Frau Rietschel das Kind

By Georg Hirschfeld

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Title: Frau Rietschel das Kind

Author: Georg Hirschfeld

Release date: May 31, 2025 [eBook #76197]

Language: German

Original publication: Berlin: Deutsche Buchvereinigung »Neuland«, 1925

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FRAU RIETSCHEL DAS KIND ***



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                     Anmerkungen zur Transkription.

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                           Georg Hirschfeld

                       Frau Rietschel das Kind




                       Frau Rietschel das Kind

                                Roman

                                 von

                           Georg Hirschfeld


                  Deutsche Buchvereinigung »Neuland«

                                Berlin




 Copyright 1925 by Deutsche Buchvereinigung »Neuland« GmbH., Berlin.
   Gedruckt bei Herrosé & Ziemsen GmbH. in Wittenberg (Bez. Halle)




                            ERSTES KAPITEL


»Sache mit Wohnung wäre gemacht.«

Diese Worte flüsterte Viktor Schwarz, der junge Assessor am
Amtsgericht Strelenwalde. Es war ein Monolog, den er am offenen
Fenster seines neuen Zimmers hielt. Viktor Schwarz liebte kurze
Monologe. Sie schlossen seiner Selbstzufriedenheit eine Reihe
wichtiger Überlegungen ab, und er konnte sich unbeschwert dem nächsten
Unternehmen zuwenden.

Das hatte er wirklich wieder gut gemacht. Die Hände auf das Gesims
gestützt, lehnte er sich in den hellen Frühlingstag hinaus. Direkt
gegenüber lag das Häuschen des Konditors. Wie nett man es von hier
aus übersehen konnte! Etwas geradezu Rührendes hatte der alte
Patrizierbau mit dem spitzen Giebel und den bunten Hyazinthen, die
an allen Fenstern leuchteten. Viktor Schwarz konnte sich denken, wer
die Blumenfreundin war. Eine Frau Konditor gab es nicht mehr -- die
lag schon lange draußen auf dem Friedhof. Aber Liese, die Blonde,
Liese, die Schlanke, herrschte in der Wohnung, wie im Laden. Von
ihren fleißigen Händen lebten die Blumen. Und man konnte von der
vorzüglichen neuen Wohnung aus auch hinter das Haus des Konditors
sehen. Da lag der kleine Hof, da lag das Gärtchen. Der ganze Kreis von
Lieses Tätigkeit war zu überblicken.

Freilich -- hier runzelte sich die Stirn des Assessors, als ob er
seinem schwächeren Ich widersprechen müßte; er hatte auch noch anderes
zu tun, als am Fenster zu stehen und ein junges Mädchen zu beobachten.
Mit seinem Beruf nahm er es sehr ernst. Er hatte nicht umsonst die
Verbannung aus Berlin auf sich genommen. Die beiden Jahre Amtsgericht
mußte er hinter sich haben -- dann noch Landgericht, vielleicht schon
Moabit -- und dann: er sah sich wie ein Sultan über den abendlichen
Bosporus fahren -- Rechtsanwalt in der Taubenstraße, Erbe der
Joachimschen Praxis.

Immerhin -- Viktor Schwarz war nie ein Bücherwurm geworden. Indem er
es mit Goethe hielt, der ja auch Jurist gewesen, bewahrte er sich von
Anfang an das Ausleben seiner Persönlichkeit. In Strelenwalde war es
auch so übel nicht. Immer geachtet, immer als Instanz befragt -- am
Honoratiorentische im »Goldenen Engel« saß der Herr Assessor neben dem
Kreisarzt und dem Bürgermeister gegenüber. Ließ Viktor Schwarz sich
auf der Gasse blicken, grüßte man ihn aus Türen und Fenstern. Mancher
hübsche Mädchenkopf drehte sich nach ihm um.

Er pflegte eine gewisse Leutseligkeit. Auch die Huld der Frauen nahm
er als selbstverständlich hin. Schon über seiner Kindheit hatte das
Gesetz gewaltet: Mache dich beliebt, aber verkaufe dich nicht, sei den
Menschen, mit denen du lebst, ein Wohlgefallen, aber verpflichte dich
nirgends. Es waren Grundsätze des Altberliner Liberalismus, der in
der Familie Schwarz erfolgreiche Stützen hatte. Viktor Schwarz kannte
die Menschen. Er fühlte sich gefeit, und das beste war, daß man es
ihm nicht anmerkte. Nur wer tiefer in seine blanken Augen blickte,
die durch allzu scharfe Gläser ein wenig zum Schielen neigten, konnte
mißtrauisch werden. Aber noch lebte der Kern des Starken und Guten
in ihm: er war noch jung, er hatte Empfänglichkeit für das wirklich
Wertvolle. Deshalb wandelte sich ihm die Welt, als er Liese Prutz
erblickt hatte.

Bisher war er nur als Gast in ihre Nähe gekommen. Jeden Nachmittag
erschien er in der Prutzschen Konditorei und nahm an dem runden
Marmortischchen Platz, das dem Herrn Assessor geheiligt war. Liese
kam in ihren netten Schuhen und fragte: »Wie immer, Herr Assessor?«
Nach wenigen Minuten hatte er den guten Kaffee mit dem noch besseren
Napfkuchen vor sich. Liese war das Muster einer züchtigen und doch
freien Kleinstadtbedienung. Sie gab sich Herren gegenüber durchaus
nicht schüchtern. Sie verweilte mit graziöser Sicherheit am Tisch.
Man durfte ganz ausführlich ihre schlanke Gestalt betrachten, man
konnte auch lange Blicke in das frische Gesicht emporsenden und den
reinen, blonden Scheitel bewundern -- alles blieb in Ehren.

Viktor Schwarz verstand sich auf weibliche Reize. Hier störte ihn
nichts Zimperliches, hier brauchte er keine Spekulation zu fürchten --
dieses Mädchen lebte im Gleichgewicht seiner bürgerlichen Kraft. Liese
Prutz suchte keinen Mann, sie ließ das Schicksal an sich herankommen.
Ahnte sie, wie groß ihr Erfolg bei ihm war? Sie war das erste Weib
in Strelenwalde, nach dessen Gunst der Herr Assessor trachtete. Doch
allmählich brachte sie auch eine peinliche Unruhe über ihn. Viktor
Schwarz stellte als strenger Selbsterzieher die Kardinalfrage: »Was
ist mit dir los? Bist du verliebt? Das wäre fatal, aber man muß es
sich eingestehen.«

Er gestand es sich ein. »Wenn du dich nur nicht verplemperst«, hatte
Onkel Joachim in Berlin zu ihm gesagt. Nein, das wollte er nicht. Das
war schon aus dem einfachen Grunde ausgeschlossen, weil ein Mädchen
wie Liese Prutz ihm heilig war. Aber er wußte nicht, was er mit ihr
anfangen sollte.

Da kam es wie eine Eingebung über ihn, als er erfuhr, daß im Hause
des Sattlermeisters Schörg, der Prutzschen Konditorei gegenüber, ein
Zimmer zu vermieten sei. Und wenn es eine Million kostete. So viel
kostet es natürlich nicht, aber Viktor Schwarz mietete es sofort und
erklärte im »Goldenen Engel«, daß er doch wieder Furcht vor Wanzen
habe. Die eine Wanze, die sich einmal in seinem Zimmer gezeigt hatte,
verwandte er als Kündigungsgrund.

Liese erzählte er nicht, daß er ihr jetzt gegenüber wohnte. Sie wußte
es natürlich längst, denn Neuigkeiten hatten in Strelenwalde schnelle
Beine. Gerade weil der Herr Assessor nichts von seiner neuen Wohnung
erwähnte, spürte Liese die Bedeutung seines Schrittes. Es ergab sich
nun ein hübsches Spiel von Blicken und Nicken über die Gasse fort.
Wenn Liese am Fenster stand und ihre Hyazinthen begoß, erschien
»zufällig« gegenüber auch der Assessor. Dann kam es immer wieder zum
Gruß, nicht ohne schelmische Verlegenheit. Erglühend zog sich Liese
zurück, und Viktor Schwarz hätte vor Begeisterung den Hochzeitsmarsch
von Mendelssohn spielen mögen. Er hatte aber noch kein Klavier.

Als er richtig verliebt war, wurde er auch wieder naiv. Er rechnete
nämlich mit allem, nur nicht mit der bösen Beobachtungsgabe der
Strelenwalder. Geradezu blind aber zeigte er sich gegen Vater Prutz.
Der alte Konditor war ein typischer Vertreter seiner Heimat. Nirgends
ließ sein Horizont eine Lücke offen. Er wirkte wie ein milder,
abgeklärter Greis, aber er trug eine Maske, denn es blieb ihm nichts
anderes übrig. Das Schicksal war grausam gegen ihn gewesen, es hatte
ihm früh seine gute Berta genommen. Nun fügte er sich dem Leben, wie
es in Strelenwalde vorgeschrieben war. Er bediente seine Kunden, er
sorgte für sein sauberes, altes Geschäft. Denken und Fühlen nützte
er nur für eine vorbildliche Schlagsahne. Er glich mit seinem weißen
Vollbart und der goldenen Brille einem alten Professor, wenn er über
süße Leckereien grübelte.

Aber auch Liese, seine Tochter, galt ihm nur für den Beruf bestimmt.
Daß sie hübsch und allgemein beliebt war, nützte dem Geschäft --
anders sah er sie nicht. Er wies den Gedanken von sich, daß Liese
einmal heiraten und ihn verlassen könnte. Aber er war ein Kenner
der Strelenwalder Lebemänner -- deshalb blieb er auf seiner Hut. Da
war es ihm denn gar nicht recht, daß Assessor Schwarz plötzlich bei
Sattlermeister Schörg wohnte. Die gesellschaftliche Stellung des
jungen Mannes schätzte er richtig ein, aber um so mehr mißtraute er
seinen Absichten. Auch wurmte es ihn, daß der neidische Sattlermeister
tückische Bemerkungen unter die Leute bringen konnte. Schörgs Tochter
war verwachsen, und Liese galt als die Schönheit von Strelenwalde. Da
konnte man sich vorstellen, wer die Anziehungskraft für Viktor Schwarz
bildete.

Nach zornigem Nachdenken beschloß Vater Prutz, der unvorsichtigen
Liese gegenüber deutlicher zu werden. Sie brachte eben die ersten
Spargel auf den Tisch und glaubte ihren Vater in gute Laune zu
versetzen -- da knurrte er: »Den Herrn Assessor habe ich wirklich für
einen feineren Mann gehalten.«

Liese zuckte zusammen, aber sie beherrschte sich:

»Warum denn, Vater?«

»Na, das tut doch kein feiner Mann, daß er plötzlich zu dem Gauner, zu
dem Schörg zieht, und den ganzen Tag am Fenster steht und uns in die
Stuben guckt!«

»Hat er das getan? Davon weiß ich garnichts.«

»So?«

»Außerdem sind doch im ›Goldenen Engel‹ Wanzen --«

Jetzt ließ Vater Prutz seinen Spargel, den er schon in den Mund
gesteckt hatte, wieder auf den Teller fallen. Er schlug mit der Faust
auf den Tisch und schrie: »Komm du mir auch noch damit! Ich sage
dir, daran glaub' ich nicht! Ich würde mich nicht wundern, wenn der
Engelwirt den Assessor bei seinem eigenen Gericht wegen Verleumdung
verklagt!«

»Vater, Vater --«

»Jedenfalls ist es unverschämt von dem Mann! Er hat den ganzen Tag
sein Fenster offen und zwingt uns, unsere Fenster zuzuhalten!«

»Ja, um Gottes willen -- wieso denn?«

»Frage nicht, als ob du erst zwölf wärst! Du bist doch ein anständiges
Mädchen! Das Fenster von deiner Stube muß selbstverständlich immer
geschlossen bleiben!«

»Unsinn, Vater! Ich will auch mal frische Luft haben! Was soll denn
das alles? Der Herr Assessor kann doch wohnen, wo er Lust hat! Der hat
außerdem was andres zu tun, als mir in die Stube zu gucken! Der hat
den halben Tag im Gericht zu tun! Der ist überhaupt ein sehr feiner
Mann! Der ist feiner als hier alle zusammen!«

Nach diesen Worten verließ Liese das Zimmer und knallte die Tür hinter
sich zu. Nun blieb ihr Vater mit dem Spargel allein. Aber er war etwas
eingeschüchtert. --

Am nächsten Morgen fuhr Liese zum Einkauf über Land. Sie lenkte selbst
ihren steifbeinigen Schimmel.

Voll Unruhe lief Viktor Schwarz heute durch die Strelenwalder Straßen.
Er wollte sich doch noch einmal prüfen. Vielleicht täuschte er sich
über seine Gefühle. Vielleicht liebte er Liese Prutz gar nicht,
sondern war nur ein bißchen in sie verschossen. Jedenfalls konnte er
jetzt noch tadellos davonkommen.

Da führte ihn sein Weg bis zum Küstriner Tor hinaus. Selten kam er
in diese Gegend. Hier wohnten Arbeiter in niederen blaugetünchten
Häuschen. Es war Abend geworden. Lange war er über das alte
Holperpflaster gelaufen -- mit schmerzenden Füßen blieb er stehen.
Indem er auf den gotischen Bogen des Küstriner Tores starrte, sah
er, wie etwas Helles und Lebendiges durch sein Dunkel kam. Ein
weißer Pferdekopf erschien und dahinter ein Wägelchen, das von einer
weiblichen Gestalt gelenkt wurde. Etwas Frisches und Frühlingshaftes
ging von diesem Bilde aus. Wie sie die Peitsche schwang -- kein
Zweifel: Liese Prutz kam auf ihn zu. Hinter ihr saß in freundlicher
Bescheidenheit, das Kapotthütchen auf dem Kopf und die eingekauften
Waren hütend, Tante Sanftleben.

Viktor Schwarz zog tief den Hut. Liese erkannte ihn jetzt, lachte
fröhlich und hielt bei ihm.

»Guten Abend, Herr Assessor! Wie kommen Sie denn ans Küstriner Tor?«

»Bin auch müde genug, Fräulein Prutz! Ihre Vaterstadt hat ein
mörderisches Pflaster!«

»Finden Sie? Darüber hab' ich noch gar nicht nachgedacht.«

»Ach ja«, seufzte Tante Sanftleben. -- »Der Herr Assessor hat ganz
recht.«

»Aber dann steigen Sie doch bei uns ein -- Sie brauchen doch nicht den
langen Weg zurückzulaufen. Sie wohnen uns doch gegenüber.«

Viktor Schwarz sah Liese betroffen an: »Geht das? Glauben Sie, daß ich
mir so was erlauben darf?«

»Warum denn nicht?«

»Na, wissen Sie, in Strelenwalde haben die Leute komische Ansichten.«

Liese lachte: »Das stimmt! Aber daraus macht man sich am besten
nichts! Steigen Sie nur ruhig ein -- Tante rückt noch ein bißchen!«

Das alte Fräulein errötete, wagte aber nicht zu opponieren. --
»Natürlich«, flüsterte sie eifrig. »Es geht ja sehr gut! Nur Vorsicht,
Herr Assessor -- daß Sie sich ja nicht auf die Eier setzen!«

Mit Grazie turnte Viktor Schwarz hinauf und saß nun hinter Liese. Dann
klatschte die schöne Kutscherin mit ihrer Peitsche, und in frischem
Trabe ging es über das Holperpflaster. Es stieß zwar heftig, aber
Viktor Schwarz glaubte über eine Himmelswiese zu fahren. Keck sah er
auf die erstaunten Strelenwalder, die die Köpfe zusammensteckten.
Jetzt stand es für ihn fest: er begrub jeden Zweifel. Er wollte um
Liese Prutz kämpfen, denn sie war das lieblichste Geschöpf.




                           ZWEITES KAPITEL


Alles war im Keller gut verpackt -- der Vater war heute mit Lieses
Einkäufen besonders zufrieden. Nach dem Essen ging sie bald in ihr
Zimmer, denn sie war ehrlich müde und mußte am nächsten Morgen früh
heraus. Da wartete viel Gartenarbeit auf sie.

Aber sie kleidete sich noch nicht aus. In ihrer hell tapezierten Stube
ging sie noch eine Weile umher und betrachtete, was sie genau kannte.
Von einem Bildchen, das »Erwartung« hieß und eine schöne junge Dame
in abendrotem Fenster zeigte, wandte sie sich zu ihrem eingerahmten
Konfirmationsspruch, von diesem zu »Tannhäuser und Elisabeth« und
daneben zu einer Gruppenphotographie ihrer Schulfreundinnen. An
einer Parfümflasche roch sie, und eine schimmernde Muschel hielt sie
lauschend ans Ohr. Dann besann sie sich noch einmal, ob sie auch
wirklich alle Pflichten erfüllt hatte. Unten im Stall hörte sie Peter,
den alten Schimmel, stampfen -- aber der hatte ja reichlich Futter.

Liese seufzte und wandte sich nun doch zum Fenster. Ein scheuer Blick
zeigte ihr, daß sie nichts wagte. Gegenüber war alles dunkel -- der
Herr Assessor saß wohl noch im »Goldenen Engel«. Der Herr Assessor
... Sie lachte leise vor sich hin, denn eigentlich war er ihr schon
zu vertraut für den steifen Titel. Sie atmete tief und sog die reine
Nachtluft ein. Plötzlich erschrak sie vor ihrer eigenen, fremdartigen
Unruhe.

Sie wußte, daß sie Eindruck auf den begehrtesten Mann der Stadt
gemacht hatte. Aber sie war die Tochter ihres Vaters -- nicht
ausgezeichnet fühlte sie sich, nicht über Vorteile dachte sie nach.
Ihre reifen, heißen Sinne waren geweckt. Heute, nach dem schweren
Arbeitstage, ließen sie ihr keine Ruhe. Sie fragte sich mit pochendem
Herzen, ob auch ihr dieser Mann gefiel.

Aufmerksam sah sie in das Dunkel seines Zimmers. Doch, er gefiel
ihr. Schön war er ja eigentlich nicht. Doch seine Gepflegtheit, sein
gescheiter Blick. Man merkte ihm den Großstädter an. Es war schon zu
verstehen, wie die Mädchen von Strelenwalde sich nach einer Berliner
Heirat sehnten.

Sie zuckte ärgerlich zusammen. Warum dachte sie denn überhaupt
darüber nach? Für sie kam das nicht in Frage. Selbstverständlich, ein
herrliches Leben mußte die künftige Frau dieses Mannes führen.

Das verdammte Strelenwalde! Es durfte sie nicht um die ganze Zukunft
bringen. Liese stampfte mit dem Fuß auf. Sie fror jetzt in der
Nachtluft und schloß das Fenster. Aber in ihren Kleidern warf sie
ich aufs Bett. Immer nur Arbeit, Arbeit. Ein Tag wie der andere. Sie
war erst dreiundzwanzig, und der Vater dachte nur an sich. Wie würde
das enden? Wie es immer in Strelenwalde endete. Die Konditorstochter
heiratete den Papierhändlerssohn. Neue Lasten kamen, neue Arbeit.
Froschteich. --

Am nächsten Tage war Sonntag. Liese hatte einen guten Einfall. Nach
dem Frühstück entwischte sie dem Vater, der sich ins Strelenwalder
Kreisblatt vertiefte, und schloß sich in ihr Zimmer ein. Noch war
das Fenster gegenüber zu. Im »Goldenen Engel« mußte es gestern spät
geworden sein -- nun schlief er vielleicht einen kleinen Rausch aus,
der Herr Assessor. Liese lächelte, denn sie glaubte die Ursache des
Rausches zu kennen. Dann öffnete sie ihr Klavier und sang, was ihr
eben in den Sinn kam. Es war eine wunderliche Zusammenstellung: Franz
Schubert und Operettenschlager -- doch überall kam Liebe und Sehnsucht
vor.

Sie hatte eine hübsche, unverbildete Stimme. Ihr Fenster stand offen.
Sie wollte den Langschläfer drüben wach singen. Es glückte. Nach einer
Weile hörte sie gegenüber die Vorhänge aufziehen, und bald darauf
öffnete sich das Fenster. Sie konnte kaum weitersingen -- so kam sie
ins Lachen. Deutlich spürte sie, wie Viktor Schwarz sich langsam
herauslehnte und andächtig lauschte. Sie entdeckte sogar im Spiegel
den Schimmer seines geröteten Gesichts. Da konnte sie nicht weiter.
Plötzlich schlug sie das Klavier zu, sprang auf und lief aus dem
Zimmer. --

Als sie vormittags die Kirche verließ, traf sie Viktor Schwarz auf dem
Markt. Er war heute kecker als sonst. Obwohl sie sich im Schwarm der
Leute befanden, ließ er sie nicht vorüber. -- »Fräulein Prutz, ich muß
Ihnen noch mein ganz besonderes Kompliment machen! Sie haben heute
früh ein Talent entwickelt, von dem ich keine Ahnung hatte!«

Liese sah ihn schelmisch an. -- »Wahrscheinlich waren Sie doch sehr
böse auf mich? Ich hab´ Sie doch im schönsten Morgenschlaf gestört?«

»Aber wo denken Sie hin! So angenehm bin ich in meinem Leben noch
nicht geweckt worden! Nur das Programm war -- verzeihen Sie -- etwas
bunt. Der Frühlingsglaube von Schubert und der Zigeunerbaron -- wie
kommt denn das zusammen?«

Sie wurde rot: »Ach Gott, das liegt an meinem Album! Da steht es so!
Ich singe immer alles hintereinander! So musikalisch wie Sie bin ich
nicht!«

»Sie haben vor allen Dingen eine entzückende Stimme. Was meinen Sie
wohl, was man in Berlin dafür geben würde!«

»Ich singe bloß für mich.«

»Wenn Sie den richtigen Unterricht hätten, könnten Sie direkt eine
Künstlerin werden.«

»Sagen Sie das bitte nicht so laut. Wenn die Leute hier was von
›Künstlerin‹ hören, ist man schon bei ihnen unten durch.«

Liese wurde sich der gefährlichen Situation bewußt. Man kam aus der
Kirche -- da waren die Strelenwalder besonders streng. Die hübsche
Konditorstochter, die ohnehin auffiel, sah man zum erstenmal mit dem
Herrn Assessor gehen. Gewiß, sie waren gut bekannt, aber miteinander
gehen, nicht nur stehenbleiben, plaudern und Abschied nehmen, das war
ein starkes Stück. So etwas erlaubten sich überhaupt nur öffentlich
Verlobte.

Fräulein Knittel, die Lehrerin, und Frau Apotheker Barkhusen folgten
dem Paar in unauffälliger Entfernung.

»Gestern hat man sie auch schon zusammen gesehen«, tuschelte Frau
Barkhusen. »Und in einer Situation! Das wissen Sie doch?«

Die Lehrerin zog ihre gotischen Augenbrauen noch höher. »Ich habe
keine Ahnung!«

»Kutschiert hat sie ihn!« prustete die dicke Frau Apotheker. »Vom
Küstriner Tor bis vor ihres eigenen Vaters Haus! Es ist ein Skandal,
wie das Mädchen sich benimmt!«

»Kehrten sie von einem gemeinsamen Ausfluge zurück? Waren sie wirklich
auf dem Wagen allein?«

»Die Berichte lauten verschieden. Manche behaupten, daß die alte
Sanftleben dabeigewesen sein soll. Na, wenn auch -- die merkt ja
nichts, die ist ja so dumm.«

»Das wußte ich gar nicht, daß Fräulein Sanftleben dumm ist?«

»Ein Heupferd! Im übrigen natürlich schrecklich gutmütig. Nein, mir
tut nur der Vater leid. Wissen Sie, solch Mann -- so rücksichtsvoll
in jeder Beziehung -- jetzt hat er extra meinetwegen echte Lebkuchen
aus Nürnberg kommen lassen -- nein, über Herrn Prutz sind wirklich
alle Meinungen einig. Aber mit seiner Tochter werden wir noch böse
Erfahrungen machen!«

Frau Barkhusen rief es prophetisch. Im übrigen hatte sie Asthma und
konnte die Verfolgung des interessanten Paares nicht fortsetzen.
Viktor Schwarz und Liese Prutz waren in der schmalen Johannisgasse
verschwunden.

Hier war es immer schattig und still. Die Sonne konnte nur die Spitzen
der Giebel übergolden. Vom blauen Maienhimmel war ein schmaler Streif
zu sehen. Aus den uralten Häusern kam ein etwas muffiger Geruch.
Zuweilen aber zeigte sich in einem Gärtchen auch schon blühender
Flieder.

Viktor Schwarz sah, daß seine Begleiterin ernst war. Sie trug ihr
Gebetbuch in der Hand. Da hielt er sich für verpflichtet, ein ihm
völlig fremdes Gebiet zu berühren: »Wie war die Predigt heute,
Fräulein Prutz?«

Liese fuhr aus ihren Gedanken auf: »Das weiß ich eigentlich gar nicht.«

Er lächelte. »Das wissen Sie nicht?«

»Ach, unser Pastor ist schon alt. Ich habe ihn ja sehr gern -- mein
ganzes Leben hängt mit ihm zusammen -- aber er predigt doch nur für
alte Leute. Unsereiner -- man möchte doch mal was anderes hören ...«

Er lauschte entzückt. Dann fragte er: »War ihr Herr Vater auch in der
Kirche?«

»Nein, heute nicht. Er muß backen, und Tante Sanftleben bedient. Das
weiß der Herr Pastor, daß der Kuchen nicht alt werden darf -- Sonntag
nachmittag kommt er immer selber zum Kaffee.«

»Ah, so!«

Viktor Schwarz putzte lächelnd seinen Kneifer. Dann setzte er ihn
wieder auf, und die blanken Augen zogen sich zusammen: »Wie sähe denn
ungefähr die Predigt aus, die Sie sich wünschten, Fräulein Liese?«

Er nannte sie plötzlich beim Vornamen -- jetzt wurde sie zum erstenmal
verwirrt: »Aber das weiß man doch nicht -- das ist doch Sache vom
Herrn Pastor! Machen wir nicht einen Umweg, Herr Assessor? Ich müßte
doch längst zu Hause sein.«

Sie blickte ängstlich umher. Er schüttelte harmlos den Kopf -- aber
natürlich hatten sie einen Umweg gemacht. Um die Mädchenschule und den
ganzen Waisenhausgarten waren sie gegangen. Aber das war nun nicht
mehr zu ändern. Sie zürnte ihm fast ein bißchen, denn er hatte sie
überlistet. Wenn nur der Vater nichts merkte.

Endlich näherten sie sich der Prutzschen Konditorei. -- »Ach, die
beste Predigt ist doch solch Frühlingstag!« rief Viktor Schwarz
plötzlich. »Dagegen kommt alle Menschenweisheit nicht auf!«

Seine Stimme tönte. Sie zuckte zusammen. Eine fliegende Röte überzog
ihr schönes Gesicht.

»Morgen abend ist in der ›Post‹ ein Konzert von Berliner Künstlern«,
sagte er. »Kammermusik. Sehr schön. Ich habe zwei Karten. Darf ich
Ihnen die zweite anbieten?«

Sie war ganz bestürzt: »Aber Herr Assessor ... Ich danke Ihnen
vielmals ... Das ist ja so liebenswürdig ... Aber ich muß erst meinen
Vater fragen!« --

Sie fragte ihn natürlich nicht -- Viktor Schwarz dachte es sich schon.
Eine Ausrede hatte sie gebraucht. Herr Prutz glaubte, daß die Karte
von Adele Schörg stammte. Wenn man Liese nun auch neben dem Assessor
sah -- das konnte Zufall sein -- darüber dachte sie nicht weiter nach.
--

Es war ein sehr schönes Konzert. Immer stärker lösten sich die
Schleier von der großen Welt, in die sie durch Viktor Schwarz gezogen
wurde. Er hatte sie bis an die Schwelle geführt -- drüben konnte kein
Abgrund sein. Jetzt erst fühlte sie sich in Strelenwalde gefangen.
Während er sie durch die schwüle Nacht heimbegleitete, lauschte sie
durstig auf seine lockende Rede: »Ja, solche Künstler sind bei uns in
Berlin nur zweiten Ranges -- da müßten Sie die Ersten hören! Lauter
Weltberühmtheiten! Ich fehle bei keinem künstlerischen Ereignis! Ach,
überhaupt, Berlin -- gewiß, hier herrscht eine goldene Ruhe, und
Strelenwalde hat seine Vorzüge, aber in Berlin, da hat man doch erst
einen Begriff vom Leben! Viel Arbeit, gewiß, der Kampf ums Dasein ist
kolossal -- aber alles funkelt dafür auch von Kultur und Anregung!
Na, und eine junge Frau, die einen Mann in gesicherter Position hat
-- was sage ich, gesichert -- in glänzender Position -- die kann
sich wirklich nichts Besseres wünschen! In Berlin kommt sie erst zur
Entfaltung! Da erkennt sie ihre eigenen Möglichkeiten!«

»Ach, lieber Gott«, seufzte Liese. »Wenn noch welche da sind. Wenn sie
hier nicht längst verkümmert sind.«

Viktor Schwarz machte eine kühne Bewegung: »Das beurteilt nur ein
erfahrener Mann! Ich für meine Person, ich setze mich über alle
Hindernisse der Herkunft fort, wenn ich den richtigen Fond in einem
Mädchen entdecke! Die Naturbegabung entscheidet! Es kommt auf die
Auffrischung der Großstadtnerven an, auf die Veredlung durch die
unverbrauchte Kraft des Landes!«

Er hatte wie ein liberaler Volksredner gesprochen. Nun wußte sie
genug. Sie konnte nur noch, wirren Dank stammelnd, in das Haus ihres
Vaters schlüpfen. Er aber ging mit großen Schritten zu Sattlermeister
Schörg hinüber. Oben in seinem Zimmer war er vorsichtig. Als er Licht
gemacht, vertrieb er scheinbar nur einen lästigen Nachtfalter durch
das offene Fenster. Er bemerkte, daß Liese durch einen Spalt ihrer
Vorhänge sah und inbrünstig nickte. Da jagte er den Schmetterling und
nickte auch, aber das Nicken konnte zur Jagd gehören. --

Bald konstatierte er, daß er zum erstenmal eine schlaflose Nacht
hatte. So unangenehm das auch war, wenn am nächsten Morgen
Gerichtssitzung bevorstand -- er war doch stolz darauf. Nun lebte er
endlich in einem alles beherrschenden Gefühl. Ja, mit dem schlaffen
Junggesellenleben war es endgültig vorbei -- jetzt hieß es, auf ein
Ziel lossteuern.

Gewiß, er war sich starker Widerstände bewußt. Besonders, wenn er an
Onkel Joachim dachte. Der mußte ja etwas anderes mit ihm vorhaben.
Aber bei aller Dankbarkeit und allem Respekt -- er konnte sich nicht
mehr als Mündel einem Vormund gegenüber fühlen. Die Tage des blinden
Gehorsams waren vorbei. Jetzt mußte er der Schmied seines Glückes
werden.

Sicher und hochgemut verließ Viktor Schwarz am nächsten Morgen
seine Wohnung und ging zu Gericht. Heute wurde gegen Milchpanscher
verhandelt. Das war ein kalter Guß, den man sich aber gefallen
lassen mußte. Der Herr Amtsrichter sah zuweilen erstaunt auf seinen
Beisitzenden, der heute gar so zerstreut war und fast törichte Fragen
stellte. Wiederholt war die Würde des Gerichtes durch Viktor Schwarz
gefährdet. Aber auf der Miene des Verliebten lag zugleich ein so
verklärter Ernst, daß der Herr Amtsrichter sich wieder beruhigte.
Jedenfalls hatte der Assessor Großes vor.

Das hatte er in der Tat. Er baute an nichts Geringerem als an einem
unerschütterlichen Zukunftsplan. Doch als er mittags mit wuchtigen
Schritten seine Wohnung betrat, stand er wie vom Donner gerührt. Auf
dem Sofa saß behaglich lächelnd ein Besuch. Die imposante Gestalt des
Mannes, der bisher den größten Einfluß auf sein Leben gehabt, sah
er vor sich. Es war keine Augentäuschung -- Onkel Joachim hatte ihn
besucht ...




                           DRITTES KAPITEL


Der alte Justizrat war eine einschüchternde Persönlichkeit. Diese
Wirkung wußte er auszunutzen. Überall, wo er erschien, gründete er
seine Atmosphäre. Seine Redegewalt war dröhnend und von sarkastischer
Logik erfüllt. Man ahnte ein warmes Gemüt und wurde doch, wenn man
widerspenstig war, in eisige Kälte hinausgestoßen.

»Na, mein Junge? Du starrst mich ja an wie ein Gespenst am hellen
Tage? Noch bin ich ganz lebendig -- darauf kannst du dich verlassen.«

»Verzeihung, lieber Onkel -- ich bin ja vollkommen überrascht --
ich freue mich außerordentlich! Das ist ja reizend, daß du mal
nach Strelenwalde kommst. Ich bilde mir durchaus nicht ein, daß du
meinetwegen --«

»Doch, doch, Viktor. Hauptsächlich deinetwegen.«

»Wie sieht es in Berlin aus?« fragte der Neffe nach einer Weile
harmlos.

»Wie immer. Es wird gestrebt, aber dein Plätzchen bleibt frei.«

Sie gingen zum Mittagessen. Heute wurde es nicht der »Goldene Engel«,
sondern Benschers Weinstube im Rathaus. Lange blieb dieses Mahl in
Viktor Schwarz' Erinnerung.

Man ließ es sich schmecken. Onkel Joachim führte langsam sein
volles Glas an den Mund. Das Lächeln in seinen kleinen Augen war so
liebenswürdig und zugleich so tückisch, daß Viktor wieder die Fassung
verlor.

»Na, Prösterchen, mein Junge! Auf die Strelenwalder Gegenwart und die
Berliner Zukunft!«

Viktor stieß zu heftig an: »Ja, ganz in meinem Sinn, lieber Onkel!«

»Und in meinem! Ich darf doch annehmen, daß unsere Sinne konform
gehen?«

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Onkel.«

»Du hast recht, Viktor. Wir haben uns allzulange nicht gesehen.
Deshalb bin ich jetzt zu dir gekommen.«

»Wirklich, meinetwegen, Onkel?«

»Wirklich deinetwegen! Ich bin ein alter Mann. Und du bist meine
Zukunft, Viktor. Ich kann es gar nicht erwarten, daß du Anwalt wirst.
Die Geschäfte wachsen mir über den Kopf. Damit kann nur eine neue,
junge Kraft fertig werden. Und es bleibt dabei -- sobald du da bist,
ziehe ich mich zurück und übergebe dir alles. Mein Gott, freue ich
mich auf die paar Ruhejahre!«

Es war bewegend, diesen starken Mann zum erstenmal so sprechen zu
hören. Viktor entzog sich dem Eindruck nicht, wenn er auch wußte, was
der Wein tat.

»Onkel, was an mir liegt,« erwiderte er feierlich -- »du wirst mich
mit allem, was ich bin, bereit finden. Aber ich möchte dir bei dieser
Gelegenheit auch aussprechen -- --«

Er stockte. --

»Was, mein Junge?« Jetzt machte Viktor den entscheidenden Anlauf: »Es
handelt sich -- -- es ist wirklich ein ganz eigener Fall, daß wir uns
heute gerade wiedersehen. Ich wollte dir nämlich eben einen langen
Brief schreiben ...«

»So, so. Na, das ist mir ganz lieb, daß der mündlich abgemacht wird.
Lange Briefe kann ich nämlich nicht leiden. Was sollte denn ungefähr
drinstehen, Viktor?«

»Gestatte mir, Onkel -- ich möchte dir, wie immer, den Vortritt
lassen. Um meine Zukunft handelt es sich ja doch. Ich darf doch sicher
annehmen, daß das Motiv deines heutigen Besuches ein ganz spezielles
ist?«

»Also ja, lieber Viktor. Du hast recht. Ich habe nämlich in Berlin
inzwischen keine halbe Arbeit für dich getan. Du sollst ein fertiges
Bett vorfinden.« Hier kicherte Onkel Joachim. »Nun guckst du mich ganz
verdutzt an. Also, ich habe nicht nur eine Praxis, sondern auch schon
eine Frau für dich!«

Viktor konnte sich kaum beherrschen. Er fühlte, wie der stechende
Blick des Onkels ihn nicht losließ. Aber so ließ er sich nicht fangen.
Er war ja auch ein Berliner. -- »Was heißt das, Onkel? Du hast eine
Frau für mich? Verzeih -- da komme ~ich~ doch wohl auch noch ein
bißchen in Frage?«

»Ruhig Blut, lieber Junge. Selbstverständlich tust du das. Ich habe
eben als dein zweiter Vater -- das bin ich doch, nicht wahr? -- ganz
in deinem Sinne gewählt.«

»Aber Onkel, Onkel! Kann denn irgend etwas entschieden werden, ohne
daß ich selbst --«

»Entschieden wird gar nichts. Nur in die Wege geleitet. Also, mit
einem Wort: ich denke an Helene Kroner, die einzige Tochter meines
Studienfreundes, des Bankdirektors Kroner in Berlin! Ein durch und
durch gebildetes, wohlerzogenes Mädchen mit sage und schreibe 350000
Mark Vermögen! Es gibt auf der ganzen Welt keine bessere Partie
für dich, und der Vater ist meiner Ansicht! So, mein Junge! Das
unterbreite ich dir ergebenst! Und was hast ~du~ mir zu sagen?!«

Viktor Schwarz wischte sich die Stirn ab. -- »Onkel -- es ist namenlos
peinlich für mich -- je mehr ich empfinde, wen ich vor mir habe -- --
ich muß jetzt doch ganz aufrichtig sein.«

»Darum bitte ich!«

»Helene Kroner kenne ich aus vielen Gesellschaften. Sie ist sicherlich
gebildet und aus guter Familie -- die pekuniären Verhältnisse
unterschätze ich auch nicht -- aber man sagt, daß sie schwer belastet
sei.«

»Man sagt! Was sagt man nicht alles! Neidhämmel! Abgewiesene Freier!
Das Mädel ist ein bißchen schwächlich -- ja -- verwöhntes, einziges
Kind -- aber laß sie mal erst mit einem Kerl, wie du, verheiratet sein
--«

»Onkel, ich habe ein starkes Verantwortungsgefühl -- gerade mir selbst
gegenüber. Ich weiß genau, daß ich meinen Weg machen werde, aber darum
bin ich auch fest entschlossen, nur nach meiner Neigung zu wählen.«

»So? Bist du entschlossen? Das ist mir ja neu. Na, nun sind wir ja
schon mitten drin in der Romantik. Aber ich denke, wir können uns
kurz fassen. Eine Szene aus ›Kabale und Liebe‹ wollen wir doch nicht
spielen. Ich bin weder Präsident, noch bist du Major, noch hat Lene
Kroner Ähnlichkeit mit Lady Milford. Aber wo steckt die Luise? Hm?!
Heraus damit, mein Junge!«

»Wa -- was?« Viktor starrte den unheimlichen Onkel an. Der Name! Aber
das mußte ja Zufall sein. Er reckte sich und erwiderte mit bleichem
Trotz: »Ich bin auch gegen jede Komödie, Onkel. Ich verheimliche dir
nichts. Ich habe hier in Strelenwalde ein Mädchen lieben gelernt --«

Onkel Joachim trommelte auf den Tisch: »Lieben gelernt! Ausgezeichnet!
Kainz ist gar nischt dagegen!«

»Onkel, mir ist es bitter ernst. Ich müßte dich sonst bitten, dieses
Gespräch abbrechen zu dürfen.«

»Eine Frechheit, bei meiner Ehre, die ich um ihrer Seltenheit willen
verzeihe. Na, und dein Stichwort? Schillerkenner? Aber mir ist es auch
ernst, Viktor. Sehr ernst sogar. Also, wer ist es? Doch nicht etwa gar
der Wirtin Töchterlein? Da ist vorhin ein Wesen an mir vorbeigehumpelt
--«

Viktor zuckte zusammen: »Ich bitte dich -- das war die Tochter meines
Wirtes. Ich meine die Tochter des Konditors Prutz, der mir gegenüber
wohnt. Herr Prutz ist einer der angesehensten Bürger von Strelenwalde
--«

»Kenn' ich, kenn' ich! Was glaubst du denn? Ich bin hier doch auch mal
Assessor gewesen! Wie ich bei Prutz verkehrte, wollte er sich eben
verheiraten. Also das ist daraus geworden. Hübsches Mädel?«

Viktor schöpfte Hoffnung: »Entzückend, Onkel! Liese Prutz ist für
alles Höhere begabt. Wenn man sie aus ihrem Milieu erlöst, ihren
natürlichen Geschmack entwickelt -- ich sage dir, Onkel -- du wirst
begeistert sein.«

»Na, na -- es kommt darauf an, in welcher Hinsicht. Ich will dir
mal was sagen, lieber Junge. Damit wir uns von vornherein nicht
mißverstehen: An sich genommen, kann ich dich vollkommen begreifen,
daß du dir hier in dem langweiligen Nest solch appetitliches
Konditormädel als Zerstreuung ohne ernste Konsequenzen zulegst --
dagegen hätte ich nicht das mindeste einzuwenden --«

»Onkel!«

»Nun, was denn? Onkel!? Ich habe dir schon in Berlin gesagt: Genieße
dein Leben, aber verplempere dich nicht! Dabei bleibt es! Deine
Verhältnisse sind mir natürlich Wurscht! Wofür ich Interesse habe, das
ist einzig und allein deine Zukunft -- und dafür kommt Fräulein Prutz
~nicht~ in Betracht!«

»Du sollst dich über die ganze Sache nicht täuschen, Onkel. Bis jetzt
ist alles noch in mir verschlossen. Auch das Mädchen fühlt nur ...«

»So? Ihr seid also noch nicht einig?«

»Ihres Herzens bin ich sicher. Aber ich habe zuviel kindliche Pietät
dir gegenüber -- -- ich mußte es ~dir~ erst sagen ...«

Viktor glaubte nun dem Onkel einen Stoß versetzt zu haben. Als er
ihm aber ins lauernde Gesicht sah, wußte er sofort, daß er eine
große Dummheit begangen hatte. Justizrat Joachim bekam jetzt das
Übergewicht: »So, so ... Hm ... Nun, das ist mir ja recht lieb zu
hören. Die Sache steht also noch zwischen uns beiden zur Diskussion?
Von einem Heiratsversprechen ist nicht die Rede? Na, dann ist es ja
noch nicht so schlimm.«

»Heiratsversprechen! Ich liebe Liese Prutz --!«

»Das bildest du dir ein! Wenn du sie wirklich liebtest -- was ich
unter Liebe verstehe, Junge -- dann hättest du deinem Onkel gar nichts
gesagt!«

Das war ein Hieb -- der saß. Viktor fühlte sich auf den Mund
geschlagen. Ratlos starrte er den unheimlichen alten Mann an. Jetzt
aber ließ Onkel Joachim die Führung nicht mehr los: »Du brauchst mich
also, und ich bin zu deiner Verfügung. Ich ahnte deinen Konflikt --
deshalb bin ich gekommen. Daß du dich hier in Strelenwalde festrennst,
daß du dich zeitlebens mit einer Liaison behängst, das ist für mich
ganz ausgeschlossen!«

Viktor schloß die Augen. Seine Hände umklammerten den Griff
des Weinglases. -- »Und was, wenn ich fragen darf -- was wären
die Konsequenzen, Onkel, wenn es für mich doch nicht so ganz
ausgeschlossen wäre?«

Die imposante Gestalt Onkel Joachims reckte sich plötzlich.
Sein graues Haar sträubte sich: »Oho! Kommst du mir mit der
Kabinettsfrage?! Na, dann will ich dir so reinen Wein einschenken
wie der von Benscher! Entweder gehen unsere Wege zusammen, oder sie
trennen sich!«

»Onkel!«

»Ich meinerseits kann von meinem Lebensplan nicht mehr zurück. Du
bleibst mein Erbe unter der Bedingung, daß du einen Weg beschreitest,
den ich gutheiße. Du mußt eine große Partie machen. Glaube mir, ich
kenne das Leben besser als du. Das Glück des Mannes heutzutage ist
die Karriere. Hier magst du noch treiben, was du Lust hast -- aber in
Berlin -- -- entweder fügst du dich und blamierst mich nicht -- oder
...«

Onkel Joachim brach ab. Den Rest konnte sein Neffe sich denken.

»Ist das dein letztes Wort, Onkel?«

»Mein allerletztes.«

Das Gespräch war zu Ende. Man erhob sich tief erregt und nahm Abschied
... Zum Bahnhof ließ Onkel Joachim sich nicht begleiten. --

Viktor Schwarz verbrachte die schwersten Tage seines Lebens. Der
Beruf konnte ihn nur wenige Stunden betäuben -- sonst war er seinen
schmerzlichen Gedanken preisgegeben. Zum erstenmal mied er die
Prutzsche Konditorei. Was mußte Liese von ihm denken? Jeden Nachmittag
wartete sie gewiß auf ihn. Auch am Fenster konnte sie ihn nicht mehr
entdecken. Immer hielt er sich im Hintergrunde und lief davon, als ob
er sich in einen fremden Raum verirrt hätte. Dabei wußte sie gewiß von
Adele Schörg, daß er nicht krank war.

Nein, er konnte sie nicht wiedersehen, bevor er sich entschieden
hatte. Mit sonderbarem Schrecken merkte er, daß er die Entscheidung
doch erst treffen mußte. Onkel Joachim hatte wirklich eine dämonische
Macht. Sie bestand nicht nur in seinem persönlichen Willen, sondern
auch in der Kraft, mit der er die Gesellschaft vertrat. Vor der
Notwendigkeit, daß der Einzelne sich der Allgemeinheit fügen mußte,
hatten sich schon Stärkere gebeugt als Viktor Schwarz. Wenn er sein
ganzes bisheriges Leben übersah -- in der Tat, er war ein abhängiger
Mensch. Er hatte frühzeitig lernen müssen, Wege zu beschreiten, die
man ihm bahnte. Nun war es wohl begreiflich, daß der Wegbaumeister
unzufrieden war. Wenn er kurz vor dem Ziel noch absprang? Wenn er für
einen Traum die Karriere opfern wollte? ...

Opfern? Onkel Joachim sah es so. Der alte Mann sprach aus seiner Welt.
Aber es war keine leere Drohung, die er seinem Neffen hinterlassen.
Verweigerte man ihm den Gehorsam, so war er rücksichtslos wie jeder
erfolgreiche Berliner. Hunderte warteten schon auf das fette Erbe, das
dem jungen Assessor zufallen sollte.

Nein, es war unmöglich -- er durfte es nicht mit seinem Wohltäter
verderben. Viktor Schwarz weinte fast bei dem Gedanken. Aber er wollte
hart werden gegen sich und gegen die Welt, auch gegen Liese, wenn es
nötig war. Noch hatte er ja in der Tat nicht alle Brücken abgebrochen.
Wenn er bedachte, wie andere Männer sich in seinem Fall benehmen
würden ...

Bald lag Strelenwalde hinter ihm. Und dann? Was wußte er in Berlin
noch von Jugendtorheiten? Da hieß es, dem Ernst des Lebens ins Auge
sehen.

»Gott sei Dank,« flüsterte Viktor Schwarz, indem er nach langer Zeit
wieder einmal ans offene Fenster trat -- »man wird langsam vernünftig.
Man übersieht die Situation.«

Hier stockte er. Sein Blick glitt auf die Gasse hinunter. Soeben
trat Liese aus dem Laden und geleitete Tante Sanftleben hinaus.
Wie lieblich ihr Blondkopf in der Sonne leuchtete -- wie anmutig
ihre schlanke Gestalt das alte Fräulein stützte! Sie war doch
ein Prachtgeschöpf. Und er sollte an diese Lene Kroner, diese
bleichsüchtige Modepuppe, um die eine Atmosphäre von Medizin war,
verkauft werden? Noch einmal brandeten Reue und Wut in ihm. Aber bald
nickte er, und in das Lächeln seiner gespannten Züge kam zum erstenmal
etwas Zynisches. Die Welt verschwor sich gegen seinen schönen Traum --
nun gut, so blieb nur die Herrenmoral übrig.

Aber vorsichtig, doppelt vorsichtig mußte er sein. Jetzt hieß es
besonders den alten Konditor im Auge behalten. Assessor Schwarz kam
von heute an anders in seinen Laden als früher.

Nachmittags trat er wieder ein. Liese war eben nicht anwesend --
sie kam erst, als sie die Türglocke hörte, aus der Backstube. Nun
stand sie, in beiden Armen ein großes Kuchentablett, erblassend da.
Plötzlich sah sie ihn wieder. Ein Jauchzen rang in ihrer Kehle. Als
ihr forschender Blick erkannte, daß Viktor Schwarz sie heute noch
freundlicher anlächelte als sonst, mißverstand sie seine Rückkehr
völlig. Wilde Kombinationen erfüllten ihren Kopf. Sie wußte ja --
wer wußte es in Strelenwalde nicht? --, daß des Assessors Onkel da
gewesen. Was mochten die beiden miteinander besprochen haben? Und
wie er sie heute ansah -- keinen Blick warf er dem frisch gebackenen
Kuchen zu. Das war etwas Neues. Er war zu einem Entschluß gekommen.

Viktor Schwarz lächelte nur und schwieg. Zu einer Unterhaltung kam
es nicht. Das steigerte die Bedeutung des Wiedersehens. Erst als er
bezahlte, fragte er, fiebrige Röte in den Wangen: »Was unternehmen Sie
denn zu Pfingsten, Fräulein Liese?«

»Ach, ich und unternehmen! Ich bin ja wie eingesperrt! Am ersten
Feiertag sicher. Und am zweiten -- na, vielleicht kommt Tante
Sanftleben und vertritt mich. Dann mache ich vielleicht das Fest vom
Gesangverein mit.«

»Wo findet denn das statt?«

»Draußen in der Zubermühle. Ach, da ist es jetzt so schön.«

»Und Ihr Herr Vater? Ist der auch beim Gesangverein?«

Liese lachte: »Vater! Nein -- der geht nicht aus dem Hause -- der
spielt höchstens einen Skat, hier im Laden, mit dem Herrn Pastor und
dem Apotheker.«

»Da brauchen Sie doch nicht dabeizusein? Man müßte Ihre Tante direkt
bitten, Sie mal zu erlösen --«

»Aber Herr Assessor --«

»Sobald ich sie sehe, rede ich mit ihr!«

»Aber Herr Assessor --«

»Haben Nichtmitglieder Zutritt zu dem Fest des Gesangvereins?«

»Es kommt drauf an.«

Lieses letzte Worte sagten genug. Sie wünschte also, daß der Herr
Assessor »Zutritt hatte«. So nahm er die Sache energisch in die
Hand. Ein Zusammentreffen mit Fräulein Sanftleben wußte er geschickt
herbeizuführen. Noch geschickter brachte er es dazu, die gute Tante
für den zweiten Feiertag zu verpflichten. Fräulein Sanftleben fühlte
sich geschmeichelt, als der Herr Assessor so lange mit ihr sprach, und
gerührt erkannte sie sein warmes Interesse für ihre Nichte. Liese war
also für den zweiten Pfingsttag frei. --

Es wunderte sie nicht, als in dem schattigen Garten der Zubermühle
auch Viktor Schwarz erschien. Jetzt beherrschte ihn die Taktik
des Großstädters. Niemand konnte den Grund seines überraschenden
Interesses für den Strelenwalder Gesangverein erkennen. Der Stolz
der Bürger, auch den Herrn Assessor zu begrüßen, wurde jedenfalls
gefuttert. Erst nach einer Stunde näherte Viktor sich Liese. Als er
dann neben ihr saß, war die Stimmung schon alkoholisch gehoben -- man
wunderte sich nicht darüber. Unter den blühenden Kastanien saß man,
am rauschenden Mühlbach, und sang und sang -- und trank. Patriotische
Gesänge, Frühlingslieder, Liebeslieder, Schlummerlieder, alles
durcheinander. Um die künstlerische Wiedergabe mühte sich der lockige
Dirigent des Vereins, der die Kolonialwarenhandlung von Strelenwalde
besaß und den sonderbaren Namen Zankapfel trug. Er war aber das
versöhnliche Element. Seine Not hatte er nur mit Kanzleirat Moritz,
dessen blökender Baß immer zu tief kam.

Es dunkelte. Die sanges- und bierseligen Menschen blieben unter den
Kastanien. Viktor Schwarz wurde in der schwülen Atmosphäre unruhig. Er
spürte, daß auch Liese sich fortwünschte. Der entscheidende Augenblick
war da -- man konnte unauffällig verschwinden.

»Gehen wir ein bißchen spazieren«, flüsterte Viktor. »Hier weiß man ja
gar nicht, wie schön der Abend ist. Hier riecht man kaum den Flieder.«

»Die Herren rauchen zuviel.«

Sie erhoben sich leise. Niemand sah ihnen nach. Am Mühlbach führte der
Weg unter niederen, überhängenden Weiden zur Wiese hinaus. Als der
Lärm der Sangesbrüder hinter ihnen verklang und sie sich unter dem
feierlichen Abendhimmel allein sahen, kam doch ein keuscher Werbegeist
über Viktor Schwarz. Er ging mit gesenktem Kopf, die Hände über dem
Leibe gefaltet. Dann sah er, daß Liese sich an der Wiese niederhockte.
Weiße Kamillensterne pflückte sie und begann einen Kranz zu flechten.

Andächtig sah er ihr zu: »Das wird Ihnen großartig stehen, Fräulein
Liese.«

»Meinen Sie? Die Leute singen und trinken immer nur. Es wäre doch viel
netter, wenn alle Damen Kränze trügen und hier draußen getanzt würde.
Es gibt so schöne, alte Tänze im Freien.«

»Ja. Aber noch schöner ist es doch, daß wir hier allein sind?«

Sie wurde rot und drückte den Kranz ins blonde Haar. Sie sah
entzückend aus, aber er trat näher und meinte: »Ein bißchen tiefer
müßte er sitzen.« Sie ließ es geschehen, daß er den Kranz zurecht
rückte. Mit ihren blauen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an. Da
überwältigte es ihn. Er hielt den lieben Kopf, nicht mehr den Kranz,
und drückte Kuß um Kuß auf ihre Lippen. --

Gegen Mitternacht erst besannen sie sich und kehrten zu den
Sangesbrüdern zurück. Die brachen nun auf, aber Verdacht oder
gehässiger Spott regte sich nirgends. Man ließ das Paar auch auf dem
Heimwege unbehelligt. Liese schritt neben Viktor. Jetzt fragte sie
nicht mehr, was er vorhatte, und was aus ihr werden sollte -- jetzt
genoß sie nur den Augenblick. Er aber ließ die Zukunft wohlverwahrt
im Hintergrunde und wußte ihr täuschend zu versichern, daß nur die
Gegenwart Wert besäße.

Vater Prutz war munter geblieben. Er hatte auf seine Tochter gewartet.
Noch nie war Liese so lange ausgeblieben. Nun ersparte er ihr Zank
und Mißbilligung nicht. Der Sturz aus dem Himmel kam noch vor dem
Schlafengehen. Eines aber verkannte Liese: der Vater hatte Licht bei
Assessor Schwarz gesehen. Auch der war also eben erst heimgekommen.
Nun kombinierte der alte Eiferer. Sein Mißtrauen sah er gerechtfertigt.

So gab es nach dem glücklichen Pfingsten schwere Tage für Liese.
Vater Prutz war noch nie so unverträglich gewesen. Er quälte seine
Tochter, wo er sie fand. So trieb er sie nur noch tiefer in die
Versuchung. Je drückender es zu Hause wurde, desto leidenschaftlicher
brauchte sie das andere, die große Möglichkeit der Freiheit. Wie es
geschehen sollte, wußte sie nicht. Eine bange Scheu, die eingewurzelte
Bescheidenheit der Kleinstädterin hinderte sie, den geliebten Mann
zu befragen. Daß er sich ihr immer tiefer verpflichtete, daran kam
ihr kein Zweifel. Ein Zurück gab es nicht mehr. Die Spatzen pfiffen
es schon von den Dächern. Nur der eigene Vater hörte es nicht. Das
glaubte Liese. Schließlich wagte sie mehr, denn der Zwang wurde ihr zu
häßlich. Bald mußte es ja doch zum Klappen kommen. Nur Hingabe band
für immer, schrankenloses Gehören. Sie verschwendete nichts, sie gab
ja nur, was recht und heilig war. In einer warmen Juninacht schlich
sie sich zum offenen Fenster und winkte. Auch seine dunkle Gestalt
wurde sichtbar. Bald trafen sie sich im Gärtchen hinter dem Hause.
Hier war kein Lauscher, hier spähte kein Auge. Nur Peter, der alte
Schimmel, stampfte im Stall.




                           VIERTES KAPITEL


Frau Apotheker Barkhusen und Fräulein Knittel, die Lehrerin, begannen
Herrn Breitkopf, den Konditor am Markt, zu bevorzugen. Er war Vater
Prutzens Konkurrent. Die Damen fühlten das Opfer, das sie brachten,
denn die Schlagsahne bei Breitkopf kam gegen die bei Prutz nicht
auf, aber es galt eine moralische Stellungnahme. Die Angelegenheit
von Assessor Schwarz und Liese Prutz begann sich zu einen Skandal
auszuwachsen. So offenkundig war die gute Gesellschaft von
Strelenwalde noch nie herausgefordert worden.

Auch Herr Breitkopf, der mit seinem schwarzen Kraushaar und seinen
Wulstlippen auffällig an einen Neger erinnerte und deshalb allgemein
»Mohrenkopp« hieß, war orientiert. Mit Wonne sah er das Verderben über
seinen alten Nebenbuhler kommen.

»Eines ist mir ein Rätsel«, pfiff die asthmatische Frau Apotheker.
»Sieht Herr Prutz nicht, was unter seinen Augen geschieht, oder will
er es nicht sehen?«

»Er gilt als streng moralischer Mann«, meinte Fräulein Knittel, die
aus einem Strohhalm Eiskaffee sog und den Mund wie ein Oboespieler
spitzte. »Man kann nur annehmen, daß die Erkenntnis der Wahrheit ihn
wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen wird. Sie glauben nicht,
Frau Apotheker, wie sehr ich eine tragische Katastrophe fürchte. Um
Luise tut es mir ja leid, denn ich habe sie als Schülerin immer gern
gehabt. Sie ist leichtsinnig, aber im Grunde ein guter Mensch. Ich
stehe vor einem Rätsel, wie ein Mädchen ihrer Erziehung so jeden Halt
verlieren kann.«

Jetzt war Konditor Breitkopf wieder zu den Damen getreten. Er
behielt sein Negergrinsen bei, auch wenn er es ernst meinte: »Nach
meiner unmaßgeblichen Ansicht, Fräulein Oberlehrerin -- die
eigentliche Schuld an dem Malheur steckt bei dem alten Prutz. Er kann
Streuselkuchen backen, aber erziehen kann er nicht. Wenn er immer
knurrt und so'n Mädel einsperrt und ihr nie einen Groschen Geld in die
Finger gibt, dann glaubt er, er hat sie am Bändel. Dadurch kommt sie
ja erst auf schlechte Gedanken.«

Frau Barkhusen und Fräulein Knittel nickten bedeutsam und sahen sich
an. Dann sagte die erste: »Da haben Sie gewiß recht, Herr Breitkopf.
Aber was soll daraus werden?«

Mohrenkopf zuckte die Achseln: »Das geht mich nichts an. Für solche
Sachen ist der Herr Pastor da. Der trinkt ja sowieso seinen Kaffee bei
Prutz und läßt sich von Fräulein Liese bedienen.«

Fräulein Knittel sog noch einmal an ihrem Strohhalm, aber das Glas war
leer, und es gab nur einen häßlichen Laut. »Ich fürchte, ich fürchte,
wir gehen schweren Ereignissen entgegen.« -- --

Liese kam an einem Regennachmittag plötzlich zu Viktor Schwarz hinauf.
Er lag rauchend auf seinem Sofa und erkannte im Halbtraum erst
allmählich ihre Gestalt. Bestürzt erhob er sich: »Aber Kind -- was
fällt dir denn ein? Du bist ja noch nie in meiner Wohnung gewesen! Und
jetzt -- vor allen Leuten -- die Sonne ist noch gar nicht unten!«

Sie näherte sich langsam. Ihr Gesicht war weiß und etwas gedunsen.
Ihre Bewegungen waren schwerfällig. Sie erwiderte mit
halbgeschlossenen Augen: »Das ist mir ganz egal. Wahrscheinlich
wundert sich ja doch kein Mensch mehr.«

»Liese -- um Gottes willen -- hast du denn schon einen Anhalt? Hat
schon jemand eine Bemerkung gemacht?«

Sie lächelte müde: »Nein. Da kennst du die Strelenwalder schlecht.
Wer drin steckt wie die Fliege im Sirup, der kriegt nie was zu hören.
Da tuscheln sie zu Hunderten, aber es bleibt immer aus Hörweite.
Plötzlich knallt die Geschichte los.«

Viktor Schwarz wurde von tiefer Pein ergriffen. Er zog Liese neben
sich: »Was ist dir denn? Du scheinst sehr nervös zu sein. Sicherlich
ist gar kein Grund vorhanden. Wir sind doch immer so vorsichtig
gewesen. Heute hast du allerdings die erste Dummheit gemacht. Wir
hatten doch fest verabredet -- nie darfst du den Fuß über Herrn
Schörgs Schwelle setzen. Wenn dein Vater das sieht -- dann ist alles
verdorben. Und nun bist du gar in meinem Zimmer! Ich bin überzeugt,
daß Adele draußen an der Tür steht und horcht.«

Liese senkte den Kopf: »Mag sie doch. Dann hat sie wenigstens auch
was. Die tut mir immer so leid. Die hatte schon als Kind so hungrige
Augen. Mir tun alle Menschen leid, die sich immer bloß sehnen. Was ich
getan habe -- das hab' ich doch auch bloß aus Sehnsucht getan.«

Viktor wand sich: »Liese, ich bitte dich! Das ist ja nicht zu
ertragen! Was ist denn auf einmal über dich gekommen? Deine ganze
Frische ist fort! Bereust du denn --?«

Sie sah ihn mit übergroßen Augen an: »Nein. Das tu' ich nicht. Aber
ich bin mir jetzt darüber klar, was geschehen muß. Du tust nichts
für mich, du willst immer bloß das Vergnügen. Aber was ich täglich
durchzumachen habe, davon hast du keine Ahnung. Vater redet kein
Wort mehr mit mir, aber er guckt mir durch und durch. Mir ist oft,
als kriegte ich Ausschlag am ganzen Körper, wenn er mich so anguckt.
Gestern hat er Mutters Bild aus meiner Stube genommen -- ich konnte
nicht mal was dagegen sagen.«

Sie weinte. Viktor tupfte sich die Schweißtropfen von der Stirn. --
»Mein Gott, glaubst du denn -- daß er Vermutungen hat?«

»Ich glaube gar nichts. Ich fürchte mich nur entsetzlich. Wie ich ihn
kenne, bricht er plötzlich los. Und dem muß man zuvorkommen. Deshalb
bin ich heute bei Doktor Hoppe gewesen.«

»Beim Kreisarzt? Was wolltest du denn bei dem? Fühlst du dich krank?«

Liese lächelte, hob aber im nächsten Augenblick die Hände vor das
Gesicht. Dann schüttelte sie den Kopf: »Nein, Viktor -- krank nicht
-- aber ... Na, es war schon so, wie ich mir's gedacht hatte.«

Viktor fuhr zurück: »Du bist --?«

»Ich gräme mich nicht drum -- im Gegenteil. Ich habe sehr viel Mut,
Viktor. Ich habe gewußt, was ich tue. So ging es nicht weiter. Aber du
hättest doch schon vorher mit Vater reden sollen. Daran ist nun nichts
mehr zu ändern. Jetzt dürfen wir keine Zeit verlieren.«

Er sah sie unsicher an. Seine blanken Augen zogen sich hinter dem
Kneifer zusammen: »Und was meinst du, was geschehen soll?«

»Ich meine, Viktor -- ich meine, daß du morgen zu Vater gehen mußt
und richtig um mich anhalten. Dann atmet man auf. Dann ist noch alles
einzuholen.«

Er schneuzte sich stark: »Und wenn er mich hinauswirft?«

»Er wirft dich nicht hinaus.«

»Und wenn er erfährt -- was du heute erfahren hast?«

Liese sah ihn mit einem so schweren Ernst an, daß er bis über die
Stirn errötete:

»Das ist doch das Entscheidende, Viktor. Vater muß wissen, daß wir
noch an die Ehre denken. Das ist das einzige, worauf es ihm ankommt.
Sonst fühlt er sich unmöglich in der Stadt. Wenn er aber hört, daß ein
Mann, wie du, Ernst macht ...«

Viktor biß sich in die Lippe und starrte zu Boden.

»So ... Ach, so ... Ja, ja ... Nun, dann werde ich also morgen zu ihm
gehen ...«

Sie schnellte auf. Noch einmal kam die Grazie des Glücks über sie:
»Wann kommst du?!«

»Bis elf Uhr habe ich Termin. Also zwischen elf und zwölf.«

»Darf ich's -- ihm sagen?«

»Was denn? Bist du verrückt?!«

»Bloß, daß du kommst, natürlich!«

»Das halte, wie du willst. Sieh zu, ob es möglich ist.«

Er war verstimmt. Ihr aber genügte sein Versprechen. Sie verließ ihn
bald und schlüpfte die dunkle Treppe hinunter. Adele Schörg, die im
Flur stand, mit geschlossenen Augen und den Kopf an die kalkige Mauer
gelehnt, hatte sie gesehen. --

Am nächsten Morgen sah es in dem Konditorladen sonderbar aus. Vater
Prutz war schon um sieben Uhr unten und hatte seinen Kaffee in den
Laden mitgenommen. Liese stockte das Herz. Sollte das heißen, daß
er nicht mehr mit ihr frühstücken wollte? Sie erschien auch bald
im Laden, um die Stimmung des Vaters zu erforschen. Da sah sie ihn
in einer fremdartigen Verfassung. Er ging wie ein Löwe im Käfig
umher. Dieser Vergleich war möglich, obwohl Vater Prutz seine weiße
Konditormütze auf dem Kopf und die grünen, von Liese gestickten
Pantoffeln an den Füßen trug.

Liese blieb hinter dem Ladentisch und arbeitete scheinbar. In
Wahrheit ließ sie kein Auge von dem Vater. Wirre Überlegungen jagten
in ihrem Kopf. Hatte er alles erfahren? Wollte er jetzt mit ihr
abrechnen? Seine Erregung konnte ja nur ihr gelten. Jedenfalls hieß
sie es willkommen, daß die Krisis da war. Keinen Tag mehr durfte das
Versteckspiel dauern.

Heute wollte Viktor kommen! Ihr schwirrte der Kopf, sie mußte sich mit
beiden Händen auf die Marmorplatte des Ladentisches stützen. Aber nun
war alles gleich. Jetzt gerade mußte sie Viktors Besuch vorbereiten.

»Vater«, begann sie leise. -- »Was hast du nur? Nicht mal 'ne Semmel
hast du zum Kaffee gegessen.«

Er war zusammengezuckt. Indem er seinen Löwenmarsch etwas
verlangsamte, erwiderte er: »Was ich habe? Ich möchte lieber dich
fragen! Aber das widersteht mir. Ich bin zu alt. Ich möchte am
liebsten von nichts mehr was wissen.«

Er ließ sich schwer an einem der kleinen Tische nieder. Zufällig war
es der Tisch, der sonst dem Assessor geheiligt war. Atemnot befiel den
alten Mann. Sein Kopf sank auf die Brust, und der weiße Bart sträubte
sich.

Liese kam hinter dem Ladentisch hervor: »Vater, ich fürchte, die Leute
haben dir was vorgelogen.«

Vater Prutz fuhr wieder auf: »Ich traue nur meinen eigenen Augen!«

»Das tu, Vater. Das ist auch das einzige, wonach ich mich richte.
Wir haben jetzt so lange zusammengelebt. Immer warst du doch mit mir
zufrieden. Was ist denn los? Ich kann doch erwarten, daß du mir's
sagst, Vater.«

Er machte mit seiner zitternden Hand eine abweisende Bewegung: »Laß
mich zufrieden.«

»Nein, ich halt' es nicht mehr aus. Du denkst dir alles mögliche. Das
geht mir an die Ehre.«

Bei diesem Wort fuhr er zu ihr herum: »Wahrhaftig?! Na, was meinst du
denn, was ich mir denke, du?!«

»Ach, du meinst, ich habe was mit dem Assessor und -- da hast du auch
recht, Vater.«

Er wollte sich aufrichten: »Da hab' ich --?«

Sie hielt ihm stand. Verwirrt sah er auf ihre trotzige Schönheit. Er
konnte die Hand nicht heben. -- »Du hättest auf mich warten sollen,
Vater. Du hättest nicht lauern und gucken und horchen sollen. Dadurch
macht man den Menschen erst schlecht. In Strelenwalde ist es immer so
gewesen. --«

»Rede nicht so viel! Die anständigen Leute hier wissen ganz genau, was
sie tun. Ich höre nur auf anständige Leute! Was hast du mir zu sagen?«

Liese wich nicht von der Stelle: »Daß ich mich mit Assessor Schwarz
verlobt habe -- sonst nichts! Daß er heute nach elf Uhr zu dir kommt
und um mich anhält!«

Der zornige Ausdruck des Vaters blieb, aber in seine Augen kam ein
feuchter Schimmer. »So?« brummte er nach einer Weile. »Also alles
hinter meinem Rücken? Verlobt? Einfach verlobt? Er will dich heiraten?«

»Was anderes ist doch wohl nicht möglich.«

»Hm ... Also, ich werde mit dem Herrn Assessor reden. Ich werde ihm
mal gehörig meine Meinung sagen.«

»Aber du wirst auch dran denken, wen du vor dir hast. Er schafft mir
eine großartige Zukunft, Vater --«

»Abwarten!«

Nun schwiegen beide und begannen zu arbeiten.

Die gemeinsame Spannung brachte sie über die quälenden Wartestunden
fort. Als die Zeit herannahte, wurde Liese ruhiger. Sie war ihrer
Sache sicher. Doch es wurde elf, es wurde halb zwölf und zwölf
Uhr -- Viktor Schwarz kam nicht. Liese wagte den Vater nicht mehr
anzublicken. Ein schleichendes Wehgefühl packte sie. Eisig waren ihre
Glieder, aber im Gesicht brannte eine Glut, die wie Scham aussah.

Um halb eins wandte der Vater sich zu ihr. -- »Du hast wahrscheinlich
noch gar kein Mittagessen gekocht?« fragte er scheinbar gleichmütig.

»Wann sollte ich denn, Vater?«

Er lachte kurz: »Das weiß ich auch nicht! Aber dein Assessor scheint
verhindert zu sein.«

Liese setzte sich. Erschrocken sah der Alte, wie sie sich wand. Jetzt
wuchs sein furchtbarer Verdacht, aber zugleich regte sich auch der
Zorn seiner Vaterliebe.

Da bimmelte die Ladenglocke. Liese fuhr auf. Doch es war nicht der
Ersehnte -- Adele Schörg kam. Sie hatte immer etwas Trotziges in
ihrer hinkenden Langsamkeit. Mit verlegenem Lächeln sah sie auf den
Konditor. Sie hätte Liese viel lieber allein getroffen.

»Was gibt's, Adelchen?« fragte Vater Prutz fast wild. »Hast du Hunger
auf Kuchenkrümel?«

Adele wich zurück: »Nein, nein, Herr Prutz ... Ich danke sehr ...
Sowas ißt man doch bloß als Kind. Ich habe für Liese einen Brief ...«

Liese streckte die Hand aus: »Gib her!«

Während seine Tochter las, fragte der Konditor: »Habt ihr noch euren
Zimmerherrn?«

Adeles Blick huschte zu Liese hinüber: »Nein. Heute ist Herr Assessor
plötzlich abgereist.«

Prutz schlug mit seiner schweren Hand auf den Tisch: »Wohin?«

»Ich glaube, nach Berlin! Aber ich weiß es wirklich nicht, Herr Prutz!
Ich will gar nichts gesagt haben! Es ging so über Hals und Kopf!
Vormittags schrieb Herr Assessor noch den Brief, und dann ist er gar
nicht mehr aufs Gericht gegangen, sondern gleich zum Bahnhof!«

Prutz wandte sich zu seiner Tochter. Die aber streckte nur die Hand
gegen Viktors Botin aus: »Geh weg, Adele!«

»Na, erlaube mal, du kannst dich doch wenigstens bedanken ...«

»Geh weg!!!«

»Man ist doch -- ein Stück Vieh ist man schließlich auch nicht!«

Wütend humpelte Adele hinaus. Der Konditor aber fragte: »Kann ich den
Wisch da lesen?«

Liese nickte. Aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen.

  »Meine liebe Liese!

  Nun ist doch alles anders geworden. Nachdem Du gestern bei mir
  gewesen, bin ich mit mir zu Rate gegangen. Ich verbrachte eine
  schlaflose Nacht, aber gegen Morgen kam mir die Erkenntnis. Liese,
  es ist unmöglich, wir müssen vernünftig sein. Ich habe einen großen
  Fehler begangen. -- Das gestehe ich freimütig ein. Ich hätte Dir
  sagen sollen, welches Versprechen mir mein Onkel, der Justizrat
  Joachim, abgenommen hat. Von diesem Mann hängt meine ganze Zukunft
  ab. Da er sich unserer Heirat bis aufs Äußerste widersetzt, kommt
  auch die Entscheidung Deines Vaters nicht mehr in Frage. Es hat
  deshalb auch keinen Zweck, daß ich ihn heute besuche. Ich hatte
  gehofft -- trotz allem -- ich wollte mit dem Kopf durch die Wand
  -- aber das geht nicht. Meine herzliche Liebe bleibt Dir natürlich
  gewiß. Ich werde Dich in schöner Erinnerung behalten. Aber zugrunde
  gehen darf ich nicht. Ich muß fort, Liese. Eine entsetzliche
  Platzfurcht ergreift mich. Schaden wird es mir genug, denn ich lasse
  heute zum ersten Male mein Amt in Stich, aber von Berlin aus werde
  ich den Herren alles auseinandersetzen. Glaube mir, Liese: Wenn Du
  nicht ein wirkliches Erlebnis für mich gewesen wärst, würde ich
  nicht so darunter leiden. Und nun sei getrost und gräme Dich nicht.
  Du bist noch jung, Du wirst es verwinden. Ich wünsche Dir den Mann
  in Deiner Vaterstadt, der Dich verdient! Den Du verdienst! Lebe wohl!

  Dein schmerzerfüllter
  Viktor Schwarz.«

Vater Prutz hatte zu Ende gelesen. Er begann noch einmal seinen Marsch
durch den Laden. Noch kämpfte das Mitleid mit seinem zerbrochenen
Kinde in ihm -- dann aber kam ihm ein Einfall, und er blieb mit
eiserner Miene stehen: »Du bist bei ihm gewesen?«

»Ja, Vater.«

»In seiner Wohnung?«

»Warum nicht?«

Jetzt tappte der Vater ein paar Schritte zurück: Er griff sich an den
Kopf -- die Konditormütze fiel zu Boden: »Kommst du von den Wilden?
... Habe ich dich nicht was andres gelehrt? ...«

»Doch, Vater. Aber das Leben reißt einen mit. Ich weiß nicht, wie es
gekommen ist. Jedenfalls durfte ich ihn besuchen.«

»Du durftest --?«

»Ich war schon seine Frau.«

Der Tisch, an dem Assessor Schwarz immer gesessen, fiel um. Teller und
Löffel kollerten umher. Vater Prutz hatte zuschlagen wollen, aber er
war gestolpert und brach nun in die Knie. Liese rührte sich nicht. Da
bimmelte wieder die Türglocke, und das kleine Fräulein Sanftleben kam
leise herein. Entsetzt erkannte sie, daß der Zusammenbruch da war. Sie
galt als eine ängstliche alte Jungfer, aber manche wußten auch, daß
sie im gegebenen Augenblick heroisch werden konnte. Sie ließ sich auch
jetzt nicht einschüchtern. Schnell war sie bei ihrem Schwager und half
ihm auf: »Mein Gott, was ist dir denn, Reinhold? Hast du eine schlimme
Nachricht erhalten?« Sie sah auf Viktors Brief.

»Nur 'ne Kleinigkeit! Liese ist 'ne Dirne! Sonst nichts!« Ein
gellender Schrei -- das Mädchen stürzte zur Tür. Aber an Tante
Sanftleben kam sie nicht vorbei. Sie, die sie immer gestützt hatte,
hielt sie jetzt mit stählernem Griff fest.

»Laß sie laufen!« brüllte der Konditor. »Sie weiß schon, warum! Wenn
sie außer der Schande auch den Tod will -- meinetwegen! Das ist ihre
Sache! Ich habe keine Tochter mehr.«

Tante Sanftleben hielt Liese, deren Kraft schon wieder erlosch: »Pfui,
Schwager, -- pfui, schäme dich doch! Du bist so erregt -- ich will es
nicht gehört haben, wie du dich versündigest!«

»Ich?«

»Ja, lache nur! Wir sind alle gebrechliche Menschen! Du auch! Wir
dürfen alle nicht den ersten Stein werfen! Jedenfalls, das sage ich
dir: Wenn du dein Kind verstößt, dann bin ich auch mit dir fertig!«

»Sei nicht so frech, Ottilie!«

»Doch, Reinhold! Wenn's drauf ankommt, bin ich auch frech! Ich will
jetzt gar nicht wissen, was geschehen ist -- ich sehe nur, wie Liese
leidet! Bei dir darf sie selbstverständlich nicht bleiben! Ich nehme
sie mit!«

»Tante!!« -- Liese schlang wie ein hilfloses Kind die Arme um das alte
Fräulein.

Vater Prutz ballte die Faust: »Du machst dich in Strelenwalde
unmöglich!«

Jetzt kam ein schönes Lächeln auf Tante Sanftlebens Gesicht: »Ach --
Reinhold -- das läßt sich ertragen.«

Sie führte ihren Schützling hinaus. Der alte Konditor war in seinem
Laden allein. Er starrte der Entschwundenen nach -- dann flüsterte er,
auf einen Stuhl sinkend: »Ich ertrag' es nicht.«




                           FÜNFTES KAPITEL


Es war noch das Berlin der achtziger Jahre, in das Viktor Schwarz
zurückkehrte, aber zum Unter- und Wiederauftauchen fand er schon das
rechte Wasser. Als er sich besonnen, kam eine ärgerliche Scham in ihm
auf. Wie hatte er nur so schmählich die Flucht ergreifen können, vor
den Spießbürgern von Strelenwalde!

Das Unwürdige seines Verhaltens kam ihm freilich dort, wo es am
nötigsten gewesen wäre, nicht zum Bewußtsein. An Lieses Not dachte er
kaum. Jetzt galt es ihm vor allem, wieder in den Sattel zu kommen.
Er mußte sich den Rücken decken. Konditor Prutz fürchtete er weniger
als die Herren vom Strelenwalder Amtsgericht. Die durften keinesfalls
glauben, daß er aus Schuldgefühl entwichen war. Feigheit würde man ihm
immer vorwerfen. Nein, er mußte eine einleuchtende Erklärung finden
und sich zugleich interessant machen.

In seiner lieben alten Wohnung am Tempelhofer Ufer kam ihm die
Erleuchtung. Er blickte auf die langen »Appelkähne« im schmalen
Kanal hinaus, und die Frische eines Mannes, der am Wasser wohnte,
erfüllte ihn. Natürlich -- so war es zu machen: nervöse Depression
infolge von Überarbeitung. Nicht etwa im Amtsgericht hatte diese
Überarbeitung stattgefunden -- das wäre den Herren dort nicht angenehm
gewesen -- sondern daheim, bei Sattlermeister Schörg, wo, wie man
jetzt erst erfuhr, dieser Musterassessor ein großes Werk über die
fiskalischen Ansprüche auf Rieselfelder entworfen hatte. Nächtliche
Pflichterfüllung hatte seine Gesundheit untergraben.

Nun faßte er sich. Nun setzte er den Kollegen alles auseinander --
erbat ihr Verständnis und ihre Entschuldigung. Das Zeugnis eines
bekannten Nervenarztes wurde beigefügt. Was noch fehlte, lieferte
Onkel Joachim. Der alte Justizrat zeigte sich anfangs peinlich
überrascht. Dann aber spürte er, daß sein eigener Machtspruch
die Ursache der Flucht gewesen, und daß nur ein radikales Mittel
Viktor vernünftig gemacht hatte. So hieß er es schließlich gut. Er
setzte seine Autorität dafür ein, daß man den entwischten Assessor
wohlwollend verabschiedete. Joachims Fürsprache war auch die baldige
Berufung an das Moabiter Landgericht zu danken.

»Alles geht gut«, konnte Viktor Schwarz nach einigen Wochen
händereibend sagen. Jetzt hatte er das alte Strelenwalde schon wieder
ganz lieb. Rührende Erinnerungen beschlichen ihn. Rechnungen waren
bezahlt, Abschiedsbriefe an Personen, die es wohl nicht erwartet
hatten, wurden mit bestrickender Liebenswürdigkeit geschrieben. Nun
kam sogar der tiefe, schmerzliche Druck zurück, daß in der Hauptsache
die Versöhnung fehlte. Von Liese hatte er nichts mehr gehört. Es war
ebenso unheimlich wie auffallend, daß ihr Vater keinen Schritt gegen
ihn unternahm. Was mochte da vorgefallen sein? Viktor Schwarz zählte
immer wieder an den Fingern, wieviel Monate Liese noch bis zu ihrer
schweren Stunde blieben. Es war ja ausgeschlossen, daß sie ihren
Zustand verborgen hielt. Besonders wenn er ihre Stimmung in Betracht
zog. Vielleicht hatten sich so schlimme Dinge ereignet, daß sie gar
nicht zu ihm gelangten? Jedenfalls konnte es aber nichts sein, was
die Öffentlichkeit beschäftigte, denn sonst ... Er las ja täglich das
Strelenwalder Kreisblatt.

Ganz losmachen konnte er sich doch nicht. Und was das Fatalste war --
je wohler er sich in Berlin fühlte, desto hartnäckiger beschlichen ihn
die trauten Bilder der Kleinstadt. Er vergaß wohl im Genuß, aber er
wollte sein bestes Erlebnis nicht missen.

Das steigerte sich allmählich zu Halluzinationen. Er hörte sich selber
»Engel« flüstern und bekam die rauhe Antwort »Schuft!« Es war ein
peinlicher Zustand. Nur Arbeit half darüber fort. Die leistete er,
unverdrossen und erfolgreich -- Onkel Joachim wurde immer zufriedener.
Es fehlte nicht viel, und er hätte vergnügt gesagt: »Siehst du, mein
Junge -- es war doch richtig, was dein alter Onkel gewollt hat!«

Richtig, ja -- aber ... Eines Abends faßte Viktor Schwarz einen kühnen
Entschluß. Er griff nach Schreibpapier und Feder. Aber er schrieb
nicht etwa an die Verlassene, sondern an ihren letzten Gegensatz,
an die kleine Adele Schörg. Auf eine andere Auskunftsstelle kam er
nicht. Die Tochter seines ehemaligen Wirtes war ihm verpflichtet --
er hatte ihr in der Aufregung der Abreise zwanzig Mark geschenkt. Das
war natürlich lächerlich viel. Aber nun konnte sie ihm auch noch einen
zweiten Gefallen tun.

Wenige Tage später erhielt er ihre Antwort:

  »Hochgeehrter Herr Assessor!

  Selbstverständlich sage ich niemand was von Ihrem Brief. Man weiß
  doch auch, was diskret ist. Aber es ist mir eine Ehre, daß Sie sich
  an mich gewendet haben, denn ich kann Ihnen ja die beste Auskunft
  erteilen. Denken Sie sich: Herr Prutz war doch immer spinnefeind
  mit meinem Papa, und nun auf einmal hat er mich als Ladenfräulein
  engagiert. Ganz von selber hat er mich gefragt, aber mit einem
  Gesicht, als ob er mich auffressen wollte. Ich habe aber keine
  Angst vor ihm. Der arme, alte Mann ist ja jetzt so verlassen, denn
  Sie wissen wohl, daß er seine Tochter verstoßen hat. Liese wohnt
  bei ihrer Tante, und Herr Prutz sieht sie nicht mehr an. Er ist
  ein harter, alter Mann. Liese kann einem doch leid tun, denn das
  Schwerste steht ihr noch bevor. Dabei können Sie sich denken, wie
  alle Leute sie behandeln. Sie wagt sich nur noch, wenn es dunkel
  wird, auf die Straße. Und sie sieht aus -- so was von Veränderung
  habe ich in meinem Leben nicht gesehen. Alles wundert sich hier
  aber über Fräulein Sanftleben. Daß die es noch mit so einer hält.
  Für mich ist es natürlich viel besser gekommen, als ich jemals
  gehofft hatte. Jetzt bediene ich in einem feinen, schwarzen Kleid,
  mit einer blendend weißen Schürze die Gäste. Morgen kaufe ich mir
  Lackschuhe. Der Alte ist mir ja unheimlich, denn ich weiß eigentlich
  gar nicht, warum er mich gerade genommen hat. Man glaubt hier, daß
  er nicht mehr recht bei Troste ist. Er spricht, wenn ich im Laden
  bin, plötzlich ganz laut mit seiner verstorbenen Frau. Ich sage
  Ihnen, da schmeckt einem manchmal kein Kuchen mehr. Aber meine
  Selbständigkeit habe ich wenigstens. Denn Herr Prutz rafft sich zu
  nichts mehr auf. Mit bestem Gruß, und wenn Sie mal wieder was hören
  wollen, immer zu Ihrer Verfügung.

  Adele Schörg.«

Viktor Schwarz blickte scheu umher, als er diesen Brief gelesen hatte.
Nun wußte er genug -- mehr als genug. Das Weitere mußte er abwarten.
Zum erstenmal beschäftigte er sich eingehend mit Tante Sanftleben.
Von der war jetzt das Aktive in der Angelegenheit zu befürchten. Aber
mochte sie nur. Bis das Kind auf der Welt war, saß er als angesehener
Rechtsanwalt in der Taubenstraße. Die Kollegen in Strelenwalde waren
daran gewöhnt, unter sich ein Auge zuzudrücken. Außerdem verdarb es
niemand mit Justizrat Joachim. Alimente wollte er natürlich prompt,
wie das Gesetz es gebot, bezahlen. Ihm kam es nur auf die Diskretion
an.

So war er schon wieder ganz zufrieden mit sich. Als er auf die Straße
hinaustrat und die frische Herbstluft einatmete, verhärtete sich seine
Empfindung. Er schritt elegant und in der Haltung eines geschäftigen
Ehrenmannes auf die Potsdamer Brücke zu.

In dieser Stimmung war es Schicksal, daß er seiner Tante Klara
begegnen mußte. Die korpulente Frau Justizrat Joachim bewegte sich
aus der Straße Am Karlsbad, wo sie seit vielen Jahren wohnte, auf
ihren Neffen zu. Sie hatte mit ihrer Hakennase, ihren hervorstehenden
Augen und der hohen, grauen Frisur etwas altmodisch Majestätisches,
freilich eine Majestät, wie das Theater sie vorspiegelt. An eine alte
Hofschauspielerin erinnerte sie. Komödiantenhaft war sie auch durch
ihr aufdringlich kostbares Schmuckzeug.

Das Lebenselement von Tante Klara hieß: arrangieren. Jede ihrer
Gesellschaften diente einem mehr oder minder verhüllten Zweck. Sie
unterstützte Kunst und Wissenschaft, um Liebespaare hervorzuzaubern;
sie lud Verliebte ein, um die Kunst zu fördern. Selbstverständlich
fehlte nie die materielle Grundlage -- leere Romantik gab es nicht.

Viktor Schwarz stand jetzt im Mittelpunkt des Interesses, Tante Klara
war deshalb beglückt, als sie ihm an der Potsdamer Brücke begegnete.
Viktor war es weniger, aber er kannte die Bedeutung der Tante und
zeigte eine hocherfreute Ritterlichkeit. Sie wanderten dem Potsdamer
Tor zu. Es duftete und klapperte neben Viktor. Andächtige und
neidische Blicke hafteten an der offenkundig reichen Frau.

Ihre meisten Sätze begann Tante Klara mit: »Also«. »Also, man darf
dich wohl nicht stören, lieber Vicki -- du stehst vor dem Examen, das
du natürlich unberufen glänzend bestehen wirst -- und dann bist du
Rechtsanwalt, und dann wirst du also auch Augen für eine gewisse junge
Dame haben, die sich ganz schrecklich nach dir sehnt.«

»Wen meinst du denn, Tante?« fragte Viktor harmlos.

Tante Klara konnte nicht mehr ungezwungen lachen. Sie war zu dick
und steckte in einem panzerähnlichen Korsett. Außerdem fürchtete sie
für ihre falschen Zähne. Deshalb brachte sie nur ein »Hihi!« heraus:
»Also tu nicht so unschuldig! Du weißt schon! Das kann ich dir sagen:
Lene Kroner ist ein hübsches Mädchen geworden, ein wirklich hübsches
Mädchen!«

Über Viktors Gesicht flog ein Schatten: »Ist sie denn noch immer
magenleidend?«

»Also, das kann man wirklich nicht sagen. Sie lebt nach strenger Diät,
sie tanzt und turnt und marschiert, alles bloß deinetwegen. Ihr Magen
ist etwas schwach, das hat sie von ihrer Mutter geerbt -- aber alles
Nerven, alles nur Nerven -- wenn sie verheiratet ist, gleicht sich das
alles aus.«

»Ich kann aber nicht garantieren, Tante, daß ich Lene Kroner kuriere.«

»Hihi! Du bist ein Spaßvogel! Also wirklich ein Spaßvogel, Vicki!
Du brauchst dir gar keine Sorgen zu machen! Außerdem werdet ihr in
Verhältnissen leben, daß du deine Frau jederzeit in das schönste
Sanatorium schicken kannst.«

Viktor horchte auf: »Na, ja ... Aber damit soll ich schon vor der Ehe
rechnen?«

»Man muß doch die Dinge nehmen, wie sie sind! 'n bißchen kränklich --
das macht doch nichts! Da richtet man sich sein Leben ein! Wenn sie
einen Geburtsfehler hätte -- aber ich sage dir, sie wird eine reizende
Figur neben dir machen! Schneiderrechnungen spielen bei ihrem Vater
keine Rolle! Also, das ist doch die Hauptsache! Sie repräsentiert!«

Viktor schwieg. Aber die Tante schwatzte fort: »Also, ich kann dir
nur sagen, die ganze gute Gesellschaft wünscht eure Verbindung! Jeder
sagt, es sei eine fertige Sache! Übrigens kann ich dich jetzt schon
auf das neue Sanatorium in Oberhof aufmerksam machen -- das soll
ausgezeichnet sein -- ein vorzüglicher Arzt und blendende Verpflegung
--«

»Warum machst du mich denn darauf aufmerksam, Tante?« fragte Viktor
mit etwas wirrem Blick.

»Na -- man kann doch nie wissen! Du sollst jedenfalls einen freien
Kopf behalten! Du sollst dein Leben genießen, mein Junge! Sollte Lene
Kroner wider Erwarten doch wieder bettlägerig werden, packst du sie
einfach auf, bringst sie nach Oberhof und besuchst sie alle acht Tage!
In Oberhof ist es zauberhaft schön, lauter Hochwald -- direkt Ozon! Da
hast du auch 'ne Erholung!«

Viktor blickte ziemlich dumm auf diese einleuchtende Erklärung. Sie
blieben am Potsdamer Platz stehen. So streiften sie fast einen alten
Herrn, der eben vorüberging und Frau Justizrat Joachim grüßte. Zu
seinem schwarzen Beamtenrock bildete der frische, feine Kopf mit dem
weißen Haar und den leuchtenden, blauen Augen einen merkwürdigen
Gegensatz. In dem Blick, mit dem er die alte Dame gestreift hatte,
lag ein schalkhaftes Kennertum.

Tante Klara aber grüßte mit voller Begeisterung wieder: »Guten Abend,
Herr Doktor! Guten Abend!«

»War das nicht Theodor Fontane?« fragte Viktor, ebenfalls von der
Berühmtheit der Begegnung ergriffen.

»Also, freilich, freilich! Jetzt les' ich eben ›Irrungen, Wirrungen‹!
Hat doch in der Voß gestanden! Na, mein Geschmack ist es eigentlich
nicht! Solche Sachen sind mir zu realistisch! Da ist mir unser Pietsch
schon lieber!«

»Aber Pietsch, Tante -- der ist doch nur ein Journalist.«

»Egal! Sein Stil ist großartig! Der und Wildenbruch! Übrigens
kennt Ludwig Pietsch sämtliche gekrönte Häupter! Wenn man den
Mann liest, atmet man auf! Da vergißt man mal diese unverschämten
Sozialdemokraten! Mein Mann sagt immer: ›Bebel wird direkt 'ne
Gefahr‹!«

Tante Klara war auf ein Gebiet gekommen, wo Viktor die Gefolgschaft
mied. Er stand zwar auf demselben Boden wie sie, aber ohne Logik mied
er jede Debatte. Er führte Tante Klara noch zu Josty hinein -- dann
verabschiedete er sich und wurde nicht losgelassen, ohne daß ein neues
Zusammentreffen mit Lene Kroner verabredet worden war.

»Also, weißt du, erbarm' dich,« sagte die Tante, als sie sein Zögern
bemerkte. »Sie ist solch nettes, wohlerzogenes Mädchen. Und so
bescheiden. Ich sage dir, du wirst an ihr eine wirklich bescheidene
Frau haben.« --

Als Viktor dann am nächsten Sonntag mit seiner Zukünftigen bei Onkel
Joachim zusammen gewesen, ging er in wachsender Beruhigung fort. Jetzt
klärte sich die Sache. Man machte es ihm bequem, und er wollte es sich
bequem machen. Mit jedem Wort begnadete er das blasse, unscheinbare
Geschöpf. Hier konnte er wirklich tun, was er wollte -- vorausgesetzt,
daß die Form gewahrt blieb. Man belastete ihn weder mit Liebe noch
mit Verantwortung. An Respekt für seine Frau brauchte er es ja
nicht fehlen zu lassen, denn sie gab seiner Existenz die Grundlage.
Lene Kroner konnte es vorzüglich bei ihm haben, wenn er ein weiser
Lebenskünstler blieb. Es kam nicht darauf an, was sie wissen wollte,
sondern was sie wissen durfte.

Ein Frohsinn, den er nur in den ersten Strelenwalder Tagen empfunden,
kam über ihn. Was eben jeder musikalische Mensch summte, das
Intermezzo aus »Cavalleria rusticana«, summte auch Viktor Schwarz.
Zufällig glitt sein Blick auf das Schaufenster einer Vogelhandlung.
Da verfärbte er sich. Papageien sah er in vergoldeten Käfigen. Er
gedachte der Bezeichnung, die sein Freund Lubasch einmal für Lene
Kroner gebraucht hatte: »Der kranke Papagei!« Er stampfte mit dem Fuß,
verwünschte Lubasch und ging weiter. --

Das Examen bestand er vorzüglich. Nun setzte die Reihe der
Joachimschen Feste ein. Beim zweiten wurde die Verlobung von
Rechtsanwalt Viktor Schwarz mit Fräulein Helene Kroner verkündet.
Es war ein sonderbares Glück, das über den Bräutigam kam. Nicht aus
dem Erlebnis seiner Seele kam es, sondern aus der Meinung fremder
Menschen. Was sonst dem Glück Verlobter nachgesagt wurde, daß sie
nur in ihrer stillen Zweiheit die Welt fanden -- bei Viktor Schwarz
und Lene Kroner stellte sich nichts davon ein. Sie konnten nur unter
neugierigen Blicken aufblühen, ihr Bündnis war eine allgemeine
Angelegenheit. So wurde auch die religiöse Zeremonie als Dekoration
erledigt. Die Hauptsache war das große Hochzeitsessen, das Justizrat
Joachim, wie man versicherte, dreihundert Mark das Gedeck kostete.
Fünfundsechzig Personen waren geladen. Also kostete die ganze Hochzeit
über zwanzigtausend Mark. Freund Lubasch hatte es ausgerechnet. Im
Laufe des Abends teilte er es jedem Gast mit.

Auch Schattenseiten hatte die schöne Feier. Erstens wagte das
Hotel, in dem die Hochzeit stattfand, einen kecken Betrug bei
der Verabreichung der Weine -- die Debatte darüber, die nicht
stimmungfördernd war, wurde bei Tisch nicht unterdrückt. Frau
Justizrat Joachim lieferte sogar ein heftiges Wortgefecht mit dem
Oberkellner. Ferner mutete die glückliche Braut ihrem schwachen
Magen Dinge zu, die streng verboten waren. Die traurige Folge war,
daß Viktor seine Liebe frühzeitig heimbringen mußte. Es wurde eine
schlimme Hochzeitsnacht. Die Reise mußte verschoben werden, und nun
sah die arme Lene wirklich wie ein kranker Papagei aus.

Viktor zwang sich zu frischer Ritterlichkeit, aber im Innersten war
er verstimmt. Es geschah doch allzufrüh, was er vorausgeahnt hatte.
Da half das Sanatorium in Oberhof nichts. Vorläufig lag Lene in der
Bendlerstraße fest. Ihre Magenkrämpfe trieben jedes Glück davon. Ein
böser Zwiespalt regte sich in Viktor Schwarz. Jetzt erst wußte er, wie
gleichgültig ihm der Mensch war, mit dem er verbunden worden.

Aber man bedauerte ihn allseitig, ihn viel mehr als seine Frau,
und das nutzte er aus. Er überließ die Kranke einer Pflegerin und
wandte sich seinem eigenen Interesse zu. Daß Onkel und Tante Joachim
bezüglich seiner Heirat ein schlechtes Gewissen hatten, war ihm gerade
recht. Jetzt konnte er ihre Verantwortung nach Belieben vergrößern.
Daß er den Weg in die Zukunft frei bekam, war ihm die Hauptsache. Er
kannte schon das Achselzucken, das man seiner Ehe widmen würde. »Ich
bitte Sie, eine kranke Frau. Kann man's dem Mann verdenken?«

So begann er denn als kluger Architekt den Scheinbau seines Lebens.
Er war ein Faktor der Gesellschaft -- darauf kam es ihm an. Soweit
sie sichtbar blieben, galten seine Schritte. Im Dunkeln fehlte jede
Kontrolle. Natürlich gab ihm eine Eigenschaft als juristische Person
doppelte Sicherheit. Man wollte ihn als kühnen Geschäftsmann und
ernsten Hüter der Moral -- diese Vereinigung war ein Kunststück --
aber er leistete sie. Er wurde ein ausgezeichneter Schauspieler. Wenn
er abends bei Landvogt saß, Josty gegenüber, wenn er in einer Premiere
des Deutschen Theaters oder in der neu eröffneten Philharmonie
erschien -- immer umgaben ihn andächtige Blicke. Teilnahme für den
bedauernswerten Ehemann, Hingabe für den Überwinder des Daseins --
überall erntete er beides.

Immerhin wollte er sich allmählich auch mehr Bewegungsfreiheit im
eigenen Heim schaffen. Zum Arbeitssklaven war er sich zu schade. Doch
Lene blieb bettlägerig -- an die Reise nach Oberhof war nicht zu
denken. Da half ihm der Klub. Man spielte und machte Bekanntschaften.
Besonders auf einen interessanten Modesalon in der Neustädtischen
Kirchstraße wurde Rechtsanwalt Schwarz hingelenkt. Hier gab es
jene Berliner Welt, die noch nicht Halbwelt genannt werden durfte.
Gusti Bernhardi, die elegante jugendliche Besitzerin, betonte sogar
die bürgerliche Moral. Sie behauptete, nur anständige Damen zu
beschäftigen, aber eine Aufpasserin war sie nicht. Sie machte Viktor
Schwarz zu ihrem Rechtsvertreter.

Wieviel Freiheit und Bequemlichkeit konnte ihm doch von dieser
gesunden, vorurteilslosen Frau kommen! Wehmut erfüllte Viktor Schwarz
bei solchem Gedanken. Er fühlte sich gefesselt und verkauft. Zuweilen
stieg ein böser Haß in ihm auf, wenn er heimkam und durch mehrere
Türen den fatalen Medizingeruch spürte.

Vergebens überlegte er, wie er sich befreien konnte. Da erreichte ihn
plötzlich ein Brief aus Strelenwalde. Nicht von Adele Schörg kam er,
auch nicht von Konditor Prutz -- die Handschrift war ihm unbekannt.
Dann las er den Absender: O. Sanftleben. Aha -- nun wollte man doch
noch etwas von ihm.

  Sehr geehrter Herr!

  Hierdurch teile ich Ihnen mit, daß ich die Sachwalterin meiner
  Nichte Luise Prutz geworden bin. Ihr Vater, mein Schwager, hat
  sich von ihr abgewendet, aus Gründen, die ich nicht zu erörtern
  brauche. Ich teile seinen Standpunkt Luise gegenüber nicht, wohl
  aber Ihnen gegenüber. Deshalb benachrichtige ich Sie in Kürze, daß
  Luise in meiner Wohnung vor einigen Tagen einem gesunden Mädchen das
  Leben geschenkt hat. Ihre Vaterschaft steht fest. Ich habe Ihre
  Verpflichtung dem hiesigen Amtsgericht übergeben, von dem Ihnen das
  Weitere zugehen wird. Persönlich bemerke ich noch, daß Sie sich am
  besten vorstellen können, in welche furchtbare Lage meine Nichte
  geraten ist. Ich hoffe und erwarte, daß Sie sich jetzt als Mann von
  Ehre erweisen und etwas mehr an Mutter und Kind tun werden, als
  das Gesetz befiehlt. Unendlich viel ist wieder gutzumachen. Eine
  Lebenshoffnung ist zu gründen nach unverdienten Qualen.

  Hochachtungsvoll

  Ottilie Sanftleben.

Viktor Schwarz zerknüllte den Brief und ging mit starken Schritten
umher. Dann flüsterte er: »Bande! Niederträchtige Bande! Das auch
noch! Sie haben keine Ahnung, mit wem sie's zu tun haben! Aber sie
sollen mich kennenlernen! Ich werde der alten Vogelscheuche Bescheid
sagen! Nur gesetzlich, liebes Fräulein Sanftleben! Nur gesetzlich!
Etwas anderes existiert für mich nicht!«




                           SECHSTES KAPITEL


Tante Sanftleben wohnte am Strohmarkt, aber der dürre Name hatte
ihren poetischen Sinn nicht gehemmt. Es gab wohl kein anderes Haus in
Strelenwalde, dessen Fenster so schön mit Blumen geschmückt waren.
Eine Besonderheit noch hatte der schmale, einstöckige Bau insofern,
als seit Jahr und Tag zwei Oleanderbäume in grünen Kübeln vor der
Tür standen. Ottilies Vater war ein angesehener Gastwirt gewesen,
dessen Lokal nicht mehr bestand. Er hatte die Oleanderbäume vor der
Tür gehabt, die manchen bezechten Strelenwalder vorbeigelassen. Man
erzählte sogar, daß der Herr Amtsrichter und der Apotheker einmal
die ganze Nacht weinselig auf den grünen Kübeln gesessen hätten. Nun
sahen die Oleanderbäume nur noch sittsame Ordnung. In ihrer Mitte, vor
Tante Sanftlebens Tür, saß Moritz, ihr schwarzer Pudel, und hütete die
Schwelle.

Aber aus dem tiefen Frieden hatte das alte Fräulein sich doch noch
einmal herausreißen lassen. Zur allgemeinen Bestürzung beging
Tante Sanftleben eine der revolutionärsten Taten der Strelenwalder
Moralgeschichte: sie nahm eine »Gefallene« auf. Sie erbarmte sich
eines Menschen, der allgemein verurteilt wurde. Liese Prutz war
genugsam um Assessor Schwarz beneidet worden. Nun, da von der ganzen
Herrlichkeit nur die Verstoßung durch den Vater übriggeblieben, ließ
man seinen Gefühlen freien Lauf. Doch der Sturm wurde durch die
herausfordernde Tat des alten Fräuleins um seine Entladung gebracht.
In Haß und Hetze kam doch allmählich mahnende Beschämung. Niemand
wagte die christliche Tat der mutigen Tante anzufeinden.

Es war Winter und Weihnachten geworden. Liese saß in dem Lehnstuhl,
den Tante Sanftleben ihr eingeräumt hatte. Er stand an einem
Fenster, und man konnte über den verschneiten Strohmarkt sehen. Viele
Leute gingen hier nicht vorüber; doch die einzige Unterhaltung,
die es gab, hatte die Tante ihren Gast überlassen. Liese war jetzt
zu philosophischen Betrachtungen geneigt, sie knüpfte an jeden
Vorübergehenden die Deutung seines Schicksals. Dazu kam die Arbeit,
die sie mit der Tante emsig durchführte -- die kleine Aussteuer für
das leidvoll Erwartete.

Es dämmerte schon. Plötzlich ging unten Vater Prutz vorüber. Er mochte
die Beobachtenden am Fenster spüren, denn sein heftiger Schritt, seine
trotzige Haltung sahen wie eine Kundgebung aus. Tante Sanftleben hatte
gehofft, daß Liese den Vater nicht bemerkt hätte; doch da sagte sie
schon: »Er sieht aus, als ob er es nicht mehr lange macht. Findest du
nicht auch, Tante? Der arme, alte Mann. Ich kann nur sagen: er hätte
es anders haben können.«

»Selbstverständlich«, flüsterte die Tante mit empörtem Blick.

»Es ist eben das traurige, daß er alles bloß wegen der Leute tut. Aber
so wird man in Strelenwalde.«

»Ich glaube, liebes Kind, so wird man auch in Berlin. Nur in größerem
Stil, möchte ich sagen. Hätte ein gewisser Herr sein Herz und sein
Gewissen sprechen lassen ...«

»Das konnte er nicht mehr, Tante. Herz und Gewissen hat er längst
verkauft ...«

Ein leises, schmerzliches Lachen kam in Liese auf, aber es ging
sogleich in Weinen über. Dann faßte sie sich: »Vater ist jedenfalls
noch schlimmer dran als ich. Ich glaube, das Geschäft geht auch
kaputt. Ich bilde mir ja nicht viel drauf ein, was ich mal gekonnt
habe, aber immerhin kommt es doch auf 'ne nette Bedienung an. Wenn
Vater jetzt im Laden steht mit einem Gesicht, als ob er jeden
auffressen wollte, und die Adele kommt gehumpelt -- das kann doch
nichts für die Herren sein.«

Liese ließ plötzlich ihre Häkelarbeit sinken und starrte vor sich hin:
»Ach Tante, das Leben ist eigentlich so sinnlos. Was soll denn der
Mensch auf der Welt, wenn er nicht aus Liebe geschaffen wird?«

Es war ein Schmerz in ihrer Stimme, der mehr sagte als jedes Wort.
Ergriffen streichelte Tante Sanftleben ihren Arm: »So darfst du nicht
denken. Das sind schädliche Gedanken für dich. Solch Kind ist ganz
unschuldig --«

»Ja, Tante! An allem!«

»Ich meine -- das geht seinen eigenen Weg -- das wird ein Mensch für
sich -- außerdem hast du doch, als es geschaffen wurde, an Liebe
geglaubt.«

Liese schauderte zusammen. Dann sagte sie:

»Das ist das Schlimmste -- aber ich kann nicht anders -- an das Kind
denk' ich nicht gern, Tante.«

»Liese!«

»Ich fühl's in mir -- ich werd' es auf die Welt bringen -- aber es
wird mir ganz fremd bleiben. Immer werd' ich dran denken, daß es doch
der Grund von allem war, was ich auszustehen habe. Gewiß, es kann
nichts dafür. Meine Pflicht will ich tun -- aber zwingen tu' ich mich
zu nichts. Ich wünschte nur, daß es erst auf der Welt wär'.«

»Du sprichst sehr sündhaft. Liese, aber ich rechne es deinem Zustand
an. Wir wollen jetzt still sein. Wir wollen beide unsere Pflicht tun.«
-- --

Es wurde wieder Frühling. Da vollzog es sich in dem kleinen,
blumengeschmückten Hause am Strohmarkt. Ein Mädchen wurde geboren,
ein sehr winziges, aber gesundes Mädchen. Die erste Regung der jungen
Mutter nach langer Apathie war, daß sie, Tante Sanftlebens Hand
drückend, sagte: »Tante, darf ich es Ottilie nennen?«

Da gab die Gute nach kurzem Kampf eine überraschende Antwort. »Nein,
Liese. Tu das nicht. Versteh mich. Ich muß für mich bleiben. Nenn' es
Berta, wenn dir der Name gefällt. So hat deine Mutter geheißen.«

Verwundert, nicht gekränkt, schwieg Liese. Dann aber stimmte sie zu.
Die kleine Berta bekam im Himmel eine Patin.

Nun aber, während Liese sich erholte, entfaltete Tante Sanftleben eine
energische Tätigkeit. Sie wollte die Rechte des neuen Menschenkindes
sichern. Entwischen sollte der treulose Mann ihr nicht. Da ging sie
nun täglich in das ernste Gebäude, wo einst auch Viktor Schwarz
amtiert hatte. Mit seinen Kollegen bekam sie es zu tun, aber niemand
entzog sich der peinlichen Pflicht. Fräulein Sanftleben wurde zum
Vormund bestellt, und an den Vater des unehelichen Kindes eine
amtliche Weisung beschlossen.

Doch bevor sie ihn erreichte, schrieb Tante Sanftleben ihren Brief
an Viktor Schwarz. Die Antwort kam. Auf einem Geschäftsbogen mit
Bankkonto und Telegrammadresse standen diese Zeilen:

  »Nach Empfang Ihres gefl. Schreibens vom 4. d. M. diene Ihnen zur
  Nachricht, daß ich jegliche Einmischung bzw. Diskussion in der
  fraglichen Angelegenheit ablehne. Dem von Ihnen erwähnten amtlichen
  Schreiben sehe ich gern entgegen und werde es darauf prüfen, ob und
  wieweit meine Person darauf zu reagieren hat. In jedem Fall erkläre
  ich Ihnen hiermit wie jedem anderen Interessenten definitiv, daß für
  meinen Standpunkt einzig und allein die gesetzlichen Bestimmungen
  maßgebend sind.

  Hochachtungsvoll

  Viktor Schwarz,
  Rechtsanwalt.«

Liese erfuhr von diesem Briefe nichts. Tante Sanftleben ließ die Dinge
gerichtlich ordnen und beschränkte sich darauf, den Lebensmut der
jungen Mutter zu stärken. Als Liese genesen war, wollte sie fort. Der
Boden von Strelenwalde brannte ihr unter den Füßen. Das verstand die
Tante. Als sie aber Lieses Entschluß hörte, stutzte sie. Die Nichte
wollte nach Berlin? Es gab für sie keinen anderen Ort, um eine Zukunft
zu gründen? Hoffte sie doch noch auf den Verführer?

Und ihr Kind wollte sie mitnehmen! -- »Das kommt in Pflege«, sagte
sie. »Hier lasse ich es nicht. In Berlin ist man doch ein bißchen
heller und freier, Tante. Da macht man's keinem Menschen zum Vorwurf,
daß er auf der Welt ist. Nun komm' ich also doch noch nach Berlin --
auch wenn der Herr Rechtsanwalt mich nicht hinbringt. Ich spüre so
allerlei in mir. Man wird sich vielleicht noch wundern. In unserm
Froschteich bleib' ich jedenfalls nicht.«

Tante Sanftleben fügte sich. Sie konnte nur mit stummen Augen bitten:
Weiche nicht vom Pfade der Tugend.

Sie sorgte noch für eine möglichst gute Übersiedlung. In aller
Morgenfrühe brachte sie Mutter und Kind zur Bahn. Liese weinte erst,
als Tante Sanftleben ihr einen Frühlingsstrauß in die Hand steckte.
Dann faßte sie sich gewaltsam und lächelte die treue, alte Freundin
an: »Vater wird's ja doch bald hören, Tante -- wie?«

»Ich gehe heute zu ihm und teile ihm alles mit. Ich fürchte mich nicht
vor ihm.«

»Ach, dann sage doch auch Adele, sie soll ein bißchen besser für den
Peter sorgen! Du weißt doch, mein alter Schimmel! Er kam mir neulich
so mager vor! Adele denkt ja doch bloß ans Naschen! Sie soll gut Hafer
nehmen, zweimal täglich! Vater hat es ja dazu!«

Tante Sanftleben unterdrückte eine Antwort. Mit feuchten Augen rief
sie: »Gut, gut, liebes Kind! Ich werde alles in deinem Sinne ordnen!
Und nun leb' wohl! Und Kopf hoch, nicht wahr? Ach, wie dein Bertchen
dazu nickt!«

»Nein, Tante, sie nickt, weil sie schrecklich müde ist!« Der Zug fuhr
ab. Liese stand noch eine Weile am Fenster, im rechten Arm das Kind
und mit dem linken hinauswinkend. Dann kam eine Biegung -- Tante
Sanftleben verschwand.

Liese setzte sich. Draußen flogen die letzten Häuser von Strelenwalde
vorbei. Sie drückte das schlafende Kind an ihre Brust, aber die innere
Kälte wollte nicht weichen. Sie schloß ihre Augen und lehnte sich
zurück. Nach einer Weile spürte sie, daß sie nicht allein war. Sie
erinnerte sich eines kleinen, ziemlich umfangreichen Mannes, der nach
ihr eingestiegen. Er hatte sich sogleich in ein Notizbuch vertieft,
während Liese mit der Tante gesprochen hatte. Es war eine betonte
Diskretion. In ihrer Feindseligkeit gegen jeden Mann warf Liese auch
jetzt nur einen kurzen, grimmigen Blick auf den Reisegefährten.

Dieser aber zeigte einen eigentümlichen Wechsel zwischen sachlicher
Gleichgültigkeit und persönlicher Liebenswürdigkeit. Er saß in seiner
Ecke, Liese gegenüber, und blickte bald, die Lippen bewegend, auf
seine Notizen, als wollte er sagen: Mich geht kein Mensch was an --
bald ließ er seine klugen Äuglein hurtig über die junge Frau gleiten,
und sie wurde von einer warmen Sympathie berührt.

Nun faßte sie ihren Reisegefährten doch näher ins Auge. Er hatte
eigentlich etwas sehr Drolliges, und wenn sie nicht so traurig
gestimmt gewesen wäre, hätte sie lächeln müssen. Elegant und protzig
gekleidet -- eine doppelt goldene Uhrkette mit wunderlichen Anhängseln
um den geblümten Bauch -- dabei wirkte er, als ob er in seine Kleider
eingenäht wäre und immerfort etwas an ihm platzen könnte. Der bartlose
Kopf mit dem Stumpfnäschen und den pfiffig empfindsamen Augen konnte
mit Theater oder Zirkus zu tun haben, doch erinnerte die saubere
Korpulenz des ganzen Mannes wieder an einen geübten Wirt. Jedenfalls
mußte er recht klug sein und ein Berliner ganz bestimmt.

Das Schweigen dauerte nicht allzulange. Mit einer devoten Bewegung zog
der Reisegefährte ein Fenster hoch und sagte: »Es könnte doch wohl
etwas ziehen für das Kindchen. Ein Fenster auf genügt doch wohl --
nich wahr, Madam?«

Er sprach gemütlich, aber auch energisch. In seiner wichtigen Art, die
ihn leicht außer Atem brachte, lag eine Ehrlichkeit, die Liese gefiel.

»Madam sind gewiß eine gebürtige Strelenwalderin, wenn ich mir diese
Frage erlauben darf?« fragte er nach einer Weile, indem er sich, ohne
um Erlaubnis zu bitten, eine Zigarre anzündete.

Jetzt wappnete sich Liese. Ausfragen ließ sie sich nicht. Man konnte
nicht wissen, von wem der Herr orientiert worden war. -- »Ja, ich bin
aus Strelenwalde«, erwiderte sie kurz.

Er paffte: »'n liebes, altes Nest, aber in den Ansichten schauderhaft
rückständig.«

Sie konnte ihm nicht widersprechen.

»Ich komme nämlich schon seit zwanzig Jahren hierher. Ich mache
nämlich meine Einkäufe immer persönlich, und gewisse Sachen kauft
man am besten in solchen Nestern. Strelenwalde zum Beispiel --
Ihre Spickgans is mir lieber als die Rügenwalder. Außerdem die
Bouillonstangen von Konditor Prutz --«

Jetzt klopfte Liese das Herz. War sie denn blind gewesen? Sie kannte
doch diesen Mann -- sie hatte ihn schon als Kind gesehen. Seinen
Namen wußte sie nicht -- aber früher war er oft im Laden ihres Vaters
gewesen.

»Solche Spezialitäten aus der Provinz lieben die Herren in Berlin am
meisten. Meine Frühstücksgäste --ich sage Ihnen, Madam, die lassen
Dressel und Borchardt dafür stehen. Ich bin nämlich der Besitzer der
allgemein bekannten Müffelschen Frühstücksstube, Französische Straße
siebenundzwanzig. Ich gebe das Brötchen mit echtem Rheinlachs für
fünfundsechzig Pfennige. Spezialität: Müffelbrötchen. Erlaube mich
ergebenst vorzustellen.«

Er senkte wiederholt seinen kahlen Kopf. Liese flüsterte: »Sehr
angenehm.« Ihren Namen nannte sie nicht.

Jetzt aber sah der Reisegefährte sie treuherzig an: »Aber Fräuleinchen
-- Sie kennen mich doch? Guido Müffel? Wie oft bin ich zu Ihrem
Papa gekommen! Bloß die letzten Jahre nich mehr. Da hab' ich die
Bouillonstangen aus Potsdam bezogen. Aber nun hab' ich mich mal wieder
auf die gute alte Quelle besonnen.«

Sie nickte hastig: »Ja, Sie waren bei meinem Vater -- ich weiß. Aber
wenn es Ihnen recht ist, Herr Müffel, sprechen wir lieber nicht davon.
Ich stehe nicht mehr gut mit Vater. Ich kann Ihnen das nicht so
erklären.«

Er betrachtete sie bewegt: »Als ob man keine Augen im Kopp hätte! Als
ob man nicht das Kindchen da gesehen hätte und die ganze Art, wie Sie
von Tante Sanftleben Abschied genommen haben! Halten Sie denn Guido
Müffel für schwach auf der Brust? Außerdem, wenn man in Strelenwalde
seine Geschäftsfreunde besucht hat -- da erfährt man doch mancherlei!«

Liese lehnte sich, die Augen schließend, zurück.

Jetzt rückte Guido Müffel ihr näher: »Fräulein Prutz -- es ist ein
furchtbar netter Zufall, daß wir zusammen nach Berlin fahren ... Ich
mische mich sonst nich 'rein; aber was ich von Ihnen weiß, kommt
nicht etwa von Ihrem Vater, sondern von seinem Konkurrenten -- Herr
Breitkopf oder Mohrenkopp, wie sie ihn nennen, hat es mir erzählt. Es
ist die alte Geschichte -- Sie kennen doch das berühmte Gedicht von
Heine? Das hat neulich Richard Kahle vom Königlichen Schauspielhaus
bei mir deklamiert. Ich sage Ihnen, uns sind die Tränen über die
Backen gelaufen.«

»Herr Müffel,« bat Liese mit stockender Stimme -- »was soll das alles?«

Er steckte die Hand, an der kostbare Ringe blitzten, zwischen
Oberhemd und Weste: »Zunächst -- es soll Ihnen sagen, daß ich
selbstverständlich die ganze Sache übersehe. Ich verurteile die
Handlungsweise Ihres Herrn Vaters, so sehr ich den Mann sonst schätze.
Der Mann ist rückständig. Heutzutage verflucht man seine Tochter
nicht mehr. Das kommt bloß in faulen Theaterstücken vor. Aber ich
kenne auch den Kunden, der Ihnen mitgespielt hat -- na gut, na schön,
ich bin ja schon stille, ich rede keinen Ton mehr. Man weiß doch als
alter Wirt, wie man sich zu benehmen hat. Aber so viel will ich Ihnen
sagen: Sie müssen den Spieß jetzt umkehren! Sie müssen sich in Berlin
durchsetzen! Mit Ihrer Figur! Und mit Ihren Haaren! Die haben ja 'ne
ganz aparte Farbe! Und überhaupt: Sie besitzen savoir vivre, wie der
Franzose sagt! So 'n Kindchen -- das machen Sie nebenbei ab! Sie
verstehen mich hoffentlich, Fräulein Prutz?«

Liese sah eine Weile auf die Anhänger an Guido Müffels Uhrkette. Der
eine war das in Gold gefaßte Bildchen einer nackten Frau, der zweite
war ein Bulldoggenkopf aus Kristall mit Rubinaugen. Dann bemerkte sie
noch einen kleinen Neger, der an einem Baumast aufgehängt war. Nach
einer Pause erwiderte sie leise: »Durchsetzen will ich mich ja. Dazu
geh' ich ja nach Berlin, Herr Müffel. Aber für mich kommt nur was
Anständiges in Frage. Ich muß einen guten, ehrlichen Beruf haben.«

Guido Müffel schlug sich mit beiden Händen auf die Knie -- es
klatschte nur so: »Aber gewiß? Ich weiß doch, wo Sie herstammen! Sie
können Ansprüche machen, zum Donnerwetter! Woran denken Sie nun? In
welche Branche, wenn ich so sagen darf, wollen Sie 'reinkommen?«

»Ich war immer ganz geschickt im Hüte garnieren.«

Guido Müffel schnitt ein entwaffnendes Gesicht: »Putzmacherin? Um
Gotteswillen? Sie sind ja 'ne scharmante Person, aber nehmen Sie mir's
nicht übel -- Sie haben doch wahrscheinlich den kiebigen Strelenwalder
Geschmack! Damit können Sie in Berlin nichts machen. Höchstens, wenn
Sie sich 'n besonders nettes Geschäftslokal mieten, wissen Sie,
so'n Schmuckkästchen in der Friedrichstadt -- aber Sie haben doch
wahrscheinlich gar kein Betriebskapital?«

»Nein«, erwiderte Liese kleinlaut.

»Also was andres, Fräuleinchen -- was andres! Denken Sie mal nach!«

»Vielleicht versuch' ich es mit dem, was ich gelernt habe, und gehe
als Verkäuferin in 'ne gute Konditorei?«

Noch einmal schnitt Herr Müffel sein Gesicht: »Das is auch nichts! Was
kommt denn dabei 'raus? Das hat nicht den Berliner Stil -- Konditorei!
Ne, ne, Fräulein -- wenn Sie in Berlin Karriere machen wollen, dann
müssen Sie die Wurscht am Zippel fassen! Immer das Neueste, so kommt
man vorwärts! Haben Sie nicht 'n bißchen Vertrauen zu mir? Darf
ich Ihnen als erfahrener Geschäftsmann nicht einen guten Vorschlag
machen?«

Liese sah ihn verwirrt an: »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Müffel
...«

»Zunächst -- ehe ich mit der Sache selber 'rausrücke -- was haben Sie
mit der kleinen Angelegenheit da vor?« -- Er deutete auf das Kind.

»Ich will sie nicht behalten. Ich will sie in Kost geben, irgendwo,
bei sauberen, zuverlässigen Leuten.«

»Bon! Gott sei getrommelt und gepfiffen! Ich dachte schon, Sie wollten
sich mit Ihrem Sprößling belasten! Also ohne Anhang -- ganz frei
wollen Sie sein?«

Jetzt leuchtete es wieder einmal in Lieses blauen Augen: »Jawohl, Herr
Müffel!«

»Ich biete Ihnen eine glänzende Stellung an! Meine Büfettdame geht zum
ersten August -- ich habe fünfundzwanzig Bewerberinnen, aber Ihnen
gebe ich den Vorzug! Kost und Logis und neunzig Mark monatlich, nach
einem Jahr hundert! Einverstanden?«

Er streckte ihr seine Hand hin.

»Ja, wenn ich solche Stelle ausfüllen kann --?«

»Einverstanden?!«

Sie drückte ihm die Hand: »Furchtbar gern, Herr Müffel!«

»Sie werden eine Attraktion, das seh' ich schon vor mir. Meine
Kundschaft wird von Ihnen begeistert sein: Sauberkeit und Ordnung --
na, darüber verfügen Sie ja. Von der persönlichen Liebenswürdigkeit
will ich garnicht reden. Mit Einkauf und Kasse haben Sie nichts zu tun
-- das ist mein Ressort. Nur das Buch muß stimmen, und die Kellner
müssen Sie an der Strippe haben. Na, das wäre gemacht. Das freut mich
wirklich kolossal. Und Ihrem Papa gönn' ich's, daß Sie in Berlin
gleich hochkommen.«

»Wenn ich nur erst für das Kind was hätte!«

Guido Müffel kicherte gutmütig: »Aber was glauben Sie denn? Guido
macht doch alles! Ich hab natürlich schon 'ne Adresse! Mein seliger
Bruder war Zimmerherr bei einer Frau Grunow am Elisabethufer!
Tadellose Briefträgerswitwe! Ihr Sohn ist Stubenmaler, und ihr Bruder
ist Bureauvorstand bei einem Rechtsanwalt! Die nimmt sicher ein
Kostkind, namentlich, wenn ich die Sache arrangiere! Also, das hätten
wir schon!«

»Sie sind wirklich großartig, Herr Müffel!«

»Ich mache meine Augen auf, sonst nichts! Na, nu fahren Sie schon ein
bißchen ruhiger nach Berlin, nicht wahr, Fräuleinchen?!«

Jetzt konnte Liese aus vollem Herzen zustimmen. Sie hatte endlich
wieder Glück und vertraute ihrem Reisegefährten ehrlich. So gab es
eine ganz lustige Fahrt. Nur die kleine Berta wurde bald ungemütlich
und schien sich gegen das Leben, in das man sie trug, zu wehren.
Guido Müffel stellte alles auf, um seiner neuen Büfettdame bei der
Beruhigung ihres Sprößlings zu helfen.




                          SIEBENTES KAPITEL


Am Elisabethufer wurde eine Leiche aus dem Kanal gezogen, als die
Droschke, die Liese zu Frau Grunow trug, vor Nummer 24 hielt. Das
Ereignis hatte viele Menschen angelockt, die in einer eigentümlichen
Mischung von Grauen und Spott das Geländer säumten. Liese begriff,
was vorging, hütete sich aber davor, etwas erkennen zu wollen. Sie
bezahlte schnell und lief mit ihrem Kinde in das Haus.

Vier Treppen mußte sie steigen -- dann las sie endlich das kleine
Porzellanschild: M. Grunow, Näherin in und außer dem Hause. Darüber
befand sich eine größere Holztafel, die nach Lieses Eindruck ganz
geschmackvoll mit allerlei Nixen und Wasserpflanzen bemalt war.
Sie trug in Schnörkelschrift den Namen Alfons Grunow, Maler und
Innendekorateur. Auf einer vergilbten Visitenkarte stand noch:
Tübbeke, Bureauvorsteher.

Sie klingelte. Ein kläffender Hund wurde hörbar. Dann schlurfte es
heran, und eine bejahrte Frau öffnete mißtrauisch die Tür.

»Ach, Sie sind es, Fräulein«, sagte sie dann langsam. »Kommen Sie man
'rein.«

Die Stimme klang mürrisch. Das fahle Runzelgesicht heimelte Liese
nicht an. Sie war in Strelenwalde an glücklichere Erscheinungen
gewöhnt. In der Wohnung sah es sehr ärmlich aus. Zum erstenmal regte
sich ein dunkles Mitleid in Liese für das kleine Wesen, das hier
abgesetzt wurde.

Aber dieses Gefühl erstickte sie. Aufrecht saß sie der alten Näherin
gegenüber: »Ich bringe Ihnen das Kind, Frau Grunow. Ich bin mit Ihren
Bedingungen einverstanden. Herr Müffel hat Ihnen ja geschrieben.«

Frau Grunows verglommene Augen musterten Lieses Erscheinung. Sie
gähnte dann und strich das graue Haar aus der Stirn: »Ja, ja, -- ich
weiß schon. Müffel ist ein anständiger Mann. Sein Bruder, der war
anders. Gesoffen hat er, und gekommen ist er zu nichts, und dann hab'
ich ihn zwei Jahre hier krank gehabt. Aber Guido ist tüchtig. Kriegen
Sie nun wirklich die Stelle, Fräulein?«

Die Frage klang so skeptisch, daß Liese rot wurde. »Ich werde mir alle
Mühe geben, sie auszufüllen.«

»Ach, geben Sie sich man nicht zuviel Mühe. Die Hauptsache ist, daß
eine nett aussieht. Guido versteht den Zimmt. Ja, der eine hat Dusel,
und der andere muß sich sein ganzes Leben schinden und kommt zu
nichts.«

»Ach, wissen Sie, Frau Grunow, ich habe auch bis jetzt nicht viel
Dusel gehabt.«

»Na, was wollen Sie denn? So'n Kind das macht Ihnen doch nichts mehr?
Und mit die Männer -- lieber Gott, denen gefallen Sie wahrscheinlich
jetzt noch besser.«

Liese schnitt das peinliche Thema ab: »Nun kann ich wohl noch sehen,
wo das Kindchen schlafen wird?«

Frau Grunow machte eine ärgerliche Bewegung: »Schlafen tut se hier
-- da steht ja das Bettchen. Was soll ich Ihnen sonst noch erzählen?
Ich arbeite bloß noch zu Hause, seit ich die verfluchte Gicht habe.
Also da ist immer einer, und die Milch von Bolle kennen Sie doch? Die
Hauptsache ist, daß Sie genug Geld dalassen, damit ich was kaufen kann
fürs Kind. Was Sie da mitgebracht haben -- die zwei Windeln und das
fusselige Wolltuch -- damit kommen wir nicht weit.«

Es kochte in Liese. Sie hatte mit Tante Sanftleben alles so nett
gerichtet -- da ließ sie sich nicht angreifen. Aber sie bezwang sich.
Vorläufig sah man sie ja nicht wieder. -- »Gut, also gut. Hier sind
noch dreißig Mark. Das wird ja wohl vorläufig genügen?«

»Und monatlich pünktlich schicken, nicht wahr? Auslegen kann ich
nämlich nichts. Uns geht's hier miserabel. Mein Bruder, was der
Bureauvorsteher ist, der ist ein oller Geizkragen, der sitzt auf seine
Kröten. Und mein Sohn, der Alfons, der könnte als Stubenmaler so viel
verdienen, aber der quatscht bei seine Partei, macht Versammlungen und
glaubt, daß übermorgen alles anders wird. Nee, Fräulein -- hier kommt
es bloß auf mir an. Das eine kann ich Ihnen man sagen: Dem Kind fehlt
nichts, und das kommt daher, weil ich noch fromm bin. Ich gehe nämlich
jeden Sonntag in die Kirche. Ja, so was gibt es noch in Berlin. Nu
können Sie sich ja vorstellen, daß es hier gut für so'n Kind ist.«

Liese widersprach nicht. Sie verabschiedete sich bald. Als sie in der
Pferdebahn saß und nach der Französischen Straße zurückfuhr, war sie
ganz beruhigt. Das Kind war untergebracht -- sie mußte jetzt selbst
durchkommen. --

Ihren Koffer hatte sie noch in einem Fremdenheim in der Mittelstraße.
Sie sagte Guido Müffel, ihrem neuen Chef, daß das Kind nun fort sei,
und daß sie zu ihm übersiedeln könne. Er sah sie strahlend an und war
mit allem einverstanden.

Liese hatte Talent für den neuen Beruf. Ihr Erfolg entsprach den
Erwartungen. Überrascht blickten Guido Müffels Gäste auf die neue
Büfettdame. Diese schlanke, blonde Person war keine zur Schau
gestellte Puppe, sondern ein tüchtiger Mensch. Sie versäumte keine
Freundlichkeit, aber sie bewährte sich auch hinter den Kulissen.
Das Geschäftliche ging am Schnürchen, und in der Küche merkte man
bald, daß Fräulein Prutz kochen konnte. Den Kellnern gegenüber hatte
sie ein glückliches Gemisch von Dame und Wirtschafterin. Aber es
erfüllte sich auch, was Frau Grunow prophezeit hatte: Der Instinkt der
lebenserfahrenen Herren spürte, daß Liese Prutz schon einiges »hinter
sich« hatte. Das aber gab ihr den höchsten Reiz. Man glaubte es nicht
mehr so weit zu haben bis zur Verständigung. Doch auch der keckste
Werber machte die Erfahrung, daß man eine mißhandelte Seele vorläufig
in Ruhe lassen mußte.

Freude hatte Liese an ihrem Beruf. Das Zerstreuende der täglichen
Pflichten und der Wechsel der Erscheinungen war das, was sie gebraucht
hatte. Auch gab es wirklich interessante Männer, die bei Guido Müffel
verkehrten. Nicht nur müde Geschäftsleute, die in der Erholungsstunde
materiell gestimmt waren -- es kamen auch viele Künstler, und ihre
selbstbewußte Art herrschte natürlich vor. Besonders ein bekannter
Sänger vom Königlichen Opernhause und ein anderer von der Operette in
der Friedrich-Wilhelm-Stadt beschäftigen sich mit Liese. Mit beiden
scherzte sie bald, als ob ihr überhaupt nichts Böses geschehen wäre.
Das Lokal war jeden Tag von Heiterkeit erfüllt. Guido wurde immer
stolzer auf seine Entdeckung.

Bald machten die Stammgäste sich einen Spaß, der aus guten Herzen kam.
Sie durchschauten, daß es sich bei Liese um einen Menschen handelte,
dessen Empfindlichkeit geschont werden mußte. Sie war immer nett und
sauber, aber dürftig gekleidet. Dies war der einzige Punkt, der Guido
Müffel Sorge machte. Zu der Seelengröße, seine Büfettdame entsprechend
einzukleiden, konnte er sich doch nicht aufschwingen. Da verschworen
sich nun die zahlungsfähigsten Verehrer, einen Fond zu gründen,
einen »Liese-Prutz-Fond«, dessen Mittel zur Beschaffung eleganter
Garderobe dienen sollte. Man hatte eine kindliche Freude daran, alles
zusammenzutragen, was dem hübschen Fräulein stand. Dabei wurde für
die Empfängerin jede Peinlichkeit vermieden -- bei keinem Gegenstande
kam es zutage, wer ihn gestiftet hatte. Man sprach immer nur von
»unserer« Liese, man wollte gleicherweise an etwas beteiligt sein,
was so viel Freude machte. Guido Müffel übernahm es, Liese in die
Sache einzuweihen. Es war eine heikle Aufgabe, aber sein Schützling
erleichterte sie ihm. Liese spürte, daß sie nichts hergab, was sie
sich wahren wollte. So erschien sie denn schelmisch lächelnd von
Zeit zu Zeit mit einer neuen Errungenschaft im Lokal, mochte es eine
seidene Bluse oder ein Schildpattkamm oder feine Schuhe sein. Immer
hörte sie das leise »Ah!«, das den Beifall der Verschwörer bedeutete.
Auf solche Weise konnte sie allen gehören --

Eines Morgens kam eine Postkarte von Frau Grunow, das Kind sei krank
gewesen, aber nun schon über den Damm. Sie wollte es der Mutter erst
schreiben, wenn alles überstanden war. Liese erschrak trotzdem, denn
sie schämte sich vor ihrem Kinde. Eines Sonntagnachmittags beschloß
sie wieder nach dem Elisabethufer zu fahren. Im Lokal war sie erst
abends nötig. Sie bat Herrn Müffel, eine Tüte mit allerlei Süßigkeiten
mitnehmen zu dürfen, und er füllte sie ihr selbst mit Datteln,
Traubenrosinen und kleinen Kuchen.

Liese kam überraschend. Es war Sonntag, und in Frau Grunows Wohnstube
befand sich eine lebhafte Kaffeegesellschaft. Liese staunte, wie
nett die arme, alte Frau alles herrichten konnte. Einen Napfkuchen
hatte sie gebacken, den Onkel Tübbeke alle fünf Minuten aufs neue
beurteilte. Außer dem Bruder der Frau Grunow traf Liese diesmal
auch Alfons, ihren Sohn, ferner Fräulein Milchner, eine benachbarte
Lehrerin, und Herrn Frosch, einen Friseur, der sein taubstummes
Töchterchen mitgebracht hatte, selbst aber außerordentlich beredt war.

Nicht weit vom Kaffeetisch lag Berta in ihrem Bettchen. Das erschien
Liese in Anbetracht der rauchenden Männer nicht ganz richtig, aber sie
wurde von Frau Grunow sogleich beruhigt. Die Hauptsache sei, man müsse
solch Kind an alles gewöhnen.

Liese bekam einen Ehrenplatz auf dem Sofa. Sie wurde überhaupt mit
großer Höflichkeit behandelt. Ihre elegante Erscheinung wirkte in
dieser Ärmlichkeit. Frau Grunow freute sich an der Tüte mit den
Süßigkeiten, bot aber, als sie den Inhalt übersehen hatte, nichts
davon an. Nur eine elegische Betrachtung knüpfte sie an das Geschenk,
die das unterbrochene Gespräch wieder in Gang brachte.

»Ja, ja -- da kriegt man mal wieder so'n Schimmer von dem, was andere
Leute jeden Tag haben. Unsereiner muß für Kartoffeln und Bohnen sorgen
-- weiter reicht es nicht.«

»An den süßen Sachen verdirbt man sich bloß die Zähne«, meinte Onkel
Tübbeke, obwohl er beständig Kuchen aß.

»Als zielbewußter Proletarier ziehe ich meine einfache Kost
entschieden vor!« platzte Herr Frosch heraus, indem er seine
flackernden Augen über Liese gleiten ließ. Dann tat er, was er
nach jeder Äußerung tat: er beugte den Kopf zu seinem taubstummen
Töchterchen, als wollte er sehen, ob es etwas wünschte. Es war auch
diesmal nur eine mechanische Bewegung.

Alfons Grunow, der einen überraschenden Haarwuchs hatte, richtete
seinen düsteren Künstlerblick auf Liese. Er ließ Herrn Frosch seinen
Parteigenossen, immer zuerst sprechen -- dann äußerte er gleichsam
die abschließende Wahrheit; »Der Tag wird kommen, wo es auch bei uns
Rosinen gibt. Aber die Knackmandeln, die wir vorher spendieren, werden
ein bißchen anders aussehen, was Bruno?!«

Frosch nickte eifrig und beugte sich wieder zu seinem Kinde.

Onkel Tübbeke, der mit seinem bartlosen Runzelgesicht und seiner
fuchsigen Perücke an eine Figur aus der alten Berliner Posse
erinnerte, sagte mit komischer Grimasse: »Na, Alfons -- sie werden
euch schon auch noch manches zu knacken geben -- warte man ab.«

»Onkel, du hast keine Ahnung von Morgenluft«, erwiderte der Neffe,
indem er mit beiden Händen in seine Lockenfülle griff.

»Als wie icke? Ich stehe doch jeden Morgen um halb sieben Uhr auf, und
um achte bin ich im Bureau.«

»Na ja, -- das mein' ich aber nicht. Du kommst von den Burschoa und
gehst zu den Burschoa. Du hast dir den Sturmwind der Zeit noch nie um
die Nase wehen lassen.«

»Dafür dank' ich auch, mein Junge. Davon kriegt man bloß'n Schnuppen.«
-- Jetzt kicherte Onkel Tübbeke. Vom Kichern kam er ins Husten.
Trotzdem wiederholte, er allmählich brüllend, indem er sich zu Liese
wandte: »Davon kriegt man bloß 'n Schnuppen.«

Alfons machte eine verächtliche Bewegung, die der Onkel übelnehmen
konnte. Fräulein Milchner glaubte wieder einmal vermitteln zu
müssen: »Ich glaube, wir werden für unser Leben mit den bestehenden
Verhältnissen vorliebnehmen müssen. Für uns heißt es: seine Pflicht
tun. Gerechtigkeit wird es wohl niemals geben.«

Jetzt schlug Herr Frosch mit der Faust auf den Tisch: »Das wollen
wir doch mal sehen, Fräulein! Da bin ich ganz anderer Ansicht!
Gerechtigkeit muß kommen! Da hätten Sie Bebel hören müssen in der
letzten Parteiversammlung! Und Paul Singer! Es wird anders! Alles wird
anders! Eher, als Sie glauben! Der Zukunftsstaat ist nahe!« -- Er
beugte sich zu seinem stillen Kinde.

»Vergeßt den Napfkuchen nicht«, sagte Frau Grunow, die wieder neue
Stücke schnitt.

Alfons saß düster zurückgelehnt: »Rege dir man nicht auf, Bruno. Du
vergißt immer wieder, daß wir von Burschoa umgeben sind. Es ist nicht
unser Horizont, lieber Freund. Wessen Brot ich esse, dessen Lied ich
singe.«

Jetzt wurde Fräulein Milchner energischer: »Entschuldigen Sie,
lieber Herr Grunow, da muß ich doch aber bemerken, daß eine
Gemeindeschullehrerin die Not des Lebens wahrhaftig besser kennt als
mancher geräuschvolle Arbeiter. Wir gehören zum geistigen Proletariat,
wir haben nicht mal Ihre Waffen. Wenn wir zu Ruhe und Frieden mahnen,
geschieht es einzig deshalb, weil wir ganz genau wissen, daß eine
Auflehnung gegen die Machthaber nur noch größeres Elend brächte.
Wir Lehrerinnen müssen den bestehenden Staat, der noch nicht der
schlechteste ist, stützen.«

Die Stimme des ältlichen Fräuleins bewahrte kaum ihre Festigkeit, aber
sie hatte etwas Respekt Gebietendes, vor dem auch der wilde, junge
Maler schwieg.

Jetzt wagte sich auch Liese vor: »Ach, ich glaube, wir Frauen lassen
überhaupt am besten die Finger davon. Politik ist nun mal nicht unsere
Sache.«

Man konnte das ihrer hübschen rosigen Erscheinung aufs Wort glauben.
Alfons aber flüsterte mit finsterer Ironie: »Besonders nicht in
gewissen Lokalen, wo die blauen Lappen fliegen.«

Onkel Tübbeke warf seinem Neffen einen strafenden Blick zu. Fräulein
Prutz gefiel ihm sehr, und er duldete keine Kränkung. -- »Sie haben
ganz recht, Fräulein. Hol' der Deibel die ganze Politik! Wir sind ja
doch bloß das affige Publikum, das die Puppen tanzen sieht -- von den
Drahtziehern sehen wir nichts. Wenn man siebenundzwanzig Jahre bei
Rechtsanwälten gearbeitet hat, wie ich, dann weiß man Bescheid.«

»Ja, ja, die Rechtsanwälte«, sagte Liese nachdenklich. Dann fragte
sie, indem sie mit der Hand über die Stirn strich: »Sie sind
Bureauvorsteher, Herr Tübbeke?«

»Ich war's schon fünfzehn Jahre bei einem der ersten Anwälte von
Berlin, Justizrat Joachim in der Taubenstraße. Von dem haben Sie doch
gewiß schon gehört?«

Es entging der Gesellschaft nicht, daß Liese Prutz nach dieser
Auskunft ihren Löffel in die Tasse fallen ließ. -- »Ach ja, von dem
hab' ich schon gehört ...« Man merkte ihr an, wie gierig sie auf
weitere Mitteilungen wartete.

Onkel Tübbeke ließ sich nicht lange bitten: »Nun ist der alte
Justizrat ja zurückgetreten. Sein Neffe hat die Praxis übernommen. Das
ist noch 'n janz junger Dachs, aber ich sage Ihnen: schneidig, der hat
was los.«

»Sind Sie auch bei dem -- Bureauvorsteher?«

»Selbstverständlich. Er hat mich geerbt. Ohne mich kann ja der kleine
Schwarz nicht auskommen. In sechstausend Akten finde ich mich zurecht.
Das Wichtigste weiß ich auswendig.«

»Dein Gehalt aufbessern sollt' er«, murrte Frau Grunow.

»Das ist ja erst geschehen. Aber ich werde schon an den reichen
Knauser wieder herantreten, wenn es so weit ist. Er ist nämlich
klotzig reich, Fräulein.«

Liese sah in ihre Tasse: »Nun ja -- solche Praxis.«

»Und was meinen Sie wohl, wie der geheiratet hat? Sie soll 'ne Million
haben -- die einzige Tochter vom Bankdirektor Kroner. Herr Schwarz hat
schon gewußt, wo daß er sich 'reinsetzt.«

»Und was hat er nun davon?« fragte Frau Grunow. »Die Frau soll
häßlich sein wie 'ne Nachteule, und außerdem ist sie immer krank. Du
hast doch selber erzählt, daß sie nie zum Vorschein kommt. Immer liegt
sie im Bette und schluckt Medizin, und wenn sie auch alles hat, was
sie braucht -- für so'n Mann ist sie 'ne Kugel am Bein.«

Liese war blaß und rot geworden -- aber sie beherrschte sich, sie
mußte mehr hören: »Was fehlt denn der Dame?«

»Am Magen hat sie's«, erwiderte Onkel Tübbeke, noch einmal nach dem
Napfkuchen greifend. »So was ist immer eklig. Aber er wird schon
wissen, wo daß er bleibt.«

»Ein Idyll aus der Burschoasie«, sagte Alfons Grunow und erhob sich.
Herr Frosch, dessen Töchterchen eingeschlummert war, stand ebenfalls
auf.

Liese Prutz aber schien das Thema nicht verlassen zu wollen: »Ist Ihr
Rechtsanwalt ein Lebemann, Herr Tübbeke?« fragte sie mit roten Wangen.

Der alte Bureauvorsteher kicherte: »Das will ich meinen! Allerdings --
gesagt hab' ich nichts! Er läßt sich natürlich nichts merken! Wenn man
draußen alles sauber ist -- drinnen mach' der Deibel seine Häufchen!
Sie entschuldigen schon!«

»Unerhört«, flüsterte Fräulein Milchner. »Kaum ein Jahr verheiratet!
Diese Herren ziehen wirklich alle sittlichen Gesetze in den Schmutz
ihrer Gewissenlosigkeit!«

»Ach ja«, sagte Liese Prutz, indem sie die Augen schloß. »Aber es
straft sich von selber.«

Sie blickte auf ihr Kind -- dann nahm sie Abschied. Nun fühlte sie
sich mit Frau Grunow und den Ihrigen eng verknüpft. Sie versprach,
bald wiederzukommen. Rasch ging sie durch den kühlen Regenabend nach
Hause. Erschrocken spürte sie, daß sie ihre eben gewonnene Ruhe
wieder verloren hatte. Das Schicksal wollte es -- sie sollte mit dem
Verderber in Berührung bleiben. Gleichgültig war er ihr noch immer
nicht.

Mit heißen Wangen trat Liese bei Guido Müffel ein. Ihr Chef machte
ein sehr unglückliches Gesicht, denn es waren schon mehrere Gäste
anwesend, und er mußte persönlich am Büfett bedienen. Aber er zürnte
der Unpünktlichen nicht -- er war nur froh, daß sie endlich da war.
Doch Liese blieb blaß und zerstreut -- als man wieder gutmütige
Anspielungen auf ihren neuen Hut machte, der auch aus dem »Fond«
stammte, verstand sie es nicht und ärgerte sich.




                            ACHTES KAPITEL


Das Schicksal macht Stationen, ohne daß der Reisende es merkt.
Plötzlich ist man ausgestiegen und muß sich anderswo zurechtfinden.
So erging es auch Liese Prutz. Guido Müffel hatte Geburtstag, und es
war ein alter Brauch seiner Stammgäste, bei dieser Gelegenheit einen
besonders lustigen Abend zu veranstalten. Er versprach noch netter zu
werden, weil es ja der erste Geburtstag unter Lieses Zeichen war.

Walter, der große Wagnersänger, war gekommen. Dieser blondbärtige
Recke machte nicht viele Umstände. Er goß eine ganze Sektflasche in
den silbernen Humpen, den man Guido geschenkt hatte, und nahm einen
ungeheuren Zug. Dann griff er nach Liese und zog die Überrumpelte auf
sein Knie. Das hatte noch niemand gewagt. Liese lachte und sträubte
sich -- dann aber nahm sie es als väterliche Liebkosung und richtete
sich behaglich ein. Tristan fütterte sie, Tannhäuser ließ sie wie ein
Kind aus dem Humpen trinken. Sie bekam einen Schwips -- das war etwas
köstlich Neues an ihr.

»Ein gesegnetes Mädchen«, meinte Herr Fiegel, der älteste Stammgast,
ein schlichter Rentier. Er hieß Nathan der Weise in der Gesellschaft.
Merkwürdig wirkte es, daß sein größter Gegensatz, der pensionierte
General von Grumbkow, sich immer nur mit ihm unterhielt.

»Jetzt weiß ich endlich, was sie hat«, sagte Herr Lindemann, der
Bassist des Opernhauses. »Was Rubenssches hat sie! Genau der Ausdruck,
wenn ihr euch an den ›Trunkenen Silen‹ erinnert, den die blonde Hetäre
hat! Walter paßt natürlich auch famos dazu! Ach Gott!« rief der Sänger
mit dröhnender Entfaltung seiner Baßstimme. »Warum sind wir nur
verdammt, in einer so öden Epoche zu leben! Immer alles ›angezogen‹!
Nirgends Entfaltung! Nirgends Natürlichkeit! Wir fabeln von der
Schönheit des Weibes, aber wir kennen sie nicht!«

»Leg' es man dahin«, versetzte Walter trocken.

»Wer weiß, ob nicht das Angezogene manchmal das Anziehende ist«,
kicherte Guido Müffel.

»Bei manchem wäre es sicher nicht wünschenswert, wenn man ihn auf
einem Rubensschen Bilde sähe«, meinte, an seiner Pfeife paffend, der
immer ernste Herr Fiegel.

Jetzt sah man auf den dürren Lindemann, und allgemeine Heiterkeit
brach los. Walters Wackeln benützte Liese, um von seinem Schoß zu
hüpfen. Es trieb sie zu Aloys Nagl, dem kleinen Operettentenor. Der
saß am Klavier und spielte den neuesten Schlager. Plötzlich kam Liese
ins Singen hinein. Es geschah zum erstenmal seit den Strelenwalder
Tagen. Anfangs lauschten Guido Müffels Gäste nur angenehm berührt.
Dann aber fiel es ihnen auf. Da ging ja etwas Merkwürdiges vor sich.
Aloys Nagl kam in einen Rausch, als Liese zu seinem Spiel sang --
Liese aber fand kein Ende und alles, was der unerschöpfliche Begleiter
begann, wußte sie mitzusingen.

Schließlich endete der Tenor mit einem lauten Akkord, sprang auf und
packte die Büfettdame. -- »Kind!« schrie er. »Mädel! Du hast ja Gold
in der Kehle!«

»Na, Silber allenfalls«, meinte Walter gelassen. »Das wäre auch nicht
übel.«

»Und die Figur und das Haar! Du mußt zur Operette!!«

Diese Eingebung des kleinen Sängers verursachte allgemeinen Aufruhr.
Man spürte, daß er recht hatte, aber man wurde bei aller Freude auch
ängstlich. Am schärfsten erfaßte Guido Müffel die Situation. Er
war blaß geworden, soweit ihm das möglich war. Seine Augen wurden
noch runder, und sein Mund öffnete sich. Das Schicksal wollte ihm
seine Büfettdame nehmen. Jedenfalls war ihm dieser besonders nette
Geburtstag schon verdorben.

Liese spürte, was in ihm vorging. Sie trat vom Klavier fort und legte
die Arme um Guidos Hals.

»Nein, dazu taug' ich nicht! Ich bleibe bei Ihnen!«

»Man soll sich nicht verschwören, Fräulein«, meinte der weise Herr
Fiegel. »Ein Kapital muß Zinsen tragen.«

»Immer gleich der Börsenstandpunkt!« knurrte General von Grumbkow.

»Natürlich, Fritze!« rief Walter. »Glaubst du denn, ich werde mir noch
'n einziges Mal das Gesicht beschmieren und den Leuten was vormimen,
wenn ich Kies genug habe? Mit fünfzig Jahren geh' ich in Pension!«

Der kleine Aloys Nagl näherte sich Liese mit Tänzerschritten:
»Teuerste Freundin! Glauben Sie, daß ich es ehrlich mit Ihnen meine?«
Er sprach mit weicher, klingender Stimme, seine braunen Augen blickten
wie in einer Liebesszene.

Lindemann ärgerte sich. Er war eifersüchtig, denn er spürte, daß Aloys
Nagl sich Lieses bemächtigte.

»Ehrlich sein, heißt keine falschen Illusionen machen!« polterte er.
»Du solltest etwas vorsichtiger sein, lieber Aloys! Fräulein Prutz hat
bei Guido eine sorgenfreie Zukunft!« -- Lindemann verständigte sich
durch Blicke mit dem Wirt -- er war seines Dankes gewiß.

»Will ich sie zu deiner Höhe locken?« krähte Aloys Nagl. »Verspreche
ich ihr eine Karriere bei der großen Oper? Nein! Ich weiß nur, daß die
Friedrich-Wilhelm-Stadt sie vom Fleck weg engagiert!«

»Na, selbstverständlich!« polterte Walter. »Nur keine verpfuschte
Opernsängerin! Der kleinste Erfolg bei der Operette ist tausendmal
mehr als der größte Reinfall bei der Oper!«

Walters Autorität machte alles still. Nun wagte Liese sich zu ihm.

»Aber glauben Sie denn, Herr Kammersänger, daß ich Talent habe?«

»Herrgott, Mädel, wenn man dich ansieht -- selbstverständlich! Aber
nun wollen wir mal den Humpen füllen, Guido!«

Müffel faßte sich und bediente eifrig: »Gewiß, gewiß, Herr
Kammersänger! Man vergißt ja sonst ganz, wozu man beisammen ist! Ich
finde es überhaupt nicht nett, daß Herr Nagl mir grade heute die Liese
abspenstig machen will! Das ist eigentlich gar nich nobel von Herrn
Nagl!«

Guido hatte seine Stimme gedämpft, aber der Operettentenor hatte ihn
gehört: »Will ich sie dir abspenstig machen? Nein, Guido, das tut ihr
Schicksal! Du bist ein Egoist -- ich nicht! Du willst die Attraktion
behalten, bis sie hinter deinen Soleiern verwelkt ist -- ich möchte
sie der Kunst retten!«

»Ja, ja, du bist ein edler Mensch! Dein Direktor soll dich umarmen,
und nach der großen Entdeckung willst du noch ein paar Dutzend Schüler
mehr bekommen -- weiter willst du nichts!«

Lindemann rief es mit schneidendem Sarkasmus. Die anderen lachten.
Aloys Nagl aber sah aus wie ein Mann, der seiner Sache sicher war. --

Guidos Geburtstagsfeier versandete in gedrückter Stimmung. Als alle
Gäste fort waren, wollte der Wirt es offenbar vermeiden, mit seiner
Büfettdame allein zu bleiben. Er sagte kurz: »Gehen Sie nur schlafen,
Fräulein. Ich räume schon weg.«

Aber so kam er nicht davon. Sie sah ihn mit feuchten Augen an: »Sind
Sie mir böse, Herr Müffel?«

»Man hat Ihnen Raupen in den Kopf gesetzt. So sind die Herren
Künstler. Unsereiner ist zuverlässiger. Das sage ich Ihnen. Überlegen
Sie sich die Sache gut.«

»Das tu' ich ganz bestimmt, Herr Müffel. Ich bin Ihnen doch so
dankbar.«

»Darauf kommt es mir nicht an. Ich will ihr Bestes. Aber überlegen Sie
es sich!«

Sie sagten gute Nacht und trennten sich zum erstenmal ohne die
richtige Einigkeit. --

Immer für Essen und Trinken zu sorgen, Männerlaunen zu bedienen --
das war auf die Dauer kein angenehmer Beruf. Liese hätte es weniger
gespürt, wenn das Schicksal sie nicht doch wieder in die Nähe von
Viktor Schwarz geführt hätte. Er wirkte noch in ihrem Blut. Es kam
ihr nicht mehr darauf an, untergebracht zu sein. Das größere Dasein
lockte, der Reiz des Abenteuers. Sie wollte sich entfalten.

Da war der Vorschlag des Operettensängers wie ein grelles Licht in
ihr Dunkel gefallen. Insgeheim glaubte sie trotz aller Dankbarkeit
an Guido Müffels Egoismus. Er machte ein gutes Geschäft mit ihr. Das
würde wohl beim Theater nicht anders sein, aber es galt doch einen
höheren Daseinsgenuß, eine Geltung vor Tausenden.

Sogar der große Walter glaubte an ihr Talent. So wartete sie nur
darauf, daß Aloys Nagl wiederkommen und seinen Befreiungsversuch
fortsetzen würde. Aber er blieb aus. Als er dann nach Wochen endlich
wiedererschien, war Guido Müffel abwesend. Liese kommandierte heute
allein im Lokal. Aloys Nagl aber kam mit einem korpulenten Herrn, der
sich stolz und schroff gab, weil er sehr kurzatmig war. Er glich einem
populären Komiker, hatte aber etwas Beherrschendes.

Aloys Nagl machte ein bedeutsames Gesicht. Er stellte vor. Liese hatte
Herrn Toffani, den Direktor des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters,
vor sich. Bald zeigte es sich, daß der mächtige Mann nicht wegen des
guten Sherrys, sondern wegen der Büfettdame gekommen war. Er musterte
Liese von allen Seiten. Er war zufrieden.

Der kleine Sänger trat plötzlich zu Liese. »Jetzt keine Zierereien
mehr«, raunte er ihr zu. »Toffani ist von Ihnen entzückt! Ich habe
getan, was ich konnte! Jetzt kommt es auf Sie an! Kann ich ihm sagen,
daß Sie ihn morgen im Bureau besuchen werden?!«

»Herr Müffel ist doch nicht da«, flüsterte Liese.

»Zum Teufel, was geht Sie Herr Müffel an? Sie sind doch mündig!
Sie sind ein selbständiger Mensch! Machen Sie die Sache mit sich
aus, gehen Sie morgen mittag zu Toffani und unterschreiben Sie den
Kontrakt!« --

Es war eine Suggestion -- Liese konnte sich nicht mehr frei machen.
Die Angst, noch einmal das Glück zu versäumen, bestimmte sie. Sie
verschwieg Guido Müffel, wozu sie sich entschlossen hatte. Am nächsten
Vormittag saß sie bei Herrn Toffani im Theaterbureau. Die Formalität
war kurz. Viel besser stand sie sich bei dem neuen Beruf ja nicht,
aber das Tor in die Zukunft glaubte sie geöffnet. Sie verließ das
Theater sehr vergnügt.

Als sie Guido Müffel wiedersah, wußte er es schon. Er hatte Aloys Nagl
auf der Straße getroffen. Mit Mühe bewahrte er dem wichtigen Stammgast
gegenüber die Fassung. Nun aber, in seinem eigenen Reich, ließ er der
Empörung freien Lauf. Wie eine zornige Bulldogge rannte er im Lokal
umher. Liese hielt es schließlich nicht mehr aus. Sie schlug mit der
Hand auf die Büfettplatte und erhob sich:

»Sie wissen es also schon?«

»Was weiß ich?! Was ich jetzt weiß, das hab' ich allerdings nicht
geahnt! Daß es gar keinen Dank und gar keinen Verstand mehr auf der
Welt gibt! Daß solch schäbiger Komödiant einem Mädchen, wie Ihnen,
mehr gilt als ein Mann von meiner Lebenserfahrung!«

»Herrgott, Herr Müffel -- Sie wollten doch keinen Dank -- und mein
Verstand ist eben anders!«

»Na gut! Na schön! Sie werden ja Ihre Erfahrungen machen! Noch einmal
wird nicht so'n -- wie nennt man's doch -- so'n Theo ex Maschina
kommen! Wenn sie jetzt im Dreck sitzen, bleiben sie im Dreck! Das sage
ich Ihnen! Operette! Mit Ihrer Piepsstimme! Lächerlich! Man hat Ihre
hübschen Beine engagiert!«

Er knallte die Tür hinter sich zu. Durch dieses Benehmen reizte
er ihren Trotz nur noch mehr. Liese gab sich mit Leidenschaft dem
neuen Beruf hin. Wenn Guido ausgegangen, saß sie am Klavier und übte
rastlos, was Aloys Nagl ihr aufgegeben hatte. Sie lief auch zu ihm und
nützte seinen kostenlosen Unterricht. Bezahlen konnte sie ihn nicht.
Ihre kleinen Ersparnisse reichten kaum für die notwendigsten Kostüme.
Oft schwirrte ihr der Kopf, und sie wußte nicht, wie alles weitergehen
sollte. Dann packte sie auch ein bitterer Zorn gegen den Begriff
»anständig«, der eigens in Strelenwalde gemacht zu sein schien. Sie
verstand ja Aloys Nagl längst und hielt es für töricht, sich zu
widersetzen. Er war kein übler Mann, und so gab sie ihm schließlich,
was ihn belohnte. Das Dickicht lichtete sich. Sie fühlte, daß sie
durchkam. Nun beherrschte sie die erste Rolle, die man ihr gegeben
hatte. Ein Umstand nur bedrückte sie immer noch: Sie sollte eine
Seiltänzerin spielen, die zwar nicht aufs Seil kam, aber ihre Beine in
Seidentrikots zeigte. Der Held der Operette sang sogar ein Lied auf
diese Trikots. Herr Toffani war Meister darin, die Rollen zu besetzen.
»Ich habe die Persönlichkeit im Griff«, pflegte er zu sagen. So wagte
er bei Liese Prutz sofort, was bei einer Anfängerin gefährlich war.
Aber er verschwieg ihr, warum er an ihren Erfolg glaubte. --

Guido Müffel wischte sich die Augen, als Liese von ihm Abschied nahm:
»Also, ich wünsche Ihnen eine große Zukunft. So bin ich ja nicht.
Ich werde auch bei der Premiere sein. Ich werde klatschen, daß Sie's
hören. Aber bei mir wären Sie sicherer gewesen -- dabei bleib' ich.«

»Das glaub' ich auch, Herr Müffel. Doch darauf kommt es mir nicht mehr
an.« --

Sie wohnte nun in einer Pension in der Chausseestraße. Aber am Tage
der Premiere mußte sie ausziehen, da sie gar zu heftig von Wanzen
geplagt wurde. In ihrer Not fand sie bei Aloys Nagl Unterkunft. Das
war ein Fehler, den sie zu spät erkannte. Sie gab ihrem Entdecker eine
Machtstellung. Im Augenblick war ihr alles gleich -- sie wollte nur
den großen Abend bestehen.

Nichts ereignete sich, was sie daran zweifeln lassen konnte. Sie sah
entzückend aus, sang ihre zwei Lieder ohne Fehler, bewegte sich zwar
noch ziemlich eckig, aber ohne Entgleisung. Doch um sie herum blieb
alles still. Man machte kein Aufhebens von ihr. Direktor Toffani ging
an ihr vorüber und murmelte: »Ganz brav -- sehr nett -- wird schon
werden!« Liese war nicht gekränkt, aber sie wunderte sich. Sie hatte
das Ereignis ihres Debüts für bedeutsamer gehalten. Dazu kam, daß die
Premiere zu einem fürchterlichen Zusammenstoß des Direktors mit Aloys
Nagl führte. Dem eitlen Tenor wurde ein Fehler vorgeworfen, und er
gebärdete sich wie rasend. Es fehlte nicht viel an Tätlichkeiten.

Liese erlebte solche Theaterschlacht zum erstenmal. Ihre hübschen
Beine, die noch in den Seidentrikots steckten, zitterten. Das
Sonderbare aber wurde ihr bewußt, daß die Kollegen sich kaum von dem
Zweikampf aufregen ließen. Sie schienen daran gewöhnt zu sein. Die
Hauptbeteiligten aber wandten sich zu Liese, als ob sie vermitteln
sollte. Erst lief der Direktor auf sie zu und schnob: »Der Schuft! Das
Ganze war elende Mache! Er hat mit Absicht das Trinklied verpatzt!
Weil er schon einen Kontrakt mit dem Carltheater in der Tasche hat!«
-- Aloys Nagl aber kam, als der Direktor fort war, und zischte
Liese zu: »Vom Zaun gebrochen! Ja, das merkst du nicht! Der alte
Halsabschneider hat schon den Stefani aus Leipzig engagiert! Da will
er mich abschieben! Nun hat er einen Grund! Ich habe ihn einen Idioten
genannt! Na, mir soll's recht sein! Ich gehe nach Wien!« --

So kamen die Sorgen. Liese verlor ihren Lehrer. Das machte sie
unsicher. Sie wußte selbst am besten, wie wenig sie noch konnte.
An wen sie sich nun wenden sollte, blieb ganz ungewiß. Man hatte
überall nur Sinn für die pekuniäre Seite der Kunst -- Leistungen waren
persönliche Angelegenheiten. Liese spürte sogar bald, daß sie eine
etwas komische Figur wurde. Man lächelte, als sie Rat suchte. Man
beurteilte offenbar ihre ganze Laufbahn von einem andern Gesichtspunkt.

So vereinsamte sie. Es wurde ein leeres Gaukelspiel, in dem sie
erstarrte. Bald kam der Ekel, aber sie trotzte noch. Ihr Brot durfte
sie nicht verlieren, und Guido Müffel sollte nicht recht behalten.

Plötzlich -- es war bei der zwanzigsten Aufführung der ›Tollen Lotka‹
-- veränderte sich Lieses Stellung im Theater. Die Herren wurden
galanter, die Damen achtungsvoller. Liese beobachtete, daß man in
Gruppen beisammenstand und auf sie deutete. Es dauerte nicht lange,
so erschien Direktor Toffani auf der Bühne und steuerte auf Liese zu.
›Herrgott, er kündigt mir‹, dachte sie erbleichend. Dann aber sah sie
sein zärtliches Lächeln -- er flüsterte: »Prutzchen, Sie machen sich!
Jetzt freut's mich erst, daß ich Sie zu keinem Theaternamen bestimmt
habe! Liese Prutz schlankweg -- darin steckt Karriere!«

Er nickte der Erstaunten zu und watschelte weiter. Liese war ratlos.
Da fiel ihr Blick auf Herrn Dotzky, ein unscheinbares altes Mitglied,
das Dienerrollen spielte. Er galt als Grobian, aber gerade deshalb war
er Liese sympathisch. Sie näherte sich ihm. Als er ihre Ratlosigkeit
sah, konnte er ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken.

»Was ist denn eigentlich los, Herr Dotzky? Auf einmal schein' ich ja
Teekind zu werden? Dabei war ich heute ebenso schlecht wie sonst.«

Diese seltene Ehrlichkeit entzückte den alten Schauspieler. »Aber
liebe Kollegin, haben Sie denn gar nichts gemerkt?«

»Was soll ich gemerkt haben?«

»Sie sind ein Engel, aber ich muß Sie aufklären, sonst lassen
Sie tatsächlich noch das ganze Glück vorbei. Die Ereignisse
unseres Theaters sind -- das wissen Sie offenbar noch nicht
-- die Sympathiekundgebungen gewisser Stammgäste. Wir haben
Orchesterlogenbesucher, die den Erfolg einer Novität machen. Zu den
wichtigsten gehört Freiherr von Bassenried, einer der reichsten
Sportsleute und Kunstmäzene Berlins. Er hat immer dieselbe Loge: links
unten, dicht an der Bühne.«

»Ach, der große Herr mit der Glatze und der scharfen Nase, der immer
durch ein Monokel guckt?«

»Derselbe, meine Teure. Der Serienerfolg der ›Tollen Lotka‹ war
entschieden, als Baron Bassenried zum drittenmal gekommen war. Heute
saß er zum zehntenmal in seiner Loge. Unser Sklavenhalter hatte es nur
noch nicht heraus, wer eigentlich die Attraktion ist. Unsereiner hat
einen besseren Blick dafür -- ich hätte Iwan dem Schrecklichen schon
vorige Woche sagen können: Es handelt sich einzig und allein um Liese
Prutz. Machen Sie den Blödsinn, ihr die Rolle abzunehmen, so werden
Sie Ihre ›Tolle Lotka‹ erster Klasse begraben können. Von Liese Prutz
lebt dieses irrsinnige Machwerk. Wenn Liese Prutz einmal über die
Bühne geht, liegt mehr Musik darin, als dem talentlosen Affenkopf von
Komponisten jemals einfallen wird!«

»Hören Sie auf, Herr Dotzky. Das ist ja ein furchtbares Geschimpfe.
Was hat denn das alles mit Herrn von Bassenried zu tun?«

»Besagter Salonlöwe läßt den ganzen Abend kein Auge von Ihnen. Nur
Sie, edle Strelenwalderin, kriegen es fertig, davon nichts zu merken.«

»Mich beobachtet er?« -- Liese hielt die Hand ans Kinn und sah
nachdenklich zu Boden.

Herr Dotzky machte eine huldigende Bewegung: »Es handelt sich
zweifellos um eine grandiose Leidenschaft! Er läßt nicht mehr von
Ihnen -- das werden Sie erleben! Morgen, wette ich, kommen die ersten
Blumen. Übermorgen werden wir ihn auf der Bühne haben. Nun begreifen
Sie wohl, warum sich Nebukadnezar plötzlich vor Ihnen verwandelt.
Jetzt weiß er, was los ist. Und das andere Otterngezücht -- sehen Sie
doch, wie es ich in seine Schlupfwinkel verkriecht. Ich habe seit
heute eine bessere Stellung im Theater, weil Liese Prutz mich durch
ein längeres Gespräch auszeichnet. --«

Liese schwirrte der Kopf. Aber der alte Kollege hatte aufrichtig
gesprochen -- das spürte sie. Am nächsten Abend war sie erregt und
befangen. Ein schneller Seitenblick zeigte ihr, daß Freiherr von
Bassenried wirklich wieder in seiner Loge saß. Wenn sie auf der Bühne
war, beugte er sich an die Brüstung vor und starrte durchs Monokel.
Wenn sie abgegangen war, lehnte er sich sofort zurück und blickte
zerstreut ins Publikum. Im dritten Akt wechselte Liese den ersten
Blick mit ihm. Da sah sie ein Aufblitzen in seinen müden Augen.
Er klatschte fanatisch. Als Liese in ihre Garderobe kam, lag ein
wunderbarer Rosenstrauß auf dem Tisch. Die angeheftete Karte trug die
Worte: ›Ein geringes Zeichen höchster Bewunderung. August Freiherr von
Bassenried.‹

Am nächsten Abend kam der Verliebte noch nicht auf die Bühne, wie Herr
Dotzky prophezeit hatte. Aber am dritten, nach Schluß der Vorstellung,
als alles schon verlaufen war, stand seine hohe, etwas gebückte
Gestalt plötzlich vor Liese. Sie sah eben noch, wie Direktor Toffani
sich um die Ecke drückte. Baron Bassenried wirkte in der Nähe recht
alt; auf seinen großen Zügen, namentlich um die ausdrucksvollen Augen
herum, gab es viele Runzeln, die Glatze war umfassend; aber der ganze
Mann hatte die sichere Gepflegtheit des Hochadels.

Er stellte sich vor und teilte ihr mit, daß er gekommen sei, um sie
zum Souper zu laden. Zugleich überreichte er ihr einen Veilchenstrauß,
in dessen blauer Tiefe Liese etwas blitzen sah. Sie erkannte, während
sie neben dem Baron das Theater verließ, ein kostbares Armband.

Ohne Überlegung hatte sie zugesagt. Hier warnte sie nichts. Sie
hatte sogar die feste Empfindung, endlich geborgen zu sein. Bei
Hiller wurde er lebhafter. Er begann von seinem Leben zu erzählen.
Wunderbare Fernen taten sich vor Liese auf. Alles trug den Stempel
abenteuerlicher Wahrheit. Der Baron hatte die halbe Welt gesehen,
und nun trachtete er nach einem wirklichen Hafen. Sein schwerer,
etwas starrer Blick schien anzudeuten, wo er ihn erhoffte. Freilich
brachte er das meiste wie eine etwas unheimliche Phantasie heraus. Der
chinesische Opiumrausch schien noch in ihm nachzuwirken.

Einige Abende später waren sie wieder beisammen. Heute hatte Liese
Urlaub. Direktor Toffani gab sie für seinen mächtigen Stammgast
frei. Sie fuhren in den Zirkus Renz. Der Baron betrachtete Liese
entzückt, wenn sie über jeden Clownspaß lachte. Später saßen sie in
einem Chambre séparée. Da fragte sie ihn plötzlich, ob er denn nie
geheiratet habe? Er nickte ernst -- seine Frau sei tot. In reuiger
Betroffenheit legte Liese zum erstenmal die Hand auf seinen Arm:
»Haben Sie Kinder?« -- »Eine Tochter. Sie ist ebenso alt wie du.«

Liese schlug die Augen nieder. Nun wußte sie schon viel von ihm.
Dieser stolze Mann schien ihr alles anzuvertrauen. Aber was sollte
daraus werden? Sie war ihm ehrlich dankbar. Nur daß sie sich keine
falschen Illusionen machte, sollte er wissen.

Sie stieß mit ihm an: »Prosit, Herr Baron! Wer weiß, ob man sich
wiedersieht?«

Er sah sie mit großen Augen an: »Was meinst du damit? Ich glaube, wir
trennen uns nie mehr.«

»Aber bedenken Sie doch, wer Sie sind, und wer ich bin!«

»Das habe ich genügend bedacht. Glaube mir, mein Kind, ein Mann wie
ich weiß, was er tut. Ich will dich glücklich machen.«

Nun weinte sie plötzlich. »Das wird ja nicht gehen!«

»Warum?«

»Ich weiß nicht. Aber ich habe das Gefühl: Es wird nicht gehen.«

Er beugte sich vor: »Kannst du mir versichern, daß ich der Erste bin?«

Seine Frage traf sie tief. Ihre erste Empfindung war: Er hätte
nicht so fragen dürfen. Es war töricht oder roh von ihm. Zugleich
aber sprach es deutlich aus seinen harten Augen, daß auch dieser
Glückstraum vorbei war, wenn sie ihm alles eingestand. So wurde sie
unfähig, ehrlich zu sein. Sie antwortete nicht. Er konnte und sollte
jetzt den Eindruck haben, daß er sie gekränkt hatte.

Ihr kluger Instinkt behielt recht. -- »Verzeih mir«, flüsterte er
bestürzt. »Ich frage dich nie mehr. Es ist nicht meine Art, vergangene
Dinge zu berühren. Für mich kommt nur in Betracht, was unter meinem
Einfluß steht. Ich stelle eine Bedingung: Deine Vergangenheit ist tot.
Nie und nirgends darf sich etwas an mich heranwagen, was kein Recht
auf mich hat.«

Sie sah langsam zu ihm auf: »Warum stellen Sie denn die Bedingung?«

Er nahm ihren blonden Kopf in seine schmalen Aristokratenhände: »Weil
ich dich heiraten will, Liese Prutz.«




                           NEUNTES KAPITEL


Als Guido Müffel erfuhr, was die ganze Berliner Lebewelt beschäftigte,
setzte er sich auf sein Sherryfaß und sagte: »Es gibt noch Wunder.
Aber mit dem Frauenzimmer mußte so was passieren! Nun kommt sie
tatsächlich in die Hautevolée.«

Gegen Lieses Weg war nichts zu machen. Auch Direktor Toffani mußte
sich fügen. Er nützte noch die Reklame aus. Liese bekam einen
Abschiedsabend, der jede Primadonna befriedigt hätte. Als sie, beide
Arme voll Blumen, das Theater verließ, sah sie Herrn Dotzky bescheiden
im Hintergrunde stehen. Sie ging auf ihn zu; »Sie freuen sich«,
flüsterte sie. Er drückte ihr die Hand und wandte sich ab. --

Im Hotel Kaiserhof brachte Baron Bassenried seine Braut unter. Er
selbst bewohnte eine Villa in der Hitzigstraße, die nun für die junge
Frau hergerichtet wurde.

Liese konnte in keinen wachen Zustand kommen. Sie sah alles, was
sie erlebte, aber es war ein Traum. Oft fragte sie sich, ob sie nur
die Heldin einer spannenden Geschichte sei. Plötzlich aber rang
sie sich zur Wirklichkeit durch und tat eine heikle Frage: »Sind
denn eigentlich alle mit mir einverstanden, August? Ich meine deine
Familie? Du hast doch so viel Verwandte, denk' ich -- sogar in
Rußland, hast du mal gesagt?«

Er runzelte die Stirn: »Was ich dir sagte, entspricht natürlich
den Tatsachen. Aber es gibt kein Familienmitglied, nach dessen
Stellungnahme ich zu fragen hätte. Auch der Majoratsherr kümmert mich
nicht. Ich habe mein eigenes Vermögen.«

»Ich weiß«, stotterte Liese. »Aber was ist denn mit deiner Tochter?
Hast du denn schon Nachricht von der, August?«

Er strich mit seiner Reitgerte durch die Luft: »Das ist wieder
unerhört! Ich habe ihr nach Lausanne geschrieben, und sie geruht,
nicht zu antworten!«

»Das muß ein sonderbares Kind sein.«

»Sonderbar? Verrückt ist sie! Das arroganteste Geschöpf unter der
Sonne! Wenn sie auch meine Tochter ist! Sie macht mir zum Vorwurf, daß
ihre Mutter ... Nun, lassen wir das. Jedenfalls, bevormunden lasse ich
mich nicht von ihr. Sie soll endlich lernen, daß ich weiß, was sich
gehört. Den Dünkel muß ich ihr vor allen Dingen austreiben.« --

Das klang nicht sehr tröstlich. Liese hätte gern noch gewußt, was es
mit Elsbeths Vorwurf der verstorbenen Mutter wegen für eine Bewandtnis
hatte, aber sie wagte keine Frage mehr. Das eine stand fest -- in der
Tochter des Barons war eine Feindin zu erwarten. --

Als Liese nach einigen Tagen in die Hitzigstraße kam, hörte sie aus
dem Salon einen heftigen Wortwechsel.

»Herrgott, was ist denn los?« fragte sie bestürzt. »Mit wem streitet
sich denn der Herr Baron?«

Friedrich der Diener erwiderte: »Besuch vom gnädigen Fräulein aus der
Schweiz.«

»Die Baronesse ist da? Ich dachte, es wär' eine Männerstimme!«

»Das denkt jeder.«

Liese blieb lauschend im Korridor stehen. Friedrich verschwand. Bald
konnte sie jedes Wort verstehen. Der Baron ging aufgeregt umher,
während Elsbeth seine Ausfälle parierte.

»Diese Attacke sieht dir wieder ähnlich! Dir mangelt eben jedes
kindliche Taktgefühl! Du antwortest nicht, wenn dir dein Vater
mitteilt, daß er doch noch ein spätes Glück gefunden -- -- Was gibt es
da zu lachen?!«

»Zu lachen gäbe es wahrhaftig nichts, aber die Sache wird lächerlich,
wenn man bedenkt, was du für ein frühes Glück gehabt hast.«

»Ist mir deine Mutter nicht genommen worden?!«

»Du hast sie dir genommen!«

»Donner -- --!«

»Kein Wort mehr davon!!«

Liese zitterte. Es klang, als ob wilde Tiere aufeinander losstürzten.
Aber das erstaunlichste war, daß der Baron durchaus nicht die Macht
über seine Tochter besaß, deren er sich gerühmt hatte. Er schwieg.
Stumm lief er wieder im Zimmer umher.

»Mit einem Wort, Papa!« -- Jetzt stand Elsbeth auf. Liese spürte es
am Klirren einiger Gegenstände. Elsbeth mußte ein sehr gewichtiges
Mädchen sein. »Wenn ich auch das unglücklichste Geschöpf der Welt bin
-- wenn ich auch ganz bestimmt mal aus eigenem Entschluß ende --«

»Leere Redensarten!«

»Eine Bassenried bin ich! Ich halte den Namen unserer Familie rein!«

»Was willst du also? Was hast du mir auf meinen Brief zu antworten?«

»In aller Kürze: ich kann von deiner zweiten Heirat keine Notiz
nehmen. Du forderst durch diese Mesalliance das Letzte in mir heraus
-- du beschimpfst das Andenken meiner Mutter.«

»Unverschämte Person! Liese Prutz ist eine Künstlerin!«

»Ich will nicht untersuchen, was sie ist. Ich weiß aber, wo sie
herkommt -- das genügt mir. -- Jedenfalls lasse ich nach allem andern,
was ich hier erduldet habe, das nicht mehr über mich ergehen.«

»Lächerlich! Du sprichst ja, als ob du mir drohtest! Als ob du etwas
gegen mich unternehmen könntest! Gegen Deinen Vater!«

»Das kann ich auch. Du weißt, daß du vom Familienrat abhängst. Wenn
der dich über Bord wirft, bist du geliefert.«

»Du bist wahnsinnig! Man wird dich dort unterbringen, wohin du schon
lange gehörst!«

»Halt! Da muß ich mich vorsehen! Du könntest mich am Ende wirklich
einsperren! Du bringst alles fertig!«

Liese hatte in ihrer Erregung zuviel gewagt. Sie stand auf ihrem
Horchposten ohne Deckung. Als Elsbeth plötzlich auf die Flurtür
zulief, konnte sie nur in den langen Gang zurückweichen. Jetzt schritt
eine seltsame Mädchengestalt auf sie zu. Die Tochter des Barons glich
einem starkknochigen, etwas hochschulterigen Jüngling -- alles war
hastig, unschön und eckig an ihr. Sie war ohne Schmuck und Reiz mit
ihrem großen, sommersprossigen Gesicht und dem starken, gelben Haar.
Nur in den blauen Augen leuchtete etwas schmerzlich Schönes.

Der Vater folgte ihr. Erschrocken entdeckte er Liese im Korridor:
»Warum weiß ich nicht, daß du da bist? Warum hat Friedrich dich nicht
angemeldet?«

Liese hielt ihm stand: »Das braucht er doch nicht? Aber willst du mich
nicht bekannt machen -- --?«

Elsbeth stand vor ihr. Ihr Gesicht wurde grünlich -- sie war in einer
ungeheuren Aufregung -- »Wir haben uns schon erraten, Fräulein«,
stammelte sie. »Ich bitte, lassen Sie es daran genug sein! Ich kann
nicht anders! Adieu!«

Sie war schon auf der Treppe. Der Baron aber eilte ihr nach und hielt
brutal ihren Arm fest. Was sie draußen sprachen, konnte Liese nicht
mehr verstehen.

Jetzt trat der Baron in den Korridor zurück. Liese war schon in den
Salon gegangen. Er folgte ihr. Zorniges Mißtrauen war in seinem Blick:
»Mir bleibt doch nichts erspart. Nun gar noch diese Szene. Du kanntest
Elsbeth nicht -- nun hast du ja einen Begriff von ihr. Aber warum hast
du gehorcht?«

Liese stand abgewandt am Fenster. Nach einer Weile antwortete sie:
»Ich dachte, du hättest kein Geheimnis vor mir?«

Der Baron spürte, daß es Zeit war, einzulenken. Er trat zu ihr hin
und legte den Arm um sie: »Gewiß nicht, liebes Kind. Vergiß jetzt den
häßlichen Zwischenfall. Du wirst mich ja von diesem unglückseligen
Wesen befreien. Ich habe ja längst keine Tochter mehr.«

»Aber ich glaube, sie kann einem leid tun.«

»Sie ist ihr eigenes Schicksal.«

»Was hat sie denn vor? Kann sie unsere Heirat verhindern?«

»Unsinn. Hysterische Verstiegenheit. Der Familienrat wird sie
auslachen. Ich werde übrigens die Sache sofort meinem Rechtsbeistande
übergeben.«

»Das tu, August. Ich habe nämlich eine schreckliche Angst vor ihr.«

Liese gab sich zufrieden, aber wegen des Schlimmsten, was sie
erlauscht hatte, wagte sie keine Frage. Das Verhältnis des Barons zu
seiner verstorbenen Frau verfolgte sie. Sie vergaß Elsbeths Ton nicht.
Es war bei aller Häßlichkeit der Schrei einer gequälten Seele.

Die Furcht vor seiner Tochter verließ den Baron nicht mehr. Immerhin,
sie konnte ihm bei der Familie ungeheuer schaden. Wenn man mit dem
ganzen Rüstzeug des Standesbewußtseins gegen ihn vorging, kam er um
die letzte Deckung. Ein beleidigtes Kind war immer ein gefährlicher
Kläger.

So suchte er schon am nächsten Tage seinen Rechtsvertreter auf.
Eigentlich kam er auch hier in Verlegenheit. Dem erprobtesten Anwalt
konnte er seine Sache nicht mehr übergeben: Justizrat Joachim hatte
sich zurückgezogen und fungierte nur noch als Notar. Aber sein
Nachfolger war vielleicht noch besser zu gebrauchen. Er hatte sich
über die Kundschaft des unmodernen Onkels hinaus besonders an Sports-
und Börsenkreise gewandt. Verschiedene große Rennprozesse hatte
Rechtsanwalt Schwarz schon gewonnen. Immerhin fand man bei ihm die
Fühlung mit den maßgebenden Kreisen. --

Als Baron Bassenried von seinem Rechtsbeistande zurückkehrte, erfuhr
Liese, wer ihre Sache gegen Elsbeth führte. Sie mußte fast auflachen.
Immer wieder kreuzte sie doch den Weg dieses Mannes. Aber nun regte
sich auch ein Wunsch von diabolischem Übermut in ihr. Es war sicher,
daß der Baron von ihrer früheren Beziehung zu Viktor Schwarz nichts
erfahren. Zu den Leuten, die es wußten, hatte er keine Beziehung,
feindliche Denunzianten brauchte Liese nicht zu fürchten, und Viktor
Schwarz war undurchdringlich. Aber es reizte Liese, die Wirkung ihres
Glücks auf ihn zu sehen. Es war ihr die ersehnte Genugtuung. Unter
diesen Umständen glaubte sie sich sogar fähig, dem Treulosen zu
verzeihen.

Aber wie war ein Zusammtreffen möglich? Der Baron bemerkte Lieses
wachsende Unruhe. Er führte sie auf ihre Sorge um Elsbeth zurück.
Dieser Umstand brachte Liese auf die rettende Idee: Ihr Bräutigam
wurde völlig getäuscht. Sie steigerte ihre nervösen Angstzustände bis
zu Ohnmachten -- da hielt er es schließlich nicht mehr aus.

»Wie kannst du dich nur so deprimieren lassen? Ich habe dir doch
wiederholt gesagt, daß Rechtsanwalt Schwarz mich beruhigt hat. Ich
halte ihn für einen durchaus zuverlässigen Menschen.«

»Das mag er ja sein. Aber ich vergesse das Gesicht -- von deiner
Tochter nicht. So müssen die Furien ausgesehen haben -- nicht so, wie
neulich in der Pantomime bei Renz -- es geht ja auch ohne Schlangen am
Kopf.«

»Sicherlich, Liese. Die modernen Furien sind vielleicht noch
schlimmer. Na, wenn du dich garnicht beruhigen kannst, dann werde ich
mal an Schwarz telephonieren. Am Ende kannst Du selber mal mit ihm
sprechen.«

Liese zuckte zusammen: »Aber nicht am Telephon.«

»Macht Dich das auch nervös! Herrgott, also warte mal!« Er ging zum
Telephon.

»Laß mich den andern Hörer nehmen!«

»Du bist ein Kind. Na, wie Du willst.«

Das Telephon war noch eine ziemlich neue Erfindung. So kam das
Gespräch nur langsam in Gang, aber Liese genoß es. Das Resultat
übertraf ihre Erwartung: Viktor Schwarz machte selbst den Vorschlag,
Fräulein Prutz möge ihn doch in seinem Bureau besuchen. Persönlich
könne er sie am besten beruhigen.

Liese legte den Hörer fort und umarmte ihren Bräutigam. -- »Na, also!«
rief der Baron lachend. Du verrücktes kleines Mädel! Nun fahre nur
gleich heute nachmittag zu ihm!« --

Liese stand vor Onkel Tübbeke. Ein Blick von ihr genügte, um ihn zur
Diskretion zu zwingen. Mit fremder Höflichkeit meldete er sie an. Als
sie, nun doch von Schwindel erfaßt, auf Viktor Schwarz zutrat, wußte
sie sofort, daß seine Glätte jedem Anprall gewachsen war. Er machte
einen anderen aus sich. Auch sie hatte an die Verwandlung ihrer Person
geglaubt; aber als sie den Treulosen wiedersah, tauchten die Bilder
von Strelenwalde vor ihr auf. Noch einmal sah sie den Frühlingsabend
bei der Zubermühle. Unwahr und zerbrochen war alles ...

»Bitte -- setzen Sie sich doch«, flüsterte er. »Sie sehen angegriffen
aus. Ich kann mir ja denken, was in Ihnen vorgeht -- --«

Sie saß ihm gegenüber: »Das glaub' ich kaum. Das war wohl nie der
Fall.«

Er war blaß, aber er lächelte. »Wir dürfen selbstverständlich nicht
mehr an die Vergangenheit denken. Über Jugendtorheiten sind wir wohl
beide hinaus. Ein hochstehender Mensch hat einfach keine Zeit, sich
bei überwundenen Dingen aufzuhalten.«

»Sie sind also jetzt ein hochstehender Mensch?«

»Ich bin ein Mensch, der sein Ziel erreichen will. Das sind Sie doch
wohl auch?«

»Ein Ziel habe ich eigentlich nie gehabt.«

»Na, lassen wir das beiseite. Sie sitzen jetzt jedenfalls als künftige
Baronin Bassenried vor mir, und die Dame der großen Gesellschaft
steht Ihnen ausgezeichnet. Ich bin ja sozusagen Ihr Entdecker, nicht
wahr, ich ahnte Ihr Talent. Ich will mich gewiß nicht rühmen, aber
vielleicht habe ich doch ein kleines Verdienst daran. Ja, so ist das
Leben, liebe Liese. In Strelenwalde begreift man das nicht.«

Sie hörte zu und wurde ruhiger. Er war jetzt wirklich ein anderer.
Auch sie wollte eine andere sein. Begraben -- vergessen. -- »Glauben
Sie, daß ich es gut getroffen habe?« fragte sie leise. Eine
merkwürdige Spannung zitterte in ihrer Stimme.

»Mit dem Baron? Aber Sie haben das große Los gezogen! Die Baronesse,
dieses Elefantenküken, brauchen Sie nicht zu fürchten. Die halte ich
ihnen vom Leibe. Ich wünsche mir schon lange, Ihnen einen großen
Dienst erweisen zu können.«

»Und wie geht es Ihnen? Gut, wie ich sehe?«

»Ich kann es mir nicht besser wünschen. Aber erlauben Sie mir eine
Frage: Wo steckt das Kind? Es lebt doch?«

»Freilich. In Berlin.«

Er runzelte die Stirn. »Das ist mir aber unangenehm.«

»Sie haben doch garnichts damit zu tun.«

Er verschränkte die Arme. »Meine Liebe, ich darf auch nichts damit
zu tun haben. Nie und unter keinen Umständen. Meine gesetzliche
Verpflichtung wird natürlich pünktlich erfüllt. Aber sonst -- das Kind
existiert nicht für mich, es ist ein völlig fremdes Wesen für mich.
Ich würde es vor aller Welt verleugnen.«

Liese atmete schwer: »Herrgott, sind Sie ein schlechter Mensch.«

»In gewisser Hinsicht muß man das leider werden. Sonst können Sie, wo
Sie nach mir fragen, nur das Gegenteil hören. Ich gelte als ein Mann,
auf dessen Charakter Tausende bauen. Aber ich habe bei jeder meiner
Handlungen die Gesellschaft zu berücksichtigen, der ich meine Stellung
verdanke. Ich darf mir keine Blöße geben. Wenn man im Begriff steht,
den ›Allgemeinen Bund für ethische Fortbildung‹ zu gründen --«

»Was ist denn das?«

»Das kann ich Ihnen nicht so mit zwei Worten erklären. Jedenfalls --
ich zeichne verantwortlich. Ich verhüte aus eigenster Erfahrung, daß
uneheliche Kinder zur Welt kommen. Deshalb muß ich selbst natürlich
unantastbar bleiben.«

»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorge. Ich habe kein Interesse mehr
dran, Sie in die Tinte zu bringen. Im Gegenteil. Mein Bräutigam darf
nichts ahnen. Ich bin verschwiegen, wenn Sie es sind. Außerdem kann
ich das Kind nicht ausstehen.«

»Warum?«

»Weil es Ihr Kind ist.«

Sie funkelte ihn an. Er aber wahrte seine Glätte: »Hm, So ... Ja, das
ist Ihre Sache. Sie müssen mir jedenfalls versprechen, daß das Kind
niemals erfahren wird, wer sein Vater ist. Sonst kann ich keinerlei
Rücksicht nehmen.«

»Was soll Ihnen denn solch armes Wesen schaden?«

»Sie müssen es mir versprechen! Nur unter dieser Bedingung bin ich
bereit, Ihnen beizustehen! Sie werden, solange ich lebe, einen echten
Freund an mir haben! Verstehen Sie mich? Ich will an Ihnen gutmachen,
aber die Frucht meiner Verwirrung darf nie ein Gläubiger für mich
sein.«

»Ich verspreche, was ich kann. Das Kind ist mir selber fremd -- das
geht seinen eigenen Weg -- von mir soll es nie was wissen.«

»Waren Sie sonst diskret?«

»Das können Sie sich wohl denken. Ich war doch ein anständiges
Mädchen. Meine Schande hab' ich für mich behalten.«

Viktor Schwarz stand auf und drückte Lieses Hand: »So, dann wären wir
also einig. Zeigen Sie Ihren Herrn Bräutigam ein recht fröhliches
Gesicht, damit er glaubt, daß ich Sie beruhigt habe. Und nun
entschuldigen Sie mich -- ich muß in meine Wohnung -- ich stecke
nämlich in den schwierigsten Umständen -- -- meine Frau reist ab.«

»Ihre Frau?«

»Ja, Sie wissen nicht, daß ich verheiratet bin? Das arme Ding ist
leider immer krank -- Magenkrebs -- ein schweres Schicksal. Endlich
hat sie sich dazu bewegen lassen, in ein Sanatorium überzusiedeln --
ich muß sie selber hinbringen -- es ist vielleicht ihre letzte Fahrt
... Ja, so sieht es aus, das Leben, liebe Liese.«

Er seufzte, aber sie hörte, daß kein Gefühl in seinem Seufzer war. Da
kam noch einmal das alte Grauen über sie -- sie verabschiedete sich
kurz und verließ ihn.

Auf der Treppe begegnete ihr eine auffallende junge Frau. Eleganz und
Parfüm kennzeichneten die Freundin, die gewisse Männer nicht entbehren
konnten. Unwillkürlich dachte Liese: ›Das ist keine Kundschaft.‹ Sie
blieb noch eine Weile stehen und hörte, wie die Dame oben von Viktor
Schwarz begrüßt wurde: »Ah, Gusti! Und ich will eben zu Lene! Na, komm
nur 'rein! Herr Tübbeke, führen Sie Frau Bernhardi in mein Zimmer! Ich
telephoniere nach Hause, daß ich eine Stunde später komme!«




                           ZEHNTES KAPITEL


Durch die alten Gassen von Strelenwalde zog Frühlingshauch. Es roch
nach Hyazinthen und Zwiebeln, und die große Lohgerberei von Brummel
Söhne machte sich auch bemerkbar. Ottilie Sanftleben stellte mit Hilfe
des Dienstmannes Musolf die beiden Oleanderbäume vor ihre Tür. Das war
in Strelenwalde die eigentliche Eröffnung des Frühlings. Nun kam auch
Schimke, der Briefträger, auf das alte Fräulein zu. Er gehörte zu den
Flotten im Städtchen und machte sich gern einen Spaß.

»Morgen, Fräulein Sanftleben! Da hab' ich wieder ein Briefchen!
Wahrscheinlich ein sehnlich erwartetes Briefchen! Na, ja -- die schöne
Jahreszeit!«

Lieses Tante strafte die grinsenden Männer mit Verachtung. Nach einem
Blick auf die Adresse sagte sie: »Von meiner Nichte aus Berlin.«

Der neckische Briefträger ging in das Nachbarhaus. Tante Sanftleben
aber stieg in ihre Wohnung hinauf. Dort las sie den Brief:

  ›Mein liebes, gutes Tantchen Sanftleben!

  Nun habe ich so lange nichts von mir hören lassen, und nun wunderst
  Du Dich gewiß über das pikfeine Briefpapier. Aber mache Dir nur
  keine Gedanken. Ich bin solide geblieben, es geht mir ausgezeichnet,
  aber ich habe tolle Sachen erlebt.

  Also, denke Dir, Tantchen -- beim Theater bin ich nicht mehr, und zu
  Herrn Müffel hinters Büfett bin ich auch nicht wieder gegangen. Aber
  ich habe einen Mann kennengelernt, der mich in der nächsten Woche
  heiratet. Nun sitze recht fest in Deinem lieben Großvaterstuhl -- da
  sehe ich Dich nämlich jetzt -- lieber Gott, wie ich da noch gesessen
  habe! Das ist lange her. Das ist schon kaum noch wahr.

  Also, sitze recht fest, Tante. Mein Bräutigam ist der Freiherr
  August Walter Leberecht von Bassenried und Limprun, ehemaliger
  Leutnant im Gardekürassierregiment, jetzt Privatmann und
  Hausbesitzer in der Hitzigstraße, Berlin W! Neunundvierzig Jahre
  alt, aber noch sehr frisch und stattlich. Er hat sich im Theater in
  mich verliebt und, wie gesagt, er heiratet mich. Seine Tochter aus
  erster Ehe war dagegen, aber die ist nun mundtot und sitzt wieder
  in der Schweiz. Ich werde in einem Paläh wohnen, Tante, in einem
  richtigen Paläh mit zwölf Zimmern und Diener und Papagei, und die
  Küche liegt im Keller, die Speisen kommen immer mit dem Aufzug
  'rauf, direkt bis ins Eßzimmer.

  Aber wohnen tun wir noch nicht gleich in unserm Hause. Erst machen
  wir eine wunderbare Reise, wahrscheinlich bis nach Monte Carlo, wo
  nur mit Gold gespielt wird. Das heißt, ich werde meinem Mann schon
  sagen: Wenn ich dabei bin, gibt es so was nicht.

  Was sagst Du, Tante? Hätte man das für möglich gehalten? Weißt Du
  noch, wie Du mich in Strelenwalde in die Bahn gebracht hast, mich
  und das Kind, und im Kupee saß Guido Müffel? Gott, war das ein
  Elend. Und nun habe ich einen der reichsten Männer von Berlin. Ja,
  das Leben ist erfinderisch, hat Müffel mal gesagt.

  Aber in Strelenwalde erzählte ich es nur Dir, Tante. Sonst möchte
  ich nicht, daß es rumgetragen wird, denn weißt Du wegen Viktor
  Schwarz. Mein Bräutigam denkt sich natürlich manches, was in der
  Vergangenheit liegt. Er ist ja ein lebenserfahrener Mann, aber er
  hat es mir zur Bedingung gemacht: Nichts, was früher mal war, darf
  an ihn rankommen. Er sorgt für mich, aber im übrigen -- Hände weg.
  Das kann man ihm ja nachfühlen -- nicht wahr? Er hat eben einen
  neuen Menschen aus mir gemacht.

  Anders steht es natürlich mit Vater. Der muß es jetzt wissen.
  Schließlich wird er ja doch noch was für mich übrighaben und sich
  Sorge um mich machen, wenn er auch nichts sagt. Der arme, alte Mann.
  Wo ich nun endlich glücklich werde, vergesse ich auch gern, was er
  mir getan hat. Ich möchte ihm noch die Freude machen. Gehe zu ihm,
  Tante, und erzähle ihm alles. Aber Diskretion ist Ehrensache, nicht
  wahr? Schreibe mir bald, wie er es aufgenommen hat. Schreibe mir
  auch, wie es Dir geht.

  In treuer Liebe

  Deine dankbare Nichte Liese Prutz,
  bald Freifrau von Bassenried-Limprun.

  Postskriptum: Nimm Dich vor Adele Schörg in Acht, daß die nicht
  wieder horcht, wenn Du es Vater sagst. Und denke Dir, Tante: Viktor
  Schwarz habe ich auch schon gesprochen. Das ist ein gefährlicher
  Mensch. Aber er hat in Berlin kolossalen Erfolg und seine kranke
  Frau wird er wahrscheinlich auch bald los. Es gibt Leute in Berlin!
  Aber ich lasse das alles nicht an mich ran. Schwarz lernte ich
  neu kennen, weil er der Rechtsanwalt meines Bräutigams ist. Mein
  Bräutigam hat natürlich keine Ahnung. --‹

Die Gefühle, mit denen Tante Sanftleben diesen Brief las, waren
gemischt. An jeder Stelle spürte sie Segen und Gefahr heraus. Gewiß,
es war ein märchenhafter Aufstieg, aber um Liese war es schade. An den
Segen des neuen Glanzes konnte Tante Sanftleben noch nicht glauben.
Vornehmer Name, reicher Besitz waren nicht die höchsten Güter. Sie
wußte trotz allem von dem Manne, der Lieses Schicksal wurde, noch
nichts. Zwei Stellen in dem Brief taten Tante Sanftleben freilich
wohl: das war die kindliche Treue, die Liese ihrer alten Freundin
bewahrte, und ihr tiefes Bedürfnis, den Vater zu erfreuen. Aber warum
sagte sie garnichts von ihrem Kinde?

Immerhin -- sie wollte Lieses Wunsch erfüllen. Es war ein schwerer
Gang -- sie wollte ihn gehen. Fast ein Jahr hatte sie mit ihrem
Schwager nicht gesprochen. Der alte Prutz galt in der Stadt
als geistesgestört. Man sah ihn stundenlang umherwandern und
Selbstgespräche führen. Auch war es allgemein bekannt, daß sein
Geschäft in bedenklicher Weise zurückging. Schon hielt sich das
Gerücht, daß Konditor Breitkopf die Firma seines alten Konkurrenten
übernehmen wolle. ›Mohrenkopp‹ war zielbewußt.

So ging denn Tante Sanftleben schweren Herzens zu ihrem Schwager. Sie
betrat den Laden. Adele Schörg hinkte in Lackschuhen auf sie zu. Sie
trug einen Blumenstrauß an der seidenen Bluse, und ihr Gesicht war
gepudert.

Tante Sanftleben blieb ihrer Neugier gewachsen. Sie ging an Adele
vorbei und suchte Vater Prutz in der Backstube auf.

»Entschuldige, Reinhold -- aber ich muß dich hier aufsuchen, vorn ist
man vor Adele nicht sicher. Die horcht doch, wo sie kann.«

Vater Prutz machte einen verwilderten Eindruck. Ein Einsiedler, kein
Konditor in seiner Werkstatt. Er starrte die Schwägerin an. -- »Was
willst du?«

Da sagte sie ihm mutig, um was es sich handelte. Aber die Wirkung
wurde ihr nicht klar. Der alte Mann fuhr nicht auf, sondern sank noch
mehr in sich zusammen. Mit einem seltsamen Ausdruck schüttelte er dann
den weißen Kopf.

»Was sagst du dazu, Reinhold? Ist es nicht wunderbar?«

»Wunderbar mag es schon sein. Aber es geht mich nichts an. Wirklich
-- es geht mich nichts mehr an, Ottilie. Sie ist schon beim Zweiten
-- der Dritte und Vierte wird auch kommen -- ich habe keinen Einfluß
darauf.«

»So ist es ja nicht gemeint. Du vergißt, daß Liese ein selbständiger
Mensch ist. Sie lebt ihr eigenes Leben. Daß du nicht mehr gefragt
wirst -- so geht es jedem Vater, Reinhold. Hier handelt es sich um
Leben und Sterben, um die letzte Beziehung zueinander.«

»Laßt mich in Ruhe!«

»Reinhold, du bist alt und einsam geworden --«

»Nun ja! Wer ändert's?! Ändert das vielleicht der Wisch, den du
bekommen hast?!«

»Wer weiß -- vielleicht greift Lieses Bräutigam ein -- und alles wird
noch besser für dich --«

Jetzt richtete Vater Prutz sich bebend auf: »Nimm dich in Acht! Daß
du mir nicht Geschichten machst und Sachen vermittelst, die ganz
unmöglich sind! Das gäbe mir den Rest, du!«

Kopfschüttelnd sah Tante Sanftleben auf den schwer atmenden Greis.
»Mit dir ist nichts zu machen. Soll ich ihr nun gar kein gutes Wort
von dir bestellen?«

Vater Prutz schwieg eine Weile. Dann flüsterte er: »Bestell' ihr --
daß ich ihr nichts Schlechtes wünsche.« --

Liese erhielt Tante Sanftlebens Bericht, als sie eben mit dem Baron
eine Droschke bestieg, um zum Standesamt zu fahren. Er sah sie blaß
werden, aber er hatte eine bewährte Technik, über Unangenehmes
fortzugehen.

In Liese aber blieb eine schwere Traurigkeit.

Bei der Hochzeit war sie nur mit halben Sinnen. Zu dem Diner in der
Hitzigstraße hatte der Baron etwa zwanzig Gäste geladen -- kein
einziger war darunter, der Liese näherkam. Aus einigen wurde sie
überhaupt nicht klug. Die Freunde ihres Gatten trugen hohe Titel und
Namen; aber die Damen, die sie mitbrachten, schienen bei aller Eleganz
aus einer zweifelhaften Sphäre zu stammen. So kam die hochzeitliche
Stimmung nicht über junkerliche Derbheiten und kreischenden Übermut
hinaus. Beim Tanzen erst wurde es lustig. Liese hätte sich gern die
Seele frei getanzt, aber nun war der Baron das Hindernis, denn er
litt an Schwindel. Ruhig trank er mit seinen bequemen Freunden eine
Flasche Rotspon nach der anderen. Heute wurden zum erstenmal seine
Jahre bemerkbar. Schließlich setzte sich Liese ans Klavier und begann
ihre Lieder aus der ›Tollen Lotka‹ zu singen. Da trat ihr Gatte hinter
sie, legte die Hände auf ihre Schultern und flüsterte: »Aber Kind, am
heutigen Tage! ...« --

Zwei Tage später reisten sie. Es war eine schwierige Abreise gewesen,
denn der Baron hatte bis zuletzt noch lästige Besuche empfangen, deren
Bedeutung Liese nicht klar wurde. Ziemlich gewöhnliche Männer standen
im Hause, bald oben, bald unten -- sie grüßten die junge Frau kaum und
trugen ein aufreizendes Benehmen zur Schau. Liese hatte eine kindliche
Furcht vor dem Baron, wenn er sich geärgert hatte. Daß er sehr brutal
werden konnte, spürte sie oft. Der Pferdemensch in ihm war nur halb
gebändigt.

Sie war froh, als man im Zuge saß und Berlin eine Weile hinter sich
lassen konnte.

Man fuhr durch den Gotthard nach Genua. Liese sah mit wirrem Staunen
auf die Bilder der Welt, die sich plötzlich vor ihr auftaten. Ihr Mann
hatte nur ein Ziel, das ihn anzog: Monte Carlo. Immer wieder hatte er
Liese davon erzählt, so daß auch sie den Höhepunkt der Reise darin
sah. Mit einem merkwürdigen Feuer, wie ein entschlossener Kämpfer,
sprach der Baron. In Genua bezwang er kaum seine Nervosität. Bis zum
Morgen zechte er mit Liese -- sie verstand diese Stimmung nicht und
schlief in seinen Armen ein.

In Monte Carlo aber merkte sie, was gemeint war. Der Baron verließ den
Spielsaal nicht mehr. Er vergaß vollkommen, daß er eine junge Frau
neben sich hatte. Auch als Liese zornig aufstand und sich entfernte,
kam er ihr nicht nach. Er war wie verzaubert, blind und taub für
alles. Liese hatte nur eine Stunde an dem phantastischen Bilde des
Spielsaales Gefallen gefunden -- dann widerten sie die verzerrten
Mienen an. Sie konnte diese Leidenschaft nicht verstehen, ihr Mann war
ja reich, er brauchte den Spielgewinn nicht. --

Als sie eines Abends ohne ihn durch den Park schritt, fiel ganz in
der Nähe aus dem Dunkel ein Schuß. Entsetzt blieb sie stehen. Dann
sah sie zwei Parkwächter einer bestimmten Stelle zulaufen. Sie folgte
ihnen, von Grauen angezogen. Bald wurde ein eleganter, junger Herr an
ihr vorübergetragen -- sie sah einen roten Streifen auf seiner weißen
Stirn -- sie hatte ihn mit lachenden Augen oft auf der Promenade
gesehen. Da rannte sie, von Angst geschüttelt, in das Hotel. Am Morgen
erst kam der Baron.

Er setzte sich an ihr Bett -- sie weinte sich bei ihm aus und
erzählte, was sie erlebt hatte. -- »O, das kommt hier öfters vor,
liebes Kind«, sagte er gleichmütig. »Das sind die Opfer, die das Klima
von Monte Carlo nicht vertragen können.«

»Das Klima?«

»Nun ja -- hier muß man starke Nerven haben. Ich zum Beispiel --«

Sie umschlang ihn: »Geh nicht mehr in den Spielsaal, August!«

Er löste sich ärgerlich: »Was fällt dir denn ein? Jetzt gerade muß ich
auf dem Posten bleiben! Jetzt kommt meine Serie!«

»Wenn du gewonnen hast, benütze doch die Gelegenheit -- mir zuliebe --
wir wollen morgen abreisen -- nach Florenz!«

»Was soll ich in Florenz? Ich bin kein Kunsthistoriker! Ich habe
doch keine --« Er brach ab. Fast hätte er gesagt: Ich habe keine
Hochzeitsreise an die Riviera gemacht, um nicht zu spielen. Liese aber
verstand ihn auch so. -- »Du kümmerst dich nicht mehr um mich«, stieß
sie mit würgenden Tränen hervor. Da sprang er wütend auf: »Sei froh,
wenn ich --!« Er kam nicht weiter -- mit rotem Kopf lief er hinaus. --

Der nächste Tag brachte eine Überraschung: Friedrich, der Diener,
entpuppte sich als Retter. Nachmittags erschien er mit seinem Herrn,
den er wie einen kranken, alten Mann führte. Liese erschrak heftig:
»Was ist denn passiert?« Friedrich winkte mit schlauem Zwinkern ab:
»Nichts, garnichts! Kümmern sich Frau Baronin nicht darum! Dem Herrn
Baron ist das Jeu wieder mal nicht gut bekommen! Das kenn' ich schon,
das kommt so plötzlich! Am besten ist, wir reisen morgen früh und
bleiben noch irgendwo am Vierwaldstätter See, zum Beispiel in Vitznau
-- da ist es ruhig!«

Zum erstenmal war Liese mit Friedrich einverstanden. Beide versorgten
den willenlosen Mann. Friedrich bezahlte die Rechnung. Es wurde Liese
freilich wieder unheimlich, als er seinem Herrn zuvor einen kostbaren
Ring vom Finger zog. Was sollte das bedeuten? Aber der Baron schien
nichts dagegen zu haben.

Das eine wurde Liese klar: ihr Mann hatte schwere Verluste gehabt.
Mit Mühe kam man nach der Schweiz. Aber in Vitznau konnte man ja
sparen, und die böse Erfahrung war gewiß eine gute Lehre für den
unverbesserlichen Spieler. --

Am Vierwaldstätter See fand der Baron sich allmählich zurecht.
Freilich kam er über ein wirres Geschwätz nicht hinaus. Auch trank
er immerfort Kognak. Liese sollte mit ihm trinken, aber sie entzog
sich den Gelagen und ging lieber am abendlichen See spazieren. Als
sie wieder ins Hotel kam, fand sie ihren Mann mit Friedrich. Sie
hatten eben eine Flasche geleert und nannten sich lallend Kameraden.
Da erwachte in Liese plötzlich der Zorn ihres Vaters. Sie jagte den
betrunkenen Diener in seine Kammer.

Seit diesem Abend fühlte sie sich sehr unglücklich. Sie glaubte an
nichts mehr, die Schönheit der Reise war ihr vergällt. »Wir wollen
nach Hause«, sagte sie schließlich. »Hier hab' ich nur Angst.«

Da zeigte der Baron sich zum erstenmal wieder gefügig: »Wie du willst,
liebes Kind. Die Hitze am Vierwaldstätter See ist auch nicht mein
Ideal. Aber wir müssen mindestens noch acht Tage in Frankfurt bleiben,
bevor wir nach Berlin können.«

»Warum denn das? Unser Haus ist doch fertig?«

Ein sonderbares Lächeln kam auf sein Gesicht. -- »Das schon,« sagte er
gedehnt, »aber leider nicht mehr für uns.«

»Was heißt das?«

»Kind, du mußt es ruhig nehmen. Es handelt sich um eine Tatsache, für
Ersatz wird bald gesorgt sein. Ich habe mein Haus in der Hitzigstraße
verkauft. Ich habe es schon verkauft, bevor wir abreisten.«

Sie legte die Hand an die Stirn: »Ohne mir ein Wort davon zu sagen?«

»Das hatte keinen Zweck und hätte dir nur die Reise verdorben!«

»Wenn an der noch etwas zu verderben war. Das Haus war doch so schön
-- warum hast du's denn verkauft?«

»Das kann ich dir nicht so kurz erklären. Es genüge dir, daß der
Verkauf sehr günstig war, und daß du in Berlin sofort in ein neues,
ebenso schönes Nest kommen wirst. Das ist doch die Hauptsache, nicht
wahr?«

»Wohin ziehen wir?«

»In eine Etage natürlich. Ich hoffe bei der alten Generalin von
Fransecky in der Roonstraße eine Wohnung zu bekommen. Die war eine
Freundin meiner Mutter -- schon über achtzig Jahre alt -- tja -- ihr
Haus ist sehr vornehm eingerichtet.«

»Du meinst wohl das Zubehör, denn Möbel haben wir doch?«

»Das wird sich alles finden. Die Hauptsache ist, daß es behaglich
wird.« --

In banger Benommenheit kam Liese nach Berlin. Der Baron hatte die
Etage in der Roonstraße gemietet, aber sie war mit den altmodischen
Möbeln der Generalin ausgestattet. -- »Unsere Sachen mußten auf den
Speicher kommen«, erklärte er Liese. »Das ging nicht anders, weil die
Villa schon während unserer Reise bezogen wurde. Entweder lasse ich
noch alles herkommen, oder wir leben vorläufig in Frau von Franseckys
Sachen. Das letztere scheint mir sogar das Praktischste zu sein.«

Liese schwieg dazu. Je mehr sie erfuhr, desto tiefer tappte sie im
Dunkeln. Ihr Versuch, durch einen Dritten Klarheit zu gewinnen,
scheiterte: Es stellte sich heraus, daß Frau von Fransecky ganz
unzugänglich war. Wie auf einer Insel lebte die Greisin in ihrem
stillen, vornehmen Hause.

Auch das eigene Leben in Berlin gestaltete sich anders, als Liese
erwartet hatte. Es war ihr schon oft bedenklich gewesen, daß der Baron
gar keinen Beruf mehr hatte. Er erzählte ihr zwar, daß er an seinen
›Memoiren‹ arbeite; aber diese literarische Tätigkeit beschränkte
sich darauf, daß der Autor jede Woche einmal alte Notizbücher
durchblätterte. Was ihn wirklich beschäftigte, war der Klub und der
Rennsport. Nach Hoppegarten fuhr er jeden Sonntag mit Liese -- im Klub
verbrachte er allein seine Abende.

Sie aber empfand das Schlaraffenleben als Qual. Sie war an Arbeit
gewöhnt. Als sie von all den neuen Genüssen genascht hatte, stand
sie vor einer erschreckenden Inhaltslosigkeit. Es war, als ob sie
in einem luftleeren Raum atmen sollte. »Ich muß einen Zweck haben«,
flüsterte sie. »Ich kann doch nicht nur essen und trinken und mich
putzen und Romane lesen.« Der Mensch, der allem, was sie umgab, einen
Sinn gegeben hätte, fehlte ihr. Baron Bassenried konnte oder wollte es
nicht sein. Sein spätes Feuer erlosch wieder.

Erst als er Lieses wachsende Melancholie bemerkte, begann er sein
Leben zu ändern. Er wurde häuslicher, er ›widmete‹ die Abende seiner
Frau, freilich in einer Weise, die noch bedenklicher war als das
frühere Leben. Bald wurden nämlich die Spielabende in die Roonstraße
verpflanzt. Liese fand einen Brief in dem Zimmer ihres Mannes -- er
war von seinem vornehmen Klub. Sie wurde aus dem Inhalt nicht klug --
nur so viel verstand sie, daß der Baron ausgeschlossen worden war. Nun
mußte also privatim weitergespielt werden.

Davor graute Liese, besonders weil diese Nächte gesellschaftliche
Verpflichtungen brachten. Die Hausfrau hatte für Bewirtung zu sorgen.

Das aber wurde Liese oft unmöglich gemacht, weil der Baron kein Geld
hergab und verlangte, daß sie bei Lieferanten zu borgen verstand.
Schließlich tat Liese, was sie am längsten vermieden hatte: sie
übertrug Friedrich alles Wirtschaftliche. Daß dieser Mensch vor allem
in die eigene Tasche arbeitete, war ihr klar, aber in dem Sumpf wurde
sie gleichgültig.

Trost und Ersatz fand sie in ihrem persönlichen Erfolge. Es wurde
immer deutlicher, daß der Baron mit ihrer Anziehungskraft rechnete. Er
sorgte dafür, daß sie bei jedem Gesellschaftsabend in neuer Toilette
erschien, er brachte ihr Schmuck und Parfüm mit und machte sie zu
einer Modepuppe. Wann und wie das alles bezahlt wurde, entzog sich
Lieses Kenntnis.

Es wurden tolle Nächte. Während im Salon gespielt wurde, tanzte man
im Speisezimmer. Der Baron hatte eine Glücksperiode, als er den
wilden Klub in seiner Wohnung aufgetan -- Sekt und Delikatessen
wurden verschwendet, man holte sogar eine Zigeunermusik. Eines
Abends verstand sich Liese dazu, ihr Kostüm aus der ›Tollen Lotka‹
hervorzusuchen. Es war das Kostüm der Seiltänzerin -- sie erschien im
Trikot und sang ihre Lieder. Jetzt erst fand sie vollen Erfolg. Nun
kam Vergessenheit über sie. Schließlich mußte der Baron sein trunkenes
Kind ins Schlafzimmer tragen. --

Am nächsten Tage wurde Liese freilich von tiefem Widerwillen gepackt.
Den Anstoß dazu gab Friedrich, der mit dem Trinkgeld unzufrieden
war und nun sehr deutlich wurde. Er ließ einfach den Wein, der
übriggeblieben war, verschwinden -- Liese fand nichts mehr davon.
Als sie ihn zur Rede stellte, sagte er: »Sein Sie ganz stille, Frau
Baronin. Ich rate Ihnen -- sein Sie ganz stille. Von mir hängt es ab,
daß hier nicht alles auffliegt. Wenn ich nicht Schmiere stände, hätten
Sie längst die Polizei auf'm Hals.«

Liese wußte nichts zu erwidern. Sie begriff jetzt, daß man von
einem Erpresser abhängig geworden. Verstört lief sie in ihr Zimmer
und weinte dort bis zum Abend. Als sie den Baron mit neuen Gästen
erwartete, ließ er ihr telephonieren, daß er heute nach Potsdam
eingeladen sei. Nun war sie mit ihren schweren Gedanken allein. Ratlos
stand sie am Fenster und starrte auf den dunklen Königsplatz hinaus.
Unter kahlen Bäumen sah sie eine arme Frau umhergehen, die ihr kleines
Kind trug. Es war ein Bild frostiger Verlassenheit, aber in Lieses
Seele entzündete es ein warmes Licht. Reuevolle Erinnerung überkam
sie: Auch sie hatte ein Kind.

Das lebte nun schon lange bei fremden, kümmerlichen Menschen. Drei
Jahre war die kleine Berta alt. Plötzlich wurde Liese von einer
bangen Neugier nach ihrem Kinde ergriffen. Sie fühlte selbst, daß es
keine Mutterliebe war. Auch wußte sie, daß der Weg zu Berta verrammelt
worden. Hier mußte sie den Zorn des Barons am meisten fürchten.
Er selbst war der Inbegriff der Unzuverlässigkeit -- von ihr aber
forderte er letzte Pflichterfüllung.

Sie durfte das Wiedersehen nicht wagen. Doch etwas beschloß sie --
das konnte der Baron ja nicht erfahren: Sie schrieb an Frau Grunow
und erbat ihre Antwort postlagernd. Dreimal entwarf sie den Brief
und zerriß ihn wieder. Dann genügte er ihr, und sie sandte ihn ab.
Als dies geschehen war, wurde sie etwas ruhiger. Sie hatte nun doch
auf einen echten Wert zurückgegriffen. Wenn sie auch ihr Kind nicht
wiedersah -- sie erfuhr doch, wie es sich entwickelte.




                            ELFTES KAPITEL


»Nein, Berta -- das ist nichts für dich.« Diese stereotypen Worte
griffen in ein Leben, das sich regen wollte. Sie bildeten Bertas
erste Erinnerung. Lieses Kind hatte das Dasein eines Käfers, der auf
einer Fläche umherkriecht und überall, wohin er sich auch wenden mag,
das Hindernis einer quälerischen Hand findet. Es war die schlimmste
Eigenschaft von Mutter Grunow, daß sie einschüchterte, wo sich
Hoffnung regte, niederzwang, wo eigener Wille aufkommen wollte.

Als sie eben damit umging, der kleinen Berta, die schon unbequeme
Fragen stellte, einen Begriff von ihrem geheimnisvollen Vater zu
geben, kam nach langer Pause wieder eine Nachricht von der Mutter.
Über Lieses Laufbahn wußte Frau Grunow durch Onkel Tübbeke Bescheid.
Sie glaubte natürlich, daß man bei solchem Aufstieg alles Vergangene
hinter sich ließ. Liese sandte ja zu jedem Quartal einen Zuschuß
für Berta -- das war die Hauptsache. Nun aber kam plötzlich aus der
glanzvollen Welt ein Brief von ihr.

Abends zeigte Frau Grunow ihn ihrem Bruder. Tübbeke las ihn, nieste,
nahm aus seiner Schnupftabaksdose eine reichliche Prise, nieste noch
einmal und sagte dann mit vielem Gesichterschneiden: »Ja, so sind die
Weiber. Sie kriegen nie genug. Und was 'ne Mutter ist, das ist eben
'ne Mutter. Aber sie muß mächtigen Bammel vor ihrem Baron haben, weil
du ihr postlagernd antworten sollst.«

»Das ist doch selbstredend, Adolf. Der Baron darf doch von dem
Kind nichts wissen. Der hält seine Frau wahrscheinlich für einen
Unschuldsengel, wenn sie auch mal im Friedrich Wilhelmstädtischen war.
Von mir soll er nichts erfahren. Aber was mir unangenehm ist -- die
Frau hat sonderbare Ideen im Kopp. Auf einmal will sie, daß die Berta
niemals wissen soll, wer ihr Vater ist. Jetzt versteht sie's ja doch
noch nicht, aber später mal. Wenn sie immer wieder fragen tut?«

»Na, was denn, was denn? Wir müssen uns selbstredend nach der Mutter
richten. Mein Rechtsanwalt hat ihr natürlich gesagt: Wenn ich dem
Baron nichts stecke, dann verlang' ich, daß du mich nicht mit dem Kind
blamierst. Ich denke, wir lassen die Sache an uns 'rankommen. Später
mal, wenn wir keine Rücksicht mehr zu nehmen haben, machen wir's so,
wie wir Lust haben. Es ist auch immer gut, wenn man dem Rechtsanwalt
gegenüber was in Reserve hat.«

Frau Grunow sah ihren Bruder forschend an, dann nickte sie: »Das hab'
ich mir auch schon gesagt.«

Sie ging in die Küche, kramte sich ein fettfleckiges Papier und eine
rostige Feder zusammen und öffnete ihr Fläschchen Kaisertinte. Dann
verrichtete sie unter schweren Seufzern die ungewohnte Arbeit, an die
Frau Baronin einen Brief zu schreiben. --

Liese las jede Einzelheit, die sie von Berta erfuhr, mit einem
Interesse, das sie selbst wunderte. Nun überlegte sie doch oft, ob sie
ihr Kind nicht wiedersehen könnte. Aber sie kam zu keinem Entschluß.

Schließlich starrte sie doch immer wieder in etwas Stumpfes und
Fremdes. So geriet sie, wenn sie in der Stadt war, dreimal in
Versuchung, einen Abstecher nach dem Elisabethufer zu machen, aber
immer wieder wurden es die Linden. Schließlich befand sie sich wieder
in der Roonstraße.

So kamen Jahre öden Weiterlebens. Berta wurde größer, sie war nun
ein richtiges Schulmädchen. Ihr sechster Geburtstag, der doch eine
besondere Bedeutung hatte, blieb ihr in böser Erinnerung: Vor dem
Gabentisch, in Gegenwart des wunderbaren Napfkuchens hatte Tante
Grunow ihr zwei Ohrfeigen gegeben. Dies war geschehen, als Berta
heute zum siebentenmal von ihrem Papa gesprochen hatte. Man konnte
auch wirklich die Geduld dabei verlieren. Das Kind hatte sich ein
unausstehliches Spiel mit dem Papabegriff angewöhnt. Es saß in einem
Winkel und spielte mit seiner Puppe und plapperte immerfort: »Papa,
Papa, wo mag Papachen sein?« Es klang wie Spott und mußte doch aus der
Tiefe kommen, denn Berta war ganz ernst dabei. Vermutlich hatte sie
es irgendwo aufgeschnappt. Es gab jetzt einen neuen Gassenhauer, den
alle Spielkinder sangen: »Alma -- Alma, wo mag das Mädchen sein?« Das
variierte sie nun in sonderbarer Ideenverbindung.

»Damit du's ein für allemal weißt: Nach Papa fragt man nicht! Papa
gibt es hier nicht! Schäm' dich doch vor deiner Mutter!«

Von diesem ebenso empörten wie geheimnisvollen Ausspruch waren die
beiden Ohrfeigen der Tante begleitet gewesen. Er regte das Gemüt
des Kindes lange zum Grübeln an. Man durfte nicht nach seinem Vater
fragen? Alle anderen Kinder, die Berta kannte, hatten einen Vater und
sprachen täglich von ihm. Sie ruhten gleichsam in dem Bewußtsein,
ihn zu haben. Und sie? Warum sollte sie sich, wenn sie dasselbe tat,
schämen? Vor ihrer Mutter schämen? Sonst, wohin sie blickte, gehörten
Vater und Mutter zusammen. Mit Bertas Vater aber mußte das eine
besondere Bewandtnis haben.

Diese Überlegungen führten zu keinem Ergebnis. Berta nahm sie auch
in die Schule mit. Langsam ging sie mit ihrem Tornister, über dem
die schwarzen Zöpfchen baumelten, täglich nach der Oranienstraße.
Berta war sehr klein für ihr Alter, und ihre dunklen Augen blickten
fragend ins Unbestimmte. Ursachlos ergab es sich deshalb, was sie von
vornherein dem Leiden auslieferte: Die anderen Kinder rückten von ihr
ab. Das Schicksal einer Gezeichneten kam über sie. Noch wußte man ja
nichts von dem Rätsel ihrer Herkunft, oder man kümmerte sich nicht
darum. Es gab im großen Berlin so viele uneheliche Kinder. -- Wer frei
und frisch daherkam, wurde einfach mitgenommen.

Zum Glück verbesserten sich bald die häuslichen Verhältnisse.
Man wurde auch freigebiger gegen das Kind. Alfons Grunow war als
Teilhaber in eine sozialdemokratische Genossenschaft der Anstreicher
eingetreten. Da auch Onkel Tübbeke ganz gut verdiente, konnte Mutter
Grunow die Näharbeit aufgeben. Man leistete sich nun, was die
Nachbarschaft sich schon lange leistete. Sonntags fuhr man mit der
Pferdebahn nach Charlottenburg, und die beiden Herren, Onkel Tübbeke
und Onkel Alfons, kletterten mit Berta auf das Verdeck. Es war
prachtvoll, die lange Charlottenburger Chaussee unter den schattigen
Bäumen zu fahren -- Berta freute sich schon die ganze Woche darauf.
Draußen ging man dann in den Schloßgarten und stand andächtig im
Mausoleum, vor den bläulich schimmernden Marmorfiguren Friedrich
Wilhelms und Luisens. An großen Tagen betrat man auch die Flora,
das berühmte »Etablissement«, das mit seinem Rosenparterre lockte.
Dort bot sich auch immer das lustig aufregende Schauspiel eines
Fesselballons, der von schwitzenden Soldaten festgehalten wurde. Wann
er endlich in die Höhe stieg, nahm er zuweilen einen Ungeschickten
mit. Das gab immer ein Hallo, wenn der Mann am Seil herunterrutschen
mußte.

Auch in den Zoologischen kam man, seltener in den Grunewald. Hier
spürte man schon die Reise. Die Stadtbahn war noch neu -- man fand
sie entweder zu unsicher oder zu teuer. Draußen aber, in Hundekehle
oder in Paulsborn gab man sich mit Nachdruck dem Naturgenuß hin.
Träumerisch blickte man in die schwarzen Kieferkronen und ließ
Stullenpapier im Sande liegen. Onkel Alfons war ein Sportsmann und
ruderte die ganze Gesellschaft auf dem abendlichen See.

Onkel Alfons war es auch, der sich zuerst mit Berta beschäftigte.

Aber er war kein tiefer Mensch. Seine Überzeugungen hatte er aus
Parteiversammlungen. Außerdem rumorte immerfort der »Tick« in ihm,
als Künstler zu gelten. Wo eine Gelegenheit kam, tobte er seine
Phantasie aus. Es gab einen Weißbierwirt in der Naunynstraße, der
für Verschönerungen schwärmte. Der erlaubte Alfons Grunow seine
Kneipe auszumalen. Nun blickten die Gäste von Berlin SO in einen
italienischen Himmel voll Amoretten, die freilich alle etwas
schielten und nur linke Füße hatten. An der Decke des Hausflurs
sah man Hexen über den Blocksberg reiten -- sie erinnerten alle an
die biederen Marktweiber vom Oranienplatz. Sogar an einem stillen
Ort richtete sich der Blick auf ein Werk Alfons Grunows -- Fortuna
schüttelte mit holdem Lächeln ihr Füllhorn aus.

Aber zur künstlerischen Betätigung kam Alfons nur selten -- daran
hinderte ihn seine Politik. Auf den Boden der schlichten Wirklichkeit
kam er zum erstenmal, als er sich mit der kleinen Berta beschäftigte.
Hier wurde ihm die Klassensünde greifbar. Ein Wildling wuchs auf, von
dessen Geburtsrecht nie die Rede war. Alfons gefiel sich darin, Berta
als Opfer des Kapitals zu betrachten.

Immerhin gewann er dadurch einen tieferen Einfluß auf sie. Berta
fühlte jetzt erst ihre Zurücksetzung. Er zeigte ihr das Problem des
unehelichen Kindes und stachelte sie zum Protest. Sie sollte im Leben
Sturm laufen und ihr Recht erobern.

Tief und quälend wurde in Berta die Sehnsucht nach dem Dasein der
glücklich Geborenen lebendig. Sie träumte mit wachen Augen. Alles
wurde ihr zum Gleichnis. Ein Stück Schokolade konnte sie in eine
Tiergartenvilla versetzen. Wenn sie am Sonntag ihre neuen Schuhe trug,
ließ sie insgeheim die Hand des Onkels los und wanderte mit einem
hohen Offizier. Dann stieg sie in einen Hofwagen, der die Kinder des
Kaisers fuhr. --

Als Berta acht Jahre alt geworden war, brachte Onkel Tübbeke aus
dem Bureau des Rechtsanwalts Schwarz einige Karten für ein großes
Wohltätigkeitsfest mit. Es sollte zum Besten notleidender Kinder bei
Kroll stattfinden. So konnte man den Geburtstag auf billige Weise
feiern. Berta berauschte sich schon vorher an allem, was vor ihr
auftauchen sollte -- Onkel Alfons aber »streikte« zum erstenmal.

»Da geh' ich nicht mit«, erklärte er mit gesträubten Locken. »Wo die
Weiber der Burschoasie sich in ihrem Fett wälzen und Sekt für zwanzig
Mark das Glas verkauft wird --«

»Hör' auf, Alfons,« sagte die Mutter, »du redest ja Stuß. Sie machen
doch ein Wohltätigkeitsfest.«

»Jawohl! In ihre eigene Tasche! Oh, ich kenne das!«

»Ich will aber hin!« rief Berta mit weinerlicher Energie.

»Natürlich gehn wir!« entschied Onkel Tübbeke. »Glaubt ihr denn, ich
bin 'n Affe mit meine schönen Biljets? Der Herr Rechtsanwalt hat
selber gesagt: ›Sie haben doch auch gewiß so'n armes Wurm in Ihrer
Familie, Tübbeke?‹ Also, hier sind vier Karten -- amüsiert euch gut!«

»Da hörst du's, Onkel! Herr Rechtsanwalt hat's selber gesagt!« rief
Berta mit roten Backen.

Es kam eine sonderbare Pause. Die Großen sahen sich an und lächelten.
Man entschloß sich aber. Onkel Alfons blieb zu Hause -- seine Karte
erhielt Fräulein Milchner.

Bei Kroll war Doppelkonzert. Kaum war im vorderen Teil des Gartens
die ›Tannhäuser‹-Ouvertüre zu Ende, so fing hinten schon der
›Bettelstudent‹ an. Man schob sich langsam durch das Menschengewühl,
man sah in die magischen Lampions und in das Gewirr der Gasflammen,
die sich in Prismen spiegelten. Wasserspiele gaben flüssiges Gold.
»Es ist feenhaft«, erklärte Mutter Grunow, während sie die ersten
Schinkenstullen verteilte. Ja, ›feenhaft‹, klang es in der kleinen
Berta nach. Das war das richtige Wort. Man wurde endlich dem gemeinen
Leben entrückt.

Onkel Tübbeke war ein Musikschwärmer. Er hielt es nicht lange bei
Bier und Stullen aus -- er wollte von Saro und seinen »Franzern« das
›Carmen‹-Potpourri hören. Dann zog es ihn zu Selchos Kürassieren, die
eine richtige Schlachtmusik mit Gebet und Kanonendonner produzierten.
Berta lief mit dem Onkel. Sie wollte keinesfalls etwas versäumen --
ihr Hunger war heute nicht groß. Als man eben von den Kürassieren
›Heil dir im Siegerkranz‹ gehört hatte -- drängte sich Tante Grunow
heran und flüsterte: »Bertchen, denke dir, dein Mutterchen ist hier!
Eben hab' ich sie gesehen! Sie ist an unsern Tisch vorbeigegangen,
zwischen zwei feinen Herren! Gott, so was Nobles! Und nun sagt mir
Tante Milchner, daß sie drüben in 'ner Bude steht und Schnäpse
verkauft!«

Berta vergaß alles andere. -- »Wo?« fragte sie. Sie war ganz bleich,
obwohl man eben rot beleuchtet wurde.

Onkel Tübbeke winkte ärgerlich ab: »Na, laß doch, Mathilde!«

»Ich will meine Mutter sehen!« rief Berta und stampfte mit beiden
Füßen.

Tübbeke drängte sich zu seiner Schwester: »Du kannst doch nicht mit
dem Kind vor die Bude gehn! Womöglich steht der Baron da!«

»Das glaub' ich nicht! Sie ging nicht mit ihrem Mann -- das sieht man
doch! Wir brauchen ja bloß mal vorbeizugehen, damit das Kind mal seine
Mutter sieht! Anquatschen ist ja gar nicht nötig! Verdirb ihr doch die
Freude nicht!«

Berta zog die anderen schon fort. Fräulein Milchner führte. Bald blieb
man in einiger Entfernung stehen, konnte aber den hellerleuchteten
Verkaufsstand gut betrachten. Berta starrte auf eine hohe, blonde,
vornehme Frau. Das mußte sie sein -- so hatte sie sich ihre Mutter
immer vorgestellt. Wie glücklich sie war -- wie sie lachte und
plauderte! Jedem Herrn gab sie ein gutes Wort.

»Na, nun gehn wir wieder«, drängte Onkel Tübbeke, dem die Situation
unheimlich war. Berta stand zwischen ihm und Fräulein Milchner,
aber Frau Grunow, die heute erstaunlich regsam war, entwischte. Sie
konnte nicht anders -- sie mußte sich bemerkbar machen. Dreimal ging
sie hinter den Herren, die mit der Baronin sprachen, vorbei. Beim
drittenmal gelang es ihr: Liese erkannte Frau Grunow. Sie verfärbte
sich, blieb aber jeder Lebenslage gewachsen. Rasch übertrug sie
einem jungen Mädchen ihr Amt, entschuldigte sich und verließ den
Verkaufsstand.

Sie wußte selbst nicht, was sie trieb. Sinnlose Jahre versanken.
Vielleicht war auch ihr Kind da. Sie ging auf Frau Grunow zu. Mit
ihrem fürstlichen Federnhut stand sie vor der alten Näherin: »Guten
Abend, Frau Grunow! Wie geht es Ihnen denn? Wo ist denn Berta?«

Die Alte war ganz bewegt von so viel Leutseligkeit: »Ach, Berta ist
auch da, Frau Baronin. Wir haben dem Kind mal eine Freude gemacht.«

»Wo ist sie? Bringen Sie mich zu ihr. Aber bitte recht unauffällig.«

Berta sah ihre Mutter auf sich zukommen. So etwas Schönes hatte sie
nie erblickt. Jetzt fühlte sie eine duftende Hand am Kopf und hörte
die leisen, unsicheren Worte: »Kind ... Ja, du bist wirklich hübsch
geworden ... Wie mich das freut! ... Du sollst ja auch so brav sein in
der Schule ... Ach, Herr Tübbeke ... Verzeihen Sie, Herr Tübbeke --
ich habe Sie noch gar nicht begrüßt ... und Fräulein Milchmann ...«

»Milchner«, verbesserte die Lehrerin. Onkel Tübbeke verbeugte sich
mehrmals, wußte aber nichts zu sagen.

»Ich muß wieder zu meinen Likören«, sagte jetzt die Baronin. »Eine
etwas anstrengende Sache, diese Wohltätigkeit, aber mein Gott, man tut
es für die Armen.«

Berta lauschte scharf auf jedes Wort. Sie konnte unterscheiden, daß
die ersten Worte der Mutter ganz warm und natürlich geklungen hatten.
Was sie zuletzt sagte, klang etwas künstlich und erinnerte sie an die
Dame, die den Prolog gesprochen hatte. Auch bemerkten die forschenden
Kinderaugen, wie müde und verbraucht das schöne, gepuderte Gesicht war.

»Ich muß fort«, sagte Liese nochmals, die Hand auf Bertas Schulter
legend. »Aber nun will ich das Kind doch öfter sehen. Jetzt ist es mir
egal, Frau Grunow. Man hat solch nettes Kind und kennt es kaum. Wissen
Sie, mein Mann ist jetzt verreist -- da geht es ausgezeichnet. Kommen
Sie doch nächsten Donnerstag um vier Uhr zu mir -- Roonstraße 3 B,
nicht wahr, dicht am Königsplatz -- kommen Sie mit dem Kind und gehen
Sie für alle Fälle über die Hintertreppe -- man kann ja nie wissen
-- ich werde den Portier instruieren. Also vergessen Sie nicht: die
Hintertreppe.«

»Gewiß nicht, Frau Baronin. Wir kommen ganz bestimmt, Frau Baronin.
Die Kleine freut sich ja schon so --«

»Das ist schön. Ich auch. Aber nun muß ich ihr doch etwas zum
Geburtstag geben --«

Liese sah sich suchend um. Da kam ein kleiner Verkäufer mit allerlei
Backwerk vorbei. Liese stopfte eine große Tüte voll und legte sie
Berta in den Arm. Dann eilte sie fort.

»Nun kommt man weiter«, drängte Onkel Tübbeke. »Es ist auch spät, wir
müssen nach Hause.«

Berta war es zufrieden, sie hatte ihre Mutter gesehen. --

Am Donnerstag nachmittag erwartete Baronin Bassenried zum erstenmal
Besuch in der Küche. Eigentlich war die Lage nicht ungefährlich, denn
der Baron konnte jeden Tag zurückkommen. Ziel und Dauer seiner Reisen
waren immer ungewiß, aber Liese hatte inzwischen so viel Einblick in
seine Geheimnisse bekommen, daß sie sich auch eines erlaubte.

Im übrigen war vorgesorgt. Friedrich, den Liese am meisten fürchtete,
hatte für den ganzen Tag Urlaub. Die Köchin war in die Stadt geschickt
worden und konnte erst abends zurückkehren. Auf die Portiersleute
durfte Liese sich verlassen. Die hielten es unbedingt mit ihr. Sie
grollten dem ›vornehmen‹ Herrn, der das Franseckysche Haus in Verruf
gebracht hatte.

Liese lächelte wehmütig, als sie den Kaffeetisch in der Küche
betrachtete. Die kleine Berta würde ihn gewiß sehr nobel finden.

Jetzt schlug es vier. Alsbald hörte Liese Schritte auf der
Hintertreppe. Sie öffnete vorsichtig die Tür -- Frau Grunow stand vor
ihr und hielt Berta an der Hand. Rasch wurden sie eingelassen. Liese
küßte das Kind und spürte, wie andächtig es den Duft ihres Kleides
einsog. Dann saß man am Kaffeetisch.

»Ich habe hier gedeckt, Frau Grunow. Hier ist es gemütlicher. Aber
nachher zeige ich euch die ganze Wohnung.«

Die letzten Worte sagte sie mit deutlichem Trotz. Frau Grunow
lächelte: »Na, es gab wohl 'ne Zeit, wo Frau Baronin nicht mal an so
'ne Küche gedacht haben.«

Liese errötete und sah auf Berta: »Da haben Sie recht, Frau Grunow.
Aber die Hauptsache ist, daß man selbst der alte bleibt. Es ist nicht
alles Gold, was glänzt.«

»Nein, Talmi -- gibt es auch 'ne Menge und sogar falsche Scheine.«

Liese wandte sich nervös zu Berta: »Nun erzähl' mir mal was von der
Schule, Kind!«

Berta sah erstaunt zu ihr auf. Konnte das ihre Mutter interessieren?

»Die denkt jetzt bloß dran, daß sie hier ist,« meinte Frau Grunow, das
feine Porzellan und die Wappen auf den silbernen Löffel musternd. »Sie
glauben ja nicht, Frau Baronin, was die uns zu Hause gequält hat. Wie
verhext ist sie gewesen, dabei war ich natürlich nicht so dumm, ich
habe ihr immer wieder gesagt: Kind, hab' ich gesagt, das ist nichts
für dich -- schlage dir solche Sachen aus 'm Kopp. Das ist doch viel
besser für so'n armes Mädchen, nicht wahr ...«

Liese nickte und sah dann unruhig auf die Tür, die zur vorderen
Wohnung führte.

»Haben Sie was?« fragte Frau Grunow, Kuchen essend.

»Nein, nein ... Ich dachte nur, ich hatte vorn etwas gehört, aber es
war eine Täuschung. Ich bin jetzt sehr nervös.«

»Gott ja, das vornehme Leben --«

»Sein Sie froh, Frau Grunow, daß Sie nichts davon wissen. Bertchen,
was hast du nur für nette schwarze Augen --«

Das Kind fuhr auf und griff sich unwillkürlich ins Gesicht. Zum
erstenmal wurde ihm etwas über seine Augen gesagt.

»Ach ja, die sind schon hübsch,« meinte Frau Grunow. »Bloß manchmal
hab ich Angst, daß sie's Schielen lernt. Sie ist nämlich sehr
kurzsichtig. Zu Ostern muß ich ihr 'ne Brille kaufen.«

»Aber pfui! Das sieht doch so häßlich aus.«

Berta sah mit harmlosem Staunen zu Liese auf. Warum denn das? Warum
sollte sie keine Brille tragen, wenn sie dadurch besser sehen konnte?

»Eßt Kuchen. Ich muß doch mal horchen. Einen Augenblick ...«

Liese stand auf, öffnete die Tür und lauschte in den Korridor. Das
wurde Frau Grunow allmählich unheimlich. -- »Sollen wir nicht lieber
gehen, Frau Baronin? Es ist schon halb sechs --«

Berta seufzte tief -- aber sie wagte keinen Widerspruch. Liese
kehrte an den Tisch zurück. Sie war blaß, und ihre ringgeschmückten
Hände fuhren unstet umher: »Nein, nein, Frau Grunow. Nach anderthalb
Stunden? Das lohnt sich doch kaum. Ich weiß gar nicht, was heute
mit mir los ist. Immer kriege ich gleich -- wie nennt man's doch?
-- neulich habe ich erst einen schönen Vortrag drüber gehört --
Halluzinationen, glaub' ich --«

»Ach ja, Halunkinazionen? Das ist was mit Nerven.«

Liese lachte müde: »Ja, gewiß! Aber man muß sich dagegen wehren. Man
muß -- --«

»Jetzt hab' ich auch was gehört!« rief Berta plötzlich, ihre schwarzen
Augen auf die Tür richtend.

Liese sprang auf -- der ganze Kaffeetisch klirrte. »Glaubt ihr, daß
jemand in der Wohnung ist?!«

Rasch entschlossen erhob sich Frau Grunow, packte Bertas Hand und zog
sie zur Treppentür: »Komm, Kindchen, komm! Adjö, Frau Baronin. Auf 'n
andermal!«

»Bleiben Sie ruhig -- --«

In diesem Augenblick wurde vom Korridor aus die Tür geöffnet. Liese
sah es nicht sogleich, denn sie wandte dem Eintretenden den Rücken.
Frau Grunow aber kam nicht mehr mit Berta hinaus -- davonlaufen war
nicht möglich.

Der Baron stand in der Küche. Sein harter Blick überflog das
überraschende Bild. -- »Guten Tag, Lies! Da bin ich wieder! Hier sind
ja sonderbare Zustände! Vorn kein Mensch, der mir den Koffer abnimmt
-- und in der Küche Kaffeebesuch? Was sind das für Leute!«

Frau Grunow zuckte zusammen: »Oh, so weit sehr anständige, Herr
Baron! Hochanständige, das kann ich Ihnen man bloß sagen!«

Der Baron sah die Alte von oben bis unten an: »Was wünschen Sie? Ich
kenne Sie nicht!«

Jetzt faßte sich Liese: »Du wolltest erst Ende der Woche kommen --«

»Ach, meine frühere Rückkehr stört wohl dein Programm?«

»Laß mich in Ruhe! Du bringst mich in eine Situation --«

»Erst möchte ich wissen, in welche Situation du mich bringst? Wer ist
das Kind?«

Nach den letzten Worten ging der Baron auf Berta zu. Die Kleine wich
vor dem großen, drohenden Mann entsetzt zurück und klammerte sich an
Frau Grunow.

»Laß sie, August! Was fällt dir denn ein? Ist das die Art -- --«

»Erst will ich wissen, wer das Kind ist!«

»Nun ja, also! Es ist mein Kind! Mein Kind!! Damit du's ganz genau
weißt!«

»Was?! Das bringst du mir ins Haus?! Das wagst du mir vor Augen zu
bringen?!«

»Lächerlich! Du brutaler Mensch! Was soll denn das arme Kind davon
denken?«

»Ich bin brutal?! Ich bin --?!«

Er packte die Kaffeekanne und schmetterte sie auf die Steinfliesen
der Küche. Jetzt riß Berta sich los und stürzte angstvoll die Treppe
hinunter. Frau Grunow folgte ihr, so schnell es ging. Noch auf dem
Hof hörten sie die wütende Mannesstimme und das Klirren der Scherben.
An einem Parterrefenster erschien eine erschrockene, uralte Dame.
Die Portiersleute standen blaß im Hausflur. Frau Grunow hatte Berta
eingeholt und lief mit ihr auf die Straße hinaus. -- »Das will nu 'n
vornehmer Mann sein!« flüsterte sie. »Das will nu 'n vornehmer Mann
sein!«

»Wer ist es denn?!« fragte Berta mit zitterndem Munde.

»Na, der Baron! Der Mann von deiner Mutter!«

»Der Mann von meiner Mutter? Und ich? Ich bin dran schuld?«




                           ZWÖLFTES KAPITEL


Liese schloß sich nach dem Zusammenstoße in der Küche drei Tage ein.
Das Schlimmste, was in ihrer Erinnerung haften blieb, waren die
entsetzten Augen des Kindes. Eine Beschämung ergriff sie, die nicht
wieder gutzumachen war.

Was ihr bisher nur gedämmert hatte, jetzt trat es in helles Licht:
Nicht Viktor Schwarz war der Verderber ihres Lebens -- von ihm
brauchte sie keinen Schimpf zu fürchten. Er wahrte die »Form.« August
von Bassenried aber hatte sie entwurzelt. In einem Sumpf watete sie.
Dieser Mensch würde sich nicht nach ihr umsehen, wenn sie versank und
erstickte.

Durch ihn konnte sie nicht Mutter werden, und nun mordete er die
Mutterschaft, die ihr gegeben worden. Sie fühlte, daß es zum
Widerstande zu spät war. Nicht zu ihrem Kinde konnte sie sich retten
-- sie hatte es versucht, und der Versuch war mißlungen. Nun gab sie
es auf. Berta hatte ihr wirklich nie gehört. Draußen, irgendwo in der
Fremde war ihr Platz.

Liese schauderte zusammen. Wenn sie ihm trotzte, würde er sie auf die
Straße jagen. Dem Elend war sie nicht mehr gewachsen. Einem seelischen
Besitz jedes Opfer zu bringen -- diese letzte Kraft des Weibes war in
ihr gebrochen. Nun mußte sie laufen, wie der Rattenfänger lockte.

Je mehr diese eisige Empfindung in ihr Platz griff, desto ruhiger
wurde sie. Da war es ihr am dritten Tage ihrer freiwilligen Haft ganz
lieb, als es pochte. Der Baron konnte es nicht sein, der hätte anders
getrommelt. Das Pochen kam von einem Untergebenen.

Sie öffnete -- Friedrich stand vor ihr: »Frau Baronin -- nun möcht'
ich doch mal nachsehen, was mit der Frau Baronin eigentlich los ist?
Heute ist der dritte Tag -- Frau Baronin hatten doch höchstens ein
paar Keks im Zimmer und den Madeira vom letzten Spielabend?«

»Ich habe nichts angerührt. Bloß Wasser hab' ich getrunken.«

»Mein Gott, nun müssen Frau Baronin aber gleich was zu sich nehmen.
Ich hab' schon was mitgebracht. Frischen Kaffee und Rührei und
Schinken -- auch ein alter Kognak wäre zu empfehlen.«

Jetzt spürte Liese doch Hunger, aber sie beherrschte sich: »Erst sagen
Sie mir mal, ob sie das von selber bringen, oder ob der Herr Baron es
befohlen hat?«

»Der Herr Baron? Den hab' ich ebenso lange nicht gesehen wie die Frau
Baronin.«

»Ist mein Mann verreist?«

»Das glaub' ich kaum. Er hat jedenfalls nichts mitgenommen. Er wird
wohl wieder eingeladen sein.«

Liese wandte sich von dem tückischen Blick des Dieners ab: »Ich danke
Ihnen, Friedrich. Stellen Sie die Sachen nur hin. Ich werde später
ausgehen.«

Friedrich horchte auf. Das war ein neuer Ton der Dulderin. Sie hatte
das Leben wohl endlich begriffen. --

Als Liese eine Stunde später das Haus verlie,. dachte Friedrich mit
zynischem Lächeln: ›Tiptop! Ein schneidiges Weibsbild! Nun wird sie es
ihm besorgen, dem alten Laster!‹

Aber Liese ging dumpf und finster durch den hellen Tag. Sie haßte
jetzt Dinge und Menschen. Alles kam ihr so überflüssig vor. Die
einzige Belebung, die sie spürte, war der Drang, in ein Kaffee zu
gehen und drei Schnäpse zu trinken. Der Kellner machte große Augen.

Mit wirrem Kopf kam Liese in die Roonstraße zurück. Friedrich
überreichte ihr einen Brief. Das Mädchen der Frau Generalin habe ihn
abgegeben.

»Die schreibt an mich?« stammelte Liese mit berauschten Augen. »Die
alte Exzellenz schreibt ja noch sehr schön?« Sie las, und der Alkohol
plauderte weiter aus ihr: »Wahrhaftig eine Einladung zum Tee,
Friedrich! Für heute nachmittag! Ich bin zwar gar nicht in Stimmung,
aber da kann man wohl nicht absagen -- was meinen Sie?«

»Eine Einladung von Exzellenz?«

»Was wundert Sie dabei? Ich bin noch immer die Baronin Bassenried!«

»Ja, freilich -- selbstverständlich! Ich meine bloß -- Exzellenz leben
doch so zurückgezogen. Das muß schon einen besonderen Grund haben.«

»Werden ja sehen. Gehen Sie jedenfalls 'runter und bestellen Sie, ich
werde mit Vergnügen kommen.« --

Liese zog ein neues Kleid an. Es war aus grüner Seide mit echten
Spitzen -- sie hatte es noch nie getragen. Dazu nahm sie ihren
Perlenschmuck. Sie wußte selbst nicht, warum ihr daran lag, möglichst
vornehm zu erscheinen. Es galt doch nur die Plauderstunde mit einem
uralten Frauchen.

Bei Frau von Fransecky fand man noch den echten Biedermeierstil. Ein
zarter, welker Duft war in den dämmerigen Räumen. Die alte Dame kam
Liese entgegen. Aus ihrem zerknitterten Gesicht blickten die Augen
noch recht lebendig. Liese empfand eine vornehme Freundlichkeit, aber
auch ein Mitleid, das ihr verdächtig wurde.

»Kommen Sie, liebe Baronin«, sagte die Exzellenz und führte Liese
in das Speisezimmer, wo der Teetisch gedeckt war. »Nebenan im Salon
sitzt noch ein Gast, den ich Ihnen gleich vorstellen werde. Eine
liebe Überraschung. Denken Sie, mein Neffe Hermann von Rotkraut, eben
aus Afrika zurückgekommen. Zwölf Jahre hat er bei der Schutztruppe
gekämpft -- nun bleibt er endlich in der Heimat. Aber leider, leider«
-- hier dämpfte Frau von Fransecky ihre Stimme -- »er kommt invalide.
Ich wußte es schon, aber meine Gäste muß ich darauf vorbereiten. In
den schrecklichen Kämpfen hat mein Neffe den rechten Arm und das linke
Auge verloren. Denken Sie, er selbst kann darüber scherzen, er hat
gesagt: ›Tantchen, ich bringe dir nur ein Fragment.‹ Er ist ein Held,
ein richtiger Held, er hat etwas Mythisches in dieser gräßlichen
Zeit. Deshalb sieht man natürlich über sein Unglück fort, aber eine
junge Dame muß ich vorbereiten ...«

Liese blickte finster und bleich vor sich hin. Dieser Hauptmann von
Rotkraut war ihr ganz gleichgültig. Das Einzige, was sie spürte, war
die Genugtuung, daß ihr solcher Mann nicht gefährlich werden konnte.

Als die Damen sich gesetzt hatten, erschien der Neffe der Generalin.
Er schritt langsam durch das Zimmer, als ob ein Mechanismus ihn
lenkte. Dabei wahrte er mit seltsamer Kraft die ritterliche Form.
Liese sah jetzt mit stärkerem Interesse in das Gesicht dieses Mannes.
Er mochte so alt wie der Baron sein, aber die Jugend, die alles in der
Gefahr gefunden, lag noch in seinen zerfurchten Zügen.

Man saß sich gegenüber. Die Unterhaltung kam nur schwer in Gang. Liese
wünschte sich weit fort, und die Generalin war zu alt -- auch schien
sie durch irgendeinen Vorsatz gehemmt. Sie warf von Zeit zu Zeit einen
bittenden Blick auf ihren Neffen. Hauptmann von Rotkraut schwieg. Er
war zur Verfügung, wenn man seiner bedurfte.

Jetzt gab die alte Frau sich einen Ruck. Sie hielt es nicht mehr aus,
sie mußte zum Thema kommen.

»Meine liebe Baronin -- Sie haben sich vielleicht über meine
plötzliche Einladung gewundert -- aber ich habe sie, das will ich
Ihnen ganz offen gestehen, mit einem bestimmten Zweck verbunden.«

»Was denn, Exzellenz?«

»Hören Sie zu. Sie müssen etwas Nachsicht mit mir haben -- ich bin
sehr alt -- der einzige Schutz, den ich noch auf der Welt habe, sitzt
vor Ihnen --«

»Fragmentarisch, Tante.«

»Ganz richtig, lieber Hermann. Aber das Herz ist unversehrt -- Gott
sei Dank. Du bist auch aus einem besonderen Grunde sehr geeignet,
jetzt mein Ratgeber zu sein. Sie wissen vielleicht gar nicht, liebe
Baronin, daß mein Neffe einmal sehr befreundet mit Ihrem Gatten war?«

»Davon hatte ich keine Ahnung. Mein Mann erzählt mir aus früherer Zeit
so wenig.«

Jetzt wurde der Hauptmann lebhafter: »Das kann ich mir vorstellen.
Es ist zu lange her. Wir waren junge Leutnants damals -- bei den
Gardekürassieren -- man würde es uns kaum noch zutrauen.«

Liese lächelte: »Ihnen schon, Herr Hauptmann.«

Frau von Fransecky ergriff wieder das Wort: »Jedenfalls -- mein Neffe
kennt Ihren Gatten sehr gut. Ich möchte fast sagen: zu gut. Ich für
meine Person -- --«

Wieder brach die alte Dame ab und sah hilflos ihren Neffen an. Der
griff jetzt endlich ein: »Du möchtest sagen, Tante, daß du nicht über
August Bassenried informiert warst, als er in dein Haus zog. Du hast
ihn noch gesehen, wie in seiner Knabenzeit. In deinen Jahren ein
durchaus verzeihlicher Irrtum. Das werden Frau Baronin zugeben.«

Liese war unruhig geworden. Mit pochendem Herzen sagte sie: »Das
klingt ja beinahe, als ob mein Mann hier angeklagt werden soll. Als ob
Sie mich dazu eingeladen hätten, Exzellenz?«

Jetzt klappte Frau von Fransecky zusammen. Plötzlich weinte sie: »Aber
was sollte ich denn tun?! Liebste, Beste, was sollte ich anfangen? Ihr
Mann hat mein ehrbares Haus zu einer Spielhölle gemacht! Ihr Mann hat
hier Nacht für Nacht Orgien gefeiert! Der selige Fransecky hätte seine
Gäste mit der flachen Klinge hinausgejagt! Jahrelang habe ich das mit
angesehen und still geduldet -- aber gestern -- nun, ich will jetzt
nichts mehr zurückhalten -- gestern ist die Polizei bei mir gewesen!
Es war bei Gott der schrecklichste Tag meines Lebens!«

Liese schwankte es vor den Augen: »Was wollte denn die Polizei bei
Ihnen, Exzellenz? Was hat das mit meinem Mann zu tun und mit mir?«

Noch einmal fand die alte Frau ihren mütterlichen Ton: »Mit Ihnen
nichts! Ich weiß ja nicht, woher Sie stammen -- das lass' ich
ganz beiseite, aber wie die Dinge stehen, bin ich überzeugt, daß
~Sie~ eine Mesalliance gemacht haben, nicht er! Sie sind
Bassenrieds Opfer! Aber noch ist es Zeit, ihn zur Besinnung zu
bringen! Das können Sie allein!«

»Ich? Glauben Sie denn, Exzellenz, daß ich Einfluß auf ihn habe?«

Diese Worte kamen so ehrlich aus einer gequälten Seele, daß die
Generalin und ihr Neffe sich erschrocken ansahen.

»Kind -- armes, schönes Kind -- was soll aber werden? Die Polizei
nimmt den denkbar mildesten Standpunkt ein. Man will ... Ich kann
nicht mehr -- Hermann, sag' du es ihr. Ich mußte meinen Neffen in
alles einweihen. Sie können sich auf ihn verlassen.«

Jetzt hafteten Lieses verängstigte Augen an dem Hauptmann. Eine
Milde kam in seinen starren Blick, die ihr wohltat, indem er seinen
ergrauten Bart strich, sagte er: »Ich bin orientiert. Ich würde
mich niemals einmischen, wenn ich nicht tatsächlich meine Tante
unterstützen müßte. Also, zu fürchten ist noch nichts, Baronin. Die
Behörde hat den Standpunkt, daß vor allem das Haus Fransecky geschont
werden muß. So hat man also als Richtschnur gegeben: Die Sache soll
unterdrückt werden, wenn kein neuer Fall mehr eintritt. Die geringste
Wiederholung hätte polizeiliches Einschreiten zur Folge, das heißt
Verhaftung des Bankhalters, seiner Ehefrau und seiner Gäste.«

Eine dumpfe Pause kam. Dann fragte Liese, ohne aufzublicken: »Und was
soll ich dabei tun?«

Der Hauptmann wischte ein Stäubchen von seinem leeren Rockärmel:
»Ich kann Ihre Lage durchaus verstehen. Trotzdem bleibt nichts
anderes übrig -- Sie müssen Ihren Gatten warnen. Ich würde es selbst
übernehmen, aber die Folge wäre ein Duell. Ich kenne Bassenried. Er
zieht sich immer durch sinnlose Wut aus der Affäre.«

»Hermann!« rief die alte Frau. »Er wird ~dich~ doch nicht mehr
herausfordern?«

Die Augenbrauen des Hauptmann zogen sich zusammen: »Warum nicht,
Tante? Ich stände zur Verfügung! Mit der Linken schieße ich besser als
mancher mit der Rechten!«

»Ich lasse kein Verbrechen mehr geschehen!« rief Liese jetzt,
fliegende Röte in den Wangen. »Sie dürfen damit nichts zu tun haben,
Herr Hauptmann! Ich werde mit meinem Mann reden!«

Der Invalide sah sie mit verhaltenem Feuer an. ›Armer Trümmer‹, dachte
sie und schluchzte leise auf.

Frau von Fransecky wandte sich mit zitternder Geschäftigkeit dem
Teetisch zu: »Aber nun wollen wir doch endlich zugreifen. Bitte, liebe
Baronin -- bitte, lieber Hermann --«

»Ich muß leider wieder um Beistand bitten,« flüsterte der Hauptmann.

Liese sprang auf: »Aber bitte! Wozu bin ich denn da? Was darf ich
Ihnen geben?« --

Als sie gegen Abend in ihre Wohnung hinaufkam, sagte Friedrich mit
verschmitztem Lächeln: »Herr Baron ist nach Hause gekommen. Er sitzt
im Eßzimmer und wartet.«

Sie nahm sich zusammen. Diese Gelegenheit ließ sie nicht vorbei. Rasch
trat sie ein. Bassenried fuhr auf. Sie hatte ihn seit der Szene in der
Küche nicht mehr gesehen. Nun spürte sie sofort, daß er Versöhnung
suchte. Aber sie ließ sich nicht von ihrem Vorsatz abbringen.
Während er sie halb zärtlich, halb mißtrauisch betrachtete, aßen sie
schweigend. Dann sagte Liese ihm alles, ohne den Hauptmann zu erwähnen.

»Fatal«, murmelte Bassenried nach einer Pause. »Alles wird einem
abgeschnitten. Wie soll man doch existieren?«

»Anders, August.«

Er konnte ein höhnisches Auflachen nicht unterdrücken: »Das mußt
du mir erst mal vormachen! Für die braven Berufe der ›Verkrachten‹
bin ich nicht geeignet! Ich werde kein Versicherungsagent! Du bist
natürlich eingeschüchtert worden! Du siehst unsere harmlosen Abende
als Verbrechen an! Ich möchte nur wissen, wie die alte Mumie da unten
Wind bekommen hat! Da muß doch etwas dahinterstecken! Wir müssen
denunziert worden sein!«

»Das ist jetzt gleich.«

»Für mich durchaus nicht!«

»Ich bitte dich, August. So geht es nicht länger. Du mußt mir jetzt
versprechen, daß kein Anlaß mehr gegeben wird --«

»Ich verspreche gar nichts! Frauen habe ich noch nie etwas
versprochen! Aber ich werde selbstverständlich tun, was richtig ist!«
--

Sie kam nicht weiter. Die nächsten Tage schienen freilich zu
bestätigen, daß er gewarnt war. Er änderte sein Leben. Gäste brachte
er nicht mehr mit -- jeden zweiten Abend blieb er bei Liese. Sie hätte
den ungewohnten Frieden genießen können, wenn sie nicht deutlich den
Zwang gespürt hätte, den er sich auferlegte. Sein Blick wurde immer
abwesender, die Unterhaltung stockte. Er mußte furchtbare Sorgen
haben. Aber sie stand hilflos vor seiner Pein. Sobald sie in ihn
drang, fauchte er wie ein krankes Raubtier.

Müden Ekel schleppte sie von Tag zu Tag. Oft sehnte sie sich nach
den starren, aber ehrlichen Zügen eines Verstümmelten. Am nächsten
Sonntag kam der Baron mit einer Überraschung an den Frühstückstisch:
»Wir wollen heute nach Hoppegarten, Lies. Habe eben einen Jugendfreund
getroffen, Hauptmann von Rotkraut, von der afrikanischen Schutztruppe,
unglaublicher Kerl, total zusammengeschossen, aber immer noch ein
Mann. Übrigens Neffe von der alten Fransecky -- hast du mal von ihm
gehört?«

Liese schien sich zu besinnen -- dann schüttelte sie langsam den Kopf.

»Er ißt mit uns, und wir fahren nach Tisch. Will Rotkraut meinen
Reitstall zeigen. Den kennst du ja auch noch nicht?«

»Ist der nicht in Karlshorst?«

»Unsinn! Hoppegarten!«

Der Hauptmann kam. Er spielte seine Rolle noch geschickter als Liese.
Er ließ sich ihr vorstellen, als hätte er sie nie gesehen. Das
Bewußtsein, ein Geheimnis mit diesem Mann zu haben, hob Liese ein
wenig. Sie bewährte sich beim Mittagessen als graziöse Wirtin. Der
Blick des Hauptmanns versenkte sich oft in ihr Bild, und er überhörte
Bassenrieds Fragen. Der Baron nahm ihm das nicht übel. Hauptmann von
Rotkraut konnte ihm nicht gefährlich werden. Wohlwollend gönnte er dem
armen Jugendfreunde das bißchen Augenweide.

Sie fuhren guter Dinge nach Hoppegarten. Liese war jetzt doch auf
den Besitz ihres Mannes begierig. Hatte er wirklich noch Pferde? War
nicht alles längst verspielt? Aber sie schritten durch einen langen,
vornehmen Stall, und der Baron beklopfte einige Renner, wie es nur
stolze Besitzer taten. Liese war verwirrt. Sie wechselte Blicke mit
dem Hauptmann.

Da fügte es sich, daß der Baron mit seinem Jugendfreunde vor den
Stall hinaustrat, während Liese noch bei den Pferden blieb. Jetzt
sah sie, wie ein anderer Herr, den der Baron offenbar nicht bemerkt
hatte, durch eine Seitentür in den Stall trat. Der Jockei, der
Liese alles erklärt hatte, wandte sich sofort zu ihm, devot, wie zu
seinem eigentlichen Herrn. Als der Fremde durch die Seitentür wieder
verschwunden war, kam es über Liese, den Jockei zu befragen: »Wer war
das, bitte?«

Das harte Gesicht des Engländers lächelte: »Das war Graf Keßler, der
Besitzer des Stalles.«

»Aber der Stall gehört doch meinem Mann?«

Der Jockei zuckte die Achseln: »Tut mir leid, gnädige Frau. Ich kann
nur sagen, was ich weiß. Der Stall gehörte allerdings mal Ihrem Mann,
aber vor einem Jahr ging er in den Besitz des Grafen Keßler über.
Spielverluste, wie man sagt.«

Liese wußte genug. Sie trat zu den beiden hinaus. Schamröte war in
ihrem Gesicht, wie einst in Strelenwalder Tagen. Als der Baron eine
Frage an sie richtete, antwortete sie nicht. Er begriff, was geschehen
war. In stiller, bohrender Wut ließ er ihren Zorn über sich ergehen.
Sie war teilnahmlos für alles Sportliche. Nur wenn es galt, dem
Hauptmann behilflich zu sein, wurde sie lebhafter.

Bassenried haßte Liese von diesem Tage an. Er fühlte ihre Verachtung
-- die zerriß das letzte Band. Liese erwartete ihn an den nächsten
Abenden vergebens. Als er eine Woche verschwunden war, erschien
eines Morgens der Gerichtsvollzieher in der Wohnung. Er brachte
Forderungen von 125000 Mark. Ob Frau Baronin die decken könne? Liese
zuckte die Achseln. Sie habe 17 Mark 50 Pfennige im Hause. Da wußte
der Mann Bescheid. Er begann seine Arbeit. Alle Möbel, bis auf die
notwendigsten, wurden versiegelt.

»Ja, das ist peinlich«, sagte der Gerichtsvollzieher zu Liese, die mit
schlaffen Händen dabeistand. »Die Sachen hier kenn' ich nämlich schon.
Die hab' ich schon mal in der Hitzigstraße versiegelt. Aber damals hat
es die Familie vom Herrn Baron noch in Ordnung gebracht. Jetzt scheint
es damit auch Essig zu sein. Wo ist denn eigentlich Ihr Herr Gemahl?«

»Das weiß ich nicht«, flüsterte Liese. --

Auch Friedrich war fort. Am nächsten Morgen verschwand die Köchin. Die
Möbel wurden allmählich abgeholt. Man ging an der stummen, blassen
Frau vorbei, als ob sie ein wertloser Gegenstand wäre. Nur etwas
Schmuck und ihre Kleider ließ man ihr.

Sie faßte keinen Entschluß. Es war ihr völlig gleich, wo sie lebte, ob
sie lebte. Nach einsamen Tagen kam ein Brief:

  Hamburg, 5. September.

  Liebe Liese, ich mußte den Entschluß fassen, der alten Welt den
  Rücken zu kehren. Forsche mir nicht nach, es hat keinen Zweck. Wir
  werden uns nicht wiedersehen. Es zieht mich in das große Leben, für
  das ich geboren bin. Ich bin ein Abenteurer -- leider kroch ich
  viel zu oft bei den Philistern unter. Um deine Existenz brauche ich
  mir keine Sorge zu machen. Du kannst noch mancherlei verkaufen,
  außerdem bist du jung und schön und kannst wieder zum Theater gehen.
  Ich überlasse es dir, ob du die Scheidung einleiten willst, oder
  ob du es für nützlicher hältst, Frau Baronin Bassenried zu heißen.
  Überlege es dir. Ich kann dir nichts hinterlassen als meinen Namen.
  Lebe wohl. Ich sage nicht auf Wiedersehen.

  August Bassenried.

Liese saß seit Stunden regungslos, den Brief in der Hand. Plötzlich
schloß die Portierfrau die Flurtür auf. Sie ließ Hauptmann von
Rotkraut ein. Liese zuckte zusammen, denn sie hörte den Invaliden über
den Gang tappen. Bald stand er vor ihr.

»Baronin,« sagte er leise -- »ich bitte tausendmal um Vergebung, aber
die Sorge veranlaßt mich ... Ich komme auch im Auftrage meiner Tante
... Wir mußten fürchten, daß Sie der Not ausgesetzt sind ...«

Jetzt hob Liese den Kopf: »Ich danke Ihnen sehr, Herr Hauptmann. Aber
an mir ist nichts mehr gelegen. Mir ist auch nicht zu helfen.«

Der Hauptmann ließ sich bei ihr nieder: »Es wäre frevelhaft, wenn ich
dieser Behauptung zustimmte. Das Verbrechen, das Bassenried an Ihnen
begangen hat, muß wieder gutgemacht werden.«

Sie reichte ihm den Brief.

Er las und zitterte leise: »Jetzt hat er kein Recht mehr auf Sie.«

»Das ist wahr.«

»Was haben Sie vor?«

»Eigentlich -- ein Ende machen. Das ist das einzige, was ich ganz klar
sehe. Ich wäre besser nicht auf der Welt.«

»Baronin ...«

Sie fühlte, daß er ihre Hand ergriff. Da schluchzte sie einmal auf
und lehnte ich in den Sessel zurück. Nach einer Pause hörte sie ihn
weitersprechen: »Baronin -- ich habe auch kein Recht auf Sie. Ein
Mann, wie ich, darf nicht zu einer Frau, wie Sie es sind, aufblicken.
Aber was ich darf, und was ich ~muß~ -- das ist: mich Ihnen
gänzlich zur Verfügung zu stellen. Hierin liegt der einzige Wert, den
ich noch habe. Das Vaterland -- na ja. Man kriegt seine Orden, man
wird Major, aber das sind Surrogate -- das Leben ist es nicht. Ich
stehe allein, ich habe keine Aufgabe mehr. Erlauben Sie mir, daß ich
~Ihnen~ jetzt diene.«

Liese sah ihn mit ihren schönen, feuchten Augen an: »Das ist so lieb
von Ihnen und so ehrenvoll für mich. Aber Sie überschätzen mich, Herr
Hauptmann. Ich glaube es wäre viel richtiger, wenn ich ~Ihnen~
dienen würde ...«

Er saß gebückt: »Wenn ich Sie nicht mißverstehe ... Sie sprechen
eine Hoffnung aus, die mir unglaublich erscheint. Der Begriff, den
~ich~ von der Ehe habe, ist groß. Ich nehme die Ehe heilig. Aber
wie würden Sie denken, wenn Sie erst wirklich wüßten, an wen Sie Ihr
Leben gebunden haben?«

»Das weiß ich schon!«

»Elisabeth! ...« Er fand diesen Namen aus sich selbst. Dann bezwang er
das Schluchzen in seiner Stimme: »Ich habe nur noch schlechte Jahre
vor mir. Der Arzt hat mich aufgeklärt. Ich werde mich immer weniger
bewegen können. Mein Organismus hat zu große Opfer gebracht. Das
~muß~ ich Ihnen sagen. Ich bin anders als Bassenried, Sie werden
es besser bei mir haben -- das steht fest. Aber zur Reue und Untreue
sind wir beide zu schade.«

Liese nahm seine matte, starke Hand und hielt sie fest: »Ich will mich
aber rein baden. Verstehen Sie mich doch. Ich will einem Menschen
endlich was sein. Wenn ich bei Ihnen bereue oder untreu werde, dann
wär' ich ja nicht wert, mit Ihnen zu reden. Die ›gesunden Männer‹
kenn' ich. Jetzt besinn' ich mich drauf, was ein Christenmensch soll.«

Er bückte sich und küßte immer wieder ihre Hand.




                         DREIZEHNTES KAPITEL


Liese Prutz war endlich geborgen. Nun erwachte das alte Bürgertum
in ihr. Sie kehrte sachte zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Aber sie
war still und langsam geworden. Das Jugendfeuer erlosch. Ihr letztes
Lebensgesetz wurde die Pflicht.

Sie täuschte sich nicht darüber, daß ihr ein karges Leben bevorstand.
Sie wurde die Pflegerin eines Absterbenden, und der Hauptmann war arm.
Dieser alte Haudegen war nie ein Geldjäger gewesen.

Durchhungern hieß es, denn auf Hilfe aus der Heimat hoffte Liese
nicht mehr. Trotzdem bot ihr der Mann, den sie gefunden, noch große
Überraschungen. Sie spürte, daß er aus dem Lande der Abenteuer kam.
Von seinem guten Diener hatte Hauptmann von Rotkraut ihr oft erzählt.
Der seltsame Name -- er hieß Simba -- war Liese schon aufgefallen,
aber sie war dermaßen von ihrer Lebenswandlung erfüllt, daß sie nie
danach gefragt hatte. Als sie nun den Hauptmann zum erstenmal besuchte
-- er wohnte recht dürftig in der Auguststraße -- öffnete Simba
ihr die Tür. Liese fiel fast die Treppen wieder hinunter, denn ein
baumlanger Neger stand vor ihr. Grinsend verbeugte er sich vor der
schönen, blonden Dame, deren Bedeutung er kannte. In tiefster Ergebung
geleitete er sie zu seinem Herrn.

Der Hauptmann lag auf dem Sofa. Liese drückte ihn, als er aufstehen
wollte, zurück und sah zum erstenmal ein Lächeln in seinen dunklen
Zügen. -- »Hat Simba dich erschreckt?« fragte er. »Verzeih, daß ich
dich nicht auf ihn vorbereitet habe. Ich bin zu sehr an ihn gewöhnt.
Du wirst dich auch gewöhnen und eine treue Seele an ihm haben. Er hat
mir zweimal das Leben gerettet. Zuerst vor seinen eigenen Landsleuten
und dann -- ja, das ist was für dich -- vor einem großen Krokodil.«

Liese schüttelte sich. Dann sah sie aber sehr freundlich auf den
Schwarzen: »Ich finde ihn gar nicht so häßlich. Die kolossale Figur
und die blaue Mütze auf dem schwarzen Wollkopf! Werden wir uns aber
einen Diener leisten können Hermann?«

»Von Simba trenne ich mich nicht. Diese Neger sind so genügsam -- über
ihren Dienst vergessen sie oft Essen und Trinken.«

Aber nun hatten sie über wichtige Dinge zu sprechen. Etwas sehr
Ernstes harrte der Erledigung. Liese war mit Bassenried fertig, die
Scheidungsklage war eingeleitet, doch von jeder Pflicht aus ihrer
ersten Ehe sagte sie sich nicht los. Elsbeth, Bassenrieds Tochter,
hatte Eindruck auf sie gemacht -- nun fürchtete sie das Elend des
unschönen, hochmütigen Mädchens.

»Nichts hat sie, und häßlich ist sie -- dafür kann sie doch nichts.
Aber ich glaube auch nicht, daß sie viel gelernt hat. Vom Bücherlesen,
Bergsteigen und Tennisspielen kann man heutzutage nicht leben. Sie muß
in einen Beruf. Darum will ich für sie hergeben, was ich von ihrem
Vater übrig habe die Kleider und die Perlenkette. Das bringt ungefähr
60000 Mark. Wir könnten das Geld ja auch gut brauchen, aber ich
schicke es lieber der Elsbeth. Ist es dir recht?«

Ohne Besinnen nickte der Hauptmann: »Ich sehe dich lieber ohne jedes
Bassenriedsche Erbe.« --

Liese führte ihren Vorsatz aus. Zwei Wochen später stand Elsbeth vor
ihr. Sie sah verwildert aus. Liese führte sie in das einzige möblierte
Zimmer der großen Wohnung, das ihr noch geblieben war.

»Was machen Sie denn in Berlin? Warum sind Sie nicht in Lausanne
geblieben?«

Elsbeth saß ihr gegenüber. Ihre großen Züge zuckten, in den
hysterischen Augen war ein flackernder Glanz: »Weil ich Ihren Brief
bekommen habe. Ich bin nach Berlin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß
ich die Annahme des Geldes verweigere.«

»Machen Sie jetzt keinen Blödsinn! Wir wollen beide vernünftig sein!
Was ich Ihnen geschickt habe, stammt von Ihrem Vater!«

»Nein, es stammt von Ihnen!«

»Elsbeth, reden Sie nicht weiter. Ich habe keine Lust mehr, mich von
Ihnen ärgern zu lassen. Von euch Bassenrieds hab' ich genug. Aber Sie
waren mir immer sympathisch, trotz Ihres unerhörten Benehmens. Darum
wollte ich nicht, daß Sie plötzlich ohne Pfennig dastehen. Sind denn
die elenden Perlen und die blödsinnigen Kleider nicht noch was nutze,
wenn Sie sich damit 'ne Existenz gründen können? Ich brauche sie nicht
mehr, ich bin versorgt. Sie aber sollen endlich eine Sicherheit haben.«

Elsbeth schwieg eine Weile und schüttelte langsam den strohblonden
Kopf. Dann flüsterte sie: »Von Ihnen nehme ich nichts. Außerdem sollen
Sie sehen, daß ein Mädchen, wie ich, was gelernt hat. Ich werde mich
durchsetzen, aus eigener Kraft. Ich werde den Namen Bassenried rein
waschen. Sie haben ihn nie mit Recht getragen.«

Jetzt sprang Liese auf. »Hol' Sie der Deibel! Ich verzichte auf Ihren
Namen und auf alles! Machen Sie, was Sie Lust haben! Jedenfalls, wenn
Sie das Geld nicht nehmen -- ich nehme es auch nicht! Dann kann's auf
der Straße liegen!«

Elsbeth maß Liese mit geringschätzigem Blick: »Nein -- ich schütze
es vor weiterem Mißbrauch. Ich werde es wohltätigen Stiftungen
überweisen.«

»Das hätten Sie ja gleich tun können! Wozu kommen Sie dann noch zu
mir?«

Elsbeths Augen irrten umher: »Weil ich -- weil ich in der großen
Wohnung hier -- es muß doch noch ein Andenken an meine Mutter geben
... Ist denn alles fort? Hat man Ihnen nichts als die Sachen in diesem
Zimmer gelassen?«

»Nichts ... Ich esse bei der Generalin. Die läßt mich hier noch
wohnen, bis ... Aber da fällt mir was ein -- der Gerichtsvollzieher
hat ja was liegen lassen, ein Bildchen in 'nem echten Goldrahmen --
ich war nachher ganz froh, daß ich ihm nicht damit nachgelaufen bin
-- nicht wegen des Rahmens, sondern weil ich mir dachte, es könnte
vielleicht was für Sie sein.«

»Für mich? ... Haben Sie daran gedacht? ... Was ist es denn?«

»Ihr Vater sagte mir mal, es sei Ihre Mutter als Braut. Da sehen Sie.«

Liese holte das Bildchen aus einer Schublade. Elsbeth griff danach,
betrachtete es und verstummte. Erstaunt sah Liese, daß jede Härte aus
ihren Zügen schwand.

Nach einer langen Pause sagte Elsbeth: »Das war noch da? ... Das hatte
ich mir oft gewünscht ... Als Kind schon hatte ich das Bild so gern
... Ich dachte, Vater hätte es längst nicht mehr ...«

»Dann stimmt es also? Es macht Ihnen Freude?«

Bassenrieds Tochter sah ein Lächeln in Lieses gealterten Zügen. --

»Ich danke Ihnen«, stieß sie hervor. Plötzlich fühlte Liese ihre Hand
in der großen Männerhand des Mädchens. --

»Aber warum sagten Sie, daß ~Sie~ das Geld nicht mehr brauchten?
Daß Sie jetzt versorgt seien?«

»Weil ich -- weil ich endlich einen Mann gefunden habe, einen Retter
in der Not. Ich heirate wieder.«

»Wen?«

»Einen Freund Ihres Vaters, Hauptmann von Rotkraut. Er hat sich famos
gegen mich benommen. Kennen Sie ihn?«

Elsbeth nickte langsam: »Den heiraten Sie?«

»Ich will nur noch 'ne Aufgabe haben. Pflegen will ich ihn.«

Da legte das große Mädchen plötzlich den Arm um Liese und küßte sie
auf Mund und Augen. Dann lief sie zur Tür: »Verzeihen Sie! Ich tue,
was Sie wollen! Ich behalte das Geld, und wenn ich eine Existenz habe,
gebe ich es an Stiftungen! Ist es Ihnen so recht? Ich möchte nichts
mehr tun, was Ihnen nicht recht ist!« --

Lange noch dachte Liese an diesen sonderbaren Besuch. Dann wurde
es allmählich wieder heller um sie her. Der Scheidungsprozeß
verlief günstig. Lieses zweiter Heirat stand nichts mehr im Wege.
An einem schönen Wintertage konnte sie mit ihrem Invaliden vor den
Standesbeamten treten. Mit einem bescheidenen Frühstück, an dem nur
die beiden Zeugen, einstige Kameraden des Hauptmanns, teilnahmen,
endete die Feier.

Liese verließ nun die treue Exzellenz. Sie siedelte zu ihrem Mann
in die Auguststraße über. Da war es eng und häßlich, man sah aus
jedem Fenster auf eine rote Brandmauer, aber Liese war so hoch
gestimmt, daß ihr alles schön erschien. An dem Morgen, da sie die
Anzeigen ihrer Vermählung absenden wollten, kam ein feiner Brief mit
breitem Trauerrande zu ihr, ihr Herz zuckte, denn sie erkannte die
Handschrift. Innen fand sie eine gedruckte Anzeige:

  ›Am 20. Februar verschied in Dresden nach langen, mit edler Geduld
  ertragenen Leiden meine teure Frau Helene, geborene Kroner. Ich
  werde dieses Vorbild weiblicher Tugenden niemals vergessen. Allen
  Freunden zur Kenntnis und mit der Bitte, von Beileidsbezeugungen
  absehen zu wollen.

  Viktor Schwarz, Rechtsanwalt und Notar.‹

Der Hauptmann bekam diesen Brief nicht zu sehen. Liese zerpflückte ihn
und flüsterte mit bitterem Munde: »Nun ist er also wieder frei ... Man
sollte ihm eigentlich gratulieren.« --

Hermann von Rotkraut war ein Grübler. Immer witterte er Gefahr und
suchte ihr zu begegnen. Immer ging er mit sich selbst zu Rat. So ließ
er sich von den Tagen des ersten Glückes nicht den Blick trüben. Er
spürte, daß seine Berliner Junggesellenwirtschaft für eine junge
Frau nichts war. Die Wohnung war häßlich, und Simbas afrikanische
Gewohnheiten widersprachen Lieses märkischer Sauberkeit. Noch war
keine Klage laut geworden, doch der zartfühlende Mann wollte Lieses
Verstimmung zuvorkommen. Eines Mittags sagte er: »Kind, wir verlassen
Berlin.«

Liese wurde rot vor Freude: »Es ist merkwürdig, wie du immer
vorausweißt, was ich denke!« Sie streichelte ihn. »Die Wohnung ist
mir ja lieb, weil wir unsere erste Zeit hier hatten, aber auf die
Dauer ... Wir brauchen Licht und Luft, Hermann. Für uns ist es besser,
draußen irgendwo auf dem Lande, wenn's auch ganz bescheiden ist. Dann
kommen wir mit unsern paar Kröten aus.«

»Schade, daß wir nicht in deine Heimat ziehen können. Strelenwalde
stelle ich mir reizend vor.«

»Ja, es ist jammerschade. Aber du weißt ja, woran es liegt.«

Liese senkte den Kopf. Der Hauptmann schwieg bestürzt. Aber er ahnte
nicht, was in ihr vorging. Sie hatte ihm das Zerwürfnis mit dem
Vater geschildert, wie seine schlichte Soldatennatur es verstehen
konnte. Eine rückhaltlose Beichte war ihr bei ihm noch weniger als
bei dem Baron möglich. Angstvoll wachte sie darüber, daß dieser
redliche Geist seine schöne Meinung von ihr behielt. Er glaubte, daß
ihr künstlerischer Freiheitsdrang die Härte des Vaters verschuldet
hatte. Ihm erschien es möglich, daß ein Konditor in Strelenwalde seine
Tochter verstieß, weil sie in Berlin Sängerin werden wollte. Auch ihm
lag solcher Frauenweg fern, aber daß ein Mensch für seine Überzeugung
kämpfte, mußte er in jedem Fall respektieren. --

Sie kamen auf das Thema der Übersiedlung nicht mehr zurück, aber es
beschäftigte beide. Verträumt blickte sie auf ein mögliches Idyll. Da
kam wieder ein Brief in die Auguststraße, wieder mit einem Trauerrand,
diesmal aber schmal und bescheiden, und die Handschrift gab Liese eine
ganz andere Spannung. Der Hauptmann saß heute dabei. Er sah, wie sie
den Brief sinken ließ und ihr Taschentuch an die Augen führte.

»Was ist dir?« fragte er erschrocken. »Ein Verlust?«

Sie überwand sich zur Antwort: »Ja ... Mein armer Vater.« Dann reichte
sie ihm den Brief. Er las:

  ›Strelenwalde, den 5. März.

  Liebe Liese!

  Heute ist es ein trauriger Anlaß, daß ich nach langer Zeit die Feder
  ergreife, um Dir zu schreiben. Ich fürchte ja fast, daß das Leben
  uns entfremden konnte, denn Du gabst mir keine Nachricht mehr,
  und nun ersah ich aus der Anzeige Deiner zweiten Vermählung, daß
  Du inzwischen Schweres erlebt haben mußt. Nun, ich kannte Deinen
  ersten Gatten nicht, und auch Dein zweiter Gatte ist mir fremd --
  ich kann Dir nur immer das Beste wünschen. Es heute in die Form von
  Glückwünschen zu kleiden, vereitelt aber das herbe Geschick. Ich muß
  Dich zugleich von dem Ableben Deines lieben Vaters unterrichten. Er
  starb am 20. Februar, kurz vor seinem siebzigsten Geburtstage. Sein
  Ende war sanft, Gott sei Dank. Adele Schörg buk eben Pfannkuchen,
  und vom Bett aus rief Dein Vater ihr noch zu: Nimm mehr Butter,
  sie sind für den Pastor! -- Dann brach er ab und verstummte. Adele
  überhörte, weil das Fett so prasselte, seine letzten Seufzer. Ich
  kam nach einer halben Stunde und ordnete alles. Mit Adele hatte ich
  leider sofort einen Zusammenstoß. Sie wollte durchaus das Testament
  sehen, das ich im Geldschrank Deines Vaters vorfand. Sie wurde so
  frech, daß ich sie am liebsten geohrfeigt hätte, wenn es mir nicht
  unmöglich wäre, einen Menschen zu züchtigen. Aber sie betritt das
  Haus Deines Vaters nicht mehr. Ich fürchte überhaupt, sie hat dort
  eine schlimme Rolle gespielt.

  Doch nun zu dem, was Dich angeht, liebe Liese. Du bist nun eine
  Waise. Aber Deine alte Tante bleibt Dir immer nahe. Du wirst mich in
  Strelenwalde brauchen können, denn Du bist nun doch die alleinige
  Erbin Deines Vaters geworden. Zu meiner Überraschung enthält das
  Testament nur die Bestimmung, daß Haus und Geschäft und der geringe
  Barbesitz auf Dich übergehen sollen. Ob diese Verfügung noch eine
  Sinnesänderung Deines Vaters bedeutet, vermag ich nicht zu sagen. Um
  Deine erste Heirat hat er sich nicht gekümmert, die zweite teilte
  ich ihm noch mit, indem ich ihm Deine Anzeige schickte. Ich weiß
  über die Wirkung nur, was Adele Schörg mir sagte. Dein Vater soll
  in seiner Sterbensmattigkeit noch gelächelt haben: ›Ein Hauptmann
  von den Afrikanern -- na, das ist wenigstens was.‹ Er hat dann, wie
  ich feststellen konnte, bald darauf Herrn Justizrat Burwig, unsern
  Notar, zu sich gebeten. Das vorgefundene Testament ist erst in den
  letzten Tagen niedergeschrieben worden. Vorher war keines vorhanden.

  Deinetwegen bin ich tief beruhigt. Ich kenne ja die Verhältnisse
  Deines zweiten Gatten nicht, aber ein ererbtes Vaterhaus ist immer
  ein Rückhalt. Du bist auch die Frau, die es erhalten kann. Dein
  Vater starb ohne Vermögen, aber auch ohne wesentliche Schulden, denn
  er lebte wie ein Einsiedler. Immerhin ist die Prutzsche Konditorei
  trotz aller Vernachlässigung ein gutes, solides Geschäft und kann
  von jungen Kräften wieder hochgebracht werden. Freilich, Dein
  Gatte ist Hauptmann. Du mußt nun sehen, wie Du das väterliche Erbe
  verwalten kannst. Jedenfalls bitte ich Dich, Deine begreifliche
  Scheu möglichst bald zu überwinden und wieder nach Strelenwalde zu
  kommen, um Dich persönlich über die Erbschaft zu erklären. Herr
  Justizrat Burwig erwartet Dich. Was nun noch zu tun ist, geht über
  meine Kräfte. Ich bin älter als Dein Vater, liebe Liese. Aber
  hoffentlich unterstützt Dich Dein Gatte. Ein tatkräftiger Mann ist
  unschätzbar in solchem Fall. Empfiehl mich ihm unbekannterweise.

  In treuer Zuneigung Deine
  Tante O. Sanftleben‹

Der Hauptmann sah lange stumm auf diesen Brief. Liese beobachtete ihm
mit tränenden Augen. Dann richtete sich der Blick des alten Soldaten
mit einem merkwürdigen Respekt auf sie.

»Was sollen wir tun?« fragte Liese.

»Du hast zu bestimmen«, erwiderte er feierlich.

»Nach Strelenwalde könnten wir ja nun.«

»Ja, Gott sei Dank. Es ist eine schöne Fügung.«

»Das Haus wird dir gefallen. Und der Garten -- -- lieber Gott, ich
werde schon vor Sehnsucht krank. Es ist wahrhaftig genau das, was ich
für uns gewünscht habe.«

»Aber die Konditorei?«

»Ja, was fangen wir mit der an?«

Der Hauptmann strich sich den Bart: »Bist du nicht lange dort tätig
gewesen? Erzähltest du mir nicht --«?

»Gewiß. Ich könnte das Geschäft ganz alleine machen.«

»So tu es doch, Elisabeth.«

»Als deine Frau?«

»Du bleibst für mich, was du warst. Außerdem handelt es sich um das
Lebenswerk deines Vaters. Ich ehre jede verdienstliche Tätigkeit.
Du darfst nicht nur meine Pflegerin bleiben. Dazu bist du zu stark
und jung. Einen Gehilfen mußt du dir natürlich nehmen, denn zum
Kuchenbacken tauge ich nicht. Aber sonst: ich denke es mir prachtvoll.
Friede und doch Nützlichkeit.«

Liese sah vor sich hin. Dann kam ein eigentümlicher Ausdruck in ihre
Züge -- ein Zucken und Leuchten --, es konnte Lachen, aber auch Weinen
sein.

»Was ist dir denn?« fragte der Hauptmann erstaunt.

»Ach, ich muß nur dran denken -- an die Gesichter in Strelenwalde!
Wenn ich auf einmal als ›Frau Hauptmann‹ komme -- und in Vaters Haus
sitze und die Konditorei habe -- und wenn jemand in den Laden kommt,
steht ein baumlanger Neger da! Simba wird sich übrigens als Bedienung
ausgezeichnet machen!«

Der Hauptmann blickte auf Tante Sanftlebens Brief und schüttelte
langsam den Kopf: »Elisabeth ...«

Sie zuckte zusammen. »Ach, so! Mein Vater! Ja, das liegt daran, weil
ich so lange fort bin! Ich habe draußen zuviel ausgehalten! Ja, mein
guter, armer Vater!«

Weinend brach sie bei ihm nieder, und er streichelte ihren schönen,
zuckenden Leib.




                         VIERZEHNTES KAPITEL


Frau Grunow lauschte an der Tür, die zum Korridor führte. Nun
flüsterte sie Onkel Tübbeke zu: »Da kommt sie aus der Schule!
Natürlich wieder mit Alfons! Der erzählt ihr vom Zukunftsstaat, der
Dusel!«

»Na, zu mir hat sie gestern noch gesagt: ›Weißt du, was ich sein
möchte, Onkel? Die Prinzessin Viktoria Luise.‹«

»Unser Kaiser seine Tochter? Kunststück, 'ne Prinzessin hätt' ich auch
mal sein mögen. Aber wenn man im Dalles geboren ist ... Aber das von
ihre Mutter, das sag' ich ihr jetzt.«

»Von ihrem Vater? Bist du verrückt?«

»Mensch, sitzt du denn auf den Ohren? Von ihre ~Mutter~ hab' ich
gesagt! Ich kann nicht so schreien -- sie steht mit Alfons in der
Küche und nascht Backpflaumen.«

»Du willst ihr sagen, daß die Baronsche noch mal geheiratet hat? Und
daß sie wieder in Strelenwalde wohnt? Mathilde, du weißt doch, sie hat
sich extra ausbedungen, daß das Kind auch davon nichts erfährt.«

Frau Grunows magere Gestalt krampfte sich: »Ja, ja! Das weiß ich ja
alles! Aber die hat ja'n Vogel! Was die sich einbildet! Erst bringt
sie das Kind auf die Welt, und dann läßt sie's liegen, und dann angelt
sie wieder nach ihr, und dann schmeißt sie sie noch mal weg! So'n Kind
ist doch auch'n Mensch! Die wird ja ganz konfus gemacht, und an der
Mutter hängt sie! Pfui Deibel, sind das Leute!«

Onkel Tübbeke zündete sich gelassen seine Hängepfeife an: »Mathilde,
du redest immer, wie ~dir~ die Sachen passen. Was ein Jurist ist,
wie ich, der geht von den andern aus. Mit dem Baron ist es nichts
gewesen -- nun hat die Liese noch das Schwein gehabt, nun hat sie
einen richtigen Schentelmann gekriegt, einen adligen Offizier, wenn
sie ihn auch in Afrika kaputt geschossen haben. Es ist eben ein Mann,
der von ihre Vergangenheit nichts wissen darf. Die Hauptsache ist, daß
wir beide das Maul halten. Ich kenne Herrn Schwarz -- er ist übrigens
schon Justizrat. Mathilde, nicht mehr bloß Rechtsanwalt -- wenn der
das Kind nicht will und hört, daß ich mit Berta zusammenwohne, dann
bin ich auf meine alten Tage ohne Stellung!«

Frau Grunow sah, daß ihr Bruder vor Erregung zitterte. -- »Das ist
doch übertrieben,« sagte sie begütigend.

»Nee! Ich kenn' ihn!«

»Na, du kannst ganz ruhig sein -- vor ~ihm~ wird sie nie was
erfahren. So schlau bin ich auch noch! Ich werde uns doch nicht
unglücklich machen. Aber das von ihre Mutter, das soll sie jetzt hören
-- da brauchen wir ja keine Rücksicht zu nehmen, und man hat doch auch
'n bißchen Mitleid mit so'n Kind.«

Jetzt trat Berta in die Stube. Sie war klein geblieben, aber etwas
Zierliches und schnell Entschlossenes hatte sie. Ihr Wesen war nicht
gewöhnlich, man wurde auf sie aufmerksam. Aus dem nervösen Gesichtchen
blickten kluge, dunkle Augen. Sie schien beständig auf geheimer Suche
zu sein. Auch heute blickte sie wieder forschend auf die Anwesenden,
als sie die Stube betreten hatte.

»Mahlzeit, Onkel. Mahlzeit, Tante.«

»Mahlzeit, mein Kind. Läßt Alfons uns auch noch'n paar Backpflaumen
übrig?«

Berta lachte kurz: »Wie kommst du denn darauf?«

»Ich meine man bloß. Wär' nett von ihm. Na, du freust dich wohl schon
auf die Handelsschule?«

Berta sah erstaunt auf. Tante Grunow war ja heute so liebenswürdig?
Steckte da etwas dahinter? -- »Ach, ja, Tante -- die Gemeindeschule
kriegt man wirklich satt. Da sind die Mädchen doch alle so'n bißchen
ordinär.«

»Na, na,« murrte Onkel Tübbeke. »Bilde dir man bloß nichts ein. In der
Handelsschule kommst du auch nicht mit lauter Komtessen zusammen, und
mit der Prinzessin Viktoria Luise erst recht nicht.«

Die Kleine merkte den Spott. -- »Ach, die!« rief sie schnippisch und
etwas affektiert. »Die lieb' ich allerdings! Die lieb' ich!«

»Mach' du man deine Schule gut zu Ende«, sagte Tante Grunow. »Zu
vornehm bist du wahrhaftig nicht dazu. In der Handelsschule wird's
dann anders. Da heißt es, sich drauf vorbereiten, was ein Beruf ist
und sein Brot verdienen -- da wird man Buchhalterin oder so was.«

»Das weiß ich ja alles, Tante!« Berta hatte mal wieder ihren
arroganten Ton. Sie setzte sich ans Fenster, schlug die Beine
übereinander und vertiefte sich in ein Buch. Es war ein zerschlissener
Engelhornroman. Berta mußte die Augen dicht auf das Blatt senken.

»Warum trägst du denn die Brille nicht?« fragte die Tante streng. »Du
bist wieder ohne Brille nach Hause gekommen. Der Doktor hat extra
gesagt --«

»Ach, Tante, laß mich doch! Die Brille paßt mir, glaub' ich, nicht. Da
tun mir immer die Augen so weh. Die ist gewiß zu scharf.«

»Na, so was! 'ne halbe Stunde hat der Doktor dir die Augen untersucht,
und nun soll die Brille auf einmal nicht passen! Nein, ich will dir
sagen, was dir nicht paßt: Die Brille ist dir nicht schön genug! Wegen
der Leute! Aber ellenlange Hacken an die Schuhe, die übermorgen schief
getreten sind, bloß damit sie ein Endeken größer aussieht -- das geht!
Das paßt! Was sagst du zu so'n Jör, Adolf?«

»Ich werde ihr zu Weihnachten 'n Longjong schenken, mit'n langen Stiel
aus Schildpatt -- das ist auch was für Viktoria Luise«, meinte Onkel
Tübbeke paffend.

Berta sprang auf. Sie lachte, schluchzte aber auch plötzlich: »Ach,
Gott -- ich versteh' euch gar nicht! Also, damit ihr's wißt: Die
Brille ist zu scharf, und deshalb schiel' ich immer ein bißchen,
wenn ich sie aufhab'. Das haben sie mir in der Schule gesagt, und in
Wirklichkeit schiel' ich doch gar nicht, und ohne die Absätze halten
sie mich für bucklig!«

Man spürte ihre Erregung. Es war klüger, das Thema ruhen zu lassen.
Berta war jetzt von krankhafter Reizbarkeit. Früh setzten ihre
Entwicklungsjahre ein.

Jetzt latschte endlich Alfons in die Stube. Er fuhr sich mit beiden
Händen durch das Lockenhaar und sagte lakonisch: »Essen, Mutter!«

Man setzte sich. Es gab Mohrrüben mit Kartoffeln, ein Essen, das
Berta nicht liebte. Sie hatte sich bei Werkmeister und Retzdorff in
der Oranienstraße wieder ein Viertelpfund gefüllte Schokolade gekauft
und während des Heimweges aufgegessen. Gegen diesen plötzlichen
Heißhunger auf etwas Ungewöhnliches konnte sie sich nicht wehren. Die
Schaufenster der Delikatessen- und Konfitürengeschäfte bannten sie.
Was aus ihren Finanzen werden sollte, war ihr freilich ein Rätsel. Sie
bekam zwei Mark Taschengeld für die Woche und hatte am Mittwoch schon
eine Mark dreißig ausgegeben. Dann sollte sie noch die Pferdebahn
und womöglich Schulhefte bezahlen. In der Puppenklinik -- das wußte
niemand -- lag Viktoria Luise, ihr Liebling. Das arme Kind mußte sie
endlich auch einmal abholen. Das gab wieder eine Rechnung. Nun, Berta
fühlte sich, wie ein Börsenspekulant. Sie lebte und ließ sich treiben.

Zerstreut stocherte sie in dem Essen herum. Dieser Anblick ärgerte
Tante Grunow. Nun nahm sie ihr vollends den Appetit.

»Du, Mädchen, heute kann ich dir mal was von deine Mutter erzählen.
Ja, starr' mich nicht so an -- heute weiß ich wieder mal was von deine
Mutter!«

Bertas Gabel fiel auf den Teller. Onkel Tübbeke aber sagte entrüstet:
»Na, so was! Weißt du, Mathilde, ich begreif' dich manchmal garnicht!«

»Wieso denn? Sie will doch immer alles wissen? Du hast eben keine
Ahnung von so'n Kind!«

Berta saß zitternd da. Ihre Augen waren von Tränen gefüllt. -- »Was
ist denn mit Mutter, Tante?«

»Nichts Schlimmes. Hab' man keine Angst. Nun hast du doch jahrelang
nichts von ihr gehört, und nun weißt du doch wenigstens, daß sie
wieder Glück hat. Es ist ihr ja wirklich zu gönnen.«

Die Kleine starrte schweigend vor sich hin. Die Mutter war ihr so
fremd geworden, die kümmerte sich gar nicht mehr um sie. Dennoch --
sobald nur der Name genannt wurde, erwachte ein brennendes Interesse
in Berta. Es war der tiefste Zusammenhang, der nicht absterben wollte.

Jetzt griff Alfons ein. Er hatte eine riesige Portion Mohrrüben
vertilgt und sagte mit düsterer Miene: »Erwarte du dir man nichts
davon, Berta. Ich überseh' die Sache. Deine Mutter ist von die
Burschoa zu die Junkers übergegangen. Überall läßt sie sich ausnutzen,
überall ist es derselbe Verrat am Proletariat.«

»Quatsch mit Soße«, erwiderte Frau Grunow. »Sie hat sich
wiederverheiratet. Lange schon.«

Berta war aufgefahren: »Mit wem?«

»Von Rotkraut heißt er. Lache nicht, Alfons -- du denkst natürlich
an Rotkohl. Der Mann ist Hauptmann a. D. Jetzt ist er sogar schon
glaub' ich Major. Er soll man bloß ein Krüppel sein, aber das macht
nichts. Deine Mutter hat einen vornehmen Mann, und der Baron war ein
Schubjack.«

»Sind sie in Berlin?« fragte Berta leise.

»Nein, Kind, die haben gewußt, was sie tun. Seit Jahren sitzen sie
schon in Strelenwalde, wo deine Mutter her ist, und da haben sie die
Konditorei von deinem Großvater geerbt.«

Alle schwiegen. Berta machte bei dem Wort Konditorei unwillkürlich ein
lüsternes Gesicht. Alfons aber schlug lachend mit der Faust auf den
Tisch: »Na, nu wird's Tag! Der Herr Major ist Konditor in Strelenwalde
geworden! Aber das gefällt mir von dem Mann! Der ziert sich nicht, der
macht jede Arbeit!«

»Rede nicht so'n Stuß, Alfons. Seine Frau führt natürlich das
Geschäft. Der Major kommt nicht mehr aus seiner Stube 'raus -- der
sitzt eine Treppe höher und liest die Kreuzzeitung.«

Berta war ruhiger geworden. Ein eigentümlich bitteres Lächeln kam auf
ihr blasses Gesicht. -- »Na schön«, sagte sie scheinbar gleichgültig.
»Es freut mich wegen Mutter. Mich geht die Sache ja schließlich nichts
an. Da sie mir nichts mitgeteilt hat ...«

»Was soll sie dir denn mitteilen?«

»Na, sie ist doch schließlich meine Mutter, Tante.«

»Das schon. Aber du mußt bedenken, Kind, der Major will ebensowenig
von dir wissen wie der Baron.«

»Aha!« stieß Alfons zwischen den Zähnen hervor. Mit drohendem Nicken
sah er Berta an: »Da haben wir's! Auf die Welt kommen, ohne gefragt
zu werden! Dann heißt es: Nun werde fertig mit der Welt! Nun laß
dich knuffen und piesacken und leiste noch was und werde noch ein
›nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft‹!«

Onkel Tübbeke rückte heftig mit dem Stuhl: »Weißt du, Alfons, wenn ich
nicht ein gebildeter Mann wär', tät' ich jetzt zu dir sagen: Halt die
Schnauze!«

Alfons sprang auf: »Ob du das sagst oder nicht, Onkel, das ist mir
Wurscht! Ich weiß Bescheid! Und Berta -- da verlaß dich drauf -- die
auch!«

Er verließ die Stube.

»Der Junge«, stöhnte Frau Grunow. »Der wird immer schlimmer. Hör' bloß
nicht mehr auf den, Berta -- dann ist es ganz mit dir aus.«

Berta schüttelte langsam den Kopf: »Onkel Alfons ist der einzige, der
richtig mit mir reden kann.«

»Na, du mußt es ja wissen. Du bist eben ein undankbares Balg. Ja,
das bist du! Willst du nun hören, was ich dir von deiner Mutter zu
erzählen habe, oder nicht?!«

»Die Tierquälerei halt' ich nicht aus!« -- Mit diesen Worten verließ
auch Onkel Tübbeke die Stube. Berta war mit der Tante allein. Sie
trotzte, aber sie fürchtete nur eines: daß die Tante jetzt gekränkt
sein und schweigen könnte. Das war das Schlimmste. Im Innersten sehnte
sie sich ja nur nach jeder Neuigkeit von der Mutter. Daß der Vater
für immer im Dunkeln bleiben würde, damit hatte sie sich abgefunden.

Tante Grunow ließ sich herbei. Da kamen nun wunderliche Dinge zu Tage.
Nicht nur die Tatsache: ihre gesunde, junge Mutter hatte einen alten
Invaliden geheiratet, sie führte als Frau Majorin eine Konditorei
weiter -- das war es nicht allein: ihr Gatte schien der reine
Märchenmann zu sein. Er hatte Afrika nach Strelenwalde gebracht. Wenn
es wirklich so war -- in dem Konditorladen bediente ein baumlanger
Neger? Strelenwalde mußte ja auf dem Kopf stehen.

»Na, was sagst du dazu? Das gefällt dir wohl! Was?« fragte Tante
Grunow nach einer Pause.

Berta nickte mit verträumtem Lächeln. Dann flüsterte sie: »Ich möcht's
gern sehen.«

Halb erschrocken, halb energisch erwiderte Tante: »Nein, Kind, das laß
dir man ja nicht einfallen! Das will deine Mutter auf keinen Fall! Sie
hat mir geschrieben: Berta darf ~nie~ nach Strelenwalde kommen!
Ich mein' es auch weiter gut mit ihr und schick' ihr immer was -- aber
sie paßt nicht mehr zu mir, ich habe Rücksichten zu nehmen!«

Nun war es gesagt. Berta schwieg dazu. Die erwartete Auflehnung kam
nicht. Sie schien ihr Schicksal hinzunehmen. Das einzige, was ihr
anzumerken war, blieb ihre gebückte Haltung. Die sah man sonst bei
einem Mädchen ihres Alters nicht.

Sie konnte es nicht begreifen. Tatsachen standen vor ihr, keine
Begründung. Wenn sie ein fleißiger, sauberer, anständiger Mensch wurde
-- wen konnte sie noch stören? Wer durfte sich ihrer schämen? So dumm
und grausam kamen ihr die Menschen garnicht vor. Vielleicht waren sie
nur in Strelenwalde so. Schwer empfand sie es, daß es keine Stelle
gab, wo sie sich aussprechen konnte. Onkel Alfons faßte immer alles
gleich politisch auf. Der kam auf das ganze Volk und schließlich auf
den Kaiser. Ihre arme, kleine Person ging bei den großen Reden leer
aus. Nein, es blieb ihr nur der eigene Weg -- aber der war steil und
dunkel.

Zuweilen versuchte sie es noch, sich traumhaft in die Romantik
von Strelenwalde zu versetzen. Sie spürte der Mutter mit ihrer
Phantasiekraft nach. Bald aber versiegte dieser Trieb vor den bösen,
kalten Worten: »~Nie~ darf Berta nach Strelenwalde kommen!« --

Eigentümlich gleichgültig blieb sie gegen den Menschen, dessen
Schutz sie empfohlen war. Sie wußte, daß sie einen Vormund hatte,
aber es fiel ihr niemals ein, Fräulein Ottilie Sanftleben in
Anspruch zu nehmen. Sie kannte sie nur von einem kurzen Besuch,
den die Strelenwalderin in Berlin gemacht -- eine halbe Stunde war
sie bei Tante Grunow gewesen. Ihre Absicht, das Mündel persönlich
kennenzulernen, war allzu pflichtgemäß erschienen. Die Dame hatte ein
feines, eigentümlich kühles Wesen. An ihrer Güte brauchte man nicht zu
zweifeln, -- aber sie schien nur mit kleinen Kindern umgehen zu können
-- das Problem des heranwachsenden Menschen war ihr zu bedrohlich.
Berta verfiel dem Irrtum, daß sie ihrem Vormund eine Last war -- das
wollte sie keinesfalls. Sie fühlte sich ohnehin genug umhergestoßen.

So kam denn allmählich der bedeutsame sechzehnte Geburtstag heran.
Berta war sich eigentlich nicht darüber klar, warum er solche
Bedeutung hatte. Im Grunde regte diese Lebensstufe wohl nur ihre
Pflegemutter auf. Erst am Geburtstage enthüllte sich die Ursache.

Berta war durch ihre ganze Entwicklung in eine Untugend geraten: sie
horchte gern. Man hatte sie immer so im Halbdunkel gelassen, man
machte aus Dingen, die jedem Kinde selbstverständlich waren, solches
Geheimnis, daß sie unfreiwillig zu dem verwerflichen Mittel griff. Auf
solche Weise erfuhr sie doch wenigstens hier und da etwas.

So kam es auch heute, daß man sie noch beim Bäcker glaubte, aber sie
war mit ihren flinken Füßen schon zurück und hörte im Korridor eine
laute Unterhaltung von Onkel und Tante. Freilich wurde sie auch jetzt
von den gewiegten Diplomaten getäuscht: ~ein~ Name kam niemals
über ihre Lippen. Wenn er einmal kam, so ganz gewiß nicht in der
Bedeutung, die Berta aufklärte.

Aber sie erfuhr etwas Wichtiges: ihr sechzehnter Geburtstag hatte eine
besondere Bedeutung dadurch, daß nicht mehr für sie bezahlt wurde! ...
Also das war es! Die ›Alimente‹ hörten auf! Der große Unbekannte wurde
endlich seine lästige Verpflichtung los ...

Es schüttelte Berta. Sie verriet sich fast. Ängstlich zog sie die
Hand von der Klinke. Halb fühlte sie sich gehoben, halb auch beiseite
gestoßen. Was ihrem Stolz wohltat, kam über Onkel und Tante nur als
neue Sorge. Aber ein Name fiel nicht. Berta fieberte und biß die Zähne
aufeinander -- ein Name fiel nicht! Nur aus dem Ton, wie man von ›ihm‹
sprach, entnahm sie, daß ihr Vater den beiden nicht unbekannt war.
Ja, Onkel Tübbeke mochte ihn sogar persönlich kennen. Berta stampfte
mit beiden Füßen. Tolle Gedanken kamen ihr: ›Ob ich ihn einfach mal
überfalle? Abends, wenn Onkel vom Stammtisch kommt und ein bißchen
angesäuselt ist? Dann stell' ich mich unten in den Hausflur und laure
ihm auf und lass' ihn nicht vorbei, bis er mir den Namen gesagt hat!
Was nachher kommt, ist mir schnuppe!‹

Aber sie vergegenwärtigte sich das Gesicht des alten Mannes, vor dem
sie doch einen gewaltigen Respekt hatte. Da ließ sie die verrückte
Idee wieder fallen. Sie mußte eben weiter tappen. Blind geboren war
sie wohl. Wenn nicht ein großer Zufall ...

Jetzt nahm das Gespräch in der Stube eine Wandlung -- man kam auf
die Mutter. Das fesselte Berta weniger, aber in ihrer Verlassenheit
horchte sie doch mit schmerzlicher Spannung. Tante Grunow schimpfte
wieder auf die Frau Major, doch Onkel Tübbeke sagte sarkastisch: »Laß
man -- die weiß, wo sie bleibt. Außerdem hat sie einen gewiegten
Rechtsbeistand.« -- »Wer is'n das?« -- »Na, rate mal. Schwarz heißt
er.« -- »Was? Dein Justizrat -- --??« »Derselbige. Das hat doch 'n
gewissen Humor, nicht wahr? Na, überhaupt die Weiber! ... Aber wo
bleibt denn eigentlich Berta? Die muß doch längst zurück sein?«

Onkel Tübbeke ging plötzlich auf die Tür zu. Berta konnte eben noch in
die Küche huschen. Als der Onkel erschien, sagte sie unschuldig: »Die
Hälfte hab' ich Kaffeekuchen nehmen müssen -- Streusel war nicht mehr
so viel da, Onkel.«

»Macht nichts«, meinte der Alte gemütlich und gab ihr einen Kuß.
Machte ihn der Geburtstag so empfindsam? Berta schämte sich. --

Aber sie wurde bis zum Abend von einem tiefen Triumphgefühl nicht
verlassen. Nun wußte sie doch etwas, etwas ganz Wichtiges, und niemand
hatte eine Ahnung davon: Sie kannte den Rechtsbeistand ihrer Mutter!
Oder vielmehr: Sie konnte ihn, wenn sie nur wolle, kennenlernen. Ob
dieser Mann ihr nicht die ersehnte Auskunft gab? Es mußte ja mit dem
Teufel zugehen, wenn der Rechtsbeistand ihrer Mutter nicht wissen
sollte, wer ihr Vater war!

Aber wie zu ihm gelangen? -- Plötzlich stand Berta wieder vor einer
hohen Mauer. Sie konnte natürlich jeden Nachmittag hingeben, sie wußte
seit Jahren, wo Justizrat Schwarz wohnte: Taubenstraße 24 -- aber im
Vorzimmer war das unüberwindliche Hindernis. Dort saß Onkel Tübbeke
als Bureauvorsteher! An ihm kam sie nicht vorbei. Schon schwammen
Berta wieder alle Felle weg. Wie gelähmt saß sie da, während die
Geburtstagsgäste freudig auf ihr Wohl anstießen.

Doch über Nacht kam eine schwache Hoffnung: Mit Onkel Tübbeks Husten
war zu rechnen. Der arme, alte Mann bellte wieder zum Erbarmen.
Vielleicht wurde er doch einmal dienstunfähig. Berta wünschte es innig
-- ihm zur Erholung, sich zur Befreiung. Sobald er zu Hause bleiben
mußte, rannte sie zu Justizrat Schwarz -- das stand fest.

Aber Onkel Tübbeke war von einem fürchterlichen Pflichtbewußtsein.
Jeden Morgen und bei jedem Wetter zog er, in seinen Wollschal
gewickelt, los. Berta hatte das Nachsehen.

Sie tröstete sich, so gut es ging, mit Viktoria Luise. Von dem Gelde,
das ihr Alfons zum Geburtstag geschenkt, bezahlte sie die Rechnung in
der Puppenklinik. Nun holte sie ihren Liebling aus dem Krankenhause
ab. Daß sie schon zu alt fürs Puppenspielen geworden, war Berta wohl
bewußt -- sie verbarg es auch scheu vor dem Spott der Großen. Aber
diese Puppe hatte nichts Kindisches mehr für sie -- sie war ein
Gleichnis und der Hort ihres Herzens. Nicht ihre Tochter war Viktoria
Luise, sondern ihre einzige Freundin. Sie ruhte die unbefriedigte
Seele bei dem Traum aus, einer Prinzessin Freundin zu sein. Die
Kaisertochter erfüllte den Wunsch des gequälten Volkes: sie holte
ihre Vertraute von den Armen und Enterbten. So dichtete Berta. Das
Mißverhältnis der starren Puppe in ihren warmen Menschenhänden störte
sie nicht. --

Endlich -- eines Morgens sagte Tante Grunow verärgert: »Heute bleibt
Onkel zu Hause! Ich telephoniere nachher ins Bureau! Der Husten wird
ja immer doller -- ich tu' schon kein Auge mehr zu!«

Berta zeigte ein scheinheiliges Bedauern. Als die Tante ihr den
Rücken gekehrt, machte sie einen Freudensprung. Nun war der Weg frei.
Sie wollte es heute schon wahrnehmen. Nachmittags, wenn sie aus der
Handelsschule kam, konnte sie nach der Taubenstraße rennen. Onkel
Tübbeke erfuhr vielleicht später davon, aber dann war es ihr gleich;
dann wußte sie schon, was sie wissen wollte.

Der Nachmittag rückte heran. Nie war ihr eine Wartezeit so schwer
geworden. Die Spannung überwältigte sie fast. Sie ging wohl zehnmal
an dem Hause in der Taubenstraße vorbei -- dann wagte sie sich
endlich hinein. An Onkel Tübbekes Stelle saß heute Herr Rudorff, der
Schreiber, und fühlte sich. Er spielte den Vielbeschäftigten und ließ
Berta länger warten, als nötig war. Dem kleinen, befangenen Mädchen
legte er ohnehin keine Bedeutung bei. Es wolle den Herrn Justizrat
sprechen? In welcher Angelegenheit? Nun, da stand Berta wie vor den
Mund geschlagen. Die Ausrede, die sie erfunden, kam ihr jetzt zu plump
vor. Sie faßte sich mühsam und stotterte, es sei sehr wichtig, sie
könne aber nur mit dem Herrn Justizrat darüber reden. Herr Rudorff
sah sie mißtrauisch von der Seite an und ging zu dem Gestrengen hinein.

Viktor Schwarz hatte eben keinen Klienten vor, aber er war trotzdem
von den wichtigsten Geschäften in Anspruch genommen. Onkel Joachim war
nämlich gestorben -- ein alter Mann, der schon lange nicht mehr auf
ihn eingewirkt hatte. Aber nun, da er die Welt verlassen, ändert sich
doch viel für den Neffen. Eine große Erbschaft mußte für Tante Klara
verwaltet werden. Ihm ›brummte der Kopf‹. Verstimmt blickte er deshalb
auf Herrn Rudorff, der wieder mit einem lästigen Klienten kam. Den
Namen hörte Viktor Schwarz zuerst nur mit halbem Ohr -- er kramte in
seinen Papieren.

»Wie heißt die Dame?« fragte er nach einer Weile.

»Prutz, Herr Justizrat.«

Der Chef warf den Kopf herum: »Was sagen Sie?«

»Prutz -- so war der Name. Ich glaube mich nicht verhört zu haben.«

»Ja, sagen Sie mal -- ist das die Frau Liese Prutz -- ich meine, die
Baronin Bassenried -- ach, nein, so heißt sie ja auch nicht mehr -- --
also, Frau von Rotkraut -- zum Donnerwetter?«

Herr Rudorff machte große Augen: »Nein -- Prutz, Herr Justizrat ...«

»Herrgott, ja! Mensch, seien Sie doch nicht so schwer von Begriffen!
Frau von Rotkraut, meine Klientin, heißt mit Mädchennamen Prutz --
also die ist es nicht?«

»Nein, Herr Justizrat«, erwiderte der Schreiber, gekränkt -- »die
kenn' ich doch auch, die Dame aus Strelenwalde, nicht wahr? Aber die
Dame draußen, das ist überhaupt noch keine Dame, das ist höchstens ein
Mädel von vierzehn Jahren.«

Dem Justizrat fiel der Kneifer auf den Schreibtisch: »So alt erst --
taxieren Sie sie? Und sie behauptet, sie heißt Prutz?«

Herr Rudorff verbiß sich das Lachen: »Jawohl. Dagegen kann man ja
nichts machen.«

»Nein, nein -- selbstverständlich nicht -- der Name kommt ja öfters
vor -- hm ... Na, lassen Sie sie eintreten. Oder warten Sie mal -- in
zehn Minuten -- ich habe hier noch was -- -- sie möchte sich noch zehn
Minuten gedulden!«

Der Schreiber ging in das Vorzimmer zurück. Was war denn mit dem Alten
heute? So hatte er ihn noch nie gesehen.

Viktor Schwarz lief in seinem Zimmer umher. Jetzt überstürzte sich
sein altgewohnter Monolog. Er spürte einen heimtückischen Angriff.
Und jetzt gerade, wo er in Berlin den Gipfel erstieg -- wo er in der
Philharmonie vor dem ›Allgemeinen Bund für ethische Fortbildung‹
sprechen wollte ... Da kam ihm dieses Wesen? ... Aber es konnte ja
auch ein Zufall sein. Der Name Prutz war durchaus nicht einzigartig.
Wer wußte, welche harmlose Sache das fremde Mädel zu ihm führte? Er
hatte sich wohl wieder einmal umsonst aufgeregt.

Jedenfalls war es unklug von ihm, daß er sie vorließ. Doch eine
Abweisung konnte erst recht auffallen. Rudorff wußte, daß er jetzt
nicht beschäftigt war. Eine Klientin unmotiviert fortschicken? Das
war unmöglich. Er mußte es wagen. Gewaltsam stellte er seine kalte
Ruhe her. Es konnte ja gar nicht sein. Diskret war Liese und vor
allem: sie fürchtete ihn. Der Major war noch schlimmer als der Baron.
Entschlossen ging er auf die Tür zu: »Bitte sehr!«

Das Mädchen stand in seinem Zimmer. Es erschien ihm zuerst sehr
kindlich. Dann aber sah er ihm ins Gesicht und erkannte, daß es älter
war, ja gerade so alt, wie er unwillkürlich nachrechnete. Es war ein
hübsches Ding -- das freute ihn irgendwie. Im nächsten Augenblick
ärgerte er sich über seine Freude.

»Nehmen Sie bitte Platz. Womit kann ich Ihnen dienen, Fräulein?«

Bertas Gedankenflucht stockte. Sie mußte jetzt ihr pochendes Herz
bezwingen. -- »Herr Justizrat,« stammelte sie, indem sie ihn mit
kindlicher Andacht ansah -- »ich heiße nämlich Prutz ...«

»Das weiß ich. Davon habe ich schon Kenntnis genommen.«

»Ja und eben -- ich wohne nämlich bei Frau Grunow -- der ihr
Pflegekind bin ich ...«

Viktor Schwarz trommelte nervös: »Aha -- so, so ... Und was hat dieser
Umstand -- verzeihen Sie, liebes Kind -- mit Ihrer Angelegenheit zu
schaffen?«

»Oh, viel -- denn sehen Sie, Herr Justizrat, Frau Grunow ist nämlich
die Schwester von Herrn Tübbeke ...«

Der Justizrat zuckte: »Von meinem Bureauvorsteher?«

»Ja, freilich -- deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.«

»Hm ... So ... Sie sind also die Pflegetochter? Er erwähnte es mir
einmal. Es freut mich jedenfalls, daß Sie sich an mich wenden.
Freilich -- Sie sind doch wohl noch minderjährig?«

»Ich bin sechzehn Jahre.«

»Sechzehn ... hm. Nun, das macht ja nichts. Mit dem Vormund kann ich
mich ja später in Verbindung setzen. Wer ist Ihr Vormund?«

»Fräulein Ottilie Sanftleben in Strelenwalde, Herr Justizrat.«

Berta glaubte, daß dem nervösen Herrn diese Vormundschaft nicht recht
war. Warum zuckte er so? Sie fügte schnell hinzu: »Ich kenne sie
übrigens kaum.«

Viktor Schwarz schneuzte sich: »Das macht ja nichts ... Das macht
garnichts ... Hm. Darf ich jetzt fragen, wie Ihre Frau Mutter heißt?
Denn es handelt sich doch wohl um Ihre Frau Mutter?«

»Eigentlich auch um meinen Vater, Herr Justizrat. Aber den kenn' ich
nicht. Ich weiß nicht mal, wie er heißt, und wo er wohnt. Meine Mutter
kann ich jetzt leider auch nicht besuchen. Aber ich kenne sie, und sie
heißt jetzt Frau von Rotkraut, Frau Major von Rotkraut. Sie wohnt auch
in Strelenwalde.«

Berta hatte das letzte mit einem gewissen Stolz auseinandergesetzt. Es
tat ihr doch wohl, daß sie keine so Hergelaufene war.

Viktor Schwarz rieb seine kalten Füße an dem Bärenfell, das unter dem
Schreibtisch lag. Er wollte jetzt endgültig sichergehen: »War der
Mädchenname ihrer Mutter Prutz? Stammt Ihre Mutter vielleicht aus
Strelenwalde?«

»Jawohl, Herr Justizrat. Sie kennen sie doch? Sie sind doch ihr
Rechtsbeistand? Oder nennt man's nicht so?«

»Doch -- freilich, liebes Kind -- so nennt man's ... Hm ... Ja -- nun
hab' ich doch mal die Tochter vor mir! ... Freut mich sehr! Freut mich
wirklich!«

Er versuchte einen launig gutherzigen Ton anzuschlagen. Ganz gelang
es ihm nicht. Berta hatte scharfe Ohren. Sie spürte verwundert seine
Erregung. Dann geschah etwas Sonderbares: Viktor Schwarz hatte den
Kneifer abgenommen und setzte ihn wieder auf. Sofort zogen sich
seine schwarzen, kurzsichtigen Augen hinter den scharfen Gläsern
zusammen. Das erinnerte Berta an eine eigene Eigenschaft, die ihr zum
Mißgeschick zu werden drohte. Sie wurde rot und senkte den Blick.
Diese Regung verstand er nicht. Er fühlte sich sicherer mit seinem
Kneifer und sagte im bewährten Brustton: »Nun haben Sie mal volles
Vertrauen zu mir, liebes Kind. Nun sagen Sie mir rückhaltlos, um was
es sich handelt.«

Berta zwang sich, ihm wieder in die Augen zu sehen: »Ach, Herr
Justizrat -- es wird Ihnen wohl ein bißchen komisch vorkommen --«

»Komisch? Aber durchaus nicht!«

»Es ist nämlich -- ich habe nämlich keinen Menschen auf der Welt.«

Sie ärgerte sich, weil ihre Stimme brach -- sie wollte nicht weinen.
Mit einer energischen Bewegung, die ihn merkwürdig an Liese erinnerte,
fuhr sie fort: »Frau Grunow ist ja sehr nett und gut zu mir -- und
Onkel Tübbeke auch --«

Bei diesem Namen dachte Viktor Schwarz: ›Der alte Schuft! Der hat mir
das Balg verheimlicht! Den Schleicher werde ich mir mal kaufen!‹ Aber
er nickte Berta aufmunternd zu.

»Es ist nur -- die Leute verstehen einen eben nicht. Das sind eben
keine gebildeten Leute. Ich gehe auf die Handelsschule, ich lerne
Französisch und Englisch, ich will Buchhalterin und Korrespondentin
werden.«

»Brav, brav«, sagte Viktor Schwarz.

»Nur immer bloß arbeiten -- daraus besteht ja das Leben nicht, Herr
Justizrat. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke. Man möchte
auch sozusagen was fürs Herz. Ich meine -- Gott, nun lachen Sie mich
gewiß gleich aus. Um Jungens kümmere ich mich natürlich nicht. Das tun
die andern. Aber mit Mutter ist es so traurig -- erst war sie so nett
zu mir -- aber dann, wie sie den Herrn Major geheiratet hat, da ist
sie ganz kalt gegen mich geworden. Ich kriege sie nie mehr zu sehen.
Tante Grunow sagt, ich darf nie zu ihr nach Strelenwalde kommen.«

»Hm ... So ... Weshalb denn? Das versteh' ich eigentlich nicht. Ich
kann ja mal mit Ihrer Frau Mutter darüber reden.«

»Ach, ja, Herr Justizrat! Ach, bitte! Denn sehn Sie -- ich kann doch
eigentlich nichts dafür, nicht wahr? Ich bin doch nicht schuld, daß
ich auf der Welt bin? Das sind doch ganz andre Leute! Und Schande
mach' ich meiner Mutter wahrhaftig nicht. Ich hab's immer so schwer
gehabt, Herr Justizrat -- ich weiß, was arbeiten heißt und sein Brot
verdienen! Und bitter bin ich auch nicht geworden -- im Gegenteil.«

Viktor Schwarz versenkte sich jetzt so in ihren Anblick, daß Berta
unwillkürlich zurückwich. Dann aber faßte sie es als wachsendes
Interesse auf und sprach in erwachender Beredsamkeit weiter: »Ich
dräng' mich auch nicht auf! Nein, wirklich -- das ist gar nicht meine
Art! Ich will bloß, was mir zukommt! Aber darauf hat doch, glaub' ich,
jeder Mensch ein Recht -- nicht wahr, Herr Justizrat? Es dauert gar
nicht mehr lange, dann steh' ich auf eigenen Füßen und brauche nach
keinem Menschen mehr zu fragen! Jedenfalls, wenn meine Mutter sich
wegen mir geniert -- schön -- das muß sie wissen. Aber man hat ja
nicht bloß eine Mutter auf der Welt, sondern auch einen Vater, Gott
sei Dank, und deshalb bin ich eben zu Ihnen gekommen, Herr Justizrat!«

Der freundliche Justizrat lehnte sich jetzt in seinem Sessel zurück.
Er verfärbte sich, es schien ihm plötzlich nicht ganz wohl zu sein.
Doch als er Bertas betroffenen Blick sah, winkte er lächelnd ab:
»Fahren Sie nur fort, liebes Kind. Es interessiert mich alles sehr,
was Sie mir sagen.«

»Na, das freut mich aber! Gott, Sie sind ja auch der einzigste auf der
Welt, mit dem ich darüber reden kann!«

»Und -- warum, liebes Fräulein?«

»Na, weil Sie doch der Rechtsbeistand von meiner Mutter sind! Ich will
Ihnen nämlich sagen: Sie stecken alle gegen mich zusammen! Ich bin
noch nicht dahintergekommen, wie es zusammenhängt, aber aus keiner
Menschenseele krieg' ich 'raus, wer mein Vater ist! Wie 'ne Blinde
tapp' ich 'rum! Dabei glaub' ich ganz bestimmt, daß meine Leute zu
Hause es wissen! Sie sagen zwar das Gegenteil, aber Gott weiß, wie die
geschmiert worden sind!«

Viktor Schwarz schneuzte sich. Das Taschentuch verbarg jetzt seine
Züge -- so sagte er gleichsam hinter einem Vorhang: »Und was
versprechen Sie sich eigentlich davon, wenn Sie den Aufenthalt Ihres
Vaters wüßten? Wäre es Ihre Absicht, sich mit ihm in Verbindung zu
setzen?«

Berta wartete erst ab, bis er wieder zum Vorschein kam -- dann rief
sie: »Aber selbstverständlich! Was Besseres kann ich doch nicht haben
auf der Welt!«

»Kind, Kind -- da kann ich Ihnen wirklich nicht recht geben. Ihr
Herr Vater ist doch, wie ich aus Ihren Mitteilungen entnehme,
ein vollkommen fremder Mann für Sie, der nur seinen gesetzlichen
Verpflichtungen nachkommt -- oder ist das etwa auch nicht der Fall?«

»Doch, doch, Herr Justizrat. Er hat immer für mich bezahlt. Aber nun
tut er das auch nicht mehr, weil ich doch jetzt sechzehn Jahre bin,
und weil nun jede Verbindung mit ihm aus ist, darum will ich um jeden
Preis versuchen --«

»Aha, jetzt kann ich mich schon in Ihren Gedankengang hineinversetzen.
Ich persönlich würde Ihnen ja entschieden abraten, die Bekanntschaft
Ihres Erzeugers zu suchen. Aber der instinktive Vorgang in Ihnen ist
mir natürlich klar, und --«

Berta unterbrach den würdigen Herrn zum erstenmal. Sie fühlte, daß es
sich nicht schickte, aber jetzt ging das Temperament mit ihr durch:
»Warum raten Sie mir ab? Warum, Herr Justizrat?«

»Weil ich Ihnen ziemlich sicher eine schwere Enttäuschung prophezeien
kann. Ihr Vater mag sein, wie er will -- eine Jugendtorheit wird man
ihm jetzt nicht mehr als Verbrechen anrechnen dürfen -- aber die
Stimme der Natur ist nicht in ihm, das steht doch fest -- er fühlt
sich nicht als Ihr Vater, und deshalb wird er es niemals sein können!«

Der Justizrat sprach mit solchem Nachdruck, daß seine Worte zuerst
niederschmetternd auf Berta wirkten. Dann aber regte sich ein
trotziges Gefühl in ihr: Erst wollte sie doch wissen, mit welchem
Recht er so sprach. Erst wollte sie klar sehen, was er von ihrem Vater
wußte.

»Herr Justizrat -- Pardon -- ich meine doch -- es könnte doch auch
ganz anders kommen! ... Das denken sich vielleicht Herr Justizrat bloß
so --«

»Oho, liebes Kind! Ich pflege überhaupt nur zu sagen, was ich mir
denke! Wenn Sie etwas anderes von mir erwartet haben, wären Sie besser
nicht zu mir gekommen!«

Bertas Augen füllten sich mit Tränen: »Ach Gott -- ich bin ja so dumm
-- ach, werden Sie man bloß nicht böse, Herr Justizrat! Ich bin ja so
unglücklich!«

Jetzt weinte sie doch. Er fühlte sein Übergewicht und sagte tröstend:
»Beruhigen Sie sich, liebes Fräulein. Tränen führen hier zu garnichts.
Von Bösewerden ist bei mir keine Rede. Wenn ich kein Interesse für
Sie hätte, würde ich Sie nicht anhören. Darum zur Sache: Was hoffen
Sie von mir in Ihrer Angelegenheit? Welchen Dienst soll ich Ihnen
eigentlich erweisen?«

Sie sah ihn ringend an: »Ach, Herr Justizrat -- ich denke mir: Als
Rechtsbeistand von meiner Mutter wissen Sie doch, wer mein Vater ist?
Sie kennen ihn doch ganz bestimmt?«

Sie war nahe an ihn herangerückt. Jetzt stand Viktor Schwarz plötzlich
auf und ging ohne ernstlichen Grund zum Fenster. -- »Nein, ich kenne
ihn nicht«, sagte er dort. Seine Stimme klang in diesem Augenblick so
eigentümlich, daß Berta etwas Gespenstisches zu hören glaubte. Aber
sie sah ihn ja vor sich, wie sonst.

»Ist das möglich?« flüsterte sie mit flackerndem Blick. »Hat denn
meine Mutter nie über Vater mit Ihnen gesprochen?«

Er stand dem Fenster zugewendet: »Das wohl. Aber persönlich hatte ich
natürlich gar kein Interesse. Ich hatte nur als Jurist zu tun. Und als
solcher habe ich mein Amtsgeheimnis zu wahren. Das möchte ich Ihnen
zunächst doch sagen, liebes Kind. Ich ~darf~ über Angelegenheiten
meiner Klienten keine Auskunft erteilen.«

»Auch -- mir gegenüber?«

»Auch Ihnen gegenüber!«

Berta senkte den Kopf: »Das hab' ich nicht gewußt.« -- Nach einer
Weile fragte sie: »Aber er lebt doch?«

»Vermutlich.«

»Und wo? Und wie er heißt?« -- Noch einmal entbrannte ihre flehende
Sehnsucht.

Viktor Schwarz zuckte die Achseln -- dann wandte er sich zu ihr: »Ich
kann Ihnen wirklich nichts darüber sagen. So leid es mir tut. Aber
einen Fingerzeig will ich Ihnen geben: Ich glaube nicht, daß Ihr Herr
Vater für Sie erreichbar ist. Ich vermute ihn irgendwo im Auslande. Er
steckt in Interessen, die mit Ihnen nicht das mindeste zu tun haben,
Hand aufs Herz: viel mehr könnte ich Ihnen auch nicht sagen, wenn ich
dürfte. Genügt Ihnen das?«

Berta erhob sich langsam. Sie nickte stumm, machte einen ungeschickten
Knicks und ging zur Tür. »Vielen Dank, Herr Justizrat«, flüsterte sie
dort noch -- dann war sie schon auf der Treppe. Klare Überlegung kam
ihr nicht. Die Enttäuschung war zu überwältigend. Nur zwei sonderbare
Empfindungen wurden ihr allmählich bewußt: Sie konnte nicht verstehen,
warum der Justizrat so plötzlich zum Fenster gegangen war, und dann
das zweite war noch seltsamer: sie sah immer einen Aal vor ich, den
Tante Grunow einmal in ihrer Gegenwart auf dem Markt gekauft hatte.
Das Tier war bezahlt, aber soviel man sich auch mühte: immer wieder
entglitt es den Händen seines Käufers.




                         FÜNFZEHNTES KAPITEL


Viktor Schwarz trat in das Vorzimmer, als sein Sprößling verschwunden
war. »Wann kommt Herr Tübbeke zurück?« fragte er streng.

Schreiber Rudorff spitzte die Ohren. Es klang, als ob auch der
Bureauvorsteher etwas ausgefressen hätte: »Seine Schwester hat
telephoniert, höchstens drei Tage, Herr Justizrat, dann ist er wieder
da.«

Der Gestrenge nickte und zog sich zurück. Sein Verhalten dem alten,
abhängigen Manne gegenüber war ihm schon klar. Nun aber galt es die
Hauptsache. Viktor Schwarz gab sich keiner Selbsttäuschung hin. Der
unverhoffte Zwischenfall hatte, wie man ihn auch ansah, Bedeutung.
Er konnte unter Umständen eine ernsthafte Störung seiner Laufbahn
bringen. Bei dem ersten Einfall, den ›Rechtsbeistand der Mutter‹ zu
besuchen, blieb es natürlich nicht. Berta Prutz zeigte ein seltsames
Gemisch von Naivität und Beharrlichkeit. Auch fürchtete der Mann, der
nichts unbewußt tat, die Macht des Instinktes. Er hatte sich nicht
verraten, aber die Kleine konnte von dem Zusammenhang des Blutes
gepackt werden.

Vor allen Dingen mußte er an die nächste Zukunft denken. Der
›Allgemeine Bund zur ethischen Fortbildung‹ war ihm gelungen. Was
nach einigen Jahren daraus wurde, konnte ihm gleichgültig sein -- da
war er gewiß schon von einer neuen Mode abgelöst. Jetzt aber sollte
ihm der Bund zu einem Reichstagsmandat verhelfen. Erste Bedingung
blieb: moralische Unantastbarkeit. Der Schein mußte unbedingt gewahrt
bleiben. Eine aufdringliche, kleine Proletarierin aber zerriß
diesen Schein. Dazu hatte er wirklich nicht auf Heller und Pfennig
die Alimente bezahlt. Ja, wenn es ein ganz besonderes Kind gewesen
wäre! Mit hervorstechenden Talenten! Man hätte sich mit ihr zeigen,
unter Umständen an die Vorurteilslosigkeit der Berliner appellieren
können. Talent war ein Freibrief. Aber hier lauerte nur der triviale
Durchschnitt. Das Mädchen war ganz hübsch, wenn auch körperlich
zurückgeblieben, doch seine notwendige Entwicklung hielt es unrettbar
im Gewöhnlichen.

Nein, er wurde jetzt schon ruhiger. Ins Bockshorn jagte man ihn
nicht. »Nie!« flüsterte er, während er vor den Spiegel trat und seine
Vatermiene betrachtete. »Nie!« wiederholte er dumpf noch einmal.

»Was denn?« fragte eine frische, etwas spöttische Stimme hinter ihm.
Er drehte sich schnell um und sah die Frau, die er seine einzige
Freundin nannte. Gusti Bernhardi war ihm unentbehrlich -- ihr heller
Verstand, ihr sicherer Geschmack konnten ihm immer raten und helfen.
Mit wienerischer Leichtigkeit beflügelte sie sein preußisches
Strebertum -- sie glaubten sich gegenseitig nicht viel.

Viktor Schwarz wurde von einer Erkenntnis befallen: Dieser Frau mußte
er alles sagen. Sie hatte ihm schon oft bewiesen, daß sie das Leben
fester anzupacken wußte als er. Sein Vorteil war außerdem der ihre --
deshalb war sie verschwiegen.

Sie hörte ihn an. Was wirklich in ihr vorging, konnte er nicht
erkennen. Eine stille, ironische Heiterkeit war in ihr, eine
Schadenfreude fast -- sie gönnte ihm den Überfall. Dann zog sie ihn
zu sich auf das Sofa und sagte: »Ja, lieber Schatz, mir scheint, die
einzige Schuld bei der Sache hat die Frau Major. Sie ist diskret,
ja, ja -- du brauchst nicht zu fürchten, daß das Mädel von ihr die
Wahrheit hört -- aber mit den Nerven eines Menschen kann man nie
rechnen. Ich mein' jetzt die Kleine. Wie du sie mir geschildert hast
-- sie kann einem schon leid tun. Es ist ein schrecklicher Unsinn,
daß sie so ganz vereinsamt. Wenn das so weitergeht, wird sie noch
närrisch, und dann wirst du sie überhaupt nimmer los. Nein, nein, die
Mutter hätt' sich ihrer annehmen müssen. Du bleibst selbstverständlich
aus dem Spiel, aber das geht nur, wenn das Kind wenigstens eine
Mutter hat. Frau von Rotkraut kann doch froh sein, daß es so noch mit
ihr gekommen ist. Ihren alten Krüppel kriegt sie schon herum. Wenn das
Mädel erst eine Mutter findet, wird ihr der Vater egal. Und dann bist
du sie auch los.«

Viktor Schwarz nickte nachdrücklich: »Gusti, ich danke Gott, daß
ich dich habe. Nein, lache nicht -- alles, was du mir gesagt hast,
unterschreibe ich. Das arme Kind kann einem wirklich leid tun. Ich
werde an Frau von Rotkraut schreiben und ihr mal energisch den
Standpunkt klarmachen.« -- Er stand auf und küßte Gustis Mund, der
immer ein wenig rot gefärbt war. »Du kannst doch alles«, sagte er
bewegt.

»Hüte garnieren! Du kannst mehr!« --

Als Herr Tübbeke wieder zum Dienst erschien, wurde er alsbald zum
Herrn Justizrat gerufen. Der Bürovorsteher sah einen schweren Tag
vor sich, denn Schreiber Rudorff hatte ihm schon Bertas Streich
mitgeteilt. Zorn und Mitleid stritten in Onkel Tübbeke. Er sagte sich
zwar, daß Berta keinesfalls den Vater erkannt haben konnte -- das
hätte man ihr schon angemerkt. Aber der Justizrat konnte ihn unter
Umständen für einen Intriganten halten, und das war er wirklich nicht.

»Warum haben Sie mir nicht gesagt, wer das Pflegekind Ihrer Schwester
ist?« fragte Viktor Schwarz mit undurchsichtiger Miene.

Der Alte war ganz betroffen. Er wußte nicht, wie die Frage gemeint
war. Bezog der Justizrat sie auf sich oder nur auf Liese Prutz? Er
mußte sehr vorsichtig sein: »Ach Gott, Herr Justizrat -- darüber hab'
ich eigentlich noch garnicht nachgedacht ...«

»Das hätten Sie aber sollen. Das Mädchen gehört zu den Akten Prutz,
die Sie zu verwalten haben. Ich brauche Ihnen doch nicht mehr zu
sagen, was die Pflicht eines Beamten ist. Na -- ich will mich nicht
weiter dabei aufhalten. Gewesenes ist gewesen -- wir wollen der
Zukunft ins Auge sehen. Und da lassen Sie sich ein für allemal gesagt
sein, Tübbeke: Nur für den Fall, daß ich Ihrer sicher bin, kommt die
in Aussicht gestellte Pension in Frage. Ich sage Ihnen das klar und
kalt. Für Ihre Schwester et cetera sind Sie mir verantwortlich. Sie
haben mich hoffentlich verstanden? Und nun an die Arbeit. Übrigens,
wenn Sie etwas Kräftigung brauchen -- kaufen Sie sich eine Flasche
Portwein. Da, mein Lieber« -- --

Berta trug es stumm in sich herum, das Fragen und Forschen, die
Gespenster, die sie seit der Stunde bei Justizrat Schwarz verfolgten.
Noch war er der Rechtsbeistand ihrer Mutter für sie -- aber er
mußte auch noch etwas anderes sein. Klar wurde ihr nichts, Gefühle
verdichteten sich kaum zu Ahnungen -- sie fühlte nur das eine: es
durfte nicht ihr einziger Besuch bei Justizrat Schwarz bleiben. Trotz
Onkel Tübbeke -- sie mußte es noch einmal wagen.

Als sie eben überlegte, wie sie es durchführen könnte, wurde sie von
Tante Grunow in die Küche gerufen. Tübbeke hatte seiner Schwester
alles gesagt, aber die Worte des Justizrats wirkten in ihm nach -- mit
drohender Zähigkeit gab er der alten Frau seine Weisungen. Berta war
jetzt eine unheimliche Macht -- man mußte streng und konsequent sein,
aber man durfte sie nicht reizen.

Unter dem Eindruck dieser Vorschriften sprach Frau Grunow mit ihrem
Pflegekinde: »Ich muß dir mal was sagen, Berta -- was sehr Ernstes --«

»Es wird schon Frühling, Tante.«

Bertas dunkle Augen hatten etwas wirr Verschwimmendes.

»Ja, ja -- davon reden wir jetzt nicht. Sei mal vernünftig. Von
Vorwürfemachen ist keine Rede -- ich will bloß, daß wir beide einig
sind. Also laß dir gesagt sein -- Onkel und ich -- wir wissen alles.«

»Ich möchte mir einen kleinen Hund kaufen -- dann hat man doch
wenigstens was. Bei Lütkes nebenan sind junge Teckel.«

»Hast du'n Vogel, sage mal? Verstehst du kein Deutsch mehr? Onkel
und ich, wir wissen, daß du bei Herrn Justizrat warst! -- Aber, wie
gesagt, wir wollen ganz vernünftig drüber reden --«

Berta ging hastig durch die Stube: »Ich konnte nicht anders, Tante!
Ich hab's nicht mehr ausgehalten!«

»Ja, ja -- das verstehen wir ja -- man immer ruhig Blut! 'n Kind wie
du -- das kommt eben auf so'ne Ideen. Du tust uns ja leid -- Du meinst
immer, daß du uns nicht leid tust --«

Berta starrte die Tante an. Was war das für ein neuer Ton? Aber sie
traute ihm nicht: »Ich weiß bloß, daß ich aus lauter Angst zu ihm
hingelaufen bin. Ihr sagt mir ja doch nichts. Ja, wenn ~ihr~ mir
mal was sagen tätet ...«

»Was denn? Erlaube mal -- was sollen wir dir eigentlich sagen?«

»Na, wer mein Vater ist! Das wißt ihr doch!«

Sie hatte es herausgeschrien. Eine schwere Pause kam, dann war Tante
Grunow gefaßt: »Du hast Ideen im Kopp -- es ist unglaublich. Also an
so was denkst du? Nee, mein Kind. -- Dein Vater geht uns garnichts an.
Von dem haben wir keine blasse Ahnung. Für den interessieren wir uns
nicht im Mindesten.«

»Sei nicht böse, Tante, aber das halt' ich doch für ganz unmöglich!«

Frau Grunow wandte sich ab -- nun stieg doch eine fatale Röte in ihr
fahles Gesicht. Nein, lügen war vor diesen Augen schwer. Sie biß
lieber ihre Autorität heraus: »Wenn Du glaubst, daß deine alte Tante
dir was vormacht -- das ist deine Sache. Eines aber laß dir jetzt
gesagt sein: du hast auch Rücksichten zu nehmen! Ich kenn' dich durch
und durch, Berta -- daß du Fehler hast, weiß ich -- aber daß du ein
anständiges Mädchen bist, daran darfst du mich nicht irremachen!«

Ihre Stimme zitterte. Jetzt hatte sie den richtigen Ton getroffen.
Angstvoll sah Berta sie an. Es war ihr ein fürchterlicher Gedanke,
daß man sie für unanständig halten könnte. Hier lag ja der Halt ihres
Lebens -- sie wollte im Recht bleiben und Unrecht dulden.

»Was meinst du, Tante?« stammelte sie.

»Ich meine -- daß du mal hinter unserm Rücken zu dem Herrn Justizrat
gelaufen bist, das lassen wir dir hingehn -- aber das zweitemal wär'
unanständig! Onkel hängt von dem Mann ab, Onkel kann seine Stellung
verlieren, wenn der Mann sich weiter über dich ärgert! So ist es
doch nun mal im Leben! Unsereiner muß kuschen! Der Mann ist der
Rechtsanwalt von deiner Mutter, und gerade darum darfst ~du~ ihm
nicht auf der Pelle sitzen! Verstehst du denn das noch immer nicht?«

Berta nickte. In Wahrheit hatte sie es nicht verstanden. --

Immerhin -- die Hoffnung auf Viktor Schwarz war erloschen. Sie durfte
nicht das Letzte verlieren, nicht von Onkel und Tante verachtet
werden. Vielleicht war es doch sehr frech von ihr gewesen, ohne
Erlaubnis zu handeln. Außerdem -- was hatte sie von dem Herrn
Justizrat erfahren? So gut wie nichts. Wenn sie an sein glattes
Lächeln zurückdachte, schwand auch ihre Hoffnung, jemals etwas von ihm
erfahren zu können.

Sie ballte die Fäuste und bezwang sich. Aber der Frühling draußen
lauerte. Er kam und wuchs. Mit heißem Kopf saß Berta in der
Handelsschule. An den Vater dachte sie nicht mehr; aber indem sich
ihr kindlicher Schoß zusammenkrampfte, und die brennenden Füße an der
Diele pochten, sah sie noch einmal ins Licht des Mutternamens. Sie
schrieb Zahlen in ein Kontobuch, sie achtete wie sonst auf den schönen
Schwung ihrer Schrift; aber was sie sah, war eine Frau Baronin,
ihre hohe, blonde schöne Mutter in der herrschaftlichen Küche. Es
war unmöglich -- sie konnte sich nicht von ihr trennen lassen. Die
Zusammenhänge mußten tiefer sein. Vielleicht betrog man sie doch.

So beschloß sie es plötzlich: noch einmal handelte sie gegen den
Willen derer, von denen sie abhing. Es half nichts -- der Drang in
ihrem Herzen brachte sie sonst um.

Da kam ihr ein gemeinsamer Ausflug der Handelsschülerinnen nach
Potsdam wie gerufen. Scheinbar nahm Berta daran teil -- man gab ihr zu
Hause jetzt gern die Erlaubnis. In Wahrheit aber nützte sie den Tag,
um nach Strelenwalde zu fahren. -- --

Liese hatte stille Jahre in der alten Heimat hinter sich. Still für
den betrachtenden Blick -- von dem, was sie einsam durchgekämpft,
wußte sie nur. Mit ihrer Jugend fertig zu werden, war ihr schwerer
geworden als mit dem Philistergeist der Umgebung. Sie hatte erkennen
müssen, daß ihr Leben an einem Absterbenden gebunden war. Hermann
Rotkraut erlag in Strelenwalde den allzu starken Anforderungen des
Glücks. Ein Schlaganfall lähmte den ohnehin Verstümmelten -- er blieb
an sein Zimmer gefesselt. Hier hatte Liese einst als Mädchen gewohnt.
Nun ging sie als stille Pflegerin darin umher. Sie konnte Schmerzen
lindern, Langeweile scheuchen -- ihre Sinne mußten verzichten. Sie war
aber noch immer eine junge, vollblütige Frau. Im Grunde hatte sie sich
niemals ausgelebt. Erst Viktor Schwarz, der trügerische Rausch -- dann
August Bassenried, der welke Lebemann -- nun Hermann Rotkraut.

Äußerlich blieb sie auf der Höhe. Sie war eine vorbildliche
Geschäftsfrau geworden. Ihr schweres Schicksal aber schützte sie
davor, daß böser Wille Steine nach ihr warf. Man hatte unter die
Vergangenheit ein Strich gemacht, man denunzierte sie nicht, man ließ
ihren alten Invaliden in Ruhe. Wenn die Damen über gewisse Dinge
flüsterten, sagte auch immer eine: Hut ab, hier ist ein tapferer
Mensch! Liese verstand es, sich keine Feinde zu machen. Sogar den
alten Konkurrenten ›Mohrenkopp‹ versöhnte sie, indem sie ihm Aufträge
zuschob. Die häßliche Adele Schörg aber, die doch keine Stelle fand,
nahm sie wieder als Bedienung auf. Adele mußte sich ganz nach ihr
richten und blieb demütig, da sie ein trauriges Sklaventum bei ihrem
Vater fürchtete.

Wunderlich genug sah es freilich in der alten Prutzschen Konditorei
aus. Unvorbereitete Gäste konnten erschrecken, denn wenn sie sich
niedergelassen, kam von der einen Seite ein hinkendes Fräulein auf
sie zu und von der anderen ein baumlanger Neger, dessen schwarzer
Kopf effektvoll von dem weißen Anzug abstach. Doch was die beiden
brachten, war immer gut und besser noch als früher. Man gewöhnte sich
an alles, weil man so gut aufgehoben war.

Allmählich gewann auch das Groteske einen Reiz. Kein Fremder versäumte
es, die merkwürdige Konditorei zu besuchen.

Seltsamerweise liebte Simba Adele, nicht sie ihn. Sie vertrugen
sich aber ganz gut. Ihrer Herrschaft zu Gefallen mieden sie jeden
Zusammenstoß. Simba, der Götzenanbeter, erfuhr von der frommen Adele,
wie hoch die christliche Moral stand; sie aber gewann den Einblick
in seine wilde, kindliche Art. Daß der erste Mann, der sie nicht
häßlich fand, ein Neger war, empfand sie bitter, aber er rührte sie
auch zuweilen, und sie ließ sich seinen treuen Dienst gefallen.
Wahrscheinlich erinnerte sie ihn an irgendeine sonderbare Gottheit
seiner Heimat. Seine Schönheitsbegriffe waren nun einmal anders als
die der guten Europäer von Strelenwalde. --

Liese verließ kaum noch ihr Haus. Entweder war sie bei dem Kranken,
oder sie schaffte in der Konditorei. Nur zu Tante Sanftleben, die
nun schon recht klapprig geworden, kam sie zuweilen, und unterwegs
trat sie bei Herrn Breitkopf ein. Der war nun ihr Verehrer. Er fühlte
sich Liese doppelt verpflichtet; denn der echte Neger, den sie nach
Strelenwalde gebracht hatte, hatte ihm endlich den fatalen Spitznamen
»Mohrenkopp« abgenommen. --

Plötzlich aber wurde diese doch noch einmal aus ihrem herben Frieden
gerissen. Ein Brief kam aus Berlin, der erste nach versunkener Zeit.
Viktor Schwarz hatte ihr noch einmal geschrieben:

  ›Liebe, verehrte Frau Major!

  Gestatten Sie mir, Ihnen in alter Freundschaft einen dringenden Rat
  zu erteilen: Handeln Sie besser und -- klüger an der kleinen Berta.
  Sie könnte sonst eine ernste Gefahr für Sie werden und nicht nur
  für Sie. Sie werden mich sogleich verstehen. Ich kam vor kurzem
  in folgende Situation: Ein junges Mädchen wurde mir gemeldet, das
  Ihren Namen trug und in einer geradezu bemitleidenswerten Verfassung
  Bekenntnisse hervorstammelte. Die Mutter, für die das Mädchen trotz
  aller Entbehrungen eine treue Zuneigung bewahrt, zeige ihr seit den
  letzten Jahren eine abweisende, ja feindselige Haltung. Da auch sein
  Wunsch, den Vater zu kennen, für immer unerfüllt bleibe, klammere es
  sich doppelt an die Mutter. Ich, von dem es in Erfahrung gebracht,
  daß ich als Ihr Rechtsbeistand fungiere, solle ihm raten und
  helfen! Es war eine ganz sonderbare und außerordentlich peinliche
  Situation, das können Sie sich vorstellen; aber ich zog aus ihr
  die Lehre: Erstens ist es mir willkommen, daß ich wirklich wieder
  einmal als Ihr Rechtsbeistand zu Ihnen sprechen kann, und zweitens
  muß ich Ihnen aufs dringlichste raten, handeln Sie anders an Ihrem
  Kinde, Sie handeln ~ganz falsch~ an ihm. Völlig ausgestoßen --
  seelisch meine ich -- das ist unmöglich. Das hat das Kind auch nicht
  um Sie verdient. Was aber das wichtigere und entscheidende ist: Sie
  dürfen keinesfalls sich selbst ~und denen, die mit Ihrem gegebenen
  Wort~ rechnen, einen gefährlichen Gläubiger züchten. Berta hat
  ein fanatisches Gemüt, das unter Umständen verzweifelt um das Recht
  der Geburt kämpfen wird. Ich jedenfalls, das erkläre ich Ihnen heute
  schon, ich bin keinesfalls gewillt, mir von ihr meine Kreise stören
  zu lassen. Der Blitz muß einen Ableiter haben, es ist die höchste
  Zeit, und der Ableiter sind Sie, der ist selbstverständlich die
  Mutter. Ich kann mir wohl vorstellen, was Sie zu Ihrer schroffen
  Stellungnahme veranlaßt: Sie fürchten einen Willen, der den letzten
  Hafen für Sie bedeutet. Er ist sicherlich stark, aber nicht
  stärker als Ihre Mutterpflicht. Auf eine Heimlichkeit mehr oder
  weniger braucht es Ihnen ja nicht mehr ankommen. Das ist eben die
  eigentliche Erfahrung, die das Leben mit sich bringt. Also, ich
  glaube mich verständlich gemacht zu haben. Beruhigen Sie und stützen
  Sie das Kind, und vor allem versperren Sie ihm für immer den Weg zu
  mir, denn sonst -- Sie wissen, daß ich meinen Weg zu Ende gehe!

  In alter Hochschätzung
  Viktor Schwarz.‹

Liese stand ganz verdonnert vor diesem Brief. Die erschreckende
Tatsache ließ sie die verkappte Unverschämtheit übersehen. Ihr erster
Zorn richtete sich gegen Frau Grunow. Bald aber mußte sie sich sagen:
›Es war ja ganz unmöglich -- dort hatte niemand Berta zu dem Justizrat
geschickt.‹ Das Kind mußte von selbst auf die tolle Idee gekommen
sein. Ahnungslos hatte es den eigenen Vater nach der Mutter gefragt.
Vielleicht auch -- das stand nicht in dem Brief, aber es war immerhin
möglich -- hatte es sogar vom Vater seinen Vater erfahren wollen!
Viktors Verlegenheit ließ Liese kalt, aber eine jagende Besorgnis
konnte sie nicht unterdrücken: wenn Berta wirklich so geworden, wie
er sie schilderte, ließ sie auch nicht ab. Schwarz konnte brutal
werden. Dann rächte er sich. Dann ging er selbstverständlich ›seinen
Weg zu Ende‹. Für Liese aber hieß das noch einmal scheitern, noch
einmal vielleicht auf der Straße stehen. Wer dem alten Invaliden die
Ehre anrührte, nahm ihm die Besinnung. Er glaubte Lieses Lebensweg zu
kennen, ein uneheliches Kind kam nicht über seine Schwelle. Schande
ertrug er nicht.

Man war ja wieder in Strelenwalde.

Ratlos ging Liese umher. Tante Sanftleben konnte und mochte sie nicht
befragen. So schrieb sie zunächst einen gefaßten und beruhigenden
Brief an Viktor Schwarz. Sie versprach ihm, was sie selbst nicht
auszuführen wußte. Dann, als sie den Brief zur Post getragen, fühlte
sie sich sehr erschöpft. Sie kam in den Laden zurück und sagte zu
Adele: »Jetzt schlaf' ich 'ne Stunde. Bitte nicht wecken.«

Adele nickte und setzte sich mit einem Roman hinter den Ladentisch.
Wie immer, ließ sie sich von Simba betrachten. Der lange Neger stand
in der Tür der Backstube. Es schimmerte in seinen melancholischen
Tieraugen. -- »Jetzt ist Mondfest bei uns in Afrika«, sagte er
plötzlich. »Da tanzen die Mädchen, und die Männer fangen sie und
freuen sich mit ihnen.«

Adele zitterte unter dem Klang seiner Worte: »Das muß ja ein ganz
merkwürdiges Fest sein.«

»So komm mit mir -- wir fahren nach Afrika!«

Adele wandte sich heftig ab und starrte in das Buch. Eigentlich war
sie schon nahe daran, sich in Simbas schwarze Arme zu werfen. Elendes
Leben. Wenn er ahnte ...

Da öffnete sich die Ladentür -- ein Gast erschien. Adele sah ein
junges, kindlich wirkendes Mädchen kommen. Sie näherte sich ihm:
»Guten Tag. Was darf ich Ihnen bringen, Fräulein?«

Bertas Blick irrte zu dem großen Mohren hinüber. Sie war auf ihn
vorbereitet, aber der wilde Ausdruck, den Simba jetzt hatte,
erschreckte sie. Von Adele wurde sie nicht befremdet -- zu
Gebrechlichen fühlte sie sich immer hingezogen. Die Sympathie schien
gegenseitig zu sein, denn Adele nahm ihr mit zärtlicher Sorgfalt
Schirm und Mantel ab.

Mit Mühe verbarg Berta ihre Erregung. Nun war sie der Mutter so nahe.
Im nächsten Augenblick konnte die Ersehnte eintreten. Berta trank
Kaffee und aß Kuchen. All' das diente ihr nur, die Zeit zu verbringen.
Es war ja unglaublich -- sie hatte es wirklich gewagt -- sie saß jetzt
mitten in Strelenwalde, in der Prutzschen Konditorei, und bei Grunows
glaubte man sie mit der Handelsschule in Potsdam. Aber ewig Kaffee
trinken und Kuchen essen konnte sie auch nicht. Es hieß jetzt zahlen
oder einen Vorstoß wagen. Simba war in die Backstube gegangen -- das
fremde Mädchen störte ihn. Berta sah sich mit Adele allein -- sie
wandte sich, im Augenblick unbeherrscht, zu ihr: »Ach, Fräulein ...«

»Bitte sehr?«

»Ach, bleiben Sie doch sitzen. Ich wollte nur -- ich möchte nur
fragen: Ist Frau Prutz nicht zu Hause? Die Frau Konditor -- ich wollte
sagen die Frau Major?«

Adele lächelte: »Die ist schon zu Hause. Oben in der Wohnung ist sie.
Möchten Sie sie sprechen?«

»Furchtbar gern ...«

Adele sah Berta betroffen an. Eben wollte sie das Schlummerstündchen
der Frau Major erwähnen, da knarrte oben schon die Tür, und Liese trat
ein.

Alpdruck hatte sie aus dem Schlaf gescheucht. Sie kam mit verstörtem
Blick. Nun glaubte sie noch zu träumen, denn sie erkannte Berta. Aus
ihren geheimen Ängsten stieg diese Gestalt in die Wirklichkeit. Liese
wich zurück. Bleich und mit verzerrtem Lächeln erhob sich Berta.

»Guten Tag ... Guten Tag, Frau Major ... Sie kennen mich doch noch?
... Ich habe Ihnen Grüße zu bestellen -- aus Berlin -- --«

Krampfhaft faßte sich Liese. Ihr Sorge galt jetzt nur der Lauscherin.
Sie kämpfte um den Rest ihres Glücks. Nie und nimmer ließ sie sich
überrumpeln.

»Ach ja,« sagte sie, indem ein falsches Lächeln auf ihre vergilbte
Miene kam -- »ich erinnere mich. Das ist ja sehr nett von Ihnen,
Fräulein. Behalten Sie doch Platz. Ich setze mich zu Ihnen. Adele, es
ist hohe Zeit, daß du im Hof die Wäsche 'runternimmst. Geh nur gleich,
sonst wird der Herr Major noch böse.«

Ungern gehorchte Adele, aber sie verschwand. Kaum war sie aus
Hörweite, als Liese schon schnell auf die erschrockene Berta zuschritt
und mit gedunsener Miene flüsterte: »Was fällt dir denn ein?! Wie
kannst du mich in solche Situation bringen?!«

»Aber Mutter,« würgte Berta -- »Sie sind doch -- du bist doch -- --«

»Was ich bin, ist eine Sache für sich! Das geht hier keinen Menschen
was an! Ich wußte schon, wie du dich benimmst, und offen gestanden
hatte ich von dir was anderes erwartet! Jawohl! Ein bißchen mehr
~Dankbarkeit~! Du kannst dir doch vorstellen, warum ich nicht
anders handeln kann! Du bist doch kein Kind mehr! Ich werde so gehetzt
und gefoltert -- mein ganzes Leben verfluch' ich!«

»Aber Mutter -- Mutter -- was hab' ich dir denn getan?!«

»Zu meinem Rechtsanwalt bist du gelaufen -- der Mann hat sich bei mir
beschwert, und jetzt willst du mich hier blamieren -- hier, im Hause
meines Mannes, in diesem Klatschnest!«

Berta starrte leichenblaß vor sich hin: »Blamieren will ich dich
nicht, Mutter.«

»Es ist aber nichts Anderes! Ich kann mich nicht mehr um dich kümmern!
Ein für allemal! Es liegt in den Verhältnissen! Das Leben geht weiter!
Daß ich das Meinige an dir getan habe, das weißt du doch! Laß es dir
endlich genug sein, hab' doch Erbarmen und geh' mir aus dem Wege! Ich
ersticke ja!!«

Rastlos stand Berta vor diesem Ausbruch. War das noch ihre Mutter?

»Um Gottes willen,« flüsterte sie -- »Sie haben mich mißverstanden ...
Es liegt mir selbstverständlich fern ... Ich dachte bloß, meine Mutter
... Ich bin doch schließlich auch ein Mensch. Ich kann doch nichts
dafür, daß ich auf der Welt bin.«

Jetzt starrte Liese wie erwachend auf das gebeugte junge Geschöpf.
Namenloses Mitleid entbrannte in ihr, nicht Mutterliebe. Aber sie fand
noch diese Worte: »Kind, ... Du mußt mir nicht so böse sein -- du mußt
versuchen, mich zu verstehen. Ich weiß, daß du es schwer hast, aber
das gerade wird dir auch die Kraft geben, durchzukommen. So ist das
Leben. Sieh mal, was nützt es dir denn, wenn der Mann, von dem ich
jetzt abhänge -- wenn du dem noch den letzten Frieden nimmst? Er darf
es ja nicht wissen, daß du auf der Welt bist -- er versteht so was
nicht, er ist zu alt und zu krank. Und darum versprich mir --«

»Was denn?«

»Versprich mir, daß wir uns nicht mehr begegnen werden, nie mehr,
solange er lebt --«

»Wenn du das willst, Mutter --«

»Es muß sein -- sonst machst du mich wieder unglücklich.«

»Dann sage mir doch wenigstens, wer mein Vater ist.«

»Das darf ich ja auch nicht, Berta. Frage nicht, warum. Es ist ein
Verhängnis. Wenn ich es dir sage, dann stellst du ihm nach, und dann
rächt er sich an mir -- ich muß es ausbaden.«

»Kann ich ihn denn überhaupt -- erreichen?«

Liese wandte sich ab. -- »Nein -- du kannst ihn auch nicht erreichen.«

»Ist er so weit weg? Vielleicht in Amerika?«

»Ich weiß es nicht. Ich kann dir das alles nicht sagen. Aber du mußt
mir jetzt versprechen -- so wahr du mein Kind bist --, daß du auch
nach deinem Vater nicht mehr fragst. Tu's, Berta, -- tu's aus Mitleid
mit deiner Mutter!«

»Also -- ganz alleine wollt ihr mich lassen?«

»Das ist nicht so traurig, wie du jetzt denkst. So steht der Mensch
auf eigenen Füßen, Berta.«

»So steht der Mensch --«

»Versprichst du mir?«

»Ja, Mutter. Wie du willst.«

»Gib mir die Hand!«

Sie berührte nur mit ihren kalten, leblosen Fingerspitzen die Hand
der Mutter und lief dann aus dem Laden. Drei Stunden hockte sie noch
zwischen schwatzenden und lachenden Menschen auf dem Bahnhof. Endlich
fuhr sie nach Berlin zurück.




                         SECHZEHNTES KAPITEL


»Sie wird ein hübsches, aber ein trauriges Ding«, sagte Fräulein
Milchner, die Lehrerin.

»Ja, ja.« -- Frau Grunow stimmte düster bei. -- »Sie ist 'ne
Zimmerpflanze. Übrigens, hoffen tu' ich doch drauf, daß sie mal einen
findet. Es gibt doch Männer, zu denen so was paßt. Außerdem hat sie's
in sich. Das Blut von die Mutter -- Sie können sich schon denken.
Tanzen tut sie wie der Deibel.«

»Ein Fehltritt wäre jedenfalls zu bedauern«, meinte Fräulein Milchner.
»Leider bietet sich ja die Versuchung in Berlin auf Schritt und
Tritt.« --

Fräulein Milchner hatte recht, aber Berta wußte es noch besser. Sie
war nun achtzehn Jahre alt und steckte schon in der kleinen Welt,
die aus der großen Freude und Inhalt sog. Lange war sie von ihren
geheimen Kämpfen umdüstert geblieben und schlich unbeachtet zwischen
den Kameradinnen der Handelsschule. Sie wollte nicht gefallen. Immer
trug sie seit dem Tage in Strelenwalde die scharfe Brille, und wenn
sie ihre kleine Gestalt im Spiegel betrachtete, glaubte sie ernstlich
an einen Buckel. Gezeichnet war sie, wie das arme Fräulein in der
Konditorei. Sie trug es nur schwerer und tiefer -- sie hatte die Last
im Gemüt.

So sah sie es in trüber Verachtung mit an, wie die Mädchen um sie her
erhaschten, was auf dem ungeheuren Markt erreichbar war. Man hatte sie
gern, weil man sie für sehr anständig hielt, man bedauerte sie auch,
aber es fand sich keine Freundin zu Berta. Der Arbeitstag war lang,
der freie Abend des Genusses kurz. -- Niemand wollte sich von einer
›Unbegabten‹ aufhalten lassen.

Aber man tat ihr unrecht. Sie verkannte ihn nicht, den Tanz der
Motten um das große Licht. Eigentlich spürte auch sie da drüben ein
Vergessen, die Entschädigung für alles, was an ihr gesündigt worden.
Aber eine Überzeugung, die sie nirgends aussprach, hielt sie auf dem
reinen, dunklen Wege. Gerade die Rechtlosigkeit gab ihr den Mut, das
Recht zu suchen. Erst wenn sie es hatte, glaubte sie leben zu dürfen.

So störte und kränkte sie es fast, als das männliche Geschlecht
nicht ihrer Meinung blieb, daß sie eine Mißratene war. Trotz ihrer
Brille wurde sie immer wieder betrachtet, und es kamen deutliche
Zeichen, daß sie mehr gefiel als lebenslustige Kameradinnen. Ihr
voller Mädchenmund, der nach dem ersten Kuß zu dürsten schien, lockte.
Die Energie ihrer Züge und die dunklen, etwas krankhaften Augen
versprachen mehr als Dutzendmädchen. Sie trug ein Zeichen, von dem sie
noch nichts gewußt: sie war ein Kind der Liebe.

Als sie ihre Wirkung auf das andere Geschlecht spürte, wurden ihre
Wege zur Flucht. Kopfschüttelnd sah man sie mit finsterm Blick
vorbeistolpern. Sie galt bei den Mädchen für etwas verrückt. Der
Teufel in der männlichen Jugend aber beschloß eben, eine Hetze auf sie
zu veranstalten, als die Rettung von einer lichten Stelle kam, die
Berta noch gar nicht gesehen hatte. Sie lebte aber schon lange in ihr
-- ihr ratloses Gemüt wurde für die Kunst empfänglich.

Alfons Grunow verhalf ihr endlich zu einem wirklichen Trost. Er
sah zwar auch in der Kunst nur Tendenz -- er war Mitglied eines
sozialdemokratischen Volksbühnenvereins und ließ sich von der Bühne
predigen. Doch Berta empfand ›Kabale und Liebe‹ ganz anders als er. --
Auch ›Die Weber‹ rührten sie tief und wühlten mehr ihre Verlassenheit
auf, als daß sie die Anklage des Kapitalismus hörte. Bei der Musik
aber ließ Alfons, ihr Begleiter, sie noch mehr allein. Sie wußte
keinen Wunsch zu äußern, und so führte er sie dorthin, wo es ihm
gefiel. Zum Glück handelte es sich auch um die populären Konzerte
in der Philharmonie, zuweilen sogar um Richard-Wagner-Abende. Hier
konnte man rauchen und Bier trinken -- Alfons spendierte Berta einen
Heringssalat. Sie wurde aber von dem gemischten Programm verwirrt.
Gern hätte sie einmal mehr von einem gewissen Beethoven gehört. Doch
Alfons fuhr ihr über den Mund und achtete nur auf Ouvertüren und
Solistenstücke.

Immerhin, es war ein Tappen in besserer Luft. Versöhnung kam mit
dunklen Leiden, Begegnung mit hohen Gefühlen. Berta ließ zu Alfons'
Arger immer ihr Bier stehen, da sie wirklich zuhörte. Sie liebte auch
allmählich die Menschen mehr, da sie ihre musikalische Andacht sah.
Irgendwo mußte auch sie noch geliebt werden. Vater und Mutter konnten
nicht ganz fern sein. Wie edle Schemen zogen sie im Rausch der Töne
vorbei.

Mit einem jungen Mann, der in der Philharmonie neben ihr saß, kam
sie eines Abends ins Gespräch. Er hatte blondes Haar und eine kühne
Nase -- seine blauen Augen leuchteten. Berta fand ihn schön -- zum
erstenmal stellte sie das bei einem Manne fest. Er sprach zwar einen
drolligen Dialekt, aber er überraschte sie durch die freimütigsten
Äußerungen. Alfons hörte nicht zu. Der junge Mann hatte vermutlich
keine politischen Interessen -- außerdem war er ihm zu bürgerlich.
Berta aber staunte über die musikalischen Kenntnisse des Fremden. Da
der Zigarrenrauch ihr beizend in die Augen stieg, nahm sie plötzlich
die Brille ab. Da sah ihr Nachbar sie ganz betroffen an und sagte:
»Lasse Sie doch bitt' scheen die Brill' da drunte, Frailein. Jetzt
sieht man ja erscht, was für scheene Auge Sie habe.«

Berta wurde sehr rot und erwiderte lächelnd: »Ich bin aber schrecklich
kurzsichtig. Ich bin halb blind ohne Glas -- besonders auf der Straße.«

Da sagte er mit einem Ausdruck, dessen Anmut sie nie vergaß: »Lieber
möcht' ich Sie für immer fihre, als jemals wieder die abscheuliche
Brill' auf Ihrem Gesicht sehe.«

Berta zitterte, sie hätte ihren Kopf auf seine schmalen Hände legen
mögen. Nun wechselten sie kein Wort mehr. Nach dem Konzert empfahl
sich der junge Mann. Berta fühlte, daß sie ihn nicht wiedersehen
würde. Aber von nun an trug sie keine Brille mehr. Heimlich kaufte
sie sich ein Lorgnon mit langem Stil, wie Onkel Tübbeke es ihr schon
angeboten hatte. Man spottete über sie, aber sie kümmerte sich nicht
darum.

Bei dem Jubiläum der Handelsschule sollte ein Festakt mit lebenden
Bildern aufgeführt werden. Lehrer Hupfer, der Dichter des Spieles,
wählte die Schönheiten unter den Schülerinnen aus. Berta dachte
keineswegs in Betracht zu kommen, aber sie drückte sich für alle
Fälle in die letzte Reihe, um nicht beachtet zu werden. Ein seltsamer
Schreck befiel sie aber, als der scharf blickende Herr Hupfer rief
»Bitte, Fräulein Prutz, warum verkrümeln Sie sich? Man immer 'ran zum
Dienst der guten Sache! Wir brauchen schöne Figuren -- das ist die
Hauptsache! Sie sind zwar eine ~kleine~ Tanne, aber eine Tanne
sind Sie doch, eine richtige Edeltanne!«

Unter gutmütigem Gelächter wurde die Verlegene hervorgezogen. Sie
mußte eine Elfe von des Dichters Gnaden übernehmen. Das hatte sie nie
für möglich gehalten. Sie machte aber ihre Sache bei der Aufführung so
gut, daß der eigentliche Erfolg des Abends ihr zufiel.

Diese Erfahrung stärkte ihr Selbstbewußtsein mehr als alles andere.
Der Ernst ihrer sehnsüchtigen Vereinsamung war nicht von ihr genommen,
aber er verband sich jetzt mit der Koketterie eines Mädchens, das
von seiner Anziehungskraft wußte. Oft wurde Berta auf der Straße
nun angesprochen, aber sie haßte solche Angriffe unter dem Mantel
der Dunkelheit -- jeder Mann, der so vorging, erschien ihr feig und
gewöhnlich. Sie hörte auf keinen -- trotzig schritt sie weiter.

Freilich waren die meisten Mädchen anderer Art. Man dachte ans
Vergnügen, nicht an Sitte. Wer sich abkehrte, versäumte seine
Jugend. Berta erkannte nun erst, da sie selbst mitzählte, die naive
Verderbtheit ihrer Kameradinnen. Alles lebte um sie her in eitler
Hast, im Nichtversäumenwollen. An den Hafen der Ehe glaubte man
nicht, und wenn es dazu kam, glich es dem Abschied von der goldenen
Freiheit. Man kroch unters Joch, um ›versorgt‹ zu sein.

Berta hatte sich die arbeitenden Frauen anders vorgestellt. Ein ödes
Tagespensum wurde für den abendlichen Genuß erledigt. Sie ließ sich
allmählich mitziehen, stutzte aber noch vor wirklicher Gefahr. Es
geschahen schlimme Dinge um sie her -- ein frisches, junges Ding starb
an Abtreibung, und ein anderes kam als Kindesmörderin vor Gericht.
Zum erstenmal wurde Berta vom Grauen gepackt, jetzt sah sie die
eigentliche Gewalt des Lebens. Ihre Sehnsucht nach Vater und Mutter
verblaßte dagegen. Es gab eine Rechtlosigkeit, die viel vernichtender
war.

So kam sie zu einer ernsten und kritischen Betrachtung ihrer
Freundinnen, aber man ließ es ihr nicht durchgehen. Sie sollte auch
ihren Tribut an den großen Moloch zahlen. Am empfindlichsten wurden
die Berliner Mädchen, wenn eine Kameradin sich für etwas ›Besseres‹
hielt. So schleppte man Berta mit Absicht zum Sonntagsbummel Unter den
Linden und in den Zoologischen Garten mit. Man belehrte sie, daß ein
Radrennen in Friedenau das höchste Vergnügen sei. Aber noch gelang es
nicht, was die Intrigantinnen wollten. Berta ging zwar mit und gab
nichts nach, wenn man bei den nächtlichen Heimfahrten fidel war, sang
und lärmte. Auch sie schritt am Arm eines Jünglings, den sie wenig
kannte, aber ihr Sonntag schloß immer in nüchterner Sichtbarkeit, und
es blieb zweifelhaft, ob sie einen Kuß bekommen.

Man ärgerte sich über sie. Da, eines Abends auf der Wannseebahn,
schien sich das Blättchen zu wenden. Man hatte beim ›Schwof‹ in
Schlachtensee Herrn Sonnenschein getroffen, für den die Mädchen der
Handelsschule eine verliebte Ehrfurcht empfanden. Sie wußten alle, daß
bei ihm die berufliche Zukunft war, denn er erbte einst das größte
Konfektionsgeschäft Berlins. Sonnenschein junior ging als Sardanapal
durch das großstädtische Leben. Er suchte sich aus, was ihm dienen
sollte, und jede war durch seine Wahl beglückt. Leutselig hatte er
sich heute zwischen den Sonntagstänzerinnen in Schlachtensee bewegt.
Er flog auf Berta Prutz.

Sie tanzte immer wieder mit ihm -- sie schien endlich Feuer zu fangen.
Hier kam sie nicht so schnell davon -- das hatte man vorausgesehen.
Auf dem Heimwege nach Berlin wich Herr Sonnenschein nicht von Bertas
Seite. Aber man wurde nicht neidisch, denn man war ja selbst versorgt,
so gut und bescheiden, wie es sich für ein billiges Sonntagsverhältnis
gehörte. Neugierig aber beobachtete man das interessante Paar. In
Berlin konnte Berta diesmal nicht entschlüpfen -- sonst kannte man
schon ihr schnippisches ›Gute Nacht!‹ Gehorsam wanderte sie neben
Herrn Sonnenschein durch die dunkle Bellevuestraße. Kichernd stoben
die anderen auseinander.

»Fräulein, ich bin für Tempo«, sagte schließlich der junge Herr. »Ich
denke, Sie wissen, wer ich bin, und ich weiß schon vollkommen, wer Sie
sind.«

»Ich glaube, davon wissen Sie sehr wenig.« -- Berta sagte diese Worte
nicht schroff oder scharf, sondern mit einer stillen Traurigkeit.

Herr Sonnenschein hatte schöne, dunkle Augen. Teilnehmend sah er Berta
an: »Ich verstehe Sie. Sie haben mir ja schon erzählt, Sie sind eine
arme Waise, Sie müssen sich Ihr Brot verdienen. Und ich -- sehn Sie
mal, ich mache mich wahrhaftig nicht besser, als ich bin. Ich lebe
auch unter dem Zwang der Verhältnisse. Als Millionär ist man durchaus
nicht besser dran, eher schlechter, denn ich habe keinen freien
Willen, ich kann nicht, wie Sie, sagen: So lebe ich, und anders nicht.
Ich habe für eine große Firma einzustehen. Ich werde leider auch mal
heiraten müssen im Interesse der Firma.«

Berta blickte erstaunt auf: »Was heißt das? Warum sagen Sie mir das?«

Der dunkle Blick des Herrn Sonnenschein ruhte mit feuchtem Glanz auf
ihr: »Na, weil ich tatsächlich, wenn es bloß nach ~mir~ ginge,
keinen Augenblick gezögert hätte, ~Sie~ zu heiraten. Jetzt
gucken Sie mich ganz verdutzt an -- selbstverständlich gehören immer
zwei dazu, aber ich denke doch, so ganz unsympathisch bin ich Ihnen
nicht?«

Sie war sehr rot geworden und starrte vor sich hin: »Daran dachte ich
garnicht. Aber ich will nicht heiraten.«

Er sah sie prüfend an: »Was wollen Sie sonst?«

»Ich will erst wissen -- ich will wissen, wer mein Vater ist.«

Herr Sonnenschein lachte. Im nächsten Augenblick aber fühlte er, daß
das nicht sein durfte. Er versuchte es zu bemänteln: »Na, liebes
Fräulein, das ist doch keine Lebensaufgabe -- ich meine, das ist keine
Zukunft für Sie. Ich für meine Person -- ich kenne meinen Vater, ich
kenne ihn viel zu gut. Da könnte ich Ihnen was abgeben.«

»Mir ist die Sache durchaus nicht komisch.«

»Nein, nein -- Pardon -- mir ja auch nicht! Ich kann mich in Ihre Lage
versetzen, und Sie tun mir aufrichtig leid! Man weiß ja, wie es in
Berlin zugeht -- ein fabelhafter Prozentsatz von unehelichen Kindern
läuft hier herum! Aber es nutzt doch nichts, sich hinzusetzen und
darüber nachzugrübeln -- das Leben ist doch kein schwarzes Loch, in
das man hineinstarrt! Selbst ist der Mann! Und selbstverständlich auch
die Frau! Ja, ja, meine Liebe, Sie haben das Zeug dazu!«

»Wozu?«

»Na, sich ~das~ vom Leben zu nehmen, was erreichbar ist! Genau
so geht es mir. Ich kann mir deshalb nichts Idealeres vorstellen, als
wenn wir beide uns zusammentäten. Ich kann Sie sozusagen entdecken.«

»Ich habe kein Talent, Herr Sonnenschein.«

»Das werden wir schon sehen. Wann Sie erst von Kopf bis Fuß in Sachen
stecken, die ich für Sie kaufen werde. Ich bin ganz konfus vor Glück,
wenn ich daran denke. Sie müssen mein Geschöpf werden sozusagen.
Für Sie wird mein Geld endlich mal würdig angelegt. Sie sind ein
anständiges Mädel und zugleich eine treue Geliebte -- wunderbare
Mischung. Herrgott, ich schwatze da, als ob wir schon bei Hiller
wären -- dabei wollen wir doch erst hingehen. Morgen fahre ich zu
Gerson, zu Braun und zu Friedländer. Die Farben muß ich mir noch
überlegen. Besondere Schuhe und Strümpfe ...«

In der Siegesallee, wo die Linden blühten, riß er sie an sich und
küßte sie. Berta nahm es in süßer Betäubung hin. Das einzige, womit
sie sich stammelnd wehren konnte, waren die Worte: »Ach, ich bin ja so
häßlich! Ich bin ja halb blind! Das wissen Sie noch nicht! ...«

Er lachte: »Doch, ich weiß alles! Das Blinzeln ist ja gerade das
Entzückende an dir! Ich kauf' dir übrigens ein anderes Lorgnon! Ein
feenhaftes! Gold und Perlmutter!«

Sie konnte nichts mehr erwidern. Er küßte sie immer wieder. Allmählich
waren sie durch das Brandenburger Tor gelangt. Sie gingen Arm in Arm
über die stille Seite der Linden und traten bei Hiller ein. Berta
wurde mit Leckerbissen gefüttert, von denen sie bisher nur geträumt
hatte.

»Woran denkst du?« fragte er.

»Ach, an die anderen Mädchen, bei denen es bloß für Aschinger langt.
Die armen Dinger!«

Er lachte jetzt nicht. Indem er ihre Hand küßte, sagte er: »Du bist
das beste Geschöpf, das ich kennengelernt habe.«

Als er sie heimbegleitete, kämpfte er sichtlich mit einem Entschluß,
aber er kam nicht dazu. Vor Bertas Haustür am Elisabethufer -- so weit
waren sie durch halb Berlin gegangen -- stieß er hervor: »Ich danke
dir für diesen Abend. Nun laß' ich dich auch in Ruhe, denn du mußt ja
morgen früh heraus. Mein Kleinod, gute Nacht. Hast du mich auch ein
bißchen gern?«

Sie nickte und ließ ihm ihre Hand.

»Wann sehen wir uns wieder?«

»Ich glaube, es ist besser, wir sehen uns niemals wieder.«

Bestürzt sah er sie an: »Aber Kind! War dir der Abend denn so wenig
wert? Hast du gar nicht den Wunsch --?«

»Doch, selbstverständlich ... Sie verstehen mich nicht ... Den Wunsch
hab' ich schon. Ich bin Ihnen auch sehr dankbar. Aber ich weiß genau
-- so wie heute bleibt es nicht ... Wenn wir wieder zusammen sind,
dann sind Sie anders -- und ich werde auch nicht immer nach Hause
wollen ... Aber das darf ich nicht. Erst muß ich wissen, wer ich bin.«

Sie riß sich los und schlug die Haustür hinter sich zu.

Am nächsten Tage bekam sie einen Brief von ihm. Es waren stürmische
Versprechungen, er richtete goldene Berge vor ihr auf, aber sie
antwortete ihm nicht. Nun sah sie ihn wirklich nicht wieder. --

Nach diesem Erlebnis sperrte sie sich in Arbeit ein. Das Zeugnis,
mit dem sie die Handelsschule verließ, war so gut, daß Onkel Tübbeke
sagte: »Na, damit kannst du Privatsekretärin bei Bleichröder werden.«
So viel bildete Berta sich nicht darauf ein, aber sie freute sich, daß
man zum erstenmal stolz auf sie wurde.

Mit ernstem Eifer sah sie sich nach einer Stellung um. Die erste, die
ihr Vertrauen erweckte, nahm sie an. Die Firma Kleinholz & Co., Papier
engros, in der Lindenstraße, suchte eine Buchhalterin -- Berta meldete
sich und wurde angestellt. Nun hatte sie ihre gutbezahlte Arbeit. Man
konnte sich zwar ein interessanteres Gebiet denken als die Eingänge
und Ausgänge von Packpapier -- Luxuspapiere waren schon der Schmuck
ihres Daseins -- aber im Grunde war es ja gleichgültig, welcher Sache
das Buchführen galt. Sie hatte mit anständigen Leuten zu tun, und in
dem Bewußtsein, daheim eine kleine Pension bezahlen zu können, lag
wirklich ein Lohn. Sie hatte den Gedanken, Frau Grunow zu verlassen,
von sich gewiesen. Viele andere hätten an ihrer Stelle den Hauptgewinn
darin gesehen -- sie aber brachte es nicht fertig. Wo man ihr getreu
gewesen, wollte sie auch treu sein.

So lebte und arbeitete sie, und nur noch ganz unten im Raum ihres
kleinen Lebensschiffes wohnte die Sehnsucht nach Vater und Mutter.
Aber das Versprechen von Strelenwalde fesselte sie. Sie zwang ihre
Unruhe nieder. Sie unternahm nichts.

Da sie sich sehr geschickt zeigte, ließ Herr Kleinholz sie nicht
nur bei ihren Büchern, sondern vertraute ihr auch den Verkehr mit
Kunden an. Die Männer waren nun einmal so, auch wenn sie nur trockene
Schreibwarenhändler waren -- sie kauften lieber bei einem hübschen
Mädel als bei dem gediegensten Mann. Johann Peter Rietschel aus
Chemnitz aber, der jetzt häufiger als sonst bei Kleinholz & Co.
erschien, hatte auch Sinn für den Geist. Ein unternehmender Sachse,
der nach Berlin übergesiedelt, hielt er es jederzeit mit dem Modernen
und zeigte überhaupt den Schwung, der das Provinzielle allmählich
abstreifte. Dazu kam, daß er mit seinem gekräuselten Scheitelhaar
einen künstlerischen Anstrich hatte, der wohl etwas Phantasie in den
Kleinkram seines Ladens brachte.

Aber das war nur äußerlich. Im Kern konnte es keinen solideren
Geschäftsmann geben als Johann Peter Rietschel. Sein skeptischer
Wirklichkeitssinn war unüberwindlich. Auf die Grundlage kam es ihm an,
und die Grundlage war Geld -- wenn das nicht fehlte, war Rietschel für
alles zu haben.

Doch er suchte es nicht bei fremder Kraft. Er war alles aus sich
selbst geworden und trachtete nicht nach Mitgift, sondern nach einer
Frau, auf die er sich etwas einbilden konnte. Als er zu Kleinholz
& Co. kam, lernte er ein kleines Fräulein kennen, das durch seine
seltene Zuverlässigkeit auf ihn wirkte. Er fand Berta Prutz hübsch,
ihre kleine Gestalt störte ihn nicht, denn er war ja selbst nur
›Mittelfigur‹. Bescheidener Ernst und sauberer Fleiß -- wie selten
waren diese Eigenschaften bei einem Großstadtmädchen! Johann Peter
Rietschel kannte die Sittenverderbnis Berlins. Soviele Reize sie auch
für ihn gehabt -- es sollte sich nichts davon in sein künftiges Heim
schleichen.

Auf den Entschluß kam es an. Er sondierte als vorsichtiger Chemnitzer
lange. Er forschte und erkundigte sich, wo es nur möglich war. Bald
hatte er natürlich Bertas dunkle Herkunft erfahren. Hart ging er
mit sich zu Rate. Dann aber kam ihm eine Erleuchtung, die ihn mit
stolzer Befriedigung erfüllte: er stieß sich nicht daran. Er kämpfte
sich sogar zu der Gewißheit durch, daß solche Mädchen gerade die
besten Frauen werden konnten. Sie hatte wahre Demut in ihrer armen
Rechtlosigkeit, sie konnten erst das ganze Dasein durch einen
liebevollen Gatten gewinnen. Das war nach Rietschels gutherzigem und
eitlem Geschmack. Er sah es nur von sich aus.

Als sein Entschluß gefaßt war, zweifelte er nicht an dem Erfolge. Nun
ließ er seine Gefühle deutlicher werden. Immer wieder erschien er bei
Kleinholz & Co. -- wenn Berta nicht im Kontor war, ließ er sie rufen,
als ob er nur mit ihr verhandeln könnte. Bertas Kollegen merkten, daß
da ein Freier, nicht nur ein Kunde kam. Lächelndes Getuschel entstand,
halb neidisch, halb erfreut. Man gönnte ja schließlich der guten
Kollegin diesen Glücksfall. Berta merkte es erst zuletzt. Sie war zu
sehr in ihre Pflicht verbissen -- sie hatte den Kunden noch immer
nicht als Menschen sehen können. Nun begriff sie seine Absicht. Es
ängstigte und kränkte sie nicht -- es stimmte sie nur nachdenklich.
Liebhaben im wirren Sinne ihrer jungen Träume konnte sie Johann Peter
Rietschel nicht -- aber das war gerade gut -- er störte sie also
nicht in ihren dunklen Wünschen. Sie ahnte auch dafür einen Halt, den
sicheren Hafen der bürgerlichen Ehe.

Aber sie ließ sich nicht so einfach erhandeln -- sie wollte auch das
Ihrige bieten, sie wollte gleichberechtigt sein. Da kam nun plötzlich
ein langer Brief von Herrn Rietschel -- ein richtiger, schriftlicher
Heiratsantrag -- zum mündlichen hatte sich der vorsichtige Sachse
nicht entschließen können. Immer wieder las Berta seine sorgsamen
Ausführungen -- klangen ein wenig pedantisch, vielleicht auch
herrschsüchtig, aber sie gefielen ihr. Es war Verstand darin und mehr:
sie spürte einen Charakter. Was dieser Mann versprach, erfüllte er.
Außerdem -- sie konnte ihm wirklich etwas sein. Sie kannte ja seine
›Branche‹, sie freute sich ehrlich auf sein Geschäft. Wenn sie ihm
Glück brachte ... in Gottes Namen denn.

Sie sagte zu und sprach erst nach der Absendung ihres Briefes
mit Tante Grunow und Onkel Tübbeke. Die nahmen ihr die trotzige
Selbständigkeit nicht übel. Sie zeigten sich über alles Erwarten
erfreut.

»Rietschel in der Zimmerstraße? Den kenn' ich! Ein vorzügliches
Geschäft! Wenn du da 'reinheiratest -- à la bonkör!«

Berta freute sich an Onkel Tübbekes Beifall, wenn ihr auch der Begriff
›'reinheiraten‹ nicht sympathisch war. Tante Grunow blieb stillgerührt
-- sie übersah das bisherige Leben ihres Pflegekindes, und daß
nun eine große Station kam. Zum erstenmal hatte Berta ein warmes
Dankgefühl für die alte Frau. Ihr Sohn Alfons erfuhr die Verlobung
erst, als alles besprochen und festgesetzt war. Er hätte doch nur
abgeraten. Aber Berta konnte sich eine Genugtuung leisten, die ihr
besonders Vergnügen machte: plötzlich ging sie auf den düsteren Alfons
zu und rief: »Übrigens, mein Bräutigam ist Sozialdemokrat!«




                         SIEBZEHNTES KAPITEL


Johann Peter Rietschels politische Überzeugung war nicht schwer
zu nehmen. Er gehörte zu der Masse kleiner Knurrer, die mit ihrer
Zeitung sprechen und im Grunde die Sache des Volkes nach ihrem eigenen
Wohlergehen beurteilen. In seinen vier Wänden schimpfte er das
erlaubte Maß -- draußen drehte sich sein Fähnlein im Wind.

Einen möglichst sorgenfreien Hausstand haben -- das umschloß sein
Ideal. Das erste Geschenk, das er sich von seiner Braut wünschte,
waren gestickte Pantoffeln. Skeptisch und solide, war er aus dem
sächsischen Kleinbürgertum nach Berlin gekommen. Nun nahm er nur den
eigenen Vorteil wahr und widmete ihm seine zähe Kraft.

In der Großbeerenstraße mietete er eine hübsche Wohnung. Bis zum
Geschäft, das in der Zimmerstraße lag, hatte er es nicht weit. Er
sprang mit Eleganz auf die Pferdebahn, wenn es ihm zu spät geworden.

Auf der hinteren Plattform winkte er dann noch fröhlich Berta zu, die
lange am Erkerfenster stand und ihm nachsah.

Es wurde ihm oft zu spät. Seine junge Frau -- sie war es schon nach
wenigen Monaten geworden -- war ein süßes, warmes Geschöpf, von jener
keuschen Leidenschaft, die einsame Jahre angesammelt hatten. Sie
konnte auch Rietschel um die Besinnung bringen. Es wurden stürmische
Flitterwochen. Von der kurzen Hochzeitsreise, die man natürlich in die
Sächsische Schweiz gemacht, kam Berta verwandelt zurück. Ihr lange
gefesselter Lebensdrang stürmte so auf den ruhigen Gatten ein, daß er
ins Wackeln kam und sich mit heimlichem Lächeln sagte: ›Ich habe was
riskiert, weeß Kneppchen -- wenn's bloß keene Dummheit ist.‹

Aber er hatte ja Bertas junge Reize vor sich -- es konnte keine
Dummheit sein. So vergaß er, daß er fast doppelt so alt war als sie,
und kam ins Sausen. Sein Geschäft wurde nicht davon geschädigt --
im Gegenteil, es blühte nun erst auf. Er entschloß sich zu einer
Neuerung, die ihm immer zu gewagt gewesen: zu den Papierwaren
gesellte er die Galanterie und sogar die Literatur in Gestalt der
Fünfzig-Pfennig-Bibliothek Chinchilla, die wirklich spannende Romane
mit reizenden Titelbildern brachte. Der Verlag war in Kötzschenbroda
-- Rietschel übernahm die Generalvertretung für Berlin. Außerdem
plante er einen umfassenden Journallesezirkel, und Berta gründete eine
Leihbibliothek.

Sie zeigte sich für das Geschäft so begabt, wie Rietschel es erhofft
hatte. Vormittags versorgte sie ihren Haushalt -- nachmittags erschien
sie im Laden und half dort, wenn es am lebhaftesten zuging. Bald wurde
sie frauenhaft rundlich, und zu einem Kneifer hatte sie sich nun doch
entschlossen, da das Lorgnon sie bei der Arbeit hinderte. Auch die
unbequemen hohen Absätze gab sie bald auf und trug solide Schuhe: Sie
wurde wieder recht klein dadurch, aber Rietschel nannte sie ja immer
sein ›Kleinchen‹ und wollte sie garnicht größer.

Bei der Kundschaft war Berta sehr beliebt. Sie zeigte jene
unbegründete Heiterkeit, die eigentlich nervös war, aber auf alle, die
ihr nicht immer begegneten, angenehm wirkte. Rietschel machte dagegen
einen etwas brummigen Eindruck. Ihm lag das viele Lachen nicht, denn
er litt an Rheumatismus und ging lautlos in seinen Filzpantoffeln
umher. Wenn er Gummiarabikum oder Löschpapier oder rote Tinte brachte,
sah es aus, als ob er den Ernst des Lebens anböte. Die Romane der
Bibliothek Chinchilla legte er wie wissenschaftliche Werke vor. Aber
sein Geschäftssinn zeigte ihm sogleich den Vorteil, der in Bertas
anderem Wesen lag, und er ließ sie weiterzwitschern.

Von einem Ehrgeiz wurde Berta von vornherein gepackt: Sie ließ nichts
vorbei, was Anerkennung ihrer eroberten Lebensstellung bedeutete. Nur
scheinbar war sie von dem Druck der rechtlosen Geburt befreit --
junges Glück schläferte den bohrenden Drang in ihr ein, sie suchte
nicht mehr, denn sie hatte viel gefunden. Aber es schlummerte im
Dunkeln, was ungelöst blieb, und sie ließ es dort ängstlich liegen,
als ob es ihren Besitz verderben könnte. Leidenschaftlich gab sie sich
der äußeren Lebensgeltung hin. Sie zählte endlich mit, sie war Frau
Rietschel, und man fragte nicht viel, was dahintersteckte, wenn das
Gesamtbild harmonisch war.

Aber es kam ihr nicht nur auf die fremden Leute an. Tiefer
beschäftigte sie der Wunsch zu wissen, was die wenigen, die ihr zum
Schicksal geworden, von ihrem plötzlichen Glück dachten. Besonders
begierig war sie seltsamerweise nicht auf die Nächststehende, auf
ihre rätselhafte Mutter, sondern auf einen Mann, der eigentlich nur
lose mit ihren Angelegenheiten zusammenhing: sie hatte eine tiefe
Erinnerung an Justizrat Viktor Schwarz behalten. Einst war er eine
große Enttäuschung für sie gewesen. Jetzt stellte sie sich immer
wieder vor, was er wohl für Augen gemacht haben mochte, als er ihre
Heiratsanzeige im ›Berliner Lokalanzeiger‹ gelesen. Daß er sie dort
gelesen und als wichtig vermerkt hatte, war ihr nicht zweifelhaft.
›Das kleine Mädel,‹ hatte er sicherlich gedacht -- ›die geht ihren
Weg, die wird uns allen noch was zu raten aufgeben‹?

Onkel Tübbeke, den Berta zuweilen fragte, konnte ihr die ersehnte
Auskunft nicht geben. Privatgespräche führe der Herr Justizrat
nicht mehr mit ihm. Auch Tante Grunow hüllte sich in diplomatisches
Schweigen. Die beiden waren vorsichtig geworden. Sie trauten Bertas
jähem Unternehmungsgeist noch immer nicht.

Um so lebhafter beschäftigte man sich mit der jungen Frau Rietschel
dort, wo sie es eigentlich nicht erwartete: In Strelenwalde hatte die
Heiratsanzeige des ›Berliner Lokalanzeigers‹ Wellen geschlagen.

Frau von Rotkraut hielt die Zeitung in der Konditorei, aber mehr
ihrer selbst als der Gäste wegen, denn sie wollte mit Berlin in
Zusammenhang bleiben. Wenn sie täglich von der Weltstadt las,
wurde ihr die Strelenwalder Einförmigkeit weniger drückend. Noch
eifriger aber las Adele Schörg die Berliner Zeitung, und besonders
die Familiennachrichten studierte sie, als ob es sich um lauter
Bekannte handelte. Verlobte beneidete sie, Verheiratete weckten ihre
Schadenfreude, und wenn recht viele gestorben waren, seufzte sie
befriedigt. Adele war noch immer Ladenfräulein in der Prutzschen
Konditorei. Sie hatte sich nun doch unentbehrlich gemacht, denn Liese
mußte sich ihrem Gatten widmen.

Simba liebte Adele ohne Erhörung jahraus, jahrein. Täglich stand
er stundenlang im Laden und beobachtete sie. Sie kostete seine
Leidenschaft aus. Diesen schwarzen Riesen beherrschte ihre Koketterie,
die jedem weißen Manne gleichgültig. Sie brauchte vor ihm ihre
Häßlichkeit nicht zu scheuen, und wenn sie die bunte seidene Bluse
trug, die er ihr geschenkt hatte, strahlte er.

Eines Tages sprang Adele plötzlich auf, stieß Simba zur Seite und
hinkte zu Liese hinüber. -- »Na, was ist denn?« fragte die Frau
Konditor mißmutig.

Adele zeigte mit leuchtenden Augen auf ein Inserat: ›Statt jeder
besonderen Meldung: Ihre Vermählung beehren sich Freunden und
Bekannten hierdurch ergebenst anzuzeigen Johann Peter Rietschel,
Inhaber der Kunowschen Schreibwarenhandlung, Zimmerstraße 69, und
Berta Rietschel, geb. Prutz.‹

Liese starrte bestürzt auf diese Zeilen. Sie konnte nichts sagen.

»Ich weiß, wer das ist!« frohlockte Adele.

»Aber halt deinen Mund,« flüsterte die schwächer gewordene, rasch
ergraute Frau.

»Aber ja! Sie meinen wohl wegen Herrn Major? Ich weiß doch! So dumm
bin ich doch nicht! Aber sagen Sie bloß, liebe Frau Liese -- da war
doch mal vor ein paar Jahren so'n kleines Mädel bei uns, so'n nettes,
winziges Fräulein -- erinnern Sie sich nicht? Sie kamen dann vom
Schlafen 'runter, und ich mußte mich drücken -- dann haben Sie mit ihr
allein geredet -- na, das wissen Sie doch noch?«

Liese war rot geworden. Scheu sah sie sich nach Simba um -- aber der
war in die Backstube gegangen. »Was meinst du denn eigentlich? Was
willst du denn?«

»Na, wegen dem Namen Prutz! Und Berta -- so hieß doch das Kind -- das
weiß ich doch noch!«

»Also -- du bist doch ganz schrecklich, Adele -- also damit du mich
endlich in Ruhe läßt -- ja -- das war sie. Und nun hat sie sich
verheiratet. Übrigens sehr gut -- das Kunowsche Schreibwarengeschäft
kenne ich -- da hab' ich oft gekauft. Na, mich beruhigt das
eigentlich. Lieber Gott, so'n armes, verwaistes Geschöpf!«

Es funkelte wirr in Adeles Augen. Sie strich sich mit zitternder Hand
das Haar zurück: »Wie mag das nur gekommen sein?? Geld hat sie nicht,
und winzig sieht sie man aus -- und nun heiratet sie doch!«

»Der Mann wird sie eben liebhaben.«

»Ja, wie kommt denn das?«

Jetzt mußte Liese lachen: »Frage doch nur nicht so albern, Adele.« --
Dann stand sie mit schweren Füßen auf, faltete seufzend die Zeitung
zusammen und stieg zu ihrem alten Invaliden ins obere Stockwerk.

Adele aber stand, von einem sonderbaren Krampf geschüttelt, allein im
Laden. Plötzlich kam ihr ein Entschluß -- sie eilte zur Backstube.
-- »Simba!« rief sie. »Wo steckst du denn? Ich bitte mir aus, daß du
vorhanden bist, wenn ich rufe!«

Der lange Neger stolperte, glühend von der Ofenhitze, vor sie hin.
Fragend starrte er in ihr verwandeltes Gesicht. Was war das? Sie bot
sich ihm? Endlich? Die Mauer war fort?

»Willst du mich heiraten, Simba?« flüsterte Adele.

Da schrie der Schwarze wie ein krankes Raubtier auf.

»Um Gottes willen! Bist du verrückt? Das hören sie oben!«

Er aber fragte nach niemand. In seinem wahnsinnigen Jubel packte er
sie und hob die Zappelnde empor und überstürzte sie mit seinen Küssen.

Bald zeigten sie sich Arm in Arm den überraschten Strelenwaldern.
Liese aber ging an dem sonderbaren Paar vorüber zu Tante Sanftleben.
Die war nun uralt. Liese fand sie in dem Lehnstuhl am Fenster, wo
sie selbst einst als Wöchnerin gesessen hatte. Sie mußte sehr laut
sprechen, aber die Tante verstand sie noch. Ihr zitterndes Köpfchen
konnte alles erfassen.

»Berta,« sagte sie mit ihren guten, glanzlosen Augen -- »Berta hat
sich verheiratet. -- Nun siehst du doch, Liese, daß es sich gelohnt
hat, für sie zu leiden.«

Mit harter Miene sah Liese auf den Strohmarkt hinaus: »Wir wollen
es abwarten, Tante. Hinter die Kulissen sieht man nie. Bei Simba
und Adele -- da glaube ich jetzt an ein Glück. Aber Berta ... Das
Kind hat, glaub' ich, einen Charakter, der -- ich weiß nicht, wie
ich's ausdrücken soll -- der immer zerstören muß. Ich kann mir nicht
vorstellen, daß sie jemals Ruhe findet. Mich hat sie nicht -- ich darf
es ja nicht ändern -- und einen Vater hat sie nicht -- das sitzt eben
in einem Menschen, das schleppt einer mit, solange er lebt.«

Strelenwalde blieb Berta fern. Ihre Scheu vor der Mutter war
unüberwindlich. Nie wieder konnte sie sich der Zurückweisung
aussetzen. Sie starrte auch auf ihr Versprechen. Aber sie lebte ja nun
selbst in bürgerlichen Ehren. Der Kreis, in dem sie Einfluß gewann,
beurteilte sie lediglich als Frau Rietschel -- hier fragte man nicht,
wem ihre Herkunft Verlegenheit bereitete. Berlin war in solchen Fragen
tolerant.

Aber es lockte auch den, der seine rasche Gunst erfuhr, immer tiefer
in Regionen, die ihm eigentlich verschlossen waren. Man glaubte
mitzutun, wenn man noch draußen stand; man genoß mit Kennermiene und
blieb ein dürftiger Zaungast. Das Tempo riß mit und täuschte doch,
denn es war das Tempo der anderen.

Berta Rietschel sah das alles nicht. Sie war von ihrem kleinen Erfolge
gebannt. Ein Ehrgeiz bannte in ihr, den ihre Umgebung nicht ermessen
konnte. Er richtete sich, wie es im Wesen der Emporgekommenen lag,
vor allem auf geistige Vorteile. Bildung war Berta mehr als Geld,
denn Geld verdiente ja ihr Mann genug. Sie wollte die zahllosen
Wissenskräfte, die sie umwirbelten, einfangen und fühlte sich
benachteiligt, wenn ihr etwas ›zu hoch‹ blieb. Eigentlich handelte es
sich nur um ein Mitredenkönnen. Bildung ist Macht -- das wurde Bertas
Überzeugung. Sie fühlte sich nicht nur der Leihbibliothek wegen dazu
verpflichtet -- je besser es ihr ging, je geachteter sie wurde, desto
empfindlichere Lücken wurden ihr klar, und entsetzt übersah sie, was
an ihr versäumt worden.

Rietschel ging an solchen Gefühlen vorüber. Anfangs hörte er
noch verwundert zu, wenn Berta sie ihm auseinandersetzte. Er
wollte ihr die Spuke ausreden, indem er auf die gute Bilanz des
ersten Geschäftsjahres hinwies. Dann aber erklärte er ihr, daß
er von Romanen, Theaterstücken und Vorträgen nichts halte. Die
Chinchilla-Bibliothek gehe ja, aber wenn sie einmal nicht mehr ginge,
nehme er ebenso gern ein Kochbuch in Kommission. Was das Theater
betreffe, so sei es ihm nach dem Schillertheater zu weit und im
Schauspielhause zu teuer -- außerdem gebe man da lauter traurige
Stücke, und das Leben sei an sich schon traurig genug. Er wolle
sich nur noch gründlich auslachen, und dafür sei das Metropol mit
Thielscher und Giampietro da. Vorträge aber -- den ganzen Abend
sich von einem Professor etwas vorquatschen lassen, was nur dieser
verstehe, und dann noch in die zugige Garderobe ... Nein, da sitze er
doch lieber zu Hause und habe seine warmen Pantoffeln an und braue
sich einen steifen Grog.

Berta hörte das still enttäuscht mit an. Erst lachte sie, dann aber
ärgerte sie sich über Rietschels eitle Verständnislosigkeit. Ein neuer
Stachel regte sich in ihr: sie begann sich ihrem Manne überlegen
zu fühlen. Ihn noch weiter in ihr Inneres blicken zu lassen, wurde
sie zu stolz. Er spürte es wohl, daß sie langsam von ihm abrückte
und allerlei Heimlichkeiten hatte; aber er war auch froh, daß sie
ihn endlich in Ruhe ließ. Um einen bequemen Ableiter für diese
Verstimmungen zu haben, schaffte er sich einen Hund an. Der weiße
Pudel Schneemann gab ihm nichts zu raten auf und erfuhr die ganze
Zärtlichkeit seiner sächsischen Seele.

Zu einer tieferen Verstimmung kam es nicht. Die Ehe wurde immer wieder
durch den natürlichen Verlauf der Dinge gefestigt. Berta mußte ihren
Bildungshunger aufgeben, denn stärker als die große Welt zeigte sich
ihre eigene kleine, in der sie Mutter wurde. Nach zweijähriger Ehe
gebar sie einen Knaben, der den Namen Paul erhielt. Dann hatte sie
nur ein knappes Jahr Schonzeit, und das zweite Kind erschien, eine
Tochter, die man nicht Liese, sondern Grete nannte.

Schmerzen und Arbeit, viele Freuden auch -- Berta tauchte lange in
den Muttersorgen unter. Auch ihm, dem sie das alles dankte, kam sie
wieder näher. Rietschel stellte zwar immer nur die Ähnlichkeit der
beiden Kinder mit seiner Person fest und betonte fast kränkend, daß es
recht stattliche Menschen werden könnten. Es klang fast, als ob er auf
Mißgeburten gefaßt gewesen wäre. War ihm Berta doch zu klein? Stieß
er sich an ihre schlechten Augen? Die überreizten Sinne der Wöchnerin
beobachteten mißtrauisch. Wenn auch noch so viel Glück um sie herum
erblühte -- irgendwo lauerte das Verderben.

So kam sie durch die Kinder wieder zum Grübeln über ihr eigenes
Schicksal. Sie sah zwei rechtlich geborene Menschen, aber selten
wurde dieses hohe Bewußtsein von einem Neid beschlichen, den sie
nicht bannen konnte. Je mehr sie ihren Kindern die Rechte des Lebens
zuführte, desto mehr entbehrte sie sie selbst. Bei ihr verwelkte im
Schatten, was bei jenen sogleich in der Sonne stand.

Besonders nach der schweren Geburt des Mädchens tauchten diese
Gespenster auf. Sie suchte sie niederzuringen, sich immer wieder an
die schönen Tatsachen zu halten; aber sie konnte es nicht hindern,
daß sie ihr eigenes Fleisch und Blut mit fremden Augen ansah. So
entwickelte sich ein seltsames Verhältnis zwischen Mutter und Kindern.
Von Anbeginn wechselten innige Zusammengehörigkeit und scheues
Abgleiten. Man spielte vergnügt miteinander -- wenn dann Paulchen
seine Eisenbahn zum Aufziehen, Gretchen ihre Puppe zum Ankleiden
brachte, stießen sie plötzlich auf finstere Gleichgültigkeit. Ihr
kindliches Vertrauen stand vor einer Mutter, deren Blick zu sagen
schien: ›Was wollt ihr von mir? Ich lebe in Gedanken, die ihr nicht
kennt.‹

Das blieb so, bis die Kinder größer und wißbegieriger wurden.
Charaktere deuteten sich an -- Paul hatte offenbar das Zeug zu einem
begeisterungsfähigen Jüngling, während Grete still und herb wie die
Mutter wurde. Der kleine Egoismus des Vaters schien in beiden nicht
zu sein, aber Berta freute sich nicht daran. Sie ließ den Kinder
ihren Willen, denn nun konnte sie zu sich selbst zurückkehren. Sogar
den Sonntag entzog sie ihrer Familie. Schon früh ging sie fort und
blieb den ganzen Vormittag im Tiergarten oder im Zoologischen Garten,
wo sie sich eine stille Bank suchte. Hier las sie die Bücher, durch
die sie das Leben zu erkennen glaubte. Es waren Romane, die bei den
›oberen Zehntausend‹ spielten. Was vornehme Villen dem Vorübergehenden
verbargen, glaubte sie zu belauschen und als Eingeweihte zu verstehen.

Die Kinder beklagten sich beim Vater, weil sie in den Zoologischen
nicht mehr mitgenommen wurden. Dort störten sie die vertiefte Mutter,
wenn sie die Bären füttern oder den Elefanten besuchen wollten.
Rietschel war empört. Jetzt gab es den ersten Zusammenstoß. Ein
unerfahrenes Dienstmädchen hatte das Sonntagsessen verbrannt -- die
Hausfrau wurde natürlich beschuldigt. Rietschel konnte schrecklich
grob werden. Sein selbstbewußtes Berlinertum verband sich dann mit
sächsischer Schärfe. Berta wehrte sich nur stumm erhaben, aber sie
blieb nun zu Hause. Mit ihren Büchern schloß sie sich ein.

Den zweiten Zusammenstoß brachte die Leihbibliothek. Berta behauptete,
ihr Niveau heben zu müssen, und kaufte Ludwig Ganghofers Romane ein.
Rietschel aber erklärte sie für viel zu teuer.

»Wenn du schon was Besseres anschaffen willst -- übrigens eingebunden
sind sie ja doch alle gleich, ich werde doch keine Kalbslederbände
kaufen, damit die Leute Stearin drauf tropfen -- aber wenn du schon
was Besseres anschaffen willst, dann nimm was von Fontane! Gestern
erst hat mich einer nach den ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹
gefragt!«

»Quatsch, das sind doch Schulbücher! So was führen wir nicht!«

»Ich quatsche nie, liebes Bertchen!! Das laß dir ein für allemal
gesagt sein!! Und dein Ganghofer mit seine Tiroler -- lächerlich! Das
ist ja nicht mal was Pikantes für die Herren!«

»Du verstehst überhaupt nichts von Büchern!«

Berta knallte die Tür hinter sich zu. --

Im Schillertheater sah sie bald darauf das Schauspiel ›Johannisfeuer‹.
Die Seelenkämpfe des Notstandskindes fanden bei ihr stürmische
Empfänglichkeit. Sie wußte nicht mehr, daß sie die kleine Frau
Rietschel aus der Großbeerenstraße war, sondern lebte in den
Liebesschmerzen der opfermutigen Marikke. So kam eine Rührung über
sie, die auch im Schillertheater ungewöhnlich war. Neben Berta saß ein
junger Mann, der recht vornehm, aber kränklich aussah. In der Pause
bemerkte er, daß Berta weinte. Jetzt sagte er, indem sein scharfes und
kantiges Gesicht sich seltsam zusammenzog: »Ja, ja -- auf die Geburt
kommt es an.«

»Ich dachte auch eben: alles, was so düster und unzufrieden in einem
bleibt, das macht doch bloß das Herkommen aus. Marikke muß unschuldig
leiden.«

»Freilich. Es ist eine große Tragik, mutterlos zu sein.«

»Und vaterlos. Was ist eigentlich schlimmer?«

»Es kommt darauf an, gnädige Frau. Jedenfalls ist es von der größten
Bedeutung, daß man sich vollständig klar wird über Vater und Mutter.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nein, ich meine -- man erkennt sich selbst erst dadurch. Nur auf
diesem Wege wird es einem möglich, seinen eigenen Charakter zu
verstehen. Kennen Sie Ibsen?«

Berta wurde rot: »Nein -- noch nicht ...«

»Nun, dann wissen Sie freilich nicht, was ich mit dem Gesetz der
Vererbung meine. Ibsen ist nämlich größer als Sudermann. Als ich aus
seinen ›Gespenstern‹ kam, hätte ich mich beinahe erschossen. Aber wenn
man sich über Vater und Mutter klar wird, besonders über den Vater --
dann kann man ebensogut zum Glück gelangen wie zur Verzweiflung. Wenn
ich mich zum Beispiel mit Ihnen vergleiche --« er lächelte bei diesen
Worten, aber es war ein trauriges Lächeln -- »bei Ihnen ist mir ein
günstiges Resultat unzweifelhaft.«

»Na, na,« flüsterte Berta mit pochendem Herzen -- »da können Sie sich
aber sehr irren ...«

»Warum denn? Sie sind doch sicherlich eine glückliche Gattin und
Mutter?«

»Ja, ja ... Das heißt ... Man ist eben doch einsam, was die Hauptsache
anbelangt. Sehn Sie mal, mein Mann der ist nur fürs Geschäft, und
meine Kinder kriegen immer das Allerbeste, -- aber ich selber --
mit meiner Mutter bin ich auseinander, und meinen Vater kenn' ich
garnicht.«

Der kranke Nachbar sah sie überrascht durch seine Hornbrille an: »Sie
kennen ihn garnicht? Lebt er denn noch?«

»Ja, freilich ... Vielleicht hier in Berlin ... Am Ende treff' ich ihn
alle Tage ...«

Berta begleitete die letzten Worte mit nervösen Handbewegungen.

Der Nachbar beugte das Gesicht auf seine mageren Hände: »Hm ... Ja ...
Nun, da wäre es doch aber außerordentlich interessant --«

»Was denn?«

»Ich meine, als reifer, erkenntnisfähiger Mensch erst seinen eigenen
Vater kennenzulernen -- das stelle ich mir als unschätzbaren Gewinn
vor. Sind Sie außerehelich geboren? Verzeihen Sie die Frage --.«

»Selbstverständlich. Ich geniere mich garnicht deswegen. Aber alle
Welt hat sich verschworen, mir meinen Vater zu verheimlichen. Ich
darf nicht mal danach forschen. Mir sind sozusagen die Hände gebunden.
Das ist auch ein Trauerspiel, sag' ich Ihnen. Na, ich habe mich ja
trotzdem durchgesetzt. Aber jetzt -- es läßt mir keine Ruhe mehr.
Gerade weil ich was erreicht habe -- gerade deshalb --«

»Wollen Sie endlich wissen, wer Sie sind!«

»Jawohl!«

Es war ein sonderbares Gespräch. Berta empfand das Schicksal dieser
Begegnung. Nun kam das Publikum wieder, die Pause war zu Ende, der
dritte Akt begann. Nach Schluß des Stückes sah Berta ihren Nachbar mit
ringenden Augen an: »Raten Sie mir doch -- was soll ich tun?«

»Ich kenne Sie zu wenig.«

»Aber Sie wissen sicher mehr von solchen Sachen als die anderen.«

»Ich würde an Ihrer Stelle um jeden Preis --«

»Um jeden Preis?«

»Ihren Vater ausfindig machen.«

»Glauben Sie, daß es mir dann besser ginge?«

»Klarheit über sich selbst gewinnen bedeutet immer eine Besserung.«

Sie trennten sich. Berta ging versonnen heim. Es war weit von der
Wallnertheaterstraße bis zur Großbeerenstraße, aber in die Elektrische
stieg sie heute nicht. Sie machte den langen Weg, um ihren Kriegsplan
zu entwerfen. Nun entbrannte es wieder lichterloh, was so lange
geschlummert hatte. Der Fanatismus ihrer Backfischzeit ergriff sie.
Alles Sichere und Ruhige, was ihr die letzten Jahre gebracht, stieß
sie von sich. Freilich, der Mutter durfte sie nicht wortbrüchig
werden. Aber vielleicht erreichte sie nun doch alles, wenn sie gar
nichts unternahm. Sie mußte die ~anderen~ zum Sprechen bringen,
aus ~eigenem~ Willen. Noch lebten ja Mitleid und Edelmut auf
dieser Welt. Aber wer waren die anderen? ...

Eine ganz geheime Schadenfreude ergriff sie, als sie bei Rietschel
eintrat. Sie setzte sich ihm gegenüber, aß nur wenige Bissen und
griff dann plötzlich nach dem Adreßbuch. Mit stiller Spannung wälzte
sie den dicken Band.

»Wen suchst du denn eigentlich?« fragte Rietschel nach einer Weile.

»Ach, niemand! ...«

»Dann laß das doch gefälligst sein. Das ist ja ungemütlich.«

Aber Berta blätterte weiter. Jetzt war sie bei Sch -- sie sah den
Namen Schwarz -- er war oft vertreten, aber ihr fiel ein bestimmter
Träger dieses Namens ein. Sie suchte mit emsigen Finger. Endlich
-- da war er -- Viktor Schwarz, Justizrat und Notar -- noch immer
Taubenstraße 34.

Sie starrte auf die Zeilen -- die Gegenwart ihres Mannes vergaß sie.
Ja, hier mußte sie anknüpfen -- hier machte sie jetzt den zweiten
Besuch. Viele Jahre waren seit dem ersten verstrichen. Bei Justizrat
Schwarz war doch vielleicht die richtige Quelle -- sie durfte ihn nur
nicht bedrängen -- er mußte aus sich selbst bekennen. Nickend ließ sie
den Zeigefinger auf seinem Namen.

Rietschel hatte ihr mit unbehaglicher Verwunderung zugesehen. Jetzt
stand er langsam auf: »Weißt du, Bertchen, manchmal möchte man
wirklich meinen -- na, ich will nichts gesagt haben. Gute Nacht.«

Er schlurfte in seinen Filzpantoffeln hinaus.




                         ACHTZEHNTES KAPITEL


Tübbeke sah zum Himmel, als er an einem schwülen Nachmittage von einem
amtlichen Gange ins Bureau zurückkehrte. -- »Et gibt was!« rief die
Obstfrau, die vor dem Hause ihren Verkaufsstand hatte. -- »Und wir
haben erst April«, meinte Tübbeke.

Nachdenklich blieb er vor den Körben der Frau stehen. Sie handelte
mit Veilchen und Apfelsinen. Es war Frühling, aber die dumpfe Luft
ließ keine rechte Freude daran aufkommen. Tübbeke kaufte sich zwei
Apfelsinen und fragte im Hausflur noch einmal, ob sie auch nicht sauer
seien. -- »Sie wollen wol Blutoranschen for'n Jroschen?« zeterte die
Frau. -- Der alte Bureauvorsteher betrat das Vorzimmer. Hier saß nur
eine wartende Dame. Er erkannte sie in der Dämmerung nicht, sagte aber
mit Freundlichkeit, die er für das ganze weibliche Geschlecht hatte:
»Ein Momentchen! Werden wohl gleich drankommen!« -- »Ich habe Zeit,
Onkel«, war die Antwort.

Nun erkannte er sie. Ihm zitterten die alten Beine. Sie hatte sich
wahrhaftig wieder hereingedrängelt. Das unvernünftige Frauenzimmer!
Und extra hatte man es ihr verboten.

In seinem Arger vergaß Tübbeke ganz, daß seit Bertas erstem Besuch
Jahre vergangen waren. Er hatte keinen Backfisch mehr vor sich.

Mit rotem Kopf trat er dicht an sie heran. »Was soll denn das heißen,
du? Da hört sich doch wahrhaftig alles auf! Du weißt doch --«

Sie sah ihn von oben bis unten an: »Lieber Onkel Tübbeke, ich bin
mündig. Außerdem, bei allem schuldigen Respekt, du bist für mich hier
Bureauvorsteher -- ich will den Herrn Justizrat sprechen.«

Er war doch eingeschüchtert. Es lag nicht zum wenigsten an ihrer
eleganten Kleidung, die er nun bemerkte. Sie duftete wie eine große
Dame und hatte sich für diesen Besuch wirklich hübsch gemacht.
Unwillkürlich dachte er: ›Jetzt wird sie Eindruck auf ihn machen
-- das hat das kleine Biest gewollt. Am Ende fühlt er sich doch
geschmeichelt, weil er solche Tochter hat. Aber sie ahnt ja noch
garnichts von seiner Vaterschaft. Sonst hätte sie nicht mehr diesen
ratlosen Blick. Ihr Ausdruck hat sich kaum verändert -- sie ist noch
immer das Kind von einst.‹

Jetzt erschien Herr Hollunder, ein neuer Schreiber, der immer
stotterte, wenn er eine Dame ansprach: »Herr Ju-justizrat läßt noch um
einen Au-augenblick Geduld bitten!« Sehr verlegen wandte er sich zu
Tübbeke: »Herr Vorsteher -- Sie möchten doch erst mal kommen!«

»Aha«, murmelte Tübbeke und warf Berta einen vielsagenden Blick
zu. Dann ging er zu seinem Herrn: »Ja, so leicht, wie du dir das
vorstellst, mein Dochter, ist die Sache denn doch nicht!«

Er stand in dem Sprechzimmer. Es hatte sich in den letzten Jahren sehr
verändert. Man spürte, daß es hier um Millionen ging. Der vergrößerte
Raum glich dem Empfangszimmer eines mächtigen Bankdirektors. Die
Einrichtung war üppig, und die prächtigen Klubsessel schienen nur
auf Aufsichtsräte zu warten. Viktor Schwarz saß an seinem breiten
Diplomatentisch. Er war nun ein ältlicher Lebemann geworden. Sein
welkes Gesicht war feist, die schwarzen Augen schielten noch etwas
stärker hinter dem Kneifer. Eine umfangreiche Glatze hatte sich
eingestellt, die allerdings die Stirn vergeistigte.

Herrisch blickte er auf seinen alten Beamten: »Tübbeke, wir müssen
jetzt ein für allemal die nebensächliche Privatkundschaft los werden.«

Der Bureauvorsteher wußte zwar nicht, was darunter zu verstehen war,
aber er nickte für alle Fälle.

»Sehn Sie mal, Tübbeke, es wächst mir über den Kopf. Ich bin jetzt
nicht nur der erste Anwalt Berlins im Bankfach, ich gehöre auch
zur Hochfinanz, durch meine Hände laufen die Fäden der europäischen
Börsen. Allenfalls kann ich mich noch auf gewisse Ehescheidungen
einlassen, aber jeden kleinen Querulanten anzuhören, dazu reicht es
bei mir nicht mehr aus. Das sollen Anfänger machen.«

Tübbeke nickte wieder -- er wußte noch immer nicht, wie er sich
verhalten sollte. Hatte der Justizrat ihm nur das zu sagen?

Jetzt wurde Viktor Schwarz ungeduldig: »Na, Sie kennen doch die Dame,
die da draußen auf mich lauert. Tun Sie doch nicht so!«

»Herr Justizrat,« stotterte der Alte -- »ich tu' wahrhaftig nicht so
... Ich hab' mich nämlich auch schon geärgert ... Ich hätte nicht
gedacht, daß die verrückte Person sich doch noch mal ...«

»Na eben! Sie erinnern sich hoffentlich an meine damaligen Worte!«

Diese Drohung war verfehlt -- Schwarz fühlte es im nächsten
Augenblick. Er hatte Tübbekes Pension inzwischen bewilligt,
zurückzunehmen war sie nicht mehr. Jetzt mußte er ihn sich anders
sichern. -- »Tübbeke,« sagte er nach einer Weile vertraulich -- »das
ist eine schrecklich aufdringliche Frau. Stellen Sie sich vor --
erst hat sie mir drei Briefe geschrieben, die ich selbstverständlich
unbeantwortet ließ. Nun ist sie doch gekommen. Was sag' ich, gekommen?
Heute Vormittag, während Sie in Moabit waren, ist sie schon zum
drittenmal hier. Das Rindvieh, der Hollunder, stottert immer, und dann
bleibt sie. Ja, ich habe wahrhaftig weder Zeit noch Kraft für solche
Person. In einer halben Stunde kommen die Amerikaner mit den Herren
von der Disconto-Gesellschaft. Sie müssen mich von dem Igel befreien,
Tübbeke.«

Jetzt hatte sich der Bureauvorsteher gefaßt: »Herr Justizrat -- ich
glaube doch, Sie überschätzen das. Die Berta, lieber Gott -- die wird
man leichter los, als Sie denken. Die kenn' ich doch, ich möchte
sagen, aus den Windeln her --«

»Hm ... Ja ... Das weiß ich!«

»Außerdem ist sie doch nun jahrelang nicht bei Ihnen gewesen --«

»Das ist mir vollkommen gleichgültig! Ich will sie überhaupt in meinem
Bureau nicht sehen!«

»Bloß nichts merken lassen -- um Gottes willen nichts merken lassen,
Herr Justizrat!«

»Was soll das heißen? Was meinen Sie damit?«

Tübbeke hatte sich verplappert: »Na -- ich meine man bloß -- ich kenn'
sie doch so weit -- in Güte kriegen Sie die zu allem -- bloß nicht
im Bösen -- bloß nicht widerspenstig machen -- dann ist bei der kein
Halten mehr. Das ist so'n Charakter, Herr Justizrat!«

»Aber was fällt Ihnen denn ein? Ich habe doch wahrhaftig nicht die
geringste Veranlassung --«

Tübbeke schwieg verwirrt. Er kannte sich nicht mehr aus. Was durfte er
noch sagen, und was sollte er verschweigen? Dieser Mann stellte ihn
auf den gleichen Boden, und wenn er sich darauf bewegen wollte, ließ
er ihn ausgleiten.

Schwarz fixierte ihn: »Sie meinen also am Ende gar -- ich soll das
Geschwätz noch einmal anhören? Ich soll meine kostbare Zeit --«

»Wenn Sie die 'rausschmeißen, fängt sie Sie auf der Straße ab, und
schließlich liegt sie draußen vor der Tür -- die kenn' ich!«

In diesem Augenblick klopfte es -- Herr Hollunder trat ein. Er war
aber so verwirrt, daß er gegen die Vorschrift handelte und die Tür
hinter sich offen ließ: »Herr Justizrat -- die Dame sagt, sie geht
nicht wieder weg -- und sie will auch nicht länger warten --«

Schwarz schnellte empor: »Das ist ja --!«

Schnelle Schritte näherten sich -- plötzlich stand eine kleine,
geputzte Person im Sprechzimmer. Sie hatte sich an Tübbeke und
Hollunder vorbeigedrängt -- dicht vor dem Justizrat blieb sie stehen.
Während dieser Haltung suchte, verschwanden die beiden Beamten
schleunig. Jetzt sollte der starke Mann allein mit ihr fertig werden.

»Herr Justizrat -- seien Sie mir bitte, bitte nicht böse!«

Mit gefalteten Händen, ein banges Lächeln auf dem geröteten Gesicht,
stand Berta vor ihm. Ihre ganze Erscheinung hatte etwas Kindliches,
von naiver Überzeugung Beherrschtes. Sichere Koketterie blinzelte auf
sie nieder, denn so hübsch hatte er sie nicht in Erinnerung gehabt.
Nun aber suchte er noch einmal die bewährte Erstarrung. Er schob die
rechte Hand zwischen zwei Knöpfe seines Gehrocks und sagte: »Ich muß
mich doch sehr wundern, gnädige Frau!«

»Herr Justizrat, Sie sind auch ein Mensch, der durchsetzt, was er
will! Ich bin ebenso! In Amerika soll es ja auch so sein!«

»Wir sind nicht in Amerika!«

Berta setzte sich, ohne daß er ihr den Stuhl angeboten hatte. Sie ließ
ihren flehenden Blick nicht von ihm: »Haben Sie denn meine Briefe
bekommen?«

»Ich erinnere mich nur an einen Brief.«

»Drei hab' ich Ihnen geschrieben! Auf keinen haben Sie geantwortet!«

»Gnädige Frau, ich kann mich nicht einmal entschuldigen. Dabei kennt
man mich überall als die Höflichkeit selbst. Aber Sie scheinen von
einer ganz falschen Voraussetzung auszugehen. Sie wissen nicht, wo Sie
sich befinden. Ich trage die Verantwortung für Millionen. In diesem
Zimmer wird das Schicksal von Königreichen entschieden. Ich kann mich
nicht mehr mit dem Kleinkram der Privatklienten abgeben.«

»Pardon, Herr Justizrat -- aber deswegen können Sie doch Briefe
beantworten!«

»Ich kann es nicht! Ich bedaure ~sehr~! Hätten Sie einfach
antelephoniert, dann wären Sie von meinem Personal aufgeklärt
worden! Aber schriftliche Anfragen, für die ich kein Interesse habe,
~muß~ ich ignorieren!«

Er wurde so deutlich, wie nur möglich -- doch Berta lächelte ihn noch
immer an. -- »Das seh' ich nicht ein«, sagte sie nach einer Weile.
»Dann müßte es doch draußen an der Tür stehen -- sonst foppen Sie ja
die Leute --«

»Erlauben Sie --!«

»Draußen steht aber bloß: ›Justizrat Schwarz, Rechtsanwalt und Notar,
Sprechstunden von 10 bis 1 und 4 bis 6, außer Sonnabend.‹ Da kommt man
eben mit seinen Angelegenheiten, und kann ich Ihnen bloß sagen: Meine
Angelegenheit ist mir auch Millionen wert.«

»Das mag ja sein -- für ~Ihre~ Anschauung -- ~ich~ hingegen
--«

»Nein, Herr Justizrat! Es kommt mir fast so vor, als ob Sie bloß
~mich~ nicht empfangen wollten, mich persönlich! Jawohl!«

Jetzt lächelte die kleine Frau nicht mehr. Ein tückischer Zorn glomm
in ihren Augen. Viktor Schwarz stützte sich auf seine leise zitternden
Hände. Aber er war gewappnet: »Da täuschen Sie sich vollkommen. Ich
handle lediglich prinzipiell. Was sollte ich auch für einen Grund
haben? --«

»Das weiß ich eben auch noch nicht. Sie könnten ja 'ne ganze Menge
Gründe haben, Sie als Rechtsvertreter meiner Mutter.«

»Das bin ich längst nicht mehr. Frau Major von Rotkraut bedarf meiner
Dienste nicht. Die lebt seit Jahren ihr schönes, stilles Leben in
Strelenwalde.«

»Und von mir will sie nichts mehr wissen! Mich kennt sie nicht mehr!
Ich hab' ihr versprechen müssen -- --«

»Was haben Sie Ihr versprechen müssen?«

»Na, es ist ja schon so lange her. Ich war noch ein halbes Kind
damals. Jetzt brauche ich mich solchen Sachen Gott sei Dank nicht mehr
auszusetzen. Ich bin eine angesehene Frau. Mein Mann hat ein großes
Geschäft. Und meine beiden Kinder --«

»Aha -- so, so -- ja, sehen Sie mal, meine liebe Frau Rietschel --
das wollte ich Ihnen schon sagen -- mir scheint doch, daß in Ihrem
Köpfchen alles durcheinandergeht. Sie verwechseln tatsächlich die
Zeiten. Was wollen Sie denn eigentlich? Damals waren Sie als arme,
kleine Buchhalterin bei mir -- ich erinnere mich noch genau -- und
jetzt sind Sie in Samt und Seide -- als Gattin und Mutter in den
glücklichsten Verhältnissen --«

Berta streckte abwehrend ihre Hände aus: »Ach, Herr Justizrat! Daß das
bloß äußerlich ist -- das brauch' ich Ihnen doch nicht zu sagen!«

»Ich bin natürlich nicht weiter orientiert. Es interessiert mich auch
nicht, wie gesagt --«

»Nein, Herr Justizrat -- mir geht es ~innerlich~ durchaus nicht
besser, eher noch schlechter, als damals! Darum bin ich ja heute bei
Ihnen!«

»Bei mir --«

»Sie sind der einzige Mensch auf Gottes Welt, zu dem ich Vertrauen
habe! Sie sind mir geradezu im Traum erschienen!«

Viktor Schwarz spürte kalten Schweiß auf der Stirn. Er zog sich etwas
mit dem Stuhl zurück: »Das ist mir ja sehr schmeichelhaft, aber --«

Berta folgte ihm. Ihr Ton änderte sich bei den nächsten Worten -- es
wob sich etwas seltsam Vertrautes, eine geheime, bittende Mahnung
zwischen ihnen an: »Sie werden mich nicht auch noch von sich stoßen!
Sie verstehen mein Problem! Denn es ist ein Problem, Herr Justizrat!
Gerade weil ich einen Vater für meine Kinder habe, entbehre ich selbst
den Vater! Gerade weil ich jetzt Hoffnung fürs Leben habe, muß ich
wissen, wer ich bin! Es ist doch furchtbar unrecht, daß man mich so
ganz im Dunkeln läßt! Ich will ja garnichts weiter unternehmen! Ich
will ja keinem Menschen lästig werden! Aber Sie, als ein Mann, der
in der Welt steht, -- Sie sollten doch einen freieren Standpunkt
einnehmen? Sie sollten sich doch am Ende meiner erbarmen!«

Der Justizrat erhob sich. Er ging, wie damals, zum Fenster und wandte
sich ab. -- »Liebe Frau Rietschel,« sagte er dann nachdrücklich, »ich
verstehe Sie -- ja, ja, ich verstehe Sie -- alle Taktfehler, die Sie
mir gegenüber begangen haben, rechne ich Ihrer Erregung an. Aber
lassen Sie mich jetzt noch einmal ehrlich und wohlwollend zu Ihnen
sprechen. Ich kann Ihnen nicht helfen. Ihnen kann wahrscheinlich
kein Mensch auf Erden helfen. Das müssen Sie nämlich selber tun. Sie
wollen wissen, wer Sie sind? Ja, lieber Gott, wenn ich das wüßte! Und
ich habe wahrhaftig meinen Vater gut gekannt! Nein, Frau Rietschel,
getrieben werden wir alle, von einem dunklen Schicksal getrieben,
und auf diese Weise müssen wir uns bewähren. Wissen Sie, was Ihr
großer Fehler ist? Sie schweifen in die Ferne -- Sie sehen nicht, was
Sie wirklich besitzen, und was Sie wirklich umgibt! Es ist geradezu
sündhaft, daß Sie als Frau und Mutter sich mit solchen Gespenstern
herumschlagen! Ihr Mann und Ihre Kinder können einem wahrhaftig leid
tun! Verzeihen Sie, daß ich so offenherzig werde! Blicken Sie doch
um sich -- wir leben doch unter wahrhaft großartigen Bedingungen!
Jeder ist berufen, mitzutun! Das deutsche Ansehen steigt von Jahr
zu Jahr! Ich und meine Geschäftsfreunde haben die Zügel der Zukunft
in der Hand! Wir knüpfen jetzt ein festes Band zwischen Deutschland
und Amerika und bleiben doch so deutsch, wie wir waren! Aber ich
rede da von den größten Gesichtspunkten -- auch Sie in Ihrem engen,
bescheidenen Wirkungskreise -- -- was ist denn los, Tübbeke?!«

Der Bureauvorsteher war eingetreten. Er schielte zu Berta hinüber:
»Herr Justizrat -- die Herren von der Diskontogesellschaft haben
telephoniert -- sie sind schon unterwegs.«

»Ja, mein Gott, dann müssen sie ja in einer Minute hier sein! Dann
werden Sie mich hoffentlich entschuldigen, liebe Frau Rietschel! Es
handelt sich um eine gewaltige Transaktion --«

Tübbeke entfernte sich wieder. Er war beruhigt -- der alte Fuchs wurde
sie doch wieder los -- dem war sie nicht gewachsen. Berta aber starrte
mit entrückten Augen den Mann an, der ihr die seltsame Rede gehalten.
Sie spürte, daß er in der Erregung konfus wurde; aber seine Worte
berührten sie wunderbar. -- »Ach ja, die große Welt, Herr Justizrat«,
flüsterte sie, ohne sich vom Stuhl zu rühren. »Danach hab' ich ja
solche Sehnsucht! Und wissen Sie, warum? Weil ich immer glaube, daß
ich selbst dazu gehöre! Es ist mir ganz bestimmt nicht an der Wiege
gesungen, daß ich als die Frau von einem Papierhändler versimple --«

Schwarz lief vor Nervosität durch das Zimmer: »Das mag ja alles sein!
Obwohl -- an der Wiege wird einem überhaupt nichts gesungen! Und nun
muß ich Sie bitten, Ihren Besuch für diesmal abzubrechen -- --«

»Das liegt aber einzig und allein an meinem Vater, daß ich diese
Überzeugung habe! Das Blut von meinem Vater rumort in mir und läßt mir
keine Ruhe! Meine Mutter ist mir ganz gleichgültig!«

»Und Sie sind es mir offen gestanden auch! Seien Sie mir bitte
nicht böse! Aber Sie müssen fort, bevor die Herren von der
Diskontogesellschaft --«

»Manchmal hab' ich das Gefühl, daß an mir die furchtbarste
Ungerechtigkeit begangen wird! Geradezu 'ne Todsünde! Nicht mal die
Konditorei von Mutter werd' ich erben! Und wenn ich Sie hier so höre
-- wenn ich Sie so sehe in Ihrem Reichtum und in Ihrer Pracht --«

»Was dann? Was dann? Was dann?«

»Dann blitzt es plötzlich in mir auf -- -- könnte nicht mein Vater
genau so sein? In ebensolcher Stellung? Und ich drücke mich 'rum --
ich bleibe klein und ungebildet --«

»Frau Rietschel, nehmen Sie jetzt bitte Vernunft an -- ich kann Sie
nicht länger empfangen --«

»Wenn er mich wenigstens in 'ne höhere Töchterschule geschickt hätte
-- standesgemäße Erziehung hilft einem heutzutage schon viel --«

»Sie zwingen mich, zu schärferen Mitteln zu greifen! Entfernen Sie
sich augenblicklich, wenn ich bitten darf -- --«

Berta stand auf: »Ich gehe nur, wenn Sie mir sagen, wer mein Vater
ist!«

»Unsinn! Das weiß ich nicht! Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen!«

»Das ~müssen~ Sie wissen!«

Herr Hollunder trat ein: »Die Herren von der Diskontogesellschaft,
Herr Justizrat.«

Jetzt bäumte sich Viktor Schwarz in rückhaltloser Wut. »Also bitte!«
schrie er mit einer nicht mißzuverstehenden Handbewegung. Er wußte
nicht, wie der Ausdruck seiner Augen sich veränderte. So blickte nur
ein Mann sein Geschöpf an. Es war die unbewußte Autorität des Vaters.

Berta wich langsam zur Tür zurück. Eine Eingebung lähmte sie -- sie
kam gerade noch hinaus, sie wollte wirklich nicht länger bleiben. An
Onkel Tübbeke stolperte sie ohne Gruß vorbei. Dann stand sie auf der
abendlichen Straße.

Langsam ging sie bis zum Gendarmenmarkt. Hier blieb sie an einer
Droschkenhaltestelle stehen. Starr sah sie einem alten Schimmel zu,
der beschaulich seinen Hafer knabberte.

»Na, Madameken?« fragte der Kutscher nach einer Weile. »Wollen Sie wat
abhaben, oder wie ist es mit 'ne Fuhre?«

Berta sagte: »Großbeerenstraße 93« und stieg ein. Als sie in den
hohlen Samtkissen der klappernden Droschke saß, flüsterte sie vor sich
hin: ›Er ist es ... Er ist es selbst ... Die Augen ... Die Augen ...!‹




                         NEUNZEHNTES KAPITEL


Rietschel sah auf den Regulatur. Drei Viertel sieben. In zehn Minuten
machte er Schluß, und Berta war noch nicht zurück. Den ganzen
Nachmittag hatte sie sich herumgetrieben. Diese Frau stellte seine
Geduld auf eine harte Probe.

Er wartete noch fünf Minuten. Wie unangenehm war es auch dem Personal
gegenüber. Das bestand zwar nur aus einer Buchhalterin und einem
Laufjungen -- alles andere tat das Ehepaar selbst -- aber Gedanken
machten sie sich auch.

»Ich schließe heute selber, Fräulein Brotbäcker«, sagte Rietschel.
»Ich habe noch 'ne Stunde zu tun.«

Er wollte wirklich arbeiten; aber als er allein war, verlor er bald
die Geduld, drehte wütend alle Schlüssel herum und lief fort.

In der Großbeerenstraße empfing ihn Berta. Sie sah ihn mit so fiebrig
glänzenden Augen an, daß er seinen Zorn vergaß und sich wieder Sorge
machte.

»Na, was ist denn?« brummte er. »Du bist also direkt nach Hause
gegangen? Dann telephoniere mir doch wenigstens. Das ist doch
rücksichtslos. Ich habe mich natürlich geängstigt. Na, nun laß mich
mal vorbei.«

»Peter, ich muß mit dir reden«, sagte sie mit eigentümlich getragener
Stimme.

»Aber erst essen wir. Ich habe Hunger. So was Besonderes wird es ja
nicht sein.«

»Es ist das Besonderste, was ich dir überhaupt jemals zu sagen hatte.«

Rietschel sah sie mißtrauisch an. Nach einer Pause fragte er: »Wie
geht's denn den Kindern?«

»Heute konnte ich mich nicht um sie kümmern.«

»Nanu!«

»Weil ich selbst endlich als Kind empfinde.«

Rietschel stampfte: »Du, mir reißt bald die Geduld! Also laß es
bleiben! Geh in die Eßstube und warte! Ich sehe selber noch mal nach
dem jungen Gemüse!«

Das war Rietschels tiefster Zärtlichkeitsausdruck für seine Kinder. Er
ging mit einem Ausdruck fort, als gälte es, sein Bestes zu verteidigen.

In der Kinderstube fand er die Kleinen schon in ihren Bettchen. Grete
hielt Schneemanns weißen Pudelkopf, Paul aber fragte: »Wo ist denn
Mutti?«

»Mutti hat zu tun. Mutti kommt später. Nun schlaft man, Kinder! Gute
Nacht! Schneemann, du kommst mit!«

Er nahm den Pudel am Halsband und ging in das Eßzimmer. Hier hatte
Berta ihm schon Kartoffeln geschält -- das rührte ihn wieder.

»Was kosten jetzt die Heringe?« fragte er sanft.

Sie antwortete nicht und sah ihn an, als ob sie taub wäre.

Er wiederholte seine Frage nicht und ließ erst das Essen vorüber. Nur
als Berta immer wieder nach der Gilkaflasche griff, fuhr er auf: »Du
hast ja schon drei getrunken! Das ist ja eklig!«

»Ich muß mich ein bißchen betäuben, Peter. Das ist so, wie wenn man
Zahnweh hat.«

»Hast du denn Zahnweh?«

Sie lachte leise: »Nein ... Ich mein es nur so ... Trink du doch auch!
Prost, mein Junge!«

Er stieß widerwillig mit ihr an. Dann war auch der Käse verzehrt, und
Rietschel fragte, sich hastig den Schnurrbart wischend: »Wo warst du
heute nachmittag?«

»Bei Herrn Justizrat Schwarz.«

Sie genoß seinen verblüfften Blick. -- »Was soll das heißen? Du
wolltest doch bei Schlesinger & Co. den Fischleim bezahlen?«

»Das hab' ich auch getan. Aber die Hauptsache war mir Justizrat
Schwarz.«

»Der in der Taubenstraße? Wo dein Onkel Bureauvorsteher ist?«

»Jawohl. Der ›Rechtsbeistand‹ meiner zärtlichen Mutter.«

Ihre Stimme bebte vor schmerzlichem Hohn. Sie war furchtbar erregt.
Das verstand er jetzt. Er mußte vorsichtig sein: »Was wolltest du denn
bei dem?«

»Ach, eigentlich« -- sie schlug mit der Hand durch die Luft --
»eigentlich wollt' ich nur wieder herauskriegen, wer mein Vater ist!
Und das ist mir heute gelungen!«

»Wahrhaftig? ... Berta, du machst ja Spaß. Mit solchen Sachen spaßt
man nicht.«

»Das ist nicht meine Absicht. Wirklich, Peter. Mir ist schauderhaft
ernst zu Mut. Ich möchte mich am liebsten selbst zerreißen. Ich möchte
die ganze Welt zerreißen.«

Sie begann schon mit der Serviette. Da hielt er ihren Arm fest: »Berta
-- sei doch vernünftig! Um Gottes willen, wenn dich jemand hört! Du
zitterst ja am ganzen Leib!«

Er stand auf und führte sie zum Sofa. Es war die erste Zärtlichkeit
nach Monaten. Das tat ihr wohl. Sie saß wie ein Kind bei ihm und
weinte. Dann wurde sie ruhiger -- er spürte es.

»Also, nun erzähle mir mal -- ich bin doch dein Mann -- mir kannst
du alles sagen. Ich hab' ja schon lange gemerkt, daß sich was
vorbereitet. Du konntest nicht mehr schlafen -- du hast auch gar nicht
mehr richtig gegessen -- und dann der viele Schnaps ... Wenn dir nur
das Bücherlesen nicht geschadet hat --«

»Im Gegenteil, Peter. Ohne meine Bücher wäre ich ganz verkommen.«

»Bei mir?«

»Du hast keine Schuld.«

»Und die Kinder?«

»Die auch nicht. Es ist alles in mir selbst. Meine beiden Naturen,
Peter. Die vom Vater und die von der Mutter. Bei dir ist alles viel
einfacher.«

Rietschel dachte: ›Wenn es bei dir man nicht auch sehr einfach ist.‹
Aber er unterdrückte diesen Gedanken. -- »Was wolltest du also bei dem
Justizrat?«

»Du weißt doch, daß ich als Mädel schon bei ihm war?«

»Das hast du mir erzählt. Aber er hat damals nichts 'rausgerückt.«

»Und du bist doch auch überzeugt, daß er ganz genau Bescheid weiß, wie
es mit meinem Vater steht?«

»Berta, wer kann das behaupten? Vermutungen haben da gar keinen Zweck.
Und als Rechtsanwalt braucht er dir kein Wort zu sagen.«

»Nein, damit ließ ich mich so lange hinhalten. Aber plötzlich ist es
wieder über mich gekommen. Ich kann dir das nicht erklären, Peter.
Ich mußte jetzt unter allen Umständen wissen, wer mein Vater ist. Ich
konnte so nicht länger leben, Peter.«

»Und du hast vorhin gesagt -- -- du weißt es jetzt?«

»Ja, es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Es war der unglaublichste
Moment, den ich jemals erlebt habe. Ich saß bei ihm -- bei dem
Justizrat, Peter -- und er war wieder so glatt und schleimig -- genau
wie ein Aal glitt er mir durch die Finger -- aber plötzlich wurde er
furchtbar böse -- da ließ er die Maske fallen, verstehst du -- und da
-- --«

»Da hat er es dir gesagt?«

»Kein Wort hat er mir gesagt! Das tut er nicht! Aber ich wußt' es! Aus
mir selber! Jetzt bringt mich kein Mensch mehr davon ab! Justizrat
Schwarz ist mein Vater! Kein anderer!«

Rietschel starrte seine Frau an. Dann stand er langsam auf.

»Du glaubst es wohl nicht?«

»Berta -- wenn er es nicht zugegeben hat -- schriftlich oder vor
Zeugen -- bloß weil du den Eindruck hattest --«

»Der genügt vollständig! Jetzt weiß ich genau, was ich zu tun habe!
Aber ich glaube, du übersiehst die Sache noch nicht --«

»Was soll ich denn übersehen?«

»Na, du als gewiegter Geschäftsmann -- lassen wir mal meine Person aus
dem Spiel -- aber wenn ich jetzt meinen Vater kenne -- wenn ich jetzt
meine Ansprüche stelle -- Justizrat Schwarz ist vielfacher Millionär
-- Kinder hat er nicht -- ich bin, soviel ich weiß, das einzige -- --!«

»Ja, ja ... Na ja ... Das ist ja alles möglich. Aber ich sehe nicht,
wie du überhaupt was erreichen willst -- du hast doch nun mal keinen
Beweis in Händen.«

»Glaubst du, daß es mir jetzt noch schwerfallen wird, ihn zu bekommen?«

»Das glaub' ich allerdings! Was du mir gesagt hast, das sind lauter
Illusionen! So einer ist mit allen Wassern gewaschen! Wenn der gemerkt
hat, was du vorhast --«

»Das soll er nur merken! Das will ich!«

»Glaubst du, mit dem wirst du fertig? Der will dich doch los sein! Dem
bist du doch unbequem! Der bedankt sich für ne uneheliche Tochter! Das
schadet ihm bei den Leuten! Der verleugnet dich, und wenn er vor dem
lieben Gott steht!«

»Kann er das?!«

»Können kann er alles! Nach meiner Überzeugung hat er mit den
Alimenten schon getan, wozu er verpflichtet war! Seine Person kannst
du nicht antasten! Er wird dir einfach den Rücken drehen und die
Majorsche in Strelenwalde, die erst recht! Bei Tübbeke haben sie auch
die Mäuler gestoppt!«

Während Rietschel mit großen Schritten umherging, lehnte Berta sich
in das Sofa zurück. Ihr Gesicht wurde ganz klein und bleich. -- »Es
ist schrecklich,« flüsterte sie -- »daß du einem immer gleich den Mut
nehmen mußt ...«

»Zum Donnerwetter!« schrie Rietschel. »Damit ich dir ein bißchen Sinn
für die Wirklichkeit gebe! Ich bin doch dein Mann! Das muß ich!«

»Und daß die Zukunft deiner Kinder davon abhängt? Daß unser ganzes
Leben plötzlich einen Umschwung kriegen kann -- das siehst du nicht?«

»Ach, du meinst am Ende, wenn wir die Millionen von Herrn Justizrat
Schwarz erben! Von deinem ›Papa‹?! Nee, liebe Berta -- darum leg' ich
mich noch nicht 'ne Minute aufs Kanapee! Mein solides Geschäft und
mein gesunder Menschenverstand -- die sind mir sicherer!«

Sie erhob sich und ging mit schleppenden Schritten zur Tür. -- »Also
gut«, sagte sie dort müde. »Dann muß ich eben allein kämpfen. Das bin
ich ja gewohnt. Ich schwöre dir -- ich setze es durch, ich zwinge den
Mann, ich gebe mein gutes Recht nicht auf!« --

Als Rietschel allein war, überlegte er sich die Sache noch einmal.
Seine Lebenserfahrung kam nun doch zu einem anderen Ergebnis. Hätte
Berta nicht so hilflos vor der Wirklichkeit gestanden, wäre sie nicht
in der Tat ein ›Kind‹ geblieben -- sie hätte schon Mittel gehabt, um
die Vaterschaft des Herrn Justizrates festzustellen. Aber sie tappte
an jeder praktischen Möglichkeit vorbei. Sie ließ sich von Gefühlen
mitreißen. Die Vereinsamung ihrer Jugend rächte sich. Rietschel aber
durfte sie nicht aufklären. Er lieferte sie sonst nur noch mehr den
Wahnideen aus. Sie war dieser Welt nicht gewachsen. Er mußte für die
Beruhigung sorgen. Was sie umgab, das war ihr Glück -- sonst nichts.

Nach der Unterredung mit ihrem Mann wurde Berta still und
undurchsichtig. Rietschel bekam seine Ruhe, aber es war eine Ruhe, die
ihm nicht wohltat. ›Vor dem Sturm‹, dachte er oft. Berta war wieder
pünktlich und fleißig, doch ihre Tätigkeit blieb mechanisch, sie hatte
die Tür zu ihrem Innern verschlossen. Daß sie von ganz anderen Dingen
erfüllt war, wurde immer deutlicher.

Aber sie hatte von Rietschel gelernt. Der Zusammenstoß mit dem
hellen Sachsen wirkte auf ihre dumpfe Leidenschaft. Sie kam zu der
Erkenntnis, daß sie sich nichts verderben durfte. Gerade weil sie
nun ganz auf sich gestellt war, mußte sie jeden Schritt auf das Ziel
richten. Sie glaubte endlich die Aufgabe ihres Ehrgeizes gefunden zu
haben. Rietschel sollte staunen, ganz Berlin sollte staunen. Sie genoß
schon in stillen Traumstunden ihren Triumph.

Aber die Stärke des Gegners verkannte sie nicht. Emsig arbeitete sie
an ihrem Kriegsplan. Wie ein kluger Jäger wollte sie die Schlingen
legen, in denen der große Herr Justizrat sich verfing.

So gab sie jeden Gewaltstreich auf und verlegte sich darauf, den
Gegner zunächst zu beunruhigen. Er sollte es immer im Bewußtsein
haben, daß sie vorhanden war, er sollte keinen Tag mehr vor ihr
sicher sein. Daß diese stille, zähe Verfolgung nur ~einen~ Grund
und ~einen~ Zweck haben konnte, wurde einem Mann von seiner
Intelligenz natürlich klar. Er hatte ja kein gutes Gewissen. Er wehrte
sich, solange es ging. Vielleicht war er schließlich froh, wenn sie es
gut mit ihm meinte, ihm ihre traurige Jugend verzieh und eine Stütze
seines Alters wurde ...

Da ließ sie sich schon wieder zu schönen Träumen hinreißen! Nein, so
weit war sie noch nicht, noch lange nicht! Noch saß er auf seinem
Thron und wehrte alles ab, was ihm gefährlich werden konnte ...

Keine Gelegenheit, über Justizrat Schwarz etwas zu erfahren, ließ
Berta unbeachtet. Sie abonnierte das ›Berliner Tageblatt‹, wenn
Rietschel auch darauf schimpfte. Hier glaubte sie den Bannkreis des
Justizrates am besten zu überblicken. Jede Versammlung, jedes Fest,
das er besuchte, konnte sie durch ihre Wahrscheinlichkeitsrechnung
herausbekommen. Selbst zu diesen Veranstaltungen zu gehen, war ihr nur
selten möglich; denn erstens war es zu teuer, und zweitens fehlte ihr
die Persönlichkeit, um dort Figur zu machen. Vorläufig konnte sie sich
noch nicht dort bewegen, wo ihr Vater sich bewegte ...

Aber sie lauerte ihm auf. Sie spionierte, wo er zu finden war. Wenn
er, nichts ahnend, in heiterer Geselligkeit einen Saal verließ,
stand Berta plötzlich in der Garderobe und zwang sich in seinen
Blick. Er kam nicht an ihr vorbei, er mußte sie grüßen. Dann grüßte
sie stets mit der höchsten Liebenswürdigkeit wieder, auch mit einer
Vertraulichkeit, die ihn ärgern mußte. Sie zeigte dabei ein vornehm
geheimnisvolles Lächeln, von dessen Wirksamkeit sie überzeugt war. Das
hatte sie sich zu Hause vor dem Spiegel einstudiert.

Zu einer Ansprache kam es freilich nie. Der Vielgewandte schlängelte
sich immer wieder an ihr vorbei. Als die Begegnungen sich häuften,
kam eine hochmütige Verwunderung in seine Züge, aber er wahrte die
Form, er grüßte, und Berta dankte, als wollte sie sagen: ›Ich kriege
dich doch.‹

Was mußte er sich denken? Nur eines war möglich: ›Sie weiß jetzt, wer
ich bin. Nun will sie mich quälen, nun will sie mich lächerlich machen
am Ende. Entweder wird sie mein bester Freund oder mein bitterster
Feind.‹

Ja, das waren unbedingt seine Gedanken. Dennoch wurde dieses Spiel
von Katz' und Maus schließlich qualvoll. Berta war kein freier Mensch
mehr. Es war unendlich schwierig, Geschäft und Haushalt mit der
Vaterjagd zu vereinigen. Zwischen Rietschel und ihr wurde nichts mehr
ausgesprochen. Der Zündstoff sammelte sich. Wenn Bertas Zerstreutheit
ihr einen Streich spielte, gab es kostspielige Dummheiten. Sie
schädigte ihren Mann um Hunderte. Aus der einst so tüchtigen Gehilfin
war sein Niedergang geworden. Auch brauchte Berta jetzt erheblich
mehr für ihre Privatausgaben. Wohin es kam, das viele Geld, konnte
Rietschel nur ahnen. Er verschluckte seinen Ärger so lange, bis ihm
schließlich der süßeste Bliemchenkaffee nicht mehr schmeckte.

Schlimmer aber noch stand es um die heranwachsenden Kinder. Bertas
Sorge war ihnen treu, doch was sie tat, konnte ebensogut eine fremde
und bezahlte Person tun. Das spürten die erwachenden Seelen. Wo
Innigkeit sein sollte, fanden sie Zwang; wo das beste Ausruhen war,
eilte ein gehetzter Mensch vorüber. Die Kinder fühlten sich ohne
Schuld und trauerten unbewußt um ihr Bestes. Ja, wenn es eine böse
Stiefmutter gewesen wäre, wie die in den Märchenbüchern -- aber es war
ja ihre gute, leibliche Mutter.

Berta sah nur in lichten Augenblicken, was vorging. Ihre Kinder waren
sauber und gepflegt, wie sonst -- dennoch glichen sie Verwaisten. Sie
wurden ernst und still, sie hatten etwas Fragendes im Blick, was jeden
Empfänglichen ergreifen mußte.

Ob es ebenso auf Rietschel wirkte, war nicht zu ersehen. Er wandte
seine Gefühle ingrimmig dem Pudel Schneemann zu. Damit waren Paul und
Grete ganz einverstanden. Schneemann blieb das neutrale Gebiet -- an
seiner klugen Drolligkeit konnten sie sich alle aufrichten.

Nur etwas wurde Rietschel unerträglich: Was sollten die Leute von
seiner Frau denken? Bertas sonderbares Leben geheimzuhalten, war
nicht möglich. Das Dienstmädchen genügte schon, den Klatsch in Gang
zu bringen. Das wußte, daß Frau Rietschel mindestens drei Abende
in der Woche nicht zu Hause war. In seiner Ehre war Rietschel am
empfindlichsten -- kein großer Zorn, sondern ein wühlender Ärger
kam über ihn. Berta war ja anständig. Er fürchtete nur Mißdeutung.
Wo er konnte, kämpfte er mit Ausreden für ihren guten Ruf. Er
schilderte ihre Begeisterung für Theater und Musik, ihr Interesse für
Versammlungen. Eines Abends aber, als Berta erst um Mitternacht nach
Hause kam, fuhr er sie plötzlich an: »Wo warst du heute?«

»Ich? Im Opernhaus.«

»Das glaub' ich nicht! Du bist wahrscheinlich wieder bloß draußen
'rumgebummelt! Ich habe dich schon dreimal so gesehen!«

»Belauerst du mich?«

»Ich will bloß verhüten, daß du ins Gerede kommst! Ich interessiere
mich noch für den Ruf meiner Frau! Das ist ja in Berlin sonst nicht
mehr Mode!«

»Was soll das alles? Ich war im Opernhaus, ich habe ›Zar und
Zimmermann‹ gehört. Buls hat das Lied ›Ach selig, ach selig, ein Kind
noch zu sein‹ viermal gesungen. Hier ist der Abschnitt vom Billett.
Genügt dir das?«

Er starrte sie verblüfft an. Mit der wurde er nicht fertig. Aber
~warum~ ging sie ins Opernhaus? Er ahnte mancherlei. -- »Na
jedenfalls -- die Geschichte wird mir zu teuer«, sagte er abschließend.

»Ich wüßte nicht, daß du mir schon ein Billett bezahlt hast. Ich
bestreite solche Nebenausgaben von meinem Sparkassengeld. Damit basta!«

Er knurrte nur noch vor sich hin und beschloß, sich morgen einmal um
die Portokasse zu bekümmern. --

Im Sommer verreiste Justizrat Schwarz. Da mußte Berta pausieren. Ihren
Plan, ihm nach Karlsbad zu folgen, gab sie auf. Das ging denn doch
nicht. Als er aber wieder in Berlin war, wußte sie es sofort, denn sie
verstand sich darauf, am Telephon mit verstellter Stimme zu sprechen.
Herr Hollunder sagte ihr alles. Nun nahm sie mit ausgeruhten Kräften
die Verfolgung wieder auf. Der Herbst verging, und bis Neujahr ließ
der Justizrat es sich gefallen. Als er aber an einem Januarabend zum
Presseball ging, und Berta vor der Philharmonie auf ihn wartete,
wurde es ihm zuviel. Er war heute ohnehin schlecht aufgelegt, denn es
war ein richtiges ›Sauwetter‹, und er hatte keinen Wagen bekommen.
So senkte er wütend seinen Regenschirm in die Richtung, wo die
kleine Frau stand. Gleichsam hinter einem Schilde stampfte er an ihr
vorbei. Mochte sie ihm nur betroffen nachstarren -- Jetzt wußte sie
wenigstens, woran sie war.

Im Saal aber interessierte er ich nur für ~eine~ Begegnung.
Minister, Geheimräte und berühmte Dichter waren ihm heute gleichgültig
-- er suchte Gusti Bernhardi. Die hatte nun schon ihre Jugend hinter
ich, aber sie war noch immer eine stattliche Frau, und ihre Wiener
Lebenslust war nicht zu knicken. Als Schwarz sie endlich entdeckt
hatte, zog er sie in einen Nebensaal und gestand ihr dort bei einer
stillen Flasche, was ihn bedrückte.

»Gusti,« schloß er, »ich weiß, du hast dir von heute Abend was anderes
versprochen; aber ich weiß auch, daß du die klügste Frau bist, der ich
in meinem Leben begegnet bin. Du hast mich noch nie im Stich gelassen
-- nun rate mir, bitte, in dieser Sache.«

Gusti Bernhardi sah ernst auf ihren Busen nieder, den ein großer
Brillantschmuck zierte -- sie antwortete noch nicht.

Er sah sie zweifelnd an: »Stört dich die Sache etwa? Bist du
enttäuscht, daß ich ein uneheliches Kind habe? Das hätt' ich bei dir
allerdings --?«

»Wart's doch ab, mein Lieber«, sagte sie jetzt. »Ich muß mir's erst
überlegen. Es wundert mich allerdings, daß ein so gescheiter Mann,
wie du, so dumm und unüberlegt handeln kann.«

Er brauste auf: »Pardon! Das geht denn doch ein bißchen zu weit!«

»Aha! Wenn man bei dir aufrichtig wird, stößt man sofort auf die liebe
Eitelkeit! Wenn Sie ein großer Mann werden wollen, müssen Sie sich die
Eitelkeit abgewöhnen, hat, glaub' ich, Talleyrand gesagt.«

»Unsinn -- ich bin nicht eitel -- ich habe nur mein Selbstbewußtsein.
Außerdem bin ich zu gutmütig -- viel zu gutmütig. Wie hätt' ich denn
anders handeln sollen? Ich kann doch die Person nicht niederschießen!
Außerdem ist sie, wie ich dir schon gesagt habe --« hier dämpfte er
seine Stimme und blickte scheu umher -- »sie ist tatsächlich meine
Tochter.«

»Aber wie du sie mir schilderst, ist sie auch ein bißl verrückt. Das
ist immer gefährlich. Der kleinste Spleen kann das größte Unglück
anrichten. Ich bin überzeugt, daß sie jetzt gemerkt hat, daß ~du~
gemerkt hast --«

»Was soll ich gemerkt haben?!«

»Schrei nicht so -- der Kellner macht schon Augen. Ihr spielt doch
Verstecken miteinander. An der Art, wie du sie behandelst, merkt sie,
daß du weißt -- was sie gemerkt hat. Herrgott, ist das eine verzwickte
Geschicht'!«

»Ich habe nie etwas zugegeben -- mit keinem Wort, mit keiner Miene --«

»Na, deiner Miene bist du nicht sicher, lieber Vicki! Aufs
Wort verstehst du dich ja -- das muß dir der Neid lassen.
Selbstverständlich wirst du dich nie verschnappen, aber sie weiß
jetzt, wie lästig sie dir ist, und das kann nur einen Grund haben.«

Schwarz schenkte mit finsterer Miene die beiden Gläser voll. -- »Und
was wird sie tun?« fragte er nach einer Weile.

»Mit dem Verstand nichts, was du zu fürchten hättest. Aber ~ohne~
Verstand --«

»Was willst du damit sagen?«

»Daß du sie allmählich närrisch machst, wenn die Geschicht' so weiter
geht. Dann schnappt sie über, und plötzlich kommt ein Krach, an den
du ewig denken wirst. Außerdem, wenn sie auch unrecht kriegt -- ein
Skandal ist immer dabei, und an dir bleibt er hängen. Du kennst doch
die Menschen.«

Schwarz stützte den Kopf in die Hand: »Freilich, freilich. Und ich
sage dir, Gusti, einen Skandal ~darf~ es nicht geben! Jetzt
gerade -- das große englische Geschäft -- ich habe mich persönlich
dafür eingesetzt -- und die Engländer sind ja so schrecklich
moralisch. Eher kann ich ihnen eine Million verlieren, als -- --«

»Als daß du eine uneheliche Tochter hast? Das kann ich mir doch nicht
vorstellen. So sind die Engländer auch nicht --«

»Das verstehst du nicht! Es kommt bei jedem Unternehmen auf die Basis
an! Die Basis ~dieses~ Unternehmens ist die Sittlichkeit!«

»Ja, ja. Aber wenn du so penibel sein mußt -- Herrgott, dann wär's
doch das beste, du verständigst dich mit ihr? Du läßt sie, soweit es
möglich ist, zu ihrem Recht kommen?«

Schwarz schlug mit der Faust auf den Tisch. Der Kellner sprang herbei:
»Noch eine Flasche, Herr Justizrat?«

»Nein! Danke! -- Jetzt redest du sehr dumm, liebe Gusti. Eine
Verständigung ist vollkommen ausgeschlossen. Wenn ich ihr irgendein
Recht einräume -- wenn ich überhaupt nur zugebe, daß eine Vaterschaft
besteht -- -- es ist nicht auszudenken! Erstens bin ich nicht mehr
jung und in einer weithin sichtbaren Position -- und sie -- du kennst
sie ja nicht -- sie ist ein kleiner, dicker Purzel mit so lebhaften
Augen, daß sie an sich schon etwas Komisches hat! Wenn ich die in
Berlin plötzlich als meine Tochter vorstelle -- fürchterlich! Außerdem
der Ballast, der an ihr hängt, die Familie! Mir schwindelt bei dem
Gedanken, daß ich mit Herrn Rietschel verkehren müßte, daß seine
beiden Gören am Ende Großpapa zu mir sagen -- -- warum lachst du denn,
Gusti?!«

Seine Freundin hatte sich plötzlich zurückgelehnt und verfiel einer
herzlichen Heiterkeit. Dann faßte sie sich: »Ach, Vicki -- nimm mir's
nicht übel -- aber die Konsequenzen des Lebens sind gar zu komisch!
Ja, man sollt' es sich wirklich überlegen mit der Liebe, wenn man jung
ist! Aber das geht halt nicht! Weise wird man erst mit der Glatzen!
Pardon, Herr Justizrat, ich krieg' ja auch schon graue Haare! Aber nun
ernsthaft: Ich seh's ein -- du darfst ihr nicht den kleinen Finger
reichen, sonst nimmt sie die ganze Hand. Du selbst kannst nur passiv
Widerstand leisten -- handeln muß ein anderer!«

Schwarz fuhr auf: »Du, Gusti! Du!«

Gusti streichelte ihn: »Du tust mir wirklich leid, und darum will
ich's versuchen. Laß mir freie Hand. Ich hab' schon eine Idee. Die
werd' ich kurieren, die muß ich kurieren. Außerdem interessiert mich
die Geschicht'. Da schaut man doch mal ein bißl ins Leben hinein, und
das war mir immer lieber als alle Romane.«

»Was hast du vor? Du willst wahrscheinlich, ganz unabhängig von mir,
ihre Bekanntschaft machen? Hab' ich's getroffen?«

»Sehr richtig, Vicki. Aber weiter sag' ich dir nichts. Das andere
wart' nur ab, bis ich Bericht erstatte.«

Als Berta an einem der nächsten Nachmittage allein im Laden war,
überhörte sie, daß eine Dame eintrat. Die saß in schweren Gedanken
hinter der Kasse. Die plötzliche Wandlung des Justizrates an dem
Abend, da sie ihn vor der Philharmonie erwartete, vergaß sie nicht.
Seine ganze Haltung zeigte äußerste Erbitterung. Das war an sich ganz
gut, Ärger gönnte sie ihm; aber das hübsche Zufallsspiel war nun aus,
und sie konnte sich von ihrem eigenen Vater nicht behandeln lassen.

»Verzeihung -- aber ich möchte gern ein hübsches Briefpapier.«

Berta fuhr empor. Eine Kundin -- sie hatte sie garnicht bemerkt. Rasch
stand sie auf und entschuldigte sich. Nachdem sie einige Kartons
vorgelegt, war die Dame mit der Wahl beschäftigt. Nun konnte Berta
sie betrachten. Es war ihr immer besonders lieb, eine Frau der großen
Welt in Augenschein zu nehmen. Hier hatte sie ein Exemplar vor sich,
das sie direkt begeistern konnte. Gerade weil die Dame nicht mehr jung
war -- Berta verachtete die unerfahrene -- wirkte sie vorbildlich. Sie
hatte die etwas anrüchige Eleganz, die Männern großen Stils gefiel.
Sie sah gescheit aus und gutherzig -- jedenfalls mußte sie sehr frei
in ihren Anschauungen sein.

›So wie die möcht' ich werden -- genau so‹ dachte Berta seufzend -- da
richtete die Dame sich auf und sagte liebenswürdig: »Also das da --
bitt' schön -- was bin ich schuldig?«

»Acht Mark fünfzig, gnädige Frau.« Berta wickelte den Karton ein --
dann wagte sie plötzlich eine Frage: »Sind gnädige Frau vielleicht aus
Wien?«

Die Dame lächelte sie mit ihren klugen Augen an: »Denken Sie, und ich
wollt' Sie grad' fragen, ob Sie nicht von außerhalb sind.«

»Sprech' ich denn nicht berlinisch?«

»Nein viel feiner. Das hör ich gleich. So wie Sie sprechen, das
erinnert mich lebhaft an vornehme Schlesier. Ich kenn' dort den Adel
recht gut.«

Berta wurde ganz blaß vor Genugtuung: »Ach, Gott, mit dem schlesischen
Adel hab' ich nichts zu tun; aber es freut mich riesig, daß Sie bei
mir eine vornehme Sprache finden. Ich glaube, Sie können so was ganz
besonders gut beurteilen.«

Gusti Bernhardi beugte sich über den Ladentisch: »Sie sind ja eine
ganz scharmante kleine Frau. Ja, so was entdeckt man plötzlich in
Berlin -- das blüht im Verborgenen, bei ganz bürgerlichen Leuten. Sie
verzeihen schon ...«

»Ach gnädige Frau, was glauben Sie, wie bürgerlich mir es hier
vorkommt! Hier erstickt man! Hier hat man schon jede Hoffnung
begraben!«

»Das müssen Sie nicht, das dürfen Sie nicht. Sie haben sicher ein
kolossales Talent fürs Leben.«

»Ach -- meinen Sie wirklich --?«

»Darf ich Ihnen sagen, was ich für eine Empfindung hatte, als ich
hier eintrat, und Sie so ganz verträumt hinter der Kasse saßen?«

»Sagen Sie mir bitte alles!«

»Ich dacht' mir, das ist ja ein Dornröschen. Wer die aufwecken kann,
gewinnt sich einen Schatz. Ich red' jetzt nicht von Männern, denn Sie
sind ja verheiratet, Sie haben wahrscheinlich Kinder --«

»Zwei -- und einen Mann. Aber das -- das ist es nicht, was mich
rettet. Ich stecke in Kämpfen -- davon versteht hier kein Mensch was
...«

»Das kann gewiß nur eine Frau verstehen. Eine richtige Freundin!«

»O, wenn ich die hätte!«

»Da trifft sich Ihre Sehnsucht mit mir. Ich lebe schon zwanzig Jahre
in Berlin und habe noch immer keine Freundin gefunden. Was meinen Sie,
liebe Frau Rietschel -- wollen wir zwei es mal miteinander versuchen?«

Berta starrte ganz betäubt vor Glück die wunderbare Frau an. -- »Ich
weiß ja garnicht, was ich sagen soll«, stammelte sie.

»Das wird schon kommen. Aber nicht hier. Dazu müssen wir ganz allein
sein. Wissen sie was? Sie schließen doch um sieben, und ihr Mann
scheint heut nicht dazusein. Da komm' ich um sieben wieder und warte
draußen auf Sie. Dann gehn wir zusammen spazieren, und Sie erzählen
mir von Ihrem Leben.«




                         ZWANZIGSTES KAPITEL


Frau Bernhardi wartete in einem Taxameter auf Berta. -- »Steigen Sie
nur bitte ein, Liebste,« sagte sie, ihr die Hand in braunem Wildleder
entgegenstreckend -- »hier in der grausligen Geschäftsgegend kann man
ja doch nicht spazierengehen. Wir fahren rasch hinaus. Wohin möchten
Sie denn? In den Tiergarten?«

Berta saß neben ihr und sog den Duft ein, der ihrem kostbaren
Pelzmantel entströmte. -- »Ach wissen Sie,« antwortete sie mit
geschlossenen Augen, »am liebsten möcht' ich zum Kurfürstendamm.
Wundern Sie sich bitte nicht darüber. Ich weiß, da ist es sehr
lebhaft, da wird man immer angeguckt; aber ich komme am besten zum
Reden, wenn ich die vielen Leute sehe. Das reizt mich, wissen Sie, das
macht mich klar, wenn ich vor mir habe, was ich doch nicht erreichen
kann.«

Die Freundin nickte mit unbestimmtem Lächeln: »Hm ... ich versteh'
schon. Aber Sie meinen gewiß: was Sie nicht zu erreichen glauben? Wir
werden ja sehen.« -- Sie öffnete die Wagentür und rief hinaus: »Also
zu Schilling, Kutscher! Kurfürstendamm!«

Behaglich lehnte sich Gusti Bernhardi wieder zurück: »Da haben wir's
nett. Herumlaufen kann man jetzt doch nicht mehr bei der Kälte. Sie
kennen doch Schilling?«

»Nur von außen.«

»Na, Ihr Mann scheint aber wenig Sinn für das wahre Berlin zu haben.«

Das ›wahre Berlin‹, das Gusti Bernhardi meinte, hatte sich in den
letzten Jahren sehr verschoben. Der Westen der Potsdamer Straße war
immer mehr Geschäftsgegend geworden, und das Tiergartenviertel wurde
zur stillen Insel konservativer Solidität. Die amerikanisierten
Berliner strebten über den Zoologischen hinaus nach Schöneberg
und Wilmersdorf. Um die Kirche des alten Wilhelm, die der
archaisierende Protestantismus des jungen erbaut hatte, schwirrten
alle Konfessionen, Sitten und Werte. Von hier gingen die Strahlen
ins Neuland der Weltstadt aus. Die Tauentzienstraße löste allmählich
die Friedrichstraße ab. Der Kurfürstendamm zielte auf die Verbindung
Berlins mit dem Grunewald, und das Bayerische Viertel hörte dort auf,
wo es eben wieder anfing. Es war ein sichtbares Wachsen und Werden.

Berta liebte diese Gegend wie keine andere in Berlin. Gerade weil
sie von jeher nach C und O verbannt gewesen, glaubte sie im Westen
den Sinn der Zukunft. Die Frau aber, mit der sie diese Straßen jetzt
wiedersah, nahm sie wirklich auf; denn sie gehörte dazu, sie war der
›Typ‹ der neuen Dame.

Bei Schilling genossen sie gute Dinge und kamen noch nicht zum Ernst
des Lebens. Es gab zuviel zu sehen und zu hören. Gusti Bernhardi
entwickelte ihre ganze Kennerschaft von Toilettegeheimnissen und
Skandalen. Berta wurde so vergnügt, daß sie den tiefen Seelengrund
der neuen Freundschaft vergaß. Andächtig lauschte sie der überlegenen
Frau. Als Gusti zum zweitenmal Benediktiner kommen ließ, schwand ihre
letzte Hemmung.

»Kind, wie ist das nett, daß Sie sich noch so an allem freuen
können«, sagte Gusti Bernhardi, Bertas Hand tätschelnd. »Das genieß'
ich förmlich. Aber geben Sie Obacht -- das hier ist noch garnichts.
Nächstens nehm' ich Sie in den Kaiserhof mit, zum five o'clock.«

»Was ist das eigentlich?« fragte Berta, an ihrem Likör saugend. »Das
hab' ich schon so oft gehört. Feif o clock. Hängt das mit Pfeifen
zusammen?«

Gusti lachte: »Nein! Aber Sie haben ganz recht -- wozu englisch reden,
wenn man Fünfuhrtee sagen kann?«

»Ach so! Ach das ist es! Aber das soll ja so schrecklich vornehm sein!
Da pass' ich doch nicht hin! Mit meiner Fahne!«

»Unsinn! Das Kleid ist sehr nett, und Sie sind ja jung und hübsch! Das
ist die Hauptsache! Außerdem wird das bürgerlich Solide jetzt eben
wieder modern!«

»Das wird modern? Wie kommt denn das? Das versteh' ich nicht!«

»Nur einen neuen Hut müssen Sie haben!«

»Ach ja, mein größter Wunsch! Ein schicker Hut! Ein wirklich schicker
Hut! Nicht immer die olle Rietsche! Daran merkt man ja gleich, daß ich
Rietschel heiße! Herrgott, jetzt hab' ich wirklich einen Schwips!«

Gusti klopfte lachend ihren Arm: »Das macht nichts, macht nichts! Das
steht Ihnen ausgezeichnet! Aber Sie sollen den Herrn Gemahl nicht um
den neuen Hut bitten -- der ist nicht auf der Höhe, der verdirbt Ihnen
nur die Stimmung! Jetzt heißt es für Sie, auf ~meiner~ Linie
bleiben!«

»Ach ja!«

»Versprechen Sie mir, daß Sie es richtig auffassen, wenn ich Ihnen
einen wundernetten, neuen Hut anbiete, den ich doch nicht tragen
kann! Pariser Modell -- Madame Kühne hat ihn für mich kommen lassen!
Aber mir steht er nicht! Ich bin nicht jung genug dafür! Sie werden
entzückend damit aussehen!«

Berta wischte sich die Augen: »Sie sind zu gut zu mir -- viel zu gut,
Frau Bernhardi.«

»Sagen Sie doch Gusti zu mir -- und ich sage Berta -- topp, das gilt!
Also übermorgen holen Sie mich um vier in meiner Wohnung ab, und
dann mach' ich Sie ein bißl zurecht, und dann ziehn wir los, wie der
Berliner sagt! Herzig, wie die kleine Frau sich freuen kann! Wissen
Sie, liebste Berta -- Ihren Mann begreif' ich nicht!«

Ein Schatten kam auf Bertas Gesicht. Sie ließ den Benediktiner los und
lehnte sich zurück: »Ach Gusti -- den kann man schon begreifen. Wie
der, so sind wohl viele. Bloß daß ich an ihn geraten bin -- das ist
das Malheur. Er ist ja gewiß sehr tüchtig und anständig und fleißig
und ein guter Vater -- aber ich hätte mir doch einen andern Mann
nehmen sollen!«

Gusti legte die Hand aufs Gesicht, weil sie ein Lächeln verbergen
wollte: »Hm ... Das sagt man sich oft ... So büßen viele Frauen ihre
Illusionen.«

»Nein, sehen Sie mal -- Rietschel ist so: er ist -- wie soll ich das
gleich sagen? -- er ist nicht sensitiv. Er weiß nicht, was in mir
vorgeht. Er kümmert sich viel mehr um unsern Pudel, wenn dem etwas
fehlt -- das sieht er, das versteht er.«

»Ja -- dann bleibt eben nichts anderes übrig -- dann muß man halt
selbst zu seinem Recht kommen.«

Berta fuhr jetzt so heftig zusammen, daß Gusti sie erschrocken ansah:
»Mein Gott, was haben Sie?«

Die kleine Frau schüttelte sich: »Ach, das -- das Wort -- das trifft
mich -- Recht -- entschuldigen Sie -- das ist ja mein Verhängnis,
solange ich lebe! Immer wollte ich zu meinem Recht kommen, und nie,
nie hat mir einer geholfen!«

Jetzt stürzten Tränen aus ihren Augen. Sie lehnte sich erschüttert
zurück. Von den Nebentischen sah man neugierig zu den beiden Frauen
hinüber. Gusti Bernhardi bereute ihre Unvorsichtigkeit -- sie hatte
zu schnell den Kern berührt. -- »Fassen Sie sich doch«, flüsterte sie
bittend. »Nehmen Sie sich zusammen. Glauben Sie mir, ich bin eine,
die Ihnen wirklich helfen will. Ich weiß schon viel von Ihnen, ohne
daß Sie mir viel gesagt haben. Ich ahne die Zusammenhänge. Wenn Sie
mir beichten wollen -- lieber Gott, das geht jetzt leicht. Nur wollen
wir den Leuten hier nichts zeigen. Kommen Sie, ich zahle, und dann
begleit' ich Sie heim.«

Unterwegs kam die erlösende Beredsamkeit über Berta. Sie konnte in der
dunklen Droschke hervorstammeln, was in ihr wogte. Bald wußte Gusti
Bernhardi alles. Sie hörte zu, als ob jede Einzelheit neu für sie
wäre. Klug prägte sie sich die ganze Beichte ein, um das Material zu
beherrschen. Leicht wurde es ihr nicht ums Herz dabei. Sie hatte die
primitive Leidenschaft dieses Menschenkindes unterschätzt. Was sie für
oberflächlich gehalten hatte, erwies sich doch als tiefe Sehnsucht.
Nie hatte sie diesen moralischen Fanatismus in einer kleinen
Bürgersfrau vermutet.

Dennoch -- weich machen ließ sie sich nicht. Sie hatte es Viktor
Schwarz versprochen -- ihr Wort mußte sie halten. Berta tat ihr leid,
sie hatte sie wirklich gern -- aber sie ärgerte sich auch immer
wieder. Das ganze Gefühlsleben dieser Frau war verstiegen, sie glaubte
ihre kleine Person im Mittelpunkt der Welt. Das ging denn doch nicht.
Wer die Tatsachen nicht mehr anerkannte, mußte unter ihnen leiden.

Das war Gusti Bernhardis Gedankengang, während sie Bertas
Geständnissen lauschte. Was sie aber aussprach, war anders. Sie konnte
so falsch sein wie die ganze Wiener Unergründlichkeit. So brachte sie
es fertig, Berta mit Herzenstönen recht zu geben, sie aufzurichten,
wie nie ein Mensch sie aufgerichtet hatte, und insgeheim zu planen,
wie sie sie unschädlich machte. --

An dem Tage, an dem Berta sie zum Fünfuhrtee abholen sollte, war Gusti
Bernhardi vormittags bei Viktor Schwarz. Sie berichtete ihm, und er
war sehr befriedigt. Ein Schatten kam erst auf seine Miene, als die
Freundin sagte: »Nun kostet die Geschichte aber auch Geld, Vicki. Fest
machen kann ich sie nur, wenn sie wirklich etwas von mir hat. Ich will
ihr verschaffen, was sie haben möchte -- nur dich soll sie aufgeben
-- das ist mein Plan. Heut nachmittag zum Beispiel bin ich mit ihr im
Kaiserhof. In ihrem wollenen Kleidchen lass' ich sie noch, aber ich
hab' ihr bei der Kühne einen scharmanten Hut gekauft, und da mußt du
schon so gut sein, das Geld nachher hinzuschicken, 350 Mark. Du weißt
ja, Schulden hab' ich nicht gern.«

Viktor Schwarz schielte grimmig durch seinen Kneifer: »Das ist gut --
als ob es deine Schulden wären!«

»Also, ordne die Sache, bitt' schön, und mach' dich drauf gefaßt, daß
noch manches dazu kommt.«

»Aber nur bis zu einer gewissen Grenze, die ich bestimmen werde!«

»Na weißt du, wenn du dir deine Tochter garnichts kosten lassen
willst!«

»Nicht so laut! Tübbeke horcht auch durch die Doppeltür! Ich meine
nur, wenn ich jetzt am Ende Tausende hinlegen soll, dann hätt' ich die
Person auch anerkennen können!«

Gusti Bernhardi stand auf: »So? Ach so! Ja, dann liegt die Sache ja
viel einfacher! Dann brauch' ich mir ja garnicht so viel Müh' zu
geben!«

Sie ging zur Tür. Er wackelte ihr nach: »Gusti, ich bitte dich, sei
vernünftig! Es handelt sich hier um keinen schlechten Witz! Also tu
nur, was nötig ist! Zu weit gehn wirst du ja doch nicht! Du handelst
ja in meinem Interesse!«

Sie verließ ihn. -- ›Alter Knicker‹, dachte sie mit bitterem Lächeln.
›Es schadet dir garnichts, wenn du mal Haare lassen mußt. Du trittst
ja doch immer nur auf Menschen herum und besonders auf uns Weibern.
Was hab' ~ich~ mir schon alles von dir gefallen lassen müssen!
Und deine arme Frau! ... Pfui Deibel, es sind eigentlich eklige
Götzen, was die Leut' so anbeten!‹

In eigentümlichen Zorn auf den Mann, für den sie alles tat, kam sie
heim. Diese Stimmung machte sie nur noch eifriger, Bertas Leben zu
verschönen.

Pünktlich um vier Uhr erschien die kleine Frau. Nun spielte Gustis
liebenswürdiger Eifer fast eine Stunde mit ihr. Staunend lernte
Berta das Toilettezimmer einer großen Dame kennen. Der neue Hut hob
ihre Erscheinung dermaßen, daß sie mit naiver Andacht vor ihrem
Spiegelbilde stand. Schließlich drängte die Freundin ihr auch noch
kostbare Handschuhe auf und parfümierte sie so, daß Berta plötzlich
ausrief: »Wenn Rietschel das riecht -- der denkt Gott weiß was!«

Sie fuhren mit der neuen Untergrundbahn zum Leipziger Platz. Von
dort gingen sie Arm in Arm zum Kaiserhof hinüber. Hier gelang es
Gusti, Bertas Verlegenheit zu bemänteln. Man merkte kaum, wie fremd
und ungeschickt die kleine Papierhändlersfrau war. Sie gefiel sogar,
weniger ihres Hutes wegen, als weil sie so hübsche, glückshungrige
Augen hatte.

»Den Hut kann ich aber nicht mit nach Hause nehmen«, sagte Berta
schließlich. »Rietschel wird zu grob, wenn er ihn sieht. Der denkt
womöglich, ich hab' ihn von einem Liebhaber!«

»Das wär' ihm ganz gesund!«

»Nein, nein, Gusti. Die ist unmöglich -- das liegt mir auch garnicht.
Erlaube mir, bitte, daß ich erst noch zu dir komme und wieder werde,
was ich war.«

»Selbstverständlich -- du kannst die Sachen bei mir deponieren. Aber
sie gehören dir.«

»Gusti, ich bitte dich --«

»Willst du mich beleidigen?«

So fuhren sie denn noch einmal nach dem Wittenbergplatz. Hier hatte
Gusti Bernhardi eine elegante Wohnung, wo sie nur ihrem Behagen lebte.
Der Modesalon war längst verkauft. Berta wurde von dem Glanz des
Nachmittags in all ihren Wünschen angeregt -- sie wollte jetzt gern
wissen, was die Freundin über ihre Geständnisse dachte, insbesondere
über Herrn Justizrat Viktor Schwarz.

Gusti Bernhardi setzte ihr bewährtes Sphinxlächeln auf. -- »Ja,
liebstes Bertl,« erwiderte sie langsam, »da muß ich dir zunächst mal
sagen: Ich kenn' deinen angeblichen Papa sehr gut.«

Berta sprang auf -- sie zitterte an allen Gliedern: »Du kennst ihn?
Das sagst du mir jetzt erst?! ...«

»Ich hab' mir die Geschicht' erst überlegen wollen. Aber jetzt bin ich
mir ganz klar. Jetzt kann ich dir sagen, was ich dir zu sagen hab'.«

Berta langte mit demütigem Vorwurf nach ihrer Hand: »Warum hast du ihn
denn eben bloß meinen -- angeblichen Papa genannt?«

»Das mußt du mir nicht übelnehmen. Du hast es mir erzählt, und an
deinen Worten zweifle ich natürlich nicht. Aber daß der Beweis nicht
erbracht ist -- das wirst du ja selber zugeben.«

Berta senkte den Kopf. -- »Mein Gott,« flüsterte sie in tiefer
Traurigkeit -- »du glaubst es also auch nicht? Hältst du es denn nicht
für möglich?«

»Die Möglichkeit ist natürlich niemals ausgeschlossen.«

»Wie du auf einmal sprichst? Ich weiß nicht -- so juristisch?«

»Ich kenn' halt viele Juristen.«

»~Ihn~ zum Beispiel?«

»Ja, Berta, und weil ich den wirklich ~sehr~ gut kenne --
übrigens wär's ja ein Wunder, wenn's anders wär' in Berlin --, darum
rat' ich dir dringend: laß ihn los, lauf ihm nimmer nach.«

»Gusti! ...«

»Fass' dich doch. Ich will doch nur dein Bestes. Das glaubst du mir
hoffentlich? Ich seh' dich direkt in einen Abgrund laufen, wenn du's
so weiter treibst mit dem Schwarz.«

»Warum denn? ...«

»Ja, ich muß dir ein bißl Furcht machen. Du bist gar zu leichtsinnig.
Von vielen Fällen weiß ich, daß der Schwarz über Leichen geht.
Außerdem ist er allmächtig. Beikommen kannst du ihm nicht.«

»Was soll er mir denn tun?«

»Nicht nur dir, sondern auch deinem Mann und deinen Kindern.
Juristisch erreichst du nichts, das weiß er am besten -- wenn's ihm zu
bunt wird, bietet er jedem Skandal Trotz und schickt dir die Polizei
ins Haus. Auf Erpressung läßt sich alles deichseln.«

Berta lehnte sich bleich zurück: »Mein Gott ... mein Gott ..., wenn
ich das auch noch aufgeben soll ...!« Sie fuhr plötzlich hoch: »Dann
will ich nicht länger leben!«

Gusti hielt sie mit beiden Händen fest: »Aber Kind! Was fällt dir denn
ein? Du wirst doch jetzt keine Dummheiten machen? Denk' doch, daß du
~mich~ gefunden hast! Kann ~ich~ dir denn nicht ersetzen,
was der alte, gräßliche Mensch ... Sei froh, daß du dem nicht in die
Hände gerätst ... Man ~muß~ über so was hinaus ... Dann findet
man sich ... Dann weiß man erst, daß man auf der Welt ist ... Was
schert mich denn Vater und Mutter? Ich bin selber da, und mir kann nix
geschehn!«

Sie hatte stark und überzeugend gesprochen, aber in ihren Augen
sprühte das höllische Feuer. Berta wollte tief hineinsehen und bebte
doch davor zurück. Gebannt und befremdet flüsterte sie: »Du hast ja
recht ... Du wirst ja sicher recht haben ... Wenn ich nur nicht so
anders wär' als du ... Ich werde dir immer dankbar sein; aber, lieber
Gott, was ~du~ meinst -- das ist doch vergänglich ...«

Dabei blieb es. Gusti hütete sich auch, weiter in sie zu dringen --
eine Verständigung war nicht möglich, und schließlich mußte sie ihr
verdächtig werden. Daß sie Bertas Fanatismus gegen Schwarz gebrochen
hatte, hielt Gusti für sicher. Das Gespenst der Polizei und die Furcht
vor Rietschel waren zu groß.

So erschlaffte die Freundschaft nicht, aber sie äußerte sich anders.
Berta hatte mehr aufgegeben, als Gusti wußte -- nun klammerte sie sich
an den äußeren Gewinn. Betäubung konnte ihr die Freundin geben, den
kurzen, schönen Wahn, das Haschen nach Dingen, die ihr doch nicht treu
blieben.

Sie unternahmen täglich etwas Neues. Berta scheute bald nicht mehr,
sich mit Gustis Geschenken zu zeigen, als gebührten sie ihr, ihr und
der Welt, in der sie eigentlich lebte. Überall herumnaschend, wurde
sie zu einer Kennerin und benahm sich, als ob sie die anerkannte
Tochter ihres Vaters wäre.

Ein Sachse weiß sich zu helfen -- auch in Groß-Berlin. Rietschel sah
seine Frau in den Sumpf geraten, aber er wollte klar sehen. Sein
Freund, der Kriminalschutzmann Polko, half ihm. Rasch brachte er
heraus, daß es sich um keinen Liebhaber handelte, sondern daß eine
Frau Bernhardi, geschiedene Zuckerkandl, geborene Vinegger, Berta
beeinflußte. So wurde Rietschel schnell mit der Sachlage fertig. Er
war nicht nur im Ehrenpunkt beruhigt, sondern auch hinsichtlich der
Verschwendung. In eigentümlicher Selbsttäuschung hatte er immer noch
geglaubt, daß Berta die Mittel für ihren Aufwand stahl. Er wußte ja am
besten, wie knapp er sie hielt.

Doch eine neue Tatsache brachte ihm Polko: Frau Bernhardi,
geschiedene Zuckerkandl, geborene Vinegger, entpuppte sich als das
langjährige Verhältnis von Justizrat Schwarz. Jetzt ahnte Rietschel
schreckliche Zusammenhänge. Berta wurde also grenzenlos betrogen.
In welcher Weise und zu welchem Zweck, das konnte er noch nicht
ergründen. Doch sollte er untätig zusehen, wie sie sich verfing? Mußte
er sie nicht aufklären und warnen? Er war nicht so grob geartet, um
nicht zu ahnen, was er ihr damit nahm. Berta lebte ja nur von schönen
Illusionen.

Aber die Entwicklung der Dinge kam seiner sorgenvollen Überlegung
zuvor. Berta hatte bald Grund, über ihre Freundin zu klagen. Ihr
norddeutscher Glaube an die Gefühle der Wienerin war zu weit gegangen.
Als Gusti wußte, daß sie die kleine Frau von Schwarz abgeschreckt
hatte, wurde ihre Freundschaft lässig. Sie kümmerte sich immer
weniger um Berta -- wenn diese zu ihr kam, ließ sie sie warten, und
bei Verabredungen war sie unpünktlich. Berta nahm das anfangs als
menschliche Schwäche einer sonst liebenswürdigen Frau. Auch wußte
Gusti jede Verstimmung durch Geschenke, die Schwarz bezahlte, wieder
zu vertreiben. Schließlich aber machte sie doch einen groben Fehler.
Zu einem Fünfuhrtee im Kaiserhof kam Berta allein, ohne Verabredung
-- sie hoffte, Gusti dort zu treffen. Das war auch der Fall, doch
heute störte sie die vielseitig verpflichtete Frau. Gusti beherrschte
sich nicht -- als Berta plötzlich vor ihr auftauchte, wurde sie
unfreundlich und zeigte, daß sie peinlich berührt war.

Eine Weile blieb Berta bei Gusti und ihren Bekannten stehen -- an
Launen der Glücklichen war sie ja gewöhnt. Als man aber gar nicht
das Wort an sie richtete und ihre unscheinbare Person wie ein
Dienstmädchen behandelte, machte Berta plötzlich kehrt und verließ den
Kaiserhof. Gusti ließ sie heute gehen -- sie war sehr ärgerlich auf
sie.

Am nächsten Tage hielt sie es in Rücksicht auf Schwarz für klüger,
Berta anzurufen: »Warum bist du denn eigentlich gestern so
davongelaufen?«

»Wenn du dich meiner schämst, hat es ja doch keinen Zweck!«

»Sei nicht so albern, Berta! Wie ich's meine, müßtest du jetzt schon
wissen! Ich war nur ein bißl nervös, weil wir uns gar nicht verabredet
hatten!«

»Ach, du meinst wohl, daß du mich immer an die Leine nehmen mußt; wie
so'n Hundchen? Nein, liebe Gusti -- da täuschst du dich ganz gewaltig!
Dankbar bin ich dir, gewiß, aber ein selbständiger Mensch muß ich auch
bleiben! Das ist es ja eben, was ich brauche! Bloß so'n Anhängsel, was
man duldet, bin ich wirklich nicht!«

»Dafür hab' ich dich auch nie gehalten! Aber ich seh' jetzt ein, was
du wirklich bist!«

»Na, was denn? Was denn?«

»Furchtbar eingebildet bist du! Nur weiß ich nicht recht, worauf!«

Jetzt hängte Berta den Hörer an. Sie zitterte vor Zorn. Mit der
Versöhnung war es also diesmal nichts. Bald tat es ihr leid, daß
sie Gusti nicht mehr die Wahrheit gesagt hatte. Ja, eingebildet war
sie, weil das Blut ihres Vaters in ihr lebte, des stolzen, berühmten
Herrn Justizrates. Daß einem die Schlagfertigkeit doch immer zu spät
kam! Jetzt ging es wieder mit ihr durch. Heftige Erbitterung gegen
Gusti ergriff sie, denn die war es ja, die sie von ihrer Aufgabe
abgelenkt hatte. Was nützte das Naschen und Horchen? Man blieb doch
minderwertig. Das Leben packen und besitzen konnte nur der, der seine
Ebenbürtigkeit durchgesetzt hatte.

Zunächst hieß es, mit den vorhandenen Mitteln einen echten Luxus
vortäuschen. Berta revidierte alles, was sie Gusti zu danken hatte.
Das Wirksamste blieb der Hut. Aber den hatte sie nun jedesmal im
Theater und beim Tee getragen. Man kannte ihn schon auswendig. Ihr
Versprechen, den Hut bei Madame Kühne umgarnieren zu lassen, hatte die
liebe Gusti natürlich nicht gehalten.

So beschloß Berta denn eines Nachmittags, das kostbare Stück selbst
in das Atelier zu tragen. Das Schicksal wollte es, daß Madame Kühne,
die unfehlbar jede schädliche Dummheit mied, heute nicht anwesend
war. Berta wurde von einem Fräulein bedient, dessen Puppenkopf kein
Überlegen kannte. Sie sah den Hut und rief: »Ach, der! Ja, ja, den
kenn' ich! Den hat ja damals Herr Justizrat Schwarz bestellt!«

Berta glaubte sich verhört zu haben: »~Wer~, Fräulein?«

»Na, Herr Justizrat Schwarz im Grunewald, Königsallee 27!«

»Sie meinen doch wohl -- Frau Gusti Bernhardi?«

Der Puppenkopf schüttelte sich: »Mein Gott, mein Gott -- das ist ja
auch richtig! Stimmt ja ganz genau, gnädige Frau! Frau Bernhardi hat
ihn bestellt, aber Herr Justizrat Schwarz hat ihn bezahlt! Das ist
immer so! Aber nun haben gnädige Frau den schönen Hut fallen lassen!
Na, gnädige Frau -- --!«

Berta hatte die Tür aufgerissen und stolperte die Treppe hinunter. Den
Hut ließ sie dort, wo er bezahlt worden war. Auf der Bendlerbrücke
blieb sie stehen. Plötzlich warf sie ihre schönen Wildlederhandschuhe
ins Wasser. Ein kleiner Junge sah das mit an und machte Augen, als
wollte er bis an sein Lebensende so staunen.

Erst am Potsdamer Platz, mitten im Gewühl, kam Berta zu sich. Es
hämmerte in ihren Schläfen. Was war geschehen? Nur das eine wurde ihr
klar: Gusti Bernhardi und Viktor Schwarz waren Verschworene. Die Frau,
der sie das bißchen Traum dankte, hatte sich mit dem Mann, der sie
verleugnete, verbündet. Das war ein Abgrund. Leise weinend stand sie
vor dem ungeheuren Betrug.

Da wurde sie plötzlich angerührt. Entsetzt fuhr sie empor und glaubte
aus einer finsteren Grube ins grelle Licht zu starren. Alfons Grunow
stand vor ihr. Er war seltsam verändert -- sein üppiges Lockenhaar war
fort, und das einst so rosige Gesicht war hart und gelb geworden.

»Alfons,« lallte Berta -- »hast du mich erschreckt! Ich hab' dich so
lange nicht gesehen!«

Eine tiefe Falte zuckte zwischen den Augen des Mannes. Er lächelte
und zeigte schadhafte Zähne: »Das glaub' ich. So geht es mir jetzt
mit vielen. Ich war ja zwei Jährchen verschwunden. Aufruhr und
Landesverrat -- so haben sie's genannt. In Rummelsburg war ich.«

»Doch nicht im Zuchthaus?!«

»Schrei's man dem Schutzmann zu -- dann nimmt er mich gleich wieder
mit. Wird ohnehin nicht mehr lange dauern.«

»Deine arme Mutter!«

»Ach Gott, die ist froh, daß ich wieder da bin. Mutter ist stolz auf
ihren Sohn -- verstehst du? Stolz!«

Der ärmliche Mensch, der da vor Berta stand, hatte etwas düster
Großes. Sie schauderte zusammen, und plötzlich fühlte sie sich ihm
wieder sehr verwandt. Wo blieben Recht und Gerechtigkeit? Wurde man
nicht mißbraucht und sollte den Mißbrauch noch anerkennen?

»Alfons!« flüsterte sie -- »ich will das gar nicht weiter beurteilen
-- ich versteh' ja doch nichts von Politik. Aber sage mir bloß eins:
Was tut man mit 'nem Menschen, der einen immer bloß beleidigt und
schikaniert, und der noch triumphiert, wenn man um sein Recht gebracht
wird?!«

»Von wem redest du?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich möchte nur wissen, Alfons -- schon
als Kind hab' ich dir doch immer geglaubt -- Du warst der Erste -- --
vielleicht bist du der Letzte auch -- --«

»Mach' keine Dummheiten! Du stehst doch am Trog, du hast es doch
wahrhaftig nicht nötig! Wenn unsereiner radikal sein will, dann knallt
er einfach seinen Feind nieder! Aber das ist nichts für dich! Solche
Feinde hast du nicht!«

Alfons Grunow ging weiter. Berta wandte sich ihrer Wohnung zu. -- ›Wer
weiß?‹ flüsterte sie mit hängendem Kopf. ›Wer weiß?‹ Vielleicht sollte
ich auch so radikal sein, wie du!‹

Daheim ging sie ganz verwandelt umher. Die Kinder standen blaß in den
Ecken und sahen ihr mit stiller Trauer zu. Rietschel aber dachte:
›Jetzt weiß sie es. Sie muß hinter den ganzen Schwindel gekommen sein!
Wenn ich bloß Näheres wüßte! Na, ich muß sie so zur Ruhe kommen
lassen.‹

Er war freundlich und nachsichtig gegen sie. Aber das half ihr nicht.
Am nächsten Tag trat sie halb unbewußt in einen Waffenladen und
kaufte sich einen kleinen Revolver. »Fürs Geschäft«, sagte sie zu dem
Verkäufer. »Ich bin so viel im Laden allein, und die Kasse, wissen Sie
-- heutzutage muß man vorbeugen.«

Schießen konnte sie nicht, aber es mußte auch so gehen. Die Handgriffe
hatte ihr der Verkäufer gezeigt. Ihr Dämmerzustand verließ sie nicht.
Nachmittags schon fuhr sie nach dem Grunewald und wartete in der
Königsallee, bis es Abend wurde. Das Haus des Justizrates wurde hinter
allen Fenstern erleuchtet -- offenbar erwartete er Gesellschaft. Berta
stand, von einem Baum gedeckt, auf der anderen Seite der Straße. Sie
konnte in die prachtvollen Räume blicken: Ein stürmisches Weh wallte
in ihr auf. Was wies sie dort zurück? Was hatte sie verschuldet? So
mochte denn alles zugrunde gehen ...

Es schlug sieben -- bald mußte der Justizrat aus der Stadt
zurückkehren. Berta hatte den Revolver entsichert und wählte den
Standort, den sie für richtig hielt. Plötzlich mußte sie die Waffe
verbergen und rasch zur Seite treten. Ein merkwürdiges Paar kam
langsam an ihr vorbei. Der erblindete alte Herr ging am Arm eines
jungen Mädchens, dessen schlichte Schönheit Berta bewußt wurde. Sie
konnte ein Bruchstück des Gespräches auffangen. Der Alte sagte:
»Ich will keine Last für dich werden, Erika. Du sollst deine Jugend
genießen.« Das Mädchen antwortete: »Aber, Vater -- ich bin doch dein
Kind.«

Weiter hörte Berta nichts. Sie sah die beiden in heiliger Einigkeit
weitergehen. Schwarz und drohend ragten die Grunewaldkiefern in den
Abendhimmel. Da kam eine vernichtende Scham in Berta auf -- sie fühlte
ein Erwachen, warf den Revolver über das nächste Gartengitter und
eilte der Stadt zu.




                      EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL


Viktor Schwarz war krank. Er wußte es schon lange, aber er war ein
Geschöpf des Berliner Tempos und kam zu keiner wirklichen Vorsorge. Er
pflegte sich und gehorchte dem Arzt -- andererseits steckte er, wie
Vogel Strauß, den Kopf in den Sand und genoß die verbotensten Dinge.

Er konnte nicht anders leben. Entweder mußte er Ratgeber oder
Spekulant oder Tafelaufsatz sein -- auch als Volkstribun hatte er
sich schon versucht. Er selbst war nirgends mehr, auch nicht bei
Gusti Bernhardi. Was die an ihn band, war doch nur der Abglanz der
öffentlichen Meinung. Sie fand ihr gutes Leben bei ihm und wollte
ihn beerben -- darüber war er sich klar. Im übrigen blieb er ein
Börsenkurs.

Aber dieses Leben des einzelnen, der allen gehören wollte, war
namenlos anstrengend. Es zerrieb, während man die Fülle vortäuschte.
Schon die Diners waren eine Verpflichtung, die allmählich zerstörend
wirkte. Der Repräsentant blieb am Ende nur ein Mensch mit einem
einzigen Magen. Wen er nicht vor den Kopf stoßen wollte, an dessen
Tisch mußte er sich setzen. Das Niveau der Küchen war so hoch, daß
auch hier jede Abschätzung fehlte. Es war unmöglich, festzustellen, wo
der getrüffelte Puder oder der garnierte Rehrücken besser schmeckte.
Nach der Arbeit kam auch immer wieder der Hunger. Wollte man nicht als
minderwertig gelten, mußte man zugreifen. Und man lebte ja auch nur
einmal.

Aber die Gicht war unaufhaltsam. Ein Zaubermittel, das sich all die
geplagten Feinschmecker zugestanden, war ein schlichtes Mineralwasser,
Fachinger genannt. Sie tranken unzählige Flaschen Bordeaux --
der Fachinger mußte es dann wieder gutmachen. Dieses kühle
Reinigungsmittel galt noch nicht als Zeichen der Invalidität.

Nun wollte auch das bei Viktor Schwarz nicht mehr helfen. Seine
sorgenvolle Stimmung wuchs. Als er an einem grauen Märztage sein
Bureau verließ und in das Automobil steigen wollte, das er sich als
Syndikus des Kraftwagenkonzerns Universum erworben hatte, sah er
plötzlich wieder seine Verfolgerin vor sich. Die Frau, die durchaus
seine Tochter sein wollte, wartete auf ihn. Er wurde blaß vor Wut,
stapfte mit seinen Gichtfüßen an ihr vorüber und stieg in den Wagen.

Als das Automobil ihn forttrug, wurde ihm aber klar, daß Berta
Rietschel sehr verändert gewesen. Eine sonderbare Beängstigung ergriff
ihn. Sie hatte einer Traumgestalt geglichen, die er seit Wochen nicht
vergaß. Es hatte ihm geträumt, daß er zur Dämmerstunde in seine
Grunewaldvilla zurückgekehrt war, und plötzlich hatte ein Weib ihm
mit erhobenem Revolver gegenüber gestanden. Eben war er noch ins Haus
gelangt -- als die Tür sich hinter ihm schloß, war der Schuß gefallen
-- da war er auch aufgewacht.

So blaß, so drohend, stillen Wahnsinn in den Augen, wie das
Traumgesicht, hatte Berta nun wirklich vor ihm gestanden. Sie hatte
diesmal nicht gegrüßt, nur ernst genickt, und dieses Nicken schien ihm
zu sagen: ›Ich tu's nicht. Weil du mein Vater bist, tu' ich's nicht.‹

Immerhin -- die Person war gefährlich -- das spürte er jetzt. Schon
nahm sie das alte, freche Spiel wieder auf. Nirgends konnte er mehr
ruhig sein -- die Verfolgerin brachte alles in Erfahrung, immer stand
sie da und lauerte, mit dem verrückten Nicken, ohne Gruß.

Dem war er nicht mehr gewachsen. Als Gusti Bernhardi zu ihm kam,
herrschte er sie an: »Du hast dich schön blamiert! Jetzt ist die
Geschichte schlimmer als je!«

»Was meinst du denn?« fragte sie, Konfekt knabbernd.

»Na, sie lauert mir schon wieder auf! Der Vampir! Das kleine
Scheusal!«

»Berta? Wahrhaftig? Ja, ich bin leider mit ihr verzankt.«

»Das ist ja großartig! Das teilst du mir so einfach mit? Konntest du
das? Durftest du das?! Jetzt gerade, bei meinem Zustand? Ich darf mich
nicht aufregen! Ich habe keine ruhige Minute mehr!«

»Aber, Vicki ... Es ist doch halb so schlimm. Was mit Berta los ist,
weiß ich freilich nicht zu sagen. Plötzlich war sie eingeschnappt und
kam nicht mehr und antwortete nicht, wenn ich ihr schrieb. Nachlaufen
konnte ich ihr natürlich nicht. Sie muß halb närrisch sein.«

»Das fürcht' ich auch!«

»Wenn sie nun den alten Unsinn wiederanfängt ...«

»Also, du hast total versagt, Gusti! Ich muß mir jetzt selber helfen!
Die Sache wird für mich im höchsten Grade gesundheitsschädlich! Dazu
bin ich mir denn doch zu schade! Laß mich jetzt überlegen, was man tun
kann! Ich dank' dir schön, aber misch' dich bitte garnicht weiter ein!«

»Das ist auch nicht mein Ehrgeiz, Vicki. Deine unehelichen Kinder
unschädlich zu machen, ist ein undankbares Geschäft. Ich amüsier' mich
lieber.« --

Am nächsten Tage ging es Schwarz schlechter. Er mußte alle
Gesellschaften absagen, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als
im Bett zu bleiben. Doch das bißchen Ruhe tat ihm nach dem Tempo
der letzten Jahre wohl. Er kam endlich einmal zum Überlegen seiner
Angelegenheiten. Plötzlich ging ihm Bertas wegen ein Licht auf. Trotz
seiner schmerzenden Füße mußte er lächeln. Er, der kluge, unfehlbare
Viktor Schwarz, hatte da eine gewaltige Dummheit gemacht. Wie war es
ihm nur möglich erschienen, daß eine Frau, wie Gusti, ihn befreien
könnte? Die hatte es sicher nur noch schlimmer gemacht. Gerade seitdem
Berta die große Welt durch sie kennengelernt, reizte es sie natürlich
doppelt, den Mann zu gewinnen, der ihr diese Welt schenken konnte.

Wie behandelte man denn Leute mit fixen Ideen? Er erinnerte sich,
neulich erst mit einem berühmten Psychiater darüber gesprochen zu
haben. Man versuchte ihnen die Ideen nicht auszureden, sondern sie
im Gegenteil darin zu bestärken. Nur das ~Objekt~ der Idee in
dem kranken Bewußtsein zu verändern, darauf kam es an. Viktor Schwarz
stieß einen Jubelton aus -- dabei ging es ihm so schlecht. Das war es!
Das half! Jetzt schüttelte er sie von sich!

Rasch griff er nach Papier und Feder und schrieb mit schmerzender Hand:

  ›Sehr geehrte Frau Rietschel!

  Könnte ich Sie in einer für Sie bedeutungsvollen Angelegenheit
  sprechen? Ich habe allmählich die Empfindung bekommen, daß Sie einen
  Vorteil für Ihre Zukunft von mir erwarten, und Sie sollen sehen, daß
  ich nicht der Mann bin, ihn Ihnen vorzuenthalten. Leider geht es mir
  jetzt nicht gut, ich leide an rheumatischen Anfällen und muß für
  einige Tage das Bett hüten. Nach reiflicher Überlegung will ich aber
  Ihre Angelegenheit nicht länger verzögern. Ich bitte Sie deshalb,
  am nächsten Montag nachmittag, etwa um 4 Uhr, zu mir zu kommen.
  Nicht in das Bureau also, sondern Grunewald, Königsallee 27. In der
  Hoffnung, Sie bei mir begrüßen zu können, bin ich Ihr

  hochachtungsvoll ergebener

  Viktor Schwarz,
  Justizrat.‹

Mehrmals las er diesen Brief durch. Bedenken gegen das Wagnis regten
sich. Er war krank, er konnte sich vielleicht in der Szene, die Berta
ihm machte, nicht behaupten. Aber am stärksten blieb doch sein Wunsch,
die unerhörte Belastung nicht in gesunde Tage mitzuschleppen. Er mußte
jetzt ein für allemal damit fertig werden. --

Bertas Kinder waren schon so weit herangewachsen, daß sie den Zustand
ihrer Mutter als Unglück des Vaters empfanden. In ihren kleinen Herzen
brannte der Wunsch, durch irgendein schönes Ereignis die arme Mutter
aufrichten zu können. Das geschah gewiß durch eine rechte Freude.
Aber woher sollte die kommen?

Da brachte die Post eines Tages einen Brief. Das Dienstmädchen war
eben nicht zu Hause, die Kinder mußten der Mutter den Brief verwahren.
Nun hatten sie einen gewaltigen Begriff davon. Namentlich dieser Brief
erschien ihnen vielversprechend. Er konnte von keinem Verwandten
sein -- dagegen sprach das feine Papier und die merkwürdige Schrift.
Aus einer höheren Sphäre stammte der Brief -- das empfanden Paul und
Grete. Plötzlich sagte der kleine Junge: »Du, vielleicht ist das was
Schönes für Mutti. Am Ende freut sie sich so darüber, daß sie wieder
ganz vergnügt wird.«

Grete meinte: »Na ja -- dann wollen wir's ihr man geben, wenn sie nach
Hause kommt. Dann wollen wir's ihr beide geben.«

Es wurde eine Verschwörung, die ihnen außerordentlich Spaß machte.
Einer nahm immer den andern den Brief weg. Schließlich beschlossen
sie, ihn beide anzufassen und der Mutter zu überreichen.

Sie hatten Glück. Berta kam heute vor Rietschel nach Hause. Verdrossen
trat sie ein und setzte sich an ihren Nähtisch. Da sah sie die
schüchterne Feierlichkeit ihrer Kinder auf sich zukommen. Auch hier
war sie jetzt gegen jeden Spaß. Zornig riß sie den Brief an sich. Aber
Paul und Grete ließen sich nicht einschüchtern -- sie warteten, bis
die Mutter gelesen hatte.

Das war nun geschehen. Die Wirkung erwies sich über alles Erwarten.
Bertas Augen blieben an den Zeilen haften und füllten sich mit Tränen.
Ihre Lippen flüsterten unverständliche Worte -- offenbar versuchte sie
den Inhalt des Briefes zu sprechen, um ihn besser verstehen zu können.
Ein Wunder mußte ihr entgegengekommen sein, etwas völlig Unerwartetes.
Paul und Grete waren entzückt -- in plötzlicher Eingebung liefen sie
auf die Mutter zu und drängten sich an sie.

Berta sah staunend auf sie nieder. Sie konnten ja nicht ahnen, was
der Brief enthielt, aber es waren Seelen, die zu ihr gehörten, und sie
teilte sich ihnen mit. So flüsterte sie zu den blonden Köpfen herab:
»Das ist ein guter Brief ... Da habt ihr mir was Schönes verwahrt ...
Aber etwas ist nötig, Kinder -- merkt euch das -- ihr dürft nichts
zu Vater sagen -- Vater darf nichts davon wissen -- dem sag' ich es
später selbst.«

Glücklich, aber auch befremdet hörten die Kinder diesen Befehl. Zum
erstenmal hatte die Mutter eine Heimlichkeit mit ihnen vor dem Vater
-- war das möglich? Aber sie waren stolz darauf, und ihr eifriges
Nicken glich einem Schwur.

Als Berta mit dem Brief allein war, wurde sie klarer und bedenklicher.
An ihrer Überzeugung, daß der Entschluß des Justizrats nur
~einen~ Sinn haben konnte, änderte sich nichts. Aber ihre
Erfahrungen hatten sie mißtrauisch gemacht. An eine plötzliche
Wandlung glaubte sie nicht. Woher sollte die kommen? Schwarz war und
blieb ein Vorteilsmensch. Es mußten sich entscheidende Gründe für ihn
ergeben haben, die Maske fallen zu lassen. Schließlich empfand ja auch
er den unerträglichen Zustand. Er würde nun gewiß versuchen, billig
davonzukommen. Ein stolzes Gefühl packte Berta: Dieser Mann ahnte
nicht, daß ihr am Gelde wenig, am Siege der Gerechtigkeit alles lag.

Nun, sie würde ja bald wissen, wie es zusammenhing. Vielleicht hatte
Gusti Bernhardi doch noch etwas durchgesetzt. Von Reue wurde Berta vor
Gusti ergriffen. Hatte sie ihr doch unrecht getan? War sie zu schnell
mit ihrem leidenschaftlichen Bruch gewesen?

Jetzt wollte sie jedenfalls vorsichtig sein. In eine Falle ging sie
nicht mehr. Nachdem sie diesen Brief empfangen, kam sie ja mit dem
unschätzbaren Vorteil ihres guten Rechtes.

Erst als sie nach dem Grunewald unterwegs war, fiel ihr ein, daß der
Brief des Justizrates doch merkwürdig förmlich war. Sie riß ihn aus
der Tasche und las ihn noch einmal. ›Sehr geehrte Frau Rietschel?
Ich habe allmählich die Empfindung bekommen, daß Sie von mir einen
Vorteil für Ihre Zukunft erwarten? Nach reiflicher Überlegung will ich
ihre Angelegenheit nicht länger verzögern? In der Hoffnung, Sie bei
mir begrüßen zu können, bin ich Ihr hochachtungsvoll ergebener ...‹
Schrieb man so an seine Tochter? Auch wenn noch nichts ausgesprochen
war?

Es durchrieselte sie kalt. Aber nun stand sie schon dort, wo sie einst
mit dem Revolver gestanden hatte. Umkehren wollte sie nicht mehr.
Sie brauchte Klärung, nicht ewige Dunkelheit. Klärung erwartete sie
jedenfalls.

Sie läutete und wurde von einem Diener eingelassen. Es war wohltuend,
in diesem prachtvollen Hause als erwarteter Besuch behandelt
zu werden. Der Diener sprach höflich und leise. Er mochte sich
vielleicht über Berta wundern, aber er zeigte es nicht. Bald führte
er sie in den ersten Stock hinauf. ›Das sind Gobelins, die können
hunderttausend Mark kosten‹, dachte Berta, während ihr Blick die Wände
des Treppenhauses streifte. Unwillkürlich fühlte ihr Fuß an den dicken
Teppichen herum. Perser oder Smyrna? Sie wußte es nicht. Nun mußte
sie eine Minute warten -- dann kam der Diener wieder und bat sie mit
wehmütigem Lächeln, einzutreten.

Sie stand im Schlafzimmer des Justizrates, aber im Bett lag er nicht.
In einen Lehnstuhl sah sie ihn, und neben ihm war ein kleiner Teetisch
gedeckt. Hier mußte sie sich ihm gegenüber setzen.

Die Hand, die er ihr reichte, war verbunden, und seine Füße steckten
in dicken Filzpantoffeln.

Berta wurde von Mitleid ergriffen. Er mußte doch ernstlich krank sein
-- so sah man nicht aus, wenn man nur Rheumatismus hatte.

»Wie geht es Ihnen denn?« fragte sie nach einer Weile.

»O, danke sehr, es macht sich schon wieder. Man muß zufrieden sein.
Aber reden wir nicht von mir ...«

Seine schwarzen Augen schielten sie lächelnd an. ›Der Blick war
unvermindert lebensvoll, teuflisch lebensvoll‹, dachte sie. Wie gern
hätte sie jetzt das andere, Göttliche oder auch nur Menschliche darin
gefunden. Nein, wie ein Vater sah er sie nicht an.

»Bitte, bedienen Sie uns freundlichst mit Tee und Kuchen. Ich kann
leider mit meinen kranken Händen nichts tun. Ja, ja, meine liebe Frau
Rietschel -- man wird hart gestraft.«

Gestraft? Sie horchte? auf. Aber so schwerwiegend meinte er es wohl
nicht.

»Wie gesagt -- reden wir nicht von mir. Ich habe Sie nur Ihretwegen zu
mir gebeten. Ihr Schicksal interessiert mich natürlich Ihrer lieben
Mutter wegen.«

Berta konnte nur nicken. Sie spürte, wie sie zitterte, und versuchte
ärgerlich, sich selbst festzuhalten.

»Das Vergnügen, Sie zu sehen, hatte ich ja in den letzten Jahren
wiederholt, wenn ich auch von diesen Gelegenheiten leider keine
Besprechung ableiten konnte.«

Er lächelte noch immer, seine Worte klangen leicht und freundlich,
verbargen aber eine spöttische Schärfe. Bertas Hoffnung begann
zu sinken. Wie wollte er von diesem Ton zum Vaterbekenntnis
hinüberfinden? Aber sein Brief, sie hatte ja seinen Brief.

»Ich habe mir eine Besprechung furchtbar gewünscht«, stieß sie hervor.
»Darum war es eine doppelte Freude für mich, als Sie mir schrieben ...«

»Ja, ja,« sagte er rasch und erledigend -- »schriftlich mußte es jetzt
geschehen. Ich hatte auch offen gestanden keine Lust mehr --«

»Seien Sie mir nicht böse, Herr Justizrat! Sie können sich doch
denken, was in mir vorgeht!«

»Das weiß ich. Das weiß ich ganz genau. Ich wollte Ihnen eben nicht
erst böse werden, darum schrieb ich Ihnen. Sie müssen bedenken, daß
Sie der erste Besuch sind, den ich empfange -- in meinem Krankenzimmer
empfange --«

»Ich danke Ihnen vielmals! ...«

»Nichts zu danken. Aber der Kürze müssen wir uns befleißigen -- in
Rücksicht auf meinen Zustand -- nicht wahr? Also -- haben Sie Tee
getrunken, Kuchen gegessen? Sind wir so weit? Dann hören Sie zu, was
ich Ihnen zu sagen habe.«

Berta lauschte gehorsam, mit großen, fiebrig glänzenden Augen.

Justizrat Schwarz lehnte sich zurück und sah während des Folgenden
nicht sie an, sondern eine schöne Kopie, die ihm gegenüber hing. Es
war Helene Fourment von Rubens. Berta hatte die nackte Frau noch nicht
bemerkt.

»Also -- weil ich mich für Sie interessiere, Ihrer lieben Mutter wegen
-- will ich dem Zustand ein Ende machen und Ihnen sagen, was ich weiß.
Es handelt sich doch mit einem Wort um Ihren Vater. Sie wollen von mir
wissen wer Ihr Vater ist.«

Berta versuchte etwas zu äußern, aber es gelang ihr nicht. Sie
fürchtete, nur ein Wort zu verlieren.

Die gelbe Miene des Justizrates wurde jetzt ernst und straff. Etwas
Amtliches kam in seinen Ton: »Ich weiß nicht, ob Sie sich darüber klar
sind, was das Anwaltsgeheimnis ist. Eine Vorlesung kann ich Ihnen
darüber nicht halten. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich seit Ihrem
ersten Besuch zur Diskretion im Interesse meiner Klientin verpflichtet
war. Meine Klientin ist Ihre Mutter -- Sie sind es nicht, nicht wahr?
Wenn ich mich heute trotzdem selbst von meiner Pflicht entbinde, so
geschieht das deshalb, weil ich es mir in meiner jetzigen Position
leisten kann. Ich bitte Sie aber, einen Akt besonderen Vertrauens
darin zu erblicken und mir strengstes Stillschweigen zu geloben.«

»Aber gewiß, Herr ... ich ... ich werde doch nicht -- --!«

»Es ist nur zu Ihrem eigenen Vorteil. So. Das wäre die Voraussetzung.
Und nun zur Sache selbst!« -- Er sah von Helene Fourment fort, lehnte
sich zurück, und sein peinlicher Blick ruhte wieder auf Berta.
»Versuchen Sie jetzt mal, mich ganz ruhig und objektiv anzuhören,
liebe Frau Rietschel. Als ob es sich garnicht um Ihre Mutter handelte,
sondern um irgendeinen fremden Menschen, von dem ich Ihnen eine
interessante Geschichte erzähle. Nur so gewinnt man nämlich ein
Urteil.«

»Ich möchte vor allen Dingen von meinem Vater was wissen«, stieß Berta
hervor.

Er nickte ungeduldig: »Ja, ja! Das hängt doch selbstredend zusammen.
Also, die Sache ist folgende: Ich sage Ihnen jetzt, wie Sie auf diese
zweifelhafte Welt gekommen sind, liebe Frau. Bleiben Sie sitzen!
Sie wollen wahrscheinlich sagen: ›Das wissen Sie also?‹ Ja, Frau
Rietschel -- das habe ich damals schon gewußt, als Sie ein Backfisch
wahren -- das wußte ich schon, bevor Sie geboren wurden. Aber ich bin
Rechtsanwalt -- ich führte die Sache Ihrer Mutter -- ich führte sie
gegen Ihren Vater!«

Berta saß mit hängenden Armen da. Leer starrte sie ihn an. Er also --
er war es nicht? Er selber nicht? ...

»An der Stelle,« fuhr Justizrat Schwarz mit gehobener Stimme fort, »wo
Sie vor kurzem mir gegenüber saßen, in meinem Bureau saß mir vor 28
Jahren Ihre arme Mutter gegenüber. Sie hatte eine Stellung in Berlin
-- wo, ist ja irrelevant -- sie war ein junges, blühendes Geschöpf --
ich sehe sie noch vor mir, und --« Schwarz schneuzte sich -- »und sie
gestand mir die Tragödie ihres Lebens. In dem Lokal, wo sie angestellt
war, verkehrten junge Offiziere -- einer von ihnen, ein bildschöner
Gardeulan aus Spandau, alter Adel, Frau Rietschel -- der hatte sich
stürmisch in Ihre Mutter verliebt, die Liebe war gegenseitig, und das
Verhältnis hatte Folgen.«

Jetzt ruhte sein Blick mit unechter Weichheit auf ihr, eine fette
Rührung kam in seine Stimme. -- »Der junge Leutnant war ein
Ehrenmann«, fuhr er fort. »Seine Leidenschaft war echt, und er faßte
den schwärmerischen Entschluß, das arme Ladenfräulein zu heiraten.
Doch er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht -- ich meine seine
adelstolze Familie. ›Niemals!‹ scholl es ihm da entgegen. Und sehen
Sie, liebe Frau Rietschel -- wie das Leben nun einmal ist ...« Er
lächelte schmerzlich und machte trotz seiner Gicht eine eigentümlich
resignierte Bewegung mit beiden Händen.

Berta folgte dieser Bewegung. -- »Er hat sie sitzen lassen?« flüsterte
sie.

»Er gab nach. Unter den schwersten Kämpfen. Wir leben ja leider nicht
in der Welt unserer Dichter. Die liebe Wirklichkeit siegt schließlich
doch. Es ging um sein Majorat, um sein Offizierspatent -- um sich dem
ganzen Wirrsal zu entziehen, fuhr er nach China, mit Waldersee -- aber
von diesem Kriege wissen Sie wohl kaum etwas -- da kamen Sie eben zur
Welt.«

»Und Mutter hat ihn gehen lassen?«

Viktor Schwarz nickte schwer. -- »Ja«, sagte er mit dumpfer Stimme.

»Und das Kind bin ich?«

»Das Kind sind Sie.«

»Warum hat mich denn Mutter nicht behalten, das wär' doch ein Trost
für sie gewesen?«

»Nein. Sie war zu verbittert. Sie wollte ganz allein bleiben. Deshalb
kamen Sie zu Frau Grunow.«

»Aber eins versteh' ich nicht -- was wollte denn Mutter bei Ihnen?«

»Sie brauchte in Ihrer furchtbaren Bedrängnis einen Rechtsbeistand.
Ich war ihr von mehreren Seiten empfohlen worden.«

»Na ja .. Aber ich denke, sie hat schon von selbst gewußt, was sie
tat? Wenn so'n armes, verlassenes Mädel aus Liebe handelt und ihren
Bräutigam aufgibt, um ihm nicht im Wege zu sein -- dazu braucht sie
doch keinen Rechtsbeistand?«

Die fanatische Logik dieser Fragen wurde dem Justizrat unbequem.
Außerdem begannen seine Füße wieder zu schmerzen. -- »Na ja, na
ja. Sie war eben verzweifelt«, brummte er. »Wie soll ich Ihnen das
erklären? Es ist auch schon zu lange her. Sie wollte meinen Rat, und
ich riet ihr, als ich die Situation übersah.«

»Sie rieten ihr, den Leutnant aufzugeben? Sie als ihr Rechtsbeistand?
Das klingt ja, als ob Sie die Familie von ihm vertreten hätten.«

Schwarz hob den rechten Fuß: »Au! ... Entschuldigen Sie -- aber mein
großer Zeh -- es wird mir wirklich schwer, Ihnen weiter Rede zu
stehen. Wir müssen uns jetzt kurz fassen. Ihre Fragen leiten auch
immer vom Thema ab.«

»Das finde ich nicht, Herr Justizrat. Wenn man eben erst gehört hat,
wer man sein soll. Also ich habe sozusagen blaues Blut in mir?«

Sie fragte es knapp und scharf. Mißtrauisch sah er sie an -- war Hohn
in ihrer Stimme? Glaubte sie ihm etwa nicht? Diese Wendung durfte
keinesfalls eintreten. Jetzt rüstete er sich zum letzten Widerstande.
-- »Ja, meine liebe Frau Rietschel,« sagte er mit der feierlichen
Stimme seiner Plädoyers, »in Ihnen ist adliges Blut. Bestes Bürgertum
und Aristokratie. Das kann doch jetzt nur tröstlich für Sie sein.«

»Das glaub' ich nicht. Das nimmt mir ja die Ruhe. Darum wünsche ich
mich ja immer wo anders hin. Niemals pass' ich dahin, wo ich lebe.
Nicht Fisch und nicht Fleisch bin ich.«

»Aber Ihre Kinder! Sie sind doch Mutter! Vergessen Sie denn vollkommen
Ihre Kinder? In denen wird einst der natürliche Adel zum Vorschein
kommen! Sie gleichen doch wahrscheinlich jetzt schon ihrem Großvater!«

»Nein, die gleichen Rietschel! Aber es handelt sich jetzt nicht um die
Kinder. Ich muß selbst Bescheid wissen, sonst werd' ich verrückt. Wie
heißt mein Vater? Der, von dem Sie mir erzählt haben.«

»Selbstverständlich der! Um wen soll es sich sonst handeln? Aber den
Namen darf ich keinesfalls nennen!«

»Etwa wegen seiner Familie? Sie vertreten doch bloß meine Mutter?«

»Zum Donner -- Ihre Mutter hat es ja selbst gewünscht! Verstehen Sie
denn das nicht?«

»Nein, verstehen tu' ich so was nicht. Aber das tut ja nichts zur
Sache! Das ist wohl immer so bei einem Rechtsanwalt!«

»Was heißt das?«

Berta war aufgestanden. Jetzt bebte ihre kleine Gestalt. In einer
sonderbaren Eingebung riß sie ihren Kneifer aus aus dem Gürtel und
setzte ihn auf. Er glaubte, daß sie ihn schärfer ins Auge fassen
wollte, und wich unwillkürlich zurück. Sie aber wollte ihm ein Erbe
zeigen, das sie dem Vater dankte -- ihre schwarzen Augen zogen sich
hinter den Gläsern zusammen, und sie schielte ihn ebenso an, wie er
sie.

»Lebt mein Vater?« fragte sie mit kippender Stimme.

»Nein!« rief Schwarz energisch. »Das muß ich Ihnen nun auch eröffnen!
Er ist im Orient gestorben! An den Folgen des Chinakrieges! Eigentlich
hat Ihr Vater den Heldentod fürs Vaterland erlitten!«

»Das macht mir keinen Eindruck! Ich bin Sozialdemokratin!«

»Oho! Da möchte ich Sie doch dringend warnen, liebe Frau Rietschel!
Hüten Sie sich vor den Wahnideen unserer Zeit!«

»Es ist ja bloß meine Privatansicht. Politik mache ich nicht. Und wenn
ich auch sozialdemokratisch bin -- in Militärsachen weiß ich doch
recht gut Bescheid, Herr Justizrat!«

»Was heißt das? Was wollen Sie damit sagen?«

»Ach, bloß 'ne Kleinigkeit -- mein Vater, der Herr Leutnant, soll in
Spandau gestanden haben? In Spandau gibt's ja gar keine Ulanen!«

»Da irren Sie sich!«

»Ich irre mich nicht! In solchen Sachen nie!«

»Blau mit gelben Litzen! Eine wunderbare Uniform!«

»Die stehen in Potsdam!«

Justizrat Schwarz lehnte sich erschöpft zurück: »Also meinetwegen in
Buxtehude. Mit Ihnen zu streiten, gebe ich auf. Ich habe das Meinige
getan. Ich habe Ihnen aus eigenem Entschluß, ohne es nötig zu haben,
Aufklärungen gegeben. Nun wissen Sie das hoffentlich zu schätzen, nun
richten Sie sich danach.«

Bertas starrer Blick verließ ihn nicht. Ihr Gesicht war kreidig,
ihre bläulichen Lippen bewegten sich eine Weile, bevor sie sprechen
konnte: »Das tu' ich ... Jetzt weiß ich Bescheid ... Ich danke Ihnen
dafür ... Und nun will ich auch nicht länger stören ... Die schöne
Geschichte, die Sie mir erzählt haben, war wohl etwas anstrengend? Auf
Wiedersehen, Herr Justizrat!«

Sie ging rasch fort.

Draußen, in der stillen Grunewaldstraße, verlor sie den Atem. Sie
mußte stehenbleiben und rang die Hände im Schoß! Dieser Lügner! Dieser
Schänder des Heiligsten! Nie in ihrem Leben hatte sie einen Menschen
so gehaßt. -- --

Justizrat Schwarz aber saß mit verblüfftem, ängstlichem Blick allein.
Was war denn das? Sie glaubte ihm nicht? Der ganze, schöne Plan ins
Wasser gefallen? Er stampfte mit seinem Gichtfuß. -- »Ich Esel!«
flüsterte er. »In Spandau stehen ja wirklich keine Ulanen!«




                      ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL


Es war Rietschel gelungen, die Kinder über ihren Schmerz
fortzubringen. Besonders bei Gretchen war es schwer gewesen. Aber
Berta mutete ihnen auch wirklich zuviel zu. Jetzt hatte sie vollkommen
an Gretchens Geburtstag vergessen! Was Rietschel nicht für möglich
gehalten, trat ein: Kein Geschenk war besorgt, kein Kuchen gebacken --
am Morgen des Geburtstages wurde die Mutter gesucht, statt daß sie zu
ihrem Kinde kam. Es stellte sich heraus, daß sie schon in aller Frühe
ausgegangen war. Das Dienstmädchen machte ein vielsagendes Gesicht.

Dieses Gesicht! ... Rietschel fürchtete nichts tiefer, als daß es
ihm plötzlich überall begegnen könnte. Es war ein Schmerz, der an
Schande grenzte. An seinem Stammtisch fiel zuweilen das Wort Dalldorf.
Durch den Namen der großen Irrenanstalt bezeichnet der Berliner alles
Unnormale. Sobald Rietschel dieses Wort hörte, verfärbte er sich. Die
Vorstellung beschlich ihn, wie es wohl sein würde, wenn seine Frau
einmal in Dalldorf wäre.

Aber so schlimm konnte es ja nicht werden. Er mußte vorbauen. Der
vergessene Geburtstag war freilich arg. Dennoch gelang es ihm, seine
Kinder über die große Enttäuschung fortzubringen. Er ging mit ihnen zu
Kranzler und dann in Castans Panoptikum. Die Schreckenskammer mußte
er ihnen freilich versagen, aber, um nachgiebig zu sein, ließ er sie
einen Blick auf die erwachte Scheintote tun.

Als man angeregt in die Wohnung zurückkehrte, fand man dort die Mutter
vor. Sie saß an ihrem Nähtisch und schrieb einen Brief. Mit wildem
Blick sah sie sich um, als Mann und Kinder eintraten. Schnell riß sie
eine Schublade auf und warf den unfertigen Brief hinein. Es knallte
nur so. Die Kinder blieben erschrocken stehen.

»Na, man immer kalt Blut und warm angezogen«, sagte Rietschel. »Guten
Abend, Berta. Ich hab' ja fast zwei Tage nicht das Vergnügen gehabt.«

»Wo warst du mit den Kindern?« fragte sie scharf.

»Ach, bloß ein bißchen Geburtstag haben wir gefeiert, erst bei
Kranzler und dann im Panoptikum.«

»Geburtstag habt ihr gefeiert?«

»Jawohl. Du hast nämlich eine Tochter namens Gretchen, wenn du dich
erinnerst. Das Kind hat heute Geburtstag.«

Jetzt geschah etwas Unerwartetes. Berta sprang auf, lief zu der
Kleinen hin, hob sie hoch empor und küßte sie stürmisch. Ihr ganzes
Wesen war plötzlich reuige Mutterliebe. Solche Gefühlskraft war
Rietschel fremd, sie ergriff ihn, und er vergaß seinen schmerzlichen
Groll. Nein, nein, sie mußte doch noch ihren ganzen Verstand haben.
Die arme Frau -- wer wußte denn, womit sie sich quälte?

Auch Paul bekam einen Kuß. Mit der Tüchtigkeit, die sie von ihrer
Mutter geerbt, brachte Berta noch rasch ein festliches Abendessen
zustande. Die Kinder waren selig. Nur mit der Wirkung des Ungarweines
rechnete man nicht. Als Berta das zweite Glas getrunken hatte, starrte
sie plötzlich vor sich hin, sah nicht mehr, was sie umgab, und brach
in heftiges Weinen aus. Bald darauf lief sie aus dem Zimmer.

Wie gelähmt blieben die anderen sitzen. Schließlich sagte Rietschel
mit zitternder Stimme: »Kinder, was ist das nun? Mit eurer Mutter? Ob
wir nicht doch mal den Doktor kommen lassen?«

»Ach, Vater, das nutzt ja nichts«, erwiderte Paul. Sein klarer
Kinderblick suchte dem inneren Auge des Vaters zu begegnen. »Ich
glaube, es hängt mit dem Brief zusammen, den Mutter vorgestern
gekriegt hat.«

Gretchen fuhr auf: »Aber Paul! Davon sollen wir doch nichts sagen!«

Der Bruder schüttelte den Kopf: »Jetzt ist es mir egal.«

»Was war das für ein Brief?«

Die Kinder erzählten. Wer an die Mutter geschrieben, war nicht
festzustellen, aber Rietschel kam bald auf die rechte Fährte. Alles
führte ja bei Berta schließlich zu diesem Punkt. --

Sie schrieb in der Nacht noch ihren Brief zu Ende. Nun war sie
entschlossen, nun sandte sie ihn ab. Als sie ihn zum letztenmal
durchlas, kam ein befriedigtes Lächeln auf ihr Gesicht.

  Lieber Vater!

  So muß ich dich jetzt nennen, weil ich Respekt vor dem Gefühl
  eines Kindes habe. Wenn ich von einem Menschen weiß, daß er mein
  Vater ist, muß ich ihn liebhaben, mag mir auch noch so sehr nach
  dem Gegenteil zu Mut sein. Dagegen können Sie nichts machen,
  hochgeehrter Herr Justizrat. Auch daß ich Ihnen den schönen Roman,
  den Sie mir von meiner Mutter erzählt haben, glaube -- wollen Sie
  mich dazu zwingen? Vergebliche Mühe, Herr Rechtsbeistand. Ich kenne
  die Wahrheit, und jeder Schwindel prallt an mir ab. Es handelt sich
  um die Stimme der Natur. Daß meine Mutter nicht drauf hören will,
  ist unglaublich; aber dazu hast Du sie natürlich gebracht. Ich
  jedenfalls, das schwöre ich Dir -- ich lasse mich nicht so ducken
  wie Mutter. Jetzt komme ich zu Dir nicht mehr, aber ich weiß, wohin
  ich zu gehen habe. Ich werde mir schon Gehör verschaffen, Herr
  Justizrat. Zunächst mal hetze ich einen Kollegen, einen Rechtsanwalt
  auf Sie, und dann werden wir weiter sehen. Es wäre ja schließlich
  nicht das erstemal, daß die Leute einer richtigen Überzeugung
  geglaubt haben. Wer das Recht auf seiner Seite weiß, geht durch dick
  und dünn. Dafür ist ja schließlich auch unser Heiland gestorben.

  Oder weißt Du nichts von dem? Was geht denn eigentlich in Dir vor,
  Vater, warum willst Du mich denn nicht? Ich hätte doch noch eine
  richtige Liebe für Dich, jetzt, wo Du alt und krank bist. Ein
  Mensch, der nur Gerechtigkeit will, kann doch kein schlechter Mensch
  sein. Du könntest es noch so gut haben, wenn Du mich endlich dahin
  ließest, wo mein Platz ist.

  Aber das ist wohl alles vergebens. Jetzt mache ich mir keine
  Hoffnung mehr. Lebe wohl, und Du wirst von mir hören.

  Deine Tochter Berta.‹ -- --

Viktor Schwarz war mühsam zusammengeflickt -- mehr galt sie nicht,
seine Genesung. Er wußte es, aber es genügte ihm, daß die Welt
ihn wieder sah und verehrte. Wieviel geheime Ruinen herrschten
in Groß-Berlin! Er steigerte sogar sein früheres Leben. Die
Gesellschaften in der Grunewaldvilla wurden immer glanzvoller, und man
konnte an eine späte Blüte glauben, denn Justizrat Schwarz war nicht
mehr allein. Nach seiner letzten Krankheit hatte er es gewagt, was ihm
bisher zu kühn erschienen -- er hatte seine langjährige Freundin ins
Haus genommen. Gusti Bernhardi stellte er offiziell als Wirtschafterin
vor.

Sie war am Ziel. Nun konnte sie den Eigensinnigen ganz beherrschen,
die kolossale Erbschaft war ihr gewiß. Ihre wienerische Grazie machte
auch alle bösen Zungen stumm. Das Dekorum wurde gewahrt, und man
gönnte dem leidenden alten Mann das bißchen Freiheit, wenn er auch
Präsident des Bundes für ethischen Fortschritt war. Die strengsten
Herren amüsierten sich jetzt dank Gusti Bernhardi ausgezeichnet im
Hause Schwarz.

Sie ahnte, was ihren Freund zu seinem Entschluß gebracht hatte. Von
Bertas Besuch hatte er ihr nicht erzählt, denn er fürchtete, vor ihr
blamiert zu sein; aber er biß so sichtlich noch einmal die Zähne
zusammen, sammelte so ingrimmig alle Machtmittel seines erfolgreichen
Lebens, daß dieser letzte Kraftaufwand nur einen Grund haben konnte:
Das kleine, hungerige Tier nagte an seiner Wurzel, die Verfolgerin,
die nicht leben wollte ohne ihren Erzeuger. Täglich fühlte er sich
bedroht und wartete auf einen Überfall. Der Tag, der keinen brachte,
war ihm geschenkt, und er lächelte oft seltsam erleichtert, wenn man
sich an seine Tafel setzte.

Bertas Brief hatte er ohne Antwort gelassen. Weitere Briefe die er
bestimmt erwartet, folgten nicht. Es vergingen Wochen, Monate -- Berta
blieb stumm. Hatte sie es aufgegeben? War ihr endlich die Erkenntnis
gekommen, daß die Eroberung dieser Festung unmöglich war?

Viktor Schwarz dachte vergeblich darüber nach -- schließlich nahm er
an, daß der Rechtsbeistand, den Berta befragen wollte, nicht ihr,
sondern dem vermeintlichen Vater geholfen hatte. Welcher orientierte
Anwalt in Berlin wagte es, mit Viktor Schwarz anzubinden? Viele gab
es sicher nicht. Das hatte er in dreißig Jahren doch erreicht. Man
›wimmelte‹ die kleine Querulantin ab -- vom Standpunkt des Gesetzes
war ja doch nichts mehr zu machen.

Aber während Viktor Schwarz sich immer mehr beruhigte, verkannte
er die wahre Ursache von Bertas Beschwichtigung. Sie war von ihm
abgelenkt, sie hatte trotz ihres Vorsatzes keinen Kollegen auf ihn
gehetzt, weil die stärkeren Mächte des Lebens sie gepackt hatten.

Ihre Kinder erkrankten. Es war Scharlach und die Gefahr wurde groß.
Als die Krisis überwunden war, folgte eine Augenentzündung, die den
Arzt sehr besorgt machte. Er fürchtete, daß das Ehepaar Rietschel
blinde Kinder behalten würde. Nun tat man alles, um das Unheil
abzuwenden. Ein berühmter Spezialist, den Rietschel kommen ließ,
verordnete eine langwierige Kur in einem thüringischen Sanatorium.
Dorthin mußte Vater oder Mutter mit den Kindern übersiedeln. Nur so
konnte ihnen das Augenlicht erhalten bleiben.

Rietschel überlegte nach langer Zeit wieder einmal eine große
Entscheidung mit Berta. In seine Angst um die Kinder mischte sich auch
die, daß Berta ihn jetzt nicht verstehen könne. Mißtrauisch sah er sie
an, während er ihr die Verordnung des Arztes auseinandersetzte:

»Es ist natürlich schrecklich, es schmeißt uns alles wieder um. Wir
müssen die Kinder aus der Schule nehmen, wir müssen selber auseinander
gehen, denn entweder mußt du oder ich mit ihnen nach Jena. Aber was
bleibt einem übrig? Das ist eben das Leben, das heißt verheiratet
sein. Gespielt und gespaßt wird nicht immer. Plötzlich kommt der große
Ernst und --«

»Warum redest du denn so viel?«

Berta stellte diese Frage mit seltsamer Überlegenheit. Er ärgerte sich
und bekam einen roten Kopf: »Weil man doch bei dir nie weiß, woran man
ist! Sollen unsere Kinder blind werden?!«

Er schluchzte fast. Sie aber antwortete mit einer Milde, die sie lange
nicht besessen: »Du bist ein Esel, Peter.«

»Na jedenfalls -- ich kann hier nicht weg!! Sonst geht das Geschäft
zugrunde! Von dem Geschäft leben wir! Das ist die Hauptsache! Auch für
die Kinder!«

»Du bleibst selbstverständlich hier und ich fahre mit den Kindern.«

Rietschel starrte sie an -- sein Gesicht begann sich aufzuhellen:
»Weißt du aber auch, was du übernimmst, Berta?«

»Es ist unglaublich! Du redest wirklich nicht mehr mit mir, als ob ich
die Mutter wäre!« --

Berta reiste mit den Kindern. Staunend sah Rietschel, welche
Entschlossenheit sie beherrschte. Fanatisch griff sie alles an, aber
hier wurde ihr Fanatismus zum Segen. Rietschel glaubte daran, daß sie
ihre Aufgabe durchführen würde. Zum erstenmal fühlte er wieder Stolz
auf seine Frau. Eigentümlich äußerte sich seine Empfindung. Er stand
mit geballten Fäusten da und flüsterte: »Der alte Lump im Grunewald --
muß er das arme Weib nun so quälen?« -- --

Länger als ein Jahr blieb Berta mit Paul und Grete in dem Sanatorium.
Es war eine teure und opfervolle Zeit, aber sie brachte dreifach
Segen. Die Kinder genasen; Rietschel, der trotz aller Sorgen doch
wieder einmal Ruhe hatte, verdiente viel, und Berta war von ihrer
Vatersuche abgelenkt. Ein Viertes aber ergab sich, das die tiefste
Bedeutung hatte. Die Kinder fanden sich endlich ganz zur Mutter.
Sie sahen in das wahre Feuer ihrer Seele, und nun konnte sie nichts
mehr von ihr trennen. Wer keinen Schlaf und kein Essen gebraucht,
um ihnen zu dienen, der blieb ihr bester Halt, auch wenn die Rätsel
des Lebens noch so viel verwirren wollten. Bertas Kinder erfaßten den
Urzusammenhang und ließen von ihrer Mutter nicht mehr ab.

Als sie endlich wieder in Berlin waren, von dem vereinsamten Vater
freudig begrüßt, schien die glückliche Zeit fortzudauern. Berta wurde
von Rietschel mit Anerkennung überschüttet, sie wachte auch über den
gesunden Kindern, und die alten Gespenster schienen weitab zu fliehen.

Es war Rietschels Tragik, daß er nichts von seiner Frau wußte, als er
sie stolz und glücklich zu durchschauen glaubte. Berta lebte unter
einer Pflicht, für sie gab es keine Wahl vor solcher Aufgabe, denn
sie war wirklich eine Mutter, aber für ihr eigenstes Wesen, das nun
einmal bei Rietschel darben mußte, war die Wandlung des letzten Jahres
nur Betäubung gewesen. Sie hatte abgebüßt, was sie dämonisch ins
Verderben trieb. Sie hatte Vergessenheit gefunden in der Welt, die sie
nur als Frau und Mutter gelten ließ. Der Durst ihres Innersten blieb
ungestillt.

Aber zu einem wirklichen Schritt konnte sie sich nicht mehr aufraffen.
In schwermütige Bitterkeit verbissen, lebte sie weiter -- auch in
Berlin, wo sie nun alles an alte Leiden erinnerte. Die Wanderungen mit
den Kindern über Thüringer Waldhöhen hatten sie abgelenkt -- jetzt
wußte sie wieder, wo der Weg in den Grunewald führte. Es hieß, den
Kopf in den Sand stecken, arbeiten und im Pfluge gehen.

So vergingen einige Jahre. Das große Einerlei schliff manchen
ruhelosen Wunsch ab. Rietschel wußte um Bertas enges Dasein ein
Behagen zu breiten, das billig betäubte -- er hielt es für den
Frieden, den sie gebraucht. Oft reizte es sie, aufzuspringen, die
Hülle abzuschütteln, dem selbstzufriedenen Manne zuzurufen: ›Nein,
du irrst dich! Ich bin noch ebenso, wie ich war! Du kannst mir nicht
geben, was ich brauche!‹ Dann aber sah sie auf ihre Kinder und
verstummte. Paul und Grete wurden schöne, aufrechte Menschen. Man
wunderte sich oft, daß den Rietschels solche Kinder beschieden waren.
Rührend, durch frühes, gemeinsames Leid verknüpft, festigte sich ihr
Geschwisterbund.

Rietschels galten als wahrhaft glückliche Familie -- Justizrat Schwarz
hörte davon zuweilen durch Tübbeke, seinen Bureauvorsteher. Frau
Grunow war inzwischen an Altersschwäche gestorben, ihr Sohn Alfons
lebte bei politischen Freunden in Rußland -- Tübbeke war ganz allein.
Justizrat Schwarz behielt den Greis, der seine Arbeit immer noch
verrichtete, er war ihm auch wertvoll, weil er ihm von Berta Rietschel
erzählte. Was der alte Lebenskünstler im Grunewald gern glaubte,
das glaubte er intensiv. Berta war für ihn erledigt. -- »Als Gattin
und Mutter hat sie doch noch ihre Bestimmung gefunden«, sagte er zu
Gusti Bernhardi. Seine Freundin zuckte die Achseln -- sie hatte einen
tieferen Blick in Bertas Leben getan, aber sie ließ ihn bei seinem
Glauben.

Viktor Schwarz hatte immer den Frühling geliebt. Schon aus ferner
Jugendzeit waren ihm bestimmte Bilder in Erinnerung geblieben. Aber
der Frühling war auch die Zeit der Schmerzen und Gefahren für ihn.
Er wurde nun doch ein alter Mann -- daran war nicht zu rütteln. Ein
Maiabend, allzulange im Garten bei köstlicher Bowle verträumt, hatte
ihn verführt, seine letzte Leidenschaft zu entfachen. Gusti Bernhardi
gewährte es ihm, denn sie sah, was er nicht sah: die Nähe des
dunklen Hafens. Von Mitleid und Berechnung erfüllt, diente sie einem
Absterbenden. Der Morgen dann wurde kritisch. Zusammenbruch drohte,
aber der eigensinnige Mann hörte auf keine Warnung. Er hatte ein
großes Geschäft vor, es trieb ihn, stolz auf seine Kraft zu bleiben --
nach dem Frühstück brach er auf und humpelte an seinem Krückstock in
den Frühling hinaus. Was Gicht -- was Krampfadern -- er konnte noch
leben und lieben!

Das Automobil erwartete ihn erst in Halensee -- bis dorthin wollte er
unter der lieben Sonne gehen. Sonderbare Bilder tauchten heute vor ihm
auf. Er sah sich plötzlich wieder als jungen Assessor in Strelenwalde.
Am offenen Fenster seiner Wohnung stand er und blickte auf das
Haus des Konditors hinüber. Dann ging er zu Liese, der blonden,
schlanken, in den schattigen Garten der Zubermühle. Er hatte doch nur
sie geliebt. Niemals vergaß er die Stunde jener Nacht, als sie sich
gebückt und Blumen aufgehoben hatte. Huschten die verflogenen Küsse
über seine welken Lippen? »O Jugend«, flüsterte Viktor Schwarz -- es
war ein blutender Laut der Reue. Dann blieb er plötzlich stehen, griff
an sein Herz, starrte hilflos mit großen Augen vor sich hin und sank
zu Boden.

Man fand den Toten und erkannte ihn bald. Das Automobil wurde geholt,
und es trug ihn zu Gusti Bernhardi zurück. -- --

Rietschel las jetzt die Vossische Zeitung. Im Interesse seiner
Kundschaft war er dazu übergegangen. Eines Abends stutzte er
plötzlich, warf einen schnellen Blick auf Berta und versuchte noch die
Bewegung, die ihm eine Nachricht brachte, zu bemänteln. Aber es war zu
spät. Berta pflegte ihn immer beim Zeitunglesen zu beobachten.

»Na, was ist denn?« fragte sie unruhig.

Er überlegte schnell -- aber Verheimlichen hatte keinen Zweck -- sie
erfuhr es ja doch -- dann wurde es nur noch schlimmer.

»Na, Berta«, sagte er sanft -- »nun ist es eben eingetreten. Er soll
ja schon lange ein verlorener Mann gewesen sein.«

»Wer? ...«

Bevor er antworten konnte, war sie schon aufgestanden, hinter ihn
getreten und sah über seine Schulter in das Blatt. Er fühlte, wie sie
bebte. Sie konnte nichts sagen. Es dauerte lange, bis sie es verstand.
Keine Familiennachricht war dem verstorbenen Justizrat gewidmet,
sondern ein langer Artikel im lokalen Teil. Die Wichtigkeit des Toten
spiegelte sich darin. Berlin war um einen großen Namen ärmer.

»Laß dich nicht so davon aufregen, Bertchen«, sagte Rietschel nach
langem Schweigen. »Ich kann ja verstehen, daß es dich packt. Die Art,
wie der Mann gestorben ist, hat was Trauriges. Aber der Tod macht nun
mal keinen Unterschied. Auch Kaiser Friedrich ist gestorben -- das
fällt mir jetzt bloß so ein. Und du darfst nie vergessen -- um dich
hat er keine Träne verdient.«

Er blickte schließlich zu ihr auf, da sie noch immer nicht antwortete.
Da sah er, wie sie erst mechanisch die Lippen bewegte -- dann hörte er
sie: »Meinst du, daß ich um ihn weine? Nein. Innerlich bin ich seit
Jahren mit ihm fertig. Den Tod hat er verdient --«

»Berta ...«

»Ja, ja, es klingt abscheulich, aber ich muß es jetzt sagen. Er mußte
auf der Straße sterben. Nicht mal die Bernhardi ist bei ihm gewesen --
--«

»Laß ihn ruhen, Berta.«

»Von mir aus ...! Wenn er kann ...! Wenn er sterben konnte, ohne mir
mein Recht zu geben --!«

»Herrgott, was meinst du denn damit?«

»Peter, wir standen schon wieder so gut miteinander -- mach' mich
nicht irre, Peter! Er war mein Vater, wenn er's auch nicht zugegeben
hat! Jetzt, nach seinem Tode, ist er's ebenso und mehr noch, denn er
kann es mir nicht mehr abstreiten! Jetzt sag' ich es laut vor der
ganzen Welt!«

Rietschel drückte den Kopf in beide Hände. --

»Nun geht deine Geschichte wieder von vorne los«, flüsterte er gequält.

Berta ging mit heftigen Schritten im Zimmer umher: »Die hat bei mir
noch niemals aufgehört! Du sollst jetzt sehen, Peter, das ich recht
behalte! Ganz beschämt sollst du sein, weil du kein Vertrauen zu
deiner Frau gehabt hast, die doch nur deine Zukunft im Auge hat!«

Mit geröteten Augen sah Rietschel sie an: »Ich kann dich nicht
verstehen, Berta. Was meinst du? Der Mann ist tot, erreicht hast du
nichts bei ihm, nun laß ihn schlafen, nun komm du im Leben zur Ruhe!«

Sie blieb vor ihm stehen, in ihre Augen kam ein seltsam lächelnder
Triumph: »Ich will aber zu mehr kommen, mein Lieber -- ~weil~ er
tot ist, weil ich im Leben zur Ruhe kommen möchte!«

»Was heißt das? Meinst du, daß er dich im Testament noch anerkannt
hat?«

»Das will ich nicht sagen! Aber er hat mich unbedingt in seinem
Testament bedacht!«

»Berta, um Gottes willen, wie kommst du denn darauf? Du machst dir
wieder Illusionen -- so was hab' ich noch nicht gesehn! Dem alten
Gauner lag doch nach seinem Tode ebensoviel an seinem Ruf wie vorher!
Ums Geld ging es ihm nicht -- aber was die Leute ihm nachreden, daß
da alles klappt, und daß er wie so'n richtiger Engel in den Himmel
fliegt. Dich konnte er nicht brauchen, da verlaß dich drauf -- du
kommst in seinem Testament nicht vor! Dafür haben die Erbschleicher
gesorgt!«

Berta ging zum Fenster und starrte hinaus. --

»Nein, Peter,« sagte sie nach einer Weile -- »Du siehst die Sache
nicht richtig. Ich weiß es ganz genau. Was er im Leben nicht konnte,
das war ihm im Tode möglich -- oder vielmehr in seinem letzten
Willen, wovon ja bis jetzt kein Mensch was weiß. Da kommt die große
Überraschung. Denn ich will dir sagen, was die Hauptsache ist: Er
hat es ~gebraucht~. So weit kannte ich ihn auch. Der Mann war
nie glücklich, weil er ~mir~ gegenüber ein schlechtes Gewissen
hatte. Das wußte ich, und darum blieb ich hinter ihm her. Ich sage
dir, es war nicht vergebens, daß ich ihm nicht von der Pelle ging. Ein
Erbschleicher war ich darum nicht -- darf man die eigene Tochter so
nennen?! Ich wollte nur erreichen, daß er mich nicht vergißt, und das
habe ich erreicht. Du wirst sehen -- ganz zuletzt hat er noch Frieden
mit mir gemacht. Der Mann war ja so klotzig reich -- was lag ihm denn
daran, mich mit hunderttausend Mark 'reinzusetzen?«

»Man sachte, sachte«, sagte Rietschel, den Kopf schüttelnd.
»Hunderttausend Mark -- das ist leicht gesagt. Mich soll's wundern,
wenn es tausend sind ...«

»Willst du mir schon wieder den Mut nehmen?«

»Nein, Kind, ich weiß ja, du meinst es gut. Du denkst an die Kinder.
Aber Geld allein macht nicht glücklich --«

»Man muß es auch haben!« -- Scharf auflachend verließ Berta das
Zimmer. Er kam nicht weiter mit ihr. --

In den nächsten Tagen studierte sie mit fieberhafter Spannung alle
Zeitungen. Doch was sie suchte, fand sie nicht. Immer wieder standen
Nachrufe darin -- ein Dutzend Aktiengesellschaften ehrten ihren
verstorbenen Aufsichtsrat, viele Vereine und Stiftungen priesen den
verblichenen Wohltäter -- nur die einfache Anzeige der Familie fehlte.
Die mußte ja Ort und Stunde des Begräbnisses mitteilen.

Abends sagte Berta zu Rietschel: »Eine Bitte mußt du mir erfüllen,
Peter!« -- Er zuckte zusammen: »Erst sage, was es ist.«

»Du wirst es mir nicht abschlagen. Ich rate dir, tu's nicht. Ich
möchte mit dir zu der Beerdigung gehen --«

»Berta!«

»Doch, Peter! Das ist die einzige Gelegenheit, wo ich mal alle
beisammen sehen kann! Die Leute, zu denen ich ja auch gehöre! Ich bin
doch eigentlich die Hauptperson!«

»Das ist ja peinlich, Berta. Was soll ich denn da? Ich kenn' doch
keinen Menschen, und wo bloß die Neugierigen stehen, da willst du doch
nicht bleiben --«

»Sicher nicht! Ich stell' mich in die vorderste Reihe! Dicht an den
Sarg!«

»Da haben wir's! Womöglich noch in Schwarz und mit 'n langen Schleier?«

»Was denn sonst? Ich weiß, was sich gehört!«

»Also -- Berta -- wann wirst du endlich Vernunft annehmen?«

»Du hast es mir versprochen!«

»Ich -- --«

»Du hast es mir versprochen!« --

Berta blieb bis zum nächsten Morgen in einer geradezu glücklichen
Spannung. Sie versprach sich alles mögliche von dem Begräbnis. Als sie
aber in die Zeitung blickte, wich die Farbe wieder aus ihrem Gesicht
-- zusammenknickend stand sie vor Rietschel.

»Na, was ist denn? Steht was drin?«

Sie antwortete nicht. Nun las er die Anzeige der Familie:

  ›Am 5. Mai verschied nach langem Leiden unser lieber Vetter, Onkel
  und Schwager, Herr Justizrat Viktor Schwarz, Ritter hoher Orden. Im
  Sinne des teuren Entschlafenen hat das Begräbnis bereits in aller
  Stille stattgefunden.

  Die trauernden Hinterbliebenen.‹

Rietschel konnte ein Lächeln kaum unterdrücken -- er fühlte sich sehr
erleichtert. Berta aber flüsterte mit zuckenden Lippen: »Der ist
unglaublich! Der entwischt einem im Tode noch! Aber laß man gut sein,
Peter -- das Testament! Ich warte auf das Testament!«




                      DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL


Onkel Tübbeke war schon auf Bertas Besuch gefaßt. Nun kam sie
ausgerechnet, als er eben ein Abendbrot verzehren wollte, auf das er
sich schon lange gefreut hatte: Bockwurst mit Kartoffelsalat. Es war
ohnehin keine Kleinigkeit für einen alten Mann, allein zu wirtschaften
-- den Verlust seiner Schwester empfand er bitter. Nun erschien noch
diese aufgeregte, kleine Frau und wollte womöglich, daß er ihr zu
einer Erbschaft verhülfe.

Tübbeke verschanzte sich: »Was ist los, Berta?«

»Ich will dich nicht weiter stören, Onkel -- sage mir nur, wer die
Testamentsvollstrecker sind.«

»Von ihm?« -- Er machte eine vielsagende Bewegung.

»Ja, natürlich! Du mußt es doch wissen!«

»Und warum willst ~du~ das wissen?«

»Lieber Onkel, wir wollen uns darüber nicht unterhalten, Du kannst dir
ja vorstellen, daß ich ein berechtigtes Interesse an dem Testament
habe.«

»Ich kann mir garnichts vorstellen.«

»Sage mir bitte jetzt, wer die Vollstrecker sind.«

»Ich bin nicht berechtigt, dir das zu sagen.«

»Reize mich nicht, Onkel!«

Sie schlug mit ihrer zitternden Faust auf den Tisch. Dem alten Mann
wurde es ängstlich zu Mut. Er war mit dieser exaltierten Person allein
-- ihrem Verstande traute er schon lange nicht. Bis er die Leute im
Hause herbeirief, stach sie schon mit der Gabel auf ihn ein oder tat
sonst etwas Unglaubliches. Auch wurde die Bockwurst kalt, wenn er auch
einen Teller darüber gestülpt hatte. Schließlich konnte er ihr ja die
Namen nennen -- sie loszuwerden, war dann Sache der mächtigen Herren.

»Also, damit du mich endlich in Ruhe läßt -- der Notar ist Justizrat
Alexander II in der Nürnberger Straße 15. Testamentsvollstrecker haben
wir außerdem noch drei, denn das Testament ist danach.«

»Wohl unglaubliche Reichtümer?«

Onkel Tübbeke sah zur Decke: »Das kannst du dir ja denken.«

»Und die andern Herren? Ich schreib' sie mir gleich auf.«

Er nannte ihr noch drei Adressen. Berta glaubte Kostbarkeiten zu
sammeln, während sie sie notierte. Die Namen imponierten ihr gewaltig
-- ein Universitätsprofessor, ein Kommerzienrat und der Direktor einer
großen Bank.

»Na, das sind doch Leute -- die werden schon ein gerechtes Urteil
haben«, sagte sie vor sich hin.

Onkel Tübbeke brummte etwas Unverständliches. Er lüftete den
Teller und befühlte die Bockwurst. -- »Sonst noch was?« fragte er
verdrießlich.

Berta stand auf: »Nein, Onkel. Danke sehr. Jetzt lass' ich dich essen.
Entschuldige bitte die Störung. Aber sage mir nur noch das eine: Was
glaubst du, wie ~ich~ bedacht bin?«

»~Wo?~«

»In dem Testament!«

»Davon weiß ich nichts.«

»Hältst du es aber für möglich?«

»Möglich ist vieles im Leben.«

Bertas Gesicht erglühte. Nach einer Pause fragte sie noch: »Wann ist
denn die Testamentseröffnung und wo?«

»Übermorgen bei Alexander II.«

»Da kann ich doch hingehen?«

»Hingehen kannst du natürlich; aber ob sie dich 'reinlassen, ist die
Frage. Man muß 'ne Karte haben.«

»Die krieg' ich schon noch.«

»Ist aber die höchste Zeit.«

Als Onkel Tübbeke wieder allein war, dachte er kopfschüttelnd: ›Sie
ist doch 'n richtiges Kalb geblieben. Wenn sie keine Karte kriegt,
dann gilt sie doch auch nicht als Erbin, dann braucht sie sich doch
gar keine Hoffnung zu machen. Daß sie sich das nicht sagt ...‹ --

Berta war schon nach der Nürnberger Straße unterwegs. An ihre Pflicht
zu Hause dachte sie nicht -- das Mädchen würde schon fürs Essen
sorgen. Sie selbst kaufte sich eine Apfelsine und zwei Bananen.
Während sie diese Früchte verzehrte, dachte sie: ›Nun komm' ich bald
nach Italien und nach Indien. Ich will überhaupt große Reisen machen.
Da vergißt man hier den Plunder und kommt auf andere Gedanken.‹

Bei Justizrat Alexander II empfing sie ein strammer, gescheitelter
Bureauvorsteher, an dem jedes überflüssige Wort abprallte. Er
sah sie von oben bis unten an: »Sie wünschen eine Karte für die
Testamentseröffnung Viktor Schwarz? Wenn für Sie eine bestimmt war,
hätten Sie sie längst durch die Post erhalten. Wie ist denn Ihr werter
Name?«

»Prutz« stieß Berta hervor. »Nein -- Rietschel!«

Das Personal kicherte. Der gescheitelte Herr schnitt eine Grimasse, um
ernst zu bleiben: »Also gilt wohl die Berichtigung? Rietschel?«

Er sah in einer Kiste nach -- dann schüttelte er den Kopf: »Bedaure,
der Name Rietschel ist nicht aufgeführt. Und Prutz, der Ordnung halber
-- auch nicht.« -- Er wandte sich Berta zu. »Sie sind keine Erbin«,
sagte er mit strenger Polizeimiene.

Jetzt blickten alle auf sie -- es war, als ob man eine Diebin ertappte.

»Das ist ja ganz unmöglich«, stammelte Berta.

»Ich habe das Meinige getan -- ich bitte, meine kostbare Zeit nicht
länger in Anspruch zu nehmen.«

»Ich werde es anfechten!«

Jetzt hörte sie ein deutliches Lachen um sich her.

»Da sollten sie doch mindestens die Eröffnung des Testaments
abwarten«, sagte ein Fräulein in halb mitleidigem, halb spöttischem
Ton.

»Das werde ich! Auch ohne Karte!«

Sie lief fort. Die Heiterkeit legte sich nach ihrem Verschwinden
noch lange nicht. -- »Ja, ja, was man nicht alles erlebt«, sagte der
gescheitelte Herr, sich die Augen wischend. »Es ist unglaublich. Wenn
es heißt ein Millionentestament, dann melden sich Leute, die mit dem
Erblasser mal in der Elektrischen gefahren sind.«

»Und die kleine Frau tat so, als ob sie die eigene Tochter wäre«,
meinte das Fräulein. --

Die Testamentseröffnung war jedenfalls ein Ersatz für das versäumte
Begräbnis. Berta konnte nun doch noch alle beisammen sehen. Eine
Stunde vor Beginn erschien sie in der Nürnberger Straße und sah in
einem wunderlichen Gemisch von Neid, Groll und Neugier die Geladenen
kommen. Gusti Bernhardi fuhr in Justizrat Schwarz Automobil vor --
ihre Trauerkleidung war von vorbildlicher Eleganz.

Berta stand abseits und zappelte vor Aufregung. Sie hielt sich noch
immer für die Hauptperson, die auf dem Höhepunkt des Dramas in die
Handlung eingreifen konnte. Ob und wie sie es tat, darüber konnte sie
zu keinem Entschluß kommen. Schließlich packte sie der Wunsch, in
den Versammlungsraum zu gelangen, so stark, daß sie mit Nachzüglern
hineinzuschlüpfen versuchte. Aber der gescheitelte Bureauvorsteher
stand als Zerberus vor der Tür. Er erkannte sie sofort und fragte
schroff: »Ihre Karte?« -- Berta verstummte. -- »Ohne Karte hat niemand
Zutritt!«

Weinend wich sie auf die Treppe zurück. -- »Na, was ist denn,
Frauchen?« fragte ein Schornsteinfeger, der eben vorüberkam.

Berta erschrak vor seiner höllischen Erscheinung, aber sie antwortete:
»Ich bin die leibliche Tochter und soll nichts erben!«

Der schwarze Mann sah sie betroffen an: »Ist nicht möglich ... ja, so
sind die Reichen. Na, machen Sie doch Krach!«

Er ging mit seinem Besen weiter. Berta stand wieder auf der Straße.
Der Mann hatte recht. Krach wollte sie machen. Krach mußte sie machen!
Sogleich, wenn die Erben das Haus verließen, sollte es geschehen!

Endlich kamen sie. Die meisten sichtlich beflügelt -- heuchlerische
Trauer deckte kaum ihre heimliche Wonne. Man wahrte die Form -- man
stelzte würdig von dannen. Aber auch Mißvergnügte kamen. Das Testament
mußte doch unangenehme Überraschungen enthalten. Als Gusti Bernhardi
wie eine königliche Witwe davonrauschte, konnte Berta sich nicht mehr
halten. Sie stürmte über den Damm. Das Automobil rollte schon an ihr
vorbei, und es war ihr, als ob Gusti betroffen aus dem Fenster sehe.
Vor dem Hause aber stand jetzt ein heftig debattierender Schwarm.
Lachende Erben waren es nicht -- man scheute nicht den Spott der
Beobachter und stritt um das Testament.

Hier glaubte Berta einsetzen zu können. Sie trat an die Gruppe heran
und fügte immer wieder, wenn ein Gekränkter seine Meinung gesagt, mit
ihrer klagenden Stimme ein: »Und ich bin das Kind!«

Man achtete anfangs nicht auf sie, man war zu sehr mit den eigenen
Interessen beschäftigt -- dann aber fuhr plötzlich ein dicker Herr zu
der kleinen Frau herum: »Was wünschen Sie denn eigentlich? Sie flöten
mir da immer was ins Ohr, und ich kenne Sie garnicht! Das macht einen
ganz nervös!«

Auch die anderen blickten Berta verwundert lächelnd an.

»Entschuldigen Sie -- ich bin sein Kind«, flüsterte sie.

»Was sind Sie?« fragte der Dicke.

»Sein Kind, seine eigene Tochter!«

Man sah sich an -- das war doch noch das Originellste an diesem
Testament -- nun kam noch das erheiternde Nachspiel der Tragödie.

Ein schmaler, hochschulteriger Herr, der sich wie ein gravitätischer
Storch bewegte, fragte Berta, an seiner Brille rückend: »Haben Sie
geerbt, meine Gnädige?«

»Nein, garnichts. Ich bin leer ausgegangen. Ich durfte nicht mal
'rein.«

Einige Damen bekamen das Lachen und wandten sich ab. Eigentlich mußte
man ja ernst sein.

»Leiten Sie einen Anspruch davon ab, daß Sie das Kind des Erblassers
sind?« fragte der Storch.

»Ja, natürlich! Was glauben Sie denn?«

»Sie sind illegitim?«

»Ich bin seine Tochter!«

Ein junger Herr tanzte schon auf einem Bein. -- »Das ist großartig!«
zwitscherte er.

»Nun,« meinte der Storch bedauernd -- »dann machen Sie sich keine
Hoffnung. Wir sind mit dem Seligen legitim verschwägert und müssen uns
mit bescheidenen Andenken begnügen.«

Man ließ jetzt von ihr ab und warf ihr noch Blicke zu, die nicht
mißzuverstehen waren -- ja, das Leben war schon zum Verrücktwerden.
Dann trennten sich die Erben und gingen, von dem Zwischenfall
aufgeheitert, friedlich auseinander. --

Berta lief wie eine Löwin vor dem verhaßten Hause auf und ab. --
»Ich fechte es an! Ich fechte es an!« rief sie immer wieder. Einige
Kinder, die einen großen Spaß witterten -- ihnen war es gleich, ob
es sich um eine Verrückte oder eine Betrunkene handelte -- folgten
ihr. Schließlich aber tauchte ein großer dunkler Mann mit blitzenden
Knöpfen vor ihr auf. Berta starrte ihn in sein rotes Gesicht.

»Gehen Sie jetzt nach Hause!« rief der Schutzmann. »Sie erregen hier
Ärgernis!«

Er wollte nichts gegen sie unternehmen, aber seine Erscheinung wirkte
überwältigend. Von Kindesbeinen hatte Berta eine fürchterliche
Angst vor Schutzmännern gehabt. Nun erhielt sie zum erstenmal einen
wirklichen Verweis von dem Manne des Gesetzes. Blutrot machte sie
kehrt und lief davon.

Auf dem Untergrundbahnhof Wittenbergplatz aber sah sie eine Frau
wieder, die auch das Haus des Testamentsvollstreckers verlassen
hatte. Es war eine dürftige, vergrämte Person. Sie trug ein amtliches
Schriftstück in der Hand, das sie zuweilen las, um dann immer wieder
erbittert den Kopf zu schütteln. Als sie Bertas ansichtig wurde,
steuerte sie plötzlich auf sie zu:

»Entschuldigen Sie, Sie sagten doch eben, daß Sie die Tochter von
Justizrat Schwarz wären?«

Berta zitterte: »Jawohl! aber man hat mich ausgelacht!«

»Die Ochsen! Was wissen denn die! Raten Sie mal, wer ich bin! Ich bin
Minna!«

»Minna? ... Ach seien Sie mir nicht böse -- aber dadurch weiß ich noch
nichts!«

»Daran sieht man aber, daß Sie den alten Schwarz nicht gut gekannt
haben -- sonst müßten Sie wissen, wer Minna ist! Ich war achtzehn
Jahre Köchin bei ihm! Achtzehn Jahre! Und wissen Sie, was er mir
vermacht hat? Ein Sparkassenbuch mit 3000 Mark!«

»Das ist doch wenigstens was.«

»Haben Sie 'ne Ahnung, was sonst noch in dem Testament steht?! Hier
halt' ich's in der Hand! Das ist die Abschrift!«

Berta flog am ganzen Körper: »Ach bitte! Bitte! Lassen Sie mich's
lesen!«

»Warum auch nicht? Ein Geheimnis ist es nicht! Ganz Berlin wird davon
sprechen! Aber mögen die Leute noch so begeistert sein von dem Mann --
ich, Minna Schramm, ich sage: er war ein Schubjack!«

»Darf ich mir vielleicht erlauben, Sie in ein Café einzuladen? Da
haben wir's ruhig -- da kann ich auch besser lesen ...!«

»Meinetwegen. Ich habe für seinen kranken Magen gesorgt wie 'ne
Mutter, sag' ich Ihnen! Wenn der Mann aus Karlsbad kam, dann hing sein
Leben von mir ab! Und nun steht die eigene Tochter auf der Straße und
bettelt --«

»Ich bettle nicht!«

»Na ja -- ich meine das bloß so! Aber Sie kriegen nichts, und ich
kriege 3000 Mark, und was die Bernhardische ist, die kriegt 300000!«

»Ist es möglich?«

»Jawoll, und die ganze Grunewaldvilla dazu!«

»Das muß doch angefochten werden!«

Sie saßen im Café. Berta konnte jetzt lesen. Aber es schwirrte ihr
vor den Augen. So viel nur verstand sie: der Mann hatte Millionen
hinterlassen. Fünfzehn Aktenseiten umfaßte das Testament. Man konnte
sich kaum in den Papieren und Grundstücken zurechtfinden. Die Erben
lebten in allen Weltteilen. Am größten waren gemeinnützige Institute
und wohltätige Stiftungen bedacht. Rastlos hatte dieser ehrgeizige
Mann an seinem Denkmal gebaut. An zweiter Stelle aber kam Gusti
Bernhardi, seine Freundin. War die nicht illegitim?

Berta saß erschüttert, mit gebeugtem Kopfe da. Sie dachte an ihre
Kinder, an ihren Mann. Wie würde es sein, wenn sie denen jetzt eine
halbe Million nach Hause brächte?

Minna Schramm, die beleidigte Köchin, aß inzwischen auf Bertas Kosten
den Kuchenaufsatz leer. Sie schlürfte Schokolade dazu und sagte: »Ja,
ja -- so ist es auf der Welt. Unsereiner guckt durch die Röhre. Aber
ich nehme mir jetzt einen Rechtsanwalt.«

Da leuchtete es noch einmal in Bertas Augen: »Das tu' ich auch!« --

Sie kannte in der Zimmerstraße einen Kunden ihres Mannes, den
Rechtsanwalt Albin Fuchs-Trota, den sie für sehr gescheit hielt.
Keinesfalls wollte sie heute nach Hause, ohne bei diesem Mann gewesen
zu sein. Rietschel wartete auf sie -- sie mußte ihm unbedingt ein
positives Ergebnis mitbringen.

So besuchte sie noch Albin Fuchs-Trota. Der kleine, kurzatmige Mann
war kühl und skeptisch, bevor er den Namen des Erblassers wußte.
Sobald er aber hörte, daß es sich um Viktor Schwarz handelte,
leuchtete es in seinen Äuglein auf und er rief: »Mein alter
politischer Gegner? Tot ist er jetzt, Gott sei Dank, aber nun wird man
ihm noch eins aufs Protzengrab versetzen! Da kommt mir Ihre Sache sehr
gelegen, liebe Frau Rietschel! Lassen Sie mir bitte freie Hand!«

Berta griff tastend nach jeder Hoffnung: »Glauben Sie denn, daß noch
was zu machen ist, Herr Rechtsanwalt?«

»In moralischer Beziehung unbedingt! Praktisch, da muß ich mich erst
mal über die Rechtslage informieren! Jedenfalls gibt es einen famosen
publizistischen Kampf! Mit seiner ganzen Clique!«

»Mir liegt natürlich bloß daran, endlich als seine Tochter anerkannt
zu sein.«

»Eins mit dem andern, liebe Frau! Wir werden ja sehen!« --

Was Berta dann sah, war wenig und wurde immer weniger. In einem
Skandalblatt begannen Artikel zu erscheinen, deren anonymer Verfasser
Fuchs-Trota war. Sie wühlten das ganze Leben des verstorbenen
Justizrates auf. Unsaubere Hände waren am Werk, eine Säule der
Gesellschaft noch nachträglich ins Wackeln zu bringen. Als Haupttrumpf
mußte schließlich das Kind eines sehr unmoralischen Verhältnisses
herhalten. Wer gemeint war, wurde immer durchsichtiger. Es kam dazu,
daß man Rietschel daraufhin ansprach und ihm zu verstehen gab, daß
er einschreiten müsse, sonst würde sich die ganze Kundschaft von ihm
zurückziehen. Rietschel war außer sich, aber er durfte Bertas Nerven
gegenüber nicht zu weit gehen. Seinen wirklichen Vorwurf hielt er
zurück. Er ahnte, wie die Enttäuschung sie erschütterte.

Als er eben damit umging, Fuchs-Trota persönlich um das Ende des
schmählichen Feldzuges zu bitten, hörte er schon von selbst auf. Eine
neue »Affäre« erschien, und man brauchte andere Artikel. Es wurde
wieder still um Berta. Sie wandte sich an keinen Rechtsanwalt mehr --
sie haßte jetzt Rechtsanwälte. Aber die Testamentsvollstrecker nahm
sie noch aufs Korn. An Justizrat Alexander II schrieb sie einen langen
Brief, der dem fremden Manne ihr ganzes Leben schilderte. Antwort kam,
aber es fror Berta bei diesen abgewogenen Worten. Ein Vielgewandter
dankte ihr verbindlich für ihre ausführlichen Mitteilungen, die ihn
~sehr~ interessiert hätten, allerdings nur in rein menschlicher
Hinsicht; denn rechtlich sähe er keinen Weg, ihr irgendwie nützlich
zu sein. Selbst wenn Bertas Behauptung, eine uneheliche Tochter
des Entschlafenen zu sein, zuträfe, selbst dann wäre ja jedem
gesetzlichen Anspruch vollauf Genüge geschehen. ›Wenn Ihnen auch an
meiner persönlichen Ansicht gelegen sein sollte,‹ schloß der Justizrat
sein Skriptum, ›so gebe ich gern zu, daß wir in puncto Legitimität
noch immer in recht besserungsbedürftigen Zuständen leben. Noch
fehlt uns das Gesetz, das im höchsten Sinne Gerechtigkeit schafft.
Sicherlich ist die Frau hier gegen den Mann benachteiligt. Unsere
Kindeskinder werden vielleicht ein solches Gesetz genießen, wir aber,
wie gesagt, wir haben es noch nicht, und es bleibt uns nichts anderes
übrig, als uns den bestehenden Verfügungen zu unterwerfen. Dies möchte
ich auch Ihnen, sehr geehrte Frau Rietschel, dringend empfehlen, in
Ihrem eigenen Interesse und in dem Ihrer Angehörigen, denn von jeher
ist der Schwache, der gegen die Mauer des Starken anrennen wollte,
zerschellt.

  Mit ausgezeichneter Hochachtung bin ich

  Ihr sehr ergebener

  Alexander II,
  Justizrat und Notar.‹

Berta blickte wie ein verwirrtes Hündchen umher. Hilflos suchte sie
Erkenntnis und Gerechtigkeit. Halb unbewußt ging sie zu den anderen
Testamentsvollstreckern. Universitätsprofessor Stieglitz, ein altes
Männchen, empfing sie, aber er stand auf einer hohen Leiter in seiner
Bibliothek. Einmal drehte er sich nach Berta um, ganz schnell, um das
Gleichgewicht nicht zu verlieren -- dann kramte er in seinen Büchern
weiter. Bertas Mitteilungen interessierten ihn nicht. Das einzige,
was er schließlich erwiderte, war »Plautus!« Mit diesem Ruf zog er
vergnügt einen versteckten Band heraus. Berta wartete noch eine Weile
-- dann warf sie in heftiger Eingebung einen Stuhl um und verließ
den Herrn Professor. Sie hörte noch deutlich zwei Worte hinter sich:
»Gans!« und »Kapitol!«

Von Professor Stieglitz lief sie zu Bankdirektor Markbreiter. »Leider
in New York«, war der Bescheid. Dahin konnte sie nun freilich nicht.
Aber sie schöpfte Hoffnung, dafür den Kommerzienrat Rosenthal zu
erwischen. Hier nannte ihr ein unvorsichtiger Diener die Sprechstunde
seines Herrn. Jede reale Angabe war für Berta jetzt ein Schatz.
Viermal kam sie wieder, viermal ließ sie sich fortschicken. Beim
fünftenmal nahm sie Rietschels Rassiermesser mit, aber sie zückte es
nicht, als der Diener wieder »Nicht zu sprechen« antwortete. Draußen,
vor der Villa, stand ein Schutzmann -- das schreckte sie ab.

Sie stürzte davon und schrieb auf der Post einen Brief voll
Beleidigungen. Zum Glück verwechselte sie bei der Adresse Rosenthal
mit Lilienthal und vergaß die Hausnummer. So ging der Brief verloren.
Rietschel hatte einen Kummer weniger. Als Berta aber eines Tages einem
Kunden Füllfederhalter vorlegte, trat sie plötzlich zurück, schlug
sich mit der flachen Hand vor die Stirn und lief aus dem Laden. Dem
verblüfften Käufer grauste es -- bei Johann Peter Rietschel hatte er
eine andere Bedienung erwartet.

Berta aber stürmte, wie sie war, auf ein Automobil zu und ließ
sich nach der Königsallee fahren. Heute hatte sie Glück. Als sie
eben das Schwarzsche Grundstück betrat, kam ihr Gusti Bernhardi
entgegen. Entschlüpfen war nicht möglich. Die erfahrene Wienerin
sah auch sofort, daß sie eine Besessene vor sich hatte. Sie wollte
Berta vor allem beruhigen und empfing sie deshalb mit bezwingender
Liebenswürdigkeit. Rasch nahm sie ihren Arm und führte sie in das Haus.

»Das ist aber reizend, daß du dich endlich meiner erinnerst«, sagte
sie mit ihrem hübschen Lächeln, das links und rechts einen Goldzahn
zeigte.

»Ich habe oft an dich gedacht«, stieß Berta tonlos hervor.

Sie saßen nun in dem Zimmer, wo Berta einst dem kranken Justizrat
gegenüber gesessen. -- »War das nicht sein Schlafzimmer?« fragte sie.

»Ach, du warst schon einmal hier? Ja, ja -- das war sein
Schlafzimmer, aber da es so schön zum Garten hinaus liegt, hab' ich es
zu meinem Zimmer gemacht.«

Berta starrte sie an: »Dir gehört also das Haus?«

»Ja, Berta. Das wußte ich übrigens schon lange.«

»Du gehst ja in Schwarz?«

»Das schickt sich wohl nicht anders -- wie?«

»Na, eher müßte ich doch in Schwarz gehen.«

»Äußerlichkeiten, Berta.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Berta mit würgendem Ton: »Mir ist
furchtbar zu Mute ...«

Gusti Bernhardi griff nach ihrer rechten Hand -- das war keine rechte
Bewegung -- neulich erst hatte Berta so etwas im Theater gesehen.
»Warum?« fragte die vorsichtige Frau. »Ich habe doch nichts geerbt --
und du? ...«

»Ach Berta -- du solltest mich nicht beneiden.«

»Ich beneide dich nicht!!«

»Sei ruhig -- bitte -- wir wollen beide ganz ruhig sein. Hast du dir
denn überhaupt mal klargemacht, was für ein Leben ich bei dem Mann
hatte?«

»Das ist mir ganz egal! Ich war seine Tochter, und das glaubt mir kein
Mensch!«

»Das will und kann dir natürlich kein Mensch glauben.«

»Warum denn?«

»Weil niemand ein Interesse daran hat. Du hast dich von Illusionen
verblenden lassen, Berta. Du tust mir furchtbar leid. Aber helfen kann
dir kein Mensch.«

»Gott wird mir helfen!«

»Also, das wünsch' ich dir von ganzem Herzen.«

»Gott sieht, was die Lumpen alle nicht sehen. Ich habe ein ehrliches
Leben hinter mir! Ein schweres Leben! Nun soll ich nicht mal das Recht
meiner Geburt haben? Nun soll ich nichts sein, garnichts, bloß weil's
die Bande will?«

Gusti Bernhardi zuckte die Achseln: »Glaube mir nur, ich habe auch
meinen Ärger und meine Enttäuschungen. Wenn du mich jetzt auch im
Glanz siehst. Eins zum Beispiel -- das muß ich dir doch zum Trost
erzählen: ich war nämlich garnicht so auf sein Geld aus, wie manche
Leute glauben -- ich hab' immer eine ideale Richtung in mir gehabt.
Und darum lag mir am meisten an seinen alten Bildern -- besonders die
beiden Niederländer im Arbeitszimmer, darauf hab' ich mich gefreut.
Und nun ...«

Berta horchte auf: »Hast du die Bilder nicht gekriegt?«

»Nein, sie sind verkauft worden, und den Erlös bekam eine Frau Major
von Rotkraut in Strelenwalde --«

Berta erhob sich: »Wer --?«

»Ach so -- mein Gott, das ist ja deine Mutter? Daß ich das vergessen
konnte! Aber nun siehst du's -- an deine Mutter hat er gedacht --«

»Und ich? ... Aber hat denn das im Testament gestanden? Ich habe das
Testament gelesen!«

»Dann hast du die Bilder übersehen. Es handelt sich um 250000 Mark.«

»Für meine Mutter? ... Und ich ...?«

Berta taumelte, nach Stützen greifend, hinaus. Gusti Bernhardi folgte
ihr nicht. Mit bösem Lächeln flüsterte sie: »Du Tropf ... Was warst du
ihm, und was war ihm deine Mutter?«




                      VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL


Im Lokalanzeiger stand es: ›St. Petersburg. 5. Juli. Ein Streich
von Revolutionären, die kürzlich aus dem Newagefängnis entwichen
sind, bildet das allgemeine Gesprächsthema. Unter der Führung eines
Deutschen setzten die Männer nicht etwa ihre Flucht fort, sondern
blieben in der Stadt und zeigten sich bald offenkundig auf den
Straßen. Mit einer roten Fahne zogen sie umher, sogar am Winterpalais
vorbei, wo gegenwärtig der Zar wohnt, und sangen nihilistische Lieder.
Schließlich erfolgte die Verhaftung. Nach kurzem Prozeß wurden alle
Beteiligten, darunter auch der Deutsche namens Alfons Grunow, auf dem
Hof des Newagefängnisses erschossen.‹

Onkel Tübbeke saß in seinem Lehnstuhl und las diese Notiz immer
wieder. Er nickte mit dem weißen Kopf: »Ja, ja -- so mußte der Junge
enden. Gut, daß die Mutter es nicht mehr erlebt hat.«

Aber einen großen Zug hatte die Geschichte doch -- es ging da ein
bißchen anders zu als am Elisabethufer. Im Tode imponierte Alfons
seinem Onkel. Nun, Adolf Tübbeke hatte nicht so leben können. Jetzt
genoß er seine Pension, in der Belle-Alliance-Straße wohnte er, die
den großen Vorzug hatte, daß man mehr vom Berliner Leben zu sehen
bekam. Man hatte sogar zweimal jährlich die schönste Aussicht auf
die Parade, denn im Frühling und im Herbst führte der Kaiser die
Fahnenkompagnie dicht an Tübbeke vorbei.

Im übrigen war er ein einsamer Greis. Seufzend legte er die Zeitung
mit Alfons' Todesnachricht fort und humpelte zur Tür, denn es hatte
geklingelt. Er erwartete Berta Rietschel, die ihm nach Jahresfrist
wieder einmal geschrieben hatte. Jetzt regte ihn ihr Besuch nicht mehr
auf. Viktor Schwarz war erledigt, die Erbschaft auch und, es konnte
sich nur um einen freundschaftlichen Besuch handeln. Im stillen
hoffte er auch auf Bertas Freigebigkeit -- sie wußte ja, was ihm
schmeckte.

Hierin täuschte er sich nicht. Frau Rietschel brachte ihm eine Flasche
Gilka und eine Braunschweiger Cervelatwurst mit. Sie war doch eine
noble Person -- dabei hatte sie es auch nicht mehr so reichlich. Die
Zeiten waren durch den amerikanischen Börsenkrach schlecht, und die
kleinen Geschäftsleute kämpften erbittert gegen die Warenhäuser.
Außerdem zwei Schulkinder -- die kosteten schon etwas.

Berta selbst gefiel dem immer noch scharf blickenden Alten nicht. Sie
war bleich und aufgeschwemmt und sichtlich vernachlässigt. In ihren
ruhelosen Augen glomm ein Feuer, das Verderben kündete. ›Ob sie sich
noch immer nicht beruhigt hat?‹ dachte Onkel Tübbeke.

»Du wohnst hier hübsch, Onkel«, sagte Berta, die Hand auf das
schlagende Herz gedrückt. »Wenn ich ans Elisabethufer denke --«

»Na, dagegen brauchst du doch eigentlich nichts zu haben? Wenn du auch
'ne schwere Jugend hattest --«

»Alles, was verfahren an mir ist, das hängt mit meiner Jugend
zusammen! Ich habe solchen Haß auf meine Jugend, Onkel --«

»Aber wie kann man denn das?«

»Ich wünschte, ich hätte nie gesehen, was man vom Leben haben könnte,
und was einem von all den Bestien gestohlen wird!«

›Herrgott,‹ dachte Tübbeke, ›nun fängt sie wieder an.‹ Er versuchte
abzulenken. Aber die schreckliche Neuigkeit von Alfons Grunow hielt
er nicht für geeignet. Berta wäre womöglich selbst mit einer roten
Fahne durch Berlin gelaufen. Er brachte sie auf etwas Sicheres: »Warum
hast du denn die Kinder nicht mal mitgebracht? Ich hätte mich wirklich
darüber gefreut.«

Bertas Blick irrte umher: »Ach, mein Onkel. Das ist sehr nett von dir,
aber die Kinder konnte ich heute nicht brauchen. Oft kommt es mir
vor, als ob ich sie überhaupt nicht brauchen könnte --«

»Berta, Berta!«

»Na, ja! Was sind sie denn? Was tun sie denn? Wenn man sich darüber
klar wird -- sie wollen hundert Sachen von mir, Tag für Tag, aber von
meiner eigensten Angelegenheit wissen sie nichts, da stören sie mich
nur!«

»Was ist denn das -- deine eigenste Angelegenheit?«

»Das fragst du noch, Onkel? Selbstverständlich, daß ich als Tochter
von Justizrat Schwarz anerkannt werde!«

Tübbeke fuhr zurück. Er faltete die Hände: »Noch immer?«

Jetzt lachte Berta. Es war ein hartes, unheimliches Lachen: »Bis an
mein Lebensende, Onkel! Und ich sage dir: Ich sterbe nicht eher, als
bis die volle Wahrheit an den Tag kommt!«

Der Alte sah erst auf die Gilkaflasche und die Cervelatwurst -- er
mußte einen Halt haben: »Aber Berta -- der Mann ist nun lange tot --
das Testament ist ausbezahlt -- das hättest du doch sofort anfechten
müssen. Aber weil du ganz genau wußtest, daß du nichts machen kannst
--«

»Wer sagt dir denn, daß es mir um das Testament geht? Ich danke für
alles, was der Mensch besessen hat -- das soll nur seine Kokotte im
Grunewald behalten. Ich würde jetzt nichts mehr annehmen. Aber ich
habe das feste Gefühl in mir, daß das Recht irgendwo liegt und auf
mich wartet. Ich seh' es nur noch nicht. Aber du, Onkel, du hast jetzt
deine sichere Pension, du brauchst ja keine Rücksicht mehr zu nehmen
-- willst du dich nicht aufschwingen und noch ein gutes Werk tun?
Willst du mir nicht raten und helfen?«

Tübbeke saß zurückgelehnt und schüttelte den schwachen weißen Kopf:
»Aber Berta -- wie stellst du dir das vor?«

»Gib mir Ruhe, Onkel!«

»Ich tät's ja so gern -- aber ich glaube bestimmt: Ruhe kriegst du
nur, wenn du verzichtest.«

»Ich?! Verzichten?! In Unehre sterben, blamiert vor meinem Mann und
meinen Kindern? Nie! Nie, Onkel!«

»Hm ... ja, da wüßte ich wirklich nicht ...« Tübbeke schwieg ziemlich
lange, den Kopf in die Hand gestützt. Berta wartete in eigentümlicher
Spannung. Dann sah der Alte sie plötzlich wieder an: »Hast du
eigentlich mal im Kirchenbuch nachgesehen?«

»Im Kirchenbuch? Wo denn, Onkel? Was denn?«

»Na, du weißt doch wohl, das jede Geburt und jedes getaufte Kind in
einem Kirchenbuch stehen muß? Hier handelt es sich selbstverständlich
um den Ort, wo du geboren bist. Wie heißt doch das Nest?«

»Strelenwalde -- an der Anhalter Bahn -- -- Du meinst, da steht es
drin? Das kann noch zu finden sein?«

»Aber sicher. Merkwürdig, das du darauf noch nicht gekommen bist? Ihr
Frauenzimmer guckt doch immer übers Nächste weg. Deine Mutter hat dich
doch damals eintragen lassen, und dein Vater steht natürlich auch drin
--«

»Mein Vater?!«

»Und das ist doch der sicherste Beweis, den du kriegen kannst? Wenn's
dir bloß darauf ankommt -- so'n Kirchenbuch, das ist doch sozusagen
dem lieben Gott sein Buch -- wenn du darin stehst, kann kein Mensch
daran tippen.«

»Adieu, Onkel! Auf Wiedersehen!«

Berta war schon hinaus. Der Alte blieb kopfschüttelnd zurück. Nun
fuhr sie also nach Strelenwalde. Vernünftiger wäre es wohl gewesen,
wenn sie dort ins Amtsgericht ginge. Aber mochte sie nur in die
Kirche gehen. Übrigens Strelenwalde -- der Name erinnerte ihn an
irgend etwas, was er kürzlich in der Zeitung gelesen hatte. Es war
nichts Alltägliches gewesen. Aber, soviel er sich jetzt auch besann
-- es wollte seinem alten Kopf nicht mehr einfallen. Mochte sie nur
hinfahren. Vielleicht gelang es ihr, und sie bekam es schwarz auf
weiß. Dann hatte sie Ruhe. Er riskierte ja nichts. Seine Pension hatte
er weg, der Justizrat war tot, und wer kümmerte sich jetzt noch um
seine unehelichen Kinder? -- --

Das stille Strelenwalde war tatsächlich in den letzten Wochen oft in
den Zeitungen genannt worden. Ein Ereignis hatte sich dort abgespielt,
sehr grauenvoll und grotesk. Doch bevor es erzählt werden kann, muß
ein Blick auf die Menschen geworfen werden, die es miterlebten. Es
griff recht tief in ihre Stimmung ein, wenn sie auch noch so friedlich
im Gleise des Kleinstadt fuhren.

Liese von Rotkraut war seit einigen Jahren Witwe. Sie hatte ihren
alten Invaliden treulich in den letzten Schlummer hinübergeflegt. »Du
reines Weib!« waren die letzten Worte des Majors gewesen. Er hatte
sie mit dem einen Auge, das ihm in Afrika geblieben, lange angesehen
-- nie vergaß Liese diesen Abschiedsblick. Seltsam war ihr Herz von
schwankenden Gefühlen zerrissen worden -- einesteils glaubte sie, die
Krönung durch den ahnungslosen Mann nicht zu verdienen, andernteils
wußte sie, wie sehr sie sich Anerkennung bei ihm erworben hatte. Sie
führte ihre Rolle bis zur letzten Stunde durch. Hermann von Rotkraut
war in der Überzeugung gestorben, eine Heilige zurückzulassen. Keine
Ahnung von den wilden Strecken ihres Lebens war ihm gekommen. Aber
Liese hatte auch noch mit einem anderen Vermächtnis zu kämpfen. Das
lag weiter zurück. Noch zu Lebzeiten des Majors hatte Tante Sanftleben
die Augen geschlossen. Ihre letzten Worte an Liese lauteten: »Vergiß
deine Tochter nicht.«

Dem einen Spruch zu folgen und den anderen bestehen zu lassen --
dazu fehlte es Liese an Kraft. Sie führte ihre Konditorei weiter,
sie betäubte sich durch Arbeit, sie blieb hart und still. Auch als
die Nachricht kam, daß Viktor Schwarz gestorben, ließ sie sich nicht
aufschrecken. Gierige Freude flammte noch einmal in ihr auf, als die
große Erbschaft sie überraschte. Solchen Segen hatte sie freilich
nicht erwartet. Aber es tat ihr wohl, unter diesem Eindruck noch
Frieden mit dem untreuen Mann schließen zu können -- sie dachte sogar
mit Inbrunst im Garten der Zubermühle an ihn und sorgte im übrigen
dafür, daß die Erbschaft den Strelenwaldern nicht verdächtig wurde.
Das Kind des Toten blieb ihr fern.

Die letzte Belebung ihres Daseins brachte Käthe Bomsdorf, das
neue Ladenfräulein. Diese hübsche Person war namentlich bei der
Herrenkundschaft beliebt, aber ihr keckes Wesen stieß immer wieder
mit Liese zusammen, die ihre eigene Vergangenheit leugnete und die
wandelnde Sittenstrenge war. Von Adele Schörg hörte Liese nur wenig.
Sie wußte, wie Strelenwalde an seinem alten Prügelkinde handelte, und
es war ihr peinlich, zu diesen Roheiten Stellung zu nehmen.

Adele hatte Simba geheiratet. Sie war leidenschaftlich in ein spätes
und seltsames Glück gestolpert. Bald aber hatten sich Konflikte
ergeben, von denen sie nichts geahnt. Zunächst mußte der Neger als
christlicher Ehemann einen deutschen Familiennamen annehmen. Er war
bisher nur der Königssohn Simba gewesen, und sein afrikanisches
Selbstgefühl sträubte sich gegen einen Namen, der für ihn keinen Sinn
hatte. Er ließ sich nichts vorschreiben, auch von Adele nicht, und
beschloß plötzlich, sich einfach nach seinem fernen Vaterlande zu
nennen, nämlich Großpopo.

Adele war außer sich. Sie sah sofort, was kommen würde -- das
Gelächter war unendlich. Doch vergebens suchte sie Simba von den
Namen, dessen deutsche Bedeutung sie ihm klar machte, abzubringen. Er
war tief beleidigt. Großpopo, seine Heimat, klang ihm besonders schön,
und er spuckte aus, wenn man ihm mit Meyer oder Schulze kam. Gegen
Simbas Überzeugung war nichts zu machen -- Adele mußte sich fügen,
wollte sie ihr ganzes Glück nicht aufs Spiel setzen.

Die Strelenwalder lachten sich satt. Berühmt wurde der Ausspruch, den
die Frau Bürgermeister bei einer Kaffeegesellschaft tat: »Den neuen
Namen von Adele Schörg können anständige Leute unmöglich aussprechen.
Wir haben beschlossen, sie von jetzt an Frau Großpapa zu nennen.«

Dabei blieb es, aber es schwankte auch hin und her, bald a, bald o;
besonders die Schuljugend konnte sich an tückischen Verwechselungen
nicht genugtun. Adele erkannte nun erst, als sie eine geachtete Frau
geworden, was das Verhängnis ihres Lebens war. Sie konnte nicht wie
die andern sein -- immer wieder heftete sich das Lächerliche an ihre
Gefühle.

Sie hatte Liese Prutz die Tatkraft abgesehen -- nun übernahm sie
nach ihrer Heirat des Geschäft ihres verstorbenen Vaters. Aber sie
verkaufte das väterliche Haus und zog in ein schöneres, das sie sich
schon lange gewünscht hatte. Dicht neben der Kirche lag es -- das
erhöhte noch den Respekt. Aber Adele konnte tun, was sie wollte, sie
wurde wirklich eine tüchtige Geschäftsfrau, und Simba half ihr mit
der zähen Arbeitskraft des Negers -- ihre Existenz wurde nicht ernst
genommen. Über dem Laden hing ein Schild mit der schön gemalten Firma
S. Großpopo vormals Schörg -- das genügte, um das Haus zur Zielscheibe
täglichen Witzes zu machen. Die Schuljugend ärgerte das fleißige
Ehepaar mit ihren kleinen Streichen; jeder Erwachsene, der den Laden
betrat, schnitt ein Gesicht zwischen Ernst und Spott und feinfühlige
Leute -- das war das allerschlimmste -- vermieden es bald, bei
Großpopo zu kaufen. Adele verlor ihre beste Kundschaft.

Es war von jeher die Eigenschaft der Strelenwalder gewesen, vom
Märchen des Lebens nichts zu spüren. Jetzt blühte es mitten in ihrer
Gemeinschaft, aber sie starrten nur auf den Namen, der ihnen komisch
klang, auf den Begriff, der einer fremden Seele gehörte.

Ob Simba verstand, wie es um ihn herum zischte und kicherte, war nicht
zu erkennen. Adele fürchtete nichts so, wie sein Begreifen; denn sie
wußte, wie furchtbar er werden konnte, wenn man ihn beleidigt hatte.
Wie ein Löwe nahm er dann Rache und war zu allem fähig.

So gelang es ihr, ihm die böse Stimmung fernzuhalten, zum mindesten
in einem Licht zu zeigen, daß er selbst darüber lachen konnte. Leider
wirkte das verächtliche Wesen des Schwarzen noch aufreizender auf die
Strelenwalder. Man wurde immer unverschämter. Adele versuchte es bei
den beiden Instanzen, die sie anrufen konnte: bei der benachbarten
Kirche und bei der Polizei. Der Herr Pastor, der stolz auf seine
Missionstat war, einen Neger bekehrt zu haben, sagte: »Liebe Frau
-- Großpopo, Ihr innerer Besitz entscheidet. Sie sind doch eine
glückliche Frau, Sie sagten mir soeben, daß Sie sich Mutter fühlten
-- nun, was hat denn das Leben Größeres zu geben? Bei Schwarz und
Weiß, in Europa und in Afrika? Das muß Ihnen über jeden kleinen Ärger
forthelfen.«

»Gewiß, Herr Pastor. Aber die Leute hier benehmen sich, als ob wir in
Amerika wären, die lynchen uns ja nächstens, weil ich einen schwarzen
Mann habe.«

»Nein, Frau Adele. Das ist übertrieben. Davor schützt Sie doch
zunächst die Nachbarschaft der Kirche. Unsere Mitbürger sind auch
nicht ganz so schlimm, wie Sie meinen. Ich werde übrigens in meiner
nächsten Predigt energisch auf die Toleranz gegen eine fremde Rasse
hinweisen. Und Sie rufen am besten den Schutz der Polizei an, wenn die
Schuljugend sich noch einmal untersteht, Unrat vor Ihre Tür zu legen.«

»Mein Mann macht es mir so schwer, Herr Pastor. Wenn der so was
findet, ärgert er sich nicht mal drüber -- für den ist das nämlich
garnichts Schmutziges. Ich mußte es ihm erst auseinandersetzen. Ja,
man hat's nicht leicht, Herr Pastor.« --

Bei der Polizei erreichte Adele noch weniger. Als die Beamten Frau
Großpopo tückisch lächelnd empfingen, hinkte sie schnell wieder fort.

Nach Monaten unermüdlicher Arbeit kam das Ereignis, das Wandel
schaffen konnte. Adele gebar ein Kind. Die wilde Vaterfreude Simbas
tröstete sie wirklich. Nie hatte sie bei einem Menschen einen so
urwüchsigen Stolz gesehen. Er trug seinen Sohn wie ein Heiligtum umher
-- die feindliche Welt versank.

Otto hieß der kleine Junge, nach Bismarck. Aber es stellte sich bald
heraus, daß er es nicht leichter in Strelenwalde haben würde als
seine Eltern. Er erbte nicht nur den Namen seines Vaters, sondern
auch die Häßlichkeit seiner Mutter, und außerdem war er kein weißes
Christenkind, sondern ein bräunlicher Mulatte.

Das genügte. Alles spitzte sich auf Simbas Sohn, der natürlich zum
Unterschied Kleinpopo genannt wurde. Jahre vergingen. Erst in der
Schule erkannte Otto sein Schicksal. Da machte man ihn zum Hanswurst,
und ohne Erbarmen wurde er gehänselt. Menschliche Lehrer schritten
dagegen ein, aber vergebens -- die Bestie wollte ihr Opfer haben.
Scheinbar harmlos gingen die Jungen vor dem Sattlerhause auf und ab,
mit geschwärzten Gesichtern, Wulstlippen und humpelnd. Einer stand
Schmiere -- der gab Signale, wenn Gefahr drohte.

Eines Tages erwachte der kleine Otto. Er begriff den Zusammenhang. Das
deutsche Erbe in ihm ließ ihn den ganzen Gram empfinden -- dann aber
packte ihn auch das Blut des Afrikaners, und er dürstete nach Rache.
So ließ er sich dazu verleiten, seine Beleidiger herauszufordern. Eine
große Prügelei entstand. Otto mußte, von Todesangst gejagt, die Flucht
ergreifen. Die ganze Rotte rannte hinter ihm her. Sie erwischte ihn
nicht -- er gelangte noch eben ins Vaterhaus. Hier aber sank er vor
Simba nieder. Ein furchtbarer Ausbruch der gepeinigten Kinderseele
enthüllte dem Vater, was geschehen.

Jetzt begriff es Simba. Durch sein Kind mußte er es begreifen. Er
bezwang sein kochendes Blut und versprach seinem Sohn Genugtuung.
Adele verschwieg er sein Vorhaben und legte sich auf die Lauer. Sobald
die kleinen Teufel wieder herankamen, brach er hervor und prügelte
fürchterlich, was er erreichen konnte.

Adele kam zu spät. Jetzt konnte sie keine Duldsamkeit mehr predigen.
Entsetzt erkannte sie, daß unter den Bestraften die Kinder der
einflußreichsten Bürger waren. Sie bluteten und liefen heulend nach
Hause. Der Skandal setzte ein.

Jetzt sorgte der Pastor dafür, daß die Polizei von dem wütenden
Vater abließ. Aber was er nicht verhindern konnte, war die stille
Verschwörung gegen Simbas Geschäft. Ganz amerikanisch versammelten
sich die deutschen Kleinstädter und erklärten: ›Einen Neger, der
unsere Kinder mißhandelt, dulden wir nicht.‹ Niemand, der das
öffentliche Urteil scheute, kaufte von nun an bei S. Großpopo. Wie
viele gab es in Strelenwalde, die das öffentliche Urteil nicht
scheuten? --

Adele erkannte die Verdammung. Sie war ja ein Kind dieser Stadt. Nun
wurde es in dem kleinen Laden ganz still. Schon wollte sie ohne Simbas
Wissen Bittgänge tun, die zürnenden Bürger zum Mitleid bewegen -- aber
ihr letzter Stolz hemmte sie, und die Zeit war zu schlecht, um vom
Mitleid zu leben. Bald regte sich die Konkurrenz.

Adele schonte Simba nicht mehr. Jetzt sagte sie ihm, was er
angerichtet. Er aber warf ihr einen unvergeßlichen Blick zu: »Sie
wollen uns auch verhungern lassen, meinst du? Weil ich schwarz bin,
und weil unser Kind der Mutter gleicht? Wären sie zufrieden, wenn ich
ein weißer Dieb wäre, und wenn ich Otto von einer Dirne hätte? Wozu
haben diese Menschen Zeit? Sie arbeiten nicht, sie beten nicht, sie
stehen vor einem Apfelbaum und verspotten ihn, weil er krumme Äste hat
-- dann fressen sie seine Äpfel. Nein, Adele -- mit diesen Menschen
können wir nicht leben.«

»Dann wollen wir in eine andere Stadt ziehen, Simba.«

»Wird es dort anders sein? Wird man uns dort nicht mit Gelächter
begrüßen?«

»Du darfst nicht vergessen, daß wir ihnen wirklich viel zugemutet
haben. Ich war schon immer ihr Prügeljunge, aber damit wurde ich
schließlich fertig, und dann habe ich noch einen Schwarzen geheiratet
und mein Kind ...«

Adele konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Tränen würgten ihre
Stimme. Simba aber erwiderte mit einer großen und düsteren Gebärde:
»Du sagst es. Ich bin Christ geworden um ihretwillen, und man hat
mich betrogen. Hier sind keine Christen. Ich glaube, Christen gibt
es nicht. Wohin wir auch ziehen werden. Laß mich jetzt, Adele -- ich
will nachdenken für uns alle. Ich will tun, was meine alten Götter
mir befehlen.« --

Es graute ihr bei seinen Worten, aber sie nahm es hin, denn sie
hatte immer Ehrfurcht vor seinem reinen Willen. Was in ihm vorging,
konnte sie nicht ermessen. Unheimlich, wie ein dunkler Dämon, ging
Simba umher. Wenn er allein im Laden war und ein Käufer erschien, so
verschränkte er die Arme und funkelte den Weißen an, bis dieser sich
ängstlich wieder zurückzog. Bald kam niemand mehr. Ein Jahr verging,
und das verrufene Sattlerhaus steckte in Schulden. Der kleine Otto
hatte die Schule verlassen -- kein Lehrer konnte den Haß seiner
Mitschüler bändigen. Ins große Unglück starrend, hockten Simba, Adele
und ihr kleiner Mulatte beisammen.

Eines Tages erschien der Herr Pastor. Er kam als geheimer Abgesandter
der Bürgerschaft. Mild und wohltönend war seine Rede: »Sie sind uns
allen ein geschätzter Mitbürger, lieber Herr Simba, aber Sie sollten
sich doch besser in einem anderen Orte niederlassen.«

»Wo? Ich bleibe.«

»Denken Sie doch an Ihre Familie. Sind Sie nicht Christ geworden?«

»Es gibt keine Christen.«

»Das wagen Sie mir zu sagen, der Ihnen die heilige Taufe gab?«

»Sie haben mir nichts gegeben. Sie haben mir schöne Geschichten
erzählt. Draußen ist alles anders. Der Mann, der gekreuzigt wurde,
weiß nichts mehr von denen, die kreuzigen. Ich sterbe in Flammen, ich
will mich nicht kreuzigen lassen. Ich singe und sterbe in Flammen.«

Der Pastor entfernte sich. -- ›Die arme Frau und das arme Kind‹,
dachte er. ›Darf man sie in den Händen eines Wahnsinnigen lassen?‹
Aber er tat nichts weiter und glaubte seine Pflicht erfüllt zu haben.
--

Es wurde ein glühend heißer Sommer. In ihrer Stube, die kaum noch
gelüftet wurde, saß die Familie des Negers und stöhnte und starrte
verzweifelt ins Nichts. ›Was werden wir morgen essen?‹ dachte
Adele. ›Wie soll ich zum ersten die Zinsen bezahlen? Das Haus wird
versteigert und dann?‹ -- Otto aber schmiegte sich an sie und fühlte
sich als einen Teil seiner Mutter. Das linderte sein geängstigtes Herz.

Plötzlich stand Simba auf. Mit bangem Staunen folgten ihm die Augen
der anderen. Er trat ans Fenster und öffnete es.

»Endlich«, flüsterte Adele.

»Fühlst du einen Unterschied? Es brennt.«

»Wo brennt es?«

»In der Luft. Das erinnert mich an Afrika. So soll es werden, so soll
es bleiben.«

Mit diesen dunklen Worten ging er hinaus. Bei Nacht erst kehrte er
zurück. Jetzt lächelte er zum erstenmal wieder. Er brachte köstliche
Dinge mit. Wurst und Schinken, Früchte, weißes Brot und eine Flasche
Schnaps. --

»Wovon hast du das alles gekauft?« stammelte Adele. -- »Von dem Ring,
den der Herr Major mir hinterlassen hat.«

Otto weinte -- so sehnte er sich nach den guten Sachen. Da wurde er
von Vater und Mutter leidenschaftlich gefüttert, dann erst aßen sie
selbst. Der Schnaps aber hüllte alle drei in bewußtlosen Schlummer. --
--

Die Nacht blieb heiß wie der Tag. Langsam schritt Kilian, der Wächter,
zwischen den alten Giebelhäusern von Strelenwalde. Vor der Kirche
blieb er stehen und schnüffelte. Dann schüttelte er den Kopf und ging
weiter. Als er zum andern Male zurückkehrte, sah er an verschiedenen
Stellen des Sattlerhauses jähen Rauch aufsteigen. Aus Dach und
Fenstern quoll der Rauch. Was war denn das? Aber Kilian sah erst nach
der benachbarten Kirche. Die war ja die Hauptsache. Entsetzlich, da
rauchte es auch! Es züngelte, schwebte und breitete sich aus.

Jetzt schlug der Nachtwächter Lärm. Tutend lief er durch die Gassen.
Feuerlärm! Es wurde licht und lebhaft in den Häusern. Aus heißen
Betten hüpften die Strelenwalder, Nachtmützenköpfe streckten sich aus
den Fenstern.

»Wo denn? Was ist denn? Wo brennt's?« -- »In der Kirche!« -- »Gott im
Himmel! In der Kirche?« -- »Nebenan beim Sattler auch!«

Nun zog das schreckliche Gerücht schon viele Menschen auf die Gassen.
Pfeifen, Rufen, Fragen -- die freiwillige Feuerwehr mit ihren
komischen Blechhelmen formierte sich. Spritzen wurden rasselnd aus der
Remise gezogen. Ganz Strelenwalde war in einer halben Stunde auf den
Beinen. Aber das Unheil war schon viel zu groß. Man hatte die beste
Hilfe verschlafen. Jetzt galt es, von der Kirche zu retten, was noch
zu retten war.

Die größte Feuersbrunst seit Menschengedenken entfaltete sich. Das tat
der böse Gewitterwind, der durch die schwüle Nacht sauste. Der war
stärker als alle Menschenhände. Die Kirche brannte lichterloh. Dämonen
schienen hinter ihren leuchtenden Fenstern Gottesdienst zu halten.
Ein furchtbares Unglück -- man scharte sich um den Pastor, der halb
wahnsinnig vor der brennenden Kirche stand. Plötzlich rief er: »Es muß
Brandstiftung sein!« -- Ein wütender Schrei antwortete ihm: »Jawohl!
Wer hat es getan?« -- »Das weiß ich nicht!« -- »Doch, ich weiß es«,
rief ein Schüler, dem Simbas Prügel noch in den Gliedern lagen. »Der
Schwarze! Der Sattler!«

Ein Schrei aus hundert Kehlen gab ihm Recht. Nun stürmten alle zu
Simba, um Rache zu nehmen. Aber man hatte sich überhaupt noch nicht um
sein Haus gekümmert -- nun war hier noch weniger zu retten als an der
Kirche. Das Sattlerhaus war in Flammen gehüllt. Von Grauen gepackt,
wich man zurück -- man wußte drei Menschen schliefen hinter diesen
Mauern.

Sie hatten sich nicht mehr gezeigt. Später wurden fürchterliche Dinge
erzählt. Der eine wollte durch das Fenster des brennenden Hauses den
Neger gesehen haben, wie er Weib und Kind umschlungen hielt und mit
glühenden Augen sang. Der andere behauptete sogar, die Worte seines
Gesanges verstanden zu haben, und gab sie wieder: »Wir sterben in
Flammen, wir sterben zusammen, wir aus dem Lande der Sonne! Tod ist
uns Wonne! Ich liebe dich, wie du bist! Hörst du es, Mörder Christ?«

Der das erzählte, war ein verkommenes Subjekt, ein armer Literat, der
sich endlich interessant machen wollte. Die Verse stammten sicherlich
von ihm; denn bei näherer Überlegung mußte man sich ja sagen, daß
Simba, wenn er überhaupt gesungen hatte, es sicherlich in seiner
Muttersprache getan, von der man ja doch kein Wort verstand. --

Das Ereignis der schauerlichen Nacht war, daß die Kirche von
Strelenwalde halb und das Sattlerhaus, in dem auch der Küster gewohnt
hatte, ganz verbrannt war. Der Küster selbst hatte das nackte Leben
retten können, aber es wurde bald bekannt, daß bei ihm unersetzliche
Dinge, zum Beispiel die ganze Bücherei der Kirche, vernichtet worden.

Simbas Verbrechen stand fest. Aber man hatte nichts von dieser
Feststellung, denn in dem Sattlerhause fand man nur verkohlte Leichen.
Es dämmerte den Strelenwaldern auch allmählich, daß sie ihrer
Niedertracht eine furchtbare Strafe verdankten. Zerknirscht umgaben
sie ihren gebeugten Seelsorger.

Zwei Wochen vergingen. Der Brandschutt war längst beseitigt, nur ein
paar hohle Mauerreste kündeten noch das Schreckliche, was geschehen.
Im Rathause wurde schon eifrig beraten, wie schnell und wie herrlich
das verlorene Gotteshaus wieder errichtet werden könnte. Reue
diktierte den Strelenwaldern eine nie dagewesene Freigebigkeit. --

An einem schönen Augusttage kam eine Frau auf dem Bahnhof an, klein,
blaß und voll unruhiger Erwartung. Sie eilte, ihr Handtäschchen
schwingend, direkt auf die verbrannte Kirche zu. An der Prutzschen
Konditorei kam sie vorbei, aber sie mied ihren Anblick. Berta ahnte
nicht, daß eine alte Frau am Fenster stand und ihr nachstarrte. ›Ist
das nicht --?‹, dachte Liese von Rotkraut eben, da war die kleine
Person schon um die Ecke.

Starr stand Berta vor der Brandruine. Eine redselige Obsthändlerin
gesellte sich zu ihr, die glücklich war, einer Fremden noch einmal
die ganze Schauergeschichte erzählen zu können. Berta hörte zu und
schwieg. Dann sagte sie mühsam: »Das ist ja schrecklich ... Davon
hatte ich garnichts gelesen ... Aber sagen Sie mal -- wenn auch die
Kirche gelitten hat -- die Bücher müssen doch noch da sein?«

»Was für Bücher meinen Sie?«

»Nun die, wo alles darin steht -- alle Geburten und alle Verstorbenen,
mein' ich -- alle Kinder, die in Strelenwalde zur Welt gekommen sind?«

Die Frau lächelte giftig: »Ach, Sie wollten da am Ende was nachsehen?«

»Jawohl, das wollt' ich, darum bin ich hier.«

»Da hätten Sie aber vierzehn Tage früher kommen sollen. Nebenan bei
dem Sattler hat unser Küster gewohnt, und bei dem sind sämtliche
Kirchenbücher verbrannt.«

»Sämtliche -- Kirchenbücher sind --?«

»Da ist auch nicht ein einziges von übriggeblieben. Aber was ist Ihnen
denn? Sie schwanken ja so? Sie stehen wohl viel zu lange in der Sonne?
Kommen Sie doch in den Schatten 'rüber.«




                      FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL


Rietschel hoffte noch immer, daß seine Kinder nichts merkten. Er hatte
sie besucht, als sie in ihren Betten lagen, und sie schienen die
Geschichte von Mutters Ausflug zu glauben. In Wahrheit hatte Rietschel
keine Ahnung, wo Berta sich heute befand. In Wahrheit stand er den
ganzen Sonntag schon am Fenster und wartete auf ihre Rückkehr. Am
Morgen hatte sie ihn richtig überrumpelt. Während er sich rasierte,
war sie eingetreten, die Reisetasche in der Hand, und hatte ihm
zugerufen: »Adieu, ich komme vielleicht erst morgen wieder!« Bevor
der eingeseifte Mann sie befragen konnte, war sie schon die Treppe
hinunter.

Von Groll und Angst erfüllt, verbrachte Rietschel den Tag. Berta hatte
schon mancherlei angestellt, aber einfach fortreisen, ohne ein Ziel zu
nennen, das war denn doch noch nicht passiert. Das ging ihm über die
Hutschnur.

Es hieß zunächst, die Kinder vor Angst zu bewahren. In ihnen hatte
sich mit den reifenden Jahren eine eigentümliche, leidenschaftliche
Zärtlichkeit für die Mutter herausgebildet, die wie Partei gegen Vater
aussah, aber nur dem gütig überlegenen Trieb, zu helfen, entsprang.
Paul und Grete hatten früh erkannt, daß das eigentliche Kind im
Hause die Mutter war. So täuschte sich Rietschel heute über ihre
wahre Empfindung. Er hatte ihnen von einem Ausfluge des Kegelvereins
erzählt, den die Mutter mitmache, da er selbst Rheumatismus fürchte.
Aber die Kinder kannten schon den ratlosen Ausdruck seiner Augen --
diese Miene des Vaters hatte immer nur einen Grund. Die Mutter entzog
sich ihm, er hatte keine Macht mehr über sie, täglich konnte das
Unheil hereinbrechen.

Was die drohende Gefahr eigentlich bedeutete, machten sie sich nicht
klar. Den Geist, dem sie so viel verdankten, glaubten sie in einem
Licht, das nicht zu trüben war. Nur in tiefer Not sahen sie die
Mutter, im Fluch einer rätselhaften Umhergetriebenheit. So hockten sie
auch heute wieder in ihren Betten und schliefen nicht ein und berieten
sich leise. Während der Vater nebenan am Fenster stand, flüsterten sie
sich ihre Sorgen zu. Nein, sie waren nicht die ahnungslosen Kinder
mehr. Schmale, bleiche Geschöpfe mit großen, dunklen Augen, von
angstvoller Sehnsucht gequält -- so sprachen sie miteinander.

»Mutter ist, glaub' ich, garnicht mit dem Kegelverein«, flüsterte Paul.

»Das hab' ich mir auch schon gedacht«, antwortete Grete. »Aber wo kann
sie bloß sein?«

Sie richtete sich plötzlich auf und kroch zu ihrem Bruder hinüber.
So konnte sie ihm ins Ohr flüstern. Ihre langen, weißen Mädchenbeine
kamen dabei zum Vorschein, aber das tat nichts -- Bruder und Schwester
kannten sich innen und außen.

»Vater tut mir so leid. Der weiß noch immer nicht, was mit Mutter los
ist«, sagte Paul, vor sich hinstarrend.

»Weißt ~du~ es denn?«

»Ich denke mir so manches. Mutter ist manchmal ganz einsam, wenn sie
auch bei uns ist. Immer ist sie ganz einsam gewesen.«

Jetzt nickte Grete mit ihrem blonden Köpfchen: »Da hast du recht. Das
ist es. Und ich weiß auch, glaub' ich, den Grund.«

»Was weißt du denn?«

»Es heißt doch, daß sie ihren Vater -- daß sie den garnicht gekannt
hat -- oder daß sie ihn gekannt hat, aber er wollte ~sie~ nicht
kennen. Und ihre Mutter will auch nichts von ihr wissen. Das ist doch
schrecklich, Paul. Stell' dir vor -- wo Mutter so furchtbar gut ist.
Wir beide, wenn es uns so gehen würde --«

Paul schüttelte den Kopf: »Mit uns kannst du das nicht vergleichen.
Wir haben immer gewußt, wo wir hingehören. Wir kennen es doch nicht
anders, als daß wir Vater und Mutter haben.«

»Aber Mutter ist doch -- wie soll ich gleich sagen? -- Mutter ist kein
Kind mehr?«

Ein Lächeln wollte auf Gretes fragendes Gesicht kommen, aber es
verschwand vor dem Blick des Bruders. -- »Wahrscheinlich wissen wir
das noch nicht so«, entschied er. »Wahrscheinlich bleibt man sein
Leben lang ein Kind, indem daß man braucht, was wir eben haben, und
das hat Mutter nicht, und darum kann sie einem so leid tun.«

Grete sah ihn scheu von der Seite an. Langsam zog sie sich in ihr Bett
zurück. Es gab Augenblicke, da der Bruder ihr viel älter vorkam. Dann
hatte er plötzlich die gewölbte Stirn, die nur alte, weise Männer
hatten. Das Dunkel seiner Augen schien zu sagen, daß man ihn nicht
mehr belehren könne. Fremdes, überlegenes Blut rollte in seinen Adern
-- Grete spürte nichts davon. --

»Sie kommt nicht«, flüsterte Rietschel um Mitternacht und trat mit
schmerzender Stirn vom Fenster fort. --

»Das ist nun mein Sonntag, Schneemann«, sagte er dann zu seinem Pudel,
der ihn aufmerksam ansah. Rietschel weinte fast vor Sorge und Ingrimm.
Er setzte sich auf das Sofa und zog Schneemann neben sich. -- »Dazu
hat man nun die ganze Woche geschuftet. Dazu hat man Frau und Kinder.
Aber ich tu's nicht länger. Ich halt's nicht mehr aus. Jetzt heißt es
biegen oder brechen. Biegen oder brechen!«

Er wiederholte diese Worte noch einige Male in seinem singenden
sächsischen Ton, aber er war sich nicht darüber klar, was er
eigentlich vorhatte. Mit dem dumpfen Ausspruch: »Das hat man
eigentlich garnicht nötig« legte er sich um ein Uhr schlafen. --

In aller Frühe klingelte es. Berta erschien. Rietschel starrte sie an:
»Wo kommst du jetzt her?«

»Das kann dir ja egal sein.«

»Meinst du? ... Und wie siehst du denn aus? Hast du am Ende im Freien
kampiert?«

»Irgendwo auf dem Bahnhof.«

Die Miene, mit der sie an ihm vorüberging, konnte ihn ängstlich
machen. Er wagte es weder sie zur Rede zu stellen, noch zu befragen.
Ins Geschäft mußte er nun -- es blieb ihm nichts anderes übrig.
Aber diese Frau allein bei den Kindern lassen? Paul und Grete
hatten Ferien, das kleine Dienstmädchen kam als Schutz nicht in
Betracht. Rietschel wurde von der Erinnerung an einen gräßlichen Fall
beschlichen, der sich erst kürzlich ereignet hatte. Da war eine Frau
in Abwesenheit ihres Mannes mit ihren Kindern ... Aber nein, das war
bei Berta ganz unmöglich. Jetzt noch glaubte er fest an ihren guten
Kern.

Beschwörend wandte er sich zu ihr, bevor er ging: »Berta, sei ein
bißchen nett zu den Kindern --«

»Was heißt das?«

»Na, ich meine bloß, gestern war Sonntag, und du hast dich garnicht um
sie gekümmert.«

»Wer kümmert sich denn um mich?«

»Das darf eine Mutter nicht sagen.«

»Daran glaubte ich auch mal. Jetzt weiß ich besser, was man darf.«

»Was quält dich, Berta? Warum sagst du mir nicht, wo du gestern
gewesen bist?«

»Weil du's doch nicht verstehst. Du bist ein guter Mann, Peter, aber
verstehen tust du nicht alles. Na, bald kommt die Zeit -- da wird es
dir klar.«

Nach diesen Worten ging sie zu den Kindern hinein. Rietschel stand
noch eine Weile unschlüssig -- dann stampfte er mit dem Fuß und
entfernte sich.

Paul und Grete saßen in einem Winkel und sahen mit bangen Blicken der
Mutter zu. Sie ging schweigend im Zimmer umher. Unter dem schiefen
Hut hing ihr ein Zopf herunter, und am linken Stiefel schleifte das
Schnürband. Eigentümlich gedunsen war ihre fahle Miene. Die Augen
schienen den Blick verloren zu haben.

»Wenn sich alles gegen einen verschwört, Gott und die Menschen --
dann weiß man wenigstens: Es hat sich nicht gelohnt! Aber die Rache
bleibt trotzdem auf der Welt!«

Diese Worte sagte die Mutter ganz deutlich -- Paul und Grete verhörten
sich nicht. Unwillkürlich machten beide eine Bewegung, als wollten sie
nun vorspringen und einer grenzenlos Verlassenen helfen. Vor dieser
großen Liebesregung stutzte Berta. Ihr Blick gewann wieder Leben. Sie
näherte sich den Kindern und sagte: »Seid mir nicht böse, daß ich
jetzt oft so komisch bin. Ich kann nicht anders. Bald werdet ihr alles
verstehen.«

Sprechen konnten die Kinder nicht -- aber ihr Blick brachte die Mutter
noch mehr zum Erwachen. -- »Habt ihr euch gestern geängstigt?« fragte
sie nach einer Weile. »Vater scheint sich auch wieder geängstigt zu
haben. Das müßt ihr nicht tun. Man kann nicht immer sagen, was man
vorhat. Jeder hat im Leben seine eigenen Sachen. Aber damit ihr nicht
um den Sonntag kommt -- da habt ihr zwei Mark. Geht zu Wilczek und
holt euch, was ihr gern habt.«

Sie ging in ihr Zimmer. Paul und Grete sahen sich an. Nun hatte die
Mutter doch endlich wieder mit ihnen gesprochen. Und zwei Mark -- für
Pralinés -- ein richtiger Schatz. Sie wären keine Kinder gewesen, wenn
sie sich jetzt nicht gefreut hätten, aber sie waren beide noch Kinder.
-- --

Berta stand überlegend am Fenster. -- ›Er ist mir durchgegangen‹,
sagte sie vor sich hin. ›Jetzt kriege ich ihn nicht mehr. Jetzt ist
er wirklich weg. Er muß im Bunde mit dem Deibel sein -- anders ist
es nicht möglich. Da kann unsereiner nichts machen. Im Leben war er
Rechtsanwalt -- da brauchte er keinen Deibel. Da konnte er mir allein
entwischen. Aber dann -- wie er tot war -- das Kirchenbuch, das beim
lieben Gott verwahrt war -- daß ich da auch nicht mehr 'ran kann --
dazu brauchte er den Schwarzen. Der hat sein Haus angesteckt, damit
das Kirchenbuch verbrennt. Nun bin ich ausgelöscht. Nun komme ich
überall zu spät. Da kann unsereiner nichts machen.‹

Diese Worte klangen wie ein unerschütterliches Fatum. Sie schluchzte
noch einmal auf: ›Mutter! Aber nein -- die gibt es auf dem Totenbett
nicht zu. Ich bin ja ihr Schandfleck ...‹

Sie warf sich auf das Bett. Nach einer Weile flüsterte sie: ›Was
bleibt denn eigentlich vom Menschen? Staub. Sie haben ihn, glaub'
ich, verbrannt. Aber die Urne mit der Asche -- die ist noch da. Die
liegt im Kirchhof. Eigentlich ist es ja nichts. Wenn ich da frage
und schreie, antwortet er nicht. Wenn ich da mit beiden Fäusten
gegenschlage, tut es ihm nicht mal weh. Aber etwas kann ich ihm doch
noch tun!‹

Eine plötzliche Eingebung packte sie -- letzter Haß riß sie empor.
›Was er noch hat, woran ihm gelegen hat bis zuletzt, und was die Leute
immer noch für ihn tun -- -- das ist die Ehre! Das Denkmal! Ja! Auf
dem Kirchhof ist sein Grab! Recht protzig natürlich mit Marmor und
goldener Inschrift und vertrockneten Kränzen! Das dulde ich nicht!
Er hat keine Ehre verdient! Die Welt soll wissen, was er verdient
hat. Ich kenne ihn, ich gehe hin und schmeiße sein Denkmal um! Ich
zerschlage sein Grab!‹

Von wilder Tatkraft erfüllt, erhob sie sich. Jetzt war sie ganz
verwandelt -- nach vielen Jahren kam wieder ein großer Zweck über sie.
Ihr Wahn gewann eine Logik, die ihrer Vernunft gefehlt hatte. Mann und
Kinder hörten sie singen, als sie am Mittagstisch saßen und auf sie
warteten. Endlich kam Berta mit federnden Schritten. »Mahlzeit!« rief
sie und nickte ihren Kindern heiter zu. Freilich wirkte das nicht so,
wie sie meinte. Die Kinder duckten sich, als ob der neue Ton sie wie
eine Rute träfe, und Rietschel starrte mit gerunzelter Stirn auf seine
Frau.

Nachmittags faßte er einen Entschluß. Er wollte zu einem berühmten
Nervenarzt gehen und die Kinder eventuell zu seiner Schwester nach
Chemnitz schicken. Daß für Berta jetzt etwas geschehen mußte, war ihm
klar.

Doch während er so tatkräftig wurde, überflügelte ihn seine Frau.
Berta fuhr nach Zehlendorf, um auf dem Friedhof nachzusehen, wo Viktor
Schwarz begraben war. Dies mußte bei Tageslicht geschehen, damit sie
nachts orientiert war, wenn sie ihr eigentliches Vorhaben ausführte.
Viel Zeit zum Suchen hatte sie dann nicht -- das machte sie sich
klar. Sie wußte überhaupt noch nicht, wie sie in den verschlossenen
Friedhof gelangen sollte. Daß sie aber hineinkam, war ihr ebensowenig
zweifelhaft, wie daß sie mit ihren kleinen Händen ein Marmordenkmal
umstürzen und eine Urne aus der Erde zerren könnte. --

Endlich war sie in Zehlendorf. Die Sonne stand schon tief. Man empfing
sie in der Friedhofsinspektion mit Mißbilligung. -- »Um sechs Uhr wird
geschlossen, und es ist schon drei Viertel«, sagte der alte Beamte.
»Sie kommen ja kaum noch 'raus, wenn sie jetzt noch zu dem Grab
wollen.«

Er dachte an sein Abendbrot, aber Berta sagte energisch: »Ich muß hin.
Schlagen Sie mir's nicht ab.«

Ihr Ton machte Eindruck. Sie wurde durch viele Gräberreihen zu
der Stelle geführt, wo Viktor Schwarz bestattet lag. Das Denkmal
auf seinem Hügel war größer und prächtiger als in der ganzen
Nachbarschaft. Berta sah es und nickte lächelnd. Dann stellte sie
fest, daß der Hügel unter den Kränzen schließlich nur aus Erde
bestand, und daß das Denkmal von Händen, die es ernstlich wollten,
umzuwerfen war. Jetzt machte sie sich langsam auf den Rückweg zum
Friedhofstor. Sie sah sich immer wieder um, damit ihr für die
Dunkelheit Kennzeichen blieben. Verirren in diesem Wald von Kreuzen --
das war das schlimmste.

Der Inspektor hatte sich in der Nähe gehalten -- sie wußte nicht, daß
er ihr beobachtend folgte. Er war ein kluger, alter Mann, der sich auf
Menschengesichter verstand. Diese sonderbare Person, die so spät und
ohne Blumen gekommen und so hart gespannt nach einem Grabe gefragt
hatte, war ihm nicht geheuer. Er atmete auf, als er sie den Friedhof
verlassen sah. --

Doch Berta kehrte nicht nach Berlin zurück. Dazu war es zu spät. Sie
mußte im Umkreise des Friedhofes bleiben. Plötzlich fiel ihr ein, daß
es doch das beste gewesen wäre, sich einschließen zu lassen. Aber
der Friedhof war so neu und kahl -- es gab keinen Baum, hinter dem
man sich verstecken konnte. Sie ging durch die stillen Vorortstraßen.
Daß sie stundenlang auf den Beinen blieb, wurde ihr kaum bewußt. Dann
zog es sich immer dunkler um sie zusammen -- es war wirklich Nacht
geworden. Wie ein Dieb näherte sie sich im Schatten der Häuser wieder
dem Friedhof.

Eine seiner Mauern war dem freien Felde zugewandt -- hier glaubte
sie sich unbeobachtet. Aber hinaufzuklettern war für sie unmöglich.
Jetzt stand sie erst vor dem eigentlichen Hindernis. ›Elende Zwergin,
die ich bin,‹ dachte sie -- ›so hat ~er~ mich gemacht!‹ Von
Angst gepackt, lief sie weiter, immer die endlose rote Mauer entlang.
Plötzlich fand sie eine Bank und daneben einen ziemlich kräftigen
Baum. Hier mußte es geschehen. Hier war es auch für sie möglich.

Sie wurde zum Schulmädel. Das Turnen war für ihren kleinen, behenden
Körper immer eine Lust gewesen. Rasch stieg sie auf die Bank und
erklomm von dort einen ziemlich hohen Ast. Er trug sie, und als sie
darauf ritt, sah sie, daß sie das Gesims der Mauer mit den Händen
erreichen konnte.

Mit letzter, wütender Anstrengung riß sie sich empor. Sie verlor ihren
Hut, der Rock ging in Fetzen -- was lag daran? Sie saß auf der Mauer,
und ohne Besinnen glitt sie nach der anderen Seite hinunter. Nun war
sie im Friedhof. Aber die gespenstische Wildnis der Kreuze verwirrte
sie -- sie wußte nicht, wo sie sich befand, jedes Kennzeichen fehlte.
Wimmernd lief sie durch die fremden Gräberreihen. Die unglaubliche
Stille um sie her dröhnte allmählich. Schon reckten sich aufgestörte
Geister und hoben drohende Arme gegen die Frevlerin.

Doch Berta wurde von ihrer letzten Vernunft gehalten. Gespensterfurcht
sollte sie nicht umwerfen. Sie blieb stehen und prüfte und erinnerte
sich -- endlich fand sie ein Kennzeichen wieder. An dieser Ecke war
eine weiße Säule gewesen -- Berta liebte abgebrochene Säulen und hatte
sich den Vornamen gemerkt: Adele! Jetzt sah sie ihn wieder. Wenige
Schritte davon nach links lag das Grab von Viktor Schwarz ...

Sie war am Ziel. Ein leises Kreischen stieg aus ihrer tobenden
Brust. Zum erstenmal glaubte sie, ihr Schicksal in Händen zu haben.
Wilde Wonne ließ sie jede Vorsicht verlieren. Sie warf sich über den
feuchten Hügel. »Du, du!« flüsterte sie in die erdige Tiefe. »Du bist
es doch! Du bist mein Vater, und ich bin dein Kind! Hörst du? Hörst
du?!«

Sie wühlte mit ihren rasenden Händen im Efeu und zerstörte die saubere
Ordnung der Pflanzen. Wie weit es noch bis zu der Aschenurne war,
wußte sie nicht. Dann irrte ihr Blick zu dem Denkmal empor. »Das
falsche Kreuz!« rief sie, und es hallte über die stummen Gräber hin.
Dann erhob sie sich und schlug gegen das Kreuz und zerkratzte die
goldene Inschrift.

Jetzt näherten sich rasche Schritte. Der Inspektor hatte den Ruf
gehört. Er glaubte schon andere verdächtige Geräusche vernommen zu
haben -- nun eilte er furchtlos mit seinem Hunde hinaus. Grabschändung
brachte ihn in furchtbaren Zorn. Er entsicherte seinen Revolver. Dann
sah er es -- seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen. Das sonderbare
Weib, dem er nachmittags das Grab gezeigt, hatte einen dunklen Zweck
gehabt. Nächtlich war es eingedrungen und tat seine nichtswürdige
Arbeit.

»Hände hoch oder ich schieße!« rief der Beamte und zielte auf Berta.
Sie drehte sich jäh nach ihm um. Im nächsten Augenblick stürzte sie
bewußtlos zusammen.

Die Polizei erschien, aber die Grabschänderin war noch immer nicht
bei Bewußtsein. Endlich holte man auch einen Arzt. Der untersuchte
die Ohnmächtige und meinte: »Es hat doch keinen Zweck, sie zur
Wache zu bringen, sie muß doch gleich ins Krankenhaus. Es handelt
sich natürlich um einen Fall von Geistesstörung. Der Mann muß
benachrichtigt werden. Sie fahren am besten mit, Herr Schutzmann. Ich
werde an die Psychiatrische Klinik telephonieren.« --

Rietschel kam bei Morgengrauen und fand Berta schon bei Bewußtsein.
Sie saß ganz friedlich in der Wohnung des Inspektors; doch als sie
ihren Mann erblickte, schien ein furchtbares Erwachen über sie zu
kommen, und sie begann zu toben. Nun mußte noch ein Krankenwärter
geholt werden -- dem gelang die Überführung.

Von gerichtlichen Schritten sah man ab. Man hatte eine Irre vor sich,
die lange vorbereitete Psychose kam zum Ausbruch. Berta mußte in der
Anstalt bleiben. In der ersten Zeit wurde ihr Zustand für aussichtslos
gehalten. Sie verfiel nach dem Toben in völlige Apathie, erkannte
ihren Mann nicht mehr und schien ihre Kinder zu vergessen. Ihre letzte
Geistesregung bestand aus wirren Worten, die von Viktor Schwarz und
dem Teufel sprachen, von der Fähigkeit ihres Vaters, als Luftgebilde
zu zergehen.

Rietschel kam in jeder Woche zweimal. Die Anstalt lag wie der Friedhof
in Zehlendorf, und man konnte von ihren Fenstern die Mauer sehen, die
Berta überstiegen hatte. Eines Tages wurde Rietschel von dem Oberarzt
beiseite genommen -- man teilte ihm mit, was notwendig geworden: der
Zustand seiner Frau gebe wenig Hoffnung. Man müsse den bedauernswerten
Gatten in seinem und seiner Kinder Interesse vorbereiten.

Der tapfere Sachse hielt dem Ansturm stand. Tränen rollten über seine
Backen, aber er reckte sich und erwiderte: »Es ist schrecklich, aber
es ist eben Schicksal, Herr Professor. Die Frau tut mir furchtbar leid
-- aber es ist eben Schicksal. Was soll ich nun aber tun? Kann ich
mein ganzes Leben an solche Frau binden? Ich bin gesund, ich habe mein
gutes Geschäft, und die Kinder --«

»Lieber Herr Rietschel,« sagte der Oberarzt, auf die Wanduhr blickend,
»Sie haben nach meiner Ansicht absolut das Recht, die Scheidung
einzuleiten. Sie müssen endlich an sich selbst denken. Eine verlorene
Frau ist keine Frau.«

Mit schwerem Kopfschütteln stand Rietschel da. Da meinte er: »Nee,
ich weiß nicht -- ich kann es mir noch immer nicht vorstellen, trotz
allem, Herr Professor. Ich muß es mir erst noch überlegen.«

»Selbstverständlich. Das tun Sie nur.«

Rietschel fuhr nach Hause. Seine grübelnden Gedanken hielten ihn im
Dämmerzustand. Ja, die Freiheit lockte -- er war wirklich noch ein
junger, kräftiger Mann. Wenn er an die Jahre mit Berta zurückdachte
-- nach seinem Wohlbefinden war es selten gegangen. Dennoch -- er
hatte mit ihr vor Gott gestanden. Es tat ihm bitter leid um diese
Frau. Immer wieder sah er sie vor sich, wie sie gewesen, nicht wie sie
geworden war. Und was ihn hemmte, nun das Letzte noch umzustoßen, das
lag weniger in seinem Gewissen als in den Seelen seiner Kinder. Er
konnte es sich nicht vorstellen, was die Kinder sagen würden, wenn er
ihnen die Mutter nahm. Gab es denn eine neue Mutter? --

Er trat in seine Wohnung. Plötzlich sah er, daß die Kinder ihn mit
starker Spannung erwarteten. Es war heute weniger das Befinden der
Kranken, von dem sie wissen wollten, als die Mitteilung eines eigenen
Entschlusses. Betroffen sah Rietschel sie an: »Na, was ist denn mit
euch? Was habt ihr denn?«

Paul blickte auf Grete -- dann ergriff er, als ob dies seine männliche
Pflicht wäre, das Wort: »Vater, wir haben uns eben was überlegt. Es
hat lange gedauert, aber nun wissen wir's wenigstens.«

»Seid ihr denn garnicht neugierig, wie's Mutter geht?«

»Nein, Mutter geht es gewiß noch schlecht. Aber es wird ihr bald
besser gehen, Vater.«

»Lieber Junge -- gerade heute kann ich dir keine Hoffnung machen. Der
Herr Professor meint --«

»Das weiß der Herr Professor nicht. Schicke ~uns~ nur immer
wieder zu ihr, Vater.«

»Euch? Was versteht ~ihr~ denn --?«

»Das haben wir uns eben überlegt. Wir verstehen Mutter, weil wir ihre
Kinder sind. Sie ist auch nur so krank geworden, weil sie -- weil sie
immer noch ein Kind ist. Wenn wir keine Eltern hätten, wäre es uns
ebenso gegangen. Aber, weil wir noch Eltern haben, müssen wir Mutter
jetzt helfen. Das hat sie um uns verdient.«

Rietschel sah staunend auf seinen Sohn. Heute erst spürte er, daß
er einen Sohn hatte. Aus diesen klugen Augen, aus dieser gewölbten
Leidensstirn sprach sein Richter -- das fühlte er erschüttert. Bertas
Kinder ertappten ihn bei seinen dunklen Zerstörungsgedanken. Bertas
Kinder hielten fest, was er preisgeben wollte. Weil sie als Mutter
treu gewesen, blieben ihr nun die Kinder treu.

Er wischte sich die Augen und erwiderte: »Also gut denn, wie ihr
wollt, Kinder. Versucht es mal -- ich habe das Meinige getan. Mich
kennt sie nicht mehr -- vielleicht kennt sie euch noch.«

»Aber natürlich, Vater. Es ist doch unsere Mutter«, sagte Grete. Da
küßte Rietschel ihren blonden Scheitel und wandte sich ab.

Jetzt war noch nichts besser -- dennoch wurde eine große Last von ihm
genommen. Ganz im Stillen konnte er seine Beschämung überwinden, und
die Arbeit ging ihm wieder von der Hand, weil er den Hort seiner Ehe
bei Gläubigen wußte. --

Nun fuhren Paul und Grete täglich nach Zehlendorf hinaus. Arzt und
Pflegerinnen wollten diese beharrlichen Besuche erst verbieten, sahen
dann aber, daß sie zum mindesten nicht schadeten, und ließen es dabei.
Die Kranke kam in keinen Erregungszustand, wenn sie ihre Kinder sah.
Sie schien allmählich die neue Zeit mit der alten zu verwechseln. Bald
glaubte sie wieder daheim zu sein und für die Kinder zu sorgen, und
wenn sie mit ihnen im Garten der Anstalt spazierenging, erlebte sie
die schöne Zeit von Thüringen wieder.

Paul und Grete sahen nichts Krankhaftes darin und bestärkten sie
in solchen Stimmungen. Sie gaben der Mutter wegen auch gern ihren
Ehrgeiz auf, als Gymnasiast und Gymnasiastin zu gelten. Da es der
Kranken wohltat, schraubten sie sich scheinbar auf ihre kindliche
Unselbständigkeit zurück. Paul brachte seine elektrische Eisenbahn
mit, und Grete spielte wieder mit Puppen.

Das war Friede und mehr noch: es war wirklich ein Weg zur Genesung.
Die Ärzte sahen es ein und lernten gern von naiver Güte. Nach einem
halben Jahr konnte der Oberarzt Rietschel bessere Aussichten eröffnen.
Er lobte seine Kinder mit einer Begeisterung, die dem geprüften Vater
wohltat.

Es wurde allmählich wieder Frühling. Eines Abends kamen Paul und
Grete später als sonst aus Zehlendorf zurück. Rietschel empfing sie
schon besorgt. Aber er sah ihre glücklichen Mienen und wurde ruhig.
Paul erzählte, denn Grete hatte eine schwere Zunge und versagte immer
in ihrer tiefen Empfindung. Paul aber stellte es dem Vater lebendig
dar, wie heute plötzlich eine entschiedene Besserung bei der Mutter
eingetreten sei. Im Garten habe sie ganz ruhig und überlegen all die
schlimmen Sachen mit ihnen besprochen. Die ganze Vergangenheit habe
sie aufgerollt, und nun wüßten Paul und Grete endlich, wie alles
zusammenhinge. Das Schönste aber, was die Mutter heute gesagt, sei
das gewesen: »Kinder, man sollte doch eigentlich tot sein lassen, was
tot ist. Man sollte sich viel zu gut dafür sein, denen nachzulaufen,
die sich doch nie um einen gekümmert haben. Euch beide hab' ich ja
wirklich, und ihr habt mich. Das ist das Leben.«

»Hat sie das gesagt?« fragte Rietschel zitternd. »Wie kam denn das?«

»Ich weiß nicht, Vater -- der Tag war heute so schön --«

»Nein, Paul« -- unterbrach ihn da Grete eifrig -- »es war doch,
erinnerst du dich denn nicht -- der Zeppelin kam doch plötzlich über
den Himmel -- Mutter hat zum erstenmal ein Luftschiff gesehen -- und
da -- --«

»Ja, ja,« meinte Rietschel, »da kann man schon an 'ne neue Zeit
glauben. Na, ich gratulier' euch, Kinder -- ihr könnt wirklich mehr
als der Arzt. Jetzt glaub' ich auch an Besserung. Wenn die fixe Idee
erst tot ist --«

»Die ist tot, Vater. Mutter will nur noch alles, was lebt.«

»Na, ~ihre~ Mutter aber -- die lebt doch auch noch?«

»Ja, und da dachten wir schon,« -- stotterte Grete -- »da wollten
wir dich schon bitten, Vater -- willst du nicht mal zu Großmutter
hinfahren -- und von ihr ein gutes Wort für Mutter holen?«

»Meint ihr, daß man das riskieren darf, Kinder?«

»Doch«, erwiderten beide mit strahlendem Glauben. »Doch!« --

So fuhr denn Rietschel ohne Scheu nach Strelenwalde. Er wollte jetzt
auch etwas leisten. Bei der alten Frau von Rotkraut, die er als Witwe
fand, wurde ihm seine Bitte nicht schwer. Sie saß noch immer in ihrem
Mädchenzimmer, wo sie dem alten Helden die Augen zugedrückt. Sie hörte
mit einer schmerzlich wissenden Miene die ganze Leidensgeschichte
ihrer Tochter an. Dann richtete sich ihr Blick mit schwerem, aber
dankbarem Ausdruck auf Rietschel.

»Es ist gut, daß Sie den Weg zu mir gefunden haben. Ich will Ihnen
gestehen, Herr Rietschel -- im Innersten hab ich mir so was schon
lange gewünscht. Ich bin nun ganz allein nicht wahr -- was früher mal
unabänderlich war, das sieht doch jetzt ganz anders aus. Ich konnte
Berta früher nicht aufklären -- es lag wahrhaftig nicht an mir.«

»Und Sie werden zugeben, Frau Major -- Berta hat ihr Versprechen
gehalten. Ihnen kann ich es jetzt sagen: sie hat so schauderhaft
leiden müssen, weil sie immer Rücksicht auf ihre Mutter nahm. Auf
solche Weise konnte sie aber ihren Vater nicht finden.«

Liese nickte: »Das mag wohl sein. Sie muß schrecklich gelitten haben.
Aber ich habe auch gebüßt, Herr Rietschel. Glauben Sie mir, hinter all
meiner Unruhe und Angst steckte das Gefühl: Du brauchtest gar nicht so
allein zu sein, du hast eine Tochter -- wer hindert dich, dich doch zu
ihr zu bekennen? Ja, wer hindert uns eigentlich, das Nötigste zu tun?
Wir selbst oder das Schicksal?«

Rietschel, der Unphilosophische, rückte unruhig auf seinem Stuhl
umher: »Das kann man gar nicht sagen, Frau Major. Aber noch ist es
ja, wie gesagt, nicht zu spät. Sie wird wieder ganz gesund werden.
Wie gesagt, es wär' doch schön, wenn am Tor vom neuen Leben -- wie
soll ich mich gleich ausdrücken? -- wenn da ein Gruß von ihrer Mutter
stände, und wenn die Mutter auch den Vater nicht mehr verheimlichen
täte.«

Liese erhob sich mit wankenden Knien: »Da haben Sie ganz recht. Sie
sind ein vornehmer Mann, Herr Rietschel. Doch, doch -- ich freue mich,
daß Berta solchen Mann gefunden hat.«

»Nun sollten Sie erst mal unsere Kinder sehen! Ihre Enkelkinder!«

»Ach Gott, wahrhaftig. Man ist so reich und weiß es gar nicht. Na,
vielleicht kommt es dazu auch noch. Ich habe ein Leben hinter mir --
da hat es neben aller Not auch nicht an Gnade gefehlt.«

Sie ging langsam zu dem alten Sekretär ihres Vaters hinüber: »Gedulden
Sie sich bitte ein paar Minuten, Herr Rietschel. Ich will jetzt die
Zeilen an Berta schreiben.«

Rietschel saß in der stillen Stube und sah zu, wie Liese von Rotkraut
schrieb. Nun erfuhr also Berta, wer ihr Vater gewesen. Er fühlte, daß
es gute Worte waren, Labsal für eine gemarterte Seele. Daß aber ein
unsichtbarer Geist sie diktierte, Tante Sanftlebens selige Gestalt --
das wußte Rietschel nicht.

Mit frohem Mut kehrte er nach Berlin zurück. Jetzt wagte auch er sich
wieder nach Zehlendorf.

Heute begleitete er die Kinder. Berta empfing ihn mit einer Fassung,
die er nicht erwartet hatte. Nichts Krankes mehr sprach aus ihren
Zügen, sondern eine reife Festigung, die sie nie besessen hatte.
Jetzt war sie wirklich kein Kind mehr. Sie schien sogar etwas größer
geworden zu sein. Oder täuschte ihn die Hoheit ihrer überwundenen
Leiden?

Er gab ihr den Brief der Mutter. Ängstlich beobachtete er sie, während
sie las. Dann aber sah er, daß das Lesen ihr wohltat, ohne sie zu
erschüttern. Über den Brief fort schweifte ihr Blick. Sie griff
nach den Kindern, die zu ihr eilten, und auch Rietschel mußte näher
kommen. So traten alle Hand in Hand zum Fenster und sahen in den
Frühlingsregen hinaus.

»Seht,« sagte Berta, »da drüben ist die Mauer von dem Friedhof, wo
mein Vater liegt. Jetzt tut er mir bloß noch leid. Alle Menschen tun
mir leid, die sterben müssen und nie ans wahre Glück gedacht haben.
Ich weiß jetzt, was es ist, und nun lass' ich es nicht mehr los. Es
ist doch schön, daß man auf der Welt ist!«





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FRAU RIETSCHEL DAS KIND ***


    

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