus +Technik+, Kultus, und stellen also nur eine und
zwar eine ganz andere Seite der Frömmigkeit dar. Sie stehen dem
großen Mythus ebenso fern wie dem Volksglauben; sie beschäftigen sich
weder mit Metaphysik noch mit Ethik, sondern nur mit der Vollziehung
sakralrechtlicher Handlungen; und endlich stammt die Auswahl der Kulte
in den einzelnen Städten sehr oft und im Gegensatz zum Mythus nicht aus
einer einheitlichen Weltanschauung, sondern aus den zufälligen Ahnen-
und Familienkulten großer Geschlechter, die ganz wie in gotischer Zeit
ihren Heiligen zum Schutzherrn der Stadt gemacht haben und sich dessen
Feste und Verehrung vorbehielten. So waren die Luperkalien in Rom zu
Ehren des Flurgottes Faunus Vorrecht der Quinctier und Fabier.

Die chinesische Religion, deren große „gotische“ Zeit um 1300-1000
liegt und den Aufstieg der Dschoudynastie umfaßt, will mit äußerster
Vorsicht behandelt sein. Angesichts der flachen Tiefe und pedantischen
Schwärmerei der chinesischen Denker vom Schlage des Konfuzius und
Laotse, die alle im _ancien régime_ dieser Staatenwelt geboren
waren, scheint es sehr gewagt, auf eine Mystik und Legende großen Stils
am Anfang überhaupt schließen zu wollen, aber sie muß einmal dagewesen
sein. Allerdings, von diesen übervernünftigen Großstädtern erfahren wir
darüber nichts, so wenig wie von Homer, aber aus einem andern Grunde.
Was wüßten wir von der gotischen Frömmigkeit, wenn alle ihre Schriften
der Zensur von Puritanern und Rationalisten wie Locke, Rousseau und
Wolff verfallen wären! Und doch betrachtet man dies konfuzianische
+Ende+ chinesischer Innerlichkeit als deren Anfang, wenn nicht
gar der Synkretismus der Hanzeit als +die+ chinesische Religion
bezeichnet wird![311]

Wir wissen jetzt, daß es entgegen der allgemeinen Annahme ein mächtiges
altchinesisches Priestertum gab.[312] Wir wissen, daß im Texte des
Schuking Reste der alten Heldensänge und Göttermythen rationalistisch
verarbeitet und so erhalten geblieben sind; ebenso würden das Chouli,
Ngili und Schiking noch sehr vieles offenbaren, sobald man sie mit der
Überzeugung prüft, daß hier viel Tieferes vorliegen muß, als Konfuzius
und seinesgleichen begreifen konnten. Wir hören von chthonischen und
phallischen Kulten der frühen Dschouzeit, von einem heiligen Orgiasmus,
wobei der Götterdienst von ekstatischen Massentänzen begleitet war,
von mimischen Darstellungen und Wechselreden zwischen dem Gott und
der Priesterin, woraus sich vielleicht ganz wie in Griechenland das
chinesische Drama entwickelt hat.[313] Und wir ahnen endlich, weshalb
der überquellende Reichtum frühchinesischer Göttergestalten und Mythen
von einer Kaisermythologie verschlungen werden mußte. Denn nicht nur
alle Sagenkaiser, sondern auch die meisten Gestalten der Hia- und
Schangdynastie vor 1400 sind trotz aller Jahreszahlen und Chroniken
nichts als in Geschichte verwandelte Natur. Die Ansätze dazu liegen
tief in den Möglichkeiten jeder jungen Kultur. Der Ahnenkult versucht
immer, sich der Naturdämonen zu bemächtigen. Alle homerischen Helden
und ebenso Minos, Theseus, Romulus sind aus Göttern zu Königen
geworden. Im Heliand war Christus im Begriff es zu werden. Maria ist
die gekrönte Königin des Himmels. Es ist die höchste, ganz unbewußte
Art, in der Rassemenschen etwas verehren können: was groß ist, muß
von Rasse sein, mächtig, herrschend, Ahnherr ganzer Geschlechter.
Ein starkes Priestertum weiß diese Mythologie der Zeit sehr bald zu
vernichten, aber in der Antike hat sie sich halb und in China ganz
durchgesetzt, genau im Verhältnis zum Hinschwinden des priesterlichen
Elements. Die alten Götter sind jetzt Kaiser, Prinzen, Minister und
Gefolgsleute; Naturereignisse sind Herrschertaten und Völkerstürme
soziale Unternehmungen geworden. Es hätte den Konfuzianern gar nichts
erwünschter kommen können: da hatten sie den Mythus, der sozialethische
Tendenzen in unabsehbarer Menge aufnehmen konnte; sie brauchten die
Spuren des ursprünglichen Naturmythus nur zu tilgen.

Vor dem chinesischen Wachsein waren Himmel und Erde Hälften des
Makrokosmos, ohne Gegensatz und jede ein Spiegelbild der andern. Der
magische Dualismus fehlt dem Bilde ebenso wie die faustische Einheit
der wirkenden Kraft. Das Werden erscheint in der ungezwungenen
Wechselwirkung zweier Prinzipien, des _yang_ und _yin_, die
eher periodisch als polar gedacht sind. Dementsprechend gibt es zwei
Seelen im Menschen: die kwei entspricht dem _yin_, dem Irdischen,
Dunklen, Kalten; sie verwest mit dem Leibe; die _sen_ ist die
höhere, lichte und bleibende.[314] Aber von beiden Seelenarten gibt es
außerhalb des Menschen noch unzählige Mengen. Geisterscharen erfüllen
Luft, Wasser und Erde; alles ist von _kweis_ und _sens_
bevölkert und bewegt. Das Leben der Natur und das menschliche Leben
bestehen ganz eigentlich aus dem Spiel solcher Einheiten. Klugheit,
Glück, Kraft und Tugend hängen von ihrem Verhältnis ab. Askese
und Orgiasmus, die Rittersitte des _hiao_, die dem Vornehmen
befiehlt, den Frevel an einem Ahnen noch nach Jahrhunderten an den
Nachkommen zu rächen und eine Niederlage nicht zu überleben,[315]
und die vernunftgemäße Moral des _jen_, die nach dem Urteil des
Rationalismus aus dem Wissen folgt, gehen sämtlich aus der Vorstellung
von den Kräften und Möglichkeiten der _kwei_ und _sen_ hervor.

Alles das wird in dem Urwort _tao_ zusammengefaßt. Der Kampf
zwischen dem _yang_ und _yin_ im Menschen ist das _tao_
seines Lebens; das Weben der Geisterscharen draußen ist das _tao_
der Natur. Die Welt besitzt _tao_, insofern sie Takt, Rhythmus und
Periodizität hat. Sie besitzt _li_, Spannung, insofern man sie
erkennt und fertige Verhältnisse zur ferneren Anwendung daraus abzieht.
Zeit, Schicksal, Richtung, Rasse, Geschichte, alles das mit dem großen
Weltblick der ersten Dschouzeit angeschaut, liegt in diesem einen Wort.
Der Weg des Pharao durch den dunklen Gang zu seinem Heiligtum ist ihm
verwandt, das faustische Pathos der dritten Dimension ist es auch: aber
_tao_ ist doch von dem Gedanken der technischen Überwindung der
Natur weit entfernt. Der chinesische Park vermeidet die energische
Perspektive. Er legt Horizont hinter Horizont und lädt zum Wandeln ein,
statt auf ein Ziel zu weisen. Der chinesische „Dom“ der Frühzeit, das
Pi-yung, hat mit seinen Pfaden, die durch Tore, Gebüsche, über Treppen,
geschwungene Brücken und Plätze führen, niemals den unerbittlichen Zug
Ägyptens und den Tiefendrang der Gotik.

Als Alexander am Indus erschien, war die Frömmigkeit dieser drei
Kulturen längst in die geschichtslosen Formen eines breiten
Taoismus, Buddhismus und Stoizismus zerflossen. Aber wenig später
erhebt sich dann die Gruppe der magischen Religionen im Gebiet
zwischen der Antike und Indien, und etwa zur selben Zeit muß die
Religionsgeschichte der Maya und Inka begonnen haben, die für uns
hoffnungslos verloren ist. Ein Jahrtausend danach, als auch hier alles
innerlich vollendet war, erscheint auf dem so wenig verheißenden Boden
des Frankenreichs gänzlich überraschend und in steilem Aufstieg das
germanisch-katholische Christentum. Es ist hier wie überall: ob der
ganze Schatz von Namen und Bräuchen aus dem Osten kam, ob tausend
Einzelzüge aus uraltem germanischen und keltischen Fühlen stammen, die
gotische Religion ist etwas so unerhört Neues und in ihren letzten
Tiefen allen nicht zugehörigen Menschen so vollkommen unbegreiflich,
daß die Herstellung von Zusammenhängen an der geschichtlichen
Oberfläche ein Spiel ohne alle Bedeutung bleibt.

Die mythische Welt, die sich nun rings um diese junge Seele aufbaut,
ein Ganzes von Kraft, Wille und Richtung, unter dem Ursymbol des
Unendlichen gesehen, ein riesenhaftes Wirken fernhin, Abgründe des
Entsetzens und der Seligkeit, die sich plötzlich auftun -- das war den
Auserwählten dieser frühen Religiosität etwas ganz Natürliches, so daß
sie gar nicht den Abstand fanden, um es als Einheit zu „erkennen“. Sie
lebten darin. Vor uns aber, die durch dreißig Generationen von den
Ahnen getrennt sind, steht diese Welt so fremd und übermächtig da, daß
wir immer nur einzelne Seiten zu begreifen suchen und damit das Ganze
und Unteilbare mißverstehen.

Die väterliche Gottheit empfand man als die Kraft selbst, das ewige,
große und allgegenwärtige Wirken, die heilige Kausalität, die für
irdische Augen kaum eine greifbare Gestalt gewinnen konnte. Aber die
ganze Sehnsucht der jungen Rasse, das ganze Verlangen dieses mächtig
strömenden Blutes, sich in Demut vor dem +Sinn des Blutes+ zu
beugen, fand ihren Ausdruck in der Gestalt der Jungfrau und Mutter
Maria, deren Krönung im Himmel eins der frühesten Motive gotischer
Kunst geworden ist, eine Lichtgestalt in Weiß, Blau und Gold inmitten
der himmlischen Heerscharen. Sie beugt sich über das neugeborne Kind;
sie fühlt das Schwert im Herzen; sie steht zu Füßen des Kreuzes und
hält den Leichnam des toten Sohnes. Seit der Jahrtausendwende haben
Petrus Damiani und Bernhard von Clairvaux ihren Kult ausgebildet;
das Ave Maria und der englische Gruß entstanden und später bei den
Dominikanern der Rosenkranz. Zahllose Legenden umgaben sie und ihre
Gestalt. Sie hütet den Gnadenschatz der Kirche, sie ist die große
Fürbitterin. Im Kreise der Franziskaner entstand das Fest ihrer
Heimsuchung, bei den englischen Benediktinern noch vor 1100 das der
unbefleckten Empfängnis, das sie ganz aus der sterblichen Menschheit in
die Lichtwelt emporhob.

Aber diese Welt der Reinheit, des Lichts und der geistigsten
Schönheit wäre undenkbar gewesen ohne das Gegenbild, das davon
nicht zu trennen ist und zu den Höhepunkten der Gotik gehört, eine
ihrer unergründlichsten Schöpfungen, die man heute stets vergißt --
vergessen +will+. Während sie dort oben thront, lächelnd in
ihrer Schönheit und Milde, liegt eine andere Welt im Hintergrunde:
überall in der Natur und in der Menschheit webt es, brütet Unheil,
bohrt, zerstört, verführt: das Reich des Teufels. Es durchdringt
die ganze Schöpfung; es liegt überall auf der Lauer. Ein Heer von
Kobolden, Nachtfahrenden, Hexen, Werwölfen ist ringsum da und zwar in
menschlicher Gestalt. Niemand weiß von dem Nächsten, ob er sich nicht
den Unholden verschrieben hat. Niemand weiß von einem kaum erblühten
Kinde, ob es nicht schon eine Teufelsbuhle ist. Eine entsetzliche
Angst, wie vielleicht nur noch in ägyptischer Frühzeit, lastet auf
den Menschen, die jeden Augenblick in den Abgrund stürzen können. Es
gab eine schwarze Magie, Teufelsmessen und Hexensabbate, nächtliche
Feste auf Berghöhen, Zaubertränke und Besprechungen. Der Höllenfürst
mit seinen Verwandten -- Mutter und Großmutter, denn da er das
Sakrament der Ehe durch sein Dasein verhöhnt, darf er Weib und Kind
nicht haben --, mit den gefallenen Engeln und unheimlichen Gesellen ist
eine der großartigsten Schöpfungen der gesamten Religionsgeschichte,
im germanischen Loki kaum vorgedeutet. Ihre grotesken Gestalten mit
Hörnern, Klauen und Pferdehuf waren in den Mysterienspielen des
11. Jahrhunderts schon ganz ausgebildet, erfüllen allenthalben die
künstlerische Phantasie und sind aus der gotischen Malerei bis auf
Dürer und Grünewald nicht wegzudenken. Der Teufel ist schlau, bösartig,
schadenfroh und wird doch von den Mächten des Lichtes zuletzt geprellt.
Er und seine Brut sind launig, tolpatschig, erfinderisch und von
ungeheuerlicher Phantastik, die Verkörperung des Höllengelächters
gegenüber dem verklärten Lächeln der Himmelskönigin, aber auch des
faustischen Welthumors gegenüber dem Jammer zerknirschter Sünder.

Man kann sich die Wucht und Eindringlichkeit dieses Bildes nicht
groß, den Glauben daran nicht tief genug denken. Marienmythus und
Teufelsmythus haben sich zusammen ausgebildet und keiner ist ohne den
andern möglich. Der Unglaube an beide ist Todsünde. Es gibt einen
Marienkult der Gebete und einen Teufelskult der Beschwörungen und
Exorzismen. Der Mensch wandelt beständig über einem Abgrund, der unter
dünner Decke liegt. Das Leben in dieser Welt ist ein beständiger
verzweifelter Kampf mit dem Teufel, in dem jeder einzelne als Glied der
streitenden Kirche dreinschlagen, sich wehren, sich als Ritter erproben
muß. Von droben schaut die triumphierende Kirche der Engel und Heiligen
in ihrer Glorie zu. In diesem Ringen wirkt die himmlische Gnade wie
ein Schild. Maria ist die Beschützerin, in deren Schoß man flüchten
kann, und die Richterin, die den Kampfpreis erteilt. Beide Welten haben
ihre Legende, ihre Kunst, ihre Scholastik und Mystik. Auch der Teufel
kann Wunder tun. Was in keiner andern Frühreligion erscheint, ist die
sinnbildliche Farbe. Zur Madonna gehören das Weiß und Blau, zum Teufel
das Schwarz, Schwefelgelb und Rot. Die Heiligen und Engel schweben im
Äther, aber die Teufel springen und hinken und die Hexen sausen durch
die Nacht. Erst beide zusammen, Licht und Nacht, Liebe und Angst,
füllen die gotische Kunst mit ihrer unbeschreiblichen Innerlichkeit.
Das ist nichts weniger als „künstlerische“ Phantasie. Jeder Mensch
wußte die Welt bevölkert mit Scharen von Engeln und Teufeln. Die
lichtumgebenen Engel des Fra Angelico und der frührheinischen Meister
und die Fratzengesichter an den Portalen der großen Dome erfüllten
wirklich die Luft. Man sah sie, man fühlte überall ihre Anwesenheit.
Wir wissen heute gar nicht mehr, was ein Mythus ist, nämlich nicht ein
ästhetisch bequemes Sichvorstellen, sondern ein Stück leibhaftigster
Wirklichkeit, das ganze Wachsein durchwühlend und das Dasein bis ins
Innerste erschütternd. Diese Wesen sind ringsumher beständig da. Man
erblickte sie, ohne sie zu sehen. Man glaubte an sie mit dem Glauben,
der den Gedanken an Beweise als Lästerung empfindet. Was wir heute
Mythus nennen, unsere literaturgesättigte Schwärmerei für gotische
Farbigkeit, ist nichts als Alexandrinismus. Damals „genoß“ man ihn
nicht; der Tod stand dahinter.[316]

Denn der Teufel bemächtigte sich der menschlichen Seele und verführte
sie zu Ketzertum, Buhlschaft und Zauberei. Der Krieg gegen ihn
wurde auf Erden mit Feuer und Schwert und zwar gegen die Menschen
geführt, die sich ihm ergeben hatten. Es ist sehr bequem, das aus
diesen Jahrhunderten fortzudenken, aber ohne diese furchtbare
Wirklichkeit bleibt von der ganzen Gotik nichts als Romantik übrig.
Mit den liebeglühenden Hymnen an Maria stieg der Qualm unzähliger
Scheiterhaufen empor. Neben den Domen erhoben sich Galgen und Rad.
Damals lebte jeder in dem Bewußtsein einer ungeheuren Gefahr, nicht
vor dem Henker, sondern vor der Hölle. Ungezählte Tausende von Hexen
waren überzeugt, es zu sein. Sie haben sich selbst angezeigt, um ihre
Entsühnung gebeten, aus reinster Wahrheitsliebe ihre nächtlichen
Fahrten und Teufelspakte gebeichtet. Inquisitoren haben unter Tränen,
aus Mitleid mit den Gefallenen die Folter verhängt, um ihre Seele zu
retten. Das ist der gotische Mythus, aus dem die Kreuzzüge, die Dome,
die innigste Malerei und die Mystik hervorgegangen sind. In seinem
Schatten erblühte jenes gotische Glücksgefühl, dessen Tiefe wir uns
nicht einmal mehr vorstellen können.

Der Karolingerzeit war das alles noch fremd. Karl der Große hat im
ersten sächsischen Kapitular (787) den urgermanischen Glauben an
Werwölfe und Nachtfahrende (_strigae_) unter Strafe gestellt, und
noch um 1020 wird er als Irrglaube im Dekret des Burkard von Worms
verdammt, das aber nur noch in abgeschwächter Gestalt um 1140 in das
_decretum Gratiani_[317] überging. Cäsarius von Heisterbach war
bereits mit der ganzen Teufelslegende vertraut; in der _Legenda
Aurea_ ist sie ebenso wirklich und wirksam wie die Marienlegende.
1233, als man die Dome von Mainz und Speier einwölbte, erschien die
Bulle _Vox in Rama_, durch welche der Teufels- und Hexenglaube
kanonisch geworden ist. Es war nicht lange nach dem „Sonnengesang“ des
heiligen Franz, und während die Franziskaner im inbrünstigen Gebet vor
Maria knieten und ihren Kult ausbreiteten, rüsteten die Dominikaner
sich zum Kampf gegen den Teufel durch die Inquisition. Gerade weil
in der einen Gestalt die himmlische Liebe ihren Mittelpunkt gefunden
hatte, wurde die irdische dem Teufel verwandt. Das Weib ist die Sünde
-- so empfanden es die großen Asketen, wie sie es in der Antike, in
China und Indien empfunden hatten. Der Teufel herrscht nur durch das
Weib; die Hexe ist die Verbreiterin der Todsünden. Thomas von Aquino
hat die unheimliche Lehre vom Incubus und Succubus entwickelt. Innige
Mystiker wie Bonaventura, Albertus Magnus, Duns Scotus haben die
Metaphysik des Teuflischen vollkommen ausgebildet.

Die Renaissance hat den starken Glauben der Gotik zur beständigen
Voraussetzung ihres Weltgefühls. Wenn Vasari von Cimabue und Giotto
rühmt, daß sie zuerst wieder der Natur als Lehrmeisterin folgten, so
war es eben diese gotische Natur, die von englischen und teuflischen
Scharen rings durchgeistert war und wie eine ewige Drohung im Lichte
dalag. Nachahmung der Natur war die Nachahmung ihrer Seele, nicht ihrer
Oberfläche. Man lasse doch endlich das Märchen von einer Erneuerung
des „Altertums“ fallen. Renaissance, _rinascita_, bedeutete
damals den +gotischen+ Aufschwung von 1000 an,[318] das neue
+faustische+ Weltgefühl, das neue Selbsterlebnis des Ich +im
Unendlichen+. Mochten einige Geister gelegentlich für die Antike
schwärmen, wie man sie sich dachte; das war ein Geschmack, nicht mehr.
Der antike Mythus war ein Unterhaltungsstoff, ein allegorisches Spiel;
durch seinen dünnen Schleier hindurch sah man den wirklichen, den
gotischen, nicht minder scharf. Als Savonarola auftrat, verschwand das
antike Getändel sofort von der Oberfläche des florentinischen Lebens.
Sie haben alle für die Kirche geschaffen und zwar mit Überzeugung;
Raffael war der innigste aller Madonnenmaler; ein fester Glaube an
das Teufelswesen und an die Erlösung von ihm durch die Heiligen liegt
dieser ganzen Kunst und Schriftstellerei zugrunde, und alle ohne
Ausnahme, Maler, Architekten, Humanisten, mochten sie die Namen Cicero,
Virgil, Venus, Apollo täglich im Munde führen, haben die Hexenbrände
allenthalben als etwas ganz Natürliches betrachtet und Amulette gegen
den Teufel getragen. Die Schriften des Marsilius Ficinus sind voll
von gelehrten Betrachtungen über Teufel und Hexen, Francesco della
Mirandola hat in elegantem Latein den Dialog „Die Hexe“ geschrieben,
um die feinen Köpfe seines Kreises vor der Gefahr zu warnen.[319] Als
Lionardo an der heiligen Anna selbdritt arbeitete, auf der Höhe der
Renaissance, wurde in Rom in bestem Humanistenlatein der Hexenhammer
geschrieben (1487). Der große Mythus der Renaissance war +dieser+,
und ohne ihn versteht man die prachtvolle, echt gotische Stärke dieser
antigotischen Bewegung nicht. Menschen, die den Teufel nicht um sich
spürten, hätten weder die Göttliche Komödie noch die Fresken in Orvieto
noch die Decke der Sixtina schaffen können.

Erst auf dem gewaltigen Hintergrunde dieses Mythus erwuchs der
faustischen Seele ein Gefühl von dem, was sie war. Ein Ich im
Unendlichen verloren; ganz und gar Kraft, aber in einer Unendlichkeit
größerer Kräfte ohnmächtig; ganz und gar Wille, aber voller Angst
für seine Freiheit. Das Problem der Willensfreiheit ist nie tiefer,
nie qualvoller durchdacht worden. Andere Kulturen haben es gar nicht
gekannt. Aber eben weil die magische Ergebung hier ganz unmöglich war,
weil es kein „es“ war, kein Teil eines allgemeinen Geistes, der dachte,
sondern ein einzelnes, kämpfendes Ich, das sich zu behaupten suchte,
wurde jede Grenze der Freiheit als eine Kette empfunden, die man durch
das Leben schleppte, und dieses selbst als ein lebendiger Tod. Wenn es
aber so war -- warum? +wofür+?

Aus dieser Einsicht erhob sich ein ungeheures Schuldbewußtsein, das
wie eine einzige verzweifelte Klage durch diese Jahrhunderte geht.
Die Dome richten sich immer bittender zum Himmel auf, die gotischen
Gewölbe werden wie ein Händefalten; kaum schimmert aus hohen Fenstern
ein tröstliches Licht in die Nacht der langen Kirchenschiffe. Die
atembeklemmenden Parallelfolgen des Kirchengesangs, die lateinischen
Hymnen sprechen von wundgescheuerten Knien und von Geißelhieben in
nächtlicher Zelle. Für den magischen Menschen war die Welthöhle eng und
der Himmel nah gewesen; hier war er unendlich fern; keine Hand schien
aus diesen Räumen herabzureichen, und um das verlorene Ich lagerte
sich höhnend die Teufelswelt. Deshalb wurde es die große Sehnsucht der
Mystik, entbildet zu werden von der Kreatur, wie Heinrich Seuse sagte,
sein selbst und aller Dinge ledig zu werden (Meister Eckart), das
Lassen der Ichheit (Theologie deutsch). Daneben erhob sich ein endloses
Grübeln und Sichhalten an Begriffe, die immer feiner und feiner
zerspalten wurden, um das Warum zu erfahren, und endlich der allgemeine
Schrei nach Gnade, nicht der magischen, die als Substanz herabkam,
sondern der faustischen, die den Willen losband.

+Frei wollen zu dürfen+ ist im tiefsten Grunde das einzige
Geschenk, das die faustische Seele vom Himmel erfleht. Die sieben
Sakramente der Gotik, von Petrus Lombardus als Einheit empfunden,
1215 auf dem Lateranskonzil zum Dogma erhoben, von Thomas von Aquino
mystisch begründet, haben nur diesen Sinn. Sie begleiten die einzelne
Seele von der Geburt bis zum Tode und schirmen sie vor den teuflischen
Mächten, die sich in den Willen einzunisten suchen. Denn sich dem
Teufel verschreiben heißt ihm +seinen Willen+ ausliefern. Die
streitende Kirche auf Erden ist die sichtbare Gemeinschaft derer, die
durch den Genuß der Sakramente begnadet sind, wollen zu können. Diese
Gewißheit des Freiseins erscheint verbürgt im Altarsakrament, das nun
von Grund aus umgedacht wird. Das Wunder der heiligen Wandlung, das
sich in den Händen des Priesters täglich vollzieht, die geweihte Hostie
im Hochaltar des Domes, in welcher der Gläubige die Anwesenheit dessen
spürte, der sich einst geopfert hatte, um den Seinen +die Freiheit
des Wollens+ zu gewähren -- das schuf ein Aufatmen, wie wir es uns
heute gar nicht mehr vorstellen können und für das zum Danke 1264 das
Hauptfest der katholischen Kirche, Fronleichnam, gestiftet worden ist.

Aber weit darüber hinaus greift das eigentlich faustische +Ursakrament
der Buße+. Es ist mit dem Marien- und dem Teufelsmythus die dritte
große Schöpfung der Gotik, aber es gibt beiden erst Tiefe und
Bedeutung; es deckt die letzten Geheimnisse der Seele dieser Kultur
auf und stellt sie damit abseits von allen andern. Mit dem magischen
Ursakrament der Taufe wurde der Mensch dem großen _consensus_
einverleibt; das eine große „Es“ des göttlichen Geistes nahm auch
in ihm seinen Sitz und für alles, was geschah, folgte daraus die
Pflicht der Ergebung. In der faustischen Buße aber liegt die +Idee
der Persönlichkeit+. Es ist nicht richtig, daß die Renaissance sie
entdeckt[320] habe. Sie hat ihr nur eine glänzende und flache Fassung
gegeben, so daß jeder sie plötzlich bemerken konnte. Geboren wurde
sie mit der Gotik; sie ist ihr innerstes Eigentum; sie ist mit dem
gotischen Geiste eins und dasselbe. Denn diese Buße vollbringt jeder
nur für sich allein. Er allein kann sein Gewissen erforschen. Er allein
steht reuig vor dem Unendlichen da; er allein muß in der Beichte seine
persönliche Vergangenheit verstehen und in Worte fassen, und auch die
Lossprechung, die Befreiung seines Ich zu neuem verantwortlichen Tun
erfolgt für ihn allein. Die Taufe ist ganz unpersönlich. Man empfängt
sie, weil man +ein+ Mensch, nicht weil man +dieser+ Mensch ist. Die
Idee der Buße aber setzt voraus, daß jede Tat ihren einzigartigen
Wert erst durch den erhält, der sie tut. Das ist es, was die
abendländische Tragödie von der antiken, chinesischen und indischen
unterscheidet, was unser Strafrecht immer deutlicher auf den Täter und
nicht die Tat gerichtet hat, was alle sittlichen Grundbegriffe aus
dem individuellen Tun und nicht aus der typischen Haltung ableitet.
Faustische Verantwortung statt magischer Ergebung, der einzelne Wille
statt des _consensus_, die Entlastung statt der Resignation: es ist der
Unterschied zwischen dem aktivsten und dem passivsten aller Sakramente
und leitet wieder zum Unterschied der Welthöhle von der Dynamik des
Unendlichen zurück. Die Taufe wird vollzogen, die Buße vollzieht jeder
einzelne in sich selbst. Aber die gewissenhafte Erforschung der eignen
Vergangenheit ist zugleich das früheste Zeugnis und die große Schule
+für den historischen+ Sinn des faustischen Menschen. Es gibt keine
zweite Kultur, in welcher das eigne Leben dem Lebenden Zug um Zug und
pflichtgemäß so bedeutend war, weil er dafür in Worten Rechenschaft
abzulegen hatte. Wenn Geschichtsforschung und Lebensbeschreibung
den Geist des Abendlandes von Anfang an auszeichnen; wenn beide im
tiefsten Grunde Selbstprüfung und Beichte sind, und das Dasein mit
einer Bewußtheit und bewußten Beziehung auf einen geschichtlichen
Hintergrund geführt wird, wie man es anderswo niemals auch nur für
möglich und erträglich gehalten hätte; wenn wir zuerst die Geschichte
aus dem Aspekt von Jahrtausenden zu betrachten gewöhnt sind, nicht
rhapsodisch und ausschmückend wie in der Antike und in China, sondern
+richtend+ -- mit der fast sakramentalen Formel im Untergrunde: _tout
comprendre, c’est tout pardonner_ -- so liegt der Ursprung davon in
diesem Sakrament der gotischen Kirche, in dieser beständigen Entlastung
des Ich durch +historische+ Prüfung und Rechtfertigung. Jede Beichte
ist eine Selbstbiographie. Diese eigentliche Befreiung des Willens
ist uns so notwendig, daß die versagte Lossprechung zur Verzweiflung,
ja zur Vernichtung führt. Nur wer die Seligkeit einer solchen innern
Freisprechung ahnt, begreift den alten Namen des _sacramentum
resurgentium_, des Sakraments der Wiedererstandenen.[321]

Wird die Seele in dieser schwersten Entscheidung auf sich selbst
verwiesen, so bleibt etwas Ungelöstes wie eine ewige Wolke über ihr.
Keine Einrichtung einer zweiten Religion hat vielleicht soviel
Glück in die Welt gebracht. Die ganze Inbrunst und himmlische Liebe
der Gotik ruhte auf der Gewißheit der vollen Erlösung durch die dem
Priester verliehene Kraft. Die Ungewißheit, die sich aus dem Verfall
dieses Sakraments ergab, ließ mit der tiefen gotischen Lebensfreude
auch die Marienwelt des Lichtes verblassen und die Teufelswelt blieb
in ihrer düsteren Allgegenwart allein zurück. An die Stelle der nie
mehr zu erreichenden Seligkeit trat der protestantische und vor allem
puritanische +Heroismus+, der auch ohne Hoffnung auf verlornem
Posten weiterkämpft. „Die Ohrenbeichte hätte dem Menschen nie sollen
genommen werden“, hat Goethe einmal bemerkt. Ein schwerer Ernst
breitete sich über die Länder, in denen sie abgestorben war. Die
Sitte, die Tracht, die Kunst, das Denken nahmen die nächtliche Farbe
des einzigen Mythus an, der übrig blieb. Es gibt nichts sonnenärmeres
als die Lehre Kants. „Jedermann sein eigener Priester“: zu dieser
Überzeugung mochte man sich durchkämpfen, soweit sie Pflichten, nie
soweit sie Rechte enthielt. Mit der innigen Gewißheit der Lossprechung
beichtet niemand sich selbst. Deshalb hat das ewig nagende Bedürfnis,
die Seele dennoch von ihrer Vergangenheit richtend zu entlasten, alle
höheren Formen der Mitteilung umgestaltet und in protestantischen
Ländern die Musik, die Malerei, die Dichtung, den Brief, das Denkerbuch
aus Mitteln der Darstellung zu solchen der Selbstanklage, Beichte und
schrankenlosen Konfession gemacht. Auch im katholischen Gebiet, vor
allem in Paris, begann mit dem Zweifel am Bußsakrament die Kunst als
Psychologie. Der Blick in die Welt verschwand vor dem endlosen Wühlen
im eigenen Innern. Statt des Unendlichen wurde die Mit- und Nachwelt
der Menschen als Priester und Richter angerufen. Persönliche Kunst
in dem Sinne, wie er Goethe von Dante, Rembrandt von Michelangelo
unterscheidet, ist ein Ersatz für das Sakrament der Buße, aber damit
befindet sich diese Kultur schon mitten in ihrer Spätzeit.[322]


18

Reformation bedeutet in allen Kulturen dasselbe: Rückführung der
Religion zur Reinheit ihrer ursprünglichen Idee, wie sie in den
großen Jahrhunderten am Anfang in Erscheinung getreten war. Diese
Bewegung fehlt in keiner Kultur, ob wir davon wissen wie in Ägypten
oder nicht wie in China. Sie bedeutet auch, daß die Stadt und damit der
bürgerliche Geist sich von der Seele des Landes allmählich befreien,
ihrer Allmacht entgegentreten und das Fühlen und Denken der stadtlosen
Urstände in Bezug auf sich selbst nachprüfen. Daß diese Bewegung in
der magischen und faustischen Kultur zur Abspaltung neuer Religionen
geführt hat, ist Schicksal und liegt nicht in ihrem Begriff. Es ist
bekannt, wie wenig unter Karl V. gefehlt hat, daß Luther der Reformator
der Gesamtkirche wurde.

Denn Luther war wie alle Reformatoren in allen Kulturen nicht der
erste, sondern +der letzte einer mächtigen Reihe+, die von
den großen Asketen des freien Landes zu städtischen Geistlichen
hinüberleitet. Reformation ist Gotik, ihre Vollendung und ihr
Testament. Luthers Choral: „Ein feste Burg“ gehört +nicht+ zur
geistlichen Lyrik des Barock. In ihm dröhnt noch das prachtvolle
Latein des _Dies irae_. Es ist das letzte gewaltige Teufelslied
der streitenden Kirche: „Und wenn die Welt voll Teufel wär“. Er, wie
alle Reformatoren, die seit 1000 aufstanden, bekämpfte die Kirche
nicht, weil sie zu anspruchsvoll, sondern weil sie es zu wenig war. Der
große Strom geht von Cluny über Arnold von Brescia, der die Rückkehr
der Kirche zu apostolischer Armut forderte und 1155 verbrannt wurde,
Joachim von Floris, der zuerst das Wort _reformare_ gebraucht, die
Spiritualen des Franziskanerordens, Jacopone da Todi, den Revolutionär
und Dichter des Stabat Mater, der durch den Tod seines jungen Weibes
vom Ritter zum Asketen wurde und Bonifaz VIII. stürzen wollte, weil er
die Kirche nicht streng genug verwaltete, über Wiclif, Hus, Savonarola
zu Luther, Karlstadt, Zwingli, Kalvin und -- Loyola. Sie wollen alle
das Christentum der Gotik innerlich vollenden, nicht überwinden. Und
ganz ebenso steht es mit Marcion, Athanasius, den Monophysiten und
Nestorianern, die auf den Konzilen von Ephesus und Chalcedon die Lehre
reinigen und zu ihrem Ursprung zurückführen wollen.[323] Aber auch die
antiken Orphiker des 7. Jahrhunderts waren die letzten und nicht die
ersten einer Reihe, die schon vor 1000 begonnen haben muß und ebenso
wie die Vollendung der Re-Religion mit dem Ausgang des Alten Reiches --
der ägyptischen Gotik -- einen Abschluß und keinen Neubeginn bedeutet.
Ganz ebenso gibt es eine reformatorische Vollendung der vedischen
Religion etwa im 10. Jahrhundert, worauf die brahmanische Spätzeit
einsetzt, und es muß im 9. Jahrhundert eine entsprechende Epoche in der
Religionsgeschichte Chinas gegeben haben.

Wie weit die Reformationen der einzelnen Kulturen sich auch sonst
unterscheiden mögen, sie wollen alle den Glauben, der sich allzuweit
in die Welt als Geschichte -- die „Zeitlichkeit“ -- verirrt hat,
in das Reich der Natur, des reinen Wachseins und des reinen,
zeitlosen, kausal durchherrschten Raumes zurückführen, aus der Welt
der Wirtschaft („Reichtum“) in die der Wissenschaft („Armut“), aus
patrizisch-ritterlichen Kreisen, denen auch Renaissance und Humanismus
angehören, in die geistlich-asketischen und endlich, was ebenso wichtig
als unmöglich war, aus dem politischen Ehrgeiz der Rassemenschen im
Priesterkleid in den Bereich der heiligen Kausalität, die nicht von
dieser Welt ist.

Man teilte damals im Abendland -- und die Lage war in den andern
Kulturen die gleiche -- das _corpus christianum_ der Bevölkerung
in die drei Stände des _status politicus_, _ecclesiasticus_
und _oeconomicus_ (Bürgertum) ein, aber da man von der Stadt und
nicht mehr von Pfalz und Dorf aus dachte, so gehörten zum ersten Stande
Beamte und Richter, zum zweiten die Gelehrten, und der Bauer wurde
vergessen. Von hier aus begreift sich der Gegensatz von Renaissance und
Reformation, der ein +Standesgegensatz+ ist und kein Unterschied
im Weltgefühl wie der von Renaissance und Gotik. Höfischer Geschmack
und klösterlicher Geist sind in die Stadt verpflanzt worden und stehen
sich hier gegenüber: in Florenz die Medici und Savonarola, im Hellas
des 8. und 7. Jahrhunderts die vornehmen Geschlechter der Polis,
in deren Kreise die homerischen Gesänge nun endlich aufgezeichnet
wurden, und die letzten, jetzt ebenfalls schreibenden Orphiker. Die
Renaissancekünstler und Humanisten sind die legitimen Nachfolger der
Troubadours und Minnesänger, und es führt eine Linie wie von Arnold
von Brescia zu Luther, so von Bertran de Born und Peire Cardinal über
Petrarca zu Ariost. Die Burg ist zum Stadthause und der Ritter zum
Patrizier geworden. Die ganze Bewegung haftet an Palästen, soweit sie
Höfe sind; sie beschränkt sich auf die Ausdrucksgebiete, die für eine
vornehme Gesellschaft in Betracht kamen; sie war heiter wie Homer,
weil sie höfisch war -- Probleme sind schlechter Geschmack; Dante und
Michelangelo haben wohl gefühlt, daß sie nicht dazu gehörten -- und
sie dringt über die Alpen an die Höfe des Nordens vor, nicht weil
sie Weltanschauung, sondern weil sie ein neuer Geschmack war. In der
„nordischen Renaissance“ der Handels- und Residenzstädte hat der feine
Ton des italienischen Patriziats lediglich den des französischen
Rittertums abgelöst.

Aber auch die letzten Reformatoren wie Savonarola und Luther waren
+städtische+ Mönche. Das unterscheidet sie bis ins Innerste von
Joachim und Bernhard. Ihre städtische und geistige Askese leitet
von der Einsiedelei stiller Täler zur Gelehrtenstube des Barock
hinüber. Das mystische Erlebnis Luthers, aus dem seine Lehre von der
Rechtfertigung hervorging, ist nicht das des heiligen Bernhard, der
Wälder und Hügel um sich und Wolken und Sterne über sich sah, sondern
das eines Mannes, der durch kleine Fenster auf Gassen, Hauswände
und Giebel hinausblickt. Die weite, gotterfüllte Natur liegt fern,
jenseits der Stadtmauer. Drinnen haust der vom Lande abgelöste freie
Geist. Innerhalb des städtischen, steinumgebenen Wachseins haben sich
Empfinden und Verstehen feindselig gesondert, und die städtische Mystik
der letzten Reformatoren ist durchaus die des reinen Verstehens, nicht
des Auges, eine Verklärung der Begriffe, welche die farbigen Gestalten
des frühen Mythus verblassen läßt.

Aber eben deshalb ist sie in ihrer wirklichen Tiefe die Sache der
Wenigsten. Nichts ist von der sinnlichen Fülle geblieben, die einst
auch dem Ärmsten einen Halt bot. Die gewaltige Tat Luthers ist eine
rein geistige Entscheidung. Er war nicht umsonst auch der letzte
große Scholastiker aus der Schule Occams.[324] Er hat die faustische
Persönlichkeit vollkommen befreit; zwischen ihr und dem Unendlichen
verschwindet die vermittelnde Person des Priesters. Sie ist jetzt
ganz allein, ganz auf sich selbst gestellt, ihr eigener Priester und
Richter. Aber das Volk konnte den befreienden Zug darin nur empfinden,
nicht verstehen. Es hat, und zwar mit Begeisterung, das Zerbrechen
sichtbarer Pflichten begrüßt; daß sie durch noch strengere, rein
geistige Pflichten ersetzt wurden, begriff es nicht mehr. Franz
von Assisi hat viel gegeben und wenig genommen, die städtischen
Reformatoren nahmen viel und gaben den meisten zu wenig zurück.

Die heilige Kausalität des Bußsakraments ersetzte Luther durch das
mystische Erlebnis der inneren Lossprechung „allein durch den Glauben“.
Darin kommt er Bernhard von Clairvaux sehr nahe: Das ganze Leben
eine Buße, nämlich eine ununterbrochene geistige Askese gegenüber
der sichtbaren im äußeren Werke. Die innere Lossprechung haben beide
als göttliches Wunder verstanden: Indem der Mensch sich verwandelt,
verwandelt er auch Gott. Was aber keine rein geistige Mystik ersetzen
kann, ist das Du draußen, in der freien Natur. Sie haben beide ermahnt:
Du mußt auch glauben, daß Gott dir vergeben hat; aber für jenen wurde
der Glaube durch die Macht des Priesters zum Wissen erhoben, für
diesen sank er zum Zweifel, zur Verzweiflung herab. Dies kleine, aus
dem Kosmischen abgelöste, in ein Einzeldasein verschlagene Ich, allein
in der schreckhaftesten Bedeutung, bedurfte der Nähe eines mächtigen
Du und um so mehr, je schwächer der Geist war. Darin liegt die letzte
Bedeutung des abendländischen Priesters, der seit 1215 durch das
Sakrament der Priesterweihe und den _character indelebilis_ aus
der übrigen Menschheit herausgehoben war: eine Hand, mit der auch der
Ärmste Gott ergreifen konnte. Diese +sichtbare+ Verbindung mit dem
Unendlichen hat der Protestantismus zerstört. Starke Geister eroberten
es sich zurück, den Schwachen ging es langsam verloren. Bernhard, dem
für sich das innere Wunder gelang, wollte doch den andern den milderen
Weg nicht nehmen; gerade für seine lichte Seele war die Marienwelt
überall in der lebendigen Natur das ewig Nahe und Hilfsbereite. Luther,
der nur sich, nicht die Menschen gekannt hat, setzte an die Stelle der
wirklichen Schwäche den geforderten Heroismus. Für ihn war das Leben
ein verzweifelter Kampf gegen den Teufel und den forderte er von jedem.
Und jeder stand in diesem Kampfe allein.

Die Reformation hat die ganze lichte und tröstende Seite des gotischen
Mythus beseitigt: den Marienkult, die Heiligenverehrung, die
Reliquien, die Bilder, die Wallfahrten, das Meßopfer. Der Teufels-
und Hexenmythus blieb, denn er war die Verkörperung und Ursache der
inneren Qual, die nun erst zu ihrer letzten Größe heranwuchs. Die Taufe
war wenigstens für Luther ein Exorzismus, das eigentliche Sakrament
der Teufelsbannung. Es entstand eine große, rein protestantische
Teufelsliteratur.[325] Von dem Farbenreichtum der Gotik blieb das
Schwarz, von ihren Künsten die Musik und zwar die Orgelmusik zurück.
Aber an Stelle der mythischen Lichtwelt, deren hilfreiche Nähe der
Volksglaube doch nicht entbehren konnte, tauchte nun aus längst
verschollener Tiefe ein Stück des altgermanischen Mythus wieder auf.
Es geschah so heimlich, daß es in seiner wahren Bedeutung noch gar
nicht erkannt worden ist. Man sagt zu wenig, wenn man von Volkssage
und Volksbrauch redet: Es war ein echter Mythus und ein echter Kultus,
der in dem festen Glauben an Zwerge, Kobolde, Nixen, Hausgeister,
schweifende Seelen, und in den mit heiliger Scheu geübten Riten,
Opferhandlungen und Bannungen steckt. In Deutschland wenigstens trat
die Sage unbemerkt an Stelle des Marienmythus. Maria hieß nun Frau
Holde und wo einst ein Heiliger gestanden hatte, erschien jetzt der
getreue Eckart. Im englischen Volk entstand etwas, das dort längst als
Bibelfetischismus bezeichnet worden ist.

Was Luther fehlte, ein ewiges Verhängnis für Deutschland, war der Blick
für Tatsachen und die Kraft der praktischen Organisation. Er hat weder
seine Lehre in ein klares System gebracht noch die große Bewegung
geleitet und ihr ein bestimmtes Ziel gesetzt. Beides leistete allein
sein großer Nachfolger Kalvin. Während die lutherische Bewegung im
mittleren Europa führerlos weitertrieb, betrachtete er seine Herrschaft
in Genf als den Ausgangspunkt einer planmäßigen Unterwerfung der Welt
unter das rücksichtslos zu Ende gedachte System des Protestantismus.
Deshalb wurde er und er allein eine Weltmacht. Deshalb war es der
Entscheidungskampf zwischen den Geistern Kalvins und Loyolas, der seit
dem Untergang der spanischen Armada die Weltpolitik im Staatensystem
des Barock und den Kampf um die Herrschaft der Meere völlig beherrscht
hat. Während Reformation und Gegenreformation in Mitteleuropa um eine
kleine Reichsstadt oder ein paar elende Schweizerkantone rangen, fielen
in Kanada, an der Gangesmündung, am Kap, am Mississippi Entscheidungen
zwischen Frankreich, Spanien, England und den Niederlanden, in denen
überall diese beiden großen Organisatoren der Spätreligion des
Abendlandes sich gegenüberstanden.


19

Die geistige Gestaltungskraft der Spätzeit beginnt nicht mit, sondern
nach der Reformation. Ihre eigentlichste Schöpfung ist die freie
Wissenschaft. Die Gelehrsamkeit war noch für Luther durchaus _ancilla
theologiae_ gewesen. Kalvin ließ den freigeistigen Arzt Servet
verbrennen. Das Denken der ägyptischen, vedischen und orphischen
Frühzeit empfand seine Bestimmung so, daß Kritik den Glauben zu
bestätigen hatte. Gelang es nicht, so war das kritische Verfahren
falsch. Wissen war gerechtfertigter, nicht widerlegter Glaube.

Jetzt aber ist die kritische Kraft des städtischen Geistes so groß
geworden, daß sie nicht mehr bestätigt, sondern prüft. Der Bestand an
Glaubenswahrheiten, und zwar mit dem Verstand, nicht mit dem Herzen
aufgenommen, wird das erste bloße Objekt zerlegender Geistestätigkeit.
Das unterscheidet die Scholastik der Frühzeit von der wirklichen
Philosophie des Barock und also auch neuplatonisches und islamisches,
vedisches und brahmanisches, orphisches und vorsokratisches Denken.
Die -- man möchte sagen profane -- Kausalität des Menschenlebens,
der Umwelt, des Erkennens wird Problem. Die ägyptische Philosophie
des Mittleren Reiches hat in +diesem+ Sinne den Wert des Lebens
abgemessen; vielleicht war ihr die chinesische -- vorkonfuzianische --
Spätphilosophie (etwa 800-500 v. Chr.) nahe verwandt, von der nur das
dem Kuan Tse († 645) zugeschriebene Buch einen dunklen Begriff gibt.
Ganz geringe Spuren deuten darauf hin, daß erkenntnistheoretische und
biologische Probleme im Mittelpunkt dieser echten und einzigen, ganz
verschwundenen Philosophie Chinas gestanden haben.

Innerhalb der Barockphilosophie steht die abendländische
Naturwissenschaft ganz für sich. Etwas Ähnliches besitzt keine
andere Kultur. Sicherlich war sie von Anfang an nicht die Magd der
Theologie, sondern +Dienerin des technischen Willens zur Macht und
nur deshalb+ mathematisch und experimentell gerichtet und von Grund
aus +praktische+ Mechanik. Da sie durch und durch zuerst Technik
ist und dann Theorie, so muß sie so alt sein wie der faustische Mensch
überhaupt. Technische Arbeiten von einer erstaunlichen Energie der
Kombination erscheinen schon um 1000. Schon im 13. Jahrhundert hat
Robert Grosseteste den Raum als Funktion des Lichtes behandelt, Petrus
Peregrinus 1289 die bis auf Gilbert (1600) herab beste, experimentell
begründete Abhandlung über den Magnetismus geschrieben und beider
Schüler Roger Bacon eine naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie
als Grundlage für seine technischen Versuche entwickelt. Aber die
Kühnheit im Entdecken dynamischer Zusammenhänge geht noch viel
weiter. Das kopernikanische System ist in einer Handschrift von 1322
angedeutet und einige Jahrzehnte darauf von den Schülern Occams
zu Paris, Buridan, Albert von Sachsen und Nikolas von Oresme, in
Verbindung mit der vorweggenommenen Mechanik Galileis mathematisch
entwickelt worden.[326] Man täusche sich nicht über die letzten
Triebe, die all diesen Entdeckungen zugrunde liegen: das reine
Schauen hätte des Experiments nicht bedurft, aber das faustische
Symbol der Maschine, das schon im 12. Jahrhundert zu mechanischen
Konstruktionen trieb und das Perpetuum mobile zum Prometheusgedanken
des abendländischen Geistes gemacht hat, konnte es nicht entbehren.
+Die Arbeitshypothese ist immer das erste+, gerade das, was für
keine andre Kultur einen Sinn hatte. Man muß sich durchaus mit der
erstaunlichen Tatsache vertraut machen, daß der Gedanke, jede Kenntnis
von natürlichen Zusammenhängen sofort praktisch auszubeuten, den
Menschen durchaus fernliegt mit Ausnahme der faustischen und derer,
die wie die Japaner, Juden und Russen heute unter dem geistigen Zauber
ihrer Zivilisation stehen. Daß unser Weltbild dynamisch angelegt ist,
enthält schon den Begriff der Arbeitshypothese. Erst das zweite ist
für jene grübelnden Mönche die Theorie, das wirkliche „Schauen“, und
ganz unvermerkt, wie sie aus der technischen Leidenschaft entstanden
war, leitete sie nun hinüber zu der echt faustischen Auffassung
Gottes als des großen Maschinenmeisters, der alles konnte, was sie
selbst in ihrer Ohnmacht nur zu wollen wagten. Unvermerkt wird die
Welt Gottes von einem Jahrhundert zum andern dem Perpetuum mobile
ähnlicher. Und als, ebenfalls ganz unvermerkt, vor dem immer mehr
durch Experiment und technische Erfahrung geübten Blick auf die Natur
der gotische Mythus schattenhaft wurde, entstanden aus den Begriffen
mönchischer Arbeitshypothesen seit Galilei jene kritisch abgeklärten
_numina_ der modernen Naturwissenschaft, die Stoß- und Fernkräfte,
die Gravitation, die Lichtgeschwindigkeit, endlich „die“ Elektrizität,
die im elektrodynamischen Weltbilde durch Einverleibung der übrigen
Energieformen eine Art von physikalischem Monotheismus erreicht hat.
Es sind die Begriffe, welche den Formeln unterlegt werden, um ihnen
mythische Anschaulichkeit zu verleihen. Die Zahlen selbst sind Technik,
Hebel und Schrauben, abgelauschtes Weltgeheimnis. Das antike und jedes
andre Naturdenken brauchte keine Zahlen, weil es keine Macht erstrebte.
Die +reine+ Mathematik des Pythagoras und Platon steht zu den
Naturansichten des Demokrit und Aristoteles in gar keiner Beziehung.

Wie in der Antike Prometheus’ Trotz gegen die Götter als Hybris, so ist
vom Barock die Maschine als teuflisch empfunden worden. Der Höllengeist
hatte dem Menschen das Geheimnis verraten, sich des Weltmechanismus zu
bemächtigen und selbst den Gott zu spielen. Deshalb herrscht bei allen
rein priesterlichen Naturen, die ganz im Reiche des Geistes leben und
nichts von „dieser Welt“ erwarten, vor allem bei den idealistischen
Philosophen, den Klassizisten, den Humanisten, bei Kant, selbst bei
Nietzsche, ein feindseliges Schweigen über die Technik.

Jede späte Philosophie enthält den kritischen Protest gegen das
unkritische Schauen der Frühzeit. Aber diese Kritik eines seiner
Überlegenheit sicheren Geistes trifft auch den Glauben selbst und ruft
die einzige große Schöpfung im Religiösen hervor, die Eigentum der
Spätzeit ist und zwar jeder: den Puritanismus.

Er erscheint im Heere Cromwells und seiner eisernen, bibelfesten,
psalmensingend in die Schlacht ziehenden Independenten, im Kreise der
Pythagoräer, die im bittren Ernst ihrer Pflichtenlehre das fröhliche
Sybaris zerstörten und ihm für immer den Makel einer sittenlosen
Stadt anhängten, im Heere der ersten Khalifen, das nicht nur Staaten,
sondern auch die Seelen unterwarf. Miltons Verlorenes Paradies, manche
Suren des Koran, das wenige, was sich über pythagoräische Lehren
feststellen läßt -- das ist alles eins: Begeisterung eines nüchternen
Geistes, kalte Glut, trockne Mystik, pedantische Ekstase. Aber noch
einmal lodert doch eine wilde Frömmigkeit darin auf. Was die zur
unbedingten Herrschaft über die Seele des Landes gelangte große Stadt
an transzendenter Inbrunst aufbringen kann, das ist hier gesammelt,
wie mit der Angst, daß es künstlich und vorübergehend ist, und deshalb
ungeduldig, ohne Verzeihung, ohne Barmherzigkeit. Dem Puritanismus
nicht nur des Abendlandes, sondern aller Kulturen fehlen das Lächeln,
das die Religion aller Frühzeiten verklärt hatte, die Augenblicke
tiefer Lebensfreude, der Humor. Nichts von der stillen Glückseligkeit,
die in magischer Frühzeit in den Kindheitsgeschichten Jesu oder bei
Gregor von Nazianz so oft aufleuchtet, findet sich in den Suren des
Koran, nichts von der versonnenen Heiterkeit der Gesänge des heiligen
Franz bei Milton. Ein tödlicher Ernst ruht über den jansenistischen
Geistern von Port Royal und den Versammlungen der schwarzgekleideten
Rundköpfe, die das _old merry England_ Shakespeares, +auch+
ein Sybaris, in wenigen Jahren vernichtet haben. Der Kampf gegen den
Teufel, dessen leibhafte Nähe sie alle fühlten, wurde erst jetzt mit
einer finstren Erbitterung geführt. Im 17. Jahrhundert sind mehr als
eine Million Hexen verbrannt worden und nicht nur im protestantischen
Norden und katholischen Süden, sondern auch in Amerika und Indien.
Freudlos und gallig ist die Pflichtenlehre des Islam (_fikh_) mit
ihrer harten Verständigkeit so gut wie die des Westminsterkatechismus
(1643) und die Ethik der Jansenisten (Jansens „Augustinus“ 1640) --
denn auch im Reiche Loyolas gab es mit innerer Notwendigkeit eine
puritanische Bewegung. Religion ist erlebte Metaphysik, aber sowohl
die Gemeinschaft der Heiligen, wie die Independenten sich nannten, als
die Pythagoräer, als die Umgebung Mohameds erlebten sie nicht mit den
Sinnen, sondern zuerst als Begriff. Parshva, der um 600 v. Chr. am
Ganges die Sekte der „Entfesselten“ gründete, lehrte wie die andern
Puritaner seiner Zeit, daß nicht Opfer und Riten, sondern allein die
Erkenntnis der Identität von Atman und Brahman zur Erlösung führe.
Ein zügelloser und doch trockener allegorischer Geist ist in aller
puritanischen Dichtung an die Stelle gotischer Visionen getreten. Der
Begriff ist die wahre und einzige Macht im Wachsein dieser Asketen.
Um Begriffe und nicht wie Meister Eckart um Gestalten ringt Pascal.
Man verbrennt Hexen, weil sie bewiesen sind und nicht, weil man sie
nachts in den Lüften sieht; die protestantischen Juristen wenden
den Hexenhammer der Dominikaner an, weil er auf Begriffen errichtet
ist. Die Madonnen der frühen Gotik waren den Betenden erschienen,
die Madonnen Berninis hat niemand gesehen. Sie sind vorhanden,
weil sie bewiesen sind, und man begeistert sich für diese Art von
Existenz. Cromwells großer Staatssekretär Milton verkleidet Begriffe
in Gestalten und Bunyan hat einen ganzen Begriffsmythus in eine
ethisch-allegorische Handlung gebracht. Ein Schritt weiter und man
steht vor Kant, aus dessen Begriffsethik zuletzt der Teufel als Begriff
in Gestalt des Radikal-Bösen herauswuchs.

Man muß sich vom Oberflächenbilde der Geschichte befreien und ganz
über die künstlichen Grenzen hinwegsetzen können, welche die Methodik
abendländischer Einzelwissenschaften gezogen hat, um zu sehen, daß
Pythagoras, Mohamed und Cromwell in drei Kulturen ein und dieselbe
Bewegung verkörpern.

Pythagoras war kein Philosoph. Nach allen Aussagen der
vorsokratischen Denker war er ein Heiliger, Prophet und Stifter
eines fanatisch-religiösen Bundes, der seine Wahrheiten mit allen
politischen und militärischen Mitteln der Umgebung aufzwang. In der
Zerstörung von Sybaris durch Kroton, die sicherlich nur als Höhepunkt
eines wilden Religionskrieges in der geschichtlichen Erinnerung
haften blieb, entlud sich derselbe Haß, der auch in Karl I. von
England und seinen fröhlichen Kavalieren nicht nur eine Irrlehre,
sondern auch die weltliche Gesinnung ausrotten wollte. Ein gereinigter
und begrifflich befestigter Mythus mit einer rigorosen Sittenlehre
verlieh den Auserwählten des Pythagoräerbundes die Überzeugung,
vor allen andern zum Heil zu gelangen. Die in Thurioi und Petelia
gefundenen Goldtäfelchen, welche den Leichen der Geweihten in die Hand
gegeben wurden, enthielten die Versicherung des Gottes: Seliger und
Gebenedeiter, du wirst nicht mehr ein Sterblicher, sondern ein Gott
sein. Es ist dieselbe Überzeugung, die der Koran all denen verlieh, die
im heiligen Kriege gegen die Ungläubigen fochten -- „das Mönchtum des
Islam ist der Religionskrieg“ lautet ein Hadith des Propheten -- und
mit welcher Cromwells Eisenseiten die „Philister und Amalekiter“ des
königlichen Heeres bei Marston Moor und Naseby zersprengten.

Der Islam ist so wenig eine Wüstenreligion wie der Glaube Zwinglis eine
Religion des Hochgebirges. Es ist ein Zufall, daß die puritanische
Bewegung, für welche die magische Welt reif geworden war, von
einem Manne aus Mekka und weder von einem Monophysiten noch Juden
ausging. Denn im nördlichen Arabien lagen die christlichen Staaten
der Ghassaniden und Lachmiden, und im sabäischen Süden wurden
christlich-jüdische Religionskriege geführt, an denen die Staatenwelt
von Axum bis zum Sassanidenreich beteiligt war. Auf dem Fürstenkongreß
von Marib[327] wird kaum ein Heide erschienen sein, und bald darauf
kam Südarabien unter persische, also mazdaische Verwaltung. Mekka war
eine kleine Insel altarabischen Heidentums mitten in einer Welt von
Juden und Christen, ein kleiner Rest, der längst von den Gedanken der
großen magischen Religionen durchsetzt war. Das wenige, was von diesem
Heidentum in den Koran eindrang, ist durch den Kommentar der Sunna und
ihren syrisch-mesopotamischen Geist später forterklärt worden. Der
Islam ist eine neue Religion fast nur in dem Sinne, wie das Luthertum
eine war. In Wirklichkeit setzt er die großen Frühreligionen fort. Und
ebensowenig ist seine Ausbreitung, wie immer noch geglaubt wird, eine
Völkerwanderung, die von der arabischen Halbinsel ausgeht, sondern ein
Ansturm begeisterter Bekenner, der lawinengleich die Christen, Juden
und Mazdaisten mit sich reißt und als fanatische Moslime alsbald an der
Spitze führt. Es waren Berber aus der Heimat Augustins, die Spanien
eroberten, und Perser aus dem Irak, die zum Oxus vordrangen. Die Feinde
von gestern wurden die Vorkämpfer von morgen. Die meisten „Araber“, die
717 zum ersten Male Byzanz angriffen, sind als Christen geboren worden.
650 erlischt mit einem Schlage die byzantinische Literatur,[328]
ohne daß der tiefere Sinn davon bis jetzt bemerkt worden wäre: diese
Literatur setzte sich in der arabischen fort; die Seele der magischen
Kultur fand endlich im Islam ihren wahren Ausdruck. Damit ist diese
Kultur wirklich „arabisch“ und endgültig von der Pseudomorphose erlöst
worden. Der vom Islam geführte, von Monophysiten und Juden längst
vorbereitete Bildersturm fährt auch über Byzanz hin, wo der Syrer
Leo III. (717-41) diese puritanische Bewegung islamisch-christlicher
Sekten, der Paulikianer (um 650) und späteren Bogomilen, zur Herrschaft
brachte.

Die großen Gestalten der Umgebung Mohameds wie Abu Bekr und Omar
sind durchaus den puritanischen Führern der englischen Revolution
wie John Pym und Hampden verwandt, und diese Ähnlichkeit der
Gesinnung und Haltung würde noch größer sein, wüßten wir mehr von
den Hanifen, den arabischen Puritanern vor und neben Mohamed. Sie
besaßen alle das Bewußtsein einer großen Sendung, das sie Leben und
Besitz verachten ließ; sie hatten alle aus der Prädestination für
sich die Bürgschaft gewonnen, die Auserwählten Gottes zu sein. Der
großartig alttestamentliche Schwung in den Parlamenten und Heerlagern
der Independenten, der noch im 19. Jahrhundert in vielen englischen
Familien den Glauben zurückgelassen hatte, daß die Engländer Nachkommen
der zehn Stämme Israels seien, ein Volk von Heiligen, dem die Lenkung
der Welt bestimmt sei, hat auch die Auswanderung nach Amerika
beherrscht, die mit den Pilgervätern von 1620 ihren Anfang nahm; er hat
das geschaffen, was man heute die amerikanische Religion nennen darf,
und das herangezüchtet, was der Engländer noch jetzt an politischer
Unbedenklichkeit besitzt, die ganz religiös auf der Gewißheit der
Prädestination gegründet ist. Selbst die Pythagoräer haben -- etwas
Unerhörtes in der antiken Religionsgeschichte -- die politische Macht
zu religiösen Zwecken in die Hand genommen und den Puritanismus von
Polis zu Polis durchzusetzen versucht. Überall sonst gab es Einzelkulte
in Einzelstaaten, von denen jeder den andern in seinen religiösen
Übungen unbeachtet ließ; nur hier findet sich eine Gemeinschaft
von Heiligen, deren praktische Energie über die der alten Orphiker
ebensoweit hinausgeht wie die independentische Kampfbegeisterung über
die der Reformationskriege.

Aber im Puritanismus liegt schon der Rationalismus verborgen, der nach
einigen Generationen der Begeisterung überall hervorbricht und die
Herrschaft an sich nimmt. Es ist der Schritt von Cromwell zu Hume.
Nicht die Stadt überhaupt, auch nicht die große Stadt, sondern einzelne
wenige Städte sind nun Schauplatz der Geistesgeschichte geworden, das
sokratische Athen, das Bagdad der Abbassiden, das London und Paris des
18. Jahrhunderts. Aufklärung ist das Wort für diese Zeit, die Sonne
bricht hervor -- aber was ist es, was da am Himmel des kritischen
Bewußtseins abzieht?

Rationalismus bedeutet den Glauben +allein+ an die Ergebnisse des
kritischen Verstehens, also an den „Verstand“. Wenn in einer Frühzeit
das _credo quia absurdum_ ausgesprochen wurde, so lag darin die
Gewißheit, daß Begreifliches und Unbegreifliches erst +zusammen+
die Welt bilden, die Natur, die Giotto malte, in welche die Mystiker
sich versenkten, in welche der Verstand nur so tief dringen kann, als
die Gottheit es gestattet. Jetzt entsteht aus einem stillen Ärger der
Begriff des Irrationalen; es ist das, was durch seine Unbegreiflichkeit
bereits entwertet ist. Man kann es als Aberglauben offen oder als
Metaphysik heimlich verachten; Wert besitzt nur das kritisch gesicherte
Verstehen. Und Geheimnisse sind nichts als Beweise der Unwissenheit.
Die neue +geheimnislose+ Religion heißt in ihren höchsten
Möglichkeiten Weisheit, σοφία; ihr Priester ist der Philosoph und ihr
Anhänger der Gebildete. Nur für den Ungebildeten ist die alte Religion
unentbehrlich, meint Aristoteles,[329] und das ist durchaus die Meinung
von Konfuzius und Gotamo Buddha, Lessing und Voltaire. Man kehrt zur
Natur zurück, von aller Kultur, aber es ist keine erlebte, sondern
eine bewiesene, aus dem Verstand geborene und ihm allein zugängliche
Natur, die für das Bauerntum gar nicht vorhanden ist, und man wird von
ihr nicht erschüttert, sondern in eine empfindsame Stimmung versetzt.
Natürliche Religion, Vernunftreligion, Deismus, das ist alles nicht
erlebte Metaphysik, sondern begriffene Mechanik, das, was Konfuzius
„Gesetze des Himmels“ und der Hellenismus Tyche nennt. Einst war
Philosophie die Dienerin der jenseitigsten Religiosität, jetzt kommt
die Empfindung auf, Philosophie müsse Wissenschaft sein, nämlich
Erkenntniskritik, Naturkritik, Wertkritik. Zwar fühlt man, daß sie auch
jetzt nichts ist als abgeschwächte Dogmatik, Glaube an ein Wissen, das
reines Wissen sein +möchte+. Man spinnt Systeme aus scheinbar
gesicherten Anfängen heraus, aber man sagt zuletzt doch nur statt
Gott Kraft und statt Ewigkeit Erhaltung der Energie. Allem antiken
Rationalismus liegt der Olymp, allem abendländischen die Lehre von den
Sakramenten zugrunde. Deshalb schwankt diese Philosophie hin und her
zwischen Religion und Fachwissenschaft und wird in jedem Falle anders
definiert, je nachdem der Urheber noch etwas vom Priester und Seher in
sich hat oder reiner Fachmann und Techniker des Denkens ist.

„Weltanschauung“ ist der eigentliche Ausdruck für ein aufgeklärtes
Wachsein, das unter Leitung des kritischen Verstehens sich in einer
götterlosen Lichtwelt umsieht und die Sinne Lügen straft, sobald sie
etwas empfinden, was der gesunde Menschenverstand nicht anerkennt. Was
einst Mythus war, das Wirklichste des Wirklichen, unterliegt jetzt der
Methode des Euhemerismus, die nach jenem Gelehrten ihren Namen trägt,
welcher um 300 v. Chr. die antiken Gottheiten für Menschen erklärte,
die sich einst verdient gemacht hatten. In irgend einer Form erscheint
dies Verfahren in jeder aufgeklärten Zeit. Es ist euhemeristisch,
wenn die Hölle als das böse Gewissen, der Teufel als die böse Lust
und Gott als die Schönheit der Natur gedeutet werden. Dahin gehört es
auch, wenn auf attischen Grabsteinen um 400 an Stelle der Stadtgöttin
Athene eine Göttin Demos angerufen wird -- was andrerseits der
jakobinischen Göttin Vernunft sehr nahe kommt -- wenn Sokrates von
seinem Daimonion und andre Denker dieser Zeit vom Νοῦς statt von Zeus
sprechen. Konfuzius sagt „Himmel“ statt Schang ti, das heißt er glaubt
nur an Naturgesetze. Ein ungeheuerlicher Akt des Euhemerismus ist die
„Sammlung“ und „Ordnung“ der kanonischen Schriften Chinas durch die
Konfuzianer, die in Wirklichkeit eine Vernichtung fast aller alten
religiösen Werke und die rationalistische Verfälschung des Restes
bedeutete. Wäre es möglich gewesen, so hätten die Aufklärer des 18.
Jahrhunderts sich ebenso um das Erbe der Gotik verdient gemacht.[330]
Konfuzius gehört durchaus in das „18. Jahrhundert“ Chinas. Laotse,
der ihn verachtet, steht inmitten des Taoismus, einer Bewegung,
die nacheinander protestantische, puritanische und pietistische
Züge zum Vorschein gebracht hat, und beide verbreiten zuletzt eine
praktische Weltstimmung auf dem Hintergrunde einer ganz mechanistischen
Weltanschauung. Das Wort Tao hat seine Grundbedeutung im Verlauf
der chinesischen Spätzeit ebenso beständig verändert, und zwar in
mechanistischer Richtung, wie „Logos“ in der antiken Geistesgeschichte
von Heraklit bis Poseidonios und „Kraft“ von Galilei bis zur Gegenwart.
Was einst Mythus und Kultus großen Stils gewesen war, heißt in dieser
Religion der Gebildeten +Natur+ und +Tugend+, aber Natur
ist ein vernünftiger Mechanismus und +Tugend ist Wissen+: darüber
sind Konfuzius, Buddha, Sokrates und Rousseau einer Meinung. Von
Gebet und Betrachtungen über das Leben nach dem Tode hielt Konfuzius
wenig, von Offenbarungen gar nichts. Wer sich viel mit Opfern und
Kulten beschäftigt, ist ungebildet und unvernünftig. Gotamo Buddha und
sein Zeitgenosse Mahavira, der Stifter des Jainismus, die beide aus
der Staatenwelt am unteren Ganges, östlich vom alten brahmanischen
Kulturgebiet stammten, haben bekanntlich weder den Gottesbegriff noch
einen Mythus und Kultus anerkannt. Von der wahren Lehre Buddhas ist
wenig mehr festzustellen. Alles erscheint in die Farbe der späteren
Fellachenreligion seines Namens getaucht. Aber einer der zweifellos
echten Gedanken über das „ursachmäßige Entstehen“ ist die Ableitung
des Leidens +aus dem Nichtwissen+, nämlich der „vier edlen
Wahrheiten“. Das ist echter Rationalismus. Nirwana ist bei ihm eine
rein geistige Ablösung und entspricht durchaus der Autarkeia und
Eudaimonia der Stoiker. Es ist der Zustand des verstehenden Wachseins,
für welchen das Dasein nicht mehr vorhanden ist.

Für den Gebildeten solcher Zeiten ist der Weise das große Ideal.
Der Weise kehrt zur Natur zurück, nach Ferney oder Ermenonville, in
attische Gärten oder indische Wälder; es ist die geistigste Art,
Großstädter zu sein. Der Weise ist der Mensch der rechten Mitte. Seine
Askese besteht in einer maßvollen Geringschätzung der Welt zugunsten
der Meditation. Die Weisheit der Aufklärung wird nie die Bequemlichkeit
stören. Moral auf dem Hintergrunde des großen Mythus war immer ein
Opfer, ein Kult, bis zur härtesten Askese, bis zum Tode. Tugend auf
dem Hintergrunde der Weisheit ist eine Art von heimlichem Genuß, ein
feinster, geistigster Egoismus, und damit wird aus dem Sittenlehrer
jenseits der echten Religion ein Philister. Buddha, Konfuzius, Rousseau
sind Erzphilister bei aller Erhabenheit ihrer Gedankengänge, und nichts
kann über die Pedanterie der sokratischen Lebensweisheit hinweghelfen.

Zu dieser, man möchte sagen Scholastik des gesunden Menschenverstandes
gehört mit innerer Notwendigkeit eine rationalistische Mystik der
Gebildeten. Die Aufklärung des Abendlandes ist englischen Ursprungs
und das Ergebnis des Puritanismus: Von Locke geht der gesamte
Rationalismus des Festlands aus. Gegen ihn vor allem lehnen sich in
Deutschland die Pietisten auf (seit 1700 die Herrnhuter Brüdergemeinde,
Spener und Francke, in Württemberg Oetinger), in England die
Methodisten (1738 Wesley von Herrnhut aus „erweckt“). Es ist wieder
der Unterschied von Luther und Kalvin, daß diese sich alsbald zu einer
Weltbewegung organisierten und jene in mitteleuropäischen Konventikeln
verloren. Die Pietisten des Islam finden sich im +Sufismus+, der
nicht „persischen“, sondern allgemein aramäischen Ursprungs ist und
sich im 8. Jahrhundert von Syrien aus über die ganze arabische Welt
verbreitet. Pietisten oder Methodisten sind die indischen Laien, die
kurz vor Buddha die Erlösung vom Kreislauf des Lebens (_sansara_)
durch Versenkung in die Gleichheit von Brahman und Atman lehrten,
aber auch Laotse und seine Anhänger und trotz ihres Rationalismus
die kynischen Bettelmönche und Wanderprediger und die stoischen
Erzieher, Hausgeistlichen und Beichtväter des frühen Hellenismus.[331]
Es sind Steigerungen möglich bis zur rationalistischen Vision,
deren klassisches Beispiel Swedenborg ist, die bei den Stoikern und
Sufis eine ganze religiöse Phantasiewelt hervorgebracht hat und die
Umbildung des Buddhismus zum Mahayana vorbereitet. Die Entwicklung
des Buddhismus und Taoismus in ihrer ursprünglichen Bedeutung ist der
methodistischen in Amerika sehr ähnlich, und es ist kein Zufall, daß
beide am unteren Ganges und südlich des Jangtsekiang, also in den
jungen Siedelungsgebieten beider Kulturen zur vollen Blüte gelangt sind.


20

Zwei Jahrhunderte nach dem Puritanismus steht die mechanistische
Weltauffassung auf ihrem Gipfel. Sie ist die wirkliche Religion der
Zeit. Auch wer jetzt noch überzeugt ist, im alten Sinne religiös zu
sein, „an Gott zu glauben“, täuscht sich nur über die Welt, in der
sich sein Wachsein spiegelt. Religiöse Wahrheiten sind in seinem
Verstehen immer mechanistische Wahrheiten, und meist ist es nur die
Gewohnheit der Worte, welche die wissenschaftlich gesehene Natur
mythisch überfärbt. Kultur ist immer gleichbedeutend mit religiöser
Gestaltungskraft. Jede große Kultur beginnt mit einem gewaltigen
Thema, das sich aus dem stadtlosen Lande erhebt, in den Städten mit
ihren Künsten und Denkweisen vielstimmig durchgeführt wird und in den
Weltstädten im Finale des Materialismus ausklingt. Aber selbst die
letzten Akkorde halten streng die Tonart des Ganzen fest. Es gibt
einen chinesischen, indischen, antiken, arabischen, abendländischen
Materialismus, der in jedem einzelnen Falle nichts ist, als die
ursprüngliche mythische Gestaltenfülle, unter Abziehung alles Erlebten
und Erschauten mechanistisch gefaßt.

Yang Dschu hat in diesem Sinne den konfuzianischen Rationalismus zu
Ende gedacht. Das System des Lokayata setzt die dem Gotamo Buddha,
Mahavira und den übrigen Pietisten ihrer Zeit gemeinsame Verachtung
der entseelten Welt ebenso fort, wie diese Verachtung den Atheismus
der Sankhyalehre. Sokrates ist so gut der Erbe der Sophisten wie der
Ahnherr der kynischen Wanderprediger und der pyrrhonischen Skepsis. Es
ist stets die Überlegenheit des mit dem Irrationalen endgültig fertig
gewordenen Weltstadtgeistes, der mit Verachtung auf jedes Wachsein
herabsieht, das noch Geheimnisse kennt und anerkennt. Gotische Menschen
schauerten auf Schritt und Tritt vor dem Unergründlichen zurück, das
in den Wahrheiten der Lehre nur noch ehrfurchtgebietender vor sie
hin trat. Aber selbst der moderne Katholik empfindet diese Lehre nun
als System, das alle Welträtsel gelöst hat. Das Wunder erscheint
ihm gleichsam als physikalisches Ereignis höherer Ordnung, und ein
englischer Bischof glaubt an die Möglichkeit, die elektrische Kraft und
die Kraft des Gebets aus einem einheitlichen Natursystem ableiten zu
können. Es ist der Glaube allein an Kraft und Stoff, auch wenn man die
Worte Gott und Welt oder Vorsehung und Mensch gebraucht.

Ganz für sich steht wieder der faustische Materialismus im engeren
Sinne, in dem die technische Weltanschauung ihre Vollendung erreicht
hat. Die ganze Welt als dynamisches System, exakt, mathematisch
angelegt, experimentell bis in die letzten Ursachen aufzuschließen
und in Zahlen zu fassen, so daß der Mensch sie beherrschen kann: das
unterscheidet diese Rückkehr zur Natur von jeder andern. Wissen ist
Tugend -- das glaubten auch Konfuzius, Buddha und Sokrates. Wissen
ist Macht -- das hat nur innerhalb der europäisch-amerikanischen
Zivilisation einen Sinn. Diese Rückkehr zur Natur bedeutet die
Ausschaltung aller Mächte, die zwischen der praktischen Intelligenz
und der Natur stehen. Überall sonst hat sich der Materialismus
begnügt, scheinbar einfache Einheiten anschaulich oder begrifflich
festzustellen, deren kausales Spiel alles ohne jeden Rest von Geheimnis
erklärt, und das Übernatürliche auf Unwissenheit zurückzuführen.
Aber der große Verstandesmythus von Energie und Masse ist zugleich
eine ungeheure +Arbeitshypothese+. Er zeichnet das Naturbild
so, daß man es +gebrauchen+ kann. Das Schicksalhafte wird als
Evolution, Entwicklung, Fortschritt mechanisiert und mitten in das
System gestellt, der Wille ist ein Eiweißprozeß, und alle diese Lehren,
nenne man sie Monismus, Darwinismus, Positivismus, erheben sich damit
zu einer Zweckmäßigkeitsmoral, die dem amerikanischen Geschäftsmann
und englischen Politiker ebenso einleuchtet wie dem deutschen
Fortschrittsphilister und die im letzten Grunde nichts ist als eine
intellektuelle Karikatur der Rechtfertigung durch den Glauben.

Der Materialismus würde nicht vollständig sein ohne das Bedürfnis,
die geistige Spannung hin und wieder loszuwerden, sich in mythische
Stimmungen fallen zu lassen, irgend etwas Kultisches zu betreiben, um
zur innern Entlastung den Reiz des Irrationalen, des Wesensfremden, des
Absonderlichen, wenn es sein muß, auch des Albernen zu genießen. Was
in der Zeit etwa des Meng Tse (372-289) und der ersten buddhistischen
Brüdergemeinden noch jetzt deutlich hervortritt, gehört in ganz
derselben Bedeutung auch zu den wichtigsten Zügen des Hellenismus.
Um 312 wurde in Alexandria von dichtenden Gelehrten in der Art des
Kallimachos der Sarapiskult erfunden und mit einer ausgeklügelten
Legende versehen. Der Isiskult im republikanischen Rom war etwas,
das man mit dem nachmaligen Kult der Kaiserzeit und mit der sehr
ernsten Isisreligion Ägyptens nicht verwechseln darf, nämlich ein
religiöser Zeitvertreib der guten Gesellschaft, der den Anlaß teils
zu öffentlichem Spott gab, teils zu Skandalen und zur Schließung des
Kultgebäudes, die 59-48 viermal angeordnet wurde. Die chaldäische
Astrologie war damals eine +Mode+, weit entfernt von dem echt
antiken Orakelglauben und dem magischen Glauben an die Macht der
Stunde. Es war „Entspannung“; man machte sich und anderen etwas
vor, und dazu kamen die zahllosen Charlatane und Schwindelpropheten,
die alle Städte durchzogen und mit wichtigtuenden Bräuchen den
Halbgebildeten eine religiöse Erneuerung einzureden suchten. Dem
entspricht in der heutigen europäisch-amerikanischen Welt der
okkultistische, und theosophische Schwindel, die amerikanische
Christian Science, der verlogene Salonbuddhismus, das religiöse
Kunstgewerbe, das in Deutschland mehr noch als in England mit
gotischen, spätantiken und taoistischen Stimmungen in Kreisen und
Kulten betrieben wird. Es ist überall das bloße Spiel mit Mythen, an
die man nicht glaubt, und der bloße Geschmack an Kulten, mit denen man
die innere Öde ausfüllen möchte. Der wirkliche Glaube ist noch immer
der an Atome und Zahlen, aber er bedarf des gebildeten Hokuspokus,
um auf die Länge ertragen zu werden. Der Materialismus ist flach und
ehrlich, das Spielen mit Religion ist flach und unehrlich; aber damit,
daß es überhaupt möglich ist, verweist es schon auf ein neues und
echtes Suchen, das sich leise im zivilisierten Wachsein meldet und
zuletzt deutlich an den Tag tritt.

Was nun folgt, nenne ich die +zweite Religiosität+. Sie erscheint
in allen Zivilisationen, sobald diese zur vollen Ausbildung gelangt
sind und langsam in den geschichtslosen Zustand hinübergehen, für
den Zeiträume keine Bedeutung mehr haben. Daraus ergibt sich, daß
die abendländische Welt von dieser Stufe noch um viele Generationen
entfernt ist. Die zweite Religiosität ist das notwendige Gegenstück
zum Cäsarismus, der endgültigen +politischen+ Verfassung später
Zivilisationen. Sie wird demnach in der Antike etwa von Augustus
an sichtbar, in China etwa mit Schi Hoang Ti. Beiden Erscheinungen
fehlt die schöpferische Urkraft der frühen Kultur. Ihre Größe liegt
dort in der tiefen Frömmigkeit, welche das ganze Wachsein ausfüllt
-- Herodot nannte die Ägypter die frömmsten Menschen der Welt, und
denselben Eindruck machen China, Indien und der Islam auf den heutigen
Westeuropäer -- und hier in der fessellosen Gewalt ungeheuerster
Tatsachen, aber die Schöpfungen dieser Frömmigkeit sind ebensowenig
etwas Ursprüngliches wie die Form des römischen Imperiums. Es wird
nichts aufgebaut, es entfaltet sich keine Idee, sondern es ist, als
zöge ein Nebel vom Lande ab und die alten Formen träten erst ungewiß,
dann immer klarer wieder hervor. Die zweite Religiosität enthält, nur
anders erlebt und ausgedrückt, wieder den Bestand der ersten, echten
und frühen. Zuerst verliert sich der Rationalismus, dann kommen die
Gestalten der Frühzeit zum Vorschein, zuletzt ist es die ganze Welt
der primitiven Religion, die vor den großen Formen des Frühglaubens
zurückgewichen war und nun in einem volkstümlichen Synkretismus, der
auf dieser Stufe keiner Kultur fehlt, mächtig wieder hervordringt.

Jede Aufklärung schreitet von einem schrankenlosen
Verstandesoptimismus, der stets mit dem Typus des Großstadtmenschen
verbunden ist, zur unbedingten Skepsis fort. Das souveräne Wachsein,
das durch Gemäuer und Menschenwerk rings von der lebendigen Natur
und von dem Lande unter sich abgeschnitten ist, erkennt nichts an
außer sich. Es übt Kritik an seiner vorgestellten, vom alltäglichen
Sinneserleben abgezogenen Welt und zwar so lange, bis es das letzte
und feinste gefunden hat, die Form der Form -- sich selbst, also
nichts. Damit sind die Möglichkeiten der Physik als des kritischen
Weltverstehens erschöpft und der Hunger nach Metaphysik meldet sich
wieder. Aber es ist nicht der religiöse Zeitvertreib gebildeter und
literaturgesättigter Kreise und überhaupt nicht der Geist, aus dem die
zweite Religiosität hervorgeht, sondern ein ganz unbemerkter und von
selbst entstehender naiver Glaube der Massen an irgendwelche mythische
Beschaffenheit des Wirklichen, für die alle Beweisgründe ein Spiel
mit Worten, etwas Dürftiges und Langweiliges zu sein beginnen, und
zugleich ein naives Herzensbedürfnis, dem Mythus mit einem Kultus
demütig zu antworten. Die Formen beider können weder vorausgesehen noch
willkürlich gewählt werden. Sie erscheinen von selbst, und wir sind
weit von ihnen entfernt.[332] Aber die Meinungen von Comte und Spencer,
der Materialismus, Monismus und Darwinismus, die im 19. Jahrhundert die
Leidenschaft der besten Geister geweckt hatten, sind heute doch schon
die Weltanschauung der Provinz geworden.

Die antike Philosophie hatte um 250 v. Chr. ihre Gründe erschöpft.
Das „Wissen“ ist von nun an nicht mehr ein beständig durchgeprüfter
und vergrößerter Besitz, sondern der zur Gewohnheit gewordene Glaube
daran, der durch altgewohnte Methoden immer wieder Überzeugungskraft
erhält. Zur Zeit des Sokrates gab es den Rationalismus als Religion
der Gebildeten. Darüber stand die gelehrte Philosophie, darunter der
„Aberglaube“ der Massen. Jetzt entwickelt sich die Philosophie zu
einer geistigen, der Synkretismus des Volkes zu einer handgreiflichen
Religiosität von ganz derselben Tendenz, und zwar dringen Mythenglaube
und Frömmigkeit hinauf, nicht hinab. Die Philosophie hat viel zu
empfangen und wenig zu geben. Die Stoa war vom Materialismus der
Sophisten und Kyniker ausgegangen und hatte den gesamten Mythus
allegorisch erklärt, aber schon von Kleanthes († 232) stammt das
Tischgebet an Zeus,[333] eins der schönsten Stücke der antiken
zweiten Religiosität. Zur Zeit von Sulla gab es einen durch und durch
religiösen Stoizismus höherer Kreise und einen synkretistischen
Volksglauben, der phrygische, syrische, ägyptische Kulte und zahllose
antike, damals fast vergessene Mysterien verband, und das entspricht
genau der Entwicklung der aufgeklärten Weisheit Buddhas zum Hinayana
der Gelehrten und Mahayana der Menge, und dem Verhältnis des lehrhaften
Konfuzianismus zum Taoismus, der sehr bald das Gefäß des chinesischen
Synkretismus geworden ist.

Gleichzeitig mit dem „Positivisten“ Meng Tse (372-289) beginnt
plötzlich eine mächtige Bewegung von Alchymie, Astrologie und
Okkultismus. Es ist längst eine berühmte Streitfrage, ob hier etwas
Neues erscheint oder der frühchinesische Mythensinn wieder durchbricht,
aber die Antwort kann durch einen Blick auf den Hellenismus gegeben
werden. Dieser Synkretismus tritt „gleichzeitig“ in der Antike,
in Indien, in China, im volkstümlichen Islam auf. Er setzt sich
überall an rationalistische Lehren an -- die Stoa, Laotse, Buddha --
und durchsetzt sie mit bäuerlichen, frühzeitlichen und exotischen
Motiven jeder denkbaren Art. Der antike Synkretismus, der von dem der
späteren magischen Pseudomorphose wohl zu unterscheiden ist,[334]
holte sich seit 200 v. Chr. Motive aus der Orphik, aus Ägypten, aus
Syrien: der chinesische hat 67 n. Chr. den indischen Buddhismus in
der volkstümlichen Form des Mahayana eingeführt, wobei die heiligen
Schriften als Zaubermittel und die Buddhafiguren als Fetische für
kräftiger galten, weil sie fremd waren. Die ursprüngliche Lehre des
Laotse verschwindet sehr rasch. Zu Beginn der Hanzeit (um 200 v.
Chr.) werden die Scharen der Sen aus moralischen Vorstellungen zu
gütigen Wesen. Die Wind-, Wolken-, Donner-, Regengötter kommen wieder.
Massenhafte Kulte bürgern sich ein, durch welche die bösen Geister
mit Hilfe der Götter ausgetrieben werden. Damals entstand und zwar
sicherlich aus einem Grundbegriff der vorkonfuzianischen Philosophie
der Mythus von Panku, dem Urprinzip, von dem die Reihe der mythischen
Kaiser abstammt. Eine ähnliche Entwicklung nahm bekanntlich der
Logosbegriff.[335]

Die von Buddha gelehrte Theorie und Praxis der Lebensführung war aus
Weltmüdigkeit und intellektuellem Ekel hervorgegangen und stand zu
religiösen Fragen in gar keiner Beziehung, aber schon zu Beginn der
indischen „Kaiserzeit“ um 250 v. Chr. war er selbst ein sitzendes
Götterbild geworden, und an Stelle der nur dem Gelehrten verständlichen
Nirwanatheorie traten mehr und mehr handfeste Lehren von Himmel, Hölle
und Erlösung, die zum Teil vielleicht ebenfalls der Fremde, nämlich
der persischen Apokalyptik entlehnt sind. Schon zu Asokas Zeit gab es
achtzehn buddhistische Sekten. Der Erlösungsglaube des Mahayana hat
in dem Dichter und Gelehrten Asvagoscha (um 50 v. Chr.) den ersten
großen Verkünder, in Nagardschuna (um 150 n. Chr.) den eigentlichen
Vollender gefunden. Aber daneben wanderte die ganze Masse urindischer
Mythen wieder zurück. Die Vischnu- und die Shivareligion waren um 300
v. Chr. schon deutlich ausgebildet und zwar in synkretistischer Form,
so daß die Krishna- und die Ramalegende nun auf Vischnu übertragen
werden. Dasselbe Schauspiel bietet sich im ägyptischen Neuen Reiche,
wo der Amon von Theben den Mittelpunkt eines mächtigen Synkretismus
bildet, und im Arabertum der Abbassidenzeit, wo die Volksreligion mit
ihren Vorstellungen von Vorhölle, Hölle, Weltgericht, der himmlischen
Kaaba, dem Logos-Mohamed, den Feen, Heiligen und Gespenstern den
ursprünglichen Islam ganz in den Hintergrund drängen.[336]

Es gibt in diesen Zeiten noch einige hohe Geister wie den Erzieher
Neros, Seneka, und sein Ebenbild Psellos,[337] den Philosophen,
Prinzenerzieher und Politiker im cäsarischen Byzanz, wie den Stoiker
Mark Aurel und den Buddhisten Asoka, die selbst Cäsaren gewesen
sind,[338] und endlich den Pharao Amenophis IV., dessen tiefsinniger
Versuch von der mächtigen Priesterschaft des Amon als Ketzerei
aufgefaßt und vereitelt worden ist, eine Gefahr, die sicherlich auch
Asoka von den Brahmanen gedroht hat.

Aber gerade der Cäsarismus hat im chinesischen wie im römischen
Imperium einen Kaiserkult ins Leben gerufen und damit den Synkretismus
zusammengefaßt. Es ist ein absurder Gedanke, die chinesische Verehrung
des lebenden Kaisers sei ein Stück alter Religion gewesen. Kaiser
hat es während der ganzen Dauer der chinesischen Kultur überhaupt
nicht gegeben. Die Herrscher der Staaten hießen Wang, Könige, und
Meng Tse schrieb kaum hundert Jahre vor dem Endsieg des chinesischen
Augustus ganz im Sinne des 19. Jahrhunderts den Satz: „Das Volk ist
das wichtigste im Land; danach kommen die nützlichen Götter des Bodens
und Getreides; am wenigsten wichtig ist der Herrscher.“ Die Mythologie
von den Urkaisern ist ohne Zweifel erst von Konfuzius und seiner
Zeit und zwar in rationalistischer Absicht in eine staatsrechtliche
und sozialethische Fassung gebracht worden; diesem Mythus hat dann
der erste Cäsar Titel und Kultbegriff entnommen. Die Erhebung von
Menschen zu Göttern ist die Rückkehr zur Frühzeit, wo man Götter zu
Helden machte wie gerade die Urkaiser und die Helden Homers, und
sie ist ein bezeichnender Zug fast aller Religionen dieser zweiten
Stufe. Konfuzius selbst wurde 57 n. Chr. zum Gott mit offiziellem Kult
erhoben. Buddha war es damals längst. Al Ghazali (um 1050), der die
„zweite Religiosität“ der islamischen Welt vollenden half, ist für den
Volksglauben ein göttliches Wesen und einer der beliebtesten Heiligen
und Nothelfer geworden. In der Antike gab es in den Philosophenschulen
einen Kult des Platon und Epikur, und die Abstammung Alexanders von
Herakles und Cäsars von Venus leitet deutlich zum Kult des Divus
hinüber, in dem uralte orphische Vorstellungen und Geschlechterkulte
ebenso wieder auftauchen, wie im chinesischen Kult des Hoang Ti ein
Stück der ältesten Mythologie.

Mit diesen beiden Kaiserkulten beginnen aber schon die Versuche,
die zweite Religiosität in feste Organisationen zu bringen, die man
Gemeinden, Sekten, Orden, Kirchen nennen mag, die aber stets starre
Wiederholungen lebendiger Formen der Frühzeit sind und sich zu diesen
verhalten wie die Kaste zum Stand.

Etwas davon enthielt schon die Reform des Augustus mit ihrer
künstlichen Wiederbelebung längst erstorbener Stadtkulte, wie
der Bräuche der Arvalbrüder, aber erst die hellenistischen
Mysterienreligionen und selbst noch der Mithraskult, soweit er nicht
der magischen Religiosität zugerechnet werden muß, sind solche
Gemeinschaften, deren Weiterbildung dann durch den Untergang der Antike
abgebrochen worden ist; ihnen entspricht der theokratische Staat, den
die Priesterkönige von Theben im 11. Jahrhundert aufrichteten, und
die Taokirchen der Hanzeit, vor allem die von Tschang Lu begründete,
welche 184 n. Chr. den furchtbaren, an religiöse Provinzaufstände
der römischen Kaiserzeit erinnernden Aufstand der gelben Turbane
hervorrief, der weite Gebiete verwüstete und den Sturz der Handynastie
herbeigeführt hat.[339] Und diese asketischen Kirchen des Taoismus
finden mit ihrer Starrheit und wilden Mythologie ihr vollkommenes
Seitenstück in den spätbyzantinischen Mönchsstaaten, wie dem Kloster
Studien und dem 1100 begründeten reichsunmittelbaren Klosterverband des
Athos, der so buddhistisch als möglich wirkt.

Aus dieser zweiten Religiosität gehen endlich die
+Fellachenreligionen+ hervor, in denen der Gegensatz von
weltstädtischer und provinzialer Frömmigkeit ebenso wieder verschwunden
ist wie der von primitiver und hoher Kultur. Was das bedeutet,
lehrt der Begriff des Fellachenvolkes.[340] Die Religion ist völlig
geschichtslos geworden; wo einst Jahrzehnte eine Epoche bedeuteten,
haben jetzt Jahrhunderte keine Bedeutung mehr, und das Auf und Nieder
oberflächlicher Veränderungen beweist nur, daß die innere Gestalt
endgültig und fertig ist. Es ist ganz gleichgültig, ob um 1200 in
China eine Abart der konfuzianischen Staatslehre als Dschufuzianismus
erscheint, wann sie erscheint und ob sie Erfolg hat oder nicht,
ob in Indien der längst zu einer polytheistischen Volksreligion
gewordene Buddhismus vor dem Neubrahmanismus verschwindet, dessen
größter Theologe Sankara um 800 lebte, und wann dieser endlich in
die hinduistische Lehre von Brahma, Vischnu und Shiwa übergeht. Es
gibt stets eine kleine Zahl äußerst geistiger, überlegener, absolut
„fertiger“ Menschen, wie die Brahmanen Indiens, die Mandarinen Chinas
und die ägyptischen Priester, die Herodot in Erstaunen setzten. Aber
die Fellachenreligion selbst ist wieder durch und durch primitiv
wie die ägyptischen Tierkulte der 26. Dynastie, die aus Buddhismus,
Taoismus und Konfuzianismus gebildete Staatsreligion Chinas, wie der
Islam des heutigen Orients und vielleicht doch auch die Religion der
Azteken, wie sie Cortez antraf, die sich von der durchgeistigten
Mayareligion schon weit entfernt haben muß.


21

Eine Fellachenreligion ist auch das Judentum etwa seit Jehuda ben
Halevi, der wie sein islamischer Lehrmeister Al Ghazali (S. 387) die
wissenschaftliche Philosophie mit unbedingter Skepsis betrachtet und
sie im „Kuzari“ (1140) nur noch als Dienerin der gläubigen Theologie
gelten läßt. Das entspricht durchaus der Wendung von der mittleren
zur jüngeren Stoa der Kaiserzeit und dem Erlöschen der chinesischen
Spekulation unter der westlichen Handynastie. Noch bezeichnender ist
Moses Maimonides, der um 1175 den gesamten Lehrstoff des Judentums
als etwas Fertiges und Starres in einem großen Werk vom Schlage des
chinesischen Li-ki zusammengetragen hat, ohne die geringste Rücksicht
darauf, ob das Einzelne noch Sinn hatte oder nicht.[341] Weder in
dieser noch in einer andern Zeit ist das Judentum etwas Einzigartiges
in der Religionsgeschichte, aber von der Lage aus betrachtet, welche
die abendländische Kultur auf ihrem eigenen Boden geschaffen hat,
erscheint es so. Und ebensowenig ist die Tatsache, daß der jüdische
Name immer wieder etwas anderes bezeichnet, ohne daß seine Träger es
bemerken, etwas für sich Stehendes, denn sie wiederholt sich Schritt
für Schritt im Persertum.

In ihrer „Merowingerzeit“ (etwa 500-0) entwickeln sich beide aus
Stammesverbänden zu Nationen magischen Stils, ohne Land, ohne Einheit
der Abstammung und schon damals mit der Wohnweise des Ghetto, die bis
auf die Parsen in Bombay und die Juden in Brooklyn dieselbe geblieben
ist.

In der Frühzeit (etwa 0-500) wird dieser landlose _consensus_ von
Spanien bis nach Schantung verbreitet. Es war die jüdische Ritterzeit
und die „gotische“ Blütezeit religiöser Gestaltungskraft: Die späte
Apokalyptik, die Mischna und das Urchristentum, das erst seit Trajan
und Hadrian abgestoßen wurde, sind Schöpfungen dieser Nation. Es ist
bekannt, daß die Juden damals Bauern, Handwerker, Kleinstädter waren.
Die großen Geldgeschäfte führten Ägypter, Griechen, Römer, also „alte“
Menschen.

Um 500 beginnt das jüdische Barock, das dem abendländischen Betrachter
sehr einseitig im Bilde der spanischen Glanzzeit zu erscheinen pflegt.
Der jüdische _consensus_ tritt wie der persische, islamische und
byzantinische in ein städtisches und geistiges Wachsein und beherrscht
von nun an die Formen der städtischen Wirtschaft und Wissenschaft.
Tarragona, Toledo und Granada sind vorwiegend jüdische Großstädte.
Juden bilden einen wesentlichen Teil der vornehmen maurischen
Gesellschaft. Ihre vollendeten Formen, ihren _esprit_, ihre
Ritterlichkeit hat der gotische Kreuzzugsadel bewundert und nachzuahmen
versucht; aber auch die Diplomatie, Kriegführung und Verwaltung der
maurischen Staaten ist ohne die jüdische Aristokratie, welche hinter
der islamischen an Rasse nicht zurückstand, gar nicht zu denken.
Es gab, wie einst in Arabien einen jüdischen Minnesang, so jetzt
eine hohe Literatur und eine aufgeklärte Wissenschaft. Als Alfons
X. von Kastilien um 1250 unter Leitung des Rabbiners Isaak ben Said
Hassan durch jüdische, islamische und christliche Gelehrte ein neues
Planetenwerk ausarbeiten ließ,[342] war das immer noch eine Leistung
nicht des faustischen, sondern des magischen Weltdenkens. Erst seit
Nikolaus Cusanus wurde es umgekehrt. Aber in Spanien und Marokko lag
doch nur ein sehr kleiner Teil des jüdischen _consensus_ und
dieser selbst hatte nicht nur einen weltlichen, sondern vor allem
auch einen geistlichen Sinn. Es gab auch in ihm eine puritanische
Bewegung, die den Talmud verwarf und zur reinen Tora zurückkehren
wollte. Die Gemeinschaft der Karäer ist nach manchen Vorläufern um 760
im nördlichen Syrien entstanden, eben dort, von wo ein Jahrhundert
vorher die bilderstürmenden christlichen Paulikianer und etwas später
der islamische Sufismus ausgingen, drei magische Richtungen, deren
innere Verwandtschaft niemand verkennen wird. Die Karäer wurden wie
die Puritaner jeder andern Kultur von der Orthodoxie wie von der
Aufklärung bekämpft. Die rabbinischen Gegenschriften entstanden von
Kordova und Fes bis nach Südarabien und Persien hin. Aber damals
entstand auch, ein Produkt des „jüdischen Sufismus“ und zuweilen an
Swedenborg erinnernd, das Hauptwerk der rationalistischen Mystik, das
Buch Jezirah, dessen kabbalistische Grundvorstellungen sich mit der
byzantinischen Bildersymbolik und dem gleichzeitigen Zauberwesen des
griechischen „Christentums zweiter Ordnung“ ebenso berühren wie mit der
Volksreligion des Islam.

Eine ganz neue Lage wird um die Jahrtausendwende durch den Zufall
geschaffen, daß der westlichste Teil des _consensus_ sich
plötzlich im Bereiche der jungen abendländischen Kultur befindet.
Die Juden waren wie die Parsen, Byzantiner und Moslime zivilisiert
und weltstädtisch geworden; die germanisch-romanische Welt lebte
im stadtlosen Lande, und kaum hatten sich um Klöster und Märkte
Ansiedlungen, noch auf Generationen hin ohne eigene Seele gebildet.
Die einen waren fast schon Fellachen, die anderen fast noch Urvolk.
Der Jude begriff die gotische Innerlichkeit, die Burg, den Dom, der
Christ die überlegene, fast zynische Intelligenz und das fertig
ausgebildete „Gelddenken“ nicht. Man haßte und verachtete sich, noch
kaum aus dem Bewußtsein eines Rasseunterschiedes, sondern aus Mangel
an „Gleichzeitigkeit“. Der jüdische _consensus_ baute in die
Flecken und Landstädte überall seine großstädtischen -- proletarischen
-- Ghettos ein. Die Judengasse ist der gotischen Stadt um tausend
Jahre voraus. Genau so lagen zur Zeit Jesu die Römerstädte zwischen den
Dörfern am See Genezareth.

Aber diese jungen Nationen waren außerdem mit dem Boden und der Idee
des Vaterlands fest verbunden; der landlose _consensus_, dessen
Zusammenhalt für seine Mitglieder keine Absicht und Organisation,
sondern ein ganz unbewußter, ganz metaphysischer Trieb war, ein
Ausdruck des unmittelbarsten magischen Weltgefühls, trat ihnen als
etwas Unheimliches und völlig Unverständliches entgegen. Damals
entstand die Sage vom ewigen Juden. Es war schon viel, wenn ein
schottischer Mönch in ein lombardisches Kloster kam, und das starke
Heimatgefühl nahm er dahin mit; aber wenn ein Rabbiner aus Mainz, wo
sich um 1000 die bedeutendste Talmudschule des Abendlandes befand,
oder Salerno nach Kairo, Basra oder Merw kam, so war er in jedem
Ghetto zu Hause. In diesem schweigenden Zusammenhalt lag die Idee der
magischen Nation;[343] er war Staat, Kirche und Volk zugleich ganz wie
im damaligen Griechentum, Parsentum und Islam -- was man im Abendland
nicht wußte. Spinoza und Uriel Akosta sind aus diesem +Staat+,
der sein eigenes Recht und sein von den Christen gar nicht bemerktes
öffentliches Leben hatte und auf die umgebende Welt der Wirtsvölker
wie auf eine Art von Ausland herabsah, durch einen wirklichen
Hochverratsprozeß ausgewiesen worden, ein Vorgang, dessen tiefern
Sinn diese Wirtsvölker überhaupt nicht verstehen konnten; und der
bedeutendste Denker der östlichen Chassiden, Senior Salman, ist 1799
von der rabbinischen Gegenpartei der Petersburger Regierung wie einem
fremden Staate ausgeliefert worden.

Das Judentum des westeuropäischen Kreises hatte die noch im maurischen
Spanien vorhandene Beziehung zum Lande vollständig verloren. Es
gibt keine Bauern mehr. Das kleinste Ghetto ist ein wenn auch noch
so armseliges Stück Großstadt, und seine Bewohner zerfallen wie die
des erstarrten Indien und China in Kasten -- die Rabbiner sind die
Brahmanen und Mandarinen des Ghetto -- und die Masse der Kuli mit
einer zivilisierten, kalten, weit überlegenen Intelligenz und einem
rücksichtslosen Geschäftssinn. Aber das ist wieder nur für einen engen
Geschichtshorizont eine einzigartige Erscheinung. +Alle magischen
Nationen+ befinden sich seit den Kreuzzügen auf dieser Stufe. Die
Parsen besitzen in Indien genau dieselbe geschäftliche Macht wie die
Juden in der europäisch-amerikanischen Welt und die Armenier und
Griechen in Südosteuropa. Die Erscheinung wiederholt sich in jeder
andern Zivilisation, sobald sie in jüngere Zustände eindringt: Die
Chinesen in Kalifornien -- sie sind der eigentliche Gegenstand des
westamerikanischen „Antisemitismus“ -- und in Java und Singapur,
der indische Händler in Ostafrika, +aber auch der Römer in der
früharabischen Welt+, wo die Lage gerade umgekehrt war. Die „Juden“
dieser Zeit waren die Römer, und in dem apokalyptischen Haß der Aramäer
gegen sie liegt auch etwas dem westeuropäischen Antisemitismus ganz
Verwandtes. Es war ein echter Pogrom, als im Jahre 88 auf einen Wink
von Mithridates hin an einem Tage 100000 römische Geschäftsleute von
der erbitterten Bevölkerung Kleinasiens ermordet worden sind.

Zu diesen Gegensätzen tritt der der Rasse, welcher in demselben
Maße aus Verachtung in Haß übergeht, als die abendländische Kultur
sich selbst der Zivilisation nähert und der „Altersunterschied“
mit seinem Ausdruck in der Lebenshaltung und Vorherrschaft der
Intelligenz geringfügiger wird. Aber er hat mit den törichten, der
Sprachwissenschaft entnommenen Schlagworten Arier und Semit gar nichts
zu tun. Die „arischen“ Perser und Armenier sind für uns von den Juden
gar nicht zu unterscheiden und schon in Südeuropa und auf dem Balkan
ist ein körperlicher Unterschied zwischen christlichen und jüdischen
Einwohnern kaum vorhanden. Die jüdische Nation ist wie jede andre
der arabischen Kultur das Ergebnis einer ungeheuren +Mission+
und bis in die Zeit der Kreuzzüge hinein durch massenhafte Zu- und
Austritte beständig verändert worden.[344] Ein Teil der Ostjuden stimmt
körperlich mit den christlichen Bewohnern des Kaukasus, ein andrer
mit den südrussischen Tartaren, ein großer Teil der westlichen mit
den nordafrikanischen Mauren überein. Es ist vielmehr der Gegensatz
zwischen +dem Rasseideal der gotischen Frühzeit+, das züchtend
gewirkt hat,[345] und dem Typus des sephardischen Juden, der sich erst
in den Ghettos des Abendlandes und zwar ebenfalls durch seelische Zucht
unter sehr harten äußeren Bedingungen ausgebildet hat, zweifellos
in dem wirksamen Banne der Landschaft und der Wirtsvölker und in der
metaphysischen Verteidigung gegen sie, namentlich seit dieser Teil
der Nation durch Verlust der arabischen Sprache eine Welt für sich
geworden ist. Dies Gefühl eines tiefen Andersseins tritt auf beiden
Seiten um so mächtiger hervor, je mehr Rasse der Einzelne hat. Nur
der Mangel an Rasse bei geistigen Menschen, Philosophen, Doktrinären,
Utopisten bewirkt es, daß sie diesen abgrundtiefen, metaphysischen Haß
nicht verstehen, in welchem der verschiedene Takt zweier Daseinsströme
wie eine unerträgliche Dissonanz zum Vorschein kommt, einen Haß, der
für beide tragisch werden kann und der auch die indische Kultur durch
den Gegensatz des Inders von Rasse und des Tschudra beherrscht hat.
Während der Gotik ist dieser Gegensatz tief religiös und richtet sich
vor allem gegen den _consensus_ als Religion; erst mit Beginn
der abendländischen Zivilisation ist er materialistisch geworden und
richtet sich gegen die plötzlich vergleichbar gewordene geistige und
geschäftliche Seite.

Am tiefsten trennend und erbitternd hat aber die Tatsache gewirkt,
welche in ihrer vollen Tragik am wenigsten begriffen worden ist:
Während der abendländische Mensch von den Tagen der Sachsenkaiser bis
zur Gegenwart Geschichte im allerbedeutendsten Sinne durchlebt und zwar
mit einer Bewußtheit, die in keiner andern Kultur ihresgleichen findet,
hat der jüdische _consensus_ aufgehört Geschichte zu haben.[346]
Seine Probleme waren gelöst, seine innere Form abgeschlossen und
unveränderlich geworden; Jahrhunderte hatten für ihn wie für den
Islam, die griechische Kirche und die Parsen keine Bedeutung mehr, und
deshalb kann, wer innerlich diesem _consensus_ verbunden ist, die
Leidenschaft gar nicht begreifen, mit welcher faustische Menschen die
in wenig Jahren zusammengedrängten Entscheidungen ihrer Geschichte,
ihres Schicksals durchleben, wie es zu Beginn der Kreuzzüge, in der
Reformation, der französischen Revolution, den Freiheitskriegen und an
allen Wendepunkten im Dasein der Einzelvölker der Fall war. Das alles
liegt für ihn um dreißig Generationen zurück. Geschichte größten Stils
strömt draußen vorüber, Epoche folgt auf Epoche, der Mensch ist mit
jedem Jahrhundert von Grund aus ein andrer, im Ghetto steht alles
still und auch in der Seele des einzelnen. Aber selbst wenn er sich
als Angehörigen seines Wirtsvolkes betrachtet und an dessen Geschick
teilnimmt, wie es 1914 in vielen Ländern der Fall war, so erlebt er
es in Wirklichkeit doch nicht als +sein+ Geschick, sondern er
nimmt dafür Partei, er beurteilt es als interessierter Zuschauer, und
gerade der letzte Sinn dessen, worum gekämpft wird, muß ihm stets
verschlossen bleiben. Es gab im dreißigjährigen Kriege einen jüdischen
Reitergeneral -- er liegt auf dem alten Judenfriedhof in Prag begraben
-- aber was waren die Gedanken Luthers und Loyolas für ihn? Was haben
die den Juden nahe verwandten Byzantiner von den Kreuzzügen verstanden?
Das gehört zu den tragischen Notwendigkeiten der höheren Geschichte,
die aus den Lebensläufen von Einzelkulturen besteht, und hat sich oft
wiederholt. Die Römer, damals ein altes Volk, hätten nie begreifen
können, was für die Juden in dem Prozeß Jesu und beim Aufstand des Bar
Kochba auf dem Spiele stand, und die europäisch-amerikanische Welt
hat in den fellachenhaften Revolutionen der Türkei (1908) und Chinas
(1911) ihre vollkommene Verständnislosigkeit für das bewiesen, was
dort vorging. Da ihr das ganz anders angelegte Denken und Innenleben
und also auch der Staatsgedanke und die Idee der Souveränität -- dort
des Khalifen, hier des Tien Tse -- verschlossen blieben, so hat sie
den Gang der Dinge nicht beurteilen und auch nicht vorausberechnen
können. Der Mensch einer fremden Kultur kann Zuschauer sein und also
beschreibender Historiker des Vergangenen, aber niemals Politiker,
d. h. ein Mann, der die Zukunft in sich wirken fühlt. Besitzt er nicht
die materielle Macht, um in der Form seiner eigenen Kultur handeln und
die der fremden mißachten oder lenken zu können, wie es allerdings die
Römer im jungen Osten und Disraeli in England durften, so steht er
den Ereignissen hilflos gegenüber. Der Römer und Grieche dachte immer
die Lebensbedingungen seiner Polis in die fremden Ereignisse hinein,
der moderne Europäer blickt überall durch die Begriffe Verfassung,
Parlament, Demokratie hindurch auf fremde Schicksale, obwohl die
Anwendung solcher Vorstellungen auf andere Kulturen lächerlich und
sinnlos ist, und der Angehörige des jüdischen _consensus_
verfolgt die Geschichte der Gegenwart, die nichts ist als die der
über alle Erdteile und Meere verbreiteten faustischen Zivilisation,
mit dem Grundgefühl des magischen Menschen, selbst wenn er von dem
abendländischen Charakter seines Denkens fest überzeugt ist.

Da jeder magische _consensus_ landfremd und geographisch
unbegrenzt ist, so sieht er unwillkürlich in allen Kämpfen um die
+faustischen+ Ideen des Vaterlandes, der Muttersprache, des
Herrscherhauses, der Monarchie, der Verfassung eine Rückkehr von
Formen, die ihm innerlich durchaus fremd und deshalb lästig und
sinnlos, zu denen, welche seiner Natur gemäß sind; und aus dem Wort
international, das ihn begeistern kann, hört er eben +das Wesen
des landlosen und grenzenlosen _consensus_+ heraus, ob es
sich um Sozialismus, Pazifismus oder Kapitalismus handelt. Wenn für
die europäisch-amerikanische Demokratie die Verfassungskämpfe und
Revolutionen eine Entwicklung zum zivilisierten Ideal bedeuten, so
sind sie für ihn -- was ihm so gut wie nie zum Bewußtsein kommt --
der Abbau alles dessen, was anders ist als er. Selbst wenn die Macht
des _consensus_ in ihm erschüttert ist und das Leben seines
Wirtsvolkes eine äußere Anziehung bis zu wirklichem Patriotismus
auf ihn übt, so ist seine Partei doch immer diejenige, deren Ziele
+dem Wesen der magischen Nation+ am vergleichbarsten sind.
Deshalb ist er in Deutschland Demokrat und in England -- wie der
Parse in Indien -- Imperialist. Genau dasselbe Mißverständnis liegt
vor, wenn der Westeuropäer die Jungtürken und Reformchinesen für
Geistesverwandte, nämlich für „konstitutionell“ hält. Der innerlich
zugehörige Mensch bejaht im letzten Grunde doch selbst dort, wo er
zerstört; der innerlich fremde verneint, selbst wo er aufbauen möchte.
Was die abendländische Kultur in ihren Machtgebieten durch Reformen
eigenen Stils vernichtet hat, ist nicht auszudenken, und ebenso
vernichtend wirkt das Judentum, wo es auch eingreift. Das Gefühl von
der Notwendigkeit dieses wechselseitigen Mißverstehens führt zu dem
furchtbaren, tief ins Blut gedrungenen Haß, der sich an sinnbildliche
Merkmale wie Rasse, Lebenshaltung, Beruf, Sprache heftet, und beide
Teile, so oft diese Lage bisher eingetreten ist, verzehrt, verdorben
und zu blutigen Ausbrüchen getrieben hat.[347]

Das gilt vor allem auch für die Religiosität der faustischen Welt,
die sich von einer fremden Metaphysik in ihrer Mitte bedroht, gehaßt,
untergraben fühlt. Was ist seit den Reformen Hugos von Cluny, dem
heiligen Bernhard, dem Lateranskonzil von 1215 über Luther, Kalvin und
den Puritanismus bis zur Aufklärung durch unser Wachsein gegangen,
während es für die jüdische Religion längst keine Geschichte mehr gab!
Innerhalb des westeuropäischen _consensus_ hat 1565 Josef Karo im
Schulchan Aruch denselben Stoff noch einmal und anders zusammengefaßt
wie ehemals Maimonides, aber es hätte auch 1400 oder 1800 sein oder
ganz unterbleiben können. Mit der Starrheit des heutigen Islam und des
byzantinischen Christentums seit den Kreuzzügen, aber auch des späten
Chinesentums und des Ägyptizismus bleibt alles formelhaft und gleich,
die Speiseverbote, die Schaufäden an den Kleidern, die Gebetsriemen,
die Denkzettel und die talmudische Kasuistik, die genau in dieser
Form seit Jahrhunderten auch in Bombay am Vendidad und in Kairo am
Koran geübt wird. Und ebenso ist die jüdische Mystik, die +reiner
Sufismus+ ist, seit den Kreuzzügen dieselbe geblieben, ganz wie
die islamische, und sie hat in den letzten Jahrhunderten noch drei
Heilige im Sinne des morgenländischen Sufismus hervorgebracht, die
man als solche nur erkennt, wenn man durch den Anflug abendländischer
Denkformen hindurchzusehen vermag. Spinoza ist mit seinem Denken in
Substanzen, statt in Kräften und seinem durch und durch magischen
Dualismus durchaus den letzten Nachzüglern der islamischen Philosophie
vergleichbar wie Murtada und Schirazi. Er bedient sich der ganzen
Begriffssprache des ihn umgebenden abendländischen Barock und hat
sich in dessen Vorstellungsweise bis zur vollkommenen Selbsttäuschung
hineingelebt, aber die Herkunft von Maimonides und Avicenna und die
talmudische Methode „_more geometrico_“ bleiben von allem, was
über die Oberfläche seiner Seele hinwegging, ganz unberührt. In dem
Baalschem, dem Stifter der Chassidensekte, der um 1698 in Wolhynien
geboren wurde, ist ein echter Messias aufgestanden, der lehrend und
Wunder vollbringend durch die Welt der polnischen Ghettos wanderte
und für den nur das Urchristentum als Vergleich herangezogen werden
kann;[348] diese aus uralten Strömungen magischer, kabbalistischer
Mystik hervorgegangene Bewegung, welche den größten Teil der Ostjuden
ergriffen hat, ohne Zweifel etwas Gewaltiges in der Religionsgeschichte
der arabischen Kultur, ist mitten unter einem andersartigen Menschentum
verlaufen und doch von diesem so gut wie nicht bemerkt worden. Der
friedliche Kampf des Baalschem gegen die damaligen Pharisäer des
Talmud und für einen innerweltlichen Gott, seine christusartige
Gestalt, die reiche Legende, die sehr bald um seine Person und die
seiner Jünger gesponnen worden ist, das ist alles von rein magischem
Geiste und uns abendländischen Menschen im letzten Grunde so fremd
wie das Urchristentum selbst. Die Gedankengänge der chassidischen
Schriften sind dem Nichtjuden so gut wie unverständlich, aber auch der
Ritus. In der Erregung der Andacht geraten die einen in Verzückung,
andere beginnen wie die Derwische des Islam zu tanzen.[349] Die
ursprüngliche Lehre des Baalschem hat einer der Apostel zum Zaddikismus
weiter entwickelt, und auch dieser Glaube an Heilige (Zaddiks), die
nacheinander von Gott herabgesandt werden und durch ihre bloße Nähe
Erlösung bringen, erinnert wieder an den islamischen Mahdismus und
noch viel mehr an die schiitische Lehre von den Imamen, in denen das
„Licht des Propheten“ Herberge genommen hat. Ein andrer Jünger, Salomon
Maimon, von dem es eine merkwürdige Selbstbiographie gibt, ging von dem
Baalschem zu Kant, dessen abstrakte Denkart auf talmudische Geister
immer eine ungeheure Anziehungskraft ausgeübt hat. Der dritte ist Otto
Weininger, dessen moralischer Dualismus eine rein magische Konzeption
und dessen Tod in einem magisch durchlebten Seelenkampf zwischen Gut
und Böse einer der erhabensten Augenblicke spätester Religiosität
ist.[350] Etwas Verwandtes können Russen erleben, aber weder der antike
noch der faustische Mensch ist dessen fähig.

Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wird auch die abendländische
Kultur großstädtisch und intellektuell und damit plötzlich der
Intelligenz des _consensus_ zugänglich. Und dieses Versetztsein
mitten in eine Epoche, die für den innerlich längst abgestorbenen
Daseinsstrom des sephardischen Judentums einer fernen Vergangenheit
angehört, aber doch in ihm ein verwandtes Gefühl erwecken mußte, +so
weit sie kritisch und verneinend war+, hat in verhängnisvoller Weise
verführerisch gewirkt, den geschichtlich fertigen und jeder organischen
Entwicklung unfähigen Zusammenhalt in die große Bewegung der
Wirtsvölker hineingezogen, ihn erschüttert, gelockert und bis in die
Tiefe hinein zersetzt und vergiftet. Denn für den faustischen Geist war
die Aufklärung ein Schritt vorwärts auf der eigenen Bahn, über Trümmer
hin, gewiß, aber doch im letzten Grunde bejahend, für das Judentum ist
sie Zerstörung und nichts andres, Abbau von etwas Fremdem, das es nicht
begreift. Sehr oft bietet sich dann ein Schauspiel, das auch der Parse
in Indien, der Chinese und Japaner in einer christlichen Umgebung und
der moderne Amerikaner in China geben: Aufklärung bis zum Zynismus
und schroffster Atheismus gegenüber der fremden Religion, während
die fellachenhaften Bräuche der eignen davon ganz unberührt bleiben.
Es gibt Sozialisten, die nach außen und zwar mit Überzeugung jede
Art von Religion bekämpfen, für sich aber die Speiseverbote und das
Ritual der Gebetriemen und Denkzettel ängstlich beobachten. Häufiger
ist der wirkliche innere Zerfall mit dem _consensus_, soweit
er ein Zusammenhang des Glaubens ist, ein Schauspiel wie das jener
indischen Studenten, die eine englische Universitätsbildung mit Locke
und Mill erhalten haben und nun mit der gleichen zynischen Verachtung
auf indische wie auf abendländische Überzeugungen herabsehen und an
ihrer innern Zersetzung endlich selbst zugrunde gehen müssen. Seit
der napoleonischen Zeit hat sich der altzivilisierte _consensus_
mit der neuzivilisierten abendländischen „Gesellschaft“ der Städte
unter deren Widerspruch vermischt, und ihre wirtschaftlichen und
wissenschaftlichen Methoden mit der Überlegenheit des Alters in
Gebrauch genommen. Ganz dasselbe hat einige Generationen später die
japanische, ebenfalls sehr alte Intelligenz getan, vielleicht mit noch
größerem Erfolge. Ein andres Beispiel sind die Karthager, Nachzügler
der babylonischen Zivilisation, die schon von der etruskisch-dorischen
Stufe der antiken Kultur angezogen wurden und endlich dem Hellenismus
ganz erlegen sind,[351] in allem Religiösen und Künstlerischen starr
und fertig, aber geschäftlich den Griechen und Römern weit voraus, und
ihnen deshalb bis zum äußersten verhaßt.

Nicht weil die Metaphysik beider Kulturen sich näher gekommen wäre
-- das ist ganz unmöglich -- sondern weil sie in den wurzellosen
Intelligenzen der Oberschicht auf beiden Seiten keine Rolle mehr
spielt, ist diese magische Nation in Gefahr, mit dem Ghetto und der
Religion selbst zu verschwinden. Sie hat alle Arten von innerlichem
Zusammenhalt verloren und ist lediglich als Zusammenhalt in praktischen
Fragen übriggeblieben. Aber der Vorsprung, den das uralte geschäftliche
Denken dieser magischen Nation besaß, wird geringer; dem Amerikaner
gegenüber ist er kaum noch vorhanden, und damit verschwindet das
letzte starke Mittel, den mit dem Lande zerfallenen _consensus_
aufrecht zu erhalten. In dem Augenblick, wo die zivilisierten Methoden
der europäisch-amerikanischen Weltstädte zur vollen Reife gelangt sein
werden, ist wenigstens innerhalb dieser Welt -- die russische bildet
ein Problem für sich -- das Schicksal des Judentums erfüllt.

Der Islam hat +Boden+ unter sich. Er hat den persischen,
jüdischen, nestorianischen und monophysitischen _consensus_ so gut
wie ganz in sich aufgenommen.[352] Der Rest der byzantinischen Nation,
die heutigen Griechen, sitzen auch auf eignem Land. Der Rest der Parsen
in Indien wohnt innerhalb der starren Formen einer noch älteren, noch
fellachenhafteren Zivilisation und ist dadurch in seinem Bestande
gesichert. Aber der westeuropäisch-amerikanische Teil des jüdischen
_consensus_, der die übrigen Teile meist an sich gezogen und an
sein Schicksal gebunden hat, ist nun in das Getriebe einer jungen
Zivilisation geraten, ohne Zusammenhang mit irgend einem Stück Land,
nachdem er sich Jahrhunderte hindurch ghettomäßig abgeschlossen und so
gerettet hatte. Damit ist er zersprengt und geht der völligen Auflösung
entgegen. Aber das ist ein Schicksal nicht innerhalb der faustischen,
sondern der magischen Kultur.


    [292] Vgl. S. 3 ff. und Anm. S. 3.

    [293] S. 137.

    [294] „Wer Gott mit inbrünstiger Seele liebt, der verwandelt sich
    in ihn“ (Bernhard von Clairvaux).

    [295] Für das religiöse +Denken+ ist Schicksal stets eine kausale
    Größe. Die Erkenntniskritik kennt es deshalb nur als ein unklares
    Wort für Kausalität. Nur solange man +nicht+ daran denkt, kennt man
    es wirklich.

    [296] Vgl. S. 27.

    [297] Beide unterscheiden sich durch die +innere+ Form. Ein Opfer,
    das Sokrates darbringt, ist innerlich ein Gebet. Das antike Opfer
    ist überhaupt als +Gebet in körperhafter Gestalt+ aufzufassen. Das
    „Stoßgebet“ des Verbrechers aber ist in Wirklichkeit ein Opfer, zu
    dem die Angst ihn drängt.

    [298] Darin unterscheidet sich die Philosophie nicht im geringsten
    vom urwüchsigen Volksglauben. Man denke an Kants Kategorientafel
    mit ihren 3 × 4 Einheiten, an Hegels Methode, an Jamblichs Triaden.

    [299] Vgl. S. 159.

    [300] Vgl. S. 26.

    [301] Und da ist primitives und kultiviertes, dann chinesisches,
    indisches, antikes, magisches, abendländisches, endlich sogar
    deutsches, englisches und französisches Denken anders angelegt,
    und endlich gibt es überhaupt nicht zwei Menschen mit genau der
    gleichen Methode.

    [302] S. 38.

    [303] Ist das hochzivilisierte Kreta darin als Vorposten
    ägyptischer Denkweise vorbildlich gewesen (S. 101)? Aber die
    zahlreichen Orts- und Stammesgötter der primitiven Thinitenzeit
    (vor 3000), welche die Numina einzelner Tier+gattungen+
    darstellten, hatten doch wohl eine wesentlich andere Bedeutung. Die
    ägyptische Gottheit dieser Vorzeit besitzt, je mächtiger sie ist,
    um so zahlreichere Einzelgeister (_ka_) und Einzelseelen (_bai_),
    die überall in den einzelnen Tieren verborgen sind und lauern,
    Bastet in den Katzen, Sechmet in den Löwen, Hathor in den Kühen,
    Mut in den Geiern -- weshalb im Götterbilde der menschengestaltige
    Ka sich hinter dem Tierkopf gleichsam versteckt -- und das älteste
    Weltbild zu einer Ausgeburt der entsetzlichsten Angst machen; die
    Mächte wüten gegen den Menschen selbst nach dem Tode und können
    nur durch die schwersten Opfer besänftigt werden. Die Einigung des
    Nord- und Südlandes ist damals durch die gemeinsame Verehrung des
    Horusfalkens dargestellt worden, dessen erster Ka im regierenden
    Pharao anwesend ist. Vgl. Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 182 ff.

    [304] Bernoulli, Die Heiligen der Merowinger (1900), eine gute
    Schilderung dieser primitiven Religion.

    [305] Kattenbusch, Lehrb. d. vgl. Konfessionsk. I (1892), S. 234
    ff. N. P. Miljukow, Skizz. russ. Kulturgesch. (1901) II, S. 104 ff.

    [306] Borchardt, Reheiligtum des Newoserrê Bd. I (1905). Der Pharao
    ist nicht mehr Inkarnation der Gottheit und noch nicht, wie in
    der Theologie des Mittleren Reiches, Sohn des Re; trotz seiner
    irdischen Größe steht er klein, als Diener, vor dem Gotte da.

    [307] Erman, Ein Denkmal memphitischer Theologie, Ber. Berl. Ak.
    1911. S. 916 ff.

    [308] Weil sie auch dem ewigen Bauerntum angehörten, haben sie die
    olympischen Gestalten überlebt.

    [309] Wissowa, Religion und Kultus der Römer, S. 41. Von der
    etruskischen Religion mit ihrer gewaltigen Bedeutung für ganz
    Italien und damit die volle Hälfte der frühantiken Landschaft gilt
    dasselbe, was oben über die talmudische bemerkt worden ist (S.
    229). Sie liegt außerhalb der beiden „klassischen“ Philologien und
    wird deshalb gegenüber der achäischen und dorischen Religion, mit
    denen sie eine Einheit des Geistes und der Entwicklung bildet, wie
    ihre Gräber, Tempel und Mythen beweisen, vollständig vernachlässigt.

    [310] Es ist ganz gleichgültig, ob Dionysos aus Thrakien, Apollon
    aus Kleinasien, Aphrodite aus Phönikien „entlehnt“ sind; daß aus
    vielen tausend fremdartigen Motiven diese wenigen ausgewählt, so
    umgefühlt und zu dieser prachtvollen Einheit verbunden wurden,
    bedeutet eine vollkommene Neuschöpfung, ebenso wie der Marienkult
    der Gotik, obwohl damals der gesamte Formbestand aus dem Osten
    übernommen wurde.

    [311] In de Groot, Universismus (1918), wo tatsächlich die Systeme
    der Taoisten, Konfuzianer und Buddhisten mit Selbstverständlichkeit
    als +die+ Religionen Chinas behandelt werden. Das ist, als wollte
    man die antike Religion von Caracalla an datieren.

    [312] Conrady in Wassiljew, Die Erschließung Chinas (1909), S. 232;
    B. Schindler, Das Priestertum im alten China I (1919).

    [313] Conrady, China, S. 516.

    [314] Diese Vorstellung ist wesentlich verschieden von der
    ägyptischen Zweiheit des geistigen _ka_ und des Seelenvogels _bai_
    und noch viel mehr von den beiden magischen Seelensubstanzen.

    [315] O. Franke, Studien zur Geschichte des Konfuzianischen Dogmas
    (1920), S. 202.

    [316] Es war in der Antike ganz ebenso. Die homerischen Gestalten
    waren für den hellenistisch Gebildeten nichts als Literatur,
    Vorstellung, künstlerisches Motiv und schon für die Zeit Platons
    nicht viel mehr. Aber um 1100 brach ein Mensch vor der furchtbaren
    Wirklichkeit der Demeter und des Dionysos zusammen.

    [317] S. 91.

    [318] Das ist das wirkliche Ergebnis von Burdachs „Reformation,
    Renaissance, Humanismus“ (1918).

    [319] Bezold, Hist. Ztschr. 45, S. 208.

    [320] Oder gar wiederentdeckt. Der antike Mensch ist als
    durchseelter Leib eine unter vielen voneinander ganz unabhängigen
    Einheiten. Der faustische Mensch ist ein Mittelpunkt im All
    und umfaßt mit seiner Seele +das Ganze+. Persönlichkeit
    (Individualität) bedeutet aber nicht etwas einzelnes, sondern
    einziges.

    [321] Deshalb hat dies Sakrament dem abendländischen Priester eine
    ungeheure Machtstellung verliehen. Er empfängt die persönliche
    Beichte, er spricht persönlich im Namen des Unendlichen los.
    Ohne ihn ist das Leben nicht zu ertragen. -- Der Gedanke der
    Beicht+pflicht+, die 1215 endgültig festgesetzt wurde, stammt wie
    die ersten Bußbücher (Pönitentiale) aus England. Eben dort ist der
    Gedanke der unbefleckten Empfängnis entstanden, und auch die +Idee+
    des Papsttums zu einer Zeit, wo es in Rom selbst noch als bloße
    Macht- und Rangfrage behandelt wurde. Es beweist die Unabhängigkeit
    des gotischen vom magischen Christentum, daß die entscheidenden
    Ideen an der entferntesten Stelle, jenseits des Frankenreiches,
    aufgewachsen sind.

    [322] Den unermeßlichen Unterschied der faustischen und russischen
    Seele verraten einige Wortklänge. Das russische Wort für Himmel
    ist _njébo_, eine Verneinung (_n_). Der Mensch des Abendlandes
    blickt hinauf, der Russe blickt zum Horizont ins Weite. Man muß
    den Tiefendrang beider also dahin unterscheiden, daß er dort die
    Leidenschaft des Vordringens nach allen Seiten in den unendlichen
    Raum ist, hier ein Sichentäußern, bis das „Es“ im Menschen mit der
    endlosen Ebene eins geworden ist. So versteht der Russe die Worte
    Mensch und Bruder: er sieht auch das Menschentum als Ebene. Der
    Gedanke, daß ein Russe Astronom ist? Er sieht die Sterne gar nicht;
    er sieht nur den Horizont. Statt Himmelsdom sagt er Himmelsabhang.
    Es ist das, was mit der Ebene irgendwo in der Ferne den Horizont
    bildet. Das kopernikanische System ist seelisch für ihn etwas
    Lächerliches, mag es mathematisch sein, was es will.

    „Schicksal“ klingt wie eine Fanfare, „_ssudjbá_“ knickt ein.
    Es gibt kein Ich unter diesem niedrigen Himmel. „+Alle sind an
    allem schuldig+“, das „Es“ am „Es“ in dieser endlos gedehnten
    Ebene -- das ist das metaphysische Grundgefühl aller Schöpfungen
    Dostojewskis. Deshalb muß Iwan Karamasoff sich den Mörder nennen,
    obwohl ein anderer den Mord begangen hat. Der Verbrecher ist +der
    Unglückliche+ -- das ist die vollkommenste Verneinung faustischer
    persönlicher Verantwortlichkeit. Russische Mystik besitzt nichts
    von jener hinaufschwebenden Inbrunst der Gotik, Rembrandts,
    Beethovens, die bis zum himmelstürmenden Jubel anwachsen kann. Gott
    ist hier nicht die azurne Tiefe dort oben. Die mystische russische
    Liebe ist die der Ebene, die zu den Brüdern unter gleichem Drucke,
    immer längs der Erde -- längs der Erde; die zu den armen gequälten
    Tieren, die auf ihr wandern, zu den Pflanzen, niemals zu den
    Vögeln, Wolken und Sternen. Das russische _wolja_, unser Wille,
    bedeutet vor allem Nicht-müssen, Freisein -- nicht für, sondern
    +von etwas+, vor allem von der Verpflichtung zu persönlicher Tat.
    Willensfreiheit erscheint als der Zustand, in dem kein anderes
    „Es“ befiehlt und man sich also der Laune hingeben kann. Geist,
    _esprit_, _spirit_ ist ↘, das russische _duch_ ist ⤷. Was für ein
    Christentum wird aus diesem Weltgefühl einst hervorgehen?

    [323] Und wie eine abgetrennte Reformationskirche notwendig
    die Stammkirche umwandelt, so gab es auch +eine magische
    Gegenreformation+. Im _decretum Gelasii_ (um 500 in Rom) wurden
    sogar Clemens Alexandrinus, Tertullian, Lactanz, auf der Synode von
    543 in Byzanz Origenes für Ketzer erklärt.

    [324] Boehmer, Luther im Lichte der neueren Forschung (1918), S. 54
    ff.

    [325] M. Osborn, Die Teufelsliteratur des 16. Jahrh. (1893).

    [326] M. Baumgartner, Gesch. der Philos. des Mittelalters (1915) S.
    425 ff., 571 ff., 620 ff.

    [327] 542, vgl. S. 238.

    [328] Krumbacher, Byzant. Literaturgesch. S. 12.

    [329] Met. XI, 8 p. 1074 b 1.

    [330] Khalifen wie Al Maimun (813-33) und die letzten Ommaijaden
    wären mit etwas Ähnlichem für den Islam durchaus einverstanden
    gewesen. Es gab damals in Bagdad einen Klub, in dem Christen,
    Juden, Moslime und Atheisten debattierten und die Berufung auf
    Bibel und Koran nicht gestattet war.

    [331] Gercke-Norden, Einl. in die Altertumswiss. II, S. 210.

    [332] Wenn aber heute schon etwas diese Formen ahnen läßt, die
    selbstverständlich zu gewissen Elementen des gotischen Christentums
    zurückleiten, so ist es nicht der Literatengeschmack an
    spätindischer und spätchinesischer Spekulation, sondern z. B. der
    Adventismus und ähnliche Sekten.

    [333] v. Arnim, Stoic. vet. fragm. 537.

    [334] S. 243.

    [335] Das Lü-shi Tschun-tsiu des Lü-pu-wei († 237 v. Chr.,
    chinesische Augustuszeit) ist das erste Denkmal des Synkretismus,
    dessen Niederschlag das während der Hanzeit entstandene Ritualwerk
    Li-ki ist (B. Schindler, Das Priestertum im alten China I, S. 93).

    [336] M. Horten, Die religiöse Gedankenwelt des Volkes im heutigen
    Islam (1917).

    [337] 1018-78, vgl. Dieterich, Byzant. Charakterköpfe (1909), S. 63.

    [338] Sie haben sich beide erst im Alter und nach langen und
    schweren Kriegen in eine milde, müde Frömmigkeit versenkt, sind
    aber bestimmteren Religionen ferngeblieben. Dogmatisch betrachtet
    war Asoka kein Buddhist; er hat diese Strömungen nur verstanden und
    in Schutz genommen (Hillebrandt, Altindien S. 143).

    [339] De Groot, Universismus (1918), S. 134.

    [340] S. 202.

    [341] Fromer, Der Talmud S. 217. Die „rote Kuh“ und das
    Salbungsritual der jüdischen Könige werden darin mit demselben
    Ernst behandelt wie die wichtigsten Bestimmungen des Privatrechts.

    [342] Strunz, Gesch. der Naturwiss. im Mittelalter S. 89.

    [343] S. 209.

    [344] S. 208 ff.; 319 ff.

    [345] S. 150 ff.

    [346] S. 58.

    [347] Dahin gehören außer dem Befehl des Mithridates das
    Gemetzel auf Cypern (S. 239), der Seapoyaufstand in Indien, der
    Boxeraufstand in China und das bolschewistische Wüten der Juden,
    Letten und andrer Fremdvölker gegen das zarische Russentum.

    [348] P. Levertoff, Die religiöse Denkweise der Chassidim (1918),
    S. 128 ff.; M. Buber, Die Legende des Baalschem, 1907.

    [349] Levertoff, S. 136.

    [350] O. Weininger, Taschenbuch (1919), vor allem S. 19 ff.

    [351] Ihr Schiffswesen war zur Römerzeit eher antik als phönikisch,
    ihr Staat war als Polis organisiert, und unter den Gebildeten wie
    Hannibal war das Griechische allgemein verbreitet.

    [352] S. 321 f.




VIERTES KAPITEL

DER STAAT




DAS PROBLEM DER STÄNDE: ADEL UND PRIESTERTUM


1[353]

Ein unergründliches Geheimnis der kosmischen Flutungen, die wir
Leben nennen, ist ihre Sonderung in zwei Geschlechter. Schon in den
erdverbundenen Daseinsströmen der Pflanzenwelt strebt es auseinander,
wie das Sinnbild der Blüte zeigt: etwas das dieses Dasein +ist+, und
etwas, das es aufrecht erhält. Tiere sind frei, kleine Welten inmitten
einer großen; Kosmisches, als Mikrokosmos abgeschlossen und dem
Makrokosmos gegenübergestellt. Hier steigert sich und zwar im Verlauf
der Tiergeschichte mit immer größerer Entschiedenheit das Zweierlei der
Richtungen zu zweierlei Wesen, männlichen und weiblichen.

Das Weibliche steht dem Kosmischen näher. Es ist der Erde tiefer
verbunden und unmittelbarer einbezogen in die großen Kreisläufe der
Natur. Das Männliche ist freier, tierhafter, beweglicher auch im
Empfinden und Verstehen, wacher und gespannter.

Der Mann +erlebt+ das Schicksal und +begreift+ die Kausalität, die
Logik des Gewordnen nach Ursache und Wirkung. Das Weib aber +ist+
Schicksal, +ist+ Zeit, +ist+ die organische Logik des Werdens selbst.
Eben deshalb bleibt das Kausalprinzip ihm ewig fremd. So oft sich der
Mensch das Schicksal faßlich zu machen sucht, er hat immer den Eindruck
von etwas Weiblichem empfangen, von Moiren, Parzen und Nornen. Der
höchste Gott ist nie das Schicksal selbst, sondern er vertritt oder
beherrscht es -- wie der Mann das Weib. Das Weib ist in ursprünglichen
Zeiten auch die Seherin, nicht weil es die Zukunft kennt, sondern weil
es sie +ist+. Der Priester deutet nur, das Weib aber ist Orakel. Die
Zeit selbst redet aus ihm.

Der Mann +macht+ Geschichte, das Weib +ist+ Geschichte. In
geheimnisvoller Weise enthüllt sich hier ein doppelter Sinn alles
lebendigen Geschehens: Es ist kosmisches Dahinströmen an sich, und
dann doch wieder die Reihenfolge der Mikrokosmen selbst, die das
Strömen in sich faßt, schützt und erhält. Diese „zweite“ Geschichte
ist die eigentlich männliche, die politische und soziale; sie ist
bewußter, freier, bewegter. Sie reicht tief in die Anfänge der Tierwelt
zurück und empfängt in den Lebensläufen der hohen Kulturen ihre
höchste sinnbildliche und welthistorische Gestalt. Weiblich ist die
erste, die ewige, mütterliche, pflanzenhafte -- die Pflanze selbst hat
immer etwas Weibliches --, +die kulturlose Geschichte der Folge von
Generationen+, die sich nie ändert, die durch das Dasein aller Tier-
und Menschenarten, durch alle kurzlebigen Einzelkulturen gleichmäßig
und still hindurchgeht. Blickt man zurück, so ist sie gleichbedeutend
mit dem Leben selbst. Auch sie hat ihre Kämpfe und ihre Tragik. Das
Weib erringt seinen Sieg im Wochenbett. Bei den Azteken, den Römern der
mexikanischen Kultur, wurde die gebärende Frau als tapferer Krieger
begrüßt und die an der Geburt gestorbene unter denselben Formeln
bestattet wie die in der Schlacht gefallenen Helden. Des Weibes ewige
Politik ist die Eroberung des Mannes, durch den sie Mutter von Kindern,
durch den sie also Geschichte, Schicksal, Zukunft sein kann. Ihre tiefe
Klugheit und Kriegslist richtet sich stets auf den Vater ihres Sohnes.
Der Mann aber, der mit dem Schwergewicht seines Wesens der andern
Geschichte angehört, will +seinen+ Sohn haben als Erben, als
Träger seines Blutes und seiner geschichtlichen Tradition.

Hier kämpfen in Mann und Weib +die beiden Arten von Geschichte+
um die Macht. Das Weib ist stark und ganz, was es ist, und es erlebt
den Mann und die Söhne nur in bezug auf sich und seine Bestimmung. Im
Wesen des Mannes liegt etwas Zwiespältiges. Er ist dies und noch etwas
andres, was das Weib weder begreift noch anerkennt und als Raub und
Gewalt an seinem Heiligsten empfindet. Es ist der geheime Urkrieg der
Geschlechter, der ewig dauert, seit es Geschlechter gibt, schweigend,
erbittert, ohne Versöhnung, ohne Gnade. Es gibt auch da Politik,
Schlachten, Bündnisse, Vertrag und Verrat. Die Rassegefühle von Haß und
Liebe, die beide aus den Tiefen der Weltsehnsucht, aus dem Urgefühl der
Richtung stammen, herrschen zwischen den Geschlechtern unheimlicher
noch als in der andern Geschichte zwischen Mann und Mann. Es gibt
Liebeslyrik und Kriegslyrik, Liebestänze und Waffentänze und zwei
Arten der Tragödie -- Othello und Macbeth -- aber bis in die Abgründe
von Klytämnestras und Kriemhilds Rache reicht nichts in der politischen
Welt.

Deshalb verachtet das Weib diese andre Geschichte, die Politik des
Mannes, die sie nie versteht, von der sie nur weiß, daß sie ihr die
Söhne raubt. Was ist ihr eine siegreiche Schlacht, die den Sieg in
tausend Wochenbetten vernichtet? Die Geschichte des Mannes opfert
die des Weibes sich auf, und es gibt ein weibliches Heldentum, das
die Söhne mit Stolz zum Opfer bringt -- Katharina Sforza auf den
Wällen von Imola -- aber trotzdem ist es die ewige, geheime, bis in
die Anfänge der Tierwelt zurückreichende Politik des Weibes, den
Mann von ihr abzuziehen, um ihn ganz in die eigne, pflanzenhafte der
Geschlechterfolgen einzuspinnen, das heißt in sich selbst. Und trotzdem
erfolgt alles in der andern Geschichte, um diese ewige Geschichte des
Zeugens und Sterbens zu schützen und zu erhalten, man mag es ausdrücken
wie man will, für Haus und Herd, für Weib und Kind, für das Geschlecht,
das Volk, die Zukunft. Der Kampf zwischen Mann und Mann geschieht stets
um des Blutes, um des Weibes willen. +Das Weib als Zeit ist das,
wofür es Staatengeschichte gibt.+

Das Weib von Rasse fühlt das, auch wenn sie es nicht weiß. Sie ist das
Schicksal, sie spielt das Schicksal. Es beginnt mit dem Kampfe zwischen
Männern um ihren Besitz -- Helena; die Carmentragödie; Katharina II.,
Napoleon und Désirée Clary, die Bernadotte zuletzt auf die feindliche
Seite zog --, der schon die Geschichte ganzer Tiergattungen ausfüllt
und endet mit ihrer Macht als Mutter, Gattin, Geliebte über das
Schicksal von Reichen: die Hallgerd der Njalssaga; die Frankenkönigin
Brunhilde; Marozia, die den päpstlichen Stuhl an Männer ihrer Wahl
vergibt. Der Mann steigt in +seiner+ Geschichte empor, bis er die
Zukunft eines Landes in Händen hält -- dann kommt ein Weib und zwingt
ihn auf die Knie. Mögen darüber Völker und Staaten zugrunde gehen, sie
hat in +ihrer+ Geschichte gesiegt. Der politische Ehrgeiz des Weibes
von Rasse hat im letzten Grunde nie ein anderes Ziel.[354]

Geschichte besitzt demnach einen heiligen Doppelsinn. Sie ist kosmisch
oder politisch. Sie +ist+ das Dasein oder +bewahrt+ das Dasein. Es
gibt zwei Arten von Schicksal, zweierlei Krieg, zweierlei Tragik:
+öffentliche und private+. Nichts kann diesen Gegensatz aus der Welt
schaffen. Er ist von Anfang an im Wesen des tierischen Mikrokosmos
begründet, der zugleich etwas Kosmisches ist. Er tritt in allen
bedeutenden Lagen in Gestalt eines Konflikts der Pflichten hervor,
der nur für den Mann, nicht für das Weib vorhanden ist, und er wird
im Verlauf der hohen Kulturen nicht überwunden, sondern beständig
vertieft. Es gibt ein öffentliches und Privatleben, öffentliches und
privates Recht, Gemeinde- und Hauskulte. Als +Stand+ ist das Dasein
„in Form“ +für+ die eine, als +Stamm+ ist es in Fluß +als+ die andere
Geschichte. Das ist der altgermanische Unterschied der „Schwertseite“
und „Spindelhälfte“ einer Blutsverwandtschaft. Seinen höchsten Ausdruck
findet dieser Doppelsinn der gerichteten Zeit in den Ideen +des Staats
und der Familie+.

Die Gliederung der Familie ist in lebendigem, was die Gestalt des
Hauses in totem Stoff ist.[355] Ein Wandel in Aufbau und Bedeutung
des Familiendaseins, und der Grundriß des Hauses wird anders. Der
antiken Wohnweise entsprach die Agnatenfamilie antiken Stils, die in
hellenischen Stadtrechten noch schärfer ausgeprägt war wie in dem
jüngeren römischen.[356] Sie ist ganz auf den gegenwärtigen Stand,
das euklidische Jetzt und Hier gestellt, ebenso wie die als Summe
gegenwärtig vorhandener Körper aufgefaßte Polis. Blutsverwandtschaft
ist also für sie weder notwendig noch ausreichend; sie hört auf mit
der Grenze der _patria potestas_, des „Hauses“. Die Mutter ist
an sich mit ihren leiblichen Kindern agnatisch +nicht+ verwandt;
nur insofern sie der _patria potestas_ des lebenden Gatten
untersteht, ist sie die agnatische Schwester ihrer Kinder.[357] Dem
_consensus_ dagegen entspricht die magische Kognatenfamilie
(hebräisch Mischpacha), die durch die väterliche und mütterliche
Blutsgemeinschaft weithin dargestellt wird und einen „Geist“ besitzt,
einen _consensus_ im Kleinen, aber kein bestimmtes Oberhaupt.[358]
Es ist für das Erlöschen der antiken und die Entfaltung der magischen
Seele bezeichnend, daß das „römische“ Recht der Kaiserzeit von der
Agnation allmählich zur Kognation übergeht. Noch einige Novellen
Justinians (118, 127) schaffen eine Neuregelung des Erbrechts infolge
des Sieges der magischen Familienidee.

Auf der andern Seite erblicken wir Massen von Einzelwesen, die werdend
und vergehend, aber Geschichte +machend+ dahinströmen. Je reiner,
tiefer, stärker, selbstverständlicher der gemeinsame Takt dieser
Geschlechterfolgen, desto mehr Blut, desto mehr Rasse haben sie. Aus
der Unendlichkeit aller heben sich beseelte Einheiten ab,[359] Scharen,
die sich im gleichen Wellenschlag des Daseins als Ganzes fühlen, nicht
geistige Gemeinschaften wie Orden, Künstlergilden und Gelehrtenschulen,
die durch gleiche Wahrheiten verbunden sind, sondern Blutverbände
mitten im kämpfenden Leben.

Es sind Daseinsströme „+in Form+“, um einen Sportausdruck
zu gebrauchen, der in die Tiefe dringt. In Form ist ein Feld von
Rennpferden, das sicher in den Gelenken mit feinem Schwung über die
Hürde geht und sich dann wieder im gleichen Takt der Hufe über die
Ebene bewegt. In Form sind Ringer, Fechter und Ballspieler, denen
das Gewagteste leicht und selbstverständlich von der Hand geht. In
Form ist eine Kunstepoche, für welche die Tradition Natur ist wie der
Kontrapunkt für Bach. In Form ist eine Armee, wie sie Napoleon bei
Austerlitz und Moltke bei Sedan hatten. So gut wie alles, was in der
Weltgeschichte geleistet worden ist, im Krieg und in jener Fortsetzung
des Krieges durch geistige Mittel, die wir Politik nennen, alle
erfolgreiche Diplomatie, Taktik, Strategie, sei es die von Staaten,
Ständen oder Parteien, rührt von lebendigen Einheiten her, die sich in
Form befanden.

Das Wort für die rassemäßige Art von Erziehung ist +Zucht+,
+Züchtung+, im Unterschied von Bildung, die durch die Gleichheit
des Gelernten oder Geglaubten Wachseinsgemeinschaften begründet.
Zur Bildung gehören Bücher, zur Zucht gehört der stetige Takt und
Einklang der Umgebung, in die man sich hineinfühlt, hinein+lebt+:
Klostererziehung und Pagenerziehung der frühen Gotik. Alle guten Formen
einer Gesellschaft, jedes Zeremoniell ist versinnlichter Takt einer Art
von Dasein. Um sie zu beherrschen, muß man Takt +haben+. Deshalb
gewöhnen sich Frauen, weil sie triebhafter und dem Kosmischen näher
sind, schneller an die Formen einer neuen Umgebung. Frauen aus der
Tiefe bewegen sich nach ein paar Jahren mit voller Sicherheit in einer
vornehmen Welt, aber sie sinken ebenso schnell wieder herab. Der Mann
ändert sich schwerer, weil er wacher ist. Der Proletarier wird nie ganz
Aristokrat, der Aristokrat nie ganz Proletarier. Erst die Söhne haben
den Takt der neuen Umgebung.

Je tiefer die Form, desto strenger und abweisender ist sie. Dem nicht
Zugehörigen erscheint sie als Sklaverei; der Zugehörige beherrscht
sie mit vollkommener Freiheit und Leichtigkeit. Der Fürst von Ligne
war ebenso wie Mozart Herr, nicht Sklave der Form; und das gilt von
+jedem+ geborenen Aristokraten, Staatsmann und Heerführer.

Deshalb gibt es in allen hohen Kulturen ein +Bauerntum+,
das Rasse überhaupt und also gewissermaßen Natur ist, und eine
+Gesellschaft+, die in anspruchsvoller Weise „in Form“ ist, als
Gruppe von Klassen oder Ständen und ohne Zweifel künstlicher und
vergänglicher. Aber die Geschichte dieser Klassen und Stände ist
+Weltgeschichte in höchster Potenz+. Erst im Hinblick auf sie
erscheint das Bauerntum als geschichtslos. Die gesamte Geschichte
großen Stils von sechs Jahrtausenden hat sich in den Lebensläufen
der hohen Kulturen vollzogen nur, weil diese Kulturen selbst ihren
schöpferischen Mittelpunkt +in Ständen+ haben, die Zucht besitzen,
in Vollendung gezüchtet worden sind. Eine Kultur ist Seelentum, das
in sinnbildlichen Formen zum Ausdruck gelangt, aber diese Formen sind
lebendig und in Entwicklung begriffen, auch die der Kunst, deren wir
uns erst durch ihre Abziehung von der Kunst+geschichte+ bewußt
geworden sind; sie liegen im gesteigerten Dasein von Einzelnen und
Kreisen, eben in dem, was soeben „Dasein in Form“ genannt worden ist
und durch diese Höhe des Geformtseins erst die Kultur repräsentiert.

Das ist etwas Großes und Einziges innerhalb der organischen Welt. Es
ist der einzige Punkt, wo der Mensch sich über die Mächte der Natur
erhebt und selbst Schöpfer wird. Noch als Rasse ist er Schöpfung der
Natur; da +wird+ er gezüchtet; als Stand aber züchtet er sich
selbst, ganz wie die edlen Tier- und Pflanzenrassen, mit denen er sich
umgeben hat; und eben das ist im höchsten und letzten Sinne Kultur.
Kultur und Klasse sind Wechselbegriffe; sie entstehen als Einheit,
sie vergehen als Einheit. Die Züchtung erlesener Wein-, Obst- und
Blumenarten, die Züchtung von Pferden reinen Blutes +ist+ Kultur
und in genau demselben Sinne entsteht erlesene menschliche Kultur als
Ausdruck eines Daseins, das sich selbst in große Form gebracht hat.

Aber eben deshalb gibt es in jeder Kultur ein starkes Gefühl dafür,
ob jemand dazu gehört oder nicht. Der antike Begriff des Barbaren,
der arabische des Ungläubigen -- des Amhaarez oder Giaur --, der
indische des Tschudra mögen noch so verschieden gedacht sein, sie
drücken zunächst weder Haß noch Verachtung aus, sondern stellen eine
Verschiedenheit im Takt des Daseins fest, die eine unüberschreitbare
Grenze in allen tiefen Dingen zieht. Diese ganz klare und eindeutige
Tatsache ist durch den indischen Begriff der „vierten Kaste“ verdunkelt
worden, die es in Wirklichkeit, wie wir heute wissen, nie gegeben
hat.[360] Das Gesetzbuch des Manu mit seinen berühmten Bestimmungen
über die Behandlung des Tschudra entstammt dem ausgebildeten
Fellachentum Indiens und zeichnet ohne Rücksicht auf die rechtlich
vorhandene oder auch nur erreichbare Wirklichkeit das dünkelhafte
Brahmanenideal durch seinen Gegensatz, wie es mit dem Begriff des
arbeitenden Banausen in der spätantiken Philosophie nicht viel anders
gewesen ist. Das hat für uns dort zum Mißverstehen der Kaste als einer
spezifisch indischen Erscheinung, hier zu einer grundfalschen Meinung
von der Stellung des antiken Menschen zur Arbeit geführt.

Es handelt sich in allen Fällen um den +Rest+, der für das innere
Leben der Kultur und ihre Symbolik nicht in Betracht kommt und von
dem bei jeder bedeutungsvollen Einteilung von vornherein abgesehen
wird, etwa das, was man heute in Ostasien _outcast_ nennt. In dem
gotischen Begriff des _corpus christianum_ ist ausgesprochen,
daß der jüdische Konsensus +nicht+ dazu gehört. Innerhalb
der arabischen Kultur ist im Bereiche der jüdischen, persischen,
christlichen und vor allem islamischen Nation der Andersgläubige nur
geduldet und im übrigen mit Verachtung seiner eigenen Verwaltung und
Rechtsprechung überlassen. In der Antike sind „_outcast_“ nicht
nur Barbaren, sondern in gewissem Sinne auch die Sklaven, vor allem
aber Reste der Urbevölkerung wie die Penesten in Thessalien und die
Heloten in Sparta, deren Behandlung durch ihre Herren wieder an die
Haltung der Normannen im angelsächsischen England und der Ordensritter
im slawischen Osten erinnert. Im Gesetzbuch des Manu erscheinen als
Namen von Tschudraklassen alte Völkernamen des „Kolonialgebiets“ am
unteren Ganges, darunter Magadha -- danach könnte Buddha so gut wie
der Cäsar Asoka, dessen Großvater Tschandragupta von niedrigster
Herkunft war, ein Tschudra gewesen sein -- andre sind Namen von Berufen
und das erinnert daran, daß auch im Abendland und anderswo gewisse
Berufe _outcast_ waren, so die Bettler -- bei Homer ein Stand! --
Schmiede, Sänger und die berufsmäßig Erwerbslosen, die in frühgotischer
Zeit durch die Caritas der Kirche und die Wohltätigkeit frommer Laien
in Massen förmlich gezüchtet worden sind.

Aber endlich ist Kaste überhaupt ein Wort, das weniger gebraucht als
mißbraucht worden ist. Kasten haben im Ägypten des Alten und Mittleren
Reiches ebensowenig bestanden wie im vorbuddhistischen Indien und in
China vor der Hanzeit. Erst in sehr späten Zuständen tauchen sie auf,
dann aber auch in allen Kulturen. Von der 21. Dynastie an (um 1100)
befindet sich Ägypten bald in den Händen der thebanischen Priester-,
bald der libyschen Kriegerkaste, und die Erstarrung ist dann beständig
fortgeschritten bis zu den Tagen Herodots, der den Zustand seiner
Zeit ebenso falsch als spezifisch ägyptisch betrachtet hat, wie wir
den indischen. +Stand und Kaste unterscheiden sich wie früheste
Kultur und späteste Zivilisation.+ In der Heraufkunft der Urstände
Adel und Priestertum entfaltet sich die Kultur, in den Kasten drückt
sich das endgültige Fellachentum aus. Der Stand ist das Lebendigste
von allem, Kultur in Vollendung begriffen, „geprägte Form, die lebend
sich entwickelt“; die Kaste ist das absolute Fertigsein, die Zeit der
Vollendung als unbedingte Vergangenheit.

Die großen Stände sind aber auch etwas ganz andres als die
+Berufsgruppen+ etwa der Handwerker, Beamten, Künstler, die
durch technische Tradition und den Geist ihrer Arbeit zunftmäßig
zusammengehalten werden: nämlich +Symbole in Fleisch und Blut+,
deren gesamtes Sein nach Erscheinung, Haltung und Denkart sinnbildliche
Bedeutung besitzt. Und zwar ist innerhalb jeder Kultur das Bauerntum
ein reines Stück Natur und Wachstum und also +unpersönlicher+
Ausdruck, Adel und Priestertum aber das Ergebnis einer hohen Zucht
und Bildung und also Ausdruck einer +ganz persönlichen Kultur+,
die nicht nur den Barbaren, den Tschudra, sondern nun auch alle
andern dem Stand nicht Zugehörigen +als Rest+, vom Adel aus
gesehen als „Volk“, vom Priester aus als Laientum durch die Höhe der
Form abweist. Und dieser +Stil der Persönlichkeit+ ist es, der
im Fellachentum versteinert und zum Typus einer Kaste wird, die nun
unverändert durch alle Jahrhunderte fortbesteht. Wenn innerhalb der
lebendigen Kultur sich Rasse und Stand als das unpersönliche und
persönliche gegenüberstehen, so in Fellachenzeiten +die Masse und die
Kaste+, der Kuli und der Brahmane oder Mandarin als +das Formlose
und das Förmliche+. Die lebendige Form ist zur Formel geworden, die
ebenfalls Stil besitzt, aber stilvolle Starrheit, den versteinerten
Stil der Kaste, etwas von höchster Feinheit, Würde und Durchgeistigung,
den im Werden begriffenen Menschen einer Kultur sich unendlich
überlegen fühlend -- wir machen uns kaum eine Vorstellung davon, aus
welcher Höhe ein Mandarin oder Brahmane auf europäisches Denken und Tun
herabblickt, und wie gründlich die ägyptischen Priester ihre Besucher
wie Pythagoras und Platon verachtet haben müssen -- aber unbewegt durch
alle Zeiten schreitend mit der byzantinischen Erhabenheit einer Seele,
die alle Rätsel und Probleme längst hinter sich hat.


2

In karolingischer Vorzeit unterschied man Knechte, Freie und Edle.
Das ist ein primitiver Rangunterschied auf Grund bloßer Tatsachen
des äußeren Lebens. In frühgotischer Zeit heißt es in Freidanks
Bescheidenheit:

    Got hât driu leben geschaffen,
    Gebûre, ritter, phaffen.

Das sind Standesunterschiede einer hohen, eben erwachenden Kultur. Und
zwar stehen „Stola und Schwert“ dem Pfluge gegenüber als die Stände im
anspruchsvollsten Sinne dem Übrigen, dem Nichtstand, dem was ebenfalls
Tatsache ist, aber ohne tiefere Bedeutung. Der innere, gefühlte Abstand
ist so schicksalhaft und gewaltig, daß kein Verstehen hinüberführt. Haß
quillt aus den Dörfern empor, Verachtung strahlt von den Burgen zurück.
Weder Besitz noch Macht noch Beruf haben diesen Abgrund zwischen den
„Leben“ aufgerichtet. Er läßt sich logisch überhaupt nicht begründen.
Er ist metaphysischer Natur.

Später erscheint mit der Stadt, aber jünger als diese, +das
Bürgertum+, der „dritte Stand“. Auch der Bürger sieht jetzt
verächtlich auf das Land herab, das dumpf, unverändert, Geschichte
duldend um ihn liegt, dem gegenüber er sich wacher und freier und
deshalb fortgeschrittener auf dem Wege der Kultur empfindet. Er
verachtet auch die Urstände, „Junker und Pfaffen“, als etwas das
geistig unter ihm und geschichtlich hinter ihm liegt. Aber den
beiden Urständen gegenüber ist der Bürger wie der Bauer ein Rest,
ein Nichtstand. Der Bauer zählt im Denken der „Privilegierten“ kaum
noch mit. Der Bürger zählt, aber als Gegensatz und Hintergrund. Er
ist das, woran die andern sich ihrer jenseits alles Praktischen
liegenden Bedeutung bewußt werden. Wenn das in allen Kulturen in genau
derselben Form der Fall ist und der Gang der Geschichte sich überall
in und mit den Gegensätzen dieser Gruppen vollzieht, so daß triebhafte
Bauernkriege die Frühzeit, geistig begründete Bürgerkriege die Spätzeit
durchsetzen -- mag die Symbolik der einzelnen Kulturen sonst noch so
verschieden sein --, so muß der Sinn dieser Tatsache in den letzten
Gründen des Lebens selbst gesucht werden.

Es ist eine +Idee+, welche den beiden Urständen +und ihnen
allein+ zugrunde liegt. Sie gibt ihnen das mächtige Gefühl eines von
Gott verliehenen und deshalb aller Kritik enthobenen Ranges, welche
Selbstachtung und Selbstbewußtsein, aber auch die härteste Selbstzucht,
unter Umständen selbst den Tod zur Pflicht macht und beiden die
geschichtliche Überlegenheit, den Zauber der Seele verleiht, der Macht
nicht voraussetzt, sondern erzeugt. Menschen, welche diesen Ständen
innerlich und nicht nur dem Namen nach angehören, sind wirklich etwas
andres als der Rest; ihr Leben ist im Gegensatz zum bäuerlichen und
bürgerlichen durch und durch von einer sinnbildlichen Würde getragen.
Es ist nicht da, um geführt zu werden, sondern um Bedeutung zu haben.
Es sind die beiden Seiten alles frei beweglichen Lebens, die in diesen
Ständen zum Ausdruck gelangen, +von denen der eine ganz Dasein, der
andre ganz Wachsein ist+.

Jeder Adel ist ein lebendiges Symbol +der Zeit+, jede
Priesterschaft eins +des Raumes+. Schicksal und heilige
Kausalität, Geschichte und Natur, das Wann und das Wo, Rasse und
Sprache, Geschlechtsleben und Sinnenleben: das alles kommt darin zum
höchst möglichen Ausdruck. Der Adel lebt in einer Welt von Tatsachen,
der Priester in einer Welt von Wahrheiten; jener ist Kenner, dieser
Erkenner, jener Täter, dieser Denker. Aristokratisches Weltgefühl ist
durch und durch Takt, priesterliches verläuft durchaus in Spannungen.
Zwischen den Zeiten Karls des Großen und Konrads II. hat sich im
Strome des Daseins etwas herausgebildet, das man nicht erklären kann,
sondern fühlen muß, um den Anbruch einer neuen Kultur zu verstehen.
Edle und Geistliche gab es längst, Adel und Priestertum im großen
Sinne und mit der vollen Wucht sinnbildlicher Bedeutsamkeit gibt es
erst jetzt und nicht für lange Zeit.[361] Die Gewalt dieser Symbolik
ist so groß, daß zunächst jeder andre Unterschied nach Landschaften,
Völkern und Sprachen dagegen zurücktritt. Die gotische Geistlichkeit
bildet durch alle Länder hin, von Irland bis nach Kalabrien, eine
einzige große Gemeinschaft; die frühantike Ritterschaft vor Troja und
die frühgotische vor Jerusalem wirken wie +eine+ große Familie.
Die altägyptischen Gaue und die Lehnsstaaten der ersten Dschouzeit
erscheinen den Ständen gegenüber +deshalb+ als matte Gebilde
ganz wie das Burgund und Lothringen der Stauferzeit. Kosmopolitisches
gibt es am Anfang und am Ende einer Kultur, aber dort, weil die
sinnbildliche Gewalt der ständischen Formen noch über die der Nationen
hinausragt, hier weil die formlose Masse unter sie herabsinkt.

Beide Stände schließen sich der Idee nach aus. Der Urgegensatz von
Kosmischem und Mikrokosmischem, der alle frei im Raum beweglichen
Wesen durchdringt, liegt auch ihrem Doppeldasein zugrunde. Jeder ist
nur durch den andern möglich und notwendig. In der homerischen Welt
herrscht feindliches Schweigen über die orphische, und jene wird für
diese, wie die vorsokratischen Denker bezeugen, ein Gegenstand des
Zorns und der Verachtung. In gotischer Zeit sind die reformatorischen
Geister den Renaissancenaturen in heiliger Begeisterung in den Weg
getreten, Staat und Kirche sind nie zu einem Ausgleich gekommen, und
dieser Gegensatz hat sich in dem Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum
zu einer Höhe gesteigert, die nur dem faustischen Menschen möglich war.

Und zwar ist der Adel +der eigentliche Stand+, der Inbegriff von
Blut und Rasse, ein Daseinsstrom in denkbar vollendeter Form. Adel ist
eben damit höheres Bauerntum. Noch um 1250 galt weithin im Abendlande
der Spruch: „Wer morgens ackert, reitet nachmittags zum Turnier“ und
die Sitte, daß Ritter Bauerntöchter freiten. Die Burg ist im Gegensatz
zum Dom auf dem Wege über den ländlichen Edelsitz etwa der Frankenzeit
aus dem Bauernhause herangewachsen. In den isländischen Sagas werden
Bauernhöfe wie Burgen belagert und erstürmt. Adel und Bauerntum sind
ganz pflanzenhaft und triebhaft, tief im Stammlande wurzelnd, im
Stammbaum sich fortpflanzend, züchtend und gezüchtet. Im Vergleich
dazu ist das Priestertum der eigentliche Gegenstand, der Stand des
Verneinens, die Nichtrasse, die Unabhängigkeit vom Boden; das freie,
zeitlose, geschichtslose Wachsein. In jedem Bauerndorf von der
Steinzeit bis zu den Höhepunkten der Kultur, in jedem Bauerngeschlecht
spielt sich Weltgeschichte im Kleinen ab. Es sind statt der Völker
Familien, statt der Länder Höfe, aber die letzte Bedeutung dessen,
um das hier wie dort gekämpft wird, ist dieselbe: die Erhaltung des
Blutes, die Geschlechterfolge, das Kosmische, das Weib, die Macht.
Macbeth und König Lear hätten auch als Dorftragödien erdacht werden
können; das ist ein Beweis von echter Tragik. In allen Kulturen
erscheinen Adel und Bauerntum in der Form von +Geschlechtern+, und
das Wort dafür berührt sich in allen Sprachen mit der Bezeichnung der
beiden Geschlechter, durch die das Leben sich fortpflanzt, Geschichte
hat und Geschichte macht. Und da das Weib Geschichte +ist+, so
bestimmt sich der innere Rang von Bauern- und Adelsgeschlechtern
danach, wieviel Rasse ihre Frauen haben, bis zu welchem Grade
sie Schicksal +sind+. Deshalb liegt ein tiefer Sinn in der
Tatsache, daß Weltgeschichte, je echter und rassehafter sie ist, um
so mehr den Strom des öffentlichen Lebens in das Privatleben großer
Einzelgeschlechter hinüberleitet und ihm einordnet. Eben darauf beruht
das dynastische Prinzip, aber auch der Begriff der welthistorischen
Persönlichkeit. Die Schicksale ganzer Staaten werden von dem zu
ungeheuren Dimensionen gesteigerten Privatschicksal Weniger abhängig.
Die Geschichte Athens im 5. Jahrhundert ist zum großen Teil die der
Alkmäoniden, die Geschichte Roms die von einigen Geschlechtern von
der Art der Fabier und Claudier. Die Staatengeschichte des Barock
ist im Umriß identisch mit den Wirkungen der habsburgischen und
bourbonischen Familienpolitik, und ihre Krisen haben die Form von
Heiraten und Erbfolgekriegen. Die Geschichte von Napoleons zweiter
Ehe umfaßt auch den Brand von Moskau und die Schlacht bei Leipzig.
Die Geschichte des Papsttums ist bis ins 18. Jahrhundert hinein die
Geschichte einiger Adelsgeschlechter, welche die Tiara erstrebten, um
einen fürstlichen Familienbesitz zu gründen. Aber das gilt auch von
byzantinischen Würdenträgern und von englischen Premierministern, wie
die Familiengeschichte der Cecils zeigt, und sogar noch von sehr vielen
Führern großer Revolutionen.

Alles das wird vom Priestertum verneint und also auch von der
Philosophie, soweit sie Priestertum ist. Der Stand des reinen
Wachseins und der ewigen Wahrheiten richtet sich gegen die Zeit,
die Rasse, das Geschlecht in jedem Sinne. Der Mann als Bauer oder
Ritter ist dem Weibe als dem Schicksal zu-, der Mann als Priester
ist ihm abgewandt. Der Adel ist stets in Gefahr, das öffentliche
Leben im Privatleben verschwinden zu lassen, indem er den breiten
Daseinsstrom in das Bett des kleineren seiner Ahnen und Enkel leitet.
Der echte Priester erkennt das Privatleben, das Geschlecht, das
„Haus“ der Idee nach überhaupt nicht an. Für den Menschen von Rasse
ist erst der Tod ohne Erben der wahre und furchtbare Tod, wie die
isländischen Sagas so gut als der chinesische Ahnenkult lehren. Wer
in Söhnen und Enkeln fortlebt, stirbt nicht ganz. Aber für den wahren
Priester gilt das _media vita in morte sumus_: Sein Erbe ist
geistig und verwirft den Sinn des Weibes. Die überall wiederkehrenden
Erscheinungsformen dieses zweiten Standes sind die Ehelosigkeit, das
Kloster, die Bekämpfung des Geschlechtlichen bis zur Selbstentmannung,
die Verachtung des Muttertums, die sich im Orgiasmus und der heiligen
Prostitution ausspricht und in der begrifflichen Herabwürdigung des
Geschlechtslebens bis zu jener unflätigen Definition der Ehe durch
Kant.[362] Für die gesamte Antike gilt das Gesetz, daß im heiligen
Tempelbezirk, dem Temenos, niemand geboren werden und sterben darf.
Das Zeitlose darf mit der Zeit nicht in Berührung kommen. Es ist
möglich, daß ein Priester die großen Augenblicke von Zeugung und Geburt
begrifflich anerkennt und durch Sakramente ehrt, aber erleben darf er
sie nicht.

Denn der Adel +ist+ etwas, das Priestertum +bedeutet+ etwas.
Auch damit erscheint es als das Gegenteil von allem, was Schicksal,
Rasse, Stand ist. Auch die Burg mit ihren Gemächern, Türmen, Wällen und
Gräben redet von einem mächtig strömenden Sein; der Dom mit Wölbung,
Pfeilern und Chor aber ist durch und durch Bedeutung, nämlich Ornament;
und jede alte Priesterschaft hat sich zu einer wundervoll schweren und
prächtigen Art von Haltung entwickelt, in welcher jeder Zug von Miene
und Tonfall bis zu Tracht und Gang Ornament ist, und das Privatleben,
auch das Innenleben als wesenlos verschwindet, während gerade im
Gegenteil eine reife Aristokratie, wie die französische des 18.
Jahrhunderts, ein vollendetes Leben zur Schau stellt. Wenn gotisches
Denken aus der Idee des Priesters den _character indelebilis_
entwickelte, wonach die Idee unzerstörbar und in ihrer Würde von
der Lebensführung ihres Trägers in der Welt als Geschichte gänzlich
unabhängig ist, so gilt das unausgesprochen von jedem Priestertum und
also auch von aller Philosophie im Sinne der Schulen. Hat ein Priester
Rasse, so führt er ein äußeres Dasein wie jeder Bauer, Ritter oder
Fürst. Die Päpste und Kardinäle der gotischen Zeit waren Lehnsfürsten,
Heerführer, Jagdfreunde, Liebhaber und trieben Familienpolitik. Unter
den Brahmanen des vorbuddhistischen „Barock“ gab es Großgrundbesitzer,
gepflegte Abbés, Hofleute, Verschwender, Feinschmecker,[363] aber
gerade die Frühzeit hat im Priestertum die Idee von der Person zu
unterscheiden gewußt, was dem Wesen des Adels gänzlich widerspricht,
und erst die Aufklärung beurteilte den Priester nach seinem
Privatleben, nicht weil ihre Augen schärfer sahen, sondern weil ihr die
Idee abhanden gekommen war.

Der Adlige ist der +Mensch als Geschichte+, der Priester +der
Mensch als Natur+. Geschichte großen Stils ist immer Ausdruck und
Nachwirkung des Daseins einer adligen Gemeinschaft gewesen, und der
innere Rang der Ereignisse bestimmt sich nach dem Takt in diesem
Daseinsstrom. Das ist der Grund, weshalb die Schlacht von Cannä
viel und die Schlachten spätrömischer Kaiser gar nichts bedeuten.
Der Anbruch einer Frühzeit sieht regelmäßig auch die Geburt eines
Uradels -- der Fürst wird als _primus inter pares_ empfunden
und mit Mißtrauen betrachtet, denn eine starke Rasse hat den großen
Einzelnen nicht nötig; er stellt ihren Wert sogar in Frage, und
deshalb sind Vasallenkriege die vornehmste Form, in der frühzeitliche
Geschichte sich vollzieht -- und dieser Adel hat fortan das Schicksal
der Kultur in Händen. Hier wird in schweigender und deshalb um so
nachdrücklicherer Gestaltungskraft das Dasein in Form gebracht,
der Takt im Blute herangebildet und gefestigt und zwar +für alle
Zukunft+. Denn was für jede Frühzeit dieser schöpferische Aufstieg
zur lebendigen Form, das ist für jede Spätzeit +die Macht der
Tradition+, nämlich die alte und feste Zucht, der sicher gewordene
Takt von solcher Stärke, daß er das Absterben der alten Geschlechter
überdauert und unaufhörlich neue Menschen und Daseinsströme aus der
Tiefe in seinen Bann zieht. Es kann gar nicht bezweifelt werden, daß
alle Geschichte später Zeitalter nach Form, Takt und Tempo schon in den
ersten Generationen und zwar unwiderruflich angelegt ist. Ihre Erfolge
sind genau so groß wie die Macht der im Blute liegenden Tradition.
Es ist in der Politik wie in jeder großen und reifen Kunst: Erfolge
setzen voraus, daß das Dasein vollkommen in Form ist, daß der große
Schatz uralter Erfahrungen Instinkt und Trieb geworden ist und ebenso
unbewußt als selbstverständlich. Eine andere Art von Meisterschaft
gibt es nicht; der große Einzelne ist nur dadurch Herr der Zukunft und
mehr als ein Zwischenfall, daß er in dieser Form und aus ihr heraus
wirkt oder wirkend gemacht wird, Schicksal ist oder Schicksal hat.
Das unterscheidet notwendige und überflüssige Kunst und also auch
+historisch notwendige und überflüssige Politik+. Mögen dann
noch so viel Männer aus dem Volk -- das ist hier der Inbegriff der
Traditionslosen -- in die leitende Schicht gelangen, mögen sie endlich
sogar allein übrig sein, sie selbst sind ahnungslos besessen von dem
großen Schwung der Tradition, die ihre geistige und praktische Haltung
formt, ihre Methoden regelt und die nichts ist als der Takt längst
erstorbener Geschlechterfolgen.

Zivilisation aber -- wirkliche Rückkehr zur Natur -- ist das Erlöschen
des Adels nicht als Stamm, was von geringer Bedeutung wäre, sondern
als lebendiger Tradition, und der Ersatz des schicksalhaften Taktes
durch kausale Intelligenz. Der Adel ist dann nur noch Prädikat; aber
zivilisierte Geschichte ist eben damit Oberflächengeschichte, auf
zerstreute und nahe Zwecke gerichtet und also formlos im Kosmischen
geworden, vom Zufall der großen Einzelnen abhängig, ohne innere
Sicherheit, ohne Linie, ohne Sinn. Mit dem Cäsarismus kehrt die
Geschichte wieder ins Geschichtslose zurück, in den primitiven Takt der
Urzeit und zu den ebenso endlosen als bedeutungslosen Kämpfen um die
materielle Macht, welche die Zeit der römischen Soldatenkaiser des 3.
Jahrhunderts und der ihnen entsprechenden „sechzehn Staaten“ Chinas
(265-420) von den Ereignissen im Wildbestand eines Waldes nur noch
unwesentlich unterscheidet.


3

Und daraus folgt, daß echte Geschichte +nicht+ „Kulturgeschichte“
in dem antipolitischen Sinne ist, wie er unter Philosophen und
Doktrinären jeder beginnenden Zivilisation und also gerade heute
wieder beliebt wird, sondern ganz im Gegenteil Rassegeschichte,
Kriegsgeschichte, diplomatische Geschichte, das Schicksal von
Daseinsströmen in Gestalt von Mann und Weib, Geschlecht, Volk, Stand,
Staat, die sich im Wellenschlag der großen Tatsachen verteidigen und
gegenseitig überwältigen wollen. +Politik im höchsten Sinne ist
Leben und Leben ist Politik.+ Jeder Mensch, er mag wollen oder
nicht, ist Glied dieses kämpfenden Geschehens, als Subjekt oder Objekt;
etwas drittes gibt es nicht. Das Reich des Geistes ist +nicht+
von dieser Welt, gewiß, aber es setzt sie voraus, wie das Wachsein
das Dasein voraussetzt; es ist nur möglich als ein beständiges
Nein+sagen+ zur Wirklichkeit, die eben und trotzdem +da+
ist. Die Rasse kann des Sprache entbehren, aber schon das Sprechen
der Sprache ist Rasseausdruck,[364] und ebenso ist alles, was in der
Geistes+geschichte+ erfolgt -- daß es eine solche Geschichte
überhaupt gibt, beweist schon die Macht des Blutes über das Empfinden
und Verstehen -- alle Religionen, alle Künste, alle Gedanken, weil
sie tätiges Wachsein in Form sind, mit allen ihren Entwicklungen,
ihrer ganzen Symbolik, ihrer ganzen Leidenschaft Ausdruck auch noch
des Blutes, das diese Formen im Wachsein ganzer Geschlechterfolgen
durchströmt. Ein Held braucht von dieser zweiten Welt gar nichts zu
ahnen, er ist Leben durch und durch, aber ein Heiliger kann nur durch
die strengste Askese das Leben in sich niederzwingen, um mit seinem
Geist allein zu sein -- und die Kraft dazu ist doch wieder das Leben
selbst. Der Held verachtet den Tod und der Heilige verachtet das Leben,
aber da dem Heroismus der großen Asketen und Märtyrer gegenüber die
Frömmigkeit der meisten von der Art ist, von welcher es in der Bibel
heißt: „Weil Du weder kalt noch warm bist, will ich Dich ausspeien aus
meinem Munde“, so entdeckt man, daß selbst Größe im Religiösen Rasse
voraussetzt, ein starkes Leben, an dem es etwas zu überwinden gibt --
der Rest ist bloße Philosophie.

Aber deshalb ist auch Adel im welthistorischen Sinne unendlich
viel mehr, als bequeme Spätzeiten gelten lassen, nämlich nicht
eine Summe von Titeln, Rechten und Zeremonien, sondern ein innerer
Besitz, der schwer zu erwerben und schwer zu halten ist und der,
wenn man ihn begreift, schon das Opfer eines ganzen Lebens wert
erscheint. Ein altes Geschlecht bedeutet nicht einfach eine Reihe
von Vorfahren -- Ahnen haben wir alle -- sondern von Vorfahren, die
durch ganze Geschlechterfolgen auf den Höhen der Geschichte lebten
und Schicksal nicht nur hatten, sondern auch waren, in deren Blut
durch jahrhundertelange Erfahrung die Form des Geschehens bis zur
Vollendung gezüchtet worden ist. Da Geschichte im großen Sinne mit
einer Kultur beginnt, so ist es bloße Spielerei, wenn etwa die
Colonna ihr Geschlecht bis in die Römerzeit zurückverfolgen. Aber
es hat einen Sinn, wenn es im späten Byzanz für vornehm galt, vom
Stamme des großen Konstantin entsprossen zu sein, und heute in den
Vereinigten Staaten, seine Familie bis zu einem der 1620 mit der
„Mayflower“ Eingewanderten zurückzuführen. In Wirklichkeit beginnt
der antike Adel mit der trojanischen Zeit, nicht mit Mykene, und der
abendländische mit der Gotik und nicht mit den Franken und Goten, in
England mit den Normannen und nicht mit den Sachsen. Erst von da an
gibt es Geschichte und also kann es erst von da an statt der Edlen
und Helden einen Uradel von sinnbildlichem Range geben. Was am Anfang
als kosmischer Takt bezeichnet worden war,[365] erhält in ihm seine
Vollendung. Denn alles, was wir in reifen Zeiten diplomatischen und
gesellschaftlichen Takt nennen, und dazu gehören der strategische und
der geschäftliche Blick, das Auge des Sammlers kostbarer Dinge und
das Feingefühl des Menschenkenners, überhaupt alles was man nicht
lernt, sondern +hat+, was bei den übrigen den ohnmächtigen Neid
des Nichtmitkönnens weckt und was als Form den Gang der Ereignisse
leitet, ist nichts als ein Einzelfall jener kosmischen und traumhaften
Sicherheit, die in den Wendungen eines Vogelschwarms und den
beherrschten Bewegungen edler Pferde sichtbar zum Ausdruck gelangt.

Den Priester +umgibt+ die Welt als Natur; er vertieft ihr Bild,
indem er es +durchdenkt+. Der Adel +lebt+ in der Welt als
Geschichte und vertieft sie, indem er ihr Bild +verändert+.
Beides entwickelt sich zur großen Tradition, aber die eine ist das
Ergebnis von +Bildung+, die andere das von +Zucht+. Dies ist
ein grundlegender Unterschied zwischen beiden Ständen, weshalb nur
der eine wirklicher Stand ist und der andere durch den aufs äußerste
getriebenen Gegensatz dazu als Stand +erscheint+. Zucht, Züchtung
erstreckt sich auf das Blut und geht von den Vätern zu den Söhnen
weiter. Bildung aber setzt Begabung voraus, und deshalb ist ein echtes
und starkes Priestertum stets eine Sammlung von Einzelbegabungen --
eine Wachseinsgemeinschaft -- ohne Rücksicht auf Herkunft im Rassesinne
und auch darin eine Verneinung von Zeit und Geschichte. Geistesverwandt
und blutsverwandt -- man vertiefe sich in den Unterschied dieser
Worte. Erbliches Priestertum ist ein Widerspruch in sich selbst.
Im vedischen Indien liegt ihm die Tatsache zugrunde, daß es einen
zweiten Adel gibt, der die priesterlichen Rechte den Begabungen aus
seiner Mitte vorbehält; das Zölibat macht aber anderswo selbst dieser
Grenzüberschreitung ein Ende. Der „Priester im Menschen“ -- mag dieser
Mensch von Adel sein oder nicht -- bedeutet einen Mittelpunkt der
heiligen Kausalität im Weltraume. Die priesterliche Kraft selbst ist
kausaler Natur, von höheren Ursachen bewirkt und als Ursache weiterhin
wirkend. Der Priester ist +der Mittler+ im zeitlos Ausgedehnten,
das zwischen dem Wachsein des Laien und dem letzten Geheimnis
ausgespannt ist, und damit ist das Priestertum aller Kulturen seiner
Bedeutung nach durch deren Ursymbol bestimmt. Die antike Seele verneint
den Raum und bedarf also des Mittlers nicht; deshalb schwand der antike
Priesterstand schon in den Anfängen hin. Der faustische Mensch steht
dem Unendlichen gegenüber und nichts schützt ihn vor der drückenden
Gewalt dieses Aspekts; deshalb hat das gotische Priestertum sich bis
zur Idee des Papsttums gesteigert.

Zwei Anschauungen der Welt, zwei Arten, wie das Blut in den Adern
fließt und das Denken ins tägliche Sein und Tun verflochten wird -- es
sind endlich mit jeder hohen Kultur zwei Moralen entstanden, von denen
jede auf die andere herabblickt: adlige Sitte und geistliche Askese,
die sich wechselseitig als weltlich oder sklavisch verwerfen. Es war
gezeigt worden,[366] wie die eine aus der Burg, die zweite aus Kloster
und Dom hervorgeht, die eine aus dem vollen Dasein mitten im Strom der
Geschichte, die andere abseits davon aus einem reinen Wachsein inmitten
einer gotterfüllten Natur. Späte Zeiten machen sich keine Vorstellung
mehr von der Gewalt dieser ursprünglichen Eindrücke. Das weltliche
und geistliche Standesgefühl sind im Aufstieg begriffen und prägen
sich ein +sittliches Standesideal+, das nur dem Zugehörigen und
diesem nur durch eine lange und strenge Schule erreichbar ist. Der
+große+ Daseinsstrom +fühlt+ sich als Einheit gegenüber dem
Rest, in dem das Blut träge und ohne Takt dahinfließt; die +große+
Wachseinsgemeinschaft +weiß+ sich als Einheit gegenüber dem Rest
der Nichteingeweihten. Das ist die Heldenschar und die Gemeinschaft der
Heiligen.

Es wird immer das große Verdienst Nietzsches bleiben, als erster das
Doppelwesen aller Moral erkannt zu haben.[367] Er hat mit seinen
Begriffen Herren- und Sklavenmoral die Tatsachen nicht richtig
gezeichnet und „das Christentum“ viel zu eindeutig auf die eine Seite
gestellt, aber +das+ liegt klar und stark all seinen Betrachtungen
zugrunde: +Gut und schlecht sind adlige, gut und böse priesterliche
Unterscheidungen.+ Gut und schlecht, die Totembegriffe schon der
primitiven Männerbünde und Sippen, bezeichnen nicht Gesinnungen,
sondern Menschen und zwar nach der Ganzheit ihres lebendigen Seins.
Die Guten sind die Mächtigen, Reichen, Glücklichen. Gut bedeutet
stark, tapfer, von edler Rasse, und zwar im Sprachgebrauch aller
Frühzeiten. Schlecht, feil, elend, gemein im ursprünglichen Sinne
sind die Machtlosen, Besitzlosen, Unglücklichen, Feigen, Geringen,
die Söhne Niemands, wie man im alten Ägypten sagte. Gut und böse, die
Tabubegriffe, werten den Menschen hinsichtlich seines Empfindens und
Verstehens, also seiner +wachen+ Gesinnung und +bewußten+
Handlungen. Gegen die Liebessitte im Rassesinne verstoßen ist gemein;
gegen das Kirchengebot der Liebe fehlen ist böse. Die vornehme Sitte
ist das ganz unbewußte Ergebnis einer langen und beständigen Zucht.
Man lernt sie im Umgang und nicht aus Büchern. Sie ist gefühlter
Takt und nicht Begriff. Die andre Moral aber ist Satzung, nach Grund
und Folge durchaus gegliedert und also lernbar und Ausdruck einer
+Überzeugung+.

Die eine ist durch und durch geschichtlich und erkennt alle
Rangunterschiede und Vorrechte als tatsächlich und gegeben an. Ehre
ist immer Standesehre; eine Ehre der ganzen Menschheit gibt es nicht.
Der Zweikampf steht dem Unfreien nicht zu. Jeder Mensch hat, sei er
Beduine, Samurai oder Korse, Bauer, Arbeiter, Richter oder Räuber,
seine eigenen, verpflichtenden Begriffe von Ehre, Treue, Tapferkeit,
Rache, die auf keine andre Art von Leben anwendbar sind. Jedes Leben
+hat+ Sitte; anders ist es gar nicht zu denken. Schon die Kinder
haben sie, wenn sie spielen. Sie wissen sofort und von selbst,
was sich schickt. Niemand hat diese Regeln gegeben, aber sie sind
da. Sie entstehen ganz unbewußt aus dem „Wir“, das sich durch den
einheitlichen Takt des Kreises gebildet hat. Auch im Hinblick darauf
ist jedes Dasein „in Form“. Jede Menge, die sich aus irgendeinem Anlaß
auf der Straße zusammenballt, hat im Augenblick auch ihre Sitte;
wer sie nicht als selbstverständlich in sich trägt -- „befolgen“
ist schon viel zu verstandesmäßig -- der ist schlecht, gemein, er
gehört nicht dazu. Ungebildete und Kinder besitzen eine erstaunliche
Feinfühligkeit dafür. Kinder haben aber auch den Katechismus zu
lernen. Da erfahren sie von gut und böse, die gesetzt sind und nichts
weniger als selbstverständlich. Sitte ist nicht, was +wahr+ ist,
sondern was +da+ ist. Sie ist gewachsen, angeboren, erfühlt, von
organischer Logik. Moral ist im Gegensatz dazu niemals Wirklichkeit --
sonst wäre alle Welt heilig --, sondern eine ewige Forderung, die über
dem Bewußtsein hängt und zwar der Idee nach über dem aller Menschen,
unabhängig von allen Unterschieden des wirklichen Lebens und der
Geschichte. Deshalb ist jede Moral verneinend, jede Sitte bejahend.
+Ehrlos+ ist hier das Schlimmste, +sündlos+ dort das Höchste.

Der Grundbegriff aller lebendigen Sitte ist die Ehre. Alles andere,
Treue, Demut, Tapferkeit, Ritterlichkeit, Selbstbeherrschung,
Entschlossenheit liegen darin. Und Ehre ist Sache des Blutes, nicht
des Verstandes. Man überlegt nicht -- sonst ist man schon ehrlos.
Die Ehre verlieren heißt für das Leben, die Zeit, die Geschichte
vernichtet sein. Die Ehre des Standes, der Familie, des Mannes und
Weibes, des Volkes und Vaterlands, die Ehre des Bauern, Soldaten,
selbst des Banditen: Ehre bedeutet, daß das Leben in einer Person
etwas wert ist, historischen Rang, Abstand, Adel besitzt. Sie gehört
zur gerichteten Zeit wie die Sünde zum zeitlosen Raume. Ehre im Leibe
haben heißt beinahe so viel wie Rasse haben. Das Gegenteil sind die
Thersitesnaturen, die Kotseelen, der Pöbel: „Tritt mich, aber laß mich
leben.“ Eine Beleidigung hinnehmen, eine Niederlage vergessen, vor
dem Feinde winseln -- das ist alles Zeichen wertlos und überflüssig
gewordenen Lebens und also etwas ganz anderes als priesterliche Moral,
die sich nicht an das wenn auch noch so verächtlich gewordene Leben
klammert, sondern vom Leben und damit der Ehre überhaupt absieht. Es
war schon gesagt worden: jede moralische Handlung ist im tiefsten
Grunde ein Stück Askese und Abtötung des Daseins. Und eben damit steht
sie außerhalb des Lebens und der geschichtlichen Welt.


4

Hier muß etwas vorweggenommen werden, was der Weltgeschichte namentlich
in den Spätzeiten der großen Kulturen und der beginnenden Zivilisation
erst ihren Farbenreichtum und die sinnbildliche Tiefe der Ereignisse
gibt. Die Urstände Adel und Priestertum sind der +reinste+
Ausdruck der beiden Lebensseiten, aber nicht der +einzige+. Schon
ganz früh, und im primitiven Zeitalter vielfach vorgedeutet, brechen
noch andere Daseinsströme und Wachseinsverbindungen hervor, in denen
die Symbolik von Zeit und Raum zu lebendigem Ausdruck gelangt und die
erst zusammen mit jenen die ganze Fülle dessen ausmachen, was wir
+soziale Gliederung oder Gesellschaft+ nennen.

Das Priestertum ist mikrokosmisch und tierhaft, der Adel kosmisch
und pflanzenhaft; daher seine tiefe Verbundenheit mit dem Lande. Er
ist selbst eine Pflanze, fest in der Erde wurzelnd, bodenständig und
auch darin ein gesteigertes Bauerntum. Aus dieser Art von kosmischer
Verbundenheit ist die +Idee des Eigentums+ hervorgegangen, die
dem frei im Raume beweglichen Mikrokosmos als solchem ganz fremd
ist. Eigentum ist ein Urgefühl, kein Begriff und es gehört zur Zeit,
zur Geschichte und zum Schicksal und nicht zu Raum und Kausalität.
Begründen läßt es sich nicht, aber es ist da.[368] Das „Haben“
beginnt +mit der Pflanze+ und setzt sich in der Geschichte des
höheren Menschen genau so weit fort, als er Pflanzenhaftes, als er
Rasse in sich hat. Deshalb ist Eigentum im eigentlichsten Sinne immer
+Grundeigentum+ und der Trieb, Erworbenes in Grund und Boden zu
verwandeln, immer das Zeugnis für Menschen von gutem Schlage. Die
Pflanze +besitzt+ den Boden, in dem sie wurzelt. Er ist ihr
Eigentum,[369] das sie mit Verzweiflung ihr ganzes Dasein hindurch
verteidigt, gegen fremde Keime, gegen übermächtige Nachbarpflanzen,
gegen die ganze Natur. So verteidigt ein Vogel das Nest, in dem
er brütet. Die erbittertsten Kämpfe um das Eigentum werden nicht
in den Spätzeiten der großen Kulturen und zwischen Reich und Arm
um bewegliches Gut geführt, sondern hier, in den Anfängen der
Pflanzenwelt. Wer mitten in einem Walde fühlt, wie der schweigende
Kampf um den Boden rings um ihn vor sich geht, Tag und Nacht, ohne
Gnade, den erfaßt ein Grauen vor der Tiefe dieses Triebes, der mit dem
Leben beinahe eins ist. Hier gibt es jahrelanges, zähes, erbittertes
Ringen, aussichtslosen Widerstand des Schwachen gegen den Mächtigen,
der so lange dauert, bis auch der Sieger gebrochen ist, Tragödien, wie
sie sich nur im ursprünglichsten Menschentum wiederholen, wenn ein
altes Bauerngeschlecht von der Scholle, +aus dem Nest+ getrieben
oder eine Familie von adligem Stamm durch das Geld in des Wortes
eigentlichster Bedeutung entwurzelt wird.[370] Die weithin sichtbaren
Kämpfe in den späten Städten haben eine ganz andere Bedeutung,
denn hier, im Kommunismus jeder Art, handelt es sich nicht um das
Erlebnis, sondern den Begriff des Eigentums als eines rein materiellen
Mittels. Verneinung des Eigentums ist nie ein Rassetrieb -- ganz im
Gegenteil --, sondern der doktrinäre Protest des rein geistigen,
städtischen, entwurzelten, das Pflanzenhafte verleugnenden Wachseins
von Heiligen, Philosophen und Idealisten. Der mönchische Einsiedler
wie der wissenschaftliche Sozialist, heiße er Moh Ti, Zenon oder Marx,
verwerfen es aus demselben Grunde, die Menschen von Rasse verteidigen
es aus demselben Gefühl. Auch hier stehen sich Tatsachen und Wahrheiten
gegenüber. Eigentum ist Diebstahl; das ist in denkbar materialistischer
Form der alte Gedanke: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze
Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Der Priester gibt
mit dem Eigentum etwas Gefährliches und Fremdes, der Adel sich selbst
auf.

Von hier aus entwickelt sich nun ein doppeltes Eigentumsgefühl:
+Haben als Macht und Haben als Beute+. Beides liegt im ursprünglichen
Rassemenschen unvermittelt nebeneinander. Jeder Beduine und Wikinger
will beides zugleich. Der Seeheld ist stets auch Seeräuber; jeder
Krieg geht auch um Besitz und zwar vor allem den Besitz von Land;
nur ein Schritt ist nötig und der Ritter wird zum Raubritter, der
Abenteurer zum Eroberer und König, wie der Normanne Rurik in Rußland
und mancher achäische und etruskische Pirat in homerischer Zeit. In
aller Heldendichtung findet sich neben der starken und natürlichen
Lust am Kampf, an der Macht, am Weibe, und den ungezügelten Ausbrüchen
von Glück, Schmerz, Zorn und Liebe die mächtige Freude am „Haben“.
Als Odysseus in seiner Heimat landet, zählt er zuerst die Schätze im
Boot, und als in der isländischen Saga die Bauern Hjalmar und Ölvarod
sehen, daß der andere keine Güter im Schiff hat, lassen sie sofort
vom Zweikampf ab: ein Tor, wer aus Übermut und um die Ehre kämpft. Im
indischen Heldenepos bedeutet kampflustig soviel wie viehlüstern, und
die „kolonisierenden“ Griechen des 10. Jahrhunderts waren zunächst
Räuber wie die Normannen. Auf dem Meere ist ein fremdes Schiff ohne
weiteres gute Prise. Aber aus den Fehden südarabischer und persischer
Ritter von 200 n. Chr. und den _guerres privées_ der provençalischen
Barone von 1200, die nicht viel mehr waren als Viehdiebstähle,
entwickelt sich mit dem Ende der Feudalzeit der große Krieg mit dem
Ziel der Eroberung von Land und Leuten. Alles das bringt die hohe
adlige Kultur zuletzt in Zucht und Form, während es Priester und
Philosophen verachten.

Diese Urtriebe treten mit steigender Kultur weit auseinander und
geraten unter sich in Kampf. +Die Geschichte davon ist beinahe die
Weltgeschichte.+ Aus dem Machtgefühl stammen +Eroberung, Politik
und Recht+, aus dem Beutegefühl stammen +Handel, Wirtschaft und
Geld+. Recht ist das Eigentum des Mächtigen. Sein Recht ist das
Recht aller. Geld ist die stärkste Waffe des Erwerbenden. Mit ihm
unterwirft er sich die Welt. Die Wirtschaft will einen Staat, der
schwach ist und ihr dient; die Politik fordert die Einordnung des
wirtschaftlichen Lebens in den Machtbereich des Staates: Adam Smith und
Friedrich List, Kapitalismus und Sozialismus. Es gibt in allen Kulturen
am Anfang einen Kriegs- und einen Kaufmannsadel, dann einen Grund- und
Geldadel, zuletzt eine militärische und wirtschaftliche Kriegführung
und einen ununterbrochenen Kampf des Geldes mit dem Rechte.

Auf der anderen Seite trennen sich +Priestertum und
Gelehrsamkeit+. Sie sind beide nicht auf das Tatsächliche, sondern
auf das Wahre gerichtet, beide zur Tabuseite des Lebens und zum Raume
gehörig. Die Furcht vor dem Tode ist nicht nur der Ursprung aller
Religion, sondern auch aller Philosophie und Naturwissenschaft.
Aber der heiligen wird nun die profane Kausalität entgegengestellt.
+Profan+ ist der neue Gegenbegriff zum Religiösen, das die
Gelehrsamkeit nur als Dienerin geduldet hatte. Profan ist die
gesamte späte Kritik, ihr Geist, ihre Methode und ihr Ziel. Auch die
späte Theologie macht davon keine Ausnahme; aber trotzdem bewegt
sich die Gelehrsamkeit aller Kulturen durchaus in den Formen des
voraufgegangenen Priestertums und beweist damit, daß sie nur aus
dem Widerspruch erwachsen und von dem Urbild in allem und jedem
abhängig ist und bleibt. Die antike Wissenschaft lebt deshalb
in Kultgemeinden orphischen Stils wie die milesische Schule, der
Pythagoräerbund, die Ärzteschulen von Kroton und Kos, die attischen
Schulen der Akademie, des Peripatos und der Stoa, deren Schulhäupter
insgesamt zum Typus des Opferpriesters und Sehers gehören, bis zu
den römischen Rechtsschulen der Sabinianer und Proculianer. Arabisch
ist auch in der Wissenschaft das heilige Buch, der Kanon wie der
naturwissenschaftliche des Ptolemäos (Almagest), der medizinische
des Ibn Sina, das philosophische Korpus des „Aristoteles“ mit vielen
unechten Stücken, und dazu wieder meist ungeschriebene Zitiergesetze
und -methoden,[371] der Kommentar als Form des Gedankenfortschritts,
die Hochschulen als Klosteranlagen (Medressen), welche den Lehrern
und Hörern eine Zelle, Kost und Kleidung gewährten, und die gelehrten
Richtungen als Bruderschaften. Die Gelehrtenwelt des Abendlandes
besitzt durchaus die Gestalt der katholischen Kirche, besonders in
den protestantischen Gebieten. Den Übergang von den gelehrten Orden
der gotischen Zeit zu den ordensartigen Schulen des 19. Jahrhunderts,
wie die Hegel-, Kant- und historische Rechtsschule, aber auch manche
englischen Colleges, bilden die Mauriner und Bollandisten Frankreichs,
die seit 1650 die historischen Hilfswissenschaften beherrscht und zum
Teil begründet haben. Es gibt in allen Fachwissenschaften, Medizin
und Kathederphilosophie einbegriffen, eine ausgebildete Hierarchie
mit Schulpäpsten, Graden, Würden -- der Doktor als die Priesterweihe
--, Sakramenten und Konzilen. Der Laienbegriff wird schroff aufrecht
erhalten und das allgemeine Priestertum der Gläubigen in Gestalt
der populären Wissenschaft wie der darwinistischen leidenschaftlich
bekämpft. Die Gelehrtensprache war ursprünglich das Latein; heute haben
sich überall Fachsprachen ausgebildet, die z. B. auf dem Gebiete der
Radioaktivität oder im Obligationenrecht nur noch dem verständlich
sind, der die höheren Weihen empfangen hat. Es gibt Sektenstifter wie
manche Jünger Kants und Hegels, eine Mission unter Ungläubigen wie
die der Monisten, Ketzer wie Schopenhauer und Nietzsche, den großen
Bann und als Index eine Übereinkunft des Schweigens. Es gibt ewige
Wahrheiten wie die Teilung der Rechtsobjekte in Personen und Sachen,
und Dogmen wie das von Energie und Masse und die Vererbungstheorie,
einen Ritus des Zitierens rechtgläubiger Schriften und eine Art von
wissenschaftlicher Seligsprechung.[372]

Dazu kommt, daß der Typus des abendländischen Gelehrten, der um die
Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte -- gleichzeitig
mit dem Tiefpunkt des Priestertypus --, auch die Gelehrtenstube als
Zelle eines profanen Mönchtums und die unbewußten Gelübde dieses
Mönchtums zu hoher Vollendung gebracht hat: Armut in Gestalt einer
ehrlichen Geringschätzung von Wohlleben und Besitz, in Verbindung mit
der ungeheuchelten Verachtung des kaufmännischen Berufs und jeder
Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse zum Gelderwerb, Keuschheit
bis zur Entwicklung eines Gelehrtenzölibats, dessen Vorbild und Gipfel
Kant ist, Gehorsam bis zur Aufopferung für den Standpunkt der Schule.
Dazu kommt endlich eine Art von Weltfremdheit, welche der profane
Nachhall der gotischen Weltflucht ist und zur Geringschätzung fast des
gesamten öffentlichen Lebens und aller Formen der guten Gesellschaft
geführt hat: wenig Zucht und viel zu viel Bildung. Was für den Adel
auch noch in seinen späten Verzweigungen, für den Richter, Gutsbesitzer
und Offizier die naturwüchsige Freude an der Fortdauer des Stammes, an
Besitz und Ehre ist, das scheint ihm gering gegenüber dem Besitz eines
reines Gelehrtengewissens und der Fortdauer einer Methode oder Einsicht
fern von allen Händeln der Welt. Daß der Gelehrte heute aufgehört hat,
weltfremd zu sein, und die Wissenschaft oft mit großem Verständnis in
den Dienst der Technik und des Geldverdienens stellt, ist ein Zeichen
dafür, daß der reine Typus im Abstieg begriffen ist, und daß also die
große Zeit des Verstandesoptimismus, dessen lebendiger Ausdruck er ist,
bereits der Vergangenheit angehört.

Aus alledem ergibt sich ein natürlicher Aufbau der Stände, der in
seiner Entwicklung und Wirkung das Grundgerüst im Lebenslauf einer
jeden Kultur bildet. Kein Entschluß hat ihn geschaffen und kann ihn
abändern; Revolutionen ändern ihn nur, wenn sie Formen der Entwicklung
und nicht Ergebnis eines privaten Willens sind: er kommt dem handelnden
und denkenden Menschen in seiner letzten kosmischen Bedeutung gar nicht
zum Bewußtsein, weil er zu tief im menschlichen Dasein liegt und also
selbstverständlich ist; nur dem Oberflächenbild werden die Schlagworte
und Anlässe entnommen, um die man in jener Seite der Geschichte kämpft,
die von der Theorie als sozial abgetrennt wird und sich in Wirklichkeit
doch gar nicht trennen läßt. +Adel und Priestertum+ erwachsen
zuerst aus dem freien Lande und stellen die reine Symbolik von Dasein
und Wachsein, Zeit und Raum dar: aus den Seiten des Beutemachens und
Grübelns entwickelt sich dann ein doppelter Typus von geringerer
Symbolik, der in städtischen Spätzeiten in Gestalt von +Wirtschaft
und Wissenschaft+ zur Vormacht aufsteigt. In diesen beiden
Daseinsströmen sind rücksichtslos und traditionsfeindlich die Ideen von
Schicksal und Kausalität zu Ende gedacht; es entstehen Mächte, die eine
Todfeindschaft von den Standesidealen des Heldentums und der Heiligkeit
trennt: +das Geld und der Geist+. Sie verhalten sich beide zu
jenen wie die Seele der Stadt zu der des Landes. Eigentum heißt von
nun an Reichtum und Weltanschauung Wissen: entheiligtes Schicksal
und profane Kausalität. Aber auch Wissenschaft und Adel sind ein
Widerspruch. Der Adel beweist und forscht nicht, sondern +ist+.
Es ist bürgerlich-unvornehm, das _de omnibus dubitandum_, aber es
widerspricht andrerseits auch dem Grundgefühl des Priestertums, das
die Kritik in eine dienende Rolle verweist. Weiterhin stößt die reine
Wirtschaft hier auf eine asketische Moral, die den Geldgewinn verwirft,
so wie ihn der echte auf seinem Boden sitzende Adel verachtet. Selbst
der alte Kaufmannsadel ist vielfach zugrunde gegangen, z. B. in den
Hansastädten und in Venedig und Genua, weil er die unbedenklichen
Formen des großstädtischen Geschäfts aus Tradition nicht mitmachen
wollte oder konnte. Und endlich stehen Wirtschaft und Wissenschaft
selbst sich feindselig gegenüber und wiederholen in dem Kampfe zwischen
Geldgewinn und Erkenntnis, zwischen +Kontor und Gelehrtenstube+,
geschäftlichem und doktrinärem Liberalismus die alte große Gegnerschaft
von Handeln und Schauen, Burg und Dom. In irgend einer Gestalt
wiederholt sich diese Gliederung im Aufbau jeder Kultur und macht
damit eine vergleichende Morphologie auch im Sozialen möglich.

Ganz außerhalb der echten Standesordnung stehen überall die
+Berufsklassen+ der Handwerker, Beamten, Künstler und Arbeiter,
die z. B. in den Gilden der Schmiede (China), Schreiber (Ägypten)
und Sänger (Antike) bis in die Urzeit zurückreichen und zuweilen
infolge der beruflichen, bis zur Aufhebung des Conubiums gehenden
Absonderung zu wirklichen Volksstämmen geworden sind wie die Falascha
Abessiniens[373] und mehrere der im Gesetzbuch des Manu aufgezählten
Tschudraklassen. Ihre Sonderung beruht auf bloßen technischen
Fertigkeiten und also nicht auf der Symbolik von Zeit und Raum; ihre
Tradition beschränkt sich ebenfalls auf Technik und nicht auf eine
+eigne+ Sitte oder Moral, wie sie in Wirtschaft und Wissenschaft
durchaus vorhanden ist. Weil sie sich vom Adel ableiten, sind Offiziere
und Richter Stände, die Beamten ein Beruf; weil vom Priestertum
abgeleitet, ist der Gelehrte ein Stand, der Künstler ein Beruf.
Ehrgefühl und Gewissen haften dort am Stande, hier an der Leistung.
Es ist etwas Symbolisches, mag es auch noch so schwach sein, in der
Gesamtheit der ersten, was den letzten fehlt. Infolgedessen haftet
ihnen etwas Fremdes, Regelloses, oft etwas Verächtliches an; man denke
an den Scharfrichter, Schauspieler und fahrenden Sänger oder die
antike Einschätzung des bildenden Künstlers. Ihre Klassen und Gilden
sondern sich von der Gesellschaft ab oder suchen den Schutz der andern
Stände -- oder einzelner Patrone und Mäcene --, aber einfügen können
sie sich ihnen nicht, was in den Zunftkriegen der alten Städte und
den gesellschaftsfeindlichen Trieben und Gewohnheiten jeder Art von
Künstlerschaft zum Ausdruck kommt.


5

Eine Geschichte der Stände, die von den Berufsklassen grundsätzlich
abzusehen hat, ist also eine Darstellung des Metaphysischen im höheren
Menschentum, soweit es sich in Arten von dahinströmendem Leben zu
großer Symbolik erhebt, Arten, in und an denen die Geschichte der
Kulturen sich vollzieht.

Schon der scharf ausgeprägte Typus des Bauern am Anfang ist etwas
Neues. Zur Karolingerzeit und im zarischen Rußland des „Mir“[374]
gab es Freie und Knechte, die Landbau trieben, aber keine
+Bauernschaft+. Erst aus dem Gefühl eines tiefen Andersseins
gegenüber den beiden symbolischen „Leben“ -- wenn wir uns des Freidank
erinnern -- ist dieses Leben Stand geworden, +Nährstand+ in der
vollen Bedeutung des Wortes, nämlich die Wurzel der großen Pflanze
Kultur, die ihre Fasern tief in den mütterlichen Boden gesenkt hat
und dumpf und emsig alle Säfte an sich zieht und nach oben sendet, wo
Stamm und Wipfel in das Licht der Historie ragen. Er dient dem großen
Leben nicht nur durch die Nahrung, die er dem Boden abgewinnt, sondern
auch mit jenem andern Ertrag der Mutter Erde, seinem eigenen Blut,
das aus den Dörfern jahrhundertelang in die hohen Stände strömt, dort
ihre Formen empfängt und ihr Leben aufrecht erhält. Der ständische
Ausdruck dafür ist die +Hörigkeit+ -- mögen ihre Anlässe im
Oberflächenbild der Geschichte sein, welche sie wollen --, die sich
1000-1400 im Abendlande und „gleichzeitig“ in allen andern Kulturen
entwickelt hat. Das spartanische Helotentum gehört ebenso dahin wie
die altrömische Klientel, aus welcher seit 471 die +ländliche+
Plebs, also ein freier Bauernstand hervorgegangen ist.[375]
Erstaunlich ist die Macht dieses Strebens nach sinnbildlicher Form in
der Pseudomorphose des „spätrömischen“ Ostens, wo die von Augustus
begründete Kastenordnung des Prinzipats mit ihrer Unterscheidung von
senatorischem und ritterlichem Beamtentum sich rückwärts entwickelt,
bis sie um 300 überall dort, wo magisches Weltgefühl die Herrschaft
führt, auf dem frühgotischen Stande von 1300 und damit auf dem des
Sassanidenreichs[376] angelangt ist. Aus der Beamtenschaft einer
hochzivilisierten Verwaltung entwickelt sich ein kleiner Adel, die
Dekurionen, Dorfritter und Stadtpatrizier, die dem Herrn für alle
Abgaben mit Leib und Vermögen haftbar sind --ein durch Rückbildung
entstandenes Lehnswesen -- und deren Stellung allmählich erblich
wird, ganz wie unter der 5. ägyptischen Dynastie, wie in den ersten
Jahrhunderten der Dschou, wo schon I-Wang (934-909) die Eroberungen
den Vasallen überlassen mußte, die Grafen und Vögte ihrer Wahl
einsetzten, und wie während der Kreuzzüge. Ebenso wird der Offiziers-
und Soldatenstand erblich -- die Lehnspflicht der Heeresfolge --,
was alles Diokletian dann gesetzlich festgelegt hat. Der Einzelne
wird dem Stande fest eingegliedert (_corpori adnexus_), und das
Prinzip wird als Zunftzwang wie in gotischer und frühägyptischer
Zeit auf alle Gewerbe ausgedehnt. Vor allem aber entsteht mit
innerer Notwendigkeit aus der spätantiken Latifundienwirtschaft
mit Sklaven[377] der Kolonat erblicher Kleinpächter, während die
Gutsbezirke Verwaltungssprengel werden und der Gutsherr die Abgaben zu
erheben und das Soldatenkontingent zu stellen hat.[378] Zwischen 250
und 300 wird der Kolone gesetzlich an die Scholle gefesselt, _glebae
adscriptus_; +damit ist der ständische Unterschied von Feudalherrn
und Hörigen erreicht+.[379]

Adel und Priestertum sind als Möglichkeiten mit jeder neuen Kultur
gegeben. Die scheinbaren Ausnahmen beruhen lediglich auf einem Mangel
an greifbarer Überlieferung. Wir wissen heute, daß ein wirklicher
Priesterstand im alten China vorhanden war,[380] und für die Anfänge
orphischer Religiosität im 11. Jahrhundert v. Chr. ist die Annahme
eines Priestertums als Stand, der auch durch die epischen Gestalten des
Kalchas und Teiresias angedeutet wird, selbstverständlich. Ebenso setzt
die Entwicklung des ägyptischen Lehnsstaates einen Uradel schon für die
3. Dynastie voraus.[381] Aber in welcher Form und Stärke diese Stände
sich verwirklichen und dann in die folgende Geschichte eingreifen, sie
schaffen, tragen und sogar durch ihre eigenen Schicksale darstellen,
das hängt von dem Ursymbol ab, das jeder Kultur und ihrer gesamten
Formensprache zugrunde liegt.

Der Adel, ganz Pflanze, geht überall vom Lande als dem Ureigentum aus,
mit dem er fest verwachsen ist. Er besitzt überall die Grundform des
+Geschlechts+, in dem auch die „andere“ Geschichte, die des Weibes, zum
Ausdruck kommt, und stellt sich durch den Willen zur Dauer, nämlich des
Blutes, als das große Sinnbild von Zeit und Geschichte dar. Es wird
sich zeigen, daß das frühe, auf persönlichem Vertrauen beruhende hohe
Beamtentum des Vasallenstaates überall, in China und Ägypten so gut wie
in der Antike und im Abendland, vom Marschalk (chinesisch _sse-ma_),
Kämmerer (_chen_) und Truchseß (_ta-tsai_) bis zum Vogt (_nan_) und
Grafen (_peh_),[382] zuerst lehnsartige Hofämter und Würden schafft,
dann die erbliche Verbindung mit dem Boden sucht und so endlich zum
Ursprung adliger Geschlechter wird.

Der faustische Wille zum Unendlichen kommt in +dem genealogischen
Prinzip+ zum Ausdruck, das, so sonderbar es klingt, dieser Kultur
allein angehört, hier aber auch alle historischen Gebilde, vor allem
die Staaten selbst bis ins Innerste durchdringt und gestaltet. Der
historische Sinn, der über Jahrhunderte hinweg das Schicksal des eignen
Blutes kennen und das Wann und Woher bis zu den Urahnen +urkundlich+
belegt sehen will, die sorgfältige Gliederung des Stammbaums, die
den gegenwärtigen Besitz und seine Erbfolge vom Schicksal einer
Ehe abhängig machen kann, die vielleicht ein halbes Jahrtausend
vorher geschlossen worden ist, die Begriffe +des reinen Blutes+, der
Ebenbürtigkeit, der Mißheirat, das alles ist Wille zur Richtung in die
zeitliche Ferne, wie sie vielleicht nur noch im ägyptischen Adel zu
einer verwandten, aber sehr viel schwächeren Form gelangt ist.

Dagegen ist der Adel antiken Stils durchaus auf den augenblicklichen
Stand des agnatischen Geschlechts gerichtet, und dann auf einen
+mythischen+ Stammbaum, der nicht den geringsten historischen Sinn
verrät, sondern lediglich das um die historische Wahrscheinlichkeit
ganz unbekümmerte Bedürfnis nach einem prunkvollen Hintergrund für
das Jetzt und Hier der Lebenden. Daher die sonst ganz unerklärliche
Naivität, mit welcher der Einzelne hinter seinem Großvater gleich
Theseus und Herakles erblickt und sich einen phantastischen Stammbaum
zimmert, womöglich mehr als einen wie Alexander, und die Leichtigkeit,
mit welcher römische Familien angebliche Ahnen in die ältere
Konsulnliste hineinfälschen konnten. Bei den Begräbnissen der römischen
Nobilität wurden die Wachsmasken großer Vorfahren im Leichenzug
einhergetragen, aber es kam nur auf Zahl und Klang der berühmten Namen
an, nicht im geringsten auf den genealogischen Zusammenhang mit der
Gegenwart. Dieser Zug geht durch den gesamten antiken Adel, der wie der
gotische auch dem inneren Bau und Geiste nach eine Einheit bildet von
Etrurien bis nach Kleinasien hin. Auf ihm beruht die Macht, die noch
zu Beginn der Spätzeit die ordensartigen Geschlechterverbände durch
alle Städte hindurch besaßen, jene Phylen, Phratrien und Tribus, die
einen rein gegenwärtigen Bestand und Zusammenhang in sakraler Form
pflegten wie die drei dorischen, die vier jonischen Phylen und die
drei etruskischen Tribus, die im ältesten Rom als Tities, Ramnes und
Luceres erscheinen. In den Veden haben die „Väter“- und „Mütter“seelen
nur für drei nähere und drei fernere Generationen Anspruch auf den
Seelenkult,[383] dann verfallen sie der Vergangenheit, und weiter
zurück reichte auch der antike Seelenkult nirgends: das ist der
äußerste Gegensatz zum Ahnenkult der Chinesen und Ägypter, welcher
der Idee nach niemals endet und damit das Geschlecht selbst über den
leiblichen Tod hinaus in bestimmten Ordnungen aufrecht erhält. In
China lebt heute noch ein Herzog Kung als Nachkomme des Konfuzius und
ebenso ein Nachkomme des Laotse, des Tschang-lu und anderer. Von einem
weitverzweigten Stammbaum ist nicht die Rede; die Linie, das _tao_
des Wesens wird fortgeführt, augenscheinlich auch durch Adoption,
die den Adoptierten durch Verpflichtung zum Ahnenkult dem Geschlecht
seelisch einverleibt, oder andere Mittel.

Eine unbändige Lebenslust durchströmt die blühenden Jahrhunderte dieses
eigentlichsten Standes, der durch und durch Richtung, Schicksal und
Rasse ist. Das Weib, weil es Geschichte +ist+, und der Kampf,
weil er Geschichte +macht+, stehen unbedingt im Mittelpunkte
seines Denkens und Treibens. Der nordischen Skaldenpoesie und dem
südlichen Minnesang entsprechen die alten Liebeslieder im Shi-king
aus chinesischer Ritterzeit,[384] die im Pi-yung vorgetragen wurden,
der Stätte adliger Zucht, des Hiao; und ebenso gehört das feierliche
öffentliche Bogenschießen ganz im Geiste der frühantiken Agone und
der gotischen wie der persisch-byzantinischen Turniere zu dieser
+homerischen+ Seite des chinesischen Lebens.

Dem gegenüber steht die +orphische+, die durch den Stil des
Priestertums das Raumerlebnis einer Kultur ausdrückt. Es entspricht der
euklidischen Art der antiken Ausgedehntheit, die keines Vermittlers
bedarf, um mit den nahen leibhaften Göttern Verkehr zu pflegen,
wenn das Priestertum hier von den Anfängen eines Standes zu einer
Summe städtischer Ämter herabsinkt. Es entspricht dem _tao_ der
Chinesen, daß es statt des erblichen Priestertums am Anfang später nur
noch die Berufsklassen der Beter, Schriftkundigen und Orakelpriester
gibt, welche die Kulthandlungen der Behörden und Familienhäupter mit
den vorgeschriebenen Riten begleiten. Es entspricht dem sich in maßlose
Weiten verlierenden Weltgefühl des Inders, daß der Priesterstand dort
ein zweiter Adel wird, der sich mit ungeheurer Macht und in das gesamte
Leben eingreifend zwischen das Volk und seine wüste Götterwelt lagert;
und es ist endlich ein Ausdruck des Höhlengefühls, wenn der eigentliche
Priester magischen Stils der Mönch und Einsiedler ist, und zwar mit
steigendem Nachdruck, während die Weltpriesterschaft an sinnbildlicher
Bedeutung mehr und mehr verliert.

Dagegen erhebt sich nun das faustische Priestertum, das noch um 900
ohne jede tiefere Bedeutung und Würde gewesen war, in steilem Aufstieg
zu jener ungeheuren Mittlerrolle, die sich der Idee nach zwischen die
gesamte Menschheit und die mit dem vollen Pathos der dritten Dimension
ausgespannte Weite des Makrokosmos stellt, die aus der Geschichte
durch das Zölibat, aus der Zeit durch den _character indelebilis_
ausgeschlossen ist und im Papsttum gipfelt, das das größte überhaupt
denkbare Symbol des heiligen dynamischen Raumes darstellt und in der
protestantischen Idee des allgemeinen Priestertums der Gläubigen nicht
aufgehoben, sondern nur von einem Punkt und einer Person in die Brust
jedes einzelnen Gläubigen verlegt worden ist.

Der in jedem Mikrokosmos vorhandene Widerspruch zwischen Dasein
und Wachsein treibt mit innerer Notwendigkeit auch die beiden
Stände gegeneinander. Die Zeit will den Raum, der Raum die Zeit
sich einordnen. Geistliche und weltliche Macht sind Größen von so
verschiedener Ordnung und Tendenz, daß eine Versöhnung oder auch nur
Verständigung unmöglich erscheint. Aber in allen andern Kulturen ist
dieser Kampf nicht zu welthistorischem Ausbruch gekommen: in China war
dem Adel um des _tao_, in Indien dem Priestertum um des endlos
verschwimmenden Raumes willen die Vorherrschaft gesichert; innerhalb
der arabischen Kultur ist die Einordnung des sichtbar-weltlichen
Zusammenhangs der Rechtgläubigen in den großen geistigen Konsensus
mit dem magischen Weltgefühl unmittelbar gegeben und damit also
auch die Einheit von weltlichem und geistlichem Staat, Recht,
Herrschertum. Das hat die Reibungen beider Stände nicht verhindert und
im Sassanidenreich zu blutigen Fehden zwischen dem Adel der Dinkane
und der Magierpartei und zu Mordtaten selbst an einzelnen Herrschern
geführt, in Byzanz das ganze 5. Jahrhundert mit Kämpfen zwischen
Kaisergewalt und Geistlichkeit ausgefüllt, die überall im Hintergrunde
der monophysitischen und nestorianischen Streitigkeiten stehen,[385]
aber das grundsätzliche Verhältnis stand dabei +nicht+ in Frage.

In der Antike, die das Unendliche in jedem Sinne von sich wies,
waren die Zeit auf die Gegenwart, das Ausgedehnte auf den greifbaren
Einzelkörper zurückgeführt, und die Stände von großer Symbolik mithin
so bedeutungslos geworden, daß sie gegenüber dem Stadtstaat, der
das antike Ursymbol in denkbar stärkster Form zum Ausdruck bringt,
als selbständige Mächte nicht in Betracht kamen. Dagegen läßt die
Geschichte des ägyptischen Menschentums, in dem ein gewaltiger
Tiefendrang mit gleicher Kraft in die zeitliche und räumliche Ferne
strebt, das Ringen beider Stände und ihrer Symbolik bis in das
ausgebildete Fellachentum hinein beständig erkennen. Denn der Übergang
von der vierten zur fünften Dynastie ist auch mit einem deutlichen
Triumph des priesterlichen über das ritterliche Weltgefühl verbunden;
der Pharao wird vom Leibe und Träger zum Diener der höchsten Gottheit,
und das Heiligtum des Re überwindet an architektonischer wie an
sinnbildlicher Wucht den Totentempel des Herrschers. Das Neue Reich
sieht gleich nach den ersten großen Cäsaren die politische Allmacht der
Amonspriesterschaft von Theben und dagegen wieder die Umwälzung des
Ketzerkönigs Amenophis IV., die doch auch eine sehr fühlbare politische
Seite hat, bis die Geschichte der ägyptischen Welt nach endlosem Ringen
zwischen Krieger- und Priesterkaste mit der Fremdherrschaft zu Ende
geht.

Dieser Kampf zweier gleich mächtiger Symbole ist in der faustischen
Kultur mit verwandtem Geist, aber noch viel größerer Leidenschaft
geführt worden und läßt zwischen Staat und Kirche von der frühesten
Gotik an den Frieden nur als Waffenstillstand möglich erscheinen. In
diesem Kampfe aber kommt die Bedingtheit des Wachseins zum Ausdruck,
das vom Dasein unabhängig sein möchte und doch nicht kann. Die Sinne
bedürfen des Blutes, das Blut aber nicht der Sinne. Der Krieg gehört
in die Welt der Zeit und Geschichte -- +geistig ist nur der Streit
mit Gründen, die Disputation+ --, eine +kämpfende+ Kirche
begibt sich aus dem Reich der Wahrheiten in das der Tatsachen, aus
dem Reich Jesu in das des Pilatus; sie wird ein Element innerhalb
der Rassegeschichte und unterliegt durchaus der Gestaltungskraft
der +politischen+ Seite des Lebens; sie kämpft mit Schwert
und Geschütz, mit Gift und Dolch, mit Bestechung und Verrat, mit
allen Mitteln des jeweiligen Parteikampfes von der Feudalzeit bis
zur modernen Demokratie; sie opfert Glaubenssätze gegen weltliche
Vorteile und verbündet sich mit Ketzern und Heiden gegen rechtgläubige
Mächte. Das Papsttum +als Idee+ besitzt eine Geschichte für sich,
aber unabhängig davon waren die Päpste des 6. und 7. Jahrhunderts
byzantinische Statthalter syrischer und griechischer Herkunft, dann
mächtige Landbesitzer mit Scharen höriger Bauern; endlich wurde das
Patrimonium Petri zu Beginn der Gotik eine Art Herzogtum im Besitz der
großen Adelsgeschlechter der Campagna, die abwechselnd Päpste stellten,
voran die Colonna, Orsini, Savelli, Frangipani, bis das allgemein
abendländische Lehnswesen auch hier herrschend wurde und der Stuhl
Petri innerhalb der Familien römischer Barone zur Verleihung kam, so
daß der neue Papst wie jeder deutsche und französische König die Rechte
seiner Vasallen zu bestätigen hatte. Die Grafen von Tuskulum ernannten
1032 einen zwölfjährigen Knaben zum Papst. Achthundert Burgtürme
erhoben sich damals im Stadtgebiet zwischen und auf den antiken Ruinen.
Im Jahre 1045 hatten sich drei Päpste im Vatikan, Lateran und in Santa
Maria Maggiore verschanzt und wurden von ihrer adligen Gefolgschaft
verteidigt.

Dazu tritt nun die Stadt mit ihrer Seele, die sich von der Seele
des Landes erst löst, dann sich ihr gleichstellt, endlich sie
zu unterdrücken und auszulöschen sucht. Aber diese Entwicklung
vollzieht sich in +Arten des Lebens+ und gehört also auch der
Ständegeschichte an. Kaum ist das Stadt+leben+ als solches
aufgetaucht und in der Bewohnerschaft dieser kleinen Siedlungen
ein Gemeingeist erwachsen, der das eigne Leben als etwas anderes
empfindet als das Leben draußen, da beginnt der Zauber +persönlicher
Freiheit+ zu wirken und immer neue Daseinsströme in die Mauern
zu ziehen. Es gibt da eine Art Leidenschaft, Städter zu sein und
Stadtleben auszubreiten. Aus ihr und nicht aus materiellen Anlässen
geht das Fieber der antiken Gründungszeit hervor, die uns in ihren
letzten Ausläufern noch erkennbar ist und da nicht ganz richtig als
Kolonisation bezeichnet wird. Es ist die zeugende Begeisterung des
Menschen der Stadt, die seit dem 10. Jahrhundert in der Antike und
„gleichzeitig“ in den andern Kulturen immer neue Geschlechterfolgen in
den Bann eines neuen Lebens zwingt, mit dem zum ersten Male inmitten
der Menschengeschichte die +Idee der Freiheit+ erscheint. Sie ist
nicht politischen und noch viel weniger abstrakten Ursprungs, sondern
sie bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß innerhalb der Stadtmauern
das pflanzenhafte Verbundensein mit dem Lande ein Ende hat und die das
ganze Landleben durchsetzenden Bindungen zerrissen sind. Ihr Wesen
hat deshalb immer etwas Verneinendes. Sie löst, erlöst, verteidigt;
frei ist man immer +von+ etwas. Die Stadt ist der Ausdruck
+dieser+ Freiheit; städtischer Geist ist freigewordnes Verstehen,
und alles was in Spätzeiten unter dem Namen Freiheit an geistigen,
sozialen und nationalen Bewegungen hervorbricht, leitet seinen Ursprung
zu dieser einen +Urtatsache des Freiseins vom Lande+ zurück.

Aber die Stadt ist älter als der „Bürger“. Sie zieht zunächst die
Berufsklassen an, die außerhalb der symbolischen Ständeordnung stehen
und hier die Form von Zünften erhalten, dann aber die Urstände
selbst, die wie der Kleinadel ihre Burgen und wie die Franziskaner
ihre Klöster in das Weichbild verlegen, ohne daß damit innerlich viel
geändert wäre. Nicht nur das päpstliche Rom, alle italienischen Städte
dieser Zeit sind mit den Festungstürmen der Geschlechter erfüllt,
von denen aus die Fehden in den Straßen ausgefochten werden. Auf
einem bekannten Gemälde von Siena aus dem 14. Jahrhundert ragen sie
wie Fabrikschlote rings um den Markt empor, und der florentinische
Palast der Renaissance ist nicht nur durch das prachtvolle Leben in
ihm ein Nachfolger der provençalischen Edelhöfe, sondern mit seiner
Rustikafassade auch ein Abkomme der gotischen Burg, welche die deutsche
und französische Ritterschaft noch für lange Zeit auf den Bergen
baute. Erst langsam sondert sich ein neues Leben ab. 1250-1450 haben
sich im ganzen Abendland die eingewanderten Geschlechter den Zünften
gegenüber zum Patriziat zusammengeschlossen und eben damit auch geistig
vom Landadel gelöst; genau dasselbe war im frühen China, Ägypten und
im byzantinischen Reiche der Fall, und erst von hier aus sind die
ältesten antiken Städtebünde wie der etruskische, vielleicht noch der
latinische, und die sakrale Verbindung der kolonialen Tochterstädte mit
der Mutterstadt zu verstehen: nicht die Polis als solche, sondern das
Patriziat der Phylen und Phratrien in ihnen ist Träger der Ereignisse.
+Die ursprüngliche Polis ist mit dem Adel identisch+, wie es in
Rom bis 471 und in Sparta und den etruskischen Städten dauernd der Fall
war; von ihm geht der Synoikismos und die Bildung des Stadtstaates aus,
aber auch in den andern Kulturen ist der Unterschied von Land- und
Stadtadel zunächst ganz ohne Bedeutung gegenüber dem starken und tiefen
zwischen dem Adel überhaupt und dem Rest.

Das Bürgertum entsteht erst aus dem grundsätzlichen Widerspruch
zwischen Stadt und Land, der die „Geschlechter und Zünfte“, so schroff
sie sich sonst bekämpfen, dem Uradel und dem Lehnsstaat überhaupt,
auch dem Lehnswesen der Kirche gegenüber sich als Einheit fühlen
läßt. Der Begriff des +dritten Standes+, des _tiers_, um
das berühmte Wort der französischen Revolution zu gebrauchen, ist
eine Einheit +lediglich des Widerspruchs+ und inhaltlich also
gar nicht zu bestimmen, ohne eigene Sitte und Symbolik, denn die
vornehme bürgerliche Gesellschaft artet dem Adel und die städtische
Frömmigkeit dem frühen Priestertum nach; und der Gedanke, daß das
Leben nicht einem praktischen Zweck, sondern vor allem mit seiner
ganzen Haltung dem Ausdruck der Symbolik von Zeit und Raum zu dienen
habe und allein dadurch einen hohen Rang in Anspruch nehmen dürfe,
reizt gerade die städtische Vernunft zu erbittertem Widerspruch.
Diese Vernunft, zu deren Domäne die gesamte politische Literatur
der Spätzeit gehört, nimmt eine neue Gruppierung der Stände von der
Stadt aus vor, die zunächst Theorie ist, aber durch die Allmacht
des Rationalismus endlich Praxis, sogar die blutige Praxis von
Revolutionen wird. Adel und Priestertum erscheinen, soweit sie noch
da sind, mit einer gewissen Betonung als privilegierte Stände, womit
stillschweigend ausgedrückt wird, daß ihr Anspruch auf verbriefte
Vorrechte auf Grund ihres geschichtlichen Ranges vor dem zeitlosen
Vernunft- oder Naturrecht veraltet und sinnlos ist. Sie haben jetzt
ihren Mittelpunkt in +Hauptstädten+ -- ein wichtiger Begriff
der Spätzeit -- und entwickeln erst jetzt die aristokratischen
Formen zu jener ehrfurchtgebietenden Vornehmheit, wie sie z. B. aus
den Bildnissen von Reynolds und Lawrence spricht. Ihnen treten die
geistigen Mächte der zur Herrschaft gelangten Stadt, +Wirtschaft und
Wissenschaft+ entgegen, die zusammen mit der Masse der Handwerker,
Beamten und Arbeiter sich als Partei fühlen, uneinig in sich selbst,
aber einig stets, sobald der Kampf der Freiheit, also der städtischen
Unverbundenheit gegen die großen Symbole der alten Zeit und die aus
ihnen fließenden Rechte beginnt. Sie alle sind als Bestandteile des
dritten Standes, der nicht nach dem Range, sondern nach Köpfen zählt,
in allen Spätzeiten aller Kulturen irgendwie „liberal“, nämlich frei
von den innerlichen Mächten nichtstädtischen Lebens, die Wirtschaft
frei für den Gelderwerb, die Wissenschaft frei in der Kritik, wobei
in allen großen Entscheidungen der Geist in Büchern und Versammlungen
das Wort führt -- Demokratie -- und das Geld den Vorteil zieht --
Plutokratie -- und das Ende nie der Sieg der Ideen ist, sondern der
des Kapitals. Aber das ist wieder der Gegensatz von Wahrheiten und
Tatsachen, so wie er sich aus dem Stadtleben entwickelt.

Und aus Protest gegen die uralten Symbole des erdverbundenen Lebens
stellt die Stadt nun dem Geburtsadel die Begriffe des Geldadels und
des Geistesadels entgegen: der eine kein lauter Anspruch, aber eine um
so wirksamere Tatsache, der andre eine Wahrheit, aber weiter nichts
und für das Auge ein zweifelhaftes Schauspiel. In jeder Spätzeit
entwickelt sich zum Uradel -- Kreuzzugsadel ist ein gewichtiges Wort
-- in dem ein Stück gewaltiger Geschichte Form und Takt geworden ist
und der an den großen Höfen vielfach innerlich zugrunde geht, ein
echter Nachwuchs. So entsteht im 4. Jahrhundert durch das Eindringen
großer plebejischer Geschlechter als _conscripti_ in den römischen
Senat der _patres_ die Nobilität als grundbesitzender Amtsadel
innerhalb des Senatorenstandes. Im päpstlichen Rom bildet sich in ganz
ähnlicher Weise der Nepotenadel; es gab um 1650 kaum fünfzig Familien
von mehr als dreihundertjährigem Stammbaum. In den Südstaaten der Union
entwickelt sich seit dem späten Barock jene Pflanzeraristokratie,
die im Sezessionskriege von 1861-65 von den Geldmächten des Nordens
vernichtet wurde. Der alte Kaufmannsadel im Stile der Fugger, Welser,
Medici und der großen Häuser von Venedig und Genua, dem fast das
gesamte Patriziat der hellenischen Koloniestädte von 800 an zuzurechnen
ist, hat immer etwas Aristokratisches gehabt, Rasse, Tradition, gute
Sitte und den natürlichen Trieb, durch Grunderwerb die Verbindung
mit dem Boden wiederherzustellen (obwohl das alte Stammhaus in der
Stadt kein übler Ersatz war). Aber der neue Geldadel der Händler und
Spekulanten dringt mit seinem schnell erworbenen Geschmack an vornehmen
Formen zuletzt auch in den Geburtsadel ein -- in Rom als _equites_
seit dem 1. punischen Kriege, in Frankreich unter Ludwig XIV.[386] --,
erschüttert und verdirbt ihn, während der Geistesadel der Aufklärung
ihn mit Hohn überschüttet. Die Konfuzianer haben den altchinesischen
Begriff des _shi_ von der adligen Sitte zur geistigen Tugend
herabgezogen und das Pi-yung aus einer Stätte ritterlicher Kampfspiele
zur „geistigen Ringschule“, zum Gymnasium gemacht, ganz im Sinne des
18. Jahrhunderts.

Mit dem Ausgang der Spätzeit jeder Kultur kommt auch die
Ständegeschichte zu mehr oder weniger gewaltsamem Abschluß. Es ist
der Sieg des bloßen Lebenwollens in wurzelloser Freiheit über die
großen bindenden Kultursymbole, welche das jetzt ganz von der Stadt
beherrschte Menschentum weder versteht noch erträgt. Aus dem Geldwesen
verschwindet jeder Sinn für die bodenständigen, unbeweglichen Werte,
aus der wissenschaftlichen Kritik jeder Rest von Pietät. Ein Sieg über
sinnbildliche Ordnungen ist zum Teil auch die Bauernbefreiung; der
Bauer wird dem Druck der Hörigkeit enthoben, aber der Macht des Geldes
ausgeliefert, das nun den Boden zur beweglichen Ware macht; sie erfolgt
bei uns im 18. Jahrhundert, in Byzanz um 740 durch den Nomos Georgikos
des Gesetzgebers Leo III.,[387] womit der Kolonat langsam verschwindet,
in Rom im Zusammenhang mit der Begründung der Plebs im Jahre 471. In
Sparta hat damals Pausanias die Helotenbefreiung vergeblich angestrebt.

Die Plebs ist _der verfassungsmäßig als Einheit anerkannte_
_tiers_, der durch unverletzliche Tribunen, nicht Beamte, sondern
Vertrauensmänner, vertreten wird. Man hat den Vorgang von 471,[388]
der auch die altadligen etruskischen drei Geschlechtertribus durch
vier städtische Tribus (Bezirke) ersetzt hat, was manches Weitere
erraten läßt, als reine Bauernbefreiung angesehen[389] oder auch als
Organisation der Kaufmannschaft.[390] Aber die Plebs ist als dritter
Stand, als Rest, nur negativ zu bestimmen: Alles was +nicht+
Grundadel oder Inhaber der großen Priesterämter ist, gehört dazu.
Das Bild ist ebenso bunt wie das des _tiers_ von 1789. Nur der
Protest hält sie zusammen. Es gab Kaufleute, Handwerker, Lohnarbeiter,
Schreiber darunter. Das Geschlecht der Claudier enthielt patrizische
+und+ plebejische, also grundherrliche und großbäuerliche
Familien (wie die Claudii Marcelli). Innerhalb des Stadtstaates ist
die Plebs, was in einem abendländischen Staate des Barock +Bauern
und Bürger zusammen+ sind, wenn sie gegen fürstliche Allgewalt in
einer Ständeversammlung protestieren. Außerhalb der Politik, nämlich
gesellschaftlich, ist die Plebs im Unterschied von Adel und Priestertum
überhaupt nicht vorhanden, sondern zerfällt sofort in die Sonderberufe
von ganz verschiedenen Interessen. Sie ist +Partei+ und vertritt
als solche die Freiheit im städtischen Sinne. Das wird noch deutlicher
durch den Erfolg, den der Grundadel gleich darauf errungen hat, indem
er sechzehn ländliche, nach Geschlechtern benannte Tribus, in denen
er das unbedingte Übergewicht besaß, den vier städtischen hinzufügte,
die das eigentliche Bürgertum, Geld und Geist, vertreten. Erst in dem
großen Ständekampf während der Samnitenkriege, zur Zeit Alexanders,
der ganz der französischen Revolution entspricht und 287 mit der Lex
Hortensia endete, wurde der Standesbegriff rechtlich aufgehoben und
die Geschichte der ständischen Symbolik abgeschlossen. +Die Plebs
wird zum Populus Romanus+ in demselben Sinne, wie sich 1789 der
_tiers_ als Nation konstituierte. Was in allen Kulturen von da an
unter dem Bilde sozialer Kämpfe vor sich geht, ist etwas grundsätzlich
anderes.

Der Adel aller Frühzeiten war +der+ Stand im ursprünglichsten
Sinne gewesen, die fleischgewordene Geschichte, die Rasse in höchster
Potenz. Das Priestertum trat als Gegen-Stand neben ihn, überall Nein
sagend, wo der Adel bejahte, und damit die andere Seite des Lebens
durch ein großes Sinnbild zur Schau stellend.

Der dritte Stand, wie wir sahen, innerlich ohne alle Einheit, war der
Nichtstand, der Protest gegen das Ständewesen in ständischer Form,
und zwar nicht gegen diese oder jene, sondern gegen die sinnbildliche
Form des Lebens überhaupt. Er verwirft alle Unterschiede, die von der
Vernunft und durch den Nutzen nicht gerechtfertigt sind, aber trotzdem
bedeutet er selbst etwas und zwar mit voller Deutlichkeit: er ist
+das städtische Leben als Stand+ dem ländlichen entgegengesetzt;
er ist +die Freiheit als Stand+ gegenüber der Verbundenheit.
Aber er ist von sich selbst aus betrachtet keineswegs der Rest, wie
es von den Urständen aus erscheint. Das Bürgertum hat Grenzen; es
gehört zur Kultur; es umfaßt im besten Sinne alle ihr Zugehörigen und
zwar unter der Bezeichnung Volk, _populus_, _demos_, wobei
Adel und Priestertum, Geld und Geist, Handwerk und Lohnarbeit als
Einzelbestandteile ihm eingeordnet sind.

Diesen Begriff findet die Zivilisation vor und vernichtet ihn durch
den Begriff des vierten Standes, der +Masse+, der die Kultur mit
ihren gewachsenen Formen grundsätzlich ablehnt. Es ist das absolut
Formlose, das jede Art von Form, alle Rangunterschiede, den geordneten
Besitz, das geordnete Wissen mit Haß verfolgt. Es ist das neue
Nomadentum der Weltstädte,[391] für das Sklaven und Barbaren in der
Antike, der Tschudra in Indien, alles was Mensch ist, gleichmäßig ein
flutendes Etwas bilden, das mit seinem Ursprung gänzlich zerfallen ist,
seine Vergangenheit nicht anerkennt und eine Zukunft nicht besitzt.
Damit wird der vierte Stand zum Ausdruck der Geschichte, die ins
Geschichtslose übergeht. Die Masse ist das Ende, das radikale Nichts.


    [353] Vgl. S. 3 und Anm. S. 3.

    [354] Erst das Weib ohne Rasse, das Kinder nicht haben kann oder
    will, das nicht mehr Geschichte +ist+, möchte die Geschichte
    der Männer +machen+, nachmachen. Und umgekehrt hat es einen
    tiefen Grund, wenn man die antipolitische Gesinnung von Denkern,
    Doktrinären und Menschheitsschwärmern als altweiberhaft bezeichnet.
    Sie wollen die andere Geschichte, die des Weibes, nachmachen,
    obwohl sie es nicht -- können.

    [355] S. 141 ff.

    [356] Mitteis, Reichsrecht und Volksrecht (1891) S. 63.

    [357] Sohm, Institutionen (1911) S. 614.

    [358] Auf diesem Prinzip beruht der Dynastiebegriff der arabischen
    Welt (der Ommaijaden, Komnenen, Sassaniden), der uns schwer
    begreiflich ist. Wenn ein Usurpator den Thron erobert hat, so
    vermählt er sich mit irgend einem weiblichen Mitgliede der
    Blutsgemeinschaft und setzt so die Dynastie fort. Von einer
    gesetzlichen Erbfolge ist der Idee nach nicht die Rede. Vgl. auch
    J. Wellhausen, Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit (1900).

    [359] S. 22.

    [360] R. Fick, Die soziale Gliederung im nordöstlichen Indien zu
    Buddhas Zeit (1897), S. 201. K. Hillebrandt, Alt-Indien (1899), S.
    82.

    [361] Die Leichtigkeit, mit welcher in Rußland die vier sogenannten
    Stände der petrinischen Zeit -- Adel, Kaufleute, Kleinbürger,
    Bauern -- durch den Bolschewismus ausgelöscht worden sind, beweist,
    daß sie bloße Nachahmung und Verwaltungspraxis waren, aber ohne
    alle Symbolik, die sich durch Gewalt nicht ersticken läßt. Sie
    entsprechen den äußeren Rang- und Besitzunterschieden im Westgoten-
    und Frankenreich und in mykenischer Zeit, wie sie in den ältesten
    Teilen der Ilias noch durchschimmert. Erst in Zukunft werden sich
    echter Adel und Priestertum russischen Stils herausbilden.

    [362] Wonach sie ein Vertrag auf den wechselseitigen Besitz
    zweier Personen ist, der durch den wechselseitigen Gebrauch der
    Geschlechtseigentümlichkeiten verwirklicht wird.

    [363] Oldenberg, Die Lehre der Upanishaden (1915), S. 5.

    [364] S. 147.

    [365] S. 4 ff.

    [366] S. 332 ff.

    [367] Jenseits von Gut und Böse § 260.

    [368] Umgekehrt läßt es sich widerlegen, und das ist in der
    chinesischen, antiken, indischen und abendländischen Philosophie
    oft genug geschehen, aber man schafft es nicht ab.

    [369] Jünger und von viel geringerer sinnbildlicher Kraft ist der
    Besitz von +beweglichen+ Sachen, Nahrung, Geräten, Waffen, der auch
    im Tierreich weit verbreitet ist. Dagegen ist das Nest eines Vogels
    pflanzenhaftes Eigentum.

    [370] Eigentum in diesem bedeutendsten Sinne, Verwachsensein mit
    etwas, gibt es also weniger in bezug auf eine einzelne Person als
    die Geschlechterfolge, der sie angehört. Das kommt in jedem Streit
    innerhalb einer Bauernfamilie oder auch eines Fürstenhauses mit
    Gewalt zum Durchbruch; der jeweilige Herr hat den Besitz nur im
    Namen des Geschlechts. Daher die Angst vor dem Tode, wenn der Erbe
    fehlt. +Auch das Eigentum ist ein Zeitsymbol+ und deshalb tief mit
    der Ehe verwandt, die ein festes, pflanzenhaftes Verwachsensein und
    Sichbesitzen zweier Menschen ist, das sich zuletzt selbst in der
    zunehmenden Ähnlichkeit der Züge spiegelt.

    [371] S. 304.

    [372] Nach dem Tode sind die Irrlehrer ausgeschlossen von der
    ewigen Seligkeit des Lehrbuchs und in das Fegefeuer der Anmerkungen
    verwiesen, von wannen sie auf die Fürbitte der Gläubigen geläutert
    aufsteigen in das Paradies der Paragraphen.

    [373] Schwarze Juden, die durchweg Schmiede sind.

    [374] Der ganz primitive Mir ist entgegen den Behauptungen
    sozialistischer und panslawistischer Schwärmer erst seit 1600
    entstanden und seit 1861 aufgehoben worden. Hier ist der Boden
    +Gemeindeland+, und die Dorfbewohner werden nach Möglichkeit
    festgehalten, um durch dessen Bestellung den Steuerertrag
    aufbringen zu können.

    [375] S. weiter unten.

    [376] Brentano, Byzant. Volkswirtschaft (1917), S. 15.

    [377] Der antike Sklave verschwindet in diesen Jahrhunderten ganz
    von selbst, eins der deutlichsten Zeichen für das Erlöschen des
    antiken Welt- und also auch Wirtschaftsgefühls.

    [378] Belisar stellte aus seiner eigenen Herrschaft 7000 Reiter für
    den Gotenkrieg. Das hätten unter Karl V. nur sehr wenige deutsche
    Fürsten vermocht.

    [379] Pöhlmann, Röm. Kaiserzeit (Pflugk-Harttungs Weltgesch. I), S.
    600 f.

    [380] S. 351.

    [381] Trotz Ed. Meyer, Gesch. des Altertums I, § 243.

    [382] Die chinesischen Rangstufen bei Schindler, Das Priestertum im
    alten China (S. 61 f.), die ihnen genau entsprechenden ägyptischen
    bei Ed. Meyer, Gesch. des Altertums I, § 222, die byzantinischen
    in der Notitia dignitatum, zum Teil vom Sassanidenhof stammend. In
    den antiken Poleis deuten einige uralte Beamtentitel auf Hofämter
    (Kolakreten, Prytanen, Konsuln). S. weiter unten.

    [383] Hardy, Indische Religionsgeschichte S. 26.

    [384] M. Granet, Coutumes matrimoniales de la Chine antique, T’oung
    Pao, 1912, S. 517 ff.

    [385] Ein Beispiel ist das Leben des Johannes Chrysostomus.

    [386] Die Memoiren des Herzogs von Saint Simon zeigen diese
    Entwicklung sehr anschaulich.

    [387] S. 88.

    [388] Das entspricht unserm 17. Jahrhundert.

    [389] K. J. Neumann, Die Grundherrschaft der römischen Republik
    (1900); Ed. Meyer, Kl. Schriften S. 351 ff.

    [390] A. Rosenberg, Studien zur Entstehung der Plebs, Herm. XLVIII,
    1913, S. 359 ff.

    [391] S. 121 ff.




STAAT UND GESCHICHTE


6

Innerhalb der Welt als Geschichte, in die wir lebend verwoben sind,
so daß unser Empfinden und Verstehen beständig dem Fühlen gehorcht,
erscheinen die kosmischen Flutungen als das, was wir Wirklichkeit,
wirkliches Leben nennen, Daseinsströme in leiblicher Gestalt. Man
kann sie, die das Merkmal der Richtung tragen, verschieden erfassen:
hinsichtlich der +Bewegung+ oder des +Bewegten+. Jenes heißt
Geschichte, dieses Geschlecht, Stamm, Stand, Volk, aber eins ist nur
durch das andre möglich und vorhanden. Geschichte gibt es nur von
etwas. Meinen wir die Geschichte der großen Kulturen, so ist Nation
das Bewegte. Staat, _status_ heißt Zustand. Den Eindruck des
Staates erhält man, wenn man von einem in bewegter Form dahinströmenden
Dasein die Form für sich ins Auge faßt, als etwas in zeitlosem
Beharren Ausgedehntes, und von der Richtung, dem Schicksal ganz
absieht. Der Staat ist die Geschichte als stillstehend, Geschichte der
Staat als fließend gedacht. Der wirkliche Staat ist die Physiognomie
einer geschichtlichen Daseinseinheit; nur der ausgedachte Staat der
Theoretiker ist ein System.

Eine Bewegung +hat Form+, das Bewegte +ist in Form+
oder, um wieder einen Sportausdruck von Bedeutung anzuwenden: ein
vollendet Bewegtes befindet sich in vollkommener +Verfassung+.
Das gilt von einem Rennpferde oder Ringer ebenso wie von einem Heer
oder Volk. Die vom Lebensstrom eines Volkes abgezogene Form ist
dessen Verfassung in bezug auf das Ringen in und mit der Geschichte.
Verstandesmäßig abziehen aber läßt sie sich nur zum kleinsten Teile.
Keine wirkliche Verfassung, für sich betrachtet und als System zu
Papier gebracht, ist vollständig. Das Ungeschriebene, Unbeschreibliche,
Gewohnte, Gefühlte, Selbstverständliche überwiegt in dem Grade -- was
Theoretiker nie begreifen werden --, daß eine Staatsbeschreibung oder
Verfassungsurkunde nicht einmal ein Schattenbild von dem geben, was der
lebendigen Wirklichkeit eines Staates als wesentliche Form zugrunde
liegt, so daß eine Daseinseinheit für die Geschichte verdorben wird,
wenn man ihre Bewegung einer geschriebenen Verfassung ernstlich
unterwirft.

Das Einzelgeschlecht ist die kleinste, das Volk die größte Einheit
im Strom der Geschichte.[392] Und zwar unterliegen Urvölker einer
Bewegung, die im höheren Sinne geschichtslos ist, langatmig oder
stürmisch, aber ohne organischen Zug, ohne tiefere Bedeutung. Immerhin
sind Urvölker durch und durch bewegt bis zu dem Grade, daß sie dem
flüchtigen Betrachter gänzlich formlos erscheinen; Fellachenvölker
dagegen sind starre Objekte einer von außen kommenden Bewegung,
die ohne Sinn und in zufälligen Stößen sich an ihnen übt. Zu jenen
gehört der „_status_“ der mykenischen, der Thinitenzeit, der
chinesischen Shangdynastie etwa bis zur Übersiedlung nach Yin (1400),
das Frankenreich Karls des Großen, das Westgotenreich Eurichs und
das petrinische Rußland, staatliche Formen von oft großartiger
Leistungsfähigkeit, aber noch ohne Symbolik, ohne Notwendigkeit, zu
diesen das römische, chinesische und die andern Imperien, deren Form
keinerlei Ausdrucksgehalt mehr besitzt.

Dazwischen aber liegt die Geschichte der hohen Kulturen. Ein Volk im
Stile einer Kultur, ein historisches Volk also heißt Nation.[393]
Eine Nation besitzt, insofern sie lebt und kämpft, einen Staat nicht
nur als Bewegungszustand, sondern vor allem +als Idee+. Mag der
Staat im einfachsten Sinne so alt sein wie das frei im Raum bewegliche
Leben überhaupt, so daß Schwärme und Herden selbst sehr einfacher
Tiergattungen in irgendeiner „Verfassung“ sind, die bei Ameisen,
Bienen, manchen Fischen, Wandervögeln und Bibern eine erstaunliche
Vollkommenheit erreicht: der Staat großen Stils ist nur so alt wie die
Urstände Adel und Priestertum, nicht älter: sie entstehen +mit+
einer Kultur, sie vergehen mit ihr, ihre Schicksale sind in hohem Maße
identisch. Kultur ist das Dasein von Nationen in staatlicher Form.

Ein Volk ist +als+ Staat, ein Geschlecht +als+ Familie
„in Form“. Das ist, wie wir sahen, der Unterschied von politischer
und kosmischer Geschichte, öffentlichem und privatem Leben, _res
publica_ und _res privata_. Und zwar sind +beide+ Symbole
der Sorge. Das Weib ist Weltgeschichte. Es sorgt durch Empfängnis und
Geburt für die Dauer des Blutes. Die Mutter, das Kind an der Brust,
ist das große Sinnbild kosmischen Lebens. Nach dieser Seite hin ist das
Leben von Mann und Weib „in Form“ als Ehe. Der Mann über +macht+
die Geschichte, die ein nie endender Kampf um die Erhaltung jenes
andern Lebens ist. Zur mütterlichen tritt die väterliche Sorge.
Der Mann, die Waffe in der Hand, ist das andre große Sinnbild
des Willens zur Dauer. Ein Volk „in Verfassung“ ist ursprünglich
eine Kriegerschaft, die tief-innerlich gefühlte Gemeinschaft der
Wehrfähigen. Staat ist eine Männersache, ist Sorge um die Erhaltung des
Ganzen, auch um jene seelische Selbsterhaltung, die man als Ehre und
Selbstachtung bezeichnet, ist Vereitelung von Angriffen, Voraussicht
von Gefahren und vor allem der eigne Angriff, der jedem im Aufstieg
begriffenen Leben natürlich und selbstverständlich ist.

Wäre alles Leben ein gleichförmiger Daseinsstrom, so würden wir die
Worte Volk, Staat, Krieg, Politik, Verfassung nicht kennen. Aber das
ewige und gewaltige +Verschiedensein+ des Lebens, das durch die
Gestaltungskraft der Kulturen bis aufs Äußerste gesteigert wird, ist
eine Tatsache, die mit all ihren Folgen geschichtlich schlechthin
gegeben ist. Pflanzenleben gibt es nur in bezug auf tierisches; die
beiden Urstände bedingen sich gegenseitig; +ebenso ist ein Volk nur
wirklich in bezug auf andre Völker+, und diese Wirklichkeit besteht
in natürlichen und unaufhebbaren Gegensätzen, in Angriff und Abwehr,
Feindschaft und Krieg. Der Krieg ist der Schöpfer aller großen Dinge.
Alles Bedeutende im Strom des Lebens ist durch Sieg und Niederlage
entstanden.

Ein Volk gestaltet Geschichte, soweit es sich in Verfassung befindet.
Es erlebt eine innere Geschichte, die es in diesen Zustand versetzt, in
dem allein es schöpferisch +wird+, und eine äußere Geschichte, die
in Schöpfung +besteht+. Die Völker als Staaten sind deshalb die
eigentlichen Mächte alles menschlichen Geschehens. Es gibt in der Welt
als Geschichte nichts über ihnen. Sie +sind+ das Schicksal.

_Res publica_, das öffentliche Leben, die „Schwertseite“
menschlicher Daseinsströme, ist in Wirklichkeit unsichtbar. Der Fremde
sieht nur die Menschen, nicht ihren innern Zusammenhang. Dieser ruht
vielmehr tief im Strome des Lebens und wird dort mehr gefühlt als
verstanden. Ebenso sehen wir in Wirklichkeit nicht die Familie, sondern
nur einige Menschen, deren Zusammenhalt in einem ganz bestimmten
Sinne wir aus innerer Erfahrung kennen und begreifen. Aber es gibt
für jedes dieser Gebilde einen Kreis von Zugehörigen, die durch
gleiche Verfassung des äußeren und inneren Seins zur Lebenseinheit
verbunden sind. Diese Form, in welcher das Dasein dahinströmt, heißt
+Sitte+, wenn sie unwillkürlich aus dessen Takt und Gang entsteht
und dann erst ins Bewußtsein tritt, +Recht+, wenn sie +mit
Absicht gesetzt+ und zur +Anerkennung+ gebracht wird.

Recht ist die +gewollte+ Form des Daseins, gleichviel ob sie
gefühlsmäßig und triebhaft anerkannt -- ungeschriebenes Recht,
Gewohnheitsrecht, _equity_ -- oder durch Nachdenken abgezogen,
vertieft und in ein System gebracht worden ist -- +Gesetz+. Das
sind zweierlei Rechtstatsachen von zeithafter Symbolik, zwei Arten
von Sorge, Vorsorge, Fürsorge, aber schon aus dem Gradunterschied der
Bewußtheit in ihnen ergibt sich, daß im ganzen Verlauf wirklicher
Geschichte sich zwei Rechte feindlich gegenüberstehen müssen: das
Recht der Väter, der Tradition, das verbriefte, ererbte, gewachsene,
bewährte Recht, das heilig ist, weil es von je war, aus Erfahrung
des Blutes stammend und deshalb den Erfolg verbürgend, und das
erdachte, entworfene Vernunft-, Natur- und allgemeine Menschenrecht,
aus Nachdenken hervorgegangen und deshalb der Mathematik verwandt,
vielleicht nicht erfolgreich, aber „gerecht“. In ihnen beiden reift der
Gegensatz von Landleben und Stadtleben, Lebenserfahrung und gelehrter
Erfahrung bis zu jener revolutionären Höhe der Erbitterung, wo man sich
ein Recht nimmt, das nicht gegeben wird, und eins zertrümmert, das
nicht weichen will.

Ein Recht, das von einer Gemeinschaft gesetzt ist, bedeutet eine
Pflicht für jeden Zugehörigen, aber es ist kein Beweis für dessen
+Macht+. Vielmehr ist es eine Schicksalsfrage, wer es setzt und
für wen es gesetzt +wird+. Es gibt Subjekte und Objekte der
Recht+setzung+, obwohl ein jeder Objekt der Rechts+geltung+
ist, und zwar gilt das ohne Unterschied vom inneren Recht der Familien,
Zünfte, Stände und Staaten. Für den Staat als das höchste in der
geschichtlichen Wirklichkeit vorhandene Rechtssubjekt tritt aber noch
ein Außenrecht hinzu, das er dem Fremden feindlich auferlegt. Zu jenem
gehört das bürgerliche Recht, zu diesem der Friedensvertrag. In jedem
Falle aber ist das Recht des Stärkeren auch das des Schwächeren.
Recht haben ist ein Ausdruck von Macht. Das ist eine geschichtliche
Tatsache, die jeder Augenblick bestätigt, aber sie wird im Reiche der
Wahrheit -- das +nicht+ von dieser Welt ist -- nicht anerkannt.
Unversöhnt stehen sich auch in der Auffassung des Rechts Dasein und
Wachsein, Schicksal und Kausalität gegenüber. Zur priesterlichen
und ideologischen Moral von gut und böse gehört der +moralische
Unterschied von Recht und Unrecht+; zur Rassemoral von gut und
schlecht gehört der +Rangunterschied von Gebern und Empfängern des
Rechts+. Ein abstraktes Ideal von Gerechtigkeit geht durch die Köpfe
und Schriften aller Menschen, deren Geist edel und stark und deren Blut
schwach ist, durch alle Religionen, durch alle Philosophien, aber die
Tatsachenwelt der Geschichte kennt nur den +Erfolg+, der das Recht
des Stärkeren zum Recht aller macht. Sie geht erbarmungslos über die
Ideale hin, und wenn je ein Mensch oder Volk auf die Macht der Stunde
verzichtet hat, um gerecht zu sein, so war ihm wohl der theoretische
Ruhm in jener zweiten Welt der Gedanken und Wahrheiten gewiß, aber auch
der Augenblick, wo er einer andern Lebensmacht erlag, die sich besser
auf Wirklichkeiten verstand als er.

Solange eine geschichtliche Macht den ihr ein- und untergeordneten
Einheiten so überlegen ist wie der Staat und Stand sehr oft den
Familien und Berufsklassen oder das Familienhaupt den Kindern, ist ein
gerechtes Recht +zwischen+ den Schwächeren aus der allmächtigen
Hand des Unbeteiligten möglich. Aber Stände fühlen selten und Staaten
so gut wie nie eine Macht von diesem Range über sich, und zwischen
ihnen gilt also mit unmittelbarer Gewalt das Recht des Stärkeren, wie
es sich in einseitig festgesetzten Verträgen und mehr noch in deren
Auslegung und Innehaltung durch den Sieger zeigt. Das unterscheidet
+Innen- und Außenrechte+ der geschichtlichen Lebenseinheiten. In
jenen kommt der Wille eines Schiedsrichters zur Geltung, unparteiisch
und gerecht zu sein, obwohl man sich sehr über den Grad von
Unparteilichkeit täuscht, die selbst in den besten Gesetzbüchern der
Geschichte wirksam gewesen ist, auch in jenen, die sich bürgerlich
nennen und damit schon andeuten, daß +ein Stand+ sie kraft seiner
Übermacht für alle geschaffen hat.[394] Innenrechte sind das Ergebnis
eines streng logisch-kausalen, auf Wahrheit gerichteten Denkens, aber
eben deshalb bleibt ihre Geltung jederzeit abhängig von der materiellen
Macht ihres Urhebers, sei er Stand oder Staat. Eine Revolution
vernichtet mit dieser Macht sofort auch die Macht der Gesetze. Sie
bleiben wahr, aber sie sind nicht mehr wirklich. Außenrechte wie
alle Friedensverträge aber sind dem Wesen nach nie wahr und stets
wirklich -- wirklich oft im erschreckenden Sinne -- und erheben gar
nicht den Anspruch, gerecht zu sein. Es genügt, daß sie wirksam sind.
Aus ihnen spricht das +Leben+, das keine kausale und moralische
Logik besitzt, aber eine um so folgerichtigere organische. Es will
+selbst+ Geltung besitzen; es fühlt mit innerlicher Gewißheit, was
es dazu braucht, und im Hinblick darauf weiß es, was +ihm+ recht
ist und für andere deshalb recht zu sein hat. Diese Logik erscheint in
jeder Familie, namentlich in den alten rasseechten Bauerngeschlechtern,
sobald die Autorität erschüttert ist und ein anderer als das Oberhaupt
bestimmen will, „was ist“. Sie erscheint in jedem Staate, sobald eine
einzelne Partei die Lage beherrscht. Jede Feudalzeit ist erfüllt
von dem Kampf zwischen Lehnsherrn und Vasallen um das „Recht auf
das Recht“. Dieser Kampf endet in der Antike fast überall mit dem
unbedingten Sieg des ersten Standes, der dem Königtum die Gesetzgebung
entzieht und es selbst zum Objekt der eigenen Rechtssetzung macht,
wie Ursprung und Bedeutung der Archonten in Athen und der Ephoren
in Sparta mit Sicherheit beweisen, auf abendländischem Boden aber
vorübergehend auch in Frankreich mit der Einsetzung der Generalstände
(1302) und für immer in England, wo die normannischen Barone und
der hohe Klerus 1215 die Magna Charta erzwangen, aus welcher die
tatsächliche Souveränität des Parlaments hervorgegangen ist. Aus diesem
Grunde ist das alte normannische Standesrecht hier dauernd in Geltung
geblieben. Dagegen war es die Verteidigung der schwachen kaiserlichen
Gewalt in Deutschland gegen die Ansprüche der großen Lehnsträger, die
das justinianische römische Recht als das Recht einer unbedingten
Zentralgewalt gegen die frühdeutschen Landrechte zu Hilfe rief.[395]

Die Verfassung Drakons, die πάτριος πολιτεία der Oligarchen,
wurde ebenso wie das streng patrizische Zwölftafelrecht vom Adel
gegeben,[396] schon tief in der antiken Spätzeit mit den voll
entwickelten Mächten der Stadt und des Geldes, aber gegen sie
gerichtet und deshalb sehr bald durch ein Recht des dritten Standes,
der „andern“ verdrängt -- das des Solon und der Tribunen -- das nicht
weniger Standesrecht war. Der Kampf zwischen den beiden Urständen um
das Recht der Rechtsetzung hat die ganze Geschichte des Abendlandes
erfüllt von dem frühgotischen Streit um den Vorrang des weltlichen oder
des kanonischen Rechts bis zu dem noch heute nicht abgeschlossenen
um die Zivilehe.[397] Die Verfassungskämpfe seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts bedeuten doch auch, daß der dritte Stand, der nach jener
berühmten Bemerkung von Sieyès im Jahre 1789 „nichts war, aber alles
sein konnte“, die Gesetzgebung im Namen aller an sich brachte und
sie in genau demselben Sinne zu einer bürgerlichen gemacht hat, wie
die der Gotik eine adlige gewesen war. Am unverhülltesten tritt, wie
gesagt, das Recht als Ausdruck der Macht in den zwischenstaatlichen
Rechtsetzungen hervor, in Friedensverträgen und in jenem Völkerrecht,
von dem schon Mirabeau meinte, daß es das Recht der Mächtigen sei,
dessen Innehaltung den Machtlosen auferlegt werde. In Rechten von
dieser Art wird ein großer Teil der welthistorischen Entscheidungen
festgelegt. Sie sind die Verfassung, in welcher die kämpfende
Geschichte fortschreitet, solange sie nicht zu der ursprünglichen
Form des Kampfes mit Waffen zurückkehrt, dessen geistige Fortsetzung
jeder geltende Vertrag in seinen beabsichtigten Wirkungen ist. Ist die
Politik ein Krieg mit anderen Mitteln, so ist das „Recht auf das Recht“
die Beute der siegreichen Partei.


7

Es ist demnach klar, daß auf den Höhen der Geschichte zwei große
Lebensformen um den Vorrang kämpfen, Stand und Staat, beides
Daseinsströme von großer innerer Form und sinnbildlicher Kraft, beide
entschlossen, ihr eigenes Schicksal zum Schicksal des Ganzen zu machen.
Das ist, wenn man es aus der Tiefe versteht und die alltägliche
Auffassung von Volk, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik ganz beiseite
läßt, der Sinn des Gegensatzes von +sozialer und politischer
Geschichtsleitung+. Erst mit dem Anbruch einer großen Kultur trennen
sich soziale und politische Ideen und zwar zuerst in der Erscheinung
des ausgehenden Lehnsstaates, wo Herr und Vasall die soziale, Herrscher
und Nation die politische Seite darstellen. Aber sowohl die frühen
Sozialmächte: Adel und Priestertum, als die späten: Geld und Geist,
und die in den heranwachsenden Städten zu einer gewaltigen Macht
aufsteigenden Berufsgruppen der Handwerker, Beamten und Arbeiter
wollen jeder für sich den Staatsgedanken dem eignen Standesideal oder
häufiger dem Standesinteresse unterordnen, und so erhebt sich, von der
nationalen Gesamtheit angefangen bis in das Bewußtsein jedes Einzelnen
hinein, ein Kampf um die Grenzen und Ansprüche beider, dessen Ausgang
im äußersten Falle die eine Größe vollkommen zum Werkzeug der andern
macht.[398]

In jedem Falle aber ist der Staat die Form, welche die +äußere+
Lage bestimmt, so daß die geschichtlichen Beziehungen zwischen Völkern
+stets politischer und nicht sozialer Natur+ sind. Innerpolitisch
ist die Lage dagegen derart von ständischen Gegensätzen beherrscht,
daß hier die soziale und politische Taktik auf den ersten Blick
untrennbar erscheinen und beide Begriffe im Denken von Menschen, die
ihr eigenes, etwa bürgerliches Standesideal mit der geschichtlichen
Wirklichkeit gleichsetzen und deshalb nicht außenpolitisch denken
können, sogar identisch sind. Im Außenkampfe sucht ein Staat Bündnisse
mit anderen Staaten; im Innenkampf ist er stets auf ein Bündnis mit
Ständen angewiesen, so daß die antike Tyrannis des 6. Jahrhunderts
auf dem Zusammenschluß des Staatsgedankens mit den Interessen des
dritten Standes gegenüber der urständischen Oligarchie beruhte, und
die französische Revolution in dem Augenblick unvermeidlich wurde,
wo der _tiers_, also Geist und Geld, die für ihn eintretende
Krone im Stich ließ und zu den beiden ersten Ständen überging (seit
der ersten Notabelnversammlung von 1787). Daher wird mit einem sehr
richtigen Gefühl zwischen Staaten- und Klassengeschichte,[399]
politischer (horizontaler) und sozialer (vertikaler) Geschichte, Krieg
und Revolution unterschieden, aber es ist ein großer Irrtum moderner
Doktrinäre, den Geist der Innengeschichte für den der Geschichte
überhaupt zu halten. +Weltgeschichte ist Staatengeschichte+ und
wird es immer sein. Die innere Verfassung einer Nation hat immer
und überall den Zweck, für den äußeren Kampf, sei er militärischer,
diplomatischer oder wirtschaftlicher Art, „+in Verfassung+“
+zu sein+. Wer sie als Selbstzweck und Ideal an sich behandelt,
richtet mit seiner Tätigkeit nur den Körper der Nation zugrunde. Aber
andrerseits gehört es zum innerpolitischen Takt einer herrschenden
Schicht, gehöre sie dem ersten oder vierten Stande an, die ständischen
Gegensätze so zu behandeln, daß die Kräfte und Gedanken der Nation
nicht im Parteikampf festgelegt werden und der Landesverrat nicht als
_ultima ratio_ erscheint.

Und da ist es deutlich, daß +der Staat und der erste Stand+ als
Lebensformen bis in die Wurzel hinein verwandt sind, nicht nur mit
ihrer Symbolik von Zeit und Sorge, ihrer +gemeinsamen+ Beziehung
zur Rasse, zu den Tatsachen der Geschlechterfolge, zur Familie und
damit zu den Urtrieben alles Bauerntums, auf das jeder Staat und jeder
Adel von Dauer sich letzten Endes stützen, nicht nur in ihrer Beziehung
zum Boden, zum Stammsitz, Erbgut oder Vaterland, das in seiner
Bedeutung für die Nationen magischen Stils nur deshalb zurücktritt,
weil die Rechtgläubigkeit ihr vornehmster Zusammenhalt ist, sondern vor
allem in der großen Praxis inmitten aller Tatsachen der geschichtlichen
Welt, in der +gewachsenen+ Einheit des Taktes und der Triebe,
in der Diplomatie, der Menschenkenntnis, der Kunst des Befehlens, im
Männerwillen nach Erhaltung und Erweiterung der Macht, der in Urzeiten
Adel und Volk aus ein und derselben Heeresversammlung hervorgehen
läßt, und endlich in dem Sinn für Ehre und Tapferkeit, so daß bis in
die letzten Zeiten hinein der Staat am festesten steht, in dem der
Adel oder die von ihm geschaffene Tradition ganz in den Dienst der
allgemeinen Sache gestellt ist, wie es in Sparta den Athenern, in Rom
den Karthagern, im chinesischen Staate Tsin dem taoistisch gestimmten
Tsu gegenüber der Fall war.

Der Unterschied ist, daß der ständisch geschlossene Adel wie +jeder+
Stand den Rest der Nation nur in bezug auf sich selbst erlebt und nur
in diesem Sinne Macht ausüben will, der Staat aber der Idee nach die
Sorge für alle ist und erst insofern auch die für den Adel. Aber ein
echter und alter Adel stellt sich +dem Staate gleich+ und sorgt für
alle wie für ein Eigentum. Das gehört zu seinen vornehmsten und am
tiefsten in sein Bewußtsein gedrungenen Pflichten. Er fühlt sogar ein
angebornes +Vorrecht+ auf diese Pflicht und betrachtet den Dienst in
Heer und Verwaltung als seinen eigentlichen Beruf.

Ganz anders ist der Unterschied zwischen dem Staatsgedanken und der
Idee der übrigen Stände, die sämtlich dem Staat als solche innerlich
fernstehen und von ihrem Leben aus ein Staatsideal prägen, das nicht
aus dem Geist der tatsächlichen Geschichte und ihrer politischen Mächte
erwachsen ist und eben deshalb gern mit Betonung als sozial bezeichnet
wird. Und zwar ist die Kampflage der Frühzeit die, daß dem Staat als
geschichtlicher Tatsache schlechthin die kirchliche Gemeinschaft zur
Verwirklichung +religiöser+ Ideale gegenübertritt, während die Spätzeit
noch das +geschäftliche+ Ideal des freien Wirtschaftslebens und die
+utopischen+ Ideale der Träumer und Schwärmer hinzufügt, in denen
irgendwelche Abstraktionen verwirklicht werden sollen.

Aber in der geschichtlichen Wirklichkeit gibt es keine Ideale; es gibt
nur Tatsachen. Es gibt keine Wahrheiten; es gibt nur Tatsachen. Es gibt
keine Gründe, keine Gerechtigkeit, keinen Ausgleich, kein Endziel; es
gibt nur Tatsachen -- wer das nicht begreift, der schreibe Bücher über
Politik, aber er +mache+ keine Politik. In der wirklichen Welt gibt
es keine nach Idealen aufgebauten, sondern nur +gewachsene+ Staaten,
die nichts sind als lebendige Völker in Form. Allerdings: „geprägte
Form, die lebend sich entwickelt“, aber geprägt vom Blut und Takt eines
+Daseins+, ganz triebhaft und ungewollt; und entwickelt entweder von
staatsmännischen Begabungen in der im Blute liegenden Richtung, oder
von Idealisten in der Richtung ihrer Überzeugungen, +das heißt ins
Nichts+.

Die Schicksalsfrage für wirklich vorhandene und nicht in den Köpfen
entworfene Staaten ist aber nicht die ihrer idealen Aufgabe und
Gliederung, sondern die ihrer +innern Autorität+, die auf die
Dauer nicht durch materielle Mittel aufrechterhalten wird, sondern
durch das Vertrauen selbst der Gegner auf ihre Leistungsfähigkeit.
Die entscheidenden Probleme liegen +nicht+ in der Ausarbeitung
von Verfassungen, sondern in der Organisation einer gut arbeitenden
Regierung; nicht in der Verteilung politischer Rechte nach „gerechten“
Grundsätzen, die in der Regel nichts sind als die Vorstellung, welche
+ein Stand+ sich von seinen berechtigten Ansprüchen macht, sondern
im arbeitenden Takt des Ganzen -- arbeiten wieder im Sportsinne
verstanden: die Arbeit der Muskeln und Sehnen im gestreckten Galopp
eines Pferdes, das sich dem Ziel nähert -- in jenem Takt, der starke
Begabungen von selbst in seinen Bann zieht; und endlich nicht in
einer weltfremden Moral, sondern in der Beständigkeit, Sicherheit
und Überlegenheit der politischen Führung. Je selbstverständlicher
das alles ist, je weniger man darüber redet oder gar streitet,
desto vollkommener ist ein Staat, desto höher ist der Rang, die
geschichtliche Leistungsfähigkeit und damit das Schicksal einer Nation.
Staatshoheit, Souveränität ist ein Lebenssymbol erster Ordnung. Sie
unterscheidet +Subjekte und Objekte+ der politischen Ereignisse
nicht nur in der innern, sondern, was sehr viel wichtiger ist, in der
äußeren Geschichte. Die Stärke der Führung, die in der klaren Scheidung
beider Faktoren zum Ausdruck kommt, ist das unzweideutige Kennzeichen
der Lebenskraft einer politischen Einheit und zwar bis zu dem Grade,
daß die Erschütterung der bestehenden Autorität etwa durch die Anhänger
eines entgegengesetzten Verfassungsideals so gut wie immer nicht etwa
diese Anhängerschaft zum Subjekt der innern, sondern die ganze Nation
zum Objekt einer fremden Politik macht und zwar sehr oft für immer.

Aus diesem Grunde ist in jedem gesunden Staate der Buchstabe der
geschriebenen Verfassung von geringer Bedeutung gegenüber dem Brauch
der lebendigen „Verfassung“ im Sportsinne, die sich aus Erfahrungen
der Zeit, der Lage und vor allem aus den Rasseeigenschaften der Nation
ganz von selbst und unbemerkt entwickelt hat. Je kräftiger diese
+natürliche+ Form des Staatskörpers herausgebildet ist, desto
sicherer arbeitet er in jeder unvorhergesehenen Lage, wobei es zuletzt
ganz gleichgültig wird, ob der tatsächliche Führer den Titel König,
Minister, Parteiführer oder überhaupt kein bestimmbares Verhältnis zum
Staate besitzt, wie Cecil Rhodes in Südafrika. Die römische Nobilität,
welche die Politik im Zeitalter der drei punischen Kriege beherrscht
hat, war staatsrechtlich gar nicht vorhanden. In jedem Falle aber ist
er auf eine Minderheit von staatsmännischem Instinkt angewiesen, welche
den Rest der Nation im Kampf der Geschichte repräsentiert.

Deshalb muß die Tatsache unzweideutig ausgesprochen werden: es
gibt +nur+ Standesstaaten, Staaten, in denen ein einzelner
Stand +regiert+. Man verwechsle das nicht mit dem Ständestaat,
dem der einzelne nur vermöge seiner Zugehörigkeit zu einem Stande
+angehört+. Das letzte ist der Fall in der älteren Polis, in
den Normannenstaaten von England und Sizilien, aber auch in dem
Frankreich der Verfassung von 1791 und in Sowjetrußland. Das erste
bringt dagegen die allgemeine geschichtliche Erfahrung zum Ausdruck,
daß es stets eine einzige soziale Schicht ist, von welcher, gleichviel
ob verfassungsmäßig oder nicht, die politische Führung ausgeht. Es
ist immer eine entschiedene Minderheit, welche die welthistorische
Tendenz eines Staates vertritt, und innerhalb dieser wieder eine
mehr oder weniger geschlossene Minderheit, welche die Leitung kraft
ihrer Fähigkeiten tatsächlich, und oft genug im Widerspruch mit dem
Geist der Verfassung in Händen hat. Und wenn man von revolutionären
Zwischenzeiten und von cäsarischen Zuständen absieht, die als
Ausnahme die Regel bestätigen, wo Einzelne und zufällige Gruppen die
Macht lediglich mit materiellen Mitteln und oft ohne jede Begabung
behaupten -- so ist es die Minderheit +innerhalb eines Standes+,
welche durch Tradition regiert, weitaus am meisten innerhalb des
Adels, der als Gentry den parlamentarischen Stil Englands, als
Nobilität die römische Politik im Zeitalter der punischen Kriege,
als Kaufmannsaristokratie die Diplomatie Venedigs, als jesuitisch
geschulter Barockadel[400] die Diplomatie der römischen Kurie
ausgebildet hat. Daneben erscheint die politische Begabung einer
geschlossenen Minderheit im Priesterstand, eben in der römischen
Kirche, aber auch in Ägypten und Indien und noch viel mehr in Byzanz
und im Sassanidenreich; sehr selten dagegen im dritten Stand, der keine
Lebenseinheit bildet, etwa in einer kaufmännisch gebildeten Schicht in
der römischen Plebs des dritten Jahrhunderts, in juristisch gebildeten
Kreisen in Frankreich seit 1789, hier und in allen anderen Fällen
durch einen geschlossenen Kreis von gleichartiger praktischer Begabung
gesichert, der sich beständig ergänzt und in seiner Mitte die volle
Summe ungeschriebener politischer Tradition und Erfahrung bewahrt.

Das ist die Organisation +wirklicher+ Staaten im Unterschied von
den auf dem Papier und in den Köpfen von Schulfuchsern entstandenen.
Es gibt keinen besten, wahren, gerechten Staat, der entworfen und
irgendwann einmal verwirklicht werden könnte. Jeder in der Geschichte
auftauchende Staat ist nur einmal da und ändert sich unbemerkt
mit jedem Augenblick, auch unter der Kruste einer noch so starren
gesetzlich festgelegten Verfassung. Deshalb bedeuten Worte wie
Republik, Absolutismus, Demokratie in jedem einzelnen Falle etwas
anderes und werden zur Phrase, sobald man sie als feststehende
Begriffe anwendet, wie es unter Philosophen und Ideologen Regel ist.
Eine Staatengeschichte ist Physiognomik und nicht Systematik. Sie
hat nicht zu zeigen, wie „die Menschheit“ allmählich zur Eroberung
ihrer ewigen Rechte, zu Freiheit und Gleichheit und der Entwicklung
des weisesten und gerechtesten Staates fortschreitet, sondern die
in der Tatsachenwelt wirklich vorhandenen politischen Einheiten zu
beschreiben, wie sie aufblühen, reifen und welken, ohne je etwas
anderes zu sein als wirkliches Leben in Form. In diesem Sinne sei sie
hier versucht.


8

Die Geschichte großen Stils beginnt in jeder Kultur mit dem Lehnsstaat,
der nicht Staat im kommenden Sinne ist, sondern die Ordnung des
Gesamtlebens in bezug auf einen +Stand+. Das edelste Gewächs des
Bodens, die Rasse im stolzesten Sinne, baut sich da eine Rangordnung
auf, von der einfachen Ritterschaft bis zum _primus inter pares_,
dem Lehnsherrn unter seinen Pairs. Das geschieht gleichzeitig mit
der Architektur der großen Dome und Pyramiden: hier der Stein, dort
das Blut zum Sinnbild erhoben, hier die +Bedeutung+, dort das
+Sein+. Der Gedanke des Feudalwesens, der alle Frühzeiten
beherrscht hat, ist der Übergang aus dem urzeitlichen, rein praktischen
und tatsächlichen Verhältnis des Machthabers zu den Gehorchenden --
mögen sie ihn gewählt haben oder von ihm unterworfen sein -- in das
+privatrechtliche+ und eben dadurch tiefsymbolische des Lehnsherrn
zu den Vasallen. Dieses beruht durchaus auf der adligen Sitte, auf Ehre
und Gefolgstreue, und beschwört die härtesten Konflikte herauf zwischen
der Anhänglichkeit an den Herrn und der an das eigne Geschlecht. Der
Abfall Heinrichs des Löwen ist ein tragisches Beispiel dafür.

Der „Staat“ existiert hier nur vermöge der Grenzen des Lehnsverbandes
und erweitert sein Gebiet durch den Eintritt fremder Vasallen in
diesen. Der ursprünglich persönliche und zeitlich begrenzte Dienst
und Auftrag des Herrschers wird sehr bald dauerndes Lehen, das bei
einem Heimfall wieder verliehen werden muß -- schon um das Jahr 1000
gilt im Abendland der Grundsatz „kein Land ohne Herrn“ -- und endlich
zum Erblehen wird, in Deutschland durch das Lehnsgesetz Konrads II.
vom 28. Mai 1037. Damit sind die ehemals unmittelbaren Untertanen des
Herrschers mediatisiert -- sie sind nur noch als Untertanen eines
Vasallen auch die seinen. Allein die starke gesellschaftliche Bindung
des Standes sichert den Zusammenhalt, der auch unter diesen Bedingungen
Staat heißt.

Die Begriffe von Macht und Beute erscheinen hier in klassischer
Verbindung. Als 1066 die normannische Ritterschaft unter Herzog Wilhelm
England eroberte, wurde der gesamte Grund und Boden Eigentum des Königs
und Lehen und ist es dem Namen nach noch heute. Das ist die echte
Wikingerfreude am „Haben“, und die Sorge des heimkehrenden Odysseus,
der zuerst seine Schätze zählt. Aus diesem Beutesinn kluger Eroberer
ist das vielbewunderte Rechnungswesen und Beamtentum der Frühkulturen
ganz plötzlich entstanden. Diese Beamten sind von den Inhabern der
großen Vertrauensämter, die aus persönlicher Sendung hervorgehen,[401]
wohl zu unterscheiden -- _Clerici_, Schreiber, nicht Ministerialen
oder Minister, was ebenfalls Diener heißt, aber jetzt im stolzen Sinne
den Diener des Herrn bedeutet. Die rein rechnende und schreibende
Beamtenschaft ist ein Ausdruck der Sorge und entwickelt sich also in
genau demselben Maße wie das dynastische Prinzip. Sie hat deshalb
in Ägypten gleich zu Anfang des Alten Reiches eine erstaunliche
Ausbildung erfahren.[402] Der im Dschou-li beschriebene frühchinesische
Beamtenstaat ist so umfangreich und kompliziert, daß die Echtheit des
Buches daraufhin bezweifelt worden ist,[403] aber er entspricht dem
Geist und der Bestimmung nach vollkommen dem diokletianischen, der eine
feudale Ständeordnung aus den Formen eines ungeheuren Steuerwesens hat
entstehen lassen.[404] In der frühen Antike fehlt er mit Betonung.
_Carpe diem_ ist der Wahlspruch der antiken Finanzwirtschaft bis
in ihre letzten Tage. Die Sorg+losigkeit+, die Autarkeia der
Stoiker ist auch auf diesem Gebiet zum Prinzip erhoben. Gerade die
besten Rechner machen darin keine Ausnahme, wie Eubulos, der um 350
in Athen auf Überschüsse hin wirtschaftete, um sie dann unter die
Bürgerschaft zu verteilen.

Den äußersten Gegensatz dazu bilden die rechnenden Wikinger des frühen
Abendlandes, die in der Finanzverwaltung ihrer Normannenstaaten den
Grund zu der faustischen, heute über die ganze Welt verbreiteten Art
von Geldwirtschaft gelegt haben. Von dem schachbrettartig ausgelegten
Tisch in der Rechnungskammer Roberts des Teufels von der Normandie
(1028-35) stammen der Name des englischen Schatzamtes (Exchequer)
und das Wort Scheck. Ebenso sind hier die Worte Konto, Kontrolle,
Quittung, Rekord[405] entstanden. Von hier aus wird England 1066 als
Beute unter rücksichtsloser Knechtung der Angelsachsen organisiert
und ebenso der Normannenstaat Siziliens, den Friedrich II. von
Hohenstaufen schon vorfand und in den Konstitutionen von Melfi (1231),
seinem persönlichsten Werke, nicht geschaffen, sondern durch Methoden
der arabischen, also einer hochzivilisierten Geldwirtschaft, nur bis
zur Meisterschaft vervollkommnet hat. Von hier aus sind dann die
finanztechnischen Methoden und Bezeichnungen in die lombardische
Kaufmannschaft und von da in alle Handelsstädte und Verwaltungen des
Abendlandes gedrungen.

Aber Aufschwung und Abbau des Lehnswesens liegen dicht nebeneinander.
Inmitten der blühenden Vollkraft der Urstände regen sich die künftigen
Nationen und damit die eigentliche Staatsidee. Der Gegensatz zwischen
adliger und geistlicher Gewalt und zwischen der Krone und ihren
Vasallen wird immer wieder durch den von deutschem und französischem
Volkstum (schon unter Otto dem Großen) unterbrochen, oder von deutschem
und italienischem, der die Stände in Guelfen und Ghibellinen zerriß
und das deutsche Kaisertum vernichtete, und von englischem und
französischem, der zur englischen Herrschaft über Westfrankreich
geführt hat. Indessen tritt das weit zurück hinter den großen
Entscheidungen innerhalb des Lehnsstaates selbst, der den Begriff der
Nation nicht kennt. England war in 60215 Lehen zerlegt worden, die
in dem noch heute zuweilen nachgeschlagenen Domesday Book von 1084
verzeichnet wurden, und die straff organisierte Zentralgewalt ließ
sich auch von den Untervasallen der Pairs den Treueid schwören, aber
trotzdem wurde schon 1215 die Magna Charta durchgesetzt, welche die
tatsächliche Gewalt vom König auf das Parlament der Vasallen überträgt
-- die Großen und die Kirche im Oberhaus, die Vertreter der Gentry und
der Patrizier im Unterhaus vereinigt --, das von nun an Träger der
+nationalen+ Entwicklung geworden ist. In Frankreich erzwangen die
Barone in Verbindung mit dem Klerus und den Städten 1302 die Berufung
der Generalstände; durch das Generalprivilegium von Saragossa 1283
wurde Aragonien fast eine von den Cortes regierte Adelsrepublik, und in
Deutschland machte einige Jahrzehnte vorher eine Gruppe großer Vasallen
als Kurfürsten das Königtum von ihrer Wahl abhängig.

Den gewaltigsten Ausdruck nicht nur in der abendländischen Kultur,
sondern in allen Kulturen überhaupt hat der Lehnsgedanke in dem
Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum gefunden, dem als letztes Ziel
die Verwandlung der ganzen Welt in einen ungeheuren Lehnsverband
vorschwebte, und beide Mächte haben sich mit dem Ideal so tief
verschwistert, daß sie mit dem Verfall des Lehnswesens zugleich von
ihrer Höhe jäh herabstürzten.

Die Idee eines Herrschers, dessen Machtbereich die ganze geschichtliche
Welt, dessen Schicksal das der ganzen Menschheit ist, trat bis jetzt
dreimal in Erscheinung, zuerst in der Auffassung des Pharao als des
Horus,[406] dann in der gewaltigen chinesischen Vorstellung vom
Herrscher der Mitte, dessen Reich _tien-hia_ ist, alles unter
dem Himmel Liegende,[407] endlich in frühgotischer Zeit, als Otto
der Große 962 aus einem tiefen mystischen Gefühl und Sehnen nach
geschichtlicher und räumlicher Unendlichkeit, das damals durch alle
Welt ging, den Gedanken eines heiligen römischen Reiches deutscher
Nation empfing. Aber vorher schon hatte Papst Nikolaus I. (860), noch
ganz in augustinischen, also magischen Gedanken befangen, von einem
päpstlichen Gottesstaat geträumt, der über den Fürsten dieser Welt
stehen sollte, und seit 1059 ging Gregor VII. mit der vollen Urgewalt
seiner faustischen Natur daran, eine päpstliche Weltherrschaft in
den Formen eines universalen Lehnsverbandes mit Königen als Vasallen
zu verwirklichen. Das Papsttum selbst bildete zwar nach innen den
kleinen Lehnsstaat der Campagna, deren Adelsgeschlechter die Wahl
beherrschten und die sehr bald auch das 1059 mit der Papstwahl betraute
Kardinalskollegium in eine Art Adelsoligarchie verwandelten. Nach
außen aber hat Gregor VII. die Lehnshoheit über die Normannenstaaten
in England und Sizilien +erreicht+, die beide mit seiner
Unterstützung begründet wurden, und die Kaiserkrone vergab er wirklich,
wie vorher Otto der Große die Tiara. Aber dem Staufen Heinrich VI.
gelang wenige Jahre später das Gegenteil; selbst Richard Löwenherz
leistete ihm den Vasalleneid für England, und das allgemeine Kaisertum
war der Verwirklichung nahe, als der größte aller Päpste, Innocenz
III. (1198-1216) die Lehnshoheit der Welt für kurze Zeit zur Tatsache
machte. England wurde 1213 päpstliches Lehen, Aragonien, Leon,
Portugal, Dänemark, Polen, Ungarn, Armenien, das eben begründete
lateinische Kaisertum in Byzanz folgten, aber mit seinem Tode begann
der Zerfall innerhalb der Kirche selbst, und zwar mit dem Streben der
großen geistlichen Würdenträger, den durch die Investitur +auch zu
ihrem+ Lehnsherrn gewordenen Papst durch eine Standesvertretung zu
beschränken.[408] Der Gedanke, daß ein allgemeines Konzil über dem
Papst stehe, ist nicht religiösen Ursprungs, sondern zunächst aus dem
Lehnsprinzip hervorgegangen. Seine Tendenz entspricht genau dem, was
die englischen Großen durch die Magna Charta erreicht hatten. Auf den
Konzilen von Konstanz (seit 1414) und Basel (seit 1431) ist zum letzten
Male der Versuch gemacht worden, die Kirche nach ihrer weltlichen Seite
hin in einen Lehnsverband der Geistlichkeit zu verwandeln, wodurch eine
Kardinalsoligarchie Vertreterin des gesamten abendländischen Klerus an
Stelle des römischen Adels geworden wäre. Aber der Lehnsgedanke war
damals längst vor dem des Staates zurückgetreten, und so trugen die
römischen Barone, die den Wahlkampf auf den engsten Kreis der Umgebung
Roms beschränkten und eben damit dem Gewählten die unumschränkte Macht
nach außen im Organismus der Kirche sicherten, den Sieg davon, nachdem
das Kaisertum schon vorher ganz wie das ägyptische und chinesische ein
ehrwürdiger Schatten geworden war.

Im Vergleich zu der ungeheuren Dynamik dieser Entscheidungen baut
sich das antike Lehnswesen ganz langsam, statisch, fast geräuschlos
ab, so daß es beinahe nur aus den Spuren dieses Übergangs erkennbar
wird. Im homerischen Epos, wie es heute vorliegt, hat jeder Ort
seinen Basileus, der doch sicherlich einst Lehnsträger war, denn in
der Gestalt Agamemnons scheint noch ein Zustand durch, in welchem ein
Herrscher über weite Gebiete mit dem Gefolge seiner Pairs zu Felde zog.
Aber hier erfolgt die Auflösung der Lehnsgewalt im Zusammenhang mit
der Ausbildung des Stadtstaates, des politischen Punktes. Das hat zur
Folge, daß die höfischen Erbämter, die _archai_ und _timai_
wie die Prytanen, Archonten, vielleicht der urrömische Prätor,[409]
sämtlich städtischer Natur sind, und die großen Geschlechter also nicht
einzeln in ihren Grafschaften heranwachsen wie in Ägypten, China und im
Abendland, sondern in engster Fühlung innerhalb der Stadt, wo sie die
Rechte des Königtums eins nach dem andern in ihren Besitz bringen, bis
das Herrscherhaus allein übrig behält, was man ihm mit Rücksicht auf
die Götter nicht nehmen konnte: den Titel, den es bei Opferhandlungen
führt. So ist der _rex sacrorum_ entstanden. In den jüngeren
Teilen des Epos (seit 800) sind es die Adligen, welche den König zur
Sitzung laden, ihn sogar absetzen. Die Odyssee kennt das Königtum
eigentlich nur noch, weil es zur Sage gehört. In der wirklichen
Handlung ist Ithaka eine von Oligarchen beherrschte Stadt.[410]
Die Spartiaten sind ebenso wie das in den Kuriatkomitien tagende
römische Patriziat aus einem Lehnsverhältnis hervorgegangen.[411] In
den Phiditien erscheint noch ein Rest der früheren offenen Hoftafel,
aber die Macht der Könige ist bis zur Schattenwürde des Opferkönigs
in Rom (und Athen) und der spartanischen Könige gesunken, die von
den Ephoren jederzeit ins Gefängnis geworfen und abgesetzt werden
können. Die Gleichartigkeit dieser Zustände zwingt zu der Annahme, daß
in Rom der tarquinischen Tyrannis von 500 eine Zeit oligarchischer
Übermacht voraufgegangen ist, und das wird durch die zweifellos echte
Überlieferung vom Interrex bestätigt, den der Adelsrat des Senats aus
seiner Mitte bestellte, bis es ihm beliebte, wieder einen König zu
wählen.

Es gab hier wie überall eine Zeit, in welcher das Lehnswesen im
Zerfall begriffen, der heraufkommende Staat aber noch nicht vollendet,
die Nation noch nicht in Form war. Das ist die furchtbare Krise,
welche überall als Interregnum in Erscheinung tritt und die Grenze
+zwischen Lehnsverband und Ständestaat+ bildet. In Ägypten war
um die Mitte der fünften Dynastie das Lehnswesen voll entwickelt.
Gerade der Pharao Asosi gab Stück um Stück des Hausgutes an die
Vasallen preis, und dazu kamen die reichen geistlichen Lehen, die ganz
wie in gotischer Zeit abgabenfrei blieben und allmählich bleibendes
Eigentum der großen Tempel wurden.[412] Mit der fünften Dynastie (um
2530) ist die „Staufenzeit“ zu Ende. Unter der Schattenherrschaft
der kurzlebigen sechsten Dynastie werden die Fürsten (_rpati_)
und Grafen (_hetio_) selbständig; die hohen Ämter sind sämtlich
erblich geworden und in den Grabinschriften tritt der Stolz auf
alten Adel mehr und mehr hervor. Was späte ägyptische Historiker
unter einer angeblichen 7. und 8. Dynastie versteckt haben,[413] ist
ein halbes Jahrhundert voller Anarchie und regelloser Kämpfe der
Fürsten um ihre Gebiete oder den Pharaonentitel. In China wurde schon
I-Wang (934-909) von seinen Vasallen verpflichtet, alles eroberte
Land als Lehen zu vergeben, und zwar an Untervasallen ihrer Wahl.
842 wurde Li-Wang gezwungen, mit dem Thronfolger zu fliehen, worauf
die Reichsverwaltung durch zwei Einzelfürsten fortgeführt wurde. Mit
diesem Interregnum beginnt der Niedergang des Hauses der Dschou und
das Sinken des Kaisernamens zu einem ehrwürdigen, aber bedeutungslosen
Titel. Das ist das Seitenstück zur kaiserlosen Zeit in Deutschland, die
1254 beginnt und unter Wenzel um 1400 zum Tiefpunkt der Kaisergewalt
überhaupt führt, gleichzeitig mit dem Renaissancestil der Condottieri
und Stadttyrannen und dem vollen Verfall der päpstlichen Gewalt. Nach
dem Tode Bonifaz’ VIII., der 1302 in der Bulle _Unam sanctam_
noch einmal die Lehnsgewalt des Papstes vertreten hatte und daraufhin
von den Vertretern Frankreichs verhaftet worden war, erlebte das
Papsttum ein Jahrhundert in Verbannung, Anarchie und Ohnmacht, während
im folgenden der normannische Adel Englands in den Kämpfen der Häuser
Lancaster und York um den Thron größtenteils zugrunde ging.


9

Diese Erschütterung bedeutet +den Sieg des Staates über den
Stand+. Dem Lehnswesen lag das Gefühl zugrunde, daß Alle um
eines „Lebens“ willen da seien, das mit Bedeutung geführt wurde.
Die Geschichte erschöpfte sich in den Schicksalen adligen Blutes.
Jetzt bricht ein Gefühl hervor, daß es +noch etwas+ gibt,
dem auch der Adel untersteht und zwar in Gemeinschaft mit allem
andren, sei es Stand oder Beruf, etwas Ungreifbares, eine Idee. Die
unbeschränkte privatrechtliche Auffassung der Ereignisse geht in eine
staatsrechtliche über. Mag dieser Staat noch so sehr Adelsstaat sein,
und das ist er fast ohne Ausnahme, mag sich äußerlich im Übergang vom
Lehnsverband zum Ständestaat noch so wenig ändern, mag der Gedanke,
daß es außerhalb der Urstände nicht nur Pflichten, sondern auch
Rechte gibt, noch so unbekannt sein -- das Gefühl ist +doch+
anders geworden, und das Bewußtsein, daß das Leben auf den Höhen der
Geschichte da sei, um gelebt zu werden, ist dem andern gewichen,
daß es eine +Aufgabe+ enthält. Der Abstand wird sehr deutlich,
wenn man die Politik Rainalds von Dassel († 1167), eines der größten
deutschen Staatsmänner aller Zeiten, mit der Kaiser Karls IV. († 1378)
vergleicht, und damit den entsprechenden Übergang von der antiken
Themis der Ritterzeit zur Dike der werdenden Polis.[414] Themis enthält
nur einen Anspruch, Dike auch eine +Aufgabe+.

Der urwüchsige Staatsgedanke ist immer, mit einer bis tief in die
Tierwelt hineinragenden Selbstverständlichkeit mit dem Begriff des
Einzelherrschers verbunden. Das ist ein Zustand, der sich für jede
beseelte Menge in allen entscheidenden Lagen ganz von selbst einstellt,
wie es jede öffentliche Zusammenrottung und jeder Augenblick einer
plötzlichen Gefahr aufs neue beweisen.[415] Solche Mengen sind gefühlte
Einheiten, aber blind. „In Form“ sind sie für die andrängenden
Ereignisse nur in der Hand eines Führers, der plötzlich aus ihrer Mitte
entsteht und eben aus der Einheit des Fühlens mit einem Schlage ihr
Kopf wird und unbedingten Gehorsam findet. Das wiederholt sich in der
Bildung der großen Lebenseinheiten, die wir Völker und Staaten nennen,
nur langsamer und bedeutsamer, und es wird in den hohen Kulturen nur um
eines großen Symbols willen und künstlich zuweilen durch andere Arten
in Form zu sein ersetzt, aber so, daß unter der Maske dieser Formen
doch tatsächlich so gut wie immer eine Einzelherrschaft besteht, und
sei es die eines königlichen Ratgebers oder Parteiführers, und daß in
jeder revolutionären Erschütterung der Urzustand wieder zurückkehrt.

Mit dieser kosmischen Tatsache ist einer der innerlichsten Züge
alles gerichteten Lebens verbunden, der +Erbwille+, der sich in
jeder starken Rasse mit Naturgewalt meldet und selbst den Führer des
Augenblicks oft ganz unbewußt zwingt, seinen Rang für die Dauer seines
persönlichen Daseins oder darüber hinaus für das in seinen Kindern und
Enkeln fortströmende Blut zu behaupten. Der gleiche, tiefe, durch und
durch pflanzenhafte Zug beseelt jede wahre Gefolgschaft, die in der
Dauer des führenden Blutes auch die eigne verbürgt und sinnbildlich
vertreten sieht. Gerade in Revolutionen tritt dieses Urgefühl voll und
stark und im Widerspruch mit allen Grundsätzen hervor; deshalb sah das
Frankreich von 1800 in Napoleon und der Erblichkeit seiner Stellung die
eigentliche Vollendung der Revolution. Theoretiker, die wie Rousseau
und Marx von begrifflichen Idealen statt von den Tatsachen des Blutes
ausgehen, haben diese ungeheure Macht innerhalb der geschichtlichen
Welt nicht bemerkt und ihre Wirkungen deshalb als verwerflich und
reaktionär bezeichnet; aber sie sind da und zwar mit einer so
nachdrücklichen Gewalt, daß auch die Symbolik der hohen Kulturen sie
nur künstlich und vorübergehend überwinden kann, wie es der Übergang
antiker Wahlämter in den Besitz einzelner Familien und der Nepotismus
der Barockpäpste beweisen. Hinter der Tatsache, daß die Führung sehr
oft frei vergeben wird und hinter dem Spruch, daß dem Tüchtigsten der
erste Platz gehöre, verbirgt sich so gut wie immer die Rivalität der
Mächtigen, die eine Erbfolge nicht grundsätzlich, aber tatsächlich
verhindert, weil jeder sie insgeheim für sein Geschlecht in Anspruch
nimmt. Auf diesem Zustand schöpferisch gewordener Eifersucht beruhen
die Regierungsformen der antiken Oligarchie.

Beides zusammen ergibt den Begriff der +Dynastie+. Er ist so
tief im Kosmischen begründet und so eng mit allen Tatsachen des
geschichtlichen Lebens verflochten, daß die Staatsgedanken aller
einzelnen Kulturen +Abwandlungen dieses einen Prinzips+ sind, von
dem leidenschaftlichen Ja der faustischen bis zum entschiedenen Nein
der antiken Seele. Das Reifen der Staatsidee einer Kultur aber heftet
sich schon an die heranwachsende Stadt. Nationen, historische Völker
sind städtebauende Völker.[416] Die +Residenz+ wird statt der Burg
und Pfalz der Mittelpunkt großer Geschichte, und in ihr geht das Gefühl
des Ausübens von Macht -- der Themis -- in das des +Regierens+,
der Dike über. Hier wird der Lehnsverband innerlich durch die Nation
überwunden, gerade auch im Bewußtsein des ersten Standes selbst, und
hier erhebt sich die bloße Tatsache des Herrschertums zum Symbol der
+Souveränität+.

Und so wird mit dem Sinken des Lehnswesens die faustische
Geschichte dynastische Geschichte. Von kleinen Mittelpunkten, wo
Fürstengeschlechter sitzen-- „angestammt“ sind, wie der erdhafte, an
Pflanze und Eigentum gemahnende Ausdruck lautet --, geht die Bildung
von Nationen aus, die streng ständisch gegliedert sind, aber so, daß
der Staat das Dasein des Standes bedingt. Das schon im Lehnsadel
und in den Bauerngeschlechtern waltende genealogische Prinzip, der
Ausdruck des Weitengefühls und des Willens zur Geschichte, ist so
stark geworden, daß die Entstehung von Nationen über die mächtigen
Bindungen von Sprache und Landschaft hinaus vom Schicksal regierender
Häuser abhängig wird; Erbfolgeordnungen wie das salische Gesetz,
Urkundenbücher, in denen man die Geschichte des Blutes nachlas,
Heiraten und Todesfälle trennen oder verschmelzen das Blut ganzer
Bevölkerungen.[417] Weil es nicht zur Bildung einer lothringischen
und burgundischen Dynastie kam, sind auch die beiden im Keim schon
angelegten Nationen nicht zur Entwicklung gekommen. Das Verhängnis
über dem Hohenstaufengeschlecht hat in Deutschland und Italien
die Kaiserkrone und +mit ihr+ die einheitliche deutsche und
italienische Nation zu einer tiefen Sehnsucht durch Jahrhunderte hin
gemacht, während das Haus Habsburg nicht eine deutsche, sondern eine
österreichische Nation hat entstehen lassen.

Ganz anders gestaltet sich das dynastische Prinzip aus dem Höhlengefühl
der arabischen Welt. Der antike Prinzeps, der legitime Nachfolger der
Tyrannen und Tribunen, ist die Verkörperung des Demos. Wie Janus die
Tür, Vesta der Herd, so ist der Cäsar das Volk. Es ist die letzte
Schöpfung orphischer Religiosität. Magisch ist demgegenüber der Dominus
et Deus, der Schah, der des himmlischen Feuers teilhaftig geworden
ist (des _hvareno_ im mazdaistischen Sassanidenreich und danach der
Strahlenkrone, der Aureole im heidnischen und christlichen Byzanz), das
ihn umstrahlt und ihn _pius_, _felix_ und _invictus_ macht: dies die
offiziellen Titel seit Kommodus.[418] Im dritten Jahrhundert hat sich
in Byzanz im Typus des Herrschers derselbe Übergang vollzogen wie in
der Rückbildung des augustischen Beamtenstaates zum diokletianischen
Lehnsstaat. „Die Neuschöpfung, welche Aurelian und Probus begonnen,
Diokletian und Konstantin auf den Trümmern ausgeführt haben, steht
dem Altertum und dem Prinzipat bereits ungefähr ebenso fern wie das
Reichs Karls des Großen.“[419] Der magische Herrscher regiert den
sichtbaren Teil des allgemeinen _consensus_ der Rechtgläubigen, der
Kirche, Staat und Nation zugleich ist,[420] wie es Augustin in seinem
Gottesstaat beschrieben hat; der abendländische Herrscher ist von
Gottes Gnaden Monarch innerhalb der +geschichtlichen+ Welt; sein
Volk ist ihm untertan, weil Gott es ihm verliehen hat. In Sachen
des Glaubens aber ist er selbst Untertan, nämlich entweder der des
irdischen Stellvertreters Gottes oder der seines Gewissens. Das ist
die Trennung von Staatsgewalt und Kirchengewalt, der große faustische
Konflikt zwischen Zeit und Raum. Als im Jahre 800 der Papst den Kaiser
krönte, +wählte+ er sich einen neuen Gebieter, um selbst zu wachsen.
Der Kaiser in Byzanz war nach magischem Weltgefühl sein Herr auch im
Geistigen; der im Frankenland war in religiösen Dingen sein +Diener+,
in weltlichen -- vielleicht -- sein Arm. Das Papsttum konnte als Idee
nur durch die Trennung vom Khalifat entstehen, denn im Khalifen ist der
Papst +enthalten+.

Die Wahl des magischen Herrschers kann aber eben deshalb nicht durch
ein genealogisches Erbfolgegesetz festgelegt sein; sie erfolgt aus
dem _consensus_ der herrschenden Blutsgemeinschaft, aus dem der
heilige Geist spricht und den Erkorenen bezeichnet. Als Theodosius 550
starb, reichte eine Verwandte, die Nonne Pulcheria, dem greisen Senator
Markianos formell die Hand, um durch die Aufnahme dieses Staatsmannes
in den Familien verband ihm den Thron und damit der „Dynastie“ die
Fortdauer zu sichern,[421] und das ist wie zahlreiche verwandte Akte
auch im Sassaniden- und Abbassidenhause wie ein höherer Wink betrachtet
worden.

In China war der mit dem Lehnswesen fest verbundene Kaisergedanke der
frühesten Dschouzeit schnell ein Traum geworden, in dem sich bald und
zwar mit steigender Deutlichkeit auch die ganze Vorwelt in Gestalt von
drei Dynastien und einer Reihe noch älterer Sagenkaiser spiegelte.[422]
Für die Dynastien des nun heranwachsenden Staatensystems aber, in dem
der Titel Wang, König, zuletzt ganz allgemein üblich wird, bildeten
sich strenge Thronfolgeordnungen heraus, und die der Frühzeit ganz
fremde Legitimität wird eine Macht,[423] die in dem Aussterben
einzelner Linien, in Adoptionen und Mißheiraten wie im abendländischen
Barock Anlässe zu zahllosen Erbfolgekriegen findet.[424] Ein
Legitimitätsprinzip liegt sicherlich auch der seltsamen Tatsache
zugrunde, daß die Herrscher der 12. Dynastie Ägyptens, mit welcher die
Spätzeit endet, ihre Söhne schon zu Lebzeiten krönen lassen;[425] die
innere Verwandtschaft dieser drei dynastischen Ideen ist wieder ein
Beweis für die Verwandtschaft des Daseins in diesen Kulturen überhaupt.

Es bedarf eines tiefen Eindringens in die politische Formensprache
der frühen Antike, um zu erkennen, daß die Entwicklung der Dinge
hier ganz dieselbe ist und nicht nur den Übergang vom Lehnsverband
zum Ständestaat, sondern sogar das dynastische Prinzip enthält. Aber
das antike Dasein hat zu allem, was es zeitlich und räumlich in die
Ferne zog, Nein gesagt und auch in der Tatsachenwelt der Geschichte
sich rings mit Schöpfungen umstellt, denen etwas Defensives anhaftet.
Indessen setzt doch all diese Enge und Kürze das voraus, wogegen
sie aufrecht erhalten werden soll. Die dionysische Vergeudung und
die orphische Verneinung des antiken Leibes enthält gerade in der
+Form+ dieses Protestes das apollinische Ideal des vollkommenen
leiblichen Seins.

Die Einzelherrschaft und der Erbwille waren im frühesten Königtum
unzweideutig gegeben,[426] aber schon um 800 fragwürdig geworden,
wie die Rolle des Telemach in den älteren Teilen der Odyssee
zeigt. Der Königstitel wird oft auch von großen Vasallen und den
Angesehensten des Adels geführt. In Sparta und Lykien sind es zwei,
in der Phäakenstadt des Epos und in manchen wirklichen Städten noch
mehr. Dann kommt die Abspaltung der Ämter und Würden. Endlich wird
das Königtum selbst ein Amt, das der Adel vergibt, erst vielleicht
innerhalb der alten Königsfamilie wie in Sparta, wo die Ephoren als
Vertreter des ersten Standes an keine Wahlordnung gebunden sind,
und in Korinth, wo das Königsgeschlecht der Bakchiaden um 750 die
Erblichkeit aufhebt und aus seiner Mitte jedesmal einen Prytanen mit
Königsrang bestellt. Die großen Ämter, die zunächst ebenfalls erblich
waren, werden lebenslänglich, dann auf Frist, endlich auf ein Jahr
beschränkt und zwar so, daß bei einer Mehrzahl von Inhabern auch noch
ein regelmäßiger Wechsel der Führung eintritt, was bekanntlich den
Verlust der Schlacht von Kannä veranlaßt hat. Diese Jahresämter, von
der etruskischen Jahresdiktatur[427] bis zum dorischen Ephorat, das
auch in Herakleia und Messene vorkommt, sind mit dem Wesen der Polis
fest verbunden und erreichen ihre volle Ausbildung um 650 gerade dann,
als im abendländischen Ständestaat gegen Ende des 15. Jahrhunderts
die dynastische Erbgewalt durch Kaiser Maximilian I. und seine
Heiratspolitik -- den Wahlansprüchen der Kurfürsten gegenüber --,
durch Ferdinand von Aragonien, Heinrich VII. Tudor und Ludwig XI. von
Frankreich gesichert war.[428]

Aber durch die zunehmende Beschränkung auf das Jetzt und Hier war
gleichzeitig das Priestertum aus den Ansätzen zu einem Stande eine
bloße Summe staatlicher Ämter geworden; die Residenz des homerischen
Königstums, statt den Mittelpunkt eines nach allen Seiten ins Weite
strebenden Staatswesens zu bilden, zieht ihren Bannkreis zusammen,
bis Staat und Stadt identisch sind. Aber damit fallen auch Adel und
Patriziat zusammen, und da die Vertretung der frühen Städte auch in
gotischer Zeit, im englischen Unterhaus wie in den französischen
Generalständen ausschließlich eine solche der Patrizier ist, so stellt
sich der mächtige antike Ständestaat +nicht der Idee, aber den
Tatsachen nach+ als reiner, königloser Adelsstaat dar. Diese streng
apollinische Form der werdenden Polis heißt +Oligarchie+.

Und so stehen am Ausgang beider Frühzeiten das faustisch-genealogische
und das apollinisch-oligarchische Prinzip nebeneinander, zwei Arten von
staatlichem Recht, von Dike, die eine von unermeßlichem Weitengefühl
getragen, mit einer urkundlichen Tradition tief in die Vergangenheit
zurückreichend und mit dem gleichen Willen zur Dauer auf die
entlegenste Zukunft bedacht, in der Gegenwart aber auf die politische
Wirkung im weiten Raume, durch planvolle dynastische Heiraten und
durch jene echt faustische, dynamische, kontrapunktische Politik der
Ferne, die wir +Diplomatie+ nennen; die andre ganz körperhaft und
statuenhaft und sich durch die Politik der Autarkeia auf die strengste
Nähe und Gegenwart beschränkend, überall da schroff ablehnend, wo das
abendländische Dasein bejaht.

Der dynastische wie der Stadtstaat setzen die Stadt selbst
+voraus+, aber während die westeuropäischen Regierungssitze oft
bei weitem nicht die größten Orte des Landes sind, sondern Mittelpunkte
eines Kraftfeldes politischer Spannungen, in dem jedes Ereignis an noch
so entfernter Stelle mit einem fühlbaren Zittern das Ganze durchläuft,
drängt sich in der Antike das Leben immer enger zusammen und gelangt
so zu der grotesken Erscheinung des Synoikismos. Es ist der Gipfel
des euklidischen Formwollens innerhalb der politischen Welt. Man
kann sich den Staat nicht denken, solange nicht die Nation auf einem
Haufen, +als ein Leib+ ganz körperlich zusammensitzt; man will ihn
+sehen+, sogar übersehen, und während die faustische Tendenz dahin
geht, die Zahl der dynastischen Mittelpunkte immer mehr zu verringern,
und schon Maximilian I. eine genealogisch gesicherte Universalmonarchie
seines Hauses in der Ferne auftauchen sah, zerfällt die antike Welt
in zahllose solcher winzigen Punkte, die, sobald sie vorhanden sind,
in das für antike Menschen beinahe denknotwendige Verhältnis der
wechselseitigen Vernichtung als des reinsten Ausdrucks der Autarkeia
eintreten.[429]

Der Synoikismos und damit die Begründung der eigentlichen Polis ist
+ausschließlich ein Werk des Adels+, der für sich allein den
antiken Ständestaat darstellte und diesen also durch Zusammenziehung
von Landadel und Patriziat in Form brachte, wobei die Berufsklassen
ohnehin am Orte waren und der Bauer im Ständesinne nicht zählte. Durch
die Sammlung der adligen Macht an einem Punkte ist das Königtum der
Lehnszeit gebrochen worden.

Auf Grund dieser Einblicke darf der Versuch gewagt werden,
die Urgeschichte Roms unter allem Vorbehalt zu zeichnen. Der
römische Synoikismos, eine örtliche Zusammenfassung verbreiteter
adliger Geschlechter, ist identisch mit der „Gründung“ Roms,
einem etruskischen Unternehmen wahrscheinlich am Anfang des 7.
Jahrhunderts,[430] während schon lange vorher zwei Ansiedlungen auf dem
Palatin und Quirinal gegenüber der Königsburg des Kapitols bestanden
hatten. Zur ersten gehört die uralte Göttin Diva Rumina[431] und das
etruskische Geschlecht der Ruma,[432] zur zweiten der Gott Quirinus
pater. Von daher stammen der Doppelname Römer und Quiriten und die
doppelten Priestertümer der Salier und Luperci, die an den beiden
Hügeln haften. Da die drei Geschlechtertribus der Ramnes, Tities und
Luceres sich sicherlich durch +alle+ etruskischen Orte zogen,[433]
so müssen sie hier wie dort vorhanden gewesen sein, und daraus erklären
sich nach vollzogenem Synoikismos die Sechszahl der Reiterzenturien,
der Kriegstribunen und der hochadligen Vestalinnen, aber andrerseits
auch die +beiden+ Prätoren oder Konsuln, die dem Königtum schon
früh als Vertreter des Adels zur Seite gestellt wurden und ihm
allmählich jeden Einfluß entzogen. Schon um 600 muß die Verfassung Roms
eine starke Oligarchie der Patres mit einem Schattenkönigtum[434] an
der Spitze gewesen sein, aber daraus folgt wieder, daß die alte Annahme
einer Vertreibung der Könige und die moderne eines langsamen Abbaus der
Königsgewalt nebeneinander zu Recht bestehen, denn die eine bezieht
sich auf den Sturz der tarquinischen Tyrannis, die um die Mitte des
6. Jahrhunderts wie damals überall gegen die Oligarchie aufgerichtet
worden war, in Athen durch Peisistratos, die andere auf die langsame
Auflösung der Lehnsgewalt des, man darf auch hier sagen homerischen
Königtums +vor+ der „Gründung“ durch den Ständestaat der Polis,
eine Krise, die hier vielleicht durch das Hervortreten der Prätoren
ebenso bezeichnet wurde, wie anderswo durch das der Archonten und
Ephoren.

Diese Polis ist streng adlig wie der abendländische Ständestaat (dieser
einschließlich des höheren Klerus und der Städtevertreter). Der Rest
der Zugehörigen ist schlechthin Objekt -- der politischen Sorge,
hier also der Sorg+losigkeit+. Denn _Carpe diem_ ist der
Wahlspruch gerade auch dieser Oligarchie, wie die Lieder des Theognis
und des Kreters Hybrias laut genug verkünden; in der Finanzwirtschaft,
die bis in die spätesten Zeiten der Antike mehr oder weniger
gesetzloser Raub geblieben ist, um die Mittel für den Augenblick zu
beschaffen, von dem organisierten Piratentum des Polykrates seinen
eigenen Untertanen gegenüber bis zu den Proskriptionen der römischen
Triumvirn; in der Rechtssetzung bis zu der mit beispielloser Konsequenz
auf den Augenblick gerichteten Ediktalgesetzgebung des einjährigen
römischen Prätors;[435] endlich in der sich immer mehr verbreitenden
Sitte, gerade die wichtigsten Heeres-, Rechts- und Verwaltungsämter
durch das Los zu besetzen -- eine Art Huldigung an Tyche, die Göttin
des Augenblicks.

Ausnahmen von dieser Art, politisch in Form zu sein und entsprechend
zu fühlen und zu denken, gibt es nicht. Die Etrusker sind von ihr
ebenso beherrscht wie die Dorer und Makedonier.[436] Wenn Alexander
und seine Nachfolger den Osten weithin mit hellenistischen Städten
bedeckten, so geschah es ganz unbewußt auch deshalb, weil sie sich eine
andere Form der politischen Organisation nicht vorstellen konnten.
Antiochia sollte Syrien sein und Alexandria Ägypten. Und in der Tat
war Ägypten unter den Ptolemäern wie später unter den Cäsaren nicht
rechtlich, aber tatsächlich eine Polis in ungeheurem Maßstabe; das
längst fellachenhafte und wieder stadtlose Land lag mit seiner uralten
Verwaltungstechnik als Feldmark vor den Toren.[437] Das römische
Imperium ist nichts als der letzte und größte Stadtstaat der Antike
auf Grund eines riesenhaften Synoikismus. Der Redner Aristides konnte
unter Mark Aurel mit vollem Recht sagen (in seiner Rede auf Rom): „Rom
hat diese Welt im Namen +einer Stadt+ zusammengefaßt. Wo man auch
in ihr geboren sein mag, man wohnt doch in ihrer Mitte.“ Aber auch
die unterworfene Bevölkerung, wandernde Wüstenstämme und die Bewohner
kleiner Alpentäler, werden als _civitates_ konstituiert. Livius
denkt durchaus in den Formen des Stadtstaates, und für Tacitus ist
die Provinzialgeschichte überhaupt nicht vorhanden. Pompejus war im
Jahre 49 verloren, als er vor Cäsar zurückwich und das militärisch
bedeutungslose Rom preisgab, um sich im Osten eine Operationsbasis zu
schaffen. In den Augen der herrschenden Gesellschaft hatte er damit den
Staat preisgegeben. Rom war ihnen alles.[438]

Diese Stadtstaaten sind der Idee nach nicht erweiterungsfähig; ihre
Zahl kann wachsen, nicht ihr Umfang. Es ist nicht richtig, wenn man den
Übergang der römischen Klientel in die stimmberechtigte Plebs und die
Schaffung der ländlichen Tribus als Durchbrechung des Polisgedankens
auffaßt. Es ist hier wie in Attika: Das gesamte Leben des Staates, der
_res publica_ bleibt nach wie vor auf einen Punkt beschränkt und
dieser ist die Agora, das römische Forum. Mag das Bürgerrecht an noch
so viele Fernwohnende verliehen sein, zur Zeit Hannibals weithin in
Italien und später in der ganzen Welt, zur Ausübung der politischen
Seite dieses Rechts ist die +persönliche Gegenwart+ auf dem Forum
erforderlich. Damit ist die große Mehrzahl der Bürger nicht gesetzlich,
aber tatsächlich ohne Einfluß auf die politischen Geschäfte.[439] Das
Bürgerrecht bedeutet also für sie lediglich die Dienstpflicht und den
Genuß des städtischen Privatrechts.[440] Aber selbst für die nach
Rom kommenden Bürger ist die politische Macht durch einen zweiten,
+künstlichen Synoikismus+ beschränkt, der sich erst nach und
infolge der Bauernbefreiung vollzogen hat, sicherlich ganz unbewußt,
um die Idee der Polis streng aufrecht zu erhalten: die Neubürger werden
ohne Rücksicht auf ihre Zahl in ganz wenige Tribus eingeschrieben, nach
der _lex Julia_ in acht, und sind in den Komitien deshalb stets in
der Minderheit gegenüber der alten Bürgerschaft.

Denn diese Bürgerschaft wird durchaus als +ein+ Leib empfunden,
als Soma. Wer nicht dazu gehört, ist rechtlos, hostis. Die Götter
und Heroen stehen oberhalb, der Sklave, der nach Aristoteles
kaum ein Mensch zu nennen ist, unterhalb dieser Gesamtheit von
Personen.[441] Der einzelne aber ist ζῷον πολιτικόν in einem Sinne,
der uns aus dem Weitengefühl Denkenden und Lebenden als Inbegriff von
Sklaverei erscheinen würde; er existiert +nur+ vermöge seiner
Zugehörigkeit zu einer einzelnen Polis. Infolge dieses euklidischen
Gefühls war zuerst der Adel als festgeschlossenes Soma mit der Polis
gleichbedeutend, bis zu dem Grade, daß noch im Zwölftafelrecht die
Ehe zwischen Patriziern und Plebejern verboten war und in Sparta die
Ephoren nach alter Sitte bei ihrem Amtsantritt eine Kriegserklärung
gegen die Heloten erließen. Das Verhältnis kehrt sich um, ohne
seinen Sinn zu verändern, sobald infolge einer Revolution der Demos
gleichbedeutend mit den +Nicht+adligen wird. Und wie nach innen,
so ist nach außen das politische Soma die Grundlage aller Ereignisse
durch die ganze antike Geschichte hindurch. Zu Hunderten lagen diese
kleinen Staaten auf der Lauer, jeder nach Möglichkeit politisch und
wirtschaftlich in sich abgeschlossen, bissig, auf den geringsten
Anlaß losfahrend, um einen Kampf zu beginnen, dessen Ziel nicht die
Ausdehnung des eignen Staates ist, sondern die Vernichtung des fremden:
die Stadt wird zerstört, die Bürgerschaft getötet oder in die Sklaverei
verkauft, genau wie eine Revolution damit endet, daß die Unterliegenden
erschlagen oder vertrieben werden und ihre Habe der siegreichen
Partei zufällt. Der natürliche zwischenstaatliche Zustand ist in der
abendländischen Welt ein dichtes Netz diplomatischer Beziehungen, die
durch Kriege unterbrochen werden können. Das antike Völkerrecht setzt
aber den Krieg als normalen Zustand voraus, der durch Friedensverträge
zeitweise unterbrochen wird. Eine Kriegserklärung stellt hier also die
natürliche politische Lage wieder her; erst so lassen sich die 40-
und 50jährigen Friedensverträge, _spondai_, wie der berühmte des
Nikias von 421 erklären, die lediglich eine vorübergehende Sicherheit
gewährleisten sollen.

Diese beiden Staatsformen und damit die zugehörigen Stile der Politik
sind mit dem Ausgang der Frühzeit gesichert. Der Staatsgedanke hat über
den Lehnsverband gesiegt, aber vertreten wird er doch durch die Stände
und nur als ihre Summe ist die Nation politisch vorhanden.


10

Eine entscheidende Wendung vollzieht sich mit dem Beginn der Spätzeit,
dort wo Stadt und Land sich im Gleichgewicht befinden und die
eigentlichen Mächte der Stadt, Geld und Geist, so stark geworden sind,
daß sie sich als Nichtstand den Urständen gewachsen fühlen. Es ist der
Augenblick, wo der Staatsgedanke sich endgültig über die Stände erhebt,
um sie durch den Begriff der Nation zu +ersetzen+.

Der Staat hatte sein Recht erkämpft auf dem Wege vom Lehnsverband zum
Ständestaat. In diesem sind die Stände nur noch vermöge des Staates
vorhanden, nicht umgekehrt. Aber es lag doch so, daß die Regierung
der regierten Nation nur derart gegenübertrat, als und soweit diese
ständisch gegliedert war. Der Nation zugehörig waren alle, den Ständen
aber eine Auswahl und nur diese kam politisch in Betracht.

Je mehr sich aber der Staat seiner reinen Form nähert, je
+absoluter+ er wird, abgelöst nämlich von jedem andern Formideal,
desto mehr gewinnt der Begriff der Nation dem des Standes gegenüber an
Gewicht und es kommt der Augenblick, wo die Nation +als solche+
regiert wird und die Stände nur noch gesellschaftliche Unterschiede
bezeichnen. Gegen diese Entwicklung, die zu den Notwendigkeiten der
Kultur gehört und unvermeidlich und unwiderruflich ist, erheben sich
noch einmal die frühen Mächte, Adel und Priestertum. Für sie steht
+alles+ auf dem Spiel, das Heldenhafte und Heilige, das alte
Recht, der Rang, das Blut, und von ihnen aus betrachtet -- gegen was?

Dieser Kampf der Urstände gegen die Staatsgewalt besitzt im Abendlande
die Gestalt der +Fronde+; in der Antike, wo keine Dynastie die
Zukunft vertritt und der Adel politisch allein da ist, +bildet+
sich etwas Dynastisches, das den Staatsgedanken verkörpert und,
gestützt auf den nichtständischen Teil der Nation, diesen selbst erst
zu einer Macht erhebt. Das ist die Mission der +Tyrannis+.

In dieser +Wendung vom Ständestaat zum absoluten Staat+, der alles
nur in bezug auf sich gelten läßt, haben die Dynastien des Abendlandes
und ebenso diejenigen Ägyptens und Chinas den Nichtstand zu Hilfe
gerufen und damit +als politische Größe anerkannt+. Darin liegt
die Bedeutung des Kampfes gegen die Fronde, und die Mächte der großen
Stadt konnten für sich zunächst nur einen Vorteil darin erblicken. Der
Herrscher steht hier im Namen des Staates, der Sorge für alle, und er
bekämpft den Adel, weil dieser den +Stand+ als politische Größe
aufrecht erhalten will.

In der Polis aber, wo der Staat ausschließlich in der Form lag und in
keinem Oberhaupt erblich verkörpert war, erhob sich aus dem Bedürfnis,
den Nichtstand für den Staatsgedanken einzusetzen, die Tyrannis, in
welcher eine Familie oder Faktion des Adels selbst die dynastische
Rolle übernahm, ohne welche eine Aktion des dritten Standes unmöglich
gewesen wäre. Spätantike Historiker haben den Sinn dieses Vorgangs
nicht mehr erkannt und sich an Äußerlichkeiten des Privatlebens
gehalten. In Wahrheit ist die Tyrannis +der Staat+, und sie wird
von der Oligarchie im Namen des Standes bekämpft. Deshalb stützt sie
sich auf Bauern und Bürger; in Athen waren das um 580 die Parteien der
Diakrier und Paralier. Deshalb hat sie die dionysischen und orphischen
Kulte zum Nachteil der apollinischen unterstützt; in Attika förderte
Peisistratos den Dionysoskult unter den Bauern,[442] in Sikyon verbot
um dieselbe Zeit Kleisthenes den Vortrag der homerischen Gesänge;[443]
in Rom wurde sicherlich noch unter den Tarquiniern die Götterdreiheit
Demeter (Ceres), Dionysos und Kore[444] eingeführt. Ihr Tempel
wurde 483 durch Sp. Cassius geweiht, der gleich danach bei einem
Versuch, die Tyrannis wieder aufzurichten, umkam. Dieser Cerestempel
war das Heiligtum der Plebs und seine Vorsteher, die Ädilen, deren
Vertrauensmänner, bevor es Tribunen gab.[445] Die Tyrannen waren wie
die Fürsten des abendländischen Barock in einem großen Sinne liberal,
wie es unter der späteren Herrschaft des dritten Standes gar nicht mehr
möglich ist. Aber damals kam auch in der Antike das Wort in Umlauf,
daß das Geld den Mann macht, χρήματ’ ἀνήρ.[446] Die Tyrannis des
sechsten Jahrhunderts hat den Polisgedanken zu Ende geführt und den
staatsrechtlichen Begriff des +Bürgers+, des Politen, des Civis
geschaffen, deren Summe ohne Rücksicht auf den Stand das _soma_
des Stadtstaates bildet. Als die Oligarchie dann doch wieder siegte,
und zwar infolge des antiken Hanges zur Gegenwart, der in der Tyrannis
die Neigung zur Dauer fürchtete und haßte, war der Begriff des Bürgers
fest vorhanden und der Nichtpatrizier hatte gelernt, sich dem Rest
gegenüber als Stand zu fühlen. Er war eine politische Partei geworden
-- das Wort Demokratie im spezifisch antiken Sinne bekommt jetzt
einen bedeutungsschweren Inhalt -- und er geht daran, nicht mehr dem
Staat zu Hilfe zu kommen, sondern wie vorher der Adel +der Staat zu
sein+. Er beginnt zu zählen -- das Geld wie die Köpfe, denn sowohl
der Geldzensus wie das allgemeine Wahlrecht sind bürgerliche Waffen;
der Adel zählt nicht, sondern wertet; er stimmt nach Ständen. Wie der
absolute Staat aus der Fronde und ersten Tyrannis hervorgegangen war,
so geht er mit der französischen Revolution und der zweiten Tyrannis zu
Ende. In diesem zweiten Kampfe, der schon Verteidigung ist, tritt die
Dynastie auf die Seite der Urstände zurück, um den Staatsgedanken gegen
eine neue Standesherrschaft, die bürgerliche, zu schützen.

Zwischen Fronde und Revolution liegt auch die Geschichte des Mittleren
Reiches in Ägypten. Hier hat die 12. Dynastie (2000-1788), voran
Amenemhet I. und Sesostris I., in schweren Kämpfen gegen die Barone
den absoluten Staat begründet. Der erste Herrscher ist, wie ein
berühmtes Gedicht dieser Zeit meldet, nur mit Mühe einer Verschwörung
am Hofe entgangen. Daß nach seinem zunächst geheim gehaltenen Tode
ein Aufruhr drohte, verrät die Lebensbeschreibung des Sinuhet;[447]
der dritte wurde von Palastbeamten ermordet. Aus den Inschriften im
Familiengrabe der Grafen Chnemhotep erfahren wir,[448] daß die Städte
reich und fast unabhängig geworden waren und Kriege untereinander
führten. Sicherlich sind sie damals nicht kleiner gewesen als die
antiken Städte zur Zeit der Perserkriege. Auf sie und auf eine Anzahl
treugebliebener Großen hat die Dynastie sich gestützt.[449] Sesostris
III. (1887-1850) konnte den Feudaladel endlich ganz aufheben. Es gab
von da an nur noch einen Hofadel und einen einheitlichen, mustergültig
geordneten Beamtenstaat,[450] aber schon jetzt erheben sich Klagen,
daß die Vornehmen ins Elend geraten und die „Söhne Niemands“ zu Rang
und Ansehen kommen.[451] Die Demokratie beginnt und die große soziale
Revolution der Hyksoszeit bereitet sich vor.

Dem entspricht in China die Zeit der Ming-Dschu (oder Pa, 685-591).
Es sind Protektoren fürstlicher Herkunft, die eine rechtlich nicht
begründete, aber tatsächliche Macht über diese ganze, in wüste Anarchie
versunkene Staatenwelt ausüben, Fürstenkongresse berufen, um die
Ordnung herzustellen und gewisse politische Grundsätze zur Anerkennung
zu bringen, sogar den gänzlich bedeutungslosen „Herrscher der Mitte“
aus dem Hause Dschou vorladen. Der erste war Hoang von Tsi († 645), der
den Fürstentag von 659 berief und von dem Konfuzius schrieb, daß er
China vor dem Rückfall in die Barbarei gerettet habe. Die Bezeichnung
Ming-Dschu ist später wie der Tyrannenname ein Schimpfwort geworden,
weil man in ihrer Erscheinung nur noch die Macht ohne Recht bemerken
wollte, aber diese großen Diplomaten sind ganz ohne Zweifel ein
Element, das sich voller Sorge um den Staat und die geschichtliche
Zukunft gegen die alten Stände richtet und dabei auf die jungen stützt,
auf Geist und Geld. Eine hohe Kultur spricht aus dem Wenigen, was bis
jetzt aus chinesischen Quellen über sie bekannt geworden ist. Einige
waren Schriftsteller, andere haben Philosophen zu Ministern berufen. Es
ist gleichgültig, ob man an Richelieu oder Wallenstein oder Periander
denkt -- jedenfalls tritt mit ihnen zuerst „das Volk“ als politische
Größe auf.[452] Das ist echte Barockgesinnung und Diplomatie von
hohem Rang. Der absolute Staat hat sich der Idee nach dem Ständestaat
gegenüber durchgesetzt.

Eben darin liegt die enge Verwandtschaft mit der abendländischen
Zeit der Fronde. Hier hat die Krone in Frankreich seit 1614 keine
Generalstände mehr berufen, nachdem diese sich den vereinigten Gewalten
von Staat und Bürgertum überlegen gezeigt hatten. In England versucht
Karl I. seit 1628 ebenfalls ohne Parlament zu regieren. In Deutschland
kommt der dreißigjährige Krieg, der doch auch, ganz abgesehen von
seiner religiösen Bedeutung, die Entscheidung zwischen Kaisergewalt
und der +großen+ kurfürstlichen Fronde einerseits und zwischen
den Einzelfürsten und der +kleinen+ Fronde ihrer Landstände
andrerseits herbeiführen sollte, dadurch zum Ausbruch, daß 1618 die
böhmischen Stände das Haus Habsburg absetzten und ihre Macht daraufhin
1620 durch ein furchtbares Strafgericht vernichtet wurde. Aber der
Mittelpunkt der Weltpolitik lag damals in +Spanien+, wo mit
der gesellschaftlichen Kultur überhaupt auch der diplomatische Stil
des Barock entstanden ist, nämlich im Kabinett Philipps II., und wo
das dynastische Prinzip, in dem sich der absolute Staat den Cortes
gegenüber verkörperte, seine gewaltigste Ausbildung erfahren hat und
zwar im Kampfe gegen das Haus Bourbon. Der Versuch, auch England
genealogisch dem spanischen System einzugliedern, war unter Philipp II.
gescheitert, weil der schon angekündigte Erbe aus seiner Ehe mit Maria
von England ausblieb. Jetzt, unter Philipp IV., taucht noch einmal der
Gedanke einer alle Ozeane beherrschenden Universalmonarchie auf, nicht
mehr jenes mystische Kaisertum der frühen Gotik, das heilige römische
Reich deutscher Nation, sondern das greifbare Ideal der Weltherrschaft
des Hauses Habsburg, die sich von Madrid aus auf den realen Besitz
von Indien und Amerika und auf die schon fühlbar hervortretende Macht
des Geldes stützen sollte. Damals haben es die Stuarts versucht, ihre
gefährdete Stellung durch die Ehe des Thronfolgers mit einer spanischen
Infantin zu verstärken, aber man zog in Madrid zuletzt die Verbindung
mit der eigenen Seitenlinie in Wien vor, und so wandte sich Jakob I.
-- ebenfalls vergeblich -- an die Gegenpartei der Bourbonen mit dem
Vorschlag eines Ehebündnisses. Der Mißerfolg dieser Familienpolitik hat
mehr als alles andre dazu beigetragen, die puritanische Bewegung mit
der Fronde zu einer großen Revolution zu verbinden.

In diesen großen Entscheidungen treten wie im „gleichzeitigen“ China
die Inhaber der Throne selbst ganz in den Hintergrund vor einzelnen
Staatsmännern, in deren Hand Jahrzehnte hindurch das Schicksal der
abendländischen Welt liegt. Graf Olivarez in Madrid und der spanische
Gesandte in Wien Oñate waren damals die mächtigsten Persönlichkeiten in
Europa; ihnen standen als Verteidiger des Reichsgedankens Wallenstein
und des absoluten Staatsgedankens in Frankreich Richelieu gegenüber,
und später sind in Frankreich Mazarin, in England Cromwell, in Holland
Oldenbarneveldt, in Schweden Oxenstierna gefolgt. Erst mit dem Großen
Kurfürsten erscheint wieder ein Monarch von staatsmännischer Bedeutung.

Wallenstein knüpft unbewußt dort an, wo die Hohenstaufen aufgehört
hatten. Nach dem Tode Friedrichs II. (1250) war die Gewalt der
Reichsstände eine unbedingte geworden und gegen diese, für einen
absoluten Kaiserstaat, trat er während seines ersten Kommandos ein.
Wäre er ein größerer Diplomat, klarer, vor allem entschlossener gewesen
-- er fürchtete sich vor Entscheidungen -- hätte er wie Richelieu
die Notwendigkeit erkannt, vor allem die Person des Monarchen unter
seinen Einfluß zu bringen, so wäre mit dem Reichsfürstentum vielleicht
aufgeräumt worden. Er sah in diesen Fürsten Rebellen, die abgesetzt und
deren Land konfisziert werden müßte, und auf dem Gipfel seiner Macht,
Ende 1629, als er Deutschland militärisch fest in der Hand hatte, ließ
er im Gespräch verlauten, der Kaiser müsse Herr im Reiche sein wie
die Könige von Frankreich und Spanien. Sein Heer, das „sich selbst
ernährte“ und auch durch seine Stärke von den Ständen unabhängig blieb,
war zum ersten Male in Deutschland eine Kaiserarmee von europäischer
Bedeutung; neben ihm kam das von Tilly geführte Heer der Fronde, denn
das war die Liga, nicht in Betracht. Als Wallenstein 1628 vor Stralsund
lag, um den Gedanken einer habsburgischen Seemacht in der Ostsee zu
verwirklichen, von wo aus das bourbonische System im Rücken gefaßt
werden konnte -- während gleichzeitig Richelieu mit besserem Erfolg La
Rochelle belagerte --, waren Feindseligkeiten zwischen der Liga und
ihm kaum noch zu vermeiden. Auf dem Reichstag zu Regensburg 1630 war
er abwesend, weil, wie er sagte, sein Quartier demnächst in Paris sein
werde. Es war der schwerste politische Fehler seines Lebens, denn hier
siegte die Fronde der Kurfürsten über den Kaiser durch die Drohung,
Ludwig XIII. an seine Stelle zu setzen, und erzwang die Abdankung
des Generals. Damit hatte die Zentralgewalt in Deutschland, ohne die
Tragweite des Schrittes zu erkennen, ihr Heer aus der Hand gegeben.
Von nun an unterstützte Richelieu die große Fronde in Deutschland, um
hier die spanische Stellung zu erschüttern, während auf deren Seite
Olivarez und der wieder zum Kommando gelangte Wallenstein sich mit
der Ständepartei in Frankreich verbündeten, die daraufhin unter der
Königin-Mutter und Gaston von Orleans zum Angriff überging. Aber die
kaiserliche Gewalt hatte den großen Augenblick versäumt. In beiden
Fällen behielt der Kardinal die Oberhand. Er ließ 1632 den letzten
Montmorency hinrichten und brachte die katholischen Kurfürsten
Deutschlands in ein offenes Bündnis mit Frankreich. Von da an trat
Wallenstein, der in seinen Endzielen unsicher wurde, mehr und mehr dem
spanischen Gedanken entgegen, den er von dem Reichsgedanken trennen
zu können glaubte, und näherte sich (wie in Frankreich der Marschall
Turenne) damit von selbst den Ständen. +Es ist die entscheidende
Wendung in der späteren deutschen Geschichte.+ Erst mit diesem
Abfall ist der absolute Kaiserstaat unmöglich geworden. Wallensteins
Ermordung 1634 änderte daran nichts mehr, denn man fand für ihn keinen
Ersatz.

Und eben jetzt wären die Umstände noch einmal günstig gewesen, denn
1640 brach in Spanien, Frankreich und England der Entscheidungskampf
zwischen Staatsgewalt und Ständen aus. Gegen Olivarez erhoben sich
die Cortes in fast allen Provinzen. Portugal und damit Indien und
Afrika gingen für immer verloren; Neapel und Katalonien konnten
erst nach Jahren wieder unterworfen werden. In England muß -- ganz
wie im dreißigjährigen Kriege -- der Verfassungskampf zwischen dem
Königtum und der im Unterhaus herrschenden Gentry von der religiösen
Seite der Revolution sorgfältig getrennt werden, so tief die beiden
Tendenzen sich auch durchdringen. Aber der wachsende Widerstand, den
Cromwell gerade in der Unterklasse gefunden hat und der ihn ganz
gegen seinen Willen in eine Militärdiktatur hineintrieb, und dann die
Volkstümlichkeit des zurückkehrenden Königtums beweisen, in welchem
Grade der Sturz der Dynastie über alle Zwistigkeiten in religiösen
Dingen hinaus durch ständische Interessen bewirkt war.

Als Karl I. hingerichtet wurde, kam es auch in Paris zum Aufstand,
der die königliche Familie zur Flucht zwang. Man baute Barrikaden
und rief die Republik aus. Wäre der Kardinal von Retz Cromwell
ähnlicher gewesen, so war ein Sieg der Ständepartei über Mazarin wohl
möglich. Aber der Ausgang dieser großen abendländischen Krise ist
durchaus vom Gewicht und Schicksal weniger Persönlichkeiten bestimmt
und gestaltete sich deshalb so, daß in England +allein+ die im
Parlament vertretene Fronde den Staat und das Königtum ihrer Führung
unterwarf und diesen Zustand in der „glorreichen Revolution“ von
1688 dauernd begründet hat, so daß heute noch wesentliche Teile des
alten Normannenstaates zu Recht bestehen. In Frankreich und Spanien
siegte das Königtum unbedingt. In Deutschland wurde im westfälischen
Frieden für die große Fronde der Reichsfürsten gegen den Kaiser das
englische, für die kleine Fronde den Landesfürsten gegenüber das
französische Verhältnis durchgesetzt. Im Reich regieren die Stände,
in deren Gebieten die Dynastie. Von da an war das Kaisertum wie das
englische Königtum ein Name, umgeben mit Resten des spanischen Prunks
aus dem frühen Barock; die Einzelfürsten und ebenso die führenden
Familien der englischen Aristokratie erlagen dem Vorbild von Paris,
und ihr Absolutismus kleinen Formats ist der Träger des Stils von
Versailles geworden, politisch wie sozial. Damit war zugleich der Sieg
des Hauses Bourbon über das Haus Habsburg entschieden, was schon im
Pyrenäenfrieden von 1659 vor aller Welt zum Ausdruck kam.

Mit dieser Epoche war der im Dasein jeder Kultur als Möglichkeit
angelegte Staat verwirklicht und eine Höhe des politischen Geformtseins
erreicht, die nicht mehr überboten, aber auch nicht lange aufrecht
erhalten werden konnte. Ein leiser herbstlicher Zug geht schon durch
die Zeit, als Friedrich der Große in Sanssouci Tafel hielt. Es sind die
Jahre, in welchen auch die großen Sonderkünste ihre letzte, zarteste,
geistigste Reife erlangen, neben den Rednern der athenischen Agora
Zeuxis und Praxiteles, neben dem Filigran der Kabinettsdiplomatie die
Musik von Bach und Mozart.

Diese Kabinettspolitik ist selbst eine hohe Kunst geworden, ein
artistischer Genuß für den, der seine Finger darin hatte, wundervoll
in ihrer Feinheit und Eleganz, höflich, raffiniert, unheimlich in
die Ferne wirkend, wo jetzt schon Rußland, die nordamerikanischen
Kolonien, selbst die indischen Staaten angesetzt werden, um an ganz
andern Punkten der Erde durch das bloße Gewicht einer überraschenden
Kombination Entscheidungen herbeizuführen. Es ist ein Spiel in strengen
Regeln mit eröffneten Briefen und geheimen Vertrauten, mit Allianzen
und Kongressen innerhalb eines Systems von Regierungen, das damals
schon mit tief bedeutendem Ausdruck das Konzert der Mächte genannt
worden ist, voller _noblesse_ und _esprit_, um die Worte der
Zeit zu gebrauchen, eine Art, Geschichte in Form zu halten, wie sie nie
und nirgends sonst auch nur denkbar ist.

In der abendländischen Welt, deren Einflußgebiet jetzt schon mit
der Erdoberfläche beinahe gleichbedeutend war, umfaßt die Zeit des
absoluten Staates kaum eineinhalb Jahrhunderte von 1660, wo im
Pyrenäenfrieden das Haus Bourbon über Habsburg triumphiert und die
Stuarts nach England zurückkehren, bis zu den Koalitionskriegen gegen
die französische Revolution, in denen London über Paris siegt, oder
dem Wiener Kongreß, auf welchem die alte Diplomatie des Blutes, nicht
des Geldes, der Welt zum letzten Male ein großes Schauspiel gab. Das
entspricht dem Zeitalter des Perikles in der Mitte zwischen erster und
zweiter Tyrannis, und dem Tschun-tsiu, „Frühling und Herbst“, wie die
Chinesen die Zeit zwischen den Protektoren und den „Kämpfenden Staaten“
nennen.

In dieser letzten Zeit vornehmer Politik in den Formen eines
Herkommens, das Abstand besitzt, werden die Höhepunkte dadurch
bezeichnet, daß die beiden habsburgischen Linien rasch nacheinander
aussterben, und die diplomatischen wie die kriegerischen Ereignisse
sich 1710 um die spanische, 1760 um die österreichische Erbfolge
drängen.[453] Es ist der Höhepunkt auch des genealogischen Prinzips.
_Bella gerant alii, tu felix Austria nube_ -- das war in der Tat
eine Fortsetzung des Krieges mit andern Mitteln. Das Wort ist einst mit
Beziehung auf Maximilian I. geprägt worden, aber das Prinzip erlangt
erst jetzt seine höchste Wirkung. Die Kriege der Fronde gehen in
Erbfolgekriege über, die im Kabinett beschlossen und mit kleinen Heeren
kavaliermäßig und nach strengen Regeln ausgefochten werden. Es handelt
sich um die Erbschaft der halben Welt, welche durch die habsburgische
Heiratspolitik des frühen Barock zusammengekommen war. Der Staat ist
noch immer fest in Form; der Adel ist loyal, Dienst- und Hofadel
geworden; er führt die Kriege der Krone und organisiert die Verwaltung.
Neben dem Frankreich Ludwigs XIV. entsteht in Preußen ein Meisterstück
staatlicher Organisation. Der Weg vom Kampfe des Großen Kurfürsten mit
seinen Ständen (1660) bis zum Tode Friedrichs des Großen, der Mirabeau
1786, drei Jahre vor dem Bastillesturm noch empfangen hat, ist genau
derselbe und hat zur Schöpfung eines Staates geführt, der wie der
französische in jedem Punkt das Gegenteil der englischen Gestaltung der
Dinge ist.

Denn es steht anders im Reich und in England, wo die Fronde siegreich
war und die Nation nicht absolut, sondern ständisch regiert wurde.
Aber es besteht der gewaltige Unterschied, daß hier das Inseldasein
den größten Teil der staatlichen Vorsorge ersetzte und der herrschende
erste Stand, die Peers im Oberhaus wie die Gentry die Größe
Englands als selbstverständliches Ziel ihren Handlungen zugrunde
legten, während im Reich die Oberschicht der Landesfürsten -- mit
dem Reichstag in Regensburg als Oberhaus -- bestrebt war, die von
ihnen beherrschten zufälligen Fragmente der Nation zu „Völkern“ zu
erziehen und deren zerstreute Vaterländer so schroff als möglich gegen
einander abzugrenzen. An Stelle des Welthorizonts, der zur Zeit der
Gotik vorhanden war, wurde hier ein Provinzhorizont in Tun und Denken
gezüchtet. Die Idee der Nation selbst verfiel dem Reich der Träume,
jener +andern+ Welt nicht der Rasse sondern der Sprache, nicht
des Schicksals sondern der Kausalität. Es entstand die Vorstellung und
endlich die Tatsache des Volkes der Dichter und Denker, das sich eine
Republik im Wolkenreiche der Verse und Begriffe gründete und zuletzt zu
dem Glauben kam, daß Politik in idealem Schreiben, Lesen und Reden und
nicht in Tat und Entschluß bestehe, so daß man sie noch heute mit dem
Ausdruck von Gefühlen und Gesinnungen verwechselt.

In England war in der Tat mit dem Sieg der Gentry und der Declaration
of rights von 1689 der Staat abgeschafft. Das Parlament hat damals
Wilhelm von Oranien als König eingesetzt und später Georg I. und II. an
der Abdankung verhindert, und zwar beides im Standesinteresse. Das noch
unter den Tudors ganz geläufige Wort _state_ kommt außer Gebrauch,
so daß man Ludwigs XIV.: „_L’état c’est moi_“ und Friedrichs des
Großen: „Ich bin der erste Diener meines Staates“ heute nicht mehr ins
Englische übersetzen kann. Dagegen bürgert sich _society_ ein
als Ausdruck dafür, daß die Nation ständisch, nicht staatlich in Form
ist, ein Wort, das mit bezeichnendem Mißverständnis von Rousseau und
überhaupt von den Rationalisten des Festlands übernommen wird, um dem
Haß des +dritten+ Standes gegen die Autorität zu dienen.[454] Aber
die Autorität ist in England als _government_ sehr nachdrücklich
ausgeprägt und sie wird +verstanden+. Ihr Mittelpunkt liegt seit
Georg I. in dem verfassungsmäßig gar nicht vorhandenen Kabinett als
dem regierenden Ausschuß der gerade herrschenden Adelsfaktion. Der
Absolutismus ist vorhanden, aber er ist der einer Standesvertretung.
Der Begriff der Majestätsbeleidigung wird auf das Parlament
übertragen, wie die Unverletzlichkeit der römischen Könige auf die
Tribunen. Auch das genealogische Prinzip ist da, aber es kommt in den
Familienbeziehungen innerhalb des hohen Adels zum Ausdruck, welche auf
die parlamentarische Lage einwirken. Im Familieninteresse der Cecils
hat 1902 Salisbury seinen Neffen Balfour an Stelle Chamberlains als
Nachfolger vorgeschlagen. Die Adelsfaktionen der Tories und Whigs
sondern sich immer deutlicher, und zwar sehr oft innerhalb derselben
Familie, nach dem Überwiegen des Macht- oder des Beutestandpunkts,
nach der höheren Wertschätzung von Grundbesitz also und von Geld[455],
was noch im 18. Jahrhundert innerhalb des höheren Bürgertums die
Begriffe _respectable_ und _fashionable_ entstehen läßt,
als zwei entgegengesetzte Auffassungen des Gentleman. Die staatliche
Sorge für alle ist unbedingt durch das Standesinteresse ersetzt, für
das der einzelne Freiheit in Anspruch nimmt -- das ist englische
Freiheit --, aber das Inseldasein und der Aufbau der _society_
haben Verhältnisse geschaffen, in welchen zuletzt jeder, +der dazu
gehört+, -- ein wichtiger Begriff in einer Standesdiktatur -- sein
Interesse in dem einer der beiden Adelsparteien vertreten findet.

Diese aus dem historischen Gefühl des abendländischen Menschen
entspringende Beständigkeit der letzten, tiefsten und reifsten Form ist
der Antike versagt. Die Tyrannis verschwindet. Die strenge Oligarchie
verschwindet. Der Demos, den die Politik des 6. Jahrhunderts als die
Summe aller einer Polis zugehörigen Menschen geschaffen hatte, bricht
in Adel und Nichtadel zerfallen in ungeregelten Stößen hervor und
beginnt einen Kampf, in den Staaten und +zwischen+ den Staaten, in
dem beide Parteien den Gegner auszurotten suchen, um nicht ausgerottet
zu werden. Als Sybaris noch im Zeitalter der Tyrannis 511 von den
Pythagoräern vernichtet wurde, wirkte das erste Ereignis dieser Art
erschütternd auf die ganze antike Welt. Selbst im fernen Milet legte
man Trauer an. Jetzt wird die Vertilgung einer Polis oder Partei so
gewöhnlich, daß sich feste Sitten und Methoden ausbilden, entsprechend
dem Schema der abendländischen Friedensschlüsse des späten Barock:
ob man die Bewohner tötet oder als Sklaven verkauft, ob man die
Häuser dem Erdboden gleichmacht oder als Beute austeilt. Der Wille
zum Absolutismus ist da und zwar seit den Perserkriegen überall, in
Rom und Sparta so gut wie in Athen, aber die +gewollte+ Enge der
Polis, des politischen Punktes, und die +gewollte+ Kurzfristigkeit
ihrer Ämter und Ziele machen eine geordnete Entscheidung darüber
unmöglich, wer „der Staat sein soll“.[456] Jener Meisterschaft der
mit Tradition gesättigten abendländischen Kabinettsdiplomatie tritt
hier ein Dilettantismus entgegen, der nicht im zufälligen Mangel an
Persönlichkeiten begründet ist -- die waren vorhanden -- sondern allein
in der politischen Form. Der Weg dieser Form von der ersten zur zweiten
Tyrannis ist unverkennbar und entspricht ganz der Entwicklung in allen
Spätzeiten, aber der spezifisch antike Stil ist die Unordnung, der
Zufall, wie es in diesem am Augenblick haftenden Leben nicht anders
sein kann.

Das wichtigste Beispiel dafür ist die Entwicklung Roms während des
5. Jahrhunderts, die bis jetzt auch deshalb so umstritten geblieben
ist, weil man in ihr eine Beständigkeit suchte, die hier wie in allen
antiken Staaten gar nicht vorhanden sein kann. Es kommt dazu, daß
man diese Entwicklung wie etwas ganz Primitives behandelt, während
in Wirklichkeit die Stadt der Tarquinier schon sehr fortgeschrittene
Zustände besessen haben muß und das primitive Rom viel weiter
zurückliegt. Die Verhältnisse des 5. Jahrhunderts sind klein gegenüber
der Zeit Cäsars, aber nicht altertümlich. Allein da die schriftliche
Überlieferung mangelhaft war -- wie überall außer in Athen --, so hat
der literarische Geschmack seit den punischen Kriegen die Lücken mit
Dichtung ausgefüllt und zwar, wie das in der Zeit des Hellenismus
nicht anders zu erwarten ist, mit idyllischer Altertümelei; man denke
an Cincinnatus. Die moderne Forschung glaubt nichts mehr von diesen
Geschichten, aber sie steht unter dem Eindruck des Geschmacks, in dem
sie erfunden sind, und verwechselt ihn mit den Zeitumständen, um so
mehr, als griechische und römische Geschichte wie zwei getrennte Welten
behandelt werden und man nach schlechter Gewohnheit den Anfang der
Geschichte mit dem Anfang der gesicherten Kunde von ihr gleichsetzt.
Aber die Zustände von 500 v. Chr. sind nichts weniger als homerisch.
Rom war unter den Tarquiniern, wie der Umfang der Mauern beweist, neben
Kapua die größte Stadt Italiens und größer als das themistokleische
Athen.[457] Eine Stadt, mit der Karthago Handelsverträge schließt, ist
keine Bauerngemeinde. Aber daraus folgt, daß die Bevölkerung der vier
städtischen Tribus von 471 sehr stark und vielleicht größer gewesen ist
als die der sechzehn räumlich unbedeutenden Landtribus zusammen.

Der große Erfolg des Grundadels, der im Sturz der sicherlich sehr
volkstümlichen Tyrannis und in der Aufrichtung einer unumschränkten
Senatsherrschaft lag, ist durch eine Gruppe gewaltsamer Ereignisse um
471 wieder vernichtet worden: den Ersatz der Geschlechtertribus durch
die vier großen Stadtbezirke, deren Vertretung durch Tribunen, die
sakrosankt sind, also ein Königsrecht besitzen, das keinem einzigen der
adligen Verwaltungsämter zukommt, endlich die Befreiung der kleinen
Bauernschaft aus der Klientel des Adels.

Das Tribunat ist die glücklichste Schöpfung dieser Zeit und damit der
antiken Polis überhaupt. Es ist +die Tyrannis zum integrierenden
Bestandteil der Verfassung erhoben+ und zwar +neben+ den
oligarchischen Ämtern, die sämtlich fortbestehen. Aber damit ist
auch die soziale Revolution in +gesetzmäßige Formen+ geleitet,
und während sie sich überall sonst in wilden Stößen entlud, ist sie
hier zu einem Kampf auf dem Forum geworden, der sich im allgemeinen in
den Grenzen von Redestreit und Abstimmung hielt. Man brauchte keinen
Tyrannen auszurufen, denn er war da. Der Tribun besitzt Hoheitsrechte,
kein Amtsrecht, und er konnte vermöge seiner Unverletzlichkeit
revolutionäre Akte vollziehen, die in jeder andern Polis ohne
Straßenkämpfe nicht denkbar waren. Diese Schöpfung ist ein Zufall,
aber kein anderer hat den Aufstieg Roms in gleichem Grade unterstützt.
Hier allein hat sich der Übergang von der ersten zur zweiten Tyrannis
und die fernere Entwicklung noch über Zama hinaus ohne Katastrophen
vollzogen, wenn auch nicht ohne Erschütterung. Der Tribun leitet von
den Tarquiniern zu den Cäsaren hinüber. Mit der lex Hortensia von 287
wird er allmächtig: +Es ist die zweite Tyrannis in verfassungsmäßiger
Form.+ Im 2. Jahrhundert haben die Tribunen Konsuln und Censoren
verhaften lassen. Die Gracchen waren Tribunen, Cäsar übernahm das
beständige Tribunat, und im Prinzipat des Augustus ist diese Würde der
wesentliche Bestandteil, der einzige, der ihm Hoheitsrechte verleiht.

Die Krise von 471 war allgemein antik und richtete sich gegen die
Oligarchie, die auch jetzt noch innerhalb des von der Tyrannis
geschaffenen Demos, der Gesamtheit aller Zugehörigen, den Ausschlag
geben wollte. Es ist nicht mehr die Oligarchie als Stand gegenüber dem
Nichtstand wie zur Zeit Hesiods, sondern +als Partei gegenüber einer
zweiten+ und zwar innerhalb des absoluten Staates, der schlechthin
gegeben war. In Athen erfolgte 487 der Sturz der Archonten und die
Übertragung ihrer Rechte an das Strategenkollegium.[458] 461 wurde
der dem Senat entsprechende Areopag gestürzt. Auf Sizilien, das mit
Rom in engem Verkehr stand, siegte die Demokratie 471 in Akragas, 465
in Syrakus, 461 in Rhegion und Messana. In Sparta haben die Könige
Kleomenes (488) und Pausanias (470) vergeblich versucht, die Heloten,
römisch gesprochen die Klientel, zu befreien und damit dem Königtum
selbst den oligarchischen Ephoren gegenüber die Bedeutung des römischen
Tribunats zu geben. Hier fehlt wirklich, was die Forschung in Rom nur
übersieht, die Bevölkerung einer Verkehrsstadt, die solchen Bewegungen
die Führung und die Wucht gibt, und daran ist endlich auch der große
Helotenaufstand von 464 gescheitert, nach welchem vielleicht die
römische Legende von einer Auswanderung der Plebs auf den heiligen Berg
erfunden worden ist.

In einer Polis fallen Landadel und städtisches Patriziat zusammen
-- das ist, wie wir sahen, der Zweck des Synoikismos -- Bürger und
Bauern aber nicht. Diese sind im Kampf gegen die Oligarchie +eine
einzige+ Partei, die demokratische nämlich, abgesehen davon aber
sind es +zwei+. Das kommt in der nächsten Krise zum Ausdruck, in
welcher das römische Patriziat um 450 seine Macht +als Partei+
wieder herzustellen versucht. Denn so hat man die Einsetzung von
Dezemvirn zu verstehen, mit welcher das Tribunat fortfiel, das
Zwölftafelrecht, in welchem der eben erst zum politischen Dasein
gelangten Plebs Conubium und Commercium versagt wurden, und vor allem
die Schaffung der kleinen Landtribus, in denen der Einfluß der alten
Geschlechter nicht rechtlich, aber tatsächlich vorherrschte, und die
in den Tributkomitien, die jetzt neben die früheren Zenturiatkomitien
traten, die unbedingte Stimmenmehrheit besaßen: 16 gegen 4. Damit war
die Bürgerschaft durch das Bauerntum entrechtet, und das war sicherlich
ein Schachzug der patrizischen Partei, welche die von ihr geteilte
Abneigung des Landes gegen die Geldwirtschaft der Stadt in einem
gemeinsamen Schlage wirksam machte.

Die Gegenwirkung erfolgte rasch und ist in der Zehnzahl von Tribunen
erkennbar, welche nach dem Rücktritt der Dezemvirn erscheinen,[459]
aber von diesem Ereignis sind der Tyrannisversuch des Sp. Maelius
(439), die Einsetzung von Konsulartribunen durch das Heer an Stelle der
Zivilbeamten (438) und die lex Canuleja (445), welche das Verbot des
Conubiums zwischen Patriziern und Plebejern wieder aufhob, nicht zu
trennen.

Daß es damals in Rom Faktionen unter Patriziern wie Plebejern gegeben
hat, welche den Grundzug der römischen Polis, das Gegenüber von
Senat und Tribunat antasten und je nachdem eine der beiden Größen
beseitigen wollten, kann gar nicht zweifelhaft sein, aber diese Form
war so glücklich geraten, daß sie nie ernsthaft in Frage gestellt
worden ist. Mit der vom Heere durchgesetzten Zulassung der Plebs zum
höchsten Staatsamt (399) nahm der Kampf eine ganz andere Richtung.
Man kann das 5. Jahrhundert innerpolitisch als das des Ringens um die
gesetzmäßige Tyrannis bezeichnen; von da an ist die polare Ordnung
anerkannt und die Parteien kämpfen nicht mehr um die Aufhebung,
sondern um die Eroberung der großen Ämter. Das ist der Inhalt der
Revolution zur Zeit der Samnitenkriege. Mit dem Jahre 287 hat die
Plebs den Zutritt zu +allen+ Ämtern erlangt, und die von ihr
genehmigten Anträge der Tribunen erhalten ohne weiteres Gesetzeskraft;
andrerseits ist es von da an dem Senat praktisch immer möglich,
wenigstens einen der Tribunen, etwa durch Bestechung, zur Interzession
zu veranlassen und damit die Macht der Institution aufzuheben. In dem
+Ringen zweier Kompetenzen+ hat sich das juristische Feingefühl
der Römer entwickelt. Während anderswo die Entscheidungen mit Fäusten
und Knütteln üblich wurden -- der technische Ausdruck dafür ist
Cheirokratie -- gewöhnte man sich in der klassischen Zeit des römischen
Staatsrechts, dem 4. Jahrhundert, an den Wettstreit der Begriffe
und Interpretationen, in welchem die leiseste Unterscheidung im
gesetzlichen Wortlaut den Ausschlag geben konnte.

Aber mit diesem Gleichgewicht von Senat und Tribunat stand Rom in der
Antike ganz allein. Überall sonst gab es nicht ein Mehr oder Weniger,
sondern ein Entweder-Oder, nämlich zwischen Oligarchie und Ochlokratie.
Die absolute Polis und die mit ihr identische Nation waren gegeben,
aber von inneren Formen stand nichts fest. Der Sieg einer Partei führte
zur Beseitigung auch aller Institutionen der andern, und man gewöhnte
sich daran, nichts für so ehrwürdig oder zweckmäßig zu halten, daß es
über dem Kampf des Tages stünde. Sparta war, wenn man so sagen darf, in
senatorischer, Athen in tribunizischer Form, und die Alternative war zu
Beginn des peloponnesischen Krieges (431) derart zur festen Meinung
geworden, daß es andre als radikale Lösungen nicht mehr gab.

Damit war die Zukunft Roms gesichert. Es war der einzige Staat, in
dem die politische Leidenschaft sich gegen Personen, nicht mehr gegen
Institutionen richtete, der einzige, welcher fest in Form war --
_senatus populusque Romanus_, +das heißt Senat und Tribunat+,
ist die eherne Form, die keine Partei mehr angreift -- während alle
andern durch die Grenzen ihrer Machtentfaltung innerhalb der antiken
Staatenwelt aufs neue beweisen, daß Innenpolitik lediglich da ist, um
Außenpolitik möglich zu machen.


12

An diesem Punkte, wo die Kultur im Begriff ist, Zivilisation zu werden,
greift der Nichtstand entscheidend in die Ereignisse ein und zwar zum
ersten Male als selbständige Macht. Unter der Tyrannis und Fronde
hatte der Staat ihn gegen die eigentlichen Stände zu Hilfe gerufen und
er hatte sich erst damit als Macht fühlen gelernt. Jetzt verwendet
er diese Macht +für sich+ und zwar als Stand der Freiheit gegen
den Rest, und er sieht im absoluten Staate, in der Krone, in den
starken Institutionen die natürlichen Verbündeten der Urstände und die
eigentlichen und letzten Vertreter der sinnbildlichen Tradition. Das
ist der Unterschied zwischen erster und zweiter Tyrannis, zwischen
Fronde und bürgerlicher Revolution, zwischen Cromwell und Robespierre.

Der Staat mit seinen großen Forderungen an jeden einzelnen wird von
der städtischen Vernunft als Last empfunden, genau wie man eben jetzt
die großen Formen der Barockkünste als Last zu empfinden beginnt
und klassisch oder romantisch, das heißt schwächlich in der Form
oder formlos wird; die deutsche Literatur seit 1770 ist eine einzige
Revolution starker Einzelpersönlichkeiten gegen die strenge Poesie;
das „In Form sein für etwas“ der ganzen Nation wirkt unerträglich,
weil es der Einzelne innerlich selbst nicht mehr ist. Das gilt von der
Sitte, das gilt in den Künsten und im Gedankenbau, das gilt vor allem
in der Politik. Das Kennzeichen jeder bürgerlichen Revolution, als
deren Ort ausschließlich die große Stadt erscheint, ist der Mangel an
Verständnis für die alten Symbole, an deren Platz jetzt handgreifliche
Interessen treten und sei es auch nur der Wunsch begeisterter Denker
und Weltverbesserer, ihre Begriffe verwirklicht zu sehen. Wert
hat nur noch, was sich vor der Vernunft rechtfertigen läßt; aber
ohne die Höhe einer Form, die durch und durch symbolisch und eben
deshalb in metaphysischer Weise wirksam ist, verliert das nationale
Leben die Kraft, sich inmitten der geschichtlichen Daseinsströme zu
behaupten. Man verfolge die verzweifelten Versuche der französischen
Regierung, das Land in Form zu halten, die unter dem beschränkten
Ludwig XVI. von einer ganz kleinen Zahl fähiger und vorausblickender
Männer unternommen wurden, nachdem die äußere Lage sich durch den
Tod von Vergennes sehr ernst gestaltet hatte (1787). Mit dem Tode
dieses Diplomaten scheidet Frankreich auf Jahre aus den politischen
Kombinationen Europas aus; gleichzeitig bleibt die großartige Reform,
welche die Krone trotz aller Widerstände durchgeführt hat, vor allem
die allgemeine Verwaltungsreform dieses Jahres auf der Grundlage
freiester Selbstverwaltung, vollkommen unwirksam, weil für die Stände
angesichts der Nachgiebigkeit des Staates plötzlich die Machtfrage
in den Vordergrund rückte.[460] Ein europäischer Krieg nahte wie ein
Jahrhundert vorher und nachher mit unerbittlicher Notwendigkeit, der
dann in Form der Revolutionskriege zur Entwicklung gekommen ist, aber
niemand beachtete mehr die äußere Lage. Der Adel als Stand hat selten,
das Bürgertum als Stand aber nie außenpolitisch und weltgeschichtlich
gedacht: ob der Staat in einer neuen Form sich unter den andern Staaten
überhaupt noch halten kann, danach fragt man nicht; ob er die „Rechte“
sichert, ist alles.

Aber das Bürgertum, der Stand der städtischen „Freiheit“, so stark auch
sein Standesgefühl auf mehrere Generationen hin blieb, in Westeuropa
noch über die Märzrevolution hinaus, war durchaus nicht immer Herr
seiner Handlungen. Denn zunächst trat in jeder kritischen Lage der
Umstand hervor, daß diese Einheit +negativ+ und nur in Momenten
des Widerstandes gegen irgend etwas Andres wirklich vorhanden war
-- dritter Stand und Opposition sind beinahe identisch --, daß aber
überall da, wo etwas Eignes aufgebaut werden sollte, die Interessen
der einzelnen Gruppen weit auseinandergingen. Frei sein von etwas --
das wollten alle; aber der Geist wollte den Staat als Verwirklichung
der „Gerechtigkeit“ gegenüber der Gewalt geschichtlicher Tatsachen
oder der allgemeinen Menschenrechte oder der kritischen Freiheit
gegenüber der herrschenden Religion; das Geld wollte freie Bahn für
den geschäftlichen Erfolg. Es gab sehr viele, die Ruhe und Verzicht
auf geschichtliche Größe verlangten oder Achtung vor mancher Tradition
und ihren Verkörperungen, von denen sie -- leiblich oder seelisch --
lebten. Aber dazu kam von hier an ein Element, das in den Kämpfen der
Fronde und also der englischen Revolution und der ersten Tyrannis
noch gar nicht vorhanden war, nun aber eine Macht darstellte: das
was man in allen Zivilisationen eindeutig als Hefe, Mob oder Pöbel
bezeichnet. In den großen Städten, die jetzt allein entscheiden --
das flache Land kann höchstens zu vollzogenen Ereignissen Stellung
nehmen, wie das ganze 19. Jahrhundert beweist[461] -- sammelt sich
eine Masse wurzelloser Bevölkerungsteile an, die außerhalb jeder
gesellschaftlichen Bindung stehen. Sie fühlen sich weder einem
Stande zugehörig noch einer Berufsklasse -- im innersten Herzen auch
nicht der wirklichen Arbeiterklasse, obwohl sie zur Arbeit gezwungen
sind; dem Instinkt nach gehören Glieder aller Stände und Klassen
dazu, entwurzeltes Bauernvolk, Literaten, ruinierte Geschäftsleute,
vor allem aus der Bahn geratener Adel, wie die Zeit Katilinas mit
erschreckender Deutlichkeit gezeigt hat. Ihre Macht übersteigt bei
weitem ihre Zahl, denn sie sind immer am Platze, immer in der Nähe
der großen Entscheidungen, zu allem bereit und ohne jede Achtung vor
irgend etwas Geordnetem und sei es selbst die Ordnung innerhalb einer
Revolutionspartei. Sie erst geben den Ereignissen die vernichtende
Gewalt, welche die französische von der englischen Revolution und die
zweite von der ersten Tyrannis unterscheidet. Das Bürgertum wehrt sich
mit wahrer Angst gegen diese Menge, von der es sich unterschieden sehen
will -- einem dieser Abwehrakte, dem 13. Vendémiaire, verdankt Napoleon
seinen Aufstieg -- aber die Grenze läßt sich im Gedränge der Tatsachen
nicht ziehen und überall, wo das Bürgertum seine im Verhältnis zur Zahl
geringe Stoßkraft gegen die älteren Ordnungen ansetzt, gering, weil
die innere Einheit in jedem Augenblick auf dem Spiele steht, hat sich
diese Masse in seine Reihen und an die Spitze gedrängt, die Erfolge
zum weitaus größten Teil erst entschieden und die gewonnene Stellung
sehr oft für sich zu behaupten gewußt, und zwar häufig mit der ideellen
Unterstützung durch die Gebildeten, welche das Begriffliche daran
fesselte, oder der materiellen durch die Mächte des Geldes, welche die
Gefahr von sich auf Adel und Priestertum ablenkten.

Aber diese Epoche hat auch noch die Bedeutung, daß zum ersten Mal
die abstrakten Wahrheiten in den Bereich der Tatsachen einzugreifen
suchen. Die Hauptstädte sind so groß geworden und der städtische Mensch
so überlegen in seinem Einfluß auf das Wachsein der gesamten Kultur
-- +dieser Einfluß heißt öffentliche Meinung+ --, daß die Mächte
des Blutes und der im Blut liegenden Tradition in ihrer bis dahin
unangreifbaren Stellung erschüttert werden. Denn man bedenke, daß
gerade der Barockstaat und die absolute Polis in der letzten Vollendung
ihrer Form durch und durch lebendiger Ausdruck einer +Rasse+ sind,
und die Geschichte, so wie sie sich in dieser Form vollzieht, den
vollkommenen Takt dieser Rasse besitzt. Wenn es hier eine Staatstheorie
gibt, so ist sie aus den Tatsachen abgezogen und beugt sich vor deren
Größe. Die Idee des Staates hatte endlich das Blut der ersten Stände
gebändigt und ganz, ohne Rest, in ihren Dienst gestellt. Absolut -- das
bedeutet, daß der große Daseinsstrom +als Einheit+ in Form ist, +eine+
Art von Takt und Instinkt besitzt, möge er als diplomatischer oder
strategischer Takt, als vornehme Sitte oder als erlesener Geschmack an
Künsten und Gedanken in Erscheinung treten.

Im Widerspruch zu dieser großen Tatsache breitet sich nun der
Rationalismus aus, jene +Wachseinsgemeinschaft der Gebildeten+,[462]
deren Religion in Kritik besteht und deren Numina nicht Gottheiten
sind, sondern Begriffe. Jetzt gewinnen Bücher und allgemeine Theorien
Einfluß auf die Politik, im China des Laotse wie im sophistischen Athen
und zur Zeit Montesquieus, und die von ihnen gestaltete öffentliche
Meinung tritt als politische Größe von ganz neuer Art der Diplomatie
in den Weg. Es würde eine sinnlose Annahme sein, daß Peisistratos oder
Richelieu oder selbst Cromwell ihre Entschlüsse unter der Einwirkung
abstrakter Systeme gefaßt hätten, aber seit dem Sieg der Aufklärung ist
das der Fall.

Allerdings ist die geschichtliche Rolle der großen zivilisierten
Begriffe sehr verschieden von der Beschaffenheit, die sie innerhalb
der gelehrten Ideologien selbst besitzen. Die Wirkung einer Wahrheit
ist immer ganz anders als ihre Tendenz. In der Tatsachenwelt sind
Wahrheiten nur +Mittel+, insofern sie die Geister beherrschen
und damit die Handlungen bestimmen. Nicht ob sie tief, richtig oder
auch nur logisch sind, sondern ob sie wirksam sind, entscheidet über
ihren geschichtlichen Rang. Ob man sie mißversteht oder überhaupt
nicht zu verstehen vermag, ist vollkommen gleichgültig. Das liegt in
der Bezeichnung +Schlagwort+. Was für die großen Frühreligionen
einige zum Erlebnis gewordene Symbole sind, wie das Heilige Grab für
die Kreuzfahrer oder die Substanz Christi für die Zeit des Konzils
von Nikäa, das sind zwei oder drei begeisternde Wortklänge für jede
zivilisierte Revolution. Allein die Schlagworte sind Tatsachen; der
Rest aller philosophischen oder sozialethischen Systeme kommt für die
Geschichte nicht in Betracht. Aber als solche sind sie für etwa zwei
Jahrhunderte Mächte ersten Ranges und erweisen sich stärker als der
Takt des Blutes, der innerhalb der steinernen Welt ausgebreiteter
Städte matt zu werden beginnt.

Aber -- der kritische Geist ist nur +eine+ der beiden Tendenzen,
die sich aus der ungeordneten Masse des Nichtstandes herausheben.
Neben den abstrakten Begriffen erscheint das abstrakte, von den
Urwerten des Landes abgelöste Geld, neben der Denkerstube das Kontor
als politische Macht. Beide sind innerlich verwandt und untrennbar.
Es ist der frühe Gegensatz von Priestertum und Adel, der mit
ungeminderter Schärfe innerhalb des Bürgertums in städtischer Fassung
fortbesteht.[463] Und zwar erweist sich das Geld als reine Tatsache
den idealen Wahrheiten unbedingt überlegen, die wie gesagt nur als
Schlagworte, als Mittel für die Tatsachenwelt vorhanden sind. Versteht
man unter Demokratie die Form, welche der dritte Stand als solcher
dem gesamten öffentlichen Leben zu geben wünscht, so muß hinzugefügt
werden, daß Demokratie und Plutokratie gleichbedeutend sind. Sie
verhalten sich wie der Wunsch zur Wirklichkeit, wie Theorie und
Praxis, wie die Erkenntnis zum Erfolg. Es ist das Tragikomische an dem
verzweifelten Kampf, den Weltverbesserer und Freiheitslehrer auch gegen
die Wirkung des Geldes führen, daß sie es eben damit unterstützen.
Zu den Standesidealen des Nichtstandes gehört sowohl die Achtung vor
der großen Zahl, wie sie in den Begriffen der Gleichheit aller, der
angebornen Rechte und weiterhin im Prinzip des allgemeinen Wahlrechts
zum Ausdruck kommt, als auch die Freiheit der öffentlichen Meinung,
vor allem die Preßfreiheit. Das sind Ideale, aber in Wirklichkeit
gehört zur Freiheit der öffentlichen Meinung die Bearbeitung dieser
Meinung, die Geld kostet, zur Preßfreiheit der Besitz der Presse,
der eine Geldfrage ist, und zum Wahlrecht die Wahlagitation, die von
den Wünschen des Geldgebers abhängig bleibt. Die Vertreter der Ideen
erblicken nur die eine Seite, die Vertreter des Geldes arbeiten mit
der andern. Alle Begriffe des Liberalismus und Sozialismus sind erst
durch Geld in Bewegung gesetzt worden und zwar im Interesse des Geldes.
Die Volksbewegung des Ti. Gracchus ist durch die Partei der großen
Geldleute, der _equites_, erst möglich gemacht worden und war zu
Ende, sobald diese den für sie vorteilhaften Teil der Gesetze gesichert
sah und sich zurückzog. Cäsar und Crassus haben die katilinarische
Bewegung finanziert und statt gegen den Besitz gegen die Senatspartei
gerichtet. In England stellten angesehene Politiker schon um 1700 fest,
„daß man an der Börse mit Wahlen wie mit Wertpapieren handle und daß
der Preis einer Stimme ebenso wohl bekannt sei wie der eines Morgens
Land.“[464] Als die Kunde von Waterloo nach Paris kam, stieg dort der
Kurs der französischen Rente: die Jakobiner hatten die alten Bindungen
des Blutes zerstört und damit das Geld emanzipiert; jetzt trat es
hervor und ergriff die Herrschaft über das Land.[465] Es gibt keine
proletarische, nicht einmal eine kommunistische Bewegung, die nicht,
ohne daß es den Idealisten unter ihren Führern irgend zum Bewußtsein
käme, im Interesse des Geldes wirkte, in welcher Richtung das Geld es
will und solange es will.[466] Der Geist denkt, das Geld lenkt: so
ist es die Ordnung aller ausgehenden Kulturen, seit die große Stadt
Herr über den Rest geworden ist. Und zuletzt ist das nicht einmal
ein Unrecht gegen den Geist. Er hat damit doch gesiegt, im Reich der
Wahrheiten nämlich, dem der Bücher und Ideale, das nicht von dieser
Welt ist. Seine Begriffe sind der beginnenden Zivilisation heilig
geworden. Aber das Geld siegt eben durch sie in +seinem+ Reich,
das +nur+ von dieser Welt ist.

Innerhalb der abendländischen Staatenwelt haben beide Seiten der
bürgerlichen Standespolitik, die ideale wie die reale, ihre hohe Schule
in England durchgemacht. Hier allein war es möglich, daß der dritte
Stand nicht gegen einen absoluten Staat vorzugehen brauchte, um ihn zu
zerstören und auf den Trümmern seine eigne Herrschaft aufzurichten,
sondern in die starke Form des ersten Standes hineinwuchs, wo er
eine ausgebildete Interessenpolitik vorfand und als deren Methode
eine Taktik von altem Herkommen, die er für seine eignen Zwecke
nicht vollkommener wünschen konnte. Hier ist der echte und gar nicht
nachzuahmende Parlamentarismus zu Hause, der ein Inseldasein statt
des Staates und die Gewohnheiten des ersten statt des dritten Standes
voraussetzt und außerdem den Umstand, daß diese Form noch im blühenden
Barock gewachsen ist, also Musik in sich hat. Der parlamentarische Stil
ist völlig identisch mit dem der Kabinettsdiplomatie;[467] auf dieser
+antidemokratischen+ Herkunft beruht das Geheimnis seiner Erfolge.

Aber ebenso sind die rationalistischen Schlagworte sämtlich auf
englischem Boden entstanden und zwar in enger Fühlung mit den
Grundsätzen der Manchesterlehre: Hume war der Lehrer von Adam
Smith. _Liberty_ bedeutet mit Selbstverständlichkeit geistige
+und+ geschäftliche Freiheit. In England ist der Gegensatz von
Tatsachenpolitik und Schwärmerei für abstrakte Wahrheiten ebenso
unmöglich, wie er im Frankreich Ludwigs XVI. unvermeidlich war.
Später konnte Edmund Burke gegen Mirabeau betonen: „Wir verlangen
unsere Freiheiten nicht als Menschenrechte, sondern als Rechte von
Engländern.“ Frankreich hat die revolutionären Ideen ohne jeden Rest
von England erhalten, wie es den Stil des absoluten Königtums von
Spanien empfing; es hat beiden eine glänzende und unwiderstehliche
Fassung gegeben, die weit über das Festland hin vorbildlich blieb, aber
auf die praktische Verwendung verstand es sich nicht. Die Ausnützung
der bürgerlichen Schlagworte[468] für den politischen Erfolg setzt den
Kennerblick einer vornehmen Klasse für die geistige Verfassung der
Schicht voraus, die jetzt zur Herrschaft kommen wollte, ohne herrschen
zu können, und ist deshalb in England ausgebildet worden; aber ebenso
die rücksichtslose Anwendung des Geldes in der Politik, nicht jene
Bestechung einzelner Persönlichkeiten von Rang, wie sie dem spanischen
und venezianischen Stil geläufig war, sondern die Bearbeitung der
demokratischen Mächte selbst. Hier sind während des 18. Jahrhunderts
erst die Parlamentswahlen und dann die Entschließungen des Unterhauses
planmäßig durch Geld geleitet worden,[469] und hier hat man mit dem
Ideal der Preßfreiheit zugleich auch die Tatsache entdeckt, daß die
Presse dem dient, der sie besitzt. Sie verbreitet nicht, sondern sie
erzeugt die „freie Meinung“.

Beides +zusammen+ ist liberal, frei nämlich von den Hemmungen
des erdverbundenen Lebens, seien es Rechte, Formen oder Gefühle,
der Geist frei für jede Art von Kritik, das Geld frei für jede Art
von Geschäft. Beides ist aber auch rücksichtslos auf die Herrschaft
eines +Standes+ gerichtet, der die Hoheit des Staates über sich
nicht anerkennt. Geist und Geld, anorganisch wie sie sind, wollen
den Staat nicht als gewachsene Form von großer Symbolik, die Achtung
fordert, sondern als Einrichtung, die einem Zweck dient. Darin liegt
der Unterschied von den Mächten der Fronde, die nur die gotische Art,
lebendig in Form zu sein, gegen die des Barock verteidigt haben, und
die jetzt, in die Verteidigung gedrängt, von dieser kaum noch zu
unterscheiden sind. Allein in England, das muß immer wieder betont
werden, hat die Fronde nicht nur den Staat in offenem Kampf, sondern
auch den dritten Stand durch innere Überlegenheit entwaffnet und
deshalb die einzige Art von demokratischem In-Form-sein erreicht, die
nicht entworfen oder nachgeahmt, sondern herangereift ist, Ausdruck
einer alten Rasse und eines ungebrochnen und sicheren Taktes, der mit
jedem neuen, durch die Zeit gegebenen Mittel fertig zu werden weiß.
Deshalb hat das englische Parlament die Erbfolgekriege der absoluten
Staaten mitgeführt, aber als Wirtschaftskriege mit geschäftlichem
Endziel.

Das Mißtrauen gegen die hohe Form ist in dem innerlich formlosen
Nichtstand so groß, daß er immer und überall bereit gewesen ist, seine
Freiheit -- +von+ aller Form -- durch eine Diktatur zu retten,
die regellos und deshalb allem Gewachsenen feind ist, aber gerade
durch das Mechanisierende ihrer Wirksamkeit dem Geschmack von Geist
und Geld entgegenkommt; man denke an den Aufbau der französischen
Staatsmaschine, den Robespierre begonnen und Napoleon vollendet
hat. Die Diktatur im Interesse eines Standesideals haben Rousseau,
Saint Simon, Rodbertus und Lassalle ebenso gewünscht wie die antiken
Ideologen des 4. Jahrhunderts, Xenophon in der Kyrupädie und Isokrates
im Nikokles.[470]

In dem bekannten Satze Robespierres: „Die Regierung der Revolution
ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei“ kommt aber
auch die tiefe Furcht zum Ausdruck, die jede Menge befällt, welche
sich im Angesicht ernster Ereignisse nicht sicher in Form fühlt.
Eine in ihrer Disziplin erschütterte Truppe räumt den Führern des
Zufalls und Augenblicks freiwillig eine Macht ein, die der legitimen
Führung weder dem Umfang noch dem Wesen nach erreichbar ist und
als legitim auch gar nicht ertragen werden könnte. Aber das, ins
Große übertragen, ist die Lage zu Beginn jeder Zivilisation. Nichts
ist für das Sinken der politischen Form bezeichnender als +die
Heraufkunft formloser Gewalten+, die man nach ihrem berühmtesten
Fall als +Napoleonismus+ bezeichnen kann. Wie vollständig war
noch das Dasein Richelieus und Wallensteins in das unerschütterliche
Herkommen ihrer Zeit gebunden! Wie formvoll ist die englische
Revolution gerade unter der Decke äußerer Unordnung! Hier steht
es umgekehrt. Die Fronde kämpft +um+ die Form, der absolute
Staat +in+ ihr, das Bürgertum +gegen+ sie. Nicht daß eine
verjährte Ordnung zertrümmert wird, ist neu. Das haben Cromwell
und die Häupter der ersten Tyrannis auch getan. Sondern daß hinter
den Ruinen der sichtbaren keine unsichtbare Form mehr steht, daß
Robespierre und Bonaparte nichts um sich und in sich finden, was die
+selbstverständliche+ Grundlage jeder Neugestaltung bleibt,
daß statt einer Regierung der großen Tradition und Erfahrung ein
Zufallsregiment unvermeidlich wird, dessen Zukunft nicht mehr durch
die Eigenschaften einer langsam herangezüchteten Minderheit gesichert
ist, sondern ganz davon abhängt, ob sich gerade ein Nachfolger von
Bedeutung findet -- das kennzeichnet diese Zeitwende und gibt den
Staaten, die sich eine Tradition länger als andere zu erhalten wissen,
auf Generationen hin ihre ungeheure Überlegenheit.

Die erste Tyrannis hatte mit Hilfe des Nichtadels die Polis vollendet;
der Nichtadel hat sie mit Hilfe der zweiten Tyrannis zerstört. Mit
der bürgerlichen Revolution des vierten Jahrhunderts geht sie als Idee
zugrunde, mochte sie als Einrichtung, als Gewohnheit, als Werkzeug der
jeweiligen Gewalt auch fortbestehen. Der antike Mensch hat niemals
aufgehört, in ihrer Form politisch zu denken und zu leben, aber ein mit
heiliger Scheu verehrtes Sinnbild war sie für die Menge nicht mehr, so
wenig wie die abendländische Monarchie von Gottes Gnaden, seit Napoleon
nahe daran gewesen war, „seine Dynastie zur ältesten von Europa zu
machen“.

Auch in dieser Revolution gibt es wie immer in der Antike nur örtliche
und augenblickliche Lösungen, nichts wie der prachtvolle Bogen, in
dem die französische Revolution mit dem Bastillesturm aufsteigt
und bei Waterloo endet; und die Szenen sind um so grauenvoller,
als das euklidische Grundgefühl dieser Kultur nur ganz körperhafte
Zusammenstöße der Parteien und statt der funktionalen Einordnung der
unterlegenen in die siegreiche nur deren Ausrottung möglich erscheinen
läßt. In Korkyra (427) und Argos (370) wurden die Besitzenden in Masse
erschlagen, in Leontinoi (422) trieben diese die Unterklasse aus der
Stadt und wirtschafteten mit Sklaven, bis sie aus Furcht vor einer
Rückkehr die Stadt überhaupt preisgaben und nach Syrakus übersiedelten.
Die Flüchtlinge aus Hunderten solcher Revolutionen überschwemmten alle
antiken Städte, füllten die Söldnerheere der zweiten Tyrannis und
machten die Landstraßen und Meere unsicher. Unter den Friedensgeboten
der Diadochen und später der Römer erscheint beständig die
Wiederaufnahme der vertriebenen Volksteile. Aber die zweite Tyrannis
stützte sich selbst auf Akte dieser Art. Dionysios I. (405-367)
sicherte sich die Herrschaft über Syrakus, dessen vornehme Gesellschaft
vor und neben der attischen der Mittelpunkt reifster hellenischer
Kultur war -- hier hat Aischylos um 470 seine Persertrilogie aufgeführt
--, durch Massenhinrichtung der Gebildeten und Beschlagnahme aller
Vermögen. Er hat dann die Einwohnerschaft ganz neu aufgebaut, oben
durch Verleihung des großen Besitzes an seine Anhänger, unten durch
Massenaufnahme von Sklaven, unter welche -- wie anderswo -- die Frauen
und Töchter der ausgerotteten Oberschicht verteilt wurden, in den
Bürgerstand.[471]

Es ist wieder für die Antike bezeichnend, daß der Typus dieser
Revolutionen nur eine Vergrößerung ihrer Zahl, nicht ihres Umfangs
gestattet. Sie treten in Masse auf, aber jede entwickelt sich
vollkommen für sich und an einem Punkte, und nur die Gleichzeitigkeit
aller gibt ihnen den Charakter einer Gesamterscheinung, die Epoche
macht. Dasselbe gilt vom Napoleonismus, mit dem sich zum ersten Mal
ein formloses Regiment über das Gefüge des Stadtstaates erhebt, ohne
sich innerlich ganz von ihm befreien zu können. Er stützt sich auf
das Heer, das sich gegenüber der außer Form geratenen Nation als
selbständige politische Größe zu fühlen beginnt. Das ist der kurze Weg
von Robespierre zu Bonaparte; mit dem Sturz der Jakobiner geht das
Schwergewicht von der Zivilverwaltung auf die ehrgeizigen Generale
über. Wie tief dieser neue Geist in alle Staaten des Abendlandes
eingedrungen war, zeigt neben der Laufbahn Bernadottes und Wellingtons
die Geschichte des Aufrufs „An mein Volk“ von 1813; hier wurde von
militärischer Seite die Fortdauer der Dynastie in Frage gestellt, falls
der König sich nicht zum Bruch mit Napoleon entschließe.

Die zweite Tyrannis kündigt sich denn auch an mit der die innere Form
der Polis aufhebenden Stellung, welche Alkibiades und Lysander gegen
Ende des peloponnesischen Krieges im Heer ihrer Stadt einnahmen. Der
erste übte seit 411, obwohl verbannt und also ohne Amt und gegen den
Willen der Heimat die tatsächliche Herrschaft über die athenische
Flotte aus; der zweite, der nicht einmal Spartiat war, fühlte sich im
Kommando eines ihm persönlich ergebenen Heeres vollkommen unabhängig.
Im Jahre 408 hatte sich der Kampf zweier Mächte in den zweier Männer
um die Herrschaft über die ägäische Staatenwelt entwickelt.[472] Bald
darauf hat Dionys von Syrakus dem antiken Krieg durch die Ausbildung
der ersten großen Berufsarmee -- er hat auch die Kriegsmaschinen und
Geschütze eingeführt[473] -- eine neue, auch für die Diadochen und
Römer vorbildliche Form gegeben. Von nun an ist der Geist des Heeres
eine politische Macht für sich und es wird eine sehr ernste Frage, bis
zu welchem Grade der Staat Herr oder Werkzeug der Soldaten ist. Daß die
Regierung Roms 390-367[474] ausschließlich von einem Militärausschuß
geführt wurde,[475] verrät eine Sonderpolitik des Heeres deutlich
genug. Es ist bekannt, daß Alexander, der Romantiker der zweiten
Tyrannis, in zunehmende Abhängigkeit vom Willen seiner Soldaten und
Generale geriet, die nicht nur den Rückzug aus Indien erzwangen,
sondern auch mit Selbstverständlichkeit über seinen Nachlaß verfügt
haben.

Das gehört zum Wesen des Napoleonismus, und ebenso die Ausdehnung
der +persönlichen+ Herrschaft über Gebiete, deren Einheit weder
nationaler noch rechtlicher, sondern lediglich militärischer und
verwaltungstechnischer Natur ist. Aber gerade diese Ausdehnung ist mit
dem Wesen der Polis unvereinbar. Der antike Staat ist der einzige,
der keiner organischen Erweiterung fähig ist, und die Eroberungen
der zweiten Tyrannis führen deshalb zu einem +Nebeneinander+
von zwei politischen Einheiten, der Polis und dem unterworfenen
Gebiet, deren Zusammenhang zufällig und immer gefährdet bleibt. So
entsteht das merkwürdige und in seiner tieferen Bedeutung noch gar
nicht erkannte Bild der hellenistisch-römischen Welt: ein Kreis
von +Randgebieten+ und mitten darin das Gewimmel der winzigen
Poleis, mit denen der Begriff des eigentlichen Staates, der _res
publica_, ausschließlich verbunden bleibt. In dieser Mitte, und zwar
für jede dieser Herrschaften in einem einzigen Punkt, befindet sich
der Schauplatz aller wirklichen Politik. Der _orbis terrarum_
-- ein sehr bezeichnender Ausdruck -- ist lediglich ihr Mittel oder
Objekt. Die römischen Begriffe des _imperium_, der diktatorischen
Amtsgewalt jenseits des Stadtgrabens, die mit dem Überschreiten
des _pomerium_ sofort erlischt, und der _provincia_ als
Gegensatz zur _res publica_, entsprechen einem allgemein antiken
Grundgefühl, das nur den Körper der Stadt als Staat und politisches
Subjekt und in bezug auf ihn ein „draußen“ als Objekt kennt. Dionys
hat das festungsartig ausgebaute Syrakus „mit einem Trümmerfeld von
Staaten umgeben“ und sein Machtgebiet von hier aus über Unteritalien
und die dalmatische Küste bis in die nördliche Adria ausgedehnt, wo
er Ankona und Hatria an der Pomündung besaß. Den umgekehrten Plan
führte Philipp von Makedonien nach dem Vorbilde seines Lehrmeisters,
des 370 ermordeten Jason von Pherä, aus: den Schwerpunkt in das
Randgebiet, das heißt praktisch in das Heer zu verlegen und von da
aus eine Vorherrschaft über die hellenische Staatenwelt auszuüben.
So wurde Makedonien bis zur Donau ausgedehnt, und nach dem Tode
Alexanders traten das Seleukiden- und das Ptolemäerreich hinzu, die
je von einer Polis aus -- Antiochia und Alexandria -- regiert wurden
und zwar vermittels der vorgefundenen einheimischen Verwaltung,
die immer noch besser war als irgend eine antike. Rom selbst hat
gleichzeitig (etwa 326-265) sein mittelitalisches Reich +wie einen
Randstaat+ ausgebaut und nach allen Seiten durch ein System von
Kolonien, Bundesgenossen und Gemeinden latinischen Rechts befestigt.
Dann haben seit 237 Hamilkar Barkas für das längst in antiken Formen
lebende Karthago das spanische Reich, C. Flaminius seit 225 für Rom
die Po-Ebene und endlich Cäsar sein gallisches Reich erobert. Auf
dieser Unterlage beruhen zuerst die napoleonischen Kämpfe der Diadochen
im Osten, dann die westlichen zwischen Scipio und Hannibal, die
ebenfalls beide den Schranken der Polis entwachsen waren, und endlich
die cäsarischen der Triumvirn, die sich auf die Summe +aller+
Randgebiete und ihre Mittel stützten, um „in Rom der erste zu sein“.


13

In Rom hat die starke und glückliche Form des Staates, wie sie um 340
erreicht war, die soziale Revolution in verfassungsmäßigen Grenzen
gehalten. Eine napoleonische Erscheinung wie der Censor von 310,
Appius Claudius, Erbauer der ersten Wasserleitung und der Via Appia,
der in Rom fast wie ein Tyrann herrschte, ist sehr bald mit dem
Versuch gescheitert, die Bauernschaft durch die großstädtische Masse
auszuschalten und damit die Politik in eine einseitig athenische
Richtung zu lenken. Denn das war der Zweck jener Aufnahme von
Sklavensöhnen in den Senat, der neuen Centurienordnung nach Geld
statt nach Grundbesitz[476] und der Verteilung der Freigelassenen und
Besitzlosen über alle Tribus, wo sie die selten zur Stadt kommenden
Landleute überstimmen sollten und jederzeit konnten. Schon die nächsten
Censoren haben diese Leute ohne Grundbesitz wieder in die vier großen
Stadttribus überschrieben. Der Nichtstand selbst, der durch eine
Minderheit angesehener Geschlechter gut geführt wurde, sah das Ziel,
wie schon erwähnt, nicht mehr in der Zerstörung, sondern der Eroberung
des senatorischen Verwaltungsorganismus. Er hat endlich den Zugang zu
allen Ämtern erzwungen, durch die lex Ogulnia von 300 sogar zu den
politisch wichtigen Priestertümern der Pontifices und Auguren und durch
den Aufstand von 287 die Rechtsgültigkeit der Plebiszite auch ohne
Genehmigung des Senats.

Das praktische Ergebnis dieser Freiheitsbewegung war gerade das
Gegenteil von dem, was Ideologen -- die es in Rom nicht gab -- erwartet
hätten. Der große Erfolg nahm dem Protest des Nichtstandes das Ziel und
damit diesem selbst, der abgesehen von der Opposition politisch ein
Nichts war, die treibende Kraft. Seit 287 war die Staatsform da, um mit
ihr politisch zu arbeiten, und zwar in einer Welt, in der nur noch die
großen Randstaaten Rom, Karthago, Makedonien, Syrien, Ägypten ernsthaft
zählten; sie hatte aufgehört, als Objekt von „Volksrechten“ in Gefahr
zu sein, und eben darauf beruht der Aufstieg des Volkes, das allein in
Form geblieben war.

Einerseits hatte sich innerhalb der formlosen und durch die
Massenaufnahme von Freigelassenen in ihren Rassetrieben längst
erschütterten Plebs[477] eine durch große praktische Fähigkeiten, Rang
und Reichtum ausgezeichnete Oberschicht gebildet, die sich mit einer
entsprechenden innerhalb des Patriziats zusammenschloß. So entsteht
im engsten Kreise eine starke Rasse von vornehmen Lebensgewohnheiten
und weitem politischen Horizont, in deren Mitte sich der ganze Schatz
von Erfahrungen der Regierung, Heerführung und Diplomatie sammelt
und vererbt, welche die Leitung des Staates als ihren einzigen
standesgemäßen Beruf und als ihr überkommenes Vorrecht betrachtet
und den Nachwuchs allein auf die Kunst des Befehlens hin und im Bann
einer maßlos stolzen Tradition heranzüchtet. Ihr verfassungsmäßiges
Werkzeug findet diese staatsrechtlich nicht vorhandene Nobilität im
Senat, der ursprünglich die Interessenvertretung der Patrizier, also
des „homerischen“ Adels gewesen war, in dem seit Mitte des vierten
Jahrhunderts aber die ehemaligen Konsuln -- Herrscher und Heerführer
zugleich -- als lebenslängliche Mitglieder einen geschlossenen Kreis
großer Begabungen bilden, der die Versammlung und durch sie den Staat
beherrscht. Schon dem Gesandten des Pyrrhus, Kineas, erschien der
Senat wie ein Rat von Königen (279), und endlich kommen die Titel
_princeps_ und _clarissimus_ auf für eine kleine Gruppe von
Führern in ihm, die nach Rang, Macht und Auftreten den Herrschern der
Diadochenreiche vollkommen ebenbürtig waren.[478] Es entsteht eine
Regierung, wie sie kein Großstaat in irgendeiner andern Kultur jemals
besessen hat, und eine Tradition, die höchstens unter ganz anders
gearteten Bedingungen in Venedig und in der päpstlichen Kurie während
des Barock ihresgleichen findet. Es gibt hier keine Theorie, woran
Athen zugrunde ging, keinen Provinzialismus, durch den Sparta zuletzt
verächtlich wurde, nur eine Praxis großen Stils. Wenn das Römertum eine
ganz einzige, wundervolle Erscheinung innerhalb der Weltgeschichte ist,
so verdankt es das nicht dem „römischen Volk“, das an sich ebenso ein
Rohstoff ohne Form war wie jedes andere, sondern dieser Klasse, die es
in Form brachte und mit oder gegen seinen Willen hielt, so daß dieser
Daseinsstrom, der noch um 350 kaum eine mittelitalische Bedeutung
hatte, allmählich die gesamte antike Geschichte in sein Bett gefaßt und
ihre letzte große Zeit zu einer +römischen+ gemacht hat.

Die Vollendung seines politischen Taktes beweist dieser kleine Kreis,
der keinerlei öffentliches Recht besaß, in der Handhabung der von der
Revolution geschaffenen demokratischen Formen, die wie überall das
wert waren, was man aus ihnen machte. Gerade was in ihnen gefährlich
werden konnte, sobald man daran rührte, das Nebeneinander zweier sich
ausschließenden Gewalten, ist mit vollkommener Meisterschaft und
+schweigend+ so behandelt worden, daß die höhere Erfahrung stets
den Ausschlag gab, und das Volk stets überzeugt blieb, die Entscheidung
selbst und in seinem Sinne herbeigeführt zu haben. +Volkstümlich und
doch von höchstem geschichtlichen Erfolg+, das ist das Geheimnis
dieser Politik und die einzige Möglichkeit der Politik überhaupt in
allen solchen Zeiten, eine Kunst, in welcher das römische Regiment bis
jetzt unerreicht geblieben ist.

Aber auf der andern Seite war das Ergebnis der Revolution trotz
alledem +die Emanzipation des Geldes+, das von nun an in den
Zenturiatkomitien herrschte. Was hier sich _populus_ nannte,
wird mehr und mehr ein Werkzeug in der Hand der großen Vermögen,
und es bedurfte der ganzen taktischen Überlegenheit der regierenden
Kreise, um in der _plebs_ ein Gegengewicht aufrecht zu erhalten
und in ihren einunddreißig ländlichen Tribus wirklich eine Vertretung
des bäuerlichen Grundbesitzes unter Leitung der adligen Geschlechter
bereit zu haben, von welcher die großstädtische Masse ausgeschlossen
blieb. Daher die energische Art, mit welcher die Anordnungen des
Appius Claudius wieder beseitigt worden sind. Das natürliche Bündnis
zwischen Hochfinanz und Masse, wie es sich später unter den Gracchen
und dann unter Marius verwirklichte, um die Tradition des Blutes zu
zerstören, und wie es unter anderm auch den deutschen Umsturz von 1918
vorbereitet hat, ist auf viele Generationen hin unmöglich gemacht
worden. Bürgertum und Bauerntum, Geld und Grundbesitz hielten sich
in gesonderten Organen das Gleichgewicht und wurden durch den in der
Nobilität verkörperten Staatsgedanken zusammengefaßt und wirksam
gemacht, bis deren innere Form zerfiel und beide Tendenzen feindselig
auseinandertraten. Der erste punische Krieg war ein Handelskrieg und
gegen die Interessen der Landwirtschaft gerichtet, weshalb der Konsul
Appius Claudius, ein Nachkomme des großen Zensors, die Entscheidung
264 den Zenturiatkomitien vorlegte. Die Eroberung der Poebene seit 225
dagegen lag im Interesse der Bauernschaft und wurde durch den Tribun C.
Flaminius, die erste wirklich cäsarische Erscheinung Roms, den Erbauer
der Via Flaminia und des Circus Flaminius, in den Tributkomitien
durchgesetzt. Aber gerade weil er in Verfolgung dieser Politik als
Zensor von 220 den Senatoren Geldgeschäfte verbot und gleichzeitig
die altadligen Rittercenturien der Plebs zugänglich machte, was in
Wirklichkeit nur dem neuen Geldadel aus der Zeit des ersten punischen
Krieges zugute kam, ist er ganz gegen seinen Willen der Schöpfer
einer +als Stand organisierten Hochfinanz+ geworden, eben der
_equites_, welche ein Jahrhundert später der großen Zeit der
Nobilität ein Ende gemacht haben. Von da an -- seit dem Siege über
Hannibal, gegen den Flaminius fiel -- wird das Geld auch für die
Regierung das letzte Mittel, um ihre Politik fortzusetzen, die letzte
wirkliche Staatspolitik, die es in der Antike gab.

Als die Scipionen und ihr Kreis aufgehört hatten, die leitende
Macht zu sein, gab es nur noch eine Privatpolitik von Einzelnen,
die rücksichtslos ihr Interesse verfolgten und für die der _orbis
terrarum_ eine willenlose Beute war. Wenn Polybios, der jenem Kreis
angehörte, in Flaminius einen Demagogen und den Urheber des ganzen
Unglücks der Gracchenzeit sah, so irrte er sich vollkommen in dessen
Absichten, aber nicht in der Wirkung. Flaminius hat ebenso wie der
ältere Cato, der mit dem blinden Eifer des Bauernführers den großen
Scipio um seiner Weltpolitik willen stürzte, das Gegenteil von dem
erreicht, was er wollte. An Stelle des führenden Blutes trat das Geld,
und das Geld hat in weniger als drei Generationen den Bauernstand
vernichtet.

Wenn es inmitten der antiken Völkerschicksale ein unwahrscheinlicher
Glücksfall war, daß Rom als der einzige Stadtstaat die soziale
Revolution in fester Verfassung überstand, so war es im Abendlande mit
seinen auf die Ewigkeit gegründeten genealogischen Formen fast ein
Wunder, daß doch an einem Ort eine gewaltsame Revolution zum Ausbruch
kam, in Paris. Nicht die Stärke, sondern die Schwäche des französischen
Absolutismus ist es gewesen, welche hier die englischen Ideen in
Verbindung mit der Dynamik des Geldes zu einer Explosion führte, die
den Schlagworten der Aufklärung eine lebendige Gestalt gab, die Tugend
mit dem Schrecken, die Freiheit mit der Despotie verband und noch
in den kleinen Bränden von 1830 und 1848 und in der sozialistischen
Katastrophensehnsucht nachwirkte.[479] In England selbst, wo der
Adel absoluter herrschte als irgend jemand in Frankreich, hat zwar
ein kleiner Kreis um Fox und Sheridan die Ideen der französischen
Revolution -- sie waren sämtlich englischer Herkunft -- begrüßt; man
sprach von allgemeinem Stimmrecht und Parlamentsreform.[480] Aber das
genügte, um beide Parteien unter Führung eines Whig, des jüngeren
Pitt, zu den schärfsten Maßregeln zu veranlassen, die alle Versuche
vereitelt haben, das Adelsregiment zugunsten des dritten Standes auch
nur anzurühren. Der englische Adel hat den zwanzigjährigen Krieg gegen
Frankreich entfesselt und alle Monarchen Europas in Bewegung gesetzt,
um endlich bei Waterloo nicht dem Kaisertum, sondern der Revolution ein
Ende zu machen, die es gewagt hatte, die Privatansichten englischer
Denker ganz naiv in die praktische Politik einzuführen und damit dem
gänzlich formlosen Tiers eine Stellung zu geben, deren Folgen man nicht
in den Pariser Salons, aber um so besser im englischen Unterhause
voraussah.[481]

Was man hier Opposition nannte, war die Haltung der einen Adelspartei,
solange die andre die Regierung führte. Sie bedeutete hier nicht, wie
überall auf dem Festland, berufsmäßige Kritik an einer Arbeit, die zu
leisten der Beruf anderer war, sondern den praktischen Versuch, die
Regierungstätigkeit in eine Form zu zwingen, die man jeden Augenblick
bereit und fähig war, selbst aufzunehmen. Aber diese Opposition
wurde sofort unter völliger Unkenntnis ihrer gesellschaftlichen
Voraussetzungen vorbildlich für das, was die Gebildeten in Frankreich
und anderswo erstrebten, eine Standesherrschaft des Tiers unter den
Augen der Dynastie, über deren fernere Stellung man sich immerhin nicht
ganz klar war. Die Einrichtungen Englands wurden seit Montesquieu mit
einem begeisterten Mißverständnis gepriesen, obwohl all diese Staaten
keine Inseln waren und deshalb die wesentlichste Voraussetzung der
englischen Entwicklung nicht besaßen. Nur in einem Punkte war England
wirklich ein Vorbild. Als das Bürgertum daranging, den absoluten Staat
wieder in einen Ständestaat zu verwandeln, fand es drüben ein Gebilde,
das nie etwas andres gewesen war. Allerdings war es der Adel allein,
der regierte, aber zum wenigsten war es nicht die Krone.

Das Ergebnis der Epoche und die Grundform der Festlandstaaten zu
Beginn der Zivilisation ist die „konstitutionelle Monarchie“, als
deren äußerste Möglichkeit die Republik erscheint, so wie wir heute
das Wort verstehen. Denn man muß sich endlich von dem Geschwätz der
Doktrinäre befreien, die in zeitlosen und also wirklichkeitsfremden
Begriffen denken und für welche „die Republik“ eine Form an sich ist.
So wenig England eine Konstitution im festländischen Sinne besitzt,
so wenig hat das republikanische Ideal des 19. Jahrhunderts irgend
etwas mit der antiken _res publica_ oder auch nur mit Venedig
und den Schweizer Urkantonen zu tun. Was +wir+ so nennen, ist
eine +Negation+, die das Verneinte mit innerer Notwendigkeit
als beständig möglich voraussetzt. Es ist die Nichtmonarchie in
Formen, die der Monarchie entlehnt sind. Das genealogische Gefühl
ist im abendländischen Menschen so ungeheuer stark und straft sein
Bewußtsein bis zu dem Grade Lügen, daß die Dynastie die gesamte
politische Haltung bestimmt, auch wenn sie gar nicht mehr da ist.
In ihr verkörpert sich das Historische, und unhistorisch können wir
nicht leben. Es ist ein großer Unterschied, ob der antike Mensch das
dynastische Prinzip aus dem Grundgefühl seines Seins heraus überhaupt
nicht kennt oder ob es der abendländische Gebildete seit der Aufklärung
und für die Dauer von etwa zwei Jahrhunderten aus abstrakten Gründen
in sich niederzukämpfen sucht. Dies Gefühl ist der geheime Feind
aller entworfenen und nicht gewachsenen Verfassungen, die im letzten
Grunde nichts als Abwehrmaßregeln und aus Furcht und Mißtrauen geboren
sind. Der Freiheitsbegriff der Stadt -- frei sein +von+ etwas --
verengt sich bis zu einer lediglich antidynastischen Bedeutung; die
republikanische Begeisterung lebt nur von diesem Gefühl.

Zum Wesen einer solchen Verneinung gehört unvermeidlich ein Vorwiegen
der Theorie. Während die Dynastie und die ihr innerlich nahestehende
Diplomatie die alte Tradition, den Takt bewahren, haben in den
Verfassungen Systeme, Bücher und Begriffe ein Übergewicht, wie es in
England, wo der Regierungsform nichts Verneinendes und Defensives
anhaftet, ganz undenkbar ist. Nicht umsonst ist die faustische Kultur
die des Schreibens und Lesens. Das gedruckte Buch ist ein Sinnbild
der zeitlichen, die Presse ein Sinnbild der räumlichen Unendlichkeit.
Gegenüber der ungeheuren Macht und Tyrannei dieser Symbole erscheint
selbst die chinesische Zivilisation beinahe schriftlos. In den
Verfassungen wird die Literatur gegen die Kenntnis der Menschen und
Dinge, die Sprache gegen die Rasse, das abstrakte Recht gegen die
erfolgreiche Tradition angesetzt, ohne Rücksicht darauf, ob die
Nation mitten im Strom der Ereignisse noch arbeitsfähig und in Form
bleibt. Mirabeau hat ganz allein und vergeblich gegen eine Versammlung
gekämpft, welche „die Politik mit einem Roman verwechselte“. Nicht nur
die drei doktrinärsten Verfassungen des Zeitalters, die französische
von 1791, die deutschen von 1848 und 1919, sondern so gut wie alle
wollen das große Schicksal der Tatsachenwelt nicht sehen und glauben es
damit widerlegt zu haben. Statt des Unvorhergesehenen, des Zufalls der
starken Persönlichkeiten und Umstände soll die Kausalität herrschen,
zeitlos, gerecht, immer derselbe verständige Zusammenhang von Ursache
und Wirkung. Es ist bezeichnend, daß kein Verfassungstext das Geld als
politische Größe kennt. Sie enthalten sämtlich reine Theorie.

Dieser Zwiespalt im Wesen der konstitutionellen Monarchie läßt
sich nicht aufheben. Hier stehen Wirkliches und Gedachtes, Arbeit
und Kritik schroff gegen einander, und die wechselseitige Reibung
ist das, was dem Gebildeten vom Durchschnitt als innere Politik
erscheint. Nur in England -- wenn man von Preußen-Deutschland und von
Österreich absieht, wo anfangs eine Verfassung zwar vorhanden, aber
der politischen Tradition gegenüber nicht sehr einflußreich war --
erhielten sich Regierungsgewohnheiten aus einem Guß. Hier behauptete
sich die Rasse gegenüber dem Prinzip. Man ahnte, daß wirkliche, das
heißt ausschließlich auf den geschichtlichen Erfolg gerichtete Politik
auf Zucht und nicht auf Bildung beruhe. Das war kein aristokratisches
Vorurteil, sondern eine kosmische Tatsache, die in den Erfahrungen
englischer Vollblutzüchter viel deutlicher hervortritt als in
sämtlichen Philosophiesystemen der Welt. Bildung kann die Zucht
verfeinern, aber nicht ersetzen. Und so werden die hohe englische
Gesellschaft, die Schule von Eton, das Balliol College in Oxford, die
Stätten, wo Politiker gezüchtet werden mit einer Folgerichtigkeit, die
nur in der Züchtung des preußischen Offizierkorps ihresgleichen hatte,
Kenner nämlich, die den geheimen Takt der Dinge beherrschen, auch den
stillen Gang der Meinungen und Ideale, und die deshalb seit 1832 den
ganzen Strom der bürgerlich-revolutionären Grundsätze über das von
ihnen gelenkte Dasein hingehen ließen ohne die Gefahr, den Zügel aus
der Hand zu verlieren. Sie besaßen das _training_, die Biegsamkeit
und Beherrschtheit eines menschlichen Leibes, der, das jagende Pferd
unter sich, den Sieg heran+fühlt+. Man ließ die großen Grundsätze
die Masse bewegen, weil man wußte, daß es das Geld war, mit dem man
die großen Grundsätze bewegen konnte, und man fand statt der brutalen
Methoden des 18. Jahrhunderts feinere und nicht weniger wirksame, von
denen die Drohung mit den Kosten einer Neuwahl die einfachste ist. Die
doktrinären Verfassungen des Festlands sahen nur die eine Seite der
Tatsache Demokratie. Hier, wo man keine Verfassung hatte, sondern in
Verfassung war, übersah man sie ganz.

Ein dunkles Gefühl davon ist auf dem Festland nie verschwunden. Für den
absoluten Barockstaat gab es eine klare Form; für die konstitutionelle
Monarchie gab es nur schwankende Kompromisse, und die konservative und
liberale Partei unterschieden sich nicht wie in England -- seit Canning
-- nach längst erprobten Regierungsmethoden, die sie abwechselnd zur
Anwendung brachten, sondern nach der Richtung, in welcher sie die
Verfassung abzuändern wünschten, nämlich nach der Tradition oder der
Theorie hin. Sollte die Dynastie dem Parlament dienen oder umgekehrt?
Das war die Streitfrage, über welcher man den außenpolitischen Endzweck
vergaß. Die „spanische“ und die -- mißverstandene -- „englische“ Seite
der Verfassung wuchsen nicht zusammen und konnten es nicht, so daß
während des 19. Jahrhunderts der diplomatische Außendienst und die
parlamentarische Tätigkeit sich nach zwei ganz verschiedenen Seiten hin
entwickelten, sich dem Grundgefühl und der Methode nach vollkommen
fremd wurden und einander gründlich verachteten. Das Leben rieb sich
wund in einer Form, die es nicht aus sich selbst entwickelt hatte.
Frankreich verfiel seit dem Thermidor einer Herrschaft der Börse,
gemildert durch gelegentliche Aufrichtung einer Militärdiktatur: 1800,
1851, 1871, 1918. In der Schöpfung Bismarcks, die in den Grundzügen
dynastischer Natur war, mit einem entschieden untergeordneten
parlamentarischen Bestandteil, wurde die innere Reibung so stark,
daß sie die gesamte politische Energie und zuletzt, seit 1916, den
Organismus selbst verbraucht hat. Das Heer hatte seine eigne Geschichte
und eine große Tradition von Friedrich Wilhelm I. an, ebenso die
Verwaltung. Hier liegt der Ursprung des Sozialismus als einer Art,
politisch in Form zu sein, die der englischen streng entgegengesetzt
ist,[482] aber ebenso wie diese der vollkommene Ausdruck einer
starken Rasse. Der Offizier und der Beamte wurden in Vollendung
gezüchtet, aber die Aufgabe, den entsprechenden politischen Typus zu
züchten, wurde nicht erkannt. Die hohe Politik wurde „verwaltet“,
die niedere war hoffnungsloses Gezänk. So wurden Heer und Verwaltung
endlich Selbstzweck, seit mit Bismarck der Mann gegangen war, für den
sie Mittel sein konnten auch ohne die Mitarbeit eines Stammes von
Politikern, den nur eine Tradition erzeugt. Als mit dem Ausgang des
Weltkriegs der Oberbau verschwand, blieben die nur zur Opposition
erzogenen Parteien allein übrig und brachten die Regierungstätigkeit
plötzlich auf ein Niveau herab, das unter zivilisierten Staaten bis
jetzt unbekannt war.

Aber der Parlamentarismus ist heute in vollem Verfall begriffen.
Er war +eine Fortsetzung der bürgerlichen Revolution mit andern
Mitteln+, die Revolution des dritten Standes von 1789, in
gesetzmäßige Form gebracht und mit ihrer Gegnerin, der Dynastie, zur
Regierungseinheit verbunden. In der Tat ist jeder moderne Wahlkampf
ein mit dem Stimmzettel und allen Mitteln der Aufreizung durch Rede
und Schrift geführter Bürgerkrieg und jeder große Parteiführer eine
Art bürgerlicher Napoleon. Diese auf Dauer berechnete Form, die
ausschließlich der abendländischen Kultur angehört und in jeder andern
sinnlos und unmöglich wäre, enthüllt wieder den Hang zum Unendlichen,
die historische Voraussicht[483] und Vorsorge und den Willen, +die
ferne Zukunft zu ordnen+ und zwar nach bürgerlichen Grundsätzen der
Gegenwart.

Trotzdem ist der Parlamentarismus kein Gipfel wie die absolute
Polis und der Barockstaat, sondern ein kurzer Übergang, nämlich von
der Spätzeit mit ihren gewachsenen Formen zum Zeitalter der großen
Einzelnen inmitten einer formlos gewordenen Welt. Er enthält einen
Rest guten Barockstils wie die Häuser und Möbel aus der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts. Die parlamentarische Sitte ist englisches
Rokoko, aber nicht mehr selbstverständlich und im Blute liegend,
sondern oberflächlich nachgeahmt und Sache des guten Willens. Nur
in den kurzen Zeiten anfänglicher Begeisterung besitzt sie einen
Schein von Tiefe und Dauer und nur deshalb, weil man eben gesiegt
hatte und aus Achtung vor dem eignen Stand die guten Manieren der
Besiegten sich zur Pflicht machte. Die Form zu wahren, auch wo
sie dem Vorteil widerspricht: auf dieser Übereinkunft beruht die
+Möglichkeit+ des Parlamentarismus. +Dadurch, daß er erreicht
ist, ist er eigentlich schon überwunden.+ Der Nichtstand zerfällt
wieder in natürliche Interessengruppen; das Pathos des leidenden
und siegreichen Widerstandes ist zu Ende. Und sobald die Form nicht
mehr die Anziehungskraft eines jungen Ideals besitzt, für das man
auf die Barrikaden geht, erscheinen die außerparlamentarischen
Mittel, um trotz der Abstimmung und ohne sie das Ziel zu erreichen:
darunter das Geld, der wirtschaftliche Druck, vor allem der Streik.
Weder die großstädtische Masse noch der starke Einzelne haben wahre
Achtung vor dieser Form ohne Tiefe und Vergangenheit, und sobald man
entdeckt, daß sie +nur+ Form ist, ist sie auch schon Maske und
Schatten geworden. Mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts nähert sich
der Parlamentarismus, auch der englische, mit schnellen Schritten
der Rolle, die er selbst dem Königtum bereitet hat. Er wird ein
eindrucksvolles Schauspiel für die Menge der Gläubigen, während der
Schwerpunkt der großen Politik, wie er rechtlich von der Krone zur
Volksvertretung hinüberging, nun tatsächlich aus dieser in Privatkreise
und den Willen von Privatpersonen verlegt wird. Der Weltkrieg hat diese
Entwicklung beinahe abschlossen. Von der Herrschaft Lloyd Georges führt
kein Weg zum alten Parlamentarismus zurück und ebensowenig von dem
Napoleonismus der französischen Militärpartei. Und für Amerika, das
bis jetzt für sich dalag und eher ein Gebiet als ein Staat war, ist
mit dem Eintritt in die Weltpolitik das einer Theorie von Montesquieu
entstammende Nebeneinander von Präsidentschaft und Kongreß unhaltbar
geworden und wird in Zeiten wirklicher Gefahr formlosen Gewalten Platz
machen, wie sie Südamerika und Mexiko längst kennen gelernt haben.


14

Damit ist der Eintritt in das Zeitalter der Riesenkämpfe vollzogen, in
dem wir uns heute befinden. Es ist +der Übergang vom Napoleonismus
zum Cäsarismus+, eine allgemeine Entwicklungsstufe vom Umfang
wenigstens zweier Jahrhunderte, die in allen Kulturen nachzuweisen
ist. Die Chinesen nennen sie Tschan kuo, Zeit der kämpfenden Staaten
(480-230, antik etwa 300-50).[484] Am Anfang werden sieben Großmächte
gezählt, die erst planlos, dann mit immer klarerem Blick für das
unvermeidliche Endergebnis in diese dichte Folge von ungeheuren Kriegen
und Revolutionen eintreten. Ein Jahrhundert später sind es noch fünf.
441 wird der Herrscher der Dschou-Dynastie zum Staatspensionär des
„östlichen Herzogs“ und damit verschwindet der Rest von Land, den er
besaß, aus der ferneren Geschichte. Gleichzeitig beginnt der rasche
Aufstieg des Römerstaates Tsin im unphilosophischen Nordwesten,[485]
der seinen Einfluß nach West und Süd über Tibet und Yünnan ausdehnt
und die übrige Staatenwelt in weitem Bogen umklammert. Den Mittelpunkt
der Gegnerschaft bildet das Königreich Tsu im taoistischen Süden,[486]
von wo aus die chinesische Zivilisation langsam in die damals noch
wenig bekannten Länder jenseits des großen Stromes dringt. Das ist
in der Tat ein Gegensatz wie der zwischen Römertum und Hellenismus:
dort der harte und klare Wille zur Macht, hier der Hang zu Träumerei
und Weltverbesserung. 368-320 (antik etwa Zeit des zweiten punischen
Krieges) steigert sich der Kampf zu einem ununterbrochenen Ringen der
gesamten chinesischen Welt, mit Massenheeren, die bis zur äußersten
Anspannung der Bevölkerungszahl aufgebracht werden. „Die Verbündeten,
deren Länder zehnmal so groß waren als die von Tsin, wälzten umsonst
eine Million Menschen heran. Tsin hatte immer noch Reserven in
Bereitschaft. Von Anfang bis zu Ende fiel eine Million Mann“, schreibt
Se ma tsien. Su tsin, zuerst Kanzler von Tsin, der dann als Anhänger
der Völkerbundsidee (_hohtsung_) zu den Gegnern überging,
brachte zwei große Koalitionen zustande (333 und 321), die an innerer
Uneinigkeit mit den ersten Schlachten zusammenbrachen. Sein großer
Gegner, der Kanzler Tschang J, ein entschiedener Imperialist, war 311
nahe daran, die chinesische Staatenwelt zu freiwilliger Unterwerfung
zu bringen, als ein Thronwechsel seine Kombination vereitelte. 294
beginnen die Feldzüge des Pe ki.[487] Unter dem Eindruck seiner Siege
nimmt der König von Tsin 288 den mystischen Kaisertitel der Sagenzeit
an,[488] was den Anspruch auf Weltherrschaft zum Ausdruck bringt und
von dem Herrscher von Tsi im Osten[489] sofort nachgeahmt wird. Damit
beginnt ein zweites Maximum der Entscheidungskämpfe. Die Zahl der
selbständigen Staaten wird immer kleiner. 255 verschwindet auch der
Heimatstaat des Konfuzius, Lu, und 249 findet die Dschou-Dynastie
ihr Ende. 246 wird der gewaltige Wang Dscheng als 13jähriger Knabe
Kaiser von Tsin und führt mit Unterstützung seines Kanzlers Lui Schi,
des chinesischen Mäcenas,[490] den Endkampf durch, in dem der letzte
Gegner, das Reich von Tsu, 241 den letzten Angriff wagt. 221 hat er als
tatsächlicher Alleinherrscher den Titel Schi (Augustus) angenommen. Das
ist der Anfang der chinesischen Kaiserzeit.

Kein Zeitalter zeigt so deutlich wie das der kämpfenden Staaten
die weltgeschichtliche Alternative: +große Form oder große
Einzelgewalten+. In demselben Grade wie die Nationen aufhören,
politisch in Verfassung zu sein, wachsen die Möglichkeiten für den
energischen Privatmann, der politisch schöpferisch sein, der um jeden
Preis Macht besitzen will und durch die Wucht seiner Erscheinung das
Schicksal ganzer Völker und Kulturen wird. Die Ereignisse sind der Form
nach voraussetzungslos geworden. An Stelle der gesicherten Tradition,
die des Genies entbehren kann, weil sie selbst kosmische Kraft in
höchster Potenz ist, tritt nun der Zufall großer Tatsachenmenschen; der
Zufall ihres Aufstiegs führt ein schwaches Volk wie das makedonische
über Nacht an die Spitze der Ereignisse und der Zufall ihres Todes kann
die Welt aus persönlich gefestigter Ordnung unvermittelt in das Chaos
stürzen, wie die Ermordung Cäsars beweist.

Das hat sich früher schon in den kritischen Übergangszeiten offenbart.
Die Epoche der Fronde, der Mingdschu, der ersten Tyrannis, wo man
nicht in Form war, sondern um die Form kämpfte, hat jedesmal eine
Reihe großer Gestalten heraufgeführt, die über alle Schranken eines
Amtes hinauswuchsen. Die Wende von der Kultur zur Zivilisation tut
es noch einmal im Napoleonismus. Mit diesem aber, der das Zeitalter
der unbedingten geschichtlichen Formlosigkeit einleitet, bricht die
eigentliche Blütezeit der großen Einzelnen an, die für uns mit dem
Weltkrieg fast auf ihren Höhepunkt gelangt ist. In der Antike geschah
das mit Hannibal, der im Namen des Hellenismus, dem er innerlich
angehörte, den Kampf gegen Rom eröffnet hat, aber zugrunde ging, weil
der hellenistische Osten, ganz antik, den Sinn der Stunde zu spät oder
gar nicht begriff. Mit seinem Untergang beginnt jene stolze Reihe,
die von den beiden Scipionen über Aemilius Paullus, Flamininus, die
Catonen, die Gracchen, über Marius und Sulla zu Pompejus, Cäsar und
Augustus führt. Ihnen entspricht jene Folge von Staatsmännern und
Feldherrn im China der kämpfenden Staaten, die sich wie dort um Rom,
so hier um Tsin sammeln. Bei der Verständnislosigkeit, mit welcher
die politische Seite der chinesischen Geschichte behandelt zu werden
pflegt, hat man sie als Sophisten bezeichnet.[491] Sie waren es
auch, aber in dem Sinne, wie die vornehmen Römer der gleichen Zeit
Stoiker waren, nachdem sie im griechischen Osten philosophischen und
rhetorischen Unterricht empfangen hatten. Sie waren alle geschulte
Redner und haben alle gelegentlich über Philosophie geschrieben,
Cäsar und Brutus so gut wie Cato und Cicero, aber nicht als
Berufsphilosophen, sondern auf Grund einer vornehmen Sitte und aus
ihrem _otium cum dignitate_ heraus. Abgesehen davon waren sie
Meister der Tatsachen, auf dem Schlachtfelde wie in der hohen Politik,
und genau dasselbe gilt von den Staatskanzlern Tschang J und Su
tsin,[492] dem gefürchteten Diplomaten Fan sui, der den General Pe ki
gestürzt hat, dem Gesetzgeber von Tsin Wei yang, dem Mäcenas des ersten
Kaisers Lui Schi und andern.

Die Kultur hatte alle Kräfte in strenge Form gebunden. Jetzt sind
sie entfesselt und „die Natur“, das heißt das Kosmische, bricht
unvermittelt hervor. Die Wendung vom absoluten Staat zur -- kämpfenden
-- Völkergemeinschaft jeder beginnenden Zivilisation mag für Idealisten
und Ideologen bedeuten, was sie will; in der Tatsachenwelt bedeutet sie
den Übergang vom Regieren im Stil und Takt einer strengen Tradition
zu dem _sic volo, sic jubeo_ des schrankenlosen persönlichen
Regiments. Das Maximum von sinnbildlicher, +über+persönlicher
Form fällt mit dem Gipfel der Spätzeiten zusammen, in China um
600, in der Antike um 450, für uns um 1700; das Minimum liegt in
der Antike unter Sulla und Pompejus und wird für uns im nächsten
Jahrhundert erreicht und vielleicht schon durchschritten sein. Die
großen zwischenstaatlichen Kämpfe sind überall mit innerstaatlichen
durchsetzt, Revolutionen von einer furchtbaren Art, aber sie
dienen -- ob sie es wissen und wollen oder nicht -- ohne Ausnahme
außerstaatlichen und zuletzt rein persönlichen Machtfragen; was sie
selbst theoretisch erstreben, ist geschichtlich bedeutungslos, und wir
brauchen nicht zu wissen, unter welchen Schlagworten die chinesischen
und arabischen Revolutionen dieser Epoche ausbrachen oder ob sie ohne
dergleichen geführt worden sind. Keine der zahllosen Revolutionen
dieses Zeitalters, die mehr und mehr blinde Ausbrüche entwurzelter
großstädtischer Massen werden, haben je ein Ziel erreicht oder auch nur
erreichen können. Eine +geschichtliche Tatsache+ bleibt nur der
beschleunigte Abbau uralter Formen, der für cäsarische Gewalten freie
Bahn schafft.

Aber dasselbe gilt auch von den Kriegen, in denen die Heere und ihre
Taktik mehr und mehr Schöpfungen nicht mehr der Epoche, sondern
unumschränkter Einzelführer werden, die oft genug ihr Genie erst spät
und durch Zufall entdeckt haben. Um 300 gibt es +römische+ Heere,
seit 100 gibt es Heere des Marius, Sulla, Cäsar, und Oktavian wurde
von seinem Heere, dem der Veteranen Cäsars, mehr geführt als daß er es
führte. Aber damit nehmen die Methoden der Kriegführung, ihre Mittel
und Ziele ganz andere, naturalistische, erschreckende Formen an. Es
sind nicht mehr wie im 18. Jahrhundert Duelle in ritterlichen Formen
wie ein Zweikampf im Park von Trianon, bei denen es feste Regeln dafür
gibt, wann jemand seine Kräfte für erschöpft erklärt, was als das
Höchstmaß aufzubringender Streitkräfte gilt und welche Bedingungen der
Sieger als Kavalier stellen darf. Es sind Ringkämpfe wütender Menschen
mit allen Mitteln, mit Fäusten und Zähnen, die bis zum körperlichen
Zusammenbruch des einen und zur schrankenlosen Ausnutzung des Erfolgs
durch den andern geführt werden. Das erste große Beispiel dieser
Rückkehr zur Natur geben die Heere der Revolution und Napoleons, welche
an die Stelle kunstvollen Manövrierens mit kleinen Truppenkörpern den
Sturmangriff von Massen ohne Rücksicht auf die Verluste setzen und
damit die ganze feine Strategie des Rokoko in Trümmer schlagen. Die
Muskelkraft eines ganzen Volkes auf den Schlachtfeldern anzusetzen, wie
es durch die Anwendung der allgemeinen Wehrpflicht geschieht, ist ein
Gedanke, welcher dem Zeitalter Friedrichs des Großen gänzlich fern lag.

Und ebenso ist in allen Kulturen die Technik des Krieges der des
Handwerks zögernd gefolgt, bis sie zu Beginn einer jeden Zivilisation
plötzlich die Führung übernimmt, alle mechanischen Möglichkeiten
rücksichtslos in ihren Dienst stellt und ganz neue Gebiete durch das
militärische Bedürfnis überhaupt erst erschließt, damit aber auch das
persönliche Heldentum des Rassemenschen, das adlige Ethos und den
feinen Geist der Spätzeit in weitem Umfange ausschaltet. Innerhalb
der Antike, wo das Wesen der Polis Massenheere unmöglich machte -- im
Verhältnis zur Kleinheit aller antiken Formen, auch der taktischen,
sind die Zahlen von Cannä, Philippi und Aktium ganz ungeheuer -- hat
die zweite Tyrannis die mechanische Technik eingeführt und zwar durch
Dionys von Syrakus gleich in großartigem Maßstab.[493] Erst jetzt
werden Belagerungen möglich wie die von Rhodos (305), Syrakus (213),
Karthago (146) und Alesia (52), an denen sich zugleich die steigende
Bedeutung der Schnelligkeit selbst für die antike Kriegführung erkennen
läßt; und aus demselben Grunde wirkt eine römische Legion, deren Aufbau
ja erst eine Schöpfung der hellenistischen Zivilisation ist, wie
eine Maschine gegenüber den athenischen und spartanischen Aufgeboten
des 5. Jahrhunderts. Dem entspricht es, wenn im „gleichzeitigen“
China seit 474 Eisen für die Hieb- und Stichwaffen verarbeitet
wird, seit 450 die leichte Reiterei nach mongolischem Vorbild den
schweren Kriegswagen verdrängt und der Festungskampf plötzlich einen
gewaltigen Aufschwung nimmt.[494] Die Grundneigung des zivilisierten
Menschen zur Schnelligkeit, Beweglichkeit und Massenwirkung hat sich
endlich in der westeuropäisch-amerikanischen Welt mit dem faustischen
Willen zur Herrschaft über die Natur verbunden und zu dynamischen
Methoden geführt, die noch Friedrich der Große für wahnwitzig erklärt
haben würde, die aber in der Nachbarschaft unserer Verkehrs- und
Industrietechnik etwas ganz Natürliches haben. Napoleon machte die
Artillerie beritten und also schnell beweglich, wie er auch das
Massenheer der Revolution in ein System schnell zu verschiebender
Einzelkörper aufgelöst hat, und er hat schon bei Wagram und an der
Moskwa ihre rein physikalische Wirkung bis zu wirklichem Schnell-
und Trommelfeuer gesteigert. Die zweite Stufe bringt, was sehr
bezeichnend ist, der amerikanische Bürgerkrieg von 1861-65, der auch
hinsichtlich der Truppenstärke zum erstenmal die Größenordnung der
napoleonischen Zeit bei weitem überschritten hat,[495] und in dem
zuerst für die Verschiebung großer Truppenmassen die Eisenbahn, für
den Nachrichtendienst der elektrische Telegraph, für die Blockade
eine monatelang auf hoher See gehaltene Dampferflotte erprobt und das
Panzerschiff, der Torpedo, die gezogenen Schußwaffen und die ganz
großen Geschütze von außerordentlicher Tragweite erfunden wurden.[496]
Die dritte Stufe bezeichnet nach dem Vorspiel des russisch-japanischen
Krieges[497] der Weltkrieg, der die Luft- und Unterseewaffen in seinen
Dienst stellte, das Tempo der Erfindungen zu einer neuen Waffe erhob,
und mit dem vielleicht der Umfang, aber durchaus noch nicht die
Intensität der verwendeten Mittel den Höhepunkt erreicht hat. Aber dem
Aufwand an Kraft entspricht denn auch allenthalben in diesem Zeitalter
die Härte der Entscheidungen. Gleich am Eingang der chinesischen
Periode Tschan kuo steht die vollständige Vernichtung des Staates
Wu (472), die unter den ritterlichen Sitten der voraufgegangenen
Periode Tschun tsiu nicht möglich gewesen wäre; Napoleon überschritt
schon im Frieden von Campo Formio bei weitem die Konvenienz des 18.
Jahrhunderts und begründete seit Austerlitz eine Gewohnheit der
Ausnützung von kriegerischen Erfolgen, für die es andere als materielle
Schranken überhaupt nicht mehr gab. Den letzten noch möglichen Schritt
vollzieht der Typus des Versailler Friedens, der gar keinen Abschluß
mehr enthalten will, sondern die Möglichkeit offen läßt, aus jeder
Neugestaltung der Lage heraus neue Bedingungen zu stellen. Dieselbe
Entwicklung zeigt die Folge der drei punischen Kriege. Der Gedanke,
eine der führenden Großmächte von der Erdoberfläche zu vertilgen, wie
er durch Catos ganz nüchtern gemeintes _Carthaginem esse delendam_
jedem geläufig geworden war, ist dem Sieger von Zama nicht in den Sinn
gekommen und würde trotz der wilden Gewohnheiten der antiken Poleis dem
Lysander, als er Athen bezwungen hatte, wie ein Frevel an allen Göttern
erschienen sein.

Die Zeit der kämpfenden Staaten beginnt für die Antike mit der
Schlacht bei Ipsus (301), durch welche die Dreizahl der östlichen
Großmächte festgestellt wurde, und dem römischen Sieg von Sentinum
(295) über Etrusker und Samniten, der im Westen neben Karthago noch
eine mittelitalische Großmacht schuf. Das antike Haften an der Nähe und
Gegenwart hat dann aber bewirkt, daß Rom, ohne beobachtet zu werden,
durch das Abenteuer mit Pyrrhus den italischen Süden, durch den ersten
Krieg mit Karthago das Meer, durch C. Flaminius den keltischen Norden
gewann und daß selbst Hannibal noch unverstanden blieb, vielleicht der
einzige Mensch seiner Zeit, die Römer nicht ausgenommen, der den Gang
der Entwicklung deutlich voraussah. +Bei Zama+ und nicht erst bei
Magnesia und Pydna sind auch die hellenistischen Ostmächte besiegt
worden. Es war ganz umsonst, wenn der große Scipio mit wahrer Angst vor
dem Schicksal, dem eine mit den Aufgaben der Weltherrschaft belastete
Polis entgegenging, von nun an jede Eroberung zu vermeiden suchte. Es
war umsonst, wenn seine Umgebung gegen den Willen aller Kreise den
makedonischen Krieg durchsetzte, nur um den Osten dann gefahrlos sich
selbst überlassen zu können. Der Imperialismus ist ein so notwendiges
Ergebnis jeder Zivilisation, daß er ein Volk im Nacken packt und in die
Herrenrolle stößt, wenn es sie zu spielen sich weigert. Das römische
Reich ist +nicht+ erobert worden. Der _orbis terrarum_ hat
sich in diese Form hineingedrängt und die Römer gezwungen, ihr den
Namen zu geben. Das ist ganz antik. Während die chinesischen Staaten
auch noch den letzten Rest ihrer Selbständigkeit in erbitterten Kriegen
verteidigt haben, ging Rom seit 146 nur deshalb an die Verwandlung der
östlichen Ländermasse in Provinzen, weil es ein anderes Mittel gegen
die Anarchie nicht mehr gab. Und auch das hatte zur Folge, daß die
innere Form Roms, die letzte, die noch aufrecht geblieben war, sich
unter dieser Belastung in den gracchischen Unruhen auflöste. Es ist
ohne Beispiel, daß hier der Endkampf um das Imperium überhaupt nicht
mehr zwischen Staaten stattfindet, sondern zwischen den Parteien einer
Stadt; aber die Form der Polis ließ einen andern Ausweg gar nicht zu.
Was einst Sparta und Athen gewesen waren, heißt jetzt Optimaten- und
Popularpartei. In der gracchischen Revolution, der 134 schon der erste
Sklavenkrieg voraufging, wurde der jüngere Scipio heimlich ermordet
und C. Gracchus öffentlich erschlagen: das sind der erste Prinzeps
und der erste Tribun als die politischen Mittelpunkte einer formlos
gewordenen Welt. Wenn die stadtrömische Masse 104 zum erstenmal ein
Imperium in gesetzloser und tumultuarischer Weise einem Privatmann --
Marius -- übertrug, so ist die tiefere Bedeutung dieses Schauspiels der
Annahme des mythischen Kaisertitels durch Tsin 288 vergleichbar: der
unvermeidliche Ausgang des Zeitalters, der Cäsarismus, zeichnet sich
plötzlich am Horizont.

Der Erbe des Tribunen ist Marius, der wie jener den Mob mit der
Hochfinanz verbindet und 87 den alten Adel in Masse hinmordet; der
Erbe des Prinzeps war Sulla, der 82 den Stand der großen Geldleute
durch seine Proskriptionen vernichtet hat. Von nun an vollziehen sich
die letzten Entscheidungen schnell, wie in China seit dem Auftreten
des Wang Dscheng. Der Prinzeps Pompejus und der Tribun Cäsar -- Tribun
nicht dem Amte, aber der Haltung nach -- vertreten noch Parteien, aber
sie haben auch schon in Lucca zusammen mit Crassus zum ersten Male die
Welt unter sich verteilt. Als bei Philippi die Erben gegen die Mörder
Cäsars kämpften, waren es nur noch Gruppen; bei Aktium waren es nur
noch Einzelpersonen: damit ist auch auf diesem Wege der Cäsarismus
erreicht.

Der entsprechenden Entwicklung innerhalb der arabischen Welt liegt
statt der körperhaften Polis der magische Consensus als die Form
zugrunde, in welcher und durch welche die Tatsachen sich vollziehen,
und die eine Trennung politischer und religiöser Tendenzen bis zu
dem Grade ausschließt, daß selbst der städtische, bürgerliche Drang
nach Freiheit, mit dessen Ausbrüchen das Zeitalter der kämpfenden
Staaten auch hier beginnt, in orthodoxer Verkleidung erscheint und
deshalb bis jetzt kaum bemerkt worden ist.[498] Es ist das Loswollen
vom Khalifat, das einst von den Sassaniden und nach deren Vorbild
von Diokletian in den Formen des Feudalstaates begründet worden war.
Es hatte seit Justinian und Chosru Nuschirwan den Ansturm der Fronde
zu bestehen, in dem neben den Häuptern der griechischen und der
mazdaischen Kirche der persisch-mazdaische Adel vor allem des Irak,
der griechische vor allem Kleinasiens und der nach beiden Religionen
gespaltene armenische Hochadel voranstehen. Der im 7. Jahrhundert
schon fast erreichte Absolutismus ist dann durch den Ansturm des in
seinen +politischen+ Anfängen streng aristokratischen Islam
plötzlich gestürzt worden. Denn von dieser Seite aus betrachtet bilden
die wenig zahlreichen Arabergeschlechter,[499] die allenthalben die
Führung in der Hand behalten, in den eroberten Ländern sehr bald einen
neuen Hochadel von starker Rasse und ungeheurem Selbstgefühl, der die
islamische Dynastie auf den Rang der „gleichzeitigen“ englischen
herabdrückt. Der Bürgerkrieg zwischen Othman und Ali (656-61) ist der
Ausdruck einer echten Fronde und bewegt sich ausschließlich um die
Interessen zweier Sippen und ihres Anhangs. Die islamischen Tories und
Whigs des 8. Jahrhunderts machen wie die englischen des 18. die große
Politik +allein+, und ihre Koterien und Familienzwiste sind für
die Geschichte der Zeit wichtiger als alle Ereignisse im regierenden
Hause der Ommaijaden (661-750).

Aber mit dem Sturz dieser heitren und aufgeklärten Dynastie, die in
Damaskus, also im westaramäischen -- und monophysitischen -- Syrien
residiert hatte, wird der natürliche Schwerpunkt der arabischen Kultur
wieder bemerkbar: das ostaramäische Gebiet, einst Stützpunkt der
Sassaniden, jetzt der Abbassiden, das, gleichviel ob von persischer
oder arabischer Bildung, mazdaischer, nestorianischer oder islamischer
Religion, immer ein und dieselbe große Linie der Entwicklung zum
Ausdruck bringt und für Syrien wie für Byzanz immer vorbildlich
geblieben ist. Von Kufa geht die Bewegung aus, welche zum Untergang
der Ommaijaden und ihres _ancien régime_ führt, und sie hat, was
in seiner ganzen Tragweite bis jetzt noch nie erkannt worden ist,
den +Charakter einer sozialen, gegen die Urstände und die vornehme
Tradition überhaupt gerichteten Revolution+.[500] Sie beginnt
unter den Mavali, dem kleinen Bürgertum im Osten, und wendet sich
mit erbitterter Feindschaft gegen das Arabertum, nicht insofern es
Verfechter des Islam, sondern insofern es ein neuer Adel war. Die eben
bekehrten Mavali, fast sämtlich frühere Mazdaisten, nahmen den Islam
ernster als die Araber selbst, die außerdem noch ein Standesideal
vertraten. Schon im Heere Alis hatten sich die ganz demokratischen und
puritanischen Charidschiten abgesondert. In ihren Kreisen erscheint
jetzt zum erstenmal die Verbindung von fanatischem Sektenwesen und
Jakobinertum. Hier ist damals nicht nur die schiitische Richtung
entstanden, sondern auch der früheste Ansatz zur kommunistischen
Churramija, die sich bis auf Mazdak[501] zurückleiten läßt und später
die ungeheuren Aufstände unter Babak hervorrief. Die Abbassiden waren
den Aufständischen in Kufa durchaus nicht willkommen; sie verdankten
es nur ihrem großen diplomatischen Geschick, wenn sie als Offiziere
überhaupt zugelassen wurden und endlich -- fast wie Napoleon -- die
Erbschaft der über den ganzen Osten verbreiteten Revolution antreten
konnten. Nach dem Siege haben sie Bagdad erbaut, ein neu erstandenes
Ktesiphon und das Denkmal der Niederlage des feudalen Arabertums;
und diese erste Weltstadt der jungen Zivilisation wird 800-1050 der
Schauplatz jener Ereignisse, welche vom Napoleonismus zum Cäsarismus
führen, +vom Khalifat zum Sultanat+, denn das ist in Bagdad wie in
Byzanz der magische Typus der formlosen Gewalten, die endlich auch hier
allein noch möglich sind.

Man mache sich also klar, daß Demokratie auch in der arabischen
Welt ein Standesideal und zwar von Stadtmenschen und ein Ausdruck
ihres Freiseinwollens von den alten Bindungen des Landes, sei es
Wüste oder Ackerboden, ist. Das Nein gegenüber der Khalifentradition
verkleidet sich in sehr viele Formen und kann des Freidenkertums und
der Verfassung in unserem Sinne ganz entbehren. +Magischer Geist und
magisches Geld sind in anderer Weise „frei“.+ Das byzantinische
Mönchtum ist liberal bis zum Aufruhr und zwar nicht nur gegen Hof und
Adel, sondern auch gegen die hohen geistlichen Gewalten, die sich,
der gotischen Hierarchie entsprechend, schon vor dem Konzil von Nikäa
herausgebildet hatten. Der Consensus der Rechtgläubigen, das „Volk“
im verwegensten Sinne, ist von Gott -- Rousseau würde gesagt haben
von der Natur -- +gleich+ gewollt und frei von allen Mächten des
Blutes. Die berühmte Szene, in welcher der Abt Theodor von Studion
dem Kaiser Leo V. den Gehorsam kündigte (813), hat die Bedeutung
eines Bastillesturms in magischen Formen.[502] Nicht lange danach
beginnt der Aufstand der sehr frommen und in sozialen Dingen ganz
radikalen Paulikianer,[503] die jenseits des Taurus einen eigenen
Staat aufrichteten, ganz Kleinasien brandschatzten, ein kaiserliches
Aufgebot nach dem andern schlugen und erst 874 niedergeworfen werden
konnten. Das entspricht durchaus der kommunistisch-religiösen Bewegung
der Churramija östlich des Tigris bis nach Merw hin, deren Führer
Babak erst nach 20jährigem Kampf (817-837) unterlag,[504] und jener
andern der Karmaten im Westen (890-904), deren Verbindungen von Arabien
aus durch alle syrischen Städte reichten und den Aufruhr bis zur
persischen Küste verpflanzten. Aber daneben gab es noch ganz andere
Verkleidungen für den politischen Parteikampf. Wenn wir hören, daß die
byzantinische Armee bilderfeindlich war und der Militärpartei deshalb
eine bilderfreundliche Mönchspartei gegenüberstand, so erscheint die
Leidenschaft im Jahrhundert des Bildersturms (740-840) plötzlich in
einem ganz neuen Licht und wir verstehen, daß das Ende der Krise
(843), die endgültige Niederlage der Bilderfeinde +und zugleich+
der freikirchlichen Mönchspolitik, die Bedeutung einer Restauration
im Sinne von 1815 hatte.[505] Und endlich fällt in diese Zeit der
furchtbare Sklavenaufstand im Irak, dem Kerngebiet der Abbassiden,
der plötzliches Licht auf eine ganze Reihe von andern sozialen
Erschütterungen wirft, von denen die landläufigen Historiker nichts
erzählen. Ali, der Spartakus des Islam, gründete 869 südlich von Bagdad
mit den entlaufenen Massen einen wirklichen Negerstaat, erbaute sich
eine Residenz, Muchtara, und dehnte seine Macht tief nach Arabien und
Persien hinein aus, wo ganze Stämme sich mit ihm verbündeten. 871 wurde
Basra, die erste Hafenstadt der islamischen Welt mit beinahe einer
Million Einwohnern, genommen, ausgemordet und niedergebrannt; erst 883
ist dieser Sklavenstaat vernichtet worden.

So wird die sassanidisch-byzantinische Staatsform langsam ausgehöhlt,
und an die Stelle uralter Traditionen der hohen Beamtenschaft und
des Hofadels tritt die voraussetzungslose, ganz persönliche Gewalt
zufälliger Begabungen: +das Sultanat+. Denn das ist die spezifisch
arabische Form, die in Byzanz und Bagdad gleichzeitig erscheint und von
den napoleonischen Anfängen um 800 bis zum vollendeten Cäsarismus der
seldschuckischen Türken seit 1050 fortschreitet. Diese Form ist rein
magisch; sie gehört nur dieser Kultur an und ist ohne die tiefsten
Voraussetzungen ihrer Seele nicht zu verstehen. Das Khalifat, ein
Inbegriff politischen, um nicht zu sagen kosmischen Taktes und Stils,
wird nicht aufgehoben, denn der Khalif ist heilig als der durch den
Consensus der Berufenen erkannte Vertreter Gottes; aber es wird ihm
alle Macht entzogen, welche mit dem Begriff des Cäsarismus verbunden
ist, genau wie Pompejus und Augustus tatsächlich und Sulla und Cäsar
auch dem Namen nach diese Macht von den alten Verfassungsformen Roms
abgezogen haben. Es bleibt dem Khalifen zuletzt ebensoviel von seiner
Gewalt wie dem Senat und den Komitien etwa unter Tiberius. Die ganze
Fülle hohen Geformtseins in Recht, Tracht und Sitte war einst Symbol
gewesen. Jetzt ist sie Kostüm geworden, und zwar das des formlosen,
rein tatsächlichen Regiments.

So steht neben Michael III. (842-67) Bardas, neben Konstantin VII.
(912-59) der zum Mitkaiser ernannte Romanos.[506] Im Jahre 867 stürzt
der frühere Stallknecht Basileios, eine napoleonische Erscheinung,
den Bardas und gründet die Säbeldynastie der Armenier (bis 1081),
in der meist Generale statt der Kaiser regieren, Gewaltmenschen wie
Romanos, Nikephoros und Bardas Phokas. Der größte unter ihnen ist
Johann Tzimiskes (969-76), armenisch Kiur Zan. In Bagdad haben die
+Türken+ die Rolle der Armenier gespielt. Einem ihrer Führer hat
der Khalif Al Watik 842 zuerst den Sultanstitel verliehen. Seit 862
üben die türkischen Prätorianer die Vormundschaft über den Herrscher
aus, und 945 wird der abbassidische Khalif durch Achmed, den Begründer
der Sultansdynastie der Bujiden, in aller Form auf die geistliche
Würde beschränkt. Von da an erhebt sich in beiden Weltstädten ein
rücksichtsloser Kampf der mächtigen Provinzgeschlechter um die
höchste Gewalt. Wenn auf der christlichen Seite vor allem Basileios
II. gegen die großen Latifundienbesitzer vorgeht, so hat das nicht
im geringsten die Bedeutung einer sozialen Gesetzgebung. Es ist ein
Akt der Verteidigung des augenblicklichen Gewalthabers gegen die
möglichen Erben und deshalb am nächsten den Proskriptionen Sullas
und der Triumvirn verwandt. Den Dukas, Phokas und Skleros gehörte
halb Kleinasien; der Kanzler Basileios, der mit seinem fabelhaften
Vermögen eine Armee bezahlen konnte,[507] ist längst mit Crassus
verglichen worden. Aber die eigentliche Kaiserzeit beginnt erst mit
den seldschuckischen Türken.[508] Ihr Führer Togrulbek nahm 1043 den
Irak, 1049 Armenien und zwang 1055 den Khalifen, ihm das erbliche
Sultanat zu übertragen. Sein Sohn Alp Arslan eroberte Syrien und durch
die Schlacht von Mantzikert 1071 das östliche Kleinasien. Der Rest von
Byzanz ist von da an ohne alle Bedeutung für das weitere Schicksal des
türkisch-arabischen Imperiums.

Und dieses Zeitalter ist es, das sich in Ägypten hinter dem Namen der
Hyksoszeit verbirgt. Zwischen der 12. und 18. Dynastie liegen zwei
Jahrhunderte,[509] welche mit dem Zusammenbruch des unter Sesostris
III.[510] auf den Gipfel gelangten _ancien régime_ beginnen und an
deren Ende die Kaiserzeit des Neuen Reiches steht. Schon die Zählung
der Dynastien läßt eine Katastrophe erkennen. In den Königslisten
erscheinen die Namen dicht nach- und nebeneinander, Usurpatoren
dunkelster Herkunft, Generale, Leute mit seltsamen Titeln, manchmal nur
einige Tage regierend. Ägypten zerfällt in eine Anzahl ephemerer Völker
und Herrschaftsgebiete. Gleich mit dem ersten König der 13. Dynastie
brechen die Nilhöheangaben in Semne ab, mit seinem Nachfolger die
Urkunden in Kahun. Es ist die Zeit, aus welcher der Leidener Papyrus
ein Bild der großen sozialen Revolution entwirft.[511] Auf den Sturz
der Regierung und den Sieg der Masse folgen die Aufstände im Heer und
der Aufstieg ehrgeiziger Soldaten. Hier taucht, seit 1680 etwa, der
Name der „Verruchten“, der Hyksos[512] auf, mit dem die Historiker
des Neuen Reiches, die den Sinn der Epoche nicht mehr begriffen oder
begreifen wollten, die Schmach dieser Jahre zugedeckt haben. Diese
Hyksos haben ganz ohne Zweifel die Rolle der Armenier in Byzanz
gespielt, und nicht anders wäre das Schicksal der Kimbern und Teutonen
geworden, wenn sie über Marius und seine aus der großstädtischen Hefe
ergänzten Legionen gesiegt, mit ihren stets erneuerten Massen die Heere
der Triumvirn gefüllt und ihre Führer zuletzt vielleicht an deren
Stelle gesetzt hätten. Was Landfremde damals wagen durften, zeigt
das Beispiel Jugurthas. Es ist ganz gleichgültig, welcher Herkunft
und Zusammensetzung sie waren, ob Leibwachen, aufständische Sklaven,
Jakobiner oder ganze fremde Stämme. Was sie für die ägyptische Welt
ein Jahrhundert lang gewesen sind, darauf kommt es an. Im östlichen
Delta haben sie zuletzt einen Staat begründet und eine Residenz,
Auaris, gebaut.[513] Einer ihrer Führer, Chian, der sich statt des
Pharaonentitels die ganz revolutionären Namen „Umarmer der Länder“ und
„Fürst der jungen Mannschaft“ gab -- ebenso revolutionär wie „_consul
sine collega_“ und „_dictator perpetuus_“ in cäsarischer Zeit
--, ein Mann vielleicht wie Johann Tzimiskes, gebot über ganz Ägypten
und trug seinen Namen bis nach Kreta und an den Euphrat. Aber nach
ihm beginnt der Kampf aller Gaue um das Imperium und aus ihm geht mit
Amosis die Dynastie von Theben als Sieger hervor.

Für uns hat das Zeitalter der kämpfenden Staaten mit Napoleon und der
Gewaltsamkeit seiner Maßregeln begonnen. In seinem Kopf ist zuerst der
Gedanke einer militärischen und zugleich volkstümlichen Weltherrschaft
wirksam geworden, etwas ganz anderes als das Reich Karls V. und das
englische Kolonialreich noch zu seiner Zeit. Wenn das 19. Jahrhundert
an großen Kriegen -- und Revolutionen -- arm gewesen ist und die
schwersten Krisen auf Kongressen diplomatisch überwunden hat, so beruht
das gerade auf einer beständigen so ungeheuren Bereitschaft zum Kriege,
daß die Furcht vor den Folgen in letzter Stunde immer wieder zur
Vertagung der endgültigen Entscheidung und zum Ersatz des Krieges durch
politische Schachzüge geführt hat. Denn dieses Jahrhundert ist das der
stehenden Riesenheere und der allgemeinen Wehrpflicht. Wir sind ihm
noch zu nahe, um das Schauerliche dieses Anblicks und das Beispiellose
innerhalb der gesamten Weltgeschichte zu empfinden. Seit Napoleon
stehen beständig Hunderttausende, zuletzt Millionen, marschbereit,
liegen gewaltige Flotten, die alle zehn Jahre erneuert werden, in den
Häfen. Es ist ein Krieg ohne Krieg, ein Krieg des Überbietens mit
Rüstungen und Schlagfertigkeit, ein Krieg der Zahlen, des Tempo, der
Technik, und die Diplomaten verhandeln nicht von Hof zu Hof, sondern
von Hauptquartier zu Hauptquartier. Je länger die Entladung verzögert
wird, desto ungeheuerlicher werden die Mittel, desto unerträglicher
wächst die Spannung. Das ist die faustische, die dynamische Form der
kämpfenden Staaten in ihrem ersten Jahrhundert, aber sie ist mit der
Entladung des Weltkriegs zu Ende. Denn durch das Aufgebot dieser vier
Jahre ist das der französischen Revolution entstammende, in dieser
Form durch und durch revolutionäre Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht
samt den aus ihr entwickelten taktischen Mitteln überwunden.[514] An
Stelle der stehenden Heere werden von nun an allmählich Berufsheere
freiwilliger und kriegsbegeisterter Soldaten treten, an Stelle der
Millionen wieder die Hunderttausende, aber eben damit wird dieses
zweite Jahrhundert wirklich das der kämpfenden Staaten sein. Das bloße
Dasein +dieser+ Heere ist kein Ersatz des Krieges. Sie sind für
den Krieg da und sie wollen ihn. In zwei Generationen werden sie es
sein, deren Wille stärker ist als der aller Ruhebedürftigen. In diesen
Kriegen um das Erbe der ganzen Welt werden Kontinente angesetzt,
Indien, China, Südafrika, Rußland, der Islam aufgeboten, neue
Techniken und Taktiken gegeneinander ausgespielt werden. Die großen
weltstädtischen Machtmittelpunkte werden über die kleineren Staaten,
ihr Gebiet, ihre Wirtschaft und Menschen nach Gutdünken verfügen; das
alles ist nur noch Provinz, Objekt, Mittel zum Zweck; sein Schicksal
ist ohne Bedeutung für den großen Gang der Dinge. Wir haben in wenigen
Jahren gelernt, Ereignisse kaum noch zu beachten, die vor dem Kriege
die Welt hätten erstarren lassen. Wer denkt heute ernsthaft an die
Millionen, die in Rußland zugrunde gehen?

Daß zwischen diesen Katastrophen voller Blut und Entsetzen immer wieder
der Ruf nach Völkerversöhnung und Frieden auf Erden erschallt, ist in
dem Grade notwendig, als Hintergrund und Widerhall eines großartigen
Geschehens, daß man es auch dort noch annehmen muß, wo nichts davon
überliefert ist wie im Ägypten der Hyksoszeit, in Bagdad und Byzanz.
Man mag den Wunsch einschätzen, wie man will, aber man sollte den Mut
haben, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Das zeichnet den Menschen von
Rasse aus, durch dessen Dasein +allein+ es Geschichte gibt. Das
Leben ist hart, wenn es groß sein soll. Es läßt +nur+ die Wahl
zwischen Sieg und Niederlage, nicht zwischen Krieg und Frieden, und die
Opfer des Sieges gehören zum Siege. Denn es ist nichts als Literatur,
geschriebene, gedachte, gelebte Literatur, die hier anklagend und
eifernd neben den Ereignissen einhergeht. Es sind bloße Wahrheiten,
die sich im Gedränge der Tatsachen verlieren. Die Geschichte hat
nie geruht, von diesen Vorschlägen Kenntnis zu nehmen. In der
chinesischen Welt hat Hiang-sui schon 535 eine Friedensliga zu stiften
versucht. Zur Zeit der kämpfenden Staaten wird dem Imperialismus
(_lienheng_) vor allem in den südlichen Ländern am Jangtse die
Völkerbundsidee (_hohtsung_)[515] entgegengesetzt; sie war von
Anfang an zum Tode verurteilt wie alles Halbe, das dem Ganzen in den
Weg tritt, und verschwand schon vor dem Endsieg des Nordens. Aber beide
wandten sich gegen den antipolitischen Geschmack der Taoisten, die
in diesen furchtbaren Jahrhunderten eine geistige Selbstentwaffnung
vornahmen und sich damit zum bloßen Material herabsetzten, das in
den großen Entscheidungen von andern und für andre verbraucht wurde.
Auch die römische Politik, so fern dem antiken Geiste sonst das
Vorausdenken liegt, hat doch einmal versucht, die Welt in ein System
gleichgeordneter Mächte zu bringen, das fernere Kriege zwecklos
machen sollte: damals, als sie nach der Niederlage Hannibals auf die
Einverleibung des Ostens verzichtete. Das Ergebnis war so, daß die
Partei des jüngeren Scipio zum entschiedenen Imperialismus überging,
um dem Chaos ein Ende zu machen, obwohl ihr Führer mit klarem Blick
das Schicksal seiner Stadt voraussah, welche die antike Unfähigkeit,
irgend etwas zu organisieren, im höchsten Grade besaß. Aber der Weg von
Alexander zu Cäsar ist eindeutig und unvermeidlich, und die stärkste
Nation jeder Kultur hat ihn gehen müssen, ob sie es wollte und wußte
oder nicht.

Vor der Härte dieser Tatsachen gibt es keine Ausflucht. Die
Friedenskonferenz im Haag von 1907 war das Vorspiel zum Weltkrieg,
die in Washington von 1921 wird das Vorspiel neuer Kriege sein. Die
Geschichte dieser Zeit ist nicht mehr ein geistreiches Spiel in
guten Formen um ein Mehr oder Weniger, aus dem man sich jederzeit
zurückziehen kann. Standhalten oder untergehen -- ein drittes gibt
es nicht. Die einzige Moral, welche die Logik der Dinge uns heute
gestattet, ist die eines Bergsteigers auf steilem Grat. Ein Augenblick
der Schwäche, und alles ist zu Ende. Aber alle „Philosophie“ ist
heute nichts als ein innerliches Abdanken und Sichgehenlassen und die
feige Hoffnung, durch Mystik den Tatsachen zu entschlüpfen. Sie war
zur Römerzeit nichts anderes. Tacitus erzählt,[516] wie der berühmte
Musonius Rufus durch Vorträge über die Güter des Friedens und die
Übel des Krieges auf die Legionen, die im Jahre 70 vor den Toren
Roms standen, einzuwirken versuchte und ihren Schlägen kaum entging.
Der Heerführer Avidius Cassius nannte den Kaiser Marc Aurel ein
philosophisches altes Weib.

Was den Nationen des 20. Jahrhunderts an alter und großer Tradition
erhalten bleibt, an historischem Geformtsein, an Erfahrung, die ins
Blut gedrungen ist, erhebt sich damit zu einer Macht ohnegleichen.
Die +schöpferische+ Pietät oder, um es tiefer zu fassen, ein
uralter Takt aus ferner Frühzeit, der im Wollen gestaltend weiterwirkt,
haftet für uns nur an Formen, die älter sind als Napoleon und die
Revolution,[517] die gewachsen und nicht entworfen sind. Jeder noch so
bescheidene Rest davon, der sich im Dasein irgend einer geschlossenen
Minderheit erhält, wird bald genug zu unermeßlichem Werte steigen und
geschichtliche Wirkungen hervorbringen, die im Augenblick noch niemand
für möglich hält. Die Traditionen einer alten Monarchie, eines alten
Adels, einer alten vornehmen Gesellschaft, soweit sie noch gesund genug
sind, um die Politik als Geschäft oder um einer Abstraktion willen
von sich fernzuhalten, soweit sie Ehre, Entsagung, Disziplin, das
echte Gefühl einer großen Sendung besitzen, +Rasseeigenschaften+
also, Zucht, Sinn für Pflichten und Opfer, können zu einem Mittelpunkt
werden, der den Daseinsstrom eines ganzen Volkes zusammenhält, es diese
Zeit überdauern und die Küste der Zukunft erreichen läßt. In Verfassung
sein ist alles. Es handelt sich um die schwerste Zeit, welche die
Geschichte einer hohen Kultur kennt. Die letzte Rasse in Form, die
letzte lebendige Tradition, der letzte Führer, der beides hinter sich
hat, gehen als Sieger durchs Ziel.


15

Cäsarismus nenne ich die Regierungsart, welche trotz aller
staatsrechtlichen Formulierung in ihrem inneren Wesen wieder gänzlich
formlos ist. Es ist gleichgültig, ob Augustus in Rom, Hoangti in
China, Amosis in Ägypten, Alp Arslan in Bagdad ihre Stellung mit
altertümlichen Bezeichnungen umkleiden. Der Geist dieser alten Formen
ist tot.[518] Und deshalb sind alle Institutionen, sie mögen noch so
peinlich aufrecht erhalten werden, von nun an ohne Sinn und Gewicht.
Bedeutung hat nur die ganz persönliche Gewalt, welche der Cäsar oder
an seiner Stelle irgend jemand durch seine Fähigkeiten ausübt. Es
ist die Heimkehr aus einer formvollendeten Welt ins Primitive, ins
Kosmisch-Geschichtslose. Biologische Zeiträume nehmen wieder den Platz
historischer Epochen ein.[519]

Am Anfang, dort, wo die Zivilisation sich zur vollen Blüte entfaltet
-- heute -- steht das Wunder der Weltstadt, das große steinerne
Sinnbild des Formlosen, ungeheuer, prachtvoll, im Übermut sich dehnend.
Sie zieht die Daseinsströme des ohnmächtigen Landes in sich hinein,
Menschenmassen, die wie Dünen aus einer in die andre verweht werden,
wie loser Sand zwischen den Steinen verrieseln. Hier feiern Geist
und Geld ihre höchsten und letzten Siege. Es ist das Künstlichste
und Feinste, was in der Lichtwelt des menschlichen Auges erscheint,
etwas Unheimliches und Unwahrscheinliches, das fast schon jenseits der
Möglichkeiten kosmischer Gestaltung steht.

Dann aber treten die ideenlosen Tatsachen wieder nackt und riesenhaft
hervor. Der ewig-kosmische Takt hat die geistigen Spannungen einiger
Jahrhunderte endgültig überwunden. In Gestalt der Demokratie hatte
das Geld triumphiert. Es gab eine Zeit, wo es allein oder fast
allein Politik machte. Aber sobald es die alten Ordnungen der Kultur
zerstört hat, taucht aus dem Chaos eine neue, übermächtige, bis in den
Urgrund alles Werdens hinabreichende Größe empor: die Menschen von
cäsarischem Schlage. An ihnen geht die Allmacht des Geldes zugrunde.
+Die Kaiserzeit bedeutet, und zwar in jeder Kultur, das Ende der
Politik von Geist und Geld.+ Die Mächte des Blutes, die urwüchsigen
Triebe alles Lebens, die ungebrochne körperliche Kraft treten ihre
alte Herrschaft wieder an. Die Rasse bricht rein und unwiderstehlich
hervor: der Erfolg des Stärksten und der Rest als Beute. Sie ergreift
das Weltregiment, und das Reich der Bücher und Probleme erstarrt
oder versinkt in Vergessenheit. Von nun an werden Heldenschicksale
im Stil der Vorzeit wieder möglich, die nicht durch Kausalitäten für
das Bewußtsein verschleiert sind. Es gibt keinen inneren Unterschied
mehr zwischen dem Leben des Septimius Severus und Gallienus oder
dem Alarichs und Odoakers. Ramses, Trajan, Wu-ti gehören in das
gleichförmige Auf und Nieder geschichtloser Zeiträume.[520]

Seit dem Anbruch der Kaiserzeit gibt es keine politischen Probleme
mehr. Man findet sich ab mit den Lagen und Gewalten, die vorhanden
sind. Ströme von Blut hatten zur Zeit der kämpfenden Staaten das
Pflaster aller Weltstädte gerötet, um die großen Wahrheiten der
Demokratie in Wirklichkeit zu verwandeln und Rechte zu erkämpfen, ohne
die das Leben nicht wert schien, gelebt zu werden. Jetzt +sind+
diese Rechte erobert, aber die Enkel sind selbst durch Strafen nicht
mehr zu bewegen, von ihnen Gebrauch zu machen. Hundert Jahre später,
und sogar die Historiker verstehen die alten Streitfragen nicht mehr.
Schon zur Zeit Cäsars beteiligte sich die anständige Bevölkerung
kaum noch an den Wahlen.[521] Es hat dem großen Tiberius das Leben
verbittert, daß die fähigsten Männer seiner Zeit sich von aller
Politik zurückhielten, und Nero konnte auch durch Drohungen die Ritter
nicht mehr zwingen, zur Ausübung ihrer Rechte nach Rom zu kommen. Das
ist das Ende der großen Politik, die einst ein Ersatz des Krieges
durch geistigere Mittel gewesen war und nun dem Kriege in seiner
ursprünglichsten Gestalt wieder Platz macht.

Es heißt deshalb den Sinn der Zeit vollständig verkennen, wenn
Mommsen[522] eine tiefsinnige Zergliederung der von Augustus
geschaffenen „Dyarchie“ mit ihrer Gewaltenteilung zwischen Prinzeps
und Senat vornimmt. Ein Jahrhundert vorher wäre diese Verfassung
etwas Wirkliches gewesen, eben deshalb aber auch keinem der damaligen
Gewaltmenschen in den Sinn gekommen. Jetzt bedeutet sie nichts als
den Versuch einer schwachen Persönlichkeit, sich über unwiderrufliche
Tatsachen durch bloße Formen hinwegzutäuschen. Cäsar sah die Dinge,
wie sie waren, und richtete seine Herrschaft ohne Sentimentalität
nach praktischen Gesichtspunkten ein. Die Gesetzgebung seiner letzten
Monate beschäftigte sich ausschließlich mit Übergangsbestimmungen, von
denen keine einzige für die Dauer gedacht war. Eben das hat man immer
übersehen. Er war ein viel zu tiefer Kenner der Dinge, um in diesem
Augenblick, dicht vor dem Partherfeldzug, die Entwicklung vorauswissen
und endgültige Formen für sie festsetzen zu wollen. Augustus aber war
wie vor ihm Pompejus nicht der Herr seines Anhangs, sondern durchaus
von ihm und dessen Anschauungen abhängig. Die Form des Prinzipats ist
gar nicht seine Erfindung, sondern die doktrinäre Durchführung eines
veralteten Parteiideals, das ein anderer Schwächling, Cicero, entworfen
hatte.[523] Als Augustus am 13. Januar 27 in einer ehrlich gemeinten,
aber eben deshalb um so sinnloseren Szene dem „Senat und Volk von
Rom“ die Staatsgewalt zurückgab, behielt er das Tribunat für sich,
und das war in der Tat das einzige Stück politischer Wirklichkeit,
das damals zum Vorschein kam. Der Tribun war der legitime Nachfolger
des Tyrannen,[524] und schon C. Gracchus hatte 122 dem Titel einen
Inhalt gegeben, der nicht mehr durch die gesetzmäßigen Schranken eines
Amtes, sondern nur noch durch die persönlichen Talente des Inhabers
begrenzt wurde. Von ihm führt eine gerade Linie über Marius und Cäsar
zu dem jungen Nero, als er den politischen Absichten seiner Mutter
Agrippina entgegentrat. Dagegen war der Prinzeps[525] von nun an
ein Kostüm, ein Rang, vielleicht eine gesellschaftliche, sicherlich
aber nicht mehr eine politische Tatsache. Gerade dieser Begriff
war in der Theorie Ciceros mit einem verklärenden Schimmer umgeben
und +schon von ihm+ mit dem des Divus verbunden worden.[526]
Dagegen ist die „Mitarbeit“ von Senat und Volk eine altertümliche
Zeremonie, in der nicht mehr Leben enthalten war als in den ebenfalls
von Augustus wieder hergestellten Bräuchen der Arvalbrüder. Aus den
großen Parteien der Gracchenzeit waren längst Gefolgschaften geworden,
Cäsarianer und Pompejaner, und endlich war auf der einen Seite die
formlose Allgewalt geblieben, „die Tatsache“ im brutalsten Sinne,
„der Cäsar“ oder wer ihn unter seinen Einfluß zu bringen vermochte,
und auf der andern Seite das Häuflein beschränkter Ideologen, die
ihr Mißvergnügen hinter einer Philosophie verbargen und von da aus
mit Verschwörungen ihrem Ideal aufzuhelfen suchten. Es waren in Rom
die Stoiker, in China die Konfuzianer. Erst jetzt versteht man die
berühmte „große Bücherverbrennung“, die der chinesische Augustus 212
v. Chr. anordnete und die in den Köpfen später Literaten den Schein
einer ungeheuerlichen Barbarei angenommen hat. Aber Cäsar war den
stoischen Schwärmern für ein unmöglich gewordenes Ideal zum Opfer
gefallen;[527] dem Divuskult wurde in stoischen Kreisen ein Cato-
und Brutuskult entgegengestellt; die Philosophen im Senat (damals
nur noch eine Art Adelsklub) wurden nicht müde, den Untergang der
„Freiheit“ zu beklagen und Verschwörungen wie die pisonische von 65
anzustiften, was beim Tode Neros beinahe die Zustände der Zeit Sullas
wieder heraufbeschworen hätte. Deshalb ließ Nero den Stoiker Pätus
Thrasea, und Vespasian den Helvidius Priscus hinrichten, und deshalb
wurde das Geschichtswerk des Cremutius Cordus, in dem Brutus als der
letzte Römer gepriesen worden war, überall in Rom eingesammelt und
verbrannt. Es war ein Akt der Notwehr des Staates gegenüber einer
blinden Ideologie, wie wir ähnliche von Cromwell und Robespierre
kennen, und in genau derselben Lage befanden sich die chinesischen
Cäsaren gegenüber der Schule des Konfuzius, die einst ihr Ideal einer
Staatsordnung herausgearbeitet hatte und nun die Wirklichkeit nicht
zu ertragen verstand. Die große Bücherverbrennung war nichts als die
Zerstörung eines Teils der politisch-philosophischen Literatur und die
Aufhebung der Lehrbetriebe und geheimen Organisationen.[528] Diese
Abwehr hat in beiden Imperien ein Jahrhundert gedauert; dann war
selbst die Erinnerung an parteipolitische Leidenschaften geschwunden,
und die beiden Philosophien wurden die herrschende Weltstimmung der
reifen Kaiserzeit.[529] Die Welt aber ist nun der Schauplatz tragischer
+Familiengeschichten+, welche die Staatengeschichte ablösen,
wie sie das julisch-claudische Haus und das des Schi Hoang ti (schon
206 v. Chr.) vernichtet haben und wie sie aus den Schicksalen der
ägyptischen Herrscherin Hatschepsut und ihrer Brüder (1501-1447)
düster aufleuchten. Es ist der letzte Schritt zum Definitiven. Mit
dem Weltfrieden -- +dem Frieden der hohen Politik+ -- tritt die
„Schwertseite“[530] des Daseins zurück und die „Spindelhälfte“ herrscht
wieder; es gibt nur noch +Privat+geschichte, private Schicksale,
privaten Ehrgeiz, von den kümmerlichen Nöten des Fellachen angefangen
bis zu den wüsten Fehden der Cäsaren um den +Privatbesitz der
Welt+. Die Kriege im Zeitalter des Weltfriedens sind Privatkriege,
furchtbarer als alle Staatenkriege, weil sie formlos sind.

Denn der Weltfriede -- der oft schon dagewesen ist -- enthält den
privaten Verzicht der ungeheuren Mehrzahl auf den Krieg, damit aber
auch die uneingestandene Bereitschaft, die Beute der andern zu werden,
die +nicht+ verzichten. Es beginnt mit dem staatenzerstörenden
Wunsch einer allgemeinen Versöhnung und endet damit, daß niemand die
Hand rührt, sobald das Unglück nur den Nachbar trifft. Schon unter
Marc Aurel dachte jede Stadt und jeder Landstrich nur an sich, und die
Tätigkeit des Herrschers war eine Privatsache neben den andern. Den
Fernwohnenden waren er, seine Truppen und Ziele ebenso gleichgültig wie
die Absichten der germanischen Heerhaufen. Auf dieser +seelischen+
Voraussetzung entfaltet sich ein zweites Wikingertum. Das „in Form
sein“ geht von den Nationen auf die Scharen und Gefolgschaften von
Abenteurern über, mögen sie Cäsaren, abtrünnige Heerführer oder
Barbarenkönige heißen, für welche die Bevölkerung zuletzt nichts
als ein Bestandteil der Landschaft ist. Es besteht eine tiefe
Verwandtschaft zwischen den Helden der mykenischen Vorzeit und den
römischen Soldatenkaisern, zwischen Menes vielleicht und Ramses II. Für
die germanische Welt werden die Geister Alarichs und Theoderichs wieder
erwachen, wovon die Erscheinung Cecil Rhodes’ eine erste Ahnung gibt;
und die stammfremden Henker der russischen Vorzeit von Dschingiskhan
bis Trotzki, zwischen denen die Episode des petrinischen Zarentums
liegt, sind doch nicht allzu verschieden von manchen Prätendenten der
romanischen Republiken Mittelamerikas, deren Privatkämpfe dort die
formvolle Zeit des spanischen Barock längst abgelöst haben.

Mit dem geformten Staat hat auch die hohe Geschichte sich schlafen
gelegt. Der Mensch wird wieder Pflanze, an der Scholle haftend, dumpf
und dauernd. Das zeitlose Dorf, der „ewige“ Bauer[531] treten hervor,
Kinder zeugend und Korn in die Mutter Erde versenkend, ein emsiges,
genügsames Gewimmel, über das der Sturm der Soldatenkaiser hinbraust.
Mitten im Lande liegen die alten Weltstädte, leere Gehäuse einer
erloschenen Seele, in die sich geschichtslose Menschheit langsam
einnistet. Man lebt von der Hand in den Mund, mit einem kleinen,
sparsamen Glück, und duldet. Massen werden zertreten in den Kämpfen
der Eroberer um Macht und Beute dieser Welt, aber die Überlebenden
füllen mit primitiver Fruchtbarkeit die Lücken und dulden weiter. Und
während man in den Höhen siegt und unterliegt in ewigem Wechsel, betet
man in der Tiefe, betet mit jener mächtigen Frömmigkeit der zweiten
Religiosität, die alle Zweifel für immer überwunden hat.[532] Da,
in den Seelen, ist der Weltfriede Wirklichkeit geworden, der Friede
Gottes, die Seligkeit greiser Mönche und Einsiedler, und da allein. Er
hat jene Tiefe im Ertragen von Leid geweckt, welche der historische
Mensch in dem Jahrtausend seiner Entfaltung nicht kennen lernt. Erst
mit dem Ende der großen Geschichte tritt das heilige, stille Wachsein
wieder hervor. Es ist ein Schauspiel, das in seiner Zwecklosigkeit
erhaben ist, zwecklos und erhaben wie der Gang der Gestirne, die
Drehung der Erde, der Wechsel von Land und Meer, von Eis und Urwäldern
auf ihr. Man mag es bewundern oder beweinen -- aber es ist da.


    [392] S. 189 ff.

    [393] S. 204 ff.

    [394] Deshalb verwerfen sie die Rechte von Adel und Geistlichkeit
    und verteidigen die von Geld und Geist, mit einer ausgesprochenen
    Parteinahme für den beweglichen gegenüber dem unbeweglichen Besitz.

    [395] S. 89 ff. Der entsprechende Versuch der absolutistisch
    gesinnten Stuarts, das römische Recht in England einzuführen, ist
    vor allem durch den puritanischen Juristen Coke († 1634) vereitelt
    worden, wieder ein Beweis dafür, daß der Geist eines Rechts immer
    Parteigeist ist.

    [396] S. 75 ff.

    [397] Vor allem auf dem Gebiet der Ehescheidung, für welche die
    staatliche und die kirchliche Auffassung unvermittelt nebeneinander
    gelten.

    [398] Das sind die Formen des „Nachtwächterstaates“ und des
    „Kasernenstaates“, wie sie von Gegnern spöttisch und verständnislos
    genannt worden sind. Ähnlich gedachte Bezeichnungen finden sich
    auch in chinesischen und griechischen Staatstheorien: O. Franke,
    Studien zur Geschichte des konfuzianischen Dogmas (1920), S.
    211 ff.; R. v. Pöhlmann, Geschichte der sozialen Frage und des
    Sozialismus in der antiken Welt (1912). Dagegen gehört der
    politische Geschmack z. B. Wilhelms v. Humboldt, der als Klassizist
    dem Staate das Individuum gegenüberstellt, überhaupt nicht in
    die politische, sondern in die Literaturgeschichte. Denn hier
    wird nicht die Lebensfähigkeit des Staates innerhalb der wirklich
    vorhandenen Staatenwelt ins Auge gefaßt, sondern das Privatdasein
    für sich ohne Rücksicht darauf, ob ein solches Ideal angesichts der
    vernachlässigten äußeren Lage auch nur einen Augenblick bestehen
    könnte. Es ist ein Grundfehler der Ideologen, daß sie gegenüber dem
    Privatleben und dem ganz darauf bezogenen Innenbau eines Staates
    von dessen äußerer Machtstellung, die in Wirklichkeit die Freiheit
    der inneren Gestaltung ganz und gar bedingt, völlig absehen. Der
    Unterschied der französischen und deutschen Revolution z. B.
    besteht darin, daß die eine von Anfang an die äußere Lage und
    +damit+ die innere beherrscht hat, die andre nicht. Damit war diese
    von vornherein eine Farce.

    [399] Die durchaus nicht mit Wirtschaftsgeschichte im Sinne des
    historischen Materialismus identisch ist. Darüber im nächsten
    Kapitel.

    [400] Denn die hohen Kirchenwürden sind in diesen Jahrhunderten
    ausschließlich an den Adel Europas vergeben worden, der die
    politischen Eigenschaften seines Blutes in ihren Dienst stellte.
    Aus dieser Schule sind dann wieder Staatsmänner wie Richelieu,
    Mazarin und Talleyrand hervorgegangen.

    [401] S. 434.

    [402] Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 244.

    [403] Auch von der chinesischen Kritik. Dagegen Schindler, Das
    Priestertum im alten China I, S. 61 ff.; Conrady, China, S. 533.

    [404] S. 432 f.

    [405] _Compotus_, _contrarotulus_ (die zur Prüfung aufbewahrte
    Gegenrolle), _quittancia_, _recordatum_.

    [406] S. 342.

    [407] „Für den Herrscher der Mitte gibt es kein Ausland“
    (Kung-Tang). „Der Himmel spricht nicht; er läßt durch einen
    Menschen seine Gedanken verkünden“ (Tung Tschung-schu). Seine
    Verfehlungen wirken durch den ganzen Kosmos hindurch und führen
    zu Erschütterungen in der Natur (O. Franke, Zur Geschichte des
    konfuzianischen Dogmas, 1920, S. 212 ff., 244 f.). Dem antiken
    und indischen Staatsdenken liegt dieser mystisch-universale Zug
    gänzlich fern.

    [408] Es darf nicht vergessen werden, daß der ungeheure Grundbesitz
    der Kirche Erblehen der Bistümer und Erzbistümer geworden war, die
    gar nicht daran dachten, dem Papst als Lehnsherrn Eingriffe zu
    gestatten.

    [409] Nach dem Sturz der Tyrannis um 500 fuhren die beiden Regenten
    des römischen Patriziats die Titel Prätor oder Judex, aber eben
    deshalb scheint es mir wahrscheinlich, daß sie über die Tyrannis
    und die ihr vorausliegende Zeit einer Oligarchie bis in das echte
    Königtum hinaufragen und als Hofämter denselben Ursprung haben
    wie der Herzog (_prae-itor_, Heerwart, in Athen Polemarch) und
    Graf (Dinggraf, Erbrichter, in Athen Archon). Die Bezeichnung
    Konsul (seit 366) ist sprachlich ganz archaisch und bedeutet also
    keine Neuschöpfung, sondern die Wiederbelebung eines Titels (Rat
    des Königs?), der vielleicht aus oligarchischen Stimmungen lange
    verpönt gewesen war.

    [410] Beloch, Griechische Geschichte I, 1, S. 214 ff.

    [411] Die Spartiaten brachten in der besten Zeit des 6.
    Jahrhunderts etwa 4000 wehrfähige Männer auf gegenüber einer
    Gesamtbevölkerung von fast 300000 Heloten und Periöken (Ed.
    Meyer, Gesch. d. Alt. III, § 264); etwa eben so stark werden auch
    die römischen Geschlechter damals der Klientel und den Latinern
    gegenüber gewesen sein.

    [412] Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 264.

    [413] Ebda § 267 f.

    [414] V. Ehrenberg, Die Rechtsidee im frühen Griechentum (1921), S.
    65 ff.

    [415] S. 22 f.

    [416] S. 204 f.

    [417] S. 217 ff.

    [418] F. Cumont, Mysterien des Mithra (1910), S. 74 ff. Die
    Sassanidenregierung, die um 300 vom Lehnswesen zum Ständestaat
    überging, ist in jeder Beziehung das Vorbild von Byzanz geworden,
    im Zeremoniell, im ritterlichen Kriegswesen, in der Verwaltung
    und vor allem im Typus des Herrschers. Vgl. auch A. Christensen,
    L’empire des Sassanides, le peuple, l’état, la cour (Kopenhagen
    1907).

    [419] Ed. Meyer, Kl. Schriften S. 146.

    [420] S. 297.

    [421] Krumbacher, Byzantin. Literaturgeschichte S. 918.

    [422] Auf die Ausgestaltung dieses Bildes wirft die Tatsache ein
    helles Licht, daß die Nachkommen der angeblich gestürzten Dynastien
    Hia und Shang in den Staaten Ki und Sung während der ganzen
    Dschouzeit herrschten (Schindler, Das Priestertum im alten China I,
    S. 39). Das beweist erstens, daß das Bild des Kaisertums auf eine
    frühere und vielleicht sogar gleichzeitige Machtstellung +dieser
    Staaten+ zurückgespiegelt worden ist, vor allem aber, daß Dynastie
    auch hier nicht die uns geläufige Größe ist, sondern einen ganz
    anderen Familienbegriff voraussetzt. Damit vergleichbar ist die
    Fiktion, daß der deutsche König, der stets auf fränkischem Boden
    gewählt und in der Grabkapelle Karls des Großen gekrönt wird, als
    „Franke“ gilt, woraus unter andern Umständen sich die Vorstellung
    einer Frankendynastie von Karl bis Konradin hätte entwickeln können
    (v. Amira, German. Recht bei Herm. Paul, Grundriß III, S. 147
    Anm.). Seit der konfuzianischen Aufklärung ist dieses Bild dann
    zur Grundlage einer Staatstheorie gemacht und noch später von den
    Cäsaren benützt worden (S. 386).

    [423] O. Franke, Stud. z. Gesch. d. Konf. Dogmas, S. 247, 251.

    [424] Ein bezeichnendes Beispiel ist die als gesetzwidrig
    bestrittene Personalunion der Staaten Ki und Tseng bei Franke S.
    251.

    [425] Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 281.

    [426] G. Busolt, Griech. Staatskunde (1920), S. 319 ff. Wenn U. v.
    Wilamowitz (Staat und Gesellschaft der Griechen, 1910, S. 53) das
    patriarchalische Königtum bestreitet, so verkennt er den gewaltigen
    Abstand des in der Odyssee angedeuteten Zustandes des achten
    Jahrhunderts von dem des zehnten.

    [427] A. Rosenberg, Der Staat der alten Italiker (1913), S. 75 f.

    [428] +Ständische+ Parteien waren auch die beiden großen
    Genossenschaften in Byzanz, die ganz falsch als „Zirkusparteien“
    bezeichnet werden. Diese Blauen und Grünen nannten sich Demoi und
    hatten ihre Vorstände. Der Zirkus war wie 1789 das Palais Royal
    nur der Ort der öffentlichen Kundgebungen, und hinter diesen
    stand die Ständeversammlung des Senats. Als Anastasius I. 520
    die monophysitische Richtung zur Geltung brachte, sangen die
    Grünen dort tagelang orthodoxe Hymnen und zwangen den Kaiser zur
    öffentlichen Abbitte. Das abendländische Seitenstück dazu bilden
    die Pariser Parteien unter den „drei Heinrichen“ (1580), die
    Guelfen und Ghibellinen in dem Florenz Savonarolas und vor allem
    die aufständischen Faktionen in Rom unter Papst Eugen IV. Die
    Niederschlagung des Nikaaufstandes 532 durch Justinian endet denn
    auch mit der Begründung des staatlichen Absolutismus gegenüber den
    Ständen.

    [429] Daraus ergibt sich ein doppelter Siedlungsbegriff. Während
    z. B. die preußischen Könige Ansiedler in ihr +Land+ riefen wie die
    Salzburger Protestanten und die französischen Refugiés, hat Gelon
    von Syrakus um 480 die Bevölkerung ganzer Städte zwangsweise nach
    Syrakus geführt, das damit plötzlich die erste Großstadt der Antike
    wurde.

    [430] Aus dieser Zeit stammen die in Gräbern am Esquilin gefundenen
    griechischen Lekythen.

    [431] Wissowa, Religion der Römer S. 242.

    [432] W. Schulze, Zur Geschichte lateinischer Eigennamen S. 379
    ff., 580 f.

    [433] S. 435.

    [434] Das kommt auch in dem Verhältnis des Pontifex maximus zum Rex
    sacrorum zum Ausdruck. Dieser gehört mit den drei großen Flamines
    zum Königtum; die Pontifices und die Vestalinnen gehören zum Adel.

    [435] S. 71 ff.

    [436] S. 207 f.

    [437] Das ist deutlich zu ersehen aus Wilcken, Grundzüge der
    Papyruskunde, 1912, S. 1 ff.

    [438] Ed. Meyer, Cäsars Monarchie (1918), S. 308.

    [439] Plutarch und Appian beschreiben die Menschenmasse, die auf
    allen Straßen Italiens zur Abstimmung über die Gesetze des Ti.
    Gracchus nach Rom wandert. Aber daraus geht hervor, daß dergleichen
    noch nie dagewesen war, und gleich nach seinem Gewaltschritt
    gegen Oktavius sieht Gracchus den Untergang vor Augen, weil die
    Menge wieder nach Hause geströmt und nicht zum zweiten Male
    zusammenzubringen ist. Zur Zeit Ciceros bestanden die Komitien oft
    nur in der Besprechung einiger Politiker, ohne daß sonst jemand
    teilnahm; aber nie ist einem Römer der Gedanke gekommen, die
    Abstimmung an den Wohnort der einzelnen zu verlegen, auch nicht den
    für das Bürgerrecht kämpfenden Italikern (90), so stark war das
    Gefühl der Polis.

    [440] In den abendländischen Dynastiestaaten gilt das Privatrecht
    für deren +Gebiet+ und also für alle darin Anwesenden ohne
    Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit. Im Stadtstaat aber ist die
    Geltung des Privatrechts für den einzelnen erst eine Folge des
    Bürgerrechts. Die _civitas_ bedeutet deshalb unendlich viel mehr
    als die moderne Staatsangehörigkeit, denn ohne sie ist der Mensch
    rechtlos und als Person nicht vorhanden.

    [441] S. 69.

    [442] Gercke-Norden, Einl. i. d. Alt-Wiss. II, S. 202.

    [443] Busolt, Griech. Geschichte II, S. 346 ff.

    [444] S. 346, 375. Die Fronde und Tyrannis ist mit dem Puritanismus
    ebenso tief verwandt -- dieselbe Epoche, in der politischen statt
    der religiösen Welt erscheinend -- wie die Reformation mit dem
    Ständestaat, der Rationalismus mit der bürgerlichen Revolution und
    die „zweite Religiosität“ mit dem Cäsarismus.

    [445] G. Wissowa, Religion d. Römer S. 297 ff.

    [446] Beloch, Griech. Geschichte I, 1, S. 354.

    [447] Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 281.

    [448] ebda. § 280 ff.

    [449] Über die Sicherung der Thronfolge vgl. S. 471.

    [450] § 286.

    [451] § 283. A. Erman, Die Mahnworte eines ägyptischen Propheten,
    Sitz. Preuß. Ak. 1919, S. 804 ff.

    [452] S. Plath, Verfassung und Verwaltung Chinas, Abh. Münch. Ak.
    1864, S. 97. O. Franke, Stud. z. Gesch. d. Konf. Dogmas, S. 255 ff.

    [453] Der fünfzigjährige Abstand dieser kritischen Punkte, der
    sich in dem klaren geschichtlichen Aufbau des Barock besonders
    deutlich abhebt und auch in der Folge der drei punischen Kriege
    erkennbar wird, deutet wieder darauf hin, daß die kosmischen
    Flutungen in Gestalt des menschlichen Lebens an der Oberfläche
    eines kleinen Gestirns nichts irgendwie für sich Bestehendes sind,
    sondern mit dem unendlichen Bewegtsein des Alls in tiefem Einklang
    stehen. In einem kleinen merkwürdigen Buch: R. Mewes, Die Kriegs-
    und Geistesperioden im Völkerleben und Verkündigung des nächsten
    Weltkrieges (1896) ist die Verwandtschaft dieser Kriegsperioden
    mit Perioden der Witterung, der Sonnenflecken und gewisser
    Planetenkonstellationen festgestellt und daraufhin ein großer Krieg
    für 1910-20 angesetzt worden. Aber diese und zahllose ähnliche
    Zusammenhänge, die in den Bereich unsrer Sinne treten (vgl. S. 5
    ff.), bergen ein Geheimnis, das wir zu ehren haben und nicht durch
    kausale Erklärungen oder mystische Gedankengespinste antasten
    sollten.

    [454] Hierzu und zum Folgenden „Preußentum und Sozialismus“ S. 31
    ff.

    [455] _Landed_ und _funded interest_ (J. Hatschek, Engl.
    Verfassungsgeschichte (1913), S. 589 ff.). R. Walpole, der
    Organisator der Whigpartei (seit 1714), pflegte sich und den
    Staatssekretär Townshend als „die Firma“ zu bezeichnen, die mit
    verschiedenen Inhabern bis 1760 unumschränkt regiert hat.

    [456] R. v. Pöhlmann, Griech. Gesch. (1914), S. 223-245.

    [457] Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. V, § 809. Wenn das Latein erst ganz
    spät, nach Alexander dem Großen, Literatursprache wird, so folgt
    daraus nur, daß unter den Tarquiniern der Gebrauch des Griechischen
    und Etruskischen allgemein üblich war, was sich für eine Stadt
    von dieser Größe und Lage, die mit Karthago in Beziehungen steht,
    mit Kyme gemeinsam Kriege führt und das Schatzhaus von Massalia
    in Delphi benützt, deren Maß- und Gewichtsordnung dorisch, deren
    Kriegswesen sizilisch ist, und in der es eine große Fremdenkolonie
    gab, von selbst versteht. Livius (IX, 36) bemerkt nach alten
    Angaben, daß gegen 300 noch die römischen Knaben ebenso in
    etruskischer Bildung erzogen wurden, wie später in griechischer.
    Die uralte Form Ulixes für Odysseus beweist, daß die homerische
    Heldensage hier nicht nur bekannt, sondern volkstümlich war
    (vgl. S. 349). Die Sätze des Zwölftafelrechts (um 450) stimmen
    mit den etwa gleichaltrigen des Rechts von Gortyn auf Kreta
    nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch so genau überein,
    daß den römischen Patriziern, welche sich damit befaßten, das
    Juristengriechisch ganz geläufig gewesen sein muß.

    [458] Diese Maßregel -- eine Usurpation der Verwaltung durch das
    Volksheer -- entspricht der Einsetzung von Konsulartribunen in Rom
    durch die Militärunruhen von 438.

    [459] Nach B. Niese. Daß das Dezemvirat zunächst als
    vorübergehendes Amt gedacht war, darin hat die moderne Forschung
    recht; es fragt sich aber, welche Absichten die hinter ihm stehende
    Partei mit der Neuordnung der Ämter verband, und +darüber+ muß es
    zu einer Krise gekommen sein.

    [460] A. Wahl, Vorgeschichte der französischen Revolution Bd.
    II (1907), die einzige Darstellung von weltgeschichtlichen
    Gesichtspunkten. Alle Franzosen, auch die modernsten wie Aulard
    und Sorel, sehen die Dinge von irgend einem Parteistandpunkt aus
    an. Es ist materialistischer Unsinn, von wirtschaftlichen Ursachen
    dieser Revolution zu reden. Die Lage war selbst unter den Bauern
    -- von denen die Erregung gar nicht ausging -- besser als in den
    meisten andern Ländern. Die Katastrophe beginnt vielmehr unter den
    +Gebildeten+ und zwar +aller+ Stände, im hohen Adel und Klerus noch
    etwas früher als im höheren Bürgertum, weil der Verlauf der ersten
    Notabelnversammlung (1787) die Möglichkeit enthüllt hatte, die
    Regierungsform nach Standeswünschen radikal umzugestalten.

    [461] Selbst die sehr provinziale Märzrevolution in Deutschland war
    eine rein städtische Angelegenheit und spielte sich deshalb unter
    einem verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung ab.

    [462] S. 114, 375.

    [463] S. 430, 441.

    [464] J. Hatschek, Engl. Verfassungsgeschichte, S. 588.

    [465] Aber selbst während der Schreckenszeit befand sich mitten in
    Paris die Anstalt des Dr. Belhomme, in der Angehörige des höchsten
    Adels tafelten und tanzten und außer aller Gefahr waren, solange
    sie zahlen konnten (G. Lenôtre, Das revolutionäre Paris, S. 409).

    [466] Die große Bewegung, welche sich der Schlagworte von Marx
    bedient, hat das Unternehmertum nicht von den Arbeitern, sondern
    beide von der Börse abhängig gemacht.

    [467] Die beiden Parteien leiten ihre Tradition und Sitte bis 1680
    zurück.

    [468] Die moralisch-politische Aufklärung ist auch in England ein
    Produkt des dritten Standes (Priestley, Paley, Paine, Godwin)
    und weiß deshalb mit dem vornehmen Geschmack Shaftesburys nichts
    anzufangen.

    [469] Der Schatzkanzler Pelham, Nachfolger Walpoles, ließ durch
    seinen Sekretär am Ende jeder Session den Mitgliedern des
    Unterhauses 500-800 Pfund in die Hände drücken, je nach dem Wert
    ihrer der Regierung, d. h. der Whigpartei, geleisteten Dienste.
    Der Parteiagent Dodington schrieb 1741 über seine parlamentarische
    Tätigkeit: „Ich war nie bei einer Debatte anwesend, wenn ich es
    vermeiden, und nie bei einer Abstimmung abwesend, die ich mitmachen
    konnte. Ich hörte manche Gründe, die mich überzeugten, aber nie
    einen, der meine Abstimmung beeinflußt hat.“

    [470] Daß ein solches Ideal des persönlichen Regiments hier
    tatsächlich die Diktatur im Interesse bürgerlicher und aufgeklärter
    Ideale bedeutet, ergibt sich aus dem Gegensatz zum strengen
    Staatsideal der Polis, an welcher nach Isokrates der Fluch des
    Nichtsterbenkönnens haftet.

    [471] Diodor XIV, 7. Das Schauspiel wiederholt sich 317, als
    Agathokles, ein ehemaliger Töpfer, seine Söldnerbanden und den
    Mob über die neue Oberschicht herfallen ließ. Nach dem Gemetzel
    trat „das Volk“ der „gereinigten Stadt“ zusammen und übertrug dem
    „Retter der wahren und echten Freiheit“ die Diktatur: Diodor XIX, 6
    ff. Über die ganze Bewegung Busolt, Griech. Staatskunde S. 396 ff.
    und Pöhlmann, Gesch. d. soz. Frage I, S. 416 ff.

    [472] Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. IV, § 626, 630.

    [473] H. Delbrück, Geschichte der Kriegskunst (1908) I, S. 142.

    [474] Das Todesjahr des Dionys, was vielleicht kein Zufall ist.

    [475] 3-6 _tribuni militares consulari potestate_ statt der
    Konsuln. Gerade damals muß durch die Einführung des Soldes und
    der langen Dienstzeit innerhalb der Legionen ein Stamm wirklicher
    Berufssoldaten entstanden sein, welche die Wahl der Centurionen in
    der Hand hatten und den Geist der Truppe bestimmten. Es ist ganz
    falsch, jetzt noch vom Bauernaufgebot zu reden, ganz abgesehen
    davon, daß die vier großen Stadttribus einen erheblichen Teil der
    Mannschaft lieferten, deren Einfluß noch über die Zahl hinausging.
    Selbst die altertümelnde Schilderung des Livius und anderer läßt
    deutlich erkennen, welchen Einfluß die stehenden Verbände auf den
    Kampf der Parteien ausgeübt haben.

    [476] Die nach K. J. Neumann auf den großen Censor zurückgeht.

    [477] Nach römischem Recht erhält der freigelassene Sklave ohne
    weiteres das Bürgerrecht mit geringen Einschränkungen; da das
    Sklavenmaterial dem ganzen Mittelmeergebiet und vor allem dem
    Osten entstammte, so sammelte sich in den vier Stadttribus eine
    ungeheure wurzellose Masse an, die allen Tendenzen des altrömischen
    Blutes fern stand und diese rasch zerstört hat, als es ihr seit der
    gracchischen Bewegung gelungen war, die große Zahl zur Geltung zu
    bringen.

    [478] Die Nobilität entwickelt sich seit dem Ende des 4.
    Jahrhunderts zu einem geschlossenen Kreise der Familien, welche
    Konsuln unter ihren Vorfahren hatten oder gehabt haben wollten.
    Je strenger auf diese Bedingung gehalten wurde, desto häufiger
    werden die Fälschungen der älteren Konsulnliste, um die im
    Aufstieg begriffenen Familien von starker Rasse und Begabung zu
    „legitimieren“. Der erste ganz revolutionäre Höhepunkt dieser
    Fälschungen liegt in der Epoche des Appius Claudius, wo der
    kurulische Ädil Cn. Flavius, Sohn eines Sklaven, die Liste
    ordnete -- damals wurden auch die Beinamen römischer Könige
    nach plebejischen Geschlechtern erfunden --, der zweite in
    der Zeit der Schlacht von Pydna (168), als die Herrschaft der
    Nobilität cäsarische Formen anzunehmen begann. (E. Kornemann, Der
    Priesterkodex in der Regia, 1912, S. 56 ff.) Von den 200 Konsulaten
    232-133 entfallen 159 auf 26 Familien, und von da an, wo die Rasse
    verbraucht war und man deshalb um so peinlicher auf die Form als
    solche hielt, wird der _homo novus_ -- wie Cato und Cicero -- eine
    seltene Erscheinung.

    [479] Und selbst in Frankreich, wo der Richterstand in den
    Parlements die Regierung offen verhöhnte, sogar ungestraft
    königliche Verfügungen von den Mauern reißen und eigne
    _arrêts_ an ihre Stelle kleben ließ (R. Holtzmann, Französ.
    Verfassungsgeschichte (1910), S. 353), wo „befohlen, aber nicht
    gehorcht, Gesetze gemacht, aber nicht ausgeführt wurden“ (A. Wahl,
    Vorgesch. d. franz. Revolution I, S. 29 und überall), wo die
    Hochfinanz Turgot und jeden andern stürzen konnte, der ihr mit
    seinen Reformplänen unbequem wurde, wo die gebildete Welt, Prinzen,
    Adlige, hohe Geistliche und Militärs an der Spitze, der Anglomanie
    verfallen war und jeder Art von Opposition Beifall klaschte, selbst
    dort wäre nichts geschehen, hätte nicht eine plötzliche Reihe von
    Zwischenfällen zusammengewirkt: die zur Mode gewordne Beteiligung
    von Offizieren an dem Kampf amerikanischer Republikaner gegen
    das englische Königtum, die diplomatische Niederlage in Holland
    (27. Oktober 1787) mitten in der großartigen Reformtätigkeit der
    Regierung und der fortgesetzte Ministerwechsel unter dem Druck
    unverantwortlicher Kreise. Im britischen Reich war der Abfall der
    amerikanischen Kolonien die Folge der Versuche hochtorystischer
    Kreise, im Einverständnis mit Georg III., aber selbstverständlich
    im eignen Interesse die Königsgewalt zu stärken. Diese Partei
    besaß in den Kolonien eine starke Anhängerschaft von Royalisten,
    namentlich im Süden, die auf englischer Seite kämpfend die Schlacht
    von Camden entschieden hat und nach dem Sieg der Rebellen zum
    größten Teil in das königstreu gebliebene Kanada ausgewandert ist.

    [480] 1793 wurden 306 Mitglieder des Unterhauses von insgesamt 160
    Personen gewählt. Der Wahlkreis des alten Pitt, Old Sarum, bestand
    aus einem Pachthause, das zwei Abgeordnete entsandte.

    [481] Seit 1832 hat der englische Adel dann selbst durch eine
    Reihe von vorsichtigen Reformen das Bürgertum zur +Mitarbeit+
    herangezogen, aber unter seiner beständigen Leitung und vor
    allem im Rahmen seiner Tradition, in welche die jungen Talente
    hineinwuchsen. Die Demokratie verwirklichte sich so, daß
    die Regierung streng in Form blieb, und zwar in der alten
    aristokratischen, es aber jedem (seiner Meinung nach) freistand,
    Politik zu machen. Dieser Übergang mitten in einer bauernlosen und
    von Geschäftsinteressen beherrschten Gesellschaft ist die größte
    innerpolitische Leistung des 19. Jahrhunderts.

    [482] Preußentum und Sozialismus S. 40 ff.

    [483] Die Entstehung des römischen Tribunats ist ein blinder
    Zufall, dessen glückliche Folgen niemand ahnte. Dagegen sind die
    abendländischen Verfassungen wohl durchdacht und in ihren Wirkungen
    genau berechnet worden, gleichviel ob die Rechnung falsch war oder
    nicht.

    [484] Aus den wenigen westeuropäischen Werken, die sich mit
    Fragen der altchinesischen Geschichte befassen, geht hervor, daß
    in der chinesischen Literatur sehr viel Material über diese der
    Gegenwart genau entsprechende Zeit mit ihren zahllosen Parallelen
    enthalten ist, aber es fehlt an jeder politisch ernst zu nehmenden
    Behandlung. Z. folg. Hübotter, Aus den Plänen der kämpfenden Reiche
    (1912); Piton, _The six great chancellors of Tsin_, China Rev.
    XIII S. 102, 255, 365; XIV, S. 3; Ed. Chavannes, _Mém. hist. de
    Se-ma-tsien_, 1895 ff.; Pfizmair, Sitz. Wien. Ak. XLIII (1863)
    (Tsin), XLIV (Tsu); A. Tschepe, _Histoire du royaume de Ou_ (1896),
    _de Tchou_ (1903).

    [485] Heute etwa Provinz Schensi.

    [486] Am mittleren Jangtse.

    [487] Biographie 13 des Se ma tsien. Soweit man nach den
    übersetzten Berichten urteilen darf, erscheint Pe ki durch
    die Vorbereitung und Anlage seiner Feldzüge, die Kühnheit der
    Operationen, durch welche er den Gegner auf das Gelände drängt, wo
    er ihn schlagen kann, und die neuartige Durchführung der einzelnen
    Schlachten als eins der größten militärischen Genies aller Zeiten,
    das wohl eine sachkundige Behandlung verdiente. Aus dieser Zeit
    stammt auch das einflußreiche Werk des Sun tse über den Krieg:
    Giles, _Sun Tse on the art of war_ (1910).

    [488] S. 386 f.

    [489] Heute etwa Schantung und Petschili.

    [490] Piton, Lü Puh Weih, China Rev. XIII, S. 365 ff.

    [491] Wenn der Ausdruck in den chinesischen Texten annähernd
    so töricht gemeint sein sollte, wie er von den Übersetzern
    verstanden worden ist, so beweist das nur, daß das Verständnis
    für politische Probleme in der chinesischen Kaiserzeit ebenso
    schnell dahinschwand wie in der römischen -- weil man selbst keine
    Probleme mehr erlebte. Der vielbewunderte Se ma tsien ist im Grunde
    doch nur ein Kompilator etwa vom Range Plutarchs, dem er auch
    zeitlich entspricht. Der Höhepunkt geschichtlichen Verstehens,
    +der ein gleichwertiges Erleben voraussetzt+, muß in der Zeit der
    kämpfenden Staaten selbst gelegen haben, wie er für uns mit dem 19.
    Jahrhundert beginnt.

    [492] Beide waren wie die meisten führenden Staatsmänner der Zeit
    Hörer des Kwei ku tse gewesen, der durch seine Menschenkenntnis,
    den tiefen Blick für das geschichtlich Mögliche und seine
    Beherrschung der damaligen diplomatischen Technik -- der „Kunst
    des Senkrechten und Wagerechten“ -- als eine der einflußreichsten
    Persönlichkeiten des Zeitalters erscheint. Eine ähnliche Bedeutung
    hatte nach ihm der eben erwähnte Denker und Kriegstheoretiker Sun
    tse, unter anderm Erzieher des Kanzlers Li si.

    [493] Das heißt im Vergleich zu der ganz geringfügigen sonstigen
    Technik der Antike, während sie gegenüber etwa der assyrischen und
    chinesischen nicht gerade bedeutend erscheint.

    [494] Das Buch des Sozialisten Moh ti aus dieser Zeit handelt im
    ersten Teil von der allgemeinen Menschenliebe, im zweiten von
    der Festungsartillerie, ein seltsamer Beleg zum Gegensatz von
    Wahrheiten und Tatsachen: Forke in der Ostasiat. Ztschr. VIII
    (Hirthnummer).

    [495] Mehr als 1½ Millionen Mann auf kaum 20 Millionen Einwohner
    der Nordstaaten.

    [496] Zu den ganz neuen Aufgaben gehörte auch der Schnellbau von
    Bahnen und Brücken; die für die schwersten Militärzüge bestimmte
    Chattanoogabrücke von 240 m Länge und 30 m Höhe wurde in 4½ Tagen
    gebaut.

    [497] Das moderne Japan gehört ebenso zur abendländischen
    Zivilisation wie das „moderne“ Karthago von 300 v. Chr. zur antiken.

    [498] Für die politisch-soziale Geschichte der arabischen Welt
    fehlt es ebenso an jeder tiefer dringenden Untersuchung wie für die
    chinesische. Nur die bis jetzt für antik gehaltene Entwicklung des
    Westrandes bis auf Diokletian macht eine Ausnahme.

    [499] Es sind einige tausend, die im Gefolge der ersten Eroberer
    sich von Tunis bis nach Turkestan verbreiten und überall sofort
    einen in sich geschlossenen Stand in der Umgebung der neuen
    Machthaber bilden; von einer „arabischen Völkerwanderung“ kann gar
    keine Rede sein.

    [500] J. Wellhausen, Das arabische Reich und sein Sturz (1902) S.
    309 ff.

    [501] S. 322.

    [502] K. Dieterich, Byz. Charakterköpfe S. 54: „Da du eine Antwort
    von uns haben willst, so vernimm sie denn: Paulus hat gesagt:
    Einige setzte Gott ein in der Kirche zu Aposteln, andere zu
    Propheten; von Kaisern aber hat er nichts gesagt. -- Wir werden
    +nicht+ folgen, auch wenn ein Engel es uns befiehlt, wieviel
    weniger denn dir!“

    [503] S. 389.

    [504] Huart, Geschichte der Araber (1914) I, S. 299.

    [505] Krumbacher, Byz. Lit-Gesch. S. 969.

    [506] Z. folg. Krumbacher S. 969-990; C. Neumann, Die Weltstellung
    des byzantinischen Reiches vor den Kreuzzügen (1894) S. 21 ff.

    [507] Krumbacher S. 993.

    [508] Auch der geniale Maniakes, der von dem Heer in Sizilien zum
    Kaiser ausgerufen wurde und 1043 auf dem Marsch gegen Byzanz fiel,
    soll ein Türke gewesen sein.

    [509] 1785-1580. Z. folg. Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I, § 298 ff.
    Weill, _La fin du moyen empire égyptien_ (1918). Daß Ed. Meyers
    Ansatz richtig ist gegenüber dem von Petrie (1670 Jahre), ist durch
    die Stärke der Fundschichten und das Tempo der Stilentwicklung,
    auch der minoischen, längst bewiesen, und wird hier auch durch den
    Vergleich mit den entsprechenden Abschnitten der andern Kulturen
    bestätigt.

    [510] S. 482.

    [511] Erman, Mahnworte eines ägyptischen Propheten, Sitz. Preuß.
    Ak. 1919, S. 804 ff.: „Die hohen Beamten sind abgetan, das Land
    ist des Königtums beraubt von wenigen Wahnsinnigen, und die
    Räte des alten Staates machen den Emporkömmlingen den Hof; die
    Verwaltung hat aufgehört, die Akten sind vernichtet, alle sozialen
    Unterschiede aufgehoben, die Gerichte in die Hand des Pöbels
    gefallen. Die vornehmen Stände hungern und gehen in Lumpen; man
    schlagt ihre Kinder an die Mauer und reißt die Mumien aus den
    Gräbern; die Geringen werden reich und prahlen in den Palästen
    mit ihren Herden und Schiffen, die sie den rechtmäßigen Besitzern
    fortgenommen haben; ehemalige Sklavinnen führen das große Wort
    und die Fremden machen sich breit. Raub und Mord herrschen, die
    Städte werden verwüstet, die öffentlichen Bauten niedergebrannt.
    Die Ernten gehen zurück, niemand denkt mehr an Reinlichkeit,
    die Geburten werden selten; ›ach hätte es doch ein Ende mit den
    Menschen!‹“ Das ist das Bild einer großstädtischen und späten
    Revolution gleich den hellenistischen (S. 506) und denen von 1789
    und 1871 in Paris. Es sind die weltstädtischen Massen, willenlose
    Werkzeuge des Ehrgeizes ihrer Führer, die jeden Rest von Ordnung zu
    Boden schlagen, die das Chaos in der Außenwelt sehen wollen, weil
    sie es in sich selbst haben. Ob diese zynischen und hoffnungslosen
    Versuche von Landfremden herrühren wie den Hyksos oder Türken oder
    von Sklaven wie denen des Spartakus und Ali, ob man die Aufteilung
    des Besitzes fordert wie in Syrakus oder ein Buch vor sich her
    trägt wie das von Marx -- das alles ist Oberfläche. Es ist ganz
    gleichgültig, welche Schlagworte in den Wind schallen, während
    die Türen und Schädel eingeschlagen werden. Vernichtung ist der
    wahre und einzige Trieb und Cäsarismus das einzige Ergebnis. Die
    Weltstadt, der landverzehrende Dämon, hat ihre entwurzelten und
    zukunftslosen Menschen in Bewegung gesetzt; sie sterben, indem sie
    vernichten.

    [512] Der Papyrus sagt „das Bogenvolk von draußen“. Das sind die
    barbarischen Soldtruppen, zu denen die eigene junge Mannschaft
    übergegangen ist.

    [513] Ein Blick auf den Negerstaat im Irak und die „gleichzeitigen“
    Versuche des Spartakus, Sertorius, Sextus Pompejus genügt, um
    die Zahl der Möglichkeiten zu ahnen. Weill nimmt an: 1785-65
    Zerfall des Reiches; ein Usurpator (General). 1765-1675 viele
    kleine Machthaber, im Delta ganz unabhängig. 1675-33 Kämpfe um
    die Einheit, vor allem der Fürsten von Theben mit ihrem stets
    wachsenden Gefolge abhängiger Herrscher, darunter der Hyksos. 1633
    Sieg der Hyksos und Niederlage der Thebaner. 1591-71 Endsieg der
    Thebaner.

    [514] Sie mag als begeisternde Idee festgehalten werden; in die
    Wirklichkeit umgesetzt wird sie nie wieder.

    [515] Vgl. die S. 521 genannte Arbeit von Piton.

    [516] Hist. III, 81.

    [517] Dazu gehört also auch die amerikanische Verfassung, und dies
    allein erklärt die merkwürdige Ehrfurcht, welche der Amerikaner für
    sie empfindet, auch wo er ihre Unzulänglichkeit klar erkennt.

    [518] Cäsar hat das klar erkannt: _Nihil esse rem publicam,
    appellationem modo sine corpore ac specie_ (Sueton, Cäs. 77).

    [519] S. 58.

    [520] S. 58.

    [521] Cicero weist in der Rede für Sestius darauf hin, daß bei den
    Plebisziten von jeder Tribus fünf Leute da seien, die noch dazu in
    Wirklichkeit einer andern angehörten. Aber diese fünf waren auch
    nur da, um sich von den Machthabern kaufen zu lassen. Und kaum
    fünfzig Jahre vorher waren die Italiker in Masse für eben dieses
    Wahlrecht gefallen.

    [522] Und merkwürdigerweise auch Ed. Meyer in seinem Meisterwerk
    „Cäsars Monarchie“, der einzigen Arbeit von staatsmännischem Range
    über diese Zeit (und vorher schon in dem Aufsatz über Kaiser
    Augustus, Kl. Schr. S. 441 ff.).

    [523] _De re publica_ vom Jahre 54, eine für Pompejus bestimmte
    Denkschrift.

    [524] S. 492.

    [525] S. 511.

    [526] Im Somnium Scipionis VI, 26, wo der ein Gott genannt wird,
    der den Staat so regiert, _quam hunc mundum ille princeps deus_.

    [527] Es war vollkommen richtig, wenn Brutus neben der Leiche den
    Namen Ciceros ausrief und Antonius diesen als intellektuellen
    Urheber der Tat bezeichnete. Die „Freiheit“ bedeutete aber nichts
    als die Oligarchie einiger Familien, denn die Menge war ihrer
    Rechte längst müde geworden. Daß neben dem Geist das Geld hinter
    der Tat stand, die großen Vermögen Roms, die im Cäsarismus das Ende
    ihrer Allmacht heraufkommen sahen, war selbstverständlich.

    [528] Dagegen wurde der Taoismus unterstützt, weil er die Abkehr
    von aller Politik predigte. „Laßt wohlbeleibte Männer um mich
    sein“, sagt Cäsar bei Shakespeare.

    [529] Das hat Tacitus nicht mehr verstanden. Er haßt diese ersten
    Cäsaren, weil sie mit allen denkbaren Mitteln sich gegen eine
    schleichende Opposition -- in +seinen+ Kreisen -- wehrten, die seit
    Trajan eben nicht mehr vorhanden war.

    [530] S. 406.

    [531] S. 105, 432.

    [532] S. 382.




PHILOSOPHIE DER POLITIK


16

Über den Begriff der Politik haben wir mehr nachgedacht als für
uns gut war. Um so weniger verstanden wir uns auf die Beobachtung
wirklicher Politik. Die großen Staatsmänner pflegen unmittelbar zu
handeln und zwar aus einem sichern Sinn für die Tatsachen heraus.
Das ist für sie so selbstverständlich, daß die Möglichkeit, über
allgemeine Grundbegriffe dieses Handelns nachzudenken, ihnen gar
nicht in den Sinn kommt, gesetzt, daß es solche Begriffe überhaupt
gibt. Sie wußten von jeher, was sie zu tun hatten. Eine Theorie
darüber entsprach weder ihrer Begabung noch ihrem Geschmack. Denker
von Beruf aber, die ihren Blick auf die von Menschen geschaffenen
Tatsachen lenkten, standen diesem Handeln innerlich so fern, daß sie
sich in Abstraktionen vergrübelten, am liebsten in mythische Gebilde
wie Gerechtigkeit, Tugend, Freiheit, und danach dem historischen
Geschehen der Vergangenheit und vor allem der Zukunft das Maß anlegten.
Darüber vergaßen sie zuletzt den Rang bloßer Begriffe und kamen zu
der Überzeugung, daß Politik da sei, um den Lauf der Welt nach einem
idealischen Rezept zu gestalten. Da dergleichen nie und nirgends
geschah, so erschien ihnen das politische Tun dem abstrakten Denken
gegenüber so gering, daß sie sich in ihren Büchern darum stritten, ob
es ein „Genie der Tat“ überhaupt gebe.

Demgegenüber wird hier der Versuch gemacht, statt eines ideologischen
Systems eine +Physiognomik+ der Politik zu geben, wie sie im
Ablauf der gesamten Geschichte wirklich gemacht worden ist, und
nicht wie sie hätte gemacht werden sollen. In den letzten Sinn
großer Tatsachen eindringen, sie „sehen“, das symbolisch Bedeutsame
in ihnen erfühlen und umschreiben war die Aufgabe. Die Entwürfe von
Weltverbesserern haben mit der geschichtlichen Wirklichkeit nichts zu
tun.[533]

Die menschlichen Daseinsströme nennen wir Geschichte, sobald wir sie
als Bewegung; Geschlecht, Stand, Volk, Nation, sobald wir sie als etwas
Bewegtes ins Auge fassen.[534] Politik ist die Art und Weise, in der
dieses strömende Dasein sich behauptet, +wächst+, über andere
Lebensströme triumphiert. +Das ganze Leben ist Politik+, in jedem
triebhaften Zuge, bis ins innerste Mark.[535] Was wir heute gern als
Lebensenergie (Vitalität) bezeichnen, jenes „es“ in uns, das vorwärts
und aufwärts will um jeden Preis, der blinde, kosmische, sehnsüchtige
Drang nach Geltung und Macht, der pflanzenhaft und rassehaft mit
der Erde, der „Heimat“ verbunden bleibt, das Gerichtetsein und
Wirken+müssen+ ist es, was überall unter höheren Menschen als
politisches Leben die großen Entscheidungen sucht und suchen muß,
um ein Schicksal entweder zu sein oder zu erleiden. Denn man wächst
+oder stirbt ab+. Es gibt keine dritte Möglichkeit.

Deshalb ist der Adel als Ausdruck einer starken Rasse der eigentlich
politische Stand, und Zucht, nicht Bildung die eigentlich politische
Art der Erziehung. Jeder große Politiker, eine Kraftmitte im Strom
des Geschehens, hat etwas Adliges in seinem Sichberufenfühlen und
innerlichen Gebundensein. Dagegen ist alles Mikrokosmische, aller
„Geist“ unpolitisch, und deshalb besitzt alle Programmpolitik und
Ideologie etwas Priesterliches. Die besten Diplomaten sind die Kinder,
wenn sie spielen oder etwas haben wollen. Da bricht das im Einzelwesen
gebundene kosmische „es“ sich unmittelbar und mit nachtwandlerischer
Sicherheit Bahn. Sie lernen nicht, sie verlernen diese Meisterschaft
der ersten Jahre mit dem Wachwerden der Jugend. Eben deshalb ist unter
Männern der Staatsmann etwas so Seltenes.

Diese Daseinsströme im Bereich einer hohen Kultur, in und zwischen
denen allein es große Politik gibt, sind nur in Mehrzahl möglich.
Ein Volk ist wirklich nur in bezug auf andere Völker.[536] Aber das
natürliche, rassehafte Verhältnis zwischen ihnen ist eben deshalb der
Krieg. Das ist eine Tatsache, die durch Wahrheiten nicht verändert
wird. Der Krieg ist die Urpolitik +alles+ Lebendigen und zwar bis zu
dem Grade, daß Kampf und Leben in der Tiefe eins sind und mit dem
Kämpfenwollen auch das Sein erlischt. Altgermanische Worte dafür
wie _orrusta_ und _orlog_ bedeuten Ernst und Schicksal im Gegensatz
zu Scherz und Spiel; das ist eine Steigerung, nichts dem Wesen nach
Verschiedenes. Und wenn alle hohe Politik der Ersatz des Schwertes
durch geistigere Waffen sein will und der Ehrgeiz des Staatsmannes auf
der Höhe aller Kulturen dahin geht, den Krieg fast nicht mehr nötig
zu haben, so bleibt doch die Urverwandtschaft zwischen Diplomatie
und Kriegskunst bestehen: der Charakter des Kampfes, dieselbe
Taktik, dieselbe Kriegslist, die Notwendigkeit materieller Kräfte
im Hintergrund, um den Operationen Gewicht zu geben; und auch das
Ziel bleibt das gleiche: das Wachstum der eignen Lebenseinheit --
Stand oder Nation -- auf Kosten der andern. Und jeder Versuch, dies
rassemäßige Element auszuschalten, führt nur zu seiner Verlegung auf
ein andres Gebiet: statt zwischen Staaten zwischen Parteien, zwischen
Landschaften, oder wenn auch da der Wille zum Wachstum erlischt,
zwischen den Gefolgschaften von Abenteurern, denen sich der Rest der
Bevölkerung freiwillig fügt.

In jedem Kriege zwischen Lebensmächten handelt es sich darum, wer
das Ganze regiert. Es ist stets ein Leben, nie ein System, Gesetz
oder Programm, das im Strom des Geschehens den Takt angibt.[537]
Das Aktionszentrum, die handelnde Mitte einer Menge sein,[538] die
innere Form der eignen Person zur Form ganzer Völker und Zeitalter
erheben, das Kommando der Geschichte haben, um das eigne Volk oder
Geschlecht und seine Ziele an die Spitze der Ereignisse zu führen, das
ist der kaum bewußte und unwiderstehliche Trieb in jedem Einzelwesen
von historischem Beruf. Es gibt nur +persönliche+ Geschichte
und deshalb nur +persönliche+ Politik. Der Kampf nicht von
Grundsätzen, sondern von Menschen, nicht von Idealen, sondern von
Rassezügen um die ausübende Macht ist das erste und letzte, und auch
die Revolutionen bilden keine Ausnahme, denn „Souveränität des Volkes“
ist nichts als ein Wort dafür, daß die herrschende Gewalt den Titel
Volksführer statt König angenommen hat. Die Methode des Regierens
verändert sich damit kaum, die Lage der Regierten gar nicht. Und selbst
der Weltfriede, so oft er schon da war, ist nichts gewesen als die
Sklaverei einer ganzen Menschheit unter dem Regiment einer kleinen Zahl
zum Herrschen entschlossener Kraftnaturen.

Zum Begriff der ausübenden Gewalt gehört, daß eine Lebenseinheit --
schon unter Tieren -- in Subjekte und Objekte der Regierung zerfällt.
Das ist so selbstverständlich, daß diese innere Struktur jeder
Masseneinheit selbst in den schwersten Krisen wie der von 1789 auch
nicht einen Augenblick verloren geht. Nur der Inhaber verschwindet,
nicht das Amt, und wenn wirklich ein Volk im Strom der Ereignisse jede
Führung verliert und regellos dahintreibt, so bedeutet das nur, daß
seine Führung nach auswärts verlegt, daß es +als Ganzes+ Objekt
geworden ist.

Politisch begabte Völker gibt es nicht. Es gibt nur Völker, die fest
in der Hand einer regierenden Minderheit sind und die sich deshalb gut
in Verfassung fühlen. Die Engländer sind als Volk ebenso urteilslos,
eng und unpraktisch in politischen Dingen wie irgend eine andre Nation,
aber sie besitzen eine +Tradition des Vertrauens+, bei allem
Geschmack an öffentlichen Debatten. Der Unterschied besteht lediglich
darin, daß der Engländer Objekt einer Regierung von sehr alten und
erfolgreichen Gewohnheiten ist, der er zustimmt, weil er den Vorteil
davon aus Erfahrung kennt. Von dieser Zustimmung, die nach außen
als Verständnis erscheint, ist es nur ein Schritt zur Überzeugung,
daß diese Regierung von seinem Willen abhängt, obwohl es umgekehrt
+sie+ ist, die ihm diese Ansicht aus technischen Gründen immer
wieder einhämmert. Die regierende Klasse in England hat ihre Ziele und
Methoden ganz unabhängig vom „Volk“ entwickelt und sie arbeitet mit --
in -- einer ungeschriebenen Verfassung, deren im Gebrauch entstandene
völlig untheoretische Feinheiten dem Nichteingeweihten ebenso
undurchsichtig wie unverständlich sind. Aber der Mut einer Truppe hängt
vom Vertrauen auf die Führung ab; Vertrauen, das heißt unwillkürlicher
Verzicht auf Kritik. Der Offizier ist es, der Feiglinge zu Helden oder
Helden zu Feiglingen macht. Das gilt von Heeren, Völkern, Ständen
wie von Parteien. +Politische Begabung einer Menge ist nichts als
Vertrauen auf die Führung.+ Aber sie will erworben werden; sie will
langsam reifen, durch Erfolge bewährt und zur Tradition geworden sein.
Mangel an Führereigenschaften in der herrschenden Schicht ist es, was
als mangelndes Gefühl der Sicherheit bei den Beherrschten zum Vorschein
kommt, und zwar in jener Art von instinktloser, sich einmischender
Kritik, die durch ihr bloßes Vorhandensein ein Volk außer Form geraten
läßt.


17

Wie man Politik +macht+? -- Der geborne Staatsmann ist vor
allem Kenner, Kenner der Menschen, Lagen, Dinge. Er hat den „Blick“,
der ohne Zögern, unbestechlich den Kreis des Möglichen umfaßt. Der
Pferdekenner prüft mit +einem+ Blick die Haltung des Tieres und
weiß, welche Aussichten es im Rennen besitzt. Der Spieler wirft einen
Blick auf den Gegner und kennt den nächsten Zug. Das Richtige tun,
ohne es zu „wissen“, die sichere Hand, die den Zügel unmerklich kürzer
faßt oder fallen läßt -- es ist das Gegenteil von der Begabung des
theoretischen Menschen. Der geheime Takt alles Werdens ist in ihm und
in den geschichtlichen Dingen ein und derselbe. Sie ahnen einander; sie
sind für einander da. Der Tatsachenmensch kommt nie in Gefahr, Gefühls-
und Programmpolitik zu treiben. Er glaubt nicht an die großen Worte.
Er hat die Frage des Pilatus beständig auf den Lippen. Wahrheiten
-- der geborne Staatsmann steht jenseits von wahr und falsch. Er
verwechselt die Logik der Ereignisse nicht mit der Logik der Systeme.
„Wahrheiten“ -- oder „Irrtümer“, was hier dasselbe ist -- kommen
für ihn nur als geistige Strömungen in Betracht, hinsichtlich ihrer
+Wirkung+, deren Stärke, Dauer und Richtung er überblickt und für
das Schicksal der von ihm gelenkten Macht in seine Rechnung stellt. Er
hat Überzeugungen, die ihm teuer sind, gewiß, aber als Privatmann; kein
Politiker von Rang hat sich, solange er handelte, von ihnen abhängig
gefühlt. „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen,
als der Betrachtende“ (Goethe). Das gilt von Sulla und Robespierre so
gut wie von Bismarck und Pitt. Die großen Päpste und die englischen
Parteiführer haben, solange sie die Dinge zu meistern hatten, keine
andern Grundsätze befolgt als die Eroberer und Empörer aller Zeiten.
Man leite aus den Handlungen Innocenz III., der die Kirche beinahe zur
Weltherrschaft geführt hat, die Grundregeln ab und man erhält einen
Katechismus des Erfolges, der das äußerste Gegenteil aller religiösen
Moral darstellt, ohne den es aber keine Kirche, keine englischen
Kolonien, keine amerikanischen Vermögen, keine siegreiche Revolution
und endlich weder einen Staat noch eine Partei noch überhaupt ein Volk
in erträglicher Lage geben würde. Das +Leben+, nicht der Einzelne
ist gewissenlos.

Deshalb gilt es die Zeit verstehen, +für die+ man geboren ist.
Wer ihre geheimsten Mächte nicht ahnt und begreift, wer nicht in sich
selbst etwas Verwandtes fühlt, das ihn vorwärts drängt auf einer Bahn,
die sich mit Begriffen nicht umschreiben läßt, wer an die Oberfläche,
die öffentliche Meinung, die großen Worte und Ideale des Tages glaubt,
ist ihren Ereignissen nicht gewachsen. Sie haben ihn, nicht er sie in
der Gewalt. Nicht zurückblicken und den Maßstab aus der Vergangenheit
holen! Noch weniger zur Seite auf irgend ein System! Es gibt in Zeiten
wie der heutigen oder der des Gracchus zwei Arten von verhängnisvollem
Idealismus, den reaktionären und den demokratischen. Der eine glaubt
an die Umkehrbarkeit der Geschichte, der zweite an ein Ziel in ihr.
Aber für den notwendigen Mißerfolg, mit dem beide die Nation belasten,
über deren Schicksal sie Macht besitzen, ist es gleichgültig, ob man
sie einer Erinnerung opfert oder einem Begriff. Der echte Staatsmann
ist die Geschichte in Person, ihr Gerichtetsein als Einzelwille, ihre
organische Logik als Charakter.

Der Staatsmann von Rang sollte aber auch Erzieher in einem großen Sinne
sein, nicht Vertreter einer Moral oder Doktrin, sondern vorbildlich in
seinem Tun.[539] Es ist eine bekannte Tatsache, daß keine neue Religion
den Stil des Daseins je verändert hat. Sie durchdrang das Wachsein, den
+geistigen+ Menschen, sie warf neues Licht auf eine jenseitige Welt,
sie schuf unermeßliches Glück durch die Kraft des Sichbescheidens, des
Entsagens und des Duldens bis zum Tode; über die Mächte des Lebens
besaß sie keine Gewalt. Schöpferisch im Lebendigen, nicht bildend,
sondern züchtend, den Typus ganzer Stände und Völker verwandelnd wirkt
nur die große Persönlichkeit, das „es“, die Rasse in ihr, die in ihr
gebundene kosmische Kraft. Nicht +die+ Wahrheit, +das+ Gute, +das+
Erhabene, sondern +der+ Römer, +der+ Puritaner, +der+ Preuße ist eine
Tatsache. Ehrgefühl, Pflichtgefühl, Disziplin, Entschlossenheit -- das
lernt man nicht aus Büchern. Es wird im strömenden Dasein +geweckt+
durch ein lebendiges Vorbild. Deshalb war Friedrich Wilhelm I. einer
der größten Erzieher aller Zeiten, dessen persönliche rassebildende
Haltung aus der Folge von Generationen nicht wieder verschwindet. Es
unterscheidet den echten Staatsmann von dem Nurpolitiker, dem Spieler
aus Freude am Spiel, dem Glücksjäger auf den Höhen der Geschichte,
dem Habgierigen und Rangsüchtigen, dem Schulmeister eines Ideals, daß
er Opfer fordern darf und sie erhält, weil sein Gefühl, für die Zeit
und Nation notwendig zu sein, von Tausenden geteilt wird, sie bis ins
Innerste umgestaltet und zu Taten befähigt, denen sie sonst nicht
gewachsen wären.[540]

Das Höchste aber ist nicht handeln, sondern +befehlen können+.
Erst damit wächst der Einzelne über sich selbst hinaus und wird zum
Mittelpunkt einer tätigen +Welt+. Es gibt eine Art des Befehlens,
die das Gehorchen zu einer stolzen, freien und vornehmen Gewohnheit
macht und die z. B. Napoleon +nicht+ besaß. Ein Rest von
subalterner Gesinnung hat ihn verhindert, Männer und nicht Zubehöre
einer Registratur zu erziehen, durch Persönlichkeiten und nicht durch
Verordnungen zu herrschen; und weil er sich auf diesen feinsten Takt
des Befehlens nicht verstand und deshalb alles wirklich Entscheidende
selbst zu tun hatte, ist er am Mißverhältnis zwischen den Aufgaben
seiner Stellung und den Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit
langsam zugrunde gegangen. Wer aber diese höchste und letzte Gabe
vollkommensten Menschentums besitzt wie Cäsar oder Friedrich der
Große, der empfängt am Abend einer Schlacht, wenn die Operationen dem
gewollten Ende zueilen und mit dem Sieg der Feldzug sich entscheidet,
oder in einer Stunde, wo mit der letzten Unterschrift eine Epoche der
Geschichte beschlossen wird, ein wunderbares Gefühl von Macht, das dem
Wahrheitsmenschen für immer verschlossen bleibt. Es gibt Augenblicke,
und sie bezeichnen die Höhepunkte kosmischer Strömungen, in denen ein
Einzelner sich mit dem Schicksal und der Weltmitte identisch weiß
und seine Persönlichkeit beinahe als Hülle empfindet, in welche die
Geschichte der Zukunft sich zu kleiden im Begriff ist.

Die erste Aufgabe ist: selbst etwas zu machen; die zweite,
unscheinbarer, aber schwerer und größer in ihrer Fernwirkung: +eine
Tradition zu schaffen+, andere dahin zu bringen, daß sie das eigne
Werk fortsetzen, dessen Takt und Geist; einen Strom einheitlicher
Tätigkeit zu entfesseln, der des ersten Führers nicht mehr bedarf, um
in Form zu bleiben. Damit wächst der Staatsmann zu etwas empor, das
die Antike wohl als Gottheit bezeichnet hätte. Er wird zum Schöpfer
eines neuen Lebens, zum +geistigen+ Ahnherrn einer jungen Rasse.
Er selbst als Wesen entschwindet nach wenig Jahren aus diesem Strom.
Aber eine von ihm ins Dasein gerufene Minderheit, ein anderes Wesen
von seltsamster Art, tritt an seine Stelle und zwar für unabsehbare
Zeit. Dies kosmische Etwas, diese Seele einer herrschenden Schicht kann
ein Einzelner erzeugen und als Erben hinterlassen und das ist es, was
in aller Geschichte die Wirkungen von Dauer hervorgebracht hat. Der
große Staatsmann ist selten. Ob er kommt, ob er zur Geltung kommt, zu
früh, zu spät -- das alles ist Zufall. Die großen Einzelnen zerstören
oft mehr, als sie aufgebaut haben -- durch die Lücke, die ihr Tod im
Strom des Geschehens läßt. Aber eine Tradition schaffen heißt den
Zufall ausschalten. Eine Tradition züchtet einen hohen Durchschnitt,
mit dem die Zukunft sicher rechnen darf, keinen Cäsar, aber einen
Senat, keinen Napoleon, aber ein unvergleichliches Offizierkorps. Eine
starke Tradition zieht von allen Seiten die Talente an und erzielt
mit kleinen Begabungen große Erfolge. Das beweisen die Malerschulen
in Italien und Holland nicht weniger wie das preußische Heer und die
Diplomatie der römischen Kurie. Es war eine große Schwäche Bismarcks
im Vergleich zu Friedrich Wilhelm I., daß er zwar zu handeln, aber
keine Tradition zu bilden verstand, daß er neben dem Offizierkorps
Moltkes keine entsprechende Rasse von Politikern schuf, die sich
mit seinem Staat und dessen neuen Aufgaben identisch fühlte, die
fortgesetzt bedeutende Menschen von unten aufnahm und ihrem Takt des
Handelns für immer einverleibte. Geschieht das nicht, so bleibt statt
einer regierenden Schicht aus einem Guß eine Sammlung von Köpfen, die
dem Unvorhergesehenen hilflos gegenübersteht. Glückt es aber, +so
entsteht ein „souveränes Volk+“ in dem einzigen Sinne, der eines
Volkes würdig und in der Tatsachenwelt möglich ist: eine sich selbst
ergänzende hochgezüchtete Minderheit mit sicherer, in langer Erfahrung
gereifter Tradition, die jede Begabung in ihren Bann zieht und ausnützt
und sich eben deshalb mit dem von ihr regierten Rest der Nation in
Einklang befindet. Eine solche Minderheit wird langsam zur echten
Rasse, selbst wenn sie einmal Partei gewesen war, und sie entscheidet
mit der Sicherheit des Blutes, nicht des Verstandes. Eben deshalb
aber geschieht in ihr alles „von selbst“; sie bedarf des Genies nicht
mehr. Das bedeutet, wenn man so sagen darf, den Ersatz +des großen
Politikers durch die große Politik+.

Aber was +ist+ Politik? -- Die Kunst des Möglichen; das ist ein
altes Wort und mit ihm ist beinahe alles gesagt. Der Gärtner kann eine
Pflanze aus dem Samen ziehen oder ihren Stamm veredeln. Er kann die
in ihr verborgenen Anlagen, ihren Wuchs und ihre Tracht, ihre Blüten
und Früchte zur Entfaltung bringen oder verkümmern lassen. Von seinem
Blick für das Mögliche und also Notwendige hängt ihre Vollkommenheit,
ihre Kraft, ihr ganzes Schicksal ab. Aber die Grundgestalt und Richtung
ihres Daseins, dessen Stufen, Geschwindigkeit und Dauer, das „Gesetz,
nach dem sie angetreten“, stehen +nicht+ in seiner Gewalt. Sie muß
es erfüllen oder sie verdirbt, und dasselbe gilt von der ungeheuren
Pflanze „Kultur“ und den in ihre politische Formenwelt gebannten
Daseinsströmen menschlicher Geschlechter. Der große Staatsmann ist der
Gärtner eines Volkes.

Jeder Handelnde ist in eine Zeit und für eine Zeit geboren. Damit ist
der Umkreis des +für ihn+ Erreichbaren bestimmt. Für die Großväter
und Enkel ist etwas anderes gegeben und also Ziel und Aufgabe. Der
Kreis verengt sich weiter durch die Schranken seiner Persönlichkeit
und durch die Eigenschaften seines Volkes, der Lage und der Menschen,
mit denen er arbeiten muß. Es kennzeichnet den Politiker von Rang,
daß er selten Opfer zu bringen hat, weil er sich über diese Grenze
täuschte, daß er aber auch nichts, was sich verwirklichen ließe,
übersieht. Dahin gehört -- gerade unter Deutschen kann das nicht oft
genug wiederholt werden -- daß er das, was sein sollte, nie mit dem
verwechselt, was sein +wird+. Die Grundformen des Staates und des
politischen Lebens, die Richtung und der Stand ihrer Entwicklung sind
mit einer Zeit gegeben und unabänderlich. Alle politischen Erfolge
werden mit ihnen, nicht an ihnen erzielt. Die Anbeter politischer
Ideale allerdings schaffen aus dem Nichts. Sie sind in ihren Köpfen
erstaunlich frei; aber ihre Gedankenbauten aus den luftigen Begriffen
Weisheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit sind schließlich ewig
dieselben, und sie fangen immer wieder von vorn an. Dem Meister der
Tatsachen genügt es, das für ihn schlechthin Vorhandene unmerklich zu
lenken. Das erscheint wenig und doch beginnt erst hier die Freiheit
in einem großen Sinne. Auf die +kleinen+ Züge, den letzten
vorsichtigsten Druck auf das Steuerruder, das Feingefühl für die
zartesten Schwankungen der Völker- und Einzelseelen kommt es an.
Staatskunst ist der klare Blick für die großen Linien, die unverrückbar
gezogen sind, +und+ die sichere Hand für das +Einmalige+, das
+Persönliche+, das in ihrem Rahmen aus einem nahenden Verhängnis
einen entscheidenden Erfolg machen kann. Das Geheimnis aller Siege
liegt in der Organisation des Unscheinbaren. Wer sich darauf versteht,
kann als Vertreter des Besiegten den Sieger beherrschen wie Talleyrand
in Wien. Cäsar, dessen Lage damals fast verzweifelt war, hat in Luca
die Macht des Pompejus unvermerkt seinen Zielen dienstbar gemacht und
damit untergraben; aber es gibt eine gefährliche Grenze des Möglichen,
welche der vollendete Takt der großen Barockdiplomaten kaum je verletzt
hat, während es Vorrecht des Ideologen ist, beständig darüber zu
stolpern. Es gibt Wendungen in der Geschichte, von denen der Kenner
sich eine Zeitlang treiben läßt, um die Herrschaft nicht zu verlieren.
Jede Lage besitzt ihr Maß von Elastizität, über das man sich nicht
im geringsten täuschen darf. Eine zum Ausbruch gekommene Revolution
beweist immer einen Mangel an politischem Takt bei den Regierenden
+und+ ihren Gegnern.

Das Notwendige soll man +rechtzeitig+ tun, solange es nämlich
ein Geschenk ist, mit dem die regierende Macht sich das Vertrauen
sichert, und nicht als ein Opfer gebracht werden muß, das eine Schwäche
offenbart und Verachtung weckt. Politische Formen sind lebendige
Formen, die sich unerbittlich in einer bestimmten Richtung verändern.
Man hört auf „in Form“ zu sein, wenn man diesen Gang hemmen oder in
der Richtung eines Ideals ablenken will. Die römische Nobilität besaß
den Takt dafür, die spartanische nicht. Im Zeitalter der aufsteigenden
Demokratie ist immer wieder der verhängnisvolle Augenblick erreicht
worden, in Frankreich vor 1789, in Deutschland vor 1918, wo es zu
spät war, mit einer notwendigen Reform ein freies Geschenk zu machen,
und man sie also mit rücksichtsloser Energie hätte verweigern müssen,
weil sie nunmehr +als Opfer+ die Auflösung bedeutete. Wer aber
das erste nicht rechtzeitig sieht, wird die zweite Notwendigkeit noch
sicherer verkennen. Auch der Gang nach Canossa kann zu früh oder zu
spät angetreten werden; darin liegt die Entscheidung für ganze Völker,
ob man künftig ein Schicksal für andere ist oder von andern erleidet.
Aber die absteigende Demokratie wiederholt den gleichen Fehler, halten
zu wollen, was das Ideal von gestern war. Es ist die Gefahr des 20.
Jahrhunderts. Auf jedem Pfade zum Cäsarismus findet sich ein Cato.

Der Einfluß, den selbst ein Staatsmann von ungewöhnlich starker
Stellung auf die politischen +Methoden+ besitzt, ist sehr
gering, und es gehört zum Range des Staatsmannes, daß er sich darüber
nicht täuscht. Seine Aufgabe ist es, mit und in der vorliegenden
geschichtlichen Form zu arbeiten; nur der Theoretiker begeistert sich
daran, idealere Formen zu erfinden. Zum politischen „in Form sein“
gehört aber die unbedingte +Beherrschung der modernsten Mittel+.
Hier gibt es keine Wahl. Die Mittel und Methoden sind durch die Zeit
gegeben und gehören zur inneren Form einer Zeit. Wer sich in ihnen
vergreift, wer seinem Geschmack und Gefühl Macht über seinen Takt
gestattet, verliert die Tatsachen aus der Hand. Die Gefahr einer
Aristokratie ist es, konservativ in den Mitteln zu sein; die Gefahr der
Demokratie ist die Verwechslung der Formel mit der Form. Die Mittel der
Gegenwart sind noch auf Jahre hinaus die parlamentarischen: Wahlen
und Presse. Man kann über sie denken, wie man will, sie verehren
oder verachten, aber man muß sie +beherrschen+. Bach und Mozart
+beherrschten+ die musikalischen Mittel ihrer Zeit. Das ist das
Kennzeichen jeder Art von Meisterschaft. Mit der Staatskunst steht es
nicht anders. Aber die allgemein sichtbare Außenform ist allerdings
nicht die, auf welche es ankommt, sondern nur deren Verkleidung.
Deshalb läßt sie sich ändern, ohne daß am Wesen des Geschehens etwas
geändert wird, auf Begriffe und in Verfassungstexte bringen, ohne die
Wirklichkeit auch nur zu berühren, und der Ehrgeiz aller Revolutionäre
und Doktrinäre erschöpft sich darin, sich in dieses Spiel von Rechten,
Grundsätzen und Freiheiten an der geschichtlichen Oberfläche zu
mischen. Der Staatsmann weiß, daß die Ausdehnung eines Wahlrechts
ganz unwesentlich ist gegenüber der athenischen oder römischen,
jakobinischen, amerikanischen und nun auch deutschen Technik, Wahlen
+zu machen+. Wie die englische Verfassung lautet, ist gleichgültig
gegenüber der Tatsache, daß ihre Anwendung von einer kleinen Schicht
vornehmer Familien beherrscht wird, so daß Eduard VII. ein Minister
seines Ministeriums war. Und was die moderne Presse betrifft, so mag
der Schwärmer zufrieden sein, wenn sie verfassungsmäßig „frei“ ist; der
Kenner fragt nur danach, wem sie zur Verfügung steht.

Politik ist endlich die Form, in der die Geschichte einer Nation
innerhalb einer Mehrzahl von Nationen vollzogen wird. Die große
Kunst ist, die eigene innerlich in Form zu halten für die Ereignisse
draußen. Das ist nicht nur für Völker, Staaten und Stände, sondern für
lebendige Einheiten jeder Art bis zu den einfachsten Tierschwärmen
und bis zum einzelnen Körper hinab das natürliche Verhältnis von
Innen- und Außenpolitik, +von denen die erste ausschließlich für die
zweite da ist, nicht umgekehrt+. Der echte Demokrat pflegt jene
als Selbstzweck zu behandeln, der Durchschnittsdiplomat denkt nur an
diese. Aber eben deshalb hängen die Einzelerfolge beider in der Luft.
Der politische Meister zeigt sich ohne Zweifel am sichtbarsten in
der Taktik innerer Reformen, in seiner wirtschaftlichen und sozialen
Tätigkeit, in dem Geschick, die öffentliche Form des Ganzen, die
„Rechte und Freiheiten“ mit dem Zeitgeschmack in Einklang +und
zugleich+ leistungsfähig zu halten, in der Erziehung von Gefühlen,
ohne die es nicht möglich ist, daß ein Volk in Verfassung bleibt:
Vertrauen, Achtung vor der Führung, Machtbewußtsein, Zufriedenheit und,
wenn es notwendig wird, Begeisterung. Aber das alles erhält seinen
Wert erst im Hinblick auf die Grundtatsache der höheren Geschichte,
daß ein Volk nicht allein in der Welt ist und daß über seine Zukunft
durch das Kräfteverhältnis zu andern Völkern und Mächten entschieden
wird und nicht durch die bloße Ordnung in sich selbst. Und da der Blick
des gewöhnlichen Menschen so weit nicht reicht, ist es die regierende
Minderheit, welche ihn für den Rest besitzen muß, jene Minderheit,
in welcher der Staatsmann erst das Werkzeug findet, mit dem er seine
Absichten ausführen kann.[541]


18

Für die frühe Politik aller Kulturen sind die leitenden Mächte fest
gegeben. Das gesamte Dasein ist streng in patriarchalischer und
sinnbildlicher Form; die Bindungen des mütterlichen Landes sind so
stark, der Lehnsverband und auch noch der Ständestaat sind für das
in sie gebannte Leben etwas so Selbstverständliches, daß die Politik
der homerischen und gotischen Zeit sich darauf beschränkt, im Rahmen
der schlechthin gegebenen Form zu handeln. Diese Formen ändern sich
gewissermaßen von selbst. Daß das eine +Aufgabe+ der Politik
sei, kommt niemand deutlich zum Bewußtsein, selbst wenn ein Königtum
gestürzt oder ein Adel untertänig wird. Es gibt nur Standespolitik,
kaiserliche, päpstliche, Vasallenpolitik. Das Blut, die Rasse, spricht
aus triebhaften, halbbewußten Unternehmungen, denn auch der Priester,
soweit er Politik treibt, handelt hier als Mensch von Rasse. Die
„Probleme“ des Staates sind noch nicht erwacht. Das Herrschertum und
die Urstände, die ganze frühe Formenwelt überhaupt ist gottgegeben
und nur unter ihrer +Voraussetzung+ bekämpfen sich organische
Minderheiten, +Faktionen+.

Zum Wesen der Faktion gehört, daß ihr der Gedanke, die Ordnung der
Dinge könne planmäßig geändert werden, gar nicht zugänglich ist. Sie
will innerhalb dieser Ordnung einen Rang erkämpfen, Macht und Besitz,
wie alles Wachsende in einer wachsenden Welt. Es sind Gruppen, in
denen Verwandtschaft der Häuser, Ehre, Treue, Bündnisse von fast
mystischer Innerlichkeit eine Rolle spielen und abstrakte Ideen ganz
ausgeschlossen bleiben. So sind die Faktionen in homerischer und
gotischer Zeit, Telemach und die Freier in Ithaka, die Blauen und
Grünen unter Justinian, die Welfen und Waiblinger, die Häuser Lancaster
und York, die Protestanten,[542] die Hugenotten und auch noch die
treibenden Mächte der Fronde und der ersten Tyrannis. Das Buch von
Macchiavelli ruht ganz auf diesem Geist.

Die Wendung tritt ein, sobald mit der großen Stadt der Nichtstand, das
Bürgertum die Führung übernimmt.[543] Jetzt ist es im Gegenteil die
politische +Form+, die zum Gegenstand des Kampfes, zum Problem
erhoben wird. Bis dahin war sie gereift, jetzt soll sie geschaffen
werden. Die Politik wird wach, nicht nur begriffen, sondern auch
auf Begriffe gebracht. Gegen Blut und Tradition erheben sich die
Mächte des Geistes und Geldes. An Stelle des Organischen tritt das
Organisierte, +an Stelle des Standes die Partei+. Eine Partei
ist kein Rassegewächs, sondern eine Sammlung von Köpfen und deshalb
an Geist den alten Ständen ebenso überlegen, wie sie an Instinkt
ärmer ist als sie. Sie ist der Todfeind aller gewachsenen ständischen
Gliederung, deren bloßes Vorhandensein ihrem Wesen widerspricht.
Eben deshalb ist der Begriff der Partei immer mit dem unbedingt
+verneinenden+, auflösenden, gesellschaftlich einebnenden der
+Gleichheit+ verbunden. Nicht Standesideale, sondern nur noch
Berufsinteressen werden anerkannt.[544] Aber auch mit dem ebenso
verneinenden der Freiheit:[545] +Parteien sind eine rein städtische
Erscheinung+. Mit der völligen Befreiung der Stadt vom Lande weicht
die Standespolitik überall der Parteipolitik, ob wir davon Kenntnis
haben oder nicht, in Ägypten mit dem Ende des Mittleren Reiches,
in China mit den kämpfenden Staaten, in Bagdad und Byzanz mit der
Abbassidenzeit. In den Hauptstädten des Abendlandes bilden sich die
Parteien parlamentarischen Stils, in den Stadtstaaten der Antike die
Parteien des Forums, und Parteien magischen Stils kennen wir in den
Mavali und den Mönchen des Theodor von Studion.[546]

Immer aber ist es der +Nicht+stand, die Einheit des Protestes
gegen das Wesen des Standes überhaupt, dessen führende Minderheit
-- „Bildung und Besitz“ -- als Partei auftritt, mit einem Programm,
einem nicht gefühlten sondern definierten Ziel und der Ablehnung
alles dessen, was sich verstandesmäßig nicht erfassen läßt. +Es
gibt deshalb im Grunde nur eine Partei+, die des Bürgertums, die
liberale, und sie ist sich dieses Ranges auch vollkommen bewußt.
Sie setzt sich dem „Volke“ gleich. Ihre Gegner, die echten Stände
vor allem, „Junker und Pfaffen“, sind Feinde und Verräter „+des
Volkes+“, ihre Meinung ist die „+Stimme des Volkes+“, die
diesem mit allen Mitteln parteipolitischer Bearbeitung, der Rede des
Forums, der Presse des Abendlandes eingeimpft wird, um dann vertreten
zu werden.

Die +Urstände+ sind Adel und Priestertum. Die +Urpartei+ ist
die des Geldes und Geistes, die liberale, die der großen Stadt. Hier
liegt die tiefe Berechtigung der Begriffe Aristokratie und Demokratie,
und zwar für alle Kulturen. Aristokratisch ist die Verachtung des
Geistes der Städte, demokratisch die Verachtung des Bauern, der Haß
gegen das Land.[547] Es ist der Unterschied von Standespolitik und
Parteipolitik, von Standes+bewußtsein+ und Partei+gesinnung+,
von Rasse und Geist, Wachstum und Konstruktion. Aristokratisch ist
die vollendete Kultur, demokratisch die beginnende weltstädtische
Zivilisation, bis der Gegensatz im Cäsarismus aufgehoben wird. So
gewiß der Adel +der+ Stand ist, und der _tiers_ es niemals
dahin bringt, in dieser Weise wirklich in Form zu sein, so gewiß
mißlingt es dem Adel, als Partei sich nicht zu organisieren, aber zu
fühlen.

Aber der Verzicht darauf steht ihm nicht frei. Alle modernen
Verfassungen verleugnen die Stände und sind auf die Partei als die
selbstverständliche Grundform der Politik hin angelegt. Das 19.
Jahrhundert, und also auch das vorchristliche dritte, ist die Glanzzeit
der Parteipolitik. Ihr demokratischer Zug erzwingt die Bildung von
+Gegenparteien+, und während einst -- noch im 18. Jahrhundert!
-- der _tiers_ sich nach dem Vorbild des Adels als Stand
konstituierte, so entsteht jetzt nach dem Vorbild der liberalen das
+Abwehrgebilde+ der konservativen Partei,[548] durchaus von deren
Formen beherrscht, verbürgerlicht, ohne bürgerlich zu sein, und auf
eine Taktik verwiesen, deren Mittel und Methoden ausschließlich durch
den Liberalismus bestimmt sind. Sie haben nur die Wahl, diese Mittel
besser zu handhaben als der Gegner[549] oder zu unterliegen, aber es
ist tief im Wesen eines Standes begründet, daß er diese Lage nicht
begreift und nicht den Feind, sondern die Form bekämpfen will: Ein
Appell an die äußersten Mittel, der zu Beginn jeder Zivilisation die
Innenpolitik ganzer Staaten verheert und sie dem äußeren Gegner wehrlos
überliefert. Der Zwang jeder Partei, der Erscheinung nach bürgerlich zu
sein, erhebt sich zur Karikatur, sobald sich unterhalb der städtischen
Schichten von Bildung und Besitz auch noch der Rest als Partei
organisiert. Der Marxismus z. B., der Theorie nach eine Verneinung des
Bürgertums, ist als Partei nach Haltung und Führung spießbürgerlich
durch und durch. Es besteht ein fortwährender Konflikt zwischen dem
Wollen, das notwendig aus dem Rahmen der Parteipolitik und damit jeder
Verfassung heraustritt -- beides ist ausschließlich liberal -- und
ehrlicherweise nur als Bürgerkrieg bezeichnet werden kann, und dem
Auftreten, das man sich schuldig zu sein glaubt und das man jedenfalls
haben muß, um in dieser Zeit irgendeinen dauernden Erfolg zu erzielen.
Aber das Auftreten einer Adelspartei in einem Parlament ist innerlich
ebenso unecht wie das einer proletarischen. Nur das Bürgertum ist hier
zu Hause.

In Rom haben Patrizier und Plebejer von der Einsetzung der Tribunen 471
bis zur Anerkennung ihrer gesetzgeberischen Vollmacht in der Revolution
von 287[550] im wesentlichen als Stände gekämpft. Von da an besitzt
dieser Gegensatz nur noch genealogische Bedeutung und es entwickeln
sich Parteien, die man sehr wohl als liberal und konservativ bezeichnen
kann: der auf dem Forum tonangebende Populus[551] und die Nobilität mit
ihrem Stützpunkt im Senat. Dieser hat sich um 287 aus einem Familienrat
der alten Geschlechter in einen Staatsrat der Verwaltungsaristokratie
verwandelt. Dem Populus stehen die nach dem Besitz abgestuften
Zenturiatkomitien und die Gruppe der großen Geldleute, der
_equites_, nahe, der Nobilität die in den Tributkomitien
einflußreiche Bauernschaft. Man denke dort an die Gracchen und Marius,
hier an C. Flaminius; und man braucht nur schärfer hinzusehen, um die
ganz veränderte Stellung der Konsuln und Tribunen zu bemerken. Sie
sind nicht mehr die ernannten Vertrauensmänner des ersten und dritten
Standes, deren Haltung damit bestimmt ist, sondern sie vertreten und
wechseln die Partei. Es gibt „liberale“ Konsuln wie den älteren Cato
und „konservative“ Tribunen wie Octavius, den Gegner des Ti. Gracchus.
Beide Parteien stellen für die Wahlen ihre Kandidaten auf und suchen
sie mit allen Mitteln demagogischer Bearbeitung durchzubringen, und
wenn das Geld bei den Wahlen keinen Erfolg gehabt hat, so gelingt es
ihm bei den Gewählten immer besser.

In England haben Tories und Whigs zu Beginn des 19. Jahrhunderts
sich selbst als Parteien konstituiert, der Form nach verbürgerlicht
und dem Wortlaut nach beide das liberale Programm angenommen,
wodurch die öffentliche Meinung wie immer vollkommen überzeugt und
zufriedengestellt war.[552] Durch diese meisterhaft und rechtzeitig
vollzogene Schwenkung ist es überhaupt nicht zur Bildung einer
standesfeindlichen Partei gekommen, wie in dem Frankreich von 1789.
Die Mitglieder des Unterhauses wurden aus Sendboten der herrschenden
Schicht zu Volksvertretern, die von ihr weiterhin finanziell abhängig
waren; die Führung blieb in derselben Hand und der Parteigegensatz, für
den sich seit 1830 die Worte liberal und konservativ wie von selbst
einstellten, beruhte auf einem Mehr oder Weniger, nicht auf einem
Entweder-Oder. Es sind dieselben Jahre, in denen die literarische
Freiheitsstimmung des „jungen Deutschland“ in eine Parteigesinnung
überging, und wo in Amerika unter Präsident Jackson sich der
republikanischen Partei gegenüber die demokratische organisierte und
der Grundsatz, daß Wahlen ein Geschäft und sämtliche Staatsämter die
Beute des Siegers seien, in aller Form anerkannt wurde.[553]

Aber die Form der regierenden Minderheit entwickelt sich +vom
Stand über die Partei hinaus unaufhaltsam weiter zur Gefolgschaft
von Einzelnen+. Das Ende der Demokratie und ihr Übergang zum
Cäsarismus äußert sich deshalb darin, daß nicht etwa die Partei des
dritten Standes, der Liberalismus verschwindet, sondern die Partei
als Form überhaupt. Die Gesinnung, das volkstümliche Ziel, die
abstrakten Ideale aller echten Parteipolitik lösen sich auf und an
ihre Stelle tritt die +Privat+politik, der ungehemmte Machtwille
weniger Rassemenschen. Ein Stand hat Instinkte, eine Partei hat ein
Programm, eine Gefolgschaft hat einen Herrn: das ist der Weg von
Patriziat und Plebs über Optimaten und Populären zu den Pompejanern
und Cäsarianern. Das Zeitalter der echten Parteiherrschaft umfaßt kaum
zwei Jahrhunderte und ist für uns seit dem Weltkrieg bereits in vollem
Niedergang begriffen. Daß die gesamte Masse der Wählerschaft aus einem
gemeinsamen Antrieb heraus Männer entsendet, die ihre Sache führen
sollen, wie es in allen Verfassungen ganz naiv gemeint ist, war nur im
ersten Anlauf möglich und setzt voraus, daß nicht einmal die Ansätze
zur Organisation bestimmter Gruppen vorhanden sind. So war es 1789
in Frankreich, 1848 in Deutschland. Mit dem Dasein einer Versammlung
ist aber sofort die Bildung taktischer Einheiten verbunden, deren
Zusammenhalt auf dem Willen beruht, die einmal errungene herrschende
Stellung zu +behaupten+, und die sich nicht im geringsten mehr
als Sprachrohr ihrer Wähler betrachten, sondern umgekehrt diese mit
allen Mitteln der Agitation sich gefügig machen, um sie für ihre
Zwecke einzusetzen. Eine Richtung im Volk, die sich organisiert hat,
ist damit bereits das +Werkzeug+ der Organisation geworden und
sie schreitet unaufhaltsam auf diesem Wege weiter, bis auch die
Organisation das Werkzeug der Führer geworden ist. Der Wille zur Macht
ist stärker als alle Theorie. Am Anfang entsteht die Führung und der
Apparat des Programms wegen; dann werden sie von den Inhabern um der
Macht und Beute willen verteidigt, wie es heute schon ganz allgemein
der Fall ist, wo in allen Ländern Tausende von der Partei und den von
ihr vergebenen Ämtern und Geschäften leben, und endlich verschwindet
das Programm aus der Erinnerung und die Organisation arbeitet für sich
allein.

Beim älteren Scipio und Qu. Flamininus ist noch von Freunden die
Rede, die sie in den Krieg begleiten, aber der jüngere Scipio hat
sich eine _cohors amicorum_ gebildet, wohl das erste Beispiel
eines organisierten Gefolges, das dann auch vor Gericht und bei den
Wahlen arbeitet.[554] Ebenso entwickelt sich das ursprünglich ganz
patriarchalische und aristokratische Treuverhältnis des Patrons zu
seinen Klienten zu einer Interessengemeinschaft auf sehr materieller
Grundlage, und schon vor Cäsar gibt es schriftliche Verträge zwischen
Kandidaten und Wählern mit genauer Festsetzung von Zahlung und
Gegenleistung. Auf der andern Seite bilden sich, ganz wie im heutigen
Amerika,[555] die Klubs und Wahlvereine der Tribulen, welche die
Masse der Wähler des Bezirks beherrschen oder verscheuchen, um mit
den großen Führern, den Vorläufern der Cäsaren, von Macht zu Macht
über das Wahlgeschäft zu verhandeln. Das ist nicht ein Scheitern,
sondern der Sinn und das notwendige Endergebnis der Demokratie, und die
Klage weltfremder Idealisten über diese Zerstörung ihrer Hoffnungen
kennzeichnet nur deren Blindheit für das unerbittliche Zweierlei von
Wahrheiten und Tatsachen und die innere Verbundenheit von Geist und
Geld.

Die politisch-soziale +Theorie+ ist nur eine, aber eine notwendige
Unterlage der Parteipolitik. Die stolze Reihe von Rousseau bis Marx
hat ihr Seitenstück in der antiken von den Sophisten bis zu Platon
und Zenon. In China sind die Grundzüge der entsprechenden Lehren aus
der konfuzianischen und taoistischen Literatur noch zu ermitteln;
es genügt, den Namen des Sozialisten Moh ti zu nennen. In der
byzantinischen und arabischen Literatur der Abbassidenzeit, wo der
Radikalismus stets in strenggläubiger Fassung auftritt, nehmen sie
einen breiten Raum ein und wirken als treibende Kräfte in allen Krisen
des 9. Jahrhunderts; in Ägypten und Indien wird ihr Vorhandensein durch
den Geist der Ereignisse zur Zeit Buddhas und der Hyksos bewiesen.
Einer literarischen Fassung bedürfen sie nicht; ebenso wirksam ist die
mündliche Verbreitung, die Predigt und Propaganda in Sekten und Bünden,
wie sie am Ausgang puritanischer Strömungen, also im Islam und im
englisch-amerikanischen Christentum ganz allgemein ist.

Ob diese Lehren „wahr“ oder „falsch“ sind, ist für die Welt der
politischen Geschichte -- das muß immer wieder betont werden -- eine
Frage ohne Sinn. Die „Widerlegung“ etwa des Marxismus gehört in den
Bereich akademischer Erörterungen oder öffentlicher Debatten, wo
jeder recht hat und die andern immer unrecht. Ob sie +wirksam+
sind; seit wann und für wie lange der Glaube, die Wirklichkeit nach
einem Gedankensystem verbessern zu können, überhaupt eine Macht ist,
mit der die Politik zu rechnen hat, darauf kommt es an. Wir befinden
uns in einer Zeit grenzenlosen Vertrauens auf die Allmacht der
Vernunft. Die großen allgemeinen Begriffe Freiheit, Recht, Menschheit,
Fortschritt sind heilig. Die großen Theorien sind Evangelien. Ihre
Überzeugungskraft beruht nicht auf Gründen, denn die Masse einer Partei
besitzt weder die kritische Energie noch die Distanz, um sie ernsthaft
zu prüfen, sondern auf der sakramentalen Weihe ihrer Schlagworte.
Allerdings beschränkt sich dieser Zauber auf die Bevölkerung der
großen Städte und das Zeitalter des Rationalismus, dieser „Religion
der Gebildeten“.[556] Auf das Bauerntum wirkt er gar nicht und auf die
städtischen Massen nur für gewisse Zeit, da aber mit der Gewalt einer
neuen Offenbarung. Man wird bekehrt, man hängt mit Inbrunst an Worten
und ihren Verkündern; man wird zum Märtyrer auf Barrikaden, auf den
Schlachtfeldern, am Galgen; vor den Blicken öffnet sich ein politisches
und soziales Jenseits und die nüchterne Kritik erscheint niedrig und
profan und ist des Todes würdig.

Aber damit sind Schriften wie der Contrat social und das kommunistische
Manifest Machtmittel ersten Ranges in der Hand von Gewaltmenschen, die
innerhalb des Parteilebens emporgekommen sind und die Überzeugung der
beherrschten Masse zu bilden und benützen wissen.[557]

Indessen, diese abstrakten Ideale besitzen eine Macht, die sich kaum
über zwei Jahrhunderte -- die der Parteipolitik -- erstreckt. Sie
werden zuletzt nicht etwa widerlegt, sondern langweilig. Rousseau ist
es längst und Marx wird es in kurzem sein. Man gibt endlich nicht
diese oder jene Theorie auf, sondern den Glauben an Theorien überhaupt
und damit den schwärmerischen Optimismus des 18. Jahrhunderts,
unzulängliche Tatsachen durch Anwendung von Begriffen verbessern zu
können. Als Platon, Aristoteles und ihre Zeitgenossen die antiken
Verfassungsarten definierten und mischten, um die weiseste und schönste
zu erhalten, hörte alle Welt zu, und gerade Platon hat mit seinem
Versuch, Syrakus nach einem ideologischen Rezept umzugestalten,
diese Stadt zugrunde gerichtet.[558] Es scheint mir ebenso sicher,
daß die südlichen Staaten Chinas durch philosophische Experimente
gleicher Art außer Form gebracht und damit dem Imperialismus von
Tsin ausgeliefert worden sind.[559] Die jakobinischen Fanatiker der
Freiheit und Gleichheit haben Frankreich seit dem Direktorium für
immer der wechselnden Herrschaft von Armee und Börse ausgeliefert,
und jeder sozialistische Aufruhr bricht dem Kapitalismus neue Bahnen.
Aber als Cicero sein Buch vom Staate für Pompejus und Sallust seine
beiden Mahnschriften an Cäsar schrieb, achtete niemand mehr darauf. Bei
Ti. Gracchus wird man vielleicht noch einen Einfluß jenes stoischen
Schwärmers Blossius entdecken, der später Selbstmord beging, nachdem
er auch Aristoneikos von Pergamon ins Verderben geführt hatte,[560]
aber im letzten vorchristlichen Jahrhundert sind die Theorien ein
verbrauchtes Schulthema geworden und es handelt sich von da an um die
Macht allein.

Niemand sollte sich darüber täuschen, daß das Zeitalter der Theorie
auch für uns zu Ende geht. Die großen Systeme des Liberalismus
und Sozialismus sind sämtlich zwischen 1750 und 1850 entstanden.
Das von Marx ist heute schon fast ein Jahrhundert alt und ist das
letzte geblieben. Innerlich bedeutet es mit seiner materialistischen
Geschichtsauffassung die äußerste Konsequenz des Rationalismus und
demnach einen Abschluß. Aber wie der Glaube an Rousseaus Menschenrechte
etwa mit 1848, so hat der Glaube an ihn mit dem Weltkrieg seine Kraft
verloren. Wer die Hingabe bis zum Tode, die Rousseaus Gedanken in
der französischen Revolution gefunden haben, mit der Haltung der
Sozialisten von 1918 vergleicht, die eine Überzeugung, welche sie
nicht mehr besaßen, vor ihrer Anhängerschaft und in ihr aufrecht
erhalten mußten, nicht um der Idee, sondern um der Macht willen, die
davon abhängig war, der sieht auch den ferneren Weg vorgezeichnet,
auf dem endlich jedes Programm fallen wird, weil es dem Kampf um
die Gewalt nur noch im Wege steht. Der Glaube daran hatte die
Großväter +ausgezeichnet+; für die Enkel ist er ein Beweis von
Provinzialismus. An seiner Stelle keimt heute schon aus Seelennot und
Gewissensqual eine neue resignierte Frömmigkeit empor, die es aufgibt,
ein neues Diesseits zu begründen, die statt der grellen Begriffe das
Geheimnis sucht und es in den Tiefen der zweiten Religiosität[561] auch
endlich finden wird.


19

Dies ist die eine, die sprachliche Seite der großen Tatsache
Demokratie. Es bleibt übrig, die andere und entscheidende zu
betrachten, die der Rasse.[562] Die Demokratie würde in den Köpfen und
auf dem Papier geblieben sein, wenn unter ihren Verfechtern nicht echte
Herrennaturen gewesen wären, für die das Volk nichts als Objekt und die
Ideale nichts als Mittel waren, so wenig sie sich dessen oft bewußt
geworden sind. Alle, auch die unbedenklichsten Methoden der Demagogie,
die innerlich ganz dasselbe ist wie die Diplomatie des _ancien
régime_, nur statt auf Fürsten und Gesandte auf Massen, statt auf
erlesene Geister auf wüste Meinungen, Stimmungen, Willensausbrüche hin
angelegt, ein Orchester von Blechinstrumenten statt alter Kammermusik,
sind von ehrlichen, aber praktischen Demokraten ausgebildet worden, und
die Parteien der Tradition haben sie erst von ihnen gelernt.

Aber es kennzeichnet allerdings den Weg der Demokratie, daß die
Urheber volkstümlicher Verfassungen niemals die tatsächliche Wirkung
ihrer Entwürfe geahnt haben, weder der Schöpfer der „servianischen“
Verfassung in Rom noch die Nationalversammlung in Paris. Da alle diese
Formen nicht gewachsen sind wie das Lehnswesen, sondern ausgedacht, und
zwar nicht auf Grund einer tiefen Kenntnis der Menschen und Dinge,
sondern abstrakter Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, so
klafft ein Abgrund zwischen dem Geist der Gesetze und den praktischen
Gewohnheiten, die sich unter ihrem Druck in der Stille herausbilden, um
sie dem Takt des wirklichen Lebens anzupassen oder fernzuhalten. Erst
die Erfahrung hat gelehrt und erst am Ende der ganzen Entwicklung, daß
Rechte des Volkes und Einfluß des Volkes zweierlei sind. Je allgemeiner
das Wahlrecht, desto +geringer+ wird die Macht einer Wählerschaft.

In den Anfängen einer Demokratie gehört dem Geiste das Feld allein. Es
gibt nichts Edleres und Reineres als die Nachtsitzung des 4. August
1789 und den Schwur im Ballhause oder die Gesinnung in der Frankfurter
Paulskirche, wo man mit der Macht in Händen so lange über allgemeine
Wahrheiten beriet, bis die Mächte der Wirklichkeit sich gesammelt
hatten und die Träumer beiseite schoben. Bald genug indessen meldet
sich die andere Größe jeder Demokratie und mahnt an die Tatsache,
daß man von verfassungsmäßigen Rechten nur Gebrauch machen kann,
wenn man Geld hat.[563] Daß ein Wahlrecht annähernd leistet, was der
Idealist sich dabei denkt, setzt voraus, daß es keine organisierte
Führerschaft gibt, die in +ihrem+ Interesse und im Maßstabe des
verfügbaren Geldes auf die Wähler einwirkt. Sobald sie da ist, hat
die Wahl nur noch die Bedeutung einer Zensur, welche die Menge den
einzelnen Organisationen erteilt, auf deren Gestaltung sie zuletzt
nicht den geringsten Einfluß mehr besitzt. Und ebenso bleibt das ideale
Grundrecht abendländischer Verfassungen, das der Masse, ihre Vertreter
frei zu bestimmen, bloße Theorie, denn jede entwickelte Organisation
ergänzt sich in Wirklichkeit selbst.[564] Endlich erwacht ein Gefühl
davon, daß das allgemeine Wahlrecht überhaupt kein wirkliches Recht
enthält, nicht einmal das der Wahl zwischen den Parteien, weil die auf
seinem Boden erwachsenen Machtgebilde durch das Geld alle geistigen
Mittel der Rede und Schrift beherrschen und damit die Meinung des
Einzelnen +über+ die Parteien nach Belieben lenken, während sie
andrerseits durch ihre Verfügung über Ämter, Einfluß und Gesetze einen
Stamm unbedingter Anhänger züchten, eben den „Caucus“, der den Rest
ausschaltet und ihn zu einer Wahlmüdigkeit führt, die endlich selbst in
den großen Krisen nicht mehr überwunden werden kann.

Scheinbar besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen der
abendländischen, parlamentarischen Demokratie und denen der
ägyptischen, chinesischen, arabischen Zivilisation, welchen der
Gedanke allgemeiner Volkswahlen ganz fremd ist. Aber für uns ist in
diesem Zeitalter die Masse +als Wählerschaft+ „in Form“, in genau
demselben Sinne, wie sie es vorher als Untertanenverband gewesen war,
+als Objekt nämlich für ein Subjekt+, und wie sie es in Bagdad
und Byzanz als Sekte oder Mönchtum und anderswo als regierendes Heer,
Geheimbund oder Sonderstaat im Staate ist. Die Freiheit ist wie
immer lediglich +negativ+.[565] Sie besteht in der Ablehnung
der Tradition, der Dynastie, der Oligarchie, des Khalifats; aber die
ausübende Macht geht von diesen sofort und ungeschmälert an neue
Gewalten über, an Parteihäupter, Diktatoren, Prätendenten, Propheten
und ihren Anhang, und ihnen gegenüber bleibt die Menge weiterhin
+bedingungslos Objekt+.[566] „Selbstbestimmungsrecht des Volkes“
ist eine höfliche Redensart; tatsächlich hat mit jedem allgemeinen --
anorganischen -- Wahlrecht sehr bald der ursprüngliche Sinn des Wählens
überhaupt aufgehört. Je gründlicher die gewachsenen Gliederungen der
Stände und Berufe politisch ausgelöscht werden, desto formloser, desto
hilfloser wird die Wählermasse, desto unbedingter ist sie den neuen
Gewalten ausgeliefert, den Parteileitungen, welche der Menge mit allen
Mitteln geistigen Zwanges ihren Willen diktieren, den Kampf um die
Herrschaft unter sich ausfechten, mit Methoden, von denen die Menge
zuletzt weder etwas sieht noch versteht, und welche die öffentliche
Meinung lediglich als selbstgeschmiedete Waffe gegen einander erheben.
Aber eben deshalb treibt ein unwiderstehlicher Zug jede Demokratie
auf diesem Wege weiter, der sie zu ihrer Aufhebung durch sich selbst
führt.[567]

Die Grundrechte eines antiken Volkes (_demos_, _populus_)
erstrecken sich auf die Besetzung der hohen Staatsämter und die
Rechtsprechung.[568] Dafür war man „in Form“ auf dem Forum, ganz
euklidisch, als körperhaft gegenwärtige Masse an einem Punkt
versammelt, und hier war man Objekt einer Bearbeitung antiken Stils,
nämlich mit körperlichen, nahen, sinnlichen Mitteln, mit einer
Rhetorik, die unmittelbar auf jedes Ohr +und Auge+ wirkte,
und die mit ihren uns zum Teil widerlichen und kaum zu ertragenden
Mitteln, einstudierten Tränen, zerrissenen Gewändern,[569] mit
schamlosem Lob der Anwesenden, wahnwitzigen Lügen über den Gegner,
einem festen Bestand glänzender Wendungen und wohlklingender Kadenzen
ausschließlich an dieser Stelle und zu diesem Zweck entstanden ist;
mit Spielen und Geschenken, mit Drohungen und Schlägen, vor allem aber
mit Geld. Wir kennen die Anfänge aus dem Athen von 400,[570] das Ende
in erschreckendem Maßstabe aus dem Rom Cäsars und Ciceros. Es ist wie
überall: die Wahlen sind aus der Ernennung von Standesvertretern zum
Kampf zwischen Parteikandidaten geworden. Aber damit ist die Arena
gegeben, in der das Geld angreift und zwar seit Zama mit ungeheurer
Steigerung der Dimensionen. „Je größer der Reichtum wurde, der sich in
den Händen einzelner konzentrieren konnte, desto mehr gestaltete sich
der Kampf um die politische Macht zu einer Geldfrage.“[571] Damit ist
alles gesagt. Aber es ist in einem tieferen Sinne trotzdem falsch, von
Korruption zu reden. Es ist nicht die Ausartung der Sitte, es ist die
Sitte selbst, die der reifen Demokratie, welche mit schicksalhafter
Notwendigkeit solche Formen annimmt. Der Censor Appius Claudius
(310), ohne Zweifel ein echter Hellenist und Verfassungsideologe (wie
nur irgend jemand aus dem Kreise der Madame Roland), hat bei seinen
Reformen sicherlich stets an Wahlrechte und nicht an die Kunst, Wahlen
zu machen, gedacht, aber jene Rechte bereiten dieser Kunst nur den Weg.
Die Rasse kommt erst in dieser zum Vorschein und setzt sich sehr bald
vollkommen durch. Innerhalb einer Diktatur des Geldes kann aber die
Arbeit des Geldes nicht als Verfall bezeichnet werden.

Die römische Ämterlaufbahn forderte, seit sie sich in der Form von
Volkswahlen vollzog, ein Kapital, das den angehenden Politiker zum
Schuldner seiner ganzen Umgebung machte. Vor allem die Ädilität, wo man
durch öffentliche Spiele die Vorgänger überbieten mußte, um später die
Stimmen der Zuschauer zu haben. Sulla fiel bei der ersten Bewerbung um
die Prätur durch, weil er nicht Ädil gewesen war. Dann das glänzende
Gefolge, mit dem man sich täglich auf dem Forum zu zeigen hatte, um
der müßigen Menge zu schmeicheln. Ein Gesetz verbot das Geleit gegen
Bezahlung, aber die Verpflichtung von Vornehmen durch Darlehen,
Empfehlung zu Ämtern und Geschäften und Verteidigung vor Gericht,
die diese wiederum zur Begleitung und zu täglichen Morgenbesuchen
verpflichtete, war teurer. Pompejus war Patron der halben Welt, von
den picenischen Bauern an bis zu den Königen im Orient; er vertrat
und beschützte alles; das war sein politisches Kapital, das er gegen
die zinslosen Darlehen des Crassus und die „Vergoldung“[572] aller
Ehrgeizigen durch den Eroberer Galliens einsetzen konnte. Man läßt den
Wählern bezirksweise Frühstücke servieren,[573] Freiplätze für die
Gladiatorenspiele anweisen oder auch wie Milo unmittelbar Geld ins Haus
senden. Cicero nennt das die Sitten der Väter achten. Das Wahlkapital
nahm amerikanische Dimensionen an und betrug zuweilen Hunderte von
Millionen Sesterzen. Bei den Wahlen von 54 stieg der Zinsfuß von 4
auf 8%, weil der größte Teil der ungeheuren Bargeldmasse, die in Rom
vorhanden war, in der Agitation festgelegt wurde. Cäsar hatte als Ädil
so viel ausgegeben, daß Crassus für 20 Millionen bürgen mußte, damit
die Gläubiger ihm die Abreise in die Provinz gestatteten, und bei
der Wahl zum Pontifex Maximus hatte er seinen Kredit noch einmal so
überspannt, daß sein Gegner Catulus ihm Geld für den Rücktritt bieten
konnte, weil er im Fall einer Niederlage verloren war. Aber die auch
deshalb unternommene Eroberung und Ausbeutung Galliens machte ihn zum
reichsten Mann der Welt; hier ist eigentlich Pharsalus schon gewonnen
worden.[574] Denn Cäsar hat diese Milliarden um der +Macht+
willen erobert, wie Cecil Rhodes, und nicht aus Freude am Reichtum,
wie Verres und im Grunde auch Crassus, ein großer Geldmann mit
politischem Nebenberuf. Er begriff, daß auf dem Boden einer Demokratie
die verfassungsmäßigen Rechte ohne Geld nichts, mit Geld alles
bedeuten. Als Pompejus noch davon träumte, er könne Legionen aus der
Erde stampfen, hatte sie Cäsar durch sein Geld längst zur Wirklichkeit
verdichtet. Er hatte diese Methoden vorgefunden; er beherrschte
sie, aber er identifizierte sich nicht mit ihnen. Man muß sich klar
machen, daß sich etwa seit 150 die um Grundsätze versammelten
Parteien zu persönlichen Gefolgschaften auflösen um Männer, die ein
privatpolitisches Ziel hatten und sich auf die Waffen ihrer Zeit
verstanden.

Dazu gehört neben dem Geld auch der Einfluß auf die Gerichte. Da
die antiken Volksversammlungen nur abstimmen, nicht beraten, so ist
der Prozeß vor den Rostra +eine Form des Parteikampfes+ und
die eigentliche Schule +politischer+ Beredsamkeit. Der junge
Politiker begann seine Laufbahn, indem er eine große Persönlichkeit
anklagte und womöglich vernichtete,[575] wie der 19jährige Crassus
den berühmten Papirius Carbo, den Freund der Gracchen, der später zu
den Optimaten übergegangen war. Cato wurde aus diesem Grunde 44mal
angeklagt und immer freigesprochen. Die Rechtsfrage tritt dabei ganz
zurück.[576] Die Parteistellung der Richter, die Zahl der Patrone und
der Umfang des Gefolges ist ausschlaggebend, und die Zahl der Zeugen
ist eigentlich nur da, um die politische und finanzielle Macht des
Klägers ins Licht zu rücken. Ciceros ganze Beredsamkeit gegen Verres
will die Richter unter der Maske eines prachtvollen sittlichen Pathos
überzeugen, daß seine Verurteilung in ihrem +Standes+interesse
liegt. Nach allgemein antiker Auffassung ist es selbstverständlich,
daß der Sitz im Gericht den Privatinteressen und denen der Partei zu
dienen hat. Demokratische Ankläger in Athen pflegten am Schluß ihrer
Rede die Geschwornen aus dem Volke darauf aufmerksam zu machen, daß
sie durch Freisprechung des reichen Angeklagten um ihre Prozeßgebühren
kämen.[577] Die gewaltige Macht des Senats beruht zum großen Teil
darauf, daß er durch die Besetzung aller Gerichte das Schicksal jedes
Bürgers in Händen hatte; danach kann man die Tragweite des gracchischen
Gesetzes von 122 ermessen, das die Gerichte dem Ritterstand übertrug
und die Nobilität, das heißt die hohen Beamten damit der Finanzwelt
auslieferte.[578] Sulla hat im Jahre 83 zugleich mit den Proskriptionen
der großen Geldleute auch die Gerichte wieder dem Senat zurückgegeben,
+als politische Waffe+, wie sich versteht, und der Endkampf der
Machthaber findet auch in dem beständigen Wechsel der Richterauswahl
ihren Ausdruck.

Aber während die Antike, an der Spitze das Forum von Rom, die
Volksmasse zu einem sichtbaren und dichten Körper zusammenzog, um ihn
zu zwingen, von seinen Rechten den Gebrauch zu machen, den man wollte,
schuf „gleichzeitig“ die europäisch-amerikanische Politik +durch
die Presse+ ein Kraftfeld von geistigen und Geldspannungen über
die ganze Erde hin, in das jeder einzelne eingeordnet ist, ohne daß
es ihm zum Bewußtsein kommt, so daß er denken, wollen und handeln
muß, wie es irgendwo in der Ferne eine herrschende Persönlichkeit
für zweckmäßig hält. Das ist Dynamik gegen Statik, faustisches gegen
apollinisches Weltgefühl, das Pathos der dritten Dimension gegen die
reine, sinnliche Gegenwart. Man spricht nicht von Mann zu Mann; die
Presse und in Verbindung mit ihr der elektrische Nachrichtendienst
halten das Wachsein ganzer Völker und Kontinente unter dem betäubenden
Trommelfeuer von Sätzen, Schlagworten, Standpunkten, Szenen, Gefühlen,
Tag für Tag, Jahr für Jahr, so daß jedes Ich zur bloßen Funktion eines
ungeheuren geistigen Etwas wird. Das Geld nimmt seinen politischen Weg
nicht als Metall aus einer Hand in die andre. Es verwandelt sich nicht
in Spiele und Wein. Es wird in Kraft umgesetzt und bestimmt durch seine
Menge die Intensität dieser Bearbeitung.

Schießpulver und Buchdruck gehören zusammen, beide in der hohen Gotik
erfunden, beide aus germanischem technischen Denken heraus, als die
+beiden+ großen Mittel faustischer Ferntaktik. Die Reformation
sah zu Beginn der Spätzeit die ersten Flugschriften und Feldgeschütze,
die französische Revolution zu Beginn der Zivilisation den ersten
Broschürensturm vom Herbst 1788 und bei Valmy das erste Massenfeuer
einer Artillerie. Aber damit erhebt sich das in Masse hergestellte und
über endlose Flächen verbreitete gedruckte Wort zu einer unheimlichen
Waffe in den Händen dessen, der sie zu führen weiß. In Frankreich
handelte es sich 1788 noch um einen ursprünglichen Ausdruck privater
Überzeugungen, aber in England war man schon dabei, den +Ein+druck
auf die Leser planmäßig zu erzeugen. Der von London aus mit Artikeln,
Flugblättern, unechten Memoiren auf französischem Boden gegen Napoleon
geführte Krieg ist das erste große Beispiel. Die vereinzelten Blätter
der Aufklärungszeit verwandeln sich in „die Presse“, wie man mit
bezeichnender Anonymität[579] sagt. Der +Pressefeldzug+ entsteht
als die Fortsetzung -- oder Vorbereitung -- des Krieges mit andern
Mitteln, und seine Strategie der Vorpostengefechte, Scheinmanöver,
Überfälle, Sturmangriffe wird während des 19. Jahrhunderts bis zu dem
Grade durchgebildet, daß ein Krieg schon verloren sein kann, bevor der
erste Schuß fällt -- weil die Presse ihn inzwischen gewonnen hat.

Heute leben wir so widerstandslos unter der Wirkung dieser geistigen
Artillerie, daß kaum jemand den inneren Abstand gewinnt, um sich
das Ungeheuerliche dieses Schauspiels klar zu machen. Der Wille zur
Macht in rein demokratischer Verkleidung hat sein Meisterstück damit
vollendet, daß dem Freiheitsgefühl der Objekte mit der vollkommensten
Knechtung, die es je gegeben hat, sogar noch geschmeichelt wird. Der
liberale Bürgersinn ist +stolz+ auf die Abschaffung der Zensur,
der letzten Schranke, während der Diktator der Presse -- Northcliffe!
-- die Sklavenschar seiner Leser unter der Peitsche seiner Leitartikel,
Telegramme und Illustrationen hält. +Die Demokratie hat das Buch
aus dem Geistesleben der Volksmassen vollständig durch die Zeitung
verdrängt.+ Die Bücherwelt mit ihrem Reichtum an Gesichtspunkten,
die das Denken zur Auswahl und Kritik nötigte, ist nur noch für enge
Kreise ein wirklicher Besitz. Das Volk liest die +eine+, „seine“
Zeitung, die in Millionen Exemplaren täglich in alle Häuser dringt, die
Geister vom frühen Morgen an in ihren Bann zieht, durch ihre Anlage
die Bücher in Vergessenheit bringt und, wenn eins oder das andre
doch einmal in den Gesichtskreis tritt, seine Wirkung durch eine
vorweggenommene Kritik ausschaltet.

Was ist Wahrheit? Für die Menge das, was man ständig liest und hört.
Mag ein armer Tropf irgendwo sitzen und Gründe sammeln, um „die
Wahrheit“ festzustellen -- es bleibt +seine+ Wahrheit. Die andre,
die öffentliche des Augenblicks, auf die es in der Tatsachenwelt
der Wirkungen und Erfolge allein ankommt, ist heute ein Produkt der
Presse. Was sie will, ist wahr. Ihre Befehlshaber erzeugen, verwandeln,
vertauschen Wahrheiten. Drei Wochen Pressearbeit, und alle Welt hat
die Wahrheit erkannt.[580] Ihre Gründe sind so lange unwiderleglich,
als Geld vorhanden ist, um sie ununterbrochen zu wiederholen. Auch die
antike Rhetorik war auf den Eindruck und nicht den Inhalt berechnet
-- Shakespeare hat in der Leichenrede des Antonius glänzend gezeigt,
worauf es ankam -- aber sie beschränkte sich auf die Anwesenden und
den Augenblick. Die Dynamik der Presse will +dauernde+ Wirkungen.
Sie muß die Geister +dauernd+ unter Druck halten. Ihre Gründe
sind widerlegt, sobald die größere Geldmacht sich bei den Gegengründen
befindet und sie noch häufiger vor aller Ohren und Augen bringt. In
demselben Augenblick dreht sich die Magnetnadel der öffentlichen
Meinung nach dem stärkeren Pol. Jedermann überzeugt sich sofort von der
neuen Wahrheit. Man ist plötzlich aus einem Irrtum erwacht.

Mit der politischen Presse hängt das Bedürfnis nach allgemeiner
Schulbildung zusammen, das der Antike durchaus fehlt. Es ist ein ganz
unbewußter Drang darin, die Massen als Objekte der Parteipolitik
dem Machtmittel der Zeitung zuzuführen. Dem Idealisten der frühen
Demokratie erschien das als Aufklärung ohne Hintergedanken, und
heute noch gibt es hier und da Schwachköpfe, die sich am Gedanken
der Preßfreiheit begeistern, aber gerade damit haben die kommenden
Cäsaren der Weltpresse freie Bahn. Wer lesen gelernt hat, verfällt
ihrer Macht, und aus der erträumten Selbstbestimmung wird die späte
Demokratie zu einem radikalen Bestimmt+werden+ der Völker durch
die Gewalten, denen das gedruckte Wort gehorcht.

Man bekämpft sich heute, indem man sich diese Waffe entreißt. In
den naiven Anfängen der Zeitungsmacht wurde sie durch Zensurverbote
geschädigt, mit denen die Vertreter der Tradition sich wehrten, und das
Bürgertum schrie auf, die Freiheit des Geistes sei in Gefahr. Jetzt
zieht die Menge ruhig ihres Wegs; sie hat diese Freiheit endgültig
erobert, aber im Hintergrunde bekämpfen sich ungesehen die neuen
Mächte, indem sie die Presse kaufen. Ohne daß der Leser es merkt,
wechselt die Zeitung und damit er selbst den Gebieter.[581] Das Geld
triumphiert auch hier und zwingt die freien Geister in seinen Dienst.
Kein Tierbändiger hat seine Meute besser in der Gewalt. Man läßt das
Volk als Lesermasse los, und es stürmt durch die Straßen, wirft sich
auf das bezeichnete Ziel, droht und schlägt Fenster ein. Ein Wink an
den Pressestab und es wird still und geht nach Hause. Die Presse ist
heute eine Armee mit sorgfältig organisierten Waffengattungen, mit
Journalisten als Offizieren, Lesern als Soldaten. Aber es ist hier
wie in jeder Armee: der Soldat gehorcht blind, und die Wechsel in
Kriegsziel und Operationsplan vollziehen sich ohne seine Kenntnis. Der
Leser weiß nichts von dem, was man mit ihm vorhat, und soll es auch
nicht, und er soll auch nicht wissen, welch eine Rolle er damit spielt.
Eine furchtbarere Satire auf die Gedankenfreiheit gibt es nicht. Einst
durfte man nicht wagen, frei zu denken; jetzt darf man es, aber man
kann es nicht mehr. Man will nur noch denken, was man wollen soll, und
eben das empfindet man als seine Freiheit.

Und die andere Seite dieser späten Freiheit: es ist jedem erlaubt zu
sagen, was er will; aber es steht der Presse frei, davon Kenntnis
zu nehmen oder nicht. Sie kann jede „Wahrheit“ zum Tode verurteilen,
indem sie ihre Vermittlung an die Welt nicht übernimmt, eine furchtbare
Zensur des Schweigens, die um so allmächtiger ist, als die Sklavenmasse
der Zeitungsleser ihr Vorhandensein gar nicht bemerkt.[582] Hier
taucht, wie überall in den Geburtswehen des Cäsarismus, ein Stück
versunkener Frühzeit auf.[583] Der Bogen des Geschehens ist im
Begriff sich zu schließen. Wie in den Bauten von Beton und Stahl
noch einmal der Ausdruckswille der ersten Gotik hervorbricht, aber
nun kalt, beherrscht, zivilisiert, so meldet sich hier der eiserne
Machtwille der gotischen Kirche über die Geister -- als „Freiheit
der Demokratie“. Die Zeit des „Buches“ wird durch die Predigt und
die Zeitung eingefaßt. Bücher sind ein persönlicher +Ausdruck+,
Predigt und Zeitung gehorchen einem unpersönlichen +Zweck+. Die
Jahre der Scholastik bieten in der Weltgeschichte das einzige Beispiel
einer geistigen Zucht, die über alle Länder hin keine Schrift, keine
Rede, keinen Gedanken hervortreten ließ, die der +gewollten+
Einheit widersprachen. Das ist geistige Dynamik. Antike, indische,
chinesische Menschen würden entsetzt auf dies Schauspiel geblickt
haben. Aber gerade das kehrt als +notwendiges+ Ergebnis des
europäisch-amerikanischen Liberalismus wieder, so wie es Robespierre
meinte: „der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei“. An Stelle
der Scheiterhaufen tritt das große Schweigen. Die Diktatur der
Parteihäupter stützt sich auf die Diktatur der Presse. Man sucht durch
das Geld Leserscharen und ganze Völker der feindlichen Hörigkeit
zu entreißen und unter die eigne Gedankenzucht zu bringen. Hier
erfahren sie nur noch, was sie wissen +sollen+, und ein höherer
Wille gestaltet das Bild ihrer Welt. Man braucht nicht mehr, wie die
Fürsten des Barock, die Untertanen zum Waffendienst zu verpflichten.
Man peitscht ihre Geister auf, durch Artikel, Telegramme, Bilder --
Northcliffe! -- bis sie Waffen +fordern+ und ihre Führer zu einem
Kampfe zwingen, zu dem diese gezwungen sein +wollten+.

Das ist das Ende der Demokratie. Wenn in der Welt der Wahrheiten
der +Beweis+ alles entscheidet, so in der Tatsachenwelt der
+Erfolg+. Erfolg, das bedeutet den Triumph eines Daseinsstromes
über die andern. Das Leben +hat+ sich durchgesetzt; die Träume
der Weltverbesserer sind Werkzeuge von +Herren+naturen geworden.
In der späten Demokratie bricht die +Rasse+ hervor und knechtet
die Ideale oder wirft sie mit Gelächter in den Abgrund. So war es
im ägyptischen Theben, in Rom, in China, aber in keiner zweiten
Zivilisation erhielt der Wille zur Macht eine so unerbittliche Form.
Das Denken und dadurch das Handeln der Masse wird unter eisernem
Druck gehalten. Deshalb und nur deshalb ist man Leser und Wähler,
also in zweifacher Sklaverei, während die Parteien zu gehorsamen
Gefolgschaften von Wenigen werden, über welche der Cäsarismus schon
seine ersten Schatten wirft. Wie das englische Königtum im 19.
Jahrhundert, so werden die Parlamente im 20. langsam ein feierliches
und leeres Schauspiel. Wie dort Szepter und Krone, so werden hier die
Volksrechte mit großem Zeremoniell vor der Menge einhergetragen und um
so peinlicher geachtet, je weniger sie bedeuten. Das ist der Grund,
weshalb der +kluge+ Augustus keine Gelegenheit versäumt hat, die
altgeheiligten Bräuche römischer Freiheit zu betonen. Aber die Macht
verlagert sich heute schon aus den Parlamenten in private Kreise, und
ebenso sinken die Wahlen unaufhaltsam zu einer Komödie herab, für uns
wie für Rom. Das Geld organisiert den Vorgang im Interesse derer, die
es besitzen,[584] und die Wahlhandlung wird ein verabredetes Spiel,
das als Selbstbestimmung des Volkes inszeniert ist. Und wenn eine Wahl
ursprünglich eine +Revolution in legitimen Formen war+,[585] so
hat sich diese Form erschöpft und man „wählt“ sein Schicksal wieder mit
den ursprünglichen Mitteln blutiger Gewalt, wenn die Politik des Geldes
unerträglich wird.

Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst, nachdem das Geld
den Geist vernichtet hat. Aber eben weil alle Träume verflogen sind,
daß die Wirklichkeit sich jemals durch die Gedanken irgend eines Zenon
oder Marx verbessern ließe, und man gelernt hat, daß im Reiche der
Wirklichkeit ein Machtwille +nur durch einen andern+ gestürzt
werden kann -- das ist die große Erfahrung im Zeitalter der kämpfenden
Staaten --, erwacht endlich eine tiefe Sehnsucht nach allem, was noch
von alten, edlen Traditionen lebt. Man ist der Geldwirtschaft müde bis
zum Ekel. Man hofft auf eine Erlösung irgendwoher, auf einen echten
Ton von Ehre und Ritterlichkeit, von innerem Adel, von Entsagung und
Pflicht. Und nun bricht die Zeit an, wo in der Tiefe die formvollen
Mächte des Blutes wieder erwachen, die durch den Rationalismus der
großen Städte verdrängt worden sind. Alles was sich an dynastischer
Tradition, an altem Adel für die Zukunft aufgespart hat, an vornehmer,
über das Geld erhabener Sitte, alles was in sich stark genug ist,
um nach dem Worte Friedrichs des Großen +Diener+ des Staats zu
sein in harter, entsagungsvoller, sorgender Arbeit, gerade im Besitz
einer schrankenlosen Gewalt, alles was ich dem Kapitalismus gegenüber
als Sozialismus bezeichnet hatte,[586] alles das wird plötzlich zum
Sammelpunkt ungeheurer Lebenskräfte. Der Cäsarismus +wächst+
auf dem Boden der Demokratie, aber seine Wurzeln reichen tief in die
Untergründe des Blutes und der Tradition hinab. Seine Gewalt verdankt
der antike Cäsar dem Tribunat, seine Würde und damit seine Dauer
besitzt er als Prinzeps. Auch hier erwacht die Seele der frühen Gotik
noch einmal: Der Geist der Ritterorden überwindet das beutelustige
Wikingertum. Mögen die Machthaber der Zukunft, da die große politische
Form der Kultur unwiderruflich zerfallen ist, die Welt als Privatbesitz
beherrschen, so enthält diese formlose und grenzenlose Macht doch eine
+Aufgabe+, die der unermüdlichen Sorge um diese Welt, die das
Gegenteil aller Interessen im Zeitalter der Geldherrschaft ist und die
ein hohes Ehrgefühl und Pflichtbewußtsein fordert. Aber eben deshalb
erhebt sich nun der Endkampf zwischen Demokratie und Cäsarismus,
zwischen den führenden Mächten einer diktatorischen Geldwirtschaft
und dem +rein politischen+ Ordnungswillen der Cäsaren. Um das zu
verstehen, diesen Endkampf zwischen +Wirtschaft und Politik+, in
welchem die Politik ihr Reich +zurück+erobert, bedarf es eines
Blickes auf die Physiognomie der Wirtschaftsgeschichte.


    [533] „Reiche vergehen, ein guter Vers bleibt“, meinte W. v.
    Humboldt auf dem Schlachtfeld von Waterloo. Aber die Persönlichkeit
    Napoleons hat die Geschichte der nächsten Jahrhunderte im
    voraus geformt. Die guten Verse -- er hätte doch einmal einen
    Bauern am Wege nach ihnen fragen sollen. Sie bleiben -- für den
    Literaturunterricht. Plato ist ewig -- für Philologen. Aber
    Napoleon beherrscht +uns alle+ innerlich, unsere Staaten und Heere,
    unsere öffentliche Meinung, unser ganzes politisches Sein, und um
    so mehr, je weniger es uns zum Bewußtsein kommt.

    [534] S. 446.

    [535] S. 136. 419.

    [536] S. 448.

    [537] Das bedeutet der englische Grundsatz _men not measures_, und
    damit ist eigentlich das Geheimnis aller erfolgreichen Politik
    gegeben.

    [538] S. 22. 449.

    [539] S. 421

    [540] Das gilt endlich auch von den Kirchen, die etwas ganz anderes
    sind als Religionen, nämlich Elemente der Tatsachenwelt und deshalb
    im Charakter ihrer Führung politisch und nicht religiös. Nicht die
    christliche Predigt, der christliche Märtyrer hat die Welt erobert,
    und daß er die Kraft dazu besaß, verdankt er nicht der Lehre,
    sondern dem Vorbild des Mannes am Kreuz.

    [541] Es sollte eigentlich kaum betont werden müssen, daß das nicht
    die Grundsätze einer aristokratischen Regierung sind, sondern die
    des Regierens überhaupt. Kein begabter Massenführer, weder Kleon
    noch Robespierre noch Lenin hat sein Amt anders behandelt. Wer
    sich wirklich als Beauftragter der Menge fühlt statt als Regent
    von solchen, die nicht wissen was sie wollen, würde keinen Tag
    lang Herr im Hause sein. Die Frage ist nur, ob gerade die großen
    Volksführer ihre Stellung für sich oder für die andern verwalten,
    und darüber ließe sich manches sagen.

    [542] Ursprünglich eine Vereinigung von neunzehn Fürsten und freien
    Städten (1529).

    [543] S. 441. 496 ff.

    [544] Deshalb nimmt auf dem Boden der bürgerlichen Gleichheit
    sofort der Geldbesitz die Stelle des genealogischen Ranges ein.

    [545] S. 439.

    [546] S. 531 f. Vgl. auch Wellhausen, Die relig.-polit.
    Oppositionsparteien im alten Islam (1901).

    [547] Für die Demokratie in England und Amerika ist es wesentlich,
    daß das Bauerntum dort abgestorben und hier nie vorhanden gewesen
    ist. Der „Farmer“ ist seelisch Vorstädter und betreibt praktisch
    die Landwirtschaft als Industrie. Statt der Dörfer gibt es nur
    Fragmente von Großstädten.

    [548] Und überall da, wo zwischen den Urständen auch ein
    +politischer+ Gegensatz besteht wie in Ägypten, Indien und im
    Abendland, noch eine klerikale, d. h. nicht etwa die Religion,
    sondern die Kirche, nicht die Gläubigen, sondern die Priesterschaft
    als Partei.

    [549] Und ihr stärkerer Gehalt an Rasse gibt ihnen alle Aussicht
    dazu.

    [550] S. 510 f.

    [551] Plebs entspricht dem _tiers_ -- Bürger und Bauern -- des
    18., _populus_ der großstädtischen „Masse“ des 19. Jahrhunderts.
    Der Unterschied kommt in der Haltung gegenüber den freigelassenen
    Sklaven meist nichtitalischer Herkunft zum Ausdruck, welche die
    Plebs als Stand in möglichst wenige Tribus zurückzudrängen sucht,
    während sie im Populus als einer Partei bald die ausschlaggebende
    Rolle spielen.

    [552] S. 515.

    [553] In aller Stille ging gleichzeitig die katholische Kirche
    von der Standes- zur Parteipolitik über und zwar mit einer
    strategischen Sicherheit, die nicht genug bewundert werden kann.
    Im 18. Jahrhundert war sie, was den Stil ihrer Diplomatie, die
    Vergebung der großen Stellen und den Geist ihrer höheren Kreise
    betrifft, durchaus aristokratisch gewesen. Man denke an den Typus
    des Abbé und an die Kirchenfürsten, welche Minister und Gesandte
    wurden wie der junge Kardinal Rohan. Jetzt tritt, ganz „liberal“,
    an Stelle der Abkunft die Gesinnung, an Stelle des Geschmacks die
    Arbeitskraft, und die großen Mittel der Demokratie, die Presse, die
    Wahlen, das Geld, werden mit einem Geschick gehandhabt, das der
    eigentliche Liberalismus selten erreicht und nirgends übertroffen
    hat.

    [554] Zum folg.: M. Gelzer, Die Nobilität der römischen
    Republik (1912) S. 43 ff. A. Rosenberg, Untersuch. zur röm.
    Centurienverfassung (1911) S. 62 ff.

    [555] Allbekannt ist Tammany Hall in New York, aber die
    Verhältnisse nähern sich diesem Zustand in allen von Parteien
    regierten Ländern. Der amerikanische „Caucus“, der die Staatsämter
    unter seine Mitglieder verteilt und deren Namen dann der
    Wählermasse aufzwingt, ist als National Liberal Federation von
    Chamberlain in England eingeführt worden und seit 1919 auch an
    Deutschland in rascher Entwicklung begriffen.

    [556] S. 376.

    [557] S. 22 f.

    [558] Über die Geschichte dieses tragischen Experiments Ed. Meyer,
    Gesch. d. Alt. V, § 987 ff.

    [559] S. 522. Die „Pläne der kämpfenden Staaten“, das Tschun Tsiu
    fan lu und die Biographien bei Se ma tsien sind voll von Beispielen
    einer schulmeisterlichen Einmischung der „Weisheit“ in die Politik.

    [560] Über dessen aus Sklaven und Tagelöhnern gebildeten
    „Sonnenstaat“ vgl. Pauly-Wissowa, Real-Enc. 2, 961. Ebenso stand
    der revolutionäre König Kleomenes III. von Sparta (235) unter
    dem Einfluß des Stoikers Sphairos. Man begreift, weshalb der
    römische Senat wiederholt die „Philosophen und Rhetoren“, d. h.
    Geschäftspolitiker, Phantasten und Wühler auswies.

    [561] S. 382.

    [562] S. 133.

    [563] Die frühe Demokratie, die der hoffnungsvollen
    Verfassungsentwürfe, die für uns etwa bis zu Lincoln, Bismarck und
    Gladstone reicht, muß diese Erfahrung +machen+; die späte, für uns
    die des reifen Parlamentarismus, geht von ihr aus. Da haben sich
    Wahrheiten und Tatsachen in Gestalt von Parteiideal und Parteikasse
    endgültig getrennt. Der echte Parlamentarier fühlt sich eben durch
    das Geld von der Abhängigkeit befreit, die in der naiven Auffassung
    des Wählers vom Gewählten enthalten ist.

    [564] S. 566.

    [565] S. 439.

    [566] Wenn sie sich trotzdem befreit +fühlt+, so beweist das
    wiederum die tiefe Unverträglichkeit zwischen großstädtischem Geist
    und gewachsener Tradition, während zwischen seiner Tätigkeit und
    dem Regiertwerden durch das Geld eine innere Beziehung besteht.

    [567] Die deutsche Verfassung von 1919, also schon an der Schwelle
    der +absteigenden+ Demokratie entstanden, enthält in aller
    Naivität eine Diktatur der Parteimaschinen, die sich selbst alle
    Rechte übertragen haben und niemand ernsthaft verantwortlich
    sind. Die berüchtigte Verhältniswahl und die Reichsliste sichern
    ihnen die Selbstergänzung. Statt der Rechte des „Volkes“, wie
    sie die Verfassung von 1848 der Idee nach enthielt, gibt es nur
    solche der Parteien, was harmlos klingt, aber den Cäsarismus der
    Organisationen in sich schließt. In diesem Sinne ist sie allerdings
    die fortgeschrittenste Verfassung des Zeitalters; sie läßt das Ende
    bereits erkennen; einige ganz kleine Änderungen, und sie verleiht
    Einzelnen die unumschränkte Gewalt.

    [568] Dagegen ist die Gesetzgebung mit einem Amt verbunden. Auch
    wo die Annahme oder Verwerfung der Form nach einer Versammlung
    zusteht, kann das Gesetz nur durch einen Beamten, etwa den
    Tribun, eingebracht werden. Rechtswünsche der Menge, meist durch
    die Machthaber suggerierte, äußern sich also im Ausfall von
    Beamtenwahlen, wie die Gracchenzeit lehrt.

    [569] Noch der 50jährige Cäsar mußte seinen Soldaten am Rubikon
    diese Komödie vorspielen, weil sie daran gewöhnt waren, wenn man
    etwas von ihnen wollte. Es entspricht etwa dem „Brustton der
    Überzeugung“ in heutigen Versammlungen.

    [570] Aber der Typus Kleon ist selbstverständlich damals in Sparta
    und in Rom zur Zeit der Konsulartribunen (S. 508) ebenso vorhanden
    gewesen.

    [571] Gelzer, Nobilität S. 94. Das Buch enthält neben Ed. Meyers
    „Cäsar“ den besten Überblick über die römische demokratische
    Methode.

    [572] _Inaurari_, zu welchem Zweck Cicero seinen Freund Trebatius
    an Cäsar empfahl.

    [573] _Tributim ad prandium vocare_, Cicero pro Murena 72.

    [574] Es handelt sich um Milliarden von Sesterzen, die seitdem
    durch seine Hände gingen. Die Weihgeschenke der gallischen Tempel,
    die er in Italien ausbieten ließ, riefen einen Sturz des Goldwertes
    hervor. Vom König Ptolemäos erpreßten er und Pompejus für die
    Anerkennung 144 (und Gabinius noch einmal 240) Millionen. Der
    Konsul Aemilius Paulus (50) wurde mit 36, Curio mit 60 Millionen
    erkauft. Man kann daraus auf die vielbeneideten Vermögen seiner
    näheren Umgebung schließen. Bei dem Triumph von 46 erhielt jeder
    der weit über hunderttausend Soldaten je 24000 Sesterzen, die
    Offiziere und Führer noch ganz andere Summen. Trotzdem reichte der
    Staatsschatz nach seinem Tode aus, um die Stellung des Antonius zu
    sichern.

    [575] Gelzer S. 68.

    [576] Es handelt sich meist um Erpressung und Bestechung. Da
    das damals mit Politik identisch war, Richter wie Ankläger
    ganz dasselbe getan hatten und jeder das wußte, so bestand die
    Kunst darin, unter den Formen einer gutgespielten sittlichen
    Leidenschaft eine Parteirede zu halten, deren eigentlichen Zweck
    nur der Eingeweihte begriff. Das entspricht ganz dem modernen
    parlamentarischen Brauch. Das „Volk“ würde sehr erstaunt sein,
    wenn es nach wilden Reden in der Sitzung (für den Preßbericht) die
    Parteigegner miteinander plaudern sähe. Es sei auch an die Fälle
    erinnert, in denen eine Partei sich leidenschaftlich für einen
    Antrag einsetzt, nachdem sie durch Übereinkunft mit den Gegnern die
    Nichtannahme gesichert hat. In Rom kam es auch gar nicht auf das
    Urteil an; es genügte, wenn der Angeklagte vorher freiwillig die
    Stadt verließ und damit aus dem Parteikampf und der Ämterbewerbung
    ausschied.

    [577] v. Pöhlmann, Griech. Geschichte (1914) S. 236 f.

    [578] So konnte Rutilius Rufus in dem berüchtigten Prozeß von 93
    verurteilt werden, weil er als Statthalter gegen die Erpressungen
    der Pachtgesellschaften pflichtgemäß vorgegangen war.

    [579] Und wie im Anklang an „die Artillerie“.

    [580] Das stärkste Beispiel wird für künftige Geschlechter die
    Frage der „Schuld“ am Weltkrieg sein, das heißt die Frage, wer
    durch Beherrschung der Presse und Kabel aller Erdteile die Macht
    besitzt, für die Weltmeinung diejenige Wahrheit herzustellen,
    die er für seine politischen Zwecke braucht, und sie solange zu
    halten, als er sie braucht. Eine ganz andre Frage, die nur in
    Deutschland noch mit der ersten verwechselt wird, ist die rein
    wissenschaftliche, wer ein Interesse daran besaß, ein Ereignis
    gerade im Sommer 1914 eintreten zu lassen, über das es damals schon
    eine ganze Literatur gab.

    [581] In Vorbereitung des Weltkriegs wurde die Presse ganzer Länder
    finanziell unter das Kommando von London und Paris gebracht, und
    damit die zugehörigen Völker in eine strenge geistige Sklaverei.
    Je demokratischer die innere Form einer Nation, desto leichter und
    vollständiger erliegt sie dieser Gefahr. Das ist der Stil des 20.
    Jahrhunderts. Ein Demokrat vom alten Schlage würde heute nicht
    Freiheit +für+ die Presse, sondern +von+ der Presse fordern, aber
    inzwischen haben die Führer sich in „Angekommene“ verwandelt, die
    ihre Stellung gegenüber der Masse sichern müssen.

    [582] Die große Bücherverbrennung der Chinesen (S. 544) ist harmlos
    dagegen.

    [583] S. 546.

    [584] Hier liegt das Geheimnis, weshalb alle radikalen, also
    +armen+ Parteien notwendig die Werkzeuge der Geldmächte, der
    equites, der Börse werden. Theoretisch greifen sie das Kapital an,
    praktisch aber nicht die Börse, sondern in deren Interesse die
    Tradition. Das war zur Zeit der Gracchen ebenso wie heute, und
    zwar in allen Ländern. Die Hälfte der Massenführer ist durch Geld,
    Ämter, Beteiligung an Geschäften zu erkaufen und mit ihnen die
    ganze Partei.

    [585] S. 519.

    [586] Preußentum und Sozialismus S. 41 f.




FÜNFTES KAPITEL

DIE FORMENWELT DES WIRTSCHAFTSLEBENS




DAS GELD


1

Der Standpunkt, von dem aus die Wirtschaftsgeschichte der hohen
Kulturen verstanden werden kann, darf auf dem Boden der Wirtschaft
selbst nicht gesucht werden. Wirtschaftliches Denken und Handeln
ist eine +Seite+ des Lebens, die in falsche Beleuchtung rückt,
sobald man sie als eine selbständige +Art+ von Leben betrachtet.
Am allerwenigsten findet man ihn auf dem Boden der heutigen
Weltwirtschaft, die seit 150 Jahren einen phantastischen, gefährlichen,
zuletzt fast verzweifelten Aufstieg genommen hat, der ausschließlich
abendländisch und dynamisch ist und nichts weniger als allgemein
menschlich.

Was wir heute Nationalökonomie nennen, ist aufgebaut aus lauter
spezifisch englischen Voraussetzungen. Die allen andern Kulturen
ganz unbekannte Maschinenindustrie steht in der Mitte, als ob das
selbstverständlich wäre, und beherrscht durchaus die Begriffsbildung
und die Ableitung sogenannter Gesetze, ohne daß man sich dessen bewußt
wird. Das Kreditgeld in der besondern Gestalt, welche sich aus dem
englischen Verhältnis von Welthandel und Exportindustrie in einem
bauernlosen Lande ergeben hat, dient als Unterlage von Definitionen
der Worte Kapital, Wert, Preis, Vermögen, die dann ohne weiteres auf
andere Kulturstufen und Lebenskreise angewandt werden. Die Insellage
Englands hat in allen ökonomischen Theorien die Auffassung der Politik
und ihrer Beziehung zur Wirtschaft bestimmt. Die Schöpfer dieses
Wirtschafts+bildes+ sind David Hume[587] und Adam Smith.[588] Was
seitdem über sie hinaus und gegen sie geschrieben worden ist, setzt
immer die kritische Anlage und Methode ihrer Systeme unbewußt voraus.
Das gilt von Carey und List so gut wie von Fourier und Lassalle. Und
was den größten Gegner von Adam Smith, Marx betrifft, so macht es wenig
aus, ob man, ganz in der Vorstellungswelt des englischen Kapitalismus
befangen, laut gegen ihn protestiert: man erkennt ihn eben damit an
und will nur durch eine andre Art von Verrechnung dessen Objekten den
Vorteil der Subjekte zuwenden.

Es handelt sich von Smith bis Marx um die bloße Selbstanalyse des
wirtschaftlichen Denkens einer einzigen Kultur und zwar auf einer
einzigen Stufe. Sie ist rationalistisch durch und durch und geht
also vom +Stoff+ aus und seinen Bedingungen, Nöten und Reizen,
statt von der +Seele+ der Geschlechter, Stände, Völker und
ihrer Gestaltungskraft. Sie betrachtet den Menschen als Zubehör
der Lage und weiß nichts von der großen Persönlichkeit und dem
geschichtsbildenden Willen einzelner und ganzer Scharen, der in den
wirtschaftlichen Tatsachen Mittel und nicht Zwecke sieht. Sie hält
das Wirtschaftsleben für etwas, das man ohne Rest aus sichtbaren
Ursachen und Wirkungen erklären kann, das ganz mechanisch angelegt und
völlig in sich abgeschlossen ist, und das endlich zu den ebenfalls für
sich gedachten Kreisen der Politik und Religion in einem irgendwie
kausalen Verhältnis steht. Weil diese Betrachtungsweise systematisch
und nicht geschichtlich ist, so glaubt sie an die zeitlose Gültigkeit
ihrer Begriffe und Regeln und hat den Ehrgeiz, die allein richtige
Methode „der“ Wirtschaftsführung aufstellen zu wollen. Deshalb hat
sie überall, wo ihre Wahrheiten mit den Tatsachen zusammentrafen, ein
vollkommenes Fiasko erlebt, wie es mit den Voraussagen für den Ausbruch
des Weltkriegs durch bürgerliche[589] und mit der Einrichtung der
Sowjetwirtschaft durch proletarische Theoretiker der Fall war.

Es gibt also noch keine Nationalökonomie, insofern man darunter eine
Morphologie der Wirtschafts+seite+ des Lebens versteht und zwar
des Lebens der hohen Kulturen mit ihrer nach Stufe, Tempo und Dauer
gleichartigen Ausbildung eines wirtschaftlichen +Stils+. Denn
die Wirtschaft besitzt kein System, sondern eine Physiognomie. Um
das Geheimnis ihrer inneren Form, ihrer +Seele+ zu ergründen,
bedarf es des physiognomischen Taktes. Um in ihr Erfolg zu haben,
muß man Kenner sein, so wie man Menschenkenner und Pferdekenner ist,
und braucht kein „Wissen“, so wenig der Reiter etwas von Zoologie zu
„wissen“ braucht. Aber diese Kennerschaft kann geweckt werden und zwar
durch einen mitfühlenden Blick auf die Geschichte, der eine Ahnung von
den geheimen Rassetrieben gibt, die auch in wirtschaftlich tätigen
Wesen am Werke sind, um die äußere Lage -- den ökonomischen „Stoff“,
die Not -- nach dem eignen Innern sinnbildlich zu gestalten. +Jedes
Wirtschaftsleben ist Ausdruck eines Seelenlebens.+

Das ist eine neue, eine deutsche Wirtschaftsauffassung, jenseits
von Kapitalismus +und+ Sozialismus, die beide aus der nüchtern
bürgerlichen Verständigkeit des 18. Jahrhunderts hervorgegangen
sind und die nichts sein wollten als eine stoffliche Analyse -- und
daraufhin eine Konstruktion -- der wirtschaftlichen Oberfläche. Was bis
jetzt gelehrt worden ist, bereitet nur vor. Das Wirtschaftsdenken steht
wie das Rechtsdenken noch vor seiner eigentlichen Entfaltung,[590] die
heute wie in hellenistisch-römischer Zeit erst dort einsetzt, wo Kunst
und Philosophie unwiderruflich Vergangenheit geworden sind.

Der folgende Versuch will nichts sein als ein flüchtiger Blick auf die
hier vorhandenen Möglichkeiten.

Wirtschaft und Politik sind Seiten des +einen+ lebendig
dahinströmenden Daseins, nicht des Wachseins, des Geistes.[591]
In beiden offenbart sich der Takt kosmischer Flutungen, die in
Geschlechterfolgen von Einzelwesen eingefangen sind. Sie +haben+
nicht etwa, sondern sie +sind+ Geschichte. Die nichtumkehrbare
Zeit, das Wann regiert in ihnen. Sie gehören beide zur Rasse und
nicht zur Sprache mit ihren raumhaft-kausalen Spannungen wie Religion
und Wissenschaft; sie richten sich beide auf Tatsachen und nicht auf
Wahrheiten. Es gibt politische und wirtschaftliche +Schicksale+,
so wie es in allen religiösen und wissenschaftlichen Lehren einen
zeitlosen +Zusammenhang von Ursache und Wirkung+ gibt.

Das Leben besitzt also eine politische und eine wirtschaftliche Art,
für die Geschichte „in Form“ zu sein. Sie überlagern, stützen oder
bekämpfen sich, aber die politische ist unbedingt die erste. Das Leben
will sich erhalten +und+ durchsetzen oder vielmehr, es will sich
stärker machen, um sich durchzusetzen. In wirtschaftlicher Verfassung
befinden sich die Daseinsströme nur für sich selbst, in politischer
für ihr Verhältnis zu den andern. Daran ändert sich nichts von den
einfachsten einzelligen Pflanzen bis zu den Schwärmen und Völkern der
höchsten frei im Raume beweglichen Wesen. Sich ernähren und sich
bekämpfen: den Rangunterschied beider Lebensseiten läßt ihr Verhältnis
zum Tode erkennen. Es gibt keinen tieferen Gegensatz als den von
+Hungertod und Heldentod+. Wirtschaftlich wird das Leben bedroht,
entwürdigt, +erniedrigt+ durch den Hunger im weitesten Sinne; auch
die Unmöglichkeit, seine Kräfte zur vollen Entwicklung zu bringen,
gehört dazu, die Enge im Lebensraum, die Dunkelheit, der Druck, nicht
nur die unmittelbare Gefahr. Ganze Völker haben durch die zehrende
Kümmerlichkeit ihrer Lebenshaltung die Spannkraft der Rasse verloren.
Hier stirbt man an etwas, nicht für etwas. Die Politik opfert Menschen
für ein Ziel; sie fallen für eine Idee; die Wirtschaft läßt sie nur
verderben. +Der Krieg ist der Schöpfer, der Hunger der Vernichter
aller großen Dinge.+ Dort wird das Leben durch den Tod gehoben,
oft bis zu jener unwiderstehlichen Kraft, deren bloßes Vorhandensein
schon den Sieg bedeutet; hier weckt der Hunger jene häßliche, gemeine,
ganz unmetaphysische Art von Lebensangst, unter welcher die höhere
Formenwelt einer Kultur jäh zusammenbricht, und der nackte Daseinskampf
menschlicher Bestien beginnt.

Es war schon die Rede von dem Doppelsinn aller Geschichte, wie er im
Gegensatz von Mann und Weib zutage tritt.[592] Es gibt eine private
Geschichte, die als Zeugungsfolge der Generationen das „Leben im
Raume“ +darstellt+, und eine öffentliche, die es als politisches
In-Form-sein +verteidigt und sichert+: die „Spindelhälfte“ und die
„Schwertseite“ des Daseins. Sie finden ihren Ausdruck in den Ideen der
Familie und des Staates, aber auch in der Urgestalt des Hauses,[593]
in dem die guten Geister des Ehebetts -- der Genius und die Juno jeder
altrömischen Wohnstätte -- von der Tür, dem Janus, geschützt werden.
Der +privaten+ Geschichte des Geschlechts tritt nun die der
Wirtschaft zur Seite. Von der Dauer eines blühenden Lebens kann seine
Kraft, vom Geheimnis der Zeugung und Empfängnis die Ernährung nicht
getrennt werden. Am reinsten erscheint der Zusammenhang im Dasein
rassestarker Bauerngeschlechter, die gesund und fruchtbar in ihrer
Scholle wurzeln. Und wie im Bilde des Leibes das Geschlechtsorgan mit
dem des Kreislaufs verbunden ist,[594] so bildet die Mitte des Hauses
im +andern+ Sinne der heilige Herd, die Vesta.

Eben deshalb bedeutet Wirtschaftsgeschichte etwas ganz anderes als
politische Geschichte. Hier stehen die großen einmaligen Schicksale
im Vordergrund, die sich zwar in den bindenden Formen der Epoche
vollziehen, aber jedes für sich streng persönlich sind. Dort handelt
es sich wie in der Geschichte der Familie um den Entwicklungsgang der
Formen+sprache+, und alles Einmalige und Persönliche ist wenig
bedeutendes Privatschicksal. Nur die Grundform von Millionen Fällen
kommt in Betracht. Aber die Wirtschaft ist doch nur die Unterlage
alles irgendwie sinnvollen Daseins. Es kommt nicht eigentlich darauf
an, +daß+ man in Verfassung, gut genährt und fruchtbar ist, als
Einzelner oder als Volk, sondern wofür man es ist, und je höher der
Mensch geschichtlich steigt, desto weiter überragt sein politisches
und religiöses Wollen an Innerlichkeit der Symbolik und Gewalt des
Ausdrucks alles, was das Wirtschaftsleben als solches an Form und
Tiefe besitzt. Erst wenn mit der Heraufkunft einer Zivilisation die
Ebbe der gesamten Formenwelt beginnt, treten die Umrisse der bloßen
Lebenshaltung nackt und aufdringlich hervor: das ist denn die Zeit,
wo der platte Spruch von „Hunger und Liebe“ als den Triebkräften des
Daseins aufhört, schamlos zu sein, wo nicht das Starkwerden für eine
Aufgabe, sondern das Glück der Meisten, Behagen und Bequemlichkeit,
„_panem et circenses_“ den Sinn des Lebens bilden und an Stelle
der großen Politik die Wirtschaftspolitik als Selbstzweck tritt.

Weil die Wirtschaft zur Rasseseite des Lebens gehört, so besitzt sie
wie die Politik eine Sitte und keine Moral,[595] denn das unterscheidet
Adel und Priestertum, Tatsachen und Wahrheiten. Jede Berufsklasse hat
wie jeder Stand ein +selbstverständliches+ Gefühl nicht für Gut
und Böse, sondern für Gut und Schlecht. Wer es nicht besitzt, ist
unehrenhaft und gemein. Denn die Ehre steht auch hier im Mittelpunkt
und trennt das Fein+gefühl+ für das, was sich schickt, das
Takt+gefühl+ wirtschaftlich tätiger Menschen von der religiösen
Welt+betrachtung+ und ihrem Grundbegriff der Sünde. Es gibt
eine sehr bestimmte Berufsehre unter Kaufleuten, Handwerkern, Bauern
mit feinen und doch nicht weniger bestimmten Abstufungen für den
Ladenbesitzer, Exportkaufmann, Bankier, Unternehmer, für Bergleute,
Matrosen, Ingenieure, sogar, wie jeder weiß, für Räuber und Bettler,
insofern sie sich als Berufsgenossen fühlen. Niemand hat diese Sitten
gesetzt oder aufgeschrieben, aber sie sind da; sie sind wie alle
Standessitten überall und zu allen Zeiten anders und jedesmal nur
innerhalb des Kreises der Zugehörigen verbindlich. Neben den adligen
Tugenden der Treue, Tapferkeit, Ritterlichkeit, Kameradschaft, die
keiner Berufsgenossenschaft fremd sind, erscheinen scharf ausgeprägte
Anschauungen über den ethischen Wert des Fleißes, des Erfolges, der
Arbeit und ein erstaunliches Distanzgefühl. Dergleichen hat man,
ohne viel darum zu wissen -- erst der Verstoß bringt die Sitte zum
Bewußtsein, -- im Gegensatz zu religiösen Geboten, die zeitlos und
allgemeingültig sind, aber als nie verwirklichte Ideale, und die man
lernen muß, um sie zu wissen und befolgen zu können.

Die religiös-asketischen Grundbegriffe wie „selbstlos“ und „sündlos“
sind innerhalb des Wirtschaftslebens ohne Sinn. Für den wahren Heiligen
ist die Wirtschaft überhaupt Sünde,[596] nicht nur das Zinsnehmen und
die Freude am Reichtum oder der Neid der Armen darauf. Das Wort von
den Lilien auf dem Felde ist für tief religiöse -- und philosophische
-- Naturen unbedingt wahr. Sie stehen mit dem ganzen Schwergewicht
ihres Wesens außerhalb der Wirtschaft und Politik und aller andern
Tatsachen „dieser Welt“. Das lehrt die Zeit Jesu ebenso wie die des
heiligen Bernhard und das Grundgefühl im heutigen Russentum, und
ebenso die Lebensführung eines Diogenes oder Kant. Deshalb wählt man
freiwillige Armut und Wanderschaft und flüchtet sich in Mönchszellen
und Gelehrtenstuben. Wirtschaftlich betätigt sich nie eine Religion
oder Philosophie, sondern immer nur der politische Organismus einer
+Kirche+ oder der soziale einer theoretisierenden Genossenschaft.
Es ist immer ein Kompromiß mit „dieser Welt“ und ein Zeichen des
Willens zur Macht.[597]


2

Was man das Wirtschaftsleben einer Pflanze nennen darf, vollzieht
sich an und in ihr, ohne daß sie selbst etwas andres wäre als der
Schauplatz und willenlose Gegenstand eines Naturvorgangs.[598] Dies
pflanzenhafte, traumhafte Element liegt unverändert der „Wirtschaft“
auch noch des menschlichen Leibes zugrunde, wo es in Gestalt der
Kreislauforgane sein fremdartiges und willenloses Dasein führt. Mit
dem frei im Raum beweglichen Leibe des Tieres aber tritt zum Dasein
das Wachsein, das verstehende Empfinden und damit der Zwang, für
die Erhaltung des Lebens selbständig zu +sorgen+. Hier beginnt
die Lebens+angst+ und führt zu einem Tasten, Wittern, Spähen,
Horchen mit immer schärferen Sinnen und daraufhin zu Bewegungen im
Raume, zum Suchen, Sammeln, Verfolgen, Überlisten, Rauben, das sich
bei manchen Arten wie den Bibern, Ameisen, Bienen, vielen Vögeln
und Raubtieren bis zu den Anfängen einer wirtschaftlichen Technik
steigert, welche Überlegung, das heißt eine gewisse Ablösung des
Verstehens vom Empfinden voraussetzt. Der Mensch ist eigentlich
Mensch in dem Grade, als sich sein Verstehen vom Empfinden befreit
hat und als Denken in die Beziehungen zwischen Mikrokosmos und
Makrokosmos schöpferisch eingreift.[599] Ganz tierhaft ist noch die
Frauenlist dem Manne gegenüber und jene Bauernschlauheit im Erobern
kleiner Vorteile, die sich beide von der Schlauheit des Fuchses in
nichts unterscheiden und mit +einem+ verstehenden Blick das
ganze Geheimnis ihres Opfers durchdringen; aber darüber erhebt sich
nun das Wirtschafts+denken+, das den Acker bestellt, das Vieh
zähmt, die Dinge verwandelt, veredelt, tauscht und tausend Mittel
und Methoden erfindet, um die Lebenshaltung zu erhöhen und die
Abhängigkeit von der Umwelt in eine Herrschaft über sie zu verwandeln.
Dies ist die Unterlage aller Kulturen. Die Rasse bedient sich eines
Wirtschaftsdenkens, das so mächtig werden kann, daß es sich von seinen
Zwecken löst, abstrakte Theorien aufbaut und sich in utopische Weiten
verliert.

Alles höhere Wirtschaftsleben entwickelt sich an und über einem
Bauerntum. Nur das Bauerntum selbst setzt nichts andres voraus.[600]
Es ist gewissermaßen die Rasse an sich, pflanzenhaft und
geschichtslos[601], ganz für sich erzeugend und verbrauchend, mit einem
Blick auf die Welt, vor dem sich alles andre Wirtschaftswesen beiläufig
und verächtlich ausnimmt. Dieser +erzeugenden+ tritt nun eine
+erobernde+ Art von Wirtschaft entgegen, die sich der ersten als
eines Objekts bedient, sich von ihr nähren läßt, sie tributpflichtig
macht oder beraubt. Politik und Handel sind in den Anfängen durchaus
untrennbar, beide herrenmäßig, persönlich, kriegerisch, mit einem
Hunger nach Macht und Beute, der einen ganz andern Blick auf die Welt
mit sich führt -- nicht aus einem Winkel auf sie hinaus, sondern auf
ihr Gewimmel herab -- wie er sich in der Wahl des Löwen, Bären, Geiers,
Falken zu Wappentieren deutlich genug ausspricht. Der Urkrieg ist immer
auch Raubkrieg, der Urhandel mit Plünderung und Piraterie aufs engste
verwandt. Die isländischen Sagas erzählen, wie die Wikinger oft mit der
Bevölkerung einen Marktfrieden von zwei Wochen verabreden, um Handel zu
treiben, worauf man zu den Waffen greift und das Beutemachen beginnt.

Politik und Handel in entwickelter Form -- die Kunst, durch geistige
Überlegenheit Sacherfolge über den Gegner zu erzielen -- sind beide
ein Ersatz des Krieges durch andere Mittel. Jede Art Diplomatie ist
geschäftlicher, jedes Geschäft diplomatischer Natur, und beide beruhen
auf eindringender Menschenkenntnis und physiognomischem Takt. Der
Unternehmungsgeist großer Seefahrer, wie wir sie unter den Phönikern,
Etruskern, Normannen, Venezianern, Hanseaten finden, kluger Bankherren
wie der Fugger und Medici, mächtiger Geldleute wie Crassus und die
Minen- und Trustmagnaten unserer Tage erfordert die strategische
Begabung von +Feldherrn+, wenn die Operationen glücken sollen. Der
Stolz auf das Stammhaus, das väterliche Erbe, die Familientradition
bilden sich hier wie dort in gleicher Weise heraus; die „großen
Vermögen“ sind wie Königreiche und haben ihre Geschichte;[602] und
Polykrates, Solon, Lorenzo de’ Medici, Jürgen Wullenweber sind durchaus
nicht die einzigen Beispiele von politischem Ehrgeiz, der sich aus
kaufmännischem entwickelt hat.

Aber der echte Fürst und Staatsmann will herrschen, der echte
Geschäftsmann will nur reich sein; hier trennt sich die erobernde
Wirtschaft als Mittel und als Zweck.[603] Man kann die Beute um
der Macht und die Macht um der Beute willen suchen. Auch der
große Herrscher wie Hoangti, Tiberius oder Friedrich II. will
„reich an Land und Leuten“ sein, aber mit dem Bewußtsein einer
vornehmen Verpflichtung. Man nimmt mit gutem Gewissen und als etwas
Selbstverständliches die Schätze der ganzen Welt in Anspruch und kann
ein Leben in strahlendem Glanz und selbst in Verschwendung führen,
wenn man sich nur als Träger einer Sendung fühlt wie Napoleon, Cecil
Rhodes und auch der römische Senat des 3. Jahrhunderts, und deshalb den
Begriff des Privatbesitzes in bezug auf sich selbst kaum kennt.

Wer auf bloße Wirtschaftsvorteile aus ist wie zur Römerzeit die
Karthager und heute in noch viel höherem Grade die Amerikaner, der
vermag auch nicht rein politisch zu +denken+. Er wird bei den
Entscheidungen der hohen Politik immer ausgenützt und betrogen
sein, wie das Beispiel Wilsons zeigt, zumal wenn der Mangel an
staatsmännischem Instinkt durch moralische Stimmungen ersetzt ist.
Deshalb häufen die großen Wirtschaftsverbände der Gegenwart wie
Unternehmertum und Arbeiterschaft einen politischen Mißerfolg auf
den andern, wenn sie nicht einen echten Politiker als Führer finden,
der -- sich ihrer bedient. Wirtschaftliches und politisches Denken
sind bei hoher Übereinstimmung der Form in der Richtung und damit in
allen taktischen Einzelheiten grundverschieden. Große geschäftliche
Erfolge[604] wecken ein schrankenloses Gefühl von +öffentlicher+
Macht. Man wird diesen Unterton im Worte „Kapital“ nicht verkennen.
Aber nur bei einzelnen ändert sich damit Farbe und Richtung ihres
Wollens und ihr Maßstab für die Lagen und Dinge. Erst wenn man wirklich
aufgehört hat, sein Unternehmen als Privatsache zu empfinden und als
dessen Ziel die bloße Anhäufung von Besitz, besteht die Möglichkeit,
aus einem Unternehmer ein Staatsmann zu werden. Das war der Fall von
Cecil Rhodes. Aber umgekehrt besteht für Menschen der politischen
Welt die Gefahr, daß ihr Wollen und Denken von geschichtlichen
Aufgaben zur bloßen Sorge für die private Lebenshaltung herabsinkt.
Dann wird aus dem Adel ein Raubrittertum; es erscheinen die bekannten
Fürsten, Minister, Volksmänner und Revolutionshelden, deren Eifer
sich in einem Schlaraffenleben und dem Sammeln gewaltiger Reichtümer
erschöpft -- zwischen Versailles und dem Jakobinerklub, Unternehmern
und Arbeiterführern, russischen Gouverneuren und Bolschewisten besteht
da kaum ein Unterschied --, und in der reifgewordenen Demokratie ist
die Politik der „Arrivierten“ nicht nur mit Geschäft, sondern mit den
schmutzigsten Arten großstädtischer Spekulationsgeschäfte identisch.

Gerade darin aber offenbart sich der geheime Gang einer hohen Kultur.
Am Anfang erscheinen die Urstände Adel und Priestertum mit ihrer
Symbolik von Zeit und Raum. Damit haben, in einer wohlgeordneten
Gesellschaft,[605] das politische Leben wie das religiöse Erleben
ihren festen Platz, ihre berufenen Träger und ihre für Tatsachen wie
für Wahrheiten schlechthin gegebenen Ziele, und in der Tiefe bewegt
sich das Wirtschaftsleben in einer unbewußten sicheren Bahn. Der Strom
des Daseins verfängt sich im steinernen Gehäuse der Stadt und von
hier aus übernehmen Geld und Geist die geschichtliche Führung. Das
Heldenhafte und Heilige mit der sinnbildlichen Wucht ihrer frühen
Erscheinung werden selten und ziehen sich in enge Kreise zurück. Eine
kühle bürgerliche Klarheit tritt an ihre Stelle. Im Grunde erfordern
ein Systemabschluß und ein Geschäftsabschluß ein und dieselbe Art von
fachmännischer Intelligenz. Durch den symbolischen Rang kaum noch
getrennt dringen politisches und wirtschaftliches Leben, religiöse und
wissenschaftliche Erkenntnis aufeinander ein, berühren und mischen
sich. Der Strom des Daseins verliert die strenge und reiche Form im
Treiben der großen Städte. Elementare Wirtschaftszüge treten an die
Oberfläche und treiben mit den Resten formvoller Politik ihr Spiel, wie
gleichzeitig die souveräne Wissenschaft die Religion unter ihre Objekte
aufnimmt. Ueber ein Leben von wirtschaftspolitischem Selbstgenügen
breitet sich eine kritisch-erbauliche Weltstimmung. Aber aus ihm treten
endlich an Stelle der zerfallenen Stände einzelne Lebensläufe von
echt politischer und religiöser Gewalt hervor, die für das Ganze zum
Schicksal werden.

Daraus ergibt sich die Morphologie der Wirtschaftsgeschichte. Es gibt
eine +Urwirtschaft+ „des“ Menschen, die ebenso wie die der Pflanze
und des Tiers ihre Form in biologischen Zeiträumen[606] verändert.
Sie beherrscht das primitive Zeitalter vollkommen und bewegt sich
zwischen und in den hohen Kulturen ohne erkennbare Regel unendlich
langsam und verworren fort. Tiere und Pflanzen werden herangezogen
und durch Zähmung, Züchtung, Veredlung, Aussaat umgeschaffen, das
Feuer und die Metalle ausgenützt, die Eigenschaften der unlebendigen
Natur durch technische Verfahren in den Dienst der Lebenshaltung
gestellt. Alles das ist durchdrungen von politisch-religiöser Sitte und
Bedeutung, ohne daß _totem_ und _tabu_, Hunger, Seelenangst,
Geschlechtsliebe, Kunst, Krieg, Opferbrauch, Glaube und Erfahrung
deutlich zu trennen wären.

Etwas ganz anderes nach Begriff und Entwicklung ist die strenggeformte
und in Tempo und Dauer scharf begrenzte +Wirtschaftsgeschichte
der hohen Kulturen+, von denen jede einzelne einen eignen
Wirtschaftsstil besitzt. Zum Lehnswesen gehört die Wirtschaft des
stadtlosen Landes. Mit dem von Städten aus regierten Staat erscheint
die Stadtwirtschaft des Geldes, die sich mit dem Anbruch jeder
Zivilisation zur Diktatur des Geldes erhebt, gleichzeitig mit dem Sieg
der weltstädtischen Demokratie. Jede Kultur besitzt ihre selbständig
entwickelte Formenwelt. Das körperhafte Geld apollinischen Stils --
die geprägte Münze -- steht dem faustisch-dynamischen Beziehungsgelde
-- der Buchung von Krediteinheiten -- ebenso fern wie die Polis dem
Staate Karls V. Aber das wirtschaftliche Leben bildet sich ganz wie das
gesellschaftliche zu einer Pyramide aus.[607] Im dörflichen Untergrunde
hält sich eine völlig primitive, kaum von der Kultur berührte Lage.
Die späte Stadtwirtschaft, bereits das Tun einer entschiedenen
Minderheit, sieht beständig auf eine frühzeitliche Landwirtschaft
herab, die rings umher ihr Wesen weiter treibt und voll Argwohn und
Haß auf den durchgeistigten Stil innerhalb der Mauern blickt. Zuletzt
führt die Weltstadt eine -- zivilisierte -- Weltwirtschaft herauf,
die von ganz engen Kreisen weniger Mittelpunkte ausstrahlt und den
Rest als Provinzwirtschaft sich unterwirft, während in entlegenen
Landschaften oft noch durchaus die primitive -- „patriarchalische“ --
Sitte herrscht. Mit dem Wachstum der Städte wird die Lebenshaltung
immer künstlicher, feiner, verwickelter. Der Großstadtarbeiter im
cäsarischen Rom, im Bagdad Harun al Raschids und im heutigen Berlin
empfindet vieles als selbstverständlich, was dem reichen Bauern fern im
Lande als wahnwitziger Luxus erscheint, aber dieses Selbstverständliche
ist schwer zu erreichen und schwer zu behaupten; das Arbeitsquantum
aller Kulturen wächst in ungeheurem Maße, und so entwickelt sich am
Anfang jeder Zivilisation eine Intensität des Wirtschaftslebens, die
in ihrer Spannung übertrieben und stets gefährdet ist und nirgends
lange aufrecht erhalten werden kann. Zuletzt bildet sich ein starrer
und dauerhafter Zustand heraus mit einem seltsamen Gemisch raffiniert
durchgeistigter und ganz primitiver Züge, wie ihn die Griechen in
Ägypten und wir im heutigen Indien und China kennen lernen, wenn
er nicht vor dem unterirdischen Nachdrängen einer jungen Kultur
dahinschwindet wie der antike zur Zeit Diokletians.

Dieser Wirtschaftsbewegung gegenüber sind die Menschen als
Wirtschafts+klasse+ in Form, wie sie es der Weltgeschichte
gegenüber als politischer +Stand+ sind. Jeder einzelne hat eine
wirtschaftliche Stellung +innerhalb der ökonomischen Gliederung+
so, wie er irgend einen Rang innerhalb der +Gesellschaft+
einnimmt. Beide Arten von Zugehörigkeit nehmen gleichzeitig sein
Fühlen, Denken und Sichverhalten in Anspruch. Ein Leben will da sein
und darüber hinaus noch etwas bedeuten; und die Verwirrung unserer
Begriffe ist endlich noch dadurch gesteigert worden, daß politische
Parteien, heute wie in hellenistischer Zeit, gewisse wirtschaftliche
Gruppen, deren Lebenshaltung sie glücklicher gestalten wollten, durch
Erhebung in einen politischen Stand gewissermaßen adelten, wie es Marx
mit der Klasse der Fabrikarbeiter getan hat.

Denn der erste und echte Stand ist der Adel. Von ihm leitet sich der
Offizier und Richter ab und alles, was zu den hohen Regierungs- und
Verwaltungsämtern gehört. Es sind standesartige Gebilde, die etwas
+bedeuten+. Ebenso gehört zum Priestertum die Gelehrtenschaft[608]
mit einer sehr ausgeprägten Art von ständischer Abgeschlossenseit. Aber
mit Burg und Dom ist die große Symbolik zu Ende. Der _tiers_ ist
bereits der Nichtstand, der Rest, eine bunte und vielfältige Sammlung,
die als solche wenig bedeutet außer in Augenblicken des politischen
Protestes, und die sich deshalb Bedeutung +gibt+, indem sie
Partei ergreift. Man fühlt sich, nicht als Bürger, sondern weil man
„liberal ist“, und also eine große Sache zwar nicht durch seine Person
+repräsentiert+, aber ihr durch seine Überzeugung +angehört+.
Infolge der Schwäche dieses gesellschaftlichen Geformtseins tritt das
wirtschaftliche in „bürgerlichen“ Berufen, Gilden und Verbänden um so
sichtbarer hervor. In den Städten wenigstens ist ein Mensch zuerst
durch das bezeichnet, wovon er lebt.

Wirtschaftlich ist das erste und ursprünglich fast das einzige das
Bauerntum,[609] die schlechthin +erzeugende+ Art von Leben,
die jede andre erst möglich macht. Auch die Urstände gründen ihre
Lebenshaltung in früher Zeit durchaus auf Jagd, Viehhaltung und
Ackerbesitz, und noch für Adel und Geistlichkeit der Spätzeiten ist
es die einzig vornehme Möglichkeit, „begütert“ zu sein. Ihr steht die
+vermittelnde+, erbeutende Lebensart des Handels[610] gegenüber,
im Verhältnis zur kleinen Zahl von gewaltiger Macht und schon ganz früh
unentbehrlich, ein feiner Parasitismus, vollkommen unproduktiv und
deshalb landfremd und schweifend, „frei“, auch seelisch unbeschwert von
Sitten und Bräuchen der Erde, ein Leben, das von anderem Leben sich
nährt. Dazwischen wächst nun eine dritte Art von Wirtschaft heran, die
+verarbeitende der Technik+ in zahllosen Handwerken, Gewerben
und Berufen, welche ein Nachdenken über die Natur zur schöpferischen
Anwendung bringen und deren Ehre und Gewissen an der Leistung
haftet.[611] Ihre älteste, bis in die Urzeit zurückreichende Zunft
und zugleich ihr Urbild mit einer Fülle dunkler Sagen, Bräuche und
Anschauungen sind die Schmiede, die infolge ihrer stolzen Absonderung
vom Bauerntum und der um sie verbreiteten Scheu, die zwischen Achtung
und Ächtung wechselt, oft zu wirklichen Volksstämmen eigner Rasse
geworden sind wie die Falascha in Abessinien.[612]

Im erzeugenden, verarbeitenden und vermittelnden Wirtschaftswesen
gibt es wie in allem, was zur Politik und überhaupt zum Leben gehört,
+Subjekte und Objekte der Leitung+ und also ganze Gruppen, die
anordnen, entscheiden, organisieren, erfinden, und andere, denen
lediglich die Ausführung zusteht. Der Rangunterschied kann schroff oder
kaum fühlbar,[613] der Aufstieg unmöglich oder selbstverständlich, die
Würde der Tätigkeit fast dieselbe mit langsamen Übergängen oder ganz
verschieden sein. Tradition und Gesetz, Begabung und Besitz, Volkszahl,
Kulturstufe und Wirtschaftslage beherrschen den Gegensatz, aber er ist
da und zwar mit dem Leben selbst gegeben +und unabänderlich+.
Trotzdem gibt es +wirtschaftlich keine „Arbeiterklasse“+; das ist
eine Erfindung von Theoretikern, welche die Lage der Fabrikarbeiter
in England, einem fast bauernlosen Industrielande, gerade in einer
Übergangszeit vor Augen hatten und das Schema auf alle Kulturen
zu allen Zeiten ausdehnten, bis es von Politikern zum Mittel von
Parteigründungen erhoben wurde. In Wirklichkeit gibt es eine
unabsehbare Zahl von Tätigkeiten rein dienender Art in Werkstatt und
Kontor, Schreibstube und Schiffsraum, auf Landstraßen, in Schächten
und in Wiese und Feld. Diesem Rechnen, Tragen, Laufen, Hämmern, Nähen,
Aufpassen fehlt oft genug, was dem Leben über seine bloße Erhaltung
hinaus Würde und Reiz gibt, wie es mit den standesgemäßen Aufgaben des
Offiziers und Gelehrten oder den persönlichen Erfolgen des Ingenieurs,
Verwalters und Kaufmanns der Fall ist, aber unter sich ist das alles
ganz und gar nicht vergleichbar. Geist und Schwere der Arbeit, ihr
Ort in Dorf oder Großstadt, Umfang und Gespanntheit des Betriebes
lassen den Bauernknecht, Bankbeamten, Heizer und Schneidergesellen
in ganz verschiedenen Welten der Wirtschaft leben und erst, ich
wiederhole es, die Parteipolitik sehr später Zustände hat sie durch
Schlagworte in eine Verbindung des Protestes gesetzt, um sich ihrer
Masse zu bedienen. Dagegen ist der antike Sklave ein staatsrechtlicher
Begriff, nämlich für den politischen Körper der antiken Polis +nicht
vorhanden+,[614] während er wirtschaftlich Bauer, Handwerker, selbst
Direktor und Großkaufmann mit gewaltigem Vermögen (_peculium_),
mit Palästen und Villen und einer Schar von Untergebenen, auch
„freien“, sein kann. Was er abgesehen davon in spätrömischer Zeit
+noch+ ist, wird sich weiter unten zeigen.


3

Mit dem Anbruch jeder Frühzeit beginnt ein Wirtschaftsleben in fester
Form.[615] Die Bevölkerung lebt durchaus bäuerlich im freien Lande.
Das Erlebnis der Stadt ist für sie nicht vorhanden. Was sich vom Dorfe,
von Burg, Pfalz, Kloster, Tempelbezirk abhebt, ist nicht eine Stadt,
sondern ein +Markt+, ein bloßer Treffpunkt bäuerlicher Interessen,
der gleichzeitig und selbstverständlich eine gewisse religiöse und
politische Bedeutung besitzt, ohne daß von einem Sonderleben die Rede
sein kann. Die Einwohner, auch wenn sie Handwerker oder Kaufleute sind,
+empfinden+ doch als Bauern und werden irgendwie auch als solche
tätig sein.

Was sich von einem Leben absondert, in dem jeder erzeugt und
verbraucht, sind +Güter+, und Güterumlauf ist das Wort für jeden
frühzeitlichen Verkehr, mag das Einzelne aus weiter Ferne herankommen
oder nur innerhalb des Dorfes oder selbst des Hofes wandern. Ein
Gut ist, was mit leisen Fäden seines Wesens, seiner +Seele+ an
dem Leben haftet, das es hervorgebracht hat oder braucht. Ein Bauer
treibt „seine“ Kuh zu Markte, eine Frau bewahrt „ihren“ Schmuck in
der Truhe. Man ist „begütert“, und das Wort Be-sitz führt bis in den
pflanzenhaften Ursprung des Eigentums zurück, mit dem gerade dieses
eine und kein anderes Dasein wurzelhaft verwachsen ist.[616] Tausch
ist in dieser Zeit ein Vorgang, durch den Güter aus einem Lebenskreise
in einen andern übergehen. Sie werden +vom Leben+ gewertet, nach
einem gleitenden, +gefühlten+ Maße des Augenblicks. Es gibt weder
einen Wertbegriff noch ein allgemein messendes Gut. Auch Gold und
Münzen sind nichts als Güter, deren seltene und unzerstörbare Art sie
wertvoll macht.[617]

In den Takt und Gang dieses Güterumlaufs greift der Händler nur als
+Mittler+ ein.[618] Auf dem Markt stoßen die erobernde und die
erzeugende Wirtschaft zusammen, aber selbst dort, wo Flotten landen und
Karawanen eintreffen, entwickelt sich der Handel nur als +Organ+
des ländlichen Verkehrs.[619] Es ist die „ewige“ Form der Wirtschaft,
die sich heute noch mit der ganz urzeitlichen Figur des Hausierers in
stadtarmen Landschaften hält, selbst in abgelegenen Vorstadtgassen,
wo sich kleine Umlaufskreise bilden, und im Privathaushalt von
Gelehrten, Beamten und überhaupt von Menschen, die dem großstädtischen
Wirtschaftsleben nicht tätig eingegliedert sind.

Eine ganz andere Art von Leben erwacht mit der Seele der Stadt.[620]
Sobald der Markt zur Stadt geworden ist, gibt es nicht mehr bloße
Schwerpunkte des Güterstroms, der durch eine rein bäuerliche Landschaft
geht, sondern eine zweite Welt innerhalb der Mauern, für die das
schlechthin erzeugende Leben „da draußen“ nichts ist als Mittel und
Objekt, und aus der heraus ein anderer Strom zu kreisen beginnt. Das
ist das Entscheidende: der echte Städter ist +nicht+ erzeugend im
ursprünglich erdhaften Sinne. Ihm fehlt die innere Verbundenheit mit
dem Boden wie mit dem Gut, das durch seine Hände geht. Er lebt nicht
mit ihm, sondern er betrachtet es von außen und nur in bezug auf seinen
Lebensunterhalt.

Damit wird das Gut zur Ware, der Tausch zum Umsatz, und an Stelle
+des Denkens in Gütern tritt das Denken in Geld+.

Damit wird ein rein ausgedehntes Etwas, eine Form der Grenzsetzung, von
den sichtbaren Wirtschaftsdingen abgezogen, ganz wie das mathematische
Denken von der mechanisch aufgefaßten Umwelt etwas abzieht, und das
Abstraktum Geld entspricht durchaus dem Abstraktum Zahl.[621] Beides
ist vollkommen anorganisch. Das Wirtschaftsbild wird ausschließlich
auf Quantitäten zurückgeführt, unter Absehen von der Qualität, die
gerade das wesentliche Merkmal des Gutes bildet. Für den frühzeitlichen
Bauern ist „seine“ Kuh zuerst gerade dieses eine Wesen und dann erst
Tauschgut; für den Wirtschaftsblick eines echten Städters gibt es nur
einen abstrakten Geldwert in der zufälligen Gestalt einer Kuh, der
jederzeit in die Gestalt etwa einer Banknote umgesetzt werden kann.
Ebenso erblickt der echte Techniker in einem berühmten Wasserfall
nicht ein einzigartiges Naturschauspiel, sondern ein reines Quantum
unverwerteter Energie.

Es ist ein Fehler aller modernen Geldtheorien, daß sie von den
Wertzeichen oder sogar vom Stoff der Zahlungsmittel statt von der Form
des wirtschaftlichen Denkens ausgehen.[622] Aber Geld ist wie Zahl und
Recht +eine Kategorie des Denkens+. Es gibt ein Gelddenken so wie
es ein juristisches, mathematisches, technisches Denken der Umwelt
gibt. Von dem Sinnenerlebnis eines Hauses wird ganz verschiedenes
abgezogen, je nachdem man es als Händler, Richter oder Ingenieur im
Geiste prüft und in bezug auf eine Bilanz, einen Rechtsstreit oder eine
Einsturzgefahr hin wertet. Am nächsten aber steht dem Denken in Geld
die Mathematik. Geschäftlich denken heißt rechnen. Der Geldwert ist ein
Zahlenwert, der an einer Rechnungseinheit gemessen wird.[623] Diesen
exakten „Wert an sich“ hat, wie die Zahl an sich, erst das Denken des
Städters, des wurzellosen Menschen hervorgebracht. Für den Bauern gibt
es nur flüchtige, gefühlte Werte in bezug auf ihn, die er im Tausch von
Fall zu Fall geltend macht. Was er nicht braucht oder besitzen will,
hat für ihn „keinen Wert“. Erst im Wirtschaftsbilde des echten Städters
gibt es objektive Werte und Wertarten, die als Elemente des Denkens
unabhängig von seinem privaten Bedarf bestehen und der Idee nach
allgemeingültig sind, obwohl in Wirklichkeit jeder einzelne sein eignes
Wertsystem und seine eigne Fülle der verschiedensten Wertarten besitzt
und von ihnen aus die geltenden Wertansätze (Preise) des Marktes als
teuer oder billig empfindet.[624]

Während der frühe Mensch Güter +vergleicht+, und nicht nur mit dem
Verstande, +berechnet+ der späte den Wert der Ware, und zwar nach
einem starren qualitätslosen Maß. Jetzt wird nicht mehr das Gold an
der Kuh, sondern die Kuh am Gelde gemessen und das Ergebnis durch eine
abstrakte Zahl, den Preis, ausgedrückt. Ob und in welcher Weise dieses
Wertmaß in einem Wert+zeichen+ sinnbildlichen Ausdruck findet -- so
wie das geschriebene, gesprochene, vorgestellte Zahlzeichen Sinnbild
einer Zahlenart ist -- das hängt vom Wirtschaftsstil der einzelnen
Kulturen ab, die jedesmal eine andre Art von Geld hervorbringen.
Diese Geldart ist vorhanden nur infolge des Vorhandenseins einer
städtischen Bevölkerung, die in ihr wirtschaftlich denkt, und sie
bestimmt weiterhin, ob das Wertzeichen zugleich als Zahlungsmittel
dient wie die antike Münze aus Edelmetall und +vielleicht+ die
babylonischen Silbergewichte. Dagegen ist der ägyptische _deben_, das
nach Pfunden abgewogene Rohkupfer, ein Tauschmaß, aber weder Zeichen
noch Zahlungsmittel, die abendländische und die „gleichzeitige“
chinesische Banknote[625] ein Mittel, aber kein Maß und über die Rolle,
welche Münzen aus Edelmetall in +unserer+ Art von Wirtschaft spielen,
pflegen wir uns vollkommen zu täuschen: sie sind eine in Nachahmung der
antiken Sitte hergestellte +Ware+ und besitzen deshalb, am Buchwert des
Kreditgeldes gemessen, einen +Kurs+.

Aus dieser Art von Denken heraus wird der mit dem Leben und dem Boden
verbundene +Besitz+ zum +Vermögen+, das dem Wesen nach beweglich und
qualitativ unbestimmt ist: es +besteht+ nicht in Gütern, sondern es
wird in solchen „+angelegt+“. An sich betrachtet ist es ein rein
zahlenmäßiges Quantum von Geldwert.[626]

Als Sitz dieses Denkens wird die Stadt zum Geldmarkt (Geldplatz) und
Wertmittelpunkt, und ein Strom von Geldwerten beginnt den Güterstrom
zu durchdringen, zu durchgeistigen und zu beherrschen. +Aber damit
erhebt sich der Händler vom Organ zum Herrn des Wirtschaftslebens.+
Denken in Geld ist immer irgendwie kaufmännisches, „+geschäftliches+“
Denken. Es setzt die erzeugende Wirtschaft des Landes voraus und ist
deshalb zunächst immer erobernd, denn es gibt nichts Drittes. Die
Worte Erwerb, Gewinn, Spekulation deuten auf einen Vorteil, welcher
den zum Verbraucher wandernden Dingen unterwegs abgelistet wird, auf
+intellektuelle Beute+, und sind deshalb auf das frühe Bauerntum nicht
anwendbar. Man muß sich ganz in den Geist und Wirtschaftsblick des
echten Städters versetzen. Er arbeitet nicht für den Bedarf, sondern
für den Verkauf, „für Geld“. Die geschäftliche Auffassung durchdringt
allmählich jede Art von Tätigkeit. Mit dem Güterverkehr innerlich
verbunden war der ländliche Mensch Geber und Nehmer zugleich; auch
der Händler auf dem frühen Markte macht kaum eine Ausnahme. Mit dem
Geldverkehr erscheint zwischen Erzeuger und Verbraucher wie zwischen
zwei getrennten Welten „+der Dritte+“, dessen Denken das Geschäftsleben
alsbald beherrscht. Er zwingt den ersten zum Angebot, den zweiten
zur Nachfrage an ihn; er erhebt die Vermittlung zum Monopol und dann
zur Hauptsache im Wirtschaftsleben, und zwingt die beiden andern, in
seinem Interesse in Form zu sein, die Ware nach +seiner+ Berechnung
herzustellen und unter dem Druck +seiner+ Angebote abzunehmen.

Wer dieses Denken beherrscht, ist Meister des Geldes.[627] Die
Entwicklung geht in allen Kulturen diesen Weg. Lysias stellt in
seiner Rede gegen die Getreidehändler fest, daß die Spekulanten im
Piräus manchmal das Gerücht verbreiteten, eine Getreideflotte sei
gescheitert oder ein Krieg ausgebrochen, um eine Panik hervorzurufen.
In hellenistisch-römischer Zeit war es eine verbreitete Sitte, auf
Verabredung den Anbau zu beschränken oder die Einfuhr stocken zu
lassen, um die Preise hinaufzutreiben. In Ägypten machte das dem
abendländischen Bankverkehr vollkommen ebenbürtige Girowesen des Neuen
Reiches[628] Getreidecorner amerikanischen Stils möglich. Kleomenes,
der Finanzverwalter Alexanders des Großen für Ägypten, konnte durch
Buchkäufe den gesamten Getreidevorrat in seine Hand bringen, was eine
Hungersnot weithin in Griechenland hervorrief und ungeheuren Gewinn
abwarf. Wer wirtschaftlich anders denkt, sinkt damit zum bloßen Objekt
großstädtischer Geldwirkungen herab. Dieser Stil ergreift bald das
Wachsein der gesamten Stadtbevölkerung und damit aller, welche für
die Lenkung der Wirtschaftsgeschichte ernsthaft in Betracht kommen.
Bauer und Bürger bedeutet nicht nur den Unterschied von Land und
Stadt, sondern auch den von Gut und Geld. Die prunkvolle Kultur der
homerischen und provençalischen Fürstenhöfe ist etwas, das mit dem
Menschen gewachsen und verwachsen ist wie heute noch vielfach das Leben
auf den Landsitzen alter Familien; die feinere Kultur des Bürgertums,
der „Komfort“, ist etwas von außen Kommendes, das +bezahlt+
werden kann.[629] Alle hochentwickelte Wirtschaft ist Stadtwirtschaft.
Die Weltwirtschaft, diejenige aller Zivilisationen, sollte man
Weltstadtwirtschaft nennen. Die Schicksale auch der Wirtschaft
entscheiden sich nur noch an wenigen Punkten, den Geldplätzen[630], in
Babylon, Theben, Rom, in Byzanz und Bagdad, in London, New York, Berlin
und Paris. Der Rest ist Provinzwirtschaft, die ihre Kreise dürftig im
Kleinen zieht, ohne sich des vollen Umfangs ihrer Abhängigkeit bewußt
zu sein. Geld ist zuletzt die Form von geistiger Energie, in welcher
der Herrscherwille, die politische, soziale, technische, gedankliche
Gestaltungskraft, die Sehnsucht nach einem Leben von großem Zuschnitt
zusammengefaßt sind. Shaw hat vollkommen recht: „Die allgemeine Achtung
vor dem Gelde ist die einzige hoffnungsvolle Tatsache in unserer
Zivilisation ... Geld und Leben sind unzertrennlich ... Geld ist das
Leben.“[631] Zivilisation bezeichnet also die Stufe einer Kultur,
auf welcher Tradition und Persönlichkeit ihre unmittelbare Geltung
verloren haben und jede Idee zunächst in Geld umgedacht werden muß, um
verwirklicht zu werden. Am Anfang war man begütert, weil man mächtig
war. Jetzt ist man mächtig, weil man Geld hat. Erst das Geld erhebt den
Geist auf den Thron. Demokratie ist die vollendete Gleichsetzung von
Geld und politischer Macht.

Es geht ein Verzweiflungskampf durch die Wirtschaftsgeschichte jeder
Kultur, den die im Boden wurzelnde Tradition einer Rasse, ihre
+Seele+, gegen den Geist des Geldes führt. Die Bauernkriege zu
Beginn einer Spätzeit -- in der Antike 700-500, bei uns 1450-1650,
in Ägypten am Ausgang des Alten Reiches -- sind die erste Auflehnung
des Blutes gegen das Geld, das von den mächtig werdenden Städten her
seine Hand nach dem Boden ausstreckt.[632] Die Warnung des Freiherrn
vom Stein: „Wer den Boden mobilisiert, löst ihn in Staub auf,“ deutet
auf eine Gefahr +jeder+ Kultur; kann das Geld den Besitz nicht
angreifen, so dringt es in das bäuerliche und adlige Denken selbst
ein; der ererbte, mit dem Geschlecht verwachsene Besitz erscheint dann
als Vermögen, das in Grund und Boden nur angelegt und an und für sich
beweglich ist.[633] Das Geld erstrebt die Mobilisierung +aller+
Dinge. Weltwirtschaft ist die zur Tatsache gewordene Wirtschaft in
abstrakten, vom Boden völlig fortgedachten, verflüssigten Werten.[634]
Das antike Gelddenken hat seit den Tagen Hannibals ganze Städte in
Münze, ganze Völkerschaften in Sklaven verwandelt und damit in Geld,
das sich von allen Seiten nach Rom bewegt, um dort als Macht zu
wirken. Das faustische Gelddenken „erschließt“ ganze Kontinente, die
Wasserkräfte riesenhafter Stromgebiete, die Muskelkraft der Bevölkerung
weiter Landschaften, Kohlenlager, Urwälder, Naturgesetze und wandelt
sie in finanzielle Energie um, die irgendwo in Gestalt der Presse,
der Wahlen, der Budgets und Heere angesetzt wird, um Herrscherpläne
zu verwirklichen. Immer neue Werte werden aus dem geschäftlich noch
indifferenten Weltbestand abgezogen, „des Goldes schlummernde Geister“,
wie John Gabriel Borkman sagt; was die Dinge abgesehen davon noch sind,
kommt wirtschaftlich nicht in Betracht.


4

Jede Kultur besitzt, wie ihre eigne Art in Geld zu denken, so auch
ihr eignes Symbol des Geldes, durch das sie ihr Prinzip der Wertung
im Wirtschaftsbilde sichtbar zum Ausdruck bringt. Dies Etwas, eine
Versinnlichung des Gedachten, steht den für Ohr und Auge gesprochnen,
geschriebenen, gezeichneten Ziffern, Figuren und andern Symbolen der
Mathematik an Bedeutung völlig gleich, ein tiefes und reiches Gebiet,
das noch fast unerforscht daliegt. Nicht einmal die Grundfragen sind
richtig gestellt worden. Es ist deshalb heute noch ganz unmöglich,
die Geldidee zu umschreiben, welche dem ägyptischen Naturalien-
und Geldgiroverkehr, dem babylonischen Bankwesen, der chinesischen
Buchführung und dem Kapitalismus der Juden, Parsen, Griechen,
Araber seit Harun al Raschid zugrunde liegt. Möglich ist nur eine
Gegenüberstellung des apollinischen und faustischen Geldes: des
+Geldes als Größe+ und des +Geldes als Funktion+.[635]

Dem antiken Menschen erscheint auch wirtschaftlich die Umwelt als Summe
von Körpern, die ihren Ort wechseln, wandern, sich drängen, stoßen,
vernichten, so wie es Demokrit von der Natur beschreibt. Der Mensch ist
Körper unter Körpern. Die Polis ist als Summe davon ein Körper höherer
Ordnung. Der gesamte Lebensbedarf besteht aus körperlichen Größen.
Also stellt auch ein Körper das Geld dar, so wie eine Apollostatue die
Gottheit darstellt. Um 650 ist, gleichzeitig mit dem Steinkörper des
dorischen Tempels und der allseitig frei durchgebildeten Statue auch
die +Münze+ entstanden, ein Metallgewicht von schön geprägter
Form. Der +Wert als Größe+ war längst vorhanden und ist so alt
wie diese Kultur überhaupt. Bei Homer wird unter Talent eine kleine
Menge goldener Geräte und Schmucksachen von bestimmtem Gesamtgewicht
verstanden. Auf dem Schilde des Achill sind „zwei Talente“ abgebildet,
und noch zur Römerzeit war die Gewichtsangabe auf Silber- und
Goldgefäßen allgemein üblich.[636]

Die Erfindung des klassisch geformten Geldkörpers aber ist so
außerordentlich, daß wir seine tiefe, rein antike Bedeutung noch
gar nicht begriffen haben. Wir halten ihn für eine jener berühmten
„Errungenschaften der Menschheit“. Allenthalben werden seitdem Münzen
geprägt, so wie überall Statuen auf Straßen und Plätzen herumstehen.
Soweit reicht unsere Macht. Wir können die Gestalt nachahmen, aber
ihr die gleiche wirtschaftliche Bedeutung geben können wir nicht. Die
Münze +als Geld+ ist eine rein antike Erscheinung und nur in
einer ganz euklidisch gedachten Umgebung möglich; hier hat sie aber
auch das gesamte Wirtschaftsleben gestaltend beherrscht. Begriffe wie
Einkommen, Vermögen, Schuld, Kapital bedeuten in antiken Städten etwas
ganz anderes als bei uns, weil nicht wirtschaftliche Energie damit
gemeint ist, die von einem Punkte ausstrahlt, sondern eine Summe von
Wertgegenständen, die sich in einer Hand befinden. Vermögen ist immer
ein beweglicher +Barvorrat+, der durch Addition und Subtraktion
von Wertsachen verändert wird und mit Grundbesitz gar nichts zu tun
hat. Beide sind im antiken Denken völlig getrennt. Kredit besteht
im Leihen von Bargeld in der Erwartung, daß es als solches wieder
zurückgegeben werden kann. Katilina war arm, weil er trotz seiner
großen Güter[637] niemand fand, der ihm zu politischen Zwecken Bargeld
anvertraute, und die ungeheuren Schulden römischer Politiker[638]
haben nicht einen entsprechenden Grundbesitz zur Unterlage, sondern
die bestimmte Aussicht auf eine Provinz, deren bewegliche Sachwerte
ausgebeutet werden konnten.[639] Erst das Denken in +körperlichem+
Geld macht eine Reihe von Erscheinungen begreiflich: die
Massenhinrichtung von Reichen unter der zweiten Tyrannis und die
römischen Proskriptionen, um einen größeren Teil der umlaufenden
Bargeldmasse in die Hand zu bekommen, das Einschmelzen der delphischen
Tempelschätze durch die Phokier im heiligen Kriege, der Kunstschätze
von Korinth durch Mummius, der letzten römischen Weihgeschenke durch
Cäsar, der griechischen durch Sulla, der kleinasiatischen durch Brutus
und Cassius, ohne Rücksicht auf den Kunstwert, weil man die edlen
Stoffe, Metalle und Elfenbein, brauchte.[640] Was bei den Triumphen an
Statuen und Gefäßen aufgeführt wurde, war in den Augen der Zuschauer
bares Geld, und Mommsen konnte den Versuch machen,[641] den Ort der
Varusschlacht nach Münzfunden zu bestimmen, weil der römische Veteran
sein ganzes Vermögen in Edelmetall auf dem Körper trug. Antiker
Reichtum ist kein Guthaben, sondern ein Geldhaufen; ein antiker
Geldplatz ist nicht ein Mittelpunkt des Kredits wie die heutigen
Börsenplätze und das ägyptische Theben, sondern eine Stadt, in welcher
sich ein erheblicher Teil des Bargeldbestandes der Welt gesammelt hat.
Man darf annehmen, daß zur Zeit Cäsars weit über die Hälfte des antiken
Goldes sich jederzeit in Rom befand.

Aber als diese Welt in das Zeitalter der unbedingten Geldherrschaft
getreten war, etwa seit Hannibal, reichte die natürlich begrenzte Masse
von Edelmetall und stofflich wertvollen Kunstwerken innerhalb ihres
Machtgebiets bei weitem nicht mehr aus, um den Bedarf an Barmitteln zu
decken, und es entstand ein wahrer Heißhunger nach neuen geldfähigen
Körpern. Da fiel der Blick auf den Sklaven, der eine andere Art von
Körper, aber nicht Person, sondern Sache war[642] und deshalb als
Geld gedacht werden konnte. Erst von da an wird der antike Sklave
etwas Einzigartiges in der gesamten Wirtschaftsgeschichte. Die
Eigenschaften der Münze haben sich auf lebendige Objekte ausgedehnt,
und damit tritt neben den Metallbestand der durch die Plünderungen
von Statthaltern und Steuerpächtern wirtschaftlich „erschlossenen“
Gebiete deren Menschenbestand. Es entwickelt sich eine bizarre Art
von Doppelwährung. Der Sklave hat einen Kurs, was vom Grund und Boden
nicht gilt. Er dient zur Anhäufung großer Barvermögen, und erst infolge
davon erscheinen jene ungeheuren Sklavenmassen der Römerzeit, die aus
einem andern Bedarf gar nicht zu erklären sind. Solange man nur soviel
Sklaven hielt, als man gewerblich brauchte, war ihre Zahl gering und
aus Kriegsbeute und Schuldknechtschaft leicht zu decken.[643] Erst
im sechsten Jahrhundert hat Chios mit der Einfuhr gekaufter Sklaven
(Argyroneten) den Anfang gemacht. Ihr Unterschied gegen die viel
zahlreicheren Lohnarbeiter war zunächst politisch-rechtlicher und nicht
wirtschaftlicher Natur. Da die antike Wirtschaft statisch und nicht
dynamisch ist und die planmäßige Erschließung von Energiequellen nicht
kennt, so waren die Sklaven der Römerzeit nicht da, um ausgebeutet zu
werden, sondern sie wurden beschäftigt, so gut es ging, um in möglichst
großer Zahl gehalten werden zu können. Man bevorzugte Prunksklaven,
die sich auf irgend etwas verstanden, weil sie bei gleichem Unterhalt
einen höheren Wert darstellten; man vermietete sie, wie man bares
Geld auslieh; man ließ sie Geschäfte auf eigene Rechnung treiben, so
daß sie reich werden konnten;[644] man unterbot mit ihnen die freie
Arbeit, alles nur, um wenigstens die Erhaltungskosten dieses Kapitals
zu decken.[645] Die Mehrzahl konnte gar nicht voll beschäftigt
werden. Sie erfüllten ihren Zweck, indem sie einfach da waren, als
ein Geldvorrat, den man zur Hand hatte und dessen Umfang nicht an
die natürlichen Grenzen der damals vorhandenen Goldmenge gebunden
war. Und damit stieg allerdings der Sklavenbedarf ins Ungemessene und
führte über Kriege, die nur der Sklavenbeute wegen unternommen wurden,
hinaus zu Sklavenjagden von Privatunternehmern längs aller Küsten des
Mittelmeeres, die von Rom geduldet wurden, und zu einer neuen Art,
Vermögen zu machen, indem man als Statthalter die Bevölkerung ganzer
Landstriche aussog und dann in die Schuldknechtschaft verkaufte. Auf
dem Markt von Delos sollen an einem Tage zehntausend Sklaven verkauft
worden sein. Als Cäsar nach Britannien ging, wurde die Enttäuschung
in Rom über die Goldarmut des Volkes durch die Aussicht auf reiche
Sklavenbeute aufgewogen. Für antikes Denken war es ein und dieselbe
Operation, wenn etwa bei der Zerstörung von Korinth die Statuen
ausgemünzt und die Einwohner auf den Sklavenmarkt gebracht wurden: in
beiden Fällen hatte man körperliche Gegenstände in Geld verwandelt.

Den äußersten Gegensatz dazu bildet das Symbol des faustischen
Geldes, des Geldes als Funktion, als Kraft, dessen Wert in seiner
Wirkung, nicht in seinem bloßen Dasein liegt. Der neue Stil dieses
Wirtschaftsdenkens erscheint schon in der Art, wie die Normannen
um 1000 ihre Beute an Land und Leuten +zu einer wirtschaftlichen
Macht organisierten+.[646] Man vergleiche den reinen Buchwert im
Rechnungswesen ihrer Herzöge, aus dem die Worte Scheck, Konto und
Kontrolle stammen,[647] mit den gleichzeitigen „Talenten Goldes“
der Ilias, und man erhält gleich am Anfang den Begriff des modernen
Kredits, der aus dem Vertrauen auf die Kraft und Dauer einer
Wirtschaftsführung hervorgeht und mit der Idee unseres Geldes beinahe
identisch ist. Diese durch Roger II. auf das sizilische Normannenreich
übertragene Finanzmethode hat der Hohenstaufe Friedrich II. um 1230
zu einem gewaltigen System ausgebaut, das in seiner Dynamik weit über
das Vorbild hinausging und ihn „zur ersten Kapitalkraft der Welt“[648]
machte. Und während diese Verschwisterung von mathematischer Denkkraft
und königlichem Machtwillen von der Normandie nach Frankreich eindrang
und 1066 auf das erbeutete England in großartigem Maßstabe angewandt
wurde -- der englische Boden ist heute noch dem Namen nach königliche
Domäne --, wurde sie in Sizilien von den italienischen Städterepubliken
nachgeahmt, deren regierende Patrizier sie bald vom Gemeindehaushalt
auf ihre eignen Handelsbücher und damit auf das kaufmännische Denken
und Rechnen der ganzen abendländischen Welt übertrugen. Wenig
später wurde die sizilische Praxis auch vom Deutschritterorden und
der aragonischen Dynastie übernommen, worauf sich vielleicht das
mustergültige Rechnungswesen Spaniens unter Philipp II. und Preußens
unter Friedrich Wilhelm I. zurückführen läßt.

Entscheidend aber wurde, „gleichzeitig“ mit der Erfindung der antiken
Münze um 650, die der doppelten Buchführung durch Fra Luca Pacioli
(1494). „Es ist eine der schönsten Erfindungen des menschlichen
Geistes“, heißt es in Goethes Wilhelm Meister. In der Tat darf sich
ihr Urheber seinen Zeitgenossen Kolumbus und Kopernikus ohne Scheu
zur Seite stellen. Den Normannen verdanken wir die Kontenrechnung,
den Lombarden diese Buchführung. Es sind die germanischen Stämme,
welche die +beiden+ verheißungsvollsten Rechtswerke der frühen
Gotik geschaffen haben[649] und von deren Sehnsucht nach fernen Meeren
die +beiden+ Entdeckungen Amerikas ihren Anstoß erhielten. „Die
doppelte Buchhaltung ist aus demselben Geiste geboren wie die Systeme
Galileis und Newtons .... Mit denselben Mitteln wie diese ordnet sie
die Erscheinungen zu einem kunstvollen System, und man kann sie als
den ersten auf dem Grundsatz des mechanischen Denkens aufgebauten
Kosmos bezeichnen. Die doppelte Buchhaltung erschließt uns den Kosmos
der wirtschaftlichen Welt nach derselben Methode, wie später die
großen Naturforscher den Kosmos der Sternenwelt .... Die doppelte
Buchhaltung ruht auf dem folgerichtig durchgeführten Grundgedanken,
alle Erscheinungen nur als Quantitäten zu erfassen.“[650]

+Die doppelte Buchführung ist eine reine Analysis des Wertraums,
bezogen auf ein Koordinatensystem, dessen Anfangspunkt „die
Firma“ ist.+ Die antike Münze hatte nur ein arithmetisches
Rechnen mit Wert+größen+ gestattet. Wiederum stehen sich
Pythagoras und Descartes gegenüber. Man darf von der Integration
eines Unternehmens sprechen, und die graphische Kurve ist in der
Wirtschaft wie der Wissenschaft das gleiche optische Hilfsmittel.
Die antike Wirtschaftswelt gliedert sich wie der Kosmos Demokrits
nach +Stoff und Form+. Ein Stoff in der Form der Münze ist
Träger der wirtschaftlichen Bewegung und drängt die Bedarfsgrößen
von gleichem Wertquantum an den Ort ihrer Verwendung. +Unsere+
Wirtschaftswelt gliedert sich nach +Kraft und Masse+. Ein
Kraftfeld von Geldspannungen liegt im Raume und erteilt jedem Objekt,
unter Absehen von dessen besonderer Art, einen positiven oder negativen
Wirkungswert,[651] der durch einen Bucheintrag dargestellt wird.
„_Quod non est in libris, non est in mundo._“ Aber das Sinnbild
des hier gedachten funktionalen Geldes, das was +allein+ mit
der antiken Münze verglichen werden darf, ist nicht der Buchvermerk
und auch nicht der Wechsel, Scheck oder die Banknote, +sondern der
Akt, durch welchen die Funktion schriftlich vollzogen wird+ und
als dessen bloßes +geschichtliches Zeugnis+ das Wertpapier im
weitesten Sinne zu gelten hat.

Aber daneben hat das Abendland in starrer Bewunderung der Antike Münzen
geprägt, nicht nur als Hoheitszeichen, sondern in dem Glauben, daß das
bewiesenes Geld sei, dem Wirtschaftsdenken wirklich entsprechendes
Geld. Ganz ebenso ist schon in gotischer Zeit das römische Recht
übernommen worden mit seiner Gleichsetzung von Sache und körperlicher
Größe, und die euklidische Mathematik, die auf dem Begriff der Zahl
als Größe aufgebaut war. So kam es, daß die Entwicklung dieser drei
geistigen Formenwelten sich nicht wie die der faustischen Musik in
rein aufblühender Entfaltung vollzog, sondern in Gestalt +einer
fortschreitenden Emanzipation vom Größenbegriff+. Die Mathematik
ist bereits mit dem Ausgang des Barock zum Ziele gelangt.[652] Die
Rechtswissenschaft hat ihre eigentliche Aufgabe bis jetzt noch nicht
einmal erkannt,[653] aber sie ist diesem Jahrhundert gestellt und
zwar fordert sie, was für den römischen Juristen selbstverständlich
war, die innere Kongruenz von Wirtschaftsdenken und Rechtsdenken
und die gleiche Vertrautheit mit beiden. Der durch die Münze
symbolisierte Geldbegriff deckt sich vollkommen mit dem Geist des
antiken Sachenrechts; für uns ist das nicht im entferntesten der
Fall. Unser gesamtes Leben ist dynamisch angelegt, nicht statisch und
stoisch; deshalb sind Kräfte, Leistungen, Beziehungen, Fähigkeiten
-- Organisationstalent, Erfindergeist, Kredit, Ideen, Methoden,
Energiequellen -- das wesentliche, und nicht das bloße Dasein
körperlicher Sachen. Das „römische“ Sachdenken unsrer Juristen ist
deshalb ebenso lebensfremd wie eine Geldtheorie, die bewußt oder
unbewußt vom Geldstück ausgeht. Der gewaltige Münzbestand, der in
Nachahmung der Antike bis zum Ausbruch des Weltkriegs stets vermehrt
worden ist, hat sich zwar eine Rolle abseits vom Wege geschaffen,
aber mit der inneren Form der modernen Wirtschaft, ihren Aufgaben und
Zielen hat er +nichts+ zu tun, und sollte er infolge des Krieges
endgültig aus dem Verkehr verschwinden, so würde damit nichts verändert
sein.[654]

Unglücklicherweise entstand die moderne Nationalökonomie im Zeitalter
des Klassizismus, wo nicht nur Statuen, Vasen und steife Dramen als
die allein wahre Kunst galten, sondern auch schön geprägte Münzen als
das allein wahre Geld. Was Wedgwood seit 1768 mit seinen zartgetönten
Reliefs und Tassen, das erstrebte im Grunde Adam Smith eben damals
mit seiner Werttheorie: die reine Gegenwart greifbarer Größen. Denn
es entspricht durchaus der Verwechslung von Geld und Geldstück, wenn
der Wert einer Sache an der Größe einer Arbeitsmenge gemessen wird.
Da ist „Arbeit“ nicht mehr ein +Wirken+ innerhalb einer Welt von
Wirkungen, +das Arbeiten+, das dem inneren Range, der Intensität
und der Tragweite nach unendlich verschieden ist, in immer weiteren
Kreisen fortwirkt und wie ein elektrisches Kraftfeld gemessen, aber
nicht abgegrenzt werden kann, sondern das ganz stofflich vorgestellte
+Resultat davon+, +das Gearbeitete+, ein greifbares Etwas, an
dem nichts bemerkenswert erscheint als eben der Umfang.

Aber die Wirtschaft der europäisch-amerikanischen Zivilisation ist
ganz im Gegenteil auf einer Arbeit aufgebaut, die einzig durch ihren
inneren Rang gekennzeichnet ist, mehr als jemals in China und Ägypten,
um von der Antike zu schweigen. Wir leben nicht umsonst in einer
Welt wirtschaftlicher Dynamik: die Arbeit der Einzelnen wird nicht
euklidisch addiert, sondern steht in funktionaler Beziehung zueinander.
Die lediglich +ausführende+ Arbeit, von der Marx allein Kenntnis
nimmt, ist nichts als die Funktion einer erfindenden, anordnenden,
organisierenden Arbeit, die der andern erst Sinn, relativen Wert
und die Möglichkeit gibt, überhaupt getan zu werden. Die ganze
Weltwirtschaft seit Erfindung der Dampfmaschine ist die Schöpfung einer
ganz kleinen Zahl überlegener Köpfe, ohne deren hochwertige Arbeit
alles andere nicht da wäre, aber diese Leistung ist schöpferisches
Denken und kein „Quantum“[655], und ihr Gegenwert besteht also
auch nicht in einer Anzahl von Geldstücken, sondern sie +ist+
Geld, faustisches Geld nämlich, das nicht geprägt, sondern +als
Wirkungszentrum gedacht+ wird aus einem Leben heraus, dessen innerer
Rang den Gedanken zur Bedeutung einer Tatsache erhebt. +Denken in
Geld erzeugt Geld+: das ist das Geheimnis der Weltwirtschaft. Wenn
ein Organisator großen Stils eine Million auf ein Papier schreibt,
so ist sie da, denn seine Persönlichkeit als Wirtschaftszentrum
bürgt für eine entsprechende Erhöhung der Wirtschaftsenergie seines
Gebietes. Das und nichts anderes bedeutet für uns das Wort Kredit.
Aber alle Goldstücke der Welt würden nicht ausreichen, der Tätigkeit
des Handarbeiters einen Sinn und damit Geldwert zu geben, wenn mit
der berühmten „Expropriation der Expropriateure“ die überlegenen
Fähigkeiten aus ihren Schöpfungen beseitigt und diese damit entseelt,
willenlos, zu leeren Gehäusen würden. Darin ist Marx Klassizist
wie Adam Smith und ein echtes Produkt des römischen Rechtsdenkens:
er sieht nur die fertige Größe, nicht die Funktion. Er möchte die
Produktionsmittel von denen trennen, deren Geist durch Erfindung von
Methoden, Organisation von leistungsfähigen Betrieben, Eroberung von
Absatzgebieten aus einem Haufen Stahl und Mauerwerk erst eine Fabrik
macht, und die ausbleiben, wenn ihre Kraft keinen Spielraum findet.[656]

Wer eine Theorie der modernen Arbeit geben will, der denke an
diesen Grundzug alles Lebens; es gibt Subjekte und Objekte jeder
Art von Lebensführung, und der Unterschied ist um so ausgeprägter,
je bedeutender, je formvoller das Leben ist. Jeder Strom von Dasein
besteht aus einer Minderheit von Führern und einer gewaltigen Mehrheit
von Geführten, +jede Art von Wirtschaft also aus Führerarbeit und
ausführender Arbeit+. Aus der Froschperspektive von Marx und den
sozialethischen Ideologen überhaupt wird nur die letzte, kleine,
massenhafte sichtbar, aber sie ist nur vermöge der ersten da, und der
Geist dieser Welt von Arbeit kann nur von den höchsten Möglichkeiten
aus erfaßt werden. Der Erfinder der Dampfmaschine ist maßgebend, nicht
der Heizer. Auf das +Denken+ kommt es an.

Und ebenso gibt es Subjekte und Objekte des Denkens in Geld: solche,
die es kraft ihrer Persönlichkeit erzeugen und lenken und solche, die
von ihm erhalten werden. Das Geld faustischen Stils ist die aus der
Wirtschaftsdynamik faustischen Stils abgezogene +Kraft+, und es
gehört zum Schicksal des Einzelnen -- zur Wirtschaftsseite seines
Lebensschicksals --, ob er durch den inneren Rang seiner Persönlichkeit
einen Teil dieser Kraft darstellt oder ihr gegenüber nichts als Masse
ist.


5

Das Wort Kapital bezeichnet den Mittelpunkt dieses Denkens, nicht den
Inbegriff der Werte, sondern das, was sie als solche +in Bewegung
hält+. Kapitalismus gibt es erst mit dem weltstädtischen Dasein
einer Zivilisation, und er beschränkt sich auf den ganz kleinen Kreis
derer, welche dies Dasein durch ihre Person und Intelligenz darstellen.
Der Gegensatz dazu ist Provinzwirtschaft. Erst die unbedingte
Herrschaft der Geldmünze über das antike Leben, auch dessen politische
Seite, erzeugt das statische Kapital, die ἀφορμή, den „Ausgangspunkt“,
der durch sein Vorhandensein immer neue Massen von Dingen mit einer Art
von Magnetismus an sich zieht. Erst die Herrschaft der Buchwerte, deren
abstraktes System durch die doppelte Buchführung von der Persönlichkeit
gleichsam abgelöst ist und mit eigener innerer Dynamik fortarbeitet,
hat das moderne Kapital hervorgebracht, dessen Kraftfeld die Erde
umspannt.[657]

Unter der Einwirkung des antiken Kapitals nimmt das Wirtschaftsleben
die Form eines Goldstroms an, der von den Provinzen nach Rom und
zurück fließt und der immer neue Gebiete sucht, deren Bestände an
verarbeitetem Gold noch nicht „erschlossen“ sind. Brutus und Cassius
führten das Gold der kleinasiatischen Tempel in langen Maultierkolonnen
auf das Schlachtfeld von Philippi -- man begreift, was für eine
Wirtschaftsoperation die Plünderung eines Lagers nach der Schlacht
sein konnte -- und schon C. Gracchus wies darauf hin, daß die mit Wein
gefüllten Amphoren, die von Rom in die Provinzen gingen, mit Gold
gefüllt zurückkehrten. Dieser Zug nach dem Goldbesitz fremder Völker
entspricht durchaus dem heutigen Zug zur Kohle, die im tieferen Sinn
keine „Sache“, sondern ein Schatz von Energie ist.

Es entspricht aber auch dem antiken Hang zur Nähe und Gegenwart,
wenn zum Ideal der Polis das +Wirtschaftsideal der Autarkeia+
tritt. Der politischen Atomisierung der antiken Welt sollte die
wirtschaftliche entsprechen. Jede dieser winzigen Lebenseinheiten
wollte einen eignen und ganz in sich geschlossenen Wirtschaftsstrom
haben, der unabhängig von allen andern und zwar +in Sehweite+
kreiste. Den äußersten Gegensatz dazu bildet der abendländische
Begriff der +Firma+, ein ganz unpersönlich und unkörperlich
gedachtes Kraftzentrum, dessen Wirkung nach allen Seiten ins
Unendliche ausstrahlt und das der „Inhaber“ durch seine Fähigkeit,
in Geld zu denken, nicht darstellt, sondern wie einen kleinen Kosmos
+besitzt+ und +leitet+, das heißt in seiner Gewalt hat.
Diese Zweiheit von Firma und Inhaber wäre dem antiken Denken gänzlich
unvorstellbar gewesen.[658]

Deshalb bedeuten die abendländische und die antike Kultur ein Maximum
und Minimum von +Organisation+, die dem antiken Menschen selbst
als Begriff vollkommen gefehlt hat. Seine Finanzwirtschaft ist das
zur Regel erhobene Provisorium: da werden reiche Bürger in Athen und
Rom mit der Ausrüstung von Kriegsschiffen belastet; die politische
Macht des römischen Ädils und seine Schulden beruhen darauf, daß er
Spiele, Straßen und Gebäude nicht nur ausführt, sondern auch bezahlt,
und sich später allerdings durch die Plünderung seiner Provinz wieder
bezahlt machen durfte. An Einnahmequellen dachte man erst, wenn man sie
brauchte, und man nahm sie ohne jedes Vorausdenken so in Anspruch, wie
es der augenblickliche Bedarf forderte, auch wenn sie dadurch zerstört
werden mußten. Plünderung der eignen Tempelschätze, Seeraub an Schiffen
der eignen Stadt, Konfiskation von Vermögen der eignen Mitbürger waren
alltägliche Finanzmethoden. Waren Überschüsse vorhanden, so wurden
sie an die Bürger verteilt, ein Verfahren, dem z.B. Eubulos in Athen
seinen Ruf verdankte.[659] Es gab weder einen Etat noch etwas wie
Wirtschaftspolitik. Die „Bewirtschaftung“ der römischen Provinzen
war ein öffentlicher und privater Raubbau, der von Senatoren und
Geldleuten betrieben wurde ohne Rücksicht darauf, ob und wie die
abgeführten Werte wieder ergänzt werden konnten. Der antike Mensch hat
nie an eine planmäßige Steigerung des Wirtschaftslebens gedacht, nur
an das augenblickliche Ergebnis, das erreichbare Quantum von barem
Geld. Ohne das alte Ägypten wäre das kaiserliche Rom verloren gewesen:
hier lag zum Glück eine Zivilisation, die seit einem Jahrtausend
an +nichts+ gedacht hatte als an die Organisation ihrer
Wirtschaft. Der Römer verstand weder diesen Lebensstil noch konnte er
ihn nachahmen,[660] aber der Zufall, daß hier eine unerschöpfliche
Quelle von Geld für den floß, welcher die politische Macht über diese
Fellachenwelt besaß, hat die Erhebung der Proskriptionen zu einer
+Sitte+ unnötig gemacht. Die letzte dieser Finanzoperationen
in Gestalt einer Schlächterei war die vom Jahre 43,[661] kurze Zeit
vor der Einverleibung Ägyptens. Die Goldmasse, welche Brutus und
Cassius damals aus Asien heranführten und die ein Heer und damit
die Weltherrschaft bedeutete, machte die Ächtung der 2000 reichsten
Bewohner Italiens nötig, deren Köpfe um der ausgesetzten Belohnung
willen in Säcken auf das Forum geschleppt wurden. Man war nicht mehr in
der Lage, die eignen Verwandten, Kinder und Greise, Leute, die sich nie
mit Politik befaßt hatten, zu schonen, wenn sie einen Schatz an barem
Gelde besaßen. Das Ergebnis wäre zu gering geworden.

Aber mit dem Hinschwinden des antiken Weltgefühls in der frühen
Kaiserzeit erlischt auch diese Art des Denkens in Geld. +Die
Geldmünzen werden wieder zu Gütern+, weil der Mensch wieder
bäuerlich lebt,[662] und so erklärt sich das ungeheure Abströmen des
Goldes seit Hadrian in den fernen Osten, für das man bis jetzt keine
Erklärung fand. Das Wirtschaftsleben in Gestalt eines Goldstroms war
unter dem Heraufdringen einer jungen Kultur erloschen und deshalb hat
auch der Sklave aufgehört, Geld zu sein. Dem Abfluß des Goldes geht
jene massenhafte Freilassung der Sklaven zur Seite, die durch keins der
zahlreichen kaiserlichen Gesetze seit Augustus aufzuhalten war, und
unter Diokletian, dessen berühmter Maximaltarif sich überhaupt nicht
mehr auf eine Geldwirtschaft bezieht, sondern +eine Tauschordnung
für Güter+ darstellt, ist der Typus des antiken Sklaven nicht mehr
vorhanden.


    [587] _Political discourses_, 1752.

    [588] Der berühmte „_Inquiry_“, 1776.

    [589] Die gelehrte Auffassung war allgemein, daß die
    wirtschaftlichen Folgen der Mobilmachung den Abbruch des Krieges in
    einigen Wochen erzwingen würden.

    [590] S. 95.

    [591] S. 1 ff. 413.

    [592] S. 404 ff.

    [593] S. 105. 141 ff.

    [594] S. 6.

    [595] S. 422.

    [596] „_Negotium_ (damit ist jede Art von Erwerbstätigkeit gemeint;
    das Geschäft heißt _commercium_) _negat otium neque quaerit veram
    quietem, quae est deus_“, heißt es im Decretum Gratiani (vgl. S.
    91).

    [597] Die Frage des Pilatus stellt auch das Verhältnis von
    Wirtschaft und Wissenschaft fest. Der religiöse Mensch wird
    vergebens, den Katechismus in der Hand, das Treiben seiner
    politischen Umwelt zu bessern suchen. Sie geht ruhig ihres Weges
    und überläßt ihn seinen Gedanken. Der Heilige hat nur die Wahl,
    sich anzupassen -- dann wird er Kirchenpolitiker und gewissenlos
    -- oder sich aus der Welt zu flüchten, in die Einsiedelei, selbst
    ins Jenseits. Aber dasselbe wiederholt sich, nicht ohne Komik,
    innerhalb der städtischen Geistigkeit. Hier möchte der Philosoph,
    der ein ethisch-soziales System errichtet hat, das voll von
    abstrakter Tugend ist und allein richtig, wie sich versteht, das
    Wirtschaftsleben darüber aufklären, wie es sich zu verhalten und
    wohin es zu streben habe. Es ist immer das gleiche Schauspiel,
    sei das System liberal, anarchistisch oder sozialistisch und
    stamme es von Platon, Proudhon oder Marx. Aber auch die Wirtschaft
    geht unbekümmert weiter und überläßt dem Denker die Wahl, sich
    zurückzuziehen und seinen Jammer über diese Welt auf dem Papier
    auszuströmen, oder in sie als Wirtschaftspolitiker einzutreten, wo
    er sich entweder lächerlich macht oder alsbald seine Theorie zum
    Teufel schickt, um sich einen führenden Platz zu erkämpfen.

    [598] S. 1 ff.

    [599] S. 7.

    [600] Es ist mit den Wanderscharen von Jägern und Viehzüchtern
    ganz ebenso, aber die wirtschaftliche Grundlage der hohen Kulturen
    bildet immer eine Menschenart, die fest am Boden haftet und die
    höheren Wirtschaftsformen ernährt und trägt.

    [601] S. 408.

    [602] Undershaft in Shaws „Major Barbara“ ist eine echte
    Herrschergestalt in diesem Reiche.

    [603] S. 426. Als Mittel von Regierungen heißt sie
    +Finanzwirtschaft+. Die ganze Nation ist hier Objekt einer
    Tributerhebung in Gestalt von Steuern und Zöllen, deren Verwendung
    nicht etwa ihre Lebenshaltung bequemer gestalten, sondern ihre
    geschichtliche Lage sichern und ihre Macht erhöhen soll.

    [604] Im weitesten Sinne, wozu auch der Aufstieg von Arbeitern,
    Journalisten, Gelehrten zu einer führenden Stellung gehört.

    [605] S. 408.

    [606] S. 38.

    [607] S. 206. 344.

    [608] Einschließlich der Ärzte, die in Urzeiten von Priestern und
    Zauberern nicht zu trennen sind.

    [609] Hirten, Fischer und Jäger gehören dazu. Außerdem besteht
    eine seltsame und sehr tiefe Beziehung zum Bergbau, wie die
    Verwandtschaft der alten Sagen und Bräuche lehrt. Die Metalle
    werden dem Schacht nicht anders abgelockt wie das Korn der Erde und
    das Wild dem Forst. Aber für den Bergmann sind die Metalle auch
    etwas, das +lebt+ und +wächst+.

    [610] Von der urzeitlichen Seefahrt bis zum weltstädtischen
    Börsengeschäft. Aller Verkehr auf Flüssen, Straßen, Bahnen gehört
    dazu.

    [611] S. 431. Auch die Maschinenindustrie gehört hierher mit dem
    rein abendländischen Typus des Erfinders und Ingenieurs, und
    praktisch ein großer Teil der modernen Landwirtschaft, z. B. in
    Amerika.

    [612] Auch heute noch wird die Hütten- und Metallindustrie
    als irgendwie vornehmer empfunden wie etwa die chemische und
    elektrische. Sie hat den ältesten Adel der Technik und ein Rest von
    kultischem Geheimnis liegt über ihr.

    [613] Bis zur Hörigkeit und Sklaverei, obwohl gerade die
    Sklaverei sehr oft, z.B. im heutigen Orient und in Rom bei den
    _vernae_, wirtschaftlich nichts als eine Form des aufgezwungenen
    Arbeitsvertrages ist und abgesehen davon kaum fühlbar wird. Der
    freie Angestellte lebt oft in viel härterer Abhängigkeit und
    geringerer Achtung, und das formelle Kündigungsrecht ist in vielen
    Fällen praktisch ganz bedeutungslos.

    [614] S. 69.

    [615] Wir kennen es aus den ägyptischen und gotischen Anfängen
    genau, in China und der Antike in großen Zügen; und was die
    +wirtschaftliche Pseudomorphose+ der arabischen Kultur betrifft
    (S. 227 ff. 432), so erfolgt seit Hadrian ein innerer Abbau
    der hochzivilisierten antiken Geldwirtschaft bis zu einem
    frühzeitlichen Güterumlauf, der unter Diokletian erreicht ist,
    worauf im Osten der eigentlich magische Anstieg sichtbar wird.

    [616] S. 425.

    [617] Weder die Kupferstücke der italischen Villanovagräber
    aus frühhomerischer Zeit (Willers, Geschichte der römischen
    Kupferprägung, S. 18) noch die frühchinesischen Bronzemünzen in
    Gestalt von Frauengewändern (_pu_), Beilen, Ringen oder Messern
    (_tsien_, Conrady, China, S. 504) sind Geld, sondern deutlich genug
    als Symbole von Gütern bezeichnet; und auch die Münzen, welche die
    Regierungen der frühgotischen Zeit in Nachahmung der Antike als
    Hoheitszeichen schlagen ließen, treten in das Wirtschaftsleben nur
    als Güter ein: ein Stück Gold ist soviel wert wie eine Kuh, nicht
    umgekehrt.

    [618] Deshalb geht er so oft nicht aus dem fest in sich
    geschlossenen Landleben hervor, sondern erscheint in ihm als
    Fremder, gleichgültig und voraussetzungslos. Das ist die Rolle
    der Phöniker in der frühesten Antike, der Römer im Osten zur Zeit
    des Mithridates, der Juden und daneben der Byzantiner, Perser,
    Armenier im gotischen Abendland, der Araber im Sudan, der Inder in
    Ostafrika, der Westeuropäer im heutigen Rußland.

    [619] Und deshalb in sehr geringem Umfange. Weil der Fremdhandel
    damals abenteuerlich ist und die Phantasie beschäftigt, pflegt man
    ihn maßlos zu überschätzen. Die „großen“ Kaufherren Venedigs und
    der Hansa waren um 1300 den angeseheneren Handwerksmeistern kaum
    ebenbürtig. Die Umsätze selbst der Medici und Fugger entsprachen um
    1400 etwa denen eines Ladengeschäfts in einer heutigen Kleinstadt.
    Die größten Handelsschiffe, an denen in der Regel eine Gruppe
    von Kaufleuten beteiligt war, standen hinter den Flußkähnen
    der Gegenwart weit zurück und machten jährlich vielleicht
    +eine+ größere Fahrt. Die berühmte englische Wollausfuhr, ein
    Hauptgegenstand des hansischen Handels, umfaßte um 1270 jährlich
    kaum die Ladung von zwei heutigen Güterzügen (Sombart, Der moderne
    Kapitalismus I, S. 280 ff.).

    [620] S. 107.

    [621] Zum folgenden vgl. Bd. I, Kap. I.

    [622] Mark und Dollar sind so wenig „Geld“ wie Meter und Gramm
    Kräfte sind. +Geldstücke+ sind Sachwerte. Nur weil wir die antike
    Physik nicht kannten, haben wir Gravitation und Gewichtsstück nicht
    verwechselt, wie wir es auf Grund der antiken Mathematik mit Zahl
    und Größe und infolge der Nachahmung antiker Münzen mit Geld und
    Geldstück getan haben und noch tun.

    [623] Deshalb könnte man umgekehrt das metrische (cm-g) System
    eine Währung nennen, und in der Tat gehen sämtliche Geldmaße von
    physikalischen Gewichtsätzen aus.

    [624] Ebenso sind alle Werttheorien, obwohl sie objektiv sein
    sollen, aus einem subjektiven Prinzip entwickelt, und es kann auch
    gar nicht anders sein. Die von Marx z. B. definiert „den“ Wert so,
    wie es das Interesse des Handarbeiters fordert, so daß die Leistung
    des Erfinders und Organisators als wertlos erscheint. Aber es wäre
    verfehlt, sie als falsch zu bezeichnen. All diese Lehren sind
    richtig für ihre Anhänger und falsch für ihre Gegner, und ob man
    Anhänger oder Gegner +wird+, entscheiden nicht die Gründe, sondern
    das Leben.

    [625] Jene in sehr bescheidenem Maße seit Ende des 18. Jahrh. durch
    die Bank von England eingeführt, diese zur Zeit der kämpfenden
    Staaten.

    [626] Die „Höhe“ des Vermögens, was man mit dem „Umfang“ eines
    Güterbesitzes vergleiche.

    [627] Bis zu den modernen Piraten des Geldmarktes, welche die
    Vermittlung vermitteln und mit der Ware „Geld“ ein Glücksspiel
    treiben, wie es Zola in seinem berühmten Roman beschrieben hat.

    [628] Preisigke, Girowesen im griechischen Ägypten (1910); die
    damaligen Verkehrsformen standen schon unter der 18. Dynastie auf
    gleicher Höhe.

    [629] Es steht mit dem bürgerlichen Ideal der Freiheit nicht
    anders. In der Theorie und also auch in Verfassungen mag man
    +grundsätzlich+ frei sein. Im wirklichen Privatleben der Städte ist
    man unabhängig nur durch das Geld.

    [630] Die man auch in den übrigen Kulturen Börsenplätze nennen
    kann, wenn man unter Börse das +Denkorgan+ einer vollendeten
    Geldwirtschaft versteht.

    [631] Vorwort zu „Major Barbara“.

    [632] S. 425.

    [633] Der „Farmer“ ist der Mensch, den nur noch eine +praktische+
    Beziehung mit einem Stück Land verbindet.

    [634] Die zunehmende Intensität dieses Denkens erscheint im
    Wirtschaftsbilde +als Wachstum der vorhandenen Geldmasse+, die als
    etwas ganz abstraktes und eingebildetes mit dem sichtbaren Vorrat
    von Gold als einer Ware gar nichts zu tun hat. Die „Versteifung
    des Geldmarkts“ z. B. ist ein rein geistiger Vorgang, der sich
    in den Köpfen einer ganz kleinen Zahl von Menschen abspielt. Die
    steigende Energie des Gelddenkens erweckt deshalb in allen Kulturen
    das Gefühl, daß der „Geldwert sinkt“, in gewaltigem Maße z. B. von
    Solon bis Alexander, nämlich im Verhältnis zur Rechnungseinheit.
    In Wirklichkeit sind die geschäftlichen Werteinheiten etwas
    künstliches geworden und mit den erlebten Urwerten der bäuerlichen
    Wirtschaft gar nicht mehr vergleichbar. Es ist zuletzt
    gleichgültig, mit was für Zahlen beim attischen Bundesschatz auf
    Delos (454), bei den karthagischen Friedensschlüssen (241, 201)
    und dann bei der Beute des Pompejus (64) gerechnet wird und ob wir
    in einigen Jahrzehnten von den um 1850 noch unbekannten und uns
    heute ganz geläufigen Milliarden zu Billionen übergehen werden.
    Es fehlt an jedem Maßstab, um etwa den Wert eines Talents in den
    Jahren 430 und 30 zu vergleichen, denn das Gold wie das Vieh und
    Getreide haben nicht nur ihren Ziffernwert, sondern auch ihre
    Bedeutung innerhalb der vorschreitenden Stadtwirtschaft fortgesetzt
    verändert. Es bleibt nur die Tatsache, daß die Geldmenge,
    welche mit dem Bestand an Wertzeichen und Zahlungsmitteln nicht
    verwechselt werden darf, ein _alter ego_ des Denkens ist.

    [635] Zum folgenden vgl. Bd. I, Kap. I.

    [636] Friedländer, Rom. Sittengesch. IV (1921), S. 301.

    [637] Sallust, Catilina 35, 3.

    [638] S. 574.

    [639] Wie schwer es dem antiken Menschen war, sich den Umsatz einer
    körperlich nicht allseitig abgegrenzten Sache wie Grund und Boden
    in körperliches Geld vorzustellen, zeigen die Steinpfähle (ὅροι)
    auf griechischen Grundstücken, welche die Hypothek +darstellen+
    sollten, und der römische Kauf _per aes et libram_, wobei gegen
    eine Münze eine Erdscholle vor Zeugen überreicht wurde. Einen
    wirklichen Güterhandel hat es infolgedessen nie gegeben, und
    ebensowenig etwas wie Tagespreise für Ackerland. Ein regelmäßiges
    Verhältnis zwischen Bodenwert und Geldwert ist im antiken Denken
    ebenso unmöglich wie ein solches zwischen Kunstwert und Geldwert.
    Geistige, also unkörperliche Erzeugnisse wie Dramen oder Fresken
    besaßen wirtschaftlich überhaupt keinen Wert. Über den antiken
    Rechtsbegriff der Sache vgl. S. 96.

    [640] Schon zur Zeit des Augustus kann von den antiken Kunstwerken
    aus Edelmetall und Bronze nicht viel übrig gewesen sein. Selbst der
    gebildete Athener dachte viel zu unhistorisch, um eine Statue aus
    Gold und Elfenbein nur deshalb zu schonen, weil sie von Phidias
    war. Man erinnere sich, daß an dessen berühmter Athenefigur
    die Goldteile abnehmbar angefertigt waren und von Zeit zu Zeit
    nachgewogen wurden. Die wirtschaftliche Verwendung war also von
    vornherein ins Auge gefaßt.

    [641] Ges. Schriften IV, 200 ff.

    [642] S. 69.

    [643] Der Glaube, daß die Sklaven selbst in Athen oder Ägina
    jemals auch nur ein Drittel der Bevölkerung ausgemacht hätten, ist
    vollkommen sinnlos. Die Revolutionen seit 400 (S. 506) setzen im
    Gegenteil eine gewaltige Überzahl der freien Armen voraus.

    [644] S. 601.

    [645] Das ist der Gegensatz zur Negersklaverei unserer Barockzeit,
    die eine +Vorstufe der Maschinenindustrie+ darstellt: eine
    Organisation von „lebendiger“ Energie, bei welcher man vom
    Menschen endlich zur Kohle überging, und das erste erst dann als
    unmoralisch empfand, als das zweite eingebürgert war. Von dieser
    Seite betrachtet bedeutet der Sieg des Nordens im amerikanischen
    Bürgerkrieg (1865) den wirtschaftlichen Sieg der konzentrierten
    Energie der Kohle über die einfache Energie der Muskeln.

    [646] S. 460 f. Die Verwandtschaft mit der ägyptischen Verwaltung
    des Alten Reiches und der chinesischen der frühesten Dschouzeit ist
    unverkennbar.

    [647] S. 461. Die _clerici_ in diesen Rechnungskammern sind das
    Urbild der modernen Bankbeamten.

    [648] Hampe, Deutsche Kaisergeschichte, S. 246. Leonardo Pisano,
    dessen Liber Abaci (1202) für das kaufmännische Rechnen weit über
    die Renaissance hinaus maßgebend war, und der außer dem arabischen
    Ziffernsystem auch die negativen Zahlen als Debitum eingeführt hat,
    wurde von dem großen Hohenstaufen gefördert.

    [649] S. 89.

    [650] Sombart, Der moderne Kapitalismus II, S. 119.

    [651] Eng verwandt mit unserm Bilde vom Wesen der Elektrizität
    ist der Vorgang des Clearing, bei dem der positive oder negative
    Geldstand mehrerer Firmen (Spannungszentren) untereinander durch
    einen reinen Denkakt ausgeglichen und der wahre Stand durch eine
    Buchung versinnbildlicht wird. Vgl. Bd. I, Kap. VI.

    [652] Bd. I, Kap. I.

    [653] S. 98.

    [654] Der Kredit eines Landes beruht in unsrer Kultur auf seiner
    wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und deren politischer
    Organisation, welche den Finanzoperationen und Buchungen den
    Charakter wirklicher Geldschöpfungen gibt, und nicht auf einer
    irgendwo eingelagerten Goldmenge. Erst der antikisierende
    Aberglaube erhebt die Goldreserve zum wirklichen Kreditmesser, weil
    ihre Höhe nun nicht mehr vom Wollen, sondern vom Können abhängt.
    Die umlaufenden Münzen aber sind eine +Ware+, die im Verhältnis zum
    Landeskredit einen Kurs besitzt -- je schlechter der Kredit, desto
    höher steht das Gold, bis zu dem Punkte, wo es unbezahlbar wird und
    aus dem Verkehr verschwindet, so daß man es nur noch gegen +andere+
    Waren erhalten kann; das Gold wird also wie jede Ware an der
    buchmäßigen Rechnungseinheit gemessen, nicht umgekehrt, wie es das
    Wort Goldwährung andeutet -- und bei kleinen Zahlungen als Mittel
    dient, wie gelegentlich die Briefmarke auch. In Ägypten, dessen
    Gelddenken dem abendländischen erstaunlich ähnlich ist, hat es auch
    im Neuen Reiche nichts der Münze irgendwie ähnliches gegeben. Die
    schriftliche Überweisung genügte vollkommen, und von 650 an bis zur
    Hellenisierung durch die Gründung von Alexandria wurden die ins
    Land kommenden antiken Münzen in der Regel zerhackt und als Ware
    nach Gewicht verrechnet.

    [655] Und für unser Sachenrecht also bis jetzt nicht vorhanden.

    [656] Gesetzt den Fall, daß Arbeiter die Führung der Werke
    übernähmen, so würde damit nichts geändert. Entweder sie können
    nichts: dann geht alles zugrunde; oder sie können etwas: dann
    werden sie innerlich selbst Unternehmer und denken nur noch an die
    Behauptung ihrer Macht. Keine Theorie schafft diese Tatsache aus
    der Welt; so +ist+ das Leben.

    [657] Erst seit 1770 also werden die Banken als Kreditmittelpunkte
    eine wirtschaftliche Macht, die auf dem Wiener Kongreß zum
    erstenmal in die Politik eingreift. Bis dahin besorgte der Bankier
    vorwiegend Wechselgeschäfte. Die chinesischen und selbst die
    ägyptischen Banken haben eine andere Bedeutung, und die antiken
    Banken auch im cäsarischen Rom sollte man besser +Kassen+ nennen.
    Sie sammelten Steuererträge in Bargeld ein und liehen Bargeld gegen
    Wiedererstattung aus; so werden die Tempel mit ihrem Metallvorrat
    an Weihgeschenken zu „Banken“. Der Tempel von Delos lieh
    jahrhundertelang zu 10% aus.

    [658] Der Begriff der Firma war schon in spätgotischer Zeit als
    ratio oder negotiatio ausgebildet und läßt sich durch kein Wort
    einer antiken Sprache wiedergeben. Negotium bezeichnet für den
    Römer einen konkreten Vorgang („ein Geschäft machen“, nicht
    „haben“).

    [659] Pöhlmann, Griech. Gesch. (1914), S. 216 f.

    [660] Gercke-Norden, Einl. in die Altertumswiss. III, S. 291.

    [661] Kromayer in Hartmanns Röm. Gesch. S. 150.

    [662] Die Juden dieser Zeit waren die Römer (S. 392). Dagegen
    sind die Juden damals Bauern, Handwerker, kleine Gewerbetreibende
    (Parván, Die Nationalität der Kaufleute im römischen Kaiserreich,
    1909; ebenso Mommsen, Röm. Gesch. V, S. 471), d.h. sie üben
    die Berufe aus, welche in gotischer Zeit das +Objekt+ ihrer
    Handelsgeschäfte geworden waren. In derselben Lage befinden
    sich heute „Europa“ gegenüber die Russen, deren ganz mystisches
    Innenleben das Denken in Geld +als Sünde+ empfindet. (Der Pilger
    in Gorkis Nachtasyl und die ganze Gedankenwelt Tolstois [S.
    234. 340].) Hier liegen heute wie in Syrien zur Zeit Jesu zwei
    Wirtschaftswelten übereinander (S. 231 ff.), eine obere, fremde,
    zivilisierte, die von Westen eingedrungen ist und zu der als
    Hefe der ganz abendländische und unrussische Bolschewismus der
    ersten Jahre gehört, und eine stadtlose, nur unter Gütern lebende
    in der Tiefe, die nicht rechnet, sondern ihren unmittelbaren
    Bedarf eintauschen möchte. Man muß die Schlagworte der Oberfläche
    als eine Stimme auffassen, aus welcher der ganz mit seiner
    Seele beschäftigte einfache Russe den Willen Gottes heraushört.
    Der Marxismus unter Russen beruht auf einem inbrünstigen
    Mißverständnis. Man hat das höhere Wirtschaftsleben des Petrinismus
    ertragen, aber weder geschaffen noch anerkannt. Der Russe bekämpft
    das Kapital nicht, sondern er +begreift+ es nicht. Wer Dostojewski
    zu lesen versteht, wird hier eine junge Menschheit ahnen, für
    die es +noch gar kein Geld gibt+, nur Güter in bezug auf ein
    Leben, dessen Gewicht +nicht+ auf der Wirtschaftsseite liegt.
    Die „Angst vor dem Mehrwert“, die vor dem Kriege manchen bis zum
    Selbstmord getrieben hat, ist eine unverstandene literarische
    Verkleidung der Tatsache, daß der Gelderwerb durch Geld für das
    stadtlose Güterdenken ein Frevel ist, aus der werdenden russischen
    Religion heraus gedacht eine +Sünde+. So wie heute die Städte
    des Zarentums verfallen und der Mensch in ihnen wieder wie im
    Dorfe lebt, unter der Kruste des städtisch denkenden, rasch
    hinschwindenden Bolschewismus, so hat er sich von der westlichen
    Wirtschaft befreit. Der apokalyptische Haß -- der auch das einfache
    Judentum zur Zeit Jesu gegen Rom beherrschte -- richtete sich
    nicht nur gegen Petersburg als Stadt, als Sitz einer politischen
    Macht westlichen Stils, sondern auch als Mitte eines Denkens in
    westlichem Geld, was das ganze Leben vergiftet und in eine falsche
    Bahn gelenkt hat. Das Russentum der Tiefe läßt heute eine noch
    priesterlose, auf dem +Johannesevangelium+ aufgebaute dritte Art
    des Christentums entstehen, die der magischen unendlich viel näher
    steht als der faustischen, die deshalb auf einer neuen Symbolik der
    +Taufe+ beruht und, weit entfernt von Rom und Wittenberg, in einer
    Vorahnung künftiger Kreuzzüge über Byzanz hinweg nach Jerusalem
    blickt. Damit +allein+ beschäftigt, wird es sich die Wirtschaft
    des Westens wieder gefallen lassen, wie der Urchrist die römische,
    der gotische Christ die jüdische, aber es beteiligt sich innerlich
    nicht mehr an ihr. (Hierzu S. 231 ff. 277. 340. 360. 363).




DIE MASCHINE


6

Die Technik ist so alt wie das frei im Raum bewegliche Leben überhaupt.
Nur die Pflanze ist, so wie wir die Natur sehen, der bloße Schauplatz
technischer Vorgänge. Das Tier hat, da es sich bewegt, auch eine
Technik der Bewegung, um sich zu erhalten und zu wehren.

Die ursprüngliche Beziehung zwischen einem wachen Mikrokosmos
und seinem Makrokosmos -- der „+Natur+“ -- besteht in einem
Abtasten durch die Sinne,[663] das sich vom bloßen +Eindruck+
der Sinne zum +Urteil+ der Sinne erhebt, und damit schon
kritisch („scheidend“) oder was dasselbe ist, +kausal zerlegend+
wirkt.[664] Das Festgestellte wird zu einem möglichst vollständigen
System ursprünglichster Erfahrungen -- „Kennzeichen“ -- ergänzt,[665]
eine unwillkürliche Methode, durch die man sich in seiner Welt zu
Hause fühlt, die bei vielen Tieren zu einer erstaunlichen Fülle von
Erfahrungen geführt hat und über die kein menschliches Naturwissen
hinausführt. Aber ursprüngliches Wachsein ist immer +tätiges+
Wachsein, fernab von aller bloßen „Theorie“, und so ist es die kleine
Technik des Alltags, an welcher diese Erfahrungen ohne Absicht erworben
werden, und zwar an Dingen, +insofern sie tot sind+.[666] Es ist
der Unterschied von Kultus und Mythus,[667], denn auf dieser Stufe
gibt es keine Grenze zwischen Religion und Profanem. Alles Wachsein
+ist+ Religion.

Die entscheidende Wendung in der Geschichte des höheren Lebens erfolgt,
wenn das Fest-stellen der Natur -- um sich danach zu richten -- in
ein Fest-machen übergeht, durch das sie +absichtlich verändert+
wird. Damit wird die Technik gewissermaßen souverän, und die triebhafte
Urerfahrung geht in ein +Urwissen+ über, dessen man sich deutlich
„bewußt“ ist. Das Denken hat sich vom Empfinden emanzipiert. Erst
die +Wortsprache+ hat diese Epoche heraufgeführt. Durch die
Ablösung der Sprache vom Sprechen[668] ist für die Mitteilungssprachen
ein Schatz von Zeichen entstanden, die mehr sind als Kennzeichen,
nämlich mit einem Bedeutungsgefühl verbundene +Namen+, mit
denen der Mensch das Geheimnis der Numina, seien es Gottheiten oder
Naturkräfte, in seiner Gewalt hat, und +Zahlen+ (Formeln, Gesetze
einfachster Art), durch welche die innere Form des Wirklichen vom
Zufällig-Sinnlichen abgezogen wird.[669]

Damit entsteht aus dem System von Kennzeichen eine Theorie, ein
+Bild+, das sich auf den Höhen zivilisierter Technik ebenso wie
in ihren primitiven Anfängen aus der Technik des Tages +ablöst+,
als ein Stück untätigen Wachseins, nicht umgekehrt sie hervorgebracht
hat.[670] Man „weiß“, was man will, aber es muß vieles geschehen
sein, um das Wissen zu haben und man täusche sich nicht über den
Charakter dieses „Wissens“. Durch die zahlenmäßige Erfahrung kann der
Mensch mit dem Geheimnis schalten, aber er hat es nicht enthüllt.
Das Bild des modernen Zauberers: eine Schalttafel mit ihren Hebeln
und Bezeichnungen, an welcher der Arbeiter durch einen Fingerdruck
gewaltige Wirkungen ins Dasein ruft, ohne von ihrem Wesen eine Ahnung
zu haben, ist das Symbol der menschlichen Technik überhaupt. Das
Bild der Lichtwelt um uns, so wie wir es kritisch, zerlegend, als
Theorie, als Bild entwickelt haben, ist nichts als eine solche Tafel,
auf der gewisse Dinge so bezeichnet sind, daß auf eine Berührung hin
gewisse Wirkungen mit Sicherheit erfolgen. Das Geheimnis bleibt nicht
weniger drückend.[671] Aber durch diese Technik greift das Wachsein
doch gewaltsam in die Tatsachenwelt; das Leben +bedient+ sich
des Denkens wie eines Zauberschlüssels, und auf der Höhe mancher
Zivilisation, in deren großen Städten, erscheint endlich der
Augenblick, wo technische Kritik es müde ist, dem Leben zu dienen
und sich zu seinem Tyrannen aufwirft. Eine Orgie dieses entfesselten
Denkens von wahrhaft tragischen Maßen erlebt die abendländische Kultur
eben jetzt.

Man hat den Gang der Natur belauscht und sich Zeichen gemerkt. Man
beginnt sie nachzuahmen durch Mittel und Methoden, welche die Gesetze
kosmischen Taktes sich zu nutze machen. Der Mensch wagt es, die
Gottheit zu spielen und man begreift, daß die frühesten Verfertiger
und Kenner dieser künstlichen Dinge -- denn hier ist +Kunst als
Gegenbegriff von Natur+ entstanden --, vor allem die Hüter der
Schmiedekunst von den andern als etwas ganz Seltsames betrachtet, scheu
verehrt oder verabscheut wurden. Es gab einen immer wachsenden Schatz
solcher Erfindungen, die oft gemacht, wieder vergessen, nachgeahmt,
gemieden, verbessert wurden und die endlich doch für ganze Erdteile
einen Bestand von +selbstverständlichen+ Mitteln ergaben, Feuer,
Metallbehandlung, Werkzeuge, Waffen, Pflug und Boot, Hausbau, Tierzucht
und Getreidesaat. Vor allem sind es die Metalle, an deren Ort ein
unheimlich mystischer Zug den primitiven Menschen lockt. Uralte
Handelsbahnen ziehen sich nach geheim gehaltenen Erzlagern durch das
Leben des besiedelten Landes und über durchruderte Meere hin, auf
denen dann später Kulte und Ornamente wandern; sagenhafte Namen wie
Zinninseln und Goldland haften in der Phantasie. Der Urhandel ist
Metallhandel: so dringt in die erzeugende und verarbeitende Wirtschaft
eine dritte, fremde und abenteuerliche, frei durch die Länder
schweifende ein.

Auf dieser Grundlage erhebt sich nun die Technik der hohen Kulturen,
in deren Rang, Farbe und Leidenschaft sich die ganze Seele dieser
großen Wesen ausspricht. Es versteht sich fast von selbst, daß der
antike Mensch, euklidisch wie er sich in seiner Umwelt fühlt, schon
dem Gedanken der Technik feindselig gegenübersteht. Meint man mit
antiker Technik etwas, das sich mit entschiedenem Streben über die
allverbreiteten Fertigkeiten der mykenischen Zeit erhebt, so gibt es
keine antike Technik.[672] Diese Trieren sind vergrößerte Ruderboote,
die Katapulte und Onager ersetzen Arme und Fäuste und können sich
mit den assyrischen und chinesischen Kriegsmaschinen nicht messen,
und was Heron und andere seines Schlages betrifft, so sind Einfälle
keine Erfindungen. Es fehlt das innere Gewicht, das Schicksalvolle
des Augenblicks, die tiefe Notwendigkeit. Man spielt hier und da mit
Kenntnissen -- warum auch nicht --, die wohl aus dem Osten stammten,
aber niemand achtet darauf und niemand denkt vor allem daran, sie
ernstlich in die Lebensgestaltung einzuführen.

Etwas ganz anderes ist die faustische Technik, die mit dem vollen
Pathos der dritten Dimension und zwar von den frühesten Tagen der Gotik
an auf die Natur eindringt, um sie zu +beherrschen+. Hier und nur hier
ist die Verbindung von Einsicht und Verwertung selbstverständlich.[673]
Die Theorie ist von Anfang an +Arbeitshypothese+.[674] Der antike
Grübler „schaut“ wie die Gottheit des Aristoteles, der arabische sucht
als Alchymist nach dem Zaubermittel, dem Stein der Weisen, mit dem
man die Schätze der Natur +mühelos+ in seinen Besitz bringt,[675] der
abendländische will die Welt nach seinem Willen +lenken+.

Der faustische Erfinder und Entdecker ist etwas Einziges. Die Urgewalt
seines Wollens, die Leuchtkraft seiner Visionen, die stählerne Energie
seines praktischen Nachdenkens müssen jedem, der aus fremden Kulturen
herüberblickt, unheimlich und unverständlich sein, aber sie liegen
uns allen im Blute. Unsre ganze Kultur hat eine Entdeckerseele.
Ent-decken, das was man +nicht+ sieht, in die Lichtwelt des
inneren Auges ziehen, um sich seiner zu bemächtigen, das war vom
ersten Tage an ihre hartnäckigste Leidenschaft. Alle ihre großen
Erfindungen sind in der Tiefe langsam gereift, durch vorwegnehmende
Geister verkündigt und versucht worden, um mit der Notwendigkeit eines
Schicksals endlich hervorzubrechen. Sie waren alle schon dem seligen
Grübeln frühgotischer Mönche ganz nahegerückt.[676] Wenn irgendwo,
so offenbart sich hier der religiöse Ursprung alles technischen
Denkens.[677] Diese inbrünstigen Erfinder in ihren Klosterzellen, die
unter Beten und Fasten Gott sein Geheimnis +abrangen+, empfanden
das als einen Gottesdienst. Hier ist die Gestalt Fausts entstanden,
das große Sinnbild einer echten Erfinderkultur. Die _scientia
+experimentalis+_, wie zuerst Roger Bacon die Naturforschung
definiert hatte, die +gewaltsame+ Befragung der Natur mit Hebeln
und Schrauben beginnt, was als Ergebnis in den mit Fabrikschloten und
Fördertürmen übersäten Ebenen der Gegenwart vor unsern Augen liegt.
Aber für sie alle bestand auch die eigentlich faustische Gefahr,
daß der Teufel seine Hand im Spiele hatte,[678] um sie im Geist auf
jenen Berg zu führen, wo er ihnen alle Macht der Erde versprach. Das
bedeutet der Traum jener seltsamen Dominikaner wie Petrus Peregrinus
vom _perpetuum mobile_, mit dem Gott seine Allmacht entrissen
gewesen wäre. Sie erlagen diesem Ehrgeiz immer wieder; sie zwangen der
Gottheit ihr Geheimnis ab, um selber Gott zu sein. Sie belauschten die
Gesetze des kosmischen Taktes, um sie zu vergewaltigen, und sie schufen
so die +Idee der Maschine+ als eines kleinen Kosmos, der nur noch
dem Willen des Menschen gehorcht. Aber damit überschritten sie jene
feine Grenze, wo für die anbetende Frömmigkeit der andern die Sünde
begann, und daran gingen sie zugrunde, von Bacon bis Giordano Bruno.
Die Maschine ist des Teufels: so hat der echte Glaube immer wieder
empfunden.

Eine Leidenschaft im Erfinden zeigt schon die gotische Architektur
-- die man mit der gewollten Formenarmut der dorischen vergleiche
-- und unsre gesamte Musik. Es erscheinen der Buchdruck und die
Fernwaffe.[679] Auf Kolumbus und Kopernikus folgen das Fernrohr, das
Mikroskop, die chemischen Elemente und endlich die ungeheure Summe der
technischen Verfahren des frühen Barock.

Dann aber folgt zugleich mit dem Rationalismus die Erfindung der
+Dampfmaschine+, die alles umstürzt und das Wirtschaftsbild von
Grund aus verwandelt. Bis dahin hatte die Natur Dienste geleistet,
jetzt wird sie +als Sklavin+ ins Joch gespannt und ihre Arbeit
wie zum Hohn nach Pferdekräften bemessen. Man ging von der Muskelkraft
des Negers, die in organisierten Betrieben angesetzt wurde, zu den
organischen Reserven der Erdrinde über, wo die Lebenskraft von
Jahrtausenden als Kohle aufgespeichert liegt, und richtet heute
den Blick auf die anorganische Natur, deren Wasserkräfte schon zur
Unterstützung der Kohle herangezogen sind. Mit den Millionen und
Milliarden Pferdekräften steigt die Bevölkerungszahl in einem Grade,
wie keine andre Kultur es je für möglich gehalten hätte. Dieses
Wachstum ist ein +Produkt der Maschine+, die bedient und gelenkt
sein will und dafür die Kräfte jedes Einzelnen verhundertfacht. Um der
Maschine willen wird das Menschenleben kostbar. +Arbeit+ wird das
große Wort des ethischen Nachdenkens. Es verliert im 18. Jahrhundert in
allen Sprachen seine geringschätzige Bedeutung. Die Maschine arbeitet
und zwingt den Menschen zur Mitarbeit. Die ganze Kultur ist in einen
Grad von Tätigkeit geraten, unter dem die Erde bebt.

Was sich nun im Laufe kaum eines Jahrhunderts entfaltet, ist ein
Schauspiel von solcher Größe, daß den Menschen einer künftigen Kultur
mit andrer Seele und andern Leidenschaften das Gefühl überkommen muß,
als sei damals die Natur ins Wanken geraten. Auch sonst ist die Politik
über Städte und Völker hinweggeschritten; menschliche Wirtschaft
hat tief in die Schicksale der Tier- und Pflanzenwelt eingegriffen,
aber das rührt nur an das Leben und verwischt sich wieder. Diese
Technik aber wird die Spur ihrer Tage hinterlassen, wenn alles andere
verschollen und versunken ist. Diese faustische Leidenschaft hat das
Bild der Erdoberfläche verändert.

Es ist das hinaus- und hinaufdrängende und eben deshalb der Gotik tief
verwandte Lebensgefühl, wie es in der Kindheit der Dampfmaschine durch
die Monologe des Goetheschen Faust zum Ausdruck gelangte. Die trunkene
Seele will Raum und Zeit überfliegen. Eine unnennbare Sehnsucht
lockt in grenzenlose Fernen. Man möchte sich von der Erde lösen, im
Unendlichen aufgehen, die Bande des Körpers verlassen und im Weltraum
unter Sternen kreisen. Was am Anfang die glühend hinaufschwebende
Inbrunst des heiligen Bernhard suchte, was Grünewald und Rembrandt
in ihren Hintergründen und Beethoven in den erdfernen Klängen seiner
letzten Quartette ersannen, das kehrt nun wieder in dem durchgeistigten
Rausch dieser dichten Folge von Erfindungen. Deshalb entsteht dieser
phantastische Verkehr, der Erdteile in wenigen Tagen kreuzt, der
mit schwimmenden Städten über Ozeane setzt, Gebirge durchbohrt, in
unterirdischen Labyrinthen rast, von der alten, in ihren Möglichkeiten
längst erschöpften Dampfmaschine zur Gaskraftmaschine übergeht und
von Straßen und Schienen sich endlich zum Flug in die Lüfte erhebt;
deshalb wird das gesprochene Wort in einem Augenblick über alle Meere
gesandt; deshalb bricht dieser Ehrgeiz der Rekorde und Dimensionen
hervor, die Riesenhallen für Riesenmaschinen, ungeheure Schiffe und
Brückenspannungen, wahnwitzige Bauten bis in die Wolken hinauf,
fabelhafte Kräfte, die auf einen Punkt zusammengedrängt sind und dort
der Hand eines Kindes gehorchen, stampfende, zitternde, dröhnende Werke
aus Stahl und Glas, in denen sich der winzige Mensch als unumschränkter
Herr bewegt und endlich die Natur unter sich fühlt.

Und diese Maschinen werden in ihrer Gestalt immer mehr entmenschlicht,
immer asketischer, mystischer, esoterischer. Sie umspinnen die Erde
mit einem unendlichen Gewebe feiner Kräfte, Ströme und Spannungen.
Ihr Körper wird immer geistiger, immer verschwiegener. Diese Räder,
Walzen und Hebel reden nicht mehr. Alles was entscheidend ist, zieht
sich ins Innere zurück. Man hat die Maschine als teuflisch empfunden,
und mit Recht. Sie bedeutet in den Augen eines Gläubigen die Absetzung
Gottes. Sie liefert die heilige Kausalität dem Menschen aus und sie
wird schweigend, unwiderstehlich, mit einer Art von vorausschauender
Allwissenheit von ihm in Bewegung gesetzt.


7

Niemals hat sich ein Mikrokosmos dem Makrokosmos überlegener gefühlt.
Hier gibt es kleine Lebewesen, die durch ihre geistige Kraft das
Unlebendige von sich abhängig gemacht haben. Nichts scheint diesem
Triumph zu gleichen, der nur +einer+ Kultur geglückt ist und
vielleicht nur für eine kleine Zahl von Jahrhunderten.

Aber gerade damit ist der faustische Mensch +zum Sklaven seiner
Schöpfung+ geworden. Seine Zahl und die Anlage seiner Lebenshaltung
werden durch die Maschine auf eine Bahn gedrängt, auf der es keinen
Stillstand und keinen Schritt rückwärts gibt. Der Bauer, der
Handwerker, selbst der Kaufmann erscheinen plötzlich unwesentlich
gegenüber den drei Gestalten, +welche sich die Maschine auf dem Weg
ihrer Entwicklung herangezüchtet hat: dem Unternehmer, dem Ingenieur,
dem Fabrikarbeiter+. Aus einem ganz kleinen Zweige des Handwerks,
der verarbeitenden Wirtschaft, ist +in dieser einen Kultur und
keiner andern+ der mächtige Baum aufgewachsen, welcher über alle
sonstigen Berufe seinen Schatten wirft: +Die Wirtschaftswelt der
Maschinenindustrie+.[680] Sie zwingt den Unternehmer wie den
Fabrikarbeiter zum Gehorsam. +Beide+ sind Sklaven, nicht Herren
der Maschine, die ihre teuflische geheime Macht erst jetzt entfaltet.
Aber wenn die sozialistische Theorie der Gegenwart nur die Leistung des
letzten hat sehen wollen und für sie allein das Wort Arbeit in Anspruch
nahm, so ist diese doch nur durch die souveräne und entscheidende
Leistung des ersten möglich. Das berühmte Wort von dem starken Arm,
der alle Räder stillstehen läßt, ist falsch gedacht. Anhalten -- ja,
aber dazu braucht man nicht Arbeiter zu sein. In Bewegung halten --
nein. Der Organisator und Verwalter bildet den Mittelpunkt in diesem
künstlichen und komplizierten Reich der Maschine. Der Gedanke hält es
zusammen, nicht die Hand. Aber gerade deshalb ist +eine+ Gestalt
noch wichtiger, um diesen stets gefährdeten Bau zu erhalten, als die
ganze Energie unternehmender Herrenmenschen, die Städte aus dem Boden
wachsen lassen und das Bild der Landschaft verändern, eine Gestalt, die
man im politischen Streit zu vergessen pflegt: der +Ingenieur+,
der wissende Priester der Maschine. Nicht nur die Höhe, das
+Dasein+ der Industrie hängt vom Dasein von hunderttausend
begabten, streng geschulten Köpfen ab, welche die Technik beherrschen
und immer weiter entwickeln. Der Ingenieur ist in aller Stille ihr
eigentlicher Herr und ihr Schicksal. Sein Denken ist als Möglichkeit,
was die Maschine als Wirklichkeit ist. Man hat, ganz materialistisch,
die Erschöpfung der Kohlenlager gefürchtet. Aber solange es technische
Pfadfinder von Rang gibt, gibt es keine Gefahren dieser Art. Erst wenn
der Nachwuchs dieser Armee ausbleibt, deren Gedankenarbeit mit der
Arbeit der Maschine eine innere Einheit bildet, muß die Industrie trotz
Unternehmertum und Arbeiterschaft erlöschen. Gesetzt den Fall, daß
das Heil der Seele den Begabtesten künftiger Generationen näher liegt
als alle Macht in dieser Welt, daß unter dem Eindruck der Metaphysik
und Mystik, die heute den Rationalismus ablösen, das wachsende Gefühl
für den +Satanismus+ der Maschine gerade die Auslese des Geistes
ergreift, auf die es ankommt -- es ist der Schritt von Roger Bacon
zu Bernhard von Clairvaux --, so wird nichts das Ende dieses großen
Schauspiels aufhalten, das ein Spiel der Geister ist, bei dem die Hände
nur helfen dürfen.

Die abendländische Industrie hat die alten Handelsbahnen der übrigen
Kulturen verlagert. Die Ströme des Wirtschaftslebens bewegen sich
nach den Sitzen der „Königin Kohle“ und den großen Rohstoffgebieten
hin; die Natur wird erschöpft, der Erdball dem faustischen Denken
in Energien geopfert. Die +arbeitende+ Erde ist der faustische
Aspekt; in ihrem Anblick stirbt der Faust des zweiten Teils, in
dem die unternehmende Arbeit ihre höchste Verklärung erfahren hat.
Nichts ist dem ruhend gesättigten Sein der antiken Kaiserzeit mehr
entgegengesetzt. Der Ingenieur ist es, der dem römischen Rechtsdenken
am fernsten steht, und er wird es durchsetzen, daß +seine+
Wirtschaft ihr eignes Recht erhält, in dem Kräfte und Leistungen die
Stelle von Person und Sache einnehmen.


8

Aber ebenso titanisch ist nun der Ansturm des Geldes auf diese geistige
Macht. Auch die Industrie ist noch erdverbunden wie das Bauerntum.
Sie hat ihren Standort und ihre dem Boden entströmenden Quellen der
Stoffe. Nur die Hochfinanz ist +ganz+ frei, ganz ungreifbar. Die
Banken und damit die Börsen haben sich seit 1789 am Kreditbedürfnis
der ins Ungeheure wachsenden Industrie zur eigenen Macht entwickelt
und sie wollen, wie das Geld in +allen+ Zivilisationen, die
+einzige+ Macht sein. Das uralte Ringen zwischen erzeugender und
erobernder Wirtschaft erhebt sich zu einem schweigenden Riesenkampf der
Geister, der auf dem Boden der Weltstädte ausgefochten wird. Es ist der
Verzweiflungskampf des technischen Denkens um seine Freiheit gegenüber
dem Denken in Geld.[681]

Die Diktatur des Geldes schreitet vor und nähert sich einem natürlichen
Höhepunkt, in der faustischen wie in jeder andern Zivilisation. Und nun
geschieht etwas, das nur begreifen kann, wer in das Wesen des Geldes
eingedrungen ist. Wäre es etwas Greifbares, so wäre sein Dasein ewig;
da es eine Form des Denkens ist, +so erlischt es, sobald es die
Wirtschaftswelt zu Ende gedacht hat+, und zwar aus Mangel an Stoff.
Es drang in das Leben des bäuerlichen Landes ein und setzte den Boden
in Bewegung; es hat jede Art von Handwerk geschäftlich umgedacht; es
dringt heute siegreich auf die Industrie ein, um die erzeugende Arbeit
von Unternehmern, Ingenieuren und Ausführenden gleichmäßig zu seiner
Beute zu machen. Die Maschine mit ihrer menschlichen Gefolgschaft, die
eigentliche Herrin des Jahrhunderts, ist in Gefahr, einer stärkeren
Macht zu verfallen. Aber damit steht das Geld am Ende seiner Erfolge,
und der letzte Kampf beginnt, in welchem die Zivilisation ihre
abschließende Form erhält: der zwischen +Geld und Blut+.

Die Heraufkunft des Cäsarismus bricht die Diktatur des Geldes und
ihrer politischen Waffe, der Demokratie. Nach einem langen Triumph der
weltstädtischen Wirtschaft und ihrer Interessen über die politische
Gestaltungskraft erweist sich die politische Seite des Lebens doch
als stärker. Das Schwert siegt über das Geld, der Herrenwille
unterwirft sich wieder den Willen zur Beute. Nennt man jene Mächte
des Geldes Kapitalismus[682], und Sozialismus den Willen, über alle
Klasseninteressen hinaus eine mächtige politisch-wirtschaftliche
Ordnung ins Leben zu rufen, ein System der +vornehmen+ Sorge und
Pflicht, die das Ganze für den Entscheidungskampf der Geschichte in
fester Form hält, so ist das.zugleich ein Ringen zwischen +Geld und
Recht+.[683] Die +privaten+ Mächte der Wirtschaft wollen freie
Bahn für ihre Eroberung großer Vermögen. Keine Gesetzgebung soll ihnen
im Wege stehen. Sie wollen die Gesetze machen, in ihrem Interesse,
und sie bedienen sich dazu ihres selbstgeschaffenen Werkzeugs,
der Demokratie, der bezahlten Partei. Das Recht bedarf, um diesen
Ansturm abzuwehren, einer vornehmen Tradition, des Ehrgeizes starker
Geschlechter, der nicht im Anhäufen von Reichtümern, sondern in den
Aufgaben echten Herrschertums jenseits aller Geldvorteile Befriedigung
findet. +Eine Macht läßt sich nur durch eine andere stürzen+,
nicht durch ein Prinzip, und es gibt dem Geld gegenüber keine andere.
Das Geld wird nur vom Blut überwältigt und aufgehoben. Das +Leben+
ist das erste und letzte, das kosmische Dahinströmen in mikrokosmischer
Form. Es ist +die+ Tatsache innerhalb der Welt als Geschichte. Vor
dem unwiderstehlichen Takt der Geschlechterfolgen schwindet zuletzt
alles hin, was das Wachsein in seinen Geisteswelten aufgebaut hat.
Es handelt sich in der Geschichte um das Leben und immer nur um das
Leben, die Rasse, den Triumph des Willens zur Macht, und nicht um den
Sieg von Wahrheiten, Erfindungen oder Geld. +Die Weltgeschichte ist
das Weltgericht+: Sie hat immer dem stärkeren, volleren, seiner
selbst gewisseren Leben Recht gegeben, Recht nämlich auf das Dasein,
gleichviel ob es vor dem Wachsein recht war, und sie hat immer die
Wahrheit und Gerechtigkeit der Macht, der Rasse geopfert und die
Menschen und Völker zum Tode verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger
war als Taten, und Gerechtigkeit wesentlicher als Macht. So schließt
das Schauspiel einer hohen Kultur, diese ganze wundervolle Welt von
Gottheiten, Künsten, Gedanken, Schlachten, Städten wieder mit den
Urtatsachen des ewigen Blutes, das mit den ewig kreisenden kosmischen
Fluten ein und dasselbe ist. Das helle, gestaltenreiche Wachsein
taucht wieder in den schweigenden Dienst des Daseins hinab, wie es die
chinesische und römische Kaiserzeit lehren; die Zeit siegt über den
Raum, und die Zeit ist es, deren unerbittlicher Gang den flüchtigen
Zufall Kultur auf diesem Planeten in den Zufall Mensch einbettet, eine
Form, in welcher der Zufall Leben eine Zeitlang dahinströmt, während in
der Lichtwelt unserer Augen sich dahinter die strömenden Horizonte der
Erdgeschichte und Sternengeschichte auftun.

Für uns aber, die ein Schicksal in diese Kultur und diesen Augenblick
ihres Werdens gestellt hat, in welchem das Geld seine letzten Siege
feiert und sein Erbe, der Cäsarismus, leise und unaufhaltsam naht, ist
damit in einem eng umschriebenen Kreise die Richtung des Wollens und
Müssens gegeben, ohne das es sich nicht zu leben lohnt. Wir haben nicht
die Freiheit, dies oder jenes zu erreichen, aber die, das Notwendige
zu tun oder nichts. Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der
Geschichte gestellt hat, +wird+ gelöst, mit dem einzelnen oder
gegen ihn.

+Ducunt fata volentem, nolentem trahunt.+


+Ende.+


    [663] S. 7.

    [664] S. 11 f.

    [665] S. 28.

    [666] S. 27.

    [667] S. 327.

    [668] S. 160.

    [669] S. 27 ff. 326 ff.

    [670] S. 329.

    [671] Die „Richtigkeit“ physikalischer Kenntnisse, d. h. ihre bis
    zum Augenblick durch keine Erscheinung widerlegte Anwendbarkeit
    +als „Deutung“+, ist ganz unabhängig von ihrem technischen Werte.
    Eine sicherlich falsche und in sich widerspruchsvolle Theorie kann
    für die Praxis wertvoller sein als eine „richtige“ und tiefe, und
    die Physik hütet sich längst, die Worte falsch und richtig im
    populären Sinne überhaupt auf ihre Bilder statt auf die bloßen
    Formeln anzuwenden.

    [672] Was Diels, „Antike Technik“, zusammengetragen hat, ist ein
    umfangreiches Nichts. Zieht man ab, was noch der babylonischen
    Zivilisation angehört wie die Sonnen- und Wasseruhren, oder schon
    der arabischen Frühzeit wie die Chemie und die Wunderuhr von
    Gaza, oder was in jeder andren Kultur durch seine bloße Anführung
    beleidigen würde wie die Arten der Türverschlüsse, so bleibt kein
    Rest.

    [673] Die chinesische Kultur hat fast alle abendländischen
    Erfindungen auch gemacht -- darunter Kompaß, Fernrohr, Buchdruck,
    Schießpulver, Papier, Porzellan -- aber der Chinese schmeichelt der
    Natur etwas ab, er vergewaltigt sie nicht. Er empfindet wohl den
    Vorteil seines Wissens und macht Gebrauch davon, aber er stürzt
    sich nicht darauf, um es auszubeuten.

    [674] S. 370.

    [675] Es ist derselbe Geist, der den Geschäftsbegriff der Juden,
    Parsen, Armenier, Griechen, Araber von dem der abendländischen
    Völker unterscheidet.

    [676] S. 370. Albertus Magnus lebte in der Sage als der große
    Zauberer fort. Roger Bacon hat über Dampfmaschine, Dampfschiff und
    Flugzeug nachgedacht. (F. Strunz, Die Gesch. der Naturwiss. im
    Mittelalter [1910], S. 88.)

    [677] S. 327.

    [678] S. 354.

    [679] Das griechische Feuer will nur erschrecken und zünden; hier
    aber wird die Spannkraft der Explosionsgase in Bewegungsenergie
    umgesetzt. Wer das ernsthaft vergleicht, der versteht den Geist
    abendländischer Technik nicht.

    [680] Marx hat ganz recht: es ist eine und zwar die stolzeste
    Schöpfung des +Bürgertums+, aber er, der ganz im Banne des Schemas
    Altertum -- Mittelalter -- Neuzeit denkt, hat nicht bemerkt, daß
    es nur das Bürgertum einer einzigen Kultur ist, von dem +das
    Schicksal der Maschine abhängt+. Solange es die Erde beherrscht,
    versucht jeder Nichteuropäer das Geheimnis dieser furchtbaren
    Waffe zu ergründen, aber innerlich lehnt er sie trotzdem ab, der
    Japaner und Inder wie der Russe und Araber. Es ist tief im Wesen
    der magischen Seele begründet, daß der Jude als Unternehmer und
    Ingenieur der eigentlichen Schöpfung von Maschinen aus dem Wege
    geht und sich auf die geschäftliche Seite ihrer Herstellung legt.
    Aber ebenso blickt der Russe mit Furcht und Haß auf diese Tyrannei
    der Räder, Drähte und Schienen, und wenn er sich heute und morgen
    auch der Notwendigkeit fügt, so wird er einst +das alles aus seiner
    Erinnerung und seiner Umgebung streichen+ und eine ganz andere Welt
    um sich errichten, in der es nichts von dieser teuflischen Technik
    mehr gibt.

    [681] Dies gewaltige Ringen einer sehr kleinen Zahl stahlharter
    Rassemenschen von ungeheurem Verstand, wovon der einfache
    Städter weder etwas sieht noch versteht, läßt, von fern
    betrachtet, welthistorisch also, den bloßen Interessenkampf
    zwischen Unternehmertum und Arbeitersozialismus zur flachen
    Bedeutungslosigkeit herabsinken. Die Arbeiterbewegung ist, was
    ihre Führer aus ihr +machen+, und der Haß gegen die Inhaber der
    industriellen Führerarbeit hat sie längst in den Dienst der Börse
    gestellt. Der praktische Kommunismus mit seinem „Klassenkampf“,
    einer heute längst veralteten und unecht gewordnen Phrase, ist
    nichts als ein zuverlässiger Diener des Großkapitals, das ihn wohl
    zu benützen weiß.

    [682] Zu dem die Interessenpolitik der Arbeiterparteien auch
    gehört, denn sie wollen die Geldwerte nicht überwinden, sondern
    besitzen.

    [683] S. 427.




OSWALD SPENGLER

Der Untergang des Abendlandes

Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte

Erster Band: Gestalt und Wirklichkeit

=33.–42.= Auflage (Endgültige Fassung) erscheint Ende 1922

An dem Grundgedanken des ersten Bandes hat der Verfasser in der Ausgabe
endgültiger Fassung nichts geändert. Nur die gesamte Darstellung
ist straffer geworden, die Formenwelt anderer Kulturen, z. B. der
chinesischen, sowie neue wertvolle Tatsachen zur Stütze seiner These
vom „Untergang des Abendlandes“ sind vom Verfasser hineingearbeitet.

„Das Spengler’sche Buch ist kein zufälliges Buch. Es ist selbst das
Schicksalsbuch unseres ganzen Zeitalters. Wir werden uns immer mit
ihm auseinanderzusetzen haben, ob wir nun seine Schlußfolgerungen
anerkennen, oder ob wir sie bestreiten. Und wir werden es nicht wie mit
einem Buche tun, das auch ungeschrieben hätte bleiben können, sondern
wie mit einem Ereignis, das wir nicht zu umgehen vermögen. So sehr ist
es die Erfüllung jenes Versprechens, das der zweite Unzeitgemäße gab,
als er die Geschichte auf ihren Nutzen und ihren Nachteil untersuchte:
nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.“
+Moeller van den Bruck+ (Deutsche Rundschau).


Preußentum und Sozialismus

=56.–65.= Tausend. 96 Seiten gr. 8ᵒ.

Geheftet M 80.--, auf holzfreiem Papier in Pappbd. M 150.--

Der Inhalt dieser Schrift gehört in das Gedankengefüge des zweiten
Bandes. Der Verfasser hatte ihn Ende 1919 erweitert als Broschüre
veröffentlicht. Erst im Zusammenhang des Ganzen wird die Tragweite der
Ideen Spenglers in dieser Schrift in größerem Maße sichtbar. Er hat im
zweiten Bande auch selbst wiederholt auf „Preußentum und Sozialismus“
hingewiesen.

„Auf dies neueste Buch Spenglers möchte ich hinweisen, da ich es für
›aktueller‹ halte als die Enthüllungen, Prozesse, Steuerprojekte
alle, die uns sonst beschäftigen müssen. Sie sind Papier, dies Buch
ist Leben. Denn Spengler weist einen Weg aus der Wirrnis, die uns
umdornt, den Weg, auf dem die stärksten Mächte unseres Volkstums,
Preußentum und Sozialismus, sich finden könnten.“ +Fritz Endres+
(München-Augsburger Abendzeitung). -- „Preußentum und Sozialismus ist
ein eminent +geschichtliches+ Buch; es ist mehr als Betrachtung.
Auf einem großen und kühnen Durchblick durch die Geschichte beruhend,
wirkt es als Aufruf, willensvoll und leidenschaftlich, ein politisches
Buch von schwer übersehbarer Tragweite.“ +Gerhard Günther+
(Hochschule).


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_


Der Streit um Spengler

Kritik seiner Kritiker

Von =Manfred Schröter=

VIII, 168 Seiten. M 250.--. Soeben erschienen.

EIN DOKUMENT UNSERER ZEIT

Der Ertrag des erbitterten Streites um Spenglers I. Band, der eine Flut
von Presseartikeln, Vorträgen, Aufsätzen, Gegenschriften hervorgerufen
hat, wie sie in Deutschland seit langem nicht mehr beobachtet ist, wird
hier von MANFRED SCHRÖTER, einem Freunde und Jünger WILH. DILTHEYS,
in die Scheuer gebracht. Ohne Rücksicht auf SPENGLER oder auf Rang
und Namen seiner Kritiker, in schönem inneren Gleichgewicht, hat er
freimütig und völlig unabhängig, oft nicht ohne einen gütigen Humor
das kritische Geschäft vollendet und uns ein Buch geschenkt, das Rang
und Dauerwert hat, ein geistesgeschichtliches, wissenschaftskritisches
und kulturphilosophisches Dokument, das die letzten philosophischen
und metaphysischen Grundlagen und Tendenzen Spenglers aufdeckt.
Das meisterhaft und fesselnd geschriebene Buch ist zugleich EIN
ZUVERLÄSSIGES KOMPENDIUM DER SPENGLERLITERATUR.


Oswald Spengler und das Christentum

+Zwei kritische Aufsätze.+ Von =D. Karl Heim= und =D. Rich.
H. Grützmacher=. M. 70.--

_+Inhalt+: Die religiöse Bedeutung des Schicksalsgedankens bei
Oswald Spengler von KARL HEIM. -- Die christliche Weltanschauung und
die Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers von RICH. H. GRÜTZMACHER._


ERNST DROEM

Gesänge Mit einer Einführung von =OSWALD SPENGLER. 1920=

Ex Tenebris +Gedichte+. 1921

Guter Mond +Gedichte+. 1922.

  Jeder Band gebunden M 180.--

Der Dichter +Droem+ ist im ersten Band von Spenglers „Untergang
des Abendlandes“ wiederholt genannt und stets in Verbindung mit
Dichtern einer späten Großstadtkultur. Die bis jetzt veröffentlichten
drei Bände stellen drei verschiedene Stadien aus dem Schaffen dieses
Dichters dar. „Ex Tenebris“ enthält die Gedichte der Frühzeit, um 1900
entstanden. „Gesänge“ wurde etwa acht Jahre später geschaffen. „Guter
Mond“ bietet die Schöpfungen Droems aus den Jahren 1917-1920 dar.


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_




FORSCHUNGS-INSTITUT FÜR KULTURMORPHOLOGIE

An der Spitze des Instituts stehen LEO FROBENIUS und OSWALD SPENGLER.
Geschaffen ist es in 25jähriger zäher Arbeit von Leo Frobenius und
knüpft seine Arbeit an das beste Gedankengut Goethes und Herders an.
Im unterzeichneten Verlage sind folgende Werke erschienen oder im
Erscheinen:

Erschienen ist +die Einführungsschrift in die Gedankenwelt+ von

LEO FROBENIUS

Paideuma

Umrisse einer Kultur- und Seelenlehre

VI, 125 Seiten 8ᵒ. M 150.--

„Das Buch gibt eine Fülle wertvoller Anregungen und erschließt ganz
neue Gesichtspunkte für die Geschichte der Menschheitskultur. In gut
gewählten Beispielen läßt uns der Verfasser Einblicke tun in die
reichen Schätze seiner völkerkundlichen Beobachtungen, die er in
langjährigen, mühevollen Forschungen namentlich in Afrika gesammelt
hat. Sie lassen uns mit Spannung seinen weiteren Veröffentlichungen
entgegensehen.“ +Literar. Zentralblatt.+


Ferner erscheint:

Atlas Africanus

Belege zur Morphologie der afrikanischen Kulturen

Herausgegeben von

=LEO FROBENIUS= und =RITTER v. WILM=

Das von Gelehrten wie Ankermann, Meinhoff, Obermayr, Sven v. Hedin,
Stuhlmann, Frhr. v. Nordenskjöld gleich bei seinem Erscheinen begrüßte
Werk erscheint in Lieferungen zu je 5-6 Karten. Es ist ein für die
Arbeiten der Ethnographie, Prähistorie, Kulturgeschichte wichtiges
Unternehmen, da es ganz neue Wege, die Einzelergebnisse dieser
Wissenschaftszweige auszuwerten, einschlägt. Jährlich erscheinen 4
Lieferungen. 2 Lieferungen sind erschienen.

_Ein ausführlicher Prospekt kostenfrei._


Im Lauf des Herbstes 1922 wird erscheinen:

Das unbekannte Afrika

Aufhellung der Kultur eines mystischen Erdteils

185 Tafeln mit 10 Bogen Text in 4ᵒ

„Die Entwicklung der inneren afrikanischen Stämme wird für uns
etwas immer Fremderes und Größeres, je mehr wir sie kennen lernen,“
so schrieb Geh.-Rat E. Troeltsch in einem Aufsatz in Schmollers
Jahrbüchern 1920. Leo Frobenius wird mit diesem Afrikawerk den heute
von den meisten noch geringschätzig und als bloße Kolonialdomäne
behandelten Erdteil in einer Fülle prähistorischer, historischer,
kultur- und kunstwissenschaftlicher Denkmäler und Zeugnisse zeigen,
so daß das Wort von Troeltsch eine von diesem selbst kaum geahnte
Bestätigung finden wird.

_Illustrierte Prospekte bei Erscheinen des Werkes._


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_




Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch

Von =Hermann L. Strack= und =Paul Billerbeck=

Erster Band: Das Evangelium nach Matthäus

Erläutert aus Talmud und Midrasch

VIII, 1055 Seiten Lex. 8ᵒ. Geheftet M 900.--, Ausland: 25 Schweizer
Fr.[*]. Gebunden M 1300.--, Ausland: 30 Schweizer Fr.[*]. In
Halbleder gebunden etwa M 2000.--, Ausland: etwa 40 Schweizer Fr.[*].
Soeben erschienen

Unser Verlag tritt hier mit dem 1. Bande eines monumentalen Werkes
hervor, das mit Unterstützung opferwilliger Freunde in den neutralen
Staaten, in England und den U.S.A. veröffentlicht werden kann. Seit
16 Jahren arbeiten die beiden Herausgeber daran, den gesamten der
Erläuterung des Neuen Testaments dienenden Stoff aus dem Talmud, den
Midraschim, dem Philo und Josephus, den Apokryphen und Pseudepigraphen
zu sammeln und in zuverlässiger Übersetzung bequem zugänglich zu
machen, ein Unternehmen, dem unter den lebenden Semitisten wohl
nur H. L. Strack und P. Billerbeck gewachsen sind. Der Glaube, die
Anschauungen und das Leben der Juden in der Zeit Jesu und der ältesten
Christenheit werden hier objektiv dargelegt.

Das Werk wird in vier Bänden erscheinen, deren I. Band -- das
Matthäus-Evangelium -- jetzt fertig ist. Band II wird Markus, Lukas,
Johannes und die Apostelgeschichte umfassen, Band III die Briefe
und die Offenbarung Johannis, Band IV bringt Abhandlungen zur
neutestamentlichen Theologie und Archäologie. Der II. Band wird noch im
Laufe dieses Sommers zum Druck befördert werden. Der Umfang von Band
II-IV wird etwa je 40 Bogen nicht überschreiten. Ein ausführlicher
Prospekt steht zur Verfügung.


Einleitung in Talmud und Midrasch

Von =DDr. Hermann L. Strack=

5., ganz neu bearbeitete Auflage der Einleitung in den Talmud XII, 233
Seiten gr. 8ᵒ. Geheftet M 84.--, gebunden M 160.--


Das Lebensgefühl des Paulus

Von =D. Otto Schmitz=

ord. Professor der ev. Theologie an der Universität Münster

Geheftet etwa M 200.--. Soeben erschienen

Dieses Buch ist eine Frucht an dem jungen Baume modernster intuitiver
Psychologie. Der Beschauer versenkt sich in ein Seelentum und sucht es
so zentral wie möglich an erfassen. Er will nichts erklären, sondern
die Seele in ihrer Einzigartigkeit schauen und beschreiben. Von hier
aus versteht er dann auch ihre Auswirkungen in der Welt. Unsere
Gebildeten suchen Fühlung mit den großen Heiligen, wie Augustinus,
Franziskus, Ignatius. Paulus ist größer als sie alle. Er war der erste
historisch faßbare Christ von gewaltigstem Ausmaß. Mit ihm in Berührung
zu kommen durch dieses kleine Meisterwerk moderner Seelenkunde,
bedeutet einen Zuwachs an geistiger Kraft.


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_


Das Abendland als weltgeschichtliche Einheit

Von =Friedrich Leonhard Crome=

Geheftet M 200.--, in Pappbd. geb. M. 280.--, in Ganzleinen M 400.--

_+Inhalt+: Die Grundlegung Europas im römischen Kaiserreich --
Entstehung der römisch-germanischen Kulturwelt -- Das abendländische
Universalreich -- Die Bildung der europäischen Nationen -- Der Aufstieg
Europas zum hegemonischen Erdteil -- Europa im Weltstaatensystem -- Das
19. Jahrhundert_

Eine europäische Geschichte im Grundriß und nach ihren treibenden
Kräften und Tendenzen. Fesselnd geschrieben und überaus aufschlußreich
für Historiker, Politiker, Volkswirtschaftler, sowie für alle
gebildeten Männer und Frauen. Das Buch hilft mit am Wiederaufstieg
Deutschlands, indem es aus der Geschichte die Aufgaben zu erkennen
sucht, die unserm Volke zugewiesen sind. Erscheinungen innerhalb dieser
großartigen Gesamtschau, wie Völkerbund, Pazifismus, Sozialismus
erhalten einen tieferen Sinn.


Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen

Von =Theodor Lessing=

3. Auflage. Gebunden M 260.--

_Das Werk wurde mit dem Strindbergpreis „für das freieste Geisteswerk
von europäischer Bedeutung“ ausgezeichnet_

„Ein bedeutendes, tief schürfendes Buch, das auf die Fragen: Was ist
eigentlich Geschichte? Wie kommt Geschichte zustande? Wozu bedarf der
Mensch der Geschichte? vielfach neue und unerwartete Antworten gibt.“
+Psychische Studien.+ -- „Lessings Buch ist ein Buch, das uns vom
Historismus befreien will.... Man muß das Buch als ein in der heutigen
Zeit selten tapferes und selbständiges Werk begrüßen, mit dem es sich
verlohnt, sich auseinanderzusetzen.“ +Walter Koch+ (Sozialistische
Monatshefte).


Psychologie des deutschen Menschen und seiner Kultur

Ein volkscharakterologischer Versuch

Von =Richard Müller-Freienfels=

Gebunden M 220.--

„Ein wundervolles, tiefes und wertvolles Buch ist uns Deutschen hier
gegeben, das nicht +einmal+, sondern wieder und wieder gelesen zu
werden verdient, das man besitzen muß.... Mit reinster objektiver
Wissenschaftlichkeit geht der Verfasser an sein Werk. Wir lesen und
hören von ›Uns‹, wir sehen uns selbst wie in einem Spiegel, der unsere
feinsten, verborgensten Züge aufs klarste zurückwirft.... Es ist eine
hohe Kunst, das spezifische Deutsche in allen Lebensbetätigungen
unseres Volkes, in Religion, Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Politik,
Wirtschaft herauszufühlen, herauszufinden, herauszustellen ...“ Geh.Rat
Dr. +M. Dreßler+ (Karlsruher Zeitung).


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_


    [*] Von der Außenhandelsnebenstelle lt. § 7 der Verkaufsordnung
    für Auslandlieferungen genehmigt. -- Umrechnung in die Währung
    der anderen Länder nach den von der Außenhandelsnebenstelle
    bekanntgegebenen Sätzen.


Schultheß’ Europäischer Geschichtskalender

Erscheint in jährlicher Folge seit 1860


_KRIEGSJAHRGÄNGE_

  _Neue Folge. 30. Jahrgang 1914 (der ganzen Reihe LV. Band).
  Herausgegeben von WILHELM STAHL. In zwei Teilen. XXXII. 1248 S. gr.
  8ᵒ. Geheftet M 700.--_

  _Neue Folge. 31. Jahrgang 1915 (der ganzen Reihe LVI. Band).
  Herausgegeben von ERNST JÄCKH und KARL HÖNN. In zwei Teilen. 1919.
  LVII, 702 S. u. III, 752 S. gr. 8ᵒ. Geheftet M 700.--_

  _Neue Folge. 32. Jahrgang 1916 (der ganzen Reihe LVII. Band).
  Herausgegeben von ERNST JÄCKH und KARL HÖNN. In zwei Teilen. 1921.
  XLVII, 646 S. u. IV, 680 S. gr. 8ᵒ. Geheftet M 700.--_

  _Neue Folge. 33. Jahrgang 1917 (der ganzen Reihe LVIII. Band).
  Herausgegeben von WILHELM STAHL. In zwei Teilen. 1920. XXXVII, 2115
  S. gr. 8ᵒ. Geheftet M 1000.--_

  _Neue Folge. 34. Jahrgang 1918 (der ganzen Reihe LIX. Band).
  Herausgegeben von WILHELM STAHL. In zwei Teilen. Erscheint Ende
  1922_

  _Jahrgang 1919 erscheint 1923. (Sonderprospekt steht zur
  Verfügung.)_

Schultheß’ Europäischer Geschichtskalender, seit 1860 in jährlicher
Folge erscheinend, bietet das ganze Ereignismaterial eines Jahres
in ununterbrochener chronologischer Folge nach Ländern geordnet
dar, so daß die politische Geschichte eines jeden Landes in jedem
Jahre und fast an jedem Tage im Zusammenhang gelesen, verfolgt oder
nachgeschlagen werden kann.

„Für jeden, der sich mit neuester Geschichte beschäftigt, ist
Schultheß’ Kalender ein unentbehrliches Handbuch, ein zuverlässiger,
von keinerlei parteipolitischen Rücksichten beeinflußter Ratgeber. Er
legt ohne parteiische Voreingenommenheit und Zweckfolgerung die für
die geschichtliche Entwicklung entscheidenden Dokumente und Tatsachen
soweit als möglich in lückenloser Folge dar. Auch dieses schlichte
Materialienwerk ist eines von jenen Büchern, auf die wir stolz sein
können und die den Hochstand der deutschen Wissenschaft erweisen.“
+Hamburgischer Correspondent.+


Zum Verständnis der Weltlage

Zugleich eine Auseinandersetzung mit Fr. W. Foerster

Von =Karl von Wachter=, Oberst a. D.

VIII, 324 Seiten

Aus dieser Auseinandersetzung des Obersten von Wachter, eines echten
Militärs und Lutheraners, spürt man in jeder Zeile, wie tief er über
Fr. W. Foersters Schrift „Mein Kampf gegen das militaristische und
nationalistische Deutschland“ empört ist. Er kennt das Politische und
die Kriegsgeschichte der Gegenwart, die zeitgenössische Publizistik,
auch die des Auslandes, und ist ein Mann, dessen Blick von jeder
Verschleierung der harten Tatsachenwelt durch Utopien frei ist. Der
Gedankenstrom des Verfassers reißt den Leser mit sich fort.


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_


Das Ostproblem

Seine Geschichte und Bedeutung

Von =Dr. Walther Harich=

Geheftet etwa M 250.--, gebunden etwa M 280.--

Der deutsche Osten in Gefahr! Aber was ist heute nicht in Gefahr?
Wer kann auf jeden Notschrei hören, der von den Grenzmarken, von dem
versinkenden Deutschland, von dem sterbenden Europa kommt? Zu viel
Gefahren umbranden uns alle. Aber wenn sich zeigen ließe, daß hier
mehr als Gefahr, daß hier auch der Weg zur Rettung ist, daß hier im
deutschen Osten und seinen Nachbarländern, wo der europäische Knoten
so unheilvoll sich schürzte, auch die Stelle ist, ihn aufzulösen?
Nichts weniger als dies will die Schrift des Ostpreußen Walther
Harich aufzeigen, der sich durch eine zweibändige Biographie E. T. A.
Hoffmanns in der Literaturgeschichte bereits einen glänzenden Namen
gemacht hat. Sie packt das Problem Europas im Ostproblem und in seiner
Geschichte. Von vielem wird hier gesprochen: vom Ostseehandel, von
Produktion und Bedürfnis, aber auch von Christus, von Rom und Byzanz.
1000 Jahre östliche Geschichte, die den meisten von uns Deutschen
völlig unbekannt ist, werden hier ausgebreitet und auf das, was sie für
die Gegenwart lehren, befragt. So wie ein lebender Körper jede kleinste
Verletzung am +ganzen+ Leibe spürt, so müßte auch die Wunde, die
der Versailler Friedensvertrag dem deutschen Reichskörper im Osten
zugefügt hat, in allen Seelen des deutschen Volkes brennen und die
Kräfte jedes einzelnen zur Abwehr aufrufen.


Russische Literaturgeschichte

in Einzelporträts

Von =Alexander Eliasberg=

Mit einem Vorwort von +Dmitrij Mereshkowskij+

Mit 16 Bildnissen. Auf holzfreiem Papier und in Leinen gebunden M 480.--

„... In seiner großen Fähigkeit der Zusammenfassung hat Eliasberg nur
die wesentlichsten Erscheinungen, die prominenten Figuren in scharfen
Charakteristiken nebeneinandergestellt: alles, was nur mitfördernd
zwischen den Gewaltigen gewirkt hat, deutet er bloß mit kurzen Strichen
an, so daß wir hier niemals eine langweilige Literaturhistorie
haben, sondern lebendige Lebensbilder, die auf das glücklichste von
ausgezeichneten Porträts der größten russischen Maler begleitet sind.
Zum allerersten Male kann sich der Deutsche hier ein klares Bild der
geistigen Aufeinanderfolge in der russischen Literatur machen und auch
dem Vertrauten wird die ausgezeichnete Analyse, die bibliographischen
Tabellen von ungemeinem Vorteil sein.“ +Stefan Zweig+ (Neues
Wiener Journal).


Deutsche Literaturgeschichte

Von =Alfred Biese=

+Erster Band+: Von den Anfängen bis Herder. +Zweiter Band+:
Von Goethe bis Mörike. +Dritter Band+: Von Hebbel bis zur
Gegenwart. Drei Bände mit vielen Bildnissen. =19.= +Auflage+
(80.–84. Tausend). Jeder Band in Halbleinen gebunden M 560.--. 3 Bände
in Halbfranz gebunden M 2880.--

„Eine so großzügige Darstellung der gesamten deutschen Literatur, so
umsichtig in der Auswahl und modern in der Auffassung, zugleich von so
reifem, sicherem Urteil, so klar in den Umrissen, warm in den Farben
und verständlich in allen Teilen, so aus einem Guß und mit sicherer
Gewalt über die Sprache geschrieben -- ist bisher in dieser Art
schwerlich geboten worden.“ +Konservative Monatsschrift.+ -- „Ein
ganz ausgezeichnetes Buch! erfrischend von der ersten bis zur letzten
Seite, ein Werk von edler und gebildeter Volkstümlichkeit.“ +Neues
Wiener Tagblatt.+


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_


Geschichte der deutschen Literatur

bis zum Ausgang des Mittelalters

Von =G. Ehrismann=

1. Teil: +Die althochdeutsche Literatur.+ Geh. M 420.--, geb. M
600.--

2. Teil: +Die frühmittelhochdeutsche Literatur.+ Geh. M 380.--,
geb. M 500.--. Soeben erschienen

„... So wird das Werk nicht bloß eine grundlegende Geschichte der
althochdeutschen Literatur, sondern geradezu eine Darstellung
nationaler Kulturentwicklung deutscher Frühzeit. Sein Wert für uns
Lehrer liegt nicht nur in der gelehrten Gründlichkeit, sondern auch in
der ehrfürchtigen Liebe des Verfassers zur deutschen Vergangenheit, die
wir in dem ganzen umfangreichen Werke überall verspüren.“ +Bayerische
Zeitschrift für Realschulwesen.+


Deutsche Sprichwörterkunde

Von =Friedrich Seiler=

Geheftet M 420.--, gebunden M 580.--

„Der gelehrte Verfasser des vorliegenden Buches trachtet in seinem
großen Werk danach, das Wachstum unserer Stoffsammlungen durch
alle Jahrhunderte zu verfolgen und strebt nach einer erschöpfenden
Bibliographie nach Art von Goedekes Grundriß. Er bemüht sich
erfolgreich, dem wichtigen Forschungsgebiet, dem er dient, sein
früheres Anrecht auf die Schule wieder zu erobern. Das tut er, indem
er den Hauptteil seines Buches auf Wesen und Wert des Sprichworts
verwendet, mit der Nebenabsicht, die tausendfachen Erscheinungsformen
der Sprichwörter zu illustrieren, wo die sprichwörtlichen Redensarten
mit in den Kreis der Betrachtung treten. Eine solche Einführung in
Sinn und Geist, auch in die Form der Sprichwörter weiß er belebend zu
gestalten. Aus liebevoller Vertiefung in den Gegenstand hervorgegangen,
wendet er sich hauptsächlich an alle Lehrer, denen es einleuchtet,
welch reicher Arbeitsstoff für die Schule im Sprichwort liegt.“ Prof.
+Friedrich Kluge+ (Lit. Echo).


Deutsche Altertumskunde

Von =Fr. Kauffmann=

1. Hälfte: +Von der Urzeit bis zur Völkerwanderung.+ Geh. M
480.--, in Leinen geb. M 660.--. 2. Hälfte: +Von der Völkerwanderung
bis zur Karolingerzeit.+ Erscheint Herbst 1922

„Der leitende Gedanke, welcher der Darstellung zugrunde gelegt wurde,
ist eine zusammenhängende belebte Schilderung, die sich durch Form
und Inhalt leicht einprägen läßt, und in reichlichen Anmerkungen die
Literaturzitate und die nötigen Erläuterungen zu geben. Dem Verfasser
ist es vorzüglich gelungen, durch seine von eingehendster Sachkenntnis
und eigner Stellungnahme zeugende Darstellung zu fesseln, und es muß
fast ein Genuß sein, sich durch solche Lektüre auf einen anregenden
Unterricht vorzubereiten.“ +Neue Jahrbücher für das klassische
Altertum.+


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_


Poseidonios

Von =Karl Reinhardt=

Mit einem Bildnis des Poseidonios. Gebunden M 580.--

Dieses Buch ist mehr als die Ausgrabung eines verschollenen Denkers,
dessen Werke, wenn er auch für seine Zeit die Bedeutung eines Leibniz
gehabt hat, für uns bis auf geringe Bruchstücke verloren gegangen sind.
Es gibt die Geschichte der gesamten antiken Wissenschaft um das Jahr
100 v. Chr., denn Poseidonios war ein Denker, der das ganze Wissen
seiner Zeit umfaßt und befruchtend auf Geographie, Physik, Astronomie,
Geschichtsschreibung, Philosophie, Religion gewirkt hat.

„Gewohnt, die Wissenschaft mit wertvollen Funden zu bereichern und auch
bestrebt, die Fachgenossen durch Entdeckungen zu überraschen, alte
Anschauungen zu beseitigen, hat Reinhardt ein Werk geschaffen, dessen
hohe Bedeutung gerade die würdigen müssen, deren Vorstellungen der
Forscher bekämpft und durch ein neues Bild des Poseidonios ersetzen
will.... In blendender Beleuchtung erscheint hier Poseidonios als
der Schöpfer eines umfassenden Systems, dessen Glaubwürdigkeit mit
ebenso scharfer philologischer Methode wie spekulativem Überblick
verfochten wird. In der Tat, wir dürfen in diesem geistvollen und mit
Überzeugungskraft geschriebenen Werke eine nachdrückliche Klärung
des Problems dieser antiken Persönlichkeit sehen und anderseits auch
an dieser Leistung die kraftvolle Anregung zu erneuten Studien über
Poseidonios rühmen.“ Prof. +J. Geffcken+ (Hamburger Fremdenblatt).


Platon

Sein Leben, seine Schriften, seine Lehre

Von =Constantin Ritter=

+Erster Band+: Platons Leben und Persönlichkeit, Philosophie nach
den Schriften der ersten sprachlichen Periode. In Ganzleinen gebunden M
560.--, in Halbpergament gebunden M 960.--

+Zweiter Band+: Platons Philosophie nach den Schriften der zweiten
und dritten Periode. Erscheint Herbst 1922

„Das Buch ist in hervorragender Weise tauglich, allen Gebildeten die
Bekanntschaft mit dem berühmten Philosophen zu vermitteln. Es führt
den Leser tief hinein in die ganze Kulturwelt des Griechentums.
Studierenden der Geschichte der Philosophie muß Ritters Buch von
außerordentlichem Nutzen sein; aber auch der gereifte Mann wird es gern
in seiner Bibliothek wissen.“ +Berner Bund.+


Dante

Seine Zeit, sein Leben, seine Werke

Von =Konrad Falke=

  750 Seiten gr. 8ᵒ. Mit 64 Tafeln Abbildungen
  In Leinen gebunden M 600.--, in Halbpergament gebunden M 1000.--

„Falke will Dante als einen Geist von weltumspannender Größe in den
weitesten Rahmen kulturgeschichtlicher Betrachtung hineinstellen, mit
den Mitteln neuzeitlicher Psychologie sein persönliches Lebensproblem
aufhellen, und die Notwendigkeit seiner Entwicklung aus Gesetzen heraus
erklären, die im Allgemeinmenschlichen wurzeln.... Falke sieht in Dante
den vollkommensten Ausdruck eines tausendjährigen Zeitalters, dessen
Nachwirkung auch unsere Zeit trotz der gewaltigen Fortentwicklung
immer noch verspürt.... Einen sehr willkommenen Schmuck und zugleich
wertvollste Ergänzung des Textes bilden die 64 Tafeln sorgfältig
ausgewählter Abbildungen, die ein ebenso anziehendes wie beredtes
Anschauungsmaterial enthalten.... Wir dürfen Falkes Dante als eine der
inhaltreichsten und schönsten Gaben ansprechen, die das Jubiläumsjahr
des großen Florentiners uns beschert hat.“ +Friedrich Noack+
(Kölnische Zeitung).


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_


Schicksalstage deutscher Dichter

Herausgegeben von =Rudolf Krauß=

_+Inhalt+: Walther v. d. Vogelweide -- Friedrich von Logau -- Wieland
-- Herder -- Schubart -- Goethe -- Matthias Claudius -- Hölderlin --
E.T.A. Hoffmann -- H. v. Kleist -- Ferdinand Raimund -- Ad. Stifter --
Annette v. Droste -- Grabbe -- Georg Büchner -- Gottfried Keller --
Louise von François_

382 Seiten. Gebunden M 350.--. Soeben erschienen

Zur dichterischen, novellistischen Darstellung der „Schicksalstage
deutscher Dichter“ haben sich unter der Führung von +Rudolf Krauß+ eine
Anzahl Autoren zusammengefunden, von denen hier nur +Ottomar Enking+,
+Hermann Hefele+, +Will Vesper+, +Heinrich Lilienfein+, +Kurt Martens+,
+Wilhelm Fischer-Graz+, +Karl Hans Strobl+ genannt seien. Diese
Mitarbeiter haben sich solche Dichter gewählt, mit denen sie innere
Verwandtschaft haben und mit deren Leben sie infolgedessen seit langem
vertraut sind.

Dieser ersten Sammlung von Schicksalstagen deutscher Dichter soll gegen
Ende des Jahres noch eine zweite Sammlung folgen. Wir sind gewiß,
unserem Volke hier ein Novellenbuch von eigenartigem Reiz geboten zu
haben.


Joseph von Eichendorff

Sein Leben und seine Werke

Von =Hans Brandenburg=

In Leinen geb. M 560.--, in Halbfranz geb. M 900.--. Soeben erschienen

Eichendorff ist in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts
wahrhaft volkstümlich geworden. Den zahlreichen Herzensfreunden des
Dichters, evangelischen und katholischen, wird die nähere Kenntnis
dieses Dichterlebens eine Freude sein und ihnen den ganzen Gehalt
seines Schaffens erst erschließen. Der Darstellungskraft Hans
Brandenburgs gelingt es, in anziehenden romantischen Schilderungen das
Geschehen der Zeit vor 100 Jahren, wie es sich im Leben und Schaffen
Eichendorffs spiegelt, darzustellen und entzückende Bilder aus der Zeit
des sterbenden Rokoko und der Biedermeierzeit zu malen.


Mozart

Sein Leben und seine Werke

Von =Ludwig Schiedermair=

Mit Titelbild in Lichtdruck, 22 ganzseitigen Einschaltbildern und 70
Notenbeispielen im Text. In Leinen geb. M 600.--, in Halbfranz geb. M
900.--

Der um Mozart seit langem verdiente Verfasser hat hier das Lebenswerk
des genialen Künstlers nach dem Stande der gegenwärtigen und der
eigenen Forschung zur Darstellung gebracht. Mozarts künstlerische
Gesamterscheinung ist möglichst scharf herausgearbeitet und aus dem
Geiste seiner Zeit begriffen. Klarheit der Darstellung und Anmut
zeichnen diese Mozart-Biographie aus. Eine wertvolle Beigabe ist ein
vollständig chronologisches und systematisches Verzeichnis aller
Kompositionen Mozarts.


Shakespeares Königsdramen

Geschichtliche Einführung

Von =Alfred Steinitzer=

Mit 37 Vollbildern, 5 Kartenskizzen und 14 Stammtafeln

In Halbleinen geb. M 500.--, in Ganzleinen geb. M 550.--. Soeben
erschienen

Das Wort von Gervinus, „man habe sich bei den Königsdramen Shakespeares
durch eine schwierige Materie durchzuarbeiten, die den Flug des
Dichters und unseren Nachschwung zu hemmen scheint, die gleichsam
mit historischen Studien überwunden werden muß“, hat den Herausgeber
veranlaßt, für den Leser der Königsdramen alles, die geschichtlichen
Zusammenhänge betreffende Material bereitzustellen, damit er mit
möglichst geringer Mühe die Schwierigkeiten überwinden kann. Zahlreiche
Stammtafeln und Kartenskizzen erläutern die Ausführungen. Hinzu kommt
eine Anzahl Porträts und eine Reihe von Nachbildungen zeitgenössischer
Miniaturen, die einzelne Szenen, wie z. B. die Erdrosselung Glosters,
darstellen.


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_


Hegels Aesthetik

unter einheitlichem Gesichtspunkte ausgewählt, eingeleitet und mit
verbindendem Text versehen von =Alfred Baeumler=

Gebunden M 220.--.

„Baeumler reiht seine aus dem großen dreibändigen Werke Hegels sorgsam
ausgewählten Stücke sinnvoll aneinander und verbindet sie an vielen
Stellen durch erklärende und überleitende Einschübe so, daß sie ein
neues Ganzes ausmachen. Dieses baut sich in vier Abteilungen auf: Von
der Kunst, Von der Schönheit, Die sinnliche Entfaltung des Ideals,
Die historische Entwicklung des Ideals; mit den Unterabschnitten:
Die symbolische, Die klassische und Die romantische Kunstform. So
erhalten wir einen reinen und großen Ueberblick über die Geschichte
der Menschheit im Spiegel ihrer künstlerischen Entwicklung .... Was
Hegel über die Kunst der orientalischen Völker, über die antike und
die christlich-germanische Kunst im allgemeinen sagt, was er über die
Einzelkünste offenbart, ist unveraltet, ja wird heute erst auf volles
Verständnis und besondere Empfänglichkeit stoßen.“ Prof. +Karl
Berger+ (Hess. Landeszeitung).


Der Kampf um das Christentum

Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in
Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel

Von =Werner Elert=

In Leinen gebunden M 580.--

Eine Geschichte des Geisteskampfes zwischen Kultur und Christentum im
19. und 20. Jahrhundert fehlte bislang. Den meisten unserer Gebildeten
sind die Namen von Geisteskämpfern wie David Friedrich Strauß, Max
Stirner und Ludwig Feuerbach, Friedrich Nietzsche, L. Büchner, Ernst
Haeckel, Albert Kalthoff, A. Drews und C. Jatho bekannt, deren Stellung
innerhalb der gesamten Kampfbeweguug ist jedoch vielen undeutlich. Ohne
Einsicht in die historische Entwicklung des großen Ringens zwischen
Christentum und Kultur ist aber weder dieser Streit noch das religiöse
Problem der Gegenwart zu verstehen. Das Werk Elerts bietet eine
erschöpfende Darstellung der einzelnen Etappen dieses großen Kampfes.
Die große Fülle des Stoffes ist vom Verfasser nahezu dramatisch
komponiert und dargestellt worden. Gerade in der Not der Gegenwart, in
der die Anteilnahme am Religiösen die am Aesthetischen überwächst, wird
dieses Buch sehr bedeutungsvoll werden.


Die Gefühlsgewißheit

Eine erkenntnistheoretische Untersuchung von =Johannes Volkelt=

Geheftet M 160.--, gebunden M 240.--. Soeben erschienen

Die Untersuchungen dieser Schrift bilden eine Ergänzung zu Volkelts
Werke „Gewißheit und Wahrheit“. (587 S. gr. 8ᵒ. Geb. M 520.--.)
Sie betreffen die von der Philosophie der Gegenwart so hoch
geschätzte intuitive Gewißheit. Der Anteil dieser Gefühlsgewißheit
an der wissenschaftlichen Arbeit wird hier abgegrenzt: Die Arten
und Weisen, in denen sich die Gefühlsgewißheit mit Fug und Recht
betätigen darf, werden genau umschrieben und umgrenzt, eine Reihe von
Gefühlsgewißheitstypen ist das Ergebnis.

„Der Leser der Volkelt’schen Schriften wird immer wieder die weise,
besonnene Klarheit aller Ausführungen bewundern, die Durchsichtigkeit
und Folgerichtigkeit des Aufbaues, die geschmeidige Fügsamkeit der
Sprache, die feinste seelische Verwebungen schaubar macht, vor allem
auch die vollendete Beherrschung der Literatur, die sich bis auf die
Jüngsten erstreckt. Ein Buch Volkelts braucht man Fachleuten nicht
zu empfehlen; sie wissen sehr gut, daß sie es lesen müssen, und die
Lektüre sich lohnt.“ +Zeitschrift für Aesthetik.+


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_




Die frohe Botschaft

NACH MARKUS. Leicht geb. M 90.--, auf holzfreiem Papier in vornehmem
Einband M 130.--. / NACH MATTHÄUS. (Soeben erschienen.) Leicht geb. M
100.--, auf holzfreiem Papier in vornehmem Einband M 140.--. NACH LUKAS
und NACH JOHANNES erscheinen im Oktober. Aus der griechischen Urschrift
übertragen von =Roman Woerner=.

Diese Evangelienübertragung in Versreihen ist der erste wohlgeglückte
Versuch, den Evangelientext in seiner ursprünglichen Form wiederzugeben.

„Die Wirkung ist überraschend: in wunderbarer Kraft und Frische,
herrlich wie am ersten Tag treten die alten Geschichten uns entgegen
und halten uns fest. Es ist, wie wenn ein neuer Heliand uns erstände.
Woerners Markusübersetzung wird unserm Luthertext keinen Abbruch
tun. Aber sie wird neben ihm ihre Sendung haben an die Gebildeten
unserer Tage. Das Bändchen ist eine wunderschöne Gabe.“ +Preußische
Kirchenzeitung.+


Laotse · Tao Teh King

+Vom Geist und seiner Tugend.+ Übertragung von =H.
Federmann=. 3. Auflage. Leicht geb. M 90.--, auf holzfreiem Papier
und in Javapapier geb. M 130.--

„Es ist ein Verdienst H. Federmanns, die wundervollen Gedanken Laotsens
in einer zierlichen, kleinen Ausgabe, und, was noch mehr bedeuten
will -- in einer klaren, formvollendeten Übersetzung weiteren Kreisen
erschlossen zu haben ...“ +Münchner Neueste Nachrichten+ (H. Taub).


Buddha · Die Erlösung vom Leiden

+Ausgewählte Reden des Buddha.+ Aus den ältesten Urkunden, dem
Pali-Kanon, übersetzt und geordnet von =Kurt Schmidt=. 2. Auflage.
I. Teil. =Aus dem Leben des Vollendeten.= -- II. Teil. =Der Weg
zur Erlösung.= Leicht geb. je M 80.--, auf holzfreiem Papier und in
Javapapier geb. je M 120.--

„In unserer traurigen, von Unrast und ziellosem Drang verwirrten Zeit
werden diese kleinen Büchelchen Jedem Wegweiser und Trost sein, dessen
Geist Ruhe und Verborgenheit sucht, um zu gesunden.“ +Münchner
Post+ (Fiori).


Die Weisheit der Upanishaden

Aus dem Sanskrit neu übersetzt und erläutert von =Johannes
Hertel=. Zurzeit vergriffen, neue Auflage erscheint Herbst 1922.

„Die Übersetzung verrät den Meister, sie ist flüssig, die Auswahl
ergibt ein Gesamtbild dieser indischen Philosophie, die Einleitung und
die Erklärungen sind knapp und unterrichtend. Der gelehrte Herausgeber
hat sich mit dieser Ausgabe ein Verdienst erworben.“ +Allg. Ev. Luth.
Kirchenzeitung.+


Meister Eckhart · Reden der Unterweisung

Übertragen und eingeleitet von =Joseph Bernhart=. Leicht geb. M
84.--, auf holzfr. Papier u. in Javapapier geb. M 120.--

Reden der Unterweisung -- „das sind die Reden, die Bruder Eckhart mit
solchen geistlichen Kindern pflog, die ihn um viele Dinge fragten,
als sie zu abendlichen Tischgesprächen beieinander saßen“. So lauten
die ersten Zeilen der alten Handschrift. Diese Reden gehören zu den
gesichertsten und schönsten Schriften des Meisters, deren Überlieferung
im allgemeinen so mangelhaft ist. Bernhart hat den Urtext in zartester
Weise in unsere heutige Sprachform umgegossen und in einer Einleitung
dem Leser alles dargeboten, was er braucht, um diese Texte wirklich
auszuschöpfen.


Sämtliche angegebenen Preise freibleibend


_C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München_


C. H. Beck’sche Buchdruckerei in Nördlingen





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER UNTERGANG DES ABENDLANDES, ZWEITER BAND ***


    

Updated editions will replace the previous one—the old editions will
be renamed.

Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
law means that no one owns a United States copyright in these works,
so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
States without permission and without paying copyright
royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
of this license, apply to copying and distributing Project
Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™
concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
and may not be used if you charge for an eBook, except by following
the terms of the trademark license, including paying royalties for use
of the Project Gutenberg trademark. If you do not charge anything for
copies of this eBook, complying with the trademark license is very
easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation
of derivative works, reports, performances and research. Project
Gutenberg eBooks may be modified and printed and given away—you may
do practically ANYTHING in the United States with eBooks not protected
by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the trademark
license, especially commercial redistribution.


START: FULL LICENSE

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE

PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK

To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase “Project
Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full
Project Gutenberg™ License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™
electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg™ electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person
or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B. “Project Gutenberg” is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg™ electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg™ electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg™
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation (“the
Foundation” or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg™ electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg™ mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg™
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg™ name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg™ License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg™ work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country other than the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg™ License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg™ work (any work
on which the phrase “Project Gutenberg” appears, or with which the
phrase “Project Gutenberg” is associated) is accessed, displayed,
performed, viewed, copied or distributed:

    This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
    other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
    whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
    of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
    at www.gutenberg.org. If you
    are not located in the United States, you will have to check the laws
    of the country where you are located before using this eBook.
  
1.E.2. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase “Project
Gutenberg” associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg™
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg™ License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg™
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg™.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg™ License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg™ work in a format
other than “Plain Vanilla ASCII” or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg™ website
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original “Plain
Vanilla ASCII” or other form. Any alternate format must include the
full Project Gutenberg™ License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg™ works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg™ electronic works
provided that:

    • You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
        the use of Project Gutenberg™ works calculated using the method
        you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
        to the owner of the Project Gutenberg™ trademark, but he has
        agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
        within 60 days following each date on which you prepare (or are
        legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
        payments should be clearly marked as such and sent to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
        Section 4, “Information about donations to the Project Gutenberg
        Literary Archive Foundation.”
    
    • You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
        you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
        does not agree to the terms of the full Project Gutenberg™
        License. You must require such a user to return or destroy all
        copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
        all use of and all access to other copies of Project Gutenberg™
        works.
    
    • You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
        any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
        electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
        receipt of the work.
    
    • You comply with all other terms of this agreement for free
        distribution of Project Gutenberg™ works.
    

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg™ electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
the Project Gutenberg™ trademark. Contact the Foundation as set
forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg™ collection. Despite these efforts, Project Gutenberg™
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain “Defects,” such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the “Right
of Replacement or Refund” described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg™ trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg™ electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg™ electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg™
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our website which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org.

This website includes information about Project Gutenberg™,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.