Der Untergang des Abendlandes, Erster Band

By Oswald Spengler

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Title: Der Untergang des Abendlandes, Erster Band

Author: Oswald Spengler

Release date: October 13, 2025 [eBook #77042]

Language: German

Original publication: München: C.H. Beck, 1919


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER UNTERGANG DES ABENDLANDES, ERSTER BAND ***


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                     Anmerkungen zur Transkription

  Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1920 so weit
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                     DER UNTERGANG DES ABENDLANDES

                 ERSTER BAND: GESTALT UND WIRKLICHKEIT




                             DER UNTERGANG
                            DES ABENDLANDES

                       UMRISSE EINER MORPHOLOGIE
                          DER WELTGESCHICHTE

                                  VON

                            OSWALD SPENGLER

                              ERSTER BAND

                       GESTALT UND WIRKLICHKEIT

                     23.-32., UNVERÄNDERTE AUFLAGE
                            37.-50. TAUSEND

                            [Illustration]

                  C. H. BECK’SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
                  OSKAR BECK             MÜNCHEN 1920




        Copr. München 1919. C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung

     Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten




    Wenn im Unendlichen dasselbe
    Sich wiederholend ewig fließt,
    Das tausendfältige Gewölbe
    Sich kräftig ineinander schließt;
    Strömt Lebenslust aus allen Dingen,
    Dem kleinsten wie dem größten Stern,
    Und alles Drängen, alles Ringen
    Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.

                                         +Goethe+




VORWORT


Dies Buch, das Ergebnis dreier Jahre, war in der ersten Niederschrift
vollendet, als der große Krieg ausbrach. Es ist bis zum Frühling
1917 noch einmal durchgearbeitet und in Einzelheiten ergänzt und
verdeutlicht worden. Die außerordentlichen Verhältnisse haben sein
Erscheinen weiterhin verzögert.

Obwohl mit einer allgemeinen Philosophie der Geschichte beschäftigt,
bildet es doch in tieferem Sinne einen Kommentar zu der großen Epoche,
unter deren Vorzeichen die leitenden Ideen sich gestaltet haben.

Der Titel, seit 1912 feststehend, bezeichnet in strengster
Wortbedeutung und im Hinblick auf den Untergang der Antike eine
welthistorische Phase vom Umfang mehrerer Jahrhunderte, in deren Anfang
wir gegenwärtig stehen.

Die Ereignisse haben vieles bestätigt und nichts widerlegt. Es
zeigte sich, daß diese Gedanken eben jetzt und zwar in Deutschland
hervortreten mußten, daß der Krieg selbst aber noch zu den
Voraussetzungen gehörte, unter welchen die letzten Züge des neuen
Weltbildes bestimmt werden konnten.

Denn es handelt sich nach meiner Überzeugung nicht um eine neben
andern mögliche und nur logisch gerechtfertigte, sondern um die,
gewissermaßen natürliche, von allen dunkel vorgefühlte Philosophie
der Zeit. Das darf ohne Anmaßung gesagt werden. Ein Gedanke von
historischer Notwendigkeit, ein Gedanke also, der nicht in eine Epoche
fällt, sondern der Epoche macht, ist nur in beschränktem Sinne das
Eigentum dessen, dem seine Urheberschaft zuteil wird. Er gehört der
ganzen Zeit; er ist im Denken aller unbewußt wirksam und allein die
zufällige private Fassung, ohne die es keine Philosophie gibt, ist mit
ihren Schwächen und Vorzügen das Schicksal -- und das Glück -- eines
Einzelnen.

Ich habe nur den Wunsch beizufügen, daß dies Buch neben den
militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen möge.


München, im Dezember 1917

                                                       Oswald Spengler




INHALT


                                                                   Seite

  Vorwort                                                            VII

  Inhaltsverzeichnis                                                  IX


  Einleitung                                                           1

  Das Thema. Vorausbestimmung der Geschichte. Der historische
  Vergleich. +Morphologie der Weltgeschichte+ -- eine neue
  Philosophie. +Für wen+ gibt es Geschichte? Der antike Mensch
  ahistorisch. Sein Verhältnis zur Chronologie und Astronomie.
  Das Weltbild des indischen und ägyptischen Menschen. Mumie und
  Totenverbrennung als Zeitsymbole. Der westeuropäische Mensch
  extrem historisch veranlagt.

  +Die Form der Weltgeschichte.+ „Altertum-Mittelalter-Neuzeit.“
  Flachheit des Schemas, Mangel an Proportion. Das Linienförmige.
  Herkunft aus dem Orient; Addition einer „Neuzeit“ im Abendlande.
  Zunehmende Zersetzung des Bildes. Westeuropa kein Schwerpunkt.
  Vollkommener Relativismus. Goethes Methode die einzig
  historische. „Weltgeschichte“ als Geschichte einer Gruppe hoher
  Kulturen. Kulturen als Organismen.

  +Das Römertum als Schlüssel zum Verständnis der westeuropäischen
  Zukunft.+ Unser bisheriges Verhältnis zur Antike ideologisch
  oder materialistisch (Nietzsche und Mommsen). Enge +beider+
  Standpunkte. „+Untergang des Abendlandes+“: +Das Problem
  der Zivilisation.+ Zivilisation als das Ende jeder Kultur.
  Griechentum und Römertum: Kultur und Zivilisation. Weltstadt
  und Provinz. Das Imperium Romanum: der normale Endzustand jeder
  Zivilisation. Gegenwart und Imperialismus.

  Notwendigkeit des Grundgedankens. Seine Tragweite. Verhältnis
  zur Philosophie. Inferiorität des heutigen Philosophierens:
  kein lebendiges Verhältnis zur Zeit. Gibt es noch eine echte
  Möglichkeit? Nach der systematischen und der ethischen Periode
  eine letzte, skeptische (historisch-relativistische). Statt des
  Erkenntnis- und des Wertproblems das Formproblem als Schwerpunkt.
  Erweiterung der historischen Morphologie zu einer universellen
  Symbolik.

  Entstehung des Buches. Anlaß. Inhalt. Ordnung.

  Tafeln zur vergleichenden Morphologie der Weltgeschichte            73


  I. Kapitel: Vom Sinn der Zahlen                                     75

  Grundbegriffe. +Richtung und Ausdehnung: chronologische und
  mathematische Zahl.+ Die Zahl als Prinzip der Grenzsetzung.
  Keine „Zahl an sich“. Mehrere Mathematiken. Kants Begriff
  des a priori. Die Form des Erkennens weder konstant noch
  allgemeingültig: eine Funktion der jeweiligen Kultur. Stile
  des Erkennens. Innere Verwandtschaft jeder Mathematik mit der
  Formensprache der gleichzeitigen Künste: euklidische Geometrie
  und Statuenplastik, Analysis und Kontrapunkt.

  +Die antike Zahl als Größe (Maß).+ Körperliche, nicht räumliche
  Ausgedehntheit. Fehlen irrationaler und negativer Zahlen.
  Weltsystem des Aristarch. Mathematik und Religion. Zahl und
  Tod. Diophant und die arabische Zahl (Algebra). Descartes und
  die Analysis des Unendlichen. +Die abendländische Zahl als
  Funktion.+ Die Geschichte der abendländischen Mathematik eine
  fortschreitende Emanzipation vom Größenbegriff. Das Irrationale
  antihellenisch.

  Weltangst und Weltsehnsucht. Ursprung der mathematischen,
  religiösen, künstlerischen Formensprache: Ausdruck der Angst vor
  dem Unbekannten.

  Geometrie und Arithmetik (Messung und Zählung) veraltete Namen.
  +Die Quadratur des Kreises das klassische antike Grenzproblem.+
  Die Mathematik des Kleinen (der antike Staat). Konstruktion und
  Operation. +Das klassische abendländische Grenzproblem: der
  Grenzwert der Infinitesimalrechnung+ (Beziehung zum Barockstil).
  Überschreitung der Grenze des Sehsinnes durch die Analysis. Das
  antike Parallelenaxiom und die nichteuklidischen Geometrien.
  Mehrdimensionale Räume (Punktmannigfaltigkeiten). Letzte
  Fassung des faustischen Zahlendenkens: Transformations- und
  Invariantenlehre. Erschöpfung der formalen Möglichkeiten und Ende
  der westeuropäischen Mathematik.


  II. Kapitel: Das Problem der Weltgeschichte                        133

  I. Physiognomik und Systematik                                     135

  Notwendigkeit einer neuen historischen Methode. Ausschaltung der
  Ideale und Moralen als Wertmesser der Entwicklung. +Geschichte
  und Natur = Gestalt und Gesetz = Richtung und Ausdehnung.+
  Physiognomik und Systematik als die beiden Arten morphologischer
  Weltbetrachtung.

  +Was ist eine Kultur?+ Aufbau der höheren Geschichte. Goethes
  Urphänomen. Tempo, Lebensdauer, Stil, Tod hoher Kulturen.
  Wiederholung des Kulturganges im zugehörigen Einzeldasein.
  Begriff der Homologie von Epochen. Gleichartiger Bau aller
  Kulturen. Möglichkeit morphologischer Vorausbestimmung und
  Rekonstruktion historischer Perioden.

  II. Schicksalsidee und Kausalitätsprinzip                          164

  Zwei Formen kosmischer Notwendigkeit: +organische und
  anorganische Logik = Schicksal und Kausalität+ (Lebensgefühl und
  Erkenntnisform). Beziehung zu Weltsehnsucht und Weltangst. Die
  kausale Weltform als Versuch des Verstandes, das Schicksal zu
  überwinden. Schicksal als Daseinsart des Urphänomens.

  +Das Zeitproblem.+ Mißverständnisse der Systematiker: „Zeit und
  Raum“. +Zeit (Nichtumkehrbarkeit) als Schicksal.+ Zeit kein
  Begriff, wissenschaftlich nicht zugänglich. Raumrechnung und
  Zeitrechnung (das Was und das Wann): die naturhafte und die
  historische Weltfrage. Mathematik und Chronologie.

  Zeit, Schicksal und Tragödie. Euklidische und analytische Tragik
  (Situations- und Entwicklungstragik). +Jede Kultur eine eigne
  Schicksalsidee.+ Grenzen der Möglichkeit, die „Weltgeschichte
  der andern“ zu verstehen. Die großen Zeitsymbole als einzige
  Hilfsmittel: Die Uhr. Bestattungsformen. Kalender. Erotik.
  +Staatsform und Zeitgefühl+: der antike, ägyptische und
  abendländische Staatsgedanke. Stoizismus und Sozialismus:
  Beziehung zu Plastik und Musik.

  Schicksal und Zufall. Kausalität und Prädestination. Tragik des
  Zufälligen (Shakespeare). Tyche und der Stil des antiken Daseins.
  Astrologie und Orakel. Die antike Schicksalstragödie. Logik der
  Geschichte: Kolumbus und das spanische Jahrhundert. „Epoche“
  und „Episode“. Anonyme und persönliche Form der Geschichte. Das
  Schicksal Napoleons. Luther.

  Gibt es eine wirkliche Geschichtswissenschaft? Verwechslung
  physikalisch-kausaler und historisch-physiognomischer Methoden.
  Geschichte als „Prozeß“. „Hunger und Liebe.“ Das soziale Drama
  als Seitenstück zur materialistischen Geschichtsauffassung.
  Mangel an Skepsis. Letzte Aufgaben.


  III. Kapitel: Makrokosmos                                          221

  I. Die Symbolik des Weltbildes und das Raumproblem                 223

  Was ist ein Symbol? Idee des Makrokosmos. Die Welt als Inbegriff
  von Symbolen in bezug auf eine Seele. Jeder Mensch hat eine
  eigne Umwelt. Raum und Tod. „+Alles Vergängliche ist nur
  ein Gleichnis.+“ +Das Raumproblem.+ Nur die Tiefe („dritte
  Dimension“) raumbildend. Kants Theorie. Unabhängigkeit der
  Mathematik von der Anschauung. Variabilität des Sehbildes.
  Mehrzahl möglicher Raumarten. +Raumtiefe = Richtung (Zeit).+
  +Identität des Tiefenerlebnisses mit dem Erwachen des
  Innenlebens.+ Idealtypus der Ausdehnung: jede Kultur besitzt ein
  eignes Ursymbol. Das abendländische Ursymbol: der +unendliche
  Raum+. Kants Problem für die Griechen gar nicht vorhanden. Der
  Parallelensatz Euklids und die Vielzahl der Raumstrukturen in der
  westeuropäischen Mathematik. Das antike Ursymbol: +der stoffliche
  Einzelkörper+.

  II. Apollinische, faustische, magische Seele                       254

  Olymp und Walhall. Magisches und faustisches Christentum. Der
  antike Polytheismus (Gott als Körper) und der abendländische
  Monotheismus (Gott als Raum). Das ägyptische Ursymbol +der Weg+.
  Sinn der Pyramidenarchitektur.

  Doppelsinn der Kunst: +Imitation und Symbolik+ (Weltsehnsucht
  und Weltangst). Jede Frühkunst Architektur: Stein und Ursymbol.
  Staatsform und Architekturform; Ausdruck des Willens, der Sorge,
  der Dauer. Hohenstaufen und Pharaonen. Außenarchitektur und
  Innenräume. +Das Problem des Stils.+ Einheit und Lebensdauer
  innerhalb einer Kultur. Der ägyptische Stil als Musterbeispiel
  einer Stilgeschichte. Koinzidenz seiner Phasen mit denen des
  abendländischen Stils. +Stileinheit von der Romantik bis zum
  Empire.+ Verlagerung des Schwerpunkts der Stilbildung von der
  frühen Architektur in eine der bildenden Künste. Dorik und Ionik,
  Gotik und Barock als Jugend- und Altersphase desselben Stils.
  Aufgabe der Kunstwissenschaft: vergleichende Biographien der
  großen Stile. Psychologie der Kunsttechnik. Der wahre Umfang
  der arabischen Kunst: die altchristlich-„spätantike“ Kunst als
  Frühzeit, die islamische als Spätzeit. Mosaikmalerei, Arabeske.
  Verbindung von Rundbogen und Säule arabische Motive.


  IV. Kapitel: Musik und Plastik                                     295

  I. Die bildenden Künste                                            297

  Unmöglichkeit einer Einteilung der Künste nach stationären
  technischen Prinzipien. +Musik eine bildende Kunst.+ Auswahl der
  innerhalb einer Kultur möglichen Künste. Tendenz aller antiken
  Künste zur Rundplastik (650-350). Beziehung zur euklidischen
  Geometrie. Die Freskomalerei als Vorstufe. Dementsprechend 1500
  bis 1800 Ausbildung der Instrumentalmusik. Kontrapunkt und
  Analysis: Sieg der Musik über Malerei und Baukunst: Rokoko.

  Charakter der Renaissance als +antigotischer+
  (+antimusikalischer+) Bewegung. Fresko und Statue in Florenz
  vom gotischen Formgefühl bestimmt (Bildraum). Linear- und
  Luftperspektive. Der Park. Die historische Landschaft.

  +Symbolik der Farben.+ Farben der Nähe und Ferne. Das hellenische
  Vierfarbenfresko. Blau und Grün Raumfarben. Behandlung des
  Bildhintergrundes: Verneinung im antiken Fresko, Goldgrund
  im Mosaik, Tiefenperspektive in der Ölmalerei. Der sichtbare
  Pinselstrich der Venezianer +als Ausdruck des historischen
  Gefühls+. Das Rembrandtbraun.

  II. Akt und Porträt                                                351

  Das antike und das abendländische Menschenideal: der Körper
  nach Grenzflächen oder physiognomisch behandelt. Köpfe antiker
  Statuen. Faustische Akte ein Widerspruch. Das Porträt in Florenz
  und Venedig. Michelangelo und das Ende der abendländischen
  Plastik. Lionardo frei von Renaissanceidealen; der Entdecker;
  Physiologie statt Anatomie. Raffaels sixtinische Madonna die
  letzte große Linie in der abendländischen Kunst.

  +In jeder Kultur eine Gruppe großer Künste.+ In der faustischen
  die Instrumentalmusik, in der apollinischen die Aktplastik
  als Mitte. Gleichzeitigkeit der Ausbildung; identische Dauer.
  +Begriff des Impressionismus+: Physiognomik des Pinselstrichs.
  Parallele zur chinesischen Kunst: Park, Musik. Perspektive.
  +Das Freilichtproblem+; sein Gegensatz zum Impressionismus von
  Lionardo bis Rembrandt: Kultur und Zivilisation. Ausgang der
  westeuropäischen Malerei.

  Mit Tristan und Parzifal die faustische Musik zu Ende. +Bayreuth
  und Pergamon+: Ende der antiken Skulptur. Unmöglichkeit einer
  organischen Fortentwicklung. Alexandrinismus. Letzte Stadien der
  ägyptischen und antiken Kunst.


  V. Kapitel: Seelenbild und Lebensgefühl                            403

  I. Die Form der Seele                                              405

  Unmöglichkeit einer Wissenschaft von der Seele. +Das Bild
  der Seele in jeder Kultur eine Funktion des Weltbildes.+
  „Seelenkörper“ und „Seelenraum“ der antiken und abendländischen
  Psychologie. +Der „Wille“ als Repräsentant des historischen
  Gefühls.+ Der Wille zur Macht: seelische Dynamik. Wille
  und „Charakter“ (Porträt, Biographie). Antik die „Haltung“
  (Statue). Apollinische und faustische Tragik: Attitüdendrama
  und Charakterdrama (anekdotisch und biographisch). Der Held als
  Dulder oder Täter. Der Begriff der Katharsis und der Stoizismus.
  Die drei Einheiten: Formideal der Statue. Tages- und Nachtkunst.

  Popularität und Esoterik, Hingabe und Überwindung. „Kenner und
  Laie“ als Ausdruck der Distanzenergie. +Steigende Esoterik
  der westeuropäischen Geistigkeit.+ Verhältnis des Kunstwerkes
  zum Betrachter: arabische, chinesische, abendländische
  Malperspektive. Das astronomische Weltbild. Raumerweiternde
  Kraft des Fernrohrs. Segelschiffahrt. Kolumbus. Die Antike und
  die Umschiffung Afrikas. Antikes und nordisches Heimatgefühl.
  +Der apollinische und faustische Staatsgedanke.+ Zwei Arten von
  Kolonisation. Weltmachtpläne unantik.

  II. Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus                            465

  +„Du sollst“ die spezifisch faustische Form der Moral+ (Wille
  zur Macht, Tat, Raum). Antik die Interesselosigkeit an einer
  Umwandlung der Welt (Ataraxia). +Moral die unveränderliche
  Struktur des lebendigen Seins.+ Jede Kultur besitzt eine eigne
  und einzige Grundform. Beziehung zur Mathematik: „euklidische“
  (Haltungs-) und „analytische“ (Willens-)ethik. Katharsis und
  Nirwana. Moralische Theorie und Praxis. Nicht Mitleids-, sondern
  „Herrenmoral“ faustisch: +praktische Dynamik+. Verhältnis von
  Ethik und Logik.

  +Buddhismus+, +Stoizismus+, +Sozialismus+. Verwandlung von Kultur
  in Zivilisation. +Buddha, Sokrates, Rousseau die Wortführer
  anbrechender Zivilisationen.+ Tragische und Plebejermoral:
  Äschylus und die Stoa, Shakespeare und die Gegenwart. Der
  Kulturbegriff der Tat und der zivilisierte Begriff der
  +Arbeit+. „Rückkehr zur Natur“ in allen drei Fällen. Der
  ursprüngliche Buddhismus keine Religion, dem Christentum nicht
  verwandt. Kultur und Religion, Zivilisation und Irreligion.
  Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus +formverwandte praktische
  Weltstimmungen+. Die metaphysisch-systematische und die
  sozialethische Periode jeder Philosophie (Indien, Antike,
  Abendland). Der Weltstadtmensch Objekt der neuen Denkweise.
  Rhetorik und Journalismus. Die buddhistische Agitation. Paulus
  gegen Bonifacius.

  Zwei richtige Auffassungen des Sozialismus: +als Form der Zukunft
  und als Form des Niedergangs+. Der unbewußte Sozialismus.
  Alle Römer unbewußte Stoiker. Ausgang des Sozialismus von
  Kant: der kategorische Imperativ auf das Politische, Soziale,
  Wirtschaftliche angewandt. Das Recht auf Arbeit als faustisches
  Gegenstück des antiken „_panem et circenses_“. +Praktische Statik
  und Dynamik.+ Der Wille zur Zukunft und das „dritte Reich“
  (Ibsen). Ursprung des abendländischen Bildes der Weltgeschichte:
  Altertum -- Mittelalter -- Neuzeit: Richtungsenergie.

  Geschichte der Philosophie ein morphologisches Problem.
  +Kulturphilosophie und zivilisierte Philosophie.+ Die
  ethische Periode der „Philosophie ohne Mathematik“. Wachsende
  Bedeutungslosigkeit metaphysischer Fragen seit Aristoteles und
  Kant. +Der nationalökonomische Charakter der westeuropäischen
  Ethik+: die Schule Hegels. Schopenhauers System eine Antizipation
  des Darwinismus. Darwins Theorie nationalökonomischer Herkunft.
  Der Übermensch. Nietzsche und Shaw: die Züchtungsidee als
  letzte Konsequenz der ethischen Dynamik des „Du sollst“. Gang
  der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Letzte Möglichkeit: der
  historisch-psychologische Skeptizismus.


  VI. Kapitel: Faustische und apollinische Naturerkenntnis           525

  Das Ziel der Naturwissenschaft, reine Mechanik zu werden: eine
  Illusion. Jedes Naturgesetz Zahl und Bild. Alle Grundbegriffe
  der modernen Physik rein faustischer Natur. Jedes „Wissen“ von
  der Natur von einer voraufgegangenen Religion abhängig. +Die
  antike Physik Statik, die arabische Alchymie, die abendländische
  Dynamik.+ Alchymie und Chemie. Antike und westeuropäische
  Atomtheorie: Miniaturformen und Minimalquanta (Gestalteinheit und
  Wirkungseinheit). Stoizismus und Sozialismus der Atome; Beziehung
  zu politischen Formen.

  +Das Bewegungsproblem Mittelpunkt jeder Physik.+ Seine
  Unlösbarkeit. Die Eleaten. Die Mechanik von Hertz. Der
  physikalische Begriff der Notwendigkeit. +Kausalität
  (Naturgesetz) eine spezifisch westeuropäische Fassung.+ Andre
  Möglichkeiten. Das Bedingte in unserm Begriff der Erfahrung.

  Gottgefühl und Naturerkenntnis. „Kraft und Masse“ und der
  Barockstil. Die Bewegung Ausgangspunkt für Religion +und+
  Physik. +Die Theorie als Mythus.+ „Stoff und Form“ -- „Kraft
  und Masse“: Gott als höchste Gestalt oder als höchste Kraft.
  +Entstehung des großen Mythus in der Frühzeit jeder Kultur.+ Der
  faustische Mythus 900-1200 entstanden: Identität katholischer,
  heidnisch-nordischer und ritterlich-epischer Vorstellungen.
  Der olympische Mythus und die Körpergeometrie. Apollinische
  und faustische Naturwesen: +beseelte Dinge+ (Nymphen) und
  +seelenerfüllte Räume+ (Elfen). Altrömische Gottheiten. Der
  Kaiserkult die letzte religiöse Schöpfung der Antike. Die
  spätantiken Kulte als magischer Monotheismus: Auflösung aller
  Gestalten in ein +Prinzip+.

  Der Atheismus als Negation einer bestimmten Form von
  Religiosität. Das Christentum vom antiken Standpunkt
  atheistisch. Antike Intoleranz gegen Kultfrevel, abendländische
  gegen dogmatische Abweichungen (Scheiterhaufen, Guillotine),
  +Kultfreiheit und Gewissensfreiheit+.

  +Die faustische Physik als Dogma von der Kraft.+ Der Kraftbegriff
  religiösen Ursprungs. Seine Entwicklung. Galileis Übergang von
  der Renaissancestatik zur Dynamik.

  Die moderne Physik an der Grenze ihrer formalen Möglichkeiten.
  Steigende Zweifel an +allen+ Grundbegriffen. Bedeutung der
  Relativitätstheorie: +Zerstörung des newtonischen Weltbildes+.
  Die Entropielehre: Mit dem Phänomen der Nichtumkehrbarkeit der
  Kreisprozesse dringt ein historisches Motiv in das Naturbild.
  Dementsprechend Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung
  statt exakter Mathematik. Die Atomzerfallhypothese und die
  Schicksalsidee. +Die Entropie und der Mythus der Götterdämmerung.+

  Ausgang der westeuropäischen Wissenschaft: Selbstvernichtung
  durch intellektuelle Verfeinerung. Wachsende Konvergenz von
  Physik, Chemie, Mathematik und Erkenntnistheorie. Endziel:
  Auflösung der gesamten wissenschaftlichen Substanz in einen
  Komplex von Funktionen. +Reine Morphologie mathematisch-logischer
  Erkenntnisformen.+ Rückkehr der Erkenntnis zum Ausgangspunkt:
  Skeptizismus.




EINLEITUNG


1

In diesem Buche wird zum ersten Male der Versuch gewagt, Geschichte
vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur,
und zwar der einzigen, die heute auf der Erde in Vollendung begriffen
ist, derjenigen Westeuropas, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu
verfolgen.

Die Möglichkeit, eine Aufgabe von so ungeheurer Tragweite zu lösen,
ist bis heute offenbar nicht ins Auge gefaßt und wenn dies der Fall
war, die Mittel, sie zu behandeln, nicht erkannt oder in unzulänglicher
Weise gehandhabt worden.

Gibt es eine Logik der Geschichte? Gibt es jenseits von allem
Zufälligen und Unberechenbaren der singulären Ereignisse eine
sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die
von den weithin sichtbaren, populären, geistig-politischen Gebilden
der Oberfläche wesentlich unabhängig ist? Die diese Wirklichkeit
geringeren Ranges vielmehr erst hervorruft? Erscheinen die großen
Momente der Weltgeschichte dem verstehenden Auge vielleicht immer
wieder in einer Gestalt, die Schlüsse zuläßt? Und wenn -- wo liegen die
Grenzen derartiger Folgerungen? Ist es möglich, im Leben selbst -- denn
menschliche Geschichte ist der Inbegriff von ungeheuren Lebensläufen,
als deren Ich und Person schon der Sprachgebrauch unwillkürlich
Individuen höherer Ordnung wie „die Antike“, „die chinesische Kultur“
oder „die moderne Zivilisation“ denkend und handelnd einführt -- die
Stufen aufzufinden, die durchschritten werden müssen und in einer
Ordnung, die keine Ausnahme zuläßt? Haben die für alles Organische
grundlegenden Begriffe Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer in
diesem Kreise vielleicht einen strengen Sinn, den noch niemand
erschlossen hat? Liegen, kurz gesagt, allem Historischen allgemeine
biographische Urformen zugrunde?

Der Untergang des Abendlandes, zunächst ein örtlich und zeitlich
beschränktes Phänomen wie das ihm entsprechende des Unterganges der
Antike, ist, wie man sieht, ein philosophisches Thema, das, in seiner
ganzen Schwere begriffen, alle großen Fragen des Seins in sich schließt.

Will man erfahren, in welcher Gestalt das Erlöschen der abendländischen
Kultur vor sich geht, so muß man zuvor erkannt haben, was Kultur
ist, in welchem Verhältnis sie zur sichtbaren Geschichte, zum
Leben, zur Seele, zur Natur, zum Geiste steht, unter welchen Formen
sie in Erscheinung tritt und inwiefern diese Formen -- Völker,
Sprachen und Epochen, Schlachten und Ideen, Staaten und Götter,
Künste und Kunstwerke, Wissenschaften, Rechte, Wirtschaftsformen und
Weltanschauungen, große Menschen und große Ereignisse -- Symbole und
als solche zu deuten sind.


2

Das Mittel, tote Formen zu begreifen, ist das mathematische Gesetz. Das
Mittel lebendige Formen zu verstehen, ist die Analogie. Auf diese Weise
unterscheiden sich Polarität und Periodizität der Welt.

Das Bewußtsein davon, daß die Zahl der historischen Erscheinungsformen
eine begrenzte ist, daß Zeitalter, Epochen, Situationen, Personen sich
dem Typus nach wiederholen, war immer vorhanden. Man hat das Auftreten
Napoleons kaum je ohne einen Seitenblick auf Cäsar und Alexander
behandelt, von denen der erste, wie man sehen wird, morphologisch
unzulässig, der zweite richtig war. Napoleon selbst fand die
Verwandtschaft seiner Lage mit der Karls des Großen heraus. Der Konvent
sprach von Karthago, wenn er England meinte, und die Jakobiner nannten
sich Römer. Man hat, mit sehr verschiedenem Recht, Florenz mit Athen,
Buddha mit Christus, das Urchristentum mit dem modernen Sozialismus,
die römischen Finanzgrößen der Zeit Cäsars mit den Yankees verglichen.
Petrarka, der erste leidenschaftliche Archäologe -- die Archäologie
ist selbst ein Ausdruck des Gefühls, daß Geschichte sich wiederholt
-- dachte in bezug auf sich an Cicero und erst vor kurzem noch Cecil
Rhodes, der Organisator des englischen Südafrika, der die antiken
Cäsarenbiographien in eigens für ihn angefertigten Übersetzungen in
seiner Bibliothek besaß, an Kaiser Hadrian. Es war das Verderben Karls
XII. von Schweden, daß er von Jugend auf das Leben Alexanders von
Curtius Rufus in der Tasche trug und diesen Eroberer kopieren wollte.

Friedrich der Große bewegt sich in seinen politischen Denkschriften
-- wie den Considerations von 1738 -- mit vollkommener Sicherheit
in Analogien, um seine Auffassung der weltpolitischen Situation zu
kennzeichnen, so wenn er die Franzosen mit den Makedoniern unter
Philipp den Griechen -- Deutschen -- gegenüber vergleicht. „Schon sind
die Thermopylen Deutschlands, Elsaß und Lothringen, in Philipps Hand.“
Damit war die Politik des Kardinals Fleury vorzüglich getroffen. Hier
findet sich weiterhin der Vergleich zwischen der Politik der Häuser
Habsburg und Bourbon und den Proskriptionen des Antonius und Oktavian.

Aber das alles blieb fragmentarisch und willkürlich und entsprach in
der Regel mehr einem augenblicklichen Hange, sich dichterisch und
geistreich auszudrücken, als einem tieferen historischen Formgefühl.

So sind die Vergleiche Rankes, eines Meisters der kunstvollen
Analogie, zwischen Kyaxares und Heinrich I., den Einfällen der
Kimmerier und Magyaren morphologisch bedeutungslos, nicht viel weniger
der oft wiederholte zwischen den hellenischen Stadtstaaten und den
Renaissancerepubliken, von tiefer, aber zufälliger Richtigkeit dagegen
der zwischen Alkibiades und Napoleon. Sie sind bei ihm wie bei andern
aus einem plutarchischen, d. h. volkstümlich romantischen Geschmack
vollzogen worden, der lediglich die Ähnlichkeit der Szene auf der
Weltbühne ins Auge faßt, nicht im strengen Sinne des Mathematikers, der
die innere Verwandtschaft zweier Gruppen von Differentialgleichungen
erkennt, an denen der Laie nichts als Differenzen sieht.

Man bemerkt leicht, daß im Grunde die Laune, nicht eine Idee, nicht
das Gefühl einer Notwendigkeit die Wahl der Bilder bestimmt. Von einer
+Technik+ des Vergleichens blieben wir weit entfernt. Sie treten,
gerade heute, massenhaft auf, aber planlos und ohne Zusammenhang und
wenn sie einmal in einem tiefen, noch festzustellenden Sinne treffend
sind, so verdankt man es dem Glück, seltener dem Instinkt, nie einem
Prinzip. Noch hat niemand daran gedacht, hier eine +Methode+
auszubilden. Man hat nicht im entferntesten geahnt, daß hier eine
Wurzel, und zwar die einzige liegt, aus der eine große Lösung des
Problems der Geschichte hervorgehen kann.

Die Vergleiche könnten das Glück des historischen Denkens sein,
insofern sie die organische Struktur des Geschehens bloßlegen. Ihre
Technik müßte unter der Einwirkung einer umfassenden Idee und also
bis zur wahllosen Notwendigkeit, bis zur logischen Meisterschaft
ausgebildet werden. Sie waren bisher ein Unglück, weil sie als eine
bloße Angelegenheit des Geschmackes den Historiker der Einsicht und
der Mühe überhoben, die +Formensprache der Geschichte+ und ihre
Analyse als seine schwerste und nächste, heute noch nicht einmal
begriffene, geschweige denn gelöste Aufgabe zu betrachten. Sie
waren teils oberflächlich, wenn man z. B. Cäsar den Begründer einer
römischen Staatszeitung nannte, oder, noch schlimmer, entlegene,
höchst komplexe und uns innerlich sehr fremde Phänomene des antiken
Daseins mit Modeworten wie Sozialismus, Impressionismus, Kapitalismus,
Klerikalismus belegte, teils von einer bizarren Verkehrtheit wie der
Brutuskult, den man im Jakobinerklub trieb -- den jenes Millionärs
und Wucherers Brutus, der als Führer des römischen Uradels unter dem
Beifall des patrizischen Senats den Mann der Demokratie erstach.


3

Und so erweitert sich die Aufgabe, die ursprünglich ein begrenztes
Problem der modernen Zivilisation umfaßte, zu einer völlig neuen
Philosophie, +der+ Philosophie der Zukunft, wenn aus dem metaphysisch
erschöpften Boden des Abendlandes überhaupt noch eine hervorgehen
kann, der einzigen, die wenigstens zu den +Möglichkeiten+ des
westeuropäischen Geistes in seinen letzten Stadien gehört: zur Idee
einer +Morphologie der Weltgeschichte, der Welt als Geschichte+, die
im Gegensatz zur Morphologie der Natur, bisher dem einzigen Thema der
Philosophie, alle Gestalten und Bewegungen der Welt in ihrer tiefsten
und letzten Bedeutung noch einmal, aber in einer ganz andern Ordnung,
nicht zum Gesamtbilde alles Erkannten, sondern zu einem Bilde des
Lebens, nicht des Gewordenen, sondern des Werdens, zusammenfaßt.

Die +Welt als Geschichte+, aus ihrem Gegensatz, der +Welt als
Natur+, begriffen, geschaut, gestaltet -- das ist ein neuer Aspekt
des Daseins, der bis heute nie angewandt, vielleicht dunkel gefühlt,
oft geahnt, nie mit allen seinen Konsequenzen gewagt worden ist. Hier
liegen zwei mögliche Arten vor, wie der Mensch seine Umwelt besitzen,
erleben kann. Ich trenne der Form, nicht der Substanz nach mit vollster
Schärfe den organischen vom mechanischen Welteindruck, den Inbegriff
der Gestalten von dem der Gesetze, das Bild und Symbol von der Formel
und dem System, das Einmalig-Wirkliche vom Beständig-Möglichen, das
Ziel der planvoll ordnenden Einbildungskraft von dem der zweckmäßig
zergliedernden Erfahrung oder, um einen noch nie bemerkten, sehr
bedeutungsvollen Gegensatz schon hier zu nennen, den Geltungsbereich
der +chronologischen+ von dem der +mathematischen+ Zahl.[1]

Es kann sich demnach in einer Untersuchung wie der vorliegenden
nicht darum handeln, die an der Oberfläche des Tages sichtbar
werdenden Ereignisse geistig-politischer Art als solche hinzunehmen,
nach Ursache und Wirkung zu ordnen und in ihrer scheinbaren,
verstandesmäßig faßlichen Tendenz zu verfolgen. Eine derartige --
„pragmatische“ -- Behandlung der Historie würde nichts als ein
Stück verkappter Naturwissenschaft sein, woraus die Anhänger der
materialistischen Geschichtsauffassung kein Hehl machen, während
ihre Gegner sich nur der Identität des beiderseitigen Verfahrens
nicht hinreichend bewußt sind. Es handelt sich nicht um das, was die
greifbaren Tatsachen der Geschichte an und für sich, als Erscheinungen
zu irgend einer Zeit +sind+, sondern um das, was sie +durch ihre
Erscheinung bedeuten, andeuten+. Die Historiker der Gegenwart glauben
ein übriges zu tun, wenn sie religiöse, soziale und allenfalls
kunsthistorische Einzelheiten heranziehen, um den politischen Sinn
einer Epoche zu „illustrieren“. Aber sie vergessen das Entscheidende
-- entscheidend nämlich, insofern sichtliche Geschichte Ausdruck,
Zeichen, formgewordenes Seelentum ist. Ich habe noch keinen gefunden,
der mit dem Studium dieser +morphologischen Verwandtschaften+ Ernst
gemacht hätte, der über den Bereich politischer Tatsachen hinaus
die letzten und tiefsten Gedanken der Mathematik der Hellenen,
Araber, Inder, Westeuropäer, den Sinn ihrer frühen Ornamentik, ihrer
architektonischen, metaphysischen, dramatischen, lyrischen Urformen,
die Auswahl und Richtung ihrer großen Künste, die Einzelheiten ihrer
künstlerischen Technik und Stoffwahl eingehend gekannt, geschweige denn
in ihrer entscheidenden Bedeutung für die Formprobleme des Historischen
erkannt hätte. Wer weiß es, daß zwischen der Differentialrechnung
und dem dynastischen Staatsprinzip der Zeit Ludwigs XIV., zwischen
der antiken Staatsform der Polis und der euklidischen Geometrie,
zwischen der Raumperspektive der abendländischen Ölmalerei
und der Überwindung des Raumes durch Bahnen, Fernsprecher und
Fernwaffen, zwischen der kontrapunktischen Instrumentalmusik und
dem wirtschaftlichen Kreditsystem ein tiefer Zusammenhang der Form
besteht? Selbst die realsten Faktoren der Politik nehmen, aus dieser
Perspektive betrachtet, einen höchst transzendenten Charakter an und
es geschieht vielleicht zum ersten Male, daß Dinge wie das ägyptische
Verwaltungssystem, das antike Münzwesen, die analytische Geometrie, der
Scheck, der Suezkanal, der chinesische Buchdruck, das preußische Heer
und die römische Straßenbautechnik +gleichmäßig+ als Symbole aufgefaßt
und als solche gedeutet werden.

An diesem Punkte stellt es sich heraus, daß es eine spezifisch
historische Art des Erkennens noch gar nicht gibt. Was man so nennt,
zieht seine Methoden fast ausschließlich aus dem Gebiete des Wissens,
auf welchem allein Methoden der Erkenntnis zur strengen Ausbildung
gelangt sind, aus der Physik. Man glaubt Geschichtsforschung zu
treiben, wenn man den gegenständlichen Zusammenhang von Ursache und
Wirkung verfolgt. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Philosophie
alten Stils an eine andre Möglichkeit der Beziehung des Geistes auf
die Welt nie gedacht hat. Kant, der in seinem Hauptwerk die formalen
Regeln der Erkenntnis feststellte, zog, ohne daß weder er noch irgend
ein anderer es bemerkt hätte, allein die +Natur+ als Objekt der
Verstandestätigkeit in Betracht. Wissen ist für ihn mathematisches
Wissen. Wenn er von angebornen Formen der Anschauung und Kategorien
des Verstandes spricht, so denkt er nie an das ganz andersgeartete
Begreifen historischer Phänomene, und Schopenhauer, der von Kants
Kategorien bezeichnenderweise nur die der Kausalität gelten läßt, redet
nur mit Verachtung von der Geschichte.[2] Daß außer der Notwendigkeit
von Ursache und Wirkung -- ich möchte sie die +Logik des Raumes+ nennen
-- im Leben auch noch die organische Notwendigkeit +des Schicksals+
-- +die Logik der Zeit+ -- eine Tatsache von tiefster innerster
Gewißheit ist, eine Tatsache, welche das gesamte mythologische,
religiöse und künstlerische Denken ausfüllt, die das Wesen und den
Kern aller Geschichte im Gegensatz zur Natur ausmacht, die aber den
Erkenntnisformen, welche die „Kritik der reinen Vernunft“ untersucht,
unzugänglich ist, das ist noch nicht in den Bereich intellektueller
Formulierung gedrungen. Die Philosophie ist, wie Galilei an einer
berühmten Stelle seines Saggiatore sagt, im großen Buche der Natur
„_scritta in lingua matematica_“. Aber wir warten heute noch auf
die Antwort eines Philosophen, in welcher Sprache die Geschichte
geschrieben und wie diese zu lesen ist.

Die Mathematik und das Kausalitätsprinzip führen zu einer naturhaften,
die Chronologie und die Schicksalsidee zu einer historischen Ordnung
der Erscheinung. Beide Ordnungen umfassen die +ganze+ Welt. Nur das
Auge, in dem und durch das sich diese Welt verwirklicht, ist ein
anderes.


4

Natur ist die Gestalt, unter welcher der Mensch hoher Kulturen den
unmittelbaren Eindrücken seiner Sinne Einheit und Bedeutung gibt.
Geschichte ist diejenige, aus welcher seine Einbildungskraft das
lebendige Dasein der Welt in bezug auf das eigene Leben zu begreifen
und diesem damit eine vertiefte Wirklichkeit zu verleihen sucht. Ob
er dieser Gestaltungen fähig ist und welche von ihnen sein waches
Bewußtsein beherrscht, das ist eine Urfrage aller menschlichen Existenz.

Hier liegen zwei +Möglichkeiten+ der Weltbildung durch den Menschen
vor. Damit ist schon gesagt, daß es nicht notwendig +Wirklichkeiten+
sind. Fragen wir also im folgenden nach dem Sinn aller Geschichte, so
ist zuerst eine Frage zu erledigen, die bisher nie gestellt worden ist.
+Für wen+ gibt es Geschichte? Eine paradoxe Frage, wie es scheint. Ohne
Zweifel für jeden, insofern jeder Glied und Element der Geschichte
ist. Aber man bedenke, daß die Gesamtheit der Geschichte wie das
Ganze der Natur -- das eine wie das andere ein Erscheinungsbild --
einen Geist voraussetzt, in dem und durch den es Wirklichkeit ist.
Ohne Subjekt gibt es kein Objekt. Sehen wir von aller Theorie ab,
der die Philosophen tausend Fassungen gegeben haben, so steht es
doch fest, daß Erde und Sonne, die Natur, der Raum, das Weltall ein
persönliches Erlebnis und in ihrem So-und-nicht-anders-sein abhängig
vom menschlichen Bewußtsein sind. Aber dasselbe gilt vom Weltbilde der
Geschichte, dem werdenden, nicht dem ruhenden All, und selbst wenn man
wüßte, +was+ sie ist, so weiß man noch nicht, für +wen+ sie es ist.
Sicher nicht für „die Menschheit“. Das ist unsre, die westeuropäische
Empfindung, aber wir sind nicht die „Menschheit“. Sicherlich gab es
nicht nur für den Urmenschen, sondern auch für den Menschen gewisser
hoher Kulturen keine Weltgeschichte, keine +Welt als Geschichte+.
Wir wissen alle, daß in unserem kindlichen Weltbewußtsein zunächst
nur naturhafte und kausale Züge und erst sehr viel später solche
historischer Art, z. B. ein bestimmtes Zeitgefühl, hervortreten.
Das Wort Ferne gewinnt für uns viel eher einen greifbaren Inhalt
als das Wort Zukunft. Aber wie, wenn eine +ganze Kultur+, ein hohes
Seelentum auf diesem ahistorischen Geiste beruht? Wie muß ihr die
Wirklichkeit erscheinen? Die Welt? Das Leben? Bedenken wir, daß sich
im Weltbewußtsein der Hellenen alles Erlebte, nicht nur die eigne
persönliche, sondern die allgemeine Vergangenheit sofort in Mythus,
d. h. in Natur, in zeitlose, unbewegliche, entwicklungslose Gegenwart
verwandelte, dergestalt, daß die Geschichte Alexanders des Großen
noch vor seinem Tode für das antike Gefühl mit der Dionysoslegende zu
verschwimmen begann und daß Cäsar seine Abstammung von Venus mindestens
nicht als widersinnig empfand, so müssen wir zugestehen, daß uns
Menschen des Abendlandes mit dem starken Gefühl für zeitliche Distanzen
ein Nacherleben solcher Seelenzustände beinahe unmöglich ist, daß wir
aber nicht das Recht haben, dem Problem der Geschichte gegenüber von
dieser Tatsache einfach abzusehen.

Was Tagebücher, Selbstbiographien, Bekenntnisse für den einzelnen,
das bedeutet Geschichtsforschung im weitesten Umfange, wo sie auch
alle Arten psychologischer Analyse fremder Völker, Zeiten, Sitten
einschließt, für die Seele ganzer Kulturen. Aber die antike Kultur
besaß kein +Gedächtnis+ in diesem spezifischen Sinne, kein historisches
Organ. Das Gedächtnis des antiken Menschen -- wobei wir allerdings
einen aus unserem seelischen Habitus abgeleiteten Begriff ohne weiteres
einer fremden Seele aufprägen -- ist etwas ganz anderes, weil hier
Vergangenheit und Zukunft als ordnende Perspektiven im Bewußtsein
fehlen und die reine „Gegenwart“, die Goethe an allen Äußerungen
antiken Lebens, an der Plastik insbesondere so oft bewunderte, es mit
einer uns ganz unbekannten Mächtigkeit ausfüllt. Diese reine Gegenwart,
deren größtes Symbol die dorische Säule ist, stellt in der Tat eine
+Verneinung der Zeit+ (der Richtung) dar. Für Herodot und Sophokles
wie für Themistokles und für einen römischen Konsul verflüchtigt sich
die Vergangenheit alsbald in einen zeitlos ruhenden Eindruck von
+polarer, nicht periodischer+ Struktur, -- denn das ist der letzte Sinn
durchgeistigter Mythenbildung -- während sie für unser Weltgefühl und
inneres Auge ein periodisch klar gegliederter, zielvoll gerichteter
Organismus von Jahrhunderten oder Jahrtausenden ist. Dieser Hintergrund
aber gibt dem Leben, dem antiken wie dem abendländischen, erst seine
besondere Farbe. Was der Grieche Kosmos nannte, war das Bild einer
Welt, die nicht +wird+, sondern +ist+. +Folglich+ war der Grieche
selbst ein Mensch, der niemals +wurde+, sondern immer +war+.

Deshalb hat der antike Mensch, obwohl er die strenge Chronologie, die
Kalenderrechnung und damit das starke, in großartiger Beobachtung
der Gestirne und in der exakten Messung gewaltiger Zeiträume sich
offenbarende Gefühl für die Ewigkeit und die Nichtigkeit des
gegenwärtigen Augenblicks in der babylonischen und ägyptischen Kultur
sehr wohl kannte, sich innerlich nichts davon zu eigen gemacht. Was
seine Philosophen gelegentlich erwähnen, haben sie nur gehört, nicht
geprüft. Weder Plato noch Aristoteles besaßen eine Sternwarte. In
den letzten Jahren des Perikles wurde in Athen ein Volksbeschluß
gefaßt, der jeden mit der schweren Klageform der Eisangelie bedrohte,
der astronomische Theorien verbreitete. Es war ein Akt von tiefster
Symbolik, in dem sich der Wille der antiken Seele aussprach, die Ferne
in jedem Sinne aus ihrem Weltbewußtsein zu streichen.

Deshalb begannen die Hellenen erst dann -- in der Person des Thukydides
-- ernsthaft über ihre Geschichte nachzudenken, als sie innerlich so
gut wie abgeschlossen war. Aber selbst Thukydides, dessen methodische
Grundsätze in der Einleitung seines Werkes sich sehr westeuropäisch
ausnehmen, faßte sie doch so auf, daß er geschichtliche Einzelheiten
erdichtet, sobald es ihm angemessen erscheint. Das wirkt bei ihm als
künstlerisches Prinzip, aber gerade das nennen wir Mythenbildung. Von
einem echten Sinn für die Bedeutung chronologischer Zahlen ist nicht
die Rede. Im 3. Jahrhundert schrieben Manetho und Berossos -- also
Nichtgriechen -- gründliche Quellenwerke über Ägypten und Babylon,
zwei Länder, die sich auf Astronomie und +also auch+ auf Historie
verstanden. Aber der gebildete Grieche und Römer kümmerte sich wenig
darum und zog weiterhin die romanhaften Phantastereien eines Hekataios
und Ktesias vor.[3]

Infolgedessen ist die antike Geschichte bis auf die Perserkriege herab,
aber auch noch die Struktur sehr viel späterer Perioden das Produkt
wesentlich mythischen Denkens. Die Verfassungsgeschichte Spartas --
Lykurg, dessen Biographie mit allen Einzelheiten erzählt wird, war
vermutlich eine unbedeutende Waldgottheit des Taygetos -- ist eine
Dichtung der hellenistischen Zeit und die Erfindung der römischen
Geschichte vor Hannibal war noch zur Zeit Cäsars nicht zum Stillstand
gekommen. Es kennzeichnet den antiken Sinn des Wortes Geschichte, daß
die alexandrinische Romanliteratur stofflich den stärksten Einfluß auf
die ernsthafte politische und religiöse Historik ausübte. Man dachte
gar nicht daran, ihren Inhalt von aktenmäßigen Daten grundsätzlich
zu unterscheiden. Als Varro gegen Ende der Republik daran ging, die
aus dem Bewußtsein des Volkes rasch schwindende römische Religion zu
fixieren, teilte er die Gottheiten, deren Dienst +vom Staate aufs
peinlichste ausgeübt wurde+, in _di certi_ und _di incerti_ ein --
solche, von denen man noch etwas wußte, und solche, von denen trotz
des fortdauernden öffentlichen Kultes nur der Name geblieben war. In
der Tat war die Religion der römischen Gesellschaft seiner Zeit --
wie sie nicht nur Goethe, sondern selbst Nietzsche ohne Argwohn aus
den römischen Dichtern hinnahmen -- größtenteils ein Erzeugnis der
hellenisierenden Literatur und fast ohne Zusammenhang mit dem alten
Kultus, den niemand mehr verstand.

Mommsen hat den westeuropäischen Standpunkt klar formuliert, als er
die römischen Historiker -- Tacitus ist vor allem gemeint -- Leute
nannte, „die das sagen, was verschwiegen zu werden verdiente, und das
verschweigen, was notwendig war zu sagen“.

Die indische Kultur, deren Idee vom (bramanischen) Nirwana der
entschiedenste Ausdruck einer vollkommen ahistorischen Seele ist,
den es geben kann, hat nie das geringste Gefühl für das „Wann“ in
irgend einem Sinne besessen. Es gibt keine indische Astronomie,
keinen indischen Kalender, keine indische Historie also, insofern
man darunter das Bewußtsein einer lebendigen Entwicklung versteht.
Wir wissen vom sichtbaren Verlaufe dieser Kultur, deren organischer
Teil vor der Entstehung des Buddhismus abgeschlossen war, noch viel
weniger, als von der antiken, sicherlich an großen Ereignissen reichen
Geschichte zwischen dem 12. und 8. Jahrhundert. Beide sind lediglich
in traumhaft-mythischer Gestalt konserviert worden. Erst ein volles
Jahrtausend nach Buddha, um 500 n. Chr., entstand auf Ceylon im
„Mahavansa“ etwas, das entfernt an Geschichtsschreibung erinnert.

Das Bewußtsein des indischen Menschen war so ahistorisch angelegt,
daß er nicht einmal das Phänomen des von einem Autor verfaßten Buches
als zeitlich fixiertes Ereignis kannte. Statt einer organischen Reihe
persönlich abgegrenzter Schriften entstand allmählich eine vage
Textmasse, in die jeder hineinschrieb, was er wollte, ohne daß die
Begriffe des individuellen geistigen Eigentums, der Entwicklung eines
Gedankens, der geistigen Epoche eine Rolle gespielt hätten. In dieser
+anonymen+ Gestalt -- der der gesamten indischen Geschichte -- liegt
uns die indische Philosophie vor. Mit ihr vergleiche man die durch
Bücher und Personen physiognomisch aufs schärfste herausgearbeitete
Philosophiegeschichte des Abendlandes.

Der indische Mensch vergaß alles, der ägyptische konnte +nichts+
vergessen. Eine indische Kunst des Porträts -- der Biographie _in nuce_
-- hat es nie gegeben; die ägyptische Plastik kannte kaum ein anderes
Thema.

Die ägyptische Seele, eminent historisch veranlagt und mit urweltlicher
Leidenschaft nach dem Unendlichen drängend, empfand die Vergangenheit
und Zukunft als ihre +ganze+ Welt und die Gegenwart, die mit dem
wachen Bewußtsein identisch ist, erschien ihr lediglich als die
schmale Grenze zwischen zwei unermeßlichen Fernen. Die ägyptische
Kultur ist eine +Inkarnation der Sorge+ -- dem seelischen Korrelat
der Ferne -- der Sorge um das Künftige, wie sie sich in der Wahl von
Granit und Basalt als plastischem Material,[4] in den gemeißelten
Urkunden, in der Ausbildung eines meisterhaften Verwaltungssystems und
dem Netz von Bewässerungsanlagen ausspricht,[5] +und der notwendig
damit verknüpften+ Sorge um das Vergangene. Die ägyptische Mumie
ist ein Symbol höchsten Ranges. Man +verewigte+ den Leib der Toten,
wie man deren Persönlichkeit, dem „Ka“, durch die oft in vielen
Exemplaren ausgeführten Bildnisstatuen, an deren in einem sehr hohen
Sinne aufgefaßte Ähnlichkeit sie gebunden war, ewige Dauer verlieh.
Bekanntlich waren in der besten Zeit der griechischen Plastik
Bildnisstatuen ausdrücklich verpönt.

Es besteht eine tiefe Beziehung zwischen dem Verhalten gegen die
historische Vergangenheit und der Auffassung des Todes, wie sie sich
in der +Form der Bestattung+ ausspricht. Der Ägypter +verneint+ die
Vergänglichkeit, der antike Mensch +bejaht+ sie durch die gesamte
Formensprache seiner Kultur. Die Ägypter konservierten auch die Mumie
ihrer Geschichte: die chronologischen Daten und Zahlen. Während
von der vorsolonischen Geschichte der Griechen nichts überliefert
ist, keine Jahreszahl, kein echter Name, kein greifbares Ereignis
-- was dem uns allein bekannten Rest einen übertriebenen Akzent
gibt -- kennen wir aus dem 3. Jahrtausend beinahe alle Namen und
Regierungszahlen der ägyptischen Könige und die späteren Ägypter
kannten sie natürlich ohne Ausnahme. Als ein grauenvolles Symbol dieses
Willens zur Dauer liegen noch heute die Körper der großen Pharaonen
mit kenntlichen Gesichtszügen in unseren Museen. Auf der leuchtend
polierten Granitspitze der Pyramide Amenemhets III. liest man noch
jetzt die Worte: „Amenemhet schaut die Schönheit der Sonne“ und auf der
andern Seite: „Höher ist die Seele Amenemhets als die Höhe des Orion
und sie verbindet sich mit der Unterwelt.“ Das ist Überwindung der
Vergänglichkeit, der Gegenwart und unantik im höchsten Maße.


5

Gegenüber dieser mächtigen Gruppe ägyptischer Lebenssymbole erscheint
an der Schwelle der antiken Kultur, der Vergessenheit entsprechend,
die sie über jedes Stück ihrer äußern und innern Vergangenheit breitet,
die +Verbrennung der Toten+. Der mykenischen Zeit war die sakrale
Heraushebung dieser Bestattungsform aus den übrigen, die von primitiven
Völkern in der Regel nebeneinander ausgeübt werden, durchaus fremd.
Die Königsgräber sprechen sogar für den Vorrang der Erdbestattung.
Aber in der homerischen Zeit so gut wie in der vedischen erfolgt der
plötzliche, materiell nicht zu motivierende Schritt vom Begräbnis zur
Verbrennung, die, wie die Ilias zeigt, mit dem vollen Pathos eines
sinnbildlichen Aktes -- der feierlichen Vernichtung, der Verneinung der
historischen Dauer -- vollzogen wurde.

Von diesem Augenblick an ist auch die Plastizität der individuellen
seelischen Entwicklung zu Ende. So wenig das antike Drama echt
historische Motive gestattet, so wenig läßt es das Thema der innern
Entwicklung zu und man weiß, wie entschieden sich der hellenische
Instinkt gegen das Porträt in der bildenden Kunst auflehnte. Bis in
die Kaiserzeit kennt die antike Kunst nur einen ihr gewissermaßen
natürlichen Stoff: den Mythus.[6] Auch die idealen Bildnisse der
hellenistischen Plastik sind mythisch, so gut es die typischen
Biographien von der Art Plutarchs sind. Kein großer Grieche hat je
Erinnerungen niedergeschrieben, die eine überwundene Epoche vor
seinem geistigen Auge fixiert hätten. Nicht einmal Sokrates hat
über sein Innenleben etwas in unserm Sinne Bedeutendes gesagt. Es
fragt sich, ob in einer antiken Seele dergleichen überhaupt möglich
war, wie es der Entwurf des Parzeval, Hamlet, Werther voraussetzt.
Wir vermissen bei Plato jedes Bewußtsein einer Entwicklung seiner
Lehre. Seine einzelnen Schriften sind lediglich Formulierungen sehr
verschiedener Standpunkte, die er zu verschiedenen Zeiten einnahm. Ihr
genetischer Zusammenhang war kein Gegenstand seiner Reflexion. Der
einzige -- flache -- Versuch einer Selbstanalyse, der antiken Kultur
kaum noch angehörend, findet sich in Ciceros Brutus. Aber schon am
Anfang der abendländischen Geistesgeschichte steht ein Stück tiefster
Selbsterforschung, Dantes Vita Nuova. Allein daraus folgt, wie wenig
Antikes, d. h. rein Gegenwärtiges, Goethe in sich hatte, der nichts
vergaß, dessen Werke seinen eigenen Worten nach nur Bruchstücke +einer+
großen Konfession waren.

Nach der Zerstörung Athens durch die Perser warf man alle Werke
der älteren Kunst in den Schutt -- aus dem wir sie heute wieder
hervorziehen -- und man hat nie gehört, daß jemand in Hellas sich
um die Ruinen von Mykene oder Phaistos gekümmert hätte. Man las
seinen Homer, aber man dachte nicht daran, wie Schliemann den Hügel
von Troja aufzugraben. Man wollte den Mythus, nicht die Geschichte.
Von den Werken des Aischylos und der vorsokratischen Philosophen
war schon in hellenistischer Zeit ein Teil verloren gegangen. Aber
schon Petrarca sammelte Altertümer, Münzen, Manuskripte mit einer nur
dieser Kultur eigenen Pietät und Innerlichkeit der Betrachtung, als
historisch fühlender, auf entlegene Welten zurückschauender, nach dem
Fernen sich sehnender Mensch -- er war der erste, der die Besteigung
eines Alpengipfels unternahm --, der im Grunde ein Fremder in seiner
Zeit war. Erst aus dieser Verknüpfung mit dem Zeitproblem entwickelt
sich die Psychologie des +Sammlers+. Man fühlt, weshalb dieser
+Kultus des Vergangenen+, der ihm Unvergänglichkeit erteilen
möchte, dem antiken Menschen völlig unbekannt bleiben mußte, während
die ägyptische Landschaft sich schon zur Zeit des großen Thutmosis in
ein einziges ungeheures Museum von Tradition und Architektur verwandelt
hatte.

Unter den Völkern des Abendlandes waren es die Deutschen, welche die
mechanischen +Uhren+ erfanden, schauerliche Symbole der rinnenden
Zeit, deren Tag und Nacht von zahllosen Türmen über Westeuropa hin
hallende Schläge vielleicht der ungeheuerste Ausdruck sind, dessen
ein historisches Weltgefühl überhaupt fähig ist.[7] Nichts davon
begegnet uns in den +zeitlosen+ antiken Landschaften und Städten. In
Babylon und Ägypten waren die Wasser- und Sonnenuhren erfunden worden,
aber erst Plato führte die Klepsydra -- wiederum erst gegen Ende des
blühenden Griechentums -- in Athen ein und noch später übernahm man die
Sonnenuhren, lediglich als unwesentliches Gerät des Alltags, ohne daß
sie das antike +Lebensgefühl+ im geringsten verändert hätten.

Hier ist noch der entsprechende, sehr tiefe und nie hinreichend
gewürdigte Unterschied zwischen antiker und abendländischer Mathematik
zu erwähnen. Das antike Zahlendenken faßt die Dinge auf, +wie sie
sind+, als +Größen+, zeitlos, rein gegenwärtig. Das führte zur
euklidischen Geometrie, zur mathematischen Statik und zum Abschluß
des geistigen Systems durch die Lehre von den Kegelschnitten. Wir
fassen die Dinge auf, wie sie +werden+ und +sich verhalten+, als
+Funktionen+. Das führte zur Dynamik, zur analytischen Geometrie und
von ihr zur Differentialrechnung.[8] Die moderne Funktionentheorie
ist die riesenhafte Ordnung dieser ganzen Gedankenmasse. Es ist eine
bizarre, aber seelisch streng begründete Tatsache, daß die griechische
Physik -- als Statik im Gegensatz zur Dynamik -- den Gebrauch der Uhr
nicht kennt und nicht vermissen läßt und, während wir mit Tausendsteln
von Sekunden rechnen, von Zeitmessungen vollständig absieht. Die
Entelechie des Aristoteles ist der einzige zeitlose -- ahistorische --
Entwicklungsbegriff, den es gibt.

Damit ist unsere Aufgabe festgelegt, insofern Leben die Verwirklichung
von seelisch Möglichem ist und der neue Begriff des +seelisch
Unmöglichen+ den Aspekt der Dinge anders gestaltet. Wir Menschen der
westeuropäischen Kultur -- einem genau abgrenzbaren Phänomen zwischen
1000 und 2000 n. Chr. -- sind die Ausnahme und nicht die Regel.
„Weltgeschichte“ ist +unser+ Weltbild, nicht das „der Menschheit“. Für
den indischen und den antiken Menschen gab es kein Bild der werdenden
Welt als Art und Form der Anschauung und vielleicht wird es, wenn
die Zivilisation des Abendlandes, deren Träger wir Heutigen sind,
erloschen ist, nie wieder eine Kultur und also einen menschlichen Typus
geben, für den „Weltgeschichte“ eine Form, ein Inhalt des kosmischen
Bewußtseins ist.


6

Ja -- was ist Weltgeschichte? Eine geistige Möglichkeit, ein inneres
Postulat, der Ausdruck eines Formgefühls, gewiß. Aber ein noch so
bestimmtes Gefühl ist keine vollendete Form, und so sicher wir alle
Weltgeschichte fühlen, erleben, mit vollster Gewißheit ihrer Gestalt
nach zu übersehen glauben, so sicher ist es, daß wir noch heute Formen
von ihr, aber nicht +die+ Form kennen.

Sicherlich wird jeder, den man fragt, überzeugt sein, daß er die
periodische Struktur der Geschichte klar und deutlich durchschaut.
Diese Illusion beruht darauf, daß niemand ernsthaft über sie
nachgedacht hat und daß man noch viel weniger an seinem Wissen
zweifelt, weil niemand ahnt, an was allem hier gezweifelt werden
könnte. In der Tat ist die +Gestalt+ der Weltgeschichte ein
+ungeprüfter geistiger Besitz+, der sich, auch unter Historikern
von Beruf, von Generation zu Generation unberührt vererbt und dem
ein kleiner Teil der Skepsis, welche seit Galilei das uns angeborne
Naturbild zergliedert und vertieft hat, sehr not täte.

+Altertum+ -- +Mittelalter+ -- +Neuzeit+: das ist das unglaubwürdig
dürftige und +sinnlose+ Schema, dessen absolute Herrschaft über
unser historisches Bewußtsein uns immer wieder gehindert hat, die
eigentliche Stellung der kleinen Teilwelt, wie sie sich seit der
deutschen Kaiserzeit auf dem Boden des westlichen Europa entfaltet
hat, in ihrem Verhältnis zur Weltgeschichte -- zur Gesamtgeschichte
des höhern Menschentums also -- nach ihrem Range, ihrer Gestalt,
ihrer Lebensdauer vor allem richtig aufzufassen. Es wird künftigen
Kulturen kaum glaublich erscheinen, daß dieser Grundriß mit seinem
einfältigen geradlinigen Ablauf, seinen unsinnigen Proportionen, der
von Jahrhundert zu Jahrhundert sinnloser wird und eine natürliche
Eingliederung der neu in das Licht unsres historischen Bewußtseins
tretenden Gebiete gar nicht zuläßt, gleichwohl in seiner Gültigkeit
niemals angezweifelt worden ist. Selbst die Kritik, die an ihm geübt,
und die weitgehenden Modifikationen, denen er notgedrungen unterworfen
wurde -- z. B. die Verlagerung des Anfangspunktes der „Neuzeit“
von den Kreuzzügen zur Renaissance und von dort zum Anfang des 19.
Jahrhunderts --, beweisen nur, daß man ihn selbst für unerschütterlich,
beinahe für das Resultat einer göttlichen Erleuchtung, mindestens für
selbstverständlich hielt, sozusagen für eine apriorische Form der
historischen Anschauung, wie sie Kant beschreibt.

Aber diese schlechthin geltende Form ließ keinerlei Vertiefung zu,
und da man auf sie nicht verzichtete, so verzichtete man auf ein
+eigentliches+ Begreifen weltgeschichtlicher Zusammenhänge. Ihr hat man
es zu verdanken, daß die großen morphologischen Probleme der Geschichte
gar nicht in Erscheinung treten konnten. +Sie+ hat die formale
Betrachtung der Historie auf einem Niveau gehalten, dessen man sich in
andern Wissenschaften geschämt hätte.

Es genügt, darauf hinzuweisen, daß dieser Grundriß einen
oberflächlichen Anfang und ein Ende dort setzt, wo in tieferem
Sinne von Anfang und Ende nicht die Rede sein kann. Hier bildet die
Landschaft des westlichen Europa[9] den ruhenden Pol (mathematisch
gesprochen einen singulären Punkt auf einer Kugeloberfläche) --
man weiß nicht warum, wenn nicht dies der Grund ist, daß wir, die
Konstruktoren dieses Geschichtsbildes, gerade hier zu Hause sind --
um den sich Jahrtausende gewaltigster Geschichte und fernab gelagerte
ungeheure Kulturen in aller Bescheidenheit drehen. Das ist ein
Planetensystem von höchst eigenartiger Erfindung. Man wählt einen
einzelnen Fleck zum Schwerpunkt eines historischen Systems. Hier ist
die Zentralsonne. Von hier aus erhalten die Ereignisse der Geschichte
das rechte Licht. Von hier aus wird ihre Bedeutung +perspektivisch+
abgemessen. Aber hier redet in Wirklichkeit die durch keine Skepsis
gezügelte Eitelkeit des westeuropäischen Menschen, in dessen Geiste
sich dies Phantom „Weltgeschichte“ entrollt. Ihr verdankt man die uns
längst zur Gewohnheit gewordene ungeheure optische Täuschung, wonach
der historische Stoff von Jahrtausenden in einiger Entfernung, etwa
in Altägypten und China, zu Miniaturen zusammenschrumpft, während
die Jahrzehnte in der Nähe des eignen Standortes, seit Luther und
besonders seit Napoleon, gespensterhaft anschwellen. Wir wissen, daß
nur scheinbar eine Wolke um so langsamer wandert, je höher sie steht
und ein Zug durch eine ferne Landschaft nur scheinbar schleicht,
aber wir glauben, daß das Tempo der frühen indischen, babylonischen,
ägyptischen Geschichte wirklich langsamer war als das unsrer nächsten
Vergangenheit. Und wir finden ihre Substanz dünner, ihre Formen
gedämpfter und gestreckter, weil wir nicht gelernt haben, die -- innere
und äußere -- Entfernung in Rechnung zu stellen. Nirgends wird der
Mangel an geistiger Freiheit, an Selbstkritik, der die historische
Methode heute von jeder andern zu ihrem Nachteil unterscheidet,
deutlicher als hier.

Daß für die Kultur des Abendlandes, die -- sagen wir seit Napoleon
-- für absehbare Zeit der Welt wenigstens oberflächlich ihre Formen
aufprägt, das Dasein von Athen, Florenz, Paris wichtiger ist als vieles
andre, versteht sich von selbst. Aber diesen Umstand, weil gerade wir
im Zusammenhange dieser Kultur leben, zum struktiven Prinzip einer
Universalgeschichte zu machen, verrät den Horizont eines Provinzialen.
Es würde den chinesischen Historiker berechtigen, seinerseits eine
Weltgeschichte zu entwerfen, in der die Kreuzzüge und die Renaissance,
Cäsar und Friedrich der Große als belanglos mit Stillschweigen
übergangen werden. Es steht dem Tagespolitiker und dem Sozialkritiker
frei, in der Bewertung andrer Zeiten seinen privaten Geschmack
walten zu lassen, so wie es dem chemischen Techniker freisteht,
praktisch das Gebiet der Benzolderivate als das wichtigste Kapitel
der Naturwissenschaften zu behandeln und etwa die Elektrodynamik
unbeachtet zu lassen, aber der +Denker+ hat seine Person aus seinen
Kombinationen auszuschalten. Warum ist, morphologisch betrachtet,
das 18. Jahrhundert wichtiger zu nehmen als eins der sechzig
voraufgehenden? Ist es nicht lächerlich, eine „Neuzeit“ vom Umfang
einiger Jahrhunderte, noch dazu wesentlich in Westeuropa lokalisiert,
einem „Altertum“ gegenüberzustellen, das ebensoviel Jahrtausende umfaßt
und dem die Masse aller vorgriechischen Kulturen ohne den Versuch
einer tiefern Gliederung einfach als Anhang zugerechnet wird? Hat
man nicht, um das verjährte Schema zu retten, Ägypten und Babylon,
deren in sich geschlossene Historien, jede für sich, allein die
angebliche „Weltgeschichte“ von Karl dem Großen bis zum Weltkriege
und weit darüber hinaus aufwiegt, als Vorspiel zur Antike abgetan, die
mächtigen Komplexe der indischen und chinesischen mit einer Miene der
Verlegenheit in eine Anmerkung verwiesen und die großen amerikanischen
Kulturen, weil ihnen der „Zusammenhang“ (womit?) fehlt, überhaupt
ignoriert? Das ist unsre „Weltgeschichte“. So denkt der Neger, der die
Welt in sein Dorf, seinen Stamm und den „Rest“ einteilt und der den
Mond für viel kleiner ansieht als die Wolken, die ihn verschlingen.

Ich nenne dies dem Westeuropäer geläufige Schema, in dem die hohen
Kulturen ihre Bahnen +um uns+ als den vermeintlichen Mittelpunkt alles
Weltgeschehens ziehen, das +ptolemäische System+ der Geschichte und
ich betrachte es als die +kopernikanische Entdeckung+ im Bereich der
Historie, daß in diesem Buche ein neues System, das System an seine
Stelle tritt, in dem als wechselnde Erscheinungen und Ausdrücke des
+einen+, in der Mitte ruhenden Lebens Antike und Abendland neben
Indien, Babylon, China, Ägypten, dem Arabertum und der Mayakultur --
Einzelwelten des Werdens, die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso
schwer wiegen, die an Großartigkeit der seelischen Konzeption, an
Gewalt des Aufstiegs das Hellenentum vielfach übertreffen -- eine in
keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.


7

Das Schema Altertum -- Mittelalter -- Neuzeit ist eine durch die Kirche
übermittelte Schöpfung der Gnosis -- also des semitischen, insbesondere
syrisch-jüdischen Weltgefühls während der römischen Kaiserzeit.

Innerhalb der sehr engen Grenzen, welche die geistige Voraussetzung
dieser bedeutenden Konzeption bilden, bestand sie durchaus zu Recht.
Hier fällt weder die indische noch selbst die ägyptische Geschichte
in den Kreis der Betrachtung. Das Wort Weltgeschichte bezeichnet im
Munde dieser Denker einen einmaligen, höchst dramatischen Akt, dessen
Schauplatz die Landschaft zwischen Hellas und Persien war. In ihm
gelangt das streng dualistische Weltgefühl des Morgenländers zum
Ausdruck, nicht polar wie in der gleichzeitigen Metaphysik durch den
Gegensatz von Seele und Geist, sondern periodisch,[10] als Katastrophe
gesehen, als Wende zweier Zeitalter zwischen Weltschöpfung und
Weltuntergang, unter Absehen von allen Elementen, die nicht einerseits
durch die antike Literatur, andrerseits durch die Bibel fixiert
waren. In diesem Weltbilde erscheint als „Altertum“ und „Neuzeit“ der
damals handgreifliche Gegensatz von heidnisch und christlich, antik
und orientalisch, Statue und Dogma, Natur und Geist in +zeitlicher+
Fassung, als Prozeß der Überwindung des einen durch das andre. Der
historische Übergang trägt die religiösen Merkmale einer Erlösung. Ohne
Zweifel ein auf engen, durchaus provinzialen Ansichten beruhender,
aber logischer und in sich vollkommener Aspekt, der indessen an dieser
Landschaft und diesem Menschentum haftete und keiner +natürlichen+
Erweiterung fähig war.

Erst durch die additive Hinzufügung eines dritten Zeitalters --
+unsrer+ „Neuzeit“ -- auf abendländischem Boden ist in das Bild eine
Bewegungstendenz gekommen. Das orientalische Gegenbild war +ruhend+,
eine geschlossene, im Gleichgewicht verharrende Antithese, mit
einer einmaligen göttlichen Aktion als Mitte. Das so sterilisierte
Fragment der Geschichte, von einer ganz neuen Art Mensch aufgenommen
und getragen, wurde nun plötzlich, ohne daß man sich des Bizarren
einer solchen Änderung bewußt worden wäre, in Gestalt einer +Linie+
fortgesponnen, die von Homer oder Adam -- die Möglichkeiten sind
heute durch die Indogermanen, die Steinzeit und den Affenmenschen
bereichert -- über Jerusalem, Rom, Florenz und Paris hinauf oder hinab
führte, je nach dem persönlichen Geschmack des Historikers, Denkers
oder Künstlers, der das dreiteilige Bild mit schrankenloser Freiheit
interpretierte.

Man fügte also den +komplementären+ Begriffen Heidentum und Christentum
-- beide sukzessiv, als Weltalter gefaßt -- den +abschließenden+ einer
„Neuzeit“ hinzu, die scherzhafterweise ihrerseits eine Fortsetzung
des Verfahrens nicht gestattet und, nachdem sie seit den Kreuzzügen
wiederholt „gestreckt“ worden ist, einer weiteren Dehnung nicht fähig
erscheint. Man war, ohne es auszusprechen, der Meinung, daß hier
jenseits von Altertum und Mittelalter etwas Endgültiges beginne, ein
drittes Reich, in dem irgendwie eine Erfüllung lag, ein Höhepunkt,
ein Ziel, das erkannt zu haben von den Scholastikern an bis zu den
Sozialisten unserer Tage jeder sich allein zuschrieb. Es war das eine
ebenso bequeme als für ihren Urheber schmeichelhafte Einsicht in den
Lauf der Dinge. Man hatte ganz einfach den Geist des Abendlandes mit
dem Sinn der Welt verwechselt. Aus einer geistigen Not haben dann große
Denker eine metaphysische Tugend gemacht, indem sie das durch den
_consensus omnium_ geheiligte Schema, ohne es einer ernsthaften Kritik
zu unterwerfen, zur Basis einer Philosophie machten und als Urheber
ihres jeweiligen „Weltplanes“ Gott bemühten. Die mystische Dreizahl
der Weltalter hatte für den metaphysischen Geschmack ohnehin etwas
höchst Verführerisches. Herder nannte die Geschichte eine Erziehung des
Menschengeschlechts, Kant eine Entwicklung des Begriffs der Freiheit,
Hegel eine Selbstentfaltung des Weltgeistes, andre anders. In Entwürfen
dieser Art hat sich die historische Gestaltungskraft aber bereits
erschöpft.

Die Idee eines dritten Reiches kannte schon der Abt Joachim von Floris
(† 1202), der die drei Phasen mit den Symbolen des Vaters, des Sohnes
und des Heiligen Geistes in Verbindung brachte. Lessing, der seine Zeit
im Hinblick auf die Antike mehrmals geradezu als Nachwelt bezeichnet,
hat den Gedanken für seine „Erziehung des Menschengeschlechts“ (mit den
Stufen des Kindes, Jünglings und Mannes) aus den Lehren der Mystiker
des 14. Jahrhunderts übernommen, und Ibsen, der ihn in seinem Drama
„Kaiser und Galiläer“ (wo das gnostische Weltdenken in der Gestalt
des Zauberers Maximos unmittelbar hineinragt) gründlich behandelte,
ist in seiner bekannten Stockholmer Rede von 1887 keinen Schritt
darüber hinausgekommen. Augenscheinlich ist es eine Forderung des
westeuropäischen Selbstgefühls, mit der eignen Erscheinung eine Art
Abschluß zu statuieren.

Aber es ist eine völlig unhaltbare Manier, Weltgeschichte zu deuten,
indem man seiner politischen, religiösen oder sozialen Oberzeugung
die Zügel schießen und den drei Phasen, an denen man nicht zu rütteln
wagt, eine Richtung angedeihen läßt, die genau dem eignen Standort
zuführt, und je nachdem die Reife des Verstandes, die Humanität, das
Glück der Meisten, die wirtschaftliche Evolution, die Aufklärung, die
Freiheit der Völker, die Unterwerfung der Natur, die wissenschaftliche
Weltanschauung und dergleichen als absoluten Maßstab an Jahrtausende
anlegt, von denen man beweist, daß sie das Richtige nicht begriffen
oder nicht erreicht haben, während sie in Wirklichkeit nur etwas andres
wollten als wir. „Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und nicht auf
ein Resultat desselben an“ -- das ist ein Wort Goethes, das man allen
törichten Versuchen, das Geheimnis der historischen Form durch ein
+Programm+ zu enträtseln, entgegenstellen sollte.

Das gleiche Bild wird von den Historikern jeder einzelnen Kunst und
Wissenschaft, Nationalökonomie und Philosophie nicht zu vergessen,
gezeichnet. Da sehen wir „die“ Malerei von den Ägyptern (oder den
Höhlenmenschen) bis zu den Impressionisten, „die“ Musik vom blinden
Sänger Homers bis nach Bayreuth, „die“ Gesellschaftsordnung von
den Pfahlbaubewohnern bis zum Sozialismus in linienhaftem Aufstieg
begriffen, dem irgendeine gleichbleibende Tendenz zugrunde gelegt
wird, ohne daß man die Möglichkeit ins Auge faßt, daß Künste eine
gemessene Lebensdauer besitzen, daß sie an eine Landschaft und eine
bestimmte Art Mensch als dessen Ausdruck gebunden sind, daß also diese
Gesamtgeschichten lediglich eine äußerliche Summierung einer Anzahl von
Einzelphänomenen, von Sonderkünsten sind, die nichts als den Namen und
einiges der handwerklichen Technik gemein haben.

Dieser Weltblick ist nicht ohne Komik. Auf jedem andern Gebiete der
lebendigen Natur nehmen wir das Recht in Anspruch, aus der Erscheinung
selbst, sei es durch Erfahrung, sei es durch intuitives Erfassen des
innern Wesens, die Gestalt abzuleiten, welche ihrem Dasein zugrunde
liegt. Wir wissen, daß die Lebensphänomene eines Tieres, einer Pflanze
auf die der verwandten Arten schließen lassen, daß alles Lebende
eine geheimnisvolle Ordnung, die mit Gesetz, Kausalität, Zahl nichts
zu tun hat, in sich trägt und wir ziehen daraus die morphologischen
Folgerungen. Nur hier, wo es sich um den Menschen selbst handelt,
lassen wir die historische Form seines Daseins, die irgendwann
einmal behauptet worden ist, ohne Nachprüfung gelten und zwingen die
Tatsachen, so gut oder schlecht es geht, in das vorgefaßte Schema.
Geht es nicht -- um so schlimmer für die Tatsachen. Wir behandeln
sie mit Verachtung wie die Geschichte der Chinesen oder würdigen sie
überhaupt keines Blickes wie die Kultur der Maya. Sie haben „zum Bau
der Weltgeschichte nichts beigetragen“ -- ein köstlicher Ausspruch.

Von jedem Organismus wissen wir, daß Tempo, Gestalt und Dauer seines
Lebens und jeder einzelnen Lebensäußerung bestimmt sind. Niemand
wird von einer tausendjährigen Eiche erwarten, daß sie eben jetzt im
Begriff ist, mit dem eigentlichen Lauf ihrer Entwicklung zu beginnen.
Niemand erwartet von einer Raupe, die er täglich wachsen sieht, daß
sie möglicherweise ein paar Jahre damit fortfährt. Hier hat jeder
mit unbedingter Gewißheit das Gefühl einer +Grenze+, das mit einem
Gefühl für organische Formen identisch ist. Der Geschichte des
höhern Menschentums gegenüber aber herrscht ein grenzenlos trivialer
Optimismus in bezug auf die Zukunft. Hier schweigt alle psychologische
und physiologische Erfahrung, so daß jedermann im zufällig
Gegenwärtigen die „Ansätze“ zu einer ganz besonders hervorragenden
linienhaften „Weiterentwicklung“ feststellt, weil er sie wünscht. Hier
wird mit schrankenlosen Möglichkeiten -- nie mit einem natürlichen Ende
-- gerechnet und aus der Lage jedes Augenblicks heraus eine höchst
naive Konstruktion der Fortsetzung entworfen.

Aber „die Menschheit“ hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so
wenig die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat.
„Die Menschheit“ ist ein leeres Wort. Man lasse dies Phantom aus dem
Umkreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen
überraschenden Reichtum +wirklicher+ Formen auftauchen sehen. Hier ist
eine unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen, die bis
jetzt durch eine Phrase, durch ein dürres Schema, durch persönliche
„Ideale“ verdeckt wurde. Ich sehe statt des monotonen Bildes einer
linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn
man vor der überwiegenden Zahl der Tatsachen das Auge schließt, das
Phänomen einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft
aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen
im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von
denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre +eigne+ Form aufprägt,
von denen jede ihre +eigne+ Idee, ihre +eignen+ Leidenschaften, ihr
+eignes+ Leben, Wollen, Fühlen, ihren +eignen+ Tod hat. Hier gibt es
Farben, Lichter, Bewegungen, die noch kein geistiges Auge entdeckt
hat. Es gibt aufblühende und alternde Kulturen, Völker, Sprachen,
Wahrheiten, Götter, Landschaften, wie es junge und alte Eichen und
Pinien, Blüten, Zweige, Blätter gibt, aber es gibt keine alternde
„Menschheit“. Jede Kultur hat ihre eignen Möglichkeiten des Ausdrucks,
die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. Es gibt
viele, im tiefsten Wesen völlig voneinander verschiedene Plastiken,
Malereien, Mathematiken, Physiken, jede von begrenzter Lebensdauer,
jede in sich selbst geschlossen, wie jede Pflanzenart ihre eignen
Blüten und Früchte, ihren eignen Typus von Wachstum und Niedergang hat.
Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen
Zwecklosigkeit auf, wie die Blumen auf dem Felde. Sie gehören, wie
Pflanzen und Tiere, der lebendigen Natur Goethes, nicht der toten
Natur Newtons an. Ich sehe in der Weltgeschichte das Bild einer ewigen
Gestaltung und Umgestaltung, eines wunderbaren Werdens und Vergehens
organischer Formen. Der zünftige Historiker aber sieht sie in der
Gestalt eines Bandwurms, der unermüdlich Epochen „ansetzt“.

Indessen hat die Kombination „Altertum -- Mittelalter -- Neuzeit“
endlich ihre Wirkung erschöpft. So winkelhaft eng und flach sie
war, so stellte sie doch die einzige nicht ganz unphilosophische
Fassung dar, die wir besaßen, und was als Weltgeschichte literarisch
geordnet wurde, hat ihr den Rest von philosophischem Gehalt zu
verdanken; aber die Zahl von Jahrhunderten, die durch dies Schema
+höchstens+ zusammengehalten werden konnte, ist längst erreicht. Das
traditionelle Bild beginnt sich bei rascher Zunahme des historischen
Stoffes, namentlich des außerhalb dieser Ordnung liegenden, in ein
unübersehbares Chaos aufzulösen. Jeder nicht ganz blinde Historiker
weiß und fühlt das und nur um nicht ganz zu versinken, hält er um jeden
Preis das einzige ihm bekannte Schema fest. Das Wort Mittelalter,
1667 von Professor Horn in Leyden geprägt, muß heute eine formlose,
sich beständig ausdehnende Masse decken, die rein negativ durch das
begrenzt wird, was sich unter keinem Vorwand den beiden andern,
leidlich geordneten Komplexen zurechnen läßt. Die unsichere Behandlung
und Wertung der neupersischen, arabischen und russischen Geschichte
sind Beispiele dafür. Vor allem läßt sich der Umstand nicht länger
verhehlen, daß diese angebliche Geschichte der Welt sich anfangs
tatsächlich auf die Region des östlichen Mittelmeeres und später,
seit der Völkerwanderung, einem nur für uns wichtigen und deshalb
stark vergrößerten, in Wirklichkeit rein lokalen Ereignis, das schon
die arabische Kultur nichts angeht, mit einem plötzlichen Wechsel
des Schauplatzes auf das mittlere Westeuropa beschränkt. Hegel hatte
in aller Naivität erklärt, daß er die Völker, die in sein System
der Geschichte nicht paßten, ignorieren werde. Aber das war nur ein
ehrliches Eingeständnis von methodischen Voraussetzungen, ohne die
+kein+ Historiker zum Ziele kam. Man kann die Disposition sämtlicher
Geschichtswerke daraufhin prüfen. Es ist heute in der Tat eine Frage
des wissenschaftlichen Taktes, welche der historischen Phänomene man
+ernsthaft+ mitzählt und welche nicht. Ranke ist ein gutes Beispiel
dafür.


8

Wir denken heute in Erdteilen. Nur unsere Philosophen und Historiker
haben das noch nicht gelernt. Was können uns da Gedanken und
Perspektiven bedeuten, die mit dem Anspruch auf universale Gültigkeit
hervortreten und deren Horizont über die geistige Atmosphäre des
westeuropäischen Menschen nicht hinausreicht?

Man sehe sich daraufhin unsre besten Bücher an. Wenn Plato von der
Menschheit redet, so meint er den Hellenen im Gegensatz zum Barbaren.
Das entspricht durchaus dem ahistorischen Stil des antiken Lebens
und Denkens und führt unter dieser Voraussetzung zu folgerichtigen
Resultaten. Wenn aber Kant philosophiert, über ethische Ideale zum
Beispiel, so behauptet er die Gültigkeit seiner Sätze für die Menschen
aller Arten und Zeiten. Er spricht das nur nicht aus, weil es für
ihn und seine Leser allzu selbstverständlich ist. Er formuliert
in seiner Ästhetik nicht das Prinzip der Kunst des Phidias oder
der Kunst Rembrandts, sondern gleich das der Kunst überhaupt. Aber
was er an notwendigen Formen des Denkens feststellt, sind doch nur
die notwendigen Formen des abendländischen Denkens. Ein Blick auf
Aristoteles und dessen wesentlich andre Resultate hätte lehren sollen,
daß hier nicht ein weniger klarer, sondern ein anders angelegter Geist
über sich reflektiert. Russischen Philosophen wie Solovjeff ist der
kosmische Solipsismus,[11] der Kants Vernunftkritik zugrunde liegt
(jede noch so abstrakte Theorie ist der Ausdruck eines Weltgefühls) und
sie für den westeuropäischen Menschen zum wahrsten aller Systeme macht,
unverständlich und für den modernen Chinesen und Araber mit ihren ganz
anders gearteten Intellekten hat die Lehre Kants lediglich den Wert
einer Kuriosität.

Das ist es, was dem abendländischen Denker fehlt und +gerade ihm+ nicht
fehlen sollte: die Einsicht in den +historisch-relativen+ Charakter
seiner Resultate, die selbst Ausdruck +eines und nur dieses einen+
Daseins sind, das Wissen um die notwendigen Grenzen der Gültigkeit,
die Überzeugung, daß seine „unumstößlichen Wahrheiten“ und „ewigen
Einsichten“ eben nur für ihn wahr und in seinem Weltaspekte ewig
sind und daß es Pflicht ist, darüber hinaus nach denen zu suchen,
die der Mensch anderer Kulturen mit derselben Gewißheit aus sich
heraus ausgesprochen hat. Das gehört zur +Vollständigkeit+ einer
Philosophie der Zukunft. Das erst heißt die Formensprache der
Geschichte, der +lebendigen+ Welt verstehen. Es gibt hier nichts
Bleibendes und Allgemeines. Man rede nicht mehr von den Formen +des+
Denkens, dem Prinzip +des+ Tragischen, der Aufgabe +des+ Staates.
Allgemeingültigkeit ist immer der Fehlschluß von sich auf andre.

Sehr viel bedenklicher wird das Bild, wenn wir uns den Denkern der
westeuropäischen Modernität von Schopenhauer an zuwenden, dort, wo der
Schwerpunkt des Philosophierens aus dem Abstrakt-Systematischen ins
Praktisch-Ethische rückt und an Stelle des Problems der Erkenntnis
das Problem des Lebens (des Willens zum Leben, zur Macht, zur Tat)
tritt. Hier wird nicht mehr das ideale Abstraktum „Mensch“ wie bei
Kant, sondern der wirkliche Mensch, wie er in historischer Zeit,
als primitiver oder als Kulturmensch völkerhaft gruppiert, die
Erdoberfläche bewohnt, der Betrachtung unterworfen, und es ist
lächerlich, wenn auch da noch das Format der höchsten Begriffe durch
das Schema Altertum -- Mittelalter -- Neuzeit und die damit verbundene
örtliche Beschränkung bestimmt wird. Aber das ist der Fall.

Betrachten wir den historischen Horizont Nietzsches. Seine Begriffe der
Dekadence, des Nihilismus, der Umwertung aller Werte, Konzeptionen, die
tief im Wesen der abendländischen Zivilisation begründet liegen und für
ihre Analyse schlechthin entscheidend sind -- welches war die Basis
ihrer Formulierung? Römer und Griechen, Renaissance und europäische
Gegenwart, einen flüchtigen Seitenblick auf die (mißverstandene)
indische Philosophie eingerechnet, kurz: Altertum -- Mittelalter --
Neuzeit. Darüber ist er, streng genommen, nie hinausgegangen und die
andern Denker der Epoche so wenig wie er. Aber ist das die Grundlage
einer Philosophie der +Welt+? Heißt das, menschliche Geschichte
+überhaupt+ betrachten? Ist es ein Wunder, daß Nietzsche, wenn er,
ohne von Ägypten und Babylon, Rußland und China etwas zu wissen, von
einzelnen Beobachtungen zu allgemeinen Zusammenfassungen übergeht
-- hierher gehören die Gedanken über die Herrenmoral, die blonde
Bestie, den Übermenschen -- alsbald zu summarischen, vermeintlich
weltumfassenden Konstruktionen gelangt, die in Wirklichkeit recht
provinzial, völlig willkürlich, zuletzt komisch sind?

In welcher Beziehung steht denn sein Begriff des Dionysischen --
zum Innenleben der hochzivilisierten Chinesen aus der Zeit des
Konfucius oder eines modernen Amerikaners? Was bedeutet der Typus des
Übermenschen -- für die Welt des Islam? Oder was sollen die Begriffe
Natur und Geist, heidnisch und christlich, antik und modern als
gestaltende Antithese im Seelentum des Inders und Russen bedeuten? Was
hat Tolstoi, der aus seiner tiefsten Menschlichkeit heraus die ganze
Ideenwelt des Westens als etwas Fremdes und Fernes ablehnte, mit dem
„Mittelalter“, mit Dante, mit Luther, was hat ein Japaner mit dem
Parzifal und dem Zarathustra, was ein Inder mit Sophokles zu schaffen?
Und ist die Gedankenwelt Schopenhauers, Comtes, Feuerbachs, Hebbels,
Strindbergs etwa weiträumiger? Ist ihre gesamte Psychologie trotz aller
kosmischen Aspirationen nicht von rein abendländischer Bedeutung? Wie
komisch wirken Ibsens Frauenprobleme, die ebenfalls mit dem Anspruch
auf die Aufmerksamkeit der ganzen „Menschheit“ auftreten, wenn man an
Stelle der berühmten Nora, einer nordwesteuropäischen Großstadtdame,
deren Gesichtskreis etwa einer Mietwohnung von 2000 bis 6000 Mark und
einer protestantischen Erziehung entspricht, Cäsars Frau, Madame de
Sévigné, eine Japanerin oder eine Tiroler Bäuerin setzt? Aber Ibsen
selbst besitzt den Gesichtskreis der großstädtischen Mittelklasse von
gestern und heute. Seine Konflikte, deren psychische Voraussetzungen
etwa seit 1850 vorhanden sind und 1950 kaum überdauern werden, sind
bereits nicht mehr die der großen Welt und der untern Masse, geschweige
denn die von Städten mit nichteuropäischer Bevölkerung.

Alles das sind episodische und lokale, meist sogar auf die
augenblickliche Intelligenz der Großstädte von westeuropäischem Typus
beschränkte, nichts weniger als welthistorische und ewige Werte, und
wenn sie der Generation Ibsens und Nietzsches noch so wesentlich
sind, so heißt es eben doch den Sinn des Wortes Weltgeschichte -- die
keine Auswahl, sondern eine Totalität darstellt -- mißverstehen,
wenn man die außerhalb des modernen Interesses liegenden Faktoren ihm
unterordnet, sie unterschätzt oder übersieht. Und das ist in einem
ungewöhnlich hohen Grade der Fall. Was im Abendlande bisher über die
Probleme des Raumes, der Zeit, der Bewegung, der Zahl, des Willens,
der Ehe, des Eigentums, des Tragischen, der Wissenschaft gesagt und
gedacht worden ist, blieb eng und zweifelhaft, weil man immer darauf
aus war, +die+ Lösung +der+ Frage zu finden, statt einzusehen, daß
zu vielen Fragenden viele Antworten gehören, daß eine philosophische
Frage nur der verhüllte Wunsch ist, eine bestimmte Antwort zu erhalten,
die in der Frage schon beschlossen liegt, daß man die großen Fragen
einer Zeit gar nicht ephemer genug fassen kann und daß demnach eine
+Gruppe historisch bedingter Lösungen+ angenommen werden muß, deren
+Übersicht+ erst -- unter Ausschaltung aller eignen Überzeugungen --
die letzten Geheimnisse aufschließt. Für den Denker -- den echten --
gibt es keine absolut richtigen oder falschen Standpunkte. Es genügt
nicht, angesichts so schwerer Probleme wie dem der Zeit oder der Ehe
die persönliche Erfahrung, die innere Stimme, die Vernunft, die Meinung
der Vorgänger oder Zeitgenossen zu befragen. So erfährt man, was für
einen selbst, für die eigne Zeit wahr ist, aber das ist nicht alles.
Die Erscheinung anderer Kulturen redet eine andre Sprache. Für andre
Menschen gibt es andre Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig
oder keine.

Man begreift, welcher Erweiterung und Vertiefung die abendländische
Weltkritik fähig ist und was alles über den harmlosen Relativismus
Nietzsches und seiner Generation hinaus in den Kreis der Betrachtung
gezogen, welche Feinheit des Formgefühls, welcher Grad von Psychologie,
welche Entsagung und Unabhängigkeit von praktischen Interessen,
welche Unumschränktheit des Horizonts erreicht werden muß, bevor man
sagen darf, man habe die Weltgeschichte, die +Welt als Geschichte+,
verstanden.


9

Diesem allem, den willkürlichen, engen, von außen gekommenen, vom
eignen Interesse diktierten, der Historie aufgezwungenen Formen stelle
ich die natürliche, die „kopernikanische“ Gestalt des Weltgeschehens
entgegen, die ihm in der Tiefe innewohnt und sich nur dem nicht
voreingenommenen Blick offenbart.

Ich erinnere an Goethe. Was er die +lebendige Natur+ genannt hat,
ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, +Welt
als Geschichte+ genannt wird. Goethe, der als Künstler wieder und
immer wieder das Leben, die Entwicklung seiner Gestalten, das Werden,
nicht das Gewordene, herausbildet, wie es der Wilhelm Meister und
Wahrheit und Dichtung zeigen, haßte die Mathematik. Hier stand die
Welt als Mechanismus der Welt als Organismus, die tote der lebendigen
Natur, das Gesetz der Gestalt gegenüber. Jede Zeile, die er als
Naturforscher schrieb, sollte die Gestalt des Werdenden, „geprägte
Form, die lebend sich entwickelt,“ vor Augen stellen. Nachfühlen,
Anschauen, Vergleichen, die unmittelbare innere Gewißheit, die exakte
sinnliche Phantasie -- das waren seine Mittel, den Geheimnissen
der bewegten Erscheinung nahe zu kommen. +Und das sind die Mittel
der Geschichtsforschung überhaupt.+ Es gibt keine andern. Dieser
+göttliche+ Blick ließ ihn am Abend der Schlacht von Valmy am
Lagerfeuer jenes Wort aussprechen: „Von hier und heute geht eine neue
Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei
gewesen.“ Kein Heerführer, kein Diplomat, von Philosophen zu schweigen,
hat Geschichte so unmittelbar werden gefühlt. Es ist das tiefste
Urteil, das je über einen großen Akt der Geschichte in dem Augenblick
ausgesprochen wurde, wo er sich vollzog.

Und so wie er die Entwicklung der Pflanzenform aus dem Blatt, die
Entstehung des Wirbeltiertypus, das Werden der geologischen Schichten
verfolgte -- +das Schicksal der Natur, nicht ihre Kausalität+ -- soll
hier die Formensprache der menschlichen Historie, ihre periodische
Struktur, der Atem der Geschichte aus der Fülle aller sinnfälligen
Einzelheiten entwickelt werden.

Man hat sonst den Menschen den Organismen der Erdoberfläche
zugerechnet und mit Grund. Sein Körperbau, seine natürlichen
Funktionen, seine ganze sinnliche Erscheinung, alles gehört einer
umfassenderen Einheit an. Nur hier macht man eine Ausnahme, trotz
der tiefgefühlten Verwandtschaft des Pflanzenschicksals mit dem
Menschenschicksal -- einem ewigen Thema aller Lyrik -- trotz der
Ähnlichkeit aller menschlichen Geschichte mit der jeder andern
Gruppe höherer Lebewesen -- einem Thema unzähliger Märchen, Sagen
und Fabeln. +Hier+ vergleiche man, indem man die Welt menschlicher
Kulturen rein und tief auf die Einbildungskraft wirken läßt, nicht
indem man sie in ein vorgefaßtes Schema zwängt; man sehe in den
Worten Jugend, Aufstieg, Blütezeit, Verfall, die bis jetzt regelmäßig
und heute mehr denn je der Ausdruck subjektiver Wertschätzungen und
allerpersönlichster Interessen sozialer, moralischer, ästhetischer
Art waren, endlich objektive Bezeichnungen organischer Zustände;
man stelle die antike Kultur als in sich abgeschlossenes Phänomen,
als Körper und Ausdruck der antiken Seele, neben die ägyptische,
indische, babylonische, chinesische, abendländische und suche das
Typische in den wechselnden Geschicken dieser großen Individuen,
das Notwendige in der unbändigen Fülle des Zufälligen und man wird
endlich das Bild der Weltgeschichte sich entfalten sehen, das uns,
den Menschen des Abendlandes, und uns allein natürlich ist.


10

Kehren wir zum engeren Thema zurück, so ist aus diesem Weltblick die
Struktur der Gegenwart, zunächst zwischen 1800 und 2000, morphologisch
zu bestimmen. Das Wann dieser Epoche innerhalb der abendländischen
Gesamtkultur, ihr Sinn als biographischer Abschnitt, der in irgendeiner
Gestalt mit Notwendigkeit in jeder Kultur anzutreffen ist, die
organische und symbolische Bedeutung der ihr angehörenden politischen,
künstlerischen, geistigen, sozialen Form komplexe soll festgestellt
werden.

An diesem Punkte ergibt sich die Identität der Periode mit dem
Hellenismus, und zwar im besonderen die ihres augenblicklichen
Höhepunktes -- bezeichnet durch den Weltkrieg -- mit dem Übergang
der hellenistischen in die Römerzeit. Das +Römertum+, von strengstem
Tatsachensinn, ungenial, barbarisch, diszipliniert, praktisch,
protestantisch, +preußisch+, wird uns, die wir auf Vergleiche
angewiesen sind, immer den Schlüssel zum Verständnis der eigenen
Zukunft bieten. +Griechen und Römer -- damit scheidet sich auch das
Schicksal, das sich für uns schon vollzogen hat und das, welches uns
bevorsteht.+ Denn man hätte längst im „Altertum“ eine Entwicklung
finden können und sollen, die ein vollkommenes Gegenstück zur
eignen, westeuropäischen, bildet, in jeder Einzelheit der Oberfläche
verschieden, aber völlig gleich in dem innern Drang, der den großen
Organismus seiner Vollendung entgegentreibt. Wir hätten Zug um Zug vom
„trojanischen Krieg“ und den Kreuzzügen, Homer und dem Nibelungenlied
an über Dorik und Gotik, dionysischer Bewegung und Renaissance,
Polyklet und Sebastian Bach, Athen und Paris, Aristoteles und Kant,
Alexander und Napoleon bis zum Weltstadtstadium und Imperialismus
beider Kulturen hier ein beständiges _alter ego_ der eignen
Wirklichkeit gefunden.

Aber die Interpretation des antiken Geschichtsbildes, die hier
Vorbedingung war -- wie einseitig ist sie immer angegriffen worden!
wie äußerlich! wie parteiisch! wie wenig umfassend! Weil wir uns „den
Alten“ allzu verwandt fühlten, haben wir uns die Aufgabe allzu leicht
gemacht. In der +flachen+ Ähnlichkeit liegt die Gefahr, der die gesamte
Altertumsforschung erlegen ist. Es ist ein ewiges Vorurteil, das wir
endlich überwinden sollten, daß die Antike uns innerlich nahesteht,
weil wir vermeintlich ihre Schüler und Nachkommen, weil wir tatsächlich
nur ihre Anbeter gewesen sind. Die ganze religionsphilosophische,
kunsthistorische, sozialkritische Arbeit des 19. Jahrhunderts war
nötig, nicht um uns endlich die Dramen des Äschylus, die Lehre Platos,
Apollo und Dionysos, den athenischen Staat, den Cäsarismus verstehen
zu lehren -- davon sind wir weit entfernt --, sondern um uns endlich
fühlen zu lassen, wie unermeßlich fremd und fern uns das alles
innerlich ist, fremder vielleicht als die mexikanischen Götter und die
indische Architektur.

Unsere Meinungen von der griechisch-römischen Kultur haben sich immer
zwischen zwei Extremen bewegt, wobei ohne Ausnahme das Schema Altertum
-- Mittelalter -- Neuzeit die Perspektive aller „Standpunkte“ von
vornherein bestimmt hat. Die einen, Männer des öffentlichen Lebens
vor allem, Nationalökonomen, Politiker, Juristen, finden die „heutige
Menschheit“ im besten Fortschreiten, schätzen sie sehr hoch ein und
messen an ihr alles Frühere. Es gibt keine moderne Partei, nach deren
Grundsätzen Kleon, Marius, Themistokles, Catilina und die Gracchen
nicht schon „gewürdigt“ worden sind. Die andern, Künstler, Dichter,
Philologen und Philosophen, fühlen sich in besagter Gegenwart nicht
zu Hause, nehmen darum in irgendeiner Vergangenheit einen ebenso
absoluten Standpunkt ein und verurteilen von ihm aus ebenso dogmatisch
das Heute. Die einen sehen im Griechentum ein „Noch nicht“, die andern
in der Modernität ein „Nicht mehr“, immer unter der Suggestion eines
Geschichtsbildes, das beide Phänomene linienförmig aneinander knüpft.

Es sind die zwei Seelen Fausts, die sich in diesem Gegensatz
verwirklicht haben. Die Gefahr der einen ist die intelligente
Oberflächlichkeit. Es bleibt von allem, was antike Kultur, was Abglanz
der antiken Seele gewesen war, zuletzt nichts in ihren Händen als
soziale, wirtschaftliche, rechtliche, politische, physiologische
„Tatsachen“. Der Rest nimmt den Charakter von „sekundären Folgen“,
„Reflexen“, „Begleiterscheinungen“ an. Von der mythischen Wucht der
Chöre des Äschylus, von der kolossalen Erdkraft der ältesten Plastik,
der dorischen Säule, von der Glut der apollinischen Kulte, von der
Tiefe selbst noch des römischen Kaiserkultes ist in ihren Büchern
nichts zu spüren. Die andern, verspätete Romantiker vor allem, wie
noch zuletzt die drei Basler Professoren Bachofen, Burckhardt und
Nietzsche, erliegen der Gefahr aller Ideologie. Sie verlieren sich in
den Wolkenregionen eines Altertums, das lediglich ein Spiegelbild ihrer
philologisch geregelten Empfindsamkeit ist. Sie verlassen sich auf die
Reste der alten Literatur, das einzige Zeugnis, das ihnen edel genug
ist -- aber noch nie ist eine Kultur durch ihre großen Schriftsteller
unvollkommener repräsentiert worden.[12] Die andern stützen sich
vorwiegend auf das prosaische Quellenmaterial der Rechtsurkunden,
Inschriften und Münzen, das insbesondere Burckhardt und Nietzsche
sehr zu ihrem Schaden verachtet hatten, und ordnen ihm die erhaltene
Literatur mit ihrem oft minimalen Wahrheits- und Tatsachensinn unter.
So nahm man sich gegenseitig schon der kritischen Grundlagen wegen
nicht ernst. Ich wüßte nicht, daß Nietzsche und Mommsen einander die
geringste Beachtung geschenkt hätten.

Aber keiner von beiden hat die Höhe der Betrachtung erreicht, aus
welcher dieser Gegensatz in nichts zerfällt und die trotzdem möglich
gewesen wäre. Hier rächte sich die Herübernahme des Kausalprinzips aus
der Naturwissenschaft in die Geschichtsforschung. Man kam zu einem das
Weltbild der Physik oberflächlich nachmalenden Pragmatismus, der die
ganz andersartige Formensprache der Historie verdeckt und verwirrt,
nicht erschließt. Man wußte allerseits nichts Besseres, um die Masse
historischen Materials einer vertieften und ordnenden Auffassung
zu unterwerfen, als einen Komplex von Erscheinungen als primär,
als Ursache anzusetzen und die übrigen demgemäß als sekundär, als
Folgen oder Wirkungen zu behandeln. Nicht nur die Praktiker, auch die
Romantiker haben dazu gegriffen, weil die Historie ihre +eigne+ Logik
auch ihrem beschränkten Blick nicht offenbart hat und das Bedürfnis
nach Feststellung einer immanenten Notwendigkeit, deren Vorhandensein
man +fühlte+, viel zu stark war, wenn man nicht wie Schopenhauer der
Geschichte überhaupt mißmutig den Rücken kehren wollte.


11

Reden wir ohne weiteres von einer materialistischen und einer
ideologischen Art, die Antike zu sehen. Dort erklärt man, daß das
Sinken der einen Wagschale seine Ursache im Steigen der andern hat.
Man beweist, daß dies ohne Ausnahme der Fall ist -- zweifellos ein
schlagender Beweis. Hier haben wir also Ursache und Wirkung, und zwar
stellen -- selbstverständlich -- die sozialen und sexuellen, allenfalls
die rein politischen Phänomene die Ursachen, die religiösen, geistigen,
künstlerischen die Wirkungen dar (soweit der Materialist für die
letzteren die Bezeichnung Tatsachen duldet). Die Ideologen beweisen
umgekehrt, daß das Steigen der einen Schale aus dem Sinken der andern
folgt, und sie beweisen es mit derselben Exaktheit. Sie versenken
sich in Kulte, Mysterien, Bräuche, in die Geheimnisse des Verses und
der Linie und würdigen das banausische Alltagsleben, eine peinliche
Folge der irdischen Unvollkommenheit, kaum eines Seitenblicks. Beide
beweisen, den Kausalnexus deutlich vor Augen, daß die andern den
wahren Zusammenhang der Dinge offenbar nicht sehen oder sehen wollen
und enden damit, daß sie einander blind, flach, dumm, absurd oder
frivol, kuriose Käuze oder platte Philister schelten. Der Ideologe ist
entsetzt, wenn jemand Finanzprobleme unter Hellenen ernst nimmt und
z. B. statt von den tiefsinnigen Sprüchen des delphischen Orakels von
den weitreichenden Geldoperationen redet, welche die Orakelpriester mit
den dort deponierten Summen vornahmen. Der Politikus aber lächelt weise
über den, der seine Begeisterung an sakrale Formeln und die Tracht
attischer Epheben verschwendet, statt über antike Klassenkämpfe ein mit
vielen modernen Schlagworten gespicktes Buch zu schreiben.

Der eine Typus ist schon in Petrarka vorgebildet. Er hat Florenz
und Weimar, den Begriff der Renaissance und den abendländischen
Klassizismus geschaffen. Den andern findet man seit der Mitte
des 18. Jahrhunderts, mit dem Beginn einer zivilisierten,
wirtschaftlich-großstädtischen Politik, also zuerst in England (Grote).
Im Grunde stehen sich hier die Auffassung des kultivierten und des
zivilisierten Menschen gegenüber, ein Gegensatz, der zu tief, zu
menschlich ist, um die Inferiorität +beider+ Standpunkte empfinden oder
gar überwinden zu lassen.

Auch der Materialismus verfährt in diesem Punkte idealistisch. Auch
er hat, ohne es zu wissen und zu wollen, seine Einsichten von inneren
Wünschen abhängig gemacht. In der Tat haben sich unsere besten Geister
ohne Ausnahme vor dem Bilde der Antike in Ehrfurcht gebeugt und in
diesem einen Falle der schrankenlosen Kritik entsagt. Die Analyse
des Altertums ist immer durch eine gewisse Scheu verdunkelt worden.
Es gibt in der gesamten Geschichte kein zweites Beispiel für einen so
leidenschaftlichen Kultus, den eine Kultur mit dem Gedächtnis einer
andern treibt. Daß wir Altertum und Neuzeit durch ein „Mittelalter“
idealisch verknüpften, über ein Jahrtausend gering gewerteter, fast
verachteter Historie hinweg, ist nur ein einzelner Ausdruck dieser
unwillkürlichen Devotion. Wir Westeuropäer haben „den Alten“ die
Reinheit und Selbständigkeit unserer Kunst zum Opfer gebracht, indem
wir nur mit einem Seitenblick auf das hehre „Vorbild“ zu schaffen
wagten; wir haben in unser Bild von den Griechen und Römern jedesmal
das hineingelegt, +hineingefühlt+, was wir in der Tiefe der eigenen
Seele entbehrten oder erhofften. Eines Tages wird uns ein geistreicher
Psychologe die Geschichte unserer verhängnisvollsten Illusion, die
Geschichte dessen, was wir jedesmal als antik verehrten, erzählen. Es
gibt wenige Aufgaben, die für die intime Kenntnis der abendländischen
Seele von Kaiser Otto III., dem ersten, bis zu Nietzsche, dem letzten
Opfer des Südens, lehrreicher wären.

Goethe redet auf seiner italienischen Reise mit Begeisterung von den
Bauten Palladios, deren frostiger Akademik wir heute höchst skeptisch
gegenüberstehen. Er sieht dann Pompeji und spricht mit unverhohlenem
Mißvergnügen von dem „wunderlichen, halb unangenehmen Eindruck“.
Was er von den Tempeln von Pästum und Segesta, Meisterstücken
hellenischer Kunst, sagt, ist verlegen und unbedeutend. Offenbar hat
er das Altertum, als es ihm einmal leibhaft in seiner vollen Kraft
entgegentrat, nicht wiedererkannt. Das bezeichnet den historischen
Sinn unserer Seelen: sie wollen nicht Eindrücke von Fremdem, sondern
Ausdruck von Eignem. +Ihr+ „Altertum“ war jedesmal der Horizont
eines historischen Gesamtbildes, das sie geschaffen und mit ihrem
besten Blute genährt haben, ein Gefäß für das eigne Weltgefühl, ein
Phantom, ein Idol. Man begeistert sich in Denkerstuben und poetischen
Zirkeln an den verwegenen Schilderungen antiken Großstadttreibens
bei Aristophanes, Juvenal und Petronius, an südlichem Schmutz und
Pöbel, Lärm und Gewalttat, Lustknaben und Phrynen, am Phalluskult und
cäsarischen Orgien -- aber demselben Stück Wirklichkeit in heutigen
Weltstädten geht man klagend und naserümpfend aus dem Wege. „In den
Städten ist schlecht zu leben: da gibt es zu viele der Brünstigen.“
Also sprach Zarathustra. Sie rühmen die Staatsgesinnung der Römer
und verachten den, der heute nicht jede Berührung mit öffentlichen
Angelegenheiten meidet. Es gibt eine Klasse von Kennern, für welche
der Unterschied von Toga und Gehrock, von byzantinischem Zirkus und
englischem Sportplatz, von antiken Alpenstraßen und transkontinentalen
Eisenbahnen, Trieren und Schnelldampfern, römischen Lanzen und
preußischen Bajonetten, zuletzt sogar vom Suezkanal, je nachdem ihn ein
Pharao oder ein moderner Ingenieur gebaut hat, eine magische Gewalt
besitzt, die jeden freien Blick mit Sicherheit einschläfert. Sie würden
eine Dampfmaschine als Symbol menschlicher Leidenschaft und Ausdruck
vitaler Energie erst dann gelten lassen, wenn Heron von Alexandria sie
erfunden hätte. Es gilt ihnen als Blasphemie, wenn man statt vom Kult
der Großen Mutter vom Berge Pessinus, von römischer Zentralheizung und
Buchführung spricht. Trotzdem war das griechische Wort für Kapital
ἀφορμή, Ausgangspunkt, und Thukydides lobt die Athener seiner Zeit
(I, 70), daß sie keine anderen Feste kannten, als ihre Geschäfte zu
betreiben.[13]

Aber die andern sehen +nichts+ als dies. Sie glauben das Wesen dieser
uns so fremden Kultur zu erschöpfen, indem sie die Griechen ohne
weiteres als ihresgleichen behandeln und sie bewegen sich, wenn sie
psychologische Schlüsse ziehen, in einem System von Identitäten, das
die antike +Seele+ überhaupt nicht berührt. Sie ahnen gar nicht, daß
Worte wie Republik, Freiheit, Eigentum dort und hier Dinge bezeichnen,
die innerlich auch nicht die leiseste Verwandtschaft besitzen. Sie
spötteln über Historiker der Goethezeit, wenn sie ihre politischen
Ideale ausdrücken, indem sie eine Geschichte des Altertums verfassen
und mit den Namen Lykurg, Brutus, Cato, Cicero, Augustus durch
deren Rettungen oder Verurteilungen das eigene Programm oder eine
persönliche Schwärmerei decken, aber sie selbst können kein Kapitel
schreiben, ohne zu verraten, welcher Parteirichtung ihre Morgenzeitung
angehört.

Aber es ist gleichviel, ob man die Vergangenheit mit den Augen Don
Quijotes oder Sancho Pansas betrachtet. Beide Wege führen nicht zum
Ziel. Schließlich hat sich jeder von ihnen erlaubt, das Stück der
Antike in den Vordergrund zu stellen, das den eignen Intentionen
zufällig am besten entsprach, Nietzsche das vorsokratische Athen,
Nationalökonomen die hellenistische Periode, Politiker das
republikanische Rom und Dichter die Kaiserzeit.

Nicht als ob religiöse oder künstlerische Erscheinungen ursprünglicher
wären als soziale und wirtschaftliche. Es ist weder so noch umgekehrt.
Es gibt für den, der hier die unbedingte Freiheit des Blickes erworben
hat, jenseits +aller+ persönlichen Interessen welcher Art auch immer,
überhaupt keine Art von Abhängigkeit, keine Priorität, keine Ursache
und Wirkung, keinen Unterschied des Wertes und der Wichtigkeit. Was
den einzelnen Phänomenen ihren Rang gibt, ist lediglich die größere
oder geringere Reinheit und Kraft ihrer Formensprache, die Stärke ihrer
Symbolik -- abseits von gut und böse, hoch und niedrig, Nutzen und
Ideal.


12

Der Untergang des Abendlandes, so betrachtet, bedeutet nichts
Geringeres als das +Problem der Zivilisation+. Eine der Grundfragen
aller Historie liegt hier vor. Was ist Zivilisation, als logische
Folge, als Vollendung und Ausgang einer Kultur begriffen?

Denn jede Kultur hat ihre +eigne+ Zivilisation. Zum ersten Male werden
hier die beiden Worte, die bisher einen vagen ethischen Unterschied
persönlicher Art zu bezeichnen hatten, in periodischem Sinne, als
Ausdrücke für ein strenges und notwendiges +organisches Nacheinander+
gefaßt. Die Zivilisation ist das unausweichliche +Schicksal+ einer
Kultur. Hier ist der Gipfel erreicht, von dem aus die letzten und
schwersten Fragen der historischen Morphologie lösbar werden.
Zivilisation sind die +äußersten+ und +künstlichsten+ Zustände, deren
eine höhere Art Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß; sie folgen
dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung
als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit, wie sie
Dorik und Gotik zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne,
versteinernde Weltstadt. Sie sind ein +Ende+, unwiderruflich, aber sie
sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden.

Damit erst wird man den Römer als den Nachfolger des Hellenen
verstehen. Erst so rückt die späte Antike in das Licht, das ihre
tiefsten Geheimnisse preisgibt. Denn was hat es zu bedeuten -- was
man nur mit leeren Worten bestreiten kann --, daß die Römer Barbaren
gewesen sind, Barbaren, die einem großen Aufschwung nicht vorangehen,
sondern ihn beschließen? Seelenlos, unphilosophisch, ohne Kunst,
animalisch bis zum Brutalen, rücksichtslos auf materielle Erfolge
haltend, stehen sie zwischen der hellenischen Kultur und dem Nichts.
Ihre nur auf das Praktische gerichtete Einbildungskraft -- sie
besaßen ein sakrales Recht, das die Beziehungen zwischen Göttern
und Menschen wie zwischen Privatpersonen regelte, aber keine Spur
eines Mythus -- ist eine Anlage, die man in Athen überhaupt nicht
antrifft. Griechische Seele und römischer Intellekt -- das ist es.
So unterscheiden sich Kultur und Zivilisation. Das gilt nicht nur
von der Antike. Immer wieder taucht dieser Typus starkgeistiger,
vollkommen unmetaphysischer Menschen auf. In ihren Händen liegt das
geistige und materielle Geschick einer jeden Spätzeit. Sie haben
den babylonischen, ägyptischen, indischen, chinesischen, römischen
Imperialismus durchgeführt. In solchen Perioden sind der Buddhismus,
Stoizismus und Sozialismus zu endgültigen Weltstimmungen herangereift,
die ein erlöschendes Menschentum in seiner ganzen Substanz noch einmal
zu ergreifen und umzugestalten vermögen. Die +reine+ Zivilisation als
historischer Prozeß besteht in einem stufenweisen +Abbau+ anorganisch
gewordener, erstorbener Formen.

Der Übergang von der Kultur zur Zivilisation vollzieht sich in der
Antike im 4., im Abendlande im 19. Jahrhundert. Von da an fallen die
großen geistigen Entscheidungen nicht mehr wie zur Zeit der orphischen
Bewegung und der Reformation in der „ganzen Welt“, in der schließlich
kein Dorf ganz unwichtig ist, sondern in drei oder vier Weltstädten,
die allen Gehalt der Historie in sich aufgesogen haben und denen
gegenüber die gesamte Landschaft der Kultur zum Range der Provinz
herabsinkt, die ihrerseits nur noch die Weltstädte mit den Resten
ihres höheren Menschentums zu nähren hat. +Weltstadt und Provinz+ --
mit diesen Grundbegriffen aller Zivilisation tritt ein ganz neues
Formproblem der Geschichte hervor, das wir Heutigen gerade durchleben,
ohne es in seiner ganzen Tragweite auch nur entfernt begriffen zu
haben. Statt einer Welt eine +Stadt+, ein +Punkt+, in dem sich das
ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt; statt
eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade,
ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in
formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreligiös,
intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das
Bauerntum (und dessen höchste Form, den Landadel), also ein ungeheurer
Schritt zum Anorganischen, zum Ende -- was bedeutet das? Frankreich und
England haben diesen Schritt vollzogen und Deutschland ist im Begriff,
ihn zu tun. Auf Syrakus, Athen, Alexandria folgt Rom. Auf Madrid,
Paris, London folgt Berlin. Provinz zu werden ist das Schicksal ganzer
Länder, die nicht im Strahlenkreise einer dieser Städte liegen wie
damals Kreta und Makedonien, heute der skandinavische Norden.[14]

Ehemals spielte sich der Kampf um die ideelle Fassung der Epoche
auf dem Boden metaphysischer, kultisch oder dogmatisch geprägter
Weltprobleme zwischen dem erdhaften Geiste des Bauerntums (Adel und
Priestertum) und dem „weltlichen“ patrizischen Geiste der alten,
kleinen, berühmten Städte der dorischen und gotischen Frühzeit ab.
Dergestalt waren die Kämpfe um die Dionysosreligion -- z. B. unter
dem Tyrannen Kleisthenes von Sikyon[15] -- und um die Reformation
in den deutschen Reichsstädten und in den Hugenottenkriegen. Aber
wie diese Städte zuletzt das Land überwanden -- ein rein städtisches
Weltbewußtsein begegnet schon bei Parmenides und Descartes -- so
überwindet die Weltstadt sie. Das ist der geistige Prozeß aller
Spätzeiten, der Ionik wie des Barock. Heute wie zur Zeit des
Hellenismus, an dessen Schwelle die Gründung einer künstlichen, also
landfremden Großstadt, Alexandrias, steht, sind diese Kulturstädte --
Florenz, Nürnberg, Salamanca, Brügge, Prag -- Provinzstädte geworden,
die gegen den Geist der Weltstädte einen hoffnungslosen intellektuellen
Widerstand leisten. Die Weltstadt bedeutet den Kosmopolitismus an
Stelle der „Heimat“,[16] den kühlen Tatsachensinn an Stelle der
Ehrfurcht vor dem Überlieferten und Gewachsenen, die wissenschaftliche
Irreligion als Petrefakt der voraufgegangenen Religion des Herzens,
die „Gesellschaft“ an Stelle des Staates, die natürlichen statt der
erworbenen Rechte. Das +Geld+ als anorganischen abstrakten Faktor,
von allen Beziehungen zum Sinne des fruchtbaren Bodens, zu den Werten
einer ursprünglichen Lebenshaltung gelöst -- das haben die Römer vor
den Griechen voraus. Von hier an ist eine vornehme Weltanschauung +auch
eine Geldfrage+. Nicht der griechische Stoizismus des Chrysipp, aber
der spätrömische des Cato und Seneka setzt als Grundlage ein Vermögen
voraus[17] und nicht die sozialethische Gesinnung des 18. Jahrhunderts,
aber die des 20. ist, wenn sie über eine berufsmäßige -- einträgliche
-- Agitation hinaus Tat werden will, eine Sache für Millionäre. Zur
Weltstadt gehört nicht ein Volk, sondern eine Masse. Ihr Unverständnis
für alles Überlieferte, in dem man die +Kultur+ bekämpft (den Adel, die
Kirche, die Privilegien, die Dynastie, in der Kunst die Konventionen,
in der Wissenschaft die Grenzen der Erkenntnismöglichkeit), ihre der
bäuerlichen Klugheit überlegene scharfe und kühle Intelligenz, ihr
Naturalismus in einem ganz neuen Sinne, der über Sokrates und Rousseau
weit zurück in bezug auf alles Sexuelle und Soziale an urmenschliche
Instinkte und Zustände anknüpft, das _panem et circenses_, das heute
wieder in der Verkleidung von Lohnkampf und Sportplatz erscheint --
alles das bezeichnet der endgültig abgeschlossenen Kultur, der Provinz
gegenüber eine ganz neue, späte und zukunftslose, aber unvermeidliche
Form menschlicher Existenz.

Das ist es, was +gesehen+ sein will, nicht mit den Augen des
Parteimannes, des Ideologen, des zeitgemäßen Moralisten, aus dem Winkel
irgendeines „Standpunktes“ heraus, sondern aus zeitloser Höhe, den
Blick auf die historische Formenwelt von Jahrtausenden gerichtet --
wenn man wirklich die große Krisis der Gegenwart begreifen will.

Ich sehe Symbole ersten Ranges darin, daß in Rom, wo um 60 v. Chr.
der Triumvir Crassus der erste Bauplatzspekulant war, das auf allen
Inschriften prangende römische Volk, vor dem Gallier, Griechen,
Parther, Syrer in der Ferne zitterten, in ungeheurem Elend in den
vielstöckigen Mietskasernen lichtloser Vorstädte[18] hauste und die
Erfolge der militärischen Expansion mit Gleichgültigkeit oder einer Art
von sportlichem Interesse aufnahm; daß manche der großen Familien des
Uradels, Nachkommen der Sieger über die Kelten, Samniten und Hannibal,
weil sie sich an der wüsten Spekulation nicht beteiligten, ihre
Stammhäuser aufgeben und armselige Mietwohnungen beziehen mußten; daß,
während sich längs der Via Appia die noch heute bewunderten Grabmäler
der Finanzgrößen Roms erhoben, die Leichen des Volkes zusammen mit
Tierkadavern und Großstadtkehricht in ein grauenhaftes Massengrab
geworfen wurden, bis man unter Augustus, um Seuchen zu verhüten,
die Stelle zuschüttete, auf der Mäcenas dann seinen berühmten Park
anlegte; daß man in dem entvölkerten Athen, das von Fremdenbesuch
und den Stiftungen reicher Ausländer (wie des Judenkönigs Herodes)
lebte, der Reisepöbel allzu rasch reich gewordener Römer die Werke der
perikleischen Zeit begaffte, von denen er so wenig verstand wie die
amerikanischen Besucher der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo,
nachdem man alle beweglichen Kunstwerke fortgeschleppt oder zu
phantastischen Modepreisen angekauft und dafür kolossale und anmaßende
Römerbauten neben die tiefen und bescheidenen Werke der alten Zeit
gesetzt hatte. In diesen Dingen, die der Historiker nicht zu loben oder
tadeln, sondern morphologisch abzuwägen hat, liegt für den, welcher zu
sehen gelernt hat, eine +Idee+ unmittelbar zutage.

Es ist heute wie damals nicht die Frage, ob man von Geburt Germane oder
Romane, Hellene oder Römer, sondern ob man von Erziehung Weltstädter
oder Provinzler ist. Das entscheidet über alles Tatsächliche. Hier
finden wir einen neuen, in seiner Art vollkommenen Weltblick als
Ausdruck eines neuen Lebensstils. Eine höchst bezeichnende und in allen
bisher vorliegenden Fällen identische Metamorphose vollzieht sich.
Es ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb man in dem wirren Bilde
der historischen Oberfläche die eigentliche Struktur der Historie
nicht aufgefunden hat, daß man es nicht verstand, die Formkomplexe des
kultivierten und des zivilisierten Daseins aus ihrer wechselseitigen
Durchdringung zu lösen. Eine Kritik der Gegenwart steht hier vor ihrer
schwersten Aufgabe.

Denn es wird sich zeigen, daß von diesem Augenblicke an alle großen
Konflikte der Weltanschauung, der Politik, der Kunst, des Wissens,
des Gefühls im Zeichen dieses einen Gegensatzes stehen. Was ist
zivilisierte Politik von morgen im Gegensatz zur kultivierten von
gestern? In der Antike Rhetorik, im Abendlande Journalismus, und
zwar im Dienste jenes Abstraktums, das die Macht der Zivilisation
repräsentiert, des +Geldes+. Sein Geist ist es, der unvermerkt die
historischen Formen des Völkerdaseins durchdringt, oft ohne sie im
geringsten zu ändern oder zu zerstören. Der römische Staatsmechanismus
ist vom älteren Scipio Africanus bis auf Augustus in viel höherem Grade
stationär geblieben, als dies in der Regel angenommen wird. Aber
die großen Parteien, Vehikel einer veralteten Form des politischen
Lebens, sind zur Zeit der Gracchen wie im 20. Jahrhundert nur noch
scheinbar Mittelpunkte der entscheidenden Aktionen. In Wirklichkeit
ist es dem Forum Romanum gegenüber gleichgültig, wie auf dem Forum von
Pompeji geredet, beschlossen und gewählt wird, und die drei oder vier
Weltblätter werden in unsrer Zukunft die Meinung der Provinzzeitungen
und damit den „Willen des Volkes“ bestimmen. Es ist eine kleine Anzahl
überlegener Gehirne, deren Namen in diesem Augenblick vielleicht nicht
die bekanntesten sind, die alles entscheidet, während die große Masse
der Politiker zweiten Ranges, Rhetoren und Tribunen, Abgeordnete
und Journalisten, eine Auswahl nach Provinzhorizonten, nach unten
die Illusion einer Selbstbestimmung des Volkes aufrecht erhält. Und
die Kunst? Die Philosophie? Die Ideale der platonischen und der
kantischen Zeit galten einem höhern Menschentum überhaupt, die des
Hellenismus und der Gegenwart, vor allem der Sozialismus, der ihm
genetisch nahe verwandte Darwinismus mit seinen so ganz ungoetheschen
Formeln vom Kampf ums Dasein und der Zuchtwahl, die damit wiederum
verwandten Frauen- und Eheprobleme bei Ibsen, Strindberg und Shaw, die
impressionistischen Neigungen einer anarchischen Sinnlichkeit, das
ganze Bündel moderner Sehnsüchte, Reize und Schmerzen, deren Ausdruck
die Lyrik Baudelaires und die Musik Wagners ist, sind nicht für das
Weltgefühl des dörflichen und überhaupt des natürlichen Menschen,
sondern ausschließlich für den weltstädtischen Gehirnmenschen da.
Je kleiner die Stadt, desto sinnloser die Beschäftigung mit dieser
Malerei und Musik. Zur Kultur gehört die Gymnastik, das Turnier,
der Agon, zur Zivilisation der +Sport+. Auch das unterscheidet die
hellenische Palästra vom römischen Zirkus.[19] Die Kunst selbst wird
Sport -- das bedeutet _l’art pour l’art_ -- vor einem hochintelligenten
Publikum von Kennern und Käufern, mag es sich um die Bewältigung
absurder instrumentaler Tonmassen oder harmonischer Hindernisse,
mag es sich um das „Nehmen“ eines Farbenproblems handeln. Eine neue
Tatsachenphilosophie erscheint, die für metaphysische Spekulationen
nur ein Lächeln übrig hat, eine neue Literatur, dem Intellekt,
dem Geschmack und den Nerven des Großstädters ein Bedürfnis, dem
Provinzialen unverständlich und verhaßt.[20] Weder die alexandrinische
Poesie, noch die Freilichtmalerei gehen das „Volk“ etwas an. Der
Übergang wird damals wie heute durch eine Reihe nur in dieser Epoche
anzutreffender Skandale bezeichnet. Die Entrüstung der Athener über
Euripides und die revolutionären Malweisen z. B. des Apollodor,
wiederholt sich in der Auflehnung gegen Wagner, Manet, Ibsen und
Nietzsche.

Man kann die Griechen verstehen, ohne von ihren wirtschaftlichen
Verhältnissen zu reden. Die Römer versteht man +nur+ durch sie. Bei
Chäronea und bei Leipzig wurde zum letzten Male um eine Idee gekämpft.
Im ersten punischen Kriege und bei Sedan sind die wirtschaftlichen
Momente nicht mehr zu übersehen. Erst die Römer mit ihrer praktischen
Energie haben der Sklavenarbeit und dem Sklavenhandel jenen
riesenhaften Stil gegeben, der für viele den Typus der antiken
Lebenshaltung überhaupt entscheidend bestimmt. Erst die germanischen,
nicht die romanischen Völker Westeuropas haben dementsprechend aus
der Dampfmaschine eine das Bild der Länder verändernde Großindustrie
entwickelt. Man wird die Beziehung beider tiefsymbolischen Phänomene
zum Stoizismus und zum Sozialismus nicht übersehen. Erst der
römische, durch C. Flaminius angekündigte, in Marius zum ersten Male
Gestalt gewordene Cäsarismus hat innerhalb der antiken Welt die
+Erhabenheit des Geldes+ -- in der Hand starkgeistiger, groß angelegter
Tatsachenmenschen -- kennen gelehrt. Ohne +das+ ist weder Cäsar noch
das Römertum überhaupt verständlich. Jeder Grieche hat einen Zug von
Don Quijote, jeder Römer von Sancho Pansa -- was sie sonst noch waren,
tritt dahinter zurück.


13

Was die römische Weltherrschaft betrifft, so ist sie ein +negatives+
Phänomen, nicht das Resultat eines Überschusses von Kraft auf der einen
-- den hatten die Römer nach Zama nicht mehr --, sondern das eines
Mangels an Widerstand auf der andern Seite. Die Römer haben die Welt
gar nicht erobert. Sie haben nur in Besitz genommen, was als Beute für
jedermann dalag. Das Imperium Romanum ist nicht durch die äußerste
Anspannung aller militärischen und finanziellen Hilfsmittel, wie es
einst Karthago gegenüber der Fall war, sondern durch den Verzicht des
alten Ostens auf äußere Selbstbestimmung entstanden. Man lasse sich
nicht durch den Schein glänzender soldatischer Erfolge täuschen. Mit
ein paar schlecht geübten, schlecht geführten, übel gelaunten Legionen
haben Lukullus und Pompejus ganze Reiche unterworfen, woran zur Zeit
der Schlacht bei Issus nicht zu denken gewesen wäre. Die mithridatische
Gefahr, eine wirkliche Gefahr für dies nie ernstlich geprüfte System
materieller Kräfte, hätte als solche für die Besieger Hannibals
niemals bestanden. Die Römer haben nach Zama keinen Krieg gegen eine
große Militärmacht mehr geführt und hätten keinen führen können.[21]
Ihre +klassischen+ Kriege waren die gegen die Samniten, gegen Pyrrhus
und Karthago. Ihre große Stunde war Cannä. Es gibt kein Volk, das
Jahrhunderte hindurch auf dem Kothurn steht. Das preußisch-deutsche,
das die mächtigen Augenblicke von 1813, 1870 und 1914 hatte, besitzt
deren mehr als andere.

Ich lehre hier den +Imperialismus+, als dessen Petrefakt Reiche wie
das ägyptische, chinesische, römische, die indische Welt, die Welt
des Islam noch Jahrhunderte und Jahrtausende stehen bleiben und aus
einer Erobererfaust in die andre gehen können -- tote Körper, amorphe,
entseelte Menschenmassen, verbrauchter Stoff einer großen Geschichte
-- als das typische Symbol des Ausgangs begreifen. Imperialismus ist
reine Zivilisation. In dieser Erscheinungsform liegt unwiderruflich
das Schicksal des Abendlandes. Der kultivierte Mensch hat seine
Energie nach innen, der zivilisierte nach außen. Deshalb sehe ich
in Cecil Rhodes den ersten Mann einer neuen Zeit. Er repräsentiert
den politischen Stil einer ferneren, abendländischen, germanischen,
insbesondere deutschen Zukunft. Sein Wort „Ausdehnung ist alles“
enthält in dieser napoleonischen Fassung die eigentlichste Tendenz
einer +jeden+ ausgereiften Zivilisation. Das gilt von den Römern,
den Arabern, den Chinesen. Hier gibt es keine Wahl. Hier entscheidet
nicht einmal der bewußte Wille des einzelnen oder ganzer Klassen und
Völker. Die expansive Tendenz ist ein Verhängnis, etwas Dämonisches
und Ungeheures, das den späten Menschen des Weltstadtstadiums packt,
in seinen Dienst zwingt und verbraucht, ob er will oder nicht, ob er
es weiß oder nicht.[22] Leben ist die Verwirklichung von Möglichem,
und für den Gehirnmenschen +gibt es nur extensive Möglichkeiten+.[23]
So sehr der heutige, noch wenig entwickelte Sozialismus sich gegen
die Expansion auflehnt, er wird eines Tages mit der Vehemenz eines
Schicksals ihr vornehmster Träger sein. Hier rührt die Formensprache
der Politik -- als unmittelbarer intellektueller Ausdruck einer Art von
Menschentum -- an ein tiefes metaphysisches Problem: an die durch die
unbedingte Gültigkeit des Kausalitätsprinzips bestätigte Tatsache, daß
+der Geist das Komplement der Ausdehnung ist+.

Rhodes erscheint als der erste Vorläufer eines abendländischen
Cäsarentypus, für den die Zeit noch lange nicht gekommen ist. Er
steht in der Mitte zwischen Napoleon und den Gewaltmenschen des
nächsten Jahrhunderts, wie jener Flaminius, der seit 232 die Römer
zur Unterwerfung der cisalpinen Gallier -- und damit zum Beginn
ihrer kolonialen Ausdehnungspolitik drängte, zwischen Alexander und
Cäsar. Flaminius war Demagoge, streng genommen ein Privatmann von
staatsbeherrschendem Einfluß in einer Zeit, wo der Staatsgedanke
der Gewalt wirtschaftlicher Faktoren erliegt, in Rom sicherlich der
erste vom cäsarischen Oppositionstypus. Mit ihm endet der organische
Machtwille des Patriziats, der von einer +Idee+ getragen ist, und
es beginnt die rein materialistische, unethische, schrankenlose
Expansion. Alexander und Napoleon waren Romantiker, an der Schwelle
der Zivilisation und schon von ihrer kalten und klaren Luft angeweht;
aber der eine gefiel sich in der Rolle des Achilleus und der andere las
den Werther. Cäsar war lediglich ein Tatsachenmensch von ungeheurem
Verstande.

Aber schon Rhodes verstand unter erfolgreicher Politik einzig den
territorialen und finanziellen Erfolg. Das ist das Römische an ihm,
dessen er sich sehr bewußt war. In dieser Energie und Reinheit hatte
sich die westeuropäische Zivilisation noch nicht verkörpert. Nur vor
seinen Landkarten konnte er in eine Art dichterischer Ekstase geraten,
er, der als Sohn eines puritanischen Pfarrhauses mittellos nach
Südafrika gekommen war und ein Riesenvermögen als Machtmittel für seine
politischen Ziele erworben hatte. Sein Gedanke einer transafrikanischen
Bahn vom Kap nach Kairo, sein Entwurf eines südafrikanischen Reiches,
seine geistige Gewalt über die Minenmagnaten, eiserne Geldmenschen,
die er zwang, ihr Vermögen in den Dienst seiner Ideen zu stellen,
seine Hauptstadt Buluwayo, die er, der allmächtige Staatsmann ohne
ein definierbares Verhältnis zum Staate, als künftige Residenz in
königlichem Maßstabe anlegte, seine Kriege, diplomatischen Aktionen,
Straßensysteme, Syndikate, Heere, sein Begriff von der „großen Pflicht
des Gehirnmenschen gegenüber der Zivilisation“ -- alles das ist, groß
und vornehm, das Vorspiel einer uns noch vorbehaltenen Zukunft, mit der
die Geschichte des westeuropäischen Menschen endgültig +schließen+ wird.

Wer nicht begreift, daß sich an diesem Ausgang nichts ändern läßt, daß
man +dies+ wollen muß oder gar nichts, daß man dies Schicksal lieben
oder an der Zukunft, am Leben verzweifeln muß, wer das Großartige nicht
empfindet, das auch in dieser Wirksamkeit höchster Intelligenzen,
dieser Energie und Disziplin metallharter Naturen, diesem Kampf mit den
kältesten, abstraktesten Mitteln liegt, wer mit dem Idealismus eines
Provinzialen herumgeht und den Lebensstil verflossener Zeiten sucht,
der muß es aufgeben, Geschichte verstehen, Geschichte durchleben,
Geschichte schaffen zu wollen.

So erscheint das Imperium Romanum nicht mehr als ein einmaliges
Phänomen, sondern als normales Produkt einer strengen und energischen,
weltstädtischen, eminent praktischen Geistigkeit und als typischer
Endzustand, der schon einige Male dagewesen, aber bisher nicht
identifiziert worden ist. Begreifen wir endlich, daß das Geheimnis
der historischen Form nicht an der Oberfläche liegt und nicht durch
Ähnlichkeiten des Kostüms oder der Szene zu fassen ist, daß es in
der menschlichen so gut wie in der Tier- und Pflanzengeschichte
Erscheinungen von täuschender Ähnlichkeit gibt, die innerlich nichts
Verwandtes besitzen -- Karl der Große und Harun al Raschid, Alexander
und Cäsar, die Germanenkriege gegen Rom und die Mongolenstürme gegen
Westeuropa -- und andre, die bei größter äußerer Verschiedenheit
Identisches zum Ausdruck bringen wie Trajan und Ramses II., die
Bourbonen und der attische Demos, Mohammed und Pythagoras. Kommen
wir zur Einsicht, daß das 19. und 20. Jahrhundert, vermeintlich der
Gipfel einer geradlinig ansteigenden Weltgeschichte, als Phänomen
tatsächlich in jeder bis zum Ende gereiften Kultur nachzuweisen ist,
nicht mit Sozialisten, Impressionisten, elektrischen Bahnen, Torpedos
und Differentialgleichungen, die nur zum Körper der Zeit gehören,
sondern mit seiner zivilisierten Geistigkeit, die auch ganz andere
Möglichkeiten äußerer Gestaltung besitzt, daß die Gegenwart also
ein Durchgangsstadium darstellt, das unter gewissen Bedingungen mit
Sicherheit eintritt, daß es mithin auch ganz bestimmte +spätere+
Zustände als die modernen westeuropäischen gibt, daß sie in der
abgelaufenen Geschichte schon mehr als einmal dagewesen sind und daß
damit die Zukunft des Abendlandes nicht ein uferloses Hinauf und
Vorwärts in der Richtung unserer augenblicklichen Ideale und mit
phantastischen Zeiträumen ist, sondern +ein in Hinsicht auf Form und
Dauer streng begrenztes und unausweichlich bestimmtes Einzelphänomen
der Historie vom Umfange weniger Jahrhunderte, das aus den vorliegenden
Beispielen übersehen und in wesentlichen Zügen berechnet werden kann+.


14

Hat man diese Höhe der Betrachtung erreicht, so fallen einem alle
Früchte von selbst zu. An den +einen+ Gedanken schließen sich, mit
ihm lösen sich zwanglos alle Einzelprobleme, welche auf den Gebieten
der Religionsforschung, der Kunstgeschichte, der Erkenntniskritik,
der Ethik, der Politik, der Nationalökonomie den modernen Geist
seit Jahrzehnten und leidenschaftlich, aber ohne den letzten Erfolg
beschäftigt haben.

Dieser Gedanke gehört zu den Wahrheiten, die nicht mehr bestritten
werden, sobald sie einmal in voller Deutlichkeit ausgesprochen sind.
Er gehört zu den innern Notwendigkeiten der Kultur Westeuropas und
ihres Weltgefühls. Er ist geeignet, die Lebensanschauung derjenigen
von Grund aus zu ändern, die ihn völlig begriffen, das heißt ihn sich
innerlich zu eigen gemacht haben. Es bedeutet eine große Vertiefung des
uns natürlichen und notwendigen Weltbildes, daß wir die welthistorische
Entwicklung, in der wir stehen und die wir bis jetzt rückwärts als
ein organisches Ganze zu betrachten gelernt haben, nun auch vorwärts
in großen Umrissen verfolgen können. Dergleichen hat sich bisher nur
der Physiker bei seinen Berechnungen träumen lassen. Es bedeutet,
ich wiederhole es noch einmal, auch im Historischen den Ersatz des
ptolemäischen durch einen kopernikanischen Aspekt, das heißt eine
unermeßliche Erweiterung des Lebenshorizontes.

Es stand bis jetzt frei, von der Zukunft zu hoffen, was man wollte.
Wo es keine Tatsachen gibt, regiert das Gefühl. Künftig wird es jedem
Pflicht sein, vom Kommenden zu erfahren, was geschehen +kann+ und
also geschehen +wird+, mit der unabänderlichen Notwendigkeit eines
Schicksals, und was von unsern persönlichen oder den Zeitidealen ganz
unabhängig ist. Gebrauchen wir das bedenkliche Wort Freiheit, so steht
es uns nicht mehr frei, dieses oder jenes zu verwirklichen, sondern
+das Notwendige oder nichts+. Dies als „gut“ zu empfinden ist im Grunde
das Kennzeichen des Realisten. Es bedauern und tadeln heißt aber nicht
es ändern. Zur Geburt gehört der Tod, zur Jugend das Alter, zum Leben
überhaupt seine Gestalt und die vorbestimmten Grenzen seiner Dauer.
Die Gegenwart ist eine zivilisierte, keine kultivierte Phase. Damit
scheidet eine ganze Reihe von Lebensinhalten als unmöglich aus. Man
kann das bedauern und dies Bedauern in eine pessimistische Philosophie
und Lyrik kleiden -- und man wird das künftig tun --, aber man kann es
nicht ändern. Es wird nicht mehr erlaubt sein, im Heute und Morgen mit
aller Selbstsicherheit die Geburt oder Blüte von dem anzunehmen, was
man wünscht, wenn auch die historische Erfahrung laut genug dagegen
redet.

Ich bin auf den Einwand gefaßt, daß ein solcher Weltaspekt, der über
die allgemeinen Direktiven der Zukunft Gewißheit gibt und weitgehende
Hoffnungen abschneidet, lebensfeindlich und für viele ein Verhängnis
sein würde, falls er einmal mehr als bloße Theorie, falls er die
praktische Weltanschauung der für die Gestaltung der Zukunft wirklich
in Betracht kommenden Gruppe von Persönlichkeiten sein würde.

Ich bin nicht der Meinung. Wir sind zivilisierte Menschen, nicht
Menschen der Gotik und des Rokoko; wir haben mit den harten und kalten
Tatsachen eines +späten+ Lebens zu rechnen, dessen Parallele nicht im
perikleischen Athen, sondern im cäsarischen Rom liegt. Von einer großen
Malerei und Musik wird für den westeuropäischen Menschen nicht mehr
die Rede sein. Seine architektonischen Möglichkeiten sind seit hundert
Jahren erschöpft. Ihm sind nur extensive Möglichkeiten geblieben. Aber
ich sehe den Nachteil nicht, der entstehen könnte, wenn eine tüchtige
und von unbegrenzten Hoffnungen geschwellte Generation beizeiten
erfährt, daß ein Teil dieser Hoffnungen zu Fehlschlägen führen muß.
Mögen es die teuersten sein; wer etwas wert ist, wird das überwinden.
Es ist wahr, daß es für einzelne tragisch ausgehen kann, wenn sich
ihrer in den entscheidenden Jahren die Gewißheit bemächtigt, daß im
Bereiche der Architektur, des Dramas, der Malerei +für sie+ nichts mehr
zu erobern ist. Mögen sie zugrunde gehen. Man war sich bisher einig
darüber, hier keinerlei Schranken anzuerkennen; man glaubte, daß jede
Zeit auf jedem Gebiete auch ihre Aufgabe habe; man fand sie, wenn es
sein mußte, mit Gewalt und bösem Gewissen, und jedenfalls stellte es
sich erst nach dem Tode heraus, ob der Glaube einen Grund hatte und
ob die Arbeit eines Lebens +notwendig oder überflüssig+ gewesen war.
Aber jeder, der nicht bloßer Romantiker ist, wird diese Ausflucht
ablehnen. Das ist nicht der Stolz, der die Römer auszeichnete. Was
liegt an denen, die es vorziehen, wenn man vor einer erschöpften
Erzgrube ihnen sagt: Hier wird morgen eine neue Ader angeschlagen
werden -- wie es die augenblickliche Kunst mit ihren durch und durch
unwahren Stilbildungen tut --, statt sie auf das reiche Tonlager zu
verweisen, das unerschlossen daneben liegt? -- Ich betrachte diese
Lehre als eine Wohltat für die kommende Generation, weil sie ihr
zeigt, was möglich und also notwendig ist und was nicht zu den innern
Möglichkeiten der Zeit gehört. Es ist bisher eine Unsumme von Geist
und Kraft auf falschen Wegen verschwendet worden. Der westeuropäische
Mensch, so historisch er denkt und fühlt, ist in einem gewissen
Lebensalter sich nie seiner eigentlichen Richtung bewußt. Er tastet
und sucht und verirrt sich, wenn die äußern Anlässe ihm nicht günstig
sind. Hier endlich hat die Arbeit von Jahrhunderten ihm die Möglichkeit
gegeben, die Lage seines Lebens im Zusammenhang mit der Gesamtkultur
zu übersehen und zu prüfen, was er kann und soll. Wenn unter dem
Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation der Technik
statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der
Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche, und man kann
ihnen nichts Besseres wünschen.


15

Es bleibt noch das Verhältnis einer Morphologie der Weltgeschichte zur
Philosophie festzustellen. Jede echte Geschichtsbetrachtung ist echte
Philosophie -- oder bloße Ameisenarbeit. Aber der Philosoph älteren
Stils bewegt sich in einem schweren Irrtum. Er glaubt nicht an das
Wandelbare seiner Bestimmung. Er meint, daß das höhere Denken einen
ewigen und unveränderlichen Gegenstand besitze, daß die großen Fragen
zu allen Zeiten dieselben seien und daß sie endlich einmal beantwortet
werden könnten.

Aber Frage und Antwort sind hier eins, und jede große Frage, der das
leidenschaftliche Verlangen nach einer ganz bestimmten Antwort schon
zugrunde liegt, hat lediglich die Bedeutung eines Lebenssymbols. Es
gibt keine ewigen Wahrheiten. Jede Philosophie ist ein Ausdruck ihrer
und +nur+ ihrer Zeit, und es gibt nicht zwei Zeitalter, welche die
gleichen philosophischen Intentionen besäßen, sobald von wirklicher
Philosophie und nicht von irgendwelchen akademischen Belanglosigkeiten
über Urteilsformen oder Gefühlskategorien die Rede sein soll. Der
Unterschied liegt nicht zwischen unsterblichen und vergänglichen
Lehren, sondern zwischen Lehren, welche eine Zeitlang oder niemals
lebendig sind. Unvergänglichkeit gewordener Gedanken ist eine Illusion.
Das Wesentliche ist, was für ein Mensch in ihnen Gestalt gewinnt. Je
größer der Mensch, um so wahrer die Philosophie -- im Sinne der inneren
Wahrheit eines großen Kunstwerkes nämlich, was von der Beweisbarkeit
und selbst Widerspruchslosigkeit der einzelnen Sätze unabhängig ist.
Im höchsten Falle kann sie den ganzen Gehalt einer Zeit erschöpfen, in
sich verwirklichen und ihn so, formgeworden, in Persönlichkeit und Idee
verkörpert, der ferneren Entwicklung übergeben. Das wissenschaftliche
Kostüm, die gelehrte Maske einer Philosophie entscheidet hier nichts.
Nichts ist einfacher, als an Stelle von Gedanken, die man nicht hat,
ein System zu begründen. Aber selbst ein guter Gedanke ist wenig
wert, wenn er von einem Flachkopf ausgesprochen wird. Allein die
Notwendigkeit für das Leben entscheidet über den Rang einer Lehre.

Deshalb sehe ich den Prüfstein für den Wert eines Denkers in seinem
Blick für die großen Tatsachen seiner Zeit. Erst hier entscheidet es
sich, ob jemand nur ein geschickter Konstrukteur von Systemen und
Prinzipien ist, ob er sich nur mit Gewandtheit und Belesenheit in
Definitionen und Analysen bewegt -- oder ob es die Seele der Zeit
selbst ist, die aus seinen Werken und Intuitionen redet. Ein Philosoph,
der nicht auch die Wirklichkeit ergreift und beherrscht, wird niemals
ersten Ranges sein. Die Vorsokratiker waren Kaufleute und Politiker
großen Stils. Plato kostete es fast das Leben, daß er in Syrakus seine
politischen Gedanken hatte verwirklichen wollen. Derselbe Plato hat
jene Reihe geometrischer Sätze gefunden, die es Euklid erst möglich
machte, das System der antiken Mathematik aufzubauen. Pascal, den
Nietzsche nur als den „gebrochenen Christen“ kennt, Descartes, Leibniz
waren die ersten Mathematiker und Techniker ihrer Zeit.

Und hier finde ich einen starken Einwand gegen alle Philosophen der
jüngsten Vergangenheit. Was ihnen fehlt, ist der entscheidende Rang
im wirklichen Leben. Keiner von ihnen hat in die hohe Politik, in die
Entwicklung der modernen Technik, des Verkehrs, der Volkswirtschaft,
in irgendeine Art von +großer+ Wirklichkeit auch nur mit einer Tat,
einem mächtigen Gedanken entscheidend eingegriffen. Keiner zählt in
der Mathematik, der Physik, der Staatswissenschaft im geringsten
mit, wie es noch mit Kant der Fall war. Was das bedeutet, lehrt ein
Blick auf andere Zeiten. Aristoteles hat in seiner Schrift über den
Staat der Athener für die sozialpolitische Situation des anbrechenden
Hellenismus das feinste Verständnis bewiesen. Er hätte sehr wohl
-- wie Sophokles -- die Finanzverwaltung von Athen führen können.
Goethe, dessen ministerielle Amtsführung mustergültig war und dem
leider ein großer Staat als Wirkungskreis gefehlt hat, wandte sein
Interesse dem Bau des Suez- und Panamakanals, den er innerhalb einer
genau eingetroffenen Frist voraussah, und deren kommerzieller Wirkung
zu. Das amerikanische Wirtschaftsleben, seine Rückwirkung auf das
alte Europa und die eben im Aufstieg begriffene Maschinenindustrie
haben ihn immer wieder beschäftigt. Hobbes war einer der Väter des
großen Planes, Südamerika für England zu erwerben, und wenn es auch
damals bei der Besetzung von Jamaika blieb, so hat er doch den Ruhm,
ein Mitbegründer des englischen Kolonialreiches zu sein. Leibniz,
sicherlich der mächtigste Geist in der westeuropäischen Philosophie,
der Begründer der Differentialrechnung und der _analysis situs_, hat
in einer zum Zweck der politischen Entlastung Deutschlands entworfenen
Denkschrift an Ludwig XIV. die Bedeutung Ägyptens für die französische
Weltpolitik dargelegt. Seine Gedanken waren der Zeit (1672) so weit
vorausgeschritten, daß man später überzeugt war, Napoleon habe sie
bei seiner Expedition nach dem Orient benützt. Leibniz stellte schon
damals fest, was Napoleon seit Wagram immer deutlicher begriff, daß
Erwerbungen am Rhein und in Belgien die Position Frankreichs nicht
dauernd verbessern könnten und daß die Landenge von Suez eines Tages
der Schlüssel zur Weltherrschaft sein werde. Ohne Zweifel war der König
den tiefen politischen und strategischen Ausführungen des Philosophen
nicht gewachsen.

Ein Blick von Menschen solchen Formats auf heutige Philosophen ist
beschämend. Welche Geringfügigkeit der Person! Welche Alltäglichkeit
des geistigen und praktischen Horizontes! Wie kommt es, daß die
bloße Vorstellung, einer von ihnen solle seinen geistigen Rang
als Staatsmann, als Diplomat, als Organisator großen Stils, als
Leiter irgendeines mächtigen kolonialen, kaufmännischen oder
Verkehrsunternehmens beweisen, geradezu Mitleid erregt? Aber das ist
kein Zeichen von Innerlichkeit, sondern von Mangel an Gewicht. Ich
sehe mich vergebens um, wo einer von ihnen auch nur durch +ein+ tiefes
und vorauseilendes Urteil in einer entscheidenden Zeitfrage sich einen
Namen gemacht hätte. Ich finde nichts als Provinzmeinungen, wie sie
jeder hat. Ich frage mich, wenn ich das Buch eines modernen Denkers zur
Hand nehme, was er -- außer professoralem oder windigem Parteigerede
vom Niveau eines mittleren Journalisten, wie man es bei Guyau, Bergson,
Spencer, Dühring, Eucken findet -- vom Tatsächlichen der Weltpolitik,
von den großen Problemen der Weltstädte, des Kapitalismus, der
Zukunft des Staates, des Verhältnisses der Technik zum Ausgang der
Zivilisation, des Russentums, der Wissenschaft überhaupt ahnt. Goethe
hätte das alles verstanden und geliebt. Von lebenden Philosophen
übersieht es nicht einer. Das ist, ich wiederhole es, nicht Inhalt
der Philosophie, aber ein unzweifelhaftes Symptom ihrer inneren
Notwendigkeit, ihrer Fruchtbarkeit und ihres symbolischen Ranges.

Über die Tragweite dieses negativen Resultates sollte man sich keiner
Täuschung hingeben. Offenbar hat man den letzten Sinn philosophischer
Wirksamkeit aus den Augen verloren. Man verwechselt sie mit Predigt,
Agitation, Feuilleton oder Fachwissenschaft. Man ist von der
Vogelperspektive zur Froschperspektive herabgekommen. Es handelt sich
um nichts Geringeres als um die Frage, ob eine echte Philosophie heute
oder morgen überhaupt +möglich+ ist. Im andern Fall wäre es besser,
Pflanzer oder Ingenieur zu werden, irgend etwas Wahres und Wirkliches,
statt verbrauchte Themen unter dem Vorwande eines „neuerlichen
Aufschwungs des philosophischen Denkens“ wiederzukäuen und lieber einen
Flugmotor zu konstruieren als eine neue und ebenso überflüssige Theorie
der Apperzeption. Es ist wahrhaftig ein armseliger Lebensinhalt,
die Ansichten über den Begriff des Willens und den psychophysischen
Parallelismus noch einmal und etwas anders zu formulieren, als es
hundert Vorgänger getan haben. Das mag ein „Beruf“ sein, Philosophie
ist es nicht. Was nicht das ganze Leben einer Zeit bis in die tiefsten
Tiefen ergreift und verändert, sollte verschwiegen bleiben. Und was
schon gestern möglich war, ist heute zum mindesten nicht mehr notwendig.

Ich liebe die Tiefe und Feinheit mathematischer und physikalischer
Theorien, denen gegenüber der Ästhetiker und Physiolog ein Stümper
ist. Für die prachtvoll klaren, hochintellektuellen Formen eines
Schnelldampfers, eines Stahlwerkes, einer Präzisionsmaschine, die
Subtilität und Eleganz gewisser chemischer und optischer Verfahren
gebe ich den ganzen Stilplunder des heutigen Kunstgewerbes samt
Malerei und Architektur hin. Ich ziehe einen römischen Aquädukt allen
römischen Tempeln und Statuen vor. Ich liebe das Kolosseum und die
Riesengewölbe des Palatin, weil sie heute mit der braunen Masse ihrer
Ziegelkonstruktion das +echte+ Römertum, den großartigen Tatsachensinn
ihrer Ingenieure vor Augen stellen. Sie würden mir gleichgültig sein,
wenn der leere und anmaßende Marmorprunk der Cäsaren mit seinen
Statuenreihen, Friesen und überladenen Architraven noch erhalten
wäre. Man werfe einen Blick auf eine Rekonstruktion der Kaiserfora:
Man wird das getreue Seitenstück moderner Weltausstellungen finden,
aufdringlich, massenhaft, leer, ein dem perikleischen Griechen wie dem
Menschen des Rokoko ganz fremdes Prahlen mit Material und Dimensionen,
wie es ganz ebenso die Ruinen von Luxor und Karnak aus der Zeit Ramses
II., der ägyptischen Modernität von 1300 v. Chr. zeigen. Nicht umsonst
verachtete der echte Römer den _Graeculus histrio_, den „Künstler“,
den „Philosophen“ auf dem Boden römischer Zivilisation. Künste und
Philosophie gehörten nicht mehr in diese Zeit; sie waren erschöpft,
verbraucht, überflüssig. Das sagte ihm sein Instinkt für die Realitäten
des Lebens. +Ein+ römisches Gesetz wog schwerer als alle damalige Lyrik
und Metaphysik der Schulen. Und ich behaupte, daß heute ein besserer
Philosoph in manchem Erfinder, Diplomaten und Finanzmann steckt als in
allen denen, welche das platte Handwerk der experimentellen Psychologie
treiben. Das ist eine Lage, wie sie auf einer gewissen historischen
Stufe immer wieder eintritt. Es wäre sinnlos gewesen, wenn ein Römer
von geistigem Range, statt als Konsul oder Prätor ein Heer zu führen,
eine Provinz zu organisieren, Städte und Straßen zu bauen oder in Rom
„der erste zu sein“, in Athen oder Rhodos irgendeine neue Nuance der
nachplatonischen Kathederphilosophie hätte aushecken wollen. Natürlich
hat es auch keiner getan. Das lag nicht in der Richtung der Zeit und
konnte also nur Menschen dritten Ranges reizen, die immer gerade bis zu
dem Zeitgeist von vorgestern vordringen. Es ist eine sehr ernste Frage,
ob dies Stadium für uns bereits eingetreten ist oder noch nicht.

Ein Jahrhundert rein extensiver Wirksamkeit unter Ausschluß hoher
künstlerischer und metaphysischer Produktion -- sagen wir kurz ein
irreligiöses Zeitalter, was sich mit dem Begriff des Weltstädtischen
durchaus deckt -- ist eine Zeit des Niedergangs. Gewiß. Aber wir haben
diese Zeit nicht +gewählt+. Wir können es nicht ändern, daß wir als
Menschen des beginnenden Winters der vollen Zivilisation und nicht auf
der Sonnenhöhe einer reifen Kultur zur Zeit des Phidias oder Mozart
geboren sind. Es hängt alles davon ab, daß man sich diese Lage, dies
+Schicksal+, klar macht und begreift, daß man sich darüber belügen,
aber nicht hinwegsetzen kann. Wer sich dies nicht eingesteht, zählt
unter den Menschen seiner Generation nicht mit. Er bleibt ein Narr, ein
Charlatan oder ein Pedant.

Bevor man heute an ein Problem herantritt, hat man sich also zu
fragen -- eine Frage, die schon vom Instinkt der wirklich Berufenen
beantwortet wird --, was einem Menschen dieser Tage möglich ist und
was er sich verbieten muß. Es ist immer nur eine ganz kleine Anzahl
metaphysischer Aufgaben, deren Lösung einer Epoche des Denkens
vorbehalten ist. Und es liegt bereits wieder eine ganze Welt zwischen
der Zeit Nietzsches, in der noch ein letzter Zug von Romantik wirksam
war, und der Gegenwart, die von aller Romantik endgültig geschieden ist.

Die systematische Philosophie war mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts
vollendet. Kant hatte ihre äußersten Möglichkeiten in eine große
und -- für den westeuropäischen Geist -- vielfach endgültige Form
gebracht. Ihr folgt wie auf Plato und Aristoteles eine spezifisch
großstädtische, nicht spekulative, sondern praktische, irreligiöse,
ethisch-gesellschaftliche Philosophie. Sie beginnt, Zeno und Epikur
entsprechend, mit Schopenhauer, der zuerst den +Willen zum Leben+
(„schöpferische Lebenskraft“) in den Mittelpunkt seines Denkens
stellte, aber, was die tiefere Tendenz seiner Lehre verschleiert hat,
die systematischen Velleitäten von der Erscheinung und dem Ding an
sich, von Form und Inhalt der Anschauung, vom Unterschiede zwischen
Verstand und Vernunft unter dem Eindruck einer großen Tradition noch
beibehielt. Es ist derselbe schöpferische Lebenswille, der im Tristan
schopenhauerisch verneint, im Siegfried darwinistisch bejaht wurde,
den Nietzsche im Zarathustra glänzend und theatralisch formulierte,
der durch den Hegelianer Marx der Anlaß einer nationalökonomischen,
durch den Malthusianer Darwin der einer zoologischen Hypothese wurde,
die beide gemeinsam und unvermerkt das Weltgefühl des westeuropäischen
Großstädters verwandelt haben, und der von Hebbels Judith bis zu
Ibsens Epilog eine Reihe tragischer Konzeptionen vom gleichen Typus
hervorrief, damit aber ebenfalls den Umkreis echter philosophischer
Möglichkeiten erschöpft hatte.

Die systematische Philosophie liegt uns heute unendlich fern;
die ethische ist abgeschlossen. Es bleibt noch +eine dritte, dem
hellenischen Skeptizismus entsprechende Möglichkeit innerhalb der
abendländischen Geistigkeit+, die, welche durch die bisher unbekannte
Methode der vergleichenden historischen Morphologie bezeichnet
wird. Eine Möglichkeit, das heißt eine Notwendigkeit. Der antike
Skeptizismus ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein
sagt. Der des Abendlandes muß, wenn er innere Notwendigkeit besitzen,
wenn er ein Symbol unseres dem Ende sich zuneigenden Seelentums sein
soll, durch und durch historisch sein. Er hebt auf, indem er alles
als relativ, als geschichtliches Phänomen versteht. Er verfährt
psychologisch. Die skeptische Philosophie tritt im Hellenismus als
Negation der Philosophie auf -- man erklärt sie für zwecklos. Wir
nehmen demgegenüber die +Geschichte+ der +Philosophie+ als letztes
ernsthaftes Thema der Philosophie an. Das +ist+ Skepsis. Man verzichtet
auf absolute Standpunkte, der Grieche, indem er über die Vergangenheit
seines Denkens lächelt, wir, indem wir sie als Organismus begreifen.

In diesem Buche liegt der Versuch vor, diese „unphilosophische
Philosophie“ der Zukunft -- es würde die letzte Westeuropas sein -- zu
skizzieren. Der Skeptizismus ist Ausdruck einer reinen Zivilisation;
er zersetzt das Weltbild der voraufgegangenen Kultur. Hier erfolgt
die Auflösung aller älteren Probleme ins Genetische. Die Überzeugung,
daß alles was +ist+, auch +geworden ist+, daß allem Naturhaften
und Erkennbaren ein Historisches zugrunde liegt, der Welt als dem
Wirklichen ein Ich als das Mögliche, das sich in ihr verwirklicht
hat, die Einsicht, daß nicht nur im Was, sondern auch im Wann und Wie
lange ein tiefes Geheimnis ruht, führt auf die Tatsache, daß alles,
was immer es sonst sei, auch +Ausdruck eines Lebendigen sein+ muß.
Im Gewordnen spiegelt sich das Werden. In der alten Formel _esse est
percipi_ drängt sich das Urgefühl hervor, daß alles Vorhandene in
einer entscheidenden Beziehung zum +lebenden+ Menschen stehen muß und
daß für den toten nichts mehr „da ist“. Aber hat er die Welt, +seine+
Welt „verlassen“ oder +hat er sie durch den Tod aufgehoben+? Das
ist die Frage. Gerade diese Beziehung aber ist von den Denkern der
systematischen Periode nur in formaler Hinsicht, naturhaft, zeitlos,
+erkenntniskritisch+ also untersucht worden. Man dachte an „den
Menschen“ schlechthin, nicht an bestimmte historische Menschen. Für
den Denker der ethischen Periode, schon für Schopenhauer, trat diese
Frage in den Hintergrund vor der andern, idealistisch oder utilitarisch
gefaßten nach dem +Werte+ dessen, was für den einzelnen oder für alle
„da ist“. Aber auch hier dachte man an „den Menschen“ als Typus, ohne
die Berechtigung so allgemeiner Folgerungen zu prüfen. Hier endlich,
im Stadium des historisch-psychologischen Skeptizismus, wird aus dem
unmittelbaren Lebensgefühl heraus bemerkt, daß das gesamte Bild
der Umwelt eine Funktion des Lebens selbst ist, Spiegel, Ausdruck,
+Sinnbild+ der lebendigen Seele, und zwar zunächst jeder einzelnen für
sich. Auch Erkenntnisse und Wertungen sind Akte lebender Menschen. Dem
frühen Denken ist die äußere Wirklichkeit Erkenntnisprodukt und Anlaß
ethischer Schätzungen; dem späten ist sie vor allem +Symbol+. +Die
Morphologie der Weltgeschichte wird notwendig zu einer universellen
Symbolik.+

Damit fällt auch der Anspruch des höheren Denkens, allgemeine und
ewige Wahrheiten aufzufinden. Wahrheiten gibt es nur in bezug auf ein
bestimmtes Menschentum. Diese Philosophie selbst würde demnach Ausdruck
und Spiegelung der abendländischen Seele, im Unterschiede etwa von der
antiken und indischen, und zwar nur in deren zivilisiertem Stadium
sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung, ihre praktische Tragweite
und ihr Geltungsbereich bestimmt sind.


16

Endlich sei eine persönliche Bemerkung gestattet. Im Jahre 1911 hatte
ich die Absicht, über einige politische Erscheinungen der Gegenwart
und die aus ihnen möglichen Schlüsse für die Zukunft etwas aus einem
weiteren Horizont zusammenzustellen. Der Weltkrieg als die bereits
unvermeidlich gewordene äußere Form der historischen Krisis wurde
damals unmittelbar bevorstehend, und es handelte sich darum, ihn
aus dem Geiste der voraufgehenden Jahrhunderte -- nicht Jahre -- zu
begreifen. Im Verlauf der ursprünglich kleinen Arbeit drängte sich die
Überzeugung auf, daß zu einem wirklichen Verständnis der Epoche der
Umfang der Grundlagen viel weiter gewählt werden müsse, daß es völlig
unmöglich sei, eine Untersuchung dieser Art auf eine einzelne Zeit
und deren politischen Tatsachenkreis zu beschränken, sie im Rahmen
pragmatischer Erwägungen zu halten und selbst auf rein metaphysische,
höchst transzendente Betrachtungen zu verzichten, wenn man nicht
auch auf jede tiefere Notwendigkeit der Resultate Verzicht leisten
wollte. Es wurde deutlich, daß ein politisches Problem nicht von der
Politik selbst aus begriffen werden kann und daß wesentliche Züge, die
in der Tiefe mitwirken, nur auf dem Gebiete der Kunst, sogar nur in
der Form weit entlegener wissenschaftlicher und rein philosophischer
Gedanken greifbar in Erscheinung treten. Selbst eine politisch-soziale
Analyse der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, eines Stadiums
gespannter Ruhe zwischen zwei mächtigen, weithin sichtbaren
Ereignissen, dem einen, das durch die Revolution und Napoleon das Bild
der westeuropäischen Wirklichkeit für hundert Jahre bestimmt hat,
und einem andern von mindestens der gleichen Tragweite, das sich mit
steigender Geschwindigkeit näherte, erwies sich als unausführbar, ohne
daß zuletzt +alle+ großen Probleme des Seins in ihrem vollen Umfange
einbezogen wurden. Denn es tritt im historischen wie im naturhaften
Weltbilde nicht das geringste hervor, ohne daß in ihm die ganze Summe
aller tiefsten Tendenzen verkörpert wäre. So erfuhr das ursprüngliche
Thema eine ungeheure Erweiterung. Eine Unzahl überraschender,
großenteils ganz neuer Fragen und Zusammenhänge drängte sich auf.
Endlich war es vollkommen klar, daß kein Fragment der Geschichte
vollkommen durchleuchtet werden könne, bevor nicht das Geheimnis
der Weltgeschichte überhaupt, genauer das der Geschichte des höhern
Menschentums als einer organischen Einheit von regelmäßiger Struktur
klargestellt war. Und eben das war bisher nicht entfernt geleistet
worden.

Von diesem Augenblicke an traten in wachsender Fülle die oft
geahnten, zuweilen berührten, nie begriffenen Beziehungen hervor,
welche die Formen der bildenden Künste mit denen des Krieges und
der Staatsverwaltung verbinden, die tiefe Verwandtschaft zwischen
politischen und mathematischen Gebilden derselben Kultur, zwischen
religiösen und technischen Anschauungen, zwischen Mathematik,
Musik und Plastik, zwischen wirtschaftlichen und Erkenntnisformen.
Die tiefinnerliche Abhängigkeit der modernsten physikalischen und
chemischen Theorien von den mythologischen Vorstellungen unsrer
germanischen Ahnen, die vollkommene Kongruenz im Stil der Tragödie, der
dynamischen Technik und des heutigen Geldverkehrs, die zuerst bizarre,
dann selbstverständliche Tatsache, daß die Perspektive der Ölmalerei,
der Buchdruck, das Kreditsystem, die Fernwaffe, die kontrapunktische
Musik einerseits, die nackte Statue, die Polis, die von Griechen
erfundene +Geldmünze+ andrerseits identische Ausdrücke eines und
desselben seelischen Prinzips sind, wurde unzweifelhaft deutlich, und
weit darüber hinaus rückte die Tatsache ins hellste Licht, daß diese
mächtigen +Gruppen morphologischer Verwandtschaften+, von denen jede
eine einzelne Art Mensch im Gesamtbilde der Weltgeschichte symbolisch
darstellt, von streng symmetrischem Aufbau sind. Erst diese Perspektive
legt den wahren Begriff der Historie bloß. Sie läßt sich, da sie selbst
wiederum Symptom und Ausdruck einer Zeit und erst heute und nur für
den westeuropäischen Menschen innerlich möglich und damit notwendig
ist, nur mit gewissen Anschauungen der modernsten Mathematik auf dem
Gebiete der Transformationsgruppen entfernt vergleichen. Es waren
dies Gedanken, die mich seit langen Jahren beschäftigt hatten, aber
dunkel und unbestimmt, bis sie aus diesem Anlaß in greifbarer Gestalt
hervortraten.

Ich sah die Gegenwart -- den sich nähernden Weltkrieg -- in einem
ganz andern Licht. Das war nicht mehr eine einmalige Konstellation
zufälliger, von nationalen Stimmungen, persönlichen Einwirkungen und
wirtschaftlichen Tendenzen abhängiger Tatsachen, denen der Historiker
durch irgendein kausales Schema politischer oder sozialer Natur
den Anschein der Einheit und materiellen Notwendigkeit aufprägt;
das war der +Typus eines historischen Aktes+, der innerhalb eines
großen historischen Organismus von genau abgrenzbarem Umfange einen
biographisch +seit Jahrhunderten vorbestimmten Platz+ hat. Eine
Unsumme leidenschaftlichster Fragen und Einsichten, die heute in
tausend Büchern und Meinungen, aber zerstreut, vereinzelt, aus
dem beschränkten Horizont eines Spezialgebietes zutage traten und
deshalb reizen, bedrücken und verwirren, aber nicht befreien konnten,
bezeichnet die große Krisis. Man kennt sie, aber man übersieht
ihre Identität. Ich nenne die in ihrer wahren Bedeutung gar nicht
begriffenen Kunstprobleme, die dem Streit um Form und Inhalt, um Linie
oder Raum, um das Zeichnerische oder Malerische, den Begriff des
Stils, den Sinn des Impressionismus und der Musik Wagners zugrunde
liegen; den Niedergang der Kunst, den wachsenden Zweifel am Werte der
Wissenschaft; die schweren Fragen, welche aus dem Sieg der Weltstadt
über das Bauerntum hervorgehen: die Kinderlosigkeit, die Landflucht,
den sozialen Rang des fluktuierenden vierten Standes; die Krisis im
Sozialismus, im Parlamentarismus, im Rationalismus; die Stellung des
Einzelnen zum Staate; das Eigentumsproblem, das davon abhängende
Eheproblem; auf scheinbar ganz anderm Gebiete die massenhaften
völkerpsychologischen Arbeiten über Mythen und Kulte, über die Anfänge
der Kunst, der Religion, des Denkens, die mit einem Male nicht mehr
ideologisch, sondern streng morphologisch behandelt wurden -- Fragen,
die alle das +eine+, nie mit hinreichender Deutlichkeit ins Bewußtsein
getretene Rätsel der Historie überhaupt zum Ziel hatten. Hier lagen
nicht unzählige, sondern +ein und dieselbe+ Aufgabe vor. Hier hatte
jeder etwas geahnt, aber keiner von seinem engen Standpunkte aus die
einzige und umfassende Lösung gefunden, die seit den Tagen Nietzsches
in der Luft lag, der alle entscheidenden Probleme bereits in Händen
hielt, ohne als Romantiker es zu wagen, der strengen Wirklichkeit ins
Gesicht zu sehen.

Darin liegt aber auch die tiefe Notwendigkeit der abschließenden
Lehre, die kommen mußte und nur zu dieser Zeit kommen konnte. Sie ist
kein Angriff auf das Vorhandene an Ideen und Werken. Sie +bestätigt+
vielmehr alles, was seit Generationen gesucht und geleistet wurde.
Dieser Skeptizismus stellt den Kern dessen dar, was auf allen
Einzelgebieten, gleichviel in welcher Absicht, an lebendigen Tendenzen
vorliegt.

Vor allem aber fand sich endlich der Gegensatz, aus dem allein das
Wesen der Geschichte erfaßt werden kann: der von +Historie und Natur+.
Ich wiederhole: der Mensch ist als Element und Träger der Welt nicht
nur Glied der Natur, sondern auch Glied der Geschichte, eines +zweiten
Kosmos+, von andrer Ordnung und andrem Gehalte, der von der gesamten
Metaphysik zugunsten des ersten vernachlässigt worden ist. Was mich
zum ersten Nachdenken über diese +Grundfrage+ unsres Weltbewußtseins
brachte, war die Beobachtung, daß der heutige Historiker, an den
sinnlich greifbaren Ereignissen, dem Gewordenen, herumtastend, die
Geschichte, das Geschehen, das +Werden+ selbst bereits ergriffen zu
haben glaubt, ein Vorurteil aller nur verstandesmäßig Erkennenden,
nicht auch Schauenden,[24] das schon die großen Eleaten stutzig gemacht
hatte, als sie behaupteten, daß es, für den Erkennenden nämlich,
kein Werden, nur ein Sein (Gewordensein) gebe. Mit andern Worten:
man sah die Geschichte als Natur, im Objektsinne des Physikers, und
handelte danach. Von hier schreibt sich der folgenschwere Mißgriff,
die Prinzipien der Kausalität, des Gesetzes, des Systems, also die
Struktur des starren Seins in den Aspekt des Geschehens zu legen.
Man verhielt sich, als gebe es eine menschliche Kultur etwa wie es
Elektrizität oder Gravitation gibt, mit den im wesentlichen gleichen
Möglichkeiten der Analyse; man hatte den Ehrgeiz, die Gewohnheiten
des Naturforschers zu kopieren, so daß man wohl gelegentlich fragte,
was denn die Gotik, der Islam, die antike Polis +sei+, nicht aber,
warum diese Symbole eines Lebendigen gerade +damals+ und +dort+
auftauchen +mußten+, in +dieser Form+ und +für diese Dauer+. Man
begnügte sich, sobald eine der zahllosen Ähnlichkeiten räumlich
und zeitlich weit getrennter Geschichtsphänomene zutage trat, sie
einfach zu registrieren, mit einigen geistvollen Bemerkungen über
das Wunderbare des Zusammentreffens, über Rhodos als das „Venedig
des Altertums“ oder Napoleon als den neuen Alexander, statt gerade
hier, wo das +Schicksalsproblem+ als das eigentliche Problem der
Historie (das +Problem der Zeit+ nämlich) hervortritt, den höchsten
Ernst wissenschaftlich geregelter Psychologie einzusetzen und
die Antwort auf die Frage zu finden, welche ganz anders geartete
Notwendigkeit, der kausalen ganz und gar fremd, hier am Werke ist.
Daß jede Erscheinung auch dadurch ein metaphysisches Rätsel aufgibt,
daß sie zu einer +niemals gleichgültigen+ Zeit auftritt, daß man sich
auch noch fragen muß, was für ein +lebendiger+ Zusammenhang neben
dem anorganisch-naturgesetzlichen im Weltbilde besteht -- das ja die
Ausstrahlung des +ganzen+ Menschen und nicht, wie Kant meinte, nur
die des erkennenden ist --, daß eine Erscheinung nicht nur Tatsache
für den Verstand, sondern auch Ausdruck des Seelischen ist, nicht nur
Objekt, sondern auch Symbol, und zwar von den höchsten religiösen
und künstlerischen Schöpfungen an bis zu den Geringfügigkeiten des
Alltagslebens, das war philosophisch etwas Neues.

Endlich sah ich die Lösung deutlich vor mir, in ungeheuren Umrissen, in
voller innerer Notwendigkeit, eine Lösung, die auf ein einziges Prinzip
zurückführt, das zu finden war und bisher nicht gefunden wurde, etwas,
das mich seit meiner Jugend verfolgt und angezogen hatte und das mich
quälte, weil ich es als vorhanden, als Aufgabe empfand, aber nicht
fassen konnte. So ist aus dem etwas zufälligen Anlaß das vorliegende
Buch entstanden, als der vorläufige Ausdruck eines neuen Weltbildes,
mit allen Fehlern eines ersten Versuchs behaftet, ich weiß es wohl,
unvollständig und sicher nicht ohne Widersprüche. Dennoch enthält
es meiner Überzeugung nach die unwiderlegliche Formulierung eines
Gedankens, der, ich sage es noch einmal, nicht bestritten werden wird,
sobald er einmal ausgesprochen ist.

Das engere Thema ist also eine Analyse des Unterganges der
westeuropäischen Kultur. Das Ziel aber ist die Entwicklung einer
Philosophie und der ihr eigentümlichen, hier zu prüfenden Methode der
vergleichenden Morphologie der Weltgeschichte. Die Arbeit zerfällt
naturgemäß in zwei Teile. Der erste, „Gestalt und Wirklichkeit“, der
sich mit den Problemen der Zahl, des Schicksals, der Kausalität, der
Tragödie, der bildenden Künste, der Weltanschauung, des Lebens, der
Naturerkenntnis, des Mythus beschäftigt, enthält die Grundlagen einer
Symbolik. Der zweite, „Welthistorische Perspektiven“, wird eine Anzahl
historischer Phänomene analysieren: die hier in ihrem wahren Umfange
zum ersten Male aufgedeckte arabische Kultur, die Zivilisation, die
Weltstadt, das Imperium Romanum, die Grundformen des Staates, des
Geldes, der Technik, endlich das Russentum. Ich schließe ausdrücklich
hier, wo die eigentliche Geschichte im Vordergrund steht, eine Reihe
weiterer Probleme aus, die zur tiefern Begründung gehören, aber
selbständiger Behandlung vorbehalten bleiben sollen: die Probleme des
Geschlechts, der Familie, der Rassen und Sprachen, der Ehe und des
Eigentums, der Religion, des Verhältnisses von Wissen und Glauben,
Vaterschaft und Künstlertum, Muttertum und Religiosität.

Die folgenden Tafeln geben einen Überblick über das, was Resultat
der Untersuchung ist. Sie mögen zugleich einen Begriff von der
Fruchtbarkeit und Tragweite der neuen Methode geben.


Fußnoten:

[Footnote 1: Es war ein noch heute nicht überwundener Mißgriff
Kants von ungeheurer Tragweite, daß er den äußern und innern
Menschen zunächst mit den vieldeutigen und vor allem +nicht
unveränderlichen+ Begriffen Raum und Zeit ganz schematisch in
Verbindung brachte und weiterhin damit in vollkommen falscher Weise
Geometrie und Arithmetik verband, an deren Stelle hier der viel tiefere
Gegensatz der mathematischen und chronologischen Zahl wenigstens
genannt sein soll. Arithmetik und Geometrie sind +beides+
Raumrechnungen und in ihren höhern Gebieten überhaupt nicht mehr
unterscheidbar. Eine +Zeitrechnung+, über deren Begriff der naive
Mensch sich gefühlsmäßig durchaus klar ist, beantwortet die Frage nach
dem +Wann+, nicht dem +Was+ oder +Wieviel+.]

[Footnote 2: Man muß es fühlen können, wie sehr die Tiefe der formalen
Kombination und die Energie des Abstrahierens auf dem Gebiete etwa der
Renaissanceforschung oder der Geschichte der Völkerwanderung hinter
dem zurückbleibt, was auf dem Gebiete der Funktionentheorie und der
theoretischen Optik selbstverständlich ist. Neben dem Physiker und
Mathematiker wirkt der Historiker +nachlässig+.]

[Footnote 3: Die ohnehin sehr spät einsetzenden Versuche der
Griechen, nach dem Muster Ägyptens etwas wie einen Kalender oder eine
Chronologie zustande zu bringen, sind von höchster Naivität. Die
Olympiadenrechnung ist keine Ära wie etwa die christliche Zeitrechnung
und außerdem nur ein literarischer Notbehelf, nichts dem Volke
Geläufiges. Es gab keinen Nullpunkt, von dem aus man zählen konnte.
Wir besitzen die Inschrift eines Vertrages zwischen Elis und Heräa,
der „+hundert Jahre von diesem Jahre an+“ gelten sollte. Welches
Jahr dies war, ließ sich aber nicht angeben. Nach einiger Zeit wird
man also nicht mehr gewußt haben, wie lange der Vertrag bestand, und
offenbar hatte das niemand beachtet. Wahrscheinlich aber werden diese
Gegenwartsmenschen ihn überhaupt bald vergessen haben. Es bezeichnet
den legendenhaft-kindlichen Charakter des antiken Geschichtsbildes, daß
man eine geordnete Datierung der Fakta etwa des „trojanischen Krieges“,
der der Stufe nach doch unsern Kreuzzügen entspricht, geradezu als
stilwidrig empfinden würde.]

[Footnote 4: Demgegenüber ist es ein Symbol ersten Ranges und ohne
Beispiel in der Kunstgeschichte, daß die Hellenen der mykenischen
Vorzeit gegenüber -- in einem an Steinmaterial überreichen Lande! --
vom Steinbau zur Verwendung des Holzes +zurückkehrten+, woraus
sich das Fehlen architektonischer Reste zwischen 1200 und 600 erklärt.
Die ägyptische Pflanzensäule war von Anfang an Steinsäule, die dorische
Säule war eine Holzsäule. Darin spricht sich die tiefe Feindseligkeit
der antiken Seele gegen die Dauer aus.]

[Footnote 5: Hat je eine hellenische Stadt auch nur +ein+
umfassendes Werk ausgeführt, das einen Gedanken an kommende
Generationen verrät? Die Straßen- und Bewässerungssysteme, die man
in mykenischer, d. h. +vorantiker+ Zeit nachgewiesen hat, sind
seit der Geburt antiker Völker -- mit dem Anbruch homerischer Zeit
also -- verfallen und vergessen worden. Ebenso wurde Mykene selbst als
+historischer Faktor+ vollständig vergessen. Wir besitzen Tausende
von Schrifttäfelchen aus mykenischer Zeit, aus homerischer nicht ein
einziges. Aber das ist kein „Rückschritt“, sondern der neue Stil einer
andersgearteten Seele. Das ist „reine Gegenwart“.]

[Footnote 6: Von Homer bis zu den Tragödien Senekas, ein volles
Jahrtausend hindurch, erscheinen die mythischen Gestalten wie Thyest,
Klytämnestra, Herakles trotz ihrer begrenzten Zahl unverändert immer
wieder, während in der Dichtung des Abendlandes der faustische Mensch
zuerst als Parzeval und Tristan, dann im Sinn der Epoche verwandelt als
Hamlet, als Don Quijote, als Don Juan, in einer letzten zeitgemäßen
Verwandlung als Faust und Werther und dann als Held des modernen
weltstädtischen Romans, immer aber in der Atmosphäre und Bedingtheit
eines bestimmten Jahrhunderts auftritt.]

[Footnote 7: Abt Gerbert (als Papst Sylvester II.), der Freund Kaiser
Ottos III., hat um 1000, also mit dem Beginn des romanischen Stils
und der Kreuzzugsbewegung, den ersten Symptomen einer neuen Seele,
die Konstruktion der Schlag- und Räderuhren erfunden. In Deutschland
entstanden auch um 1200 die ersten Turmuhren und etwas später die
Taschenuhren. Man bemerke die bedeutsame Verbindung der Zeitmessung mit
dem Gebäude des religiösen Kultus.]

[Footnote 8: Bei Newton heißt sie bezeichnenderweise Fluxionsrechnung
-- mit Rücksicht auf gewisse metaphysische Vorstellungen vom Wesen der
Zeit. In der griechischen Mathematik kommt die Zeit gar nicht vor.]

[Footnote 9: Hier steht der Historiker auch unter dem verhängnisvollen
Vorurteil der Geographie (um nicht zu sagen unter der Suggestion
eines Landkartenbildes), die einen +Erdteil+ Europa annimmt,
worauf er sich verpflichtet fühlt, auch eine entsprechende
+ideelle+ Abgrenzung gegen Asien vorzunehmen. Das Wort Europa
sollte aus der Geschichte gestrichen werden. Es gibt keinen
„Europäer“ als historischen Typus. Es ist töricht, im Falle der
Hellenen von „europäischem Altertum“ (Homer, Heraklit, Pythagoras
waren also „Asiaten“?) und von ihrer „Mission“ zu reden, Asien und
Europa kulturell anzunähern. Das sind Worte, die aus einer banalen
Interpretation der Landkarte stammen und denen nichts Wirkliches
entspricht. Es war allein das Wort Europa mit dem unter seinem Einfluß
entstandenen Gedankenkomplex, das Rußland mit dem Abendlande in unserm
historischen Bewußtsein zu einer durch nichts gerechtfertigten Einheit
verband. Hier hat, in einer durch Bücher erzogenen Kultur von Lesern,
eine bloße Abstraktion zu ungeheuren realen Konsequenzen geführt.
Sie haben, in der Person Peters des Großen, die historische Tendenz
einer primitiven Völkermasse auf Jahrhunderte gefälscht, obwohl der
russische +Instinkt+ „Europa“ sehr richtig und tief mit einer in
Tolstoi, Aksakow und Dostojewski verkörperten Feindseligkeit gegen
das „Mütterchen Rußland“ abgrenzt. Orient und Okzident sind Begriffe
von echtem historischen Gehalt. „Europa“ ist leerer Schall. Alles,
was die Antike an großen Schöpfungen hervorbrachte, entstand unter
Negation einer kontinentalen Grenze zwischen Rom und Cypern, Byzanz
und Alexandria. Alles, was europäische Kultur heißt, entstand zwischen
Weichsel, Adria und Guadalquivir. Und gesetzt, daß Griechenland zur
Zeit des Perikles „in Europa lag“, so liegt es heute nicht mehr dort.]

[Footnote 10: Im Neuen Testament ist die polare Fassung mehr durch die
Dialektik des Apostels Paulus, die periodische durch die Apokalypse
vertreten.]

[Footnote 11: Er liegt schon in Wolfram von Eschenbachs Parzeval und
Dantes Divina comedia.]

[Footnote 12: Entscheidend ist die Auswahl des Übriggebliebenen, die
nicht allein vom Zufall, sondern ganz wesentlich von einer Tendenz
bestimmt ist. Der Attizismus der Augustuszeit, müde, unfruchtbar,
pedantisch, zurückschauend, hat den Begriff des +Klassischen+
geprägt und eine ganz kleine Gruppe griechischer Werke bis auf Plato
herab als klassisch anerkannt. Das übrige, darunter die gesamte reiche
hellenistische Literatur, wurde verworfen und ging fast vollständig
verloren. Jene von einem schulmeisterlichen Geschmack ausgewählte
Gruppe, die größtenteils erhalten blieb, hat dann das imaginäre Bild
des klassischen „Altertums“ in Florenz sowohl wie für Winckelmann,
Hölderlin, Goethe und sogar Nietzsche bestimmt.]

[Footnote 13: Das römische _otium cum dignitate_ hat man lediglich
als Kehrseite einer großangelegten und energischen öffentlichen
Wirksamkeit, nicht als privaten lyrischen oder gelehrten Schlendrian
zu verstehen, wie ihn erst sehr spät die Briefe des jüngeren Plinius
beschreiben.]

[Footnote 14: Was man in der Entwicklung Strindbergs und vor allem
Ibsens, der in der zivilisierten Atmosphäre seiner Probleme immer
nur Gast gewesen ist, nicht übersehen wird. Das Motiv von „Brand“
und „Rosmersholm“ ist eine merkwürdige Mischung von angebornem
Provinzialismus und theoretisch erworbenem Weltstadthorizont. Nora ist
das Urbild einer durch Lektüre aus der Bahn geratenen Provinzlerin.]

[Footnote 15: Der den Kult des Stadtheros Adrastos und den Vortrag der
homerischen Gesänge verbot, um dem dorischen Adel die Wurzeln seines
Seelentums zu nehmen (um 560).]

[Footnote 16: Ein tiefes Wort, das seinen Sinn erhält, sobald der
Barbar zum Kulturmenschen wird, und ihn wieder verliert, sobald der
zivilisierte Mensch das „_ubi bene, ibi patria_“ akzeptiert.]

[Footnote 17: Deshalb verfielen dem Christentum zuerst die Römer, die
es +sich nicht leisten konnten+, Stoiker zu sein.]

[Footnote 18: In Rom und Byzanz wurden sechs- bis zehnstöckige
Miethäuser -- bei höchstens drei Meter Straßenbreite -- errichtet, die
bei dem Fehlen aller baupolizeilichen Vorschriften oft genug mit ihren
Bewohnern zusammenbrachen. Ein großer Teil der _cives Romani_, für
die „_panem et circenses_“ den ganzen Lebensinhalt bildeten, besaß
nur einen teuer bezahlten Schlafplatz in den ameisenhaft wimmelnden
„_insulae_“.]

[Footnote 19: Die deutsche Gymnastik ist seit 1813 und den höchst
provinzialen, urwüchsigen Formen, die ihr Jahn damals gab, in rascher
Entwicklung zum Sportmäßigen begriffen. Der Unterschied eines Berliner
Sportplatzes an einem großen Tage von einem römischen Zirkus war schon
1914 sehr gering.]

[Footnote 20: Was sich seit 1880 in Deutschland an literarischen
Kämpfen abspielt, ist nichts als der übrigens unter ganz belanglosen
Leuten geführte Kampf zwischen weltstädtischer und provinzialer Poesie
(Heimatkunst).]

[Footnote 21: Die Eroberung Galliens durch Cäsar war ein
ausgesprochener Kolonialkrieg, d. h. von einseitiger Aktivität. Daß er
trotzdem den Höhepunkt der späteren römischen Kriegsgeschichte bildet,
bestätigt nur deren rasch abnehmenden Gehalt an wirklichen Leistungen.]

[Footnote 22: Die modernen Deutschen sind das glänzende Beispiel
eines Volkes, das ohne sein Wissen und Wollen expansiv geworden ist.
Sie waren es schon, als sie noch das Volk Goethes zu sein glaubten.
Bismarck hat diesen tiefern Sinn der durch ihn begründeten Epoche
nicht einmal geahnt. Er glaubte den +Abschluß+ einer politischen
Entwicklung erreicht zu haben.]

[Footnote 23: So war vielleicht das bedeutende Wort Napoleons an Goethe
gemeint. „Was will man heute mit dem Schicksal? Die Politik ist das
Schicksal.“]

[Footnote 24: Die Philosophie dieses Buches verdanke ich der
Philosophie Goethes, der unbekannten, und erst in viel geringerem
Grade der Philosophie Nietzsches. Die Stellung Goethes in der
westeuropäischen Metaphysik ist noch gar nicht verstanden worden.
Man nennt ihn nicht einmal, wenn von Philosophie die Rede ist.
Unglücklicherweise hat er seine Lehre nicht in einem starren System
niedergelegt; deshalb übersehen ihn die Systematiker. Aber er war
Philosoph. Er nimmt Kant gegenüber dieselbe Stellung ein wie Plato
gegenüber Aristoteles, und es ist ebenfalls eine mißliche Sache, Plato
in ein System bringen zu wollen. Plato und Goethe repräsentieren die
Philosophie des Werdens, Aristoteles und Kant die des Gewordnen. Hier
steht Intuition gegen Analyse. Was verstandesmäßig kaum auszusprechen
ist, findet sich in einzelnen Vermerken und Gedichten wie den
Orphischen Urworten, Strophen wie „Wenn im Unendlichen“ und „Sagt
es niemand“, die man als Inkarnationen einer +ganz bestimmten+
Metaphysik zu betrachten hat. An folgendem Ausspruch möchte ich nicht
ein Wort geändert wissen: „+Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen,
aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber
nicht im Gewordnen und Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in
ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu
tun, der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze+“
(zu Eckermann).]




  I. TAFEL „GLEICHZEITIGER“ GEISTESEPOCHEN.

  INDISCHE            ANTIKE             ARABISCHE        ABENDLÄNDISCHE
                                                          KULTUR
  seit 1500 v. Chr.   seit 1100 v. Chr.  seit 0           seit 900

  FRÜHLING: Landschaftlich-intuitiv. Mächtige Schöpfungen einer
  erwachenden traumschweren Seele. Überpersönliche Einheit und Fülle.

  1. Geburt eines Mythus großen Stils als Ausdruck eines neuen
     Gottgefühls. Weltangst und Weltsehnsucht.

  1500-1200           1100-800           0-300            900-1200
  Mythologie des      Olympischer        Urchristentum.   Germanischer
  Veda.               Mythus.                             Katholizismus
                                                          (7 Sakramente)
                                                          (Heliand).
                      Homer.             Orientalische    Marienkult
                                         Kulte der        Gralsage
                                         Kaiserzeit       (Parzeval)
                                         (Isis,           Edda.
                                         Mithras).        Nibelungen
                                         Manichäismus.    (Baldr,
                                                          Siegfried).
  Arische             Hellenische        Evangelien.      Die abend-
  Heldensage.         Heldensage.        Apokalypse;      ländische
                                         Legende.         Heiligen-
                                                          legende.

  2. Früheste mystisch-metaphysische Gestaltung des neuen Weltblickes

  Im Rigveda und den  Unbekannt.         Plotin 204-269.  Dante
  ältesten Teilen                        Origenes         1265-1321.
  der andern Veden                       185-254.         Thomas v.
  enthalten.          Nachwirkung        Neuplatoniker.   Aquino
                      in den             Gnostiker.       1225-1274.
                      Kosmogonien.       Kirchenväter.    Eckart
                                                          1250-1329.
                                                          Mystik und
                                                          Scholastik.

  SOMMER: Reifende Bewußtheit. Früheste städtisch-bürgerliche und
  kritische Regungen.

  3. „Reformation“: Innerhalb der Religion volksmäßige Auflehnung gegen
     die großen Formen der Frühzeit

  Bramanas.           Dionysosreligion,  Abfall der       Protestan-
  Älteste Elemente    Orphiker,          Monophysiten     tismus.
  der Upanishads.     antihomerische     449.             Luther.
                      Strömungen.        Bar Sudaili und  Zwingli,
                      7. Jahrh.          die syrische     Calvin um
                                         Mystik um 500.   1500.

  4. Beginn einer rein philosophischen Fassung des Weltgefühls.
     Gegensatz idealistischer und realistischer Systeme.

  In den Upanishads   Die großen         Bisher uner-     Galilei,
  enthalten.          Vorsokratiker      forschte         Descartes,
                      6./5. Jahrh.       syrische,        Bacon, Bruno,
                                         koptische,       Boehme,
                                         neupersische     Leibniz
                                         Literatur des    16./17. Jahrh.
                                         6./7. Jahrh.

  5. Bildung einer neuen Mathematik. Konzeption der Zahl als Abbild und
     Inbegriff der Weltform.

                      Die Zahl als Maß  Die unbestimmte   Die Zahl als
  Verschollen.        (Größe).          Zahl. (Algebra)   Funktion.
                      (Geometrie,       Entwicklung       (Analysis)
                      Arithmetik)       unerforscht.      Descartes,
                      Pythagoräer                         Pascal, Fermat
                      seit 540.                           um 1630
                                                          Newton,
                                                          Leibniz um
                                                          1670.

  6. „Puritanismus“: Rationalistisch-mystische Verarmung des Religiösen.
     Intellektueller Fanatismus.

  Spuren in den       Pythagoräischer    Mohammed.        Puritaner in
  Upanishads.         Bund                                England seit
                      seit 540.                           1620.
                                         Hedschra 622.    Jansenisten
                                                          (Port Royal)
                                                          in Frankreich
                                                          seit 1640.

  HERBST: Großstädtische Intelligenz. Höhepunkt strenggeistiger
  Gestaltungskraft.

  7. „Aufklärung“: Glaube an die Allmacht des Verstandes. Kultus der
     „Natur“. „Vernünftige Religion“.

  Sutras; Sankhya.    Sophistik 5.       Mutaziliten      Sensualisten
  Jüngere Elemente    Jahrh.             8. Jahrh.        (Locke,
  der Upanishads.     Sokrates           Nazzam, Alkindi  Shaftesbury)
                      469-399.           um 830.          17./18. Jahrh.
                      Demokrit           Alkabi um 900.   Rousseau.
                                         460-360.         1712-1778.
                                                          Voltaire.
                                                          Enzyklopä-
                                                          disten
                                                          18. Jahrh.

  8. Höhepunkt des mathematischen Denkens. Abklärung der Formenwelt
     der Zahlen.

  Verschollen.        Archytas 430-365.  Noch             Euler
  (Stellenwert, die   Plato  426-346.    unerforscht.     1707-1783.
  Null als Zahl,      Eudoxos 408-355.   (Zahlentheorie,  Lagrange
  Winkelfunktionen.)  (Kegelschnitte.)   sphärische       1736-1813.
                                         Trigonometrie.)  Laplace
                                                          1749-1827.
                                                          (Infinitesi-
                                                          malproblem.)

  9. Die großen abschließenden Systeme

  Des Idealismus:   Plato 426-346.  Al Farabi † 950.  Goethe {
    Yoga. Vedanta.                                           {Schelling,
  Der Erkenntnis- }                { Aliaf † 850.   }        {
  theorie:        }                {                }        { Fichte,
   Vaiceshika.    }                {                }  Kant  {
  Der Logik       }                {                }        { Hegel.
    Nyaya.        } Aristoteles    { Avicenna       }        {
                  }   384-322.     {  um 1000.

  WINTER: Anbruch der weltstädtischen Zivilisation. Erlöschen der
  seelischen Gestaltungskraft. Das Leben selbst wird problematisch.
  Ethisch-praktische Tendenzen eines irreligiösen und unmetaphysischen
  Weltstädtertums.

  10. Materialistische Weltanschauung: Kultus der praktischen Erfahrung
      des Nutzens, des Glückes.

  Tscharvaka. Cyniker, Cyrenaiker. Kommunist., atheist., Bentham.
  (Lokoyata.) Letzte Sophisten.    epikur. Sekten der    Feuerbach,
                                   Abbassidenzeit        Stirner. Comte,
                                   9. Jahrh.             Spencer, Marx.

              Pyrrhon 325-275.     Die „lauteren Brüder“ Darwinisten,
                                   um 950.               Materialisten.

  11. Ethisch-gesellschaftliche Lebensideale: Epoche der „Philosophie
      ohne Mathematik“.

  Sekten der    Epikur 347-270.    Tendenzen im frühen  Schopenhauer,
  Buddhazeit.   Zenon 340-265.     Sufismus.            Nietzsche.
                Alexandrinismus.   Al Gunaid † 910.     Sozialismus,
                                                        Anarchismus.
                                                        Hebbel, Wagner,
                                                        Ibsen.

  12. Innere Vollendung der mathematischen Formenwelt. Die
      abschließenden Gedanken.

                Euklid,        Alchwarizmi           Gauß 1777-1855.
                Apollonios     800, Ibn Kurra
                4./3. Jahrh.   850.                  Cauchy 1789-1857.
  Verschollen.  Eratosthenes,  Alkarchi, Albiruni
                Archimedes     10. Jahrh.            Riemann 1826-1866.
                3. Jahrh.

  13. Sinken des abstrakten Denkertums zu einer fachwissenschaftlichen
      Kathederphilosophie. Kompendienliteratur.

  Die „sechs     Akademie; Peripatos.   Schulen von     Kantianer,
  klassischen                           Bagdad          Hegelianer.
  Systeme“.      Stoa; Epikuräer.       und Basra.      „Logiker“ und
                                                        „Psychologen“.

  14. Das Ende: Ausbreitung einer letzten Weltstimmung.

  Der indische  Der hellenistisch-  Der praktische   Der ethische
  Buddhismus    römische            Fatalismus       Sozialismus seit
  seit 500.     Stoizismus          des Islam        Ende des 19. Jahrh.
                seit 200.           seit 1000.       sich verbreitend.


II. TAFEL „GLEICHZEITIGER“ KUNSTEPOCHEN.

  ÄGYPTISCHE        ANTIKE          ARABISCHE             ABENDLÄNDISCHE
                                                             KULTUR

  VORZEIT: Chaos urmenschlicher Kunstformen. Mystische Liniensymbolik
           und Versuche naiver Imitation.

  THINITENZEIT. KRETISCH-MYKENISCHE ALTSYRISCH-ARABISCHE  MEROWINGER-
  3400-3000.     ZEIT. 1600-1100    KUNST. VOR 0.        KAROLINGERZEIT
                                                            500-900.
                 (Ägyptischer       (Antiker, babylon.-  (Maurisch-
                  Einfluß.)         persischer Einfluß.)  byzant.
                                                          Einfluß.)

  „KULTUR“: Lebensgeschichte eines das gesamte äußere Sein formenden
  Stils. Formensprache von tiefster symbolischer Notwendigkeit.

  I. FRÜHZEIT: Ornament und Architektur als elementarer Ausdruck des
     jungen Weltgefühls („Die Primitiven“).

  DAS ALTE REICH        DORIK        ALTCHRISTLICH-          GOTIK
                                   „SPÄTANTIKE“ KUNST
  2950-2475.           1100-650.        0-500.              900-1500.

  1. Geburt und Aufschwung. Aus dem Geiste der Landschaft erwachsende,
     nicht bewußt geschaffene Formen.

  4.-5. Dynastie   Nicht erhaltene   Basilikenstil.       Romanik und
  2930-2625.       Holzarchitektur   Sarkophag-           Frühgotik.
  Streng           (Antentempel).    (Tief-)relief.       Ornament
  geometrischer                                           und Dom.
  Tempelstil.      Geometrischer     Katakomben-
  Flachrelief.     (Dipylon-)stil    malerei.
  Frontale         11./9. Jahrh.                          Hochgotik;
  Bildnisplastik.                    Kuppelbasilika       Gewölbte Dome.
  Pyramidentempel. Die dorische      („Moschee“).
  Pflanzensäulen,  Säule (Holz).                          Kathedral-
  Kolonnaden.      Grabvasen-                             plastik.
  Reliefzyklen.    malerei.         (Pantheon in Rom).    Glasmalerei.
                                    Säulenbögen.
                                    Frontalbildnisse.

  2. Vollendung der frühen Formensprache. Erschöpfung der Möglichkeiten
     und Widerspruch.

  6. Dynastie      800-650.          4.-5. Jahrh.         Spätgotik und
  2625-2475.       Wenig bekannt.    Syrisch-             Renaissance
  Erlöschen des                      byzantinische        14./15. Jahrh.
  Pyramidenstils                     Kunst.               Erlöschen der
  und des                            Erlöschen des        gotischen
  episch-idyll.                      Relief- und          Skulptur
  Reliefs.                           Porträtstils.        (Nürnberg).
                                                          Blüte und Ende
                                                          von Fresko und
                                                          Renaissance-
                                                          plastik. Von
                                                          Giotto und
                                                          Donatello
                                                          (Gotik) bis
                                                          Michelangelo
                                                          (Barock).
  Blüte der         Protokorinth.    Blüte der            Das gotische
  archaischen       -altattische     Mosaikmalerei.       Tafelbild von
  Bildnisplastik.    Tonmalerei      Anfänge der          Van Eyck bis.
                    (Mythische       Arabeske  (Tür       Holbein
                     Stoffe).        von S. Ambrogio      Erfindung des
                                     in Mailand 386).     Kontrapunkts
                                                          und der
                                                          Ölmalerei.

  II. SPÄTZEIT: Bildung einer Gruppe städtisch-bewußter, gewählter, von
      Einzelnen getragener Künste („Die großen Meister“).

  DAS MITTLERE      IONIK            BYZANTINISCH-        BAROCK
  REICH                              ISLAMISCHE KUNST
  2200-1800.        650-350.         500-800.             1500-1800.

  1. Ausbildung eines reifen Künstlertums.

  Infolge           Herrschaft       Herrschaft der       Herrschaft der
  späterer          der Fresko-      Mosaikmalerei        Ölmalerei von
  Zerstörung        malerei von      6. Jahrh.            Tizian bis
  wenig bekannte    Butades bis                           Rembrandt
  Epoche. Die       Polygnot         Vollendung des       († 1669).
  Architektur       650-460.         Moscheentypus        Der malerische
  bleibt            Die Ionische     (Zentralkuppel-      Baustil von
  herrschend.       Säule. Voll-     bau, Hagia           Michelangelo
                    endung des       Sophia 530).         bis Bernini
                    Tempeltypus.     Die Arabeske         († 1680).
                    Aufschwun        (Fassade von         Aufschwung der
                    der Rund-        M’schatta).          Musik von
                    plastik.                              Orlando Lasso
                    („Apoll von                           bis Heinrich
                    Tenea“ bis                            Schütz
                    Hageladas.)                           († 1672): Zeit
                                                          der Kantate.

  2. Äußere Vollendung einer durchgeistigten Formensprache.

  12. Dynastie      Blüte von        Maurische Kunst.     Rokoko.
  2000-1788.        Athen            7./8. Jahrh          18. Jahrh.
  Pylonentempel.    480-330.         Vollkommene          Herrschaft der
  Historische       Herrschaft der   Herrschaft der       Musik von
  Reliefs.          Plastik von      Arabeske auch        Corelli (geb.
  Charakter-        Myron bis        über die             1653) und Bach
  bildnisse.        Phidias          Architektur.         (1685) bis
                    460-330.                              Mozart: Zeit
                    Ausgang der                           der Sonate.
                    Fresko- und                           Der musika-
                    Tonmalerei.                           lische
                                                          (Rokoko-)
                                                          Baustil.
                                                          Ausgang der
                                                          Ölmalerei von
                                                          Watteau bis
                                                          Goya.

  3. Ermatten der Gestaltungskraft. Auflösung der großen Form. Ende des
     Stils.

  Anfang der        Die korin-       Abbassidenzeit.      Empirestil und
  Hyksoszeit.       thische Säule                         Biedermeier.
                      (Genre).                            Beethoven.
                    Skopas und                            Hogarth,
                    Praxiteles                            Gainsborough.
                    (Sentiment                            Delacroix.
                    und Subjek-
                    tivismus).
                    Malerei des
                    Apollodor
                    und Apelles
                    („Natur“).

ZIVILISATION: Das Dasein ohne innere Form. Weltstadtkunst als Luxus,
Sport, Gewohnheit. Wechselnde Stilmoden (Wiederbelebungen, Mischungen,
Erfindungen) ohne symbolischen Gehalt.

  1. „Modernität“. Versuche, die Decadence künstlerisch zu fassen.
     Verwandlung von Musik, Baukunst und Malerei in bloßes Kunstgewerbe.

  Hyksoszeit        Hellenismus      Seldschucken-        19. und 20.
  1788-1580.        300-100.         zeit nach 1000.      Jahrh.
  Verfall der       Ende der         Stationäre           Ende der
  Reliefkom-        strengen         „Kunst des           Musik:
  position.         Plastik.         Orients“.            Berlioz,
  Auflösung der     (Lysippos).      In Byzanz            Liszt, Wagner.
  plastischen       Pergamenische    „Renaissance         Episode des
  Konvention.       Kunst            des Hellenis-        Impressionis-
  Mehrschiffige     (Theatralik).    mus“ (1000).         mus von
  Säulenhallen.     Hellenistische                        Constable und
                    Malweisen                             Corot bis
                    (Enkaustik,                           Manet und
                    Illusions-                            Leibl.
                    malerei,                              Nazarener,
                    Rhopographie).                        Prärafaeliten.
                    Das Ideal-
                    porträt.

  2. Ende des Formgefühls. Sinnlose, leere, erkünstelte, gehäufte
     Ornamentik. Imitation alter und fremder Motive.

  18. Dynastie      Römerzeit        Mongolenzeit
  1580-1350.        100 v. bis       seit 1258.
                    100 n. Chr.
  Verfall der       Häufung der 3    Auflösung der
  Pflanzensäule.    Säulenordnungen. maurischen Kunst
  Naturalismus      Zeit der         in örtliche
  des Echnaton.     Statuenkopisten. Nuancen. (Von
  Memnonskolosse.   Römerplastik.    Spanien bis
  Felsentempel      Kaiserbauten     Indien.)
  der Hatchepsut.   im oriental.
                    Geschmack.

  3. Ausgang. Barbarische Massenhaftigkeit; Kolossalwirkungen. Verrohung
     der Technik. Übergewicht fremder Kunstformen.

  19. Dynastie      Späte
  1350-1205.        Kaiserzeit.
  (Sethos I. und
  Ramses II.)       Riesenfora,
  Riesenhallen      Thermen,
  und Statuen-      Triumph-
  alleen von        säulen.
  Luxor, Karnak     Sieg der früh-
  und Abydos.       arabischen
  Plünderung        Kunst im
  alter Bauten.     Westen


III. TAFEL „GLEICHZEITIGER“ POLITISCHER EPOCHEN.

  ÄGYPTISCHE              ANTIKE                   ABENDLÄNDISCHE KULTUR

  VORZEIT: Rein ethnographischer Völkertypus. Stämme und Häuptlinge.
  Noch keine „Politik“. Kein „Staat“.

  THINITENZEIT (MENES).   SPÄTKRETISCH-            FRANKENZEIT
  3400-3000.              MYKENISCHE ZEIT          (KARL DER GROSSE).
                          („AGAMEMNON“).           500-900.
                          1600-1200.

  VÖLKERNAMEN DIESER      DANAER, ACHÄER,          FRANKEN, SACHSEN,
  STUFE: UNBEKANNT        ETRUSKER.                LANGOBARDEN.
  (DIE GAUVÖLKER).

  KULTUR: Völkergruppe von ausgeprägtem Stil und einheitlichem
  Weltgefühl. Wirkung einer immanenten Staatsidee.

  VÖLKER: ÄGYPTER.        DORER, IONIER, LATINER.  DEUTSCHE, FRANZOSEN,
                                                   ITALIENER, SPANIER,
                                                   ENGLÄNDER.

  I. FRÜHZEIT. Organische Struktur des politischen Daseins. Die beiden
     frühen Stände: Adel und Priestertum.

  DAS ALTE REICH.         DORISCHE ZEIT.           GOTISCHE ZEIT.
  2900-2400.              1100-650.                900-1500.

  1. Patriarchalische Staatsbildungen. Geist des bäuerlichen Landes. Die
     „Stadt“ nur Markt oder Burg. Wechselnde Pfalzen der Herrscher.
     Lehnsadel. Ritterlich-religiöse Ideale. Kämpfe der Vasallen
     untereinander und gegen den Fürsten.

  Lehnsstaat der          Homerische               Deutsche Kaiserzeit.
  4. Dynastie. Macht      Zustände                 Kreuzzüge.
  der Gaufürsten und      Historische              Kaisertum und
  der Rê-Priester-        Daten unbekannt.         Papsttum.
  schaft.
  Der Pharao als
  Inkarnation des Rê.

  2. Krisis und Auflösung der primitiven politischen Daseinsformen.

  6. Dynastie.            Kaum bekannt.            Verfall der Univer-
  Zerfall des Reiches     Ursparta um 900.         salidee. Interregnum.
  in erbliche                                      Macht der Vasallen
  Fürstentümer. Inter-                             (Deutsche Fürsten,
  regnum.                                          Renaissancestaaten,
  Teilkönige.                                      Lancaster und York).

  II. SPÄTZEIT. Verwirklichung der gereiften Staatsidee. Die Stadt gegen
      das Land: Entstehung des dritten Standes (Bürgertum).

  DAS MITTLERE REICH.     IONISCHE ZEIT            BAROCKZEIT.
  2200-1800.              650-350.                 1500-1800.

  3. Bildung einer Staatenwelt von strenger Form.

  Der zentrali-           Der Stadtstaat.          Die dynastische Haus-
  sierte Beamtenstaat.    Zeit der Tyrannis        macht. Ständestaat.
  11. Dynastie            (650-550).               Zeit der Fronde
  (2160-2000): Sturz      Kleisthenes,             (1550-1650).
  der Feudalfürsten       Periander,               Richelieu,
  durch die Herrscher     Polykrates.              Wallenstein,
  von Theben.                                      Cromwell.

  4. Höchste Vollendung der Staatsform („Absolutismus“). Einheit von
     Stadt und Land („Staat und Gesellschaft“, die „Drei Stände“).

  12. Dynastie           Um 450: Absolutismus      Um 1700: Absolutis-
  (2000-1788):           des Demos von Athen.      mus der regierenden
  Strengste Zentral-     Politik der Agora.        Häuser (Versailles).
  gewalt.                                          Hofadel. Kabinetts-
  Mediatisation der                                politik und
  Feudalherren.                                    Erbfolgekriege.
  Hofadel und
  Beamtenschaft.
  Erbfolgerevolten.
  Amenemhat,              Themistokles,            Ludwig XIV.,
  Sesostris.              Perikles.                Friedrich II.

  5. Sprengung der Staatsform (Revolution und Napoleonismus). Sieg der
     Stadt über das Land (des „Volkes“ über die „Privilegierten“, der
     Intelligenz über die Tradition).

  1788-1680               380-350 Soziale          Ende des 18. Jahrh.:
  Revolutionen und        Revolutionen             Revolutionen in
  Militärregiment.        (Athen, Argos).          Frankreich, Amerika,
  Teilkönige, zum         Die „zweite              Genf usw.
  Teil aus dem            Tyrannis“.
  Volk stammend.          (Dionys v. Syrakus,
                          Jason v. Pherä.)
                          Philipp und              Napoleon.
                          Alexander.


  ZIVILISATION: Auflösung der jetzt wesentlich städtisch orientierten
  Volkskörper zu internationalen, praktisch interessierten Massen.
  Weltstadt und Provinz: Der vierte Stand („Masse“), anorganisch,
  kosmopolitisch.

  1. Stadium: Das Geld. Wirtschaftskomplexe die Staatsform aufsaugend.

  Hyksoszeit              Hellenismus              „Europäische Zivili-
  1788-1580.              300-100.                 sation“ 1800-2000.
  Fremdherrschaft.        Diadochenreiche von      System der Großmächte
  der Eroberer            Alexander bis Scipio     von Napoleon  bis zum
                          300-200.                 Weltkrieg.
                          Die soziale Monarchie.   Nationalismus.
                          Der politische           Parlamentarismus
                          Stoizismus der Römer     1800-1900.
                          von Scipio bis Marius    Sozialismus und
                          200-100.                 Imperialismus
                                                   1900-2000.

  2. Stadium: „Cäsarismus“. Wachsender Naturalismus der politischen
     Form. Zerfall der Volksorganismen in amorphe Menschenmassen; deren
     Resorption in ein Imperium von allmählich wieder primitiv-
     despotischem Charakter.

  18. Dynastie            Von Sulla bis Domitian   2000-2200.
  1580-1350.              100 v. bis 100 n. Chr.
  Thutmosis III.          Cäsar, Tiberius.

  3. Stadium: „Ägyptizismus“, „Mandarinentum“, „Byzantinismus“.
     Erstarren und Zerfall auch des imperialen Mechanismus: die Beute
     junger Völker oder fremder Eroberer. Langsames Heraufdringen
     urmenschlicher Zustände (Septimius Severus als „Häuptling“).

  19. Dynastie            Von Trajan bis 0         Nach 2200.
  1350-1205.              Aurelian 100-30
  Sethos I.,              Trajan.
  Ramses II.              Mark Aurel.
  Echnaton.




ERSTES KAPITEL

VOM SINN DER ZAHLEN


1

Es ist zunächst notwendig, einige hier in einem strengen und teilweise
neuen Sinne gebrauchte Grundbegriffe zu bestimmen, deren metaphysischer
Gehalt sich im Laufe der Darstellung von selbst ergeben wird, die aber
schon am Anfang unzweideutig erklärt sein müssen.

Der volkstümliche, auch der Philosophie geläufige Unterschied von
Sein und Werden erscheint ungeeignet, das Wesentliche des mit ihm
bezweckten Gegensatzes wirklich zu treffen. Ein unendliches Werden --
Wirken, „Wirklichkeit“ -- wird man immer, wofür etwa die physikalischen
Begriffe der gleichförmigen Geschwindigkeit und des Bewegungszustandes
oder die Grundvorstellung der kinetischen Gastheorie als Beispiele
dienen können, auch als Zustand auffassen und also dem Sein zuordnen
dürfen. Dagegen lassen sich -- mit Goethe -- als letzte Elemente des
in und mit dem Bewußtsein schlechthin Gegebenen das +Werden+ und das
+Gewordne+ unterscheiden. Jedenfalls ist, wenn man an der Möglichkeit
zweifelt, durch abstrakte Begriffsbildungen den letzten Gründen des
Menschlichen nahe zu kommen, das sehr klare und bestimmte +Gefühl+,
aus welchem dieser fundamentale, die äußersten Grenzen des Bewußtseins
berührende Gegensatz hervorgeht, das ursprünglichste Etwas, bis zu dem
sich überhaupt gelangen läßt.

Es folgt daraus mit Notwendigkeit, daß immer ein Werden dem Gewordnen
zugrunde liegt -- a priori im Sinne Kants --, nicht umgekehrt.

Ich unterscheide ferner mit den Bezeichnungen „+das Eigne+“ und „+das
Fremde+“ zwei Urtatsachen des Bewußtseins, deren Sinn für jeden
wachen Menschen -- also nicht für den Träumenden -- mit unmittelbarer
innerer Gewißheit feststeht, ohne durch eine Definition näher
bestimmt werden zu können. Zu der durch das Wort +Sinnlichkeit+
(Außenwelt, Empfindungsleben) bezeichneten ursprünglichen Tatsache
steht das Element des Fremden immer auf irgendeine Weise in
Beziehung. Die philosophische Gestaltungskraft großer Denker hat
durch halbanschauliche schematische Konzeptionen wie Erscheinung und
Ding an sich, Welt als Wille und Vorstellung, Ich und Nicht-Ich diese
Beziehung immer wieder schärfer zu fassen versucht, obwohl diese
Absicht sicherlich die Möglichkeiten exakter menschlicher Erkenntnis
überschreitet. Ebenso birgt sich in der als Ich (Innenleben, Person)
bezeichneten ursprünglichen Tatsache das Element des Eignen in einer
Weise, deren strenge Fassung den Methoden des abstrakten Denkens
ebenfalls entzogen bleibt.

Ich bezeichne weiterhin mit den Worten +Seele+ und +Welt+
denjenigen Gegensatz, +dessen Vorhandensein mit der Tatsache des
wachen, rein menschlichen Bewußtseins selbst identisch ist+. Es
gibt Grade der Klarheit und Schärfe dieses Gegensatzes, Grade der
Bewußtheit -- Geistigkeit -- des Lebens also, von dem sich noch kaum
in Pole sondernden mythischen Dämmern der primitiven Menschen und des
Kindes -- hierher gehören die in Spätzeiten immer seltener werdenden
Augenblicke der religiösen und künstlerischen Inspiration -- bis zur
äußersten Schärfe des Wachseins etwa in den Zuständen des kantischen
und des napoleonischen Denkens. Diese +elementare Struktur+ des
Bewußtseins ist als eine Tatsache von unmittelbarer innerer Gewißheit
der begrifflichen Zergliederung nicht weiter zugänglich, und ebenso
gewiß ist es, daß jene beiden nur sprachlich und gewissermaßen
künstlich abteilbaren Momente stets miteinander und durcheinander
da sind und durchaus als Einheit, als Totalität hervortreten, ohne
daß das erkenntniskritische Vorurteil des geborenen Idealisten und
Realisten, wonach entweder die Seele der Welt oder die Welt der Seele
als das Primäre -- sie sagen „als Ursache“ -- zugrunde liegt, in
der reinen Tatsache des Bewußtseins irgendwie begründet wäre. Ob in
einem philosophischen System der Akzent auf dem einen oder andern
liegt, ist lediglich ein Kennzeichen der Persönlichkeit und von rein
biographischer Bedeutung.

Gibt man den Begriffen des Werdens und des Gewordnen eine Anwendung
auf diese polare Struktur des Bewußtseins, so erhält das Wort
+Leben+ einen ganz bestimmten, dem des Werdens nahe verwandten
Sinn. Man darf Werden und Gewordnes als die Tatsache und den Gegenstand
des Lebens bezeichnen. Das eigne, fortschreitende, ständig sich
erfüllende Leben ist in jedem seiner Augenblicke mit dem eignen, wachen
Bewußtsein identisch[25] -- +diese Tatsache heißt Gegenwart+ --
und beide besitzen wie alles Werden das geheimnisvolle +Merkmal der
Richtung+, ein unaussprechliches Gefühl (Lebensgefühl), das der
Mensch in allen höhern Sprachen durch das Wort +Zeit+ und die
daran sich knüpfenden Probleme geistig zu bannen und -- vergeblich
-- zu deuten versucht hat. Es folgt daraus eine tiefe Beziehung des
+Gewordnen (Starren) zum Tode+.

Nennt man die Seele -- und zwar unter Betonung des Unbewußten vor
dem Bewußten -- das +Mögliche+, die Welt dagegen das +Wirkliche+,
Ausdrücke, über deren Bedeutung ein inneres Gefühl keinen Zweifel
läßt, so erscheint das Leben als +die Gestalt, in welcher sich
die Verwirklichung des Möglichen vollzieht+. Im Hinblick auf das
Merkmal der Richtung heißt das Mögliche +Zukunft+, das Verwirklichte
+Vergangenheit+. Die Verwirklichung selbst, die Mitte und den Sinn des
Lebens, nennen wir +Gegenwart+. „Seele“ ist das zu Vollendende, „Welt“
das Vollendete, „Leben“ die Vollendung. Die Ausdrücke Augenblick,
Dauer, Entwicklung, Lebensinhalt, Lebensaufgabe, Bestimmung, Umfang,
Ziel, Ende, Fülle und Leere des Lebens erhalten damit eine bestimmte,
für alles Folgende, namentlich für das Verständnis historischer
Phänomene wesentliche Bedeutung.

Endlich sollen die Worte +Geschichte+ und +Natur+, wie schon erwähnt,
in einem ganz bestimmten, bisher nicht üblichen Sinne angewandt
werden. Es sind darunter +mögliche+ Arten zu verstehen, die Gesamtheit
des Bewußten, Werden +und+ Gewordnes, Leben und Erlebtes, in einem
einheitlichen, durchgeistigten, wohlgeordneten +Weltbilde+ (Kosmos,
Universum, All) aufzufassen, je nachdem das Werden oder das Gewordne,
Richtung oder Ausdehnung („Zeit“ oder „Raum“) den unteilbaren
Eindruck gestaltend beherrschen. Es handelt sich hier +nicht um eine
Alternative+, sondern um eine +Skala+ von unendlich vielen und sehr
verschiedenartigen Möglichkeiten, eine „Außenwelt“ als Abglanz und
Zeugnis des eignen Daseins zu besitzen, eine Skala, deren Extreme
eine rein +organische+ und eine rein +mechanische Weltanschauung+ (im
wörtlichen Sinne: +Anschauung der Welt+) sind. Der Urmensch (so wie wir
sein Bewußtsein uns vorstellen) und das Kind (wie wir uns erinnern)
besitzen noch keine dieser Möglichkeiten mit hinreichender Klarheit der
struktiven Durchbildung. Als Bedingung dieses höheren Weltbewußtseins
hat man den Besitz der +Sprache+ anzusehen, und zwar nicht den einer
menschlichen +Sprache+ überhaupt, sondern den einer +Kultursprache+,
die für den ersten noch nicht vorhanden und für das andere, obwohl
vorhanden, noch nicht zugänglich ist. Beide besitzen, um dasselbe mit
andern Worten zu sagen, noch kein klares und deutliches Weltdenken,
zwar eine Ahnung, aber noch kein wirkliches Wissen von Geschichte
und Natur, in deren Zusammenhang ihr eigenes Dasein eingegliedert
erscheint: +Sie haben keine Kultur.+

Damit erhält dies wichtige Wort einen bestimmten, höchst bedeutsamen
Sinn, der in allem Folgenden vorausgesetzt wird. Ich unterscheide
im Hinblick auf die oben gewählten Bezeichnungen der Seele als des
Möglichen und der Welt als des Wirklichen +mögliche+ und +wirkliche+
Kultur, das heißt Kultur als +Idee des -- allgemeinen oder einzelnen
-- Daseins+ und Kultur als +Körper+ dieser Idee, als die Summe ihres
versinnlichten, räumlich und faßlich gewordenen Ausdrucks: Taten und
Gesinnungen. Religion und Staat, Künste und Wissenschaften, Völker und
Städte, wirtschaftliche und gesellschaftliche Formen, Sprachen, Rechte,
Sitten, Charaktere, Gesichtszüge und Trachten. +Geschichte+ ist, mit
dem Leben, dem Werden eng verwandt, +die Verwirklichung möglicher
Kultur+.

Es muß hinzugefügt werden, daß diese grundlegenden Bestimmungen
zum großen Teil nicht mehr im Bereiche der Mitteilbarkeit durch
Begriff, Definition und Beweis liegen, daß sie vielmehr ihrer
tiefsten Bedeutung nach gefühlt, erlebt, erschaut werden müssen.
Es besteht ein selten gewürdigter Unterschied zwischen +Erleben+
und +Erkennen+ als den Formen der Beziehung zwischen Eignem und
Fremdem („Subjekt und Objekt“). Er wird deutlich in dem Unterschiede
zwischen der unmittelbaren Gewißheit, wie sie die Arten der Intuition
(Erleuchtung, Eingebung, künstlerisches Schauen, Goethes „exakte
sinnliche Phantasie“) gewähren und den Resultaten der verstandesmäßigen
Erfahrung und experimentellen Technik. Der Mitteilung dienen dort
der Vergleich, das Bild, das Symbol, hier die Formel, das Gesetz,
das Schema. Gewordnes wird erkannt oder vielmehr, wie sich zeigen
wird, das Gewordensein für den menschlichen Geist ist mit dem
vollzogenen Erkenntnisakt identisch. Ein Werden kann nur erlebt,
mit tiefem, wortlosem Verstehen gefühlt werden. Hierauf beruht
das, was man Menschenkenntnis nennt. Geschichte verstehen heißt
Menschenkenner im höchsten Sinne sein. Je reiner ein Geschichtsbild,
desto ausschließlicher ist es diesem nicht eigentlich irdischen Blick
zugänglich, der mit den Erkenntnismitteln, welche die „Kritik der
reinen Vernunft“ untersucht, nichts zu schaffen hat. Der Mechanismus
eines reinen Naturbildes, etwa der Welt Newtons und Kants, wird
erkannt, begriffen, zergliedert, in Gesetze und Gleichungen, zuletzt in
ein System gebracht. Der Organismus eines reinen Geschichtsbildes, wie
es die Welt Plotins, Dantes und Brunos war, wird angeschaut, innerlich
erlebt, als Gestalt und Sinnbild aufgefaßt, zuletzt in dichterischen
und künstlerischen Konzeptionen wiedergegeben. -- Goethes „lebendige
Natur“ ist ein +historisches+ Weltbild.

Erleben und Erkennen sind Bewußtseinsakte einzelner Menschen. Ihr
Resultat, nunmehr ein Stück Vergangenheit, Gedächtnis, Wissen,
heißt +ein Erlebnis+ oder +eine Erkenntnis+. +Etwas verstehen+ --
historisch oder natürlich -- heißt es in die schon vorhandene Summe von
Erlebnissen oder Erkenntnissen harmonisch einordnen können.


2

Ich wähle als Beispiel für die Art, wie eine Seele sich im Bilde
ihrer Umwelt zu verwirklichen sucht, inwiefern also gewordne Kultur
Ausdruck und Abbild einer Idee menschlichen Daseins ist, die +Zahl+,
die aller Mathematik als schlechthin gegebenes Element zugrunde liegt.
Und zwar deshalb, weil die Mathematik, in ihrer ganzen Tiefe den
wenigsten erreichbar, einen einzigartigen Rang unter allen Schöpfungen
des Geistes behauptet. Sie ist eine Wissenschaft strengsten Stils wie
die Logik, aber umfassender und bei weitem gehaltvoller; sie ist eine
echte Kunst neben der Plastik und Musik, was die Notwendigkeit einer
leitenden Inspiration und die großen formalen Konventionen in ihrer
Entwicklung angeht; sie ist endlich eine Metaphysik vom höchsten Range,
wie Plato und vor allem Leibniz beweisen. Jede Philosophie ist bisher
in der Verbundenheit mit einer +zugehörigen+ Mathematik erwachsen. Die
Zahl ist die bildgewordene Idee der +kausalen+ Notwendigkeit, wie die
Vorstellung von Gott, die jede Kultur aus ihrer tiefsten Tiefe neu
gestaltet, die bildgewordene Idee der Notwendigkeit des +Schicksals+
ist. In diesem Sinne darf man das Dasein von Zahlen ein Mysterium
nennen, und das religiöse Denken aller Kulturen hat sich diesem
Eindruck nie entzogen.

Wie alles Werden das ursprüngliche Merkmal der +Richtung+
(Nichtumkehrbarkeit), so trägt alles Gewordne das Merkmal der
+Ausdehnung+ und zwar so, daß nur eine künstliche Trennung der
Bedeutung dieser Worte möglich erscheint. Das eigentliche Geheimnis
alles Gewordnen und also (räumlich-stofflich) Ausgedehnten aber
verkörpert sich im Geistigen jeder Kultur im Typus der +mathematischen+
(starren) im Gegensatz zur +chronologischen+ Zahl. Und zwar liegt
in ihrem Wesen die Absicht einer +mechanischen Grenzsetzung+. Die
Zahl ist darin dem Worte verwandt, das -- als Begriff, „begreifend“,
„bezeichnend“ -- ebenfalls Welteindrücke abgrenzt. Das Tiefste ist
hier allerdings unfaßlich und unaussprechlich. Die +wirkliche+,
zum Ding gewordene Zahl, das +exakt vorgestellte, gesprochene,
geschriebene Zahlzeichen+ -- Ziffer, Formel, Zeichen, Figur --, das
allein der mathematischen Behandlung unterliegt, ist wie das gedachte,
gesprochene, geschriebene Wort bereits ein optisches Symbol dafür,
versinnlicht und mitteilbar, in welchem die Grenzsetzung abgebildet
erscheint. Der Ursprung der Zahlen gleicht dem Ursprung des Mythus.
Der Römer erhob die _numina_, unbestimmbare Natureindrücke („das
Fremde“) zu Gottheiten, indem er sie durch einen +Namen+, sie
begrenzend, bannte. Ebenso sind Zahlen und Worte +gestaltetes, in
Form gebanntes Weltgefühl+. Mit ihnen gelangt der Geist („das Eigne“)
zur Macht. Mit ihnen ordnet und zergliedert er die Welt. Alle echten
Erkenntnisakte -- nicht Erlebnisakte -- als solche an das Vorhandensein
einer Kultursprache gebunden, bezwecken das gleiche. Die Definition,
das Urteil, das Gesetz, das System sind Resultate vollzogener
Grenzsetzungen und die Feststellung eines Kausalverhältnisses, in der
sich das Wesen aller Naturwissenschaft erschöpft, besteht lediglich
in der präzisen Abgrenzung zweier Eindrücke, die im Hinblick auf die
Zahl Ursache und Wirkung, im Hinblick auf das Wort Grund und Folge
heißen. Hierauf beruht die innere Verwandtschaft des Baues einer
hochentwickelten Sprache (Grammatik, Satzbau) mit der zugehörigen
Mathematik. Die Logik ist immer eine Art Mathematik und umgekehrt.
Mithin liegt auch in allen Bewußtseinsakten, welche zur mathematischen
Zahl in Beziehung stehen -- messen, zählen, zeichnen, wägen, ordnen,
teilen --, die gemeinsame Tendenz auf Abgrenzung von Gewordnem und
Ausgedehntem und erst durch kaum noch bewußte Akte dieser Art gibt
es für den wachen Menschen objektive Gegenstände, Eigenschaften,
Beziehungen, Einzelnes, Einheit und Mehrheit, kurz die als notwendig
und unerschütterlich empfundene Struktur desjenigen Weltbildes, das
er „Natur“ nennt und als solche „erkennt“. +Natur ist das Zählbare.+
Geschichte ist der Inbegriff dessen, was zur Mathematik kein
Verhältnis hat. Daher die mathematische Gewißheit der Naturgesetze,
die staunende Einsicht Galileis, daß die Natur „_scritta in lingua
matematica_“ sei und die von Kant hervorgehobene Tatsache, daß die
exakte Naturwissenschaft genau so weit reicht wie die Möglichkeit der
Anwendung mathematischer Methoden.

In der Zahl als dem +Zeichen der vollendeten extensiven Begrenzung+
liegt demnach, wie Pythagoras infolge einer großartigen, durchaus
religiösen Intuition mit innerster Gewißheit begriff, das +Wesen+
alles Wirklichen, das geworden, erkannt, begrenzt zugleich ist.
Indes darf man Mathematik, wenn man darunter den Besitz einer
eingebornen virtuellen Zahlenwelt versteht, nicht mit der viel engeren
wissenschaftlichen Mathematik, der +Lehre+ von den Zahlen verwechseln.
Das eine ist eine erschöpfende und notwendige Eigenschaft des
Bewußtseins, das andere eine +mögliche+ Art, sie geistig zu entwickeln.
Die geschriebene Mathematik, ein System starrer Sätze, repräsentiert
so wenig wie die in theoretischen Werken niedergelegte Philosophie den
ganzen Besitz dessen, was im Schoße einer Kultur an mathematischen und
philosophischen Möglichkeiten vorhanden war. Es gibt noch ganz andere
Wege, das den Zahlen zugrunde liegende Urgefühl zu versinnlichen, das
Gewordne und Ausgedehnte, sei es Stoff oder Raum, einem gestaltenden
Prinzip zu unterwerfen. Am Anfang jeder Kultur steht ein archaischer
Stil, den man nicht nur in der frühhellenischen Kunst hätte geometrisch
nennen können. Es liegt etwas Gemeinsames, ausdrücklich Mathematisches
im Dipylonstil der altgriechischen Grabvasen, im Tempelstil der 4.
Dynastie Ägyptens mit seiner unbedingten Herrschaft der geraden Linie
und des rechten Winkels, im hieratischen Stil der altchristlichen
Sarkophagreliefs und im romanischen Ornament. Jede Linie, jede
menschliche oder Tierfigur mit ihrer gar nicht imitativen Tendenz
offenbart hier ein mystisches Zahlendenken in unmittelbarer Beziehung
auf das Geheimnis und den Kult des Todes (des Starren).

Gotische Dome und dorische Tempel sind +steingewordne Mathematik+.
Gewiß hat Pythagoras die antike Zahl als das Prinzip einer Weltordnung
+greifbarer+ Dinge, als +Maß oder Größe+, wissenschaftlich erfaßt.
Aber sie wurde eben damals, ebenfalls als schöne Ordnung von
sinnlich-körperhaften Einheiten, durch den strengen Kanon der
hellenischen Statue und der dorischen wie ionischen Säulenordnung
zum Ausdruck gebracht. Alle großen Künste sind ebensoviel Arten
zahlenmäßiger bedeutungsvoller Grenzgebung. Man denke an das
Raumproblem in der Malerei. Eine hohe mathematische Begabung kann auch
ohne jede Wissenschaft produktiv sein und zum vollen Bewußtsein ihrer
selbst gelangen. Man wird doch angesichts des gewaltigen Zahlensinnes,
den die Raumgliederung der Pyramidentempel, die Bau-, Bewässerungs-
und Verwaltungstechnik, vom ägyptischen Kalender ganz zu schweigen,
schon im Alten Reiche um 2800 v. Chr. voraussetzt, nicht behaupten
wollen, daß das wertlose „Rechenbuch des Ahmes“ aus dem Neuen Reiche
das Niveau der ägyptischen Mathematik bezeichne. Die Eingebornen
Australiens, deren Geist durchaus der Stufe des Urmenschen angehört,
besitzen einen mathematischen Instinkt oder, was dasselbe ist,
einen noch nicht durch Worte und Zeichen bewußt gewordnen Schatz an
Zahlen, der in bezug auf die Interpretation reiner Räumlichkeit den
griechischen bei weitem übertrifft. Sie haben als Waffe den Bumerang
erfunden, dessen Wirkung auf eine gefühlsmäßige Vertrautheit mit
Zahlenarten schließen läßt, die wir der höheren geometrischen Analysis
zuweisen würden. Sie besitzen +dementsprechend+ -- aus einem später zu
erläuternden Zusammenhange -- ein äußerst kompliziertes Zeremoniell
und eine so feine sprachliche Abstufung der Verwandtschaftsgrade,
wie sie nirgends, selbst in hohen Kulturen nicht, wieder beobachtet
worden ist. Dem entspricht es, daß die Griechen in ihrer reifsten
Zeit unter Perikles in Analogie zur euklidischen Mathematik weder
einen Sinn für das Zeremoniell des öffentlichen Lebens noch für die
Einsamkeit besaßen, sehr im Gegensatz zum Barock, das neben der
Analysis des Raumes den Hof des Sonnenkönigs und ein auf dynastischen
Verwandtschaften beruhendes Staatensystem entstehen sah.

Es ist der Stil einer Seele, der in einer Zahlenwelt, aber nicht in
ihrer wissenschaftlichen Fassung allein zum Ausdruck kommt.


3

Daraus folgt ein entscheidender Umstand, der den Mathematikern selbst
bisher verborgen geblieben ist.

+Eine Zahl an sich gibt es nicht und kann es nicht geben.+ Es gibt
mehrere Zahlenwelten, weil es mehrere Kulturen gibt. Wir finden einen
indischen, arabischen, antiken, abendländischen Zahlentypus, jeder
von Grund aus etwas Eignes und Einziges, jeder Ausdruck eines andern
Weltgefühls, jeder Symbol von einer auch wissenschaftlich genau
begrenzten Gültigkeit, Prinzip einer Ordnung des Gewordnen, in der sich
das tiefste Wesen einer einzigen und keiner andern Seele spiegelt,
derjenigen, welche Mittelpunkt gerade dieser und keiner andern Kultur
ist. Es gibt demnach mehr als eine Mathematik. Denn ohne Zweifel ist
das architektonische System der euklidischen Geometrie ein ganz andres
als das der kartesischen, die Analysis von Archimedes eine andre als
die von Gauß, nicht nur der Formensprache, der Absicht und den Mitteln
nach, sondern vor allem in der Tiefe, im ursprünglichen Phänomen der
Zahl, dessen wissenschaftliche Entwicklung sie darstellt. Diese im
Geiste und durch den Geist empfangene Zahl, das Grenzerlebnis, das in
ihr mit innerster Notwendigkeit versinnlicht und Form geworden ist,
mithin auch die gesamte Natur, die ausgedehnte Welt, deren Bild durch
diese spontane Grenzgebung entstand und die immer nur der Behandlung
durch eine einzige Art von Mathematik zugänglich ist, das alles spricht
nicht vom allgemeinen, sondern jedesmal von einem ganz bestimmten
Menschentum.

Es hängt also für den Stil einer entstehenden Mathematik alles
davon ab, in welcher Kultur sie wurzelt, was für Menschen über sie
nachdenken. Denn die Zahl geht dem Geiste vorauf, nicht umgekehrt.
Zahlen sind schöpferische, nicht geschaffene Wesenheiten. Der
Geist kann die in ihnen verborgnen formalen Möglichkeiten zur
wissenschaftlichen Entfaltung bringen, sie handhaben, an ihrer
Behandlung zur höchsten Reife gelangen; sie zu modifizieren ist er
völlig außerstande. In den frühesten Formen des Ornaments und der
Architektur, schon in der dorischen Säule und der Kathedralgotik ist
die Idee der euklidischen Geometrie und der Infinitesimalrechnung
verwirklicht, Jahrhunderte bevor der erste Mathematiker dieser Kulturen
geboren wurde.

Ein tiefes inneres Erlebnis, das eigentliche +Erwachen des
Ich+, welches das Kind zum höhern Menschen, zum Gliede der
ihm angehörigen Kultur macht, bezeichnet den Beginn des Zahlen-
wie des Sprachverständnisses. Erst von hier an gibt es für das
Bewußtsein Gegenstände als etwas in jedem Betrachte Begrenztes und
Wohlunterschiedenes, erst von hier an genau bestimmbare Eigenschaften,
Begriffe, eine kausale Notwendigkeit, ein +System+ der Umwelt,
eine +Weltform+, +Weltgesetze+ -- das „Gesetzte“ ist seiner
Natur nach immer das Begrenzte, Starre, den Zahlen Unterworfene --
und ein plötzliches Gefühl dafür, was Zahlen, sei es in Gestalt
einer bildenden Kunst oder einer mathematischen Wissenschaft,
+bedeuten+. Man begreift, daß sie dem Urmenschen wie dem Kinde
noch verschlossen sind und daß eine entscheidende -- historische oder
biographische -- Epoche eintritt, sobald der in seiner Bedeutung
erfaßte Akt des Zählens, Messens, Zeichnens, Formens eine ganz neue
Welt aus einem neu erschlossenen Innenleben hervorgehen läßt. Dies
Erlebnis aber, mit dem der +große Stil+ beginnt, +trennt+
Kulturen, Arten der Seele +als Individuen+ aus dem primitiv
Menschlichen ab.

Nun hat Kant den Besitz menschlichen Wissens nach Synthesen a priori
(notwendig und allgemeingültig) und a posteriori (aus Erfahrung
stammend) eingeteilt und die mathematische Erkenntnis den ersteren
zugerechnet. Zweifellos hat er damit ein starkes inneres Gefühl in
eine abstrakte Fassung gebracht. Aber ganz abgesehen davon, daß eine
scharfe Grenze zwischen beiden, wie sie nach der ganzen Herkunft
des Prinzips unbedingt gefordert werden müßte, nicht vorhanden ist
(wofür die moderne höhere Mathematik und Mechanik mehr als hinreichend
Beispiele gibt), erscheint auch das a priori, sicherlich eine der
genialsten Konzeptionen aller Erkenntniskritik, als ein höchst
schwieriger Begriff. Kant setzt mit ihm, ohne sich die Mühe eines
Beweises zu geben -- der sich auch gar nicht erbringen läßt --,
sowohl die +Unveränderlichkeit der Form+ aller Geistestätigkeit
als ihre +Identität für alle Menschen+ voraus. Infolgedessen
ist ein Umstand von gar nicht zu überschätzender Tragweite völlig
übersehen worden, vor allem deshalb, weil Kant bei der Prüfung seiner
Gedanken nur das geistige Material und den intellektuellen Habitus
seiner Zeit zu Rate zog. Er betrifft den +schwankenden Grad+
dieser „Allgemeingültigkeit“. Neben gewissen Faktoren von zweifellos
weitreichender Geltung, die wenigstens scheinbar unabhängig davon
sind, zu welcher Kultur, in welches Jahrhundert der Erkennende gehört,
liegt allem Denken auch noch eine ganz andere Notwendigkeit der Form
zugrunde, welcher der Mensch eben als Glied +einer bestimmten und
keiner anderen+ Kultur unterworfen ist. Das sind nun zwei sehr
verschiedene Arten des apriorischen Gehaltes und es ist eine nie zu
beantwortende, weil jenseits aller Erkenntnismöglichkeiten liegende
Frage, welches die Grenze zwischen ihnen ist und ob es eine solche
überhaupt gibt. Daß die bisher als selbstverständlich geltende Konstanz
der geistigen Formen eine Illusion ist, daß es innerhalb der uns
vorliegenden Geschichte mehr als einen +Stil des Erkennens+ gibt,
hat man bisher nicht anzunehmen gewagt. Aber es sei daran erinnert,
daß der consensus omnium nicht nur eine allgemeine Wahrheit, sondern
auch einen allgemeinen Irrtum beweisen kann. Ein dunkler Zweifel
war allenfalls immer da und man hätte das Richtige schon aus der
Nichtübereinstimmung sämtlicher Denker erschließen sollen. Aber daß
diese nicht auf eine Unvollkommenheit des menschlichen Geistes, auf
ein „Noch nicht“ einer endgültigen Erkenntnis zurückgeht, kein Mangel,
sondern eine schicksalhafte historische Notwendigkeit ist -- das ist
eine +Entdeckung+. Das Tiefste und Letzte kann nicht aus der
Konstanz, sondern allein aus der +Verschiedenheit+ und nur aus
der +organischen Periodizität+ dieser Verschiedenheit erschlossen
werden. Die +vergleichende Morphologie der Erkenntnisformen+ ist
eine Aufgabe, die dem abendländischen Denken noch vorbehalten ist.


4

Wäre Mathematik eine bloße Wissenschaft wie die Astronomie oder
Mineralogie, so würde man ihren Gegenstand definieren können. Man kann
es nicht und hat es nicht gekonnt. Mögen wir Westeuropäer auch den
eignen wissenschaftlichen Zahlbegriff gewaltsam auf das anwenden, was
die Mathematiker in Athen und Bagdad beschäftigte, so viel ist sicher,
daß Thema, Absicht und Methode der gleichnamigen Wissenschaft dort ganz
andre waren. +Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken.+
Was wir Geschichte „der“ Mathematik nennen, vermeintlich die
fortschreitende Verifikation eines einzigen und unveränderlichen
Ideals, ist in der Tat, sobald man das täuschende Bild der historischen
Oberfläche beseitigt, eine +Mehrzahl+ in sich geschlossener,
unabhängiger Prozesse, eine wiederholte Geburt neuer, ein Aneignen,
Umbilden und Abstreifen fremder Formenwelten, ein rein organisches, an
eine bestimmte +Dauer+ gebundenes Aufblühen, Reifen, Welken und
Sterben. Man lasse sich nicht täuschen. Der ahistorische griechische
Geist schuf seine Mathematik aus dem Nichts; der historisch angelegte
Geist des Abendlandes, der die +angelernte+ antike Wissenschaft
schon besaß -- äußerlich, nicht innerlich --, mußte die eigne durch ein
scheinbares Ändern und Verbessern, durch ein tatsächliches Vernichten
der ihm inadäquaten euklidischen gewinnen. Das eine geschah durch
Pythagoras, das andere durch Descartes. Beide Akte sind in der Tiefe
+identisch+.

Die Verwandtschaft der Formensprache einer Mathematik mit der der
benachbarten großen Künste wird demnach keinem Zweifel unterliegen.
Das Ziel jeder Mathematik ist ein in sich vollendetes System von
Sätzen, das die synthetische Ordnung a priori des starren Ausgedehnten
repräsentiert, dieselbe unablässig erstrebte Synthese, welche auch im
Formproblem, jeder bildenden Kunst und in dem Ringen jedes einzelnen
Künstlers um die technische Meisterschaft auf seinem Gebiete zutage
tritt. Das Formgefühl des Bildhauers, Malers, Tondichters ist ein
wesentlich mathematisches. In der geometrischen Analysis und der
projektiven Geometrie des 17. Jahrhunderts offenbart sich dieselbe
Ordnung, welche die gleichzeitige Instrumentalmusik fugierten Stils
durch die Regeln des Kontrapunktes, dieser Geometrie des Tonraumes,
welche die ihr verschwisterte Ölmalerei durch das Prinzip einer +nur
dem Abendlande+ bekannten Perspektive, der gefühlten Geometrie des
Bildraumes, ins Leben rufen, ergreifen, durchdringen möchte. Sie ist
das, was Goethe +die Idee+ nannte, +deren Gestalt im Sinnlichen
unmittelbar angeschaut werde+, während die bloße Wissenschaft nicht
anschaue, sondern nur beobachte und zergliedere. Aber die Mathematik
geht über Beobachten und Zergliedern hinaus. Sie verfährt in ihren
höchsten Augenblicken intuitiv, nicht abstrahierend. Von Goethe stammt
das tiefe Wort, daß der Mathematiker nur insofern vollkommen sei,
als er das +Schöne des Wahren+ in sich empfinde. Hier wird man
fühlen, wie nahe das Geheimnis im Phänomen der Zahl dem Geheimnis
der Kunstform liegt, die ebenfalls in einer bedeutsamen Grenzgebung,
im schönen Maß, in der abgewogenen Größe, der strengen Beziehung, der
Harmonie, kurz in einer vollkommenen Ordnung von Sinnlichem ihr Ziel
findet. Damit tritt der geborene Mathematiker neben die großen Meister
der Fuge, des Meißels und des Pinsels, die ebenfalls jene große Ordnung
aller Dinge, die der bloße Mitmensch ihrer Kultur in sich trägt, ohne
sie wirklich zu besitzen, in Symbole kleiden, verwirklichen, mitteilen
wollen. Damit wird das Reich der Zahlen zum intuitiven Abbild der
Weltform neben dem Reich der Töne, Linien und Farben. Deshalb bedeutet
das Wort „schöpferisch“ im Mathematischen mehr als in den bloßen
Wissenschaften. Newton, Gauß, Riemann waren künstlerische Naturen. Man
lese nach, wie ihre großen Konzeptionen sie plötzlich überfielen. „Ein
Mathematiker,“ meinte der alte Weierstraß, „der nicht zugleich ein
Stück von einem Poeten ist, wird niemals ein vollkommener Mathematiker
sein.“

Mathematik ist also +auch eine Kunst+. Sie hat ihre Stile und
Stilperioden. Sie ist nicht, wie der Laie meint -- auch der Philosoph,
insofern er hier als Laie urteilt --, der Substanz nach unveränderlich,
sondern wie jede Kunst von Epoche zu Epoche unvermerkten Wandlungen
unterworfen. Man sollte die Entwicklung der großen Künste nie
behandeln, ohne auf die gleichzeitige Mathematik einen gewiß nicht
unfruchtbaren Seitenblick zu werfen. Einzelheiten in den sehr tiefen
Beziehungen zwischen den Tendenzen der Musiktheorie von Orlando Lasso
an und den Entwicklungsphasen der Funktionentheorie sind niemals
untersucht worden, obwohl die Ästhetik mehr daraus hätte lernen können
als aus aller „Psychologie“. Alle ganz großen Mathematiker seit
Fermat, Pascal und Descartes (1630) sind transzendente Analytiker,
alle antiken von Pythagoras an (540) anschaulich-körperhaft denkende
Naturen gewesen. Soll ich noch einmal auf die enge Verwandtschaft
dieser Begabungen mit der anbrechenden Blütezeit dort der reinen
Instrumentalmusik, hier der ionischen Marmorskulptur hinweisen? Die
antike Mathematik, ursprünglich beinahe rein planimetrisch, zeigt
in der Entwicklung von Pythagoras zu Archimedes eine Tendenz zum
stereometrischen Denken +alles+ Zahlenmäßigen. Dem entspricht
die Tendenz der Flächenmalerei attisch-korinthischen Stils über das
der Fläche aufgesetzte Relief hinaus zur Rundplastik. Die Statue ging
teils aus der figürlich -- reliefmäßig -- behandelten Säule (Hera des
Cheramyes), teils aus der zur Wandverkleidung dienenden Holz- oder
Erztafel (Artemis der Nikandre) hervor. Sowohl das Holz wie der Poros
wurden mit dem Schnitzmesser bearbeitet und erst die Behandlung des
Marmors mit dem Meißel entsprach ganz dem künstlerischen Gefühl der
Schöpfung eines +Körpers+. Aber das Entsprechende geschieht im
Abendlande. Während die auch weiterhin so genannte Geometrie sich zur
Analysis des +reinen Raumes+ umbildet, aus der Schritt für Schritt
das unmittelbar Optische beseitigt wird -- man beachte, wie weit schon
der Koordinatenbegriff von Descartes über den von Fermat hinausgeht --,
gewinnt die Instrumentalmusik ihre neuen Ausdrucksmittel. Seit 1520
beginnt die in Oberitalien erfundene Geige die Laute zu verdrängen.
Das Fagott ist seit 1525 bekannt. In Deutschland hat sich während
des 16. und 17. Jahrhunderts die Orgel zum +raumbeherrschenden+
Instrument entwickelt. Monteverdi (1567-1643), der mit der Einführung
des Dominantseptakkordes die eigentliche Chromatik begründet, besaß
das erste wirkliche Orchester und um 1630 erscheint mit Frescobaldi
der erste große Orgelvirtuose. Und neben der analysis situs, dieser
Meisterschöpfung von Leibniz, steht die mächtige Raumsymbolik der
letzten Werke Rembrandts, der 1669 starb -- die des Selbstbildnisses in
München, des Darmstädter Christus und des Evangelisten Matthäus.

Sicherlich unterscheidet auch dies das Formwollen jeder Mathematik
von den rein wissenschaftlichen Absichten aller Physik und Chemie
und rückt sie in die Nähe der bildenden Künste, daß ihr Element, die
starren Zahlen, seien sie nun optisch oder transzendent aufgefaßt,
keine empirischen Wirklichkeiten sind, sondern reine Formen des
Ausgedehnten wie ornamentale Linien und musikalische Harmonien,
ihr Verfahren also, mit Kant zu reden, synthetisch, künstlerisch
gesprochen +Komposition+ ist, in welcher der echte Künstler einem
+höheren Zwange -- dem „a priori“ Kants+ -- unterliegt. Das
mag in den populären Teilen einer Mathematik weniger hervortreten,
aber die Zahlengebilde höherer Ordnung, zu denen jede von ihnen und
im Unterschiede von jeder andern alsbald aufsteigt, wie das indische
Dezimalsystem, die antiken Gruppen der Kegelschnitte, der Primzahlen
und der regelmäßigen Polyeder, im Abendlande der Zahlkörper, die
mehrdimensionalen Räume, die höchst transzendenten Gebilde der
Transformations- und Mengenlehre, die Gruppe der nichteuklidischen
Geometrien, sind nicht mehr von rein verstandesmäßiger Herkunft und
setzen, um in ihren letzten, völlig metaphysischen Gründen durchschaut
zu werden, eine Art visionärer Erleuchtung voraus. Hier handelt es
sich um ein inneres Erlebnis, nicht nur um Erkenntnis. Erst hier
beginnt die +große+ Symbolik der Zahlen. Diese Formen, wie sie im
Geiste großer Meister im Namen ihrer Kultur, als Ausdruck der letzten
Geheimnisse ihres Weltgefühls entstehen, offenbaren dem Eingeweihten
etwas wie den Urgrund seines Daseins. Diese Schöpfungen muß man wie
das Innere eines Domes, wie die Verse der Engel im Faustprolog oder
eine Kantate von Bach auf sich wirken lassen, wozu es glücklicher und
seltener Stunden bedarf. Nur wer dies vermag, und es wird immer nur
eine sehr kleine Zahl reifer Geister sein, begreift Plato, wenn er die
ewigen Ideen seines Kosmos „+die Zahlen+“ nannte.


5

Als man im Kreise der Pythagoräer um 540 zu der Einsicht kam, daß
+das Wesen aller Dinge die Zahl+ sei, da wurde nicht „in der
Entwicklung der Mathematik ein Schritt vorwärts getan“, sondern es
wurde eine ganz neue Mathematik aus der Tiefe des antiken Seelentums
geboren, als selbstbewußte Theorie, nachdem sie in metaphysischen
Problemen und künstlerischen Formtendenzen sich längst angekündigt
hatte. Eine neue Mathematik, wie die stets ungeschrieben gebliebene
der ägyptischen und wie die algebraisch-astronomisch gestaltete der
babylonischen Kultur mit ihren ekliptischen Koordinatensystemen, die
beide in einer großen Stunde der Geschichte einmal geboren worden und
damals längst erloschen waren. Die zur Römerzeit schon greisenhafte
antike Mathematik verschwand aus dem lebendigen Werden trotz ihres
noch heute währenden Scheindaseins in unsrer Bezeichnungsweise,
um viel später und in einer entfernten Landschaft der arabischen
Platz zu machen; auf diese längst erstorbene folgte nach langer
Zwischenzeit, wieder als eine ganz neue Schöpfung eines neuen
Bodens, die abendländische, +unsere+ Mathematik, die wir in
seltsamer Verblendung als die Mathematik, den Gipfel und das Ziel
einer zweitausendjährigen Entwicklung ansehen und deren heute fast
abgelaufene Jahrhunderte ebenso streng bemessen sind.

Jener Ausspruch, daß die Zahl das Wesen aller +sinnlich greifbaren+
Dinge darstelle, ist der wertvollste der antiken Mathematik geblieben.
Mit ihm ist die Zahl als +Maß+ definiert. Darin liegt das ganze
Weltgefühl einer dem +Jetzt und Hier+ leidenschaftlich zugewendeten
Seele. Messen in diesem Sinne heißt etwas Nahes und Körperhaftes
messen. Denken wir an den Inbegriff des antiken Kunstwerkes, die
freistehende Bildsäule eines nackten Menschen: Hier ist alles
Wesentliche und Bedeutsame des Daseins, sein ganzes Ethos, erschöpfend
durch Flächen, Maße und die sinnlichen Verhältnisse der Teile gegeben.
Der pythagoräische Begriff der Harmonie der Zahlen, obwohl vielleicht
aus der -- monophonen -- Musik abgeleitet, scheint durchaus für das
Ideal dieser Plastik geprägt zu sein. Der behandelte Stein ist nur
insofern ein Etwas, als er abgewogene Grenzen und gemessene Form
besitzt, als das, was er unter dem Meißel des Künstlers +geworden+ ist.
Abgesehen davon ist er ein +Chaos+, etwas noch nicht Verwirklichtes,
vorläufig also ein Nichts. Dies Gefühl, ins Große übertragen, schafft
als Gegensatz zum Chaos den +Kosmos+, die Außenwelt der antiken Seele,
die harmonische Ordnung aller wohlbegrenzten und greifbar gegenwärtigen
Einzeldinge. Die Summe dieser Dinge ist bereits die +ganze Welt+. Der
Abstand zwischen ihnen, +unser+ mit dem ganzen Pathos eines großen
Symbols erfüllter Weltraum, ist nichts, τὸ μὴ ὄν. Ausdehnung heißt für
den antiken Menschen Körperlichkeit, für uns Raum, als dessen Funktion
die Dinge „erscheinen“. Von hier aus rückwärts blickend enträtseln wir
vielleicht den tiefsten Begriff der antiken Metaphysik, das ἄπειρον
Anaximanders, das sich in keine Sprache des Abendlandes übersetzen
läßt: es ist das, was keine „Zahl“ im pythagoräischen Sinne besitzt,
keine gemessene Größe und Grenze, kein Wesen also; das Maßlose, die
Unform, eine Statue, die noch nicht aus dem Blocke herausgemeißelt ist.
Dies ist die ἀρχή, das optisch Grenzen- und Formlose, das erst durch
Grenzen, sinnliche Vereinzelung ein Etwas, die Welt nämlich, wird. Es
ist das, was der antiken Erkenntnis als Form a priori zugrunde liegt,
Körperlichkeit an sich, und an dessen Stelle im kantischen Weltbilde
genau entsprechend der absolute Raum erscheint, aus dem Kant sich
angeblich „alle Dinge fortdenken konnte“.

Man wird jetzt begreifen, was eine Mathematik von der andern, was
insbesondere die antike von der abendländischen scheidet. Das reife
antike Denken konnte seinem ganzen Weltgefühl nach in der Mathematik
nur die Lehre von den Größen-, Maß- und Gestaltverhältnissen
leibhafter Körper sehen. Wenn Pythagoras aus diesem Gefühl heraus
die entscheidende Formel aussprach, so war eben für ihn die Zahl ein
+optisches+ Symbol, nicht Form überhaupt oder abstrakte Beziehung,
sondern das Grenzzeichen des Gewordnen, insofern dieses in sinnlich
übersehbaren Einzelheiten auftritt. Zahlen werden von der gesamten
Antike ohne Ausnahme, als Maßeinheiten, als Größen, Strecken, Flächen
aufgefaßt. Eine andre Art Ausdehnung ist ihr nicht vorstellbar. Alle
antike Mathematik ist im letzten Grunde +Stereometrie+. Euklid,
der im 3. Jahrhundert ihr System abschloß, meint, wenn er von einem
Dreieck spricht, mit innerster Notwendigkeit die Grenzfläche eines
Körpers, niemals ein System dreier sich schneidender Geraden oder eine
Gruppe dreier Punkte im Raume von drei Dimensionen. Er bezeichnet die
Linie als „Länge ohne Breite“ (μῆκος ἀπλατές). In unserm Munde wäre
diese Definition kläglich gewesen. Innerhalb der antiken Mathematik ist
sie ausgezeichnet.

Auch die abendländische Zahl ist nicht, wie Kant und selbst Helmholtz
dachten, aus der „apriorischen Anschauungsform der Zeit“ entwickelt,
sondern als Ordnung gleichartiger Einheiten etwas spezifisch
Räumliches. Die Zeit hat, wie sich immer deutlicher zeigen wird, mit
mathematischen Dingen nicht das Geringste zu tun. Zahlen gehören
ausschließlich in die Sphäre des Ausgedehnten. Aber es gibt so viele
Möglichkeiten und also Notwendigkeiten, Ausgedehntes geordnet
vorzustellen, als es Kulturen gibt. Die antike Zahl ist nicht ein
Denken räumlicher Beziehungen, sondern +für das leibliche Auge+
abgegrenzter, greifbarer Einheiten. Die Antike kennt deshalb -- das
folgt mit Notwendigkeit -- nur die „+natürlichen+“ (+positiven
ganzen+) Zahlen, die unter den vielen, höchst abstrakten Zahlenarten
der abendländischen Mathematik, den komplexen, hyperkomplexen,
nichtarchimedischen u. a. Systemen eine durch nichts ausgezeichnete
Rolle spielen.

Deshalb ist die Vorstellung irrationaler Zahlen, in unsrer Schreibweise
also unendlicher Dezimalbrüche, dem griechischen. Geiste unvollziehbar
geblieben. Euklid sagt -- und man hätte ihn besser verstehen sollen
--, daß inkommensurable Strecken sich „+nicht wie Zahlen+“
verhalten. In der Tat liegt im vollzogenen Begriff der irrationalen
Zahl die völlige Trennung des +Zahlbegriffs+ vom Begriff der
+Größe+ und zwar deshalb, weil eine solche Zahl, π z. B., niemals
abgegrenzt oder exakt durch eine Strecke dargestellt werden kann.
Daraus folgt aber, daß in der Vorstellung z. B. des Verhältnisses der
Quadratseite zur Diagonale die antike Zahl, die eben +sinnliche+
Grenze, +abgeschlossene Größe+ und nichts andres ist, eine
ganz andre Zahlidee berührt, die dem antiken Weltgefühl im tiefsten
Innern fremd und darum unheimlich ist, als sei man nahe daran, ein
gefährliches Geheimnis des eignen Daseins aufzudecken. Dies verrät
ein seltsamer spätgriechischer Mythus, wonach derjenige, welcher
zuerst die Betrachtung des Irrationalen aus dem Verborgnen an die
Öffentlichkeit brachte, durch einen Schiffbruch umgekommen sei, „weil
das Unaussprechliche und Bildlose immer verborgen bleiben solle“.
Wer die Angst fühlt, welche diesem Mythus zugrunde liegt -- es ist
dieselbe, welche den Griechen der reifsten Zeit vor der Ausdehnung
seiner winzigen Stadtstaaten zu politisch organisierten Landschaften,
vor der Anlage weiter Straßenfluchten und Alleen mit Fernblicken
und berechneten Abschlüssen, vor der babylonischen Astronomie mit
ihrer Durchdringung endloser Sternenräume und vor dem Verlassen des
Mittelmeeres auf Bahnen, welche die Schiffe der Ägypter und Phöniker
längst erschlossen hatten, immer wieder zurückschrecken ließ, die tiefe
metaphysische Angst vor der Auflösung des Greifbar-Sinnlichen und
Gegenwärtigen, mit dem sich das antike Dasein wie mit einer Schutzmauer
umgeben hatte, hinter der etwas Unheimliches, ein Abgrund und Urgrund
dieses gewissermaßen künstlich geschaffenen und behaupteten Kosmos
schlief --, wer dies Gefühl begreift, der hat auch den letzten Sinn
der antiken Zahl, +des Maßes im Gegensatz zum Unermeßlichen+ und
das hohe religiöse Ethos in ihrer Beschränkung begriffen. Goethe,
als Künstler, hat es sich wenigstens in seinen Naturstudien mit
Leidenschaft zu eigen gemacht -- daher seine fast ängstliche Polemik
gegen die Mathematik, die sich in Wirklichkeit, was noch niemand recht
verstanden hat, instinktiv durchaus gegen die +nichtantike+
Mathematik, die der Naturlehre seiner Zeit zugrunde liegende
Infinitesimalrechnung richtete.

Die antike Religiosität sammelt sich mit steigender Ausdrücklichkeit in
sinnlich gegenwärtigen -- +ortsgebundenen+ -- Kulten, die allein
jenes bildhafte, immernahe Göttertum repräsentieren. Abstrakte, in den
heimatlosen Räumen des Denkens verschwebende +Dogmen+ sind ihm
immer fern geblieben. Kult und Dogma verhalten sich wie die Statue zur
Orgel im Dom. Es haftet der euklidischen Mathematik zweifellos etwas
Kultisches an. Man denke an die Lehre von den regelmäßigen Polyedern
und ihre Bedeutung für die Esoterik des platonischen Kreises. Dem
entspricht andrerseits eine tiefe Verwandtschaft der Analysis des
Unendlichen von Descartes an mit der gleichzeitigen Dogmatik in ihrem
Fortschreiten zu einem reinen, von allen sinnlichen Bezügen gelösten
Deismus. Voltaire, Lagrange und d’Alembert sind Zeitgenossen. Man
empfand aus dem antiken Seelentum heraus das Prinzip des Irrationalen,
also die Zerstörung der statuarischen Reihe der ganzen Zahlen, der
Repräsentanten einer in sich vollkommenen Weltordnung, als einen Frevel
gegen das Göttliche selbst. Bei Plato, im Timäus, ist dies Gefühl
unverkennbar. Mit der Verwandlung der diskontinuierlichen Zahlenreihe
in ein Kontinuum wird in der Tat nicht nur der antike Zahlbegriff,
sondern der Begriff der antiken Welt selbst in Frage gestellt. Man
begreift nun, daß nicht einmal die uns ohne Schwierigkeit vorstellbaren
+negativen+ Zahlen, geschweige denn die +Null als Zahl+ --
welche für die indische Seele, die sie zuerst konzipiert hat, einen
ganz entscheidenden metaphysischen Akzent besitzt -- in der antiken
Mathematik möglich sind. Negative +Größen+ gibt es nicht. Der
Ausdruck -2. -3 = +6 ist weder anschaulich noch eine Größenvorstellung.
Mit +1 ist die Größenreihe zu Ende. In der graphischen Darstellung
negativer Zahlen

  (+3  +2  +1  0   -1 -2 -3)
  (.---.---.---.---.---.---)

werden von Null an die Strecken plötzlich +positive Symbole+ von
etwas Negativem. Sie +bedeuten+ etwas, sie +sind+ nichts mehr.
Negative Zahlen sind nicht Größen, sondern etwas, das durch Größen nur
angedeutet werden kann. Die Vollziehung dieses Aktes lag aber nicht in
der Richtung des antiken Zahlendenkens.

Alles aus antikem Geist Geborene ist also allein durch plastische
Begrenztheit zum Range eines Wirklichen erhoben worden. Was sich nicht
zeichnen läßt, ist nicht „Zahl“. Plato, Archytas und Eudoxos reden
von Flächen- und Körperzahlen, wenn sie unsere zweiten und dritten
Potenzen meinen, und es versteht sich von selbst, daß der Begriff
höherer ganzzahliger Potenzen für sie nicht vorhanden ist. Eine Potenz
vierten Grades würde aus dem plastischen Grundgefühl, das sofort eine
vierdimensionale Ausgedehntheit substituiert, Unsinn sein. Ein Ausdruck
gar wie e^{-ix}, der in unsern Formeln ständig erscheint, oder auch nur
die schon im 14. Jahrhundert von Oresme verwandte Bezeichnung 5^{1/2}
wären ihnen völlig absurd erschienen. Euklid nennt die Faktoren eines
Produkts Seiten (πλευραί). Man rechnet mit Brüchen -- endlichen, wie
sich versteht --, indem man das ganzzahlige Verhältnis zweier Strecken
untersucht. Eben deshalb kann die Idee der Zahl Null gar nicht in
Erscheinung treten, denn sie hat zeichnerisch keinen Sinn. Man wende
nicht von der Gewöhnung unseres anders angelegten Denkens her ein, daß
dies eben die „Urstufe“ in der Entwicklung „der“ Mathematik sei. Die
antike Mathematik ist innerhalb der Welt, welche die antike Welt um
sich herum schuf, etwas Vollkommenes. Sie ist es nur nicht +für uns+.
Die babylonische und die indische Mathematik hatten das für das antike
Zahlengefühl Unsinnige längst zu wesentlichen Bestandteilen +ihrer+
Zahlenwelten gemacht, und mancher griechische Denker wußte darum. Die
Mathematik, es sei noch einmal gesagt, ist eine Illusion. Wirklich
ist, was dem eignen Seelentum adäquat und symbolisch bedeutend ist.
Dies allein ist „denknotwendig“, das andre ist unmöglich, verfehlt,
unsinnig, oder, wie wir mit dem Hochmut historischer Geister zu sagen
vorziehen, „primitiv“. Die moderne Mathematik, ein Meisterstück des
abendländischen Geistes -- „wahr“ allerdings nur für ihn --, wäre
Plato als lächerliche und mühselige Verirrung auf dem Wege erschienen,
der +wahren+ Mathematik, der antiken natürlich, beizukommen; und wir
machen uns sicherlich kaum eine Vorstellung davon, was alles an großen
Konzeptionen fremder Kulturen wir haben untergehen lassen, weil wir
es aus +unserem+ Denken und dessen Grenzen heraus nicht assimilieren
konnten oder, was dasselbe ist, weil wir es als falsch, überflüssig und
sinnlos empfanden.


6

Die antike Mathematik als Lehre von anschaulichen Größen will
ausschließlich die Tatsachen des Gegenwärtigen deuten, und sie
beschränkt also ihre Forschung wie ihren Geltungsbereich auf
Gegenstände der Nähe und des Kleinen. Dieser Konsequenz gegenüber
ergibt sich etwas sehr Unlogisches im praktischen Verhalten der
abendländischen Mathematik, was eigentlich erst seit Entdeckung der
nichteuklidischen Geometrien recht erkannt worden ist. Zahlen sind
reine Formen des erkennenden Geistes. Ihre exakte Anwendbarkeit auf
die reale Anschauung ist also ein Problem für sich. Die Kongruenz
mathematischer Systeme mit der Empirie ist nichts weniger als
selbstverständlich. Trotz des Laienvorurteils von der unmittelbaren
mathematischen Evidenz der Anschauung, wie es sich bei Schopenhauer
findet, stimmt die euklidische Geometrie, welche mit der populären
Geometrie aller Zeiten eine oberflächliche Identität besitzt, nur in
sehr engen Grenzen („auf dem Papier“) mit der Anschauung annähernd
überein. Wie es bei großen Entfernungen steht, lehrt die einfache
Tatsache, daß Parallelen sich am Horizont berühren. Die gesamte
malerische Perspektive beruht auf ihr. Trotzdem ging Kant, der
für einen abendländischen Denker in unverzeihlicher Weise vor der
„Mathematik der Fernen“ auswich und sich stets, ganz „antik“, auf
winzige Figuren berief, an denen gerade ihrer Kleinheit wegen das
spezifisch abendländische, das infinitesimale Raumproblem gar nicht
in Erscheinung treten konnte, von einer naiven Größenvergleichung
aus. Euklid vermied es ebenfalls, aber für einen antiken Denker mit
Recht, sich für die anschauliche Gewißheit seiner Axiome etwa auf ein
Dreieck zu berufen, dessen Punkte durch den Standort des Beobachters
und zwei Fixsterne gebildet werden, das also weder gezeichnet noch
„angeschaut“ werden kann. Es war hier dasselbe Gefühl wirksam, das
vor dem Irrationalen zurückschreckte und das Nichts nicht als Null,
als Zahl, zu begreifen wagte, das also auch im Anschauen kosmischer
Verhältnisse dem Unermeßlichen aus dem Wege ging, um das Symbol des
Maßes zu bewahren.

Aristarch von Samos, der um 270 das Weltsystem entwarf, welches bei
seiner Wiederentdeckung durch Kopernikus die metaphysische Leidenschaft
des Abendlandes im tiefsten erregte -- man denke an Giordano Bruno
--, das eine Erfüllung gewaltiger Ahnungen und eine Bestätigung jenes
faustischen, gotischen Weltgefühls war, das schon in der Architektur
seiner Kathedralen der Idee des unendlichen Raumes ein Opfer
dargebracht hatte, wurde mit seinem Gedanken von der Antike völlig
gleichgültig aufgenommen und bald -- man möchte sagen absichtlich --
vergessen. In der Tat ist das aristarchische Weltsystem für +diese+
Kultur seelisch belanglos. Es wäre ihrer Grundidee sogar gefährlich
geworden. Und doch war es im Unterschiede von dem des Kopernikus
-- diese entscheidende Tatsache ist immer unbeachtet geblieben --
durch eine besondere Fassung dem antiken Weltgefühl genau angepaßt.
Aristarch nahm als +Abschluß+ des Kosmos eine körperlich durchaus
begrenzte, optisch zu beherrschende +Hohlkugel+ an, in deren Mitte
das kopernikanisch gedachte Planetensystem sich befindet. Damit war
das Prinzip des Unendlichen, das den sinnlich-antiken Grenzbegriff
gefährdet hätte, überwunden. Kein Gedanke an einen grenzenlosen
Weltraum taucht auf, der hier schon unvermeidlich erscheint und
dessen Konzeption dem babylonischen Denken längst gelungen war.
Im Gegenteil. Archimedes beweist in seiner berühmten Schrift von
der „Sandzahl“ -- wie schon das Wort verrät, der Widerlegung aller
infinitesimalen Tendenzen, obwohl sie immer wieder als erster
Schritt auf dem Wege zum modernen Integrationskalkül betrachtet
wird --, daß dieser stereometrische Körper, denn etwas anderes ist
der aristarchische Kosmos nicht, mit Atomen (Sand) erfüllt, zu +sehr
großen+, aber +nicht zu unendlichen+ Resultaten führe. Das heißt aber
gerade alles, was +uns+ die Analysis bedeutet, verneinen. Das Weltall
unsrer Physik ist, wie die immer wieder scheiternden und sich dem
Geiste von neuem aufdrängenden Hypothesen über den stofflich, d. h.
mittelbar anschaulich gedachten Weltäther beweisen, die strengste
Verleugnung aller materiellen Begrenztheit. Plato, Apollonius und
Archimedes, sicherlich die feinsten und kühnsten Mathematiker der
Antike, haben eine +rein optische+ Analysis des Gewordnen auf der
Grundlage des plastisch-antiken Grenzwertes vollkommen durchgeführt.
Sie gebrauchen tiefdurchdachte und uns schwer zugängliche Methoden
einer Integralrechnung, die selbst mit der Methode des bestimmten
Integrals von Leibniz nur scheinbare Ähnlichkeit besitzt, und sie
wenden geometrische Örter und Koordinaten an, die durchaus benannte
Maßzahlen und Strecken und nicht wie bei Fermat und vor allem bei
Descartes unbenannte räumliche Beziehungen, Werte von Punkten in
bezug auf ihre Lage im Raum sind. Hierher gehört vor allem die
Exhaustionsmethode des Archimedes in seiner kürzlich entdeckten Schrift
an Eratosthenes, wo er z. B. die Quadratur des Parabelsegments auf der
Berechnung eingeschriebener Rechtecke (nicht mehr ähnlicher Polygone)
begründet. Aber gerade die geistreiche, unendlich verwickelte Art,
wie er in Anlehnung an gewisse geometrische Ideen Platos zum Resultat
kommt, macht den ungeheuren Gegensatz zwischen dieser Intuition und der
oberflächlich ähnlichen Pascals etwa fühlbar. Es gibt keinen schärferen
Gegensatz hierzu -- wenn man vom Riemannschen Integralbegriff ganz
absieht -- als die leider heute noch sogenannten Quadraturen, bei
denen die „Fläche“ als durch eine Funktion begrenzt bezeichnet wird
und von einer zeichnerischen Handhabe keine Rede mehr ist. Nirgends
kommen beide Mathematiken einander so nahe und nirgends läßt sich
die unüberschreitbare Kluft zweier Seelen, deren Ausdruck sie sind,
gewisser fühlen.

Die reinen Zahlen, deren Phänomen die Ägypter im Stil ihrer
Tempelhallen, Pyramiden und Statuenreihen mit einer tiefen Furcht vor
ihrem Ursprung gleichsam verbargen, waren auch für die Hellenen der
Schlüssel zum Sinn des Gewordenen, +Starren und also Vergänglichen+.
Die mathematische Zahl als formales Grundprinzip der ausgedehnten
Welt, die nur +aus+ dem wachen menschlichen Bewußtsein und für dieses
da ist, steht durch das Medium der kausalen Notwendigkeit zum +Tode+
in Beziehung, wie die chronologische Zahl zum Werden, zum Leben, zur
Notwendigkeit des Schicksals. Dieser Zusammenhang der mathematischen
Form mit dem +Ende+ des organischen Seins, mit der Erscheinung seines
anorganischen Restes, des Leichnams, wird sich immer deutlicher als
der Ursprung aller großen Kunst enthüllen. Wir bemerkten schon die
Entwicklung der frühen Ornamentik aus dem Bestattungskult. +Zahlen sind
Symbole des Vergänglichen.+ Starre Formen verneinen das Leben. Formeln
und Gesetze breiten Starrheit über das Bild der Natur. Zahlen töten. Es
sind die Mütter Fausts, die hehr in Einsamkeit thronen, „in der Gebilde
losgebundne Reiche

                Gestaltung, Umgestaltung,
    Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung,
    Umschwebt von Bildern aller Kreatur.“

Hier berühren sich Goethe und Plato im Ahnen eines letzten
Geheimnisses. Die Mütter, das Unzugängliche -- Platos Ideen --
bezeichnen die +Möglichkeiten+ eines Seelentums, seine ungeborenen
Formen, welche sich in der sichtbaren, aus der Idee dieses Seelentums
heraus mit innerster Notwendigkeit geordneten Welt als tätige und
geschaffene Kultur, als Kunst, Gedanke, Staat, Religion verwirklicht
haben. Hierauf beruht die Verwandtschaft des Zahlensystems einer Kultur
mit deren Weltidee, eine Beziehung, die es über das bloße Wissen und
Erkennen zur Bedeutung einer Weltanschauung erhebt und die bewirkt,
daß es so viele Mathematiken -- Zahlenwelten -- gibt als es hohe
Kulturen gibt. So allein wird es begreiflich und +notwendig+, daß
die größten mathematischen Denker, bildende Künstler im Reiche der
Zahlen, aus tief religiöser Intuition zur Auffindung der entscheidenden
mathematischen Probleme ihrer Kultur gelangt sind. So hat man sich
die Schöpfung der antiken, apollinischen Zahl durch Pythagoras,
den +Stifter einer Religion+, zu denken. Dies Urgefühl hat
Nicolaus Cusanus, den großen Bischof von Brixen, geleitet, als er
um 1450 von der Betrachtung der Unendlichkeit Gottes in der Natur
ausgehend die Grundzüge der Infinitesimalrechnung fand. Leibniz, der
ihre Idee zwei Jahrhunderte später vollendete, hat selbst aus rein
metaphysischen Betrachtungen über das göttliche Prinzip und seine
Beziehung zum unendlichen Ausgedehnten die _analysis situs_
entwickelt, vielleicht die genialste Interpretation des reinen, von
allem Sinnlichen befreiten Raumes, deren reiche Möglichkeiten erst
im 19. Jahrhundert durch Graßmann in seiner Ausdehnungslehre und
Riemann in seiner Symbolik der zweiseitigen Flächen, welche die Natur
von Gleichungen repräsentieren, entfaltet worden sind. Descartes,
ein tiefer Christ aus dem Kreise von Port Royal, hat, einem innern
Bedürfnis folgend, anläßlich seiner philosophisch-mathematischen
Unterweisung die Pfalzgräfin Elisabeth und Gustav Adolfs Tochter,
Königin Christine von Schweden, wieder zum Katholizismus bekehrt. Und
Kepler wie Newton, beide streng religiöse Naturen, blieben sich, wie
Plato, durchaus bewußt, gerade durch das Medium der Zahlen das Wesen
einer göttlichen Weltordnung intuitiv erfaßt zu haben.


7

Erst Diophant hat, wie man immer hört, die antike Arithmetik aus ihrer
sinnlichen Gebundenheit befreit, sie erweitert und fortgeführt und
die Algebra als die Lehre von den unbestimmten Größen geschaffen.
Das ist allerdings nicht eine Bereicherung, sondern eine vollkommene
Überwindung des antiken Weltgefühls, und allein dies hätte beweisen
sollen, daß Diophant der antiken Kultur innerlich nicht mehr angehörte.
Ein neues Zahlengefühl oder sagen wir Grenzgefühl dem Wirklichen,
Gewordnen gegenüber ist in ihm tätig, nicht mehr jenes hellenische, aus
dessen sinnlich-gegenwärtigen Grenzwerten sich neben der euklidischen
Geometrie der greifbaren Körper auch die sie nachbildende Plastik
der nackten Statue entwickelt hatte. Einzelheiten der Ausbildung
dieser +neuen+ Mathematik kennen wir nicht. Bei Diophant taucht
unter der +Absicht+ euklidischer Gedankengänge jenes neue
Grenzgefühl auf -- ich nenne es das +magische+ --, das sich seiner
Gegensätzlichkeit zu der angestrebten antiken Fassung gar nicht
bewußt ist. Die Idee der +Zahl als Größe+ wird nicht erweitert,
sondern unvermerkt aufgelöst. Was eine +unbestimmte+ Zahl a und
was eine +unbenannte+ Zahl 3 ist -- beides weder Größe noch Maß
noch Strecke -- hätte ein Grieche gar nicht angeben können. Das neue,
in diesen Zahlenarten inkarnierte Grenzgefühl liegt den diophantischen
Betrachtungen wenigstens zugrunde; die uns geläufige Buchstabenrechnung
selbst, in deren Gewande sich die inzwischen nochmals ganz umgedeutete
Algebra heute darstellt, ist erst in fühlbarer, aber unbewußter
Opposition gegen die antikisierende Renaissancerechnung 1591 durch
Vieta eingeführt worden.

Diophant lebte um 250 n. Chr., +also im dritten Jahrhundert der
arabischen Kultur+, deren geschichtlicher Organismus bisher unter
den Oberflächenformen der römischen Kaiserzeit und des „Mittelalters“
verschüttet lag[26] und der alles angehört, was seit Beginn unserer
Zeitrechnung in der Landschaft des kommenden Islam entstanden ist.
Gerade damals erblich vor dem neuen Raumgefühl der Basiliken, Mosaiken
und Sarkophagreliefs altchristlich-syrischen Stils der letzte Schatten
der attischen Statuenplastik. Damals gab es wieder eine +archaische
Kunst+ und ein streng geometrisches Ornament. Damals gerade
vollendete Diokletian den +Khalifat+ des nur noch scheinbar
römischen Reiches. 500 Jahre liegen zwischen Euklid und Diophant,
zwischen Plato und Plotin, dem letzten, abschließenden Denker -- dem
+Kant+ -- einer vollendeten und dem ersten mystischen Geiste --
dem +Dante+ -- einer eben erwachten Kultur.

Hier berühren wir zum ersten Male das bisher unbekannte Phänomen
jener großen Individuen, deren Werden, Wachsen und Welken unter einer
tausendfarbigen verwirrenden Oberfläche die +eigentliche Substanz der
Weltgeschichte+ bildet. Das im römischen Geiste dahinschwindende
antike Seelentum, dessen „Leib“ die historische Wirklichkeit der
antiken Kultur mit ihren Werken, Gedanken, Taten und Trümmern ist,
war um 1100 v. Chr. aus der Landschaft des ägäischen Meeres geboren
worden. Die seit Augustus im Osten unter der Decke antiker Zivilisation
keimende arabische Kultur entstammt durchaus dem Schoße der Landschaft
zwischen Nil und Euphrat, Kairo und Bagdad. Als Ausdruck dieser neuen
Seele hat man fast die gesamte „spätantike“ Kunst der Kaiserzeit, die
sämtlichen, von einer jungen Glut erfüllten Kulte des Ostens, die des
Mithras, Serapis, Horus, der Isis, der syrischen Baale von Emesa und
Palmyra, das Christentum und den Neuplatonismus, die kaiserlichen Fora
in Rom und das dort von einem Syrer erbaute Pantheon, +die früheste
aller Moscheen+, zu betrachten.

Daß man damals griechisch schrieb und griechisch zu denken glaubte,
wiegt nicht schwerer als die Tatsache, daß die Wissenschaft des
Abendlandes bis zu Kant hinauf die lateinische Sprache vorzog und daß
Karl der Große das römische Reich „erneuerte“.

Bei Diophant ist die Zahl nicht mehr das Maß und Wesen von
+plastischen Dingen+. Auf den ravennatischen Mosaiken ist der
Mensch nicht mehr +Körper+. Unvermerkt haben die griechischen
Bezeichnungen ihren ursprünglichen Gehalt verloren. Wir verlassen die
Sphäre der attischen καλοκἀγαθία, der stoischen ἀταραξία und γαλήνη.
Zwar kennt Diophant die Null und die negativen Zahlen noch nicht, aber
die plastischen Einheiten pythagoräischer Zahlen kennt er +nicht
mehr+. Andrerseits ist die Unbestimmtheit der unbenannten arabischen
Zahlen doch auch etwas ganz andres als die gesetzmäßige Variabilität
der spätem abendländischen Zahl, der +Funktion+.

Die +magische+ Mathematik, die Algebra, hat sich, ohne daß uns
Einzelheiten bekannt wären, über Diophant hinaus -- der schon eine
gewisse Entwicklung voraussetzt -- logisch und in großer Linie bis
zur Vollendung in der Abassidenzeit des 9. Jahrhunderts entwickelt,
wie der Stand der Kenntnisse bei Alchwarizmi und Alsidschzi beweist.
Dann erst beginnt, wieder ein halbes Jahrtausend später und in einer
neuen, entfernten Landschaft der großartige Prozeß der Umdeutung
dieser magischen, uns durch die spanischen Araber überlieferten
Zahlenwelt in die funktionale Westeuropas, der mächtige Kampf gegen ein
sich andrängendes fremdes Weltgefühl mit seiner innerlich gereiften
Raumdeutung, welche die junge, gotische Seele abwehren und brechen
mußte, um ihr Eigenstes nicht verkümmern zu lassen, ein heimliches
Ringen in allen Architekturen, jeder Fassade, jedem Ornament, jedem
Symbol, jedem metaphysischen und mathematischen Problem, das in seiner
stummen Erhabenheit noch nie gefühlt worden ist.

Was neben der euklidischen Geometrie die attische Plastik -- die
gleiche Formensprache in andrem Gewande -- was neben der Analysis des
Raumes der fugierte Stil der Instrumentalmusik, das bedeutet neben
dieser Algebra die magische Kunst der Mosaiken, der vom Sassanidenreich
und später von Byzanz aus immer reicher entwickelten Arabeske mit
ihrem sinnlich-unsinnlichen Verschweben organischer Formmotive und das
Hochrelief konstantinischen Stils mit dem ungewissen Tiefendunkel des
zwischen frei herausgearbeiteten Figuren ausgesparten Hintergrundes.
Wie die Algebra zur antiken Arithmetik und zur abendländischen
Analysis, so verhält sich die Kuppelbasilika zum dorischen Tempel und
zum gotischen Dom.

Nicht als ob Diophant ein großer Mathematiker gewesen wäre. Das meiste,
woran man bei seinem Namen erinnert wird, steht nicht in seinen
Schriften und was darin steht, ist sicherlich nicht ganz sein Eigentum.
Seine zufällige Bedeutung liegt darin, daß -- nach unsrem Wissen -- bei
ihm als dem ersten das neue Zahlengefühl unverkennbar vorhanden ist.
Man wird, Meistern gegenüber, die eine Mathematik +abschließen+,
wie Apollonius und Archimedes die antike und ihnen entsprechend
Gauß, Cauchy, Riemann die abendländische, bei Diophant und Menelaos
etwas Primitives finden, das bisher gern als Dekadence angesprochen
wurde. Man wird es künftig -- nach dem Vorbilde der Umwertung der
vermeintlich spätantiken, bisher geradezu verachteten Kunst zur
tastenden Äußerung des eben erwachenden früharabischen Weltgefühls --
begreifen und schätzen lernen. Ebenso archaisch, primitiv und suchend
wirkt die Mathematik des Nikolas von Oresme, Bischofs von Lisieux
(1323 bis 1382), der zum ersten Mal im Abendlande eine freie Art von
Koordinaten und sogar Potenzen mit gebrochnen Exponenten verwandte, die
ein Zahlengefühl voraussetzen, unklar noch, aber doch unverkennbar,
das gänzlich unantik, aber auch nicht mehr arabisch ist. Man erinnere
sich neben Diophant an frühchristliche Sarkophage der römischen
Sammlungen und neben Oresme an gotische Gewandstatuen deutscher Dome,
und man wird auch in den mathematischen Gedankengängen, die bei beiden
die +gleiche+ frühe Stufe des Intellekts darstellen, etwas
Verwandtes bemerken. Das stereometrische Grenzgefühl in der letzten
Verfeinerung und Eleganz eines Archimedes war verloren gegangen. Man
war dumpf, sehnsüchtig, mystisch, nicht mehr attisch hell und frei
gestimmt. Man war der erdgeborne Mensch einer frühen Landschaft, nicht
Großstädter, wie Euklid und d’Alembert.[27] Man verstand die tiefen
und komplizierten Gebilde des antiken Denkens nicht mehr und besaß
verworrene, neue, deren klare städtisch-intellektuelle Fassung noch
nicht gefunden werden konnte. Dies ist der +gotische+ Zustand
aller jungen Kulturen, den die Antike selbst in ihrer frühdorischen
Zeit durchschritten hatte, von welcher außer den Grabvasen des
Dipylonstils nichts geblieben ist. Erst in Bagdad, im 9. und 10.
Jahrhundert, sind die Konzeptionen der Epoche Diophants von reifen
Meistern, die Plato und Gauß nicht nachstehen, durchgeführt und
abgeschlossen worden.


8

Die entscheidende Tat des Descartes, dessen Geometrie 1637 erschien,
bestand +nicht+ in der Einführung einer neuen Methode oder
Anschauung auf dem Gebiete der überlieferten Geometrie, wie dies immer
wieder ausgesprochen wird, sondern in der endgültigen Konzeption
einer +neuen Zahlenidee+, die sich in der Lösung der Geometrie
von der optischen Handhabe der Konstruktion, von der gemessenen und
meßbaren Strecke überhaupt aussprach. Damit war die Analysis des
Unendlichen Tatsache geworden. Das starre, sogenannte kartesische
Koordinatensystem, der ideale Repräsentant von meßbaren Größen in
halbeuklidischem Sinne, das in der vorhergehenden Periode, bei Oresme
z. B., Bedeutung hat, wurde durch Descartes, wenn man in die Tiefe
seiner Erwägungen dringt, nicht vollendet, sondern überwunden. Sein
Zeitgenosse Fermat war sein letzter klassischer Vertreter.

An Stelle des sinnlichen Elements der konkreten Strecke und Fläche
-- dem spezifischen Ausdruck +antiken+ Grenzgefühls -- tritt
das abstrakt-räumliche, mithin unantike Element des +Punktes+,
der von nun an als Gruppe zugeordneter reiner Zahlen charakterisiert
wird. Descartes hat den literarisch ererbten Begriff der Größe,
der sinnlichen Dimension, zerstört und durch den veränderlichen
Beziehungswert der Lagen im Raume ersetzt. Daß dies aber eine
+Beseitigung der Geometrie überhaupt+ war, die von nun an
innerhalb der Zahlenwelt der Analysis nur noch ein durch antike
Reminiszenzen verschleiertes Scheindasein führt, hat man übersehen.
Das Wort Geometrie hat einen nicht zu beseitigenden apollinischen
Sinn. Von Descartes an ist die vermeintlich „neuere Geometrie“
entweder ein synthetischer Prozeß, welcher die +Lage von Punkten+
in einem nicht mehr notwendig dreidimensionalen Raume (einer
„Punktmannigfaltigkeit“) durch Zahlen, oder ein analytischer, welcher
Zahlen durch die Lage von Punkten bestimmt. Strecken durch Lagen
ersetzen heißt den Begriff der Ausdehnung rein räumlich, nicht mehr
körperhaft fassen.

Das klassische Beispiel für diese Zerstörung der als Erbschaft
überkommenen optisch-endlichen Geometrie scheint mir die Umkehrung der
Winkelfunktionen -- welche in einem uns kaum erreichbaren Sinne Zahlen
der indischen Mathematik gewesen waren -- in cyklometrische Funktionen
und weiterhin deren Auflösung in Reihen zu sein, die im unendlichen
Zahlenbereich der algebraischen Analysis auch die leiseste Erinnerung
an geometrische Gebilde im Stile Euklids verloren haben. Die Kreiszahl
π erzeugt wie die Basis der natürlichen Logarithmen e in
diesem ganzen Zahlenbereich, überall auftauchend, Beziehungen, die alle
Grenzen der ehemaligen Geometrie, Trigonometrie, Algebra auslöschen,
die weder arithmetischer noch geometrischer Natur sind -- und bei
denen niemand mehr an wirklich gezeichnete Kreise oder zu berechnende
Potenzen denkt.


9

Während die antike Seele durch Pythagoras um 540 zur Konzeption
+ihrer+, der apollinischen Zahl als einer meßbaren Größe
gelangt war, fand die Seele des Abendlandes durch Descartes und
seine Generation (Pascal, Fermat, Desargues) im genau entsprechenden
Zeitpunkte die Idee einer Zahl, die aus dem leidenschaftlichen
+faustischen+ Hange zum Unendlichen geboren war. Die Zahl
als +reine Größe+, die sich an die körperliche Gegenwart des
Einzeldinges heftet, findet ihr Gegenstück in der Zahl als +reiner
Beziehung+. Darf die antike Welt, der Kosmos, aus jenem tiefen
Bedürfnis nach sichtbarer Begrenztheit als abzählbare Summe von
stofflichen Dingen definiert werden, so hat sich +unser+
Weltgefühl im Bilde eines unendlichen Raumes verwirklicht, in dem
alles Sichtbare als etwas Bedingtes dem Unbedingten gegenüber, beinahe
als eine Wirklichkeit zweiten Ranges empfunden wird. +Sein+
Symbol ist der entscheidende, in keiner andern Kultur angedeutete
Begriff der +Funktion+. Die Funktion ist nichts weniger als
die Erweiterung irgendeines vorhandenen Zahlbegriffs; sie ist deren
völlige Überwindung. Nicht nur die euklidische, d. h. die allgemein
menschliche, populäre Geometrie, sondern auch die archimedische
Sphäre des elementaren Rechnens, die Arithmetik, hört damit auf, für
die wirklich +bedeutende+ Mathematik Westeuropas zu existieren.
Es gibt nur noch eine abstrakte Analysis. Für den antiken Menschen
waren Geometrie und Arithmetik wissenschaftliche Komplexe vom
höchsten Range, beide anschaulich, beide mit Größen zeichnerisch
oder rechnerisch verfahrend; für uns sind sie nur noch praktische
Hilfsmittel des alltäglichen Lebens. Addition und Multiplikation,
die beiden antiken Methoden der Größenrechnung und Schwestern der
zeichnerischen Konstruktion, verschwinden völlig in der Unendlichkeit
funktionaler Prozesse. Gerade die Potenz, die zunächst prinzipiell
nur ein Zahlzeichen für eine bestimmte Gruppe von Multiplikationen
(für Produkte gleicher Größen) ist, wird durch das neue Symbol des
Exponenten (Logarithmus) und seine Anwendung in komplexen, negativen,
gebrochnen Formen vom Größenbegriff gänzlich abgelöst und in eine
transzendente Beziehungswelt überführt, die den Griechen, welche nur
zwei positive, ganzzahlige Potenzen als Repräsentanten von Flächen und
Körpern kannten, unzugänglich bleiben mußte (man denke an Ausdrücke wie
e^{-x}, [π]√̅x, a^{1/i}).

Jede der tiefsinnigen Schöpfungen, welche von der Renaissance an
rasch aufeinander folgen, die der imaginären und komplexen Zahlen,
welche Cardanus schon 1550 einführt, die der unendlichen Reihen,
welche durch Newtons große Entdeckung des Binomialsatzes 1666
theoretisch sicher begründet werden, die der Logarithmen um 1610, der
Differentialgeometrie, des bestimmten Integrals durch Leibniz, der
Menge als neuer Zahleneinheit, von Descartes schon angedeutet, die
neuen Prozesse wie die unbestimmte Integration, die Entwicklung der
Funktionen in Reihen, sogar in unendliche Reihen andrer Funktionen,
sind ebenso viele Siege über das populär-sinnliche Zahlengefühl in
uns, das aus dem Geiste der neuen Mathematik heraus, die ein neues
Weltgefühl zu verwirklichen hatte, überwunden werden mußte. Es gab
bisher keine zweite Kultur, welche den Leistungen einer andern, längst
erloschenen, soviel Verehrung entgegentrug und wissenschaftlich so
viel Einfluß gestattete, wie die abendländische gerade der antiken. Es
dauerte lange, bevor wir den Mut fanden, unser eignes Denken zu denken.
Auf dem Grunde lag der beständige Wunsch, es der Antike gleichzutun.
Trotzdem war jeder Schritt in diesem Sinne eine tatsächliche
Entfernung von dem erstrebten Ideal. Deshalb ist die Geschichte des
abendländischen Wissens die einer +fortschreitenden Emanzipation+
von Fremdem, einer Befreiung, die nicht einmal gewollt, die in den
Tiefen des Unbewußten erzwungen wurde. +So gestaltete sich die
Entwicklung der neuen Mathematik zu einem heimlichen, langen, endlich
siegreichen Kampf gegen den Größenbegriff.+


10

Antikisierende Vorurteile haben uns gehindert, die eigentlich
abendländische Zahl als solche in neuer Weise zu bezeichnen. Die
gegenwärtige Zeichensprache der Mathematik fälscht den Tatbestand und
+ihr+ ist es vor allem zuzuschreiben, daß noch heute auch unter
Mathematikern der Glaube herrscht, Zahlen seien Größen -- auf dieser
Voraussetzung ruht allerdings unsre schriftliche Bezeichnungsweise.

Aber nicht die zum Ausdruck der Funktion dienenden einzelnen Zeichen
(x, π, 5), +die Funktion selbst+ als Einheit, als Element, die
variable, in optische Grenzen nicht mehr einzuschließende Beziehung ist
die neue Zahl. Für sie wäre, eine neue, in ihrer Struktur nicht von
antiken Anschauungen beeinflußte Symbolik nötig gewesen.

Man vergegenwärtige sich den Unterschied zweier Gleichungen -- selbst
dies Wort sollte nicht so heterogene Dinge zusammenfassen -- wie
3^x + 4^x = 5^x und x^n + y^n = z^n (die Gleichung des Fermatschen
Satzes). Die erste besteht aus mehreren „antiken Zahlen“ (Größen),
die zweite +ist eine+ Zahl von einer andern Art, was durch die
identische Schreibweise, deren Zeichensprache sich unter dem Eindruck
euklidisch-archimedischer Vorstellungen entwickelt hat, verdeckt
wird. Im ersten Fall ist das Gleichheitszeichen die Feststellung
einer starren Verknüpfung bestimmter, greifbarer Größen; im zweiten
repräsentiert es eine Beziehung, die innerhalb einer Gruppe variabler
Gebilde besteht, derart, daß gewisse Veränderungen gewisse andere
notwendig zur Folge haben. Die erste Gleichung bezweckt die Bestimmung
(Messung) einer konkreten Größe, dem „Resultat“, die zweite hat
überhaupt kein Resultat, sondern ist nur Abbild und Zeichen einer
Beziehung, die für n > 2 -- das ist das berühmte Fermatproblem --
+wahrscheinlich nachweisbar+ ganzzahlige Werte ausschließt.
Ein griechischer Mathematiker würde nicht verstanden haben, was man
mit Operationen dieser Art, deren Endzweck kein „Ausrechnen“ ist,
eigentlich wollte.

Der Begriff der Unbekannten führt vollständig irre, wenn man ihn auf
die Buchstaben der Fermatschen Gleichung anwendet. In der ersten, der
„antiken“, ist x eine Größe, eine bestimmte und meßbare, die man nur
erst zu ermitteln hat. In der zweiten hat für x, y, z, n das Wort
„bestimmen“ gar keinen Sinn, folglich will man den „Wert“ dieser
Symbole nicht ermitteln, folglich sind sie überhaupt keine Zahlen
im plastischen Sinne, sondern Zeichen für einen Zusammenhang, dem
die Merkmale der Größe, Gestalt und Eindeutigkeit fehlen, für eine
Unendlichkeit möglicher Lagen von gleichem Charakter, die als Einheit
begriffen erst die Zahl sind. Die +ganze+ Gleichung ist, in einer
Zeichenschrift, die leider viele und irreführende Zeichen verwendet,
tatsächlich +eine+ einzige Zahl und x, y, z sind es so wenig, als
+ und = Zahlen sind.

Denn schon mit dem Begriff der irrationalen, der ganz eigentlich
antihellenischen Zahlen ist im tiefsten Grunde der Begriff der
konkreten, bestimmten Zahl aufgelöst worden. Von nun an bilden
diese Zahlen nicht mehr eine übersehbare Reihe ansteigender,
diskreter, plastischer Größen, sondern ein zunächst eindimensionales
+Kontinuum+, in welchem jeder Schnitt (im Sinne Dedekinds) eine
„Zahl“ repräsentiert, die kaum die alte Bezeichnung führen sollte.
Für den antiken Geist gibt es zwischen 1 und 3 nur +eine+ Zahl,
für den abendländischen eine unendliche Menge. Mit der Einführung der
imaginären (√̅-̅1 = i) und komplexen Zahlen (von der allgemeinen
Form a + bi) endlich, welche das lineare Kontinuum zu dem höchst
transzendenten Gebilde eines Zahlkörpers (des Inbegriffs einer Menge
gleichartiger Elemente) erweitern, in dem nun jeder Schnitt eine
Zahlebene -- eine unendliche Menge von geringerer „Mächtigkeit“, etwa
den Inbegriff aller reellen Zahlen -- repräsentiert, ist jeder Rest
antik-populärer Greifbarkeit zerstört worden. Diese Zahlenebenen, die
in der Funktionentheorie seit Cauchy und Gauß eine wichtige Rolle
spielen, sind +reine Gedankengebilde+. Selbst die positive
irrationale Zahl wie √̅2 konnte aus dem antiken Zahlendenken
gewissermaßen wenigstens negativ konzipiert werden, indem man sie
als Zahl +ausschloß+ -- als ἄῥῤητος und ἄλογος; Ausdrücke von
der Form x + yi liegen aber jenseits aller Möglichkeiten des antiken
Denkens. Auf der Ausdehnung der arithmetischen Gesetze auf das ganze
Gebiet des Komplexen, innerhalb dessen sie ständig anwendbar bleiben,
beruht die Funktionentheorie, welche nun endlich die abendländische
Mathematik in ihrer Reinheit darstellt, indem sie alle Einzelgebiete
in sich begreift und auflöst. Erst damit wird diese Mathematik auf das
Bild der gleichzeitig sich entwickelnden +dynamischen+ Physik
des Abendlandes vollkommen anwendbar, während die antike Mathematik
das genaue Korrelat jener Welt plastischer Einzeldinge darstellt,
welche die +statische+ Physik des Aristoteles, die exakt
wissenschaftliche Interpretation des antiken Kosmos schildert.

Das klassische Jahrhundert dieser +Barockmathematik+ -- im
Gegensatz zu der +ionischen Stils+ -- ist das 18., das von
den entscheidenden Entdeckungen Newtons und Leibnizens über Euler,
Lagrange, Laplace, d’Alembert zu Gauß führt. Die Entfaltung dieser
mächtigen geistigen Schöpfung geschah wie ein Wunder. Man wagte kaum
zu glauben, was man sah. Man fand Wahrheiten über Wahrheiten, die
den feinen Geistern eines skeptisch gestimmten Zeitalters unmöglich
erschienen. Das Wort d’Alemberts gehört hierher: _Allez en avant
et la foi vous viendra._ Es bezog sich auf die Theorie des
Differentialquotienten. Die Logik selbst schien Einspruch zu erheben,
alle Annahmen auf Fehlern zu beruhen, und man kam doch zum Ziel.

Dies Jahrhundert eines sublimen Rausches in durchgeistigten, dem
leiblichen Auge entrückten Formen -- denn neben jenen Meistern der
Analysis stehen Bach, Gluck, Haydn, Mozart --, in dem ein kleiner
Kreis gewählter und tiefer Geister in den raffiniertesten Entdeckungen
und Formspielen schwelgte, von denen Goethe und Kant ausgeschlossen
blieben, entspricht seinem Gehalte nach genau dem reifsten Jahrhundert
der Ionik, dem des Plato, Archytas und Eudoxos (450-350) -- man
muß wieder hinzufügen des Phidias, Polyklet, Alkamenes und der
Akropolisbauten --, in welchem die Formenwelt der antiken Mathematik
und Plastik in der ganzen Fülle ihrer Möglichkeiten aufblühte und zu
Ende kam.

Jetzt erst läßt sich der elementare Gegensatz antiken und
abendländischen Seelentums übersehen. Es gibt innerhalb des
Gesamtbildes der Geschichte des höheren Menschentums nichts innerlich
Fremderes. Und eben deshalb, weil Gegensätze sich berühren, weil sie
auf ein vielleicht Gemeinsames in der letzten Tiefe der Existenz
verweisen, finden wir in der abendländischen, faustischen Seele jenes
sehnsüchtige Suchen nach dem Ideal der apollinischen, die sie allein
von allen andern begriffen und um die Kraft ihrer Hingabe an die
sinnlich-reine Gegenwart beneidet hat.

Diesen seelischen, nicht weiter in Worte zu fassenden Gegensatz
verwirklichen in der Außenwelt des Gewordnen, Begrenzten,
Vergänglichen die +historischen Einheiten der antiken und
abendländischen Kultur+, von denen die eine in spät-mykenischer
Zeit, die andre zur Zeit der Sachsenkaiser aufblühte und die in
Aristoteles und Kant, Plato und Goethe, Phidias und Beethoven,
Alexander und Napoleon ihre Entwicklung zu Ende führten.

Erst jetzt wird auch das ganze Gewicht einer Symbolik fühlbar, die in
der Zahlenwelt beider Mathematiken vielleicht ihren unmittelbarsten
Ausdruck gefunden hat, deren Bereich aber weit darüber hinausgeht.
Es zeigt sich, daß eine Mathematik mit allen sie begleitenden
Künsten, mit allen Schöpfungen des tätigen Lebens überhaupt die
gleiche Sprache redet, eine Formensprache, in der sich die letzten
Möglichkeiten des Seelischen ebenso offenbaren wie verhüllen. Am
engsten sind der Mathematik jene mystischen Architekturen aller
Frühzeiten verschwistert, die dorische, gotische, frühchristliche wie
die ägyptische des Alten Reiches. Hier, in der ägyptischen Kultur,
haben beide Formenwelten sich nie getrennt. Die Architektur der großen
Pyramidentempel ist eine schweigende Mathematik, wie denn auch die
antike Seele eine Scheidung ihrer statuarischen und geometrischen
Symbolik nie streng vollzogen hat. Aber auch die Analysis ist
eine Architektur größten Stils geblieben und wir begreifen jetzt,
warum zwei Zahlensysteme, von denen die eine die Grenzwerte des
+Augenscheins+ ebenso leidenschaftlich bejaht, wie die andere sie
verneint, als Schwesterkünste die ionische Plastik und die deutsche
Musik, die sinnlichste und die unsinnlichste aller Möglichkeiten
künstlerischer Gestaltungskraft, an ihrer Seite finden mußten.


11

Es war bemerkt worden, daß im Urmenschen wie im Kinde ein inneres
Erlebnis, die Geburt des Ich, eintritt, mit dem beide das Phänomen der
Zahl begreifen, mithin eine auf das Ich bezogene Umwelt besitzen.

Sobald vor dem erstaunten Blick des frühen Menschen diese ertagende
Welt des geordneten Ausgedehnten, des sinnvoll Gewordnen sich in
großen Umrissen aus einem Chaos von Eindrücken abhebt und der tief
empfundene unwiderrufliche Gegensatz dieser Außenwelt zur eignen
Seele dem bewußten Leben Richtung und Gestalt gibt, erwacht zugleich
mit allen Möglichkeiten einer neuen Kultur das +Urgefühl der
Sehnsucht+ in dieser sich plötzlich ihrer Einsamkeit bewußten Seele.
Es ist die Sehnsucht nach dem Ziel des Werdens, nach Vollendung und
Verwirklichung alles innerlich Möglichen, nach Entfaltung der Idee des
eigenen Daseins. Es ist die Sehnsucht des Kindes, die als das Gefühl
einer unaufhaltsamen +Richtung+ mit steigender Deutlichkeit
ins Bewußtsein tritt, und später als das +Rätsel der Zeit+
unheimlich, verlockend, unlösbar vor dem gereiften Geiste steht. Die
Worte Vergangenheit und Zukunft haben plötzlich eine schicksalsvolle
Bedeutung erhalten.

Aber diese Sehnsucht aus der Überfülle und Seligkeit des innern Werdens
ist in der tiefsten Tiefe einer jeden Seele zugleich +Angst+.
Wie alles Werden sich auf ein Gewordensein richtet, mit dem es
+endet+, so rührt das Urgefühl des Werdens, die Sehnsucht, schon
an das andre des Gewordenseins, die Angst. In der Gegenwart fühlt man
das Verrinnen; in der Vergangenheit liegt die Vergänglichkeit. Hier
ist die Wurzel der ewigen Angst vor dem Unwiderruflichen, Erreichten,
Endgültigen, vor der Vergänglichkeit, vor der Welt selbst als dem
Verwirklichten, in dem mit der Grenze der Geburt zugleich die des
Todes gesetzt ist, die Angst vor dem Augenblicke, wo das Mögliche
verwirklicht, das Leben innerlich erfüllt und vollendet ist, wo
das Bewußtsein am +Ziele+ steht. Es ist jene tiefe Weltangst
der Kinderseele, welche den höheren Menschen, den Gläubigen, den
Dichter, den Künstler in seiner grenzenlosen Vereinsamung niemals
verläßt, die Angst vor den fremden Mächten, die groß und drohend, in
sinnliche Erscheinungen verkleidet, in die ertagende Welt hineinragen.
Auch die Richtung in allem Werden wird in ihrer Unerbittlichkeit --
+Nichtumkehrbarkeit+ -- als ein fremdes Element mit innerster
Gewißheit empfunden. Es ist etwas Fremdes, das Zukunft in Vergangenheit
verwandelt, und dies gibt der Zeit im Gegensatz zum Raum jenes
widerspruchsvoll Unheimliche und drückend Zweideutige, dessen sich kein
bedeutender Mensch ganz erwehren kann.

Die Weltangst ist sicherlich das +Schöpferischste+ aller
Urgefühle. Ihr verdankt ein Mensch die reifsten und tiefsten aller
Formen und Gestalten nicht nur des bewußten Innenlebens, sondern auch
seiner Spiegelung in den zahllosen Bildungen äußerer Kultur. Wie
eine geheime Melodie, nicht jedem vernehmbar, geht die Angst durch
die Formensprache eines jeden wahren Kunstwerkes, jeder innerlichen
Philosophie, jeder bedeutenden Tat und sie liegt, nur den wenigsten
noch fühlbar, den großen Problemen jeder Mathematik zugrunde. Nur
der innerlich erstorbene Mensch der großen späten Städte, des
ptolemäischen Alexandria oder des heutigen Paris und Berlin, nur
der rein intellektuelle Sophist, Sensualist und Darwinist verliert
oder verleugnet sie, indem er eine geheimnislose „wissenschaftliche
Weltanschauung“ zwischen sich und das Fremde stellt.

Knüpft sich die Sehnsucht an jenes unfaßliche Etwas, dessen tausend
ungreifbare, proteusartig wechselnde Bildungen durch das Wort Zeit
mehr verdeckt als bezeichnet werden, so findet das Urgefühl der Angst
seinen Ausdruck in den geistigen, faßlichen, der Gestaltung fähigen
Symbolen der +Ausdehnung+. So finden sich im wachen Bewußtsein
jeder Kultur, in jeder anders geartet, die Gegenformen der Zeit und
des Raumes, der Richtung und der Ausdehnung, jene dieser zugrunde
liegend, wie das Werden dem Gewordnen -- denn auch die Sehnsucht
liegt der Angst zugrunde; +sie wird+ zur Angst, nicht umgekehrt
-- jene der geistigen Macht entzogen, diese ihr dienend, jene nur zu
+erleben+, diese nur zu +erkennen+. „Gott fürchten +und+
lieben“ ist der christliche Ausdruck für den Gegensinn beider
Weltgefühle.

Aus der Seele des gesamten Urmenschentums und also auch der frühesten
Kindheit erhebt sich der Drang, das Element der fremden Mächte, die
in allem Ausgedehnten, im Raume und +durch+ den Raum unerbittlich
gegenwärtig sind, zu bannen, zu zwingen, zu versöhnen -- zu „erkennen“.
Im letzten Grunde ist dies dasselbe. +Gott erkennen+ heißt in der
Mystik aller frühen Zeiten ihn beschwören, ihn sich geneigt machen, ihn
sich innerlich +aneignen+. Das geschieht durch ein Wort, den „Namen“,
mit dem man das _numen_ benennt +anruft+, oder durch die Formen eines
Kultes, denen eine geheime Kraft innewohnt. Die Ideen der deutschen
wie der orientalischen Mystiker, die Entstehung aller antiken Götter,
aller Kulte lassen keinen Zweifel darüber zu. Wirkliche Erkenntnis
ist geistige Einverleibung des Fremden. Diese +Abwehr+ ist die erste
schöpferische Tat jedes erwachten Seelentums. Mit ihr beginnt ganz
eigentlich das höhere Innenleben einer Kultur oder eines Einzelnen.
Erkenntnis, Grenzsetzung durch Begriffe und Zahlen, ist die feinste,
aber auch die mächtigste Form dieser Abwehr. Insofern wird der Mensch
erst durch die +Sprache+ ganz zum Menschen. Die Erkenntnis verwandelt
mit unbezwinglicher Notwendigkeit das Chaos der ursprünglichen,
umgebenden +Eindrücke+ in den Kosmos, den Inbegriff seelischen
+Ausdrucks+, die „Welt an sich“ in die „Welt für uns“.[28] Sie stillt
die Weltangst, indem sie das Fremde, Geheimnisvolle bändigt, es zur
faßlichen, geordneten Wirklichkeit gestaltet, es durch die ehernen
Regeln einer eignen, ihm aufgeprägten intellektuellen Formensprache
fesselt.

Dies ist die +Idee des „tabu“+, das im Seelenleben aller primitiven
Völker eine entscheidende Rolle spielt, dessen urmenschlicher Gehalt
aber uns so fern liegt, daß das Wort in keine reife Kultursprache mehr
übertragbar ist. Ihm liegt ein ursprüngliches Gefühl, +vor+ allem
Erkennen und Begreifen der Umwelt, ja vor allem klaren, in Seele
und Welt geschiednen Bewußtsein zugrunde, das unter uns Heutigen,
intellektuellen Weltstädtern, nur Kindern und wenigen künstlerischen
Naturen noch zugänglich ist. Ratlose Angst, heilige Scheu, tiefe
Verlassenheit, Schwermut, Haß, dunkle Wünsche nach Annäherung,
Vereinigung, Entfernung, all diese formvollen Gefühle +gereifter+
Seelen vorschweben in diesem frühen Zustande in einer dumpfen
Unentschiedenheit. Der Doppelsinn des Wortes Beschwören, das bezwingen
und anflehen zugleich bedeutet, kann den Sinn jenes mystischen Aktes
verdeutlichen, durch den der frühe Mensch das Fremde und Gefürchtete
„tabu“ macht. Die ehrfürchtige Scheu vor allem von ihm Unabhängigen,
Gesetzten, Gesetzlichen, den fremden Mächten in der Welt, +ist der
Ursprung aller und jeder elementaren Form+. In Urzeiten verwirklicht
sie sich in hieratischen Ornamenten und peinlichen Zeremonien, strengen
Satzungen einer primitiven Sitte und seltsamen Kulten. Auf der Höhe
großer Kulturen sind diese Gestaltungen, ohne innerlich die Merkmale
ihrer Herkunft, den Charakter einer Bannung und Beschwörung verloren
zu haben, zu den vollendeten Formenwelten der einzelnen Künste, des
religiösen, logischen, mathematischen Denkens, des wirtschaftlichen,
politischen, sozialen, individuellen Daseins aufgewachsen. Ihr
gemeinsames Mittel, das einzige, welches die sich verwirklichende Seele
kennt, ist die +Symbolisierung des Ausgedehnten+, des Raumes oder
der Dinge -- sei es in den Konzeptionen des absoluten Weltraumes der
Physik Newtons, der Innenräume gotischer Dome und maurischer Moscheen,
der atmosphärischen Unendlichkeit der Gemälde Rembrandts und ihrer
Wiederkehr in den dunklen Tonwelten Beethovenscher Quartette, seien
es die regelmäßigen Polyeder Euklids, die Parthenonskulpturen oder
die Pyramiden Altägyptens, das Nirwana Buddhas, die Distanz höfischer
Sitte unter Sesostris, Justinian I. und Ludwig XIV., sei es endlich die
Gottesidee Homers, Plotins, Dantes oder die den Erdball umspannende
Raumenergie der heutigen Technik.


12

Kehren wir zur Mathematik zurück. Der Ausgangspunkt aller antiken
Formgebung war, wie wir sahen, die Ordnung des Gewordnen, insofern
es sinnlich, gegenwärtig, greifbar, meßbar, zählbar ist. Das
abendländische, gotische Formgefühl, das einer einsamen, in alle Fernen
schweifenden Seele, hat das Zeichen des reinen, unanschaulichen,
grenzenlosen Raumes gewählt. Man täusche sich ja nicht über die +enge
Bedingtheit+ solcher Symbole, die uns leicht als identisch, als
allgemeingültig erscheinen. Unser unendlicher Weltraum, über dessen
Vorhandensein, wie es scheint, kein Wort zu verlieren ist, ist für
den antiken Menschen +nicht+ vorhanden. Er ist ihm nicht einmal
vorstellbar. Der hellenische Kosmos andrerseits, dessen tiefe
Fremdheit für unsre Auffassungsweise nicht so lange hätte unbemerkt
bleiben sollen, ist dem Hellenen +das+ Selbstverständliche. In
der Tat ist der absolute Raum unserer Physik eine Form, die allein
aus +unserm+ Seelentum als dessen Abbild und Ausdruck entstanden
und allein für unsre Art des wachen Daseins wirklich, notwendig und
natürlich ist. Die gesamte Mathematik von Descartes an dient der
theoretischen Interpretation dieses großen, von religiösem Gehalte
erfüllten Symbols. Die Physik will seit Galilei nichts andres. Die
antike Mathematik und Physik +kennen+ dies Objekt überhaupt nicht.

Auch hier haben antike Namen, die wir aus der literarischen Erbschaft
der Griechen beibehalten haben, den Tatbestand verschleiert. Geometrie
heißt die Kunst des Messens, Arithmetik die des Zählens. Die Mathematik
des Abendlandes hat mit diesen +beiden+ Arten des Begrenzens
nichts mehr zu tun, aber sie hat keinen neuen Namen für sich gefunden.
Das Wort Analysis sagt bei weitem nicht alles.

Der antike Mensch beginnt und schließt seine Erwägungen mit dem
einzelnen Körper und seinen Grenzflächen. +Wir+ kennen im Grunde nur
das abstrakte Raumelement des Punktes, das, ohne Anschaulichkeit,
ohne die Möglichkeit einer Messung und Benennung, lediglich ein
Beziehungszentrum repräsentiert. Die Gerade ist für den Griechen eine
meßbare Kante, für uns ein unbegrenztes Punktkontinuum. Leibniz führt
als Beispiel für sein Infinitesimalprinzip die Gerade an, die den
Grenzfall eines Kreises mit unendlich großem Radius darstellt, während
der Punkt den andern Grenzfall bildet. +So wurde die Quadratur des
Kreises das klassische Grenzproblem für den Geist antiker Menschen.+
Das schien ihnen das tiefste aller Geheimnisse der Weltform: krummlinig
begrenzte Flächen bei unveränderter Größe in Rechtecke zu verwandeln
und dadurch +meßbar+ zu machen. Für uns ist daraus das wenig bedeutende
Verfahren geworden, die Zahl π durch algebraische Mittel darzustellen,
ohne daß dabei von geometrischen Gebilden überhaupt die Rede wäre.

Der antike Mathematiker kennt nur das, was er sieht und greift. Wo die
begrenzte, begrenzende Sichtbarkeit, das Thema seiner Gedankengänge,
aufhört, findet seine Wissenschaft ein Ende. Der abendländische
Mathematiker begibt sich, sobald er von antiken Vorurteilen frei sich
selbst gehört, in die gänzlich abstrakte Region einer unendlichen
Zahlenmannigfaltigkeit von n -- nicht mehr von 3 -- Dimensionen,
innerhalb deren +seine+ sogenannte Geometrie jeder anschaulichen
Hilfe entbehren kann und meistens muß. Greift der antike Mensch
zu künstlerischem Ausdruck seines Formgefühls, so sucht er dem
menschlichen Körper in Tanz und Ringkampf, in Marmor und Bronze
diejenige Haltung zu geben, in der Flächen und Konturen ein Maximum von
Maß und Sinn haben. Der echte Künstler des Abendlandes aber schließt
die Augen und verliert sich in den Bereich einer körperlosen Musik, in
dem Harmonie und Polyphonie zu Bildungen von höchster „Jenseitigkeit“
führen, die weitab von allen Möglichkeiten optischer Bestimmung
liegen. Man denke daran, was ein athenischer Bildhauer und was ein
nordischer Kontrapunktist unter einer +Figur+ versteht, und man hat den
Gegensatz beider Welten, beider Mathematiken vor sich. Die griechischen
Mathematiker gebrauchen sogar das Wort σῶμα für Körper. Andrerseits
verwendet es die Rechtssprache für Person im Gegensatz zur Sache
(σώματα καὶ πράγματα: personae et res).

Deshalb sucht das Phänomen der antiken, ganzen, körperlichen Zahl
unwillkürlich eine Beziehung zur Entstehung des leiblichen Menschen,
des σῶμα. Die Zahl 1 wird noch kaum als wirkliche Zahl empfunden.
Sie ist die ἀρχή, der Urstoff der Zahlenreihe, der Ursprung aller
eigentlichen Zahlen und damit aller Größe, allen Maßes, aller
Dinglichkeit. Ihr Zahlzeichen war im Kreise der Pythagoräer, gleichviel
zu welcher Zeit, zugleich das Symbol des Mutterschoßes, des Ursprungs
alles Lebens. Die 2, die erste +eigentliche+ Zahl, welche die 1
verdoppelt, erhielt deshalb eine Beziehung zum männlichen Prinzip,
und ihr Zeichen war eine Nachbildung des Phallus. Die +heilige
Drei+ der Pythagoräer endlich bezeichnete den Akt der Vereinigung
von Mann und Weib, der Zeugung --, die erotische Deutung der beiden
+einzigen+ der Antike wertvollen Prozesse der Größenvermehrung,
der +Größenzeugung+, Addition und Multiplikation, ist leicht
verständlich -- und ihr Zeichen war die Vereinigung der beiden ersten.
Von hier aus fällt ein neues Licht auf den erwähnten +Mythus+
vom Frevel der Aufdeckung des Irrationalen. Das Irrationale, in
unsrer Ausdrucksweise die Verwendung der unendlichen Dezimalbrüche,
bedeutete eine Zerstörung der organisch-leiblichen, zeugenden Ordnung,
welche durch die Götter gesetzt war. Es ist kein Zweifel, daß die
pythagoräische Reform der antiken Religion den uralten Demeterkult
wieder zugrunde legte. Demeter ist der Gaia, der mütterlichen Erde
verwandt. Es besteht eine tiefe Beziehung zwischen ihrer Verehrung und
dieser erhabenen Auffassung der Zahlen.

So ist die Antike mit innerer Notwendigkeit allmählich die Kultur des
+Kleinen+ geworden. Die apollinische Seele hatte den Sinn des
Gewordnen durch das Prinzip der +übersehbaren+ Grenze zu bannen
gesucht; ihr „tabu“ richtete sich auf die unmittelbare Gegenwart und
Nähe des Fremden. Was weit fort, was nicht sichtbar war, war auch nicht
da. Der Grieche wie der Römer opferte den Göttern der Gegend, in der er
sich aufhielt; alle andern entschwanden seinem Gesichtskreis. Wie die
griechische Sprache +kein Wort für den Raum besaß+ -- wir werden
die gewaltige Symbolik solcher Sprachphänomene immer wieder verfolgen
--, so fehlt dem Griechen auch unser Landschaftsgefühl, das Gefühl für
Horizonte, Ausblicke, Fernen, Wolken, auch der Begriff des Vaterlandes,
das sich weithin erstreckt und eine große Nation umfaßt. +Heimat+
ist dem antiken Menschen, was er von der Burg seiner Vaterstadt aus
übersehen kann, nicht mehr. Was jenseits dieser optischen Grenze eines
politischen Atoms lag, war fremd, war sogar feindlich. Hier schon
beginnt die Angst des antiken Daseins und dies erklärt die furchtbare
Erbitterung, mit der diese winzigen Städte einander vernichteten. Die
Polis ist die kleinste aller denkbaren Staatsformen und ihre Politik
die ausgesprochene Politik der Nähe, sehr im Gegensatz zu unserer
Kabinettsdiplomatie, der Politik des Grenzenlosen. Der antike Tempel,
mit +einem+ Blick zu umfassen, ist der kleinste aller klassischen
Bautypen. Die Geometrie von Archytas bis auf Euklid beschäftigt sich
-- wie es die unter ihrem Eindruck stehende Schulgeometrie noch heute
tut -- mit kleinen, handlichen Figuren und Körpern und so blieben ihr
die Schwierigkeiten verborgen, welche bei der Zugrundelegung von
Figuren mit astronomischen Dimensionen auftauchen und die Anwendung der
euklidischen Geometrie nicht mehr überall gestatten.[29] Andernfalls
hätte der feine attische Geist vielleicht schon damals etwas von dem
Problem der nichteuklidischen Geometrien geahnt, denn die Einwände
gegen das bekannte Parallelenaxiom,[30] dessen zweifelhafte und doch
nicht zu verbessernde Fassung schon früh Anstoß erregte, rührten nahe
an die entscheidende Entdeckung. So selbstverständlich dem antiken
Sinn die ausschließliche Betrachtung des Nahen und Kleinen, so
selbstverständlich ist dem unsern die des Unendlichen, die Fähigkeiten
des Auges Überschreitenden. Alle mathematischen Ansichten, welche das
Abendland entdeckte oder entlehnte, wurden mit tiefster Notwendigkeit
der Formensprache des Infinitesimalen unterworfen und das, lange
bevor die eigentliche Differentialrechnung entdeckt worden war.
Arabische Algebra, indische Trigonometrie, antike Mechanik werden
ohne weiteres der Analysis einverleibt. Gerade die „evidentesten“
Sätze des elementaren Rechnens -- daß etwa 2 × 2 = 4 ist -- werden,
aus analytischen Gesichtspunkten betrachtet, zu Problemen, deren
Lösung erst durch Ableitungen aus der Mengenlehre und in vielen
Einzelheiten überhaupt noch nicht gelungen ist, -- was Plato und seiner
Zeit sicherlich als Wahnsinn und Beweis eines völligen Mangels an
mathematischer Begabung erschienen wäre.

Man kann gewissermaßen die Geometrie algebraisch oder die Algebra
geometrisch behandeln, das heißt das Auge ausschalten oder herrschen
lassen. Das erste haben wir, das andre die Griechen getan. Archimedes,
der in seiner schönen Berechnung der Spirale gewisse allgemeine
Tatsachen berührt, die auch der Methode des bestimmten Integrals bei
Leibniz zugrunde liegen, ordnet sein bei oberflächlicher Betrachtung
höchst modern wirkendes Verfahren sofort stereometrischen Prinzipien
unter; ein Inder hätte im gleichen Falle mit Selbstverständlichkeit
etwa eine trigonometrische Formulierung gefunden. (Was von der uns
bekannten indischen Mathematik altindisch, das heißt vor Buddha
entstanden ist, läßt sich heute nicht mehr feststellen.)


13

Aus dem fundamentalen Gegensatz antiker und abendländischer Zahlen
entspringt ein ebenso tiefgehender des Verhältnisses, in dem die
Elemente jedes dieser Komplexe untereinander stehen. Das Verhältnis
von +Größen+ heißt +Proportion+, das von +Beziehungen+ ist im Wesen
der +Funktion+ enthalten. Beide Worte haben, über den Bereich der
Mathematik hinausgehend, höchste Bedeutung für die Technik der beiden
zugehörigen Künste, Plastik und Musik. Sieht man ganz von dem Sinn
ab, den das Wort Proportion für die Gliederung der +einzelnen+ Statue
hat, so sind es die typisch antiken Kunstwerke, Statue, Relief und
Fresko, welche eine +Vergrößerung+ und +Verkleinerung+ des Maßstabes
gestatten -- Worte, die für die Musik, die Kunst des Grenzenlosen,
keinen Sinn haben. Man denke an die Kunst der Gemmen, deren Gegenstände
im wesentlichen Verkleinerungen lebensgroßer Plastiken waren. Innerhalb
der Funktionentheorie dagegen ist der Begriff der +Transformation
von Gruppen+ von entscheidender Bedeutung, und der Musiker wird
bestätigen, daß analoge Bildungen einen wesentlichen Teil der neueren
Kompositionslehre ausmachen. Ich erinnere nur an eine der feinsten
instrumentalen Formen des 18. Jahrhunderts, das „tema con variazioni“.

Jede Proportion setzt die Konstanz, jede Transformation die
Variabilität der Elemente voraus: man vergleiche hier die
Kongruenzsätze bei Euklid, deren Beweis tatsächlich auf dem
vorliegenden Verhältnis 1 : 1 beruht, mit deren moderner Ableitung mit
Hilfe der Winkelfunktionen.


14

Die +Konstruktion+ -- die im weiteren Sinne alle Methoden der
elementaren Arithmetik einschließt -- ist das A und O der antiken
Mathematik: die Herstellung eines einzelnen und sichtbar vorliegenden
Objekts. Der Zirkel ist der Meißel dieser zweiten bildenden Kunst.
Die Arbeitsweise bei funktionstheoretischen Untersuchungen, deren
Zweck kein Resultat vom Charakter einer Größe, sondern die Diskussion
allgemeiner formaler Möglichkeiten ist, läßt sich als eine Art
Kompositionslehre von naher Verwandtschaft zur musikalischen
bezeichnen. Eine ganze Reihe von Begriffen der Musiktheorie ließe sich
ohne weiteres auf analytische Operationen auch der Physik anwenden --
Tonart, Phrasierung, Chromatik und andere -- und es ist die Frage, ob
nicht manche Beziehungen dadurch an Übersichtlichkeit gewinnen würden.

Jede +Konstruktion+ bejaht, jede +Operation+ verneint den Augenschein,
indem jene das optisch Gegebene herausarbeitet, diese es auflöst. So
erscheint ein weiterer Gegensatz in den beiden Arten des mathematischen
Verfahrens: die antike Mathematik des Kleinen betrachtet den
konkreten +Einzelfall+, berechnet die +bestimmte+ Aufgabe, führt die
+einmalige+ Konstruktion aus. Die Mathematik des Unendlichen behandelt
+ganze Klassen+ formaler Möglichkeiten, +Gruppen+ von Funktionen,
Operationen, Gleichungen, Kurven, und zwar überhaupt nicht hinsichtlich
irgendeines Resultates, sondern hinsichtlich ihres Verlaufes. Es ist
so seit zwei Jahrhunderten -- was den Mathematikern der Gegenwart
kaum zum Bewußtsein kommt -- die +Idee einer allgemeinen Morphologie
mathematischer Operationen+ entstanden, welche man als den eigentlichen
Sinn der gesamten neueren Mathematik bezeichnen darf. Es offenbart sich
hier eine umfassende Tendenz abendländischer Geistigkeit überhaupt,
die im folgenden immer deutlicher werden wird, eine Tendenz, die
ausschließlich Eigentum des faustischen Geistes und seiner Kultur ist
und in keiner andern verwandte Absichten findet. Die große Mehrzahl
der Fragen, welche unsere Mathematik als deren eigenste Probleme
beschäftigen -- der Quadratur des Kreises bei den Griechen entsprechend
-- wie die Untersuchung der Konvergenzkriterien unendlicher Reihen
(Cauchy) oder die Umkehrung elliptischer und allgemein algebraischer
Integrale zu mehrfach periodischen Funktionen (Abel, Gauß) wäre
den „Alten“, die einfache bestimmte Größen als Resultate suchten,
vermutlich als eine geistreiche, etwas abstruse Spielerei erschienen --
was dem populären Urteil weiter Kreise auch heute durchaus entsprechen
würde. Es gibt nichts Unpopuläreres als die moderne Mathematik,
und auch darin liegt ein Stück Symbolik der unendlichen Ferne, der
+Distanz+. +Alle+ großen Werke des Abendlandes von Dante bis zum
Parsifal sind unpopulär, alle antiken von Homer bis zum pergamenischen
Altar sind populär im höchsten Grade.


15

Und so sammelt sich endlich der ganze Gehalt des abendländischen
Zahlendenkens in +einem+ klassischen Problem, das den Schlüssel zu
jenem schwer zugänglichen Begriff des Unendlichen -- des +faustisch
Unendlichen+ -- bildet, welches von der Unendlichkeit des arabischen
und indischen Weltgefühls weit entfernt bleibt. Es handelt sich um
die +Theorie des Grenzwertes+, möge die Zahl im einzelnen als
unendliche Reihe, Kurve oder Funktion enger gefaßt sein. Dieser
Grenzwert ist das strengste Gegenteil des antiken, bisher nicht so
genannten, der sich in einer starr begrenzten Fläche von meßbarer
Größe darstellt. Bis ins 18. Jahrhundert haben euklidisch-populäre
Vorurteile den Sinn des Differentialprinzips verdunkelt. Mag man den
zunächst naheliegenden Begriff des unendlich Kleinen noch so vorsichtig
anwenden, es haftet ihm ein leises Moment antiker Konstanz an, der
+Anschein+ einer Größe, wenn auch Euklid sie als solche nicht
erkannt, anerkannt haben würde. Die Null ist eine Konstante, eine
ganze Zahl im linearen Kontinuum zwischen +1 und -1; es hat Eulers
analytischen Untersuchungen geschadet, daß er -- wie viele nach ihm
-- die Differentiale für Nullen hielt. Erst der von Cauchy endgültig
aufgeklärte Begriff des +Grenzwertes+ beseitigt diesen Rest
antiken Zahlengefühls und macht die Infinitesimalrechnung zu einem
widerspruchslosen System. Erst der Schritt von der „unendlich kleinen
Größe“ zu dem „untern Grenzwert +jeder möglichen+ endlichen Größe“
führt zur Konzeption einer veränderlichen Zahl, die unterhalb jeder
von Null verschiedenen endlichen Größe sich bewegt, selbst also nicht
den geringsten Zug einer Größe mehr trägt. Der Grenzwert in dieser
endgültigen Fassung ist überhaupt nicht mehr das, was angenähert
+wird+. Er +stellt die Annäherung -- den Prozeß, die Operation
-- selbst dar. Er ist kein Zustand, sondern ein Verhalten.+ Hier,
im entscheidenden Problem der abendländischen Mathematik, verrät sich
plötzlich, daß unser Seelentum ein +historisch+ angelegtes ist.[31]


16

Die Geometrie von der Anschauung, die Algebra vom Begriff der Größe zu
befreien und beide jenseits der elementaren Schranken von Konstruktion
und Rechnung zu dem mächtigen Gebäude der Funktionstheorie zu
vereinigen, das war der große Weg des abendländischen Zahlendenkens.
So wurde die antike, konstante Zahl zur veränderlichen aufgelöst.
Die analytisch +gewordene+ Geometrie löste alle konkreten
Formen auf. Sie ersetzt den mathematischen Körper, an dessen starrem
Bilde geometrische Werte gefunden werden, durch abstrakt räumliche
Beziehungen, die zuletzt auf Tatsachen der sinnlich-gegenwärtigen
Anschauungen überhaupt nicht mehr anwendbar sind. Sie ersetzt zunächst
die optischen Gebilde Euklids durch geometrische Örter in bezug auf
ein Koordinatensystem, dessen Anfangspunkt willkürlich gewählt werden
kann, und reduziert das gegenständliche Dasein des geometrischen
Objekts auf die Forderung, daß während der Operation, die sich nicht
mehr auf Messungen, sondern auf Gleichungen richtet, das gewählte
System nicht verändert werden darf. Alsbald werden aber die Koordinaten
nur noch als reine Werte aufgefaßt, welche die Lage der Punkte als
abstrakter Raumelemente nicht sowohl bestimmen, als repräsentieren
und ersetzen. Die Zahl, die Grenze des Gewordnen, wird nicht mehr
durch das Bild einer Figur, sondern durch das Bild einer Gleichung
symbolisch dargestellt. Die „Geometrie“ kehrt ihren Sinn um: das
Koordinatensystem als Bild verschwindet, und der Punkt ist nunmehr eine
vollkommen abstrakte Zahlengruppe. Wie die Architektur der Renaissance
durch die konstruktiven Neuerungen Michelangelos und Vignolas in
die des Barock übergeht -- das ist das genaue Abbild dieser innern
Wandlung der Analysis. An den Palast- und Kirchenfassaden werden die
sinnlich reinen Linien unwirklich. An Stelle der klaren Koordinaten
florentinisch-römischer Säulenstellungen und Geschoßgliederungen
tauchen die „infinitesimalen“ Elemente geschwungener, flutender
Bauteile, Voluten, Kartuschen auf. Die Konstruktion verschwindet in
der Fülle des Dekorativen -- mathematisch gesprochen des Funktionalen;
Säulen und Pilaster, in Gruppen und Bündel zusammengefaßt, durchziehen
ohne Ruhepunkte für das Auge die Fronten, sammeln und zerstreuen
sich; die Flächen der Wände, Decken, Geschosse lösen sich in der Flut
von Stukkaturen und Ornamenten auf, verschwinden und zerfallen unter
farbigen Lichtwirkungen. Das Licht aber, das nun über dieser Formwelt
des reifen Barock spielt -- von Bernini um 1650 an bis zum Rokoko in
Dresden, Wien, Paris --, ist ein rein musikalisches Element geworden.
Der Dresdner Zwinger ist eine +Sinfonie+. Mit der Mathematik hat
sich im 18. Jahrhundert auch die Architektur zu einer Formenwelt von
+musikalischem+ Charakter entwickelt.


17

Auf dem Wege dieser Mathematik mußte endlich der Augenblick auftreten,
wo nicht nur die Grenzen künstlicher geometrischer Gebilde, sondern
die Grenzen des Sehsinnes überhaupt seitens der Theorie wie der Seele
selbst in ihrem Drange nach rückhaltlosem Ausdruck ihrer innern
Möglichkeiten als Grenzen, als Hindernis empfunden wurden, wo also das
Ideal transzendenter Ausgedehntheit zu den beschränkten Möglichkeiten
des unmittelbaren Augenscheins in grundsätzlichen Widerspruch trat.
Die antike Seele, welche mit der vollen Hingabe der platonischen und
stoischen ἀταραξία das Sinnliche gelten und walten ließ und ihre großen
Symbole, wie es der erotische Hintersinn der pythagoräischen Zahlen
beweist, +eher empfing als gab+, konnte auch das körperliche
+Jetzt+ und +Hier+ niemals überschreiten wollen. Hatte sich
aber die pythagoräische Zahl im Wesen +gegebener+ Einzeldinge in
der +Natur+ offenbart, so war die Zahl des Descartes und der
Mathematiker nach ihm etwas, das +erobert+ und +erzwungen+
werden mußte, eine herrische abstrakte Beziehung, unabhängig von aller
sinnlichen Gegebenheit und jederzeit bereit, diese Unabhängigkeit
der Natur gegenüber geltend zu machen. Der Wille zur Macht -- um
Nietzsches große Formel zu gebrauchen --, der von der frühesten
Gotik der Edda, der Kathedralen und Kreuzzüge, ja von den erobernden
Wikingern und Goten an das Verhalten der nordischen Seele ihrer Welt
gegenüber bezeichnet, liegt auch in dieser Energie der abendländischen
Zahl gegenüber der Anschauung. +Das+ ist „Dynamik“. In der
apollinischen Mathematik dient der Geist dem Auge, in der faustischen
überwindet er es.

Der mathematische, „absolute“, so gänzlich unantike Raum selbst war
von Anfang an, was die Mathematik in ihrer Ehrfurcht vor hellenischen
Traditionen nicht zu bemerken wagte, nicht die vage Räumlichkeit
der täglichen Eindrücke, der landläufigen Malerei, der vermeintlich
so eindeutigen und gewissen apriorischen Anschauung Kants, sondern
ein reines Abstraktum, ein ideales und unerfüllbares Postulat einer
Seele, der die Sinnlichkeit als Mittel des Ausdruckes immer weniger
genügte und die sich endlich leidenschaftlich von ihr abwandte. Das
+innere+ Auge erwachte.

Jetzt erst mußte es tiefen Denkern fühlbar werden, daß die euklidische
Geometrie, die +einzige+ und +richtige+ für den naiven Blick
aller Zeiten, von diesem hohen Standpunkt aus betrachtet nichts als
eine +Hypothese+ ist, deren Alleingültigkeit gegenüber anderen,
auch ganz unanschaulichen Arten von Geometrien, wie wir seit Gauß
bestimmt wissen, sich niemals beweisen läßt, von der vielberufenen
„Übereinstimmung“ mit der Wirklichkeit, diesem Laiendogma, das durch
jeden Blick in die Ferne -- wo alle Parallelen einander berühren --
widerlegt wird, zu schweigen. Der Kernsatz dieser Geometrie, das
Parallelenaxiom Euklids, ist eine +Behauptung+, die sich durch
andere ersetzen läßt, daß es nämlich durch einen Punkt zu einer Geraden
keine, zwei oder viele Parallelen gibt, Behauptungen, die sämtlich zu
vollkommen widerspruchslosen dreidimensionalen geometrischen Systemen
führen, die in der Physik und vor allem der Astronomie angewendet
werden können und zuweilen den euklidischen vorzuziehen sind.

Schon die einfache Forderung der Unbegrenztheit des Ausgedehnten -- die
man seit Riemann und dessen Theorie unbegrenzter, aber infolge ihrer
Krümmung nicht unendlicher Räume eben von der Unendlichkeit zu scheiden
hat -- widerspricht dem eigentlichen Charakter aller unmittelbaren
Anschauung, welche von dem Vorhandensein von Lichtwiderständen, also
materiellen Grenzen abhängt. Es sind aber abstrakte Prinzipien der
Grenzsetzung denkbar, die in einem ganz neuen Sinne die Möglichkeiten
optischer Begrenzung überschreiten. Für den Tieferblickenden liegt
schon in der kartesischen Geometrie die Tendenz, über die drei
Dimensionen des +erlebten+ Raumes als einer für die Symbolik
der Zahlen nicht notwendigen Schranke hinauszugehen. Und wenn auch
erst seit 1800 etwa die Vorstellung +mehrdimensionaler+ Räume --
man hätte das Wort besser durch ein neues ersetzt -- zur erweiterten
Grundlage des analytischen Denkens wurde, so war doch der erste
Schritt dazu in dem Augenblick getan, wo die Potenzen, eigentlicher
die Logarithmen, von ihrer ursprünglichen Beziehung auf sinnlich
realisierbare Flächen und Körper abgelöst und -- unter Verwendung
irrationaler und komplexer Exponenten -- als Beziehungswerte von ganz
allgemeiner Art in das Gebiet des Funktionalen eingeführt wurden. Wer
hier überhaupt folgen kann, wird auch begreifen, daß schon mit dem
Schritt von der Vorstellung a^3, als einem natürlichen Maximum, zu a^n
die Unbedingtheit eines Raumes von drei Dimensionen aufgehoben ist.

Nachdem einmal das Raumelement des Punktes den immerhin noch optischen
Charakter eines Koordinatenschnittes in einem anschaulich vorstellbaren
System verloren hatte und als Gruppe dreier unabhängiger Zahlen
definiert worden war, lag kein inneres Hindernis mehr vor, die Zahl
3 durch die allgemeine n zu ersetzen. Es tritt eine Umkehrung des
Dimensionsbegriffes ein: Es bezeichnen nicht mehr Maßzahlen optische
Eigenschaften eines Punktes hinsichtlich seiner Lage in einem System,
sondern Dimensionen von unbeschränkter Anzahl stellen vollkommen
abstrakte Eigenschaften einer Zahlengruppe dar. Diese Zahlengruppe
-- von n unabhängigen geordneten Elementen -- ist das +Bild+
des Punktes; sie +heißt+ ein +Punkt+. Eine daraus logisch
entwickelte Gleichung +heißt Ebene+, ist das +Bild+ einer
Ebene. Der Inbegriff aller Punkte von n Dimensionen +heißt ein+
n-dimensionaler +Raum+.[32] In diesen transzendenten Raumwelten,
die zu keiner wie immer gearteten Sinnlichkeit mehr in Beziehung
stehen, herrschen die von der Analysis aufzufindenden Beziehungen,
welche sich mit den Ergebnissen der experimentellen Physik in ständiger
Übereinstimmung befinden. Diese Räumlichkeit höheren Ranges ist ein
Symbol, das durchaus Eigentum des abendländischen Geistes bleibt.
Nur dieser Geist hat das Gewordene und Ausgedehnte +in diese+
Formen zu bannen, das Fremde durch +diese+ Art der Aneignung --
man erinnere sich des Begriffes „tabu“ -- zu beschwören, zu zwingen,
mithin zu „erkennen“ versucht und verstanden. Erst in dieser Sphäre
des Zahlendenkens, die nur einem sehr kleinen Kreis von Menschen
noch zugänglich ist -- aber das gilt auch von den tiefsten Momenten
unserer Musik, unserer Malerei, unserer Dogmatik --, erhalten selbst
Bildungen wie die Systeme der hyperkomplexen Zahlen (etwa die
Quaternionen der Vektorenrechnung) und zunächst ganz unverständliche
Zeichen wie ∞ⁿ den Charakter von etwas Wirklichem. Man hat
eben zu begreifen, daß Wirklichkeit nicht nur sinnliche Wirklichkeit
ist, daß vielmehr das Seelische seine Idee in noch ganz anderen als
anschaulichen Bildungen verwirklichen kann.


18

Aus dieser großartigen Intuition symbolischer Raumwelten folgt
die letzte und abschließende Fassung der gesamten abendländischen
Mathematik, die Erweiterung und Vergeistigung der Funktionentheorie
zur +Gruppentheorie+. Gruppen sind Mengen oder Inbegriffe
gleichartiger mathematischer Gebilde, also z. B. die Gesamtheit
aller Differentialgleichungen von einem gewissen Typus, Mengen, die
dem Dedekindschen Zahlenkörper analog gebaut und geordnet sind. Es
handelt sich, wie man fühlt, um Welten ganz neuer Zahlen, die für das
+innere Auge+ des Eingeweihten doch nicht ganz ohne eine gewisse
Sinnlichkeit sind. Es werden nun Untersuchungen gewisser Elemente
dieser ungeheuer abstrakten Formsysteme notwendig, welche in bezug
auf eine einzelne Gruppe von Operationen -- +von Transformationen
des Systems+ -- von deren Wirkungen unabhängig bleiben, Invarianz
besitzen. Die allgemeine Aufgabe dieser Mathematik erhält also (nach
Klein) die Form: „Es ist eine n-dimensionale Mannigfaltigkeit („Raum“)
und eine Gruppe von Transformationen gegeben. Die der Mannigfaltigkeit
angehörigen Gebilde sollen hinsichtlich solcher Eigenschaften
untersucht werden, die durch Transformationen der Gruppe nicht geändert
werden.“

Auf diesem höchsten Gipfel schließt nunmehr -- nach Erschöpfung ihrer
sämtlichen inneren Möglichkeiten und nachdem sie ihre Bestimmung,
+Abbild und reinster Ausdruck der Idee des faustischen Seelentums+
zu sein, erfüllt hat -- Mathematik des Abendlandes ihre Entwicklung
ab, in demselben Sinne, wie es die Mathematik der antiken Kultur im 3.
Jahrhundert tat. Beide Wissenschaften -- es sind die einzigen, deren
organische Struktur sich heute schon historisch durchschauen läßt
-- sind aus der Konzeption einer völlig neuen Zahl durch Pythagoras
und Descartes entstanden, beide haben in prachtvollem Aufschwung
ein Jahrhundert später ihre Reife erlangt und beide vollendeten
nach einer Blüte von drei Jahrhunderten das Gebäude ihrer Ideen, in
derselben Epoche, durch welche die Kultur, der sie angehören, in
eine weltstädtische Zivilisation überging. Dieser tiefbedeutsame
Zusammenhang wird später aufgeklärt werden. Sicher ist, daß für uns
die Zeit der +großen+ Mathematiker vorüber ist. Es ist heute
dieselbe Arbeit des Erhaltens, Abrundens, Verfeinerns, Auswählens, die
talentvolle Kleinarbeit an Stelle der großen Schöpfungen im Gange,
wie sie auch die alexandrinische Mathematik des spätem Hellenismus
kennzeichnet.

Ein historisches Schema wird dies deutlicher machen:

  +Antike+                         +Abendland+

  1. +Konzeption einer neuen Zahl.+

  um 540                           um 1630
  Die Zahl der Größe               Die Zahl als Beziehung
  Die Pythagoräer                  Descartes, Fermat, Pascal;
  (Um 470 Sieg der Plastik         Newton, Leibniz (1670)
  über die Freskomalerei)          (Um 1670 Sieg der Musik
                                   über die Ölmalerei)

  2. +Höhepunkt der systematischen
  Entwicklung.+

  450-350                          1750-1800
  Archytas, Plato, Eudoxos         Euler, Lagrange, Laplace
  (Phidias, Praxiteles)            (Haydn, Mozart)

  3. +Innerer Abschluß der Zahlenwelt.+

  300-250                          nach 1800
  Euklid, Apollonios, Archimedes   Gauß, Cauchy, Riemann
  (Lysippos, Leochares)            (Beethoven)


Fußnoten:

[Footnote 25: Von der periodischen Unterbrechung durch den Schlaf soll
hier abgesehen werden.]

[Footnote 26: Siehe die vorangehenden Tafeln 1-3.]

[Footnote 27: Alexandria hört im 2. Jahrhundert n. Chr. auf, Weltstadt
zu sein und wird eine aus der Zeit antiker Zivilisation stehen
gebliebene Häusermasse, in der eine primitiv fühlende, seelisch anders
geartete Bevölkerung haust. Das hier vorliegende Phänomen wird später
behandelt werden.]

[Footnote 28: Vom „Namenzauber“ der Wilden bis zur modernsten
Wissenschaft, welche sich ihre Objekte +unterwirft+, indem sie
Namen, Begriffe und Definitionen für sie prägt, hat sich der Form nach
nichts geändert.]

[Footnote 29: In der modernen Astronomie wird die Verwendung nicht
euklidischer Geometrien ernstlich erwogen. Die Annahme eines
unbegrenzten, aber endlichen, gekrümmten Raumes, den das Sternensystem
mit einem Durchmesser von etwa 470 Millionen Erdabständen füllt, würde
zur Annahme eines Gegenbildes der Sonne führen, das uns als Stern
mittlerer Helligkeit erscheint.]

[Footnote 30: Daß durch einen Punkt zu einer Geraden nur eine Parallele
möglich sei, ein Satz, der sich nicht beweisen läßt.]

[Footnote 31: „Funktion, recht begriffen, ist das Dasein in Tätigkeit
gedacht“ (Goethe).]

[Footnote 32: Vom Standpunkt der Mengenlehre aus heißt eine
wohlgeordnete Punktmenge, ohne Rücksicht auf die Dimensionenzahl, ein
Körper, eine Menge von n - 1 Dimensionen also im Verhältnis dazu eine
Fläche. Die „Begrenzung“ (Wand, Kante) einer Punktmenge stellt eine
Punktmenge von geringerer Mächtigkeit dar.]




ZWEITES KAPITEL

DAS PROBLEM DER WELTGESCHICHTE




I

PHYSIOGNOMIK UND SYSTEMATIK


1

Es ist jetzt endlich möglich, den entscheidenden Schritt zu tun und
ein Bild der Geschichte zu entwerfen, das nicht mehr vom zufälligen
Standort des Betrachters in irgendeiner -- seiner -- „Gegenwart“ und
von seiner Eigenschaft als interessiertem Gliede einer einzelnen Kultur
abhängig ist, deren religiöse, geistige, politische, soziale Tendenzen
ihn verführen, das historische Material aus einer zeitlich beschränkten
Perspektive anzuordnen und dem Organismus des Geschehens damit eine
willkürliche und an der Oberfläche haftende Form aufzudrängen, die ihm
innerlich fremd ist.

Was bisher fehlte, war die +Distanz+ vom Objekt. Der Natur gegenüber
war sie längst erreicht. Allerdings war sie hier auch leichter
erreichbar. Der Physiker konstruiert mit Selbstverständlichkeit das
mechanisch-kausale Bild seiner Welt so, als ob er selbst gar nicht da
wäre.

Aber in der Formenwelt der Historie ist dasselbe möglich. Wir haben
das nur bis jetzt nicht gewußt. Man darf deshalb vielleicht sagen,
und man wird es später einmal tun, daß es an einer wirklichen
Geschichtsschreibung faustischen Stils überhaupt gefehlt hat, einer
solchen nämlich, die Distanz genug besitzt, um im Gesamtbilde der
Weltgeschichte auch die Gegenwart -- die es ja nur in bezug auf eine
einzige von unzähligen menschlichen Generationen ist -- wie etwas
unendlich Fernes und Fremdes zu betrachten, als eine Epoche, die nicht
schwerer wiegt als alle andern, ohne den Maßstab irgendwelcher Ideale,
ohne Bezug auf sich selbst, ohne Wunsch, Sorge und persönliche innere
Beteiligung, wie sie das praktische Leben in Anspruch nimmt; eine
Distanz also, die -- mit Nietzsche zu reden, der bei weitem nicht
genug von ihr besaß -- es erlaubt, das ganze Phänomen der historischen
Menschheit wie mit dem Auge eines Gottes zu überblicken, wie die
Gipfelreihe eines Gebirges am Horizont, als ob man selbst gar nicht zu
ihr gehörte.

Hier war noch einmal die Tat des Kopernikus zu vollbringen, jener Akt
der Befreiung vom Augenschein im Namen des unendlichen Raumes, den der
abendländische Geist der Natur gegenüber längst vollzogen hatte, als
er vom ptolemäischen Weltsystem zu dem für ihn heute allein gültigen
überging und damit den zufälligen Standort des Betrachters auf einem
einzelnen Planeten als formbestimmend ausschaltete.

Die Weltgeschichte ist derselben Ablösung von einem zufälligen
Beobachtungsorte -- der jeweiligen „Neuzeit“ -- fähig und bedürftig.
Uns erscheint das 19. Jahrhundert unendlich viel reicher und wichtiger
als etwa das 19. vor Christus, aber auch der Mond erscheint uns
größer als Jupiter und Saturn. Der Physiker hat sich vom Vorurteil
der relativen Entfernung längst befreit, der Historiker nicht. Wir
erlauben uns, die Kultur der Griechen als Altertum, relativ zu
unserer Neuzeit, zu bezeichnen. War sie das auch für die feinen und
historisch hochgebildeten Ägypter am Hofe des großen Thutmosis --
ein Jahrtausend vor Homer? Für uns füllen die Ereignisse, die sich
1500-1800 auf dem Boden Westeuropas abspielen, das wichtigste Drittel
„der“ Weltgeschichte. Für den chinesischen Historiker, der auf 6000
Jahre chinesischer Geschichte zurückblickt und von ihr aus urteilt,
sind sie eine kurze und wenig bedeutende Episode, nicht entfernt so
schwerwiegend wie z. B. die Jahrhunderte der Handynastie (206 v. bis
220 n. Chr.), die in +seiner+ Weltgeschichte Epoche machen.

Die Geschichte also von den persönlichen Vorurteilen des Betrachters
zu lösen, der sie in unserem Falle wesentlich zur Geschichte
eines Fragments des Vergangenen mit dem in Westeuropa fixierten
Zufällig-Gegenwärtigen als Ziel und den augenblicklichen öffentlichen
Idealen und Interessen als Wertmessern für die Entwicklung des
Erreichten und zu Erreichenden macht -- das ist die Absicht alles
Folgenden.


2

Erinnern wir uns der grundlegenden Tatsache des wachen Bewußtseins,
aus dem heraus ein geordnetes Weltbild im Sinne von Natur oder
Geschichte überhaupt erst möglich wird. Mit den Worten +Seele+ und
+Welt+ war der Urgegensatz bezeichnet worden, dessen Vorhandensein
mit der Tatsache des menschlichen Tagesbewußtseins völlig identisch
ist. Seele und Welt wurden im Hinblick auf die in jedem einzelnen und
in jeder Kultur liegende Idee des Daseins das +Mögliche+ und
das +Wirkliche+ genannt, um das Phänomen des Lebens als +der
Verwirklichung dieses Möglichen+ und das ihm innewohnende Merkmal
der Richtung vor Augen stellen zu können.

Danach ist für jeden +seine+ Welt verwirklichtes Seelentum,
Ausdruck, Zeichen, Bild der Idee +seines+ individuellen Daseins.
„Jeder spricht nur sich selbst aus, indem er von der Natur spricht“
(Goethe). Diese Wirklichkeit darf auf der seelischen Stufe des
Urmenschen und des Kindes noch als verschleiert, chaotisch, als noch
nicht entfaltet, als im tieferen Sinne formlos angenommen werden. In
den höheren Zuständen menschlichen Daseins ist sie exakter Fassungen
fähig, deren Skala zwischen den Extremen reinsten Anschauens und
reinsten Erkennens eine unbegrenzte Menge nie sich genau wiederholender
Strukturen zuläßt. „Die Welt“ ist für jeden einzelnen sein eigenstes,
einmaliges, notwendiges und durchaus willenloses Erlebnis. Schopenhauer
nannte es die Welt als Vorstellung, aber er setzte die Konstanz dieser
Vorstellung und ihre Identität für alle Menschen als selbstverständlich
voraus.

+Natur und Geschichte+: so stehen zwei extreme Arten, die
Wirklichkeit als Weltbild zu ordnen, einander gegenüber. Eine
Wirklichkeit ist Natur, insofern sie alles Werden dem Gewordnen, sie
ist Geschichte, insofern sie alles Gewordne dem Werden einordnet. Eine
Wirklichkeit wird +in ihrer Gestalt erschaut+ -- so entsteht
die Welt Platos, Rembrandts, Goethes, Beethovens -- oder +in ihrem
Element begriffen+ -- dies sind die Welten von Parmenides und
Descartes, Kant und Newton. Erkennen im prägnanten Sinne des Wortes
ist derjenige Erlebnisakt, dessen vollzogenes Resultat „Natur“ heißt.
Erkanntes und Natur sind identisch. Alles Erkannte ist, wie das Symbol
der mathematischen Zahl bewies, gleichbedeutend mit dem mechanisch
Begrenzten, Gesetzten. Natur ist der +Inbegriff des gesetzlich
Notwendigen+. Es gibt nur +Natur+gesetze. Kein Physiker,
der seine Bestimmung begreift, wird über diese Grenze hinausgehen
wollen. Seine Aufgabe ist, die Gesamtheit, das wohlgeordnete System
aller Gesetze festzustellen, die im Bilde der Natur auffindbar
sind, mehr noch, die das Bild der Natur erschöpfend und ohne Rest
+darstellen+.

Andrerseits: Anschauen -- ich erinnere an das Wort Goethes: „Das
Anschauen ist vom Ansehen sehr zu unterscheiden“ -- ist derjenige
Erlebnisakt, der, als Phänomen, +indem+ er sich vollzieht, +selbst
Geschichte+ ist. Erlebtes ist Geschehenes, ist Geschichte.

Alles Geschehen ist +einmalig+ und nie sich wiederholend. Es unterliegt
dem Prinzip der Richtung (der „Zeit“), der +Nichtumkehrbarkeit+. Das
Geschehene, als nunmehr Gewordnes dem Werden, als Erstarrtes dem
Lebendigen entgegengesetzt, gehört unwiderruflich der Vergangenheit
an. Das Gefühl hiervon ist die Weltangst. Alles Erkannte aber ist
+zeitlos+, weder vergangen noch zukünftig, von dauernder Gültigkeit.
Dies gehört zur innern Beschaffenheit des Naturgesetzlichen. Das
Gesetz, das Gesetzte, ist +antihistorisch+. Es schließt den +Zufall+
aus. Naturgesetze sind Formen anorganischer Notwendigkeit. Es wird
klar, weshalb Mathematik als die Ordnung des Gewordnen durch die Zahl
sich +immer+ auf Gesetze und Kausalität und +nur+ auf sie bezieht.

Das Werden „hat keine Zahl“. Nur Lebloses kann gezählt, gemessen,
zerlegt werden. Das reine Werden, das Leben ist in diesem Sinne
grenzenlos. Es liegt jenseits des Bereiches von Ursache und Wirkung,
Gesetz und Maß. Keine tiefe und echte Geschichtsforschung wird nach
kausaler Gesetzlichkeit forschen; andernfalls hat sie ihr eigentliches
Wesen nicht begriffen.

Indes: Geschichte ist kein reines Werden; sie ist nur ein Weltbild,
eine vom einzelnen ausstrahlende Weltform, in der das Werden das
Gewordne +beherrscht+. Auf dem Gehalt an Gewordenem beruht die
Möglichkeit, ihr wissenschaftlich etwas abzugewinnen. Und je höher
dieser Gehalt ist, desto mechanischer, desto verstandesmäßiger, desto
kausaler erscheint sie. Auch Goethes „lebendige Natur“, ein völlig
unmathematisches Weltbild, hatte noch so viel Gehalt an Totem und
Starrem, daß er sie wissenschaftlich behandeln konnte. Sinkt dieser
Gehalt +sehr+ tief, ist sie beinahe +nur+ reines Werden, so haben
wir eine echte Vision vor uns, die nur noch Arten +künstlerischer+
Rezeption gestattet. Was Dante als Welthistorie vor seinem geistigen
Auge sah, hätte er +nicht+ wissenschaftlich realisieren können,
auch Goethe nicht, was er in den Momenten seiner Faustentwürfe sah,
ebensowenig Plotin und Giordano Bruno. Hier liegt die wichtigste
Ursache des Streites um die Struktur der Geschichte. Vor demselben
Objekt, vor demselben Tatsachenmaterial hat doch jeder Betrachter
seiner Anlage nach einen anderen +Eindruck+ des Ganzen, ungreifbar
und nicht mitteilbar, der seiner Denkart zugrunde liegt und ihr die
spezifische persönliche Farbe gibt. Der Grad von Gewordnem wird bei
zwei Menschen immer verschieden sein, Grund genug, daß sie sich
niemals über das Thema und die Methode verständigen können. Jeder
gibt dem Mangel an Denken bei dem andern Schuld, und doch ist das
mit diesem Wort bezeichnete Etwas, worüber niemand Gewalt hat, kein
Schlechtersein, sondern ein notwendiges Anderssein. Dasselbe gilt von
aller Naturwissenschaft.

Aber man halte fest: Geschichte +wissenschaftlich+ behandeln wollen ist
im letzten Grunde immer etwas Widerspruchsvolles und deshalb ist jede
pragmatische Geschichtsschreibung, sie sei so groß wie sie wolle, ein
Kompromiß. Natur soll man wissenschaftlich traktieren, über Geschichte
soll man dichten. Alles andere sind unreine Lösungen -- aus denen
allerdings die große Mehrzahl aller Geistesprodukte besteht.

Auf der andern Seite, dort, wo das Reich der Zahlen und des exakten
Wissens herrschen sollte, hatte Goethe „lebendige Natur“ gerade
das genannt, was ein unmittelbares Anschauen des reinen Werdens
und Sichgestaltens, mithin im hier festgelegten Sinne +Geschichte+
war. +Seine Welt+ war +zunächst+ ein Organismus, ein Wesen, und
man begreift, daß seine Forschungen, selbst wenn sie ein äußerlich
physikalisches Gepräge tragen, weder Zahlen noch Gesetze noch eine in
Formeln gebannte Kausalität bezwecken, daß sie vielmehr Morphologie im
höchsten Sinne sind und damit das spezifisch abendländische (und sehr
unantike) Mittel aller kausalen Betrachtung, das messende Experiment,
vermeiden, es aber auch nirgends vermissen lassen. Seine Betrachtung
der Erdoberfläche ist stets Geologie, nie Mineralogie (die er die
Wissenschaft von etwas Totem nannte).

Es sei noch einmal gesagt: Es gibt keine genaue Grenze zwischen beiden
Arten der Weltfassung. So sehr Werden und Gewordnes Gegensätze sind, so
sicher ist in jedem Erlebnisakte beides vorhanden. Geschichte erlebt,
wer beides als werdend, als sich vollendend, anschaut, Natur erkennt,
wer beides als geworden, als vollendet, zergliedert.

Es liegt eine ursprüngliche Anlage in jedem Menschen, jeder Kultur,
jeder Kulturstufe vor, eine ursprüngliche Neigung und Bestimmung, eine
der beiden Formen als Ideal vorzuziehen. Der Mensch des Abendlandes ist
in hohem Grade historisch gestimmt,[33] der antike Mensch war es um so
weniger. +Wir+ verfolgen alles Gegebene im Hinblick auf Vergangenheit
und Zukunft, die Antike erkannte nur die punktförmige Gegenwart als
seiend an. Der Rest wurde Mythus. Wir haben in jedem Takte unsrer Musik
von Palestrina bis Wagner +auch ein Symbol des Werdens+ vor uns, die
Griechen in jeder ihrer Statuen ein Bild des Momentes. Der Rhythmus
eines Körpers liegt im Augenblick, der Rhythmus einer Fuge im Verlauf.


3

So treten die Prinzipien der +Gestalt+ und des +Gesetzes+ vor uns
hin als der beiden Grundformen aller Weltbildung. Je entschiedener
ein Weltbild die Züge der Natur trägt, desto unumschränkter gilt
in ihm das Gesetz und die Zahl. Je reiner eine Welt als ein ewig
Werdendes angeschaut wird, desto zahlenfremder ist die ungreifbare
Fülle ihrer Gestaltung. So unterscheidet sich hinsichtlich der Methode
Goethes vielberufene „exakte sinnliche Fantasie“, die das Lebendige
unberührt läßt,[34] von dem exakten, tötenden Verfahren der modernen
Physik. Der Rest des +andern+ Elements, den man immer finden wird,
erscheint in der strengen Naturwissenschaft unter dem Phänomen nie zu
vermeidender +Theorien+ und +Hypothesen+, deren anschaulicher Gehalt
alles starr Zahlenmäßige und Formelhafte füllt und trägt, in der
Geschichtsforschung als +Chronologie+, jenes seltsame und doch nie
als dunkles Rätsel empfundene Phänomen eines Zahlennetzes, das -- als
Kette von Jahreszahlen, als Statistik -- die Gestaltenwelt umspinnt und
durchdringt, ohne mit dem Charakter von mathematischen Zahlen etwas zu
tun zu haben.

Noch etwas andres ist hier zu bemerken. Da ein Werden immer dem
Gewordnen zugrunde liegt und Geschichte eine Ordnung des Weltbildes
im Sinne des Werdens darstellt, so ist Geschichte die +ursprüngliche+
und Natur eine +späte+, erst dem Menschen reifer Kulturen vollziehbare
Weltform, nicht umgekehrt, zu welcher Annahme das Vorurteil des
städtischen wissenschaftlichen Verstandes neigt. In der Tat ist die
dunkle, urseelenhafte Umwelt der frühesten Menschheit, wovon heute
noch ihre religiösen Gebräuche und Mythen zeugen, jene Welt voller
Willkür, feindlicher Dämonen und launischer Mächte, durchaus ein
lebendiges, ungreifbares, rätselhaft wogendes und unberechenbares
Ganze. Mag man sie Natur nennen, so ist sie doch nicht unsre Natur,
der starre Reflex eines wissenden Geistes. Diese Urwelt klingt als
ein Stück längst vergangenen Menschentums nur in der Kinderseele
und in den großen Künstlern noch manchmal an, inmitten einer
strengen „Natur“, welche der Geist reifer Kulturen mit tyrannischer
Nachdrücklichkeit um den einzelnen aufbaut. Hierin liegt der Grund für
die gereizte Spannung zwischen wissenschaftlicher („moderner“) und
künstlerischer („unpraktischer“) Weltanschauung, die jede Spätzeit
kennt. Der Tatsachenmensch und der Dichter werden einander nie
verstehen. Hier ist auch der Grund zu suchen, weshalb jede angestrebte
Geschichtsforschung, die immer etwas von Kindheit und Traum, etwas
Goethesches in sich tragen müßte, an der Gefahr vorüberstreift, eine
bloße Physik des öffentlichen Lebens zu werden, „materialistisch“, wie
sie sich selbst ahnungslos genannt hat.

„Natur“ im exakten Sinne ist die seltnere, auf den Menschen der großen
Städte später Kulturen beschränkte, männliche, vielleicht schon
greisenhafte Art, Wirklichkeit zu besitzen, Geschichte die naive und
jugendliche, auch die unbewußtere, die der +ganzen+ Menschheit eigen
ist. So wenigstens steht die zahlenmäßige, geheimnislose Natur des
Aristoteles und Kant, der Sophisten und Darwinisten, der modernen
Physik, der erlebten, grenzenlosen, gefühlten Natur Homers und der
Edda, des dorischen und gotischen Menschen gegenüber. Es heißt das
Wesen aller Geschichtsbetrachtung verkennen, wenn man dies übersieht.
+Sie+ ist die eigentlich +natürliche+, die exakte, mechanisch geordnete
Natur die +künstliche+ Fassung der Seele ihrer Welt gegenüber. Trotzdem
oder gerade deshalb ist dem modernen Menschen die Naturwissenschaft
leicht, die Geschichtsbetrachtung schwer.

Regungen eines abstrakten, das heißt eben erzwungenen, künstlichen,
dem naiven Seelentum fremden Denkens, dessen Tendenz ganz und gar
auf mathematische Begrenzung, logische Unterscheidung, auf Gesetz
und Kausalität hinausgeht, tauchen früh genug auf. Man findet sie in
den ersten Jahrhunderten aller Kulturen, noch schwach, vereinzelt,
noch in der Fülle des Trieblebens verschwindend. Ich nenne den Namen
Roger Bacons. Sie nehmen bald einen strengeren Charakter an; es fehlt
ihnen, wie allem geistig Erkämpften und von der menschlichen Natur
ständig Bedrohten, das Herrische und Ausschließende nicht. Unvermerkt
durchdringt das Reich des Räumlich-Begrifflichen -- denn die Begriffe
sind ihrem Wesen nach Zahlen, von rein quantitativer Beschaffenheit --
die Außenwelt des Einzelnen, bewirkt in, mit und unter den schlichten
Eindrücken der Sinnlichkeit einen mechanischen Zusammenhang kausaler
und zahlengesetzlicher Art und unterwirft zu guter Letzt das wache
Bewußtsein des großstädtischen Kulturmenschen -- sei es im ägyptischen
Theben oder in Babylon, in Benares, Alexandria oder in westeuropäischen
Weltstädten -- einem so anhaltenden Zwange des naturgesetzlichen
Denkens, daß das Vorurteil aller Philosophie und Wissenschaft -- denn
es +ist+ ein Vorurteil -- kaum Widerspruch findet, dieser Zustand sei
+der+ menschliche Geist und sein alter ego, das +mechanische+ Bild
der Umwelt, sei +die+ Welt. Aristoteles und Kant haben das Urteil
sakrosankt gemacht. Plato und Goethe widerlegen es.


4

Die große Aufgabe der Welterkenntnis, wie sie dem Menschen hoher
Kulturen ein Bedürfnis ist, eine Art Durchdringung seiner Existenz,
die er sich und ihr schuldig zu sein glaubt, mag man ihre Lösung nun
Wissenschaft oder Philosophie nennen, mag man ihre Verwandtschaft
zu künstlerischer Schöpfung und gläubiger Intuition mit innerster
Gewißheit fühlen oder bestreiten -- diese Aufgabe ist sicherlich
in jedem Falle die gleiche: die Formensprache des Weltbildes, das
dem Dasein des einzelnen +vorbestimmt+ ist, das er, solange er
nicht +vergleicht+, für +die+ Welt halten muß, in ihrer Reinheit
darzustellen. Diese +Auflösung+ der uns umgebenden Wirklichkeit in
ihre -- wie wir glauben -- einfachen Elemente empfinden wir als die
Lösung des Rätsels. Wir nennen sie Offenbarung, Entdeckung, Erkenntnis,
Erfahrung und sind gewiß, mit ihr den Inhalt unseres Daseins
bereichert, ein Stück von ihm vollendet zu haben.

Angesichts der Zweiheit von Natur und Geschichte kann diese Aufgabe
eine doppelte sein. Beide reden ihre eigene, in jedem Betracht
verschiedene Formensprache und in einem Weltbilde von unentschiedenem
Charakter -- wie es die Regel ist -- können beide einander wohl
überlagern und verwirren, sich aber niemals zur Einheit verbinden.

Richtung und Ausdehnung sind die Merkmale, durch die sich historische
und naturhafte Welteindrücke unterscheiden. Der Mensch ist gar nicht
imstande, beides gleichzeitig, im selben Augenblick entschieden in
Wirkung zu setzen. Das Wort Ferne hat einen bezeichnenden Doppelsinn.
Dort bedeutet es +Zukunft+, hier eine +räumliche Distanz+. Man wird
bemerken, daß der historische Materialist die Zeit mit Notwendigkeit
als Dimension empfindet. Für den geborenen Künstler sind umgekehrt, wie
die Lyrik aller Völker beweist, landschaftliche Fernen, Wolken, der
Horizont, die sinkende Sonne Eindrücke, die sich unbezwinglich mit dem
Gefühl von etwas Künftigem verbinden. Der griechische Dichter verneint
die Zukunft, folglich sieht, folglich besingt er dies alles nicht. Weil
er ganz der Gegenwart angehört, so gehört er auch ganz der Nähe. Der
Naturforscher, der produktive Verstandesmensch im eigentlichen Sinne,
sei er Experimentator wie Faraday, Theoretiker wie Galilei oder Rechner
wie Newton, findet in seiner Welt nur richtungslose +Quantitäten+, die
er mißt, prüft und ordnet. Nur Quantitatives unterliegt der Fassung
durch Zahlen, ist kausal determiniert, kann begrifflich zugänglich
gemacht und gesetzlich formuliert werden. Damit sind die Möglichkeiten
aller reinen Naturerkenntnis erschöpft. Alle Gesetze sind quantitative
Zusammenhänge oder, wie der Physiker es ausdrückt, alle physikalischen
Vorgänge +verlaufen im Raume+. Der antike Physiker würde diesen
Ausdruck im Sinne des antiken raumverneinenden Weltgefühls, ohne die
Tatsache zu ändern, dahin korrigiert haben, daß alle Vorgänge „+unter
Körpern stattfinden+“.

Historischen Eindrücken ist alles Quantitative fremd. Ihr Organ ist ein
andres. Die beiden Arten von Rezeption, welche der Welt als Natur und
der Welt als Geschichte entsprechen, sind uns wohlbekannt, so wenig
wir uns auch bis jetzt ihres Gegensatzes bewußt gewesen sind. Es gibt
+Naturerkenntnis+ und +Menschenkenntnis+. Es gibt +wissenschaftliche
Erfahrung+ und +Lebenserfahrung+. Man verfolge den Gegensatz bis in
seine letzten Konsequenzen und man wird verstehen, was ich meine.

Alle Arten, die Welt zu begreifen, dürfen letzten Endes als Morphologie
bezeichnet werden. +Die Morphologie des Mechanischen und Ausgedehnten,
eine Wissenschaft, die Naturgesetze und Kausalbeziehungen entdeckt
und ordnet, heißt Systematik. Die Morphologie des Organischen, der
Geschichte und des Lebens, alles dessen, was Richtung und Schicksal in
sich trägt, heißt Physiognomik.+

Je historischer ein Mensch veranlagt ist, desto mehr wird alles, was
er begreift, mitteilt, bildet, physiognomischen Charakter tragen. Der
hellenischen Statuenkunst lag alles Physiognomische fern, nicht weniger
dem attischen Drama. Das hat der Klassizismus Winckelmanns und Lessings
als das „Allgemein Menschliche“ mißverstanden. Goethe war in seiner
Pflanzenlehre wie im Tasso, in seiner Lyrik wie im persönlichen Umgang
ein Meister der Physiognomik.


5

Diese Art, die Welt zu sehen, hat in den letzten Stadien der
abendländischen Zivilisation ihre große Zeit noch vor sich. In hundert
Jahren werden alle Wissenschaften, die auf diesem Boden dann noch
möglich sind, Bruchstücke einer einzigen ungeheuren Physiognomik alles
Menschlichen sein. +Das bedeutet „Morphologie der Weltgeschichte“.+
In jeder Wissenschaft, dem Ziel wie dem Stoffe nach, erzählt der
Mensch sich selbst. Wissenschaftliche Erfahrung ist Selbsterkenntnis.
Aus diesem Gesichtspunkte war soeben die Mathematik als Kapitel der
Physiognomik behandelt worden. Nicht was der einzelne Mathematiker
+beabsichtigt+, kam in Betracht. Der Fachmann als solcher mit seinen
Tatsachen und Leistungen scheidet aus. Der Mathematiker als Mensch,
dessen Wirksamkeit einen Teil seiner Erscheinung, dessen Wissen
und Meinen einen Teil seiner Gebärde bildet, ist das +Organ+ einer
Kultur. Durch ihn redet sie von sich. Er gehört als Person, als Geist,
entdeckend, erkennend, formend zu ihrer Physiognomie.

Jede Mathematik, die als wissenschaftliches System oder, wie im Falle
Ägyptens, in Form einer Architektur die Idee einer Zahl allen sichtbar
zur Erscheinung bringt, ist das Bekenntnis einer Seele. So gewiß ihre
beabsichtigte Leistung nur der historischen Oberfläche angehört, so
gewiß ist ihr Unbewußtes, die Zahl selbst als Urphänomen und der
Stil ihrer Entwicklung zu einer abgeschlossenen Formenwelt, Ausdruck
des Daseins, des Blutes. Ihre Lebensgeschichte, ihr Aufblühen und
Verdorren, ihre tiefe Beziehung zu den bildenden Künsten, zu Mythen
und Kulten derselben Kultur, das alles gehört zu einer noch kaum für
möglich gehaltenen Morphologie der zweiten, der historischen Art.

Die sichtbare Außenseite aller Historie hat demnach dieselbe Bedeutung
wie die äußere Erscheinung des einzelnen Menschen, Wuchs, Miene,
Haltung, Gang, Sprache, Tätigkeit. Das alles ist für den Menschenkenner
da. Der Leib, das Begrenzte, Gewordne, +Vergängliche+ ist Ausdruck
der Seele. Aber Menschenkenner sein bedeutet auch jene menschlichen
Organismen größten Stils, die ich Kulturen nenne, kennen, ihre Miene,
ihre Sprache, ihre Handlungen begreifen, wie man die eines einzelnen
Menschen begreift. Geschichte als Philosoph schreiben heißt das tun,
was Shakespeare tat, als er seine Tragödien einzelner Menschen schrieb.

Physiognomik ist die ins Geistige übersetzte Kunst des Porträts.
Don Quijote, Werther, Julian Sorel sind die Porträts einer Epoche.
Faust ist das Porträt einer ganzen Kultur. Der Naturforscher, der
Morphologe als Systematiker, kennt das Porträt der Welt nur als
imitative Aufgabe. Das bedeutet „Naturtreue“, „Ähnlichkeit“ für den
malenden Handwerker, der im Grunde ganz mathematisch zu Werke geht.
Ein echtes Porträt im Sinne Rembrandts ist Physiognomik, ist Historie.
Die Reihe seiner Selbstbildnisse ist nichts andres als eine -- echt
Goethesche -- Selbstbiographie. So soll die Biographie der großen
Kulturen geschrieben werden. Der imitative Teil, die Arbeit des
Fachhistorikers an Daten und Zahlen, ist nur Mittel, nicht Ziel. Zu
den Zügen im Antlitz der Historie gehört alles, was man bis jetzt nur
nach persönlichen Maßstäben, nach Nutzen und Schaden, Gut und Böse,
Gefallen und Mißfallen zu werten verstanden hat, eine Staatsform
wie eine Wirtschaftsform, Schlachten wie Künste, Wissenschaften wie
Götter, Mathematik wie Moral. Alles, was überhaupt +geworden+ ist,
alles, was erscheint, ist Symbol, ist Ausdruck einer Seele. Es will
mit dem Auge des Menschenkenners betrachtet, es will nicht in Gesetze
gebracht, es will in seiner Bedeutung gefühlt werden. Und so erhebt
sich die Untersuchung zu einer letzten und höchsten Gewißheit: +Alles
Vergängliche ist nur ein Gleichnis.+

Zur Naturerkenntnis kann man erzogen werden, der Geschichtskenner
wird +geboren+. Er begreift und durchdringt mit einem Schlage, aus
einem Gefühl heraus, das man nicht lernt, das jeder absichtlichen
Einwirkung entzogen ist, das dem Willen nicht unterliegt, das in seinen
höchsten Momenten sich selten genug einstellt. Zerlegen, definieren,
ordnen, nach Ursache und Wirkung abgrenzen kann man, wenn man will.
Das ist eine Arbeit, das andre ist eine Schöpfung. Gestalt und Gesetz,
Gleichnis und Begriff, Symbol und Formel haben ein sehr verschiedenes
Organ. Es ist das Verhältnis von +Leben und Tod+, von Zeugen und
Zerstören, das hier erscheint. Der Verstand, der Begriff tötet, indem
er „erkennt“. Er macht das Erkannte zum starren Gegenstand, der
sich messen und teilen läßt. Das Anschauen beseelt. Es verleibt das
Einzelne einer lebendigen, innerlich gefühlten Einheit ein. Dichten
und Geschichtsforschung sind verwandt, Rechnen und Erkennen sind es
auch. Aber -- wie Hebbel einmal sagt: „Systeme werden nicht erträumt,
Kunstwerke nicht errechnet oder, was dasselbe ist, erdacht.“ Der
Künstler, der echte Historiker schaut, wie etwas wird. Er erlebt das
Werden in den Zügen des Betrachteten noch einmal. Der Systematiker,
sei er Physiker, Darwinist, oder schreibe er pragmatische Historie,
erfährt, was geworden ist. Die Seele eines Künstlers ist wie die Seele
einer Kultur etwas, das sich verwirklichen möchte, etwas vollständiges
und vollkommenes, in der Sprache einer altern Philosophie: Mikrokosmos.
Der Geist des Physikers, eine späte, engere und vorübergehende
Erscheinung, gehört in die reifsten Stadien einer Kultur. Er ist an
das Phänomen der +Städte+ gebunden, in denen sich ihr Leben mehr und
mehr zusammendrängt, und er verschwindet wieder mit ihnen. Antike
Wissenschaft gibt es nur von den Ioniern des 6. Jahrhunderts an bis zur
Römerzeit. Antike Künstler gibt es, solange es eine Antike gibt.

Ein Schema möge wieder zur Verdeutlichung dienen:

             {  +Seele+                          +Welt+
  Bewußtsein { Möglichkeit --> Vollendung --> Wirklichkeit
             {                 (+Leben+)     |
                                                  v
              {     Werden  ------>    Gewordenes
  Anschauung  {     Richtung           Ausdehnung
  und         {     Organisch          Mechanisch
  Erkenntnis  {     Symbol, Bild  \    Zahl, Begriff
                        |          \  /   |
                        |           X     |
                        V          ⬋ \    V
              {     +Geschichte+ ⬊     +Natur+
              {     Gestalt            Gesetz
  Weltbild    {     Physiognomik       Systematik
              {     (Religion, Kunst)  (Wissenschaft, Praxis)

Versucht man sich über das Prinzip der +Einheit+ klar zu werden, aus
welcher jede der beiden Welten aufgefaßt wird, so findet man, daß
mathematisch geregelte Erkenntnis, und zwar desto entschiedener,
je reiner sie ist, sich durchaus auf ein beständig +Gegenwärtiges+
bezieht. Das Bild der Natur, wie es der Physiker betrachtet, ist
das augenblicklich vor seinen Sinnen sich entfaltende. Zu den
meist verschwiegenen, aber um so festeren Voraussetzungen aller
Naturforschung gehört die, daß die Natur für alle und zu allen
Zeiten dieselbe sei. Ein Experiment entscheidet „für immer“.
Wirkliche Geschichte aber beruht auf dem ebenso gewissen innern
Gefühl des Gegenteils. Geschichte setzt als ihr Organ eine schwer zu
beschreibende Art innerer Sinnlichkeit voraus, deren Eindrücke in
unendlicher Wandlung begriffen sind, mithin in einem Zeitpunkte gar
nicht zusammengefaßt werden können. (Von der vermeintlichen „Zeit“
der Physiker wird später die Rede sein.) Das Bild der Geschichte
-- sei es die der Menschheit, der Organismenwelt, der Erde, der
Fixsternsysteme -- ist ein +Gedächtnisbild+. Und zwar kann man die
frühere Unterscheidung wiederholen und sagen, daß „Natur“ ein Weltbild
sei, in welchem das Gedächtnis der Einheit des unmittelbar Sinnlichen
unterworfen ist, „Geschichte“ dasjenige, in welchem das Gedächtnis die
Eindrücke der Sinne sich einverleibt. Gedächtnis wird hier als ein
höherer Zustand aufgefaßt, der durchaus nicht jeder Seele eigen und
vielen nur in geringem Grade verliehen ist, eine Art Einbildungskraft,
die jeden Augenblick sub specie aeternitatis, in steter Beziehung auf
alles Vergangene und Zukünftige durchlebt werden läßt; es ist die
Voraussetzung jeder Art von reflektierender Beschaulichkeit, von
Selbsterkenntnis und Selbstbekenntnis. In diesem Sinne besitzt der
antike Mensch kein Gedächtnis, mithin keine Geschichte, weder in sich
noch um sich. („Über Geschichte kann niemand urteilen, als wer an sich
selbst Geschichte erlebt hat.“ Goethe.) Im antiken Weltbewußtsein wird
alles Vergangene im Augenblicklichen aufgesaugt. Man vergleiche die
äußerst „historischen“ Köpfe der Naumburger Domskulpturen, Dürers,
Rembrandts mit denen hellenistischer Bildnisse, etwa der bekannten
Sophoklesstatue. Die einen erzählen die ganze Geschichte einer Seele,
die Züge des andern beschränken sich streng auf den Ausdruck eines
augenblicklichen innern Zustandes. Sie schweigen von allem, was im
Laufe eines Lebens zu diesem Zustande geführt hat -- wenn davon bei
einem echt antiken Menschen, der immer fertig, nie ein Werdender ist,
überhaupt die Rede sein kann.


6

Und nun ist es möglich, die letzten Elemente der historischen
Formenwelt aufzufinden. Unzählige Gestalten, in endloser Fülle
auftauchend, verschwindend, sich abhebend, wieder verfließend, ein in
tausend Farben und Lichtern blinkendes Gewirr von anscheinend freiester
Zufälligkeit -- das ist zunächst das Bild der Weltgeschichte, wie sie
als Ganzes vor dem anschauenden Geiste sich ausbreitet. Der tiefer ins
Wesenhafte dringende Blick aber hebt aus dieser Willkür reine Formen
hervor, die dicht verhüllt und nur widerwillig sich entschleiernd allem
menschlichen Werden zugrunde liegen.

Vom Bilde des gesamten Weltwerdens, wie es das faustische Auge umfaßt,
dem Werden der Sternensysteme, der Erdoberfläche, der Lebewesen,
betrachten wir jetzt nur die äußerst kleine morphologische Einheit
der „Weltgeschichte“ im landläufigen Sinne, der von Goethe wenig
geachteten Geschichte des höheren Menschentums, die wenig mehr als
6000 Jahre umfaßt, ohne auf das tiefe Problem der Symmetrie all
dieser Gebilde einzugehen. Was dieser flüchtigen Formenwelt Sinn
und Gehalt gibt und was bis jetzt tief verschüttet unter der kaum
verstandenen Masse handgreiflicher „Daten“ und „Tatsachen“ lag, ist
das +Phänomen der großen Kulturen+. Erst nachdem diese Urformen in
ihrer physiognomischen, organischen Bedeutsamkeit erschaut, gefühlt,
herausgearbeitet worden sind, kann das Wesen der Geschichte --
gegenüber dem Wesen der Natur -- als verstanden gelten. Erst von
diesem Ein- und Ausblicke an darf von einer Philosophie der Geschichte
ernsthaft die Rede sein. Erst dann ist es möglich, jedes Faktum
im historischen Bilde, jeden Gedanken, jede Kunst, jeden Krieg,
jede Persönlichkeit, jede Epoche ihrem symbolischen Gehalte nach
zu begreifen und die Geschichte selbst nicht mehr als bloße Summe
von Vergangenem ohne eigentliche Ordnung und innere Notwendigkeit
zu begreifen, sondern als einen Organismus von strengstem Bau und
sinnvollster Gliederung, in dessen Entwicklung die zufällige Gegenwart
des Betrachters keinen Abschnitt bezeichnet und die Zukunft nicht mehr
formlos und unbestimmbar erscheint.

+Kulturen sind Organismen.+ Kulturgeschichte ist ihre Biographie. Die
in historischer Erscheinung -- im Gedächtnisbilde -- uns vorliegende
Geschichte der chinesischen oder antiken Kultur ist morphologisch
das genaue Seitenstück zur Geschichte des einzelnen Menschen, eines
Tieres, eines Baumes oder einer Blume. Will man ihre Struktur kennen
lernen, so hat die vergleichende Morphologie der Pflanzen und Tiere
längst die Methode dazu vorbereitet.[35] Im Phänomen der einzelnen,
aufeinander folgenden, nebeneinander aufwachsenden, sich berührenden,
überschattenden, erdrückenden Kulturen erschöpft sich der Gehalt
aller Historie. Und läßt man ihre Gestalten, die bis jetzt nur allzu
gut unter der Oberfläche einer trivial fortlaufenden „Geschichte
der Menschheit“ verborgen lagen, im Geiste vorüberziehen, so muß
es gelingen, den Typus, die Urgestalt +der+ Kultur, frei von allem
Trübenden und Unbedeutenden, aufzufinden, die allen einzelnen Kulturen
als Formideal zugrunde liegt.

Ich unterscheide die +Idee+ einer Kultur, ihre inneren Möglichkeiten,
von ihrer sinnlichen +Erscheinung+ im Bilde der Geschichte als der
vollzogenen Verwirklichung. Es ist das Verhältnis der Seele zum
Körper, ihrem +Ausdruck+ im Bereiche des Ausgedehnten und Gewordenen.
Geschichte einer Kultur ist die Verwirklichung ihres Möglichen. Die
Vollendung ist gleichbedeutend mit dem Ende. So verhält sich die
apollinische Seele, deren Idee einige von uns vielleicht noch einmal
+fühlen+ und +nacherleben+ können, zu ihrer räumlichen Entfaltung,
der +wissenschaftlich+ zugänglichen „Antike“, deren Physiognomie der
Archäologe, der Philologe, der Ästhetiker und der Historiker studieren.

Kultur ist das +Urphänomen+ aller vergangenen und künftigen
Weltgeschichte. Die tiefe und wenig gewürdigte Idee Goethes, die
er in seiner lebendigen Natur fand und seinen morphologischen
Forschungen stets zugrunde gelegt hat, soll hier in ihrem genauesten
Sinne auf all die vollkommen ausgereiften, in der Blüte erstorbenen,
halbentwickelten, im Keim erstickten Bildungen der menschlichen
Geschichte angewendet werden. Hier redet nicht der analysierende
Verstand, sondern das unmittelbare Weltgefühl, das Anschauen. „Das
Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen, und wenn ihn
das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden, ein Höheres
kann es ihm nicht gewähren und ein Weiteres soll er nicht dahinter
suchen: hier ist die Grenze.“ Ein Urphänomen ist dasjenige, in welchem
die Idee des Werdens rein vor Augen liegt. Goethe sah die Idee der
+Urpflanze+ in der Gestalt jeder einzelnen, zufällig entstandenen oder
überhaupt möglichen Pflanze klar vor seinem geistigen Auge. Er fühlte
hier den Sinn des Werdens mit aller Deutlichkeit. Er ging bei seiner
großen Entdeckung des _os intermaxillare_, die allein alle Leistungen
Darwins aufwiegt, vom +Urphänomen des Wirbeltiertypus+, auf anderem
Gebiete von der geologischen Schichtung, vom Blatt als der +Urform+
aller pflanzlichen Organe, von der Metamorphose der Pflanzen als dem
Urbild alles organischen Werdens aus. „Dasselbe Gesetz wird sich auf
alles übrige Lebendige anwenden lassen“, schrieb er aus Neapel an
Herder, als er ihm seine Entdeckung mitteilte. Das 19. „historische“
Jahrhundert hat ihn nicht verstanden.

Das Urphänomen ist, wie Goethe mit Entschiedenheit betont, reine
Anschauung einer Idee, nicht Erkenntnis eines Begriffes. Alle
Geschichtsschreibung aber ist bisher eine durchaus anorganische
Kombination objektiver Tatsachen und Beobachtungen gewesen, die sich
bestenfalls aus einem Erkenntnisprinzip von sozialer oder politischer,
jedenfalls kausaler Formulierung ergab, das man in Wirklichkeit der
Naturforschung und zwar der materialistischen abgelauscht hatte.
Wenn man sich nicht im Stile Hegels und Schellings in Abstrusitäten
verlor, so trieb man Systematik. Der Darwinismus mit seinen möglichst
massiven, möglichst praktischen „Ursachen“ -- die der westeuropäische
Großstadtmensch sonst nicht als Ursachen von Wirkungen begriffen hätte
-- ist tatsächlich die Übertragung parteipolitischer Plattheiten auf
die Erscheinungen der Tierwelt, aber andererseits sind die Prinzipien
der heute so „wirtschaftlich“ gestimmten Geschichtsschreibung
biologische, vom Darwinismus zurückeroberte Plattheiten. Von einer
strengen und klaren Physiognomik, deren exakte Methoden erst noch
zu finden waren, ist niemals die Rede gewesen. Hier liegt die
Aufgabe des 20. Jahrhunderts vor, die Struktur der historischen
Organismen bloßzulegen, das morphologisch Notwendige vom Zufälligen zu
unterscheiden, den Ausdruck aller historischen Züge zu entziffern und
den letzten Sinn dieser stummen Sprache aufzufinden.

Die bisher abgelaufene Geschichte ist nicht übersichtlich. Als
ganz ausgereifte Gebilde, deren jedes also den Körper eines zur
inneren Vollendung gelangten Seelentums repräsentiert, darf man die
chinesische, babylonische, ägyptische, indische, antike, arabische,
abendländische und die Mayakultur betrachten. Als im Entstehen
begriffen kommt die russische in Betracht. Die Zahl der nicht zur Reife
gelangten Kulturen ist gering; die persische, hettitische und die der
Kitschua befinden sich darunter. Für das Verständnis des Urphänomens
selbst sind sie ohne Bedeutung.


7

Eine unübersehbare Masse menschlicher Wesen, ein uferloser Strom,
der aus dunkler Vergangenheit hervortritt, dort, wo unser Zeitgefühl
seine ordnende Wirksamkeit verliert und die ruhelose Phantasie -- oder
Angst -- in uns das Bild geologischer Erdperioden hingezaubert hat, um
ein nie zu lösendes Rätsel dahinter zu verbergen, der sich in eine
ebenso dunkle und zeitlose Zukunft verliert: das ist der Untergrund
des Bildes der Menschengeschichte. Der einförmige Wellenschlag
zahlloser Generationen bewegt die weite Fläche. Glitzernde Streifen
breiten sich aus. Flüchtige Lichter ziehen und tanzen darüber hin,
verwirren und trüben den klaren Spiegel, verwandeln sich, blitzen
auf und verschwinden. Wir haben sie Geschlechter, Stämme, Völker,
Rassen genannt. Sie fassen eine Reihe von Generationen in einem
beschränkten Kreise der historischen Oberfläche zusammen. Wenn die
gestaltende Kraft in ihnen erlischt -- und diese Kraft ist eine sehr
verschiedene und bestimmt eine sehr verschiedene Dauer und Plastizität
dieser Phänomene im voraus --, erlöschen auch die physiognomischen,
sprachlichen, geistigen Merkmale und die Erscheinung löst sich wieder
in dem Chaos der Generationen auf. Arier, Mongolen, Germanen, Kelten,
Parther, Franken, Karthager, Berber, Bantu sind Namen für höchst
verschiedenartige Gebilde dieser Ordnung.

Über diese Fläche hin aber ziehen die großen Kulturen ihre
majestätischen Wellenkreise. Sie tauchen plötzlich auf, verbreiten sich
in prachtvollen Linien, glätten sich, verschwinden und der Spiegel der
Flut liegt wieder einsam und schlafend da.

Eine Kultur wird in dem Augenblick geboren, wo eine große Seele aus
dem urseelenhaften Zustande ewig-kindlichen Menschentums erwacht,
sich ablöst, eine Gestalt aus dem Gestaltlosen, ein Begrenztes und
Vergängliches aus dem Grenzenlosen und Verharrenden. Sie erblüht auf
dem Boden einer genau abgrenzbaren Landschaft, an die sie pflanzenhaft
gebunden bleibt. Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle
Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen,
Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und
damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt. Ihr lebendiges Dasein aber,
jene Folge großer Epochen, die in strengem Umriß die fortschreitende
Vollendung bezeichnen, ist ein tiefinnerlicher, leidenschaftlicher
Kampf um die Behauptung der Idee gegen die Mächte des Chaos nach außen,
gegen das Unbewußte nach innen, in das sie sich grollend zurückgezogen
haben. Nicht nur der Künstler kämpft gegen den Widerstand der Materie
und gegen die Vernichtung der Idee in sich. Jede Kultur steht in einer
tief symbolischen Beziehung zu Stoff und Raum, in dem, durch den sie
sich realisieren will. Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze
Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht,
so +erstarrt+ die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut
gerinnt, ihre Kräfte brechen -- sie wird zur +Zivilisation+. So
kann sie, ein abgestorbener Baumriese im Urwald, noch Jahrhunderte
hindurch die morschen Äste emporstrecken. Wir sehen es an Ägypten,
an China, an Indien, an der Welt des Islam. So ragte die antike
Zivilisation der Kaiserzeit mit einer scheinbaren Jugendkraft und Fülle
riesenhaft auf und nahm der jungen arabischen Kultur des Ostens Luft
und Licht.

Dies ist der Sinn aller +Untergänge+ in der Geschichte, von denen
der in seinen Umrissen deutlichste als „Untergang der Antike“ vor uns
steht, während wir die frühesten Anzeichen des eignen, eines nach
Verlauf und Dauer jenem völlig kongruenten Ereignisses, das den ersten
Jahrhunderten des nächsten Jahrtausends angehört, den „Untergang des
Abendlandes“, heute schon deutlich in und um uns spüren.

Jede Kultur durchläuft die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede
hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum.
Eine junge, verschüchterte, ahnungsschwere Seele offenbart sich in
der Morgenfrühe der Romanik und Gotik. Sie erfüllt die faustische
Landschaft von der Provence der Troubadoure an bis zum Hildesheimer
Bischof Bernwards. Hier weht Frühlingswind. „Man sieht in den
Werken der altdeutschen Baukunst“, sagt Goethe, „die Blüte eines
außerordentlichen Zustandes. Wem eine solche Blüte unmittelbar
entgegentritt, der kann nichts als anstaunen; wer aber in das geheime
innere Leben der Pflanze hineinsieht, in das Regen der Kräfte und
wie sich die Blüte nach und nach entwickelt, der sieht die Sache
mit ganz andern Augen, der weiß, was er sieht.“ Kindheit spricht
ebenso und in ganz verwandten Lauten aus der frühhomerischen Dorik,
aus der altchristlichen, das heißt früharabischen Kunst und aus
den Werken des mit der 4. Dynastie beginnenden Alten Reiches in
Ägypten. Da ringt ein mythisches Weltbewußtsein mit allem Dunklen und
Dämonischen in sich und in der Natur wie mit einer +Schuld+, um
langsam dem reinen lichtklaren Ausdruck eines endlich gewonnenen
und begriffenen Daseins entgegen zu reifen. Je mehr sich eine Kultur
der Mittagshöhe ihres Daseins nähert, desto männlicher, herber,
beherrschter, gesättigter wird ihre endlich gesicherte Formensprache,
desto gewisser ist sie im Gefühl ihrer Kraft, desto klarer werden ihre
Züge. In der Frühzeit ist das alles noch dumpf, verworren, suchend,
von kindlicher Sehnsucht und Angst zugleich erfüllt. Man betrachte
die Ornamentik romanischer Kirchenportale Sachsens und des südlichen
Frankreichs. Man denke an die Vasen des Dipylonstils. Jetzt, im vollen
Bewußtsein der gereiften Gestaltungskraft, wie sie die Zeitalter
des Sesostris, der Peisistratiden, Justinians I., der spanischen
Weltmacht Karls V. zeigen, erscheint jede Einzelheit des Ausdruckes
gewählt, streng, gemessen, von einer wunderbaren Leichtigkeit und
Selbstverständlichkeit. Hier finden sich überall Momente von einer
leuchtenden Vollkommenheit, Momente, in denen der Kopf Amenemhets
III. (die Hyksossphinx von Tanis), die Wölbung der Hagia Sophia,
die Gemälde Tizians entstanden sind. Noch später, zart, beinahe
zerbrechlich, von der wehen Süßigkeit der letzten Oktobertage sind die
knidische Aphrodite und die Korenhalle des Erechtheion, die Arabesken
an sarazenischen Hufeisenbögen, der Dresdner Zwinger, Watteau und
Mozart. Zuletzt, im Greisentum der anbrechenden Zivilisation, erlischt
das Feuer der Seele. Die abnehmende Kraft wagt sich noch einmal, mit
halbem Erfolge -- im Klassizismus, der keiner erlöschenden Kultur
fremd ist -- an eine große Schöpfung; die Seele denkt noch einmal --
in der Romantik -- wehmütig an ihre Kindheit zurück. Endlich verliert
sie, müde, verdrossen und kalt, die Lust am Dasein und sehnt sich --
wie in der Römerzeit -- aus dem tausendjährigen Lichte wieder in das
Dunkel urseelenhafter Mystik, in den Mutterschoß, ins Grab zurück. Das
ist der Zauber, den damals der Isis-, Serapis-, Horus-, Mithraskult
auf das sterbende Römertum ausübten, dieselben Kulte, welche eine eben
ertagende Seele im Osten als den frühesten, träumerischen, ängstlichen
Ausdruck ihres Seins konzipiert und mit einer neuen Innerlichkeit
erfüllt hatte.


8

Man spricht vom +Habitus+ einer Pflanze und meint damit die ihr
allein zugehörige Art der äußern Erscheinung, den Charakter und Stil
ihres Hervortretens in den Bereich des Gewordnen und Ausgedehnten,
durch den sich jede in jedem ihrer Teile und auf jeder Altersstufe von
den Exemplaren aller andern Gattungen unterscheidet. Ich wende diesen
für die Physiognomik wichtigen Begriff auf die großen Organismen der
Geschichte an und spreche von dem Habitus indischer, ägyptischer,
antiker Kultur, Geschichte oder Geistigkeit. Ein unbestimmtes Gefühl
davon hat immer schon dem +Stilbegriff+ zugrunde gelegen und es
heißt ihn nur verdeutlichen und vertiefen, wenn man vom religiösen,
geistigen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen Stil einer Kultur,
überhaupt vom +Stil einer Seele+ spricht. Dieser Habitus des
bewußten Daseins, der beim einzelnen Menschen sich auf Gesinnungen,
Gedanken, Gebärden, Handlungen erstreckt, umfaßt im Dasein ganzer
Kulturen den gesamten Lebensausdruck höherer Ordnung, wie die Wahl
bestimmter Kunstgattungen (der Rundplastik, des Fresko durch die
Hellenen, des Kontrapunkts, der Ölmalerei im Abendlande), und die
entschiedene Ablehnung anderer (der Plastik durch die Araber), den
Hang zur Esoterik (Indien) oder Popularität (Antike), zur Rede
(Antike) oder Schrift (China, Abendland) als den Formen der geistigen
Mitteilung, den Typus ihrer Staatenbildungen, Geldsysteme, öffentlichen
Sitten. Alle großen Persönlichkeiten der Antike bilden -- ganz
mathematisch betrachtet -- eine Gruppe, deren seelischer Habitus von
dem aller großen Menschen der arabischen oder abendländischen Gruppe
wohl unterschieden ist. Man vergleiche selbst Goethe oder Raffael
mit antiken Menschen und Heraklit, Sophokles, Plato, Alkibiades,
Themistokles, Horaz, Tiberius rücken sofort zu einer einzigen Familie
zusammen. Jede antike Weltstadt, vom Syrakus des Hieron bis zum
kaiserlichen Rom, ist als Verkörperung und Sinnbild eines und desselben
Lebensgefühls, nach Grundriß, Straßenbild, Sprache der privaten und
öffentlichen Architektur, nach dem Typus von Plätzen, Gassen, Höfen,
Fassaden, nach Farbe, Lärm, Gewimmel, nach dem Geist ihrer Nächte
von der Gruppe der indischen, der arabischen, der abendländischen
Weltstädte streng unterschieden. Im eroberten Granada war die ganze
Seele arabischer Städte, Bagdads und Kairos, noch lange fühlbar,
während in dem Madrid Philipps II. schon alle physiognomischen Merkmale
der modernen Stadtbilder von Berlin, London und Paris anzutreffen
sind. Es liegt eine hohe Symbolik in jedem unterscheidenden Moment;
man denke an den abendländischen Hang zu gradlinigen Perspektiven und
Straßenfluchten wie dem mächtigen Zuge der Champs Elysées vom Louvre an
oder dem Platz vor der Peterskirche und dessen Gegensatz in der fast
absichtlichen Verworrenheit und Enge der Via sacra, des Forum Romanum
und der Akropolis mit ihrer unsymmetrischen und unperspektivischen
Ordnung der Teile. Auch der Städtebau wiederholt, ob aus Instinkt wie
in der Gotik oder bewußt wie seit Alexander und Napoleon, das Prinzip
der leibnizschen Mathematik des unendlichen Raumes und der euklidischen
der vereinzelten Körper.

Zum Habitus einer Gruppe von Organismen gehört aber auch eine bestimmte
+Lebensdauer+ und ein bestimmtes +Tempo+ der Entwicklung. Diese
Begriffe dürfen in einer Strukturlehre der Historie nicht fehlen. Der
+Takt+ des antiken Daseins war ein anderer als der des ägyptischen
oder arabischen. Man darf vom Andante des hellenisch-römischen und
vom Allegro con brio des faustischen Geistes reden. Mit dem Begriff
der Lebensdauer eines Menschen, eines Adlers, einer Schildkröte,
einer Eiche oder Palme verbindet sich, ganz unabhängig von allen
Zufälligkeiten des Einzelschicksals, ein bestimmter Wert. Zehn Jahre
sind im Leben aller Menschen ein annähernd gleichbedeutender Abschnitt,
und die Metamorphose der Insekten knüpft sich in einzelnen Fällen an
eine im voraus genau bekannte Anzahl von Tagen. Die Römer verbanden
mit ihren Begriffen pueritia, adolescentia, juventus, virilitas,
senectus eine geradezu mathematisch genaue Vorstellung. Die Biologie
der Zukunft wird ohne Zweifel die +vorbestimmte+ Lebensdauer der Arten
und Gattungen -- im Gegensatz zum Darwinismus und mit grundsätzlicher
Ausschaltung kausaler Zweckmäßigkeitsmotive für die Entstehung der
Arten -- zum Ausgangspunkt einer ganz neuen Problemstellung machen.
Die Dauer einer Generation -- gleichviel von was für Wesen -- ist ein
Wert von beinahe mystischer Bedeutung. Diese Beziehungen besitzen nun
auch, in einer bisher nie geahnten Weise, für alle Kulturen Geltung.
+Jede Kultur, jede Frühzeit, jeder Aufstieg und Niedergang, jede ihrer
notwendigen Phasen hat eine bestimmte, immer gleiche, immer mit dem
Nachdruck eines Symbols wiederkehrende Dauer.+ In diesem Buche muß
darauf verzichtet werden, diese Welt geheimnisvollster Zusammenhänge
zu erschließen, aber die im folgenden immer wieder aufleuchtenden
Tatsachen werden verraten, was alles hier verborgen liegt. Was bedeutet
die in allen Kulturen herrschende 50jährige Periode im Rhythmus des
politischen, geistigen, künstlerischen Werdens?[36] (Das +seelische
Verhältnis+ des Großvaters zum Enkel liegt hier zugrunde.)[37] Was die
300jährigen Perioden der Gotik, des Barock, der Dorik, der Ionik, der
großen Mathematiken, der attischen Plastik, der Mosaikmalerei, des
Kontrapunkts, der galileischen Mechanik? Was bedeutet die +ideale+
Lebensdauer von einem Jahrtausend für jede Kultur im Vergleich zu der
des Einzelnen, dessen „Leben 70 Jahre währt“?

Wie Blätter, Blüten, Zweige, Früchte in Tracht, Form und Haltung
ein Pflanzendasein zum Ausdruck bringen, so tun es die ethischen,
mathematischen, politischen, wirtschaftlichen Bildungen im Dasein
einer Kultur. Was etwa für Goethes Individualität eine Reihe so
verschiedenartiger Äußerungen wie der Faust, die Farbenlehre, der
Reineke Fuchs, Tasso, Werther, die Reise nach Italien, die Liebe zu
Friederike, der Divan und die römischen Elegien waren, das bedeuten für
die Individualität der Antike die Perserkriege, die attische Tragödie,
die Polis, das Dionysische so gut wie die Tyrannis, die ionische
Säule, die Geometrie Euklids, der Garten Epikurs, die römische Legion,
die Gladiatorenkämpfe und das „panem et circenses“ der Kaiserzeit.

In diesem Sinne wiederholt mit tiefster Notwendigkeit jedes irgendwie
bedeutende Einzeldasein alle Phasen der Kultur, der es angehört. In
jedem von uns erwacht das Innenleben -- in jenem entscheidenden Moment,
von dem an man weiß, daß man ein Ich hat -- dort, wo einst die Seele
der ganzen Kultur erwachte. Jeder von uns Menschen des Abendlandes
erlebt als Kind seine Gotik, seine Dome, Ritterburgen und Heldensagen,
das „_Dieu le veut_“ der Kreuzzüge in wachen Träumen und
Kinderspielen noch einmal. Jeder junge Grieche hatte sein homerisches
Zeitalter und sein Marathon. In Goethes Werther, dem Bild einer Epoche,
die jeder faustische, aber kein antiker Mensch kennt, taucht die
Frühzeit Petrarcas und des Minnesangs noch einmal auf. Als Goethe den
Urfaust entwarf, war er Parzival. Als er den ersten Teil abschloß,
war er Hamlet. Erst mit dem zweiten Teil wurde er der Weltmann des
19. Jahrhunderts, der Byron verstand. Selbst das Greisentum, jene
grillenhaften und unfruchtbaren Jahrhunderte des spätesten Hellenismus,
die „zweite Kindheit“ einer müden, blasierten Intelligenz, ist an
mehr als einem großen Greise des Griechentums zu studieren. In den
Bacchen des Euripides ist viel von der Vitalität, in Platos Timaios
von dem religiösen Synkretismus der Kaiserzeit vorweggenommen. Und
Goethes zweiter Faust, Wagners Parsifal verraten im voraus, welche
Gestalt +unser+ Seelentum in den nächsten, den +letzten+
Jahrhunderten annehmen wird.

Als +Homologie der Organe+ bezeichnet die Biologie die +morphologische+
Gleichwertigkeit im Gegensatz zur +Analogie+ der Organe, die sich
auf die Gleichwertigkeit der +Funktion+ bezieht. Goethe hat diesen
bedeutenden und in der Folge so fruchtbaren Begriff konzipiert, dessen
Verfolgung ihn zur Entdeckung des _os intermaxillare_ beim Menschen
führte; Owen hat ihm eine streng wissenschaftliche Fassung gegeben. Ich
führe auch diesen Begriff in die historische Methode ein.

Man weiß, daß jedem Teile des menschlichen Kopfskeletts bei jedem
Wirbeltiere bis zu den Fischen herab ein anderer genau entspricht,
daß die Brustflossen der Fische und Füße, Flügel, Hände der
landbewohnenden Wirbeltiere homologe Organe sind, auch wenn sie den
leisesten Anschein von Ähnlichkeit verloren haben. +Homolog+ sind
die Lunge der Landtiere und die Schwimmblase der Fische, +analog+ --
in bezug auf den Gebrauch -- sind Lunge und Kiemen.[38] Hier äußert
sich eine vertiefte, durch strengste Schulung des Blickes erworbene
morphologische Begabung, die der heutigen Geschichtsforschung mit ihren
oberflächlichen Vergleichen -- zwischen Christus und Buddha, Cäsar
und Wallenstein, der deutschen und der hellenischen Kleinstaaterei
-- völlig fremd ist. Man vergleicht die spätantike Baukunst mit
dem Barock, Archimedes mit Galilei, Weimar mit Florenz. -- Im 18.
Jahrhundert war eine geistreiche Morphologie beliebt, welche den
Löwenschwanz mit einer Fächerpalme, den Hals des Schwans mit einer
keimenden Zwiebel genetisch in Verbindung brachte. Es wird sich im
Verlaufe dieses Buches zeigen, welch ungeheure Perspektiven sich dem
historischen Blick eröffnen, sobald jene vertiefte Methode, historische
Phänomene aufzufassen, verstanden und ausgebildet worden ist. Homologe
Bildungen sind, um hier nur weniges zu nennen, die schon oft erwähnte
griechische Plastik und die nordische Instrumentalmusik, die Pyramiden
der 4. Dynastie und die gotischen Dome, der indische Buddhismus und
der römische Stoizismus (Buddhismus und Christentum sind +nicht einmal
analog+), die Feldzüge Alexanders und Napoleons (+nicht+ die Cäsars),
die Zeit des Perikles und die der Regentschaft (des Kardinals Fleury),
die Epochen Plotins und Dantes. Homolog sind dionysische Strömung
und Renaissance, analog dionysische Strömung und Reformation. Für
uns -- das hat Nietzsche richtig gefühlt -- resümiert Wagner die
Modernität. +Folglich+ muß es für die antike Modernität, für antike
Weltstadtseelen und -nerven etwas Entsprechendes geben. Es ist die
pergamenische Kunst. Die Tafeln am Anfang geben einen vorläufigen
Begriff von der Fruchtbarkeit dieses Aspekts.

Aus der Homologie historischer Phänomene folgt sogleich ein völlig
neuer Begriff. Ich nenne +gleichzeitig+ zwei geschichtliche
Fakta, die, jedes in seiner Kultur, in genau derselben -- relativen
-- Lage eintreten und also eine genau entsprechende Bedeutung
haben. Es war gezeigt worden, wie die Entwicklung der antiken und
der abendländischen Mathematik in völliger Kongruenz verläuft. Der
Fall ist typisch. Hier hätten also Pythagoras und Descartes, Plato
und Laplace, Archimedes und Gauß als +gleichzeitig+ bezeichnet
werden dürfen. +Gleichzeitig+ vollzieht sich die Entstehung
der Ionik und des Barock. Polygnot und Rembrandt, Polyklet und Bach
sind +Zeitgenossen+. Gleichzeitig erscheint in allen Kulturen
der Moment, wo die Metamorphose zur Zivilisation sich vollzieht. In
der Antike trägt diese Epoche die Namen Philipps und Alexanders,
im Abendlande tritt das +homologe+ Ereignis in Gestalt der
Revolution und Napoleons ein. Betrachtet man -- hier werden
entscheidende Resultate des zweiten Teils vorweggenommen -- die
wirtschaftlich-intellektuelle Stimmung hellenischer Großstädte nach
dem Frieden des Antalkidas (386); sieht man die wüsten Revolutionen
der Besitzlosen, die wie in Argos (370) alle Reichen mit Knütteln in
den Straßen totschlugen, so hat man das Gegenstück zur französischen
Gesellschaft nach dem Pariser Frieden (1763). Voltaire, Rousseau,
Mirabeau, Beaumarchais und Sokrates, Aristophanes, Hippon, Isokrates
sind Zeitgenossen. In beiden Fällen beginnt die Zivilisation. Dieselbe
Aufklärung und Auflösung aller Tradition, dieselben Bastillenstürme,
Massenhinrichtungen, Wohlfahrtsausschüsse, dieselben Staatsutopien bei
Plato, Xenophon, Aristoteles und Rousseau, Kant, Fichte, Saint-Simon,
dieselbe Schwärmerei für Naturrechte, Gesellschaftsvertrag, Freiheit
und Gleichheit bis zu den Forderungen allgemeiner Bodenverteilung und
Gütergemeinschaft (Hippon, Babeuf) und endlich dieselbe Resignation
und Hoffnung auf einen demokratisch fundierten Napoleonismus bei Plato
wie bei Rousseau und Saint-Simon. Napoleons Staatsstreich war nicht
der erste, der geplant und gemacht wurde, nur der erste, der glückte.
Die antiken „Soldatenkaiser“ beginnen schon mit Dionys von Syrakus
(405), Jason von Pherä (374), Maussolos von Halikarnaß (353). Nur
der Erbe ihrer Idee war Philipp von Makedonien. Das 4. Jahrhundert,
das mit Alkibiades -- der viel vom imperialen Ehrgeiz Mirabeaus,
Napoleons und Byrons hat -- beginnt und mit Alexander endet, ist das
genaue Gegenbild der Zeit von 1750 bis 1850, in welcher mit tiefer
Logik der contrat social, Robespierre, Napoleon, die Volksheere und
der Sozialismus aufeinander folgen, während im Hintergrunde +Rom
und Preußen+ sich auf ihre welthistorische Rolle vorbereiten.
Daß Alexander das Perserreich zerstörte, daß Napoleons Kampf gegen
seinen +einzigen+ Gegner, das englische System, mißlang, sind in
gewissem Sinne +Zufälle+, Oberflächenformen der Epoche, Tendenzen
eines großen Privatlebens, unter denen sich das Schicksalhafte und
Notwendige, das in beiden Fällen identisch war, verbarg. Rechnen
wir hundert Jahre weiter, so wiederholt sich die Homologie zweier
„gleichzeitiger“ Epochen. Die eine -- auch hier wird späteren
Ausführungen vorgegriffen -- trägt den Namen +Hannibals+, die
andere den des +Weltkrieges+. Daß im einen Falle ein Mensch, der
gar nicht zur antiken Kultur gehörte, entscheidend eingriff (aber das
ist ja auch der Fall Rußlands im Verhältnis zu „Europa“), gehört zum
+Zufälligen+. Die +Bestimmung+ Hannibals bezieht sich auf
eine innere Vollendung des antiken Gesamtschicksals. Mit der Schlacht
von Zama geht der Schwerpunkt der Antike vom Hellenismus zum Römertum
über. Der +entsprechende+ Sinn der abendländischen Epoche, in
deren Mitte wir heute stehen, wird später dargelegt werden.

Ich hoffe zu beweisen, daß ohne Ausnahme die sämtlichen großen
Schöpfungen und Formen der Religion, Kunst, Politik, Gesellschaft,
Wirtschaft, Wissenschaft in sämtlichen Kulturen +gleichzeitig+
entstehen, sich vollenden, erlöschen; daß der inneren Struktur der
einen die aller anderen durchaus entspricht; daß es nicht +eine+
Erscheinung von tiefer physiognomischer Bedeutung im historischen
Bilde der einen gibt, deren Gegenstück, und zwar in einer streng
bezeichnenden Form und an ganz bestimmter Stelle nicht in den übrigen
aufzufinden wäre. Allerdings bedarf es, um diese morphologische
Identität zweier Phänomene zu begreifen, einer ganz andern Vertiefung
und Unabhängigkeit vom Augenschein des Vordergrundes, als sie unter
Historikern bisher üblich war, die sich nie hätten träumen lassen, daß
der Protestantismus in der dionysischen Bewegung sein Gegenbild findet
und daß der englische Puritanismus im Abendlande dem Islam in der
arabischen Welt entspricht.

Aus diesem Aspekte ergibt sich eine Möglichkeit, die weit über den
Ehrgeiz aller bisherigen Geschichtsforschung hinausgeht, die sich im
wesentlichen darauf beschränkte, Vergangnes, soweit man es kannte,
sukzessiv zu ordnen: Die Gegenwart als Grenze der Untersuchung zu
überschreiten und auch die +noch nicht+ abgelaufenen Phasen
der Geschichte nach Typus, Tempo, Sinn, Resultat zu bestimmen, aber
auch längst verschollene und unbekannte Epochen, ja ganze Kulturen
der Vergangenheit an der Hand morphologischer Zusammenhänge zu
rekonstruieren (ein Verfahren, das dem der Paläontologie nicht
unähnlich ist, die heute imstande ist, aus einem einzigen aufgefundenen
Schädelfragment weitgehende und sichere Angaben über das Skelett und
die Zugehörigkeit des Exemplars zu einer bestimmten Art zu machen).

Es ist, den physiognomischen Takt vorausgesetzt, durchaus möglich,
aus zerstreuten Details der Ornamentik, Bauweise, Schrift, aus
vereinzelten Daten politischer, wirtschaftlicher, religiöser Natur
die organischen Grundzüge des Geschichtsbildes ganzer Jahrhunderte
wiederzufinden, aus Einzelheiten der künstlerischen Formensprache
etwa die gleichzeitige Staatsform, aus mathematischen Prinzipien den
Charakter der entsprechenden wirtschaftlichen abzulesen, ein echt
goethesches, auf Goethes Idee vom +Urphänomen+ zurückführendes
Verfahren, das in beschränktem Umfange der vergleichenden Tier- und
Pflanzenkunde geläufig ist, das sich aber in einem nie geahnten Grade
auf den gesamten Bereich der Historie ausdehnen läßt.


Fußnoten:

[Footnote 33: Das Antihistorische als Ausdruck einer entschieden
systematischen Veranlagung ist vom Ahistorischen sehr zu unterscheiden.
Der Anfang des 4. Buches der „Welt als Wille und Vorstellung“ (§ 53)
ist bezeichnend für einen Menschen, der antihistorisch denkt, d. h. aus
theoretischen Gründen das Historische in sich, das +vorhanden+
ist, unterdrückt und verwirft im Gegensatz zur ahistorischen
hellenischen Natur, die es nicht +hat+ und nicht +kennt+.]

[Footnote 34: „Es gibt Urphänomene, die wir in ihrer göttlichen Einfalt
nicht stören und beeinträchtigen sollen“ (Goethe).]

[Footnote 35: Es ist nicht die des zoologischen „Pragmatismus“ der
Darwinisten mit seiner Jagd nach Kausalzusammenhängen, sondern die
intuitive Goethes.]

[Footnote 36: Ich mache hier nur auf den Abstand der drei punischen
Kriege und auf die ebenfalls rein rhythmisch zu begreifende Reihe
des spanischen Erbfolgekrieges, der Kriege Friedrichs des Großen,
Napoleons, Bismarcks und des Weltkriegs aufmerksam.]

[Footnote 37: Aus diesem früh gefühlten Zusammenhang stammt die
Überzeugung primitiver Völker, daß die Seele des Großvaters im Enkel
zurückkehre. Daher schreibt sich die allgemeine Sitte, dem Enkel den
+Namen+ des Großvaters zu geben, der mit seiner mystischen Kraft
dessen Seele wieder in die Körperwelt bannt.]

[Footnote 38: Es ist nicht überflüssig hinzuzufügen, daß diese
+reinen Phänomene+ der lebendigen Natur fernab von allem Kausalen
liegen und daß der Materialismus ihr Bild erst durch die Projektion
utilitarischer Tendenzen verderben mußte, ehe er es zum +System+
hergerichtet hatte. Goethe, der vom Darwinismus ungefähr so viel
vorweggenommen hat, als in fünfzig Jahren von ihm übrig sein wird,
schaltet das Kausalitätsprinzip +ganz+ aus. Es kennzeichnet das
ursachen- und zwecklose wirkliche Leben, daß die Darwinisten das Fehlen
des Prinzips hier gar nicht bemerkt haben. Der Begriff des Urphänomens
läßt keinerlei kausale Annahmen zu, man müßte ihn denn erst mechanisch
mißverstehen.]




II

SCHICKSALSIDEE UND KAUSALITÄTSPRINZIP


9

Dieser Gedankengang erschließt endlich den Blick auf einen
Gegensatz, der den Schlüssel zu einem der ältesten und mächtigsten
Menschheitsprobleme bildet, das erst durch ihn zugänglich und -- soweit
das Wort überhaupt einen Sinn hat -- lösbar erscheint. Ich meine den
Gegensatz von +Schicksalsidee+ und +Kausalitätsprinzip+,
der niemals bisher als solcher, in seiner tiefen, weltgestaltenden
Notwendigkeit erkannt worden ist.

Wer überhaupt versteht, inwiefern man die Seele als die +Idee des
Daseins+ bezeichnen kann, der wird auch ahnen, wie nahe verwandt
ihr die +Gewißheit eines Schicksals+ ist und inwiefern das Leben
selbst, das ich die Gestalt nannte, in welcher die Verwirklichung des
Möglichen sich vollzieht, als gerichtet, als schicksalhaft empfunden
werden muß -- dumpf und ängstigend vom Urmenschen, klar und in der
Fassung einer +Weltanschauung+, die allerdings nur durch das
Medium von Kunst und Religion, nicht durch Beweise und Begriffe
mitteilbar ist, vom Menschen hoher Kulturen.

Jede höhere Sprache hat eine Anzahl Worte, die von einem tiefen
Geheimnis umgeben sind: Geschick, Verhängnis, Zufall, Fügung,
Bestimmung. Keine Hypothese, keine Wissenschaft kann je an das
rühren, was man fühlt, wenn man sich in den Sinn und Klang dieser
Worte versenkt. Es sind Symbole, nicht Begriffe. Hier ist der
Schwerpunkt des Weltbildes, das ich Geschichte im Unterschiede von
Natur genannt habe. Die Schicksalsidee verlangt Lebenserfahrung,
nicht wissenschaftliche Erfahrung, Tiefe, nicht Geist. Es gibt eine
+organische Logik+, eine Logik des Lebens im Gegensatz zu einer
+Logik des Anorganischen+ und Starren. Es gibt eine Logik der
Richtung gegenüber einer Logik des Ausgedehnten. Kein Systematiker,
kein Kant oder Schopenhauer hat mit ihr etwas anzufangen gewußt.
Sie verstehen von Urteil, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung
zu reden, aber sie schweigen von dem, was in den Worten Hoffnung,
Glück, Verzweiflung, Reue, Ergebenheit, Trotz liegt. Wer hier, im
Lebendigen, Gründe und Folgen sucht und wer da glaubt, daß ein inneres
Wissen um den Sinn des Lebens gleichbedeutend mit Fatalismus und
Prädestination sei, der weiß gar nicht, wovon die Rede ist, der hat
schon das Erlebnis mit dem Erkannten und Erkennbaren verwechselt.
Kausalität ist das Verstandesmäßige, Gesetzhafte, Aussprechbare, die
Form äußerer intellektueller Erfahrung. Schicksal ist das Wort für
eine nicht zu beschreibende innere Gewißheit. Man macht das Wesen des
Kausalen deutlich durch ein physikalisches oder erkenntniskritisches
System, durch Zahlen, durch begriffliche Analysen. Man teilt die Idee
eines Schicksals nur als Künstler mit, durch ein Porträt, durch eine
Tragödie, durch Musik. Das eine fordert eine +Zergliederung+, das
andre eine +Schöpfung+. Darin liegt die Beziehung des Schicksals
zum Leben, der Kausalität zum Tode.

In der Schicksalsidee offenbart sich die Weltsehnsucht einer Seele, ihr
Wunsch nach dem Licht, dem Aufstieg, nach Vollendung und Verwirklichung
ihrer Bestimmung. Sie ist keinem Menschen ganz fremd, und erst der
späte Mensch der großen Städte mit seinem Tatsachensinn und der Macht
seines mechanisierenden Intellekts über das Innenleben verliert
sie aus den Augen, bis sie in einer tiefen Stunde mit furchtbarer,
alle Kausalität der Weltoberfläche zermalmender Deutlichkeit vor
ihm steht. Denn das Kausalitätsprinzip ist spät, selten und nur dem
energischen Intellekt hoher Kulturen ein sichrer, gewissermaßen
künstlicher Besitz. Aus ihm redet schon die Weltangst. In ihm bannt
sie das Dämonische in eine Notwendigkeit von dauernder Geltung, die
starr und +entseelend+ über das physikalische Weltbild gebreitet
ist. Kausalität deckt sich mit dem Begriff des Gesetzes. Es gibt
+nur+ Kausalgesetze. Aber wie im Kausalen nach Kants Feststellung
eine +Notwendigkeit des wachen Denkens+ liegt, die +Form
seiner Rezeptivität der Welt gegenüber+, so bezeichnen die Worte
Schicksal, Fügung, Bestimmung eine +Notwendigkeit des Lebens+.
Wirkliche Geschichte hat Schicksal, aber keine Gesetze. Es gibt keine
Übergänge zwischen +Organismus+ und +Mechanismus+. Darin
liegt die große Schwierigkeit, sich verständlich zu machen. Denn schon
der Versuch, den Unterschied beider Welten sprachlich klarzustellen
-- leitet unvermerkt vom Leben hinüber zur Sphäre des Kausalen. Die
Sprache selbst ist von kausaler Struktur. Sie mechanisiert, indem sie
erklärt.

Wer das +Element+ der Empfindungswelt zergliedert, indem er es
+erkennt+, durch das Medium der +kausalen Erfahrung+ sich
aneignet, es aus dem Zusammenhange eines mechanischen Ganzen deutet,
wer also alles lebendige Werden dem starr Gewordenen einordnet, wird
mit Notwendigkeit die ganze Summe des Daseins aus der Perspektive
von Ursache und Wirkung übersehen, ohne inneres Gerichtetsein, ohne
Geheimnis. Hier liegt der Machtbereich der „Kategorien des Verstandes“,
die Kant mit Recht für a priori wirksam hielt, Formen des exakten
Erkennens, welche eine Oberflächenwelt, ein +Natursystem+,
einen Reflex des Geistes erzeugen. Wer aber, wie Goethe, wie beinahe
jeder Mensch in gewissen Augenblicken seines Daseins, die Umwelt
als ein Lebendiges anschaut, das Gewordene als Werden nachfühlt,
die Weltmaske der Kausalität lüftet, für den ist die +Zeit+
plötzlich kein Rätsel mehr, kein Begriff, keine Dimension, sondern
etwas innerlich Gewisses, das Schicksal selbst; ihr Gerichtetsein,
ihre +Nichtumkehrbarkeit+, ihre Lebendigkeit erscheint als der
+Sinn+ des historischen Weltaspekts. +Schicksal und Kausalität
verhalten sich wie Zeit und Raum.+

In beiden +möglichen+ Weltbildungen -- wir erinnern uns indessen,
daß sie die Pole einer Skala von unendlich vielen individuellen
„Welten“ darstellen -- in Geschichte und Natur, der +Physiognomie
alles Werdens+ und dem +System alles Gewordenen+, herrschen
also Schicksal +oder+ Kausalität. Zwischen ihnen besteht der
Unterschied eines Lebensgefühls und einer Erkenntnisform. Jedes von
ihnen ist der Ausgangspunkt einer +vollkommenen+ und in sich
+geschlossenen+, nur nicht der +einzigen+ Welt.

Aber das Werden liegt dem Gewordenen, das innere und gewisse
+Gefühl+ eines Schicksals mithin dem +Begriff+ von Ursache
und Wirkung zugrunde. Kausalität ist -- wenn man sich so ausdrücken
darf -- gewordenes, entorganisiertes, in den Formen des Verstandes
erstarrtes Schicksal. Das Schicksal selbst, an dem alle Erbauer
verstandesmäßiger Weltsysteme wie Kant schweigend vorübergegangen
sind, weil sie das Leben mit ihren Abstraktionen nicht zu berühren
vermochten, steht jenseits und außerhalb aller begriffenen Natur.
Als das Ursprüngliche aber gibt es dem toten und starren Prinzip von
Ursache und Wirkung erst die -- historische -- Möglichkeit, innerhalb
hochentwickelter Kulturen als geistige Weltform aufzutreten. Das
Dasein der antiken Seele ist die +Bedingung+ für die Entstehung
der Physik Demokrits und das der faustischen für die Mechanik
Newtons. Man kann sich sehr wohl denken, daß beide Kulturen ohne eine
Naturwissenschaft eignen Stils geblieben wären, aber man kann sich
beide Systeme nicht ohne den Untergrund jener Kulturen denken.

Hier liegt ein neuer Beweis für die Richtigkeit des Antagonismus von
Geschichte und Natur vor. Es ist die Art, wie sie -- als Weltbilder
-- einander einschließen und unterordnen. Gesetzt, daß „Geschichte“
diejenige Art der Weltfassung ist, welche gefühlsmäßig das Gewordene
dem Werden, das Ausgedehnte der Zeit einordnet, so müßte dies auch mit
der Natur der Fall sein. Und in der Tat, für den Blick des historisch
eingestellten Menschen gibt es nur eine +Geschichte+ der
+Physik+. All ihre Systeme erscheinen ihm jetzt nicht richtig oder
unrichtig, sondern historisch, psychologisch, durch den Charakter der
Epoche bedingt und ihn mehr oder weniger vollkommen repräsentierend.
Selbst der geborene Physiker, der in der Einleitung seines Buches
einen flüchtigen historischen Überblick über seine Wissenschaft gibt,
hier also für einen Augenblick die „andre Welt“ heraufruft, fühlt
plötzlich so, daß er unvermerkt das Fundament seiner Wissenschaft, das
Postulat der einen und unveränderlichen Wahrheit, in Frage stellt.
Wäre seine Natur +die+ Natur, so könnte es keine Geschichte der
Systeme geben. Aber der Physiker redet sogar vom +Schicksal+ eines
Problems. Umgekehrt: Ist „Natur“ die Fassung, welche verstandesmäßig
das Werden dem Gewordenen einverleiben möchte, die lebendige Richtung
also der starren Ausdehnung angleicht (dies ist der Ursprung des
+Bewegungsproblems samt dem Grunde seiner Unlösbarkeit+), so darf
die Geschichte bestenfalls in einem Kapitel der Erkenntnistheorie
erscheinen und wirklich, so hätte Kant sie aufgefaßt, wenn er nicht,
was noch bezeichnender ist, sie in seinem Erkenntnissystem vollständig
vergessen hätte. Für ihn wie für jeden geborenen Systematiker war
die Natur +die+ Welt; indem er von der Zeit redete, ohne deren
+Richtung+ und Nichtumkehrbarkeit zu bemerken, verriet er, daß
er von der Natur sprach, ohne die Möglichkeit einer andern Welt, der
historischen -- die +für ihn+ vielleicht wirklich unmöglich war --
zu ahnen.

+Aber Kausalität hat mit Zeit gar nichts zu tun.+ Das wirkt
heute als ungeheures Paradoxon, vor einer Welt von Kantianern, die
gar nicht wissen, wie sehr sie es sind. Wie die Doppelgestalt des
seelischen Urgefühls, Weltsehnsucht und Weltangst, eine Bejahung
oder Verneinung des wachen Daseins und der in ihm sich offenbarenden
fremden Mächte bedeutet, wie die Angst ein Widerspruch gegen die
ursprünglichere, kindlichere Form der Sehnsucht ist, +aus ihr+
erwachsen und +an ihr+ gestaltet und gereift, so hat man den
Gegensatz von Richtung und Ausdehnung -- mit seiner dunklen Beziehung
zu Leben und Tod -- zu verstehen. Im Wesen des Ausgedehnten liegt eine
Verneinung der Richtung. Der Raum widerspricht der Zeit, +obwohl
sie ihm voraufgeht und zugrunde liegt+. Dieselbe Priorität nimmt
das Schicksal in Anspruch. Wir haben zunächst die Idee des Schicksals
und erst +im Widerspruch+ zu ihr, aus der Angst geboren, als den
Versuch des Verstandes, das unentrinnbare Ende, den Tod, zu bannen,
zu überwinden, das Kausalitätsprinzip, durch das die Lebensangst
sich des Schicksals zu +erwehren+ sucht, indem sie ihm zum
Trotz +eine andre Welt gründet+. Indem sie das Gespinst von
Ursache und Wirkung über deren sinnliche Oberfläche breitet, hat
sie ein Bild der +Dauer+ imaginiert. Diese Tendenz liegt in
dem allen reifen Kulturen bekannten Gefühl: Wissen ist Macht. Damit
ist die Macht über das Schicksal gemeint. Der abstrakte Gelehrte,
der Naturforscher, der Denker in Systemen, dessen ganze geistige
Existenz sich auf das Kausalitätsprinzip gründet, ist eine späte
Erscheinung des +Hasses+ gegen die Mächte des Schicksals, des
Unbegreiflichen. Die „reine Vernunft“ leugnet alle Möglichkeiten außer
sich. Hier liegt das strenge Denken mit der großen Kunst ewig im
Streite. Das eine lehnt sich auf, die andre gibt sich hin. Ein Mann
wie Kant wird sich Beethoven immer überlegen fühlen wie der Mann dem
Kinde, aber er wird Beethoven nicht hindern, die „Kritik der reinen
Vernunft“ als eine armselige Art von Weltbetrachtung abzulehnen. Der
Mißbegriff der +Teleologie+, dieser Unsinn allen Unsinns innerhalb
der reinen Wissenschaft, bedeutet nichts anderes als den Versuch,
den +lebendigen+ Gehalt aller naturhaften Erkenntnis -- denn
zum Erkennen gehört auch ein Erkennender; und ist der +Inhalt+
dieses Denkens „Natur“, so ist der +Akt+ des Denkens Geschichte
-- und mit ihm das Leben selbst durch das mechanistische Prinzip
einer umgekehrten Kausalität zu bannen, zu +assimilieren+. Die
Teleologie ist eine Karikatur der Schicksalsidee. Was Dante als
+Bestimmung+ fühlt, verwandelt der Verstand in einen +Zweck+
des Lebens. Dies ist die eigentliche und tiefste Tendenz des
Darwinismus, einer großstädtisch intellektuellen Weltfassung in der
abstraktesten aller Zivilisationen und der aus +einer+ Wurzel
mit ihm entspringenden, ebenfalls alles Organische und Schicksalhafte
tötenden materialistischen Geschichtsauffassung. Deshalb ist das
morphologische Element des Kausalen ein +Prinzip+, das des
Schicksals aber eine +Idee+ -- die sich nicht „erkennen“,
beschreiben, definieren, die sich nur fühlen und innerlich erleben
läßt, die man entweder niemals begreift oder deren man völlig
gewiß ist, wie der frühe Mensch und unter den späten alle wahrhaft
bedeutenden, der Gläubige, der Liebende, der Künstler, der Dichter.

Und so erscheint das Schicksal als die eigentliche Daseinsart des
+Urphänomens+, in dem vor dem geistigen Auge sich die lebendige Idee
des Werdens unmittelbar entfaltet. So beherrscht die Schicksalsidee
das gesamte Weltbild der Geschichte, während alle Kausalität, welche
die Daseinsart von +Gegenständen+ bezeichnet, welche den gegenwärtigen
Empfindungsinhalt zu wohlunterschiedenen und abgegrenzten +Dingen+,
+Eigenschaften+, +Verhältnissen+ prägt, als Form des Verstandes dessen
alter ego, die gewordene Natur bildet.

Organismen lassen sich als werdend oder als geworden betrachten.
Ich darf von Gesetzen, von Ursache und Wirkung im erfahrungsmäßig
erkennbaren Bau von Pflanzen und Tieren reden, solange ich sie nämlich
als Elemente im sinnlich-augenblicklichen Ganzen der mechanischen
Umwelt erfasse. Dann ist sogar das Goethe so verhaßte Experiment
logisch und zulässig. Aber die Anatomie und Physiologie mit der
stofflichen Natur als Objekt berühren nichts von der +andern+ Welt,
von den Schicksalen der einzelnen Pflanzen und Tiere, ihrer Gattungen
und ganzer Klassen und Reiche. Hier handelt es sich nicht darum,
was sie sind, sondern was aus ihnen wird. Jeder Grashalm, jedes
Insekt hat nicht nur eine Natur, sondern auch eine Geschichte. Hier
darf ich, vor einem Weltbilde andrer Ordnung, von einem Schicksal
sogar in der Physik reden. Es liegt ein großer Sinn in dem Worte vom
„Schicksal einer wissenschaftlichen Entdeckung“, etwa der mechanischen
Wärmetheorie. Ein Blitzschlag bleibt im Zusammenhang der Historie
immer ein Schicksalsmoment wie jener, der im Leben Luthers die
entscheidende Wendung herbeiführte, mag er als nicht individuelles
Ereignis, sondern als prinzipiell beständig möglicher Vorgang ebenso
notwendig auch dem Mechanismus des elektrodynamischen Naturbildes
angehören. Den antiken Menschen +vorausgesetzt+, kann man seine
„Natur“, die für ihn allein vorhandene und wahre Natur, analysieren.
Das hat Demokrit getan. Aber eben in dieser Voraussetzung liegt das
Schicksalsmoment, von dem das Dasein einer Natur, eines Weltbildes
abhängig ist. Es ist Schicksal, daß durch Newton sich eine dynamische
Weltfassung aus der Struktur des abendländischen Geistes entwickelt
hat. Dieser in sich geschlossene, höchst überzeugende Komplex
„unumstößlicher Wahrheiten“ ist in einem sehr bedeutsamen Sinne von dem
Entwicklungsgang, den allgemeinen, nationalen und privaten Schicksalen,
der Lebensdauer dieser nordischen Seele abhängig, nicht umgekehrt.
Jeder große Physiker, der als Persönlichkeit seinen Entdeckungen doch
immer eine eigene Richtung und Farbe gibt, jede Hypothese, die ohne
einen individuellen Beigeschmack ganz unmöglich ist, jedes Problem,
das in die Hände gerade dieses und keines andern Forschers geriet,
bedeuten ebenso viele Schicksalsfügungen für die Gestalt, welche
die Lehre zuletzt erhalten hat. Wer das bestreitet, der ahnt nicht,
wieviel Bedingtes in den absoluten Momenten der Mechanik steckt.
Der berühmte musikalische Streit der Gluckisten und Piccinisten ist
das genaue Seitenstück der großen Kontroversen auf dem Gebiete der
optischen und elektrodynamischen Theorien (Newton und Huygens, J.
R. Mayer und Thomson). Es handelt sich um Stilfragen, das heißt um
+Alles+, um das gesamte Naturbild. Es gibt physikalische Systeme, wie
es Tragödien und Sinfonien gibt. Es gibt hier Schulen, Traditionen,
Manieren, Konventionen wie in der Malerei. Man kann sich das Moment des
Schicksals aus dem lebendigen Weltwerden nicht fortdenken, mag es sich
um einen Schmetterling oder eine Kultur handeln. Leben, Sein und ein
Schicksal haben -- das fließt zusammen. Aber man fühlt das Zwingende
der Vorstellung, daß jede aus dem Kausalprinzip konstruierte Welt,
jede +Natur+ -- und jede reifgewordene Kultur hat da ihre +eigne+ und
sogar „allein richtige“ -- irgendwie nur im Geiste und für den Geist
da ist, der sie als +seine+ ihm angemessene und komplementäre Form
der Sinnlichkeit dem Gewordnen, Ausgedehnten, Begrenzten auferlegt.
Die dunkle Frage nach den Grenzen der Gültigkeit der Kausalität
oder was nunmehr dasselbe ist, nach den Schicksalen des einzelnen
Naturbildes, erscheint noch rätselhafter, wenn wir zu dem bestimmten
Gefühl gelangen, daß, wie alle seelischen und symbolischen Äußerungen
bestätigen, für den frühen Menschen eine streng kausal geordnete Umwelt
gar nicht existiert und daß wir, späte Menschen, die im wachen Zustande
unter der beständigen Tyrannei eines mechanisierenden Verstandes
stehen, in allen Momenten strenger Aufmerksamkeit -- auch jetzt noch
den einzigen, wo wir tatsächlich eine kausalgesetzliche Außenwelt
im Stile unserer Physik besitzen -- bestenfalls +behaupten+ können,
meilenweit von jeder Möglichkeit eines Beweises entfernt, daß auch
„damals“, also außerhalb jener für uns bindenden Momente, das Prinzip
der Kausalität geherrscht haben muß -- was nichts anderes heißen will,
als daß wir unser +Gedächtnisbild+ von dem „Weltall“ jener Zeiten
und Menschen dem +Augenblicksbilde+ der gegenwärtigen, +eignen+,
mechanischen Natur unterwerfen. Der frühe Mensch geht keineswegs so
weit, daß er +sein+ Weltbild ganz unpersönlich, gewissermaßen im Namen
der ganzen Menschheit, empfängt, und sein Gefühl ist ohne Zweifel, als
ein historisches, das ursprünglichere und echtere.


10

Erst aus dem Weltgefühl der Sehnsucht und dessen Verdeutlichung in
der Schicksalsidee wird nunmehr das +Zeitproblem+ zugänglich, dessen
Gehalt, soweit er das Thema des Buches berührt, kurz angedeutet
werden soll. Mit dem Worte Zeit wird immer etwas höchst Persönliches
aufgerufen, das, was anfangs als das +Eigne+ bezeichnet worden war,
insofern es mit innerer Gewißheit als Gegensatz zu etwas +Fremdem+
empfunden wird, das in, mit und unter den Wirkungen der Sinnenwelt
sich in das Leben einmischt. Das Eigne, das Schicksal, die Zeit sind
alternierende Worte.

Das Problem der Zeit ist wie das des Schicksals von allen auf die
Systematik des Gewordenen beschränkten Denkern mit vollkommenem
Unverständnis behandelt worden. In Kants berühmter Theorie ist von
dem Merkmal des +Gerichtetseins+ der Zeit mit keinem Worte die
Rede. Man hat Äußerungen darüber nicht einmal vermißt. Aber was ist
das -- Zeit als Strecke, Zeit ohne Richtung? Alles Lebendige besitzt
-- hier kann ich mich nur wiederholen -- „+Leben+“, Richtung,
Streben, Wollen, eine mit der Sehnsucht aufs tiefste verwandte
+Bewegtheit+, die mit der „Bewegung“ des Physikers nicht das
geringste zu tun hat. Das Lebendige ist unteilbar und nicht umkehrbar,
einmalig, nie zu wiederholen und in seinem Verlaufe mechanisch völlig
unbestimmbar: das alles gehört zur Wesenheit des Schicksals. Und „Zeit“
-- das, was man beim Klang des Wortes wirklich +fühlt+, was Musik
besser verdeutlichen kann als Worte -- hat im Unterschiede vom toten
Raume diesen +organischen+ Charakter. Damit aber verschwindet die
von Kant und allen andern geglaubte Möglichkeit, die Zeit +neben dem
Raume+ einer parallelen erkenntnistheoretischen Erwägung unterwerfen
zu können. Raum ist ein +Begriff+. Zeit ist ein Wort, um etwas
Unbegreifliches anzudeuten, ein Wort, das man völlig mißversteht,
wenn man es ebenfalls als Begriff wissenschaftlich behandelt. Selbst
das Wort Richtung, das sich nicht ersetzen läßt, ist geeignet, durch
seinen optischen Gehalt irrezuführen. Der Vektorbegriff der Physik ist
ein Beweis dafür.

Dem Urmenschen kann das +Wort+ „Zeit“ nichts bedeuten. Er lebt,
ohne es durch den Gegensatz zu etwas anderem nötig zu haben. Er hat
Zeit, aber er +weiß+ nichts von ihr. Erst der Geist hoher Kulturen
entwirft unter dem mechanisierenden Eindruck einer „Natur“, aus dem
Bewußtsein eines streng geordneten Räumlichen, Meßbaren, Begrifflichen
das Phantom einer Zeit, das seinem Bedürfnis, alles zu begreifen,
zu messen, kausal zu ordnen, genügen soll. Und dieser instinktive
Akt, der in jeder Kultur sehr früh erscheint, ein Zeichen verlorner
Unschuld des Daseins, schafft jenseits des echten Lebensgefühls das,
was alle Kultursprachen Zeit nennen und was dem erkennenden Geiste zu
einer anorganischen ebenso irreführenden als geläufigen Größe geworden
ist. Bedeuten aber die identischen Phänomene der Ausdehnung, Grenze
und Kausalität eine Beschwörung und Bannung der fremden Mächte durch
das Seelentum -- Goethe spricht einmal von „dem Prinzip verständiger
Ordnung, das wir in uns tragen, das wir als Siegel unserer Macht
auf alles prägen möchten, was uns berührt“ -- ist alles Gesetz eine
Fessel, welche die Weltangst dem zudrängenden Sinnlichen anlegt, eine
tiefe Notwehr des Lebens, so ist die Konzeption der Zeit als einer
+Größe+ innerhalb dieses Zusammenhangs ein später Akt derselben
Notwehr, ein Versuch, das quälende innere Rätsel, doppelt quälend für
den zur Herrschaft gelangten Verstand, dem es widerspricht, durch die
Kraft des +Begriffes+ zu bannen. Es liegt immer ein feiner Haß in
dem geistigen Akte, durch den etwas in den Bereich und die Formenwelt
des Maßes und Gesetzes gezwungen wird. Man +tötet+ das Lebendige
durch die Einbeziehung in den Raum, der leblos ist und leblos macht. In
der Geburt liegt der Tod, in der Verwirklichung die Vergänglichkeit.
Dies war der Sinn der eleusinischen Mysterien und ihrer Peripetie von
der Klage zum Jubel, die Äschylus, der aus Eleusis stammte, später
in die attische Tragödie eingeführt hat.[39] Es +stirbt+ etwas
im Weibe, wenn es empfängt. Der ewige, aus der Weltangst geborene
Haß der Geschlechter hat hier seinen Grund. Der Mensch vernichtet in
einem sehr tiefen Sinne, indem er zeugt: durch leibliche Zeugung in
der sinnlichen, durch „+Erkennen+“ in der +geistigen+ Welt.
Dieser Zusammenhang war dem mythischen Gefühl primitiver Zeitalter
nicht unbekannt. Noch bei Luther hat das Wort erkennen den Nebensinn
der geschlechtlichen Zeugung (Adam „erkannte“ sein Weib --). Etwas beim
Namen nennen heißt Macht darüber gewinnen: dies ist ein wesentlicher
Teil urmenschlicher Zauberkünste. Man schwächte oder tötete seinen
Feind, indem man mit dessen Namen gewisse magische Prozeduren vornahm.
Etwas von diesem frühesten Ausdruck der Weltangst hat sich in der
Sucht aller systematischen Philosophie erhalten, das Unfaßliche, dem
Geist Allzumächtige durch Begriffe, wenn es nicht anders ging, durch
bloße Namen abzutun. „Philosophie“, die +Liebe+ zur Weisheit, ist
die Furcht und der +Haß+ gegen das Unbegreifliche. Was benannt,
begriffen, gemessen ist, ist überwältigt, starr, „tabu“ geworden.
Noch einmal: „Wissen ist Macht.“ Hier liegt die tiefste Wurzel des
Unterschiedes idealistischer und realistischer Weltanschauungen. Er
entspricht dem Doppelsinn des Wortes „scheu“. Die einen entspringen
aus der scheuen Ehrfurcht, die anderen aus dem Abscheu vor dem
Unzugänglichen. Die einen schauen an, die anderen wollen unterwerfen,
mechanisieren, unschädlich machen. Plato und Goethe nehmen das
Geheimnis hin, Aristoteles und Kant wollen es vernichten. Das tiefste
Beispiel für diesen Hintersinn alles Realismus bietet das Zeitproblem.
Das Unheimliche der Zeit, das Leben selbst soll hier beschworen, durch
die Magie der Begrifflichkeit vernichtet werden.

Alles, was in der „wissenschaftlichen“ Philosophie, Psychologie,
Physik über die Zeit gesagt worden ist -- eine vermeintliche Antwort
auf die Frage, die nicht hätte gestellt werden sollen: was nämlich
die Zeit „+ist+“ -- betrifft niemals das Geheimnis selbst, sondern
lediglich ein räumlich gestaltetes, stellvertretendes Phantom, in
dem die Lebendigkeit der Richtung, ihre eigenmächtige Bewegtheit
durch die abstrakte Vorstellung einer +Strecke+ ersetzt worden
ist, ein mechanisches, meßbares, teilbares und umkehrbares Abbild
des in der Tat nicht Abzubildenden; eine Zeit, die mathematisch in
Ausdrücke wie √̅t, t^2, -t gebracht werden kann, welche die Annahme
einer Zeit von der Größe Null oder negativer Zeiten wenigstens nicht
ausschließen. Die moderne Relativitätstheorie, welche im Begriff
steht, die Mechanik Newtons -- im Grunde bedeutet das: seine Fassung
des +Bewegungsproblems+ -- zu stürzen, läßt Fälle zu, in welchen die
Bezeichnungen „früher“ und „später“ sich umkehren; die mathematische
Begründung dieser Theorie (durch Minkowski) wendet +imaginäre+
Zeiteinheiten zu Maßzwecken an. Ohne Zweifel kommt hier der Bereich
des Lebens, des Schicksals, der lebendigen, +historischen+ Zeit
gar nicht in Frage. Man setze in irgendeinem philosophischen oder
physikalischen Text für Zeit das Wort Schicksal ein und man wird
plötzlich fühlen, wohin sich der Verstand verirrt hat und wie unmöglich
die Gruppe „Raum und Zeit“ ist. Was nicht erlebt und gefühlt, was
nur +gedacht+ wird, nimmt notwendig +räumliche+ Qualitäten an. Die
physikalische und die Kantische Zeit ist eine +Linie+. Ihre organische
Bewegtheit, ihr seelenhafter Gehalt sind in den Formeln und Begriffen
verschwunden. So erklärt es sich, daß kein systematischer Philosoph mit
den Begriffen Vergangenheit und Zukunft etwas hat anfangen können. In
Kants Ausführungen über die Zeit kommen sie gar nicht vor. Man sieht
auch nicht, in welcher Beziehung sie zu dem stehen sollten, was er
dort behandelt. Damit erst wird es möglich, „Raum und Zeit“ als Größen
+derselben Ordnung+ in funktionale Abhängigkeit voneinander zu bringen,
wie dies besonders deutlich die vierdimensionale Vektoranalysis zeigt.
(Die Dimensionen sind _x_, _y_, _z_ und _t_, die in Transformationen
völlig gleichwertig erscheinen.) Schon Lagrange nannte (1813) die
Mechanik ohne weiteres eine vierdimensionale Geometrie und selbst
Newtons vorsichtiger Begriff des _tempus absolutum sive duratio_
entzieht sich nicht dieser +denknotwendigen+ Verwandlung des Lebendigen
in bloße Ausdehnung. Eine einzige tiefe und ehrfürchtige Bezeichnung
der Zeit habe ich in der älteren Philosophie gefunden. Sie steht bei
Augustinus (Conf. XI, 14): _Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti
explicare velim, nescio._

Der Mißgriff, „Raum und Zeit“ als morphologisch gleichartiges
Größenpaar der Betrachtung zu unterwerfen, schließt jedes Verständnis
des wahren Zeitproblems aus. Schon wenn neuere Philosophen -- sie tun
es alle -- sich der Wendung bedienen, daß die Dinge „+in der Zeit+“
wie im Raume sind und nichts „außerhalb“ ihrer „gedacht“ werden
könne, imaginieren sie lediglich eine zweite Räumlichkeit neben der
gewöhnlichen. Man könnte mit gleichem Rechte zwei „Kräfte“ wie den
Magnetismus und die Hoffnung gemeinsam abhandeln wollen. Es hätte
Kant, als er von den „beiden Formen“ der Anschauung sprach, doch
nicht entgehen sollen, daß man sich wissenschaftlich bequem über
den Raum verständigen kann -- wenn auch nicht ihn im landläufigen
Sinne +erklären+, was jenseits des wissenschaftlich Möglichen liegt
-- während eine Betrachtung in demselben Stil der Zeit gegenüber
völlig versagt. Der Leser der „Kritik der reinen Vernunft“ und der
„Prolegomena“ wird bemerken, daß Kant für den Zusammenhang von Raum
und Geometrie einen sorgfältigen Beweis liefert, es aber peinlich
vermeidet, dasselbe für Zeit und Arithmetik zu tun. Hier bleibt
es bei der +Behauptung+, und die ständig wiederholte Analogie der
Begriffe täuscht über die Lücke hinweg, deren +Unausfüllbarkeit+ die
Unhaltbarkeit seines Schemas offenbart hätte. Das begrifflich-exakte
Denken deckt sich durchaus mit dem Bereich des Gewordenen und
Ausgedehnten. Raum, Gegenstand, Zahl, Begriff, Kausalität sind so
eng verschwisterte Formelemente, daß es unmöglich ist, wie unzählige
verfehlte Systeme beweisen, das eine unabhängig vom andern zu
untersuchen. Die Logik ist ein Abbild der jeweiligen Mechanik und
umgekehrt. Das Denkvermögen, dessen Struktur die mechanistische
Psychologie beschreibt, ist ein Abbild der jeweiligen Raumwelt,
wie sie die Physik behandelt. Begriffe -- man beachte die Herkunft
des Wortes von „begreifen“, in die Hand nehmen -- sind körperhafte
Werte; Definitionen, Urteile, Schlüsse, Systeme, Klassifikationen
sind Formelemente einer inneren Räumlichkeit, sind etwas so mit Optik
Gesättigtes, daß der Reiz, den Denkprozeß unmittelbar graphisch und
tabellarisch, d. h. +räumlich+ darzustellen -- man denke an Kants
und Aristoteles’ Kategorientafeln -- gerade den abstrakten Denker
immer wieder überwältigt hat. Wo es am Schema fehlt, da fehlt es an
Philosophie -- das ist das uneingestandene Vorurteil aller zünftigen
Systematiker gegenüber den „Anschauenden“, denen sie sich innerlich
weit überlegen fühlen. Deshalb nannte Kant den Stil des platonischen
Denkens ärgerlich „die Kunst, wortreich zu schwatzen“ und deshalb
schweigt der Kathederphilosoph noch heute über Goethes Philosophie.
Jede logische Operation läßt sich +zeichnen+. Jedes System ist eine
+geometrische Art+, Gedanken zu handhaben. Deshalb hat die Zeit in
einem abstrakten System keinen Platz oder sie fällt seiner Methode zum
Opfer.

Damit ist auch das allverbreitete populäre Mißverständnis widerlegt,
welches die Zeit mit der Arithmetik, den Raum mit der Geometrie in eine
höchst triviale Verbindung bringt, ein Irrtum, dem Kant nicht hätte
erliegen sollen, wenn man auch von Schopenhauers Verständnislosigkeit
für Mathematik kaum etwas anderes erwartet. Weil der lebendige Akt
des +Zählens+ mit der Zeit irgendwie in Berührung steht, hat man
immer wieder -- auf ein Schema versessen -- Zahl und Zeit vermengt.
Aber Zählen ist keine Zahl, so wenig Zeichnen eine Zeichnung ist.
Zählen und Zeichnen sind ein Werden, Zahlen und Figuren sind Gewordnes.
Kant und die andern haben dort den lebendigen Akt (das Zählen), hier
dessen Resultat (die formalen Verhältnisse der fertigen Figur) ins Auge
gefaßt. Das eine gehört in den Bereich des Lebens und der Richtung,
das andre in den der Ausdehnung und Kausalität. Die +gesamte+
Mathematik, populär gesprochen also Arithmetik +und+ Geometrie,
beantworten das +Was+, also die Frage nach der +natürlichen+
Ordnung der Dinge. Im Gegensatz dazu steht die Frage nach dem
+Wann+ der Dinge, die spezifisch +historische+ Frage, die
Frage nach dem Schicksal, der Zukunft, der Vergangenheit. All das liegt
in dem Worte +Zeitrechnung+, das der naive Mensch vollkommen
richtig versteht. Kausalität ist durchaus mit der Zahlenwelt verbunden,
sei es durch das Prinzip der +Funktion+ im Abendlande oder das der
+Größe+ in der Antike. Physik und Mathematik verfließen ineinander
(in der reinen Mechanik). Zeit, Schicksal, Geschichte stehen diesem
Kreise völlig fern. Zu ihnen gehört die Chronologie.

Es gibt keinen Gegensatz von Arithmetik und Geometrie.[40] Jede Idee
einer Zahl -- das wird das erste Kapitel hinlänglich gezeigt haben --
gehört im vollen Umfange dem Bereich des Ausgedehnten und Gewordnen an,
sei es als euklidische Größe, sei es als analytische Funktion. Und in
welches der beiden Gebiete sollten denn die zyklometrischen Funktionen,
der Binomialsatz, die Riemannschen Flächen, die Gruppentheorie gehören?
Kants Schema war durch Euler und d’Alembert schon widerlegt, bevor er
es konzipiert hatte und nur die Unvertrautheit der Philosophen nach
ihm mit der Mathematik ihrer Zeit -- sehr im Gegensatz zu Descartes,
Pascal und Leibniz, welche die Mathematik +ihrer+ Zeit aus den
Tiefen ihrer Philosophie heraus selbst geschaffen haben -- hat es
verschuldet, daß diese teilweise recht schülerhaften Ansichten von
der Beziehung von „Raum und Zeit“ zu „Geometrie und Arithmetik“ sich
kaum angefochten weiter vererbten. Aber es gibt keine Berührung des
Werdens mit irgendeinem Gebiete der Mathematik. Nicht einmal die tief
begründete Annahme Newtons, in dem ein tüchtiger Philosoph steckte,
daß er im Prinzip seiner Differentialrechnung (Fluxionsrechnung) das
Problem des Werdens, das Zeitproblem also -- übrigens in einer viel
feineren als der kantischen Fassung -- unmittelbar in Händen habe,
ließ sich aufrechterhalten, so sehr sie unter Philosophen heute noch
Mode ist. Bei der Entstehung von Newtons Fluxionslehre hatte das
metaphysische Bewegungsproblem eine entscheidende Rolle gespielt. Seit
Weierstraß indessen bewiesen hat, daß es stetige Funktionen gibt, die
nur teilweise oder gar nicht differentiiert werden können, ist dieser
tiefste jemals unternommene Versuch, dem Zeitproblem mathematisch nahe
zu kommen, abgetan.


11

Die Zeit ist ein +Gegenbegriff+. Hier wird zum ersten Male
eine Eigentümlichkeit der logischen Produktivität berührt, die von
höchster Bedeutung ist. Der Intellekt, unfähig, das Schicksalsgefühl
seiner Formenwelt einzugliedern, hat vom Raume aus als dessen
+logisches+ Seitenstück einen Begriff „Zeit“ („Nicht-raum“)
konstruiert. Wir würden weder das Wort noch dessen uns als ständig
denkenden Wesen geläufigen, völlig verfehlten Inhalt besitzen, wenn
nicht der mächtige Drang zum Begreifen (in optische Grenzen bannen) die
Seele verführt hätte. Es folgt daraus, daß der antike Geist, welcher
das Ausgedehnte, wie wir sehen werden, einer ganz andern Symbolik
unterwarf als wir, dementsprechend auch als Zeit sich etwas andres
vorstellte. Aber es läßt sich auf keine Weise begreiflich machen, was
an Stelle unsrer „Zeit“ in analogen Fällen dem apollinischen Menschen
vorschwebte.

Das Raumproblem ist also die +einzige+ Aufgabe aller exakten
Wissenschaft, die sich ausschließlich mit dem Gewordnen beschäftigt,
um dessen immanente Notwendigkeit in Gestalt des mathematisch zu
behandelnden Kausalitätsprinzips restlos zu zergliedern. Es gibt
in diesem Sinne +nur+ Naturwissenschaften, zu denen Logik und
Erkenntnistheorie gehören. Das gemeinsame Gefühlsmoment der Weltangst
und ein identisches Ziel, die Bannung und Beschwörung des Fremden durch
unumstößliche Gesetze verbinden sie. Die wissenschaftlich unzugängliche
Schicksalsidee, die sich hinter dem Worte Zeit verbirgt, gehört in den
Bereich unmittelbarer Erlebnisse und Intuitionen.

In jedem Kunstwerk, das den +ganzen+ Menschen, den +ganzen+
Sinn des Daseins offenbart, liegen Angst und Sehnsucht beieinander.
Die Kunsttheorie hat das wohl gefühlt. Man hat immer wieder als
„+Inhalt+“ dasjenige zu isolieren versucht, was Richtung,
Schicksal, Leben, Sehnsucht, unter „+Form+“ das, was Ausdehnung,
Geist, Grund und Folge, Angst repräsentiert. Das Ausgedehnte, das
gestaltete Material, trägt die elementare Symbolik jeder Kunst. Alles
was Kanon, Schule, Konvention, Technik heißt, alles Begreifliche,
Folgerichtige, Erlernbare, +Zahlenmäßige+ in Linie, Farbe,
Ton, Bau, Ordnung also gehört hierher; die kanonische, von Polyklet
schriftlich niedergelegte Gliederung der nackten Statue, der Innenraum
gotischer Dome und ägyptischer Totentempel, die Kunst der Fuge. Sie
sind alle Arten +einer+ Tektonik. Sie wollen alle etwas Sinnliches
in starre, „+ewige+“, d. h. +zeitlose+ Form bannen.

Die Architektur großen Stils, die allein von allen Künsten das
Fremde und Angsteinflößende selbst, das unmittelbar Ausgedehnte, den
+Stein+ behandelt, ist deshalb die selbstverständliche Frühkunst
aller Kulturen, die erst Schritt für Schritt den geistigeren Künsten
der Statue, des Gemäldes, der Komposition mit ihren indirekten
Formmitteln den Vorrang abtritt. Michelangelo, der von allen großen
Künstlern des Abendlandes unter dem beständigen Alpdruck der
Weltangst wohl am schwersten gelitten hat, ist darum allein von allen
Meistern der Renaissance vom Architektonischen niemals freigeworden.
Er malte sogar, als ob die Farbflächen Stein, Gewordnes, Starres,
+Gehaßtes+ wären. Seine Arbeitsweise war der erbitterte Kampf
gegen die feindseligen Mächte im Kosmos, die in Gestalt des Materials
ihm entgegentraten, während Lionardos, des +Sehnsüchtigen+,
Farben wie eine +freiwillige+ Inkarnation des Seelischen wirken.
In jedem architektonischen Formproblem kommt aber strengste Logik zum
Vertrag, Mathematik sogar, sei es in den antiken Säulenordnungen das
+euklidische+ Verhältnis von +Träger und Last+, sei es in
den „analistisch“ angelegten Fassaden des Barock das dynamische von
+Kraft und Masse+. Die berühmte Kontroverse Kant-Hume über die
Apriorität des Kausalen, aus welcher die „Kritik der reinen Vernunft“
hervorging, ist mit mancher über ein künstlerisches Formproblem
innerlich verwandt. Die Symbolik der Richtung, des Schicksals, aber
steht jenseits aller mechanischen „Technik“ der großen Künste und
ist der formalen Ästhetik kaum zugänglich. Sie liegt zum Beispiel
in dem stets gefühlten, aber nie, weder von Lessing noch von Hebbel
klar gedeuteten Widerspruch antiker und abendländischer Tragik,
in der Szenen+folge+ altägyptischer Reliefs, überhaupt der
+reihenweisen+ Ordnung ägyptischer Statuen, Sphinxe, Tempelsäle,
in der Wahl von Diorit und Basalt, durch welche Dauer und Zukunft
bejaht werden, gegenüber dem Holz frühgriechischer Skulpturen, in der
Geste einer Statue des Phidias, deren eminente Gegenwärtigkeit auch
nur den Gedanken an Vergangenheit und Zukunft abweist, während im
Gegensatz dazu der +Stil+ der Fuge den einzelnen Augenblick im
Unendlichen löst. Wie man sieht, gehört dies alles nicht zur starren
„Technik“, sondern zum „Genie“, nicht zum Können, sondern zum Müssen
des Künstlers, nicht zur mechanischen Form des Geschaffenen, sondern
zum lebendigen Schöpfungsakte selbst. Nicht die Mathematik und das
abstrakte Denken, sondern die Geschichte und die großen Künste -- ich
füge hinzu: der große Mythus -- geben den Schlüssel zum Problem der
Zeit.


12

Aus dem Sinne, welcher hier der Kultur als einem Urphänomen und dem
Schicksal als der organischen Logik des Daseins gegeben wurde, folgt,
daß notwendig jede Kultur ihre +eigne+ Schicksalsidee besitzen
muß, ja daß in dem Gefühl, jede große Kultur sei nichts anderes als
die Verwirklichung und Gestalt einer einzigen, bestimmten Seele,
diese Folgerung schon eingeschlossen liegt. Was wir Fügung, Zufall,
Verhängnis, Schicksal, der antike Mensch Nemesis, Ananke, Tyche, Fatum,
der Araber Kismet und alle anderen anders nennen, was niemand dem
andern, dessen Leben gerade Ausdruck +seiner+ Idee ist, nachfühlen
kann und was sich in Worten nicht weiter beschreiben läßt, stellt eben
diese einmalige, nie sich wiederholende Fassung der Seele dar, deren
jeder für sich völlig gewiß ist.

Ich wage es, die antike Fassung der Schicksalsidee +euklidisch+
zu nennen. In der Tat ist es die sinnlich-wirkliche +Person+
des Ödipus, sein „empirisches Ich“, mehr noch, sein +σῶμα+, das
vom Schicksal getrieben und gestoßen wird. Ödipus klagt (Rex 242),
daß Kreon seinem +Leibe+ Übles getan habe und (Col. 355), daß
das Orakel seinem +Leibe+ gelte. Und Äschylus spricht in den
Choephoren (704) von Agamemnon als dem „flottenführenden königlichen
Leibe“. Es ist dasselbe Wort σῶμα, das die Mathematiker mehr als
einmal für ihre Körper gebrauchen. König Lears Schicksal aber, ein
+analytisches+, um auch hier an die entsprechende Zahlenwelt
zu erinnern, ruht ganz in dunklen innern Beziehungen: Die Idee des
Vatertums taucht auf; seelische Fäden spinnen sich durch das Drama,
unkörperlich, jenseitig, und werden durch die zweite, kontrapunktisch
gearbeitete Tragödie im Hause Glosters seltsam beleuchtet. Lear ist
zuletzt ein bloßer Name, ein Mittelpunkt für etwas Grenzenloses.
+Diese+ Fassung des Schicksals ist eine „infinitesimale“, in
unendlicher Räumlichkeit und durch endlose Zeiten ausgebreitete;
sie berührt das leibliche, euklidische Dasein gar nicht; sie trifft
+nur+ die Seele. Der wahnsinnige König zwischen dem Narren und
dem Bettler im Sturm auf der Heide -- das ist der Gegensatz zur
Laokoongruppe. Da ist die faustische gegenüber der apollinischen Art
zu leiden. Sophokles hatte auch ein Laokoondrama geschrieben. Ohne
Zweifel war in ihm von +Seelenleid+ nicht die Rede. Und hier
möchte man den Ausdruck „Idee des Daseins“ vorziehen, zumal wenn man
an Hebbels tragische Entwürfe denkt, der in einem gewissen Sinne die
abendländische Tragödie abgeschlossen und ihre letzten Möglichkeiten
erschöpft hat. Wer überhaupt ein großes Drama kosmisch zu durchschauen
und nicht nur in seiner Szenik anzuschauen vermag, der wird die
Verwandtschaft der Konzeptionen des Sophokles mit der antiken Geometrie
und derjenigen Shakespeares, Goethes, Kleists mit der Analysis, also
den Gegensatz von Größe und Beziehung auch in der tiefsten Wurzel des
künstlerischen Schöpfungsaktes fühlen.

Wir nähern uns damit einem andern Zusammenhang von großer Symbolik.
Man nennt das typische Drama des Abendlandes +Charakterdrama+ und
sollte das griechische dann als +Situationsdrama+ bezeichnen.
Man betont damit, was eigentlich von dem Menschen beider Kulturen
als Grundform seines Lebens empfunden und mithin durch die Tragik,
das Schicksal, in Frage gestellt wird. Sagt man für Richtung
des Lebens +Nichtumkehrbarkeit+, so hat man den Kern jedes
möglichen tragischen Konflikts. Wir haben eine antike Tragödie des
+Augenblicks+ und eine abendländische der historisch-psychischen
+Entwicklung+ vor uns. So empfand eine ahistorische und eine
extrem historische Seele sich selbst. Unsere Tragik entstand aus
dem Gefühl einer +unerbittlichen Logik des Werdens+. +Der
Grieche fühlte das Alogische, das blinde Ungefähr des Moments.+
Und man begreift nun, weshalb gleichzeitig mit dem abendländischen
Drama eine mächtige Porträtkunst -- mit ihrem Höhepunkt in Rembrandt
-- aufblühte und erlosch, eine Art historischer und psychologischer
Kunst, die +deshalb+ im klassischen Griechenland zur Blütezeit
des attischen Theaters aufs strengste verpönt war; man denke an das
Verbot ikonischer Statuen bei den Weihgeschenken und daran, daß sich --
seit Lippos -- eine schüchterne Art idealisierender Bildniskunst genau
damals hervorwagte, wo die große Tragödie durch das soziale Typendrama
Menanders in den Hintergrund gedrängt wurde. Im Grunde tragen alle
griechischen Statuen eine stereotype Maske wie die Schauspieler im
Dionysostheater. Alle bringen sie +somatische Situationen+
in der präzisesten Fassung. Physiognomisch sind sie +stumm+,
körperlich sind sie +notwendig nackt+. „Charakterköpfe“ hat
erst der Hellenismus gebracht. Und wir werden wieder an die beiden
entsprechenden Zahlenwelten erinnert, in deren einer handgreifliche
Resultate errechnet wurden, während in der andern der Charakter
von Beziehungsgruppen von Funktionen, Gleichungen, überhaupt von
Formelementen gleicher Ordnung morphologisch untersucht und +als
solcher+ in gesetzmäßigen Ausdrücken fixiert wird.


13

Die Fähigkeit, Geschichte zu erleben und die Art, wie sie, wie vor
allem auch das +eigne+ Werden durchlebt wird, ist bei den
einzelnen Menschen sehr verschieden.

Jede Kultur besitzt schon eine streng individuelle Art, +Natur+ zu
sehen, zu erkennen oder, was dasselbe ist, sie +hat+ ihre eigne
und eigentümliche Natur, die keine andere Art Mensch in genau derselben
Gestalt besitzen kann. Ganz ebenso hat auch jede Kultur und in ihr, mit
Unterschieden geringeren Grades, jeder Einzelne eine durchaus eigne Art
von Geschichte, in deren Bilde, in deren Stil er das allgemeine und
das persönliche, das innere und äußere, das welthistorische und das
biographische Werden unmittelbar anschaut, fühlt und erlebt. So ist
der autobiographische Hang der abendländischen Menschheit der antiken
völlig fremd. Der extremen Bewußtheit der Geschichte Westeuropas steht
die geradezu traumhafte Unbewußtheit der indischen gegenüber. Und was
ist es, das arabische Menschen, Paulus, Plotin oder Mohammed vor sich
sahen, wenn sie das Wort Weltgeschichte aussprachen? Aber wenn es
schon höchst schwierig ist, sich von der Natur, der kausal geordneten
Umwelt andrer eine genaue Vorstellung zu machen, obwohl in ihr das
spezifisch Erkennbare zum +Bilde+ vereinheitlicht ist, so ist
es völlig unmöglich, den historischen Weltaspekt fremder Kulturen,
das aus ganz anders angelegten Seelen gestaltete Bild des Werdens
mit den Kräften der eignen Seele vollkommen zu durchdringen. Hier
wird immer ein unzugänglicher Rest bleiben, um so größer, je geringer
der eigne historische Instinkt, der physiognomische Takt, die eigne
Menschenkenntnis ist. Trotzdem ist die Lösung +dieser+ Aufgabe
eine Voraussetzung alles tiefern Weltverständnisses. Die historische
Umwelt der andern ist ein +Teil ihres Wesens+, und man versteht
niemand, wenn man sein Zeitgefühl, seine Idee vom Schicksal, den Stil
und Bewußtseinsgrad seines Innenlebens nicht kennt. Was hier sich
nicht unmittelbar in Bekenntnissen auffinden läßt, müssen wir also
der Symbolik der äußern Kultur entnehmen. So erst wird das an sich
Unbegreifliche zugänglich und dies gibt dem historischen Stil einer
Kultur und den dazu gehörigen großen Zeitsymbolen ihren unermeßlichen
Wert.

Als eines dieser kaum je begriffenen Zeichen war schon die +Uhr+
genannt worden, eine Schöpfung hochentwickelter Kulturen, die immer
geheimnisvoller wird, je mehr man darüber nachdenkt. Die antike
Menschheit verstand sie zu entbehren -- nicht ohne Absichtlichkeit
--, obwohl Uhren in den beiden ältern Welten der babylonischen und
ägyptischen Seele mit ihrer strengen Astronomie und Zeitrechnung,
ihrem tiefen Blick für Vergangenheit und Zukunft und deren Knüpfung
an den Augenblick, ständig (als Sonnenuhren und Wasseruhren) in
Gebrauch waren. Aber das antike Dasein, euklidisch, beziehungslos,
punktförmig, war im gegenwärtigen Moment völlig beschlossen. Nichts
sollte an Vergangnes und Künftiges mahnen. Die Archäologie fehlt der
Antike ebenso wie deren +psychische Umkehrung, die Astrologie+.
Es gab keine Zeitrechnung, denn die Olympiadenrechnung war lediglich
ein literarischer Notbehelf. In antiken Städten erinnert nichts an die
Dauer, an die Vorzeit, an das Bevorstehende, keine pietätvoll gepflegte
Ruine, kein für noch ungeborne Generationen vorgedachtes Werk, kein
trotz technischer Schwierigkeiten mit Bedeutung gewähltes Material.
Der dorische Grieche hat die mykenische Steintechnik unbeachtet
gelassen und baute wieder in Holz und Lehm, trotz des mykenischen
und ägyptischen Vorbildes und trotz des Reichtums seiner Landschaft
an den besten Gesteinen. Der dorische Stil ist ein Holzstil. Noch zur
Zeit des Pausanias sah man am Zeustempel in Olympia die letzte nicht
ausgewechselte Holzsäule. In einer antiken Seele ist das Organ für
Geschichte, das +Gedächtnis+ in dem hier stets vorausgesetzten
Sinne, das den +Organismus+ der persönlichen Vergangenheit,
die +Genesis+ des Innenlebens immer gegenwärtig erhält, nicht
vorhanden. Es gibt keine „Zeit“. Daß Cäsar den Kalender reformierte,
darf man beinahe als einen Akt der Emanzipation vom antiken
Lebensgefühl bezeichnen: Aber Cäsar dachte auch an den Verzicht auf
Rom und an die Verwandlung des Stadtstaates in ein dynastisches, also
dem Symbol der +Dauer+ unterstelltes Reich mit dem Schwerpunkt
in Alexandria, von wo sein Kalender stammt. Seine Ermordung wirkt wie
eine letzte Auflehnung eben dieses, in der Polis, der +Urbs Roma+
verkörperten, der Dauer feindlichen Lebensgefühls.

Man erlebte noch damals jede Stunde, jeden Tag für sich. Das gilt vom
einzelnen Hellenen und Römer, von der Stadt, der Nation, der ganzen
Kultur. Die von Kraft und Blut strömenden Feste, Palastorgien und
Zirkuskämpfe unter Nero und Caligula, die Tacitus, ein echter Römer,
allein beschreibt, während er für das Leben der weiten Landschaft des
Imperiums kein Auge, keine Worte hat, sind der letzte prachtvolle
Ausdruck dieses euklidischen, den +Leib+, die +Gegenwart+ vergötternden
Weltgefühls. Die Inder, deren Nirwana auch durch den Mangel an
irgendwelcher Zeitrechnung ausgedrückt ist, besaßen ebenfalls keine
Uhren und +also+ keine Geschichte, keine Lebenserinnerungen, keine
Sorge. Was wir, eminent historisch angelegte Menschen, indische
Geschichte nennen, ist ohne das geringste Bewußtsein seiner selbst
verwirklicht worden. Das Jahrtausend der indischen Kultur von den
Veden bis auf den Buddha herab wirkt auf uns wie die Regungen eines
+Schlafenden+. Hier war das Leben +wirklich+ ein Traum. Nichts steht
diesem Indertum ferner als das Jahrtausend der abendländischen
Kultur. Niemals, auch im alten China nicht, war man wacher, bewußter,
niemals ist die Zeit tiefer gefühlt und mit dem vollen Bewußtsein
ihrer Richtung und schicksalsschweren Bewegtheit erlebt worden. +Die
Geschichte Westeuropas ist gewolltes, die indische ist widerfahrenes
Schicksal.+ Im griechischen Dasein spielen Jahre keine Rolle, im
indischen kaum Jahrzehnte; hier ist die Stunde, die Minute, zuletzt die
Sekunde von Bedeutung. Von der tragischen Spannung historischer Krisen,
wo der Augenblick schon erdrückend wirkt wie in den Augusttagen 1914,
hätte weder ein Grieche noch ein Inder eine Vorstellung haben können.
Aber solche Krisen können tiefe Menschen des Abendlandes auch +in sich+
erleben, Hellenen +nicht+. Über unsrer Landschaft hallen Tag und Nacht
von Tausenden von Türmen die Glockenschläge, die ständig Zukunft an
Vergangnes knüpfen und den flüchtigen Moment der „antiken“ Gegenwart
in einer ungeheuren Beziehung auflösen. Der Moment, welcher die
Geburt dieser Kultur bezeichnet, die Zeit der Sachsenkaiser, sah auch
schon die Erfindung der Räderuhren.[41] Ohne peinlichste Zeitmessung
-- eine Chronologie des Kommenden, die durchaus unserm ungeheuren
Bedürfnis nach Archäologie, Erhaltung, Ausgrabung, Sammlung alles
Vergangnen entspricht -- ist der abendländische Mensch nicht denkbar.
Die Barockzeit steigerte das gotische Symbol der Turmuhren noch zu dem
grotesken der Taschenuhren, die den Einzelnen begleiten.[42] Und sind
wir es nicht auch, welche die Wägung und Messung des inneren Lebens
zur strengsten Vollendung geführt haben? Ist unsere Kultur nicht die
der Selbstbiographien, Tagebücher, Konfessionen und unerbittlichen
ethischen Selbstprüfungen? Hat je eine andre Art Mensch sich bis zu dem
während der Epoche der Kreuzzüge ausgebildeten Symbol der Ohrenbeichte
erhoben, von der Goethe sagte, daß sie den Menschen nie hätte genommen
werden sollen? Ist nicht unsre ganze große Kunst -- sehr im Gegensatz
zur antiken -- ihrem Gehalte nach Bekenntniskunst? Es wird niemand
über Welt- und Staatengeschichte nachdenken, Geschichte andrer fühlen
und begreifen können, der nicht in sich selbst mit vollem Bewußtsein
Geschichte, Schicksal, Zeit erlebt. Deshalb hat die Antike weder eine
wahre Weltgeschichte, eine Psychologie der Historie, noch eine tiefe
Biographie hervorgebracht. Thukydides und Sokrates bestätigen das. Der
eine kannte nur die jüngste Vergangenheit eines engen Völkerkreises,
der andere nur ephemere Momente der Einkehr.

Und neben dem Symbol der Uhren steht das andre, ebenso tiefe, ebenso
unverstandne der Bestattungsformen, wie sie alle großen Kulturen
durch Kulte und Kunst geheiligt haben. In der Urzeit gehen die
vielen möglichen Formen noch chaotisch durcheinander, abhängig von
Stammessitte und Zweckmäßigkeit. Jede Kultur aber erhebt alsbald
eine von ihnen zum höchsten symbolischen Range. Hier wählte der
antike Mensch aus tiefstem, unbewußtem Lebensgefühl heraus die
+Totenverbrennung+, einen Akt der Vernichtung, durch den er sein
an das Jetzt und Hier gebundenes euklidisches Dasein zu gewaltigem
Ausdruck brachte. Er +wollte+ keine Geschichte, keine Dauer,
weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Sorge noch Auflösung und
er +zerstörte+ deshalb, was keine Gegenwart mehr besaß, den
+Leib+ eines Perikles und Cäsar, Sophokles und Phidias. Keine
zweite Kultur steht dieser darin zur Seite -- mit einer bezeichnenden
Ausnahme, der vedischen Frühzeit Indiens. Und man bemerke wohl: die
dorisch-homerische Frühzeit behandelte diesen Akt mit dem ganzen
Pathos eines eben geschaffenen Symbols, die Ilias vor allem, während
in den Gräbern von Mykene, Tiryns, Orchomenos die Toten, deren
Kämpfe vielleicht gerade den Keim zu jenem Epos gelegt hatten, nach
ägyptischer Art bestattet worden waren. Als in der Kaiserzeit neben die
Aschenurne der Sarkophag trat -- bei Christen +und+ Heiden --, war
ein neues +Zeitgefühl+ erwacht wie damals, als auf die mykenischen
Schachtgräber die homerische Urne folgte.

Und diese Ägypter, welche ihre Vergangenheit so gewissenhaft im
Gedächtnis, in Stein und Hieroglyphen aufbewahrten, daß wir heute,
nach vier Jahrtausenden, noch die Regierungszahlen ihrer Könige genau
bestimmen können, verewigten auch deren Leib, so daß die großen
Pharaonen -- ein Symbol von schauerlicher Erhabenheit -- heute noch
mit erkennbaren Gesichtszügen in unsern Museen liegen, während von
den Königen der dorischen Zeit nicht einmal die Namen übrig geblieben
sind. Wir kennen Geburts- und Todestag fast aller großen Menschen seit
Dante genau. Das scheint uns selbstverständlich. Aber zur Zeit des
Aristoteles, auf der Höhe antiker Zivilisation, wußte man nicht mehr,
ob Leukippos, der Begründer des Atomismus und Zeitgenosse des Perikles,
kaum ein Jahrhundert vorher, +überhaupt existiert habe+. Dem würde
es entsprechen, wenn wir der Existenz Giordano Brunos nicht sicher
wären und die Renaissance bereits völlig im Reich der Sage läge.

Und diese Museen selbst, in denen wir die ganze Summe der
sinnlich-körperlich gewordenen Vergangenheit zusammentragen! Sind sie
nicht auch ein Symbol vom höchsten Range? Sollen sie nicht den „Leib“
der gesamten Kulturhistorie mumienhaft konservieren? Sammeln wir
nicht, wie die unzähligen Daten in Milliarden gedruckter Bücher, so
+alle+ Werke +aller+ toten Kulturen in diesen hunderttausend
Sälen westeuropäischer Städte, wo in der Masse des Vereinigten jedes
einzelne Stück dem flüchtigen Augenblick seines wirklichen Zweckes --
der einer antiken Seele +allein+ heilig gewesen wäre -- entwendet
und in einer unendlichen Bewegtheit der Zeit gleichsam aufgelöst wird?
Man bedenke, was die +Hellenen+ „Museion“ nannten und welch tiefer
Sinn in diesem Wandel des Wortgebrauchs liegt.


14

Es ist das +Urgefühl der Sorge+, das die Physiognomie der
abendländischen wie der ägyptischen und chinesischen Kulturgeschichte
beherrscht und auch noch die Symbolik des +Erotischen+ gestaltet,
in dem die Beziehung des gegenwärtigen Menschen zu den folgenden
Generationen sich darstellt. Das punktförmige euklidische Dasein
der Antike empfand auch da ganz somatisch. Es setzte deshalb in den
Mittelpunkt der demetrischen Kulte die Wehen des gebärenden Weibes,
in die antike Welt überhaupt das Symbol des +Phallus+, das
Zeichen einer durchaus dem Augenblick geweihten und Vergangenheit wie
Zukunft in ihm vergessenden Geschlechtlichkeit. Der Mensch fühlte
sich hier als Natur, als Pflanze, als Tier, dem Sinn des Werdens
willenlos hingegeben. Der häusliche Kult galt dem _genius_,
d. h. der Zeugungskraft des Familienhauptes. +Unsre+ tiefe und
nachdenkliche Sorge stellte dem im abendländischen Kult das Zeichen
der +Mutter+ gegenüber, welche das Kind -- die Zukunft -- an der
Brust trägt. Der Marienkult in diesem neuen, faustischen Sinne erblühte
erst in den Jahrhunderten der Gotik. Ihre höchste Verkörperung hat
sie in Raffaels Sixtina gefunden. Das ist +nicht+ christlich
überhaupt, denn das magisch-orientalische Christentum erhob Maria als
Theotokos, als Gebärerin Gottes, zu einem ganz anders empfundenen
magisch-metaphysischen Symbol. Die +stillende+ Mutter ist der
arabischen (byzantinisch-langobardischen) Kunst ebenso fremd wie
der hellenischen; sie ist das reinmenschliche Sinnbild der Sorge,
und sicherlich steht Gretchen im Faust mit dem tiefen Zauber ihrer
unbewußten Mütterlichkeit den gotischen Madonnen näher als alle Marien
byzantinischer und ravennatischer Mosaiken.

Nichts ist sorgenvoller als der Aspekt der ägyptischen Geschichte, in
der die Fürsorge für alles Vergangene, Tempel, Namen und Mumien der
Vorsorge für alles Kommende entspricht, ein Gefühl, das schon zur Zeit
des Cheops, 3000 v. Chr., zu einem tief durchdachten Staatsorganismus
und später zu einer so meisterhaft angelegten Finanzwirtschaft
geführt hat, daß von Alexander dem Großen an die späten antiken
Staatsgebilde nur durch Übernahme der Praxis der Pharaonen zu
einigermaßen geregelter Verwaltung gelangt sind. So verschieden an
sich Buddhismus und Stoizismus, die Altersstimmungen der indischen
und antiken Seele sind, im Widerspruch gegen das historische Gefühl
der Sorge, in der Verneinung also aller organisatorischen Energie,
Pflichtbewußtheit, Tätigkeit, Weitsicht gegenüber sind sie einig
und deshalb hat in indischen Königreichen und hellenischen Städten
niemand an das Kommende gedacht, weder für seine Person noch für
die Gesamtheit. Das _carpe diem_ des apollinischen Menschen
galt auch für den antiken Staat. Man wirtschaftete von einem Tage
zum andern ohne die Fähigkeit, vorausschauende Pläne zu fassen oder
gar sie auf Generationen hin zu verwirklichen. Der antike Staat --
obwohl das Vorbild Ägyptens vor Augen stand -- hielt sich allein
durch fortgesetzte Gewaltmaßnahmen, Plünderung der eignen und fremden
Bürger, Münzfälschung, Enteignung, Proskription der Besitzenden;
und verfügte er einmal über Reichtümer, so fand er keine bessere
Verwendung, als sie an den Pöbel zu verschwenden. Man besaß keine
innerlich erworbene Geschichte der Vergangenheit und darum auch kein
Auge für die Notwendigkeiten der Zukunft. Man ließ sie herankommen;
man versuchte nicht auf sie zu wirken. Und deshalb ist heute +der
Sozialismus mit seiner unverkennbaren, wenn auch bisher nicht erkannten
Verwandtschaft zum Ägyptertum die dem Stoizismus der Zeitstufe nach
entsprechende, dem Sinne nach bis zum Äußersten entgegengesetzte
Altersstimmung der abendländischen Seele+, durch und durch
ägyptisch in seiner umfassenden Sorge für dauerhafte wirtschaftliche
Zusammenhänge, für Vorsorge und Fürsorge, die den gegenwärtigen
Zustand aus der historischen Perspektive von Jahrhunderten auffaßt,
die den +Einzelnen+ mit all seinen Lebensäußerungen in die
tausendfachen Beziehungen eines höchst abstrakten Wirtschaftssystems
bindet und verflicht, des genauen Seitenstücks der analytischen
Zahlenwelt, wie es der heutigen Funktionentheorie zugrunde liegt. Die
antike Wirtschaftsgesinnung -- die ἀταραξία und Unbekümmertheit der
Stoiker wiederholend -- +verleugnet+ die Zeit, die Zukunft, die
Dauer, die abendländische +bejaht+ sie, sei es in der flacheren
englisch-jüdischen Fassung von Malthus, Marx, Bentham, sei es in der
tiefen und zukunftsreichen +des preußischen Staatsgedankens+,
dessen von Friedrich Wilhelm I. begründeter Sozialismus noch in
diesem Jahrhundert den andern in sich aufnehmen wird. Das Wort
Friedrichs des Großen: „Ich bin der erste Diener meines Staates“
drückt diese hohe Sorge um das Kommende, dies +faustische+
Schicksalsgefühl aus. Es gehört derselben Epoche an wie Rousseaus
_contrat social_, aus dem die englisch-französische Staatsidee,
die parlamentarisch-halbsozialistische des 19. Jahrhunderts,
wesentlich hervorging. Rousseau und Friedrich der Große waren
+Musiker+; Sokrates, ihr „Zeitgenosse“ und Ahnherr der Stoa,
war +Bildhauer+. Beide Wirtschaftsideale, das der Polis und das
des westeuropäischen Staates, sind in der Tiefe ihrer Form mit den
Prinzipien der Plastik und des Kontrapunkts verwandt. So berühren
sich die Ideen von Schicksal, Geschichte, Zeit, Sorge mit den letzten
+künstlerischen+ Ausdrucksformen des Seelentums.


15

Der alltägliche Mensch aller Kulturen bemerkt von der Physiognomie
alles Werdens, seines eignen und dessen der historischen Welt, nur
den unmittelbar greifbaren +Vordergrund+. Die Summe seiner
Erlebnisse, der inneren wie der äußeren, füllt als bloße Reihenfolge
von Einzelheiten den Lauf seiner Tage. Erst der bedeutende Mensch fühlt
hinter dem populären Zusammenhange der historisch-bewegten Oberfläche
die tiefe Logik des Werdens, die in der Schicksalsidee hervortritt und
die eben jene oberflächlichen bedeutungsarmen Bildungen des Tages als
Zufälligkeiten erscheinen läßt.

Zwischen Schicksal und Zufall scheint zunächst nur ein Gradunterschied
an Gehalt zu bestehen. Man empfindet es etwa als Zufall, daß Goethe
nach Sesenheim, und als Schicksal, daß er nach Weimar kam. Das eine
scheint Episode, das andre Epoche zu sein. Indessen wird daraus
deutlich, daß die Unterscheidung vom innern Range des Menschen abhängt,
der sie trifft. Der Menge wird selbst das Leben Goethes als eine
Reihe von Zufällen erscheinen; wenige werden mit Erstaunen empfinden,
welche symbolische Notwendigkeit in ihm auch noch dem Unbedeutendsten
innewohnt.

Hier bleibt das Gebiet der begrifflichen Verständigung weit zurück;
was Schicksal, was Zufall ist, das gehört zu den entscheidenden
+Erlebnissen+ der einzelnen Seele wie der ganzer Kulturen. Es ist
eine Frage der Ethik, nicht der Logik. Hier schweigt alle Erfahrung,
jede abstrakte Erkenntnis, jede Definition; und wer auch nur den
Versuch wagt, beides erkenntnistheoretisch fassen zu wollen, der kennt
es gar nicht. Schicksal und Zufall bilden jedesmal einen Gegensatz, in
den die Seele zu kleiden versucht, was +nur+ Gefühl, +nur+
Erlebnis und Intuition sein kann und was allein durch die innerlichsten
Schöpfungen von Religion und Kunst denen verdeutlicht wird, die
zur Einsicht +berufen+ sind. Um dies Urgefühl des lebendigen
Daseins, das dem Weltbilde der Geschichte Sinn und Gehalt verleiht,
heraufzurufen -- Name ist Schall und Rauch --, weiß ich nichts Besseres
als einen Vers von Goethe, denselben, der als Motto an der Spitze
dieses Buches dessen Grundgesinnung bezeichnen soll:

    Wenn im Unendlichen dasselbe
    Sich wiederholend ewig fließt,
    Das tausendfältige Gewölbe
    Sich kräftig ineinander schließt;
    Strömt Lebenslust aus allen Dingen,
    Dem kleinsten wie dem größten Stern,
    Und alles Drängen, alles Ringen
    Ist ewige Ruh in Gott dem Herrn.

Die Unterscheidung dieser letzten Ideen ist Sache des Herzens. Die
+Logik der Geschichte+, der Richtung, die +tragische+ Notwendigkeit
des Seins, die in diesem Kreise waltet, ist nicht die Logik der Natur,
nicht Zahl und Gesetz, Ursache und Wirkung, nichts Greifbares oder
Begreifbares überhaupt. Man spricht von der Logik einer plastischen
Gruppe, eines vollkommenen Gedichtes, einer Melodie, eines Ornamentes.
Es ist die immanente Logik aller Religionen.

Dies +ist+ Religion, und selbst die große Kunst vermag durch ihre
Symbole dieses letzte Geheimnis jeder Seele nur zu berühren, soweit
sie Religion ist. Insofern ein Kunstwerk im +Künstlersinne+ Form hat,
technische, elementare Form nämlich, die in Schule und Werkstatt
gelehrt werden kann, die die Substanz jeder Tradition und Konvention
bildet, den +Kanon+ der Fuge, den +Kanon+ der Plastik, den +Bau+ der
Tragödie -- insofern ist das Kunstwerk etwas +Gewordnes+, der Welt als
Natur angehörig und seine Logik von einer irgendwie kausal gefärbten
Art. Man wird eine Verwandtschaft der höheren Mathematik dieser
Kultur mit +diesem+ Objekt der Kunstübung nicht verkennen („Form“ als
Gegensatz zum „Stoff“). Wenn aber ein Kunstwerk in seinem Tiefsten noch
darüber hinausgeht, sich aus der Sphäre massenhaft geübter Zeitkunst in
den Kreis der wenigen +begnadeten+ Schöpfungen erhebt, dann teilt es
die Form des Werdens, dann +hat+ es Schicksal und +ist+ es Schicksal
in der Entwicklung einer Kultur, nicht mehr ein Atom im Wellenschlag
der historischen Oberfläche, sondern selbst geschichtsbildend,
epochemachend im wörtlichen Sinne.

So ist es die +Idee der Gnade+ im abendländischen Christentum,
welche Zufall und Schicksal in der höchsten ethischen Fassung
repräsentiert. Fügung (Erbsünde) und Gnade -- in dieser Polarität,
die immer nur Gestalt des Gefühls, des bewegten Lebens, nie Inhalt
der Erfahrung sein kann, liegt das Dasein jedes wirklich bedeutenden
Menschen dieser Kultur beschlossen. Sie ist, auch für den Protestanten,
auch für den Atheisten, und sei sie noch so gut hinter dem Begriff der
„Entwicklung“ versteckt, der in gerader Linie von ihr abstammt,[43] die
Grundlage jeder Autobiographie, die, geschrieben oder gedacht, deshalb
dem antiken Menschen, dessen Schicksal von andrer Gestalt war, versagt
blieb. Aus ihr ist -- wieder im Gegensatz zu Äschylus und Sophokles
-- der ganze Gehalt der tragischen Schöpfungen von Shakespeare und
Goethe abzuleiten. Sie ist der letzte Sinn der Bildnisse Rembrandts
und der Musik von Bach bis zu Beethoven. Mag man es Fügung, Vorsehung,
innere Entwicklung[44] nennen, was den Lebensläufen aller Menschen des
Abendlandes etwas Verwandtes gibt -- dem Denken bleibt es unzugänglich.
Hier endet jede rationalistische Verfolgung religiöser Ideen beim
Widersinn: der vermeintlichen Überwindung kirchlicher Dogmen durch die
„Resultate der Wissenschaft“. Die Prädestinationslehre bei Calvin und
Pascal -- die beide, aufrichtiger als Luther und Thomas von Aquino,
die Konsequenzen der augustinischen Dialektik zu ziehen wagten -- ist
die +notwendige+ Absurdität, zu welcher die verstandesmäßige
Verfolgung dieser Dinge führt. Sie gerät aus der Logik des Weltgefühls
in die Logik der Begriffe und Gesetze, aus der unmittelbaren Anschauung
des Lebens in ein System von Objekten. Die furchtbaren Seelenkämpfe
Pascals sind die eines tiefinnerlichen Menschen, der zugleich geborner
Mathematiker war und der die letzten und ernstesten Fragen der Seele
+zugleich+ den großen Intuitionen eines inbrünstigen Glaubens
und der abstrakten Präzision einer ebenso großen mathematischen
Anlage unterwerfen wollte. Dies gab der Schicksalsidee, religiös
gesprochen der Vorsehung Gottes, +die schematische Form des
Kausalitätsprinzips+, die Kantische Form der Verstandestätigkeit
also, +denn das bedeutet Prädestination+, in der nun allerdings
die lebendige, freie und stets gegenwärtige Gnade, als allein dem
historischen („+übernatürlichen+“), nicht dem natürlichen
Weltbilde immanent, logisch unmöglich erscheint. Der Zweifel an Gott
ist das Verhängnis des Menschen, in dem ein tiefer Verstand über eine
tiefe Seele siegt.


16

Wenden wir uns nun der weiteren Verdeutlichung des +Phänomens des
Zufälligen+ zu, so werden wir nicht mehr Gefahr laufen, in ihm eine
Ausnahme oder Durchbrechung des kausalen +Natur+zusammenhanges
zu sehen. „Natur“ ist +nicht+ das Weltbild, in dem das Schicksal
wesenhaft wird. Überall, wo der verinnerlichte Blick sich vom
Sinnlich-Gewordnen löst und, der Vision sich nähernd, die Umwelt
durchdringt, Urphänomene statt Objekte auf sich wirken fühlt, tritt der
große +historische+, der außer- und übernatürliche Aspekt ein: es
ist der Blick Dantes und Wolframs, auch der des Goetheschen Alters, als
dessen Ausdruck vor allem das Ende des zweiten Faust erscheint und, was
man immer verkannt hat, der des Cervantes damals, als er die Gestalt
des Don Quijote fand. Verweilen wir in dieser Welt von Schicksal und
Zufall, so scheint es vielleicht zufällig, daß auf diesem kleinen
Gestirn sich die Episode der „Weltgeschichte“ abspielt; zufällig, daß
Menschen, eine tierähnliche organische Bildung auf der Rinde dieses
Stern, das Phänomen der „Erkenntnis“ und gerade in dieser, von Kant,
Aristoteles und andern so sehr verschieden betriebenen Form besitzen;
zufällig, daß als Wirkung dieser Erkenntnis gerade diese Naturgesetze
in Erscheinung treten („ewig und allgemeingültig“) und das Bild einer
„Natur“ wachrufen, von dem jeder Einzelne glaubt, daß es für alle
dasselbe sei. Die Physik verbannt -- mit Recht -- den Zufall aus ihrem
Bilde, aber es ist doch wieder Zufall, daß sie selbst überhaupt,
irgendwann in der Alluvialperiode der Erdoberfläche, einmal als
geistiges Phänomen auftauchte.

Wem der Blick für dies +andere+ Weltbild, für Geschichte im
höchsten Sinne -- die Welt als „Divina commedia“, als Schauspiel
für einen Gott -- fehlt wie Kant und den meisten Systematikern des
Denkens, der wird darin nur den sinnlosen Wirrwarr von Zufällen,
diesmal im banalsten Sinne des Wortes, finden.[45] Aber auch die
zünftige, unkünstlerische Geschichtsforschung ist nicht viel mehr als
eine „pragmatische“ Analyse der Oberfläche, eine wenn auch noch so
geistreiche Sanktion des Banal-Zufälligen.

Umgekehrt liegt dem „astrologischen“ Weltaspekte, selbst dort, wo
er sich wissenschaftlich gebärdet, die Überzeugung zugrunde, daß
das gesamte All, Gestirne wie Menschen, jenseits aller naturhaften
Kausalität, auch noch eine Einheit von ganz andrer Ordnung bildet,
deren immanente Logik eben die eines Schicksals ist. Kepler, der
die mathematischen Gesetze der Planetenbahnen fand, war überzeugter
Astrolog (er hat unter andern das Horoskop Wallensteins gestellt).
Ich sehe in jeder tragischen Dichtung, vorausgesetzt, daß sie einen
entsprechenden Rang einnimmt, den Ausdruck eines astrologischen
Lebensgefühls, selbst wenn der Autor als empirische Person dies in
Abrede gestellt hätte. Für Shakespeare beweisen es nicht nur die
Hexenszenen des Macbeth, welche tatsächlich den kosmischen Sinn des
Stückes tragen, sondern auch eine dunkle Grundstimmung im Lear, im
Wintermärchen, vor allem im Sturm. Hier würde man für Fügung und
Bestimmung vielleicht das Wort +Verhängnis+ wählen. Hier waltet
+nur+ ein Schicksal und Zufall heißt lediglich das, was dem
Einzelnen im Bilde auch seelisch nicht mehr verständlich ist. Von
diesem letzten Standpunkte aus löst sich endlich beides in eine
erhabene Einheit auf und dies ist es, was Christen großen Stils --
ich erinnere nochmals an Dante -- als „göttliche Weltordnung“ mit
unerschütterlicher Gewißheit empfinden. Nur der Standort unterscheidet
noch Schicksal und Zufall. Nichts ist bezeichnender als Shakespeare, in
dem man den eigentlichen +Tragiker+ des +Zufalls+ noch nie
gesucht und nie vermutet hat. Und doch liegt hier gerade der Kern der
abendländischen Tragik, die zugleich das Abbild der abendländischen
Idee der Historie und der Schlüssel zu dem ist, was das von Kant
nicht verstandene Wort „Zeit“ bedeutet. Es ist recht zufällig, daß
die politische Situation des Hamlet, der Königsmord und die Frage der
Thronfolge, gerade +diesen+ Charakter treffen. Es ist zufällig,
daß Jago, ein alltäglicher Halunke, wie man sie auf allen Straßen
findet, gerade diesen Mann aufs Korn nahm, dessen Person diese durchaus
nicht alltägliche Physiognomie besaß. Und Lear! Ist etwas zufälliger
(und darum „natürlicher“) als die Paarung dieser gebietenden Würde
mit diesen den Töchtern vererbten verhängnisvollen Leidenschaften?
Hebbel wollte seine Menschen konsequenter, weniger zufällig haben --
er wurde deshalb unnatürlich. Das Gezwungene, Systematische seiner
Konzeptionen, das jeder fühlt, ohne es sich deuten zu können, lag
darin, daß das logisch-kausale Schema seiner seelischen Konflikte dem
historisch-bewegten Weltgefühl und dessen ganz andersartiger Logik
widerspricht. Man fühlt die Gegenwart eines großen Verstandes, aber
nicht die eines tiefen Lebens.

Und eben diese +abendländische+ Nuance des Zufälligen ist dem
antiken Weltgefühl und mithin dem antiken Drama ganz fremd. Antigone
hat keine zufällige Eigenschaft, welche für ihre Tragik irgendwie in
Betracht käme. Was dem König Ödipus geschah, hätte -- im Gegensatz
zum Schicksale Lears -- jedem andern geschehen können. Dies ist das
+antike+ Schicksal, das „allgemein menschliche“ +Fatum+, das
einem σῶμα überhaupt gilt und vom zufällig Persönlichen in keiner Weise
abhängt.

Die gewöhnliche Geschichtsschreibung wird +immer+ beim Zufälligen
stehen bleiben. Dies ist -- das Schicksal ihrer Urheber, die geistig
mehr oder weniger innerhalb der Menge bleiben. Vor ihrem Auge fließen
Natur und Geschichte in eine höchste populäre Einheit zusammen und
„Zufall“, sa sacrée Majesté le Hazard, ist für den Mann der Menge das
Verständlichste, was es gibt. Es ist das Geheimnisvoll-Kausale, das
noch nicht Bewiesene, das ihm die Logik der Geschichte, die er nicht
fühlt, ersetzt. Das anekdotenmäßige Vordergrundsbild der Historie,
der Tummelplatz aller wissenschaftlichen Kausalitätenjäger und aller
Roman- und Stückeschreiber gewöhnlichen Schlages, entspricht dem
durchaus. Wie viele Kriege wurden angefangen, weil ein eifersüchtiger
Hofmann einen General von seiner Frau entfernen wollte! (In den Briefen
der Liselotte von Orleans finden sich kleine Kabinettstücke solcher
Aspekte der französischen Geschichte.) Wie viele Schlachten wurden
durch lächerliche Zwischenfälle gewonnen oder verloren! Man denke an
den Fächerschlag des Dei von Algier und ähnliches, das die historische
Szene mit Operettenmotiven belebt. Wie von einem schlechten Dramatiker
angebracht erscheinen der Tod Gustav Adolfs oder Alexanders. Hannibal
ist ein bloßes Intermezzo der antiken Geschichte, in deren Verlauf
er überraschend einfiel. Napoleons „Vorübergang“ entbehrt nicht der
Melodramatik. Konradin, der letzte Staufe, ist der Urstoff aller
Schülerpoesie. Wer die immanente Logik der Geschichte in irgendeiner
kausalen Folge ihrer sichtbaren Einzelereignisse sucht, wird immer,
wenn er aufrichtig ist, eine Komödie von burlesker Sinnlosigkeit
finden und ich möchte glauben, daß die so wenig beachtete Tanzszene
der betrunkenen Triumvirn in Shakespeares „Antonius und Kleopatra“ --
für mich eine der mächtigsten in diesem unendlich tiefen Werke -- aus
dem Hohn des ersten +historischen+ Tragikers aller Zeiten auf
den pragmatischen Geschichtsaspekt hervorgewachsen ist. Dieser allzu
populäre Aspekt hat von jeher „die Welt“ beherrscht. Er hat den kleinen
Ehrgeizigen Mut und Hoffnung gemacht, in sie einzugreifen. Rousseau,
Ibsen, Nietzsche, Marx glaubten, durch eine Theorie den „Lauf der Welt“
ändern zu können. Selbst die soziale, wirtschaftliche oder sexuelle
Deutung, zu der als +Maximum+ die Geschichtsbehandlung sich
heute „erhebt“ und die stets, angesichts ihres biologischen Gepräges,
kausaler Aspirationen verdächtig bleibt, ist noch reichlich trivial und
populär.

Napoleon hatte in bedeutenden Momenten ein starkes Gefühl für die
wahre Logik des Weltwerdens. Er ahnte dann, inwiefern er ein Schicksal
war und inwiefern er eines hatte. „Ich fühle mich gegen ein Ziel
getrieben, das ich nicht kenne. Sobald ich es erreicht haben werde,
sobald ich nicht mehr notwendig sein werde, wird ein Atom genügen,
mich zu zerschmettern. Bis dahin aber werden alle menschlichen Kräfte
nichts gegen mich vermögen“ (1812). Das war +nicht+ pragmatisch
gedacht. Er selbst als empirische Person hätte vielleicht bei Marengo
fallen können. Was er +bedeutete+, wäre dann in andrer Gestalt
verwirklicht worden. Eine Melodie ist in den Händen eines großen
Musikers reicher Variationen fähig; sie kann für den einfachen Hörer
völlig verwandelt sein, ohne in der Tiefe -- in einem ganz andern
Sinne -- sich verändert zu haben. Die Epoche der deutschnationalen
Einigung ist in der Person Bismarcks, die der Freiheitskriege in
breiten und beinahe namenlosen Ereignissen durchgeführt worden. Beide
„Themata“ konnten auch anders „durchfiguriert“ werden. Bismarck hätte
entlassen und die Schlacht bei Leipzig verloren werden können; die
Gruppe der Kriege von 1864, 1866 und 1870 konnte durch diplomatische,
dynastische, revolutionäre oder volkswirtschaftliche Momente --
„Modulationen“ -- vertreten werden, +obwohl die physiognomische
Prägnanz der abendländischen Geschichte, im Gegensatz zum Stil der
indischen etwa, an entscheidender Stelle starke Akzente, Kriege oder
große Persönlichkeiten, sozusagen kontrapunktisch fordert+. Bismarck
selbst deutet in seinen Erinnerungen an, daß im Frühling 1848 eine
Einigung in weiterem Umfange als 1870 hätte erreicht werden können,
die nur an der Politik des preußischen Königs, richtiger: an seinem
privaten Geschmack scheiterte. Das wäre, auch nach Bismarcks Gefühl,
eine matte Durchführung des Satzes gewesen, die eine Coda („_da capo
e poi la coda_“) notwendig gemacht hätte. Der Sinn der Epoche -- das
Thema -- hätte sich nicht verändert. Goethe konnte -- vielleicht -- in
frühen Jahren sterben, nicht seine Idee. „Faust“ und Tasso wären nicht
geschrieben worden, aber sie wären, ohne ihre poetische Greifbarkeit,
in einem sehr geheimnisvollen Sinne trotzdem „gewesen“.

Man kann das Phänomen des Zufalls, das dem des Schicksals erst
Vollkommenheit gibt, nur aus der Idee des Urphänomens begreifen. Ich
denke wieder an Bildungen der Pflanzenwelt. Kulturen +sind+
Pflanzen. Eine Buche, die eben heranwächst, wird im Laufe der Jahre
Blätter, Zweige, einen Stamm, Wipfel erhalten, deren allgemeine
Gestalt sich voraussagen läßt; dies gehört zum +Schicksal+ des
keimenden Organismus. Aber der Same ist vom Winde an irgendeine
Stelle getragen worden und Alter, Gesundheit, Mächtigkeit, Fülle der
Erscheinung werden durch sie wesentlich mitbestimmt. Tausend Umstände
kommen hinzu, um auch das Dasein zweier Nachbarstämme sehr verschieden
zu gestalten. Hier würde ein strenger Christ von einer +Gnade der
Natur+ reden. Zuletzt wird jeder Wipfel des Waldes, jeder Ast, jedes
Blatt von dem andern verschieden geworden sein und in einer Art, die
niemand voraussagen konnte; und dies wird man vor allem als Zufall
empfinden. Man kann dem Planetensystem gegenüber eine Betrachtungsweise
wählen, aus der die Ringe des Saturn und die Existenz der Erde in
dieser +Größe+, mit +dieser+ Form der Gravitation, dieser
geologischen Oberflächengeschichte, in der die Menschheit eine
flüchtige Episode bildet, zwischen diesen Nachbarplaneten, als Gebilde
des Zufalls erscheinen, vorausgesetzt, daß man die Sternenwelt als
ungeheuren Organismus auf sich wirken läßt. Die mathematischen Gesetze,
die einem andern Aspekt angehören, bleiben dabei völlig unberührt und
unangefochten. Und so tragen alle großen Kulturen, in deren Lebenslauf
vieles vorausbestimmbar ist, in ihren Zügen etwas, das dem Urphänomen
+wesentlich+ angehört und das man ihrem Schicksal, etwas, das
niemand ahnen kann und das man dem Zufall, der +Gnade+, zuweisen
kann. In welchem Grade diese Wertung stattfindet, das entscheidet für
das einzelne Geschichtsbild, das immer das eines bestimmten Betrachters
ist, dessen Weltgefühl mit unmittelbarer innerer Gewißheit.

Die euklidische Seele der Antike konnte ihr an gegenwärtigen
Vordergründen haftendes Dasein indessen nur in der Gestalt von
Zufällen erleben. Darf man für die abendländische Seele das Zufällige
als Schicksal von geringerem Gehalte deuten, so darf umgekehrt das
Schicksal für die antike Seele als gesteigerter Zufall gelten. Das
bedeutet fatum. Beide Worte aber bezeichnen für die apollinische
Seele Momente von ganz andrer Physiognomie. Sie besaß, wie wir
sahen, kein Gedächtnis, keine organische Zukunft und Vergangenheit,
keine wirklich durchlebte Geschichte also und das will heißen:
kein eigentliches Gefühl für eine +Logik+ des Schicksals. Man
lasse sich nicht durch Worte täuschen. Die populärste Göttin des
Hellenismus war Tyche,[46] die man von der Ananke kaum zu scheiden
wußte. Schicksal und Zufall aber werden von +uns+ mit der
ganzen Wucht eines +Gegensatzes+ empfunden, von dem in unsrer
tiefern Existenz alles abhängt. +Unsere+ Geschichte ist die
der großen Zusammenhänge; sie ist kontrapunktisch gesetzt. Die
antike Geschichte, nicht etwa nur ihr Bild bei ihren Historikern
wie Herodot, sondern ihre volle Wirklichkeit ist die der Anekdoten,
das heißt eine Summe statuenhafter Einzelheiten. Anekdotisch ist
der Stil des griechischen Daseins überhaupt wie der jeder einzelnen
Biographie. Das körperlich-greifbare Element repräsentiert den
+ahistorischen+, den +dämonischen+ Zufall. Die Logik des
Geschehens wird mit ihm verdeckt, verleugnet. Alle Fabeln antiker
Meistertragödien +erschöpfen+ sich in +sinnlosen+ Zufällen;
anders läßt sich die Bedeutung des Wortes εἱμαρμένη im Gegensatz zur
shakespearischen Logik, die sich am +antihistorischen+ Zufall
erst entwickelt und verdeutlicht, nicht bezeichnen. Noch einmal: was
dem Ödipus zustößt, ganz von außen, innerlich durch nichts bedingt
und bewirkt, hätte jedem Menschen ohne Ausnahme geschehen können. Das
ist die Form des +Mythus+. Man vergleiche damit die tiefinnere,
durch ein ganzes Dasein und das Verhältnis dieses Daseins zur
Epoche bedingte individuelle Notwendigkeit im Schicksal Othellos,
Don Quijotes, Werthers. Situationstragödie und Charaktertragödie
stehen hier gegeneinander. Aber in der Geschichte selbst wiederholt
sich der Gegensatz. Jede Epoche des Abendlandes hat Charakter, jede
Epoche der Antike stellt eine Situation dar. Das Leben Goethes war
von schicksalsvoller Logik, das Cäsars von mythischer Zufälligkeit.
Hier hat Shakespeare erst die Logik +hineingetragen+. Napoleon
ist ein tragischer +Charakter+; Alkibiades gerät in tragische
+Situationen+. Die Astrologie in der Gestalt, wie sie von der
Gotik bis zum Barock das Weltgefühl selbst ihrer Leugner beherrschte,
wollte sich des +ganzen+ künftigen Lebenslaufes bemächtigen.
Das +Horoskop+ setzte einen +einheitlichen Organismus+ des
gesamten noch zu entwickelnden Daseins voraus. Das +Orakel+, immer
auf +einzelne+ Fälle bezogen, ist ganz eigentlich das Symbol
des Zufalls, der Τύχη, des Augenblicks; es gibt das Punktförmige,
Zusammenhanglose im Weltlauf zu, und in dem, was man in Athen als
Geschichte schrieb und erlebte, waren Orakelsprüche sehr am Platze.
Hat je ein Grieche die Idee einer +historischen Entwicklung+
zu irgendeinem Ziele besessen? Haben wir je ohne dies Grundgefühl
über Geschichte nachdenken, Geschichte machen können? Vergleicht man
die Geschichte Athens und Frankreichs in den entsprechenden Zeiten
seit Themistokles und Ludwig XIV., so wird man finden, daß Stil des
historischen Fühlens und Stil der Wirklichkeit hier eines sind: hier
ein Extrem von Logik, dort von Unlogik.

Man wird den letzten Sinn dieses bedeutsamen Faktums jetzt verstehen.
Geschichte ist eben die +Gestalt+ einer Seele, und der gleiche
Stil beherrscht die Geschichte, die man macht und die, welche man
„anschaut“. Die antike Mathematik schließt das Symbol des unendlichen
Raumes aus; die antike Geschichte mithin auch. Fügung und ein
unendlicher Weltraum, Zufall und materielle Nähe und Greifbarkeit von
Körpern -- das gehört zusammen. Nicht umsonst ist die Szene des antiken
Daseins die kleinste von allen: die einzelne Polis. Es fehlen ihm
Horizont und Perspektiven -- trotz der Episode des Alexanderzuges --
genau wie der Szene des attischen Theaters mit der flach abschließenden
Rückwand. Man denke an die funktionalen und infinitesimalen Faktoren
+unserer+ Politik, die Kabinettsdiplomatie oder „das Kapital“.
Wie die Hellenen in ihrem Kosmos nur Vordergründe der Natur erkannten
und als wirklich anerkannten, unter innerlichster Ablehnung der
babylonischen Astronomie des Sternhimmels, wie sie +nur+ Haus-,
Stadt- und Feldgottheiten, aber keine Gestirngötter besaßen,[47] so
+malten+ sie auch nur Vordergründe. Niemals ist in Korinth, Athen
oder Sikyon eine Landschaft mit Gebirgshorizonten, ziehenden Wolken,
fernen Städten entstanden. Man findet auf allen Vasen nur Figuren von
euklidischer Vereinzelung und Selbstzufriedenheit. Jede Giebelgruppe
eines Tempels ist von additivem, niemals von kontrapunktischem Aufbau.
Aber man erlebte auch nur Vordergründe. Schicksal war das, was einem
plötzlich zustieß, nicht der „Lauf des Lebens“, und so hat Athen neben
dem Fresko Polygnots und der Geometrie der platonischen Akademie
die +Schicksalstragödie+ ganz im berüchtigten Sinne der „Braut
von Messina“ geschaffen. Der vollkommene Unsinn des blinden Fatums,
verkörpert z. B. im Atridenfluch, repräsentierte dem ahistorischen
antiken Seelentum den ganzen Sinn seiner Welt.


17

Einige gewagte, aber doch nicht mehr mißzuverstehende Beispiele mögen
zur Verdeutlichung dienen. Man denke sich Kolumbus von Frankreich
statt von Spanien unterstützt. Das war eine Zeitlang sogar das
Wahrscheinliche. Franz I. als Herr Amerikas hätte ohne Zweifel die
Kaiserkrone an Stelle des Spaniers Karl V. erhalten. Die frühe
Barockzeit vom Sacco di Roma bis zum westfälischen Frieden, nunmehr in
Religion, Geist, Kunst, Politik, Sitte das +spanische+ Jahrhundert
-- das dem Zeitalter Ludwigs XIV. in allem und jedem zur Grundlage und
Voraussetzung diente -- wäre nicht von Madrid, sondern von Paris aus
in Gestalt gebracht worden. Statt der Namen Philipp, Alba, Cervantes,
Calderon, Velasquez würden wir heute die großer Franzosen nennen, die
nun -- so läßt sich das schwer zu Fassende wohl ausdrücken -- ungeboren
bleiben. Der Stil der Kirche, damals durch den Spanier Ignaz von Loyola
und das von seinem Geist beherrschte Tridentiner Konzil endgültig
bestimmt, der politische Stil, damals durch spanische Kriegskunst,
durch die Kabinettsdiplomatie spanischer Kardinäle und den höfischen
Geist des Escorial bis zum Wiener Kongreß und in wesentlichen Zügen
noch über Bismarck hinaus festgelegt, die Architektur, die große
Malerei, das Zeremoniell, die vornehme Gesellschaft der großen Städte
wären durch andere feine Köpfe in Adel und Geistlichkeit, durch andere
Kriege als die Philipps II., einen anderen Baumeister als Vignola,
einen anderen Hof vertreten worden. Der Zufall wählte die spanische
Geste für die abendländische Spätzeit; die +innere Logik+ des
Zeitalters, das in der großen Revolution -- oder einem Ereignis von
analogem Gehalte -- seine Vollendung finden +mußte+, blieb davon
unberührt.

Die französische Revolution konnte in der Tat durch ein Ereignis
von anderer Gestalt und an anderer Stelle, in Deutschland etwa,
vertreten werden. Ihre Idee (wie wir später sehen werden), der
Übergang der Kultur in die Zivilisation, der Sieg der anorganischen
Weltstadt über das organische Land, das nun „Provinz“ in geistigem
Sinne wird, war notwendig, und zwar in diesem Augenblick. Hierfür
soll das Wort +Epoche+ im alten heute verwischten (mit Periode
verwechselten) Sinne angewandt werden. Ein historisches Ereignis
macht Epoche: das heißt, es bezeichnet im Organismus einer Kultur
ein notwendiges, schicksalshaftes Stadium. Das Ereignis selbst, ein
Kristallisationsgebilde der historischen Oberfläche, konnte durch
entsprechende andere vertreten werden; die +Epoche+ ist notwendig
und vorbestimmbar. Ob ein Ereignis den Rang einer Epoche oder einer
Episode in bezug auf eine Kultur und deren Gang einnimmt, das hängt,
wie man sieht, mit den Ideen vom Schicksal und Zufall und weiterhin
mit dem Unterschied der epochalen abendländischen und der episodischen
antiken Tragik zusammen.

Es mögen ferner anonyme und +persönliche+ Epochen unterschieden
werden, je nach ihrem physiognomischen Typus im Geschichtsbilde. Der
erste Teil jener Epoche, die Revolution, 1789-1799, ist durchaus
anonym, der zweite, napoleonische, 1799-1815, im höchsten Grade
persönlich gehalten. Die ungeheure Vehemenz dieser Erscheinung
hatte in einigen Jahren vollendet, was die entsprechende antike
Epoche (386-322), verschwommen und unsicher, in ganzen Jahrzehnten
„unterirdischen Abbaues“ zu leisten hatte. Es gehört zum organischen
Typus aller Kulturen, zum Urphänomen, daß in jedem Stadium zunächst
die gleiche Möglichkeit vorhanden ist, das Notwendige in Gestalt einer
großen Person (Ludwig XIV., Cäsar), eines großen anonymen Faktums
(peloponnesischer und dreißigjähriger Krieg) oder einer morphologisch
undeutlichen Entwicklung (Diadochenzeit, spanischer Erbfolgekrieg) zu
vollziehen. Welche Form die +Wahrscheinlichkeit+ für sich hat, ist
bereits eine Frage des historischen -- tragischen -- Stils.

Die Geschichte, wie sie vor dem faustischen Auge sich als Weltbild
entrollt, verwirklicht ihre Epochen in persönlicher +oder+
anonymer Fassung; die Tragödie drängt zur persönlichen als der
symbolisch bedeutenderen hin. Ein Dichter der Revolution würde ihren
Gehalt in eine repräsentative Person, Danton etwa, drängen. Unsere
Dramen sind Dramen einzelner Charaktere. Goethes Wahlverwandtschaften
bilden eine seltene Ausnahme. Ein tragischer Charakter ist der, welcher
Epoche macht, Werther z. B. Antike „Charaktere“ von epochemachender
Bedeutung gibt es also nicht.

Jede wahre Epoche bedeutet auch eine wahre Tragödie, aber in unserem,
nicht im antiken Sinne. Parzeval, Don Quijote, Hamlet, Faust sind
solche Tragödien, die eine ganze historische Krisis in einem Charakter
resümieren und man darf deshalb jede große Tragödie unserer Kultur im
Gegensatz zu jeder antiken, notwendig ahistorischen und mythischen eine
historische nennen, so frei ihre Fabel erfunden sein mag; andernfalls
ist sie „Genre“ wie bei Schiller und Alfieri. Shakespeares Cäsar stirbt
im dritten Akt. Diese Tragödie gestaltet eine Epoche und der Dichter
fühlte -- ganz unbewußt, wie sich versteht --, daß eine empirische
Person nur Symbol, nur Oberflächengebilde ist.[48] Die Handlung
vollendet sich mithin erst dort, wo die Epoche, nicht wo das sinnliche
Dasein ihres Trägers zu Ende war. Cäsar ist in einem tieferen Sinne
erst bei Philippi gefallen, +in der Gestalt des Brutus nämlich+,
die seine +Mission+ vollendete, während Antonius, sein Erbe im
Sinne des historischen Vordergrundes, in Alexandria eine neue Epoche
einleitete, die bei Philippi zutage trat und im Drama von Actium
schloß. Aber dies ist der Cäsar unseres, +nicht des antiken+
Weltbildes. Die antike Geschichte ist wie die antike Tragödie in sich
selbst episodisch, nicht epochal angelegt.

Man nehme die Tragödie Napoleons. Seine Bestimmung war die Vollendung
der abendländischen Zivilisation. Er bedeutet dasselbe wie Philipp
und Alexander, die den Hellenismus an Stelle der hellenischen Kultur
heraufführten, so daß in beiden Fällen die Entscheidungen der
historischen Oberfläche nicht mehr durch Konvent und Guillotine,
durch den Ostrakismos und die Beschlüsse der Agora, nicht durch
journalistische und rhetorische Gesten wie zur Zeit Rousseaus,
Voltaires, des Aristophanes und Sokrates, sondern auf den großen
Schlachtfeldern von ganz Europa und dort auf dem Boden des alten
Perserreiches getroffen wurden.

Das Tragische seines Lebens -- noch unentdeckt für einen Dichter,
der groß genug wäre, es zu begreifen und zu formen -- liegt darin,
daß er, dessen Dasein im Kampfe gegen die englische Politik, die
vornehmste Repräsentantin des englischen Geistes, aufging, eben durch
diesen Kampf den Sieg dieses Geistes auf dem Kontinent vollendete,
der dann mächtig genug war, in der Gestalt „befreiter Völker“ ihn zu
überwältigen und in St. Helena sterben zu lassen. Nicht er war der
Begründer des Expansionsprinzips. Das stammte aus dem Puritanismus
der Generation Cromwells, der das britische Kolonialsystem ins Leben
gerufen hatte,[49] und es war seit dem Tage von Valmy, den Goethe
allein begriff, wie sein berühmtes Wort am Abend der Schlacht beweist,
unter Vermittlung englisch geschulter Köpfe wie Rousseau und Mirabeau
die Tendenz der Revolutionsheere, die durchaus von den Ideen der
englischen Philosophie vorwärts getrieben wurden. Nicht Napoleon hat
diese Ideen, sie haben ihn geschaffen, und als er den Thron bestieg,
mußte er sie weiter verfolgen, gegen die einzige Macht, England
nämlich, die +dasselbe+ wollte. Sein Empire ist eine Schöpfung von
französischem Blute, aber englischem Stil. In London war durch Locke,
Shaftesbury, Clarke, vor allem Bentham, die Theorie der „europäischen“
Zivilisation, des Hellenismus des Abendlandes, ausgebildet und von
Bayle, Voltaire, Rousseau nach Paris getragen worden. Im Namen
+dieses+ England des Parlamentarismus, der Geschäftsmoral und
des Journalismus kämpfte man bei Valmy, Marengo, Jena, Smolensk und
Leipzig, und englischer Geist hat in all diesen Schlachten gesiegt --
über die französische Kultur des Abendlands.[50] Der Erste Konsul hatte
keineswegs den Plan, Westeuropa Frankreich einzuverleiben; er wollte
zunächst -- der Alexandergedanke an der Schwelle jeder Zivilisation!
-- an Stelle des englischen ein französisches Kolonialreich setzen,
durch welches er das politisch-militärische Übergewicht Frankreichs
über das abendländische Kulturgebiet auf eine kaum angreifbare
Basis gestellt hätte. Es wäre das Reich Karls V. gewesen, in dem
die Sonne nicht unterging, trotz Kolumbus und Philipp II. in Paris
konzentriert und nunmehr nicht als ritterlich-kirchliche, sondern als
wirtschaftlich-militärische Einheit organisiert. Soweit -- vielleicht
-- lag Schicksal in seiner Mission. Aber der Pariser Friede von 1763
hatte die Frage schon +gegen+ Frankreich entschieden und seine
mächtigen Pläne sind jedesmal an winzigen Zufällen gescheitert; zuerst
vor St. Jean d’Acre durch ein paar rechtzeitig von den Engländern
gelandete Geschütze; dann nach dem Frieden von Amiens, als er das
ganze Mississippital bis zu den großen Seen besaß und mit Tippo Sahib,
der damals Ostindien gegen die Engländer verteidigte, Beziehungen
anknüpfte, an einer irrtümlichen Flottenbewegung seines Admirals, die
ihn zum Abbruch einer sorgfältig vorbereiteten Unternehmung zwang;
endlich als er zum Zweck einer neuen Landung im Orient das Adriatische
Meer durch die Besetzung von Dalmatien, Korfu und ganz Italien zu einem
französischen gemacht hatte und mit dem Schah von Persien über eine
Aktion gegen Indien unterhandelte, an Launen des Kaisers Alexander,
der zu Zeiten einen Marsch nach Indien wohl -- und dann mit sicherem
Erfolg -- unternommen hätte. Erst indem er nach dem Scheitern aller
außereuropäischen Kombinationen die Einverleibung von Deutschland
und Spanien als ultima ratio im Kampfe gegen England wählte, Ländern,
in denen sich nun gerade seine englisch-revolutionären Ideen gegen
ihn, ihren Vermittler, erhoben, hatte er den Schritt getan, der ihn
überflüssig machte.[51]

Ob das weltumfassende Kolonialsystem, einst von spanischem Geiste
entworfen, damals englisch oder französisch umgeprägt wurde, ob die
„Vereinigten Staaten von Europa“, das Seitenstück +damals+
der Diadochenreiche und nun in Zukunft des Imperium Romanum, durch
ihn als romantische Militärmonarchie auf demokratischer Basis oder
im 21. Jahrhundert durch einen cäsarischen Tatsachenmenschen als
rein wirtschaftliches Faktum Wirklichkeit wurden -- das gehört zum
Zufälligen des Geschichtsbildes. Seine Siege und Niederlagen, in denen
immer ein Sieg Englands, ein Sieg der Zivilisation über die Kultur,
verborgen war, sein Kaisertum, sein Sturz, die _grande nation_,
die episodische Befreiung Italiens, die 1796 wie 1859 nicht viel
mehr als das politische Kostüm eines längst bedeutungslos gewordenen
Volkes änderte, die Zerstörung des Deutschen Reiches, einer gotischen
Ruine, sind Oberflächenbildungen, hinter denen die große Logik der
eigentlichen, unsichtbaren Geschichte steht, und in ihrem Sinne vollzog
damals das Abendland den Abschluß der in französischer Gestalt, im
ancien régime zur Vollendung gelangten Kultur durch die englische
Zivilisation. Als Symbole identischer Phänomene entsprechen also
die Bastille, Valmy, Austerlitz, Waterloo, der Aufschwung Preußens,
den antiken Faktoren der Schlachten von Chäronea und Gaugamela, dem
Königsfrieden, dem Zug nach Indien und der Entwicklung Roms und man
begreift, daß in Kriegen und politischen Katastrophen, der _pièce
de résistance_ unserer Geschichtsschreibung, der Sieg nicht das
Wesentliche eines Kampfes und der Friede nicht das Ziel einer Umwälzung
ist.

Die durch den Namen Luthers bezeichnete und, wie man zugeben muß,
nicht eben glücklich durchgeführte Epoche ist ein anderes Beispiel.
Hier war eine anonyme Entwicklung -- auf dem Wege von Konzilien --
sogar naheliegend. Savonarola hatte im Einverständnis mit dem Könige
von Frankreich den Gedanken verfolgt, und seiner Erhebung zum Papste
wären mehrere Kardinäle kaum abgeneigt gewesen. Luthers innere und
äußere Entwicklung hängt mit der zufälligen Dauer des Pontifikats
einiger Mächte, Leos X. vor allem, eng zusammen. Man denke sich
Hadrian VI. an dessen Stelle. Wie der tiefere Sinn aller Schlachten
und Dekrete Napoleons nicht in der von ihm erstrebten oder erreichten
Absicht lag, so waren alle Handlungen Luthers nach ihrer äußeren
Absicht und ihrem realen Erfolge von den tieferen Tendenzen der in
ihm verkörperten Epoche unabhängig. Er hätte als Märtyrer oder Papst
sterben können; beides war möglich. Aber das wäre eher gewesen, was
die Griechen Nemesis nannten, ein bloßes Vordergrundschicksal, das den
Menschen, nicht die Idee berührte. Man konnte den ehrgeizigen Mönch zum
Haupte eines Konzils machen; seine Entwicklung zu einem Reformpapst
von gemäßigten Anschauungen und diplomatischer Konzilianz war nicht
unwahrscheinlich. Luthers ohnehin widerspruchsvolle, von Selbsthaß
und Selbstliebe gefärbte Stimmungen und Entschlüsse waren im hohen
Grade von dem Respekt abhängig, den fürstliche Gönner seiner Person
erwiesen, und anfangs waren seine Ziele von denen anderer, auch denen
des letzten deutschen Papstes, Hadrians VI., nicht allzu verschieden.
Vielleicht haben solche Gedanken ihn gelegentlich bewegt -- denn was
wissen wir von seinen innersten Erlebnissen? Von geringen Varianten
hing damals die ganze sichtbare Fassung der abendländischen Kultur ab
und eine Kirchenspaltung lag zunächst außer aller Wahrscheinlichkeit.
Endlich ist er dann der Brutus der Kirche geworden. Shakespeare hat da
den Typus des Grüblers aufgestellt, dem die +Gnade+ fehlt. Auch
dies ist eine tragische Möglichkeit, eine Epoche durchzuführen: die
Selbstvernichtung dessen, der sie in der wirklichen Welt repräsentiert.
Brutus tötet Cäsar, Luther die Kirche -- im Dienst einer Theorie.
Er +hat+ sie getötet. Sie hat seitdem, zur ständigen Notwehr
gegen den Protestantismus verurteilt, ihre königliche Freiheit, ihre
tiefe, heute nicht mehr verstandene Liberalität eingebüßt. Sie
war naiv gewesen, nun wurde sie peinlich. Und auch das Luthertum
erlebte sein Philippi -- als der katholische Geist in ihm eine neue
Orthodoxie schuf, der gegenüber Luthers Tat immer wieder, im Pietismus,
Rationalismus, Materialismus, Anarchismus, vollzogen wurde. Alles
dies gehört, bei aller Größe der Erscheinung, nur zum Gewande des
Zufällig-Historischen, in welches das Schicksal selbst sich hüllt.

Wie aber von der Person Luthers feine Fäden sich rückwärts zu der
Heinrichs des Löwen und vorwärts zu der Bismarcks spinnen, zwei anderen
„Zufälligen“ des hohen Nordens, in denen Epochen zum Ausdruck kamen,
die als Triumphe über den Hang zum Süden, zum Sorglosen, zum Rausch
innerlichst verwandt sind -- es liegen in merkwürdiger Deutlichkeit des
Periodischen je 345 Jahre zwischen den symbolischen Akten von Legnano,
Worms und Königgrätz --, das beweist eine physiognomische Prägnanz des
Erlebens, deren nur die abendländische Seele mit ihrem großen Sinn für
den reinen Raum und die Historie fähig war und die nur in dem unsagbar
durchsichtigen und logischen Aufbau der ägyptischen Geschichte -- der
Verwirklichung der ägyptischen Seele -- ein Seitenstück hat.


18

Wer diese Ideen in sich aufgenommen hat, wird es verstehen,
wie verhängnisvoll das in einer exakten Form erst den späten
Kulturzuständen eigene und dann um so tyrannischer auf das Weltbild
wirkende Kausalitätsprinzip für das Erlebnis echter Geschichte werden
mußte. Kant hatte höchst vorsichtig die Kausalität als notwendige Form
der Erkenntnis festgestellt. Das Wort Notwendigkeit hörte man gern,
aber man überhörte die Einschränkung des Prinzips auf ein einzelnes
Erkenntnisgebiet, die gerade den modernen Historismus ausschloß. Das
ganze 19. Jahrhundert war bemüht, die Grenze von Natur und Geschichte
zugunsten der ersten zu verwischen. Je historischer man denken wollte,
desto mehr vergaß man, wie hier +nicht+ gedacht werden durfte.
Indem man das starre Schema einer optisch-räumlichen Beziehung, Ursache
und Wirkung, gewaltsam auf Lebendiges anwandte, zeichnete man in das
sinnliche Oberflächenbild der Historie die konstruktiven Linien des
Naturbildes ein, und niemand fühlte -- inmitten später, an kausalen
Denkzwang gewöhnter Intelligenzen -- die tiefe Absurdität einer
Wissenschaft, welche Werdendes durch ein methodisches Mißverständnis
als Gewordenes begreifen wollte. +Zweckmäßigkeit+ war das große
Wort, mit dem der zivilisierte Geist die Welt sich assimilierte. Eine
Maschine ist zweckmäßig konstruiert. Sie ist damit nützlich geworden.
+Folglich+ kann die Geschichte nur eine analoge Konstruktion
besitzen: Auf diesem Schlusse beruht der historische Materialismus.
Wollten wir den eigentlichen Schicksalsgedanken recht deutlich erleben,
so müssen wir uns in das Seelenleben unserer Kindheit und dessen Umwelt
versenken. Hier war das Bewußtsein durchaus mit den Eindrücken einer
+lebendigen+ Wirklichkeit erfüllt, dämonisch, verhängnisvoll,
zwecklos im erhabenen Sinne, ein ewiges Weben und Schweben, von
rätselhaftem, außernatürlichem Gehalte. Hier gab es wirklich eine
„Zeit“. Hier herrschte in äußerster Reinheit das Phantasiebild, das
dem späteren, abgeklärten, auch matteren Geschichtsbilde die Züge
vorzeichnete, welch letzteres mehr und mehr dem kausalen Naturbilde des
zivilisierten Menschen erliegt.

Wissenschaft ist immer Naturwissenschaft. Wissen, Erfahrung gibt es
nur von Gewordenem, Ausgedehntem, Erkanntem. Wie Leben zur Geschichte,
so gehört Wissen zur Natur -- zu der als Element begriffenen, im Raume
betrachteten, nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung gestalteten
gegenwärtigen Sinnlichkeit. Gibt es also überhaupt eine Wissenschaft
der Historie? Erinnern wir uns, wie in jedem persönlichen Weltbilde,
das dem idealen Bilde nur mehr oder weniger nahekommt, etwas von beidem
erscheint, keine Natur ohne lebendige, keine Geschichte ohne kausale
Einklänge ist. Ohne Zweifel gibt es in jedem Geschichtsbilde Züge von
kausaler und naturgesetzlicher Art und sie sind es, auf die aller
Pragmatismus seine Ansprüche stützt. Ohne Zweifel ist auch das Gefühl,
welches einen echten Zufall gegenüber einem Schicksal statuiert, auf
Eindrücke dieser Art begründet. So sonderbar es klingt, der Zufall im
alltäglichen Sinne ist mit dem Kausalitätsprinzip innerlich verwandt.
Das Anorganische, Richtungslose verbindet sie. Aber sie sind beide
etwas Fremdes im Geschichtsbilde; sie gehören der Oberfläche an, deren
sinnliche Plastizität mindestens kausale +Gedächtnismomente+
weckt. Sicherlich ist das Geschichtsbild eines Menschen -- und
damit der Mensch selbst -- um so flacher, je entschiedener der
handgreifliche Zufall in ihm regiert, und sicherlich ist mithin
eine Geschichtsschreibung um so leerer, je mehr sie ihr Objekt
durch Feststellung kausaler Beziehungen erschöpft. Je tiefer jemand
Geschichte erlebt, desto seltener wird er streng kausale Eindrücke
haben und desto gewisser wird er sie als gänzlich bedeutungslos
empfinden. Man prüfe Goethes naturwissenschaftliche Schriften, und
man wird erstaunt sein, die Darstellung einer lebendigen Natur ohne
Formeln, ohne Gesetze, fast ohne Spuren von Kausalem zu finden. Zeit
ist für ihn keine Distanz, sondern ein Gefühl. Der bloße Gelehrte, der
analysiert, nicht fühlt, besitzt kaum die Gabe, hier das Letzte und
Tiefste zu erleben. Die Geschichte fordert sie aber; und so besteht das
Paradoxon zu Recht, daß ein Geschichtsforscher um so bedeutender ist,
je weniger er der eigentlichen Wissenschaft angehört.

Ein Schema möge das Gesagte zusammenfassen:

   Seele ---------------------------------> Welt
  |                                             |
  +----------+-------------------------------+--+
             |                               |
           Leben                             V
          Wirken                         Wirklichkeit
         Richtung                        Ausdehnung
        +Schicksal+                      +Kausalität+
  (Form des Erlebens) \            (Form des Erkannten)
            ¦          \          /           ¦
            ¦           \        /            ¦
            ¦            \      /             ¦
            V             \    /              V
       Geschichte          \  /             Natur
      Physiognomik          \/           Systematik
  (Menschenkenntnis)        /\  (Wissenschaftliche Erkenntnis)
       Urphänomen         ⭩   ⭨           Objekt
    +Tragödie+, Kunst           +Physik+, Logik
      (Fügung)                          (Bewegung)


19

Darf man irgendeine Gruppe elementarer Phänomene sozialer,
physiologischer, ethischer Natur als Ursache einer andern setzen? Die
pragmatische Geschichtsschreibung kennt im Grunde nichts andres. Das
heißt für sie, die Geschichte begreifen, ihre Erkenntnis vertiefen.
In der Tiefe aber liegt für den zivilisierten Menschen immer der
+praktische Zweck+. Ohne ihn wäre die Welt sinnlos. Allerdings
ist auf diesem Standpunkte die gar nicht physikalische +Freiheit
in der Wahl der Motive+ nicht ohne Komik. Der eine wählt diese,
der andre jene Gruppe als _prima causa_ -- eine unerschöpfliche
Quelle wechselseitiger Polemik -- und alle füllen ihre Werke mit
vermeintlichen Erklärungen des Ganges der Geschichte im Stile
physikalischer Zusammenhänge. Schiller hat dieser Methode, durch
eine seiner unsterblichen Banalitäten, den Vers vom Weltgetriebe,
das sich „nur durch Hunger und durch Liebe“ erhält, den klassischen
Ausdruck gegeben. Das 19. Jahrhundert hat seine Meinung zu kanonischer
Geltung erhoben. Damit war der Kult des Nützlichen an die Spitze
gestellt. Ihm hat Darwin im Namen des Jahrhunderts Goethes Naturlehre
zum Opfer gebracht. Ohne Zweifel, das Leben war eine Entwicklung
zu einem zweckmäßigen Ziele. Der Instinkt, der Intellekt waren die
Mittel dazu. Aber gibt es historische, seelische, gibt es überhaupt
lebendige „+Prozesse+“? Haben historische Bewegungen, die
Zeit der Aufklärung oder die Renaissance etwa, irgend etwas mit
dem +Naturbegriff+ der Bewegung zu tun? Mit dem Worte Prozeß
war das Schicksal allerdings abgetan. Das Geheimnis des Werdens
war „aufgeklärt“. Es gab keine tragische, es gab nur noch eine
mathematische Logik. Der „exakte“ Historiker setzt nunmehr höchst
naiv voraus, daß im Geschichtsbilde eine Folge von Zuständen von
mechanischem Typus vorliegt, daß sie verstandesmäßiger Analyse wie
ein physikalisches Experiment oder eine chemische Reaktion zugänglich
ist und daß mithin die Gründe, Mittel, Wege, Ziele ein greifbar an
der Oberfläche des Sichtbaren liegendes Gewebe bilden müssen. Der
Aspekt ist überraschend vereinfacht. Und man muß zugeben, daß bei
hinreichender Flachheit des Betrachters die Voraussetzung -- für
+seine+ Person und deren Weltbild -- zutrifft.

Hunger und Liebe -- das sind aus diesem Aspekte mechanische
Ursachen mechanischer Prozesse im „Völkerleben“. Sozialprobleme
und Sexualprobleme -- beide einer Physik oder Chemie des
öffentlichen, allzuöffentlichen Daseins angehörend -- sind mithin
das selbstverständliche Thema utilitarischer Geschichtsbetrachtung
und +also auch+ der ihr entsprechenden Tragödie. Denn das
soziale Drama steht mit Notwendigkeit neben der materialistischen
Geschichtsbetrachtung. Und was in den „Wahlverwandtschaften“ Schicksal
im höchsten Sinne ist, ist in der Frau „vom Meere“ nichts als ein
Sexualproblem. Ibsen und alle Verstandespoeten unsrer großen Städte
sind im Mechanismus der vitalen Oberfläche stecken geblieben. Sie
konstruieren, sie dichten nicht. Sie kennen nur eine mathematische,
keine Logik des Schicksals. Hebbels schwere künstlerische Kämpfe galten
immer nur dem Versuch, dieses Elementare und schlechthin Prosaische
seiner mehr wissenschaftlichen als intuitiven Anlage zu überwinden --
trotz ihrer ein +Dichter+ zu sein --, daher sein unmäßiger, ganz
ungoethescher Hang zum +Motivieren+ der Begebenheiten. Motivieren
bedeutet hier, bei Hebbel, bei Ibsen, bei +Euripides+, das
Tragische -- das Lebendige also -- +kausal gestalten wollen+. Das
Schicksal wird zum Mechanismus, die Physiognomie zum System. Hebbel
redet gelegentlich vom +Schraubenzug+ in der Motivation eines
Charakters. Die Kasuistik überwindet die innere Bewegtheit. Die in
Worte nicht zu fassende +Idee+, die bei Goethe ein Werk trägt,
erstarrt zu einer praktischen +Tendenz+, zu einer Formel. Das ist
der Wechsel, der sich zwischen Kultur und Zivilisation in der Bedeutung
des Wortes +Problem+ vollzieht. Dem entspricht es, daß Dichter
wie Historiker vom zivilisierten Typus als Politiker im Parteimäßigen
stecken bleiben. Es fehlt an innerer Überlegenheit, an Tiefe, an
Würde. Man prüfe daraufhin den Abstieg von Goethe, in dessen Egmont
die einzigen Szenen von diplomatischer Feinheit stehen, zu Hebbels
abstraktem Raisonnement und weiter zu Ibsens und Shaws Bedürfnis nach
agitatorischem Spektakel. Hier ist es klar: Man ist weit entfernt, in
der Historik eine streng morphologische Aufgabe finden zu wollen, so
wenig man im Drama ein reines Kunstwerk gestalten will. Der Kult des
Nützlichen hat hier wie dort ein ganz andres Ziel festgelegt. Unter
Form versteht man die handgreifliche Wirksamkeit. Die Szene ist wie
das Geschichtswerk ein Mittel dazu. Der Darwinismus hat, so unbewußt
das geschehen sein mag, die Biologie politisch wirksam gemacht. Es
ist irgendwie eine demokratische Rührigkeit in den hypothetischen
Urschleim gekommen, und der Kampf der Regenwürmer ums Dasein erteilt
den zweibeinigen Schlechtweggekommenen eine gute Lehre.

In diesem Aspekt hat der Intellekt über die Seele gesiegt. In
Weltstädten gibt es kein Innenleben mehr; es gibt nur noch psychische
Prozesse. Die Schickialsidee ist überwunden; es gibt nur noch
mechanische und physiologische Zusammenhänge. Zufall ist das, was man
+noch nicht+ in eine physikalische Formel gebracht hat. Es erscheint
hier der tiefe Gegensatz von Tragik und Experiment (das Goethe so
haßte und das ihm Kleists Manier so verhaßt machte). Kleists, Hebbels,
Ibsens, Strindbergs, Shaws Dramen sind Seelenexperimente, wobei
man unter Seele das spinnenhafte Etwas der modernen Psychologie,
das Assoziationsbündel zu verstehen hat. Zola hat den Begriff des
_roman expérimental_ geschaffen. Auf die _petits faits_ kommt es
an, aus deren Summe man den Menschen +herausrechnet+. Der Intellekt
hat an Stelle frühmenschlicher und auch noch Goethescher Intuition
das sinnlich-bewegte Bild des Lebens nach +seinem+ Bilde, zu einem
Mechanismus nämlich, umgeformt. Das bedeutet ein tragisches Problem
in den Händen dieser Schriftsteller. Tragisch ist das Unzweckmäßige
(Rosmer). Tragisch ist vor allem das Zweckmäßige, wenn es keine
Gelegenheit hat, sich nützlich zu machen (Nora). Aus der Idee der
Erbsünde ist die Vererbungstheorie geworden (Gespenster). Die Idee
der Gnade heißt jetzt das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl. Ein
Problem durch den Fall eines Dramas „lösen“ wollen -- das ist eine
Laboratoriumsarbeit. Wir werden daran erinnert, daß zum Mechanischen
die Mathematik gehört. Jedes gute Ibsen-Drama schließt mit einer
+Formel+. Das Leben durch anatomische und physiologische Untersuchung
von Ganglien, Muskelfibrillen und Eiweißverbindungen begreifen
zu wollen, die biologische Manier und Manie in der Behandlung
gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Fragen sind durchaus Schwestern
dieser problematischen Kausalitätspoesie und der auf die gleichen
Oberflächenmotive versessenen Geschichtsschreibung unsrer Tage. An
Stelle des Schicksals -- von dem sie keine Ahnung haben -- geraten sie
ohne Ausnahme auf soziale und sexuelle „Fragen“, die sie an seiner
Stelle „behandeln“.

Und doch hätten die Historiker gerade von den Vertretern unsrer
reifsten Wissenschaft, der Physik, Vorsicht lernen sollen. Die
kausale Methode zugegeben, so ist es die Flachheit ihrer Anwendung,
die beleidigt. Hier fehlt es an geistiger Disziplin, an der Größe
des Blickes, von der tiefen Skepsis, welche der Art des Gebrauchs
physikalischer Hypothesen innewohnt, ganz zu schweigen. Denn der
Physiker betrachtet seine Atome und Elektronen, Ströme und Kraftfelder,
den Äther und die Masse weitab vom Köhlerglauben des Laien und Monisten
als +Bilder+, deren Formensprache er den abstrakten Beziehungen
seiner Differentialgleichungen unterlegt, ohne in ihnen eine andre
Wirklichkeit als die konventioneller Zeichen zu suchen. Und er weiß,
daß auf diesem, der Wissenschaft allein möglichen Wege nur eine
symbolische Deutung des Mechanismus der verstandesmäßig aufgefaßten
Außenwelt -- +nicht mehr+ -- erreicht werden kann, sicherlich keine
„Erkenntnis“ im hoffnungsvoll populären Sinne aller Darwinisten und
materialistischen Historiker. Die Natur -- Schöpfung und Abbild des
Geistes, sein _alter ego_ im Bereich des Ausgedehnten -- +erkennen+,
bedeutet sich selbst erkennen.

Eine gleiche Skepsis gegenüber der sinnlich-gedächtnismäßigen
Bildfläche des „organischen Lebens“ und der Menschengeschichte,
die nur ein Teil von ihm ist, wäre am Platze gewesen, aber hier
hat die Selbsterkenntnis, die echte Naivität, die Distanz, die
Uninteressiertheit im großen Sinne gefehlt. Wie die Physik unsre
reifste, so ist die Biologie nach Gehalt und Methode unsre schwächste
Wissenschaft. Was +wirklich+ Geschichtsforschung sei, Physiognomik
nämlich, ist durch nichts deutlicher zu machen als durch den Verlauf
von Goethes Naturstudien. Er treibt Mineralogie: sogleich fügen sich
ihm die Einsichten zum Bilde einer Erdgeschichte zusammen, in dem sein
geliebter Granit das bedeutet, was ich innerhalb der Kulturgeschichte
das Urmenschliche nenne -- und er entdeckt die Eiszeiten. Er untersucht
bekannte Pflanzen und das Phänomen der Metamorphose erschließt sich
ihm, die Urgestalt der +Geschichte+ alles Pflanzendaseins, und er
gelangt weiterhin zu jenen seltsam tiefen Einsichten über die Vertikal-
und Spiraltendenz der Vegetation, die noch heute nicht recht begriffen
worden sind. Seine Knochenstudien, durchaus auf das Anschauen des
Lebendigen gerichtet, führen ihn zur +entscheidenden+ Entdeckung
des _os intermaxillare_ beim Menschen und der Einsicht, daß das
Schädelgerüst der Wirbeltiere sich aus sechs Wirbelknochen entwickelt
hat. Hier ist nicht von Kausalität und Teleologie die Rede. Hier
empfand er die Notwendigkeit des Schicksals, wie er sie in seinen
orphischen Urworten ausgedrückt hat. Der Darwinismus hat diese
großen Ansätze verdorben, nicht vertieft. Überall ist es das reine,
lebendige Werden, das Goethe im sinnlich-gegenwärtigen Bilde anschaut
und nicht ein platter Zusammenhang von Ursache, Wirkung, Nutzen und
Zweck. Die bloße Chemie der Gestirne, die +mathematische+ Seite
physikalischer Beobachtungen, die eigentliche Physiologie kümmern ihn,
den großen Historiker der Natur, nicht, weil sie Systematik, Erfahrung
von Gewordnem, Totem, Starrem sind, und dies liegt seiner Polemik
gegen Newton zugrunde -- ein Fall, in dem beide recht haben: der eine
+erkannte+ in der toten Farbe den exakt gesetzlichen Naturprozeß,
der andre, der Künstler, hatte das intuitiv-sinnliche +Erlebnis+;
hier liegt der Gegensatz beider Welten zutage und ich fasse ihn jetzt
in seiner ganzen Schärfe zusammen.

Leben, Geschichte trägt das Merkmal des Einmalig-Tatsächlichen, Natur
das des Ständig-Möglichen. Solange ich das Bild der Umwelt daraufhin
beobachte, nach welchen Gesetzen es sich verwirklichen +muß+, ohne
Rücksicht darauf, ob es geschieht oder nur geschehen könnte, zeitlos
also, bin ich Naturforscher, treibe ich eine Wissenschaft. Es macht
für die Notwendigkeit eines Naturgesetzes -- und andere Gesetze gibt
es nicht -- nicht das geringste aus, ob es unendlich oft oder nie
in Erscheinung tritt, d. h. es ist +vom Schicksal unabhängig+.
Tausende chemischer Verbindungen kommen nie vor und werden niemals
hergestellt werden, aber sie sind als möglich bewiesen und also sind
sie da -- für das +System der Natur, nicht für die Geschichte
des Weltalls+. Geschichte aber ist der Inbegriff des einmaligen
wirklichen +Erlebens+. Hier herrscht die Richtung im Werden, nicht
die Ausgedehntheit des Gewordnen, das, was einmal war, nicht das,
was immer möglich ist, das +Wann+, nicht das +Was+. Hier
gibt es nicht Gesetze von Objekten, sondern Ideen, die in Phänomenen
sich symbolisch offenbaren. Es kommt darauf an, was sie bedeuten,
nicht, was sie sind. Man hat die eigne Notwendigkeit dieser Sphäre
bisher nie begriffen und an Naturnotwendigkeiten -- Kausalitäten
angeknüpft. Der Physiker darf versichern, daß es keinen Zufall
gibt. Das bedeutet für ihn: innerhalb des mechanisch-begrifflichen
Natursystems sind Phänomene von historischer Bewegtheit, Ereignisse,
die sich nie wiederholen können, unmöglich; hier herrscht die zeitlose
Kausalität ohne Einschränkung, wenn die Reinheit und Geschlossenheit
des Naturbildes gewahrt bleiben soll. Solange ich mit meiner ganzen
gegenwärtigen Existenz im Weltbilde der Natur bin, frage ich, zu
welcher Gattung diese Blume gehört und welches die Gesetze ihrer
Ernährung, Entwicklung, Fortpflanzung sind, aber nicht, weshalb sie an
dieser Stelle wuchs und ich sie gerade jetzt erblicke. Ich frage nach
den Gesetzen der Spektralanalyse, aber nicht, weshalb die Natriumlinie
dem irdischen Auge gelb erscheint. Ich frage nach den Formeln der
Thermodynamik, aber nicht, weshalb sie im menschlichen Bewußtsein,
dessen Abbild doch die Welt ist, gerade diese und nicht andere sind.
Ich frage nach den Rassemerkmalen der Hellenen und Germanen, aber
nicht, was es bedeutet, daß diese ethnischen Formen gerade dort und
damals entstanden sind. Das eine ist Gesetz, das Gesetzte, über dessen
Sinn und Ursprung die exakte Wissenschaft schweigt; das andre ist
Schicksal. Im einen liegt die Notwendigkeit des Mathematischen, im
andern die des Tragischen.

In der Wirklichkeit des wachen Daseins verweben sich beide Welten,
die der Beobachtung und die der Hingebung, wie in einem Brabanter
Wandteppich Kette und Einschlag das Bild „wirken“. Jedes Gesetz
muß, um für den Geist überhaupt +vorhanden+ zu sein, einmal durch
eine Schicksalsfügung innerhalb der Geistesgeschichte entdeckt,
d. h. +erlebt+ worden sein, jedes Schicksal erscheint in einer
sinnlichen Verkleidung -- Personen, Taten, Szenen, Gebärden --, in
der Naturgesetze am Werke sind. Das urmenschliche Leben war der
dämonischen Einheit des Schicksalhaften hingegeben; im Bewußtsein
reifer Kulturmenschen kommt der Widerspruch jenes frühen und dieses
späten Weltbildes niemals zum Schweigen; im zivilisierten Menschen
erliegt das tragische Weltgefühl dem mechanisierenden Intellekt.
Geschichte und Natur stehen +in uns+ einander gegenüber wie +Leben+
und +Tod+, wie die +ewig werdende+ Zeit und der +ewig gewordene Raum+.
Im wachen Bewußtsein ringen Werden und Gewordnes um den Vorrang im
Weltbilde. Die höchste und reifste Form beider Arten der Betrachtung,
wie sie nur großen Kulturen möglich ist, erscheint für die antike Seele
im Gegensatz von Plato und Aristoteles, für die abendländische in dem
von Goethe und Kant: die reine Physiognomik der Welt, erschaut von
der Seele eines ewigen Kindes, und die reine Systematik, erkannt vom
Verstande eines ewigen Greises.


20

Und hier erblicke ich nunmehr die +letzte+ große Aufgabe des
abendländischen Denkens, die einzige, welche dem alternden Geiste
der faustischen Kultur noch aufgespart ist, die, welche durch eine
jahrhundertelange Entwicklung unseres Seelentums vorbestimmt erscheint.
Es steht keiner Kultur frei, den Weg und die Haltung ihrer Philosophie
zu +wählen+; hier zum ersten Male aber kann eine Kultur voraussehen,
welchen Weg das Schicksal für sie gewählt hat.

Mir schwebt eine -- spezifisch abendländische -- Art, Geschichte im
höchsten Sinne zu erforschen, vor, die bisher noch nie aufgetaucht
ist und die der antiken und jeder andern Seele fremd bleiben mußte.
Eine umfassende Physiognomik des gesamten Daseins, eine Morphologie
des Werdens +aller+ Menschlichkeit, die auf ihrem Wege bis
zu den höchsten und letzten Ideen vordringt; die Aufgabe, das
Weltgefühl nicht nur der eigenen, sondern das +aller+ Seelen zu
durchdringen, in denen große Möglichkeiten überhaupt bisher erschienen
und deren Verkörperung im Bereiche des Wirklichen die einzelnen
Kulturen sind. Dieser philosophische Aspekt, zu dem die analytische
Mathematik, die kontrapunktische Musik, die perspektivische Malerei
uns das Recht geben, uns erzogen haben, setzt, über die Talente des
Systematikers, die Aufgaben des Rechnens, Ordnens, Zergliederns weit
hinausgehend, das Auge eines Künstlers voraus, und zwar das eines
Künstlers, der die sinnliche und greifbare Welt um sich in eine tiefe
Unendlichkeit geheimnisvoller Beziehungen sich vollkommen auflösen
fühlt. So fühlte Dante, so Goethe. Ein Jahrtausend organischer
Kulturgeschichte als Einheit, als +Person+ aus dem Gewebe des
Weltgeschehens herauszuheben und in ihren innersten seelischen
Bedingungen zu begreifen ist das Ziel. Wie man die bedeutenden Züge
eines Rembrandtschen Bildnisses, einer Cäsarenbüste durchdringt,
so die großen, tragischen, schicksalsvollen Züge im Antlitz einer
+Kultur+, als der menschlichen Individualität höchster Ordnung,
anzuschauen und zu verstehen ist die neue Kunst. +Wie+ es
+in+ einem Dichter, einem Propheten, einem Denker, einem Eroberer
aussieht, das hat man schon zu wissen versucht, aber in die antike,
ägyptische, arabische Seele überhaupt einzugehen, um sie mitzuerleben,
um in ihnen die Geheimnisse des Menschlichen überhaupt zu fühlen, das
ist eine neue Art „Lebenserfahrung“. Jede Epoche, jede große Gestalt,
jede Religion, Staaten, Völker, Künste, alles was je da war und da
sein wird, ist ein physiognomisches Moment von höchster Symbolik, das
ein +Menschenkenner+ in einem ganz neuen Sinne des Wortes zu
deuten hat. Eindrücke von höchster Realität, Sprachen und Schlachten,
Städte und Rassen, die Feiern der Isis und Kybele und die katholische
Messe, Hochofenwerke und Gladiatorenspiele, Derwische und Darwinisten,
Eisenbahnen und Römerstraßen, „Fortschritt“ und Nirwana, Zeitungen,
Sklavenmassen, Geld, Maschinen, alles ist in gleicher Weise, Zeichen
und Symbol im Weltbilde, wie es eine Seele als Ausdruck ihrer Wesenheit
vor sich verwirklicht. „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.“
Hier liegen Lösungen und Fernblicke verborgen, welche noch nicht
einmal geahnt worden sind. Dunkle Fragen, die den tiefsten aller
menschlichen Urgefühle, aller Angst, aller Sehnsucht, aller Religion
und Metaphysik zugrunde liegen und vom Denken in die Probleme der
Zeit, der Notwendigkeit, des Raumes, der Liebe, des Todes, Gottes
verkleidet worden sind, werden aufgehellt. Es gibt eine ungeheure Musik
der Sphären, die +gehört+ sein will, die einige unsrer tiefsten
Geister hören +werden+. Die Physiognomik des Weltgeschehens wird
zur +letzten, faustischen Philosophie+.


Fußnoten:

[Footnote 39: Die antike Tragödie, eine liturgische Aktion, gestattet
den Umschlag vom Jubel zur Klage so gut wie den von der Klage zum
Jubel. Das letztere ist, wie im δρᾶμα von Eleusis, in Äschylus’
Eumeniden und Sophokles’ Ödipus in Kolonos der Fall. Nach Aristoteles
war dies sogar die ursprüngliche Form des „Tragischen“.]

[Footnote 40: Außer in der Elementarmathematik, unter deren Eindruck
allerdings die meisten Philosophen seit Schopenhauer diesen Fragen
nahetreten.]

[Footnote 41: Ganz ebenso steht an der Schwelle der arabischen Kultur
die Erfindung der christlichen Zeitrechnung. Diesen Akt eines hohen
historischen Weltgefühls hat das späte Arabertum mit der islamischen
Zeitrechnung noch einmal wiederholt.]

[Footnote 42: Man muß sich in die Gefühle eines Griechen versetzen, der
diese Sitte plötzlich kennen lernt.]

[Footnote 43: Der Weg von Calvin zu Darwin ist in der englischen
Philosophie leicht nachzuweisen.]

[Footnote 44: Dies gehört zu den ewigen Streitpunkten abendländischer
Poetik. Die antike, ahistorische, euklidische Seele hat keine
„Entwicklung“; die abendländische erschöpft sich in ihr; sie ist
„Funktion“ in Richtung auf einen Abschluß. Die eine „ist“, die andre
„wird“. Mithin setzt alle antike Tragik die Konstanz der Person voraus,
alle abendländische deren Variabilität. Erst dies ist „Charakter“ in
unserm Sinne, eine Gestalt des Seins, die in unablässiger Bewegtheit
und unendlichem Beziehungsreichtum besteht. +Bei Sophokles adelt
die große Geste das Leid, bei Shakespeare adelt die große Gesinnung
die Tat.+ Weil unsre Ästhetik ihre Beispiele ohne Unterschied aus
+beiden+ Kulturen nahm, konnte sie das grundlegende Problem nur
verfehlen.]

[Footnote 45: „Plus on vieillit, plus on se persuade, que sa sacrée
Majesté le Hazard fait les trois quarts de la besogne de ce misérable
Univers“ (Friedrich der Große an Voltaire). So empfindet ein echter
Rationalist mit Notwendigkeit.]

[Footnote 46: Diese Tyche kann auch als die naturwissenschaftliche
Größe aufgefaßt werden, deren heutiges Gegenstück der Determinismus
ist.]

[Footnote 47: Helios ist nur eine poetische Metapher. Er hatte weder
Tempel noch Statuen noch einen Kult. Noch weniger war Selene eine
Mondgöttin.]

[Footnote 48: Daran ändert es nichts, daß Shakespeare in Wirklichkeit
ein älteres Drama bearbeitet hat.]

[Footnote 49: Ich erinnere an das Wort Cannings aus dem Anfang des 19.
Jahrhunderts: „Südamerika frei -- und womöglich englisch!“ Reiner ist
der expansive Instinkt niemals zum Ausdruck gelangt.]

[Footnote 50: Die reife abendländische Kultur war eine durchaus
französische, die seit Ludwig XIV. aus der spanischen erwachsen war.
Aber schon unter Ludwig XVI. siegte in Paris der englische Park über
den französischen, die Empfindsamkeit über den esprit, Kleidung und
gesellschaftliche Formen von London über die von Versailles, Hogarth
über Watteau, Möbel von Chippendale und Porzellan von Wedgwood über
Reulle und Sarres.]

[Footnote 51: Hardenberg hat Preußen in streng englischem Geiste
reorganisiert, was ihm Friedrich August v. d. Marwitz zum schweren
Vorwurf machte. Ebenso ist die Heeresreform Scharnhorsts eine Art
„Rückkehr zur Natur“ im Sinne Rousseaus gegenüber den Berufsheeren der
Kabinettskriege zur Zeit Friedrichs des Großen.]




DRITTES KAPITEL

MAKROKOSMOS




I

DIE SYMBOLIK DES WELTBILDES UND DAS RAUMPROBLEM


1

Und so erweitert sich der Gedanke einer Weltgeschichte in streng
morphologischem Sinne zur +Idee einer allumfassenden Symbolik+. Die
Geschichtsforschung an sich hat nur den sinnlichen Inbegriff der
lebendigen Wirklichkeit, ihr flüchtiges Bild, zu prüfen und dessen
typische Formen festzustellen. Der Schicksalsgedanke ist der letzte,
bis zu dem sie vordringen kann. Indessen diese Forschung, so neu
und umfassend sie im hier angegebenen Sinne ist, kann dennoch nur
Fragment und Grundlage einer noch umfassenderen Betrachtung sein.
Ihr zur Seite steht eine Naturforschung, ebenso fragmentarisch und
eingeschränkt in ihrem Ideenkreise. Hier aber werden die letzten
Fragen des Seins überhaupt angerührt. Alles, dessen wir uns bewußt
sind, in welcher Gestalt auch immer, als Seele und Welt, Leben und
Wirklichkeit, Geschichte und Natur, Gesetz, Raum, Schicksal, Gott,
Zukunft und Vergangenheit, Gegenwart und Ewigkeit, hat für uns noch
einen tiefsten Sinn -- daß alles so ist und nicht anders -- und das
einzige und äußerste Mittel, dieses Unfaßliche faßlich zu machen, diese
Geheimnisse, die nur gefühlt und in seltenen Momenten mit visionärer
Deutlichkeit erlebt werden können, in einer allerdings dunklen Weise,
aber der einzig möglichen mitzuteilen -- vielleicht nur wenigen und
auserlesenen Geistern --, liegt in einer neuen Art von Metaphysik, für
die +alles+, es sei was es wolle, den Charakter eines +Symbols+ besitzt.

Symbole sind sinnliche Einheiten, letzte, unteilbare und vor allem
ungewollte Eindrücke von bestimmter Bedeutung. Ein Symbol ist ein
Stück Wirklichkeit, das für das leibliche oder geistige Auge etwas
bezeichnet, das verstandesmäßig nicht mitgeteilt werden kann. Ein
frühdorisches, früharabisches, frühromanisches Ornament z. B. auf
einer Vase, einer Waffe, an einem Portal oder Sarkophag ist der
sinnbildliche Ausdruck eines neuen Weltgefühls, das nur zu Menschen
einer einzigen Kultur redet und diese Menschen aus dem allgemeinen
Menschentum heraushebt und zusammenschließt. Die +gefühlte+
Einheit einer Kultur beruht auf der gemeinsamen Sprache ihrer
Symbolik. Gesetzt, daß alles, was ist, irgendwie +Ausdruck+ eines
Seelischen ist -- und wir werden uns davon überzeugen --, so ist es
zugleich auch +Eindruck auf+ eine Seele und dieser Zusammenhang,
in dem der Mensch zugleich Subjekt und Objekt ist, repräsentiert das
Wesen des Symbolischen. Es folgt daraus, daß auch der Mensch selbst
Symbol ist, als Person und als Menge, nicht nur der gegenwärtigen
Leiblichkeit nach, mit der er dem Weltbilde der Natur und dem Bereiche
der Kausalität angehört -- eben als Mensch, Familie, Volk, Rasse --,
sondern durch die Gesamtheit seines Seelenlebens, soweit dieses sich
selbst -- im Weltbilde der Geschichte -- als Schicksal, als werdend
begreift und als das Schicksal, das Werden „des andern“ miterlebt
werden kann.

Es ist dies eine gewagte und schwer zugängliche Betrachtungsweise.
Absolute Standpunkte -- die etwa das Ich, das Denken, die Natur, Gott
als Ausgang und Maßstab setzen --, wie sie die Philosophie um ihrer
Systematik willen liebt und im Grunde nicht entbehren kann, sind hier
selbst noch Symbole, +Objekte+, nicht Richtlinien der Betrachtung.

Für den abendländischen Menschen auf der Höhe seiner längst
großstädtisch und intellektuell gewordnen Kultur existiert ein
wohlgeordnetes Bild der Historie, dessen Mittelgrund die sechs
Jahrtausende der „Weltgeschichte“ auf einem kleinen Planeten bilden,
während der Horizont sich in astronomische, geologische oder
mythologische Fernen allmählich verliert. Dies Bild, ein wesentliches
Ergebnis unsres wachen Daseins, eine Welt, aus deren Hintergrund
die abendländische Seele sich selbst erst begreift, ist die +uns
notwendige+ Form, alles, was wirklich ist, als sich verwirklichend
geordnet aufzufassen. Vom sicheren Standpunkte des Jetzt und Hier
blicken wir über Vergangenheit und Zukunft hin. Nichts scheint realer
als diese Perspektive.

Aber dem Urmenschen ist eine solche Anschauung unbekannt. Der antike
und indische Mensch erlebte -- wie wir aus entscheidenden Zeichen
entnehmen -- Verwandtes, aber jedenfalls in schattenhaften Umrissen
und von ganz andrer Farbe. Also ist diese so klare und unzweideutige
„Weltgeschichte“ nur +unser+ Eigentum? Also gibt es keine historische,
für +alle+ Menschen vorhandene und identische Wirklichkeit? Also
ist dies ein bloßer Ausdruck, eine freie Phantasie, Funktion einer
+einzelnen+ Seele? Dies herdenhafte Gewoge menschlicher Generationen
durch Jahrhunderte hin, diese Episode im Werden zahlloser Sonnensysteme
durch Jahrmillionen, diese längst erstorbenen Landschaften einer
Kulturblüte am Nil, Ganges und Ägäischen Meer wären nichts als eine
Vision des faustischen Geistes? Erinnern wir uns, daß alle Philosophie
von jeher das gleiche vom Bilde der +Natur+ behauptete, indem sie es
+Erscheinung+ nannte. Der Mensch war gewiß ein Atom im Weltall, aber
das Weltall war zugleich das Produkt seiner Vernunft.

Dies ist das große Mysterium des menschlichen Bewußtseins, das man
einfach hinzunehmen hat. Der in ihm hervortretende Widerspruch ist
dem Denken unzugänglich. Idealistische wie realistische Lehren, die
das eine als Tatsache, das andere als Schein bezeichnen, können das
Geheimnis nur schematisch vergewaltigen, aber nicht lösen.

+Seele und Welt+: in dieser Polarität erschöpft sich das
Wesen unsres Bewußtseins, wie das Phänomen des Magnetismus sich im
wechselseitigen Widerstreben zweier Pole erschöpft. Diese Seele, und
zwar die jedes Einzelnen, welche +in sich+ diese ganze Welt des
historischen Werdens erlebt und +also schafft+, sie zum Ausdruck
ihres So-Seins macht, ist zugleich, aus einem anderen Aspekte, ein
winziges Element, ein flüchtiges Aufleuchten in +ihr+?[52] Was
sind Cäsar, Ramses, Wallenstein anderes als Phänomene im historischen
Weltbilde, wie es eine höhere Seele in sich entwickelt? Sind sie für
das -- ahistorische -- Bewußtsein eines Kindes wirklich vorhanden?
Wären sie „wirklich“, wenn alle Menschen sich heute wieder im
seelischen Urzustande etwa der Weströmer zur Zeit Aurelians befänden?
Alle „andern“ Menschen, so wie sie im Gedächtnisbilde der Historie
erscheinen, sind Ausdruck der Seele des „einen“, seien es die großen
Persönlichkeiten, die in einem früher festgestellten Sinne einmal
Epoche machten, seien es die Menschen der Menge zu irgendeiner Zeit.
Was alles diese Menschen aller Zeiten denken, wollen, tun, sind, die
ganze werdende, schicksalsvolle Welt also, ist Zeichen und Symbol
dessen, der sie erlebt. Das Geheimnis des eignen Schicksals offenbart
sich im Schicksal einer um uns werdenden oder von uns als geworden
erkannten Welt. Die Dämmerseele des Kindes und frühen Menschen ahnt
ihre Welt nur; erst die helle Tagesseele hoher Kulturen, die sich
selbst als wohlgeordnete Einheit, eben als „Seele“ kennt und fühlt,
besitzt auch eine geordnete Welt als ihr +Eigentum+. Sie prägt in
jedem wachen Lebensmomente aus dem Chaos des Sinnlichen einen Kosmos
symbolisch gestalteter Objekte oder Phänomene -- je nachdem dieser
Kosmos die Merkmale der Natur oder der Geschichte trägt.

Diese Wirksamkeit +nennen wir Leben+. Leben ist die Verwirklichung des
innerlich Möglichen. Jede Seele, die einer Kultur, eines Volkes, eines
Standes so gut wie die eines Einzelnen, hat vom Augenblick ihrer Geburt
in der Welt des Werdens und Schicksals an bis zu ihrem Erlöschen den
+einen+ rastlosen Drang, sich völlig zu verwirklichen, sich +ihre+
Welt als volle Summe ihres Ausdrucks zu bilden, das, was ich das
Fremde nannte, zu einer bedeutungsvollen Einheit auszuprägen, es durch
begrenzte und gewordne Form zu bannen und +sich+ anzueignen. Eine
vollendete Welt ist die Ausstrahlung, ist der Sieg einer Seele über die
fremden Mächte.

Es liegt ein und dasselbe Ereignis vor, wenn in einem Momente der
frühesten Kindheit wie mit einem Zauberschlage das Innenleben erwacht,
die Seele sich ihrer selbst bewußt wird, und wenn in einer mit
formloser Menschheit erfüllten Landschaft mit rätselhafter Vehemenz
eine große Kultur ins Dasein tritt. Von hier an beginnt die Vollendung
eines Lebens im höheren Sinne, man darf sagen die Erfüllung eines
vorbestimmten Schicksals. Eine Idee will verwirklicht werden und sie
wird es im Bilde einer Welt; die reine Natur, die reine Geschichte oder
eine der unzähligen Mischungen beider Weltformen sind nur mögliche
Arten, die Gesamtheit des Ausdrucks zu ordnen.


2

Es wird hier nicht davon die Rede sein, was eine Welt ist, sondern
was sie bedeutet. Physiognomik, nicht Systematik ist die Aufgabe.
Die Wirklichkeit -- man kann sagen die Welt in bezug auf eine Seele
-- ist für jeden einzelnen Menschen und jede einzelne Kultur die
Projektion des Gerichteten in den Bereich des Ausgedehnten; sie ist
eine Inkarnation des innern Seins und Wesens, das Eigne, das sich am
Fremden reflektiert; sie +bedeutet ihn selbst+. Durch einen ebenso
schöpferischen als unbewußten Akt -- nicht „ich“ verwirkliche das
Mögliche, sondern „es“ verwirklicht sich durch mich als empirische
Person -- entsteht plötzlich und mit vollkommenster Notwendigkeit
aus der Totalität sinnlicher und gedächtnismäßiger Elemente „+die+“
Welt, für mich die +einzige+. Es ist die Notwendigkeit des Schicksals,
nicht der Kausalität, die über dem So-Sein der Seele und mithin ihrer
Verwirklichung im Gewordnen waltet.

Und deshalb gibt es so viele Welten als es Menschen und Kulturen
gibt, und im Dasein jedes einzelnen ist die vermeintlich einzige,
selbständige und ewige Welt -- die jeder mit dem andern gemein zu haben
glaubt -- ein immer neues, einmaliges, nie sich wiederholendes Erlebnis.

Unterscheiden wir wieder zwischen Erleben und Erlebtem, Erkennen
und Erkanntem. Die +Akte+ sind einmalig und schicksalhaft; erst das
vollendete Resultat trägt das Merkmal der mechanischen +Identität+
durch eine Vielheit lebendiger Akte hindurch.

Erst im stets erneuerten und doch verharrenden Welt+bilde+ -- einem
Wasserfall, der im flüchtigsten Vorübergang der Tropfen in der Ruhe
seiner Erscheinung verweilt -- ist die Sonne täglich und immer dieselbe
und das bewußte Leben ein Ganzes durch die Folge aller Augenblicke
hindurch. Die Identität des Vollendeten liegt in gleicher Weise der
extremen Gegenständlichkeit -- „Natur“ -- wie dem reinen Phänomen --
„Geschichte“ -- zugrunde. Sie ist die Vorbedingung aller Symbolik, die
ohne eine gewisse +Dauer+ der Bedeutung nicht bestehen kann.

Eine Skala sich steigernder Bewußtheit führt von den Uranfängen
kindlich-dumpfen Schauens, in denen es noch keine klare Welt für
eine Seele und keine ihrer selbst gewisse Seele inmitten einer Welt
gibt, zu den höchsten Graden durchgeistigter Zustände, deren nur
Menschen ganz reifer Zivilisationen -- nicht Kulturen -- fähig sind,
dem Bewußtsein als Polarität von exaktem Verstand und vollkommen
mechanischer Erfahrungswelt. Diese Steigerung ist zugleich eine
Entwicklung der Symbolik. Nicht nur wenn ich in der Art des Kindes,
des Träumers, des Künstlers die Welt hinnehme; nicht nur, wenn ich
wach bin, ohne sie mit der gespannten Aufmerksamkeit des denkenden
und tätigen Menschen aus einer gewissen Perspektive aufzufassen --
ein Zustand, der selbst im Bewußtsein des eigentlichen Denkers und
Tatmenschen weit seltener herrscht als man glaubt --, sondern stets und
immer, solange von Bewußtsein, d. h. von Leben überhaupt die Rede sein
kann, verleihe ich dem Außer-mir den Gehalt meines +ganzen+ Selbst, von
den halb träumerischen Eindrücken der Welthaftigkeit bis zur starren
Welt der kausalen Gesetze und Zahlen, die jene überlagert und bindet.
Aber selbst dem Reich der Zahlen fehlt das Persönliche nicht. Es gibt
sehr allgemeine Züge in diesen rein mechanischen Formenwelten; sie
können das Bild bis zur völligen Täuschung beherrschen und man kann
und möchte über dem Allgemeinen das Individuelle und also Symbolische
vergessen -- vorhanden ist es immer.

Dies ist die +Idee des Makrokosmos, der Wirklichkeit als des
Inbegriffs aller Symbole in bezug auf eine Seele+. Nichts ist von
dieser Eigenschaft des Bedeutsamen ausgenommen. Alles, was ist, ist
auch Symbol. Von der körperlichen Erscheinung an -- Antlitz, Statur,
Geste, Haltung von Einzelnen, von Klassen, von Völkern --, wo man es
immer gewußt hat, bis zu den Formen des politischen, wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen Lebens, bis zu den vermeintlich ewigen und
allgemeingültigen Formen der Erkenntnis, Mathematik, Physik spricht
alles vom Wesen einer bestimmten und keiner andern Seele.

Allein auf der größeren oder geringeren Verwandtschaft der einzelnen
Welten untereinander, soweit sie von Menschen +einer+ Kultur oder
Sphäre erlebt werden, beruht die größere oder geringere Mitteilbarkeit
des Geschauten, Empfundenen, Erkannten, das heißt des im Stil des
eignen Seins Gestalteten durch die Mittel der Sprache und Schrift,
durch Begriffe, Formeln, Zeichen, die ihrerseits selbst Symbole sind.
Zugleich erscheint hier eine ewige und bisher kaum gekannte Grenze,
fremden Individualitäten wirkliche Mitteilungen zu machen oder deren
Lebensäußerungen wirklich zu verstehen. Der Grad der Kongruenz der
beiderseitigen Formenwelten entscheidet darüber, wo das Verständnis in
Selbsttäuschung übergeht. Mit der Möglichkeit, sich in den Makrokosmos
des andern hineinzuversetzen, ist beides zu Ende. Wir können die
indische und ägyptische Seele -- offenbart in ihren Menschen, Sitten,
Schriftzeichen, Ideen, Bauten, Taten -- sicherlich nur höchst
unvollkommen imaginieren. Den Griechen, ahistorisch wie sie waren,
war auch die geringste Ahnung vom Wesen fremden Seelentums versagt.
Man sehe, mit welcher Naivität sie in den Göttern und Kulturen aller
fremden Völker ihre eignen wiederfanden. Aber auch wir unterlegen, wenn
wir bei einem antiken Philosophen das Wort χρόνος mit Zeit übersetzen
und damit in uns einen ganzen, spezifisch faustischen Gedankenkomplex
wachrufen, der fremden Intention das +eigne+ Weltgefühl, aus dem die
Bedeutung unsrer Worte stammt. Wenn wir die Züge einer ägyptischen
Statue interpretieren, nehmen wir ohne Anstand die +eigne+ innere
Erfahrung zu Hilfe. In beiden Fällen täuschen wir uns. Daß die
Meisterwerke der Kunst alter Kulturen für uns noch lebendig --
„unsterblich“ also -- seien, gehört ebenfalls in den Kreis dieser
Illusionen, die lediglich durch die Tatsache aufrecht erhalten werden,
daß +unser+ Geist hier, zugunsten seines eignen Weltgefühls, aus einem
tiefen Instinkt ständig mißversteht. Darauf beruht zum Beispiel die
Wirkung der Laokoongruppe auf die Kunst der Renaissance und die des
Sophokles auf das klassizistische Drama der Franzosen.


3

Symbole, als etwas Verwirklichtes, gehören zum Bereich des
Ausgedehnten. Sie sind geworden, nicht werdend -- auch wenn sie ein
Werden bezeichnen, auch wenn sie in bedeutungsvollen Gebräuchen
oder Gesten bestehen -- mithin starr begrenzt und den Gesetzen des
Raumes unterworfen. Es gibt +nur+ sinnlich-räumliche (stoffliche
oder ornamentale) Symbole. Schon das Wort Form bezeichnet etwas
Ausgedehntes. Der Sinn aller Grenzen aber ist +Vergänglichkeit+. Es
gibt keine ewigen Symbole. Auch die überall auftauchenden Zeichen des
Dreiecks, des Hakenkreuzes (swastika), des Ringes sind +als Symbole+
vergänglich. Sie kommen in vielen Kulturen vor, aber sie sind jedesmal
von andrer Bedeutung und in Hinsicht darauf jedesmal neu geschaffen
und von begrenzter Lebensdauer. Man braucht nur die Schicksale der
antiken Säule zu verfolgen, vom hellenischen Peripteros an, wo sie
mittels des Architravs das Dach trägt, über die früharabische Basilika,
wo sie einen +Innenraum+ gliedert, bis zum Renaissancebau, wo sie als
Teilmotiv +einer Fassade eingefügt+ ist, um zu fühlen, was Umdeutung
eines Symbols heißt, wenn eine neue Kultur es einer alten entlehnt.

Das seelisch Mögliche, noch zu Vollendende, heißt Zukunft. Das
Vollendete heißt Vergangenheit. Die +Richtung+ (+Nichtumkehrbarkeit+)
des Lebens, durch die Worte Zeit, Schicksal, Wille in den Sprachen
aller Völker angedeutet, verknüpft beides im Phänomen der Gegenwart,
des augenblicklichen Bewußtseins. Die Priorität des Werdens vor dem
Gewordnen war oft betont worden. Sobald das Werden sich vollzogen, das
Mögliche sich verwirklicht hat, ist seine Bestimmung erfüllt. Die sich
nähernde Zukunft wurde zur ruhenden Vergangenheit. +Sie wurde zum Raum+
und verfiel damit dem organischen Prinzip der Kausalität. Schicksal und
Kausalität, Zeit und Raum, Richtung und Ausdehnung verhalten sich +wie
Leben und Tod+.

Es besteht ein rätselhafter Zusammenhang zwischen dem +Raum+ und dem
+Tode+, der gerade von frühen Seelen immer tief gefühlt worden ist.
Die religiöse Metaphysik drückt dies so aus, daß Geburt und Tod der
Erscheinungswelt angehören oder daß mit der Verbannung der Seele in das
Reich der (kausalen) Notwendigkeit der Tod gesetzt ist.

Der Mensch ist das einzige Wesen, welches den Tod kennt. Alle
andern sind rein werdend, von einer durchaus auf die punktförmige
Gegenwart eingeschränkten Bewußtheit, die ihnen endlos erscheinen
muß; sie leben, aber sie wissen nichts vom Leben wie die Kinder in
den frühesten Jahren, wo sie die christliche Weltanschauung noch als
„unschuldig“ betrachtet. Erst der wache Mensch besitzt außer dem
Werden auch Gewordenes, das heißt nicht nur ein Dasein, das sich von
einer Umwelt abhebt, sondern auch ein Gedächtnis für Erlebnisse und
eine Erfahrung von Erkanntem. Für alle andern verläuft das Leben
ohne Ahnung seiner Grenzen, das heißt ohne ein Wissen um Aufgabe,
Sinn, Dauer und Ziel. Erst mit dem vollen Besitz einer räumlichen
Wirklichkeit -- einer Welt als Ausstrahlung einer Seele -- erscheint
auch das große Rätsel des Todes. Mit tiefer und bedeutungsvoller
Identität knüpft sich das Erwachen des Innenlebens in einem Kinde oft
an den Tod eines Verwandten. Es begreift +plötzlich+ den leblosen
Leichnam, der ganz Stoff, ganz Raum geworden ist, und +zugleich+ fühlt
es sich als einzelnes Wesen in einer endlosen, ausgedehnten Welt. „Vom
fünfjährigen Knaben bis zu mir ist nur ein Schritt. Vom Neugeborenen
bis zum fünfjährigen Kinde ist eine schreckliche Entfernung“, hat
Tolstoi einmal gesagt. Hier, in diesem entscheidenden Moment des
Daseins, wo der Mensch zum Menschen wird und seine ungeheure Einsamkeit
im All kennen lernt, enthüllt sich die Weltangst als die +Angst vor
dem Tode+, der Grenze, dem +Raume+. Hier liegt der Ursprung des
höheren Denkens, das zuerst ein Nachdenken über den Tod ist. Jede
Religion, jede Philosophie geht von hier aus. Jede große Symbolik
heftet ihre Formensprache an den Totenkult, die Bestattungsform, den
Schmuck des Grabes. Die ägyptische Kunst beginnt mit den Totentempeln
der Pharaonen, die antike mit der Ornamentik der Grabvasen, die
früharabische mit Katakomben und Sarkophagen, die abendländische
mit den Domen, in denen das Meßopfer, die Wiederholung des Sterbens
Christi, sich täglich vollzieht. Mit einer neuen Idee des Todes erwacht
jede neue Kultur. Als um das Jahr 1000 der Gedanke an das Weltende sich
im Abendland verbreitete, wurde die faustische Seele dieser Landschaft
geboren.

Der Urmensch, in tiefem Staunen über den Tod, wollte diese Welt des
Ausgedehnten mit den unerbittlichen und stets gegenwärtigen Regeln
ihrer Kausalität, mit ihrer dunklen Allmacht, die ihn ständig mit
dem Ende bedrohte, mit allen Kräften seines Geistes durchdringen und
beschwören. Dieser Akt liegt tief im Unbewußten, aber indem er Seele
und Welt erst eigentlich schuf, trennte, gegeneinander stellte,
bezeichnete er die Schwelle individuellen Daseins. Ichgefühl und
Weltgefühl beginnen zu wirken und alle Kultur, innere und äußere, ist
nur die Steigerung dieses Menschseins überhaupt. Von hier an sind alle
Dinge nicht mehr nur Eindruck, rein animalisch, wie beim neugebornen
Kinde, sondern auch Ausdruck. Zuerst besaßen sie allein ein Verhältnis
zum Menschen, jetzt besitzt der Mensch auch ein Verhältnis zu ihnen.
Sie sind Symbole seines Daseins geworden. So geht der Sinn aller
echten -- +unbewußten und innerlich notwendigen+ -- Symbolik aus dem
Phänomen des Todes hervor, in dem sich das Wesen des Raumes enthüllt.
Alle Symbolik stammt aus der Furcht. Sie bedeutet eine Abwehr. Sie ist
der Ausdruck einer tiefen Scheu im alten Doppelsinne des Wortes: ihre
Formensprache redet zugleich von Feindschaft und Ehrfurcht.

+Alles Gewordne ist vergänglich.+ Vergänglich sind nicht nur Völker,
Sprachen, Rassen, Kulturen. Es wird in wenigen Jahrhunderten keine
westeuropäische Kultur, keinen Deutschen, Engländer, Franzosen mehr
geben, wie es zur Zeit Justinians keinen Römer mehr gab. Nicht die
Masse menschlicher Generationen war erloschen; die Form eines Volkes,
die eine Anzahl von ihnen zu einer einheitlichen Gebärde zusammengefaßt
hatte, war nicht mehr da. Der _civis Romanus_, eines der stärksten
Symbole antiken Seins, war als Form nur von der Dauer einiger
Jahrhunderte. Alle Kunst ist sterblich, nicht nur die einzelnen Werke,
sondern die Künste selbst. Es wird eines Tages das letzte Bildnis
Rembrandts und der letzte Takt Mozartscher Musik aufgehört haben zu
sein, obwohl eine bemalte Leinwand und ein Notenblatt vielleicht übrig
sind, weil das letzte Auge und Ohr verschwand, das ihrer Formensprache
zugänglich war. Vergänglich ist jeder Gedanke, jedes Dogma, jede
Wissenschaft, sobald die Seelen und Geister erloschen sind, in deren
Welten ihre „ewigen Wahrheiten“ mit Notwendigkeit als wahr erlebt
wurden. Vergänglich sind sogar die Sternenwelten, welche die Astronomen
am Nil und Euphrat betrachteten, denn +unser+ -- ebenso vergängliches
-- mit dem Auge des abendländischen Menschen gesehenes, aus +seinem+
Gefühl herausgebildetes Weltsystem, dessen Form Kopernikus aufstellte,
ist ein anderes.

Und so läßt sich der Gedanke des Makrokosmos wieder an das Wort
knüpfen, dem die ganze fernere Darstellung gewidmet sein soll: +Alles
Vergängliche ist nur ein Gleichnis.+

So führt diese Idee unvermerkt auf das Raumproblem, allerdings in einem
neuen und überraschenden Sinn. Seine Lösung -- oder bescheidener, seine
Deutung -- erscheint erst in diesem Zusammenhange möglich, so wie das
Zeitproblem erst aus der Schicksalsidee faßlicher wurde. Es sei daran
erinnert, daß, wie „die Zeit“ dem Gefühl der Weltsehnsucht, so der
Raum, insofern dem Makrokosmos eine Absicht auf Bannung der fremden
Mächte mittels der Form zugrunde liegt, dem Urgefühl der Angst nahe
steht.

„Der Raum“ ist sicherlich zunächst wie „die Welt“ ein kontinuierliches
Erlebnis des einzelnen wachen Menschen, nicht mehr. Schon die
Überzeugung, welche infolge der verhältnismäßigen Gleichartigkeit
der im Einzeldasein aufeinanderfolgenden Raumerlebnisse und der
Unmöglichkeit, sich über das Individuelle im „Raum des andern“
sprachlich zu verständigen, vorherrscht, daß nämlich dieser
Außenraum konstant und für alle gemeinsam und identisch sei, ist ein
unbeweisbares Vorurteil. Das entsprechende Wort, das in allen Sprachen
nicht nur anders klingt, sondern auch anderes bedeutet, verdeckt
entscheidende Aufklärungen. Ist „der Raum“ ein allgemein menschliches
Erlebnis? Oder das einer einzelnen Kultur? Oder nicht einmal das?

Das eigentliche Problem im Phänomen des Ausgedehnten knüpft sich an das
Wesen der +Tiefe+ -- der +Ferne+ oder +Entfernung+ -- deren abstraktes
Schema im System der Mathematik neben Länge und Breite als „+dritte
Dimension+“ bezeichnet wird. Diese Dreizahl koordinierter Faktoren ist
von vornherein irreführend. Ohne Zweifel sind im räumlichen Eindruck
diese Elemente +nicht+ gleichwertig, geschweige denn gleichartig.
„Länge und Breite“, sicherlich als Erlebnis eine +Einheit+, keine
Summation, sind, mit Vorsicht gesagt, Form der Empfindung. Sie
repräsentieren den urmenschlichen, rein sinnlichen Eindruck. Die
Tiefe repräsentiert den +Ausdruck+; mit ihr beginnt die „Welt“. Diese
der Mathematik selbstverständlich ganz fremde Unterscheidung in der
Bewertung der dritten Dimension gegenüber den sogenannten beiden
andern liegt auch in der Gegenüberstellung der Begriffe Empfindung
und Anschauung. Die Dehnung in die Tiefe verwandelt die erste in die
letzte. Erst die Tiefe ist die +eigentliche+ Dimension im wörtlichen
Sinne, das +Ausdehnende+. In ihr ist der Geist aktiv, in den andern
streng passiv. Es ist der +symbolische Gehalt einer Ordnung+, und
zwar im Sinne einer einzelnen Kultur, der sich zutiefst in diesem
ursprünglichen und nicht weiter analysierbaren Element ausspricht.
Das Erlebnis der Tiefe ist -- von dieser Einsicht hängt alles Weitere
ab -- und und ebenso vollkommen unbewußter und notwendiger als
vollkommen schöpferischer Akt, durch den das Ich seine Welt, ich möchte
sagen zudiktiert erhält. Er schafft aus dem Chaos von Empfindungen
eine formvolle Einheit, etwas +Gewordnes+, das nunmehr von Gesetzen
beherrscht, dem Kausalprinzip unterworfen und mithin, als Abbild eines
Seelentums, +vergänglich+ ist.

Es besteht kein Zweifel, obwohl der durch theoretisches Selbstgefühl
voreingenommene Verstand sich dagegen auflehnt, daß das Phänomen
der Dehnung unendlicher Variation fähig ist, nicht nur ein anderes
beim Kind und Manne, beim Naturmenschen und Städter, Chinesen und
Römer, sondern in jedem einzelnen, je nachdem er nachdenklich oder
aufmerksam, tätig oder ruhend seine Welt erlebt. Jeder Künstler hat
noch „+die+“ Natur durch Farbe und Linie wiedergegeben. Jeder Physiker,
der griechische, arabische, germanische hat „+die+“ Natur in letzte
Elemente zergliedert -- warum fanden sie nicht alle dasselbe? Weil
jeder seine eigene Natur hat, obwohl jeder sie mit einer Naivität,
die seinen Lebensgehalt rettet, die +ihn+ rettet, mit dem andern
gemeinsam zu haben glaubt. Natur ist ein Erlebnis, das durch und durch
mit persönlichstem Gehalt gesättigt ist. Natur ist eine Funktion der
jeweiligen Kultur. Und man braucht nur Zeitgenossen wie Holbein,
Dürer und Grünewald hinsichtlich ihrer Behandlung des Bildraums zu
vergleichen, um zu fühlen, daß das Erlebnis der Tiefe, „der Raum“, also
die ganze Natur selbst für sie etwas sehr Verschiedenes ist.

Nun hat Kant die große Frage, ob dies Element a priori vorhanden
oder durch Erfahrung erworben ist, durch seine berühmte Formel zu
entscheiden geglaubt, daß der Raum die allen Welteindrücken zugrunde
liegende +Form der Anschauung+ sei. Aber die „Welt“ des Urmenschen,
des Kindes und des Träumers besitzt dies Element unzweifelhaft in
chaotischer, schwankender, unentschiedner Art und erst das höhere
Seelentum formt das Chaotische zur geordneten Welt, gibt also dem
Element der Tiefe eine eindeutige, symbolisch bestimmte Fassung. Es ist
keine Frage, daß der Raum, wie ihn Kant mit unbedingter Gewißheit um
sich sah, als er über seine Theorie nachdachte, für seine Vorfahren zur
Karolingerzeit auch nicht annähernd in dieser exakten Gestalt vorhanden
war. Gehen wir noch weiter. Kants Größe beruht auf der Konzeption des
Begriffes einer Form „a priori“, aber nicht auf der Anwendung, die er
ihm gab. Daß die Zeit keine Form der Anschauung ist, daß sie überhaupt
keine „Form“ ist -- es gibt nur extensive Formen -- und offensichtlich
nur als Pendant zum Raume so definiert wurde, sahen wir schon. Es ist
aber nicht nur die Frage, ob gerade das Wort Raum den formalen Gehalt
im Angeschauten genau deckt; es ist auch eine Tatsache, daß die Form
der Anschauung sich mit dem +Grade der Entfernung ändert+: Jedes
entfernte Gebirge wird als reine Fläche -- Kulisse -- „angeschaut“.
Niemand wird behaupten, daß er die Mondscheibe körperhaft sehe. Der
Mond ist für das Auge eine absolute Fläche und erst durch das Fernrohr
stark vergrößert -- also künstlich angenähert -- erhält er mehr und
mehr räumliche Beschaffenheit. Augenscheinlich ist die Form der
Anschauung also eine Funktion der Distanz. Es tritt eine unvermerkte,
aber für den zivilisierten Menschen sehr stark wirksame Abstraktion
hinzu, die über den veränderlichen Charakter dieser Eindrücke täuscht.
Kant hat sich täuschen lassen. Er hätte zwischen Formen der Anschauung
und des Verstandes gar nicht scheiden dürfen, denn sein Begriff Raum
umfaßt bereits beides. Sein Gedanke, daß die unbedingte anschauliche
Gewißheit einfacher geometrischer Tatsachen die Apriorität des exakten
Raumes beweise, beruht auf der schon erwähnten allzu populären Ansicht,
daß Mathematik entweder Geometrie oder Arithmetik -- Konstruktion oder
Rechnen -- sei.

Nun war schon damals die Mathematik des Abendlandes weit
über dieses naive -- der Antike nachgesprochene -- Schema
hinausgegangen. Wenn die Geometrie statt „des Raumes“ mehrfach
unendliche Zahlenmannigfaltigkeiten zugrunde legt, unter denen die
dreidimensionale ein an sich nicht ausgezeichneter Einzelfall ist, und
innerhalb dieser höchst transzendenten Gruppen funktionale Gebilde
hinsichtlich ihrer Struktur untersucht, so hat jede überhaupt mögliche
Art von sinnlicher Anschauung aufgehört, sich formal mit mathematischen
Tatsachen im Gebiete solcher Extensionen zu berühren, ohne daß die
Evidenz der letzteren dadurch herabgesetzt worden wäre. Die Mathematik
ist von der Form des Angeschauten ganz unabhängig. Es ist nun die
Frage, wie viel von der gerühmten Evidenz der Anschauungsformen,
die doch im Gegensatz zur Mathematik an die vitalen Bedingungen des
Sehsinnes gebunden sind, für sich übrig bleibt, sobald die künstliche
Übereinanderschichtung beider in einer vermeintlichen Erfahrung erkannt
worden ist.

Wie Kant sich das Zeitproblem dadurch verdarb, daß er es zu der
in ihrem Wesen mißverstandenen Arithmetik in Beziehung brachte
und also von einem Zeitphantom redete, dem die lebendige Richtung
fehlte, das also nur noch ein dimensionales, räumliches Schema war,
so verdarb er sich das Raumproblem durch seine Beziehung auf eine
Allerweltsgeometrie. Der Zufall hat es gewollt, daß wenige Jahre nach
der Vollendung seines Hauptwerkes Gauß die erste der nichteuklidischen
Geometrien entdeckte, durch deren in sich widerspruchslose Existenz
bewiesen wurde, daß es +mehrere+ Arten streng mathematischer Struktur
der dreidimensionalen Ausgedehntheit gibt, die sämtlich „a priori
gewiß“ sind, ohne daß es möglich wäre, +eine+ von ihnen als die
eigentliche „Form der Anschauung“ herauszuheben.

Es war ein schwerer und für einen Zeitgenossen Eulers und Lagranges
unverzeihlicher Irrtum, die antike Schulgeometrie, denn an sie hat
Kant immer gedacht, in den Formen der erlebten Natur abgebildet finden
zu wollen. In den Augenblicken, wo wir die Natur daraufhin aufmerksam
beobachten, ist in der Nähe des Beobachters und bei hinreichend
kleinen Verhältnissen eine annähernde Übereinstimmung zwischen dem
optischen Eindruck und den Prinzipien der gewöhnlichen euklidischen
Geometrie sicherlich vorhanden. Die von der Philosophie behauptete
absolute Übereinstimmung läßt sich aber weder durch den Augenschein
noch durch Meßinstrumente nachweisen. Beide können eine gewisse,
für die praktische Entscheidung über die Frage z. B., welche der
nichteuklidischen Geometrien die des empirischen Raumes sei, bei weitem
nicht ausreichende Grenze der Genauigkeit niemals überschreiten.[53]
Bei großen Maßstäben und Entfernungen, wo das Tiefenerlebnis das
Anschauungsbild völlig beherrscht -- vor einer weiten Landschaft
etwa statt vor einer Zeichnung -- widerspricht die Anschauungsform
der Mathematik gründlich. Die Fixsterne erscheinen dem Auge an einer
andern Stelle des betrachteten Raumes, als die ist, welche sie im
theoretisch-astronomischen Raume nach mathematischer Feststellung
einnehmen.[54] Wir sehen in jeder Allee, daß Parallelen sich am
Horizonte berühren. Die Perspektive der abendländischen Ölmalerei,
deren tiefer Zusammenhang mit den Grundproblemen der gleichzeitigen
Mathematik hier deutlich fühlbar wird, beruht auf dieser Tatsache, und
ihre schwer aufzufindenden Grundlagen, die von Brunellesco vielfach
verfehlt wurden, beweisen, daß die Geometrie sie durchaus nicht ohne
weiteres hergibt, wie es nach Kants Lehre von ihrer Koinzidenz mit
der Anschauung der Fall sein müßte. Die Anschauungsform ist von der
Mathematik unabhängig. Aber der lebensfremde Verstand, stolz auf
seine abstrakt-geometrische Intuition, sagt nein dazu und der echte
Theoretiker, wie eben Kant, weiß niemals, was er wirklich gesehen hat.

Kant hat bei seiner Betrachtungsweise, einer angestrengten, auf
das Ziel einer abstrakten Theorie gerichteten Beobachtung, all die
Momente unwillkürlicher, halb bewußter Anschauung, welche das Leben
eigentlich erst ganz erfüllen, beiseite gelassen. In ihnen ist die
„Form“ nichts weniger als streng zahlenmäßig und gleichförmig und
durch den kahlen Begriff des Raumes von drei Dimensionen nicht
annähernd wiederzugeben. Das unmittelbar gewisse Tiefenerlebnis in der
unermeßlichen Fülle seiner Nuancen entzieht sich jeder theoretischen
Bestimmung. Die gesamte Lyrik und Musik, die gesamte ägyptische,
chinesische, abendländische Malerei widersprechen laut der Hypothese
einer konstanten mathematischen Struktur des erlebten und gesehenen
Raumes und nur, weil kein neuerer Philosoph von Malerei das geringste
verstanden hat, konnte ihnen diese Widerlegung unbekannt bleiben. Der
+Horizont+ z. B., in dem und durch den jedes Gesichtsbild +allmählich
in einen Flächenabschluß übergeht+ -- denn auch die Tiefe ist geworden
und also begrenzt -- ist durch keine Art von Mathematik zu behandeln.
Jeder Pinselstrich eines Landschaftsmalers widerlegt die Behauptungen
der Erkenntnistheorie.

Die „drei Dimensionen“ besitzen als abstrakte mathematische
Einheiten keine natürliche Grenze. Man verwechselt das mit Fläche
und Tiefe des erlebten optischen Eindrucks und so setzt sich der
eine erkenntnistheoretische Irrtum in den andern fort, daß auch die
angeschaute Ausgedehntheit unbegrenzt sei, obwohl unser Blick nur
belichtete Raumfragmente umfaßt, deren Grenze eben die jeweilige
Lichtgrenze bildet, sollte es auch der Fixsternhimmel oder die
atmosphärische Helligkeit sein. Die „gesehene Welt“ ist tatsächlich die
Summe von +Lichtwiderständen+, weil das Sehen an das Vorhandensein von
reflektiertem Licht gebunden ist. Die Griechen blieben, als plastisch
angelegte Naturen, auch dabei stehen. Nur das abendländische Weltgefühl
stellte als Symbol und inneres Postulat des Lebens die +Idee+ eines
grenzenlosen Weltraumes auf mit unendlichen Fixsternensystemen und
Entfernungen, die weit über jede optische Vorstellbarkeit hinausgehen
-- eine Schöpfung des +innern+ Blickes, die sich jeder Verwirklichung
durch das Auge entzieht und Menschen anders fühlender Kulturen selbst
als Idee fremd und unvollziehbar bleibt.


4

Das Ergebnis der Gaußschen Entdeckung, welche das Wesen der modernen
Mathematik +überhaupt+ änderte,[55] war also nicht nur der Nachweis,
daß es mehrere gleich richtige Geometrien der dreidimensionalen
Ausgedehntheit gibt, von denen der Geist eine wählt, weil er an
sie +glaubt+, sondern der, daß „der Raum“ überhaupt nicht mehr
ein einfaches Faktum ist. Es gibt +mehrere+ Arten exakter, streng
wissenschaftlicher Räumlichkeit von drei Dimensionen und die Frage,
welche von ihnen der wirklichen Anschauung entspricht, beweist,
daß man das Problem gar nicht versteht. Die Mathematik beschäftigt
sich, gleichviel ob sie sich anschaulicher Bilder und Vorstellungen
als +Handhaben+ bedient oder nicht, mit völlig abstrakten Systemen,
Formenwelten von Zahlen, und ihre Evidenz ist identisch mit der
diesen Formenwelten immanenten kausalen Logik. Sie sind Abbilder der
+Verstandesformen+ und mithin in jeder Kultur von anderem Stil. Darauf
beruht ihre exakte Anwendbarkeit auf die verstandesmäßig rezipierte,
mechanische, +tote+ Natur der Physik, die ihrerseits ebenfalls ein
Abbild der Geistesform, nur von anderer Ordnung ist. Neben der Mehrheit
variabler Anschauungsgebilde steht also auch eine Mehrheit von starr
mathematischen Raumwelten, die ihre eignen Rätsel hat, und unter dem
gemeinsamen Worte Raum hat sich nur allzulange die Tatsache verborgen,
daß alle vermutete Konstanz und Identität ein Irrtum ist.

Damit ist die Illusion des einen, bleibenden, alle Menschen
umgebenden Raumes, über den man sich begrifflich restlos verständigen
könnte, zerstört, ob man ihn nun als den absoluten Weltraum Newtons
ansprechen will, +in+ dem sich alle Dinge befinden, oder als
Kants unveränderliche, allen Menschen aller Zeiten gemeinsame Form
der Anschauung, welche alle Dinge erst +schafft+. So gut jede
persönliche „Welt“ im Strome des historischen Werdens ein nie
vergehendes und nie sich wiederholendes Erlebnis ist, so gut ist
es jeder einem lebenden Menschen angehörende Raum. Und zwar liegt
+alle+ Ausdruckskraft der einzelnen Seele, die ihre Welt gestalten
will, im begreifenden Erlebnis der +Tiefe+ oder +Entfernung+,
durch das die sinnliche Fläche -- das Chaos -- erst Raum, +der Raum
dieser Seele wird+.

Damit ist die Trennung der lebendigen Anschauung von der mathematischen
Formensprache vollzogen, und das Geheimnis der +Raumwerdung+ tut
sich auf.

Wie das Werden dem Gewordenen, die ewig lebende Geschichte der
vollendeten und toten Natur zugrunde liegt, das Organische dem
Mechanischen, das Schicksal dem kausalen Gesetz, dem objektiv
Gesetzten, so ist die +Richtung der Ursprung der Ausdehnung. Das
mit dem Worte Zeit berührte Geheimnis des sich vollendenden Lebens
bildet die Grundlage dessen, was als vollendet durch das Wort Raum
weniger verstanden als für ein inneres Gefühl angedeutet wird.+
Jede wirkliche Ausgedehntheit, wirklich, insofern sie ein vollzogenes
Erlebnis repräsentiert, ist eben durch das Erlebnis der Tiefe erst
vollzogen worden; und eben jene Richtung, Dehnung in die Tiefe und
Ferne -- für das Auge, das Gefühl, das Denken -- der Schritt von der
sinnlich chaotischen Fläche zum kosmisch geordneten Weltbilde mit
der geheimnisvoll in ihr sich andeutenden Bewegtheit ist das, was
rein werdend durch das Wort Zeit bezeichnet wird. Der Mensch fühlt
sich, und das ist der Zustand des wirklichen Wachseins, in einer ihn
rings umgebenden Ausgedehntheit. Man braucht diesen Ureindruck des
Weltmäßigen nur zu verfolgen, um festzustellen, daß es tatsächlich
nur +eine+ wahre Dimension des Raumes gibt, die +Richtung+
nämlich von sich aus in die Ferne und daß das abstrakte System dreier
Dimensionen eine mechanische Vorstellung, keine Tatsache des Lebens
ist. Das Tiefenerlebnis, die Richtung in die Ferne, +dehnt+ die
Empfindung zur Welt. Das Gerichtetsein des Lebens war mit Bedeutung
als +Nichtumkehrbarkeit+ bezeichnet worden und ein Rest dieses
entscheidenden Merkmals der Zeit liegt in dem Zwang, auch die Tiefe der
Welt stets von sich aus, nie vom Horizont aus zu sich hin empfinden zu
können.

Wenn man, mit einiger Vorsicht, die Geistesform der Kausalität als
+erstarrtes Schicksal+ bezeichnet, so darf die Raumtiefe, die
Grundlage der Weltform, als +erstarrte Zeit+ bezeichnet werden.
Denn Räume gibt es nur für lebendige Menschen. Mit der Seele ist
auch die Welt zu Ende. Ich hatte nicht umsonst zwischen Erkennen und
Erkanntem, dem lebendigen Akt und seinem toten Resultat unterschieden.
Damit erst wird das Wesen des Raumes zugänglich.

Hätte Kant sich ein wenig schärfer gefaßt, so hätte er statt von
„zwei Formen der Anschauung“ zu reden, die Zeit die +Form des
Anschauens+, den Raum die +Form des Angeschauten+ genannt,
und dann wäre ihm ein Licht aufgegangen. Wie das Leben zum Tode,
das Anschauen zum Angeschauten führt, so führt die schicksalhafte,
gerichtete Zeit zur räumlichen Tiefe. Es liegt hier ein Mysterium
vor, ein Urphänomen, das sich begrifflich nicht zerlegen läßt und
das man hinzunehmen hat; aber +ahnen+ läßt sich sein Sinn.
Der Physiker, Mathematiker, Erkenntnistheoretiker kennt nur den
+gewordenen+ Raum, das Gegenbild der starren Geistesform.
+Hier+ aber ist angedeutet, wie der Raum +wird+. Der Raum,
in all den verschiedenen Arten, in denen er sich für das einzelne
Selbst verwirklicht, über die einander ganz zu verständigen eine ewige
Unmöglichkeit ist, muß Zeichen und Ausdruck des Lebens selbst sein,
+das ursprünglichste und mächtigste seiner Symbole+.

Das Gefühl davon soll vielleicht die gewagte Formel: „Der Raum ist
zeitlos“ ausdrücken. Er ist geworden; er steht damit, daß er +ist+,
ein Stück erstorbener Zeit, außerhalb des Zeitphänomens. Wir deuten --
oder das Leben deutet in uns, durch uns -- mit unbedingter, wahlloser
Notwendigkeit +jedes+ Moment der Tiefe. Von freiem Willen ist nicht
mehr die Rede. Man denke an ein verkehrt gehängtes Bild, das als bloße
Farbfläche wirkt und beim Umdrehen plötzlich ein Erlebnis der Tiefe
hervorruft. In diesem Augenblick erfolgt mit schöpferischer Gewalt der
Akt der Raumwerdung und dieser Augenblick, wo das gestaltlose Chaos
gestaltete +Wirklichkeit+ wird, könnte, wenn man ihn +ganz+ verstünde,
die ungeheure Einsamkeit des Menschen enthüllen, von denen jeder dieses
Bild, diese erst jetzt zum Bilde gewordene Fläche, +für sich+ besitzt.
Denn hier empfindet der antike Mensch mit apriorischer Gewißheit das
+Körperliche+, +wir+ das unendlich +Räumliche+, der Inder, der Ägypter
wieder andere Arten von Form als das +Ideal+ des Ausgedehnten. Worte
reichen nicht aus, um die ganze Vehemenz dieser Unterschiede zu fassen,
die das Weltgefühl der einzelnen Arten höheren Menschentums für immer
trennen, aber die bildenden Künste aller Kulturen, deren Substanz die
Weltform ist, enthüllen sie.

Diese wahllose Deutung der Tiefe, die mit der Wucht eines elementaren
Ereignisses das wache Bewußtsein beherrscht, ist es, welche
+zugleich mit dem Erwachen des Innenlebens+ beim einzelnen
Menschen die Grenze von Kind und Knabe bezeichnet. Das Erlebnis der
Tiefe ist es, welches dem Kinde fehlt, das nach dem Monde greift, das
noch keine sinnvolle Außenwelt besitzt und gleich der urmenschlichen
Seele in traumhafter Verbundenheit mit allem Empfindungshaften
hindämmert. Nicht als ob ein Kind keine extensive Erfahrung einfachster
Art hätte; aber das +Weltbewußtsein+ ist nicht da, die große
+Einheit des Erlebens+ in einer Welt. Und dieses Bewußtsein
gestaltet sich in einem hellenischen Kinde anders als in einem
indischen oder abendländischen. Mit ihm gehört es einer bestimmten
Kultur an, deren Glieder ein gemeinsames +Weltgefühl+ und aus
ihm eine gemeinsame Weltform besitzen. Eine tiefe Identität verknüpft
beide Akte: Das Erwachen der +Seele+ (des Innenlebens), ihre
Geburt zum hellen Dasein im Namen einer Kultur, und das plötzliche
Begreifen von Ferne und Tiefe, die +Geburt der Außenwelt+ durch
das Symbol der Ausgedehntheit, einer nur dieser einen Seele zugehörigen
Raumart, die von nun an das +Ursymbol dieses Lebens+ bleibt und
ihm seinen Stil, die Gestalt seiner Geschichte als der fortschreitenden
extensiven Verwirklichung intensiver Möglichkeiten gibt. Hier löst
sich eine alte philosophische Frage in nichts auf: +Angeboren+
ist diese Urgestalt der Welt, insofern sie ursprüngliches Eigentum
des Seelentums (der Kultur) ist, dessen Ausdruck wir selbst durch
die ganze Erscheinung unsres Einzeldaseins sind; +erworben+
ist sie, insofern jede einzelne Seele jenen Schöpfungsakt für sich
noch einmal wiederholt und das ihrem Dasein vorbestimmte Symbol der
Tiefe in früher Kindheit, wie ein ausschlüpfender Schmetterling
seine Flügel, entfaltet. Das erste Begreifen der Tiefe ist ein
+Geburtsakt+, ein seelischer neben dem leiblichen. Mit ihm wird
eine Kultur aus ihrer Mutterlandschaft geboren, denn die plötzliche
Erscheinung der dorischen, arabischen, gotischen Raumsymbolik verrät
das Dasein einer +neuen Seele+. Es entspricht dies im tiefsten
dem griechischen Mythus der Gaia und dem dunklen Gefühl früher Völker,
wenn sie ihre Toten in Hockergräbern (in Form des Embryo) der Mutter
Erde zurückerstatten. Diese Geburt der ganzen Kultur wird innerhalb
ihres Kreises von jeder einzelnen Seele wiederholt. +Dies+
nannte Plato, der an einen hellenischen Urglauben anknüpfte, die
+Anamnesis+. Die unbedingte Bestimmtheit der Weltform, die im
Seelischen +plötzlich da ist+, wird aus dem Werden gedeutet,
während Kant, der Systematiker, mit seinem Begriff der apriorischen
Form bei der Deutung +desselben+ Phänomens vom toten Resultat,
nicht vom lebendigen Akt ausgeht.

Die Art der Ausgedehntheit soll von nun an das +Ursymbol einer Kultur+
genannt werden. Die gesamte Formensprache ihrer Wirklichkeit, ihre
Physiognomie im Unterschiede von der jeder andern Kultur und vor allem
von der physiognomielosen Umwelt des primitiven Menschen ist aus
ihr abzuleiten. Wie es eine Welt nur in bezug auf eine Seele gibt,
als deren Abbild und Gegenpol im Bewußtsein, wie das Erwachen des
Innenlebens mit einer spontanen und notwendigen Tiefendeutung von ganz
bestimmtem Typus zusammenfällt, so gibt es +Etwas+, das als Formideal
jedem einzelnen Symbol einer Kultur zugrunde liegt.

Aber das Ursymbol selbst ist nicht realisierbar, auch nicht in
Definitionen. Es ist im Formgefühl jedes Menschen und jeder Zeit
wirksam und diktiert ihnen den Stil sämtlicher Lebensäußerungen. Es
liegt in der Staatsform, in den religiösen Dogmen und Kulten, den
Formen der Malerei, Musik und Plastik, dem Vers, den Grundbegriffen der
Physik und Ethik, aber es wird nicht durch sie dargestellt. Folglich
ist es auch durch Worte nicht exakt darstellbar, denn Sprache und
Erkenntnisformen sind selbst +abgeleitete+ Symbole. Goethe und Plato
haben es -- wiewohl nicht genau in diesem Sinne -- „die Idee“ genannt,
die im Wirklichen unmittelbar angeschaut, aber als eine ewige und
unerreichbare Möglichkeit niemals +erkannt+ wird. Kant und Aristoteles
haben es, mit einem für den Systematiker beinahe notwendigen Irrtum, im
Erkenntnisakt begrifflich isolieren wollen.

Wenn das Ursymbol der antiken Seele, der antiken +Welt+ fortan als
der stoffliche Einzelkörper, das der abendländischen als der reine,
unendliche Raum bezeichnet wird, so darf nie übersehen werden, daß
Begriffe das nie zu Begreifende nicht darstellen, daß sie nur ein
Gefühl des Verstehens wecken können. Auch die mathematische +Zahl+,
an welcher der Unterschied in der Formensprache der einzelnen
Kulturen zuerst festgestellt wurde und aus der Kant die Qualität der
Tiefendeutung abzuleiten suchte, ist +nicht+ das Ursymbol selbst. Die
Zahl als das Grenzprinzip der Ausdehnung setzt das Tiefenerlebnis schon
voraus und wenn das klassische Grenzproblem der Antike die Quadratur
des Kreises, d. h. die Rückführung krummlinig begrenzter Flächen auf
meßbare Größen, das klassische Problem unsrer Mathematik aber die
Definition des Grenzwertes in der Infinitesimalrechnung ist, so verrät
sich darin der Unterschied zweier Ursymbole mit voller Deutlichkeit,
aber keines von beiden ist das unmittelbare +Objekt+ dieser Probleme.

Der reine grenzenlose Raum ist das Ideal, welches die abendländische
Seele immer wieder in ihrer Umwelt +gesucht+ hat. Sie wollte es in
ihr unmittelbar verwirklicht sehen und dies erst gibt den unzähligen
Raumtheorien der letzten Jahrhunderte ihre tiefe Bedeutung als
Symptomen eines Weltgefühls, jenseits aller vermeintlichen Resultate.
Ihre gemeinsame Tendenz läßt sich so ausdrücken: Es gibt +Etwas+,
das notwendig gestaltend den Welterlebnissen jedes Einzelnen
zugrunde liegt. Alle haben, Kant mehr oder weniger ähnlich, dieses
begrifflich überhaupt unbestimmbare, sicherlich höchst variable Etwas
dem mathematischen Raumbegriff genau zugeordnet und ohne weiteres
vorausgesetzt, daß eine These dieser Art für +alle+ Menschen gültig
sei. Was bedeutet das +Pathos+ dieser Behauptung? Kaum ein andres
Problem ist so ernsthaft durchdacht worden, und fast hätte man glauben
sollen, es hinge jede andre Weltfrage von dieser einen nach dem Wesen
des Raumes ab. Und ist es nicht in der Tat so? Warum hat denn niemand
bemerkt, daß die gesamte Antike kein Wort darüber verlor, ja daß sie
nicht einmal das Wort besaß, um das Problem genau umschreiben zu
können? Warum schwiegen die großen Vorsokratiker? Übersahen sie etwa in
ihrer Welt gerade das, was uns als das Rätsel aller Rätsel erscheint?
Hätten wir nicht längst einsehen sollen, daß in diesem Schweigen
gerade die Lösung lag? Wie kommt es, daß +unserm+ tiefsten Gefühl nach
„die Welt“ nichts anderes ist als jener durch das Tiefenerlebnis ganz
eigentlich geborne +Weltraum+, dessen reine, erhabene Leere durch die
in ihm verlornen Fixsternsysteme nur bestätigt wird. Hätte man +dies+
Gefühl einer Welt einem Athener, Plato etwa, begreiflich machen können?
Und hätte die griechische Sprache, in deren Grammatik und Wortschatz
sich doch das antike Tiefenerlebnis ganz unverkennbar spiegelt, dies
erlaubt? Man entdeckt plötzlich, daß dies „ewige Problem“, das Kant
im Namen der Menschheit mit der Leidenschaft eines symbolischen Aktes
behandelte, ein +rein+ abendländisches ist und im Geiste der andern
Kulturen gar nicht existiert.

Was war es denn, was dem antiken Menschen, dessen Blick in +seine+
Umwelt sicher ebenso klar war, als das Urproblem des gesamten
Seins erschien? Das der ἀρχή, des stofflichen Ursprungs der
sinnlich-greifbaren Dinge. Begreift man dies, so wird man dem Sinn
der Tatsache nahe kommen -- nicht des Raumes, sondern der Frage,
weshalb das Raumproblem mit schicksalhafter Notwendigkeit das der
abendländischen Seele und dieser allein werden mußte. Die Zahlenwelten,
wie sie sich innerhalb beider Kulturen entfaltet haben, machen
dies völlig deutlich. Die antike Seele gestaltete das Gewordene zu
einer geordneten Welt sinnlich meßbarer +Größen+. Das liegt, bisher
unerkannt, in dem berühmten Parallelenaxiom Euklids,[56] dem einzigen
der antiken mathematischen Sätze, der unbewiesen blieb und der, wie wir
heute wissen, unbeweisbar ist. Gerade +das+ aber macht ihn zum Dogma
gegenüber aller apriorischen Erfahrung und +damit zum metaphysischen
Mittelpunkt+, zum +Träger+ jenes geometrischen Systems. Alles andre,
Axiome wie Postulate, ist nur Vorbereitung oder Folge. Dieser einzige
Satz ist für den antiken Geist notwendig und allgemein gültig -- und
+doch+ nicht ableitbar. Was bedeutet das?

Daß er ein +Symbol+ ersten Ranges ist. Er repräsentiert das So-Sein,
die vorbestimmte Struktur der antiken Außenwelt, das Ideal ihrer
Ausgedehntheit. Gerade dies theoretisch schwächste -- notwendig
schwächste -- Glied der platonischen Geometrie, gegen das sich schon
in hellenistischer Zeit Widerspruch erhob, offenbart ihre Seele, und
gerade dies der populären Erfahrung selbstverständliche Element war
es, an das sich der Widerspruch des abendländischen Zahlendenkens
knüpfte. Es gehört zu den tiefsten Symptomen +unsres+ Daseins, daß
wir aus unsrem Zahlengefühl heraus der euklidischen Geometrie nicht
etwa +eine+, sondern eine +Mehrzahl+ von andern gegenüberstellen, die
für uns -- +nicht+ für die Erkenntnisweise antiker Menschen -- gleich
wahr, gleich widerspruchslos sind. Die eigentliche Tendenz und Symbolik
dieser als +anti+euklidische Gruppe aufzufassender Geometrien[57] liegt
darin, daß sie das körperlich-greifbare Moment in aller Ausgedehntheit,
das Euklid durch seine Sätze +heilig+ sprach, +verleugneten+, daß sie
unabhängig vom Sinnlichen und unter Überschreitung der Grenze des
Sehvermögens ein neues Ideal schufen, das einer +höheren Räumlichkeit+,
die über eine populär-anschauliche Evidenz erhaben ist, die mithin
auch nicht eine einzige, punktuelle Lösung kennt. Die Frage, welche
der drei nichteuklidischen Geometrien die „richtige“, in der äußeren
Wirklichkeit vorhandene sei -- obwohl selbst von Gauß ernsthaft geprüft
-- ist dem Weltgefühl nach antik, hätte also von einem Denker unserer
Sphäre nicht gestellt werden sollen. Sie verschließt den Einblick in
den wahren Tiefsinn dieses geistigen Phänomens: Nicht in der Realität
der einen oder andern, sondern in der Vielheit +gleichmäßig möglicher+
Geometrien liegt das spezifisch abendländische Symbol. Erst durch
die +Gruppe+ dieser dreidimensionalen Raumstrukturen, die eine echte
Unendlichkeit des Möglichen darstellt und in deren Fülle die antike
Nuance lediglich eine punktförmige Möglichkeit, einen bloßen Grenzfall
bildet, wird der Rest des Plastisch-Sinnlichen im reinen Raumgefühl
aufgelöst. Dem abstrakten Raum +eine+ Struktur zuzusprechen -- noch
dazu die aus dem optischen Bilde gewohnheitsmäßig erschlossene --
verrät immer noch eine statuenhafte, nicht kontrapunktische Tendenz;
nur die variable Vielheit einander ausschließender Räume, von denen
keiner gewählt werden +darf+, in ihrer seltsam transzendenten Totalität
leistet uns Genüge. Die neueste geometrische Spekulation ist jenseits
dieser Gruppe zu einer großen Anzahl weiterer, höchst transzendenter,
zum Teil auch nicht entfernt mehr optisch zugänglicher Geometrien
gelangt, die sämtlich in sich widerspruchslos sind und deren „Menge“
-- im Sinne der Mengenlehre -- eine „Zahl“ bedeutet, die nun allerdings
ein sehr schwer zu fassendes Symbol des abendländischen Weltgefühls
darstellt.

Hier drückt das Formbewußtsein der abendländischen Mathematik dasselbe
aus, was die Erkenntnistheorie Kants durch die Überzeugung, der Raum
liege a priori der Existenz der Dinge zugrunde, eigentlich hatte
sagen wollen, eine Überzeugung, die den Resultaten der arabischen
und indischen Erkenntnistheorie aufs schärfste widerspricht -- daß
nämlich „der Raum“ der Schöpfer und alles Stofflich-Gegenwärtige
sein Geschöpf sei. Und gerade diese allmächtige Räumlichkeit, welche
die Substanz aller Dinge in sich saugt, aus sich erzeugt, unser
Eigentlichstes und Höchstes im Aspekt +unseres+ Weltalls -- wird
von der antiken Menschheit, +die nicht einmal das Wort und also den
Begriff Raum kennt+,[58] einstimmig als τὸ μὴ ὄν abgetan, als das,
was +nicht da ist+. Man kann das Pathos dieser Negation gar nicht
tief genug fassen. Die ganze Leidenschaft der antiken Seele grenzte
durch sie symbolisch ab, was sie +nicht+ als wirklich empfand, was
nicht Ausdruck +ihres+ Daseins sein durfte. Eine Welt von andrer
Farbe liegt plötzlich vor unsern Augen da. Die attische Marmorstatue
repräsentiert in ihrer sinnlichen Existenz für das antike Auge alles
ohne Rest, was Wirklichkeit hieß. Das Stoffliche, sichtbar Begrenzte,
Greifbare, unmittelbar Gegenwärtige -- damit sind die Merkmale dieser
Art von Gewordnem erschöpft. Dies antike Weltall, der +Kosmos+, die
wohlgeordnete Menge aller nahen und vollkommen übersehbaren Dinge
ist durch die körperliche Himmelskugel abgeschlossen. Es gibt nicht
mehr. Unser Bedürfnis, jenseits dieser Schale wieder „Raum“ zu denken,
fehlte dem antiken Weltgefühl vollständig. Τὸ μὴ ὄν -- das ist der
schärfste Widerspruch gegen das abendländische Gefühl, das eben
diesen reinen, notwendig als grenzenlos empfundenen „absoluten“ Raum
fordert, ihn als +das+ Wirkliche, das eigentlich und einzig Seiende
anerkennt und gerade die antike, plastische, absolute Stofflichkeit
der Objekte anzweifelt. „Stoff“ ist derjenige Empfindungswert, von dem
der abendländische Geist auf jedem Wege, philosophisch, physikalisch,
religiös loskommen will. +Unser+ Göttliches ist der ewige Raum, wie
das von Dante bis Kant und Goethe jeder großen Denkweise zugrunde
liegt. Die Dinge sind +Erscheinung+, nicht mehr, vom Raume bedingt,
fragwürdig -- τὸ μὴ ὄν. Man überzeuge sich, wie im Pantheismus des 18.
Jahrhunderts Gott und der unendliche Raum für das Gefühl schlechthin
identisch geworden sind. Die faustische Allgegenwart Gottes, die von
den Kreuzzügen an mit steigender Klarheit das Weltbild beherrscht, und
die Lehre, daß der Raum die erzeugende Form der objektiven Erscheinung
sei, führen auf dasselbe innere Erlebnis zurück. Wenn man nach einem
Substanzbegriff sucht, der dem antiken diametral entgegengesetzt
ist, so trifft man mit Notwendigkeit den der abendländischen Physik.
Die +Masse+ wird von ihr als das konstante Verhältnis von Kraft und
Beschleunigung definiert. Kann man „unstofflicher“ denken? Den antiken
Begriffen +Stoff und Form+ als den optischen Prinzipien körperhaften
Daseins haben wir die vollkommen unanschaulichen der +Kapazität und
Intensität+ gegenübergestellt, in denen die Energie des reinen Raumes
formal zum Ausdruck kommt. Aus dieser Art, Wirklichkeit aufzufassen,
mußte als herrschende Kunst die Instrumentalmusik der großen Meister
des 18. Jahrhunderts hervorgehen, die einzige von allen Künsten, deren
Formenwelt der Intuition des reinen Raumes innerlich verwandt ist.
In ihr gibt es, den Bildsäulen antiker Tempelbezirke und Marktplätze
gegenüber körperlose Reiche von Tönen, Tonräume, Tonmeere; das
Orchester brandet, schlägt Wellen, verebbt; es malt Fernen, Lichter,
Schatten, Stürme, ziehende Wolken, Blitze, Farben von vollkommener
Jenseitigkeit; man denke an die Landschaften der Instrumentation Glucks
und Beethovens. „Gleichzeitig“ mit dem Kanon Polyklets, jener Schrift,
in welcher der große Bildhauer die strengen Regeln der optischen
Gliederung menschlicher Körper niederlegte, die bis auf Lysipp herab
herrschend blieben, vollendete sich um 1740 der strenge Kanon des
vierteiligen Sonatensatzes, der erst in Beethovens späten Quartetten
und Sinfonien sich lockert, bis endlich in der einsamen, vollkommen
„infinitesimalen“ Tonwelt der Tristanmusik alle irdische Greifbarkeit
sich löst. Dies Urgefühl einer +Lösung+, Erlösung, Auflösung der Seele
im Unendlichen, einer Befreiung von aller stofflichen Schwere, das die
höchsten Momente unsrer Musik stets wachrufen, während die Wirkung
antiker Kunstwerke bindend, einschränkend, das Körpergefühl festigend
ist, wie man in der Poetik des Aristoteles zwischen den Zeilen liest
-- dies Gefühl ist es, das von der Erkenntnistheorie in die trockene
Formel vom Raum als der apriorischen Bedingung der sinnlichen
Erscheinung gekleidet wurde.

Für den antiken Geist gab es nur ein „zwischen“ den Dingen, dem der
Wirklichkeitsakzent des Wortes Raum fehlt. Erst die neuere Geometrie
(Hilbert, Peano) hat den metaphysischen Gehalt dieses „zwischen“
bemerkenswert gefunden. Von Archimedes, für den es nur Körper und deren
wechselseitige Abstände gab, hätten wir die verwunderte Frage erlebt,
wie ein leidlich vernünftiger Mensch zu einer solchen +Inkarnation
des Nichts+, wie sie die Annahme eines reinen, die zufälligen Dinge
durchdringenden und hinsichtlich ihrer Realität entwertenden Raumes
doch darstellt, gelangen könne.


5

So hat es jede der großen Kulturen zu einer geheimen Sprache des
Weltgefühls gebracht, die nur dem ganz vernehmlich ist, dessen Seele
dieser Kultur angehört. Denn täuschen wir uns nicht. Wir können
vielleicht, zufällig, in der antiken Seele ein wenig lesen, deren
Formensprache annähernd die Umkehrung der abendländischen ist;
von der sehr schwierigen Frage, in welchem Grade das möglich und
erreicht worden ist, hat jede Kritik der Renaissance auszugehen. Aber
wenn wir hören, daß wahrscheinlich -- das Umdenken so heterogener
Daseinsäußerungen bleibt unter allen Umständen ein höchst zweifelhafter
Versuch -- die alten Inder Zahlen konzipiert hatten, die nach unsren
Begriffen, weder Wert noch Größe noch Beziehungsqualität besaßen,
die erst durch ihre Stellung, durch gewisse Affixe, zu positiven,
negativen, großen, kleinen Einheiten wurden, so müssen wir zugeben,
daß unserem Denken die Möglichkeit fehlt, das exakt nachzuerleben,
was seelisch diesem Zahlenphänomen zugrunde liegt. 3 ist für uns
immer +Etwas+, sei es positiv oder negativ; für die Griechen war es
unbedingt eine Größe, +3; für die Inder bezeichnet es eine wesenlose
Möglichkeit, für die das Wort „etwas“ +noch nicht gilt+, jenseits von
Sein und Nichtsein, die beide erst akzidentielle Eigenschaften sind.
+3, -3, ⅓ sind emanierende Wirklichkeiten geringeren Grades, die in
der rätselhaften Substanz (3) in einer uns völlig verschlossenen
Art ruhen. Es gehört eine +bramanische+ Seele dazu, diese Zahlen
als selbstverständlich, als ideale Repräsentanten einer in sich
vollkommenen Weltform zu empfinden; uns sind sie so unverständlich wie
das Nirwana des Yogasystems, das jenseits von Leben +und+ Tod, Schlaf
+und+ Bewußtsein, Leiden, Mitleiden +und+ Leidlosigkeit dennoch etwas
Wirkliches ist, für das uns selbst die sprachlichen Möglichkeiten
fehlen. Nur aus diesem Seelentum konnte die großartige Konzeption des
+Nichts+ als einer echten +Zahl+, der +Null+, hervorgehen, und zwar
als indische Null, für die wesenhaft und wesenlos gleich äußerliche
Bezeichnungen sind. Diese Null, die vielleicht eine Ahnung von der
+indischen+ Idee des Ausgedehnten, von jener in den Upanishaden
behandelten, unserem Raumbewußtsein völlig fremden Räumlichkeit der
Welt gibt, fehlte selbstverständlich der Antike. Sie wurde auf dem
Wege über die arabische Mathematik, gänzlich umgedeutet, erst 1544
durch Stifel bei uns eingeführt, und zwar, was ihr Wesen prinzipiell
veränderte, als die Mitte zwischen +1 und -1, als Schnitt im linearen
Zahlenkontinuum, das heißt, sie wurde in einem gänzlich unindischen
Sinne von der abendländischen Zahlenwelt assimiliert.

Wenn arabische Denker der reifsten Zeit -- und es waren Köpfe ersten
Ranges wie Alfarabi und Al Kabi darunter -- in ihrer Polemik gegen
die Seinslehre des Aristoteles bewiesen -- +bewiesen+ --, daß der
Körper als solcher den Raum zur Existenz nicht notwendig voraussetze,
und das Wesen dieses Raumes, der +arabischen+ Art der Ausgedehntheit
also, aus dem Merkmal des „an einer Stelle sich Befindens“ herleiten,
so beweist das nicht, daß sie gegen Aristoteles und Kant im Irrtum
waren oder -- wie wir das gern bezeichnen, was nicht in unsre Köpfe
eingeht -- daß sie unklar dachten, sondern daß der arabische Geist
andere Weltkategorien besaß. Sie hätten Kant aus ihrer Begriffssprache
heraus mit derselben Feinheit der Beweisführung widerlegen können, wie
Kant sie, und beide wären von der Richtigkeit ihrer Aspekte überzeugt
geblieben.

Wenn wir, Menschen der abendländischen Geistessphäre, vom Raume reden,
so denken wir sicherlich in annähernd demselben Stil, so wie wir uns
derselben Sprache und Wortzeichen bedienen, mag es sich um den Raum
der Mathematik, Physik, Malerei oder der „Wirklichkeit“ handeln,
obgleich alles Philosophieren, das an Stelle dieser Verwandtschaft
eine +Identität+ des Empfindens statuieren will (und muß), etwas
höchst Fragwürdiges bleibt. Aber kein Hellene, kein Ägypter, kein
Chinese hätte etwas davon unverändert nachgefühlt und kein Kunstwerk
oder Gedankensystem hätte ihnen zeigen können, was „Raum“ für uns
bedeutet. Die antiken Urbegriffe, aus einem anders gearteten Innenleben
stammend, wie ἀρχή, ὕλη, μορφή, erschöpfen den Gehalt einer anders
angelegten Welt, die uns fremd und fern bleibt. Was wir mit unseren
eigenen Sprachmitteln als Ursprung, Stoff, Form aus dem Griechischen
übersetzen, ist eine flache Anähnlichung, ein matter Versuch, in eine
Gefühlssphäre einzudringen, die in ihrem Feinsten und Tiefsten +doch+
stumm bleibt; es ist, als wollte man die Parthenonskulpturen für
Streichmusik „setzen“ oder den Gott Voltaires in Bronze gießen. Die
Kategorien des Denkens, Lebens, Weltbewußtseins sind so verschieden wie
die Gesichtszüge der einzelnen Menschen; auch in bezug darauf gibt es
„Rassen“ und „Völker“, Gemeinschaften durch den Besitz einer geistigen
Form oder Idee; und sie wissen so wenig darum wie sie wissen, was „rot“
oder „gelb“ für den andern ist; die gemeinsame Symbolik vor allem der
Sprache nährt die Illusion eines identischen Innenlebens und einer
identischen Weltform. Die großen Denker der einzelnen Kulturen sind
hierin den Farbenblinden ähnlich, die ihren Zustand nicht kennen und
von denen einer über die Irrtümer des andern lächelt.

Und nun ziehe ich die Folgerung. Es gibt eine Vielzahl von Ursymbolen.
Das Tiefenerlebnis, durch das die Welt wird, durch das die Empfindung
sich zur Welt +dehnt+, bedeutsam für die Seele, der es angehört,
und für sie allein, anders im Wachen, Träumen, Hinnehmen und
Beobachten, anders bei Kind und Greis, Städter und Bauer, Mann und
Weib, verwirklicht und zwar mit tiefster Notwendigkeit für jede hohe
Kultur eine Möglichkeit der Form, auf der ihr gesamtes Dasein beruht.
Alle Begriffe formaler Einheiten wie Masse, Substanz, Materie, Ding,
Körper, Ausdehnung und die Tausende in den Sprachen andrer Kulturen
aufbewahrten Wortzeichen entsprechender Art sind unbewußte, vom
Schicksal bestimmte Akzente, welche aus der unendlichen Fülle von
Weltmöglichkeiten im Namen der einzelnen Kultur die bezeichnenden
herausheben. Keines ist in die Erkenntnisweise einer andern Kultur
genau übertragbar. Keines dieser Urworte kehrt zweimal wieder. Was
für uns Gegensatz ist, wie etwa das mit den Worten Raum und Materie
Bezeichnete, kann für einen andern Geist identisch sein. Die +Wahl
des Ursymbols+ in jenem Augenblick, wo die Seele einer Kultur in
ihrer Landschaft zum Selbstbewußtsein erwacht, die für jeden, der die
Weltgeschichte so zu betrachten vermag, etwas Erschütterndes hat,
entscheidet alles. Hier erhebt sich das dürftige Raumproblem der
kritischen Philosophie zur Idee des Makrokosmus, in welchem alles
Gewordene für eine einzelne Art Mensch im Unterschied von jeder andern
zu einer Einheit der Form, der Bedeutung verknüpft ist.

Menschliche Kultur als Inbegriff des sinnlich-gewordenen +Ausdrucks+
der Seele, als ihr Leib, sterblich, vergänglich, dem Gesetz, der Zahl
und der Kausalität verfallen; Kultur als historisches Phänomen, als
Bild im Weltbilde der Geschichte, als Gleichnis und Gesamtheit von
Symbolen: das ist die Sprache, durch welche allein eine Seele sagen
kann, was sie leidet.

Überall ist lebendigstes Seelentum, das in ewiger Verwirklichung
begriffen ist, das ursprüngliche. Aber es bleibt unfaßlich und
ungreifbar. Alle Intuition, welcher Art sie auch sei, trifft nur auf
Abbildungen und Symbole, die das Letzte und Tiefste noch dichter
verhüllen, indem sie von ihm reden. Das Ewig-Seelische wird uns immer
verschlossen bleiben; hier ist eine nie zu überschreitende Grenze
gesetzt. Auf dem Wege der Deutung des Makrokosmos erreichen wir nicht
die hypothetische Urseele, sondern lediglich die Gestalt +einzelner+
Seelen. Das Urphänomen +bleibt+ singulär. Kulturen sind die letzte uns
erreichbare Wirklichkeit. Mag man sie Erscheinungen nennen: es gibt
für uns nichts Wirklicheres. „Die Welt“ als _absolutum_, als Ding an
sich ist ein Vorurteil. Wir gewinnen auf dem Wege der Morphologie nur
Eindrücke von +einzelnen+ Welten, dem Ausdruck +einzelner+ Seelen; der
Glaube, den heute noch der Physiker und Philosoph mit der Menge teilt,
daß seine Welt +die+ Welt sei, wird uns bald an den Glauben des Wilden
erinnern, daß alle Götter schwarz seien.

Auch der Makrokosmos ist Eigentum einer einzelnen Seele, und wir
werden nie wissen, wie es um den der andern steht. Was -- über alle
Möglichkeiten begrifflicher Erklärung hinausgreifend -- „der Raum“,
diese schöpferische Deutung des Tiefenerlebnisses +durch uns Menschen
des Abendlandes+ und uns allein sagen will, dies rätselhafte Symbol,
das die Griechen das Nichts nannten und wir das All, taucht unsre Welt
in eine Farbe, welche die antike, die indische, die ägyptische Seele
nicht auf ihrer Palette hatten. Die eine Seele spielt das Welterlebnis
in As-Dur, die andere in F-Moll; die eine empfindet es euklidisch, die
andre kontrapunktisch, die dritte magisch. Vom reinsten analytischen
Raume und vom Nirwana bis zur leibhaftigsten attischen Körperlichkeit
führt eine Fülle an sinnlichem Gehalt steigender Seinssymbole, deren
jedes fähig ist, eine vollkommene Weltform aus sich zu bilden. So fern,
seltsam, flüchtig die indische oder babylonische Welt ihrer Struktur
nach für die Menschen der fünf oder sechs ihnen folgenden Kulturen war,
so unbegreiflich wird bald die abendländische Welt für die Menschen
noch ungeborner Kulturen sein.


Fußnoten:

[Footnote 52: Dasselbe drückt auch das Prinzip der abendländischen Zahl
aus: Ist x eine Funktion von y, so ist y eine Funktion von x.]

[Footnote 53: Gewiß läßt sich ein geometrischer Lehrsatz an einer
Zeichnung beweisen, richtiger demonstrieren. Aber der Lehrsatz erhält
in jeder Art von Geometrie eine andre Fassung und hier entscheidet die
Zeichnung +nichts+ mehr.]

[Footnote 54: Die Zeit bleibt hier ganz aus dem Spiele. Übrigens
erweist sich gerade in der Astronomie die Anwendung nichteuklidischer
Geometrien zuweilen als vorteilhaft.]

[Footnote 55: Bekanntlich hat Gauß über seine Entdeckung bis fast
an sein Lebensende geschwiegen, weil er „das Geschrei der Böoter“
fürchtete.]

[Footnote 56: Durch einen Punkt ist zu einer Geraden nur eine Parallele
möglich.]

[Footnote 57: In denen es durch einen Punkt zu einer Geraden keine,
zwei oder unzählige Parallelen gibt.]

[Footnote 58: Weder im Griechischen noch im Latein; τόπος (= _locus_)
heißt +Ort+, Gegend, auch Stand in sozialem Sinne, χώρα (= _spatium_)
+Abstand+ („zwischen“), Distanz, Rang, auch Grund und +Boden+ (τὰ
ἑκ τῆς χώρας die Feldfrüchte); τὸ κενόν (= _vacuum_) bezeichnet
ganz unzweideutig einen +hohlen Körper+, wobei der Akzent auf der
+Um+schließung liegt. In der späten Literatur bedient man sich
hilfloser Ausdrücke wie ὁρατὸς τόπος („Sinnenwelt“) oder _spatium
inane_ „unendlicher Raum“, aber auch weite +Fläche+; die Wurzel des
Wortes _spatium_ (bedeutet schwellen, fettwerden). In der frühen
Literatur lag das Bedürfnis einer Umschreibung nicht vor, weil die
Vorstellung völlig fehlte.]




II

APOLLINISCHE, FAUSTISCHE, MAGISCHE SEELE


6

Ich will von nun an die Seele der antiken Kultur, welche den
sinnlich-gegenwärtigen Einzelkörper zum Idealtypus des Ausgedehnten
wählte, die +apollinische+ nennen. Seit Nietzsche ist diese Bezeichnung
jedem verständlich. Ihr gegenüber stelle ich die +faustische+ Seele,
deren Ursymbol der reine grenzenlose Raum und deren „Leib“ die
abendländische Kultur ist, wie sie mit der Geburt des romanischen
Stils im 10. Jahrhundert in den nordischen Ebenen zwischen Elbe und
Tajo aufblühte. Apollinisch ist die Bildsäule des nackten Menschen,
faustisch die Kunst der Fuge. Apollinisch sind die mechanische Statik,
die sinnlichen Kulte der olympischen Götter, die politisch vereinzelten
Griechenstädte, das Verhängnis des Ödipus und das Symbol des Phallus,
faustisch die Dynamik Galileis, die katholisch-protestantische
Dogmatik, die großen Dynastien der Barockzeit mit ihrer
Kabinettspolitik, das Schicksal Lears und das Ideal der Madonna von
Dantes Beatrice bis zum Schlusse des zweiten Faust. Apollinisch ist
die Malerei, welche einzelne Körper durch scharfe Linien, Konturen
begrenzt; faustisch ist die, welche durch Licht und Schatten Räume
imaginiert. So unterscheidet sich das Fresko Polygnots vom Ölgemälde
Rembrandts. Apollinisch ist das Dasein des Griechen, der sein Ich
als σῶμα bezeichnet und vom ὄνομα σώματος als dem Namen einer
Persönlichkeit spricht, dem die Idee einer innern Entwicklung und
damit eine wirkliche innere oder äußere Geschichte fehlt; es ist die
euklidische, punktförmige, der Reflexion gänzlich fremde Existenz;
faustisch ist ein Dasein, das mit tiefster Bewußtheit als Innenleben
geführt wird, das sich selbst zusieht, eine eminent persönliche Kultur
der Memoiren, Reflexionen, der Rück- und Ausblicke und des Gewissens.
Stereometrie und Analysis, Sklavenmassen und Dynamomaschinen, stoische
Ataraxie und sozialer Wille zur Macht, Hexameter und gereimte Verse:
das sind Seinssymbole zweier grundverschiedener Welten. Und fernab,
obwohl vermittelnd, Formen entlehnend, umdeutend, vererbend, erscheint
die +magische+ Seele der arabischen Kultur, zur Zeit des Augustus in
der Landschaft zwischen Euphrat und Nil erwachend, mit ihrer Algebra
und Alchymie, ihren Mosaiken und Arabesken, ihren Khalifaten und
Moscheen, ihren sakralen Riten und ihrem „Kismet“.

Der Raum ist, ich darf jetzt sagen im faustischen Sprachgebrauche,
ein von der augenblicklichen sinnlichen Gegenwart streng gesondertes
Abstraktum, das in einer apollinischen Sprache, im Griechischen und
Lateinischen nicht vertreten sein +durfte+. Ebenso fremd ist der
Raum den apollinischen Künsten. Das antike Relief -- man denke an
die Metopen und Giebel des Parthenon -- ist streng stereometrisch
einer Fläche aufgesetzt. Es gibt ein „zwischen“ den Figuren, aber
keine Tiefe. Eine Landschaft von Lorrain dagegen ist +nur+ Raum. Alle
Einzelheiten sollen hier seiner Verwirklichung dienen. Alle Körper
besitzen nur als Träger von Licht und Schatten eine atmosphärische,
perspektivische Bedeutung. Der Impressionismus ist die Entkörperung
der Welt im Dienste des Raumes. Die faustische Seele mußte aus diesem
Weltgefühl in ihrer Frühzeit zu einem Architekturproblem gelangen,
dessen Schwergewicht in der räumlichen Wölbung mächtiger, vom Portal
zur Tiefe des Chors strebender Dome lag. Das war der Ausdruck +ihres+
Tiefenerlebnisses. Die antike -- körperhafte -- Architektur ist
demgegenüber ganz eigentlich mit dem Typus des mit +einem+ Blicke zu
umfassenden Peripteros und der eminent stofflichen Tatsache der „drei
Säulenordnungen“ erschöpft. Wir werden überall dasselbe finden. Wo
auch in Kunst, Religion, Politik, Denken, Handeln beide Seelen nach
einem Ausdruck suchen, liegt der erreichten Formensprache jedesmal das
Ursymbol, dort der greifbare Einzelkörper, hier der eine unendliche
Raum als gestaltendes Prinzip zugrunde.

Die antike Kultur beginnt darum mit einem großartigen +Verzicht+
auf eine schon vorhandene reiche, malerische, höchst komplizierte
Kunst, die nicht der Ausdruck ihrer neuen Seele sein +durfte+.
Herb und eng, für unser Auge dürftig und ein Rückschritt, steht
die frühdorische Kunst des geometrischen Stils seit 1100 neben der
kretisch-mykenischen. Das homerische Epos beweist es. In ihm stammt
der Achilleusschild mit seiner Bilderfülle, mykenische Arbeit, von
„den Göttern“;[59] den Panzer Agamemnons, streng und einfach, haben
+Menschen+ geschmiedet. Der Hang zum Unendlichen schlummerte tief in
der nordischen Landschaft, lange bevor der erste Christ sie betrat;
und als die faustische Seele erwachte, schuf sie altgermanisches
Heidentum +und+ morgenländisches Christentum gleichmäßig im Sinne ihres
Ursymbols um, gerade damals, als aus den flüchtigen Völkergebilden
der Goten, Franken, Langobarden, Sachsen die physiognomisch streng
charakterisierten Einheiten der deutschen, französischen, englischen,
italienischen Nation hervorgingen. Die Edda hat diesen frühesten
religiösen Ausdruck faustischen Seelentums aufbewahrt. Sie wurde gerade
damals innerlich vollendet, als der Abt Odilo von Cluny die Bewegung
einleitete, welche das +magische+, orientalisch-arabische Christentum
in das +faustische+ der abendländischen Kirche umwandelte. Um das Jahr
1000 waren zwei Möglichkeiten einer faustischen Religion gegeben,
entweder durch Annahme und Umdeutung des magischen Christentums der
Kirchenväter oder durch Ausgestaltung der germanischen Formen. Die Edda
beweist, was +auch+ noch möglich gewesen wäre. Walhall ist unter dem
Eindruck der Klassiker und der Apokalypse entstanden, sicher erst nach
Karl dem Großen. Frigga ist Maria, Sigurd ist der Heliand. Die Verse
der Edda imaginieren den Weltraum. Gewaltiger ist die Durchbrechung
alles Körperlich-Einschränkenden in keiner Poesie ausgedrückt worden.
Das antike äolisch-dorische Epos repräsentiert die unbedingte
Bejahung und Hingabe an die sinnliche Welt der zahllosen einzelnen
Dinge. Der unendliche Raum, der durch sein transzendentes Pathos eine
+Überwindung+ eben dieser naiven Welt forderte, der dem Auge nicht
gegeben ist, sondern erkämpft werden muß, schuf sich eine hohe Poesie
der Kraft, des unbändigen Willens, der Leidenschaft, Widerstände zu
bekämpfen und zu brechen. Sigurd ist die Inkarnation des Sieges dieser
Seele über die Schranken von Stoff und Gegenwart. Es gab nie einen
Rhythmus, der so ungeheure Räume und Fernen um sich breitet wie dieser
nordische:

    Zum Unheil werden -- noch allzulange
    Männer und Weiber -- zur Welt geboren
    Aber wir beide -- bleiben zusammen
    Ich und Sigurd.

Die Akzente des homerischen Verses sind das leise Zittern eines Blattes
in der Mittagssonne, +Rhythmus der Materie+: der Stabreim -- wie die
potentielle Energie im Weltbilde der modernen Physik -- schafft eine
verhaltene Spannung im Leeren, Grenzenlosen, ferne Gewitter in Nächten
über den höchsten Gipfeln. In seiner wogenden Unbestimmtheit lösen
sich alle Worte und Dinge; das ist sprachliche Dynamik, nicht Statik.
Hier kündigen sich die Farben Rembrandts und die Instrumentation
Beethovens an. +Hier wird die grenzenlose Einsamkeit als die Heimat
der faustischen Seele empfunden.+ Was ist Walhall? Es wurde, den
Germanen der Völkerwanderung und selbst der Merowingerzeit unbekannt,
von der erwachenden faustischen Seele erdacht, sicherlich unter den
Eindrücken des antik-heidnischen und des arabisch-christlichen Mythus
der beiden älteren südlichen Kulturen, die mit ihren klassischen
oder heiligen Schriften, ihren Statuen, Mosaiken, Miniaturen, ihren
Kulten, Riten und Dogmen überall wirksam waren. Und trotzdem schwebt
Walhall jenseits aller fühlbaren Wirklichkeiten, in fernen, dunklen,
faustischen Regionen. Der Olymp ruht auf der wirklichen griechischen
Erde; das Paradies der Kirchenväter wie des Koran ist ein Zaubergarten
irgendwo im magischen Weltall. Walhall ist nirgends. Es erscheint, im
Grenzenlosen verloren, mit seinen ungeselligen Göttern und Recken, als
das ungeheure Symbol der Einsamkeit. Siegfried, Parzeval, Tristan,
Hamlet, Faust sind die einsamsten Helden aller Kulturen. Das gehört zur
abendländischen Seele. Man lese in Wolframs Parzeval die wundervolle
Erzählung vom Erwachen des Innenlebens. Die Waldsehnsucht, das
rätselhafte Mitleid, die unnennbare Verlassenheit: das ist faustisch.
Jeder kennt es. In Goethes Faust kehrt das Motiv in seiner ganzen Tiefe
wieder:

    Ein unbegreiflich holdes Sehnen
    Trieb mich durch Wald und Wiesen hinzugehn,
    Und unter tausend heißen Tränen
    Fühlt’ ich mir eine Welt erstehn.

Von diesem Welterlebnis weiß der apollinische und der magische Mensch
nichts, weder Homer noch St. Johannes. Der Höhepunkt der Dichtung
ist jener wunderbare Karfreitagmorgen, wo der mit Gott und sich
zerfallene Held den edlen Gawan trifft. „Wie, wenn bei Gott ich Hilfe
fände?“ Und er pilgert zu Tevrezent. Hier liegt der Kern +der
faustischen Religion+. Man begreift das Wunder der Eucharistie,
das die an ihm Teilnehmenden zu einer mystischen Gemeinschaft, zur
alleinseligmachenden Kirche verbindet. Man begreift aus dem Mythus vom
heiligen Gral und seiner Ritterschaft die innere Notwendigkeit des
germanisch-nordischen Katholizismus. Gegenüber den antiken Opfern,
die jeder Einzelgottheit in ihrem Tempel gebracht wurden, erscheint
hier das +eine, unendliche+ Opfer, das sich überall und täglich
wiederholt. Das ist eine faustische Idee des 9.-12. Jahrhunderts, der
Eddazeit, von den angelsächsischen Missionaren wie Winfried vorgeahnt,
aber erst damals zur Reife gediehen. Der Dom, dessen Hochaltar das
vollzogene Wunder umschließt, ist ihr steingewordener Ausdruck.

Die Vielheit einzelner Körper, als welche der antike Kosmos sich
darstellt, fordert eine gleichartige Götterwelt: dies ist der
Sinn des antiken Polytheismus. Der +eine+ Weltraum, sei er
magisch-alchymistisch oder dynamisch-faustisch empfunden, fordert
den +einen+ Gott des morgenländischen oder des abendländischen
Christentums (zweier Religionen unter derselben Maske). Zeus ist ein
Mensch, mehr noch, er ist ein Leib. Die attische Plastik erst hat
Athene und Apollon endgültig geformt, wie die Orgelfugen, Kantaten
und Passionen von Schütz, Haßler und Bach den protestantischen Gott
geformt haben. Von der Gestaltenfülle der Edda und der gleichzeitigen
Heiligenlegende an bis auf Goethe vollzieht sich der umgekehrte Prozeß
wie in der Antike. Dort eine immer weitergehende Atomisierung des
Göttlichen, so daß für den Römer die Namen des _Juppiter Latiaris_
und des _Juppiter Feretrius_ streng verschiedene Einzelnumina
decken, von denen jedes seinen eignen Kult fordert; hier ein Gott, der
mehr und mehr mit dem alleinigen Raume identisch wird.

Die ganze magische, von der Kirche mit dem vollen Gewicht ihrer
Autorität gedeckte himmlische Hierarchie von den Engeln und Heiligen
an bis zu den Personen der Dreifaltigkeit entkörpert sich, verblaßt
mehr und mehr und unvermerkt verschwindet der Teufel, der grosse
Gegenspieler im Weltdrama, aus den Möglichkeiten des faustischen
Weltgefühls. Er, nach dem noch Luther sein Tintenfaß warf, wird
von den protestantischen Theologen längst mit verlegenem Schweigen
übergangen. Die +Einsamkeit+ der faustischen Seele verträgt
sich nicht mit einem Dualismus der Weltmächte. Gott selbst ist das
All. Im 17. Jahrhundert versagt dieser Religiosität gegenüber die
Formensprache der Malerei und die Instrumentalmusik wird das einzige
und letzte Mittel religiösen Ausdrucks. Man darf sagen, daß der
katholische und der protestantische Glaube sich wie ein Altargemälde
und ein Oratorium verhalten. Schon um die germanischen Götter und
Helden spannen sich abweisende Weiten, rätselhafte Düsternisse;
sie sind in Musik getaucht (nicht gerade die Musik des „Ringes“);
nächtlich, weil das Tageslicht Grenzen für das Auge und also leibhafte
Dinge schafft. Die Nacht entkörpert; der Tag entseelt. Apollon und
Athene haben keine „Seele“. Auf dem Olymp ruht das ewige Licht eines
tiefklaren südlichen Tages. Die apollinische Stunde ist der hohe
Mittag, wenn der große Pan schläft. Walhall ist lichtlos. In der Edda
schon spürt man jene tiefen Mitternächte, in denen Faust in seinem
Studierzimmer brütet, die Rembrandts Radierungen festhalten, in die
Beethovens Tonfarben sich verlieren. Wotan, Baldur, Freya hatten nie
eine „euklidische“ Gestalt. Von ihnen wie von den vedischen Göttern
Indiens läßt sich „kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen“.
Diese Unmöglichkeit enthält eine Weihe des ewigen Raumes als des
höchsten Symbols, im Gegensatz zum körperlichen Abbilde, das ihn zur
„Umgebung“ herabsetzt, entheiligt, verneint. Das ist keine Welt für
die Nähe und das Auge. Dies tiefgefühlte Motiv liegt dem Bildersturm
im Islam und in Byzanz -- +beide+ im 8. Jahrhundert -- wie später
dem im protestantischen Norden zugrunde. War nicht auch die Schöpfung
der +antieuklidischen+ Analysis des Raumes durch Descartes ein
Bildersturm? Die antike Geometrie imaginiert eine Zahlenwelt des Tages,
die Funktionentheorie ist die eigentlich nächtliche Mathematik.

Zur Nacht, und sei es nur die innere, seelische Nacht, gehört das
Gefühl der Verlassenheit. Der antike Mensch, das ζῷον πολιτικόν
nach den Worten des Aristoteles, dessen Leben am Tage und also in
Gesellschaft, auf der Agora seine Höhe erreichte, hat es nie gekannt.
Die indische Seele wurde nie frei von ihm. Das unterscheidet Sokrates
von Buddha und Rousseau. Das Helldunkel Rembrandts, das metaphysisch
diese Einsamkeit, die grenzenlose Verlorenheit der Seele im Weltraume,
bedeutet, hatte in dem schauerlichen Braun und Grau der nordischen
Götterwelt seinen frühesten Anklang, wie es in den Nächten der letzten
Quartette Beethovens mit ihren schmerzlichen Lichtblitzen und der
trostlosen Wehmut der Tristanmusik zum letzten Male auftaucht, um
dann rasch in einer verspäteten, vereinzelten und wenig zugänglichen
Weltstadtlyrik bei Baudelaire, Verlaine, George und Droem zu verblassen.


7

Was diese Seele durch einen außergewöhnlichen Reichtum an
Ausdrucksmitteln, in Worten, Tönen, Farben, malerischen Perspektiven,
philosophischen Systemen, Legenden und nicht zum wenigsten in den
Räumen gotischer Kathedralen und den Formeln der Funktionentheorie
aussprach, ihr Weltgefühl nämlich, das hat die ägyptische Seele,
fernab von allem theoretischen und literarischen Ehrgeiz, allein
durch die unmittelbare Sprache des +Steins+ -- das stärkste Symbol
des Gewordenen -- ausgedrückt. Statt sich über ihre Form des
Ausgedehnten, ihren „Raum“ und ihre „Zeit“, in Wortspielen zu ergehen,
statt Hypothesen, Zahlensysteme und Dogmen zu bilden, stellte sie
schweigend ihre ungeheuren Symbole in die Landschaft am Nil. Was
für Menschen! Die faustische Seele, das „Fünklein“ Meister Eckarts,
fühlte sich grenzenlos einsam in ungeheuren Weiten -- wie die
Hirtenmelodie am Anfang des dritten Aktes von Tristan und Isolde.
Die apollinische Seele fühlte sich von der blinden είμαρμένη in eine
sinnlose Welt zahlloser Einzeldinge geworfen, gestoßen und zerbrochen
-- König Ödipus, ihr ergreifendstes Abbild. Die ägyptische Seele
sah sich wandernd auf einem engen und unerbittlich vorgeschriebenen
+Lebenspfad+. Das war ihre Schicksalsidee. Das ägyptische Dasein ist
das eines +Wanderers+; die gesamte Formensprache seiner Kultur dient
der Versinnlichung dieses einen Motivs. Sein Ursymbol läßt sich, neben
dem +Raum+ des Nordens und dem +Körper+ der Antike durch das Wort +Weg+
am ehesten fühlbar machen. Es ist dies eine ganz andere und für uns
äußerst schwierige Art, die Ausdehnung aufzufassen. Dieser Aspekt ist
es, den die Pharaonenkunst von ihrer Geburt bis zu ihrem Erlöschen
verwirklichen wollte. Die feierlich vorwärtsschreitende Statue, die
endlosen, in strenger Folge geordneten Gänge der Pyramidentempel der 4.
Dynastie (2930-2750), die düster, sich immer verengernd durch Hallen
und Höfe zur Grabkammer führen; die Sphinxalleen vor allem der 12.
Dynastie (2000-1788), die Reliefzyklen der Tempelwände, an denen der
Betrachter entlang schreiten muß, die immer in bestimmter Richtung
begleiten und leiten -- all dies repräsentiert das Tiefenerlebnis
eines eigenartigen Menschentums, das ägyptische Schicksal in seiner
ehernen Notwendigkeit, die durch den Granit und Diorit symbolisiert
wurde (man denke an den vielleicht verwandten Sinn, den der Granit für
Goethe und seine Anschauung der Erdgeschichte besaß). Man nehme die
Pyramiden, diese ungeheuren Schöpfungen einer traumschweren Frühzeit
-- sie gehören zur +Gotik+ der ägyptischen Seele -- ja nicht im Sinne
stereometrischer Körper. So empfand sie der +antike+ Betrachter, und
zwar aus seinem Weltgefühl heraus mit zwingender Gewißheit. Für den
Ägypter aber war das über seine Weltform entscheidende Tiefenerlebnis
so streng hinsichtlich der Richtung betont, daß der Raum gewissermaßen
in steter Verwirklichung begriffen blieb. Wir sahen, daß in diesem
Urerlebnis des Menschen, das ihm zugleich ein Innenleben und den
Besitz einer Außenwelt gewährt, die Richtung als das Merkmal des
Lebendigen die sinnliche Empfindung zum Raume vertieft, die Zeit als
Ferne erstarren läßt. Was ich hier mit dem Worte Weg anzudeuten
versuche, ist das Bild dieses im Bewußtsein andauernden weltschaffenden
Aktes. Weg bedeutet zugleich Schicksal und „dritte Dimension“. Die
mächtigen Wandflächen, Reliefs, Säulenreihen, an denen er vorüberführt,
repräsentieren „Länge und Breite“, d. h. die Empfindung, das Fremde,
welches das Leben erst zur Welt +dehnt+. So erlebt der +Wanderer+ den
Raum gewissermaßen in seinen noch unvereinigten Elementen, während
die Antike ihn nicht kannte und er uns in ruhender Unendlichkeit
umgibt. Deshalb will diese Kunst +Flächenwirkung+ und nichts anderes,
auch dort, wo sie sich kubischer Mittel bedient. Für den Ägypter war
die Pyramide über dem Königsgrabe ein +Dreieck+, eine ungeheure,
den Weg abschließende, die Landschaft beherrschende +Fläche+ von
stärkster Kraft des Ausdrucks, von wo aus er auch sich ihr näherte;
die Säulen der inneren Gänge, auf dunklem Hintergrunde, von strengster
Komposition und mit Schmuck überdeckt, wirkten durchaus als vertikale
Flächenstreifen, die den Zug der Priester rhythmisch begleiteten; das
Relief ist peinlich -- und sehr im Gegensatz zum antiken -- in eine
Fläche gebannt, nur seine Gestalten wandern mit. Alles bewegt sich
machtvoll einem Ziele zu. Die Herrschaft der Horizontale, der Vertikale
und des rechten Winkels, das Vermeiden jeder Verkürzung unterstützen
das zweidimensionale Prinzip und isolieren das Erlebnis der Raumtiefe,
die mit der Wegrichtung und dem Ziel -- dem +Grabe+ -- zusammenfällt.
Diese Kunst gestattet keine die Spannung der Seele erleichternde
Ablenkung.

Ist es nicht dies -- in der erhabensten Sprache ausgedrückt, die
überhaupt gedacht werden kann -- was in all unsern Raumtheorien sich
aussprechen möchte? Auch in der physiologischen, denn das Netzhautbild
des Auges ist flächenhaft und wird durch einen vitalen Akt in eine
räumliche Erfahrung überführt.

Die +Raumwerdung selbst+, die den Sinn der Außenwelt in sich
schließt, war das symbolische Erlebnis dessen, der vom Torbau des
Pyramidentempels am Nilufer den verdeckten Opferweg entlang schritt,
alle Symbole des Seins in tiefsinnigen Bildern zur Seite. Man +fühlte+
inmitten dieser Formen die Identität des Raumwerdens mit dem Leben.
Durch die schmale Pforte der mächtigen Pylonenwand -- dem Sinnbilde
der Geburt -- leitete das Schicksal ohne Ausweichen durch stets sich
verengende Räume zur letzten Zelle, die den zur Mumie verewigten Leib
enthielt, der das „Ka“ des toten Pharao an sich fesselte. Dies ist eine
Metaphysik in Stein, neben der die geschriebene -- die Kants -- wie
ein hilfloses Stammeln wirkt. Dies +eine+ Symbol des Weges stellt die
Fassung des +ägyptischen+ Makrokosmos reiner und erschöpfender dar, als
es irgendeines der antiken und indischen vermocht hat. Dies verleiht
der Formensprache des Ägyptertums eine Reinheit und Simplizität, die
von Menschen andrer Kulturen, von uns, nur als Starrheit empfunden
werden konnte.


8

Jede Kultur besitzt ihre Gotik, ihre Kindheit. Aber auch jeder
einzelne Mensch in ihr durchlebt eine entsprechende Phase. Man ist
auf die innere Verwandtschaft der urmenschlichen und der kindlichen
Kunst längst aufmerksam geworden. Sicherlich ist die ursprüngliche,
selbst unter Tieren vorkommende Freude, etwas nachzuahmen, ein
beständig wirksamer Trieb in aller Kunst. Schon das Kind müht sich
ab, durch Umrißzeichnungen etwas „herauszubringen“ oder Erwachsene
in ihren Bewegungen und Ausdrücken zu imitieren. Wir kennen den
Ursprung der griechischen τραγῳδία, die Bockstänze der Bauern am
Seelenfeste des Dionysos, welche die neuerwachte Zeugungskraft der
Natur versinnbildlichten. Die begabtesten Mimen unter ihnen zogen
tiermäßig ausstaffiert (die „tragische Maske“) auf ihrem Karren (dem
„Thespiskarren“) von Dorf zu Dorf und erregten Gelächter. Dergleichen
kennt jedes Land. Wir haben die gut getroffenen Tierzeichnungen der
Höhlenmenschen und Buschmänner kennen gelernt. Sei dies nun Musik oder
Malerei -- der echte Rationalist wird in der Kunst nie eine andere
Tendenz bemerken. Noch Aristoteles bezeichnet die μίμησις als ihr
Wesen, und von hier stammt der etwas platte Ausdruck Lessings, der
Endzweck aller Kunst sei das +Vergnügen+.

Andrerseits bricht das Formgefühl einer erwachenden Kultur mit solcher
Macht hervor, daß es Pflanzen, Tiere, menschliche Motive bis zur
Unkenntlichkeit +stilisiert+. Das lehren gleichmäßig der Dipylonstil,
die Romanik, die frühägyptische und früharabische (altchristliche)
Kunst. Hier redet eine neue Seele in einer neuen, nie dagewesenen
und nie sich wiederholenden Sprache. Hier handelt es sich nicht um
eine imitative, sondern eine symbolische Tendenz, nicht um Vergnügen,
sondern um einen dämonischen Drang, der alles andre eher als
Unterhaltsamkeit, Erholung, „Heiterkeit der Künstlerseele“ gestattet.
Diese Kunst ist es, auf welche allein der Begriff des Stils anwendbar
ist, die ihre Macht über +alle+ Formen des äußern Lebens erstreckt und
deren Geist erlischt, sobald die Kultur zur Zivilisation, die Seele zum
Intellekt wird.

In diesem Gegensatz von Künstlerheiterkeit und Künstlerernst, Spiel
und Zwang, von Nachahmen und Beschwören der Sinnenwelt tauchen wieder
jene +Urgefühle der Weltsehnsucht und Weltangst+ auf, und wir begreifen
mit einem Schlage, inwiefern hiermit alle Kämpfe um Kunstprobleme
zusammenhängen; in allem Gegensatz zwischen apollinisch und dionysisch,
klassisch und romantisch, Form und Gehalt, Regel und Laune, Artistik
und Naturalismus wird irgendwie das Geheimnis berührt, das hier
verborgen liegt. Nur der Systematiker, der Verstandesmensch wird hier
trennen und werten wollen, wo historisch, psychologisch, persönlich nur
ein Ganzes wirksam ist. Aber man muß wissen, daß von +einer Wurzel+ der
Kunst nicht die Rede sein kann.

Der kindliche Wechsel von tiefstem Entzücken über die ertagende
Welt, über den Seelenfrühling, von unendlicher Sehnsucht nach Reife,
Wachsen, Vollendung -- und tiefster Angst vor dem Unfaßlichen, das
in diesem Aufblühen liegt, vor dem Verhängnis, das mit ihm kam, der
Notwendigkeit eines Endes, dem Geheimnis der Vergänglichkeit, ruft
an der Schwelle einer jeden Kultur den strengen Stil dorischen und
gotischen Charakters, die +große+ Ornamentik und den Hang zu einer
ungeheuren, späten Generationen oft so rätselhaften Baukunst hervor,
deren keine reifgewordene Kultur, weder das Barock noch der Islam noch
das Mittlere Reich Ägyptens mehr fähig gewesen ist.

Riesenwerke solcher Art sind überhaupt nicht das Produkt einer „Kunst“
im artistischen Sinne irgendeiner ihrer Mittel und Ziele bewußten,
ihre Aufgabe +wählenden+ Malerei, Skulptur oder Dichtung; sie
entstanden als elementares Naturereignis. Ein Dom ist eine namenlose
und wahllose Schöpfung aus der mütterlichen Landschaft mit ihrem jungen
Menschentum, aus ihrem Schoße geboren, nicht eine persönlich-bewußte
Konzeption aus dem Willen irgendeines Künstlers. Plötzlich, schlechthin
vollkommen, überwältigend in ihrem Ausdruck von Trotz und Qual, voller
süßer Schwermut und Hingabe treten diese Knabenträume einer frühen
Seele allenthalben in die Tageswelt, die große Architektur, der große
Mythus, das Epos, das neue Ornament, die Kriege der Heldenzeit.

Alle Weltangst, sahen wir, ist Angst vor dem Raume, dem Verwirklichten,
der Grenze -- dem Tode. Im Tiefenerlebnis, durch das die sichtbare Welt
+wird+, hat sie ihren Ursprung. Gestalt, Zahl, Raum und Angst
haben einen gemeinsamen Grund. Und so erscheint die vollzogene, der
starren Ordnung +durch das Ursymbol+ unterworfene und dadurch in
ihrem ganzen Umfange zum Sinnbild einer und nur dieser einen Seele --
zum Makrokosmos -- erhobene Welt als das feindliche Prinzip, das Reich
der dunklen Mächte, die Inkarnation des Bösen. Im Hinblick darauf ist
die Feindschaft zwischen Seele und Welt der nie ganz unterdrückte
Untergrund alles Weltbewußtseins. Deshalb wird die junge Seele sich
plötzlich ihres einsamen Menschentums inmitten aller Vergänglichkeit
bewußt. Dies ist das Dämonische in aller Natur -- Natur als der Welt
des Ausgedehnten --, das die antike Seele ebenso kennen lernte wie
jede andre. Das faustische wie das magische Christentum, die Orphiker
mit ihrer Formel σῶμα σῆμα und das ägyptische Totenbuch stimmen
darin überein. Tausend mythische Gestalten, Legenden und Bräuche
zeugen davon. Wie das geringste Ornament an einem Schwertgriff, Gefäß
oder Säulenknauf, so ist auch das hellenische Kultdrama ein Mittel,
den Zorn der Götter zu besänftigen. So nennt Livius (VII, 2) die
szenischen Spiele (Tragödien), welche zur Abwendung der Pest in Rom
veranstaltet wurden, _caelestis irae placamina_. Dies erst durch
die Raumwerdung zur Erscheinung gezwungene Dämonische ist es, das die
Seele abwehren, bannen, heiligen will, indem sie es durch den Zauber
eines Symbols bannt. Sie gibt ihm Form, die Bedeutung besitzt, eine
sinnvolle Grenze, einen Namen, das heißt, sie macht es von sich
abhängig.[60]

Deshalb wendet sich die früheste und elementarste aller Künste an den
Urstoff der Welt, die Inkarnation des Widerstandes, den die Angst
brechen will, den +Stein+. Man wird die gigantische Architektur
der Dome und Pyramiden nie begreifen, wenn man sie nicht als
+Opfer+ auffaßt, das die junge Seele den fremden Mächten bringt.
Ein Opfer bedeutet im Ursinn der Menschheit die Darbringung von etwas,
das teil an der eignen Seele hat. Vor allem ist es das Totemtier, in
dem etwas von der Seele des Clans verweilt oder in das durch einen
Akt der Weihe die Seele des Opfernden eingeht und das nun durch seine
Darbringung eine mystische Vereinigung mit den Mächten bewirkt.[61]

Ein solches Opfer sind alle frühen Architekturen, das größte, das
je gebracht wurde. Denn in ihnen liegt nicht nur dieser oder jener
symbolische Sinn wie in kultischen Tänzen und Gesängen, in einem
Gemälde, einer Statue oder Sonate, sondern der +ganze+ Geist
einer Kultur, die durch ihr steingewordenes Selbst eine Verbindung
mit dem Weltgrunde sucht. Eine alte Kathedrale ist ein vollkommener
Makrokosmos der faustischen Seele, ein Pyramidentempel der ägyptischen,
einer jener Kuppelbasiliken von Ravenna und Byzanz der magischen. Alle
spätern Kunstwerke sind daneben etwas Partielles. Töne und Farben,
der +durchscheinende+ Marmor, die +gegossene+ Bronze, das
gelesene und gesprochene poetische Wort sind Kunst+mittel+; sie
verleugnen ihr urstoffliches Dasein oder besitzen es nicht. Alles
+bewußte+ Künstlertum ist egoistisch, voller Laune und „Freiheit“.
Es ist nicht mehr die mütterliche Landschaft, aus der seine Werke
wachsen. Die Idee des überpersönlichen Opfers der +ganzen+ Seele
ist mit der Frühzeit untergegangen.

Diese erste Kunst brauchte das Bewußtsein eines Sieges und so überwand
sie den Stein und zwang ihn, in symbolischen Formen aus der Erde
aufzuwachsen. Weil hier das Leben selbst in Frage stand, knüpften
sich diese Formen unmittelbar an den Gedanken des Todes, in den
Pyramidentempeln, deren innerer Weg zum Königsgrabe führt, wie in den
Domen, deren hochgewölbte Schiffe mit ihren Pfeilerreihen dem Hochaltar
zu geleiten, der das Geheimnis der Eucharistie in sich birgt, durch die
ein menschgewordner Gott sich opfert. Einer solchen Kunst gegenüber
wirken alle andern als Spiel, allzuirdisch, genießerisch. Deshalb
diese Riesenlasten, die eine gläubige Menschheit sich auflud, um den
Bau zu einem wahren Opfer zu machen. Die geistige Kraft, mit welcher
Menschen so früher Stufe technische Aufgaben lösten, sofort, mit
nachtwandlerischer Sicherheit, fast unbewußt, an denen das reife Wissen
später Zeiten zu Schanden wird, erscheint wie ein Wunder. Ich denke an
die riesenhaften Blöcke in den Fundamenten des Sonnentempels[62] von
Baalbek, durch deren uns völlig rätselhafte Bewältigung die arabische
Frühzeit der Idee ihres Daseins, dem Erlebnis +ihres+ Weltraumes
diente, und an die fabelhaften Steinmassen der Dome und Pyramiden, die
von der Erde weg in den Weltenraum emporgetragen wurden. Wie um 1100
Fürsten, Bürger und Knechte die Karren zogen, um diese Dome inmitten
winziger Städte zu errichten -- der ganze Stolz der Erbauer spricht aus
den Versen des jüngern Titurel -- so muß der Bau der Cheopspyramide
ein Akt der Weihe gewesen sein. Weder das Rokoko noch das Athen des
Perikles noch das Bagdad Harun al Raschids wären -- bei allem Überfluß
an technischen und materiellen Mitteln -- solcher Leistungen fähig
gewesen. Die Akropolis, das Schloß von Versailles, die Alhambra, Werke
eines raffinierten Kunstverstandes, erscheinen daneben klein und
allzumenschlich.


9

Es sind immer die große Ornamentik und die große Architektur, diese
beiden +Traumkünste+, die verschwistert den Anfang einer neuen
Kulturentwicklung bilden. Wohl sind viele Motive des nordischen
Ornaments urgermanisch, auch keltisch -- auch in der Edda ist manches
Keltische -- von arabischen und antiken Entlehnungen ganz abgesehen,
aber erst im 10. Jahrhundert entsteht die einheitliche und organische
Bildung des +faustischen Ornaments+ in seiner unermeßlichen Tiefe,
wie wir sie an St. Trophîme in Arles, an St. Pierre in Aulnay, an St.
Lazare in Autun, in Poitiers, in Moissac, in Deutschland vornehmlich
an den Domen der Ottonen- und Stauferzeit, an Chorgestühlen, Geräten,
Gewändern, Büchern, Waffen bewundern. Hier hat das neue Ursymbol, der
unendliche Raum, den gesamten Formenschatz zu einer einheitlichen
Sprache ausgeprägt. Gleichzeitig mit den magischen Kuppelräumen der
Basiliken Syriens erwacht die zauberhafte Sprache der +Arabeske+,
die flimmernd, verwirrend, alle Linien aufzehrend seitdem alles
durchgeistigt und entkörpert, was seelischer Besitz der arabischen
Kultur ist, -- bis hinein in die Formenwelten der persischen,
langobardischen, normannischen, der sogenannten „mittelalterlichen“
Kunst.

Eine heilige Strenge herrscht in diesen frühen Formen. Die älteste
Dorik trägt nicht ohne Grund die Bezeichnung des geometrischen Stils.
Die altchristlich-spätheidnische Kunst der Sarkophagreliefs und
Bildnisse konstantinischen Stils galt deshalb und gilt heute noch als
eine Kunst des Verfalls. Im Totentempel der Chephren (4. Dyn.) wird
der Gipfel mathematischer Einfalt erreicht: überall rechte Winkel,
Quadrate, rechteckige Pfeiler; keine Verzierung, keine Inschrift,
kein Übergang; das die Spannung mildernde Ornament wagt sich erst
einige Generationen später in die hehre Magie dieser Räume. Ebenso die
edle Romanik Westfalens (Corvey, Minden, Freckenhorst) und Sachsens
(Hildesheim, Gernrode), die mit einer unbeschreiblichen inneren Wucht
und Würde über alle eigentliche Gotik hinaus den ganzen Sinn der Welt
in +eine+ Linie, +ein+ Kapitäl, +einen+ Bogen zu legen vermochte.

Der Simplizität dieser frühen Seelensprache erscheint nichts unmöglich.
Wir finden in ihr Symbole, deren Charakter als Symbol bisher niemand
auch nur geahnt hat. Die ägyptische Seele mit ihrem strengen Hange zum
Chronologischen, einer unerhörten Gemessenheit und Abgewogenheit des
sozialen Daseins -- das sich in diesem einzigen Falle wirklich „_sub
specie aeternitatis_“ abspielte -- mit ihrer Wahl der härtesten
Gesteine, mit ihrem Verzicht auf alles bloß Literarische, faßte schon
am Anfang das alles mit leidenschaftlichem Ungestüm in einen Höhepunkt
des Ausdrucks zusammen, in einen +Staat+, der den Geist dieser
Kultur schlechthin darstellt. Auch der Staat ist ein Stück Architektur.
Auch seine Formen, als Formen von Gewordnem, Verwirklichtem,
Ausgedehntem, reden vom Ursymbol einer Kultur. Die antike Polis ist
das Seitenstück des dorischen Tempels, ganz euklidischer Körper. Das
abendländische Staatensystem ist eine Dynamik geographischer Räume.
Noch deutlicher spricht die Form des ägyptischen Staates. Seine
Maßnahmen und Institutionen rechnen nach Dynastien; seine Menschen
bilden, sorgfältig geschichtet, wieder eine Pyramide, mit dem Pharao
als Spitze. Jedermann hat ein +Amt+. Das Einzeldasein erschöpft
sich in der Teilnahme an der großen Bewegtheit. Es gibt keine „Genies“,
keine privaten Interessen. Dieser Staat ist das Schicksal; er stellt
den Weg der ägyptischen Menschheit dar; er setzt sich selbst in
Beziehung zur Idee des Todes. Die Pyramide ist das ungeheure Grab des
Königs, dessen Grundsteinlegung den ersten Akt seiner Regierung bildet,
an dem das ganze Volk arbeitet, solange er regiert. Zu ihm, dessen
„Ka“, an der Mumie haftend, alle Dynastien überdauert, führt jene
Prozessionsstraße von Pfeilersälen und Statuenhallen; die Säulenreihen,
Reliefreihen, Statuenreihen wiederholen noch einmal das metaphysische
Motiv der Herrscherreihen, die das Veränderliche im Unveränderlichen,
das Lebendige im Ausgedehnten, im +Staate+ als dem Gewordenen,
darstellen. Was in andern Kulturen in tausendfacher Gestalt vorliegt,
besitzt hier eine einzige. Der Staat ist +die+ Wirklichkeit. Es
gibt keine andere. Das Tiefenerlebnis, im Tempelwege symbolisiert, ist
das des +ganzen+ Ägyptertums, kaum das der partiellen Seelen.
Es gibt in der gesamten organischen Welt nur +ein+ erhabenes
Seitenstück hierzu, an das noch niemand gedacht hat: den Bienenstaat.

Beide sind der höchste Ausdruck der +Sorge+; man könnte auch
sagen der +Pflicht+. Wenn die kantische Ethik irgendwo ein
Seitenstück hat, nicht in Formeln, sondern in Wirklichkeiten, so ist
es hier. Es ist etwas Preußisches, etwas von Friedrich dem Großen in
dieser Staatsgesinnung des ägyptischen Menschen. Dicht daneben aber
steht die Kultur, welche ein Gefühl für die Zukunft -- die Richtung des
Lebens, den Sinn der Geschichte -- und also eine Sorge nie gekannt hat,
die antike. Deshalb hat sie es nie zu einem wirklichen Staate gebracht,
so wenig als zu einer Früharchitektur großen Stils.

So erklärt es sich, weshalb man Weltgeschichte immer vornehmlich
als die Geschichte von +Staaten+ aufgefaßt und behandelt hat.
Es liegt tiefste Notwendigkeit in diesem Zusammenhange. Eine Kultur
(Seele), die kein Gefühl für das eigne Werden besitzt -- das ist
Geschichte, Verwirklichung von Möglichem -- besitzt auch keinen Blick
für das zu Vollendende. In einer Staatsidee stellt sich die Geschichte
der Zukunft dar, wie eine Kultur sie +will+. Vergangenheit und
Zukunft sind in gleicher Weise Phänomene der Ferne. Man sorgt um
beide oder keines von beiden, um die Toten +und+ die Ungebornen
oder +nur+ um das Glück der Stunde. Der Sozialismus setzt einen
eminenten Sinn für Geschichte voraus, indem er Kommendes an Vergangenes
knüpft, der Stoizismus ist ahistorisch. Er erinnert sich an nichts
und sorgt um nichts. Der ägyptische Staat ist in gewissem Betrachte
sozialistisch. Die indische Staatengeschichte -- wenn man von einer
solchen reden darf -- hat im Hinblick auf ihre Sorglosigkeit und das
Herankommenlassen der Dinge etwas Antikes. Wer eine innere Entwicklung
-- zu Goethes Zeit nannte man das die Kultur eines Menschen --
besitzt und sich Rechenschaft über sie ablegt, hat auch eine innere
Zukunft und den Willen zu ihr. Der „Staat“ des innern Menschen ist
sein +Charakter+. Charakterbildung und Staatengeschichte sind
in der Tiefe identisch als biographische Formen des Einzelnen und
seiner Kultur. Shakespeare stellte neben seinen Othello und Macbeth
die Reihe seiner Historien, Goethe neben den Egmont den Tasso, neben
eine äußere eine innere Revolution. Don Quijote, Don Juan, Werther
resümieren auch eine politische Phase und man darf die -- gänzlich
unantike -- psychologische Dialektik in den Romanen von Choderlos de
Laclos, Stendhal und Balzac eine Politik der Seele nennen; insofern
ist Julian Sorel der Zögling Napoleons. Das attische Drama aber ist
unpolitisch -- also mythisch -- und ohne das formale Motiv einer innern
Entwicklung. So wenig Antigone ein Charakter, der sich „im Strome der
Welt bildet“, so wenig war Athen ein Staat im westeuropäischen Sinne.
Beide gehören dem Augenblick, dem blinden Ungefähr mit der ganzen
Summe ihrer Existenz an. Sie sind immer fertig wie ein euklidischer
Körper. Sie haben keine Genesis und kein Ziel ihres Daseins. Beide
Erscheinungen, das Weltbild der Historie und das Phänomen des Staates,
+in dem+ nach Goethes Ausdruck die Idee unmittelbar angeschaut
wird, verhalten sich wie Leben und Erlebtes. Die abendländische
politische Geschichte und das abendländische Staatensystem verhalten
sich wie +Wollen+ und +Erreichtes+, die antike Geschichte und
die lose Menge der πόλεις demgemäß wie ein +Geschehenlassen+ und
dessen +Resultat+.

Auch der gotische Dom verhält sich zum nordischen Glauben wie das
Erlebte zum Erleben. Der Atem seines Raumes ist der Geist Gottes. Er
symbolisiert den „Weg zu Gott“, zum Hochaltar, der in der geweihten
Hostie das immerwährende Wunder umschließt, das die Teilnehmer an
ihm zur +sichtbaren Kirche+, einer faustischen Gemeinschaft
jenseits aller Grenzen von Raum und Zeit, vereinigt. Dieser Gedanke,
der durchaus Eigentum der abendländischen Seele ist, der im 10.
Jahrhundert konzipiert und 1215 auf dem lateranischen Konzil als Dogma
fixiert wurde, schuf aus der arabischen Basilika des orientalischen
Christentums den +Dom+. Das Raumgefühl des magischen Menschen,
das sich in dem von einem Syrer erbauten Pantheon zu Rom ankündigt
und über die Kuppelbauten von Ravenna und Byzanz zu den großen
Moscheen des Islam führt, hat plötzlich einem neuen Tiefenerlebnis
und folgerichtig einer neuen Architektur und Staatsidee den Rang
abgetreten. Die Palastkapelle Karls des Großen zu Aachen -- dem Geiste
nach eine +Moschee+ -- ahnt hiervon noch nichts. Durch eine ebenso
plötzliche Gedankenschöpfung muß zu Beginn der 4. Dynastie -- um 3000,
wo mit dem Ende der Thinitenzeit die ägyptische Kultur ins Leben tritt
-- zugleich mit dem neuen Weltgefühl die Idee einer Religion, die
Idee des Pharaonenstaates und der sie verkörpernde Baugedanke jener
ungeheuren Totentempel als ein +Ganzes+ entstanden sein.


10

Man begreift nun, eben aus dem Unterschied von Dom und Pyramide, von
unsichtbarer Kirche und sichtbarem Staat als den repräsentativen Formen
der Seelengemeinschaft, das gewaltige Phänomen der gotischen Seele,
die in prachtvollem Aufschwung über alle Grenzen optisch gebundener
Sinnlichkeit hinausstrebt. Kann etwas dem Sinne des ägyptischen
Staates, dem alle Pharaonen +gedient+ haben, dessen Tendenz man
als einen erhabenen Realismus bezeichnen möchte, fremder sein als der
politische Ehrgeiz der großen Sachsen-, Franken- und Staufenkaiser,
die am Überfliegen aller staatlichen Wirklichkeiten zugrunde gingen?
Die Anerkennung einer Grenze wäre ihnen gleichbedeutend mit der
Herabwürdigung der Idee des Herrschertums gewesen. Hier tritt der
unendliche Raum als Ursymbol in seiner ganzen unbeschreiblichen Macht
in den Umkreis öffentlichen Daseins, und man könnte zu den Gestalten
der Ottonen, Konrads II., Heinrichs VI. und Friedrichs II. die
Normannen, die Eroberer Islands und vor allem die großen Päpste Gregor
VII. und Innocenz III. fügen, die alle die sichtbare Machtsphäre mit
der damals bekannten Welt gleichsetzen wollten. Dies unterscheidet die
homerischen Helden mit ihrem geographisch so genügsamen Gesichtskreis
von den stets im Unendlichen schweifenden Helden der Gral-, Artus-
und Siegfriedsage. Dies unterscheidet auch die Kreuzzüge, zu denen
die Krieger von den Ufern der Elbe und Loire bis zu den Grenzen der
bekannten Welt ausritten, von den Ereignissen, welche der Ilias
zugrunde liegen und auf deren örtliche Enge und Übersehbarkeit man auf
den Stil des antiken Seelentums mit Sicherheit schließen darf.

Die dorische Seele verwirklichte das Symbol des leibhaft gegenwärtigen
Einzeldinges, indem sie auf alle großen und weitreichenden Schöpfungen
Verzicht leistete. Es hat seinen guten Grund, wenn die erste
nachmykenische Zeit unseren Archäologen nichts hinterlassen hat. Wenn
die ägyptische und faustische Seele in der Sprache einer gewaltigen
Architektur zuerst zum Ausdruck kam, so suchte die antike Seele ihren
Ausdruck in einem ausdrücklichen +Verzicht+ auf sie. Ihr endlich
erreichter Ausdruck ist der dorische Tempel, der nur nach außen, als
massives Gebilde in der Landschaft gelegen, wirkt und den künstlerisch
überhaupt unbeachteten Raum in sich als das μὴ ὄν, das, was gar nicht
da sein sollte, verleugnet. Die ägyptische Säulenreihe trug die Decke
eines Saales. Der Grieche entlehnte das Motiv und wandte es in seinem
Sinne an, indem er den Bautypus wie einen Handschuh umkehrte. Die
äußeren Säulenstellungen sind Reste eines „Innenraums“.[63]

Demgegenüber ließen die magische und die faustische Seele ihre
steinernen Traumgebilde als Überwölbungen bedeutungsvoller Innenräume
emporsteigen, deren struktive Idee den Geist zweier Mathematiken,
der Algebra und der Analysis, vorwegnimmt. In der von Burgund und
Flandern ausstrahlenden Bauweise bedeuten die Kreuzrippengewölbe mit
ihren Stichkappen und Strebepfeilern eine Auflösung des geschlossenen,
durch sinnlich-greifbare Grenzflächen bestimmten Raumes überhaupt.
Ein Innenraum ist noch immer etwas Körperhaftes. Hier aber wird der
Wille fühlbar, aus ihm ins Grenzenlose zu dringen, wie es später die
in diesen Wölbungen heimische Musik des Kontrapunkts wollte, deren
körperlose Welt immer die der ersten Gotik geblieben ist. Wo auch in
spätesten Zeiten die polyphone Musik zu ihren höchsten Möglichkeiten
emporstieg wie in der Matthäuspassion, der Eroica und Wagners Tristan
und Parzifal, wurde sie mit innerster Notwendigkeit +domhaft+
und kehrte zu ihrer Heimat, zur steinernen Sprache der Kreuzzugszeit
zurück. Die ganze Wucht einer tiefsinnigen Ornamentik mit ihren seltsam
schauerlichen Umbildungen von Pflanzen, Tier- und Menschenleibern (St.
Pierre in Moissac), welche die Substanz des Gesteins leugnet, welche
alle Linien in Melodien und Figurationen eines Themas, alle Fassaden in
vielstimmige Fugen, die Leiblichkeit der Statuen zu einer Musik der
Gewandfaltung auflöst, mußte zu Hilfe kommen, um jeden antiken Hauch
von Körperlichem zu bannen. Erst dies gibt den riesigen Glasfenstern
der Dome mit ihrer farbigen, +durchleuchteten, also völlig stofflosen
Malerei+ -- eine Kunst, die sich niemals wiederholt und die den
stärksten überhaupt denkbaren Gegensatz zum antiken Fresko bildet
-- ihren tiefen Sinn. Er wird am deutlichsten etwa in der Sainte
Chapelle zu Paris, in der neben dem leuchtenden Glas der Stein beinahe
verschwunden ist. Im Gegensatz zum Fresko, dem mit der Wand körperlich
verwachsenen Gemälde, dessen Farben als Materie wirken, finden wir hier
Farben von der räumlichen Freiheit der Orgeltöne, völlig vom Medium
einer tragenden Fläche gelöst, Gestalten, die frei im Unbegrenzten
schweben. Mit dem faustischen Geiste dieser hochgewölbten, farbig
durchleuchteten, zum Chore strebenden Kirchenschiffe vergleiche man
die Wirkung der arabischen -- also altchristlich-byzantinischen --
Kuppeln. Auch die über der Basilika oder dem Oktogon scheinbar frei
schwebende Hängekuppel bedeutet eine Überwindung des antiken Prinzips
der natürlichen Schwere, wie sie das Verhältnis von Säule und Architrav
ausdrückt. Auch hier verleugnet sich der Stein. Eine geisterhaft
verwirrende Durchdringung der Formen von Kugel und Polygon, eine
Last auf einem Steinring gewichtlos über dem Boden schwebend, alle
tektonischen Linien verhüllt, kleine Öffnungen im höchsten Gewölbe,
durch die ein Ungewisses Licht hereinfällt, das die Raumgrenzen
noch unwirklicher macht -- so stehen die Meisterwerke dieser Kunst,
San Vitale in Ravenna, die Hagia Sophia in Byzanz, der Felsendom in
Jerusalem vor uns. Statt der ägyptischen Reliefs mit ihrer reinen
Flächenbehandlung, die jede in die Tiefe weisende Verkürzung peinlich
meidet, statt der den äußeren Weltraum einbeziehenden Glasgemälde der
Dome verkleiden hier flimmernde Mosaiken und Arabesken, in denen der
Goldton vorherrscht, alle Wände und versenken das Wirkliche in einen
märchenhaften, ungewissen Schein, der in aller maurischen Kunst für den
nordischen Menschen immer so verlockend geblieben ist.


11

So stammt das Phänomen des +Stils+ also aus dem hier festgestellten
Wesen des Makrokosmos, aus dem Ursymbol einer Kultur. Man wird, wenn
man den Gehalt des Wortes zu würdigen weiß, die fragmentarischen und
chaotischen Kunstäußerungen des Urmenschentums nicht zu der umfassenden
Bestimmtheit eines Stils in Beziehung bringen. Erst die als Einheit
nach Ausdruck und Bedeutung wirkende Kunst der großen Kulturen -- und
nun nicht mehr die Kunst allein -- hat Stil.

Wir haben die guten Tierimitationen der Diluvialmenschen und
einiger Naturvölker sowie die sehr hoch stehende mykenische und
Merowingerkunst. Aber gerade das macht den Unterschied evident. Das
ist kein Stil. Das ist alles isoliert, voller Freude am Gestalten
und Nachahmen, voller Sinn für Harmonie und Nuancen, aber ohne ein,
sagen wir ruhig +metaphysisches Formgefühl+, das unbewußt, wo es
auch in Kraft tritt, an Kunstwerken, Bauten, Geräten, Schmuck, auf
ein +Ziel+ zustrebt. +Damit+ erst gibt es Stil, eine +ungewollte und
unausweichliche+ (das soll man heute unterstreichen) Tendenz in +aller+
Produktion, die von der frühesten Dorik bis zum Römertum, von der
frühesten Romanik bis zum Empire die gleiche bleibt. Man vergleiche
das Aachener Münster mit Bauten, die nur 150 Jahre später entstanden
sind: inzwischen ist ein Stil erwacht. In Aachen ist er noch nicht
da. Der Bau Karls des Großen ist ein Musterbeispiel für eine Kunst
+außerhalb+ und vor einer Stilatmosphäre, außerhalb einer Kultur also!
Da gibt es kein Ursymbol, das hätte verwirklicht werden können und
müssen. Ebenso unterscheiden sich durch eine innere Notwendigkeit
der Form die geometrischen Verzierungen der spätmykenischen und der
frühdorischen Kunst. Erst die Dorik legt eine Tendenz, ein Weltgesetz
hinein. Andrerseits: in der Antike ist mit dem Alexandrinismus, bei uns
um 1800 diese Tendenz +zu Ende+. Die Geschichte des Stils schließt ab.
Die Möglichkeiten des +einen+ Formgedankens haben sich erschöpft. Von
da an macht man nach, erkünstelt, kreiert „Stile“, die alle zehn Jahre
wechseln, mit denen jeder tut, was er will; man wiederholt, kombiniert,
treibt Äußerlichkeiten auf die Spitze, weil das Bedürfnis, Kunst zu
machen, noch fortdauert, während der Stil, d. h. die +notwendige+ Kunst
tot ist. Das ist die Lage von heute.

Im Stil offenbart sich in und über allem +bewußten+ Künstlertum
-- das immer eine späte und städtische Erscheinung bildet -- das
unbewußt Seelische, das, was ich die Idee des Daseins nannte. Ein Stil
ist ein +Schicksal+. Man hat ihn, aber man erwirbt ihn nicht.
Bewußter, gewollter, gemachter Stil ist erlogener Stil, wie es alle
Spätzeiten, allen voran die Gegenwart, beweisen. Große Künstler und
Kunstwerke sind Naturereignisse. Die +Welt+ -- Natur -- ist
Schöpfung der Seele, das vollkommene Kunstwerk ist es auch: beide
ungewollt, wahllos, notwendig, folglich beide „Natur“. Hierauf beruht
die innere Identität eines Stils und der +zugehörigen+ Mathematik.
Stilformen sind, ohne Ausnahme, extensive Formen. Sie +bannen+
das im Ausgedehnten als gegenwärtig empfundene Fremde. Von den beiden
urmenschlichen Kunsttrieben, dem imitativen und dem symbolischen, ist
es der letzte, das +ornamentale+ Wollen, das den Stil hervorruft.
Nicht in der Weltsehnsucht, allein in der +Weltangst+ liegt die
letzte erreichbare Wurzel aller elementaren Kunstform. Ein Kunstwerk
besitzt Stil in genau demselben Sinne und Maße, wie eine physikalische
Vorstellung außer theoretisch-bildhaftem auch mathematischen Gehalt
besitzt.

Um ein Beispiel zu geben, fasse ich das ungeheure Phänomen des
ägyptischen Stils noch einmal zusammen, so wie es seit wenigen Jahren
übersehbar geworden ist. Wenn je, so ist in +diesem+ Stil der Tod
wirklich gebannt worden. Hier ruht Ewigkeit auf jedem Zuge; nicht jene
ergreifende Leidenschaft, die in der Gotik die Flügel entfaltet, um
dem Irdischen zu entrinnen und sich in jenseitige Räume zu verlieren;
nicht der allzu-körperliche und für uns etwas oberflächliche Hang der
Antike, das Behagen des Augenblicks um sich zu breiten und den Rest
zu vergessen. Der ägyptische Stil ist von einem tiefen Realismus. Er
ergreift die ganze Vergänglichkeit; er erkennt -- und er hält sich
deshalb bis in die letzten Epochen an den Stein als Material -- das
Gewordne und Begrenzte an, um es zu +überwinden+. Bei Rembrandt,
Beethoven und Michelangelo redet die Furcht vor dem Raume aus jedem
Zuge; in der Architektur von Memphis und Theben liegt sie weit zurück.

Um das Jahr 1100 erfolgt gleichzeitig in Frankreich, Oberitalien
und Westdeutschland die Einwölbung des bis dahin flach gedeckten
Mittelschiffes der Dome. Mit einem schöpferischen Akt von gleicher
Unbewußtheit und symbolischer Prägnanz beginnt der ägyptische Stil. Das
Ursymbol des +Weges+ ist plötzlich ins Leben getreten, mit dem
Beginn der 4. Dynastie (2930 v. Chr.). Das weltbildende Tiefenerlebnis
dieser Seele empfängt seinen Gehalt vom Richtungsfaktor selbst: die
Tiefe des Raumes als erstarrte Zeit, die Ferne, der Tod, das Schicksal
selbst beherrscht den Ausdruck; die bloß sinnlichen Dimensionen
der Länge und Breite werden zur begleitenden Fläche, die den Weg
des Schicksals einengt und vorschreibt. Das spezifisch ägyptische
Flachrelief, auf Nahsicht berechnet und in seiner zyklischen Anordnung
den Betrachter zwingend, in vorgeschriebener Richtung die Wandflächen
abzuschreiten, taucht ebenso plötzlich gegen Beginn der 5. Dynastie
auf.[64] Die noch späteren Reihen von Sphinxen und Statuen, die
Felsen- und Terrassentempel, die Bildnisstatuen, die stets vorwärts
schreitend und schauend, nie im Profil gedacht sind, verstärken ständig
die Tendenz auf die einzige Ferne, welche die Welt des ägyptischen
Menschen kennt, das Grab, den Tod. Man bemerke wohl, wie schon die
Säulenreihen der Frühzeit nach Durchmesser und Abstand der mächtigen
Schäfte genau so gegliedert sind, daß sie jeden seitlichen Durchblick
+verdecken+. Dies hat sich in keiner andern Architektur wiederholt.

Die Größe dieses Stils erscheint uns starr und unveränderlich. Er steht
allerdings jenseits der Leidenschaft, die noch sucht und fürchtet und
dem untergeordneten Detail damit eine rastlose subjektive Bewegtheit
im Lauf der Jahrhunderte erteilt. Diese Seele stellte fast alles uns
Wesentliche in den Elementen ihres Makrokosmos zurück, aber sicherlich
wäre dem Ägypter der ihm so fernliegende faustische Stil -- er bildet
von der frühesten Romanik bis zum Rokoko und Empire ebenfalls eine
Einheit -- in seiner Unruhe und seinem ständigen Suchen nach einem
Etwas viel gleichförmiger erschienen, als wir uns vorstellen können.
Vergessen wir jedenfalls nicht, daß aus dem hier vertretenen Begriff
des Stils folgt, daß Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokoko nur
Phasen +ein und desselben+ Stils sind, an dem wir naturgemäß vor
allem das Wechselnde, das Auge anders gearteter Menschen das Bleibende
bemerken. In der Tat beweisen zahllose Umbauten romanischer Werke im
Barock-, spätgotischer im Rokokostil, die durch nichts auffallen,
die innere Harmonie der nordischen Renaissance und der Bauernkunst,
in denen Gotik und Barock völlig identisch werden, die Straßen alter
Städte, deren Giebel und Fassaden aller Stilarten einen reinen
Einklang bilden, und die Unmöglichkeit, Romanik und Gotik, Renaissance
und Barock, Barock und Rokoko in einzelnen Fällen überhaupt zu
unterscheiden, daß die „Familienähnlichkeit“ dieser Phasen viel größer
ist, als sie den Angehörigen erscheinen.

Der ägyptische Stil ist absolut +architektonisch+ bis zum
Erlöschen dieser Seele. Er gestattet keine Abschweifung zu
unterhaltenden Künsten, keine Tafelmalerei, keine Büste, keine
weltliche Musik. In der Antike geht mit der Ionik der Schwerpunkt der
Stilbildung von der Architektur zu einer von ihr unabhängigen Plastik
über, im Barock geht er zur Musik, deren Formensprache ihrerseits die
gesamte Baukunst des 18. Jahrhunderts beherrscht, im Arabertum löst
mit dem Beginn der islamitischen Phase die Ornamentik der Arabeske
alle Formen der Architektur, Malerei und Plastik zu Stileindrücken
auf, die wir heute etwa als kunstgewerblich bezeichnen könnten. In
Ägypten bleibt die Herrschaft der Architektur unangefochten. Sie
mildert lediglich ihre Sprache. In den Hallen der Pyramidentempel der
4. Dynastie (Pyramide des Chephren) stehen schmucklose, scharfkantige
Pfeiler. In den Bauten der 5. Dynastie (Pyramide des Sahu-rê) erscheint
die +Pflanzensäule+. Steingewordne Lotus und Papyrusbündel wachsen
riesenhaft aus dem Fußboden von durchscheinendem Alabaster auf, der
das Wasser bedeutet, eingeschlossen von purpurnen Wänden. Die Decke
ist mit Vögeln und Sternen geschmückt. Der heilige Weg vom Torbau zur
Grabkammer, das Bild des Lebens, ist ein Strom. Es ist der Nil selbst,
der mit dem Ursymbol der Richtung eins wird. Der Geist der mütterlichen
Landschaft vereinigt sich mit der aus ihm entsprungenen Seele. Ganz
ebenso knüpft sich das euklidische Dasein der antiken Kultur in
geheimnisvoller Weise an die vielen kleinen Inseln und Vorgebirge des
ägäischen Meeres und die stets im Unendlichen schweifende Leidenschaft
des Abendlandes an die weiten, fränkischen, burgundischen, sächsischen
Ebenen.

Der ägyptische Stil ist von einer Erfülltheit des Ausdrucks, die unter
andern Bedingungen schlechthin unerreichbar erscheint. Ich glaube,
daß die +Langeweile+, jene Verdünntheit einzelner Lebensmomente,
die uns so wenig fremd ist wie den Griechen, der ägyptischen Seele
unbekannt war. Leben und +nur+ leben, in jeden Augenblick den
größtmöglichen Gehalt an Wirkung legen, ist aus diesem Weltaspekt,
angesichts der Symbole der Hieroglyphen, Mumien und Pyramidengräber,
eine Notwendigkeit. Man kann das Ethos dieser Art zu sein nur fühlen,
nicht nennen. Nicht unser „Wille“, nicht die antike Sophrosyne,
sondern die mit Worten gar nicht zu beschreibende Fülle des Daseins
ist die Regel. Man schreibt und redet nicht; man bildet und tut. Ein
ungeheures Schweigen -- für uns der erste Eindruck alles Ägyptischen
-- täuscht über die Macht dieser Vitalität. Es gibt keine Kultur
von höherer Seelenkraft. Keine Agora, keine geschwätzig-antike
Öffentlichkeit, keine nordischen Berge von Literatur und Publizistik,
nur sachlich-sichere, selbstverständliche Wirksamkeit. Einzelnes wurde
schon erwähnt. Ägypten besaß eine Mathematik höchsten Ranges, aber
sie äußerte sich durchaus in einer meisterhaften Bautechnik, einem
unvergleichlichen Kanalsystem, einer erstaunlichen astronomischen
Praktik, ohne auch nur ein theoretisches Buch zu hinterlassen (denn
das „Rechenbuch des Ahmes“ wird man nicht ernst nehmen wollen). Schon
das Alte Reich (der deutschen Kaiserzeit entsprechend) besaß eine
selten übertroffene, auf Generationen vorausschauende Sozialökonomie,
aber in Gestalt eines wohlgegliederten, das Geringste bedenkenden
Beamtenstaates. Die Römer mußten sich auf ihn stützen, um ihr Imperium
lebensfähig zu erhalten, ohne daß sie seinen Geist sonderlich begriffen
hätten. Ägypten mußte ihr Reich füttern, bezahlen, verwalten; es wurde
infolge der Mustergültigkeit seiner Institutionen der natürliche
Schwerpunkt und Cäsar war im Begriff, seine Residenz in Alexandria
zu nehmen. Aber es gibt kein ägyptisches Werk von staatsrechtlichem
oder finanzwissenschaftlichem Inhalt. Die späten Römer haben sich
den literarischen Ruhm angeeignet, indem sie einen Schatten dieser
Weisheit in ein System brachten. Ich glaube, daß man heute noch nicht
ahnt, wieviel vom Corpus Juris (dem +Werke+, nicht dem römischen
Rechtsbewußtsein) vom Nil stammt. Die Ägypter waren Philosophen, aber
sie hatten keine „Philosophie“. Überall nicht der geringste Versuch
einer Theorie und eine von wenigen erreichte instinktive Meisterschaft
in der Praxis.

Und wie jede Wissenschaft am Nil +getan+ und nicht diskutiert
wurde, so entstanden auch die frühen Epen und Idyllen, wie sie jede
Kultur besitzt, nicht in poetischer Wortkunst, sondern in Stein. Die 5.
und 6. Dynastie entspricht hierin der Zeit Homers, des Nibelungenliedes
und des Parzival. Damals entstanden die Reliefreihen der großen Tempel.
Etwas so Lebensprühendes, von einer so kindlichen und köstlichen
Laune Erfülltes wie diese steinernen Idyllen von 2700 v. Chr. mit
ihren Jagden, Fischzügen, Hirtenszenen, mit Zank und Spiel, Festen
und Familienszenen, Spazierfahrten, Bildern von Ackerbau und tätigem
Gewerbe, die das ganze Leben in heiterster Kraft und Fülle, ohne
nachdenkliche -- homerische -- Reflexion, in graziösester Sinnlichkeit
erzählen, ist ohne Beispiel. Man spricht so oft von der Heiterkeit der
Menschen anderer Kulturen und nennt neben Homer Theokrit, neben Walter
von der Vogelweide womöglich Rabelais oder Mozart. Aber dies haben die
Hellenen in ihren höchsten Momenten nicht erreicht, von Florentinern
und Niederländern, Raffael und Rubens zu schweigen. Das ist „Glück“.
Erst +dies+ macht die Symbolik der Pyramidentempel vollkommen.
Neben dem architektonischen Formelement, das die Idee des +Todes+
begreift und überwindet, steht das lyrische, imitative, welches das
+Leben+ in Gestalt bringt. Im Gotischen hat das eine in den Domen,
das andre in den epischen Dichtungen getrennte Formenwelten geschaffen;
hier ist eine erhabene Einheit durch die Beziehung auf das Symbol des
+Weges+ gewahrt.

Goethe hat einmal das Glück seiner Existenz in den Ausspruch gefaßt:
„Als ich achtzehn Jahre war, war Deutschland auch erst achtzehn.“
Unter allen Kulturen ist vielleicht nur die ägyptische sich dieses
Glückes bewußt geworden. Als sie geboren wurde, begann die höhere
Menschlichkeit überhaupt. Diese Idyllen, eine imitative, nicht
symbolische Kunst, entsprangen aus der Weltsehnsucht der jungen Kultur,
aus der reinen Freude am aufsteigenden Leben. Tiefe, klare, durch
keinen Anblick älterer, absterbender Kulturen getrübte Heiterkeit --
den Griechen stand schon der greisenhafte Orient, uns der Untergang
des „Altertums“ vor Augen -- hellste Geistigkeit, Vollgefühl
eigner Kraft, Beherrschtheit, Gewißheit des Ziels, der erreichten
und +gewohnten+ strengen Ordnung und Disziplin,[65] keine
schwermütigen Träume, keine verflatternden Wünsche, kein ängstliches
stoisches Sichbescheiden, nichts von dem etwas gewollten Lachen der
Renaissance oder der am Entbehren gereiften γαλήνη der perikleischen
Zeit, sondern naives, gefühltes, unreflektiertes Glück -- das alles
liegt in der Sprache dieser Reliefs, die den Weg zur Totenkammer der
Könige schmücken.


12

Der ägyptische Stil ist der Ausdruck einer +tapferen+ Seele.
Seine Strenge und Wucht ist vom ägyptischen Menschen nie empfunden und
betont worden. Man wagte alles, aber man schwieg darüber. In der Gotik
und im Barock wird die Überwindung des Schweren zum stets bewußten
Motiv der Formensprache. Das Drama Shakespeares redet laut von den
verzweifelten Kämpfen zwischen Wille und Welt. Der antike Mensch war
den „Mächten“ gegenüber schwach. Die κάθαρσισ von Furcht und Mitleid,
+das Aufatmen der apollinischen Seele+ im Augenblick der Peripetie
war nach Aristoteles die Wirkung der attischen Kulttragödie. Indem der
Grieche das Schauspiel vor sich hatte, wie jemand, den er +kannte+
-- denn jeder kannte den Mythus und lebte mit ihm, in ihm -- und der
vom Geschick sinnlos zertreten wurde, ohne daß ein Widerstand gegen
die Mächte denkbar war, in prachtvoller Haltung, trotzend, heroisch
untergeht, erfolgte tatsächlich in seiner euklidischen Seele eine
wunderbare Erhebung. War das Leben nichts wert, so war es doch die
große +Geste+, mit der man es verlor. Man wollte und wagte nichts,
aber man fand eine berauschende Schönheit im +Ertragen+. Schon die
Gestalt des Odysseus, in viel höherem Grade das Urbild des hellenischen
Menschen als Achill, zeugt davon. Die Moral der Cyniker, der Stoa.
Epikurs, das allgemeine hellenische Ideal der σωφροσύνη und ἀταραξία,
Diogenes in seinem Fasse, der θεωρία huldigend, -- das alles ist
verkappte Feigheit und sehr verschieden von dem Stolz der ägyptischen
Seele; der apollinische Mensch geht dem Leben im Grunde aus dem Wege,
bis zum Selbstmord, der +in dieser Kultur allein+ den Rang eines
positiv ethischen Aktes erhielt und mit der Feierlichkeit eines
sakralen Symbols behandelt wurde; der dionysische Rausch erscheint der
gewaltsamen Übertäubung von etwas verdächtig, das die ägyptische Seele
gar nicht kannte. Die griechische Architektur mit ihrem Gleichmaß von
Stütze und Last und den ihr eigentümlichen kleinen Maßstäben wirkt wie
eine ständige Ausflucht vor schweren tektonischen Problemen, die man
am Nil und später am Rhein mit einer Art von dunklem Pflichtgefühl
geradezu aufsuchte und die man in der mykenischen Zeit gekannt und
sicherlich nicht vermieden hat. Der Ägypter liebte das harte Gestein
massiger Bauten; es entsprach seinem Selbstbewußtsein, nur das Höchste
als Aufgabe zu wählen; der Grieche mied es. Es ist sehr merkwürdig,
wie er als Erbe der hochentwickelten mykenischen Steinbehandlung,
noch dazu in einem felsigen, kaum waldreichen Lande, zur Verwendung
des Holzes zurückkehrte. Die Absicht auf Dauer gehört nicht zu den
Tendenzen seiner Technik. Erst suchte seine Baukunst kleine Aufgaben,
dann hörte sie ganz auf. Vergleicht man sie in ihrem vollen Umfange mit
der Gesamtheit der indischen, ägyptischen oder gar abendländischen, so
ist man über die Geringfügigkeit des Phänomens erstaunt. Mit einigen
Variationen des dorischen Tempeltyps ist sie erschöpft und mit der
Erfindung des korinthischen Kapitäls (um 400) abgeschlossen. Alles
Spätere ist Kombination von Vorhandenem.

Der Stil -- wie die Handschrift -- verschweigt nichts. Das antike Sein,
mag man noch so sehr an die Überfülle seiner Vitalität glauben, erhält
sich nur durch eine bewunderungswürdige Weisheit der Beschränkung.
Es hatte seelisch nichts zu verschwenden. Es hält sich an das Jetzt
und Hier der Vordergründe des Lebens, ohne die Fernen von Geburt und
Tod, Vergangenheit und Zukunft, deren Assimilation eine ganz andere
Willenskraft und Stärke des Seelischen voraussetzt, in das Bild der
Welt einzubeziehen, Fernen, an die noch der urhellenische Mythus,
dessen letzte lebendige Spuren man bei Äschylus findet, tiefsinnig
angeknüpft hatte.

Dies liegt in dem apollinischen Prinzip der +Vereinzelung der
Kunstwerke und Lebensformen+. Damit wird die Historie so gut wie
die räumliche Weite abgelehnt. +Ein+ Tempel, +eine+ Statue,
+eine+ Stadt, lauter punktförmige Einheiten, in die das Sein sich
zurückzieht wie die Schnecke in ihr Haus. Jede andre Kultur kennt
politische Fernwirkungen, Kolonien und Kolonialreiche. Aber diese
Hunderte von winzigen Griechenstädten sind ebensoviele politische
Punkte, „wie ein hellenischer Saum -- nach Cicero -- den Landschaften
der Barbaren angewebt“. Jeder Versuch, eine Einwirkung im Sinne der
Ausbildung eines größeren politischen Organismus auf die Pflanzstädte
auszuüben, führte sofort zu wütenden Kriegen (Korinth und Korkyra um
670). Jeder Tempel mit seiner Priesterschaft bildet ein religiöses
Atom. Man ist auf das Groteske dieser Erscheinung kaum recht aufmerksam
geworden. Narren haben darin die „gesunde Abneigung der Hellenen gegen
den Klerikalismus“ gefunden. Obwohl Apollo und Athene dem Namen nach
allgemein hellenische Gottheiten sind, besitzen sie keinen allgemeinen
Kultus. Man lasse sich nicht durch die Dichtung täuschen. Die großen
Götternamen waren bis zu einem gewissen Grade (durchaus nicht ganz)
Gemeingut, aber das mit dem Worte Apollo bezeichnete _numen_ war
an jedem Orte etwas Selbständiges. Die Zeusheiligtümer von Dodona,
Olympia und andern Orten sind ohne jede Verbindung miteinander und
ebenso die Tempel verschiedener Götter in derselben Stadt. Von einer
religiösen Gemeinschaft im Sinne der Priesterschaft des Ra, der
Mithrasreligion, der altpersischen, altchristlichen Gemeinschaften
oder der Sekten des Islam und des Protestantismus ist selbst bei den
Orphikern und im Pythagoräerbunde nicht die Rede. Aber eben das ist
auch der Grundzug der attischen Plastik, der frei im Raum stehenden,
vollkommen beziehungslosen Statue. Und er wiederholt sich in jedem
antiken Stadtbilde. Keine großgedachten Straßenzüge, kein planmäßig
ausgebauter Platz; ein wirres Durcheinander von Gebäuden und Bildwerken
auf der Akropolis wie in den Weihbezirken von Delphi und Olympia, bis
der großstädtische Hellenismus an der Nachahmung orientalischer, von
einem Gesamtgeist +geregelter+ Stadtpläne Geschmack fand.

Der +Organismus+ historischer Stilfolgen wird nun übersehbar
geworden sein. Stile folgen nicht aufeinander wie Wellen und
Pulsschläge. Mit der Persönlichkeit einzelner Künstler, ihrem Willen
und Bewußtsein haben sie nichts zu schaffen. Im Gegenteil, das
Medium des Stils liegt seinerseits dem Phänomen der künstlerischen
Individualität a priori zugrunde. Der Stil ist wie die Kultur ein
Urphänomen im strengsten Sinne Goethes, sei es der Stil von Künsten,
staatlichen Bildungen, Gedanken, Gefühlen, Ausdrucksformen des
religiösen Bewußtseins oder einer andern Gruppe von Wirklichkeiten.
So gut „Natur“ ein immer neues Erlebnis des Menschen ist, als der
umfassende Ausdruck der augenblicklichen Beschaffenheit seines Werdens,
als sein _alter ego_ und Spiegelbild, so der Stil. Deshalb kann es
im historischen Gesamtbilde einer Kultur nur einen, +den Stil dieser
Kultur+ geben. Es war falsch, bloße Stilphasen, wie Romanik, Gotik,
Barock, Rokoko, Empire als Stile zu unterscheiden und mit Einheiten
von ganz anderem Range wie dem ägyptischen, dorischen oder maurischen
Stil oder gar einem „prähistorischen Stil“ gleichzusetzen. Gotik und
Barock: das ist Jugend und Alter desselben Inbegriffs von Formen,
der reifende und der gereifte Stil des Abendlandes. Es fehlt unsrer
Ästhetik in diesem Punkte an Distanz, an der Unbefangenheit des Blickes
und dem guten Willen zur Abstraktion. Man hat es sich bequem gemacht
und alle stark empfundenen Formdifferenzen unterschiedslos als „Stile“
aufgereiht. Daß auch hier das Schema Altertum-Mittelalter-Neuzeit den
Blick endgültig verwirrte, braucht kaum erwähnt zu werden. In der Tat
steht selbst ein Meisterwerk der strengsten Renaissance wie der Hof des
Palazzo Farnese, der Vorhalle von St. Patroklus in Soest, dem Innern
des Magdeburger Doms und den Treppenhäusern süddeutscher Schlösser
des 18. Jahrhunderts unendlich viel näher als dem Tempel von Pästum
oder dem Erechtheion. Dasselbe Verhältnis besteht zwischen Dorik und
Ionik. Deshalb kann die ionische Säule mit dorischen Bauformen eine
ebenso vollkommene Verbindung eingehen wie Spätgotik und frühes Barock
in St. Lorenz zu Nürnberg oder späte Romanik mit spätem Barock in dem
schönen Oberteil des Mainzer Westchores. Deshalb hat unser Auge noch
kaum gelernt, im ägyptischen Stil die der dorisch-gotischen Jugend und
dem ionisch-barocken Alter entsprechenden Elemente des Alten und des
Mittleren Reiches zu unterscheiden, die seit der 12. Dynastie sich
in der Formensprache aller größeren Werke mit vollkommener Harmonie
durchdringen.


13

Der Kunstgeschichte steht die Aufgabe bevor, die vergleichenden
Biographien der großen Stile zu schreiben. Sie haben alle, als
Organismen derselben Gattung, eine Lebensgeschichte von verwandter
Struktur.

Am Anfang steht der verzagte, demütige, reine Ausdruck einer eben
erwachenden Seele, die noch nach einem Verhältnis zur Welt sucht,
der sie, obwohl einer eigenen Schöpfung, doch fremd und befremdet
gegenüber steht. Es liegt Kinderangst in den Bauten des Bischofs
Bernward von Hildesheim, in der altchristlichen Katakombenmalerei
und den Pfeilersälen vom Anfang der 4. Dynastie. Ein Vorfrühling
der Kunst, ein tiefes Ahnen künftiger Gestaltenfülle, eine mächtige
verhaltene Spannung liegt über der Landschaft, die sich, noch ganz
bäuerlich, mit den ersten Burgen und kleinen Städten schmückt. Dann
folgt der jauchzende Aufschwung in der hohen Gotik, den Hochreliefs
der konstantinischen Zeit mit ihren Säulenbasiliken und Kuppelkirchen
und den reliefgeschmückten Tempeln der 5. Dynastie. Man begreift das
Sein; der Glanz einer vollkommen gemeisterten wunderbaren Formensprache
breitet sich aus und der Stil reift zu einer majestätischen Symbolik
der Tiefe und des Schicksals heran. Aber der jugendliche Rausch geht
zu Ende. Aus der Seele selbst erhebt sich Widerspruch. Renaissance,
dionysisch-musikalische Feindschaft gegen die apollinische Dorik, der
ägyptisierende Stil im Byzanz von 450 gegenüber der heiter-lässigen
antiochenischen Kunst bedeuten eine Phase der Auflehnung und versuchten
oder erreichten Zerstörung des Erworbenen, deren sehr schwierige
Erörterung hier nicht am Platze ist.

Damit tritt das Mannesalter des Seelentums in Erscheinung. Die
Kultur wird zum Geiste der großen Städte, die jetzt die Landschaft
beherrschen; sie durchgeistigt auch den Stil. Die erhabene Symbolik
verblaßt; das Ungestüm übermenschlicher Formen geht zu Ende; mildere
weltlichere Künste verdrängen die große Kunst des gewachsenen Steins;
selbst in Ägypten wagen Plastik und Fresko sich etwas leichter zu
bewegen. Der +Künstler+ erscheint. Er „entwirft“ jetzt, was bis
dahin aus dem Boden wuchs. Noch einmal steht das Dasein, das bewußt
gewordne, vom Ländlich-Traumhaften und Mystischen gelöst, fragwürdig
da und ringt nach einem Ausdruck seiner neuen Bestimmung: zu Beginn
des Barock, wo Michelangelo in wildem Unbefriedigtsein und sich gegen
die Schranken seiner Kunst bäumend die Peterskuppel auftürmt, zur Zeit
Justinians I., wo seit 520 die Hagia Sophia und die mosaikgeschmückten
Kuppelbasiliken von Ravenna entstehen, im Ägypten der Zeit vor 2000
und um 600 in Hellas, wo viel später noch Äschylus verrät, was
eine hellenische Architektur in dieser entscheidenden Epoche hätte
ausdrücken können und müssen.

Dann erscheinen die leuchtenden Herbsttage des Stils: noch einmal
malt sich in ihm das Glück der Seele, die sich ihrer letzten
Vollkommenheit bewußt wird. Die „Rückkehr zur Natur“, damals schon als
nahe Notwendigkeit von Denkern und Dichtern, von Rousseau, Gorgias
und den „Gleichzeitigen“ der andern Kulturen gefühlt und angekündigt,
verrät sich in der Formenwelt der Künste als empfindsame Sehnsucht und
Ahnung des Endes. Hellste Geistigkeit, heitre Urbanität und Wehmut
eines Abschiednehmens: von diesen letzten farbigen Jahrzehnten der
Kultur hat Talleyrand später gesagt: „_Qui n’a pas vécu avant 1789,
ne connait pas la douceur de vivre._“ So erscheint die freie,
sonnige, raffinierte Kunst zur Zeit der Sesostris und Amenemhet
(nach 2000). Dieselben kurzen Momente gesättigten Glücks tauchen auf,
als unter Perikles die bunte Pracht der Akropolis und die Werke des
Phidias und Praxiteles entstanden. Wir finden sie ein Jahrtausend
später zur Abassidenzeit in der heitern Märchenwelt maurischer Bauten
mit ihren fragilen Säulen und Hufeisenbögen, die sich im Leuchten der
Arabesken und Stalaktiten in die Luft auflösen möchten, und wieder
ein Jahrtausend darauf in der Kammermusik Haydns und Mozarts, den
Schäfergruppen von Meißner Porzellan, den Bildern Watteaus und Guardis
und den Werken deutscher Baumeister in Dresden, Potsdam, Würzburg und
Wien.

Dann erlischt der Stil. Auf die bis zum äußersten Grade durchgeistigte,
zerbrechliche, der Selbstvernichtung nahe Formensprache des Erechtheion
und des Dresdner Zwingers folgt ein matter und greisenhafter
Klassizismus, in hellenistischen Großstädten ebenso wie im Byzanz von
900 und im Empire des Nordens. Ein Hindämmern in leeren, ererbten, in
archaistischer oder eklektischer Weise vorübergehend wieder belebten
Formen ist das Ende. Gewaltsam in Szene gesetzte „Stile“ und exotische
Entlehnungen sollen den Mangel an Schicksal, an innerer Notwendigkeit
ersetzen. Halber Ernst und fragwürdige Echtheit beherrschen das
Künstlertum. In diesem Falle befinden wir uns heute. Es ist ein
langes Spielen mit toten Formen, an denen man sich die Illusion einer
lebendigen Kunst erhalten möchte.


14

Erst wenn man sich von der Täuschung jener antiken Kruste befreit hat,
die mit einer solchen archaistischen und eklektischen Fortsetzung
innerlich längst erstorbener Kunstübungen den jungen Orient in der
Kaiserzeit überlagert; wenn man in der altchristlichen Kunst und in
allem, was in der spätrömischen wirklich lebendig ist, die Frühzeit
des +arabischen+ Stils erkannt hat; wenn man in der Epoche
Justinians I. das genaue Seitenstück des spanisch-venezianischen Barock
wiederfindet, wie es unter den großen Habsburgern Karl V. und Philipp
II. Europa beherrschte; in den Palästen von Byzanz mit ihren mächtigen
Schlachtenbildern und Prunkszenen, deren längst untergegangene
Pracht höfische Literaten wie Prokop von Cäsarea in euphuistisch
schwülstigen Reden und Versen feiern, Madrid, Rubens und Tintoretto;
erst dann gewinnt das bisher als Einheit nicht begriffene Phänomen der
arabischen Kunst -- das volle erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung
umfassend -- Gestalt. Da es an entscheidender Stelle im Bilde der
Gesamtkunstgeschichte steht, so hat das bisher waltende Mißverständnis
die Erkenntnis der organischen Zusammenhänge überhaupt verhindert.

Merkwürdig und für den, der hier einen Blick für bisher unbekannte
Dinge gewonnen hat, ergreifend ist es zu sehen, wie diese junge Seele,
vom Geist der antiken Zivilisation in Fesseln gehalten, unter den
Eindrücken vor allem der politischen Allmacht Roms es nicht wagte,
sich frei zu regen, wie sie demütig sich veralteten und fremden Formen
unterwarf und sich mit griechischer Sprache, griechischen Ideen und
Kunstelementen zu bescheiden suchte. Die inbrünstige Hingabe an die
Mächte der jungen Tageswelt, wie sie die Jugend +jeder+ Kultur
bezeichnet, die Demut des gotischen Menschen in seinen frommen,
hochgewölbten Räumen mit den Pfeilerstatuen und lichterfüllten
Glasgemälden, die hohe Spannung der ägyptischen Seele inmitten ihrer
Welt der Pyramiden, Lotossäulen und Reliefsäle am Nil mischt sich
+hier+ mit einem geistigen Niederknien vor erstorbenen Formen, die
man für ewig hielt. Daß ihre Herübernahme und Weiterbildung trotzdem
nicht gelang, daß wider Willen und unvermerkt, ohne den Stolz der
Gotik auf das Eigne, das man hier, im Syrien der Kaiserzeit, fast
beklagte und als Verfall empfand, eine geschlossene neue Formenwelt
emporstieg und mit ihrem Geiste -- unter der Maske griechisch-römischer
Baugewohnheiten -- selbst Rom erfüllte, wo +syrische+ Meister am
Pantheon und den Kaiserforen arbeiteten, das beweist wie kein zweites
Beispiel die Urkraft eines jungen Seelentums, das seine Welt erst noch
zu erobern hat.

Die Seelengeschichte dieser Frühzeit erzählt die Basilika, der Typus
der morgenländischen Kirche, von ihrer heute noch rätselhaften
Abkunft aus späthellenistischen Formen bis zu ihrer Vollendung im
Zentralkuppelbau der Hagia Sophia. Sie ist von Anfang an, und darin
liegt das magische Weltgefühl, als +Innenraum+ gedacht. Der
antike Tempel war bis zuletzt ein +Körper+. Aber man kann
diese früharabische Kunst nicht verstehen, wenn man sie, wie es
heute geschieht, durchaus als altchristliche behandelt und auf die
produktiven Grenzen dieser Glaubensgemeinschaft beschränkt. Man müßte
dann auch die Kunst des Mithras-, Isis-, Sonnenkultus, der Synagoge
des Neuplatonismus zunächst für sich, nach Architektur, Symbolik
und Ornament behandeln und dann aus der Gruppe dieser Äußerungen
+eines und desselben+ Kunstwollens das Früharabische als Einheit
destillieren. Aber die Macht der antiken Vormundschaft hat es beinahe
niemals ganz rein hervortreten lassen. Die frühchristlich-spätantike
Kunst zeigt dieselbe ornamentale und figürliche Mischung von ererbtem
Fremden und eben geborenem Eignen wie die karolingisch-frühromanische.
Dort mischt sich Hellenistisches mit Frühmagischem, hier
Maurisch-Byzantinisches mit Faustischem. Der Forscher muß Linie für
Linie, Ornament für Ornament auf das Formgefühl hin untersuchen, um
die beiden Schichten voneinander zu trennen. In jedem Architrav,
jedem Fries, jedem Kapitäl findet ein heimliches Ringen zwischen dem
gewollten alten und den ungewollten, aber siegreichen neuen Formen
statt. Überall wirkt das Sichdurchdringen späthellenistischen und
früharabischen Formgefühls verwirrend, in den Bildnisbüsten der Stadt
Rom, wo oft nur die Haarbehandlung der neuen Formweise angehört, in den
Akanthusranken oft ein und desselben Frieses, wo die Arbeit des Meißels
und des Tiefbohrers nebeneinander stehen, in den Sarkophagen des 2.
Jahrhunderts, wo eine primitive Stimmung in der Art Giottos und Pisanos
sich mit einem gewissen späten großstädtischen Naturalismus, bei dem
man etwa an David oder Carstens denkt, kreuzt, und in Bauten wie dem
von einem Syrer erbauten Pantheon -- der Urmoschee! --, der Basilika
des Maxentius und dem Trajansforum neben manchen noch sehr antik
empfundenen Teilen der Thermen und Kaiserfora, dem Forum des Nerva z. B.

Trotzdem ist das arabische Seelentum um seine Blüte betrogen worden,
wie ein junger Baum, den ein gestürzter Urwaldstamm im Wachsen hindert
und verkümmern läßt. Hier findet sich keine leuchtende Epoche, die als
solche gefühlt und erlebt wurde wie damals, als mit den Kreuzzügen
zugleich die Holzdecken der Dome sich zu Kreuzgewölben schlossen und
die Idee des unendlichen Raumes durch ihr Inneres verwirklicht und
vollendet wurde. Die politische Schöpfung Diokletians -- des ersten
Kalifen -- wurde durch die Tatsache in ihrer Schönheit gebrochen, daß
es die ganze Masse stadtrömischer Verwaltungspraktiken war, die er,
auf antikem Boden, als gegeben anerkennen mußte und die sein Werk zu
einer bloßen Reform verjährter Zustände herabsetzte. Und doch tritt
mit ihm die Idee des arabischen Staates ans Licht. Erst aus ihm und
dem politischen Typus des eben damals entstandenen Sassanidenreiches
zusammen läßt sich das Ideal ahnen, das hier zur Entfaltung hätte
kommen sollen. Und so war es überall. Man hat bis zum heutigen Tage
als letzte Schöpfungen der Antike bewundert, was sich selbst nicht
anders aufgefaßt wissen wollte: Das Denken Plotins und Mark Aurels,
die Kulte der Isis, des Mithras, des Sonnengottes, die diophantische
Mathematik und die gesamte Kunst, welche die Renaissance nachher unter
Ausscheidung alles echt Griechischen als „antik“ wieder aufleben läßt.

Dies allein erklärt die ungeheure Vehemenz, mit welcher die durch
den Islam endlich befreite und entfesselte arabische Kultur sich auf
alle Länder warf, die ihr seit Jahrhunderten innerlich zugehörten,
das Zeichen einer Seele, die fühlt, daß sie keine Zeit zu verlieren
hat, die voller Angst die ersten Spuren des Alters bemerkt, bevor sie
eine Jugend hatte. Diese Befreiung des magischen Menschentums ist ohne
Gleichen. Syrien wird 634 erobert, man möchte sagen +erlöst+,
Damaskus 635, Ktesiphon 637. 641 wird Ägypten und Indien erreicht,
647 Karthago, 676 Samarkand, 710 Spanien; 732 stehen die Araber vor
Paris. So drängt sich hier in der Hast weniger Jahre die ganze Summe
aufgesparter Leidenschaft, verspäteter Schöpfungen, zurückgehaltener
Taten zusammen, mit denen andre Kulturen, langsam aufsteigend, die
Geschichte von Jahrhunderten füllen konnten. Die Kreuzfahrer vor
Jerusalem, die Hohenstaufen in Sizilien, die Hansa in der Ostsee,
die Ordensritter im slawischen Osten, die Spanier in Amerika, die
Portugiesen in Ostindien, das Reich Karls V., in dem die Sonne nicht
unterging, die Anfänge der englischen Kolonialmacht unter Cromwell
-- das alles sammelt sich in der +einen+ Entladung, welche die
Araber nach Spanien, Frankreich, Indien und Turkestan führte.

Es ist wahr: Alle Kulturen mit Ausnahme der ägyptischen und vielleicht
der chinesischen haben unter der Vormundschaft älterer Kultureindrücke
gestanden; fremde Elemente erscheinen in jeder dieser Formenwelten.
Die faustische Seele der Gotik, schon durch die arabische Herkunft des
Christentums in der Richtung ihrer Ehrfurcht geleitet, griff nach dem
reichen Schatz spätarabischer Kunst. Das Arabeskenwerk einer unleugbar
südlichen, ich möchte sagen +Arabergotik+ umspinnt die Fassaden
der Kathedralen von Burgund und der Provence, beherrscht die Sprache
des Straßburger Münsters mit einer Magie in Stein und führt überall, an
Statuen und Portalen, in Gewebemustern, Schnitzereien, Metallarbeiten,
nicht zum wenigsten in den krausen Figuren des scholastischen Denkens
und einem der höchsten abendländischen Symbole, der Sage vom heiligen
Gral,[66] einen stillen Kampf mit dem nordischen Urgefühl einer
+Wikingergotik+, wie sie im Innern des Magdeburger Domes, der
Spitze des Freiburger Münsters und der Mystik Meister Eckarts herrscht.
Der Spitzbogen droht mehr als einmal seine bindende Linie zu sprengen
und in den Hufeisenbogen maurisch-normannischer Bauten überzugehen.

Die apollinische Kunst der dorischen Frühzeit, deren erste Intentionen
fast verschollen sind, hat ohne Zweifel ägyptische Formen wie den Typus
der frontalen Statue und das Motiv der Säulenreihe herübergenommen, um
an ihnen zu einer eignen Symbolik zu gelangen. Nur die magische Seele
wagte es nicht, die Mittel sich anzueignen, ohne sich ihnen hinzugeben,
und das macht die Psychologie des arabischen Stils so unendlich
aufschlußreich.


15

So erwächst aus der Idee des Makrokosmos, die im Stilproblem
vereinfacht und faßlicher vor Augen tritt, eine Fülle von Aufgaben,
deren Behandlung der Zukunft angehört. Die Formenwelt der Künste für
eine Durchdringung des Seelischen nutzbar zu machen, indem man sie
durchaus physiognomisch und symbolisch auffaßt, ist ein Unternehmen,
dessen bisher gewagte Versuche von unverkennbarer Dürftigkeit sind.
Man weiß nichts von einer wirklichen Psychologie der architektonischen
Grundformen. Man ahnt nicht, welche Aufschlüsse in dem Bedeutungswandel
liegen, den eine solche Form bei der Übernahme durch eine andere
Kultur erfährt. Die Seelengeschichte der Säule ist noch nie erzählt
worden. Man hat keinen Begriff von der Tiefe einer Symbolik der
Kunst+mittel+, der Kunstwerkzeuge. Ich deute hier nur einzelnes
an, um diese Fragen einer späteren Erörterung vorzubehalten.

Da sind die Mosaiken, die in hellenischer Zeit, aus Marmorstücken,
undurchsichtig, leibhaft-euklidisch gebildet, wie die berühmte
Alexanderschlacht in Neapel den Fußboden verzierten, die aber mit dem
Erwachen der arabischen Seele, nunmehr aus Glasstiften zusammengesetzt
und mit einer Unterlage von Goldschmelz, die Wände und Decken der
Kuppelbasiliken gleichsam verhüllen. Diese früharabische, von Syrien
ausgehende Mosaikmalerei entspricht durchaus der Stufe nach den
Glasgemälden gotischer Dome; es sind zwei frühe Künste im Dienste der
religiösen Architektur. Die eine weitet den Kirchenraum durch das
einströmende Licht zum Weltraum, die andere verwandelt ihn in jene
magische Sphäre, deren Goldflimmer aus der irdischen Wirklichkeit
zu den Visionen Plotins, des Origenes, der Manichäer, Gnostiker und
Kirchenväter und der apokalyptischen Dichtungen -- von der des Johannes
bis zu der des Styliten Ephraim im 4. Jahrhundert -- entrückt.

Da ist das prachtvolle Motiv der +Verbindung des Rundbogens mit
der Säule+, ebenfalls eine +syrische+ Schöpfung des 3. --
„hochgotischen“ -- Jahrhunderts. Die eminente Bedeutung dieses
+spezifisch magischen+ Motivs, das allgemein als antik gilt und
für die meisten die Antike geradezu repräsentiert, ist bisher nicht im
entferntesten erkannt worden. Der Ägypter hatte seine Pflanzensäulen
ohne tiefere Beziehung zur Decke gelassen. Sie repräsentierten das
Wachstum, nicht die Kraft. Die Antike, für welche die monolithe Säule
das stärkste Symbol euklidischen Daseins war, ganz Körper, ganz
Einheit und Ruhe, verband sie in strengem Gleichmaß von Vertikale
und Horizontale, von Kraft und Last, mit dem Architrav. Hier aber
-- das von der Renaissance mit tragikomischem Irrtum als echt antik
+bevorzugte+ Motiv, das die Antike gar nicht besaß und nicht
+besitzen konnte+! -- wächst unter Verleugnung des stofflichen
Prinzips der Last und Trägheit der lichte Bogen aus schlanken Säulen
auf; die hier verwirklichte Idee der Lösung von aller Erdenschwere
ist mit der gleichzeitigen der frei über dem Boden schwebenden Kuppel
aufs tiefste verwandt, ein magisches Motiv von stärkster Kraft des
Ausdrucks, das seine Vollendung folgerichtig im maurischen „Rokoko“
der Moscheen, z. B. der von Cordova fand, wo überirdisch zarte Säulen,
oft ohne Basis aus dem Boden wachsend, nur durch einen geheimen
Zauber fähig erscheinen, diese ganze Welt zahlloser gekerbter Bögen,
leuchtender Ornamente, Stalaktiten und farbensatter Gewölbe zu tragen.
Man kann, um die ganze Bedeutung dieser architektonischen Grundform der
arabischen Kunst herauszuheben, die Verbindung von Säule und Architrav
das apollinische, die von Säule und Rundbogen das magische, die von
Pfeiler und Spitzbogen das faustische Leitmotiv nennen.

Nehmen wir ferner die Geschichte des Akanthusmotivs. In der Form,
wie es z. B. am Lysistratesdenkmal erscheint, ist es eines der
bezeichnendsten der antiken Ornamentik. Es hat Körper. Es bleibt
Einzelding. Es ist mit +einem+ Blick in seiner Struktur zu
erfassen. Schon in der Kunst der römischen Kaiserfora (des Nerva,
des Trajan), am Mars-Ultortempel erscheint es schwerer und reicher.
Die organische Gliederung wird so kompliziert, daß sie in der Regel
studiert sein will. Die Tendenz, die Fläche zu +füllen+,
tritt hervor. In der byzantinischen Kunst -- von deren „latentem
sarazenischem Zuge“ schon A. Riegl spricht, ohne den hier aufgedeckten
Zusammenhang zu ahnen -- wird das Akanthusblatt in ein unendliches
Rankenwerk zerlegt, das wie in der Hagia Sophia völlig unorganisch
ganze Flächen deckt und überzieht. Zu dem antiken Motiv treten
die ursemitischen des Weinlaubs und der Palmette, die schon im
altjüdischen Ornament eine Rolle spielen. Die Flechtbandmuster
„spätrömischer“ Mosaikfußböden und Sarkophagkanten, auch geometrische
Flächenmuster werden aufgenommen und endlich entsteht in Syrien und
dem Sassanidenreich bei steigender Bewegtheit und verwirrender Wirkung
die +Arabeske+. Sie ist, antiplastisch bis zum Äußersten, das
eigentlich magische Motiv. Selbst unkörperlich, entkörpert sie den
Gegenstand, den sie in endloser Fülle überzieht. Ein Meisterwerk dieser
Art, ein Stück Architektur, das völlig der Ornamentik unterworfen ist,
stellt die Fassade des von den Ghazaniden erbauten Wüstenschlosses
M’schatta (jetzt in Berlin) dar. Die über das ganze Abendland
verbreitete und das Karolingerreich völlig beherrschende Kunst
byzantinisch-islamitischen Stils wird größtenteils von orientalischen
Künstlern gepflegt oder als Ware importiert. Ravenna, Lucca, Venedig,
Granada sind die Wirkungszentren dieser damals hochzivilisierten
Formensprache, die in Italien noch um 1000 ausschließlich galt, als im
Norden die Formen einer neuen Kultur schon fertig und gefestigt waren.

Endlich die veränderte plastische Auffassung des menschlichen Körpers.
Sie erfährt mit dem Siege des arabischen Weltgefühls eine völlige
Umkehrung. Fast in jedem Römerkopfe der vatikanischen Sammlung, der
zwischen 100 und 250 entstanden ist, läßt sich der Gegensatz von
apollinischem und magischem Gefühl, zwischen der Fundamentierung
des Ausdruckes in der Lagerung der Muskelpartien oder im „Blick“
feststellen. Man arbeitet -- in Rom selbst seit Hadrian -- vielfach
mit dem Steinbohrer, einem Werkzeug, das dem euklidischen Gefühl dem
Stein gegenüber völlig widerspricht. Das Körperhafte, Stoffliche des
Marmorblocks wird durch die Arbeit mit dem Meißel, der die Grenzflächen
heraushebt, bejaht, durch den Bohrer, der die Flächen bricht und damit
Helldunkelwirkungen schafft, verneint. Dementsprechend erlischt,
gleichviel ob bei „heidnischen“ oder christlichen Künstlern, der Sinn
für die Erscheinung des nackten Körpers. Man betrachte die flachen und
leeren Antinousstatuen, die doch entschieden antik gemeint waren. Hier
ist nur der Kopf physiognomisch bemerkenswert, was in der attischen
Plastik nie der Fall ist. Die Gewandung erhält einen ganz neuen Sinn,
der die Erscheinung schlechthin beherrscht. Die Konsularstatuen auf
dem Kapitol sind vorzügliche Beispiele. Durch die gebohrten Pupillen
der ins Weite gerichteten Augen wird der gesamte Ausdruck dem Körper
entzogen und in jenes „pneumatische“, magische Prinzip gelegt, das der
Neuplatonismus und die Beschlüsse der christlichen Konzilien nicht
weniger als die Mithrasreligion und der stadtrömische Isiskult im
Menschen voraussetzen.


Fußnoten:

[Footnote 59: Wir wissen heute, daß der Dichter dieser Iliaspartie
mykenische Kunstwerke vor Augen hatte, deren Sinn er vielfach falsch
verstand.]

[Footnote 60: So wirkt die Angst noch in späten Zuständen. Alle
furchtsamen Menschen sind konventionell. Alle sozialen Konventionen
repräsentieren die Furcht eines Standes vor dem Unvorhergesehenen.]

[Footnote 61: Auch die sozialen Konventionen spätester Zeiten haben
den Charakter eines Opfers nicht ganz verloren. In der französischen
Verfassungsgeschichte seit 1789 liegt ein Schatten der Fabel vom Ring
des Polykrates.]

[Footnote 62: Die syrischen Sonnenkulte gehören wie der Mithras- und
Serapiskult neben dem Urchristentum zu den früharabischen Religionen
magischen Stils. Außer dem Tempel von Baalbek, der trotz völlig antiker
Details mit seinen Innenhöfen als Ganzes einen neuen Baugedanken, ein
neues Weltgefühl ausdrückt, hatten auch das Serapeion zu Milet und die
große Synagoge zu Alexandria eine hohe formale Verwandtschaft mit dem
altchristlichen Basilikentypus.]

[Footnote 63: Es steht mir außer Zweifel, daß die Griechen, als
sie vom Antentempel zum Peripteros kamen, zur selben Zeit, wo die
Rundplastik sich ebenfalls an unzweifelhaft ägyptischen Vorbildern
vom Reliefmäßigen emanzipierte (Apoll von Tenea), unter dem mächtigen
Eindruck ägyptischer Säulen+reihen+ standen. Das läßt die Tatsache
unberührt, daß das Motiv der antiken Säule und die antike Verwendung
des Reihenprinzips etwas vollkommen Selbständiges sind.]

[Footnote 64: Die Klarheit in der Anlage der ägyptischen und
abendländischen Geschichte gestattet einen bis ins einzelne gehenden
Vergleich, der wohl einer kunsthistorischen Untersuchung wert wäre. Die
4. Dynastie des strengen Pyramidenstils (2930-2750, Cheops, Chephren)
entspricht der Romanik und Frühgotik (900-1100); die 5. Dynastie
(2750-2625, Sahu-rê) der Hochgotik (1100 bis 1250); die 6. Dynastie,
die Blütezeit der archaischen Bildniskunst (2625 bis 2475, Phiops I.
und II.) der späten Gotik (1250-1400).]

[Footnote 65: Wie die vornehme Welt des 18. Jahrhunderts die
vollkommene, leichte und selbstverständliche Beherrschung guter Formen
genoß.]

[Footnote 66: Die Gralssage enthält neben altkeltischen starke
arabische Gefühlsmomente, aber die Gestalt Parzevals, dort, wo Wolfram
von Eschenbach über sein Vorbild Chrestien hinausgeht, ist rein
faustisch.]




VIERTES KAPITEL

MUSIK UND PLASTIK




I

DIE BILDENDEN KÜNSTE


1

Am Anfang einer Betrachtung, für die nicht Entstehung und Sinn von
Kunstwerken, sondern von Kunstgattungen Problem ist, wird eine
Andeutung dessen notwendig, was unter Kunstform verstanden werden soll,
insofern es sich nämlich nicht um Mittel und Ziele des persönlichen,
bewußten Kunstwollens, sondern um den Drang ganzer Zeitalter handelt,
der sich in +einer+ Richtung bewegt, die niemand kennt und will
und der jeder Einzelne trotzdem unterworfen ist. Definitionen und
ästhetische Thesen sind hier gleich unzulänglich. Wer auch das Wort
Kunstform gebrauchte, hat nicht hindern können, daß jeder dabei an
etwas anderes dachte. Es gibt ohne Zweifel überall, wo eine lebendige
Kunst ausgeübt wird, eine gewisse Summe formaler Grundsätze, nenne
man sie Kanon, Tradition, Schule, die gelehrt und gelernt werden
kann, deren Beherrschung Meisterschaft verleiht und deren Entwicklung
mancher ausschließlich im Auge hat, wenn er seinem Buche den Titel
Kunstgeschichte gibt. Ästhetik und Philosophie haben sich immer darin
gefallen, dies kommensurable Element in ein System zu bringen.

Das eigentliche Geheimnis der Form scheint auf diesem Wege aber eher
verfehlt als erreicht. Ein Kunstwerk ist etwas Unendliches. Es enthält
die ganze Welt in sich. Es ist, wenn es überhaupt Bedeutung besitzt und
nicht lediglich ein gewolltes und geleistetes Stück Arbeit darstellt,
ein Mikrokosmos, unerschöpflich im ganzen und begreiflich nur in den
vordersten Einzelheiten. Was man an ihm durch den Verstand erfassen
und also in ein System bringen kann, gehört zur Oberfläche. Wäre es
nicht der eigentliche Sinn der großen Schulen, mit und unter dem Schatz
mitteilbarer Fertigkeiten noch etwas ganz anderes weniger zu vererben
als zu erwecken, so wäre ihre tatsächlich entscheidende Bedeutung --
denn ohne Konvention gibt es keine Kunst -- kaum verständlich.

Eine ganz andre Form, Form der Seele, wenn man das Unbeschreibliche so
bezeichnen darf, steckt in dem, was die Leute „Inhalt“ nennen. „Ich
litt und liebte, das war die eigentliche Gestalt meines Herzens,“ heißt
es im Wilhelm Meister, in den Bekenntnissen einer schönen Seele. Es
gibt, nicht nur im Bereich der Kunst, Form, die aus der Angst, und
Form, die aus der Sehnsucht stammt. Die eine bannt, indem sie Namen
nennt und Regeln auferlegt, die andere offenbart. Für jene ist die
sinnliche Empfindung Substanz, für diese Medium. Es gibt Künstler, die
nur eine von ihnen in der Gewalt haben. Jean Paul ist arm an Form,
sobald man an die denkt, welche Racine mit Meisterschaft handhabt. Bei
Beethoven droht die eine die andre ständig zu vernichten.

Es gibt eine stets gewordne, also wirkliche, und eine ewig werdende,
also unwirkliche Form.[67] Die erste, starre, bedingt das Dasein alles
schon Vollendeten, alles dessen, was im Bereiche der natürlichen Welt
„ist“. Die Grundregeln einer Fuge oder plastischen Gruppe liegen der
+Erscheinung+ der einzelnen Kunstwerke für das Auge oder Ohr in
genau derselben Art a priori zugrunde, wie Kants Anschauungsformen
und Verstandeskategorien der Erscheinung der natürlichen Dinge.
Diese +elementare+ Gestalt, der „Körper“ des Werkes, kausalen
Prinzipien -- der „künstlerischen Logik“ -- unterworfen, durch die
jedes Kunstwerk der Wirklichkeit, dem Inbegriff alles Begrenzten und
Gesetzten angehört, ist wie alles Wirkliche vergänglich. Es gibt
keine „unsterblichen Meisterwerke“. Die letzte Orgel, die letzte
Stradivariusgeige wird endlich einmal zertrümmert sein. Die ganze
Zauberwelt unsrer Sonaten, Trios, Sinfonien, Arien, deren Formensprache
samt der ganzen Fülle eigens für sie erfundener und nur zur
faustischen Seele redender Instrumente erst vor wenigen Jahrhunderten
entstand, für uns und aus uns heraus, wird wieder verstummen und
verschwinden. Denn was wissen wir von der indischen, der chinesischen
Musik und den seelischen Erschütterungen, die ihre Regeln weckten? Die
höchsten Momente Beethovenscher Melodik und Harmonik, für uns, die
Eingeweihten, wundervoll, sind für alle fremden und kommenden Kulturen
ein törichtes Gekrächz, das mit sonderbaren Instrumenten hervorgerufen
wurde. Von den Fresken Polygnots ist nichts geblieben, und das erspart
uns die Notwendigkeit, sie mißzuverstehen. Die Bauten der Maya,
sicherlich Meisterwerke für die Generationen ihrer Erbauer, sind für
uns Kuriositäten, nicht mehr, und dasselbe werden das Straßburger
Münster, der Palazzo Farnese, Radierung, Kupferstich, Reim und Drama
für spätere Menschen sein. Die Leinwand, auf die Rembrandt und Tizian
ihre tiefsten Schöpfungen malten, geht der Vernichtung entgegen, aber
noch früher vielleicht der Rest von Menschen, für die diese Gemälde
mehr als eben bunte Leinwand sind. Was sind für den Fellachen Ägyptens
und den indischen Kuli die Pyramidentempel und die Veden ihrer
Vorfahren? Was wissen wir von der Wirkung griechischer Verse auf die
Menschen ihrer Zeit? Was da vernichtet wird und vernichtet werden kann,
indem es aufhört, für die Seele irgendeines Menschen noch Wirklichkeit
zu sein und Sinn zu haben, ist +gewordene+ Form.

Alles dies berührt die andre nicht, die in stetem Werden sich
erschließt, die eigentlich lebendige, die Gestalt der Seele. Auch
ein Kunstwerk hat Seele: es ist das Seelentum überhaupt, jenseits
der Grenze von Raum, Grenze und Zahl. Diese Gestalt bedarf keiner
Wirklichkeit, um zu sein. Sie entsteht und vergeht nicht. Selbst die
verlornen -- aus dem sinnlichen, natürlichen Dasein verschwundenen
-- Tragödien des Äschylus sind noch, nicht in ihrer geschriebenen
oder gesprochnen Form, nicht als körperhafte Werke, nicht für das
Tagesbewußtsein irgendeines Menschen, aber in einer Wesenheit, die
unzerstörbar ist. Es ist dies ein Mysterium, das alle Worte nur
unzulänglich und falsch ausdrücken können. Deshalb haftet, aus einem
sehr tiefen Zusammenhange, an der körperhaften Erscheinung der
größten Kunstwerke etwas Fragmentarisches, ohne daß die Mehrzahl
der Betrachter sich dessen bewußt würde. Nach außen hin, für den
Kunstverstand, für die Sinne, mögen sie vollendet sein, nach innen
sind sie es nie und man fühlt in gewissen Stunden, weshalb es so sein
muß. Das gilt nicht nur von Lionardos Gemälden und Goethes Faust und
Meister; auch Rembrandts Radierungen haben etwas Suchendes, nichts
„Fertiges“; die Musik des Tristan fragt und fragt, ohne zu antworten;
der Hamlet ist nicht weniger Torso als der Sturm und das Wintermärchen;
Kleist hat den Robert Guiskard immer wieder verbrannt und Dostojewski
die Brüder Karamasow und Raskolnikow unvollendet gelassen, im sichren
Bewußtsein der Unzulänglichkeit +jeder+ Verwirklichung der
Idee. Von allen Künstlern und Dichtern, die über ihre Wirksamkeit
Rechenschaft ablegten, wissen und sehen wir, wie vieles Entwurf und
Idee -- innere Gestalt -- blieb, nur weil die Möglichkeit einer
wirklichen, natürlichen, äußeren Form nicht erschien. Fertig zu
werden, vollkommen abgeschlossen und beendet, nicht nur geendet zu
sein, ist das Kennzeichen von Werken geringeren Ranges; eine Sache
der Übung, der Erfahrung, des spezifischen Talents. Diese Form ruft
den Typus des Virtuosen und den des Kenners hervor. Die andre ist
ein mystisches Erlebnis, über das weder der echte Künstler noch der,
für den er schafft, Gewalt hat. Der letztere vollendet +sich+,
der erstere vollendet +seine Werke+. In den Händen des einen
erfahren die technischen Mittel, die sich eine Kultur gewählt hat, ihre
höchste Vervollkommnung; der andre ist selbst Mittel in den Händen des
Schicksals einer Kultur.

Was Sätze nicht deutlicher sagen können, mag vielleicht so
versinnbildlicht werden:

         { Seele ------------------> Welt
  Dasein {           Vollendung
         { möglich                   wirklich
              |                       |  |
              +------+----------------+  |
                     v                   v
         { Idee (Phänomen)           Element (Welt)
         { Sehnsucht                 Angst
  Kunst  { +Religion+                +Technik+
         { (allgemein)               (speziell)
         { „+Gestalt des Herzens+“   „+Kunstform+“

           { Schöpfung, Empfängnis     Arbeit, Ordnung
           { „Genie“                   „Talent“
  Künstler { Gefühl („es“)             Verstand („ich“)
           { Intuition   \           / Konvention
           { (Einsamkeit) \         /  (Schule)
                 ¦         \       /     ¦
                 |          \     /      |
                 v           \   /       v
             Jean Paul        \ /      Racine
             Lionardo          X       Manet
                 |            ⭩ ⭨       |
                 +-----------+-----------+
                             v
                      Rembrandt, Mozart


2

Das Weltgefühl des höheren Menschen hat seinen symbolischen Ausdruck,
wenn man von den mathematischen und physikalischen Vorstellungskreisen
absieht, am deutlichsten in den bildenden Künsten gefunden, deren
es unzählige gibt. Auch die Musik gehört dazu und hätte man ihre
sehr verschiedenen Arten in die abstrakten Erwägungen über den
Gang der Kunstgeschichte einbezogen, anstatt sie vom Gebiet der
malerisch-plastischen Künste zu trennen, so wäre man im Verstehen
dessen, um was es sich in dieser Entwicklung auf ein Ziel hin überhaupt
handelt, sehr viel weiter gekommen. Aber man wird den Gestaltungsdrang,
der hier seiner selbst unbewußt am Werke ist, niemals begreifen, wenn
man die Unterscheidung optischer und akustischer Mittel für mehr
als äußerlich hält. Das ist es +nicht+, was Künste voneinander
scheidet. Die Kunst des Auges und Ohres -- damit ist gar nichts gesagt.
Die physiologischen Bedingungen des Ausdrucks, der Empfängnis, der
Vermittlung hat nur das 19. Jahrhundert überschätzen können. So wenig
ein Bild von Lorrain und Watteau sich im eigentlichen Sinne an das
leibliche Auge wendet, so wenig die Musik seit Bach an das leibliche
Ohr. Das antike Verhältnis zwischen Kunstwerk und Sinnesorgan, an das
hier immer, und zwar durchaus nicht in richtiger Weise gedacht wird,
ist ein ganz anderes, viel einfacheres und stofflicheres als das
unsrige. Wir +lesen+ Othello und Faust, wir studieren Partituren,
um den Geist dieser Werke ganz rein auf uns wirken zu lassen. Hier wird
von den äußeren Sinnen immer an den inneren, die Einbildungskraft
appelliert. Der unendliche Szenenwechsel gegenüber der antiken Einheit
des Ortes ist nur so zu verstehen. Im extremen Falle, wie gerade beim
Faust, ist eine den Gehalt des Ganzen erschöpfende, reale Wiedergabe
gar nicht möglich. Aber auch in der Musik, bei Mozart, bei Beethoven,
bei Wagner erleben wir +hinter+ dem sinnlichen Eindruck eine ganze
Welt andrer, in der erst alle Fülle und Tiefe zum Vorschein kommt
und über die sich nur in übertragenen Bildern -- denn die Harmonik
zaubert uns da blonde, braune, düstre, goldige Farben, Dämmerungen,
Gipfelreihen ferner Gebirge, Gewitter, Frühlingslandschaften,
versunkene Städte, seltsame Gesichter hin -- reden läßt. Es ist kein
Zufall, daß Beethoven seine letzten Werke geschrieben hat, als er taub
war. Damit hatte sich gleichsam die letzte Fessel gelöst. Für diese
Musik ist Sehen und Hören +gleichmäßig+ eine Brücke zur Seele,
nicht mehr. Dem Griechen ist diese visionäre Art des Kunstgenießens
ganz fremd. Er +betastet+ den Marmor mit dem Auge. Auge und Ohr
sind für ihn Empfänger des +ganzen+ gewollten Eindrucks. Uns waren
sie es schon in der Gotik nicht mehr.

In Wirklichkeit sind Töne etwas Zahlenmäßiges so gut wie Linien;
Harmonien, Melodien, Reime, Rhythmen, so gut wie Perspektive,
Proportion, Schatten und Kontur. Der Abstand zwischen zwei Arten
von Malerei kann unendlich viel größer sein als der zwischen einer
gleichzeitigen Malerei und Musik. Gegenüber einer Statue des Myron
gehören eine Landschaft von Rembrandt und die Pastoralsinfonie von
Beethoven zu ein und derselben Kunst. Ihre +innere+ Formensprache
ist in dem Grade identisch, daß der Unterschied optischer und
akustischer Mittel dagegen verschwindet.

Der Wert, welchen die Kunstwissenschaft von jeher auf eine reinliche
begriffliche Abgrenzung der einzelnen Kunstgebiete gelegt hat, beweist
lediglich, daß man in die Tiefe des Problems nicht eingedrungen ist.
Vor allem hat die Pedanterie der Systematiker und das oberflächliche
Bedürfnis nach bequemer Einteilung den Erfolg kunstphilosophischer
Arbeiten verdorben. Nach den alleräußerlichsten Kunstmitteln das
unendliche Gebiet in vermeintlich stationäre Einzelkünste -- mit
unwandelbaren Formprinzipien! -- aufzulösen, das war immer der erste
Schritt. Man trennte Musik und Malerei, Musik und Drama, Malerei und
Plastik; dann definierte man „die“ Malerei, „die“ Plastik, „die“
Tragödie. Aber das greifbare Resultat technischer Ausdrucksmittel ist
nicht viel mehr als die +Maske+ des eigentlichen Werkes. Stil ist
nicht, wie der flache Semper -- ein echter Zeitgenosse Darwins und des
Materialismus -- meinte, das Produkt von Material, Technik und Zweck.
Er ist im Gegenteil das, was dem Kunstverstand gar nicht zugänglich
ist, ein Schicksal, eine Atmosphäre des Geistigen. Er hat mit den
materiellen Grenzen der Einzelkünste nicht das geringste zu schaffen.

Eine Einteilung der Künste nach Konventionen rein technischer Art
zugrunde legen, heißt also, das Problem der Form von vornherein
verderben. Wie konnte man „die Plastik“ a priori als Gattung ansetzen
und aus ihr allgemeine Grundgesetze entwickeln wollen? Was ist
„Plastik?“ Was unterscheidet sie von einem gemalten Relief? +Die+
Malerei -- das gibt es nicht. Wer nicht fühlt, daß Handzeichnungen von
Raffael und Tizian, von denen der eine mit Umrissen, der andre mit
Licht- und Schattenflecken arbeitet, zu zwei verschiedenen Künsten
gehörten, daß die Kunst Giottos oder Mantegnas und die Vermeers oder
Van Goyens kaum etwas miteinander zu tun haben, daß der eine mit
dem Pinselstreich eine Art Relief, der andre eine Art Musik auf der
farbigen Fläche ins Leben rief, während ein Fresko Polygnots und ein
ravennatisches Mosaikgemälde nicht einmal durch das Werkzeug der
Gattung eingefügt werden können, der wird die tieferen Fragen nie
begreifen. Die Ölmalerei und Instrumentalmusik von 1720 sind der innern
Gestalt, dem Formgefühl nach beinahe identisch. Watteau gehört zu
Couperin und Ph. Em. Bach, nicht zu Raffael. Und was hat eine Radierung
Rembrandts mit der Kunst Fra Angelicos, was ein proto-korinthisches
Vasengemälde mit einem gotischen Domfenster, was ein ägyptisches Relief
mit denen des Parthenon zu tun?

Wenn eine Kunst Grenzen hat -- Grenzen ihrer Formenwelt --, so sind
es +historische+, nicht technische oder physiologische. Eine
Kunst ist ein Organismus, kein System. Es gibt keine Kunstgattung,
die durch alle Jahrhunderte geht. Selbst wo technische Traditionen
-- wie im Falle der Renaissance -- den Blick zunächst täuschen und
von einer ewigen Gültigkeit antiker Kunstgesetze zu zeugen scheinen,
herrscht in der Tiefe völlige Fremdheit. Es gibt +nichts+ in der
griechisch-römischen Kunst, was mit der Formensprache einer Statue
Donatellos, einem Gemälde Signorellis, einer Fassade Michelangelos
verwandt wäre. +Innerlich+ verwandt mit dem Quattrocento ist
ausschließlich die gleichzeitige Gotik. Kunstgattungen gehen flüchtig
vorüber und kehren nie zurück. Jede Kultur hat ihre eignen, die
+Gruppe+ ihrer eignen, deren Theorie und Technik sogar ein Symbol
ihres Menschentums ist. Es gibt apollinische, magische, faustische
Arten von Künsten, denen gegenüber der Unterschied von Flächen- und
Körperkunst zur Nebensache herabsinkt. Griechische Musik steht der
griechischen Plastik tausendmal näher als der Kunst Palestrinas.
Was man heute farbig nennt -- eine Imagination des Räumlichen durch
Farbentöne -- wäre einem Maler der sikyonischen Schule unverständlich
gewesen. Das Ursymbol zweier Kulturen ist es, das die „gleichzeitigen“
Gemälde Polygnots und Rembrandts trennt: im Fresko eine statuenhafte
und euklidische Nebeneinanderstellung massiv farbiger Flächen, im
Ölbilde eine kontrapunktische Durchdringung mittels des Pinselstrichs.

Der Begriff der Form erfährt hier eine mächtige Erweiterung. Nicht
nur das technische Werkzeug, nicht nur der Stoff, +die Wahl der
Kunstgattung selbst+ ist ein Mittel des Ausdrucks. Was für den
einzelnen Künstler die Schöpfung eines Hauptwerkes, für Rembrandt die
Nachtwache, für Wagner die Meistersinger bedeuten, eine Epoche nämlich,
das bedeutet für die Lebensgeschichte einer Kultur die Schöpfung einer
Kunstart, als Ganzes begriffen, wie die der freistehenden griechischen
Statue, des Kontrapunkts, des byzantinischen frontalen Porträts, des
perspektivischen Ölgemäldes. Jede dieser Künste ist ein Organismus
für sich, ohne Vorgänger und Nachfolger, wenn man vom Äußerlichsten
absieht. Alle Theorie, Technik, Konvention gehört zu ihrem Charakter
und besitzt nichts Ewiges und Allgemeingültiges. Wann eine dieser
Künste beginnt, wann sie erlischt, ob sie erlischt, ob sie in eine
andre verwandelt wird, warum die eine oder andre unter den Künsten
einer Kultur fehlt, das alles gehört noch mit zur Form im höchsten
Sinne, ebenso wie jene andre Frage, warum der einzelne Maler oder
Musiker -- ohne sich dessen bewußt zu sein -- auf bestimmte Farbentöne
und Harmonien Verzicht leistet und andre so bevorzugt, daß man ihn
daran erkennt.

Die Theorie, auch noch die der Gegenwart, hat die Bedeutung dieser
Gruppe von Fragen nicht erkannt. Und trotzdem gibt erst diese Seite
einer Physiognomik der Künste den Schlüssel zu ihrem Verständnis.
Man hat bis jetzt alle Künste -- unter Voraussetzung der erwähnten
„Einteilung“ -- ohne irgendwelche Nachprüfung dieser schwerwiegenden
Frage für möglich gehalten, immer und überall, und wo die eine oder
andre fehlte, schrieb man es dem zufälligen Mangel an schöpferischen
Persönlichkeiten oder an Förderung durch Umstände und Mäcene zu, die
geeignet waren, die Kunst „auf ihrem Wege weiter zu führen“. Das ist
es, was ich die Übertragung des physikalischen Kausalitätsprinzips aus
der Welt des Gewordnen auf die Welt des Werdens nannte. Weil man kein
Auge für die ganz andersartige Logik und Notwendigkeit des Lebendigen,
für das +Schicksal+, hatte, zog man materielle, handgreifliche,
an der Oberfläche liegende Ursachen heran, um eine materielle Folge
von kunsthistorischen Ereignissen zu konstruieren. Aber es gibt keine
Geschichte +der+ Kunst, +der+ Architektur, +der+ Musik,
+des+ Dramas. Die Auswahl der innerhalb einer Kultur möglichen
Künste -- von denen +niemals+ eine auch in einer andern Kultur
möglich ist --, ihr Rang, ihr Umfang, ihre Schicksale: das gehört zur
Symbolik, zur Psychologie der Kultur und +nicht+ zu den Folgen
irgendwelcher Ursachen.

Es war gleich zu Anfang auf die flache Vorstellung einer linienhaften
Fortentwicklung „der Menschheit“ durch Altertum, Mittelalter und
Neuzeit hingewiesen worden, die uns für das wahre Bild der Historie und
seine Struktur blind gemacht hat. Die Kunstgeschichte ist ein besonders
deutliches Beispiel. Nachdem man das Vorhandensein einer Anzahl
konstanter und wohldefinierter Kunstgebiete als selbstverständlich
angenommen hatte, entwarf man die Geschichte dieser Einzelgebiete
nach dem ebenso selbstverständlichen Schema Altertum -- Mittelalter
-- Neuzeit, wobei z. B. die indische und ostasiatische Kunst keinen
Platz fanden, ohne daß jemandem an dieser Folge die Sinnlosigkeit der
Konstruktion aufgegangen wäre: Dieses Schema wollte und mußte nun mit
Tatsachen um jeden Preis ausgefüllt sein. Man konstatierte unbedenklich
ein sinnloses Auf und Nieder. Man sprach von Zeiten des Stillstandes
als „natürlichen Pausen“, von „Zeiten des Niedergangs“ dort, wo in
Wirklichkeit eine große Kunst starb, von „Zeiten der Wiedergeburt“,
wo für den unbefangenen Blick ganz deutlich eine +andre+ Kunst
in einer andern Landschaft und als Ausdruck eines andern Menschentums
geboren wurde. Man lehrt noch heute, daß die Renaissance eine
Wiedergeburt der Antike gewesen sei. Man folgerte endlich daraus die
Möglichkeit und das Recht, Künste, die man schwach oder schon tot
fand -- die Gegenwart ist da ein wahres Schlachtfeld -- durch bewußte
Neubildungen und Synthesen, durch gewaltsame „Wiederbelebungen“
neuerdings in Gang zu bringen.

Aber gerade die Frage, weshalb eine große Kunst -- das attische
Drama mit Euripides, die florentinische Plastik mit Michelangelo,
die Instrumentalmusik mit Liszt und Wagner -- mit einer als Symbol
wirkenden Plötzlichkeit zu enden pflegt, ist geeignet, das Phänomen
dieser Künste zu erleuchten. Man sehe genau zu und man wird sich
überzeugen, daß von der „Wiedergeburt“ auch nur +einer+
bedeutenden Kunst noch nie die Rede gewesen ist.

Wir sahen, wie die Formen einer strengen, unter dem Ursymbol des Weges
stehenden Wirklichkeit, Pyramiden, Reliefs, Hieroglyphen, Staat und
Technik, ein peinliches Zeremoniell und ein das gesamte wache Dasein
beherrschender Totenkult die Sprache der ägyptischen Seele waren. Diese
Seele besaß +deshalb+ keine „Literatur“, vor allem kein Drama
großen Stils. Die arabische Seele gestaltet alles sinnlich reicher,
zufälliger, lasziver, aber ohne Form im monumentalen Sinne und deshalb
ebenfalls, obwohl in andrer Weise, höchst abstrakt. Da das magische
Weltgefühl eine Logik des Wirklichen nicht kennt, so verliert die Kunst
der Flächen und Räume die Logik der Linien und Proportionen; Malerei
und Plastik altchristlich-byzantinischen Stils verschwinden langsam und
der Ausdruck wird zuletzt auf die Arabeske, das sarazenische Ornament,
reduziert.

Die Arabeske ist, worüber man sich leicht täuscht -- der magischen
Schicksalsidee, dem „Kismet“ entsprechend -- das +passivste+
aller Ornamente. Sie ist, obwohl aus dem im höchsten Grade sprechenden
und bis ins einzelne plastisch geregelten, optisch übersehbaren
antiken Ornament hervorgegangen, ohne positivern Ausdruck. Antike
Motive wie der Mäander oder die Akanthusranke sind euklidisch, in
sich geschlossen, körperhaft isoliert und können also nur wiederholt
und +additiv+ aufgereiht werden. Arabisch-persische Muster
aber lassen sich nach allen Seiten ins Grenzenlose fortsetzen.
Das romanisch-gotische Ornament stellt ein Maximum an Kraft des
Ausdrucks dar, die träumerische Arabeske verneint den Willen. Es
geht von ihr eine suggestive Wirkung aus, die auch in der arabischen
Musik, im arabischen Tanz liegt und die genau dem entspricht, was
das Wort magisch bezeichnen soll. Sie ist, da man im Ornament die
unmittelbare Handschrift eines kulturbildenden Seelentums zu erkennen
hat, das Zeichen einer eigentlich negativen Weltgesinnung, wie die
algebraische Zahl vom euklidischen Standpunkt aus als Negation der
Zahl überhaupt erscheint. Die Arabeske bedeutet, was dem Weltgefühl
des Urchristentums, der Gnosis, des Mithraskultes, des Neuplatonismus,
der Abwendung der ersten Christen vom Staate, dem bis zum Typus
der Styliten gesteigerten morgenländischen Einsiedlertum genau
entspricht, eine ungeheure Entwertung des Wirklichen, dem sie die
eigne Bedeutung abspricht und das sie -- man denke an die Alhambra --
nur eines lässigen Genusses für wert hält. Der gotische Stil löst das
Stoffliche im Raume auf, die Arabeske läßt beides in einer Ungewissen
Scheinbarkeit verschwimmen. Deshalb sind die Kalifenreiche in Bagdad,
Kairo, Granada -- im Vergleich zum Staat der Pharaonen und zu dem
Ludwigs XIV. und der Hohenzollern -- Negationen eines zielbewußten
Staatsgedankens, denen gegenüber unsre Empfindung des Märchenhaften
durchaus richtig ist; deshalb löst die Arabeskenlyrik die Architektur
der Kuppelbauten von Ravenna zuletzt zur freien Laune der Moschee
von Cordova auf; deshalb verschwinden die Statue und das Mosaik der
Frühzeit und deshalb gibt es kein arabisches Drama. Es besteht eine
Homologie zwischen der maurischen Kunst und dem Rokoko, aber Mozart,
Pöppelmann und Watteau verleihen einer heiteren, späten Sinnlichkeit
trotz aller ätherischen Leichtheit ein Maximum an disziplinierter,
durchgearbeiteter, streng durchdachter Form, die Erbauer des Schlosses
M’schatta und des Alkazar von Sevilla berauben sie des Restes zugunsten
eines phantastischen Spiels.

Diese Tendenz, die +alle+ andern Künste ausschloß und zuletzt nur
das Ornament zuließ, ist früh nachzuweisen. In der hellenistischen
Zeit erlebt die ideale Bildnisplastik -- vom Typus der Sophoklesstatue
-- allenthalben eine plötzliche Blüte, mit Ausnahme von Antiochia und
Alexandria, obwohl gerade dort die uralte Kunst Babylons und Ägyptens
eine bedeutende Tradition geschaffen hatte.

Mit Mohammeds Bilderverbot erfolgt auch der Bildersturm im christlichen
Byzanz,[68] obwohl die Bildung menschlicher Gestalten durch die Kunst
damals schon im Erlöschen begriffen war. Dieser symbolische Akt des
christlich-islamischen Weltgefühls wiederholt also lediglich etwas,
das die Formentendenz der magischen Künste durch ihre Auflösung
in die unkörperliche, bildlose Arabeske schon verwirklicht hatte.
Es ist darauf hinzuweisen, daß die bilderstürmerische Bewegung in
den reformierten Niederlanden und im puritanischen England etwas
Ähnliches verrät, daß nämlich +die Musik im Begriff war, die Malerei
zu überwinden+. Die gotisch-florentinische Plastik war im 16.
Jahrhundert zu Ende. Die letzten großen Meister der Ölmalerei starben
am Ende des 17. Jahrhunderts. Hier muß man fühlen, was es bedeutet,
wenn eine Kunst stirbt. Die Weihe des +Raumes+, sei er magisch
oder faustisch, gestattet das „Bild“ nicht länger. Das Ursymbol der
Kultur tritt mit steigender Klarheit hervor. Arabeske und Musik heben
jede Stofflichkeit auf. Man bemerke wohl, was von den Bilderstürmern
als unzulänglich empfunden und verbannt wird: Im Abendlande aller
sinnliche Schmuck, alle Zieraten, alles, was „endlich“ und unräumlich
ist; im Arabischen nur das Bildnis, als eine Herabwürdigung des
Menschen zum Dinge. Es ist dasselbe Weltgefühl, das 449 zur endgültigen
Trennung des monophysitischen Christentums von der morgenländischen
Kirche führte, ein Schisma, dessen landschaftliche Grenze, innerhalb
deren es nicht wieder zu überwinden war, +genau+ die der spätern
islamitischen Kultur zwischen Bagdad und Kairo war und dessen Sinn
als dogmatische Vorform des Islam man noch in keiner Weise gewürdigt
hat. Was damals über das Wesen der Person Christi -- das magische
Problem seiner „zwei Naturen“ -- leidenschaftlich umstritten wurde,
deckt sich durchaus mit den gefühlten oder metaphysisch entwickelten
Einwänden, die seitdem gegen die bildliche Darstellung des Menschen
als des Gefäßes des göttlichen Pneuma erhoben worden sind. Schon die
Plastik und die Mosaikmalerei der späten Kaiserzeit -- arabischen
Ursprungs, wie wir gesehen haben -- wies auf dies Ende hin. Der
magische Ausdruck des konstantinischen Porträts, das den Leib durch
den starren, alles beherrschenden +Blick+ gewissermaßen in seiner
Wesenheit herabsetzte, ihn entkörperte, hatte zu einem großen Stil
geführt, welcher dem gnostischen und plotinischen Weltgefühl entsprach.
Er hatte an Stelle des antiken Prinzips des allseitig freistehenden
Körpers das frontale gesetzt, das eine Beziehung zwischen dem Geiste
des Dargestellten und dem des Betrachters schafft. Es erlosch mit der
arabischen Frühzeit. Aus einem ebenso tiefliegenden Grunde ist die
frühe Plastik des Abendlandes, die der Dome von Bamberg, Naumburg,
Chartres, Reims und die der Renaissance von Florenz und Nürnberg lange
vor Palestrinas und Tizians bester Zeit erloschen.


3

Der Poseidontempel von Pästum und das Ulmer Münster, Werke der reifsten
Dorik und Gotik, unterscheiden sich wie die euklidische Geometrie
der körperlichen Grenzflächen und die analytische Geometrie der Lage
von Raumpunkten in bezug auf die Raumachsen. Alle antike Baukunst
beginnt von außen, alle abendländische von innen. Die altchristlichen
Basiliken im innern Syrien und in Nordafrika, mit Entschiedenheit sich
vom antiken Baugedanken abwendend, zeigen die magisch geheimnisvollen
Schwingungen eines voll umschlossenen Raumes. Es war der erste starke
Ausdruck einer neuen Seele. Sobald der germanische Geist diesen
basilikalen Typus in Besitz nimmt, beginnt eine wunderbare Veränderung
aller Bauelemente nach Lage und Sinn, die strenge Ausbildung
abgestufter Seitenschiffe und vor allem des für die Symbolik der Dome
unendlich wichtigen Querschiffes, durch das nach dem Maße der Vierung
eine strophische Gliederung des bewegten Rauminnern erzeugt wird.
Hier im faustischen Norden bezieht sich von nun an die äußere Gestalt
des Bauwerkes, und zwar vom Dom bis zum schlichten Wohnhause, auf den
Sinn, in welchem die Gliederung des +Innenraumes+ erfolgt ist.
Die Moschee verschweigt sie, der Tempel kennt sie nicht. Man hat es
wohl nicht genügend beachtet, daß das Motiv der +Fassade+, deren
Architektur das Innere physiognomisch spiegelt und das nicht nur unsere
großen Einzelbauten, sondern das gesamte Bild unsrer Straßen, Plätze,
Städte beherrscht, der Antike ebenso fern liegt wie dem Arabertum.

Der hellenische Tempel ist als massiver Körper gedacht und gestaltet.
Eine andere Möglichkeit gab es für das hier wirkende Formgefühl nicht.
Deshalb ist die Geschichte der antiken bildenden Kunst die unablässige
Arbeit an der Vollendung eines einzigen Ideals gewesen, der Eroberung
des freistehenden menschlichen Körpers als dem Inbegriff der reinen,
dinglichen Gegenwart. Man hat das Pathos dieser durch Jahrhunderte
verfolgten Tendenz gar nicht verstanden. Denn man hat nie gefühlt,
daß es der rein +stoffliche+, +seelenlose+ Körper, das σῶμα
ist, auf den das archaische Relief, die korinthische Tonmalerei und
das attische Fresko zielen, bis Polyklet und Phidias ihn vollkommen
zu bewältigen gelehrt haben. Man hielt mit einer erstaunlichen
Blindheit diese Art von Plastik für eine allgemein gültige und überall
mögliche, für die Plastik schlechthin, und schrieb ihre Geschichte
und Theorie, in der alle Völker und Zeiten aufgeführt wurden; und
unsre Bildhauer reden unter dem Eindruck ungeprüft hingenommener
Renaissancedogmen noch heute davon, daß der nackte menschliche Körper
der vornehmste und eigentliche Gegenstand der bildenden Kunst sei.
Man hat, wie es scheint, nie bemerkt, wie selten diese Gattung ist,
ein Einzelfall, eine Ausnahme, nichts weniger als eine Regel. In
Wahrheit hat es diese den nackten Leib frei auf die Ebene stellende
und allseitig durchbildende Statuenkunst nur einmal gegeben, eben
in der Antike, und nur dort, weil es nur diese eine Kultur mit
einer vollkommenen Ablehnung der Überschreitung sinnlicher Grenzen
zugunsten des Raumes gab. Die ägyptische Statue war immer auf die
Vorderansicht hin gearbeitet, mithin eine Abart des Flachreliefs, und
die +scheinbar+ antik empfundenen Statuen der Renaissance -- man
ist über ihre geringe Zahl erstaunt, sobald man einmal daran denkt, sie
nachzuzählen[69] -- sind nichts als eine Reminiszenz.

Diese apollinische Plastik ist das Seitenstück zur euklidischen
Mathematik. Sie leugnen beide den reinen Raum und sehen in der
+körperlichen+ Form das a priori der Anschauung. Diese Plastik
kennt weder in die Ferne weisende Ideen noch Persönlichkeiten noch
historische Ereignisse, sondern nur das auf sich selbst beschränkte
Dasein flächenbegrenzter Leiber. Man erinnere sich hier, daß das Wort
σῶμα von den griechischen Mathematikern für stereometrische Gebilde,
von den Physikern für Substanz, vom sophokleischen Ödipus aber als
Bezeichnung seiner +Person+ gebraucht wird.

Die Entwicklung dieser +raumlosen+ Kunst _par excellence_
füllt die drei Jahrhunderte von 650-350, von der Vollendung der
Dorik, die gleichzeitig mit dem Beginn einer Tendenz auf Befreiung
der Figur von der frontalen ägyptischen Gebundenheit erfolgte (Apoll
von Tenea, bald nach 650) bis zum Anbruch des Hellenismus und seiner
Illusionsmalerei, die den großen Stil abschließt. Man wird diese
Plastik nie würdigen können, wenn man sie nicht als letzte und höchste
antike, +aus der Freskomalerei hervorgegangene und sie überwindende
Kunst+ begreift. Gewiß läßt sich der +technische+ Ursprung aus
den Versuchen ableiten, die dorische Holzsäule (Hera des Cheramyes)
und die zur Verkleidung am Holztempel dienende Metallplatte (Artemis
der Nikandre) figürlich zu behandeln. Als +Formideal+ aber folgt
die attische Statue aus der Einzelgestalt des Fresko. Sie hat diese
Herkunft nie verleugnet. Ihre Formensprache ist der Vierfarbenmalerei
Polygnots aufs engste verwandt, ohne sich von deren Prinzipien je
ganz befreit zu haben. Man denke an die polychrome Behandlung des
Marmors -- von der die Renaissance und Goethe nichts wußten und die
sie als barbarisch empfunden haben würden[70] -- an die Statuen aus
Gold und Elfenbein und die Emailverzierung der im natürlichen Goldton
leuchtenden Bronzen. Der Erzguß hat die Verwendung des bemalten Marmors
in der besten Zeit entschieden überragt.

Die antike Zahl -- die +Größe+, das +Maß+ -- entspricht
zunächst der Formensprache der Tonmalerei rotfigurigen Stils und
dem späteren Fresko. Die Planimetrie insbesondere gehört zum
strengsten Flächenstil Polygnots, der weder Licht noch Schatten noch
perspektivische Verhältnisse kennt. Diese Kunst ist die organische
Vorstufe der Skulptur. Sie steht nicht neben ihr. Noch um 475 gibt
es neben Polygnot keinen ebenbürtigen Bildhauer, wie es um 1650
neben Rembrandt noch keinen Musiker vom gleichen Range gibt. Erst
das +letzte+ Jahrhundert hat in beiden Kulturen den Sieg der
strengsten Kunst gebracht. Polyklet, der Schüler Polygnots, hat den
+Kanon der nackten Statue+ geschaffen. Um 1740, als die großen
Meister der Ölmalerei alle tot waren und Bach auf der Höhe seiner Kraft
stand, ist der strenge +Kanon des vierteiligen Sonatensatzes+
vollendet worden. Beide bezeichnen das Maximum an Form, das aus dem
Grunde des Ursymbols -- dort des +Körpers+, hier des +Raumes+
-- überhaupt zu erreichen war. Beide behaupten ihre Geltung bis
herauf auf Skopas und Beethoven, die, an der Grenze von Kultur und
Zivilisation, dem großen Stil nicht mehr gewachsen sind. Lysippos und
Wagner haben ihn zerstört.

Die Pythagoräer schufen seit 540 eine Geometrie der Körper; Descartes,
Fermat und Pascal seit 1620 eine Geometrie des Raumes. So steht die
absolute Flächen- und Körperwirkung der attischen Vasengemälde homolog
neben der perspektivischen Raumkunst der Ölmalerei, die Szenen der
Françoisvase (etwa 570) neben den Landschaften Lorrains (1600 bis
1682). Jene gestalten Menschen ohne Hintergründe, diese Hintergründe
ohne Menschen (außer als „Staffage“). Das apollinische Tiefenerlebnis
kennt die Ausdehnung als Körper ohne Raum, das faustische als Raum ohne
Körper.

Dem Fresko nächstverwandt und darum der Tendenz Rembrandts bis zum
äußersten entgegengesetzt ist das Hochrelief, eine lose Summe, keine
beziehungsreiche Gruppe von Körpern, die durchaus stereometrisch auf
die Rückwand aufgesetzt sind. Auch hier war Ägypten zweifellos das
Vorbild, an dem die Sehnsucht nach Ausdruck eigner Möglichkeiten sich
zur Klarheit der Form entwickelte. Aber die dem ägyptischen Weltgefühl
-- dem Ursymbol des +Weges+ -- entsprechende Kunst war das
+Flachrelief+ gewesen, das durch die bedeutsame Zerlegung des
werdenden Raumes in +Fläche und Tiefe+, in Sinneseindruck und
lebendige Bewegung der Betrachtenden, religiös gesprochen in +Zufall
und Notwendigkeit+, den Wandgemälden nur Länge und Breite zugesteht,
während durch die richtunggebende Gliederung des Bauwerks selbst die
Tiefe, die „dritte Dimension“ repräsentiert wird. Die Folge ist, daß
das Relief mit seinen +fortlaufenden+ Szenen (das antike ist immer
+statisch+) auch die geringste dreidimensionale Körperlichkeit
vermeidet und endlich auf diesem Wege zu der bizarren Form des
+eingesenkten+ Reliefs (_relief en creux_) vor allem der
18. Dynastie gelangt, das -- wenn man von einer einzigen, aber höchst
bezeichnenden Ausnahme in der altchinesischen Kunst absieht -- ohne
Beispiel in der Welt ist und die extremste Form einer unkörperlichen,
zweidimensionalen Plastik darstellt.

Während die ägyptische Statue an eine Wand gelehnt war und die
gotische, selbst die Donatellos, nur als architektonisches Motiv,
etwa im Einklang mit einem Nischenraum, ganz zu verstehen ist, stand
die hellenische allseitig frei auf der Ebene. Es ist das einzige,
auch von der Renaissance nicht wiederholte Beispiel eines Kunstwerks,
das von +allen+ Seiten, nicht nur von der durch den Künstler
gewählten, betrachtet sein will. So verlangte es der Weltgedanke eines
Kosmos, in dem alle Einzeldinge sichtbar und gleichgeordnet sind,
ohne in ihrer Wesenheit durch irgendwelche (notwendig räumliche)
Beziehungen beschränkt zu sein. Denn einen bestimmten Standort für
den gewollten Eindruck voraussetzen heißt eine räumliche Beziehung
zwischen Betrachter und Werk in dessen Formensprache legen. Die
Geometrie Euklids aber kennt keine „Funktionen“. Auch die Giebelgruppen
hellenischer Tempel stellen, wenn man nicht gewaltsam etwas
hineindeuten will, lediglich die ökonomische Füllung einer Lücke mit
Einzelmotiven dar.

Damit enthält die Gesamtheit der antiken Künste eine gemeinsame
Tendenz, der mit steigender Reife die Bedeutung, der Umfang und
selbst die weitere Existenz der einzelnen unterliegt. Bei Homer ist
von Götterstatuen keine Rede. Man sieht auch nicht, inwiefern der
frühdorische Dipylonstil mit ihnen vereinbar wäre. Auf den altattischen
Grabvasen erscheinen dann mythische Szenen. Die altionische Tonmalerei
von Milet und Samos kannte Historienbilder und Schlachtenschilderungen
(der Maler Bularchos war berühmt). Dann aber beginnt die Reduktion
der Möglichkeiten. Die große Symbolik der apollinischen Seele
wählt und scheidet aus. Der dorische Peripteros und die Aktstudie
gestatten gleichwenig Variationen. Polygnot erreicht den Gipfel des
malerischen Ausdrucks unter diesen strengen Bedingungen und erschöpft
ihn. Seine Kunst ist rein linienhaft, ohne Übergänge, ohne Licht-
und Schattenwirkungen, ohne Hintergrund. Er stellt auf derselben
Bildfläche eine regellose Menge von Szenen dar, die untereinander
keinerlei Verhältnis im Sinne einer Raumperspektive besitzen. Jeder
Körper steht für sich da. Der Raum zwischen ihnen, die Atmosphäre ist
das „μὴ ὄν“ und deshalb keiner malerischen Repräsentation fähig. Der
Grieche ignoriert die Tatsache, daß ferne Dinge kleiner erscheinen;
er ignoriert die Ferne, den Horizont überhaupt. Die Statue ist der
Inbegriff des +Nahen+, +Raumlosen+, optisch zu Erschöpfenden.
Sie bezeichnet den Schwerpunkt antiker Kunst. Das Drama wurde nach
+ihrem+ Vorbilde zur Kunst der berühmten „drei Einheiten“, der
Einheit des +Ortes+ vor allem, die +ein Prinzip der Statue+
ist. Die Szenen der antiken Tragödie sind durchaus als Fresken gedacht.
Die hellenische Musik wurde zu einer Plastik von Tönen, ohne Polyphonie
und Harmonie -- die einen +Tonraum+ imaginieren -- und damit
als selbständige Kunst ohne tiefere Möglichkeiten. Während sie im
Abendlande zur ersten aller Künste aufstieg, sank sie in Athen zur
bloßen Begleiterin der andern, des Tanzes und des Dramas herab.


4

Die entsprechende Phase der abendländischen Kunst füllt die drei
Jahrhunderte von 1500 bis 1800, vom Ende der Spätgotik bis zum Verfall
des Rokoko und damit dem Ende des faustischen Stils überhaupt. In
dieser Zeit hat sich, entsprechend dem immer stärker ins Bewußtsein
tretenden Willen zur räumlichen Transzendenz, die polyphone
Instrumentalmusik zur herrschenden Kunst entwickelt. Die Plastik wird
mit steigender Entschiedenheit aus den tieferen Möglichkeiten dieser
Formenwelt ausgeschieden.

Was die Malerei vor und nach ihrer Verlagerung von Florenz nach
Venedig, was also die Malerei Raffaels und Tizians als zwei ganz
verschiedene Künste kennzeichnet, ist der plastische Geist in der
einen, der ihre Gemälde neben das Relief, der musikalische Geist in der
andern, der ihre mit sichtbaren Pinselstrichen und Schattenwirkungen
arbeitende Technik neben die Kunst der Fuge stellt. Die Einsicht, daß
hier ein Gegensatz, kein Übergang vorliegt, ist für das Verständnis des
+Organismus+ dieser Künste entscheidend. Hüten wir uns gerade hier
vor der Annahme stationärer „Kunstgebiete“. Malerei ist nur ein Wort.
Die gotische Plastik und Malerei war ein Bestandteil der gotischen
Architektur. Sie diente ihrer strengen Symbolik wie die frühägyptische,
die früharabische, wie jede andre Kunst in diesem Stadium der Sprache
des Steins dient. Man baute Gewandfiguren auf wie Dome. Die Falten
waren ein +Ornament+ von höchster Intensität des Ausdrucks.
Man ist auf falschem Wege, wenn man vom naturalistisch-imitativen
Standpunkt aus ihre „Steifheit“ kritisiert. Die Renaissancemalerei
andrerseits ist ein höchst komplizierter Sonderfall mit antigotischen
Tendenzen auf der Oberfläche der technischen Konvention und sehr anders
gerichteten in der Tiefe.

Ebenso ist Musik ein vages Wort. Es gab immer und überall Musik,
auch +vor+ aller eigentlichen Kultur. All diese Künste sind an
sich bereits urmenschlich. Es gibt Zeichnungen von Eiszeitmenschen,
szenische Spiele, Dichtungen und Musik von Naturvölkern aller Erdteile.
Sie bilden ein Chaos wirrer Möglichkeiten, bis die Seele einer
erwachenden Kultur hineingreift und mit Ungestüm eine gigantische
Gruppe von Künsten großen Stils -- ausnahmslos Sonderkünste und nie
wiederkehrende Formenwelten von vorübergehendem Dasein, jung, reifend,
alternd, sterbend, voller Konvention und Bedeutsamkeit, sämtlich
in die Farbe eines einzigen Ursymbols getaucht -- entwickelt. Die
antike Musik war, weil sie zum Prinzip der stofflichen Ausdehnung
kein Verhältnis besaß, wesentlich Urmusik geblieben. Hier aber,
in der faustischen Kultur, hebt sich als vollkommenes Novum die
+kontrapunktische Instrumentalmusik+, eine reine, selbständige,
alle Nachbarkünste überschattende, mit steigender Kraft alle andern in
sich auflösende Kunst von der Basis urseelenhafter Möglichkeiten ab.

Es gibt in der Geschichte wenig Phänomene von so wunderbarer
Durchsichtigkeit wie die Entwicklung der abendländischen Musik.

Gleichzeitig mit der Geburt des romanischen Stils im 10. Jahrhundert
beginnt die Polyphonie die einstimmigen Parallelfolgen der
„Kirchentöne“ aufzulösen.[71] Man schreibt die Einführung der
Gegenstimme (_dis-cantus_) dem Benediktiner Hucbald zu. Englische
(keltische) Einflüsse erscheinen wesentlich und ich glaube, daß hier
eine bedeutsame Parallele zu der ebenfalls damals erfolgten Vollendung
der Artussagen vorliegt, die einen mächtigen Teil des faustischen
Mythus bilden -- die Sagen von der Tafelrunde, vom Gral, vom Parzeval
und Tristan. Es sind uralte keltische Motive, die von der germanischen
Gefühls- und Gedankenwelt assimiliert werden. Man wird das Musikhafte
dieser Stoffe, das Verschwebende der Gestalten, das Grenzenlose der
Gefühle und Horizonte gegenüber der eng umschriebenen Plastizität der
homerischen Welt nicht verkennen.

Der strenge Kontrapunkt -- der Name (_punctus contra punctum_)
wird für die „_ars nova_“ etwa seit 1330 gebraucht -- entsteht
infolge der Einführung der Terzen und Sexten seit dem 14. Jahrhundert,
und zwar in +Burgund und den Niederlanden, der Heimat der Ölmalerei
und des gotischen Stils+. Dieser gemeinsame landschaftliche Ursprung
der drei großen faustischen Formenwelten ist von höchster Bedeutung.
Hier rühren wir an ein letztes Geheimnis allen Menschentums: die
Verbundenheit der Seele mit der mütterlichen Erde, aus der alte Mythen
sie hervorgehen und zurückkehren lassen. Weiterhin erschließt sich
die innere Identität dieser Kunstform mit dem zugehörigen Prinzip
der +Zahl+. Die Kunst der Fuge ist das genaue Seitenstück zur
analytischen Geometrie. Die Koordinaten wurden durch Oresme, den
Bischof von Lisieux (1323-1382), gerade zur selben Zeit eingeführt,
als der große Niederländer Heinrich von Zeelandia (etwa 1330-1370) den
fugierten Stil zur sicheren Grundlage einer großen Kunst erhob. Von
hier an erfährt die Sprache des Tonraumes in engster Nachbarschaft zu
der des perspektivischen Bildraumes eine mächtige Entwicklung. Mit
Orlando Lasso (1532-1594) erreicht sie ihre höchsten Möglichkeiten. Sie
wird -- im strengen Gesang, in den Formen der Kantate (Messe, Passion,
Motette) -- fähig, die ganze faustische Seele, ihr ganzes Weltgefühl,
ihr ganzes Schicksal zum Ausdruck zu bringen.

Als dann Newton und Leibniz -- seit 1660 -- die Infinitesimalrechnung
schufen, siegte die „_sonata_“, die reine Instrumentalmusik,
über die „_cantata_“. Es war der unendliche Raum, der Töne wie
der Funktionen, der den Rest des Greifbaren und Körperhaften --
hier die menschliche Stimme, dort die linienhaften Koordinaten --
überwältigte. Die Elemente des Nahen schwinden. Die Ferne siegt. Der
Weg vom Gesang zum körperlosen Orchesterklang entspricht dem Wege von
der geometrischen zur rein funktionalen Analysis. Zuerst entsteht eine
Anzahl kleiner Instrumentalsätze, tanz- und marschartig, alle jene
Gavotten, Gaillarden, Sarabanden, Pavanen, Giguen, Menuetten. Das
„Orchester“ bildet sich. Dann, um 1660, von der Lautenmusik ausgehend,
entsteht als große Form die +Suite+, eine zyklische Gruppe kurzer
Sätze.

Alle Einzelheiten dieses Aufstieges lassen sich mit Beispielen aus
der gleichzeitigen Mathematik belegen. Die Dehnung des Tonkörpers ins
Unendliche, seine Auflösung vielmehr in einen unendlichen +Raum von
Tönen+, innerhalb dessen der fugierte Stil seine Gebilde wirken
läßt, wird durch die Entwicklung der +Instrumentation+ bezeichnet,
die nach immer neuen Instrumenten greift, das Orchester fortgesetzt
bereichert und differenziert, immer „entferntere“ Klänge, Farben und
Dissonanzen aufsucht. Schon Monteverdi wagte es -- bald nach 1600
-- den Dominantseptakkord einzuführen. Im _concerto grosso_
wirkt die Klangmasse des großen Orchesters im _continuo_ der
der _concertino_ (des Streichkörpers) in einer Weise entgegen,
die man beinahe nur durch analoge Vorstellungen der höheren Analysis
anschaulich machen kann. Uns ist diese Kunst natürlich und von
höchster seelischer Deutlichkeit. Ein Grieche würde mit Erstaunen
diese fantastische Ausgeburt eines seltsamen Ausdrucksbedürfnisses
betrachtet haben. Der Tonkörper oder Klangraum ist ein Gebilde von
derselben Transzendenz und +anti-euklidischen+ „Unwirklichkeit“
wie der optisch unzugängliche Zahlenkörper und die vieldimensionalen
Räume, Mengen und Gruppen der Mengenlehre. Um 1740, als Euler begann,
die endgültige Fassung der funktionalen Analysis festzulegen, entsteht
die +Sonate+, die reifste und höchste Form des instrumentalen
Stils. (Einzelformen sind neben der Sonate für Soloinstrumente die
Sinfonie, das Konzert, Ouvertüre und Quartett.) Ihre vier Sätze, deren
erster die drei Themen in streng geregelter Abwandlung bringt, bilden
ein System von ebenso mächtiger Logik der Form als von absoluter
„Jenseitigkeit“. Ihr Ursprung liegt in den formalen Möglichkeiten
unsrer innigsten und innerlichsten, der Streichmusik (Corelli,
Tartini, Stamitz haben an ihrer Ausbildung teil), und so gewiß die
Geige das edelste aller Instrumente ist, welche die +faustische+
Musik für sich erfand und ausbildete, so gewiß liegen ihre tiefsten,
ihre heiligen Momente völliger Verklärung im Streichquartett und
den verwandten Kompositionsformen. Hier, in der +Kammermusik+,
erreicht die abendländische Kunst überhaupt ihren Gipfel. Das Symbol
des reinen Raumes, das überirdischste unter allen, ist hier ebenso
vollkommen zum Ausdruck gelangt, wie das rein irdische, das der vollen
Körperlichkeit, in einer attischen Bronzestatue. Wenn eine dieser
unsagbar sehnsüchtigen Geigenmelodien einsam und klagend den Raum
durchirrt, den die Töne des Tutti um sie breiten -- bei Haydn, Mozart,
Beethoven und den großen Italienern -- so befindet man sich +der+
Kunst gegenüber, die allein der reinsten apollinischen an die Seite zu
stellen ist, wie sie in der Athena Lemnia des Phidias erscheint.

Damals beherrscht die Musik alle andern Künste. Sie verbannt die
Plastik der Statue und duldet nur die vollkommen musikalische,
raffiniert unantike und renaissancewidrige Kleinkunst des Porzellans,
das erfunden wurde, als die Kammermusik zur entscheidenden Geltung
gelangte. Während die gotische Plastik durchaus architektonisches
Ornament ist, menschliches Rankenwerk, ist die des Rokoko das
merkwürdige Beispiel einer Scheinplastik, die in der Tat der
Formensprache der Musik, ihres Gegensatzes im Kreise der Künste
unterliegt. Hier sieht man, bis zu welchem Grade die den Vordergrund
des Kunstlebens beherrschende Technik dem Geiste der durch sie
geschaffenen Formenwelt widersprechen kann -- zwischen welchen Faktoren
die gewöhnliche Ästhetik das Verhältnis von Ursache und Wirkung
annimmt. Man vergleiche die kauernde Venus des Coyzevox (1686) im
Louvre mit ihrem antiken Vorbilde im Vatikan. Das ist Plastik als
Musik und Plastik in ihrem eignen Namen. Man kann hier die Art der
Bewegtheit, den Fluß der Linien, das Fließende im Wesen des Steines
selbst, der wie das Porzellan gewissermaßen den festen Aggregatzustand
verloren hat, am besten durch musikalische Wendungen: staccato,
accelerando, andante, allegro, beschreiben. Daher das Gefühl, als ob
der körnige Marmor hier nicht am Platze ist. Daher die ganz unantike
Berechnung auf Licht und Schatten hin. Das entspricht dem leitenden
Prinzip der Ölmalerei seit Tizian. Was man im 18. Jahrhundert
Farbigkeit -- einer Radierung, einer Zeichnung, einer plastischen
Gruppe -- nennt, bedeutet Musik. Sie beherrscht die Malerei Watteaus
und Fragonards und die Kunst der Gobelins und Pastelle. Sprechen wir
nicht seitdem von Farbentönen und Tonfarben? Ist damit nicht die
endlich erreichte +Gleichartigkeit+ zweier oberflächlich so
verschiedener Künste anerkannt? Und sind diese Bezeichnungen nicht
angesichts +jeder+ antiken Kunst gegenstandslos? Aber die Musik
schuf auch die Architektur des berninischen Barock in ihrem Geiste um,
zum Rokoko, über dessen transzendenter Ornamentik Lichter -- Töne --
„spielen“, um Decken, Wände, Bögen, alles Konstruktive und Wirkliche in
Polyphonie und Harmonie aufzulösen, dessen architektonische Triller,
Kadenzen und Passagen die Identität der Formensprache dieser Säle und
Galerien und der für sie erdachten Musik zu Ende führen. Dresden und
Wien sind die Heimat dieser späten und rasch verlöschenden Wunderwelt
der Kammermusik, der geschweiften Möbel, Spiegelzimmer, Schäferpoesien
und Porzellangruppen. Sie ist der letzte, herbsthaft sonnige,
vollkommene Ausdruck der abendländischen Seele. Im Wien der Kongreßzeit
starb sie dahin.


5

Die Renaissance ist, aus diesem Gesichtspunkt betrachtet -- der sie
bei weitem nicht erschöpft --, eine +Auflehnung gegen den Geist
dieser fugierten, faustischen, wälderhaften Musik+, die sich
eben anschickte, ihre Diktatur über die gesamte Formensprache der
abendländischen Kultur aufzurichten. Sie ging folgerichtig aus der
reifen Gotik hervor, in der dieser Wille unverhüllt hervorgetreten
war. Sie hat diese Abkunft nie verleugnet und ebensowenig +den
Charakter einer bloßen Gegenbewegung+, deren Art notwendig von
den Formen der Urbewegung, deren Rückwirkung auf die zögernde Seele
sie darstellt, abhängig blieb. Sie ist folgerichtig deshalb ohne
wahre Tiefe, und zwar in beiderlei Sinne -- ohne Tiefe der Idee und
ohne Tiefe der Erscheinung. Was das erste betrifft, so braucht man
nur an die entfesselte Leidenschaft zu denken, mit der das gotische
Weltgefühl sich in der ganzen abendländischen Landschaft entlädt, um
zu fühlen, was für eine Bewegung es ist, die um 1420 von einem kleinen
Kreise erlesener Geister, Gelehrter, Künstler, Humanisten ausging.
Dort handelt es sich um Sein oder Nichtsein eines neuen Seelentums,
hier um eine Frage des Geschmacks. Die Gotik ergreift das ganze Leben
bis in seine geheimsten Winkel. Sie hat einen neuen Menschen, eine
neue Welt geschaffen. Sie hat von der Idee des Katholizismus bis zum
Staatsgedanken der deutschen Kaiser, vom ritterlichen Turnier bis zum
Bilde der eben entstehenden Städte, vom Dom bis zur Bauernstube, vom
Bau der Sprache bis zum Brautschmuck der Dorfmädchen, vom Ölgemälde
bis zum Spielmannslied allem die Sprache einer einheitlichen Symbolik
aufgeprägt. Die Renaissance bemächtigte sich einiger Künste und damit
war alles getan. Sie hat die Denkweise Westeuropas, das Lebensgefühl in
nichts verändert. Sie drang bis zum Kostüm und zur Geste vor, nicht bis
zu den Wurzeln des Daseins. Sie hat zwischen Dante und Michelangelo,
die ihre Grenzen schon überschreiten, keine geniale Persönlichkeit
aufzuweisen. Und was das zweite betrifft, so hat sie selbst in Florenz
das Volkstum nicht berührt, in dessen Tiefe -- erst dies macht die
Erscheinung Savonarolas und seine ganz andre Gewalt über die Gemüter
verständlich -- der gotisch-musikalische Unterstrom ruhig dem Barock
zufließt.

Der Renaissance als einer antigotischen und dem Geiste der
Instrumentalmusik feindlichen Bewegung entspricht in der Antike genau
die dionysische als eine antidorische und dem plastisch-apollinischen
Weltgefühl entgegengesetzte. Sie ist +nicht+ aus dem thrakischen
Dionysoskult hervorgegangen. Sie hat ihn erst als Waffe und Gegensymbol
zur olympischen Religion herangezogen, ganz ebenso wie man in
Florenz den Kult der Antike erst zur Rechtfertigung und Stärkung des
eigenen Gefühls zu Hilfe rief. Die große Auflehnung erfolgte dort
700-600 und +also+ hier 1400-1500. Es handelt sich in beiden
Fällen um einen Seelenkampf, um einen Zwiespalt im Untergrunde der
Kultur, der seinen physiognomischen Ausdruck in einer ganzen Epoche
des Geschichtsbildes, vor allem in deren künstlerischer Formenwelt
gefunden hat, um einen Widerstand der Seele gegen ihr Schicksal, das
sie nunmehr in seinem vollen Umfange begriffen hat. Die innerlich
widerstrebenden Mächte, +Fausts zweite Seele, die sich von der
andern trennen will+, suchen den Sinn der Kultur umzubiegen; die
unausweichliche Notwendigkeit soll verleugnet, aufgehoben, umgangen
werden; es ist Angst vor der Vollendung der historischen Geschicke
durch Ionik und Barock darin. Dort knüpft sie sich an den Dionysoskult
mit seinem +musikalischen, entwirklichenden+, den Körper
+vergeudenden+ Orgiasmus, hier an die literarische Tradition
des „Altertums“ und dessen Kultus der +Plastik+, die beide als
fremde Faktoren herangezogen werden, um durch die suggestive Kraft
ihrer gegensätzlichen Formensprache dem unterdrückten Gefühl einen
Schwerpunkt, ein eigenes Pathos zu verleihen und damit der Strömung in
den Weg zu treten, die dort von Homer und dem geometrischen Stil zu
Phidias, hier von den gotischen Domen über Rembrandt zu Beethoven geht.

Aus dem Charakter einer Gegenbewegung folgt, daß es ebenso leicht
ist zu definieren, was sie bekämpft, als schwer, was sie erreichen
will. Das ist die Klippe aller Renaissanceforschung. Im Gotischen
(und Dorischen) ist es gerade umgekehrt. Es kämpft +für+, nicht
+gegen+ etwas. Aber Renaissancekunst -- das ist ganz eigentlich
antigotische Kunst. Renaissancemusik ist eine _contradictio in
adjecto_. Soweit ist alles klar. Das Übrige bringt in Verlegenheit.

Denn die Beurteilung dieses Phänomens ist bezeichnend dafür, wie
sehr man die laut ausgesprochene Absicht mit dem tieferen Sinn einer
Bewegung verwechseln kann. Die Kritik hat seit Burckhardt jede
+einzelne+ Behauptung der führenden Geister über ihre Tendenzen
widerlegt, aber nachdem dies abgetan war, das Wort Renaissance im
alten optimistischen Sinne weiter gebraucht. Gewiß, der Unterschied
im Architektonischen, überhaupt im künstlerischen Gesamtbilde ist
auffallend, sobald man über die Alpen kommt. Aber eben deshalb, weil
diese Empfindung allzu populär ist, hätte man ihr mißtrauen und sich
fragen sollen, ob hier nicht oft der Unterschied von +Nord und
Süd+ innerhalb ein und derselben Formenwelt einen Unterschied von
gotisch und antik vortäuscht. Der Laie wird, wenn man ihn vor die
Frage stellt, ob der große Klosterhof von S. Maria Novella oder die
Fassade des Palazzo Medici zur Gotik gehört, sicherlich falsch raten.
Andernfalls hätte der plötzliche Wandel des Eindrucks nicht jenseits
der Alpen, sondern erst jenseits des Apennins beginnen müssen, denn
Toskana ist eine künstlerische Insel in Italien selbst. Oberitalien
gehört einer byzantinisch gefärbten Gotik, Rom ist bereits die Stadt
des Barock. Die Änderung der Empfindung erfolgt aber gleichzeitig
+mit der des Landschaftsbildes+.

Tatsächlich hat Italien die Geburt des gotischen Stils nicht miterlebt.
Es stand um 1000 unter der unbedingten Herrschaft morgenländischer
Kunstformen. Erst die reife Gotik hat hier Wurzel gefaßt, aber als
klimatisch gemilderte Fremdheit. Sie assimilierte oder verdrängte nicht
etwa einen angeblichen Nachklang der Antike, sondern ausschließlich
eine byzantinisch-sarazenische Formensprache, die von der Levante
ausstrahlt und der Ravenna, Lucca, Pisa, Venedig, unter den
einflußreichen Bauten das moscheenhafte Pantheon, San Marco, aber auch
der Komposition und dem Geiste nach San Miniato und das Baptisterium in
Florenz angehören.

Wäre die Renaissance eine Erneuerung des antiken Weltgefühls gewesen
-- aber was heißt das? --, so hätte sie den Kultus des umschlossenen
und rhythmisch gegliederten +Raumes+ durch den des +massiven
Baukörpers+ ersetzen müssen. Aber davon ist nie die Rede gewesen. Im
Gegenteil. Die Renaissance pflegt ganz ausschließlich eine Architektur
des Raumes, den ihr die Gotik vorschrieb, nur daß sein Atem, seine
klare, ausgeglichene Ruhe im Gegensatz zum Sturm und Drang, zur wilden
Bewegtheit des Nordens anders ist, nämlich +südlich+, sonnig,
sorglos, hingegeben. Nur darin liegt der Widerspruch. Man kann diese
Architektur beinahe auf +Fassaden+ und +Höfe+ reduzieren.

Aber die Konzentration des Baugedankens auf +eine Außenseite+,
welche den Geist der innern Struktur spiegelt, ist spezifisch nordisch
und in einer sehr tiefen Weise +mit der Porträtkunst+ verwandt,
und der Hallenhof ist vom Sonnentempel zu Baalbek bis zum Löwenhof
der Alhambra spezifisch +arabisch+.[72] Der Tempel von Pästum,
ganz Körper, steht inmitten dieser Kunst vollkommen vereinsamt da.
Ebensowenig ist die florentinische Plastik +freie+ Rundplastik
attischer Art. Jede ihrer Statuen fühlt noch eine unsichtbare
Nische oder Wand hinter sich, in welche die gotische Plastik deren
+wirkliche+ Urbilder hineinkomponiert hatte.

Zieht man von den Vorbildern der Renaissance alles ab, was nach der
augusteischen Zeit entstanden, also der magischen Formenwelt zugehörig
ist, so bleibt buchstäblich nichts übrig. Nicht einmal die meist
von Semiten entworfenen Bauten der Kaiserzeit, die Thermen, Tempel,
Fora, haben wesentlich eingewirkt. Um so stärker wirkte Byzanz. Ich
hatte schon auf die entscheidende Tatsache hingewiesen, daß jenes
Motiv, welches die Renaissance geradezu +beherrscht+ und seiner
Südlichkeit wegen uns als ihr edelstes Kennzeichen gilt, +die
Verbindung von Rundbogen und Säule+, allerdings höchst ungotisch,
im antiken Stil aber gar nicht vorhanden ist, vielmehr das in Syrien
entstandene +Leitmotiv der magischen Architektur+ darstellt.
Als wirklich am Ende des Quattrocento einige Meister begannen,
streng antike Formen zu kopieren und den Inhalt römischer Schriften
in akademische Wirklichkeit umzusetzen, war die Bewegung innerlich
schon zu Ende. Nicht sie hat den Norden unterworfen und das Barock
geschaffen. Der Barockstil, der legitime Erbe des gotischen, hat ihre
Formen als Beute sich angeeignet.

Alles „Antigotische“, das sie heranzieht, ist demnach byzantinisch
oder sarazenisch; der gesamte Kirchenstil Italiens -- und eine
Kunst ohne Beziehung zur Kirche ist damals kaum denkbar -- stammt
von den Sitzen +arabischen+ Formgefühls. Und gerade jetzt
empfängt man vom Norden die entscheidenden Einwirkungen, welche
im Süden den Schritt von der Gotik zum Barock vollziehen halfen.
In der +flämisch-burgundischen+ Landschaft (dem Gegenpol von
Toskana im Stilwerden!), zwischen Paris,[73] Amsterdam und Köln sind
+gleichzeitig+ um 1400 die Kunst des +Kontrapunkts+ und der
+Ölmalerei+ entwickelt worden, jener durch Heinrich von Zeelandia,
Dufay und Okeghem, diese durch Jan van Eyck und Rogier van der Weyden.
1428 kam Dufay in die päpstliche Kapelle und um 1450 war Rogier in
Italien und übte dort einen kaum zu unterschätzenden Einfluß auf die
florentiner Meister. Antonello da Messina, der um 1470 die Ölmalerei
nach Venedig brachte, war der Schüler eines Flamländers. Wie viel
Niederländisches und wie wenig „Antike“ ist in den Bildern von Filippo
Lippi, Ghirlandajo und Botticelli, vor allem von Pollaiuolo! Was
verdankt die römische und venezianische Schule dem Meister Willaert
aus Brügge (1516 in Rom), dem Erfinder des Madrigals! Aus Flandern und
Brabant dringt in die lombardische Gotik, die eben im Begriffe stand,
durch die Aneignung südöstlicher Formen in Widerspruch zum nordischen
Geist zu treten, eben jenes Element nordischen Unendlichkeitsgefühles,
das den künstlerischen Geist der Renaissance wieder auflösen und durch
die Sprache des Barock in den großen Strom zurückführen sollte.

Gerade damals führte auch Nikolaus Cusanus, Kardinal und
Bischof von Brixen (1401-1464), das Infinitesimalprinzip, diese
+kontrapunktische+ Methode der Zahlen, in die Mathematik ein,
die er aus der Idee Gottes als des unendlichen Wesens ableitete.
Leibniz verdankt ihm die entscheidende Anregung zur Durchführung der
Differentialrechnung. Aber damit bereits hatte er der dynamischen, der
Barockphysik Newtons die Waffe geschmiedet, mit der sie die statische
Idee einer südlichen Physik, die an Archimedes anknüpfte und noch in
Galilei wirksam war, überwand.

Die Hochrenaissance ist der Augenblick einer +scheinbaren+
Verdrängung des Musikalischen aus der faustischen Kunst. In Florenz,
an dem einzigen Punkte, wo die antike und die abendländische
Kulturlandschaft aneinandergrenzen, ist während einiger Jahrzehnte
durch einen großartigen Akt ganz eigentlich metaphysischer Auflehnung
ein Bild der Antike aufrecht erhalten worden, das seine tieferen Züge
ohne Ausnahme der Negation gotischer verdankte und das dennoch seine
Gültigkeit vor unserem Gefühl, wenn auch nicht vor unserer Kritik, über
Goethe hinaus noch heute behauptet. Das Florenz des Lorenzo de Medici
und das Rom Leos X. -- das +ist+ für uns antik; das ist das ewige
Ziel unsrer geheimsten Sehnsucht; +das+ allein erlöst von aller
Schwere, aller Ferne, nur weil es antigotisch ist. So streng ist der
Gegensatz apollinischen und faustischen Seelentums ausgeprägt.

Aber man täusche sich nicht über den Umfang dieser Illusion. Man
pflegte in Florenz Fresko und Relief, im Widerspruch zum gotischen
Glasgemälde und zum arabischen Goldgrundmosaik. Es war die einzige Zeit
des Abendlandes, wo die Skulptur den Rang einer freien Kunst einnahm.
Im Bilde dominieren die Gruppen, die Körper, die tektonischen Elemente
der Architektur. Die Hintergründe haben keinen eignen Wert und dienen
nur als Folie für die greifbare Gegenwart der Vordergrundgestalten.
Hier stand die Malerei eine Zeitlang unter der Herrschaft der Plastik.
Verrocchio, Pollaiuolo und Botticelli waren Goldschmiede. Aber diese
Fresken haben trotzdem nichts vom Geiste Polygnots. Hier wiederholt
sich, was ich oben für die Architektur bemerkt hatte. Die große Tat
Giottos und Masaccios, die Schöpfung einer Freskomalerei, +scheint+
nur eine Erneuerung der alten Fühlweise zu sein. Das Tiefenerlebnis,
das Ideal der Ausdehnung, welches ihr zugrunde liegt, ist nicht der
apollinische raumlose, in sich beschlossene Körper, sondern der
+gotische Bildraum+. So sehr die Hintergründe zurücktreten, sie sind
doch da. Aber wieder ist es die Lichtfülle, die Durchsichtigkeit,
die mittägige große Ruhe des Südens, die in Toskana und nur hier den
dynamischen Raum zum statischen macht. Waren es auch +Bildräume+,
die man malte, so erlebte man sie doch nicht als ein unbegrenztes,
musikalisch-webendes Sein, sondern hinsichtlich ihrer sinnlichen
+Begrenztheit+. Man gab ihnen gewissermaßen Körper. Man pflegte,
mit einer wirklichen Nähe zum hellenischen Ideal, die Zeichnung,
die scharfen Konturen, die körperlichen Grenzflächen -- nur daß sie
hier den +einen+ perspektivischen Raum gegen die Dinge, in Athen die
einzelnen Dinge gegen das Nichts abgrenzten --; und in demselben Grade,
als die Woge der Renaissance sich wieder glättete, läßt die +Härte+
dieser Tendenz nach und das _sfumato_ Lionardos, das Verschwimmen der
Ränder mit dem Hintergrund führt das Ideal einer musikalischen an
Stelle einer reliefmäßigen Malerei herauf. Ebensowenig ist die latente
Dynamik der toskanischen Skulptur zu verkennen. Zur Reiterstatue des
Verrocchio würde man vergebens ein attisches Seitenstück suchen. Diese
Kunst war eine +Maske+, eine Geste, zuweilen eine Komödie, aber nie
ist eine Komödie besser zu Ende gespielt worden. Der unsagbar innigen
Reinheit der Form gegenüber vergißt man, was die Gotik an Urgewalt und
Tiefe voraus hat. Aber es muß noch einmal gesagt werden: die Gotik
ist die +einzige+ Grundlage der Renaissance. Die Renaissance hat die
wirkliche Antike nicht einmal berührt, geschweige denn verstanden
und „wiederbelebt“. Das unter literarischen Eindrücken stehende
Bewußtsein einer sehr kleinen, erlesenen Klasse von Menschen hat den
verführerischen Namen -- Wiedergeburt der Antike -- geprägt, um dem
Negativen der Bewegung eine Wendung ins Positive zu geben. Er beweist,
wie wenig solche Strömungen von sich selbst wissen. Man wird hier
nicht +ein+ großes Werk finden, das die Zeitgenossen des Perikles
oder selbst die Cäsars nicht als völlig fremd abgelehnt hätten. Diese
Palasthöfe sind maurische Höfe; die Rundbögen auf den schlanken Säulen
sind syrischen Ursprungs. Cimabue lehrte sein Jahrhundert, die Kunst
der byzantinischen Mosaiken mit dem Pinsel nachzubilden. Von den beiden
berühmten Kuppelbauten der Renaissance ist die florentiner Domkuppel
Brunellescos ein Meisterwerk der späten Gotik, die von St. Peter
eines des strengen Barock. Und als Michelangelo sich vermaß, hier
„das Pantheon auf die Maxentiusbasilika zu türmen“, wählte er zwei
Bauwerke vom reinsten früharabischen Typus. Und das Ornament -- ja,
gibt es denn überhaupt ein echtes Renaissanceornament? Ich sehe in den
frühflorentinischen Motiven der Majano, Ghiberti, Pisano etwas sehr
Nordisches. Man unterscheide doch an all diesen Kanzeln, Grabmälern,
Nischen, Portalen die äußerliche, übertragbare Form -- als solche ist
die ionische Säule ja selbst ägyptischer Herkunft -- vom Geist der
Formensprache, der sie als Mittel und Zeichen einverleibt wird. Alle
antiken Details sind gleichgültig, solange sie etwas Unantikes durch
die Art ihrer Verwendung ausdrücken. Aber bei Donatello kommen sie auch
kaum vor. Bei allen Meistern einer Zeit sind sie weit seltener als
im hohen Barock. Ein streng antikes Kapitäl wird man überhaupt nicht
finden.

Und trotzdem ist für Augenblicke etwas Wunderbares erreicht worden,
das durch Musik +nicht+ wiederzugeben ist, ein Gefühl für das Glück
der vollkommenen +Nähe+, für reine, ruhende, +erlösende+ Raumwirkungen
in +einfachen+ Verhältnissen lichter Gliederung, frei von der
leidenschaftlichen Bewegtheit von Gotik und Barock. Das ist nicht
antik; denn die Antike kennt den Raum nicht, aber es ist ein Traum von
antikem Dasein, der einzige, den die faustische Seele träumen, in dem
sie sich vergessen konnte.


6

Und nun erst, mit dem 16. Jahrhundert, beginnt in der abendländischen
Malerei die entscheidende Phase. Die Vormundschaft der Architektur im
Norden, der Skulptur im Süden erlischt. Die Malerei wird polyphon, ins
Unendliche schweifend. Die Farben werden Töne. Die Kunst des Pinsels
wird dem Stil der Fuge unterworfen. Die Ölfarbentechnik wird zur Basis
einer Kunst, die den +Raum+ imaginieren will, an den die Dinge
sich verlieren. Mit Lionardo beginnt der Impressionismus.

Im Gemälde vollzieht sich damit eine Umwertung aller Elemente. Der
bis dahin gleichgültig entworfene, als Füllung angesehene, man
möchte sagen als Raum verheimlichte Hintergrund gewinnt Bedeutung.
Eine Entwicklung setzt ein, die in keiner andern Kultur, auch nicht
in der sonst vielfach nahe verwandten chinesischen ihresgleichen
hat: Der Hintergrund als das Zeichen des Unendlichen überwindet den
sinnlich-greifbaren Vordergrund. Es gelingt endlich -- das ist der
malerische im Gegensatz zum zeichnerischen Stil --, das Tiefenerlebnis
der faustischen Seele im Bilderlebnis restlos zu bannen. Der
+Horizont+ taucht im Bilde auf als großes Symbol des ewigen
grenzenlosen Weltraumes, der die sichtbaren Einzeldinge als Zufälle
in sich begreift. Man hat seine Darstellung im Landschaftsgemälde
als so selbstverständlich empfunden, daß man nie die entscheidende
Frage gestellt hat, wo überall er +fehlt+ und was dieses
Fehlen bedeutet. Man wird aber weder im ägyptischen Relief noch im
byzantinischen Mosaik noch auf antiken Vasenbildern und Fresken, nicht
einmal denen des Hellenismus mit ihrer Vordergrundräumlichkeit eine
Andeutung des Horizontes finden. Der Begriff des Hintergrundes ist
demnach auf all diese Künste gar nicht anwendbar. Diese Linie, in deren
unwirklichem Duft Himmel und Erde verschwimmen, der Inbegriff und die
stärkste Potenz des Fernen, enthält das Infinitesimalprinzip. Man
denke auch an die Konvergenz unendlicher Reihen. Die perspektivischen
Fernen sind das spezifisch musikalische Element im Bilde und die
Landschaften Van de Capelles, Van de Veldes, Cuyps, Rembrandts sind
deshalb ganz eigentlich +nur+ Hintergründe, nur Atmosphären, wie
umgekehrt „antimusikalische“ Meister wie Signorelli und vor allem
Mantegna nur Vordergründe -- „Reliefs“ -- malten. In diesem Element
siegt die Musik über die Plastik, die Kapazität der Ausdehnung über
ihre Substanzialität. Man darf sagen, daß es in keinem Gemälde
Rembrandts ein „vorn“ gibt. Im Norden, in der Heimat des Kontrapunkts,
ist ein tiefes Verständnis für den Sinn des Horizontes und hell
belichteter Fernen schon früh zu finden, während im Süden der flach
abschließende Goldgrund arabisch-byzantinischer Bilder noch lange
herrschend bleibt. In Miniaturen und Stundenbüchern (wie dem des
Herzogs von Berry), bei frührheinischen Meistern taucht das reine
Raumgefühl zuerst auf und erobert sich langsam das Tafelbild.

Denselben symbolischen Sinn haben die Wolken, deren künstlerische
Behandlung der Antike gleichfalls völlig versagt war und die
von den Malern der Renaissance mit einer gewissen spielerischen
Oberflächlichkeit behandelt wurden, während der gotische Norden sehr
früh wundervoll mystische Fernblicke auf und durch Wolkenmassen schafft
und die Venezianer, vor allem Giorgione und Paul Veronese, den vollen
Zauber der Wolkenwelt, der von schwebenden, ziehenden, geballten,
tausendfarbig belichteten Wesen erfüllten Himmelsräume erschlossen und
die Niederländer ihn bis zum Tragischen steigerten. Greco hat die große
Kunst der Wolkensymbolik nach Spanien gebracht.

In der ebenfalls damals, zugleich mit der Ölmalerei und dem Kontrapunkt
herangereiften +Gartenkunst+ erscheinen dementsprechend die
langgestreckten Teiche, Buchengänge, Alleen, Durchblicke, Galerien,
um auch im Bilde der freien Natur dieselbe Tendenz zum Ausdruck zu
bringen, welche die von den frühen Niederländern als Grundaufgabe
ihrer Kunst empfundene und von Brunellesco theoretisch behandelte
Linearperspektive im Gemälde repräsentiert. Man wird finden, daß sie,
ich möchte sagen als die mathematische Weihe des durch den Rahmen
seitlich abgegrenzten und in die Tiefe mächtig gesteigerten Bildraumes
-- Landschaft oder Interieur -- gerade damals mit einer gewissen
Absichtlichkeit zum Vortrag gebracht wurde. Das Ursymbol kündigt sich
an. Im Unendlichen liegt der Punkt, in dem alle perspektivischen
Linien zusammentreffen. Weil sie ihn vermied, weil sie die Ferne
nicht anerkannte, besaß die antike Malerei keine Perspektive. Ihre
Vasengemälde sind, als Einheit, weder Landschaft noch Innenraum,
sondern +Nichts+, τὸ μὴ ὄν. Nur das einzelne gilt. Die Menschen
sind, jeder für sich, als σώματα, ohne Beziehung auf etwas außer ihnen
dargestellt. Sie bilden eine Summe, keine atmosphärisch zusammengefaßte
Totalität. +Folglich+ ist auch der Park, die bewußte Gestaltung
der Natur im Sinne räumlicher Fernwirkung, innerhalb der antiken Künste
unmöglich. Es gab in Athen und Rom keine perspektivische Gartenkunst.
Erst die Kaiserzeit fand an orientalischen Anlagen Geschmack.

Das bedeutsamste Element im abendländischen Gartenbilde ist mithin
der _point de vue_ der großen Rokokoparks, auf den sich ihre
Alleen und beschnittenen Laubgänge öffnen und durch den sich der
Blick in weite schwindende Fernen verliert. Er fehlt selbst der
chinesischen Gartenkunst. Aber er hat ein vollkommenes Gegenstück in
gewissen hellen, silbernen „Fernfarben“ der pastoralen Musik des 18.
Jahrhunderts, bei Couperin z. B. Erst der _point de vue_ gibt
den Schlüssel zum Verständnis dieser seltsamen menschlichen Art, die
Natur der symbolischen Formensprache einer Kunst zu unterwerfen.
Die Auflösung endlicher Zahlengebilde in unendliche Reihen ist das
verwandte Prinzip. Wie hier die Formel des Restgliedes den letzten Sinn
der Reihe, so ist es dort der Blick ins Grenzenlose, der dem Auge des
faustischen Menschen den Sinn der Natur erschließt. +Wir+ waren
es und nicht die Hellenen, nicht die Menschen der Hochrenaissance,
welche die unbegrenzten Fernsichten vom Hochgebirge aus schätzten und
suchten. Das ist eine faustische Sehnsucht. Man will +allein+
mit dem unendlichen Raume sein. Dies Symbol bis zum äußersten zu
steigern war die große Tat der nordfranzösischen Gartenbaumeister, vor
allem Lenôtres. Man vergleiche den Renaissancepark der mediceischen
Zeit mit seiner Übersichtlichkeit, seiner heitren Nähe und Rundung,
dem Kommensurablen seiner Linien, Umrisse und Baumgruppen mit diesem
geheimen Zug in die Ferne, der alle Wasserkünste, Statuenreihen,
Gebüsche, Labyrinthe bewegt, und man findet in diesem Stück
Gartengeschichte das Schicksal der abendländischen Ölmalerei wieder.

Aber Ferne -- das ist zugleich eine +historische+ Empfindung.
+Der Barockpark ist der Park der späten Jahreszeit+, des nahen
Endes, der fallenden Blätter. Ein Renaissancepark ist für den Sommer
und den Mittag gedacht. Er ist zeitlos. Nichts in seiner Formensprache
erinnert an Vergänglichkeit. Erst die Perspektive ruft die Ahnung von
etwas Vergehendem, Flüchtigem, Letztem wach.

Schon das bloße Wort „Ferne“ hat in der abendländischen Lyrik
aller Sprachen einen wehmütig herbstlichen Akzent, den man in der
griechischen vergebens sucht. Die moderne Poesie der welkenden Alleen,
der endlosen Straßenzüge unserer Weltstädte, der Pfeilerreihen eines
Domes, der Gipfel einer fernen Gebirgskette, verrät noch einmal, daß
das Tiefenerlebnis, das uns den Weltraum schafft, im letzten Grunde
die innere Gewißheit eines Schicksals, einer vorbestimmten Richtung,
der +Zeit+, des Unwiderruflichen ist. Hier, im Erlebnis des
Horizontes als der Zukunft, tritt die Identität der Zeit mit der
„dritten Dimension“ des +erlebten+ Raumes unmittelbar zutage. Es
ist ein eminent historisches Gefühl, eine Richtung der ganzen Seele auf
Ferne und Zukunft, das den großen Parks ihre Gestalt gab. Baudelaire,
Verlaine und Droem haben es in Verse gebracht. Die Ägypter, darin
uns nahe verwandt, legten es ihrer Architektur durch das Prinzip der
zyklischen Wiederholung zugrunde; sie schufen Alleen von Lotossäulen,
Statuen und Sphinxen. Wir haben zuletzt auch das Straßenbild der großen
Städte dieser Grundidee des Versailler Parkes unterworfen und mächtige
geradlinige, in der Ferne schwindende Straßenfluchten angelegt, selbst
unter Aufopferung althistorischer Viertel -- deren Symbolik jetzt die
geringere geworden war --, während antike Weltstädte mit ängstlicher
Sorgfalt das Gewirr krummer Gäßchen vorschoben, damit der apollinische
Mensch sich in ihnen als Körper unter Körpern fühle. Das „praktische
Bedürfnis“ war hier wie immer die Maske eines tiefinnerlichen Zwanges.

Der Horizont sammelt von nun an die tiefere Form, die metaphysische
Bedeutung des Bildes in sich. Der greifbare und mit Worten
wiederzugebende +Inhalt+ -- nicht Gehalt --, womit die körperliche
Realität gemeint ist, die von der Renaissancemalerei allein betont und
anerkannt worden war, wird nun zum +Mittel+, zum +Träger+
des Ausdrucks. Bei Mantegna und Signorelli hätte der gezeichnete
Entwurf, auch ohne die koloristische Ausführung, als Bild bestehen
können. In einzelnen Fällen möchte man wünschen, es wäre bei den
Kartons geblieben. In statuenhaften Kompositionen ist die Farbe
lediglich etwas Akzidentielles. Tizian aber mußte von Michelangelo den
Vorwurf hören, daß er nicht zu zeichnen verstünde. Der „Gegenstand“,
eben das, was sich durch Umrißzeichnung festhalten läßt, das Nahe,
Stoffliche, hat, künstlerisch betrachtet, seine Wirklichkeit verloren
und von nun an herrscht in der Ästhetik, die unter den theoretischen
Eindrücken der Renaissance stehen blieb, jener seltsame nie endende
Streit um „Form“ und „Inhalt“ im Kunstwerk. Die Formulierung beruht
auf einem Mißverständnis und hat den sehr bedeutenden Sinn der Frage
verdeckt. Ob die Malerei plastisch oder musikalisch aufgefaßt werden
solle, als Statik von Dingen oder als Dynamik des Raumes -- denn
darin liegt der Gegensatz von Fresko- und Öltechnik --, ist das
erste, der Gegensatz apollinischen und faustischen Formgefühls das
zweite, was zu erwägen war. Umrisse begrenzen Stoffliches, Licht und
Schatten interpretieren den Raum. Aber das eine ist von unmittelbar
sinnlicher Natur. Es +erzählt+. Der Raum ist seinem Wesen nach
transzendent. Er spricht zur Einbildungskraft. Er repräsentiert eine
+Idee+. Für eine Kunst, die unter seiner Symbolik steht, ist das
erzählende Moment eine Herabsetzung und Verdunkelung der tieferen
Tendenz, und ein Theoretiker, der hier ein Mißverhältnis zwischen
Sollen und Wollen fühlt, aber nicht begreift, klammert sich an den
nächstliegenden und trivialen Gegensatz von Inhalt und Form. Das
Problem ist ein rein abendländisches und es enthüllt in einer selten
lehrreichen Weise die vollkommene Umkehrung, die sich in der Bedeutung
der Bildelemente mit dem Abschluß der Renaissance und der Heraufkunft
einer Musik großen Stils vollzogen hat. Mit „Inhalt“ wird immer wieder
der optisch-körperliche Eigenwert der dargestellten Objekte gemeint
(worüber sich die Gegner des Impressionismus zu täuschen pflegen). Dies
ist die +euklidische+ Form der Malerei, welche die Antike und also
auch, im Rahmen der gotischen Formensprache, Florenz gepflegt hatten.
Die Antike konnte mithin ein Problem wie das von Form und Inhalt
gar nicht besitzen. Für eine attische Statue ist beides vollkommen
identisch: der menschliche Leib. Der Fall der Barockmalerei wird noch
verwickelter durch den Widerstreit des +volkstümlichen und des
höheren+ Empfindens. Alles Euklidisch-greifbare ist auch populär
und das „Altertum“ mithin die populäre Kunst _par excellence_.
Dies ist nicht zum wenigsten der unnennbare Reiz, den alles Antike
auf faustische Geister ausübt, die ihren Ausdruck +erkämpfen+,
der Welt abringen müssen. Hier braucht nichts erobert zu werden. Es
gibt sich von selbst. Und etwas Verwandtes hat der antigotische Zug in
Florenz hervorgerufen. Raffael ist populär, Rembrandt kann es nicht
sein. Seit Tizian ist die Malerei immer esoterischer geworden, auch
die Poesie, auch die Musik. Die Gotik -- Dante, Wolfram -- war es von
Anfang an gewesen. Die große Menge der Kirchenbesucher ist gar nicht
imstande, Motetten von Bach und Palestrina zu verstehen. Sie langweilt
sich bei Mozart und Beethoven. Sie läßt Musik lediglich auf die
Stimmung wirken. In Konzerten und Galerien redet man sich nur Interesse
an diesen Dingen ein, seit die Aufklärung die Phrase von der Kunst für
alle geprägt hat. Aber eine faustische Kunst ist nicht für alle. Das
gehört zu ihrem innersten Wesen. Wenn die neuere Malerei sich nur noch
an einen kleinen Kreis von Kennern wendet, der immer enger wird, so
entspricht das der Abwendung vom gemeinverständlichen novellistischen
Gegenstande. Damit ist dem sinnlichen Detail der Eigenwert aberkannt
und die eigentliche Wirklichkeit dem Raume zugesprochen, +durch+
den -- nach Kant -- erst die Dinge +sind+. Es ist seitdem ein
schwer zugängliches metaphysisches Element in die Malerei gekommen, das
sich dem Laien nicht preisgibt. Aber bei Phidias würde das Wort Laie
keinen Sinn haben. Seine Plastik wendet sich ganz an das leibliche,
nicht das geistige Auge. +Eine raumlose Kunst+ ist +a priori
unphilosophisch+.


7

Hiermit hängt ein wichtiges Prinzip der +Komposition+ zusammen.
Man kann im Gemälde die einzelnen Dinge unorganisch über-, neben-,
hintereinander stellen, ohne Perspektive und Distanz, d. h. ohne die
Abhängigkeit ihrer Wirklichkeit von der Struktur des Raumes zu betonen,
womit nicht gesagt ist, daß man sie leugnet. So zeichnen Naturmenschen
und Kinder, bevor das Tiefenerlebnis als Ausdruck eines höheren
inneren Seins die sinnlichen Welteindrücke einem ordnenden Prinzip
unterwirft. Aber dies Prinzip ist dem Ursymbol gemäß in jeder Kultur
ein anderes. Die uns selbstverständliche Art perspektivischer Ordnung
ist ein Einzelfall und von keiner anderen Malerei weder anerkannt noch
gewollt. Die ägyptische Kunst wählte grundsätzlich die Darstellung
mehrerer gleichzeitiger Vorgänge in Reihen übereinander. So wurde die
dritte Dimension aus dem Bildeindruck ausgeschaltet. Die apollinische
Kunst legte mehr und mehr Gewicht auf den einzelnen Körper und stellte
isolierte Figuren und Gruppen unter absichtlicher Vermeidung räumlicher
und zeitlicher Beziehungen in die Bildfläche. Polygnots Fresken in der
Lesche von Delphi waren ein berühmtes Beispiel. Ein Hintergrund, der
die einzelnen Szenen verbunden hätte, fehlt. Er würde die Bedeutung
der Dinge als des allein Wirklichen -- gegenüber dem Raum als dem
Nichtseienden -- in Frage gestellt haben. Die Giebel des Tempels von
Ägina und des Parthenon enthalten eine Mehrzahl von Einzelfiguren,
keinen Organismus. Hierin empfand die Renaissance mit Notwendigkeit
gotisch, d. h. räumlich. Erst der Hellenismus -- der Telephosfries
des Altars von Pergamon ist das früheste erhaltene Beispiel -- bringt
das unantike Motiv der fortlaufenden Reihe, das in den Triumphsäulen
der Kaiserzeit seltsame Blüten getrieben hat. Aber das ist bereits
+Verismus+, die spezifisch weltstädtische Art, Kunst zu machen,
rein virtuosenhaft, ohne ein in der Tiefe wirkendes Symbol. Das ist
außerdem +Ägyptizismus+, der in dieser Zivilisation seit 300 eine
ähnliche Rolle spielt wie der Japanismus für das 19. Jahrhundert. Man
entlehnt exotische Formen, um einen Stil und damit die Illusion einer
großen Kunst hervorzubringen.

Die Barockmalerei ist demgegenüber an der +einen+ Aufgabe zur
Höhe emporgewachsen, den +unendlichen Raum+ mittels der Farbe zu
schaffen. Sie spricht den Dingen nur insofern Wirklichkeit zu, als sie
Träger der Farbe und Zeugen atmosphärischer Lichtwirkungen sind und
dadurch die reine, nichtstoffliche Ausdehnung zum Ausdruck bringen. Der
Gegenstand wird zum +Mittel+, das im Raum symbolisierte Weltgefühl
zum +eigentlichen Inhalt+ des Gemäldes. Deshalb verschwindet
mit dem Ende der Renaissance zugleich mit der Plastik -- als einer
weiterer Entwicklung nicht mehr fähigen Kunst -- auch das Fresko und
das Relief und an die Stelle der figurenreichen Vordergrundszenen,
über die man den Raum vergißt, treten die „heroische Landschaft“ und
das Interieur,[74] die beide dem spezifischen Problem des Raumes den
reinsten Ausdruck gestatten. Die Darstellung von Luft und Licht nimmt
die Darstellung von Szenen lediglich zum Vorwand.

Und nun folgt vom Ende der Renaissance an, von Orlando Lasso und
Palestrina bis auf Wagner eine ununterbrochene Reihe großer Musiker
und von Tizian bis auf Manet, Marées und Leibl eine Reihe großer Maler
aufeinander, während die Plastik zur völligen Bedeutungslosigkeit
herabsinkt. Ölmalerei und polyphone Musik durchlaufen eine organische
Entwicklung, deren Ziel in der Gotik begriffen und im Barock
erreicht wurde. Beide Künste -- faustisch im höchsten Sinne -- sind
innerhalb dieser Grenzen +Urphänomene+. Sie haben eine Seele,
eine Physiognomie und also eine Geschichte, und zwar sie allein. Die
Bildhauerei beschränkt sich auf ein paar schöne Zufälle im Schatten
der Malerei, Gartenkunst oder Architektur. Aber sie sind im Bilde
der abendländischen Kunst entbehrlich. Es gibt keinen plastischen
Stil mehr, wie es einen malerischen und musikalischen Stil gibt.
Es gibt so wenig eine geschlossene Tradition wie einen notwendigen
Zusammenhang der Werke untereinander. Schon in Lionardo entsteht
allmählich eine starke Verachtung der Bildhauerei. Er läßt höchstens
den Bronzeguß seiner malerischen Qualitäten wegen gelten, im Gegensatz
zu Michelangelo, dessen Element damals der weiße Marmor war. Aber
auch ihm will im hohen Alter keine plastische Arbeit mehr gelingen.
Keiner der späteren Bildhauer ist groß in dem Sinne, wie Rembrandt und
Bach groß sind und man wird zugeben, daß sich wohl eine tüchtige und
geschmackvolle Leistung, aber kein Werk denken läßt, das im Range neben
der Nachtwache oder der Matthäuspassion steht und in gleicher Weise die
Tiefe eines ganzen Menschentums erschöpft. Diese Kunst hat aufgehört,
das Schicksal ihrer Kultur zu sein. Ihre Sprache bedeutet nichts
mehr. Es ist völlig unmöglich, das, was in einem Bildnis Rembrandts
liegt, in einer Büste wiederzugeben. Wenn einmal ein Bildhauer von
einiger Bedeutung auftaucht wie Bernini, Puget oder Schlüter -- es
ist naturgemäß keiner unter ihnen, der über das Dekorative hinaus zu
einer großen Symbolik gelangte --, so erscheint er als verspäteter
Schüler der Renaissance (Thorwaldsen), als verkappter Maler (Houdon),
Architekt (Bernini, Schlüter) oder Dekorateur (Pigalle) und er beweist
durch sein Erscheinen nur noch deutlicher, daß diese eines faustischen
Gehaltes nicht fähige Kunst keine Bedeutung, mithin keine Seele und
keine Geschichte im Sinne einer eigentlichen Stilentwicklung mehr hat.
Dasselbe gilt dementsprechend von der antiken Musik, die in den reifen
Jahrhunderten der Ionik (650-350) den beiden apollinischen Künsten,
Plastik und Freskomalerei, das Feld räumen und mit dem Verzicht
auf Harmonie und Polyphonie auch auf den Rang einer organisch sich
entwickelnden höheren Kunst verzichten mußte.


8

Die antike Malerei beschränkte ihre Palette auf gelb, rot, schwarz und
weiß. Diese merkwürdige Tatsache ist früh bemerkt worden und hat, da
man andere als oberflächliche und ausgesprochen materialistische Gründe
gar nicht in Betracht zog, zu törichten Hypothesen wie der von einer
angeblichen Farbenblindheit der Griechen geführt. Auch Nietzsche hat
davon geredet (Morgenröte 426).

Aber aus welchem Grunde vermied diese Malerei in ihrer besten Zeit das
Blau und sogar noch das Blaugrün und ließ erst bei den grüngelben
und bläulichroten Tönen die Skala der erlaubten Nuancen beginnen?
Ohne Zweifel kommt das Ursymbol der euklidischen Seele in dieser
Beschränkung zum Ausdruck.

Blau und Grün sind die Farben des Himmels, des Meeres, der fruchtbaren
Ebene, der Schatten an südlichen Mittagen, des Abends und der
entfernten Gebirge. Sie sind wesentlich atmosphärische, nicht
gegenständliche Farben. Sie sind +kalt+; sie entkörpern und rufen
die Eindrücke des Weiten, Fernen und Grenzenlosen hervor.

Deshalb geht, während das Fresko Polygnots sie streng vermeidet, ein
„infinitesimales“ Blau und Grün von den Venezianern an bis ins 19.
Jahrhundert als raumschaffendes Element durch die ganze Geschichte
der perspektivischen Ölmalerei. Und zwar als Grundton von ganz
überwiegendem Range, der den Gesamtsinn der Farbengebung +trägt+,
als Generalbaß, während die warmen gelben und roten Töne erst danach
gestimmt sind. Es ist nicht das satte, freudige, +nahe+ Grün
gemeint, das Raffael oder Dürer bei Gewändern gelegentlich -- und
selten genug -- verwenden, sondern ein unbestimmbares, in tausend
Schattierungen ins Weiße, Graue, Braune spielendes Blaugrün, etwas
spezifisch Musikalisches, in das die ganze Atmosphäre vor allem
auch auf guten Gobelins getaucht ist. Was man im Gegensatz zur
Linearperspektive Luftperspektive genannt hat und im Gegensatz zur
Renaissanceperspektive Barockperspektive hätte nennen können, beruht
fast ausschließlich auf ihm. Man findet es in Italien mit steigender
Kraft der Tiefenwirkung bei Lionardo, Guercino, Albani, in Holland
bei Ruysdael und Hobbema, vor allem aber bei den großen Franzosen,
von Poussin, Lorrain und Watteau an bis zu Corot. Das Blau, ebenfalls
eine perspektivische Farbe, steht immer in Beziehung zum Dunklen,
Lichtlosen, Unwirklichen. Es dringt nicht ein, sondern zieht in die
Ferne. „Ein reizendes Nichts“ hat es Goethe in seiner Farbenlehre
genannt.

Blau und Grün sind transzendente, unsinnliche Farben. Sie fehlen im
strengen Freskogemälde attischen Stils und +also herrschen sie+ in
der Ölmalerei. Gelb und Rot, die +antiken+ Farben, sind die der
Materie, der Nähe und der animalischen Gefühle. Rot ist die eigentliche
Farbe der Sinnlichkeit; deshalb ist es die einzige, die auf Tiere
wirkt. Sie steht dem Symbol des Phallus -- und also der Statue und der
dorischen Säule -- am nächsten, wie andrerseits ein reines Blau den
Mantel der Madonna verklärt. Diese Beziehung hat sich mit tiefgefühlter
Notwendigkeit in allen großen Schulen von selbst eingestellt. Violett
-- ein Rot, das vom Blau überwunden wird -- ist die Farbe der Frauen,
die nicht mehr fruchtbar sind und der im Zölibat lebenden Priester.

Gelb und Rot sind die +populären+ Farben, die der Menge, der
Kinder und der Wilden. Bei den Spaniern und Venezianern wählt der
Vornehme -- aus dem unbewußten Gefühl einer abweisenden Distanz --
ein prächtiges Schwarz oder Blau. Gelb und Rot sind endlich-- als die
+euklidischen, apollinischen+ Farben -- die des Vordergrundes,
auch im geistigen Sinne, die einer lärmenden Geselligkeit, des Marktes,
der Volksfeste, die des naiven Vorsichhinlebens, des antiken Fatums
und des blinden Zufalls, des punktförmigen Daseins. Blau und Grün --
+faustische+ Farben -- sind die der Einsamkeit, der Sorge, der
Beziehung des Augenblicks auf Vergangenheit und Zukunft, des Schicksals
als der dem Weltall immanenten Fügung.

Die Beziehung des shakespeareschen Schicksals zum Raume, des
sophokleischen (des sinnlosen) zur Materie war oben festgestellt
worden. Alle Kulturen von tiefer Transzendenz, alle, deren Ursymbol
eine +Überwindung+ des Augenscheins, ein Leben als Kampf, nicht
als Hinnahme von Gegebenem fordert, haben zum Raume wie zum Blau und
Schwarz denselben metaphysischen Hang. Blau ist die Farbe der Trauer
bei den Chinesen; auch die Farbe Werthers war blau. Es besteht für mich
kein Zweifel, daß die attische Bühne gerade diese Farbe vermieden hat.
Sie widerspricht dem Geiste ihrer Tragik.

Die Symbolik der Farben kann hier nicht weiter entwickelt werden. Tiefe
Beobachtungen über das Verhältnis zwischen der Idee des Raumes und dem
Sinn der Farben finden sich in Goethes Studien über die entoptischen
Farben in der Atmosphäre. Mit der von ihm in der Farbenlehre gegebenen
Symbolik stimmt die hier aus den Ideen von Raum und Schicksal
abgeleitete vollkommen überein.

Die bedeutendste Verwendung eines düsteren Grün als der Farbe des
Schicksals findet sich bei Grünewald, dessen Nächte von einer
unbeschreiblichen Mächtigkeit des Raumes nur von Rembrandt wieder
erreicht werden. Hier gewinnt man auch den Eindruck, als ob man dies
bläuliche Grün, dieselbe Farbe, in welche das Innere der großen Dome so
oft gehüllt ist, als die spezifisch +katholische+ Farbe bezeichnen
dürfe, vorausgesetzt, daß man allein das durch das lateranische Konzil
von 1215 begründete und im Tridentinum endgültig fixierte nordische
Christentum mit der Eucharistie als Mittelpunkt katholisch nennt. Diese
Farbe steht in ihrer schweigsamen Größe sicherlich dem prunkvollen
Goldgrunde altchristlich-byzantinischer Bildwerke ebenso fern wie
den geschwätzig-heitren, „heidnischen“ Farben bemalter hellenischer
Tempel und Statuen. Man beachte, daß die Wirksamkeit dieser Farbe
+Innenräume+ voraussetzt im Gegensatz zum Gelb und Rot; die antike
Malerei ist eine ebenso entschieden öffentliche wie die abendländische
eine Atelierkunst. Die gesamte große Ölmalerei von Lionardo bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts ist nicht für das grelle Tageslicht gedacht.
Hier kehrt der Gegensatz von Kammermusik und freistehender Statue
wieder. Die oberflächliche Begründung dieses Phänomens durch das Klima
wird, wenn es überhaupt nötig wäre, durch das Beispiel der ägyptischen
Malerei widerlegt.

Die zunächst bizarre Tatsache der hellenischen Vierfarbenmalerei
ist nun erklärt. Da der unendliche Raum für das antike Lebensgefühl
ein vollkommenes Nichts ist, so würden Blau und Grün mit ihrer
entwirklichenden und Fernen schaffenden Kraft die Alleinherrschaft
des Vordergrundes, der vereinzelten Körper und damit den eigentlichen
Sinn apollinischer Kunstwerke in Frage gestellt haben. Dem Auge eines
Atheners wäre ein Gemälde in den Farben Watteaus wesenlos und von einer
schwer in Worte zu fassenden innern Leere und Unwahrheit erschienen.
Durch diese irrealen Farben wird die sinnlich empfundene, das Licht
reflektierende Fläche nicht als Grenze eines Dinges, sondern als die
des umgebenden Raumes gewertet. Deshalb fehlen sie dort und herrschen
sie hier.


9

Die arabische Kunst hat das magische Weltgefühl durch den
+Goldgrund+ ihrer Mosaiken und Tafelbilder zum Ausdruck
gebracht. Man lernt seine verwirrend märchenhafte Wirkung und
mithin seine symbolische Absicht aus den Mosaiken von Ravenna und
den von lombardisch-byzantinischen Vorbildern noch stark abhängigen
frührheinischen und vor allem norditalienischen Meistern kennen, nicht
zum wenigsten auch durch gotische Buchillustrationen, deren Vorbilder
die byzantinischen Purpurcodices waren. Die Seele dreier Kulturen ist
hier an einer nahe verwandten Aufgabe zu prüfen. Die apollinische
erkannte nur das in Ort und Zeit unmittelbar Gegenwärtige als wirklich
an -- und sie verleugnete den Hintergrund in ihren Bildwerken; die
faustische strebte über alle sinnlichen Schranken ins Unendliche
-- und sie verlegte den Schwerpunkt des Bildgedankens mittels der
Perspektive in die Ferne; die magische empfand alles Gewordene und
Ausgedehnte als die Inkarnation rätselhafter Mächte -- und sie schloß
die Szene durch einen Goldgrund ab, das heißt durch ein Mittel, das
jenseits alles Farbig-Natürlichen steht. Gold ist überhaupt keine
Farbe. Dem Gelb gegenüber entsteht der komplizierte sinnliche Eindruck
durch die metallische diffuse Reflexion eines an der Oberfläche
durchscheinenden Mittels. Farben -- sei es die farbige Substanz der
geglätteten Wandfläche (Fresko) oder das mit dem Pinsel aufgetragene
Pigment -- sind natürlich; der in der Natur so gut wie nie vorkommende
Metallglanz[75] ist übernatürlich. Erinnern wir uns, daß als magische
Naturforschung die +Alchymie+ neben der apollinischen Statik und
der faustischen Dynamik steht. Der Goldgrund ist das Symbol eines
nicht in Regeln zu bannenden Geheimnisses. Man denke an den „Stein der
Weisen“. Die arabische Kultur ist die der +Offenbarungs+religionen
-- des Judentums, des Christentums, des Islam. Dies wunderbare Element
repräsentiert an dieser Stelle im Bilde, inmitten eines farbigen
Ganzen, eine fremde Welt. Vor allem ist der Eindruck ein völlig
abstrakter und unorganischer. Alle wirklichen Körper sind farbig, die
wirkliche Atmosphäre ist es auch. Das leuchtende Gold nimmt also der
Szene, dem Leben, den Körpern ihre ontologische Wirklichkeit. Alles,
was im Kreise Plotins und der Gnostiker über das Wesen der Dinge,
ihre Unabhängigkeit vom Raume, ihre zufälligen Ursachen gelehrt wurde
-- für +unser+ Weltgefühl höchst paradoxe und unverständliche
Ansichten --, liegt in der Symbolik dieses rätselhaften hieratischen
Hintergrundes. Das Wesen der Körper war ein wichtiger Streitpunkt der
Schulen von Bagdad und Basra. Suhrawardi unterschied Ausdehnung als
das primäre Wesen des Körpers von seiner Breite, Höhe und Tiefe als
den Akzidentien. Von Nazzâm werden den Atomen körperliche Substanz
und das Merkmal der Raumerfüllung abgesprochen. Das alles waren
metaphysische Probleme, die von Philo und Paulus an bis auf die
letzten Größen der islamischen Philosophie das arabische Weltgefühl
offenbarten. Sie spielen in den Streitigkeiten der Konzile über das
Wesen Gottes und die Person Christi eine große Rolle. Der Goldgrund
jener Gemälde hat also eine ausgesprochen dogmatische Bedeutung. Er
drückt das Wesen und Walten der Gottheit aus. Er repräsentiert die
+arabische+ Gestalt des christlichen Weltbewußtseins, und es
hängt tief damit zusammen, daß diese Behandlung des Hintergrundes
für Darstellungen aus der christlichen Legende tausend Jahre lang
als die einzige metaphysisch, selbst ethisch mögliche und würdige
erscheint. Als die ersten „wirklichen“ Hintergründe in der frühen
Gotik auftauchen, mit blaugrünem Himmel, weitem Horizont und
Tiefenperspektive, wirken sie zunächst „profan“, weltlich, und man hat
den dogmatischen Wandel, der sich hier verriet, wohl gefühlt, wenn
auch nicht erkannt. Wir sahen, wie gerade damals, als im lateranischen
Konzil das +faustische+ -- germanisch-katholische -- Christentum
zum Bewußtsein seiner selbst gelangt war, eine neue Religion im
alten Gewande, in der Kunst der Franziskaner die perspektivische
und farbige, den Luftraum erobernde Tendenz den ganzen Sinn der
Malerei umgestaltete. Das abendländische Christentum verhält sich
zum morgenländischen wie das Symbol der Perspektive zu dem des
Goldgrundes, und das endgültige Schisma tritt in der Kirche und Kunst
gleichzeitig ein. Man begreift den landschaftlichen Hintergrund der
Bildszene zugleich mit der +dynamischen+ Unendlichkeit Gottes;
und zugleich mit den Goldgründen der kirchlichen Gemälde verschwinden
aus den abendländischen Konzilien jene magischen, ontologischen
Gottheitsprobleme, welche alle orientalischen wie das von Nicäa
leidenschaftlich bewegt hatten.


10

Die Venezianer haben die Handschrift des +sichtbaren Pinselstrichs+
entdeckt und als eminent raumschaffendes Motiv in die Ölmalerei
eingeführt. Von den florentiner Meistern war die antikisierende und
doch dem gotischen Formgefühl dienende Manier, durch Glättung aller
Übergänge reine, scharf umrissene, ruhende Farbflächen zu schaffen,
nie angegriffen worden. Ihre Bilder haben etwas +Seiendes+. Erst in
der sichtbar bleibenden, gleichsam nie erstarrenden Arbeit des Pinsels
kommt ein +historisches+ Empfinden zum Vorschein. Man will im Werk des
Malers nicht nur etwas sehen, das +geworden+ ist, sondern auch etwas,
das +wird+. Das hatte die Renaissance vermeiden wollen. Ein Gewandstück
des Perugino erzählt nichts von seiner künstlerischen Entstehung.
Es ist +fertig+, gegeben, schlechthin gegenwärtig. Die einzelnen
Pinselstriche, die man als eine vollkommen neue Formensprache zuerst
in den Alterswerken Tizians trifft, Akzente eines Temperaments, die
unvermittelt nebeneinander stehen, sich kreuzen, decken, verwirren,
bringen eine unendliche Bewegtheit in das farbige Element. Auch die
gleichzeitige geometrische Analysis läßt ihre Objekte werden, nicht
sein. Jedes Gemälde hat eine Geschichte und verschweigt sie nicht. Vor
ihm fühlt der faustische Mensch, daß er eine seelische Entwicklung
hat. Vor jeder großen Landschaft eines Barockmeisters darf man das
Wort „historisch“ aussprechen, um einen Sinn in ihr zu fühlen, der
einer attischen Statue gänzlich fremd ist. Das ewige Werden, die
gerichtete Zeit, das dynamische Weltenschicksal ruht auch in der
Melodik dieser ruhelosen und grenzenlosen Striche. Malerischer und
zeichnerischer Stil: das bedeutet, von dieser Seite gesehen, den
Gegensatz von historischer und ahistorischer Form, von Betonung oder
Verleugnung des genetischen Moments, von Ewigkeit und Augenblick.
Ein antikes Kunstwerk ist ein Ereignis, ein abendländisches eine
Tat. Das eine symbolisiert ein punktförmiges Jetzt, das andere eine
organische Entwicklung. Die Physiognomik der Pinselführung, eine
völlig neue, unendlich reiche und persönliche, keiner andern Kultur
bekannte Art von Ornamentik, ist spezifisch +musikalisch+. Man kann
etwa das _allegro feroce_ des Franz Hals dem _andante con moto_ Van
Dycks gegenüberstellen. Von nun an gehört der Begriff des +Tempo+
zum malerischen Vortrag und er erinnert daran, daß diese Kunst die
eines Seelentums ist, das im Gegensatz zum antiken nichts vergißt und
vergessen sehen will, was einmal war.

Das luftige Gewebe der Pinselstriche löst aber zugleich die sinnliche
Oberfläche der Dinge auf. Die Konturen verschwinden im Helldunkel.
Der Betrachter muß weit zurücktreten, um aus farbigen Raumwerten
körperhafte Eindrücke zu gewinnen. Es ist dies buchstäblich die
malerische Fassung der Kantschen Theorie vom Raume als der apriorischen
Anschauungsform, durch welche die Dinge in Erscheinung treten.

Zugleich erscheint von nun an ein Symbol höchsten Ranges im
abendländischen Gemälde, das „+Atelierbraun+“, und beginnt die
Wirklichkeit aller Farben mehr und mehr zu dämpfen. Die älteren
Florentiner kannten es noch nicht, so wenig wie die alten
niederländischen und rheinischen Meister. Pacher, Dürer, Holbein sind,
so leidenschaftlich ihre Tendenz zur räumlichen Tiefe erscheint, frei
davon. Erst das 16. Jahrhundert gehört ihm. Dies Braun verleugnet
seine Herkunft aus dem „infinitesimalen“ Grün der Hintergründe
Lionardos, Schongauers und Grünewalds nicht, aber es besitzt die
größere Macht über die Dinge. Es führt den Kampf des Raumes gegen das
Stoffliche zu Ende. Es überwindet auch das primitivere Mittel der
Linearperspektive mit ihrem an architektonische Bildmotive gebundenen
Renaissancecharakter. Es steht mit der impressionistischen Technik der
sichtbaren Pinselstriche dauernd in einer geheimnisvollen Verbindung.
Beide lösen das greifbare Dasein der sinnlichen Welt -- der Welt des
Augenblicks und der Vordergründe -- endgültig in atmosphärischen
Schein auf. Die Linie verschwindet aus dem Bilde. Der magische
Goldgrund hatte nur von einem rätselhaften Jenseits geträumt, das die
Gesetzlichkeit der Körperwelt beherrscht und durchbricht; das Braun
dieser Gemälde öffnet den Blick in eine reine formvolle Unendlichkeit.
Im Werden des abendländischen Stils bezeichnet seine Entdeckung einen
Höhepunkt. +Diese Farbe hat im Gegensatz zu dem vorhergehenden Grün
etwas Protestantisches.+ Der nordische abstrakte Pantheismus des 18.
Jahrhunderts, wie ihn die Verse der Erzengel im Prolog von Goethes
Faust ausdrücken, ist in ihm vorweggenommen. Die Atmosphäre des König
Lear und Macbeth ist ihm verwandt. Das gleichzeitige Streben der
instrumentalen Musik nach immer reicheren Dissonanzen, die Einführung
der Sexte, Septime, Undezime, entspricht durchaus der neuen Tendenz in
der Ölmalerei, von den reinen Farben aus durch die Unzahl bräunlicher
Schattierungen und die Kontrastwirkung unvermittelt nebeneinander
gesetzter Farbenstriche eine +malerische Chromatik+ zu schaffen. Beide
Künste breiten nun durch ihre Ton- und Farbenwelten -- Farbentöne und
Tonfarben -- eine Atmosphäre reinster Räumlichkeit aus, die nicht
mehr den Menschen als Gestalt, als Leib, sondern die hüllenlose Seele
selbst umgibt und bedeutet. Eine Innerlichkeit wird erreicht, der in
den tiefsten Werken Rembrandts und Beethovens kein Geheimnis sich mehr
verschließt -- eine Innerlichkeit allerdings, welche der apollinische
Mensch durch seine streng somatische Kunst +abgewehrt+ hatte.

Die alten Vordergrundfarben, Gelb und Rot -- die antiken Töne --
werden von nun an seltener und immer als bewußte Kontraste zu
Fernen und Tiefen gebraucht, die sie steigern und betonen sollen
(außer bei Rembrandt vor allem bei Vermeer). Dies der Renaissance
vollkommen fremde atmosphärische Braun ist die unwirklichste Farbe,
die es gibt. Es ist die einzige „Grundfarbe“, +die dem Regenbogen
fehlt+. Es gibt weißes, gelbes, grünes, rotes, blaues Licht von
vollkommenster Reinheit. Ein reines braunes Licht liegt außerhalb
der Möglichkeiten unsrer Natur. Alle die grünlichbraunen, silbrigen,
feuchtbraunen, tiefgoldigen Töne, die bei Giorgione in prachtvollen
Nuancen erscheinen, bei den großen Niederländern immer kühner werden
und sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts verlieren, entkleiden die
Natur ihrer Realität. Darin liegt beinahe ein religiöses Bekenntnis.
Bei Constable, dem Begründer einer +zivilisierten+ Malweise, ist
es ein andres Wollen, das nach Ausdruck sucht, und dasselbe Braun, das
er bei den Holländern studiert hatte und das damals Schicksal, Gott,
den Sinn des Lebens bedeutete, bedeutet ihm etwas andres, nämlich
bloße Romantik, Empfindsamkeit, Sehnsucht nach etwas Entschwundenem,
Erinnerung an die große Vergangenheit der sterbenden Ölmalerei. Auch
den letzten deutschen Meistern, Lessing, Marées, Spitzweg, Leibl,[76]
deren verspätete Kunst ein Stück Romantik, ein Rückblick und Ausklang
ist, erschien das Braun als das kostbare Erbe der Vergangenheit,
und sie setzten sich in Widerspruch zu den bewußten Tendenzen
ihrer Generation -- dem seelenlosen Freilichtprinzip --, weil sie
innerlich sich von diesem Moment eines großen Stils noch nicht trennen
konnten. In diesem noch heute nicht verstandenen Kampf zwischen dem
Rembrandtbraun der alten und dem Freilicht der neuen Schule erscheint
der hoffnungslose Widerstand der Seele gegen den Intellekt, der Kultur
gegen die Zivilisation, der Gegensatz von symbolisch notwendiger und
weltstädtisch virtuosenhafter Kunst. Von hier aus wird die tiefe
Bedeutung dieses Braun, mit dem eine ganze Kunst stirbt, fühlbar.

Die innerlichsten unter den großen Malern haben diese Farbe am besten
verstanden, Rembrandt vor allem. Es ist dieses rätselhafte Braun
seiner entscheidenden Werke, das aus dem tiefen Leuchten mancher
gotischen Kirchenfenster, aus der Dämmerung hochgewölbter Dome stammt.
Der satte Goldton der großen Venezianer, Tizians, Veroneses, Palmas,
Giorgiones ist der jener alten, verschollenen Kunst, der nordischen
Glasmalerei, von der sie nichts wußten. Auch hier ist die Renaissance
mit ihrer körperhaften Farbenwahl nur Episode, nur ein Ergebnis der
Oberfläche, des Allzubewußten, nicht des Faustisch-Unbewußten der
abendländischen Seele. In diesem leuchtenden Goldbraun reichen sich
hier, in der venezianischen Malerei, Gotik und Barock, die Kunst jener
frühen Glasgemälde und die dunkle Musik Beethovens die Hand, gerade
damals, als durch Willaert und Gabrieli die Schule von Venedig, die
Begründerin der weltlichen Instrumentalmusik, des Madrigals und Rondos,
ins Leben trat.

Braun war nunmehr die eigentliche Farbe der Seele, einer historisch
gestimmten Seele geworden. Ich glaube, Nietzsche hat einmal von der
braunen Musik Bizets gesprochen. Aber das Wort gilt eher von der
Musik, die Beethoven für Streichinstrumente[77] geschrieben hat und
noch zuletzt von dem Orchesterklang Bruckners, der so oft den Raum
mit einem bräunlichen Golde füllt. Alle andern Farben sind in eine
dienende Rolle verwiesen, so das helle Gelb und der Zinnober Vermeers,
die mit wahrhaft metaphysischem Nachdruck wie aus einer andern Welt ins
Räumliche hereinragen, und die gelbgrünen und blutroten Lichter, die
bei Rembrandt mit der Symbolik des Raumes beinahe zu spielen scheinen.
Bei Rubens, der ein glänzender Künstler, aber kein Denker war, ist das
Braun fast ideenlos, eine Schattenfarbe. (Das „katholische“ Blaugrün
macht bei ihm und Watteau dem Braun den Rang streitig.) Man sieht, wie
dasselbe Mittel, das in den Händen tiefer Menschen Symbol wird und
dann die ungeheure Transzendenz der Landschaften Rembrandts, in denen
die Entrücktheit reiner Kammermusik beinahe erreicht wird, hervorrufen
kann, daneben großen Meistern als bloße technische Handhabe zu Gebote
steht, daß also, wie wir eben sahen, die künstlerisch-technische
„Form“, als Gegensatz zu einem „Inhalt“ gedacht, nichts mit der wahren
Form großer Werke zu tun hat.

Ich hatte das Braun eine historische Farbe genannt. Es macht die
Atmosphäre des Bildraumes zu einem Zeichen des endlosen Werdens. Es
übertönt die Sprache des Gewordnen in der Darstellung. Dieser Sinn
erstreckt sich auch auf die andern Farben der Ferne und führt zu einer
weiteren höchst bizarren Bereicherung der abendländischen Symbolik.
Die Hellenen hatten die oft noch vergoldete Bronze als Material ihrer
Statuen vorgezogen, um durch das Strahlende der Erscheinung unter
tiefblauem Himmel die Idee der Einzigkeit alles Körperhaften zum
Ausdruck zu bringen.[78] Die Renaissance grub diese Statuen aus, von
einer vielhundertjährigen Patina überzogen, schwarz und grün; sie genoß
das Historische des Eindrucks voller Ehrfurcht und Sehnsucht -- und
unser Formgefühl hat seitdem dieses „ferne“ Schwarz und Grün heilig
gesprochen. Es ist heute für den Eindruck der Bronze auf +unser+
Auge unentbehrlich, wie um die Tatsache schalkhaft zu illustrieren, daß
diese ganze Kunstgattung uns nichts mehr angeht. Was bedeutet uns eine
Domkuppel, eine Bronzefigur ohne Patina? Sind wir nicht endlich dahin
gekommen, diese Patina sogar künstlich zu erzeugen?

Aber in der Erhebung des Edelrostes zu einem Kunstmittel von
selbständiger Bedeutung liegt viel mehr. Man frage sich, ob ein Grieche
die Bildung der Patina nicht als Zerstörung des Kunstwerkes empfunden
hätte. Es ist nicht die Farbe allein, das raumferne Grün, das er aus
seelischen Gründen vermied; die Patina ist Symbol der +Zeit+ und
sie erhält damit eine merkwürdige Beziehung zu den Symbolen der Uhr und
der Bestattungsform. Es war an einer früheren Stelle die Rede von der
Sehnsucht der faustischen Seele nach Ruinen und den Zeugnissen einer
fernen Vergangenheit, einem Hange, wie er im Sammeln von Altertümern,
Handschriften, Münzen, den Pilgerfahrten nach dem Kolosseum, dem
Forum Romanum und Pompeji, in Ausgrabungen und philologischen Studien
schon zur Zeit Petrarkas zutage tritt. Wann wäre es je einem Griechen
eingefallen, sich um die Ruinen von Mykene und Tiryns zu kümmern? Jeder
kannte seine Ilias, aber nicht einem von ihnen kam der Gedanke, den
Hügel von Troja aufzugraben. Die Ruinen des Heidelberger Schlosses und
tausend andre Reste, Burgen, Klöster, Tore, Mauern werden inmitten
unsrer Städte sorgfältig erhalten -- als Ruinen, denn man hat ein
dunkles Gefühl davon, daß bei einem Wiederaufbau etwas schwer in Worte
zu Fassendes verloren gehen würde. Als die Perser Athen zerstört
hatten, warf man alles, Säulen, Statuen, Reliefs, ob zertrümmert
oder nicht, von der Akropolis herunter, um von vorn anzufangen, und
diese Schutthalde ist unsre reichste Fundgrube für die Kunst des 6.
Jahrhunderts geworden. Das war ahistorisch empfunden. Das entsprach
dem Stil einer Kultur, welche die Leichenverbrennung zum Kult erhob
und eine Zeitrechnung nach ägyptischem Muster verschmähte. +Wir+
haben auch hier das Gegenteil gewählt. Die heroische Landschaft im
Stile Lorrains ist ohne Ruinen nicht denkbar und der englische Park
mit seinen atmosphärischen Stimmungen, der den französischen um 1750
verdrängte und dessen durchgeistigte Perspektive zugunsten einer
Rousseauschen „Natur“ aufgab, führte noch das Motiv der +künstlichen
Ruine+ ein, die das Landschaftsbild historisch vertieft.[79]
Etwas Bizarreres ist kaum je ersonnen worden. Die ägyptische Kultur
restaurierte die Bauten der Frühzeit, aber sie würde niemals den
+Bau von Ruinen+ als Symbole der Vergangenheit gewagt haben. Uns
erscheinen die Gestalten der mexikanischen Kunst fratzenhaft genug,
aber dieser Gedanke würde einem Inder oder Griechen weit fragwürdiger
erschienen sein. Nur die aufs äußerste gesteigerte historische
Leidenschaft konnte zu solchen Konzeptionen führen.

Es ist die Symbolik der Vergänglichkeit, welche die Patina uns teuer
macht. Sie hebt an der Statue, dem an sich völlig zeitlosen und rein
gegenwärtigen Kunstwerk, diese Beschränkung auf. Durch die Patina kommt
eine gewisse Ferne, ein Anflug geschichtlicher Bewegtheit, etwas also
vom Gehalte der Ölmalerei und Instrumentalmusik in diejenige Kunst, die
deren strengsten Gegensatz bildet. Erstaunlicher konnte die Energie
und Erfindungskraft der Seele, welche die technischen Bedingungen der
Künste ihrem Willen zum Ausdruck unterwirft, sich gar nicht äußern.
Das Barock liebte, ohne es zu wissen, die Bronzeplastik der Patina
wegen. Ich wage zu behaupten, daß die Reste der antiken Skulptur erst
durch diese +Transposition ins Musikalische+, in die Sprache der
Ferne, uns näher treten konnte. Die grüne Bronze, der geschwärzte
Marmor, die zertrümmerten Glieder einer Figur, allgemein gesprochen das
schwer zu beschreibende Gefühlsmoment im Eindruck des +Torso+,
heben für unser inneres Auge die Schranken der reinen Gegenwart von
Ort und Zeit auf. Man hat das +malerisch+ genannt -- „fertige“
Statuen, Bauten, +nicht+ verwilderte Parks sind unmalerisch -- und
in der Tat entspricht es der tieferen Bedeutung des Atelierbraun,[80]
aber man meinte im letzten Grunde den Geist der instrumentalen Musik.
Man frage sich, ob der Doryphoros Polyklets, in funkelnder Bronze vor
uns stehend, mit Emailaugen und vergoldetem Haar, dieselbe Wirkung tun
könnte wie der vom Alter geschwärzte, ob mancher Torso -- etwa der
vatikanische des Herakles -- nicht durch eine noch so gute Ergänzung
seinen Zauber einbüßte, ob die Türme und Kuppeln unsrer alten Städte
nicht ihren tiefen metaphysischen Reiz verlören, wenn man sie mit neuem
Kupfer beschlüge. Das Alter adelt für uns wie für die Ägypter alle
Dinge. Für den antiken Menschen entwertet es sie.

Hiermit hängt endlich die Tatsache zusammen, daß die abendländische
Tragödie „+historische+“, nicht etwa nachweisbar wirkliche oder
mögliche -- das ist nicht der eigentliche Sinn des Wortes --, sondern
+entfernte+, +patinierte+ Stoffe aus demselben Gefühl vorzog:
daß nämlich ein Ereignis von reinem Augenblicksgehalt, ohne Raum-
und Zeitferne, ein antikes tragisches Faktum, ein zeitloser Mythus,
nicht das ausdrücken könne, was die faustische Seele ausdrücken wollte
und mußte. Wir haben also Tragödien der Vergangenheit und Tragödien
der Zukunft -- zu letzteren, in denen der kommende Mensch Träger
der Idee ist, gehören in einem gewissen Sinne Faust, Peer Gynt, die
Götterdämmerung --, aber Tragödien der Gegenwart sind, wenn man von
der künstlerisch belanglosen Sozialdramatik des 19. Jahrhunderts
absieht, äußerst selten. Shakespeare wählte, wenn er einmal in
Gegenwärtigem Bedeutendes ausdrücken wollte, immer fremde Länder, in
denen er nie gewesen war, am liebsten Italien, deutsche Dichter gern
England und Frankreich -- alles das aus einer Abweisung der örtlichen
und zeitlichen +Nähe+, welche das attische Drama selbst im Mythus
noch betonte.


Fußnoten:

[Footnote 67: Vielleicht sollte das Wort Form, weil es Extensives
bezeichnet, hier vermieden werden. Aber man erinnere sich, daß Worte
überhaupt, Worte als etwas Gewordnes und Starres, ein unzulängliches
Mittel sind, etwas aus der Sphäre des Werdens anzudeuten.]

[Footnote 68: Der eigentliche Bilderstreit dauerte dort von 725-824.]

[Footnote 69: Donatello ist der Gotik noch nicht entwachsen,
Michelangelo empfindet schon barock, d. h. musikalisch.]

[Footnote 70: Gerade die entschiedene Vorliebe für den +weißen+
Stein ist für den +Gegensatz+ von antikem und Renaissanceempfinden
bezeichnend.]

[Footnote 71: Folgerichtig beginnt im 10. Jahrhundert die Verskunst des
+Reimes+, die ebenfalls rein abendländisch und dem fugierten Stil
aufs engste verwandt ist.]

[Footnote 72: Ich möchte doch zur Erwägung anheimgeben, ob nicht die
Basilika, deren Ableitung aus irgendeinem antiken Bautypus trotz aller
Kombinationen nicht gelingen will, überhaupt statt aus einem Hause aus
einem säulenumgebenen +Innenhof+ der Idee nach hervorgegangen ist.
Es würde sich um den geschlossenen Vorhof des Tempels handeln, in dem
die Gläubigen während der sakralen Handlung sich aufhalten. Das neue
magische Raumgefühl hätte ihn als „Mittelschiff“ überdeckt, worauf dann
erst die äußerliche Ähnlichkeit mit großstädtischen Zweckgebäuden die
Bezeichnung Basilika in der griechischen Literatur zur Folge hatte.
Der metaphysische Instinkt der Landschaft, in der die Kultbauten aller
Religionen damals etwas innerlich höchst Verwandtes hatten, spricht
sicherlich dafür. Die Anordnung von Atrium, Schiff und Altarraum wäre
demnach als die allgemein semitische von Vorhalle, Vorhof und Tempel
zu denken. Manche Einzelheiten wie die strenge Trennung von Schiff
und Apsis, die Höhenlage der letzteren, zu der Stufen hinauffuhren,
ferner die Orientierung +allein+ des Mittelschiffs auf die
Apsis, während die Seitenschiffe auch jetzt noch als „Umgebung“, als
Nebenhallen wirken und blind endigen, finden nur so ihre natürliche
Erklärung. Man bedenke doch, daß die Schöpfung eines solchen Typus von
höchster Symbolik ganz unbewußt erfolgt. Es ist +psychologisch+
falsch, hier, in Syrien, so rationalistische Wege anzunehmen, wie sie
die Herleitung aus großstädtischen Markthallen und stadtrömischen
Privatbasiliken voraussetzt. Ein religiöses Weltgefühl kombiniert nicht
so sachlich.]

[Footnote 73: Paris gehört zu ihr. Man sprach dort noch im 15.
Jahrhundert ebenso viel flämisch als französisch und mit den alten
Teilen seines architektonischen Bildes zählt Paris zu Brügge und Gent,
nicht zu Troyes und Poitiers.]

[Footnote 74: Eine Halle, wie sie Masaccio, Fra Filippo Lippi oder
Raffael malen, weil sie nur an Bauten ihre Linearperspektive zur
Anwendung bringen können, ist ein architektonischer +Körper+, kein
„Innen“. Ebensowenig sind ihre Kulissen wirkliche Landschaften.]

[Footnote 75: Eine tiefsymbolische Bedeutung verwandter Art hat auch
die glänzende +Politur+ des Steines in der ägyptischen Kunst.
Sie hält den Blick in einer über die Außenseite der Statue gleitenden
Bewegung und wirkt damit entkörpernd. Umgekehrt ist der hellenische
Weg vom Poros über den naxischen zum durchscheinenden parischen und
pentelischen Marmor ein Zeugnis für die Absicht, den Blick in die
stoffliche Wesenheit des Körpers eindringen zu lassen.]

[Footnote 76: Sein Bildnis der Frau Gedon, ganz in Braun getaucht, ist
das +letzte altmeisterliche+ Porträt des Abendlandes, vollkommen
im Stile der Vergangenheit gemalt.]

[Footnote 77: Der Streichkörper repräsentiert im Orchesterklang
die Farben der Ferne. Das bläuliche Grün Watteaus findet sich bei
Mozart und Haydn, das Bräunliche der Holländer bei Beethoven. Auch
die Holzbläser rufen helle Fernen herauf. Gelb und Rot dagegen, die
Farben der Nähe, die +populären+ Nuancen, gehören zum Klang der
Blechinstrumente, der körperhaft bis zum Ordinären wirkt. Der Ton
einer alten Geige ist vollkommen körperlos: Es verdient bemerkt zu
werden, daß die hellenische Musik, so unbedeutend sie ist, von der
dorischen Lyra zur ionischen Flöte überging und daß die strengen Dorer
diese Tendenz zum Weichlichen und Niedrigen noch zur Zeit des Perikles
tadelten.]

[Footnote 78: Man verwechsle die Tendenz, welche dem Goldglanz eines
auf freiem Platze stehenden Körpers zugrunde liegt, nicht mit der des
flimmernden arabischen Goldgrundes, der in dämmernden Innenräumen
hinter den Figuren abschließt.]

[Footnote 79: Home, ein englischer Philosoph des 18. Jahrhunderts,
erklärt in einer Betrachtung über englische Parkanlagen, daß gotische
Ruinen +den Triumph der Zeit über die Kraft+, griechische den
der Barbarei über den Geschmack darstellten. Damals erst wurde die
Schönheit des Rheins mit seinen Ruinen entdeckt. Er war von nun an der
+historische+ Strom der Deutschen.]

[Footnote 80: Das +Nachdunkeln+ alter Gemälde erhöht für unser
Gefühl deren Gehalt, mag der Kunstverstand tausendmal dagegen sprechen.
Hätten die verwendeten Öle die Bilder zufällig blasser werden lassen,
so wäre das als Zerstörung empfunden worden.]




II

AKT UND PORTRÄT


11

Man hat die Antike eine Kultur des Leibes, die nordische eine
des Geistes genannt, nicht ohne den Hintergedanken, damit die
eine zugunsten der andern zu entwerten. So trivial der im
Renaissancegeschmack gehaltene Gegensatz von antik und modern,
heidnisch und christlich zumeist gemeint ist, so hätte er doch zu
entscheidenden Aufschlüssen führen können, vorausgesetzt, daß man
hinter der Formel ihren Ursprung zu finden verstand.

Eine Kultur ist im historischen Gesamtbilde der Welt, wie wir sahen,
das Phänomen eines +Seelentums+, dessen Sein in der rastlosen
Verwirklichung seiner inneren Möglichkeiten, seiner +Idee+, sich
erschöpft. Die Vollendung der Aufgabe ist mit Vollendung des Lebens
identisch. Unser waches und lebendiges Bewußtsein -- das gereifter
Kulturmenschen -- erscheint als Polarität von Seele und Welt, der Summe
des Möglichen und der des Wirklichen, und zwar in wechselseitiger
Bedingtheit. Nur eine höhere Seele besitzt eine sinnvoll geordnete
Welt als ihr eigenstes Eigentum, und es gibt eine Welt nur in bezug
auf eine Seele. +Wirklichkeit+ -- das ist also der Gesamtausdruck
lebendigen und bewegten Daseins, seine Offenbarung und Spiegelung im
Gewordnen und Ausgedehnten. Insofern hat die Welt die Bedeutung eines
+Makrokosmos+.

Ist die Welt aber, gleichviel was sie sonst noch ist, der ungeheure
Inbegriff von +Symbolen+, so mußte auch der Mensch, soweit er
dem Gewebe des Wirklichen angehört, soweit er +wirklich ist+,
von dieser Deutung ergriffen werden. Was war es aber, das an der
menschlichen Erscheinung den Rang eines Symbols beanspruchen, sein
Wesen und den Sinn seines Daseins in sich sammeln und greifbar vor
Augen stellen durfte? Die Antwort gibt die Kunst.

Aber die Antwort mußte in jeder Kultur eine andre sein. Jede hat
einen andern Begriff vom Leben, weil jede anders lebt. Die eine
hatte dem Wirklichen das Prinzip des Körperhaften, die andre das des
reinen, unendlichen Raumes a priori, wieder andre das des Weges, der
magischen Ausdehnung zugrunde gelegt. Das war ein Weltgefühl, aber
das Lebensideal stimmte mit ihm überein. Aus dem einen, dem antiken
Ideal, folgte die rückhaltlose Hinnahme des sinnlichen Augenscheins,
aus dem abendländischen dessen ebenso leidenschaftliche Überwindung.
Das eine bedeutete Hingabe, das andre Kampf. Die apollinische Seele,
euklidisch, punktförmig, empfand den empirischen, sichtbaren Leib
als den vollkommenen Ausdruck ihrer Art zu sein; die faustische, in
allen Fernen schweifend, fand ihn nicht in der Person, sondern der
Persönlichkeit, dem empirischen Ich, dem +Charakter+ oder wie man
es nennen will. „Seele“ -- das war für den echten Hellenen zuletzt
die Form seines leiblichen Daseins. So hat Aristoteles sie definiert.
„Leib“ -- das war für den Menschen des Barock die sinnliche Form, die
Inkarnation der Seele. So empfand Goethe. So hat die Philosophie Kants,
unter zopfigen Formeln versteckt, die Dinge als die Inkarnation des
einen, ewigen Raumes empfunden, der sie in ihrer Erscheinung „bedingt“.

Wir sahen, wie das eine Lebensgefühl zur Wahl der Plastik, das
andre zur Musik als der +repräsentativen+ Kunst führte. Neben
der Plastik stand die Pflege des Tanzes als einer Kunst von hoher
Ausdruckskraft, die des agonalen Wettkampfes und ein in dieser Form nie
wiederkehrender Kultus der körperlichen Schönheit -- alles das ist in
den Idealen der σωφροσύνη und εὑρυθμία enthalten.

Man hat diese Ideale von jeher viel zu weit gefaßt. Es ist +nicht+
die Weihe des Blutes -- das der Mensch der σωφροσύνη nicht zu
verschwenden hatte[81] --, +nicht+, wie Nietzsche meinte, die
orgiastische Freude an Kraft und Mut und überschäumender Leidenschaft.
Das alles würde eher zu den Idealen des germanisch-katholischen und
indischen Rittertums gehören. Was der apollinische Mensch und seine
Kunst für sich allein in Anspruch nehmen dürfen, ist lediglich die
Apotheose der leiblichen +Erscheinung+ im buchstäblichen Sinne,
das rhythmische Ebenmaß des Gliederbaus und die harmonische Ausbildung
der Muskulatur. Das ist +nicht+ heidnisch im Gegensatz zum
Christentum. Das ist jonisch im Gegensatz zum Barock. Erst der Mensch
des Barock, mochte er Christ oder Heide, Rationalist oder Mönch sein,
stand diesem Kultus des σῶμα fern bis zur äußersten körperlichen
Unreinlichkeit, wie sie in der Umgebung Ludwigs XIV. herrschte.[82] Man
warf in Athen den Dorern Unsauberkeit vor; dagegen hatte das Badewesen
der gotischen Städte noch im 15. Jahrhundert in hoher Blüte gestanden,
trotz allen „Jenseitsglaubens“.

Und so entwickelte sich die antike Plastik, nachdem sie ihr Thema
auf die allseitig freistehende (beziehungslose) menschliche Gestalt
beschränkt hatte, folgerichtig weiter bis zur ausschließlichen
Darstellung des +nackten+ Leibes. Und zwar, im Gegensatz zu jeder
andern Art von Plastik der gesamten Menschheitsgeschichte, durch die
+anatomisch wahre Behandlung seiner Grenzflächen+. Damit ist das
euklidische Weltprinzip bis zum äußersten getrieben. Jede Hülle hätte
noch einen leisen Widerspruch gegen die apollinische Erscheinung, eine
wenn auch noch so zaghafte Andeutung des umgebenden Raumes enthalten.

Es ist ein streng metaphysisches Motiv, das Bedürfnis nach einem
Lebenssymbol ersten Ranges, das die Hellenen zu dieser Kunst führte,
deren Enge allein durch die Meisterschaft ihrer Leistungen verdeckt
worden ist. Denn es ist nicht wahr, daß diese Aufgabe der Skulptur,
der menschliche Akt, die vollkommenste, natürlichste oder auch nur
nächstliegende sei. Das Gegenteil ist der Fall. Hätte nicht die
Renaissance mit ihrem vollen ästhetischen Pathos und einer gewaltigen
Täuschung über ihre eignen Tendenzen unser Urteil beherrscht, während
uns die Plastik selbst innerlich fremd geworden war, so hätten wir
das Exzeptionelle des attischen Stils längst bemerkt. Der ägyptische
Bildhauer dachte gar nicht daran, die anatomische Wirklichkeit zur
Grundlage des von ihm gewollten Ausdrucks zu machen. Für gotische
Skulpturen kommt die Muskelbildung nirgends in Frage. Die hellenische
Behandlung des Nackten ist der +große Ausnahmefall+, und sie hat
nur dies eine Mal zu einer Kunst von hohem Range geführt. In andern
Landschaften, wie der ägyptischen und japanischen -- um eine besonders
törichte und flache Begründung vorweg zu nehmen -- war der Anblick
nackter Menschen viel alltäglicher als gerade in Athen, wo die Damen in
Hut und Mieder über die nackten Mädchen bei den Spielen der Spartaner
sich höchst entrüstet äußerten, aber das gab nicht im mindesten Anlaß
zur Entwicklung einer Aktplastik. Der heutige japanische Kunstkenner
empfindet die Darstellung nackter Menschen als lächerlich und banal.
Für seine Malerei ist der Akt ein Gegenstand ohne irgendwelche
bedeutende Möglichkeiten.

Was dem antiken Menschen die vollkommene Durchbildung der körperlichen
+Oberfläche+ bedeutete -- denn das ist der letzte Sinn alles
anatomischen Ehrgeizes der griechischen Künstler: das Wesen der
lebendigen Erscheinung durch die Gestaltung ihrer Grenzflächen zu
erschöpfen --, das wurde für die abendländische Seele folgerichtig das
+Porträt+, der eigentlichste und einzig erschöpfende Ausdruck
einer transzendenten, einer faustischen Existenz.

Man hat beides, +Akt und Porträt+, noch nie als Gegensatz
empfunden und deshalb beide nicht in der ganzen Tiefe ihrer
kunsthistorischen Erscheinung auffassen können. Und trotzdem offenbart
sich der volle Gegensatz zweier Welten im Widerstreit dieser großen
Formideale.

Es war gezeigt worden, daß das Erlebnis des Ausgedehnten seinen
Ursprung im Merkmal der +Richtung+ hat, die allem Werden
innewohnt. Die +Richtung+ -- durch die Worte Zeit, Leben,
Schicksal, Ziel angedeutet -- verschmilzt als Tiefe oder Ferne mit der
Fläche oder Breite des Sinnlichen. Die Empfindung als solche dehnt sich
im Akt des Bewußtwerdens zur +Welt+. So trägt alles Gewordene das
Merkmal der +Ausdehnung+, und es gehört zum Geheimnisvollsten im
Wesen aller Kulturen, daß in ihnen -- wie im Kinde -- das Erwachen des
Ich, des Innenlebens mit der spontanen Deutung des Tiefenerlebnisses
im Sinne eines Ursymbols identisch ist. Wir sahen, wie jede Kultur
hier anders fühlt. Der antike Mensch empfand die Welt, wie seine
Mathematik beweist, stereometrisch, mehr noch, planimetrisch. Die Zahl
als Größe oder Maß: das bedeutet die Welt als Summe von Stoffen oder
deren Grenzflächen. Der Hellene kannte nur Dinge, keinen Raum. Deshalb
die reine Flächenwirkung seiner Plastik, das Vermeiden von Licht und
Schatten, die strenge Beschränkung auf den einzelnen beziehungslosen
Fall. War demgegenüber +das Unendliche+ Prinzip und Zeichen
des abendländischen Daseins, so hatte die Ferne einen seelischen
Doppelsinn, je nachdem sie wird oder geworden ist.

Das Tiefenerlebnis ist ein Werden und bewirkt ein Gewordnes; es
bedeutet Zeit und ruft den Raum hervor; es ist kosmisch und historisch
zugleich. Die lebendige Richtung geht zum +Horizont+ wie zur
+Zukunft+. Unendlichkeit und Ewigkeit fließen vor der Seele
zusammen, und wer die eine nicht besitzt, kennt auch die andre nicht.
Die reine Gegenwärtigkeit des antiken Daseins, symbolisiert in der
nackten Statue, war die des Ortes +und+ der Zeit. Auch das Wort
Gegenwart hat einen doppelten Sinn, je nachdem der Bereich des Werdens
oder des Gewordnen gemeint ist. Die attische Plastik ist eine Kunst der
körperhaften Nähe und also auch des Augenblicks (auf dieser Tatsache
beruhen die verfehlten Ausführungen von Lessings Laokoon). Das Porträt
des 16. und 17. Jahrhunderts aber ist unendlich in +jedem+ Sinne.
Es faßt nicht nur den Menschen als Mittelpunkt des Weltalls, dessen
Erscheinung von seinem Sein Gestalt und Bedeutung empfängt; es faßt
ihn vor allem historisch, d. h. biographisch. Die Statue ist ein Stück
Natur und nichts außerdem. Parzeval, Hamlet, Faust sind stets werdende,
Odysseus, Klytämnestra, Antigone sind gewordne Menschen. Die antike
Dichtung gibt Statuen in Worten, die abendländische psychologische
Analysen. Hier liegt die Wurzel für unser Gefühl, das dem Griechen eine
reine Hingabe an die Natur zuschreibt. Wir werden uns nie ganz von
dem Empfinden befreien, daß der gotische Stil neben dem griechischen
+Unnatur+ ist, nämlich +mehr+ als „Natur“. Nur verhehlen
wir uns, daß darin das Gefühl eines Mangels bei den Griechen zu Worte
kommt. Die abendländische Formensprache ist reicher. Das Porträt
gehört der Natur +und+ der Geschichte an. Ein Porträt Tizians und
Rembrandts ist eine +Biographie+, die Quintessenz eines Lebens;
ein Selbstporträt ist eine +Beichte+. Vergessen wir nicht, daß die
Beichte, von der sich in den Evangelien nicht die geringste Andeutung
findet, erst im 9. Jahrhundert und nur in Westeuropa Laienpflicht
wird -- es war die Zeit der ersten Regungen des romanischen Stils --,
und daß sie erst 1215, zur Zeit der blühenden Gotik, den Rang eines
Sakraments erhielt. Es war gesagt worden, daß die faustische Kultur --
im Gegensatz zur antiken -- die der Seelenforschung, der Selbstprüfung,
der Historik großen Stils ist. Wenn der Protestant und der Freigeist
sich gegen die Ohrenbeichte auflehnen, so kommt es ihnen nicht zum
Bewußtsein, daß sie nicht die rein abendländische Idee, sondern
nur ihre äußere Fassung ablehnen. Sie weigern sich, dem Priester
zu beichten, aber sie beichten sich selbst, dem Freunde oder der
Menge. Die gesamte nordische Poesie ist Bekenntniskunst. Das Porträt
Rembrandts und die Musik Beethovens sind es auch. Der abendländische
Mensch lebt mit dem Bewußtsein des Werdens, mit dem ständigen Blick auf
Vergangenheit und Zukunft. Der Grieche lebt punktförmig, ahistorisch,
somatisch. Kein Grieche hat Memoiren hinterlassen. Keiner wäre einer
echten Selbstkritik fähig gewesen. Auch das liegt in der Erscheinung
der nackten Statue, dem eminent unhistorischen Abbilde eines Menschen.
Ein Selbstporträt ist das genaue Seitenstück der Selbstbiographie in
der Art des Werther und Tasso, und das eine der Antike so fremd wie das
andre. Es gibt nichts Unpersönlicheres als die griechische Kunst. Daß
Skopas oder Lysippos ein Bildnis von sich selbst gemacht hätten, kann
man sich gar nicht vorstellen.

Im antiken Akte, der ganz Oberfläche, ganz Vordergrund und Materie,
steingewordnes σῶμα war, ist das Innenleben künstlerisch verneint,
dem Raume als dem Nichtseienden gleichgesetzt. Wenn Plato drei
Seelenvermögen -- εἴδη -- und als deren höchstes das λογιστικόν
unterschied, so war dies Prinzip jedenfalls nur als Logik der
körperlichen Erscheinung in die Plastik gedrungen. Aristoteles hat die
Vollendung des Menschen nach Stoff und Form („Leib“ und „Seele“ in
+antik+ gefühltem Gegensatz) sogar ausdrücklich nach Analogie der
künstlerischen Arbeit beschrieben.

Man betrachte bei Phidias, bei Polyklet, bei irgendeinem andern Meister
nach den Perserkriegen die Wölbung der Stirn, die Lippen, den Ansatz
der Nase, das blind gehaltene Auge -- wie das alles der Ausdruck einer
ganz unpersönlichen, pflanzenhaften, +seelenlosen+ Vitalität ist.
Man frage sich, ob diese Formensprache imstande wäre, ein inneres
Erlebnis auch nur anzudeuten. Es gab nie eine Kunst, für welche so
ausschließlich nur die optische Oberfläche von Körpern in Betracht
kam. Bei Michelangelo, der sich mit seiner ganzen Leidenschaft dem
Anatomischen ergab, ist trotzdem die leibliche Erscheinung stets der
Ausdruck der Arbeit aller Knochen, Sehnen, Organe +des Innern+;
das Lebendige +unter+ der Haut tritt in Erscheinung, ohne daß es
gewollt war. Es ist eine Physiognomik, keine Systematik der Muskulatur,
die Michelangelo ins Leben rief. Aber damit war bereits das persönliche
Schicksal, nicht der stoffliche Leib der eigentliche Ausgangspunkt des
Formgefühls geworden. Es liegt mehr Psychologie (und weniger „Natur“)
im Arme eines seiner Sklaven als im Kopfe des praxitelischen Hermes.
Beim Diskobolos des Myron ist die äußere Form ganz für sich da ohne
alle Beziehung auf den vitalen Organismus geschweige denn die „Seele“.
Man vergleiche mit den besten Arbeiten dieser Zeit die altägyptischen
Statuen etwa des Dorfschulzen oder des Königs Phiops oder andrerseits
den David des Donatello und man wird verstehen, was es heißt, einen
Körper nur seiner stofflichen Grenze nach anerkennen. Alles, was bei
den Griechen den Kopf als den Ausdruck von etwas Innerlichem und
Geistigem erscheinen lassen könnte, ist peinlich vermieden. Gerade bei
Myron tritt das hervor. Ist man einmal darauf aufmerksam geworden,
so erscheinen die besten Köpfe der Blütezeit, aus der Perspektive
unsres gerade entgegengesetzten Weltgefühls betrachtet, nach einer
Weile dumm und stumpf. Das Biographische fehlt ihnen. Nicht umsonst
waren ikonische Statuen in dieser Zeit streng verpönt. Es gibt bis auf
Lysippos herab nicht einen echten Charakterkopf. Es gibt nur Masken.
Oder man betrachtet die Gestalt im ganzen: mit welcher Meisterschaft
ist da der Eindruck vermieden, als ob der Kopf der bevorzugte Teil des
Leibes sei. Deshalb sind diese Köpfe so klein, so unbedeutend in der
Haltung, so wenig durchmodelliert. Überall sind sie durchaus als Teil
des Körpers, wie Arm und Schenkel, niemals als Sitz und Symbol eines
Ich geformt. Die sich beständig, bis zu staatlichen Verboten steigernde
Abneigung der Griechen dem Porträt gegenüber besitzt in der zunehmenden
Entwertung des Motivs nackter Körperlichkeit in der Ölmalerei von den
Florentinern bis zu Velasquez und Rembrandt ein vollkommenes Gegenstück.

Man wird endlich sogar finden, daß der weibliche, selbst weibische
Eindruck vieler dieser Köpfe des 5. und mehr noch des 4.
Jahrhunderts[83] das allerdings ungewollte Resultat der Bestrebung
ist, jede geistige Charakteristik gänzlich auszuschließen. Man ist
vielleicht zu dem Schlusse berechtigt, daß der ideale Gesichtstypus
dieser Kunst, der sicherlich nicht der des Volkes war, wie die spätere
naturalistische Bildnisplastik sofort beweist, als Summe von lauter
Negationen, des Individuellen und Psychischen nämlich, also aus
der Beschränkung der Gesichtsbildung auf das rein Euklidische und
Stereometrische entstanden ist. Dies würde das Geschlechtslose und
Unmännliche der Erscheinung zum großen Teil erklären.

Das Porträt der großen Barockzeit behandelt dagegen durch alle Mittel
des malerischen Kontrapunkts, die wir als Träger räumlicher +und+
historischer Fernen kennen gelernt haben, durch die in Braun getauchte
Atmosphäre, die Perspektive, den bewegten Pinselstrich, die zitternden
Farbentöne und Lichter, den Leib als etwas an sich Unwirkliches, als
ausdrucksvolle Hülle eines raumbeherrschenden Ich. (Die Freskotechnik,
euklidisch wie sie ist, schließt die Lösung einer solchen Aufgabe
vollkommen aus.) Das ganze Gemälde hat nur das eine Thema: Seele. Man
achte darauf, wie bei Rembrandt (etwa der Radierung des Bürgermeisters
Six oder dem Architektenbildnis in Kassel) und zuletzt noch einmal
bei Marées und Leibl (auf dem Bildnis der Frau Gedon) die Hände und
die Stirn gemalt sind, durchgeistigt bis zur Auflösung der Materie,
visionär, voller Lyrik -- und vergleiche damit die Hand und die Stirn
eines Apollo oder Poseidon aus der Zeit des Perikles.

Die ägyptische Plastik als der Ausdruck einer dem Unendlichen
gleichfalls hingegebenen Seele -- man erinnere sich der Symbolik
des Weges zur Grabkammer in den Pyramidentempeln -- war ebenso
physiognomisch, ebenso historisch und _sub specie aeternitatis_
gedacht, mithin ebenfalls eine Kunst des Porträts. Die Königsstatue
bannt das +Ka+, das transzendente Prinzip der Persönlichkeit,
in die Welt des Gewordnen, und zwar durch ihren Porträtcharakter.
Es folgt daraus, daß sie wie die Statuen gotischer Grabdenkmäler
den Leib als Eigenwert verneint: das Abendland durch die ganz
ornamental behandelte Kleidung, deren Physiognomik die Sprache des
Antlitzes und der Hände verstärkt, Ägypten, indem es den Körper --
wie die Pyramide, den Obelisken -- in einem mathematischen Schema
hält und das Persönliche auf den Kopf, mit einer wenigstens in der
Skulptur nie wieder erreichten Größe der Auffassung beschränkt. Der
Faltenwurf soll in Athen den Sinn des Leibes offenbaren, im Norden
ihn auflösen. Das Gewand wird dort zum Körper, hier zur Musik -- dies
ist der tiefe Gegensatz, der in Werken der Hochrenaissance zu einem
schweigenden Kampf zwischen dem traditionell gewollten und dem unbewußt
hervordringenden Ideal des Künstlers führt, in welchem das erste,
antigotische, oft genug auf der Oberfläche, das zweite, von der Gotik
zum Barock leitende, immer in der Tiefe siegt.


12

Ich fasse jetzt den Gegensatz von apollinischem und faustischem
Menschheitsideal zusammen. Akt und Porträt verhalten sich wie Körper
und Raum, wie Augenblick und Ewigkeit, Vordergrund und Tiefe, wie die
euklidische zur analytischen Zahl, wie Maß und Beziehung. Die antike
Plastik, für welche die nackte Oberfläche des menschlichen Körpers
beinahe das einzige Ausdrucksmittel geworden war, arbeitete an einer
Inkarnation des vollkommen Gegenwärtigen nach Ort und Zeit. Die
Statue wurzelt im Boden, die Musik -- und das abendländische Porträt
+ist+ Musik, aus Farbentönen gewebte Seele -- durchdringt den
grenzenlosen Raum. Das Freskogemälde ist mit der Wand verbunden,
verwachsen; das Ölgemälde, als Tafelbild, ist frei von den Schranken
eines Ortes. Die apollinische Formensprache offenbart nur Gewordnes,
die faustische vor allem auch ein Werden.

Deshalb zählt die abendländische Kunst Kinderporträts und
Familienbildnisse zu ihren besten und innerlichsten Leistungen. Der
attischen Plastik waren diese Motive völlig versagt. Das Kind verknüpft
Vergangenheit und Zukunft. Es bezeichnet in jeder menschenbildenden
Kunst, die überhaupt Anspruch auf symbolische Bedeutung erhebt, die
Dauer im Wechselnden der Erscheinung, die Unendlichkeit des Lebens.
Aber das antike Leben erschöpfte sich in der Fülle des Augenblicks
und man verschloß das Auge vor zeitlichen Fernen. Man dachte an die
Menschen gleichen Blutes, die man neben sich sah, aber nicht an die
kommenden Geschlechter. Und deshalb hat es niemals eine Kunst gegeben,
die der Darstellung von Kindern so entschieden aus dem Wege gegangen
ist wie die griechische. Man überdenke die Fülle von Kindergestalten,
welche von der frühen Gotik bis zum sterbenden Rokoko und vor allem
auch in der Renaissance entstanden sind, und suche demgegenüber auch
nur ein antikes Werk von einigem Range bis auf Alexander herab, das mit
Absicht dem ausgebildeten Körper des Mannes oder Weibes den kindlichen
zur Seite stellt, dessen Dasein noch der Zukunft angehört.

In der +Idee des Muttertums+ ist das unendliche Werden begriffen.
Wie der mystische Akt des Tiefenerlebnisses -- der Zeit, des Schicksals
-- aus dem Sinnlichen das Ausgedehnte und also die +Welt+ schafft,
so entsteht durch die Mutterschaft der leibliche Mensch als einzelnes
Glied dieser Welt. Alle Symbole der Zeit und Ferne sind auch Symbole
des Muttertums. In der Erscheinung der Mutter sammelt sich der Sinn
der Geschlechterfolgen als gewollt und vorbedacht. Die Sorge ist das
Urgefühl der Zukunft und alle Sorge ist mütterlich. Sie spricht sich
in den Bildungen und Ideen von Familie und Staat und dem Prinzip der
+Erblichkeit+, das beiden zugrunde liegt, nicht weniger aus
als in den Reliefreihen und Sphinxalleen der ägyptischen und den
unendlichen Fernsichten und Perspektiven der abendländischen Kunst.
In der Dynastie (dem Adel) verkörpert sich die Sorge, die Zukunft, der
Wille zur Dauer, und einen wahren Staat -- wie den ägyptischen oder
preußischen -- kann es nur geben, wo es ein dynastisches Gefühl im
Menschen gibt.

Auf dem „Carpe diem“ des antiken Daseins läßt sich weder ein Adel
noch ein Staat aufbauen. Die Polis ist der Ausdruck der Negation von
beidem. Es fehlt an mütterlicher Sorge der Stadt für die Nachkommen
der Lebenden; es fehlt die Ehrfurcht vor dem Erblichen und somit der
Sinn für Dynastien wie für die Familie als Kette von Generationen
und nicht nur als Gruppe von Lebenden. Wie das öffentliche Dasein
ausschließlich auf der Wahrnehmung der augenblicklichen und greifbaren
Vordergrundinteressen beruhte, so stellte sich das apollinische
Lebensgefühl nicht im Prinzip des +Muttertums+, sondern in dem
der +Fruchtbarkeit+ dar. Dies ist der Gegensatz von Raum und
Körper, Porträt und Akt. Der Phallus wurde zum antiken Symbol. Er ist
wie die Statue, die -- zumal in Bronze gegossen oder grell bemalt
und frei aufgestellt -- etwas Phallisches hatte, der Inbegriff des
Beziehungslosen. Die Mutter verweist in die Zukunft, auf Geschlechter;
der Phallus bezeichnet den augenblicklich-geschlechtlichen Akt. Man
wird in der großen griechischen Statuenkunst nicht eine säugende Mutter
finden. Man möchte sie nicht einmal im Stil des Phidias gebildet sehen.
Man fühlt, daß diese Kunstgattung innerlich dem Motiv widerspricht.[84]
In der religiösen Kunst des Abendlandes dagegen gab es keine erhabnere
Aufgabe. Mit der anbrechenden Gotik wurde die orientalische Maria der
Mosaiken zur Mutter Gottes, zur Mutter überhaupt. Im germanischen
Mythus erscheint sie als Frigga und Frau Holle. Wir finden das gleiche
Gefühl in schönen Wendungen der Minnesänger wie Frau Welt, Frau Sonne,
Frau Eve, Frau Minne ausgedrückt. Die +mütterliche+ Geliebte,
Ophelia und Gretchen, steht neben den Madonnen Raffaels.

Ihr stellte der hellenische Olymp Göttinnen gegenüber, die Amazonen
-- wie Athene -- oder Hetären -- wie Aphrodite -- waren. Das ist der
antike Typus des Weibes, aus der Idee der pflanzenhaften Fruchtbarkeit
erwachsen. Auch hier erschöpft das Wort σῶμα den ganzen Sinn der
Erscheinung. Man denke an das Meisterwerk dieser Art, die drei
mächtigen Frauenkörper im Ostgiebel des Parthenon, und vergleiche
damit die erhabenste Konzeption einer Mutter, die sixtinische Madonna
Raffaels. In ihr ist nichts Körperhaftes mehr. Sie ist ganz Ferne,
ganz Raum. Die Helena der Ilias, an Kriemhild gemessen, ist Hetäre;
Antigone und Klytämnestra sind Amazonen. Es ist auffallend, wie selbst
Äschylus in der Tragödie der Klytämnestra die Tragik der Mutter
vermeidet. Die Gestalt der Medea ist geradezu die mythische Umkehrung
des faustischen Typus der _Mater dolorosa_. In der Plastik
verschwimmen Aphrodite und Athene (für diese Kunst ist Athene nur eine
ältere Aphrodite) endlich zu +einer+ weiblichen Idealgestalt, die
-- wie die knidische Aphrodite -- lediglich ein schöner Gegenstand
ist, kein Charakter, kein Ich, sondern ein Stück Natur. Praxiteles,
der bekanntlich den weiblichen Ganzakt in die attische Bildhauerei
einführte, hat daraus die letzten künstlerischen Konsequenzen gezogen.

Diese Neuerung fand strengen Tadel, aus dem Gefühl heraus, daß hier
ein Symptom des niedergehenden antiken Weltgefühls vorliege. So sehr
sie der geschlechtlichen Symbolik entsprach, so sehr widersprach sie
der Würde der älteren griechischen Religion. Aber sie bewies zugleich,
daß allenthalben die Strenge und Sicherheit der Formensprache im
Sinken war. Damals entstand die Niobidengruppe, die erste, wenn auch
wenig tiefe Darstellung einer Mutter. Damals entstanden aber auch im
schärfsten Widerspruch zur antiken Staatsform der Polis die Dynastien
der Nachfolger Alexanders, schwächlich zwar im Vergleich mit den
ägyptischen und abendländischen, aber doch gewisse Zeichen einer innern
Würde. Die Kraft der antiken Symbolik erlischt. Die antike Kultur wird
Zivilisation. Jetzt erst wagt sich eine Bildniskunst hervor, die wie
der hellenistische Staat und die jetzt in Mode kommende korinthische
Pflanzensäule deutlich an Ägypten erinnert (man denke daran, wie
dementsprechend das 19. Jahrhundert an griechische und, seit 1860, an
japanische Vorbilder anknüpft). Der Perikleskopf des Kresilas (etwa
430) ist in keinem Sinne Porträt. Die bekannte Sophoklesstatue (um
340) ist es eher. Erst der Demosthenes des Polyeukt (um 280) darf
als Porträt gelten. Wie wenig er es im Sinne der Kunst Rembrandts
oder überhaupt in dem einer transzendenten Kunst ist, hätte aber nie
verkannt werden sollen. Man hat den virtuosenhaften Verismus namentlich
jener spätgriechischen Künstler, welche die Römerbüsten der Kaiserzeit
schufen, mit physiognomischer Tiefe verwechselt. Wer aber glaubt, der
Hellenismus habe je persönliche Seelenbildnisse gewollt oder erreicht
-- beides ist dasselbe --, der vergleiche ein „arabisches“ Porträt wie
die Theodosiusstatue in Barletta, die Köpfe der Helena und Theodora
oder die altägyptischen Bildnisse des Chephren und Sesostris III.
mit irgendeinem griechischen. Sie alle haben eine schwer in Worte
zu fassende Verwandtschaft mit den Bildnissen Tizians, Holbeins und
Rembrandts, die Idealfiguren des Hellenismus haben sie +nicht+.


13

In der Ölmalerei vom Ende der Renaissance an kann man die Tiefe
eines Künstlers mit Sicherheit an dem Gehalt seiner Porträts messen.
Diese Regel erleidet kaum eine Ausnahme. Alle Gestalten im Bilde, ob
einzeln, ob in Szenen, Gruppen, Massen, sind dem physiognomischen
Grundgefühl nach Porträts, ob sie es sein sollen oder nicht. Das stand
nicht in der Wahl des einzelnen Künstlers. Nichts ist lehrreicher
als zu sehen, wie sich unter den Händen eines wirklich faustischen
Menschen selbst der Akt in eine Porträtstudie verwandelt (man könnte
die hellenistische Bildniskunst als den entgegengesetzten Prozeß
bezeichnen). Man nehme zwei deutsche Meister wie Lukas Kranach und
Tilmann Riemenschneider, die von aller Theorie unberührt blieben und,
im Gegensatz zu Dürer und dessen Hange zu ästhetischen Meditationen und
also zur Nachgiebigkeit fremden Tendenzen gegenüber, mit vollkommener
Naivität arbeiteten. In ihren -- höchst seltenen -- Akten zeigen
sie sich gänzlich außerstande, den Ausdruck ihrer Schöpfung in die
unmittelbar gegenwärtige flächenbegrenzte Körperlichkeit zu legen. Der
Sinn der menschlichen Erscheinung und mithin des ganzen Werkes bleibt
regelmäßig im Kopfe gesammelt, bleibt physiognomisch, nicht anatomisch,
und das gilt trotz des entgegengerichteten Wollens und trotz aller
italischen Studien auch von Dürers Lukrezia. Ein faustischer Akt -- das
ist ein Widerspruch in sich selbst. Daher das peinlich Gezwungene, das
Schwankende und Befremdende solcher Versuche, die sich allzu deutlich
als Opfer vor dem hellenisch-römischen Ideal verraten, Opfer, die
der Kunstverstand, nicht die Seele bringt. Es gibt in der gesamten
Malerei nach Lionardo kein bedeutendes oder bezeichnendes Werk mehr,
dessen Sinn von dem euklidischen Dasein eines nackten Körpers getragen
wird. Wer hier Rubens nennen und dessen unbändige Dynamik schwellender
Leiber in irgendeine Beziehung zur Kunst des Praxiteles und selbst des
Skopas setzen wollte, der versteht ihn nicht. Gerade die prachtvolle
Sinnlichkeit hielt ihn von der toten +Statik+ der Körper
Signorellis fern. Wenn irgendein Künstler in die Schönheit nackter
Leiber ein Maximum von +Werden+, von unhellenischer Ausstrahlung
einer innern Unendlichkeit gelegt hat, so war es Rubens. Man
vergleiche den Pferdekopf aus dem Parthenongiebel mit denen in seiner
Amazonenschlacht und man wird den tiefen metaphysischen Gegensatz in
der Fassung des gleichen Erscheinungselements fühlen. Bei Rubens -- um
wieder an den Gegensatz von faustischer und apollinischer Mathematik
zu erinnern -- ist der Körper nicht Größe, sondern Beziehung; nicht
die sinnvolle Regel seiner äußeren Gliederung, sondern die Fülle des
strömenden Lebens in ihm ist das Motiv, das sich im Jüngsten Gericht,
wo die Leiber zu Flammen werden, mit der Bewegtheit des Weltraumes
verbindet, eine gänzlich unantike Synthese, die auch den Nymphenbildern
Corots nicht fremd ist, deren Gestalten im Begriffe sind, sich in
Farbenflecke, Reflexe des unendlichen Raumes aufzulösen. So ist der
antike Akt +nicht+ gemeint. Man verwechsle das griechische
Formideal -- das eines in sich abgeschlossenen plastischen Daseins --
auch nicht mit der bloßen virtuosen Darstellung schöner Leiber, wie sie
sich von Giorgione bis auf Boucher immer wieder finden, fleischliche
Stilleben, Genrearbeiten, die lediglich, wie Rubens’ Frau mit dem Pelz,
eine heitre populäre Sinnlichkeit zum Ausdruck bringen und in Hinsicht
auf das symbolische Gewicht der Leistung -- sehr im Gegensatz zu dem
hohen Ethos antiker Akte -- weit zurücktreten.[85]

Diese -- ausgezeichneten -- Maler haben dementsprechend weder
im Porträt noch in der Darstellung tiefer Welträume vermittelst
der Landschaft das Höchste erreicht. Ihrem Braun und Grün, ihrer
Perspektive fehlt die „Religion“, das Schicksal. Sie sind Meister
allein im Bereiche der +elementaren+ Form, in deren Repräsentation
ihre Kunst sich erschöpft. Sie sind es, deren Schar die eigentliche
Substanz der Entwicklungsgeschichte einer großen +Kunst+
bildet. Wenn aber ein großer +Künstler+ darüber hinaus zu jener
andern, die ganze Seele und den ganzen Sinn der Welt umfassenden
Form vordringt, so +mußte+ er innerhalb der antiken Kunst zur
Durchbildung eines nackten Körpers schreiten, in der nordischen
+durfte+ er es nicht. Rembrandt hat in jenem Vordergrundssinne nie
einen Akt gemalt; Lionardo, Tizian, Velasquez und unter den letzten
Menzel, Leibl, Marées, Manet jedenfalls selten (und dann immer, ich
möchte sagen Leiber +als Landschaften+). Das Porträt bleibt der
untrügliche Prüfstein.[86]

Aber man würde Meister wie Signorelli, Mantegna, Botticelli niemals
an dem Range ihrer Porträts messen. Raffaels Bildnisse, deren beste
wie das des Papstes Julius II. unter dem Einflüsse des Venezianers
Sebastian del Piombo entstanden, könnte man bei der Würdigung seines
Schaffens gänzlich außer acht lassen. Erst bei Lionardo sind sie
von höchstem Gewicht. Es besteht ein feiner Widerspruch zwischen
Freskotechnik und Bildnismalerei. In der Tat ist Giovanni Bellinis
Doge Loredan das erste große Ölporträt. Auch hier offenbart sich der
Charakter der Renaissance als einer Auflehnung gegen den faustischen
Geist des Abendlandes. Die Episode von Florenz bedeutet den Versuch,
das Porträt gotischen Stils -- also nicht das spätantike Idealbildnis,
das man vornehmlich durch die Cäsarenbüsten kannte -- als Symbol
des Menschlichen durch den Akt zu ersetzen. Folgerichtig hätten die
physiognomischen Züge der gesamten Renaissancekunst fehlen müssen.
Allein die starke Unterströmung faustischen Kunstwollens, nicht nur
in kleineren Städten und Schulen Mittelitaliens, sondern selbst im
Unbewußten der großen Maler bewahrte eine nie unterbrochene Tradition.
Die Physiognomik gotischer Art unterwarf sich sogar das ihr so fremde
Element des südlich-nackten Körpers. Was man entstehen sah, sind
nicht Körper, die durch die Statik ihrer Grenzflächen zu uns reden;
wir bemerken ein +Mienenspiel+, das sich vom Antlitz über alle
Teile des Körpers verbreitet und für das feinere Auge gerade in die
toskanische +Nacktheit+ eine tiefe Identität mit dem +gotischen
Gewande+ legt. Sie ist eine Hülle, keine Grenze. Vor allem aber
wurde jeder gemalte oder modellierte Kopf von selbst zum Porträt. Alles
was A. Rossellino, Donatello, Benedetto da Majano, Mino da Fiesole im
Porträt geleistet haben, steht dem Geiste der Van Eyck, Memlings und
der frührheinischen Meister oft bis zum Verwechseln nahe. Ich behaupte,
daß es überhaupt kein eigentliches Renaissanceporträt gibt und geben
kann, wenn man darunter die in einem Antlitz gesammelte künstlerische
Gesinnung versteht, welche den Hof des Palazzo Strozzi von der Loggia
dei Lanzi und Perugino von Cimabue trennt. Im Architektonischen war
eine antigotische Konzeption möglich, so wenig von apollinischem Geiste
sie auch besaß; im Bildnis, das schon als Gattung ein faustisches
Phänomen war, nicht. Michelangelo ging der Aufgabe aus dem Wege.
In seiner leidenschaftlichen Verfolgung eines plastischen Ideals
hätte er die Beschäftigung mit ihr als ein Herabsteigen empfunden.
Seine Brutusbüste ist so wenig ein Porträt wie sein Giuliano de
Medici, dessen Porträt von Botticelli ein wirkliches, mithin eine
ausgesprochen gotische Schöpfung ist. Michelangelos Köpfe sind
Allegorien im Geschmack des anbrechenden Barock und selbst mit gewissen
hellenistischen Arbeiten nur oberflächlich vergleichbar. Man mag den
Wert der Uzzanobüste des Donatello, vielleicht der bedeutendsten
Leistung dieser Epoche, noch so hoch bemessen; man wird zugeben, daß
sie neben den Bildnissen der Venezianer kaum in Betracht kommt.

Es verdient bemerkt zu werden, daß diese wenigstens ersehnte
Überwindung des gotischen Porträts durch den vermeintlich antiken
Akt -- einer rein historischen und biographischen Form durch eine
vollkommen ahistorische eines punktförmigen Daseins -- mit einem
gleichzeitigen Niedergang der Fähigkeit zur innern Selbstprüfung und
zur künstlerischen Konfession im Goetheschen Sinne verschwistert
erscheint. Kein echter Renaissancemensch kennt eine seelische
Entwicklung. Er vermochte ganz nach außen zu leben. Darin lag das hohe
Glück des Quattrocento. Zwischen Dantes Vita nuova und Michelangelos
Sonetten ist keine poetische Beichte, kein Selbstporträt von
einigem Range entstanden. Der Renaissancekünstler ist im Abendlande
der einzige, für den Einsamkeit ein leeres Wort bleibt. Darf man
hinzufügen, daß +also auch+ jenes andre Symbol der historischen
Ferne, der Sorge, Dauer und Nachdenklichkeit, der +Staat+, von
Dante bis auf Michelangelo aus der Sphäre der Renaissance verschwindet?
Im „wankelmütigen Florenz“, das all seine großen Bürger bitter
gescholten haben und dessen Unfähigkeit zu tüchtigen politischen
Bildungen am gewöhnlichen Niveau abendländischer Staatsformen gemessen
ans Bizarre streift, und überall dort, wo der antigotische -- nach
dieser Seite hin betrachtet also +antidynastische+ -- Geist eine
lebendige Wirksamkeit in Kunst und Öffentlichkeit entfaltet, machte der
Staat in Gestalt der Medici, Sforza, Borgia, Malatesta und lächerlicher
Republiken einer wahrhaft hellenischen Jämmerlichkeit im Stile des
peloponnesischen Krieges Platz. Nur dort, wo die Plastik +keine+
Stätte fand, wo die südliche Musik zu Hause war, wo Gotik und Barock in
der Ölmalerei des Giovanni Bellini sich berührten und die Renaissance
ein Gegenstand gelegentlicher Liebhaberei blieb, gab es neben dem
Porträt -- der Seelengeschichte _in nuce_ -- eine feine Diplomatie
und den Willen zur politischen Dauer: in Venedig.


14

Die Renaissance war aus dem Trotz geboren. Es fehlt ihr darum an
Tiefe, Umfang und Sicherheit der formbildenden Instinkte. Sie ist
die einzige Epoche, die einer theoretischen Unterstützung bedurfte.
Sie war auch, sehr im Gegensatz zu Gotik und Barock, die einzige, wo
das theoretisch formulierte Wollen dem Können voranging und es oft
genug überragte. Aber die erzwungene Gruppierung der einzelnen Künste
um eine antikisierende Plastik konnte diese Künste in den letzten
Wurzeln ihres Wesens nicht umwandeln. Sie bewirkte nur eine Verarmung
der innern Möglichkeiten. Für Naturen von mittlerem Umfang war das
geistig-künstlerische Medium der Renaissance zureichend. Es kommt ihnen
infolge der Simplizität der oberflächlicheren Konvention sogar entgegen
und man vermißt deshalb das gotische Ringen mit dem Element, das die
rheinischen und niederländischen Schulen auszeichnet. Die wundervolle
und verführerische Leichtigkeit und Klarheit beruht nicht zum wenigsten
auf dem Umgehen des tieferen Widerstandes vermittelst einer allzu
schlichten Regel. Die Renaissancekunst kennt keine Probleme. Für
Menschen von der Innerlichkeit Memlings und der Gewalt Grünewalds, die
im Bereich dieser toskanischen Formenwelt geboren wurden, mußte sie
zum Verhängnis werden. Sie konnten nicht in ihr und durch sie, nur
gegen sie zur Entfaltung ihrer Seele kommen. Wir sind geneigt, das
Menschliche der Renaissancemaler zu überschätzen, nur weil wir keine
Schwäche in der Form entdecken. Aber im Gotischen und im Barock erfüllt
ein ganz großer Künstler seine Mission, indem er ihre Sprache vertieft
und vollendet; in der Renaissance mußte er sie zerstören.

Dies ist der Fall Lionardos, Raffaels und Michelangelos, der einzigen
großen Menschen Italiens, seit den Tagen der Gotik. Ist es nicht
seltsam, daß zwischen den Meistern der Gotik, die nichts als Arbeiter
in ihrer Kunst waren und doch das Größte im Dienste dieser Konvention
und innerhalb ihrer Schranken leisteten, und den Venezianern und
Holländern, die wieder nichts als Maler, Arbeiter waren, diese drei
stehen, nicht nur Maler, nicht Bildhauer, sondern Denker, und zwar
Denker aus Not, die sich außer mit allen möglichen Arten künstlerischen
Ausdrucks auch noch mit tausend andern Dingen beschäftigten, ewig
unruhig und unbefriedigt, um dem Wesen und dem Ziel ihrer Existenz
auf den Grund zu kommen -- die sie in den seelischen Bedingungen der
Renaissance also nicht fanden? Diese drei Großen haben, jeder in
seiner Weise, jeder in einem eignen tragischen Irrgang, versucht,
antik im Sinne der mediceischen Theorie zu sein und jeder hat nach
einer andern Seite hin diese Illusion zerstört. Raffael die große
Linie, Lionardo die Fläche, Michelangelo den Körper. In ihnen kehrt die
verirrte Seele zu ihrem faustischen Ausgang zurück. Sie +wollten+
das Maß statt der Beziehung, die Zeichnung statt der Wirkung von Licht
und Schatten, den euklidischen Leib statt des reinen Raumes. Aber eine
euklidisch-statische Plastik hat es damals überhaupt nicht gegeben.
Sie war nur einmal möglich: in Athen. Eine latente Musik ist immer und
überall fühlbar. All ihre Gestalten haben Bewegtheit und eine Tendenz
in die Ferne und Tiefe. Sie sind alle auf dem Wege zu Palestrina statt
zu Phidias, wie sie alle von der schweigenden Musik der Kathedralen
statt von den römischen Ruinen kommen. Raffael löste das florentinische
Fresko auf, Michelangelo die Statue, Lionardo träumte schon von der
Kunst Rembrandts und Bachs. Je ernster man die Aufgabe nimmt, das Ideal
der Zeit zu verwirklichen, desto ungreifbarer wird es. Es gibt keinen
Palast in dieser Epoche, von dem Kenner nicht geurteilt haben, daß er
noch gotische oder schon barocke Elemente aufweise.

Mithin sind Gotik und Barock etwas, das +da+ ist. Renaissance
ist ein ideales Postulat, das über dem Wollen einer Zeit schwebt,
unerfüllbar wie alle Postulate. Giotto ist ein gotischer und Tizian
ein Barockkünstler. Michelangelo +wollte+ ein Renaissancekünstler
sein, aber es gelang ihm nicht. Schon daß -- trotz aller plastischen
Ambitionen und aller Literatur -- die Malerei unbestritten überwog,
und zwar mit den räumlich-perspektivischen Voraussetzungen des
Nordens, beweist den Widerspruch zwischen Verstand und Seele, zwischen
Sehnsucht und Erfüllung. Das schöne Maß, die abgeklärte Regel, das
gewollt Antike also, wurde schon um 1520 als trocken und formelhaft
empfunden. Michelangelo und andre mit ihm waren der Meinung, daß sein
Kranzgesims am Palazzo Farnese, durch das er die Fassade Sangallos
vom Renaissancestandpunkt aus verdarb, die Leistungen der Griechen
und Römer weit übertraf. Das Antigotische fand keine Liebhaber mehr.
Man hatte es satt. Erst von jetzt an werden römische Ruinen, wie das
Kolosseum und Septizonium, als Steinbrüche für Barockbauten benutzt.

Wie Petrarca der erste, so war Michelangelo der letzte leidenschaftlich
für die Antike empfindende Mensch von Florenz, aber er war es nicht
mehr ganz. Das franziskanische Christentum Fra Angelicos, von feiner
Milde, versonnen, still ergeben, dem die südliche Abgeklärtheit reifer
Renaissancewerke weit mehr zu verdanken hat als man glaubt,[87] ging
zu Ende. Der majestätische Geist der Gegenreformation, schwer, bewegt
und prächtig, lebt schon in Michelangelos Werken. Es gibt etwas, das
man damals antik nannte und das nur eine edle Form des christlichen
Weltgefühls war; der syrischen Herkunft des florentinischen
Lieblingsmotivs, der Verbindung von Rundbogen und Säule, war schon
gedacht. Aber man vergleiche auch die pseudo-korinthischen Kapitäle
des 15. Jahrhunderts mit denen römischer Ruinen, die man doch kannte.
Michelangelo war der einzige, der hier kein äußeres Abkommen ertrug.
Er wollte Klarheit. Für ihn war die Frage der Form eine religiöse
Frage. Es handelt sich bei ihm und ihm allein um alles oder nichts. So
erklärt sich das einsame, furchtbare Ringen dieses wohl unglücklichsten
Menschen innerhalb unsrer Kunst, das Fragmentarische, Gequälte,
Unersättliche, das _terribile_ seiner Formen, das die Zeitgenossen
ängstigte. Der eine Teil seines Wesens zog ihn zum Altertum und also
zur Plastik. Man weiß, wie die eben gefundene Laokoongruppe auf ihn
wirkte. Ehrlicher als er hat niemand versucht, durch die Kunst des
Meißels den Weg zu einer verschütteten Welt zu finden. Alles was
er geschaffen hat, war plastisch in diesem, +von ihm allein+
vertretenen Sinne gemeint. „Die Welt, vorgestellt im großen Pan“,
das, was Goethe im zweiten Teil des Faust hatte geben wollen, als
er die Helena einführte, die apollinische Welt in ihrer mächtigen,
sinnlichen und körperlichen Gegenwart -- das hat kein andrer so mit
allen Kräften in ein künstlerisches Dasein bannen wollen, als er,
damals als er die Decke der Sixtinischen Kapelle malte. Alle Mittel
des Fresko, die großen Konturen, die mächtigen Flächen, die drängende
Nähe nackter Gestalten, das Stoffliche der Farbe sind hier zum letzten
Male bis zum äußersten angespannt, um das Heidentum in ihm -- im
höchsten Renaissancesinne -- zu befreien. Aber seine zweite Seele, die
gotisch-christliche Dantes und der Musik weiter Räume, die deutlich
genug aus der metaphysischen Anordnung des Entwurfs redet, leistete
Widerstand.

Er hat zum letzten Male versucht, immer und immer wieder, die
ganze Fülle seiner Persönlichkeit in die Sprache des Marmors, des
euklidischen Materials zu legen, das ihm den Dienst versagte. Denn er
stand dem Stein anders gegenüber als ein Grieche. Die gemeißelte Statue
widerspricht schon durch die Art ihres Daseins einem Weltgefühl, das in
Kunstwerken etwas +sucht+, nicht in ihnen etwas +besitzen+
will. Für +Phidias+ ist der Marmor der kosmische Stoff, der
sich nach Form sehnt. Die Pygmalionsage erschließt das ganze Wesen
dieser apollinischen Kunst. Für Michelangelo war er der Feind, den
er unterwarf, der Kerker, aus dem er seine Idee erlösen mußte, wie
Siegfried Brunhilde befreit. Man kennt seine leidenschaftliche Art,
den rohen Block anzugreifen. Er näherte ihn nicht Schritt für Schritt
der gewollten Gestalt an. Er meißelte in den Stein wie in einen Raum
hinein und brachte eine Figur zustande, indem er zum Beispiel von dem
Block, an der Stirnseite beginnend, schichtweise das Material fortnahm
und in die Tiefe drang, während die Gliedmaßen sich langsam aus der
Masse entwickelten. Die Weltangst von dem Gewordnen, dem Element, dem
Tode, den man durch eine bewegte Form zu bannen sucht, kann nicht
deutlicher ausgedrückt werden. Kein Künstler des Abendlandes besitzt
ein so innerliches und zugleich gewaltsames Verhältnis zum Stein als
dem Symbol des Todes, zu dem feindlichen Prinzip in ihm, das seine
dämonische Natur immer wieder bezwingen wollte, ob er nun seine Statuen
heraushieb oder seine mächtigen Bauten aus ihm auftürmte.[88] Er
ist der einzige Bildhauer seiner Zeit, für den +nur+ der Marmor
in Frage kam. Der Bronzeguß, der einen Ausgleich mit malerischen
Tendenzen gestattete und dem er deshalb fern stand, lag den andern
Renaissancekünstlern und den weicheren Griechen viel näher.

Aber der antike Bildhauer fesselte einen augenblicklichen leiblichen
Zustand in Stein. Dessen ist der faustische Mensch gar nicht fähig.
Wie er in der Liebe nicht zuerst den Naturtrieb, den sinnlichen Akt
der Vereinigung von Mann und Weib findet, sondern die große Liebe
Dantes und darüber hinaus die Idee der sorgenden Mutter, so hier.
Michelangelos Erotik -- die Beethovens -- war so unantik als möglich;
sie stand unter dem Aspekt der Ewigkeit und Ferne, nicht der Sinne und
des flüchtigen Augenblicks. In Michelangelos Akten -- einem Opfer an
sein hellenisches Idol -- verneint und übertönt die Seele die sichtbare
Form. Die eine will Unendlichkeit, die andre Maß und Regel, die eine
will Vergangenheit und Zukunft verknüpfen, die andre in der Gegenwart
beschlossen sein. Das antike Auge saugt die plastische Form in sich
auf. Michelangelo aber sah mit dem geistigen Auge und durchbrach
die Vordergrundsprache der unmittelbaren Sinnlichkeit. Und endlich
vernichtete er die Bedingungen dieser Kunst. Der Marmor wurde seinem
Formwollen zu gering. Michelangelo hört auf Bildhauer zu sein und geht
zur Architektur über. Im hohen Alter, als er nur noch wilde Fragmente
wie die Madonna Rondanini zustande brachte und seine Gestalten kaum
mehr aus dem Rohen herausmeißelte, brach die +musikalische+
Tendenz seines Künstlertums durch. Endlich ließ sich der Wille zu
einer kontrapunktischen Form nicht mehr bändigen und aus tiefstem
Ungenügen an der Kunst, an welche er sein Leben verschwendet hatte,
zerbrach sein ewig ungestilltes Ausdrucksbedürfnis die architektonische
Regel der Renaissance und schuf das römische Barock. An die Stelle
des Verhältnisses von Stoff und Form setzt er den Kampf von Kraft
und Masse. Er faßt die Säulen in Bündel zusammen oder drängt sie in
Nischen; er durchbricht die Geschosse mit mächtigen Pilastern; die
Fassade erhält etwas Wogendes und Drängendes; das Maß weicht der
Melodie, die Statik der Dynamik. Die faustische Musik hatte sich die
erste unter den andern Künsten dienstbar gemacht.

Mit Michelangelo ist die Geschichte der abendländischen Plastik zu
Ende. Was nach ihm kommt, sind Mißverständnisse und Reminiszenzen. Sein
legitimer Erbe ist +Palestrina+.

Lionardo redet eine andre Sprache als seine Zeitgenossen. In
wesentlichen Dingen reichte sein Geist in das nächste Jahrhundert und
nichts band ihn wie Michelangelo mit allen Fasern seines Herzens an das
toskanische Formideal. Er allein hatte weder den Ehrgeiz, Bildhauer,
noch den, Architekt zu sein. Er trieb seine anatomischen Studien --
ein seltsamer Irrweg der Renaissance, dem hellenischen Lebensgefühl
und dessen Kultus der körperlichen Außenfläche nahe zu kommen! --
nicht mehr wie Michelangelo der Plastik wegen; er trieb nicht mehr
+topographische+ Vordergrund- und Oberflächenanatomie, sondern
+Physiologie+, um der innern Geheimnisse willen. Michelangelo
wollte den ganzen Sinn der menschlichen Existenz in die Sprache des
sichtbaren Leibes zwingen, Lionardos Skizzen und Entwürfe zeigen das
Gegenteil. Sein vielbewundertes _sfumato_ ist das erste Zeichen
einer Verleugnung der Körpergrenzen um des +Raumes+ willen. Von
hier geht der Impressionismus aus. Lionardo beginnt mit dem Innern,
dem Räumlich-Seelenhaften, nicht mit abgewognen Umrißlinien und legt
zuletzt -- wenn er es überhaupt tut und das Bild nicht unvollendet
läßt -- die farbige Substanz wie einen Hauch über die eigentliche,
körperlose, ganz unbeschreibliche Fassung des Bildes. Raffaels Gemälde
zerfallen in „Pläne“, in denen wohlgeordnet Gruppen verteilt sind, und
ein Hintergrund schließt das Ganze maßvoll ab. Lionardo kennt nur den
einen, weiten, ewigen Raum, in dem seine Gestalten gleichsam schweben.
Der eine gibt innerhalb des Bildrahmens eine Summe einzelner und naher
Dinge, der andre einen Ausschnitt aus dem Unendlichen.

+Lionardo hat den Blutkreislauf entdeckt.+ Was ihn dahin führte,
war kein Renaissancegefühl. Seine Gedankengänge heben ihn aus der
ganzen Sphäre seiner Zeitgenossen heraus. Weder Michelangelo noch
Raffael wären dahingekommen, denn die Maleranatomie sah nur auf Form
und Lage, nicht auf die Funktion der Teile. Sie war, mathematisch
gesprochen, stereometrisch, nicht analytisch. Hat man nicht das Studium
von +Leichen+ zureichend befunden, um die großen Gemäldeszenen
figürlich auszuführen? Aber das hieß das Werden zugunsten des
Gewordenen unterdrücken. Man rief die Toten zu Hilfe, um die antike
ἀταραξία der nordischen Gestaltungskraft zugänglich zu machen.
Aber Lionardo sucht das +Leben+ wie Rubens, nicht den Körper
an sich wie Signorelli. Es liegt in seiner Entdeckung eine tiefe
Verwandtschaft mit der fast gleichzeitigen des Kolumbus; es ist der
Sieg des Unendlichen als des faustischen Symbols über die stoffliche
Begrenztheit des Gegenwärtigen und Greifbaren. Wann hätte je ein
Grieche an solchen Dingen Geschmack gefunden? Er fragte nach dem Innern
seines Organismus so wenig als nach den Quellen des Nils. Beides hätte
die euklidische Fassung seines Daseins in Frage gestellt. Das Barock
ist demgegenüber +die eigentliche Zeit der großen Entdeckungen+.
Schon das Wort kündigt etwas schroff Unantikes an. Der antike Mensch
hütete sich, von irgend etwas Kosmischem die Decke, die körperliche
Bindung fortzunehmen oder fortzudenken. Aber gerade das ist der
eigentliche Trieb einer faustischen Natur. Beinahe gleichzeitig und
in der Tiefe völlig gleichbedeutend erfolgte die Entdeckung der
neuen Welt, des Blutkreislaufs und des kopernikanischen Weltsystems,
etwas früher die des Schießpulvers, also der Fernwaffe, und des
Buchdrucks, der im Gegensatz zur antiken Rhetorik und der ihr dienenden
Schriftrolle die Verbreitung der Gedanken ins Unendliche sichert.

Lionardo war ganz und gar Entdecker. Darin erschöpft sich seine Natur.
Pinsel, Meißel, Seziermesser, Rechenstift, Zirkel hatten für ihn ein
und dieselbe Bedeutung -- die, welche der Kompaß für Kolumbus hatte.
Wenn Raffael einen in scharfen Umrissen gezeichneten Entwurf farbig
ausführte, so bejahte jeder Pinselstrich die körperliche Erscheinung.
Man betrachte aber Lionardos Rötelskizzen und Hintergründe: hier
entdeckt er mit jedem Zuge atmosphärische Geheimnisse. Er war der
erste, der über Flugversuche angestrengt nachdachte. Fliegen, sich von
der Erde befreien, sich in die Weite des Weltraumes verlieren: das
ist faustisch im höchsten Grade. Das erfüllt selbst unsere Träume.
Hat man nie bemerkt, wie die evangelische Legende in der Malerei des
Abendlandes zu einer wunderbaren Verklärung dieses Motivs wurde? All
diese gemalten Himmelfahrten und Höllenstürze, das Schweben über
den Wolken, die selige Entrücktheit der Engel und Heiligen, die
eindringlich gestaltete Freiheit von aller Erdenschwere sind Sinnbilder
des faustischen Seelenfluges und dem byzantinischen Stil gänzlich
fremd. Dem Griechen, wie die Ikarussage beweist, erscheint dies als der
Gipfel allen Frevels. Der bloße Gedanke daran stellt ihr euklidisches
Weltgefühl in Frage. Ent-decken, die Decke aufheben, das heißt die
Dinge durchschauen, ihre Bedingtheit bemerken, ihre Grenzen auflösen.
Lionardos Malerei löst das Stoffliche auf. Antike Menschen kennen eine
tiefe Furcht vor dem Geheimnis, das unter der sinnlichen Fläche der
Welt schläft. Ihr Fresko +verleugnet+ den Hintergrund, und zwar
mit dem Pathos eines großen Symbols. Renaissancemenschen allerdings
fühlen hier keine Tiefe. Ihre Hintergründe sind bloße Abschlüsse. Aber
den Menschen des Barock erfüllt die unersättliche Leidenschaft für die
Wikingerfahrten der Seele. Er +braucht+ Geheimnisse, um sie zu
überwinden. Er braucht Weiten für die innere Musik seiner Seele. Hier,
im Schaffen Lionardos, reift, was die Gotik geahnt hatte.


15

Die Verwandlung des Freskogemäldes der Renaissance in das Ölbild ist
ein Stück +Seelengeschichte+, die noch niemand beschrieben hat.
Hier hängen alle Einblicke von den zartesten und verborgensten Zügen
ab. Fast in jedem Bilde ringt das Freskenhafte mit der andringenden
neuen Form. Raffaels malerische Entwicklung während seiner Arbeit in
den Stanzen des Vatikan ist fast das einzige übersichtliche Beispiel.
Das florentinische Fresko sucht die Wirklichkeit in einzelnen Dingen
und gibt innerhalb der architektonischen Umrahmung eine Summe von
ihnen. Das Ölbild erkennt mit steigender Sicherheit des Ausdrucks
nur die Ausgedehntheit als Ganzes an und jeden Gegenstand nur als
ihren Repräsentanten. Das faustische Weltgefühl schuf die neue
Technik für sich. Es verwarf den zeichnerischen Stil, wie es die
Koordinatengeometrie aus der Zeit des Oresme verwarf. Es verwandelte
die an Architekturmotive gebundene Linearperspektive in eine rein
atmosphärische Perspektive, die mit unwägbaren Tondifferenzen arbeitet.
Das entspricht der reinen Analysis seit Descartes. Aber die ganze
künstliche Lage der Renaissancekunst, ihr Nichtverstehen der eignen
Tendenz, die Unmöglichkeit, das antigotische Prinzip völlig zu
realisieren, erschwerte und verdunkelte den Übergang. Jeder Künstler
hat ihn auf andre Weise versucht. Der eine malt mit Ölfarben auf die
nasse Wand. Lionardos Abendmahl ist bekanntlich deshalb der Zerstörung
anheimgefallen. Andre malen Tafelbilder, als ob sie Fresken wären. Das
ist der Fall Michelangelos. Kühne Schritte, Ahnungen, Niederlagen,
Verzichte finden sich. Der Kampf zwischen der Hand und der Seele,
zwischen Auge und Werkzeug, der vom Künstler und der von der Zeit
gewollten Form ist immer derselbe -- der zwischen Plastik und Musik.

Hier verstehen wir endlich Lionardos riesenhaft gedachten Entwurf
zur Anbetung der heiligen drei Könige in den Uffizien, das größte
malerische Wagnis der Renaissance. Bis auf Rembrandt ist ähnliches nie
auch nur geahnt worden. Über alles optische Maß hinaus, über alles,
was man damals Zeichnung, Kontur, Komposition, Gruppe nannte, will er
zur Anbetung des ewigen Raumes vordringen, in dem alles Körperliche
schwebt wie die Planeten im kopernikanischen System, wie die Töne
einer Bachschen Orgelfuge in der Dämmerung alter Kathedralen, ein Bild
von einer solchen Dynamik der Ferne, daß es innerhalb der technischen
Möglichkeiten dieser Zeit Torso bleiben mußte.

In der sixtinischen Madonna resümiert Raffael die gesamte Renaissance
durch die kolossale Linie des Umrisses, die den ganzen Gehalt
des Werkes in sich saugt. Es ist die +letzte große Linie+
der abendländischen Kunst. Ihre gewaltige Innerlichkeit, die den
Widerspruch mit der Konvention bis zur äußersten Spannung treibt, macht
Raffael zu dem am wenigsten verstandenen Künstler der Renaissance.
Er kämpfte nicht mit Problemen. Er ahnte sie nicht einmal. Aber er
führte die Kunst bis an deren Schwelle, wo der Entscheidung nicht mehr
ausgewichen werden konnte. Er starb, als er innerhalb ihrer Formenwelt
das letzte vollendet hatte. Der Menge erscheint er flach. Sie wird
niemals empfinden, was in seinen Entwürfen vor sich geht. Aber hat man
wohl die Morgenwölkchen bemerkt, die, sich in Kinderköpfe verwandelnd,
die ragende Gestalt umgeben? Es sind die Scharen der Ungebornen,
welche die Madonna ins Leben zieht. Diese lichten Wolken erscheinen
im gleichen Sinne auch in der mystischen Schlußszene des zweiten
Faust. Gerade das Abweisende, die Unpopularität im höchsten Sinne
schließt hier die innere Überwindung des Renaissancegefühls in sich.
Perugino versteht man beim ersten Blick; bei Raffael glaubt man es nur.
Obwohl zunächst gerade die plastische Linie, das zeichnerische Moment
eine antike Tendenz ankündigt, ist sie doch im Raum verschwebend,
überirdisch, beethovenartig. Raffael ist in diesem Werke verschlossener
als jeder andre, viel mehr selbst als Michelangelo, dessen Intentionen
durch das Fragmentarische seiner Arbeiten deutlich werden. Seine
innersten Geheimnisse scheint kein Zeitgenosse gekannt zu haben. Fra
Bartolommeo hatte die stoffliche Umrißlinie noch ganz in seiner Gewalt;
sie ist ganz Vordergrund, sie redet allein, ihr Sinn erschöpft sich
in der Abgrenzung von Körpern. Bei Raffael schweigt sie, wartet sie,
verhüllt sie sich. Sie steht, bei äußerster Spannung, unmittelbar vor
ihrer Auflösung im Unendlichen, in Raum und Musik.

Lionardo steht jenseits der Grenze. Der Entwurf zur Anbetung der drei
Könige ist schon Musik. Es liegt ein tiefer Sinn in dem Umstande,
daß er hier wie bei seinem Hieronymus bei der braunen Untermalung
stehen blieb, dem „Rembrandtstadium“, dem atmosphärischen Braun des
nächsten Jahrhunderts. Für ihn war in diesem Zustande die äußerste
Vollkommenheit und Deutlichkeit der Intention erreicht. Jeder Schritt
weiter in eine Farbenbehandlung, deren Geist damals noch in den
metaphysischen Bedingungen des Freskostils befangen war, hätte die
Seele des Entwurfs zerstört. Gerade weil er die Symbolik der Ölmalerei
in ihrer ganzen Tiefe vorfühlte, fürchtete er das Freskenhafte der
„Fertigmaler“, das seine Idee verflachen mußte. Die Studien zu dem
Gemälde beweisen, wie sehr ihm die +Radierung+ in der Art
Rembrandts gelegen hätte, eine Kunst aus der Heimat des Kontrapunkts,
die man in Florenz nicht kannte. Erst die Venezianer, außerhalb der
florentinischen Konvention stehend, haben erreicht, was er hier suchte;
eine Farbenwelt, die dem Raume, nicht den Dingen dient.

Aus demselben Grunde hat Lionardo -- nach unendlichen Versuchen --
den Christuskopf des Abendmahls unvollendet gelassen. Auch für ein
Porträt in der großen Auffassung Rembrandts für eine aus bewegten
Pinselstrichen, Lichtern und Tönen aufgebaute Seelengeschichte war
der Mensch dieser Zeit nicht reif. Aber nur Lionardo war groß genug,
um diese Schranke als tragisches Geschick zu erleben. Die andern
hatten nur den Kopf geben wollen, wie ihn die Schule vorschrieb.
Lionardo, der hier zum ersten Male auch die +Hände+ sprechen
ließ, und zwar mit einer physiognomischen Meisterschaft, die später
zuweilen erreicht, aber nie übertroffen worden ist, wollte unendlich
viel mehr. Seine Seele war weit in die Zukunft verloren, aber sein
Menschliches, sein Auge, seine Hand gehorchten dem Geiste seiner Zeit.
Sicherlich war er in einer verhängnisvollen Weise der Freieste von
den drei Großen. Vieles von dem, womit Michelangelos mächtige Natur
vergebens rang, hat ihn gar nicht mehr berührt. Probleme der Chemie,
der geometrischen Analysis, der Physiologie -- Goethes „lebendige
Natur“ war auch die seine -- der Fernwaffentechnik sind ihm vertraut.
Er hat die Maschinentechnik antizipiert. Seine Intuitionen machen ihn
zum Ahnherrn von Leibniz und Goethe; er empfand den Raum wie der erste
und den Organismus wie der zweite. Tiefer als Dürer, kühner als Tizian,
umfassender als irgendein Mensch der Zeit, ist er der fragmentarische
Künstler _par excellence_ geblieben,[89] aber aus einem andern
Grunde als Michelangelo, der verspätete Plastiker, und im Gegensatz zu
Goethe, für den alles schon zurücklag, was dem Schöpfer des Abendmahls
unerreichbar blieb. Michelangelo wollte eine erstorbene Formenwelt noch
einmal zum Leben zwingen, Lionardo fühlte eine neue in der Zukunft,
Goethe ahnte, daß es keine mehr gab. Zwischen ihnen liegen die drei
reifen Jahrhunderte faustischer Kunst.


16

Es ist noch übrig, das Sterben der abendländischen Kunst in seinen
großen Zügen zu verfolgen. Die innerste Notwendigkeit alles
historischen Werdens ist hier am Werke. Wir haben gelernt, Künste als
Urphänomene zu begreifen. Wir suchen nicht mehr nach Ursachen und
Wirkungen im physikalischen Sinne, um ihrer Geschichte Zusammenhang
zu geben. Wir haben den Begriff des Schicksals einer Kunst in sein
Recht eingesetzt. Wir haben endlich Künste als +Organismen+
erkannt, die in dem größeren Organismus einer Kultur ihre bestimmte
Stellung einnehmen, geboren werden, reifen, altern und +für immer+
absterben. Das griechische Fresko, das byzantinische Mosaik, das
gotische Glasgemälde, das perspektivische Ölbild sind nicht Phasen
+einer+ allgemein menschlichen Kunst. Es sind Formideale
einzelner, wohlbegrenzter und voneinander innerlich unabhängiger
Künste, von denen jede ihre eigne Biographie besitzt. Die Gotik war,
wie die Dorik, wie der Stil des Alten Reiches von Memphis, ein Suchen
der jungen Seele nach Formen, um die Welt zu erfassen, an sich zu
ziehen, sich einzuverleiben. Ihre Sprache, zaghaft, voller Schauder
vor dem Unbegriffenen, nach einem noch unbekannten Ziele tastend,
kündigt eine große Entwicklung erst an. Hier finden wir die Fehlgriffe,
die Ratlosigkeit, das Irren aller Jugend. Mit dem Abschluß der
Renaissanceepisode -- der letzten Verirrung -- ist die abendländische
Seele zum reifen Bewußtsein ihrer Kräfte und Möglichkeiten gelangt.
Sie hat ihre Künste +gewählt+. Eine Spätzeit, das Barock wie
die Ionik, weiß, was die Formensprache der Kunst zu bedeuten hat.
Sie war bis dahin eine philosophische Religion, jetzt wird sie eine
religiöse Philosophie. Die gewordne Außenwelt, oder was dasselbe ist,
die Wirklichkeit, die erlebte Natur, und zwar die von jeder einzelnen
Seele, der faustischen, apollinischen, magischen für sich erlebte,
geschaffene, zu ihrem Abbilde gestaltete Natur wird in den Mikrokosmos
eines Kunstwerkes zusammengezogen, auf ein Symbol räumlich-sinnlicher
Art, eine Formel der innern Existenz gebracht. Es erscheint auf der
Höhe einer jeden Kultur das Phänomen einer prachtvollen +Gruppe
großer Künste+, wohlgeordnet und durch das zugrunde liegende
Ursymbol zu einer Einheit verknüpft.

Wenn man die „bildenden“ Künste, zu denen auch die Musik gehört,
überhaupt gruppieren will, so findet sich ein natürlicher Unterschied,
je nachdem man das Tiefenerlebnis durch +unmittelbare+ Behandlung
des Ausgedehnten wiedergibt oder indem man auf einer Fläche den
+Eindruck+ des Ausgedehnten erweckt. Das letztere ist „Malerei“. Die
unmittelbare Nachahmung könnte sich auf den reinen, unendlichen Raum
beziehen -- das war der polyphonen Instrumentalmusik möglich, oder
auf das Ideal des einzelnen stofflichen Körpers -- das geschah durch
eine Skulptur, die ihr Werk allseitig frei und durchgebildet auf den
Boden stellte. Dem entsprechen nun aber sehr verschiedene Arten von
Malerei, vielmehr von Künsten, die außer dem Namen nichts gemein haben.
Zur Kunst des Raumes gehört eine Behandlung der Fläche, welche den
Eindruck reiner Tiefe wachruft und das selbständige Dasein der Körper
zuletzt +verneint+. Das erste geschieht durch die +Perspektive+, das
zweite heißt +Impressionismus+. Andererseits gehört zur Rundplastik
eine Malerei, die +nur+ Körper kennt, das heißt, die nur +Konturen+
gibt und den Hintergrund verleugnet. Das hier wirksame +Prinzip+ der
Auswahl entscheidet mit der Notwendigkeit eines +Schicksals+ über das
Dasein, den Rang und das Ende einzelner Künste innerhalb einer Kultur.
So entsteht, und ich setze dies der heute gültigen Anschauung über die
Struktur der Kunstgeschichte entgegen, die +historische Gruppe+ von
Künsten.

Die +apollinische Gruppe+, zu der die Vasenmalerei, das Fresko, das
Relief, die Architektur der Säulenordnungen, das attische Drama,
der Tanz gehören, hat die Skulptur der nackten Statue zur Mitte.
Die +faustische+ Gruppe bildet sich um das Ideal reiner räumlicher
Unendlichkeit. Ihren Mittelpunkt bildet die kontrapunktische Musik.
Von ihr aus spinnen sich feine Fäden in alle geistigen Formenwelten
hinüber und verweben die infinitesimale Mathematik, die dynamische
Physik, den Katholizismus des Jesuitenordens und den Protestantismus
der Aufklärung, die moderne Maschinentechnik, das Kreditsystem und die
dynastisch-soziale Staatsorganisation zu einer ungeheuren Totalität
seelischen Ausdrucks. Mit dem innern Rhythmus der Dome beginnend,
mit Wagners Tristan und Parsival endend, erreicht die künstlerische
Bewältigung des unendlichen Raums ihre vollkommene Ausbildung um
1550. Die Plastik erlischt mit Michelangelo, gerade damals, als die
Planimetrie, die bis dahin die Mathematik beherrscht hatte, ihr
unwesentlichster Teil wird. Mit der Musik fugierten Stils, die eben
jetzt durch Orlando Lasso ein Kunstmittel von ungeheuren Möglichkeiten
geworden war, beginnt ihre Schwester, die Infinitesimalrechnung
hervorzutreten.

Ölmalerei und Instrumentalmusik, die Künste des Raumes, treten ihre
Herrschaft an. In der Antike waren es +folglich+ die Künste
des stofflich-euklidischen Prinzips, das streng flächenhafte Fresko
und die freistehende Statue, die gleichzeitig -- um 600 -- in den
Vordergrund treten. Damit ist die faustische und die apollinische
Gruppe reifer Künste -- der auch zwei mächtige, in Shakespeare und
Äschylus gipfelnde tragische Künste angehören -- im Umriß bestimmt. Und
zwar sind es die beiden Arten von Malerei, die, in ihrer Formensprache
gemäßigter, zugänglicher, zuerst heranreifen. Dem Ölgemälde gehört
die Zeit von 1550-1650 ebenso unbestritten wie das 6. Jahrhundert
der Tonmalerei. Die Symbolik von Raum und Körper, ausgedrückt durch
das Kunstmittel der +Perspektive+ und der +Proportion+,
erscheint in der mittelbaren Sprache des Gemäldes nur angedeutet.
Diese Künste, welche Raum oder Körper, also Möglichkeiten des
Ausgedehnten, in der Bildfläche nur vorzutäuschen vermögen, konnten
das antike und abendländische Ideal wohl bezeichnen und heraufrufen,
aber nicht vollenden. Auf dem Wege des großen Stils erscheinen sie als
Vorstufen der letzten Höhe. Je mehr die Kulturen sich ihrer Vollendung
näherten, desto entschiedener wurde der Drang nach einer Kunst von
unerbittlicher Klarheit der Symbolik. Die Malerei genügte nicht mehr.
Die Gruppe der Künste wurde weiterhin vereinfacht. Um 1670, gerade
damals als Newton und Leibniz die Differentialrechnung entdeckten,
war die Ölmalerei an der Grenze ihrer Möglichkeiten angelangt. Die
letzten großen Meister starben, Velasquez 1660, Poussin 1665, Hals
1666, Rembrandt 1669, Vermeer 1675, Ruysdael und Lorrain 1682. Man
braucht nur die wenigen Nachfolger von Bedeutung, Watteau, Hogarth,
Tiepolo zu nennen, um den Abstieg, um das Ende einer Kunst fühlen zu
lassen. Eben jetzt, um 1650, hatte sich nun die Instrumentalmusik
in den großen Formen der Suite, des Concerto grosso und der Sonate
für Soloinstrumente von dem Rest des Körperlichen im Klange der
menschlichen Stimme befreit. Auch Heinrich Schütz (1672) und Carissimi
(1674), die letzten Meister der Vokalmusik, starben damals. 1685 werden
Bach und Händel geboren und mit ihnen wachsen Stamitz, Kuhnau, Corelli,
Tartini, die beiden Scarlatti heran. Von nun an ist die Musik, und zwar
die rein instrumentale, nicht die vokale, +die+ faustische Kunst.
Die entsprechende Krisis findet sich um 470 in der Antike, wo der
letzte der großen Freskomaler, Polygnot, seinem Schüler Polyklet und
damit der Statuenplastik endgültig den Vorrang abtritt.

Mit dieser Musik und dieser Plastik ist das Ziel erreicht. Eine
reine Symbolik von mathematischer Strenge ist möglich geworden: das
bedeutet der Kanon, jene Schrift Polyklets über die Proportionen des
menschlichen Körpers, und als Gegenstück der kontrapunktische Kanon
seines „Zeitgenossen“ Bach. Diese Künste leisten das Äußerste und
Letzte an Deutlichkeit und Intensität der reinen Form. Man vergleiche
doch den Tonkörper der faustischen Instrumentalmusik und in ihm wieder
den Streichkörper und bei Bach auch noch den als Einheit wirkenden
Körper der Blasinstrumente mit dem Körper attischer Statuen; man
vergleiche, was Haydn und was Praxiteles eine +Figur+ nannten,
nämlich die eines Themas oder die eines Athleten, eine Bezeichnung,
welche der Mathematik entnommen ist und verrät, daß dieses jetzt
endlich erreichte Ziel das einer Vereinigung künstlerischen und
mathematischen Geistes ist, denn zugleich mit Musik und Plastik
haben die Analysis des Unendlichen und die euklidische Geometrie
ihre Aufgabe, ihr spezifisches Zahlenproblem mit voller Deutlichkeit
begriffen. Ihre größten Meister leben gleichzeitig mit denen jener
durch und durch mathematischen Künste. Man erinnert sich, wie an einer
frühern Stelle die Mathematik eine Kunst und der große Mathematiker ein
Künstler und Visionär genannt worden war. Hier liegt die Erklärung.
Die Mathematik des Schönen und die Schönheit des Mathematischen sind
nicht mehr zu trennen. Der unendliche Raum der Töne und der reine
Körper von Marmor oder Bronze sind eine unmittelbare Interpretation
des Ausgedehnten und Gewordnen. Sie gehören zu der Zahl als Beziehung
und der Zahl als Maß. Im Fresko wie im Ölbilde wird man, in den
Gesetzen von Proportion und Perspektive, nur +Andeutungen+ von
Mathematischem finden. Diese beiden letzten und strengsten Künste
+sind+ Mathematik. Der Kontrapunkt wie der Statuenkanon sind
absolute Zahlenwelten. Hier herrschen Gesetze und Formeln. Auf diesem
Gipfel erscheint die faustische wie die apollinische Kunst vollkommen.

Mit dem Ende der Fresko- und Ölmalerei als herrschenden Künsten beginnt
die dichte Reihe der großen Meister der Plastik und Musik. Auf Polyklet
folgen Phidias, Skopas, Praxiteles, Lysippos, auf Bach und Händel
Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven. Jetzt erscheint die Menge wunderbarer,
heute längst verschollener Instrumente, eine ganze Zauberwelt
abendländischen Entdecker- und Erfindergeistes, um immer neue Klänge
und Tonfarben für den Dienst und die Steigerung des Ausdrucks
heranzuziehen. Jetzt die Fülle großer, feierlicher, zierlicher,
leichter, spöttischer, lachender, schluchzender Formen von strengstem
Bau, auf die sich heute niemand mehr versteht; es gab damals, vor allem
im Deutschland des 18. Jahrhunderts, eine wirkliche +Kultur der
Musik+, die das ganze Leben durchdrang und erfüllte, deren Typus
Hoffmanns Kapellmeister Kreisler wurde -- der ebenbürtig neben Goethes
Faust, dem deutschen Denker, als die tiefste poetische Konzeption des
deutschen Musikers steht -- und von der uns kaum die Erinnerung mehr
geblieben ist.

Endlich, gegen 1800, stirbt auch die Architektur. Sie löst sich, sie
ertrinkt in der Musik des Rokoko. Alles, was man an dieser letzten
wundervollen, fragilen Blüte der abendländischen Baukunst getadelt
hat -- weil man ihre Entstehung aus dem Geiste des Kontrapunktes
nicht verstand --, das Maßlose, Formlose, Verschwebende, Wogende,
Funkelnde, die Zerstörung der Fläche und Gliederung für das Auge --
alles das ist ja nur der Sieg der Töne und Melodien über Linien und
Körper, der Triumph des reinen Raumes über den Stoff, des absoluten
Werdens über das Gewordne. Es sind nicht mehr Baukörper, diese Abteien,
Schlösser, Kirchen mit ihren geschwungenen Fassaden, Portalen, Höfen
mit Muschelinkrustation, mächtigen Treppenhäusern, Galerien, Sälen,
Kabinetten, sondern steingewordne Sonaten, Menuette, Madrigale,
Präludien; Kammermusik in Stuck, Marmor, Elfenbein und edlen Hölzern,
Kantilenen von Voluten und Kartuschen, Kadenzen von Freitreppen und
Firsten. Der Dresdner Zwinger ist das vollkommenste Stück Musik in der
gesamten Weltarchitektur, ein allegro fugitivo für kleines Orchester.

Deutschland hat die großen Musiker und +also auch+ die großen
Baumeister -- Pöppelmann, Schlüter, Bähr, Neumann, Fischer von Erlach,
Dinzenhofer -- dieses Jahrhunderts hervorgebracht. In der Ölmalerei
spielt es keine, in der Instrumentalmusik die entscheidende Rolle.


17

Ein Wort, das erst zur Zeit Manets in Aufnahme kam -- zuerst ein
Spottname wie Barock und Rokoko --, faßt die Eigenart des faustischen
Kunstvortrags, wie er sich aus den Voraussetzungen der Ölmalerei
allmählich entwickelt hat, sehr glücklich zusammen. Man spricht vom
Impressionismus, ohne Umfang und tieferen Sinn des Begriffes, wie er
hätte gefaßt werden sollen, zu ahnen. Man leitete ihn aus der letzten
Nachblüte einer Kunst ab, die ganz und gar zu ihm gehört. Was ist
Impressionismus? „Eindruckskunst?“ Etwas rein Abendländisches ohne
Zweifel, etwas, das mit der Idee des Barock, selbst schon der der
gotischen Architektur verwandt und den Absichten der Renaissance
entgegengesetzt ist. Ist es nicht die geistige Kraft, den reinen
unendlichen Raum als die unbedingte Wirklichkeit und alle sinnlichen
Gebilde in ihm als sekundär und bedingt zu empfinden, und zwar mit
innerster Notwendigkeit? Eine geistige Kraft, die in künstlerischen
Schöpfungen hervortreten kann, die aber tausend andre Möglichkeiten
kennt, um sich zu offenbaren? „Der Raum ist die apriorische Form
der Anschauung“, die Formel Kants -- ist das nicht ein Programm
dieser Bewegung, die mit Lionardo anhebt? Der Impressionismus ist
die Umkehrung des euklidischen Weltgefühls. Er sucht sich von der
Sprache des Plastischen soweit als möglich zu entfernen und der
des Musikalischen zu nähern. Man läßt die belichteten, das Licht
zurückstrahlenden Dinge nicht auf sich wirken, weil sie da sind,
sondern als ob sie „an sich“ nicht da wären. Man empfängt und gibt
den +Eindruck+ von Gegenständen, die man innerlich als bloße
Funktion einer optisch nicht mehr erreichbaren Ausgedehntheit wertet.
Man durchdringt die Körper mit dem innern Auge, man löst den Zauber
ihrer stofflichen Grenzen, man opfert sie der Majestät des Raumes.
Und man fühlt mit und unter diesem irrealen Eindruck eine unendliche
+Bewegtheit+ des sinnlichen Elementes, die zu der statuenhaften
ἀταραξία des Fresko den stärksten Gegensatz bildet. Deshalb gibt es
keinen hellenischen Impressionismus. Deshalb ist die antike Skulptur
die Kunst, welche ihn _a limine_ ausschließt.

Der Impressionismus ist der umfassende Ausdruck eines Weltgefühls und
es versteht sich, daß er die gesamte Physiognomik unsrer späten Kultur
durchdringt. Es gibt eine impressionistische, die optischen Grenzen
mit Absicht und Nachdruck überschreitende Mathematik. Wir kennen
sie. Es ist die Analysis seit Newton und Leibniz. Zu ihr gehören die
visionären Gebilde der Zahlkörper, Mengen, Transformationsgruppen,
mehrdimensionalen Geometrien. Ihr liegt das Prinzip der funktionalen
Zahl mit ihrer unfixierbaren Bewegtheit zugrunde. Es gibt eine
impressionistische Physik -- wir werden sie noch kennen lernen --, die
an Stelle von Körpern Systeme von Massenpunkten „sieht“, Einheiten,
die lediglich als das konstante Verhältnis variabler Wirksamkeiten
erscheinen, mit Grenzflächen, die als wohlgeordnete Mengen von
Zahlenmannigfaltigkeiten bestimmter Art definiert werden. Es gibt eine
impressionistische Ethik, Tragik, Logik.

Malerisch genommen handelt es sich um die Kunst, mit drei Strichen und
Flecken ein Bild, einen Mikrokosmos für das Auge eines faustischen
Menschen zu schaffen, das heißt die Wirklichkeit des Weltraumes durch
die flüchtigste, körperloseste Andeutung von etwas Sichtbarem, das
ihn gleichsam in die Sphäre der Erscheinung bannt, zu imaginieren.
Es ist eine nie wieder gewagte Kunst der Bewegung des Unbeweglichen.
Von Tizian bis hinab auf Corot und Menzel zittert und fließt die
duftige Materie unter der geheimen Wirkung des Pinselstriches und der
gebrochenen Farben. Das hatte schon der Fassadenstil Michelangelos
und Vignolas gewollt. Deshalb war seitdem eine Kunst nach der andern
erloschen, weil sie +vor+ diesem letzten Ziel die Grenze ihrer
Möglichkeiten erreicht hatte. Der Impressionismus ist die Methode
subtiler künstlerischer +Entdeckungen+. Er wiederholt die Taten
des Kolumbus und Kopernikus. Es gibt keine zweite Formensprache, in
der jeder Fleck und Strich so überraschende Reize aufzudecken, der
Einbildungskraft so ganz neue Elemente von raumschaffender Energie
zuzuführen vermag. Das Fresko bejaht die Sinnenwirkung als schlechthin
gegeben. Die neue Technik ist skeptisch; sie seziert die Empfindung bis
zu ihrer Auflösung, wie es die Physik derselben Zeit tat. Man verfolge
das Schicksal der menschlichen Einzelgestalt in dieser Malerei. Zuerst
jede streng für sich, klar begrenzt, mit allen Kenntnissen der Anatomie
gezeichnet, gemeißelt, durchgearbeitet, klare, wohl abgewogene Gruppen,
die sich scharf von einem Hintergrunde abheben -- bei Raffael. Dann
bei Lionardo die Entdeckung der Übergänge von Licht und Dunkel, weiche
Ränder, mit der Tiefe verschwimmende Umrisse, Gruppen und Massen von
Licht und Schatten, aus denen sich einzelne Gestalten nicht mehr lösen
lassen. Die Linearperspektive wird zur Kunst der Atmosphäre -- dem
eigentlichen Thema des Bildes. Die verharrende Linie hatte Körper
begrenzt, das atmosphärische Licht mit seinen Ungewissen Tönungen
begrenzt den Raum. Endlich, bei Rembrandt, verfließen die Gestalten zu
bloßen farbigen Eindrücken; sie verlieren das spezifisch Menschliche;
sie wirken als Strich und Farbenfleck bei ihm wie bei Lorrain und
Vermeer; es ist das Schicksal des einzelnen Tones in der Musik von
Palestrina bis Wagner. In einem Minimum von Substanz -- von Farbe
oder Ton -- ein Maximum von physiognomischer Bedeutung zu bannen,
mit einem Hauch den prägnanten Eindruck eines ganz bestimmten, nie
wiederkehrenden Welterlebnisses zu geben, ist die Fähigkeit, welche
man jetzt malerisch nennt. Man kann demnach den Impressionismus als
Porträtkunst im umfassendsten Sinne betrachten. Wie ein Selbstbildnis
Rembrandts nicht die anatomische Wirklichkeit des Kopfes, sondern das
+zweite Gesicht+ in ihr anerkennt, wie es nicht das Auge, sondern
den Blick, nicht die Stirn, sondern das Erlebnis, nicht die Lippen,
sondern die Sinnlichkeit durch das Ornament der Pinselstriche bannt,
so zeigt das impressionistische Gemälde überhaupt nicht die Natur
des Vordergrundes, sondern auch da ein zweites Antlitz, die Seele
der Landschaft. Mag es sich um die katholisch-heroische Landschaft
Lorrains, den _paysage intime_ Corots, um das Meer, die Flußränder
und Dörfer Cuyps und Van Goyens handeln, es entsteht immer ein Porträt
im physiognomischen Sinne, etwas Einmaliges, Unvorhergesehenes und zum
ersten und letzten Male ans Licht Gezogenes. Gerade die Vorliebe für
die Landschaft -- die physiognomische, die Charakterlandschaft --,
für das Motiv also, das im Freskostil gar nicht denkbar ist und der
Antike vollkommen unzugänglich blieb, erweitert die Porträtkunst vom
unmittelbar Menschlichen zum mittelbaren, zur Darstellung der Welt als
eines Teils des Ich, der Welt, in der der Künstler sich gibt und der
Betrachter sich wiederfindet. Denn in diesen Weiten der sich in die
Ferne dehnenden Natur spiegelt sich die Seele, das Schicksal. Es gibt
in dieser Kunst tragische, dämonische, lachende, klagende Landschaften,
etwas, wovon der Mensch andrer Kulturen keine Vorstellung und wofür
er kein Organ hat. Aus dieser Gesinnung ist der +Park+ der
Barockzeit, als Spiegel großen Menschentums, entstanden.

Aber es gibt eine Kultur, weit entfernt von der faustischen, die auch
eine impressionistische Kunst besaß, die chinesische. +Wir+ wissen
wenig von ihr; wir wissen nicht einmal, wo ihre zeitlichen Grenzen im
Geschichtsbilde liegen. Sicher ist, daß Konfuzius lange nach ihrer
Vollendung lebte und bereits das zivilisierte Stadium repräsentiert.
Aber nach allem, was hier bisher vom Sinn der Kulturen festgestellt
wurde, erscheint das Eine klar: wenn überhaupt eine andre Kultur
und ihre Kunst zu einem so verwandten Symbol gelangte, mußte ihre
Seele in +jedem+ Betracht der unseren ähnlich sein. Gewiß, von
Identität ist nirgends die Rede; die unendlich feinen und bedeutsamen
Differenzen beider Seelen aufzufinden müßte eine der reizvollsten
Aufgaben einer künftigen Psychologie sein. Das Tiefenerlebnis, der
Sinn der Zukunft, des Horizontes, des Raumes, des Todes ist hier
und dort nicht derselbe. Das Ursymbol der chinesischen Seele, ihr
Weltgefühl ist trotz aller Nähe +nicht+ das faustische und deshalb
vielleicht gerade für uns schwer bestimmbar. Die alte ostasiatische
Malerei sucht nicht die flüchtigen Wunder, die _petits faits_
der Atmosphäre, nicht das +Einmalige eines Raumerlebnisses+ auf.
Sie wendet sich vom Wirklichen ab und dem wachen Traume zu. Ihre
Meisterschaft liegt im Hinzaubern von Dingen, die +Erinnerungen+
wecken, +ohne zu sein, was sie scheinen+. Ohne Zweifel ist
diese tiefe Form historischer Transzendenz nicht die Watteaus oder
Haydns. Das zarte chinesische Gefühl für Zeit, Leben, Schicksal,
Vergangenheit ist uns sehr fremd. Aber trotzdem, welche Leidenschaft
der Seele zum Grenzenlosen und Ewigen! Wie nahe rücken sich beide Arten
des Menschentums, sobald man sie mit der antiken vergleicht! Eine
Landschaft über das Thema „Abendglocken eines fernen Tempels“, wo der
+Klang+ und die Welt ferner Erinnerungen, die er im Innern weckt,
in wenige Striche und Farbflecke gebannt erscheinen -- ist das nicht
trotzdem im Geiste Mozarts? Wir wundern uns nicht, daß diese Kultur
den abendländischen Hang zur Astronomie und Geschichtsforschung, zur
Sorge und Selbstbetrachtung besaß. Beide Kulturen erfanden, jede für
sich, das Pulver, den Buchdruck, den Holzschnitt, den Kompaß, das
Porzellan. Beide waren im Besitz einer hochentwickelten Gartenkunst
und Musik. Beiden fehlte deshalb -- in dem hier vorausgesetzten
strengen Sinne -- eine Plastik, während das Porträt (die altchinesische
Porträtkunst war eine Leistung allerhöchsten Ranges) und die damit
innerlich verwandte Charakterlandschaft die Malerei beherrschen. So
ist die Wahlverwandtschaft zu erklären, die das 18. Jahrhundert zu
China, das 19. zu Japan zog. Wir kannten damals alle fremden Kulturen,
die indische, ägyptische, arabische; sie lagen uns alle näher; aber
nur von dieser übernahmen wir, über den halben Erdball hinweg, nicht
etwa einzelne Motive und Ideen, sondern den +Gehalt+ ihrer
künstlerischen Formensprache. Das unterscheidet das Verhältnis des
Rokoko zur chinesischen Kunst sehr wesentlich von dem der Renaissance
zur griechisch-römischen. Die Resorption ägyptischer Details um 1800
durch den Empirestil war eine flache Spielerei; die Übernahme der
japanischen Malerei um 1860 ist eine Metamorphose, die Tiefe besitzt.


18

Ich sagte, daß die Ölmalerei am Ende des 17. Jahrhunderts, wo
alle großen Meister kurz nacheinander starben, erlosch. Aber der
Impressionismus im engern Sinne ist ja eine Schöpfung des 19.
Jahrhunderts? Die Malerei hat also 200 Jahre länger geblüht oder
dauert heute noch fort? Man täusche sich nicht. Zwischen Rembrandt
und Delacroix oder Constable liegt eine tote Strecke und was bei
dem letzten beginnt, ist trotz aller Zusammenhänge in Hinsicht auf
Technik und Vortrag sehr verschieden von dem, was mit dem ersten
endete. Hier, wo von einer lebendigen Kunst von größter Symbolik die
Rede ist, zählen die rein dekorativen Künstler des 18. Jahrhunderts
nicht mit. Watteau möchte man in allem, wo er tief ist, der Musik
seiner Zeit zurechnen. Täuschen wir uns auch nicht über den Charakter
der neuen malerischen Episode, die jenseits von 1800, der Grenze
von Kultur und Zivilisation, noch einmal vorübergehend die Illusion
einer großen Kultur der Malerei erwecken konnte. Sie selbst hat ihr
eigentliches Thema als Pleinairismus bezeichnet und damit den Sinn
ihrer flüchtigen Erscheinung deutlich genug enthüllt. +Freilicht+
-- das ist die bewußte, intellektuelle und brutale Abwendung von dem,
was man plötzlich „die braune Sauce“ nannte und was, wie wir sahen, in
den Bildern der großen Meister das eigentlich metaphysische Fluidum
war. Auf ihm baute sich die Malkultur der Schulen, vor allem der
niederländischen auf, die im Rokoko rettungslos dahinschwand. Dies
Braun, das Symbol räumlicher Unendlichkeit, das für den faustischen
Menschen aus dem Gemälde ein seelenhaftes Etwas schuf, empfand man
plötzlich als Unnatur. Was war geschehen? Beweist das Faktum nicht,
daß eben die +Seele+ sich fortgestohlen hatte, für welche diese
verklärte Farbe etwas Religiöses, ein Zeichen der Sehnsucht, der
ganze Sinn einer lebendigen Natur gewesen war? Der Materialismus der
westeuropäischen Weltstädte blies in die Asche und rief diese seltsame
und kurze Nachblüte von zwei Malergenerationen hervor -- denn mit
der Generation Manets war alles schon wieder zu Ende. Ich hatte das
erhabene Grün Grünewalds, Lorrains, Giorgiones als die katholische
Farbe des Raumes bezeichnet und das transzendente Braun Rembrandts
als die Farbe des protestantischen Weltgefühls. Das Freilicht, das
jetzt eine neue Farbenskala entfaltet, bezeichnet demgegenüber den
Atheismus.[90] Der Impressionismus ist aus den Sphären Beethovenscher
Musik und Kantischer Sternenräume auf die Erdoberfläche zurückgekehrt.
Dieser Raum ist ein intellektuelles, kein seelisches Faktum; er ist
erkannt, errechnet, nicht erlebt; es ist das mechanische Objekt
der Physik und nicht die gefühlte Welt der pastoralen Musik, was
Courbet und Manet in ihre Landschaften bringen. Was Rousseau mit
tragisch treffendem Ausdruck als Rückkehr zur Natur prophezeit hatte,
vollzieht sich in dieser sterbenden Kunst. So kehrt ein Greis von
Tag zu Tag „zur Natur zurück“. Der neue Künstler ist Arbeiter, nicht
Schöpfer. Man stellt ungebrochene Spektralfarben nebeneinander. Die
feine Handschrift, der Tanz des Pinselstriches macht mechanischen
Gewohnheiten Platz: Punkte, Quadrate, breite anorganische Massen
werden aufgetragen, vermengt, verbreitet. Neben dem breiten, flachen
Pinsel erscheint der Spachtel als Werkzeug. Der Ölgrund der Leinwand
wird in die Wirkung einbezogen und bleibt stellenweise frei. Eine
gefährliche Kunst, peinlich, kalt, krank, für überfeinerte Nerven,
aber wissenschaftlich bis zum äußersten, energisch in allem, was die
Bewältigung technischer Widerstände angeht, programmatisch zugespitzt;
es ist das Satyrspiel zur großen Ölmalerei von Lionardo bis Rembrandt.
Sie konnte nur in dem Paris Baudelaires zu Hause sein. Corots silberne
Landschaften in ihren grüngrauen und braunen Tönen träumten noch von
dem +Seelischen+ der alten Meister. Courbet und Manet eroberten
den kahlen physikalischen Raum, den Raum als „Tatsache“. Der versonnene
Entdecker Lionardo macht dem malenden Experimentator Platz. Corot,
das ewige Kind, Franzose, nicht Pariser, fand seine Landschaften
überall. Er hat noch einmal, im romantischen Sinne, etwas von der
kontrapunktischen Kunst altholländischer Gemälde verwirklicht, so wie
Novalis in seinen Marienliedern noch einmal das altprotestantische
Kirchenlied erweckte. Aber Th. Rousseau, Courbet, Manet, Cézanne
porträtieren ein und dieselbe Landschaft immer wieder, peinlich,
mühsam, arm an Seele, den Wald von Fontainebleau oder die Seineufer
bei Argenteuil oder jenes merkwürdige Tal bei Arles. Rembrandts
mächtige Landschaften liegen durchaus im Weltraume, die Manets in
der Nähe einer Bahnstation. Die Freilichtmaler, echte Großstädter,
nahmen von den kühlsten Spaniern und Holländern, Velasquez, Goya,
Hobbema und Franz Hals, die Musik des Raumes, um sie -- mit Hilfe der
englischen Landschafter und später der Japaner, intellektueller und
hochzivilisierter Köpfe, -- ins Empirische und Naturwissenschaftliche
zu übersetzen. Das ist eine planmäßige Synthese, die sich vollkommen
auf der Ebene der elementaren Form hält und die innere Gestalt, die
Form der Seele aus dem Spiele läßt. Constable hat auf die Schule von
Barbizon ebenso gewirkt wie Locke auf Voltaire. Um jenes Wort Goethes
noch einmal zu gebrauchen: Rembrandt schaute, Manet sah die Natur an.
Es ist der Unterschied von Naturerlebnis und Naturwissenschaft, von
Herz und Kopf, von Glauben und Wissen.

Anders in Deutschland. In Frankreich war eine große Malerei
abzuschließen, hier war sie nachzuholen. Denn der malerische Stil um
1860 setzt, als Schlußakt, alle Glieder der Entwicklung voraus; sie
liegen dem Technischen zugrunde und wo auch eine Schule diesen neuen
Stil, den der großstädtischen Zivilisation, pflegen will, bedarf sie
einer geschlossenen inneren Tradition. Hierin beruht die Schwäche
und Stärke der letzten deutschen Malerei. Die Franzosen besaßen eine
eigne Überlieferung vom frühen Barock bis auf Chardin und Corot
herab. Zwischen Lorrain und Corot, Rubens und Delacroix besteht
ein lebendiger Zusammenhang. Aber alle großen Deutschen waren, als
Künstler, Musiker geworden. Wenn die deutschen Maler jetzt nach Paris
gingen, so taten sie dasselbe wie alle Komponisten andrer Länder,
wenn sie Bach, Haydn, Mozart und Beethoven studierten. Sie nahmen
von außen, was ihnen an innerer Tradition fehlte. Aber indem sie,
wie Manet und die Maler seines Kreises, auch die alten Meister von
1670 studierten und kopierten, empfingen sie ganz neue, ganz andre
Wirkungen, während die Franzosen nur Erinnerungen an etwas fühlten,
das längst in ihre Kunst eingegangen war. Und so ist die deutsche
bildende Kunst außerhalb der Musik -- seit 1800 -- eine verspätete
Erscheinung, hastig, ängstlich, verworren, um Mittel und Ziel verlegen.
Es war keine Zeit zu verlieren. Was die deutsche Musik und die
französische Malerei in Jahrhunderten geworden waren, sollte durch
eine oder zwei Malergenerationen eingeholt werden. Die erlöschende
Kunst drängte nach der letzten, weltstädtischen Fassung, die ein
traumhaftes Durchfliegen der ganzen Vergangenheit notwendig machte. So
erscheinen hier wunderlich faustische Naturen, wie Marées und Böcklin,
von einer Ungewißheit in allem Formalen, die in unsrer Musik mit ihrer
sicheren Tradition -- man denke an Bruckner -- ganz unmöglich war.
Die programmatisch klare und innerlich um so ärmere Kunst der großen
französischen Impressionisten -- Manet, Monet, Degas, Pissarro, Renoir
-- kennt diese Tragik ebensowenig. Das gleiche gilt von der deutschen
Literatur, die zur Goethezeit in jedem großen Werk etwas begründen
wollte +und+ etwas abschließen mußte. Wie die Maler nach Paris
gingen, so die Dichter nach dem London der elisabethanischen Zeit. Wie
Kleist Shakespeare und Stendhal +zugleich+ in sich fühlte und
mit verzweifeltem Bemühen, in ewigem Ungenügen ändernd und zerstörend
zweihundert Jahre psychologischer Kunst zur Einheit schmieden wollte,
wie Hebbel die Problematik von Hamlet bis Rosmersholm in +einen+
dramatischen Typus preßte, so haben Menzel, Leibl, Marées die alten und
neuen Vorbilder: Rembrandt, Lorrain, van Goyen, Watteau, Delacroix,
Courbet und Manet in eine einzige Form zu drängen versucht. Während
die kleinen frühen Interieurs von Menzel die besten Tatsachen des
Manetkreises vorwegnehmen und Leibl manches ausführt, woran Courbet
scheiterte, ist andrerseits in ihren Bildern das metaphysische Braun
und Grün der alten Meister noch der volle Ausdruck eines inneren
Erlebnisses. Menzel hat +wirklich+ ein Stück preußisches Rokoko,
Marées etwas von Rubens, Leibl in seinem Bild der Frau Gedon etwas von
Rembrandts Porträtkunst nacherlebt und wiedergeweckt. Das Atelierbraun
des 17. Jahrhunderts hatte eine Kunst von höchstem faustischem
Gehalt zur Seite gehabt, die Radierung. Rembrandt ist in beidem der
erste Meister aller Zeiten gewesen. Auch die Radierung hat etwas
Protestantisches und sie liegt den südlicheren, katholischen Malern der
grünblauen Atmosphäre und der Gobelins nicht. Leibl war, wie der letzte
Braunmaler, so auch der letzte große Radierer, dessen Blätter von jener
rembrandthaften Unendlichkeit sind, die den Betrachter immer wieder
neue Geheimnisse entdecken läßt. Marées endlich besaß die mächtige
Intuition des großen Barockstils, die Guéricault und Daumier noch eben
in eine geschlossene Form bannen konnten, die sich aber in seinem
Falle, eben +ohne+ die Stärke der westlichen Tradition, nicht in
die Welt der malerischen Erscheinung zwingen ließ.


19

Im Tristan stirbt die letzte der faustischen Künste. Dies Werk ist der
riesenhafte Schlußstein der abendländischen Musik. Die Malerei hat es
nicht zu einem so mächtigen Finale gebracht. Manet und Leibl, in deren
Freiheitsstudien die Ölmalerei alten Stils noch einmal wie aus dem
Grabe hervorkommt, wirken klein dagegen.

Die apollinische Kunst ging mit der pergamenischen Plastik zu
Ende. +Pergamon ist das Seitenstück von Bayreuth.+ In der
Illusionsmalerei der asiatischen und sikyonischen Schule erscheint
daneben ebenfalls eine malerische Episode, die der von Barbizon und
dem Kreise Manets durchaus entspricht. Die strenge Vierfarbentechnik
Polygnots mit ihrer Vermeidung von Licht und Schatten wurde damals
aus demselben metaphysischen Grunde aufgelöst wie jetzt das Braun der
niederländischen Malerei. Es gibt von Eupompos Aussprüche, die auch
in Paris möglich gewesen wären. Dieselben Skandale, welche das 19.
Jahrhundert im Leben Manets, Cézannes und manches andern verzeichnet,
wurden auch von diesen revolutionären Malern in Athen erregt. Plato hat
sie streng getadelt.

Die pergamenische Kunst entspricht der Musik von Berlioz, Liszt und
Wagner. Der berühmte Altar von Pergamon selbst ist ein späteres und
vielleicht nicht das bedeutendste Werk der Gattung. Man muß (etwa
330-220) eine lange, verschollene Entwicklung voraussetzen. Aber alles,
was Nietzsche gegen Wagner und Bayreuth, den Ring und den Parsifal
vorbrachte, läßt sich, unter Gebrauch ganz derselben Ausdrücke wie
Decadence und Schauspielerei, auf diese Plastik anwenden, von der
uns im Gigantenfries des großen Altars -- auch einem „Ring“ -- ein
Meisterwerk erhalten ist. Dieselbe Theatralik, dieselbe Anlehnung an
alte, mythische, nicht mehr geglaubte Motive, dieselbe rücksichtslose
Massenwirkung auf die Nerven, aber auch dieselbe sehr bewußte Wucht,
Größe, Erhabenheit, die dennoch einen Mangel an innerer Kraft nicht
ganz zu verbergen weiß. Das ältere Vorbild des Laokoon stammte
sicherlich aus diesem Kreise. Man könnte sich einen Philosophen, aus
der Nähe Epikurs, denken, der in attischen Aphorismen gegen diese
Kunst im Namen der alten, echten Plastik Polyklets loszog. Hier stand
Nietzsche ganz nahe vor der Lösung des Problems, das seine eigentliche
Bestimmung zu sein schien, des Problems der Zivilisation. Der „Fall
Wagner“ war auch der Fall der damaligen antiken Plastik, der einer
jeden Kunst, welche die vollendete Kultur repräsentiert und mit dem
Übergang zur Zivilisation stirbt. Er gebrauchte das Wort Decadence.
Dasselbe, nur umfassender, nur von dem heute vorliegenden Fall zu
einem allgemein historischen Typus von Epoche erweitert und aus der
Vogelperspektive einer Philosophie des Werdens betrachtet, bedeutet in
diesem Buche das Wort Untergang des Abendlandes.

Was die sinkende Gestaltungskraft kennzeichnet, ist das Form- und
Maßlose, dessen der Künstler bedarf, um noch etwas Rundes und Ganzes
hervorzubringen. Maßlos, überschwellend, subjektiv, das heißt hier
die Kultur, die strenge Konvention von Jahrhunderten zerbrechend. Es
war die überpersönliche Regel, die absolute Mathematik der Form, das
+Schicksal+ einer Form, hier wie dort, was man nicht mehr ertrug.
Lysipp steht darin hinter Polyklet und die Schöpfer der Galliergruppen
hinter Lysipp zurück. Das entspricht dem Wege von Bach über Beethoven
zu Wagner. Die frühen Künstler fühlen sich als Meister der großen Form,
die späten als deren Sklaven. Was Praxiteles und Haydn innerhalb der
strengsten Konvention in vollkommener Freiheit und Heiterkeit zu sagen
vermochten, brachten Lysipp und Beethoven nur unter Vergewaltigungen
zustande. Das Zeichen aller lebendigen Kunst, die reine Harmonie
zwischen Wollen, Müssen und Können, das Selbstverständliche des
Ziels, das Unbewußte in der Verwirklichung, die Einheit von Kunst und
Kultur, alles das ist vorüber. Noch Corot und Tiepolo, noch Mozart und
Cimarosa konnten, was sie wollten, was sie wollen mußten. Freiheit
und Notwendigkeit waren identisch. In der Zeit Rembrandts und Bachs
ist das uns allzubekannte Phänomen: „an seiner Aufgabe zu scheitern“,
gar nicht denkbar. Das Schicksal der Form lag in der Rasse, in der
Epoche, nicht in privaten Tendenzen des Einzelnen. In der Sphäre einer
großen Tradition gelingt selbst dem kleinen Künstler das Vollkommene,
weil die lebendige Kunst ihn und die Aufgabe zusammenführt. Heute
müssen diese Künstler wollen, was sie nicht mehr können, und dort mit
dem Kunstverstand arbeiten, rechnen, kombinieren, wo der Instinkt
erloschen ist. Das haben sie alle erlebt. Marées ist mit keinem seiner
großen Pläne fertig geworden. Leibl wagte es nicht, seine letzten
Bilder aus der Hand zu geben, bis sie unter der endlosen Überarbeitung
kalt und hart geworden waren. Cézanne und Renoir ließen vieles vom
Besten unvollendet, weil sie bei aller Kraft und Mühe nicht weiter
konnten. Manet war erschöpft, als er dreißig Bilder gemalt hatte,
und trotz der ungeheuren Mühsal, die aus jedem Zuge des Gemäldes
und der Skizzen spricht, hat er mit seiner „Erschießung des Kaisers
Maximilian“ kaum erreicht, was Goya in dem Vorbilde, der Erschießung
des Grafen Pio, mühelos zustande brachte. Bach, Haydn, Mozart und die
tausend namenlosen Musiker des 18. Jahrhunderts konnten in schnell
hingeworfenen Augenblickskompositionen Vollkommenstes leisten. Wagner
wußte, daß er nur dort die Höhe erreichte, wo er seine ganze Energie
zusammennahm und aufs peinlichste die besten Augenblicke seiner
künstlerischen Begabung ausnützte.

Zwischen Wagner und Manet besteht eine tiefe Verwandtschaft, die
wenigen fühlbar sein wird, die aber ein Kenner alles Dekadenten wie
Baudelaire schon früh herausfand. Aus farbigen Strichen und Flecken
eine Welt im Raume hervorzuzaubern, das war die letzte, sublimste
Kunst der Impressionisten. Wagner leistet das mit drei Takten, in
denen sich eine ganze Welt von Seele zusammendrängt. Die Farben
der sternhellen Mitternacht, der ziehenden Wolken, des Herbstes,
der schaurig-wehmütigen Morgenfrühe, überraschende Blicke auf
sonnenbelichtete Fernen, die Weltangst, das nahe Verhängnis, das
Verzagen, das verzweifelte Durchbrechen, die jähe Hoffnung, Momente,
die vorher kein Musiker für erreichbar gehalten hätte, malt er in
vollkommener Deutlichkeit mit ein paar Tönen eines Motivs. Hier ist der
äußerste Gegensatz zur griechischen Plastik erreicht. Alles versinkt
in körperlose Unendlichkeit; selbst eine linienhafte Melodie ringt
sich nicht mehr aus den vagen Tonmassen los, die in seltsamem Wogen
einen imaginären Raum heraufrufen. Das Motiv taucht aus dunkler und
furchtbarer Tiefe auf, flüchtig von einem grellen Licht überstrahlt;
plötzlich steht es in schrecklicher Nähe; es lächelt, es schmeichelt,
es droht; bald ist es im Reiche der Streichinstrumente verschwunden,
bald nähert es sich wieder aus endlosen Fernen, von einer einzelnen
Oboe leise variiert, mit einer immer neuen Fülle seelischer Farben.
Der Kenner der Funktionentheorie wird in diesen Tonräumen etwas
Verwandtes mit seinen Zahlenmannigfaltigkeiten finden, in denen Gruppen
transzendenter Gebilde Verwandlungen erleiden, welche die Invarianz
gewisser Formelemente hervortreten lassen.

Wagner löst die Melodie auf wie Manet und sein Kreis die Grenzen
der sichtbaren Gegenstände oder, um es von einer andern Seite,
psychologisch, zu nehmen, sie wurden ohne das Talent dazu geboren,
weil Zeichnung und Melodie, Reste des Körperhaften, von der Symbolik
der Zeit nicht mehr ertragen wurden. Sie arbeiten beide mit Details,
die für das Auge und Ohr von Décadents, um in Nietzsches Sprechweise
zu bleiben, wundervoll sind, antieuklidisch bis zum äußersten, mit
kleinen Motiven und Farbenspielen, deren Sättigung mit einem ganz
subjektiven, eminent physiognomischen Gehalt vorher niemand für möglich
gehalten hätte; sie sind beide, neben Beethoven und Delacroix, brutal,
barbarisch, und verdienen den Namen des Malers und Musikers nicht,
wenn man von ihnen ein Gemälde oder eine Komposition strengen Stils
erwartet. Aber worin sie Meisterschaft besitzen und was für uns der
letzte Genuß und der höchste Reiz innerhalb dieser Formenwelten bleibt,
ist das +Charakteristische+ in Ton, Klang und Farbe. Alles, was
Nietzsche von Wagner gesagt hat, gilt auch von Manet. Man muß nur die
Beziehung verstehen. Scheinbar eine Rückkehr zum Elementarischen, zur
Natur gegenüber der Inhaltsmalerei und der absoluten Musik, bedeutet
ihre Kunst ein Nachgeben vor der Barbarei der großen Städte, der
beginnenden Auflösung, wie sie sich im Sinnlichen in einem Gemisch
von Brutalität und Raffinement äußert, einen Schritt, der notwendig
der letzte sein mußte. Eine künstliche Kunst ist keiner organischen
Fortentwicklung fähig. Sie bezeichnet das Ende.

Daraus folgt -- ein bitteres Eingeständnis --, daß es mit der
abendländischen bildenden Kunst unwiderruflich zu Ende ist. Die Krisis
des 19. Jahrhunderts war der Todeskampf. Die faustische Kunst stirbt,
wie die antike, die ägyptische, wie jede andere an Altersschwäche,
nachdem sie ihre innern Möglichkeiten verwirklicht, nachdem sie im
Lebenslauf ihrer Kultur ihre Bestimmung erfüllt hat.

Was heute als Kunst betrieben wird, ist Ohnmacht und Lüge, die Musik
nach Wagner so gut wie die Malerei nach Manet, Cézanne, Leibl und
Menzel.

Man suche doch die großen Persönlichkeiten, welche die Behauptung,
daß es noch eine Kunst von schicksalhafter Notwendigkeit gebe,
rechtfertigen. Man suche nach der +selbstverständlichen und
notwendigen+ Aufgabe, die auf sie wartet. Man gehe durch alle
Ausstellungen, Konzerte, Theater und man wird nur betriebsame Macher
und lärmende Narren finden, die sich darin gefallen, etwas -- innerlich
längst als überflüssig Empfundenes -- für den Markt herzurichten.
Auf was für einem Niveau steht heute alles, was Kunst und Künstler
heißt! In der Generalversammlung irgendeiner Aktiengesellschaft oder
unter den Ingenieuren der erstbesten Maschinenfabrik wird man mehr
Intelligenz, Geschmack, Charakter und Können bemerken als in der
gesamten Malerei und Musik des gegenwärtigen Europa. Es hat immer
auf einen großen Künstler hundert überflüssige gegeben, die Kunst
machten. Aber solange es eine große Konvention und +also+ eine
echte Kunst gab, machten auch sie etwas Tüchtiges. Man konnte diesen
Hundert ihre Existenz verzeihen, weil sie schließlich, im +Ganzen+
der Tradition, der Boden waren, der den einen trug. Aber heute sind
nur diese -- Zehntausend am Werke, „um zu leben“ -- wovon man die
Notwendigkeit nicht einsieht -- und so viel ist gewiß: man könnte
heute alle Kunstanstalten schließen, ohne daß die +Kunst+ davon
irgendwie berührt würde. Wir dürfen uns nur in das Alexandria des
Jahres 200 -- als die Römer nach Mazedonien kamen -- versetzen, um den
Kunstlärm kennen zu lernen, mit dem eine weltstädtische Zivilisation
sich über den Tod ihrer Kunst zu täuschen versteht. Dort, wie heute
in den Weltstädten Westeuropas, eine Jagd nach den Illusionen der
künstlerischen Fortentwicklung, der persönlichen Eigenart, des „neuen
Stils“, der „ungeahnten Möglichkeiten“, ein theoretisches Geschwätz,
eine anspruchsvolle Haltung tonangebender Künstler wie die von
Akrobaten, die mit Zentnergewichten von Pappe hantieren („hodlern“),
der Literat statt des Dichters, die Malerei als Kunstgewerbe. Auch
Alexandria hatte seine Problemdramatiker, die man Sophokles vorzog, und
seine Maler, die neue Richtungen erfanden und ihr Publikum verblüfften.
Was besitzen wir heute unter dem Namen „Kunst“? Eine erlogene Musik
voll von künstlichem Lärm massenhafter Instrumente, eine erlogene
Malerei voller idiotischer, exotischer und Plakateffekte, eine erlogene
Architektur, die auf dem Formenschatz vergangener Jahrtausende alle
zehn Jahre einen neuen Stil „begründet“, in dessen Zeichen jeder
tut, was er will, eine erlogene Plastik, die Assyrien, Ägypten und
Mexiko bestiehlt. Und trotzdem kommt dies allein, der Geschmack von
Weltleuten, als Ausdruck und Zeichen der Zeit in Betracht. Alles
übrige, das demgegenüber an den alten Idealen „festhält“, ist eine
bloße Angelegenheit von Provinzialen.

Die antike und ägyptische Zivilisation können uns über die letzten
Phasen unterrichten. Die chronologischen Stufen sind folgende:

     Abendland                   Antike               Ägypten

     I. +Stadium der Zivilisation+.

     1800-2000                   350-150              1780-1580
 „Europ. Zivilisation“         Hellenismus            Hyksoszeit

     II. +Stadium+.

                          150 v.–100 n. Chr.           1580-1350
                      Von den Gracchen bis Nerva      18. Dynastie
                              (Cäsar)               (Thutmosis III.)

     III. +Stadium+.

                                100-300                1350-1205
                      Von Trajan bis Konstantin       19. Dynastie
                            (Trajan, Hadrian)    (Sethos I., Ramses II.)

Das überpersönliche Formgefühl, das Gefühl für den religiösen Sinn
der absoluten Form ist längst zu Ende. Der heimliche Alexandrinismus
der gesamten Kunst des 19. Jahrhunderts unterliegt keinem Zweifel.
Statt der lebendigen Kunst wird ihre Mumie, ihre Hinterlassenschaft an
fertigen Formen verwertet, gemengt, vollkommen anorganisch kombiniert.
Jede Modernität hält Abwechslung für Entwicklung. Die Wiederbelebungen
und Verschmelzungen alter Stile treten an die Stelle wirklichen
Werdens. Auch Alexandria hatte seine präraffaelitischen Hanswurste mit
Vasen, Stühlen, Bildern und Theorien, seine Symbolisten, Naturalisten
und Expressionisten. In Rom gibt man sich bald gräkoasiatisch,
bald gräkoägyptisch, bald archaisch, bald -- nach Praxiteles --
neuattisch. Das Relief der 19. Dynastie, der ägyptischen Modernität,
das massenhaft, sinnlos, anorganisch Wände, Statue, Säulen überzieht,
wirkt wie eine Parodie auf die tiefe Kunst des Alten Reiches. Man
muß für diese Modernität in Luxor und Karnak nur Augen haben.
Der ptolemäische Horustempel in Edfu endlich ist in der Leerheit
willkürlich gehäufter Formen nicht mehr zu überbieten. Das ist der
prahlerische und aufdringliche Stil[91] unsrer Straßen, monumentalen
Plätze und Ausstellungen, obwohl wir uns erst am Anfang dieser
Entwicklung befinden. Das Massenhafte muß die Tiefe, die riesenhaften
Dimensionen die Innerlichkeit der Form ersetzen. Darin entspricht der
Tempel Sethos I. in Abydos durchaus dem Forum Trajans. Die Ruinen von
Luxor und Karnak, wo vor allem Ramses II. baute, bedeuten für das Ende
des ägyptischen Formgefühls, das Ende der ägyptischen Seele genau
das, was die Trümmer des Palatin und der Kaiserfora, das Kolosseum
nicht zu vergessen, für das vollkommene Erlöschen der antiken Seele.
Welche Roheit im Detail! Welche Verschwendung von unverstandenen
Motiven! Was für Kapitäle! Was für sinnlose Verschmelzungen strenger
alter, bedeutungsschwerer Ornamente, welche die Seele längst
vergangener Zeiten symbolisieren und hier plump, negerhaft, „vornehm“,
„geschmackvoll“ dekorativen Absichten geopfert werden!

Endlich erlischt selbst die Kraft, etwas anderes auch nur zu wollen.
Schon der große Ramses eignete sich Bauten seiner Vorgänger an, indem
er in Inschriften und Reliefszenen die Namen ausmeißeln und durch den
eigenen ersetzen ließ. Es ist dasselbe Eingeständnis künstlerischer
Ohnmacht, das Konstantin veranlaßte, seinen Triumphbogen in Rom mit
Skulpturen zu schmücken, die von andern Bauwerken abgenommen waren.
Viel früher, seit 150 v. Chr., beginnt im Bereich der antiken Kunst
die Technik der Kopien nach hellenischen Meisterwerken, nicht, weil
man diese noch irgend verstanden hätte, sondern weil man nicht
einmal mehr unbedeutende Originale selbständig hervorzubringen
verstand. Denn man bemerke wohl: diese Kopisten waren +die
Künstler+ der Zeit. Ihre Arbeiten bezeichnen das Maximum der damals
vorhandenen Gestaltungskraft. In diesen Nachahmungen erschöpft sich
die Ausdrucksfähigkeit spätrömischer Zeiten. Sämtliche römischen
Bildnisstatuen, ob männlich oder weiblich, gehen nicht auf die Natur,
sondern auf eine ganz kleine Zahl hellenischer Werke zurück, die für
den Torso mehr oder weniger frei kopiert werden, während der Kopf eine
virtuose, nichts weniger als tiefe Behandlung in naturalistischem,
beinahe photographischem Sinne erfährt. Man gestattete sich, je nach
der augenblicklichen Stilrichtung Haartracht, Kleidung und Stellung
des Vorbildes zu ändern -- soweit ging das „schöpferische Genie“. Die
berühmte Panzerstatue des Augustus z. B. ist nach dem Doryphoros des
Polyklet gearbeitet, während ihre Geste schon auf einer in Arkadien
gefundenen Ehrensäule des Polybius vorhanden ist. So etwa verhält
sich -- um die ersten Vorzeichen des entsprechenden Stadiums im
Abendlande zu nennen -- Lenbach zu Rembrandt und Makart zu Rubens.
1500 Jahre lang, von Ahmose I. bis auf Kleopatra herab, hat der tote
Ägyptizismus in derselben Weise Bildwerke auf Bildwerke gehäuft. Es
war, wie wir heute endlich begreifen lernen, ein am Oberflächlichsten
haftendes Nachahmen des Alten. An Stelle des Stils war der wechselnde
Modegeschmack für die Wiederbelebung bald dieser, bald jener alten
Stilphase getreten. Die erdrückende Masse des so Entstandenen, das
man bisher vom Echten und Alten nicht zu unterscheiden wußte, ist
die Ursache der monotonen Gesamtwirkung der ägyptischen Kunst. In
beiden Fällen, die sich noch durch die Beispiele der indischen und
chinesischen Kunst erweitern ließen, haben wir ein Bild der eigenen
Zukunft, der wir unweigerlich entgegengehen.


Fußnoten:

[Footnote 81: Man braucht da nur griechische Künstler neben Rubens und
Rabelais zu stellen.]

[Footnote 82: Von dem eine seiner Geliebten klagte, _qu’il puait
comme une charogne_. Übrigens haben gerade Musiker immer im Rufe der
Unreinlichkeit gestanden.]

[Footnote 83: Der Apollo mit der Kithara in München wurde von
Winckelmann und seiner Zeit als Muse bewundert und gepriesen. Ein
Athenakopf nach Phidias in Bologna galt noch vor kurzem als der eines
Feldherrn. In einer physiognomischen Kunst wie der des Barocks wären
solche Irrungen völlig unmöglich.]

[Footnote 84: Und umgekehrt empfindet der höhere Mensch des Abendlandes
eine gemalte Begattungsszene wie bei Correggio als flach und würdelos.]

[Footnote 85: Nichts kann das Absterben der abendländischen Kunst seit
der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlicher kennzeichnen als die alberne,
massenhafte Aktmalerei; der tiefere Sinn des Aktstudiums und der
Bedeutung des Motivs ist vollkommen verloren gegangen.]

[Footnote 86: Rubens und unter den Neueren vor allem Böcklin und
Feuerbach verlieren, Goya, Daumier, in Deutschland vor allem Oldach,
Wasmann, Rayski und viele andre fast vergessene Künstler aus dem Anfang
des 19. Jahrhunderts gewinnen dabei. Marées tritt in die Reihe der
allergrößten.]

[Footnote 87: Es ist dieselbe „edle Einfalt und stille Größe“, um mit
deutschen Klassizisten zu reden, welche auch die romanischen Bauten
von Hildesheim, Gernrode, Paulinzella, Hersfeld so antikisch wirken
läßt. Gerade die Klosterruine von Paulinzella besitzt viel von dem,
was Brunellesco in seinen Palasthöfen erst erreichen wollte. Aber das
schöpferische Grundgefühl, das diese Bauten herausbildete, haben wir
erst in unsre Vorstellung von antikem Sein übertragen und nicht etwa
von dort erhalten. Ein +unendlicher+ Friede, eine +Weite+ des
Gefühls der Ruhe in Gott, wie sie alles Florentinische auszeichnet,
soweit es nicht den gotischen Trotz Verrocchios hervorkehrt, ist in
keiner Weise mit der σωφροσύνη Athens verwandt.]

[Footnote 88: Man hat nie darauf geachtet, wie trivial das Verhältnis
der wenigen Bildhauer nach ihm zum Marmor blieb. Man fühlt es
erst, wenn man das tiefinnerliche Verhältnis großer Musiker zu
ihren Lieblingsinstrumenten damit vergleicht. Ich erinnere an die
Geschichte von Tartinis Geige, die beim Tode des Meisters zerspringt.
Es gibt hundert ähnliche. Sie sind das faustische Gegenstück zum
Pygmalionmythus. Es sei auch auf Hoffmanns geniale Gestalt des
Kapellmeisters Kreisler aufmerksam gemacht, die ebenbürtig neben Faust,
Werther und Don Juan steht. Um ihren symbolischen Rang und ihre innere
Notwendigkeit zu fühlen, vergleiche man sie mit den theatralischen
Malergestalten der gleichzeitigen Romantiker, die zur Idee der Malerei
in keinerlei Beziehung stehen. Ein Maler +kann gar nicht+, und das
spricht das Urteil über die Künstlerromane des 19. Jahrhunderts, das
Schicksal der faustischen Kunst repräsentieren.]

[Footnote 89: In Renaissancewerken wirkt das Allzufertige oft genug
peinlich. Wir fühlen da einen Mangel an „Unendlichkeit“. Es gibt in
ihnen keine Geheimnisse und Entdeckungen.]

[Footnote 90: Es ist deshalb ganz unmöglich, vom Freilichtprinzip aus
zu einer echt religiösen Malerei zu kommen. Das in dieser Malerei
liegende Weltgefühl ist bis zu dem Grade irreligiös und nur für eine
„Vernunftreligion“ gültig, daß jeder der zahlreichen, ehrlich gemeinten
Versuche hohl und unwahr wirkt (Uhde, Puvis de Chavannes). Ein einziges
Freilichtbild „verweltlicht“ sofort das Innere einer Kirche.]

[Footnote 91: Eine besonders aufdringliche Art ist das Prunken mit
Schlichtheit im neuesten deutschen Stil.]




FÜNFTES KAPITEL

SEELENBILD UND LEBENSGEFÜHL




I

ZUR FORM DER SEELE


1

Jeder Philosoph von Beruf ist gezwungen, ohne ernstliche Nachprüfung
an das Dasein eines Objekts zu glauben, das sich in seinem Sinne
verstandesmäßig behandeln läßt. Denn seine ganze geistige Existenz
hängt von dieser Möglichkeit ab. Es gibt deshalb für jeden noch
so skeptischen Logiker und Psychologen einen Punkt, wo die Kritik
schweigt und der Glaube beginnt, wo selbst der strengste Analytiker
aufhört, seine Methode -- gegen sich selbst nämlich und auf die
Frage der Lösbarkeit, selbst des Vorhandenseins seiner Aufgabe --
anzuwenden. Den Satz: Es ist möglich, durch das Denken die Formen des
Denkens festzustellen, hat Kant nicht bezweifelt, so zweifelhaft er
dem Nichtphilosophen erscheinen mag. Den Satz: Es gibt eine Seele,
deren Struktur wissenschaftlich zerlegbar ist; was ich durch kritische
Beobachtung meiner bewußten Daseinsakte in Gestalt von psychischen
Elementen, Funktionen, Komplexen isoliere, das +ist+ meine Seele
-- hat noch kein Psychologe bezweifelt. Gleichwohl hätten die stärksten
Zweifel sich hier einstellen sollen. Ist eine abstrakte Wissenschaft
vom Seelischen überhaupt möglich? Ist, was man auf diesem Wege findet,
identisch mit dem, was man sucht? Warum ist alle Psychologie, nicht
als Menschenkenntnis und Lebenserfahrung, sondern als Wissenschaft
genommen, von jeher die flachste und wertloseste der philosophischen
Disziplinen geblieben, in ihrer jämmerlichen Leerheit ausschließlich
der Jagdgrund mittelmäßiger Köpfe und unfruchtbarer Systematiker?
Der Grund ist leicht zu finden. Die empirische Psychologie hat das
Unglück, nicht einmal ein Objekt im Sinne wissenschaftlicher Technik
zu besitzen. Ihr Suchen und Überwinden von Problemen ist ein Kampf
mit Schatten und Gespenstern. Was ist das -- Seele? Könnte der
bloße Verstand eine Antwort geben, so wäre die Wissenschaft bereits
überflüssig.

Keiner der tausend Psychologen unsrer Tage hat eine wirkliche Analyse
oder Definition der Phänomene des Willens, der Reue, der Angst, der
Eifersucht, der Laune, der künstlerischen Intuition geben können.
Natürlich nicht, denn man definiert nur optisch-räumliche Einheiten und
man unterscheidet nur Begriffe. Alle Feinheiten des geistigen Spiels
mit begrifflichen Distinktionen, alle vermeintlichen Beobachtungen
vom Zusammenhang sinnlich-körperlicher Befunde mit „innern Vorgängen“
berühren aber nichts von dem, was hier in Frage steht. Wille -- das ist
gar kein Begriff, sondern ein Name, ein Urwort wie Gott, ein Zeichen
für etwas, dessen wir innerlich unmittelbar gewiß sind, ohne es jemals
beschreiben zu können. Wir sind uns doch darüber klar -- oder sollten
es sein --, daß Seele mit Raum, Gegenstand, Distanz, Zahl, Grenze,
Kausalität und also auch mit Begriff und System nichts zu tun hat.

Dasjenige, was hier gemeint ist, bleibt dem taghellen Geiste, dem
Verstande, der empirischen Tatsachenforschung für immer unzugänglich.
Nicht umsonst warnt jede Sprache mit ihren tausendfach sich
verwirrenden Bezeichnungen davor, Seelisches theoretisch zergliedern,
es systematisch ordnen zu wollen. Hier ist nichts zu ordnen. Logische
Methoden sind Raumdinge. Wirklichkeiten sind nicht mehr Möglichkeiten.
Eher ließe sich ein Thema von Beethoven mit Seziermesser oder Säure
zerlegen, als die Seele durch die Mittel des abstrakten Denkens. Von
der Seele kann nicht einmal sie selbst etwas „wissen“. Alles was sie
weiß, ist eben, daß sie in diesem Sinne niemals etwas wissen wird.
Naturerkenntnis und Menschenkenntnis haben in Ziel, Weg und Methode
nichts gemeinsam. Rembrandt kann denen, die ihm innerlich verwandt
sind, durch ein Selbstbildnis oder eine Landschaft etwas von seiner
Seele mitteilen und Goethe gab es ein Gott zu sagen, was er leide. Man
kann von gewissen Seelenregungen, die völlig unbeschreiblich sind,
andern ein Gefühl durch einen Blick, ein paar Takte einer Melodie,
eine kaum merkliche Bewegung vermitteln. Das ist die wahre Sprache von
Seelen, die Fernstehenden unverständlich bleibt. Das Wort als Laut, als
poetisches Element, kann hier die Beziehung herstellen, das Wort als
Begriff, als Element wissenschaftlicher Prosa nie.

Das Wort Seele gibt dem höheren Menschen ein Gefühl seines innern
Daseins, abgetrennt von allem Wirklichen und Gewordnen, ein sehr
bestimmtes Gefühl von den geheimsten und eigensten Möglichkeiten
seines Lebens, seines Schicksals, seiner Geschichte. Es ist in den
Sprachen aller Kulturen von früh an ein Zeichen, in dem zusammengefaßt
wird, was +nicht+ Welt ist. Verstandesmäßig aufgefaßt, im
alltäglich-rationalen Sprachgebrauch, gehört „Seele“ zu den
+Gegenbegriffen+. Der Sinn dieses Wortes ergab sich an einer
früheren Stelle. Es war gezeigt worden, wie „die Zeit“ aus dem Gefühl
der Richtung des ewig bewegten Lebens, aus der innern Gewißheit eines
Schicksals heraus vom reifen Geiste des Kulturmenschen als Gegenbegriff
konzipiert wurde, +zum Raume nämlich+, als theoretisches Negativ
zu einer positiven Größe, als Inkarnation dessen, was +nicht
Ausdehnung+ ist, und daß sämtliche „Eigenschaften“ der Zeit, durch
deren abstrakte Analyse die Philosophen das Zeitproblem lösen zu
können glauben, als Umkehrung der Eigenschaften des Baumes im Geiste
allmählich fixiert und geordnet worden sind. Genau auf demselben Wege
ist der Seelenbegriff -- der mit dem Seelenbewußtsein des Kindes, des
Urmenschen, des naiven Menschen noch in späten Zuständen nichts zu
tun hat -- als Umkehrung und +Negativ des Weltbegriffs+ unter
Zuhilfenahme der räumlichen Polarität „außen -- innen“ und durch
entsprechende Umdeutung der Attribute herauskristallisiert.

Der späte, städtische Trieb, +abstrakt zu denken+, alles ohne
Ausnahme in die Sphäre der „Natur“ des Ausgedehnten, des Begriffs
also zu ziehen, zwingt zu fortgesetztem Nachdenken auch über das
Seelische, das +Nicht+-Ausgedehnte, das +Nicht+-Welthafte
-- und in jedem Moment dieses Nachdenkens taucht vor dem Geiste des
Kulturmenschen ein Phantom, ein imaginäres Raumgebilde auf im Stile
seiner Außenwelt, eine ätherische Vision, über deren Charakter als
einer Fata Morgana er sich täuscht. Er glaubt in ihr die Struktur
der Seele unmittelbar beobachten zu können. Die Worte, welche stets
gewählt werden, um derlei „Erkenntnisse“ mitzuteilen, verraten alles.
Da ist von Funktionen, Gefühlskomplexen, Triebfedern, Prozessen,
Bewußtseinsschwellen, von Verlauf, Breite, Intensität, Parallelismus
die Rede. Aber all diese Worte stammen aus der Vorstellungsweise der
Naturwissenschaft. Das Objekt der Psychologie, mit dem sie die Seele
in Händen zu haben glaubt, ist in der Tat ein Stück verkappter Physik.
„Der Wille bezieht sich auf Gegenstände“ -- das ist doch ein Raumbild.
Bewußtes und Unbewußtes -- da liegt allzu deutlich das Schema von
überirdisch und unterirdisch zugrunde. In den modernen Theorien des
Willens wird man die ganze Formensprache der Dynamik finden. Wir reden
von Willensfunktionen und Denkfunktionen in genau demselben Sinne wie
von der Funktion einer Maschine. Ein Gefühl analysieren heißt ein
raumartiges Schattenbild an seiner Stelle mathematisch behandeln, es
abgrenzen, teilen und messen. Jede Seelenforschung dieses Stils, sie
mag sich über Gehirnanatomie noch so erhaben dünken, ist voll von
mechanischen Lokalisationen und bedient sich, ohne es zu wissen, eines
eingebildeten Koordinatensystems in einem eingebildeten Seelenraum. Der
Psychologe merkt gar nicht, daß er den Physiker spielt. Kein Wunder,
daß sein Verfahren mit den albernsten Methoden der experimentellen
Psychologie so verzweifelt gut übereinstimmt. Gehirnbahnen und
Assoziationsfasern entsprechen der Vorstellungsweise nach durchaus
dem optischen Schema: „Willens-“ oder „Gefühlsverlauf“; sie behandeln
beide verwandte, nämlich +räumliche+ Phantome. Es ist prinzipiell
kein großer Unterschied, ob ich ein psychisches Vermögen begrifflich
oder eine entsprechende Region der Großhirnrinde graphisch abgrenze.
Die wissenschaftliche Psychologie hat ein geschlossenes System von
optischen Fiktionen herausgearbeitet und bewegt sich mit vollkommener
Selbstverständlichkeit in ihm. Man prüfe jede einzelne Aussage jedes
einzelnen Psychologen und man wird nur Variationen dieses Systems im
Stile der jeweiligen Außenwelt finden.

Das klare Denken setzt den Geist einer Kultursprache als Medium voraus,
die, vom Seelentum einer Kultur als Teil und Träger ihres Ausdrucks
geschaffen,[92] nun die logische Sphäre bildet, innerhalb deren die
abstrakten Gedanken, Begriffe, Schlüsse -- Abbilder von Kausalität,
Zahl, Bewegung -- ihr mechanisch bestimmtes Dasein führen. Das
jeweilige Bild der Seele ist also ein Etwas, das abhängig vom Geiste
der +zugehörigen Sprache+ ist. Die abendländischen -- faustischen
-- Kultursprachen besitzen sämtlich den Begriff „Wille“ -- eine Größe,
die übrigens auch der Syntax all dieser Sprachen im Gegensatz zu den
antiken immanent ist; sie besitzen ihn, weil das faustische Sein
dies Zeichen fordert. Mithin erscheint, von der Sprache bestimmt, im
wissenschaftlichen Seelenbilde aller abendländischen Psychologien die
greifbare Gestalt des Willens als eines wohlumgrenzten Vermögens,
das man in den einzelnen Schulen wohl verschieden bestimmt, dessen
Vorhandensein an sich aber keiner Kritik unterworfen ist.


2

Ich behaupte also, daß die eigentliche Psychologie, weit entfernt das
Wesen der Seele aufzudecken -- es ist hier hinzuzufügen, daß jeder
von uns, ohne es zu wissen, Psychologie dieser Art treibt, wenn er
sich eigne oder fremde Seelenregungen „vorzustellen“ sucht --, zu
allen Symbolen, die den Makrokosmos des Kulturmenschen ausmachen, noch
eins hinzufügt. So erklärt sich die merkwürdige Tatsache, daß nie
bemerkt worden ist, daß das +Seelenbild+, wie es dem Psychologen
und überhaupt dem Menschen, der über sein Inneres nachdenkt, im
buchstäblichen Sinne des Wortes +vorschwebt+, ein wirkliches Bild,
etwas Gewordnes und Ruhendes nämlich ist, von deutlichem Raumcharakter
-- wie etwa der Dedekindsche Zahlenkörper und die gedankliche
Impression mehrdimensionaler Zahlenmannigfaltigkeiten -- kausaler
Verknüpfung nicht fremd und den Prinzipien der Begrenzung (Distinktion,
Disposition) unterworfen. Wie alles Vollendete, nicht sich Vollendende,
stellt es einen +Mechanismus+ an Stelle eines +Organismus+
dar. Man vermißt im Bilde, was unser Lebensgefühl erfüllt und was doch
gerade „Seele“ sein sollte: das Schicksalhafte, die wahllose Richtung
des Daseins, das Mögliche, welches das Leben in seinem bewußten Ablauf
verwirklicht. Ich glaube nicht, daß in irgend einem psychologischen
System das Wort Schicksal vorkommt oder eine reiche Lebenserfahrung zu
uns redet. Assoziationen, Apperzeptionen, Affekte, Triebfedern, Denken,
Fühlen, Wollen -- all das sind optische Größen, tote Mechanismen, deren
Topographie den belanglosen Inhalt der Seelenwissenschaft bildet.
Man wollte das Leben finden und traf auf eine Ornamentik. Die Seele
blieb, was sie war, das was weder gedacht, noch vorgestellt werden
kann, +das+ Geheimnis, +das+ ewig Werdende, +das+ reine
Erlebnis.

Dieser +imaginäre Seelenkörper+ -- das sei hier zum ersten Male
ausgesprochen -- ist niemals etwas andres als das getreue Spiegelbild
der Gestalt, in welcher der gereifte Kulturmensch, der ja allein über
das Seelische objektiv nachzudenken vermag, die +äußere Welt+
auffaßt. Der Urmensch und das Kind besitzen, wie wir sahen, noch keine
Welt, sondern nur eine ideell ungeordnete Masse sinnlicher Eindrücke,
ein Chaos, keinen Kosmos, und darum besitzen sie auch noch kein
+Bild+ ihrer oder einer fremden Seele, sondern ebenfalls nur eine
Masse undeutlicher und unbegreiflicher Bildelemente. Jede primitive
Mythologie kennt außer einem Reich dämonischer Naturmächte, unter deren
Namen die _numina_ der Außenwelt in dunklen Umrissen ergriffen
werden, einen genau entsprechenden +Seelenglauben+ und Seelenkult,
der das den Leib bewohnende _numen_ zu beschwören sucht, vor
allem, wenn es nach dem Tode frei geworden ist. Im Griechentum liegt
dort der Ursprung des Apollinischen, hier der des Dionysischen. Die
„Innenwelt“ ist eine Funktion der Außenwelt, die empirische Seele
ihrer Gestalt nach das _alter ego_, der Reflex der empirischen
Natur. Deshalb allein ist so oft von einem inneren Sinn, einem inneren
Auge und Blick die Rede, eine Analogie, die viel tiefer geht, als sie
eigentlich soll. Vom Erwachen des Innenlebens, jenem geheimnisvoll
plötzlichen und entscheidenden Moment, der Kindheit und Jugend im
Dasein jedes höheren Menschen trennt, ist oft gesprochen worden. Hier
wird endlich der ganze Sinn dieses Icherlebnisses offenbar. Durch
+einen+ mystischen Akt sondern sich aus dem dumpfen Bewußtsein
Seele +und+ Welt als klare bildhafte Pole des Daseins, in strengem
Gegensatz und zugleich in vollkommener Harmonie.

Das Tiefenerlebnis verwirklicht, schafft mit einem Schlage die
ausgedehnte Welt, es ordnet mit schicksalhafter Notwendigkeit die
Masse der Empfindungen (Breite) durch die lebendige Richtung (Tiefe).
Dies Erlebnis ist identisch mit dem Bewußtwerden der eignen Seele. Ein
Reflex des Tiefenerlebnisses liegt vor. Zur Welt gehört die Spiegelung
einer +Gegenwelt+. Auch die empirische Seele hat ihren Raum,
ihre Tiefe, ihre Weite. Ein „inneres Auge“ sieht, ein „inneres Ohr“
hört. Es gibt eine deutliche Empfindung von einer inneren Ordnung, die
wie die äußere das Merkmal der Notwendigkeit trägt -- hier entsteht
das ethische Grundproblem von Freiheit und Notwendigkeit. Ihm liegt
der Widerspruch zwischen der Seele zugrunde, die wir haben, fühlen,
erleben, und der, welcher wir uns verstandesmäßig bewußt sind. Erst
das Denken, die mechanisierende Erkenntnis weckt hier unlösbare
Zweifel, und zwar die gleichen, welche das Bild der +äußeren+
Historie verwirren. Materialistische Geschichtsauffassung und ethischer
Determinismus beruhen auf dem gleichen Mißgriff, der dem Intellekt
natürlichen Verwechslung von Schicksal und Kausalität. Was wir
+erkennen+, ist nur das Seelenbild, gleichsam eine Landschaft
im reflektierten Lichte des Tagesbewußtseins. In bedeutenden, ganz
innerlichen Momenten des Lebens -- in denen z. B. alle wahren lyrischen
Gedichte entstehen -- ist es verschwunden und der Mensch ist sich
seiner Seele +und seiner „Freiheit“ unmittelbar+ bewußt.

Und damit ergibt sich nach allem, was in diesem Buche über die
Erscheinung des höheren Menschentums schon gesagt worden ist, eine
ungeheure Erweiterung und Bereicherung der Seelenforschung. Alles, was
von Psychologen heute gesagt und geschrieben wird -- es ist nicht mehr
von bloßer Wissenschaft, sondern von Menschenkenntnis im weitesten
Sinne die Rede --, bezieht sich auf das +gegenwärtige+ Stadium der
+abendländischen+ Seele, während die bisher selbstverständliche
Meinung, diese Erfahrungen seien für die „menschliche Seele“ überhaupt
gültig, ohne Prüfung hingenommen worden ist.

Das Seelenbild ist immer nur das Bild einer ganz +bestimmten+
Seele und kann nie etwas andres, etwas Allgemeines sein. Der Forscher
mag noch so objektiv vorgehen, er wird nie aus seinem Kreise
herauskommen; was er auch „erkennen“ möge, jeder dieser Erkenntnisakte
ist bereits ein Ausdruck seiner Seele und sein ganzes Wissen von
ihr ein Zeugnis seines -- faustischen, magischen oder apollinischen
-- Daseins. Glaubt er antike, indische, arabische Seelenregungen zu
erkennen, nicht an ihren Wirkungen, sondern an sich selbst, so sieht er
sie durch das Medium der eignen, in Gestalt der eignen; er assimiliert
sie einem +vorhandnen+ Bilde und es ist kein Wunder, daß er dann
überall ein und dieselben Formen zu finden glaubt.

In der Tat gibt es keine allgemein menschliche Gestalt der Seele,
so wenig es -- das war früher nachgewiesen worden -- eine einzige,
im Lauf der Weltgeschichte sich entwickelnde Mathematik gibt. Wir
finden so viele Mathematiken, Logiken, Physiken, als es große Kulturen
gibt. Jede von ihnen, das heißt jedes Zahlenbild, Denkbild, Naturbild
ist Ausdruck einer einzelnen Kultur und dem organischen Dasein,
der Gestalt, Lebensdauer und Entfaltung nach von dieser bestimmt.
Dasselbe gilt vom +Seelenbilde+, dem einzigen Seelenelement,
wovon wir -- wie von der Natur -- +Erfahrung+ haben können. Es
ist eine Illusion, anzunehmen, daß eine Struktur dieses, ich möchte
sagen Oberflächlich-Seelischen vorhanden sei, die für alle Menschen
gilt. Jede Kultur, jede Epoche einer Kultur sogar schuf ihr eignes
Seelenbild, in dem sie dann allerdings das der Menschheit zu erblicken
glaubte. Seine Züge sind der symbolische Ausdruck dessen, was ich
die Idee des Daseins genannt hatte. Der faustische Mensch mit seinem
leidenschaftlichen Hange zum Grenzenlosen und Ewigen befindet sich
in einem steten Widerspruch gegen die sinnlichen Vordergründe des
Daseins, die er zu überwinden sucht, um den Sinn seiner Existenz, ihre
Bestimmung zu erfüllen. Im empirischen Bilde seiner Seele erscheint
+deshalb+ ein Symbol, das diese Seite unsres Lebensgefühls
repräsentiert. Wir sprechen vom menschlichen +Willen+ wie von
einem Wesen, empfinden ihn als ein an sich selbst existierendes Etwas
und sind überzeugt, daß er in jeder Menschenseele zu finden sei. Die
Griechen fanden ihn aber dort nicht. Obwohl gute Menschenkenner,
lassen sie in ihrer Psychologie jede Andeutung davon vermissen. Ihr
Lebensgefühl, ihre Art zu sein, forderte andre Symbole im Seelenbilde.

Eine wissenschaftliche Psychologie, selbst auf der Höhe einer
Zivilisation, tut dasselbe wie der Urmensch, nur geistiger, nur
klarer, nur bedeutsamer. Wir sahen, wie alle frühe Kunst hinsichtlich
ihrer ornamentalen Formensprache eine Beschwörung des Fremden, der
Dämonen war, wie sie das Gewordne „tabu“ zu machen sucht, indem sie
es in eine Gestalt, Ausdruck und Abbild des eignen Seins, bannt.
Auch der Psycholog -- und hier ahnt man, weshalb jeder Kulturmensch
das tiefe Bedürfnis hat, es zu sein -- beschwört das „Seelchen“;
er macht es tabu wie der primitive Mensch, nicht durch elementare,
sondern durch geistige Formen, nicht durch Riten und Fetische,
sondern durch Vorstellungen und begriffliche Distinktionen. Das ist
+seine+ Art, sich gegen das Unheimliche und Unergründliche zu
wehren, das im Seelischen schläft. Alle theoretische Psychologie ist
ein +Namenzauber+, eine Sublimation desselben Aktes, durch den
der Wilde seinen Feind, sei es ein Mensch oder eine Gottheit, in seine
Gewalt bringt. Das Seelenbild, vermeintlich ein untrügliches Resultat
objektiven Denkens, ist ein Stück später Mythologie; es gehört zu den
Schöpfungen, gegen welche der Spruch sich richtet: Du sollst dir kein
Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen.

So ergibt sich eine neue Stellung und Richtung der Seelenforschung.
Ich komme auf die Unterscheidung der beiden Welten zurück, die dem
höheren Menschen möglich sind: Natur und Geschichte. Im Hinblick auf
die morphologische Betrachtung entspricht ihnen der Gegensatz von
Systematik und Physiognomik. Die alte, systematische Psychologie
betrachtete das Seelenbild wie ein Stück Natur, gesetzlich ein für
allemal fixiert, zeitlos als das, was ist, und sie wurde so zu einer
Art Topographie, die räumlich und kausal geordnete Einzelheiten
festzustellen versuchte; die neue wird es als ein sich beständig
wandelndes +historisches Phänomen+ betrachten, und zwar jedes
einzelne der bisher erschienenen Seelenbilder hinsichtlich dessen, was
es +bedeutet+. Physiognomik treiben -- das heißt die jeweilige
menschliche Erscheinung als symbolischen Ausdruck eines inneren Seins
auffassen. Zu dieser Erscheinung gehören aber nicht nur Gesichtszüge,
Haltung, Geste, Tracht, sondern auch die Idee einer Zahl, das Bild der
Natur und ihm genau entsprechend das Bild der Seele, wie es der Mensch
einer Kultur mit wahlloser Notwendigkeit besitzt.

Nach allem wird man über die hohe Bedeutung der einzelnen, in der
Weltgeschichte auftauchenden Seelenbilder nicht mehr im Zweifel sein.
Der antike -- apollinische, dem punktförmigen, euklidischen Sein
hingegebene -- Mensch blickte auf seine Seele wie auf einen zur Gruppe
schöner Teile geordneten Kosmos. Plato nannte sie νοῦς, θυμός, ἐπιθυμία
und verglich sie mit Mensch, Tier und Pflanze, einmal sogar mit dem
südlichen, nördlichen und hellenischen Menschen. Was hier nachgebildet
ist, ist die Natur, wie sie sich vor den Blicken antiker Menschen
entfaltet: eine wohlgeordnete Summe greifbarer Dinge, denen gegenüber
der Raum als das Nichtseiende empfunden wird. Wo findet sich in diesem
Bilde der „Wille“? Wo die Vorstellung funktionaler Zusammenhänge? Wo
sind die übrigen Schöpfungen +unserer+ Psychologie? Glaubt man,
daß Plato und Aristoteles sich auf die Analyse schlechter verstanden
haben und etwas nicht sahen, was sich uns geradezu aufdrängt? Oder
fehlt hier der Wille, wie in der antiken Mathematik der Raum, in der
Physik die Kraft fehlt?

Dagegen nehme man unter den abendländischen Psychologien, welche man
will. Man wird immer eine +funktionale+, keine stereometrische
Analyse finden; y = f(x): das ist die Urgestalt aller Eindrücke,
die wir von unserm Innern empfangen. Denken, Fühlen, Wollen -- aus
dieser Dreiheit kommt kein westeuropäischer Psychologe heraus, so
gern er möchte -- sind nicht Teile eines körperhaften Ganzen, sondern
transzendente Beziehungskomplexe, Funktionszentren. Assoziationen,
Apperzeptionen, Willensvorgänge und wie die Bildelemente sonst heißen
mögen, sind ohne Ausnahme vom Typus mathematischer Funktionen und der
Form nach gänzlich unantik.

Das faustische und das apollinische Seelenbild stehen einander schroff
gegenüber. Alle früheren Gegensätze tauchen wieder auf. Man darf
die imaginäre Einheit, auf welche psychologische Überlegungen sich
beziehen, hier als +Seelenkörper+, dort als +Seelenraum+
bezeichnen. Der Körper besitzt Teile, im Raum verlaufen Prozesse.
Der antike Mensch empfindet seine Psyche plastisch. So weilt sie im
Hades, schattenhaft, aber ein wohl erkennbares Abbild des Körpers.
So sieht sie auch der Philosoph. Ihre drei schön geordneten Teile --
λογιστικόν, ἐπιθυμητικόν, θυμοειδές -- erinnern an die Gruppe des
Laokoon. Wir stehen unter einer musikalischen Imagination; die Sonate
des innern Lebens hat den Willen als Hauptthema; Denken und Fühlen
sind die Nebenthemen; der Satz unterliegt den strengen Regeln eines
seelischen Kontrapunkts, die zu finden Aufgabe der Psychologie ist. Die
einfachsten Elemente unterscheiden sich wie antike und abendländische
Zahlen: dort sind sie Größen, hier Beziehungen. Der seelischen
+Statik+ des apollinischen Daseins -- dem stereometrischen Ideal
der σωφροσύνη und ἀταραξία -- steht die +Seelendynamik+ des
faustischen -- des tätigen Lebens -- gegenüber.

Deshalb besaß der hellenische Mensch nicht jenes faustische Gedächtnis,
jenes historische Grundgefühl, in dem die gesamte innere Vergangenheit
stets gegenwärtig ist und den Augenblick in eine werdende Unendlichkeit
taucht. Dies Gedächtnis, die Grundlage aller Selbstbetrachtung, Sorge
und Pietät gegen die eigne Geschichte, entspricht dem Seelenraum mit
seinen unendlichen Perspektiven. Auch dieser +innere+ Raum ist
für den echten Hellenen τὸ μὴ ὄν; er lebt punktförmig, völlig im Jetzt
aufgehend; seine Erinnerungen sind eine Anzahl zufällig behaltener
Daten, nicht mehr, vor allem nichts, was auf die Gegenwart noch
wirken könnte. In keiner griechischen Tragödie spielt das Innenleben
eine Rolle, wie es im Othello, im König Lear, im Tasso der Fall ist.
Der Stil der griechischen Seele ist anekdotisch-mythisch, der der
nordischen genetisch-historisch. Das ist der Unterschied zwischen
psychischer Plastik und Musik.

Das apollinische Seelenbild -- Platos Zweigespann mit dem νοῦς als
Lenker -- verflüchtigt sich sofort mit der Annäherung an das magische
Seelentum der arabischen Kultur. Es verblaßt schon in der späteren
Stoa, deren Schulhäupter vorwiegend Semiten waren. In der früheren
Kaiserzeit ist es selbst in der stadtrömischen Literatur nur als
Reminiszenz anzutreffen.

Das magische Seelenbild trägt die Züge eines strengen +Dualismus
zweier rätselhafter Substanzen, Geist und Seele+. Zwischen ihnen
herrscht weder das antike, statische, noch das abendländische,
funktionale Verhältnis, sondern wieder ein völlig anders gestaltetes,
das sich eben nur als magisch bezeichnen läßt. Man denke im Gegensatz
zur Physik Demokrits und zu der Galileis an die Alchymie und den
Stein der Weisen. Dies spezifisch morgenländische Seelenbild liegt
mit innerer Notwendigkeit allen psychologischen, vor allem auch
theologischen Betrachtungen zugrunde, welche die „gotische“ Frühzeit
der arabischen Kultur (0-300) erfüllen. Das Johannesevangelium zählt
nicht weniger dazu wie die Schriften der Gnostiker und Kirchenväter und
die sich ganz religiös äußernde Altersstimmung des Imperium Romanum,
die das wenige Lebendige in ihrem Philosophieren dem jungen Orient,
Syrien und Alexandria, entnahm. Schon der große Poseidonios, trotz
der antiken Außenseite seines ungeheuren Wissens ein echter Semit und
von früharabischem Geiste, empfand im innerlichsten Gegensatz zum
apollinischen Lebensgefühl diese magische Struktur der Seele als die
wahre. Ein den Körper belebendes Prinzip befindet sich in deutlichem
Wertunterschiede gegen ein andres, das abstrakte, göttliche πνεῦμα,
das allein die Anschauung Gottes gestattet. Dieser „Geist“ ist es, der
die höhere Welt hervorruft, durch deren Erzeugung er über das bloße
Leben, die vitale Seele, die Natur triumphiert. Es ist dies das Urbild,
das, bald religiös, bald philosophisch, bald künstlerisch gefaßt --
ich erinnere an das Porträt der konstantinischen Zeit mit den starr
ins Unendliche blickenden Augen; +dieser Blick repräsentiert das+
πνεῦμα --, allem Ichgefühl zugrunde liegt. Plotin und Origines haben
so empfunden. Paulus unterscheidet (z. B. 1. Kor. 15, 44) zwischen
σῶμα ψυχικόν und σῶμα πνευματικόν. Der Gnosis war die Vorstellung
einer doppelten, leiblichen oder geistigen Ekstase und die Einteilung
der Menschen in niedere und höhere, Psychiker und Pneumatiker,
geläufig. Plutarch hat die in der spätantiken Literatur verbreitete
Psychologie, den Dualismus von νοῦς und ψυχή, orientalischen Vorbildern
nachgeschrieben. Man setzte ihn alsbald zu dem Gegensatz von christlich
und heidnisch, Geist und Natur in Beziehung, aus dem dann das noch
heute nicht überwundene Schema der Weltgeschichte, die Einteilung
in Altertum, Mittelalter und die erst von der abendländischen
Wissenschaft hinzugefügte, immer wieder hinausgeschobene Neuzeit damals
hervorgegangen ist.

Seine streng wissenschaftliche Vollendung erfährt das magische
Seelenbild in den Schulen von Bagdad und Basra. Alfarabi und Alkindi
haben die verwickelten und uns wenig zugänglichen Probleme dieser
magischen Psychologie eingehend behandelt. Ihr Einfluß auf die junge
Seelenlehre (weniger das Ichgefühl) des Abendlandes darf nicht
unterschätzt werden. Scholastische und mystische Psychologie haben
von Bagdad denselben Einfluß empfangen wie die gotische Kunst.
Man vergesse nicht, daß das Arabertum die Kultur der gestifteten
Offenbarungsreligionen ist. In ihrer Frühzeit rief sie das Christentum,
den Neuplatonismus und den Manichäismus, drei magische Systeme, ins
Leben, gar nicht zu reden von den vermeintlich spätantiken Kulten;
in ihrer Spätzeit den Islam und, was gleichfalls bisher kaum bemerkt
worden ist, die religiöse Fassung des heutigen Judentums, das seine
Verwandtschaft mit maurischem Geiste nirgends verleugnet. Man denke an
die Kabbala und den Anteil jüdischer Philosophen an der sogenannten
Philosophie des Mittelalters, d. h. zuerst des späten Arabertums
und dann der frühen Gotik. Ich nenne nur ein merkwürdiges, völlig
unbeachtet gebliebenes Beispiel: Spinoza. Aus dem Ghetto stammend ist
er, neben seinem Zeitgenossen Schirazi, der letzte verspätete Vertreter
des magischen und ein Fremder in der Formenwelt des faustischen
Weltgefühls. Er hat als kluger Schüler der Barockzeit seinem System
die Farbe abendländischen Denkens zu geben gewußt; in der Tiefe
steht er völlig unter dem Aspekt des arabischen Dualismus zweier
Seelensubstanzen. +Dies ist der wahre, innere Grund, weshalb ihm der
Kraftbegriff Galileis und Descartes’ fehlt.+ Dieser Begriff ist
der Schwerpunkt eines dynamischen Universums und damit dem magischen
Weltgefühl fremd. Zwischen der Idee vom Stein der Weisen -- die in
Spinozas Idee der Gottheit als _causa sui_ versteckt liegt -- und
der kausalen Notwendigkeit +unsres+ Naturbildes gibt es keine
Vermittlung. Deshalb ist sein Willensdeterminismus genau der, welcher
von der Orthodoxie in Bagdad verteidigt wurde -- „Kismet“ -- und dort
hat man die Heimat des Verfahrens „_more geometrico_“ zu suchen,
das in seiner Ethik innerhalb +unsrer+ Philosophie ein groteskes
Unikum bildet.

Noch einmal hat dann die deutsche Romantik dies magische Seelenbild
flüchtig heraufbeschworen. Man fand an Magie und Astrologie ebenso wie
an der Schwärmerei für maurische Kunst und neuplatonische Visionen
Gefallen, ohne von diesen entlegenen Dingen eben viel zu verstehen.
Schelling und sein Kreis gefielen sich in unfruchtbaren Spekulationen
in arabisch-jüdischem Stil, die man mit deutlichem Behagen als dunkel,
als „tief“ empfand, was sie für die Orientalen +nicht+ gewesen
waren, die man wohl zum Teil selbst nicht begriff und von denen
man hoffte, daß sie auch vom Hörer nicht begriffen werden würden.
Bemerkenswert ist an dieser Episode nur der Reiz des Dunklen, den diese
Gedankenkreise ausübten. Man darf den Schluß wagen, daß die klarsten
und zugänglichsten Fassungen faustischer Gedanken, wie man sie etwa bei
Descartes und in den Prolegomena von Kant findet, auf einen arabischen
Metaphysiker denselben Eindruck des Nebelhaften und Abstrusen gemacht
haben würden. Was für uns wahr ist, ist für sie falsch und umgekehrt:
das gilt vom Seelenbilde der einzelnen Kulturen wie von jedem andern
Resultat wissenschaftlichen Nachdenkens.


3

Die Kultur -- ein Urphänomen im goetheschen Sinne -- war als
Verwirklichung des seelisch Möglichen bezeichnet worden. Die junge,
ertagende, die gotische und dorische Seele ahnt nur die Gestalt ihres
Seins; sie sucht nach Ausdruck; sie möchte sich und alles andere
begreifen; sie sehnt sich hinaus zur Klarheit des späten Zustandes.
Die Außenwelt liegt noch in derselben Ungewissen Dämmerung wie die
innere. In diesem Stadium beginnt die Klärung des Seelenbildes, von
dem gezeigt worden war, daß es in jedem Augenblick das Abbild und
Komplement des Naturbildes ist. Die Zukunft wird sich an die schwierige
Aufgabe wagen müssen, in dem krausen Wust der Philosophie gotischen
Stiles, der Scholastik und Mystik, die gleiche Sonderung der letzten
Elemente vorzunehmen wie in der Ornamentik der Kathedralen und in der
primitiven damaligen Malerei, die zwischen dem flachen Goldgrund und
weiträumigen landschaftlichen Hintergründen -- der magischen und der
faustischen Art, Gott in der Natur zu sehen -- noch keine Entscheidung
zu treffen wagt. Es vermischen sich im frühen Seelenbilde, wie es
in dieser Philosophie zum Vorschein kommt, in zaghafter Unreife die
Züge christlich-arabischer Metaphysik, des Dualismus von Geist und
Seele, mit nordischen Ahnungen von funktionalen Seelenkräften, die man
sich noch nicht eingesteht. Dieser Zwiespalt liegt dem Streit um den
Primat des Willens oder der Vernunft zugrunde, dem +Grundproblem
der gotischen Philosophie+, das man bald im alten arabischen,
bald im neuen abendländischen Sinne zu lösen sucht. Man kann die
frühe Philosophie Westeuropas, ihren Kern, nur aus diesem großen
Zusammenhange begreifen. Es ist dasselbe Thema, das in stets sich
ändernder Fassung den Gang unserer gesamten Philosophie bestimmt und
diese von jeder anderen scharf unterscheidet. Schopenhauer, ihr letzter
großer Systematiker, hat es auf die Formel „Die Welt als Wille und
Vorstellung“ gebracht und seine +Ethik+ ist es, die +gegen+
den Willen entscheidet.

Hier tritt der geheimste Grund und Sinn alles Philosophierens innerhalb
einer Kultur unmittelbar zutage. Denn es ist die +faustische
Seele+, die in vielhundertjährigem Mühen ein visionäres Bild von
sich zu formen versucht, ein Bild, das zugleich mit dem Bilde der Welt
einen tiefgefühlten Einklang aufweist. Die gotische Philosophie mit
ihrem Dilemma von Vernunft und Wille ist in der Tat ein Ausdruck des
+Lebensgefühls+ jener Menschen der Kreuzzüge, der Staufenzeit
und der Dombauten. +Man sah die Seele so, weil man so war.+ Und
als Schopenhauer den Gegensatz noch einmal, in seiner schärfsten,
zivilisierten Form hinstellte, bewies er nur, daß sich in dem, was
diese faustische Seele von jeder andern unterscheidet, nichts geändert
hatte.

+Wollen und Denken im Seelenbilde -- das ist Richtung und Ausdehnung,
Historie und Natur im Bilde der äußern Welt.+ Daß unser Ursymbol
die unendliche Ausgedehntheit ist, tritt in diesen Grundzügen beider
Aspekte zutage. Der Wille knüpft die Zukunft an die Gegenwart, das
Denken -- das faustische, nicht das apollinische -- das Grenzenlose an
das Hier. +Die historische Zukunft ist die werdende, der unendliche
Welthorizont die gewordene Ferne+: dies ist der Sinn des faustischen
Tiefenerlebnisses. Das Richtungsgefühl wird als „Wille“, das Raumgefühl
als „Verstand“ wesenhaft, beinahe mythisch vorgestellt: so entsteht das
Bild, welches unsre Psychologen mit Notwendigkeit aus dem Innenleben
abstrahieren.

Daß die faustische Kultur +Willenskultur+ ist, ist nur ein
andrer Ausdruck für ihren eminent historischen Charakter. Der Wille
ist der psychische Repräsentant der „Welt als Geschichte“. Der
antike Mensch ist ahistorisch, rein gegenwärtig, ohne jenes das
Weltbild beherrschende, die Sinneseindrücke zum unendlichen Raum
dehnende Richtungsgefühl: er ist „willenlos“. Darüber läßt die
antike Schicksalsidee, das Fatum, keinen Zweifel, noch weniger der
architektonische Typus der dorischen Säule und die nackte Statue mit
ihrer stereotypen Maske. +Folglich+ kann auch das apollinische
Seelenbild keinen Richtungsfaktor, keinen „Willen“ also, enthalten.
Neben dem Denken (νοῦς), das von den großen Philosophen sehr
bezeichnend Zeus genannt wird, stehen die ahistorischen Komplexe
der animalischen und vegetativen Triebe (θυμός und ἐπιθυμία), ganz
somatisch, ganz ohne einen bewußten Zug und Drang zu einem Ziel. Nichts
deutet auf ein Unendlichkeitsbedürfnis hin.

Um die Entwicklung des „Seelenraumes“, jener transzendenten
Unendlichkeit, die unser inneres Auge überblickt und in Momenten der
Reflexion durchdringt, deutlich zu machen, wüßte ich nichts Besseres
als an die Reihe der Porträts von Jan van Eyck bis auf Velasquez
und Rembrandt herab zu erinnern, deren Ausdruck im Gegensatz zu dem
ägyptischer und byzantinischer Bildnisse mit wachsender Bestimmtheit
das fühlen läßt, was die wissenschaftliche Psychologie unterdes in ein
System hatte bringen wollen. Der Widerstreit von Wollen und Denken
ist das geheime Thema dieser Köpfe und ihrer Physiognomik, sehr im
Gegensatz zu den hellenistischen Idealbildnissen des Euripides, Plato,
Demosthenes, die ein ganz anderes Ichgefühl vortragen.

Der „Wille“ ist das symbolische Etwas, welches das faustische
Seelenbild von jedem andern unterscheidet. Der Wille wird sich so wenig
jemals begrifflich fassen lassen wie der letzte Sinn der Worte Gott,
Kraft, Raum. Er ist ein +Urwort+ wie sie, das man erlebt, erfühlt,
nicht erkennt. Das gesamte Dasein des abendländischen Menschen -- Leben
als Verwirklichung des innerlich Möglichen gedacht -- steht unter
seinem Aspekt. +Seelenbild und Lebensgefühl gehören zusammen.+

Wie man das faustische Prinzip bezeichnen will, das uns und nur uns
angehört, ist gleichgültig. Name ist Schall und Rauch. Auch Raum ist
ein Wort, das in tausend Nuancen im Munde des Mathematikers, Denkers,
Dichters, Malers ein und dasselbe Unbeschreibliche ausdrücken möchte,
das anscheinend der ganzen Menschheit angehört und in Wahrheit nur
innerhalb der abendländischen Kultur die Geltung hat, die wir ihm
mit innerer Notwendigkeit zuschreiben. Nicht das angebliche Vermögen
„Wille“, sondern der Umstand, daß es für uns dies Wort überhaupt gibt,
während +die Griechen es gar nicht kannten+, hat die Bedeutung
eines großen Symbols. Im letzten Grunde besteht zwischen Raum und Wille
kein Unterschied mehr. Den antiken Sprachen fehlt die Bezeichnung
für das eine und +also auch+ für das andere.[93] Der reine Raum
des faustischen Weltbildes ist eine ganz besondere Idee, nicht bloße
Extension, sondern Ausdehnung als Wirksamkeit, als Überwindung des
Nur-Sinnlichen, als Spannung und Tendenz, als Wille zur Macht. Ich weiß
wohl, wie unzulänglich diese Umschreibungen sind. Es ist vollständig
unmöglich, durch exakte Begriffe den Unterschied anzugeben zwischen
dem, was wir und was die Menschen der arabischen oder indischen Kultur
Raum nennen und bei diesem Worte denken, empfinden, vorstellen. Daß
es etwas durchaus Verschiedenes ist, beweisen die sehr verschiedenen
Grundanschauungen der jeweiligen Mathematik und bildenden Kunst, vor
allem die unmittelbaren Äußerungen des +Lebens+. Wir werden sehen,
wie die Identität von Raum und Wille in den Taten des Kopernikus
und Kolumbus so gut wie in denen der Hohenstaufen und Napoleons zum
Ausdruck kommt -- Beherrschung des Weltraums --, aber sie liegt in
andrer Weise auch in den physikalischen Begriffen der Raumenergie
(Energie der Lage, Spannung) und des Potentials, die man keinem
Griechen hätte verständlich machen können. Raum als die Form _a
priori_ der Anschauung, die Formel, in der Kant endgültig aussprach,
was die Barockphilosophie unablässig gesucht hatte -- das bedeutet
einen +Herrschaftsanspruch+ der Seele über das Fremde. Das Ich
regiert vermittelst der Form die Welt.[94]

+Das+ bringt die Tiefenperspektive der Ölmalerei zum Ausdruck, die
den unendlich gedachten Bildraum vom Betrachter abhängig macht, der ihn
von der gewählten Entfernung aus im wörtlichen Sinne +beherrscht+.
Es ist jener Zug in die Ferne, der zum Typus der +heroischen,
historisch empfundenen+ Landschaft im Gemälde wie im Park führt,
dasselbe, was der mathematisch-physikalische Begriff des Vektors zum
Ausdruck bringt. Jahrhunderte hindurch hat die Malerei leidenschaftlich
nach diesem großen Symbol gestrebt, in dem alles liegt, was die
Worte Raum, Wille, Kraft ausdrücken möchten. Ihm entspricht die
ständige Tendenz der Metaphysik, durch Distinktionen wie die von
Form der Erscheinung und Ding an sich, Wille und Vorstellung, Ich
und Nicht-Ich, die sämtlich von rein dynamischem Gehalte sind, sehr
im Gegensatz zur Lehre des Protagoras vom Menschen als dem +Maß,
also nicht dem Schöpfer+ aller Dinge, die funktionale Abhängigkeit
der Dinge vom Geiste zu formulieren. Der antiken Metaphysik gilt
der Mensch als Körper unter Körpern, und Erkennen ist hier eine Art
von +Berührung+. Die optischen Theorien des Anaxagoras und
Demokrit sind weit entfernt, dem Menschen eine Aktivität in der
Sinneswahrnehmung zuzugestehen. Plato empfindet das Ich niemals als
Mittelpunkt einer transzendenten Wirkungssphäre, wie es Kant ein
inneres Bedürfnis war. Die Gefangenen in seiner berühmten Höhle sind
wirklich Gefangene, Sklaven äußerer Eindrücke, nicht ihre Herren, von
der allgemeinen Sonne beschienen, nicht selbst Sonnen, die das All
durchleuchten.

Der physikalische Begriff der Raumenergie -- die gänzlich unantike
Vorstellung, daß bereits die +räumliche Distanz+ eine Energieform,
sogar die Urform aller Energie ist -- denn das ist die Grundlage
der Begriffe Kapazität und Intensität -- beleuchtet das Verhältnis
des Willens zum imaginären Seelenraum. Wir fühlen, daß beides, das
dynamische Weltbild Galileis und Newtons und das dynamische Seelenbild
mit dem Willen als Schwerpunkt und Beziehungszentrum, ein und dasselbe
bedeuten. Sie sind beide Barockphänomene, Symbole der zur vollen Reife
gelangten faustischen Kultur.

Man tut unrecht, wie es oft geschieht, die Willenspsychologie, wenn
nicht für allgemein menschlich, so doch für allgemein christlich
zu halten und sie aus orientalischen Theorien abzuleiten. Dieser
Zusammenhang gehört lediglich der historischen Oberfläche an, und es
war wiederholt darauf hingewiesen worden, daß unter dem Namen und
der äußeren Form des magischen Christentums auf westeuropäischem
Boden eine neue Religion entstanden ist. Aber das gleiche gilt von
allen philosophischen Begriffen. Wenn arabische Psychologen, Murtada
z. B., von der Möglichkeit mehrerer Willen reden, von einem Willen,
der mit dem Tun zusammenhängt, von einem andern, der ihm selbständig
voraufgeht, von einem Willen, der überhaupt keine Beziehung zur Tat
hat, der das Wollen erst erzeugt usw., so haben wir offenbar ein
Seelenbild vor uns, das der Struktur nach von dem faustischen gänzlich
verschieden ist.

Bei Augustinus erscheint ein dem unsern entfernt verwandter
Willensbegriff, und zwar in Verbindung mit einem entsprechenden
Gottesbegriff. Auch dieser Zusammenhang ist von tiefer Notwendigkeit.
Die Seelenelemente sind für jeden Menschen, welcher Kultur er auch
angehört, die Gottheiten eines innern Kosmos. Was Zeus für den äußeren
Olymp ist, das ist für den der inneren Welt, für jeden Griechen
mit absoluter Deutlichkeit vorhanden, der νοῦς. Was für uns „Gott“
ist, Gott als Weltatem, als die Allkraft, als die allgegenwärtige
Wirkung und Vorsehung, das ist, aus dem Weltraum in den imaginären
Seelenraum zurückgespiegelt und von uns mit Notwendigkeit als wirklich
vorhanden empfunden, „Wille“. Zum psychischen Dualismus der magischen
Kultur, zu πνεῦμα und ψυχή, gehört mit Notwendigkeit der kosmische
Gegensatz von Gott und Luzifer, dem absolut Guten und dem absolut
Bösen, und man wird bemerken, daß im abendländischen Weltgefühl beide
Gegensätze +zugleich+ verblassen. In demselben Grade, wie der
Wille sich als Mitte eines psychischen Monotheismus herausbildet,
entschwindet die Gestalt des Teufels aus der wirklichen Welt. Der
Pantheismus der äußeren Welt hat einen innern unmittelbar zur Folge
und was -- in welcher Bedeutung auch -- das Wort „Gott“ +der Natur
gegenüber+ bezeichnen soll, das bezeichnet jedesmal das Wort
Wille gegenüber der Seele: den Herrscher in seinem Reich.[95] Das
Gefühl, welches der faustische Mensch, sei es Pascal oder Goethe oder
Beethoven, von Gott hat, erschöpft sich in dem Ausdruck Weltwille.
Der Darwinismus ist nichts anderes als eine außergewöhnlich flache
Fassung dieses Gefühls. Kein Grieche würde das Wort Natur im Sinne
einer absoluten und planmäßigen Aktivität so gebraucht haben, wie
die moderne Biologie es tut. Der „Wille Gottes“ ist für uns ein
Pleonasmus. Gott (oder „die Natur“) ist nichts als Wille. So gut der
Gottesbegriff seit der Renaissance unmerklich mit dem Begriff des
unendlichen Weltraums identisch wird und die sinnlichen, persönlichen
Züge verliert -- Allgegenwart und Allmacht sind beinahe mathematische
Begriffe geworden --, so gut wird er zum unanschaulichen Weltwillen.
Die reine Instrumentalmusik überwindet mit Bach die Malerei, als das
einzige und letzte Mittel, dies Gefühl von Gott zu verdeutlichen.
Der Prozeß einer symbolischen Klärung, der die Geistesgeschichte des
Barock ausfüllt, offenbart sich in der dichten Folge metaphysischer
Systeme, die sämtlich das Grundgefühl, welches Goethe in Verse und
Bach und Beethoven in Musik brachten, in ein abstraktes System zu
fassen versuchten. Giordano Bruno ist der erste, Hegel der letzte
in dieser Reihe. Demgegenüber denke man an die Götter Homers. Zeus
besitzt durchaus nicht die Macht über die Welt; selbst auf dem Olymp
ist er -- wie es das apollinische Weltgefühl fordert -- _primus
inter pares_, Körper unter Körpern. Die Notwendigkeit, die ἀνάγκη,
welche das antike Denken im Kosmos statuiert, ist keineswegs von ihm
abhängig. Im Gegenteil: die Götter sind ihr unterworfen. Das wird
nicht ausgesprochen, aber man fühlt es bei Homer im +Streit+ der
Götter und an jener entscheidenden Stelle, wo Zeus die Schicksalswage
hebt, um das Los Hektors nicht zu fällen, sondern zu erfahren. Also
stellt sich die antike Seele mit ihren Teilen und Eigenschaften als ein
Olymp kleiner Götter dar, die in friedlichem Einvernehmen zu halten
das Ideal hellenischer Lebensführung, die σωφροσύνη und ἀταραξία ist.
Mehr als ein Philosoph verrät den Zusammenhang, indem er den höchsten
Seelenteil, den νοῦς, als Zeus bezeichnet. Aristoteles schreibt seiner
Gottheit als einzige Funktion die θεωρία, die Beschaulichkeit zu; es
ist das Ideal des Diogenes: eine zur Vollkommenheit gereifte Statik des
Lebens gegenüber der ebenso vollkommenen Dynamik im Lebensideal des 18.
Jahrhunderts.

Das rätselhafte Etwas, welches das Wort Wille bezeichnet, die
Leidenschaft der dritten Dimension, ist also ganz eigentlich eine
Schöpfung des Barock, wie die Perspektive der Ölmalerei, wie
der Kraftbegriff der neuern Physik, wie die Tonwelt der reinen
Instrumentalmusik. In allen Fällen hatte die Gotik vorgedeutet, was
diese Jahrhunderte der Durchgeistigung zur Reife brachten. Halten
wir hier, wo es sich um den Charakter, den Stil des faustischen
Lebens im Gegensatz zu jedem andern handelt, daran fest, daß Wille,
Kraft, Raum, Gott Symbole sind, struktive Prinzipien großer, einander
verwandter Formenwelten, in denen dieses Sein sich zum Ausdruck
bringt. Man war bisher darauf aus, hier objektive Fakta, an sich
seiende, konkrete, letzte Einheiten festzustellen, die irgendwann auf
dem Wege analysierender Forschung einmal völlig isoliert, „erkannt“
werden könnten. Diese Illusion der exakten Naturwissenschaft war in
gleicher Weise die der Psychologie und Erkenntnistheorie. Die Einsicht,
daß diese vermeintlich rein menschlichen Gegebenheiten lediglich
Barockphänomene sind, Ausdrucksformen von vergänglicher Bedeutung,
einige Jahrhunderte hindurch und nur für den westeuropäischen Menschen
„wahr“, verändert den ganzen Sinn dieser Wissenschaften, die nicht
mehr Subjekt, sondern selbst, als historische Phänomene, Objekte einer
höheren Betrachtung sind.

Die Architektur des Barock begann, wie wir sahen, als Michelangelo
die tektonischen Prinzipien der Renaissance, Stütze und Last,
durch die dynamischen: Kraft und Masse ersetzte. Brunellescos
Pazzikapelle drückt eine heitere Gelassenheit aus; die Fassade von
Il Gesù ist +steingewordner Wille+. Man hat den neuen Stil in
seiner kirchlichen Prägung Jesuitenstil genannt, vor allem nach der
Vollendung, die er durch Vignola und Della Porta erfuhr, und in der
Tat besteht ein innerer Zusammenhang zwischen der Gründung des Ignaz
von Loyola, dessen Orden den reinen, abstrakten Willen der Kirche,[96]
einer transzendenten Gemeinschaft, in vollkommen spiritueller Weise
repräsentiert, dessen verborgene, ins Unendliche sich erstreckende
Wirksamkeit das Seitenstück zur Analysis und zur Potentialtheorie ist,
und der künstlerischen Formensprache der Epoche. Damals war es, wo die
Parkanlagen jenen strengen Ausdruck annahmen, der in geradlinigen
Buchengängen, Alleen und Durchblicken (dem _point de vue_)
die Absicht kundgibt, auch die Natur dem Willen und seinem Symbol,
der räumlichen Tiefe unterzuordnen. Der chinesisch-japanische Park
kennt, der Bilderperspektive entsprechend, dies gestaltende Prinzip
+nicht+.

Es wird nun nicht mehr als Paradoxon empfunden werden, wenn künftig
vom +Barockstil+, ja vom +Jesuitenstil in der Psychologie,
Mathematik und theoretischen Physik+ die Rede ist. Die Formensprache
der Dynamik, welche den energischen Gegensatz von Kapazität und
Intensität an Stelle des somatisch-willenlosen von Stoff und Form
setzt, ist allen geistigen Schöpfungen dieser Jahrhunderte gemeinsam.


4

Es ist nun die Frage, inwiefern der Mensch dieser Kultur selbst
erfüllt, was das von ihm konzipierte Seelenbild erwarten läßt.
Darf man das Thema der neuern Physik jetzt ganz allgemein als den
wirkenden Raum bezeichnen, so ist damit auch die Daseinsart, der
Daseins+inhalt+ des gleichzeitigen Menschen bestimmt. Wir,
faustische Naturen, sind gewöhnt, den einzelnen hinsichtlich seiner
+wirkenden+, nicht seiner plastisch-ruhenden Erscheinung ins Ganze
unsrer Lebenserfahrungen aufzunehmen. Was der Mensch ist, ermessen wir
an seiner +Tätigkeit+, die nach innen wie nach außen gewendet
sein kann, und alle einzelnen Vorsätze, Gründe, Kräfte, Überzeugungen,
Gewohnheiten werten wir durchaus nach dieser Richtung. Das Wort, in
dem wir diesen Aspekt zusammenfassen, heißt +Charakter+. Wir
sprechen von Charakterköpfen, von Charakterlandschaften; der Charakter
von bewegten Ornamenten, Pinselstrichen, Architekturmotiven, von
Schriftzügen, von Gleichungen und Funktionen: das sind uns geläufige
Wendungen. Die Musik ist die eigentliche Kunst des Charakteristischen,
was von Melodie und Instrumentation gleichmäßig gilt. Auch dies Wort
bezeichnet etwas Unbeschreibliches, etwas, das die faustische Kultur
aus allen andern heraushebt. Und zwar ist die tiefe Verwandtschaft
des Begriffs mit dem des Willens unverkennbar: Was der Wille im
Seelenbilde, ist der Charakter im Bilde des Lebens, wie es uns und
+nur+ uns Westeuropäern mit Selbstverständlichkeit vorschwebt.

Daß der Mensch Charakter habe, ist der Grundanspruch all unsrer
ethischen Systeme, so verschieden ihre metaphysischen oder praktischen
Formeln sonst sein mögen. Der Charakter -- der sich im +Strome
der Welt+ bildet, das Verhältnis des Lebens zur Tat -- ist eine
faustische Impression, und es besteht eine sehr feine Ähnlichkeit mit
dem physikalischen Weltbilde darin, daß der vektorielle Kraftbegriff
mit seiner Richtungstendenz sich von dem der Bewegung trotz schärfster
theoretischer Untersuchungen nicht hat isolieren lassen. Ebenso
unmöglich ist die strenge Scheidung von Wille und Seele, Charakter und
Leben. Wir empfinden auf der Höhe dieser Kultur, sicher seit dem 17.
Jahrhundert, das Wort Leben als schlechthin gleichbedeutend mit Wollen.
Ausdrücke wie Lebenskraft, Lebenswille, tätige Energie füllen als etwas
Selbstverständliches unsre ethische Literatur, während sie in das
Griechisch der Zeit des Perikles nicht einmal übersetzbar wären.

Man bemerkt -- was der Anspruch aller Moralen auf zeitliche und
räumliche Allgemeingültigkeit bisher verdeckt hat --, daß jede einzelne
Kultur als einheitliches Wesen höherer Ordnung im historischen
Gesamtbilde ihre eigne moralische Fassung besitzt. Es gibt so viele
Moralen, als es Kulturen gibt. Nietzsche, der als erster eine
Ahnung davon hatte, ist trotzdem von einer objektiven Morphologie
der Moral -- jenseits von Gut und Böse -- weit entfernt geblieben.
Er kam über Geschmacks-, bestenfalls über Nützlichkeitswertungen
gegenüber der antiken, indischen, Renaissancemoral nicht hinaus.
Aber gerade unserm historischen Sinne hätte das +Urphänomen der
Moral+ als solches nicht entgehen sollen. Uns ist, und zwar schon
seit den Tagen Petrarkas, die Vorstellung der Menschheit als eines
tätigen, kämpfenden, fortschreitenden Ganzen so notwendig, daß es uns
schwer wird, einzusehen, daß dies eine ausschließlich abendländische
Betrachtungsweise von vorübergehender Geltung und Lebensdauer ist.
Dem antiken Geiste erscheint die Menschheit als stationäre Masse, und
dem entspricht eine ganz anders geartete Moral, deren Dasein sich von
der homerischen Frühzeit bis zur Kaiserzeit verfolgen läßt. Überhaupt
wird man finden, daß dem im höchsten Grade aktiven Lebensgefühl der
faustischen Kultur die chinesische, babylonische und ägyptische, dem
streng passiven der Antike die indische und arabische näherstehen. Dies
äußert sich, um nur ein Beispiel zu nennen, darin, daß jene Kulturen
hochorganisierte Staatsformen kannten, deren politisch-soziale Akte
auf die Dauer und Zukunft hin orientiert waren, diese dagegen unter
dem Namen Staat politische Zufallsbildungen -- wie die Polis und den
Khalifat -- ohne historisch-formalen Gehalt und ohne Richtungsenergie
besaßen.

Wenn je ein Volk einen Kampf ums Dasein beständig vor Augen hatte,
so war es das hellenische, wo alle die Städte und Städtchen einander
bis zur Vernichtung bekämpften, ohne Plan, ohne Sinn, ohne Gnade,
aus einem vollkommen animalischen, ahistorischen Instinkt. Aber die
griechische Ethik war, trotz Heraklit, weit entfernt, den Kampf zu
einem ethischen Prinzip zu machen. Die Überwindung von Widerständen
ist vielmehr der typische Akt der abendländischen Seele. Aktivität,
Entschlossenheit, Selbstbehauptung werden gefordert; der Kampf gegen
die Eindrücke des Augenblicks, der Vordergründe des Lebens, des Nahen,
Greifbaren, Euklidischen, die Durchsetzung dessen, was Allgemeinheit
und Dauer hat, was Vergangenheit und Zukunft seelisch aneinanderknüpft,
ist der Inhalt aller faustischen Imperative von den frühesten Tagen
der Gotik, der Dombauten und Kreuzzüge, bis zu Kant und Napoleon und
weit darüber hinaus zu den ungeheuren Macht- und Willensäußerungen
unsrer Waffen, unsrer Verkehrsmittel und unsrer Technik. Das _Carpe
diem_, der antike Standpunkt, ist der vollkommene Widerspruch gegen
das, was Goethe, Kant, Pascal, was die Kirche wie das Freidenkertum als
allein wertvoll empfanden, das +tätige+ Sein. Auch das Prinzip
der bildenden Künste Westeuropas war die Überwindung des Augenscheins
zugunsten des ewigen, reinen Raumes. Man fühlt, wie nahe diese
energische Ethik an die Formenwelt der aus demselben Gefühl gestalteten
theoretischen Physik streift. Auch da ist es die Überwindung von
Widerständen, die in Gesetze gebracht wird.[97]

Wie alle Formen der Dynamik -- die malerische, musikalische,
physikalische, soziale, politische -- unendliche Zusammenhänge zur
Geltung bringen, und nicht wie die antike Physik den Einzelfall
und deren Summe, sondern den typischen Fall und dessen funktionale
Regel betrachten, so hat man unter Charakter das grundsätzlich
Gleichbleibende in der Genesis des Lebens zu verstehen. Andernfalls
spricht man von Charakterlosigkeit. Charakter ist, als Form einer
bewegten Existenz, in der mit größtmöglicher Variabilität im einzelnen
die höchste Konstanz im Prinzipiellen erreicht wird, das, was eine
echte Biographie wie Goethes „Wahrheit und Dichtung“ überhaupt möglich
macht. Plutarchs typisch antike Biographien sind demgegenüber nur
chronologisch, nicht organisch-genetisch geordnete Anekdotensammlungen,
und man wird zugeben, daß von Alkibiades, Perikles oder überhaupt
einem rein apollinischen Menschen nur die zweite, nicht die erste
Art von Biographie denkbar ist. Ihren Erlebnissen fehlt nicht die
Masse, sondern die Beziehung; sie haben etwas Atomistisches. Auf
das physikalische Weltbild bezogen: der Grieche hat nicht etwa
+vergessen+, in der Summe seiner Erfahrungen allgemeine Gesetze
zu suchen; er konnte sie in seinem Kosmos gar nicht +finden+.
Denn darin besteht der Unterschied apollinischer und faustischer
Lebensläufe, daß die einen ahistorisch-mythisch, die andern
historisch-genetisch angelegt sind, daß die einen in jedem Augenblick
ein Sein, die andern ein Werden vor Augen führen, daß im Gegensatz zum
antiken Menschsein für uns Charakter und Biographie sich wie Mögliches
zu Wirklichem, physikalisch ausgedrückt wie potentielle zu kinetischer
Energie verhalten.

Es folgt daraus, daß charakterologische Wissenschaften, vor allem
Physiognomik und Graphologie, innerhalb der Antike höchst mager
ausgefallen sein würden. An Stelle der Handschrift, die wir nicht
kennen, beweist es das antike Ornament, das gegenüber dem gotischen
-- man denke z. B. an den Mäander und die Akanthusranke -- von
einer unglaublichen Simplizität und Schwäche des charakteristischen
Ausdrucks, dafür von einem nie wieder erreichten Ausgeglichensein in
zeitlosem Sinne ist.

Es versteht sich von selbst, daß wir, dem antiken Weltgefühl
zugewendet, dort ein Grundelement der ethischen Wertung finden müssen,
das dem Charakter ebenso entgegengesetzt ist wie die Statue der Fuge,
die euklidische Geometrie der Analysis, der Körper dem Raume. Es ist
die +Geste+. Damit ist das Grundprinzip einer seelischen +Statik+
gegeben, und das Wort, welches an Stelle unsrer „Persönlichkeit“ in den
antiken Sprachen steht, heißt πρόσωπον, _persona_ (von _personare_,
hindurchtönen), nämlich +Rolle+, +Maske+. Im spätgriechisch-römischen
Sprachgebrauch bezeichnet es die +öffentliche Erscheinung+ und damit
den eigentlichen +Wesenskern des antiken Menschen+. Man sagte von
einem Redner, daß er als priesterliches, als soldatisches πρόσωπον
spreche. Der Sklave war ἀπρόσωπος, aber nicht ἀσώματος, d. h. er
hatte +keine Bedeutung+, aber eine „+Seele+“. Daß das Schicksal
jemandem die Rolle eines Königs oder Feldherrn zuerteilt habe, gibt
der Römer durch _persona regis, imperatoris_.[98] Damit verrät sich
der apollinische Stil des Lebens. Es handelt sich nicht um konsequente
Entfaltung innerer Möglichkeiten durch tätiges +Streben+, sondern um
die jederzeit geschlossene +Haltung+ und strengste Anpassung an ein
sozusagen plastisches Seelenideal. Nur in der antiken Ethik spielt der
Begriff Schönheit eine Rolle. Mag man dies Ideal σωφροσύνη, καλοκἀγαθία
oder ἀταραξία nennen, es ist immer die wohlgeordnete Gruppe sinnlich
greifbarer, durchaus öffentlich erscheinender, für die andern, nicht
für das eigene Ich bestimmter Vorzüge. Der Akzent liegt auf dem Sein,
nicht auf dem Wirken. Man war Objekt, nicht Subjekt des Lebens. Das
rein Gegenwärtige, Mythisch-Zeitlose, Augenblickliche, der Vordergrund
wurde nicht überwunden, sondern herausgearbeitet. Alle antiken Ethiken,
nicht nur die Stoa, predigen die willenlose Passivität, die schöne
Hingabe an die punktförmige Gegenwart, den Menschen als Statue. Noch
einmal: Innenleben ist in diesem Zusammenhange ein unmöglicher Begriff.
Das unübersetzbare, stets im westeuropäischen Sinne mißverstandene
ζῷον πολιτικόν des Aristoteles bezieht sich auf Menschen, die einzeln,
einsam, nichts sind, die nur als Mehrzahl etwas bedeuten -- was für
eine groteske Vorstellung ist ein Athener in der Rolle des Robinson!
--, auf der ἀγορά, dem _forum_, wo jeder sich an andern spiegelt
und dadurch erst eigentlich Wirklichkeit erhält. Dies alles liegt
in dem Ausdruck σώματα πόλεως: die Bürger der Stadt. Man begreift,
daß das Porträt, das Probestück der Barockkunst, mit der Darstellung
des Menschen identisch ist, insoweit er +Charakter+ hat, und daß
andrerseits in der ionischen Periode die Darstellung des Menschen
hinsichtlich seiner +Attitüde+, des Menschen als „_persona_“, mit dem
Formideal der attischen Aktstudie enden mußte.


5

Dieser Gegensatz hat zu zwei in jedem Betrachte grundverschiedenen
Formen der Tragödie geführt. Die faustische, das +Charakterdrama+,
und die apollinische, das +Drama der erhabenen Geste+, haben in
der Tat nicht mehr als den Namen gemeinsam.

Die Barockzeit machte, bezeichnenderweise ausschließlich von Seneka
und nicht von Äschylus und Sophokles ausgehend, mit steigender
Entschiedenheit an Stelle der Ereignisse den Charakter zum
Schwerpunkt des Ganzen, zur Mitte gewissermaßen eines seelischen
Koordinatensystems, das allen szenischen Tatsachen in bezug auf sich
Lage, Bedeutung und Wert zuweist; es entsteht eine Tragik des Wollens,
der wirkenden Kräfte, der +innern+, nicht notwendig in Sichtbares
umgesetzten Bewegtheit, während Sophokles das unvermeidliche Minimum
an Geschehen vor allem durch das Kunstmittel des Botenberichts hinter
die Szene verlegt. Die antike Tragik bezieht sich auf allgemeine Fälle,
nicht auf Persönlichkeiten; Aristoteles bezeichnet sie ausdrücklich als
μίμησις οὐκ ἀνθρώπων ἀλλὰ πράξεως καὶ βίου. Was er in seiner Poetik,
sicherlich dem für unsere Dichtung verhängnisvollsten Buche, ἦθος
nennt, nämlich die ideale Haltung eines ideal hellenischen Menschen
in einer schmerzlichen Lage, hat mit unserm Begriff von Charakter
als einer die Farbe der Ereignisse bestimmenden Beschaffenheit des
Ich so wenig zu tun, wie eine Fläche in Euklids Geometrie mit dem
gleichnamigen Gebilde etwa in Riemanns Theorie der algebraischen
Gleichungen. Daß man ἦθος mit Charakter übersetzte, statt das kaum
exakt Wiederzugebende durch Rolle, Haltung, Geste zu umschreiben, daß
man μῦθος, die +zeitlose Begebenheit+, durch Handlung gab, ist für
Jahrhunderte ebenso verderblich geworden wie die Ableitung des Wortes
δρᾶμα von Tun. Othello, Don Quijote, der Misanthrop, Werther sind
Charaktere. Das Tragische liegt im +bloßen Dasein+ so gearteter
Menschen inmitten der Welt. Ob gegen diese Welt, gegen sich, gegen
andre: der Kampf wird durch den Charakter, nicht durch etwas von außen
Kommendes aufgezwungen. Es ist +Fügung+, die Einfügung einer
Seele in einen Zusammenhang widersprechender Beziehungen, die keine
reine Auflösung gestattet. Antike Bühnengestalten aber sind Rollen,
keine Charaktere. Auf der Szene erscheinen immer dieselben Figuren,
der Greis, der Heros, die Jungfrau, dieselben schwer beweglichen, auf
dem Kothurn schreitenden, maskierten Puppen. Deshalb war die Maske
im antiken Drama auch der Spätzeit eine +innere Notwendigkeit+,
während wir ohne das Mienenspiel der Darsteller nicht auskommen.
Man wende ja nicht die Größe der griechischen Theater ein: auch die
Gelegenheitsmimen trugen Masken, und wäre das tiefere Bedürfnis nach
intimen Räumen dagewesen, so hätte sich die architektonische Form von
selbst gefunden.

Die in bezug auf einen Charakter tragischen Begebenheiten folgen aus
einer langen innern Entwicklung. In den tragischen Fällen des Ajax, des
Philoktet, der Antigone und Elektra aber ist eine innere Vorgeschichte
-- selbst wenn sie in einem antiken Menschen anzutreffen wäre -- für
die Folgen gleichgültig. Das entscheidende Ereignis überfällt sie,
unvermittelt, ganz zufällig und äußerlich, und hätte an ihrer Stelle
jeden andern und mit der gleichen Wirkung überfallen können. Es
brauchte nicht einmal ein Mensch desselben Geschlechtes zu sein.

Es bezeichnet den Gegensatz antiker und westeuropäischer Tragik noch
nicht scharf genug, wenn man nur von Handlung oder Ereignis redet.
Die faustische Tragödie ist +biographisch+, die apollinische ist
+anekdotisch+, d. h. jene umfaßt die Genesis eines ganzen Lebens, diese
den für sich stehenden gegenwärtigen Augenblick; denn welche Beziehung
hat die gesamte +innere+ Vergangenheit des Ödipus oder Orest zu dem
vernichtenden Ereignis? Der Anekdote antiken Stils gegenüber kennen
wir den Typus der +charakteristischen+, antimythischen Anekdote -- es
ist die +Novelle+ deren Meister Cervantes, Kleist, Hoffmann, Storm
sind --, die um so bedeutender ist, je mehr man fühlt, daß ihr Motiv
+nur einmal+ und nur zu +dieser+ Zeit und unter +diesen+ Menschen
möglich war, während der Rang der mythischen Anekdote -- der +Fabel+
-- durch die Reinheit der gegenteiligen Qualitäten bestimmt wird. Wir
haben da also ein Schicksal, das wie der Blitz trifft, gleichgültig
wen, und ein andres, das sich wie ein unsichtbarer Faden durch ein
Leben spinnt und dieses eine vor allen andern auszeichnet. Es gibt im
vergangenen Dasein Othellos, dieses Meisterstücks einer psychologischen
Analyse, nicht einen, nicht den geringsten Zug, der ohne Beziehung zur
Katastrophe wäre. Der Rassenhaß, das Alleinstehen des Emporkömmlings
unter den Patriziern, der Mohr als Soldat, als Naturmensch, als
der vereinsamte ältere Mann -- nichts von diesen Momenten ist ohne
Bedeutung. Man versuche doch, die Exposition des Hamlet, des Lear im
Vergleich zu der sophokleischer Stücke zu entwickeln. Sie ist durchaus
psychologisch, nicht eine Summe äußerer Daten. Von dem, was wir
heute einen Psychologen nennen, was für uns beinahe mit dem Begriff
eines Dichters identisch ist, hatten die Griechen keine Ahnung. So
wenig sie Analytiker in der Mathematik waren, so wenig waren sie es
im Seelischen, und antiken Seelen gegenüber konnte es nicht wohl
anders sein. „Psychologie“ -- das ist das eigentliche Wort für die
+abendländische+ Art von Menschengestaltung. Das paßt auf ein Porträt
Rembrandts so gut wie auf die Tristanmusik, auf Flauberts Madame
Bovary wie auf Dantes Vita Nuova. Keine andre Kultur kennt Ähnliches.
Gerade das ist es, was von der Gruppe antiker Künste mit Strenge
ausgeschlossen wurde. Psychologie ist die Form, in welcher der +Wille+,
der Mensch als verkörperter Wille, nicht der Mensch als σῶμα kunstfähig
wird. Wer hier Euripides nennt, der weiß gar nicht, was Psychologie
ist. Welche Fülle des Charakteristischen liegt schon in der nordischen
Mythologie mit ihren schlauen Zwergen, tölpischen Riesen, neckischen
Elben, mit Loki, Baldr und den andern Gestalten, und wie typisch
allgemein wirkt daneben der Olymp. Zeus, Apollo, Poseidon sind einfach
„Männer“, Hermes ist „der Jüngling“, Athene eine reifere Aphrodite,
die kleineren Götter -- wie auch die spätere Plastik beweist -- nur
dem Namen nach unterscheidbar. Das gilt im vollen Umfange auch von den
Gestalten der attischen Szene. Bei Wolfram von Eschenbach, Cervantes,
Shakespeare, Goethe entwickelt sich das Tragische von innen heraus,
dynamisch, funktional, bei den drei großen Tragikern Athens kommt es
von außen, statisch, euklidisch. Man denke an den Geschlechterfluch im
Hause der Atriden. Um eine früher auf die Weltgeschichte angewandte
Bezeichnung zu wiederholen: das vernichtende Ereignis macht dort
+Epoche+, hier bewirkt es eine +Episode+. Selbst der tödliche
Ausgang ist nur die letzte Episode eines aus lauter Zufälligkeiten
zusammengesetzten Daseins.

Eine Barocktragödie ist nichts als der führende Charakter noch einmal,
nur im realen Raume zur Entfaltung gebracht, als Kurve statt als
Gleichung, kinetische statt potentieller Energie. Die sichtbare Person
ist der mögliche, die Handlung der sich verwirklichende Charakter.
Dies ist der ganze Sinn unsrer noch heute unter antiken Reminiszenzen
und Mißverständnissen verschütteten Dramaturgie. Der tragische Mensch
der Antike ist ein euklidischer Körper, der in seiner Lage, die er
nicht gewählt hat und nicht ändern kann, von der Moira getroffen wird,
der sich in der Belichtung seiner Flächen durch die äußern Vorfälle
unveränderlich zeigt. Das ist die +Geste+, das πρόσωπον als
ethisches Ideal. In diesem Sinne ist in den Choephoren von Agamemnon
als dem „flottenführenden königlichen Leibe“ die Rede und sagt Ödipus
in Kolonos, daß das Orakel „seinem Leibe“ gelte. Man wird bei allen
bedeutenden Menschen der griechischen Geschichte bis auf Alexander
hinab eine merkwürdige Unbildsamkeit finden. Ich wüßte keinen, der in
den Kämpfen des Lebens eine innere Umwandlung vollzogen hätte, wie wir
sie von Luther und Ignaz von Loyola kennen. Was man allzu flüchtig bei
den Griechen Charakterzeichnung nennt, die Kunst, deren Meisterstücke
noch im 19. Jahrhundert die Wahlverwandtschaften und Stendhals Julian
Sorel sind, ist nichts als der Reflex der Ereignisse auf das ἦθος des
Helden, niemals der Reflex einer Persönlichkeit auf die Ereignisse.

Und so verstehen wir faustischen Menschen das Drama mit innerster
Notwendigkeit als ein Maximum an Aktivität, die Griechen mit
derselben Notwendigkeit als ein Maximum an Passivität. Die attische
Tragödie enthält überhaupt keine „Handlung“. Die antiken Mysterien
-- und Äschylus, der aus Eleusis stammte, hat das höhere Drama durch
Übertragung der Mysterienform mit ihrer Peripetie erst geschaffen --
waren sämtlich δράματα, d. h. liturgische Aktionen in der Art unserer
Passionen und Oratorien. Aristoteles bezeichnet die Tragödie als
Nachahmung eines Geschehens. Das, die Nachahmung, ist identisch mit
der vielberufenen +Profanation der Mysterien+, und man weiß,
daß Äschylus, der auch die sakrale Tracht der Eleusispriester für
immer als das Kostüm der attischen Bühne eingeführt hat, deshalb
angeklagt wurde.[99] Denn das eigentliche δρᾶμα mit seiner Peripetie
von der Klage zum Jubel lag gar nicht in der Fabel, die erzählt
wurde, sondern in der dahinter stehenden, vom Zuschauer im tiefsten
Sinne aufgefaßten und nachgefühlten Kulthandlung. Es war sicherlich
gewagt, den Vorgang dieser heiligen Erschütterung mit einer Burleske
zu verbinden. Der uralte Bockgesang der τράγοι, der als Böcke
verkleideten, von Dorf zu Dorf ziehenden Schauspieler, hatte mit
seiner Beziehung auf die wieder erwachende Zeugungskraft der Natur
Gelächter erregt. Das war volksmäßig. Nun aber hebt die Kalokagathie
dies künstlerische Element zu sich empor. Äschylus als der Vertreter
des aristokratisch-homerischen Prinzips führt den zweiten Schauspieler
und damit die Wechselrede ein und so wächst aus der Harlekinade, die in
das Satyrspiel am Schluß zurückgedrängt wird, die eigentliche antike
Tragödie empor. In ihr siegt der +Geist der Plastik+ über den
Orgiasmus, Apollo über Dionysos. Hier am Seelenfeste des Dionysos im
Frühling berühren sich Leben und Tod, das Phallische und die Klage um
das Vergängliche. Dionysos ist der Herr der abgeschiedenen Seelen. Auch
in Eleusis war das Umschlagen der Klage um den Tod zum Jubel über die
Rettung der Kore Inhalt der heiligen Messe.

Die Tragödie wuchs aus dem θρῆνος (_naenia_), der +feierlichen+
Klage am Totenfeste, hervor. Aber der apollinische, plastische Geist
gestaltet die ursprünglich allgemeine Klage zur besonderen. Es ist
der Heros der Stadt, über dessen Leiden der Chor die große Klage
anstimmt. Denn das erst hat die Tragödie vollendet: Der Klage als dem
+gegebenen+ Thema wird die Gestaltung eines großen menschlichen Leidens
als Motiv unterlegt. Äschylus führt die Heldensage in seinen 70 Dramen
als die Vordergrundfabel (μῦθος) der Szene ein. Der Zuschauer, der
den Sinn des Tages kannte, fühlte in den pathetischen Worten sich und
seine Ahnen gemeint. In +ihm+ vollzieht sich die Peripetie, die der
eigentliche Zweck der heiligen Handlung ist. Die liturgische Klage
über den Jammer des Menschengeschlechts ist immer, von Berichten
und Erzählungen umgeben, der Schwerpunkt des Ganzen geblieben. Man
sieht es am deutlichsten im Prometheus, Agamemnon und König Ödipus.
Aber hoch über die Klage hinaus erhebt sich die Größe des Dulders,
seine erhabene Attitüde, sein ἦθος, das in mächtigen Szenen zwischen
den Chorpartien vorgeführt wird. Nicht der heroische Täter, dessen
Willenskraft, dessen Lebenstendenz am Widerstand fremder Mächte
oder an den Dämonen in der eignen Brust wächst und bricht, sondern
der willenlos Leidende, dessen euklidisches, somatisches Dasein --
ohne tiefern Grund, wie man hinzufügen muß -- zerstört wird, ist das
Thema. Die Prometheustrilogie des Äschylus beginnt gerade dort, wo
Goethe sie vermutlich hätte enden lassen. Der Wahnsinn Lears ist die
notwendige Folge höchst komplizierter psychischer Voraussetzungen, in
deren Gewebe keine Masche fehlen darf. Der Ajax des Sophokles wird
von Athene wahnsinnig +gemacht, bevor+ das Drama beginnt. Das ist
der Unterschied zwischen einem Charakter und einer szenischen Figur.
In der Tat, Furcht und Mitleid sind, wie es Aristoteles beschreibt,
die notwendige Wirkung antiker Tragödien auf antike, und nur auf
antike Zuschauer. Das wird sofort klar, wenn man sieht, welche Szenen
von ihm als die wirksamsten bezeichnet werden -- man hat das bisher
übersehen --, nämlich jähe Glückswechsel und Erkennungsszenen. Zu
den ersten gehört vor allem der Eindruck des φόβος (Grauen), zu den
zweiten der des ἔλεος (Rührung). Der Gedanke der Katharsis ist nur
aus dem streng euklidischen Seinsideal der Ataraxie nachzuerleben.
Die antike „Seele“ ist reine Gegenwart, reines σῶμα, unbewegtes
punktförmiges Sein. Dies in Frage gestellt zu sehen, durch den Neid
der Götter, das blinde Ungefähr, das wahllos, blitzartig über jeden
hereinbrechen kann, ist das furchtbarste. Es greift an die Wurzeln der
antiken Existenz, während es den faustischen, alles wagenden Menschen
erst lebendig werden läßt. Und nun -- das sich lösen zu sehen, wie
wenn Gewitterwolken sich in dunklen Bänken am Horizont lagern und die
Sonne wieder durchbricht, das tiefe Gefühl der Freude an der geliebten
großen Geste, das Aufatmen der gequälten mythischen Seele, die Lust
am wiedergewonnenen Gleichgewicht -- das ist Katharsis. Das setzt
aber auch eine Psychologie voraus, die uns vollkommen fremd ist. Das
Wort ist in unsre Sprachen und Empfindungen kaum zu übersetzen. Die
ganze ästhetische Mühe und Willkür des Barock und des Klassizismus mit
der rückhaltlosen Ehrfurcht vor antiken Büchern im Hintergrunde, war
notwendig, um uns dies seelische Fundament auch für unsre Tragödie
aufzureden -- angesichts der Tatsache, daß ihre Wirkung gerade die
entgegengesetzte ist, daß sie nicht von passiven, statischen Affekten
erlöst, sondern aktive, dynamische hervorruft, reizt und auf die
Spitze treibt, daß sie die Urgefühle eines energischen Menschseins,
die Grausamkeit, die Freude an Spannung, Gefahr, Gewalttat, Sieg,
Verbrechen, das Glücksgefühl des Überwinders und Vernichters
weckt, Gefühle, die seit der Wikingerzeit, den Hohenstaufentaten
und Kreuzzügen in den Tiefen der nordischen Seele schlafen. +Das+
ist die Wirkung Shakespeares. Ein Grieche hätte den Macbeth gar
nicht ausgehalten; er hätte vor allem den Sinn dieser mächtigen
biographischen Kunst mit ihrer Richtungstendenz nicht begriffen. Daß
Gestalten wie Richard III., Don Juan, Faust, Michael Kohlhaas, Golo,
unantik vom Scheitel bis zur Sohle, nicht Mitleid, sondern einen
tiefen seltsamen Neid, nicht Furcht, sondern eine rätselhafte Lust an
Qualen, einen verzehrenden Wunsch nach einem ganz andern Mit–Leiden
wecken, verraten uns heute, wie die faustische Tragödie auch in ihrer
spätesten, der deutschen Form endgültig abgestorben ist, die ständigen
Motive der weltstädtischen Literatur Westeuropas, die man mit den
entsprechenden alexandrinischen vergleiche: In den „nervenspannenden“
Abenteurer- und Detektivgeschichten und ganz zuletzt im Kinodrama, das
durchaus den spätantiken Mimus vertritt, ist ein Rest der unbändigen
faustischen Überwinder- und Entdeckersehnsucht fühlbar.

Dem entspricht genau das apollinische und das faustische Bühnenbild,
das zur Vollständigkeit des Kunstwerkes gehört, wie es vom Dichter
gedacht worden war. Das antike Drama ist ein Stück Plastik, eine
Gruppe pathetischer Szenen von reliefmäßigem Charakter, eine Schau
riesenhafter Marionetten vor der flach abschließenden Rückwand
des Theaters. Es ist ausschließlich groß empfundene Geste, Ethos,
während die spärlichen Begebenheiten der Fabel feierlich vorgetragen,
dicht vorgeführt werden. Das Gegenteil will die Technik des
abendländischen Dramas: Ununterbrochene Bewegtheit und strenge
Ausschaltung handlungsarmer, statischer Momente. Die berühmten drei
Einheiten des Ortes, der Zeit und des Vorgangs +formulieren den
Typus der attischen Marmorstatue+. Und unvermerkt bezeichnen sie
das Lebensideal des antiken, an die Polis, die reine Gegenwart,
die Geste gebundenen Menschen. Die Einheiten haben sämtlich den
Sinn von +Negationen+: man verleugnet den Raum, man verneint
Vergangenheit und Zukunft, man lehnt alle seelischen Beziehungen
in die Ferne ab. Die drei Einheiten, ahistorisch, antimusikalisch,
schränken die Wirklichkeit auf den Vordergrund, die unmittelbare
Nähe und Gegenwart ein. Alles andre ist „τὸ μὴ ὄν“. Sie enthalten
zugleich das Ideal der euklidischen, der stoischen Ethik. Ἀταραξία --
in dem Worte könnte man sie zusammenfassen. Man verwechsle diese Form
ja nicht mit der oberflächlich ähnlichen im Drama der romanischen
Völker. Das spanische Theater des 16. Jahrhunderts hat sich dem Zwang
antiker Regeln unterworfen, aber man begreift, daß die kastilianische
Würde der Zeit Philipps II. sich davon angesprochen fühlte, ohne den
ursprünglichen Geist dieser Regeln zu kennen oder auch nur kennen zu
wollen. Islamisches Schicksalsgefühl vermittelte hier zwischen antikem
_fatum_ und spanischem Katholizismus, ohne daß man sich der innern
Distanz bewußt geworden wäre. Tirso de Molina erneuerte die Theorie von
den Einheiten, die Corneille, der kluge Zögling spanischer Grandezza,
in seiner berühmten Abhandlung von ihm entlehnte. Damit begann das
Verhängnis. Die florentinische Nachahmung der maßlos bewunderten
antiken Plastik, die niemand in ihren letzten Bedingungen begriff,
konnte nichts verderben, denn es gab damals keine nordische Plastik
mehr, die hätte verdorben werden können. Aber es gab die Möglichkeit
einer mächtigen, rein faustischen Tragödie von ungeahnten Formen und
Kühnheiten und daß sie, so groß Shakespeare ist, niemals den Bann einer
mißverstandenen Konvention ganz überwunden hat, das hat der Glaube
an die Poetik des Aristoteles verschuldet. Was hätte aus dem Drama
des Barock unter den Eindrücken der ritterlichen Epik, des Tristan
und Parzeval, und in Nachbarschaft zu den Oratorien und Passionen der
Kirche werden können, wenn man niemals etwas vom griechischen Theater
gehört hätte! Eine Tragödie aus dem Geiste der kontrapunktischen Musik,
ohne die Fesseln einer für sie sinnlosen plastischen Gebundenheit,
eine Bühnendichtung, die sich von Orlando Lasso und Palestrina an und
neben Heinrich Schütz, Bach, Händel, Gluck, Beethoven vollkommen frei
zu einer eignen und reinen Form entwickelt hätte -- das wäre möglich
gewesen. Nur dem glücklichen Umstande, daß die gesamte hellenische
Freskomalerei verloren ging, verdanken wir die Rettung, die innere
Freiheit der Ölmalerei.

Unsere tragischen Konzeptionen sind von faustischem Gehalt, aber der
dramatische Körper spanischen, französischen oder elisabethanischen
Stils, das fünfaktige Blankversdrama z. B., ist ein Kompromiß ohne
Tiefe. Was ohne die Kenntnis apollinischer Formen hätte entstehen
können, läßt allein der Faust ahnen, die einzige auch im Szenischen
unabhängige (wegen des Mangels an einer großen Tradition allerdings
fragmentarische) Schöpfung: was sie zerstört haben, lehrt Racine,
dessen mächtige Gestaltungskraft sich im Kampfe mit einem Schema
erschöpft hat, das niemand anzutasten wagte.


6

Mit den drei Einheiten war es nicht genug. Das attische Drama forderte
statt des Mienenspiels die starre Maske mit den wulstigen, weit
geöffneten Lippen -- es verbot also die seelische Charakteristik, wie
man die Aufstellung ikonischer Statuen verboten hatte. Es forderte
den Kothurn und die überlebensgroße, rings bis zur Unbeweglichkeit
gepolsterte Figur mit dem schleppenden Gewande -- und beseitigte damit
die Individualität der Erscheinung. Es forderte endlich den aus einem
röhrenartigen Mundstück monoton erschallenden Sprechgesang, dessen
für das Ohr nicht wahrnehmbare Kadenzen für das Auge durch Senken
eines Stäbchens bezeichnet wurden. Das Statuenhafte, Euklidische des
Szenenbildes war damit auf die Spitze getrieben. Nichts durfte in
Sprache und Erscheinung das Gefühl von Raumfernen, Seelenhorizonten und
zeitlichen Perspektiven heraufrufen.

Die faustische Tragik war die Ausschweifung einer Seele, die an einem
unbändigen, unersättlichen Willen litt, eine Rettung ins Poetische,
welche die Griechen, die an ganz andern Dingen litten, nicht nötig
hatten und nicht verstanden haben würden. Der „Neid der Götter“, der
das pflanzenhaft-euklidische Sein in seiner +Ruhe+ bedrohte, trieb
sie zur Verzweiflung. „Nie geboren zu sein, nie den Tag erblickt zu
haben und sein flammenhufiges Gespann“ -- das ist +ihre+ Klage,
und daneben und doch wieder eins und dasselbe steht die Klage des
Achilleus, der lieber der ärmste Tagelöhner sein als im Reiche der
Schatten weilen möchte. Deshalb klammerten sie sich mit nie endender
Angst an den Vordergrund der Dinge und schlossen die Augen vor dem
Fernen, das sie das Nichtseiende nannten. Deshalb umstellte der
Grieche sein Leben mit allen Symbolen der Nähe und des Körperlichen,
des tatenarmen, stoischen, richtungslosen Seins. Das trieb ihn zur
Geselligkeit, zum Leben eines ζῷον πολιτικόν, eines Menschen der Nähe
und Mehrzahl, als dessen leibhaftes Symbol der +Chor+ auf der
Szene weilt. Nichts steht dem ferner als das +Monologische+ der
faustischen Seele, ihre ungeheure Einsamkeit und Verlorenheit im All,
die sich durch die gesamte abendländische Kunst wie eine unendliche
Melodie hinzieht. Nichts ist einsamer als ein Bildnis Rembrandts,
als eine Fuge von Bach, ein Quartett von Beethoven. Wir haben das
attische Drama in seiner grandiosen Einseitigkeit und Unnatur gar nicht
verstanden. Der bloße Text, wie wir ihn heute +lesen+ -- nicht
ohne unvermerkt den Geist Goethes und Shakespeares und unsre ganze
Kraft perspektivischen Sehens hineinzutragen -- kann von dem tiefern
Sinn dieses Dramas +nichts+ geben. Antike Kunstwerke sind nur
für das antike Auge, und zwar das leibliche Auge geschaffen. Erst die
sinnliche Form der Darstellung schließt die eigentlichen Geheimnisse
auf. Ein Drama des Äschylus ist eine viel komplexere Einheit, als wir,
an das einsame Studium von Lesedramen gewöhnt -- und an eine „innere
Bühne“ also voller schrankenloser, die reale Darstellbarkeit weit
überschreitender Möglichkeiten --, meist annehmen. Der antike Mensch
war Zuschauer, nicht Leser, mit dem Leibe eher dabei als mit der
„Seele“, und der Verlust beinahe aller Meisterdramen des Äschylus und
Sophokles beweist, wie wenig ihm das Aufgeschriebene an sich, ohne die
Szene, bedeutet hat. Euripides, dessen Werke eher sozialphilosophische
Traktate sind, macht eine bezeichnende Ausnahme.

Die antike Seele, die nichts ist als die verwirklichte +Form des
antiken Leibes+ -- Aristoteles hat da, in seiner Lehre von der
Entelechie, das apollinische Lebensgefühl vollkommen richtig formuliert
--, weiß nichts von einer nachschaffenden Phantasie. Sie war an die
Szene mit der den Hintergrund schroff abschließenden Bühnenwand
gebunden. Mit dem wirklichen, von der südlichen Sonne überstrahlten
Vorgang war das Kunstwerk des Sophokles erschöpft. Führen wir, deren
Leib ein physiognomischer Ausdruck der faustischen Seele ist, wie
die Porträtkunst lehrt, aber heute ein Drama von ihm auf, so ist es
kein antikes Drama mehr. Wir sehen mit andern Augen und nicht nur mit
den leiblichen Augen und bemerken nun freilich den Gespensterschritt
starrer Puppen nicht mehr, der ein Sinnbild jenes uns so fremden
Lebensgefühls war. Wir sind geneigt, über derlei „Äußerlichkeiten“
hinwegzusehen und vergessen, daß die antike Kultur nur Äußerliches
als wirklich anerkennt, daß die Tiefe dieses Seelentums nur im
Sinnlich-Nahen liegt. Nichts kann das euklidische Lebensgefühl
deutlicher machen als eben das Element des Chores. Der Chor ist
die griechische +Urtragödie+, die Urklage über den Jammer des
menschlichen Seins und der Dialog in den Chorpausen -- feierlich und
keineswegs „dem Leben abgelauscht“ -- eine späte Zutat. Dieser Chor
als Menge, als der ideale Gegensatz zum einsamen, zum innerlichen
Menschen, zum Monolog der abendländischen Szene, dieser Chor, der immer
anwesend bleibt, vor dem sich alle „Selbstgespräche“ abspielen, der
die Angst vor dem Grenzenlosen, Leeren auch im Bühnenbilde vertreibt
-- das ist apollinisch. Die Selbstbetrachtung als +öffentliche+
Tätigkeit, die prunkvolle öffentliche Klage statt des Schmerzes im
einsamen Kämmerlein (-- „wer nie die kummervollen Nächte auf seinem
Bette weinend saß“ --), das tränenreiche Jammergeschrei, das eine ganze
Reihe von Dramen wie den Philoktet und die Trachinierinnen füllt, die
Unmöglichkeit, allein zu bleiben, der Sinn der Polis, all das Weibliche
dieser Kultur, wie es der Idealtypus des Apoll von Belvedere verrät,
offenbart sich im Symbol des Chores. Dieser Art von Drama gegenüber
ist das Shakespeares ein einziger Monolog. Selbst die Zwiegespräche,
selbst die Gruppenszenen lassen die ungeheure +innere+ Distanz
dieser Menschen empfinden, von denen jeder im Grunde nur mit sich
selbst spricht. Nichts vermag diese seelische Ferne zu durchbrechen.
Man fühlt sie im Hamlet wie im Tasso, im Don Quijote wie im Werther,
aber sie ist schon im Parzeval in ihrer ganzen Unendlichkeit Gestalt
geworden; sie unterscheidet die gesamte abendländische Poesie von der
gesamten antiken. Unsre ganze Lyrik, von Walther von der Vogelweide
bis auf Goethe, bis auf die Lyrik der sterbenden Weltstädte herab ist
monologisch, die antike Lyrik ist eine Lyrik im Chor, eine Lyrik vor
Zeugen. Die eine wird innerlich aufgenommen, im wortlosen Lesen, als
unhörbare Musik, die andre wird öffentlich rezitiert. Die eine gehört
dem schweigenden Raume -- als Buch, das überall zu Hause ist --, die
andre dem Platz, an dem sie erklingt.

Die Kunst des Thespis entwickelt sich deshalb, obwohl die Mysterien
von Eleusis und die thrakischen Feste der Epiphanie des Dionysos
nächtlich gewesen waren, mit innerster Notwendigkeit zu einer Szene
des Vormittags und des vollen Sonnenlichts. Aus den abendländischen
Volks- und Passionsspielen dagegen, die aus der Predigt mit verteilten
Rollen hervorgegangen sind und erst von Klerikern in der Kirche, später
von Laien auf dem freien Platz davor, und zwar an den Vormittagen
der hohen Kirchenfeste (Kirmessen) vorgetragen wurden, entstand
unvermerkt eine Kunst des Abends und der Nacht. Schon zu Shakespeares
Zeiten spielte man am Spätnachmittag und dieser mystische Zug, der
das Kunstwerk der ihm zugehörigen Helligkeit annähern will, hatte zur
Zeit Goethes sein Ziel erreicht. Jede Kunst, jede Kultur überhaupt
hat ihre bedeutsame Tagesstunde. Die kontrapunktische Musik ist die
Kunst der Dunkelheit, wo das innere Auge erwacht, die attische Plastik
die des vollen Lichtes. Wie tief diese Beziehung reicht, beweisen,
die gotische Plastik mit der sie umhüllenden ewigen Dämmerung und die
ionische Flöte, das Instrument des hohen Mittags. Die Kerze bejaht,
das Sonnenlicht verneint den Raum gegenüber den Dingen. In den Nächten
siegt der Weltraum über die Materie, im Lichte des Mittags verleugnen
die Dinge den Raum. So unterscheiden sich das attische Fresko und die
nordische Ölmalerei. So wurden Helios und Pan antike, der Sternenhimmel
und die Abendröte faustische Symbole. Auch die Seelen der Toten
gehen mitternachts um, vor allem in den zwölf langen Nächten nach
Weihnachten. Die antiken Seelen gehörten dem Tage. Noch die alte Kirche
hatte vom δωδεκαήμερον, den zwölf geweihten Tagen, geredet; mit dem
Erwachen der abendländischen Kultur wurde die „Zwölftnacht“ daraus.

Die antike Vasen- und Freskomalerei -- man hat das noch nie bemerkt --
kennt keine Tageszeit. Kein Schatten zeigt den Stand der Sonne, kein
Himmel die Gestirne an; es herrscht reine, +zeitlose Helligkeit+.
Das Atelierbraun der klassischen Ölmalerei entwickelte sich mit
gleicher Selbstverständlichkeit zum Gegenteil, einer imaginären, von
der Stunde unabhängigen Dunkelheit, der eigentlichen Atmosphäre des
faustischen Seelenraumes. Stete Helle und stete Dämmerung trennen in
der Tat antike und westeuropäische Malerei, antike und westeuropäische
Bühne voneinander. Und darf man nicht auch die euklidische Geometrie
eine Mathematik des Tages, die Analysis eine der Nacht nennen?

Man wird die Beziehung jener plastischen Geometrie zum Szenenbild des
Dionysostheaters -- mit Chor, Maske, Kothurn und den drei Einheiten --
nicht verkennen und ebensowenig die der Analysis zum unkörperlichen
Szenenbilde unsres Dramas, dem umrahmten Bühnenausschnitt in
künstlichem Lichte und mit perspektivischem Horizont, der den Weltraum
bedeutet. Gerade die raumfeindliche euklidische Körperlehre macht das
Prinzip der „Einheit des Ortes“ begreiflich. Jeder Szenenwechsel,
der die Phantasie zu einer Einheit höherer, nicht sinnlicher Ordnung
heraufruft, sprengt die rein stoffliche Gegenwart, bezieht den Weltraum
ein, wirkt perspektivisch, richtunggebend, musikalisch und zerstört den
stereometrischen, statuenhaften Aspekt, in dem alle Bedeutung für den
antiken Zuschauer beschlossen liegt.

Für die Griechen sicherlich eine Art profanen Frevels, ist der
Szenenwechsel für uns beinahe ein religiöses Bedürfnis, eine Forderung
der innern Wahrheit. In der gleichbleibenden Szene des Tasso liegt
etwas Heidnisches. Wir empfinden das als Unnatur. Wir brauchen
innerlich ein Drama voller Perspektiven und weiter Hintergründe,
eine Bühne, die alle sinnlichen Schranken aufhebt und die ganze Welt
in sich zieht. Shakespeare, der geboren wurde, als Michelangelo
starb, und zu dichten aufhörte, als Rembrandt zur Welt kam, hat
das Maximum von Unendlichkeit, von leidenschaftlicher Überwindung
aller statischen Gebundenheit erreicht. Seine Wälder, Meere, Gassen,
Gärten, Schlachtfelder liegen im Fernen, Grenzenlosen. Jahre fliehen
in Minuten vorüber. Der wahnsinnige Lear zwischen dem Narren und
dem tollen Bettler im Sturm auf der nächtlichen Heide, das Ich
in tiefster Einsamkeit im Raume verloren -- das ist faustisches
Lebensgefühl. Man wird bemerken, daß -- wie im Ölgemälde, dessen
infinitesimaler Geist mit dem der tragischen Szene völlig identisch
ist -- auch im Szenenbilde die charakteristische Landschaft eine
vorwiegende Rolle spielt, und auch das schlägt die Brücke hinüber zu
den innerlich gesehenen, erfühlten Landschaften der Musik, daß die
Bühne der elisabethanischen Zeit das alles +nur bezeichnet+,
während das geistige Auge sich aus spärlichen Andeutungen ein Bild
der Welt entwirft, in welcher die Szenen sich abspielen und die eine
Illusionsbühne niemals hätte verifizieren können. Der Renaissance
gegenüber entsteht ein Trieb nach dem Freien, Unbegrenzten,
Nichtoptischen, in dem für uns der tiefere Sinn aller Natur liegt, und
wo umschlossene Räume notwendig werden, weist eine offene Halle oder
ein Fenster in die Ferne. Die griechische Szene ist niemals Landschaft;
sie ist überhaupt nichts. Man darf sie höchstens als die Basis
wandelnder Statuen bezeichnen. Die Figuren sind alles, auf dem Theater
wie im Fresko. Hier erinnere man sich der viel bemerkten, aber nie
wirklich aufgeklärten Tatsache, daß „der antike Mensch kein Naturgefühl
in unserm Sinne“ besitzt. Hier ist der Grund. Das apollinische
Tiefenerlebnis, das Ursymbol des σῶμα, hat einen andern +Begriff von
Natur+ zur Folge. Das faustische Naturgefühl ist ein Gefühl des
Unendlichen, das durch und über den Dingen sich manifestiert, der Natur
als Raum. Dies Gefühl hat die echte Szene Goethes und Shakespeares
geschaffen und würde darüber weit hinausgeführt haben, hätte das antike
Vorbild den Willen dazu nicht gelähmt. Die Natur des Griechen war etwas
andres, uns so fremd, daß wir sie als solche nicht erkannt haben und
das Gefühl von +ihr+ ist es, das sich, uns kaum verständlich, in
der Bindung des Sinnlichen durch die drei Einheiten äußert.


7

Alles Sinnliche aber ist gemeinverständlich. Damit wurde unter allen
Kulturen, die es bisher gab, die antike in den Äußerungen ihres
Lebensgefühls am meisten, die abendländische am wenigsten populär.
Gemeinverständlichkeit ist das Gegenteil von Esoterik. Es ist das
Merkmal einer Schöpfung, die sich jedem Betrachter auf den ersten Blick
mit all ihren Geheimnissen preisgibt; einer Schöpfung, deren Sinn sich
in der Außenseite und Oberfläche verkörpert. Gemeinverständlich ist
in jeder Kultur das, was von urmenschlichen Zuständen und Bildungen
her unverändert geblieben ist, was der Mann von den Tagen der Kindheit
an fortschreitend begreift, ohne eine ganz neue Betrachtungsweise
+erkämpfen+ zu müssen, überhaupt das, was +nicht+ erkämpft
werden muß, was sich von selbst gibt, was im sinnlich Gegebenen
unmittelbar zutage liegt, nicht durch dasselbe nur angedeutet ist und
nur -- von wenigen, unter Umständen von ganz vereinzelten -- gefunden
werden kann. Es gibt volkstümliche Ansichten, Werke, Menschen. Jede
Kultur hat ihren ganz bestimmten Grad von Esoterik oder Popularität,
der ihren gesamten Leistungen innewohnt, soweit sie symbolische
Bedeutung haben. Das Gemeinverständliche hebt den Unterschied zwischen
den Menschen auf, hinsichtlich des Umfangs und der Tiefe ihres
Seelischen. Die Esoterik betont ihn, verstärkt ihn. Endlich, auf das
ursprüngliche Tiefenerlebnis des zum Selbstbewußtsein erwachenden
Menschen angewendet und damit auf das Ursymbol seines Daseins und den
Stil seiner Umwelt bezogen: zum Ursymbol des Körperhaften gehört die
rein populäre, „+naive+“, zum Symbol des unendlichen Raumes die
ausgesprochen unpopuläre Beziehung zwischen Kulturschöpfungen und
den dazu gehörigen Kulturmenschen. Populär ist die Helle und Nähe,
der Vordergrund, das Augenblickliche und Gegenwärtige, in dem die
unmittelbare Sinnesempfindung über den Raum siegt. Populär ist jede
Wissenschaft, welche die nächsten und greifbarsten Motive aufsucht
und ihrer innern Struktur nach sich in ihnen erschöpft und erschöpfen
+kann+. Die Ferne weist ab; sie legt Raum zwischen sich und die
Menschen; sie fordert Überwindung, Willen, Kraft; sie wird damit den
wenigsten zugänglich. Die Nähe bietet sich jedermann an.

Die antike Geometrie ist die des Kindes, die eines jeden Laien.
Euklids Elemente der Geometrie werden noch heute in England als
Schulbuch gebraucht. Der Alltagsverstand wird sie stets für die einzig
richtige und wahre halten. Alle andern Arten natürlicher Geometrie,
die möglich sind und die -- in angestrengtester Überwindung des
populären Augenscheins -- von uns gefunden wurden, sind nur einem
Kreise berufener Mathematiker verständlich. Die berühmten vier
Elemente des Empedokles sind die jedes naiven Menschen und seiner
„angebornen Physik“. Was Sophokles und Euripides schrieben, begriff
jeder Zuschauer. Ihre Tragik ist die der Orakel, die des Volksglaubens
an Wahrsagung und des _deus ex machina_, die uns -- man denke an
die Braut von Messina und ähnliches -- unerträglich ist. Für wie viel
Menschen aber sind Wolframs Parzeval, der Sturm, der Tasso wirklich
geschrieben?

Alles Antike ist -- dem pflanzenhaften Lebensgefühl entsprechend --
mit +einem+ Blick zu umfassen, sei es der dorische Tempel, die
Statue, die Polis, der Götterkult; es gibt keine Hintergründe und
Geheimnisse. Aber man vergleiche daraufhin eine gotische Domfassade
mit den Propyläen, eine Radierung mit einem Vasengemälde, die Politik
des athenischen Volkes mit der modernen Kabinettspolitik. Man bedenke,
wie jedes unsrer epochemachenden Werke der Poesie, der Politik, der
Wissenschaft eine ganze Literatur von Erklärungen hervorgerufen
hat, mit sehr zweifelhaftem Erfolge dazu. Die Parthenonskulpturen
des Phidias waren für jeden Hellenen da, die Musik Bachs und seiner
Zeitgenossen war eine Musik für Musiker. Wir haben den Typus des
Rembrandtkenners, des Dantekenners, des Kenners der kontrapunktischen
Musik und es ist -- mit Recht -- ein Einwand gegen Wagner, daß der
Kreis der Wagnerianer allzu weit geworden ist, daß allzu wenig von
seiner Musik +nur+ dem gewiegten Musiker vorbehalten bleibt.
Aber eine Gruppe von Phidiaskennern? Oder gar Homerkennern? Hier
wird eine Reihe von Phänomenen verständlich, als Symptomen des
abendländischen Lebensgefühls, die man bisher geneigt war, als
allgemein menschliche Beschränktheiten moralphilosophisch oder wohl
richtiger melodramatisch aufzufassen. Der „unverstandene Künstler“, der
„verhungernde Poet“, der „verhöhnte Erfinder“, der Denker, „der erst
in Jahrhunderten begriffen wird“ -- das sind Typen einer exklusiven
und esoterischen Kultur. Das Pathos der Distanz, in dem sich der Hang
zum Unendlichen und also der Wille zur Macht verbirgt, liegt diesen
Phänomenen zugrunde. Sie sind im Umkreise faustischen Menschentums, und
zwar von der Gotik bis zur Gegenwart ebenso notwendig, als sie unter
apollinischen Menschen undenkbar sind.

Alle hohen Schöpfer des Abendlandes waren von Anfang bis zu Ende in
ihren eigentlichen Absichten nur einem kleinen Kreise zugänglich.
Michelangelo hat gesagt, daß sein Stil dazu berufen sei, Narren
zu züchten. Gauß hat dreißig Jahre lang seine Entdeckung der
nichteuklidischen Geometrie verschwiegen, weil er das „Geschrei der
Böoter“ fürchtete. Aber das gilt von jedem Maler, jedem Staatsmann,
jedem Philosophen. Man vergleiche doch Denker beider Kulturen,
Anaximander, Heraklit, Protagoras mit Giordano Bruno, Leibniz oder
Kant. Man denke daran, daß -- außer Schiller -- kein deutscher Dichter,
der überhaupt Erwähnung verdient, von Durchschnittsmenschen verstanden
werden kann und daß es in keiner abendländischen Sprache ein Werk von
dem Range und zugleich der Simplizität Homers gibt. Das Nibelungenlied
ist eine spröde und verschlossene Dichtung, und Dante zu verstehen
ist wenigstens in Deutschland selten mehr als eine literarische Pose.
Was es in der Antike nie gab, hat es im Abendlande immer gegeben: die
exklusive Form. Ganze Zeitalter wie die der provencalischen Kultur
und des Rokoko sind im höchsten Grade gewählt und abweisend. Ihre
Ideen, ihre Formensprache sind nur für eine wenig zahlreiche Klasse
von höheren Menschen vorhanden. Gerade daß die Renaissance, diese
vermeintliche Wiedergeburt der -- so gar nicht exklusiven, in ihrem
Publikum so gar nicht wählerischen -- Antike keine Ausnahme macht,
daß sie durch und durch die Schöpfung der Medici und +einzelner+
erlesener Geister war, ein Geschmack, der die Menge von vornherein
abwies, daß im Gegenteil das Volk von Florenz gleichgültig, erstaunt
oder unwillig zusah und gelegentlich, wie im Falle Savonarolas, mit
Vergnügen die Meisterwerke zerschlug und verbrannte, beweist, wie tief
diese Seelenferne geht. Denn die attische Kultur besaß jeder Bürger.
Sie schloß keinen aus und sie kannte deshalb den +Unterschied von
tief und flach+, der für die faustische Sphäre von entscheidender
Bedeutung ist, überhaupt nicht. Populär und flach sind für uns
Wechselbegriffe, in der Kunst wie in der Wissenschaft; für antike
Menschen sind sie es nicht. „Oberflächlich aus Tiefe“ hat Nietzsche die
Griechen einmal genannt.

Man betrachte daraufhin unsre Wissenschaften, die alle, ohne Ausnahme,
neben elementaren Anfangsgründen „höhere“, dem Laien unverständliche
Gebiete haben -- auch dies ein Symbol des Unendlichen und der
Richtungsenergie. Es gibt bestenfalls tausend Menschen auf der
Welt, für welche heute die letzten Kapitel der theoretischen Physik
geschrieben werden. Gewisse Probleme der modernen Mathematik sind
nur einem noch viel engern Kreise zugänglich. Alle volkstümlichen
Wissenschaften sind heute von vornherein wertlose, verfehlte,
verfälschte Wissenschaften. Wir haben nicht nur eine Kunst für Künstler
(_l’art pour l’art_), sondern auch eine Mathematik für Mathematiker,
eine Politik für Politiker -- von der das _profanum vulgus_ der
Zeitungsleser keine Ahnung hat,[100] während die antike Politik niemals
über den geistigen Horizont der ἀγορά hinausging -- und eine Poesie
für Philosophen. Man kann den beginnenden Verfall der abendländischen
Wissenschaft, der schon deutlich fühlbar ist, allein an dem Bedürfnis
nach einer Wirkung ins Breite ermessen; daß die strenge Esoterik der
Barockzeit als drückend empfunden wird, verrät die sinkende Kraft, die
Abnahme des Distanzgefühls, das diese Schranke ehrfürchtig +anerkennt+.
Die wenigen Wissenschaften, die heute noch ihre ganze Feinheit, Eleganz
und Energie des Schließens und Folgerns bewahrt haben und nicht
vom Feuilletonismus angegriffen sind -- es sind nicht mehr viele:
die theoretische Physik, die Mathematik, die katholische Dogmatik,
vielleicht noch die Jurisprudenz --, wenden sich an einen engen,
gewählten Kreis von Kennern. +Der Kenner aber ist es, der mit seinem
Gegensatz, dem Laien, der Antike fehlt, wo jeder alles kennt.+ Für uns
hat diese +Polarität+ von Kenner und Laie den Rang eines großen Symbols
und wo die Spannung dieser Distanz nachzulassen beginnt, da erlischt
das faustische Lebensgefühl.

Dieser Zusammenhang gestattet für die letzten Stadien der
abendländischen Geistigkeit -- also für die nächsten zwei, vielleicht
nicht einmal zwei Jahrhunderte -- den Schluß, daß, je höher die
weltstädtische Leere und Trivialität der öffentlich und „praktisch“
gewordenen Künste und Wissenschaften steigt, desto strenger sich der
posthume Geist der Kultur in sehr enge Kreise zurückziehen und dort
ohne Zusammenhang mit der Öffentlichkeit an Gedanken und Formen wirken
wird, die nur einer äußerst geringen Anzahl von bevorzugten Menschen
etwas bedeuten können.


8

Kein antikes Kunstwerk sucht eine Beziehung zum Betrachter. Das
hieße den unendlichen Raum, in dem das einzelne Werk sich verliert,
durch dessen Formensprache bejahen, ihn in die Wirkung einbeziehen.
Eine attische Statue ist vollkommen euklidischer Körper, zeitlos und
beziehungslos, durchaus in sich abgeschlossen. Sie schweigt. Sie
hat keinen Blick. +Sie weiß nichts vom Zuschauer.+ Wie sie im
Gegensatz zu den plastischen Gebilden aller andern Kulturen ganz für
sich steht und sich in keine größere architektonische Ordnung einfügt,
so steht sie unabhängig neben dem antiken Menschen, Körper neben
Körper. Er empfindet ihre bloße +Nähe+, ihre ruhende Form, nicht
ihre Macht, keine den Raum durchdringende Wirkung. So äußert sich das
apollinische Lebensgefühl.

Die erwachende magische Kunst kehrte alsbald den Sinn dieser Formen
um. Das Auge der Statuen und Porträts konstantinischen Stils richtet
sich groß und starr auf den Betrachter. Es repräsentiert die höhere
der beiden Seelensubstanzen, das Pneuma. Die Antike hatte das Auge
blind gebildet; jetzt wird die Pupille gebohrt, das Auge wendet sich,
unnatürlich vergrößert, in den Raum hinein, den es in der attischen
Kunst nicht als seiend anerkannt hatte. Im antiken Freskogemälde waren
die Köpfe einander zugewendet; jetzt, in den Mosaiken von Ravenna und
schon in den Reliefs der altchristlich-spätrömischen Sarkophage, wenden
sie sich sämtlich dem Betrachter zu und heften den durchgeistigten
Blick auf ihn. Eine geheimnisvoll eindringliche Fernwirkung geht,
höchst unantik, von der Welt im Kunstwerk in die Sphäre des Zuschauers
hinüber. Noch in den frühflorentinischen und frührheinischen Bildern
auf Goldgrund ist etwas von dieser Magie zu spüren.

Und nun betrachte man die abendländische Malerei, von Lionardo an, wo
sie zum vollen Bewußtsein ihrer Bestimmung gelangt ist. Wie begreift
sie den +einen+ unendlichen Raum, dem das Werk +und+ der Zuschauer,
beide bloße Schwerpunkte dynamischer Seelenkräfte, angehören? Das
volle faustische Lebensgefühl, die Leidenschaft der dritten Dimension,
ergreift die Form des „Bildes“, der einfachen, farbig behandelten
Fläche, und gestaltet sie in unerhörter Weise um. Das Gemälde bleibt
nicht für sich, es richtet sich nicht auf den Zuschauer; +es nimmt ihn
in seine Sphäre auf+. Der durch den Bildrahmen begrenzte Ausschnitt
-- das Guckkastenbild, das getreue Seitenstück des Bühnenbildes
-- repräsentiert den Weltraum selbst. Vordergrund und Hintergrund
verlieren ihre stofflich-nahe Tendenz und schließen auf, statt
abzugrenzen. Ferne Horizonte vertiefen das Bild ins Unendliche; die
farbige Behandlung der Nähe löst die ideale vordere Scheidewand der
Bildfläche auf und erweitert den Bildraum so, daß der Betrachter in
ihm weilt. Die Überschneidungen durch den Rahmen, die seit 1500 immer
häufiger und kühner werden, entwerten auch die seitliche Grenze. Der
hellenische Betrachter eines polygnotischen Fresko stand +vor+ dem
Bilde. Wir „versenken“ uns in ein Bild von Rubens und Lorrain, d. h.
wir werden durch die Gewalt der Raumbehandlung in das Bild gezogen.
Damit ist die Einheit des Weltraumes hergestellt. In dieser durch
das Bild imaginierten Unendlichkeit herrscht nun die abendländische
Perspektive.

Das Problem der Perspektive ist ein metaphysisches. Was das
Tiefenerlebnis für den seelisch erwachenden Kulturmenschen bedeutet,
das plötzliche Werden einer ihm allein zugehörigen Welt, das wiederholt
sich in jeder dieser großen Künste, die auf einer +Fläche+ ein
Stück Welt, ein Ausgedehntes von bedeutsamem Typus geben wollen.
Es gibt eine Vielzahl möglicher Perspektiven, deren jede eine
Weltanschauung repräsentiert, und die Wahl, welche die Malerei einer
Kultur hier mit unbedingter Notwendigkeit trifft, hat den Rang eines
Symbols.

Betrachtet man Ölgemälde der abendländischen, Vasenbilder der antiken,
Reliefs der ägyptischen, Mosaiken der arabischen und Bildrollen
der chinesischen Kultur, so findet man, daß das ganz Einzige der
faustischen Seele das Bedürfnis eines +idealen Mittelpunktes+
im Unendlichen, eines dynamischen Zentrums ist. Dies ist der Sinn
der westeuropäischen Perspektive in Bild, Bühne und Park, des
Durchblicks vom Portal zum Hochaltar der Dome, des Anfangspunktes
mathematischer und physikalischer Kraftsysteme. Diese Perspektive
wählt einen +Konvergenzpunkt+, der nun seinerseits das Ich zum
funktionalen Schwerpunkt der Welt macht. Das ist Richtungsenergie,
Wille zur Macht. Dergleichen hat keine andre Kultur gekannt. Das ist
es, was die solipsistische Philosophie des Barock stets gesucht hat.
Ob sie die Welt zur Vorstellung macht, zur Erscheinung des Dinges
an sich durch die Form der geistigen Rezeption, ob sie das Problem
realistisch oder idealistisch faßt, immer ist es das Ich, ohne das
die Welt nicht möglich erscheint. Das Problem ist unlösbar, ein
+inneres+ Postulat des abendländischen Seelentums. Alle Denker
verloren sich darüber in Widersprüche und Unmöglichkeiten. Nur das
Fundament blieb unerschüttert, das Lebensgefühl, das die +einsame+
Seele zum schöpferischen Mittelpunkt des Alls macht. Der Grieche ist
Atom in seinem Kosmos, der Chinese fühlt sein Selbst irgendwo im
weiten Ausgedehnten, wo er sich eine friedliche Insel sucht; nur das
faustische Ich ist Herrscher im Raume, auch im Raume des Gemäldes, das
sich in den vom Blickpunkt aus geordneten Hintergrund verliert und ihn
umschließt.

Man hat es noch nicht genügend bemerkt, wie zu Beginn der arabischen
Kultur und zwar zugleich in der heidnischen und christlichen Kunst die
antike Bildperspektive -- die von unserm Standpunkt aus nur Mangel an
Perspektive, d. h. an Beherrschung eines ausgedehnten Ganzen durch
ein ordnendes Prinzip ist, da hier jeder einzelne Körper +seine
eigne Orientierung+ besitzt -- sich plötzlich umwandelt, das
wunderbare Zeichen eines neuen Weltgefühls, welches das Tiefenerlebnis
vollkommen anders deutet. Am klarsten wird die magische „umgekehrte“
Perspektive unter den erhaltenen Beispielen am Theodosius-Obelisken
in Konstantinopel: am größten ist die vom Betrachter entfernteste
Figur, am kleinsten die nächste -- weil die Gestalt des Kaisers
den Raum beherrscht und von ihm aus die Ordnung empfunden wird.
Die chinesisch-japanische Malerei verdeutlicht das Welterlebnis
einer wieder ganz anders angelegten Seele, der faustischen zwar in
manchem verwandt und auch einem grenzenlosen Ausgedehnten hingegeben,
aber ohne den ordnenden Machtanspruch des Ich. Die chinesische
Philosophie, Konfucius z. B., unterscheidet sich in diesem Punkte
durchaus und in derselben Richtung von der abendländischen. Wie die
fortlaufenden Darstellungen der Rollbilder zeigen, empfindet der
Betrachter das Räumliche vom Mittelgrunde aus, in dem er zwanglos,
selbst im Raume verloren statt ihn bildend (Kant), die Tiefe und
Nähe durchstreift, ohne daß auf die Ferne das uns notwendige und
selbstverständliche Schwergewicht gelegt wird. Daher die ostasiatische
+Parallelperspektive+ (alle Parallelen werden als solche
gezeichnet) im Gegensatz zur faustischen Konvergenzperspektive. Man
faßt das einzelne einzeln auf, nicht das Ganze als eine vom Blick
beherrschte Einheit. Die chinesische Seele fühlt darin der ägyptischen
nicht unähnlich. Auch die auf starke Nahsicht berechneten Reliefs des
Alten Reiches, welche das Hintereinander durch Übereinanderordnung
geben, wollen im Entlangschreiten der Reihe nach aufgefaßt werden --
hier wie dort liegt ein Symbol des +Lebensweges+ der elementaren
Anordnung zugrunde.

Die chinesische Landschaft ist also entweder Nah- oder Fernbild, je
nachdem der Mittelgrund, von dem die Bedeutung des Ganzen gleichsam
ausstrahlt, nah oder fern vom Betrachter angenommen worden ist.
Unsere Landschaften, in die wir durch den Rahmen hineinblicken, sind
beides zugleich, unendliche Ferne und unendliche Nähe, durch das
Konvergenzprinzip zusammengefaßt.[101] „Die Ferne ist die Seele der
Landschaft“ -- dieser altchinesische Meisterspruch rührt aber dennoch
an den Geist Rembrandts. Erinnern wir uns, daß Landschaften in der
raumverneinenden antiken Kunst undenkbar sind, auch das am Unendlichen
haftende Naturgefühl. Es sind nur diese zwei Kulturen, einander so fern
gelegen, die beide die reine, in die Ferne sich dehnende Landschaft zum
Thema einer großen Kunst erhoben. Es folgt daraus, daß sie +allein
eine Gartenkunst großen Stiles besaßen+; die abendländische
wiederholt in ihr das Prinzip der Konvergenzperspektive -- der _point
de vue_ der großen Rokokoparks --, die chinesische mit gleicher
Eindringlichkeit der Formensprache das der Parallelperspektive. Ich
möchte hier auch an schöne altdeutsche Rechts- und Gelöbnisformeln
erinnern, die das gleiche Unendlichkeitsgefühl, in starkem Gegensatz
zur plastischen Gegenwärtigkeit des römischen Rechts und der
griechischen Kunst zum Ausdruck bringen. „Immer und ewiglich, dieweil
Grund und Grat stehet“; „so weit die Sonne scheint“; „solange als der
Wind die Wolken treibt“; „so weit gehen als der Wind weht und der Hahn
kräht“; „so weit sich das Blaue am Himmel erstreckt“: dies Gefühl ist
es, dem die westeuropäische Landschaftsmalerei eine große Form gegeben
hat.

Wie tief die Esoterik der faustischen Seele geht, in wie hohem Grade
sie alles und jedes in ihrem Ausdruck erkämpfen mußte, während der
antiken Seele ihre populären Symbole geschenkt wurden, beweist
auch die Geschichte der Perspektive. Unter allen, die bisher als
Ausdruck eines Welterlebnisses in historische Erscheinung traten,
fordert die abendländische den höchsten Grad von Abstraktion, die
peinlichste Strenge der Formgebung. Das Bedürfnis nach ihr taucht
in den Niederlanden zugleich mit der Entstehung des Kontrapunkts
auf, unmittelbar nach Vollendung des gotischen Bausystems. Der
Drang nach diesem Prinzip von höchstem symbolischen Gehalt und die
Kraft, es zu verwirklichen, waren keineswegs gleich. Brunellesco
fand um 1430 wenigstens eine annähernde mathematische Lösung der
Zentralperspektive, sicherlich die einfachste, aber in ihrer
schematischen Enge wenig befriedigend. In der Tat war sie, an Körpern
haftend, nicht durch Luftbehandlung realisierbar, wohl für die
architektonischen Bildkulissen südlicher, nicht aber für die freien
Landschaften nordischer Meister brauchbar. Diese im Grunde plastische
Linienperspektive besitzt eine +antigotische+ Tendenz und bestimmt
den allgemeinen Stil der Renaissancemalerei ebenso wie die Wahl ihrer
Entwürfe. Sie bildet den Raum durch seine +körperhaften+ Grenzen,
nicht den Raum an sich. Das entspricht durchaus dem florentinischen,
aber schon nicht mehr dem venezianischen Formgefühl. Die deutschen
Meister haben immer mehrere Konvergenzpunkte, wodurch sie den Schein
einer unkörperlichen Freiheit bewahren. Im Grunde hat man eine
mathematische Präzision, die ein Verkennen des tiefern Sinnes der
Malerei bedeuten würde, nie erstrebt. Wie schwer aber selbst die
Zentralperspektive zu verwirklichen ist, beweist die Tatsache, daß
Maler und Bildhauer der Frührenaissance sich den perspektivischen
Grundriß ihrer Bilder und Reliefs von andern einzeichnen ließen. So
hat Brunellesco das für Masaccio und Donatello getan. Die Ölmalerei
ging dann mit steigender Entschiedenheit von der linearen zur
atmosphärischen Perspektive über, mathematisch gesprochen und an einem
gleichzeitigen Phänomen verdeutlicht von der Koordinatengeometrie zur
reinen funktionalen Analysis, denn die reine Landschaftsperspektive
wird nur durch die Funktionen der Farbentöne verwirklicht. Es ist der
Schritt vom zeichnerischen zum malerischen Stil, und in diesem Sinne
hat die faustische Konvergenzperspektive ihre letzte Fassung, die jeden
Rest linearer, d. h. renaissancemäßiger Tiefenbehandlung ausschloß, in
der Freilichtmalerei des 19. Jahrhunderts erhalten.


9

Das faustische Lebensgefühl knüpft nun das perspektivische Rahmenbild
an ein astronomisches Weltbild von einer ungeheuren Leidenschaft im
Durchdringen unendlicher Raumfernen.

Der apollinische Mensch hatte den Weltraum nie bemerken +wollen+;
seine philosophischen Systeme schweigen sämtlich von ihm. Sie kennen
nur Probleme der greifbar wirklichen Dinge, und dem „zwischen den
Dingen“ haftet nichts irgendwie Positives und Bedeutsames an. Sie
nehmen die Erde, auf der sie stehen, als die schlechthin gegebene
ganze Welt und nichts wirkt für den, der hier noch die innersten und
geheimsten Gründe zu sehen vermag, grotesker als die immer wiederholten
Versuche, das Himmelsgewölbe der Erde theoretisch so zuzuordnen,
daß deren symbolischer Vorrang in keiner Weise angetastet wird.
Eine Art metaphysischer Angst trieb hier zu Entwürfen, wie sie der
Gestaltungskraft der antiken Seele -- man denke an den Mythus und
seine immer höchst stofflichen Bildungen -- sonst ganz fern liegen.
Wir haben das Schauspiel großartiger Astronomien in der ägyptischen,
babylonischen, arabischen Kultur und mitten unter ihnen den antiken
Menschen, der gleichgültig oder besorgt um sein euklidisches Weltbild
zusieht. Wie dürftig sind die wenigen nacherzählten Angaben in seiner
Philosophie und wo wäre der Denker im Athen des Perikles, der sich
eine Sternwarte erbaut und +eigne+ Gedanken über ein Weltsystem
gehabt hätte! Es sei noch einmal erwähnt, daß gerade damals in Athen
ein Volksbeschluß durchging, der die Verbreitung astronomischer
Theorien mit den schwersten Strafen bedrohte. Daß die Erde Kugelgestalt
besitzt, das heißt, daß sie in einem gewaltigen Raume schwebt, war
ihnen wiederholt bewiesen worden. Pythagoras wußte es schon. Aber man
ließ den Gedanken nicht ins Innere der Seele dringen und hielt das
Weltgefühl unabhängig davon. Man vergaß ihn immer wieder, weil man ihn
vergessen +wollte+.

Und damit vergleiche man die erschütternde Vehemenz, mit welcher die
Entdeckung des Kopernikus, dieses „Zeitgenossen“ des Pythagoras, die
Seele des Abendlandes durchdrang, und die tiefe Inbrunst, mit welcher
Kepler die Gesetze der Planetenbahnen entdeckte, die ihm als eine
unmittelbare Offenbarung Gottes erschienen; er wagte bekanntlich
nicht an ihrer kreisförmigen Gestalt zu zweifeln, weil jede andre ihm
ein Symbol von zu geringer Würde darzustellen schien. Hier kam das
altnordische Lebensgefühl, die Wikingersehnsucht nach dem Grenzenlosen,
zu ihrem Rechte. Dies gibt der echt faustischen Erfindung des Fernrohrs
einen tiefen Sinn. Indem es in Räume eindringt, die dem bloßen Auge
verschlossen bleiben, an denen der Wille zur Macht über den Weltraum
eine Grenze findet, +erweitert+ es das All, das wir „besitzen“.
Das wahrhaft religiöse Gefühl, das den heutigen Menschen ergreift,
der zum erstenmal diesen Blick in den Sternenraum tun darf, ein
Machtgefühl, dasselbe, das Shakespeares größte Tragödien erwecken
wollen, wäre einem Sophokles als der Frevel aller Frevel erschienen.

Das Pathos des kopernikanischen Weltbewußtseins, das ausschließlich
unsrer Kultur angehört und -- ich wage hier eine Behauptung, die
heute noch ungeheuer paradox erscheinen wird -- in ein +gewaltsames
Vergessen der Entdeckung+ umschlagen würde und wird, sobald sie der
Seele einer künftigen Kultur bedrohlich erscheint, dies Pathos beruht
auf der Gewißheit, daß nunmehr dem Kosmos das Körperlich-Statische, das
sinnbildliche Übergewicht des plastischen +Erdkörpers+, genommen
ist. Bis dahin befand sich der Himmel, der ebenfalls als substanzielle
Größe gedacht oder mindestens empfunden war, im metaphysischen,
polaren Gleichgewicht zur Erde. Jetzt ist es der +Raum+, der
das All beherrscht; „Welt“ bedeutet Raum und die Gestirne sind kaum
mehr als mathematische Punkte, deren Stoffliches das Weltgefühl
nicht mehr berührt. Demokrit, der im Namen der apollinischen Kultur
hier eine Körpergrenze schaffen wollte und mußte, hatte sich eine
Schicht hakenförmiger Atome gedacht, die wie eine Haut den Kosmos
abschließt. Demgegenüber steht unser nie gestillter Hunger nach immer
neuen Weltfernen. Das System des Kopernikus hat, zuerst durch Giordano
Bruno, in den Jahrhunderten des Barock eine unermeßliche Erweiterung
erfahren. Wir wissen heute, daß die Summe aller Sonnensysteme --
etwa 35 Millionen -- ein geschlossenes Sternensystem bildet, das
nachweisbar endlich ist[102] und die Gestalt eines Rotationsellipsoids
besitzt, dessen Äquator mit dem Bande der Milchstraße annähernd
zusammenfällt. Schwärme von Sonnensystemen durchziehen wie Züge von
wandernden Vögeln mit gleicher Richtung und Geschwindigkeit diesen
Raum. Eine solche Schar bildet unsre Sonne mit den hellen Sternen
Capella, Wega, Atair und Beteigeuze. Die Achse des ungeheuren Systems,
dessen Mitte unsre Sonne gegenwärtig nicht sehr fern steht, wird 470
Millionen mal so groß als der Abstand von Sonne und Erde angenommen.
Der nächtliche Sternenhimmel gibt uns gleichzeitig Eindrücke, deren
zeitlicher Ursprung bis zu 3700 Jahren auseinanderliegt; so viel
beträgt der Lichtweg von der äußersten Grenze bis zur Erde. Im Bilde
der Historie, das sich vor unsren Augen entfaltet, entspricht das einer
Dauer über die gesamte antike und arabische Kultur zurück bis zum
Höhepunkt der ägyptischen, zur Zeit der 12. Dynastie. Dieser Aspekt
ist für den faustischen Geist erhaben,[103] für den apollinischen
wäre er grauenvoll gewesen, eine vollkommene Vernichtung der tiefsten
Bedingungen seines Daseins. Daß eine endgültige Grenze des für uns
Gewordnen und Vorhandnen mit dem Rande des Sternenkörpers statuiert
wird, wäre ihm als Erlösung erschienen. Wir aber haben mit innerster
Notwendigkeit die unausweichliche neue Frage: Gibt es +außerhalb+
dieses Systems etwas? Gibt es +Mengen+ solcher Systeme in
Entfernungen, denen gegenüber die hier festgestellten Dimensionen
außerordentlich klein sind? Für die sinnliche Erfahrung erscheint
eine absolute Grenze erreicht; durch diese massenleeren Räume. die
eine bloße +Denknotwendigkeit+ für uns sind, kann weder das
Licht noch die Gravitation ein Existenzzeichen geben. Die seelische
Leidenschaft, das Bedürfnis nach restloser Verwirklichung unsrer
Daseinsidee in Symbolen aber +leidet+ unter dieser Grenze unsrer
Sinnesempfindungen.


10

Deshalb haben die Germanen, in deren urmenschlicher Seele das
Faustische sich bereits zu regen begann, in grauer Vorzeit die
+Segelschiffahrt+ erfunden, die sie vom Festland befreite. Die Ägypter
standen ihr nahe, aber sie zogen nur den Vorteil der Arbeitsersparnis
daraus. Sie fuhren wie früher mit ihren Ruderschiffen die Küste entlang
nach Punt und Syrien, ohne die +Idee+ der Hochseefahrt, das Befreiende
und Symbolische in ihr zu empfinden. Denn die Segelschiffahrt
überwindet den +euklidischen+ Begriff des Landes. Im Anfang des 14.
Jahrhunderts erfolgt beinahe gleichzeitig -- und gleichzeitig mit
der Erfindung der Ölmalerei und des Kontrapunkts! -- die Erfindung
des +Schießpulvers und des Kompasses+, also der +Fernwaffen+ und des
+Fernverkehrs+, die beide mit tiefer Notwendigkeit auch innerhalb
der chinesischen Kultur erfunden worden sind. Es war der Geist der
Wikinger, der Hansa, der Geist jener Urvölker, welche die Hünengräber
als die Male einsamer Seelen auf weiter Ebene aufschütteten -- statt
der häuslichen Aschenurne der Hellenen --, die ihre toten Könige auf
brennendem Schiffe in die hohe See treiben ließen, ein erschütterndes
Zeichen jener dunklen Sehnsucht nach dem Grenzenlosen, die sie trieb,
auf ihren winzigen Kähnen um 900, als die Geburt der abendländischen
Kultur sich ankündigte, die Küste Amerikas zu erreichen, während die
von Ägyptern und Karthagern bereits ausgeführte Umschiffung Afrikas
die antike Menschheit völlig gleichgültig ließ. Wie statuenhaft ihr
Dasein auch hinsichtlich des Verkehrs war, bezeugt die Tatsache,
daß die Nachricht vom ersten punischen Kriege (264-241), einem der
gewaltigsten der antiken Geschichte, nur wie ein dunkles Gerücht von
Sizilien nach Athen drang.

Selbst die Seelen der Griechen waren im Hades versammelt, ohne sich zu
regen, als Schattenbilder (εἴδωλα), ohne Kraft, Wunsch und Empfindung.
Die nordischen Seelen gesellten sich dem „wütenden Heere“ zu, das
rastlos durch die Lüfte schweift und „wiederkehrt“. Der Geist des
Patroklos aber -- in jener wundervollen Szene am Schluß der Ilias --
will nur Ruhe finden und fleht deshalb den Freund an, die Bestattung zu
beschleunigen.

Auf der gleichen Kulturstufe wie die Entdeckungen der Spanier und
Portugiesen erfolgte die große hellenische Kolonisation (1500
und 750-600). Aber während jene von der Abenteurersehnsucht nach
ungemessenen Fernen und allem Unbekannten und Gefahrvollen besessen
waren, ging der Grieche Punkt für Punkt vorsichtig hinter den bekannten
Spuren der Phöniker und Karthager her, und seine Neugier erstreckte
sich nicht im geringsten auf das, was jenseits der Säulen des Herkules
oder des Roten Meeres lag, so leicht erreichbar es ihm gewesen wäre.
Man hörte in Athen von dem Weg in die Nordsee, nach dem Kongo, nach
Sansibar, nach Indien reden; zur Zeit des Heron war die Lage der
Südspitze Indiens und der Sundainseln bekannt; aber man verschloß
sich dem so gut wie dem astronomischen Wissen des alten Ostens. Die
Kolumbussehnsucht blieb der apollinischen Seele ebenso fremd wie
die Sehnsucht des Kopernikus. Diese auf den Gewinn so versessenen
hellenischen Kaufleute hatten eine tiefe metaphysische Scheu vor der
Ausdehnung des geographischen Horizontes. Auch da hielt man sich
an Nähe und Vordergrund. Das Dasein der Polis, jenes merkwürdige
Ideal des Staates als Statue, war ja nichts als eine Zuflucht vor
der „weiten Welt“ der Germanen. Und dabei ist die Antike unter allen
bisher erschienenen Kulturen die einzige, deren Mutterland nicht auf
der Fläche eines Kontinents, sondern um die Küsten eines Inselmeeres
gelagert war und ein Meer als eigentlichen Schwerpunkt umschloß.
Trotzdem hat nicht einmal der Hellenismus mit seiner intellektuellen
Vorliebe für Technisches sich vom Gebrauche der Ruder befreit, welche
die Schiffe an der Küste hielten. Die Schiffbaukunst konstruierte
damals -- in Alexandria -- Riesenschiffe von 80 m Länge, und man hatte
wieder einmal das Dampfschiff im Prinzip erfunden. Aber es gibt -- wir
werden das später sehen -- Entdeckungen von dem Pathos eines großen
und +notwendigen+ Symbols, die etwas sehr Innerliches offenbaren,
und solche, die lediglich ein Spiel des Geistes sind. Das Dampfschiff
ist für den apollinischen Menschen das letzte, für den faustischen das
erste. Erst der Rang im Ganzen des Makrokosmos gibt einer Erfindung und
ihrer Anwendung Tiefe oder Oberflächlichkeit.

Die Entdeckungen des Kolumbus und Vasco da Gama erweiterten den
geographischen Horizont ins Ungemessene: Das +Weltmeer+ trat
dem Lande gegenüber in das gleiche Verhältnis wie der Weltraum zur
Erde. Jetzt erst entlud sich die politische Spannung des faustischen
Weltbewußtseins. Für den Griechen war und blieb Hellas das wesentliche
Stück der Erdfläche; mit der Entdeckung Amerikas wurde das Abendland
zur Provinz in einem riesenhaften Ganzen. Von hier an trägt die
Geschichte der nordischen Kultur +planetarischen+ Charakter.

Jede Kultur besitzt ihren +eignen+ Begriff von Heimat und
Vaterland, schwer greifbar, kaum in Worte zu fassen, voller dunkler
metaphysischer Beziehungen, aber trotzdem von unzweideutiger Tendenz.
Das antike Heimatgefühl, das den einzelnen ganz leibhaft und
euklidisch an die Polis band, steht hier jenem rätselhaften Heimweh
des Nordländers gegenüber, das etwas Musikhaftes, Schweifendes und
Unirdisches hat. Der antike Mensch empfindet als Heimat nur, was er
von der Burg seiner Vaterstadt aus übersehen kann. Wo der Horizont
von Athen endet, beginnt die Fremde, der Feind, das „Vaterland“ der
andern. Der Römer selbst der letzten republikanischen Zeit hat unter
_patria_ niemals Italien, auch nicht Latium, stets nur die _Urbs
Roma_ verstanden. Die antike Welt löst sich mit steigender Reife in
eine Unzahl vaterländischer Punkte auf, unter denen ein körperliches
Absonderungsbedürfnis in Gestalt eines Hasses besteht, der den Barbaren
gegenüber nie in dieser Stärke zum Vorschein kommt; und nichts kann das
endgültige Erlöschen des antiken und den Sieg des magischen Weltgefühls
nach dieser Seite hin schärfer kennzeichnen als die Verleihung des
römischen Bürgerrechts an alle Provinzialen durch Caracalla (212).
Damit war der antike, statuenhafte Begriff des Bürgers aufgehoben. Es
gab ein „Reich“, es gab folglich auch eine neue Art von Zugehörigkeit.
Bezeichnend ist der entsprechende römische Begriff des Heeres. Es
gab kein „römisches Heer“, wie man vom preußischen Heere spricht;
es gab nur +Heere+, d. h. durch Ernennung eines Legaten als
solche, als begrenzte und sichtbar-gegenwärtige Körper bestimmte
Truppenteile („Truppenkörper“), einen _exercitus Scipionis_,
_Crassi_, aber keinen _exercitus Romanus_. Ein verwandter
Unterschied läßt sich zwischen Napoleons _Grande Armée_ und
dem abstrakten, Zeit und Raum überschreitenden Begriff der _armée
française_ feststellen. Erst Caracalla, der durch den erwähnten
Akt den Begriff des _civis Romanus_ tatsächlich aufhob, der
die römische Staatsreligion durch Gleichsetzung der städtischen
Gottheiten mit allen fremden auslöschte, hat auch den -- unantiken,
+magischen+ -- Begriff des +kaiserlichen Heeres+ geschaffen,
das durch die einzelnen Legionen +in Erscheinung tritt+, während
altrömische Heere nichts +bedeuten+, sondern ausschließlich etwas
+sind+. Von nun an ändert sich auf den Inschriften der Ausdruck
_fides exercituum_ in _fides exercitus_: an Stelle körperlich
empfundener Einzelgottheiten (der Treue, des Glücks der Legion), denen
der Legat opferte, war ein allgemein geistiges Prinzip getreten. Dieser
Bedeutungswandel hat sich auch im Vaterlandsgefühl des Menschen der
Kaiserzeit -- +nicht nur des Christen+ -- vollzogen. Heimat ist
dem apollinischen Menschen, solange ein Rest seines Weltgefühls wirksam
ist, im ganz eigentlichen, körperhaften Sinne der Boden, auf dem seine
Stadt erbaut ist. Man wird sich hier der „Einheit des Ortes“ attischer
Tragödien und Statuen erinnern. Dem magischen Menschen, dem Christen,
dem Neuplatoniker, dem Mohammedaner, dem Juden ist sie nichts, was
mit geographischen Wirklichkeiten zusammenhängt. +Uns+ ist sie
eine ungreifbare Einheit von Natur, Sprache, Klima, Sitte, Geschichte;
nicht Erde, sondern „Land“, nicht punktförmige Gegenwart, sondern
Vergangenheit und Zukunft, nicht eine Einheit von Menschen, Göttern und
Häusern, sondern eine +Idee+, die sich mit rastloser Wanderschaft,
mit tiefster Einsamkeit und mit jener urdeutschen Sehnsucht nach dem
Süden verträgt, an der von den Sachsenkaisern bis auf Hölderlin die
Besten gestorben sind.

Die faustische Kultur war deshalb im stärksten Maße erobernd; sie
überwand alle geographisch-stofflichen Schranken; sie hat zuletzt
die Erdoberfläche in ein einziges Kolonialgebiet verwandelt. Was
von Meister Eckart bis auf Kant alle Denker wollten, die Welt „als
Erscheinung“ den Machtansprüchen des erkennenden Ich unterwerfen, das
taten von Otto dem Großen bis auf Napoleon alle Führer. Das Grenzenlose
war das +eigentliche+ Ziel ihres Ehrgeizes, die Weltmonarchie
der großen Salier und Staufen, die Pläne Gregors VII. und Innozenz
III., jenes Reich der spanischen Habsburger, „in dem die Sonne nicht
unterging“, und der Imperialismus, um den heute der Weltkrieg geführt
wird. Der antike Mensch konnte aus einem inneren Grunde kein Eroberer
sein, trotz des Alexanderzuges, der als romantische Ausnahme und mehr
noch durch den inneren Widerstand der Begleiter lediglich die Regel
bestätigt. Sein pflanzenhaftes Seelentum verbot ihm das Schweifen
in die Ferne. In den Zwergen, Nixen und Kobolden hat die nordische
Seele Wesen geschaffen, die mit einer unstillbaren Sehnsucht aus dem
bindenden Element erlöst sein wollen, einer Sehnsucht nach Fernem
und Freiem, die den griechischen Dryaden und Oreaden unbekannt ist.
Die Griechen gründeten Hunderte von Pflanzstädten am Küstensaum des
Mittelmeeres, aber man findet nicht den geringsten Versuch, erobernd
ins Hinterland zu dringen. Sich fern der Küste ansiedeln hieße die
Heimat aus den Augen verlieren, sich +allein+ niederlassen,
liegt völlig außerhalb der Möglichkeiten des antiken Menschentums.
Ein Phänomen wie die Auswanderung nach Amerika -- jeder einzelne
auf eigene Faust und mit einem tiefen Bedürfnis, allein zu bleiben
--, der Strom der kalifornischen Goldsucher, der Trapper in den
Prärien, der unbändige Wunsch nach Freiheit, Einsamkeit, ungemessener
Selbständigkeit, diese gigantische Verneinung eines noch irgendwie
begrenzten Heimatgefühls ist allein faustisch. Das kennt keine andre
Kultur, auch die chinesische nicht.

Der hellenische Auswandrer gleicht dem Kinde, das sich an der Mutter
Schürze hält: aus der alten Stadt in eine neue ziehen, die samt
Mitbürgern, Göttern und Gebräuchen das genaue Ebenbild der alten
ist, das gemeinsam befahrene Meer immer vor Augen; dort auf der
Agora die gewohnte Existenz des ζῷον πολιτικόν weiterführen --
darüber hinaus durfte der Szenenwechsel eines apollinischen Daseins
nicht getrieben werden. Uns, die wir Freizügigkeit wenigstens als
Menschenrecht und Ideal nicht vermissen können, würde das die ärgste
aller Sklavereien bedeutet haben. Unter diesem Gesichtspunkt hat
man die leicht mißzuverstehende römische Expansion aufzufassen, die
von einer Ausdehnung des +Vaterlandes+ weit entfernt ist. Sie
hält sich genau innerhalb des Bereiches, das von Kulturmenschen
schon in Besitz genommen war und jetzt ihnen als Beute zufiel. Von
dynamischen Weltmachtplänen im Hohenstaufen- oder Habsburgerstil, von
einem mit der Gegenwart vergleichbaren Imperialismus ist nie die Rede
gewesen. Die Römer haben keinen Versuch gemacht, ins innere Afrika zu
dringen. Sie haben ihre spätern Kriege nur geführt, um ihren Besitz
+sicherzustellen+, ohne Ehrgeiz, ohne einen symbolischen Drang
nach Ausbreitung, und sie haben Germanien und Mesopotamien ohne
Bedauern wieder aufgegeben.

Fassen wir all dies zusammen, den Aspekt der Sternenräume, zu dem
sich das Weltbild des Kopernikus erweitert hat, die Beherrschung der
Erdoberfläche durch den abendländischen Menschen (das „Bleichgesicht“)
im Gefolge der Entdeckung des Kolumbus, die Perspektive der Ölmalerei
und der tragischen Szene und das durchgeistigte Heimatgefühl; fügen wir
die zivilisierte Leidenschaft des schnellen Verkehrs, die Beherrschung
der Luft, die Nordpolfahrten und die Ersteigung kaum zugänglicher
Berggipfel hinzu, so taucht aus allem das Ursymbol der faustischen
Seele, der grenzenlose Raum auf, als dessen Ableitungen wir die
besonderen, in dieser Form rein westeuropäischen Phänomene des Willens,
der Kraft, der Tat aufzufassen haben.


Fußnoten:

[Footnote 92: Ursprachen bilden keine Unterlage für abstrakte
Gedankengänge. Am Anfang jeder Kultur erfolgt eine innere Wandlung
der vorhandenen Sprachkörper, die sie zu den höchsten symbolischen
Aufgaben der Kulturentwicklung fähig macht. So entstehen +zugleich
mit dem romanischen Stil+ das Deutsche aus den germanischen Sprachen
der Frankenzeit und das Französische, Italienische, Spanische aus
der _lingua rustica_ der ehemaligen Römerprovinzen, trotz so
verschiedener Herkunft Sprachen von +identischem+ metaphysischem
Gehalt.]

[Footnote 93: ἐθέλω und βούλομαι heißen die Absicht, den Wunsch haben,
geneigt sein; βουλή heißt +Rat+, +Plan+; zu ἐθέλω gibt es
überhaupt kein Hauptwort. _Voluntas_ ist kein psychologischer
Begriff, sondern in echt römischem Tatsachensinne wie _potestas_
und _virtus_ eine Bezeichnung für praktische, äußere, sichtbar
ausgeübte Begabung. Wir gebrauchen in diesem Falle das Fremdwort
Energie. Der Wille Napoleons und die Energie Napoleons -- das ist
etwas sehr Verschiedenes. Man verwechsle die nach außen gerichtete
Intelligenz, die den Römer als zivilisierten Menschen vor dem
hellenischen Kulturmenschen auszeichnet, nicht mit dem, was hier
Wille genannt ist. Cäsar ist +nicht+ Willensmensch im Sinne
Napoleons. Bezeichnend ist der Sprachgebrauch im römischen Recht,
das der Poesie gegenüber das Grundgefühl der römischen Seele viel
ursprünglicher darstellt. Die Absicht heißt hier _animus_
(_animus occidendi_), der Wille, der sich auf Strafbares
richtet, _dolus_ im Gegensatz zur ungewollten Rechtsverletzung
(_culpa_). _Voluntas_ kommt als technischer Ausdruck gar
nicht vor. „Willensfreiheit“ wird in der spätlateinischen Literatur
durch _liberum arbitrium_ nur sehr annäherungsweise gegeben.]

[Footnote 94: Die chinesische Seele „wandelt in der Welt“: dies ist
der Sinn der ostasiatischen Malerperspektive, deren Konvergenzpunkt in
der +Bildmitte+, nicht in der Tiefe liegt. Es sei daran erinnert,
daß die antike Malerei eine Perspektive überhaupt nicht kennt. Man
versteht jetzt: dies, die antike Verneinung des Hintergrundes, bedeutet
den Mangel an Richtungsgefühl, an Willen, an Herrschaftsansprüchen
über das „Nicht-Ich“. Durch die Perspektive werden die Dinge dem Ich,
das sie ordnend auffaßt, unterworfen. Und zwar möchte ich, gegenüber
dem mächtigen Zug in die Tiefe, der +unsre+ Landschaftsmalerei
auszeichnet, von einer +konfucianischen+ Perspektive der
Ostasiaten reden, womit ein im Bilde wirkendes, nicht mißzuverstehendes
+Weltgefühl+ angedeutet ist.]

[Footnote 95: Es versteht sich, daß der Atheismus keine Ausnahme
bildet. Wenn der Materialist oder Darwinist der Gegenwart von „der
Natur“ redet, die etwas zweckmäßig anordnet, die eine Auslese trifft,
die etwas hervorbringt oder vernichtet, so hat er dem Deismus des
18. Jahrhunderts gegenüber nur ein Wort verändert und das Weltgefühl
unverändert bewahrt.]

[Footnote 96: Der große Anteil, den gelehrte Jesuiten an der
Entwicklung der theoretischen Physik haben, darf nicht übersehen
werden. Der Pater Boscovich war der erste, der über Newton hinausgehend
ein System der Zentralkräfte schuf (1759). Im Jesuitismus ist die
Identifikation Gottes mit dem reinen Raume fühlbarer noch als im
Kreise der Jansenisten von Port Royal, dem die Mathematiker Pascal und
Descartes nahestanden.]

[Footnote 97: Luther hat, und dies ist einer der wesentlichsten Gründe
für die Wirkung des Protestantismus gerade auf tiefere Naturen, die
praktische Tätigkeit -- was Goethe die Forderung des Tages nannte --
in den Mittelpunkt der Moral gestellt. Die „frommen Werke“, denen die
Richtungsenergie im hier angegebenen Sinne fehlt, treten unbedingt
zurück. In ihrer Hochschätzung wirkte, wie in der Renaissance, ein
Rest von +südlichem+ Gefühl. Hier findet man den tiefen ethischen
Grund für die steigende Mißachtung, die das Klosterwesen von nun an
trifft. In der Gotik war der Eintritt ins Kloster, der Verzicht auf die
Sorge, die Tat, das +Wollen+ ein +Akt+ von höchster ethischer
Dignität. Es war das höchste denkbare Opfer: das des +Lebens+.
Im Barock empfinden selbst Katholiken nicht mehr so. Die Stätte nicht
der Entsagung, sondern des untätigen Genießens fiel dem Geist der
Aufklärung zum Opfer.]

[Footnote 98: Πρόσωπον heißt im älteren Griechisch Gesicht, später in
Athen Maske. Aristoteles hat das Wort in der Bedeutung „Persönlichkeit“
noch nicht gekannt. Erst der juristische Ausdruck _persona_, der
ursprünglich die Theatermaske bedeutet, hat in der Kaiserzeit auch dem
griechischen πρόσωπον den prägnanten römischen Sinn gegeben.]

[Footnote 99: Die eleusinischen Mysterien enthielten durchaus keine
Geheimnisse. Jeder wußte, was dort vorging. Aber sie wirkten mit einer
geheimnisvollen Erschütterung auf die Gläubigen und man „verriet“, man
entweihte sie, wenn man ihre heiligen Formen außerhalb der Tempelstätte
nachahmte.]

[Footnote 100: Die große Masse der Sozialisten würde sofort aufhören es
zu sein, wenn sie den Sozialismus der neun oder zehn Menschen, die ihn
heute in seinen äußersten historischen Konsequenzen begreifen, auch nur
von fern verstehen könnte.]

[Footnote 101: Mit dem vom Maler gewählten Standort des Betrachters vor
dem Bilde ist der Konvergenzpunkt im Bilde +notwendig+ bestimmt.
Für die chinesische Perspektive besteht dieser Zusammenhang nicht.]

[Footnote 102: Nach dem Rande zu nimmt bei wachsender Stärke des
Fernrohres die Zahl der neuerscheinenden Sterne rasch zu.]

[Footnote 103: Das Berauschende großer Zahlen ist ein bezeichnendes
Erlebnis, das nur der Mensch des Abendlandes kennt. In der
gegenwärtigen Zivilisation spielt gerade dies Symbol, die Leidenschaft
für Riesensummen, für unendlich große und unendlich kleine Messungen,
für Rekorde und Statistiken eine ungewöhnliche Rolle.]




II

BUDDHISMUS, STOIZISMUS, SOZIALISMUS


11

Damit ist endlich das +Phänomen der Moral+ -- als der Interpretation
des Lebens durch sich selbst -- verständlich geworden. Hier ist die
Höhe erreicht, von der aus ein freier Umblick über dies weiteste und
bedenklichste aller Gebiete menschlichen Nachdenkens möglich ist. Aber
gerade hier tut eine Objektivität not, zu der sich bisher niemand
ernstlich verstanden hat. Mag Moral zunächst sein, was sie will; ihre
+Analyse+ darf nicht selbst der Teil einer Moral sein. Nicht was wir
tun, was wir erstreben, wie wir werten +sollen+, führt auf das Problem,
sondern die Einsicht, daß diese Fragestellung ihrer Form nach bereits
ein Symptom ausschließlich des abendländischen Weltgefühls ist.

Der westeuropäische Mensch steht hier unter dem Einfluß einer
ungeheuren optischen Täuschung, jeder ohne Ausnahme. Alle +fordern+
etwas von den andern. Ein „Du sollst“ wird ausgesprochen in der
Überzeugung, daß hier wirklich etwas in einheitlichem Sinne verändert,
gestaltet, geordnet werden könne und müsse. Der Glaube daran und an
das Recht dazu ist unerschütterlich. Hier wird befohlen und Gehorsam
verlangt. Das erst +heißt+ uns Moral. Im Ethischen des Abendlandes
ist alles Richtung, Machtanspruch, gewollte Wirkung in die Ferne.
In diesem Punkte sind Luther und Nietzsche, Päpste und Darwinisten,
Sozialisten und Jesuiten einander völlig gleich. Ihre Moral tritt mit
dem Anspruch auf allgemeine und dauernde Gültigkeit auf. Das gehört
zu den Notwendigkeiten faustischen Seins. Wer anders denkt, fühlt,
will, ist schlecht, abtrünnig, ein +Feind+. Man bekämpft ihn ohne
Gnade. Der Mensch soll. Der Staat soll. Die Gesellschaft soll. Diese
+Form+ der Moral ist uns selbstverständlich; sie repräsentiert uns
den eigentlichen und einzigen Sinn aller Moral. Aber das ist ja weder
in Indien noch in Hellas so gewesen. Buddha gab ein freies Vorbild,
Epikur erteilte einen guten Rat. Auch das sind Grundformen hoher --
statischer, willensfreier -- Moralen.

Wir haben das Exzeptionelle einer moralischen +Dynamik+ gar nicht
bemerkt. Gesetzt, daß der Sozialismus, ethisch, nicht wirtschaftlich
verstanden, das Weltgefühl ist, welches die eigne Meinung im Namen
aller verfolgt, so sind wir ohne Ausnahme Sozialisten, ob wir es wissen
und wollen oder nicht. Selbst der leidenschaftlichste Gegner aller
„Herdenmoral“, Nietzsche, ist gar nicht fähig, in antikem Sinne seinen
Eifer auf sich selbst zu beschränken. Er denkt nur an „die Menschheit“.
Er greift jeden an, der es anders meint. Aber Epikur war es herzlich
gleichgültig, was andre meinten und taten. Eine Umgestaltung der
Menschheit -- daran hat er keinen Gedanken verschwendet. Er und
seine Freunde waren zufrieden, daß +sie+ so und nicht anders
waren. Das antike Lebensideal war die Interesselosigkeit (ἀπάθεια)
am Lauf der Welt, gerade an dem, dessen Beherrschung dem faustischen
Menschen der ganze Lebensinhalt ist. Der wichtige Begriff der ἀδιάφορα
gehört hierher. Es gibt auch einen +moralischen+ Polytheismus
in Hellas. Aber der ganze Zarathustra -- angeblich jenseits von Gut
und Böse stehend -- atmet die Pein, die Menschen so zu sehen, wie man
sie nicht haben will, und die tiefe, so ganz unantike Leidenschaft,
das Leben auf ihre Änderung, im eignen, einzigen Sinne natürlich,
zu verwenden. Und eben das, die +allgemeine+ Umwertung, ist
+ethischer Monotheismus+, ist Sozialismus. Alle Weltverbesserer
sind Sozialisten. Folglich gibt es keine antiken Weltverbesserer.

Der moralische Imperativ als Form der Moral ist faustisch und nur
faustisch. Es ist völlig belanglos, ob Schopenhauer theoretisch den
Willen zum Leben verneint oder ob Nietzsche ihn bejaht sehen will.
Diese Distinktionen liegen an der Oberfläche. Sie bezeichnen einen
Geschmack, ein Temperament. Wesentlich ist, daß auch Schopenhauer die
ganze Welt als Willen +fühlt+, als Bewegung, Kraft, Richtung;
darin ist er der Ahnherr der gesamten ethischen Modernität. Dies
Grundgefühl +ist+ bereits unsre ganze Ethik. Alles andre sind
Nuancen. Was wir Tat, nicht nur Tätigkeit nennen,[104] ist ein durch
und durch historischer, von Richtungsenergie gesättigter Begriff. Es
ist die Daseinsbestätigung, die Daseinsweihe einer Art Mensch, dessen
Seele die Tendenz auf Zukünftiges besitzt, der die Gegenwart nicht
als Punkt an sich, sondern stets als +Epoche+ in einem großen
Zusammenhange des Werdens empfindet, und zwar sowohl im persönlichen
Sein als im Sein der gesamten Geschichte. Die Stärke und Deutlichkeit
dieses Bewußtseins bestimmt den Rang eines faustischen Menschen, aber
selbst der unbedeutendste besitzt etwas davon, das seine geringsten
Lebensakte nach Art und Gehalt von denen +jedes+ antiken Menschen
unterscheidet. Es ist der Unterschied von Charakter und Attitüde, von
bewußtem Werden und einfach hingenommenem statuenhaften Gewordensein,
von tragischem Wollen und tragischem Dulden.

Vor den Augen des faustischen Menschen, in seiner Welt ist alles
Bewegtheit einem Ziele zu. Er selbst +lebt+ unter dieser
Bedingung. Leben heißt für ihn kämpfen, sich durchsetzen. Der Kampf
ums Dasein als ideale Form des Daseins gehört schon der gotischen
Zeit an und liegt ihrer Architektur deutlich genug zugrunde. Das 19.
Jahrhundert hat ihm nur eine mechanistisch-utilitarische Fassung
gegeben. In der Welt des apollinischen, mythischen, ahistorischen
Menschen gibt es keine zielvolle „Bewegung“ -- das Werden Heraklits,
ein absicht- und zielloses Spiel, ἡ ὁδὸς ἄνω κάτω, kommt hier nicht in
Frage --, keinen „Protestantismus“, keinen „Sturm und Drang“, keine
ethische, geistige, künstlerische „Umwälzung“, die das Bestehende
bekämpfen und vernichten will. Der ionische und korinthische Stil
treten ohne den Anspruch auf Alleingeltung neben den dorischen. So
findet man sie auf der Akropolis und an Römerbauten verschwistert.
Aber selbst die sich so antik gebärdende Renaissance wurde im Kreise
Brunellescos als energische und ausschließende Bewegung eingeleitet,
in offener Feindschaft gegen die Gotik (die kein einziger der
Gründer je in sich überwunden hat). Das Barock hat die Renaissance,
der Klassizismus das Barock angefeindet. Selbst das Mönchtum des
Abendlandes, wie es Franziskaner und Dominikaner darstellen, erscheint
in Gestalt einer Ordens+bewegung+, sehr im Gegensatz zur
frühchristlichen, einsiedlerischen Form der Askese.

Es ist dem faustischen Menschen gar nicht möglich, diese Grundgestalt
seines Daseins zu verleugnen, geschweige zu ändern. Jede Auflehnung
dagegen setzt sie schon voraus. Wer den „Fortschritt“ bekämpft, hält
diese Wirksamkeit doch selbst für einen Fortschritt. Wer für eine
„Umkehr“ agitiert, meint damit eine Weiterentwicklung. „Immoral“
-- das ist nur eine neue Moral, und zwar mit dem gleichen Anspruch
des Vorrangs vor allen andern. Der Wille zur Macht ist intolerant.
Alles Faustische will Alleinherrschaft. Für das apollinische
Weltgefühl -- das Nebeneinander vieler Einzeldinge -- ist Toleranz
selbstverständlich. Sie gehört zum Stil der willensfremden Ataraxia.
Für die abendländische Welt -- den +einen+ grenzenlosen
Seelenraum, den Raum als Spannung -- ist sie Selbsttäuschung oder ein
Zeichen des Erlöschens. Der faustische Instinkt, tätig, willensstark,
in die Ferne und Zukunft gerichtet, fordert Duldung, d. h. +Raum+
für die eigne Wirksamkeit, aber +nur+ für sie. Man bedenke etwa,
welches Maß davon die großstädtische Demokratie der Kirche gegenüber in
deren Handhabung religiöser Machtmittel anzuwenden willens ist, während
sie für sich schrankenlose Anwendung der eignen fordert und, wenn sie
kann, die „allgemeine“ Gesetzgebung daraufhin stimmt. Jede „Bewegung“
will siegen; jede antike „Haltung“ will nur da sein und kümmert sich
wenig um das Ethos der andern. Für oder gegen die Zeitströmung kämpfen,
Reform oder Umkehr betreiben, aufbauen, umwerten oder zertrümmern --
das ist gleichmäßig unantik (und unindisch). Und gerade das ist der
Unterschied der sophokleischen und shakespeareschen Tragik, der Tragik
des Menschen, der nur da sein, und des Menschen, der siegen will.

Es ist falsch, das Christentum mit dem moralischen Imperativ in
Verbindung zu bringen. Nicht das Christentum hat den faustischen
Menschen, er hat das Christentum umgeformt. Der Wille zur Macht auch
im Moralischen, die Leidenschaft, seine Moral zur allgemeinen zu
erheben, sie der Menschheit aufzwingen, alle andersgearteten umdeuten,
überwinden, vernichten zu wollen, ist unser eigenstes Eigentum. In
diesem Sinne ist -- ein tiefer und noch nie begriffener Vorgang --
die Moral Jesu ein passiv-geistiges, aus dem magischen Weltgefühl
heraus als heilkräftig empfohlenes Verhalten, dessen Kenntnis als eine
besondere Gnade verliehen wird, +in der gotischen Frühzeit innerlich
in eine befehlende umgeprägt worden+.[105]

Ethik -- das ist endlich das unmittelbare, zur Formel erhobene
Gefühl der Seele vom +Schicksal+, innerlichste, wahllose
Deutung der eignen Existenz. Im Urseelentum primitiver Völker regen
sich nur dumpfe, dunkle Fragen, aber jede Kultur, jedes erwachende
Seelentum gibt dem Leben einen +Sinn+. Im wachen Bewußtsein des
Kulturmenschen haben sich Seele und Welt, Mögliches und Wirkliches als
Pole gesondert. Das Schicksalsproblem (das +Rätsel der Zeit+)
taucht auf und der ganze Makrokosmos, die Welt als +Ausdruck+ der
Seele, ist die Antwort der Seele auf die Frage nach dem Sinn ihres
Seins.

Die antike Seele empfand ihr Schicksal als Moira, blindes,
augenblickliches, beziehungsloses Ungefähr. Die Tragödie vernichtete
den einzelnen Menschen; die Polis verfügte über ihn nach ihrer
jeweiligen Laune. Das Los des Ödipus, Ajas, Herakles war das
allgemeine. Die stoische Ethik ist die Antwort darauf: dem Leben Größe
im Dulden, einen passiven Heroismus, Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια),
Bedürfnislosigkeit zu geben, ist das Ziel. So ist der Sinn des
apollinischen Seins kein Tun, sondern eine Haltung.

Das faustische Schicksal ist +Fügung+. Es stellt den Charakter
vor Entscheidungen. Die Seele antwortet durch eine Ethik, deren
Elemente Tat, Person und Wollen sind, die sich nicht auf die Gebärde
des Augenblicks, sondern auf das Leben als Ganzes bezieht. Der „Wille
Gottes“, im Gegensatz zum griechischen Neid der Götter -- in dieser
Vorstellung liegt das Grundgefühl einer +historischen Logik+
des Weltganzen, die sich auch auf die einzelne Biographie erstreckt.
Es war gezeigt worden, wie in gleichzeitigen Epochen beider Kulturen
Polyklet und Bach ihren Kanon abfaßten, die reine, strenge Theorie der
plastischen und der kontrapunktischen Form. Nun wohl: was wir Moral
nennen, die Struktur des bewußten eigenen Lebens, sein Stil, unterliegt
den Prinzipien dieses Kanons. Alle Moralsysteme des Abendlandes von den
Franziskanern und den Idealen des Rittertums an bis auf die Sozialethik
und „Herrenmoral“ unserer Tage, so verschieden sie dem Wortlaut nach
sein mögen, sind kontrapunktische Gebilde des bewegten, strebenden,
im Raume sich verbreitenden, alle antiken Moralen sind Theorien des
plastischen, auf die Gegenwart eingeschränkten, ruhenden Lebens.

Aber jede Ethik gehört damit in die Nachbarschaft der großen Künste.
Sie ist +ganz Form+, +ganz+ Ausdruck und Symbol und kann
ihrem innersten Wesen nach nie erschöpfend in Begriffen ausgesprochen,
am wenigsten in ein System gebracht werden. Das Bedeutendste aller
Ethik liegt im Unbewußten. Sie offenbart sich in den schlichtesten
Lebensäußerungen, in den unmittelbarsten philosophischen Intuitionen,
in der Erscheinung großer, für ihre Kultur bezeichnender Menschen,
im tragischen Stil, selbst im Ornament. Der Mäander z. B. ist ein
stoisches Motiv; in der dorischen Säule verkörpert sich geradezu das
antike Lebensideal. Sie ist +deshalb+ die einzige der antiken
Säulenformen, welche der Barockstil unbedingt ausschließen mußte.
Man wird sie aus einem sehr tiefliegenden seelischen Grunde auch in
der gesamten Renaissancekunst vermieden finden. Sie widerspricht der
immanenten Ethik +aller+ nordischen Bauweisen. Wer das verstanden
hat, wird auch das subtile Phänomen der in Begriffe gekleideten
Moraltheorien -- notwendig unvollkommener Formen, die in ehrlichster
Meinung oft genug das Gegenteil von dem sagen, was sie sagen wollten
oder sollten -- als Symbole zweiter Ordnung begreifen und deuten können.


12

Jetzt lösen sich uralte Rätsel und Verlegenheiten. Es gibt so viel
Moralen, als es Kulturen gibt, nicht mehr und nicht weniger. Niemand
hat hier eine freie Wahl. So gewiß es für jeden Maler und Musiker etwas
gibt, das ihm gar nicht zum Bewußtsein kommt, das die Formensprache
seiner Werke von vornherein beherrscht und sie von den künstlerischen
Leistungen +aller+ anderen Kulturen unterscheidet, so gewiß
hat +jede+ Lebensäußerung eines Kulturmenschen von vornherein,
a priori in Kants strengstem Sinne, eine Beschaffenheit, die noch
tiefer liegt als alles bewußte Urteilen und Streben und die ihren
+Stil+ als den einer bestimmten Kultur erkennen läßt. Der einzelne
kann moralisch oder antimoralisch handeln, „gut“ oder „schlecht“ aus
dem Urgefühl seiner Kultur heraus, aber die Form seines Handelns ist
schlechthin gegeben. Jede Kultur hat ihren eigenen ethischen Maßstab,
dessen Gültigkeit mit ihr beginnt und endet. Es gibt keine allgemein
menschliche Ethik.

Es gibt also im tiefsten Sinne auch keine wahre Mission und kann
keine geben. Jede Moral ist ein Urphänomen, die zum Gesetz gewordne
Idee eines Daseins. Sie ist innerhalb einer physiognomisch wohl
unterschiedenen Menschenart einfach vorhanden. Man kann sie wecken und
theoretisch in eine Lehre fassen, ihren geistigen Ausdruck verändern
und verdeutlichen; erzeugen kann man sie nicht. So wenig wir imstande
sind, unser Weltgefühl zu ändern -- so wenig, daß selbst der Versuch
einer Änderung schon in seinem Stile verläuft und es bestätigt, statt
es zu überwinden --, so wenig haben wir Gewalt über die ethische
Grundform unsres Daseins. Man hat in den Worten einen gewissen
Unterschied gemacht und die Ethik eine Wissenschaft, die Moral eine
Aufgabe genannt. Es gibt in diesem Sinne keine Aufgabe. So wenig die
Renaissance fähig war, die Antike wieder heraufzurufen, und so sehr sie
mit jedem antiken Detail nur das Gegenteil apollinischen Weltgefühls
zum Ausdruck brachte, eine versüdlichte, eine „antigotische Gotik“
nämlich. so unmöglich ist die Bekehrung eines Menschen zu einer seiner
Kultur fremden Moral. Mag man heute von einer Umwertung aller Werte
reden, mag man als moderner Großstädter zum Buddhismus, zum Heidentum
oder zu einem romantischen Katholizismus „zurückkehren“, der Anarchist
für individualistische, der Sozialist für Gesellschaftsethik schwärmen,
man tut, will, fühlt dasselbe. Die Bekehrung zur Theosophie oder
zum Freidenkertum, die heutigen Übergänge von einem vermeintlichen
Christentum zu einem vermeintlichen Atheismus, sind eine Veränderung
der Worte und Begriffe, der religiösen oder intellektuellen Oberfläche,
nicht mehr. Keine unsrer „Bewegungen“ hat den +Menschen+ verändert.

Die +innere Form+ einer Moral ist das Wesentliche. Ihr programmatischer
Inhalt, ihre religiöse, philosophische, wissenschaftliche Farbe,
der Wortlaut ihrer Sätze und Bekenntnisse, oft genug mißverstandene
Überlieferung, noch häufiger bloße Theorie und leerer Schall, ist
Maske. Nur diese äußere Form tritt in jeder Kultur in tausend Arten
auf, um die man streiten, zu denen man bekehren, die man annehmen oder
„überwinden“ kann. Die eigentliche und +unveränderliche+ Struktur des
gesamten faustischen Seins ist eben jenes Unbeschreibliche, das als
Kraft, Wille, unendlicher Raum, Streben, Ferne im westeuropäischen
Dasein und ihm allein in Erscheinung tritt. Alle Sätze und Formeln der
einzelnen Denker, Kirchen, Strömungen, Systeme sind nur Variationen
über ein schlechthin gegebenes Thema.

Es ist klar: Das Wort Seele bezeichnet hier jedesmal etwas andres,
sobald von einer andern Kultur die Rede ist. Jene apollinische, in
ihrer spätesten Fassung stoische Moral ist die einer Seele, welche ihr
eigenes Bild im Freskostil entwarf, als eine plastische Gruppe schön
geordneter Teile, wie sie Plato beschreibt, ohne Hintergrund (welcher
Zukunft, Ferne, Wirksamkeit bedeutet hätte), voller Linie, Nähe und
Klarheit. Die faustische, in ihrer Ausgangsform sozialistische Ethik
entspricht jenem perspektivischen Seelenbilde aller abendländischen
Psychologien, dessen Schwerpunkt in dem unendlichen Horizonte liegt
(im Bild „Wille“ genannt), während die anderen psychischen Elemente
-- nicht Teile, sondern Beziehungskomplexe -- „Denken“ und „Fühlen“,
sich wie Licht und Schatten der Perspektive einordnen. Eine theoretisch
fixierte Moral ist lediglich der +Kommentar+ des zugehörigen
Seelenbildes.

Eine strenge Morphologie aller Moralen ist die Aufgabe der Zukunft.
Nietzsche hat auch hier das Wesentliche, den ersten Schritt, getan.
Aber seine Forderung an den Denker, sich jenseits von Gut und Böse
zu stellen, hat er selbst nicht erfüllt. Er wollte Skeptiker und
Prophet, Moralkritiker und Moralverkündiger zugleich sein. Das verträgt
sich nicht. Man ist nicht Psycholog ersten Ranges, solange man noch
Romantiker ist. Und so ist er hier, wie in all seinen entscheidenden
Einsichten, bis zur Pforte gelangt, aber vor ihr stehen geblieben.
Indes hat es noch niemand besser gemacht. Wir waren bisher blind für
den unermeßlichen Reichtum der moralischen Formensprache. Wir haben ihn
weder übersehen noch begriffen. Selbst der Skeptiker verstand seine
Aufgabe nicht; er erhob im letzten Grunde die eigene, durch persönliche
Anlage, durch den privaten Geschmack bestimmte Fassung der Moral zur
Norm und maß danach die andern. Die modernsten Revolutionäre, Stirner,
Ibsen, Strindberg, Shaw, haben nichts andres getan. Sie verstanden es
nur, diese Tatsache -- auch vor sich selbst -- hinter neuen Formeln und
Schlagworten zu verstecken.

Aber eine Moral ist wie eine Plastik, Musik oder Malerei eine in
sich geschlossene Formenwelt, die ein Lebensgefühl zum Ausdruck
bringt, schlechthin gegeben, in der Tiefe unveränderlich, von innerer
Notwendigkeit. Sie ist innerhalb ihrer historischen Sphäre immer
wahr, außerhalb immer unwahr. Es war gezeigt worden, daß, wie für den
einzelnen Dichter, Maler, Musiker seine einzelnen Werke, so für die
großen Individuen der Kulturen die Kunst+gattungen+ als organische
Einheit, die +ganze+ Ölmalerei, die +ganze+ Aktplastik, die
kontrapunktische Musik, die Reimlyrik Epoche machen und den Rang großer
Lebenssymbole einnehmen. In beiden Fällen, in der Geschichte einer
Kultur wie im Einzeldasein, handelt es sich um die Verwirklichung von
Möglichem. Das innerlich Seelische wird zum +Stil einer Welt+.
Neben diesen großen Formeinheiten, deren Werden, Vollendung und
Abschluß eine vorbestimmte Reihe menschlicher Generationen umfaßt
und die nach einer Dauer von wenigen Jahrhunderten unwiderruflich
dem Tode verfallen, steht die Gruppe der faustischen, die Summe
der apollinischen Moralen, ebenfalls als Einheit höherer Ordnung
aufgefaßt. Ihr Vorhandensein ist +Schicksal+, das man hinzunehmen
hat; nur die bewußte Fassung ist das Resultat einer Offenbarung oder
wissenschaftlichen Einsicht.

Für den, welcher hier sehen gelernt hat, sind deshalb die Formensprache
einer Moral und die der zugehörigen Mathematik im tiefsten Grunde
identisch. Sie offenbaren beide ein Seelentum, sie verwirklichen beide
unbewußte Möglichkeiten, sie gestalten beide etwas Gesetztes, ein
„Gesetz“ -- von dem religiösen Gehalt der Zahlen war schon die Rede
--, mögen sie im einzelnen in religiöser, künstlerischer, praktischer
Verkleidung in Erscheinung treten. Die antike Zahl, die +Größe+,
hat Maß und Haltung. Das entspricht der Kalokagathia, dem Ethos des
antiken Menschen. Die abendländische Zahl, die +Funktion+, wird
nicht nach ihrem sinnlichen Sein (als Kurve), sondern nach Charakter
und Wirkung gewertet. Das ist der Sinn der Analysis. Darin wiederholt
sich das Lebensideal des nordischen Menschen, dessen Sein Wirksamkeit
ist. Es hat sich wohl noch niemand träumen lassen, daß, was in der
heutigen Politik Fortschritt heißt, identisch ist mit dem, was die
Physik Prozeß, die Analysis Funktion, der Darwinismus Evolution,
die Kirche Rechtfertigung durch die guten Werke, die Psychologie
Wille, die Malerei Tiefenperspektive nennt, daß nichts von alledem
in irgendeiner andren Kultur vorkommt und daß es sich also lediglich
um eine Gruppe von Symbolen eines Seins handelt, das einmal und für
einige Jahrhunderte im Bilde der Historie auftaucht und +mit+
diesen Symbolen in kurzer Zeit verschwunden sein wird. Dürfen wir
also von einer euklidischen und einer analytischen Ethik reden?
Wie wir von einer euklidischen und analytischen Form der Tragödie
gesprochen hatten? Der tragische Stil, wie ihn beide Kulturen
entwickeln, dringt tiefer in die seelischen Geheimnisse ein als
irgendeine +geschriebene+ Ethik, in deren Fassung tausend fremde
Motive durcheinanderwirken. Die tragische Attitüde ist der Kern des
apollinischen, das tragische Wollen des faustischen Szenenbildes, das
unmittelbar den ersehnten Aspekt des Lebens gibt. Hier finden wir zwei
entgegengesetzte Arten von Heroismus und jede andere Kultur, sofern
sie überhaupt eine Tragödie in die Gruppe der ihr möglichen und also
notwendigen Künste eingefügt hat, wie die indische und chinesische,
stellt ihnen eine andre zur Seite.

Jede antike Ethik ist also eine Ethik der Gebärde, jede abendländische
eine Ethik der Tat. Dem euklidisch-beschaulichen Lebensgefühl steht das
analytisch-aktive gegenüber. Das entspricht den mathematischen Symbolen
des greifbaren Einzelkörpers und des reinen Raumes, der Wirklichkeit,
welche den Sinnen gegeben ist, und der, welche ihnen abgerungen werden
muß. Das antike Ideal ist die Hingabe an den Vordergrund in jedem
Sinne, an das Jetzt und Hier, an den Leib und die einzelne Stunde; das
faustische Ideal ist zu alledem der stärkste Gegensatz. Ihm ist nichts
gegeben. Es ist Kampf und Überwindung ohne Ausnahme. Man erinnere sich
jener Szene im Faust, in welcher der Sinn eines ganzen Jahrtausends
liegt, wo der zur Höhe gereifte Geist dieser Kultur das „Im Anfang
war das Wort“ des Evangeliums verdeutscht: „Im Anfang war die Tat.“
+Das ist die Umdeutung des frühen Christentums aus dem Magischen ins
Nordische.+


13

Jede denkbare antike Ethik gestaltet den +einzelnen+ Menschen,
als Leib, als Atom unter Atomen. Alle Wertungen des Abendlandes
beziehen sich auf den Menschen, sofern er Wirkungszentrum einer
unendlichen Allgemeinheit ist. Ethischer Sozialismus -- das ist
die Gesinnung der Tat, die durch den Raum in die Ferne wirkt, das
Pathos der dritten Dimension, als deren Zeichen das Urgefühl der
Sorge, für die Mitlebenden wie für die Kommenden, über dieser ganzen
Kultur schwebt. So kommt es, daß im Aspekt der ägyptischen Kultur für
uns etwas Sozialistisches, etwas Preußisches liegt. Auf der andern
Seite erinnert die Tendenz auf Attitüde, Wunschlosigkeit, statische
Abgeschlossenheit des einzelnen für sich an die indische Ethik und
den von ihr gestalteten Menschen. Man denke an die sitzenden, „ihren
Nabel beschauenden“ Buddhastatuen, denen Zenons Ataraxia nicht so
ganz fremd ist. Das ethische Ideal des antiken Menschen war das, zu
welchem die Tragödie hinleitete. Die +Katharsis+, die Entladung
der apollinischen Seele von dem, was +nicht+ apollinisch, nicht
frei von „Ferne“ und Richtung war, offenbart hier ihren tiefsten Sinn.
Man versteht sie nur, wenn man den Stoizismus als ihre reife Form
erkennt. Was das Drama in einer feierlichen Stunde bewirkte, wünschte
die Stoa über das ganze Leben zu verbreiten: die statuenhafte Ruhe,
das willensfreie Ethos. Und weiter: Eben jenes buddhistische Ideal des
Nirwana, eine sehr späte Formel, aber ganz indisch und schon von den
vedischen Zeiten an zu verfolgen: ist das nicht der Katharsis nahe
verwandt? Rücken vor diesem Begriff der ideale antike und der ideale
indische Mensch nicht nahe zusammen, sobald man sie mit dem faustischen
Menschen vergleicht, dessen Ethik sich ebenso deutlich aus der Tragödie
Shakespeares und ihrem dynamischen Schwung begreifen läßt? In der Tat:
Sokrates, Epikur und vor allem Diogenes am Ganges -- das wäre sehr wohl
vorstellbar. Diogenes in einer der westeuropäischen Weltstädte wäre ein
bedeutungsloser Narr. Und andrerseits, Friedrich Wilhelm I., das Urbild
eines Sozialisten in großem Sinne, ist in dem Staat am Nil immerhin
denkbar. Im perikleischen Athen ist er es nicht.

Hätte Nietzsche etwas vorurteilsfreier und weniger von einer
romantischen Schwärmerei für ethische Schöpfungen bestimmt seine
Zeit beobachtet, so würde er bemerkt haben, daß eine, vermeintlich
spezifisch christliche Mitleidsmoral auf dem Boden Westeuropas
tatsächlich gar nicht besteht. Man muß sich durch den Wortlaut humaner
Formeln nicht über ihre faktische Bedeutung täuschen lassen. Zwischen
der Moral, die man hat, und der, die man zu haben glaubt, besteht ein
sehr schwer aufzufindendes und höchst variables Verhältnis. Gerade
hier wäre eine subtile Psychologie am Platze gewesen. Mitleid ist ein
gefährliches Wort. Es fehlt noch an einer Untersuchung darüber, was man
zu verschiedenen Zeiten darunter verstanden und darunter +gelebt+
hat. Man darf heute sagen, daß Nietzsche sich hier jedesmal vergriffen
hat. Die christliche Moral zur Zeit des Origenes ist etwas ganz
anderes als die zur Zeit des Franz von Assisi. Es ist hier nicht der
Ort zu untersuchen, was +faustisches+ Mitleid als sakraler oder
rationaler Begriff und als wirksames Lebensgefühl im Unterschiede von
orientalisch-christlichem, fatalistischem, laszivem Mitleid bedeutet,
inwiefern es als Wirkung in die Ferne, als +praktische Dynamik+
aufzufassen ist und andrerseits als Opfer einer stolzen Seele in naher
Verwandtschaft mit der Gesinnung gotischer Dombauten oder wieder
als Äußerung eines überlegenen Distanzgefühls. Der unveränderliche
Schatz ethischer Wendungen, wie ihn das Abendland seit der Renaissance
besitzt, hat eine unermeßliche Fülle verschiedener Gesinnungen von
sehr verschiedenem Gehalt zu decken. Der Oberflächensinn, an den
man glaubt, das bloße Wissen um Ideale ist unter so historisch und
retrospektiv angelegten Menschen, wie wir es sind, ein Ausdruck der
Ehrfurcht vor Vergangenem, in diesem Falle der religiösen Tradition.
Aber Überzeugungen sind nie der Maßstab für ein Sein. Sie sind immer
etwas volkstümlicher und bleiben weit hinter der Tiefe der seelischen
Wirklichkeit zurück. Die theoretische Verehrung neutestamentlicher
Satzungen steht in der Tat mit der theoretischen Hochschätzung der
antiken Kunst durch die Renaissance und den Klassizismus auf einer
Stufe. Die eine hat so wenig den Menschen, wie die andre den Geist
der Werke umgewandelt. Die stets genannten Beispiele der Bettelorden,
der Herrnhuter, der Heilsarmee beweisen schon durch ihre geringe
Zahl, noch mehr durch ihr geringes Gewicht, daß sie den Ausnahmefall
von etwas ganz anderm, der +eigentlich faustisch-christlichen+
Moral nämlich, darstellen. Man wird ihre Formulierung allerdings bei
Luther und im Tridentinum vergeblich suchen, aber alle Christen großen
Stils, Innozenz III. und Luther, Loyola und Savonarola, trugen sie im
Widerspruch zu ihren Lehrmeinungen in sich, ohne daß sie das je bemerkt
hätten.

Man braucht nur den rein abendländischen Begriff jener männlichen
Tugend, der durch Nietzsches „moralinfreie“ _virtù_ recht gut
bezeichnet ist, mit jener sehr weiblichen ἀρετή des hellenischen Ideals
zu vergleichen, als deren Praxis immer die Genußfähigkeit (ἡδονή),
Gemütsruhe (γαλήνη, ἀπάθεια), Bedürfnislosigkeit und vor allem immer
wieder die ἀταραξία zum Vorschein kommt. Was Nietzsche die blonde
Bestie nannte und was er in dem von ihm sehr überschätzten Typus des
Renaissancemenschen verkörpert fand (der nur ein raubkatzenhafter
Nachklang der großen Deutschen der Staufenzeit war) -- ja, das ist
doch das strengste Gegenteil des Typus, den ohne Ausnahme alle antiken
Ethiken gewünscht und alle antiken Menschen von Bedeutung verkörpert
haben. Dahin gehören die Menschen von Granit, von denen die faustische
Kultur eine lange Reihe vorüberziehen sah, die antike nicht einen
einzigen. Denn Perikles und Themistokles waren weiche Naturen im Sinne
attischer Kalokagathie, Alexander war ein Schwärmer, der nie aufgewacht
ist, Cäsar war ein kluger Rechner; Hannibal, der Fremde, der Semit, war
der einzige „Mann“ unter ihnen. Die Menschen der Frühzeit, auf die man
aus Homer schließen darf, diese Odysseus und Ajax hätten sich neben der
Ritterschaft der Kreuzzüge sehr merkwürdig ausgenommen. Es gibt auch
eine Brutalität als Rückschlag sehr femininer Naturen. Hier im Norden
aber erscheinen an der Schwelle der Frühzeit die großen Sachsen-,
Franken- und Staufenkaiser, umgeben von einer Schar riesenhafter
Menschen wie Heinrich dem Löwen und Gregor VII. Es folgen die Menschen
der Renaissance, der Hugenottenkriege, die spanischen Konquistadoren,
die preußischen Kurfürsten und Könige, Napoleon, Bismarck. Wo gab es
eine zweite Kultur, die dem etwas an die Seite zu setzen hätte? Wo
besitzt die ganze hellenische Geschichte eine Szene von der Mächtigkeit
jener von Legnano, wo der Zwist zwischen Staufen und Welfen zum
Ausbruch kam? Die germanischen Recken der Völkerwanderung, spanische
Ritterlichkeit, preußische Disziplin, napoleonische Energie -- das
alles hat wenig Antikes. Und wo findet sich auf den Höhen faustischen
Menschentums von den Kreuzzügen bis zum Weltkrieg jene „Sklavenmoral“,
jene weiche Entsagung, jene Caritas im Betschwesternsinne? In den
Worten, die man achtet, nirgends sonst. Ich denke da auch an die
Typen des faustischen Priestertums, an jene prachtvollen Bischöfe der
Kaiserzeit, die hoch zu Roß in wilden Schlachten ihre Leute anführten,
an die Päpste, denen Heinrich IV. und Friedrich II. unterlagen, an den
Deutschritterorden in den Ostmarken, an den Luthertrotz, in dem sich
altnordisches Heidentum gegen altrömisches aufbäumte, an die großen
Kardinäle Richelieu, Mazarin und Fleury, die Frankreich geschaffen
haben. +Das+ ist faustische Moral. Man muß blind sein, um diese
unbändige Lebenskraft nicht im gesamten Bilde der westeuropäischen
Geschichte wirksam zu finden. Und man denke auch, auf einem ganz
andern Gebiete, an die Energie riesenhafter Konzeptionen bei Dante,
Wolfram, Shakespeare, Bach, Beethoven, an die technischen, in diesem
Umfange nur in Ägypten wiederkehrenden Probleme, welche die gotischen
Baumeister sich gestellt haben und an die, welche sich ihre Nachfolger,
die modernen Ingenieure, zu stellen wagen, denen die Antike nichts zu
vergleichen hat. Das sind nicht Ausnahmen, das ist der Geist dieser
Kultur, ihre +praktische+ Lebensgesinnung, neben der sich die
vielbewunderte attische Lebendigkeit mit ihren vorsichtigen Idealen von
Maß und Haltung etwas schattenhaft ausnimmt.

Das ist der Grund, weshalb die „Mitleidsmoral“ im faustischen Norden
immer respektiert, zuweilen von Denkern angezweifelt, zuweilen
gewünscht, aber niemals realisiert worden ist. Kant hat sie mit
Entschiedenheit abgelehnt. In der Tat steht sie in innerstem
Widerspruch zum kategorischen Imperativ, der den Sinn des Lebens
in der Tat, nicht im Fühlen sieht. Die Beweisführung Nietzsches
ist noch deutlicher, allerdings sehr gegen seine Absicht. Was er
Sklavenmoral nennt und unter welcher ganz unzutreffenden Bezeichnung
er „das Christentum“ in Bausch und Bogen kritisiert, ist ein Phantom.
+Seine Herrenmoral ist eine Realität.+ Sie brauchte nicht erst
entworfen zu werden; sie ist vorhanden. Nimmt man die romantische
Borgiamaske hinweg und jene nebelhaften Visionen vom Übermenschen, so
bleibt der faustische Mensch selbst übrig, wie er heute existiert,
als Typus einer energischen, imperativischen, hochintellektuellen
Zivilisation. Wir haben da ganz einfach den Realpolitiker, den
Geldmagnaten, den großen Ingenieur und Organisator. „Eine höhere Art
Menschen, welche sich, dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen,
Reichtum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienen als ihres
gefügigsten und beweglichsten Werkzeuges, um die Schicksale der Erde
in die Hand zu bekommen, um am ‚Menschen‘ selbst als Künstler zu
gestalten. Genug, die Zeit kommt, da man über Politik umlernen wird.“
So heißt es in einer der Nachlaßaufzeichnungen, die viel konkreter
sind als die ausgeführten Werke. „Wir müssen entweder politische
Fähigkeiten züchten oder durch die Demokratie zugrunde gehen, die uns
die mißglückten älteren Alternativen aufgezwungen haben“, heißt es bei
Shaw (Mensch und Übermensch). Shaw, der vor Nietzsche die praktische
Schulung und den geringern Grad von Ideologie voraus hat, so beschränkt
sein philosophischer Horizont erscheint, hat in „Major Barbara“ in
der Gestalt des Milliardärs Undershaft das Übermenschenideal in die
unromantische Sprache der neuern Zeit übertragen, aus der es, auf dem
Umweg über Malthus und Darwin, auch bei Nietzsche wirklich stammt.
Diese Tatsachenmenschen großen Stils sind es, welche heute den Willen
zur Macht und damit die faustische Ethik überhaupt repräsentieren.
Der Schluß des zweiten Teils vom Faust erschließt den tieferen
Zusammenhang. Diese früheste dichterische Konzeption des zivilisierten
Europäers ist noch heute nicht wieder erreicht worden. Hier findet sich
+nichts+ Negatives. Tat, Wille, Überwindung ist alles. Es gibt
einen Punkt, wo Philanthropie abgeschmackt wird. Menschen dieser Art
werfen ihre Millionen nicht zur Befriedigung eines uferlosen Wohltuns
hinaus, für die Träumer, „Künstler“, Schwachen, Schlechtweggekommenen;
sie verwenden sie für die, welche als Material für die Zukunft
mitzählen. Sie verfolgen mit ihm ein Ziel. Sie schaffen ein dynamisches
Zentrum, das die Grenzen des persönlichen Daseins überdauert. Auch das
Geld kann Ideen entwickeln und Geschichte machen. So hat Rhodes, in dem
sich ein sehr bedeutungsvoller Typus des 21. Jahrhunderts ankündigt,
sein Vermögen testamentarisch angelegt. Es ist flach und beweist
die Unfähigkeit, Geschichte innerlich zu begreifen, wenn man das
literarische Geschwätz populärer Sozialethiker und Humanitätsapostel
nicht von den wahren ethischen Instinkten der westeuropäischen
Zivilisation zu unterscheiden weiß.

Der Sozialismus -- in seinem höchsten Sinne, nicht in dem der
Gasse -- ist wie alles Faustische ein exklusives Ideal, das seine
Volkstümlichkeit nur einem vollkommenen Mißverständnis (auch unter
den Wortführern) verdankt, daß er nämlich ein Inbegriff von Rechten,
nicht von Pflichten, daß er eine Beseitigung, nicht eine Verschärfung
des kantischen Imperativs, ein Nachlassen, nicht ein Höherspannen der
Richtungsenergie sei. Jene triviale Oberflächentendenz auf Fürsorge,
Wohlfahrt, „Freiheit“, Humanität, das Glück der Meisten enthält nur
das Negative der Idee, sehr im Gegensatz zum antiken Epikuräismus, dem
der glückselige Zustand tatsächlich Kern und Summe alles Ethischen
war. Gerade hier liegen äußerlich sehr verwandte Stimmungen vor, die
im einen Falle nichts, im andern alles bedeuten. Man kann aus diesem
Gesichtspunkt den Inhalt der antiken Ethik ebenfalls als Philanthropie
bezeichnen, die der einzelne sich selbst, seinem σῶμα, angedeihen
läßt. Hier hat man die Autorität des Aristoteles auf seiner Seite,
der genau in diesem Sinne das Wort φιλάνθρωπος gebraucht, an dem
sich die besten Köpfe der klassizistischen Zeit, Lessing vor allem,
abgemüht haben. Aristoteles bezeichnet die Wirkung der attischen
Tragödie auf attische Zuschauer als philanthropisch. Ihre Peripetie
erlöst ihn vom Mitleid mit sich selbst. Was bedeutet für +uns+
das +populäre+ Wohltun? Ein faustisches Mitleid mit aller Welt
befriedigen, eine ins Weite gehende Erregung des Gemütes stillen, kurz:
+Katharsis+. +Das+ ist Nietzsches Sklavenmoral, nämlich
eine Moral mit negativen, antidynamischen Tendenzen. Eine Theorie
von Herren- und Sklavenmoral gab es auch im frühen Hellenismus, bei
Kallikles z. B., wie sich versteht in streng leiblich-euklidischem
Sinne. Das Ideal der ersten ist Alkibiades, der genau das tat, was ihm
augenblicklich für seine Person zweckmäßig erschien, Landesverrat,
Betrug, Verleumdung nicht ausgeschlossen, eine Lebenshaltung, für die
es seinen Zeitgenossen am Talent, sicher nicht am guten Willen fehlte.
Man hat ihn als Typus antiker Kalokagathie empfunden und bewundert.
Odysseus, die epische Inkarnation des griechischen Menschen, ist ihm
ähnlich. Protagoras ist noch deutlicher in seinem berühmten, ganz
ethisch gemeinten Satze, daß der Mensch -- jeder einzelne für sich --
das Maß der Dinge sei. Das ist die Herrenmoral einer statuenhaften
Seele.

Für die abendländische Seele kann jene hedonistische Tendenz -- denn
der Philanthrop faustischen Stils, der Allerweltssozialist, ist
Hedonist für „die andern“ -- bestenfalls den Sinn einer Befreiung
zugunsten ernsterer Notwendigkeiten haben, der Befreiung von
trivialleiblichen und sachlichen Beschränkungen der wirtschaftlichen
und sozialen Zustände nämlich, insofern sie einer ins Unendliche und
Abstrakte greifenden Wirksamkeit im Wege sind. Dies ist der tiefste
und von ihrem Urheber nicht entfernt begriffene Sinn der Phrase,
daß Eigentum Diebstahl ist. Eigentum -- damit war der Besitz im
+populären+ Sinne, das Greifbare und Nahe gemeint, das auch der
Grieche und Römer als solches, als χρῆμα und _res_ empfunden hat,
ein Begriff von statischem Gehalt, der in der Tat vom abendländischen
Wirtschaftsleben mehr und mehr und +unvermerkt+ verneint
wird. Damit ist das antieuklidische und funktionale Weltgefühl zum
schärfsten Ausdruck gelangt.[106] Daß mit dem endlichen Verfall und
Erstarren unsres Seelentums -- nach einem Höhepunkt intellektueller,
sozialistischer Daseinsgestaltung, von deren Schroffheit nach Form
und Tendenz, von deren Tyrannei, mit welcher der +allgemeine+
Wille zur Macht auf jedem einzelnen lastet, sich schwerlich heute
jemand einen Begriff macht -- zuletzt +doch+ die negative Seite
allein übrig bleiben und Europa, wie Goethe fürchtete, als „Lazarett
von Medizinern“ in Erscheinung treten wird, ist unwahrscheinlich. Der
Endzustand der dynamischen Entwicklung wird ein äußerst positiver
Ägyptizismus, ein auf die Spitze getriebenes Mandarinentum sein,
in dem jeder Sklave, Beamter, ein funktionales Element ist, eine
politisch-geistige Form, auf welche die seelische Verwandtschaft der
faustischen zur ägyptischen und chinesischen Kultur schließen läßt,
etwas Starres, Unfruchtbares, voller Plan und Ziel, aber nichts weniger
als „human“ oder „liberal“ im heutigen hoffnungsvollen Sinne.

Das Phänomen der Ethik steht, ganz morphologisch betrachtet, dem der
Logik gegenüber. Das sind die +zwei möglichen Arten+, ein Weltgefühl
geistig zu realisieren, sich zur Welt in Beziehung zu setzen. Erinnern
wir uns des letzten und äußersten Gegensatzes im wachen menschlichen
Bewußtsein, der am Anfang durch die Urworte +Werden+ und +Gewordnes+
bezeichnet war. Von ihm aus begreift man das Verhältnis von Ethik und
Logik. Ethisch ist die Form des Werdens, des Lebens, logisch die des
Gewordnen, des Erkannten. Das Merkmal der Richtung, wie es durch die
Worte Zeit, Schicksal, Zukunft angedeutet wird, liegt allem Ethischen
zugrunde, das Merkmal der Ausdehnung -- mittels der Ursymbole des
Raumes, des Körpers -- dem Logischen. Die tiefe Beziehung, ja Identität
von Denken und Ausdehnung oder, wenn man will, von Geist und Objekt
ist niemals zweifelhaft gewesen. Eine gleiche besteht zwischen Leben
und Richtung. Ethik und Logik verhalten sich +wie das Mögliche zum
Wirklichen, wie das Leben zum Tode+. Die Logik ist starr. Sie macht
erstarren. Sie gilt nur im Bereich des Erstarrten. Man nennt das ihre
ewigen Gesetze. Die Ethik +hat+ keine Gesetze. Sie lebt. Sie gestaltet
das Leben. In dieser Klarheit ist der Gegensatz zweier Formenwelten,
welche das gesamte bewußte Sein ohne Rest unter sich verteilen, nur im
höhern Menschentum vorhanden. Der Urmensch bleibt in dunklen Gebräuchen
und Vorstellungen befangen. Sein Logisches, sein Denken, Erkennen,
Verstehen bewegt sich in ebenso ungeordneten Bahnen, wie seine Sitte
in bruchstückhaften Andeutungen einer ornamentalen -- zeremoniellen --
Struktur. Erst innerhalb reifer, durchgeistigter Kulturen erhält das
Leben wie das Denken einen ganz bestimmten und innerlich notwendigen
Stil. Das große Rätsel des Lebens, das gefühlte Gerichtetsein, die Idee
eines Schicksals kleidet sich in ein Moralproblem und gleichzeitig
das Rätsel der Erkenntnis, des Begreifens der äußern Welt im Sinne
des Tiefenerlebnisses in ein erkenntnistheoretisch-logisches. Aus
diesem Grunde unterschied Kant eine praktische und eine theoretische
Vernunft, womit er den Geltungsbereich von Schicksal und Kausalität,
von Lebendigem und Starrem, also das formspendende Prinzip des Werdens
und des Gewordnen meinte. Er gelangt dort zum kategorischen Imperativ,
der Grundform aller faustischen Moralen, hier zur Idee des Raumes als
der Form a priori unsrer schöpferischen Anschauung, womit, wie wir
sahen, das faustische Ursymbol, das Welterlebnis des westeuropäischen
Menschen bezeichnet war. Was beiden Gedanken gemeinsam ist und was
ihnen ihre unbezwingliche Gewalt über den modernen Geist verleiht, ist
das in ihnen ruhende Grundgefühl des Willens zur Macht, der ethisch
wie logisch der Welt seine Gestalt aufzuprägen entschlossen ist.

Man fühlt, wie eine Logik nicht ohne System sein kann, mehr noch, daß
sie durch und durch System ist und nichts außerdem, denn Erkanntes und
Ausgedehntes sind identisch und Zahlen wie Begriffe besitzen streng
extensiven Charakter. Anderseits hat die Wortverbindung „ethisches
System“ etwas Widersinniges und Unnatürliches. So gewiß alles
Logische räumlich, starr, mechanisch, so gewiß ist alles Ethische
reine, lebendige Gestalt. Man kann sie physiognomisch schildern,
dramatisch, musikalisch, aber man kann sie nicht in ein Schema bringen.
Das unterscheidet Menschenkenntnis von Naturerkenntnis. Die große
Kunst und +nicht+ die Wissenschaft wird immer die untrügliche
Offenbarung der ethischen Gestalt einer Seele sein. Dies ist der
Grund, weshalb Theorien moralischen Inhalts immer ein unzulängliches
Bild der Moral geben und weshalb sie auf die lebendige Erscheinung
alles Menschlichen ohne Einfluß sind. Eine Ethik als Lehrmeinung
vortragen heißt das Wesen der Ethik mißverstehen. Sie bildet nicht,
sie ist nur der Ausdruck einer Bildung. Sie ist nicht Vorbild und
Ziel, sondern Form und Art des sich entwickelnden Seins. Ich erinnere
wieder an den Gegensatz zweier Welten, der Geschichte und der Natur,
in deren Bilde das Werden +oder+ das Gewordne vorwaltet. Die
Geschichte, +das sich Vollendende+, besitzt eine ethische, die
Natur, +das Vollendete+, eine logische Struktur. Ethik und Logik:
so stehen sich Organisches und Mechanisches, Schicksal und Kausalität,
Physiognomik und Systematik, Lebenserfahrung und wissenschaftliche
Erfahrung gegenüber. Gut und böse -- das ist die gestaltende Polarität
des Lebensgefühls; wahr und falsch ist die des Weltbewußtseins. In
seinen ethischen Instinkten, die sich im Stil des äußern Lebens, im
Tragischen, selbst in der leiblichen Erscheinung, am unvollkommensten
sicherlich in Begriffen und Thesen offenbaren, berührt der Mensch das
+Mögliche+ in sich, das nach Gestaltung drängt, die ewige Zukunft;
in der Logik formt er das +Wirkliche+, das sich geistig gestaltet
+hat+, das Fremde, dem Leben bereits entfremdete, die ewige
Vergangenheit.

Es ist die Gefahr des gebornen Denkers wie Kant und Aristoteles, die
+Ethik zu logisieren+, sie aus Begriffen, Schlüssen, Gesetzen
aufzubauen, ebenso wie er die lebendige Geschichte -- zugunsten eines
Systems -- mechanisiert. In keiner systematischen Philosophie findet
die wirkliche Geschichte Platz. Das haben hundert mißglückte Versuche,
noch zuletzt der gewaltigste von allen, der Hegels, bewiesen. Die
Gefahr des Dichters wie Plato, Goethe, Schelling, der kein System
konstruiert, sondern Lebendiges nachbildet, ist es, die Logik zu
ethisieren, wie er die Natur in ein phantastisches Wesen auflöst
und Begriffe durch Bilder verdrängt. Diese letzte, die ethische
Durchdringung der Natur, bezeichnet auch den Geist jugendlicher
Kulturen, die von Leben überströmen wie die Zeiten Plotins und Dantes.
Das erste, der Trieb nämlich, die Ethik logisch, die Geschichte
mechanisch, beide also künstlich und verstandesmäßig, als tote Objekte
zu gestalten, ist ein Symptom sterbender, in zivilisierter Form
erstarrender Kulturen. Wir werden sehen, daß Stoizismus und Sozialismus
im +engern+ Sinne logisierte, aus einem Mangel, nicht aus der
Fülle erwachsene Ethiken sind, nicht Lebensformen, die man hat, sondern
solche, die man braucht. Sie entstehen in der Nachbarschaft zahlloser
Tendenzen, die auch das Historische, den Staat-- „Gesellschaftsordnung“
ist ein bezeichnendes Wort dafür -- künstlich in Szene setzen,
+konstruieren+ wollen. Leben und Konstruktion aber schließen sich
aus. Logisch, anorganisch, mechanisch ist das Gewordene, das nicht mehr
Lebende, der Tod. Ethische Probleme, die wirklich als Probleme, als
Fragen und Verlegenheiten, aufgestellt und empfunden werden, verraten,
daß das Leben selbst fraglich geworden ist.

Die Weltsehnsucht der abendländischen Seele knüpft sich an das
Bild des raumbeherrschenden Willens, wie die der hellenischen an
das Ideal vollkommener, ruhender Leiblichkeit. Deshalb wurde das
+Problem der Willensfreiheit+,[107] das in dieser energischen
Fassung nur der faustische Mensch in sich trägt und in dem sich
seine ganze metaphysische Leidenschaft nach dem Grenzenlosen, nach
Überwindung alles Nur-Sinnlichen, nach Verneinung aller Schranken
seines Machtgefühls, nach Geltung und Wirksamkeit ans Licht des
wachen Bewußtseins drängt, unser ethisches Hauptproblem, um das
sich alle einzelnen Systeme kristallisieren. Es liegt, wenn auch
noch so tief verhüllt, jedem unsrer ethischen Weltaspekte, auch den
Charaktertragödien Shakespeares im Gegensatz zum Attitüdendrama des
Sophokles, auch der sozialistischen Gegenwartsstimmung, die ganz in
eine individualistische Farbe getaucht ist, zugrunde. Die innere
Gewißheit eines freien Willens ist der gesamten Porträtmalerei seit
Lionardo wesenhaft. Rembrandt hat sein ganzes Leben an dies große
Mysterium gewandt, und schon Michelangelos Sklaven vom Juliusgrabmal
lassen es ahnen. Die Musik Bachs und Beethovens ist die der fromm
geglaubten und der düster bezweifelten Willensfreiheit. Der attischen
Plastik nackter Leiber ist dieser Wesenskern des faustischen Menschen
völlig fremd. Hier gibt es keinen Willen. Hier gibt es also auch kein
Bedürfnis, ihm ideelle oder wirkliche Schranken aus dem Wege zu räumen.
Die Polis ist +nicht+ das politische Ideal von Menschen, denen
dies Problem das schwerste von allen ist. Der freie Wille als „Form der
inneren Anschauung“, mit Kant zu reden, steht in einer tiefen Beziehung
zur +Einsamkeit+ des faustischen Ich, zum +Monologischen+
seines Daseins und seiner gesamten künstlerischen Äußerungen, wovon die
apollinische Seele nichts besitzt.


14

Als Nietzsche das Wort „Umwertung aller Werte“ zum ersten Male
niederschrieb, hatte endlich die seelische Bewegung dieser
Jahrhunderte, in deren Mitte wir leben, ihre Formel gefunden.
Umwertung aller Werte -- das ist der innerste Charakter +jeder+
Zivilisation. Sie beginnt damit, alle Formen der voraufgegangenen
Kultur umzuprägen, anders zu verstehen, anders zu handhaben. Sie
erzeugt nicht mehr, sie deutet nur um. Darin liegt das Negative aller
Zeitalter dieser Art. Sie setzen den eigentlichen Schöpfungsakt voraus.
Sie treten nur eine Erbschaft von großen Wirklichkeiten an. Blicken
wir auf die späte Antike und prüfen wir dort, wo das entsprechende
Ereignis liegt: es hat sich innerhalb des hellenistisch-römischen
Stoizismus, innerhalb des langen Todeskampfes der apollinischen Seele
also zugetragen. Gehen wir von Epiktet und Mark Aurel zurück auf
Sokrates, den geistigen Vater der Stoa, in dem zuerst die Verarmung des
antiken, großstädtisch und intellektuell gewordnen Lebens ans Licht
trat: zwischen ihnen liegt die Umwertung aller antiken Seinsideale.
Blicken wir auf Indien. Als König Asoka lebte, um 300 v. Chr., war
die Umwertung des brahmanischen Lebens vollzogen; man vergleiche die
vor und nach Buddha niedergeschriebenen Teile des Vedanta. Und wir?
Innerhalb des ethischen Sozialismus in dem hier festgelegten Sinne,
als der Grundstimmung der erlöschenden faustischen Seele, ist diese
Umwertung eben heute im Gange. +Rousseau ist der Ahnherr dieses
Sozialismus. Rousseau steht neben Sokrates und Buddha, den anderen
ethischen Wortführern großer Zivilisationen.+ Seine Ablehnung
aller großen Kulturformen, aller bedeutungsvollen Konventionen, seine
berühmte „Rückkehr zur Natur“, sein praktischer Rationalismus gestatten
keinen Zweifel. Jeder von ihnen hat eine tausendjährige Innerlichkeit
zu Grabe getragen. Sie predigen das Evangelium der Menschlichkeit,
aber es ist die Menschlichkeit des intelligenten Stadtmenschen, der
die Stadt und mit ihr die Kultur satt hat, dessen „reine“ Vernunft
nach einer Erlösung von ihr und ihrer gebietenden Form, von ihren
Härten, von ihrer innerlich nicht mehr erlebten und deshalb verhaßten
Symbolik sucht. Die Kultur wird dialektisch vernichtet. Lassen wir
die großen Namen des 19. Jahrhunderts vorüberziehen, an die sich für
uns dies mächtige Phänomen knüpft: Schopenhauer, Hebbel, Wagner,
Nietzsche, Ibsen, Strindberg, so überblicken wir das, was Nietzsche in
dem fragmentarischen Vorwort zu seinem unvollendeten Hauptwerk beim
Namen nannte, die +Heraufkunft des Nihilismus+. Sie ist keiner
der großen Kulturen fremd. Sie gehört mit innerster Notwendigkeit zum
Greisenalter dieser mächtigen Organismen. Sokrates war Nihilist, Buddha
war es. Es gibt eine ägyptische, arabische, chinesische so gut wie
eine westeuropäische Decadence. Es handelt sich nicht um politische
und wirtschaftliche, nicht einmal um religiöse oder künstlerische
Verwandlungen an sich. Es handelt sich überhaupt nicht um Greifbares,
nicht um materielle Fakta, sondern um das Wesen einer Seele, die ihre
Möglichkeiten restlos verwirklicht hat. Man wende nicht die großen
Leistungen gerade des Hellenismus und der westeuropäischen Modernität
ein. Sklavenwirtschaft und Maschinenindustrie, „Fortschritt“ und
Ataraxia, Alexandrinismus und moderne Wissenschaft, Pergamon und
Bayreuth, soziale Zustände, wie sie die Politeia des Aristoteles
und das Kapital von Marx voraussetzen, sind lediglich Symptome im
historischen Oberflächenbilde. Es handelt sich nicht um das äußere
Leben, um Lebenshaltung, Institutionen, Sitten, sondern um die Tiefe,
um den +innern+ Tod. Für die Antike trat er zur Römerzeit ein. Für
uns gehört er der Zeit um 2000 an.

Kultur und Zivilisation -- das ist der lebendige Leib eines Seelentums
und seine Mumie. So unterscheidet sich das westeuropäische Dasein vor
1800 und nach 1800, das Leben in Fülle und Selbstverständlichkeit,
dessen Gestalt von innen heraus gewachsen und geworden ist, und zwar
in +einem+ mächtigen Zuge von den Kindertagen der Gotik an bis
zu Goethe und Napoleon, und jenes späte, künstliche, wurzellose Leben
unsrer großen Städte, dessen Formen der Intellekt konstruiert. Kultur
und Zivilisation -- das ist ein aus der Landschaft geborener Organismus
und der aus seiner Erstarrung hervorgegangene Mechanismus. Hier
erscheint wieder der Unterschied von Werden und Gewordensein, von Seele
und Gehirn, von Ethischem und Logischem, endlich von gefühlter Historie
-- das ist die Ehrfurcht vor Satzung und Tradition -- und erkannter
Natur -- das ist die vermeintliche Natur, die reine, gleichmachende,
vom Bann der großen Form erlösende, zu welcher man zurückkehren
will. Buddha verneint den historischen Unterschied von Brahmanen
und Tschandala, die Stoiker den von Hellenen, Sklaven und Barbaren,
Rousseau den von Privilegierten und Leibeignen. Der Kulturmensch lebt
nach innen, der zivilisierte Mensch nach außen, im Raume, unter Körpern
und „Tatsachen“. Was der eine als Schicksal empfindet, erscheint dem
andern als Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Man ist von nun an
Materialist in einem, nur für die Zivilisation gültigen Sinne, ob man
es will oder nicht, und ob buddhistische, stoische, sozialistische
Lehren sich idealistisch geben oder nicht.

Dem gotischen und dorischen Menschen, dem Menschen der Ionik und des
Barock wird die ganze ungeheure Formenwelt von Kunst, Religion, Sitte,
Staat, Wissen, Gesellschaft leicht. Er trägt und verwirklicht sie,
ohne sie zu kennen. Er besitzt dem Symbolischen der Kultur gegenüber
dieselbe ungezwungene Meisterschaft, wie sie Mozart in seiner Kunst
besaß. Kultur ist das Selbstverständliche. Das Gefühl einer Fremdheit
unter diesen Formen, das einer Last, welche die Freiheit des Schaffens
aufhebt, die Nötigung, das Vorhandene rationalistisch zu prüfen, der
Zwang des feindseligen Nachdenkens sind die ersten Symptome einer
ermattenden Seele. Erst der Kranke fühlt seine Glieder. Daß man eine
„natürliche“ Religion konstruiert und sich gegen Kulte und Dogmen
auflehnt, daß ein Naturrecht den historischen Rechten entgegengestellt
wird, daß man in der Kunst Stile „entwirft“, weil +der+ Stil
nicht mehr ertragen und gemeistert wird, daß man den Staat als
„Gesellschaftsordnung“, als Mechanismus sieht, den man ändern könne,
sogar ändern müsse (und neben Rousseaus _contrat social_ stehen
völlig gleichbedeutende Erzeugnisse der Zeit des Aristoteles), das
alles beweist, daß etwas endgültig zerfallen ist. Die Weltstadt selbst
steht als Extrem von Anorganischem inmitten der Kulturlandschaft da,
deren Menschentum sie von seinen Wurzeln löst, an sich zieht und
verbraucht.

Wissenschaftliche Welten sind oberflächliche Welten, praktische,
seelenlose, rein extensive Welten. Sie liegen den Anschauungen des
Buddhismus, Stoizismus und Sozialismus zugrunde.[108] Das Leben nicht
mehr mit kaum bewußter, wahlloser Selbstverständlichkeit leben, es als
gottgewolltes Schicksal hinnehmen, sondern es problematisch finden, es
auf Grund intellektueller Einsichten in Szene setzen, „zweckmäßig“,
„vernunftgemäß“ -- das ist in allen drei Fällen der Hintergrund.
Das Gehirn regiert, weil die Seele abdankte. Kulturmenschen leben
unbewußt, Tatsachenmenschen leben bewußt. Das Leben selbst ist eine
„Tatsache“. Das im Boden wurzelnde Bauerntum vor den Toren der großen
Städte, die jetzt -- skeptisch, praktisch, künstlich -- +allein+
die Zivilisation repräsentieren, zählt nicht mehr mit. „Volk“ -- das
ist jetzt Stadtvolk, anorganische Masse, etwas Fluktuierendes. Der
Bauer ist +nicht+ Demokrat -- denn auch dieser Begriff gehört zum
mechanischen, städtischen Dasein --, folglich übersieht, belächelt,
verachtet, haßt man ihn. Er ist nach dem Schwinden der alten Stände,
Adel und Priestertum, der einzige +organische+ Mensch, eine
übriggebliebene Reminiszenz der Kultur. Er findet weder im stoischen
noch im sozialistischen Denken einen Platz.

So ruft der Faust des ersten Teils der Tragödie, der leidenschaftliche
Forscher in einsamen Mitternächten, folgerichtig den des zweiten Teils
und des neuen Jahrhunderts hervor, den Typus einer rein praktischen,
weitschauenden, nach außen gerichteten Tätigkeit. Hier hat Goethe
psychologisch die ganze Zukunft Westeuropas vorweggenommen. Das ist
Zivilisation an Stelle von Kultur, der äußere Mechanismus statt des
innern Organismus, der Intellekt als das seelische Petrefakt an Stelle
der erloschenen Seele selbst. So wie Faust am Anfang und Ende der
Dichtung, stehen sich innerhalb der Antike der Hellene zur Zeit des
Perikles und der Römer zur Zeit Cäsars gegenüber.


15

Solange der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur einfach vor
sich hin lebt, natürlich und selbstverständlich, hat sein Leben eine
wahllose Haltung. Das ist seine +instinktive+ Moral, die sich in
tausend umstrittene Formeln verkleiden mag, die man aber selbst nicht
bestreitet, weil man sie +hat+. Sobald das Leben ermüdet, sobald
man -- auf dem künstlichen Boden großer Städte, die jetzt geistige
Welten für sich sind -- eine Theorie braucht, um es zweckmäßig in Szene
zu setzen, sobald das Leben Objekt der Betrachtung geworden ist, wird
die Moral zum +Problem+. Kulturmoral ist die Moral, welche man
hat, zivilisierte die, welche man sucht. Die eine ist zu tief, um auf
logischem Wege erschöpft zu werden, die andre ist eine +Funktion+
der Logik. Noch bei Kant und Plato ist die Ethik bloße Dialektik, ein
Spiel mit Begriffen, die Abrundung eines metaphysischen Systems. Man
hätte sie nicht nötig gehabt. Der kategorische Imperativ ist lediglich
die abstrakte Fassung dessen, was für Kant gar nicht in Frage stand.
Von Zenon und Schopenhauer an gilt das nicht mehr. Da mußte als Regel
des Seins gefunden, erfunden, erzwungen werden, was instinktiv nicht
mehr gesichert war. An dieser Stelle beginnt die zivilisierte Ethik,
die nicht der Reflex des Lebens auf die Erkenntnis, sondern der
Reflex der Erkenntnis auf das Leben ist. Man fühlt etwas Künstliches,
Seelenloses und Halbwahres in all diesen +erdachten+ Systemen,
welche Epochen dieser Art füllen. Das sind nicht mehr innerlichste,
beinahe überirdische Schöpfungen, die ebenbürtig neben den großen
Künsten stehen. Jetzt verschwindet alle Metaphysik großen Stils,
alle reine Intuition vor dem einen, was plötzlich nottut, vor der
Konzeption einer +praktischen+ Moral, die das Leben regeln soll,
weil es sich selbst nicht mehr regeln kann. Die Philosophie war bis
auf Kant, Aristoteles und den Vedanta eine Folge mächtiger Weltsysteme
gewesen, in denen die +formale+ Ethik einen bescheidnen Platz
fand. Sie wird jetzt Moralphilosophie, mit einer Metaphysik als
Folie. Die erkenntnistheoretische Leidenschaft tritt den Vorrang an
die praktische Notdurft ab: Sozialismus, Stoizismus, Buddhismus sind
Philosophien dieses Stils. Damit ist die Zivilisation eingeleitet.
Das Leben war rein organisch gewesen, notwendigster und erfüllter
Ausdruck einer Seele; es wird jetzt anorganisch, +seelenlos+
unter der Vormundschaft des Verstandes. Man hat dies -- und darin
liegt der typische Irrtum im Selbstgefühl aller Zivilisationen -- als
wachsende Vollendung empfunden. Aber dieser Geist des weltstädtischen
Menschentums stellt keine Erhöhung des Seelischen dar, sondern den
Rest, der hervortritt, nachdem die ganze organische Fülle des Übrigen
erstorben und zerfallen ist.

Die Welt statt aus der Höhe, wie Äschylus, Plato, Dante, Goethe,
unter dem Gesichtspunkt der alltäglichen Notdurft und andrängenden
Wirklichkeit betrachten, das nenne ich +die Vogelperspektive des
Lebens mit der Froschperspektive vertauschen+. Und eben das ist
der Abstieg von der Kultur, zur Zivilisation. Jede Ethik formuliert
den Blick der Seele auf ihr Schicksal: heroisch oder praktisch,
groß oder gemein, männlich oder greisenhaft. Und so unterscheide ich
eine +tragische+ und eine +Plebejermoral+. Die tragische
Moral einer Kultur kennt und begreift die Schwere des Seins, aber
sie zieht daraus das Gefühl des Stolzes, es zu tragen. So empfanden
Äschylus, Shakespeare und die Denker der brahmanischen Philosophie,
so Dante und der germanische Katholizismus. Das liegt in dem wilden
Schlachtchoral des Luthertums: „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ und
das klingt selbst noch in der Marseillaise nach. Die Plebejermoral des
Epikur und der Stoa, der Sekten der Buddhazeit, des 19. Jahrhunderts
macht einen Schlachtplan zurecht, das Schicksal zu umgehen. Sie
sieht in der Welt nicht Gott, sondern einen Inbegriff von Tatsachen.
Schicksal -- das ist für sie der vom Gehirn zu ermittelnde Nexus
von Ursache und Wirkung. Was sie unter Geschichte begreift, lehrt
dementsprechend die materialistische Geschichtsauffassung. Es ist
eine höchst zweckmäßige Lebensauffassung, welche von nun an die
große Vergangenheit unpraktisch findet, sie verhöhnt und belächelt.
Darin hatte Nietzsche sicher recht: die attische Tragödie entsprang
der Überfülle des Lebens. Das Unvermeidliche mit Würde tragen, dem
Schicksal, den Göttern gegenüber Mann und Held bleiben -- das war
apollinisch gefühlt. Hier hätte er weiter gehen und die Zeiten
vergleichen sollen. Was Äschylus groß tat, das tat die Stoa klein.
Das war nicht mehr Fülle, sondern Armut, Kälte und Leere des Lebens
und die Römer haben diese intellektuelle Kälte und Leere nur zum
Großartigen gesteigert. Und dasselbe Verhältnis besteht zwischen
dem ethischen Pathos der großen Meister des Barock, Shakespeare,
Bach, Kant, Goethe, dem männlichen Willen, +innerlich+ Herr der
natürlichen Dinge zu sein, weil man sie tief unter sich weiß, und
dem greisenhaften Willen der europäischen Modernität, sie sich -- in
Gestalt der Fürsorge, der Humanität, des Weltfriedens, der Technik,
des Zwangsstaates, des Glückes der meisten -- +äußerlich+ aus dem
Wege zu schaffen, weil man sich mit ihnen auf derselben Ebene weiß.
Auch das ist Wille zur Macht im Gegensatz zur antiken Duldung des
Unabwendbaren; auch darin liegt Leidenschaft und Hang zum Unendlichen,
aber es ist ein Unterschied zwischen metaphysischer und materieller
Größe im Überwinden. Die Tiefe fehlt, das, was der frühere Mensch
Gott nannte. Das bedeutet der Niedergang der westeuropäischen
Poesie von der Gestaltung letzter Weltgeheimnisse zur Tendenzpoesie
dieser Tage mit ihren ephemeren Lösungen sozialer und sexueller
Oberflächenprobleme, die das Maximum dessen darstellen, was man noch
begreift. Das faustische Weltgefühl der +Tat+, wie es von den
Staufen und Welfen bis auf Friedrich den Großen, Goethe und Napoleon
in jedem großen Menschen wirksam war, verflachte zu einer Philosophie
der +Arbeit+, wobei es für das seelische Niveau gleichgültig
ist, ob man sie verteidigt oder verurteilt. Der Kulturbegriff der Tat
und der zivilisierte -- seelenlose -- Begriff der Arbeit verhalten
sich genau so wie die Haltung des äschyleischen Prometheus zu der
des Diogenes. Der eine ist ein Dulder, der andere ist faul. Galilei,
Kepler, Newton brachten es zu Taten, der moderne Physiker +leistet
eine Arbeit+. Plebejermoral, triviale Wirklichkeitsmoral auf der
Basis des alltäglichen Daseins und des „gesunden Menschenverstandes“
ist es, was trotz aller großen Worte von Schopenhauer bis zu Shaw
jeder Lebensbetrachtung zugrunde liegt. Hebbel und Nietzsche, die
dem zu widersprechen scheinen, sind nicht Offenbarungen einer echten
tragischen Moral; sie wollen es nur sein. Eine Sache verteidigen oder
bekämpfen -- das sind nur verschiedene Ausdrucksformen derselben innern
Bedingungen. Wer heute die Philosophie der Arbeit verneint, ist kein
verspäteter Mediceer, sondern ein Snob. Wer das schrankenlose Recht des
einzelnen auf den Schild hebt, gibt dem Sozialismus nur eine pikante
Wendung. Auch Nietzsche ist ein Dekadent, ein Sozialist, ein Arbeiter.
Er hat selbst keinen Zweifel darüber gelassen. Seine Lehre (die von
seiner persönlichen Haltung sehr verschieden ist) ist Gegensatz und
Umkehrung von etwas anderm, das dennoch zu Recht besteht, nichts
innerlich Ursprüngliches. Sein aristokratischer Geschmack, der durch
seine darwinistisch-physiologischen Neigungen jeden Augenblick in Frage
gestellt wird, ist nichts weniger als wahllos und selbstverständlich,
ist vielmehr das gewaltsame Pathos eines verspäteten Faust auf
südlichen Bergen, der mit aller Leidenschaft des Nordens sein Schicksal
verleugnen, der vom Plebejertum loskommen will, das er in allen
Gliedern spürt.


16

Der Abstieg von der Vogel- zur Froschperspektive in den großen Fragen
des Lebens verkleidet sich in die Maske jener berühmten „Rückkehr
zur Natur“, die +jede+ Kultur in einer eignen Gestalt kennt und
deren faustische Fassung Rousseau gegeben hat. Man braucht nicht
notwendig an soziale Wandlungen zu denken, auch die Kunst vollzieht
eine Rückkehr zur Natur. Man vergegenwärtige sich, wie dem Auftreten
der ionischen neben der dorischen Säulenordnung -- dem Übergang
von heroischer Größe zu bürgerlicher Anmut, von der antiken Gotik
zum antiken Rokoko -- der weitere Abstieg zur korinthischen Säule,
der +zivilisierten+ Erfindung des Kallimachos, folgt. Auch
das ist Rückkehr zur Natur, die das unverhüllte Motiv der Pflanze
wieder heraufrief als Zeichen pflanzenhaften Daseins, zugleich ein
Symptom sinkender Gestaltungskraft, die diesen letzten schöpferischen
Geschmack der Antike neben die klassizistische Baukunst der Goethezeit,
das Empire, stellt. Die groß gesehene, groß empfundene Natur, das
Weltbild, das durch und durch von Seele erfüllt ist, beginnt der
„natürlichen“, brutalen, begriffenen Natur zu weichen. Was die Antike
durch die historische Folge der drei Säulenordnungen mit seltener
Klarheit gestaltete, ist der Weg von früher zu später Kultur und von
da zur Zivilisation, der Weg von der Kunst als Religion zur Kunst als
Wissenschaft.

Wenn im Bereiche der Kunst irgendwo der Begriff Natur auftaucht, so
stellt er jedesmal einen +Gegenbegriff+ im eigentlichsten Sinne
dar, die geistige Negation von etwas, wogegen das Leben sich auflehnt,
eine Größe, die der +Widerspruch+ geprägt und gestaltet hat. Die
„Natur“ der Empfindsamen bedeutete eine schüchterne Auflehnung gegen
den großen Stil, den man nicht mehr ertrug. Die Natur Rousseaus ist
bereits ein Bild, das als Negation der Kultur überhaupt konzipiert ist.
Was die große Stadt, die vornehme Gesellschaft, der absolute Staat,
die Metaphysik, die formstrenge Kunst +nicht+ sind -- +das
ist Natur+. „Kultur“ erscheint jetzt als die große Krankheit des
natürlichen Menschen. Der Philosoph, der Politiker, der Künstler hassen
sie, und weil die Jahrhunderte hoher Kultur Geschichte im höchsten
Sinne, +die+ eigentliche Geschichte des Menschen sind, so
empfindet man diese eingebildete Natur als das +Antihistorische+,
als das, was die Gehirne von dem Alpdruck der großen Vergangenheit
befreit. Folgerichtig gehört zu ihr neben der träumerischen Sehnsucht
nach Alpengipfeln, Urwäldern und Wüsten jener antihistorische
Naturmensch, der den _contrat social_ voraussetzt und der von der
städtisch-rationalistischen Einbildungskraft als die fleischgewordene
Plebejermoral aus lauter Negationen der tragischen Moral konzipiert
wurde. Ob man es will oder nicht, die Vorstellung dieses Menschen
liegt der gesamten praktischen Philosophie der ethischen Periode
zugrunde. Er ist der geheime Held aller Sozialdramatik von Hebbel bis
Ibsen, die mit ihren sozialen und sexuellen Problemen die eigentliche
Negation des wahrhaft Tragischen ist. Er ist auch der Held jeder
politischen und wirtschaftlichen „Gesellschaftsordnung“, die an Stelle
historischer Staatsgebilde in zivilisierten Köpfen spukt. Es ist ein
und dasselbe, was die Sophisten in Athen, die Sankhyaphilosophen am
Ganges, die Sensualisten in London und Paris innerhalb ihrer Epoche
zur Erscheinung bringen. Man empfand die große, allumfassende, den
ganzen Reichtum der Seele spiegelnde Form als Last. Man predigte -- in
allen drei Fällen -- die „natürlichen Rechte“ des Menschen gegenüber
der Tradition, das heißt gegenüber der nicht mehr zu ertragenden
Größe seiner Vergangenheit, das Recht auf die Froschperspektive in
Lebensfragen gegenüber der Vogelperspektive der Vorfahren. Daher
jener tiefe, rationalistische Haß gegen Autorität und Satzung, jene
revolutionäre Sucht -- auch bei Nietzsche, auch bei Buddha -- sozial,
politisch, künstlerisch +Gewachsenes+ zu vermeiden, zu verachten
oder zu vernichten und die anorganischen Resultate wissenschaftlicher
Analyse an seine Stelle zu setzen, was man in wunderlicher Verdrehung
der Fakta als den Ersatz von Künstlichem durch Natürliches bezeichnete,
kurz die innere Auflehnung +gegen den Makrokosmos+, den Inbegriff
der Kultur, den der „letzte Mensch“ nicht mehr als eigen empfindet und
deshalb in seinen äußeren historischen Resten haßt. Darin liegt die
Identität der faustischen „Umwertung aller Werte“ mit dem apollinischen
Ideal des Diogenes, die sich lediglich als eine streng dynamische und
streng statische Fassung des Nihilismus unterscheiden.


17

Jede Kultur hat also +ihre eigene Art zu sterben+ und +nur+
die eine, die aus ihrem ganzen Leben mit tiefster Notwendigkeit
folgt. Deshalb sind Buddhismus, Stoizismus, Sozialismus morphologisch
gleichwertige Phänomene.

Auch der Buddhismus, dessen letzten Sinn man bisher immer mißverstanden
hat. Das ist +keine+ puritanische Bewegung wie der Islam und der
Jansenismus, keine Reformation wie die dionysische Strömung gegenüber
dem Apollinismus und das Luthertum dem Katholizismus gegenüber,
keine neue Religion, überhaupt keine Religion wie die der Veden
und des Apostels Paulus,[109] sondern eine letzte rein praktische
Weltstimmung müder Großstadtmenschen, die eine abgeschlossene Kultur
im Rücken und keine Zukunft vor sich haben; er ist das Grundgefühl der
indischen Zivilisation und deshalb mit dem Stoizismus und Sozialismus
„gleichzeitig“ und gleichwertig. Die Quintessenz dieser durchaus
weltlichen, nicht metaphysischen Gesinnung findet sich in der berühmten
Predigt von Benares „Die vier heiligen Wahrheiten vom Leiden“, durch
welche der philosophierende Prinz seine ersten Anhänger gewann. Ihre
Wurzeln liegen in der rationalistisch-atheistischen Sankhyaphilosophie,
deren Theorie stillschweigend vorausgesetzt wird, ganz wie die
Sozialethik des 19. Jahrhunderts aus dem Sensualismus und Materialismus
des 18. und die Stoa trotz ihrer flachen Verwertung Heraklits von
Demokrit, Protagoras und den Sophisten stammt. Die Allmacht der
Vernunft ist in jedem Falle der Ausgangspunkt der moralischen
Überlegung. Von Religion ist keine Rede. Nichts kann religionsfremder
sein als diese Systeme in ihrer ursprünglichen Gestalt. Was aus ihnen
in den letzten Stadien der Zivilisation wird, steht hier nicht in Frage.

Der Buddhismus lehnt alles Nachdenken über Gott und die kosmischen
Probleme ab. Nur das Selbst, nur die Einrichtung des wirklichen
Lebens ist ihm wichtig. Auch eine Seele wird nicht anerkannt. Wie
der westeuropäische Psychologe der Gegenwart -- und mit ihm der
Sozialist -- den innern Menschen als Empfindungsbündel, als Häufung
chemo-elektrischer Energien abtut, so der indische der Buddhazeit.
Der Lehrer Nagasena beweist dem König Milinda, daß die Teile des
Wagens, auf dem er fährt, nicht der Wagen selbst und „Wagen“ nur ein
Wort ist -- ebenso stehe es mit der Seele. Die seelischen Phänomene
werden als Skandhas, Haufen, bezeichnet, die vergänglich sind. Das
entspricht durchaus den Vorstellungen der Assoziationspsychologie.
Es ist viel Materialismus in der Lehre Buddhas. (Es versteht sich,
daß jede Kultur ihre eigne, durch ihr gesamtes Weltgefühl in allen
Einzelheiten bedingte Art von Materialismus besitzt.) Wie sich der
Stoiker den heraklitischen Begriff des Logos aneignet, um ihn materiell
zu verflachen, wie der Sozialismus in seinen darwinistischen Grundlagen
Goethes tiefen Begriff der Entwicklung (durch Hegels Vermittlung)
mechanisch veräußerlicht, so der Buddhismus den brahmanischen Begriff
des Karma, des unsrer Denkweise kaum zugänglichen Seinsprinzips, das
man oft genug ganz materialistisch als Weltstoff behandelt findet.
Noch ein andres Element ist in ihm fühlbar, obwohl man es nie darin
gefunden hat: das, was Sokrates und die deutschen Romantiker als Ironie
bezeichnen, jene seltsame feine Blüte einer Dialektik, die ihrer selbst
müde ist und die bestürzt und schmerzlich lächelnd ihr Werk, das
zertrümmerte Weltbild betrachtet.

+Wir haben drei Formen des Nihilismus vor uns.+ Die Ideale von
gestern, die großen religiösen, künstlerischen, staatlichen Formen
sind abgetan, nur daß selbst dieser letzte Akt der Kultur, ihre
Selbstverneinung, noch einmal das Ursymbol ihres ganzen Daseins
zum Ausdruck bringt. Der faustische Nihilist, Ibsen wie Nietzsche,
Marx wie Wagner, zertrümmert die Ideale, der apollinische, Epikur
wie Antisthenes und Zenon, läßt sie vor seinen Augen zerfallen, der
indische zieht sich vor ihnen in sich selbst zurück. Der Stoizismus
ist auf ein +Sichverhalten des einzelnen+ gerichtet, auf sein
statuenhaftes, rein gegenwärtiges Sein, ohne Beziehung auf Zukunft
und Vergangenheit oder auf andre. Der Sozialismus ist die dynamische
Behandlung des gleichen Themas: dieselbe pessimistische Tendenz nicht
auf die Größe, sondern die praktische Not des Lebens, aber mit einem
mächtigen Zug ins Ferne auf die gesamte Zukunft und die gesamte Masse
der Menschen erstreckt, die dem Prinzip unterworfen werden sollen; der
Buddhismus, den nur ein religionspsychologischer Dilettant mit dem
Christentum vergleichen kann,[110] ist durch die Worte abendländischer
Sprachen kaum wiederzugeben. Es ist erlaubt, von einem stoischen
Nirwana zu reden und auf die Gestalt des Diogenes zu verweisen; auch
der Begriff eines sozialistischen Nirwana ist zu rechtfertigen,
sofern man die Flucht vor dem Kampf ums Dasein ins Auge faßt, wie die
europäische Müdigkeit sie in die Schlagworte Weltfrieden, Humanität
und Verbrüderung aller Menschen kleidet. Aber nichts von dem reicht
an den unheimlich tiefen Begriff des buddhistischen Nirwana heran,
der in unserm Denkvermögen nicht zu realisieren ist. Es scheint, daß
die Seele alter Kulturen in ihren letzten Verfeinerungen und sterbend
wie eifersüchtig auf ihr eigenstes Eigentum, ihren Gehalt an Form,
auf das mit ihr geborene Ursymbol ist. Es gibt nichts im Buddhismus,
das „christlich“ sein könnte, nichts im Stoizismus, das im Islam
von 1000 n. Chr. vorkommt, nichts was Konfuzius mit dem Sozialismus
gemein hätte. Der Satz: _si duo faciunt idem, non est idem_,
der an der Spitze jeder historischen Betrachtung stehen sollte, die
es mit lebendigem, nie sich wiederholendem Werden und nicht mit
logisch, kausal und zahlenmäßig ergreifbarem Gewordnen zu tun hat,
gilt ganz besonders von diesen, eine Kulturbewegung abschließenden
Äußerungen. In allen Zivilisationen wird ein durchseeltes Sein von
einem durchgeistigten abgelöst, aber dieser Geist ist in jedem
einzelnen Falle von andrer Struktur und der Formensprache einer andern
Symbolik unterworfen. Gerade bei aller Einzigkeit des Seins, das in
der Tiefe, im Unbewußten wirkend diese späten Gebilde der historischen
Oberfläche schafft, ist deren Verwandtschaft der historischen
+Stufe+ nach von entscheidender Bedeutung. Was sie zum Ausdruck
bringen, ist verschieden, daß sie es +so+ zum Ausdruck bringen,
kennzeichnet sie als „gleichzeitige“ Phänomene. Stoisch wirkt der
Verzicht Buddhas, buddhistisch der stoische Verzicht auf das volle
resolute Leben. Auf das Verhältnis der Katharsis des attischen Dramas
zur Idee des Nirwana war schon hingewiesen worden. Man hat das
Gefühl, als sei der Sozialismus, obwohl ein ganzes Jahrhundert sich
schon seiner ethischen Durchbildung widmete, noch heute nicht in der
klaren, harten, resignierten Fassung, die seine endgültige sein wird.
Vielleicht werden die ersten Jahrzehnte nach dem großen Kriege ihm die
reife Formel geben, wie sie Chrysipp der Stoa gab. Aber stoisch wirkt
schon heute -- in den höheren Sphären -- seine Tendenz zur Selbstzucht
und Entsagung aus dem Bewußtsein einer großen Bestimmung heraus, das
römisch-preußische, höchst unpopuläre Element in ihm, und buddhistisch
seine Geringschätzung eines augenblicklichen Behagens (des „_carpe
diem_“); epikuräisch erscheint sicherlich das populäre Ideal, dem er
ausschließlich die Wirksamkeit nach unten verdankt, jener Kultus der
ἡδονή, nicht des einzelnen für sich, sondern der Ganzheit.

Gemeinsam ist die Lebensgestaltung aus dem Bewußtsein statt aus dem
Unbewußten. Jetzt liegt das verinnerlichte Leben weit zurück, das mit
dem wahllosen Ausdruck eines Weltgefühls zusammenfiel. Hier ist kein
Ausdruck mehr nötig und möglich, denn die Seele hat sich erschöpft und
das in ihr liegende Mögliche ist restlos Wirklichkeit geworden. Aber
der Trieb besteht fort und ergreift das durchgeistigte Bewußtsein und
so entstehen Formen einer ganz andren Art von menschlichem Dasein,
ein Leben voller Kausalität statt von einem Schicksal getragen, nach
Grundsätzen der Zweckmäßigkeit geregelt statt von innerer Notwendigkeit
gestaltet, erkannt statt gefühlt. Es gibt keinen größeren Gegensatz als
den zwischen einem zivilisierten und einem Kulturmenschen. Selbst der
primitive Mensch ist dem der dorischen und gotischen Zeit innerlich
nicht so fremd.

Jede Seele hat Religion. Das ist nur ein andres Wort für ihr Dasein.
Alle lebendigen Formen, in denen sie sich ausspricht, alle Künste,
Dogmen, Kulte, metaphysische, mathematische Formenwelten, jedes
Ornament, jede Säule, jeder Vers, jede Idee ist im Tiefsten religiös
und +muß+ es sein. Von nun an +kann+ es das nicht mehr sein.
Das Wesen aller Kultur ist Religion, +folglich ist das Wesen aller
Zivilisation Irreligion+. Auch das sind zwei Worte für ein und
dieselbe Erscheinung. Wer das nicht im Schaffen Manets gegen Velasquez,
Wagners gegen Gluck, Lysipps gegen Phidias, Theokrits gegen Pindar
herausfühlt, der weiß nichts vom Besten der Kunst. Religiös ist noch
die Baukunst des Rokoko selbst in ihren „weltlichsten“ Schöpfungen.
Irreligiös sind die Römerbauten, auch die Tempel der Götter. Mit dem
Pantheon, der Urmoschee mit dem eindringlich magischen Gottgefühl
ihres Innenraums, ist das einzige Stück religiöser Baukunst in das
alte Rom geraten. Die Weltstädte selbst sind den alten Kulturstädten
gegenüber, Alexandria gegen Athen, Berlin gegen Nürnberg, in allen
Einzelheiten bis in das Straßenbild, die Sprache, den trocken
intelligenten Zug der Gesichter[111] hinein irreligiös (was man nicht
mit antireligiös zu verwechseln hat). Und irreligiös, seelenlos sind
demnach auch diese ethischen Weltstimmungen, die durchaus in die
Formenwelt der Weltstadtphänomene gehören. Der Sozialismus ist das
irreligiös gewordene faustische Lebensgefühl; das besagt auch das
vermeintliche („wahre“) Christentum, das der Sozialist so gern im Munde
führt und unter dem er etwas wie eine „dogmenlose Moral“ versteht.
Irreligiös sind Stoizismus und Buddhismus im Verhältnis zur homerischen
und vedischen Religion und es ist ganz Nebensache, ob der römische
Stoiker den Kaiserkult billigt und ausübt, der spätere Buddhist seinen
Atheismus mit Überzeugung bestreitet, der Sozialist sich freireligiös
nennt oder auch „weiterhin an Gott glaubt“.

Dies Erlöschen der lebendigen inneren Religiosität, welche auch den
unbedeutendsten Zug des Daseins gestaltet und erfüllt, ist es, was im
historischen Weltbilde als die Wendung der Kultur zur Zivilisation
erscheint, als das +Klimakterium der Kultur+, wie ich es früher
nannte, als der Moment, wo die seelische Fruchtbarkeit einer Art von
Mensch für immer erschöpft ist und die Konstruktion an Stelle der
Zeugung tritt. Faßt man das Wort Unfruchtbarkeit in seiner vollen
ursprünglichen Schwere, so bezeichnet es das +ganze+ Schicksal
des weltstädtischen Gehirnmenschen und es gehört zum Bedeutsamsten
der geschichtlichen Symbolik, daß diese Wendung sich nicht nur im
Erlöschen der großen Kunst, der großen Denksysteme, des großen Stils,
sondern auch ganz materiell in der Kinderlosigkeit und dem Rassentod
der zivilisierten, vom Lande abgelösten Schichten ausspricht, ein
Phänomen, das in der römischen Kaiserzeit viel bemerkt und beklagt,
aber notwendigerweise nicht gemildert werden konnte. Dieses Faktum
und seine Folgen für die Geschlechter der Nachgeborenen auszudrücken
ist die Aufgabe und der Sinn aller „modernen“ Philosophien seit
Buddha, Zenon und Schopenhauer. Und daraus folgt weiter: Wie jede
Zivilisation eine +eigne+ ethische Fassung ihrer Existenz besitzt,
so hat sie auch +nur+ die eine. Es ist die verstandesmäßige und
zweckmäßige, aus der Not, nicht der Fülle geborene Fassung dessen,
was bisher im Unbewußten wirksam gewesen war. Das Heraufheben des
Unbewußten -- Schicksalhaften, Tragischen -- an das Licht des
geistigen Bewußtseins, wo es zum logischen und kausalen Mechanismus
erstarrt: das ist innerhalb einer jeden Philosophie (deren Geschichte
jedesmal die Biographie eines Organismus mit Geburt, Jugend, Alter
und Tod ist) der Abschluß der metaphysischen und der Anbruch der
weltstädtisch-ethischen Periode. Wie ein und dasselbe Weltgefühl
sich in der brahmanischen, ionischen, Barockmetaphysik in vielfachen
realistischen und idealistischen Konzeptionen offenbart, ohne daß die
einzelnen Denker etwas in der Tiefe wirklich Verschiedenes hätten
ausdrücken wollen und können, so ist es ein und dasselbe Ideal des
bewußten Lebens, das die gesamte Geistigkeit einer Zivilisation
in tausend Verkleidungen beschäftigt. Man muß den Stoizismus als
Lehrmeinung und als allgemeinen Geist der Zeit unterscheiden. Im
letzten Falle schließt er auch Epikur, die Akademiker, Skeptiker und
Zyniker ein. Das Ideal des abgeklärten, mit sich allein beschäftigten
Weisen ist ihnen gemeinsam. Es sind lediglich Unterschiede des
persönlichen Geschmacks und Temperaments innerhalb der antiken
Menschlichkeit, die es so oder so formulieren. Und dasselbe gilt im
Abendlande. Schopenhauer und Nietzsche, Mitleidsmoral und Herrenmoral,
der verneinte und bejahte Wille zum Leben: das ist im tiefsten dasselbe
und nur im gedanklichen Stil verschieden. Die Tendenz zum Anarchismus,
wie man sie etwa bei Stirner und Ibsen findet, ist lediglich eine
Nuance des allgemeinen Sozialismus. Es gehört zu den Unterschieden
des privaten Charakters, ob man das faustische Weltgefühl, den
Weltanspruch des Ich, das sich mit dem Unendlichen eins weiß, vom Ich
oder vom Unendlichen aus, subjektiv oder objektiv, idealistisch oder
realistisch also, in eine wissenschaftliche Ordnung bringt. Das erste
führt zu einer anarchistischen (individualistischen), das andre zu
einer sozialistischen (kollektivistischen) Grundstimmung in Fragen des
äußeren Lebens. Die Beschaffenheit des Lebens selbst wird dadurch nicht
berührt.


18

Mit dem Anbruch einer Zivilisation ist das Sittliche also aus einer
Gestalt des Herzens zu einem Prinzip des Kopfes geworden, aus einem
schlechthin vorhandenen Phänomen zu einem Mittel und Objekt, das man
handhabt. Es +offenbart+ sich nicht mehr durch jeden Zug des
Lebens, es wird begründet und befolgt.

Angesichts dieser neuen intellektuellen Bildungen darf man über ihr
lebendiges Substrat nicht im Zweifel sein, den „neuen Menschen“
nämlich, als der er hoffnungsvoll von allen Niedergangszeiten empfunden
worden ist. Es ist der formlos in den großen Städten fluktuierende
Pöbel an Stelle des Volkes, die wurzellose städtische Masse, οἱ πολλοί,
wie man in Athen sagte, an Stelle des mit der Natur verwachsenen,
selbst auf dem Boden der Städte noch bäuerlichen Menschentums
einer Kulturlandschaft. Es ist der Agorabesucher Alexandrias und
Roms und sein „Zeitgenosse“, der heutige Zeitungsleser; es ist der
„Gebildete“, jenes Kunstprodukt einer nivellierenden städtischen
Erziehung durch Schule und Öffentlichkeit, damals wie heute; es ist
der antike und abendländische Mensch der Theater und Vergnügungsorte,
des Sports und der Literatur des Tages. Diese spät erscheinende
Masse und +nicht+ „die Menschheit“ ist Objekt der stoischen
und sozialistischen Propaganda, und man könnte ihr gleichbedeutende
Erscheinungen des ägyptischen Neuen Reiches, des buddhistischen Indien,
des konfuzianischen China zur Seite stellen.

Dem entspricht eine charakteristische Form der öffentlichen
Wirksamkeit, die +Diatribe+. Zuerst als spätantike Erscheinung
betrachtet, gehört sie zu den Wirkungsformen +jeder+ Zivilisation.
Durch und durch dialektisch, praktisch, plebejisch, ersetzt sie
die bedeutsame, weithin wirkende Gestalt großer Menschen durch
schrankenlose Agitation der Kleinen, aber Klugen, Ideen durch Zwecke,
Symbole durch Programme. Das Expansive jeder Zivilisation, der
imperialistische Ersatz der Zeit durch den Raum, kennzeichnet auch sie:
die Quantität ersetzt die Qualität, die Verbreitung die Vertiefung. Man
verwechsle diese hastige Aktivität nicht mit dem faustischen Willen zur
Macht. Sie verrät nur, daß ein schöpferisches Innenleben zu Ende und
eine geistige Existenz nur nach außen, im Raume, nur materiell aufrecht
zu erhalten ist. Die Diatribe gehört notwendig zur „Religion der
Irreligiösen“; sie ist deren „Seelsorge“. Sie erscheint als indische
Predigt, als antike Rhetorik, als abendländischer Journalismus. Sie
wendet sich an die Meisten, nicht an die Besten. Sie wertet ihre Mittel
nach der +Zahl+ der Erfolge. Sie setzt anstelle des Denkertums
alter Zeiten die +intellektuelle männliche Prostitution+ in Rede
und Schrift, wie sie alle Säle und Plätze der Weltstädte füllt und
beherrscht. Rhetorisch ist die gesamte Philosophie des Hellenismus,
journalistisch der Roman Zolas wie das Drama Ibsens. Man verwechsle
diese geistige Prostitution nicht mit dem ursprünglichen Auftreten des
Christentums. Die christliche Mission ist in ihrem Wesenskern beinahe
immer mißverstanden worden. Aber das Urchristentum, die +magische+
Religion des Stifters, dessen Seele dieser brutalen Aktivität ohne Takt
und Tiefe gar nicht fähig war, ist erst durch die hellenistische Praxis
des Paulus -- bekanntlich unter schroffstem Widerspruch der Urgemeinde
-- in die lärmende städtische demagogische Öffentlichkeit des Imperium
Romanum hineingezogen worden. Mag seine hellenistische Bildung noch so
oberflächlich gewesen sein (er war und blieb Jude, nicht Stoiker), sie
hat ihn nach außen zu einem Gliede der antiken Zivilisation gemacht.
Paulus hat nur die Richtung, +nicht die Form+ seiner Wirksamkeit
gewechselt: das bedeutet der Tag von Damaskus. Das „Gehet hin in alle
Welt und lehret alle Völker“, gleichviel wem die Worte in den Mund
gelegt sind, ist ein Satz von spätantikem, stoischem, zivilisiertem
Gepräge, der nicht, wie das früheste Christentum in seiner abgelegenen
primitiven Landschaft, eine ertagende Kultur, sondern eine über
formlosen Menschenmassen verscheidende Zivilisation kennzeichnet, und
der damals als praktische Maxime in alle Zeitreligionen, Isis- und
Mithraskult, Neuplatonismus und Manichäismus eingedrungen war, sobald
sie aus ihrer östlichen Heimat auf antiken Boden traten. Nicht das
Christentum hat sich mittels der Diatribe der antiken Welt bemächtigt,
die Antike hat es durch sie sich angeeignet. „Alle Völker“, -- damit
war durchaus nicht die bäuerliche Bevölkerung des flachen Landes
gemeint, die in keiner Zivilisation mitzählt. Christus hatte Fischer
und Bauern an sich gezogen, Paulus hielt sich an die Agora der großen
Städte und also an die großstädtische Form der Propaganda. Das Wort
Heide (_paganus_) verrät noch heute, auf wen sie +zuletzt+
wirkte. Wie verschieden ist Paulus von Bonifacius! Der tief germanische
Bonifaciustyp bedeutet in seiner faustischen Leidenschaft, in Wäldern
und einsamen Tälern, etwas streng Entgegengesetztes und ebenso die
heitren Zisterzienser mit ihrem Landbau und die Deutschordensritter
im slawischen Osten. Das war wieder Jugend, Aufblühen, Sehnsucht
inmitten einer bäuerlichen Landschaft. Erst im 19. Jahrhundert
erscheint die Diatribe auf diesem mittlerweile gealterten Boden mit
allem, was ihr wesenhaft ist, mit der großen Stadt als Basis und der
Masse als Publikum. Das echte Bauerntum fällt für den Sozialismus so
wenig in den Kreis der Betrachtung wie für Buddha und die Stoa. Erst
hier, in den Städten des europäischen Westens, findet der Paulustyp
wieder seinesgleichen, mag es sich nun um sektenhafte christliche oder
antikirchliche, soziale oder biologische Interessen, um Freidenkertum
oder ephemere Religionsstiftereien handeln.

Zenon und Buddha in Ehren. Auch König Asoka und Mark Aurel, mit denen
nach Jahrhunderten die letzte Weltstimmung auf den Thron gelangte,
gehören zu den posthumen Menschen von innerer Kultur. Aber wir
haben auch in beiden Fällen das Bild der Wirkung ins Breite, eben
jene buddhistische und stoische Propaganda mit den Scharen platter,
schmutziger, zudringlicher Salonphilosophen und Wanderredner, den
Massen seichter Flugschriften und Volksbücher, den schlechten Manieren,
der gewöhnlichen Gesinnung, den journalistischen Tiraden. Bei Lukian
findet man die berühmte Satire, die Wort für Wort auf Indien und die
Gegenwart paßt.

Alle antike Philosophie nach Plato und Aristoteles ist Rhetorik.
Aller Sozialismus im weitesten Sinne, von Schopenhauers Aufsätzen
bis zu Shaws Essais, Nietzsche nicht ausgenommen, ist nach Form und
Absicht Journalismus. Die gesamte soziale Dramatik, die Schillers
sittliche Leidenschaft ins Leben gerufen hat (die „Schaubühne
als moralische Anstalt“ bis auf Ibsen und Strindberg herab), die
populäre Naturwissenschaft mit ihren sozialethischen, in die Tierwelt
projizierten Hinterabsichten, der sich rasch in humane Stimmungen
auflösende Rest von protestantischem Christentum ist es. Der Dichter
wird Journalist, der Priester wird Journalist, der Gelehrte wird
Journalist. Wie tief diese Form einer jeden zivilisierten Ethik
begründet ist, beweist Nietzsche, dem die Zarathustragestalt unter den
Händen zu einem Wanderprediger geriet.

Nichts ist für diese entschiedene Wendung zum äußeren Leben, das allein
übrig geblieben ist, dem biologischen Faktum, dem das Schicksal nur
noch in der Form von objektiven Tatsachen und Kausalitätsbeziehungen
erscheint, bezeichnender als das ethische Pathos, mit dem man sich nun
einer Philosophie der Verdauung, der Ernährung, der Hygiene zuwendet,
Alkoholfragen und Vegetarismus werden mit religiösem Ernste behandelt,
augenscheinlich das Gewichtigste an Problemen, zu dem der „neue
Mensch“ sich aufschwingen kann. So entspricht es der Froschperspektive
dieser Generationen. Religionen, die an der Schwelle großer Kulturen
entstehen wie die homerische und vedische, das Christentum Jesu und
das faustische der ritterlichen Germanen hätten es unter ihrer Würde
befunden, zu Fragen der Art herabzusteigen. Jetzt steigt man zu ihnen
hinauf. Der Buddhismus ist ohne dergleichen nicht denkbar. Im Kreise
der Sophisten, des Antisthenes, der Stoiker und Skeptiker gewinnt
es große Bedeutung. Schon Aristoteles hat über die Alkoholfrage
geschrieben, eine ganze Reihe von Philosophen über den Vegetarismus
und es besteht zwischen der apollinischen und der faustischen Farce
nur der Unterschied, daß der Zyniker die eigne Verdauung, Shaw die
Verdauung „aller Menschen“ in sein theoretisches Interesse zieht. Der
eine entsagt, der andere verbietet. Man weiß, wie Nietzsche sich noch
im Ecce homo darin gefällt, in Fragen dieser Art zu dilettieren.


19

Überblicken wir noch einmal den Sozialismus als das faustische
Beispiel einer zivilisierten, einer intellektuellen, logisierten, von
Kausalitäten statt vom Schicksal erfüllten Ethik. Was seine Freunde
und Feinde von ihm sagen, daß er die Gestalt der Zukunft oder daß er
ein Zeichen des Niederganges sei, ist gleich richtig. Wir alle sind
Sozialisten, ohne es zu wissen. Wir tragen ihn als Lebensgefühl in uns,
ob wir wollen oder nicht. Und selbst der Widerstand gegen ihn trägt
seine Form.

Alle antiken Menschen der späten Zeit waren Stoiker, ohne es zu
wissen. Das ganze römische Volk, als Körper, als Individualität,
hat eine stoische Seele; als Zenon lebte, war der populus Romanus,
dies Volk von Soldaten und Beamten mit einer Götterwelt, in der es
nur Götter+pflichten+, nüchterne, praktische, keine göttlichen
Abenteuer gibt, eben in der Bildung begriffen. Der echte Römer, gerade
der, welcher es am entschiedensten bestritten hätte, ist in einem
strengeren Grade Stoiker, als es je ein Grieche hätte sein können: er
lebte noch in einer Art ursprünglicher Barbarei, als das antike Dasein
sich ihr wieder näherte; ihm fehlt der innere Rest von Kultur, der die
Reinheit des zivilisierten Typus verdunkelt. Die lateinische Sprache,
durch und durch praktisch und prosaisch, ist die mächtigste Schöpfung
des Stoizismus geblieben.[112]

Erinnern wir uns des allgemeinen Grundgedankens, daß Geschichte und
Natur Gegensätze sind, daß wir, als Ausdruck und Verwirklichung unsres
Seelischen zwei Welten als Möglichkeiten besitzen, die eine die Natur,
vom Gewordnen und Erkannten aus gestaltet, von Gesetz, Zahl, Grenze,
Logik, gesättigt, durch und durch System, Mechanismus, Ursache und
Wirkung, die andre die Geschichte, unmittelbarer Ausdruck des Werdens
und Lebens, erschaut, nicht erkannt, von einer andern Logik und
Notwendigkeit, die nicht in Worte zu fassen ist, der des Schicksals.
Beide stehen einander gegenüber wie Leben und Tod, Richtung und
Ausdehnung, ewige Zukunft und ewige Vergangenheit.

Der Zivilisation liegt das Gefühl der Natur, der schon gewordnen,
abgeschlossenen, erkannten, toten Welt zugrunde. Der Schritt von einer
Kultur zur Zivilisation läßt sich als die Metamorphose der Historie
in naturhafte Formen bezeichnen. Dies ist der geheimste Sinn jener
„Rückkehr zur Natur“, zur starren, vernunftmäßigen, gesetzmäßigen
Natur nämlich, der Wendung vom Schicksal zum Kausalen. Der faustische
Mensch des zivilisierten Stadiums, dessen Welt sich als ein Unendliches
kausaler Zusammenhänge repräsentiert, für den sich in Ursache und
Wirkung, Mittel und Zweck ihr Wesen erschöpft, +ist+ Sozialist.
Das ist die Form seiner geistigen Existenz.

+Der Sozialismus ist das überhaupt erreichbare Maximum eines
Lebensgefühls unter dem Aspekt von Zwecken.+ Denn die bewegte
Richtung des Seins, in den Worten Zeit und Schicksal fühlbar, bildet
sich, sobald sie starr, bewußt, erkannt ist, in den Mechanismus von
Mittel und Zweck um. Richtung ist das Lebendige, Zweck das Tote.
Faustisch ist die Leidenschaft des Vordringens, sozialistisch der
mechanische Rest, der „Fortschritt“. Sie verhalten sich wie der Leib
zum Skelett. Dies ist zugleich der Unterschied des Sozialismus vom
Buddhismus und Stoizismus, die mit den Idealen des Nirwana und der
Ataraxia ebenso mechanisch gestimmt sind, aber nicht die dynamische
Leidenschaft der dritten Dimension, den Willen zum Unendlichen, das
Pathos der Ausdehnung kennen.

Der Sozialismus ist -- trotz seiner oberflächlichen Illusionen -- kein
System des Mitleids, der Humanität, des Friedens und der Fürsorge,
sondern des Willens zur Macht. Alles andere ist Selbsttäuschung. Das
Ziel ist durchaus imperialistisch: Wohlfahrt, aber im expansiven Sinne,
nicht der Kranken, sondern der Tatkräftigen, denen man die Freiheit des
Wirkens geben will, ungehemmt durch die Widerstände des Besitzes, der
Geburt, der Tradition. Gefühlsmoral, Moral auf den Nutzen hin ist bei
uns nie der letzte Instinkt, so oft es sich die Träger dieser Instinkte
einbilden. Man wird immer an die Spitze der moralischen Modernität
Kant, in diesem Falle den Schüler Rousseaus stellen müssen, dessen
Ethik das Motiv des Mitleids ablehnt und den Satz prägt: „+Handle
so+, daß --“. Alle Ethik dieses Stils will Ausdruck des Willens zum
Unendlichen sein und dieser Wille fordert Überwindung des Augenblicks,
der Gegenwart, der Vordergründe des Lebens. An Stelle der sokratischen
Formel: „Wissen ist Tugend“ setzte schon Bacon den Spruch: „Wissen ist
Macht“. Der Stoiker nimmt die Welt, wie sie ist: Der Sozialist will sie
der Form, dem Gehalte nach organisieren, umprägen, mit +seinem+
Geiste erfüllen. Der Stoiker paßt sich an. Der Sozialist befiehlt.
Die ganze Welt soll die Form +seiner+ Anschauung tragen -- so
läßt sich die Idee der „Kritik der reinen Vernunft“ ins Ethische
umsetzen. Das ist der letzte Sinn des kategorischen Imperativs, den
er aufs Politische, Soziale, Wirtschaftliche anwendet: Handle so, als
ob die Maxime deines Handelns +durch deinen Willen zum allgemeinen
Naturgesetz werden sollte+. Und diese tyrannische Tendenz ist selbst
den flachsten Erscheinungen der Zeit nicht fremd.

Der Sozialismus ist zweitens eine seelische Dynamik. Nicht die Haltung
und Gebärde, die +Wirksamkeit+ soll gestaltet werden. Das Leben
kommt nur in Betracht, insofern es Tat ist. Und erst so, durch die
Mechanisierung des organischen Prinzips der Tat, entsteht die Idee
+der Arbeit als der zivilisierten Form faustischen Wirkens+.
Diese Moral, der Drang, dem Leben die denkbar aktivste Form zu geben,
ist stärker als die Vernunft, deren Moralprogramme, sie mögen noch
so geheiligt, inbrünstig geglaubt, leidenschaftlich verteidigt sein,
nur insoweit wirken, als sie in der Richtung dieses Dranges liegen
oder in ihr mißverstanden werden. Im übrigen bleiben sie Worte. Man
unterscheide in aller Modernität wohl die populäre (antik empfundene,
statische) Seite, das süße Nichtstun, die Sorge um Gesundheit,
Glück, Sorglosigkeit, den allgemeinen Frieden, kurz das vermeintlich
Christliche von dem höheren Ethos, das nur die Tat wertet, das den
Massen -- wie alles Faustische -- weder verständlich noch erwünscht
ist, die großartige +Idealisierung des Zweckes und also der
Arbeit+. Will man dem römischen „_Panem et circenses_“, dem
letzten epikuräisch-stoischen Lebenssymbol, das entsprechende Symbol
des Nordens zur Seite stellen, so muß es das +Recht auf Arbeit+
sein, das schon dem durch und durch preußisch empfundenen, heute
europäisch gewordnen Staatssozialismus Fichtes zugrunde liegt und das
in den letzten, furchtbarsten Stadien dieser Entwicklung in der Pflicht
zur Arbeit gipfeln wird.

Endlich das Napoleonische in ihm, das _aere perennius_, der Wille
zur Dauer, der Zukunft. Der ahistorische apollinische Mensch sah auf
ein goldenes Zeitalter +zurück+; das enthob ihn des Nachdenkens
über das Kommende. Der Sozialist -- der sterbende Faust -- ist der
Mensch der historischen Sorge, des Künftigen, das er als Aufgabe und
Ziel empfindet, demgegenüber das Glück des Augenblicks verächtlich
wird. Der antike Geist mit seinen Orakeln und Vogelzeichen will die
Zukunft nur +wissen+, der abendländische will sie +schaffen+.
Das +dritte Reich+ ist das germanische Ideal, ein ewiges Morgen,
an das alle großen Menschen von Dante bis Nietzsche und Ibsen -- Pfeile
der Sehnsucht nach dem andern Ufer, wie es im Zarathustra heißt --
ihr Leben knüpften. Alexanders Leben war ein wundervoller Rausch, ein
Traum, in dem das homerische Zeitalter noch einmal heraufbeschworen
wurde; Napoleons Leben war eine ungeheure Arbeit, nicht für sich, nicht
für Frankreich, sondern für die Zukunft überhaupt.

An dieser Stelle greife ich zurück und erinnere noch einmal
daran, wie verschieden die großen Kulturen sich das Wesen der
+Weltgeschichte+ vorgestellt haben: Der antike Mensch sah nur
sich, seine Geschicke als ruhende Nähe und fragte nicht nach dem
Woher und Wohin. Universalhistorie ist ihm ein unmöglicher Begriff.
Das ist die statische Geschichtsauffassung. Der magische Mensch
sieht Geschichte als das große Weltdrama zwischen Schöpfung und
Untergang, das Ringen zwischen Seele und Geist, Gut und Böse, Gott
und Teufel, eine streng begrenzte Aktion mit einer +einmaligen+
Katastrophe als Höhepunkt: der Erscheinung des Erlösers. Der faustische
Mensch sieht in der Geschichte eine gespannte Entwicklung auf ein
+Ziel+. Die Reihe: Altertum -- Mittelalter -- Neuzeit ist eine
+dynamische+ Idee. Er +kann+ sich Geschichte gar nicht anders
vorstellen, und wenn dies nicht Weltgeschichte an sich und überhaupt,
sondern das Bild einer Weltgeschichte faustischen Stils ist, das mit
der westeuropäischen Kultur beginnt und aufhört, wahr und vorhanden zu
sein, so ist der Sozialismus die logische, praktische Krönung dieser
Vorstellung. In ihm erhält das Bild den von der Gotik an vorbereiteten
Abschluß.

Und hier wird der Sozialismus -- im Gegensatz zum Stoizismus und
Buddhismus -- tragisch. Es ist bedeutsam, daß Nietzsche von höchster
Klarheit ist, sobald es sich um die Frage handelt, was zertrümmert, was
umgewertet werden soll; er verliert sich in nebelhafte Allgemeinheiten,
sobald das Wozu, das Ziel in Rede steht. Seine Kritik der Dekadence
ist tief, seine Übermenschenlehre ist eine Marotte. Und dasselbe gilt
von Ibsen -- von Brand und Rosmersholm, Julian Apostata und Baumeister
Solneß --, von Hebbel, von Wagner, von allen. Und darin liegt eine
tiefe Notwendigkeit, denn von Rousseau an gibt es für den faustischen
Menschen nichts mehr zu hoffen. Hier ist etwas zu Ende. Die nordische
Seele hat ihre innern Möglichkeiten erschöpft und es blieb nur noch
der dynamische Sturm und Drang, wie er sich in welthistorischen
Zukunftsvisionen äußert, die mit Jahrtausenden messen, der Trieb,
die schöpferische Leidenschaft, eine geistige Daseinsform ohne
Inhalt. Diese Seele war Wille, Kraft und nichts andres; sie brauchte
ein Ziel für ihre Kolumbussehnsucht; sie +mußte+ einen Gehalt
ihrer Wirksamkeit sich wenigstens vortäuschen, und so findet der
feinere Beobachter einen Zug von Hjalmar Ekdal in aller Modernität,
auch in ihren höchsten Erscheinungen. Ibsen hat es die Lebenslüge
genannt. Nun, etwas von ihr liegt in der gesamten Geistigkeit der
westeuropäischen Zivilisation, insoweit sie auf eine religiöse,
künstlerische, philosophische Zukunft, ein immaterielles Ziel, ein
drittes Reich sich richtet, während in der tiefsten Tiefe ein dumpfes
Gefühl nicht schweigen will, daß diese ganze Wirksamkeit Schein,
die verzweifelte Selbsttäuschung einer historischen Seele ist. Aus
dieser tragischen Situation -- der Umkehrung des Hamletmotivs -- ist
Nietzsches gewaltsame Konzeption der Ewigen Wiederkunft hervorgegangen,
an die er niemals mit gutem Gewissen geglaubt hat, die er aber trotzdem
festhielt, um seine Verkünderrolle zu retten. Auf dieser Lebenslüge
ruht +Bayreuth+, das etwas sein +wollte+ im Gegensatz zu
Pergamon, das etwas +war+. Und ein Zug dieser Lüge haftet dem
gesamten politischen, wirtschaftlichen, ethischen Sozialismus an,
der gewaltsam über den +vernichtenden+ Ernst seiner Resultate
schweigt, um die Illusion eines letzten Glückszustandes zu retten.


20

Es bleibt noch ein Wort über die Geschichte der Philosophie zu sagen,
deren Morphologie ein Problem darstellt, das nicht einmal entdeckt,
geschweige denn gelöst worden ist.

Es gibt keine Philosophie überhaupt; jede Kultur hat ihre eigne;
sie ist ein Teil ihres symbolischen Gesamtausdruckes, ein Stück
verwirklichten Seelentums. Sie entspricht als Phänomen den Formenwelten
der Mathematik und der großen Künste. Ihre Konzeptionen stehen neben
den entscheidenden Werken der Kunst, der Divina Comedia, dem Parzeval,
den Tragödien des Äschylus. Ihre Systeme haben Stil. Sie sind trotz der
äußeren Verknüpfung mit wissenschaftlicher Erfahrung freie Geburten
schöpferischer Geister. Jede Kultur hat aber auch ihre Philosophie des
Aufstiegs und des Niedergangs, eine metaphysische Periode, wo das Leben
noch Chaos in sich hat und aus einer Überfülle heraus weltgestaltend
wirkt, und eine ethische, wo das erschöpfte Leben auf sich selbst
Bedacht nehmen und den Rest von Gestaltungskraft auf die Fragen des
Tages verwenden muß. Die erste gehört zu den höheren Wirkungen einer
Kultur: die brahmanische, ionische, Barockphilosophie. Die zweite ist
zivilisierter Natur und beschränkt ihre Gültigkeit auf den Bannkreis
der großen Städte und die Wesensform des intellektuellen Menschen. In
der einen +offenbart+ sich das Leben, die andre nimmt das Leben
-- von außen -- zum Objekt. In der ersten finden wir von Anaximander
bis auf Plato und von Descartes bis auf Kant herab eine dichte Reihe
großer Gestalter. In ihnen durchdringt das apollinische und faustische
Seelentum das All und sucht sich seiner Geheimnisse zu bemächtigen.
So sehr die Logik mit ihren feinsten Mitteln zur Anwendung kommt, all
diesen Schöpfungen von tiefster Selbstverständlichkeit liegt eine
+Intuition+ zugrunde, der sich alles fügt. Noch das kantische
System ist in seinen letzten Zügen +geschaut+ und +danach+
erst durch logische und systematische Prinzipien fixiert und geordnet
worden.

Ein Beweis ist das Verhältnis zur Mathematik, deren Sinn als einer
unmittelbaren Intuition des Gewordnen -- durch die Konzeption der Idee
einer Zahl, deren Typus immer nur einer einzigen Kultur wesenhaft ist
-- hier zum erstenmal festgestellt wurde. Wer nicht in die Formenwelt
der Zahlen eingedrungen ist, wer sie nicht als Symbole in sich erlebt,
ist kein Metaphysiker. In der Tat waren es die großen Philosophen
des Barock, Descartes, Pascal, Hobbes, Leibniz, welche die Analysis
geschaffen haben, und das Entsprechende gilt von den Vorsokratikern und
Plato. Leibniz ist neben Newton und Gauß, Plato und Pythagoras sind
neben Archimedes Gipfel der mathematischen Entwicklung. Aber schon Kant
ist als Mathematiker ohne Bedeutung. Er ist in die letzten Feinheiten
der damaligen Infinitesimalrechnung so wenig eingedrungen, als er
Leibnizens Axiomatik begriffen hat. Darin ist er seinem „Zeitgenossen“
Aristoteles gleich, der ebenfalls Dilettant _in mathematicis_ war,
und von nun an zählt kein Philosoph in der Mathematik mehr mit. Kant
ist sehr unglücklich in der Heranziehung von geometrischen Beweisen
für seine Erkenntnistheorie, und die Kritik der reinen Vernunft
verrät, daß ihm nur die Elementarmathematik wirklich lebendig ist,
zum großen Schaden seiner Raum- und Zeittheorie, die eine Prüfung
durch die schwersten Fragen der Infinitesimalrechnung erfordert hätte.
Fichte, Hegel, Schelling endlich sind völlig unmathematisch, so gut
wie Zenon und Epikur. Schopenhauer ist schwach bis zur Borniertheit,
von Nietzsches gelegentlichen seltsamen Leistungen ganz zu schweigen.
Aber auch das ist „Rückkehr zur Natur“. Mit der Formenwelt der Zahlen
ging eine große Konvention verloren. Seitdem fehlt es nicht nur an
einer Tektonik der Systeme, es fehlt auch an dem, was man den +großen
Stil+ des Denkens nennen darf. Schopenhauer hat sich selbst
einen Gelegenheitsdenker genannt. Man erinnere sich der Beziehung
der Mathematik zur Plastik und Musik. Kant und Plato bezeichnen
die Schwelle. Die „Philosophie ohne Mathematik“ beginnt. Die Ethik
ist im Begriff, über ihren Rang als Teil einer abstrakten Theorie
hinauszuwachsen. Von nun an ist die Ethik +die+ Philosophie,
welche die andern Gebiete sich einverleibt, das heißt: nicht der
Makrokosmos, sondern das praktische Leben rückt in den Mittelpunkt
der Betrachtung. Der Horizont ist eng geworden. Die Leidenschaft des
reinen Denkens sinkt. Die Metaphysik, Herrin von gestern, wird zur
Dienerin von heute. Sie hat nur noch das Fundament zu bilden, das eine
praktische Gesinnung trägt. Und das Fundament wird immer überflüssiger.
Man vernachlässigt, man verspottet das Metaphysische, das Unpraktische,
die „Steine statt des Brotes“. Bei Schopenhauer ist es das vierte
Buch, um dessentwillen die drei ersten da sind. Kant glaubte nur,
daß es bei ihm so wäre. In der Tat ist ihm noch die reine, nicht die
praktische Vernunft Mittelpunkt der Schöpfung. Genau so scheidet
sich die antike Philosophie vor und nach Aristoteles: dort ein groß
aufgefaßter Kosmos, kaum bereichert durch eine formale Ethik, hier
die Ethik selbst, als Programm, als Not, auf der Basis einer nebenher
und flüchtig konzipierten Metaphysik. Und man fühlt, daß die logische
Gewissenlosigkeit, mit der zum Beispiel Nietzsche derlei Theorien
schnell hinwirft, gar nicht imstande ist, den Wert seiner eigentlichen
Philosophie herabzusetzen.

Bekanntlich ist Schopenhauer (Neue Paralipomena § 656) nicht von seiner
Metaphysik zum Pessimismus, sondern vom Pessimismus, der ihn in seinem
17. Jahre überfiel, zur Konstruktion seines Systems gekommen. Shaw,
ein sehr merkwürdiger Zeuge, macht im Ibsenbrevier darauf aufmerksam,
daß man bei Schopenhauer -- wie er sich ausdrückt -- sehr wohl seine
Philosophie annehmen kann, während man seine Metaphysik ablehnt. Damit
ist instinktiv das gesondert, wodurch er der erste Denker der neuen
Zeit war, und das, was einer veralteten Tradition nach damals zu einer
vollständigen Philosophie gehörte. Niemand würde diese Trennung bei
Kant vornehmen. Sie würde auch nicht gelingen. Bei Nietzsche aber läßt
sich leicht feststellen, daß seine „Philosophie“ durchaus ein inneres,
sehr frühes Erlebnis war, während er seinen Bedarf an Metaphysik an
der Hand einiger Bücher schnell und mangelhaft genug herstellte und
nicht einmal seine ethische Lehre exakt darzustellen vermochte. Genau
dieselbe Überlagerung einer lebendigen, zeitgemäßen und einer von der
Gewohnheit geforderten metaphysischen Gedankenschicht läßt sich bei
Epikur und den Stoikern nachweisen. Diese Erscheinung gestattet über
das Wesen einer zivilisierten Philosophie keinen Zweifel.

Die Metaphysik hat ihre Möglichkeiten erschöpft. Die Weltstadt hat
das Land endgültig überwunden und ihr Geist bildet sich jetzt eine
eigne, notwendigerweise nach außen gerichtete, mechanistische,
seelenlose Theorie. Mit einem gewissen Rechte sagt man von nun an
Gehirn statt Seele. Und da im westeuropäischen Gehirn der Wille zur
Macht, die tyrannische Richtung auf die Zukunft, auf Organisation
der Gesamtheit nach praktischem Ausdruck verlangt, so nimmt die
Ethik, je mehr sie ihre metaphysische Vergangenheit aus den Augen
verliert, +nationalökonomischen+ Charakter an. Die von Hegel und
Schopenhauer ausgehende Philosophie der Gegenwart, soweit sie den Geist
der Zeit repräsentiert -- was Lotze und Herbart z. B. nicht tun -- ist
+Gesellschaftskritik+.

Die Aufmerksamkeit, welche der Stoiker dem eigenen Körper, dem σῶμα,
zuwendet, widmet der abendländische Mensch dem Gesellschaftskörper.
Es ist kein Zufall, daß aus der Schule Hegels der Sozialismus (Marx,
Engels), der Anarchismus (Stirner) und die Problematik des sozialen
Dramas (Hebbel) hervorgingen. Der Sozialismus ist die ins Ethische,
und zwar ins +Imperativische+ umgewandte Nationalökonomie.
Solange es eine Metaphysik großen Stils gab, bis auf Kant, blieb
die Nationalökonomie eine +Wissenschaft+. Sobald „Philosophie“
gleichbedeutend mit praktischer Ethik wurde, trat sie an Stelle der
Mathematik als +Normativ des Weltdenkens+.

Es steht dem Philosophen nicht frei, seine Stoffe zu wählen, so wenig
die Philosophie immer und überall dieselben Stoffe hat. Es gibt
keine ewigen Fragen, es gibt nur Fragen, die aus dem Dasein eines
historisch-individuellen Menschentums, einer +einzelnen+ Kultur
heraus gefühlt und gestellt werden. „Alles Vergängliche ist nur ein
Gleichnis“ -- das gilt auch von jeder echten Philosophie als dem
geistigen Ausdruck dieses Daseins, als der Verwirklichung seelischer
Möglichkeiten in einer Formenwelt von Begriffen, Gedanken, Intuitionen,
zusammengefaßt in der lebendigen Erscheinung ihres Urhebers. Eine
jede ist vom ersten bis zum letzten Wort, vom abstraktesten Thema
bis zum persönlichsten Charakterzuge ein Gewordnes, aus der Seele in
die Welt, aus dem Reiche der Freiheit in das der Notwendigkeit, aus
dem unmittelbar Lebendigen ins Räumlich-Logische projiziert, reines
Symbol einer historisch begrenzten Art des Menschlichen und mithin
vergänglich, von bestimmtem Tempo, von bestimmter Lebensdauer. Deshalb
liegt eine strenge Notwendigkeit in der Wahl des Themas. Jede Epoche
hat ihr eignes, das für sie und keine andre bedeutend ist. Hier sich
nicht zu vergreifen, kennzeichnet den gebornen Philosophen. Der Rest
der philosophischen Produktion ist belanglos, bloße Fachwissenschaft,
langweilige Häufung systematischer und stofflicher Subtilitäten.

Und deshalb ist die Philosophie des 19. Jahrhunderts +nur+ Ethik,
nur Gesellschaftskritik in produktivem Sinne und nichts außerdem.
Deshalb sind, von Praktikern abgesehen, +Dramatiker+ -- das
entspricht der faustischen Aktivität -- ihre bedeutendsten Vertreter,
neben denen kein einziger Kathederphilosoph mit seiner Logik,
Psychologie oder Systematik in Betracht kommt. Nur dem Umstande, daß
diese Unbedeutenden, bloße Gelehrte, immer auch die Geschichte der
Philosophie -- und was für eine Geschichte! Eine Summation von Personen
und „Ergebnissen“ -- geschrieben haben, verdankt man es, daß niemand
heute weiß, was Geschichte der Philosophie ist und was sie sein könnte.

Die tiefe organische Einheit im Denken dieser Epoche ist deshalb noch
nie durchschaut worden. Man kann ihren philosophischen Kern dadurch auf
eine Formel bringen, daß man sich fragt, inwiefern Shaw der Schüler
und Vollender Nietzsches ist. Diese Beziehung ist zunächst durchaus
nicht ironisch gemeint. Unter einem Denker verstehe ich den, der seine
Zeit repräsentiert, indem er ihren lebendigen Inhalt (der mit dem
aktuellen wenig oder nichts zu tun hat) in endgültige geistige Formen
bringt. In seiner Analyse des Griechentums ist Nietzsche nur insoweit
Denker und nicht Philologe oder Plauderer, als er unter dieser Maske
sein Problem der Decadence gestaltet. In seinen Komödien ist Shaw nur
insoweit Denker und nicht bloß Nationalökonom und Journalist, als
seine Probleme auch in antiker Fassung hätten erscheinen können. Man
muß nur ihr Wesentliches von ihrer äußern Tendenz zu unterscheiden
wissen. Shaw ist der einzige Denker von Bedeutung, der konsequent in
der Richtung des echten Nietzsche fortgeschritten ist, als produktiver
Kritiker der abendländischen Moral nämlich, wie er andrerseits als
Dichter die letzten Konsequenzen Ibsens zog und den Rest künstlerischer
Gestaltung in seinen Stücken zugunsten praktischer Diskussionen aufgab,
wobei „Denker“ und „Dichter“ bei diesem letzten und schon ein wenig
epigonenhaften Glied der Reihe nun doch mit der nötigen Ironie gesagt
wird, selbst wenn man die Differenz zwischen deutschem und englischem
Geist, zwischen dem Ausklang einer posthumen, fast unterirdischen
Kultur, die eben in Nietzsche überraschend ans Licht trat, und einer
in sich vollendeten, rein gehirnlichen Zivilisation, zwischen einer
Vogelperspektive, zu der immer wieder der Flug genommen, und der
Froschperspektive, die mit borniertem Behagen eingehalten wird, vorher
subtrahiert hat.

Nietzsche ist in allem und jedem, soweit nicht der verspätete
Romantiker in ihm Stil, Klang und Haltung seiner Philosophie bestimmt
hat, ein Schüler materialistischer Jahrzehnte gewesen. Was ihn an
Schopenhauer leidenschaftlich anzog, ohne daß es ihm oder irgendjemand
anders bis zum heutigen Tage zum Bewußtsein gekommen wäre, ist
dasjenige Element seiner Lehre, durch welches er die Metaphysik
großen Stils zerstörte, durch das er seinen Meister Kant unfreiwillig
parodiert hat, die Wendung aller tiefen Begriffe des Barock ins
massiv Greifbare und Mechanistische. Kant redet in unzulänglichen
Worten, hinter denen sich eine gewaltige, schwer zugängliche Intuition
verbirgt, von der Welt als Erscheinung; Schopenhauer nennt das die Welt
als Gehirnphänomen. In ihm vollzieht sich die Wendung der tragischen
Philosophie zum philosophischen Plebejertum. Es genügt, eine Stelle
zu zitieren. In der „Welt als Wille und Vorstellung“ (II, Kapitel
19) heißt es: „Der Wille, als das Ding an sich, macht das innere,
wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist er
jedoch bewußtlos. Denn das Bewußtsein ist bedingt durch den Intellekt,
und dieser ist ein bloßes Akzidens unseres Wesens; denn er ist eine
Funktion des Gehirns, welches, nebst den ihm anhängenden Nerven und
Rückenmark, eine bloße Frucht, ein Produkt, ja insofern ein Parasit
des übrigen Organismus ist, als es nicht direkt eingreift in dessen
inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch
dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt reguliert.“
Das ist genau das Grundprinzip des seichtesten Materialismus. Nicht
umsonst war Schopenhauer, wie einst Rousseau, zu den englischen
Sensualisten in die Lehre gegangen. Dort lernte er Kant im Geiste der
großstädtischen, aufs Zweckmäßige gerichteten Modernität mißverstehen.
Der Intellekt als Werkzeug des Willens zum Leben,[113] als Waffe im
Kampf ums Dasein, das, was Shaw in eine groteske dramatische Form und
Bergson in ein epigonenhaftes, aus deutschen Denkern zusammengestelltes
System gebracht hat, dieser Weltaspekt Schopenhauers war es, der
ihn beim Erscheinen von Darwins Hauptwerk (1859) mit einem Schlage
zum Modephilosophen machte. Er war im Gegensatz zu Schelling, Hegel
und Fichte der einzige, dessen metaphysische Formeln dem geistigen
Mittelstand ohne Schwierigkeit eingingen. Seine Klarheit, auf die er
stolz war, ist in jedem Augenblick in Gefahr, sich als Trivialität
zu enthüllen. Hier konnte man, ohne auf Formeln zu verzichten, die
eine Atmosphäre von Tiefsinn und Exklusivität um sich breiteten,
die gesamte zivilisierte Weltanschauung sich zu eigen machen. Sein
System ist +antizipierter Darwinismus+, dem die Sprache Kants und
die Begriffe der Inder nur zur Verkleidung dienten. In seinem Buche
„Über den Willen in der Natur“ (1835) finden wir schon den Kampf um
die Selbstbehauptung in der Natur, den menschlichen Intellekt als
die wirksamste Waffe in ihm, die Geschlechtsliebe als die unbewußte
Wahl[114] aus biologischem Interesse.

Es ist die gesamte Lehre, die Darwin auf dem Umweg über Hegel
und Malthus mit sensationellem Erfolge in das Bild der Tierwelt
hineininterpretierte. Die nationalökonomische Herkunft des Darwinismus
-- die man erst künftig verstehen wird, wenn die Menschen nicht mehr
Darwinisten aus Instinkt sind, bevor die „Entstehung der Arten“ sie
zu solchen aus Überzeugung macht -- wird glänzend bewiesen durch die
Tatsache, daß dieses System, von der Menschenähnlichkeit höherer
Tiere aus gedacht, schon auf die Pflanzenwelt nicht mehr paßt und
in Albernheiten ausartet, wenn man es mit seiner Willenstendenz
(Zuchtwahl, _mimicry_) auch auf primitive organische Formen
anwenden will. Beweisen nennt der abendländische Biologe, eine Auswahl
von Tatsachen so ordnen und bildhaft so erklären, daß sie seinem
historisch-dynamischen Grundgefühl „Entwicklung“ entspricht. Der
„Darwinismus“, d. h. jene Summe sehr verschiedenartiger und einander
widersprechender Ansichten, deren Gemeinsames lediglich die Anwendung
des Kausalprinzips auf Lebendiges, +also Methode, nicht Resultat+
ist, war schon im 18. Jahrhundert in allen Einzelheiten bekannt. Die
Affentheorie verteidigt Rousseau schon 1754. Von Darwin stammt nur
das manchesterliche System, dessen Popularität sich aus dem latenten
politischen Gehalt erklärt.

Hier offenbart sich die geistige Einheit des Jahrhunderts. Von
Schopenhauer bis zu Shaw haben alle, ohne es zu ahnen, dasselbe
Prinzip in Form gebracht. Sie werden alle vom Entwicklungsgedanken
geleitet, auch die, welche wie Hebbel nichts von Darwin wußten,
und zwar nicht in seiner tiefen Goetheschen, sondern in seiner
flachen zivilisierten Fassung, mag sie nun nationalökonomisches oder
biologisches Gepräge tragen. Auch innerhalb der Entwicklungsidee,
die durch und durch faustisch ist, die im strengsten Gegensatz zur
zeitlosen aristotelischen Entelechie einen leidenschaftlichen Drang
der unendlichen Zukunft entgegen offenbart, einen +Willen+, ein
+Ziel+, die a priori die +Form+ unserer Naturanschauung
darstellt und als Gesetz gar nicht erst entdeckt zu werden brauchte,
weil sie dem faustischen Geiste -- und ihm allein -- immanent ist,
vollzog sich die Wandlung der Kultur zur Zivilisation. Bei Goethe, der
darin zum Barock gehört, ist sie erhaben, bei Darwin flach, bei Goethe
organisch, bei Darwin mechanisch, bei jenem Erlebnis und Intuition,
bei diesem Erkenntnis und Gesetz. Dort heißt sie innere Vollendung,
hier „Fortschritt“. Darwins Kampf ums Dasein, den er in die Natur
hinein, nicht aus ihr herauslas, ist nur die plebejische Fassung jenes
Urgefühls, das in Shakespeares Tragödien die großen Wirklichkeiten
gegeneinander bewegt. Was dort als Schicksal innerlich angeschaut,
gefühlt und in Gestalten verwirklicht wurde, das wurde hier als
Kausalnexus begriffen und in ein utilitarisches Oberflächensystem
gebracht. Und dies System, nicht jenes Urgefühl, liegt den Reden
Zarathustras, der Tragik der „Gespenster“, der Problematik des
Nibelungenringes zugrunde. Nur daß Schopenhauer, an den Wagner sich
hielt, als der erste der Reihe seine eigne Erkenntnis entsetzt wahrnahm
-- dies ist die Wurzel seines Pessimismus, der in der Tristanmusik den
höchsten Ausdruck fand --, während die Späteren, Nietzsche voran, sich
an ihr, etwas gewaltsam zuweilen, begeisterten.

In Nietzsches Bruch mit Wagner, diesem letzten Ereignis des deutschen
Geistes, über dem Größe liegt, verbirgt sich sein Wechsel des
Lehrmeisters, sein Schritt von Schopenhauer zu Darwin, von der
metaphysischen zur physiologischen Formulierung desselben Weltgefühls,
von der Verneinung zur Bejahung des Aspekts, den +beide+
anerkennen, nämlich des Willens zum Leben, der mit dem Kampf ums Dasein
identisch ist. In „Schopenhauer als Erzieher“ bedeutet Entwicklung
noch inneres Reifen; der Übermensch ist das Produkt einer mechanischen
„Evolution“. So ist der Zarathustra +ethisch+ aus einem unbewußten
Widerspruch gegen den Parsifal, +künstlerisch+ durchaus von
diesem bestimmt, aus der Eifersucht eines Verkünders auf den andern,
entstanden.

Aber Nietzsche war auch Sozialist, ohne es zu wissen. Nicht seine
Schlagworte, seine Instinkte waren sozialistisch, imperativisch,
praktisch, auf das physiologische „Heil der Menschheit“ gerichtet,
woran Goethe und Kant nie gedacht hatten. Materialismus, Sozialismus,
Darwinismus sind nur künstlich und an der Oberfläche trennbar. So war
es möglich, daß Shaw den Tendenzen der Herrenmoral und der Züchtung
des Übermenschen nur eine kleine und sogar konsequente Wendung zu
geben brauchte, um im dritten Akte von „Mensch und Übermensch“, einem
der wichtigsten und bezeichnendsten Werke am Ausgang der Epoche, die
eigentliche Maxime +seines+ Sozialismus zu erhalten. Shaw hat da
nur ausgesprochen, aber rücksichtslos, klar, mit dem vollen Bewußtsein
einer Trivialität, was ursprünglich, mit aller Theatralik Wagners und
aller Verschwommenheit der Romantik, in den nicht ausgeführten Teilen
des Zarathustra gesagt werden sollte. Man muß nur die notwendigen
+praktischen+, aus der Struktur des gegenwärtigen öffentlichen
Lebens folgenden Voraussetzungen und Konsequenzen der Gedankengänge
Nietzsches zu finden wissen. Er bewegt sich in unbestimmten Wendungen
wie „neue Werte“, „Übermensch“, „Sinn der Erde“ und hütet oder fürchtet
sich, das genauer zu fassen. Shaw tut es. Nietzsche bemerkt, daß
die darwinistische Idee des Übermenschen den Begriff der Züchtung
heraufruft, aber er bleibt bei der klangvollen Phrase stehen. Shaw
fragt weiter -- denn es hat keinen Zweck, darüber zu reden, wenn man
nichts +tun+ will --, wie das zu geschehen hat, und er kommt dazu,
die Verwandlung der Menschheit in ein Gestüt zu verlangen. Aber das
ist lediglich die Konsequenz Zarathustras, zu der er selbst nur nicht
den Mut, sei es auch den Mut der Geschmacklosigkeit, hatte. Wenn man
von Züchtung redet, einem extrem materialistischen und utilitarischen
Begriff, der die Ehe zu einer sexuellen Institution im Interesse einer
Gesamtheit und im Hinblick auf ein physiologisches Ziel macht, so ist
man eine Antwort darauf schuldig, wer zu züchten hat, wen, wo und
wie. Allein Nietzsches romantische Abneigung, die höchst prosaischen
sozialen Konsequenzen zu ziehen, seine Furcht, poetische Utopien
durch Konfrontierung mit tatsächlichen Verhältnissen einer Kraftprobe
auszusetzen, ließen ihn darüber schweigen, daß seine ganze positive
Lehre, wie sie aus dem Darwinismus stammt, auch den Sozialismus, und
zwar den sozialistischen Zwangsstaat als +Mittel+ voraussetzt, daß
jeder systematischen Züchtung einer Klasse höherer Menschen eine streng
sozialistische Gesellschaftsordnung voraufgehen muß und daß diese
„dionysische“ Idee, da es sich um eine gemeinsame Aktion und nicht um
eine Privatangelegenheit abseits lebender Denker handelt, demokratisch
ist, mag man sie wenden, wie man will. Damit hat die ethische Dynamik
des „Du sollst“ ihren Gipfel erreicht: um der Welt die Form seines
Willens aufzuerlegen, opfert der faustische Mensch sich selbst.

Schon Schopenhauer hatte vom Herdenmenschen als der Fabrikware der
Natur gesprochen. Die Züchtung des Übermenschen folgt aus dem Begriff
der Zuchtwahl. Nietzsche war, seit er Aphorismen schrieb, ein Schüler
Darwins, aber Darwin selbst hatte den Entwicklungsgedanken des 18.
Jahrhunderts durch nationalökonomische Tendenzen umgeprägt, die er von
seinem Lehrer Malthus nahm und in das höhere Tierreich projizierte.
Der Darwinismus ist eine sozialpolitische Konzeption. Malthus hatte
die Fabrikindustrie von Lancaster studiert, und man findet das ganze
System, statt auf Tiere auf Menschen angewendet, schon in Buckles
Geschichte der englischen Zivilisation (1857).

Und so stammt die „Herrenmoral“ dieses letzten Romantikers auf einem
merkwürdigen, aber für den Sinn der Zeit höchst bezeichnenden Wege
aus der Quelle aller intellektuellen Modernität, der Atmosphäre der
englischen Maschinenindustrie. Der Macchiavellismus, den Nietzsche als
Renaissancephänomen etwas zu oft pries und dessen Verwandtschaft mit
Darwins Begriff des _mimicry_ man nicht übersehen sollte, war
damals tatsächlich der im „Kapital“ von Marx -- dem andern berühmten
Jünger von Malthus -- behandelte und die Vorstufe dieses seit 1867
erscheinenden Grundbuches des politischen (nicht des ethischen)
Sozialismus, die Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“,
erschien gleichzeitig mit Darwins Hauptwerk. Das ist die Genealogie
der Herrenmoral. Der „Wille zur Macht“, ins Reale, Politische,
Nationalökonomische übersetzt, findet seinen stärksten Ausdruck in
Shaws „Major Barbara“. Sicherlich ist Nietzsche als Persönlichkeit
der Gipfel dieser Reihe von Ethikern, aber hier reicht Shaw, der
Parteipolitiker, als Denker an ihn heran. Der Wille zur Macht ist heute
durch die beiden Pole des öffentlichen Lebens, die Arbeiterklasse und
die großen Geld- und Gehirnmenschen, viel entschiedener vertreten
als je durch einen Borgia. Der Milliardär Undershaft in dieser
besten Komödie Shaws +ist+ Übermensch. Nur hätte Nietzsche, der
Romantiker, sein Ideal nicht wieder erkannt. Er sprach stets von einer
Umwertung, einer Philosophie der Zukunft, also doch zunächst der
westeuropäischen und nicht chinesischen oder afrikanischen Zukunft,
aber wenn seine immer in dionysischer Ferne verschwimmenden Gedanken
sich wirklich einmal zu greifbaren Gebilden verdichteten, so erschien
ihm der Wille zur Macht unter dem Bilde von Dolch und Gift und nicht
von Streiks und der Energie des Geldes. Trotzdem hat er erzählt, daß
die Idee ihm zuerst im Kriege von 1870 und beim Anblick preußischer
Regimenter, die zur Schlacht marschierten, aufgegangen sei.

Die gesamte Dramatik dieser Epoche ist nicht mehr Dichtung im
alten, im Kultursinne, sondern praktische Konstruktion, Debatte und
Beweisführung: die Schaubühne wurde durchaus als „moralische Anstalt
betrachtet“. Selbst Nietzsche neigte wiederholt zu dramatischer Fassung
seiner Gedanken. Richard Wagner hat in seiner Nibelungendichtung, vor
allem in der frühesten Fassung um 1850, seine sozialrevolutionären
Ideen niedergelegt, und Siegfried ist auf dem Umwege über künstlerische
und außerkünstlerische Einwirkungen noch im vollendeten „Ring“ eine
Inkarnation des „vierten Standes“, der Fafnirhort des Kapitalismus,
Brünhilde des „freien Weibes“ geblieben. Die Musik zur geschlechtlichen
Zuchtwahl, deren Theorie, die „Abstammung der Arten“, 1859 erschien,
findet sich eben damals im dritten Akte des Siegfried und im Tristan.
Es ist kein Zufall, daß Wagner, Hebbel und Ibsen beinahe gleichzeitig
die Dramatisierung des Nibelungenstoffes unternahmen. Hebbel, als
er in Paris Schriften von Fr. Engels kennen lernt, drückt sein
Erstaunen darüber aus (Brief vom 2. April 1844), daß er das soziale
Prinzip der Zeit, wie er es damals in einem Drama „Zu irgendeiner
Zeit“ darstellen wollte, ganz ebenso aufgefaßt habe wie der Verfasser
des kommunistischen Manifestes, und bei seiner ersten Bekanntschaft
mit Schopenhauer (Brief vom 29. März 1857) überrascht ihn auch die
Verwandtschaft der „Welt als Wille und Vorstellung“ mit wichtigen
Tendenzen, die er seinem Holofernes und „Herodes und Mariamne“
zugrunde gelegt hatte. Hebbels Tagebücher, deren wichtigster Teil
zwischen 1835 und 1845 niedergeschrieben wurde, sind eine der tiefsten
philosophischen Leistungen des Jahrhunderts, ohne daß er sich dessen
bewußt gewesen wäre. Man würde nicht erstaunt sein, ganze Sätze von ihm
wörtlich bei Nietzsche zu finden, der ihn nie gekannt und nur in seinen
besten Momenten erreicht hat.

Ich gebe hier eine Übersicht über die +wirkliche+ Philosophie
des 19. Jahrhunderts, deren einziges und eigenstes Thema die
Konzeption des Willens zur Macht in einer zivilisiert-intellektuellen
Gestalt, als Wille zum Leben, Lebenskraft, als praktisch-dynamisches
Prinzip, als Begriff oder dramatische Gestalt ist. Die mit Shaw
+abgeschlossene+ Epoche repräsentiert das Klimakterium der
abendländischen Geistigkeit und entspricht darin der antiken
zwischen 350 und 250. Der Rest ist, mit Schopenhauer zu reden,
Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren.

1819 Schopenhauer „Welt als Wille und Vorstellung“: der Wille zum Leben
zum erstenmal als einzige Realität („Urkraft“) in den Mittelpunkt
gestellt, aber noch unter dem Eindruck des voraufgegangenen Idealismus
zur Verneinung empfohlen.

1836 Schopenhauer „Über den Willen in der Natur“: Antizipation des
Darwinismus, metaphysisch verkleidet.

1840 Proudhon „Qu’est-ce que la Propriété!“ (Grundlage des Anarchismus).

1841 Hebbel „Judith“: erste dramatische Konzeption des „neuen Weibes“
und des Übermenschen (Holofernes). -- Feuerbach, Wesen des Christentums.

1844 Engels „Umriß der Kritik einer Nationalökonomie“: Grundlage der
materialistischen Geschichtsauffassung. -- Hebbel „Maria Magdalena“:
das erste soziale Drama.

1847 Marx „Misère de la Philosophie“ (Synthese von Hegel und Malthus).
Diese Jahre die entscheidende Epoche, mit welcher die Nationalökonomie
die Sozialethik und Biologie zu beherrschen beginnt.

1848 Wagner „Siegfrieds Tod“: Siegfried als sozialethischer
Revolutionär, der Fafnirhort als Symbol des Kapitalismus.

1850 Wagner „Kunst und Klima“: das Sexualproblem.

1850-58 Wagners, Hebbels und Ibsens Nibelungendichtungen.

1859 ein symbolisches Zusammentreffen: Darwin „Entstehung der Arten
durch natürliche Zuchtwahl“ (Anwendung der Nationalökonomie auf die
Biologie) und „Tristan und Isolde“. -- Marx „Zur Kritik der politischen
Ökonomie“.

1865 Dühring „Wert des Lebens“, selten genannt, aber von höchstem
Einfluß auf die nächste Generation.

1867 Ibsen „Brand“ und das „Kapital“ von Marx.

1878 Wagner „Parsifal“: erste Auflösung des Materialismus in
Mystizismus.

1879 Ibsen „Nora“.

1881 Nietzsche „Morgenröte“: Übergang von Schopenhauer zu Darwin, die
Moral als biologisches Phänomen.

1883 der „Zarathustra“: der Wille zur Macht, aber
romantisch-philologisch verkleidet.

1886 „Rosmersholm“ (die „Adelsmenschen“) und „Jenseits von Gut und
Böse“.

1887/88 Strindberg „Vater“ und „Fräulein Julie“.

1890 der nahende Abschluß der Epoche: die religiösen Werke Strindbergs,
die symbolistischen Ibsens.

1896 Ibsen „John Gabriel Borkman“.

1898 Strindberg „Nach Damaskus“.

Seit 1900 die letzten Erscheinungen.

1903 Weininger „Geschlecht und Charakter“: der einzige ernste Versuch,
Kant durch Beziehung auf Wagner und Ibsen innerhalb dieser Epoche
wiederzubeleben.

1903 Shaw „Mensch und Übermensch“: letzte Synthese von Darwin und
Nietzsche.

1905 Shaw „Major Barbara“: der Typus des Übermenschen auf seinen
wirtschaftspolitischen Ursprung zurückgeführt.

Damit hat sich, nach der metaphysischen Periode, auch die ethische
erschöpft. Der ethische Sozialismus, von Fichte, Hegel, Humboldt
vorbereitet, hatte die Zeit seiner leidenschaftlichen Größe um die
Mitte des 19. Jahrhunderts. An dessen Ende war er schon im Stadium
der Wiederholungen angelangt und das 20. Jahrhundert hat, unter
Beibehaltung des +Wortes+ Sozialismus, an Stelle einer ethischen
Philosophie, die nur Epigonen als unvollendet erscheint, eine Praxis
wirtschaftlicher Tagesfragen gesetzt. Die Weltstimmung des Abendlandes
wird eine sozialistische bleiben, aber ihre Theorie hat aufgehört
Problem zu sein. Es besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten
Art westeuropäischer Philosophie: die eines historisch-psychologischen
Skeptizismus. Das Geheimnis der Welt erscheint nacheinander als
Erkenntnisproblem, Wertproblem, Formproblem. Kant sah die Ethik als
Erkenntnisgegenstand, das 19. Jahrhundert sah die Erkenntnis als
Gegenstand einer Wertung. Der Skeptiker würde beide lediglich als
historische Phänomene betrachten.


Fußnoten:

[Footnote 104: Nach dem, was über das Fehlen prägnanter Worte für
„Wille“ und „Raum“ in den antiken Sprachen und die tiefere Bedeutung
dieser Lücken bemerkt worden ist, wird es nicht auffallen, daß auch der
Unterschied von Tat und Tätigkeit (Handlung, Geschehen) sich weder im
Griechischen noch im Lateinischen exakt wiedergeben läßt.]

[Footnote 105: „Wer Ohren hat zu hören, der höre“ -- darin liegt
kein Machtanspruch. So hat die abendländische Kirche ihre Mission
+nicht+ aufgefaßt. Die „Heilsbotschaft“ Jesu, die des Mani, der
Mithrasreligion, der Neuplatoniker und all der benachbarten
spätantik-syrischen Kulte sind geheimnisvolle Wohltaten, die man
+erweist+, nicht aufdrängt. Das junge Christentum ahmte, nachdem
es in die antike Welt eingeströmt war, lediglich die Mission der
späten Stoa nach. Man mag Paulus zudringlich finden und man hat die
stoischen Wanderprediger so gefunden, wie die Zeitliteratur beweist;
+gebieterisch+ treten sie nicht auf. Man kann ein entlegenes Beispiel
hinzufügen und die Ärzte der magischen Art, die ihre geheimnisvollen
Arkana anpriesen, den abendländischen gegenüberstellen, die ihrem
Wissen +Gesetzeszwang verliehen+ (Impfzwang, Trichinenschau usw.).]

[Footnote 106: Im Zarathustra heißt es („Von der schenkenden Tugend“):
Aufwärts geht unser Weg, von der Art hinüber zur Über-Art. Aber ein
Grauen ist uns der entartende Sinn, welcher spricht: „Alles für mich.“
Diese Stelle ist rein sozialistisch und darwinistisch, aber gewiß nicht
hellenisch -- „dionysisch -- gedacht.“]

[Footnote 107: Dies ist die Formel der Barockphilosophie von Descartes
bis Kant. Die gotische Philosophie gestaltete das gleiche Gefühl zur
Frage nach dem Primat des Willens oder der Vernunft. Duns Scotus hat
hier im Namen des nordischen, des dynamischen Lebensgefühls, den
Satz „_Voluntas est superior intellectu_“ der magisch-augustinischen
Meinung des Thomas von Aquino entgegengestellt. Schon hier kündigt sich
die Konzeption Schopenhauers von der Welt als Wille und Vorstellung
oder der Welt als Lebenskraft und dem Intellekt als deren Werkzeug
(Schelling, Nietzsche) an.]

[Footnote 108: Der erste beruht auf dem atheistischen System des
Sankhya, der zweite durch Sokrates’ Vermittlung auf der Sophistik, der
dritte auf dem englischen Sensualismus.]

[Footnote 109: Erst nach Jahrhunderten hat man aus der buddhistischen
Lebensbetrachtung, die weder einen Gott noch eine Metaphysik anerkennt,
durch Zurückgreifen auf die längst erstarrte brahmanische Theologie das
Surrogat einer Religion gemacht.]

[Footnote 110: Und es müßte erst gesagt werden, ob mit dem Christentum
der Kirchenväter oder mit dem der Kreuzzüge, denn dies sind zwei
verschiedene Religionen unter derselben dogmatisch-kultischen
Gewandung. Der gleiche Mangel an historisch-psychologischem Feingefühl
tritt in dem beliebten Vergleich des heutigen Sozialismus mit dem
Urchristentum zutage.]

[Footnote 111: Man beachte die auffallende Ähnlichkeit vieler
Römerköpfe mit denen heutiger Tatsachenmenschen amerikanischen Stils
und, wenn auch nicht so deutlich, mit manchen ägyptischen Porträtköpfen
des Neuen Reichs.]

[Footnote 112: Das Latein des 3. Jahrhunderts v. Chr. war noch eine
bewegliche farbenreiche Bauernsprache.]

[Footnote 113: Auch die äußerst moderne Idee, daß die unbewußten,
instinkthaften Lebensakte Vollkommenes bewirken, während der Intellekt
es nur zu stümperhaften Leistungen bringt, findet sich bei ihm (Band
II, Kap. 20).]

[Footnote 114: Im Kapitel „Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe“ (II,
44) ist der Gedanke der Zuchtwahl als des Mittels zur Erhaltung der
Gattung in vollem Umfang vorweggenommen.]




SECHSTES KAPITEL

FAUSTISCHE UND APOLLINISCHE NATURERKENNTNIS


1

In einer berühmt gewordnen Rede sagte Helmholtz 1869: „Das Endziel
der Naturwissenschaft ist, die allen Veränderungen zugrunde liegenden
Bewegungen und deren Triebkräfte zu finden, also sich in Mechanik
aufzulösen.“ In Mechanik, das bedeutet die Zurückführung aller
qualitativen Eindrücke auf unveränderliche quantitative Grundwerte,
auf +Ausgedehntes+ also und dessen +Ortsveränderung+; das bedeutet
weiterhin, wenn man sich des Gegensatzes von Werden und Gewordnem,
Erlebtem und Erkanntem, von Gestalt und Gesetz, Bild und Begriff
erinnert, die Zurückführung des Naturbildes auf eine einheitliche,
zahlenmäßige Ordnung von meßbarer Struktur. Die eigentliche Tendenz
aller Mechanik geht auf eine geistige Besitzergreifung durch +Messung+;
sie ist deshalb genötigt, das Wesen der Erscheinung in einem System
konstanter, der Messung restlos zugänglicher Elemente zu suchen, deren
wichtigster nach der Definition von Helmholtz mit dem -- der Sphäre des
Lebens entnommenen -- Worte +Bewegung+ bezeichnet wird.

Dem Physiker erscheint diese Definition unzweideutig und erschöpfend;
dem Skeptiker, der die Psychologie dieser wissenschaftlichen
Überzeugung verfolgt, nicht. Dem einen ist die gegenwärtige Mechanik
ein folgerichtiges System von klaren eindeutigen Begriffen und ebenso
einfachen als notwendigen Beziehungen, dem andern ist sie eine die
Struktur des westeuropäischen Geistes bezeichnende Illusion, allerdings
von höchster Konsequenz des Aufbaus und stärkster intellektueller
Wirksamkeit. Daß durch alle praktischen Resultate und Entdeckungen
nichts für die absolute Geltung der Theorie bewiesen wird, versteht
sich von selbst. Den meisten erscheint „die“ Mechanik allerdings als
die selbstverständliche Fassung von Natureindrücken, aber sie scheint
es nur. Denn was ist Bewegung? Daß alles Qualitative auf die Bewegung
unveränderlicher, gleichartiger Massenpunkte zurückführbar sei --
ist das nicht schon ein rein faustisches, kein allgemein menschliches
Postulat? Archimedes z. B. fühlte durchaus nicht das Bedürfnis,
mechanische Einsichten auf Bewegung zu reduzieren. Ist Bewegung
überhaupt eine rein mechanische Größe? Ist sie ein Wort für eine Art
von Anschauung oder ein abstrakter Begriff? Und wenn es der Physik
wirklich eines Tages gelänge, ihr vermeintliches Ziel zu erreichen
und alles sinnlich Erfaßbare in ein lückenloses System gesetzmäßig
fixierter Bewegungen und der in ihnen wirksamen Energien zu bringen,
wäre sie damit in der Erkenntnis auch nur um einen Schritt vorwärts
gekommen? Ist die Formensprache der Mechanik darum weniger dogmatisch?
Enthält sie nicht vielmehr die Symbolik der halbmystischen Urworte,
welche die Erfahrung beherrschen statt aus ihr hervorzugehen, gerade
in ihrer schärfsten Fassung? Was ist Kraft? Was ist eine Ursache? Was
ist ein Prozeß? Ja -- hat die Physik überhaupt, selbst auf Grund ihrer
eigenen Definitionen, eine eigentliche Aufgabe? Besitzt sie ein durch
alle Jahrhunderte gültiges Endziel? Besitzt sie, um ihre Resultate
auszusprechen, auch nur eine unanfechtbare Gedankengröße?

Die Antwort kann vorweggenommen werden. Die heutige Physik, als bloße
Wissenschaft, an sich und vom Standpunkt des Forschers aus betrachtet,
mag ein genau bestimmbares Thema haben; als historisches Phänomen
ist die Physik nach Aufgabe, Methode und Resultat Ausdruck und
Verwirklichung eines einzelnen Seelentums, Element eines Makrokosmos,
jedes ihrer Ergebnisse ein Symbol. Was die Physik, die ja lediglich
im Geiste einzelner Kulturmenschen existiert, durch diese zu finden
vermeint, lag der Art und Weise ihres Suchens schon zugrunde. Ihre
Entdeckungen sind dem eigentlichen Gehalte nach, außerhalb der
Formeln, selbst im Kopfe so vorsichtiger Forscher, wie es J. R. Mayer,
Faraday und Hertz waren, rein intuitiver Natur. Angesichts aller
physikalischen Exaktheit unterscheide man in einem Naturgesetz wohl
zwischen unbenannten Zahlen und deren Benennung, zwischen einer bloßen
Formel und deren theoretischem Sinn. Die Formeln zwar stellen allgemein
logische Werte dar, reine Zahlen, objektive Raum- und Grenzmomente
also, aber Formeln sind stumm. Der Ausdruck s = (gt^2)/2 bedeutet
gar nichts, solange ich bei den Buchstaben nicht an bestimmte Worte
und deren Bildsinn denke. Kleide ich die toten Zeichen aber in Worte,
gebe ich ihnen Fleisch, Körper, Leben, eine sinnliche Weltbedeutung
überhaupt, so habe ich die Schranken einer +bloßen Ordnung+
überschritten. Θεωρία heißt Bild, Vision. Erst sie macht aus einer
mathematischen Formel ein wirkliches Naturgesetz. Alles Exakte an sich
ist +sinnlos+; der Sinn gehört nicht mehr dem Erkennen, sondern
dem unmittelbaren Lebensgefühl. Und eben die Theorien, nicht die reinen
Zahlen sind die Quintessenz aller Naturerkenntnis. Die unbewußte
Sehnsucht jeder echten Wissenschaft, die -- es sei noch einmal gesagt
-- lediglich im Geiste von Kulturmenschen existiert, richtet sich
auf das Begreifen, das Durchdringen und Umfassen des naturhaften
Weltganzen, nicht auf die messende Tätigkeit an sich, die immer nur
eine Freude unbedeutender Köpfe gewesen ist. Zahlen sollten stets nur
der Schlüssel zum Geheimnis sein. Um der Zahlen selbst willen hätte
kein bedeutender Mensch jemals Opfer gebracht.

Zwar sagt Kant an einer bekannten Stelle: „Ich behaupte, daß in jeder
besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen
werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.“ Gemeint ist die
reine Grenzsetzung in der Sphäre des Gewordnen, insofern sie als
Gesetz, Formel, Zahl, System erscheint, aber ein Gesetz ohne Worte,
eine Zahlenreihe als bloße Ablesung der Angaben von Meßinstrumenten
ist ohne Sinn, ist als geistiger Akt in vollkommener Reinheit nicht
einmal vollziehbar. Jedes Experiment, jede Beobachtung wächst aus einer
mehr als mathematischen Gesamtanschauung hervor. Jede Erfahrung ist,
sie mag sonst sein was sie will, auch ein schöpferischer Akt. Alle
benannten Gesetze sind belebte, durchseelte Ordnungen, vom innersten
Gehalte einer und nur einer Kultur erfüllt. Will man von Notwendigkeit
reden, da sie eine Forderung aller exakten Forschung ist, so liegt eine
doppelte vor: eine Notwendigkeit im Seelischen und Schöpferischen,
insofern aller symbolische Gehalt, jede Wissenschaft als historische
Erscheinung ein +Schicksal+ ist, und eine Notwendigkeit im
Gewordnen, für die uns Westeuropäern der Name +Kausalität+
geläufig ist. Mögen die reinen Zahlen einer physikalischen Formel eine
logische Notwendigkeit darstellen, das Vorhandensein, die Entstehung,
die Lebensdauer einer Theorie ist ein Schicksal.

Jede Tatsache, selbst die einfachste, enthält bereits eine Theorie.
Eine Tatsache ist ein Vorgang des wachen Bewußtseins, und alles
hängt davon ab, ob es ein Mensch der Antike oder des Abendlandes,
der Gotik oder des Barock ist, für den sie „vorliegt“. Der Physiker
von heute vergißt zu leicht, daß schon Worte wie Größe, Lage,
Prozeß, Zustandsänderung, Körper spezifisch abendländische Bilder
darstellen, die dem antiken oder arabischen Denken und Weltgefühl
gänzlich fremd sind, die aber den Charakter der wissenschaftlichen
Tatsachen als solcher, die Art des Erkanntwerdens vollkommen
beherrschen, ganz zu schweigen von komplexen Begriffen wie Arbeit,
Spannung, Wirkungsquantum, Wärmemenge, Wahrscheinlichkeit,[115]
welche jeder für sich eine physikalische Gesamtanschauung _in
nuce_ enthalten. Wir empfinden derartige gedankliche Bildungen
als Resultate einer vorurteilsfreien Forschung, unter Umständen als
endgültige. Ein feiner Kopf aus der Zeit des Archimedes würde nach
gründlichem Studium der modernen theoretischen Physik versichert
haben, es sei ihm unbegreiflich, wie jemand so willkürliche, groteske
und verworrene Vorstellungen als Wissenschaft und noch dazu als
notwendige Konsequenzen der vorliegenden Tatsachen ansprechen könne.
Wissenschaftlich gerechtfertigte Folgerungen seien vielmehr -- und er
würde seinerseits auf Grund derselben „Tatsachen“, der mit seinem Auge
gesehenen und in seinem Geiste gestalteten Tatsachen nämlich, Theorien
entwickelt haben, denen unsre Physiker mit erstauntem Lächeln zugehört
hätten.

Welches sind denn die Grundvorstellungen, die sich im Gesamtbilde
der heutigen Physik mit innerer Folgerichtigkeit entwickelt haben?
Polarisierte Lichtstrahlen, wandernde Ionen, die fliehenden und
geschleuderten Gasteilchen der kinetischen Gastheorie (die heute den
Schwerpunkt der mechanischen Naturanschauung darstellt), magnetische
Kraftfelder, elektrische Ströme und Wellen -- sind das nicht sämtlich
faustische Visionen, faustische Symbole von engster Verwandtschaft mit
der romanischen Ornamentik, der gotischen Tektonik, den Wikingerfahrten
in unbekannte Meere, der Sehnsucht des Kolumbus und Kopernikus nach
dem Unendlichen? Ist diese Formen- und Bilderwelt nicht in tiefster
Kongruenz mit den gleichzeitigen Künsten, der perspektivischen
Ölmalerei und der kontrapunktischen Instrumentalmusik erwachsen? Ist
das nicht unsre seelische Dynamik, der Wille zur Macht, der das eigne
innere Seinsgefühl visionär in das vorgestellte Leben der Umwelt
projiziert hat?


2

Und insofern behaupte ich, daß allem „Wissen“ von der Natur, auch
dem exaktesten, ein religiöser Glaube zugrunde liegt. Die reine
Mechanik, auf welche die Natur zurückzuführen die Physik als ihr
Endziel bezeichnet, ein Ziel, dem diese Bildersprache dient,
setzt ein Dogma voraus, durch welches sie geistiges Eigentum der
abendländischen Kulturmenschheit und nur dieser ist. Es gibt keine
Wissenschaft ohne unbewußte Voraussetzungen, über welche der Forscher
keine Macht besitzt, und zwar Voraussetzungen, welche sich bis in die
frühesten Tage der erwachenden Kultur zurückführen lassen. Es +gibt
keine Naturwissenschaft ohne eine voraufgegangene Religion+. In
diesem Punkte besteht kein Unterschied zwischen katholischer und
materialistischer Naturanschauung: sie sagen dasselbe mit andern
Worten. Auch die atheistische Wissenschaft hat Religion; die moderne
Mechanik ist Stück für Stück ein Abbild christlicher Dogmen.

Keine Wissenschaft ist +nur+ System, nur Gesetz, Zahl und
Ordnung; jede ist als historisches Phänomen ein lebendiger, in
denkenden Menschen sich verwirklichender, vom Schicksal einer Kultur
bestimmter Organismus. In der modernen Physik liegt nicht nur eine
logische, sondern auch eine historische Notwendigkeit. Sie ist nicht
nur Sache der Intelligenz, sondern auch der Rasse. Diese Notwendigkeit
im Werden und Vergehen, welche die individuelle Formensprache, das
spezifisch Faustische nach Gehalt und Bedeutung bestimmt, ist wohl zu
unterscheiden von der Gruppe unbedingter Verstandesbegriffe a priori,
die nach Kants Ansicht die bloße sinnliche Wahrnehmung zu einer
allgemeingültigen Erfahrung machen. Die Allgemeingültigkeit in diesem
Umfange, über alle einzelnen Kulturen hinaus, ist eine Illusion. Es
gibt gerade in diesen tiefsten Vorbedingungen der Naturerkenntnis
etwas, das der einzelnen Kultur als solcher zukommt. „Natur“ ist eine
Funktion der jeweiligen Kultur.

Ich betrachte demnach ein physikalisches Weltbild als die Nachwirkung,
den Ausdruck einer Religion, den zivilisiertesten, seelenlosesten
ohne Zweifel, den spätesten von allen, insofern die Frühzeit jeder
Kultur, die Dorik, das Zeitalter des Plotin und Origenes, die Gotik
von dieser kühlen, streng intellektuellen Fassung weit entfernt
ist und in der homerischen, der frühchristlich-orientalischen,
der katholisch-germanischen Weltidee das ausgebildet hat, dessen
letzte Gestalt in der abstrakten Formenwelt der jeweiligen
naturwissenschaftlichen Systeme erscheint. Jede Physik -- das Wort in
einem freiem Sinne genommen -- setzt nicht nur eine bestimmte Religion
voraus, sie ist in jedem Zuge von ihr abhängig und bedingt; sie ist ihr
letztes Lebenszeichen.

Das Vorurteil des auf die Höhe der Ionik und des Barock gelangten
städtischen Menschen bringt das Phänomen der exakten Wissenschaft
in einen hochmütigen Gegensatz zur voraufgehenden Religion, als
die überlegene Stellung zu den Dingen, im Alleinbesitz der wahren
Erkenntnismethoden und am Ende berechtigt, die Religion selbst (ihre
„Vorstufe“) empirisch und psychologisch zu erklären, zu „überwinden“.
Nun zeigt die Geschichte, daß „Wissenschaft“ ein spätes und
vorübergehendes Phänomen ist, dem Herbst und Winter großer Kulturen
angehörend, im antiken, wie im indischen, chinesischen, arabischen
Seelentum von der Lebensdauer weniger Jahrhunderte, innerhalb deren
sich ihre Möglichkeiten erschöpfen. Die antike Wissenschaft ist
zwischen den Schlachten von Cannä und Actium erloschen. Danach
ist es möglich, das Ende der abendländischen Naturwissenschaft
vorauszuberechnen.

Nichts berechtigt dazu, dieser geistigen Formenwelt den Vorrang vor
andern zu geben. Jede Wissenschaft ruht wie jeder Mythus, jeder
religiöse Glaube überhaupt auf einer Innern Gewißheit; ihre Bildungen
sind von anderm Bau und Klang, ohne prinzipiell verschieden zu sein.
Alle Einwände, welche die Naturwissenschaft gegen die Religion richtet,
treffen sie selbst. Es ist ein großes Vorurteil, jemals an Stelle
„anthropomorpher“ Vorstellungen „die Wahrheit“ setzen zu können. Andre
als anthropomorphe Vorstellungen gibt es überhaupt nicht. „Der Mensch
schuf Gott nach seinem Bilde“ -- so gewiß das von jeder historischen
Religion gilt, so gewiß gilt es von jeder physikalischen, vermeintlich
noch so gut begründeten Theorie. Eine jede ist selbst Mythus und
in jedem ihrer Züge anthropomorph präformiert. Es gibt keine reine
Naturwissenschaft, es gibt nicht einmal +eine+ Naturwissenschaft,
die als allgemein menschlich bezeichnet werden könnte.

Jede Kultur hat sich eine eigne gebildet, die für sie allein wahr
ist und es nur so lange bleibt, als die Kultur lebendig und im
Verwirklichen ihrer innern Möglichkeiten begriffen ist. Ist eine
Kultur zu Ende und damit das schöpferische Element, die Bildkraft,
die Symbolik erloschen, so bleiben „leere“ Formeln, Gerippe von
toten Systemen übrig, die ganz buchstäblich als sinnlos und wertlos
empfunden, mechanisch beibehalten oder verachtet und vergessen werden.
Man denke an die Wissenschaften des spätesten Altertums. Zahlen,
Formeln, Gesetze +bedeuten+ nichts, +sind+ nichts. Sie müssen
einen Leib haben, den ihnen ein +lebendes+ Menschentum verleiht,
indem es in ihnen und durch sie lebt, sich zum Ausdruck bringt, sie
innerlich in Besitz nimmt. Und deshalb gibt es keine absolute Physik,
nur einzelne, auftauchende und schwindende Physiken innerhalb einzelner
Kulturen.

Physik ist die intellektuelle Formulierung des Naturgefühls, das
jeder Kulturmensch besitzt. Ein Naturgefühl -- das hatten wir den
Griechen abgestritten, weil das ihre so anders geartet war, daß wir
es als solches nicht erkannten. Unser Naturgefühl, in Malerei, Musik
und Lyrik immer wieder ausgesprochen, eine mächtige Leidenschaft
für Fernen und Horizonte und nur insofern für Landschaften, Himmel,
Wolken, Wälder, Gebirge, Meere, als sie Träger und Ausdruck eines
Unendlichen sind, ist der strenge Gegensatz zum antiken, das sich an
schöne nackte Einzelformen, an das Nahe, Greifbare, Gegenwärtige hält
und gerade darum das Auge vor dem Grenzenlosen der freien Landschaft
verschließt. Die „Natur“ des antiken Menschen fand ihr höchstes Symbol
in der nackten menschlichen Statue, nicht im Landschaftsgemälde; aus
ihr erwuchs folgerichtig die +mechanische Statik+, die Physik der
Nähe; aus der unsren die +mechanische Dynamik+, die Physik der
Ferne: zur apollinischen Natur gehören die Vorstellungen von Stoff und
Form und die Entelechie des Aristoteles, zur faustischen die Bilder der
Fernkräfte, der Kraftfelder, des Potentials.

Die Grundworte der antiken Naturphilosophie, ἄπειρον, ἀρχή, μορφή,
ὕλη u. a. sind sämtlich in abendländischen Sprachen unübersetzbar und
darum geistig nicht genau nachzuerleben. Wir haben ganz andre Worte,
in deren elementarem Gehalt unser Weltgefühl kristallisiert, und
mithin eine ganz andre „Natur“. Das πάντα ῥεῖ Heraklits (wobei man an
den Leib eines Tanzenden denken sollte, dessen Erscheinung „im Fluß“
ist) mit Bewegung, die ἀρχή mit Urstoff oder Ursprung übersetzen heißt
das wirklich Apollinische daraus beseitigen und den leeren Rest, das
Wort, mit einem fremden, abendländischen Sinn ausfüllen. Man denke
über den Unterschied des πάντα ῥεῖ eines antiken Grundgefühls, vom
„Prozeß“ (von _procedere_, vorschreiten) unserer Dynamik nach.
Die antike Ethik ging auf eine vollkommene Haltung, die faustische
auf Tat, intellektualisiert als „Fortschritt“, materialisiert als
Arbeit, öffentlich geworden als Sozialismus. Das kehrt hier im
physikalischen Bilde wieder. Unsre Idee der Bewegung hat eine Tendenz,
eine Richtung zum Unendlichen, ein Ziel; der antike Sinn der Bewegung
ist lediglich ἀλλοίωσις, Veränderung. Unser Lebensgefühl hat den
Willen zur Macht, ein Extrem von Aktivität, zum Mittelpunkt. Das ist
der Sinn der Gottesidee von den Tagen der Gotik an, im Gegensatz
zum Gotte des arabischen Christentums. Das mußte mithin der Ausgang
aller physikalischen Theorie werden. Wie Schicksal zur Kausalität,
wie Organisches zum Mechanischen, so verhält sich das Machtgefühl der
faustischen Seele, ihr Wille, ihr Gott, zum +Kraftbegriff ihrer
Physik+, den sie als +ihr+ Symbol geschaffen hat und der mit
ihr erlöschen wird.

Man hatte den historischen Zusammenhang bisher so formuliert, daß „bei
den Griechen“ sich die Anfänge der wissenschaftlichen Physik fänden,
daß „im Mittelalter“ alles verschüttet gewesen sei und nur die Araber
einiges für die Chemie getan hätten, bis „in der Neuzeit“ endlich ein
Wiedererwachen des wissenschaftlichen Geistes erfolgte.

In der Tat hatte der antike Geist seine äußere Welt in einer Statik
greifbarer Körper geordnet. Das war die +Physik als Plastik+.
Der arabische Geist suchte in seiner Welt, wie sie dem Isis- und
Mithrasglauben, dem Neuplatonismus und der Gnosis, dem frühen
Christentum der Apokalypse, des Origenes und des Konzils von Nicäa
zugrunde liegt, die magische Substanz dieser Körper zu ergründen
und der „Stein der Weisen“ war ein Jahrtausend hindurch das Symbol
einer ganz anders gearteten, aber in sich geschlossenen und durchaus
folgerichtigen Naturwissenschaft. Die euklidische Geometrie verhält
sich zur arabischen Algebra wie die Physik, für welche Empedokles
seine berühmten vier Elemente aufstellte, die nichts andres waren
als die vier möglichen, sichtbaren, greifbaren, rein gegenwärtigen
Zustände von Einzeldingen,[116] zur Alchymie der orientalischen
Landschaft, die demgegenüber das Bild des +chemischen+ Elementes
schuf, jene Art magischer Stoffe, die aus den Dingen erscheinen und
wieder in ihnen verschwinden, die sogar den Einflüssen der Gestirne
unterliegen. Die Alchymie enthält den tiefen wissenschaftlichen Zweifel
an der plastischen Wirklichkeit der Dinge, der σώματα griechischer
Mathematiker, Physiker und Dichter, die sie auflöst, zerstört, um das
Geheimnis ihres Wesens zu finden. Ein tiefer Unglaube an die Gestalt,
in welcher die Natur erscheint, die Gestalt, welche den Griechen
Inbegriff aller Wirklichkeit war, offenbart sich. Der Streit um die
Person Christi auf allen frühen Konzilen, der zu den arianischen
und monophysitischen Spaltungen führte, ist ein +alchymistisches
Problem+. Es wäre keinem antiken Physiker eingefallen, die Dinge zu
erforschen, indem er ihre anschauliche Form verneinte oder vernichtete.
Es gibt deshalb keine antike Chemie, so wenig es eine antike Theorie
über das Göttliche in der substantiellen Erscheinung des Apollo oder
der Aphrodite gab.

Die chemische Methode ist das Zeichen eines neuen Weltgefühls.
Ihre Erfindung knüpft sich an den Namen jenes rätselhaften Hermes
Trismegistos, der in Alexandria +gleichzeitig mit Plotin und
Diophant+, dem Begründer der Algebra, gelebt hat. Mit einem Schlage
ist die mechanische Statik, die apollinische Naturwissenschaft zu
Ende. Und wieder gleichzeitig mit der endgültigen Emanzipation der
faustischen Mathematik durch Newton und Leibniz befreite sich auch
die abendländische Chemie von ihrer arabischen, magischen Form durch
Stahl (1660-1734) und dessen Phlogistontheorie. Die eine wie die andre
wird reine Analysis. Schon Paracelsus (1493-1541) hatte die magische
Tendenz, Gold zu machen, in eine arzneiwissenschaftliche umgewandelt.
Man spürt darin ein verändertes Weltgefühl. Robert Boyle (1626-1691)
hat dann die analytische Methode und damit den westeuropäischen Begriff
des Elements geschaffen. Aber man täusche sich darüber nicht: Was man
die Begründung der modernen Chemie nennt, deren Epochen durch die
Namen Stahl und Lavoisier bezeichnet werden, ist nichts weniger als
eine Ausbildung chemischer Gedanken, sofern man darunter arabische,
alchymistische Naturanschauungen versteht. Sie ist das +Ende+
der eigentlichen Chemie, ihre Auflösung in das umfassende System der
Dynamik, ihre Einordnung in diejenige mechanische Naturanschauung,
welche das Barock durch Galilei und Newton begründet hatte. Die
Elemente des Empedokles bezeichnen ein äußeres Sichverhalten, die
Elemente der Akademie von Cordova ein geheimnisvolles Wunder, die
Elemente der Verbrennungstheorie Lavoisiers (1777), die der Entdeckung
des Sauerstoffs (1771) folgte, eine +dem menschlichen Willen
unterworfene+ Formeinheit. Durch unsere Analysen und Synthesen wird
die Natur nicht befragt oder überredet, sondern bezwungen. Die moderne
Chemie ist ein Kapitel der modernen +Physik der Tat+.

Was wir Statik, Chemie, Dynamik nennen, historische Bezeichnungen
ohne tieferen Sinn für die heutige Naturwissenschaft, sind die drei
physikalischen Systeme der apollinischen, magischen und faustischen
Seele, jedes in seiner Kultur erwachsen, jedes in seiner Geltung
auf eine Kultur beschränkt. Dem entsprechen die Mathematiken der
euklidischen Geometrie, der Algebra, der Analysis und die Künste der
Statue, der Arabeske, der Fuge. Will man die drei Arten der Physik --
denen jede andre Kultur wieder eine andre zur Seite setzen könnte und
müßte -- ihrer Methode nach unterscheiden, so hat man eine mechanische
Ordnung von Zuständen, von geheimen Kräften, von Prozessen.


3

Nun hat die Tendenz des menschlichen Geistes, das Naturbild auf
möglichst einfache quantitative Formeinheiten zurückzuführen, welche
vergleichende Urteile, Messungen, Zählungen, kurz mechanische Wertungen
gestatten, in der antiken und abendländischen Physik jedesmal zu einer
Atomlehre geführt (von der höchst komplizierten arabischen, wie sie
einen Streitpunkt der Schulen von Bagdad und Basra bildete, soll hier
abgesehen werden). Der tiefsymbolische Unterschied beider Theorien ist
aber unbeachtet geblieben.

Die antiken Atome sind +Miniaturformen+, die abendländischen sind
+Minimalquanta+, d. h. dort ist die Anschaulichkeit, die Nähe
Grundbedingung des Bildes, hier ist sie es nicht. Die atomistischen
Vorstellungen der modernen Physik, zu denen auch die Elektronentheorie
und die Quantenhypothese der Thermodynamik gehören, setzen mehr und
mehr jene -- rein faustische -- +innere+ Anschauung voraus,
die auch auf manchen Gebieten der höheren Mathematik wie den
nichteuklidischen Geometrien oder der Gruppentheorie gefordert wird
und die dem Laien nicht zur Verfügung steht. In der Tat ist heute die
Atomvorstellung um so flacher und falscher, je populärer sie auftritt,
wie in den dilettantischen Büchern der Häckelschule, die vom Gehalte
moderner physikalischer Theorien nicht das mindeste begriffen hat. Ein
Quantum ist ein Ausgedehntes, abgesehen vom sinnlichen Augenschein,
eine Abstraktion, welche die Beziehung auf Auge und Tastgefühl meidet,
für die das Wort Gestalt keinen Sinn besitzt, eine Art Form also,
die einem Griechen, einem geborenen Plastiker, gar nicht vorstellbar
war. Der antike Physiker prüft das Aussehen, der abendländische die
Wirksamkeit dieser letzten Elemente des Gewordnen. Das bedeuten die
polaren Begriffe dort von +Stoff und Form+, hier von +Kapazität
und Intensität+.

Ich hatte hervorgehoben, daß Erkenntnis ein Gewordensein für den Geist
ist, daß ferner Erkennen sich als ein Begrenzen (Abgrenzen, Einfassen,
Einteilen) darstellt. Nun, die Begrenzung in einem bestimmten Sinne bis
zum äußersten getrieben führt immer und im Naturdenken +jeder+
Kultur auf „Atome“, ein _Non plus ultra_ der Begrenztheit, ihren
Inbegriff und ihr Optimum. Die Atome der Logik sind die Begriffe,
die Atome der Mathematik sind die Zahlen (Größen in der antiken,
Beziehungen in der abendländischen Mathematik).

Es folgt daraus, daß in diesen letzten Möglichkeiten sich die Symbolik
der einzelnen Kultur, des einzelnen Geistes mit voller Schärfe
herausstellt. Die Atome des Leukippos und Demokrit (σχήματα) sind
ausschließlich nach Gestalt und Größe verschieden, rein plastische
Einheiten und nur in diesem Sinne, wie der Name sagt, „unteilbar“.
Die Atome der Barockphysik, deren „Unteilbarkeit“ einen ganz andern,
höchst immateriellen Sinn angenommen hat, sind, was jeder philosophisch
geschulte Physiker zugeben wird, den Monaden Leibnizens wesensverwandt,
letzte, in infinitesimaler Weise theoretisch begrenzte +Einheiten von
Wirkung+, abstrakte Kraftpunkte also. Es ist gesagt worden, daß ein
Atom, wie es der moderne Physiker sich vorstellt, ein komplizierteres
Gebilde als eine Dynamomaschine ist.

Gäbe es eine literarisch und theoretisch entwickelte indische oder
ägyptische Physik, so würden sie mit Notwendigkeit einen ganz andern
Atomtypus hervorgebracht haben, dessen Geltung für sie allein zwingend
gewesen wäre.

Die Atome der Ionik und des Barock, der hellenistischen und der
heutigen westeuropäischen Physik unterscheiden sich wie Plastik und
Musik, wie die Kunst der extremen Körperlichkeit und der extremen
körperlosen Bewegtheit. Die Statue ist ganz Leib, Ruhe und Nähe,
die Fuge, wie das Wort verrät, Flucht, Bewegtheit, Raum, Ferne. Der
apollinische Mensch empfand den Kosmos als den Inbegriff leibhafter,
mit dem Auge zu beherrschender Dinge -- ob in Ruhe oder Bewegung, eine
zweite Frage. Für das Weltsystem des faustischen Menschen aber ist
sie die erste und dann erst kommt die Frage, was bewegt wird. Deshalb
ist -- das muß mit Entschiedenheit festgestellt werden -- „Masse“ ein
spezifisch abendländischer Begriff, der erst +als Komplement zu
dem metaphysischen Hauptbegriff der Kraft+ entsteht. So oft der
Massebegriff seinen Inhalt geändert hat, es geschah immer nur, weil
der Kraftbegriff anders definiert worden war. Der Begriff des Äthers
verdankt seine Entstehung nur der modernen Energievorstellung. Masse
ist, was die Kraft zu ihrer Wirksamkeit -- logisch oder im Bilde --
braucht, während im πάντα ῥεῖ der Heraklit und den entsprechenden
andern Vorstellungen des antiken Weltgefühls das Substrat den
unbedingten Vorrang hat. Die Materie ist dem antiken Auge nicht Träger
der Bewegung, sondern die Bewegung eine Eigenschaft der Materie. Das
Primäre ist dort die +Form+, hier die +Kraft+. Ich erinnere
an den Gegensatz des apollinischen und faustischen Ursymbols, das dem
gesamten Makrokosmos zugrunde liegt: den Gegensatz von Körper und
unendlichem Raum. So gewiß der antike Mensch das „zwischen den Dingen“
als das Nichtseiende empfand, so gewiß liegt der modernen Physik das
Gefühl zugrunde, daß eben das greifbar Körperliche das Nichtseiende ist
und durch die Theorie aufgelöst, nicht bestätigt werden muß.

So wurde endlich die kinetische Gastheorie zum Schwerpunkt der
atomistischen Vorstellungen. Von ihr aus erfolgte die Anwendung
der dynamischen Atomistik, eine unvermerkte Annäherung an Leibniz,
auf die Gebiete der physikalischen Chemie, der strahlenden Wärme,
der Radioaktivität und endlich ihre Umgestaltung zur Ionen- und
Elektronentheorie.

+Es gibt einen Stoizismus und einen Sozialismus der Atome.+
Das ist die Definition der statisch-plastischen und der
dynamisch-kontrapunktischen Atomistik, die ihrer Verwandtschaft
zu den Gebilden der zugehörigen Ethik in jedem Gesetze, in jeder
Definition Rechnung trägt. Die Menge der verworrenen Atome, duldend,
vom Schicksal, vom blinden Zufall gestoßen -- wie Ödipus -- und im
Gegensatz dazu die als Einheit wirkenden Atomsysteme, aggressiv, den
Raum energetisch (als „Feld“) beherrschend, Widerstände überwindend
-- wie Macbeth --, aus diesem Grundgefühl sind beide mechanische
Naturbilder entstanden. Nach Leukippos fliegen die Atome „von selbst“
im Leeren herum; Demokrit statuiert lediglich Stoß und Gegenstoß als
Form der Ortsveränderung; Aristoteles erklärt die Einzelbewegungen
für zufällig; bei Empedokles findet sich die Bezeichnung Liebe und
Haß, bei Anaxagoras Zusammentreten und Auseinandertreten. Das alles
sind auch Elemente der antiken Tragik. So verhalten sich die Figuren
(σώματα) auf der Szene des attischen Theaters. Das sind +also
auch+ Daseinsformen der antiken Politik. Da finden wir diese
winzigen Städte, politische Atome, in langer Reihe auf Inseln und an
Küsten dahingelagert, jede eifersüchtig für sich bestehend und ewig
der Anlehnung bedürftig, abgeschlossen und launisch bis zur Karikatur,
von den planlosen, ordnungslosen Ereignissen der antiken Geschichte
hin und her gestoßen, heute gehoben, morgen vernichtet -- und ihnen
gegenüber die dynastischen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts,
politische Kraftfelder, von den Wirkungszentren der Kabinette und
großen Diplomaten aus weitschauend, planmäßig gelenkt und beherrscht.
Man versteht den Geist der antiken und abendländischen Geschichte nur
aus diesem Gegensatz zweier Seelen; man versteht auch das atomistische
Fundament beider Physiken nur aus diesem Vergleich. Galilei, der den
Kraftbegriff, und die Milesier, die den Begriff der ἀρχή konzipierten,
Demokrit und Leibniz, Archimedes und Helmholtz sind „Zeitgenossen“,
Glieder derselben geistigen Stufe verschiedener Kulturen.

Aber die innere Verwandtschaft und Atomistik und Ethik geht weiter. Ich
hatte gezeigt, wie die faustische Seele, deren Sein Überwindung des
Augenscheins, deren Gefühl Einsamkeit, deren Sehnsucht Unendlichkeit
ist, dies Bedürfnis nach Alleinsein, Ferne, Absonderung in all
ihre Wirklichkeiten legt, in all ihre öffentlichen, geistigen,
künstlerischen Formenwelten. Nietzsche hatte es das Pathos der Distanz
genannt, nicht ohne eine tiefe Einsicht durch eine falsche Anwendung
zu verderben. Das Pathos der Distanz ist gerade der Antike fremd,
in der alles Menschliche der Nähe, Anlehnung, Gemeinsamkeit bedarf.
Es unterscheidet den Geist des Barock von dem der Ionik, die Kultur
des _ancien régime_ von der des perikleischen Athen. Pathos
der Distanz ist in Shakespeare, in Rembrandt, in Bach, in Napoleon,
nicht in Sophokles, Phidias oder Alexander. Und dies Pathos, das den
heroischen Täter vom heroischen Dulder unterscheidet, erscheint im
Bilde der abendländischen Physik wieder: +als Spannung+. Das ist
es, was in der Anschauung Demokrits nicht enthalten war. Das Prinzip
von Stoß und Gegenstoß enthält die Negation einer raumbeherrschenden,
mit dem Raume identischen Kraft. Im Bilde der antiken Seele fehlt
dementsprechend das Element des Willens. Zwischen antiken Menschen,
Staaten, Weltanschauungen besteht keine innere Spannung, trotz
Zank, Neid und Haß, kein tiefes Bedürfnis nach Abstand, Alleinsein,
Überlegenheit -- folglich besteht sie auch nicht zwischen den Atomen
des antiken Kosmos. Das Prinzip der Spannung -- entwickelt in der
Potentialtheorie --, in antike Sprachen und also Gedanken vollkommen
unübertragbar, ist für die moderne Physik grundlegend geworden. Es
enthält eine Interpretation des Begriffs der Energie (des Willens zur
Macht im Weltall) und ist deshalb für uns ebenso notwendig als für
antike Menschen unmöglich.


4

Die Atomlehre ist demnach ein Dogma, keine Erfahrung. In sie hat
die Kultur, durch den Geist ihrer großen Physiker, ihr Wesen, sich
selbst gelegt. Daß es eine Ausgedehntheit an sich gibt, unabhängig vom
spezifischen Formgefühl des Erkennenden, ist eine Illusion. Man glaubt
das Leben ausschalten zu können; man vergißt, daß eine Erkenntnis nicht
nur ein Inhalt, sondern auch ein lebendiger Akt ist.

Die entscheidende Bedeutung des +Tiefenerlebnisses+, das mit dem
Erwachen einer Seele und also mit der Schöpfung der ihr zugehörigen
äußeren Welt identisch ist, war an einer früheren Stelle nachgewiesen
worden. Danach liegt in der bloßen Sinnesempfindung nur Länge und
Breite; durch den lebendigen, mit innerster Notwendigkeit sich
vollziehenden Akt der Deutung, der wie alles Lebendige Richtung,
Bewegtheit, Nichtumkehrbarkeit besitzt -- das Bewußtsein davon macht
den eigentlichen Gehalt des Wortes Zeit aus --, wird die +Tiefe+
hinzugefügt und somit die Wirklichkeit, die Welt geschaffen. Das Leben
selbst geht als dritte Dimension in das Erlebte ein. Der Doppelsinn des
Wortes Ferne, als Zukunft und als Horizont, verrät den tiefern Sinn
dieser Dimension, welche erst die Ausdehnung als solche hervorruft. Das
erstarrte Werden ist das Gewordene, das erstarrte Leben die Raumtiefe
des Erkannten. Descartes und Parmenides stimmen darin überein, daß
Denken und Sein (Ausdehnung) identisch sind. _Cogito, ergo sum_
ist lediglich eine Formulierung des Tiefenerlebnisses. Hier kommt das
Ursymbol der einzelnen Kultur zur Geltung. Die vollzogene Ausdehnung
ist danach im antiken Bewußtsein von sinnlicher, körperhafter
Gegenwart, im abendländischen von steigender räumlicher Transzendenz,
so daß nach und nach die ganz unsinnliche Polarität von Kapazität und
Intensität im Unterschied von der antik-optischen: Stoff und Form
herausgearbeitet wird.

Aber daraus folgt, daß innerhalb des Erkannten und Gewordenen die
lebendige Zeit nicht noch einmal erscheinen kann. Das Gewordene ist
ein Mechanismus, in anorganische Form verwandeltes Organische. Die
physikalische, gedachte, meßbare Zeit, eine bloße Dimension, ist ein
Mißgriff. Es fragt sich nur, ob er zu vermeiden ist oder nicht. Man
setze in irgendeinem physikalischen Gesetz dafür das Wort Schicksal ein
und man wird fühlen, daß innerhalb der reinen „Natur“ von Zeit nicht
die Rede ist. Die Formenwelt der Physik reicht genau so weit wie die
verwandten der Zahlen und der Begriffe, und wir hatten gesehen, daß,
trotz Kant, zwischen mathematischer Zahl und Zeit nicht die geringste,
wie immer geartete Beziehung besteht.

Und hier wird die Physik zum zweitenmal dogmatisch. In den Worten
Zeit und Schicksal ist für den, der sie instinktiv gebraucht, das
Leben selbst in seiner tiefsten Tiefe berührt, das +ganze+
Leben, das vom Erlebten nicht zu trennen ist. Die Physik aber, der
Verstand, +muß+ sie trennen. Das Erlebte an sich, losgelöst vom
lebendigen Akt des Betrachters, Objekt geworden, tot, anorganisch,
starr -- das ist jetzt die Natur als Mechanismus, das heißt als etwas
mathematisch zu Erschöpfendes. In diesem Sinne ist Naturerkenntnis eine
+messende+ Tätigkeit.

Folglich kennt sie die Zeit nur als Strecke; folglich ist sie
gezwungen, die Bewegung als eine mathematisch fixierbare Größe, als
Benennung zu den im Experiment gewonnenen und in Formeln niedergelegten
reinen Zahlen aufzufassen. „Die Physik ist die vollständige und
einfache Beschreibung der Bewegungen“ (Kirchhoff). Das ist immer ihre
Absicht gewesen. Aber eine Bewegung innerhalb der verstandesmäßig
aufgefaßten Natur ist nichts anderes als jenes metaphysische Etwas,
in dem das Erleben des Beobachters selbst, durch welches erst
das Bewußtsein eines kontinuierlichen Nacheinander entsteht, zum
Vorschein kommt. Der momentane Erkenntnisakt an sich bewirkt einen
zeitlosen und also bewegungsfremden Zustand. +Das+ bedeutet
„Gewordensein“. Aus der +organischen Reihe+ dieser Akte erst
ergibt sich die Impression einer Bewegung. Der Gehalt dieses Wortes
berührt den Physiker nicht als Intellekt, sondern als +ganzen+
Menschen, dessen ständige vitale Funktion nicht die „Natur“, sondern
die +ganze+ Welt ist. Dies ist die ewige Verlegenheit aller
Physik als des Ausdrucks einer Seele. Alle Physik ist Behandlung des
Bewegungsproblems, in dem das Problem des Lebens selbst liegt, nicht
als ob es eines Tages lösbar wäre, sondern obwohl es unlösbar ist.

Gesetzt, daß Naturerkenntnis eine feine Art Selbsterkenntnis ist --
die Natur als Bild, als Spiegel des Geistes verstanden --, so ist der
Versuch, das Bewegungsproblem zu lösen, der Versuch der Erkenntnis,
ihrem eigenen Geheimnis, ihrem Werden auf die Spur zu kommen.


5

Das vollkommene System der mechanischen Naturanschauung ist eben nicht
Physiognomik, sondern +System+, d. h. reine Ausgedehntheit,
logisch und zahlenmäßig geordnet, nichts Lebendiges, sondern etwas
Gewordenes und Totes. Dem widerspricht aber die Idee der Bewegung.
Sie stammt unmittelbar aus dem Lebensgefühl, sie ist Zeit, Richtung,
Schicksal, und so dringt sie als Fremdkörper in die Einheit eines
mechanischen Systems, dessen zeitlos starre Folgerichtigkeit sie
zerstört.

Die Bewegung gehört, wie das Wort sagt, in das Reich der lebendigen
Phänomene, der Gestalten, der Geschichte, nicht der begriffenen
anorganischen Natur. Sie ist ein Eindruck von unmittelbar innerer
Gewißheit des Gefühls, kein physikalischer Begriff, der jemals
erschöpfend definiert werden könnte. +Anschauen+ kann sich die
Bewegung; das war Goethes Art, die „lebendige Natur“ fühlend zu
erleben; gerade sie führte zu den Phänomenen des bewegten Daseins,
zur Physiognomik und blieb dem Bereich des Mathematischen vollkommen
fern. Die Folge ist sein Ausspruch: „Die Natur hat kein System, sie
hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer
nicht erkennbaren Grenze.“ Für den, der Natur nicht erlebt, sondern
erkennt, +hat+ sie aber System, ist sie System und nichts weiter,
und folglich Bewegung in ihr ein Widerspruch. Sie kann ihn durch eine
künstliche Formulierung zudecken, aber in den Grundbegriffen lebt er
fort.

Der Eindruck einer Bewegung folgt aus einem Kontinuum von
Vorstellungen, aber nicht insofern sie Vorgestelltes sind, sondern
indem sie eben jetzt vorgestellt werden. Eine Reihe von Erkenntnissen
als Einheit erleben setzt Gedächtnis voraus, und zwar historisches
Gedächtnis. Das ist kein ordnender, sondern ein lebendig schöpferischer
Akt, kein mechanischer, sondern ein organischer Zusammenhang.
Angenommen, wir hätten kein Gedächtnis, so daß jeder Moment für sich,
ohne Verknüpfung mit dem vorhergegangenen aufgenommen würde -- dann
würde uns das Weltbild der Geschichte und +also auch+ der Begriff
der Bewegung fehlen. Hier liegt die schwache Stelle der exakten
Wissenschaft von der Natur. Hier dringt die Historie in ihr Bild. Die
Bewegung ist nicht im Betrachteten, sondern im Betrachter, nicht im
Objekt der Physik, sondern im Physiker als historischer Person.

Weil es keine Physik gibt ohne eine Seele, deren +historischer
Ausdruck+ sie ist, ohne einen Menschen einer einzelnen Kultur,
der sie in sich und durch sie verwirklicht, deshalb ist eine reine,
der Form nach fehlerlose Physik unmöglich. Die Bewegung ist der
unvermeidliche Faktor, der sie notwendig zerstört. Die Gewohnheiten
unsres Denkens hindern uns, das einzusehen. Ich hatte gesagt, daß man
für Zeit das Wort Schicksal einsetzen solle, um sich bewußt zu werden,
daß die Physik mit dem wahren Gehalt des Wortes nichts zu schaffen
hat. Man sage gleichfalls für Bewegung eines physikalischen Systems
dessen +Älterwerden+ -- es altert wirklich, als Erlebnis eines
Beobachters nämlich, in dessen Geist seine ganze Realität enthalten
ist -- und man wird das Verhängnisvolle des Wortes Bewegung mit seinem
unzerstörbaren organischen Gehalt deutlich fühlen. Die Mechanik
sollte mit Altern und folglich mit Bewegung nichts zu tun haben.
Also -- denn ohne das zentrale Bewegungsproblem ist überhaupt keine
Naturwissenschaft denkbar -- kann es gar keine lückenlos geschlossene
Mechanik geben; irgendwo ist der organische Ausgangspunkt des Systems,
dort wo das unvermittelte Leben hereinragt -- die Nabelschnur, mit der
das Geisteskind am mütterlichen Leben, das Gedachte am Denkenden hängt.

Wir lernen hier die Entstehung der faustischen und apollinischen
Naturerkenntnis von einer ganz anderen Seite kennen. Es gibt keine
+reine+ Natur. Etwas vom Wesen der Historie liegt in jeder. Ist
der Mensch ahistorisch wie der Grieche, dessen gesamte Welteindrücke
in einer reinen, punktförmigen Gegenwart aufgesaugt werden, so
wird das Naturbild +statisch+, in jedem einzelnen Augenblick
in sich selbst abgeschlossen. In der griechischen Physik kommt
die Zeit als Größe ebensowenig vor wie im Entelechiebegriff des
Aristoteles. Ist der Mensch historisch fühlend, weil das Werden,
das den einzelnen Augenblick in eine Richtung, in Vergangenheit und
Zukunft auflöst, sich ins Licht des erkennenden Geistes drängt, so
entsteht ein +dynamisches+ Bild. Die Zahl, der Grenzwert des
Gewordnen, wird im ahistorischen Falle +Maß und Größe+, im
historischen +Funktion+. Man +mißt+ nur Gegenwärtiges und
man +verfolgt+ nur etwas, das Vergangenheit und Zukunft hat, in
seinem Verlauf. Dieser Unterschied ist es, der den innern Widerspruch
im Bewegungsproblem in der antiken Mechanik verdeckt, in der
abendländischen heraustreibt.

Die Geschichte ist ewiges Werden, +ewige Zukunft+ und Bewegtheit
also; die Natur ist geworden, also +ewige Vergangenheit+.
Folglich hat hier eine seltsame Umkehrung stattgefunden; die
Priorität des Werdens vor dem Gewordnen erscheint aufgehoben. Der aus
+seiner+ Sphäre, dem Gewordnen, rückschauende Geist kehrt den
Aspekt des Lebens um; aus der +Idee des Schicksals+, die Ziel
und Zukunft in sich hat, wird das mechanisch-extensive +Prinzip von
Ursache und Wirkung+, dessen Schwerpunkt im Vergangenen liegt.
Der Geist vertauscht dem Range nach das Leben (Zeit) und das Erlebte
(Raum) und versetzt die Zeit als Strecke in ein räumliches Weltsystem.
Er hat hier die ungeheuerste Verkehrung im wachen Bewußtsein
vollzogen: während aus der Richtung die Ausdehnung, aus dem Leben das
Räumliche als Erlebnis, weltbildendes Erlebnis folgt, setzt er den
schematisierten „Lebensprozeß“ +in seinen starren, vorgestellten Raum
hinein+ -- +das ist+ physikalische Bewegung, leblos, teilbar,
tot, den Regeln der Mathematik unterworfen. Dem Leben ist der Raum
etwas, das als Funktion zum Leben gehört, dem Geiste ist Leben etwas im
Raume. Goethes lebendige Anschauung +erlebt+ die Ausdehnung, die
Welt als ewig werdend, der geborne Physiker +erkennt+ das Leben
als mathematische Bewegung im Raume. Alles Mechanische, das heißt alles
Gedachte ist eine prinzipielle Umkehrung von Organischem. Schicksal
bedeutet ein Wohin, Kausalität bedeutet ein Woher. Künstlerische
Anschauung, Intuition besitzt die Notwendigkeit eines Schicksals.
Wissenschaftliches Denken ist, nicht als historisches Phänomen, sondern
inhaltlich von kausaler Notwendigkeit. Wissenschaftlich begründen
heißt vom Gewordnen und Verwirklichten aus nach „Gründen“ suchen,
indem man den mechanisch aufgefaßten „Weg“ -- das Werden als Strecke
-- rückwärts verfolgt. Aber es läßt sich nicht rückwärts leben, nur
rückwärts denken. Nicht die Zeit, nicht das Schicksal ist umkehrbar,
nur was der Physiker Zeit nennt, was er als teilbare, womöglich
negative oder imaginäre „Größe“ in seine Formeln eingehen läßt.
Insofern ist das Bewegungsproblem eine Umkehrung des Lebensgefühls und
als solche von vornherein unlösbar, wenn man unter Lösung die restlose
begrifflich-mathematische Formulierung versteht.

Die Verlegenheit ist immer wieder gefühlt, wenn auch ihrem Ursprung und
ihrer Notwendigkeit nach nie begriffen worden. Das dunkle Bewußtsein
der Naturerkenntnis, hier an einer Grenze ihrer Möglichkeit zu stehen,
sie vielmehr schon überschritten zu haben, war zu allen Zeiten
wach. Innerhalb der antiken Naturforschung stellten die Eleaten der
Notwendigkeit, die Natur in Bewegungen zu denken, die logische Einsicht
entgegen, daß Denken ein Sein, mithin Erkanntes und Ausgedehntes
identisch und also Erkenntnis und Werden unvereinbar seien. Ihre
Einwände sind nie widerlegt worden und unwiderlegbar, aber sie haben
die Entwicklung der antiken Physik, die als Ausdruck der apollinischen
Seele unentbehrlich und also über logische Widersprüche erhaben war,
nicht gehindert. Innerhalb der von Galilei und Newton begründeten
klassischen Mechanik des Barock ist eine einwandfreie Lösung in
dynamischem Sinne immer wieder versucht worden. Die Geschichte des
Kraftbegriffs, dessen immer neue Definitionen die Leidenschaft des
Denkens kennzeichnen, das durch diese Schwierigkeit sich selbst in
Frage gestellt sah, ist nichts als die Geschichte der Versuche, die
Bewegung mathematisch und begrifflich restlos zu fixieren. Der letzte
bedeutende Versuch, der wie alle früheren mit Notwendigkeit mißlang,
liegt in der Mechanik von H. Hertz vor.

Hertz hat, ohne die eigentliche Quelle aller Verlegenheit zu finden --
das ist noch keinem Physiker gelungen --, versucht, den Begriff der
Kraft ganz auszuschalten, mit dem richtigen Gefühl, daß der Fehler
aller mechanischen Systeme in einem der Grundbegriffe zu suchen sei. Er
wollte das Bild der Physik allein aus den Größen der Zeit, des Raumes
und der Masse aufbauen, aber er bemerkte nicht, daß eben die Zeit
selbst, die als Richtungsfaktor in den Begriff der Kraft eingegangen
ist, das organische Element war, ohne das eine dynamische Theorie sich
nicht aussprechen läßt und mit dem eine reine Lösung nicht gelingt.
Und abgesehen davon bilden die Begriffe Kraft, Masse und Bewegung eine
dogmatische Einheit. Sie bedingen einander so, daß die Anwendung des
einen die unvermerkte der beiden andern schon einschließt. Im πάντα
ῥεῖ Heraklits ist die ganze apollinische, im Kraftbegriff die ganze
abendländische Fassung des Bewegungsproblems enthalten. Der Begriff
der Masse ist nur das Komplement zum Kraftbegriff. Newton -- eine tief
religiöse Natur -- brachte lediglich das faustische Weltgefühl zum
Ausdruck, als er, um den Sinn der Worte Kraft und Bewegung verständlich
zu machen, von Massen als Angriffspunkten der Kraft und Trägern der
Bewegung sprach. So hatten die Mystiker des 13. Jahrhunderts Gott und
sein Verhältnis zur Welt aufgefaßt. Newton hatte mit seinem berühmten
„_hypotheses non fingo_“ das metaphysische Element abgelehnt,
aber seine Konzeption einer Mechanik ist durch und durch metaphysisch.
Die Kraft ist im mechanischen Naturbilde des abendländischen Menschen,
was der Wille in seinem Seelenbilde und die unendliche Gottheit in
seinem Weltbilde ist. Die Grundgedanken seiner Physik standen fest,
lange bevor der erste Physiker geboren wurde; sie lagen im frühesten
religiösen Weltbewußtsein dieser Kultur.


6

Damit offenbart sich nun auch der religiöse Gehalt des physikalischen
Begriffs der +Notwendigkeit+. Es handelt sich um die mechanische
Notwendigkeit in dem, was wir als Natur geistig besitzen, und man hat
nicht zu vergessen, daß dieser Notwendigkeit eine andre, organische,
schicksalhafte im Leben selbst zugrunde liegt. Die letzte gestaltet,
die erste schränkt ein; die eine folgt aus einer inneren Gewißheit,
die andere aus Beweisen: das ist der Unterschied von tragischer und
technischer, historischer und physikalischer Logik.

Innerhalb der von der Naturwissenschaft geforderten und vorausgesetzten
Notwendigkeit bestehen nun weitere Unterschiede, die sich bis jetzt
jeder Aufmerksamkeit entzogen haben. Es handelt sich hier um sehr
schwierige Einsichten von unabsehbarer Bedeutung. Eine Naturerkenntnis
ist die Funktion eines Verstandes von bestimmter Art, gleichviel
wie dieser Zusammenhang von der Philosophie definiert wird. Eine
Naturnotwendigkeit steht demnach in Beziehung zur Struktur des
+zugehörigen+ Geistes, in dessen Tätigkeit sie sich realisiert,
und hier beginnen die historisch-morphologischen Unterschiede. Man kann
eine strenge Notwendigkeit in der Natur erblicken, ohne daß sie sich in
Naturgesetze formulieren ließe. Das letzte, für uns selbstverständlich,
für Menschen andrer Kulturen indessen durchaus nicht, setzt eine ganz
besondere und für den faustischen Geist bezeichnende Form des Denkens
und mithin des Naturerkennens voraus. An sich liegt die Möglichkeit
vor, daß die mechanische Notwendigkeit eine Gestalt annimmt, in der
jeder einzelne Fall morphologisch für sich besteht, keiner sich exakt
wiederholt und Erkenntnisse also nicht als ständig gültige Formeln
erscheinen können. Es würde da die Natur in einem Bilde erscheinen,
das sich etwa nach Analogie unendlicher, aber nicht periodischer
Dezimalbrüche im Unterschiede von rein periodischen vorstellen
ließe. So empfand die Antike. Das Gefühl davon liegt schon ihren
physikalischen Urbegriffen zugrunde. Die Eigenbewegung der Atome bei
Demokrit z. B. erscheint so, daß ein gesetzmäßiger Bewegungstypus nicht
statuiert wird.

Naturgesetze sind Formen des Geistes, in welchen ein Inbegriff von
Fällen sich zu einer Einheit höheren Grades zusammenschließt. Aber
darin liegt Wille zur Macht; das ist faustisch: der Geist spricht
in diesen Formen seine Herrschaft über die Natur aus. Die Welt ist
+seine+ Vorstellung, eine Funktion des eignen Ich. Der antike
Mensch war, nach Protagoras, nur das Maß, nicht der Schöpfer der Dinge.

Hier zeigt sich, daß das Kausalitätsprinzip in der Form, wie sie für
uns selbstverständlich und notwendig ist, wie sie von der Mathematik,
Physik und Erkenntnistheorie übereinstimmend als Grundwahrheit
behandelt wird, ein abendländisches, genauer ein Barockphänomen
ist. Sie kann nicht bewiesen werden, denn jeder Beweis in einer
abendländischen Sprache und jede Erfahrung eines abendländischen
Menschen setzt sie schon voraus. Es ist kein Zweifel, daß im Begriff
der Kraft, der Funktion, des Natur+gesetzes+ überhaupt diese
besondere Art von Notwendigkeit schon enthalten ist. Die antike
Art, die Natur zu sehen -- das _alter ego_ der antiken Art zu
+sein+ --, enthält sie aber +nicht+, ohne daß dadurch eine
logische Schwäche in den naturwissenschaftlichen Feststellungen zum
Vorschein käme. Denkt man die Aussagen des Demokrit, Anaxagoras und
Aristoteles, in denen die ganze Summe antiker Naturanschauungen
enthalten ist, genau durch, prüft man vor allem den Gehalt von so
entscheidenden Begriffen wie ἀλλοίωσις, ἀνάγκη oder ἐντελέχεια, so
sieht man mit Erstaunen in ein völlig anders geartetes, in sich
geschlossenes und also für eine bestimmte Art Mensch unbedingt wahres
Weltbild, in dem von Kausalität in unserem Sinne nicht die Rede ist.
Der Alchimist der arabischen Kultur, der seine magischen Operationen
und Betrachtungen aus seinem Weltgefühl gleichfalls „exakt“ durchführt,
setzt ebenso eine immanente Notwendigkeit seines Universums voraus, die
von dynamischer Kausalität ganz und gar verschieden ist.

Es ist sehr schwierig, sich über diesen Punkt verständlich zu
machen. Vielleicht führt die Idee des Tragischen in das Wesen der
Unterschiede ein. Das Wort Schicksal bezeichnet ein Urgefühl von etwas
Unbeschreiblichem und Unfaßlichem in der Seele ganzer Kulturen, und
in jeder ein anderes. Wir sahen, wie es sich in der anekdotischen
Tragödie des Sophokles und der biographischen Tragödie Shakespeares
offenbart, im gesamten Stil des apollinischen und faustischen Daseins,
in der politischen und wirtschaftlichen Geschichte beider Kulturen und
der Art der Entwicklung, der Anlage, des Verlaufs ihrer Epochen. Die
Beziehung der jeweiligen Schicksalsidee zur antiken Kalokagathia und
zum nordischen Willen wurde nachgewiesen. So erscheint sie, vom Geiste
mechanisch gefaßt, ins Ausgedehnte, in die sinnliche Wirklichkeit
umgedeutet, als Logik des Gewordnen, als ordnendes Urprinzip im
Reiche der Zahlen, Dimensionen und Begriffe. Wie der tragische Stil
der attischen und nordischen Szene, wie aristotelische und kantische
Logik, so unterscheiden sich die antike und abendländische Art
der physikalischen Notwendigkeit. Die Kausalität, welche Kant als
die vornehmste Kategorie des Verstandes anerkannte und die +bei
Aristoteles fehlt+, gehört zur Dynamik. Eine Kausalkette ist
eine Art von erstarrtem biographischem Nacheinander, etwas, das man
jedenfalls als den Gegensatz zum Anekdotisch-Punktförmigen empfinden
wird. Die Anschauungen der materialistischen Geschichtsauffassung
lassen den Zusammenhang übersehen: nur eine +historisch+
empfindende Art Mensch konnte die Naturnotwendigkeit in dieser Form
eines +Verlaufs+ perzipieren. In der Statik und Alchimie, beide
als vollkommene Arten mechanischer Naturanschauung betrachtet, würde
dies dem dogmatischen Grundgefühl widersprechen. Der Neid der Götter,
der Geschlechterfluch, das blinde Fatum, das den Heros der attischen
Tragödie vernichtet, trifft auf eine momentane Situation, nicht auf
ein Ganzes von Leben und Tat. Es fehlt am „zureichenden Grunde“, und
das stimmt damit überein, daß es nicht +Kräfte+ sind, die hier an
einer Aufgabe scheitern. Kausalität und ἀνάγκη, beides Prinzipien des
logischen Zwanges, unterscheiden sich wie Tun und Leiden, wie die Zahl
als Funktion und die Zahl als Größe, wie kontrapunktische Musik und
attische Plastik.

Die Zahl als Funktion steht mit dem gedanklichen Prinzip von Ursache
und Wirkung in tiefer Beziehung. Beide sind Schöpfungen desselben
Geistes, Ausdrucksformen desselben Seelentums, bildende Grundlagen
derselben objektgewordnen Natur. In der Tat unterscheidet sich die
Physik Demokrits von der Newtons, indem die eine das optisch Gegebene,
die andere die sich aus ihm entwickelnden abstrakten Beziehungen zum
Ausgangspunkt wählt. Die eine ist populär im höchsten Grade; sie
bleibt bei der Oberfläche, dem Augenschein stehen; die andre ist
ebenso unpopulär, dem Handgreiflichen widerstrebend. Die „Tatsachen“
der apollinischen Naturerkenntnis sind +Dinge+, für sich
bestehende und sinnlich aufzufassende Einzelheiten; die „Tatsachen“ der
faustischen Naturerkenntnis sind +Beziehungen+, die dem Auge des
Laien überhaupt nicht zugänglich sind, die geistig erst erobert sein
wollen und endlich zu ihrer Mitteilung einer Geheimsprache bedürfen,
die nur dem +Kenner+ der Naturwissenschaft vollkommen verständlich
ist. Die antike Notwendigkeit liegt in den wechselnden Erscheinungen
der Einzeldinge unmittelbar zutage; das Kausalitätsprinzip waltet
jenseits der Dinge, indem es ihre sinnlich isolierte Tatsächlichkeit
abschwächt oder aufhebt. Man frage sich, welche Bedeutung sich unter
Voraussetzung der gesamten heutigen Theorie mit dem Worte „ein Magnet“
verbindet.

Das Prinzip der Erhaltung der Energie, das man seit seiner Formulierung
durch J. R. Mayer, Joule und Helmholtz in vollem Ernst als eine bloße
Denknotwendigkeit angesehen hat, ist in der Tat eine Umschreibung des
Kausalitätsprinzips -- der logischen Form des faustischen Weltgefühls
-- mittelst des physikalischen Begriffes der Kraft. Die Berufung
auf die Erfahrung und der Streit, ob eine Einsicht denknotwendig
oder empirisch, ob sie nach Kants Bezeichnung -- der sich über die
verschwimmende Grenze zwischen beiden sehr täuschte -- a priori oder
a posteriori gewiß sei, ist für die Form des abendländischen Denkens
charakteristisch. Nichts erscheint uns selbstverständlicher und
eindeutiger als die Erfahrung als Quelle der exakten Wissenschaft. Das
nur in Westeuropa zur vollen Meisterschaft ausgebildete Experiment ist
nichts als die systematische und erschöpfende Handhabung der Erfahrung.
Aber man hat nie bemerkt, daß in diesem höchst dogmatischen Begriff
das Dynamische, das Kausale, also ein ganz spezieller Naturaspekt
schon vorausgesetzt ist, daß Erfahrung für uns immer +kausale+
Erfahrung, Einsicht in +funktionale+ Zusammenhänge ist und
somit in diesem Sinne und dieser Art für das antike Naturgefühl gar
nicht existiert, mithin auch für das antike Denken eine unmögliche
Konzeption ist. Wenn wir uns weigern, die wissenschaftlichen Resultate
des Anaxagoras oder Demokrit als Resultate echter Erfahrungen
anzuerkennen, so heißt das nicht, daß diese antiken Menschen sich
auf die Interpretation ihrer Anschauungen nicht verstanden, daß
sie bloße Phantasien entworfen hätten, sondern daß wir in ihren
Verallgemeinerungen das kausale Element vermissen, das für uns den
Sinn des Wortes Erfahrung erst ausmacht. Offenbar hat man nie genügend
über die Exklusivität dieses rein faustischen Begriffes nachgedacht.
Nicht der an der Oberfläche liegende Gegensatz zum Glauben ist für ihn
bezeichnend. Die exakte sinnlich-geistige Erfahrung ist im Gegenteil
ihrer Struktur nach dem vollkommen kongruent, was tief religiöse
Naturen des Abendlandes, Pascal zum Beispiel, der Mathematiker und
Jansenist aus der +gleichen+ innern Notwendigkeit war, wohl
als Erfahrung des Herzens, als Erleuchtung in bedeutenden Momenten
ihres Daseins kennen gelernt haben. Erfahrung bezeichnet eine
+Aktivität+ des Geistes, die sich nicht auf die augenblicklichen
und rein gegenwärtigen Eindrücke beschränkt, sie als solche hinnimmt,
anerkennt, ordnet, sondern sie aufsucht und hervorruft, um sie in
ihrer sinnlichen Individualität zu überwinden, sie in eine grenzenlose
Einheit zu bringen, durch welche ihre handgreifliche Vereinzelung
aufgelöst wird. Was wir Erfahrung nennen, besitzt die Tendenz +vom
Einzelnen zum Unendlichen+. Diese Aktivität, die Willen, Energie,
ein Ziel, einen Machtanspruch in sich schließt, widerspricht dem
antiken Naturgefühl. Demokrit würde die „Anschauung“ der modernen
Mechanik, wonach Bewegungen als kontinuierliche Transformationsgruppen
in einer n-dimensionalen Punktmannigfaltigkeit erscheinen, nicht mehr
als Interpretation irgendeiner „Natur“ anerkannt haben. Anschauung
-- das war dem Griechen, dem Plastiker, das unmittelbare Erlebnis
des Auges. Uns ist sie etwa das, was der Kenner des Kontrapunktes
vor dem innern Blick sich geisterhaft und doch nicht ganz unsinnlich
entfalten sieht, wenn er eine Partitur liest. +Das+ bedeutet uns
„Erfahrung“. Deshalb besitzt der antike Mensch, für den im Augenschein
das ganze Wesen der Welt liegt, eine Physik von unbestreitbarer Logik
und Notwendigkeit des formalen Gehaltes, aber nach unserem Maßstabe
„ohne Erfahrung“, d. h. ohne die kausale, funktionale Zersetzung der
Einheit des Handgreiflichen. Unser Weg, Erfahrungen zu gewinnen, ist
für ihn der Weg, sie zu verlieren. Deshalb bleibt er der gewaltsamen
Methode des Experiments fern, das seinem Sinne nach dynamisch, nicht
statisch ist. (Das magische Experiment der Alchimie ist ein Typus
von ganz anderer Bedeutung; er setzt ein anderes Naturgefühl voraus
und ruft als Resultat eine andere intuitiv-geistige Vorstellungswelt
hervor.) Deshalb besaß man unter dem Namen einer Physik statt eines
mächtigen Systems erarbeiteter abstrakter Gesetze und Formeln,
das die sinnliche Gegebenheit vergewaltigt und unterwirft -- nur
dies Wissen ist Macht! --, eine Summe wohlgeordneter, durch Bilder
sinnlich verstärkter, nicht etwa aufgelöster Eindrücke, welche die
Natur in ihrem in sich vollendeten Dasein unberührt ließ. Unsre
exakte Naturwissenschaft ist imperativisch, die antike ist θεωρία im
buchstäblichen Sinne, passive Beschaulichkeit.


7

Es ist nun kein Zweifel mehr: die Identität der Physik mit der
Mathematik, der Religion, der großen Kunst ist in den letzten Gründen
der Form eine vollkommene. Ein tiefer Mathematiker -- nicht ein
meisterhafter Rechner, der mit dem alle Methoden beherrschenden
Experimentator und dem technischen Virtuosen des Orchesterklangs und
des Pinselstrichs auf einer Stufe steht, sondern einer, der den Geist
der Zahlen in sich lebendig fühlt -- begreift, daß er damit „Gott
kennt“. Pythagoras und Plato haben das so gut gewußt wie Pascal und
Leibniz. Terentius Varro in seinen Cäsar gewidmeten Untersuchungen
über die altrömische Religion unterscheidet mit römischer Prägnanz
die _theologia civilis_, die Summe des öffentlich anerkannten
Glaubens, von der _theologia mythica_, der Vorstellungswelt
der Dichter und Künstler, und der _theologia physica_, der
philosophischen Spekulation. Wendet man dies auf die faustische Kultur
an, so gehören zur ersten, was Thomas von Aquino und Luther, Calvin und
Ignaz von Loyola lehren, zur zweiten Dante und Goethe, zur dritten aber
die wissenschaftliche Physik selbst, soweit sie ihren Formeln Bilder
unterlegt.

Auch der Wilde und das Kind haben ein Gefühl für das „Andre“ in ihrer
Außenwelt, im höchsten Fall eine Ahnung von dem, was das Wort „Gott“ in
allen frühen Sprachen bezeichnet, also ein Bewußtsein von einer Natur,
+ihrer+ Natur, in der sie leben und weben, mit der sie eins sind,
die sie gleichzeitig bilden und von der sie gebildet werden. Aber mit
dem Erwachen einer Kultur erwachen die großen seelischen Formen. Jetzt
wächst das Gefühl von Gott zu einer großen Bestimmtheit auf, die einen
übermächtigen Ausdruck in Mythen, Bauten und Ideen sucht, und das wache
Bewußtsein prägt danach einen +Begriff+ von Gott. Aus dem einen
folgt das +Naturgefühl+, aus dem andern die +Naturerkenntnis+.

Seit den Tagen der Spätrenaissance wird die Vorstellung von Gott im
Geist aller bedeutenden Menschen der Idee des reinen, unendlichen
Raumes immer ähnlicher. Der Gott der Exercitia spiritualia des Ignaz
von Loyola ist auch der des großen Lutherliedes „Ein feste Burg“, der
Bachschen Kantaten, der heitren Hallenkirchen des Barock. Er ist nicht
mehr der +Vater+ des heiligen Franz von Assisi, wie die Maler
der Gotik, wie Giotto und Stephan Lochner ihn empfanden, leibhaft
gegenwärtig, sondern ein unpersönliches Prinzip, unvorstellbar,
ungreifbar, geheimnisvoll im Unendlichen wirkend. Jeder Rest von
Persönlichkeit löst sich in unanschaulicher Abstraktheit auf, eine Idee
von Gott, der zuletzt nur noch die Instrumentalmusik großen Stils
gewachsen ist, während die Malerei des 18. Jahrhunderts versagt und
demnach in den Hintergrund tritt. +Dies Gefühl von Gott+ hat das
naturwissenschaftliche Weltbild des Abendlandes, unsere Natur, unsere
„Erfahrung“ und mithin unsere Resultate und Hypothesen im Gegensatz
zu denen des antiken Menschen gestaltet. Die Kraft, welche die Masse
bewegt: das ist es, was Michelangelo an die Decke der sixtinischen
Kapelle gemalt hat, was seit dem Vorbilde von Il Gesù die Domfassaden
zu dem gewaltsamen Ausdruck bei Della Porta und Maderna und seit
Orlando Lasso den fugierten Stil zu den kolossalen Tonmassen der
Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts gesteigert hat, was als Weltgeschehen
in Shakespeares Tragödien die ins Unendliche erweiterte Szene füllt und
was endlich Galilei und Newton in Formeln und Begriffe gebannt haben.

Das Wort Gott klingt anders unter den Wölbungen gotischer Dome
und in den Klosterhöfen von Maulbronn und Sankt Gallen als in den
Basiliken Syriens und den Tempeln des republikanischen Rom. In dem
+Wälderhaften+ der Dome, der mächtigen Erhöhung des Mittelschiffes
über die Seitenschiffe gegenüber der flachgedeckten Basilika, von deren
Typus der abendländische Kirchenbau ausging, in der Verwandlung der
Säulen, die durch Basis und Kapitäl als abgeschlossene Einzeldinge in
den Raum gestellt wurden, zu Pfeilern und Pfeilerbündeln, die aus dem
Boden wachsen und deren Äste und Linien sich über dem Scheitel ins
Unendliche verlieren und verschlingen, während von den Riesenfenstern,
welche die Wand aufgelöst haben, ein ungewisses Licht durch den Raum
fließt, liegt die architektonische Verwirklichung eines Weltgefühls,
das im +Hochwald+ der nordischen Ebenen sein ursprünglichstes
Symbol gefunden hatte. Und zwar im Laubwalde mit dem geheimnisvollen
Gewirr seiner Äste und dem Raunen der ewig bewegten Blättermassen über
dem Haupte des Betrachters, hoch über der Erde, von der die Wipfel
durch den Stamm sich zu lösen versuchen. Man denke wieder an die
romanische Ornamentik und ihre tiefe Beziehung zum Sinn der Wälder.
Der unendliche, einsame, dämmernde Wald ist die geheime Sehnsucht
aller abendländischen Bauformen geblieben. Deshalb löst sich, sobald
die Formenenergie des Stils ermattet, in der späten Gotik (im
_style flamboyant_, in Troyes, im Prager Dom) ganz ebenso wie
im ausgehenden Barock die beherrschte abstrakte Liniensprache wieder
unmittelbar in naturalistisches Astwerk, Ranken, Zweige, Blätter auf.
Die Zypresse und Pinie wirken körperhaft, euklidisch; sie hätten
niemals Symbole des unendlichen Raumes werden können. Die Eiche,
Buche, Linde mit den irrenden Lichtflecken in ihren schattenerfüllten
Räumen wirken körperlos, grenzenlos, geistig. Der Stamm einer Zypresse
findet in der klaren Säule ihrer Nadelmasse den vollkommenen Abschluß
seiner senkrechten Tendenz, der einer Eiche wirkt wie ein unerfülltes
rastloses Streben über den Wipfel hinaus. In der Esche scheint der
Sieg der aufstrebenden Äste über den Zusammenhalt der Krone eben zu
gelingen. Ihr Anblick hat etwas Aufgelöstes, den Anschein einer freien
Verbreitung im Raum, und vielleicht wurde die Weltesche deshalb ein
Symbol der nordischen Mythologie. Das Waldesrauschen, dessen Zauber
kein antiker Dichter je empfunden hat, das jenseits der Möglichkeiten
des apollinischen Naturgefühls liegt, steht mit seiner geheimen Frage
nach dem Woher und Wohin, seinem Versinken des Augenblicks im Ewigen
in einer tiefen Beziehung zum Schicksal, zum Gefühl für Geschichte und
Dauer, zur faustischen schwermütig-sorgenvollen Richtung der Seele in
eine unendliche ferne Zukunft. Deshalb wurde die Orgel, deren tiefes
und helles Brausen unsere Kirchen füllt, deren Klang im Gegensatz zum
klaren, pastosen Ton der antiken Lyra und Flöte etwas Grenzenloses
und Ungemessenes besitzt, das Organ der abendländischen Andacht. Dom
und Orgel bilden eine symbolische Einheit wie Tempel und Statue. Die
Geschichte des Orgelbaus, eines der tiefsinnigsten und rührendsten
Kapitel der Musikgeschichte, ist eine Geschichte der Sehnsucht nach dem
Walde, nach der Sprache dieses eigentlichen Tempels der abendländischen
Gottesverehrung. Von dem Versklang Wolframs von Eschenbach bis zur
Musik des Tristan ist diese Sehnsucht unveränderlich fruchtbar
geblieben. Das Streben des Orchesterklanges im 18. Jahrhundert ging
unablässig dahin, dem Orgelklang immer verwandter zu werden. Das Wort
„schwebend“, sinnlos antiken Dingen gegenüber, ist gleich wichtig
in der Theorie der Musik, der Architektur, der Physik, der Dynamik
des Barock. Wenn man in einem hohen Walde mächtiger Stämme steht und
den Sturm über sich wühlen hört, begreift man plötzlich den Sinn des
Gedankens von der Kraft, welche die Masse bewegt.

So entsteht aus dem Urgefühl des bewußten Daseins eine immer
bestimmtere Vorstellung des göttlichen Prinzips. Erkenntnis ist
ein Gewordensein. Der Erkennende selbst aber empfängt durch das
Kontinuum der lebendigen Erkenntnisakte den Eindruck einer Bewegung
in der äußeren Natur. Er fühlt um sich ein schwer zu beschreibendes
+fremdes+ Leben unbekannter Mächte. Er führt den Ursprung dieser
Wirkungen auf _numina_ nach römischer Bezeichnungsweise zurück,
auf das „andre“, Nichteigne, insofern es ebenfalls Leben besitzt. Ein
_numen_ ist gestaltetes, durchseeltes Weltgefühl. Aus der Bewegung
entspringen also Religion und Physik. Sie enthalten die Deutung der
lebendigen und der toten Natur oder des Bildes der Umwelt durch die
Seele und durch den Verstand. Die „himmlischen Mächte“ sind zugleich
erster Gegenstand der Verehrung und der Forschung. Es gibt eine Lebens-
und eine wissenschaftliche Erfahrung.

Nun beachte man wohl, auf welche Weise das Bewußtsein der einzelnen
Kulturen die ursprünglichen _numina_ geistig verdichtet. Es belegt
sie mit bedeutungsvollen Worten, mit +Namen+, und bannt -- begreift,
begrenzt -- sie auf diese Art. Damit unterliegen sie der geistigen
Macht des Menschen, der den Namen in seiner Gewalt hat. Und es
war schon gesagt worden, daß die ganze Philosophie, die ganze
Naturwissenschaft, alles, was zum „Erkennen“ in irgendeiner Beziehung
steht, im tiefsten Grunde nichts ist als die unendlich verfeinerte
Art, +den Namenzauber des primitiven Menschen auf das „Fremde“
anzuwenden+. Das Aussprechen des richtigen Namens (in der Physik des
richtigen Begriffes) ist eine Beschwörung. So entstehen Gottheiten und
wissenschaftliche Grundbegriffe zuerst als Namen, die man anruft und
an die sich eine sinnlich immer bestimmtere Vorstellung knüpft. Aus
dem _numen_ wird ein _deus_, aus dem Begriff eine Theorie. Was für
ein befreiender Zauber liegt für die Mehrzahl der gelehrten Menschen
in der bloßen Nennung der Worte „Ding an sich“, „Atom“, „Energie“,
„Schwerkraft“, „Ursache“, „Entwicklung“! Es ist der gleiche, der
den latinischen Bauern bei den Worten Ceres, Consus, Janus, Vesta
ergriff.[117]

Indes, der Namenzauber tut mehr. Er hebt nicht nur heraus, grenzt
aus der Fülle bewegter Eindrücke ab, er macht auch das „Fremde“ der
Gestaltungskraft des eignen Ursymbols erreichbar. Aus Worten -- denn in
der Sprache liegt der +ganze+ Mensch -- werden Gottheiten, aber
was für Unterschiede! Antike Gottheiten als wohlunterschiedene σώματα,
klar umrissen, hell beleuchtet schon bei Homer. Indische Gottheiten,
unzählige ineinander verschwimmende, maßlose Wesen, vag, phantastisch
wie Wolken und Nebelfetzen. Abendländische Gottheiten auf dem Wege von
der Gotik zum Barock zu +einer+ unsichtbaren Macht sich einend.
Man achte wohl auf die Unterschiede des apollinischen und vedischen
Polytheismus. Von dort geht ein Weg zur euklidischen Körpergeometrie
und den Elementen des Empedokles, von hier zur Null, zum Nirwana, zur
Seelenwanderung. Aus dem Verhältnis des Olymps zur Atomistik Demokrits,
der katholischen Dogmatik zu Newton ermessen wir, was eine indische
Physik an Grundbegriffen hätte enthalten müssen.

Dem antiken Weltgefühl war, dem Tiefenerlebnis und dessen Symbolik
gemäß, der einzelne Körper +das+ Sein. Folgerichtig empfand man
dessen äußere +Gestalt+ als das Wesenhafte, als den eigentlichen
Sinn des Wortes „Sein“. Was nicht Gestalt hat, Gestalt ist, ist
überhaupt nicht. Von diesem Grundgefühl aus, das man sich nicht mächtig
genug denken kann, konzipierte der antike Geist als +Gegenbegriff+
(in der hier neu eingeführten Bedeutung) zur Gestalt das „andre“, die
Ungestalt, den Stoff, die ἀρχή oder ὕλη, das, was an sich kein Sein
besitzt und lediglich als Komplement zum wirklich Seienden für das
Weltgefühl eine ergänzende, sekundäre Notwendigkeit. Man begreift,
wie die antike Götterwelt sich bilden mußte. Sie ist neben dem
Menschen eine höhere Menschlichkeit; es sind vollkommener gestaltete
Körper, erhabenste Möglichkeiten leibhaft-gegenwärtiger Form -- im
Unwesentlichen, dem Stoffe nach, nicht unterschieden, mithin derselben
kosmischen und tragischen Notwendigkeit unterworfen.

Das faustische Weltgefühl aber erlebte die Tiefe anders. Hier erscheint
als Inbegriff des Seins der reine unendliche Raum. Er ist +das+
Sein schlechthin. Hier wirkt der sinnliche Empfindungsinhalt, der
mit einer höchst bezeichnenden Wendung, die ihm den Rang anweist,
das Raumerfüllende genannt wird, als Tatsache zweiter Ordnung und
im Hinblick auf den Akt der Naturerkenntnis als das Fragwürdige,
als Schein und Widerstand, der überwunden werden muß, wenn man als
Philosoph oder Physiker den eigentlichen Gehalt des Seins erschließen
will. Die abendländische Skepsis hat sich niemals gegen den Raum,
immer gegen die greifbaren Dinge gewandt. Raum ist der primäre Begriff
-- Kraft ist nur ein weniger abstrakter Ausdruck dafür -- und erst
als sein Gegenbegriff erscheint die Masse, das, was im Raume ist.
Sie ist logisch wie physikalisch von ihm abhängig. Der modernen
Konzeption einer elektrodynamischen Energie folgte notwendig die einer
zugehörigen Masse, des Lichtäthers. Eine Definition der Masse folgt
mit allen ihr zugeschriebenen Eigenschaften aus der einer Kraft,
nicht umgekehrt -- und zwar mit der Notwendigkeit eines Symbols.
-- Alle antiken Substanzbegriffe, sie mögen noch so individuell,
idealistisch oder realistisch gefaßt sein, bezeichnen +das zu
Gestaltende+, eine Negation also, die ihre näheren Bestimmungen in
jedem Falle aus dem Grundbegriff der Gestalt herübernehmen muß. Alle
abendländischen Substanzbegriffe bezeichnen +das zu Bewegende+,
ohne Zweifel ebenfalls eine Negation, aber die einer andern Einheit.
+Gestalt und Ungestalt, Kraft und Nichtkraft+ -- so wird die
dem Welteindruck beider Kulturen zugrunde liegende und seine Formen
restlos erschöpfende Polarität am deutlichsten wiederzugeben sein. Was
die vergleichende Philosophie bis jetzt ungenau und verwirrend mit
dem einen Worte Stoff wiedergab, bedeutet in einem Fall das Substrat
der Gestalt, im andern das der Kraft. Es gibt nichts Verschiedeneres.
Hier spricht das Gefühl von Gott, ein +Wertgefühl+. Die Gestalt,
die Kraft sind die Inkarnationen des Göttlichen im Weltbilde. Die
antike Gottheit ist höchste Gestalt, die faustische höchste Kraft. Das
„andre“ ist das Ungöttliche, dem die Würde des Seins vom Geiste nicht
zugesprochen werden kann. Ungöttlich ist dem apollinischen Weltgefühl
die gestaltlose Leere, das „zwischen den Körpern“, dem faustischen
+also+ das passive Einzelding.

So erfolgte aus der Idee des +einen+ unendlichen Raumes die
abendländische Vorstellung des +einen+ Gottes. Man begreift
nun den Ursprung von Monotheismus und Polytheismus. Gott -- das ist
für unser Gefühl der Raum, Kraft, Wille, Tat. Welt, als Gegensatz
zu ihm, ist also die Nichtkraft, die Masse, das Objekt. Man hat von
Dante bis Goethe tausendmal die Worte gewechselt und das Weltbild
religiös oder wissenschaftlich, intuitiv oder mechanistisch zu deuten
versucht; das Grundgefühl ist unverändert geblieben. Es gehört zu
den seelischen Bedingungen, über die niemand Gewalt hat. Es ist eine
Selbsttäuschung, wenn jemand sagt, er sei Atheist geworden, oder „zu
Gott zurückgekehrt“. Er verwechselt lediglich begriffliche Konventionen
der Oberfläche -- neue Namen -- mit dem Gehalt der Welteindrücke
selbst. Wer für Gott und Welt Wille und Vorstellung oder Kraft und
Stoff sagt, kennzeichnet damit nur seine bewußte Individualität, seinen
intellektuellen Geschmack, nicht seine Kultur. Wenn ein Darwinist oder
Positivist, Nietzsche einbegriffen, eine Ansicht über den Weltverlauf
ausdrücken will, so redet er davon, daß „die Natur“ dies so organisiert
hat, jenes so will, irgend etwas bezweckt, zuläßt, schafft. So hätte
kein Grieche gesprochen. So spricht die katholische Kirche, nur daß
sie das Wort Gott für Natur gebraucht und das Kausalitätsprinzip
vorsichtiger formuliert. Es ist dem heutigen Naturforscher so wenig wie
dem irgendeiner andern Kultur möglich, von dieser Disposition seines
produktiven Bewußtseins loszukommen. Seine Grundbegriffe, scheinbar
Resultate einer strengen und voraussetzungslosen Analyse, waren schon
in den Gottvorstellungen seiner Vorfahren enthalten.


8

Es ist ein wissenschaftliches Vorurteil, daß Mythen und
Göttervorstellungen eine Schöpfung des primitiven Menschen seien und
daß mit fortschreitender Kultur der Seele die mythenbildende Kraft
verloren gehe. Das Gegenteil ist der Fall. Wäre nicht die Morphologie
der Geschichte bis zum heutigen Tage ein unentdecktes Problem
geblieben, so hätte man längst die vermeintlich allgemein verbreitete
mythologische Produktivität auf einzelne Epochen beschränkt gefunden
und endlich begriffen, daß diese Kraft einer Seele, ihre Welt mit
Gestalten, Zügen und Symbolen, und zwar von einheitlichstem Charakter
zu erfüllen, +gerade+ den Frühzeiten der großen Kulturen angehört.
Jeder Mythus großen Stils steht am Anfang eines erwachenden Seelentums.
Er ist seine erste geistige Tat. Man findet ihn nur dort und nirgend
anders, dort aber auch mit Notwendigkeit. Die bedeutendsten Motive
der Edda sind genau gleichzeitig mit der romanischen Ornamentik und
der gotischen Bauweise entstanden. Der olympische Götterkreis, wie
wir ihn aus Homer kennen, entstand gleichzeitig mit dem frühdorischen
geometrischen Stil.

Ich setze voraus, daß das, was Urvölker wie die Germanen zur Zeit
Cäsars an religiösen Vorstellungen besitzen, noch kein höherer
Mythus, d. h. wohl eine Summe zerstreuter personifizierender Züge,
an Namen haftender Kulte, fragmentarischer Sagenbildungen, aber noch
keine Götter+ordnung+, kein mythischer +Organismus+, kein
geschlossener Sagenkreis von einheitlicher Physiognomie ist, so wenig
ich die vage Ornamentik dieser Stufe eine Kunst nenne. Übrigens sind
die größten Bedenken Symbolen und Sagen gegenüber angebracht, die
heute oder auch seit Jahrhunderten unter scheinbar primitiven Völkern
geläufig sind, nachdem seit Jahrtausenden keine Landschaft der Erde von
der Einwirkung fremder Hochkulturen ganz unberührt geblieben ist.

Es gibt deshalb so viele Formenwelten des Mythus, als es Kulturen,
als es Architekturen gibt. Was ihnen zeitlich vorausliegt, das Chaos
unfertiger Phantasiegebilde, in das die moderne Mythenforschung ohne
ein leitendes Prinzip sich verliert, kommt unter diesen Voraussetzungen
nicht in Betracht; andrerseits zählen Bildungen dazu, von denen es
noch niemand vermutet hat. In der homerischen Zeit, 1100-800, und der
entsprechenden ritterlich-germanischen, 900-1300 -- den +epischen+
Zeitaltern --, nicht früher, nicht später, sind die großen Sagenwelten
entstanden. Ihnen entspricht in Indien die vedische und in Ägypten
die Pyramidenzeit, man wird eines Tages entdecken, daß die ägyptische
Mythologie in der Tat gerade während der dritten und vierten Dynastie
zur +Tiefe+ herangereift ist.

Nur so ist der unermeßliche Reichtum religiös-intuitiver Schöpfungen zu
verstehen, der die drei Jahrhunderte der deutschen Kaiserzeit füllt. Es
ist die +faustische Mythologie+, die hier entstand. Man war bisher
blind für den Umfang und die Einheit dieser Formenwelt, weil religiöse
und gelehrte Vorurteile zu einer fragmentarischen Behandlung entweder
der katholischen oder der nordisch-heidnischen Bestandteile drängten.
Aber es besteht hier kein Unterschied. Der tiefe Bedeutungswandel
innerhalb der christlichen Vorstellungskreise ist als schöpferischer
Akt identisch mit der Zusammenfassung altheidnischer Kulte zu einem
Ganzen. Es gehören hierher die sämtlichen westeuropäischen Volkssagen,
die damals ihre symbolische Durchbildung erhalten haben, mögen sie auch
der Substanz nach viel früher entstanden und viel später noch an neue
äußere Erlebnisse angeknüpft und durch bewußtere Züge bereichert worden
sein. Es gehören dazu die großen in der Edda erhaltenen Göttersagen
und eine Anzahl Motive aus den Evangeliendichtungen gelehrter Mönche.
Dazu kommt die deutsche Heldensage des Siegfried-, Gudrun-, Dietrich-,
Wielandkreises mit ihrem Gipfel im Nibelungenlied und neben ihr die
ungeheuer reiche, aus altkeltischen Märchen abgeleitete und auf
französischem Boden eben damals vollendete Rittersage: vom König
Artus und der Tafelrunde, vom heiligen Gral, von Tristan, Parzeval
und Roland. Und endlich ist außer der unvermerkten, aber um so
tieferen psychologischen Umdeutung aller Züge der Passionsgeschichte
der ganze Reichtum der katholischen Heiligenlegenden hinzuzurechnen,
deren Blütezeit das 10. und 11. Jahrhundert füllt. Damals sind die
Marienleben, die Geschichten des hl. Rochus, Sebald, Severin, Franz,
Bernhard und der Odilia entstanden. Um 1250 wurde die Legenda aurea
verfaßt; es war die Blütezeit der höfischen Epik und der isländischen
Skaldenpoesie. Den großen Walhallgöttern im Norden entsprechen die
„vierzehn Nothelfer“, die gleichzeitig im südlichen Deutschland als
mythische Gruppe konzipiert worden sind. Auf altgermanischen Ideen,
welche Dante vielleicht während eines Aufenthaltes in Oxford kennen
lernte, beruhen die mächtigen Raumvisionen der Göttlichen Komödie, die
Ringe des Höllentrichters. Neben der Schilderung von Ragnarök, der
Götterdämmerung, in der Völuspa steht eine christliche Fassung in den
süddeutschen Muspilli.

Nichts ist für den letzten Sinn dieser religiösen Schöpfungen
bezeichnender als die Tatsache, daß die Götterwelt von Walhall nicht
altgermanischen Ursprungs ist und den Stämmen der Völkerwanderung
noch gar nicht bekannt war, sondern daß sie erst jetzt und mit einem
Schlage, aus innerster Notwendigkeit im Bewußtsein der auf dem Boden
des Abendlandes neu entstandenen Völker sich bildete, „gleichzeitig“
also mit der olympischen, die wir aus der homerischen Epik kennen und
die ebensowenig urhellenischer Herkunft ist. Die kretisch-mykenische
Menschheit, welche Namen ihre verschollenen Völker auch getragen
haben mögen, kann die olympischen Motive nicht gekannt haben. Das ist
psychologisch unmöglich. Und der kretisch-mykenischen Zeit entspricht
der religiösen Lage nach, als Vorstufe einer noch ungebornen Kultur,
die merowingisch-karolingische. Als die Araber um 730 mitten im
fränkischen Reich, an der Loire standen und Musa verkündete, er wolle
über die Pyrenäen und Alpen nach Rom ziehen und Mohameds Namen vor
dem Vatikan ausrufen lassen, war das Christentum des Westens dem
seelischen Gehalte, der Symbolik nach noch wenig vom Islam verschieden.
Man prüfe den Geist der fränkisch-langobardischen Kirchenkunst. Es
war noch derselbe Ausdruck des magischen Weltgefühls, wie er auf
den morgenländischen Konzilien der ersten Jahrhunderte zu Worte
gekommen war. So wenig damals die Welt von Walhall schon entstanden
und innerlich auch nur möglich war, so wenig war von dem späteren,
dem germanischen, dem faustischen Christentum schon vorhanden.
Erst das große Schisma offenbart nach dieser Seite hin das Dasein
einer jungen abendländischen neben einer alternden morgenländischen
Seele. Als Karl der Große, der Herrscher von „Frankistan“, seine
Palastkapelle zu Aachen baute, entstand aus antiken Säulen und
Bauteilen, die man von Italien bezog, eine Art Moschee. Das ist
ein welthistorisches Symbol. Das Aachener Münster wird immer das
merkwürdigste Beispiel einer Architektur +vor+ der Geburt eines
Stils bleiben. Es steht außerhalb aller Stile, weil es außerhalb aller
Kulturen steht. Aber dasselbe gilt von allem, was an christlichen und
heidnischen Gottvorstellungen damals wirkliches geistiges Eigentum des
westeuropäischen Menschen war.

Man hat die organische Einheit dieser faustischen Götter- und Sagenwelt
und ihre in allen Kreisen identische Symbolik bei weitem nicht genügend
beachtet. Siegfried, Baldur, Roland, der Heliand sind verschiedene
Namen für ein und dieselbe Gestalt. Walhall und die Gefilde der
Seligen Avalun, König Artus’ Tafelrunde und das Mahl der Einherier,
Maria, Frigga und Frau Holle bedeuten dasselbe. Demgegenüber ist die
äußere Abstammung der stofflichen Motive und Elemente, auf welche die
Mythenforschung ein Übermaß von Eifer verwendet hat, lediglich ein
Phänomen der historischen Oberfläche und ohne psychologische Bedeutung.
Für den +Sinn+ eines Mythus beweist die Herkunft +nichts+.
Das _numen_ selbst, die Urgestalt des Weltgefühls, ist reine
wahllose und unbewußte Schöpfung und unübertragbar. Was ein Volk
durch Bekehrung oder bewundernde Annahme von einem andern erhält,
ist Name, Kleid und Maske für ein eignes Gefühl, niemals ein Gefühl
selbst. Man hat die primitiven altkeltischen und altgermanischen
Mythenmotive so gut wie den Formenschatz des antiken und des
christlich-morgenländischen Glaubens als den Stoff zu betrachten, aus
dem die faustische Seele in diesen Jahrhunderten eine eigne mythische
Architektur erschuf. Es ist auf dieser Stufe eines eben erwachenden
Seelentums ganz belanglos, ob diejenigen, durch deren Geist und
Mund dieser Mythus ins Leben tritt, „einzelne“ Skalden, Missionäre,
Troubadours, fahrende Sänger, Priester oder „das Volk“ sind. Es
ist, wie man sieht, für die innere Selbständigkeit des Entstandenen
auch belanglos, daß die christlichen Kultelemente die Formgebung
entscheidend beherrscht haben.

Zu dieser Fülle von Mythen, die sämtlich das gleiche, das faustische
Weltbild beseelen, dieselbe faustische Natur, die so viel später das
Objekt der Dynamik und ihrer Theorien wurde und damit eine neue,
geistigere, bewußtere, aber nicht weniger mythische Fassung erhielt,
hat jede Landschaft beigesteuert, der Norden Walhall, der deutsche
Süden Siegfried und Etzel, England den König Artus, Frankreich
Parzeval, die Provence den Gral, Italien die Heiligenlegenden.

Bei allem Anschein eines farbig-sinnlichen Polytheismus aber, der eine
Fortsetzung des antiken vortäuscht und in der Tat das Auge immer wieder
verführt hat, hebt sich das Urgefühl des +einen+ unendlichen
Raumes heraus, eine mächtige Tendenz zur Ferne, eine Wendung an den
innern Blick, nicht den des Leibes, was weder die Rittersage noch die
Heldensage gänzlich verhehlt. Man vergesse nicht, daß das lateranische
Konzil von 1215 die +dogmatische+ Fassung des Weltgefühls
festlegte, dessen mythische Gestaltung in der +Gesamtheit+ dieser
Götter- und Heldenvorstellungen vorliegt.

Wir haben, jedesmal in der Frühzeit der antiken, arabischen,
abendländischen Kultur, einen Mythus statischen, magischen, dynamischen
Stils vor uns. Man prüfe jede Einzelheit der Form, wie dort eine
Haltung, hier eine Tat, dort die Geste, hier der Wille zugrunde liegen,
wie in der Antike das leibhaft Greifbare, das sinnlich Gesättigte
vorwaltet, das eben deshalb, was die Form der Verehrung anbelangt,
seinen Schwerpunkt in einem sinnlich eindrucksvollen +Kultus+
hat, während im Norden der Raum, die Kraft und mithin eine vorwiegend
+dogmatisch+ gefärbte Religiosität herrschen. Schon in diesen
frühesten Ansätzen läßt sich die Verwandtschaft des homerischen Mythus
zur Statue, des Eddamythus zur kontrapunktischen Musik bemerken. Man
hat wohl zwischen dem seiner selbst vollkommen sicheren +Gefühl+,
das sich in diesen mythischen Formen hervorwagt, und den oft sehr davon
verschiedenen Zügen, Gebräuchen und Bildern zu unterscheiden, welche
die junge Seele aus der Tradition älterer Kulturen herübernimmt, um für
ihre stammelnde Sehnsucht eine Sprache zu finden. Die antiken Kulte,
welche das Arabertum, und die Lehren der christlichen Kirche, welche
das germanische Abendland aufnahm, waren Maske und Stoff; das junge
Gefühl fügte sich in die alte Gestalt. Geradeso wurde die Basilika
zum Dom umgeschaffen. So hatte der antike Mensch kretisch-ägyptische,
phönikische und babylonische Motive in seine Ideen von Gott und seine
Kulte verwebt. Die Minos-, Herakles- und Dionysossage beweisen es.
So führt ein wesentlicher Teil der deutschen Volkssagen, selbst die,
welche im Volksempfinden am tiefsten wurzeln, auf antike Gestalten
zurück, als deren Vermittlerin vielfach die Kirche anzunehmen ist.

Es gab keinen altgermanischen Götterhimmel. Walhall ist eine unbewußte
Nachbildung des Olymp, aber hier ist alles ins Ungewisse, Schwebende,
ins Grenzenlose geweitet und liegt jenseits aller sinnlichen Plastik
und Gegenwart. Es gab auch keine allgemein germanischen Götter.
Jeder der wandernden Stämme hatte seine eignen, wenig bildhaften
Vorstellungen. Erst christliche Einwirkung hat den Gestalten Odins und
Baldurs, des Vaters und des Sohnes, ihre mythische Deutlichkeit und
Vertiefung gegeben.

Die arabische Seele hatte in den Jahrhunderten zwischen Cäsar und
Konstantin ihren Mythus ausgebildet, jene phantastische Masse von
Kulten, Visionen und Legenden, die noch heute kaum übersehbar ist,
Kulte wie die der Isis und des Mithras (der auf syrischem Boden völlig
umgeschaffen wurde), Evangelien und Apokalypsen in erstaunlicher
Zahl, die christlichen, neuplatonischen, manichäischen Legenden,
die himmlischen Engel- und Geisterordnungen der Kirchenväter und
Gnostiker. In der Christusgestalt der Evangelien sehen wir den Heros
der früharabischen Epik neben Achilleus, Siegfried und Parzeval. Die
Szenen von Gethsemane und Golgatha stehen neben den höchsten Momenten
der hellenischen und germanischen Sage. Diese magischen Konzeptionen
erwuchsen ohne Ausnahme unter dem Eindruck der sterbenden Antike, die
ihnen der Natur der Sache nach niemals den Gehalt, um so öfter die Form
lieh. Es ist kaum zu überschätzen, wieviel Apollinisches umgedeutet
werden mußte, bevor der altchristliche Mythus die feste Gestalt
angenommen hatte, die er zur Zeit des Augustinus besaß.

Dasselbe Schauspiel wiederholt die Gotik. Wäre in dieser Epoche das
magische Christentum nicht schon als fertige Formenwelt in das Fühlen
der jungen Seele gedrungen, so wäre ohne Zweifel ein völlig neuartiger
Mythus von strenger Einheit entstanden. Die gotische Architektur weist
auf die Möglichkeit einer faustischen Götterwelt von gigantischem
Wurf hin. Indessen wäre es verfehlt, die Edda als Zeichen für das zu
nehmen, +was+ sich unter Umständen damals hätte bilden können.
Dies Fragment einer nichtchristlichen abendländischen Religion ist
dem Christentum +nicht+ voraufgegangen. Das Christentum hat
+keine+ Götterwelt vernichtet; es hat deren Entstehung verhindert.
Es war da, bevor die Geburt eines spezifisch abendländischen Mythus
möglich und also notwendig geworden war. Die Gestalten der Edda sind
erst in seinem Schatten gereift. Das religiöse Empfinden war keineswegs
in dieser Richtung festgelegt. Tristan, Roland, Parzeval, christliche
Heroen, besitzen ebensoviel Symbolik und innere Wahrheit wie Siegfried,
Odin und Loki, die neben ihnen, nicht vor ihnen entstanden. Wenn die
Götter- und Heldensage eher unter antik-heidnischen Eindrücken Wesen
gewann, so wird die Rittersage in einem erheblich höheren Grade von
magischen, christlich-neuplatonischen und sogar islamischen Einflüssen
beherrscht. Es ist also keine Vermutung darüber möglich, welche Farbe
und Gestalt der faustische Mythus unabhängig vom Christentum angenommen
haben würde.


9

Der antike Polytheismus besitzt nach allem einen Charakter, der ihn von
jeder andern, äußerlich verwandten Fixierung eines Weltgefühls streng
abhebt. Diese Art, Götter, keine Gottheit zu besitzen, war nun einmal
da, eben in der einzigen Kultur, welche die Statue des nackten Menschen
als den Inbegriff aller Kunst empfand.

Die Natur, wie sie der antike Mensch um sich fühlte und erkannte,
konnte in keiner andern Form beseelt, vergöttlicht werden. Der
Römer fand in dem Anspruch Jehovas, allein zu existieren, etwas
Atheistisches. +Ein+ Gott war für ihn kein Gott. Von hierher
schreibt sich die starke Abneigung des gesamten griechisch-römischen
Volksbewußtseins gegen die Philosophen, soweit sie Pantheisten,
mithin gottlos waren. Götter sind σώματα der vollkommensten Art und
zum σῶμα im mathematischen wie im physikalischen, rechtlichen und
dichterischen Sprachgebrauch gehört die Vielzahl. Der Begriff des ζῷον
πολιτικόν gilt auch von Göttern; nichts ist ihnen so fremd wie die
Einsamkeit, das Allein- und Fürsichsein. Man muß hier mathematisch
und zwar antik-mathematisch denken, um zu begreifen. Es sei noch
einmal betont: die unzähligen, leibhaften, gegenwärtigen Götter der
antiken Natur -- das sind die zahllosen möglichen, wohl begrenzten
Körper der euklidischen Geometrie. Der +eine+ Gott des Abendlandes,
der die faustische Natur durchdringt, ist der +eine+ grenzenlose Raum
der analytischen Geometrie. Pythagoras, der in seiner religiösen
Reform den uralten Demeterkult zu Kroton wieder zu Ehren brachte und
in diesem Symbol die Heiligung des +Leibes+ aussprach, begründet
zugleich die Mathematik der Körper, die Idee der Zahl als +Größe+, als
+Maß+. Pascal, der in den _Pensées_ den strengsten Jansenismus, eine
reine transzendente Idee von Gott und der Erbsünde aufbaute, begründet
zugleich die Geometrie der reinen Beziehungen: die Projektionslehre.

Es ist von höchster Bedeutung, daß gerade in Hellas die Gestirngötter,
als _numina_ der Ferne, fehlen. Helios hatte nur auf dem
orientalisierten Rhodos, Selene überhaupt nie einen Kult. Beide sind
lediglich, wie schon in der höfischen Poesie Homers, künstlerische
Ausdrucksmittel, nach römischer Bezeichnung Elemente des _genus
mythicum_, nicht des _genus civile_. Sie besaßen weder Tempel
noch Statuen und das, obgleich in Ägypten (Ra) und Babylon (Marduk),
denen der Hellene so viel entlehnte, der Sonnen- und Gestirndienst
den Mittelpunkt des Kultus bildete. Die altrömische Religion, in der
das antike Weltgefühl in besonderer Reinheit zum Ausdruck kommt,
kennt weder Sonne noch Mond, weder Sturm noch Wolken als Gottheiten.
Waldesrauschen und Waldeinsamkeit, Gewitter und Meeresbrandung, die
das Naturgefühl des faustischen Menschen, schon das des Kelten und
Germanen, völlig beherrschen und seinen mythischen Schöpfungen den
eigentümlichen Charakter geben, lassen das des antiken Menschen
unberührt. Nur Konkreta, Herd und Tür, der +einzelne+ Wald und
das +einzelne+ Feld, dieser Fluß und jener Berg, verdichten
sich ihm zu Wesen. Man bemerkt, daß alles, was Ferne hat, alles, was
grenzenlos und unkörperlich wirkt und deshalb den Raum als seiend, als
göttlich in die gefühlte Natur ziehen würde, vom Mythus ausgeschlossen
bleibt, wie auch Wolken und Horizonte, die dem Landschaftsgemälde des
Barock geradezu Sinn und Seele geben, im antiken hintergrundlosen
Fresko fehlen. Die unbegrenzte Menge antiker Götter -- jeder Baum,
jede Quelle, jedes Haus, jeder Teil des Hauses sogar ist Gott --
bedeutet, daß jedes greifbare Ding, deren Summe eben Kosmos heißt,
zugleich für sich bestehendes Wesen, keines also dem andern funktional
untergeordnet ist. Die Idee der Moira bringt das selbst den höchsten
Göttern gegenüber zum Ausdruck. Nicht das Schicksal ist die Gottheit,
was die attische Tragödie mit unzweifelhafter Deutlichkeit erkennen
läßt. Da alles Gott ist, so ist das Schicksal die Notwendigkeit, der
ohne Ausnahme alle Götter unterliegen. Auch Zeus kann dem Verhängnis
nicht entrinnen, heißt es bei Äschylos. Man erinnere sich der Atome
Demokrits und der Ananke, die sie planlos durcheinanderwirbelt. Erst
aus diesem Urgefühl ist das Bild der Olympier entstanden, indem das
apollinische Bewußtsein aus der Unsumme von Göttern eine plastische
Gruppe von sinnlich scharf umrissener Individualität heraushob, während
das abendländische Gefühl den umgekehrten Weg ging und von der farbigen
Fülle des Mythus, wie ihn die Zeit der Kreuzzüge geschaffen hatte, zu
der strengen Abstraktheit der protestantischen und tridentinischen
Gottesvorstellung gelangte, die reine Kraft, reiner Wille ist und sich
jeder Möglichkeit malerischer Darstellung entzieht.

Dem apollinischen und dem faustischen Naturbilde liegen überall die
entgegengesetzten Symbole des Dinges und des Raumes zugrunde. Olymp
und Unterwelt sind von scharfer sinnlicher Bestimmtheit; die Reiche
der Zwerge, Elben, Kobolde, Walhall und Niflheim -- das alles ist
irgendwo im Weltraum verloren. In der altrömischen Religion ist
Tellus mater nicht die „Urmutter“, sondern der handgreifliche Acker
selbst. Faunus ist +der+ Wald, Volturnus +der+ Fluß, die
Saat +heißt+ Ceres, die Ernte +heißt+ Consus. _Sub Jove
frigido_ heißt bei Horaz echt römisch unter kaltem Himmel. Hier wird
nicht einmal der Versuch einer bildlichen Wiedergabe an der Stätte
der Verehrung gemacht, denn das hieße den Gott verdoppeln. Noch sehr
spät lehnt sich der römische Instinkt gegen +Götterbilder+ auf.
Daß dem Griechen ein entsprechendes Gefühl nicht fremd war, beweisen
der immer profaner werdenden Plastik gegenüber der Volksglaube und
die Philosophie. Im Hause ist Janus die Tür als Gott, Vesta der
Herd als Göttin; die beiden Funktionen des Hauses sind in ihrem
Gegenstand Wesen, Gott geworden. Hellenische Flußgötter wie Acheloos,
der als Stier erscheint, sind deutlich als der Fluß selbst, nicht
etwa als im Flusse wohnend bezeichnet. Die Pane und Satyrn sind die
als Wesen empfundenen einzelnen, wohlbegrenzten Felder und Triften.
Dryaden und Hamadryaden +sind+ Bäume. An vielen Stellen wurden
einzelne, besonders wohlgewachsene Bäume an sich, ohne Namengebung
verehrt, indem man sie mit Binden und Weihgeschenken schmückte (ein
Motiv der hellenistischen Landschaftsmalerei). Dagegen besitzen die
Mahre, Wichte, Zwerge, Hexen, Valkyren und die ihnen verwandten,
schweifenden Heere der abgeschiedenen Seelen, die nachts „umgehen“,
nichts von dieser ortsgebundenen Stofflichkeit. Najaden +sind+
Quellen. Nixen und Alrunen aber, Holzgeister und Elben sind Seelen,
die in Quellen, Bäume, Häuser nur +gebannt+ sind und erlöst sein,
wieder frei herumschweifen wollen. Das ist das vollkommene Gegenteil
einer plastischen, euklidischen Naturempfindung. Die Dinge werden
hier nur als Räume andrer Art erlebt. Eine Nymphe, eine Quelle also,
nimmt wohl menschliche Gestalt an, wenn sie einen schönen Hirten
besuchen will; eine Nixe aber ist eine verwunschene Prinzessin, mit
Wasserrosen im Haar, die in Mitternächten aus dem See steigt, in dessen
Tiefe sie wohnt. Kaiser Rotbart sitzt im Kyffhäuser und Frau Venus im
Hörselberg. Es ist, als ob es nichts Stoffliches, Undurchdringliches
im faustischen Weltall gäbe. In den Dingen ahnt man andre Welten; ihre
Dichte, ihre Härte ist Schein und -- ein Zug, der im antiken Mythus
gar nicht vorkommen könnte, der ihn aufheben würde -- bevorzugten
Sterblichen wird die Gabe verliehen, durch Felsen und Berge in die
Tiefe zu schauen. Aber ist das nicht auch die geheime Meinung unsrer
physikalischen Theorie? Ist eine neue Hypothese nicht immer eine Art
Springwurzel? Keine andre Kultur kennt so viele Sagen von Schätzen,
die tief in Bergen und Seen ruhen, von geheimnisvollen unterirdischen
Reichen, Palästen, Gärten, in denen andre Wesen wohnen. Die ganze
Substanz der sichtbaren Welt wird vom faustischen Naturgefühl
verleugnet. Es gibt nichts Erdhaftes mehr, nur der Raum ist wirklich.
Das Märchen löst die Materie der Natur auf, wie der gotische Stil die
steinerne Masse seiner Dome, die in einer Fülle von Formen und Linien
geisterhaft verschwebt, denen keine Schwere mehr anhaftet, die keine
Grenze mehr kennen.

All diese Geschöpfe sind durch einen +Namen+ gebannte, abgehobene,
gestaltete Mächte der Natur. Sie stellen dem Gläubigen, der sie als
gegenwärtig empfindet, deren Wesen dar; sie geben die Beziehungen
zwischen Natur und Mensch in ihrem freundlichen oder feindlichen
Verhältnis wieder. Was der unbewußte Mensch in der Natur verehrt,
zu erforschen, zu gewinnen sucht, das Fremde, erscheint in diesen
Gebilden leibhaft, göttlich vor seinem Auge. Aber vergessen wir nicht,
daß diese Natur selbst eine Schöpfung des höheren Menschen und die
Spiegelung seines Selbst ist, daß es eine Natur als geschautes Ganzes,
als Makrokosmos, als +Einheit+ des Ausdruckes nur in bezug auf
einen Kulturmenschen gibt, und daß weder der Wilde noch das Kind eine
sinnvolle, wohlgeordnete Natur in sich und um sich erleben, jede Kultur
aber ihre eigne.

Insofern sind diese Wesen vom Fleisch und Blut des Menschen, für den
sie Wirklichkeit besitzen, reine Schöpfungen seines Herzens, nicht
seines Verstandes, der erst in den Spätzeiten wie im Barock und
in der Ionik das wache Bewußtsein und dessen Projektionen auf das
„Fremde“ beherrscht. Der Mythus ist ein ländliches, die Physik +das
entsprechende städtische+ Phänomen. Sie verwandelt eine durchseelte
Welt in ein intellektuelles System, Symbole in Begriffe, Gottheiten in
Theorien, Ahnungen in Hypothesen.

Der mit steigendem Nachdruck auf somatische Vereinzelung gerichtete
antike Polytheismus verdeutlicht sich besonders in der Haltung „fremden
Göttern“ gegenüber. Für den antiken Menschen waren die Götter der
Ägypter, Phöniker, Germanen, soweit sich mit ihnen eine bildhafte
Vorstellung verbinden ließ, ebenfalls wirkliche Götter. Die Rede,
daß sie „nicht existierten“, hat innerhalb dieses Weltgefühls keinen
logischen Sinn. Der Grieche verehrt sie, wenn er mit ihrem Lande in
Berührung kommt. Die Götter sind wie eine Statue, eine Polis, ein
euklidischer Körper an den Ort gebunden. Sie sind Wesen der Nähe,
nicht des allgemeinen Raumes. So gut Zeus und Apollo zurücktreten,
wenn man sich etwa in Babylon aufhält, so gut hat man die dort
heimischen Götter nun +besonders+ zu achten. Diese Bedeutung
haben die Altäre mit der Aufschrift „Den unbekannten Göttern“ -- der
Paulus in der Apostelgeschichte eine so bezeichnend mißverständliche,
magisch-monotheistische Deutung gibt. Es sind die Götter, welche der
Grieche dem Namen nach nicht kennt, die aber von den Fremden in den
großen Häfen, im Piräus oder in Korinth etwa, verehrt werden und denen
er deshalb Achtung zollt. Mit klassischer Deutlichkeit offenbart dies
das römische Sakralrecht und die streng bewahrten Anrufungsformeln
z. B. der _generalis invocatio_. Da das Universum die Summe der
Dinge ist und Dinge Götter sind, so werden auch alle Götter als solche
anerkannt, mit denen der Römer praktisch-historisch noch nicht in
Beziehungen getreten ist. Er kennt sie nicht oder sie sind die Götter
seiner Feinde, aber sie +sind+ Götter, weil das Gegenteil nicht
vorstellbar ist. Das ist der Sinn jener sakralen Wendung bei Livius
(VIII, 9, 6): _di quibus est potestas nostrorum hostiumque_.
Das römische Volk gesteht, daß der Kreis +seiner+ Götter nur
augenblicklich begrenzt ist und will durch diese Formeln am Ende des
Gebets, nachdem die eigenen Götter mit Namen aufgezählt sind, den
Rechten der andern nicht zu nahe treten. Nach dem Sakralrecht geht
mit der Besitzergreifung fremden Landes die ganze Summe religiöser
Verpflichtungen, die an diesem Gebiete und dessen Gottheiten haftet,
auf die Stadt Rom über -- das ist die logische Konsequenz des
+additiven+ antiken Gottgefühls. Daß mit der Anerkennung der
Gottheit die der Formen ihres Kultus durchaus nicht gleichbedeutend
war, beweist der Fall der Magna Mater von Pessinus, die im zweiten
punischen Kriege auf Grund einer sibyllinischen Weissagung in Rom
rezipiert wurde, während ihr höchst unantik gefärbter Kultus -- der von
miteingewanderten Priestern aus ihrer Heimat ausgeübt wurde -- unter
strenger polizeilicher Aufsicht stand, und nicht nur römischen Bürgern,
sondern selbst deren Sklaven der Eintritt in die Priesterschaft bei
Strafe untersagt war. Mit der Aufnahme der Göttin war dem antiken
Weltgefühl Genüge getan, mit der persönlichen Ausübung ihres dem Römer
verächtlichen Kultus wäre es aber verletzt worden. Das Verhalten
des Senats ist in solchen Fällen entscheidend, während das Volk bei
der zunehmenden Vermischung mit östlichen, namentlich semitischen
Völkerschaften an diesen Kulten Geschmack fand und die römischen
Heere der Kaiserzeit infolge ihrer Zusammensetzung sogar einer der
wichtigsten Träger des magischen Weltgefühls geworden sind.

Von hier aus wird der Kult vergötterter Menschen als ein
+notwendiges+ Element innerhalb dieser religiösen Formenwelt
verständlich. Aber man hat scharf zwischen antiken und den
oberflächlich ähnlichen orientalischen Erscheinungen zu unterscheiden.
Der römische Kaiserkult, d. h. die Verehrung des Genius des lebenden
Prinzips und die der verstorbenen Vorgänger als Divi, ist bisher
mit der zeremoniellen Verehrung des Herrschers in vorderasiatischen
Reichen, vor allem in Persien,[118] und noch mehr mit der späteren ganz
anders gemeinten Vergötterung der Khalifen, die schon bei Diokletian
und Konstantin in voller Ausbildung erscheint, vermengt worden. In der
Tat handelt es sich hier um sehr verschiedene Dinge. Mag im Osten die
Verschmelzung dieser symbolischen Formen dreier Kulturen einen hohen
Grad erreicht haben, in Rom ist der antike Typus unzweideutig und rein
verwirklicht worden. Schon einige Griechen wie Sophokles und Lysander,
vor allem Alexander, wurden nicht nur von Schmeichlern als Götter
ausgerufen, sondern vom Volkstum in einem ganz bestimmten Sinne als
solche empfunden. Von der Göttlichkeit eines Dinges, eines Hains, einer
Quelle, endlich einer Statue, die den Gott repräsentiert -- man denke
an die tiefe Wirkung des Hermokopidenfrevels auf das athenische Volk
und auf den Ausgang des Peloponnesischen Krieges -- bis zu der eines
hervorragenden Menschen, der erst Heros und dann Gott wird, ist nur ein
Schritt. Man verehrte im einen wie im andern die vollkommene Gestalt,
in der die Weltsubstanz, das an sich Nichtgöttliche, sich verwirklicht
hatte. Hier ist an den attischen Begriff der Kalokagathia zu denken.
Die schöne, sichtbar vollendete Gestalt war das Göttliche, also war es
in der machtvollen Erscheinung des Cäsar für das Auge des Römers im
höchsten Maße unmittelbar gegenwärtig. Bestand in jedem Hause ein Kult
des _genius_, der Zeugungskraft des Hausherrn, so verehrte man
hier, im _genius principis_, die Lebenskraft der Stadt als eines
Gesamtkörpers. Eine Vorstufe war der Konsul am Tage seines Triumphes.
Er trug hier die Rüstung des kapitolinischen Juppiter, und in der
älteren Zeit waren Gesicht und Arme mit roter Farbe bestrichen, um die
Ähnlichkeit mit der Terrakottastatue des Gottes, dessen _numen_
sich in diesem Augenblick in ihm verkörperte, zu erhöhen.

Äußerst charakteristisch ist für das hier waltende Urgefühl der
bizarre Gegensatz zur Vergöttlichung des Cäsars (die im Grunde eine
Einbeziehung der Götter als Personen in die römische Menschheit
bedeutet); die im römischen Recht stets aufrecht erhaltene
+Strafbarkeit der Tiere+ (nicht ihrer Besitzer) für Vergehen,
welche bei Menschen strafbar sind. Als Körper, σώματα, gehören die
Tiere also ebenso wie die Götter der Gemeinschaft lebender Körper,
dargestellt im Staate, an. Man kann sagen, daß in dieser Skala der
Heros, der Cäsar als Übergang nach oben, der Sklave als der nach unten
empfunden wurde. Zwischen ihnen liegt der Bereich des ζῷον πολιτιχόν,
des eigentlichen antiken Menschen, der Rechte +und+ Pflichten
hat. Der Sklave hat keine +Rechte+ mehr. Er ist, griechisch
gesprochen, ἀπρόσωπος, keine Person, obwohl nicht ἀσώματος. Er besitzt
einen Leib, aber keine Bedeutung. Er ist nicht Bürger. Der Heros ist
es auch nicht mehr, aber insofern er über +Pflichten+ erhaben
ist. Hier liegen die Grenzen der Polis hinsichtlich der ihr aktiv
zugehörenden Körper (σώματα πόλεως). Erst so begreift man, was der
antike Mensch +Staat+ nennt. Folgerichtig ist -- was für die
Haltung der Christen wesentlich wurde -- das Majestätsverbrechen eine
Art Gottfrevel, das Verbrechen gegen den Sklaven eines andern eine Art
Sachbeschädigung.

+Der Kaiserkult ist die letzte religiöse Schöpfung des antiken
Volkstums+, soweit es nicht durch östliche Elemente in seinen
Instinkten gebrochen war. Man hat die Echtheit dieses Gottgefühls
sehr ernst zu nehmen. Daß die römischen Massen die Abstammung Julius
Cäsars, eines tiefen Skeptikers, von der Venus als etwas Wesentliches
empfanden, hat auf die Throngeschichte des julisch-claudischen Hauses
entscheidend eingewirkt. Der Kult des Genius Augusti mit einem streng
geregelten Opferdienst, während gleichzeitig der Princeps selbst
innerhalb der Mauern Roms beinahe das Dasein einer distinguierten
Privatperson führte, ist nur aus dem Weltgefühl der apollinischen
Seele zu begreifen. Sein intellektueller Gegensatz ist der
+gelehrte+, dem Gehalt nach durchaus irreligiöse Stoizismus als
die Weltanschauung der patrizischen Elemente, wie etwa jenes Scaevola,
der als höchster Priester Roms die Götterverehrung nur aus Gründen der
Staatsraison brauchbar befand. Hier steht Instinkt gegen Intellekt,
Glaube gegen Wissen, und zwar in politischer Verkleidung als Demokratie
und Aristokratie. Die beiden ewigen Inkarnationen des antiken Seins,
Athen und Sparta, Tyrannis und Oligarchie, Plebs und Senat, Cäsar und
Pompeius, Prinzipat und Republik, stehen hier zum letzten Male einander
gegenüber im Kult des Divus Julius und dem aus Opposition dagegen
gepflegten, von Lucanus in seiner Pharsalia angedeuteten Kult Catos,
des vornehmen Republikaners. Die gesamte blutige Geschichte der frühen
Kaiserzeit findet hier ihre Deutung. Man hat den Kult Cäsars von der
geflissentlichen Verehrung seines Mörders, des +Patriziers+ Brutus
oder der Catos wohl zu unterscheiden. Jener ist eine +Religion+,
die letzte der antiken Kultur, die damals starb; diese ist eine
theoretische, tendenziöse, nichts weniger als religiöse Schwärmerei
der gebildeten Kreise. Tacitus hat als ihr Mitglied, als verkappter
Stoiker, den Prinzipat der Cäsaren beurteilt. Je schärfer er richtet,
desto populärer war der Verurteilte. Nero ist der Abgott des Volkes auf
Generationen hinaus gewesen. Jeder Angriff auf den Princeps und seinen
Kult traf den religiösen Instinkt der Massen.

An früherer Stelle war das paulinische Christentum als die Herübernahme
einer früharabischen Religion in die antike Form der stoischen
Diatribe bezeichnet worden. Daraus erklärt sich das Phänomen der --
auf die Stadt Rom beschränkten -- Christenverfolgungen durch Nero
und Domitian. Sie richten sich in Wahrheit +gegen die Stoa+ als
den intellektuellen Ausgangspunkt aller Verschwörungen zum Sturz des
Prinzipates. +Weil+ Paulus das Christentum in den weltstädtischen
Stoizismus hineingeleitet hatte, der, allerdings in einer exklusiven,
katonischen Gestalt, die Weltanschauung des Patriziats geworden war,
weil seine Ablehnung des Divuskultes mit der aus ganz anderen Gründen
erfolgten der Senatspartei zusammenfiel, war das antike Empfinden des
Demos in der einzigen Form der Götterverehrung verletzt, die in ihm
noch lebendig war. Mochte Tacitus als Philosoph das Christentum mit den
übrigen orientalischen Kulten als _foeda superstitio_ verachten,
so sind doch die Philosophen Helvidius Priscus und Thrasea von Nero aus
dem gleichen Motiv wie die Christen hingerichtet worden.

In dem welthistorischen Worte: Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist und
Gott, was Gottes ist, das dem Christus der Evangelien in den Mund
gelegt ist, treten antikes und arabisches Gottbewußtsein in vollster
Schärfe und mit der Notwendigkeit gegenseitigen Mißverstehens einander
gegenüber. Ein Ausgleich zwischen dem streng euklidischen, beinahe
posthumen Divuskult und dem ganz jungen, magisch-monotheistischen
Christentum war aber schon durch die Kulturstufe, die beide
voraussetzen, dort ein Ende, hier ein Anfang, unmöglich.


10

In den ersten Generationen der Kaiserzeit löst sich der antike
Polytheismus, ohne daß in vielen Fällen an der äußeren, kultischen
oder sakralrechtlichen Form etwas geändert worden wäre, in den
magischen Monotheismus auf. Eine neue Seele war erschienen und sie
erlebte die verjährten Formen anders. Die Namen bestanden fort, aber
sie deckten andre _numina_. Alle sogenannten spätantiken Kulte
der Isis und Kybele, des Mithras, Sol, Serapis, Hermes sind nicht
mehr die Verehrungen ortsgebundener, plastisch greifbarer Wesen. Der
attische Hermes war der Gott einer Stadt gewesen, in der seine Statue
als Zeichen seines Wohnsitzes stand; der Hermes des alexandrinischen
Kultes ist ein geistiges Prinzip, das vom Euphrat bis zum Rhein überall
angerufen werden konnte. Der Zeus der Perikleszeit war in jeder Stadt,
wo er einen Tempel besaß, ein andrer. Der Zeus von Dodona war mit
dem Zeus von Olympia nicht identisch. So wenig sich diese Auffassung
logisch exakt darstellen läßt, so logisch wirkte sie dennoch auf den
religiösen Instinkt. Man war in Rom weit entfernt, den Juppiter Omnium
Maximus mit einem der andern, etwa dem Juppiter Victor oder Feretrius
zu vermengen, aber die vielen sehr verschiedenartigen Gottheiten der
frühchristlichen Zeit wurden als ein und dasselbe Wesen empfunden,
nur daß jeder Anhänger eines einzelnen Kultes überzeugt war, es in
seiner wahren Gestalt zu kennen. In diesem Sinne sprach man von der
„millionennamigen Isis“. Bis dahin waren die Namen Bezeichnungen
ebensovieler körperhafter Götter gewesen, jetzt sind sie +Titel+
des einen, den jeder meint.

Der magische Monotheismus offenbart sich in allen religiösen
Schöpfungen, die vom Osten aus das Imperium erfüllen, in den Kulten
der alexandrinischen Isis, des von Aurelian bevorzugten Sonnengottes
(des Baal von Palmyra), des von Diokletian beschützten Mithras,
dessen persische Gestalt in Syrien völlig umgeprägt worden war, der
von Septimius Severus verehrten Baalath von Karthago (Tanith, Dea
caelestis), die sämtlich nicht mehr in antiker Weise die Zahl der
konkreten Götter additiv vermehren, sondern sie im Gegenteil in einer
der bildhaften Darstellung sich mehr und mehr entziehenden Weise in
sich aufnehmen. Das ist Alchymie an Stelle der Statik. Dem entspricht
es, daß an Stelle des Bildes gewisse Symbole, der Stier, das Lamm, der
Fisch, das Dreieck, das Kreuz in den Vordergrund treten. „_In hoc
signo vinces_“ -- das klingt nicht mehr antik. Hier bereitet sich
die Abkehr von der menschendarstellenden Kunst vor, die später im Islam
und in Byzanz zum Bilderverbot führte. Die namentlich in der bildenden
Kunst und der höheren Poesie Roms beliebte, niemals ins Volksbewußtsein
gedrungene Angleichung antiker Gottheiten wie die von Aphrodite und
Venus, von Neptunus und Poseidon, die naive Art, fremde Götter durch
Gleichsetzung mit heimischen sich verständlich zu machen (so den
germanischen Donar mit Herkules), hat mit dieser +spirituellen+
Verschmelzung von Gottheiten nichts zu tun. Was die Religionsforschung
heute als Synkretismus bezeichnet, ein Phänomen, das sich deutlich als
Auflösung des statisch-plastischen Gottgefühls, also negativ abhebt,
ist positiv gefaßt nichts als die Heraufkunft des magischen Gefühls.
Es ist das einem anderen +Naturbilde+ zugrunde liegende Prinzip,
das auch die Mächte dieser Natur anders faßt. Der arabische Mensch
erlebt +die+ eigene und einzige, das All erschöpfende Gottheit
als die primäre Substanz; alle andern besitzen nur als ihre Namen oder
Erscheinungsformen Geltung.

Bis auf Trajan herab, als auf griechischem Boden längst der letzte
Hauch apollinischen Weltgefühls verschwunden war, besaß der römische
Staatskult die Kraft, die additive Tendenz während der fortgesetzten
Vermehrung der Götterwelt zu wahren. Die Gottheiten der unterworfenen
Länder und Völker erhalten in Rom eine anerkannte Kultstätte,
Priesterschaft und Ritual, während sie selbst als genau abgegrenzte
Individuen neben die Götter der Vergangenheit treten. Von da an siegt
auch an dieser Stelle, trotz eines ehrwürdigen Widerstandes, der seinen
Sitz in der kleinen Zahl uralter Patrizierfamilien hat, der magische
Geist; die Göttergestalten schwinden als solche, als Körper, aus dem
Bewußtsein, um einem transzendenten Gottgefühl Platz zu machen, das
nicht mehr auf dem unmittelbaren Zeugnis der Sinne beruht, und die
Bräuche, Feste und Legenden verfließen ineinander. Als Caracalla 217
den sakralrechtlichen Unterschied zwischen römischen und fremden
Gottheiten aufhob (wie er auch durch Erteilung des Bürgerrechtes an
alle Reichsbewohner die antike Idee der Polis endgültig beseitigte),
womit tatsächlich Isis die erste, alle älteren _numina_ umfassende
Gottheit Roms und damit die gefährlichste Feindin des Christentums
wurde, die sich den Todhaß der Kirchenväter zuzog, war Rom ein Stück
Orient, eine religiöse Dependenz Syriens geworden. Damals beginnen
die Baale von Doliche, Petra, Palmyra, Emesa zum Monotheismus des Sol
zu verschmelzen, der später als Gott des Reiches in seinem Vertreter
Licinius von Konstantin besiegt wurde. Es handelt sich damals nicht
mehr um antik oder magisch -- das Christentum konnte den hellenischen
Göttern sogar eine Art ungefährlicher Sympathie entgegenbringen --,
sondern darum, welche der magischen Religionen der damaligen Welt
die geistige Form geben sollte. Man findet diesen Prozeß der Abnahme
des plastischen Empfindens sehr deutlich in den Entwicklungsstufen
des Kaiserkultes, wo zuerst der verstorbene Kaiser als Divus durch
Senatsbeschluß in den Kreis der Staatsgötter aufgenommen wird -- als
erster der Divus Julius 42 v. Chr. -- und eine eigne Priesterschaft
erhält, so daß von nun an sein Bild bei Familienfesten nicht mehr unter
den Ahnenbildern vorangetragen wird; wo dann von Mark Aurel an keine
neue Priesterschaft mehr für den Dienst konsekrierter Kaiser entsteht,
bald darauf auch kein neuer Tempel mehr geweiht wird, weil ein
allgemeines _templum divorum_ dem religiösen Gefühl hinreichend
erscheint und die Bezeichnung Divus endlich sich in einen +Titel+
der Mitglieder des Kaiserhauses verwandelt. Dieser Ausgang bezeichnet
den Sieg des magischen Gefühls. Man wird finden, daß die Häufung von
Namen in Weihinschriften, etwa Isis-Magna Mater-Juno-Astarte-Bellona
oder Mithras-Sol invictus-Helios schon längst den Charakter des Titels
einer alleinexistierenden durchgeistigten Gottheit angenommen hat.[119]


11

Das Problem des Atheismus ist für den Psychologen einstweilen noch
_terra incognita_. Soviel über +den+ Atheismus schlechtweg,
d. h. ein in seinen letzten Gründen und seelisch-historischen
Bedingungen gar nicht verstandenes Phänomen geschrieben und räsoniert
worden ist, gleichviel ob im Stile des „vorgeschrittenen“ Menschen,
im idealen Falle des freigeistigen Märtyrers, oder im Stile des
Kulturmenschen, im äußersten Falle des gläubigen Zeloten: von Nuancen
des Atheismus, von der Analyse einer +einzelnen, bestimmten+
Erscheinungsform des Atheismus in ihrer Fülle und Notwendigkeit, ihrer
starken Symbolik, ihrer zeitlichen Beschränktheit hat man nie gehört.

Der Atheismus -- ist er eine apriorische Struktur des Weltbewußtseins
oder eine wahlfreie Vorstellung? Und zieht das Gefühl von einem
entgötterten Kosmos auch das Wissen davon, daß „der große Pan tot
ist“, nach sich? Gibt es einen unbewußten Atheismus? Gibt es frühe
Atheisten, etwa in der dorischen oder gotischen Zeit? Gibt es jemand,
der sich mit Leidenschaft, aber mit Unrecht als Atheisten bezeichnet?
Und kann es zivilisierte Menschen geben, die es +nicht+ sind,
nicht ganz wenigstens?

Daß zum Wesen des Atheismus, wie schon die Wortbildung in sämtlichen
Sprachen verrät, der Charakter der Negation gehört, daß er den Verzicht
auf eine seelische Bildung, die ihm also voraufgeht, bedeutet und nicht
etwa den positiven Akt einer ungebrochenen Gestaltungskraft, steht
fest. Aber was wird da verneint? In welcher Weise? Und von wem?

Ohne Zweifel ist der Atheismus, richtig verstanden, der notwendige
Ausdruck eines in sich vollendeten, in seinen religiösen Möglichkeiten
erschöpften, dem Anorganischen verfallenden Seelentums. Er verträgt
sich sehr wohl mit dem lebhaften und sehnsüchtigen Bedürfnis nach
echter Religiosität[120] -- darin aller Romantik verwandt, die
ebenfalls etwas unwiderruflich Verlornes, die Kultur nämlich, wieder
heranziehen möchte -- und er kann seinem Träger sehr wohl unbewußt
sein, eine Gestalt seines Fühlens, die nie in die Konventionen seines
Denkens eingreift, die seiner Überzeugung sogar widerspricht. Man
begreift das, wenn man einsieht, weshalb der fromme Haydn Beethoven
einen Atheisten nannte, nachdem er Musik von ihm gehört hatte. Die
Notwendigkeit für Beethoven, die große musikalische Form des Barock zu
verletzen, um innerlich wahr zu sein, der tiefe Widerspruch zwischen
seinem persönlichen Wollen und dem der bereits hinter ihm liegenden
Kultur besagt dasselbe. Beethoven war Romantiker und romantische
Religiosität ist, in Alexandria wie im Kreise der Schlegel und Tieck,
die feinste Form eines heimlichen Atheismus. Man darf sagen, daß ein
faustischer Mathematiker, der nicht „fromm“ ist, wie Pascal, Leibniz,
Newton, Gauß waren, ein ausgezeichneter Organisator der Materie seiner
Wissenschaft und Entdecker wichtigster Sätze sein kann, daß er aber
zur Vertiefung der +Idee+ der analytischen Zahl nichts beitragen
wird, weil er sie nicht in sich fühlt, sondern nur außer sich erkennt,
sie nur als Element einer Ordnung, nicht einer Schöpfung besitzt. Der
Atheismus gehört zum zivilisierten Menschen, insofern eine Zivilisation
der „Erdenrest“ einer erloschenen Kultur ist. Wir werden das noch
kennen lernen. Er gehört zur großen Stadt; er gehört zum „Gebildeten“
der großen Städte, der sich mechanisch aneignet, was seine Vorfahren,
die Schöpfer seiner Kultur, organisch erlebt haben. Aristoteles
ist, vom antiken Gottgefühl aus, Atheist, ohne es zu wissen. Der
hellenistisch-römische Stoizismus ist es so gut wie der Sozialismus und
Buddhismus der westeuropäischen und indischen Modernität. Ein typisch
atheistischer Zustand ist es, aus dem heute die „freireligiösen“
humanen Bewegungen hervorgehen, die einen großen Teil des städtischen
Protestantismus umfassen -- beim ehrlichsten Gebrauch des Wortes „Gott“.

Bedeutet dies späte und abschließende Phänomen aber die Verneinung des
religiösen Moments in uns, so ist es in jeder Zivilisation von andrer
Struktur. Es gibt keine Religiosität ohne eine ihr +allein+ zugehörige,
gegen sie +allein+ gerichtete atheistische Auflehnung. Es gibt einen
antiken, arabischen, abendländischen Atheismus, die untereinander nach
Sinn und Gehalt völlig verschieden sind. Nietzsche hat den einen, den
dynamischen -- etwas post festum --, dahin formuliert, daß „Gott tot
ist“. Ein antiker Philosoph hätte den andern, statisch-euklidischen,
damit bezeichnet, daß „die Götter tot sind“. Das eine bedeutet die
Entgötterung des unendlichen Raumes, das andre die der unzähligen
Dinge. Sie waren bis dahin -- man denke an das Tiefenerlebnis und
seine Bedeutung für das Erwachen des Innenlebens -- Symbole gewesen,
letzte Formelemente einer +lebendigen+ Natur; sie sind jetzt bloße
Tatsachen der mechanischen Ausgedehntheit. Der +tote+ Raum und die
+toten+ Dinge sind die Objekte der verstandesmäßigen Physik. Mit einem
richtigen Gefühl pflegt der Sprachgebrauch Weisheit und Intelligenz
zu unterscheiden, als einen frühen und späten, bäuerlichen und
großstädtischen Zustand des Geistes. Intelligenz ist das Komplement zu
einer mechanischen Weltanschauung. Niemand würde Heraklit oder Meister
Eckart eine Intelligenz nennen, aber Sokrates und Rousseau sind
intelligent, nicht „weise“. In diesem Worte liegt etwas Anorganisches;
es verrät den Beigeschmack von Atheismus. Nur vom Standpunkte des
Stoikers und Sozialisten, des typisch irreligiösen Menschen, ist der
Mangel an Intelligenz etwas Verächtliches.

Der apollinische Mensch kann +die+ Götter leugnen, der faustische
und der magische Mensch leugnet Gott. Aber dieser Akt vollzieht sich
in sehr verschiedenen Formen. Er kann in bewußtem und unbewußtem
Verhalten, im Zweifel und in der Verzweiflung, im theoretischen Angriff
und praktischem Aus-dem-Wege-gehen liegen. Das sinnlich-euklidische
Göttertum, durch das die einzelnen Dinge geheiligt sind, verleugnet man
schon durch die Neigung zum monotheistischen Isis- oder Mithraskult.
Noch einmal: Ein Gott ist für das antike Empfinden kein Gott. Dem Römer
galten alle südarabischen Religionen samt dem Christentum -- mit ihrer
gemeinsamen, wenn auch kultisch noch so verhüllten Formel „Allah il
Allah“ -- als atheistisch dem antiken Gottgefühl gegenüber und er hat
sie verfolgt. Hier ist das Wesen der Toleranz verständlich zu machen.

Solange man diese Erscheinung vom Standpunkte des Für und Wider
betrachtet, wird man für das Wesentliche blind sein. Einfältige
Leute lieben es, die antike Toleranz gegen die christliche Toleranz
auszuspielen. Aber das Wort Toleranz besagt an sich gar nichts. Erst
das Warum, Wogegen und Wofür entscheidet alles. Wer z. B. die hinter
dem Worte Liberalismus schlecht verhehlte +Gleichgültigkeit+ gegen
religiöse Dinge, die dem einen nichts mehr bedeuten und die deshalb
auch dem andern nichts bedeuten sollten, für Toleranz nimmt und mit
jenem tiefsymbolischen Akte der Aufnahme der _di peregrini_
in den römischen Staatskult gleichsetzt, verdient als gelehrter
Flachkopf keine Widerlegung. Im wesentlichen ist niemand tolerant,
sofern man darunter einen wirklichen Verzicht, nicht eine positive
Äußerung religiöser Gestaltungskraft versteht. Eben darauf beruht das
Symbolische jeder Toleranz, die allein von gläubigen Menschen, nie
von der „Intelligenz“, von einer Kultur, nicht von einer Zivilisation
ausgeht.

Der antike Kosmos als Summe leibhafter, gleichmäßig göttlicher Dinge
forderte nicht nur die Duldung, sondern die tätige Anerkennung
sämtlicher fremden Götter, soweit sie überhaupt als Dinge in höherem
Sinne gelten konnten. Solange man Jehova, Christus und Mithras
als Tagesgestalten von der Substanz eines Apollo oder Mars nahm,
glaubte man an sie. Alexander Severus hatte die Bilder von Osiris,
Christus, Abraham, Alexander dem Großen und Orpheus in seiner
Privatkapelle aufgestellt. Als abstrakte Geister mit dem Anspruch auf
Alleingültigkeit reizten sie zu Verachtung und Zorn. Und hier hatte die
antike Duldung ein Ende. Hier stand das eigene Gottgefühl in Frage.

Der Logos der stoischen Lehre, so gewiß er im Verlaufe der
vorsokratischen Philosophie sich aus der Tiefe des apollinischen
Götterbewußtseins herausgebildet hatte, war unter den Händen der
sophistischen Intelligenz zuletzt die +Inkarnation des antiken
Atheismus+, der formgewordne Widerspruch gegen die plastische
Götterwelt geworden. Es entstand wie in jeder andern Kultur eine
Todfeindschaft zwischen der Religion der Väter und der kühlen,
weltbürgerlichen, das All entseelenden Philosophie der Modernität. Es
ist kein Zufall, daß an diese Idee vom einen Logos alle früharabischen
Spekulationen, allen voran die des Johannesevangeliums und die Plotins,
angeknüpft haben. Was dem antiken Menschen der Inbegriff des Atheismus
war, das bezeichnete gerade den Geltungsbereich des Göttlichen im
magischen Weltbewußtsein.

Aber ebenso besteht zwischen dem Deismus des 18. Jahrhunderts, dem
Voltaires, Goethes, Kants, und dem Atheismus des 19. kein Gegensatz und
nicht einmal eine wesentliche Distanz. Der faustische Gott gleicht dem
Symbol des einen absoluten Raumes. Die Intelligenz der Zeit Rousseaus
schloß folgerichtig, nicht daß die Götter der andern Völker ebenfalls
von unanfechtbarer Existenz seien, sondern daß jedermann, unter welcher
Form auch immer, sei es auch unter einer polytheistischen, ja nur den
einen, abstrakten, faustischen Gott meinen und verehren könne. Das
ist der Gegensatz von kultischer und dogmatischer Religiosität. Der
antike, ahistorische Mensch übt die Kulte der fremden Götter aus, der
abendländische, der geborne Historiker, ist Psycholog: er „versteht“
die Überzeugung des andern. Hier ist die Quelle einer ganz anders
gearteten Toleranz, die ihren höchsten Ausdruck in Lessings Nathan
gefunden hat, tief und vornehm, solange sie wie bei Goethe noch aus
einem lebendigen Gottgefühl hervorging, eine Farce, wenn sie nichts als
die moderne Irreligion decken sollte. Aber je bewußter diese Idee von
Gott gefaßt wurde, desto ähnlicher mußte sie dem zugehörigen Atheismus
werden. Die Sublimierung der Idee in den großen romantischen Systemen
ist in der Tat, ohne daß es Hegel, Fichte und den andern je zum
Bewußtsein gekommen wäre, das Verschwinden des letzten Unterschiedes
zwischen Gott und Raum, das völlige Verschwinden des lebendigen
Gehaltes aus der abstrakten Idee. Pantheismus und Atheismus sind
zuletzt nur noch Wortdifferenzen. Schopenhauer war +bewußter+
Atheist, aber Oken hat mit der ganzen Bizarrerie eines Romantikers (man
denke an Ähnliches bei Novalis) Gott = ±0 gesetzt, und er empfand das
durchaus als den Ausdruck eines echten Gottgefühls.

Diese Zusammenhänge sind unendlich wichtig, denn sie erklären die
Heraufkunft der Physik am Ende einer Kultur und ihre wachsende Tyrannei
über den späten, städtischen Geist -- das groteske Phänomen einer
„naturwissenschaftlichen Weltanschauung“. Sie erklären aber auch den
vorbestimmten Entwicklungsgang einer jeden Physik, die auf dem Wege zur
reinen archimedischen Statik oder reinen modernen Dynamik immer weniger
seelenhaft, immer intellektueller, immer atheistischer wird. Insofern
besteht eine natürliche Verwandtschaft zwischen jeder gereiften Physik
und der Religion, aus deren intuitiver Weltform sie ursprünglich
hervorgegangen ist. Jede „moderne Weltanschauung“ ist Physik, in Zahlen
und Begriffe gebrachter Pantheismus. Wie stark der mythenbildende Trieb
selbst einer späten Seele ist, sieht man an ihrer letzten Schöpfung,
der physikalischen Mythologie, wo der wissenschaftliche Geist ihrem
Zwecke dienstbar gemacht wird. Jede Atomlehre ist ein Mythus, die
kinetische Gastheorie ist es so gut wie die Edda. Ob ein Skalde oder
ein Gelehrter das Medium ist, ist eine Frage des +Stadiums+.

Jedes lebendige Seelentum ist religiös, hat Religion, ob es sich dessen
bewußt ist oder nicht. Daß es überhaupt da ist, daß es wird, sich
entwickelt, sich erfüllt, +ist+ seine Religion. Es steht ihm nicht
frei, irreligiös zu sein. Es ist ihm nur möglich, wie im mediceischen
Florenz mit dem Gedanken daran zu spielen. Der Mensch der Weltstädte
aber ist irreligiös. Das gehört zu seinem Wesen, das bezeichnet seine
historische Erscheinung. Er mag aus der schmerzlichen Empfindung
einer inneren Leere und Armut noch so ernstlich religiös sein wollen,
er kann es nicht. Alle weltstädtische Religiosität beruht auf
Selbsttäuschung. Daß in der späten Kaiserzeit eine echte Religiosität
sich in Rom verbreitete, beweist, daß unter der Kruste der erloschenen
Antike bereits ein neues Menschentum lebendig war. Der Römer zur Zeit
Aurels, nur rechtlich und sprachlich, nicht seelisch mehr Ausdruck des
antiken Seins, lebte in der Riesenstadt, als sei sie Land. Rom war nur
scheinbar, materiell noch Weltstadt; innerlich gewogen war es eine
altgewordne, entseelte Häusermasse, in der eine fremde Bevölkerung
bäuerlich-dumpf und in primitiven Lebensformen hauste. Dem entsprach
eine durchaus frühmenschlich-naive Religiosität.

Inzwischen hatte sich die +Form+ der Religiosität verwandelt. Für
den apollinischen Menschen offenbarte sich das Wesen seiner Religion im
sinnlich-plastischen Kultus. Er besaß weder mystische Geheimnisse noch
ein bindendes Dogma. Die eleusinischen Mysterien waren kein Geheimkult.
Was den Eingeweihten verboten war -- und schließlich war jeder
eingeweiht, der es wünschte --, war die +Profanation+ der heiligen
Handlungen, also eben die Entweihung des +sinnlichen+ Elements.
Äschylus wurde angeklagt, weil er die Tracht der Eleusispriester
zum Kostüm der attischen Szene gemacht hatte. Der faustischen
Seele aber war das transzendente Dogma wesentlich, nicht der Kult.
Gottlos war für sie die Auflehnung gegen eine Lehre; hier begann der
Begriff der Ketzerei. Diese Religion konnte ihrer Natur nach keine
+Gewissensfreiheit+ gestatten -- das widerspricht der Dynamik,
dem Machtwillen über die Seelen. Darin macht auch das Freidenkertum
keine Ausnahme. Auf den Scheiterhaufen folgte die Guillotine, auf das
Verbrennen der Bücher ihr Totschweigen. Es gibt unter uns keine Partei
ohne Neigung zur Inquisition in irgendeiner Form. Gottlos aber war für
die Antike eine Verachtung des Kultus -- ἀσέβεια im wörtlichen Sinne
-- und hier duldete die apollinische Religion keine +Freiheit des
Verhaltens+. Damit war in beiden Fällen eine Grenze der Toleranz
gezogen, welche das Gottgefühl forderte und welche es verbot.

In diesem Punkte nun stand die spätantike Philosophie die
sophistisch-stoische Theorie (nicht die stoische Weltstimmung) dem
religiösen Empfinden entgegen, und hier war das Volk von Athen --
desselben Athens, das auch noch den „unbekannten Göttern“ Altäre baute
-- von der Unerbittlichkeit der spanischen Inquisition. Man hat nur
die lange Reihe antiker Denker und historischer Persönlichkeiten zu
mustern, die der Heilighaltung des Kultus geopfert wurden. Sokrates
und Diagoras wurden der Asebeia wegen hingerichtet; Anaxagoras,
Protagoras, Aristoteles, Alkibiades konnten sich nur durch Flucht
retten. Die Zahl der wegen Kultfrevels Hingerichteten zählt allein in
Athen und nur während der Jahrzehnte des Peloponnesischen Krieges nach
Tausenden. Nach der Verurteilung des Protagoras wurden seine Schriften
von Haus zu Haus gesucht und verbrannt. In Rom beginnen die historisch
noch erkennbaren Akte dieser Art mit der 181 vom Senat angeordneten
öffentlichen Verbrennung der pythagoräischen „Bücher des Numa“, und von
da an folgen ohne Unterbrechung Ausweisungen einzelner Philosophen und
ganzer Schulen, späterhin Hinrichtungen und die feierliche Verbrennung
von Schriften, die der Religion gefährlich werden konnten. Hierher
gehört die Tatsache, daß allein zur Zeit der Diktatur Cäsars die
Stätten des Isiskultes von den Konsuln viermal zerstört worden sind,
und daß Tiberius das Bild der Göttin in die Tiber werfen ließ. Die
Nichtbegehung des Geburtstages des Cäsar war unter Strafe gestellt.
Die Verweigerung des Divusopfers war unzweifelhaft eine Auflehnung
gegen das antike Religionsempfinden. In allen Fällen handelt es sich
um „Atheismus“, wie er sich aus dem +antiken+ Gottgefühl ergab
und wie er sich als theoretische oder praktische Mißachtung des Kultus
manifestierte. Wer in diesen Dingen nicht das eigne, abendländische
Empfinden aus dem Spiele lassen kann, wird nie in das Wesen der hier
zugrunde liegenden seelischen Phänomene eindringen. Dichter und
Philosophen durften Mythen erfinden und Göttergestalten umbilden,
soviel sie wollten. Die dogmatische Deutung des sinnlich Gegebenen
stand in jedermanns Belieben. Man konnte die Götter in Satyrspielen
und Komödien nach Herzenslust lächerlich machen -- selbst das griff
nicht an ihre euklidische Existenz --, aber an den Kultus, die
plastische Gestaltung der Götterverehrung, durfte nicht gerührt werden.
Hier fand die Duldung des antiken Menschen ein Ende. Hier war das
eigentliche Wesen seiner Religion angetastet. Cäsar, ein vollkommener
Skeptiker, hat für die Wiederherstellung alter Kulte peinlichst Sorge
getragen. Man mißversteht die feinen Geister der ersten Kaiserzeit,
wenn man es als Heuchelei nimmt, daß sie, ohne irgendeinen Mythus noch
ernst zu nehmen, alle Verpflichtungen des Staatskultus, vor allem des
allenthalben tief empfundenen Kaiserkultes auf sich nahmen. Umgekehrt
stand es dem Dichter und Denker der gereiften faustischen Kultur frei,
„nicht zur Kirche zu gehen“, die Beichte zu meiden, bei Prozessionen
daheim zu bleiben, in protestantischer Umgebung ohne alle Verbindung
mit kirchlichen Institutionen zu leben, nicht aber an dogmatische
Einzelheiten zu rühren. Das war innerhalb aller Konfessionen und Sekten
(das Freidenkertum nochmals ausdrücklich einbegriffen) gefährlich.
Das Beispiel des stoischen Römers, der ohne Glauben an die Mythologie
die sakralen Formen pietätvoll beobachtet, findet sein Gegenstück an
Menschen der Aufklärungszeit wie Lessing und Goethe, die, ohne die
kirchlichen Gebräuche zu erfüllen, doch niemals an den „Grundwahrheiten
des Glaubens“ zweifeln.


12

Kehren wir vom gestaltgewordnen Naturgefühl zur systemgewordnen
Naturerkenntnis zurück, so kennen wir Gott oder die Götter als den
Ursprung der Gebilde, durch welche der Geist reifer Kulturen sich
der Umwelt begrifflich zu bemächtigen sucht. Die starke Religiosität
der Mechanik Newtons und die fast vollkommen atheistisch formulierte
moderne Dynamik sind von gleicher Farbe, Position und Negation
desselben Urgefühls. Ein physikalisches System trägt mit Notwendigkeit
alle Züge der Seele, zu deren Formenwelt es gehört. Zur antiken Statik
und euklidischen Geometrie gehört der olympische Polytheismus. Zur
Dynamik und analytischen Geometrie gehört der Deismus des Barock. Seine
drei Grundprinzipien Gott, Freiheit und Unsterblichkeit heißen in der
Sprache der Mechanik das Prinzip der Trägheit (Galilei), das Prinzip
der kleinsten Wirkung (d’Alembert) und das Prinzip der Erhaltung der
Energie (Mayer).

Was wir heute ganz allgemein Physik nennen, ist in der Tat ein
Barockphänomen. Es wird nicht mehr als paradox empfunden werden,
wenn ich insbesondere diejenige Vorstellungsweise, welche auf der
Annahme von Fernkräften und den der naiv-antiken Anschauung völlig
fremden Fernwirkungen, der Attraktion und Repulsion von Massen
beruht, in Erinnerung an die gleichzeitige Epoche der Architektur
(Vignola) als den Jesuitenstil in der Physik bezeichne, wie mir ganz
ebenso die Infinitesimalrechnung, die nur im Abendlande und gerade
damals entstand und nur dort entstehen konnte, den Barockstil,
den Jesuitenstil in der Mathematik darzustellen scheint. Wer die
Physik für eine ewige Wissenschaft hält, die sich in Jahrtausenden
fortschreitend vervollkommnet und sich „der“ Wahrheit mehr und mehr
nähert, hat das Bedingte in ihr, die Gewißheit, von späteren Kulturen
und deren andersgeartetem Naturgefühl völlig mißverstanden, verachtet
und wieder vergessen zu werden, und damit ihren tieferen Sinn nicht
begriffen. Symbole vergehen, und die Formenwelt einer Physik ist ein
Symbol. Die gesamte moderne Naturwissenschaft ist Teil des Ausdrucks
der faustischen Seele, und damit sind Anfang, Ende und Umfang ihres
historisch-lebendigen Daseins unwiderruflich festgelegt.

Die abendländische Physik ist ihrem Typus nach dogmatisch, nicht
kultisch. Ihr Inhalt ist das +Dogma von der Kraft+, die mit dem
Raume, der Distanz identisch ist, das von der unendlichen Wirkung in
die Ferne, von der +Tat+, nicht der +Haltung+. Ihre Tendenz
ist demnach die fortschreitende Überwindung des Augenscheins. Von
einer noch sehr „antiken“ Einteilung in eine Physik des Auges (Optik),
Ohres (Akustik) und Hautsinnes (Wärmelehre) ausgehend hat sie die
Sinnesempfindungen allmählich ganz ausgeschaltet und durch abstrakte
Beziehungssysteme ersetzt, so daß z. B. die strahlende Wärme infolge
der Vorstellungen von den Bewegungen des Äthers heute in der Optik
behandelt wird.

„Kraft“ ist ein Urbegriff, der nicht vom Geiste konstruiert worden
ist, der im Gegenteil die Struktur des westeuropäischen Geistes
ausbilden half.[121]

Es ist das Gefühl von Gott, das logisch in Erscheinung tritt: Aus
der instinktiven Polarität von Gott und Welt wird die intellektuelle
von Kraft und Masse. Indem man ein Etwas im Naturbilde Kraft nannte,
hatte man die erkannte, nicht die erlebte, die geistig, nicht seelisch
erfüllte Natur einer Symbolik unterworfen. Eine physikalische Theorie
ist ein intellektueller Mythus.

Daß diese Kraft oder Energie in der Tat eine zum Begriff erstarrte Idee
und nicht entfernt ein reines Resultat wissenschaftlicher Forschung
ist, wird durch die oft übersehene Tatsache bestätigt, daß das
Grundprinzip der Dynamik, der bekannte erste Hauptsatz der mechanischen
Wärmetheorie, überhaupt nichts über das Wesen der Energie aussagt. Daß
die „Erhaltung der Energie“ in ihm fixiert sei, ist eigentlich ein
falscher, aber psychologisch sehr bezeichnender Ausdruck. Die Dynamik
kann ihrer Natur nach nur Relatives, nur Energie+differenzen+
feststellen, und ihre Gesetze beziehen sich allein darauf. Es bleibt
jedesmal, wie man sich ausdrückt, eine additive Konstante unbestimmt,
d. h. man sucht das mit dem inneren Auge aufgefaßte Bild einer Kraft
festzuhalten, obwohl die wissenschaftliche Praxis nichts damit zu tun
hat.

Aus dieser Genesis des Kraftbegriffs folgt, daß er, über die
Möglichkeiten der strengen Logik hinausgreifend, nicht etwa von ihr
geprägt, ebensowenig genau definierbar ist wie die ebenfalls in den
antiken Sprachen fehlenden Begriffe des Willens und des Raumes. Es ist
unmöglich, das Gefühl von Gott exakt in eine extensiv-begriffliche
Form zu bringen. Es bleibt ein gefühlter, geschauter Rest, der jede
tatsächlich erfolgte Definition zu einem Bekenntnis ihres Urhebers
macht. Jeder Denker, Mathematiker und Physiker des Barock hat hier ein
inneres Erlebnis, das er in Worte kleidet. Man denke an Goethe, der
seinen Begriff einer Weltkraft nicht hätte definieren können und mögen,
aber seiner gewiß war. Kant nannte die Kraft die Erscheinung eines an
sich Seienden („Die Substanz im Raume, den Körper, kennen wir nur durch
Kräfte“). Laplace nannte sie eine Unbekannte, deren Wirkungen wir nur
erkennen; Newton hatte an immaterielle Fernkräfte gedacht. Leibniz
sprach von der _vis viva_ als einem Quantum, das mit der Materie
zusammen die Einheit der Monade bildet. Descartes war ebensowenig wie
einzelne Denker des 18. Jahrhunderts (Lagrange) gewillt, Bewegung von
Bewegtem prinzipiell zu sondern. Neben _potentia_, _impetus_, _virtus_
finden sich Umschreibungen mit _conatus_ und _nisus_, wo offenbar die
Kraft von der auslösenden Ursache nicht gesondert worden ist (der
„Wille Gottes“). Es ist sehr wohl möglich, katholische, protestantische
und atheistische Kraftbegriffe zu unterscheiden. Spinoza, als Jude,
seelisch also noch der magischen Kultur zugehörig, vermochte den
faustischen Kraftbegriff überhaupt nicht zu rezipieren. Er fehlt in
seinem System. Und es ist ein erstaunliches Zeichen für die Intensität
der Urbegriffe, daß H. Hertz, der einzige Jude unter den großen
Physikern der Jetztzeit, auch der einzige ist, der den Versuch gemacht
hat, das Dilemma der Mechanik durch +Ausschaltung+ des Kraftbegriffs zu
lösen.

Das Dogma von der Kraft ist das +einzige+ Thema der faustischen
Physik. Was unter dem Namen Statik als Teil der Naturwissenschaft
durch alle Systeme und Jahrhunderte geschleppt wurde, ist eine
Fiktion. Es steht mit einer „modernen Statik“ nicht anders als mit
der „Arithmetik“ und „Geometrie“, wörtlich den Lehren vom Zählen und
Messen, die innerhalb der neueren Analysis ebenfalls, wenn man mit den
Worten überhaupt noch den ursprünglichen Sinn verbindet, leere Namen,
literarische Reste antiker Wissenschaften sind, die zu beseitigen oder
auch nur als Scheingebilde zu erkennen uns die Ehrfurcht vor allem
Antiken nicht gestattet hat. Es gibt keine abendländische Statik, d. h.
keine dem abendländischen Geist natürliche Art der Interpretation
mechanischer Tatsachen, welche die Begriffe Gestalt und Substanz
(allenfalls Raum und Masse) statt Raum, Zeit, Masse und Kraft zugrunde
legt. Man kann das auf jedem einzelnen Gebiet nachprüfen. Selbst die
„Temperatur“, die doch am ehesten den antik-statischen Eindruck einer
passiven Größe macht, läßt sich diesem System erst einordnen, wenn sie
im Bild einer Kraft erfaßt wird: Die Wärmemenge als Inbegriff der sehr
schnellen, feinen, unregelmäßigen Bewegungen der Atome eines Körpers,
seine Temperatur als die mittlere lebendige Kraft dieser Atome.

Die Renaissance hatte die archimedische Statik wiederzuerwecken
geglaubt, ebenso wie sie die hellenische Plastik fortzusetzen glaubte.
In beiden Fällen hat sie die endgültigen Konzeptionen des Barock, und
zwar aus dem Geiste der Gotik, nur vorbereitet. Mantegna gehört zur
Statik der Bildmotive, auch Raffael, dessen Geste man später steif und
kalt gefunden hat; mit Lionardo beginnt die Dynamik, und Rubens ist
ein Maximum der Bewegtheit schwellender Leiber. Das hintergrundlose
Fresko ist eine statische, das perspektivische Ölgemälde eine
dynamische Gattung. Das Fresko malt körperhafte Grenzen, das Ölbild
löst sie auf. Der Impressionismus endlich stellt eine reine Dynamik der
Farben dar; Körpergrenzen gegen den Raum bedeuten ihm nicht mehr wie
der Elektrodynamik, in deren Kraftfeldern sie mathematisch von ganz
untergeordneter Bedeutung sind.

Im Sinne der Renaissancephysik hat noch 1629 Nicolaus Cabeo aus
Ferrara, ein Jesuit, eine Theorie des Magnetismus im Stile der
aristotelischen Weltauffassung entwickelt, die ebenso wie die
florentinische Freskotechnik keine Folgen haben konnte, nicht weil sie
„falsch“ gewesen wäre, sondern weil sie dem faustischen Naturgefühl
widersprach, das durch die Renaissance eben aus der arabisch-magischen
Vormundschaft befreit worden war und das nun eigene Formen für den
Ausdruck seiner Welterkenntnis brauchte. Cabeo verzichtet auf die
Begriffe Kraft und Masse und beschränkt sich auf die klassischen:
Stoff und Gestalt, das heißt, er geht vom Geiste der Architektur des
alternden Michelangelo und des Vignola auf den Michelozzos und Raffaels
zurück und entwirft so ein vollkommen in sich geschlossenes, aber für
die Zukunft belangloses System. Der Magnetismus als Zustand einzelner
Körper, nicht als Kraft im grenzenlosen Raume -- das konnte das innere
Auge des westeuropäischen Menschen nicht befriedigen. Wir brauchten
eine Theorie der Ferne, nicht der Nähe. Ein andrer Jesuit, Boscovich,
hat dann Newtons mathematisch-mechanische Prinzipien als erster zu
einer umfassenden eigentlichen Dynamik ausgestaltet (1758).

Galilei stand noch unter dem Eindruck starker Reminiszenzen des
Renaissancegefühls, dem die Antithese von Kraft und Masse, aus der im
architektonischen, malerischen und physikalischen Stil das Element der
+großen Bewegung+ folgt, fremd war. Er beschränkt die Vorstellung
der Kraft noch auf Berührungskräfte (Stoß) und formuliert lediglich
eine Erhaltung der Quantität der Bewegung. Damit hält er am älteren
Prinzip der Bewegung unter Ausschluß eines räumlichen +Pathos+
fest, und erst Leibniz entwickelte, gegen ihn polemisierend, die Idee
der eigentlichen, im unendlichen Raume wirksamen, +freien+ Kräfte
(lebendige Kraft, _activum thema_), die er dann im Zusammenhange
mit seinen mathematischen Entdeckungen vollkommen durchführte. An
Stelle der Erhaltung der Bewegungsquantität trat die Erhaltung der
lebendigen Kräfte. Das entspricht dem Ersatz der Zahl als Größe durch
die Zahl als Funktion.

Der Begriff der Masse wurde erst etwas später, als Gegenbegriff zur
Kraft, deutlich ausgebildet. Bei Galilei und Kepler erscheint an
seiner Stelle das Volumen, und erst Newton hat ihn mit Bestimmtheit
+funktional+ gefaßt (die Welt als Funktion Gottes). Es ist dem
Renaissanceempfinden völlig widersprechend, daß die Masse -- heute
definiert als das konstante Verhältnis von Kraft und Beschleunigung
in bezug auf ein System materieller Punkte -- dem Volumen keineswegs
proportional ist, wofür die Planeten ein wichtiges Beispiel gaben.

Aber Galilei mußte doch schon nach +Ursachen+ der Bewegung fragen.
Diese Frage hatte innerhalb einer eigentlichen, auf die Begriffe Stoff
und Form beschränkten Statik keinen Sinn. Für Archimedes war die
Ortsveränderung neben der Gestalt als dem eigentlichen Wesen alles
extensiven Daseins belanglos; was hätte auf die Körper wirken sollen
-- von außen --, da der Raum „nicht ist“? Die Dinge bewegen sich, sie
werden nicht bewegt. Erst Newton schuf in völliger Unabhängigkeit von
der Fühlweise der Renaissance den Begriff der +Fernkräfte+, der
Anziehung und Abstoßung von Massen durch den Raum hindurch. Diese Idee
hat nichts sinnlich Greifbares mehr, und Newton selbst empfand vor ihr
einiges Unbehagen. Sie hatte ihn, nicht er sie ergriffen. Es ist der
dem unendlichen Raume zugewandte Geist des Barock selbst, der diese
+kontrapunktische, gänzlich unplastische+ Konzeption hervorgerufen
hat. Und zwar mit einem inneren Widerspruch. Man hat diese Fernkräfte
niemals hinreichend definieren können. Kein Mensch hat je begriffen,
was eigentlich Zentrifugalkraft ist. Ist die Kraft der sich um ihre
Achse drehenden Erde die Ursache dieser Bewegung oder umgekehrt? Oder
sind beide identisch? Wenn eine Bewegung in Erscheinung tritt --
ist sie dann Wirkung einer Ursache, und ist diese Ursache, logisch
isoliert, eine Kraft oder eine andere Bewegung? Wie unterscheiden
sich Kraft und Bewegung? Die Veränderungen im Planetensystem sollen
Wirkungen einer Zentrifugalkraft sein. Aber dann müßten die Körper
aus ihrer Bahn geschleudert werden, und da dies nicht der Fall ist,
nimmt man auch noch eine Zentripetalkraft an. Aber was bedeuten diese
Worte? Die Unmöglichkeit, hier Ordnung und Klarheit zu schaffen, hatte
Heinrich Hertz bewogen, auf den Kraftbegriff überhaupt wieder zu
verzichten und sein System der Mechanik durch die äußerst künstliche
Annahme von festen Koppelungen zwischen Lagen und Geschwindigkeiten
auf das Prinzip der Berührung (Stoß) zurückzuführen. Aber damit sind
die Verlegenheiten nur verdeckt, nicht behoben. Sie sind spezifisch
faustischer Natur und wurzeln im tiefsten Wesen der Dynamik. „Dürfen
wir von Kräften reden, welche erst durch Bewegung entstehen?“ Gewiß
nicht. Aber können wir auf die dem abendländischen Geiste eingebornen
Urbegriffe verzichten, weil sie undefinierbar sind? Hertz selbst hat
keinen Versuch gemacht, sein System praktisch in Anwendung zu bringen.

„Die Erscheinung -- sagt Goethe -- ist vom Beobachter nicht losgelöst,
vielmehr in dessen Individualität verschlungen und verwickelt.“ Gerade
die letzten, vermeintlich objektivsten Begriffe der Naturerkenntnis
sind Symbole, sind aus einem Gefühl entsprungen, das in dieser Gestalt
nur der Seele einer bestimmten, der apollinischen, magischen,
faustischen Seele eigen ist. So gering der organische Rest in ihnen
sein mag, er läßt sich nicht überwinden, denn der Physiker arbeitet
nicht nur als Intellekt, sondern als Mensch, als der er Ausdruck und
Organ seiner Kultur ist. Jede Erkenntnis ist nicht nur ein Resultat,
sondern auch ein Akt.

Man erinnere sich nochmals, daß nicht die bloßen geschriebenen oder
gesprochenen Formeln, sondern die den toten Ziffern unterlegten
Bilder, die ihnen erst Blut und Seele geben, das +Wesen+ der
Physik ausmachen. Die Kraft ist ein solches Bild. Die beiden möglichen
Natureindrücke des Kulturmenschen, die lebendige Goethesche und
die tote Newtonische Natur sind einander verwandt. Und zwar folgt
die zweite aus der ersten. Das Werden, in den Worten Leben, Zeit,
Schicksal, Richtung, Gott sich offenbarend liegt dem Gewordnen, das mit
dem Erkannten identisch ist, zugrunde. Die physikalische Phantasie des
faustischen Menschen drängt stets zur Imagination unendlich bewegter
Scharen von kleinsten Elementen. Dies Prinzip, dem die Mathematik
in der Gruppentheorie, der Mengenlehre Rechnung getragen hat, kehrt
in der kinetischen Gastheorie, der Vorstellung von Kraftfeldern,
Ionen, Elektronen wieder. Aber es ist dasselbe, was das Weltgefühl
der früheren Jahrhunderte längst in seinen Kobolden, Zwergen und
Wichten, in dem „stillen Volk“ in Wiesen und Bergen, den Elfen, die
im Laub, im Sonnenlichte „weben“, den in imaginären Räumen liegenden
Reichen von elbischen winzigen rastlosen Wesen verkörpert hat, und
hier haben wir den Ursprung dessen zu suchen, was die Worte Kraft und
Bewegung enthalten und was über alle Möglichkeiten logischer Fixierung
hinausgeht.

Diese immanente Verlegenheit der modernen Mechanik wird durch die
von Faraday begründete Potentialtheorie -- nachdem der Schwerpunkt
des physikalischen Denkens aus der Dynamik der Materie in die
Elektrodynamik des Äthers gerückt war -- keineswegs beseitigt. Der
berühmte Experimentator, der durchaus Visionär und unter allen Meistern
der neuern Physik der einzige Nichtmathematiker war, bemerkte 1846:
„Ich nehme in irgendeinem Teil des Raumes, mag er nach dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch leer oder von Materie erfüllt sein, nichts wahr als
Kräfte und die Linien, in denen sie ausgeübt werden.“ In dieser
Definition tritt die ihrem Gehalte nach organische, das Erlebnis des
Erkennenden bezeichnende, spezifisch historische Richtungstendenz
-- der Wille zur Macht -- deutlich hervor; damit knüpft Faraday
metaphysisch an Newton an, dessen Fernkräfte ein immaterielles Prinzip
darstellen, dessen Kritik der fromme Physiker ausdrücklich ablehnte.
Der zweite noch mögliche Weg, zu einem eindeutigen Begriff der Kraft
zu gelangen -- von der „Welt“, nicht von „Gott“, vom Objekt, nicht vom
Subjekt des natürlichen Bewegtseins aus --, führte eben damals zur
Konzeption des Begriffs der +Energie+, die im Unterschiede von der
Kraft ein Quantum, keine Richtung darstellt und insofern an Leibniz
und an dessen Idee der lebendigen Kraft mit ihrer unveränderlichen
Quantität anknüpft; man sieht, daß hier wesentliche Merkmale des
Massebegriffs herübergenommen worden sind, derart, daß sogar der
bizarre Gedanke einer atomistischen Struktur der Energie in Erwägung
gezogen worden ist.

Indessen ist mit dieser Neuordnung der Eigenschaften das Grundgefühl
vom Vorhandensein einer Weltkraft und ihres Substrats nicht verändert
und damit die Unlösbarkeit des Bewegungsproblems nicht widerlegt worden.

Man wird sich erinnern, daß im vorigen Kapitel der Abstieg von der
tragischen zur Plebejermoral, von der Kultur zur Zivilisation des
westeuropäischen Menschen durch den Übergang vom ethischen Grundprinzip
der +Tat+ zu dem der +Arbeit+ charakterisiert wurde. Der
große Mensch der Vergangenheit von den Hohenstaufen bis zu Napoleon
+verrichtete Taten+, der moderne Gehirnmensch, sei er Feldherr
oder Experimentator, +arbeitet+. Wir sind alle Arbeiter, und
der Unterschied besteht nur noch zwischen geistiger und ungeistiger
Arbeit. Es ist überaus bezeichnend, daß sich genau derselbe
Begriffswechsel in der physikalischen Formensprache vollzieht. Das
Naturbild Brunos, Newtons, Goethes imaginiert ein göttliches Prinzip,
das sich in Taten auswirkt. Die zivilisierte, atheistische Physik
setzt den Begriff auf ein intellektuelles Niveau herab: die Natur
„+leistet Arbeit+“. Unter diesem Eindruck steht die heutige
Mechanik. Die entscheidende Entdeckung J. R. Mayers fällt mit der
Geburt der sozialistischen Theorie zusammen. Gleichzeitig vollzieht
sich der sehr tiefliegende Begriffswechsel von der Kraft zur Energie
(einem +Quantum+). Man wird ferner die strenge Kongruenz dieser
Formenwelt mit der gleichzeitig ausgebildeten der Nationalökonomie
bemerken. Nationalökonomie -- das war, wie wir sahen, die notwendige
Fassung der praktischen Dynamik eines willensstarken Menschentums, das
nach Dauer, Zukunft, Macht, Tat strebt. Auch die nationalökonomischen
Systeme operieren mit denselben Begriffen; seit Adam Smith wird das
Wertproblem mit dem +Arbeitsquantum+ in Beziehung gesetzt; das ist
Quesney und Turgot gegenüber der Schritt von einer organischen zu einer
mechanischen Struktur des Wirtschaftsbildes. Was hier als „Arbeit“
der Theorie zugrunde liegt, ist rein dynamisch gemeint. Man könnte
die genauen Analoga der Prinzipien von der Erhaltung der Energie,
der Entropie, der kleinsten Wirkung auffinden. Man vergleiche diese
parallele Entwicklung mit jener der antiken -- volkswirtschaftlichen
+und+ physikalischen -- Statik, und man wird einsehen, in welchem
Grade die vermeintliche „Erfahrung“ von der geistigen Gestaltungskraft
vorausbestimmt wird.

Betrachtet man demnach die Stadien, welche der zentrale Begriff der
Kraft seit seiner Geburt im frühen Barock durchlaufen hat, und zwar
in genauester Verwandtschaft mit den Formenwelten der großen Künste
und der Mathematik, so findet man drei: Im 17. Jahrhundert (Galilei,
Newton, Leibniz) trat er bildhaft ausgeprägt neben die große Ölmalerei,
die um 1680 erlosch; im 18., dem der klassischen Mechanik (Laplace,
Lagrange), stand er neben der Musik Bachs und empfing den intuitiven
Charakter des kontrapunktischen Stils; im 19., wo die Künste zu Ende
sind und die zivilisierte Intelligenz das Seelenhafte überwältigt,
erscheint er in der Sphäre der reinen Analysis, und zwar insbesondere
der Theorie der Funktionen von mehreren komplexen Variablen, ohne die
er sich in seiner modernsten Bedeutung kaum mehr verständlich machen
läßt.


13

Damit aber ist -- darüber täusche sich niemand -- die westeuropäische
Physik an der Grenze ihrer inneren Möglichkeiten angelangt. Der Sinn
ihrer Erscheinung war, das faustische Naturgefühl in Erkenntnis, die
Gestalten eines frühzeitlichen Glaubens in mechanische Formen eines
exakten Wissens zu verwandeln. Daß die einstweilen noch zunehmende
Gewinnung praktischer oder auch nur gelehrtenhafter Ergebnisse -- ein
Oberflächenphänomen der Wissenschaftsgeschichte -- mit der raschen
Zersetzung ihres Wesenskerns nichts zu tun hat, braucht kaum gesagt zu
werden. Bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts erfolgen alle Schritte
in der Richtung einer inneren Vollendung, einer wachsenden Reinheit,
Schärfe und Fülle des dynamischen Naturbildes; von da an, wo ein
Optimum von Deutlichkeit im Theoretischen erreicht ist, beginnen sie
plötzlich auflösend zu wirken. Das geschieht nicht absichtlich; das
kommt den hohen Intelligenzen der modernen Physik nicht einmal zum
Bewußtsein. Darin liegt eine unabwendbare historische Notwendigkeit.
Die antike Physik hatte sich in demselben Stadium, um 200 v. Chr.,
innerlich vollendet. Die Analysis kam mit Gauß, Cauchy und Riemann zum
Ziele und füllt heute nur noch die Lücken ihres Gebäudes aus.

Daher erheben sich plötzlich vernichtende Zweifel an Dingen, die
noch gestern das unbestrittene Fundament der physikalischen Theorie
bildeten, am Sinne des Energieprinzips, am Begriff der Masse, des
Raumes, der absoluten Zeit, des kausalen Naturgesetzes überhaupt.
Das sind nicht mehr jene schöpferischen Zweifel des frühen Barock,
die einem Erkenntnisziele entgegenführen; diese Zweifel gelten der
Möglichkeit einer Naturwissenschaft überhaupt. Welche tiefe und von
ihren Urhebern offenbar gar nicht gewürdigte Skepsis liegt allein in
der rasch zunehmenden Benützung abzählender, statistischer Methoden,
die nur eine Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse bezwecken und die
absolute Exaktheit der Naturgesetze, wie man sie früher hoffnungsvoll
verstand, ganz aus dem Spiele lassen!

Wir nähern uns dem Augenblick, wo man die Möglichkeit einer
geschlossenen und in sich widerspruchslosen Mechanik endgültig
aufgibt. Ich hatte gezeigt, wie jede Physik an dem Bewegungsproblem
scheitern muß, in welchem die lebendige Person des Erkennenden in die
anorganische Formenwelt der vollzogenen Erkenntniselemente hereinragt.
Aber alle neuesten Hypothesen enthalten diese Verlegenheit in einer
nach dreihundertjähriger Denkarbeit erzielten äußersten Zuspitzung,
die keine Täuschung mehr zuläßt. Die Gravitationstheorie, seit Newton
eine unumstößliche Wahrheit, ist als eine zeitlich beschränkte
und schwankende Annahme erkannt worden. Das Prinzip der Erhaltung
der Energie hat keinen Sinn, wenn die Energie unendlich in einem
unendlichen Raume gedacht wird. Die Annahme des Prinzips läßt sich
mit keiner Art von dreidimensionaler Struktur des Weltraums, weder
der unendlichen euklidischen, noch (unter den nichteuklidischen
Geometrien) der sphärischen mit ihrem unbegrenzten, aber endlichen
Volumen vereinen. Seine Gültigkeit wird also auf ein „nach außen
abgeschlossenes System von Körpern“ beschränkt, eine künstliche
Begrenzung, die es in Wirklichkeit nicht gibt und nicht geben kann.
Man wird zugeben, daß das Weltgefühl des faustischen Menschen, aus
dem diese grundlegende Vorstellung -- +die Unsterblichkeit der
Weltseele+, mechanistisch und extensiv umgedacht -- hervorging,
gerade die symbolische Unendlichkeit hatte ausdrücken wollen. So
+fühlt+ man, aber der Intellekt vermochte das in seiner Sphäre
nicht zu verifizieren. Es war ferner der Lichtäther ein ideales
Postulat der modernen Naturerkenntnis, die zu jeder Bewegung die
Vorstellung eines Bewegten forderte. Aber jede denkbare Hypothese
über die Beschaffenheit des Äthers wurde sofort durch innere
Widersprüche widerlegt. Insbesondere hat Lord Kelvin mathematisch
nachgewiesen, daß es eine einwandfreie Struktur dieses Lichtträgers
nicht gibt. Da Lichtwellen nach der Interpretation der Versuche
Fresnels transversal sind, müßte der Äther ein fester Körper (mit
wahrhaft grotesken Eigenschaften) sein, aber in diesem Falle
würden die Elastizitätsgesetze für ihn gelten, und die Lichtwellen
wären demnach longitudinal. Die Maxwell-Hertzschen Gleichungen der
elektromagnetischen Lichttheorie, die in der Tat reine, unbenannte
Zahlen von unzweifelhafter Gültigkeit sind, schließen jede Deutung
durch irgendeine Mechanik des Äthers aus. Man hat nun den Äther, vor
allem unter dem Eindruck der Folgerungen aus der Relativitätstheorie,
als das reine Vakuum definiert, was doch nicht viel andres als eine
Zerstörung des dynamischen Urbildes bedeutet.

Seit Newton besaß die Annahme einer konstanten Masse -- des
Gegenstückes der konstanten Kraft -- unbestrittene Gültigkeit. Moderne
Hypothesen, die auf Grund von experimentellen Erfahrungen notwendig
geworden waren, haben diese Annahme zerstört. Jedes abgeschlossene
System besitzt neben der kinetischen Energie noch die Energie der
strahlenden Wärme, die nicht von ihr trennbar und deshalb durch den
Begriff der Masse nicht rein darstellbar ist. Denn wird die Masse
durch die lebendige Energie definiert, so ist sie im Hinblick auf
den thermodynamischen Zustand nicht mehr konstant. Aber weit über
diese partiellen Zweifel hinaus greift das Relativitätsprinzip, die
revolutionäre Theorie vom Beginn des 20. Jahrhunderts, in den Kern der
Dynamik ein.

Bekanntlich hat der Begriff Bewegung im leeren Raume keinen Sinn.
Das wissenschaftliche Denken kennt nur Lageveränderungen mehrerer
Körper relativ zueinander. In diesem Falle aber wendet das +antike+
Weltgefühl greifbare, +absolute Maße+ an, um absolute Bewegungsgrößen
zu messen. Hier liegt also ein Rest von plastischem, statuenhaftem
Empfinden (sinnlicher Konstanz) vor, den das faustische Naturdenken
noch aufzulösen hatte.

Gibt es absolute Maße? Nimmt man in kosmischen Verhältnissen den
Abstand der Erde von der Sonne als Maßeinheit, so ist der Lichtweg
zu messen; es gibt keine andere Möglichkeit. Das Licht aber braucht
Zeit, und damit tritt ein organischer, historischer Faktor in den Akt
der messenden Vergleichung ein. Abstände werden durch Lichtsignale
abgegrenzt, und es fragt sich, in welcher Zeit das Licht (bei
gleichbleibender Geschwindigkeit) von der Sonne her die Erde erreicht.
Wir kennen die Bewegung der Erde relativ zur Sonne, nicht aber
die absolute Bewegung des Sonnensystems im Raume, die etwa in der
Richtung von der Erde zur Sonne oder umgekehrt stattfinden könnte.
Aber in diesen Fällen wird der tatsächliche Lichtweg abgekürzt oder
verlängert, da der Beobachter dem Licht entgegenkommt oder sich von
ihm entfernt, und damit verliert die Lichtzeit die Eigenschaft einer
absoluten Größe, weil nach dem berühmten Versuch von Michelson die
Geschwindigkeit des Lichtes von der Bewegung der durchdrungenen Körper
unberührt bleibt. Daraus ergeben sich unabsehbare Folgerungen. So gut
wir eine Bewegung nur als Lageveränderungen eines Körpers relativ zu
einem andern auffassen können -- die ägyptischen Pyramiden, die relativ
zur Erde ruhen, bewegen sich doch relativ zur Sonne mit gewaltiger
Geschwindigkeit durch den Weltraum --, so gut ist eine Zeit nur in
bezug auf den Standort eines Beobachters eindeutig meßbar; man kann
Fälle annehmen, wo für zwei Beobachter in bezug auf zwei Ereignisse die
Begriffe früher und später sich umkehren. +Damit aber ist auch die
Konstanz aller physikalischen Größen aufgehoben, in deren Definition
die Zeit eingegangen ist+, und die westeuropäische Dynamik besitzt
im Gegensatz zur antiken Statik nur solche Größen. Eine Strecke messe
ich durch Vergleich der relativen Lage der Endpunkte, und dieser
Vergleich beansprucht Zeit. Man weiß, daß Fixsterne, deren Standort
durch das auf der Erde ankommende Licht bestimmt wird, an einer anderen
Stelle des Himmels erscheinen als der, die sie „wirklich“ einnehmen.
Dieselbe Strecke kann für verschiedene Beobachter je nach deren
„Bewegungszustand“ verschieden groß sein. Ein Körper, der für den
irdischen Beobachter eine Kugel ist, kann in bezug auf einen andern
ein Rotationsellipsoid sein. Starre Körper gibt es nur in bezug auf
ein bestimmtes System. Absolute Längen- und Zeitmaße gibt es überhaupt
nicht mehr. Damit fällt auch die Möglichkeit absoluter quantitativer
Bestimmungen und somit der übliche Begriff der Masse, denn die Masse
war als Funktion der Bewegung, als das konstante Verhältnis von Kraft
und Beschleunigung definiert worden. Es ist für die Elektronen bereits
nachgewiesen worden, daß deren Masse sich mit der Geschwindigkeit
ändert. In andern Fällen ist der Nachweis schwierig, denn Körper an der
Erdoberfläche, z. B. die Objekte beinahe aller physikalischen Versuche,
bewegen sich annähernd mit Erdgeschwindigkeit -- die Elektronen aber
nicht, und diese Abweichung kommt in Gestalt einer Variabilität
ihrer Masse zum Vorschein. Die „Erhaltung der Masse“ im Weltraum ist
also ein Begriff ohne Sinn. Wie man sieht, ist hier das unantike,
funktionale Empfinden der faustischen Seele zum denkbar schärfsten
Ausdruck gelangt. Von den Faktoren des sinnlichen Augenscheins ist
nichts geblieben, nicht einmal die angeblich a priori vorhandenen
und konstanten Formen der Anschauung, Raum und Zeit, im Sinne Kants.
Es gibt nichts Greifbares und Plastisches mehr, das ein ruhendes Sein
spiegelt, keine Gestalt, keine Größe, kein Maß. Die Grundwerte des
newtonischen Weltbildes, ohnehin Elemente von höchst abstrakter Natur,
sind in das unendliche Gewebe von variablen Beziehungen aufgelöst, das
nunmehr die letzte Form der faustischen Natur, eine Gestalt von äußerst
unpopulärem und esoterischem Charakter, vor Augen führt.


14

In den Kreis dieser Symbole des Niedergangs gehört nun vor allem
die Entropie, bekanntlich das Thema des zweiten Hauptsatzes der
Thermodynamik. Der erste Hauptsatz, das Prinzip von der Erhaltung der
Energie, formuliert einfach das Wesen der Dynamik, um nicht zu sagen
die Struktur des westeuropäischen Geistes, dem allein die Natur mit
Notwendigkeit in der Form einer kontrapunktisch-dynamischen Kausalität
im Gegensatz zu der statisch-plastischen des Aristoteles erscheint. Das
Grundelement des faustischen Weltbildes ist nicht die +Haltung+,
sondern die +Tat+, mechanisch gesprochen der +Prozeß+, und
dieser Satz fixiert lediglich den mathematischen Charakter dieser
Prozesse in Form von Variablen und Konstanten. Der zweite Satz aber
greift tiefer und stellt eine einseitige Tendenz des Naturgeschehens
fest, welche durch die begrifflichen Grundlagen der Dynamik in keiner
Weise a priori bedingt war.

Die Entropie wird mathematisch durch eine Größe repräsentiert, die
durch den augenblicklichen Zustand eines in sich abgeschlossenen
Systems von Körpern bestimmt ist und die bei allen überhaupt möglichen
Änderungen physikalischer oder chemischer Art nur zunehmen, niemals
abnehmen kann. Im günstigsten Falle bleibt sie unverändert. Die
Entropie ist wie die Kraft und der Wille etwas, das jedem, der
überhaupt in das Wesen dieser Formenwelt einzudringen vermag, innerlich
vollkommen klar und deutlich ist, das aber von jedem anders und
offenbar unzulänglich formuliert wird. Auch hier versagt der Geist vor
dem Ausdrucksbedürfnis des Weltgefühls.

Man hat, je nachdem die Entropie sich vermehrt oder nicht, die
Gesamtheit der Naturprozesse in nichtumkehrbare und umkehrbare
eingeteilt. Bei jedem Prozeß der ersten Art wird freie Energie
in gebundene verwandelt; soll diese tote Energie in lebendige
zurückverwandelt werden, so kann es nur dadurch geschehen, daß
gleichzeitig in einem damit verbundenen zweiten Prozeß ein Quantum
lebendiger Energie gebunden wird. Das bekannteste Beispiel ist die
Verbrennung von Kohle, d. h. die Umwandlung der in ihr aufgespeicherten
lebendigen Energie in die durch die Gasform der Kohlensäure gebundene
Wärme, wenn die latente Energie des Wassers in Dampfspannung und
weiterhin in Bewegung umgesetzt werden soll. Daraus folgt, daß die
Entropie im Weltganzen beständig zunimmt, so daß das dynamische
System sich offenbar einem wie immer gearteten Endzustande nähert.
Zu den nichtumkehrbaren Prozessen gehören Wärmeleitung, Diffusion,
Reibung, Lichtemission, chemische Reaktionen, zu den umkehrbaren
die Gravitation, elektrische Schwingungen, elektromagnetische und
Schallwellen.

Was bisher nie empfunden worden ist, und weshalb ich in dem Satz von
der Entropie den Anfang der Vernichtung dieses Meisterstückes der
westeuropäischen Intelligenz, der Physik dynamischen Stils sehe,
ist der tiefe Gegensatz zwischen Theorie und Wirklichkeit, der hier
zum ersten Male ausdrücklich in die Theorie selbst hineingetragen
worden ist. Nachdem der erste Satz das strenge Bild eines kausalen
Naturgeschehens gezeichnet hatte, bringt der zweite durch das Phänomen
der Nichtumkehrbarkeit eine dem unmittelbaren Leben angehörende Tendenz
zum Vorschein, die dem Wesen des Mechanischen und Logischen prinzipiell
widerspricht.

Verfolgt man die Konsequenzen der Entropielehre, so ergibt sich
erstens, daß theoretisch alle Prozesse umkehrbar sein +müssen+.
Das gehört zu den Grundforderungen der Dynamik. Das fordert noch einmal
in aller Schärfe der erste Hauptsatz. Es ergibt sich aber zweitens,
daß +in Wirklichkeit+ sämtliche Naturvorgänge nichtumkehrbar
+sind+. Nicht einmal unter den künstlichen Bedingungen des
experimentellen Verfahrens kann der einfachste Prozeß exakt umgekehrt,
d. h. ein einmal überschrittener Zustand wiederhergestellt werden.
Nichts ist bezeichnender für die Lage des gegenwärtigen Systems als
die Einführung der Hypothese der „elementaren Unordnung“, um den
Widerspruch zwischen geistiger Forderung und wirklichem Erlebnis
auszugleichen: Die „kleinsten Teilchen“ der Körper -- ein Bild, nicht
mehr -- führen durchweg umkehrbare Prozesse aus; in den wirklichen
Dingen befinden die kleinsten Teilchen sich in Unordnung und stören
einander; infolgedessen ist mit einer mittleren Wahrscheinlichkeit der
natürliche, allein vom Beobachter erlebte, nichtumkehrbare Prozeß mit
einer Zunahme der Entropie verbunden. So wird die Theorie zu einem
Kapitel der Wahrscheinlichkeitsrechnung, und statt seiner exakten
Methode tritt die statistische in Wirksamkeit.

Man hat augenscheinlich nicht bemerkt, was das bedeutet. Die Statistik
gehört zur Sphäre des Organischen, zum wechselnd bewegten Leben, zum
Schicksal und Zufall und nicht zur Welt der exakten Gesetze und der
zeitlos-ewigen Mechanik. Man weiß, daß sie vor allem zur Charakteristik
politischer und wirtschaftlicher, also historischer Phänomene dient.
In der klassischen Mechanik Galileis und Newtons wäre für sie kein
Platz gewesen. Was hier plötzlich statistisch erfaßt und erfaßbar
wird, mit Wahrscheinlichkeit statt mit jener apriorischen Exaktheit,
die alle Denker des Barock einstimmig gefordert hatten, ist der Mensch
selbst, der diese Natur erkennend durchlebt, der in ihr sich selbst
durchlebt; es ist nicht mehr ein reiner Intellekt, der seine starre
Form objektiviert. Was die +Theorie+ mit innerer Notwendigkeit
hinstellt, jene in Wirklichkeit gar nicht vorhandenen umkehrbaren
Prozesse, repräsentiert den Rest einer streng-geistigen Form, den Rest
der großen Barocktradition, welche die Schwester des kontrapunktischen
Stils war. Die Zuflucht zur Statistik offenbart die Erschöpfung der
in dieser Tradition wirksam gewesenen ordnenden Kraft. Werden und
Gewordnes, Schicksal und Kausalität, historische und natürliche
Elemente beginnen zu verschwimmen. Formelemente des Lebens: das
Wachstum, das Altern, die Lebensdauer, die Richtung, der Tod drängen
herauf.

Das hat in diesem Aspekte die Nichtumkehrbarkeit der Weltprozesse
zu bedeuten. Sie ist, im Gegensatz zu dem physikalischen Zeichen t,
Ausdruck der echten, +historischen+, innerlich erlebten Zeit, die
mit dem +Schicksal+ identisch ist.

Das ist keine Vervollkommnung der Dynamik, das ist ein Symptom ihrer
Zersetzung. Gerade so hatte die Musik Beethovens die große Form der
Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts zerstört, weil in ihr die
barbarische Fülle einer weltstädtischen, modernen Seele nicht mehr zu
bändigen war. Ich hatte an einer früheren Stelle die Polarität von
Geschichte und Natur (oder, was dasselbe ist, von lebendiger und toter
Natur) durch den Unterschied des morphologischen Verfahrens bestimmt,
das dort Physiognomik, hier Systematik ist. Nun, die Physik des Barock
war durch und durch strenge Systematik, solange Theorien wie diese
noch nicht an ihrem Bau rütteln durften, solange in ihrem Bilde nichts
anzutreffen war, was den Zufall und die bloße Wahrscheinlichkeit
zum Ausdruck brachte. Mit dieser Theorie aber ist sie Physiognomik
geworden. Der „Lauf der Welt“ wird verfolgt. Die +Idee des
Weltendes+ erscheint in der Verkleidung von Formeln, die im Grunde
ihres Wesens keine Formeln mehr sind. Es kommt damit etwas Goethesches
in die Physik, und man wird das ganze Gewicht dieser Tatsache ermessen,
wenn man sich klar macht, was zuletzt die leidenschaftliche Polemik
Goethes gegen Newton in der Farbenlehre bedeutete. Hier argumentierte
die Intuition gegen den Verstand, das Leben gegen den Tod, die
schöpferische Gestalt gegen das ordnende Gesetz. Die Formenwelt der
Natur+erkenntnis+ war aus dem Natur+gefühl+, dem Gottgefühl
hervorgegangen. Hier hat sie den Gipfel der Distanz erreicht, und sie
kehrt zum Ursprung zurück.

Und so beschwört die in der Dynamik wirksame Einbildungskraft noch
einmal die großen Symbole der historischen Leidenschaft des faustischen
Menschen herauf, die ewige Sorge, den Hang zu den fernsten Fernen
von Vergangenheit und Zukunft, die rückschauende Forschung, den
vorausschauenden Staat, die Biographien und Selbstbetrachtungen, die
Uhren, die über Westeuropa weithinhallenden, das Leben messenden
Glockenschläge. Das Ethos des Wortes Zeit, wie nur wir es empfinden,
wie es die kontrapunktische Musik im Gegensatz zur Statuenplastik
erfüllt, richtet sich auf ein +Ziel+. Das war in allen Lebensidealen
des Abendlandes als drittes Reich, als neues Zeitalter, als Aufgabe der
Menschheit, als Ausgang einer Entwicklung verkörpert worden. Und das
bedeutet für das Gesamtdasein der faustischen Natur die Entropie.

Der antike Kosmos ist ahistorisch. Die Statik formuliert einen Zustand,
der immer derselbe und in jedem Augenblicke vollkommen enthalten
ist. In gewissem Sinne behauptet das die Dynamik auch, insoweit sie
Systematik ist. Sie bringt zwar das +Geschehen+, nicht das Sein in
Form, aber unter der Voraussetzung, daß diese Form von zeitloser
Allgemeingültigkeit sei. Darunter ist aber eine physiognomische Tendenz
wirksam, welche eine +Biographie+ des Weltwerdens zum Ziele hat, die,
bisher latent, jetzt in mächtigen physikalischen Visionen hervorbricht.
Der Kosmos Demokrits gestattet keine biographische Betrachtung.
Was man dort Veränderung nennt, ist eine Laune, keine Entwicklung,
kosmische Episode, nicht Epoche, ein Spiel ohne Sinn. Heraklit hat es
mit dem Spiel eines Knaben verglichen, der Sandhaufen auftürmt und
wieder zerstört. Aristoteles schuf den Begriff der Entelechie, der
von den Faktoren der Zeit und der Kraft ganz unberührten Entwicklung
des einzelnen Dinges von der in ihm ruhenden möglichen zur sinnlich
verwirklichten Gestalt.

Goethe aber entdeckt, seiner Idee einer Entwicklung folgend, den
Zwischenknochen beim Menschen, die Metamorphose der Pflanzen und (nach
Lionardos Vorgang) die Eiszeiten, sämtlich Phänomene einer +zeitlich+
vorschreitenden, dynamischen, historischen Weltvollendung.

Schon in dem halbmystischen Begriff der Kraft, der dogmatischen
Voraussetzung dieser ganzen Formenwelt, liegt stillschweigend ein
Richtungsgefühl, eine Beziehung auf Vergangenes und Künftiges; noch
deutlicher wird sie in der Bezeichnung der Naturvorgänge als Prozesse.
Ich behaupte also, daß die Entropielehre als die intellektuelle Form,
in welcher die unendliche Summe aller Naturereignisse als historische
und physiognomische Einheit zusammengefaßt wird, allen physikalischen
Begriffsbildungen von Anfang an unbewußt zugrunde lag, und daß sie
eines Tages als „Entdeckung“ auf dem Wege wissenschaftlicher Induktion
zum Vorschein kommen und dann durch die übrigen theoretischen Elemente
des Systems durchaus bestätigt werden mußte. Je mehr die Dynamik sich
durch Erschöpfung ihrer inneren Möglichkeiten dem Ziele nähert, desto
entschiedener dringen die historischen Momente vor, desto stärker
machen sich neben der anorganischen Notwendigkeit des Kausalen die
organische des Schicksals, neben den Faktoren der reinen Ausgedehntheit
-- Kapazität und Intensität -- die der Richtung geltend. Es geschieht
dies durch eine ganze Reihe neuer Hypothesen von gleichem Stil,
die durch die experimentellen Befunde gefordert werden, richtiger
ausgedrückt, durch eine Reihe innerlich verwandter Produkte einer
intellektuell geregelten Phantasie, die sämtlich durch das Weltgefühl
und die Mythologie schon der Gotik antizipiert waren.

Dahin gehört vor allem auch die bizarre Hypothese des Atomzerfalls,
welche die radioaktiven Erscheinungen deutet -- nach welcher Uratome,
die Jahrmillionen hindurch trotz äußerer Einwirkungen ihr Wesen
unverändert bewahrt haben, plötzlich und ohne nachweisbaren Anlaß
explodieren und ihre kleinsten Teile mit einer Geschwindigkeit, die
Tausende von Kilometern in der Sekunde beträgt, im Weltraum verbreiten.
Dies +Schicksal+ trifft unter einer Menge radioaktiver Atome immer
nur einzelne, während die benachbarten davon ganz unberührt bleiben.
Auch dieses Bild ist Historie, nicht Natur, und wenn sich auch hier die
Anwendung der Statistik als notwendig erweist, so möchte man beinahe
vom Ersatz der mathematischen durch die chronologische Zahl reden.

Mit diesen Vorstellungen kehrt die mythische Gestaltungskraft der
faustischen Seele zum Ausgang zurück. Gerade damals, als zu Beginn
der Gotik die ersten mechanischen Uhren konstruiert wurden, Symbole
eines historischen Weltgefühls, entstand der Mythus von Ragnarök, dem
Weltende, der Götterdämmerung. Mag diese Konzeption, wie wir sie in
der Völuspa und in christlicher Fassung in den Muspilli besitzen, wie
alle vermeintlich urgermanischen Mythen nicht ohne Einwirkung antiker
und vor allem christlich-apokalyptischer Motive entstanden sein, sie
ist in dieser Gestalt Ausdruck und Symbol der faustischen und keiner
andren Seele. Die olympische Götterwelt ist ahistorisch. Sie kennt kein
Werden, keine Richtung, kein Ziel. So wenig die antiken Stadtstaaten
bewußte oder unbewußte Aufgaben und Endziele hatten, so wenig hat sie
das Dasein des Kosmos, die ewig gleiche Summe schöner Dinge. Der
abendländische Geist aber gestaltet aus der Leidenschaft der Ferne
heraus, sei es den Staat, das Bild der Natur oder das einzelne Leben.
Die Kraft, der Wille hat ein Ziel, und wo es ein Ziel gibt, gibt es
auch ein Ende. Was die Perspektive der großen Ölmalerei durch den
Konvergenzpunkt, was der Rokokopark durch den Point de vue, was die
Analysis durch das Restglied der unendlichen Reihen symbolisierte, den
Abschluß einer gewollten Richtung, tritt hier in streng geistiger Form
hervor. Der Faust des zweiten Teils der Tragödie stirbt, weil er sein
Ziel +erreicht+ hat. Mag aus den älteren Kulturen noch so viel
mythologische Substanz herübergenommen sein, lebendig wurde sie erst
durch Umprägung in einem neuen, im dynamischen Sinne. Das Weltende
als Vollendung einer innerlich notwendigen Entwicklung -- das ist die
Götterdämmerung; das bedeutet also, als letzte, als irreligiöse Fassung
des Mythus, die Lehre von der Entropie.


15

Es bleibt noch übrig, den Ausgang der abendländischen Wissenschaft
überhaupt zu zeichnen, der heute, wo der Weg sich bereits abwärts
senkt, mit Sicherheit übersehen werden kann.

Auch das, die Voraussicht des unabwendbaren Schicksals, gehört zur
Mitgift des historischen Blickes, den +nur+ der faustische
Geist besitzt. Auch die Antike starb, aber sie wußte nichts davon.
Sie glaubte an ein ewiges Sein. Sie hat noch ihre letzten Tage mit
rückhaltlosem Glück, jeden für sich, als Geschenk der Götter durchlebt.
Wir kennen unsere Geschichte. Wir werden mit Bewußtsein sterben und
alle Stadien der eignen Auflösung mit dem Scharfblick des erfahrenen
Arztes verfolgen.

Es steht uns noch eine letzte geistige Krisis bevor, welche das
+ganze+ Abendland ergreifen wird. Ihren Verlauf erzählt der späte
Hellenismus. Die Tyrannei des Verstandes, die wir nicht empfinden, weil
die heutigen Generationen ihr Maximum darstellen, ist in jeder Kultur
eine Epoche zwischen Mann und Greis, nicht mehr. Ihr deutlichster
Ausdruck ist der Kultus der exakten Wissenschaften, der Dialektik, des
Beweises, der Erfahrung, der Kausalität. Die Ionik und das Barock
zeigen seinen Aufschwung; es fragt sich, in welcher Gestalt er zu Ende
geht.

Auch hier darf noch einmal an früher Gesagtes erinnert werden: wie
jeder höhere Mensch in sich, in der Entfaltung seiner individuellen
Seele die Epochen seiner Kultur noch einmal durchlebt, wie der
mystische Akt des Tiefenerlebnisses, durch welchen um das Jahr 1000 die
faustische Seele in der westeuropäischen Landschaft geboren wurde, in
jedem Kinde noch einmal das Erwachen des so und nicht anders, faustisch
nämlich gearteten Innenlebens anzeigt, so erlebt jeder bedeutende
wissenschaftliche Mensch persönlich, was seine Wissenschaft im Verlaufe
ihres organischen Werdens erlebte. Da ist ein Jugendstadium des
schrankenlosen Optimismus, der gewiß ist, daß alles erkannt werden kann
und einmal erkannt werden wird. Damit beginnen nach der gotischen und
dorischen Frühzeit die leidenschaftlichen Visionen Lionardos, Galileis,
Brunos, Huttens und dementsprechend die der großen Vorsokratiker.
Das ist die Morgenröte der reinen Geistigkeit. Die Gotik ersehnte
sie, das Barock errang sie, die -- westeuropäische und hellenistische
-- Zivilisation besitzt sie, um zu erfahren, wie fragwürdig dieser
Besitz ist. Man muß viel wissen, ehe man so weise ist, daß man am
Sinn und Wert des Wissens zu zweifeln anfängt. Das _de omnibus
dubitandum_ des Descartes erstreckte sich hierauf +nicht+. Sein
Zweifel war nur die Maske einer siegesgewissen Zuversicht. Der reine
Gehirnmensch, für den die Welt restlose Beute seiner intellektuellen
Fähigkeiten ist, erscheint erst mit dem 3. und 19. Jahrhundert. Aber
es beginnt endlich ein Kampf gegen die Wissenschaftlichkeit, an deren
Rechten man zweifelt, deren Herrschaft einen leisen Ekel einzuflößen
beginnt, zuerst mit der feinen Skepsis Pyrrhons und Nietzsches,
während die mittleren Geister noch mit ihren „wissenschaftlichen
Errungenschaften“ einen gewaltigen Lärm machen. Indessen braucht man
nur die Bücher unserer tiefsten Physiker aufzuschlagen -- und die
Physik ist das Meisterstück des faustischen Geistes --, um zu sehen,
wie die Resignation, die Bescheidung in Hinsicht auf Ziele, Erfolge und
Möglichkeiten täglich zunimmt.

Ich sage es voraus: noch in diesem Jahrhundert, dem Zeitalter des
wissenschaftlich-kritischen Alexandrinismus, wird sie den Willen zum
Siege der Wissenschaft überwinden. Die europäische Wissenschaft geht
der Selbstvernichtung durch Verfeinerung des Intellekts entgegen. Man
hatte zuerst ihre Mittel geprüft -- im 18. Jahrhundert, dann ihre
Macht -- im 19.; man durchschaut endlich ihre historische Rolle.
Von der Skepsis führt ein Weg zur „zweiten Religiosität“, jener der
sterbenden Weltstädte, jener kranken Innerlichkeit, die nicht vor,
sondern nach einer Kultur kommt, die greisen Seelen wärmend, wie es die
morgenländischen Kulte im späten Rom taten.

Der Einzelne leistet Verzicht, indem er die Bücher weglegt.
Eine +Kultur+ verzichtet, indem sie aufhört, sich in hohen
wissenschaftlichen Intelligenzen zu offenbaren; aber Wissenschaft
existiert nur im lebendigen Dasein großer Gelehrtengenerationen, und
Bücher sind nichts, wenn sie nicht in Menschen, die ihnen gewachsen
sind, lebendig und wirksam werden. Wissenschaftliche Resultate sind
keine objektive Materie, wie der typische Gelehrte glaubt; sie
sind lediglich Elemente einer geistigen Tradition. Der Tod einer
Wissenschaft besteht darin, daß sie niemandem mehr innerstes Ereignis
wird. Ihr Vorhandensein ist von dem Vorhandensein verwandter Geister
abhängig.

An die Müdigkeit des Geistes glaubt heute niemand, so sehr wir sie
schon in allen Gliedern spüren. Aber zweihundert Jahre Zivilisation
und Orgien der Wissenschaftlichkeit -- dann hat man es satt. Nicht
der Einzelne, die Seele der Kultur hat es satt. Sie drückt das aus,
indem sie ihre Forscher, die sie in die historische Welt des Tages
hinaufsendet, immer kleiner, enger, unfruchtbarer wählt. Das große
Jahrhundert der antiken Wissenschaft war das dritte, nach dem Tode des
Aristoteles. Als die Römer kamen, als Archimedes starb, war es schon
zu Ende. Unser klassisches Jahrhundert ist das neunzehnte. Gelehrte
im Stile von Gauß, Humboldt, Helmholtz waren schon um 1900 nicht mehr
da; in der Physik, wie in der Chemie, der Biologie wie der Mathematik
sind die großen Meister tot, und wir erleben heute das Decrescendo der
Nachzügler, die ordnen, sammeln und abschließen wie die Alexandriner
der Römerzeit. Es ist das ein +allgemeines+ Symptom. Nach Lysipp
ist kein großer Plastiker mehr gekommen, dessen Erscheinung ein
Schicksal gewesen wäre, nach Rembrandt und Velasquez kein Maler, nach
Beethoven kein Musiker mehr. Man beachte wohl, weshalb Goethe, im
Vergleich mit Shakespeare, sich einen Dilettanten nannte, und weshalb
Nietzsche Wagner den Namen eines Musikers absprach. Was war zur Zeit
Cäsars die Tragödiendichtung oder die Physik? Eine Angelegenheit von
vorgestern, ein Thema für die Überflüssigen. Auf Eratosthenes und
Archimedes, die eigentlichen Schöpfer, folgen Poseidonios und Plinius,
die mit Geschmack sammeln, und endlich Ptolemäus und Galen, die nur
noch abschreiben. Wie die Ölmalerei und die kontrapunktische Musik ihre
Möglichkeiten in einer kleinen Zahl von Jahrhunderten einer organischen
Entwicklung erschöpft haben, so ist die Dynamik, deren Formenwelt um
1600 aufblüht, ein Gebilde, das heute im Erlöschen begriffen ist.

Zuvor aber erwächst dem faustischen, eminent historischen Geiste eine
noch nie gestellte, noch nie als möglich geahnte Aufgabe. Eines Tages
wird eine +Morphologie der exakten Wissenschaften+ geschrieben
werden, die untersucht, wie alle Gesetze, Begriffe, Theorien als Formen
innerlich zusammenhängen und was sie als solche historisch bedeuten.
Die theoretische Physik, Chemie, Mathematik als Inbegriff von Symbolen
betrachtet -- das ist die endgültige Überwindung des mechanischen
Weltaspektes durch die intuitive, wiederum religiöse Weltidee. Das
ist das letzte Meisterstück einer Physiognomik, welche auch noch die
Systematik als Objekt in sich auflöst. Wir werden künftig nicht mehr
fragen, welche allgemein gültigen Gesetze der chemischen Affinität
oder dem Diamagnetismus zugrunde liegen -- eine Dogmatik, die das 19.
Jahrhundert ausschließlich beschäftigt hat -- wir werden sogar erstaunt
sein, daß verhältnismäßig primitive Fragen wie diese, Köpfe von solchem
Range völlig beherrschen konnten. Wir werden untersuchen, woher diese
der faustischen Intelligenz vorbestimmten Formen kommen, warum sie uns
Menschen einer einzelnen Kultur im Unterschiede von jeder andern kommen
mußten, welcher tiefere Sinn darin liegt, daß die gewonnenen Zahlen
gerade in dieser bildhaften Verkleidung in Erscheinung treten. Und
dabei ahnen wir heute kaum, was alles von den vermeintlich objektiven
Werten und Erfahrungen nur Verkleidung, nur Bild und Ausdruck ist.

Die einzelnen Wissenschaften, Erkenntnistheorie, Physik, Chemie,
Mathematik, Astronomie nähern sich mit wachsender Geschwindigkeit.
Wir gehen einer vollkommenen Identität der Resultate und damit
einer Verschmelzung der Formenwelten entgegen, die einerseits ein
auf wenige Grundformeln reduziertes System von Zahlen (funktionaler
Natur) darstellt, andrerseits als deren Benennung eine kleine Gruppe
von Theorien und bildhaften Anschauungen bringt, die endlich als
verschleierter Mythus wieder erkannt und ebenfalls auf einige Typen,
aber von durchaus vitaler, physiognomischer Bedeutung zurückgeführt
werden können und müssen. Man hat diese Konvergenz nicht bemerkt, weil
seit Kant und eigentlich schon seit Leibniz kein Gelehrter mehr die
Problematik +aller+ exakten Wissenschaften beherrschte.

Noch vor hundert Jahren waren Physik und Chemie einander fremd; heute
sind sie einzeln nicht mehr zu behandeln. Man denke an die Gebiete der
Spektralanalyse, der Radioaktivität, an die kinetische Gastheorie. Vor
fünfzig Jahren war das Wesentliche der Chemie noch fast ohne Mathematik
darstellbar; heute sind die chemischen Elemente im Begriff, sich in
mathematische Konstanten variabler Beziehungskomplexe zu verflüchtigen.
Die Elemente aber waren in ihrer sinnlichen Faßlichkeit die letzte
antik-plastisch anmutende Größe der Naturwissenschaft gewesen. Die
Molekulartheorie ist längst ein Gebiet der reinen Mathematik geworden.
Die Physiologie steht im Begriff, ein Kapitel der organischen Chemie
zu werden und sich der Mittel der Infinitesimalrechnung zu bedienen.
Die nach Sinnesorganen wohlunterschiedenen Teile der älteren Physik,
Akustik, Optik, Wärmelehre sind aufgelöst und zu einer Dynamik
der Materie und einer Dynamik des Äthers verschmolzen, deren rein
mathematische Grenze sich bereits nicht mehr aufrecht erhalten läßt.
Heute vereinigen sich die letzten Betrachtungen der Erkenntnistheorie
mit solchen der Analysis und der Physik (vor allem der Optik) zu einem
sehr schwer zugänglichen Gebiete, dem z. B. die Relativitätstheorie
gehört. Die Emanationstheorie der radioaktiven Strahlengruppen wird
durch eine Zeichensprache dargestellt, der nichts Anschauliches mehr
anhaftet.

Die Chemie ist im Begriff, statt der schärfsten anschaulichen
Bestimmung der Qualitäten der Elemente (Wertigkeit, Gewicht,
Affinität, Reagibilität) diese sinnlichen Momente vielmehr zu
beseitigen. Daß die Elemente je nach ihrer „Abstammung“ aus
Verbindungen verschieden charakterisiert sind, daß sie Komplexe
diskreter Einheiten darstellen, die zwar experimentell („wirklich“)
als Einheit höherer Ordnung wirken und mithin praktisch nicht
trennbar sind, daß sie aber hinsichtlich ihrer Radioaktivität tiefe
Verschiedenheiten aufweisen, daß durch die Emanation von strahlender
Energie ein Abbau stattfindet und man also von einer +Lebensdauer+
der Elemente reden darf, was offenbar dem ursprünglichen Begriff des
Elements und damit dem Geiste der von Lavoisier geschaffenen modernen
Chemie völlig widerspricht -- all das rückt diese Vorstellungen in die
Nähe der Entropielehre mit ihrem bedenklichen Gegensatz von Kausalität
und Schicksal, Erkenntnis und Erlebnis, Natur und Historie und
kennzeichnet den Weg der westeuropäischen Wissenschaft einerseits zur
Aufdeckung der Identität ihrer formalen, logischen oder zahlenmäßigen
Resultate mit der Struktur des Verstandes selbst, andrerseits zu der
Erkenntnis, daß die gesamte, diese Zahlen und Begriffe einkleidende
Theorie lediglich den symbolischen Ausdruck des faustischen Lebens
darstellt.

Die Tatsache, daß Radium sich unter gewissen Bedingungen in Helium,
ein Element sich also in ein anderes verwandelt, greift die Grundlagen
der chemischen Theorie an. Die Relativitätstheorie beweist zum
mindesten, daß die absolute Größe einer Strecke eine Vorstellung
ist, die ernstlich angezweifelt werden darf. Diese Vorstellung aber
ist die Voraussetzung der messenden Physik. Die Vielzahl der in sich
widerspruchslosen Geometrien, deren Einführung in die Physik und
Astronomie neben der bisher allein verwandten euklidischen sich aus
methodischen Gründen heute vollzieht, widerspricht zwar sicherlich
gewissen bisher nie angezweifelten Sätzen der Erkenntnistheorie, vor
allem derjenigen Kants, beweist aber damit nur, daß auch hier geistige
Konventionen vorliegen, an denen Zweifel möglich oder angebracht sind.
An dieser Stelle ist endlich als eines der wichtigsten Fermente des
gesamten Formenkomplexes die echt faustische Mengenlehre zu nennen,
die im schärfsten Gegensatz zur antiken Mathematik nicht mehr die
singulären Größen, sondern den +Inbegriff+ irgendwie morphologisch
gleichartiger Größen (etwa die Gesamtheit aller Quadratzahlen, aller
Differentialgleichungen von bestimmtem Typus) als neue Einheit, als
neue +Zahl+ höherer Ordnung auffaßt und neuartigen, früher
ganz unbekannten Überlegungen bezüglich ihrer Mächtigkeit, Ordnung,
Gleichwertigkeit, Abzählbarkeit[122] unterwirft. Man charakterisiert
die endlichen (abzählbaren, begrenzten) Mengen hinsichtlich ihrer
Mächtigkeit als „Kardinalzahlen“, hinsichtlich ihrer Ordnung als
„Ordinalzahlen“ und stellt die Gesetze und Rechnungsarten derselben
auf. So ist eine letzte Erweiterung der Funktionentheorie, die ihrer
Formensprache nach und nach die gesamte Mathematik einverleibt hatte,
in Verwirklichung begriffen, wonach sie in bezug auf den Charakter
der Funktionen nach Prinzipien der Gruppentheorie, in bezug auf den
Wert der Variablen nach mengentheoretischen Grundsätzen verfährt. Die
Mathematik ist sich dabei der Tatsache vollkommen bewußt, daß hier
die letzten Erwägungen über das Wesen der Zahl mit denen der reinen
Logik zusammenfließen, und man spricht von einer Algebra der Logik.
Die moderne geometrische Axiomatik ist vollkommen ein Kapitel der
Erkenntnistheorie geworden.

Das unvermerkte Ziel, dem dies alles zustrebt und das insbesondere
jeder echte Naturforscher als Trieb in sich empfindet, ist das
Herausarbeiten einer reinen, zahlenmäßigen Transzendenz, die
vollkommene und restlose Überwindung des Augenscheins und dessen
Ersatz durch eine dem Laien unverständliche und unvollziehbare
Bildersprache, der das große faustische Symbol +des unendlichen
Raumes+ innere Notwendigkeit verleiht. Der Kreislauf der
Naturerkenntnis des Abendlandes vollendet sich. Mit dem tiefen
Skeptizismus dieser letzten Einsichten knüpft der Geist wieder an die
Formen frühgotischer Religiosität an. Die anorganische, erkannte,
zergliederte Umwelt, die Welt als Natur, als System ist zu einer
reinen Sphäre funktionaler Zahlen vertieft worden. Wir hatten die Zahl
als eines der ursprünglichsten Symbole jeder Kultur erkannt, und so
folgt, daß der Weg zur reinen Zahl die Rückkehr des Geistes zu seinem
eignen Geheimnis, die Offenbarung seiner eignen formalen Notwendigkeit
ist. Die faustische Zahl war nicht sinnliche Größe, sondern abstrakte
Beziehung. Am Ziele angelangt, enthüllt sich endlich das ungeheure,
immer unsinnlicher, immer durchscheinender gewordene Gewebe, das die
gesamte Naturwissenschaft umspinnt: Es ist nichts andres als die innere
Struktur des Geistes, der sie zu gestalten glaubte. Darunter aber
erscheint wieder das Früheste und Tiefste, der Mythus, das unmittelbare
Werden, das Leben. Je weniger anthropomorph die Naturforschung zu
sein glaubt, desto mehr ist sie es. Sie beseitigt nach und nach
die einzelnen menschlichen Züge des Naturbildes, um endlich als
die vermeintliche reine Natur die Menschlichkeit selbst, rein und
ganz, die unmittelbare Form des Verstandes, in Händen zu halten.
Aus dem religiösen Seelentum der Gotik ging der das ursprüngliche
Weltgefühl überschattende städtische Intellekt, das _alter ego_
der irreligiösen Naturerkenntnis hervor. Heute, in der Abendröte der
wissenschaftlichen Epoche, im Stadium des siegenden Skeptizismus,
lösen sich die Wolken, und die Landschaft des Morgens ruht wieder in
vollkommener Deutlichkeit. Die Natur als starrer Inbegriff funktionaler
Gesetze, ganz abstrakt, ganz infinitesimal -- das ist nichts als das
mechanische Bild des faustischen Geistes, das sich vom organischen
Grunde ablöst. Den Grund aber hatten schon die romanische Ornamentik
und die gotischen Dome offenbart.

Der letzte Schluß faustischer Weisheit, wenn auch nur in ihren höchsten
Momenten, ist die Auflösung des gesamten Wissens in ein ungeheures
System morphologisch-historischer Verwandtschaften. Dynamik und
Analysis sind dem Sinne, der Formensprache, der Substanz nach identisch
mit den Bildungen der gotischen Architektur und des dynastischen
Staates, den Tendenzen unsres mehr und mehr sozialistischen
Wirtschaftslebens und unserer impressionistischen Ölmalerei, der
Instrumentalmusik und der christlich-germanischen Dogmatik. Ein und
dasselbe Weltgefühl redet aus allen. Sie sind mit der faustischen Seele
geboren und alt geworden. Sie stellen ihre +Kultur+ als historisches
Phänomen in der Welt des Tages und des Raumes dar. Die Vereinigung der
einzelnen wissenschaftlichen Aspekte zum Ganzen wird alle Züge der
großen Kunst des Kontrapunkts tragen. +Eine infinitesimale Musik des
grenzenlosen Weltraums+ -- das ist immer die tiefe Sehnsucht dieser
Seele im Gegensatz zur antiken mit ihrem plastisch-euklidischen Kosmos
gewesen. Das ist, als Denknotwendigkeit des faustischen Weltverstandes
auf die Formel einer dynamisch-imperativischen Kausalität gebracht, zu
einer diktatorischen Naturwissenschaft gestaltet, ihr großes Testament
für den Geist kommender Kulturen -- ein Vermächtnis von Formen
gewaltigster Transzendenz, das vielleicht niemals eröffnet werden wird.
Damit kehrt eines Tages die abendländische Wissenschaft, ihres Strebens
müde, in ihre seelische Heimat zurück.


Fußnoten:

[Footnote 115: Etwa im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik in der
Fassung Boltzmanns: „Der Logarithmus der Wahrscheinlichkeit eines
Zustandes ist proportional der Entropie dieses Zustandes.“ Hier
repräsentiert jedes Wort eine vollständige Naturanschauung.]

[Footnote 116: Das Feuer gehört für das antike Auge dazu. Es ist der
stärkste optische Natureindruck, den es gibt und gestattet deshalb dem
antiken Geiste keinen Zweifel an seiner Körperlichkeit. Erde, Wasser
und Luft bedeuten den festen, flüssigen und gasförmigen Aggregatzustand
der physikalischen σώματα, ein rein sinnliches Sichverhalten. Man
vergleiche das mit dem Begriff des ἦθος in der Tragödie.]

[Footnote 117: Und man darf behaupten, daß der populäre Glaube, den
z. B. Haeckel mit den Namen Atom, Materie, Energie verbindet, von dem
Fetischismus des Neandertalmenschen nicht wesentlich verschieden ist.]

[Footnote 118: In Ägypten hat erst Ptolemäus Philadelphus den
Herrscherkult eingeführt. Die Verehrung der Pharaonen hatte eine ganz
andre Bedeutung.]

[Footnote 119: Die symbolische Bedeutung des Titels und seine Beziehung
zu Begriff und Idee der Person kann hier nicht gegeben werden. Es sei
nur darauf aufmerksam gemacht, daß die antike Kultur als einzige von
allen niemals einen Titel gekannt hat. Das würde dem streng Somatischen
ihrer Bezeichnungen widersprochen haben. Außer Eigen- und Beinamen
besaß sie nur die technischen Namen tatsächlich ausgeübter Ämter.
„Augustus“ wird sofort Eigenname, Cäsar sehr bald Amtsbezeichnung.
Aber man kann das Vordringen des magischen Gefühls daran verfolgen,
wie in der spätrömischen Beamtenschaft höfliche Wendungen wie _vir
clarissimus_ feststehende +Titulaturen+ werden, die verliehen
und entzogen werden können. Genau so sind die Namen fremder und älterer
Götter jetzt zu Titeln der anerkannten exklusiven Gottheit geworden.
„Heiland“ (Asklepios) und „Guter Hirte“ (Orpheus) sind Titel Christi.
In antiker Zeit aber waren sogar die Beinamen römischer Gottheiten
allmählich zu selbständigen Göttern geworden.]

[Footnote 120: Diagoras, der seiner „gottlosen“ Schriften wegen
in Athen zum Tode verurteilt wurde, hat tief fromme Dithyramben
hinterlassen. Man lese daraufhin Hebbels Tagebücher und seine Briefe an
Elise. Er „glaubte nicht an Gott“, aber er betete.]

[Footnote 121: Auch unsere Sprachen setzen ihn oder vielmehr das hinter
dem Wort stehende _numen_ schon voraus. Wir sagen, daß eine
Industrie „sich Absatzgebiete erschließt“ und daß der Rationalismus
„zur Herrschaft gelangt“. Das sind dynamische Wendungen. Keine antike
Sprache gestattet solche Ausdrücke. Hier liegt auch ein wesentlicher
Unterschied zwischen den Bildern der antiken und modernen Poesie.]

[Footnote 122: Die „Menge“ der rationalen Zahlen ist abzählbar, die
der reellen nicht. Die Menge der komplexen Zahlen ist zweidimensional;
daraus folgt der Begriff der n-dimensionalen Menge, welcher auch die
geometrischen Gebiete in die Mengenlehre einordnet.]


Ende des ersten Bandes.




Inhalt des zweiten Bandes:

Welthistorische Perspektiven.


  I. Grundformen der Geschichte.

    1. Ursprung und Landschaft. Die Gruppe der hohen Kulturen.
    Völkerformen und Sprachen.

    2. Die Geschichte einer Kultur als Ablauf eines organischen
    Prozesses. Urvölker, Kulturvölker, Fellachenvölker. Beispiel: Die
    Kultur der Maya.

  II. Das Problem der Zivilisation.

    1. Kultur und Zivilisation. Land und Stadt. Instinkt und Intellekt.
    Bauerntum und Bürgertum. Beispiel: Der Aufbau der ägyptischen
    Kultur.

    2. Weltstadt und Provinz. Zur Psychologie der Modernität.

    3. Der Imperialismus. Das chinesische Reich; das Imperium Romanum.
    Die westeuropäische Zukunft.

  III. Probleme der arabischen Kultur.

    1. Historische Pseudomorphosen: Die römische Kaiserzeit.

    2. Der Puritanismus: Pythagoras, Mohammed, Cromwell.

    3. Das Judentum.

  IV. Der Staat.

    1. Die indische Kultur und das Problem der Stände.

    2. Antike und abendländische Staatsidee: Polis und Dynastie.

    3. Stadien der politischen Form. Parlamentarismus; Cäsarismus.

  V. Das Geld.

    Münze und Kredit. Idee des Eigentums. Morphologie der
    Wirtschaftsgeschichte.

  VI. Die Symbolik der Maschine.

    Sklaventum und Maschinenindustrie. Zur Psychologie der
    westeuropäischen Technik: Sinn, Entwicklung und Lebensdauer. Der
    Erfinder als faustischer Typus.

  VII. Das Russentum und die Zukunft. Schluß.




OSWALD SPENGLER

PREUSSENTUM UND SOZIALISMUS

_21. bis 33. Tausend_

Preis M 6.--

  +Inhalt+: Einleitung -- Die deutsche Revolution -- Sozialismus als
  Lebensform -- Engländer und Preußen -- Marx -- Die Internationale

„Ich halte dies Buch für ‚aktueller‘ als die Enthüllungen, Prozesse,
Steuerprojekte alle, die uns sonst beschäftigen müssen: sie sind
Papier, +dies Buch ist Leben+ ... Ein Büchlein von 100 Seiten nur
und doch zu groß, um seine Linien so nachzeichnen zu können, wie man
es möchte.“ +Fritz Endres+ (München-Augsburger Abendzeitung). --
„Dieses Buch ist eine Bejahung des Preußentums, die gehört werden
wird, denn der sie ausspricht, ist ein Philosoph von Geblüt.“
+Willy Pastor+ (Tägliche Rundschau). --„Gleichviel, ob ihr Gehalt
im historischen Sinne ‚richtig‘, ob ihr Ziel das wahrhaft zu
erstrebende ist -- die Broschüre „Preußentum und Sozialismus“ war im
Augenblick ihres Erscheinens sofort eine Kraft, und sie ist selbst
eine gegenwartgestaltende Macht geworden. Mit diesem Auge müssen wir
sie sehen, nicht bloß als eine „Meinung“, an der man Kritik übt und
die man schließlich anfechtbar findet.“ +Eduard Spranger+ (Dresdner
Anzeiger). --„Oswald Spengler, der Verfasser des „Untergangs des
Abendlandes“, des bedeutendsten und universellsten Buches der letzten
zwanzig Jahre, hat unter dem Titel „Preußentum und Sozialismus“ ein
Werk der Öffentlichkeit übergeben, das -- man mag zu Spenglers Skepsis
und Kulturtheorien stehen, wie man will! -- in geradezu hervorragender
Klarheit und Wahrheit sowohl die heutige Lage psychologisch analysiert,
als auch unseren schicksalhaften Weg ihrer Überwindung zum Aufbau
hin darstellt. Auf nur 99 Seiten gibt Spengler eine derartige Fülle
von Gedanken, daß es nicht möglich ist, sie auch nur andeutungsweise
anzugeben, man müßte denn das ganze Buch nachschreiben. Jeder, dem des
Vaterlandes Not im Herzen brennt, sollte das Buch zur Hand nehmen!“
+Ernst Buske+ (Wandervogel).

Alle hier angegebenen Preise sind wegen der stets steigenden Kosten
unverbindlich.

C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck in München




=Der Untergang des Abendlandes und der Christ= Von =A. ALBERS=. M 1.50.
Soeben erschienen.

Idealisten wenden sich mit Ingrimm gegen den Relativismus Spenglers
und suchen in dem dichten Netze seiner Gedanken irgendwo eine
Lücke zu finden, durch die sie seinem schrecklichen Relativismus
entfliehen könnten. Der Christ fürchtet diesen nicht, ja er sieht
in ihm eine Förderung seines geistigen Lebens. Er weiß einen Punkt,
der ihn außerhalb aller Relativität stellt. Von ihm aus kann er den
Spenglerschen Kosmos ruhevoll betrachten: sein Weltbild birgt noch
tiefere Geheimnisse für alles Denken und Schauen. Mit Ernst ist in
diesem Aufsatz gezeigt, wie Spenglers Buch seine zahlreichen Leser in
der Richtung zum Christlichen vorwärts bringen kann.


=Der deutsche Geist und die Form= Gedanken und Betrachtungen von =MAX
ZOBEL von ZABELTITZ=. M 6.--. Soeben erschienen.

Die Schrift eröffnet im Hinblick auf die letzten politischen Schicksale
der Deutschen tiefe und heilsame Einsichten in das Wesen und die
Geistesart unseres Volkes; sie zeigt, wie überraschend tief bei ihm
der Zusammenhang zwischen politischem und geistigem Leben ist, so tief
nämlich, daß auch für die bekannten und so oft entgegengehaltenen
Widersprüche: Weimar -- Potsdam, Weltbürgertum -- Nationalstaat nur ein
und dieselbe Wurzel in der deutschen Seele nachweisbar ist. Hier liegen
bedeutsame Erkenntnisse, welche eine Erklärung für viele Erscheinungen
in der deutschen Politik und im deutschen Geistesleben bieten. Aus der
Mannigfaltigkeit und dem Ueberreichtum der deutschen Seele ergibt sich
dem Verfasser als erste Notwendigkeit und einzige Aussicht für das
deutsche Volk der Wille zur Form -- staatlich wie geistig genommen.
+Die gedankenreiche, glänzende Schrift ist ein Sammelruf in der
allgemeinen Zersplitterung an das geistige Deutschland.+


=Von der innern Not unseres Zeitalters= Ein Ausblick auf Fausts
künftigen Weg. Von =ROBERT SAITSCHICK=. 2. Auflage. Gebunden M 4.50

„Faust ist auch in Saitschicks Betrachtung nur der Name für den inneren
Menschen unserer Tage. Und wie Goethe, so setzt auch Saitschick sich
mit ihm selbständig auseinander. Nur sieht er schärfer; denn Faust ist
inzwischen ein Jahrhundert seinen Weg weiter gegangen.“ +Hochland.+


=Der Staat und was mehr ist als er= Von =ROBERT SAITSCHICK=. Gebunden M
12.--

+Inhalt+: Einleitung -- Was ist der Staat? -- Staat und Individuum --
Macht und Recht -- Staat und Sittlichkeit -- Nation -- Patriotismus
-- Der Staat und die tragischen Widersprüche des Menschen -- Vom
Weltfrieden -- Völkergemeinschaft.


=Laotse / Tao Teh King= Vom Geist und seiner Tugend. Übertragen von
=H. FEDERMANN=. In Pappband gebunden M 8.--, in Javapapier gebunden M
12.--. Soeben erschienen.

Diese neue Uebertragung der tiefsinnigen Sprüche des Laotse ist
in direkter Fühlung mit dem chinesischen Urtext entstanden. Der
Uebersetzer, der selbst eine der Lyrik und Musik offene Seele besitzt,
konnte dem schwierigen Text und dem Geist der Sprüche allseitig gerecht
werden.


C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck in München




Soeben ist erschienen:

+Immermann+

Der Mann und sein Werk im Rahmen der Literaturgeschichte

von

Harry Maync

Gebunden M 60.--


Dieses Werk bildet einen neuen Band der angesehenen und
weitverbreiteten Sammlung von Dichterbiographien unseres Verlags.
Es ist einem Autor gewidmet, dessen zwei Hauptwerke, „Die Epigonen“
und der „Münchhausen“ (mit der in ihm eingeflochtenen herrlichen
Dorfgeschichte „Der Oberhof“), in der Entwicklung des deutschen
Romans epochemachend geworden sind, der aber gleichwohl dem heutigen
Geschlechte weniger bekannt ist, als er nach der Vielseitigkeit seiner
literarischen Betätigung -- Immermann ist durch seine dramaturgische
Tätigkeit zumal auch für das deutsche Theater von Bedeutung geworden
-- und vor allem nach dem Gewicht seiner aufrechten und männlichen
Persönlichkeit verdiente. -- Die Zeitspanne von den Freiheitskriegen
bis zum Jahre 1840, in die Immermanns Schaffen fällt, war eine ganz
unpolitische, wesentlich aufs Literarische und Geistige gerichtete
Epoche; sie mutet uns Heutige nach dem politischen Schiffbruch,
den wir soeben erleiden mußten, wie ein schönes Traumland an. Als
in jenen Jahren der bekannte englische Staatsmann und vielgelesene
Schriftsteller Sir Ed. Bulwer in der berühmt gewordenen Widmung
seines „Ernest Maltravers“ „das große deutsche Volk“ als „das Volk
der Dichter und Denker“ ansprach, wollte dieser Titel gleichwohl
diesem nicht recht gefallen. Heute, wo wir Deutsche am Grabe unserer
politischen Hoffnungen stehen, ist es wie wenn jene Bezeichnung neue
Geltung erhalten sollte. Das Leben Immermanns, eines der literarischen
Hauptvertreter jener Epoche, gewinnt daher sicherlich heute ein
verstärktes Interesse für uns Deutsche, freilich auch in dem Sinne,
daß es uns lehrt, daß ein seiner Kräfte bewußtes Volk von bloßer
Geistigkeit nicht leben kann, sondern mit innerer Notwendigkeit
auf politische Betätigung hingetrieben wird. Harry Maync legt in
seiner fesselnden Darstellung mit Recht starken Nachdruck auf die
Herausarbeitung des zeitlichen Milieus. Das bedeutende und anregende
Buch darf den weitesten Kreisen zum Studium und zur Lektüre wärmstens
empfohlen werden und wird niemand enttäuschen.


C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck in München




JOHANNES VOLKELT:


=Das ästhetische Bewußtsein= Prinzipienfragen der Ästhetik. Geheftet M
28.- (Soeben erschienen.)

+Inhalt+: I. Ästhetische Gegenständlichkeit. -- II. Der Tatbestand
der ästhetischen Einfühlung. -- III. Zur Theorie der ästhetischen
Einfühlung. -- IV. Ursprung der Einfühlung überhaupt. -- V. Illusion
und ästhetische Wirklichkeit. -- VI. Mit-Wahrnehmung und Phantasie im
ästhetischen Betrachten. -- VII. Der Gebild-Charakter des ästhetischen
Verhaltens. -- Sachregister.

Diese Untersuchungen können als Phänomenologie des ästhetischen
Bewußtseins bezeichnet werden. Das dem ästhetischen Anschauen
hingegebene Bewußtsein wird in seiner wesenhaften Verfassung
beschrieben, wobei die Beziehung von Bewußtheit und Gegenständlichkeit
in den Mittelpunkt gerückt ist. Das Buch bildet eine Ergänzung der
großen Ästhetik Volkelts.


=Gewißheit und Wahrheit= Untersuchung der Geltungsfragen als
Grundlegung der Erkenntnistheorie. Geheftet M 26.--, gebunden M 40.--

„Wir zweifeln nicht, daß das gediegene, glänzend geschriebene Werk
auf die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung und Fragestellung
einen nachhaltigen, tiefgehenden Einfluß üben wird.“ +Geisteskampf der
Gegenwart.+


=System der Ästhetik= Drei Bände. Gebunden M 105.--

„Das Werk Volkelts ist durchgängig erfüllt mit ästhetischem Vollgehalt;
es gibt keine leeren Fächer darin, keine abstrakten Nieten, keine
überflüssigen Spitzfindigkeiten ... Ein auf allen ästhetischen Gebieten
erfahrener, wohlorientierter, gebildeter Geist waltet über dem Ganzen.“
Professor Dr. +O. Liebmann+ (Frankfurter Zeitung).


=Ästhetik des Tragischen= Dritte, neubearbeitete Auflage. Gebunden
M 30.--

„Nicht bloß der Forschung im engeren Sinn, auch der Kritik und vor
allem dem Unterricht hat Volkelts Werk unschätzbare Dienste geleistet,
hat Unzähligen für die feinsten Abschattungen tragischen Erlebens und
Gestaltens die Augen geöffnet und uns klärend und vertiefend zu den
letzten Fragen hingeleitet.“ Prof. Dr. +Rob. Petsch+ (Neue Jahrbücher
für das klassische Altertum).


=Kunst und Volkserziehung= Betrachtungen über Kulturfragen der
Gegenwart. Zweiter Abdruck. Gebunden M 2.80 und 75% Teuerungszuschlag.

„Das Anziehende des Buches bildet die konsequente Ablehnung jeder
moralisierenden Tendenz für die Kunst und das warm begeisterte
Eintreten für eine in ihrem tiefsten Wesen begründete Sittlichkeit,
die eins mit ihr wird. So begegnen sich Ästhetik und Ethik hier in
harmonischer Verschmelzung.“ +A. Brausewetter+ (Der Tag).


=Festschrift Johannes Volkelt= zum 70. Geburtstag dargebracht. VII, 428
Seiten. Lex. 8^o. Geheftet M 25.--

Mit Beiträgen von Wilhelm Wundt, Jonas Cohn, Bruno Bauch, Albert
Köster, Georg Witkowski, Hermann Schwarz, Walther Schmied-Kowarzik, Max
Frischeisen-Köhler, Otto Klemm, Hermann Schneider, Richard Falckenberg,
Max Dessoir, Ernst Bergmann, Felix Krueger, Wilhelm Wirth, F. R.
Lipsius, Eduard Spranger, Paul Barth.


C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck in München


=Platon= Sein Leben, seine Schriften, seine Lehre. Von =CONSTANTIN
RITTER=. +Erster Band+: Platons Leben und Persönlichkeit, Philosophie
nach den Schriften der ersten sprachlichen Periode. XV, 588 Seiten 8^o.
Geheftet M 8.--*, gebunden M 9.--*


=Platon und die Aristotelische Ethik= Von =Dr. HANS MEYER=, Professor
der Philosophie in München. 1919. VI, 300 Seiten 8^o. Geheftet M 16.--


=Geschichte der griechischen Literatur= von =WILH. v. CHRIST=. Unter
Mitwirkung von Professor Dr. OTTO STÄHLIN (Erlangen) neubearbeitet von
Professor Dr. WILHELM SCHMID (Tübingen).

(_Handbuch der klassischen Altertumswissensschaft VII. Band_)

  I. Teil: =Die klassische Periode der griechischen Literatur=. 6.
  Auflage. 1912. 50 Bogen Lex. 8^o. Geheftet M 23.50, gebunden M 41.50

  II. Teil, 1. Hälfte: =Die nachklassische Literatur= von 320 v. Chr.
  bis 100 n. Chr. 6. Auflage. 1920. 42-1/2 Bogen Lex. 8^o. Geheftet M
  35.--, geb. M 55.--. (Soeben erschienen.)

  II. Teil, 2. Hälfte: =Die nachklassische Periode der
  griechischen Literatur= von 100 bis 530 n. Chr. 5. Auflage.
  1913. Mit alphabetischem Sachregister und einem Anhang von 45
  Porträtdarstellungen, ausgewählt und erläutert von J. +Sieveking+.
  50⅝ Bogen Lex. 8^o. Geheftet M 25.50, gebunden M 43.50


=Geschichte der römischen Literatur= bis zum Gesetzgebungswerk des
Kaisers Justinian. Von =MARTIN von SCHANZ=.

(_Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft VIII. Band_)

  I. Teil, 1. Hälfte: =Von den Anfängen der Literatur bis zum Ausgang
  des Bundesgenossenkrieges.= Mit Register. 3. Auflage. 23 Bogen Lex.
  8^o. Geh. M 12.25, geb. M 26.25

  I. Teil, 2. Hälfte: =Bis zum Ende der Republik=. Mit Register. 3.
  Auflage. 33⅞ Bogen Lex. 8^o. Geheftet M 17.50, gebunden M 33.50

  II. Teil, 1. Hälfte: =Die augustische Zeit=. Mit Register. 3.
  Auflage. 38½ Bogen Lex. 8^o. Geheftet M 17.50, gebunden M 33.50

  II. Teil, 2. Hälfte: =Vom Tode des Augustus bis zur Regierung
  Hadrians=. Mit Register. 3. Auflage. 38½ Bogen Lex. 8^o. Geheftet
  M 17.50, gebunden M 33.50

  III. Teil: =Die römische Literatur von Hadrian bis auf Constantin
  (324 n. Chr.)=. Mit Register. 2. Auflage. Vergriffen.

  IV. Teil, 1. Hälfte: =Die Literatur des 4. Jahrhunderts=. Mit
  Register. 2., vermehrte Auflage. 36¾ Bogen Lex. 8^o. Geheftet M
  17.50, gebunden M 33.50. Die zweite Hälfte (die Literatur des 5. und
  6. Jahrhunderts) erscheint Herbst 1920.


=Griechische Staatskunde= Von =Dr. GEORG BUSOLT=, ord. Professor an
der Universität Göttingen. 3., neugestaltete Auflage der Griechischen
Staats- und Rechtsaltertümer. 1. Hauptteil: Allgemeine Darstellung des
griechischen Staates. 41 Bogen Lex. 8^o. Geheftet M 30.--, gebunden M
50.--. (Soeben erschienen.)

(_Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft IV. Band, 1.
Abteilung, 1. Hälfte_)


=Griechische Kultusaltertümer= Von =Dr. P. STENGEL=, Professor am
Joachimsthalschen Gymnasium in Berlin. 3., neubearbeitete Auflage.
17½ Bogen Lex. 8^o. Mit 6 Tafeln. Geheftet M 20.--, gebunden M
35.--. (Soeben erschienen.)

(_Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft V. Band. 3. Abteilung_)


=Geschichte der antiken Philosophie= Von =WILHELM WINDELBAND=. 3.
Auflage bearbeitet von Dr. ADOLF BONHÖFFER. Geh. M 10.50, geb. M 24.50

(_Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft V. Band, 1. Abteilung,
1. Teil_)


Zu den mit * versehenen Preisen kommt noch ein Teuerungszuschlag des
Verlages von 75%.


C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck in München


=Geschichte der deutschen Literatur= bis zum Ausgang des Mittelalters.
Von Professor =Dr. G. EHRISMANN=. 1. Teil: Die althochdeutsche
Literatur. (Soeben erschienen.) Geheftet M 22.50, gebunden M 30.--


=Die deutschen Dichter des lateinischen Mittelalters= in deutschen
Versen von =PAUL von WINTERFELD=. Herausgegeben von HERMANN REICH. In
Halbleinen gebunden M 16.--


=Deutsche Altertumskunde= von Professor =Dr. FR. KAUFFMANN=. 1. Hälfte:
Von der Urzeit bis zur Völkerwanderung. Geheftet M 17.50, in Leinwand
gebunden M 24.--


=Deutsches Sagenbuch= Herausgegeben von Professor =Dr. FRIEDRICH v.
d. LEYEN=. 1. Teil: Die Götter und Göttersagen der Germanen. Von
Professor Dr. FR. v. d. LEYEN. 2. Auflage. VIII, 278 Seiten 8^o. In
Pappband M 22.--. (Soeben erschienen.) -- 2. Teil. Die deutschen
Heldensagen. Von Professor Dr. FR. v. d. LEYEN. VIII, 352 Seiten 8^o.
In Pappband M 11.--. -- 3. Teil: Die deutschen Sagen des Mittelalters.
Von K. WEHRHAN. 1. Hälfte: Kaiser und Herren. VIII, 210 Seiten 8^o.
In Pappband M 11.--. 2. Hälfte: Stämme und Landschaften, Ritter und
Sänger. X, 254 Seiten 8^o. In Pappband M 17.--. (Soeben erschienen.) --
4. Teil: Die deutschen Volkssagen. Von Dr. FR. RANKE. XVII, 294 Seiten
8^o. In Pappband M 11.--


=Die Germanen= Eine Erklärung der Überlieferung über Bedeutung,
Herkunft des Völkernamens. Von =TH. BIRT=. M 4.50


=Deutsche Geschichte= Von =OSKAR JÄGER=. 5. Auflage (14. bis 16.
Tausend) +Erster Band+: Bis zum westfälischen Frieden. 43 Bogen mit 112
Abbildungen und 7 Karten. / +Zweiter Band+: Bis zur Gegenwart. 43 Bogen
mit 108 Abbildungen und 8 Karten. Gebunden M 45.--


=Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender=

=Kriegsjahrgänge 1914, 1915 und 1917=

  Neue Folge. =30. Jahrgang 1914= (der ganzen Reihe LV. Band).
  Herausgegeben von =WILHELM STAHL=. In zwei Hälften. XXXII und 1248
  Seiten. M 45.--

  Neue Folge. =31. Jahrgang 1915= (der ganzen Reihe LVI. Band).
  Herausgegeben von =ERNST JÄCKH= und =KARL HÖNN=. In zwei Hälften. LI,
  1454 Seiten. M 60.--

  Neue Folge. =32. Jahrgang 1916.= Im Druck.

  Neue Folge. =33. Jahrgang 1917= (der ganzen Reihe LVIII. Band).
  Herausgegeben von =WILHELM STAHL=. In zwei Hälften. 1. Hälfte:
  IV, 1048 Seiten. 2. Hälfte: XXXV, 1067 Seiten. M 100.--. Soeben
  erschienen.


C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck in München


=Goethe= Sein Leben und seine Werke. Von =ALBERT BIELSCHOWSKY=. 38. und
39. Auflage. Zwei Bände mit zwei Porträtgravüren. In Halbleinenband M
70.--


=Schiller= Sein Leben und seine Werke. Von =KARL BERGER=. 11. und 12.
Auflage (34. bis 39. Tausend). Zwei Bände mit zwei Porträtgravüren. In
Halbleinenband M 65.--


=Herder= Sein Leben und seine Werke. Von =EUGEN KÜHNEMANN=. 2.,
neubearbeitete Auflage. Mit Porträtgravüre. In Halbleinenband M 24.--


=Schiller= Von =EUGEN KÜHNEMANN=. Sechste Auflage (16. bis 19. Taus.).
In Halbleinenband M 40.--. (Soeben erschienen.)


=Theodor Fontane= von =CONRAD WANDREY=. Geb. M 20.--

  „Das kluge, gediegene und liebevolle, dabei in seiner Rede die
  richtige Tonhöhe wahrende und in kritischen Einzelheiten sehr feine
  Buch will, wie es im Vorwort heißt, das Fontanebild dieser Gegenwart
  einfangen, und das heißt, es dient in der Hauptsache und fast
  ausschließlich dem Epiker, denn dieser ist es, der lebt und gilt
  .... Es ist eine Glanzleistung, die, wie wir glauben möchten, mit
  ihrem Gegenstande durch die Zeiten ehrenvoll verbunden bleiben wird.“
  +Thomas Mann+ (Berliner Tageblatt).


=Goethes Faust= Nach Entstehung und Inhalt erklärt. Von =ERNST
TRAUMANN=. Zweite Auflage. +Erster Band+: Der Tragödie erster Teil.
+Zweiter Band+: Der Tragödie zweiter Teil. In Halbleinenband M 45.--

  „Unsere Literatur über unsere Literatur ist nicht allzu reich an
  solchen wahrhaft ins Herz der Dichtung führenden Werken.“ Professor
  Dr. J. +Hofmiller+ (Süddeutsche Monatshefte). -- „Wir werden
  an dem Werk die ausführlichste, wissenschaftlich zuverlässigste und
  gründlichste Erklärung des Faust haben.“ +Pädagogische Blätter.+


=Bausteine zu einer Ästhetik der innern Form= Von =FRIEDRICH LIPPOLD=.
XXIV, 400 Seiten. In Halbleinenband M 20.--

  Nicht nur die Wissenschaft der Ästhetik, sondern die deutsche
  Literatur wird mit diesem Buche um einen Denker und Schriftsteller
  seltener Art bereichert. Bis zu +seiner+ Tiefe hat wohl niemand
  bisher die Schönheiten der ersten Züricherseestrophe Klopstocks oder
  von Goethes „Euphrosyne“ und „Auf Miedings Tod“ ausgekostet und von
  diesen Erlebnissen im Reiche des Schönen Kunde gegeben. Lippold war
  eine Persönlichkeit in der Art F. Th. Vischers und Wilh. Diltheys
  und wird in unserer traurigen Gegenwart wie ein Klang aus dem alten
  Deutschland vor 1870 wirken, das der Welt so viele Denker und Lehrer
  gegeben hat.


C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck in München




Soeben ist erschienen:

ERNST DROEM

+GESÄNGE+

EINGEFÜHRT VON

OSWALD SPENGLER

  Geheftet M 10.--     Gebunden M 14.--


In Oswald Spenglers Werk „Der Untergang des Abendlandes“ 3.-15. Auflage
Seite 331 ist in bedeutungsvoller Weise auf den Dichter hingewiesen mit
den Worten:

  „_Die moderne Poesie der welkenden Alleen, der endlosen Straßenzüge
  unserer Weltstädte, der Pfeilerreihen eines Domes, der Gipfel einer
  fernen Gebirgskette ..... Baudelaire, Verlaine und X haben diese
  Gefühle in Verse gebracht._“

Mit der Veröffentlichung der „GESÄNGE“ von ERNST DROEM wird
der literarischen Welt dieses X nun aufgelöst. Eine bedeutende
Dichterpersönlichkeit, von kosmischen Visionen gleich Goya und Daumier
bestürmt, ein Meister der Sprache und der modernsten Form, tritt
hier -- was bei Dichtern sonst selten ist -- aus sorgsam gehüteter
Verborgenheit hervor mit der reifen Frucht ihres Geistes und ihrer
Kunst.

OSWALD SPENGLER hat der ersten Gabe dieses Dichters eine Einleitung
über die Lyrik der Gegenwart vorangeschickt, die ganz neue Gedanken und
Gesichtspunkte bietet.


C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck in München


C. H. Beck’sche Buchdruckerei in Nördlingen





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER UNTERGANG DES ABENDLANDES, ERSTER BAND ***


    

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Volunteers and financial support to provide volunteers with the
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Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
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Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
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array of equipment including outdated equipment. Many small donations
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status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
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States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
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