Sämtliche Werke 19: Die Erniedrigten und Beleidigten

By Fyodor Dostoyevsky

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Title: Sämtliche Werke 19: Die Erniedrigten und Beleidigten

Author: Fyodor Dostoyevsky

Contributor: Dmitriĭ Vladimirovich Filosofov
        Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky

Editor: Arthur Moeller van den Bruck

Translator: E. K. Rahsin

Release date: July 12, 2025 [eBook #76485]

Language: German

Original publication: Muenchen: Piper, 1910

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 19: DIE ERNIEDRIGTEN UND BELEIDIGTEN ***


                   F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

           Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,
                    Dmitri Philossophoff und anderen
                herausgegeben von Moeller van den Bruck

                      Übertragen von E. K. Rahsin


                   Zweite Abteilung: Neunzehnter Band


                           F. M. Dostojewski




                            Die Erniedrigten
                            und Beleidigten


                                 Roman

                          München und Leipzig
                      R. Piper u. Co., G. m. b. H.
                                  1910


            R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1910

                Druck von Mänicke & Jahn in Rudolstadt.




                                Vorwort.


Die ersten Werke, die Dostojewski nach seiner Rückkehr aus Sibirien
geschrieben, bezw. vollendet hatte, waren die satirisch-humoristischen
Dichtungen „Das Gut Stepantschikowo“ und „Onkelchens Traum“ gewesen,
beide aus dem Jahre 1859. Diesen Dichtungen ließ er im Jahre 1861, noch
während der Arbeit an den bereits begonnenen Erinnerungen „Aus einem
Totenhause“, den Roman „Die Erniedrigten und Beleidigten“ folgen. Es ist
Dostojewskis Liebesroman, die Geschichte einer Leidenschaft, die wie ein
tragisches Idyll in dem breiten strömenden Epos seines Gesamtwerkes
steht. Im Ton, in einer gewissen großstädtischen, nebelfeuchten,
schattenschwankenden Petersburger Stimmung, in die sich auch hier noch
leise und unheimliche soziale Untertöne mischten, griff er darin auf
sein erstes Buch, die „Armen Leute“ zurück, wie es denn ersichtlich
dieses Werk ist, auf das er sich selbst, als auf das Erstlingswerk des
Erzählenden, des öfteren bezieht. Der Erzähler ist Dostojewski selbst,
der junge Dostojewski aus seiner ersten Petersburger Zeit, an den sich
der alte Dostojewski zurückerinnert. In der allgemeinen Behandlung
dagegen, die auch hier wieder alle alte Romantik abtat und dafür schon
in diesem Werke etwas wie eine neue Phantastik des modernen Lebens
heraufbeschwor, in der entschlossenen Charakterologie, die sich nicht
scheute, aus den Gestalten der beiden Liebenden die Vermenschlichung
psychologischer und im Falle des Helden pathologischer Probleme zu
machen, griff Dostojewski bereits seinen großen Romanen vor. Die
„Erniedrigten und Beleidigten“ wirken wie ein Versuch zu ihnen, und
nicht zufällig nähern sie sich ihnen von allem, was er in kleinerer Form
geschrieben hat, auch räumlich am meisten. Geistig ist das Buch diesen
Werken großer Form unmittelbar verwandt, fast könnte man sagen, es
gehört bereits zu ihnen. Nur noch fünf Jahre, und Dostojewski war
bereit, „Rodion Raskolnikoff“ zu schreiben. In den „Erniedrigten und
Beleidigten“ kündigt sich diese Entwicklung bereits an: es ist das
Jugendwerk, das er im Mannesalter geschrieben hat und in dem er sich zu
seinem eigentlichen Lebenswerk frei und reif gemacht hatte.

                                                           M. v. d. B.




                              Erster Teil


                                   I.

Am zweiundzwanzigsten März des vorigen Jahres hatte ich gegen Abend ein
äußerst seltsames Erlebnis. Den ganzen Tag war ich auf der Suche nach
einer neuen Wohnung in der Stadt herumgelaufen. Der Grund war, daß mir
mein Husten, der mir mit der Zeit doch Sorge zu bereiten begann, es
nicht länger möglich machte, daß ich in meiner alten feuchten Wohnung
blieb. Eigentlich hatte ich ja schon im Herbst umzuziehen beabsichtigt,
inzwischen war es darüber doch Frühling geworden. Einen ganzen Tag hatte
ich gesucht, trotzdem aber nichts Passendes gefunden. Freilich waren
auch meine Ansprüche nicht so leicht zu befriedigen. Erstens wollte ich
nicht in einer Familienwohnung ein möbliertes Zimmer mieten, sondern
eines für sich mit besonderem Eingang. Zweitens mußte dieses einzelne
Zimmer unbedingt groß oder zum mindesten geräumig, und drittens bei all
diesen Vorzügen selbstverständlich möglichst billig sein. Ich habe die
Erfahrung gemacht, daß in einem engen Raum auch die Gedanken sich beengt
fühlen. Ich aber gehe, wenn ich mir meine noch ungeschriebenen
Erzählungen in Gedanken zurechtlege, mit Vorliebe im Zimmer auf und ab,
was in einer kleinen Stube natürlich sehr unbequem und wenig tunlich zu
sein pflegt. Übrigens hat es mir immer mehr Vergnügen gemacht, in
Gedanken meine Werke auszuarbeiten, es mir vorläufig nur auszumalen, wie
ich sie schreiben würde, als sie buchstäblich zu schreiben – und das
wirklich nicht etwa aus Faulheit ... Woher das nur kommen mag?

Schon am Morgen hatte ich mich nicht ganz wohl gefühlt, gegen Abend aber
fühlte ich mich geradezu krank: ich muß mich von neuem erkältet haben.
Hinzu kam, daß ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war; das hatte
mich natürlich sehr ermüdet. Als ich auf dem Wosnessenskij-Prospekt
anlangte, sah ich gerade noch das letzte Leuchten der Abendsonne. Ich
liebe die Märzsonne in Petersburg, namentlich den Sonnenuntergang,
natürlich nur dann, wenn der Abend klar und kalt ist. Dann ist die ganze
Straße plötzlich wie in Licht getaucht. Alle Häuser scheinen zu glänzen,
und ihre grauen, gelben, schmutzig-grünen Fassaden verlieren für einen
Augenblick ihre mürrische Stumpfheit. Auch in die Seele flutet das
Licht, es ist ordentlich, als zucke sie zusammen. Wie Schuppen fällt es
einem von den Augen und neue Gedanken strömen durch den Kopf ... Es ist
ganz erstaunlich, was ein einziger Sonnenstrahl in der Seele des
Menschen bewirken kann.

Doch das Abendrot erlosch; die Kälte wurde immer empfindlicher; auch die
Dämmerung nahm zu ... in den Schaufenstern und Läden flammte das Gas
auf. Plötzlich blieb ich, unter dem Eindruck des Vorgefühls, daß ich
sogleich etwas Ungewöhnliches erleben würde, wie angewurzelt stehen,
spähte suchend zu dem anderen Trottoir hinüber, wo sich eine mir gut
bekannte deutsche Konditorei befand, – und erblickte dort den Alten und
seinen Hund. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie mein Herz sich unter
einer unangenehmen Empfindung gleichsam zusammenzog, und ich vermochte
selbst nicht einmal zu entscheiden, welches der Grund dieser Empfindung
war.

Ich bin kein Mystiker; an Vorahnungen und Wahrsagungen glaube ich so gut
wie überhaupt nicht; indes habe ich in meinem Leben, wie vielleicht
jeder Mensch, einige ziemlich unerklärliche Erlebnisse gehabt. Nun,
nehmen wir zum Beispiel diesen Zwischenfall mit dem Alten: weshalb hatte
ich damals, als ich ihn erblickte, sogleich das Empfinden, daß ich an
diesem Abend etwas Außergewöhnliches erleben würde? Übrigens war ich
krank, und Empfindungen in einem krankhaften Zustande pflegen fast immer
trügerisch zu sein.

Der Alte näherte sich der Konditorei nur langsam, setzte langsam einen
Fuß vor den anderen, ohne die Gelenke dabei zu biegen, als ginge er
nicht auf Beinen, sondern auf Stöcken. Sein Rücken war ganz krumm,
gleichwohl stützte er sich, gleichsam tastend, nur leicht auf seinen
Stock.

So ging er auf die Konditorei zu. Noch nie war mir ein so seltsamer, ein
so – unmöglicher Mensch begegnet. Auch früher schon, wenn ich ihn bei
Müller – so hieß der Konditoreibesitzer – angetroffen hatte, war der
Eindruck, den er auf mich machte, immer fast ein schmerzhafter gewesen.
Seine lange gebeugte Gestalt, das achtzigjährige Leichengesicht, der
alte Mantel, dessen Nähte überall aufgeplatzt waren, der verbeulte runde
Hut, den er wohl schon etliche zehn Jahre auf seinem kahlen Kopfe tragen
mochte, auf diesem seltsamen Schädel, von dessen Haaren sich nur noch im
Nacken einige nicht graue, sondern gelblichweiße Strähnen erhalten
hatten; alle seine Bewegungen, die etwas so Seltsames an sich hatten,
als wären sie Bewegungen einer aufgezogenen Puppe – alles das mußte
unwillkürlich einen jeden auf ihn aufmerksam machen. Es berührte in der
Tat sehr sonderbar, diesen hilflosen Greis so ganz ohne Aufsicht zu
sehen, um so mehr, als er tatsächlich schon eher einem Irrsinnigen
glich, der der Obhut seiner Wärter entschlüpft war. Ganz besonders
auffallend war auch seine ungewöhnliche Magerkeit: er sah aus, als habe
er überhaupt kein Fleisch, als sei über ein Knochengerüst nichts als
dünne, alte Haut geklebt. Seine großen trüben Augen, die von
dunkelblauen Ringen umgeben waren, blickten stets unverwandt geradeaus –
niemals sahen sie zur Seite; sie sahen überhaupt nie etwas, davon bin
ich überzeugt. Denn wenn er einen auch ansah, wie man aus der Richtung
seines Blickes schließen konnte, so setzte er doch so unbeirrt seinen
Weg fort, als wäre vor ihm nichts als freie Luft gewesen. Das habe ich
mehr als einmal bemerkt. Übrigens pflegte er erst seit nicht sehr langer
Zeit in dieser Konditorei zu erscheinen, und zwar stets in Begleitung
seines Hundes. Woher er kam, wußte niemand, denn noch nie hatte sich
jemand von den Stammgästen entschlossen, ihn anzureden, er selbst aber
sah sie nicht einmal an.

„Weshalb schleppt er sich wohl täglich zu Müller, und was treibt er
dort?“ dachte ich, und beobachtete ihn, unwiderstehlich von ihm
angezogen, von der anderen Straßenseite. Ein gewisser Ärger –
wahrscheinlich eine Folge meiner Krankheit und Müdigkeit – stieg in mir
auf. „Was er wohl bei sich denkt?“ fragte ich mich, ohne mich beruhigen
zu können. „Was er im Sinn haben mag? Denkt er überhaupt etwas? Sein
Gesicht ist ja schon so tot, daß es entschieden nichts mehr ausdrückt.
Und woher er nur diesen scheußlichen Hund hat! Aber das Tier ist
wirklich wie verwachsen mit ihm, sieht ihm auch auffallend ähnlich ...
Es ist fast, als wären sie beide ein einziges unteilbares Ganzes ...“

Dieser arme Hund war, glaube ich, gleichfalls achtzigjährig; ja, wie
hätte er auch wohl jünger sein können! Erstens sah er so alt aus, wie
sonst kein einziger Hund aussieht, und zweitens: weshalb war mir
sogleich, beim ersten Blick auf diesen Hund, der Gedanke gekommen, daß
er kein Hund wie alle anderen Hunde sei, sondern ein ganz besonderer,
und daß in diesem Hunde unbedingt etwas Phantastisches, Verwunschenes
stecken müsse. Vielleicht war sein Kern ein mephistophelischer? wer
weiß! Jedenfalls aber war sein Schicksal durch geheimnisvolle,
untrennbare Fäden aufs engste mit dem Schicksal seines Herrn verknüpft.
Wer diesen Hund betrachtete, mußte ohne weiteres zugeben, daß er vor
mindestens zwanzig Jahren zum letzten Mal, so wie es sich gehört,
gefressen hatte! Mager war er wie ein Knochengestell oder – was wäre
bezeichnender – wie sein Herr! Behaartes Fell hatte er fast überhaupt
nicht mehr, selbst die Rute, die wie ein Stock herabhing, war so gut wie
gänzlich unbehaart. Der Kopf und die langen Ohren hingen traurig herab.
Nein, in meinem ganzen Leben habe ich keinen so widerlichen Hund
gesehen. Wenn sie beide auf der Straße gingen, der Herr voran und der
Hund hinterher, dann berührte seine Schnauze unausgesetzt den
Mantelzipfel seines Gebieters, als wäre sie an ihn angeklebt. Und der
Gang der beiden und ihre Haltung und ganzes Aussehen schienen dann bei
jedem Schritt zu sagen:

„Alt sind wir, ja, alt, Herrgott, wie sind wir alt!“

Ich erinnere mich noch, daß mir der Gedanke durch den Kopf ging, der
Alte hätte sich mit seinem Hunde aus irgendeiner Hoffmannschen
Erzählung, illustriert von Gavarni, herausgestohlen und spaziere jetzt
als lebende Reklame des Werkes umher. Ich schritt über die Straße und
folgte dem Alten in die Konditorei.

Dort hatte der Alte schon längst unliebsames Aufsehen erregt. Müller,
hinter dem Ladentisch, schnitt bei Erscheinen des unerwünschten Gastes
jedesmal eine unzufriedene Grimasse. Erstens, bestellte der eigenartige
Gast nie etwas. Sowie er eintrat, ging er gleich auf den Ofen in der
Ecke zu und ließ sich neben ihm auf einen Stuhl nieder. War dieser Platz
besetzt, so blieb er in gedankenlosem Staunen vor der Person, die seinen
Platz eingenommen hatte, stehen und schritt dann wie vor den Kopf
geschlagen in die andere Ecke am Fenster. Dort nahm er irgendeinen
Stuhl, setzte sich langsam auf ihn nieder, nahm den Hut ab, legte ihn
auf den Fußboden, stellte den Stock daneben an die Wand, lehnte sich
zurück in den Stuhl und verharrte so regungslos drei bis vier Stunden.
Niemals nahm er eine Zeitung zur Hand, niemals sprach er ein Wort oder
gab einen Laut von sich; er saß nur, starrte mit einem so stumpfen und
leblosen Blick vor sich hin, daß man hätte wetten können, er sähe und
höre nichts von dem, was um ihn her vor sich ging. Der Hund legte sich
dann, nachdem er sich ein paarmal im Kreise herumgedreht hatte, knurrig
zu seinen Füßen nieder, drückte seine Schnauze zwischen die Stiefel
seines Herrn, seufzte tief auf und lag so, der Länge nach ausgestreckt,
den ganzen Abend unbeweglich da, als wäre er wirklich leblos. Es schien
überhaupt, als ob diese beiden Wesen den ganzen Tag über irgendwo tot
dagelegen und erst bei Sonnenuntergang sich plötzlich belebt hätten, nur
um in die Müllersche Konditorei zu gehen und dort eine geheimnisvolle,
allen unbekannte Pflicht zu erfüllen. Nachdem der Alte drei bis vier
Stunden so dagesessen hatte, erhob er sich plötzlich, um sich nach Hause
zu begeben. Auch der Hund richtete sich auf, klemmte seinen Schwanz
zwischen die Beine und folgte gesenkten Hauptes, wie mechanisch, seinem
Herrn. Die Gäste der Konditorei mieden den Alten, setzten sich nie neben
ihn, als flößte er ihnen Widerwillen ein. Er aber merkte von alledem gar
nichts.

Diese Gäste waren hauptsächlich Deutsche, Bewohner des
Wosnessenskij-Prospekt und Inhaber verschiedener Werkstätten, Schlosser,
Bäcker, Färber, Hutmacher, Sattler – patriarchalische Leute im deutschen
Sinne des Wortes. Bei Müller ging es überhaupt sehr patriarchalisch zu.
Der Wirt selbst setzte sich des öfteren zu seinen Gästen an den Tisch,
wobei eine gewisse Menge Punsch verabfolgt wurde. Auch die Hunde und die
kleinen Kinder des Wirtes erschienen bei den Gästen, von denen sie dann
geliebkost und gestreichelt wurden, die Kinder wie die Hunde. Alle waren
sie miteinander bekannt und alle achteten sie sich gegenseitig. Und wenn
die Gäste sich in das Lesen deutscher Zeitungen vertieften, so ertönte
aus der Wohnung des Wirtes der liebe Augustin, gespielt auf einem alten
Klimperkasten, von der ältesten Tochter, einem frischen, blondlockigen
Mädchen, das an eine weiße Maus erinnerte. Besonders gern hatten es
alle, wenn sie Walzer spielte. Ich selbst ging immer in den ersten Tagen
des Monats zu Müller, um dort russische Monatsschriften zu lesen.

Als ich heute in die Konditorei trat, sah ich den Alten bereits am
Fenster sitzen und den Hund wie immer zu seinen Füßen. Schweigend setzte
ich mich in eine Ecke und stellte mir selbst die Frage: „Warum bin ich
hierhin gekommen, wo ich doch nichts zu suchen habe?“ Krank, wie ich
mich fühlte, hätte ich nach Hause gehen, einen heißen Tee trinken und
mich schlafen legen sollen. „Bin ich denn wirklich hierher gekommen, um
den Alten anzugaffen?“ Ich ärgerte mich. „Was geht er mich an,“ dachte
ich und erinnerte mich der krankhaften und sonderbaren Empfindung, die
der Alte auf der Straße in mir hervorgerufen hatte. Und was habe ich mit
all diesen langweiligen Deutschen zu tun? Wozu diese phantastische Idee?
Wozu diese Erregung wegen nichts, die mich in letzter Zeit so
beherrscht, ja mich nicht leben läßt und meine klare Anschauung über das
Leben verwirrt? Trotz aller dieser Vorstellungen blieb ich doch wie
angewurzelt auf der Stelle sitzen, während der Schüttelfrost in mir
immermehr zunahm und ich das warme Zimmer jetzt erst recht nicht mehr
verlassen mochte. Ich nahm die Frankfurter Zeitung, las ein paar Zeilen
und schlief ein. Die Deutschen störten mich nicht dabei. Sie lasen oder
rauchten und teilten sich nur hin und wieder mit abgebrochener und
halblauter Stimme eine Neuigkeit aus Frankfurt mit, oder irgend einen
Witz aus dem berühmten deutschen Witzblatt Satyr, worauf sie sich dann
mit verdoppeltem Nationalstolz von neuem ins Lesen vertieften.

Ich mag wohl eine halbe Stunde geschlafen haben, als mich plötzlich ein
starker Fieberschauer aufriß. Es war wirklich an der Zeit, nach Haus’ zu
gehen! Eine stumme Szene jedoch, die sich gerade in diesem Augenblick im
Raume abspielte, hielt mich noch einmal davon zurück. Ich habe bereits
gesagt, daß der Alte, nachdem er sich niedergesetzt, immer sofort seinen
Blick auf einen Punkt heftete und ihn den ganzen Abend unverwandt auf
denselben Gegenstand geheftet hielt. Auch mir passierte es einmal, daß
dieser gedankenlose, starre und nichts unterscheidende Blick auf mich
fiel: ein unangenehmes, ja unerträgliches Gefühl überkam mich und ich
wechselte so schnell als möglich meinen Platz. Dieses Mal war das Opfer
des Alten ein kleiner, außerordentlich sorgsam gekleideter Deutscher mit
steif gestärktem hohen Kragen, und einem feuerroten Gesicht, ein
angereister Kaufmann aus Riga, Adam Iwanowitsch Schulz, wie ich später
erfuhr, ein Freund Müllers, dem der Alte und viele von den anderen
Gästen unbekannt war. Als dieser mit großem Genuß den „Dorfbarbier“
gelesen und seinen Punsch getrunken, erhob er seinen Kopf und bemerkte
plötzlich den unbeweglich auf ihn gerichteten Blick des Alten. Das
machte ihn stutzig. Adam Iwanowitsch war ein sehr empfindlicher Mensch,
wie überhaupt alle „anständigen“ Deutschen. Er fand es sonderbar und
beleidigend, daß man ihn so ungeniert ununterbrochen ansehen konnte. Mit
unterdrücktem Unwillen wandte er sich von dem „aufdringlichen“ Alten ab,
murmelte etwas in den Bart und verbarg sich hinter die Zeitung. Er hielt
es jedoch nicht lange aus, schon nach zwei Minuten schielte er über die
Zeitung hinweg: und wieder traf ihn derselbe starre, gedankenlose Blick.
Adam Iwanowitsch schwieg auch noch dieses Mal. Als es ihm aber zum
dritten Male passierte, da sprang er auf. Er hielt es für seine Pflicht
und Schuldigkeit, als Repräsentant der schönen Stadt Riga, als der er
sich fühlte, seine angegriffene Ehre zu verteidigen. Mit einer
ungeduldigen Bewegung klopfte er mit dem Zeitungsstock energisch auf den
Tisch, und noch röter vor Selbstgefühl und Punsch richtete er seine
kleinen, flammenden Augen auf den verdrießlichen Alten. Beide, schien
es, der Deutsche wie der Alte, wollten es auf die magnetische Kraft
ihrer Blicke ankommen lassen und einer den andern zwingen, den Blick
zuerst zu senken. Das Klopfen mit dem Zeitungsstock und die exzentrische
Haltung Adam Iwanowitschs erregte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden.
Ein jeder ließ von seiner Beschäftigung und beobachtete mit ehrbarer,
schweigsamer Neugier die beiden Gegner. Die Szene begann sehr komisch zu
werden. Der Magnetismus der herausfordernden Augen Adam Iwanowitschs war
jedoch umsonst verschwendet. Der Alte, den nichts bekümmerte, fuhr fort,
auf den außer sich geratenen Herrn Schulz zu starren und bemerkte
überhaupt nicht, als wäre er auf dem Monde statt auf der Erde gewesen,
daß er der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit wurde. Endlich riß Adam
Iwanowitsch die Geduld und er platzte heraus:

„Warum starren Sie mich so an?“ rief er auf deutsch mit scharfer,
durchdringender Stimme und drohender Miene.

Doch sein Gegner blieb stumm, als hätte er die Frage überhaupt nicht
gehört. Adam Iwanowitsch entschloß sich russisch zu sprechen.

„Ich frage Sie, warum Sie auf mich so sehen?“ rief er mit verdoppelter
Heftigkeit. „Ich, bei Hofe bekannt, und Sie nicht bei Hofe bekannt!“
fügte er hinzu und sprang vom Stuhl auf.

Doch der Alte rührte sich nicht einmal. Unter den Deutschen erhob sich
ein unwilliges Gemurmel. Der Wirt, durch den Lärm aufmerksam geworden,
trat hinzu. Als er erfahren, um was es sich handelte, beugte er sich ans
Ohr des Alten, weil er dachte, er wäre taub.

„Herr Schulz bittet Sie höflichst, nicht ihn anzusehen,“ rief er so laut
als möglich, den unbegreiflichen Alten scharf beobachtend.

Der Alte blickte mechanisch zu ihm auf und plötzlich gewahrte man auf
seinem unbeweglichen Gesicht den Ausdruck eines Gedankens und eine
gewisse ängstliche Erregung. Er schien verwirrt, beugte sich ächzend
nach seinem Hut, griff eilig nach seinem Stock, erhob sich vom Stuhl mit
einem gewissen wehleidigen Lächeln, dem verschämten Lächeln eines Armen,
der von einem Platze gewiesen wird, der ihm nicht zukommt und bereitete
sich vor, das Zimmer zu verlassen. In dieser stillen ergebenen Eile des
armen, zerbrechlichen Greises lag so vieles, was Mitleid erregte, so
vieles, was einem das Herz in der Brust erbeben ließ, daß alle Gäste,
selbst Adam Schulz nicht ausgenommen, sofort ihre Haltung änderten. Es
wurde allen klar, daß der Alte nicht nur nicht jemanden habe beleidigen
wollen, sondern selbst fühlte, daß man ihn jeden Augenblick wie einen
Bettler hätte davonjagen können.

Müller war ein guter und mitfühlender Mensch.

„Nein, nein,“ rief er aus, dem Alten beschwichtigend auf die Schulter
klopfend. „Herr Schulz bat Sie nur höflichst, nicht ihn anzusehen. Er
ist bei Hofe ...“

Doch der Arme verstand ihn auch jetzt nicht; er beeilte sich noch mehr
als vorhin, fortzukommen, bückte sich nach seinem alten, blauen,
durchlöcherten Taschentuch, das ihm aus dem Hut gefallen war, und rief
seinen Hund; dieser war unbeweglich auf dem Fußboden liegen geblieben,
scheinbar fest eingeschlafen, die Schnauze zwischen beiden Pfoten.

„Asorka, Asorka!“ rief er ihm mit bebender, greisenhafter Stimme zu,
„Asorka!“

Doch Asorka bewegte sich nicht.

„Asorka, Asorka!“ wiederholte kläglich der Alte und berührte den Hund
mit seinem Stock, um ihn zu wecken, doch dieser blieb unbeweglich.

Der Stock entfiel seinen Händen. Er kniete nieder und ergriff mit beiden
Händen den Kopf seines Hundes. Armer Asorka! Er war tot. Er war lautlos
zu den Füßen seines Herrn verendet, vielleicht vor Alter, oder wer weiß,
vielleicht verhungert. Der Alte sah einen Augenblick wie erstarrt auf
ihn, als könne er nicht begreifen, daß Asorka tot war; langsam beugte er
sich zu seinem alten Freunde und Diener nieder und preßte sein
leichenblasses Gesicht an den leblosen Kopf des Hundes. Eine Minute
dauerte das Schweigen ... alle waren tief davon ergriffen ... endlich
richtete sich der Arme auf, er war kreideweiß und bebte am ganzen
Körper.

„Man kann ihn ausstopfen,“ bemerkte der gutmütige Herr Müller, um den
Alten in irgend einer Weise zu trösten. „Man kann gut ausstopfen; Fedor
Karlowitsch Krüger versteht gut auszustopfen. Fedor Karlowitsch Krüger
ist großer Meister auszustopfen,“ bekräftige Müller noch seine Aussage,
und überreichte dem Alten den Stock, den er aufgehoben hatte.

„Ja, ich kann gut machen ausstopfen,“ lobte sich selbst, bescheiden
vortretend, Herr Krüger.

Das war ein langer, hagerer, gutmütiger Deutscher, mit roten, zerwühlten
Haaren und einer Brille auf der stark gebogenen Nase.

„Fedor Karlowitsch Krüger hat große Talent, um wundervoll auszustopfen,“
fügte wieder Müller hinzu, der sich für seine Idee zu begeistern anfing.

„Ja, ich habe große Talent, um auszustopfen,“ bekräftigte seinerseits
von neuem Herr Krüger, „und ich werde Ihnen umsonst ausstopfen Ihren
Hund,“ fügte er in einem Anfall von Selbstaufopferung hinzu.

„Nein, ich Ihnen bezahlen dafür, daß Sie machen ausstopfen!“ schrie Adam
Iwanowitsch Schulz, flammend vor Begeisterung, da er sich für die
unschuldige Ursache des Unglücks hielt.

Der Alte hörte allen zu, augenscheinlich ohne etwas zu begreifen und
zitterte noch immer am ganzen Körper.

„Warten! Trinken Sie ein Gläschen kuten Kognak!“ rief Müller, als er
sah, daß der rätselhafte Gast sich anschickte, fort zu gehen.

Man brachte den Kognak. Mechanisch nahm der Alte das Gläschen, doch
zitterten seine Hände, und bevor er es an die Lippen geführt, hatte er
die Hälfte verschüttet. Ohne einen Tropfen zu trinken, legte er das Glas
zurück auf den Teller. Darauf lächelte er so sonderbar, so ganz verloren
und verließ eilig, ohne Asorka, die Konditorei. Alle waren ganz
verwundert.

„Was für eine Geschichte!“ hörte man sie ausrufen.

Ich aber stürzte dem Alten nach. Einige Schritte rechts von der
Konditorei lag eine kleine Gasse, finster und eng, zwischen hohen
Häuserfassaden. Etwas sagte mir, der Alte müsse sich durchaus dahin
begeben haben. Das zweite Haus rechts in der Gasse war im Bau begriffen
und mit hohen Holzgerüsten umstellt. Der Bretterzaun, der das Haus
umgab, nahm die Hälfte der Gasse ein. Längs dem Zaun war ein Holzsteg
für Fußgänger: Hier, in der dunklen Ecke, die vom Bretterzaun ums Haus
gebildet wurde, traf ich den Alten. Er saß auf dem Holzsteg für
Fußgänger, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Kopf in die Hände
gedrückt. Ich setzte mich neben ihn.

„Hören Sie mich an,“ begann ich, ohne recht zu wissen, was ich sagen
sollte. „Trauern Sie nicht um Asorka. Kommen Sie, ich führe Sie nach
Haus. Ich werde gleich eine Droschke nehmen. Wo wohnen Sie?“

Der Alte antwortete nichts. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. In der
Gasse war niemand zu sehen. Plötzlich packte er mich an dem Arm.

„Ich ersticke!“ rief er mit heiserer, kaum hörbarer Stimme. „Luft!“

„Kommen Sie, gehen wir nach Haus!“ rief ich, erhob mich und versuchte
ihn aufzuheben, „Sie werden Tee trinken und sich zu Bett legen ... Ich
werde sofort eine Droschke nehmen ... einen Arzt rufen ... ich kenne
einen Arzt ...“

Ich weiß nicht mehr, was ich noch alles auf ihn einsprach. Er wollte
sich erheben, und richtete sich ein wenig auf, doch fiel er gleich
wieder zurück und murmelte etwas vor sich hin, mit erstickter Stimme.
Ich beugte mich zu ihm nieder, um ihn hören zu können.

„Auf Wassilij-Ostroff ... sechste Linie ... sechste Linie,“ röchelte der
Alte.

Er verstummte.

„Sie leben auf Wassilij-Ostroff? Weshalb gingen Sie denn nach rechts,
statt nach links? Ich werde Sie gleich hinführen ...“

Der Alte bewegte sich nicht mehr. Ich ergriff seine Hand; die Hand fiel
leblos nieder. Ich blickte ihm forschend ins Gesicht, ich betastete ihn,
– auch er war tot. Mir schien alles wie ein Traum.

Dieses Erlebnis machte mir viel zu schaffen, und in der Erregung schwand
mein Fieber. Die Wohnung des Alten wurde bald gefunden. Er lebte
indessen nicht auf Wassilij-Ostroff, sondern zwei Schritt davon
entfernt, wo er gestorben war, im Hause Kluge, unter dem Dach, in der
fünften Etage, in einer Wohnung, die aus einem kleinen Vorraum und einem
großen aber sehr niedrigen Zimmer mit drei fensterartigen Spalten
bestand. Er schien in der größten Armut gelebt zu haben. Seine Möbel
waren ein Tisch, zwei Stühle und ein alter, alter Diwan, hart wie Stein,
aus dem überall der Bast herauskam; ja, selbst diese Möbel schienen noch
dem Hauswirt zu gehören. Der Ofen war ersichtlich lange nicht mehr
geheizt worden; ein Licht war auch nicht zu finden. Ich bin jetzt fest
davon überzeugt, daß der Alte jeden Abend zu Müller ging, um sich zu
wärmen und bei Licht zu sitzen. Auf dem Tisch stand ein leerer, irdener
Krug und lag ein Stück alte Brotkruste. Geld fand man nicht. Auch Wäsche
besaß er nicht. Einer der Anwesenden wollte zu seiner Beerdigung ein
reines Hemd geben. Es war klar, daß er unmöglich allein so hätte leben
können, und daß irgend jemand von Zeit zu Zeit für ihn gesorgt haben
mußte. In der Schublade des Tisches fand man seinen Paß. Der Verstorbene
war Ausländer von Geburt, aber russischer Untertan und hieß Jeremias
Smitt, Maschinist, achtundsiebzig Jahre alt. Auf dem Tisch lagen zwei
Bücher; ein kleines Handbuch der Geographie und das neue Testament in
russischer Übersetzung. Die weißen Ränder der Blätter waren mit
Strichzeichen und Nägelspuren versehen. Diese Bücher erwarb ich mir
später. Man befragte die Bewohner, den Wirt des Hauses, – keiner wußte
etwas über ihn zu berichten. Das Haus hatte sehr viele Einwohner,
meistenteils Handwerker und Deutsche, die Zimmer mit Beköstigung und
Bedienung vermieteten. Der Verwalter des Hauses wußte wenig mehr von dem
Verstorbenen, als daß er für seine Wohnung sechs Rubel monatlich Miete
zahlte, im ganzen vier Monate in der Wohnung lebte und für die letzten
zwei Monate schuldig geblieben war, – so daß man ihn hätte hinausweisen
müssen. Man fragte, ob ihn jemand besucht habe? Doch niemand konnte auch
darüber eine befriedigende Auskunft geben.

„Das Haus sei groß, wie die Arche Noah, ... als ob denn wenig Leute in
ihm wohnten, ... alle seien doch nicht bekannt ...“ Der Hausknecht, der
über fünf Jahre in diesem Hause gedient und sicher etwas über den
seltsamen Mieter hätte aussagen können, war gerade vor zwei Wochen in
sein Heimatsdorf gefahren. Sein Neffe, ein ganz junger Bursche, kannte
noch kaum die Hälfte der Mieter. Ich weiß nicht mehr genau, welches
Endresultat sich aus all diesen Nachforschungen ergab. Der Alte wurde
wenigstens bald darauf beerdigt. Als ich in diesen Tagen wie zufällig
nach Wassilij-Ostroff und in die sechste Linie kam, mußte ich laut
auflachen: was anders konnte ich wohl in ihr vorfinden, als eine
Fassadenreihe allergewöhnlichster Häuser? „Doch warum hatte der Alte
sterbend von Wassilij-Ostroff, sechste Linie gesprochen,“ dachte ich bei
mir. „War es etwa nur Fieberphantasie gewesen?“

Ich sah mir die freigewordene Wohnung Smitts an und sie gefiel mir. Ich
mietete sie. Hauptsächlich des großen Zimmers wegen, wenn es auch so
niedrig war, daß ich mich in der ersten Zeit ständig fürchtete, mit dem
Kopf an die Decke zu stoßen. Übrigens gewöhnte ich mich bald daran. Für
sechs Rubel monatlich hätte ich auch kein besseres Zimmer finden können.
Eine eigene separate Wohnung zu haben, entzückte mich, ich mußte mich
jetzt nur noch nach einer Bedienung umsehen, denn ohne jegliche
Bedienung kann man doch nicht leben. Der Hausknecht wollte in der ersten
Zeit einmal am Tage heraufkommen, um das Notwendigste zu besorgen. „Wer
weiß,“ dachte ich, „vielleicht kommt auch jemand, um nach dem Alten zu
fragen!“ Übrigens waren schon fünf Tage nach seinem Tode vergangen, und
noch hatte sich niemand sehen lassen.


                                  II.

Damals, vor einem Jahre, schrieb ich noch für mehrere Zeitungen Artikel
verschiedener Art und glaubte fest daran, daß es mir einst gelingen
würde, etwas Großes und Schönes zu schaffen. Ich arbeitete zugleich an
einem großen Roman, doch das Ende von allem war – daß ich jetzt im
Krankenhaus liege und wahrscheinlich bald sterben werde. Wenn ich aber
sowieso bald sterben muß, wozu diese Aufzeichnungen?

Unwillkürlich muß ich ununterbrochen an dieses letzte schwerste
Jahr meines Lebens denken. Ich bin gezwungen, alles Erlebte
niederzuschreiben, um nicht aus Gram darüber zu sterben. All die
empfangenen Eindrücke erregen und beschäftigen mich bis zur Qual. Unter
der Feder werden sie immerhin einen ruhigeren, geordneteren Charakter
annehmen, und weniger Hirngespinsten und Alpdrücken ähnlich sein. So
hoffe ich wenigstens. Schon allein die mechanische Beschäftigung des
Schreibens ist viel wert. Es beruhigt, es kühlt das erregte Blut, es
weckt in mir frühere schriftstellerische Gewohnheiten und meine
Erinnerungen und krankhaften Vorstellungen werden in Tätigkeit
umgesetzt, verarbeitet ... Eine famose Idee ... und mit dem Papier kann
man im Krankenhause die Doppelfenster zum Winter bekleben! ...

Doch habe ich meine Erzählung in der Mitte begonnen. Um alles zu
erzählen, muß man von Anfang beginnen. So sei es denn! Übrigens wird ja
meine Autobiographie ganz kurz sein.

Ich bin nicht hier geboren, sondern weit von hier entfernt, im
Gouvernement X. Es ist anzunehmen, daß meine Eltern brave Leute gewesen
sind, nur verwaiste ich schon in frühester Kindheit und wuchs im Hause
Nikolai Ssergejewitsch Ichmenjeffs auf, eines kleinen Gutsbesitzers, der
mich aus Mitleid aufgenommen. Er hatte nur ein einziges Kind, eine
Tochter, Natascha, die drei Jahre jünger war als ich. Wir wuchsen wie
Geschwister auf. O, süße Kindheit! Traurig, wenn man mit 25 Jahren nur
an dich allein mit Begeisterung und Dankbarkeit denken kann! Am Himmel
leuchtete damals eine so helle Sonne – nicht die Sonne Petersburgs.
Mutwillig und fröhlich schlugen unsere kleinen Herzen. Um uns herum
lagen Wiesen und Wälder und kein Gewicht toter Steine lastete auf uns,
wie jetzt. Wie herrlich der Garten und der Park von Wassiljewskoje
waren! Nikolai Ssergejewitsch war nämlich Verwalter des Gutes. In diesem
Garten spielten ich und Natascha, und hinter ihm lag ein großer,
feuchter Wald, in dem wir uns einmal als Kinder verirrten ... Goldene
schöne Zeit! Das Leben schien so lockend und geheimnisvoll, und es war
so süß, es kennen zu lernen. Damals, als hinter jedem Strauch und jedem
Baum etwas Geheimnisvolles und Unbekanntes lebte und die Märchenwelt
sich mit der Wirklichkeit verwebte! In der tiefen Ebene ballte sich der
Abendnebel zu grauen gewundenen Bändern, die sich an die Sträucher
unseres großen steinigen Abhangs hängten. Natascha und ich standen am
Flußufer, hielten uns beide die Hände und sahen mit ängstlicher Neugier
in die tiefe Ferne. Mit gespannter Ungeduld erwarteten wir etwas, das
aus den Nebeln und aus der Tiefe aufsteigen, uns rufen und die
Erzählungen der Njänjä[1] wahr machen würde. Einmal in späteren Jahren
erinnerte ich Natascha daran, wie man uns ein „Kinderbuch“ schenkte und
wir gleich zu unserer Lieblingsbank unter dem dichten alten Ahorn am
Teich liefen, um das Zaubermärchen „Alfons und Delinde“ zu lesen. Auch
jetzt kann ich nicht kaltblütig an die Erzählung zurückdenken und noch
vor einem Jahr zitierte ich Natascha die ersten Zeilen mit Tränen in den
Augen: „Alfons, der Held meiner Erzählung, war in Portugal geboren; Don
Ramir, sein Vater usw.“ Ich muß wohl Natascha etwas sonderbar
vorgekommen sein in meiner Begeisterung, denn sie lächelte so
eigentümlich. Übrigens, zu meiner Beruhigung griff sie auch sofort
selbst die alten Erinnerungen wieder auf, ich erinnere mich noch dessen.
Ein Wort gab das andere, sie selbst begeisterte sich dafür, wir
erzählten uns alles, was wir durchlebt hatten. Es war ein herrlicher
Abend ... Und als man mich in die Gouvernementsstadt in Pension gab ...
Gott, wie sie damals weinte! ... Und unsere letzte Trennung, als ich
Wassiljewskoje auf immer verließ ... Ich hatte das Gymnasium beendet und
begab mich nach Petersburg, um mich zur Universität vorzubereiten. Ich
war siebzehn Jahre alt, sie war im fünfzehnten Jahr. Natascha sagt, daß
ich damals ein so hoch aufgeschossener und linkischer Jüngling war, den
man ohne zu lachen gar nicht ansehen konnte. Beim Abschied wollte ich
ihr noch etwas sehr Wichtiges sagen, doch die Zunge war steif und klebte
wie am Gaumen. Unser Gespräch stockte. Ich wußte nicht, wie ich es ihr
sagen sollte – sie hätte mich vielleicht gar nicht verstanden. Ich
weinte nur bitterlich, als ich fortfuhr, ohne etwas gesagt zu haben. Wir
sahen uns erst lange nachher wieder, hier in Petersburg. Das war vor
zwei Jahren, als der alte Ichmenjeff eines Prozesses wegen hierher
gekommen war und ich meine literarische Tätigkeit kaum begonnen hatte.


                                  III.

Nikolai Ssergejewitsch Ichmenjeff stammte aus einer guten Familie, die
jedoch längst verarmt war. Übrigens hatten ihm seine Eltern noch eine
ganz schöne Besitzung mit hundertfünfzig Seelen hinterlassen. Mit
zwanzig Jahren ging er zu den Husaren. Alles lief gut ab, bis er im
sechsten Jahre seines Dienstes, an einem verhängnisvollen Abend sein
ganzes Vermögen verspielte. Er schlief die ganze Nacht nicht. Am
nächsten Abend erschien er wieder am Spieltisch und setzte das Letzte
ein, was er besaß, – sein Pferd. Die Karte gewann, die zweite, die
dritte und in einer halben Stunde hatte er eines seiner Dörfer, –
Ichmenjeffka mit fünfzig Seelen, wie es sich bei der letzten Revision
ergab – zurückgewonnen. Die hundert Seelen waren auf immer verloren. Am
nächsten Tage reichte er seinen Abschied ein, nach zwei Monaten verließ
er den Dienst im Range eines Leutnants und begab sich auf sein Gütchen.
Von diesem Spielverlust hat er in seinem Leben niemals mehr gesprochen
und hätte, ungeachtet seiner Gutmütigkeit, mit jedem gebrochen, der es
gewagt hätte, ihn daran zu erinnern. Auf dem Gute beschäftigte er sich
fleißig mit der Wirtschaft und als er fünfunddreißig Jahre alt war,
verheiratete er sich mit einer armen Adeligen, Anna Andrejewna
Schumilowa, die ihm nichts mitbrachte, die aber in einem Adelspensionat
bei einer Emigrantin, einer Mont-Revèche, erzogen worden war, obgleich
niemand hätte sagen können, worin diese gute Erziehung bestanden.
Nikolai Ssergejewitsch wurde ein vorzüglicher Landwirt. Die benachbarten
Gutsbesitzer kamen zu ihm, um bei ihm zu lernen. Es vergingen einige
Jahre, als plötzlich auf dem benachbarten Gut Wassiljewskoje, ein Gut,
das neunhundert Seelen zählte, aus Petersburg der Besitzer desselben,
Fürst Peter Alexandrowitsch Walkowskij, auftauchte. Seine Ankunft machte
in der ganzen Gegend viel von sich reden. Der Fürst war noch ein Mann in
den besten Jahren, wenn auch nicht mehr ganz jung, von hohem Rang und
bedeutenden Verbindungen, ein schöner Mensch mit großem Vermögen, und
dazu Witwer, was die Damen und jungen Mädchen der ganzen Umgegend
ungemein interessierte. Man erzählte sich von dem glänzenden Empfang,
den ihm der Gouverneur in der Gouvernementshauptstadt, mit dem er
weitläufig verwandt war, bereitet und wie alle Damen durch seine
Liebenswürdigkeit den Verstand verloren usw. usw. Kurz, er war einer der
glänzendsten Vertreter der hohen Petersburger Gesellschaft, die selten
in der Provinz erscheinen, aber wenn sie erscheinen, riesigen Effekt
machen. Indessen gehörte der Fürst nicht zu den liebenswürdigen
Menschen: das zeigte sich besonders denen gegenüber, deren er nicht
bedurfte, oder die seiner Meinung nach unter ihm standen. Er hielt es
auch nicht für nötig, seinen Gutsnachbarn einen Besuch zu machen, und
erwarb sich dadurch viele Feinde. Alle waren deshalb sehr erstaunt, als
es dem Fürsten plötzlich einfiel, Nikolai Ssergejewitsch einen Besuch
abzustatten. Freilich war Nikolai Ssergejewitsch einer seiner nächsten
Nachbarn. Auf die Familie Ichmenjeff machte der Fürst einen großen
Eindruck, er entzückte sie alle beide, insbesondere Anna Andrejewna. In
kurzer Zeit wurden sie die besten Bekannten, er kam alle Tage zu ihnen
und lud sie zu sich ein, erheiterte sie, erzählte ihnen Anekdoten,
spielte ihnen auf ihrem schlechten Klavier vor, sang ... Ichmenjeffs
konnten sich nicht genug wundern, wie man von einem so lieben, guten
Menschen hätte sagen können, daß er ein stolzer, zurückhaltender
trockener Egoist sei – was alle Nachbarn von ihm einstimmig behaupteten!
Man hätte annehmen müssen, daß der Fürst wirklich an Nikolai
Ssergejewitsch, diesem einfachen, offenen und edlen Menschen, Gefallen
gefunden hatte. Übrigens klärte sich das alles bald auf. Der Fürst war
nach Wassiljewskoje gekommen, um seinen Verwalter zu entlassen, einen
Deutschen und Landwirt von großem Selbstbewußtsein, einen Mann, schon
ergraut und mit Brillen auf der gebogenen Nase, der jedoch bei allen
seinen Vorzügen den Fürsten gottverboten bestohlen und einige Bauern
fast zu Tode geprügelt hatte. Iwan Karlowitsch war denn auch endlich auf
seiner Unehrlichkeit ertappt worden, sprach sehr beleidigt von der
deutschen Ehrlichkeit, mußte jedoch ungeachtet dessen das Gut in etwas
entehrender Weise verlassen. Der Fürst hatte jetzt einen Verwalter
nötig, und seine Wahl fiel auf Nikolai Ssergejewitsch, einen
ausgezeichneten Landwirt und ehrlichen Menschen, woran niemand
gezweifelt hätte. Der Fürst hätte es nur sehr gewünscht, daß Nikolai
Ssergejewitsch sich ihm selbst zum Verwalter angeboten. Doch das geschah
nicht, und der Fürst machte ihm eines Tages von sich aus den Vorschlag,
in Form einer freundschaftlich ergebenen Bitte. Ichmenjeff selbst gab
zuerst eine abschlägige Antwort. Doch Anna Andrejewna schien das hohe
Gehalt verlockend, und die verdoppelte Liebenswürdigkeit des Fürsten
zerstreute alle übrigen Bedenken. Der Fürst hatte sein Ziel erreicht. Er
war außerdem ein großer Menschenkenner. Während der kurzen Zeit seiner
Bekanntschaft mit Ichmenjeff hatte er sofort erraten, mit wem er es zu
tun hatte, und wußte, daß man Ichmenjeffs nur auf herzliche und
freundschaftliche Weise dazu bewegen konnte, und daß mit Geld bei ihnen
nichts zu erreichen war. Außerdem hatte er einen Verwalter nötig, dem er
blindlings vertrauen konnte, da er nicht die Absicht hatte, jemals
wieder nach Wassiljewskoje zu kommen. Das Vertrauen von Ichmenjeffs zu
ihm war so stark, daß sie niemals an seiner Freundschaft zu ihnen
gezweifelt hätten. Nikolai Ssergejewitsch gehörte zu diesen guten und
naiv-romantischen Leuten, die bei uns in Rußland so liebens- und
achtenswert sind, was man auch sonst von ihnen sagen mag, und die, wenn
sie einmal jemand gern haben (und Gott weiß wofür), sich ihm mit ihrer
ganzen Seele hingeben, so daß ihre Anhänglichkeit oft geradezu komisch
wirkt.

Es vergingen mehrere Jahre. Das Gut des Fürsten blühte. Die Beziehungen
zwischen dem Besitzer und dem Verwalter des Gutes waren ungetrübte,
beschränkten sich jedoch auf eine trockene, geschäftliche Korrespondenz.
Der Fürst mischte sich in die Obliegenheiten Nikolai Ssergejewitschs
nicht ein, erteilte ihm nur hin und wieder einen Rat, der durch seinen
praktischen Wert und die Sachlichkeit Ichmenjeff in Erstaunen setzte.
Man sah daraus, daß der Fürst kein Freund von unnützen Ausgaben war,
sondern zu sparen verstand. In Verlauf von fünf Jahren schickte er
Nikolai Ssergejewitsch die Bevollmächtigung zum Ankauf eines anderen
schönen und in demselben Gouvernement gelegenen Gutes von vierhundert
Seelen. Nikolai Ssergejewitsch war ganz begeistert. Die Erfolge des
Fürsten, seine Rangerhöhung, seine Laufbahn, nahm er sich so zu Herzen,
als handelte es sich um seinen leiblichen Bruder. Seine Begeisterung
überstieg jedoch alle Grenzen, als der Fürst ihm in einer besonderen
Angelegenheit wirklich ein Zeichen seines außerordentlichen Vertrauens
gab. Es geschah das folgendermaßen ... Übrigens muß ich hier einige
besondere Einzelheiten aus dem Leben des Fürsten Walkowskij erwähnen,
der ja doch zum Teil zu den Hauptpersonen meiner Erzählung gehört.


                                  IV.

Ich erwähnte schon vorhin, daß er Witwer war. Er hatte sehr jung
geheiratet, und zwar – nur des Geldes willen. Von seinen Eltern, die
sich in Moskau vollständig ruiniert hatten, erhielt er so viel als gar
nichts. Wassiljewskoje war verpfändet und über und über verschuldet. Der
zweiundzwanzigjährige Fürst war genötigt, in eine Kanzlei in Moskau
einzutreten, weil er keine Kopeke besaß. Die Ehe mit einer überreifen
Kaufmannstochter rettete ihn aus dieser Situation. Der Kaufmann betrog
ihn natürlich bei der Mitgift, doch konnte er immerhin mit dem Gelde
seiner Frau das elterliche Gut kaufen und auf die Füße stellen. Die
Kaufmannstochter, die er geheiratet, verstand weder zu lesen noch zu
schreiben und konnte beim Sprechen kaum zwei Worte miteinander
verbinden; außerdem war sie sehr häßlich, doch hatte sie einen großen
Vorzug, sie war gut und fügte sich in alles. Der Fürst nützte diesen
Vorzug auch vollkommen aus; nach dem ersten Jahre der Ehe, als seine
Frau ihm einen Sohn gebar, ließ er sie bei ihrem Vater in Moskau und
siedelte selbst in ein anderes Gouvernement über, wo er durch die
Protektion eines hohen Petersburger Verwandten einen bedeutenden Posten
erhielt. Seine Seele dürstete nach Auszeichnungen und einer glänzenden
Laufbahn und da er sich sagen mußte, daß er mit seiner Frau weder in
Petersburg noch in Moskau leben konnte, so beschloß er, in Erwartung
eines Besseren, seine Karriere in der Provinz zu beginnen. Man erzählte
sich, daß er im ersten Jahre der Ehe seine Gemahlin durch Mißhandlungen
fast zu Tode gequält hätte. Dieses Gerücht erregte den Zorn Nikolai
Ssergejewitschs und er verteidigte den Fürsten eifrig, den er solcher
rohen Handlungsweise nicht für fähig hielt.

Endlich, nach siebenjähriger Ehe starb die Fürstin, und ihr verwitweter
Gemahl siedelte jetzt sofort nach Petersburg über. Hier machte er von
sich reden. Schön, jung, vermögend, mit glänzenden Eigenschaften begabt,
geistreich, geschmackvoll, unerschöpflich heiter, trat er hier nicht als
armer Glückssucher auf, sondern als eine blendende Erscheinung. Man
erzählte sich, daß etwas Starkes, Siegreiches, ja ein unwiderstehlicher
Zauber von ihm ausging. Er gefiel den Frauen außerordentlich, und ein
Abenteuer mit einer Schönheit der hohen Gesellschaft brachte ihm denn
auch glücklich einen skandalösen Ruhm ein. Ungeachtet seiner angeborenen
Sparsamkeit warf er mit Geld um sich, verlor große Summen im Spiel, ohne
eine Miene zu verziehen. Doch nicht darum war er nach Petersburg
gekommen, um sich zu vergnügen: ihm war es darum zu tun, seine Karriere
zu einem glänzenden Abschluß zu führen. Und das erreichte er. Ein hoher
Verwandter, Graf Nainskij, der ihm seine Aufmerksamkeit nicht geschenkt
hätte, wäre er als gewöhnlicher Bittender zu ihm gekommen, hielt es,
entzückt durch die Erfolge des Fürsten in der Gesellschaft, für nötig,
dessen siebenjährigen Sohn zur Erziehung in sein Haus zu nehmen. In die
Zeit fiel die Fahrt des Fürsten nach Wassiljewskoje und seine
Bekanntschaft mit Ichmenjeff. Durch Vermittlung des Grafen erhielt er
dann eine bedeutende Stellung an einer der wichtigsten Gesandtschaften
und begab sich ins Ausland. Ungenaue, dunkle Gerüchte drangen bis zu uns
in die Heimat: man sprach von einem unangenehmen Konflikt im Auslande,
doch konnte niemand sagen, worin er bestanden. Tatsache war damals nur
der Kauf des Gutes von vierhundert Seelen, von dem ich bereits erzählt
habe. Nach mehreren Jahren kehrte er dann mit erhöhtem Rang aus dem
Auslande zurück und erhielt sofort einen bedeutenden Posten in
Petersburg. In Ichmenjeffka verbreitete sich die Nachricht, daß er sich
zum zweitenmal zu verheiraten beabsichtige, und zwar mit einer Tochter
aus bedeutendem alten Adelsgeschlecht. Nikolai Ssergejewitsch rieb sich,
außer sich vor Vergnügen, die Hände.

Ich besuchte damals gerade in Petersburg die Universität und erinnere
mich noch, daß Ichmenjeff sich mit der Bitte an mich wandte,
Erkundigungen über die Vermählung des Fürsten einzuziehen. Er hatte auch
an den Fürsten geschrieben und um seine Protektion für mich gebeten,
doch ließ der Fürst diesen Brief unbeantwortet. Ich wußte nur, daß sein
Sohn, der zuerst beim Grafen erzogen wurde und dann das Lyzeum besuchte,
im Alter von neunzehn Jahren sein erstes Examen machte. Ich teilte dies
Ichmenjeff mit und fügte hinzu, daß der Vater seinen Sohn sehr liebe,
sehr verwöhne und schon jetzt um seine Zukunft besorgt sei. Ich hatte es
von anderen Studenten, meinen Kameraden erfahren, die den jungen Fürsten
kannten. Um diese Zeit erhielt Nikolai Ssergejewitsch eines schönen
Tages einen Brief vom Fürsten, der ihn außerordentlich verwunderte ...

Der Fürst, der sich bis dahin, wie ich schon erwähnte, in seinen
Beziehungen zu Nikolai Ssergejewitsch nur auf eine trockene
Geschäftskorrespondenz beschränkte, schrieb ihm jetzt plötzlich in
ausführlicher, aufrichtiger und freundschaftlicher Weise über seine
Familienangelegenheiten, beklagte sich über seinen Sohn, wie sehr dieser
ihm durch seine schlechte Aufführung Sorgen mache ... Freilich müsse man
die Unarten eines Knaben nicht allzu ernst nehmen, (er bemühte sich
offenbar, ihn zu rechtfertigen) doch habe er beschlossen, seinen Sohn
dafür zu strafen und ihn auf einige Zeit zu Ichmenjeffs ins Dorf zu
schicken. Er schrieb ferner, daß er sich ganz auf seinen „guten, edlen
Nikolai Ssergejewitsch verlasse, im besonderen aber auf Anna
Andrejewna,“ bat sie beide, seinen Jungen in die Familie aufzunehmen,
ihn in der Einsamkeit zu Vernunft zu bringen, wenn möglich, ihn zu
lieben und vor allem aber seinen leichtsinnigen Charakter zu bessern und
„ihm heilsame, strenge, im menschlichen Leben so notwendige Gesetze“
einzuflößen. Es versteht sich, daß der alte Ichmenjeff sich in allem
Ernst und mit Begeisterung der Sache annahm. Der junge Fürst erschien
und wurde wie ihr eigener Sohn von ihnen aufgenommen. In kurzer Zeit
gewann ihn Nikolai Ssergejewitsch so lieb, wie seine Tochter Natascha;
auch nachher, nach vollkommenem Bruch mit dem Fürsten, gedachte der alte
Ichmenjeff mit besonderer Freude seines Aljoscha, wie er gewohnt war,
den Fürsten Alexei Petrowitsch zu nennen. Dieser war in der Tat ein
reizender Jüngling: schön, schwach und nervös wie eine Frau, doch
harmlos und gutmütig, liebenswürdig und hochherzig, – so wurde er der
Abgott des ganzen Hauses. Ungeachtet seiner neunzehn Jahre war er noch
ein vollständiges Kind. Man konnte es gar nicht begreifen, warum der
Vater ihn fortgeschickt hatte, der ihn, wie alle behaupteten, doch so
sehr liebte. Man sagte, daß der Junge in Petersburg sich sehr
leichtsinnig aufgeführt, nichts getan und sich auch mit nichts habe
beschäftigen wollen, was den Vater sehr erzürnt hätte. Nikolai
Ssergejewitsch fragte Aljoscha nicht weiter darüber aus, da der Fürst
selbst ihm den wahren Grund nicht mitgeteilt hatte. Dazu liefen Gerüchte
um von dem leichtsinnigen Verhältnis Aljoschas zu einer Dame, von einer
Herausforderung zum Duell, von einem kolossalen Spielverlust, das
Gerücht ging sogar so weit, daß es ihm nachsagte, er habe fremdes Geld
unterschlagen. Wieder andere behaupteten, daß der Fürst seinen Sohn nur
aus egoistischen Gründen entfernt habe. Die letzte Behauptung empörte
besonders Nikolai Ssergejewitsch, um so mehr, als Aljoscha, der seinen
Vater von Kindheit an nicht gekannt hatte, für ihn schwärmte, ihn
liebte, sich für ihn begeisterte; offenbar war er ganz unter seinem
Einfluß. Aljoscha plauderte zuweilen auch von einer Gräfin, die sie
beide, Vater und Sohn verehrt hatten, und daß sie ihn, Aljoscha,
bevorzugt habe, worüber der Vater sehr erzürnt gewesen wäre. Er erzählte
des öfteren davon in kindlicher Offenherzigkeit und mit hellem Lachen;
doch Nikolai Ssergejewitsch gebot ihm dann jedesmal, zu schweigen.
Aljoscha bestätigte auch das Gerücht, daß der Vater ihn verheiraten
wollte.

Er lebte schon fast ein Jahr in der Verbannung, schrieb von Zeit zu Zeit
dem Vater vernünftige und respektvolle Briefe und hatte sich in
Wassiljewskoje so gut eingelebt, daß, als der Vater im Sommer selbst auf
das Gut kam, (er hatte Ichmenjeff seine Ankunft gemeldet) der Verbannte
den Vater selbst bat, ihn noch einige Zeit in Wassiljewskoje zu lassen,
da das Landleben, wie er versicherte, seine einzige Bestimmung wäre.
Alle Neigungen und Entschlüsse Aljoschas kamen aus einer
außergewöhnlichen, nervösen Empfänglichkeit, aus seinem feurigen Herzen,
aus einer Leichtsinnigkeit, die bis an Gedankenlosigkeit grenzte, aus
der Fähigkeit, sich jedem äußeren Einfluß zu ergeben und aus gänzlicher
Abwesenheit irgendeiner Willenskraft. Der Fürst dagegen verhielt sich
sehr mißtrauisch zu seiner Bitte ... Auch Nikolai Ssergejewitsch konnte
nur mit Mühe seinen früheren „Freund“ wiedererkennen, denn Fürst Pjotr
Alexandrowitsch Walkowskij hatte sich sehr verändert. Er war plötzlich
besonders kleinlich in seinem Verhalten zu Nikolai Ssergejewitsch
geworden; bei der Revision der Rechnungen zeigte er sich mißtrauisch,
habgierig, in gewisser Hinsicht fast geizig. Der gute Nikolai
Ssergejewitsch nahm sich das alles sehr zu Herzen und bemühte sich,
selbst nicht daran zu glauben. Dieses Mal wickelte sich der Besuch in
umgekehrter Folge ab, als vor vierzehn Jahren. Dieses Mal besuchte der
Fürst alle seine vornehmeren Nachbarn, nur zu Nikolai Ssergejewitsch kam
er nie und behandelte ihn wie einen Untergebenen. Und plötzlich geschah
etwas Unbegreifliches: ohne jeglichen Grund kam es zu einem
vollständigen Bruch zwischen dem Fürsten und Nikolai Ssergejewitsch.
Heftige, erregte Worte, die beiderseits gefallen waren, hatte man beiden
hinterbracht. Ichmenjeff verließ sofort Wassiljewskoje, doch war die
Geschichte damit noch nicht zu Ende. In der ganzen Umgegend erzählte man
sich die schrecklichsten Klatschgeschichten. Man behauptete, Nikolai
Ssergejewitsch habe den Charakter und die Fehler des jungen Fürsten zu
seinen Gunsten auszunützen verstanden; seine Tochter Natascha (die
damals siebzehnjährige) habe den zweiundzwanzigjährigen Junker in sich
verliebt gemacht, und beide, der Vater wie die Mutter förderten diese
Liebe, indem sie sich das Ansehen gaben, als bemerkten sie nichts, vor
allem nicht, daß die schlaue und „sittenlose“ Natascha diesen noch ganz
jungen Menschen das ganze Jahr über, durch ihre Bemühungen, der
Bekanntschaft aller benachbarten „anständigen“ Fräulein aus guter
Familie entzogen habe. Man behauptete endlich, daß zwischen den
Liebenden die Trauung im Dorfe Grigorjeff, fünfzehn Werst von
Wassiljewskoje entfernt, heimlich schon verabredet worden sei, und daß
die Eltern dabei Natascha mit guten Ratschlägen unterstützt hätten.
Kurz, ein ganzes Buch hätte das nicht zu fassen vermocht, was die
Gouvernementsklatschbasen beiderlei Geschlechts bei Gelegenheit dieser
Geschichte sich ausdenken konnten. Ich wundere mich nur, daß der Fürst
ihnen Glauben geschenkt hatte und tatsächlich infolge eines anonymen
Briefes aus der Provinz nach Wassiljewskoje gekommen war.
Selbstverständlich hätte niemand, der Nikolai Ssergejewitsch wirklich
kannte, diesen Geschichten Glauben schenken können, doch statt dessen,
wie das so zu geschehen pflegt, ereiferten sie sich alle, schüttelten
die Köpfe und ... verurteilten ihn auf immer und endgültig. Ichmenjeff
war viel zu stolz, um sich und seine Tochter vor diesen Klatschbasen zu
rechtfertigen und befahl auch strengstens Anna Andrejewna, sich den
Nachbarn gegenüber in keine Erklärungen einzulassen. Natascha selbst,
die vielverleumdete, erfuhr von alledem nichts, wußte kein Wort von
diesen Klatschereien. Man verheimlichte vor ihr die ganze Geschichte und
so blieb sie heiter und unschuldig, wie ein Kind.

Der Konflikt spitzte sich indessen immer mehr und mehr zu. Diensteifrige
Geister ruhten nicht und brachten es so weit, den Fürsten davon zu
überzeugen, daß die langjährige Verwaltung des Gutes sich keineswegs
durch musterhafte Ehrlichkeit ausgezeichnet hatte. Und nicht genug: vor
drei Jahren sollte Nikolai Ssergejewitsch beim Verkauf eines Wäldchens
zwölftausend Rubel für sich behalten haben, was durch die allerklarsten
Beweise vor Gericht bezeugt werden könnte, um so mehr, als er zum
Verkauf des Wäldchens keine gesetzliche Vollmacht des Fürsten besaß,
sondern dabei aus eigener Initiative gehandelt hätte, um dann erst
hinterher den Fürsten von der Notwendigkeit des Verkaufes zu überzeugen
und ihm eine geringere Summe als die für das Wäldchen erhaltene
einzuhändigen. Alle diese Verleumdungen entbehrten selbstverständlich
jeglicher Basis, wie es sich in der Folge klar auswies, doch
nichtsdestoweniger hatte der Fürst ihnen Glauben geschenkt und in
Gegenwart von Zeugen Nikolai Ssergejewitsch einen Dieb genannt.
Ichmenjeff brauste auf und schleuderte ihm eine gleich kräftige
Beleidigung zurück. Es kam zu einer furchtbaren Szene, die dann zu einem
Prozeß führte. Nikolai Ssergejewitsch, der keine genügenden
schriftlichen Beweise hatte, und was die Hauptsache war, keine
Protektion und keine Erfahrung in Gerichtssachen besaß, verlor den
Prozeß sofort, in der ersten Instanz. Sein Gut wurde beschlagnahmt. Der
erschütterte Alte aber ließ alles liegen und siedelte nach Petersburg
über, um für seine Sache persönlich zu wirken. Sein Gut überließ er
einem Sachverständigen. Dem Fürsten freilich schien es bald klar
geworden zu sein, daß er Ichmenjeff grundlos beleidigt hatte. Doch waren
beiderseits solche Kränkungen gefallen, daß von einem friedlichen
Ausgleich nicht mehr die Rede sein konnte und der erbitterte Fürst auch
seinerseits alles tat, um die Sache zu seinen Gunsten zu wenden, das
heißt, seinem früheren Verwalter das letzte Stück Brot zu nehmen.


                                   V.

So waren denn Ichmenjeffs nach Petersburg übergesiedelt.

Über mein Wiedersehen mit Natascha will ich mich weiter nicht
verbreiten. Ich hatte sie in diesen vier langen Jahren nicht vergessen,
im Gegenteil, ich hatte nur zu oft an sie gedacht. Natürlich war ich mir
selbst nicht völlig im klaren über jenes eigentümliche Gefühl, mit dem
ich an sie zurückdachte; als wir uns dann aber wiedersahen, erriet ich,
daß das Schicksal sie für mich bestimmt hatte. In der ersten Zeit schien
es mir, daß sie sich in diesen Jahren wenig entwickelt habe, ich dachte,
sie sei dasselbe kleine Mädchen geblieben, das ich früher gekannt hatte.
Dann aber begann ich, mit jedem Tage etwas Neues an ihr zu entdecken,
etwas bis dahin noch nie an ihr Bemerktes, das gleichsam absichtlich vor
mir verborgen worden war, als wolle das Mädchen sich vor mir verstecken
– ... und welch eine Wonne dieses Entdecken war!

Ichmenjeff war in der ersten Zeit nach der Ankunft sehr übel gelaunt und
dementsprechend reizbar. Seine Sache stand ziemlich schlecht, und da
ärgerte er sich denn fortwährend, fuhr aus der Haut, sobald ihm etwas
ungelegen kam, beschäftigte sich den ganzen Tag mit seinen Akten und
Geschäftspapieren und hatte überhaupt wenig Sinn für uns. Anna
Andrejewna dagegen ging umher, als könne sie sich in den neuen
Verhältnissen noch immer nicht und niemals zurechtfinden. Petersburg
ängstigte sie. Sie seufzte und fürchtete sich, weinte und sehnte sich
nach ihrem früheren Leben in Ichmenjeffka, machte sich auch wegen
Natascha Sorgen, da sie doch schon erwachsen sei und dabei so gar keine
Aussicht habe, – kurzum, sie schüttete mit erstaunlicher Offenherzigkeit
ihr ganzes Herz mir aus, freilich nur deshalb gerade mir, weil sie sonst
niemanden hatte, der für solche freundschaftlichen Ergüsse geeigneter
gewesen wäre.

In eben der Zeit, oder vielmehr kurz vor ihrer Ankunft in Petersburg,
hatte ich meinen ersten Roman beendet, jenes Erstlingswerk, mit dem ich
meine Laufbahn begonnen, und als Neuling wußte ich natürlich nicht, wo
ich ihn unterbringen sollte. Bei Ichmenjeffs ließ ich jedoch kein Wort
davon verlauten; sie aber waren mir ernstlich böse darob, daß ich ein
müßiges Leben führte, d. h. weder im Staatsdienst stand, noch sonst wo
eine Anstellung suchte. Der Alte machte mir deshalb mitunter sogar
bittere Vorwürfe, wozu ihn selbstverständlich nur seine väterliche
Zuneigung zu mir bewog. Ich aber schämte mich einfach, ihnen zu sagen,
womit ich mich beschäftigte. Und wie hätte ich ihnen auch so offen sagen
sollen, daß ich überhaupt nicht in Staatsdienst treten, sondern
Schriftsteller werden wolle? Deshalb zog ich es denn auch vor, sie
inzwischen noch zu täuschen, und sagte ihnen, ich fände keine
Anstellung, obgleich ich mich nach Kräften um eine solche bemühte. Der
Alte hatte keine Zeit, mein Tun und Lassen zu beobachten. Ich entsinne
mich noch, wie Natascha mir einmal, nachdem sie ein diesbezügliches
Gespräch zwischen ihm und mir angehört hatte, heimlich einen Wink gab,
ihr ins Nebenzimmer zu folgen, und wie sie mich dann unter Tränen
beschwor, doch an meine Zukunft zu denken, und wie sie mich ins Verhör
nahm: sie wollte wissen, was ich treibe. Und als ich auch ihr nichts von
meiner Schriftstellerei mitteilte, da mußte ich ihr schwören, daß ich
mich nicht als Faulpelz dem Schlendrian ergeben und mich zugrunde
richten würde. Doch wenn ich ihr auch nicht gestand, was ich trieb, so
hätte ich doch – dessen entsinne ich mich noch genau – alle Kritiken,
selbst die schmeichelhaftesten Äußerungen der berühmtesten
Literaturkenner über meinen Roman hingegeben für ein einziges
aufmunterndes Wort von ihr. Eines Tages war dann das Buch endlich
erschienen. Schon lange vor seinem Erscheinen war in Literaturkreisen
viel von dieser Neuerscheinung gesprochen worden. B. hatte sich wie ein
Kind gefreut, als er mein Manuskript gelesen. Nein! wenn ich jemals
glücklich gewesen bin, so war ich es nicht in jener Zeit der ersten
berauschenden Augenblicke meines ersten Erfolges, sondern damals, als
ich mein Manuskript noch niemandem gezeigt, niemandem vorgelesen hatte:
in jenen langen Nächten während der Arbeit, in jener Begeisterung,
zwischen Hoffnungen und Träumen, und in der leidenschaftlichen Liebe zur
Arbeit, als ich mich mit meinen Phantasiegebilden, mit den Menschen, die
ich geschaffen, so eingelebt hatte, als wären es lebende, als wären es
wirkliche Menschen gewesen; ich liebte sie von ganzer Seele, ich teilte
ihr Leid wie ich ihre Freude teilte, mitunter vergoß ich aufrichtige
Tränen über meinen unschlauen, einfältigen Helden. Wie sehr sich die
Alten über meinen Erfolg freuten, läßt sich kaum beschreiben, obschon
sie die Tatsache zuerst vor lauter Verwunderung gar nicht so recht
fassen konnten: sie waren gar zu überrascht. Anna Andrejewna wollte
zuerst überhaupt nicht glauben, daß der neue von allen gerühmte
Schriftsteller – dieser selbe Wanjä wäre, der doch usw., usw., und sie
schüttelte nur in einem fort den Kopf. Auch der Alte ergab sich nicht so
bald, sprach langes und breites von verpfuschter Karriere im
Staatsdienst, sprach auch von dem nicht einwandfreien Lebenswandel der
Schriftsteller im allgemeinen. Doch die immer wieder auftauchenden neuen
Urteile und Gerüchte, die zu ihm drangen, die Besprechungen in den
Tageszeitungen und schließlich einige lobende Äußerungen hochstehender
Persönlichkeiten, denen er alles ehrfurchtsvoll aufs Wort glaubte,
zwangen ihn mit der Zeit doch, seine Auffassung von der Sache zu ändern.
Als er dann gar sah, daß ich plötzlich Geld besaß, und als er erfuhr,
wieviel Geld man mit literarischer Arbeit verdienen konnte, da schwanden
auch seine letzten Zweifel und Bedenken. Als er aber einmal die Zweifel
hatte fahren lassen, da gab er sich sogleich dem vollsten Glauben
überhaupt hin, ja sogar richtiger Begeisterung. Wie ein Kind freute er
sich über mein Glück und bald spann er die schönsten Zukunftsträume,
indem er seiner Phantasie ohne Bedenken die Zügel schießen ließ. An
jedem Tage, den Gott werden ließ, dachte er sich etwas Neues aus,
schmiedete er neue Pläne für mich – und was das für Pläne waren! Er
begann sogar, mir eine gewisse Hochachtung zu bezeugen, was er bis dahin
natürlich nicht getan hatte. Dennoch gab es Augenblicke, in denen wieder
ein Zweifel mißtrauisch sein Haupt erhob und er mitten im begeisterten
Phantasieren inne hielt und mit sich selbst nicht recht im klaren war.

„Hm!“ meinte er dann: „Schriftsteller! Dichter! ’s ist doch sonderbar
... Wann sind denn die Dichter große Männer gewesen, werden sie je
Exzellenz? Weiß Gott, sie sind doch immer nur solche Tintenkleckser, so
’n unzuverlässiges Volk!“

Wie ich bemerkte, kamen ihm diese beunruhigenden Gedanken, die so
kitzlige Fragen aufwarfen, gewöhnlich in der Dämmerung, die für ihn
überhaupt eine gefährliche Stunde zu sein schien: er wurde dann
eigentümlich nervös, empfindsam und mißtrauisch. O, wie gut ich mich
noch dieser ganzen Zeit entsinne! Natascha und ich, wir kannten seine
Schwächen und lächelten im stillen. Ich erzählte ihm literarische
Anekdoten, erzählte, wie Dershawin[2] eine Schnupftabaksdose mit
Golddukaten erhalten und wie die Zarin persönlich Lomonossoff[3] besucht
hatte; erzählte zum Schluß auch noch von Puschkin und Gogol.

„Ja, ja, Freund, ich weiß, ich weiß alles, das ist ja sehr gut und sehr
schön, aber ...“ versetzte der Alte, der diese Geschichten vielleicht
zum erstenmal hörte, „aber ... Hm! Aber weißt du, Wanjä, ich bin doch
froh, daß dein Geschreibsel da nicht in Versen ist. Verse, weißt du,
Freund, die sind doch barer Unsinn; da widersprich du mir nur nicht, das
kannst du mir altem Manne ruhig glauben, ich will ja nur dein Bestes.
Wie gesagt: barer Unsinn, nichts als Zeitverschwendung! Gymnasiasten –
die können noch Verse schmieden, denen kann man es noch allenfalls
gestatten ... Aber im allgemeinen können Verse euch junges Blut nur in
die Irrenanstalt bringen ... Nun ja, gewiß, Puschkin war ein Genie, das
wird niemand bestreiten, doch davon reden wir nicht. Aber immerhin sind
es schließlich doch nur Gedichte, die er geschrieben hat, nichts weiter,
so hm! – ephemerisch nennt man’s wohl ... Übrigens habe ich nur wenig
von ihm gelesen ... Ja Prosa – sieh, das ist etwas ganz anderes! Hier
kann der Verfasser sogar belehren, – na, da, gleichviel ... kann von der
Liebe zum Vaterlande reden, oder so ... na überhaupt, von der Tugend ...
Ja! Ich, weißt du, Freund, ich verstehe mich nur nicht auszudrücken,
aber du begreifst auch so, was? Ich rede ja nur aus Liebe zu dir. Nun,
nun, lies vor!“ schloß er plötzlich mit einer gewissen Gönnerhaftigkeit,
als ich endlich das Buch gebracht und wir uns alle nach dem Tee an den
runden Tisch gesetzt hatten, „also lies mal, was du dort
zusammengeschrieben hast. Es wird ja soviel Aufhebens von dir gemacht!
Jetzt werden auch wir es einmal zu hören bekommen.“

Ich schlug das Buch auf und schickte mich an, mit dem Vorlesen zu
beginnen. Gerade an dem Tage war mein Roman im Druck erschienen, und
nachdem ich endlich ein Exemplar erhalten, war ich sogleich zu
Ichmenjeffs geeilt, um ihnen meinen Erstling vorzulesen.

Wie oft hatte ich mich darüber geärgert, daß ich ihnen das Werk nicht
früher, nicht aus dem Manuskript, das beim Verleger war, vorlesen
gekonnt! Natascha hatte vor Ärger sogar geweint und mir bitter
vorgeworfen, daß jetzt fremde Menschen meinen Roman früher lesen würden
als sie ... Doch da war nun endlich der große Augenblick gekommen. Wir
saßen am Tisch. Der Alte machte ein ungewöhnlich ernstes und kritisches
Gesicht. Er wollte offenbar gewissenhaft zu Gericht sitzen, wollte
unerbittlich streng urteilen, und vor allem „sich selbst überzeugen“.
Die Alte blickte gleichfalls ungemein feierlich drein; fast hätte sie zu
diesem Vortrag ihre neue Haube aufgesetzt. O, sie hatte schon längst
bemerkt, wie zärtlich ich ihren Liebling Natascha betrachtete, daß mir
der Atem stockte und es mir vor den Augen dunkel wurde, wenn ich mit ihr
sprach, und daß auch Natascha mich mit helleren Blicken ansah als
früher. Ja! Endlich war auch diese Zeit angebrochen, gerade im
Augenblick der Erfolge, der goldenen Hoffnungen und des größten Glücks,
– alles zusammen, alles auf einmal! Auch war es ihr nicht entgangen, daß
ihr Alter mich ganz verdächtig zu loben begann und mich und seine
Tochter oft mit so eigenen Augen betrachtete ... aber da erschrak sie:
ich war doch kein Graf, kein Fürst, kein Erbprinz, oder zum mindesten
ein Kollegienrat und Doktor der Rechte, auf dessen junger Brust Orden
glänzten und der eine schöne Erscheinung war! Die gute Anna Andrejewna
liebte es nicht, Halbes zu wünschen.

„Da wird der Mensch nun gelobt und gelobt,“ dachte sie, „weshalb, wofür
aber – das weiß niemand. Schriftsteller! Dichter! – was ist denn aber
solch ein Schriftsteller?“


                                  VI.

Ich las ihnen meinen Roman sogleich bis zum Ende vor. Ich begann nach
dem Tee und las bis zwei Uhr nachts. Der Alte legte zuerst die Stirn in
Falten. Er hatte etwas unerfaßbar Hohes erwartet, etwas, das er
vielleicht überhaupt nicht begreifen könnte: etwas unbedingt Erhabenes
mußte es sein. Statt dessen aber war es plötzlich etwas so Alltägliches
und so längst Bekanntes, – wirklich: ganz wie alles das, was gewöhnlich
um einen herum geschah! Wenn doch der Held wenigstens ein großer oder
interessanter Mensch gewesen wäre, oder wenn ich doch etwas Historisches
geschrieben hätte ^à la^ Roßlawleff oder Jurij Miloßlawskij, aber so!
... Irgend ein kleiner, verschüchterter und sogar ziemlich einfältiger
Beamter, von dessen Uniformrock sämtliche Knöpfe abgefallen sind! – und
alles das noch dazu in einer so einfachen Sprache geschrieben, auf ein
Haar so wie wir selbst sprechen ... Sonderbar! Die Alte blickte fragend
ihren Alten an, setzte sogar eine etwas hochmütige Miene auf, als hätte
ich sie gekränkt. „Nein, lohnt es sich denn, so etwas überhaupt zu
drucken und anzuhören! Und dafür wird noch Geld gezahlt!“ stand auf
ihrem Gesicht geschrieben. Natascha dagegen hörte gierig zu, wandte
keinen Blick von meinem Gesicht; sie hing förmlich an meinen Lippen, sah
wie ich jedes Wort aussprach, und bewegte hin und wieder unbewußt ihre
eigenen reizenden Lippen nach meinem Beispiel. Aber was geschah? Noch
hatte ich nicht bis zur Hälfte gelesen, da standen schon in den Augen
aller meiner Zuhörer – Tränen. Anna Andrejewna weinte aufrichtig,
bemitleidete meinen Helden von ganzem Herzen und wollte ihm in seinem
Unglück beistehen, helfen, was ich aus ihren naiven Ausrufen ersah. Der
Alte hatte bald alle Erwartungen auf hohe und erhabene Dinge fallen
lassen. „Da sieht man gleich, daß es nichts Klassisches ist, eben eine
einfache Erzählung; dafür geht sie auch allen zu Herzen,“ sagte er,
„dafür ist sie verständlich und begreiflich und erklärt einem, was um
uns geschieht, und ist gleichzeitig sozusagen ein Denkmal dieser
Geschehnisse. Dafür erkennt man, daß auch der niedrigste Mensch, mag er
noch so eingeschüchtert und heruntergekommen sein, doch auch ein Mensch
und mein Bruder ist.“

Natascha hörte zu, weinte und drückte mir unter dem Tisch krampfhaft die
Hand, natürlich nur heimlich. Ich hatte den Roman zu Ende gelesen. Sie
erhob sich; ihre Wangen glühten und Tränen glänzten noch an ihren
Wimpern; plötzlich ergriff sie meine Hand, küßte sie und lief aus dem
Zimmer. Die beiden Alten tauschten einen Blick aus.

„Hm! Da sieh mal an, wie begeisterungsfähig sie ist,“ sagte der Alte,
doch etwas verdutzt. „Übrigens hat das nichts zu sagen, es ist sogar
gut, weißt du, sogar sehr gut, ein edler Ausbruch! Sie ist ein gutes
Mädchen ...“ brummte er mit einem Seitenblick auf seine Frau, als wolle
er Natascha in Schutz nehmen und gleichzeitig auch mich rechtfertigen.

Doch Anna Andrejewna blickte jetzt bereits, obschon sie noch kurz zuvor
gerührt und aufgeregt gewesen war, mit einer Miene drein, als wollte sie
sagen: „Das ist ja alles ganz schön und gut, aber weshalb denn davon
soviel Aufsehens machen?“

Natascha kehrte bald zurück, heiter und glücklich, und im Vorübergehen
kniff sie mich heimlich. Der Alte machte sich zwar wieder daran,
„ernstlich“ meinen Roman abzuschätzen, entbehrte aber vor Freude der
nötigen Charakterfestigkeit und ließ sich hinreißen:

„Na, Freund Wanjä, kein Wort zu reden, es ist gut, sogar sehr gut! Hast
uns überrascht, das muß ich sagen! Hast uns sogar so überrascht, wie ich
es gar nicht erwartet hatte. Es ist ja nicht Gott weiß wie hoch und
erhaben, das sieht man ... Da habe ich zum Beispiel die ‚Befreiung
Moskaus‘ – dort auf dem Tisch – ist auch in Moskau verfaßt worden, –
nun, das ist was anderes, da merkt man, Freund, schon an der ersten
Zeile, daß man sich da, wie man so sagt, wie ein Adler emporschwingen
muß, um es zu verstehen ... Aber weißt du, Wanjä, bei dir ist es alles
viel einfacher, viel verständlicher. Sieh, und deshalb gefällt es mir
auch gerade, weil es verständlicher ist. Es ist wie ... wie vertrauter;
als hätte ich das selbst alles erlebt. Das Erhabene aber – was ist denn
das schließlich. Das begreift der Schreiber vielleicht selber nicht.
Aber weißt du, den Stil würde ich an deiner Stelle doch etwas schleifen;
das Buch ist ja gut so, wie es ist, aber sag’ du, was du willst – es ist
eigentlich doch wenig Erhabenes darin ... Na, aber was! – jetzt ist es
zu spät: ist schon gedruckt. Doch in der zweiten Auflage, ginge es da
nicht? Was, Freund, eine zweite Auflage wird’s doch geben? Und dann gibt
es wieder Geld ... Hm!“

„Und Sie haben wirklich so viel Geld bekommen, Iwan Petrowitsch?“ fragte
mich Anna Andrejewna. „Ich muß sagen – ich sehe Sie an und kann’s immer
noch nicht glauben. Ach, du mein Gott, wofür man jetzt alles Geld
zahlt!“

„Weißt du, Wanjä,“ fuhr der Alte fort, indem er und seine Phantasie
immer lebhafter wurden, „das ist zwar kein Staatsdienst, dafür aber doch
eine Laufbahn! Auch hochstehende Persönlichkeiten werden es lesen. Du
sagtest doch, Gogol erhalte eine jährliche Unterstützung und sei ins
Ausland geschickt worden. Was, wenn du nun auch so etwas erhieltest?
Wie? Was meinst du? Oder ist es noch zu früh? Muß dazu noch mehr
geschrieben werden? Nun, dann schreib nur, Freund, schreib nur! Ruh dich
noch nicht auf deinen Lorbeeren aus. Wozu da Zeit versäumen!“

Und er sagte das alles mit so überzeugter Miene, mit einer so gutmütigen
Offenherzigkeit, daß ich mich nicht entschließen konnte, seiner
Phantasie einen Dämpfer aufzusetzen: ich hatte nicht das Herz dazu.

„Oder es wird dir zum Beispiel eine Schnupftabaksdose übersandt ... Was!
Man kann eben auf verschiedene Art seine Anerkennung bezeugen.
Vielleicht will man dir behilflich sein ... Wer weiß, vielleicht wirst
du sogar bei Hofe empfangen werden?“ fragte er fast flüsternd und sah
mich dabei bedeutsam an und zwinkerte mit dem linken Auge, „oder nicht?
Dazu ist’s wohl noch zu früh?“

„Was nicht noch! Nun schon bei Hofe!“ sagte Anna Andrejewna, wie es
schien, für den Hof fast gekränkt.

„Es fehlt nicht viel und Sie erheben mich zum General,“ versetzte ich
von Herzen lachend.

Da begann auch der Alte zu lachen. Er war gut gelaunt.

„Wünschen Exzellenz nichts zu genießen?“ fragte Natascha schelmisch vom
Eßtische her. Dann lachte sie auf, lief zum Vater und umarmte ihn
krampfhaft.

„Du guter, lieber Papa!“

Der Alte war ganz gerührt.

„Nun, nun, schon gut, schon gut! Ich rede ja nur so. General hin oder
General her – aber gehen wir mal jetzt zu Tisch und essen wir etwas. Ach
du, Kleine, sieh mal an, wie leicht du dich rühren läßt!“ sagte er
zärtlich, indem er seiner Natascha die rosige Wange klopfte, was er gern
bei jeder Gelegenheit tat. „Ich habe ja nur aus Liebe zu dir gesprochen,
Wanjä ... Nun, wenn du auch nicht ein General wirst – bis zum General
ist es weit! – aber du bist doch immer eine bekannte Persönlichkeit: ein
Verfasser.“

„Papa, jetzt sagt man Schriftsteller.“

„So? Nicht Verfasser? Das wußt’ ich nicht. Nun, dann meinethalben
Schriftsteller, aber ich wollte nur sagen: zum Kammerherr wird er dafür,
daß er einen Roman geschrieben hat, doch nicht ernannt werden; daran ist
nicht zu denken; aber schließlich kann er auch so auf die Staffel
kommen, zum Beispiel: kann irgend so etwas wie ein Attaché werden, wird
vielleicht ins Ausland geschickt, nach Italien, zur Kräftigung der
Gesundheit, oder sonstwie – zur Vervollkommnung in der Wissenschaft etwa
... dazu kann man ihn mit Geld unterstützen. Versteht sich: das darf nur
in anständiger Weise geschehen, so, daß er auch wirklich etwas dafür
leistet, für das Geld und die Ehrungen, nicht aber so irgendwie durch
Protektion ...“

„Du, werd’ aber dann nur nicht zu stolz, Iwan Petrowitsch,“ unterbrach
ihn lachend Anna Andrejewna.

„Ach, Papa, heften wir ihm doch schnell einen Orden an den Rock, denn
sonst – was ist denn ein Attaché!“

Und wieder kniff sie heimlich meinen Arm.

„Da macht sich der Racker wieder mal über mich lustig!“ rief der Alte
lachend, während seine Augen liebkosend auf seiner Tochter lagen, deren
glänzender Blick und lachende Lippen Glück verrieten. „Ja, wißt ihr,
jetzt merk’ ich selbst, daß ich zu weit gegangen bin, Kinderchen, das
ist nun einmal mein alter Fehler ... Nun weißt du, Wanjä, es wundert
mich doch: du bist ja eigentlich ein ganz gewöhnlicher Mensch, wenn man
dich so ansieht ...“

„Ach, mein Gott! Wie soll er denn sein, Papachen?“

„Nein, nein, das war nicht so gemeint. Ich meine ja nur, Wanjä, daß du
eben ein Gesicht hast ... das heißt so, so ... eben gar kein poetisches
... So, weißt du, ich meine – man sagt doch immer, sie seien so bleich,
die Dichter, so – na ja, mit solchem Haar und in den Augen so was ...
Na, du weißt schon, so wie Goethe etwa oder sonst einer von diesen ...
ich hab’s vor kurzem in einer Zeitschrift gelesen ... Wie? Was? Habe ich
wieder was Falsches gesagt? Da hat der Racker wieder gut lachen über
mich! Worüber lachst du denn? Ich, wißt ihr, ich bin kein Gelehrter, ich
verstehe nur zu – zu fühlen. Na, Gesicht hin, Gesicht her – was ist
schließlich an solch einem Gesicht gelegen! Für mich ist auch dein
Gesicht schon lange gut genug, es gefällt mir sogar sehr ... Das war es
nicht, was ich sagen wollte ... Nur sei du immer ehrlich, Wanjä, sei ein
Ehrenmann, das ist die Hauptsache. Lebe anständig, denke nicht an das
glänzende Äußere, nicht darauf kommt es an! Vor dir liegt ein breiter
Weg. Diene ehrlich deiner Sache; sieh, nur das wollte ich dir sagen,
gerade dieses eine wollte ich dir nur sagen!“

Wundervoll war die Zeit! Alle freien Stunden, alle Abende verbrachte ich
bei ihnen. Dem Alten erzählte ich Neues aus der literarischen Welt und
von der Literatur, für die er sich plötzlich, ich weiß nicht warum, sehr
zu interessieren begann; er las sogar die kritischen Abhandlungen B.s,
von denen ich ihm viel erzählt hatte und die er doch fast überhaupt
nicht verstand, nichtsdestoweniger aber bis zur Begeisterung lobte,
indessen sich bitter über die Feinde B.s beklagte. Die Alte pflegte
eifrig auf mich und Natascha aufzupassen, aber es half doch nichts!
Zwischen uns war schon das entscheidende Wort gefallen, denn Natascha
hatte mit gesenktem Köpfchen und halbgeöffneten Lippen flüsternd „Ja“
gesagt. Dann hatten es die Alten erfahren, sich darüber beraten,
nachgedacht; Anna Andrejewna hatte lange ungläubig den Kopf geschüttelt.
Sonderbar bange war ihr. Sie glaubte nicht an mich.

„Solange Sie Erfolge haben, Iwan Petrowitsch, ist ja alles gut,“ sagte
sie zu mir, „aber wenn der Erfolg ausbleibt – was dann? Wäre es nicht
besser, wenn Sie doch irgendwo in Stellung träten!“

„Hör mal an, Wanjä, was ich dir sagen werde,“ entschied der Alte nach
langem Nachdenken, „ich habe es ja selbst kommen sehen, längst bemerkt
und muß gestehen, daß es mich gefreut hat, du und Natascha ... nun, was
ist denn dabei! Siehst du, Wanjä; beide seid ihr aber noch sehr jung und
meine Anna Andrejewna hat recht. Warten wir. Du, nehmen wir an, hast
vielleicht Talent, bedeutendes Talent ... nun gerade kein Genie, wie sie
da anfangs über dich schrieben, sondern so, einfach ein Talent ... (ich
habe heute eine Kritik über dich in der ‚Biene‘ gelesen; gar zu schlecht
haben sie dich da behandelt; doch was ist denn das auch für eine
Zeitschrift!) Ja! Siehst du: das heißt noch kein Geld auf der Sparkasse
haben, wenn man Talent hat: ihr seid aber beide arm. Warten wir ein
Jährchen oder ein halbes: kommst du inzwischen gut auf deinem Wege
vorwärts – so sollst du sie haben; wenn nicht – so sage dir doch selbst
... du bist ein anständiger Mensch, überlege es dir doch einmal! ...“

Und dabei blieb es! Was aber geschah nach einem Jahr:

Ja, gerade nach einem Jahr! An einem hellen Septembertage, kurz vor
Abend war es, da erschien ich bei meinen Alten, krank, den Tod in Seele
und Körper und sank fast ohnmächtig auf einen Stuhl nieder, so – daß die
beiden, als sie sahen in welchem Zustande ich mich befand, sehr
erschrocken waren. Nicht etwa deshalb schwindelte mir der Kopf und
quälte mich mein Herz, nachdem ich zehnmal an ihre Tür getreten war und
zehnmal mich fortgeschlichen hatte, ohne einzutreten, – nicht deshalb
weil meine literarische Tätigkeit mir keinen Ruhm gebracht und ich kein
Geld besaß; nicht deshalb, weil ich noch kein „Attaché“ geworden und
niemand daran dachte, mich der Gesundheit wegen nach Italien zu
schicken; sondern deshalb, weil man in einem Jahr zehn Jahre durchleben
konnte, und weil auch meine Natascha zehn Jahr in einem Jahr durchlebt
hatte. Eine Ewigkeit lag zwischen uns ... Und ich erinnere mich, wie ich
dasaß vor meinem Alten und schweigend meinen vertragenen Hut zwischen
den Fingern drehte, dasaß und wartete – worauf? Wohl daß Natascha käme?!
Meine Kleidung war vertragen, mein Rock saß mir schlecht, mein Gesicht
war bleich und eingefallen – und doch war ich noch längst nicht einem
Dichter ähnlich und aus meinen Augen flammte kein großer Genius, wie ihn
damals der gute Nikolai Ssergejewitsch geschildert hatte. Die Alte sah
auf mich mit allzu aufrichtigem, allzu bereitwilligem Mitleid und dachte
wohl bei sich:

„Und dieser wäre beinahe Nataschas Verlobter geworden! Gott erhalte und
beschütze uns davor!“

„Iwan Petrowitsch, wünschen Sie vielleicht Tee?“ (Der Samowar kochte auf
dem Tisch.) „Wie geht es Ihnen denn, Väterchen? Ganz krank sehen sie
aus!“ Mir ist, als hörte ich ihre klagende Stimme.

Und vor mir sehe ich sie jetzt noch, wie sie zu mir spricht, eine andere
Sorge auf dem Herzen, die auch ihrem Manne am Herzen nagt, der über
seiner stehengebliebenen Teetasse seinen Gedanken nachging. Ich wußte,
daß sie in diesem Augenblick der Prozeß mit dem Fürsten, der für sie
keine günstige Wendung genommen, sehr beschäftigte, dazu kamen noch
andere Unannehmlichkeiten, die Nikolai Ssergejewitsch tief im Innersten
erregten. Der junge Fürst, der die Ursache der ganzen Geschichte
gewesen, hatte vor fünf Monaten eine Gelegenheit gefunden, Ichmenjeffs
aufzusuchen. Der Alte, der seinen lieben Aljoscha wie seinen eigenen
Sohn gern hatte und sich täglich seiner erinnerte, nahm ihn mit Freuden
auf. Anna Andrejewna wurde an Wassiljewskoje erinnert und brach in
Tränen aus. Aljoscha kam nun immer öfter und öfter, während er seine
Besuche vor dem Vater verheimlichte. Nikolai Ssergejewitsch
wiederum, offen und anständig wie er war, wies alle Bedenken und
Vorsichtsmaßregeln mit Unwillen zurück. Aus Stolz mochte er gar nicht
daran denken, was der Fürst dazu sagen würde, wenn er es erführe, daß
sein Sohn wieder Gast des Hauses Ichmenjeff sei und verachtete innerlich
jeglichen unsinnigen Verdacht. Der Alte überlegte gar nicht, ob er auch
stark genug sein würde, neue Beleidigungen zu ertragen. Der junge Fürst
erschien jetzt jeden Tag und erheiterte durch seine Gegenwart die Alten.
Oft saß er bei ihnen bis in die Mitternacht. Natürlich erfuhr es der
Vater. Es liefen wieder die schrecklichsten Gerüchte um. Der Fürst
schrieb wieder Nikolai Ssergejewitsch wie früher einen schrecklich
beleidigenden Brief über dieses Thema und verbot dem Sohn endgültig den
Besuch bei Ichmenjeffs. Das war ungefähr vor zwei Wochen geschehen. Der
Alte war wieder aufs tiefste erschüttert. Wie! Seine unschuldige edle
Natascha wagte man von neuem in diese schmutzige Geschichte zu
verwickeln! Dieser Mensch wagte es, wie früher ihren Namen in
schimpfliche Verbindung zu bringen ... Und alles das, ohne irgend eine
Genugtuung zu erhalten! In den ersten Tagen erkrankte er vor
Verzweiflung und mußte das Bett hüten. Alles das hatte ich erfahren, die
ganze Geschichte bis in alle ihre Einzelheiten, obgleich ich krank und
gequält in meiner Wohnung lag und drei Wochen lang bei ihnen nicht
erschienen war. Auch wußte ich schon damals ... nein, ich fühlte es
voraus, daß außer dieser Geschichte, sie etwas anderes auf der Welt noch
viel mehr beunruhigen, ja quälen mußte, und sie taten mir leid. Vielmehr
ich quälte mich, fürchtete alles zu erraten und wünschte aus meiner
ganzen Kraft, diese verhängnisvolle Minute aufhalten zu können. Und doch
war ich nur deshalb zu ihnen gekommen. Mich hatte heute etwas geradezu
gezwungen, hinzugehen!

„Ja, Wanjä,“ wandte sich, wie sich plötzlich besinnend, der Alte an
mich, „bist du nicht krank gewesen? Warst lange nicht mehr hier? Ich
wollte mich nach dir erkundigen, aber ich kam nicht dazu ...“

Und er verfiel wieder in Nachdenken.

„Ich war nicht recht gesund,“ antwortete ich.

„Hm! Nicht recht gesund,“ wiederholte er fünf Minuten nachher. „Also
nicht gesund! Habe ich dir damals nicht gesagt, dich gewarnt – du
wolltest nicht hören! Hm! Nein, mein lieber Wanjä: die Muse, die hat
doch immer im Dachstübchen gehungert und da wird sie auch sitzen
bleiben. So ist’s!“

Ja, der Alte war wahrlich nicht bei Laune! Aber wäre er nicht selbst so
tief in seinem Herzen verwundet gewesen, dann hätte er wohl nicht so
hart von der hungernden Muse gesprochen! Ich betrachtete ihn näher:
seine Gesichtsfarbe hatte einen gelben Ton und in seinen Augen lag eine
quälende Frage, die zu beantworten er keine Kraft mehr zu haben schien.
Er war zerstreut, unruhig, und offenbar sehr verbittert. Seine Frau
betrachtete ihn mit Unruhe und schüttelte über ihn heimlich den Kopf.
Als er sich umwandte, machte sie mir ein Zeichen.

„Wie geht es Natalja Nikolajewna? Ist sie zu Haus?“ fragte ich die
besorgte Anna Andrejewna.

„Zu Haus, mein Lieber, zu Haus,“ bestätigte sie, doch ganz, als fiele es
ihr schwer, diese Frage zu beantworten. „Sie wird gleich kommen, um dich
zu begrüßen. Ist es denn ein Spaß, dich drei Wochen nicht zu sehen! Hat
sie sich darum etwa so verändert, man weiß wirklich nicht, ist auch sie
krank oder ist sie gesund! Gott mit ihr!“

Und sie warf einen scheuen Blick auf ihren Mann.

„Wieso? Was soll ihr fehlen?“ warf Nikolai Ssergejewitsch kurz und
abgebrochen ein, „sie ist gesund. Das Mädchen kommt in die Jahre, wo man
die Kinderschuhe auszieht, das ist alles. Wer kann aus diesen
Mädchenlaunen klug werden?“

„Nun ja, jetzt sind’s schon Launen!“ griff Anna Andrejewna in gekränktem
Tone die Bemerkung auf.

Der Alte schwieg und trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch.

„Mein Gott, sollte wirklich schon etwas zwischen ihnen vorgefallen
sein?“ dachte ich mit Schrecken.

„Nun, und wie steht es denn da mit euch?“ begann er von neuem. „Schreibt
B. immer noch seine Kritiken?“

„Ja, er schreibt,“ antwortete ich.

„Ach, Wanjä, Wanjä!“ rief er aus, mit der Hand abwinkend, „was sollen
uns hier die Kritiken!“

Die Tür öffnete sich und herein trat Natascha.


                                  VII.

Sie hielt ihren Hut in der Hand und legte ihn auf das Klavier; darauf
kam sie zu mir und reichte mir schweigend die Hand. Die Lippen zitterten
leise: es schien, als hätte sie mir etwas sagen wollen, doch – sagte sie
nichts.

Drei Wochen hatten wir uns nicht gesehen. Erschrocken sah ich sie an.
Wie hatte sie sich in diesen drei Wochen verändert! Mein Herz krampfte
sich zusammen, als ich diese bleichen Wangen, diese wie im Fieber
zuckenden Lippen sah, und diese Augen, die unter den langen dunklen
Wimpern in leidenschaftlicher Entschlossenheit loderten.

Gott! wie war sie schön! Niemals, weder vorher, noch nachher, habe ich
sie so gesehen wie an diesem verhängnisvollen Abend. War es wirklich
dieselbe Natascha, dasselbe junge Mädchen, das noch vor einem Jahr, als
sie meinem Roman zuhörte, mich mit ihren Augen verschlang und kaum zu
atmen wagte. Und wie konnte sie damals fröhlich sein, wie scherzte und
lachte sie damals mit ihrem Vater und mit mir beim Abendessen!

Dumpfer Glockenklang ertönte zum Abendgottesdienst. Natascha fuhr
zusammen; die Alten bekreuzten sich.

„Du wolltest zum Abendgottesdienst gehen, Natascha, man läutet schon,“
sagte Anna Andrejewna. „Gehe Nataschenka, gehe, das Heil ist nahe! Ja,
gehe an die Luft, was sitzt du so eingeschlossen im Zimmer! Sieh, ganz
bleich bist du!“

„Ich ... gehe vielleicht ... heute nicht,“ sagte Natascha leise, fast
flüsternd. „Ich ... fühle mich nicht wohl,“ fügte sie hinzu und
erbleichte. Sie war weiß wie ein Tuch.

„Besser, du gehst, Natascha, du hast doch die Absicht gehabt, zu gehen,
brachtest deinen Hut mit. Bete zu Gott, Nataschenka, daß er dir
Gesundheit verleihe ...“ beredete sie Anna Andrejewna und sah schüchtern
ihre Tochter an, als fürchtete sie sich vor ihr.

„Ja, ja, gehe, gehe an die frische Luft,“ fügte jetzt auch der Alte
hinzu, der unruhig das Gesicht seiner Tochter betrachtete. „Die Mutter
hat recht. Wanjä wird dich begleiten.“

Mir schien, als glitt ein bitteres Lächeln über Nataschas Lippen. Sie
ging ans Klavier, nahm ihren Hut und setzte ihn auf. Ihre Hände
zitterten, alle ihre Bewegungen schienen ganz unbewußt – ganz als
begriffe sie selbst nicht, was sie tat. Vater und Mutter beobachteten
sie aufmerksam.

„Lebt wohl!“ sagte sie kaum hörbar.

„Mein Engel, wozu sich verabschieden, als wäre der Weg so weit! Sieh,
daß du keinen Zug bekommst; gib acht, wie du bleich bist. Ach! Und ich
habe vergessen (immer vergesse ich alles), ich habe ein kleines Amulett
für dich, mein Engel, habe ein Gebet darin eingenäht. Eine Nonne aus
Kiew hat es mich gelehrt, im vorigen Jahr. Es ist ein Gebet für alles;
erst neulich habe ich es eingenäht. Nimm es, Natascha. Möge Gott dir
Gesundheit schenken. Unser Einziges bist du.“

Und die Alte kramte im Arbeitskästchen und zog das goldene Kreuzchen von
Natascha hervor, an dessen Kettchen sie auch das Amulett gehangen.

„Trage es zu deinem Glück!“ fügte sie hinzu, und hängte das Kreuz der
Tochter um den Hals, sich und sie bekreuzigend. „Es gab eine Zeit, da
bekreuzte ich dich jeden Abend zur Nacht und du sprachst dein Gebet.
Doch jetzt bist du nicht mehr dieselbe und Gott schenkt dir keine Ruh.
Ach, Natascha, Natascha! Auch meine mütterlichen Gebete können dir nicht
helfen.“

Und die Alte fing an zu weinen.

Natascha küßte schweigend ihre Hand; wandte sich dann zur Tür; doch
plötzlich kehrte sie um und ging schnell auf den Vater zu.

„Väterchen, segne auch du ... deine Tochter!“ rief sie mit vor
Schluchzen erstickter Stimme, und kniete vor ihm nieder.

Vor diesem unerwarteten und feierlichen Kniefall standen wir ganz
bestürzt da. Der Vater sah seine Tochter einen Augenblick wie verloren
an.

„Nataschenka, mein Kind, meine Tochter, mein Liebes, was ist mit dir?“
rief er endlich aus und ein Tränenstrom brach aus seinen Augen. „Was
bedrückt dich? Warum weinst du Tag und Nacht? Ich weiß doch alles, ich
schlafe die Nächte nicht und steh vor deiner Zimmertür und horche! ...
Sage mir alles, Natascha, vertraue mir, deinem alten Vater und wir ...“

Er brach ab, hob sie hoch und umarmte sie. Sie preßte sich krampfhaft an
seine Brust und verbarg ihren Kopf an seiner Schulter.

„Nichts, nichts, das ist nur so ... ich bin nicht ganz wohl ...“
bestätigte sie, schluchzend von verhaltenen Tränen.

„Ja, segne dich Gott, wie ich dich segne, mein liebes, mein einziges
Kind!“ sagte der Alte. „Er schenke Frieden deiner Seele und befreie dich
von allem Kummer. Bete zu Gott, mein Kind, damit er mein sündhaft Gebet
erhöre.“

„Und meinen Segen, meinen Segen, über dich!“ fügte die Alte in Tränen
aufgelöst hinzu.

„Lebt wohl!“ flüsterte Natascha.

An der Tür blieb sie noch einmal stehen, sah noch einmal auf beide,
wollte noch etwas sagen, konnte jedoch nichts über die Lippen bringen
und ging rasch aus dem Zimmer. Ich stürzte ihr nach, das Böse ahnend.


                                 VIII.

Sie ging schweigend, schnell, den Kopf gesenkt und sah nicht auf mich.
Als wir die Straße durchschritten und zum Kai kamen, blieb sie stehen
und ergriff meine Hand.

„Es ist so schwül!“ flüsterte sie, „mein Herz ist so beengt ... so
schwül ...“

„Kehre um, Natascha!“ rief ich, außer mir.

„Verstehst du denn wirklich nicht, Wanjä, daß ich auf _immer_ von ihnen
gegangen bin und nie mehr zu ihnen zurückkehren werde?“ Und mit
unaussprechlicher Trauer sah sie mich dabei an.

Mein Herz erbebte. Das hatte ich alles vorausgefühlt, noch bevor ich zu
ihnen ging, schon tagelang vorher, wie im Nebel ... und doch – trafen
mich ihre Worte jetzt wie Donnerschläge.

Wir gingen schweigend den Kai entlang. Ich konnte nichts sagen, nichts
denken, mir schwindelte. Dieser Entschluß schien mir so unmöglich, so
unsinnig!

„Du verurteilst mich, Wanjä?“ sagte sie endlich.

„Nein ... aber, ich kann es nicht glauben; das ist so unmöglich! ...“
antwortete ich, mir kaum bewußt, was ich sagte.

„Nein, Wanjä, es ist schon geschehen! Ich habe sie verlassen und ich
weiß nicht, was aus ihnen werden wird ... ich weiß auch nicht, was aus
mir werden wird!“

„Du gehst zu ihm, Natascha?“

„Ja!“ antwortete sie.

„Das ist doch unmöglich!“ schrie ich außer mir ... „Weißt du denn nicht,
daß es unmöglich ist, Natascha, du meine Arme. Das wäre ja Wahnsinn! Du
tötest sie und dich zugleich! Weißt du denn das nicht, Natascha?“

„Ich weiß es; doch, was soll ich tun, es ist nicht mein freier Wille,“
und in ihrer Stimme klang eine Verzweiflung, als ginge sie zum Tode.

„Kehre um, kehre um, solange es nicht zu spät ist,“ flehte ich sie an,
und um so inständiger bat ich, je hartnäckiger sie schwieg, je mehr ich
selbst die Nutzlosigkeit meines Flehens erkannte. „Begreifst du denn,
Natascha, was du deinem Vater antust? Hast du es dir auch überlegt? Sein
Vater ist doch der Feind deines Vaters. Der Fürst hat doch deinen Vater
erniedrigt und beleidigt, ihn des Diebstahls verdächtigt, er hat ihn
einen Dieb genannt. Sie liegen beide im Prozeß miteinander ... Nun, das
wäre noch nichts! Doch weißt du denn nicht, Natascha ... (o, mein Gott,
du weißt doch alles! ...), weißt du denn nicht, daß der Fürst deinen
Vater und deine Mutter verdächtigt hat, sie hätten selbst eine
Annäherung zwischen dir und Aljoscha aus Berechnung gefördert, als
Aljoscha in Wassiljewskoje euer Gast war? Bedenke doch, stelle es dir
doch nur vor, wie sehr dein Vater unter diesen Verdächtigungen gelitten
hat. Er ist ja in diesen zwei Jahren ergraut – sieh ihn dir doch an!
Doch die Hauptsache: du weißt ja das alles, Natascha, gütiger Himmel!
Ich will schon gar nicht davon reden, ob sie überwinden werden, dich auf
immer zu verlieren! Du bist ja doch ihre einzige Freude, die ihnen für
ihr Alter geblieben. Es lohnt sich ja gar nicht davon zu reden: das mußt
du selbst wissen; sage dir doch, daß der Vater dich unschuldig
verleumdet glaubt von diesen stolzen hochmütigen Menschen! Jetzt, gerade
jetzt ist der alte Haß von neuem entbrannt, weil ihr Aljoscha bei euch
empfangen habt. Der Fürst hat deinen Vater von neuem beleidigt, die
Kränkung brennt noch jetzt im Herzen deiner Eltern, und plötzlich
erscheinen jetzt alle Kränkungen gerechtfertigt! Alle, die von der Sache
gehört haben, werden jetzt dem Fürsten recht und deinem Vater schuld
geben. Was wird jetzt aus ihm werden? Es wird ihn niederschmettern!
töten! Schmach und Schande – und durch wen? Durch dich, seine Tochter,
sein einziges vergöttertes Kind! Und die Mutter? Die wird den Alten doch
nicht überleben ... Natascha, Natascha! Was willst du tun? Kehre zurück!
Besinne dich!“

Sie schwieg; schließlich sah sie mich vorwurfsvoll an, mit einem Blick
so voll bitteren Leides, daß ich begriff, was in ihrem Herzen vorgehen
mußte. Ich begriff, was dieser Entschluß sie gekostet hatte, und daß ich
mit meinen nutzlosen, verspäteten Vorwürfen sie nur quälen, ihr das Herz
zerreißen konnte; ich begriff das alles sofort und doch konnte ich nicht
an mich halten und sprach weiter:

„Du selbst sagtest doch soeben, Anna Andrejewna, du würdest _vielleicht_
heute nicht aus dem Hause gehen ... also wolltest du bleiben, also
hattest du dich noch nicht fest entschlossen?“

Sie lächelte nur bitter zur Antwort. Was sollte diese Frage auch? Ich
hätte doch verstehen sollen, daß ihr Entschluß nicht mehr zu ändern war.
Doch auch ich war meiner selbst nicht mächtig.

„Liebst du ihn wirklich so maßlos?“ fragte ich mit unsäglichem Weh im
Herzen und ohne eigentlich selbst zu begreifen, was ich sie fragte.

„Was soll ich dir darauf antworten, Wanjä? Du siehst doch: er hat mir
befohlen, zu kommen, und da bin ich und warte hier auf ihn,“ sagte sie,
mit demselben bitteren Lächeln.

„Doch höre, höre, was ich dir sagen werde,“ begann ich wieder, sie
anzuflehen, das letzte versuchend, „alles das läßt sich doch noch auf
eine andere Weise machen. Warum dein Elternhaus verlassen. Ich werde dir
sagen, wie du es machen sollst, Natascha. Ich werde euch helfen, euch
Zusammenkünfte vermitteln ... Nur aus dem Hause gehe nicht fort! Ich
werde euren Briefwechsel besorgen, warum auch nicht? Das wäre leichter
zu ertragen, als alles andere. Ich werde euch beiden dienen, helfen, ihr
werdet sehen, ich werde euch zufrieden stellen ... Und du, du wirst dein
Leben nicht vernichten, Natascha ... Denn du vernichtest dein Leben
damit, Natascha, vollständig! Willige doch ein, Natascha, alles wird gut
werden, ihr werdet euch lieben und glücklich sein ... Und wenn die
Eltern aufhören, zu prozessieren (und sie werden sicher aufhören) dann
...“

„Genug, Wanjä, laß das,“ unterbrach sie mich, drückte mir kräftig die
Hand und lächelte unter Tränen. „Guter, guter Wanjä! Guter, anständiger
Mensch, du! Und kein Wort mehr von dir. Ich habe dich verlassen, und
dennoch verzeihst du mir alles, und denkst nur an mein Glück. Unsere
Briefe willst du ...“

Sie fing an zu weinen.

„Ich weiß es, Wanjä, wie lieb du mich hast, die ganze Zeit über hast du
mir keinen Vorwurf gemacht, kein bitteres Wort zu mir gesagt! Und ich
... ich ... Wie bin ich vor dir schuldig! Weißt du noch, Wanjä, weißt du
noch, damals, in der schönen Zeit? Ach, besser, ich hätte _ihn_ niemals
kennen gelernt! ... Wie gut hätte ich es mit mir, mit dir, meinem guten
lieben Wanjä! ... Nein, ich bin eben deiner nicht wert! Siehst du, wie
ich bin: dich in diesem Augenblick noch an unser früheres Glück zu
erinnern! und du leidest schon sowieso zu viel! Drei Wochen bist du
nicht zu uns gekommen: ich schwöre dir, Wanjä, mir ist auch nicht einmal
der Gedanke durch den Kopf gegangen, daß du mir vielleicht fluchst, mich
haßt. Ich wußte, warum du nicht kamst, du wolltest uns nicht stören,
kein lebender Vorwurf sein. Und du selbst mußtest leiden, wenn du uns
sahst. Und wie habe ich dich erwartet, wie habe ich dich erwartet,
Wanjä! Höre mich, Wanjä, ich liebe Aljoscha wie eine Wahnsinnige, eine
Unsinnige, dich aber liebe ich noch mehr, dich – als meinen Freund. Ich
weiß es, daß ich ohne dich nicht leben kann, daß du mir nötig bist, dein
Herz, deine goldene Seele ... Ach, Wanjä! welch eine bittere, schwere
Zeit jetzt anbricht!“

Tränen überströmten ihr Gesicht. Sie litt unsäglich!

„Wie ich dich sehen wollte!“ fuhr sie fort, ihre Tränen niederkämpfend.
„Wie bist du abgemagert, wie bist du krank und bleich; du bist wirklich
krank, Wanjä! Und ich habe mich nicht danach erkundigt! Habe immer nur
von mir gesprochen; wie steht es mit deinen Arbeiten? Geht es mit deinem
neuen Roman gut vorwärts?“

„Was kümmert mich jetzt mein Roman – als ob es sich um mich handelte,
Natascha! Ja, und meine Angelegenheiten, Gott mit ihnen! Was ich sagen
wollte, Natascha, hat er es selbst verlangt, daß du zu ihm kommst?“

„Nein, nicht er allein, noch mehr ich. Er sprach davon, doch ich selbst
... Siehst du, Lieber, ich werde dir alles erzählen: man will ihn
verheiraten mit einer reichen, sehr vornehmen jungen Dame aus altem
Geschlecht. Der Vater will durchaus, daß er sie heiratet, der Vater, du
weißt doch, ist ein schrecklicher Intrigant; er hat alles in Bewegung
gesetzt; und einen solchen Zufall findet er in zehn Jahren nicht wieder.
Verbindungen, Geld ... Und sie, sagt man, sei sehr schön, gebildet, –
gut – überhaupt; Aljoscha scheint bereits zu ihr hinzuneigen. Außerdem
möchte der Vater ihn loswerden, um selbst wieder zu heiraten, und hat
deshalb beschlossen, was es auch kosten möge, unsere Verbindung zu
lösen. Er fürchtet mich und meinen Einfluß auf Aljoscha ...“

„Weiß denn der Fürst,“ unterbrach ich sie mit Verwunderung, „um eure
Liebe? Es war bis jetzt doch nur eine Verdächtigung von ihm.“

„Er weiß, weiß alles.“

„Wer hat es ihm denn gesagt?“

„Aljoscha hat ihm vor kurzem alles erzählt. Er selbst sagte es mir ...“

„Mein Gott! Was bei euch nicht geschieht!! Er selbst hat alles erzählt
und in diesem Augenblick ...?“

„Beschuldige ihn nicht, Wanjä,“ unterbrach mich Natascha, „lache nicht
über ihn! Man kann ihn nicht wie Menschen sonst beurteilen. Sei doch
gerecht. Er ist anders als du und ich. Er ist ein Kind; man hat ihn so
erzogen. Weiß er denn, was er tut? Der erste Eindruck, der erste fremde
Einfluß, kann ihn von allem losreißen, woran er vor einem Augenblick
gehangen, worauf er geschworen. Er hat keinen Charakter. Er kann dir
schwören und noch am selben Tage einem andern, und als Erster kommt er,
um es dir selbst zu erzählen. Man kann ihm wegen seiner Handlungsweise
nicht einmal zürnen, man kann ihn nur bedauern. Er ist sogar einer
Selbstaufopferung fähig und noch dazu welcher! Doch nur bis zum nächsten
neuen Erlebnis: da vergißt er alles. _So wird er auch mich vergessen,
wenn ich nicht immer um ihn bin!_ Siehst du, so ist er!“

„Ach, Natascha, vielleicht ist alles das noch gar nicht wahr. Doch, wie
soll er, so ein Kind wie er ist, heiraten!“

„Der Vater verfolgt doch einen besonderen Zweck dabei, sagte ich dir.“

„Woher weißt du es, daß die Braut sehr schön sein soll, und daß sie ihn
schon beeinflußt?“

„Er hat es mir doch selbst gesagt.“

„Wie! Er hat es selbst gesagt, daß er eine andere lieben kann, und
verlangt von dir jetzt dieses Opfer?“

„Nein, Wanjä, nein! Du verstehst ihn nicht. Du kennst ihn zu wenig; man
muß ihn besser kennen, um ihn beurteilen zu können. Es gibt kein
aufrichtigeres, kein reineres Herz auf der Welt als seines! Wäre es denn
besser, wenn er die Unwahrheit sagte? Und daß er jetzt für sie schwärmt!
Wir brauchten uns nur eine Woche nicht zu sehen, und er würde mich
vergessen haben, so wie er mich aber wieder sieht – liegt er zu meinen
Füßen. Nein! Es ist so besser, ich weiß es, Wanjä! Sonst würde ich
sterben vor Argwohn; ja, Wanjä! Ich weiß, was ich tue: _wenn ich nicht
immer bei ihm wäre, ununterbrochen, jeden Augenblick, dann würde er
aufhören, mich zu lieben, würde mich vergessen und verlassen_. Er ist
schon einmal so, daß jede andere ihn beeinflussen kann. Und was wird
dann mit mir geschehen? Ich werde sterben ... was sterben! Ich wäre
froh, wenn ich sterben könnte. Wie soll ich aber ohne ihn leben? Das
wäre schlimmer als der Tod, schlimmer als alle Qualen! O, Wanjä, Wanjä!
Habe ich denn umsonst meinen Vater und meine Mutter verlassen! Rede
nicht mehr davon; es ist schon geschehen! Er muß bei mir sein, jede
Stunde, jeden Augenblick; ich kann nicht mehr zurück. Ich weiß, daß ich
verloren bin und noch andere mit mir ... Ach, Wanjä!“ schrie sie
plötzlich auf, am ganzen Körper bebend, „wenn er mich schon jetzt nicht
mehr lieben sollte! Wenn du soeben die Wahrheit gesprochen, daß er nur
mir allein so rechtschaffen und aufrichtig erscheint, im Grund aber nur
ehrgeizig und leichtsinnig ist! Ich verteidige ihn jetzt vor dir, er
aber lacht vielleicht in diesem Augenblick mit einer anderen über mich
... und ich, ich habe alles verlassen, laufe auf den Straßen und suche
ihn ... Ach, Wanjä!“

Sie stöhnte so qualvoll auf, daß mein Herz vor Wehmut zerspringen
wollte. Ich begriff, daß Natascha alle Gewalt über sich verloren hatte.
Nur eine unsinnige, blinde Eifersucht hatte sie zu einem solchen
Entschlusse treiben können. Doch die Eifersucht entbrannte auch in mir
und zerriß mir das Herz. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, ein
böses Gefühl kam über mich.

„Natascha,“ sagte ich zu ihr, „ich verstehe nur eines nicht: wie kannst
du ihn lieben, nach all dem, was du soeben über ihn gesagt hast? Du
achtest ihn nicht, du glaubst nicht an seine Liebe, und doch gehst du zu
ihm auf immer und vernichtest alle andern, die dich lieben, um
seinetwillen? Was wird daraus werden? Er wird dich dein ganzes Leben
lang quälen und du – ihn auch. Du liebst ihn schon zu sehr, Natascha, zu
sehr. Eine solche Liebe verstehe ich nicht.“

„Ja, ich liebe ihn grenzenlos,“ antwortete sie, wie vor Schmerz
erbleichend. „Ich habe dich niemals so geliebt, Wanjä. Ich weiß es doch
selbst, daß ich wahnsinnig bin und ihn nicht so liebe, wie es sein muß.
Schlecht ist meine Liebe ... Höre mich an, Wanjä: ich habe es schon
früher gewußt, in meinen glücklichsten Augenblicken habe ich es
vorausgefühlt, daß er mir nur Qualen bereiten wird. Doch was soll ich
tun, wenn selbst diese Qualen durch ihn für mich noch ein – Glück
bedeuten? Gehe ich denn zu ihm, um Freude zu erleben? Weiß ich denn
nicht im voraus, was mich bei ihm erwartet, und was ich durch ihn
erleiden muß? Er hat mir geschworen, mich zu lieben, hat mir sein
Versprechen gegeben; ich aber gebe nichts auf seine Versprechungen, wenn
ich auch weiß, daß er mich nicht belügt und mich niemals belügen kann.
Ich selbst habe ihm gesagt, daß ich ihn nicht an mich binden werde. Für
ihn ist es besser so. Niemand liebt Fesseln – ich gewiß nicht. Und doch
bin ich glücklich, seine Sklavin zu sein, seine freiwillige Sklavin, und
alles von ihm zu ertragen, alles, nur damit er bei mir ist und ich ihn
sehen kann! Möge er sogar eine andere lieben, nur in meiner Gegenwart,
nur daß auch ich dabei bin ... Wie niedrig das ist, nicht wahr, Wanjä?“
fragte sie mich plötzlich, mit leuchtenden, fieberhaft brennenden Augen
mich ansehend. Einen Augenblick schien es mir, als phantasiere sie: „Wie
niedrig solche Wünsche sind, nicht? Ich selbst sage es ja doch. Und
doch, wenn er mich verläßt, so laufe ich ihm nach bis ans Ende der Welt,
wenn er mich auch von sich stößt, mich davonjagt. Und du beredest mich
jetzt, zurückzukehren; was würde die Folge davon sein? Daß ich morgen
wieder davonginge! Er würde sagen: komm! – und ich würde kommen. Pfeifen
wird er, und ich werde ihm folgen – wie ein Hündchen ... Qualen! Ich
fürchte keine Qualen! Ich werde wissen, daß ich mich _seinetwegen_ quäle
... Ach, Worte geben das nicht wieder, Wanjä!“

„Und Vater und Mutter?“ dachte ich. Die schien sie ganz vergessen zu
haben.

„Er wird dich also heiraten, Natascha?“

„Er hat es versprochen, hat alles versprochen. Er hat mich ja heute
darum zu sich gerufen, um sich morgen außerhalb der Stadt mit mir trauen
zu lassen; er weiß doch nicht, was er tut. Er weiß vielleicht auch
nicht, wie man sich trauen läßt. Und was ist er denn für ein Mann!
Einfach lächerlich, nicht wahr. Ist er aber verheiratet, so wird er
unglücklich sein, Vorwürfe machen ... Ich will nicht, daß er mir
irgendwie einmal Vorwürfe machen könnte ... Alles will ich ihm geben, er
aber, er braucht mir nichts zu geben. Wenn er nun durch die Heirat
unglücklich wird, warum soll ich ihn – unglücklich machen?“

„Das ist doch einfach Wahnwitz, Natascha! Und du willst jetzt zu ihm
gehen?“

„Nein, er versprach mir, hierher zu kommen, mich abzuholen; wir
verabredeten uns ...“

Und sie blickte gespannt in die Ferne, aber es war noch niemand zu
sehen.

„Und er ist noch nicht einmal da. Du bist zuerst gekommen!“ rief ich
unwillig aus.

Natascha zuckte wie unter einem Schlage zusammen. Ihr Gesicht war
krampfhaft verzerrt.

„Er kommt vielleicht überhaupt nicht,“ sagte sie mit bitterem Lächeln.
„Vor drei Tagen hat er mir geschrieben, daß er, wenn ich ihm nicht mein
Wort geben könne, zu kommen, gezwungen sei, seinen Entschluß aufzugeben,
sich mit mir trauen zu lassen ... und sein Vater ihn zu einer anderen
führen würde. Und so natürlich, so einfach hatte er das geschrieben, als
läge darin wirklich gar nichts ... Wenn er nun wirklich zu ihr gefahren
ist, Wanjä?“

Ich antwortete nicht. Sie preßte heftig meine Hand und ihre Augen
blitzten.

„Er ist zu ihr gegangen,“ flüsterte sie kaum hörbar. „Er hoffte, daß ich
nicht kommen würde, um dann zu ihr zu fahren mit der Behauptung, er
hätte mich vorher davon benachrichtigt, ich aber wäre nicht gekommen.
Ich bin ihm langweilig geworden, er wird mich verlassen ... Oh, Gott!
Ich Wahnsinnige! Ich glaube, er hat mir neulich selbst gesagt, daß ich
ihn langweile ... Worauf warte ich noch?“

„Da ist er!“ rief ich, ihn plötzlich in der Ferne am Kai erblickend.

Natascha fuhr zusammen, schrie auf, blickte dem sich nähernden Aljoscha
erwartungsvoll entgegen, und plötzlich stürzte sie, meine Hand
loslassend, auf ihn zu. Auch er beschleunigte seine Schritte und in
einer Minute lagen sie sich in den Armen. Außer uns war niemand auf der
Straße zu sehen. Sie küßten sich und lachten; Natascha lachte und weinte
zugleich, als hätten sie sich nach langer Trennung wiedergesehen. Ihre
bleichen Wangen röteten sich. Sie war außer sich vor Freude ... Aljoscha
bemerkte mich jetzt erst und ging sofort auf mich zu.


                                  IX.

Ich sah ihn scharf an, obgleich ich ihn schon des öfteren gesehen; ich
sah ihm tief in die Augen, als hätte sein Blick alle meine Zweifel lösen
können, wodurch er dieses Kind so bezaubert, in ihr diese wahnsinnige
Liebe wachgerufen hatte, eine Liebe bis zum Vergessen jeglicher Pflicht,
eine Liebe, der Natascha alles, was ihr bis jetzt heilig gewesen, zum
Opfer bringen wollte. Der Fürst nahm meine beiden Hände, schüttelte sie
kräftig und sein bescheidener und heller Blick drang mir tief in die
Seele.

Ich fühlte, daß ich mich – zumal er mein Feind war – in meinem Urteil
über ihn hatte irren können, denn ich liebte ihn nicht, habe ihn auch
niemals lieben können – ich war die einzige Ausnahme unter allen, die
ihn kannten. Hartnäckig konnte ich mich an vieles nicht gewöhnen,
besonders nicht an sein elegantes Äußeres, vielleicht weil es schon zu
elegant und gesucht war.

Später begriff ich, daß ich ihn auch darin parteiisch beurteilt hatte.
Er war hoch und schlank; sein Gesicht war von länglicher Form und immer
bleich; er hatte blondes Haar und große blaue Augen, die milde und
nachdenklich in die Welt schauten und aus denen dann zuweilen eine
kindliche Freude aufleuchtete. Seine vollen roten Lippen hatten einen
wunderschönen Schnitt und um den festgeschlossenen Mund lag ein seltsam
ernster Zug; um so unerwarteter und bezaubernder war dann sein Lächeln,
so naiv und gutherzig, daß man, in welcher Stimmung man sich auch
befand, unwillkürlich mitlächeln mußte und dabei das Bedürfnis empfand,
genau so zu lächeln, wie er. Er kleidete sich, wie gesagt, sehr elegant,
doch diese Eleganz kostete ihm keine Mühe, sie schien ihm angeboren.

Freilich besaß er auch einige von den schlechten Gepflogenheiten und
Angewohnheiten des guten Tones: Leichtsinnigkeit, Selbstgenügsamkeit und
höfliche Grobheit. Doch war er offenherzig und sich seiner
Angewohnheiten so bewußt, daß er sich selbst tadelte und über sie
lachte. Mir scheint es, daß dieses Kind von Jüngling nicht einmal im
Scherz hätte lügen können, und wenn er es je getan, so würde er sich
gewiß nichts Schlechtes dabei gedacht haben. Sogar sein Egoismus war
anziehend, vielleicht weil er so offensichtlich war und nichts zu
verbergen suchte. Er war schwach, vertrauensselig und schüchtern und
hatte gar keine Willenskraft. Ihn zu betrügen und zu beleidigen wäre
eine Sünde gewesen, so wie es Sünde ist, ein Kind zu beleidigen und zu
betrügen. Er war, was seiner Jugend entsprach, vollständig naiv und
unwissend und verstand nichts vom wirklichen Leben; übrigens würde er
auch mit vierzig Jahren nichts von ihm verstanden haben. Solche Menschen
sind zu einer ewigen Unmündigkeit verurteilt. Ich glaube, es gab keinen
Menschen, der ihn nicht liebte, er war zu jedem zärtlich wie ein Kind.
Natascha hatte recht; er wäre vielleicht imstande gewesen, schlecht zu
handeln, durch schlechten, starken Einfluß dazu veranlaßt, doch hätte er
über die Folgen seiner Tat vor Reue sterben können. Natascha fühlte
instinktiv, daß sie seine Herrin, seine Beherrscherin und er ihr Opfer
sein würde. Sie berauschte sich im voraus an dem Gefühl, ihn sinnlos zu
lieben, und denjenigen, den sie liebte, sinnlos zu quälen, nur weil sie
ihn liebte – deshalb war es ihr vielleicht ein Bedürfnis, sich selbst
zuerst zu opfern. Doch auch aus seinem Ärger strahlte Liebe, und er
betrachtete sie mit Entzücken. Triumphierend sah sie mich an. In diesem
Augenblick vergaß sie alles – die Eltern, den Abschied und jedes
Mißtrauen ... In diesem Augenblick war sie glücklich.

„Wanjä!“ rief sie, „ich fühle mich schuldig vor ihm und bin seiner nicht
wert! Ich dachte schon, du würdest nicht mehr kommen, Aljoscha. Vergiß
meine schlechten Gedanken, Wanjä. Ich werde alles wieder gut machen!“
fügte sie hinzu und sah ihn mit grenzenloser Hingebung an.

Er lächelte und küßte ihre Hand, und, ohne die Hand freizugeben, wandte
er sich an mich.

„Verurteilen Sie mich nicht. Schon lange wollte ich Sie als meinen
Bruder umarmen; sie hat mir viel von Ihnen erzählt. Wir sind uns bis
jetzt eigentlich fremd geblieben. Wollen wir Freunde sein und ...
verzeihen Sie uns,“ fügte er noch mit halber Stimme und etwas errötend
mit seinem bezaubernden Lächeln hinzu, sodaß ich nicht anders konnte,
als seinen Vorschlag von ganzem Herzen anzunehmen.

„Ja, ja, Aljoscha,“ griff Natascha auf, „er ist unser, unser Bruder, er
hat uns schon verziehen und ohne seine Freundschaft würden wir nicht
glücklich sein. Ich habe es ihm bereits gesagt ... Oh, grausame Kinder
sind wir, Aljoscha! Doch wir werden zu dreien leben ... Wanjä!“ fuhr sie
fort und ihre Lippen zitterten ein wenig, „sieh, du gehst jetzt zu ihnen
nach Haus; du hast ein goldenes Herz, wenn sie mir auch nicht vergeben
wollen, so werden sie sehen, daß du mir vergeben hast, und das wird sie
weicher stimmen. Erzähle ihnen alles, alles, mit deinen von Herzen
kommenden Worten. Verteidige mich, rette mich; sage ihnen die Gründe
meiner Tat, so wie du sie verstanden hast. Weißt du, Wanjä, ich hätte
mich vielleicht heute nicht dazu entschließen können, wenn du nicht
gekommen wärest! Du bist meine Rettung: ich habe sofort an dich gedacht
und gehofft, du würdest es ihnen mitteilen, du würdest den ersten
Schmerz mildern helfen. O, Gott! Sage ihnen von mir, Wanjä, ich wüßte
es, daß sie mir nicht mehr vergeben, doch wenn sie mich auch verfluchen
sollten, so würde ich sie mein ganzes Leben segnen und für sie beten.
Mein Herz ist bei ihnen! Ach, warum können wir nicht alle zusammen
glücklich sein! Warum, warum! ... O Gott! Was habe ich getan!“ rief sie,
sich plötzlich besinnend, und vor Entsetzen erschauernd schlug sie die
Hände vor ihr Gesicht. Aljoscha umarmte sie und drückte sie schweigend
an sich. Wir schwiegen alle drei.

„Und Sie konnten ein solches Opfer von ihr verlangen!“ sagte ich zu ihm
mit vorwurfsvollem Blick.

„Verurteilen Sie mich nicht!“ wiederholte er, „ich versichere Ihnen, daß
alle Qualen, wenn sie auch jetzt sehr heftig sind – nicht von langer
Dauer sein werden. Ich bin davon vollkommen überzeugt. Man muß nur den
Mut haben, diesen ersten Augenblick zu ertragen, dasselbe hat auch sie
mir gesagt. Sie wissen, daß dieser Familienstolz, dieser sinnlose Prozeß
an allem die Schuld trägt ... Doch (ich habe es mir lange überlegt,
versichere ich Ihnen) das alles muß einmal ein Ende nehmen. Wir werden
uns alle wieder miteinander aussöhnen und vollständig glücklich sein.
Wer weiß, vielleicht wird unsere Vermählung der erste Schritt zur
Aussöhnung sein. Ich glaube sogar, daß es gar nicht anders sein kann.
Was glauben Sie?“

„Sie sagen: Vermählung. Wann werden Sie sich denn trauen lassen?“ fragte
ich, auf Natascha blickend.

„Morgen oder übermorgen; wenigstens übermorgen bestimmt. Sehen Sie, ich
selbst weiß es noch nicht genau, und um die Wahrheit zu sagen, habe ich
auch noch keine Schritte getan. Ich dachte, vielleicht kommt Natascha
heute gar nicht. Dazu wollte mich mein Vater noch durchaus zu meiner
Braut führen (Sie wissen, man will mich verheiraten; Natascha hat es
Ihnen doch erzählt? Ich aber will nicht). So konnte ich auf nichts
Bestimmtes rechnen. Sicher lassen wir uns übermorgen trauen. Auf dem
Wege nach Pskoff, nicht weit von hier, lebt auf dem Lande ein Freund von
mir, aus dem Lyzeum, ein sehr guter Mensch, Sie werden ihn vielleicht
noch kennen lernen. Im Dorfe wird es doch auch einen Geistlichen geben,
bestimmt weiß ich es zwar nicht. Ich hätte mich früher darnach
erkundigen sollen, doch bin ich noch nicht dazu gekommen. Im übrigen
sind das doch alles Nebensachen. Man könnte im Notfalle aus einem
Nachbardorfe einen Geistlichen holen; wie denken Sie darüber? Schade,
daß ich meinem Kameraden noch nichts davon geschrieben habe, man hätte
ihn benachrichtigen sollen. Vielleicht ist mein Freund noch nicht einmal
anwesend. Das ist jedoch das Wenigste! Man muß nur wollen, alles andere
wird sich schon finden, nicht wahr? Doch bis morgen oder übermorgen wird
sie bei mir bleiben. Ich habe eine Wohnung gemietet, in der wir leben
werden. Ich werde nicht mehr zu meinem Vater zurückkehren, nicht wahr
Natascha? Sie werden uns besuchen? Ich habe alles sehr nett
eingerichtet. Meine Freunde werden mich besuchen; ich werde
Gesellschaftsabende ...“

Voll Unwillen und zugleich tiefem Kummer hörte ich ihm zu. Natascha sah
mich flehend an, ihn nicht allzu streng zu beurteilen. Sie hörte seinen
Erzählungen mit traurigem Lächeln liebevoll zu, wie man einem lieben
fröhlichen Kinde bei seinem süßen und unsinnigen Geplapper zuhört. Ich
sah sie vorwurfsvoll an. Mir war unerträglich schwer zumut.

„Doch Ihr Vater?“ fragte ich. „Sind Sie fest überzeugt, daß er Ihnen
verzeihen wird?“

„Versteht sich; was bleibt ihm denn anderes übrig? Das heißt, zuerst
wird er mich natürlich verfluchen; davon bin ich überzeugt. Er ist schon
einmal so, und zu mir ist er immer sehr streng. Vielleicht wird er auch
versuchen, seine väterliche Macht mir gegenüber zu gebrauchen ... Doch
das ist nicht ernst zu nehmen. Er liebt mich namenlos; er wird sich
ärgern und mir doch verzeihen. Dann werden wir uns alle aussöhnen und
alle glücklich sein. Auch ihr Vater ...“

„Wenn er aber nicht verzeiht? Haben Sie auch darüber nachgedacht?“

„Er wird mir unbedingt verzeihen, wenn auch nicht sofort. Nun, was tut
es? Ich werde ihm zeigen, daß auch ich Charakter besitze. Er macht mir
immer Vorwürfe, daß ich keinen Charakter habe, daß ich leichtsinnig sei.
Jetzt kann er sehen, ob ich leichtsinnig bin oder nicht? Verheiratet
sein, ist keine Kleinigkeit. Ich bin kein Kind mehr ... das heißt, ich
wollte sagen, daß ich dann so sein werde, wie die anderen ... ich meine,
wie andere verheiratete Männer. Ich werde mir selbst mein Brot
verdienen. Natascha sagt, daß es besser sei, so zu leben, als auf
Rechnung anderer, wie wir alle leben. Wenn Sie wüßten, wie viel Gutes
sie mir sagt! Ich wäre selbst nie darauf gekommen, ich bin nicht so
aufgewachsen, man hat mich nicht so erzogen. Freilich, ich weiß es
selbst, daß ich leichtsinnig bin und zu nichts fähig; doch wissen Sie,
vorvorgestern hatte ich einen sonderbaren Gedanken. Es ist eigentlich
nicht gerade der richtige Augenblick, um davon zu sprechen, doch möchte
ich es gern tun, um Ihren Rat zu hören. Sehen Sie: ich möchte Romane
schreiben und sie an Zeitungen verkaufen, so wie Sie es tun. Werden Sie
mir dabei helfen, nicht? Ich habe auf Sie gerechnet und mir gestern die
ganze Nacht über einen Roman ausgedacht, so zur Probe, und wissen Sie:
es kann wirklich eine nette Sache werden. Das Sujet habe ich aus einer
Skribeschen Komödie genommen ... Ich werde Ihnen später davon erzählen.
Die Hauptsache ist, daß man dafür Geld bekommt ... Ihnen gibt man doch
Geld dafür!“

Ich mußte lächeln.

„Sie lachen,“ sagte er, gleichfalls lächelnd.

„Nein, hören Sie mich an,“ fügte er mit unglaublicher Naivität hinzu,
„beurteilen Sie mich nicht darnach, wie ich scheine; ich besitze viel
Beobachtungsvermögen; Sie werden selbst sehen. Warum soll ich es nicht
versuchen? Vielleicht gelingt es mir ... Doch andererseits haben Sie
recht; ich verstehe nichts vom wirklichen Leben; das hat mir Natascha
auch gesagt, übrigens sagen es alle; was kann ich für ein Schriftsteller
werden? Lachen Sie nur, lachen Sie mich nur aus, wirken Sie nur auf mich
ein, und machen Sie mich nur besser als ich bin – Sie tun es ja für sie,
Sie lieben sie ja doch. Ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß ich ihrer
nicht wert bin, das fühle ich; es fällt mir sehr schwer, ich weiß gar
nicht, wofür sie mich so lieb hat? Und doch – ich würde ihr mein ganzes
Leben hingeben wollen! Wirklich, bis zu diesem Augenblick habe ich
nichts gefürchtet, doch jetzt packt mich die Furcht! Herrgott! Sollte es
einem Menschen, der sich ganz seiner Pflicht hingibt, wirklich an
Geschick und Kraft fehlen, diese Pflicht zu erfüllen? Helfen Sie uns
doch, Sie, unser Freund! Sie sind der einzige Freund jetzt, der uns
geblieben ist. Denn was verstehe ich allein davon! Verzeihen Sie, daß
ich mich so auf Sie verlasse, aber ich halte Sie für einen edlen
Menschen und für besser als mich. Doch ich werde mich bessern, seien Sie
überzeugt davon, und will Ihrer beider wert sein.“

Er drückte mir hierbei wieder die Hand und aus seinen freundlichen Augen
strahlte eine aufrichtige Hingabe. So vertrauensvoll reichte er mir die
Hand, so überzeugt, daß ich sein Freund sei!

„Sie wird mir helfen, mich zu bessern,“ fuhr er fort. „Denken Sie bitte
nicht schlecht von uns, machen Sie sich keine Sorgen um uns. Ich mache
mir viel Hoffnungen und in materieller Beziehung werden wir gewiß
gesichert sein. Wenn es, zum Beispiel, mit dem Roman nicht gehen sollte
(um die Wahrheit zu sagen, habe ich gleich, als ich davon sprach, bei
mir gedacht, daß der Roman nur eine Dummheit sei, und ich erzählte es
Ihnen nur, um Ihre Meinung darüber zu erfahren), wenn der Roman mir
nicht gelingen sollte, so könnte ich im äußersten Fall Musikunterricht
erteilen. Sie wissen es vielleicht nicht, daß ich musikalisch bin? Ich
werde mich nicht schämen, von derartiger Arbeit zu leben. Ich schließe
mich in dem Falle vollständig den neuen Ideen an. Außerdem besitze ich
viele Wertsachen, Bibelots, Toilettengegenstände: was sollen sie mir?
Ich werde sie verkaufen und, wir können lange Zeit hindurch davon leben!
Schließlich kann ich im äußersten Falle immer noch als Beamter
eintreten. Mein Vater wird sich sogar darüber freuen, er hat es schon
längst gewünscht, ich habe mich unter dem Vorwand, kränklich zu sein,
davon frei gemacht. Sowie er aber sehen wird, daß die Ehe mir Nutzen
bringt, mich vernünftig macht, und ich wirklich in den Staatsdienst
getreten bin ... so wird er sich freuen und mir alles verzeihen ...“

„Haben Sie auch, Alexei Petrowitsch, bedacht, was zwischen Ihrem und
Nataschas Vater daraus entstehen wird? Was, glauben Sie, was wird wohl
heute abend in ihrem Hause geschehen?“

Ich wies hierbei auf die totenbleich dastehende Natascha. Ich war
erbarmungslos.

„Ja, ja, Sie haben recht, das ist furchtbar!“ antwortete er. „Ich habe
schon daran gedacht und seelisch sehr darunter gelitten ... Doch was ist
zu machen? – Sie haben recht: wenn doch nur wenigstens ihre Eltern uns
vergeben würden! Wenn Sie wüßten, wie ich sie beide geliebt habe! Sie
standen mir so nahe, als wären sie meine eigenen Eltern! – und womit
zahle ich es ihnen heim?! Ach, diese Streitigkeiten, diese Prozesse! Sie
glauben nicht, wie schrecklich das ist! Und warum streiten sie sich.
Alle lieben wir uns gegenseitig, und streiten uns! Man sollte sich
endlich aussöhnen und der Sache ein Ende machen! Ich würde es tun an
ihrer Stelle ... Furchtbar sind Ihre Worte. Natascha, es ist
schrecklich, was wir zu tun beabsichtigen! Ich habe es schon früher
gesagt ... Du selbst hast darauf bestanden ... Doch, hören Sie, Iwan
Petrowitsch, es kann sich noch alles zum Guten wenden. Wir werden sie
aussöhnen. Gewiß, es muß sein; sie werden unserer Liebe nicht
widerstehen können ... Mögen sie uns verfluchen, wir werden sie dennoch
lieb haben; sie werden nachgeben. Sie glauben mir nicht, was für ein
gutes Herz manchmal mein Vater hat! Er blickt nur so finster unter den
Brauen hervor, doch ist er oft sehr zugänglich. Wenn Sie wüßten, wie
liebevoll er heute mit mir gesprochen, wie er mich zu überzeugen
versuchte! Und ich handle gerade heute gegen seinen Willen; das stimmt
mich sehr traurig. Und alles dieser elenden Vorurteile wegen! Das ist
einfach – Wahnsinn! Wenn er sich doch Natascha nur einmal ordentlich
ansehen, mit ihr eine halbe Stunde zusammensein wollte? Er würde uns
sofort alles erlauben.“

Bei diesen Worten blickte er in leidenschaftlicher Zärtlichkeit auf
Natascha.

„Tausendmal habe ich mir vorgestellt,“ setzte er sein Geplauder fort,
„wie er sie lieben wird, wenn er sie nur kennen lernt, und wie sie sie
alle in Verwunderung setzen würde. Denn sie haben doch alle noch nicht
ein solches Mädchen gesehen! Der Vater denkt, daß sie eine Intrigantin
ist. Meine Pflicht ist es, ihre Ehre wieder herzustellen, und das werde
ich tun! Ach, Natascha! Dich werden alle lieben, alle, es gibt keinen
Menschen, der dich nicht lieben müßte,“ fügte er begeistert hinzu. „Wenn
ich deiner auch nicht wert bin, so liebst du mich doch, ich aber ... O,
du kennst mich doch! Und haben wir denn noch mehr nötig zu unserem
Glück! Nein, ich glaube, glaube daran, daß dieser Abend uns allen
zusammen Glück, Friede und Eintracht bringt. Gesegnet sei dieser Abend!
Nicht, Natascha? Doch, was ist mit dir? Mein Gott, was fehlt dir?“

Sie war bleich wie eine Tote. Sie hatte während Aljoschas weitläufiger
Rede kein Auge von ihm gewandt, doch allmählich wurde ihr Blick immer
trüber und starrer und ihr Antlitz blässer und blässer. Mir schien es,
daß sie zuletzt kaum mehr zuhörte und völlig abwesend dastand. Der
Ausruf Aljoschas weckte sie aus ihrer Versunkenheit. Sie fuhr zusammen,
schaute um sich und – wandte sich plötzlich zu mir. In aller Eile, und
als ob sie es vor Aljoscha verbergen wollte, zog sie aus der Tasche
einen Brief und gab ihn mir. Er war an ihre Eltern gerichtet und am
Abend vorher geschrieben worden. Als sie ihn mir reichte, sah sie mich
scharf und durchdringend an, als hätte sie sich mit ihrem Blick an mich
festgesogen. In diesem Blick lag eine solche Verzweiflung, niemals
vergesse ich diesen schrecklichen Blick! Mich schauderte: ich sah, daß
sie sich in diesem Moment der ganzen Tragweite ihres Schrittes bewußt
wurde. Sie wollte nur etwas sagen, sie begann schon und, plötzlich –
verlor sie das Bewußtsein. Ich fing sie auf. Aljoscha erbleichte vor
Schreck; er rieb ihre Schläfen, küßte ihre Hände, ihre Lippen. In zwei
Minuten kam sie wieder zu sich. Nicht weit von uns entfernt stand die
Droschke, in der Aljoscha gekommen war; er rief sie herbei. Als Natascha
in den Wagen gehoben wurde, preßte sie wie unsinnig meine Hand und heiße
Tränen rannen über meine Finger. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich
stand noch lange an derselben Stelle und schaute ihm nach. Mein ganzes
Glück entschwand in diesem Augenblick und mein Leben zerbrach in zwei
Hälften. Schmerzhaft mußte ich das empfinden. ... Langsam ging ich den
Weg zurück, zu den Alten. Ich wußte nicht, was ich ihnen sagen sollte,
noch wie ich zu ihnen ins Zimmer treten wollte. Meine Gedanken
erstarrten mir, meine Füße wankten ...

Und das ist die Geschichte meines Glückes! Das war das Ende meiner
Liebe: Ich werde nun in der unterbrochenen Erzählung fortfahren.


                                   X.

Fünf Tage nach dem Tode Smitts zog ich in dessen Wohnung ein. Den ganzen
Tag fühlte ich mich elend und traurig; das Wetter war feucht und kalt,
vom Himmel fiel halb Schnee, halb Regen. Nur gegen Abend zeigte sich für
einen Augenblick die Sonne und ein verlorener Strahl huschte, wohl aus
Neugier, für einen Augenblick zu mir ins Zimmer. Ich bedauerte es
bereits, hierher gekommen zu sein. Das Zimmer war ja groß, doch so
niedrig, feucht und öde, trotz der Möbel. Ich dachte mir gleich, daß ich
in dieser Wohnung den Rest meiner Gesundheit einbüßen würde. Und so
geschah es denn auch.

Den ganzen Morgen über hatte ich in meinen Papieren gelesen und sie in
Ordnung gebracht. Da ich keine Mappe besaß, hatte ich sie in einem
Kissenbezug hergebracht und alles durcheinander geworfen. Darauf setzte
ich mich hin um zu schreiben. Ich arbeitete damals an meinem großen
Roman, doch konnte ich die Gedanken nicht zusammenhalten, der Kopf war
mir so voll von anderen Dingen ...

Ich warf die Feder hin und setzte mich ans Fenster. Es dunkelte bereits
und auch in meiner Seele wurde es immer düsterer. Schwere Gedanken
lasteten auf mir. Es wurde mir klar, daß ich in Petersburg doch
schließlich untergehen mußte. Es nahte der Frühling; ich würde neu
aufleben, so schien es mir, wenn ich aus diesem Gefängnis wieder an die
freie Gotteswelt käme, den Duft frischer Wiesen und Wälder atmete, die
ich so lange nicht mehr gesehen! ... Mir ging noch der Gedanke durch den
Kopf, wie gut es wäre, wie durch einen Zauberspruch alles zu vergessen,
alles was ich in der letzten Zeit erlebt und erlitten, und mit frischem
Kopf und neuen Kräften von vorn wieder zu beginnen. Damals träumte ich
noch davon und hoffte auf eine Auferstehung. „Wie, wenn ich in ein
Irrenhaus käme, und dann gleichsam mein Gehirn von neuem gesundete.“ Ich
fühlte doch noch Lebensdurst in mir und glaubte an das Leben! ... Doch
auch bei diesem Gedanken lachte ich laut auf. „Und nach dem Irrenhause,
was würde dann folgen? Wirklich wieder Romane schreiben? ...“

So sann und trauerte ich, und die Zeit verstrich. Es war ganz dunkel
geworden. Am Abend stand mir ein Wiedersehen mit Natascha bevor; sie
hatte mich durch einen Brief vom Abend vorher dringend zu sich gebeten.
Ich sprang auf und bereitete mich vor, auszugehen. Es drängte mich
sowieso fort aus dieser Wohnung, einerlei wohin, in den Regen, in den
Schmutz.

Doch, je dunkler es wurde, um so geräumiger schien es bei mir im Zimmer
zu werden, das sich immer mehr und mehr erweiterte. Mir war, als müßte
ich in jeder Ecke des Zimmers den alten Smitt sehen, wie er so dasaß und
einen unbeweglich anstarrte, ihm zu Füßen Asorka. Und plötzlich
ereignete sich etwas, das tiefe Spuren in mir hinterließ.

Übrigens muß ich gestehen, daß es mir infolge nervöser Schwäche, oder
infolge der aufregenden Eindrücke in der neuen Wohnung und von der
Erkältung her geschehen konnte, daß ich bei zunehmender Dunkelheit in
einen Seelenzustand verfiel, der mich des öfteren in der Nacht
heimsuchte und den ich einen mystischen Schrecken nennen möchte. Es war
das die allerschrecklichste quälendste Furcht vor einem ungewissen
Etwas, das man selbst nicht näher zu erklären vermag: etwas nicht
Seiendes in der Ordnung der Dinge, das doch durchaus in jeder Minute zu
sein vermag, allen Vernunftgründen zum Trotz auftaucht und sich vor mir
als unerbittliche, schreckliche, unabwendbare Tatsache hinstellt. Die
Furcht wächst von Minute zu Minute, ungeachtet dessen, daß der Geist
in diesen Augenblicken noch größere Klarheit gewinnt, und
nichtsdestoweniger alle Macht verliert, dieser Empfindung
entgegenzutreten. Man gehorcht ihm nicht mehr, man kann ihn sich nicht
mehr nutzbar machen und die schreckliche Angst der Erwartung verdoppelt
sich langsam aber sicher.

Ich erinnere mich noch, ich stand mit dem Rücken zur Tür und griff nach
meinem Hut auf dem Tische, als mir der Gedanke kam, ich würde sofort
hinter mir den alten Smitt erblicken; die Tür würde sich langsam öffnen
und er würde auf der Schwelle stehen und ins Zimmer blicken, würde leise
mit gesenktem Kopf auf mich zukommen, sich vor mir aufstellen, seine
trüben Augen auf mich richten und plötzlich mir ins Gesicht lachen mit
seinem zahnlosen, unhörbaren Lachen, und sein großer Körper würde von
diesem Lachen hin- und hertanzen. Diese Vision richtete sich so klar und
deutlich in meiner Phantasie auf, daß es mir zur vollen,
unerschütterlichen Überzeugung wurde, daß alles das sofort geschehen
müsse, ja, vielleicht schon geschehen sei, und daß ich es nur nicht
gesehen, da ich mit dem Rücken zur Tür stand. In diesem Augenblick mußte
sich die Tür unbedingt öffnen, ich kehrte mich plötzlich um und – was
geschah? – die Tür öffnete sich wirklich leise, lautlos, genau so wie
ich es mir vorgestellt hatte. Ich schrie auf. Lange Zeit zeigte sich
niemand, als hätte die Tür sich von selbst geöffnet; plötzlich aber
erschien auf der Schwelle ein sonderbares Wesen: ein Paar Augen, die ich
kaum in der Dunkelheit unterscheiden konnte, blickten mich finster und
durchdringend an. Ein Schauer überlief meinen Körper. Zu meinem größten
Erstaunen sah ich, daß es ein Kind war, ein Mädchen, und wenn es sogar
Smitt selbst gewesen wäre, so hätte er mich vielleicht nicht so
erschrecken können, wie diese sonderbare, unerwartete Erscheinung eines
mir unbekannten Kindes, zu dieser Zeit und Stunde in meinem Zimmer.

Ich sagte bereits, daß die Kleine die Tür langsam und unhörbar öffnete.
Es war, als fürchtete sie sich, einzutreten. Als sie endlich auf der
Schwelle erschien, sah sie mich lange mit solcher Verwunderung an, als
wäre sie versteinert; zuletzt trat sie zwei, drei Schritte vor und
blieb, ohne ein Wort zu sagen, vor mir stehen. Jetzt konnte ich sie
deutlicher erkennen. Es war ein Kind von zwölf bis dreizehn Jahren,
klein von Wuchs, zart und blaß, als hätte es soeben eine schwere
Krankheit überstanden. Desto ausdrucksvoller aber leuchteten seine
großen, dunklen Augen. Mit der linken Hand hielt die Kleine über der
Brust ein altes, durchlöchertes Tuch zusammen, womit sie sich wohl vor
der Abendkälte zu schützen suchte. Bekleidet war sie, man kann ruhig
sagen, fast nur mit Lumpen. Das dichte dunkle Haar war ungekämmt und
zerwühlt. Wir standen uns ungefähr zwei Minuten lang so gegenüber, uns
gegenseitig anstarrend.

„Wo ist Großpapa?“ fragte sie endlich mit kaum hörbarer, heiserer
Stimme, als schmerzte ihr die Brust oder die Kehle.

Mein ganzer mystischer Schrecken war plötzlich verschwunden. Man fragte
nach Smitt! Ganz unerwartet kam ich also auf eine Spur von ihm!

„Dein Großpapa? Er ist gestorben!“ sagte ich ohne Besinnen, da ich auf
diese Frage garnicht vorbereitet war. Ich bereute es sofort. Einen
Augenblick blieb sie noch vor mir unbeweglich stehen, dann aber
erzitterte sie so heftig am ganzen Körper, daß ich fürchtete, sie bekäme
einen Nervenanfall. Ich mußte sie halten, damit sie nicht fiele. Nach
einigen Minuten wurde sie ruhiger und ich sah, mit welcher Anstrengung
sie ihre Erregung vor mir zu verbergen suchte.

„Vergib, vergib mir, mein Kind! Ich bin damit so einfach herausgeplatzt,
das war vielleicht nicht dein Großpapa ... Du Arme! ... Wen suchst du
eigentlich? Den Alten, der hier lebte?“

„Ja,“ brachte sie mit Anstrengung hervor und starrte mich unruhig an.

„Er hieß Smitt? Ja?“

„J–, Ja!“

„Also er ... nun, ja, er ist tot ... Sei nur nicht traurig, mein
Täubchen! Warum bist du nicht früher gekommen? Woher kommst du? Sie
haben ihn gestern beerdigt; er starb plötzlich, ganz unerwartet ... Du
bist also seine Enkelin?“

Die Kleine antwortete nicht auf meine überstürzten Fragen. Schweigend
kehrte sie sich um und ging fast lautlos aus dem Zimmer. Ich war so
bestürzt, daß ich sie nicht zurückhielt, noch sie etwas zu fragen wagte.
Auf der Türschwelle blieb sie noch einmal stehen, und halb zu mir
gewandt, fragte sie:

„Auch Asorka ist tot?“

„Ja, auch Asorka ist tot,“ antwortete ich, und mir schien die Frage so
sonderbar; sie klang so überzeugt davon, daß Asorka zusammen mit seinem
Herrn hatte sterben müssen.

Sie hörte meine Antwort an und verschwand dann lautlos durch die Tür,
die sie vorsichtig hinter sich zuschloß.

Eine Minute später stürzte ich der Kleinen nach, voll Ärger darüber, daß
ich sie hatte gehen lassen. Sie war so lautlos verschwunden, daß ich
nicht gehört, wie sie die zweite auf die Treppe hinausführende Tür
hinter sich zugeschlossen. „Die Treppe kann sie noch nicht verlassen
haben,“ dachte ich, und hielt lauschend still. Man vernahm weder ein
Geräusch noch Schritte. In einem unteren Stockwerk wurde eine Tür laut
zugeschlagen. Dann war wieder alles still.

Ich stieg eilig hinab. Die Treppe von meiner Wohnung in den vierten
Stock machte eine Biegung, erst von dort an führte sie geradeaus und
hinab. Es war eine dieser schmutzigen Hintertreppen, die man stets in
großen Mietshäusern mit kleinen Wohnungen findet. In diesem Augenblick
war es auf ihr vollständig finster. Ich tastete mich bis zum nächsten
Stockwerk hinunter und blieb dann stehen. Mir schien, als müsse sich
hier jemand vor mir auf dem Treppenabsatz versteckt haben. Ich tastete
mit den Händen längs der Wand und stieß ganz in der Ecke auf die Kleine,
die mit dem Gesichte zur Wand hin stand und leise, fast lautlos, weinte.

„Höre, warum fürchtest du dich?“ begann ich, „habe ich dich so sehr
erschreckt? Das tut mir leid. Als dein Großpapa starb, sprach er von
dir; das waren seine letzten Worte ... Bei mir liegen seine Bücher; sie
gehören jetzt wohl dir. Wie heißt du? Wo wohnst du? Er sagte, in der
sechsten Linie ...“

Doch konnte ich den Satz nicht beenden. Wie erschreckt darüber, daß ich
wissen konnte, wo sie wohne, schrie sie laut auf, stieß mich mit ihrer
mageren kleinen Hand beiseite und stürzte die Treppe hinunter. Ich
stürzte ihr nach. Unten vernahm ich noch ihre kleinen Schritte.
Plötzlich hörten sie auf ... Als ich auf die Straße trat, war sie nicht
mehr zu sehen. Ich eilte bis auf den Wosnessenskij-Prospekt hinunter und
als ich da anlangte, sah ich, daß alle meine Bemühungen vergebens waren:
sie war verschwunden. „Wahrscheinlich hat sie sich irgendwo vor mir
versteckt,“ dachte ich, „vielleicht gleich unten bei der Treppe.“


                                  XI.

Doch kaum war ich auf das feuchte, schmutzige Trottoir des Prospekts
hinausgetreten, als ich mit einem Vorübergehenden zusammenstieß, der
offenbar ganz in Gedanken versunken, den Kopf gesenkt, sich sehr
beeilte. Zu meinem größten Erstaunen erkannte ich in ihm den alten
Ichmenjeff. Es war für mich ein Abend unerwarteter Begegnungen. Ich
wußte, daß der Alte vor drei Tagen stark erkältet war, und nun plötzlich
begegne ich ihm bei diesem feuchten Wetter auf der Straße! Zudem war er
früher nie zur Abendzeit ausgegangen und seitdem Natascha die Eltern
verlassen, das heißt fast seit einem halben Jahr, rührte er sich nicht
aus dem Hause. Als er mich erblickte, schien er außerordentlich erfreut
zu sein, wie ein Mensch, der endlich einen Freund trifft, mit dem er
seine Gedanken teilen kann. Er ergriff meine Hand, drückte sie kräftig,
zog mich mit sich fort und fragte, wohin ich ginge. Er schien sehr
erregt, seine Bewegungen waren hastig und zerstreut. „Wohin mag der wohl
gegangen sein?“ dachte ich bei mir. Ihn danach zu fragen, das ging nicht
an: er war in letzter Zeit so mißtrauisch geworden, daß er oft in der
allereinfachsten Frage oder Bemerkung eine Anspielung oder Beleidigung
witterte.

Ich betrachtete ihn mir von der Seite: sein Gesicht sah krankhaft aus,
in der letzten Zeit war es sehr abgemagert, der Bart war ihm seit einer
Woche nicht mehr geschnitten worden. Das nun fast ganz ergraute Haar
quoll unordentlich unter dem verbeulten Hut hervor und hing in langen
Strähnen auf dem Kragen seines alten abgetragenen Überziehers. Ich hatte
es schon öfter bemerkt, daß er sich minutenlang ganz vergessen konnte;
er vergaß zum Beispiel, daß er allein im Zimmer war, sprach laut mit
sich selbst und gestikulierte mit den Armen. Es tat weh, ihn
anzuschauen.

„Nun, Wanjä, nun? Wohin gingst du? Siehst du, mein Lieber, ich, ich bin
ausgegangen; in Geschäften. Bist du gesund?“

„Und Sie, sind Sie gesund?“ antwortete ich. „Sie waren doch unlängst
krank, und jetzt gehen Sie aus?“

Der Alte antwortete mir nicht, es war, als hätte er mich garnicht
gehört.

„Wie geht es Anna Andrejewna?“

„Gut, gut ... Übrigens, vielleicht ist sie ein bißchen erkaltet. Sie hat
es bei mir ein wenig traurig ... Sie sprach auch von dir ... Warum bist
du nicht gekommen? Ja, gehst du jetzt mit zu uns, Wanjä, oder nicht?“
fragte er plötzlich, mich scharf und fragend ansehend.

Der mißtrauische Alte war so empfindlich geworden, daß, wenn ich ihm
jetzt geantwortet hätte, es sei nicht meine Absicht gewesen, zu ihnen zu
kommen, er sich unfehlbar beleidigt gefühlt und sich kühl von mir
verabschiedet hätte. Ich beeilte mich also, ihm zu versichern, daß ich
soeben die Absicht gehabt, Anna Andrejewna aufzusuchen, obgleich ich
wußte, daß ich mich dadurch verspäten würde und das Wiedersehen mit
Natascha überhaupt in Frage gestellt wurde.

„Nun, das ist gut,“ sagte der Alte, vollständig beruhigt durch meine
Antwort. „Das ist gut ...“

Und plötzlich verstummte er wieder und wurde nachdenklich.

„Ja, das ist gut!“ wiederholte er nach fünf Minuten wieder mechanisch
dasselbe, als erwache er aus einer tiefen Versunkenheit. „Hm! ... Siehst
du, Wanjä, du bist uns immer wie unser eigener Sohn gewesen; Gott
schenkte uns ... keinen Sohn ... und schickte uns dich; so habe ich
immer gedacht. Die Alte ... auch! Ja! Und du hast dich immer ehrerbietig
zu uns benommen, zärtlich, wie ein dankbares Kind. Möge dich Gott dafür
segnen, Wanjä, wie wir beiden Alten dich segnen und lieben ... Ja!“
Seine Stimme bebte, er hielt einen Augenblick inne.

„Ja ... nun ... wie ist es dir ergangen? Warst du nicht erkältet? Warum
warst du so lange nicht mehr bei uns?“

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte mit Smitt, entschuldigte meine
Abwesenheit durch diese Angelegenheit, sagte, daß ich mich außerdem
krank gefühlt, und daß der Weg nach Wassilij-Ostroff (wo sie damals
wohnten), sehr weit sei. Ich wollte schon hinzufügen, daß ich auch noch
nicht Zeit gefunden hatte, Natascha zu besuchen, doch fiel mir das
Unangebrachte dieser Bemerkung noch zur rechten Zeit ein und ich
verstummte.

Die Geschichte mit Smitt interessierte ihn sehr. Er wurde aufmerksamer.
Als er erfuhr, daß meine neue Wohnung feucht war, vielleicht noch
feuchter als die alte und sechs Rubel monatlich koste, war er sehr
aufgebracht. Überhaupt war er recht heftig und ungeduldig geworden. Nur
Anna Andrejewna verstand es, in solchen Augenblicken mit ihm
auszukommen, und auch das nicht immer.

„Hm! ... Das kommt von deiner Literatur, Wanjä!“ rief er wütend aus.
„Sie hat dich bis unter das Dach gebracht, und wird dich auch noch auf
den Kirchhof bringen! Habe ich dir’s damals nicht gesagt? Dich davor
gewarnt! ... Und wie steht es mit B.; schreibt er immer noch seine
Kritiken?“

„Er ist gestorben, an der Schwindsucht gestorben. Ich habe es Ihnen doch
schon mitgeteilt, wenn ich nicht irre.“

„Gestorben, hm! ... Gestorben! Ja, so mußte es kommen. Hat er seiner
Frau und seinen Kindern etwas hinterlassen? Du hast mir doch gesagt, daß
er Frau und Kinder hatte ... Woraufhin heiraten diese Leute überhaupt?“

„Nein, er hat ihnen nichts hinterlassen,“ antwortete ich.

„Nun, hab’ ich’s nicht gesagt!“ rief er außer sich, als ginge ihn die
Sache etwas an und als wäre der verstorbene B. sein eigener Bruder
gewesen. „Nichts! Also, so ... so, nichts! Nichts hinterlassen! Siehst
du, Wanjä, das hab ich vorausgefühlt, so mußte er enden, und schon
damals, weißt du noch, als du ihn immer so lobtest. Sehr einfach zu
sagen: hat nichts hinterlassen! Hm! ... hat sich dafür Ruhm erworben.
Nehmen wir an, unsterblichen Ruhm, doch von Ruhm lebt man nicht. Ich
habe damals, mein Lieber, auch bei dir alles vorausgesehen. Also so, B.
ist gestorben? Ja ... und warum soll er auch nicht sterben! Ist denn das
ein Leben hier ... in dieser Stadt! Sieh dich doch nur um!“ Und mit
einer unwillkürlichen Handbewegung wies er auf die neblige Perspektive
der wegen der undurchdringlichen Atmosphäre nur schwach erleuchteten
Straßen, auf die schmutzigen Häuser, auf die vor Feuchtigkeit
glitzernden Steinfliesen des Trottoirs, auf die finsteren und
durchnäßten Gestalten der Vorübereilenden, auf dieses ganze Bild, das
von der eintönig tuschfarbenen Kuppel eines Petersburger Himmels umrahmt
wurde. Wir traten auf den Platz hinaus; aus dem Dunkel vor uns erhob
sich das Denkmal Nikolais, von Gasarmen umgeben und von unten durch
Gasarme und Kandelaber beleuchtet, weiterhin die dunkle, kolossale Masse
der Isaakskirche, deren Formen bei der Dunkelheit des Himmels nur
undeutlich zu erkennen waren.

„Du sagtest doch, Wanjä, daß er ein großzügiger, sympathischer Mensch
gewesen sei, mit Herz und Verstand. Alle sind sie so, deine
sympathischen Leute mit den guten Herzen. Die Zahl der Waisenkinder zu
vermehren, das ist alles, was sie verstehen! Hm! ... ja und zu sterben
muß für ihn lustig gewesen sein, denke ich! he, he, he! Wäre er von hier
fortgefahren, und wär’s nach Sibirien! ... Was willst du, Kleine?“
fragte er plötzlich ein Kind, das ihn um Almosen bat.

Es war ein kleines schwächliches Mädchen, von sieben Jahren etwa, in
schmutzige Lumpen, beinah Fetzen gekleidet. Die nackten Füßchen steckten
in durchlöcherten Schuhen. Sie strengte sich an, den vor Kälte
zitternden Körper in ein altes Mäntelchen zu hüllen, dem sie längst
schon entwachsen war. Das abgemagerte, bleiche Gesichtchen war uns
zugewandt; sie sah uns stumm, mit flehenden Blicken an und mit ergebener
Furcht vor einer Absage streckte sie uns ihr zitterndes Händchen
entgegen. Der Alte erbebte, als er es sah und wandte sich so hastig zu
ihr hin, daß sie erschrak. Sie zuckte zusammen und fuhr entsetzt zurück.

„Was willst du, Kind?“ schrie er. „Was bittest du? Da, nimm ... nimm,
da!“ –

Und er wühlte mit zitternder Hand in seiner Tasche herum und holte zwei
oder drei Silberstücke heraus. Es schien ihm aber doch zu wenig, er zog
seine Geldtasche hervor und nahm einen Rubelschein heraus – alles was in
ihr enthalten war – und legte das Geld in die Hand des Bettelkindes.

„Möge Christus dich behüten, Kleine ... Mögen dich, mein Kind, Gottes
Engel begleiten!“

Mit zitternder Hand bekreuzte er mehrmals die Kleine, doch als er sah
und ihm einfiel, daß ich dabeistand und ihm zusah, runzelte er die
Stirne und setzte mit raschen Schritten seinen Weg fort.

„Siehst du, Wanjä,“ begann er nach langem, fast wütendem Schweigen, „ich
kann es nicht ansehen, wie diese kleinen, unschuldigen Geschöpfe, vor
Kälte zitternd auf der Straße ... ihrer verfluchten Mütter und Väter
wegen ... Übrigens, welche Mutter wird wohl ihr Kind hinaus in dieses
Unglück schicken, wenn nicht eine im tiefsten Elend! ... Wahrscheinlich
sitzen bei ihr in der Ecke noch andere Waisenkinder, diese war wohl die
Älteste; sicher ist sie krank ... die Mutter und ... hm! Nicht alle sind
Fürstenkinder ... viele Kinder gibt es in der Welt, Wanjä, ... die ...
hm!“

Er verstummte auf einen Augenblick, als wüßte er nicht, wie er
fortfahren sollte.

„Ich, siehst du, Wanjä, habe Anna Andrejewna versprochen,“ begann er ein
wenig verwirrt und unsicher, „ich habe ihr versprochen ... das heißt,
wir sind beide miteinander einig, Anna Andrejewna und ich, ein
Waisenkind zur Erziehung anzunehmen, ... so irgend ein armes, kleines,
ganz ins Haus zu uns ... Du verstehst doch? Uns Alten ist es einsam, so
allein ... hm ... nur, siehst du! Aber Anna Andrejewna scheint sich doch
noch dagegen zu sträuben. Sprich du doch mit ihr, weißt du, nicht von
mir aus, du weißt schon, sondern von dir aus, berede sie doch ... Du
verstehst mich? Schon lange wollte ich dich darum bitten ... sie möge
doch einwilligen ... ich kann es so recht nicht tun ... aber was rede
ich von diesen Albernheiten! Was geht mich ein Kind an? Ich habe es
nicht nötig! Nur so zur Beruhigung ... um ein Kinderstimmchen zu hören
..., und, ich tue es doch nur der Alten wegen; es wird für sie lustiger
sein, als immer mit mir Altem allein. Doch, alles das ist dummes Zeug!
Und – so kommen wir nicht weiter; nehmen wir eine Droschke, es ist noch
weit und Anna Andrejewna erwartet uns schon lange ...“

Es war halb acht, als wir endlich bei Anna Andrejewna ankamen.


                                  XII.

Die alten Ichmenjeffs liebten sich sehr. Liebe und langjährige
Gewohnheit hatte sie unzertrennlich aneinandergefesselt. Doch war
Nikolai Ssergejewitsch nicht nur jetzt, sondern auch schon früher in
seinen glücklichen Zeiten, nicht sehr mittelsam zu seiner Anna
Andrejewna gewesen, und hin und wieder geradezu streng mit ihr
umgegangen, letzteres besonders in Gegenwart von fremden Leuten. In
einigen Naturen, die sehr zart und feinfühlend sind, erhebt sich
manchmal ein Widerstand dagegen, der von ihnen geliebten Person ihre
Zärtlichkeit nicht nur in Gegenwart von Menschen, sondern auch unter
vier Augen zu zeigen. Nur hin und wieder bricht die Zärtlichkeit durch,
um so heißer und leidenschaftlicher, je länger sie zurückgehalten worden
war! So verhielt sich auch teilweise der alte Ichmenjeff zu seiner Anna
Andrejewna, und zwar von Anfang an in seiner Ehe mit ihr. Er achtete und
liebte sie grenzenlos, ungeachtet dessen, daß sie nur eine gute Frau
war, die nichts als ihn zu lieben verstand; und er ärgerte sich oft sehr
darüber, daß sie sich ihrerseits in ihren Gefühlen zu ihm, in ihrer
Natürlichkeit, keinen Zwang antat. Doch seit Natascha sie verlassen,
waren sie viel zärtlicher zueinander geworden; sie fühlten es
schmerzlich, daß sie jetzt ganz allein auf der Welt waren. Und obgleich
Nikolai Ssergejewitsch oft sehr verschlossen und finster war, so konnten
doch beide nicht zwei Stunden ohne Schmerz und Sehnsucht voneinander
getrennt sein. Sie waren schweigend übereingekommen, von Natascha mit
keinem Wort zu sprechen, als wäre sie niemals auf der Welt gewesen. Anna
Andrejewna wagte in Gegenwart ihres Mannes denn auch nicht, Natascha nur
im geringsten zu erwähnen, obgleich es ihr sehr schwer fiel. Sie hatte
Natascha in ihrem Herzen schon längst verziehen. Zwischen uns war
gewissermaßen eine stillschweigende Abmachung getroffen worden, daß ich
zu jedem Besuch bei ihr Nachrichten von ihrem unvergeßlichen, geliebten
Kinde brachte.

Die Alte wurde krank, wenn sie länger keine Nachrichten hatte, und
sobald ich dann wieder bei ihr erschien, wollte sie aber auch die
kleinste Einzelheit wissen. Mit zitternder Neugier erkundigte sie sich
nach allem, was ich gesehen, und wäre beinahe vor Schreck gestorben, als
sie hörte, daß Natascha erkrankt war; fast wäre sie selbst zu ihr
gegangen. Doch hätte sie es wohl nur im äußersten Fall getan. Sie wagte
mir gegenüber nicht einmal den Wunsch, ihre Tochter wiederzusehen,
auszusprechen, und jedesmal hielt sie es nach unseren Gesprächen,
nachdem sie mich über alles ausgeforscht, für ihre Pflicht,
nachdrücklich zu wiederholen, daß, wenn sie sich auch nach wie vor sehr
um das Schicksal ihrer Tochter kümmere und sorge, Natascha doch eine
Verbrecherin bliebe, der man nicht verzeihen könne. Das war jedoch alles
nur äußerlich. Es kam vor, daß Anna Andrejewna sich bis zur
Krankhaftigkeit abquälte, in meiner Gegenwart Natascha mit den
zärtlichsten Namen nannte, sich bitter über Nikolai Ssergejewitsch
beklagte, und in seiner Anwesenheit, wenn auch mit großer Vorsicht,
versteckte Anspielungen machte, von Hochmut und Hartherzigkeit der
Menschen sprach und davon, daß wir nicht zu verzeihen verstünden, Gott
aber den Verstockten seinerseits auch nicht vergäbe – doch mehr wagte
sie in seiner Gegenwart nicht zu sagen. In solchen Augenblicken
verdüsterte sich das Gesicht des Alten, er wurde mürrisch und
schweigsam, und plötzlich sprach er dann, gewöhnlich sehr ungeschickt,
laut von etwas ganz anderem, um dann schließlich doch aufzustehen und
sich in sein Zimmer zurückzuziehen, um auf diese Weise Anna Andrejewna
die Möglichkeit zu geben, ihren Kummer vor mir auszuschütten und sich
auszuweinen. Ebenso zog er sich bei meinen Besuchen, nachdem er mich
begrüßt hatte, immer gleich zurück, um mir Gelegenheit zu geben, Anna
Andrejewna die letzten Nachrichten über Natascha mitzuteilen. So tat er
es auch diesmal.

„Ich bin ganz durchnäßt,“ sagte er zu ihr, als wir kaum ins Zimmer
getreten waren, „ich gehe in mein Zimmer, und du, Wanjä, bleibe hier.
Ihm ist eine Geschichte passiert ... mit der Wohnung; erzähle ihr das.
Ich komme gleich wieder zurück ...“

Und er eilte hinaus, bemüht, uns nicht anzusehen, als schäme er sich,
daß er uns selbst zusammenbrachte. Wenn er wieder zu uns zurückkehrte,
war er dann mürrisch, sowohl gegen mich als gegen Anna Andrejewna, ganz,
als ärgere er sich über seine eigene Weichheit und Nachgiebigkeit.

„So ist er immer,“ sagte die Alte, die in letzter Zeit ihre frühere
Zurückhaltung gegen mich ganz aufgegeben hatte. „Immer ist er so zu mir;
dabei weiß er doch, daß wir seine Schlauheit durchschauen. Warum
verstellt er sich vor mir! Bin ich denn etwa eine Fremde für ihn? So ist
er auch zu seiner Tochter. Er könnte ihr doch verzeihen, vielleicht
wünscht er es sogar, Gott weiß es! Die Nächte über weint er, habe es
selbst gehört! Äußerlich will er sich stark zeigen. Der Stolz beherrscht
ihn ... Lieber Iwan Petrowitsch, erzähl’ schneller: wohin war er
gegangen?“

„Nikolai Ssergejewitsch? Ich weiß es nicht: ich wollte Sie fragen.“

„Und ich dich! Mir wurde ganz schwach zumute, als ich ihn gehen sah. Er
ist doch krank, und bei solchem Wetter, in der Dunkelheit! Nun, dachte
ich, der muß etwas wichtiges vorhaben; was kann es aber wichtigeres
geben, als die uns bekannte Angelegenheit? So dachte ich bei mir, aber
zu fragen wagte ich ihn nicht. Großer Gott, ich zitterte ordentlich bei
dem Gedanken an ihn und an sie. Nun, dachte ich, jetzt geht er zu ihr;
jetzt wird er ihr verzeihen! Er hat doch alles erfahren, auch die
letzten Nachrichten von ihr kennt er. Ich bin fest überzeugt, daß er
alles weiß, woher er aber Nachrichten über sie erhält, kann ich mir
nicht vorstellen. Gar zu sehr grämte er sich schon gestern, und heute
gleichfalls. Ja, was schreist du denn! Erzähle doch, mein Lieber, was
dort vorgefallen ist! Wie einen Engel Gottes habe ich dich erwartet,
habe mir die Augen nach dir ausgesehen. Nun, wie ist es, verläßt dieser
Bösewicht Natascha?“

Ich erzählte sofort Anna Andrejewna alles, was ich selbst wußte. Zu ihr
war ich immer vollkommen aufrichtig. Ich teilte ihr mit, daß es in der
Tat diesmal zwischen Natascha und Aljoscha zu einem Bruch kommen könnte;
daß diesmal der Konflikt ernster als die früheren sei; daß Natascha mir
gestern einen Zettel geschickt und mich gebeten, heute abend um neun Uhr
zu ihr zu kommen, weshalb ich auch garnicht die Absicht gehabt, hierher
zu gehen, aber Nikolai Ssergejewitsch habe mich mitgenommen. Ich
erzählte ihr, und erklärte ihr ausführlich, daß die Lage jetzt eine sehr
kritische sei; daß der Vater Aljoschas, der vor zwei Wochen von einer
Reise zurückgekehrt sei, von alledem nichts hören wolle und energisch
gegen Aljoscha vorgehe. Doch wichtiger sei, daß Aljoscha selbst, wie es
scheine, zu der andern hinneige, und wie man höre, sich sogar in sie
verliebt haben solle. Ich fügte noch hinzu, daß der Brief von Natascha
in großer Aufregung geschrieben sei, und daß heute, wie sie darin
schrieb, alles sich entscheiden würde. In welcher Richtung? Das sei noch
unentschieden. Sonderbar, daß sie _heute_ geschrieben, mir aber befohlen
habe, morgen um neun Uhr abends zu kommen. Darum müsse ich auch sofort
gehen, und zwar so schnell als möglich.

„Gehe nur, gehe, Junge, gehe sofort,“ rief Anna Andrejewna besorgt und
beunruhigt, „sobald er kommt, trinkst du noch rasch den Tee ... Warum
hat man den Samowar noch nicht gebracht! Matrjona! Wo bleibt denn der
Samowar? Der Nichtsnutz! ... Wenn du also deinen Tee ausgetrunken hast,
finde einen passenden Vorwand, und – fort mit dir! Morgen aber komme
unbedingt zu mir und erzähle mir alles. Ja, komme so früh als möglich.
Großer Gott! Wenn nur kein Unglück geschieht! Kann es denn noch
schlechter kommen! Nikolai Ssergejewitsch hat sicher schon alles
erfahren, mein Herz sagt es mir, daß er alles schon weiß. Ich habe ja
auch von Matrjona vieles erfahren und diese wieder durch Agascha;
Agascha wiederum ist ein Taufkind von Marja Wassiljewna, die im Hause
des Fürsten dient ... nun, du weißt doch selbst alles. Böse war heute
Nikolai Ssergejewitsch, böse. Ich sprach nur so von diesem und jenem, er
aber schrie mich an, wie ein Wütender; später tat es ihm leid,
behauptete, wir hätten bald kein Geld mehr. Als wäre er des Geldes wegen
wütend gewesen! Nun, du kennst ja doch unsere Verhältnisse. Nach dem
Mittagessen ging er schlafen. Ich blickte durch die Türspalte ins Zimmer
(in der Tür ist eine kleine Spalte, er weiß nichts von ihr), er aber,
mein Täubchen, lag auf den Knien vor einem Heiligenbild und betete. Als
ich das erblickte, da wankten mir die Knie. Und den Tee trank er nicht,
geschlafen hat er auch nicht. Nahm seinen Hut und ging. Ich wagte nicht
ihn zu fragen; er hätte mich wieder angeschrien. Er schreit jetzt des
öfteren, wenn er mich nicht anschreit, dann Matrjona; so wie er aber zu
schreien anfängt, zittern mir die Knie und mein Herz hört auf zu
schlagen. Wenn er auch übertreibt, nun ich weiß ja doch, daß er
absichtlich so tut, aber schrecklich ist es doch. Als er fortging, habe
ich zu Gott eine ganze Stunde gebetet, er möge alles zum Guten lenken.
Wo ist ihr Brief, zeig’ ihn mir!“

Ich gab ihr den Brief. Ich wußte, daß Anna Andrejewna nur den einen
Wunsch hatte, daß Aljoscha, den sie einen Bösewicht und dummen Jungen
nannte, zuletzt doch Natascha heiraten würde, und daß sein Vater, der
Fürst Pjotr Alexandrowitsch, seine Einwilligung dazu gäbe. Sie hatte es
einmal sogar mir gegenüber ausgesprochen, es dann jedoch bereut und
mehrmals widerrufen. Niemals aber hätte sie ihre Hoffnungen vor Nikolai
Ssergejewitsch auszusprechen gewagt, obgleich sie wußte, daß der Alte
ihr das nachtrug und ihr im stillen geradezu Vorwürfe deswegen machte.
Ich glaube, er hätte Natascha auf immer verflucht und ihr Andenken ganz
aus seinem Herzen gerissen, wenn er auch nur von einer Möglichkeit
dieser Ehe erfahren hätte.

Wir alle waren damals derselben Meinung. Er erwartete seine Tochter mit
jeder Fiber seines Herzens, doch erwartete er sie allein, reuig und
bereit, jede Erinnerung an ihren Aljoscha aus ihrem Herzen zu reißen.
Nur unter dieser einen Bedingung hätte er ihr verziehen – wenn er das
auch nicht in dieser Weise ausgesprochen, so begriff man es doch sofort,
wenn man ihn nur ansah.

„Charakterlos ist er, ein charakterloser, grausamer Junge ist er, das
habe ich immer gesagt,“ begann Anna Andrejewna wieder von neuem. „Man
hat ihn nicht zu erziehen verstanden, ein Leichtsinn ist er geworden. Um
dieser neuen Liebe willen sie zu verlassen! Gott, mein Gott! Was wird
aus der Armen werden? Und was er wohl an der Anderen gefunden haben mag,
das begreife ich nicht!“

„Ich habe gehört, Anna Andrejewna,“ bemerkte ich, „daß diese Braut ein
reizendes, bezauberndes Mädchen sein soll, auch Natalja Nikolajewna hat
es von ihr behauptet ...“

„Und du glaubst natürlich alles!“ unterbrach sie mich. „Bezaubernd? Für
euch Federfuchser ist jede bezaubernd, wenn sie nur einen Rock an hat.
Und wenn Natascha sie lobt, so tut sie das nur, weil sie ein edles Herz
hat. Sie versteht nicht ihn zu halten, alles verzeiht sie ihm, selbst
aber leidet sie. Wie oft ist er ihr schon untreu gewesen! Böse,
hartherzige Menschen! Mich aber packt die Angst, Iwan Petrowitsch! Der
Stolz blendet sie alle. Wenn der Meine sich wenigstens überwinden,
meinem Täubchen verzeihen und es wieder zu mir bringen würde! Wie wollte
ich sie umarmen, mich an ihr satt sehen! Sie sieht wohl sehr elend aus?“

„Ja, Anna Andrejewna.“

„Die Arme! Und mit mir steht es auch nicht ganz gut, Iwan Petrowitsch!
Die ganze Nacht und den ganzen heutigen Tag habe ich geweint ...
worüber, das werde ich dir später erzählen! Wievielmal habe ich ihm
nicht von ferne angedeutet, er möge ihr doch verzeihen: geradeaus wage
ich es ihm nicht zu sagen, doch so auf Umwegen muß man’s ihm beibringen.
Das Herz erstirbt mir dabei in der Brust: wenn er nun wütend wird, und
sie noch verflucht! Verflucht hat er sie noch nicht, das habe ich von
ihm noch nicht gehört ... Darum fürchte ich mich aber auch so sehr, daß
er es nur ja nicht tut! Was würde wohl dann sein? Der Fluch des Vaters
ist auch Gottes Fluch. So lebe ich, jeden Tag zittere ich vor Angst. Und
auch du solltest dich schämen, Iwan Petrowitsch; bist in unserem Hause
aufgewachsen, hast elterliche Liebe von uns empfangen und hast dir auch
ausgedacht, daß die Andere bezaubernd sei! Was geht denn dich das an?
Was für eine Bezaubernde? Da hat Marja Wassiljewna besser gesprochen.
(Ich habe es gewagt: habe sie einmal zu mir zum Kaffee eingeladen, als
Meiner einen ganzen Morgen in Geschäften aus war.) Sie hat mich über
alles aufgeklärt. Der Fürst, der Vater von Aljoscha, hat zu der Gräfin
in unerlaubten Beziehungen gestanden. Die Gräfin hat ihm schon immer
vorgeworfen, daß er sie nicht heirate, er hat es aber immer wieder
aufgeschoben. Die Gräfin jedoch stand schon bei Lebzeiten ihres Gemahls
in schlechtem Rufe. Als ihr Mann starb, reiste sie ins Ausland: hier
lernte sie Italiener, Franzosen, Barone und Grafen kennen, und da hat
sie auch den Fürsten Pjotr Alexandrowitsch gekrallt. Ihre Stieftochter
aber, die Tochter ihres ersten Mannes, der ein Branntweinpächter war,
wuchs allmählich heran. Die Gräfin, ihre Stiefmutter also, hatte bis
dahin alles verlebt, was sie besaß, mit Katherina Fedorowna zusammen
aber wuchsen auch die zwei Millionen heran, die ihr Vater für sie in der
Bank deponiert hatte. Jetzt, sagt man, habe sie drei Millionen, und da
hat sich denn der Fürst gedacht, daß es sehr vorteilhaft wäre, Aljoscha
mit ihr zu verheiraten. (Fürchte dich nicht, der läßt nichts durch.) Der
Graf, der vornehme, hochgestellte Hofmann, ihr Verwandter, hat
eingewilligt; drei Millionen sind kein Spaß! Gut, sagt er, sprechen Sie
mit der Gräfin. Der Fürst teilt der Gräfin seinen Wunsch mit. Die ist
dagegen, mit Händen und Füßen. Eine tolle Frau, sagt man, ohne jeden
Anstand! Hier sollen sie schon viele nicht mehr empfangen, wie wird es
erst im Auslande gewesen sein! Nein, sagt sie, du, Fürst, mußt mich
heiraten, meine Stieftochter bekommt Aljoscha nicht. Die Tochter soll
aber eine Seele von Mensch sein, doch ihrer Stiefmutter in allem
untertan und sie geradezu anbeten. Eine bescheidene, sagt man, eine
engelsgute Seele! Der Fürst versteht natürlich sofort, um was es sich
handelt, und sagt es ihr auch: ‚Du, Gräfin, beunruhige dich nicht. Du
hast dein Gut verlebt und eine Menge Schulden. Wenn aber deine
Stieftochter Aljoscha heiraten wird, so gibt es ein gutes Paar: sie ist
unschuldig wie ein Engel und Aljoscha ein Dummkopf; wir werden sie beide
zusammen bevormunden, dann wirst auch du Geld haben. Was nützt es dir,
wenn ich dich heirate?‘ sagte er. Ein schlauer Mensch. Ein Freimaurer!
Vor einem halben Jahr hat die Gräfin sich nicht dazu entschließen
können, jetzt, sagt man, seien sie nach Warschau gefahren, dort habe sie
eingewilligt. So ist es. Das hat mir alles Marja Wassiljewna erzählt,
die es selbst von einem glaubwürdigen Menschen erfahren. Nun, siehst du
wohl: um Geld handelt’s sich, um Millionen, und nicht darum, daß sie
bezaubernd ist!“

Die Erzählung Anna Andrejewnas setzte mich in Erstaunen. Sie stimmte
vollkommen mit dem überein, was ich selbst unlängst von Aljoscha gehört
hatte. Als er es mir erzählte, behauptete er fest, daß er nie des Geldes
wegen heiraten würde. Doch hatte Katherina Fedorowna einen tiefen
Eindruck auf ihn gemacht. Ich hörte auch von Aljoscha, daß der Vater
selbst vielleicht heiraten möchte, doch alles Gerede darüber als unwahr
bezeichne, um die Gräfin nicht vorher zu reizen. Ich sagte bereits, daß
Aljoscha seinen Vater sehr liebte und pries, und an ihn, wie an einen
Gott, glaubte.

„Und nicht aus gräflichem Geschlecht ist sie, deine Bezaubernde!“ fuhr
Anna Andrejewna fort, sehr gereizt über das Lob, das ich der zukünftigen
Braut des jungen Fürsten gespendet hatte. „Natascha wäre für ihn eine
bessere Partie. Sie ist die Tochter eines Kaufmanns. Natascha aber ist
aus altem adligem Geschlecht. Mein Alter öffnete gestern (ich habe es
vergessen, dir zu sagen) seine eiserne Kiste, du kennst sie doch, und
hat den ganzen Tag in alten Urkunden geblättert. So ernst saß er da. Ich
strickte meinen Strumpf und wagte nicht, ihn anzusehn. Als er nun sieht,
daß ich schweige, wird er wütend, er muß mich nun selbst rufen und da
hat er mir den ganzen Abend unseren Stammbaum erklärt: Und so erfuhr ich
denn, daß die Ichmenjeffs schon zu Zeiten Iwan Wassiljewitsch des
Grausamen den Adel besaßen und meine Familie, das Geschlecht der
Schumiloffs, schon unter Alexei Michailowitsch bekannt war, und eine
Rolle gespielt hat – wir haben die Dokumente darüber und auch in der
Geschichte Karamsins sind wir verzeichnet. Also, mein Väterchen, wir
sind nicht schlechter in der Beziehung als die Anderen. Als der Alte mir
das zu erklären anfing, verstand ich, was er im Sinne hatte. Ihn kränkt
es, daß man Natascha so gering einschätzt. Nur mit dem Reichtum sind sie
uns über. Nun, möge sich dieser Räuber Pjotr Alexandrowitsch um sein
Geld mühen: das ist ja allen bekannt: er ist eine hartherzige, gierige
Seele. Er sei in Warschau, sagt man, zu den Jesuiten übergetreten? Ist
es wahr, was glaubst du?“

„Dummes Gerede,“ antwortete ich, doch unwillkürlich interessierte mich
die Hartnäckigkeit, mit der sich dieses Gerücht verbreitete und erhielt.
Auch die Nachricht von Nikolai Ssergejewitsch, der seine Urkunden
durchsuchte, interessierte mich sehr. Früher hatte er nie seines
Geschlechtes Erwähnung getan.

„Alle sind sie hartherzige Menschen!“ fuhr Anna Andrejewna fort. „Doch,
was tut sie, mein Täubchen? grämt sie sich, weint sie? Es ist Zeit, daß
du zu ihr gehst! Matrjona, Matrjona! Wo bleibst du, Nichtsnutz! Haben
sie sie beleidigt? Sage doch, Wanjä!“

Was sollte ich antworten? Sie fing an zu weinen. Ich fragte sie, welches
Unglück sie denn noch betroffen hätte, wie sie vorhin gesagt.

„Ach, mein Lieber, als ob es noch nicht genug wäre, als ob der Kelch
nicht zum Überfließen voll wäre! Erinnerst du dich, mein Freund, oder
weißt du nicht mehr, daß ich ein goldenes Medaillon besaß, mit Nataschas
Bildchen, aus ihren Kinderjahren; acht Jahre alt war sie damals, mein
Herzenskind. Wir bestellten es bei einem durchreisenden Maler, du hast
es wohl sicher vergessen, mein Lieber! Ein guter Maler war es, er hat
sie als Kupido dargestellt: helles lockiges Haar hatte sie damals,
durchs Hemdchen schien ihre weiße Haut durch, und so reizend sah sie
aus, daß man sich gar nicht an ihr sattsehen konnte. Ich bat den Maler,
ihr doch Flügel anzumalen, doch er wollte es nicht tun. Nun, siehst du,
mein Lieber, in diesen schrecklichen Tagen hatte ich es aus der
Schatulle herausgenommen und es mir um den Hals gehängt; so hing es
neben meinem Kreuz, und ich fürchetete schon immer, der Alte würde es
vielleicht bemerken. Er befahl doch damals, alle ihre Sachen aus dem
Hause zu entfernen oder zu verbrennen, damit wir durch nichts mehr an
sie erinnert würden. Ich aber war glücklich, wenn ich das Bild
wenigstens betrachten konnte; ich sehe es mir an und weine mich aus,
dann wird mir leichter ums Herz; ein anderes Mal aber, wenn ich allein
bin, küsse ich es, als wäre sie es selbst und nenne sie bei ihrem Namen
und bekreuzige sie zur Nacht. Ich spreche laut mit ihr, wenn ich allein
bin, frage sie dies und jenes und mir ist, als antworte sie mir. Ach,
mein lieber Wanjä, schwer ist es mir, davon zu sprechen! Nun, ich war
froh, daß er wenigstens vom Medaillon nichts bemerkt hatte; wie ich aber
gestern abend nach meinem Medaillon greife, ist es nicht mehr da. Mir
schwanden die Sinne. Suche, suche und suche – nichts! Es ist verloren
und bleibt verloren! Und wie kann ich es verloren haben? Im Bett, denke
ich, habe ich es abgerissen; ich kehre das ganze Bett um, – nichts! Wenn
ich es verloren habe, wer kann es denn finden, wenn nicht _er_ oder
Matrjona? Nun, Matrjona kann ich schon garnicht verdächtigen, sie ist
mir mit ganzer Seele zugetan ... (Matrjona, wirst du endlich den Samowar
aufstellen?) Nun, denke ich, wenn er es findet, was wird dann sein? Ich
sitze da und weine, weine, kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Und Nikolai Ssergejewitsch ist so zärtlich zu mir, und sieht mich
bedauernd an, als wüßte er, warum ich weine. Und da denke ich: er hat
das Medaillon gefunden und es aus dem Fenster geworfen! In seinem Herzen
ist er doch fähig dazu; hat es hinausgeworfen und jetzt tut es ihm
selbst leid, bedauert es jetzt, denke ich. Nun, ich lief unter das
Fenster, um es mit Matrjona zu suchen, – wir fanden nichts. Ich weinte
die ganze Nacht über. Zum ersten Male hatte ich sie nicht zur Nacht
bekreuzigt. Oh, das führt zum Schlechten, zum Schlechten, Iwan
Petrowitsch, das bedeutet nichts Gutes; auch den nächsten Tag wurden
meine Augen nicht trocken, immer wieder weinte ich. Habe dich erwartet,
mein Freund, wie einen Engel Gottes, damit du meine Seele erlösest ...“

Und sie weinte bitterlich.

„Ach, ja, was ich vergessen, dir zu sagen!“ begann sie plötzlich, ganz
erfreut darüber, daß es ihr eingefallen, „hast du etwas von dem
Waisenkind gehört?“

„Ja, Anna Andrejewna, er hat mir erzählt, Sie hätten beide beschlossen,
ein armes Mädchen, eine Waise, zur Erziehung anzunehmen. Ist das wahr?“

„Nicht gedacht habe ich daran, mein Lieber, nicht gedacht! Und
überhaupt, ein Waisenkind will ich nicht haben! Nur an unser schweres
Schicksal, an unser Unglück, wird sie uns erinnern. Außer Natascha will
ich niemanden haben. Meine einzige Tochter war sie, meine einzige wird
sie auch bleiben. Doch, was soll das wohl bedeuten, dieser Einfall mit
der Waise? Was denkst du davon, Iwan Petrowitsch? Mir zur Beruhigung,
etwa, damit ich mein leibliches Kind vergessen und mich an ein anderes
gewöhnen soll? Was hat er dir von mir erzählt? Wie schien er dir –
streng ... böse? Ts! Er kommt! Nachher davon, nachher! ... Morgen mußt
du kommen, vergiß nicht ...“


                                 XIII.

Der Alte trat ein. Er blickte uns neugierig und fast etwas verschämt an,
dann verfinsterte sich sein Gesicht und er trat an den Tisch.

„Nun,“ fragte er, „hat man noch immer nicht den Samowar gebracht?“

„Man bringt ihn sofort, Väterchen, sofort; nun, da ist er schon,“
beeilte sich Anna Andrejewna zu bemerken.

Matrjona erschien sofort mit dem Samowar, als sie den Herrn erblickte,
ganz als hätte sie nur auf ihn gewartet. Diese Matrjona war eine alte,
erprobte und ergebene Dienerin, aber die eigenwilligste und brummigste
von allen Mägden der Welt, mit eigensinnigem, rechthaberischem
Charakter. Nikolai Ssergejewitsch jedoch fürchtete sie und vor ihm hielt
sie den Mund. Dafür entschädigte sie sich aber um so mehr an Anna
Andrejewna, war gegen sie grob und zeigte ihr auf Schritt und Tritt den
Wunsch, über sie, ihre Herrin, zu herrschen, obwohl sie zu gleicher Zeit
ihr und Natascha von Herzen ergeben war. Ich hatte Matrjona schon in
Ichmenjeffka gekannt.

„Hm ... es ist nicht angenehm, so durchnäßt zu sein, und hier will man
einem nicht einmal den Tee bereiten,“ brummte der Alte halblaut vor sich
hin.

Anna Andrejewna warf mir einen verständnisvollen Blick zu, heimlich auf
ihren Mann weisend. Er aber konnte die geheimen Einverständnisse nicht
leiden, und wenn er sich in diesem Augenblicke auch die Mühe gab, sie
nicht zu bemerken, so konnte man es ihm doch ansehen, daß er alles wußte
und verstanden hatte.

„Ich war in Geschäften ausgegangen, Wanjä,“ begann er plötzlich. „Alles
in den Dreck gefahren. Sagte ich dir nicht? Mich werden sie verurteilen.
Beweise habe ich nicht; die nötigen Papiere fehlen mir; die Angaben
sollen sich als unrichtig erweisen ... Hm! ...“

Er sprach von seinem Prozeß mit dem Fürsten; dieser Prozeß zog sich noch
immer hin, nahm aber für Nikolai Ssergejewitsch die denkbar schlechteste
Wendung. Ich schwieg, ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte. Er
blickte mich argwöhnisch an.

„Und was tut’s!“ griff er plötzlich auf, als reizte ihn unser Schweigen,
„je schneller, desto besser. Zum Schurken können sie mich nicht machen,
wenn sie mich auch verurteilen, zu bezahlen. Ich habe mein reines
Gewissen, mögen sie beschließen, was sie wollen. Wenigstens wird die
Sache einmal ihr Ende nehmen; sie befreien mich, indem sie mich zugrunde
richten ... Ich werde alles hinwerfen und gehe nach Sibirien.“

„Um Gottes willen, wohin gehen! Weshalb so weit!“ konnte Anna Andrejewna
sich nicht enthalten, auszurufen.

„Und hier, wem sind wir hier denn nah und irgend etwas wert?“ fragte er
sie brutal und als freute er sich dieser Erwiderung.

„Immerhin doch ... in der Nähe von Menschen ...“ erwiderte Anna
Andrejewna, mich traurig ansehend.

„Von Menschen!“ fuhr er auf, seinen flammenden Blick von mir auf sie
heftend und wieder zurücklenkend, „von welchen Menschen? Von Räubern,
Verleumdern und Verrätern? Die gibt es überall; beunruhige dich nicht,
auch in Sibirien findet man sie. Wenn du nicht mit mir fahren willst, so
bleibe, bitte, hier; ich werde dich nicht zwingen, mitzukommen.“

„Väterchen, Nikolai Ssergejewitsch! Was soll ich denn ohne dich!“ rief
die arme Anna Andrejewna. „Ich habe doch, außer dir, in der ganzen Welt,
niem...“

Sie stockte, schwieg und sah mich erschrocken und flehend an, als bäte
sie mich um Beistand und Hilfe. Der Alte war gereizt; nörgelte an jedem
Wort; ihm widersprechen durfte man jetzt nicht.

„Beruhigen Sie sich, Anna Andrejewna,“ sagte ich, „in Sibirien ist es
durchaus nicht so schlimm, wie es scheint. Wenn das Unglück geschehen
sollte, daß Sie Ichmenjeffka verkaufen müssen, so ist die Absicht
Nikolai Ssergejewitschs sogar sehr gut. In Sibirien kann man einen guten
Privatverdienst finden, – und dann ...“

„Nun, es freut mich, daß du etwas von der Sache verstehst, Iwan. Ich
habe so beschlossen; ich verwerfe die ganze Sache und fahre.“

„Nein, das hatte ich doch nicht erwartet!“ rief Anna Andrejewna und
schlug die Hände zusammen. „Also auch du, Wanjä! Von dir, Iwan
Petrowitsch, hätte ich das denn doch nicht erwartet ... Ich dächte, du
hättest doch von uns nichts anderes als Liebe erfahren, und jetzt ...“

„Ha, ha, ha! Was hattest du denn erwartet? Wovon werden wir denn leben,
was denkst du wohl! Das Geld ist verlebt, bald stehen wir vor dem
Nichts! Befiehlst du vielleicht, daß ich zum Fürsten Pjotr
Alexandrowitsch gehe und ihn um Verzeihung bitte?“

Als die Alte den Namen des Fürsten hörte, fing sie vor Schreck an zu
zittern. Der Löffel in ihrer Hand schlug hell und vernehmbar an die
Untertasse.

„Nein, wirklich, Wanjä, was meinst du,“ fuhr der Alte weiter fort, mit
boshafter, hartnäckiger Schadenfreude. „Warum nach Sibirien fahren?
Besser ist’s, ich ziehe mich morgen an, kämme mich, putze mich, Anna
Andrejewna wird mir ein neues Vorhemd zurechtlegen, werde mir neue
Handschuhe kaufen, und zu Sr. Durchlaucht fahren: Väterchen, Euer
Durchlaucht, Gönner und Wohltäter! Üben Sie Gnade an mir, geben Sie mir
mein Stück Brot wieder, ... meine Frau ... meine kleinen Kinder! ...
Soll ich’s so machen, Anna Andrejewna? Wünschst du es so?“

„Väterchen ... ich will nichts, garnichts will ich! Habe nur so aus
Dummheit gesagt; verzeih, wenn ich dich geärgert habe, nur höre auf.“
Sie zitterte immer mehr vor Angst und Erregung.

Ich bin überzeugt, daß in dem Augenblicke, als er die Angst und die
Tränen seiner armen Frau sah, der Schmerz seine Seele durchbohrte; ich
bin überzeugt, daß er noch mehr litt; doch konnte er jetzt nicht mehr an
sich halten. So geschieht es meistens bei herzensguten, aber weichen
Menschen, die ungeachtet ihrer Güte sich von ihrem eigenen Zorn und
Schmerz so weit hinreißen lassen, daß es ihnen zum Genuß wird, sich
selbst zu quälen und dabei einen anderen nahestehenden und ganz
unschuldigen Menschen in Mitleidenschaft zu ziehen. Frauen, zum
Beispiel, haben oft ein Bedürfnis, sich unglücklich und beleidigt zu
fühlen, obgleich weder eine Beleidigung noch ein Unglück vorliegt. Auch
gibt es Männer, die in dem Falle oft den Frauen gleichen und sogar
starke Männer, die sonst nichts Weibisches an sich haben. Der Alte
suchte den Streit, obgleich er selbst darunter litt.

Ich erinnere mich, es kam mir damals der Gedanke, ob er sich nicht in
der Tat zu irgend einem Schritt entschlossen hatte, wie Anna Andrejewna
es befürchtete. Es war doch möglich, daß er sich wirklich zu Natascha
aufgemacht hatte, aber auf dem Wege zu ihr seine Absicht aufgegeben –
was doch gewiß eintreten mußte – und jetzt nach Hause zurückgekehrt war,
sich gekränkt und beleidigt fühlte – und sich seiner eigenen Wünsche und
Gefühle schämte. Er mußte jetzt diesen Ärger an jemandem auslassen, und
zwar an demjenigen, den er am meisten verdächtigte, dieselben Wünsche
und Gefühle zu haben, wie er sie selbst hatte.

Ihr niedergeschmetterter und bebender Anblick rührte ihn anfangs. Er
schien sich seines Zornes zu schämen und hielt einen Augenblick an sich.
Wir schwiegen alle; ich bemühte mich, ihn nicht anzusehen. Dieser
glückliche Moment hielt jedoch nicht lange an. Was daraus auch werden
möge, er mußte sich davon befreien, sollte es auch mit einem Wutausbruch
oder mit einem Fluch endigen!

„Siehst du, Wanjä,“ sagte er plötzlich, „mir tut es leid, ich wollte
lieber nichts davon reden, doch ist jetzt die Zeit gekommen, daß ich
mich offen und ohne Winkelzüge ausspreche, wie es sich so für einen
aufrichtigen Menschen gehört ... Du verstehst mich doch, Wanjä? Ich bin
froh, daß du gekommen bist, und deshalb möchte ich vor dir erklären,
damit es auch _andere_ hören, daß ich von all diesen Tränen, Seufzern,
dem Unglück und Unsinn genug habe. Das, was ich einmal, vielleicht mit
großem Schmerz, aus meinem Herzen gerissen habe, kann ich nie und nimmer
wieder in mein Herz einpflanzen. Ja! Ich habe es gesagt und so bleibt
es. Ich spreche von dem, was vor einem halben Jahr geschah, du verstehst
mich, Wanjä! und ich spreche jetzt davon ganz aufrichtig und gradaus,
damit du dich nie in meinen Absichten irren mögest,“ fügte er hinzu, mit
flammenden Augen mich ansehend, um dem erschreckten Blick seiner Frau
auszuweichen. „Ich wiederhole es: ich wünsche es nicht! ... Mich kränkt
es, daß man mich für einen Dummkopf, für den allerniedrigsten Schurken
hält, daß _alle_ solcher niedrigen und schwachen Gefühle mich für fähig
halten ... sie denken, daß ich vor Kummer meinen Verstand verliere ...
Alles Unsinn! Ich habe die alten Gefühle vergessen, aus meinem Herzen
gerissen! Für mich gibt es keine Erinnerungen ... so! so! ja so ist es!
...“

Er stand auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß alle Tassen
klirrten.

„Nikolai Ssergejewitsch! Ist es wirklich möglich, daß Ihnen Anna
Andrejewna nicht leid tut! Sehen Sie sie doch an, was Sie tun!“ sagte
ich, nicht mehr imstande, meinen Unwillen niederzukämpfen. Doch ich goß
nur Öl ins Feuer.

„Nicht leid!“ schrie er, erzitternd und erbleichend, „nicht leid, wenn
man auch mich nicht schont! Nicht leid, weil in meinem Hause
Verschwörungen gegen mein beschimpftes Haupt, wegen einer verkommenen
und aller Strafen und des Fluches würdigen Tochter angezettelt werden!
...“

„Väterchen! Nikolai Ssergejewitsch, verfluche sie nicht! ... Alles was
du willst, doch verfluchen darfst du deine Tochter nicht!“ schrie Anna
Andrejewna außer sich.

„Ich verfluchte sie!“ schrie der Alte zweimal so laut als früher, „denn
von mir, dem Beleidigten und Beschimpften verlangt man, daß ich zu
dieser Verfluchten gehe und sie um Verzeihung bitte! Ja, ja, so ist es!
Damit quält man mich in meinem Hause jeden Tag, Tag und Nacht, mit
Tränen, Seufzern und dummen Bemerkungen! Man will mich weich machen ...
Sieh her, sieh her, Wanjä,“ fügte er hinzu, mit zitternden Händen aus
seiner Brusttasche Papiere herausziehend, „sieh diese Papiere an, aus
meinem Prozeß! Nach diesen Papieren bin ich ein Dieb und Betrüger, und
habe meinen Brotherrn bestohlen! ... Ihretwegen bin ich zum Schurken,
zum Betrüger, gemacht worden! Sieh, sieh sie dir an, sieh! ...“

Und er begann die verschiedensten Schriftstücke aus der Tasche zu ziehen
und sie eines nach dem anderen auf den Tisch zu werfen, ungeduldig
dasjenige suchend, das er mir zeigen wollte; doch, wie zum Trotz, fand
er gerade dieses nicht. Ungeduldig geworden, riß er alles aus der
Tasche, was sich in ihr befand und plötzlich – fiel etwas hell
aufklingend auf den Tisch ... Anna Andrejewna schrie laut auf ... es war
das verlorene Medaillon!

Ich traute meinen Augen kaum. Das Blut stieg dem Alten zu Kopf und ergoß
sich über sein ganzes Gesicht. Er fuhr zusammen. Anna Andrejewna stand
da, die Hände übereinandergelegt und sah ihn flehend an. Auf ihrem
Gesicht erstrahlte eine helle, freudige Hoffnung. Die Röte, die Erregung
des Alten ... sie konnte sich jetzt nicht mehr irren, sie verstand jetzt
alles ... das Medaillon!

Sie begriff, daß er es gefunden haben mußte und, vor Freude über den
Fund und aus Begeisterung darüber, es eifersüchtig vor den Augen anderer
verborgen hatte; daß er sich dann irgendwo allein, versteckt von allen
anderen, an dem Gesichtchen seines lieben Kindes nicht habe sattsehen
können; daß vielleicht auch er wie sie, die arme Mutter, sich allein in
seinem Zimmer eingeschlossen mit seiner Natascha Zwiesprach gehalten,
vielleicht auch er des Nachts die Brust von Sehnsucht und Schluchzen
erstickt, dieses Bild geküßt und statt des Fluches Segen und Vergebung
vom Himmel erfleht hatte auf sie, die er jetzt nicht sehen wollte und
vor allen verfluchte.

„Väterchen, so liebst auch du sie noch!“ rief Anna Andrejewna, die jetzt
ihre Gefühle nicht mehr zurückhalten konnte und ganz vergessen zu haben
schien, daß er ihre Natascha noch vor einem Augenblick verflucht hatte.

Doch kaum hatte er ihren Schrei gehört, so packte ihn eine wahnsinnige
Wut und mit flammenden Augen nahm er das Medaillon, warf es mit aller
Gewalt auf den Fußboden und wollte es wie ein Rasender mit den Füßen
zerstampfen.

„Auf ewig, auf ewig sei von mir verflucht!“ heischte er heiser vor Wut.
„Auf ewig, auf ewig!“

„Mein Gott!“ rief die Alte, „sie, sie! Meine Natascha! Ihr Gesichtchen
... mit den Füßen zertreten! Mit den Füßen! Du Tyrann! Du herzloser
Mensch!“

Als er das Jammern seiner Frau vernahm, hielt der Alte inne, ganz
erschrocken über das, was geschehen. Plötzlich hob er das Medaillon auf
und wollte aus dem Zimmer stürzen, doch kaum hatte er einen Schritt
getan, als er auf die Knie fiel und, sein Gesicht mit beiden Händen
bedeckend, legte er seinen Kopf auf den vor ihm stehenden Diwan.

Er schluchzte wie ein Kind, wie ein Weib. Verhaltenes Schluchzen wühlte
in seiner Brust, als wollte es sie zersprengen! Der drohende Alte wurde
in einem Augenblicke zum schwachen Kinde. Oh, jetzt hätte er niemand
mehr fluchen können, jetzt schämte er sich nicht seiner Liebesausbrüche
und bedeckte vor uns das kleine Bild, das er vor einem Augenblick mit
Füßen getreten, mit zahllosen Küssen. Es war, als ob alle Zärtlichkeit,
alle Liebe zu seiner Tochter, die er solange zurückgehalten, sich jetzt
mit unwiderstehlicher Gewalt hinausdrängte, und die Riesenkraft des
Ausbruches sein ganzes Sein zerschmetterte.

„Vergib ihr, vergib!“ rief schluchzend Anna Andrejewna, die sich über
ihn gebeugt hatte, ihn umarmend. „Rufe sie zurück in ihr Elternhaus und
Gott selbst wird dir einst am Tage des furchtbaren Gerichts deine Demut
und Güte anrechnen.“

„Nein, nein! Nie, niemals!“ rief er mit heiserer, erstickter Stimme.
„Niemals! Niemals!“


                                  XIV.

Ich kam sehr spät zu Natascha; es war bereits zehn Uhr. Sie lebte damals
an der Fontanka, bei der Ssemjonoffschen Brücke, in dem schmutzigen
„Mietshause“ des Kaufmanns Kolotuschkin, im vierten Stock. In der ersten
Zeit nach ihrer Entfernung aus dem Elternhause lebte sie und Aljoscha in
einer reizenden, wenn auch nicht großen Wohnung im dritten Stock auf der
Liteinaja. Doch bald waren die Mittel des jungen Fürsten erschöpft.
Musiklehrer war er nicht geworden, hatte dagegen Geld aufgenommen und
bedeutende Schulden gemacht. Das Geld gab er zur Verschönerung der
Wohnung und für Geschenke an Natascha aus, die sich gegen diese
Verschwendung auflehnte, ihm deshalb Vorwürfe machte und oft darüber in
Tränen ausbrach. Der gefühlvolle und herzensgute Aljoscha konnte oft
wochenlang darüber nachsinnen und sich ausdenken, was er ihr schenken
solle, und wie sie sein Geschenk annehmen würde. Für ihn, dem dieses
Ereignis einen Feiertag bedeutete, und der mir oft im voraus alle seine
Erwartungen und Träume mitteilte, gab es dann jedesmal eine
Enttäuschung, wenn er statt dessen ihre Tränen sah, ihre Vorwürfe hörte.
Späterhin kam es der Geschenke wegen zu sehr unangenehmen Szenen.
Außerdem vergeudete Aljoscha hinter dem Rücken Nataschas noch viel Geld.
Er ging mit seinen Freunden durch; besuchte verschiedene Josephinen und
Minnas, doch nichtsdestoweniger liebte er Natascha grenzenlos. Er liebte
sie dann fast aus Selbstqual. Oft kam er zu mir, traurig und verstimmt,
und klagte, daß er Natascha nicht wert sei, daß er schlecht und böse und
nicht fähig sei, sie zu verstehen. Er hatte zum Teil recht, zwischen
ihnen war ein großer Abstand; er fühlte sich vor ihr wie ein Kind und
sie behandelte ihn auch danach. Mit Tränen in den Augen bereute er die
Bekanntschaft mit Josephine und zu gleicher Zeit flehte er mich an,
Natascha nichts davon zu sagen; und wenn er dann demütig und zitternd
vor Angst sich nach diesem aufrichtigen Geständnis mit mir zu Natascha
begab, (er versicherte, er könne nach diesem Verbrechen nur mit mir
zusammen zu ihr gehen, sowie, daß ich allein ihm Mut einzuflößen
vermöge), so wußte Natascha schon auf den ersten Blick, um was es sich
handelte. Sie war sehr eifersüchtig, und ich verstehe nicht, wie es ihr
möglich war, ihm alle seine leichtsinnigen Ausschreitungen immer wieder
zu vergeben. Gewöhnlich war es so: Aljoscha tritt mit mir zusammen ein,
schuldbewußt und demütig spricht er mit ihr und sieht ihr mit großer
Zärtlichkeit in die Augen. Sie errät sofort, daß er sich schuldig fühlt,
doch zeigt sie es ihm nicht, spricht nie davon, fragt ihn nie aus,
sondern im Gegenteil: sie verdoppelt ihre Zärtlichkeit, ist lustig und
heiter. Es war das nicht etwa eine ersonnene Schlauheit ihrerseits.
Nein; für dieses reizende Geschöpf war es eine unendliche Genugtuung, zu
verzeihen und zu lieben. Es war, als ob in der Vergebung für sie ein
besonderer verfeinerter Reiz lag. Freilich handelte es sich damals nur
um Josephinen. Aljoscha wiederum, der sie so zärtlich und liebend sah,
konnte mit seinem Geständnis nicht länger zurückhalten und erzählte ihr
alles, um sich das Herz zu erleichtern: damit wieder alles „beim alten“
wäre. Hatte er dann ihre Verzeihung erhalten, so geriet er in
Begeisterung, weinte oft vor Freude und Entzücken, küßte und umarmte
sie. Darauf fand er seinen Mut wieder und erzählte mit kindlicher
Offenherzigkeit alle Einzelheiten seines Vergehens mit Josephine,
lachte, freute sich und lobte Natascha, und der Tag wurde fröhlich und
glücklich beschlossen. Als bei ihm das Geld ausging, fing er an, seine
Sachen zu verkaufen. Auf Nataschas Verlangen wurde eine billige Wohnung
an der Fontanka gemietet. Die Sachen waren bald alle verkauft und
Natascha begann ihre Kleider zu versetzen und Arbeit zu suchen. Als
Aljoscha davon hörte, geriet er in grenzenlose Verzweiflung, verfluchte
sich und behauptete, daß er sich selbst verachte, trotzdem blieb aber
alles beim alten. In der letzten Zeit waren alle Einkünfte endgültig
erschöpft, es blieb ihnen nichts übrig, als Arbeit, und für die Arbeit
elender Lohn.

In der ersten Zeit seines Zusammenlebens mit Natascha hatte sich
Aljoscha mit seinem Vater ganz überworfen. Die damaligen Absichten des
Fürsten, seinen Sohn mit Katherina Fedorowna Filimonnowa, der
Stieftochter der Gräfin, zu verheiraten, waren nur erst ein Projekt.
Nichtsdestoweniger hielt er fest an dem Plan, brachte Aljoscha zu seiner
zukünftigen Braut, befahl ihm, alles zu tun, um ihr zu gefallen, und
zwang ihn durch Strenge, ihm zu Willen zu sein. Doch zerschlug sich die
Sache damals der Gräfin wegen. In der ersten Zeit nahm der Vater die
Verbindung seines Sohnes mit Natascha ruhig hin, in der Hoffnung – da er
die Unverantwortlichkeit und den Leichtsinn seines Sohnes kannte –
Aljoscha würde dieser Liebe bald überdrüssig werden. Daß Aljoscha sich
etwa mit Natascha hätte vermählen können, das wäre ihm auch nicht in den
Sinn gekommen – darüber machte er sich keine Sorgen. Was nun die
Liebenden selbst betrifft, so hatten sie die Vermählung bis zur
formellen Aussöhnung Aljoschas mit dem Vater aufgeschoben. Sie hofften
überhaupt auf eine Veränderung der Verhältnisse. Natascha wollte
offenbar nicht mehr davon sprechen. Aljoscha dagegen deutete mir an, daß
die ganze Geschichte seinem Vater in mancher Beziehung sogar sehr
angenehm wäre; ihm gefiele vor allem die Erniedrigung, die die
Ichmenjeffs dadurch erfuhren. Der Form halber fuhr er jedoch fort, seine
Unzufriedenheit seinem Sohne gegenüber aufrecht zu erhalten: er
verkleinerte dessen monatliches Taschengeld (in der Beziehung war er
übrigens immer ungemein geizig gewesen) und drohte, ihm auch noch dieses
zu entziehen. Doch bald darauf fuhr er nach Polen zu der Gräfin, die
dort geschäftliche Angelegenheiten zu ordnen hatte, und verfolgte
unablässig sein Heiratsprojekt. Freilich war Aljoscha noch viel zu jung
zur Ehe, doch die Braut war reich und diese Gelegenheit sollte nicht
ungenützt vorübergehen. Der Fürst erreichte endlich sein Ziel. Zu uns
drangen allerlei Gerüchte, daß die Sache für den Fürsten eine günstige
Wendung genommen hätte. Zu dieser Zeit war er dann wieder nach
Petersburg zurückgekehrt. Seinem Sohn begegnete er freundlich, doch die
Hartnäckigkeit seiner Beziehungen zu Natascha berührte ihn jetzt sehr
unangenehm. Er wurde nun doch ängstlich. Schroff und nachdrücklich
verlangte er die Trennung von Natascha, doch bald besann er sich eines
besseren, – er führte Aljoscha zur Gräfin. Die Stieftochter der Gräfin
galt für eine Schönheit. Sie war fast noch ein Kind, von seltener
Herzensgüte, hatte eine reine unschuldige Seele und war heiter, klug und
zärtlich. Der Fürst rechnete darauf, daß Natascha nach einem halben Jahr
für seinen Sohn nicht mehr den Reiz der Neuheit haben und er daher
allmählich mit anderen Augen seine zukünftige Braut ansehen würde, als
vorher. Zum Teil hatte er recht ... sie schien in der Tat auf Aljoscha
einen großen Eindruck gemacht zu haben. Hinzu kam, daß der Vater sich
jetzt ungemein gütig zu seinem Sohne zeigte (trotzdem gab er ihm kein
Geld). Aljoscha fühlte, was sich unter dieser Zärtlichkeit vorbereitete
und war sehr niedergeschlagen, übrigens, nicht so niedergeschlagen, wie
wenn er einen Tag über Katherina Fedorowna nicht gesehen hatte. Ich
wußte es, daß er schon den fünften Tag nicht mehr bei Natascha
erschienen war. Als ich jetzt von den alten Ichmenjeffs zu ihr ging,
riet ich unterwegs hin und her, was sie mir wohl mitzuteilen haben
würde? Schon von weitem sah ich das Licht auf ihrem Fenster. Es war
nämlich unter uns abgemacht worden, daß sie ein Licht an das Fenster
stellen sollte, sobald sie mich zu sehen wünschte. Wenn ich an ihrem
Hause vorüberging (was jeden Abend geschah), so konnte ich an dem Licht
erkennen, daß sie mich erwartete, und ich ihr unbedingt nötig war. In
der letzten Zeit hatte sie das Licht oft an das Fenster gestellt ...


                                  XV.

Ich traf Natascha allein. Sie schritt mit gekreuzten Armen, in tiefe
Gedanken versunken, im Zimmer auf und ab. Der erloschene Samowar stand
auf dem Tisch und schien lange auf mich gewartet zu haben. Schweigend
und mit einem verlorenen Lächeln reichte sie mir die Hand. Ihr Gesicht
war bleich mit leidendem Ausdruck. In ihrem Lächeln lag etwas so
Zärtliches, Duldendes. Ihre klaren blauen Augen schienen größer als
früher, das Haar dichter, weil sie so abgehärmt und krank aussah.

„Und ich dachte schon, du kämest nicht mehr,“ sagte sie, mir die Hand
reichend, „wollte schon Mawra zu dir schicken; fürchtete, du wärest
schon wieder erkrankt?“

„Nein, ich bin nicht krank, ich bin nur aufgehalten worden, werde dir
sogleich alles erzählen. Doch, was ist mit dir, Natascha? Was ist
geschehen?“

„Nichts ist geschehen!“ antwortete sie, ganz erstaunt über meine Frage.
„Was soll denn geschehen sein?“

„Ja, du hast mir doch geschrieben ... gestern geschrieben, daß ich
kommen soll, hast die Stunde bestimmt, nicht früher und nicht später;
nicht wie gewöhnlich.“

„Ach, ja! Ich erwartete _ihn_ gestern.“

„Nun, ist er noch immer nicht dagewesen?“

„Nein. Ich habe gedacht: wenn er nicht mehr kommt, so muß ich mit dir
sprechen,“ fügte sie hinzu und verstummte.

„Und heute abend, hast du ihn erwartet?“

„Nein, habe ihn nicht erwartet: er ist des Abends dort.“

„Denkst du denn, Natascha, daß er überhaupt nicht mehr wiederkommen
wird?“

„Selbstverständlich wird er kommen,“ antwortete sie, mich so
eigentümlich ernst ansehend.

Ihr mißfiel mein eiliges Fragen. Wir verstummten beide und schritten im
Zimmer auf und ab.

„Ich habe dich erwartet, Wanjä,“ begann sie mit einem sonderbaren
Lächeln, „und weißt du, was ich getan habe? Ich ging im Zimmer auf und
ab, und sagte mir das Gedicht her. Kennst du es noch: die Glocke, der
Winterweg: ‚Es brodelt der Samowar auf dem eichenen Tisch ...‘ wir haben
es noch zusammen gelesen:

   Vorüber der Schneesturm; der Weg ist erhellt,
   Aus Millionen von Augen blickt trübe die Nacht ...

Und dann weiter:

   Und da scheint es mir – eine Stimme singt
   Weich, harmonisch zum Schellengeläut:
   ‚Ach, wann kommt doch, wann kommt doch, mein Liebster zu mir,
   Um zu ruhen an meiner Brust! ...
   Ist bei mir nicht das Leben! Glänzt nicht der Abendschein
   Rot durch der Eisblumen silberne Pracht –
   Steht nicht alles bereit auf dem eichenen Tisch ...
   Und im Ofen knistert das Holz und flammt
   Auf dem blumigen Vorhang am Bett.‘

Wie ist das doch schön, Wanjä! Welche Qual ... und wie phantastisch das
Bild! Man kann alles hineinmalen, alles was man will! Zwei Welten: wie
es war und wie es ist ... Dieses ‚alles bereit auf dem eichenen Tisch‘,
und das Spiel der Flamme ‚an blumigen Vorhang am Bett ...‘ wie ist das
alles so bekannt. Alles wie in unseren Häusern in der Provinz; ich sehe
das Haus vor mir: neu, aus weißen, noch unbeschlagenen Balken ... Und
dann das andere Bild:

   Und es scheint mir – dieselbe Stimme singt
   Trüb und traurig zum Schellengeläut:
   ‚Wo ist nun mein Freund? Ich fürchte, er kommt
   Und umschlingt mich zärtlich wie einst ...‘
   Welch ein Leben das ist! So dunkel und eng
   Meine Stube; dort bläst es herein ...
   Nur ein einsamer Kirschbaum am Fenster steht
   Und auch er ist erfroren schon längst.
   Welch ein Leben! Verblichen der Vorhang am Bett,
   Krank bin ich, schleppe mich hin ...
   Bin den Eltern jetzt fremd, kein Liebster mehr kommt –
   Nicht einmal zu schelten ist jemand mehr da ...
   Und nur die Alte daneben, die brummt ...

Nicht einmal zu schelten ist jemand da. Wieviel Zärtlichkeit, wieviel
Qual, welch ein Rausch von Qual und Erinnerung, den man sich selbst
heraufbeschwört und den man lieb hat ... Herrgott, wie ist das schön!“

Sie verstummte wieder, als suche sie einen inneren Kampf zu bezwingen.

„Mein Lieber!“ sagte sie zu mir gewandt nach einem kurzen Augenblick und
verstummte dann plötzlich wieder, als hätte sie vergessen, was sie hatte
sagen wollen.

Unterdessen gingen wir immer noch schweigend im Zimmer auf und ab. Vor
dem Heiligenbild brannte das Lämpchen. Natascha schien in der letzten
Zeit sehr religiös geworden zu sein, doch liebte sie es nicht, wenn man
davon sprach.

„Ist morgen ein Feiertag?“ fragte ich. „Bei dir brennt das Lämpchen.“

„Nein, kein Feiertag ... Doch setzen wir uns, Wanjä, du mußt müde sein.
Willst du Tee? du hast sicher noch keinen getrunken?“

„Setzen wir uns, Natascha. Tee habe ich getrunken.“

„Ja, woher kommst du denn jetzt?“

„Von ihnen.“ So bezeichneten wir immer die Alten.

„Von ihnen? Bist du selbst dahin gegangen? Riefen sie dich? ...“

Sie überschüttete mich mit Fragen. Ihr Gesicht wurde noch bleicher vor
Erregung. Ich erzählte ihr ausführlich meine Begegnung mit dem Alten,
mein Gespräch mit der Mutter, die Szene mit dem Medaillon – erzählte
alles ausführlich und bis in alle Einzelheiten. Ich verheimlichte nie
etwas vor ihr. Sie griff jedes Wort begierig auf. Tränen erglänzten in
ihren Augen. Die Szene mit dem Medaillon hatte sie heftig erschüttert.

„Warte, warte, Wanjä,“ sagte sie, oft meine Erzählung unterbrechend,
„erzähle ausführlicher, alles, alles, so ausführlich als möglich; du
erzählst nicht ausführlich genug! ...“

Ich wiederholte alles zum zweiten, dritten Mal, durch ihre beständigen
Fragen immer wieder unterbrochen.

„Und du glaubst wirklich, daß er auf dem Weg zu mir war?“

„Ich weiß es nicht Natascha, ich kann es nicht beschwören. Daß er sich
nach dir sehnt, daß er dich liebt – das ist sicher, aber ob er zu dir
wollte, das ...“

„Und er küßte das Medaillon?“ unterbrach sie mich. „Was sagte er, als er
es küßte?“

„Nur unzusammenhängende Worte; er gab dir die zärtlichsten Namen, rief
dich ...“

„Rief mich?“

„Ja.“

Sie weinte still.

„Die Armen,“ sagte sie. „Und daß er von allem unterrichtet ist,“ fügte
sie nach einigem Schweigen hinzu, „daran ist kein Zweifel. Er hat von
Aljoschas Vater sicher Nachrichten erhalten.“

„Natascha,“ sagte ich schüchtern, „gehen wir zu ihnen! ...“

„Wann?“ fragte sie erbleichend und sich ein wenig erhebend.

Sie glaubte, ich forderte sie auf, gleich mit mir zu kommen.

„Nein, Wanjä,“ sagte sie, mir beide Hände auf die Schultern legend mit
traurigem Lächeln, „nein, mein Lieber, das sagst du immer, doch ...
sprich lieber nicht davon.“

„Also niemals, niemals soll dieser furchtbare Zwiespalt enden?“ rief ich
traurig aus. „Bist du wirklich zu stolz, daß du nicht den ersten Schritt
tun kannst. Und doch mußt du als erste ihn tun. Vielleicht wartet der
Vater nur darauf, um dir zu – um dir zu vergeben ... Er ist dein Vater;
du hast ihn gekränkt! Achte seinen Stolz, er ist berechtigt, er ist
natürlich! Du mußt es tun. Versuche es und er wird dir bedingungslos
alles vergeben.“

„Bedingungslos? Das ist unmöglich; und mache mir keine unnützen
Vorwürfe, Wanjä. Ich habe daran Tag und Nacht gedacht. Seitdem ich sie
verlassen, ist vielleicht kein Tag vergangen, ohne daß ich nicht daran
gedacht. Ja, und wie oft haben wir nicht davon gesprochen! Du weißt doch
selbst, daß es unmöglich ist!“

„Versuche es!“

„Nein, mein Freund, das geht nicht. Wenn ich es versuchte, so würde ich
ihn noch mehr gegen mich erzürnen. Vergangenes kehrt nicht wieder; und
weißt du, was auf immer vorüber ist?! Vorüber sind die glücklichen Tage
der Kindheit, die ich mit ihnen verlebt. Wenn der Vater mir auch
verzeihen würde, so würde er mich doch jetzt nicht mehr wiedererkennen.
Er liebte noch das Kind in mir. Er freute sich meiner kindlichen
Einfalt, er konnte mir noch über das Haar streichen, wie damals, da ich
als kleines Mädchen auf seinen Knien saß und ihm meine Liederchen sang.
Von Kindheit an, bis auf den letzten Tag kam er zu mir ans Bett und
bekreuzte mich zur Nacht. Einen Monat vor dem Unglück kaufte er mir noch
Ohrringe, heimlich vor mir (doch wußte ich alles) und freute sich wie
ein Kind, sie mir zu schenken. Er war aber einfach empört, als er später
erfuhr, daß ich vom Kauf dieser Ohrringe schon im voraus gewußt hatte.
Drei Tage vor meiner Flucht bemerkte er, daß ich traurig war, und sofort
war er bis zur Krankhaftigkeit niedergeschlagen, und – was glaubst du?
um mich zu erheitern, nahm er Billette fürs Theater! ... Wahrhaftig, er
wollte mich damit erheitern! Ich wiederhole es dir, er kannte und liebte
das Kind in mir, doch wollte er niemals daran denken, daß auch ich einst
eine Frau werden würde. Ihm kam das überhaupt nicht in den Sinn. Jetzt
aber, wenn ich nach Hause zurückkehrte, so würde er mich gar nicht
wiedererkennen. Und wenn er mir vergibt, was wird er in mir
wiederfinden? Ich bin nicht mehr dieselbe, ich bin nicht mehr das Kind,
ich habe viel durchlebt. Wenn ich mich auch bemühte, ihm alles recht zu
machen, so würde er doch immer an das vergangene Glück denken, sich
heimlich grämen, weil ich nicht mehr das von ihm geliebte Kind bin ...
das Vergangene erscheint einem ja immer so schön! Mit Qual wird er daran
denken! O, wie ist das Vergangene schön, Wanjä!“ rief sie, hingerissen
und sich selbst unterbrechend, mit diesem Wort, das so recht aus ihrem
wunden Herzen kam.

„Es ist alles wahr, Natascha, was du sagst. Also, muß er dich jetzt
wieder von neuem kennen lernen und von neuem lieben. Hauptsächlich aber
– kennen lernen. Und, was meinst du? Er wird dich wiederlieben! Denkst
du denn wirklich, daß er nicht imstande sein wird, dich zu verstehen,
er, er, mit seinem großen Herzen!“

„Ach, Wanjä, sei doch gerecht! Was ist denn an mir zu verstehen? Ich
spreche doch nicht davon. Siehst du: die väterliche Liebe ist auch
eifersüchtig. Er ist gekränkt, daß das mit Aljoscha so ohne ihn
geschehen konnte, daß er nichts bemerkt, nichts gewußt. Er glaubt, daß
alle unglücklichen Folgen unserer Liebe, meine Flucht, daß das alles nur
meiner undankbaren ‚Verschwiegenheit ihm gegenüber‘ zuzuschreiben ist.
Ich bin nicht sogleich zu ihm gekommen, ich habe ihm nicht von Anfang an
jede Regung meines Herzens mitgeteilt; ich habe im Gegenteil, alles in
meiner Seele verborgen gehalten, alles vor ihm versteckt, und das kränkt
ihn im Grunde genommen, mehr als die unglücklichen Folgen meiner Liebe,
kränkt ihn mehr – als daß ich von ihnen gegangen bin und mich meinem
Geliebten hingegeben habe. Nehmen wir an, daß er mich von neuem wie ein
Vater aufnimmt, zärtlich und liebevoll – der Same der Feindschaft wird
doch bleiben. Am zweiten, dritten Tage beginnen die Mißverständnisse,
kommen die Klagen und versteckten Vorwürfe. Zudem wird er mir nicht
bedingungslos verzeihen. Nehmen wir an, ich begreife aus der ganzen
Tiefe meines Herzens, daß ich ihn beleidigt habe, daß ich vor ihm
schuldig bin, so würde es mir doch weh tun, wenn er nicht verstünde, was
mich selbst das ganze Glück mit Aljoscha gekostet hat, welche Qualen ich
gelitten, welchen Schmerz ... Und, wenn ich auch alles auf mich nehmen,
alles schweigend ertragen wollte, – so würde ihm das noch immer zu wenig
sein. Er wird von mir einen unmöglichen Lohn fordern, er wird verlangen,
daß ich meine ganze Vergangenheit, daß ich Aljoscha verfluchen und meine
Liebe zu ihm bereuen soll. Dann aber, dann verlangt er von mir
Unmögliches – wenn ich das letzte halbe Jahr aus meinem Leben
ausstreichen soll. Denn ich – kann niemandem fluchen, ich kann nichts
bereuen ... Wie es geschehen ist, so mußte es geschehen ... Nein, Wanjä,
jetzt geht es noch nicht, noch ist die Zeit nicht dazu gekommen.“

„Wann wird sie denn kommen?“

„Ich weiß es nicht ... Man wird das zukünftige Glück wieder durch Leiden
erkämpfen müssen; mit neuem Leid es bezahlen müssen. Durch Leid wird
alles gesühnt ... Ach, Wanjä, wieviel Schmerz es im Leben gibt!“

Ich schwieg und sah sie nachdenklich an.

„Was siehst du mich so an, Aljoscha, nein, Wanjä?“ Sie versprach sich
und lächelte darüber.

„Ich wundere mich über dein Lächeln, Natascha. Wie kommt das, früher
lächeltest du anders.“

„Was ist denn mit meinem Lächeln?“

„Die frühere, die ganze kindliche Naivität ist wohl noch in ihm ...
Doch, wenn du jetzt lächelst, so scheint es einem immer, als ob dir zu
gleicher Zeit das Herz dabei weh tue. Du bist so abgemagert, Natascha,
doch dein Haar ist dichter geworden ... Was ist das für ein Kleid? Hast
du es jetzt machen lassen, oder schon früher?“

„Wie du mich lieb hast, Wanjä!“ Sie sah mich zärtlich an. „Nun, und du,
was tust du jetzt? Wie geht es dir?“

„Wie immer; ich schreibe meinen Roman, aber es geht nicht gut vorwärts.
Ich bin nicht recht aufgelegt dazu. Ich könnte ihn ja so
niederschreiben, doch mir tut die gute Idee leid. Sie ist meine
Lieblingsidee. Zum Termin muß ich aber damit fertig sein. Ich dachte
schon eine Novelle statt dieses Romans zu schreiben, etwas Leichtes,
Graziöses, etwas, das sich nicht in dieser düsteren Richtung bewegt ...
Es wäre Zeit, daß wir wieder alle glücklich und fröhlich wären! ...“

„Du armer Arbeiter! Und Smitt?“

„Smitt ist beerdigt.“

„Ich sage dir, Wanjä, im Ernst, du bist krank. Deine Nerven sind
zerrüttet. Was sind das alles für Ideen. Als du mir von deiner Wohnung
sprachst, – diese ganze Phantasie! Dazu ist die Wohnung ...“

„Ja! Übrigens erlebte ich heute etwas sehr Sonderbares ... Doch, ich
erzähle es dir später.“

Sie hörte mich schon nicht mehr an, und war ganz in Gedanken versunken.

„Ich verstehe nicht, wie ich damals von ihnen fortgehen konnte, ich war
wie im Fieber,“ sagte sie endlich, mich mit einem Ausdruck ansehend, der
keine Antwort erwartete.

Hätte ich etwas geantwortet, so hätte sie es nicht gehört.

„Wanjä,“ sagte sie mit kaum hörbarer Stimme, „ich habe dich hierher
gebeten, um dir etwas zu sagen.“

„Was ist geschehen?“

„Ich werde mich von ihm trennen.“

„Du hast dich schon getrennt oder du wirst dich trennen?“

„Mit diesem Leben muß ein Ende gemacht werden. Ich habe dich gerufen, um
dir alles, alles, zu sagen, was sich in mir angesammelt hat und was ich
bis jetzt dir gegenüber verschwiegen habe.“

So pflegte sie stets zu beginnen, wenn sie mir ihre geheimen Absichten
mitteilen wollte, und stets erwies es sich, daß ich von diesem Geheimnis
schon längst durch sie selbst unterrichtet war.

„Ach, Natascha, das habe ich schon tausendmal von dir gehört! Natürlich
könnt ihr nicht zusammen leben, zwischen euch ist nichts Gemeinsames.
Doch ... wirst du die Kraft dazu haben?“

„Früher hatte ich nur die Absicht, Wanjä, jetzt aber habe ich es
beschlossen. Ich liebe ihn unendlich, doch bin ich für ihn sein ärgster
Feind. Ich untergrabe ihm seine Zukunft. Man muß ihn befreien. Mich
heiraten kann er nicht; er hat nicht die Kraft, gegen den Willen des
Vaters zu handeln. Auch ich möchte ihn nicht an mich fesseln. Und
deshalb bin ich sogar glücklich, daß er sich in die – Braut verliebt
hat, die man ihm ausgewählt. Die Trennung von mir wird ihm leichter
fallen. Ich muß es tun. Es ist meine Pflicht ... Wenn ich ihn wirklich
liebe, so muß ich mich für ihn opfern. Das ist doch meine Pflicht! Nicht
wahr?“

„Doch wirst du ihn nicht dazu bereden können.“

„Ich werde ihn auch garnicht dazu bereden. Ich werde so zu ihm sein, wie
immer. Doch muß ich ein Mittel finden, damit er mich leicht und ohne
Gewissensbisse verlassen kann. Das aber quält mich, Wanjä. Hilf mir.
Kannst du mir einen Rat geben?“

„Dafür gibt es nur ein Mittel – einen anderen zu lieben, und nicht mehr
ihn! Und kaum wäre das in diesem Falle ein Mittel. Du kennst doch seinen
Charakter. Er ist jetzt fünf Tage nicht mehr bei dir gewesen. Nehmen wir
an, er habe dich auf immer verlassen; du brauchtest ihm nur zu
schreiben, daß du die Absicht hast, ihn zu verlassen, und er wird sofort
zu dir gelaufen kommen.“

„Warum liebst du ihn nicht, Wanjä?“

„Ich –?“

„Ja, du, du! Du bist sein geheimer, sein wütendster Feind. Du kannst von
ihm nicht ohne Haß sprechen. Ich habe es tausendmal bemerkt, daß es dir
eine Genugtuung ist, ihn zu erniedrigen und anzuschwärzen! Besonders,
ihn anzuschwärzen. Ja, so ist es, Wanjä!“

„Und tausendmal hast du es mir schon gesagt, Natascha. Genug, lassen wir
das Gespräch.“

„Ich möchte in eine andere Wohnung ziehen,“ sagte sie nach längerem
Schweigen. „Du, sei mir nicht böse, Wanjä ...“

„Nun, dann kommt er eben in die andere Wohnung. Ich, ich bin dir nicht
böse.“

„Die neue Liebe ist stark und kann ihn zurückhalten. Wenn er zu mir
kommen sollte, dann wird es doch nur auf einen Augenblick sein, was
glaubst du?“

„Ich weiß es nicht, Natascha, bei ihm ist alles möglich, ich glaube, er
kann die Andere heiraten und auch dich lieben. Er kann das alles zu
gleicher Zeit.“

„Wenn ich wüßte, daß er sie wirklich liebt, so würde ich mich sofort
entschließen ... Wanjä! verheimliche nichts vor mir! Weißt du irgend
etwas, das du mir nicht sagen möchtest, oder nicht?“

Sie sah mich mit unruhigem, fragendem Blick an.

„Ich weiß nichts, Natascha, ich gebe dir mein Ehrenwort, ich habe dir
nie etwas verheimlicht. Übrigens, was ich noch sagen wollte: vielleicht
ist er garnicht so verliebt in die Stieftochter der Gräfin, wie wir es
annehmen. Vielleicht ist er nur so ...“

„Glaubst du das, Wanjä? Gott, wenn ich es doch nur wüßte! Oh, wie würde
ich in diesem Augenblick ihn sehen wollen. Ich würde aus seinem Gesicht
alles erraten! Und er kommt nicht! Er kommt nicht!“

„Erwartest du ihn denn, Natascha?“

„Nein, er ist bei _ihr_; ich weiß es; ich habe auskundschaften lassen.
Wie gerne würde auch ich sie sehen ... Höre, Wanjä, vielleicht ist es
unsinnig von mir, doch sollte ich sie denn wirklich niemals sehen, nie
ihr begegnen können? Was glaubst du, ist es wirklich unmöglich?“

Unruhig erwartete sie, was ich sagen würde.

„Sehen würdest du sie schon können, doch das ist dir wohl zu wenig?“

„Es würde ja genügen, sie nur zu sehen, dann würde ich auch schon alles
andere wissen. Höre mich an: ich bin jetzt so dumm geworden; gehe hier
auf und ab, auf und ab, immer allein, immer allein – und denke. Oft sind
die Gedanken so schwer, daß sie mich wie ein Wirbelsturm niederreißen!
Wanjä, kannst du nicht ihre Bekanntschaft machen? Die Gräfin, wie du mir
damals selbst erzähltest, hatte doch deinen Roman sehr gelobt. Du gehst
doch manchmal des Abends zum Fürsten R; sie verkehrt doch bei ihm. Lasse
dich ihr vorstellen. Übrigens könnte dich auch Aljoscha ihr vorstellen.
Sieh, und du würdest mir dann alles von ihr erzählen.“

„Natascha, lieber Freund, davon später. Hier handelt’s sich darum:
glaubst du denn wirklich, daß du die Kraft dazu haben wirst? Sieh dich
doch an, wie gequält und unruhig du bist.“

„Ich werde sie haben!“ antwortete sie kaum hörbar. „Alles für ihn. Mein
ganzes Leben für ihn. Doch, weißt du, Wanjä, ich kann es nur nicht
ertragen, daß er mich jetzt bei ihr so ganz vergißt, in diesem
Augenblick vielleicht neben ihr sitzt, plaudert, lacht, weißt du, ganz
wie er es hier tut ... ihr gerade in die Augen sieht, – er sieht immer
gerade in die Augen – und es kommt ihm nicht einmal der Gedanke, daß ich
hier bin ... mit dir ...“

Sie beendigte ihren Satz nicht und blickte mich mit Verzweiflung an.

„Wie denn, Natascha, soeben sagtest du doch noch, soeben ...“

„Nein, mögen wir alle zusammen auseinandergehen!“ unterbrach sie mich
mit blitzenden Augen. „Ich selbst werde ihn segnen ... Doch schwer ist
es, Wanjä, wenn er als erster mich vergißt! Ach, Wanjä, was sind das für
Qualen! Ich selbst verstehe mich nicht: in Gedanken kann man alles, in
Wirklichkeit jedoch nichts. Was wird aus mir werden!“

„Genug, genug, Natascha, beruhige dich! ...“

„Und jetzt schon seit fünf Tagen, jede Stunde, jede Minute ... im Traum,
wenn ich wache oder schlafe ... immer denke ich an ihn, an ihn! Weißt
du, Wanjä, gehen wir dahin, bringe mich hin!“

„Aber, Natascha!“

„Ja, gehen wir! Ich habe nur auf dich gewartet, Wanjä! Drei Tage lang
habe ich nur darüber nachgedacht. Darum hatte ich dich gerufen ... Du
mußt mich begleiten; du darfst es mir nicht abschlagen ... Ich habe auf
dich gewartet ... drei Tage ... Dort ist heute ein Abend ... er ist dort
... gehen wir!“

Sie schien wie von Sinnen. Im Vorzimmer hörte man Stimmen. Mawra schien
sich mit jemanden zu streiten.

„Warte, Natascha, wer ist da?“ fragte ich. „Höre!“

Mit ungläubigem Lächeln horchte sie auf, und plötzlich erblaßte sie.

„Mein Gott! Wer ist da?“ hauchte sie mit kaum hörbarer Stimme.

Sie wollte mich, glaube ich, zurückhalten, doch ich ging ins Vorzimmer
zu Mawra. Also doch! Es war Aljoscha. Er stritt mit Mawra, die ihn
anfangs gar nicht hereinlassen wollte.

„Wo kommst du denn her?“ rief Mawra, als ob sie ein Recht dazu hätte.
„Was? Wo hast du dich herumgetrieben? Nun, geh nur, geh! Mir wirst du
nichts vormachen! Marsch, wollen wir sehen, was du antworten wirst!“

„Ich fürchte niemanden! Ich werde eintreten!“ sagte Aljoscha, etwas
konfus.

„Nun, mal los!“

„Ja, ich werde! Ah! Sie sind hier!“ sagte er, als er mich erblickte,
„wie gut das ist, daß Sie hier sind! Nun, und ich, sehen Sie, wie soll
ich jetzt ...“

„So kommen Sie doch einfach herein,“ antwortete ich, „was fürchten Sie
denn?“

„Ich fürchte wirklich nichts, versichere Ihnen, denn ich bin, bei Gott,
nicht schuld. Sie denken vielleicht, daß ich schuldig bin? Sie werden
sehen, ich werde mich gleich verteidigen. Natascha, kann man eintreten?“
rief er plötzlich mit gemachter Dreistigkeit aus und blieb an der
geschlossenen Tür lauschend stehen.

Niemand antwortete.

„Was bedeutet das?“ fragte er unruhig.

„Nichts, sie war soeben dort,“ antwortete ich, „was sollte denn sein
...“

Aljoscha öffnete vorsichtig die Tür und überflog mit schüchternem Blick
das Zimmer. Niemand war da.

Plötzlich bemerkte er sie in einer Ecke neben einem Schrank und dem
Fenster. Sie stand da, als hätte sie sich verstecken wollen, halb tot,
halb lebendig. Und jetzt noch, wenn ich daran denke, kann ich mich eines
Lächelns nicht erwehren. Aljoscha ging leise und vorsichtig auf sie zu.

„Natascha, was ist dir? Guten Tag, Natascha,“ sagte er schüchtern, und
sah sie ängstlich an.

„Wieso, nichts ... nichts ...“ antwortete sie in schrecklicher
Verwirrung, als fühlte sie sich schuldig. „Du ... willst du Tee?“

„Höre Natascha,“ sagte Aljoscha ganz verwirrt und verloren. „Du bist
vielleicht überzeugt, daß ich schuldig bin ... Doch ich bin an nichts
schuld, an nichts! Ich werde dir gleich alles erzählen.“

„Aber, warum denn das?“ murmelte kaum hörbar Natascha. „Nein, nein, das
ist nicht nötig ... gib mir lieber die Hand ... und alles ist ... wie
immer ...“

Und sie kam aus der Ecke heraus; leise Röte lag auf ihren Wangen. Sie
hielt die Augen niedergeschlagen, als fürchtete sie sich, Aljoscha
anzusehen.

„O, mein Gott!“ rief er außer sich vor Entzücken, „wenn ich mich
wirklich schuldig fühlte, so würde ich wahrlich nicht gewagt haben, sie
jetzt noch anzusehen! Sehen Sie, sehen Sie!“ rief er aus, zu mir
gewandt: „Sie hält mich für schuldig; alles spricht gegen mich. Fünf
Tage bin ich nicht zu ihr gekommen! Man sagt, ich sei bei der Braut –
und was glauben Sie? Sie hat mir schon vergeben! Sie sagt mir: ‚Gib die
Hand und alles ist wie früher!‘ Natascha, mein Täubchen, mein Engel! Ich
bin nicht schuld daran, daß du es weißt! Ich bin nicht im geringsten
schuld daran. Im Gegenteil! Im Gegenteil!“

„Aber ... aber wie kommst du denn _hierhin_ ... Man hatte dich doch
_dahin_ gerufen? Wieviel Uhr ist es denn?“

„Halb elf! Ich war da ... doch ich sagte, ich sei krank und bin
fortgefahren und – das ist das erste Mal, das erste Mal in diesen fünf
Tagen, daß ich frei bin, daß ich mich von ihnen losmachen und zu dir
fahren konnte, Natascha. Das heißt, ich hätte ja früher kommen können,
doch wollte ich es absichtlich nicht! Und warum? Du wirst es gleich
erfahren; ich werde alles erklären: ich bin deshalb gekommen, um alles
zu erklären; nur bin ich diesesmal in nichts schuldig. In nichts!“

Natascha hob ihren Kopf und sah ihn an ... Sein Blick leuchtete so
aufrichtig, sein Gesicht war so freudig erregt, so ehrlich und lustig,
daß man ihm alles glauben mußte. Ich dachte, sie würden gleich mit einem
Aufschrei aufeinander stürzen und sich umarmen, wie das früher in
ähnlichen Fällen immer geschehen war. Doch Natascha, wie von zu viel
Glück überschüttet, senkte nur ihren Kopf und begann plötzlich ... leise
zu weinen ... Da konnte Aljoscha sich nicht mehr halten. Er stürzte zu
ihren Füßen. Er küßte ihre Hände, ihre Füße. Er war außer sich. Ich
schob ihr einen Sessel hin ... Ihre Knie wankten ... Sie warf sich in
den Sessel.




                              Zweiter Teil


                                   I.

Nach einigen Minuten lachten wir alle wie unsinnig.

„Nun, laßt mich doch, laßt mich doch erzählen,“ übertönte uns Aljoscha
mit seiner hellen Stimme. „Ihr denkt, daß ich euch, wie immer, nur mit
Dummheiten komme ... Ich versichere euch, daß ich wirklich Interessantes
mitzuteilen habe. Ja, werdet ihr denn nicht endlich mal aufhören!“

Er wollte so schnell wie möglich alles erzählen, und er schien uns
wirklich etwas Wichtiges mitteilen zu wollen. Doch seine Wichtigtuerei
und der naive Stolz über den Besitz dieser Neuigkeiten reizte Natascha
zum Lachen. Der Ärger und die kindliche Verzweiflung Aljoschas wiederum
brachten uns schließlich so weit, daß wir nur den kleinen Finger zu
zeigen gebraucht hätten, wie beim Gogolschen Midshipman, um sofort vor
Lachen zu bersten. Schließlich kam sogar Mawra aus der Küche und stellte
sich an der Tür auf; mit ernstem Unwillen betrachtete sie uns, wütend,
daß Aljoscha nicht eine ordentliche Standrede von Natascha bekommen, auf
die sie sich schon die ganzen Tage lang gefreut hatte, und daß sie uns
statt dessen so fröhlich sehen mußte.

Natascha hörte endlich auf zu lachen, als sie bemerkte, daß Aljoscha
anfing, sich beleidigt zu fühlen.

„Was willst du uns denn erzählen?“ fragte sie ihn.

„Soll ich den Samowar anmachen?“ fragte Mawra, Aljoscha ohne jegliche
Rücksicht unterbrechend.

„Mach, daß du fortkommst, Mawra,“ und er winkte ihr mit Händen und Füßen
ab, damit sie sich schneller entfernen sollte. „Ich werde alles
erzählen, wie es gewesen, wie es ist und wie es sein wird, denn ich weiß
jetzt alles. Ich weiß es, meine Freunde, und ihr wollt wissen, wo ich
die fünf Tage gewesen bin – das ist’s, was ich euch erzählen will, ihr
aber laßt mich nicht dazu kommen. Nun, und vor allem also: ich habe dich
die ganze Zeit über betrogen, Natascha, schon lange, lange habe ich dich
betrogen, und das ist es ...“

„Betrogen?“

„Ja, betrogen, schon seit einem Monat, noch vor Papas Ankunft; jetzt ist
endlich die Zeit gekommen, da ich dir alles aufrichtig sagen kann. Vor
einem Monat, als mein Vater noch nicht angekommen war, erhielt ich
plötzlich einen langen Brief von ihm, den ich euch beiden gar nicht
gezeigt habe. In diesem Brief erklärte er mir einfach und geradeaus –
und bemerkt wohl, in einem Tone, wie ich ihn noch niemals von ihm gehört
hatte, so daß ich sehr erschrak – erklärte er mir also einfach, daß
meine Heirat schon beschlossene Sache sei, daß meine Braut eine
weibliche Vollkommenheit und ich ihrer gar nicht wert sei, daß ich sie
aber trotzdem heiraten müsse. Und deshalb sei es nötig, daß ich mir alle
Torheiten aus dem Kopfe schlage, und so weiter, und so weiter – wie es
euch schon bekannt ist. Diesen Brief, seht ihr, habe ich euch garnicht
gezeigt und auch nichts von ihm erwähnt.“

„Wieso nicht erwähnt?!“ unterbrach ihn Natascha, „was du behauptest! Im
Gegenteil, du hast ihn uns sofort mitgeteilt. Ich erinnere mich noch,
wie du plötzlich zärtlich und gehorsam mir gegenüber warst und nicht von
mir gingst, als fühltest du dich schuldig vor mir ... und den ganzen
Brief hast du uns stückweise mitgeteilt.“

„Das kann nicht sein, die Hauptsache habe ich euch sicher nicht erzählt.
Vielleicht habt ihr beide alles erraten, ich jedenfalls habe nichts
erzählt. Ich habe geschwiegen und schrecklich darunter gelitten.“

„Ich erinnere mich, Aljoscha, daß Sie mich damals jeden Augenblick um
Rat fragten und mir alles erzählten,“ fügte ich hinzu, mit einem Blick
auf Natascha.

„Alles hast du erzählt,“ griff Natascha meine Bemerkung auf. „Was kannst
du denn verheimlichen? Kannst du denn einen Menschen betrügen? Sogar
Mawra weiß alles. Nicht wahr, Mawra?“

„Wie soll man denn nicht wissen!“ mischte sich Mawra wieder ein. „In den
drei ersten Tagen hast du alles erzählt. Du Schlauberger!“

„Pui, mit euch ist es wirklich ärgerlich, etwas zu tun zu haben! Das
behauptest du alles nur aus Bosheit, Natascha! Und du, Mawra, du irrst
dich gewaltig. Ich weiß, ich war damals noch wie ein Wahnsinniger!“

„Kein Wunder. Du bist ja auch jetzt wie ein Wahnsinniger.“

„Nein, nein, ich spreche nicht davon. Weißt du, das war damals, als wir
kein Geld hatten und du gingst noch, um mein silbernes Zigarettenetui zu
versetzen; doch erlaube, Mawra, du scheinst dich mir gegenüber ganz und
gar zu vergessen. Das hat dir Natascha beigebracht. Nun, nehmen wir an,
ich habe euch wirklich damals alles erzählt, doch den Ton, den Ton des
Briefes, den kennt ihr nicht, und der Ton des Briefes ist doch die
Hauptsache. Davon spreche ich auch jetzt.“

„Nun, wie ist denn der Ton?“ fragte Natascha.

„Höre mal, Natascha, du fragst wie im Scherz. Scherze nicht. Ich
versichere dir, das ist sehr wichtig. Der Ton war so, daß ich einfach
die Hände fallen ließ. Niemals hatte er so mit mir gesprochen. Eher
müßte Lissabon untergehen, als sein Wunsch sich nicht: sieh, so ist der
Ton!“

„Nun, nun, erzähle weiter; warum wolltest du denn das vor mir
verheimlichen?“

„Ach, mein Gott! Um dich nicht zu erschrecken. Ich hoffte, alles wieder
gut zu machen. Aber eine schwere Zeit brach an, als mein Vater nun
zurückkehrte. Ich wollte ihm auf seinen Brief bestimmt und klar
antworten, und immer gelang es mir nicht. Und er, er fragte nicht einmal
danach, der Schlaufuchs! Im Gegenteil, er gab sich den Anschein, als
wäre alles zwischen uns beschlossen und zu unserer gegenseitigen
Befriedigung abgemacht. Höre doch, wie ist das möglich, eine solche
Selbstverständlichkeit! Zu mir verhielt er sich zärtlich und
liebenswürdig. Ich war einfach starr. Wie er klug ist, Iwan Petrowitsch,
wenn Sie wüßten! Er hat alles gelesen, alles weiß er, wenn er nur einen
ansieht, so weiß er sofort dessen Gedanken. Darum hat man ihn wohl auch
einen Jesuiten genannt. Natascha liebt es nicht, wenn ich ihn lobe. Sei
nicht böse, Natascha ... doch zur Sache! Er gab mir am Anfang kein Geld,
gestern hat er mir aber wieder welches gegeben. Natascha, mein Engel!
Jetzt hat unsere Armut aufgehört. Sieh, hier! Alles, was er mir in
diesem halben Jahr entzogen, hat er mir gestern wiedergegeben; sieh, wie
viel es ausmacht; ich habe es noch nicht gezählt. Mawra sieh mal, wie
viel es ausmacht, jetzt brauchen wir keine Löffel mehr zu versetzen!“

Er zog einen großen Packen Geld aus der Tasche, wohl über tausend Rubel
und legte ihn auf den Tisch. Mawra geriet in Erstaunen und lobte ihn
sehr. Natascha drang in ihn, weiter zu erzählen.

„Nun, was soll ich machen – denke ich?“ fuhr Aljoscha fort. „Wie soll
ich jetzt gegen seinen Willen handeln? Denn ich schwöre euch beiden,
wäre er schlecht und nicht so gut zu mir gewesen, so hätte ich mir
weiter keine Gedanken gemacht. Ich hätte ihm geradeaus ins Gesicht
gesagt, daß ich nicht will, daß ich ein erwachsener Mensch bin und –
Schluß! Und glaubt mir, ich hätte auf dem meinen bestanden. Aber jetzt –
was soll ich ihm jetzt sagen? Bitte, beschuldigt mich nicht. Ich sehe,
daß du mit mir unzufrieden bist, Natascha. Warum seht ihr euch
gegenseitig so an? Wahrscheinlich denkt ihr wohl: ‚nun, da haben sie ihn
jetzt gekriegt und er hat keinen Charakter.‘ Ich aber, ich habe
Charakter, mehr als ihr glaubt! Zum Beweise dafür, habe ich, ungeachtet
meiner Lage, mir sofort gesagt: ‚es ist meine Pflicht, meine
Schuldigkeit, meinem Vater alles zu sagen,‘ und ich habe ihm alles
gesagt und er hat mir ruhig zugehört.“

„Ja was, was hast du ihm denn gesagt?“ fragte, unruhig geworden,
Natascha.

„Daß ich keine andere Braut haben will, daß ich schon selbst eine habe –
und das wärest du! Das heißt, ich habe es ihm noch nicht genau so
gesagt, sondern ihn nur darauf vorbereitet, doch morgen werde ich’s ihm
sagen, das habe ich mir schon vorgenommen. Zuerst begann ich damit, daß
es Schimpf und Schande wäre, um des Geldes willen zu heiraten, und wenn
wir uns für wer weiß was für Aristokraten hielten, so wäre das einfach –
dumm (ich bin ja zu ihm so aufrichtig wie zu einem Bruder). Darauf habe
ich ihm erklärt, daß ich zum Dritten Stande gehöre, zum ^tiers-état^ und
^le tiers-état c’est l’essentiel^; daß es mein Stolz wäre, mit allen
gleich zu stehen, mich von niemandem zu unterscheiden ... mit einem
Wort, ich habe ihm alle diese gesunden neuen Ideen auseinandergesetzt
... Ich ließ mich hinreißen und sprach ganz begeistert. Ich war selbst
über mich erstaunt. Ich bewies ihm und fragte ihn einfach: was wir für
Fürsten seien? Vielleicht nur dem Geschlechte nach, fragte ich, doch in
Wirklichkeit, was wäre an uns Fürstliches? Besonders reich wären wir
nicht und Reichtum – ist doch die Hauptsache. Heutigentags ist der
größte Fürst – Rothschild. Zweitens hat man in der großen Welt von uns
schon längst nichts mehr gehört. Mein Großvater Ssemjon Walkowskij, der
Letzte aus der Familie, der in Moskau bekannt war, ja – der hatte seine
ganzen dreihundert Seelen vergeudet, und wenn mein Vater sich nicht Geld
erworben hätte, so würden seine Enkel vielleicht jetzt selbst das Land
pflügen müssen, wie es Fürsten oft tun. Wir hätten also nichts, auf das
wir stolz sein könnten. Mit einem Wort, ich habe alles ausgesprochen,
was in mir gärte – alles, ganz aufrichtig, ich habe sogar noch manches
hinzugefügt. Er antwortete mir garnicht, sondern warf mir nur vor, daß
ich das Haus des Grafen Nainskij nicht mehr besuchte, daß ich die
Bekanntschaft der Gräfin K., meiner Taufmutter, machen müsse und daß
ich, wenn diese Gräfin mich liebenswürdig aufnähme, überall empfangen
werden würde und Karriere machen könnte usw. usw.! Das waren alles
Anspielungen darauf, Natascha, daß du mich beeinflußt hättest, diese
Besuche zu unterlassen. Von dir selbst zu sprechen, hat er bis jetzt
unterlassen. Wir sind beide schlau; wir warten beide, wie der eine den
andern fangen wird, und sei überzeugt, auch auf unserer Straße wird es
Feiertag geben.“

„Schon gut, schon gut, Aljoscha, doch womit endet es denn, was hat er
beschlossen? Das ist doch die Hauptsache! – Was bist du doch für ein
Schwätzer, Aljoscha ...“

„Gott weiß es, aus ihm kann man nicht ... klug werden; ich bin durchaus
kein Schwätzer, ich rede ganz sachlich. Er hat einfach nicht so
beschlossen, sondern nur mitleidig zu allem gelächelt, was ich ihm
sagte. ‚Ich bin,‘ sagte er, ‚mit allem einverstanden, was du denkst,
doch fahren wir jetzt zum Grafen Nainskij, hüte dich aber dort, von
diesen Dingen zu reden. Ich verstehe dich zur Not noch, sie aber werden
dich nicht verstehen.‘ Es scheint, daß sie ihn dort selbst nicht gern
empfangen; daß sie gegen ihn verstimmt sind. Überhaupt scheint man
meinen Vater in der Gesellschaft nicht mehr gern zu sehen. Der Graf
empfing mich zuerst ganz von oben herab; er schien es völlig vergessen
zu haben, daß ich in seinem Hause erzogen worden bin. Er hält es für
‚Undankbarkeit‘, daß ich sein Haus nicht mehr besuche, doch kann dabei
von Undankbarkeit meinerseits keine Rede sein; in seinem Hause ist es
einfach langweilig und – das ist alles, ist der Grund, warum ich nicht
mehr hingegangen bin. Auch meinen Vater empfing er so herablassend, so
herablassend, daß ich einfach nicht verstehe, wie er noch zu ihm fahren
kann. Das hat mich sehr aufgeregt. Der arme Vater muß vor ihm den Rücken
beugen, und das alles meinetwegen – und ich, ich habe das alles garnicht
nötig. Ich hätte meinem Vater gern meine Meinung gesagt, aber ich ließ
es bleiben. Und wozu denn auch; seine Überzeugung kann ich ihm nicht
nehmen, ich verärgere ihn nur und er hat es ohnehin schon schwer. Nun,
denke ich mir, ich werde sie alle überlisten und werde den Grafen
zwingen, mich zu achten – und, was glaubst du! Ich habe sofort alles
erreicht und in einem Tage hat sich alles geändert! Graf Nainskij weiß
jetzt nicht mehr, wie er mit mir umgehen soll. Und alles das habe ich
ganz allein durch meine Schlauheit erreicht, so daß mein Vater vor
Erstaunen ...“

„Höre doch, Aljoscha, bleibe doch bei der Sache!“ unterbrach ihn
ungeduldig Natascha: „ich dachte, du hättest etwas zu erzählen, was uns
anbetrifft, doch du erzählst nur davon, wie du dich beim Grafen
ausgezeichnet hast. Was geht mich dein Graf an!“

„Was geht er dich an! Hören Sie, Iwan Petrowitsch, was geht er Sie an?
Aber das ist doch die Hauptsache! Das wirst du selbst gleich sehen, laß’
mich doch nur zu Ende erzählen ... Und schließlich, warum soll ich’s
nicht aufrichtig sagen, Sie, Iwan Petrowitsch, und Natascha haben oft
gefunden, daß ich nicht sehr vernünftig sei; nun, und oft bin ich
wirklich einfach dumm gewesen. Doch dieses Mal, ich versichere euch,
habe ich viel Schlauheit gezeigt, auch viel Klugheit; so daß Sie beide,
denke ich, selbst sehr froh sein werden, daß ich nicht immer – dumm
bin.“

„Ach, wie kannst du so sprechen, Aljoscha! Laß’ doch, mein Lieber!“

Natascha konnte es nicht ertragen, wenn man Aljoscha für dumm hielt. Wie
oft war sie nicht gekränkt gewesen, wenn ich ohne jegliche Zeremonie,
Aljoscha irgendeiner seiner Dummheiten überführte. Es war ein wunder
Punkt in ihrem Herzen. Sie konnte eine Erniedrigung Aljoschas nicht
ertragen, um so weniger, als sie sich seiner geistigen Beschränktheit
bewußt war. Doch wagte sie nie ihre Meinung über ihn auszusprechen, um
seine Eigenliebe nicht zu verletzen. Er aber schien in der Beziehung
besonders empfindlich zu sein und erriet jedesmal ihre geheimen Gefühle.
Natascha wiederum versuchte ihn durch Liebkosungen und Schmeichelworte
davon abzulenken. Deshalb berührten sie seine Worte auch dieses Mal
peinlich ...

„Laß doch, Aljoscha, du bist nur leichtsinnig, du bist durchaus nicht so
...“ fügte sie hinzu, „warum sich erniedrigen?“

„Nun, schon gut, schon gut, laß mich nur zu Ende erzählen. Nach diesem
Empfang beim Grafen war der Vater außer sich über mich. Warte, denke
ich! Wir fuhren gerade zur Gräfin; ich hatte bereits erfahren, daß sie
vor Alter den Verstand verloren habe, fast taub sei und über alles Hunde
liebte. Sie besitzt ein ganzes Rudel dieser Tiere und läßt nichts auf
sie kommen. Ungeachtet dessen hat sie einen so großen Einfluß in der
Welt, daß sogar Graf Nainskij, ^le superbe^, bei ihr antichambriert.
Schon unterwegs hatte ich meinen Plan entworfen, und was glaubt ihr
wohl, worauf ich mich stützte? Darauf, daß alle Hunde mich lieben.
Wahrhaftig, ich habe es oft bemerkt. Steckt in mir ein solcher
Magnetismus oder kommt es daher, daß ich selbst Tiere so gern habe, ich
weiß es nicht, doch die Hunde lieben mich, das ist so! Übrigens, was den
Magnetismus anbelangt, so habe ich dir noch nicht erzählt, Natascha, daß
wir vor ein paar Jahren Geister beschwört haben, ich war bei einem
Spiritisten; das ist sehr interessant, Iwan Petrowitsch; es hat mich
wirklich in Erstaunen gesetzt. Ich habe Julius Cäsar beschworen.“

„Ach, mein Gott! Was soll dir Julius Cäsar?“ rief Natascha, hell
auflachend. „Das fehlte auch noch!“

„Ja, warum denn nicht ... ganz als ob ich, ich weiß nicht, ver... Warum
soll ich nicht das Recht haben, Julius Cäsar zu beschwören? Was ist denn
dabei? Sehen Sie, jetzt lacht sie!“

„Natürlich ist nichts dabei ... ach, ach, mein Lieber! Nun, und was
sagte dir Julius Cäsar?“

„Nichts sagte er. Ich hielt nur den Bleistift und der Bleistift schrieb
von selbst auf das Papier. Alle sagten, das wäre Julius Cäsar. Ich
glaubte es aber nicht.“

„Und was schrieb er denn?“

„Er schrieb etwas über – aber nun höre auf zu lachen!“

„Ja, aber erzähle uns nun doch von der Gräfin!“

„Ihr unterbrecht mich ja immer. Wir kamen also zur Fürstin und ich
begann sofort, Mimi den Hof zu machen. Diese Mimi ist ein altes,
ekliges, widerwärtiges Hündchen und dazu noch knurrig und bissig. Die
Fürstin liebt es natürlich über alle Maßen. Ich füttere Mimi sofort mit
Konfekt und bringe das Tier in zehn Minuten so weit, daß es mir die
Pfote gibt, was man ihm das ganze Leben lang nicht hatte beibringen
können. Die Fürstin geriet ganz außer sich vor Entzücken, fast hätte sie
vor Freuden weinen können: ‚Mimi, Mimi, Mimi gibt die Pfote!‘ hieß es,
wenn jemand eintrat. Graf Nainskij erschien. ‚Mein Taufsohn hat es ihm
beigebracht!‘ rief man ihm entgegen. ‚Mimi reicht die Pfote.‘ Dabei
sieht sie mich fast mit Tränen der Rührung an. Die gute Alte; sie kann
mir fast leid tun. Ich ließ keine Gelegenheit vorübergehn, um ihr zu
schmeicheln: ihre Tabakdose zeigt ein Jugendbild von ihr als Braut vor
sechzig Jahren. Die Dose also fiel zu Boden, ich hob sie auf und sagte
so, als wäre es mir garnicht bewußt: ^Quelle charmante peinture!^ Welch
ideale Schönheit! Da taute sie schon ganz auf; sprach mit mir von dem
und jenem, wo ich erzogen sei, bei wem ich verkehre, wie schön mein Haar
wäre usw. usw. Ich brachte sie auch zum Lachen, erzählte ihr ein
skandalöses Geschichtchen. Sie liebt das, drohte mir mit dem Finger,
aber lachen tat sie doch. Sie entläßt mich, küßt und bekreuzt mich, und
verlangt, daß ich jeden Tag zu ihr komme, um sie zu zerstreuen. Der Graf
drückt mir die Hand, seine Augen schwammen ganz vor Rührung, und der
Vater, der doch der beste, ehrlichste und anständigste Mensch ist –
glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht – er weinte fast vor Freude,
als wir beide zusammen nach Hause fuhren; er umarmte mich, wurde zu mir
aufrichtig, teilte mir allerhand Geheimnisse über Karriere,
Verbindungen, Geld, Ehe mit, so daß ich vieles davon nicht einmal
verstehen konnte. Bei der Gelegenheit gab er mir denn auch das Geld. Das
war gestern. Morgen muß ich wieder zur Fürstin und Papa ist, wie gesagt,
der anständigste Mensch – glaubt nur nichts Schlechtes von ihm, wenn er
mich auch von Natascha trennen will, so sind es doch nur die Millionen
Katjäs, die ihn blind machen. Du besitzt doch keine ... und er will sie
nur für mich, und nur aus Blindheit und Unwissenheit ist er ungerecht zu
dir. Doch, welcher Vater wünscht seinem Sohne nicht Glück! So sind sie
alle! Man muß ihn nur von diesem Standpunkt aus beurteilen, und er
bekommt sofort recht. Ich bin gleich zu dir geeilt, Natascha, um dich
davon zu überzeugen, ich weiß, du bist ihm gegenüber voreingenommen und,
versteht sich, nicht schuld daran. Ich möchte dich auch garnicht
anklagen ...“

„Also das ist alles, was du erlebt, du hast bei der Fürstin Karriere
gemacht? Darin besteht deine ganze Schlauheit?“ fragte Natascha.

„Wieso! Das ist doch nur der Anfang ... ich habe nur darum von der
Fürstin erzählt, weil ich durch sie meinen Vater in die Hand bekomme,
doch mit der Hauptsache habe ich noch nicht einmal begonnen.“

„Nun, so erzähle doch!“

„Ich hatte heute ein sonderbares Erlebnis, worüber ich selbst noch ganz
erstaunt bin,“ fuhr Aljoscha fort. „Ich muß bemerken, daß die Verlobung
zwischen meinem Vater und der Gräfin wohl beschlossen, doch noch nicht
öffentlich bekannt gegeben worden ist, so daß sie ohne jeglichen Skandal
wieder gelöst werden kann; nur Graf Nainskij weiß davon, doch der zählt
ja nur als Verwandter und Gönner ... Obgleich ich in diesen Tagen Katjä
viel näher getreten bin, so hatten wir doch bis heute miteinander kein
Wort über Zukünftiges gesprochen, das heißt, weder von der Ehe, noch von
der Liebe. Außerdem ist noch beschlossen worden, die Einwilligung der
Fürstin K. abzuwarten, von deren Gunst man Goldberge erwartet. Was sie
dazu sagen wird, das wird auch die ganze Welt sagen; sie hat ja so große
Verbindungen ... Man möchte mich durchaus in die Gesellschaft einführen.
Daran besteht besonders die Gräfin, Katjäs Stiefmutter. Die Sache ist
nämlich die, daß die Fürstin sie vielleicht ihrer Abenteuer im Auslande
wegen nicht mehr empfangen wird, und wenn die Fürstin sie nicht mehr
empfängt, so tun es die andern auch nicht; es ist also meine Verlobung
mit Katjä eine bequeme Gelegenheit, um wieder anzuknüpfen. Darum freute
sich auch die Gräfin, die früher gegen die Verlobung war, so sehr über
meinen Erfolg bei der Fürstin, ... doch das ist ja Nebensache, die
Hauptsache ist: Katherina Fedorowna hatte ich vor einem Jahr kennen
gelernt; aber damals war ich noch ein Junge und konnte nichts begreifen,
und nichts besonderes in ihr finden ...“

„Einfach, weil du mich damals mehr liebtest, als jetzt,“ unterbrach ihn
Natascha, „deshalb konntest du nichts in ihr finden, aber jetzt ...“

„Kein Wort mehr, Natascha!“ rief feurig Aljoscha, „du irrst dich in
allem und beleidigst mich! ... Ich werde dir nichts darauf antworten;
höre weiter und du wirst sehen ... Ach, wenn du Katjä kennen würdest!
Wenn du wüßtest, was das für eine zärtliche, helle und reine Seele ist!
Doch, du wirst sie kennen lernen, höre mich nur an! Vor zwei Wochen, als
der Vater zurückkam und mich zu ihr führte, habe ich sie mir näher
angesehen. Ich bemerkte, daß auch sie mich beobachtete. Das erweckte in
mir die Neugierde schon deshalb, weil ich eine besondere Absicht dabei
verfolgte, sie näher kennen zu lernen, – eine Absicht, die ich seit dem
Brief meines Vaters, der mich so in Erstaunen setzte, verfolgte. Ich
werde nichts über sie sagen, ich werde sie nicht loben, ich will nur
bemerken: daß sie eine große Ausnahme in ihrem Kreise ist. Sie ist
nämlich eine so eigenartige Natur, eine so starke und aufrichtige Seele,
stark durch ihre Reinheit und Wahrhaftigkeit, daß ich einfach vor ihr,
wie ihr jüngerer Bruder erscheine, ungeachtet dessen, daß sie erst
siebzehn Jahre alt ist. Eines habe ich noch bemerkt: in ihr lebt ein
Leid, ein Geheimnis; sie ist sehr verschlossen; im Hause schweigt sie
immer, als fürchte sie etwas ... Immer ist sie in Gedanken versunken.
Meinen Vater scheint sie zu fürchten. Die Stiefmutter liebt sie nicht, –
das habe ich sofort bemerkt. Wenn die Gräfin behauptet, daß ihre
Stieftochter sie sehr liebe, so tut sie es nur, um gewisser Ziele
willen, doch ist es garnicht wahr. Katjä gehorcht ihr nur in allem, ganz
als hätte sie sich mit ihr darüber verständigt, als sei es eine
verabredete Sache zwischen ihnen. Vor vier Tagen beschloß ich, meine
Absicht auszuführen, und heute abend ist es mir gelungen. Meine Absicht
war: alles Katjä zu erzählen, ihr alles anzuvertrauen, sie auf unsere
Seite hinüberzuführen und dann mit einem Male der ganzen Sache ein Ende
zu machen ...“

„Wie! Was erzählen, was ihr anvertrauen,“ fragte beunruhigt Natascha.

„Alles, einfach alles,“ antwortete Aljoscha, „und Gott, der mir diesen
Gedanken eingegeben, sei Dank, doch höre, höre! Vor vier Tagen beschloß
ich, nicht eher zu dir zurückzukehren, bis ich die ganze Sache allein
durchgeführt hätte. Hätte ich auf dich gehört, so wäre ich unentschieden
geblieben, doch allein geblieben, hatte ich mich vor die Tatsache
gestellt, daß die Sache ein Ende nehmen müsse, und nur so konnte ich sie
durchführen! Ich verließ dich mit dem Entschluß, und ich habe ihn jetzt
ausgeführt!“

„Wie, wie das? Erzähle! schneller!“

„Sehr einfach! Ich sagte ihr alles, ehrlich und mutig ... Doch vorher
muß ich von einem Zufall erzählen, der mich sehr in Erstaunen setzte.
Bevor wir uns dahin begaben, erhielt der Vater einen Brief. In dem
Augenblick trat ich zu ihm ins Kabinett und blieb an der Türe stehen. Er
bemerkte mich nicht. Er war durch den Brief dermaßen erregt, daß er laut
mit sich selbst sprach, erregt im Zimmer auf und ab ging, und mit dem
Brief in der Hand plötzlich laut auflachte. Ich fürchtete mich sogar,
einzutreten ... Der Vater war über irgend etwas dermaßen erfreut, so
erfreut, daß er mich ganz sonderbar anredete, dann plötzlich abbrach und
sofort mit mir fortging, obgleich es noch viel zu früh war. Bei ihnen
war heute niemand zu Gast, und es war rein ein Irrtum von dir, Natascha,
wenn du gedacht hast, es wäre ein Gesellschaftsabend gewesen. Man hat
dich falsch unterrichtet.“

„Ach, Aljoscha, schweife doch nicht wieder ab; sag’ doch, was du alles
Katjä erzählt hast?“

„Es war ein Glück, daß wir beide zwei ganze Stunden allein blieben. Ich
erklärte ihr einfach, daß man uns beide verloben möchte, doch daß diese
Ehe unmöglich sei, daß ich in meinem Herzen für sie eine große Sympathie
empfinde und daß sie allein mich retten könne. Darauf erzählte ich ihr
alles. Stelle dir nur vor, Natascha! sie wußte nichts von unserer
Geschichte. Wenn du nur gesehen hättest, wie erschüttert sie davon war.
Sie erbleichte sogar. Ich erzählte ihr also unsere ganze Geschichte: wie
du dein Elternhaus verlassen, wie wir allein gelebt haben, wie wir uns
jetzt quälen und uns ängstigen und um ihre Hilfe bitten (ich sprach auch
in deinem Namen, Natascha), und hofften, daß sie auf unsere Seite träte
und einfach ihrer Stiefmutter erkläre, daß sie mich nicht heiraten
wolle; daß es unsere einzige Rettung wäre und wir einen anderen Ausweg
nicht finden könnten. Sie hörte mir mit großer Aufmerksamkeit und
Teilnahme zu. Was sie in diesem Augenblick für herrliche Augen hatte!
Ihre ganze Seele lag in ihren Augen. Sie hat tiefblaue Augen. Sie dankte
mir, daß ich zu ihr Vertrauen gehabt, und versprach, uns mit allen
Kräften zu helfen. Dann fragte sie nach dir, sagte, daß sie dich kennen
lernen wollte, bat mich, dir zu sagen, daß sie dich wie eine Schwester
lieb habe, und daß auch du sie lieben möchtest; und als sie erfuhr, daß
ich dich bereits den fünften Tag nicht mehr gesehen, schickte sie mich
selbst sofort zu dir ...“

Natascha war gerührt.

„Und du konntest uns von deinen Heldentaten bei der tauben, alten
Fürstin erzählen, ohne uns zuerst dieses mitzuteilen. Ach, Aljoscha,
Aljoscha!“ rief Natascha aus, in vorwurfsvollem Tone. „Und wie war denn
Katjä? War sie fröhlich, als sie dich entließ?“

„Ja, sie war sehr froh, uns helfen zu können, doch brach sie bald darauf
in Tränen aus. Denn sie hat mich auch lieb gewonnen, Natascha! Sie
gestand mir, daß sie mich zu lieben angefangen, und daß ich ihr schon
längst gefallen hätte, besonders deshalb, weil sie von Lüge und
Schlauheit umgeben sei, und sie nur mich allein für einen aufrichtigen
und ehrlichen Menschen hält. Sie stand auf und sagte: ‚Nun, Gott sei mit
Ihnen, Alexei Petrowitsch, ich dachte nur ...‘ Sie vollendete nicht,
brach in Tränen aus und verließ das Zimmer. Wir haben beschlossen, daß
sie morgen ihrer Stiefmutter erklären soll, sie wolle mich nicht
heiraten, und ich solle alles meinem Vater sagen, mutig und fest. Sie
machte mir nur Vorwürfe, warum ich es ihr nicht schon früher gesagt
hätte, denn ‚ein ehrlicher Mensch dürfe nichts fürchten!‘ Sie ist so
edel. Meinen Vater liebt sie auch nicht; sie sagt, er sei schlau und
wolle nur Geld. Ich verteidigte ihn, sie glaubte mir nicht. Wenn ich
morgen beim Vater nichts erreichen sollte (sie glaubt nämlich, ich würde
nichts erreichen), so ist sie dafür, daß ich zur Fürstin K. gehe. Dann
wird es niemand wagen, gegen uns vorzugehen. Wir gaben uns gegenseitig
das Wort, wie Bruder und Schwester zu sein. Wenn du ihre
Lebensgeschichte kennen würdest, wie auch sie unglücklich ist, wie
widerwärtig sie ihr Leben bei der Stiefmutter und diese ganze Umgebung
empfindet! Sie sagte es mir, nicht so geradezu, als fürchtete sie, es
auszusprechen, aber aus ihren Worten habe ich es doch erraten. Natascha,
mein Liebling! Wie würde sie sich freuen, dich zu sehen! Und was für ein
gutes Herz sie hat! Es ist so schön, bei ihr zu sein. Ihr seid beide wie
geschaffen füreinander, ihr müßt euch gegenseitig wie Schwestern lieb
haben! Ich habe die ganze Zeit daran gedacht. Ich müßte euch beide
zusammenführen. Mit Entzücken würde ich euch betrachten! Laß mich bitte
noch von ihr sprechen, Natascha, glaube nicht etwas Schlechtes. Mit ihr
zusammen möchte ich über dich sprechen und mit dir über sie. Du weißt
doch, daß ich dich über alles liebe, noch mehr als sie ...“

Natascha schwieg und sah ihn zärtlich und zugleich traurig an. Seine
Worte umschmeichelten sie und quälten sie zugleich.

„Und schon lange, schon vor zwei Wochen habe ich Katjä kennen und
schätzen gelernt. Ich bin doch jeden Abend bei ihr gewesen. Wenn ich
dann nach Hause zurückkehrte, dachte ich immer, immer an euch beide und
verglich euch miteinander.“

„Wer von uns schien dir denn besser?“ fragte lächelnd Natascha.

„Einmal du, einmal – sie. Doch meist schienst du besser. Nur wenn ich
mit ihr spreche, fühle ich, daß ich selbst besser, klüger und edler bin.
Doch morgen, morgen wird sich alles entscheiden!“

„Tut sie dir nicht leid? Sie liebt dich doch, sagtest du selbst.“

„Gewiß, Natascha! Doch wir werden uns alle drei lieb haben, und dann
...“

„Und dann, leb wohl!“ sagte leise vor sich hin Natascha.

Aljoscha sah sie unwillig an.

Unsere Unterhaltung wurde plötzlich in unerwarteter Weise unterbrochen.
In die Küche, die zu gleicher Zeit das Vorzimmer war, hörte man jemanden
eintreten. Gleich darauf öffnete Mawra die Tür und winkte Aljoscha,
hinzukommen. Wir alle wandten uns nach ihr um.

„Man fragt nach Ihnen!“ sagte sie mit geheimnisvoller Stimme.

„Wer kann das sein, zu dieser Stunde?“ Aljoscha blickte uns ganz
verwundert an. „Ich werde sehen!“

Aus der Küche entfernte sich in demselben Augenblick der Lakai des
Fürsten, seines Vaters. Die Sache verhielt sich so, daß der Fürst auf
der Rückreise nach Hause bei Nataschas Wohnung vorgefahren war, um zu
erfahren, ob Aljoscha bei ihr sei. Als es dem Lakai bestätigt wurde,
entfernte er sich sofort wieder.

„Sonderbar! Das ist doch noch niemals geschehen,“ sagte verwirrt
Aljoscha. „Was soll das bedeuten?“

Natascha sah ihn beunruhigt an. Plötzlich öffnete Mawra wieder die Tür.

„Der Fürst kommt selbst,“ flüsterte sie uns eilig zu und verschwand.

Natascha erbleichte und erhob sich von ihrem Platz. Plötzlich flammten
ihre Augen auf. Sie stützte sich leicht auf den Tisch und blickte
erwartungsvoll zur Tür, durch die der ungebetene Gast eintreten mußte.

„Natascha, fürchte dich nicht, ich bin bei dir! Ich erlaube niemanden,
dich zu beleidigen,“ flüsterte ihr Aljoscha, der seine Fassung nicht
verloren hatte, erregt zu.

Die Tür ging auf und auf der Schwelle erschien Fürst Walkowskij in
eigener Person.


                                  II.

Ein rascher, aufmerksamer Blick streifte uns alle. Aus diesem Blicke
konnte man nicht erkennen, ob er von einem Freunde oder Feinde kam. Das
Äußere des Fürsten setzte mich an diesem Abend besonders in Erstaunen.

Ich hatte ihn auch schon früher gesehen. Er war ein Mann von
fünfundvierzig Jahren, nicht älter, mit regelmäßigen und schönen
Gesichtszügen, deren Ausdruck sich je nach den Umständen, und zwar
plötzlich, mit unvorhergesehener Geschwindigkeit, zu verändern pflegte,
und die in einem Moment von dem angenehmsten zum bösesten Ausdruck
überspringen konnten, als gehorchten sie dem Druck einer mechanischen
Feder. Das ebenmäßige Oval des etwas gebräunten Gesichtes, die
prachtvollen Zähne, die feingeschwungenen und schmalen Lippen, die schön
geschnittene etwas längliche Nase, die hohe Stirn, auf der noch kein
Fältchen zu sehen war, die grauen, großen Augen – dies alles machte ihn
zum schönen Manne. Und doch machten seine Züge keinen angenehmen
Eindruck. Dieses Gesicht hatte etwas so Abstoßendes, weil es gar nicht
seinen eigenen Ausdruck besaß, sondern etwas Verstelltes, Erdachtes,
Angeeignetes darin lag. Man hatte unwillkürlich die Überzeugung, daß man
niemals seinen wahren Ausdruck zu sehen bekommen würde. Wenn man das
Gesicht näher betrachtete, so schien hinter seiner Maske etwas Böses,
Schlaues und im höchsten Grade Egoistisches zu lauern. Namentlich zogen
die grauen, schönen, offenen Augen die Aufmerksamkeit auf sich. Sie
allein konnten sich seinem Willen nicht unterordnen. Er wollte einen
weich und liebenswürdig ansehen, doch schienen sich die Strahlen seines
Blickes gleichsam zu spalten und mitten zwischen den milden,
freundlichen Strahlen blitzten dann böse, mißtrauische, harte,
forschende auf ... Er war von ziemlich hohem Wuchs, schlank und elegant.
So schien er viel jünger an Jahren, als er wirklich war. Sein
dunkelbraunes und weiches Haar war noch nicht ergraut. Seine Ohren,
Hände und Füße waren von wunderbarer Form. Er hatte durchaus das, was
man Rasse nennt. Seine Kleidung war gewählt und etwas jugendlich, was
ihm aber sehr gut stand. Man hätte ihn für den älteren Bruder von
Aljoscha halten können, niemals jedoch für den Vater eines erwachsenen
Sohnes.

Er ging geradewegs auf Natascha zu und sah ihr ruhig und fest ins Auge.

„Mein Besuch zu dieser Stunde und ohne jede Anmeldung mag Ihnen
sonderbar und unangebracht erscheinen; doch ich hoffe, Sie werden mir
glauben, daß ich das Exzentrische meiner Handlungsweise durchaus
überschaue. Ich meinerseits weiß es gleichfalls, mit wem ich es zu tun
habe, ich weiß, daß Sie klug und großzügig sind. Ich bitte Sie mir zehn
Minuten zu gewähren und Sie werden meine Handlungsweise begreifen und
selbst rechtfertigen.“

Er sprach sehr höflich, doch mit einem gewissen Nachdruck.

„Bitte, nehmen Sie Platz!“ sagte Natascha immer noch verwirrt von der
Überraschung.

Er verbeugte sich leicht und setzte sich.

„Erlauben Sie mir, zuerst meinem Sohne ein paar Worte zu sagen.
Aljoscha, als du kaum fortgegangen warst, ohne dich von uns zu
verabschieden, wurde der Gräfin gemeldet, daß Katherina Fedorowna sich
schlecht fühle. Die Gräfin wollte sich zu ihr begeben, als Katherina
Fedorowna selbst plötzlich ganz verstört und aufgeregt erschien. Sie
erklärte uns, daß sie nie deine Frau werden könne. Darauf sagte sie uns,
daß sie in ein Kloster ginge, daß du sie um ihre Hilfe gebeten und ihr
selbst gestanden hättest, du liebtest Natascha Nikolajewna ... Ein so
unwahrscheinliches Geständnis von seiten Katherina Fedorownas in einem
solchen Augenblick war natürlich nur die Folge deiner sonderbaren
Erklärung ihr gegenüber. Sie war einfach ganz außer sich. Du verstehst,
wie überrascht und bestürzt ich war. Als ich hier vorbeikam, erblickte
ich Licht in Ihren Fenstern,“ wandte er sich zu Natascha. „Da kam mir
denn der Gedanke wieder, der mich schon lange beschäftigt hatte, so daß
ich jetzt dem ersten Impuls nachgab und zu Ihnen ging. Wozu? Das werde
ich Ihnen gleich sagen, ich bitte jedoch, sich wegen einer gewissen
Schärfe und Plötzlichkeit meiner Erklärung nicht zu verwundern. Alles
das kam so jäh ...“

„Ich hoffe, daß ich Sie so verstehen werde, wie es nötig ist ... und das
von Ihnen Gesagte schätzen werde,“ sagte etwas stockend Natascha.

Der Fürst sah sie aufmerksam an, als wollte er sie in einem Augenblick
ganz und gar durchschauen.

„Ich hoffe auf Ihren Scharfsinn,“ fuhr er fort, – „und wenn ich es mir
erlaubt habe, jetzt zu Ihnen zu kommen, so tat ich es nur, weil ich
wußte, mit wem ich es zu tun haben werde. Ich kenne Sie schon lange,
obgleich ich ungerecht zu Ihnen war, was ich Ihnen offen bekennen muß.
Hören Sie mich also an: Sie wissen, daß zwischen mir und Ihrem Herrn
Vater eine alte Fehde besteht. Ich will mich nicht rechtfertigen.
Vielleicht bin ich ihm gegenüber mehr schuld, als ich es bisher
angenommen habe. Wenn es sich so verhalten sollte, dann geschah es, weil
ich selbst betrogen worden bin. Ich bin mißtrauisch und ich mache kein
Geheimnis daraus. Ich bin immer geneigt, eher das Schlechte als das Gute
anzunehmen – ein unglücklicher Zug, nur möglich bei einem Manne mit
hartem Herzen. Doch habe ich nicht die Angewohnheit, meine Mängel zu
verhehlen. Ich habe allen Verleumdungen über Sie Glauben geschenkt, und
als Sie Ihre Eltern verlassen hatten, fürchtete ich für Aljoscha. Doch
damals kannte ich Sie noch nicht. Die Nachforschungen, die ich nach und
nach angestellt habe, beruhigten mich vollständig. Ich konnte mich
schließlich davon überzeugen, daß meine Verdächtigung Ihnen gegenüber
tatsächlich unbegründet war. Ich erfuhr und hörte davon, daß Sie sich
mit den Ihrigen überworfen, und ich weiß auch, daß Ihr Herr Vater
durchaus gegen eine Ehe mit meinem Sohne ist. Und schon allein, daß Sie,
die Sie einen solchen Einfluß auf Aljoscha ausüben, ihn bis jetzt nicht
zu einer Heirat mit Ihnen gezwungen haben – dies schon allein zeigt Sie
von Ihrer besten Seite. Und doch muß ich Ihnen gestehen, daß ich bereits
fest entschlossen war, mit aller Gewalt der Möglichkeit einer Ehe mit
meinem Sohne entgegenzuarbeiten. Ich weiß es, daß ich mich jetzt nur
allzu aufrichtig zu Ihnen ausspreche, doch dieser Augenblick verlangt
nun einmal die größte Aufrichtigkeit meinerseits. Sie werden es mir
selbst im Laufe unseres Gespräches zugeben. Bald darauf, als Sie Ihr
Elternhaus verlassen hatten, verließ ich Petersburg, und als ich es
verließ, da fürchtete ich schon nicht mehr für Aljoscha. Ich rechnete
auf Ihren edlen stolzen Sinn. Ich hatte verstanden, daß Sie die Ehe mit
Aljoscha nicht wollten, bevor der Familienstreit ein Ende genommen, und
daß Sie das gute Einvernehmen zwischen mir und meinem Sohne nicht zu
zerstören gedachten, da ich ihm niemals die Heirat mit Ihnen verziehen
haben würde. Auch wollten Sie wohl nicht, daß man von Ihnen sagen
konnte, Sie hätten die Verbindung mit einem fürstlichen Hause gesucht.
Im Gegenteil, Sie zeigten unserem Stande gegenüber eine gewisse
Verachtung und warteten vielleicht auf den Augenblick, daß ich selbst zu
Ihnen käme, um Sie zu bitten, uns die Ehre zu erweisen und die Hand
meines Sohnes anzunehmen. Aber trotzdem blieb ich Ihr hartnäckiger
Gegner. Ich will mich Ihnen gegenüber nicht rechtfertigen, die Gründe
Ihnen offen klarlegen. Sie sind nicht reich; Ihre Familie ist nicht
angesehen. Wenn ich auch vermögend bin, so brauchen wir doch mehr. Mit
unserer Familie geht es bergab. Wir haben Verbindungen und Geld nötig.
Die Stieftochter der Gräfin hat allerdings keine Verbindungen, aber sie
ist sehr reich. Ich durfte keine Zeit verlieren, andere Freier hätten
uns die Braut fortgenommen, und so beschloß ich denn, obgleich Aljoscha
viel zu jung ist, ihn zu verheiraten. Sie sehen, ich verheimliche nichts
vor Ihnen. Sie können mit Verachtung auf den Vater sehen, der seinen
Sohn aus Habsucht und Vorurteil zu einer schlechten Tat zwingt; denn ein
Mädchen, das ihm großmütig alles geopfert hat, zu verlassen, ist eine
schlechte Tat. Ich will mich, wie gesagt, nicht entschuldigen. Der
zweite Grund für eine Heirat meines Sohnes mit der Stieftochter der
Gräfin ist der, daß dieses Mädchen durchaus seiner Liebe und Achtung
würdig ist. Sie ist hübsch, gut erzogen, sehr klug und ein herrlicher
Charakter, wenn sie auch in vielem noch ein Kind ist. Aljoscha dagegen
ist ganz charakterlos, leichtsinnig, unüberlegt und mit seinen
zweiundzwanzig Jahren nicht nur ein halbes, sondern ein vollkommenes
Kind, das nur den einen Vorzug hat – ein gutes Herz zu besitzen, was bei
seinen Fehlern durchaus nicht ungefährlich ist. Ich habe schon längst
bemerkt, daß mein Einfluß auf ihn sich verringert hat: das jugendliche
Feuer nimmt überhand, auch über seine Verpflichtungen hinweg. Ich
meinerseits liebe ihn vielleicht zu sehr, doch habe ich mich immer mehr
und mehr davon überzeugt, daß mein Einfluß allein nicht für ihn
ausreicht. Trotzdem und gerade deshalb muß er immer unter irgend einem
guten Einfluß stehen. Seine Natur ist schwach und liebebedürftig, auch
hat sie die Neigung, mehr zu gehorchen, als zu befehlen. So wird er sein
ganzes Leben sein. Sie können sich nun vorstellen, wie froh ich war, in
Katherina Fedorowna ein Mädchen zu finden, wie ich es meinem Sohne gern
zur Frau gewünscht hätte. Doch meine Freude kam zu spät, ihn beherrschte
bereits ein anderer Einfluß – der Ihre. Nach meiner Rückkehr beobachtete
ich ihn scharf und bemerkte in ihm eine Wandlung zum Besseren. – Sein
Leichtsinn, seine Kindlichkeit waren dieselben, daneben aber zeigte sich
ein höheres Bestreben: er interessiert sich plötzlich nicht nur für
Spielereien, sondern auch für Edleres. Seine Ideen sind noch sonderbar
und ungeschickt, doch der Wille, der Wunsch zum Besseren ist entschieden
vorhanden und das ist schließlich das Fundament zu allem; all dieses
Bessere aber kommt sicher von Ihnen. Sie haben ihn erzogen. Ich gestehe
Ihnen, daß ich zuerst den Gedanken hatte, daß tatsächlich Sie allein
vielleicht sein Glück ausmachen könnten. Doch habe ich diesen Gedanken
sofort wieder unterdrückt. Ich wünsche, offen gestanden, nicht, daß es
so sei. Ich mußte ihn, sagte ich mir, Ihrem Einfluß entreißen, was es
mich auch koste; ich handelte danach und hoffte schon, daß ich mein Ziel
erreichen würde. Noch vor einer Stunde dachte ich, der Sieg sei auf
meiner Seite. Doch das Ereignis im Hause der Gräfin stürzte alle meine
Hoffnungen wieder über den Haufen und vor allem setzte mich diese ganz
unerwartete Tatsache in Erstaunen: dieser seltsame Ernst in Aljoscha,
seine Anhänglichkeit an Sie, und die Beharrlichkeit dieser
Anhänglichkeit. Ich wiederhole es Ihnen, Sie haben ihn vollständig
umgewandelt und ich sah plötzlich, daß diese Umwandlung sich weiter
erstreckt, als ich es ahnen konnte. Heute habe ich zum ersten Male an
ihm so etwas wie Verstand wahrgenommen, und zu gleicher Zeit eine große
Feinfühligkeit des Herzens. Er hatte den rechten Weg gewählt, um aus
dieser Lage heraus zu kommen, die für ihn eine sehr schwierige war. Er
rührte an die alleredelsten Fähigkeiten des Menschenherzens, nämlich –
die Fähigkeit, zu verzeihen und Böses mit Großmut zu vergelten. Er gab
sich ganz in die Gewalt des von ihm gekränkten Wesens und bat um dessen
Teilnahme und Hilfe. Er weckte den ganzen Stolz einer Frau, die ihn
liebte, indem er ihr offen erklärte, daß sie eine Nebenbuhlerin hätte,
und zu gleicher Zeit erweckte er in ihr Sympathie zu dieser
Nebenbuhlerin und für sich Vergebung und brüderliche Freundschaft. So
etwas zu wagen und dabei nicht zu beleidigen, das können die schlausten
und fähigsten Leute nicht, das kann nur ein junges, reines und
gutgelenktes Herz, wie das seine. Ich bin überzeugt, daß Sie, Natalja
Nikolajewna, an seinem heutigen Schritte vollkommen unbeteiligt sind.
Sie haben, vielleicht, von alledem erst soeben durch ihn erfahren. Nicht
wahr, ich irre mich nicht?“

„Sie irren sich nicht!“ wiederholte Natascha, deren Gesicht glühte und
deren Augen eigentümlich leuchteten. Die Dialektik des Fürsten begann
bereits, ihre Wirkung auszuüben. „Ich habe Aljoscha seit fünf Tagen
nicht mehr gesehen,“ fügte sie hinzu. „Das hat er sich alles allein
ausgedacht und allein ausgeführt.“

„So ist es,“ bestätigte der Fürst, „aber abgesehen davon, ist seine
ganze Entschlossenheit doch nur eine Folge Ihres Einflusses. Dies hatte
ich mir alles auf der Fahrt nach Hause überlegt – und plötzlich fühlte
ich in mir die Kraft, hier einen Entschluß herbeizuführen. Unsere
Werbung im Hause der Gräfin ist nun für immer zerstört und kann nicht
wieder hergestellt werden, selbst wenn es noch möglich wäre. Wie, wenn
ich mich jetzt hätte überzeugen müssen, daß nur Sie sein Glück
ausmachen, daß nur Sie seine Führerin sein können! Ich habe vor Ihnen
nichts verheimlicht und würde es auch jetzt nicht tun: ich liebe
Karriere, Geld, Ansehen, Rang, wenn ich auch ganz bewußtermaßen alles
das nur für ein Vorurteil halte, – doch ich liebe nun einmal diese
Vorurteile. Aber es gibt Umstände, in denen man auch andere Auffassungen
gelten lassen muß, man kann nun einmal nicht alles mit demselben Maße
messen ... Außerdem liebe ich meinen Sohn über alles. Kurz, ich bin zu
der Überzeugung gekommen, daß Aljoscha sich nicht von Ihnen trennen
soll, weil er ohne Sie zugrunde geht. Ich muß mir sogar sagen, daß ich
mich innerlich vielleicht schon vor einem Monat dazu entschlossen hatte,
und daß ich jetzt recht daran getan, die Sache so aufzufassen. Freilich,
um Ihnen dieses Geständnis zu machen, hätte ich nicht diese Stunde, so
spät am Abend, zu wählen brauchen. Doch meine Eile möge Ihnen beweisen,
wie eifrig, und vor allem, wie aufrichtig ich mich der Sache annehme.
Ich bin kein Jüngling, in meinen Jahren kann man keinerlei unüberlegte
Schritte mehr tun. Als ich hier bei Ihnen eintrat, war alles schon
beschlossen und wohl erwogen. Aber ich fühle, ich werde noch viel Zeit
brauchen, Sie von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen ... Doch zur
Sache! Soll ich Ihnen jetzt noch erklären, weshalb ich zu Ihnen gekommen
bin? Ich bin gekommen, um Ihnen gegenüber meine Schuldigkeit zu tun und
bei Ihnen feierlich, voll unbegrenzter Hochachtung zu Ihnen für meinen
Sohn um Ihre Hand anzuhalten. O, glauben Sie nicht, daß ich zu Ihnen
gekommen bin wie ein grausamer Vater, der endlich, endlich es über sich
gebracht hat, seinen Kindern zu verzeihen und in ihr Glück
einzuwilligen. Nein, nein! Sie erniedrigen mich, wenn Sie das von mir
voraussetzen. Denken Sie, bitte, auch nicht, daß ich schon im voraus von
Ihrer Einwilligung überzeugt gewesen bin; durchaus nicht. Ich bin der
erste, der sagt und offen eingesteht, daß er Ihrer nicht wert ist ...
(wenn er auch gut und reines Herzens ist) ... und er selbst wird es
bestätigen. Doch das wäre noch wenig. Mich hat zu dieser Stunde nicht
nur dies hierher gezogen ... ich bin außerdem gekommen ... (und er erhob
sich ehrerbietig und mit einer gewissen Feierlichkeit) ... ich bin
hierhergekommen, um Ihr Freund zu sein! Ich weiß, daß ich dazu nicht das
kleinste Recht beanspruchen kann, im Gegenteil! Doch erlauben Sie mir,
daß ich mir dieses Recht verdiene! Lassen Sie mich hoffen! ...“

Er verbeugte sich ehrerbietig vor Natascha und erwartete ihre Antwort.
Die ganze Zeit, während seiner Rede, beobachtete ich ihn aufmerksam. Er
merkte es.

Er hatte seine Rede in kühlem Ton gesprochen mit merkbarer Absicht,
tadellose und zugleich gewinnende Sätze zu formen, und stellenweise
wieder mit vornehmer Nachlässigkeit. Der Ton seiner Rede entsprach
durchaus nicht dem Ungestüm eines Besuches zu so unpassender Zeit.
Einige Bemerkungen wurden besonders unterstrichen und hin und wieder gab
er sich, während seiner langen Rede, den Anschein eines Sonderlings, der
seine Gefühle durch Humor und Scherz zu verdecken sucht. Doch fiel mir
das alles erst später auf, denn seine letzten Worte hatte er mit so viel
Gefühl und Verehrung zu Natascha ausgesprochen, daß er uns sofort alle
damit besiegte. An seinen Augenwimpern schienen Tränen zu erglänzen.
Nataschas edles Herz war vollständig besiegt. Sie erhob sich gleichfalls
von ihrem Stuhl und reichte ihm in tiefer Bewegung ihre Hand. Er ergriff
sie und küßte sie zärtlich und gefühlvoll. Aljoscha war außer sich vor
Begeisterung.

„Was habe ich dir gesagt, Natascha!“ rief er aus. „Du hast mir nicht
glauben wollen! Du hast mir nicht glauben wollen, daß er der edelste
Mensch auf der Welt ist! Siehst du, siehst du es jetzt selbst ein! ...“

Er stürzte zu seinem Vater und umarmte ihn. Dieser erwiderte seine
Zärtlichkeit, doch beeilte er sich, die gefühlvolle Szene abzukürzen,
als schäme er sich seiner Gefühle.

„Schon gut,“ sagte er und griff nach seinem Hut, „ich gehe. Ich erbat
mir nur zehn Minuten und habe eine ganze Stunde bei Ihnen zugebracht,“
fügte er lächelnd hinzu. „Aber ich gehe von Ihnen voll Ungeduld, Sie
möglichst bald wieder zu sehen. Erlauben Sie es, daß ich Sie des öfteren
besuche?“

„Ja, gewiß, – o, ja!“ antwortete Natascha. „Auch ich möchte Sie so bald
als möglich ... lieben lernen ...“ fügte sie ganz verwirrt hinzu.

„Wie Sie aufrichtig und ehrlich sind!“ sagte der Fürst über ihren
Ausbruch lächelnd. „Sie wollen mir nicht nur eine einfache
Höflichkeitsformel sagen. Ihre Aufrichtigkeit ist mir viel teurer als
alle Höflichkeit. Ja! Ich sehe es ein, daß ich mir Ihre Liebe erst noch
verdienen muß!“

„Genug, loben Sie mich bitte nicht ... genug davon!“ flüsterte Natascha
ganz bestürzt.

Wie schön war sie in diesem Augenblick!

„Wie Sie wünschen!“ beschloß der Fürst. „Doch noch ein paar Worte zur
Sache. Können Sie sich vorstellen, wie unglücklich ich bin, denn weder
morgen, noch übermorgen werde ich in Petersburg sein ... Ich erhielt
heute einen Brief in einer sehr wichtigen Angelegenheit, die meine
Anwesenheit verlangt. Morgen früh also verlasse ich Petersburg. Bitte,
glauben Sie nicht etwa, ich bin deshalb heute so spät am Abend gekommen,
weil es mir morgen und übermorgen nicht möglich gewesen wäre. Natürlich
denken Sie gar nicht daran, aber – nun sehen Sie, da haben Sie wieder
eine Probe meines Mißtrauens! Viel hat mir dieses Mißtrauen schon in
meinem Leben geschadet, der ganze Prozeß mit Ihrer Familie, ist nichts
als die Folge dieses elenden Charakterzuges! ... Heute haben wir
Dienstag. Mittwoch, Donnerstag, Freitag werde ich also nicht in
Petersburg sein. Sonnabend hoffe ich wieder zurückzukommen und werde Sie
dann sofort aufsuchen. Kann ich auf den ganzen Abend zu Ihnen kommen?“

„Gewiß! Natürlich!“ rief Natascha. „Sonnabend abend werde ich Sie
erwarten! Mit Ungeduld werde ich Sie erwarten!“

„Und ich meinerseits bin sehr glücklich darüber, daß ich Sie näher
kennen lernen kann! Doch – jetzt gehe ich! Ich kann nicht umhin, auch
Ihnen die Hand zu reichen,“ wandte er sich plötzlich an mich.
„Entschuldigen Sie, wir sprechen so durcheinander ... Ich hatte wohl
schon des öfteren das Vergnügen, Ihnen zu begegnen, ich glaube, wir sind
uns sogar vorgestellt worden. Ich möchte nicht von hier fortgehen, ohne
Ihnen versichert zu haben, daß es mir sehr angenehm ist, unsere
Bekanntschaft zu erneuern.“

„Wir sind uns begegnet, das ist wahr,“ ich ergriff seine Hand, „doch
erinnere ich mich nicht, Ihnen vorgestellt zu sein.“

„Beim Fürsten R., im vorigen Jahr.“

„Entschuldigen Sie, ich habe es vergessen. Doch ich versichere, daß ich
es dieses Mal nicht vergessen werde. Dieser Abend wird mir durchaus in
der Erinnerung bleiben.“

„Ja, das ist recht. Ich weiß es längst, daß Sie der aufrichtigste Freund
Natalja Nikolajewnas und meines Sohnes sind. – Ich hoffe zu Ihnen dreien
als der Vierte hinzuzutreten. Habe ich recht?“ Mit diesen Worten wandte
er sich wieder an Natascha.

„Ja, er ist unser aufrichtiger Freund, und wir wollen alle Freunde
sein!“ antwortete Natascha voll tiefer Überzeugung.

Die Arme! Sie strahlte vor Freude, als sie bemerkte, daß der Fürst mich
nicht vergessen hatte. Wie sie mich doch lieb hatte!

„Ich bin vielen Verehrern Ihres Talentes begegnet,“ fuhr der Fürst fort,
„und ich kenne zwei Ihrer aufrichtigsten Verehrerinnen. Es würde sie
sehr freuen, Sie persönlich kennen zu lernen. Es sind das die Gräfin,
meine beste Freundin, und ihre Stieftochter, Katherina Fedorowna
Philimonnowa. Lassen Sie mich hoffen, Sie diesen Damen vorstellen zu
dürfen.“

„Das ist für mich sehr schmeichelhaft, obgleich ich jetzt wenig in der
Gesellschaft verkehre ...“

„Geben Sie mir Ihre Adresse! Wo wohnen Sie? Ich werde das Vergnügen
haben ...“

„Ich empfange nicht, Fürst, wenigstens nicht gegenwärtig ...“

„Vielleicht machen Sie mit mir eine Ausnahme ...“

„Wenn Sie es verlangen, mir soll es sehr angenehm sein. Ich wohne in der
M.-Gasse im Hause Klugen.“

„Im Hause Klugen!“ rief er ganz betroffen aus. „Wie! Wohnen Sie ...
schon lange dort?“

„Nein, nicht lange,“ antwortete ich und faßte ihn unwillkürlich schärfer
ins Auge. „Meine Wohnung ist Nummer vierundvierzig.“

„Nummer vierundvierzig? Sie leben dort ... allein?“

„Ganz allein.“

„Ja! Ich glaube ... ich kenne dieses Haus. Um so besser ... Ich werde
Sie bestimmt besuchen, bestimmt! Ich habe über vieles mit Ihnen zu reden
und ich verspreche mir sehr viel von Ihnen. Sie können mir einen großen
Dienst erweisen. Sehen Sie, da komme ich schon gleich mit einer Bitte.
Also auf Wiedersehen. Geben Sie mir noch einmal Ihre Hand!“

Er reichte mir und Aljoscha die Hand, küßte nochmals Nataschas Händchen,
und forderte Aljoscha nicht auf, ihm zu folgen.

Wir drei blieben in großer Erregung zurück. Alles das hatte sich so
plötzlich und unerwartet zugetragen. Alle fühlten wir, daß sich in einem
Augenblick alles verändert und nun etwas Neues, Unbekanntes beginnen
würde. Aljoscha setzte sich schweigend zu Natascha und küßte ihr leise
zärtlich die Hand. Von Zeit zu Zeit sah er ihr ins Gesicht, als
erwartete er von ihr, daß sie etwas sagen würde.

„Lieber Aljoscha, fahre morgen zu Katherina Fedorowna,“ sagte sie
endlich zu ihm.

„Das habe ich auch schon gedacht,“ antwortete er, „ich werde es bestimmt
tun.“

„Vielleicht wird es ihr aber schwer fallen, dich zu sehen ... was meinst
du?“

„Ich weiß es nicht, mein Liebling. Auch daran habe ich gedacht. Ich
werde sehen ... wie ich mich entschließe. Jetzt, Natascha, hat sich
alles bei uns geändert,“ konnte sich Aljoscha nicht enthalten zu
bemerken.

Sie lächelte und sah ihn lange zärtlich an.

„Und wie er delikat ist. Er hat doch gesehen, wie ärmlich deine Wohnung
ist, und nicht ein Wort hat er ...“

„Worüber?“

„Nun ... du mögest eine andere Wohnung nehmen, oder so etwas Ähnliches,“
fügte er errötend hinzu.

„Aber, Aljoscha, aus welchem Grunde denn!“

„Ich sage ja eben, daß er so delikat ist. Und wie er dich lobte! Ich
habe es dir ja gesagt ... gesagt! Nein, er fühlt und versteht alles! Und
von mir sprach er wie von einem Kinde; alle halten mich dafür! Doch was
tut’s, ich bin es ja auch.“

„Du bist ein Kind, und siehst zugleich schärfer als wir alle. Du,
lieber, guter Aljoscha! Du!“

„Er aber sagte, daß mein gutes Herz mir schadet. Wie meint er das? Ich
verstehe es nicht. Doch, was meinst du, Natascha, soll ich jetzt nicht
gleich zu ihm fahren. Sowie es morgen hell wird, komme ich zu dir.“

„Geh nur, geh, mein Lieber. Du hast ganz recht. Und zeige dich ihm noch
heute abend, hörst du? Und morgen komme so früh als möglich. Jetzt wirst
du mich nicht mehr fünf Tage allein lassen?“ fügte sie schelmisch hinzu,
ihn zärtlich ansehend.

Alle waren wir voll stiller, reiner Freude.

„Kommen Sie mit mir, Wanjä?“ fragte Aljoscha, das Zimmer verlassend.

„Nein, er bleibt; wir haben noch miteinander zu reden, Wanjä. Auf morgen
früh also.“

„Ja, morgen früh. Na, adieu, Mawra!“ Mawra war in großer Aufregung. Sie
hatte gehorcht und alles gehört, was der Fürst gesagt, doch vieles nicht
verstanden. Gern wollte sie das nähere erfahren. Doch sah sie jetzt sehr
stolz und ernst drein, sie hatte gleichfalls das Bewußtsein, daß sich
nun alles ändern würde.

Wir blieben allein. Natascha nahm schweigend meine Hand und blieb stumm,
als wüßte sie nicht, womit sie beginnen sollte.

„Ich fühle mich so müde!“ sagte sie endlich mit schwacher Stimme. „Höre,
du gehst doch morgen zu ihnen?“

„Selbstverständlich.“

„Mama kannst du es erzählen, ihm aber nicht.“

„Von dir spreche ich ja auch sonst nie mit ihm.“

„Er wird es ja sowieso erfahren. Achte darauf, wie er es aufnehmen wird.
Mein Gott, Wanjä! Wird er mich wirklich dieser Ehe wegen verfluchen?
Nein, das kann nicht sein!“

„Das wird alles vom Fürsten abhängen,“ beeilte ich mich zu versichern.
„Er muß sich mit ihm aussöhnen und dann wird alles anders werden.“

„O, großer Gott! Wenn es möglich wäre, wenn das nur möglich wäre!“ rief
sie verzweifelt aus.

„Beunruhige dich nicht, Natascha, alles wird sich jetzt zum besten
kehren.“

Sie sah mich forschend an.

„Wanjä, wie denkst du vom Fürsten?“

„Wenn er wirklich aufrichtig gesprochen hat, so ist er meiner Meinung
nach ein edler Mensch!“

„Wenn er aufrichtig gesprochen hat? Was willst du damit sagen? Könnte er
denn auch unaufrichtig gesprochen haben?“

„Mir scheint es auch so,“ antwortete ich ausweichend. „Also steigen auch
in ihr Zweifel auf,“ dachte ich bei mir. „Sonderbar!“

„Du sahst ihn so eigentümlich an ... so beobachtend ...“

„Ja, er schien mir etwas – merkwürdig.“

„Und mir auch. Er spricht so seltsam. – Doch ich bin jetzt müde, mein
Lieber. Weißt du? Gehe auch du nach Haus. Und morgen komme von ihnen so
bald als möglich zu mir. Du, es lag doch nichts Beleidigendes darin, daß
ich ihm sagte, ich wollte ihn schnell lieben lernen?“

„Nein ... wieso Beleidigendes?“

„Und ... auch nichts Dummes? Denn es hieß doch eigentlich, daß ich ihn
jetzt noch nicht liebe.“

„Im Gegenteil, das war sehr schön von dir, so naiv und spontan. Du warst
so wunderbar in diesem Augenblick! Dumm wäre nur _er_, wenn er es mit
seinem Gesellschaftsempfinden nicht verstünde!“

„Du scheinst ihm nicht gut gesinnt zu sein, Wanjä? Wie schlecht,
mißtrauisch und ehrgeizig ich dagegen bin! Lache nicht über mich, du
weißt, ich verberge nichts vor dir. Ach, Wanjä, du mein lieber Freund!
Wenn ich nun jetzt wieder unglücklich werde, wenn das Leid wieder zu mir
kommt, dann wirst du der Einzige sein, der bei mir bleibt! Wodurch habe
ich das alles verdient! Verwünsche du mich nie, Wanjä! ...“

Als ich nach Hause zurückgekehrt war, legte ich mich sofort zu Bett. Im
Zimmer bei mir war es feucht und dunkel wie in einem Keller. Sonderbare
Gedanken und Empfindungen wogten in mir auf und ab, lange konnte ich
nicht einschlafen.

Doch, wie muß an diesem Abend jener Mensch gelacht haben, der in seiner
luxuriösen Wohnung in weichem Bette ruhig einschlief – wenn er uns
überhaupt eines Lächelns würdigte! Wahrscheinlich tat er aber wohl das
nicht einmal!


                                  III.

Als ich am andern Morgen um zehn Uhr meine Wohnung verlassen wollte, um
nach Wassilij-Ostroff zu Ichmenjeffs zu gehen und von dort zu Natascha,
stieß ich an der Tür mit meinem gestrigen Besuch zusammen, der kleinen
Enkelin Smitts. Sie hatte zu mir kommen wollen. Ich weiß nicht warum,
doch war ich ungemein erfreut darüber. Gestern hatte ich sie mir in der
Dunkelheit kaum ansehen können, und jetzt am Tage setzte mich ihr
Anblick noch mehr in Erstaunen. Es wäre kaum möglich gewesen, ein
eigenartigeres Geschöpf, wenigstens dem Äußeren nach, zu finden. Klein
von Wuchs, mit blitzenden, dunklen, nicht russischen Augen, mit dichtem,
dunklem, widerspenstigem Haar und mit rätselhaftem, stummem, fast
unbeweglichem Blick, hätte es sogar jeden Vorübergehenden fesseln
müssen. Besonders aber setzte mich dieser Blick in Erstaunen: in ihm lag
so viel Klugheit und ein fast inquisitorisches Mißtrauen. Ihr
abgetragenes und schmutziges Kleidchen ähnelte bei Tage gesehen noch
mehr einem Lappen. Mir schien es, daß sie an irgend einer inneren
Krankheit leiden müßte, die langsam, aber sicher ihren Organismus
zerstörte. Ihr bleiches, mageres Gesichtchen hatte einen krankhaften,
gelblich braunen Farbenton. Doch ungeachtet ihrer Armut, Verwahrlosung
und Verelendung war sie hübsch zu nennen. Sie hatte wundervoll
geschwungene Brauen, schön war ihre breite etwas niedrige Stirn, die
Lippen waren fein gezeichnet in einem stolzen und kühnen Bogen, doch
fast farblos.

„Ah, da bist du ja wieder!“ rief ich. „Nun, ich wußte, daß du
wiederkommst. Komm mal herein!“

Sie trat langsam über die Schwelle, ganz wie gestern, und blickte
mißtrauisch um sich. Aufmerksam betrachtete sie das Zimmer, in dem ihr
Großvater gewohnt hatte, als wollte sie sehen, ob es sich mit dem neuen
Einwohner verändert hätte. ‚Gerade wie der Großvater, so ist auch die
Enkelin,‘ dachte ich bei mir. ‚Sie scheint ja auch nicht recht bei
Sinnen zu sein?‘ Sie schwieg indessen immer noch; ich wartete.

„Die Bücher!“ flüsterte sie endlich, die Augen zu Boden geschlagen.

„Ach, ja! Deine Bücher; da sind sie, da nimm sie! Ich hatte sie für dich
aufgehoben.“

Ein neugieriger Blick traf mich und sie verzog ein wenig den Mund, wie
zu einem ungläubigen Lächeln. Doch das Lächeln verschwand sofort wieder
und verwandelte sich in den früheren, rätselhaften Ausdruck.

„Hat denn Großpapa von mir gesprochen?“ fragte sie plötzlich, mich
ironisch vom Kopf bis zu den Füßen betrachtend.

„Nein, von dir hat er nichts gesagt, aber er ...“

„Aber woher wußten Sie denn, daß ich kommen würde? Wer hat es Ihnen
gesagt?“ fragte sie, mich plötzlich unterbrechend.

„Weil es mir unmöglich schien, daß dein Großvater ganz allein, ohne
jegliche Hilfe hätte leben können. Er war so alt und schwach, da dachte
ich, jemand muß doch für ihn gesorgt haben. Da, nimm deine Bücher. Du
hast wohl aus ihnen gelernt?“

„Nein.“

„Wozu brauchtest du sie denn?“

„Großpapa lehrte mich lesen, als ich noch zu ihm kam.“

„Bist du denn später nicht mehr gekommen?“

„Ich bin nicht mehr gekommen ... weil ich krank wurde,“ fügte sie, sich
gleichsam entschuldigend, hinzu.

„Hast du denn keine Mutter, keinen Vater?“

Sie zog plötzlich unwillig ihre Brauen zusammen und ein erschreckter
Blick traf mich. Sie verstummte wieder vollständig, drehte sich um und
ging leise aus dem Zimmer, ohne mich einer Antwort zu würdigen, ganz wie
gestern. Ich sah ihr erstaunt nach. Doch auf der Schwelle blieb sie
stehen.

„Wie ist er gestorben?“ stieß sie abgebrochen, halb zu mir gekehrt,
hervor, mit derselben Bewegung wie gestern, als sie, mit dem Gesicht zur
Tür gewandt, nach Asorka fragte.

Ich ging auf sie zu, und erzählte ihr alles in kurzen Worten. Sie
verharrte bewegungslos in ihrer Stellung und hörte gespannt zu. Ich
sagte ihr auch, daß der Alte sterbend von der sechsten Linie gesprochen
hätte.

„Ich erriet sofort,“ fügte ich hinzu, „daß in ihr jemand von den Seinen
leben mußte, daher erwartete ich auch, daß man sich bei mir nach ihm
erkundigen würde. Sicher hat er dich sehr geliebt, wenn er im letzten
Augenblick an dich gedacht hat.“

„Nein,“ flüsterte sie, wie zufällig, „er hat mich nicht geliebt.“

Sie war sehr erregt. Während ich von ihrem Großvater erzählte, beugte
ich mich zu ihr hinab, um ihr ins Gesicht zu sehen. Ich bemerkte, welche
Anstrengungen sie machte, um ihre Erregung vor mir, aus Stolz, zu
verbergen. Sie erbleichte immer mehr und mehr und nagte krampfhaft an
ihrer Unterlippe. Doch besonders beunruhigte mich ihr Herzklopfen: ich
konnte es auf zwei bis drei Schritte von ihr hören. Ich dachte, sie
würde plötzlich in Tränen ausbrechen, wie gestern; aber es geschah
nicht.

„Wo ist der Zaun?“

„Welcher Zaun?“

„An welchem er starb.“

„Ich werde ihn dir zeigen ... wenn wir hinausgehen. Höre, wie heißt du?“

„Nicht nötig ...“

„Warum nicht?“

„Nicht nötig; nicht ... ich heiße nicht ...“ sagte sie abgebrochen und
schickte sich an fortzugehen. Ich hielt sie zurück.

„Warte doch, sonderbares Kind, du! Ich will dir doch nur Gutes tun; du
tust mir leid seit gestern, wie du da in der Ecke weintest. Ich kann gar
nicht daran denken ... Dabei ist dein Großvater in meinen Armen
gestorben, und dachte sicher dabei an dich, als er mir befahl, in die
sechste Linie zu gehen, also hat er dich eigentlich mir überlassen. Ich
sehe ihn jedesmal im Traum ... Und die Bücher habe ich für dich
aufbewahrt, und du bist so scheu und fürchtest dich vor mir. Du bist
sicher ein Waisenkind, sehr arm und vielleicht bei fremden Leuten, ist
es so oder nicht?“

Ich sprach eindringlich zu ihr, ich weiß selbst nicht, was mich zu ihr
zog. Ich fühlte für sie noch etwas anderes als nur Mitleid. Etwas
Geheimnisvolles, das mit Smitt zusammenhing, und meine eigene
phantastische Stimmung zog mich zu ihr hin. Meine Worte schienen sie
gerührt zu haben. Doch sah sie mich noch immer mißtrauisch an, wenn auch
jetzt nicht mehr so finster. Dann blickte sie wieder nachdenklich zu
Boden.

„Helene,“ flüsterte sie plötzlich, ganz unerwartet und kaum hörbar.

„Also, Helene heißt du?“

„Ja ...“

„Wirst du mich besuchen?“

„Nein ... ich weiß nicht ... vielleicht,“ flüsterte sie wie im inneren
Kampfe.

In diesem Augenblick schlug eine Uhr. Sie zuckte zusammen und mit einem
unbeschreiblich qualvollen Ausdruck fragte sie mich immer noch
flüsternd:

„Wieviel Uhr ist es?“

„Ich glaube halb elf.“

Sie schrie auf.

„Gott im Himmel!“ rief sie erschreckt aus und stürzte zur Tür hinaus.
Doch erhaschte ich sie noch im Flur.

„Ich werde dich nicht so fortlassen,“ sagte ich zu ihr. „Wen fürchtest
du? Warum hast du dich verspätet? Wohin mußt du?“

„Ich bin heimlich davongelaufen! Lassen Sie mich! Sie wird mich
schlagen,“ rief sie zitternd vor Angst, sich aus meinen Händen
befreiend.

„Höre mich an, steh’ still; du mußt nach Wassilij-Ostroff, auch ich muß
dahin. Ich habe mich gleichfalls verspätet und werde mir eine Droschke
nehmen. Du fährst einfach mit mir. Ich nehme dich mit, dann kommst du
schneller hin, als zu Fuß ...“

„Zu mir kann man nicht, kann man nicht kommen,“ schrie sie in noch
größerer Angst. Ihre Züge verzerrten sich bei dem für sie fürchterlichen
Gedanken, ich könnte dahin kommen, wo sie lebte.

„Ich habe dir doch gesagt, daß ich in die dreizehnte Linie muß, in
meiner eigenen Angelegenheit, und durchaus nicht zu dir kommen will! Mit
der Droschke geht es schneller. Fahren wir!“

Wir liefen beide die Treppe hinunter. Ich nahm die erste beste Droschke,
die vor Alter in allen Fugen krachte. Sie mußte es wohl sehr eilig
haben, da sie einwilligte, mitzufahren. Das allerrätselhafteste war, daß
ich sie nicht einmal zu fragen wagte. Sie winkte mir sofort mit den
Händen ab und war gleich bereit, aus der Droschke zu springen, als ich
sie nur danach fragte, wen sie doch zu Hause so fürchte? „Was ist denn
das für ein Geheimnis?“ dachte ich.

Im Wagen saß sie äußerst unbequem. Bei jedem Stoß griff sie mit ihrer
kleinen, schmutzigen Hand nach meinem Paletot. In der anderen Hand hielt
sie ihre Bücher, fest an die Brust gedrückt, man sah daraus, wie teuer
ihr diese Bücher waren. Als sie sich wieder einmal zurechtsetzte, sah
ich zu meinem größten Erstaunen, daß ihre Füße ohne Strümpfe in
zerrissenen Stiefeln staken. Obgleich ich beschlossen hatte, sie um
nichts mehr zu fragen, so konnte ich mich doch nicht enthalten, etwas zu
bemerken:

„Hast du wirklich keine Strümpfe an?“ fragte ich sie. „Wie kann man
barfuß bei solcher Feuchtigkeit und Kälte gehen?“

„Nein,“ antwortete sie kurz abgebrochen.

„Mein Gott, du lebst doch bei irgend jemandem, konntest du dir denn
nicht Strümpfe verschaffen, wenn du schon ausgehen mußtest.“

„Nein.“

„Du konntest dich doch erkälten und sterben!“

„Um so besser.“

Sie wollte nicht antworten, wie es schien; meine Fragen ärgerten sie
offenbar sehr.

„Hier ist er gestorben,“ sagte ich, und zeigte ihr das Haus, wo der Alte
verendet war.

Sie sah aufmerksam hin, und plötzlich wandte sie sich an mich mit der
Bitte:

„Um Gottes willen, kommen Sie nicht zu mir. Ich werde zu Ihnen kommen;
wenn es mir nur möglich sein wird, werde ich kommen!“

„Schön, ich habe es dir doch schon versprochen, nicht zu kommen. Doch
wen oder was fürchtest du so? Du quälst dich furchtbar, es tut mir leid,
dich anzusehen ...“

„Ich fürchte niemanden,“ antwortete sie in gereiztem Tone.

„Doch vorhin sagtest du: sie wird dich schlagen!“

„Soll sie es doch!“ antwortete sie und ihre Augen blitzten. „Soll sie es
doch!“ rief sie bitter aus und ihre Oberlippe zitterte leise und
verächtlich.

Endlich langten wir auf Wassilij-Ostroff an. Sie befahl dem Kutscher, an
der sechsten Linie zu halten, sprang dann aus dem Wagen und sah sich
scheu um.

„Fahren Sie weiter; ich werde kommen, ich werde kommen!“ wiederholte sie
in großer Aufregung und bat mich flehentlich, ihr nicht zu folgen.
„Fahren Sie weiter, schneller, schneller!“

Ich fuhr weiter, sprang aber, als ich eine kurze Strecke am Kai entlang
gefahren war, aus der Droschke und bog in die sechste Linie ein, wo ich
ihr auf der anderen Seite folgte. Ich sah sie sofort, sie war noch nicht
weit gegangen, obgleich sie fast lief und sich dabei immer umsah; einmal
blieb sie sogar stehen, um besser sehen zu können ob ich ihr folge oder
nicht? Ich bog sofort in ein Hoftor ein. Sie hatte mich nicht bemerkt.
Sie ging weiter, ich folgte ihr auf der anderen Seite.

Meine Neugierde war im höchsten Grade angeregt. Obgleich ich beschlossen
hatte, ihr nicht in das Haus selbst zu folgen, so wollte ich doch
wenigstens wissen, in welchem Hause sie wohnte ... auf alle Fälle. Ich
stand unter dem Eindruck eines schweren und sonderbaren Gefühls, das
ganz ähnlich dem Gefühle war, als damals in der Konditorei Asorka
plötzlich verendet war.


                                  IV.

So waren wir bis zum kleinen Prospekt gekommen, sie fast laufend, bis
sie endlich in einen Laden trat. Ich blieb stehen und wartete auf sie.
„Sie wird doch in keinem Laden leben,“ dachte ich.

Und so war es auch. Schon nach einer Minute kam sie wieder heraus und
statt der Bücher hielt sie jetzt eine irdene Schale in der Hand. Nach
ein paar Schritten trat sie in das Hoftor eines unansehnlichen, alten
zweistöckigen schmutziggelben Hauses. Aus einem der drei Fenster des
Hauses am unteren Stockwerk hing ein kleiner rotangestrichener Sarg –
das Zeichen eines Sargmachers. Die Fenster des oberen Stockwerkes waren
außergewöhnlich klein und viereckig mit grünen, geplatzten Scheiben,
durch die rosabaumwollene Vorhänge schienen. Ich ging über die Straße
auf das Haus zu und las über dem Hoftor auf dem Blechschild die
Inschrift „Haus der Kleinbürgerin Bubnowa.“

Doch kaum hatte ich die Inschrift gelesen, als man plötzlich auf dem
Hofe der Bubnowa eine hohe weibliche Stimme schreien und schimpfen
hörte. Ich blickte durchs Tor. Auf den Stufen einer Holztreppe stand ein
dickes Weib, wie eine Kleinbürgersfrau gekleidet, die um den Kopf einen
grünen Schal trug. Ihr Gesicht war von widerwärtiger rotblauer Farbe,
ihre kleinen, blutunterlaufenen Augen blitzten vor Wut. Man sah es ihr
an, daß sie, trotz der frühen Stunde, nicht mehr ganz nüchtern war. Sie
fuhr auf die arme Helene los, die mit der Schale in den Händen
bewegungslos vor ihr stand. Oben auf der Treppe hinter dem Rücken der
Alten, stand eine zerzauste, weißgepuderte und rotgeschminkte
Frauensperson. Kurz darauf öffnete sich die Tür zum unteren Stockwerk,
und es erschien, wahrscheinlich durch das Geschrei herbeigerufen, eine
ärmlich gekleidete Frau in mittleren Jahren von bescheidenem und
angenehmem Äußern. Durch die halbgeöffnete Tür des unteren Stockwerkes
lugten noch Köpfe anderer Einwohner hervor, ein alter Mann und ein
kleines Mädchen. Mitten auf dem Hofe stand mit dem Besen in der Hand ein
kräftiger Bursche, wahrscheinlich der Hausknecht, der sich faul die
Szene ansah.

„Ach, du verfluchtes Ding, du Blutsaugerin, du ...“ schrie die Alte
einen ganzen Schwall von Schimpfwörtern auf einmal heraus, ohne
Unterbrechung und Überlegung, so daß ihr der Atem ausging. „So lohnst du
mir, du Kröte! Nach Gurken habe ich sie geschickt, sie aber treibt sich
herum! Mein Herz fühlte es, als ich sie ausschickte. Es nagte und nagte
in mir! Gestern abend habe ich sie noch durchgeprügelt, heute läuft sie
wieder davon! Wo bist du gewesen, du Herumtreiberin, wo?! ... Zu wem
gehst du, verfluchte Hexe, du schiefäugiges Scheusal, du Giftkröte, zu
wem? Sprich, du Lausmamsell, oder ich erwürge dich!“

Und das wutschnaubende Weib stürzte sich auf die arme Kleine, als sie
aber die andere Frau an der Treppe erblickte, hielt sie plötzlich inne,
schrie jedoch jetzt noch mehr als vorher und fuchtelte mit den Händen,
als wollte sie die Frau zur Zeugin des furchtbaren Verbrechens machen,
das ihr armes Opfer begangen.

„Die Mutter hat sie verloren! Ihr wißt alle, daß sie ganz allein auf der
Welt geblieben ist. Haben selbst nichts zu essen, dachte aber bei mir,
du bringst dem heiligen Nikolai ein Opfer und nimmst die Waise auf. Was
aber glaubt ihr wohl? Zwei Monate lang unterhalte ich sie schon, doch in
diesen zwei Monaten hat sie mir wahrhaftig das Blut ausgesogen, mir das
Fleisch abgenagt, Blutegel! Verstockter Satan, du! Sie schweigt, ich
schlage sie, stoße sie, sie schweigt immer; als hätte sie Wasser im
Munde – so schweigt sie. Das Herz zerreißt sie mir – aber sie schweigt!
Sag’, wofür hältst du dich denn eigentlich, du Grasaffe? Ohne mich
würdest du auf der Straße vor Hunger gestorben sein. Meine Füße müßtest
du mir waschen, du Wurm. Steif und kalt wärest du jetzt ohne mich!“

„Was tun Sie, Anna Trifonowna, warum ärgern Sie sich so sehr? Was hat
sie denn verbrochen?“ fragte ehrfurchtsvoll die Frau, an die sich die
wütende Megäre richtete.

„Warum, gute Frau, warum? Ich will es nicht, daß man gegen meinen Willen
handelt! Sie hätte mich heute fast ins Grab gebracht! Habe sie nach
Gurken in den Laden geschickt und sie ist erst nach drei Stunden
zurückgekehrt! Mein Herz fühlte es, als ich sie schickte, es nagte in
mir, es nagte! Wo war sie? Zu wem geht sie? Wen hat sie um Schutz
gebeten? Bin ich nicht ihre Wohltäterin? Vierzehn Silberrubel schuldete
mir ihre Mutter, habe sie auf meine Rechnung beerdigt, und ihren
Grasteufel zur Erziehung angenommen, meine Liebe, das weißt du doch
selbst alles! Habe ich nun nicht ein Recht auf sie? Wenn sie das
anerkennen würde, so aber handelt sie gegen mich! Ich habe ihr Glück
gewollt. Habe ihr ein weißes Musselinkleidchen und Schuhe gekauft und
sie wie Feiertags angezogen! Und was glaubt ihr wohl, meine guten Leute!
In zwei Tagen hat sie das ganze Kleid zerrissen, in Stücke zerrissen,
und geht lieber in Lumpen! Und was glaubt ihr wohl, mit Absicht hat sie
es zerrissen – ich will nicht lügen, habe es selbst gesehen. Da ging mir
die Seele über, da habe ich sie blaugeschlagen, mußte aber dafür später
den Arzt herbeiholen und ihn bezahlen. Dich plattdrücken müßte man,
dich, du Ungeziefer, – dir eine Woche lang nichts zu essen geben. Die
Fußböden hat sie zur Strafe waschen müssen! Und was glaubt ihr wohl: sie
wäscht sie, wäscht und wäscht! Mir will das Herz platzen – sie wäscht!
Nun denke ich: Die wird mir fortlaufen! Kaum hatte ich es gedacht, da
war sie mir auch schon fortgelaufen! Ihr habt es selbst gehört, wie ich
sie gestern dafür geschlagen habe, meine Hände schmerzten mir davon,
nahm ihr die Strümpfe fort, die Stiefel – sie wird doch nicht barfuß
gehen, denke ich, sie aber ist auch heute dorthin gelaufen! Wo warst du?
Sprich? Bei wem hast du dich über mich beklagt? Sprich? Bummlerin, du
Larvenfratz, sprich?“

Sinnlos vor Wut stürzte sie sich auf das vor Angst ganz erstarrte Kind,
packte es an den Haaren und warf es zu Boden. Die Schale mit den Gurken
flog zur Seite und zerschlug; das vergrößerte natürlich noch die Wut der
betrunkenen Megäre. Sie schlug ihr Opfer ins Gesicht, auf den Kopf;
Helene aber schwieg hartnäckig und gab keinen Laut von sich, keine Klage
wurde laut. Ich stürzte auf den Hof und auf das betrunkene Weib zu.

„Was tun Sie? Wie wagen Sie eine arme Waise so zu behandeln!“ rief ich,
die Furie am Arm packend.

„Was soll denn das bedeuten! Wer bist du denn eigentlich?“ keifte sie
mich an, sie ließ von Helene ab und stützte ihre Arme in die Hüften.
„Was haben Sie in meinem Hause zu suchen?“

„Sie Unbarmherzige!“ schrie ich sie an. „Wie wagen Sie es, ein armes
Kind so zu peinigen? Sie gehört Ihnen nicht; ich habe es selbst gehört,
daß sie eine Angenommene, eine arme Waise ist ...“

„Jesus Christus!“ brüllte die Furie. „Was hast du dich da herein zu
mischen! Bist du etwa mit ihr gekommen, wie? Ich werde gleich die
Polizei benachrichtigen! Andrej Timofejewitsch selbst ist mein bester
Freund! Was, ist sie bei dir gewesen? Wer bist du eigentlich? Wie wagst
du in ein fremdes Haus zu kommen?!“

Und sie stürzte sich mit ihren Fäusten auf mich. Doch in dem Augenblick
ertönte ein scharfer, unmenschlicher Schrei. Ich sah mich um und
erblickte Helene besinnungslos und in konvulsivischen Krämpfen auf der
Erde. Ihr ganzes Gesicht hatte sich verzerrt, schreckliche Schreie stieß
sie aus. Es war ein Anfall von Fallsucht. Die geschminkte Dirne und die
einfache Frau hoben sie auf und trugen sie hinauf.

„Krepieren sollst du, Verfluchte!“ schrie ihr keifend die Alte nach.
„Schon den dritten Anfall im Monat ... Fort mit dir!“ Sie stürzte sich
wieder auf mich.

„Was stehst du da, Mensch? Wofür kriegst du deinen Lohn?“

„Mach, daß du fortkommst! Willst wohl, daß ich dich am Kragen nehme,“
brummte faul der Hausknecht, nur der Form wegen. „Ein Dritter soll sich
nie einmischen. Mach, daß du fortkommst und hinaus mit dir!“

Es blieb mir nichts anderes übrig, ich verließ den Hof mit der vollen
Überzeugung, daß ich hier nichts ausgerichtet hatte. Doch kochte die Wut
in mir. Ich blieb am Hoftor stehen und blickte zurück. Die Alte war ins
Haus gegangen, auch der Hausknecht war nicht mehr zu sehen. Gleich
darauf erschien die Frau, die Helene hinaufgetragen, und eilte die
Treppe hinunter. Als sie mich erblickte, blieb sie stehen und
betrachtete mich mit Neugierde. Ihr gutes, stilles Gesicht flößte mir
Mut ein. Ich ging zurück in den Hof, gerade auf sie zu.

„Erlauben Sie eine Frage,“ begann ich, „wer ist dieses Kind, und wer
diese scheußliche Alte? Glauben Sie nicht, daß ich nur aus Neugierde
frage. Diesem Kinde bin ich begegnet und es interessiert mich.“

„Wenn Sie sich für das Kind interessieren, so wäre es besser, Sie nähmen
es zu sich oder suchten ihm einen Platz, als daß es hier umkäme,“ sagte
die Frau etwas gezwungen und schickte sich an, fortzugehen.

„Wenn Sie mir aber nichts Näheres sagen wollen, was soll ich denn tun?
Ich kenne die Verhältnisse hier nicht. Das war wohl die Bubnowa selbst,
die Wirtin des Hauses?“

„Ja, das war sie selbst.“

„Wie ist sie denn zu dem Kinde gekommen? Ist die Mutter des Kindes hier
gestorben?“

„Wie sie dazu gekommen ... Das ist nicht unsere Sache.“

Und sie wollte wieder fort.

„So tun Sie mir doch den Gefallen; ich sage Ihnen doch, daß es mich sehr
interessiert. Ich bin vielleicht imstande, hier etwas zu tun. Wer ist
dieses Kind? Wer war ihre Mutter, – wissen Sie es?“

„Ausländer waren es, Angereiste; lebten bei uns unten; sie war so krank
und starb an der Schwindsucht.“

„Sie muß wohl sehr arm gewesen sein, wenn sie unten in einem Winkel
lebte?“

„Ach, so arm! Das Herz schnürte sich zusammen. Wir haben selbst kaum zu
essen, doch blieb sie auch uns die sechs Rubel schuldig in den fünf
Monaten, die sie bei uns lebte. Wir haben sie beerdigt, mein Mann hat
ihr den Sarg gemacht.“

„Die Bubnowa sagte doch, sie hätte sie beerdigt?“

„Keineswegs!“

„Wie hieß sie denn?“

„Ich kann das nicht aussprechen. So ein fremder deutscher Name.“

„Smitt?“

„Nein, nicht ganz so. Anna Trifonowna hat die Waise zu sich genommen zur
Erziehung, wie sie sagt. Doch ist dabei nichts Gutes zu erwarten ...“

„Wahrscheinlich zu einem gewissen Zweck?“

„Zu nichts Gutem,“ antwortete die Frau, nachdenklich und zögernd. „Doch
was geht es uns an ...“

„Du solltest besser deinen Mund halten!“ ertönte hinter uns eine
Männerstimme.

Es war ihr Mann, ein Mensch in mittleren Jahren, in einem langen Kaftan
gekleidet, ein Kleinbürger und Tischlermeister.

„He, Väterchen, wir haben Ihnen nichts zu sagen: das ist nicht unsere
Sache ...“ brummte er, mich mißtrauisch von der Seite ansehend. „Und du,
mach daß du fortkommst! Leben Sie wohl, mein Herr, ich bin Sargmacher.
Wenn Sie einen Sarg brauchen, stehe ich zu Diensten ... sonst aber haben
wir nichts mit Ihnen zu tun ...“

Nachdenklich und in tiefer Erregung verließ ich das Haus. Tun konnte ich
hier jetzt nichts, doch fiel es mir schwer, zu gehen. Die wenigen Worte
der stillen Frau hatten mich tief erschüttert. Daß hier etwas Schlechtes
vor sich ging, das fühlte ich deutlich.

Mit gesenktem Kopf ging ich nachdenklich die Straße entlang, als
plötzlich eine laute Stimme meinen Namen rief. Als ich aufblickte, steht
vor mir ein berauschter, fast schwankender Mensch, ganz sauber
angezogen, aber in schlechtem Mantel und schäbiger Mütze. Mir schien
sein Gesicht bekannt. Ich sah ihn schärfer an. Er blinzelte mir zu und
lächelte.

„Er kennt mich nicht?“


                                   V.

„Ah! Das bist du, Masslobojeff!“ rief ich, in ihm plötzlich einen
Schulkameraden aus der Provinz erkennend. „Das ist mal eine Begegnung!“

„Ja, sechs Jahre haben wir uns nicht gesehen. Das heißt, begegnet sind
wir uns schon öfter, aber Eure Hochwohlgeboren haben nicht geruht, mich
eines Blickes zu würdigen. Sie gehören doch jetzt zu den
Literaturgenerälen, ja–a ...“

Er lächelte ironisch.

„Nun, Freund Masslobojeff, du lügst einfach,“ unterbrach ich ihn.
„Erstens gibt es in der Literatur keine Generäle und die würden außerdem
nicht so aussehen wie ich, und zweitens laß dir sagen, daß ich dir ein
paarmal auf der Straße begegnet bin, aber du schienst mir selbst aus dem
Wege zu gehen – sollte ich dir da noch nachlaufen? Und weißt du, was ich
glaube? Wenn du nicht soeben einen Rausch hättest, so würdest du mich
auch heute nicht angeredet haben. Stimmt, nicht? Nun, wie geht es dir?
Ich bin sehr froh, lieber Freund, daß ich dir begegnet bin.“

„Wirklich? Aber kompromittiere ich dich nicht durch ... mein Äußeres,
sozusagen? Doch jetzt lohnt es sich nicht mehr, danach zu fragen: ich
denke, Bruder, immer daran, was du für ein guter Kamerad warst. Dich hat
man einmal meinetwegen durchgeprügelt. Du schwiegst aber und verrietest
mich nicht, und statt dir zu danken, habe ich dich noch eine ganze Woche
lang gefoppt. Du gute Seele! Umarmen wir uns! Wieviel Jahre schlage ich
mich schon – Tag und Nacht – allein durch die Welt, doch habe ich das
alte nie vergessen. So etwas vergißt man nie! Und du, was machst du?
...“

„Ja, und ich, ich tue dasselbe ...“

Er sah mich lange an, mit dem rührseligen Blick eines betrunkenen
Menschen. Im übrigen war er ein guter Kerl.

„Nein, Wanjä, du bist nicht wie ich,“ sagte er endlich in tragischem
Ton. „Ich habe doch gelesen, Wanjä, gelesen! ... Höre mich an: sprechen
wir aufrichtig und von Herzen! Hast du Eile!?“

„Ich habe allerdings Eile; und ich muß dir gestehen, daß mich etwas
ungemein beschäftigt. Sage mir besser, wo du wohnst?“

„Ich werde es dir gleich sagen. Doch das ist nicht besser. Soll ich dir
aber sagen, was besser ist?“

„Nun, was?“

„Siehst du dort?“ Und er wies auf ein Schild, zehn Schritt von uns
entfernt, „siehst du: Konditorei und Restaurant, das ist ein guter Ort.
Ich sage dir, es ist ein gutes Lokal, und der Schnaps – es gibt nichts
Besseres! Mir Schlechtes vorzusetzen, das wagt man nicht so leicht. Man
kennt Filipp Filippytsch. Ich heiße so, Filipp Filippytsch! Wie,
genierst du dich? Laß mich zu Ende reden. Jetzt ist es gleich ein
Viertel nach elf, in einer Viertelstunde gebe ich dich wieder frei.
Zwanzig Minuten kann man einem alten Freunde doch schenken, nicht?“

„Wenn es nur zwanzig Minuten sind – gut; denn, liebe Seele, ich schwöre
dir, ich kann nicht ...“

„Nun, wenn es geht, dann komme. Aber vor allem muß ich dir sagen, daß
dein Gesicht keinen guten – na ... Ausdruck hat, hast du dich etwa
geärgert, wie?“

„Ja, du hast recht.“

„Das habe ich doch sofort erraten. Ich habe mich jetzt, Bruder, auf die
Physiognomik gelegt, das ist auch eine Beschäftigung. Nun, gehen wir,
reden wir miteinander. In zwanzig Minuten habe ich Zeit, mir einen
‚Admiral‘ in die Kehle zu gießen, das heißt einen Birken-, dann einen
Pomeranzenschnaps und darauf einen parfait-amour und zu guter Letzt wird
sich schon auch noch was anderes finden. Ich trinke viel, Bruder! Nur an
den Feiertagen, vor dem Gottesdienst bin ich nüchtern. Du halte es, wie
du willst. Ich brauche nur dich. Trinkst du auch, – willst du mir diese
Ehre erweisen, so komm! Wechseln wir ein paar Worte, und dann gehen wir
wieder auseinander, vielleicht – auf zehn Jahre. Ich passe ja doch nicht
zu dir, Wanjä!“

„Rede nicht so viel, gehen wir lieber. Wie gesagt, zwanzig Minuten und
dann ...“

Zum Restaurant führte eine Holztreppe in die zweite Etage. Auf der
Treppe begegneten wir zwei ganz betrunkenen Herrn. Als sie uns
erblickten, machten sie nur wankend Platz.

Einer von ihnen war ein noch ganz junger Mensch, bartlos und mit einem
ganz leichten Anflug von Schnurrbart und mit einem besonders dummen
Gesichtsausdruck. Angezogen war er ungemein komisch, wie ein Modegeck,
doch zugleich war es, als stecke er in einem ihm fremden Anzug. Ringe
trug er an den Fingern und eine kostbare Busennadel trug er im Halstuch.
Er hatte einen Scheitel, der seinen dummen Gesichtsausdruck noch erhöhte
und lächelte und kicherte ununterbrochen. Der andere war ein Mann schon
von fünfzig Jahren, dick und aufgedunsen, nachlässig gekleidet,
kahlköpfig, doch trug auch er eine kostbare Nadel im Halstuch. Der
Ausdruck seines Gesichts war sinnlich und roh, seine bösen,
mißtrauischen, kleinen Augen schwammen im Fett und blickten wie aus ein
paar Spalten. Beide schienen Masslobojeff zu kennen. Der Ältere verzog
bei der Begegnung mit uns sein Gesicht zur Grimasse und der andere
lächelte widerlich-süßlich – er lüftete seine Mütze.

„Entschuldigen Sie, Filipp Filippytsch,“ murmelte er, ihn süßlich
ansehend.

„Was wünschen Sie?“

„Verzeihung, dort sitzt Mitroschka. Ihrer Meinung nach, Filipp
Filippytsch, ist er jetzt ein Schuft.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Nur so ... Ihm aber (er wies mit dem Kopf auf seinen Kumpan) hat man in
der vorigen Woche auf Mitroschkas Veranlassung an einem gewissen
unanständigen Ort das ganze Gesicht mit Sahne eingeschmiert ... khi!“

Der Dicke stieß ihn ärgerlich mit dem Ellenbogen.

„Würden Sie nicht mit uns, Filipp Filippytsch, wieder mal ein halbes
Dutzend trinken, können wir darauf hoffen?“

„Nein, das ist jetzt nicht möglich,“ antwortete Masslobojeff. „Ich habe
jetzt zu tun.“

„Kchi! Auch ich habe mit Ihnen eine Angelegenheit zu besprechen.“

Der andere stieß ihn wieder mit dem Ellbogen.

„Nachher, ein anderes Mal!“

Masslobojeff bemühte sich augenscheinlich, sie nicht anzusehen. Als wir
in den ersten Raum eintraten, in dem sich ein reich beladenes Büfett
befand, brachte mich Masslobojeff sofort in eine Ecke und sagte zu mir:

„Dieser junge Mensch ist ein Sohn Ssisobrjuchoffs, eines reichen
Kaufmanns, der jetzt nach dem Tode des Vaters dessen Millionen
durchbringt. Er war jüngst in Paris und hat dort sein halbes Vermögen
vergeudet, nach einem Jahr wird er auf der Straße sein. Dumm ist er wie
eine Gans. – Manchmal verkehrt er nur in den besten Restaurants, dann
wieder in Kellern und Kabacken, mit Schauspielerinnen ... jetzt will er
zu den Husaren – hat eine Bittschrift eingereicht. Der andere, alter
Lebemann, – Archipoff, ist auch Kaufmann oder Verwalter, eine echte
Bestie und ein Schelm, jetzt gut Freund mit Ssisobrjuchoff, Judas und
Falstaff in einem, ein doppelter, falscher Bankrotteur und sinnlicher
Wurm. Ich weiß von ihm eine Sache ... Es freut mich, daß ich ihm hier
begegnet bin; ich hatte darauf gewartet ... Archipoff plündert natürlich
den Ssisobrjuchoff. Er weiß und kennt alle Spelunken. Darum ist er für
diesen Jüngling ein sehr genehmer Kumpan. Ich, Bruder, lauere ihm schon
lange auf, auch Mitroschka, dieser junge Mensch dort in reicher Kleidung
– der dort am Fenster steht mit dem Zigeunergesicht. Er handelt mit
Pferden und ist mit allen Husaren bekannt. Ich sage dir, das ist ein
solcher Betrüger, vor deinen Augen wird er Papiere fälschen, du siehst
es mit eigenen Augen und glaubst ihm doch. Er geht jetzt im Samtkaftan,
wie ein Slawophile; (der steht ihm aber fein) zieh ihm aber einen Frack
an oder etwas Ähnliches und gehe mit ihm in den englischen Klub und sage
von ihm, das ist, sagen wir, ein Graf Barabanoff, so wird man ihn dort
tatsächlich für einen Grafen halten: er wird Whist spielen und sich wie
ein Graf benehmen und keiner wird den Betrug bemerken. Schade, er wird
sicher schlecht enden. Nun also, dieser Mitroschka ist auf den Dicken
wütend, weil es ihm jetzt etwas faul geht und der Alte ihm
Ssisobrjuchoff, seinen früheren Kameraden, abspenstig gemacht hat, noch
bevor dieser ihm das Fell über die Ohren ziehen konnte. Wenn sie hier
alle drei zusammen gewesen sind, dann haben sie wieder mal ein Stückchen
vor. Ich weiß sogar, um was es sich handelt, denn Mitroschka hat mich
davon unterrichtet, weshalb Archipoff und Ssisobrjuchoff sich hier
herumtreiben. Eine Gemeinheit ist es. Ich will diese Gelegenheit
ausnutzen und habe meine Gründe dazu. Mitroschka soll nichts davon
bemerken, sieh nicht zu ihm hinüber, bitte. Wenn wir fortgehen werden,
wird er wohl selbst zu mir kommen und mir das Nötige sagen ... Doch
jetzt gehen wir ins andere Zimmer, Wanjä! Stepan,“ wandte er sich an den
Kellner, „du weißt, was ich wünsche.“

„Ich verstehe.“

„Und wirst du mich befriedigen?“

„Ich werde Sie befriedigen!“

„Nun, so tu es! Setze dich, Wanjä. Warum siehst du mich so an? Ich habe
schon lange bemerkt, daß du mich sonderbar ansiehst. Wundere dich nicht,
mein Lieber. Alles kann einem Menschen passieren, auch, was ihm nie
geträumt, und besonders nicht damals ... als wir den Kornelius Nepos
studierten. Doch glaube mir, Wanjä, wenn Masslobojeff auch vom Wege
abgeraten ist, sein Herz ist doch dasselbe geblieben ... Nur die
Verhältnisse haben sich geändert. Wenn ich selbst auch nichts vorstelle,
Schaden bringe ich niemandem. Zuerst wollte ich Arzt werden, dann unter
die Lehrer gehen, habe sogar einen Artikel über Gogol geschrieben, dann
wollte ich Goldarbeiter werden, mich verheiraten – sie willigte ein,
obgleich ich nichts besaß. Zur Trauungszeremonie hatte ich mir schon
Stiefel gepumpt, meine eigenen waren voll Löcher ... Doch kam es nicht
dazu. Sie wurde die Frau eines Lehrers, ich ging in ein Kontor. Da
entstand eine ganze Musik, und, wenn ich auch keine Stellung mehr habe,
so verdiene ich mir doch genügend Geld: ich lasse mir nämlich Sporteln
zahlen und zeuge für die Wahrheit auf Erden. Vor dem Dummkopf bin ich
der Gerechte, und vor dem Gerechten bin ich der Dummkopf. Die Regel
kenne ich jetzt, ein Krieger im Felde macht keinen Krieg aus. Meine
Arbeit ist mehr eine unsichtbare ... Du begreifst?“

„Du bist doch nicht am Ende ein Polizeispitzel?“

„Nein, das bin ich nicht, doch gebe ich mich mit manchen Sachen ab, zum
Teil offiziell, zum Teil aus Liebe zum Beruf. Siehst du, Wanjä, ich bin
ein Trinker. Da ich aber niemals meinen Kopf vertrinke, so bin ich mir
meiner Zukunft bewußt. Meine Zeit ist dahin, einen Mohren wirst du nicht
weiß waschen. Eins nur muß ich sagen, wenn sich nicht in mir noch etwas
Menschliches regte, so wäre ich heute nicht zu dir gekommen, Wanjä. Du
hast recht, wenn ich dich auch schon des öfteren gesehen, so wagte ich
doch nicht, dich anzureden, ich schob es immer auf. Ich bin deiner nicht
wert. Und die Wahrheit zu gestehen, Wanjä, ich tat es auch heute nur,
weil ich nicht nüchtern war. Doch alles das ist Unsinn, was ich rede, –
sprechen wir lieber von dir. Nun, mein Lieber, ich hab’s gelesen. Ich,
mein Freund, spreche von deinem Erstgeborenen. Als ich’s gelesen hatte,
Bruder, wollte ich beinah ein anständiger Mensch werden! Doch habe ich
es bald wieder aufgeben müssen. So ist es ...“

Und in dieser Weise redete er noch eine ganze Weile und wurde immer mehr
und mehr betrunken. Zuletzt war er bis zu Tränen gerührt. Masslobojeff
war immer ein guter Bursch gewesen, doch leider über seine moralischen
Kräfte hinaus entwickelt; schlau, hinterlistig, verschmitzt schon von
Kindheit an, war er doch im Grunde genommen ein guter Mensch – ein
verlorener Mensch. Solcher Typen gibt es viele unter uns Russen.
Gewöhnlich sind sie außerordentlich begabt, doch verwirrt sich die Welt
in ihnen, und sie sind zu charakterlos, um nach ihrem Gewissen zu
handeln. Meistenteils verkommen sie, und meistens wissen sie es selbst,
daß sie zugrunde gehen. Masslobojeff zum Beispiel ging mit Bewußtsein am
Schnaps zugrunde.

„Höre mich an, mein Freund, noch ein Wort,“ fuhr er fort. „Auch ich
erlebte es, wie dein Ruhm zuerst wuchs; habe alle deine Kritiken
gelesen; (ich habe sie wirklich gelesen; du glaubst wohl, ich lese
nicht) begegnete dir darauf, du warst in schlechten Stiefeln, ohne
Galoschen im Schmutz, mit altem Hut. Nun, dachte ich, so geht er unter
die Journalisten?“

„Ja, Masslobojeff.“

„Also, ein Postgaul bist du geworden?“

„So etwas Ähnliches.“

„Nun, darauf will ich dir erwidern, Bruder: Trinker ist besser! Sieh,
ich betrinke mich, lege mich in meinem Zimmer auf den Diwan (ich habe
einen schönen, weichen Sprungfederdiwan) und denke mir, daß ich
irgendein Homer oder Dante bin, oder auch Friedrich Barbarossa – denn
vorstellen kann man sich ja alles. Du aber darfst dir nicht vorstellen,
daß du Homer oder Dante bist, denn du willst du selbst sein und alles
‚wollen‘ ist dir verboten; du bist ein bezahlter Postgaul. Ich lebe in
der Einbildung, du in der Wirklichkeit. Höre, seien wir aufrichtig –
brauchst du Geld? Ich habe Geld. Mache keine Grimassen. Nimm das Geld
und kaufe dich los von deinen Verlegern, wirf die Fesseln ab, befreie
dich für ein ganzes Jahr, um deiner Lieblingsidee zu leben, schaffe eine
große Sache! Wie? Was meinst du?“

„Höre, Masslobojeff! Dein freundschaftliches Anerbieten schätze ich
sehr, doch kann ich dir jetzt noch nichts Bestimmtes darauf antworten –
warum – davon ein anderes Mal. Es gibt da gewisse Umstände. Ich danke
dir für deinen Vorschlag, ich verspreche dir, noch einmal darauf
zurückzukommen. Doch handelt es sich jetzt um etwas anderes, du bist zu
mir aufrichtig gewesen, darum habe ich mich entschlossen, auch dich um
Rat zu bitten, um so mehr, da du, wie es scheint, in diesen Sachen sehr
bewandert bist.“

Und ich erzählte ihm die ganze Geschichte von Smitt und seiner Enkelin.
Sonderbar: an seinen Augen glaubte ich zu bemerken, daß ihm der Vorfall
nicht ganz unbekannt war. Ich fragte ihn darnach.

„Ich habe,“ antwortete er, „nur vom Tode eines alten Smitt in einer
Konditorei gehört. Doch Madame Bubnowa kenne ich ganz genau. Von dieser
Dame habe ich schon vor zwei Monaten Sporteln genommen. ^Je prends mon
bien où je le trouve^, in der Beziehung bin ich ganz wie Molière.
Obgleich ich ihr damals schon hundert Rubel abgenommen habe, so habe ich
mir doch das Wort gegeben, von ihr noch weitere fünfhundert Rubel zu
erpressen. Ein schlechtes Weib das. Handelt mit unlauteren Sachen. Dabei
wäre ja nichts, wenn sie es nur nicht zu toll triebe. Halte mich, bitte,
nicht für einen Don Quichotte. Die Sache kann mir gelingen. Als ich
nämlich Ssisobrjuchoff hier vor einer halben Stunde antraf, war ich sehr
zufrieden. Ssisobrjuchoff hat sicher der alte Archipoff
hierhergeschleppt, und da ich weiß, mit welchen Dingen Archipoff
handelt, so schließe ich daraus ... Na, ich werde ihn schon kriegen! Ich
bin sehr froh, daß ich etwas über das kleine Mädchen erfahren habe;
jetzt bin ich auf eine Spur gekommen. Ich, Bruder, habe die
verschiedensten Privataufträge, und du glaubst nicht, mit welchen
hochstehenden Leuten ich bekannt bin! Unlängst habe ich in Sachen eines
Fürsten nachgespürt, ich sage dir – eine Affäre, die man von einem
Fürsten nicht erwarten kann. Oder, soll ich dir noch eine andere
Geschichte erzählen? Du, Bruder, komme mal zu mir, ich kann dir Sachen
erzählen, die man erdichtet, aber nicht für wahr hält ...“

„Wie lautet der Name des Fürsten?“ unterbrach ich ihn ahnungsvoll.

„Wozu willst du’s wissen? Walkowskij.“

„Pjotr?“

„Ja. Kennst du ihn?“

„Ja, ich kenne ihn, doch nur so ein wenig. Nun, Masslobojeff, wegen
dieses Herrn werde ich des öfteren zu dir kommen,“ sagte ich, mich
erhebend, „jetzt hast du meine Neugierde erregt.“

„Siehst du, alter Freund, du kannst mich ausforschen, so viel du willst.
Und viel kann ich dir erzählen, doch nur bis zu einer gewissen Grenze,
verstehst du? Denn Kredit und Ehre darf ich in meinem Beruf nicht aufs
Spiel setzen, du verstehst mich, und so weiter ...“

„Doch soweit es die Ehre erlaubt.“

Ich war in großer Erregung. Er bemerkte es.

„Aber wie denkst du über die Geschichte, die ich dir soeben erzählt
habe? Hast du dich zu etwas entschlossen, oder nicht?“

„Bei der Geschichte? Warte einen Augenblick, ich werde bezahlen.“

Er ging ans Büfett und traf da wie zufällig mit dem jungen Mann
zusammen, den sie einfach Mitroschka nannten. Mir schien es, daß
Masslobojeff näher mit ihm bekannt war, als er es mir gegenüber
zugegeben. Wenigstens trafen sie sich augenscheinlich nicht zum
erstenmal.

Mitroschka war dem Äußeren nach ein sehr origineller Bursche. In seinem
russischen Samtrock und dem roten Seidenhemde mit seinen scharfen, doch
edlen Zügen, von brauner Gesichtsfarbe, mit stolzen, blitzenden Augen,
machte er einen interessanten und äußerst anziehenden Eindruck auf mich.
Seine Gesten waren lebhaft, trotzdem er sich in diesem Augenblick
ersichtlich Mühe gab, sachlich, solid und wichtig zu erscheinen.

„Höre, Wanjä,“ sagte Masslobojeff, zu mir zurücktretend, „komme heute
abend um sieben Uhr zu mir, ich werde dir manches mitteilen können.
Allein ... habe ich ja nichts mehr zu bedeuten; früher bedeutete ich
etwas, seitdem ich jedoch ein Trunkenbold geworden, habe ich mich auch
von den Geschäften mehr zurückgezogen. Doch sind mir noch meine früheren
Beziehungen geblieben, und ich kann vieles erfahren und die Sachen
beschnuppern ... Doch genug davon ... Meine Adresse ist
Schestilawotschnaja ... Jetzt noch einen Goldenen, Bruder, und dann nach
Haus, sich hinlegen! ausschlafen! Wenn du kommst, stelle ich dich
Alexandra Ssemjonowna vor, und wenn wir Zeit haben, sprechen wir auch
noch von der Literatur.“

„Und davon?“

„Vielleicht auch davon.“

„Dann komme ich vielleicht, oder nein, ich komme bestimmt ...“


                                  VI.

Anna Andrejewna hatte mich schon lange erwartet. Das, was ich ihr
gestern von Nataschas Brief erzählt, hatte sie so sehr erregt, daß sie
mich bereits früh am Morgen, wenigstens seit zehn Uhr erwartete. Als ich
nun endlich um zwei Uhr bei ihr erschien, hatte die Qual der Erwartung
bei ihr den höchsten Grad erreicht. Außerdem wollte sie mir ihre neuen
Hoffnungen mitteilen, die ihre Seele seit gestern erfüllten und mir von
Nikolai Ssergejewitsch erzählen, der sich seit gestern abend krank
fühlte, zu ihr aber außerordentlich zärtlich gewesen war. Sie empfing
mich mit unzufriedenem, kaltem Gesichtsausdruck, sprach sehr abgemessen
und zeigte nicht die geringste Neugierde, etwas von mir zu erfahren.
Fast hätte sie mir die Frage gestellt: „Warum bist du gekommen? Macht es
dir wirklich Vergnügen, jeden Tag hierher zu laufen?“ So ärgerte sie
sich über mein spätes Kommen. Doch ich ließ mich nicht stören und
erzählte ihr jede Einzelheit der gestrigen Szene bei Natascha. Als nun
die Alte vom Besuch des Fürsten und dessen feierlicher Werbung hörte,
vergaß sie ganz ihren Ärger. Es läßt sich nicht beschreiben, wie
glücklich sie war, wie sie sich zugleich bekreuzte, weinte, lachte und
vor dem Heiligenbild auf die Kniee fiel. Sie umarmte mich außer sich vor
Freude und wollte sofort zu Nikolai Ssergejewitsch gehen, um ihm alles
mitzuteilen.

„Lieber Junge, er ist ja doch krank von all diesen Erniedrigungen und
Beleidigungen; wenn er es nun erfahren wird, daß Natascha volle
Genugtuung widerfährt, so wird er im Augenblick alles vergessen.“

Nur mit Gewalt konnte ich sie davon abhalten. Die gute Alte kannte ihren
Mann noch nicht, trotzdem sie fünfundzwanzig Jahre mit ihm zusammen
gelebt. Sie wollte auch sofort mit mir zusammen zu Natascha fahren. Ich
stellte ihr vor, daß nicht nur Nikolai Ssergejewitsch sehr ungehalten
darüber sein würde, sondern daß wir, durch eine so übereilte Handlung,
der ganzen Sache schaden könnten. Endlich beruhigte sie sich, hielt mich
aber wohl noch eine halbe Stunde mit unnötigem Gespräch auf und sprach
die ganze Zeit davon, „daß sie nun mit ihrer Freude ganz allein in ihren
vier Wänden sitzen solle“. Ich konnte sie endlich davon überzeugen, wie
eilig ich es hatte, und daß Natascha mich schon längst erwarte. Die Alte
bekreuzte mich auf den Weg, schickte Natascha ihren Segen und begann
fast zu weinen, als ich ihre Bitte, heute abend bei ihr zu erscheinen,
wenn bei Natascha etwas Besonderes vorfallen sollte, abschlagen mußte.
Nikolai Ssergejewitsch sah ich dieses Mal überhaupt nicht; er hatte die
ganze Nacht über nicht geschlafen, klagte über Kopfweh und lag jetzt in
seinem Zimmer.

Auch Natascha hatte mich seit dem Morgen erwartet. Als ich bei ihr
eintrat, ging sie wie gewöhnlich mit gekreuzten Armen, in Nachdenken
versunken, im Zimmer auf und ab. Auch jetzt noch, wenn ich an sie denke,
sehe ich sie immer allein in diesem ärmlichen Zimmer, einsam, verlassen,
auf etwas wartend, mit gekreuzten Armen und gesenkten Augen, ziellos
auf- und abgehen.

Sie fuhr auch jetzt fort, leise auf- und abzugehen, und fragte nur,
warum ich so spät gekommen sei. Ich erzählte ihr in aller Kürze meine
Erlebnisse, doch sie hörte mich kaum. Offenbar war sie mit etwas ganz
anderem beschäftigt.

„Was gibt’s Neues?“ fragte ich sie.

„Neues? Nichts!“ antwortete sie mir mit einer sonderbaren Betonung, der
man es sofort anhörte, daß sie nur auf mich gewartet, um mir dieses Neue
mitzuteilen. Doch wußte ich, daß sie es nach ihrer Gewohnheit nicht
sofort tun würde, sondern erst beim Abschied.

So war es immer bei uns gewesen. Ich bereitete mich schon darauf vor und
wartete.

Wir sprachen natürlich zuerst vom gestrigen Erlebnis. Es wunderte mich,
daß wir beide der gleichen Meinung über den Fürsten waren: er mißfiel
ihr, mißfiel ihr heute weit mehr noch, als gestern. Als wir alles
Gestrige durchgesprochen hatten, bemerkte plötzlich Natascha:

„Weißt du, Wanjä, es pflegt aber immer so zu sein, und es ist das beste
Zeichen, wenn ein Mensch einem zuerst nicht gefällt – dann gefällt er
einem später. Mir ist es des öfteren so gegangen.“

„Gott gebe es, Natascha. Meine endgültige Meinung ist es übrigens, wie
ich es mir auch hin und her überlege, daß der Fürst, obwohl er ein
Jesuit ist, eure Ehe jetzt doch in Wirklichkeit zu wünschen scheint.“

Natascha blieb inmitten des Zimmers stehen und sah mich streng an. Ihr
ganzes Gesicht veränderte sich; ihre Lippen zitterten leicht.

„Wie hätte er denn in _diesem_ Falle ... lügen können?“ fragte sie in
verhaltenem Unwillen.

„Gewiß, gewiß!“ beeilte ich mich, ihr zu versichern.

„Natürlich hat er nicht gelogen. Daran zu denken ist einfach unmöglich.
Aus welch einem Grunde sollte er es getan haben? Und schließlich, was
bin ich denn in seinen Augen, wenn er sich in solchem Grade über mich
lustig machen kann? Kann denn ein Mensch wirklich einer solchen
Beleidigung fähig sein?“

„Freilich, freilich ist das unmöglich!“ bestätigte ich meinerseits, bei
mir aber dachte ich: „Gerade darüber denkst du jetzt nach, meine Arme,
also mißtraust du ihm mehr noch als ich.“

„Ach, wie wünschte ich, daß er schneller zurückkehrte!“ sagte sie. „Den
ganzen Abend wollte er bei mir verbringen ... Es muß doch eine wichtige
Angelegenheit sein, wenn er alles läßt und fortfährt. Weißt du nichts
davon, Wanjä? Hast du nichts darüber gehört?“

„Gott weiß es. Er soll alles Geld verleben. Was wissen wir von
Geldsachen, Natascha.“

„Nichts. – Aljoscha sprach von einem Brief.“

„Von irgendeiner Nachricht. War Aljoscha hier?“

„Er war hier.“

„Früh?“

„Um zwölf Uhr; er schläft ja so lange. Ich schickte ihn zu Katherina
Fedorowna, ich konnte doch nicht anders, Wanjä?“

„Hatte er selbst denn nicht die Absicht hinzugehen?“

„Ja, er selbst ...“

Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch verstummte sie. Ich sah sie
erwartungsvoll an. Ihr Gesicht war traurig. Ich hätte sie gern darum
gefragt, doch war ihr das oft nicht angenehm.

„Ein sonderbarer Mensch ist er doch,“ sagte sie endlich. Sie verzog ein
wenig ihren Mund zu einem bitteren Lächeln und vermied es, mich
anzusehen.

„Wieso? Was ist denn vorgefallen?“

„Nichts, nur so ... Er war übrigens sehr nett ... Nur zu ...“

„Jetzt haben alle seine Sorgen ein Ende ...“ sagte ich.

Natascha sah mich lange forschend an. Sie schien mir selbst gern
antworten zu wollen: „Welche Sorgen machte er sich denn früher,“ doch in
meinen Worten lag schon derselbe Gedanke. Sie schwieg gekränkt.

Übrigens war das nur eine vorübergehende Regung. Sie war sehr bald
wieder freundlich, liebenswürdig, und von ihrer alten stillen Art. Ich
blieb bei ihr wohl eine Stunde lang. Sie war sehr unruhig, ihr graute
vor dem Fürsten. An einigen ihrer Fragen bemerkte ich, daß es ihr sehr
darum zu tun war, zu erfahren, welchen Eindruck sie auf ihn gemacht
haben könne. Wie sie sich verhalten? Ob sie ihre Freude nicht zu
auffällig gezeigt? Ob sie nicht allzu zurückhaltend, oder im Gegenteil,
zu zuvorkommend gewesen sei? Hatte er sich nicht am Ende über sie lustig
gemacht? Oder Verachtung für sie empfunden? ... Bei dem Gedanken schoß
ihr das Blut wie Feuer in die Wangen.

„Kann man sich wirklich so darüber aufregen, was ein schlechter Mensch
über einen denkt? Soll er doch denken, was er will!“ sagte ich.

Natascha war mißtrauisch, aber von Herzen rein und aufrichtig. Sie war
stolz und konnte es nicht ertragen, das, was sie hoch hielt, verspottet
zu sehen. Die Verachtung eines Menschen hätte sie gleichfalls mit
Verachtung beantwortet, doch ihr Herz hätte es nicht ertragen, daß
jemand über ihr Heiligstes gelacht. Das war keine Folge von
Charakterschwäche, sondern nur von geringer Kenntnis des Lebens und der
Menschen. Sie hatte ihr ganzes Leben in ihrem Winkel verbracht, ohne ihn
jemals zu verlassen. Und schließlich ist es eine Eigenschaft aller
gutmütigen Charaktere – eine Eigenschaft, die vom Vater auf sie
übergegangen – stets einen Menschen besser zu machen als er ist, nur
Gutes in ihm zu sehen: diese Eigenschaft war in ihr sehr entwickelt.
Derartige Menschen leiden dann sehr, wenn sie sich getäuscht fühlen, um
so mehr, weil sie selbst schuld daran sind. Sie fordern mehr, als andere
geben können. Und darum ist es besser, wenn sie in ihren Winkeln bleiben
und nicht in die Welt gehen. Übrigens hatte Natascha zu viel Leid und
Erniedrigung erfahren. Sie war ein kranker Mensch geworden, den man
nicht beschuldigen darf – wenn in meinen Worten überhaupt etwa eine
Anklage liegt ...

Doch ich hatte Eile und erhob mich, um fortzugehen. Sie war ganz
erstaunt darüber und wäre fast in Tränen ausgebrochen, obgleich sie die
ganze Zeit sich mir gegenüber sehr kühl verhalten hatte, kühler als
gewöhnlich. Doch jetzt küßte sie mich zärtlich und sah mich lange an.

„Höre,“ sagte sie. „Aljoscha war zu sonderbar heute und hat mich
wirklich in Erstaunen gesetzt. Er war sehr nett und schien sehr
glücklich zu sein, doch kehrte und drehte er sich die ganze Zeit vor dem
Spiegel wie ein Fant. Er ist schon etwas gar zu nachlässig in seinem
Betragen geworden ... Auch war er nicht lange hier. Stelle dir vor, er
hat mir Konfekt gebracht!“

„Konfekt? Das ist ja sehr naiv und nett von ihm. Ach, was ihr beide für
Menschen seid! Er ist ja noch immer der lustige Schulbub von früher.
Aber du, du!“

Jedesmal, wenn Natascha ihren Ton veränderte und zu mir mit irgendeiner
Klage über Aljoscha kam, oder irgendwelche Zweifel von mir gelöst haben
wollte, oder mit einem Geheimnis kam, das ich selbst erraten mußte, so
sah sie mich immer mit offenem Munde flehend an, mit der
unausgesprochenen Bitte, alles so zu lösen, daß ihrem Herzen leichter
wurde. In diesen Augenblicken nahm ich dann immer einen strengen Ton an,
als wollte ich sie ausschelten, und sonderbar, es gelang mir fast immer.
Meine Wichtigkeit und Strenge taten jedesmal ihre Wirkung. Der Mensch
empfindet manchmal geradezu das Bedürfnis, eine Strafpredigt zu hören.
Wenigstens Natascha verließ mich nach solchen Augenblicken immer
vollkommen getröstet.

„Nein, siehst du, Wanjä,“ fuhr sie fort, die linke Hand auf meine
Schulter legend und meinen Blick erhaschend, „mir schien es, daß er
schon ganz daran gewöhnt ist ... er schien mir schon zu – naiv ... weißt
du, als ob wir schon zehn Jahre Mann und Frau gewesen wären. Ist das
nicht viel zu früh? ... Er lachte, drehte und kehrte sich, als ob ich
ihm eigentlich ganz gleichgültig wäre, nicht so wie früher ... Er
beeilte sich schon zu sehr, zu Katherina Fedorowna ... Ich spreche zu
ihm, er hört mich nicht und spricht von ganz anderem, weißt du, in
dieser häßlichen, weltmännischen Manier, von der wir ihn schon glücklich
abgebracht hatten. Kurz, er war so ... so gleichgültig ... Doch was tue
ich! So bin ich – was sind wir doch alle anspruchsvoll, Wanjä, was für
eigensinnige Despoten! Das merke ich erst jetzt! Wir verzeihen dem
Menschen keine einzige Veränderung, und Gott weiß allein den Grund,
warum er sich verändert hat! Du tust recht, Wanjä, mich auszuschelten!
Daran bin nur ich allein schuld! Wir selbst erdenken uns alle Qualen der
Welt und dann klagen wir noch über sie ... Habe Dank, Wanjä, du hast
mich vollkommen beruhigt. Ach, wenn er doch nur heute käme! Vielleicht
hat er sich noch geärgert!“

„Wie, habt ihr euch denn gezankt?“ rief ich verwundert aus.

„Nein, er hat nichts bemerkt! Nur war ich ein wenig traurig und er wurde
plötzlich nachdenklich und verabschiedete sich ein wenig trocken von
mir. Ich werde nach ihm schicken ... Kommst du heute, Wanjä?“

„Ich komme bestimmt, wenn ich nicht abgehalten werde.“


                                  VII.

Um punkt sieben war ich bei Masslobojeff. Er lebte im Flügel eines
kleinen Hauses auf der Schestilawotschnaja, in einer etwas unsauberen
Wohnung von drei Zimmern, die jedoch gut möbliert waren. Es fehlte
freilich überall an häuslicher Ordnung. Die Tür öffnete mir ein
reizendes Mädchen von neunzehn Jahren, sehr einfach, aber nett und
sauber gekleidet, mit guten fröhlichen Augen. Ich erriet sofort, daß es
Alexandra Ssemjonowna, seine Geliebte, sein mußte, die er vorhin erwähnt
hatte, und der er mich vorstellen wollte. Sie fragte, wer ich sei, und
als ich ihr meinen Namen genannt, sagte sie, daß man mich erwarte und
führte mich ins Zimmer, wo Masslobojeff auf seinem schönen, weichen
Diwan, bedeckt mit einem Mantel, schlief. Sein Kopf ruhte auf einem
alten Lederkissen. Er erwachte sofort, als wir eintraten, und rief mich
bei Namen.

„Ah! Da bist du ja! Ich habe dich erwartet. Soeben sah ich im Traum, wie
du zu mir kamst und mich aufwecktest. Also ist es Zeit. Fahren wir.“

„Wohin?“

„Zur Dame.“

„Zu welcher Dame? Warum?“

„Zu Madame Bubnowa, um bei ihr einzukassieren. Was die für eine
Schönheit ist!“ wandte er sich plötzlich zu Alexandra Ssemjonowna und
küßte seine Fingerspitzen bei der Erinnerung an Madame Bubnowa.

„Nun, geh nur, geh. Das denkst du dir nur aus!“ bemerkte Alexandra
Ssemjonowna, die es für ihre Pflicht hielt, sich etwas zu ärgern.

„Ihr kennt euch nicht? Ich werde dich vorstellen, Bruder: Alexandra
Ssemjonowna, hier stelle ich dir einen Literaturgeneral vor; man kann
ihn nur einmal im Jahr umsonst sehen, die übrige Zeit aber nur für
Geld.“

„Jetzt hält er mich wieder zum besten. Hören Sie, bitte, nicht auf ihn,
er lacht immer über mich. Was sind Sie denn für ein General?“

„Ich sage dir doch, daß er ein besonderer ist. Und Sie, meine Dame,
glauben Sie nicht, daß wir dumm sind; wir sind viel klüger als wir auf
den ersten Blick erscheinen.“

„Hören Sie nicht auf ihn! Immer verstellt er sich vor anständigen
Leuten, Unverschämter! Wenn er mich doch wenigstens nur einmal ins
Theater brächte!“

„Bitte, Alexandra Ssemjonowna, lieben Sie Ihre Pe... Haben Sie
vergessen, was Sie lieben müssen? Haben Sie das Wort vergessen, das ich
Ihnen gelehrt habe!“

„Natürlich habe ich es nicht vergessen. Irgendeinen Unsinn bedeutet es.“

„Nun, wie hieß denn das Wort?“

„Ich soll mich wohl vor dem Gast blamieren. Wer weiß, was dieses Wort
bedeutet. Eher trocknet meine Zunge aus, als daß ich es sage.“

„Also haben Sie es vergessen?“

„Vergessen? Lieben Sie Ihre Penaten ... Sehen Sie, was er sich
ausgedacht! Es hat vielleicht niemals Penaten gegeben; und warum soll
ich sie lieben? Alles Lüge!“

„Dafür gehen wir auch zu Madame Bubnowa ...“

„Pfui, mit Ihrer Madame Bubnowa ...“

Und Alexandra Ssemjonowna lief gekränkt aus dem Zimmer.

„Es ist Zeit! Gehen wir! Leben Sie wohl, Alexandra Ssemjonowna!“

Wir traten ins Freie.

„Siehst du, Wanjä, setzen wir uns jetzt zuerst in die Droschke. So. Und
jetzt kann ich dir noch mitteilen, daß ich manches und zwar ganz genau
erfahren habe. Ich blieb noch eine ganze Stunde nachher auf
Wassilij-Ostroff. Diese dicke Blase ist eine schreckliche Kanaille, ein
schmutziger, perverser Kerl. Und diese Bubnowa ist ihrer gewissen
Geschäftchen wegen schon ganz bekannt. Vor ein paar Tagen hat sie es mit
einem jungen Mädchen aus anständigem Hause zu tun gehabt. Diese
Musselinkleidchen, von denen du mir erzähltest, ließen mir keine Ruh,
denn ich hatte schon vorher verschiedenes von ihr gehört. Ich habe mich
jetzt davon überzeugen können, daß ich mich nicht irre. Wie alt ist die
Kleine?“

„Dem Ansehen nach dreizehn Jahr.“

„Von Gestalt ist sie aber noch jünger. Nun ja, so treibt sie es. Wenn es
nötig, sagt sie, die Kleine sei elf Jahre alt und wenn es nötig, –
fünfzehn. Und da die kleine ohne Schutz und Familie ist, so ...“

„Ist’s möglich?“

„Was glaubst du denn? Eine Madame Bubnowa wird doch nicht aus Mitleid
eine Waise zu sich nehmen. Und wenn der Dicke schon da verkehrt, so
stimmt’s. Er ist neulich am Morgen bei ihr gewesen. Dem Dummkopf
Ssisobrjuchoff ist eine verheiratete Dame, eine Schönheit versprochen
worden, die Frau eines Stabsoffiziers. Wenn Kaufleute durchgehen,
verlangen sie immer eine von Rang. Das ist wie in der lateinischen
Grammatik; die Bedeutung hängt immer von der Endung ab. Übrigens, ich
bin noch, glaube ich, betrunken. Die Bubnowa soll es nur wagen, solche
Geschäftchen zu versuchen. Sie kann wohl die Polizei hintergehen, mich
aber nicht, da soll sie mal sehen ... Nun, du verstehst mich?“

Ich war furchtbar erschrocken. Diese Nachrichten erregten mich im
höchsten Grade. Ich fürchtete jetzt, daß wir uns verspäten könnten und
trieb den Kutscher zur Eile an.

„Fürchte nichts; ich habe Maßregeln getroffen,“ sagte Masslobojeff.
„Mitroschka ist dort, wir haben uns mit ihm verabredet. Madame Bubnowa
kommt auf meine Rechnung ...“

Wir hielten am Restaurant, doch ein Mensch, der Mitroschka hieß, war da
nicht zu finden. Wir befahlen dem Kutscher, uns an der Treppe des
Restaurants zu erwarten und gingen zum Hause der Bubnowa. Mitroschka
erwartete uns am Hoftor. Die Fenster waren hell erleuchtet und man hörte
Ssisobrjuchoffs betrunkenes Lachen.

„Seit einer Viertelstunde sind sie alle dort,“ berichtete Mitroschka.
„Jetzt ist es Zeit.“

„Wie sollen wir denn hineingehen?“ fragte ich.

„Wie Gäste,“ entgegnete Masslobojeff, „sie kennt mich; auch Mitroschka
kennt sie. Wahrhaftig, da scheint ein großes Fest zu sein, nur nicht für
uns.“

Er klopfte leise an das Hoftor, der Hausknecht öffnete uns sofort;
während er sich mit Mitroschka verständigte, gingen wir beide die Treppe
hinauf. Im Hause bemerkte man uns nicht. Der Hausknecht klopfte an. Man
fragte, wer da sei. Er antwortete: „Gäste“. Man öffnete uns und wir
traten alle auf einmal ein. Der Hausknecht verschwand sofort.

„Ai, wer ist das?“ rief die Bubnowa betrunken und zerzaust, mit einem
Licht in der Hand.

„Wer?“ erwiderte Masslobojeff. „Wie so denn? Sie erkennen Ihre Gäste
nicht, Anna Trifonowna? Wer denn anders als wir ... Filipp Filippytsch!“

„Ah, Filipp Filippytsch? Das sind Sie ... ein so teurer Gast ... Ja, wie
kommen Sie denn her ... ich ... tut nichts ... treten Sie ein ...
hierher bitte!“

Sie war ganz verwirrt.

„Hierher? Nein ... Uns nehmen Sie bitte besser auf. Wir wollen bei Ihnen
ein Gläschen trinken und ...“

Die Wirtin faßte sofort Mut.

„Ja, für solche Gäste ist alles bereit ...“

„Ein paar Worte, Anna Trifonowna: ist Ssisobrjuchoff hier?“

„Ja.“

„Ich muß ihn sehen. Wie wagt er es, ohne mich durchzugehen?“

„Er hat Sie sicher nicht vergessen. Er erwartete noch jemanden;
wahrscheinlich wohl Sie.“

Masslobojeff stieß die Tür auf und wir traten in ein Zimmer mit zwei
Fenstern, auf denen einige Geranientöpfe standen, mit einem alten
Klavier an der Wand ... und allem was dazu gehörte. Mitroschka blieb im
Vorzimmer. Wie ich später erfuhr, sollte er da Wache stehen. Zu ihm
gesellte sich das geschminkte Weib vom Vormittag.

Im Zimmer auf einem kleinen Diwan aus rotem Holz vor einem runden Tisch
saß Ssisobrjuchoff. Auf dem Tische, der mit einer Decke belegt war,
standen vor ihm zwei warme Champagnerflaschen und eine Flasche mit
schlechtem Rum; standen Teller mit Konfekt, Nüssen und Kuchen. Ihm
gegenüber am Tisch saß eine widerliche Kreatur von vierzig Jahren, in
einem schwarzen Taftkleide, behängt mit goldenen Armbändern und
Broschen. Das war die Frau des Stabsoffiziers, sicher keine echte.
Ssisobrjuchoff war ganz betrunken und schien äußerst zufrieden. Das
dicke Scheusal war nicht zu sehen.

„So also macht man’s!“ brüllte aus voller Kehle Masslobojeff, „mich hat
er zu Dusso eingeladen!“

„Filipp Filippytsch, Sie beehren uns?“ murmelte Ssisobrjuchoff, uns mit
seligem Lächeln begrüßend.

„Du trinkst?“

„Entschuldigen Sie.“

„Entschuldige dich lieber nicht, sondern bewirte deine Gäste. Wir sind
gekommen, um uns mit dir zu amüsieren. Ich habe hier noch einen Gast
mitgebracht: meinen Freund!“

Masslobojeff wies auf mich.

„Sehr angenehm, es beglückt mich ... Kchi!“

„Das nennt er Champagner! Der schmeckt nach Kohlsuppe.“

„Sie beleidigen mich.“

„Bei Dusso wagst du dich ja gar nicht zu zeigen; aber einladen tust du!“

„Er erzählte mir soeben, daß er in Paris gewesen,“ griff die
Stabsoffiziersfrau das Gespräch auf. „Sicher lügt er alles!“

„Fedossja Titischna, entschuldigen Sie, aber ich war in Paris. Wir waren
... wir fuhren ...“

„Was macht denn ein solcher Bauer in Paris?“

„Wir waren wirklich dort. Wir haben uns mit Karp Wassiljewitsch
ausgezeichnet amüsiert. Kennen Sie Karp Wassiljewitsch?“

„Wie soll ich denn Ihren Karp Wassiljewitsch kennen?“

„Vielleicht doch ... aus politischen Gründen. Wir waren im Örtchen Paris
und haben – bei Madame Joubert einen Trumeau zerschlagen.“

„Was haben Sie zerschlagen?“

„Einen Trumeau. Die ganze Wand war ein Trumeau und Karp Wassiljewitsch
war so betrunken, daß er mit Madame Joubert einfach nur russisch sprach.
Nun, und er stürzte sich an den Trumeau, die Joubert aber ruft ihm zu,
daß der Trumeau sieben hundert Franks kostet, wenn er ihn zerschlägt! Er
lächelt bloß und sieht mich an, ich saß ihm gegenüber auf einem Kanapee
mit einer Schönen, die nicht einen solchen Rüssel hatte, wie die da.
Kurz, er ruft mir zu: ‚Stepan Terentjytsch, die Hälfte fällt auf dich?‘
Ich sage ‚schön!‘ Wie er da ins Glas schlägt – dsin! Madame Joubert
schreit auf und rückt ihm auf den Leib: ‚Du Räuber, aus welchem Lande
kommst denn du her?‘ Er aber sagt: ‚Du, Madame Joubert, nimm dein Geld
und kümmer dich nicht um meine Angewohnheiten.‘ Ihr wurden
sechshundertfünfzig Franks ausgezahlt. Ein halbes Hundert haben wir ihr
abgezogen.“

In diesem Augenblick ertönte ein durchdringender Schrei durch das ganze
Haus. Ich fuhr zusammen und schrie auf. Ich hatte die Stimme sofort
erkannt, es war Helene. Auf ihren kläglichen Schrei folgte ein ganzer
Tumult, man hörte schimpfen und klatschende Schläge, wie mit der flachen
Hand ins Gesicht geschlagen. Das war sicher Mitroschka, der seine
Pflicht tat. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Helene stürzte
bleich, mit verstörten Augen im weißen Musselinkleidchen, mit gekämmten,
doch im Kampfe aufgewühlten Haaren hinein ins Zimmer. Ich stand der Tür
gegenüber und sie stürzte geradewegs auf mich zu und umschlang mich mit
beiden Händen. Alle erschraken, alle sprangen auf. Schreie und Ausrufe
schwirrten durchs Zimmer. Ihr folgte in der Tür Mitroschka, den Dicken,
sein Opfer, an den Haaren im aufgelöstem Zustande herbeischleppend. Er
riß ihn zur Türschwelle und stieß ihn dann ins Zimmer.

„Da ist er! Nehmt ihn in Empfang!“ rief er uns mit zufriedener Miene zu.

„Höre,“ sagte Masslobojeff, ruhig auf mich zutretend und mir auf die
Schulter klopfend. „Nimm das Kind und bringe es zu dir, hier hast du
nichts mehr zu tun. Morgen wollen wir das Weitere besprechen.“

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, nahm Helene bei der Hand und
führte sie hinaus aus dieser Hölle. Das alles geschah so unerwartet, daß
uns niemand aufhielt. Draußen wartete die Droschke auf uns und in
zwanzig Minuten waren wir in meiner Wohnung.

Helene schien halbtot. Ich öffnete ihr das Kleid, bespritzte sie mit
Wasser und legte sie auf den Diwan. Sie fieberte und begann zu
phantasieren. Ich sah auf ihr bleiches Gesichtchen, auf ihre farblosen
Lippen, auf ihr dunkles pomadisiertes und aufgewühltes Haar, auf ihre
ganze Toilette mit den rosa Bändern – und begriff alles. Die Arme! Sie
fieberte immer mehr und mehr. Ich beschloß, am Abend nicht mehr zu
Natascha zu gehen. Hin und wieder hob Helene ihre langen Wimpern und sah
mich lange und forschend an, als wollte sie sich vergewissern, daß ich
es war. Spät, um ein Uhr nachts, schlief sie ein. Ich schlief neben ihr
auf dem Fußboden.


                                 VIII.

Ich erhob mich sehr früh. In der Nacht wachte ich jede halbe Stunde auf,
und sah nach meiner armen Kleinen. Sie hatte immer noch Fieber und erst
gegen Morgen schlief sie fest ein. Ein gutes Zeichen, dachte ich, doch
als ich am Morgen erwachte, beschloß ich, während die Arme noch schlief,
einen Arzt zu holen. Ich kannte einen Doktor, einen gutmütigen, alten
Junggesellen, der seit undenklichen Zeiten auf der Wladimirskaja mit
seiner deutschen Wirtschafterin lebte. Ich begab mich zu ihm. Er
versprach mir, um zehn Uhr zu kommen. Es war acht Uhr, als ich bei ihm
war. Gerne wäre ich unterwegs zu Masslobojeff gegangen, doch gab ich es
auf: er schlief wohl sicher noch seinen gestrigen Rausch aus, und
außerdem hätte Helene erwachen können und in ihrem krankhaften Zustande
hätte sie dann vielleicht nicht gewußt, wo sie sich befand, und auf
welche Weise sie zu mir gekommen war.

Sie erwachte in dem Augenblick, als ich ins Zimmer trat. Ich ging auf
sie zu und fragte sie vorsichtig, wie sie sich fühle? Sie antwortete mir
nicht, doch sah sie mich lange – lange mit ihren dunklen,
ausdrucksvollen Augen an. Ich erriet aus ihrem Blick, daß sie alles
begriff und bei vollem Bewußtsein war. Auf meine Frage antwortete sie
mir ihrer Gewohnheit nach nicht. Auch gestern und vorgestern, als sie
bei mir war, hatte sie viele meiner Fragen überhaupt nicht beantwortet
und mich nur mit ihrem hartnäckigen, forschenden Blick angesehen, in dem
außer Mißtrauen und Neugier ein so sonderbarer Stolz lag. Auch jetzt lag
in ihrem Blick eine gewisse Härte und ein Zweifel. Ich legte meine Hand,
glaube ich, auf ihren Kopf, um zu fühlen, ob sie noch Fieber hatte, sie
aber schob schweigend mit ihrer kleinen Hand meine Hand fort und kehrte
ihr Gesicht zur Wand. Ich zog mich zurück, um sie nicht zu stören.

Ich besaß einen großen kupfernen Teekessel. Ich brauchte ihn an Stelle
des Samowars und kochte in ihm das Teewasser. Holz besaß ich genügend,
der Hausknecht hatte mir wenigstens einen Vorrat auf fünf Tage gebracht.
Ich machte den Ofen an, holte Wasser und bereitete den Tee. Die
Teetassen stellte ich auf den Tisch. Helene sah zu und betrachtete alles
mit Neugier. Ich fragte sie, ob sie nicht einen Wunsch hätte. Sie aber
wandte sich wieder von mir ab und antwortete nicht.

„Weshalb sie mir wohl böse sein mag? Wunderliches Ding!“ dachte ich.

Mein alter Doktor kam, wie er versprochen, um zehn Uhr. Er untersuchte
die Kranke mit deutscher Sorgfalt und machte mir wieder Mut. „Es sei ein
fieberhafter Zustand,“ sagte er, „doch ohne jegliche ernstere Gefahr. Er
fügte hinzu, daß sie ein anderes Leiden haben müsse, ein Herzleiden,
woraufhin er sie noch einmal gründlicher untersuchen wolle, jetzt sei es
jedoch nicht vonnöten.“ Er verschrieb ihr eine Medizin und noch andere
Pulver, mehr der Form wegen, als aus Notwendigkeit, und fragte mich: auf
welche Weise sie zu mir gekommen sei? Zu gleicher Zeit sah er sich mit
Verwunderung meine Wohnung an. Der Alte schwatzte gern.

Auch ihn setzte Helene in Erstaunen; sie entzog ihm ihre Hand, als er
ihren Puls fühlen wollte, und zeigte ihm nicht ihre Zunge. All seine
Fragen ließ sie unbeantwortet und sah die ganze Zeit nur auf seinen
großen Stanislaus-Orden, den er am Halse trug.

„Ihr muß der Kopf sehr weh tun,“ bemerkte der alte Herr, „doch wie sie
einen ansieht, wie sie einen ansieht!“

Ich hielt es nicht für nötig, ihm alles über Helene mitzuteilen, und
entschuldigte mich mit der Erklärung, daß es eine sehr lange,
weitläufige Geschichte sei.

„Wenn es nötig sein sollte, rufen Sie mich,“ sagte er beim Fortgehen.
„Jetzt ist sie außer Gefahr.“

Ich beschloß, den ganzen Tag bei Helene zu bleiben und sie so wenig als
möglich allein zu lassen. Doch wußte ich, daß Natascha und Anna
Andrejewna sich sehr aufregen würden, wenn sie mich vergeblich
erwarteten und beschloß daher, Natascha durch die Stadtpost zu
benachrichtigen, daß ich heute nicht zu ihr kommen könne. Anna
Andrejewna durfte ich nicht schreiben. Sie hatte mich ein für allemal
gebeten, ihr keinen Brief zu schicken, als ich es einmal Nataschas wegen
getan. „Der Alte wird ganz finster und unwillig, wenn er einen Brief
sieht,“ sagte sie, „möchte so gerne den Inhalt erfahren, doch danach zu
fragen – dazu kann er sich nicht entschließen, und ist dann den ganzen
Tag verstimmt. Und mich, mein Lieber, ärgerst du nur mit deinem Brief.
Was sind mir die paar Zeilen. Ich möchte dich ausführlich über alles
befragen und du bist nicht da.“ Darum schrieb ich nur Natascha, und als
ich nach der Medizin ging, warf ich den Brief in den Postkasten.

In der Zeit war Helene wieder eingeschlafen. Im Schlaf war sie unruhig
und stöhnte. Der Doktor hatte recht, ihr schmerzte der Kopf sehr.
Plötzlich schrie sie auf und erwachte. Sie sah mich ärgerlich an, als
störe sie meine Aufmerksamkeit. Ich muß gestehen, daß es mir sehr weh
tat.

Um elf Uhr kam Masslobojeff. Er war sehr besorgt und wie es schien
zerstreut; er hatte große Eile und kam nur auf einen Augenblick.

„Nun, Freund, ich dachte mir schon, daß du nicht sehr verschwenderisch
leben würdest,“ bemerkte er, sich bei mir umschauend, „daß ich dich
jedoch in solch einer Kiste antreffen würde, das hatte ich denn doch
nicht geglaubt. Das ist ja ein Kasten, aber keine Wohnung! Doch, das
würde ja alles nichts besagen, es ist nur fatal, daß dich alle diese
Sachen von der Arbeit abhalten. Ich dachte bereits gestern daran, als
wir zur Bubnowa fuhren. Ich, Bruder, gehöre meiner Natur und meiner
sozialen Stellung nach zu den Leuten, die selbst nichts tun und nur
anderen vorwerfen, daß sie nichts arbeiten. – Jetzt höre zu: ich komme
vielleicht morgen oder übermorgen zu dir; du aber komme jedenfalls
Sonntag morgen zu mir. Bis dahin wird die Angelegenheit dieses Kindes
erledigt sein; dann nehme ich dich vor und rede ein ernstes Wort mit
dir. Nun, und sage doch, ist es in deinen Augen eine Schande, von mir
Geld zu leihen?“

„Laß das Gerede,“ unterbrach ich ihn. „Sage lieber, was für ein Ende hat
gestern die Sache genommen?“

„Wieso? Alles ist vortrefflich gegangen und das Ziel erreicht, verstehst
du? Jetzt habe ich keine Zeit, bin nur auf einen Augenblick gekommen, um
mich zu erkundigen, wo du sie unterbringen wirst – oder willst du sie
bei dir behalten? Darüber müssen wir noch ins reine kommen.“

„Das weiß ich selbst noch nicht, und offen gestanden, habe ich dich
erwartet, um mit dir zu beraten. Wie sollte ich sie wohl bei mir
behalten?“

„Eh, warum denn nicht, vielleicht als Magd ...“

„Ich bitte dich, sprich leiser. Wenn sie auch krank ist, so ist sie doch
vollkommen bei Bewußtsein, und als sie dich erblickte, bemerkte ich, wie
sie zusammenzuckte. Folglich hat sie das Gestrige nicht vergessen ...“

Darauf erzählte ich ihm von ihrem auffallenden Charakter und von allem,
was ich an ihr bemerkt. Meine Schilderung interessierte ihn sehr. Ich
fügte noch hinzu, daß ich sie vielleicht in einer mir bekannten Familie
unterbringen würde und erwähnte die Alten. Zu meiner großen Verwunderung
war ihm die Geschichte Nataschas bekannt und auf meine Frage woher,
antwortete er:

„Ich habe gelegentlich davon gehört. Ich habe dir doch schon erzählt,
daß ich den Fürsten Walkowskij kenne. Das wäre sehr schön, wenn du die
Kleine zu Ichmenjeffs bringen könntest. Sie wird dich sonst hier nur
genieren. Aber was ich noch sagen wollte, sie hat doch Kleider nötig.
Mache dir deshalb keine Sorgen, das kommt auf meine Rechnung. Lebe wohl,
besuche mich also. Schläft sie jetzt?“

„Es scheint so,“ erwiderte ich.

Doch kaum war er fort, als Helene mich zu sich rief.

„Wer ist es?“ fragte sie mich. Ihre Stimme zitterte vor Erregung, doch
war ihr Blick immer noch so starr und abweisend.

Ich nannte ihr seinen Namen und fügte hinzu, daß ich sie durch seine
Hilfe aus der Gewalt der Bubnowa gerettet hätte, und daß die Bubnowa ihn
sehr fürchte. Ihre Wangen erglühten plötzlich, bei der Erinnerung.

„Und wird sie niemals hierher kommen?“ fragte Helene mit forschendem
Blick in mein Gesicht.

Ich beeilte mich, sie darüber zu beruhigen. Sie schwieg und griff mit
ihren heißen Fingerchen nach meiner Hand, ließ sie aber sofort wieder
fallen, als besinne sie sich.

„Es ist doch nicht möglich, daß sie solchen Widerwillen gegen mich
empfindet,“ dachte ich. „Das ist wohl so ihre Art, oder ... oder die
Arme hat so viel Schlechtigkeit gesehen, daß sie niemandem auf der Welt
mehr traut.“

Zur bestimmten Stunde ging ich in die Apotheke nach der Medizin und
unterwegs in ein mir bekanntes Restaurant, wo ich manchmal zu Mittag
speiste und Kredit hatte. Dort holte ich etwas Hühnersuppe für Helene,
doch wollte sie nichts davon essen und ich mußte die Suppe in den Ofen
stellen, um sie warmzuhalten.

Nachdem sie die Medizin eingenommen hatte, setzte ich mich an die
Arbeit. Ich dachte, daß sie schlief, aber als ich ganz zufällig
aufblickte, bemerkte ich, daß sie ihr Köpfchen erhoben hatte und mir
zusah, wie ich schrieb. Ich tat so, als ob ich es nicht bemerkte.

Endlich war sie zu meiner großen Freude wirklich eingeschlafen, ganz
ruhig, fieberfrei und ohne zu stöhnen. Ich fing an nachzudenken;
Natascha, dachte ich, könnte wirklich sehr betrübt darüber sein, daß ich
gerade in der Zeit sie verlassen, wo sie meiner vielleicht am meisten
bedurfte.

Was nun Anna Andrejewna anbelangt, so wußte ich ganz und gar nicht, wie
ich mich morgen vor ihr rechtfertigen sollte. Ich dachte hin und her und
plötzlich beschloß ich, sie beide aufzusuchen. Meine Abwesenheit konnte
doch höchstens zwei Stunden dauern. Helene schläft und wird es gar nicht
bemerken, daß ich abwesend bin! Ich sprang auf, warf mir meinen Paletot
über, griff nach der Mütze und wollte zur Tür hinaus, als ich plötzlich
Helene meinen Namen rufen hörte. Ich war ganz betroffen: hatte sie sich
wirklich nur so angestellt, als schlafe sie?

Ich muß übrigens bemerken, daß Helene nur so tat, als wolle sie nicht
mit mir sprechen: diese wiederholten Rufe, das Bedürfnis, von mir über
ihr Schicksal etwas zu erfahren, bewiesen das Gegenteil und waren, ich
muß es gestehen, mir sogar sehr angenehm.

„Wohin wollen Sie mich fortgeben?“ fragte sie mich, als ich an sie
herantrat.

Überhaupt richtete sie ihre Fragen immer plötzlich, ganz unerwartet, an
mich. Dieses Mal verstand ich sie nicht einmal sofort.

„Vorhin sagten Sie zu Ihrem Bekannten, daß Sie mich in ein Haus geben
würden. Ich will aber nicht.“

Ich beugte mich über sie: sie fieberte wieder und war in höchster
Erregung. Ich versuchte sie wieder zu beruhigen und ihr Hoffnung
einzuflößen; ich sagte ihr daß, wenn sie bei mir bleiben wolle, ich sie
niemals fortgeben würde. Ich zog meinen Mantel aus, legte die Mütze aus
der Hand, denn in solchem Zustande konnte ich sie nicht allein lassen.

„Nein, gehen Sie nur!“ sagte sie, sofort erratend, daß ich bleiben
wollte. „Ich bin müde und werde gleich einschlafen.“

„Wie, soll ich dich denn allein lassen?“ sagte ich zögernd. „Ich werde
allerdings in zwei Stunden wieder zurück sein ...“

„Nun, so gehen Sie doch. Sonst werde ich das ganze Jahr krank sein, und
Sie werden das ganze Jahr das Haus nicht verlassen können.“

Und sie versuchte zu lächeln und sah mich so sonderbar an, sie schien
irgendein gutes Gefühl in ihrem Herzen niederzukämpfen. Die Arme! Es war
ihre Zärtlichkeit und Güte, die trotz aller Menschenscheu und offenbarer
Verbitterung durchbrach.

Zuerst eilte ich zu Anna Andrejewna. Sie erwartete mich mit fieberhafter
Ungeduld und war entsetzlich beunruhigt. Nikolai Ssergejewitsch war
gleich nach Tisch ausgegangen und man wußte nicht wohin. Mir ahnte, daß
die Alte ihm wie gewöhnlich alles erzählt hatte, wenn auch nur in
Andeutungen. Sie gestand es mir bald darauf selbst ein, daß sie nicht
habe an sich halten können und ihre Freude mit ihm habe teilen wollen,
daß aber Nikolai Ssergejewitsch, wie sie sagte, finster wie eine
Gewitterwolke dreingeschaut habe und auf alle ihre Fragen nur
geschwiegen hätte, und plötzlich nach Tisch fortgegangen sei. Zitternd
vor Angst flehte sie mich an, mit ihr zusammen Nikolai Ssergejewitsch zu
erwarten. Ich schlug ihre Bitte rund ab und sagte ihr, daß ich auch
morgen nicht zu ihr kommen könne und daß ich nur heute zu ihr gekommen
wäre, um sie davon zu benachrichtigen. Dieses Mal kam es fast zu einem
Bruch zwischen uns. Sie brach in Tränen aus und machte mir bittere
Vorwürfe, als ich aber schon zur Tür hinaus wollte, umarmte sie mich
plötzlich und flehte mich an, sie „arme Waise“ nicht zu verlassen, und
ihr nicht zu zürnen, falls sie mich gekränkt hätte.

Natascha traf ich gegen meine Erwartung wieder allein an, – sonderbar,
aber mir schien es, als freute sie sich diesmal gar nicht über mein
Kommen, wie sie es sonst immer zu tun pflegte. Ich hatte den Eindruck,
als hätte mein Kommen sie irgendwie geärgert oder gestört. Auf meine
Frage, ob Aljoscha bei ihr gewesen, antwortete sie:

„Versteht sich, er war da, aber nicht lange. Er versprach heute abend
wiederzukommen,“ fügte sie nachdenklich hinzu.

„War er gestern abend hier?“

„N–nein. Man hat ihn aufgehalten,“ fügte sie schnell hinzu. „Und wie
geht es dir, Wanjä?“

Ich begriff, daß sie das Gespräch auf andere Dinge lenken wollte. Ich
betrachtete sie näher und bemerkte, daß sie verstimmt war. Als sie sah,
daß ich sie beobachtete, traf mich plötzlich ein zornig flammender Blick
von ihr: als hätte er mich verbrennen können, so stark empfand ich ihn.
Sie leidet wieder, dachte ich bei mir, und will es mir nicht zeigen.

Ihre Frage nach meinen Angelegenheiten beantwortete ich mit einer
ausführlichen Erzählung von meinem Erlebnis mit Helene. Meine Erzählung
interessierte sie sehr, und versetzte sie in Erstaunen und Erregung.

„Mein Gott! Und du konntest sie allein lassen!“ rief sie aus.

Ich sagte ihr, daß ich eigentlich heute nicht zu ihr habe kommen wollen,
doch nicht sicher gewesen sei, ob sie, Natascha, meiner nicht bedurfte.

„Ich deiner bedürfen,“ sprach sie vor sich hin, „oh ja, ich werde deiner
schon bedürfen, Wanjä, doch nicht heute, ein anderes Mal. Warst du bei
den – Unsrigen?“

Ich erzählte ihr alles.

„Ja, Gott weiß, wie der Vater diese Nachrichten aufnehmen wird. Doch,
übrigens, was ist da aufzunehmen ...“

„Wieso denn? Eine solche Veränderung!“

„Nun ja ... Wohin ist er denn wieder gegangen? Neulich dachtet ihr, er
habe zu mir gewollt. Weißt du, Wanjä, wenn es dir möglich ist, komme
morgen zu mir. Vielleicht werde ich dir morgen etwas mitzuteilen haben
... Es ist zwar gewissenlos von mir, dich zu beunruhigen; und jetzt gehe
nach Haus zu deinem Gast. Es sind sicher schon zwei Stunden vergangen,
seit du von Hause weg bist!“

„Allerdings. Lebe wohl, Natascha. Nun, und wie war denn Aljoscha heute
zu dir?“

„Aljoscha, wie immer ... Deine Neugier wundert mich, Wanjä.“

„Auf Wiedersehn!“

„Leb wohl.“

Sie reichte mir etwas nachlässig die Hand und wich meinem Blick aus. Ich
ging ein wenig betroffen von ihr. „Übrigens,“ dachte ich, „sie hat allen
Grund nachdenklich zu sein; morgen wird sie mir ja doch alles erzählen.“

Ich kehrte in trauriger Stimmung nach Hause zurück. Erstaunt blieb ich
an der Türschwelle stehen. Im Zimmer war es dunkel. Ich konnte jedoch
sehen, wie Helene mit gesenktem Kopfe auf dem Diwan saß, in tiefes
Nachdenken versunken. Sie sah nicht einmal auf, als ich zu ihr trat; sie
murmelte nur etwas vor sich hin. „Ob sie nicht wieder phantasiert?“
dachte ich.

„Helene, mein Liebling, was fehlt dir?“ fragte ich, setzte mich zu ihr
und ergriff ihre Hand.

„Ich möchte fort von hier. Ich möchte lieber zu ihr,“ sagte sie, den
Kopf noch immer gesenkt.

„Wohin? zu wem?“ fragte ich ganz verwundert.

„Zu ihr, zur Bubnowa. Sie sagt immer, daß ich ihr viel Geld schulde, daß
sie Mama für ihr Geld beerdigt hat ... Ich will nicht, daß sie über
meine Mama schimpft ... Ich möchte für sie arbeiten und ihr alles
zurückgeben ... Dann werde ich wieder von ihr fortgehen. Jetzt aber will
ich zu ihr ...“

„Beruhige dich, Helene, zu ihr kannst du nicht. Sie wird dich zugrunde
richten ...“

„Mag sie mich zugrunde richten, mag sie mich foltern,“ unterbrach mich
Helene ganz flammend, „ich bin nicht die Erste; es gibt bessere als ich,
die sich noch mehr quälen. Das hat mir eine Bettlerin auf der Straße
gesagt. Mein ganzes Leben lang werde ich arm bleiben, das hat mir meine
Mama befohlen, als sie starb. Ich werde arbeiten ... Ich will nicht
dieses Kleid tragen ...“

„Ich kaufe dir morgen ein anderes. Ich werde dir auch deine Bücher
wieder zurückbringen. Du wirst bei mir bleiben. Ich werde dich niemandem
abgeben, wenn du es nicht selbst willst; sei ruhig ...“

„Ich will Arbeiterin werden.“

„Gut, gut! Nur lege dich jetzt hin und versuche zu schlafen!“

Das arme Kind fing an zu weinen. Und langsam gingen ihre Tränen in
Schluchzen über. Ich wußte nicht, was ich mit ihr beginnen sollte; ich
reichte ihr Wasser, rieb ihr die Schläfen. Schließlich fiel sie kraftlos
auf den Diwan zurück und das Fieber schüttelte sie wieder. Ich deckte
sie zu und sie schlief ein, doch zuckte sie von Zeit zu Zeit wieder
zusammen und erwachte dann jedesmal. Obgleich ich den Tag über nicht
viel gegangen war, fühlte ich mich doch furchtbar müde und beschloß,
mich selbst so früh als möglich hinzulegen. Quälende Sorgen durchbohrten
mein Gehirn. Ich fühlte voraus, daß ich mit dem Kinde viel Mühe haben
würde. Doch machten mir Nataschas Angelegenheiten noch mehr Sorgen.
Überhaupt erinnere ich mich nicht, je in einer so schweren
Gemütsstimmung gewesen zu sein, als in dieser unglücklichen Nacht.


                                  IX.

Ich erwachte erst spät, gegen zehn Uhr morgens, und fühlte mich ganz
krank. Mir schwindelte und der Kopf tat mir weh. Ich blickte auf
Helenens Lager: es war leer. Zu gleicher Zeit hörte ich aber im kleinen
Nebenzimmer Geräusch, wie wenn man mit dem Besen die Zimmer kehrt. Ich
ging hinein, um nachzusehen. Helene hielt in der einen Hand den Besen,
mit der anderen hob sie ihr Kleid auf, das sie seit jenem Abend noch
nicht abgelegt, und kehrte die Stube aus. Das Holz vor dem Ofen war in
der Ecke aufgestapelt, der Teekessel blankgeputzt. Kurz: Helene
wirtschaftete.

„Höre, Helene,“ rief ich, „wer hat dir erlaubt, die Zimmer zu fegen? Du
bist krank, ich wünsche das nicht; bist du denn etwa als Magd zu mir
gekommen?“

„Wer wird denn hier die Zimmer reinigen?“ Sie richtete sich auf und sah
mir gerade in die Augen. „Jetzt bin ich nicht mehr krank.“

„Ich habe dich doch nicht der Arbeit wegen zu mir genommen, Helene. Du
scheinst zu fürchten, daß ich wie die Bubnowa dir Vorwürfe machen
könnte, daß du umsonst bei mir lebst? Und woher hast du diesen
schmutzigen Besen genommen?“ fügte ich ganz verwundert hinzu.

„Das ist mein Besen. Ich habe ihn selbst hierher gebracht. Ich habe doch
Großpapa die Zimmer rein gemacht. Der Besen lag seit der Zeit dort,
unter dem Ofen.“

Ich kehrte nachdenklich ins Zimmer zurück; mir war es klar, daß ihr
meine Gastfreundschaft nicht leicht fiel, und daß sie sich bemühte, sie
verdienen zu wollen. „Was für eine Hartnäckigkeit!“ dachte ich bei mir.
Nach ein paar Minuten kam auch sie herein, setzte sich neben mich auf
den Diwan und sah mich fragend an. Darauf bereitete ich den Tee, goß
auch ihr Tee ein und reichte ihr ein Stück Weißbrot. Sie nahm alles
schweigend ohne jeden Widerstand entgegen. Sie hatte ganze
vierundzwanzig Stunden nichts genossen.

„Siehst du, da hast du dein nettes Kleid mit dem Besen beschmutzt.“ Ich
bemerkte einen schmutzigen Streifen an ihrem Rock.

Sie warf einen Blick auf die bezeichnete Stelle und zu meiner
Verwunderung stellte sie die Tasse hin, griff ruhig mit beiden Händen
den Saum des Kleides und riß kaltblütig den Rock von unten bis oben
durch.

Nachdem sie das getan hatte, sah sie mich hartnäckig schweigend an, mit
flammenden Augen. Ihr Gesicht war weiß wie Kreide.

„Was hast du getan, Helene?“ rief ich erschrocken aus, denn ich glaubte
eine Wahnsinnige vor mir zu sehen.

„Das ist ein elendes Kleid!“ sagte sie mit vor Aufregung ganz erstickter
Stimme. „Warum sagten Sie, daß es ein nettes Kleid sei? Ich will es
nicht tragen,“ rief sie und sprang auf. „Ich werde es in Stücke
zerreißen! Ich habe sie nicht darum gebeten, mich auszuputzen, sie hat
es gewaltsam mit mir getan. Ich habe schon ein solches Kleid zerrissen,
auch dieses werde ich zerreißen, zerreißen, zerreißen! ...“

In einem Augenblick war das ganze Kleid in Fetzen. Als sie damit zu Ende
war, konnte sie sich kaum mehr auf den Füßen halten. Ich sah mit
Verwunderung auf diesen Ausbruch sinnloser Leidenschaftlichkeit. Sie sah
mich herausfordernd an, als wäre auch ich ihr gegenüber irgendwie
schuldig gewesen. Ich wußte bereits, was ich zu tun hatte.

Ich beschloß, ihr heute sofort ein neues Kleid zu kaufen. Dieses wilde,
erbitterte Geschöpf mußte man mit Liebe behandeln. Es sah so aus, als
wäre sie nie einem Menschen begegnet. Wenn sie schon einmal, ungeachtet
der schrecklichen Strafen, ihr erstes Kleid in Stücke zerrissen, um
wieviel mehr mußte sie dieses Kleid und dieser Augenblick an alles
Schreckliche erinnern!

Auf dem Trödelmarkt konnte man billig ein gutes einfaches Kleidchen
kaufen. Das Unglück wollte es nur, daß ich in diesem Augenblick kein
Geld bei mir hatte. Doch hatte ich noch gestern vor dem Schlafengehen
beschlossen, mir heute welches zu verschaffen. Ich nahm meinen Hut.
Helene folgte mir mit den Augen, als erwarte sie etwas von mir.

„Sie werden mich wohl wieder einschließen?“ fragte sie, als ich nach dem
Schlüssel griff, um die Wohnung von außen zuzuschließen, wie ich es
gestern und vorgestern getan.

„Liebes Kind,“ antwortete ich ihr, „sei mir nicht böse. Ich schließe die
Wohnung nur darum zu, weil ich fürchte, daß jemand kommen könnte. Du
bist krank und könntest dich erschrecken. Ja, und Gott weiß, wer nicht
alles kommen kann, die Bubnowa am Ende ...“

Mit Absicht sagte ich ihr das. Ich schloß sie jedoch nur ein, weil ich
fürchtete, daß sie von mir fortgehen könnte. Wenigstens für die erste
Zeit hatte ich beschlossen, vorsichtig zu sein. Helene antwortete mir
nichts und ich schloß die Tür hinter mir ab. Ich kannte einen Verleger,
der schon ein großes Sammelwerk herausgab. Von ihm holte ich mir immer
Arbeit, wenn ich Geld sehr nötig hatte. Ich begab mich auch heute zu ihm
und erhielt von ihm fünfundzwanzig Rubel ausgezahlt, dafür verpflichtete
ich mich in einer Woche einen bestimmten Artikel abzuliefern. Ich aber
hoffte auf diese Weise Zeit für meinen Roman zu gewinnen. Das tat ich
oft, wenn die Not am höchsten war.

Von ihm begab ich mich auf den Trödelmarkt. Dort suchte ich eine mir
bekannte Händlerin auf, die allerhand Kleider verkaufte. Ich gab ihr
ungefähr den Wuchs Helenes an, und sie suchte mir sofort ein festes,
starkes, nur einmal in der Wäsche gewesenes Kattunkleid aus, das sie mir
zu geringem Preis verkaufte. Zufällig fand ich auch noch ein nettes
Halstuch. Als ich das bezahlt hatte, fiel es mir ein, daß Helene auch
sicher irgendeinen Mantel brauchte. Das Wetter fing an, kalt zu werden
und sie besaß absolut nichts. Doch ich ließ es bis auf ein nächstes Mal.
Helene war so empfindlich und stolz, Gott weiß, ob sie überhaupt dieses
Kleid von mir annehmen würde, das ich mit Absicht so billig und so
einfach als nur möglich gekauft hatte. Übrigens kaufte ich ihr auch noch
zwei Paar baumwollene und ein Paar wollene Strümpfe. Die konnte ich ihr
unter dem Vorwand geben, daß sie krank und daß es im Zimmer kalt sei.
Sie hatte auch wohl Wäsche nötig, doch ließ ich davon ab, bis wir uns
näher kennen gelernt haben würden. Dafür kaufte ich aber ein Paar alte
Vorhänge vor das Bett, eine unumgängliche Sache, die Helene nur angenehm
sein konnte.

Beladen mit diesen Sachen kam ich erst am Nachmittag zu Hause an. Das
Schloß öffnete sich fast geräuschlos, so daß Helene gar nicht bemerkte,
daß ich eintrat. Ich sah sie am Tische stehen und in meinen Büchern
lesen. Als sie mich erblickte, schlug sie schnell das Buch zu, in dem
sie gelesen, und wandte sich errötend vom Tische ab. Es war mein erster
Roman, auf dessen Titelblatt mein voller Name stand.

„Es war jemand in Ihrer Abwesenheit hier!“ sagte sie in einem Tone zu
mir, in dem man deutlich den Vorwurf hörte: „Warum haben Sie mich
eingeschlossen?“

„Vielleicht war es der Doktor?“ sagte ich. „Du hast nichts geantwortet?“

„Nein.“

Ich schwieg, öffnete meinen Packen und überreichte ihr das Kleid.

„Sieh, Helene,“ sagte ich zu ihr, „in den Fetzen, die du anhast, kannst
du nicht bleiben. Ich habe dir ein billiges, einfaches Alltagskleid
gekauft, es kostet im ganzen nur ein Rubel zwanzig Kopeken. Trag es!“

Ich legte das Kleid neben sie hin, sie errötete über und über und sah
mich ganz verwundert starr an.

Sie war über die Maßen erstaunt und schien mir sehr verlegen. Doch etwas
Weiches, Zärtliches leuchtete in ihren Augen auf. Als ich bemerkte, daß
sie schwieg, wandte ich mich ab und machte mir am Tische zu schaffen.
Meine Handlungsweise schien sie ganz zu verwirren. Sie saß da, mit Mühe
sich beherrschend, die Augen zu Boden geschlagen.

Mein Kopf schmerzte mir immer mehr. Die frische Luft hatte mir nicht gut
getan. Dabei mußte ich auf jeden Fall zu Natascha. Meine Unruhe um sie
nahm zu. Plötzlich schien es mir, als hätte Helene mich gerufen. Ich
wandte mich um.

„Wenn Sie jetzt fortgehen, schließen Sie mich bitte nicht mehr ein,“
sagte sie beiseite blickend und mit den Fingern an der Diwanschnur
zupfend, als nehme diese Beschäftigung sie ganz in Anspruch. „Ich werde
nicht von Ihnen fortgehen.“

„Gut, Helene, ich bin damit einverstanden. Doch wenn nun jemand kommt,
Gott weiß, wer?“

„So geben Sie mir den Schlüssel, ich werde die Tür von innen zuschließen
und wenn jemand klopft, werde ich sagen: es ist niemand zu Haus.“

Und sie sah mich schlau an, als wollte sie sagen: „Sieh, wie man das
machen muß!“

„Wer wäscht Ihnen die Wäsche?“ fragte sie plötzlich, bevor ich noch
etwas erwidern konnte.

„Hier im Hause ist eine Frau ...“

„Ich kann Wäsche waschen. Und wo speisen Sie?“

„Im Restaurant.“

„Ich verstehe auch zu kochen.“

„Laß doch nur, Helene; was verstehst du denn davon?“

Helene schwieg und ihr Ausdruck verdüsterte sich. Meine Bemerkung
beleidigte sie offenbar. Es vergingen ungefähr zehn Minuten; wir
schwiegen beide.

„Suppe verstehe ich,“ sagte sie plötzlich, ohne den Kopf zu erheben.

„Wie, Suppe? Was für eine Suppe?“ fragte ich verwundert.

„Suppe verstehe ich zu kochen. Ich habe Mamachen immer Suppe gekocht,
wenn sie krank war. Ich bin auch auf den Markt gegangen.“

„Siehst du nun, Helene, siehst du nun, wie stolz du bist,“ sagte ich und
setzte mich zu ihr auf den Diwan. „Ich bin zu dir, wie mein Herz mir
befiehlt. Du bist jetzt allein und unglücklich, hast niemanden und ich
möchte dir helfen. Wenn es mir so schlecht erginge, würdest auch du mir
helfen wollen. Doch du denkst nicht so wie ich und dir fällt es schwer,
von mir etwas anzunehmen. Du willst mir sofort alles bezahlen, alles
abarbeiten, als wärst du bei der Bubnowa! Du solltest dich doch schämen,
Helene!“

Sie sagte nichts, ihre Lippen zitterten; sie schien mir etwas entgegnen
zu wollen, doch nahm sie sich zusammen und schwieg. Ich erhob mich, um
zu Natascha zu gehen. Dieses Mal überließ ich Helene den Schlüssel und
bat sie, wenn jemand kommen und anklopfen sollte, zu fragen, wer da sei?
– Ich war innerlich davon überzeugt, daß es um Natascha schlecht stand.
Ich wollte jedenfalls auf einen Augenblick bei ihr vorgehen, sie sonst
aber weiter nicht mit meiner Gegenwart belästigen.

So geschah es denn auch. Sie empfing mich mit unzufriedener, strenger
Miene. Ich hätte sofort wieder weggehen sollen, doch meine Füße trugen
mich nicht mehr.

„Ich komme zu dir auf einen Augenblick, Natascha,“ begann ich, „um dich
meines Gastes wegen um Rat zu fragen?“

Und ich beeilte mich, ihr so schnell als möglich meine letzten
Erlebnisse mit Helene zu erzählen. Natascha hörte mich schweigend an.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich dir raten soll, Wanjä,“ antwortete sie
mir. „Es scheint ein eigenartiges Wesen zu sein, sicher sehr gequält und
verschüchtert. Warte wenigstens ab, bis sie gesund ist. Willst du sie zu
den Unsrigen bringen?“

„Sie sagt, sie wolle durchaus bei mir bleiben. Weiß Gott, wie man sie
dort auch aufnehmen würde. Und du, wie geht es dir? Du schienst gestern
krank zu sein?“ fragte ich sie schüchtern.

„Ja ... auch heute tut mir der Kopf weh,“ antwortete sie zerstreut.
„Hast du jemanden von den Unsrigen gesehen?“

„Nein. Morgen werde ich hingehen. Morgen ist ja Sonnabend ...“

„Nun, und dann?“

„Am Abend kommt der Fürst ...“

„Nun, und dann? Ich habe es nicht vergessen.“

„Ich meinte ja nur so ...“

Sie blieb vor mir stehen und sah mir scharf in die Augen. In ihrem Blick
lag eine hartnäckige, fieberhafte, leidenschaftliche Entschlossenheit.

„Weißt du, Wanjä, sei so gut, gehe wieder fort, du störst mich.“

Ich erhob mich vom Sessel und maß sie mit staunender Verwunderung.

„Natascha! Was ist mit dir? Was ist geschehen?“ rief ich erschrocken
aus.

„Nichts ist geschehen! Alles, alles wirst du morgen erfahren, jetzt aber
laß mich allein. Hörst du, Wanjä, gehe sofort. Ich kann dich nicht
ansehen, es zerreißt mir das Herz!“

„Sage mir doch wenigstens ...“

„Alles, alles wirst du morgen erfahren! Mein Gott, wirst du denn nicht
gehen?“

Ich ging hinaus. Ich war wie betäubt und wußte kaum mehr, wo ich mich
befand. Mawra stürzte mir auf die Treppe nach.

„Ist sie böse zu Ihnen gewesen?“ fragte sie mich. „Ich fürchte mich
schon längst überhaupt nur zu ihr hineinzugehen.“

„Ja, was hat sie nur?“

„Ach, wir haben schon den dritten Tag nicht einmal seine Nasenspitze
gesehen!“

„Wie, den dritten Tag?“ fragte ich voll Verwunderung. „Sie hat mir doch
gestern selbst gesagt, daß er am Morgen dagewesen und am Abend
wiederkommen wollte ...“

„Was am Abend! Er war nicht einmal am Morgen da. Ich sage Ihnen, den
dritten Tag hat er sich schon nicht mehr gezeigt. Hat sie Ihnen wirklich
selbst gesagt, daß er am Morgen dagewesen sei?“

„Sie hat es selbst gesagt.“

„Nun,“ sagte Mawra nachdenklich, „dann muß es ihr so weh tun, daß sie es
sogar vor Ihnen verheimlichen will. Nun, das ist ’mal! ...“

„Ja, was soll denn sein!“ schrie ich sie an.

„Ja, was soll denn sein, weiß ich es denn?“ Mawra schlug die Hände über
dem Kopf zusammen. „Zweimal hat sie mich gestern zu ihm geschickt und
jedesmal hat sie mich wieder zurückgerufen. Heute aber spricht sie schon
kein Wort mehr mit mir. Wenn sie ihn doch nur sehen würde! Ich wage es
schon gar nicht mehr, sie allein zu lassen.“

Ich stürzte die Treppe hinunter.

„Zum Abend kommen Sie doch zu uns?“ rief mir Mawra nach.

„Wir werden sehen. Ich werde vielleicht kommen, nur um mich nach ihr zu
erkundigen. Wenn ich mich nur selbst auf den Beinen halten kann!“

Ich fühlte in der Tat, wie etwas an meinem Herzen riß.


                                   X.

Ich begab mich geradewegs zu Aljoscha. Er lebte bei seinem Vater in der
Kleinen Mosskaja. Der Fürst bewohnte ein ganzes Stockwerk, obgleich er
ganz allein lebte. Aljoscha hatte zwei schöne große Zimmer dieser
Wohnung inne. Ich war sehr selten bei ihm gewesen, ich glaube, nur ein
einziges Mal. Er dagegen besuchte mich öfter, besonders zu Anfang seiner
Verbindung mit Natascha.

Er war nicht zu Haus. Ich trat in sein Zimmer und schrieb ihm folgenden
Brief:

„Ich glaube, Aljoscha, Sie sind von Sinnen. Als Ihr Vater Dienstag abend
selbst Natascha bat, Ihnen die Ehre zu erweisen, Ihre Frau zu werden,
waren Sie über diese Bitte sehr erfreut, wovon ich Zeuge war. Sie werden
zugeben, daß Ihr Benehmen jetzt äußerst seltsam erscheint. Wissen Sie
auch, was Sie Natascha gegenüber tun? Jedenfalls wird mein Brief Sie
daran erinnern, daß Ihr Betragen Ihrer zukünftigen Frau gegenüber höchst
merkwürdig und leichtsinnig erscheint. Ich weiß sehr wohl, daß ich kein
Recht habe, Ihnen Vorstellungen zu machen, doch ist mir das ganz
gleichgültig.“

„P. S. Von diesem Briefe weiß Natascha nichts und hat überhaupt nicht
mit mir von Ihnen gesprochen.“

Ich schloß den Brief und ließ ihn auf Aljoschas Tisch. Auf meine Frage
antwortete der Diener, daß Alexei Petrowitsch jetzt fast nie zu Hause
sei und nur in der Nacht, kurz vor Sonnenaufgang, zurückkehre.

Mit Mühe schleppte ich mich bis nach Haus. Der Kopf schwindelte mir, die
Füße waren schwach und zitterten; die Tür zu meiner Wohnung war offen.
Bei mir saß Nikolai Ssergejewitsch Ichmenjeff und wartete auf mich. Er
saß am Tisch und sah schweigend mit Verwunderung Helene an, die
ihrerseits ihn nicht weniger erstaunt und mißtrauisch betrachtete. „Wie
muß sie ihm wohl sonderbar erscheinen,“ dachte ich.

„Siehst du, mein Lieber, eine ganze Stunde erwarte ich dich schon, ich
hätte nicht gedacht, dich so zu finden ...“ Er sah sich im Zimmer um,
und wies mit den Augen zwinkernd kaum merklich auf Helene.

In seinen Augen lag Verwunderung. Als ich ihn näher ansah, bemerkte ich,
daß sein Gesicht erdfahl war und Kummer und Unruhe in ihm lag.

„Setze dich, setze dich,“ forderte er mich mit besorgter Miene auf. „Ich
beeilte mich, zu dir zu kommen, habe eine Angelegenheit mit dir zu
besprechen, doch was fehlt dir? Wie siehst du aus?“

„Ich fühle mich unwohl. Seit dem Morgen schwindelt mir der Kopf.“

„Sieh mal an, sei doch vorsichtiger. Hast du dich nicht erkältet?“

„Nein, das ist wohl nur so ein Nervenanfall. Das habe ich des öfteren.
Und Sie, wie fühlen Sie sich?“

„Nichts, nichts! Ich habe etwas mit dir zu besprechen. Setze dich zu
mir.“

Ich zog einen Stuhl herbei und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch.
Der Alte beugte sich vor und begann mit halblauter Stimme:

„Sieh sie nicht an, damit sie nicht bemerkt, daß wir über sie sprechen.
Was ist das für ein Gast, den du da hast?“

„Nachher davon, Nikolai Ssergejewitsch. Das ist ein armes Mädchen, eine
Waise, Enkelin desselben Smitt, der hier lebte und der in der Konditorei
gestorben ist.“

„Also, er besaß eine Enkelin! Nun, mein Freund, ist das aber ein
sonderbares Geschöpf! Die sieht einen so an, so! Wirklich, ich sage dir,
wenn du in fünf Minuten nicht gekommen wärst, so hätte ich es hier nicht
mehr ausgehalten. Mit Mühe konnte ich sie nur dazu bringen, daß sie mir
die Tür öffnete; sie spricht kein Wort mit mir, es wird einem einfach
unheimlich, mit ihr allein. Sie ist ja gar nicht einem Menschenkinde
ähnlich. Wie ist sie denn zu dir gekommen? Ach, ich verstehe, sie ist
wohl zum Großvater gekommen, hat es nicht gewußt, daß er gestorben ist?“

„Ja, es ist ein unglückliches Kind. Der Alte erinnerte sich ihrer noch,
bevor er starb.“

„Hm! Wie der Großvater, so die Enkelin. Nachher erzählst du mir alles.
Vielleicht kann ihr geholfen werden, wenn sie doch so unglücklich ist
... Doch jetzt, mein Lieber, könnte man ihr nicht sagen, daß sie
fortgeht, denn ich muß ernstlich mit dir reden.“

„Ich kann sie nirgendwo hinschicken. Sie lebt hier bei mir.“

Ich erklärte dem Alten alles so schnell als möglich in ein paar Worten
und fügte hinzu, daß man ruhig alles in ihrer Gegenwart sprechen könne,
da sie ein Kind sei ...

„Nun, ja ... freilich ein Kind. Doch du hältst mich wohl zum besten,
mein Freund. Sie lebt bei dir, sagst du? Gott im Himmel!“

Und der Alte sah sie noch einmal verwundert an. Helene fühlte, daß man
von ihr sprach, sie saß schweigend da, den Kopf auf die Brust gesenkt
und spielte mit ihren Fingerchen an der Diwanschnur. Sie hatte bereits
ihr neues Kleidchen angezogen, das ihr sehr gut stand. Die Haare waren
sorgfältig gekämmt, sorgfältiger als früher, vielleicht aus Anlaß des
neuen Kleides. Wäre sie nicht von dieser sonderbaren scheuen Art
gewesen, so hätte man sie für ein allerliebstes Kind halten müssen.

„Also, kurz und bündig, die Sache ist die,“ begann der Alte von neuem
...

Er saß in sich versunken, mit strenger und wichtiger Miene da und
ungeachtet seines „kurz und bündig“ konnte er den Anfang nicht finden.
„Was kann er wohl haben?“ dachte ich.

„Siehst du, Wanjä, ich bin mit einer großen Bitte zu dir gekommen. Doch
bevor ich sie ausspreche – ich sehe es jetzt selbst ein – muß ich dir
erst die näheren Umstände erklären ... Umstände, sehr peinlicher Art
...“

Er hüstelte und sah mich forschend an, darauf errötete er; errötete und
ärgerte sich über seine Ungeschicklichkeit, ärgerte sich und fuhr fort:

„Doch wozu da noch alles erklären wollen! Du wirst es von selbst
verstehen! Kurz, ich will den Fürsten fordern, und dich bitte ich, diese
Sache zu arrangieren und mein Sekundant zu sein.“

Ich sprang fast von meinem Stuhl auf und starrte ihn außer mir vor
Verwunderung an.

„Nun, was starrst du mich an? Ich habe noch nicht den Verstand
verloren.“

„Doch erlauben Sie, Nikolai Ssergejewitsch! Unter welchem Vorwand, zu
welchem Zweck? Und schließlich, ist es denn möglich? ...“

„Vorwand! Zweck!“ schrie der Alte. „Das ist ’mal schön! ...“

„Gut, schon gut, ich weiß, was Sie sagen werden; doch was werden Sie
damit erreichen? Welch einen Ausgang kann das Duell nehmen? Ich gestehe,
daß ich nichts davon begreife.“

„Ich dachte es mir, daß du nichts davon begreifen würdest. Höre: unser
Prozeß ist zu Ende, d. h., wird in diesen Tagen zu Ende sein; es bleiben
nur noch die Formalitäten. Ich bin verurteilt. Ich muß an zehntausend
Rubel zahlen; so hat man beschlossen. Für sie wird Ichmenjeffka in
Beschlag genommen. Folglich hat dieser gemeine Mensch das Geld bekommen
und ich, der ich mit Ichmenjeffka bezahlt habe, bin aller
Verpflichtungen ledig. Jetzt kann ich wieder meinen Kopf hoch heben.
‚Sie, verehrter Fürst, haben mich zwei Jahre lang beleidigt; Sie haben
meinen Namen beschimpft und die Ehre meines Hauses mit Füßen getreten,
und ich habe alles von Ihnen ertragen müssen! Ich habe Sie dazumal nicht
fordern können. Sie hätten mir sagen können: Schlauer Mensch, du willst
mich erschießen, um das Geld nicht herausgeben zu müssen, zu dem du
früher oder später verurteilt werden wirst! Nein, erst wollen wir den
Prozeß beenden und dann kannst du mich fordern. Jetzt, verehrter Fürst,
ist der Prozeß zu Ende, jetzt, bitte, hier an die Barriere.‘ Siehst du,
so ist die Sache. Und deiner Meinung nach soll ich nicht im Recht sein,
endlich mich für alles, alles rächen zu wollen!“

Seine Augen blitzten. Ich sah ihn lange schweigend an. Ich wollte gern
seine geheimsten Gedanken erraten.

„Hören Sie mich an, Nikolai Ssergejewitsch,“ wandte ich mich an ihn. Ich
hatte mich entschlossen, ihm gegenüber grenzenlos aufrichtig zu sein,
denn sonst wären wir beide keinen Schritt weiter gekommen. „Können Sie
gegen mich vollkommen aufrichtig sein?“

„Gewiß kann ich’s,“ antwortete er mit Festigkeit.

„Sagen Sie mir ehrlich: ist es nur das Gefühl der Rache, was Sie dazu
treibt, oder verfolgen Sie dabei auch noch andere Ziele?“

„Wanjä,“ erwiderte er, „du weißt, daß ich es niemanden erlaube, im
Gespräch mit mir an gewisse Punkte zu rühren; doch dieses Mal sei eine
Ausnahme gemacht, da du mit deinem hellen Verstand sofort erraten hast,
daß es unmöglich ist, diesen Punkt zu umgehen. Ja, du hast recht, ich
verfolge dabei noch ein Ziel: meine verlorene Tochter zu retten und sie
von dem unheilvollen Wege abzuhalten, auf den sie durch die letzten
Verhältnisse getrieben worden ist.“

„Wie wollen Sie denn Ihre Tochter durch dieses Duell retten, das ist die
Frage?“

„Indem ich dadurch alles vernichte, was sie dort planen. Höre mich an:
glaube nicht, daß irgendeine väterliche Zärtlichkeit oder irgendeine
andere Schwäche aus mir spricht. Das ist alles Unsinn. Das Innerste
meines Herzens zeige ich niemanden. Auch du kennst es nicht. Meine
Tochter hat mich verlassen, hat das Elternhaus mit ihrem Liebhaber
verlassen und ich habe sie aus meinem Herzen gerissen, an demselben
Abend – du erinnerst dich? Wenn du mich auch damals über ihrem Bilde
weinen sahst, so folgt daraus noch nicht, daß ich ihr vergeben habe. Ich
habe es auch damals nicht getan. Ich weinte über mein verlorenes Glück,
doch nicht über sie, wie sie jetzt ist. Ich habe vielleicht jetzt oft
geweint und schäme mich nicht, es einzugestehen, ebenso wie ich
eingestehe, daß ich mein Kind früher über alles in der Welt liebte.
Alles das scheint offenbar mit meinem Vorhaben in einem gewissen
Widerspruch zu stehen. Du kannst mir sagen: wenn dem so ist, daß Sie
sich zum Schicksal Ihrer Tochter gleichgültig verhalten und Ihre Tochter
als solche schon nicht mehr anerkennen, warum mischen Sie sich dann
jetzt in ihre Angelegenheiten? Ich tue es: erstens, weil ich diesem
niedrigen und gemeinen Menschen den Triumph lassen will und zweitens,
einfach aus Menschenliebe. Wenn sie auch nicht mehr meine Tochter ist,
so ist sie doch ein schwaches, schutzloses und betrogenes Wesen, das man
noch mehr zu betrügen beabsichtigt, um sie schließlich gänzlich zu
vernichten. In die Sache selbst kann ich mich nicht einmischen, doch
mittelbar, durch das Duell, kann ich es tun. Wenn man mich totschießt
und mein Blut vergossen wird, wird sie dann wirklich über meine Leiche
schreiten und mit dem Sohne meines Mörders zum Altare gehen, wie jene
Zarentochter über die Leiche ihres Vaters schritt? Ja, und schließlich,
wenn es zum Duell kommen wird, so werden unsere Fürsten die Ehe selbst
nicht mehr wünschen. Kurz, ich wünsche diese Ehe auf keinen Fall und
werde alles tun, um sie zu verhindern. Hast du mich jetzt verstanden?“

„Nein. Wenn Sie Natascha Gutes wünschen, warum wollen Sie dann ihre Ehe
verhindern, nur sie allein kann ihren guten Namen wieder herstellen. Sie
hat noch ein langes Leben vor sich. Sie braucht ihren guten Namen
wieder.“

„Auf die Meinung der Welt sollte sie spucken, das müßte ihre Gesinnung
sein! Sie sollte erkennen, daß die größte Schmach für sie diese Ehe
wäre, die Verbindung mit diesem gemeinen Menschen und dieser
jämmerlichen Gesellschaft. Stolz – das müßte ihre Antwort an die
Gesellschaft sein! Dann würde auch ich ihr wieder meine Hand reichen und
dann wollen wir sehen, wer es wagen wird, mein Kind zu beschimpfen!“

Dieser maßlose Idealismus machte mich staunen. Doch ich erriet, daß der
Alte in diesem Augenblick außer sich war und jeder kühlen Berechnung
unfähig.

„Das ist zu ideal, und einfach grausam. Sie verlangen von ihr Kräfte,
die Sie ihr als Vater bei ihrer Geburt vielleicht nicht gegeben haben.
Und willigt sie denn in diese Ehe ein, nur um Gräfin zu werden? Sie
liebt doch; es ist Leidenschaft; es ist ihr Verhängnis. Und schließlich
verlangen Sie von ihr Verachtung der gesellschaftlichen Meinung und
beugen sich selbst vor dieser Meinung. Der Fürst hat Sie öffentlich
verdächtigt, durch Betrug zu seinem fürstlichen Hause in Beziehung
treten zu wollen und Sie denken: wenn sie jetzt diesen formellen Antrag
ausschlägt, so ist das die beste Widerlegung aller früheren
Klatschereien. Das ist es, was Sie wollen, Sie wollen dem Fürsten
beweisen, daß er sich geirrt hat. Sie wollen ihn in eine lächerliche
Lage bringen, wollen sich an ihm rächen und opfern dafür das Glück Ihrer
Tochter. Ist denn das kein Egoismus?“

Der Alte saß lange finster und mürrisch da und sagte kein Wort.

„Du bist gegen mich ungerecht, Wanjä,“ sagte er endlich langsam, und
Tränen glänzten in seinen Augen – „ich schwöre es dir, daß du gegen mich
ungerecht bist, doch lassen wir das! Ich kann vor dir nicht mein Herz
umkehren und ausschütteln,“ fügte er hinzu und griff nach seinem Hut,
„ich sage dir nur eines: du hast soeben vom Glück meiner Tochter
gesprochen. Ich glaube nicht an dieses Glück, außerdem wird diese Ehe
auch ohne mein Zutun niemals zustande kommen.“

„Wieso! Warum glauben Sie das? Haben Sie etwas Besonderes darüber
erfahren?“ rief ich begierig aus.

„Nein, ich weiß nichts Besonderes darüber. Doch dieser verfluchte Fuchs
wird sich niemals dazu entschließen können. Das ist alles Unsinn, das
sind Fallen. Ich bin fest davon überzeugt, denke an meine Worte! Und
zweitens, wenn diese Ehe gegen seinen Willen zustande kommen sollte,
oder wenn dieser Schuft irgendeinen mir unbekannten Vorteil aus dieser
Ehe zu ziehen glaubt – so sage dir doch selbst, frage dein eigenes Herz:
kann sie denn in dieser Ehe glücklich werden? Diese Vorwürfe und
Erniedrigungen, als Freundin des Jungen, der bereits ihre Liebe als
einen Zwang zu empfinden anfängt, und wenn er sie heiratet sie nicht
mehr achten noch hochhalten wird, bei ihr dagegen wird die Leidenschaft
in dem Maße wachsen, in dem seine Liebe abnimmt. Eifersucht, Qualen,
Hölle, vielleicht noch Verbrechen ... nein, Wanjä! Wenn du dabei noch
mithilfst, so wirst du vor Gott verantwortlich werden, und dann wird es
zu spät sein! Lebe wohl!“

Ich hielt ihn zurück.

„Hören Sie, Nikolai Ssergejewitsch, halten wir’s vorläufig so: warten
wir ab. Seien Sie überzeugt, nicht meine Augen allein verfolgen die
Entwicklung dieser Dinge, und vielleicht wird sich alles von selbst zum
besten kehren, ohne künstliche Mittel, wie zum Beispiel dieses Duell.
Die Zeit ist der beste Richter! Und außerdem, erlauben Sie mir, daß ich
Ihnen sage, daß Ihr Projekt sowieso aussichtslos ist. Haben Sie wirklich
auch nur einen Augenblick daran glauben können, daß der Fürst Ihre
Herausforderung annehmen wird?“

„Wieso nicht? Bedenke, was du sagst!“

„Ich schwöre es Ihnen – er würde es nicht tun; und seien Sie überzeugt,
er würde schon ein Mittel finden, es zu rechtfertigen, und Sie werden
der Blamierte sein ...“

„Aber, Wanjä, besinne dich doch, was du sagst! Wie kann er es denn
überhaupt – nicht annehmen? Nein Wanjä, du bist einfach ein Dichter: ein
echter Dichter! Du glaubst doch nicht etwa, daß ich nicht
satisfaktionsfähig bin? Ich bin doch nicht schlechter als er! Ich bin
fast ein Greis, bin der beleidigte Vater; du, mein Sekundant, ein
russischer Schriftsteller, der Anspruch auf höhere Achtung erheben kann,
und ... und ... Ich wüßte nicht, was noch nötig wäre ...“

„Nun, Sie werden sehen. Er wird mit solchen Gründen kommen, daß Sie
selbst, Sie zuerst Ihre Forderung zurückziehen werden.“

„Hm! ... nun gut, mein Freund, mag es so sein, wie du es denkst. Ich
werde warten, bis zu einem gewissen Zeitpunkt, versteht sich. Wollen wir
abwarten. Doch noch eines: gib mir dein Ehrenwort, daß du weder dort,
noch Anna Andrejewna ein Wort von unserem Gespräch mitteilst.“

„Selbstverständlich.“

„Zweitens, tue mir den Gefallen, Wanjä, niemals mehr darüber mit mir zu
sprechen.“

„Gut, ich gebe Ihnen mein Wort.“

„Und schließlich noch eine Bitte: ich weiß, mein Lieber, daß du es bei
uns vielleicht langweilig hast, doch besuche uns trotzdem des öfteren.
Meine arme Anna Andrejewna hat dich so lieb und ... und ... ohne dich
grämt sie sich ... du verstehst, Wanjä?“

Er drückte mir fest die Hand. Ich gab ihm von ganzem Herzen das
Versprechen.

„Und jetzt, Wanjä, noch eine peinliche Frage: hast du Geld?“

„Geld!“ wiederholte ich voll Verwunderung.

„Ja,“ der Alte errötete und schlug die Augen nieder, „für deine Wohnung
... und für deine Bedürfnisse ... und dann, denke ich, daß du noch
besondere Ausgaben haben könntest (besonders zu dieser Zeit) ... siehst
du, da dachte ich – hundertfünfzig Rubel auf alle Fälle ...“

„Hundertfünfzig Rubel, jetzt, wo Sie den Prozeß verloren haben!“

„Wanjä, ich sehe, daß du mich gar nicht verstehen willst! Auf alle
Fälle, verstehe doch. In manchem Falle bedeutet Geld haben,
Unabhängigkeit der Lage, Unabhängigkeit des Entschlusses. Vielleicht
hast du in diesem Augenblick kein Geld nötig, bewahre es auf für den
Fall, wo du es nötig haben könntest! Wenigstens behalte es bei dir. Das
ist alles, was ich dir geben kann. Wenn du es nicht brauchen wirst,
kannst du es mir zurückgeben. Und jetzt lebe wohl! Mein Gott, wie du
erschöpft bist! Ja, du bist ja ganz krank ...“

Ich erwiderte nichts und nahm das Geld. Es war ja nur zu deutlich, wozu
er es mir überließ.

„Ich kann mich kaum auf den Füßen halten,“ antwortete ich ihm.

„Nimm dich in acht, Wanjä, mein Lieber, nimm dich in acht! Gehe heute
nicht mehr aus. Ich werde Anna Andrejewna sagen, wie du dich befindest.
Hast du nicht den Doktor nötig? Ich werde mich morgen nach dir
erkundigen; wenigstens werde ich mich bemühen, es zu tun, wenn ich mich
nur selbst noch auf den Füßen halten kann. Lege dich jetzt hin ... Lebe
wohl. Adieu Kleine! Hörst du, Wanjä, hier sind noch fünf Rubel für das
Kind. Sage ihr nicht, daß ich sie dir gegeben habe. Gib sie für sie aus.
Kaufe ihr Stiefelchen, Wäsche, was sie brauchen kann! Leb’ wohl, mein
Lieber ...“

Ich begleitete ihn bis zur Tür. Ich mußte den Hausknecht nach Essen
schicken. Helene hatte noch nichts genossen.


                                  XI.

Kaum war ich wieder zurückgekehrt, als ich das Bewußtsein verlor und
mitten im Zimmer hinstürzte. Ich hörte noch Helene aufschreien und
herbeistürzen, um mich zu halten ...

Als ich wieder zur Besinnung kam, lag ich im Bett. Helene erzählte mir
nachher, daß sie mich zusammen mit dem Hausknecht, der das Essen
gebracht hatte, auf den Diwan gelegt. Jedesmal, wenn ich aufwachte, sah
ich das besorgt über mich gebeugte Gesicht Helenens. Doch dessen
erinnere ich mich nur noch wie im Traum, wie durch Nebel. Das liebe
Gesichtchen des kleinen Mädchens tauchte wie eine Erscheinung vor mir
auf, wie ein Bild; sie reichte mir Wasser, legte mir die Bettdecke
zurecht, und saß traurig und erschrocken neben mir, hin und wieder mit
den Händchen mir über die Haare streichend. Ich erinnere mich auch,
einmal ihren leisen Kuß auf meiner Stirn gefühlt zu haben. Ein andermal,
als ich plötzlich in der Nacht erwachte, bemerkte ich beim Scheine des
herabgebrannten Lichtstumpfs, das auf dem neben den Diwan gerückten
Tisch stand, Helenes blasses und erschrockenes Gesichtchen neben mir auf
dem Kissen ruhen: sie hatte ihr Gesichtchen in ihre Hand gelegt und die
bleichen Lippen waren halb geöffnet. Doch erwachte ich erst vollständig
gegen Morgen. Das Licht war ausgebrannt; ein heller, rosafarbener
Morgensonnenstrahl spielte auf der Tapete. Helene saß auf dem Stuhl vor
dem Tisch, hatte ihr müdes Köpfchen auf den linken Arm gelegt und
schlief fest. Ich sah in ihr vom Schlafe gerundetes Kindergesicht, das
auch im Schlafe seinen kindlich-traurigen Ausdruck nicht verloren hatte,
dabei von sonderbarer, krankhafter Schönheit war; die langen Wimpern
lagen wie dunkle Strahlen auf ihren blassen Wangen, die umrahmt wurden
vom dunklen Flaum ihrer Haare. Die andere Hand lag auf meinem Kissen.
Ich küßte leise, leise das magere Händchen, sie erwachte nicht davon,
doch schien im Schlaf ein leises Lächeln über ihre Lippen zu huschen.
Ich sah sie an und endlich war ich dann wieder in tiefen, gesunden
Schlaf verfallen. Diesmal schlief ich bis zum Nachmittag. Als ich
erwachte, fühlte ich mich fast ganz gesund, nur eine gewisse Schwäche
und Schwere in allen Gliedern wies auf den überstandenen Anfall hin.
Ähnliche nervöse Erscheinungen hatten sich auch schon früher bei mir
gemeldet: ich kannte sie nur zu gut. Die Krankheit selbst verließ mich
gewöhnlich in vierundzwanzig Stunden wieder, was natürlich nicht
hinderte, daß sie in diesen vierundzwanzig Stunden sehr heftig und
bedrohlich auftrat.

Es war also schon Nachmittag. Das erste, was mir in die Augen fiel,
waren die gestern von mir gekauften Vorhänge, die auf einer Schnur
aufgezogen die eine Ecke vom Zimmer abschlossen. Dort hatte Helene sich
ihren Winkel zurecht gemacht. In diesem Augenblick stand sie am Ofen und
kochte Tee. Als sie bemerkte, daß ich erwacht, lächelte sie heiter und
kam zu mir.

„Meine liebe Freundin,“ sagte ich zu ihr und ergriff ihre Hand, „du hast
die ganze Nacht an meinem Bette gewacht. Ich wußte nicht, daß du ein so
gutes Herz hast.“

„Woher wissen Sie es denn, daß ich gewacht habe; ich habe vielleicht im
Gegenteil die ganze Nacht geschlafen?“ sie sah mich schelmisch und
herausfordernd an, zu gleicher Zeit errötete sie aber bei ihren Worten.

„Ich habe alles gesehen. Erst gegen Morgen bist du eingeschlafen ...“

„Wollen Sie Tee?“ unterbrach sie mich, als wäre es ihr unangenehm, das
Gespräch fortzusetzen, wie es keuschen Menschen eigen ist, die sich
nicht loben hören können.

„Ich bitte,“ antwortete ich. „Hast du gestern abend gegessen?“

„Ja, ich habe zu Abend gegessen. Der Hausknecht brachte das Essen. Doch
sprechen Sie lieber nicht so viel, bleiben Sie ruhig liegen. Sie sind
noch nicht gesund,“ fügte sie hinzu. Sie reichte mir den Tee und setzte
sich zu mir ans Bett.

„Liegen bleiben? Übrigens ja, bis zur Dämmerstunde bleibe ich liegen,
doch dann muß ich ausgehen. Ich muß es tun, Lenotschka.“

„Ist es denn wirklich nötig! Zu wem müssen Sie denn? Doch nicht zum
Alten von gestern?“

„Nein, nicht zu ihm.“

„Das ist gut, daß Sie nicht zu ihm müssen. Er hat Sie gestern so
aufgeregt. Dann gehen Sie wohl zu seiner Tochter?“

„Was weißt du denn von seiner Tochter?“

„Ich habe doch gestern alles gehört.“ Sie senkte den Kopf und zog
finster die Brauen zusammen.

„Er ist ein schlechter Alter,“ fügte sie darauf hinzu.

„Kennst du ihn denn? Im Gegenteil, er ist ein sehr guter Mensch.“

„Nein, nein, er ist böse; ich habe es gehört,“ antwortete sie gereizt.

„Ja, was hast du denn gehört?“

„Er will seiner Tochter nicht vergeben ...“

„Aber er liebt sie. Sie hat ihn gekränkt, er aber sorgt für sie, quält
sich um sie.“

„Warum verzeiht er ihr aber nicht? Wenn er ihr später verzeihen sollte,
so wird die Tochter nicht mehr zu ihm gehen.“

„Wieso? Warum nicht?“

„Weil er es nicht wert ist, daß seine Tochter ihn lieb hat,“ antwortete
sie erregt. „Soll sie ihn lieber auf immer verlassen, soll sie lieber
betteln gehen, als zu ihm zurückkehren; er soll nur allein bleiben und
sich quälen.“

Ihre Augen funkelten, ihre Wangen brannten. „Sicher hat sie einen Grund,
wenn sie so spricht,“ dachte ich bei mir.

„Und Sie wollten mich zu ihm ins Haus geben?“ fügte sie hinzu und
verstummte.

„Ja, Lenotschka.“

„Nein, lieber werde ich dienen gehen.“

„Wie kannst du nur so etwas sagen, Lenotschka! Welch ein Unsinn; wer
würde denn dich engagieren?“

„Jeder Bauer,“ antwortete sie ungeduldig und immer erboster.

Sie schien sehr heftig zu sein.

„Eine solche Arbeiterin kann der Bauer nicht brauchen,“ sagte ich
lachend.

„Nun, dann gehe ich zu einer Herrschaft.“

„Mit deinem Charakter?“

„Mit meinem, jawohl.“

Je mehr sie sich aufregte, desto abgebrochener antwortete sie.

„Du wirst es nicht aushalten.“

„Ich werde es wohl! Man wird mich schimpfen, ich aber werde schweigen.
Man wird mich schlagen, ich aber werde schweigen, schweigen, mögen sie
mich schlagen, ich werde nicht weinen. Sie werden platzen vor Wut, ich
aber werde schweigen.“

„Wie du bist, Helene! Wieviel Verbitterung in dir steckt, und wie stolz
du bist! Viel Leid mußt du erfahren haben ...“

Ich erhob mich und ging an meinen Arbeitstisch. Helene blieb auf dem
Diwan sitzen, sah zu Boden und spielte mit ihren Fingern. Sie schwieg.
„Ob sie sich durch meine Worte gekränkt fühlt?“ dachte ich bei mir.

Mechanisch öffnete ich das Bücherpaket, das ich mir gestern zur Arbeit
mitgebracht hatte, und vertiefte mich allmählich ins Lesen. Das
geschieht bei mir oft so: ich öffne irgendein Buch nur auf einen
Augenblick, fange an zu lesen und vergesse alles.

„Was schreiben Sie immer?“ fragte mit bescheidenem Lächeln Helene, leise
an den Tisch tretend.

„Ach, Lenotschka, allerhand, wofür man mir Geld gibt.“

„Also Bittschriften?“

„Nein, nicht Bittschriften.“

Und ich erklärte ihr, so gut ich’s konnte, daß ich Geschichten über die
Geschicke der verschiedensten Leute schreibe. Daraus entstehen Bücher,
die man Erzählungen oder Romane nennt. Sie hörte mich mit großem
Interesse an.

„Ist das alles Wahrheit, was Sie schreiben?“

„Nein, ich denke es mir aus.“

„Warum schreiben Sie denn die Unwahrheit?“

„Lies doch, dann wirst du sehen, lies dieses Buch; du hast doch schon
einmal in ihm gelesen. Du verstehst doch zu lesen?“

„Ja.“

„Nun, so sieh es dir doch an. Dieses Buch habe ich geschrieben.“

„Sie? Ich werde es lesen ...“

Sie schien mir etwas sagen zu wollen, doch wagte sie es offenbar nicht.
Sie war in großer Erregung. Hinter ihren Fragen steckte etwas.

„Und zahlt man Ihnen viel dafür?“ fragte sie endlich.

„So wie es kommt. Einmal viel, ein andermal – gar nichts, je nachdem. Es
ist eine mühsame Arbeit, Lenotschka.“

„Sie sind also nicht reich?“

„Nein, ich bin nicht reich.“

„Dann werde ich arbeiten und Ihnen helfen ...“

Sie blickte flüchtig zu mir auf, errötete, und schlug wieder schnell die
Augen nieder. Plötzlich trat sie auf mich zu und schlang ihre beiden
Ärmchen um mich und preßte ihr Köpfchen fest, fest an meine Brust.

„Ich habe Sie lieb ... ich bin nicht stolz, Sie sagten gestern, daß ich
stolz sei. Nein, nein ... ich bin nicht so ... ich liebe Sie, und Sie
allein lieben mich ...“

Die Tränen erstickten sie. Ein Schluchzen entriß sich ihrer Brust und
durchschüttelte sie mit solcher Gewalt, wie bei ihrem letzten Anfall.
Sie fiel vor mir auf die Kniee, küßte meine Hände, meine Füße ...

„Nur Sie lieben mich! ...“ wiederholte sie, „nur Sie allein, allein!
...“

Sie preßte meine Kniee an sich. Alle ihre Gefühle, die sie lange
zurückgehalten, überwältigten sie in diesem Augenblick und ich begriff,
wie sie durch die Hartnäckigkeit ihres Herzens bis jetzt alles
niedergekämpft hatte, und zwar, je stürmischer das Verlangen ihres
Herzens gewesen, desto hartnäckiger, bis dann endlich der Augenblick
gekommen war, wo sich ihr ganzes Wesen bis zur Selbstvergessenheit der
Liebe, der Dankbarkeit, der Zärtlichkeit und dieser Erlösung in Tränen
hingab.

Sie schluchzte so heftig, daß sie schließlich in einen richtigen
Weinkrampf verfiel. Mit Mühe löste ich ihre Hände von meinen Knien und
trug sie auf den Diwan. Sie begrub ihren Kopf in die Kissen, als schäme
sie sich, mich anzusehen und schluchzte still weiter; meine Hand aber
hielt sie noch lange mit ihren kleinen Händchen und preßte sie an ihr
Herz.

Endlich beruhigte sie sich allmählich, doch ihr Gesicht hielt sie noch
immer versteckt. Hin und wieder streifte mich nur ein flüchtiger Blick,
in dem so viel Weichheit und ein ängstlich verhaltenes Gefühl lag, und
plötzlich lächelte sie wieder.

„Ist es dir nun leichter, mein liebes, krankes Kind, meine kleine
Lenotschka!“

„Nicht Lenotschka ...“ flüsterte sie und versteckte wieder ihr
Gesichtchen.

„Nicht Lenotschka? Wie denn?“

„Nelly.“

„Nelly? Warum denn gerade Nelly? Das ist ja ein sehr netter Name. Wenn
du willst, kann ich dich so rufen.“

„So rief mich meine Mutter ... Niemand sonst nannte mich so, nur sie ...
und ich würde es auch niemand erlauben, außer Mama ... nur Sie sollen
mich so nennen, ich will es ... Ich werde Sie immer lieben, immer lieben
...“

„Was für ein kleines stolzes Herz,“ dachte ich, „wie lange mußte ich
mich darum mühen, bis es mich lieb gewann.“

Doch jetzt wußte ich, daß dieses Herz mir auf immer ergeben war.

„Höre, Nelly,“ fragte ich sie, als sie sich gänzlich beruhigt hatte, „du
sagst, daß dich außer deiner Mama niemand lieb gehabt hat. Und dein
Großpapa, liebte er dich denn gar nicht?“

„Nein, er liebte mich nicht ...“

„Du hast aber doch hier über ihn geweint, hier, auf der Treppe,
erinnerst du dich?“

Sie dachte einen Augenblick nach.

„Nein, er liebte mich nicht ... Er war böse.“

Ein schmerzlicher Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.

„Von ihm konnte man es auch nicht mehr verlangen, Nelly. Er hatte
bereits sein Gedächtnis verloren. Ich habe dir doch erzählt, wie er
starb.“

„Ja; doch war er nur im letzten Monat so vergeßlich. Er saß hier den
ganzen Tag, und wenn ich nicht zu ihm gekommen wäre, so würde er noch
den dritten Tag so gesessen haben, ohne zu trinken, ohne zu essen. Doch
früher war er viel besser.“

„Wann war das?“

„Als Mama noch lebte.“

„Also warst du es, die ihm zu trinken und zu essen brachte, Nelly?“

„Ja, ich brachte ihm ...“

„Wo nahmst du es denn, von der Bubnowa?“

„Nein, ich habe niemals etwas von der Bubnowa genommen,“ ihre Stimme
hatte plötzlich einen harten, gesprungenen Klang.

„Woher hast du es denn genommen, du besaßest doch nichts?“

Nelly schwieg und erbleichte; sie sah mich darauf mit langem, fragendem
Blick an.

„Ich habe auf der Straße gebettelt ... Hatte ich fünf Kopeken, so kaufte
ich ihm Brot und Schnupftabak ...“

„Und er ließ es zu ... Nelly, Nelly!“

„Zuerst tat ich es, ohne ihm etwas davon zu sagen. Als er es aber
erfuhr, schickte er selbst mich betteln. Ich bettelte auf der Brücke und
er wartete auf mich in der Nähe; sowie er es sah, daß man mir Geld gab,
stürzte er sich auf mich und nahm mir das Geld fort, als hätte ich es
vor ihm verstecken wollen, oder als bettelte ich nicht für ihn.“

Um ihren Mund spielte ein bitteres Lächeln.

„Das geschah alles erst, als Mama starb,“ fügte sie hinzu. „Erst nach
ihrem Tode wurde er so – sonderbar.“

„Folglich muß er deine Mutter sehr geliebt haben? Warum lebtet ihr denn
nicht alle zusammen?“

„Nein, er liebte sie nicht ... Er war böse und hat ihr nicht verziehen
... ganz wie der böse Alte von gestern,“ sagte sie leise, fast flüsternd
und erblaßte.

Ich fuhr zusammen: Die verwickelten Fäden eines ganzen Romans lösten
sich in meiner Phantasie. Diese arme Frau, die bei einem Sargmacher im
Keller gestorben: die Tochter, eine Waise, die den Alten, der ihre
Mutter verfluchte, teilweise unterhielt; und der geistesabwesende alte
Sonderling, der auf dem Wege von der Konditorei gleich nach seinem Hunde
gestorben war! ...

„Asorka gehörte ja früher Mama,“ sagte sie plötzlich, wie in Erinnerung
lächelnd. „Großpapa liebte Mama früher sehr und als Mama ihn verließ,
blieb Asorka bei ihm. Deshalb liebte er Asorka so sehr ... Mama verzieh
er nicht, als aber Asorka starb, ist er auch gestorben,“ fügte Nelly
hart hinzu und das Lächeln in ihrem Gesicht verschwand.

„Was war er eigentlich früher gewesen?“ fragte ich sie, nach einer
längeren Pause.

„Er war sehr reich ... Ich weiß nicht, wer er war,“ antwortete sie. „Er
hatte eine Fabrik ... So sagte Mama. Anfangs glaubte sie, ich sei so
klein und verstünde von alledem nichts. Sie küßte mich immer und sagte
zu mir: wenn die Zeit kommt, wirst du alles erfahren, mein armes, mein
unglückliches Kind! Immer nannte sie mich arm und unglücklich. Und in
der Nacht, wenn sie glaubte, daß ich schliefe (ich stellte mich so an,
als ob ich schliefe) weinte sie über mich, küßte mich leise und sagte
immer Armes, Unglückliches!“

„Woran ist deine Mutter gestorben?“

„An der Schwindsucht; vor sechs Wochen etwa.“

„Erinnerst du dich noch der Zeit, da dein Großvater reich war?“

„Damals war ich doch noch gar nicht geboren. Mama hatte doch schon vor
meiner Geburt Großpapa verlassen.“

„Mit wem war sie denn fortgegangen?“

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Nelly leise und nachdenklich. „Sie ging
ins Ausland, dort wurde ich geboren.“

„Im Auslande? Wo?“

„In der Schweiz. Ich bin überall gewesen, in Italien war ich, in Paris.“

Ich staunte.

„Und du erinnerst dich, Nelly?“

„Vieles ist mir im Gedächtnis geblieben.“

„Wie hast du denn so gut Russisch sprechen gelernt, Nelly?“

„Mama sprach auch schon dort mit mir Russisch. Sie war Russin, denn ihre
Mutter war Russin, Großpapa aber war Engländer von Geburt, doch auch
ganz Russe. Als wir dann vor anderthalb Jahren hierher zurückkehrten,
sprachen wir nur Russisch. Mama war damals schon krank. Wir wurden immer
ärmer und ärmer. Mama weinte immer. Sie suchte hier nach Großpapa und
sagte immer, sie sei vor ihm schuldig und weinte ... Sie weinte so sehr,
so sehr! Als sie erfuhr, daß Großpapa ganz verarmt war, da weinte sie
noch mehr. Sie schrieb ihm oft Briefe, er aber antwortete nicht.“

„Warum kehrte sie denn hierher zurück? Nur Großpapas wegen?“

„Ich weiß es nicht. Dort lebten wir so gut!“ und Nellys Augen glänzten.
„Mama lebte mit mir allein. Sie hatte einen Freund, der war so gut wie
Sie ... Er kannte sie schon hier. Doch er starb dort und Mama kehrte
hierher zurück ...“

„Also hatte sie seinetwegen Großpapa verlassen?“

„Nein, nicht seinetwegen. Mit einem anderen, der sie verlassen hat ...“

„Mit wem denn, Nelly?“

Nelly sah mich an und antwortete mir nichts. Offenbar wußte sie, wer ihr
Vater war. Doch fiel es ihr schwer, mir seinen Namen zu nennen.

Ich wollte sie auch nicht mehr ausfragen. Sie war ein sonderbarer
Charakter, nervös und heftig, der sich selbst immer bekämpfte,
sympathisch, doch stolz und unzugänglich. Die ganze Zeit über, seit ich
sie kannte, und trotzdem sie mich sicher von ganzem Herzen liebte, mit
einer Liebe, die fast so groß und stark war, wie die zu ihrer
verstorbenen Mutter, war sie mir gegenüber doch so verschlossen, daß sie
nicht das Bedürfnis empfand, mir von ihrer Vergangenheit zu erzählen,
sondern im Gegenteil alles vor mir zu verbergen suchte. Nur an diesem
einen Tage, in diesen Stunden teilte sie mir alles zwischen Tränen und
Schluchzen mit, was sie am meisten in ihrer Erinnerung quälte und
niemals werde ich ihre grauenvolle Erzählung vergessen. Doch ihre ganze
Lebensgeschichte steht uns noch bevor.

Wie furchtbar war diese Erzählung; die Geschichte einer verlassenen
Frau, die ihr Glück überlebt hatte; krank, gequält und von allen
verlassen; selbst von ihrem nächsten Menschen, auf den sie gehofft, von
ihrem Vater, den sie verlassen und der gequält von unendlichem Leid und
Erniedrigungen den Verstand verloren. Diese Geschichte einer Frau, die
zur Verzweiflung gebracht, mit ihrem kleinen Töchterchen, das sie noch
für ein Kind hielt, in den kalten, schmutzigen Petersburger Straßen
herumging, um Almosen zu bitten; eine Frau, die monatelang in einem
feuchten Keller mit dem Tode rang, während der Vater ihr bis zum letzten
Augenblick ihres Lebens die Vergebung nicht gewährte, und die er dann,
als er sich endlich besann und zu seinem über alles in der Welt
geliebten Kinde eilte, als Leiche vorfand. Es war eine wunderliche
Erzählung, von geheimnisvollen, fast unverständlichen Beziehungen
zwischen einem geistesabwesenden Alten und seiner kleinen Enkelin, die
ihn verstand, und trotz ihres frühen Alters vieles kannte, was andere in
langen Jahren ihres ruhig dahinfließenden sorglosen Lebens nicht kennen
lernen. Es war eine dieser dunklen und qualvollen Lebensgeschichten, die
fast unmerklich, fast geheimnisvoll unter dem schweren, trüben
Petersburger Himmel sich abspielen, in den dunklen Ecken und verborgenen
Winkeln dieser Großstadt, inmitten des Wirrsals unnatürlichen
Lebensgenusses, stumpfen Egoismus’, aufeinanderstoßender Interessen,
unheimlichen Lasters, geheimer Verbrechen, inmitten eines Höllenpfuhles
sinnlosen Lebens ...

Doch diese Geschichte steht uns noch bevor ...




                              Dritter Teil


                                   I.

Schon längst hatte die Dämmerung begonnen und der Abend war bereits
hereingebrochen, als ich aus einem schweren Traum erwachte und mir der
ganzen Gegenwart und Wirklichkeit bewußt wurde.

„Nelly,“ sagte ich zu ihr, „du bist krank und niedergeschlagen und ich
muß dich in diesem Zustande allein lassen. Doch du wirst mir vergeben,
mein Kind, wenn ich dir sage, daß ein unglückliches, verlassenes und von
mir geliebtes Wesen mich erwartet ... ja – sie erwartet mich ... und ich
habe keine Ruhe, ich kann mich nicht überwinden, ich muß sie sofort
sehen ...“

Ich weiß nicht, ob Nelly verstanden hatte, was ich ihr sagte. Meine
Nerven waren durch meine Krankheit und durch Nellys Erzählung dermaßen
erregt, daß ich sofort, von Sorgen getrieben, und ohne mich weiter um
Nelly zu kümmern, zu Natascha eilte. Es war schon spät, gegen neun Uhr
abends, als ich bei ihr eintrat.

Noch auf der Straße, am Haustor, hatte ich eine Equipage bemerkt, die
mir diejenige des Fürsten zu sein schien. Der Eingang zu Nataschas
Wohnung ging vom Hof aus. Kaum als ich die Stiege betreten hatte, hörte
ich vor mir, eine Treppe höher, einen Menschen sich vorsichtig
hinauftasten, und zwar ganz wie einer, dem die Treppe fremd war. Ich
dachte zuerst, es sei der Fürst, doch schien es mir schon bald darauf,
daß ich mich getäuscht hatte, denn der Unbekannte vor mir schimpfte und
verfluchte seinen Weg mit Worten, die um so gemeiner wurden, je höher er
stieg. Freilich war die Treppe eng, schmutzig, steil, kaum erleuchtet,
doch mußte ich die Flüche dieses Menschen eher einem Fuhrkerl als einem
Fürsten zutrauen. Der dritte Stock war hell erleuchtet: vor Nataschas
Tür brannte immer eine kleine Lampe. Ich holte den Unbekannten kurz vor
ihrer Tür ein und – wie groß war meine Verwunderung, als ich in ihm doch
den Fürsten erkannte. Es schien, daß ihn dieses Zusammentreffen mit mir
sehr unangenehm berührte. Im ersten Augenblick erkannte er mich nicht,
doch plötzlich veränderte sich sein Gesicht vollkommen. Sein kurzer
wütender Blick auf mich wurde heiter und freundlich und mit
außerordentlicher Liebenswürdigkeit streckte er mir seine beiden Hände
entgegen.

„Ach, das sind Sie! Ich wollte schon Gott um die Errettung meines Lebens
anflehen. Haben Sie gehört, wie ich fluchte?“

Und er lachte herzlich, auf die allerungezwungenste Weise. Doch
plötzlich verfinsterte sich sein Gesicht wieder und nahm einen besorgten
Ausdruck an.

„Aljoscha konnte Natalja Nikolajewna in dieser Wohnung unterbringen!“
sagte er bedenklich den Kopf schüttelnd. „Diese sogenannten
Kleinigkeiten kennzeichnen den Menschen. Ich fürchte für ihn ... Er ist
gut, er hat ein edles Herz, doch da haben Sie ein Beispiel: diejenige,
die er über alles liebt, bringt er in einer Hundehütte unter. Ich hörte
sogar, sie hätte oft nichts zu essen gehabt,“ fügte er flüsternd hinzu,
mit der Hand nach der Klingel tastend. „Mir brummt der Schädel, wenn ich
an seine Zukunft denke und hauptsächlich an die Zukunft Anna
Nikolajewnas, wenn sie seine Frau wird ...“

Er hatte sich im Namen geirrt und vor Ärger darüber, daß er die Klingel
nicht finden konnte, dies gar nicht bemerkt. Eine Klingel gab es nicht.
Ich drückte auf die Türklinke und Mawra öffnete sofort, sich höflich
verneigend. In der Küche, die von dem kleinen Vorzimmer durch eine
Bretterwand geschieden war, bemerkte man die getroffenen Vorbereitungen;
alles in ihr war außergewöhnlich sauber. Im Ofen brannte Feuer, auf dem
Tisch stand neues Geschirr. Offenbar hatte man uns erwartet.

„Ist Aljoscha hier?“ fragte sie der Fürst, als sie uns die Mäntel
abnahm.

„Er ist nicht hier gewesen,“ flüsterte sie mir auf die Frage
geheimnisvoll zu.

Wir betraten Nataschas Zimmer. In ihrem Zimmer war von besonderen
Vorbereitungen nichts zu bemerken. Bei ihr war es übrigens immer so
sauber und anheimelnd, daß es besonderer Vorbereitungen gar nicht
bedurfte. Natascha empfing uns an der Tür. Ich war erschrocken über ihr
elendes Aussehen, über ihre krankhafte Blässe, obgleich in diesem
Augenblick leichte Röte in ihre Wangen stieg. Ihre Augen glänzten
fieberhaft. Sie schwieg und reichte ein wenig verlegen dem Fürsten
hastig die Hand. Mich schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Ich stand
und wartete schweigend.

„Da bin ich!“ begann der Fürst freundschaftlich und heiter. „Vor ein
paar Stunden bin ich zurückgekehrt, und die ganze Zeit über habe ich an
Sie gedacht (er küßte zärtlich ihre Hand). Viel, sehr viel habe ich
Ihnen zu sagen ... Doch davon später! Mein Taugenichts ist noch nicht
hier, wie ich sehe ...“

„Erlauben Sie, Fürst,“ unterbrach ihn Natascha etwas verwirrt, „ich habe
Iwan Petrowitsch ein paar Worte zu sagen. Wanjä komm ... einen
Augenblick.“

Sie nahm mich an der Hand und führte mich hinter den Vorhang.

„Wanjä,“ sagte sie halblaut, und sie führte mich in den allerdunkelsten
Winkel, „wirst du mir verzeihen, oder nicht?“

„Was hast du, Natascha?“

„Nein, nein, Wanjä, du hast mir zu oft, zu viel vergeben, auch deine
Geduld muß einmal ein Ende nehmen. Du wirst mich niemals aufhören zu
lieben, doch du wirst mich undankbar nennen, denn gestern und vorgestern
bin ich dir gegenüber undankbar, egoistisch und schlecht gewesen ...“

Sie brach plötzlich in Tränen aus und preßte ihr Gesicht an meine
Schulter.

„Laß gut sein, Natascha,“ beeilte ich mich, sie zu beruhigen. „Ich war
gestern, die ganze Nacht hindurch, sehr krank und kann mich auch jetzt
kaum auf den Füßen halten, daher bin ich gestern abend und heute den Tag
über nicht bei dir gewesen, und du glaubtest vielleicht, daß ich dir
etwas nachtrüge ... Meine liebe Natascha, weiß ich denn nicht, was jetzt
in deiner Seele vorgeht?“

„Nun, dann ist ja alles gut ... Also hast du mir wieder verziehen, wie
immer,“ sie lächelte unter Tränen und drückte mir schmerzhaft die Hand.
„Alles übrige später. Ich habe dir viel zu sagen, Wanjä, doch jetzt zu
ihm.“

„Schnell, Natascha, wir haben ihn so plötzlich verlassen ...“

„Du wirst sehen, du wirst sehen, was geschehen wird,“ flüsterte sie mir
noch schnell zu. „Ich weiß jetzt alles; ich habe alles erraten. An allem
ist nur _er_ schuld. Dieser Abend wird alles entscheiden. Gehen wir!“

Ich begriff nichts, doch fragen konnte ich sie nicht mehr. Natascha ging
mit heiterem Lächeln auf den Fürsten zu, der noch immer mit dem Hut in
der Hand dastand. Sie entschuldigte sich, nahm ihm den Hut ab und wies
ihm einen Stuhl an. Wir setzten uns alle drei rund um ihren Tisch.

„Ich erwähnte vorhin meinen Sohn,“ fuhr der Fürst fort, „ich sah ihn nur
einen Augenblick auf der Straße, als er sich anschickte, zur Gräfin
Zinaida Fedorowna zu fahren. Er hatte es furchtbar eilig, stellen Sie
sich vor, er wollte nicht einmal ins Haus kommen, um mich nach vier
Tagen Trennung zu begrüßen. Übrigens bin auch ich schuld daran, Natalja
Nikolajewna, wenn er jetzt noch nicht hier ist, ich benutzte die
Gelegenheit, um ihm an die Gräfin einen Auftrag zu übergeben, da ich sie
heute selbst nicht mehr aufsuchen konnte. Er muß sicher jeden Augenblick
erscheinen.“

„Er hat Ihnen also versprochen, heute bestimmt zu kommen?“ fragte
Natascha den Fürsten in der allerungezwungensten Weise.

„Ach, mein Gott, wie sollte er denn heute nicht kommen ... wie
eigentümlich Sie fragen!“ rief er erstaunt aus. „Übrigens, ich begreife,
Sie sind ihm böse. Es ist in der Tat nicht schön von ihm, später als
alle anderen zu kommen. Doch ich wiederhole es: ich bin schuld daran.
Seien Sie ihm nicht böse. Er ist leichtsinnig und unbeständig; ich will
ihn nicht entschuldigen, doch einige besondere Umstände verlangen es,
daß er das Haus der Gräfin nicht meidet, und verschiedene Verbindungen
nicht aufgibt, sondern im Gegenteil, so oft als möglich überall
erscheint. Er, der jetzt, aller Wahrscheinlichkeit nach, nur bei Ihnen
sich aufhält und alle Welt vergißt, muß mit Ihrer Erlaubnis, hin und
wieder auch seinen Verpflichtungen nachkommen. Ich bin überzeugt, daß er
seit dem Abend nicht ein einziges Mal bei der Gräfin A. gewesen ist, es
tut mir leid, daß ich ihn vorhin nicht darnach habe fragen können! ...“

Ich blickte auf Natascha, die dem Fürsten mit halbironischem Lächeln
zuhörte. Er aber sprach davon so selbstverständlich, so natürlich, es
war scheinbar nicht möglich, ihn irgend einer besonderen und falschen
Absicht zu verdächtigen.

„Und Sie wissen es wirklich nicht, daß er in all diesen Tagen kein
einziges Mal bei mir gewesen ist?“ fragte ihn Natascha mit leiser,
ruhiger Stimme, als hätte sie von einer ihr allergleichgültigsten
Angelegenheit gesprochen.

„Wie! Kein einziges Mal bei Ihnen gewesen? Erlauben Sie, was sagen Sie?“
rief der Fürst in scheinbar außergewöhnlicher Verwunderung.

„Sie waren Dienstag, spät abends, bei mir. Am nächsten Morgen war er
eine halbe Stunde hier, seit der Zeit habe ich ihn nicht wiedergesehen.“

„Das ist doch unmöglich!“ (Sein Erstaunen wuchs immer mehr und mehr.)
„Ich dachte, er hat Sie in diesen Tagen überhaupt nicht verlassen.
Entschuldigen Sie, das ist zu sonderbar ... das ist einfach unmöglich.“

„Indessen, ist es so ... leider; ich habe Sie deshalb erwartet, und
glaubte von Ihnen zu erfahren, wo er sich befindet?“

„Mein Gott! Er muß sofort kommen! Was Sie mir soeben sagen, setzt mich
dermaßen in Erstaunen, daß ich ... ich gestehe es, alles andere von ihm
erwartet hätte als dieses ... dieses! ...“

„Wie erstaunt Sie sind! Und ich dachte, es würde Sie gar nicht
verwundern, sondern Sie hätten im voraus wissen müssen, daß es so sein
würde.“

„Wissen müssen! Ich? Ich versichere Ihnen, Natalja Nikolajewna, daß ich
ihn heute nur einen Augenblick gesehen habe, ich weiß nichts von ihm;
und sonderbarerweise, scheinen Sie es mir nicht zu glauben,“ fügte er
hinzu, uns beide ansehend.

„Gott bewahre,“ griff Natascha auf, „ich bin durchaus überzeugt, daß Sie
die Wahrheit sagen.“

Und sie lachte ihm gerade ins Gesicht, so daß er etwas verwirrt und
gekränkt bemerkte:

„Bitte, erklären Sie sich ...“

„Ich habe nichts zu erklären. Ich bemerke nur, daß Sie wissen mußten,
wie leichtsinnig und vergeßlich Ihr Sohn ist. Ihm ist jetzt volle
Freiheit gegeben und er läßt sich von ihr hinreißen.“

„Sich so gehen zu lassen, ist aber doch unmöglich, da muß noch etwas
anderes dahinter stecken; wenn er kommt, werde ich ihn sofort darüber
ausfragen. Doch mich wundert nur, daß Sie mich ... irgendwie anzuklagen
scheinen, während ich doch in der Zeit überhaupt nicht hier gewesen bin.
Im Grunde, Natalja Nikolajewna, scheinen Sie sehr böse auf ihn zu sein
... und das ist nur zu verständlich! Sie haben das Recht dazu ... und
... und ... versteht sich, ich muß als Erster daran schuld sein,
vielleicht auch nur deshalb, weil ich als Erster zurückgekehrt bin;
nicht wahr, so verhält es sich doch?“ fügte er hinzu und wandte sich
dabei mit gereiztem Lächeln an mich.

Natascha fuhr auf.

„Erlauben Sie, Natalja Nikolajewna,“ hub der Fürst mit besonderer Würde
an, „ich gebe zu, daß mich die Schuld trifft, gleich am nächsten Tage
unserer Bekanntschaft abgereist zu sein, so daß Sie bei dem Mißtrauen,
der Ihrem Charakter eigen zu sein scheint, in der kurzen Zeit Ihre
Meinung über mich ändern konnten, wozu die Umstände vielleicht viel
beigetragen haben. Wäre ich nicht fortgereist, so hätten Sie mich besser
kennen gelernt, und Aljoscha wäre unter meiner Aufsicht geblieben. Sie
werden sehen, was ich ihm jetzt zu sagen habe.“

„Das heißt, Sie wollen es dazu bringen, daß er mich als Last zu
empfinden anfängt. Es ist nicht anzunehmen, daß Sie bei Ihrer Klugheit
in der Tat glauben können, mir damit einen Dienst zu erweisen.“

„Sie wollen damit wohl andeuten, daß ich bereits dahin gewirkt habe, daß
er Ihrer überdrüssig geworden? Oh, Sie beleidigen mich, Natalja
Nikolajewna.“

„Ich bemühe mich, mich stets klar und deutlich auszudrücken, wem
gegenüber es auch sei,“ antwortete Natascha. „Ich mache niemals
Andeutungen, sondern sage alles gerade heraus, wovon Sie sich noch heute
überzeugen werden. Ich habe nicht die Absicht, Sie zu beleidigen – wozu
auch? Schon deshalb nicht, weil Sie meinen Worten ja doch keine
Beachtung schenken würden! Davon bin ich durchaus überzeugt, und ich
verstehe unsere beiderseitigen Beziehungen richtig einzuschätzen. Sie
werden sie doch niemals ernst nehmen, nicht wahr? Doch sollte ich Sie
wirklich beleidigt haben, so bin ich sofort bereit, meine Entschuldigung
zu machen, um vor Ihnen die Pflichten der Gastfreundschaft nicht zu
verletzen.“

Ungeachtet des ungezwungenen, fast scherzhaften Tones, in dem Natascha
mit lächelndem Munde diese Worte gesprochen, habe ich sie doch noch nie
in dem Maße erregt gesehen. Jetzt begriff ich, wie weh es ihr in diesen
drei Tagen ums Herz gewesen sein mußte! Ihre rätselhaften Worte: daß sie
jetzt alles erraten und begriffen habe, flößten mir Furcht ein; sie
bezogen sich bestimmt auf den Fürsten. Sie hatte ihre Meinung über ihn
geändert und betrachtete ihn als ihren Feind, – das war offensichtlich.
Sie schrieb seinem Einfluß ihr ganzes Unglück mit Aljoscha zu. Ich
befürchtete den Ausbruch einer heftigen Szene zwischen ihnen. Der
scherzhafte Ton verbarg ihre innere Erregung nicht. Ihre Bemerkungen dem
Fürsten gegenüber, – daß er ihre Beziehungen zueinander nicht ernst
nähme, die Phrase über die Gastfreundschaft, die Drohung, daß sie
geradeheraus die Wahrheit sagen würde – waren so offensichtlich und
herausfordernd, daß sie der Fürst unmöglich nicht bemerken konnte. Ich
sah, wie sich sein Gesicht veränderte, doch gab er sich den Anschein,
als verstände er die Anspielung überhaupt nicht, und er erwiderte
scherzhaft lachend:

„Gott beschütze mich davor, von Ihnen eine Entschuldigung zu fordern!
Ich würde doch _niemals_ von einer Frau eine Entschuldigung verlangen –
noch annehmen!!! Bei meiner ersten Begegnung mit Ihnen, habe ich Sie
bereits vor meinem Charakter gewarnt, seien Sie mir darum, bitte, nicht
böse, wenn ich mir eine Bemerkung über die Frauen erlaube ... Sie werden
mir vielleicht darin zustimmen,“ wandte er sich liebenswürdig an mich.
„Ich habe bei Frauen die Eigenheit bemerkt, daß eine Frau nie ihre
Schuld sofort, im ersten Augenblick, zugeben wird, und wenn sie sie auch
später mit tausend Zärtlichkeiten wieder gut zu machen sucht; im
Augenblick ihrer Handlungsweise jedoch wird sie es niemals tun.
Folglich, wenn Sie mich auch beleidigt haben sollten, so würde ich jetzt
keine Entschuldigung von Ihnen verlangen; für mich ist es vorteilhafter
abzuwarten, bis Sie Ihren Fehler selbst einsehen werden und ihn durch
... tausend Zärtlichkeiten wieder gut zu machen suchen. Sie sind so
jung, rein und gut, daß der Augenblick, in dem Sie bereuen werden, ganz
bezaubernd sein muß. Besser als alle Entschuldigung jedoch wäre es, wenn
Sie mir sagen würden, wodurch ich es Ihnen zeigen soll, daß ich
aufrichtiger und wohlwollender Ihnen gegenüber bin, als Sie es von mir
glauben?“

Natascha errötete. Auch mir schien sein Ton ein wenig oberflächlich,
nachlässig, sogar unbescheiden.

„Sie wollen es beweisen, daß Sie zu mir aufrichtig und offenherzig
sind?“ sagte Natascha und sah ihn herausfordernd an.

„Ja.“

„Wenn dem so ist, so erfüllen Sie mir folgende Bitte.“

„Ich gebe Ihnen mein Wort ...“

„Mit keiner Silbe, mit keiner Bemerkung Aljoscha meinetwegen, weder
morgen noch übermorgen, zu belästigen. Keinen Vorwurf, daß er mich
vergessen, hören Sie? keine Bemerkung darüber! Ich möchte ihm so
begegnen, als wäre niemals zwischen uns etwas vorgefallen ... Ich
wünsche es. Werden Sie mir Ihr Wort geben?“

„Mit dem größten Vergnügen,“ antwortete der Fürst, „und erlauben Sie
mir, hinzuzufügen, daß ich noch niemals einer so vernünftigen
Anschauung, in diesen Dingen, begegnet bin ... Doch, das scheint ja
Aljoscha zu sein!“

Man hörte im Vorzimmer Geräusch. Natascha zuckte zusammen, dann schien
sie sich wie zu irgend etwas aufzuraffen. Der Fürst saß da mit ernster
Miene, als erwarte er gespannt die kommenden Dinge. Er beobachtete
scharf Natascha. Die Tür öffnete sich und Aljoscha stürzte ins Zimmer.


                                  II.

... Er flog ins Zimmer auf uns zu, mit strahlenden Augen, glücklich und
heiter. Er mußte diese vier Tage lustig und angenehm verbracht haben und
aus seinem ganzen Auftreten konnte man erraten, daß er uns viel
mitzuteilen beabsichtigte.

„Da bin ich!“ rief er über das ganze Zimmer, „ich, der ich von allen als
Erster hätte hier sein müssen. Doch werdet ihr sofort, alles, alles,
alles von mir erfahren! Vorhin konnte ich mit dir, Papa, kaum ein paar
Worte sprechen, obgleich ich dir so viel zu sagen habe. – Nur in einigen
seltenen Augenblicken erlaubt er mir _du_ zu sagen,“ wandte er sich an
mich, „denn sonst verbietet er’s mir! Und was für eine sonderbare Taktik
er dann mir gegenüber gebraucht: er sagt zu mir einfach _Sie_. Doch von
heute ab wünschte ich, daß es nur solche seltene Augenblicke gäbe!
Überhaupt habe ich mich in diesen vier Tagen ganz und gar verändert,
ganz und gar, ich werde euch alles erzählen. Doch davon später. Zuerst
kommt die Reihe an sie! sie! und wieder an sie, meine Natascha, mein
Engel!“ Er setzte sich neben sie und küßte ihr gierig die Hände. „Hast
du dich sehr um mich gegrämt in diesen Tagen! Doch, was soll ich sagen!
Ich konnte nicht kommen! Konnte nicht ... Mein Liebling! Du hast
abgenommen und bist so bleich ...“

Er bedeckte immer wieder ihre Hände mit Küssen, sah ihr in die Augen,
als könne er sich nicht an ihr sattsehen. Ich sah Natascha an und erriet
sofort, daß wir denselben Gedanken hatten: Daß er vollkommen unschuldig
war. Ja, und wie sollte dieser _Unschuldige_ jemals schuldig werden?
Eine helle Röte bedeckte plötzlich die bleichen Wangen Nataschas, als
hätte sich ihr ganzes Blut vom Herzen ins Gesicht ergossen. Ihre Augen
glänzten und sie sah stolz den Fürsten an.

„Wo warst du denn ... alle diese Tage?“ fragte sie mit abgebrochener
Stimme. Sie atmete schwer und ungleichmäßig. Mein Gott, wie sie ihn
liebte!

„Das ist es ja, daß es wirklich den Anschein hat, als wäre ich schuldig
vor dir; ja, als wenn _ich’s wäre_? Versteht sich von selbst, daß ich’s
bin, mit dem Bewußtsein bin ich auch hierhergekommen. Katjä sagte mir
noch gestern und heute, daß eine Frau eine solche Vernachlässigung
unmöglich verzeihen könne. Sie weiß doch, was sich Dienstag hier mit uns
zugetragen, ich habe es ihr gleich am andern Tage mitgeteilt. Ich habe
mich mit ihr gestritten, habe ihr gesagt, daß diese Frau _Natascha_
heißt, und daß auf der ganzen Welt ihr nur eine ähnlich kommt: und das
ist Katjä; und ich bin hierhergekommen mit dem vollen Bewußtsein, daß
ich im Streite recht behalten. Wie soll ein solcher Engel wie du, nicht
verzeihen? ‚Es wird ihn etwas aufgehalten haben, aber er wird nicht
aufgehört haben, mich zu lieben,‘ so denkt meine Natascha! Ja und wie
kann man aufhören, dich zu lieben? Ist denn das möglich? Mir schmerzte
das Herz deinetwegen. Denn ich fühle mich doch schuldbewußt. Du selbst
wirst mich jedoch rechtfertigen, wenn du alles erfahren haben wirst! Ich
werde dir sofort alles erzählen, ich muß mein Herz vor euch allen
ausschütten; darum bin ich gekommen. Ich wollte heute auf einen freien
Augenblick zu dir eilen, um dich zu küssen, doch auch das mißlang mir:
Katjä verlangte, daß ich in einer wichtigen Angelegenheit umgehend zu
ihr käme. Das war in dem Augenblick, als du mich trafst, Papa; auf einen
besonderen Brief Katjäs fuhr ich das zweitemal zu ihr. In diesen Tagen
sind Briefe zwischen uns hin- und hergegangen. Iwan Petrowitsch, Ihren
Brief habe ich erst gestern gelesen, Sie sind durchaus im Recht, in
allem, was Sie mir gesagt haben. Doch was sollte ich tun: eine physische
Unmöglichkeit! Ich dachte bei mir: morgen abend wirst du dich
verteidigen, denn heute abend war es mir doch schon ganz unmöglich nicht
zu dir zu kommen, Natascha.“

„Was war das für ein Brief?“ fragte Natascha.

„Er war bei mir gewesen und hatte mich, versteht sich, nicht
angetroffen. Im Brief, den er mir hinterlassen, machte er mir heftige
Vorwürfe, dich nicht besucht zu haben. Und darin ist er vollkommen im
Recht. Das war gestern.“

Natascha sah mich an.

„Wenn du aber Zeit hattest vom Morgen bis zum Abend bei Katherina
Fedorowna zu sein ...“ begann der Fürst.

„Ich weiß, ich weiß, was du sagen willst,“ unterbrach ihn Aljoscha:
„‚Wenn du bei Katjä deine Zeit zubringen kannst, um wieviel mehr hättest
du sie hier zubringen können.‘ Ich bin durchaus darin mit dir
einverstanden und füge noch meinerseits hinzu, daß ich noch tausendmal
mehr Grund gehabt hätte, hier zu sein. Doch gibt es unerwartete,
sonderbare Zufälle, die alles um und um werfen. Nun, mit mir ist etwas
geschehen, das mich vollständig verändert hat – bis auf die
Fingerspitze, also muß es doch etwas Besonderes gewesen sein!“

„Ach, mein Gott, was ist denn mit dir geschehen? Martere mich nicht,“
bemerkte Natascha, belustigt über den Eifer Aljoschas.

In der Tat war er ein wenig lächerlich: er beeilte sich schon gar zu
sehr, seine Worte überstürzten sich, er redete zusammenhangslos. Er
schien nur zu reden, zu reden und nichts zu sagen. Zwischendurch führte
er immer wieder Nataschas Hand an seine Lippen, als könnte er sich nicht
an ihr sattküssen.

„Was mit mir geschehen ist?“ fuhr Aljoscha fort. „Ach, meine Lieben! Was
ich getan, was ich gesehen, welche Menschen ich kennen gelernt habe!
Erstens, Katjä: sie ist die Vollkommenheit! Ich habe sie bis jetzt
überhaupt nicht gekannt! Auch am Dienstag, Natascha, als ich von ihr so
begeistert sprach, kannte ich sie noch fast gar nicht. Bis jetzt hatte
sie sich ja auch vor mir verschlossen, doch jetzt kennen wir einander
gut und sagen uns bereits _du_. Doch ich will von Anfang beginnen:
erstens, Natascha, wenn du gehört hättest, wie sie von dir gesprochen,
als ich ihr am nächsten Tage, am Mittwoch, alles mitteilte, was sich
hier, zwischen uns, ereignet hatte ... A propos: soeben fällt mir ein,
wie dumm ich mich hier bei dir am Mittwoch morgen betragen! Du empfingst
mich begeistert, so durchdrungen von der glücklichen Veränderung unserer
Verhältnisse; du wolltest mit mir von alledem sprechen; du warst
wehmütig gestimmt und zu gleicher Zeit liebkostest du mich und
scherztest mit mir; und ich ... ich machte einen soliden Menschen aus
mir! Oh, ich Dummkopf! Denn ich wollte den zukünftigen Ehemann spielen
und mir einen ernsten Anschein geben, vor wem? Vor dir! Wie mußt du über
mich gelacht haben, und wie verdiente ich deinen Spott!“

Der Fürst saß stumm da und betrachtete Aljoscha mit einem
triumphierend-ironischen Lächeln, als wäre er froh gewesen, daß sein
Sohn sich von einer so lächerlichen und leichtsinnigen Seite gab. Den
ganzen Abend beobachtete ich den Fürsten aufmerksam und ich kam zu der
festen Überzeugung, daß er seinen Sohn überhaupt nicht liebte, wenn auch
alle von seiner großen Liebe zu ihm sprachen.

„Von dir fuhr ich damals sofort zu Katjä,“ redete Aljoscha weiter. „Ich
habe bereits erzählt, daß wir uns an diesem Morgen gegenseitig kennen
lernten, und wie sonderbar das vor sich ging ... ich weiß eigentlich
selbst nicht mehr wie ... Einige begeisterte Worte, einige starke
Eindrücke, einige ausgesprochene Gedanken – und wir verstanden uns ...
auf immer. Du mußt sie, du mußt sie kennen lernen, Natascha! Wie hat sie
dich mir erklärt! Wie hat sie mir die Augen geöffnet, welch ein Schatz
du für mich wärest! Nach und nach teilte sie mir alle ihre Ideen mit und
ihre Anschauung über das Leben. Was für ein ernster, was für ein
begeisterter Mensch sie ist! Sie erzählte von unserer Pflicht, von
unserer Bedeutung der Menschheit gegenüber und da wir im Laufe von sechs
bis sieben Stunden in allem miteinander übereinstimmten, so schworen wir
uns ewige Freundschaft und gaben uns das Versprechen, unser ganzes Leben
zusammen zu wirken!“

„Worin zu wirken?“ fragte verwundert der Fürst.

„Ich habe mich so verändert, Papa, daß du dich natürlich über mich
wundern wirst, und ich fühle alle deine Entgegnungen mir gegenüber im
voraus,“ antwortete begeistert Aljoscha. „Alle seid ihr praktische
Menschen, die streng nach erprobten und festen Regeln leben und die sich
zu allem Jungen, Frischen und Neuen ungläubig, feindselig und spöttisch
verhalten. Doch bin ich jetzt nicht mehr derselbe, den du noch vor ein
paar Tagen kanntest. Ich bin ein anderer! Ich sehe kühn jedem und aller
Welt in die Augen. Wenn ich weiß, daß meine Überzeugung richtig ist, so
werde ich sie bis zum äußersten verteidigen; und wenn ich nicht von
meinem Wege abweiche, so bin ich ein ehrlicher Mensch. Doch genug von
mir. Möget ihr sagen, was ihr wollt, ich bleibe dabei.“

„Oho!“ bemerkte spöttisch der Fürst.

Natascha wurde unruhig. Sie fürchtete für Aljoscha. Sie fürchtete, daß
er sich in seinem Gespräch hinreißen lassen würde, wobei er sich nie in
einem für ihn günstigen Lichte zeigte. Sie wollte nicht, daß er in
unserer Gegenwart, namentlich seinem Vater gegenüber, lächerlich
erscheine.

„Was redest du, Aljoscha! Das ist ja schon die reine Philosophie,“ sagte
sie zu ihm, – „wer hat sie dir beigebracht ... es wäre besser, du
erzähltest ...“

„Schon gut, ich werde doch alles erzählen!“ rief Aljoscha aus. „Die
Sache verhält sich nämlich so: Katjä hat zwei Vettern, Ljowinka und
Borinka, der eine ist Student, der andere nur ein junger Mann. Sie steht
mit ihnen in Verbindung und diese sind einfach – außergewöhnliche
Menschen! Die Gräfin besuchen sie fast nie, und zwar – aus Prinzip. Als
wir, Katjä und ich, über die Aufgabe des Menschen und von all diesen
Dingen sprachen, gab mir Katjä sofort einen Brief an sie mit, und ich
eilte zu ihnen, um ihre Bekanntschaft zu machen. Noch am selben Abend
wurden wir die besten Freunde. Dort waren Menschen der verschiedensten
Nationalitäten – Studenten, Offiziere, Künstler; es war auch ein
Schriftsteller dort ... alle kannten Ihren Namen, Iwan Petrowitsch, alle
hatten sie Ihre Sachen gelesen und erwarten in Zukunft viel von Ihnen.
Ich sagte ihnen, daß ich Sie kenne und versprach Sie ihnen vorzustellen.
Alle empfingen sie mich brüderlich, mit offenen Armen. Ich sagte ihnen
sofort, daß ich bald heiraten würde und alle behandelten sie mich
bereits wie einen verheirateten Menschen. Alle leben sie im fünften
Stock unter dem Dach und versammeln sich so oft als möglich bei Ljowinka
und Borinka. Das ist alles Jugend, voll leidenschaftlicher Liebe zur
Menschheit! Wir sprachen von der Zukunft, von Wissenschaft und
Literatur, und alle sprachen sie so gut, so einfach und aufrichtig ...
Auch ein Gymnasiast ist unter ihnen. Wie sie miteinander verkehren, so
edel sind sie! Ich habe noch niemals solche Menschen gekannt! Wo ich
auch gewesen bin, was ich auch gesehen, unter welchen Menschen ich auch
aufgewachsen, nur du, Natascha, hast mir ähnliches gesagt. Ach,
Natascha, du mußt sie durchaus kennen lernen; Katjä kennt sie bereits.
Sie sprechen von ihr mit großer Verehrung und Katjä hat Ljowinka und
Borinka versprochen, sobald sie in den Besitz ihres Kapitals gelangt,
eine Million zum Wohle der Menschheit zu opfern.“

„Und die Verwalter dieser Million werden wohl Ljowinka und Borinka mit
ihrem ganzen Gefolge sein?“ fragte der Fürst.

„Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr, du solltest dich schämen so zu
sprechen, Papa!“ rief in flammendem Protest Aljoscha. „Ich weiß, was du
meinst! Wegen dieser Million haben wir hin- und hergesprochen und
beraten, wie man sie anwenden soll. Es wurde endlich beschlossen, sie
für die Volksaufklärung zu verwenden ...“

„Dann freilich habe ich Katherina Fedorowna bis jetzt nicht gekannt,“
bemerkte der Fürst wie zu sich selbst mit demselben ironischen Lächeln.
„Ich habe übrigens viel von ihr erwartet, doch das ...“

„Wieso!“ unterbrach ihn Aljoscha, „was scheint dir dabei so sonderbar?
Weil niemand von euch bis jetzt eine Million gegeben hat, sie aber
dieses Opfer bringen will? Darum etwa, wie? Wenn sie jedoch auf fremde
Rechnung nicht leben will, denn von diesen Millionen leben, heißt auf
fremde Rechnung leben? (Das habe ich erst jetzt erfahren.) Sie will
ihrem Vaterland Nutzen bringen und allen denen, die es brauchen. Und
worauf fußt eure ganze belobigte Vernunft, die ich bis jetzt geglaubt
habe? Warum siehst du mich so an, Papa? als stände ein Narr oder
Dummkopf vor dir? Was tut’s, wenn ich ein Dummkopf bin! Wenn du wissen
würdest, Natascha, wie Katjä darüber denkt: ‚Nicht der Verstand ist die
Hauptsache, sondern was ihn leitet – die Natur, das Herz, die edlen
Instinkte.‘ Doch die Hauptsache ist, was Besmygin zu diesen Dingen sagt,
– Besmygin ist ein Bekannter Ljowinkas und Borinkas und das Haupt der
ganzen Gesellschaft, wirklich ein genialer – Kopf! Gestern machte er
noch den Ausspruch: ‚Ein Dummkopf, der sich bewußt ist, ein Dummkopf zu
sein, ist bereits nicht mehr ein Dummkopf!‘ Wie wahr das ist! Und mit
solchen Wahrheiten wirft er nur so um sich.“

„Wirklich genial!“ brummte der Fürst.

„Du lachst. Doch ich habe nie etwas Ähnliches in unserer Gesellschaft
gehört. Im Gegenteil, bei uns bringt man alles dem Erdboden so nah als
möglich, damit alle gleich von Wuchs sind, damit alle Nasen gleich hoch
nach dem Strich reichen und nach gewissen Regeln – ganz als ob das
möglich wäre! Als ob das nicht sogar tausendmal mehr unmöglich wäre, als
was wir denken und anstreben. Uns aber nennt man Utopisten! Wenn du
gehört hättest, was sie gestern zu mir sagten ...“

„So erzähle doch, Aljoscha, was ihr denkt und wovon ihr gesprochen, ich
muß gestehen, daß ich noch nichts begriffen habe,“ sagte Natascha.

„Wir haben von alledem gesprochen, was zum Fortschritt, zur Humanität
und Liebe führt; von allem, was zu den zeitgemäßen Fragen gehört. Wir
sprechen von Reformen, von der Liebe zur Menschheit, wir lesen die Werke
unserer Zeitgenossen und kritisieren sie. Doch die Hauptsache, wir haben
uns gegenseitig das Wort gegeben, immer gegeneinander vollkommen
aufrichtig zu sein. Nur durch vollkommene Aufrichtigkeit und
Wahrhaftigkeit kann man das Ziel erreichen. Darauf besteht besonders
Besmygin. Ich erzählte es Katjä und sie stimmte ihm vollkommen bei: Und
deshalb haben wir uns alle unter seine Führung gestellt, haben ihm das
Wort gegeben, unser ganzes Leben hindurch ehrlich und aufrichtig zu
handeln, was man auch von uns sagen, wie uns beurteilen möge – niemals
zu verzagen und uns nicht unserer Begeisterung, unserer Fehler zu
schämen, sondern unseren Weg geradeaus zu gehen. Wenn du wünschst, daß
man dich achte, achte du dich selbst zuerst, nur durch deine
Selbstachtung wirst du andere zwingen, dich zu achten. Das sagt
Besmygin, und Katjä ist vollständig mit ihm einverstanden. Wir haben
beschlossen, uns gegenseitig zu erkennen und uns gegenseitig aufeinander
aufmerksam zu machen ...“

„Welch ein Blödsinn!“ rief der Fürst beunruhigt, „und wer ist dieser
Besmygin? Nein, das kann nicht so fortgehen.“

„Was kann nicht so fortgehen?“ fragte Aljoscha. „Höre, Papa, warum
erzähle ich dir das alles? Weil ich hoffe, dich für unseren Kreis zu
gewinnen. Ich habe es ihnen bereits dort versprochen. Du aber machst
mich lächerlich ... Nun, ich wußte, daß du’s tun würdest! Doch, höre
mich an! Du bist gut und edel; du wirst mich verstehen. Du kennst sie
nicht, du hast diese Leute nicht gesehen, sie nicht angehört. Vielleicht
hast du von ihnen gehört und bist von ihren Ideen unterrichtet, denn du
bist ja sehr gelehrt; doch sie selbst kennst du nicht, bist nie bei
ihnen gewesen, wie kannst du dann über sie urteilen! Erst wenn du bei
ihnen gewesen bist, sie angehört hast, dann, ich gebe dir mein Wort,
dann wirst du ... unser! Denn ich will alle Mittel brauchen, um dich von
den Anschauungen deiner Gesellschaft zu befreien, an denen du so
hängst.“

Der Fürst hörte schweigend und mit hämischem Lächeln diesem Ausbruch zu;
in seinem Gesicht lag verhaltene Wut. Natascha betrachtete ihn mit
unverhohlenem Widerwillen. Er sah es, doch tat er, als bemerkte er’s
nicht. Kaum hatte Aljoscha geendet, als er in ein unbändiges Gelächter
ausbrach. Er lehnte sich weit in seinem Stuhl zurück, als könne er sich
vor Lachen kaum mehr halten. Doch war das ein erzwungenes Lachen, und
man merkte es nur zu deutlich, daß der Fürst seinen Sohn beleidigen
wollte. Aljoscha schien der Spott seines Vaters sehr zu Herzen zu gehen,
sein ganzes Gesicht drückte tiefe Trauer aus. Nichtsdestoweniger wartete
er ruhig, bis die Heiterkeit seines Vaters sich beruhigt hatte. „Papa,“
sagte er traurig, „weshalb lachst du über mich? Ich bin dir gegenüber so
aufrichtig gewesen, und wenn ich deiner Meinung nach Dummheiten gesagt
habe, so belehre mich doch eines besseren, aber lache nicht über mich.
Und worüber lachst du eigentlich? Darüber, was mir edel und heilig
schien. Nun, möge ich mich auch in vielem geirrt haben und alles woran
ich glaube unwahr sein, bin ich auch ein Dummkopf, wie du mich soeben
genannt hast; doch wenn ich mich geirrt habe, so tat ich es ehrlich und
aufrichtig und habe dabei die Anständigkeit meiner Gesinnung nicht
eingebüßt. Ich habe mich an hohen Ideen begeistert. Wenn sie nicht echt
sein sollten, so ist doch das Gefühl, aus dem sie entspringen, heilig.
Ich habe dir bereits gesagt, daß unsere Gesellschaft mir nichts
Ähnliches, was mich so mitgerissen hätte, gegeben hat. Zeige mir was
Besseres und ich werde dir folgen, doch lache nicht über mich, denn das
beleidigt mich.“

Aljoscha hatte wirklich mit Würde gesprochen. Natascha folgte seinen
Worten mit großem Mitgefühl. Der Fürst selbst schien mit Verwunderung
seinen Sohn anzuhören und veränderte sofort seinen Ton.

„Ich habe dich durchaus nicht beleidigen wollen, mein Freund, im
Gegenteil, du tust mir leid. Du beabsichtigst einen so wichtigen Schritt
in deinem Leben zu machen, und mußt aufhören, noch ein so leichtsinniges
Kind zu sein. Das ist’s, was ich denke. Ich mußte unwillkürlich über
dich lachen, doch lag es nicht in meiner Absicht, dich zu beleidigen.“

„Warum hat es mir denn so geschienen?“ bemerkte Aljoscha bitter. „Und
warum fühle ich es denn schon lange, daß du dich zu mir feindlich, kalt
und spöttisch verhältst, und nicht wie ein Vater zu seinem Sohn? Warum
fühle ich es, daß ich an deiner Stelle mich nicht so beleidigend zu
meinem Sohn verhalten könnte, wie du es tust. Höre mich an, Papa,
sprechen wir uns ein für allemal darüber aus, damit es keine
Mißverständnisse mehr unter uns gibt, denn so hatte ich nicht erwartet,
euch alle hier anzutreffen. Verhält es sich so, oder nicht? Ist es nicht
besser, jeder sagt, was er denkt? Wieviel Unglück kann man durch
Aufrichtigkeit vermeiden!“

„Sprich dich nur aus, Aljoscha!“ sagte der Fürst. „Was du vorschlägst,
scheint sehr klug zu sein. Vielleicht hätte man damit beginnen sollen,“
fügte er, an Natascha gewandt, hinzu.

„Ärgere dich nicht über meine Aufrichtigkeit,“ begann Aljoscha. „Du hast
sie selbst herausgefordert. Du hast in meine Ehe mit Natascha
eingewilligt; du hast uns dieses Glück geschenkt und dich selbst
überwunden. Du warst großmütig und wir alle haben deine edle
Handlungsweise anerkannt. Warum machst du mir aber jetzt ununterbrochen
die Bemerkung, daß ich doch nur ein lächerlicher Junge bin, der zum
Manne überhaupt nicht taugt. Warum erniedrigst du mich, und willst mich
besonders vor Natascha lächerlich machen? Du scheinst dich geradezu zu
freuen, wenn du mich von irgendeiner Seite lächerlich machen kannst; das
habe ich nicht nur jetzt, sondern bereits früher bemerkt. Du willst
offenbar darauf hinweisen, daß unsere Ehe lächerlich und dumm erscheint
und wir zueinander nicht passen. Als glaubtest du selbst nicht daran,
warum du eingewilligt, als wäre das alles nur ein Scherz, eine
Spielerei, ein lächerliches Vaudeville ... Ich schließe das nicht nur
aus deinen heutigen Worten, denn noch am selben Abend, am Dienstag, als
ich von hier zu dir zurückkehrte, machtest du so sonderbare Bemerkungen,
die mich so wunderlich berührten. Und auch am Mittwoch, als du
fortfuhrst, machtest du einige Bemerkungen über unsere jetzige Lage, die
in bezug auf Natascha, wenn nicht gerade beleidigend, so doch frivol
waren, wenigstens Bemerkungen, die ich nicht von dir zu hören wünschte,
so lieblos waren sie im Grunde und so ohne jegliche Achtung für sie ...
Das ist schwer mit Worten nachzuweisen, doch der Ton macht’s und das
Herz fühlt es. Sage du mir, daß ich mich geirrt habe. Beruhige du mich
darüber ... und auch sie, denn auch sie muß es empfunden haben. Ich habe
es sogleich auf den ersten Blick erraten, als ich hier eintrat ...“

Aljoscha sprach voll Feuer und mit Bestimmtheit. Natascha hörte ihm mit
flammendem Gesicht feierlich zu. Hin und wieder unterbrach sie ihn in
seiner Rede mit der Bestätigung: „Ja, ja, so, so ist’s!“ Der Fürst
schien unruhig und geärgert.

„Mein Freund,“ begann er, „natürlich kann ich mich nicht mehr dessen
erinnern, was ich dir alles gesagt haben soll; doch sonderbar erscheint
es mir, daß du meine Worte hast so auslegen können. Wenn ich dagegen
soeben gelacht habe, so ist das nur zu verständlich. Mit meinem Lachen
wollte ich ein bitteres Gefühl gegen dich unterdrücken. Daß du heiraten
willst, scheint mir jetzt erst recht unsinnig, ja, verzeih den Ausdruck
– sogar komisch. Wenn ich dich ausgelacht habe, so bist du allein daran
schuld, denn mich trifft nur die Schuld, daß ich dir in der letzten Zeit
eine größere Freiheit gegeben habe, als du sie ertragen kannst und erst
heute abend habe ich’s erfahren, wozu du nicht alles fähig bist. Ich
zittere bei dem Gedanken an Natalja Nikolajewnas Zukunft: ich habe zu
übereilt gehandelt; ich sehe, daß ihr beide viel zu ungleich seid. Die
Liebe vergeht, doch die Ungleichheit bleibt. Ich will schon nicht von
deinem Schicksal reden, wenn du aber ein ehrlicher Mensch bist, so denke
doch an Natalja Nikolajewna, deren Leben du vernichtest, vollkommen
vernichtest! Du hast, zum Beispiel, die ganze Zeit über von der Liebe
zur Menschheit, vom Adel der Gesinnung und Anschauung, von edlen
Menschen gesprochen, die du kennen gelernt hast; frage aber Iwan
Petrowitsch, was ich ihm gesagt, als ich mit ihm hier auf der vierten
Etage einer engen, dunklen Treppe zusammentraf, Gott dankend, daß ich
mir nicht die Beine gebrochen? Weißt du, was für ein Gedanke mir durch
den Kopf ging? Ich wunderte mich, daß du, mit deiner großen Liebe zu
Natalja Nikolajewna, es leiden kannst, daß sie in einer solchen Wohnung
lebt? Hast du es dir denn nicht überlegt, daß du ohne Mittel, oder ohne
die Fähigkeit zu besitzen, deine Pflichten zu erfüllen, nicht das Recht
hast, überhaupt zu heiraten. Liebe allein genügt nicht, und Liebe äußert
sich in Taten; wie aber denkst du: ‚lebe mit mir, wenn du auch durch
mich leidest,‘ ist das etwa human, ist das etwa edel! Von der Liebe zu
reden, sich für allgemein menschliche Fragen zu interessieren und zu
gleicher Zeit sich an der Liebe zu versündigen und es nicht einmal zu
bemerken – ist mir unverständlich! Du sagst mir Aljoscha, daß du in
diesen Tagen erlebt, was schön und edel sei und wirfst mir vor, daß
unsere Gesellschaft nur vom trockenen Verstande gelenkt werde. Das ist
schön: sich am Hohen und Edlen zu begeistern und nach dem, was sich am
Dienstag hier zugetragen, auf vier Tage diejenige zu vergessen, die dir
am teuersten auf der Welt sein sollte! Ja, du behauptest noch Katherina
Fedorowna gegenüber, daß Natalja Nikolajewna dich so liebt und so
großmütig ist, daß sie dir alles verzeihen wird. Welch ein Recht hast du
denn auf ihre Vergebung, und wie kommst du dazu, darauf zu wetten? Hast
du denn wirklich nicht ein einziges Mal daran gedacht, wieviel Qualen,
wieviel bittere Enttäuschung und Zweifel deine Abwesenheit in Natalja
Nikolajewna erwecken mußte? Hattest du wirklich das Recht, um der neuen
Ideen willen, deine heiligste und erste Pflicht zu vernachlässigen?
Verzeihen Sie mir, Natalja Nikolajewna, wenn ich mein Wort nicht
gehalten habe. Die jetzige Angelegenheit ist wichtiger als dieses Wort:
Sie werden das selbst verstehen ... Weißt du, Aljoscha, daß ich Natalja
Nikolajewna in solchen Qualen vorgefunden habe, daß man wohl begreifen
kann, in welche Hölle du diese vier Tage für sie verwandelt hast, die
die glücklichsten ihres Lebens sein sollten. Solche Handlungen
einerseits und – Worte nichts als Worte andererseits ... habe ich denn
nicht recht! Und du wagst mir, Vorwürfe zu machen, wo du allein schuld
bist?“

Der Fürst hatte geendigt und, ganz seiner Beredsamkeit hingegeben,
konnte er sich eines triumphierenden Gefühls nicht erwehren. Als
Aljoscha von Nataschas Qualen hörte, fiel ein schmerzhaft wehmütiger
Blick auf sie, doch Natascha bemerkte kurz entschlossen:

„Laß, Aljoscha, quäle dich nicht,“ sagte sie, „andere haben mehr Schuld
als du. Setze dich und höre zu, was ich deinem Vater sagen werde. Es ist
Zeit, der Sache ein Ende zu machen!“

„Ich bitte Sie dringend, Natalja Nikolajewna, sich endlich zu erklären,“
griff der Fürst auf. „Ich höre die Anspielungen bereits zwei Stunden und
ich muß gestehen, daß es mir unerträglich wird; einen solchen Empfang
hatte ich nicht erwartet.“

„Vielleicht; Sie glaubten uns wohl mit Ihren Worten zu bezaubern, damit
wir Ihre geheimen Absichten nicht bemerkten. Was soll ich Ihnen da
sagen! Sie wissen und verstehen doch selbst alles. Aljoscha hat recht.
Ihr erster einziger Wunsch ist – uns zu trennen. Sie wußten und wissen
alles im voraus, wie es kommen muß, seit dem Abend als Sie hier waren
haben Sie sich alles an den Fingern abgezählt. Ich habe es Ihnen bereits
gesagt, daß Sie zu uns wie zu mir nicht aufrichtig sind. Sie spielen mit
uns und verfolgen dabei ein bestimmtes Ziel. Ihr Spiel freilich ist
aufrichtig, und Aljoscha hat recht, wenn er Ihnen den Vorwurf macht, auf
unsere Sache wie auf ein Vaudeville zu sehen. Sie sollten sich im
Gegenteil über Aljoscha freuen, statt ihm Vorwürfe zu machen, wie gut er
mir gegenüber seine Pflicht erfüllt hat, vielleicht besser, als man es
von ihm verlangen konnte.“

Ich erstarrte vor Verwunderung. Ich hatte ja vermutet, daß es an diesem
Abend zu einer Katastrophe kommen würde. Doch diese beleidigende
Aufrichtigkeit Nataschas und der unverhohlen verächtliche Ton ihrer
Worte setzten mich in äußerste Verwunderung! Sie mußte in der Tat etwas
erfahren und sich zu einem völligen Bruch entschlossen haben. Vielleicht
hatte sie sogar mit Ungeduld den Fürsten erwartet, um ihm alles ins
Gesicht zu schleudern. Der Fürst erblaßte ein wenig. Aljoschas Gesicht
drückte naive Furcht und quälende Erwartung aus.

„Bedenken Sie doch, wessen Sie mich soeben beschuldigt haben,“ rief der
Fürst aus, „und überlegen Sie sich Ihre Worte ... Ich habe nichts davon
verstanden.“

„Ah! Dann wollen Sie sie wohl nicht verstehen,“ sagte Natascha, „sogar
er, sogar Aljoscha hat es empfunden und Sie wissen, daß wir uns nicht
gesehen noch gesprochen haben! Und auch ihm hat es geschienen, daß Sie
mit uns ein unwürdiges, beleidigendes Spiel treiben, er, der Sie liebt
und Ihnen glaubt wie einer Gottheit. Sie haben sich nicht einmal die
Mühe gegeben, schlauer und vorsichtiger ihm gegenüber zu sein, so sehr
rechneten Sie darauf, daß er nichts bemerken würde. Doch er hat ein
feinfühlendes, empfindsames und empfängliches Herz, und Ihre Worte und
den Ton Ihrer Worte hat er mit dem Herzen nicht vergessen können ...“

„Ich verstehe nichts, aber auch gar nichts!“ wiederholte der Fürst und
wandte sich verwundert an mich, als wolle er mich zum Zeugen anrufen. Er
war aufgeregt und sehr gereizt. „Sie sind mißtrauisch,“ fuhr er fort,
„und einfach eifersüchtig auf Katherina Fedorowna und darum wollen Sie
alle Welt und mich als Ersten beschuldigen ... und erlauben Sie, daß ich
schon alles sage: eine sonderbare Meinung muß man sich von Ihrem
Charakter machen ... Ich bin an solche Szenen nicht gewöhnt; ich würde
keinen Augenblick mehr hierbleiben, wenn nicht die Interessen meines
Sohnes ... Ich warte noch immer, ob Sie geruhen werden, sich zu
erklären?“

„Also Sie bestehen darauf, in ein paar Worten wollen Sie es nicht
begreifen, was Sie doch bereits selbst wissen? Sie wollen, daß ich alles
Ihnen gegenüber ausspreche?“

„Ich warte ja nur darauf.“

„Nun gut, hören Sie alle,“ rief Natascha voll Zorn, mit blitzenden
Augen. „Ich werde alles, alles sagen!“


                                  III.

Sie erhob sich und sprach stehend, ohne es in ihrer Erregung zu
bemerken. Der Fürst hörte sie an und erhob sich gleichfalls von seinem
Platze. Die ganze Szene nahm daher einen vielleicht etwas zu feierlichen
Charakter an.

„Erinnern Sie sich selbst an Ihre Worte am Dienstag. Sie sagten, Sie
hätten Geld nötig, Beziehungen zur großen Welt ... nicht wahr?“

„Ja.“

„Nun wohl, um Geld und Erfolge zu erhalten, die Ihnen aus den Händen zu
gleiten drohten, kamen Sie am Dienstag hierher, und dachten sich die
Verlobung aus, weil Sie dadurch hofften, alles wiederzugewinnen, Herr
über die Situation zu werden.“

„Natascha,“ rief ich. „Bedenke was du sprichst!“

„Alles wiederzugewinnen! Aus Berechnung!“ wiederholte der Fürst mit
äußerst gekränkter Würde.

Aljoscha saß da wie niedergeschmettert, als begriffe er nicht, was vor
sich ging.

„Ja, ja, unterbrechen Sie mich jetzt nicht, ich habe geschworen, alles
zu sagen,“ rief Natascha gereizt aus. „Das ganze halbe Jahr haben Sie
sich Mühe gegeben, ihn von mir zu entfernen. Er hat sich Ihrem Einfluß
nicht ergeben. Und plötzlich kam Ihnen der Gedanke, als es nicht mehr so
weiter ging, ihm die Erlaubnis zur Heirat zu geben, da die Zeit drängte,
und die Braut und das Geld, – hauptsächlich das Geld, die drei Millionen
Mitgift zu verlieren ...; Sie durften diese günstige Gelegenheit nicht
vorübergehen lassen ... Was sollten Sie tun: Aljoscha mußte sich in die
Braut verlieben, die Sie für ihn bestimmt hatten, dann würde er von mir
lassen ...“

„Natascha, Natascha!“ rief Aljoscha voll Trauer aus, „was redest du!“

„Das war Ihr Plan, das führten Sie aus,“ fuhr Natascha fort, ohne sich
um Aljoscha zu kümmern, „also die alte Geschichte, ich störte Sie
wieder! Doch eines gab Ihnen Hoffnung: als erfahrener und schlauer
Mensch der Sie sind, hatten Sie bemerkt, daß Aljoscha die frühere
Anhänglichkeit zu mir hin und wieder lästig zu empfinden anfing. Sie
wußten, daß oft fünf Tage vergingen, ohne daß Aljoscha mich besucht
hätte. Sie hofften schon am Ziel zu sein, als plötzlich am Dienstag die
Handlung Aljoschas einen Strich durch Ihre Rechnung machte. Was sollten
Sie tun! ...“

„Erlauben Sie,“ rief der Fürst, „im Gegenteil, diese Tatsache ...“

„Ich spreche jetzt,“ unterbrach ihn Natascha mit Nachdruck. „An dem
Abend fragten Sie sich: ‚was soll man nun tun?‘ und beschlossen, nicht
in der Tat, doch anscheinend in eine Heirat mit mir einzuwilligen, um
Aljoscha zu beruhigen. Den Termin der Hochzeit konnte man ja
aufschieben, so lang als man wollte, unterdessen würde die neue Liebe
das ihre tun. Und da haben Sie auf diese neue Liebe alle Ihre Pläne
aufgebaut.“

„Romane, alles Romane,“ sagte der Fürst halblaut vor sich hin.
„Einsamkeit, Grübelei und Romane!“

„Ja, auf diese neue Liebe setzten Sie all Ihre Hoffnungen,“ wiederholte
Natascha, ohne seinen Worten Beachtung zu schenken, wie im Fieber und
immer aufgeregter – „und was für Chancen hatte diese neue Liebe! Sie
begann bereits damals, als er alle Vorzüge dieses jungen Mädchens noch
nicht einmal kannte! Sie begann in demselben Augenblick, als er an dem
Abend ihr das Geständnis machte, daß er sie nicht lieben kann und darf,
weil eine andere Liebe und die Pflicht es ihm gebietet, – und dieses
Mädchen plötzlich ihm gegenüber so viel Edelmut erweist, so viel
Mitgefühl für ihn und ihre Gegnerin empfindet, so viel Vergebung, daß
er, wenn er auch von ihrer Schönheit überzeugt gewesen war, bis zu dem
Augenblick doch nicht gewußt hatte, daß sie so reizend sein konnte. Als
er damals zu mir kam, sprach er nur von ihr, so sehr hatte sie ihn in
Erstaunen gesetzt. Freilich, er mußte ein unüberwindliches Verlangen
haben, dieses reizende Geschöpf, wenn auch nur aus Dankbarkeit, am
nächsten Morgen wiederzusehen. Ja, und warum sollte er denn nicht zu ihr
fahren? – Seine frühere Liebe litt doch jetzt nicht mehr, ihr Schicksal
war beschlossen, ihr würde er doch sein ganzes Leben hingeben, jener nur
einen Augenblick ... Und wie undankbar wäre diese Natascha, wenn sie auf
diesen Augenblick eifersüchtig sein sollte! Und unbemerkt entzieht man
dieser Natascha statt Augenblicke Tage, den ersten, zweiten, dritten ...
In der Zeit geschieht es, daß das junge Mädchen sich noch von einer ganz
neuen, unerwarteten Seite zeigt. Sie ist edel und enthusiastisch, zu
gleicher Zeit naiv wie ein Kind, und darum so passend für Aljoscha. Sie
schwören sich gegenseitig Freundschaft, Bruderschaft, und wollen sich
ihr ganzes Leben lang nicht mehr trennen. ‚In einigen fünf, sechs
Stunden Beisammenseins‘ öffnete sich seine Seele ganz den neuen
Empfindungen und er gibt sich ihnen mit seinem ganzen Herzen hin ... Es
wird die Zeit kommen, denken Sie, wo er seine alte Liebe mit den neuen
Eindrücken vergleichen muß. Dort ist alles alt und bekannt, dort weint
man, ist eifersüchtig ... hier ist alles jung, frisch und beherrschend
... dort liebkost man ihn fast wie ein Kind ... und die Hauptsache ...
alles ist ja gewesen ... bekannt ...“

Tränen drohten ihre Stimme zu ersticken, doch raffte sie sich noch
einmal auf und fuhr fort:

„Und dann? Alles weitere überläßt man dann der Zeit; bis zur Trauung ist
es noch weit hin und mit der Zeit kann sich alles ändern ... Worte,
Bemerkungen, Andeutungen tragen das ihre dazu bei. Man kann diese
Natascha verleugnen, kann sie in ein unvorteilhaftes Licht stellen und
... und wie sich das alles noch lösen wird ... ist noch ungewiß, doch
der Sieg gehört Ihnen! Aljoscha! vergib mir, mein Freund! Sage nicht,
daß ich deine Liebe nicht zu schätzen weiß. Ich weiß, daß du mich auch
jetzt noch liebst und meine Klagen nicht verstehen kannst. Ich weiß, daß
ich schlecht getan, mich jetzt so rücksichtslos auszusprechen. Doch was
soll ich tun, wenn ich es auch selbst weiß, so liebe ich dich doch noch
immer mehr ... und mehr ... bis zum Wahnsinn!“

Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, fiel in ihren Sessel zurück
und weinte wie ein Kind. Aljoscha schrie auf und stürzte zu ihr. Er
konnte sie nicht weinen sehen, ohne selbst zu weinen.

Dieser leidenschaftliche Ausbruch kam dem Fürsten sehr gelegen.
Nataschas heftige Anklagen, ihre Ausschreitungen ihm gegenüber, hätte er
anstandshalber als Beleidigung auffassen müssen, jetzt konnte man alles
auf einen Ausbruch gekränkter Liebe, auf Eifersucht, auf eine krankhafte
Anwandlung zurückführen und ihr sogar eine gewisse Teilnahme zeigen ...

„Beruhigen Sie sich doch, Natalja Nikolajewna,“ versuchte sie der Fürst
zu trösten, „das sind alles Phantasiegespinste, Folgen der Einsamkeit
... Sie sind gereizt durch sein leichtsinniges Betragen ... Doch, wenn
das nur Leichtsinn seinerseits ist ... Die Hauptsache ist doch die
Tatsache am Dienstag, sie muß Ihnen doch seine grenzenlose Hingebung an
Sie – gezeigt haben und Sie im Gegenteil ...“

„O, bitte, sagen Sie nichts mehr, quälen Sie mich jetzt nicht noch!“
unterbrach ihn Natascha, bitterlich weinend.

„Mein Herz hat mir schon alles gesagt! Glauben Sie denn wirklich, daß
ich es nicht fühle, daß seine frühere Liebe dahin ist ... Hier, in
diesem Zimmer, immer allein ... von ihm verlassen und vergessen, habe
ich alles erlebt, erlitten und durchdacht ... Was sollte ich da tun! Ich
beschuldige dich nicht, Aljoscha ... Warum wollen Sie mich täuschen?
Glauben Sie denn etwa, daß ich nicht versucht habe, mich zu täuschen!
... O, wie oft, wie oft! Kenne ich denn etwa nicht den Klang seiner
Stimme? Verstehe ich denn nicht auf seinem Gesicht, in seinen Augen zu
lesen? Alles, alles ist vorbei, alles begraben ... Oh, ich
Unglückliche!“

Aljoscha lag vor ihr auf den Knien und weinte.

„Ich, ich bin an allem schuld! An allem ich!“ rief er unter Schluchzen.

„Nein, beschuldige dich nicht, Aljoscha ... unsere Feinde sind’s ... Sie
allein, – allein!“

„Aber, bitte, erlauben Sie doch,“ begann der Fürst ungeduldig –
„woraufhin schreiben Sie mir alle Verbrechen zu? Das sind alles nur Ihre
Annahmen, aber Beweise ...“

„Beweise!“ Natascha sprang vom Sessel. „Beweise wollen Sie, Sie falscher
Mensch! Sie konnten nur mit dieser Absicht zu mir kommen! Sie mußten
Ihren Sohn beruhigen, sein Gewissen übertäuben, damit er sich ruhiger
und freier Katjä ergeben sollte; denn sonst hätte er mich nicht
vergessen können, und es langweilte Sie zu warten: Sollte denn das nicht
wahr sein!“

„Ich muß gestehen,“ antwortete ihr der Fürst mit sarkastischem Lächeln,
„wenn ich Sie wirklich hätte betrügen wollen, so hätte ich tatsächlich
darauf gerechnet; Sie sind sehr ... klug, doch müssen Sie es erst
beweisen können, bevor Sie es unternehmen, einem Menschen solche
Vorwürfe zu machen ...“

„Beweisen! Und Ihr früheres Verhalten, als Sie ihn mir abspenstig
machten! Derjenige, welcher seinen Sohn auffordert mit solchen
Pflichten, um des Vorteils und des Geldes wegen, zu spielen –
demoralisiert ihn! Was sagten Sie vorhin von der Treppe und der
schlechten Wohnung? Haben nicht Sie ihm das Taschengeld entzogen, um uns
durch Not und Hunger zu zwingen, auseinander zu gehen? Ihre Schuld ist
diese Treppe und diese Wohnung, Sie aber machen ihm Vorwürfe, Sie
falscher Mensch! Und woher sollten denn plötzlich an diesem Abend diese
neuen und Ihnen so fernliegenden Überzeugungen kommen? Und warum hatten
Sie mich auf einmal so nötig? Ich bin hier diese vier Tage lang auf und
ab gegangen und habe mir alles überlegt und habe alles abgewogen, jedes
Ihrer Worte, das Mienenspiel Ihres Gesichtes, und habe mich davon
überzeugt, daß alles nur Scherz und eine niedrige, beleidigende und
unserer unwürdige Komödie gewesen ist ... Ich kenne Sie bereits längst!
So oft Aljoscha von Ihnen zu mir kam, habe ich an seinen Mienen alles
erraten, was Sie ihm gesagt hatten. Alle Ihre Schachzüge gegen mich,
habe ich durch Ihr Verhalten zu ihm erfahren! Nein, mich können Sie
nicht mehr täuschen! Es ist möglich, daß Sie sonst in diesem Augenblick
noch andere Berechnungen gegen oder durch mich im Sinn führen – doch das
läßt mich gleichgültig! Die Hauptsache ist, daß Sie mich betrogen haben!
Das mußte ich Ihnen noch ins Gesicht sagen!“

„Also das allein sind Ihre Beweise? Bedenken Sie doch, exzentrisches
Fräulein, durch meinen Antrag am Dienstag hatte ich mich doch
vollständig gebunden. Es war also zu leichtsinnig von mir gewesen ...“

„Wodurch, wodurch haben Sie sich gebunden? Was will denn das in Ihren
Augen besagen, mich zu hintergehen? Mich Unglückliche, Schutzlose, vom
Vater Verstoßene, deren Leben auf immer zerstört! Lohnt es sich da, mich
zu schonen, wenn dieser Scherz dazu noch was einbringt!“

„In welche Lage stellen Sie sich selbst, Natalja Nikolajewna, bedenken
Sie doch! Sie wollen durchaus darauf bestehen, daß ich Sie meinerseits
beleidigt habe. Diese Beleidigung jedoch ist so erniedrigend und so
weittragend, daß ich nicht verstehen kann, wie man sie überhaupt
annehmen, noch auf ihr bestehen kann. Man muß in allen Lebenslagen gar
zu unerfahren sein, um so etwas überhaupt zuzulassen. Entschuldigen Sie,
bitte, ich bin durchaus im Recht, Ihnen diese Vorwürfe zu machen, denn
Sie reizen meinen Sohn gegen mich auf: wenn er jetzt für Sie einsteht,
so ist sein Herz eben gegen mich ...“

„Nein, Papa, nein!“ rief Aljoscha, „wenn ich bis jetzt mich nicht gegen
dich geäußert habe, so geschah es deshalb nicht, weil ich nicht glauben
kann, daß du zu einer solchen Beleidigung fähig seiest!“

„Haben Sie gehört?“ rief der Fürst aus.

„Natascha, an allem bin ich schuld, bitte, beschuldige ihn nicht. Das
wäre schrecklich, das wäre Sünde!“

„Hörst du, Wanjä? Er ist schon gegen mich!“ rief Natascha.

„Genug!“ sagte der Fürst. „Wir müssen dieser unangenehmen Szene ein Ende
bereiten. Dieser verblendete und heftige Ausbruch Ihrer grenzenlosen
Leidenschaft zeigt mir Ihren Charakter in einem ganz neuen Licht. Ich
bin gewarnt, eines besseren belehrt. Ich habe mich in der Tat sehr
übereilt. Sie bemerken es nicht einmal, wie sehr Sie mich beleidigt
haben. Wir haben uns übereilt ... übereilt ... freilich, mein Wort
bleibt bestehen, doch ... als Vater wünsche ich meinem Sohne Glück ...“

„Sie sagen sich also los von Ihrem Wort,“ rief Natascha außer sich. „Sie
benutzen den Zufall! Doch wissen Sie, daß ich selbst hier vor zwei Tagen
beschlossen habe, ihn von seinem Wort zu entbinden, was ich jetzt in
Gegenwart aller tue. Ich gebe ihn frei!“

„Das heißt vielleicht, daß Sie in ihm die frühere Unruhe wieder
heraufbeschwören wollen, das Gefühl der Pflicht Ihnen gegenüber – wie
Sie sich noch soeben ausgedrückt haben – um ihn dadurch wieder an Sie zu
fesseln. Nach Ihrer Theorie müßte es sich wenigstens so ereignen; ich
sage es ja auch nur deshalb; doch genug davon; die Zeit wird alles
entscheiden. Ich werde einen ruhigeren Augenblick abwarten, um mich mit
Ihnen auszusprechen. Ich hoffe, daß wir unsere Beziehungen nicht
endgültig abbrechen werden. Ich hoffe gleichfalls, daß Sie mich noch
besser schätzen lernen. Ich wollte Ihnen noch heute ein Projekt
mitteilen, wonach Ihre Eltern ... doch genug! Iwan Petrowitsch!“ er trat
auf mich zu, „jetzt werden Sie mir mehr denn je von Nutzen sein können,
ich möchte Sie näher kennen lernen, es ist ja mein langgehegter Wunsch.
Ich hoffe, daß Sie mich verstehen werden. Ich werde Sie in diesen Tagen
aufsuchen; Sie erlauben?“

Ich verneigte mich. Mir selbst schien es, daß ich jetzt einer
Bekanntschaft mit ihm nicht mehr ausweichen konnte. Er reichte mir die
Hand, verbeugte sich stumm vor Natascha und verließ, mit dem Ausdruck
gekränkter Würde, das Zimmer.


                                  IV.

Einige Minuten blieben wir alle stumm. Natascha saß traurig und
gebrochen da, in trübes Nachdenken versunken. Jede Energie hatte sie
verlassen. Sie starrte, ohne was zu sehen, geradeaus vor sich hin, als
hätte sie auch vergessen, daß sie Aljoschas Hand in der ihren hielt. Der
weinte leise seinen Kummer aus, sie hin und wieder mit ängstlicher
Neugier beobachtend.

Endlich raffte er sich auf, begann sie zu trösten, bat sie, ihm zu
verzeihen, da nur er allein an allem die Schuld hätte: nur zu bemerkbar
war es, daß er seinen Vater rechtfertigen wollte; das schien ihm sehr am
Herzen zu liegen; er begann immer wieder davon zu sprechen, ohne es zu
wagen deutlich zu werden, um Nataschas Zorn nicht zu erregen. Er schwor
ihr ewige, unveränderliche Liebe und verteidigte voll Feuer seine
Anhänglichkeit zu Katjä; ununterbrochen wiederholte er, daß er sie nur
wie eine Schwester liebe, wie eine liebe, gute Schwester, die er doch
nicht ganz und gar verlassen könne; das wäre hartherzig und gemein
seinerseits und er versicherte immer wieder von neuem, daß Natascha,
wenn sie Katjä kennen lernte, sich mit ihr befreunden und niemals von
ihr lassen würde, und daß von Mißverständnissen schon garnicht die Rede
sein könne. Dieser Gedanke gefiel ihm besonders. Der Arme log wirklich
nicht. Er verstand die Bedenken Nataschas nicht, auch hatte er vieles,
was sie seinem Vater vorhin gesagt, überhaupt nicht begriffen. Er wußte
nur, daß sie sich entzweit hatten und das lag ihm wie ein schwerer Stein
auf dem Herzen.

„Bist du mir deines Vaters wegen böse, Aljoscha?“ fragte ihn Natascha.

„Wie kann ich ihn beschuldigen,“ antwortete er bitter, „wenn ich selbst
den Grund zu allem gegeben habe und an allem schuld bin? Ich habe dich
so sehr gekränkt, daß du in deinem Zorn ihn beschuldigt hast, um mich
verteidigen zu können; du verteidigst mich immer, ich aber bin es nicht
wert. Jemand mußte doch schuld sein, und so hieltest du ihn für
schuldig. Er aber hat keine Schuld daran, wirklich nicht!“ rief Aljoscha
bewegt aus. „War er denn deshalb hierher gekommen; sollte ich denn das
erwarten!“

Als er bemerkte, daß Natascha ihn traurig und vorwurfsvoll ansah,
bereute er das Gesagte wieder sofort.

„Nun, gut, schon gut, verzeih mir. Ich bin die Ursache von allem!“

„Ja, Aljoscha,“ fuhr Natascha schwermütig fort. „Jetzt ist er zwischen
uns getreten und hat uns fürs ganze Leben unsern Frieden zerstört. Du
hast immer an mich mehr geglaubt, als an alle anderen; jetzt hat er in
dein Herz Zweifel und Mißtrauen zu mir gesät; du klagst mich an; er nahm
mir die Hälfte deines Herzens. Eine schwarze Katze ist zwischen uns
gelaufen.“

„Sprich doch nicht so, Natascha: ‚eine schwarze Katze?‘“

Der Ausdruck mißfiel ihm.

„Durch erlogene Güte und vorgetäuschte Großmut fesselt er dich an sich,“
fuhr Natascha fort, „und wird dich jetzt gegen mich immer mehr und mehr
aufhetzen.“

„Ich schwöre es dir, nein!“ beteuerte Aljoscha feurig. „Er war gereizt,
als er sagte, daß wir uns ‚übereilt‘ hätten, und du wirst sehen, morgen
bereits wird er uns wieder verloben und wenn er sich wirklich so
geärgert haben sollte, daß er die Ehe nicht mehr wünscht, so schwöre ich
dir, daß ich ihm nicht gehorchen werde. Hoffentlich werden meine Kräfte
noch so weit reichen ... Und weißt du, wer uns helfen wird?“ rief er
plötzlich, von seiner Idee gepackt, begeistert aus. „Katjä wird uns
helfen! Und du wirst sehen, du wirst sehen, was sie für ein reizendes
Geschöpf ist! Du wirst sehen, ob sie deine Nebenbuhlerin sein kann, und
uns zu entzweien beabsichtigt! Und wie ungerecht du gegen mich warst,
als du vorhin sagtest, ich gehörte zu jenen, die bereits am Tage nach
der Hochzeit eine andere lieben können! Wie bitter weh mir das tat!
Nein, ich gehöre nicht zu denen, und wenn ich so oft zu Katjä ...“

„Genug, Aljoscha, besuche sie, so oft du willst. Nicht das habe ich
vorhin gemeint. Du hast nicht alles verstanden. Werde glücklich, mit wem
du willst. Ich kann doch von deinem Herzen nicht mehr verlangen, als du
mir freiwillig gibst ...“

Mawra trat ins Zimmer.

„Soll ich endlich den Tee bringen oder nicht? Der Samowar kocht schon
zwei Stunden; es ist elf Uhr.“

Sie war frech und wütend; offenbar war sie nicht bei Laune, weil sie
sich über Natascha geärgert hatte. Sie hatte nämlich seit Dienstag
triumphiert, daß ihr Fräulein (die sie sehr liebte) sich verheiraten
würde, was sie bereits im ganzen Hause herumerzählt hatte, im Laden,
beim Hausknecht. Sie hatte geprahlt, daß der Fürst, ein hoher General
und sehr reich, selbst gekommen sei, und um die Hand ihres Fräuleins
angehalten habe, was sie, Mawra, mit eigenen Ohren gehört hätte, und
plötzlich ging jetzt alles auseinander. Der Fürst war in böser Stimmung
fortgefahren, den Tee hatte man nicht serviert, und versteht sich, an
allem war das Fräulein schuld. Mawra hatte gehört, wie unehrerbietig sie
zu ihm gesprochen.

„Nun ... gib ihn her,“ antwortete Natascha.

„Und den Imbiß, soll ich den auch reichen, wie?“

„Gewiß, auch den Imbiß.“

Natascha lächelte.

„Da hat man nun alles vorbereitet, gestern den ganzen Tag bin ich
gelaufen. Bin auf den Newskij Prospekt nach Wein gegangen und nun ...“

Sie ging hinaus und schlug wütend die Tür hinter sich zu.

Natascha errötete und sah mich eigentümlich an.

Der Tisch wurde gedeckt; es gab Wild, Fisch, zwei Flaschen guten Wein
von Jelissejeff. „Wozu hatte man das alles vorbereitet,“ dachte ich.

„Siehst du, Wanjä, so bin ich,“ sagte Natascha zu mir, ganz verwirrt.
„Ich habe es gewußt, daß es heute so kommen würde, wie es gekommen ist
und doch hoffte ich, es würde anders sein. Ich dachte, Aljoscha würde
kommen und wir versöhnten uns wieder; meine Verdächtigungen würden sich
als ungerecht erweisen, man würde mich bereden, davon überzeugen und ...
so hatte ich denn auf jeden Fall etwas vorbereitet. Vielleicht, dachte
ich, werden wir zusammenbleiben, etwas plaudern ...“

Arme Natascha! Sie wurde über und über rot, als sie das sagte. Aljoscha
geriet in Entzücken.

„Siehst du, Natascha!“ rief er. „Du selbst hast nicht daran geglaubt;
noch vor zwei Stunden glaubtest du nicht daran! Nein; das muß alles
wieder gut gemacht werden; ich bin an allem schuld gewesen, ich muß auch
wieder alles gut machen. Natascha, erlaube mir, daß ich gleich zu Papa
gehe. Ich muß ihn sehen, er ist beleidigt und gekränkt; man muß ihn
beruhigen, ich werde ihm alles sagen, was ich denke, von mir aus denke;
dich werde ich nicht ins Gespräch ziehen. Sei mir nicht böse, wenn ich
dich jetzt verlasse und zu ihm will. Mir tut er leid; er wird sich vor
dir rechtfertigen; du wirst sehen ... Morgen werde ich den ganzen Tag
bei dir bleiben, zu Katjä werde ich nicht gehen.“

Natascha hielt ihn nicht zurück, sondern gab ihm selbst den Rat zu
fahren. Sie fürchtete sehr, Aljoscha würde jetzt mit Absicht ganze Tage
lang bei ihr bleiben und sich bei ihr langweilen. Sie bat ihn nur, sie
seinem Vater gegenüber nicht zu erwähnen, und gab sich Mühe, Aljoscha
beim Abschied freundlich zuzulächeln.

Er war schon im Begriff, fortzugehen, als er plötzlich umkehrte, sich
neben sie setzte und ihre Hände ergriff. Er sah sie mit
unbeschreiblicher Zärtlichkeit an.

„Natascha, mein Freund, mein Engel, sei mir nicht mehr böse und wir
wollen uns niemals mehr zanken. Und gib mir dein Wort, daß du mir in
allem glauben wirst und ich dir. Ich muß dir noch etwas erzählen, mein
Engel! Einmal waren wir miteinander verzankt, ich weiß nicht mehr,
warum; ich war der Schuldige. Ich trieb mich in der Stadt herum,
besuchte meine Kameraden, aber mein Herz war mir schwer, so schwer ...
Und plötzlich kam es mir in den Sinn: wie, zum Beispiel, wenn du
erkranktest und sterben würdest? Und wie ich mir das so vorstellte,
überkam mich solche Verzweiflung, als hätte ich dich tatsächlich auf
immer verloren. Meine Gedanken wurden immer dunkler und grauenvoller.
Ich stellte mir vor, wie ich zu deinem Grabe kommen, halb besinnungslos
vor Schmerz mich auf ihm niederlassen, es umarmen würde, dich rufen, und
Gott um das Wunder anflehen würde, daß du auf einen Augenblick vor mir
erschienest; ich stellte mir vor, wie ich mich auf dich stürzen würde,
um dich an mich zu pressen und dich zu küssen, und wahrscheinlich wäre
ich vor Seligkeit gestorben, wenn ich dich nur auf einen Augenblick, wie
früher, hätte umarmen können. Als ich mir aber vorstellte, daß ich Gott
anflehe, dich nur auf einen Augenblick zu besitzen, wo ich dich doch
schon sechs Monate besessen, und wo ich mich in diesen sechs Monaten so
oft mit dir gestritten und wir unser Glück nicht zu schätzen verstanden
..., jetzt aber fähig wäre für eine Minute Glück mit dir mein ganzes
Leben zu opfern ... da konnte ich es nicht mehr aushalten, ich stürzte
so schnell als möglich zu dir, kam hierher und du erwartetest mich
bereits. Ich preßte dich an mich, als hätte ich dich wirklich verloren
gehabt, Natascha! Wollen wir uns das Versprechen geben, niemals mehr zu
zanken! Mir ist dann immer so schwer! Und wie soll ich es mir
vorstellen, großer Gott, daß ich dich jemals verlassen könnte!“

Natascha weinte. Sie umarmten sich heftig und Aljoscha schwor ihr
nochmals, sie niemals zu verlassen. Er war fest überzeugt, daß er alles
wieder gut machen würde.

„Alles ist aus! Alles ist verloren!“ sagte Natascha, und drückte
krampfhaft meine Hand.

„Er liebt mich, und wird nie aufhören, mich zu lieben; doch, er liebt
auch Katjä und wird sie in einiger Zeit mehr lieben als mich. Und der
Fürst wird nicht ruhen ... und dann ...“

„Natascha! Auch ich glaube, daß der Fürst nicht aufrichtig handelt, doch
...“

„Du glaubst nicht an alles, was ich ihm gesagt habe! Ich habe es an
deinen Mienen bemerkt. Doch warte nur, du wirst noch sehen, ob ich recht
habe oder nicht? Ich habe noch längst nicht alles gesagt, Gott allein
weiß nur, was er alles noch beabsichtigt! Er ist ein schrecklicher
Mensch. Ich bin diese vier Tage hier im Zimmer auf- und abgegangen, ich
habe über alles nachgedacht, und bin hinter alles gekommen. Er will nur
das Herz Aljoschas von seinen Liebespflichten befreien. Er hat sich
diese Verlobung ausgedacht, um durch seine Großmut Aljoscha zu bezaubern
und ihn mir zu entreißen. Das ist so, Wanjä! Auch hat Aljoscha einen
solchen Charakter. Er würde sich beruhigen, seine Unruhe um mich würde
aufhören. Er denkt, ‚jetzt ist sie meine Frau, gehört mir auf immer‘ und
wird seine Aufmerksamkeit mehr Katjä zuwenden. Der Fürst kennt Katjä, er
hat sie gut beobachtet und findet, daß sie mehr zu ihm paßt, daß sie ihn
stärker beeinflussen kann, als ich. Ach, Wanjä, meine ganze Hoffnung
beruht auf dir, er will aus irgend einem Grunde mit dir zusammenkommen,
deine nähere Bekanntschaft machen. Weise ihn nicht ab, sondern versuche
um Gotteswillen, so bald als möglich zur Gräfin zu kommen. Du wirst
Katjäs Bekanntschaft machen und mir sagen, wie sie ist? Ich habe deine
Meinung über sie nötig. Keiner versteht mich so gut, wie du, und du
allein weißt, was ich brauche. Beobachte ihre Freundschaft, und worüber
sie miteinander sprechen; besonders beobachte Katjä ... Erweise mir noch
diesmal einen Freundschaftsdienst, mein einziger, lieber Wanjä! Nur auf
dich allein setze ich jetzt alle meine Hoffnungen! ...“

Als ich nach Hause zurückkehrte, war es bereits ein Uhr nachts. Nelly
öffnete mir mit verschlafenen Augen die Tür. Sie lächelte und sah mich
freudig an. Die Arme ärgerte sich darüber, daß sie eingeschlafen war.
Sie hätte mich durchaus erwarten wollen. Sie erzählte, daß in meiner
Abwesenheit jemand gewartet und auf meinem Schreibtisch einen Zettel an
mich hinterlassen. Der Zettel war von Masslobojeff. Er forderte mich
auf, morgen um ein Uhr zu ihm zu kommen. Ich hätte gerne Nelly über
alles ausgefragt, doch schob ich es auf morgen und bestand darauf, daß
sie sich jetzt schlafen lege. Die Arme war müde und hatte nur eine halbe
Stunde vor meinem Kommen geschlafen.


                                   V.

Am andern Morgen erzählte mir Nelly eigenartige Dinge vom gestrigen
Besuch. Es war übrigens schon sonderbar, daß Masslobojeff sich gerade
den Abend ausgesucht hatte, an dem, wie er wissen mußte, ich nicht zu
Hause war; ich hatte ihn noch bei unserem letzten Zusammensein davon
unterrichtet, ich erinnere mich dessen nur zu gut. Nelly behauptete, daß
sie am Anfang nicht habe öffnen wollen, weil sie sich gefürchtet, – es
sei bereits acht Uhr abends gewesen. Er habe sie hinter der Tür
angefleht, ihm zu öffnen, da er etwas sehr Wichtiges für mich zu melden
habe, und es mir morgen sonst sehr schlecht ergehen könne. Gleich,
nachdem er eingetreten, hatte er sich an meinen Schreibtisch gesetzt, um
mir den Zettel zu schreiben, darauf war er aufgestanden und hatte sich
zu ihr auf den Diwan gesetzt. „Ich stand auf und wollte nicht mit ihm
sprechen,“ erzählte Nelly, „ich fürchtete mich sehr; er begann von der
Bubnowa zu erzählen, wie sie wütend sei, daß sie mich jetzt für immer
verloren und darauf lobte er Sie; er sagte, Sie seien sein guter Freund
und er habe Sie bereits als Kind gekannt. Da verlor ich meine Angst und
habe mit ihm gesprochen. Er reichte mir Konfekt; ich wollte es aber
nicht annehmen. Er versicherte mir, daß er kein schlechter Mensch sei,
daß er zu tanzen und zu singen verstehe; er stand sofort auf und fing an
zu tanzen. Ich mußte lachen. Darauf sagte er, daß er noch ein wenig
bleiben wolle, – um Wanjä abzuwarten – und bat mich sehr, ihn nicht zu
fürchten, und mich neben ihm hinzusetzen. Ich setzte mich, doch wollte
ich kein Wort mit ihm sprechen. Er sagte mir, daß er Mama und Großpapa
gekannt habe und ... da habe ich denn gesprochen. Er saß noch lange ...“

„Und wovon habt ihr denn gesprochen?“

„Von Mama ... von der Bubnowa ... und von Großpapa.“

Nelly schien es mir nicht sagen zu wollen, wovon sie gesprochen. Ich
fragte sie auch nicht weiter aus, denn ich hoffte alles durch
Masslobojeff zu erfahren. Allem Anscheine nach hatte Masslobojeff Nelly
allein antreffen wollen. „Wozu nur das?“ dachte ich.

Sie zeigte mir lachend die drei Konfektstückchen, die er ihr gegeben.
Das waren schlechte in einem Schmierladen gekaufte Bonbons.

„Warum hast du sie nicht gegessen?“ fragte ich.

„Ich wollte nicht,“ antwortete sie finster, mit gerunzelten Brauen. „Ich
habe sie nicht genommen, er hat sie auf dem Diwan liegen lassen ...“

Ich hatte an diesem Tage viele Gänge zu machen und mußte Nelly bereits
wieder verlassen.

„Hast du es langweilig allein?“ fragte ich sie beim Fortgehen.

„Langweilig und auch nicht langweilig. Langweilig, weil Sie immer so
lange fortbleiben.“ Und sie sah mich mit großer Liebe an. Sie hatte mich
bereits den ganzen Morgen zärtlich angesehen und schien halb fröhlich,
halb zärtlich, halb verlegen zu sein; auch war in ihr etwas Scheues, als
fürchtete sie, mich irgendwie zu ärgern oder mein Wohlwollen zu
verlieren ...

„Also ... und warum auch _nicht_ langweilig?“ fragte ich sie,
unwillkürlich über sie lächelnd, so lieb und teuer war sie mir geworden.

„Das kann ich nicht sagen,“ antwortete sie lächelnd und verschämt.

Wir standen an der Schwelle bei offener Tür. Nelly stand vor mir mit
gesenkten Augen, mit einer Hand an meinem Rockärmel zupfend.

„Das ist also ein Geheimnis?“ fragte ich sie.

„Nein ... das nicht ... ich ... ich habe Ihr Buch zu lesen angefangen,“
sagte sie mit leiser Stimme und richtete ihren zärtlichen Blick über und
über errötend auf mich.

„Ah, sieh mal an! Nun, gefällt es dir?“

Als Autor war ich außer mir vor Freude, doch ich hätte weiß Gott was
gegeben, wenn ich sie in diesem Augenblick hätte küssen können. Doch das
war nicht möglich. Nelly schwieg.

„Warum, warum mußte er sterben?“ fragte sie mit einem Ausdruck tiefster
Trauer, heimlich mich ansehend, um dann plötzlich wieder die Augen
niederzuschlagen.

„Wer denn?“

„Dieser junge Mann ... an der Schwindsucht ... im Buche, da?“

„Es mußte so sein, Nelly.“

„Durchaus nicht,“ antwortete sie fast flüsternd, doch plötzlich brach
sie ab, halb böse, halb schmollend und hartnäckig die Augen zu Boden
gerichtet.

Es verging eine Minute.

„Und sie ... nun sie, alle beide, das Mädchen und der Alte,“ flüsterte
sie kaum hörbar und zupfte mich immer heftiger am Ärmel, „bleiben sie
zusammen? Und werden sie nicht mehr arm sein?“

„Nein, Nelly, sie fährt weit fort und wird die Frau eines Gutsbesitzers,
er aber bleibt ganz allein,“ es tat mir wirklich leid, daß ich ihr
nichts Beruhigenderes mitteilen konnte.

„Wenn es so ist ... so werde ich jetzt nicht mehr weiterlesen!“

Sie stieß meine Hand von sich, kehrte mir den Rücken, ging an den Tisch
und blieb so von mir abgewandt stehen. Sie atmete unregelmäßig vor
heftiger Erregung.

„Du hast dich also geärgert, Nelly?“ Ich trat an sie heran, „das ist
doch alles nicht wahr, das habe ich mir doch nur ausgedacht. Worüber
bist du denn böse, empfindsame Kleine!“

„Ich bin nicht böse,“ sagte sie bescheiden und mich traf ein heller,
liebevoller Blick. Plötzlich ergriff sie aber meine Hand, preßte ihr
Gesicht an meine Brust und fing an zu weinen.

Doch im selben Augenblick lachte sie auch schon wieder, lachte und
weinte zusammen. Auch mir war es so komisch und doch – so süß zumute.
Doch sie wollte um nichts in der Welt ihr Köpfchen aufheben, und je mehr
ich mir Mühe gab, es von meiner Brust loszureißen, um so mehr preßte sie
es an mich und lachte immer heftiger und heftiger.

Endlich machten wir dieser gefühlvollen Szene ein Ende. Wir
verabschiedeten uns voneinander und ich eilte davon. Nelly, ganz rot im
Gesicht und verschämt mit glänzenden Augen, lief mir noch nach auf die
Treppe und bat mich, bald wieder zu kommen. Ich versprach ihr, zu Mittag
zurück zu sein.

Zuerst ging ich zu den Alten. Beide waren erkältet. Anna Andrejewna war
sogar ganz krank. Nikolai Ssergejewitsch war in seinem Kabinett. Er
hörte, daß ich kam, doch wußte ich, daß er nach seiner Gewohnheit erst
eine Viertelstunde später erscheinen würde, um uns miteinander Zeit zur
Aussprache zu geben. Ich wollte Anna Andrejewna nicht zu sehr aufregen
und schwächte meine Erzählung über den gestrigen Abend nach Möglichkeit
ab, doch konnte ich die Wahrheit nicht verheimlichen; zu meiner
Verwunderung jedoch nahm die Alte die Nachricht von der Möglichkeit
eines Bruches ohne jede Verwunderung hin.

„Nun, mein Lieber, das wußte ich doch,“ sagte sie. „Als du damals
fortgegangen warst, habe ich mir noch lange alles überlegt, daß es nicht
sein kann. Wir haben es beim lieben Herrgott nicht verdient und er ist
doch ein so gemeiner Mensch; kann man denn von ihm etwas Gutes erwarten.
Ist es denn ein Spaß, daß er von uns umsonst zehntausend Rubel nimmt; er
weiß es, daß er sie umsonst bekommt, und doch nimmt er sie. Unser
letztes Stück Brot nimmt er uns und Ichmenjeffka wird verkauft.
Nataschenka ist klug und gerecht, daß sie ihm nicht glaubt. Ja, weißt
du, mein Lieber,“ fuhr sie fort, ihre Stimme dämpfend; „der Meine, der
Meine ... ist durchaus gegen die Hochzeit. Ich beredete ihn: er will
nicht, sagt er! Zuerst dachte ich, er verstellt sich; doch nein, es ist
so. Was soll dann aus ihr, meinem Täubchen, werden? Er würde sie dann
verfluchen. Nun, und dieser da, der Aljoscha, was tut er?“

Und lange fragte sie mich noch aus, nach allem, wie es so ihre
Gewohnheit war, seufzend und murrend. Ich hatte überhaupt bemerkt, daß
sie in letzter Zeit fassungslos und verworren war. Jede Nachricht
erschütterte sie. Das Leid um Natascha tötete ihr Herz und ihre
Gesundheit.

Der Alte erschien in Schlafrock und Pantoffeln; er klagte über Fieber,
behandelte aber seine Frau, die ganze Zeit über, die ich bei ihnen
verbrachte, mit großer Zärtlichkeit, sah ihr zärtlich in die Augen,
pflegte sie und sorgte sich um sie. Ihre Krankheit hatte ihn sehr
erschreckt, auch fühlte er, daß er alles im Leben verlieren würde, wenn
er sie verlöre.

Ich saß bei ihnen über eine Stunde. Als ich mich von ihnen verabschiedet
hatte, kam er mit mir hinaus ins Vorzimmer und fragte nach Nelly. Er
hatte die ernste Absicht, sie zu sich ins Haus zu nehmen. Er wollte sich
mit mir beraten, wie man Anna Andrejewna dafür gewinnen könne. Mit
großem Interesse fragte er mich, ob ich nicht noch etwas Neues über sie
erfahren hätte? Ich erzählte ihm in aller Kürze, was ich wußte. Meine
Erzählung machte auf ihn einen großen Eindruck.

„Wir wollen noch darüber reden,“ sagte er in bestimmtem Tone, „– bis
dahin ... übrigens, ich werde noch selbst zu dir kommen, wenn meine
Gesundheit es mir erlauben wird. Dann wollen wir sehen ...“

Punkt zwölf Uhr war ich bei Masslobojeff. Zu meiner großen Verwunderung
war die erste Person, der ich begegnete, der Fürst. Er zog im Vorzimmer
gerade seinen Mantel an und Masslobojeff half ihm geschäftig dabei und
reichte ihm seinen Stock. Er hatte mir ja von seiner Bekanntschaft mit
dem Fürsten erzählt, aber diese Begegnung setzte mich doch in Erstaunen.

Auch der Fürst schien ein wenig konfus zu sein, als er mich erblickte.

„Ach, Sie sind es!“ rief er mit übertriebener Freundlichkeit. „Welch
eine sonderbare Begegnung! Übrigens habe ich soeben von Herrn
Masslobojeff erfahren, daß Sie mit ihm bekannt sind. Es freut mich, es
freut mich sehr, Ihnen begegnet zu sein, ich möchte Sie sprechen und
hoffe, so bald als möglich zu Ihnen zu kommen; Sie erlauben doch? Ich
habe eine Bitte an Sie: helfen Sie mir, erklären Sie mir unsere jetzige
Lage. Sie sind dort befreundet, Sie kennen den ganzen Gang der
Angelegenheit; Sie haben Einfluß ... Es tut mir leid, jetzt nicht mit
Ihnen bleiben zu können ... Geschäfte! In den nächsten Tagen jedoch,
oder noch früher, werde ich das Vergnügen haben, bei Ihnen zu
erscheinen. Doch jetzt ...“

Er schüttelte schon gar zu herzlich meine Hand, warf Masslobojeff einen
verständnisvollen Blick zu und verschwand.

... „Sage mir doch, um Gotteswillen,“ begann ich, ins Zimmer tretend.

„Nichts werde ich dir sagen,“ unterbrach mich Masslobojeff, der eilig
nach der Mütze griff und ins Vorzimmer stürzte – „ich habe zu tun! Ich,
Bruderherz, muß selbst eilen, habe mich verspätet! ...“

„Du hast mir doch geschrieben, um zwölf Uhr zu kommen ...“

„Was will das heißen? Das habe ich dir gestern geschrieben, heute aber
hat man mir geschrieben ... ich sage dir, daß mir der Kopf brummt – vor
Geschäften! Man erwartet mich. Verzeih, Wanjä. Alles, was zu deiner
Genugtuung geschehen kann, ist, daß du mich durchprügeln kannst, weil
ich dich umsonst herbemüht habe. Wenn es dir gefällt, so haue mich nur,
doch um Christi willen, schnell! Halte mich nicht auf, man wartet auf
mich ...“

„Wozu soll ich dich verhauen? Hast du Geschäfte, nun so laufe,
Unvorhergesehenes kann jedem passieren. Nur ...“

„Von dem _Nur_ werde ich dir schon erzählen,“ unterbrach er mich,
stürzte ins Vorzimmer und zog seinen Mantel an. (Auch ich zog mich an.)
„Deinetwegen habe ich eine sehr ernste Sache zu erledigen; dieser Sache
wegen habe ich dich hergebeten, sie betrifft dich und deine Interessen.
Da ich dir aber jetzt in einem Augenblick nicht alles erzählen kann, so
gib mir, bitte, um Christi willen, dein Wort, daß du heute um punkt
sieben Uhr, nicht früher und nicht später, zu mir kommst. Ich werde dann
zu Hause sein.“

„Heute noch,“ sagte ich unentschlossen, „nun, Bruderherz, heute abend
wollte ich doch dahin gehn ...“

„Dahin, mein Lieber, wo du am Abend gehn wolltest, gehe jetzt und am
Abend komme zu mir. Denn, Wanjä, du kannst dir nicht vorstellen, was für
eine Sache ich dir mitzuteilen habe.“

„Na, schön, schön; was ist es denn? Ich gestehe, daß du mich neugierig
gemacht hast.“

Wir traten aus dem Haustor und standen auf dem Trottoir.

„Du wirst also kommen?“ fragte er.

„Ich habe gesagt, daß ich komme.“

„Gib dein Ehrenwort.“

„Warum, wozu? Nun, ich gebe dir mein Ehrenwort.“

„Das ist anständig. Wohin gehst du?“

„Dahin,“ antwortete ich, und zeigte nach rechts.

„Nun, und ich muß dorthin,“ und er zeigte nach links. „Lebe wohl, Wanjä,
vergiß nicht ... sieben Uhr ...“

„Sonderbar, höchst sonderbar,“ dachte ich und sah ihm nach.

Am Abend hatte ich eigentlich zu Natascha gehen wollen. Doch da ich
jetzt Masslobojeff mein Wort gegeben hatte, zu ihm zu kommen, so
beschloß ich, jetzt zu ihr zu gehn. Ich war überhaupt überzeugt, daß ich
jetzt Aljoscha bei ihr antreffen würde. Und wirklich, er war dort, und
freute sich außerordentlich über mein Kommen.

Er war sehr nett, fröhlich und außerordentlich zärtlich zu Natascha.
Natascha tat alles, um fröhlich zu erscheinen, doch sah man es ihr an,
daß es ihr schwer fiel. Sie sah krank und bleich aus; sie hatte die
Nacht nicht geschlafen. Zu Aljoscha war sie gezwungen zärtlich.

Aljoscha sprach und erzählte sehr viel, offenbar wollte er sie
belustigen und ihren Lippen ein Lächeln abringen. Er erwähnte aber in
seinem Gespräche weder Katjä noch seinen Vater. Wahrscheinlich war ihm
sein gestriger Versöhnungsversuch nicht gelungen.

„Weißt du, Wanjä? Er möchte furchtbar gern von mir fortgehen,“ flüsterte
mir Natascha in aller Eile zu, als Aljoscha hinausging, um Mawra irgend
etwas aufzutragen. – „Doch er fürchtet sich, mich zu kränken. Und auch
ich selbst fürchte mich, ihm zu sagen, daß er gehen soll, denn dann
versteift er sich erst recht darauf zu bleiben, und am meisten fürchte
ich mich, daß er sich bei mir langweilt und mich überhaupt zu lieben
aufhört! Was soll ich tun?“

„Gott, in welche Lage ihr euch selbst bringt! Und wie mißtrauisch einer
den andern verfolgt! Erklärt euch doch gegenseitig einfach und damit
abgemacht. Durch solches Verhalten werdet ihr euch wirklich gegenseitig
zur Last fallen.“

„Was soll ich tun?“ rief sie erschrocken aus.

„Warte, ich werde schon alles in Ordnung bringen.“

Ich ging in die Küche unter dem Vorwand, Mawra zu bitten meine Galoschen
zu reinigen.

„Vorsichtig, Wanjä!“ rief Natascha mir nach.

Kaum war ich in der Küche, als Aljoscha sich auf mich stürzte, als hätte
er mich erwartet.

„Iwan Petrowitsch, Lieber, was soll ich tun? Raten Sie mir: ich habe
noch gestern mein Wort gegeben, um diese Zeit bei Katjä zu sein. Ich
darf es nicht verfehlen! Ich liebe Natascha mehr als alles, ich bin
bereit für sie durchs Feuer zu gehen, aber Sie sehen doch ein, daß ich
die andere jetzt nicht ganz ...“

„Nun, so fahren Sie doch ...“

„Was wird Natascha dazu sagen? Ich werde ihr wehetun ... Iwan
Petrowitsch, helfen Sie mir ...“

„Meiner Meinung nach ist es besser, daß Sie fahren. Sie wissen, wie sehr
Natascha Sie lieb hat: sie wird sich fürchten, daß Sie sich bei ihr
langweilen, wenn Sie sich zwingen bei ihr zu bleiben. Übrigens, kommen
Sie, ich werde Ihnen helfen.“

„Lieber Iwan Petrowitsch, wie gut Sie sind!“

Wir kehrten zurück, nach einem Augenblick sagte ich zu ihm:

„Ich habe soeben Ihren Vater gesehen.“

„Wo?“ rief er ganz erschrocken aus.

„Zufällig auf der Straße. Er redete mich an und fragte nach Ihnen, ob
ich nicht wüßte, wo Sie seien? Er müßte Sie durchaus sprechen.“

„Ach, Aljoscha, fahre zu ihm, suche ihn auf,“ unterstützte mich
Natascha, die sofort begriff, was ich damit wollte.

„Wo kann ich ihn denn jetzt antreffen? Wird er zu Hause sein?“

„Nein, ich glaube, er sagte, daß er bei der Gräfin sein würde.“

„Aber, wie soll ich denn ...“ bemerkte naiv Aljoscha und sah Natascha
traurig an.

„Ach, Aljoscha, was tut es denn!“ sagte sie. „Willst du denn wirklich
diese Bekanntschaft aufgeben, um mich zu beruhigen. Das wäre doch
kindisch. Erstens wäre es unmöglich, und zweitens wäre es einfach
Undankbarkeit Katjä gegenüber. Ihr seid befreundet: kann man denn
freundschaftliche Bande so brutal zerreißen. Und mich beleidigst du
einfach, wenn du glaubst, daß ich so eifersüchtig sei. Fahre also, fahre
unverzüglich, ich bitte dich! Ja, und auch dein Vater wird sich
beruhigen.“

„Natascha, du bist ein Engel und ich bin deines kleinen Fingers nicht
wert!“ rief Aljoscha voll Begeisterung und Reue zugleich. „Du bist so
gut, und ich ... ich ... ich habe soeben Iwan Petrowitsch in der Küche
gebeten mir zum Fortgehen zu verhelfen. Er hat sich das ausgedacht.
Verurteile mich nicht, Natascha! Doch fühle ich mich gar nicht so
schuldig, denn ich liebe dich tausendmal mehr als alles auf der Welt und
ich habe mir da etwas Neues ausgedacht: ich will wieder alles Katjä
anvertrauen, ihr unsere jetzige Lage mitteilen, und alles was gestern
passiert ist. Sie wird sich etwas zu unserer Rettung ausdenken, denn sie
ist uns mit ganzer Seele zugetan ...“

„Nun, so beeile dich,“ antwortete ihm lächelnd Natascha, „und weißt du,
mein Freund, auch ich möchte ihre Bekanntschaft machen. Wie soll man das
arrangieren?“

Aljoschas Begeisterung war grenzenlos. Er erging sich sofort in Plänen,
wie es sich machen ließe. Doch das Problem löste er sofort dadurch, daß
Katjä es schon machen würde. Er wollte in zwei, drei Stunden Natascha
die Antwort bringen und den Abend bei ihr verbringen.

„Wirst du wirklich kommen?“ fragte ihn ungläubig Natascha.

„Wie kannst du daran zweifeln? Lebe wohl Natascha, meine Liebe – meine
ewig Geliebte! Lebe wohl, Wanjä! Ach, mein Gott, ich habe Sie zufällig
Wanjä genannt. Hören Sie, Iwan Petrowitsch, ich liebe Sie – warum sagen
wir nicht _Du_? Wollen wir uns duzen?“

„Schön.“

„Gott sei Dank! Wie oft habe ich daran gedacht. Ich habe nur immer nicht
gewagt, es Ihnen zu sagen. Sehen Sie, auch jetzt sage ich wieder _Sie_.
Es ist zu schwer, sich an das Du zu gewöhnen. Das ist so gut bei
Tolstoi, glaube ich, beschrieben: Zwei geben sich gegenseitig das Wort
‚_Du_‘ zu sagen, und können sich nicht daran gewöhnen, da vermeiden sie
immer die Sätze, in denen sie es anwenden müssen. Ach, Natascha! Lesen
wir einmal zusammen ‚Kindheit und Alter‘; das ist so schön!“

„Geh nur, geh!“ trieb ihn Natascha zur Eile an, „jetzt redest du wieder
so viel vor lauter Freude ...“

„Leb wohl! In zwei Stunden werde ich wieder bei dir sein!“

Er küßte ihre Hand und stürzte hinaus.

„Siehst du, siehst du, Wanjä!“ rief sie, und brach in Tränen aus.

Ich blieb zwei Stunden bei ihr, tröstete und beruhigte sie. Sie hatte
natürlich in allen ihren Befürchtungen recht. Mir tat das Herz weh, wenn
ich an ihre jetzige Lage dachte; ich fürchtete für sie. Doch, was war
hier zu machen?

Sonderbar schien mir auch Aljoscha: er liebte sie nicht weniger als
früher, vielleicht sogar noch mehr, quälender vor Reue und Dankbarkeit.
Doch zu gleicher Zeit setzte sich die neue Liebe immer mehr in seinem
Herzen fest. Ich selbst war neugierig, Katjä kennen zu lernen, auch
versprach ich Natascha ihre Bekanntschaft zu vermitteln.

Zum Schluß wurde sie sogar heiter. Unter anderem erzählte ich ihr alles
über Nelly und Masslobojeff; von der Bubnowa und meiner Begegnung des
Fürsten bei Masslobojeff und von meiner Verabredung um sieben Uhr bei
ihm; alles interessierte sie sehr. Auch von den Alten teilte ich ihr
alles mit, nur schwieg ich über die Absichten Nikolai Ssergejewitschs;
das Duell hätte sie erschrecken können. Ihr schienen die Beziehungen des
Fürsten zu Masslobojeff höchst sonderbar, sein Wunsch, mich kennen zu
lernen, erklärte sich wohl durch die Verhältnisse ...

Um drei Uhr nachmittags kehrte ich zurück nach Hause. Nelly empfing mich
mit strahlendem Gesichtchen ...


                                  VI.

Um Punkt sieben Uhr abends war ich bei Masslobojeff. Er empfing mich mit
lautem Halloh und ausgebreiteten Armen. Es versteht sich von selbst, daß
er bereits halb betrunken war. Doch am meisten wunderten mich die
außerordentlichen Vorbereitungen, die zu meinem Besuch getroffen worden
waren. Aus allem war zu sehen, daß sie mich feierlich erwartet hatten.
Ein netter Samowar brodelte auf einem runden Tischchen, das bedeckt war
mit einem teueren und schönen Tischtuch. Das Teegeschirr blitzte vor
Kristall und Silber. Auf einem anderen Tisch, der nicht weniger reich
gedeckt war, standen Teller mit Früchten und Konfekt, Kiewsche
Marmeladen und Pastillen, eingemachte Früchte, wie Apfelsinen, Äpfel und
drei Sorten Nüsse – kurz, eine ganze Fruchthandlung. Auf dem dritten
Tisch, mit blendendweißem Tischtuch belegt, standen verschiedene
Eßwaren: Kaviar, Käse, Pasteten, Würste, Fisch und eine ganze Reihe
Kristallkaraffen mit Likör von den verschiedensten Sorten und den
schönsten Farben – grün, rot, braun, goldig. Auf einem kleinen
Nebentisch standen sogar zwei Flaschen Champagner und auf einem Tisch
vor dem Diwan standen gleichfalls drei Flaschen: Sauterne, Lafitte und
Kognak – teuere Jelissejeffsche Flaschen. Hinter dem Teetisch saß
Alexandra Ssemjonowna, wenn auch in einfachem Kleide, so doch sehr
gewählt und geschmackvoll angezogen. Sie wußte, daß es ihr stand und
schien sehr stolz darauf zu sein; sie begrüßte mich fast mit einer
gewissen Feierlichkeit. Fröhlichkeit und Zufriedenheit lagen auf ihrem
frischen Gesicht. Masslobojeff war mit einem teuren Schlafrock und
chinesischen Pantoffeln bekleidet und in teurer Wäsche. Am Hemd waren
überall, wo es nur anging, moderne Knöpfe und Schließen angebracht. Die
Haare waren gekämmt, pomadisiert und schräg, nach der Mode, gescheitelt.

Ich war so erstaunt, daß ich mit offenem Munde mitten im Zimmer stehen
blieb und einmal Masslobojeff, das andere Mal Alexandra Ssemjonowna
anstarrte, deren Zufriedenheit sich bis zur Seligkeit steigerte.

„Was hat das zu bedeuten, Masslobojeff, habt ihr heute einen
Besuchsabend?“ rief ich schließlich beunruhigt aus.

„Nein, wir haben nur dich erwartet,“ antwortete er feierlich.

„Ja, was hat denn das zu bedeuten,“ ich wies auf die Vorräte, „damit
kann man ja ein ganzes Heer bewirten!“

„Und betrinken, hauptsächlich betrinken!“ fügte Masslobojeff hinzu.

„Und das alles ist nur für mich?“

„Und für Alexandra Ssemjonowna. Sie hat geruht, es sich so auszudenken.“

„Da haben wir’s! Ich wußte es ja!“ rief Alexandra Ssemjonowna errötend
aus, doch verlor sie den Ausdruck von Zufriedenheit nicht. „Man kann
nicht einmal anständig seinen Gast empfangen!“

„Kannst du dir vorstellen, bereits vom Morgen an, als sie es hörte, daß
du heute abend kommen würdest, hat sie alles vorbereitet; es war nicht
mehr auszuhalten ...“

„Das ist nicht wahr! Nicht vom Morgen an, sondern von gestern abend an.
Denn gestern abend, als du nach Hause kamst, sagtest du mir, daß Iwan
Petrowitsch morgen abend unser Gast sein würde ...“

„Da haben Sie sich verhört ...“

„Durchaus nicht, ich lüge niemals. Und warum soll man seinen Gast nicht
gut empfangen? Da leben wir, und leben wir, kein Mensch kommt zu uns,
und wir haben doch reichlich zu leben. Mögen doch die guten Leute sehen,
daß wir wie andere Menschen zu leben verstehen.“

„Und die Hauptsache, sie sollen es einmal sehen, was Sie für eine
vorzügliche Wirtin sein können,“ fügte Masslobojeff hinzu. „Stelle dir
nur vor, mein Freund, was ich habe ausstehen müssen. Ein Hemd aus
holländischem Leinen hat sie mir gekauft, Pantoffeln und einen
chinesischen Schlafrock, die Haare gekämmt und pomadisiert: mit
Bergamottenpomade; mit Parfüm wollte sie mich bespritzen ... da habe
ich’s aber nicht mehr ausgehalten, habe ihr meine eheliche Autorität
gezeigt ...“

„Durchaus nicht mit Bergamottenpomade, sondern mit der besten echten
französischen Pomade ...“ unterbrach ihn ganz erregt Alexandra
Ssemjonowna. „Urteilen Sie selbst, Iwan Petrowitsch, er bringt mich
nirgendwohin, weder ins Theater, noch auf einen Ball, nur Kleider
schenkt er mir ... doch wohin soll ich mit den vielen Kleidern? Ich soll
mich ankleiden und allein im Zimmer auf und ab spazieren. Neulich wären
wir beinahe ins Theater gegangen, ich ging nur in mein Zimmer, um mich
etwas zurecht zu machen, aber wie ich wiederkomme, hat er ein Gläschen
nach dem anderen getrunken und ist berauscht. So unterblieb es wieder.
Kein Mensch, niemand, niemand kommt zu uns zu Gast; nur am Morgen kommen
hin und wieder Menschen in Geschäften hierher; dann muß ich mich
zurückziehen. Und alles ist da; ein Samowar, ein schönes Service und
schöne Tassen – alles, alles hat er mir geschenkt. Und auch das Essen
wird uns gebracht, nur den Wein kaufen wir, und diesmal ein bißchen
Imbiß – eine Pastete, Kaviar, etwas Konfekt haben wir gekauft. Wenn doch
nur jemand sehen würde, wie wir leben! Das ganze Jahr habe ich daran
gedacht: wenn ein Gast kommt, ein wirklicher Gast, dann werde ich ihn
gut bewirten, und er wird sich finden, und uns ist’s angenehm. Daß ich
aber diesen Dummkopf pomadisiert habe, nun, er ist dessen nicht wert; am
liebsten würde er immer schmutzig gehen. Sehen Sie, was man ihm für
einen Schlafrock geschenkt hat: ja, ist er ihn denn wert? Wenn er nur
was trinken kann! Sie werden sehen, gleich wird er vor dem Tee sich noch
Schnaps eingießen.“

„Das ist wahr! Trinken wir eins, Wanjä, einen goldenen oder silbernen,
um dann mit erfrischter Seele zu den anderen Getränken überzugehen.“

„Nun, das wußte ich doch!“

„Beunruhigen Sie sich nicht, Ssaschenka, wir werden auch Tee trinken,
Tee mit Kognak, auf Ihre Gesundheit.“

„Also doch!“ rief sie, die Hände über den Kopf zusammenschlagend. „Tee
vom Khan zu sechs Rubel das Viertel hat ihm vorgestern der Kaufmann
geschenkt, er aber will ihn mit Kognak trinken. Hören Sie nicht auf ihn,
Iwan Petrowitsch, ich werde Ihnen gleich eingießen ... Sie werden selbst
sehen, was das für ein Tee ist!“

Es war augenscheinlich, daß sie mich den ganzen Abend festhalten
wollten. Alexandra Ssemjonowna hatte das ganze Jahr auf einen Gast
gewartet und nun sollte ich dazu herhalten. Das kam mir nicht gelegen.

„Höre mal, Masslobojeff, ich bin zu dir nicht als Gast gekommen, sondern
in Geschäften; du hast mich selbst gerufen, um mir mitzuteilen ...“

„Nun Geschäft ist Geschäft, doch die Unterhaltung mit einem guten
Freunde ist auch eine Sache.“

„Nein, mein Lieber, darauf kannst du nicht rechnen. Um halb neun muß ich
fort. Ich habe mein Wort gegeben ...“

„Daran ist nicht zu denken. Wirklich, was du uns antust. Denke doch an
Alexandra Ssemjonowna? Sieh sie dir an, sie ist sprachlos. Wozu hat sie
mich pomadisiert, bedenke, mit Bergamotten!“

„Du scherzest, Masslobojeff. Ich werde Alexandra Ssemjonowna schwören,
in der nächsten Woche, am Freitag, zu kommen; heute jedoch habe ich mein
Wort gegeben – oder besser gesagt, ich muß heute an einem Ort
erscheinen, auf jeden Fall. Sage mir also lieber, was du mir mitteilen
wolltest?“

„So wollen Sie wirklich nur bis halb neun Uhr hier bleiben!“ rief
Alexandra Ssemjonowna mit kläglicher Stimme, fast weinend, während sie
mir eine Tasse mit prachtvollem Tee reichte.

„Beunruhigen Sie sich nicht, Ssaschenka; das ist alles Unsinn,“
beruhigte sie Masslobojeff. „Er wird bleiben; sag mir doch bitte, Wanjä,
wohin du zu gehen hast? In welchen Geschäften? Kann man’s nicht
erfahren? Du läufst ja den ganzen Tag umher und arbeitest nichts? ...“

„Was geht es dich an? Übrigens, davon kannst du später erfahren. Sage
mir doch lieber, warum bist du gestern abend bei mir gewesen, wo ich es
dir doch gesagt hatte, daß ich nicht zu Hause sein würde?“

„Es fiel mir nachher ein, doch gestern abend hatte ich’s vergessen. Ich
wollte über eine ernste Angelegenheit mit dir sprechen, doch vorher
mußte ich Alexandra Ssemjonowna befriedigen. ‚Sieh,‘ sagt sie, ‚da ist
ein Mensch, der ist dein Freund, warum lädst du ihn nicht ein?‘ Und
deinetwegen, Freund, hat sie mich eine dreiviertel Stunde lang gequält.
Der Bergamottenpomade wegen werden mir sicher im Himmel viele Sünden
vergeben werden, doch, denke ich, warum soll ich nicht einen Abend mit
dir freundschaftlich zubringen? Ich ersann mir daher eine Kriegslist:
schrieb dir, wenn du nicht kommst, so werden alle unsere Schiffe
untergehen.“

Ich bat ihn im voraus, das nicht wieder zu tun, sondern mir gegenüber
aufrichtig zu sein. Übrigens befriedigte mich diese Erklärung
keineswegs.

„Doch vorhin, warum bist du vorhin davongelaufen?“ fragte ich ihn.

„Vorhin hatte ich wirklich ein dringendes Geschäft zu erledigen, das ist
nicht gelogen.“

„Mit dem Fürsten etwa?“

„Wie schmeckt Ihnen der Tee?“ fragte mit honigsüßer Stimme Alexandra
Ssemjonowna.

„Siehst du, sie hat bereits fünf Minuten darauf gewartet, daß man ihren
Tee lobt.“

„Vorzüglich, Alexandra Ssemjonowna, vorzüglich! Ich habe einen solchen
noch nie getrunken.“

Alexandra Ssemjonowna war ganz stolz vor Vergnügen und wollte mir sofort
neuen einschenken.

„Der Fürst!“ schrie Masslobojeff, „dieser Fürst, Bruderherz, ist solch
ein Schelm, ein Betrüger ... das! Ich Freund, ich sage dir, auch ich bin
manchmal ein Betrüger, doch trotz alledem wollte ich nicht in seiner
Haut stecken! Doch genug, ich schweige! Kein Wort mehr über ihn.“

„Und ich, ich bin gerade deshalb zu dir gekommen, um dich unter anderem
über ihn auszufragen. Doch davon später. Sage mir aber, warum hast du
gestern in meiner Abwesenheit Helene Konfekt angeboten und ihr
vorgetanzt? Und worüber hast du mit ihr anderthalb Stunden gesprochen!“

„Helene ist ein kleines Mädchen von elf oder zwölf Jahren und lebt zur
Zeit bei Iwan Petrowitsch,“ wandte sich plötzlich Masslobojeff erklärend
zu Alexandra Ssemjonowna. „Sieh nur, Wanjä, sieh,“ er wies mit dem
Finger auf sie, „wie sie rot geworden ist, als sie hörte, daß ich einem
unbekanntem jungen Mädchen Konfekt gebracht hätte, wie sie
zusammenzuckt, als hätten wir mit einer Pistole geschossen ... isch, wie
die Augen blitzen und wie Nadeln stechen. Da ist nichts mehr zu machen,
Alexandra Ssemjonowna ... nichts mehr zu verheimlichen. Sie sind
eifersüchtig! Hätte ich nicht gesagt, daß es sich hier um ein
elfjähriges Kind handelt, so wäre sie über mich hergefallen, hm! ... da
hätte mich keine Bergamottenpomade mehr retten können!“

„Sie kann dich auch sowieso nicht retten!“

Mit diesen Worten sprang Alexandra Ssemjonowna wie eine Feder hinter
ihrem Teetisch hervor und ehe es sich Masslobojeff versehen konnte,
hatte sie ihn an den Haaren gefaßt und ordentlich durchgerüttelt.

„Das hast du davon, das hast du davon, wage es noch einmal zu sagen, daß
ich eifersüchtig bin, wage es, wage es noch einmal!“

Sie errötete über und über und wenn sie auch lachte, so mußte
Masslobojeff ihren Ärger doch ordentlich verspüren.

„Von jeder Schande spricht er!“ fügte sie ernst, an mich gewandt, hinzu.

„Ach, Wanjä, so ist nun einmal mein Leben! Da hilft nur eines –
Schnaps!“ beschloß Masslobojeff, brachte seine Haare in Ordnung und
stürzte sich auf die Schnapskaraffe. Doch Alexandra Ssemjonowna hatte da
schon vorgesehen, sie reichte ihm das Schnapsglas und streichelte ihm
zärtlich die Backe. Masslobojeff blinzelte mir stolz zu, schnalzte mit
der Zunge und leerte feierlich sein Glas.

„Was das Konfekt anbelangt,“ begann er und setzte sich zu mir auf den
Diwan, „ich habe es gestern in einem Schmierladen in betrunkenem
Zustande gekauft, wozu, – weiß ich selbst nicht. Vielleicht, um den
vaterländischen Handel aufrecht zu erhalten, bestimmt kann ich es nicht
sagen; ich weiß nur, daß ich damals betrunken in den Schmutz gefallen
war, mir die Haare raufte und darüber weinte, daß ich zu nichts nütze
sei. Das Konfekt hatte ich natürlich vergessen, es blieb bis gestern in
der Tasche, erst als ich mich auf deinen Diwan setzen wollte, fühlte ich
es plötzlich. Getanzt habe ich wohl aus demselben Grunde, ich war
angetrunken, und bin ich dann mit meinem Schicksal zufrieden, so tanze
ich immer. Das ist alles; vielleicht hat die kleine Waise mein Mitleid
erregt und ich tanzte, um sie ein wenig zu erheitern. Auch wollte sie
kein Wort mit mir sprechen und schien sehr böse auf mich zu sein.“

„Wolltest du nicht etwas von ihr erfahren, gestehe es offen: Du gingst
zu ihr, weil du wußtest, daß ich nicht zu Hause sein würde. Ich weiß,
daß du anderthalb Stunden bei ihr gewesen und sie ausgefragt hast unter
dem Vorwande, daß du ihre Mutter gekannt.“

Masslobojeff lächelte verschmitzt.

„Die Idee wäre nicht schlecht,“ sagte er. „Nein, Wanjä, das ist es
nicht. Das heißt, warum soll ich sie nicht bei Gelegenheit ausfragen;
aber, wie gesagt, das ist es nicht. Höre, alter Freund, ich bin auch
jetzt bereits betrunken, doch im allgemeinen weißt du, wird dich Filipp
in einer _schlechten Absicht_ nicht betrügen.“

„Nun, aber ohne eine schlechte Absicht?“

„Ohne eine schlechte Absicht. Zum Teufel damit, trinken wir eins, und
dann – zur Sache! Ich habe alles erfahren, diese Bubnowa hat auf das
Kind überhaupt kein Recht. Die Mutter schuldete ihr Geld und sie hat
darauf das Kind an sich genommen. Wenn die Bubnowa auch ein böses Weib
ist, dumm ist sie doch, wie alle Weiber. Die Verstorbene war im Besitz
eines guten Passes; daher ist alles im reinen. Helene kann bei dir
bleiben, solange du willst, gut wäre es jedoch, wenn sie in eine Familie
käme, wo sie eine gute Erziehung erhalten könnte. Doch fürs erste kann
sie bei dir bleiben. Ich werde schon für alles sorgen. Die Bubnowa wagt
nicht einen Finger zu rühren. Von der Verstorbenen konnte ich nichts
Bestimmtes erfahren. Sie war Witwe und hieß Salzmann.“

„Das hat mir auch Nelly gesagt.“

„Nun, das ist alles. Jetzt, Wanjä,“ begann er mit einer gewissen
Feierlichkeit, „habe ich eine Bitte an Dich. Du mußt sie erfüllen.
Erzähle mir so ausführlich als möglich, was du für Geschäfte hast, wohin
du täglich gehst? Ich habe manches zum Teil erfahren, doch möchte ich
darüber ausführlicher unterrichtet sein.“

Diese Feierlichkeit erstaunte und beunruhigte mich.

„Was soll das? Wozu mußt du das wissen? Du fragst so feierlich ...“

„Siehst du, Wanjä, alle überflüssigen Worte beiseite: ich möchte dir
einen Dienst erweisen. Denn, Bruderherz, wenn ich wollte, könnte ich
dich auf schlaue Weise ausforschen, so, wie du es glaubst, daß ich es
bei der Kleinen durch Konfekt versucht hätte; ich habe es sofort
verstanden. Da ich dich aber höchst feierlich darum bitte, so weißt du,
daß ich dich im Ernst und in deinem Interesse ausfrage. Du brauchst mich
also nicht zu verdächtigen und kannst mir die Wahrheit sagen.“

„Welchen Dienst willst du mir denn erweisen? Höre, Masslobojeff, warum
willst du mir nichts vom Fürsten erzählen? Das wäre der einzige Dienst,
den du mir erweisen könntest.“

„Vom Fürsten? Hm! ... Nun, geradeaus gesagt: ich möchte dich ja in
Angelegenheiten des Fürsten ausfragen.“

„Wie?“

„Ich habe bemerkt, Bruderherz, daß er sich in deine Angelegenheiten
einmischen möchte; er hat mich übrigens über dich ausgefragt. Wie er es
erfahren, daß wir miteinander bekannt sind – das ist schon nicht mehr
deine Sache. Die Hauptsache aber: hüte dich vor ihm. Das ist ein Judas
und noch weit schlimmer. Ich zittere darum für dich. Übrigens weiß ich
sonst gar nichts, darum bitte ich dich mir alles zu erzählen, damit ich
darüber urteilen kann ... Darum habe ich dich heute hergebeten. Das ist
die wichtige Angelegenheit, wenn ich schon aufrichtig sein soll.“

„Etwas wenigstens wirst du schon wissen, und wenn auch nur das, weshalb
ich gerade vor dem Fürsten auf der Hut sein soll.“

„Nun gut, also sei’s denn! Du mußt nämlich wissen, Bruderherz, daß man
sich so im allgemeinen mitunter an mich wendet, wenn es sich um
verzwickte Fälle handelt. Aber eines überlege dir vorher: vertrauen mir
doch die meisten nur deshalb, weil ich kein Schwätzer bin – wie also
soll ich dir nun etwas erzählen? Deshalb, weißt du, schraube deine
Ansprüche nicht gar zu hoch und nimm damit fürlieb, was ich dir so in
Bausch und Bogen erzähle, denn ich tu’s ja nur, um dir eine Ahnung davon
zu geben, als was für ein bodenloser Schuft er sich nach alledem
entpuppt hat. Na, aber zuerst fange du an von deinen Sachen.“

Ich überlegte ein wenig, was ich ihm denn erzählen sollte, mußte mir
aber sagen, daß ich schließlich nichts vor ihm zu verheimlichen hatte.
Nataschas Erlebnisse waren kein Geheimnis; zudem konnte ich von
Masslobojeff vielleicht noch etwas erfahren, das sich zu ihrem Nutzen
verwenden ließ. Selbstverständlich bemühte ich mich, in meiner Erzählung
gewisse Punkte nach Möglichkeit zu umgehen. Am meisten jedoch
interessierte ihn alles, was ich ihm über den Fürsten erzählen konnte;
er unterbrach mich sogar mehrmals mit verschiedenen Fragen und bat mich,
vieles nochmals zu erzählen, so daß ich ihm zu guter Letzt doch alles
ziemlich ausführlich erzählt hatte, was ungefähr eine gute halbe Stunde
in Anspruch nahm.

„Hm!“ meinte er zum Schluß, „jedenfalls ein verteufelt gescheites Mädel.
Wenn sie den Fürsten vielleicht auch nicht ganz durchschaut, so hat sie
doch wenigstens sofort erkannt, welcher Art dieser Mensch ist und nach
dieser Erkenntnis ohne weiteres jede Beziehung zu ihm abgebrochen.
Bravo, Natalja Nikolajewna! Ich trinke auf ihr Wohl!“ – Er leerte sein
Glas bis zur Nagelprobe –. „Dazu gehörte nicht nur Verstand, dazu
gehörte vor allen Dingen Herz! Hier galt es, mutig dem Feind ins
Angesicht zu schauen und sich nicht vom Gefühl verleiten zu lassen. Und
sie hielt stand! Natürlich hat sie damit jede Hoffnung verspielt. Der
Fürst wird jetzt mit allen Mitteln darauf hinwirken, daß Aljoscha sie
verläßt, und der wird sie sicherlich verlassen. Aber Ichmenjeff tut mir
leid, – zehntausend Rubel diesem Schurken zahlen zu müssen! Aber wer hat
denn auch seine Sache geführt, wer? Natürlich er selbst! Das ist’s ja!
Aber so sind sie nun einmal alle, diese Ehrenmänner und Hitzköpfe! Das
sind mir gerade die richtigen Advokaten! Diesen Fürsten hätte man ganz
anders anfassen sollen. Und was für einen Advokaten ich dem Ichmenjeff
hätte verschaffen können! – Teufel noch einmal!“

Vor Ärger schlug er sogar mit der Faust auf den Tisch.

„Nun, und wie steht es denn jetzt mit dem Fürsten?“

„Ach, da kommst du wieder mit dem Fürsten! Tja, Mensch, was soll ich dir
denn sagen? ... Es war überhaupt eine Dummheit von mir, so etwas zu
versprechen. Aber ich wollte dich, weißt du, eigentlich nur warnen, um
dich beizeiten sozusagen gegen seinen Einfluß zu verbarrikadieren. Wer
sich mit ihm einläßt, der ist nicht ungefährdet. Deshalb spitze die
Ohren, Freund Wanjä, so, und das ist alles, was ich dir zu sagen habe.
Du dachtest wohl, ich würde dir Gott weiß was für Pariser Geheimnisse
mitteilen? Gefehlt! Da sieht man gleich den Schriftsteller, der den Kopf
voll von Romanen hat! ... Was soll ich dir denn von diesem Schurken
erzählen? Ist er einmal ein Schurke, nun, dann ist er eben einer ... Na,
schließlich so als Beispiel, weißt du, könnte ich dir eventuell noch so
’n kleines Geschichtchen erzählen, nur – versteht sich – ohne Angabe von
Ort und Zeit, ohne Städte oder Personen zu nennen, also ohne jede
kalendarische Genauigkeit. Bist du damit einverstanden? – Na, dann höre
zu. Du weißt, daß er in seiner ersten Jugend, als er noch mit seinem
mageren Kanzleigehalt auskommen mußte, eine reiche Kaufmannsfrau
geheiratet hatte. Nun, diese Person soll er aber nichts weniger als
höflich behandelt haben, und wenn es sich jetzt auch nicht um sie
handelt, so will ich doch die Bemerkung hier einflechten, Freund Wanjä,
daß er sein Leben lang gerade diese Art Erwerb jedem anderen vorgezogen
zu haben scheint. So zum Beispiel auch in folgendem Fall. Fuhr er da
einmal ins Ausland, wie man so eben fährt ...“

„Erlaub, Masslobojeff von welcher Reise redest du? In welchem Jahre?“

„Das war vor genau neunundzwanzig Jahren und drei Monaten. Nun und da
machte er eines schönen Tages einem alten Vater die einzige Tochter
abspenstig und entführte sie nach Paris. Kurz: er verstand die
Geschichte gut einzufädeln. Der Vater war so etwas wie ein reicher
Fabrikbesitzer oder, sagen wir, ein Aktionär, der an irgend einem
ähnlichen Unternehmen stark beteiligt war. Genau weiß ich es nicht. Du,
was ich dir jetzt so erzähle, sind nur meine eigenen Kombinationen, die
ich mir mit freier Dichtergabe aus verschiedenen gegebenen Momenten
zusammenbaue. Nun und der Fürst wußte ihn geschickt zu betrügen und sich
gleichfalls in das Unternehmen hineinzuschmuggeln. Also er betrog ihn
gründlich und nahm ihm obendrein noch bares Geld ab. Was nun dieses bare
Geld betrifft, so hatte der Alte dafür natürlich gewisse Papiere vom
Fürsten in den Händen. Der Fürst aber wollte das Geld so von ihm
geliehen haben, daß er es nicht mehr zurückzugeben brauchte, wollte es
also, prosaisch ausgedrückt und nach unseren Begriffen, einfach stehlen.
Dieser Alte hatte nun, wie gesagt, eine Tochter, und diese seine einzige
Tochter war eine Schönheit, und in diese Schönheit hatte sich ein junger
Idealist verliebt – solch ein Seitenstück von Schiller, weißt du – ein
Dichterling, der aber zugleich auch Kaufmann war, ein junger Träumer und
Schwärmer – mit einem Wort: ein echter Deutscher, Pfefferkuchen oder so
ungefähr mit Namen.“

„Wie? Sein Familienname war Pfefferkuchen?“

„Na, vielleicht wars nicht gerade Pfefferkuchen, ich will es nicht
verschwören, und im übrigen hole ihn der Teufel, nicht um ihn handelt es
sich jetzt. Nur war der Fürst im Verkehr mit der Tochter von gewinnenden
Umgangsformen, daß sie sich bis zum Wahnsinn in ihn verliebte. Dem
Fürsten aber erschienen damals namentlich zwei Dinge erstrebenswert:
erstens, in den Besitz der Tochter und zweitens in den der bewußten
Dokumente zu gelangen, die schwarz auf weiß bestätigten, daß er vom
Alten jene Summe geliehen erhalten hatte. Die Schlüssel aller
Geldschränke und Kassetten des Alten bewahrte jedoch die Tochter auf,
denn der Alte liebte sein einziges Kind geradezu sinnlos, nämlich
dermaßen, daß er sie unter keiner Bedingung verheiraten wollte.
Tatsache! Auf jeden Freiersmann war er eifersüchtig, und konnte es nicht
begreifen, daß er sich einmal doch von ihr würde trennen müssen. Selbst
den armen Pfefferkuchen jagte er zum Teufel. Er war eben ein ganzer
Sonderling, und dazu noch ein Engländer ...“

„Ein Engländer? Ja, aber wo ist denn das alles passiert?“

„Das heißt, nein, sieh mal: ich habe nur so gesagt, ‚ein Engländer‘,
bloß weil es sich gerade so machte, du aber mußt es natürlich sofort
aufgreifen! Herrgott, bewahre einen vor Schriftstellern! Geschehen aber
ist’s in Santa Fé de Bogotá, vielleicht aber auch in Krakau oder, was am
wahrscheinlichsten ist, im Fürstentum Nassau, – sieh mal, das hier auf
der Seltersflasche steht. Also wie gesagt: in Nassau. Bist du jetzt
zufrieden? Also der Fürst entführte die Tochter und die Tochter
entführte wiederum auf Wunsch des Fürsten gewisse Dokumente. Gibt es
doch solch eine Liebe, Wanjä! Pfui, Teufel! Und das Mädel war doch ein
edles, reines, ideales Geschöpf! Freilich hat sie wohl von der Bedeutung
dieser Papiere keinen ganz zutreffenden Begriff gehabt. Nur eines machte
ihr Sorge: der Vater würde sie verstoßen. Doch der Fürst war auch diesem
Hindernis gewachsen: er verpflichtete sich schriftlich, formell und
gesetzlich, daß er sie heiraten werde. So redete er ihr denn ein, daß
sie nur so ein wenig reisen würden, bis der Zorn des Alten sich gelegt,
dann aber würden sie vermählt zurückkehren und zu dreien glücklich und
einträchtig beisammen leben, Geld verdienen und sich freuen, und so
weiter ^ad infinitum^. Und so entfloh sie denn mit dem Fürsten, der Alte
verfluchte sie und damit war er gleichzeitig bankrott. Ihr folgte aber
nach Paris jener Frauenmilch, der um ihretwillen alles, sogar sein
Geschäft, verließ; er war nämlich gar zu sehr in sie verliebt ...“

„Erlaub! Was für ein Frauenmilch?“

„Ach, nun, zum Teufel mit ihm! Ich meinte jenen Feuerbach ... nein, wart
mal, wie hieß doch der verwünschte Kerl? Pfefferkuchen! Na, also –
diesen Pfefferkuchen meinte ich, wie gesagt. Der Fürst aber konnte sie
doch natürlich nicht heiraten, denn, nicht wahr: was würde die Fürstin
Soundso dazu sagen? Wie würde sich Baron Pomoikin darüber äußern?
Folglich hieß es: betrügen. Nun und das tat er denn auch, tat es aber
doch gar zu gemein. Erstens prügelte er sie fast, zweitens lud er
absichtlich den Pfefferkuchen ein, und der begann sie denn auch richtig
zu besuchen, und bald verbrachte er mit ihr ganze Abende in gemeinsamer
Trauer oder tröstete sie als ihr aufrichtiger Freund, der er nun einmal
war. Alles in allem wird es bei ihnen nur ein Gemisch von Romantik und
Mitleid mit sich selber gewesen sein. Kennt man. Der Fürst aber wußte
die Geschichte so zu drehen, daß er sie einmal spät abends überraschte:
und da behauptete er frech, daß sie sich vergessen hätten, er habe es
mit eigenen Augen gesehen, usw. usw. ... Das kam natürlich zu einer
großen Szene, die damit endete, daß er sie beide vor die Tür setzte und
selber nach London reiste. Sie aber war damals bereits stark in
Umständen: kaum hatte er sie verstoßen, da gebar sie auch schon ein
Töchterchen ... das heißt, nicht ein Töchterchen, sondern einen Sohn,
jawohl gerade ein Söhnchen, verlaß dich drauf. Es wurde denn auch ohne
viel Umstände Wolodjka[4] getauft. Pfefferkuchen hob ihn noch aus der
Taufe. Nun, und so reiste sie denn mit dem Pfefferkuchen weiter. Der
besaß nämlich ein kleines Kapital. Sie reisten in der Schweiz, in
Italien ... in all diesen poetischen Ländern, weißt du, so wie es sich
eben gehört. Jene weinte und Pfefferkuchen sah aus wie sieben Tage
Regenwetter, das Töchterchen aber wuchs heran. Somit wäre für den
Fürsten die ganze Angelegenheit aufs angenehmste erledigt gewesen, wenn
– ja, wenn er auch sein schriftliches Eheversprechen von ihr
zurückerhalten hätte. ‚Ein niedriger, verächtlicher Mensch bist du,‘ hat
sie ihm zum Abschied gesagt, ‚du hast mich bestohlen, du hast mich
entehrt und jetzt verläßt du mich. Nun gut! Aber dein Versprechen gebe
ich dir nicht zurück. Nicht deshalb, weil ich dich jemals noch heiraten
wollte, sondern einfach, weil du dieses Dokument fürchtest. So mag es
denn ewig in meinen Händen bleiben.‘ Mit einem Wort, sie ließ sich ein
wenig hinreißen, doch übrigens beunruhigte sich der Fürst dieserhalb
nicht allzu sehr. Überhaupt ist solchen Schurken nichts vorteilhafter,
als es mit solchen sogenannten höheren Wesen zu tun zu haben. Sie sind
so edeldenkend, daß man sie mit größter Leichtigkeit betrügen kann,
erstens; und zweitens antworten sie auf jeden Betrug mit nichts als
erhabener, edler Verachtung, anstatt mit praktischer Anwendung des
Gesetzes, selbst wenn dieses Gesetz sich auch noch so vorteilhaft für
sie anwenden ließe. Da haben wir ein Beispiel in dieser Frau: sie
begnügte sich vollkommen damit, ihn stolz verachten zu können, und wenn
sie auch das eine bewußte Dokument zurückbehielt, so hätte sie sich doch
eher erhängt, als davon Gebrauch gemacht. Und das wußte der Fürst und
deshalb ließ er sich auch ihretwegen weiter keine grauen Haare wachsen,
wenigstens vorläufig nicht. Sie aber blieb, wenn sie ihm auch moralisch
ins Gesicht gespien, doch verlassen und einsam mit ihrem Kinde zurück, –
mit dem Wolodjka. Stirbt sie heute oder morgen, was soll dann aus dem
Wurm werden? Und ihr Freund, dieser Schmachtlappen Bruderschaft,
bestärkte sie natürlich noch darin, anstatt ihr Vernunft zuzureden!
Wahrscheinlich lasen sie gemeinsam Schiller. Schließlich aber erkrankte
Bruderschaft doch mal irgendwie und starb.“

„Das heißt, Pfefferkuchen?“

„Na, ja, versteht sich doch, hol ihn der Teufel! Sie aber ...“

„Erlaub! Wieviel Jahre reisten sie denn zusammen?“

„Genau zwölf Jahre. Nun, sie aber kehrte, als er gestorben war, nach
Krakau zurück. Der Vater nahm sie natürlich nicht auf, verfluchte sie,
und schließlich starb sie, der Fürst aber pfiff darob Halleluja vor
Freude. Na ja, und so weiter – trinken wir, Wanjä!“

„Ich vermute, daß du ihm in dieser Angelegenheit behilflich gewesen
bist, Masslobojeff.“

„Das ist es wohl, was du gerade wünschst?“

„Ich verstehe nur nicht, was du in _dieser_ Angelegenheit hast
ausrichten können.“

„Ja, sieh mal: als sie nach Madrid zurückkehrte – nach zehnjähriger
Abwesenheit – da hieß es vor allen Dingen: auskundschaften, unter
welchem Namen sie lebte, wo der Bruderschaft geblieben war und wo der
alte Vater, und ob es auch wirklich sie selber war und wie es mit dem
Kinde stand, und dann, ob sie auch wirklich gestorben war und ob sie
Papiere hinterlassen hatte, und so weiter in lieblicher Reihenfolge. Und
dann gab es noch so diese und jene Persönlichkeit, die uns
interessierte. Wie gesagt: er ist der gemeinste Mensch, der mir je in
die Quere gekommen ist, hüte dich vor ihm, Wanjä! Was aber den
Masslobojeff betrifft, so merke dir folgendes: nenne ihn nie und unter
keinen Umständen einen Schuft! Denn wenn er auch einer ist – meiner
Meinung nach ist jeder Mensch in irgendeiner Hinsicht unfehlbar ein
Schuft – so hat er doch dir speziell nichts Übles getan. Ich bin zwar
stark betrunken, Bruderherz, doch wenn du Ohren hast zu hören, dann höre
jetzt: sollte es dir jemals, sei es jetzt, bald oder erst im nächsten
Jahr, mal scheinen, daß Masslobojeff in irgendeiner Angelegenheit gegen
dich intrigiert hat – und, bitte, vergiß nicht den Ausdruck ‚intrigiert‘
– so wisse, daß er nie eine böse Absicht gehabt hat. Masslobojeff
beobachtet dich bloß. Und deshalb schenke keinem Verdacht Glauben,
sondern sei gescheiter und komme dann persönlich zu diesem Masslobojeff
und rede mit ihm mündlich und brüderlich. Nun, willst du jetzt nicht
trinken?“

„Nein.“

„Aber wie verhältst du dich zu einem kleinen Imbiß?“

„Nein, Freund, entschuldige, aber ...“

„Na, dann pack dich zum Teufel, es ist auch schon zehn Minuten vor neun,
– damit ist es Zeit für dich.“

„Wie? was? Jetzt hat er sich angetrunken und da jagt er selbst den Gast
fort! So ist er ja immer! Ach, du Unverschämter!“ rief Alexandra
Ssemjonowna ganz erschrocken aus; sie war fast dem Weinen nahe.

„Alexandra Ssemjonowna, laß ihn nur, er hat es eilig, und wir, meine
Liebe, wir werden allein zurückbleiben und uns gegenseitig vergöttern.
Er aber, weißt du, ist ein ganzer General! Nein, verzeih, Wanjä, du bist
kein General, ich aber – ich, siehst du, ich bin – ein Schuft! Sieh mal,
wie sehe ich jetzt aus? Als was stehe ich vor dir da? Vergib, Wanjä,
verurteile mich nicht, laß mich mein Herz ausschütten ...“

Er umarmte mich und Tränen traten ihm in die Augen. Ich begann, mich zu
verabschieden.

„Ach, mein Gott, und er geht auch wirklich! Und bei uns ist schon der
ganze Abendbrottisch gedeckt!“ klagte Alexandra Ssemjonowna tief
betrübt. „Aber Freitag werden Sie doch zu uns kommen?“

„Unfehlbar, Alexandra Ssemjonowna, ich gebe Ihnen mein Wort darauf.“

„Vielleicht schämen Sie sich, mit uns zu verkehren, weil ... Sie sehen
doch, wie er jetzt ist – ganz betrunken! Aber er ist ein guter Mensch,
Iwan Petrowitsch, ein sehr guter Mensch, und wie gern er Sie hat! Tag
und Nacht erzählt er mir jetzt nur noch von Ihnen, hat mir sogar Ihre
Bücher gekauft, nur habe ich sie noch nicht gelesen – die Zeit vergeht
so schnell! – aber morgen werde ich bestimmt damit beginnen. Und wie ich
mich erst freuen werde, wenn Sie kommen! Ich sehe doch hier so gut wie
gar keine Menschen, niemand besucht uns doch! Alles haben wir und dabei
sitzen wir tagaus tagein allein zu Haus. Jetzt saß ich da und hörte zu,
wie Sie sprachen, und wie war das schön ... Also Freitag dann!“


                                  VII.

Ich ging und beeilte mich, schnell nach Hause zu kommen: Masslobojeffs
letzte Bemerkung hatte mich stutzig gemacht. Ich muß sagen, daß mir
darob die seltsamsten Gedanken durch den Kopf fuhren ... Und ich
täuschte mich auch nicht. Zu Hause erwartete mich eine Überraschung, die
mich wie ein elektrischer Schlag erschütterte.

Vor dem Tor des Hauses, in dem ich wohnte, stand eine Straßenlaterne.
Ich war gerade im Begriff, einzutreten, als sich plötzlich vom
Laternenpfosten eine seltsame Gestalt löste und auf mich zustürzte, so
daß ich vor Schreck sogar aufschrie, als ich so plötzlich dieses
zitternde, entsetzte, halb wahnsinnige Wesen erblickte, das sich im
Augenblick wie verzweifelt an meine Arme klammerte.

Es war Nelly.

„Nelly! Was fehlt dir!“ rief ich, „was tust du hier?“

„Dort oben ... sitzt er ... bei uns!“

„Wer? Wer sitzt dort? ... Gehen wir, komm mit mir hinauf.“

„Ich will nicht, ich will nicht! Ich werde warten, bis er fortgegangen
ist ... hier im Flur ... ich will nicht!“

Mit einem seltsamen Vorgefühl stieg ich die Treppen hinauf: ich öffnete
die Tür und erblickte den Fürsten. Er saß am Tisch und las einen Roman.
Wenigstens lag das Buch aufgeschlagen vor ihm.

„Iwan Petrowitsch! Da sind Sie ja!“ rief er erfreut aus. „Es freut mich,
daß Sie endlich zurückgekehrt sind. Ich wollte soeben wieder gehen. Habe
über eine Stunde auf Sie gewartet. Ich mußte heute der Gräfin auf ihre
dringende Bitte versprechen, daß ich nicht ohne Sie bei ihr erscheinen
würde. Sie hat mich so sehr darum gebeten, denn sie will Sie unbedingt
kennen lernen. Und da ich bereits Ihr Versprechen hatte, beschloß ich,
persönlich bei Ihnen vorzusprechen, und zwar etwas früher, um Sie noch
zu Hause anzutreffen und Ihnen die Einladung der Gräfin übermitteln zu
können. Denken Sie sich meine Enttäuschung, als ich hier eintrat und
Ihre Aufwärterin mir nur sagen konnte, daß Sie ausgegangen seien. Was
sollte ich tun! Hatte ich mich doch ehrenwörtlich verpflichtet, nicht
ohne Sie bei der Gräfin zu erscheinen! So setzte ich mich denn, um etwa
eine Viertelstunde auf Sie zu warten. Und nun sehen Sie, was aus der
Viertelstunde geworden ist! Ich schlug Ihren Roman auf und vertiefte
mich in ihn. Iwan Petrowitsch! Das ist ja doch vollendet! Ich kann nur
sagen, daß man Sie dann überhaupt nicht versteht! Sie haben mich ja fast
zu Tränen gerührt, ich weinte geradezu, und das pflegt bei mir nicht oft
zu geschehen ...“

„So wünschen Sie, daß ich mit Ihnen zur Gräfin fahre? Offen gestanden,
ich habe jetzt ... wenn ich auch durchaus nicht abgeneigt bin ...“

„O, um Himmels willen, Sie müssen unbedingt! Bedenken Sie nur, was Sie
mir antun? Ich habe mich doch ehrenwörtlich verpflichtet und hier habe
ich anderthalb Stunden auf Sie gewartet! Zudem muß ich notwendig mit
Ihnen reden, – Sie können sich wohl denken, worüber. Sie sind in alle
diese Verhältnisse bedeutend besser eingeweiht als ich ... Wir könnten
vielleicht etwas Entscheidendes beschließen ... Nein, Sie dürfen die
Aufforderung nicht zurückweisen!“

Ich sagte mir, daß ich doch sowieso einmal würde hinfahren müssen. Zwar
wußte ich, daß Natascha allein war und mich erwartete, aber andererseits
hatte sie mich doch ausdrücklich gebeten, so bald als möglich Katjäs
Bekanntschaft zu machen. Außerdem war es nicht ausgeschlossen, daß ich
Aljoscha dort antraf ... Und da ich wußte, daß Natascha sich nicht eher
beruhigen würde, als bis ich ihr Nachricht von Katjä brachte, entschloß
ich mich, die Aufforderung des Fürsten anzunehmen. Doch mich beunruhigte
noch Nelly.

„Einen Augenblick,“ sagte ich zum Fürsten und trat auf die Treppe
hinaus. Nelly stand nicht weit von meiner Zimmertür in einem dunklen
Winkel des Flurs.

„Warum kommst du nicht ins Zimmer, Nelly? Was hat er dir getan? ... Was
hat er dir denn gesagt?“

„Nichts. – Ich will nicht, ich will nicht ... ich fürchte mich ...“

Ich versuchte sie zu bereden, doch vergeblich. So sagte ich ihr denn,
daß sie, sobald ich mit dem Fürsten aus dem Zimmer trete, schnell durch
die Tür schlüpfen und sie von innen verriegeln sollte.

„Und daß du nicht aufmachst, wenn jemand an die Tür klopft, hörst du,
Nelly? Und wenn man dich auch noch so bittet.“

„Und Sie gehen mit ihm fort?“

„Ja, ich gehe mit ihm fort.“

Sie erzitterte und ergriff meine Hand, als wolle sie mich anflehen,
nicht mit dem Fürsten fortzugehen, doch sagte sie kein Wort. Ich nahm
mir vor, sie am nächsten Tage nach dem Grunde ihres seltsamen Benehmens
zu fragen.

Ich machte darauf beim Fürsten meine Entschuldigung und begann mich
anzukleiden. Er versicherte zwar, daß ich mich zu einem Besuch bei der
Gräfin durchaus nicht umzukleiden brauche, meinte aber schließlich, nach
einem peinlich prüfenden Blick auf mein Äußeres, daß es ja freilich
immer besser sei, gewisse gesellschaftliche Vorurteile nicht ganz außer
acht zu lassen.

„... Denn den Äußerlichkeiten wird in unseren Kreisen oft genug eine
viel zu große Bedeutung beigemessen. Das ist nun leider einmal so,“
schloß er, offenbar angenehm berührt, als er sah, daß ich einen Frack
besaß.

Wir traten hinaus. Auf der Treppe bat ich ihn aber, noch einen
Augenblick zu warten: ich kehrte ins Zimmer zurück, um mich nochmals von
Nelly, die inzwischen schon hineingeschlüpft war, zu verabschieden. Sie
zitterte vor Aufregung und ihr Gesicht war bläulich weiß, sodaß ich
förmlich erschrak; es fiel mir schwer, sie so allein zurückzulassen.

„Eine sonderbare Aufwärterin haben Sie, das muß ich sagen,“ wandte sich
der Fürst auf der Treppe an mich, während wir hinabstiegen. „Dieses
kleine Mädchen ist doch Ihre Aufwärterin?“

„Nein ... sie ist nur so ... sie lebt vorläufig bei mir.“

„Ja, sie ist sehr sonderbar. Ich glaube sogar, daß sie geistig nicht
ganz normal ist. Stellen Sie sich vor: nachdem sie mir zuerst ganz
bescheiden auf meine Fragen geantwortet, schreit sie plötzlich, wie sie
mich genauer ansieht, laut auf, erzittert am ganzen Körper, krallt sich
an meinen Überzieher, will etwas sagen – kann aber vor Erregung keinen
Laut hervorbringen. Ich muß gestehen, daß mir sogar angst und bange
wurde und ich mich bereits in Sicherheit bringen wollte, doch zum Glück
lief sie selbst von mir fort. Ich war nicht wenig verwundert. Wie haben
Sie sich nur mit ihr einleben können?“

„Sie hat epileptische Anfälle,“ sagte ich.

„Ah, also das ist es! Nun, dann wundert es mich weiter nicht ... wenn
sie überhaupt unnormal ist ...“

Da kam mir auf einmal der Gedanke, daß Masslobojeffs letzter Besuch bei
mir während meiner Abwesenheit (obschon er genau gewußt hatte, daß ich
nicht zu Hause sein konnte!), daß mein Besuch bei Masslobojeff vor
wenigen Stunden, daß Masslobojeffs trunkene und trotz der Betrunkenheit
ungern erzählte Geschichten, ferner seine Aufforderung, heute um sieben
Uhr bei ihm zu sein, sowie die Ratschläge, ihn nicht für einen Schuft zu
halten, und endlich dieser Besuch des Fürsten, der vielleicht darüber
unterrichtet war, daß ich mich bei Masslobojeff befand – kurz: daß alle
diese seltsamen Geschehnisse irgendwie miteinander in Zusammenhang
standen. Was war da natürlicher, als daß ich nachdenklich wurde?

Vor der Haustür erwartete uns das Gefährt des Fürsten.


                                 VIII.

Bis zur Gräfin war es nicht sehr weit: sie wohnte in der Nähe der
Handelsbrücke. Eine Weile schwiegen wir. Ich dachte die ganze Zeit:
wovon wird er mit mir zu reden beginnen? Es schien mir, daß er mich
prüfen, sondieren und ausforschen wolle. Doch zu meiner Überraschung
begann er ohne alle Umschweife sogleich von der Sache selbst.

„Ich mache mir jetzt in einer Angelegenheit große Sorgen, Iwan
Petrowitsch,“ hub er an, „da will ich Sie nun um Ihren Rat bitten und
überhaupt Ihre Meinung hören. Ich habe nämlich schon längst beschlossen,
das von mir im Prozeß gewonnene Geld Herrn Ichmenjeff abzutreten. Wie
soll ich das nun machen?“

Es kann doch nicht sein, dachte ich, daß er nicht weiß, wie er es machen
soll! Oder sollte er sich nur über mich lustig machen wollen?

„Das weiß ich nicht, Fürst,“ versetzte ich möglichst unbefangen. „In
jeder anderen Frage, das heißt, namentlich was Natalja Nikolajewna
betrifft, bin ich bereit, Ihnen die für Sie und uns alle notwendigen
Erklärungen abzugeben, doch in dieser Angelegenheit wissen Sie natürlich
besser Bescheid als ich.“

„Nein, nein, wieso, ganz im Gegenteil! Sie sind mit der ganzen Familie
gut bekannt und vielleicht hat Ihnen sogar Natalja Nikolajewna ihre
diesbezüglichen Gedanken mitgeteilt. Das aber wäre für mich eine sehr
erwünschte Richtschnur. Sie könnten mir viel helfen, denn die Sache ist
verzwickter, als man glaubt. Ich bin bereit, ihm das Geld zu überlassen,
und ich werde es auch unfehlbar tun, gleichviel wie die anderen Dinge
sich gestalten sollten. Doch wie, in welcher Form wäre diese Abtretung
des Geldes am richtigsten – das ist die Frage. Sie verstehen mich doch?
Nun, sehen Sie: der Alte ist doch sehr stolz und sehr eigensinnig, da
könnte er mir ja noch zum Dank für meine Gutmütigkeit das Geld ins
Gesicht werfen ...“

„Erlauben Sie: als was betrachten Sie dieses Geld, wenn ich fragen darf?
Als sein oder als Ihr Eigentum?“

„Den Prozeß habe ich gewonnen, folglich als mein Eigentum.“

„Nun wohl, aber vor Ihrem Gewissen?“

„Selbstverständlich als _mein_ Eigentum,“ versetzte er, ein wenig
pikiert durch meine unhöfliche Frage. „Übrigens scheinen Sie über den
Sachverhalt nicht ganz unterrichtet zu sein. Ich habe den Alten durchaus
nicht eines bewußten, vorgefaßten Betruges beschuldigt, und ich gestehe
Ihnen, daß ich ihn zu einer solchen Tat nie für fähig gehalten hätte. Es
war sein eigener freier Wille, sich in seiner Ehre verletzt zu fühlen.
Seine Schuld besteht nur in seiner Unachtsamkeit, in seiner sorglosen
Verwaltung des ihm anvertrauten Vermögens. Unserer alten Abmachung gemäß
aber hat er seine Handlungsweise zu verantworten. Sie wissen auch, daß
es sich im Grunde gar nicht darum handelt, sondern einfach nur um
unseren Streit, den wir damals hatten, um die gegenseitigen Kränkungen,
– mit einem Wort: um unsere verletzte Eigenliebe. Ich hätte unter
anderen Umständen vielleicht überhaupt nicht an diese lumpigen
zehntausend Rubel gedacht. Doch es dürfte Ihnen wohl nicht unbekannt
sein, weshalb dann dieser ganze Prozeß begann. Ich gebe gern zu, daß ich
vielleicht zu argwöhnisch, daß ich sogar im Unrecht war – das heißt: nur
damals! – doch der Ärger über seine Grobheiten verwirrte mich, und da
wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Das wird Ihnen
vielleicht nicht gerade edel erscheinen, aber ich will mich ja auch gar
nicht rechtfertigen. Ich meine nur, daß eine Handlungsweise, die Ärger
und hauptsächlich gereizte Eigenliebe diktiert haben, noch nicht als
ausschlaggebender Beweis für absoluten Mangel an Ehrgefühl angesehen
werden kann. Vielmehr ist sie etwas ganz Natürliches, menschlich
Verständliches. Und ich sage Ihnen nochmals, daß ich den alten
Ichmenjeff damals so gut wie gar nicht kannte und nur all diesen
Gerüchten über Aljoscha und seine Tochter Glauben schenkte, folglich
aber konnte ich auch an eine beabsichtigte Entwendung des Geldes glauben
... Doch das ist ja Nebensache. Die Hauptsache ist, was ich jetzt tun
soll. Verzichte ich auf das Geld, während ich mich doch gleichzeitig
durchaus im Recht fühle, so heißt das, daß ich es ihm schenke. Und wenn
man nun das etwas gespannte Verhältnis in Betracht zieht, in das uns
Natalja Nikolajewna ... Er wird mir zweifellos das Geld vor die Füße
werfen ...“

„Nun, sehen Sie, Sie sagen doch selbst: er würde es Ihnen vor die Füße
werfen. Folglich halten Sie ihn doch für einen ehrlichen Menschen und
daher können Sie auch überzeugt sein, daß er Ihr Geld nicht gestohlen
hat. Wenn es sich aber so verhält, weshalb sollten Sie dann nicht ohne
Umschweife erklären, daß Sie sich im Unrecht fühlen? Jedenfalls wäre das
anständig gehandelt, und Ichmenjeff würde sich dann vielleicht auch
nicht weigern, _sein_ Geld zu empfangen.“

„Hm! ... _sein_ Geld; das ist es ja eben. Bedenken Sie doch, was Sie von
mir verlangen! Ich soll zu ihm gehen und sagen, daß meine Klage
ungerecht war. Ja, weshalb habe ich dann überhaupt geklagt, wenn ich
selbst zugebe, daß mir kein Unrecht geschehen sei? – Das kann mich dann
doch ein jeder fragen. Das aber habe ich nicht verdient, denn meine
Klage war durchaus gerechtfertigt; ich habe weder gesagt noch
geschrieben, daß er mich bestohlen habe, doch von seiner Unfähigkeit,
seinem Leichtsinn in Geschäftssachen bin ich auch jetzt noch überzeugt.
Dieses Geld gehört ganz positiv mir, und deshalb empfände ich es als
nicht ganz angenehm, mich selbst zu verleumden ... und schließlich – ich
wiederhole es – hat doch der Alte aus freien Stücken sich in seiner Ehre
verletzt gefühlt, und da wollen Sie nun, daß ich ihn wegen dieser
Kränkung um Verzeihung bitte, – das fällt mir doch etwas schwer ...“

„Ich glaube, daß, wenn zwei Menschen sich versöhnen wollen ...“

„Daß es dann sehr leicht getan ist?“

„Ja.“

„Nein, mitunter ist es auch nichts weniger als leicht, um so weniger,
wenn ...“

„Ich verstehe: wenn es noch andere Umstände gibt, die zu berücksichtigen
sind. Darin stimme ich mit Ihnen allerdings vollkommen überein, Fürst.
Die Angelegenheit Natalja Nikolajewna und Ihres Sohnes muß vorher in all
jenen Punkten, in denen Sie zu entscheiden haben, in einer Ichmenjeffs
zufriedenstellenden Weise entschieden sein. Nur dann werden Sie sich mit
Ichmenjeff ganz aufrichtig über den Prozeß aussprechen können. So aber,
wie die Dinge jetzt liegen, bleibt Ihnen nur eine Möglichkeit: die
Unrechtmäßigkeit Ihrer Klage einzugestehen, und zwar ganz offen, ja,
falls nötig, sogar öffentlich. Das wäre meiner Ansicht nach das einzig
Richtige. Damit habe ich Ihnen meine Meinung gesagt, denn diese
wünschten Sie doch zu hören, und wahrscheinlich haben Sie auch nicht
gewünscht, daß ich mich vor Ihnen verstelle. Deshalb werden Sie mir wohl
auch folgende Frage gestatten: warum beunruhigt Sie dieses Geld so sehr?
Wenn Sie sich im Recht glauben und dieses Geld als Ihr Eigentum
betrachten, wie kommen Sie darauf, es ihm zurückgeben zu wollen?
Verzeihen Sie meine Frage, aber das eine ist mit dem anderen so eng
verbunden ...“

„Was meinen Sie,“ unterbrach er mich plötzlich, als habe er meine Frage
ganz überhört, „sind Sie überzeugt, daß der alte Ichmenjeff die
zehntausend Rubel zurückweisen wird, auch wenn man sie ihm ohne alle
Erklärungen und ... und ... Milderungen anbieten sollte?“

„Selbstverständlich wird er sie zurückweisen!“

Wie unter einem physisch empfundenen Schlage zuckte ich zusammen und das
Blut stieg mir ins Gesicht. Diese schamlos skeptische Frage machte auf
mich einen Eindruck, als habe der Fürst mir ins Gesicht gespien. Und zu
dieser Beleidigung kam noch etwas anderes hinzu: das war die verletzend
nonchalante Art und Weise, in der er meine Frage vollkommen überging,
als habe er sie überhaupt nicht gehört. Offenbar wollte er mir damit zu
verstehen geben, daß ich mich gar zu sehr hatte hinreißen lassen, daß
ich zu familiär geworden war, indem ich es wagte, solche Fragen an ihn
zu richten. Ich haßte aber nichts so sehr, wie dieses in der höheren
Gesellschaft übliche Verfahren und hatte mir schon früher Mühe gegeben,
Aljoscha diese Angewohnheit abzugewöhnen.

„Hm! ... Sie sind noch sehr ... temperamentvoll, doch werden im
alltäglichen Leben gewisse Dinge nicht so behandelt, wie Sie es sich
augenscheinlich denken,“ bemerkte er gleichmütig nach meinem erregten
Ausruf. „Übrigens fällt mir soeben ein, daß darüber zum Teil Natalja
Nikolajewna entscheiden könnte. Vielleicht sagen Sie ihr das. Sie könnte
uns jedenfalls raten ...“

„Das wird ihr nicht einfallen,“ versetzte ich in sehr unhöflichem Tone.
„Sie haben nicht geruht, anzuhören, was ich Ihnen vorhin sagte; Sie
unterbrachen mich. Natalja Nikolajewna wird einsehen, daß Sie, wenn Sie
das Geld unaufrichtig, nicht von Herzen ihrem Vater abtreten und ohne
alle diese ‚Milderungen‘, wie Sie sich auszudrücken beliebten, daß Sie
dann mit diesem Gelde dem Vater für die Tochter und ihr für Aljoscha
eine Entschädigung zahlen wollen, damit sie zurücktrete ...“

„Hm! ... also so haben Sie mich verstanden, mein bester Iwan
Petrowitsch!“ – Der Fürst lachte. Worüber lachte er? – „Indes ...“ fuhr
er fort, „wir haben noch so vieles zu besprechen, nur haben wir jetzt
leider keine Zeit dazu. Ich bitte Sie nur, sich eines zu merken: es
handelt sich hier direkt um Natalja Nikolajewna und ihre ganze Zukunft,
und alles das hängt teilweise davon ab, zu welch einem Entschluß wir
kommen werden. Sie sind hierin unentbehrlich, – das werden Sie nachher
einsehen. Und deshalb werden Sie mir, wenn Sie Natalja Nikolajewnas
Freund sind, nicht eine Unterredung abschlagen, wie wenig Sie auch mit
mir sympathisieren sollten. Da sind wir schon angelangt ... ^à
bientôt^.“


                                  IX.

Die Gräfin lebte in einer sehr schönen Wohnung. Die Raume waren alle gut
und geschmackvoll eingerichtet, wenn auch nicht gerade luxuriös. Doch
ungeachtet des zweifellosen Geschmacks, verriet alles, daß es nur für
einen zeitweiligen Aufenthalt zusammengetragen war. Es war das eben nur
eine für kurze Zeit gemietete Wohnung, denn es fehlte hier ganz jener
Prunk einer alteingesessenen Familie, deren Heim stets den Stempel der
Herrschaft trägt und sogar alle jeweiligen Launen der Einwohner
widerspiegelt. Es hieß, daß die Gräfin für den Sommer auf ihr im
Gouvernement Ssimbirsk gelegenes Gut – das über und über verschuldet und
verpfändet war – reisen und der Fürst sie dorthin begleiten würde. Ich
hatte darüber, seit ich es gehört, oft genug mit Sorgen nachgedacht und
mich gefragt: was wird Aljoscha tun, wenn Katjä mit der Gräfin verreist?
Mit Natascha hatte ich noch nicht darüber gesprochen, ich fürchtete mich
davor; doch glaubte ich, aus einigen Anzeichen zu ersehen, daß auch sie,
wie es schien, von diesem Gerücht gehört haben mußte. Sie schwieg
darüber und litt allein.

Die Gräfin empfing mich sehr liebenswürdig, reichte mir mit einem
Lächeln die Hand und bestätigte, was der Fürst mir gesagt hatte: daß sie
mich schon lange bei sich zu sehen gewünscht habe. Sie bereitete selbst
den Tee, während wir uns im Kreise um den schönen silbernen Samowar
setzten, der Fürst, ich und noch irgend ein äußerst vornehm
dreinschauender Herr mit einem Orden auf dem Frack, steifen Bewegungen
und einer viel- oder nichtssagenden Diplomatenmiene – je nachdem. Dieser
Gast wurde offenbar sehr geachtet. Die Gräfin hatte nach ihrer Rückkehr
aus dem Auslande noch keinen größeren gesellschaftlichen Verkehr finden
können, wie sie es sich gewünscht. Außer diesem Gast und mir kam niemand
mehr. Ich suchte mit den Augen Katherina Fedorowna: sie saß mit Aljoscha
im Nebenzimmer, als sie von unserem Erscheinen erfuhr, stand sie
sogleich auf und kam zu uns. Der Fürst küßte ihr liebenswürdig die Hand
und die Gräfin wies lächelnd auf mich. Da stellte mich der Fürst vor.
Ich kann nicht leugnen, daß ich sie mit großer Neugier betrachtete. Sie
trug ein weißes Kleid und war zart und blond, und von nur mittelgroßem
Wuchs. Ihr Gesicht hatte einen stillen, ruhigen Ausdruck, und ihre Augen
waren „vollkommen blau“, wie Aljoscha sich einmal ausgedrückt hatte.
Alles in allem war es nur die Anmut der Jugend, die sie verschönte,
nichts weiter. Ich hatte erwartet, eine vollendete Schönheit zu
erblicken, doch konnte man sie nicht gerade schön nennen. Sie hatte ein
zartes Gesicht, ziemlich regelmäßige Züge, allerdings sehr schönes Haar,
das sie aber ganz schlicht trug, und dazu einen ruhigen, aufmerksamen
Blick. Bei einer Begegnung auf der Straße wäre ich an ihr
vorübergegangen, ohne sie besonders zu beachten, dachte ich; doch das
schien mir nur so im ersten Augenblick, denn noch im Laufe dieses Abends
hatte ich Zeit und Gelegenheit, sie genauer zu betrachten, und da
änderte sich meine Meinung ganz. Allein schon, wie sie mir die Hand
reichte und mit angespanntem Blick mir unverwandt in die Augen schaute,
ohne dabei ein Wort zu sagen, fiel mir als etwas Seltsames auf und ich
lächelte ihr unwillkürlich zu. Wahrscheinlich empfand ich halb unbewußt
die kindliche Reinheit ihres ganzen Wesens. Die Gräfin beobachtete sie
aufmerksam. Katjä wandte sich, nachdem sie mir die Hand gereicht, mit
fast auffallender Plötzlichkeit wieder von mir fort und setzte sich mit
Aljoscha am anderen Ende des Zimmers in eine gemütliche Ecke. Bei der
Begrüßung hatte mir Aljoscha unbemerkt zugeflüstert: „Ich bleibe nur
noch einen Augenblick hier, dann fahre ich wieder hin – zu ihr.“

Der „Diplomat“ – da ich seinen Familiennamen nicht kenne, nenne ich ihn
den „Diplomaten“ – sprach ruhig und erhaben und verfocht irgend eine
seiner Theorien. Die Gräfin hörte ihm aufmerksam zu, der Fürst lächelte
zustimmend und der Redner wandte sich oft an ihn speziell, da er
augenscheinlich glaubte, in ihm einen würdigen Zuhörer zu haben. Mir
wurde Tee gereicht und dann ließ man mich vollkommen in Ruh, womit ich
sehr zufrieden war, denn so konnte ich die Gräfin ungestört beobachten.

Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, warum sie mir im ersten
Augenblick so gefiel, ja, fast sogar gegen meinen Willen gefiel.
Vielleicht war sie nicht mehr jung, doch mir schien es, daß sie nicht
über achtundzwanzig Jahre alt sein könne. Sie hatte noch so frische
Farben und man sah es ihr an, daß sie in der Jugend sehr hübsch gewesen
sein mußte. Ihr dunkelblondes reiches Haar stand ihr sehr gut; ihr
Blick, der etwas unendlich Gutmütiges hatte, verriet aber gleichzeitig
Flatterhaftigkeit, Leichtsinn, Spottlust und Schelmerei. Doch während
der Rede des „Diplomaten“ gab sie sich ersichtlich Mühe, ernst und
aufmerksam zu sein. Übrigens verriet ihr Blick auch Klugheit, aber am
meisten sprachen aus ihm doch Gutmütigkeit und ein heiteres Gemüt. Es
schien mir, daß ihre vorherrschende Eigenschaft ein gewisser Leichtsinn
sei; eine gewisse Vergnügungssucht und ein gewisser gutmütiger Egoismus,
der vielleicht sogar sehr groß war. Jedenfalls aber stand sie, wie ich
auch schon gehört hatte, ganz unter der Vormundschaft des Fürsten, der
gewiß einen großen Einfluß auf sie ausübte. Ich wußte, daß sie ein
Verhältnis hatten, auch hatte ich gehört, daß er während ihres
Aufenthaltes im Auslande ein auffallend wenig eifersüchtiger Liebhaber
gewesen sei; mir aber schien es – und es scheint mir auch jetzt noch so
– daß außer dem früheren Verhältnis sie beide noch etwas anderes
verband, etwas zum Teil Geheimnisvolles, etwas in der Art einer
gemeinsamen oder gegenseitigen Verpflichtung, die vielleicht in einer
gewissen Berechnung beruhte ... Kurz, etwas Ähnliches mußte es
jedenfalls sein. Auch wußte ich, daß sie dem Fürsten im Augenblick sehr
lästig war, trotzdem aber bestand ihr Verhältnis noch fort. Es ist
möglich, daß es gerade ihre Absichten bezüglich Katjä waren, die sie
noch verbanden. Selbstverständlich rührten alle diese Pläne vom Fürsten
her und nur auf Grund derselben hatte er der Gräfin den Gedanken an eine
Heirat – sie soll in der Tat verlangt haben, daß er sie heirate –
auszureden und sie sogar für seinen Plan, Aljoscha mit ihrer
Stieftochter zu verheiraten, zu gewinnen vermocht.[5] Wenigstens glaubte
ich das aus Aljoschas gelegentlichen Erzählungen zu erraten, denn
schließlich war Aljoscha doch nicht völlig blind. Auch schien es mir
nicht zum wenigsten nach dem, was ich von Aljoscha gehört – daß der
Fürst einen bestimmten Grund haben mußte, die Gräfin zu fürchten,
obschon er sie vollkommen beherrschte. Das hatte auch sogar Aljoscha
bemerkt. Nachher erfuhr ich, daß der Fürst die Gräfin sehr gern mit
jemandem verheiratet hätte und sie hauptsächlich deshalb beredet hatte,
auf ihr Gut im Gouvernement Ssimbirsk zu reisen, in der Hoffnung, dort
in der Provinz einen passenden Gatten für sie zu finden.

Ich saß und hörte zu, dachte aber eigentlich nur daran, wie ich es
anstellen sollte, mit Katherina Fedorowna unter vier Augen zu sprechen.
Der „Diplomat“ antwortete ausführlich auf eine Frage der Gräfin nach dem
Stand der projektierten Reformen und ob sie denn auch wünschenswert
seien. Er sprach viel und lange, ruhig und wie ein Mensch, der sich
seiner Macht bewußt ist. Seinen Gedanken entwickelte er sehr klug und
gut, doch war der Gedanke an sich widerlich. Mit besonderem Nachdruck
hob er hervor, daß dieser ganze „Geist der Reformen und Veränderungen“
nur zu bald gewisse unerwünschte Früchte zeitigen werde, daß man dann
angesichts der Früchte – freilich spät genug – wieder zur Vernunft
kommen werde und die Gesellschaft – darunter verstand er wohl nur eine
Kaste – sich nicht nur von den neuen Reformideen abwenden, sondern,
nachdem sie deren Absurdität eingesehen, sich mit doppelter Energie der
Erhaltung des Alten zuwenden werde. Ferner, meinte er, daß das
allerdings traurige Experiment nur Vorteil bringen könne, denn es werde
lehren, wie man dieses allein seligmachende Alte am besten aufrecht
erhalten könne, kurzum, es werde neue Aufschlüsse bringen; folglich aber
sei es sogar wünschenswert, daß man jetzt möglichst bald bis zur größten
Unvorsichtigkeit vorgehe.

„Ohne _uns_ kann nichts bestehen,“ schloß er selbstbewußt, „ohne uns hat
sich bisher noch keine Gesellschaft gehalten. Verlieren können wir
nichts, im Gegenteil, wir können nur gewinnen, deshalb müßte unsere
Devise im gegenwärtigen Augenblick sein: ^pire ça va, mieux ça est^!“

Der Fürst lächelte ihm wie in vollster Übereinstimmung zu, was mich
geradezu ekelhaft berührte, während der Redner vollkommen mit sich
zufrieden war. Ich war so dumm, daß ich ihm scharf widersprechen wollte,
das Blut kochte in mir. Doch ein giftig spöttischer Blick des Fürsten
hielt mich noch rechtzeitig davon ab: Dieser Blick glitt eigentlich nur
ganz flüchtig über mich hinweg, doch mir schien es, daß der Fürst gerade
irgend so einen jugendlich unüberlegten Ausfall meinerseits erwartete;
ja, vielleicht wünschte er ihn geradezu, um sich daran zu ergötzen, wie
ich mich kompromittieren würde. Außerdem war ich fest überzeugt, daß der
„Diplomat“ meine Entgegnung unfehlbar ganz übersehen würde und
vielleicht sogar noch mich dazu. Es ekelte mich geradezu, bei ihnen
sitzen zu müssen. Da erlöste mich Aljoscha.

Er trat ganz leise an meinen Stuhl und berührte mich an der Schulter.

„Nur auf zwei Worte,“ raunte er mir zu.

Ich erriet sofort, daß Katjä ihn geschickt hatte. So war es auch. Nach
wenigen Sekunden saß ich ihr gegenüber. Zuerst betrachtete sie mich nur
sehr aufmerksam, als dächte sie bei sich: „Also so siehst du aus!“ und
im ersten Augenblick fanden wir beide nicht das richtige Wort, um ein
Gespräch anzuknüpfen. Nichtsdestoweniger war ich überzeugt, daß sie nur
anzufangen brauchte, um dann womöglich bis zum Morgen sprechen zu
können. Aljoschas einmal gemachte Bemerkung, daß er sich „_nur_ einige
fünf bis sechs Stunden“ mit ihr habe unterhalten können, kam mir in den
Sinn und ich lächelte im geheimen. Aljoscha saß bei uns und erwartete
mit Ungeduld, wie und wovon wir sprechen würden.

„Weshalb redet ihr denn nicht?“ fragte er schließlich und er sah uns mit
einem Lächeln an. „Da sitzt ihr nun beisammen und schweigt.“

„Ach, Aljoscha, wie du bist! ... Wir werden bald genug sprechen,“ sagte
Katjä. „Wir haben über so vieles zu reden, Iwan Petrowitsch, daß ich gar
nicht weiß, womit ich anfangen soll. Wir sind sehr spät miteinander
bekannt geworden ... aber ich kenne Sie ja schon längst. Und wie gern
ich Sie sehen wollte! Ich dachte sogar daran, einen Brief an Sie zu
schreiben ...“

„Weshalb das?“ fragte ich, unwillkürlich lächelnd.

„Als ob kein Grund vorhanden wäre,“ meinte sie ernst. „Nun, zum
Beispiel, wenn auch nur, um zu erfahren, ob es wahr ist, was er von
Natalja Nikolajewna sagt: daß sie sich nicht gekränkt fühle, wenn er sie
allein läßt. Nun, sagen Sie doch, kann man überhaupt so handeln wie er?
Nun, weshalb sitzt du jetzt hier, sage mir das doch gefälligst?“

„Ach, mein Gott, ich werde doch sofort hinfahren! Ich habe doch schon
gesagt, daß ich nur noch einen Augenblick hier bleiben werde, nur um
noch zu sehen, was ihr beide tut, und dann fahre ich sogleich zu ihr.“

„Ja, was tun wir denn beide? – nun, wir sitzen hier, – hast du es jetzt
gesehen? Und so ist er immer!“ wandte sie sich an mich, mit dem Finger
auf ihn weisend, während sie langsam errötete: „‚Nur einen Augenblick,
nur einen Augenblick,‘ sagte er, und eh man sich verseht ist es wieder
Mitternacht und dann ist es zu spät. ‚Sie wird mir nicht böse sein, sie
ist so gut,‘ sagt er, und das ist alles, was er denkt! Was meinst du,
ist das schön von dir, ist das hübsch?“

„Ja, aber ich werde ja sogleich hinfahren,“ sagte er ganz kläglich, „ich
wollte nur so gern noch etwas bei euch bleiben ...“

„Was hast du denn von uns? Wir aber haben sehr vieles unter vier Augen
zu beraten. Aber höre, du, sei deshalb nicht böse, das ist nämlich etwas
sehr Notwendiges, – du verstehst doch?“

„Wenn es etwas Notwendiges ist, werde ich sogleich ... weshalb sollte
ich da böse sein? Ich will nur noch auf einen Augenblick zu Ljowinka und
dann – schnell zu ihr. Nur eines noch, Iwan Petrowitsch,“ fuhr er
geschäftig fort, indem er sich bereits erhob, „Sie wissen doch, daß mein
Vater auf das Geld, das er im Prozeß von Ichmenjeff gewonnen hat,
formell verzichten will?“

„Ja, ich weiß es. Er hat es mir gesagt.“

„Ist das nicht edel von ihm gehandelt? Was? Katjä will natürlich nicht
glauben, daß es edel von ihm sei. Sprechen Sie mit ihr darüber. Auf
Wiedersehen, Katjä, und, bitte, zweifle nicht daran, daß ich Natascha
liebe. Überhaupt verstehe ich nicht, weshalb ihr mir alle diese
Bedingungen aufladet, mir beständig Vorwürfe macht, mich beobachtet –
ganz als stände ich unter eurer Aufsicht! Sie weiß es, daß ich sie liebe
und sie glaubt an mich, und ich glaube ihr, daß sie an mich glaubt. Ich
liebe sie so wie sie ist, ohne alle Verpflichtungen ... ich weiß nicht,
wie ich sie liebe. Ich liebe sie eben einfach! Und deshalb braucht mich
auch niemand ins Verhör zu nehmen wie einen Schuldigen. So frage doch
Iwan Petrowitsch, – jetzt ist er hier und kann er es dir bestätigen, daß
Natascha eifersüchtig ist, und wenn sie mich auch sehr lieb hat, so
liegt doch in ihrer Liebe viel Egoismus, denn sie will mir doch nichts
opfern.“

„Wie das?“ fragte ich verwundert – ich traute meinen Ohren nicht.

„Was fällt dir ein, Aljoscha!“ fuhr Katjä ganz entsetzt auf.

„Nun, ja; was ist denn dabei so Wunderliches? Iwan Petrowitsch weiß es
ganz gut. Sie verlangt immer, daß ich bei ihr sei. Oder wenn sie es auch
nicht gerade verlangt, so sieht man doch, daß sie es gern haben möchte.“

„Und du schämst dich nicht, du schämst dich nicht!“ rief Katjä ganz rot
vor Empörung aus.

„Weshalb soll ich mich denn schämen? Wie du wieder bist, Katjä! Ich
liebe sie doch mehr als sie glaubt, wenn sie mich aber wirklich liebte,
so wie es sich gehört, so wie ich sie liebe, dann würde sie mir
sicherlich ihr Vergnügen opfern. Es ist ja wahr, sie schickt mich selbst
fort, aber ich sehe es doch an ihrem Gesicht, daß es ihr schwer fällt,
folglich ist es für mich ebenso, als würde sie mich nicht fortlassen.“

„Nein, das stammt nicht von ihm!“ wandte sich Katjä wieder an mich und
ihre Augen blitzten vor Zorn. „Gestehe Aljoscha, gestehe sofort, daß
alles das dein Vater dir gesagt hat? Hat er es dir heute gesagt? Bitte,
versuche mich nicht zu täuschen: ich werde ja doch die Wahrheit
erfahren! Nun, sprich!“

„Ja, er sagte es mir heute,“ gestand Aljoscha ein wenig verwirrt. „Was
ist denn dabei? Er sprach so freundlich mit mir, wirklich, ganz wie zu
seinem Freunde, und von ihr sprach er nur Gutes, wirklich, er lobte sie
sehr, so daß ich mich sogar wunderte: sie hat ihn doch so beleidigt, er
aber lobt sie noch.“

„Und Sie, Sie haben ihm Glauben geschenkt,“ sagte ich, „Sie, dem Natalja
Nikolajewna alles hingegeben hat, alles, was sie nur zu vergeben hatte,
und deren einzige Sorge ist und heute noch war, daß Sie sich bei ihr
vielleicht langweilten, und wie sie es anstellen sollte, daß sie Sie
nicht von einem Besuch bei Katherina Fedorowna abhielt. Das hat sie mir
heute selbst anvertraut. Und plötzlich glauben Sie diesen falschen
Worten! Schämen Sie sich nicht?“

„Du Undankbarer! Aber wie! – er schämt sich ja nie!“ sagte Katjä mit
einer wegwerfenden Handbewegung, als sei er in ihren Augen doch ein
total verlorener Mensch.

„Ja, aber was wollt ihr eigentlich!“ fuhr Aljoscha ganz kläglich fort.
„Und immer bist du so, Katjä! Immer vermutest du in mir nur Schlechtes
... Von Iwan Petrowitsch rede ich schon gar nicht! Sie glauben, daß ich
Natascha nicht liebe. Ich habe doch nicht in diesem Sinne von ihr
gesagt, sie sei eine Egoistin. Ich wollte nur sagen, daß sie mich gar zu
sehr liebt, so daß es schon alle Grenzen übersteigt, das aber wird
sowohl für mich wie für sie bedrückend. Mein Vater aber wird mich nie
betrügen können, selbst wenn er es wollte. Ich bin nicht so dumm. Und er
hat auch das, daß sie eine Egoistin sei, durchaus nicht im schlechten
Sinne gesagt; ich habe ihn sehr gut verstanden. Er sagte genau so, wie
ich es wiederholte: daß sie mich viel zu sehr liebe, mich dermaßen
liebe, daß ihre Liebe einfach zum Egoismus wird und sie dadurch mir und
sich das Leben schwer macht, und in Zukunft wird sie es mir noch
schwerer machen. Nun, das ist doch vollkommen wahr, was er gesagt hat,
und er hat es doch nur aus Liebe zu mir gesagt und damit hat er doch von
Natascha nichts Schlechtes gesagt; er hat, im Gegenteil, nur die Größe
ihrer Liebe hervorgehoben, dieser Liebe ohne jedes Maß, der Liebe bis
zur Unmöglichkeit ...“

Doch Katjä ließ ihn nicht zu Ende reden und unterbrach ihn heftig. Sie
überschüttete ihn mit Vorwürfen und begann ihm zu beweisen, daß sein
Vater nur deshalb Gutes von Natascha gesagt habe, um ihn, Aljoscha,
durch diese scheinbare Güte für sich zu gewinnen und ihn dann heimlich
und unmerklich gegen Natascha aufzuhetzen und sie so einander zu
entfremden. Sie redete sich nach und nach in wahre Leidenschaft hinein
und erklärte ihm erstaunlich richtig, wie Natascha ihn geliebt und wie
keine Liebe das je verzeihen werde, was er ihr jetzt antue, und daß
nicht sie, Natascha, sondern er selbst, Aljoscha, hier der Egoist sei.
Aljoscha wurde sehr traurig und machte ein aufrichtig reumütiges
Gesicht: ganz niedergeschlagen saß er neben uns, blickte zu Boden,
entgegnete kein Wort mehr, und schien, nach seiner Leidensmiene zu
urteilen, sich förmlich vernichtet zu fühlen. Doch Katjä sprach
schonungslos weiter. Ich beobachtete sie mit lebhaftem Interesse, denn
ich wollte diesem seltsamen Mädchen bis auf den Grund ihrer Seele
schauen. Sie war noch ein vollständiges Kind, nur hatte dieses Kind
schon manche selbst gewonnene Überzeugung und von sehr vielen Dingen
ganz richtige Auffassungen. Und all das bei angeborener Liebe zum Guten
und zur Gerechtigkeit. Wenn man sie auch in der Tat noch ein Kind nennen
konnte, so gehörte sie doch zu der Kategorie der „nachdenklichen“
Kinder, deren es in unseren Familien eine ziemliche Menge gibt.
Wenigstens sah man, daß sie viel und auch selbständig gedacht hatte. Wie
sollte es mich da nicht interessieren, in dieses denkende Kindergemüt
hineinzuschauen und zu sehen, wie sich dort die kindlichsten Begriffe
mit vollkommen ernst durchlebten Eindrücken und Lebensbeobachtungen –
Katjä kannte bereits das Leben – und gleichzeitig mit ihr noch ganz
unbekannten Ideen vermischten, mit Ideen und Gedanken, die sie nicht
selbst entwickelt hatte, sondern die ihr, sagen wir: ganz abstrakt
aufgefallen waren. Und solcher gab es in ihr offenbar noch eine ganze
Menge, doch wahrscheinlich hielt sie sie alle für ihre eigenen
Gedankenprodukte. Ich glaube, daß ich sie an diesem Abend und auch im
Laufe unserer späteren Bekanntschaft sehr gut kennen gelernt habe. Sie
hatte einen stolzen Charakter, doch ein empfängliches Herz. Mitunter
hatte es den Anschein, als verachte sie jede Selbstbeherrschung, indem
sie nichts als Wahrheit wollte, und jede Lebensregel nur für
vereinbartes Vorurteil hielt; und offenbar war sie stolz auf diese ihre
Überzeugungen, was bei vielen stolzen Menschen sogar auch in nichts
weniger als in jungen Jahren vorkommen soll. Gerade das aber war es, was
ihr einen ganz besonderen Reiz verlieh. Denken und die Wahrheit
ergründen, damit beschäftigte sie sich viel, doch war sie darin so wenig
pedantisch und außerdem machte sie so viele kindliche Ausfälle, daß man
von vornherein ihre Originalität nett fand und sich vollkommen mit ihr
aussöhnte. Ich dachte an „Ljowinka“ und „Borinka“ und ich fand alles in
der besten Ordnung. Und seltsam: ihr Gesicht, in dem ich auf den ersten
Blick nichts besonders Schönes entdeckt hatte, wurde an diesem Abend –
wenigstens in meinen Augen – mit jeder Minute schöner und anziehender.
Dieses naive Doppelspiel des jungen Kindes und des denkenden Weibes,
dieses kindliche und doch im höchsten Grade aufrichtige Verlangen nach
Wahrheit und Gerechtigkeit, und der felsenfeste Glaube daran, daß sie in
ihren Bestrebungen auf dem richtigen Wege war – alles das belebte ihr
Gesicht mit einem ... ich möchte sagen: reflektierenden Licht, das ihre
ganze aufrichtige Seele sichtbar werden ließ und diesem Gesicht eine
ganz anders geartete, höhere, geistige Schönheit verlieh; und man
begriff, daß die Bedeutung dieser Schönheit, die nicht sofort jedem
gewöhnlichen, gleichgültigen Blick zugänglich war, sich nicht so schnell
ergründen ließ. Und da sagte ich mir, daß Aljoscha bald leidenschaftlich
an ihr hängen würde. Wenn er selbst auch nicht zu denken und zu urteilen
verstand, so liebte er doch gerade diejenigen, die für ihn dachten und
sogar für ihn zu denken wünschten, – Katjä aber hatte ihn schon ganz
unter ihre Vormundschaft gestellt. Sie hatte ein offenes, reines
Kinderherz, das alles Gute und Schöne begierig aufnahm, und bei ihrer
kindlichen Aufrichtigkeit hatte sie ihm natürlich schon ihr ganzes
Innenleben erschlossen. Aljoscha besaß keinen Atom von eigenem Willen,
sie aber besaß einen sehr ausgeprägten, der sich sogar bis zur
Leidenschaft begeistern konnte, und nur an einen solchen Menschen, der
ihn zu beherrschen, ihm sogar zu befehlen verstand, konnte sich dieser
Junge anschließen. Das hatte ihn in mancher Hinsicht auch an Natascha
gefesselt –, doch hatte Katjä in dieser Beziehung viel vor der anderen
voraus: sie war selbst noch ein Kind und – wird es noch lange bleiben,
dachte ich: Diese ihre Kindlichkeit aber bei all ihrem klaren Verstande,
und gleichzeitig ihr Mangel an Urteilskraft – das war es, was sie für
Aljoscha passender machte, weshalb er sich auch immer mehr zu ihr
hingezogen fühlte. Ich bin überzeugt, daß in ihren Gesprächen, wenn sie
unter sich waren, neben Katjäs ernsten Ermahnungen und Zurechtweisungen,
auch von Spielsachen die Rede war. Und deshalb mußte es Aljoscha bei
Katjä, obschon sie ihm augenscheinlich oft den Kopf wusch und ihn
überhaupt sehr im Zaum hielt, doch leichter sein als bei Natascha. Sie
paßten besser zueinander und das war die Hauptsache.

„Gut, Katjä, schon gut, hör auf; es läuft doch immer darauf hinaus, daß
du recht hast und nicht ich. Das kommt daher, daß deine Seele reiner ist
als meine,“ sagte Aljoscha, und er erhob sich, um sich zu verabschieden.
„Ich werde sogleich zu ihr fahren, zu Ljowinka aber werde ich nicht mehr
gehen ...“

„Du hast dort auch nichts zu suchen, bei Ljowinka,“ meinte Katjä, „daß
du aber jetzt gehorchst und zu ihr fährst, das ist sehr lieb von dir.“

„Und du bist mir tausendmal lieber als alle anderen,“ sagte der betrübte
Aljoscha. „Iwan Petrowitsch, ich muß Ihnen noch zwei Worte sagen.“

Wir traten zur Seite.

„Ich habe heute schmählich gehandelt,“ flüsterte er, „es war eine
Gemeinheit von mir, ich habe mich an allen versündigt, am meisten aber
an ihnen, an Natascha und an ihr. Heute machte mich mein Vater nach dem
Essen mit der Alexandrine bekannt – eine Französin, wissen Sie, ein
bezauberndes Weib. Ich ... ließ mich hinreißen und ... nun, was soll man
da reden, ich bin’s einfach nicht mehr wert, bei ihnen zu sein ... Leben
Sie wohl, Iwan Petrowitsch!“ –

„Er ist ein guter, ein ehrlicher Mensch,“ begann Katjä sogleich eilig zu
versichern, kaum daß ich mich wieder zu ihr gesetzt hatte, „doch wir
werden noch viel zu reden haben, das eilt nicht, jetzt aber zuerst eine
Frage: für was halten Sie den Fürsten?“

„Für einen sehr schlechten Menschen.“

„Ich auch. Also stimmen wir darin überein; das wird uns vieles
erleichtern. Jetzt lassen Sie uns zuerst über Natalja Nikolajewna reden
... Wissen Sie, Iwan Petrowitsch, ich saß hier wie im Dunkeln und
erwartete Sie wie das Sonnenlicht. Sie müssen mir das alles erklären,
denn gerade die Hauptsache ist mir völlig unklar, ich tappe da nur so im
Dunkeln herum und habe keine weiteren Anhaltspunkte als das, was
Aljoscha mir gelegentlich erzählt hat. Sonst aber habe ich hier doch
keine Menschenseele, von der ich etwas erfahren könnte. Sagen Sie also,
erstens – das ist das wichtigste – was meinen Sie, werden Aljoscha und
Natascha glücklich miteinander sein oder nicht? Das muß ich ganz zuerst
wissen, um mich endgültig entscheiden zu können, um genau zu wissen, was
ich zu tun habe.“

„Wie kann man so etwas mit Bestimmtheit vorher sagen? ...“

„Ach, nein, so meinte ich es ja gar nicht, das kann natürlich kein
Mensch,“ unterbrach sie mich rasch, „ich will nur wissen, wie es Ihnen
scheint, – denn ich weiß, Sie sind ein sehr kluger Mensch.“

„Mir scheint es, daß sie nicht glücklich sein werden.“

„Weshalb nicht?“

„Sie passen nicht zueinander.“

„Das habe ich mir auch gedacht.“

Und sie faltete ihre Händchen wie in tiefer Trauer.

„Erzählen Sie, bitte, ausführlicher. Hören Sie: ich möchte furchtbar
gern Natascha sehen. Ich muß mich mit ihr aussprechen und ich glaube,
wir werden dann für alles die richtige Lösung finden. Jetzt versuche ich
immer mir in der Phantasie vorzustellen, wie sie ist: sie muß furchtbar
klug sein, ernst, wahrheitsliebend und sehr schön. Nicht?“

„Ja.“

„Das dachte ich mir. Nun, aber wenn sie so ist, wie hat sie sich dann in
Aljoscha, in diesen Knaben, verlieben können? Erklären Sie mir das. Ich
habe darüber schon oft nachgedacht.“

„Das läßt sich nicht erklären, Katherina Fedorowna. Es ist schwer, sich
vorzustellen, wie und weshalb man ihn so lieb gewinnen kann. Ja, er ist
ein vollständiges Kind. Aber wissen Sie denn nicht, wie man ein Kind
bisweilen liebgewinnen kann?“ Mein Herz wurde weich bei ihrer kindlichen
Ehrbarkeit, während der Blick ihrer tiefen, ernsten Augen in
erwartungsvoller Aufmerksamkeit unverwandt auf mir ruhte.

„Und je mehr Natascha selbst nicht einem Kinde gleicht,“ fuhr ich fort,
„je ernster sie selbst ist, um so eher konnte sie ihn liebgewinnen. Er
wird nie lügen, er ist von Herzen aufrichtig und überhaupt ist alles an
ihm herzlich; er ist unglaublich naiv, bisweilen hat aber auch seine
Naivität etwas Liebenswürdiges an sich. Vielleicht hat sie ihn – wie
soll man das ausdrücken? ... aus einem gewissen Mitleid liebgewonnen.
Das pflegt bei großmütigen Menschen mitunter vorzukommen ... Übrigens
fühle ich, daß ich Ihnen nichts erklären kann, dafür aber möchte ich Sie
etwas fragen: Sie lieben ihn doch?“

Ich sprach die Frage ganz ruhig aus, denn ich fühlte, daß ich weder
durch ihre Plötzlichkeit, noch durch sonst etwas die kindliche Reinheit
ihrer Seele trüben konnte.

„Bei Gott, ich weiß es noch nicht,“ antwortete sie leise und ihre klaren
Augen sahen mich dabei so ehrlich an, „aber ich glaube, daß ich ihn sehr
liebe ...“

„Nun, sehen Sie. Und können Sie es erklären, weshalb Sie ihn lieben?“

„Es ist nichts Gelogenes an ihm,“ antwortete sie nach einigem
Nachdenken. „Und wenn er mir so gerade in die Augen sieht und dabei
etwas zu mir spricht, so gefällt mir das sehr ... Hören Sie, Iwan
Petrowitsch, da spreche ich jetzt mit Ihnen davon, und ich bin doch ein
Mädchen und Sie sind ein Mann; ist das nun gut gehandelt oder schlecht?“

„Ja, was sollte denn hierbei schlecht sein?“

„Das ist es ja. Selbstverständlich: was sollte hierbei schlecht sein?
Nun, die dort aber,“ – sie wies mit dem Blick auf die Gruppe am Teetisch
– „würden sicherlich sagen, daß es nicht gut sei. Haben sie recht oder
nicht recht?“

„Nein! Sie fühlen doch in Ihrem Herzen, daß Sie nichts Schlechtes tun,
folglich ...“

„So mache ich es auch immer,“ unterbrach sie mich, – offenbar wollte sie
an diesem Abend noch über vieles mit mir reden. „Sobald ich es einmal
nicht weiß, frage ich gleich mein Herz, und wenn es ruhig ist, dann bin
auch ich ruhig. Und so muß man es auch immer machen. Und mit Ihnen
spreche ich deshalb so aufrichtig, als spräche ich mit mir selbst, weil
Sie erstens ein prächtiger Mensch sind und weil ich Ihre ganze frühere
Geschichte mit Natascha, bevor sie Aljoscha liebgewann, kenne, und ich
habe geweint als ich sie hörte.“

„Wer hat sie Ihnen denn erzählt?“

„Aljoscha natürlich, und er hatte selbst Tränen in den Augen, als er
erzählte. Das war sehr gut von ihm und das hat mir auch sehr gefallen.
Ich glaube, daß er Sie mehr liebt, als Sie ihn, Iwan Petrowitsch. Sehen
Sie, gerade diese Züge sind es, die mir an ihm gefallen. Nun, und dann
zweitens rede ich deshalb so offen mit Ihnen, weil Sie ein sehr kluger
Mensch sind und mir in vielen Dingen raten und mich belehren können.“

„Woher wissen Sie, daß ich so klug bin, daß ich Sie belehren könnte?“

„Ach, nun, wie soll ich das nicht wissen!“

Sie dachte nach.

„Ich habe ja nur so davon zusprechen begonnen; doch reden wir jetzt von
der Hauptsache. Raten Sie mir, Iwan Petrowitsch! Sehen Sie, ich weiß
doch, daß ich jetzt Nataschas Rivalin bin, was soll ich da nun tun?
Deshalb fragte ich Sie auch: werden sie glücklich miteinander sein?
Daran denke ich Tag und Nacht. Nataschas Lage ist so furchtbar, so
furchtbar! Er hat doch schon ganz aufgehört, sie zu lieben und mich
liebt er immer mehr. Nicht?“

„Es scheint so.“

„Und er betrügt sie doch gar nicht. Er weiß es ja selbst nicht, daß er
aufhört, sie zu lieben, sie aber wird es bestimmt wissen. Da kann man
sich denken, wie sie sich quält!“

„Was wollen Sie denn tun, Katherina Fedorowna?“

„Ich habe eine ganze Menge Projekte,“ antwortete sie ernst, „aber ich
komme mit ihnen nicht zurecht. Deshalb habe ich Sie auch so ungeduldig
erwartet, damit Sie mir helfen. Sie kennen das alles viel besser als
ich. Sie sind ja doch jetzt geradezu ein Gott für mich, von dem ich
alles erwarte. Also hören Sie: zuerst dachte ich so: wenn sie sich beide
lieben, so müssen sie glücklich werden, und deshalb muß ich mich opfern
und ihnen helfen. Nicht?“

„Ich weiß, daß Sie imstande wären, es zu tun.“

„Ja, zu Anfang, dann aber, als er öfter zu uns kam und mich immer mehr
zu lieben begann, da wurde ich nachdenklich und jetzt frage ich mich:
soll ich das Opfer bringen oder soll ich nicht? Das ist doch sehr
schlecht von mir, nicht wahr?“

„Das ist schließlich nur natürlich,“ antwortete ich, „anders wäre es
kaum denkbar ... Sie sind jedenfalls nicht schuld daran.“

„Das glaube ich nicht. Sie sagen es nur deshalb, weil Sie sehr gut sind.
Ich denke aber nun, daß mein Herz wohl nicht ganz rein ist. Wenn mein
Herz rein wäre, würde ich wissen, was ich zu tun habe. Doch – lassen wir
das! Später erfuhr ich mehr von ihren Verhältnissen, einiges vom
Fürsten, einiges von Mama, einiges auch von Aljoscha, und ich erriet,
daß sie doch nicht so ganz zueinander passen müssen, und das haben Sie
nun auch bestätigt. Da bin ich jetzt noch unentschlossen. Was nun? Denn
wenn sie beide unglücklich werden würden, so würde es doch auch für sie
nur besser sein, wenn sie sich trennen? Deshalb will ich mir nun von
Ihnen alles ganz genau erzählen lassen und dann – so habe ich
beschlossen – selbst zu Natascha fahren und mit ihr dann alles endgültig
beschließen.“

„Ja, aber wie, das ist die Frage.“

„Ich werde zu ihr einfach sagen: ‚Sie lieben ihn doch mehr als alles auf
der Welt, deshalb müssen Sie auch in erster Linie sein Glück wünschen:
folglich müssen Sie sich von ihm trennen‘.“

„Was meinen Sie, wird es ihr sehr angenehm sein, so etwas zu hören? Und
wenn sie einwilligt – wird sie auch fähig sein, es auszuführen?“

„Das ist es ja gerade, worüber ich Tag und Nacht nachdenke und ... und
...“

Und sie brach in Tränen aus.

„Sie glauben nicht, wie leid mir Natascha tut ...“ murmelte sie mit
zuckenden Lippen.

Was sollte ich sagen? Ich schwieg und hatte selbst nicht übel Lust, wie
sie zu weinen, nur so, einfach aus einem Gefühl heraus, einem Gefühl,
das so wie Liebe war. Welch ein liebes, liebes Kind sie ist! dachte ich.
Natürlich fragte ich sie nicht weiter, weshalb sie denn von sich
glaubte, daß sie Aljoschas Glück ausmachen könne.

„Sie lieben doch Musik?“ fragte sie, als sie sich ein wenig beherrscht
hatte, doch war sie noch ganz nachdenklich gestimmt von den Tränen.

„Ja,“ antwortete ich etwas verwundert.

„Wenn wir Zeit hätten, würde ich Ihnen jetzt das dritte Konzert von
Beethoven vorspielen. Ich spiele es jetzt. Dort sind alle diese Gefühle
... ganz so wie ich sie jetzt empfinde. So scheint es mir wenigstens.
Doch davon nächstens, heute haben wir noch über Wichtigeres zu
sprechen.“

Und es begannen die Beratungen, wie es anzustellen sei, daß sie mit
Natascha zusammenkäme. Sie sagte, daß sie nicht ohne Begleitung das Haus
verlassen dürfe; ihre Stiefmutter sei zwar gut zu ihr und habe sie lieb,
doch werde sie nie und nimmer erlauben, daß sie, Katjä, Natalja
Nikolajewnas Bekanntschaft mache. Daher habe sie sich zu einer List
entschlossen. An manchen Vormittagen mache sie, wenn das Wetter schön
sei, eine Spazierfahrt, doch fahre sie nie allein, sondern stets mit der
Gräfin. Wenn diese aber aus irgend einem Grunde nicht mitfahren könne,
begleite sie die Französin, die im Augenblick krank war. Das käme aber
eigentlich nur dann vor, wenn die Gräfin Migräne habe, folglich mußte
man warten, bis diese Migräne eintrat. Inzwischen aber mußte die
Französin – ein altes Fräulein, das so etwas wie eine Gesellschafterin
war – „gewonnen“ werden, was gewiß nicht schwer fallen könne, denn sie
sei sehr gut. Das Ergebnis war also, daß es ganz unmöglich sei, im
voraus zu bestimmen, wann sie Natascha ihren Besuch machen könne.

„Sie werden Ihren Schritt nicht bereuen,“ sagte ich. „Sie will Sie
selbst sehr gern kennen lernen, und das ist durchaus notwendig, damit
sie wenigstens weiß, wem sie Aljoscha übergibt. Im übrigen aber brauchen
Sie sich das alles gar nicht so zu Herzen zu nehmen. Die Zeit wird auch
ohne Ihre Sorgen alles entscheiden. Sie werden doch aufs Land fahren?“

„Ja, bald, vielleicht schon in einem Monat,“ sagte sie. „Ich weiß, daß
der Fürst darauf besteht.“

„Was meinen Sie, wird Aljoscha mit Ihnen dorthin fahren?“

„Das ist es, woran ich soeben dachte!“ sagte sie und sah mich unverwandt
an. „Er wird doch wohl?“

„Zweifellos.“

„Mein Gott – ich weiß nicht, was daraus noch werden soll! Hören Sie,
Iwan Petrowitsch, ich werde Ihnen alles schreiben, ich werde Ihnen sehr
oft schreiben und sehr viel. Ich bin nun einmal Ihr Plagegeist geworden.
Werden Sie uns oft besuchen?“

„Ich weiß es nicht, Katherina Fedorowna, das hängt von den Umständen ab.
Vielleicht werde ich hier überhaupt nicht wieder erscheinen.“

„Weshalb denn nicht?“

„Das wird eben von verschiedenen Fragen abhängen, doch hauptsächlich –
von meinem Verhältnis zum Fürsten.“

„Er ist ein unehrlicher Mensch,“ sagte sie überzeugt. „Aber wissen Sie,
Iwan Petrowitsch, wie wäre es, wenn ich Sie einmal besuchen würde? Wenn
ich an einem Vormittage meine Spazierfahrt mache? Wäre das gut oder wäre
das nicht gut?“

„Wie finden Sie es?“

„Ich denke, daß es gut wäre. So, ganz einfach ... ich würde Sie eben
einmal besuchen ...“ fügte sie lächelnd hinzu. „Ich sage es ja nur
deshalb, weil ich Sie nicht nur sehr achte, sondern auch sehr liebe ...
Und von Ihnen kann man vieles lernen. Und ich liebe Sie doch ... Aber
ich brauche mich doch nicht deshalb zu schämen, weil ich so mit Ihnen
spreche? ...“

„Weshalb sollten Sie sich schämen? Sie sind mir schon so lieb und wert,
als hätte ich in Ihnen eine Blutsverwandte gefunden.“

„Wollen Sie nicht mein Freund sein?“

„O, von Herzen gern!“ sagte ich.

„Nun, die dort aber würden sagen, daß ich mich schämen müßte und daß ein
junges Mädchen so nicht reden dürfe,“ bemerkte sie wieder mit einem auf
die Gruppe am Teetisch weisenden Blick.

Ich muß hier bemerken, daß der Fürst uns, wie mir schien, absichtlich
allein ließ, um uns die Möglichkeit zu geben, über Natascha und Aljoscha
unter vier Augen nach Herzenslust zu sprechen.

„Ich weiß doch sehr gut, daß der Fürst es nur auf mein Geld abgesehen
hat,“ fuhr sie fort. „Sie halten mich noch für ein vollständiges Kind,
und sagen es mir ja auch ganz offen. Ich aber denke anders. Ich bin kein
Kind mehr ... Seltsame Menschen sind es doch: sie sind ja noch selbst
die richtigen Kinder. Sagen Sie mir nur: weshalb sorgen sie sich so?“

„Katherina Fedorowna, ich vergaß, Sie zu fragen: wer sind dieser
Ljowinka und Borinka, die Aljoscha so oft besucht?“

„Das sind entfernte Verwandte von mir. Es sind sehr kluge und sehr
anständige Jungen, aber sie sprechen so viel, daß es einem denn doch zu
viel wird ... Ich kenne sie ...“

Und sie lächelte vor sich hin.

„Ist es wahr, daß Sie ihnen mit der Zeit eine Million schenken wollen?“

„Nun sehen Sie, zum Beispiel diese Million! Sie haben schon so viel
davon gesprochen, daß es einem einfach unerträglich wird. Ich gebe
natürlich gern zu allem Nützlichen, denn wozu hat man schließlich so
viel Geld, nicht wahr? Aber es wird doch noch einige Zeit dauern, bis
ich es werde tun können, sie aber tun so, als hätten sie bereits über
das Geld zu verfügen, verteilen es, philosophieren, schreien, streiten
über die beste Verwendung, ja sie geraten sich sogar in die Haare
deswegen, so daß ich mich wirklich nur wundern kann. Sie haben es doch
gar zu eilig. Aber dann sind sie doch wieder so nette Jungen, so
herzlich in allem und ... klug sind sie. Sie lernen. Das ist doch
immerhin besser als so, wie andere leben ... Nicht wahr?“

Und vieles sprachen wir noch. Sie erzählte mir fast ihr ganzes Leben und
hörte mit brennendem Interesse zu, wenn ich erzählte. Doch immer wieder
wollte sie noch Näheres von Natascha und Aljoscha hören. Es hatte schon
zwölf geschlagen, als der Fürst zu mir trat und damit das Zeichen zum
Aufbruch gab. Ich verabschiedete mich. Katjä drückte mir fest die Hand
und sah mich mit einem vielsagenden Blick an. Die Gräfin forderte mich
auf, sie auch fernerhin zu besuchen. Ich verließ das Haus zusammen mit
dem Fürsten.

Ich kann hier nicht umhin, eines seltsamen und vielleicht ganz
unpassenden Eindruckes, den ich unter anderem aus dem dreistündigen
Gespräch mit Katjä davontrug, Erwähnung zu tun: es war dies eine für
mich selbst wunderliche, doch um so festere Überzeugung, daß sie noch so
weit Kind war, daß sie das ganze Geheimnis der Beziehungen zwischen Mann
und Weib überhaupt noch nicht kannte. Das verlieh einzelnen ihrer
Äußerungen sowie dem ganzen ernsten Ton, mit dem sie von vielen äußerst
wichtigen Dingen sprach, eine unendliche unfreiwillige Komik.


                                   X.

„Was meinen Sie!“ sagte plötzlich der Fürst, als wir uns in den Wagen
setzten. – „Wie wäre es, wenn wir jetzt zusammen zu Abend speisten?“

„Wirklich, ich weiß nicht, Fürst,“ antwortete ich unschlüssig. „Ich
pflege nie zu Abend zu speisen ...“

„Selbstverständlich würden wir bei der Gelegenheit dann auch _reden_
können,“ fügte er bedeutsam hinzu, indem er mir mit einem halb
spöttisch, halb heimtückisch lächelnden Blick unverwandt in die Augen
sah.

Wie sollte ich das mißverstehen! „Er will sich aussprechen,“ dachte ich,
„und das ist es ja gerade, worauf ich warte.“

Ich willigte ein.

„Also abgemacht. In die Große Moskaja zu B.,“ rief er dem Kutscher zu.

„Ins Restaurant?“ fragte ich ein wenig verwirrt.

„Ja. Wieso? Ich speise doch abends nur selten zu Hause. Erlauben Sie mir
denn nicht, Sie aufzufordern?“

„Aber ich sagte Ihnen doch, daß ich mich überhaupt nicht daran gewöhnt
habe, zu Abend zu speisen.“

„Nun, dieses eine Mal! Zudem habe ich Sie doch aufgefordert, mein Gast
zu sein ...“

Das hieß: ich werde doch für dich zahlen. Ich bin überzeugt, daß er das
mit Absicht hinzufügte. Ich widersprach nicht weiter, beschloß aber, im
Restaurant selbst für mich zu zahlen. Der Fürst nahm ein einzelnes
Zimmer und wählte mit Kennermiene drei Gänge. Das war alles sehr teuer,
ebenso auch der feine Tischwein, den er dazu bestimmte, und daher nichts
für meine Tasche. Ich warf einen Blick auf die Karte und bestellte für
mich ein halbes Haselhuhn und dazu Lafitte.

„Wie, Sie wollen nicht mit mir speisen?“ fragte der Fürst ganz
aufgebracht. „Aber das ... das ist ja geradezu lächerlich! Pardon, ^mon
ami^, aber das ist doch wirklich ... übertriebene Pedanterie. Sie können
doch in Ihrer Eigenliebe nicht so kleinlich sein. Das ist ja förmlich,
als wollten Sie auf den Standesunterschied pochen, – ich wette, daß das
im geheimen Ihre Absicht ist! Ich versichere Sie, Sie beleidigen mich
einfach!“

Doch ich bestand auf meinen Willen.

„Nun – wie Sie wollen. Ich zwinge Sie nicht ... Sagen Sie, Iwan
Petrowitsch, darf ich zu Ihnen einmal vollkommen freundschaftlich
reden?“

„Ich bitte Sie darum.“

„Nun, dann sage ich Ihnen, daß Sie sich, meiner Meinung nach, durch
solche Pedanterie nur schaden. Und dasselbe tun alle Ihre Kollegen. Sie
sind Literat, Schriftsteller, Sie müssen die Welt kennen lernen,
währenddessen ziehen Sie sich immer mehr zurück und wollen sich von
allem fernhalten. Ich rede jetzt nicht von Haselhühnern, aber Sie sind
ja doch bereit, auf jede Beziehung zu unseren Kreisen zu verzichten, das
aber schadet Ihnen doch sicher. Ganz abgesehen davon, daß Sie dabei viel
verlieren, – nun, zum Beispiel, was ihre Karriere betrifft und alles
weitere, was daraus folgt – ganz abgesehen davon, sage ich, müßten Sie
doch in erster Linie das kennen lernen, was Sie schildern. In solchen
Novellen kann doch alles vorkommen, Grafen, Fürsten, Boudoirs ... Doch,
was sage ich! Bei den Schriftstellern von heute dreht es sich ja jetzt
um nichts anderes mehr als um Armut, verlorene Mäntel, Revisoren,
verrückte Offiziere, Beamte, alte Jahrgänge und Sektiererleben, ich
weiß, ich weiß ...“

„Sie irren sich, Fürst. Wenn ich mich nicht in den sogenannten höheren
Kreisen bewege, so tue ich es nur deshalb nicht, weil es dort, erstens,
langweilig ist, und zweitens, weil man dort nichts zu suchen hat. Doch
schließlich bin ich auch hin und wieder ...“

„Ich weiß, beim Fürsten R., einmal im Jahr. Ich bin Ihnen ja dort mal
begegnet. Aber die übrige Zeit des Jahres verknöchern Sie wie Ihre
Kollegen in demokratischem Stolz irgendwo in kleinen Dachstuben.
Freilich tun das nicht gerade alle. Es gibt unter ihnen auch solche
Abenteuerjäger, daß es sogar mir ekelhaft zumute wird ...“

„Ich bitte Sie, Fürst, dieses Thema fallen zu lassen und unsere
Dachstuben nicht weiter zu berühren.“

„Ach, mein Gott, da sind Sie schon gekränkt. Sie hatten mir doch
erlaubt, vollkommen freundschaftlich mit Ihnen zu reden. Übrigens, ^je
vous demande pardon^, ich habe ja noch mit nichts Ihre Freundschaft
verdient. Der Wein ist nicht schlecht. Versuchen Sie ihn.“

Er schenkte mir ein halbes Glas ein – aus seiner Flasche.

„Nun, sehen Sie, mein lieber Iwan Petrowitsch, ich begreife ja nur zu
gut, daß es unanständig ist, seine Freundschaft einem anderen ungebeten
aufzudrängen. Sind Sie doch der Meinung, daß wir alle Sie nur demütigend
behandeln wollen. Nun, ich begreife auch sehr gut, daß Sie nicht aus
Neigung zu mir hier sitzen, sondern weil ich versprochen habe, mit Ihnen
zu _reden_. Nicht wahr, so ist es doch?“

Er lachte.

„Da Sie aber die Interessen einer gewissen Person im Auge haben, so sind
Sie natürlich sehr gespannt darauf, was ich sagen werde. Nicht wahr?“
fragte er mit boshaftem Lächeln.

„Sie irren sich nicht,“ sagte ich nervös – ich sah, daß er einer von
jenen war, die, wenn sie einen Menschen nur ein wenig in ihrer Macht
wissen, es diesem sogleich zu fühlen geben möchten. Und ich war in
seiner Macht. Sein Ton wurde mit jedem Satz familiärer, spöttischer,
unverschämter. „Sie haben es erraten, Fürst; ich bin einzig zu diesem
Zweck hergekommen, andernfalls würde ich wahrlich nicht ... so spät hier
noch sitzen.“

Ich hatte sagen wollen: andernfalls würde ich wahrlich nicht in Ihrer
Gesellschaft bleiben, unterließ es aber, und zwar nicht etwa aus Furcht
vor ihm, sondern weil mein verwünschtes Zartgefühl es nicht erlaubte. In
der Tat, wie soll man einem Menschen eine Grobheit ins Gesicht sagen,
wenn er es auch noch so verdient hätte und ich ihm gerade eine Grobheit
sagen wollte? Ich glaube, der Fürst erriet aus meinen Augen, was ich
dachte und blickte mich die ganze Zeit spöttisch an, als mokiere er sich
über meine Mutlosigkeit und als wolle er mir mit seinem Blick sagen:
„Nun was, hast es nicht zu sagen gewagt, hast klein beigegeben? Ja, ja,
Freundchen!“ Sicherlich waren das seine Gedanken, denn als ich meinen
Satz beendet hatte, lachte er auf und klopfte mir mit einer gewissen
protegierenden Liebenswürdigkeit aufs Knie.

„Du erheiterst mich, Freundchen,“ las ich in seinem Blick.

„Wart mal!“ dachte ich bei mir.

„Ich bin heute sehr vergnügt!“ rief er lachend aus, „und wirklich, ich
weiß eigentlich gar nicht, weshalb. Ja, ja, mein Freund, ja! Gerade über
diese Person wollte ich mit Ihnen reden. Man muß sich doch einmal
aussprechen, und man muß doch auch zu einem Resultat kommen. Deshalb
hoffe ich, daß Sie mich diesmal richtig verstehen werden. Vorhin begann
ich mit Ihnen von jenem Gelde und der alten Schlafmütze von einem Vater,
dem sechzigjährigen Säugling ... Na, es lohnt sich nicht, darüber noch
Worte zu verlieren. Ich begann doch davon _nur so_! Hahah! Sie sind doch
Dichter – haben Sie denn das nicht erraten? ...“

Verwundert sah ich ihn an. Ich fragte mich, ob er schon betrunken sein
könne?

„Nun, was aber sein Töchterchen betrifft, so muß ich sagen, daß ich sie
sehr achte, sogar liebe – versichere Sie! Sie ist zwar ein bißchen
eigensinnig, aber schließlich: ‚keine Rose ohne Dorn‘, wie man vor
fünfzig Jahren zu sagen pflegte, und das Wörtchen ist sogar sehr
treffend. Dornen stechen, aber das ist ja gerade das Verlockende, und
wenn auch mein Alexei ein Dummkopf ist, so habe ich ihm zum Teil doch
schon verziehen – weil er einen so guten Geschmack bewiesen hat. Kurz,
mir gefallen diese Mädchen und ich habe –“ er preßte vielsagend die
Lippen zusammen – „sogar besondere Absichten ... Nun, davon später ...“

„Fürst! Hören Sie, Fürst!“ rief ich aus, „ich verstehe diese plötzliche
Veränderung nicht, aber ... sprechen Sie von anderem, ich bitte Sie.“

„Sie regen sich schon wieder auf! Nun, gut ... ich werde das Thema
wechseln. Nur – sehen Sie, was ich Sie fragen will, mein lieber Freund:
achten Sie sie sehr?“

„Selbstverständlich!“ antwortete ich mit unhöflicher Gereiztheit und
Ungeduld.

„Nun, nun ... und Sie lieben sie?“ fuhr er fort, mit einem widerlichen
Lächeln mir zublinzelnd.

„Sie vergessen sich!“

„Nun, schon gut, schon gut. Beruhigen Sie sich nur. Ich bin heute bei
erstaunlich guter Laune, das muß ich sagen! Ich bin so heiter gestimmt
wie seit langer Zeit nicht mehr. Sollten wir nicht Champagner trinken?
Was meinen Sie, mein Poet?“

„Ich werde keinen Champagner trinken, ich will nicht!“

„Nichts da! Sie müssen mir heute unbedingt Gesellschaft leisten. Ich
fühle mich so wundervoll und bin von einer Güte, die fast an
Sentimentalität grenzt, aber ich kann nicht allein glücklich sein. Wer
weiß, vielleicht bringen wir es noch so weit, daß wir Brüderschaft
trinken, hahaha! und ‚Du‘ zueinander sagen! Nein, nein, junger Freund,
Sie kennen mich noch nicht! Ich bin überzeugt, daß Sie mich lieb
gewinnen werden. Ich will, daß Sie heute Leid und Freud mit mir teilen,
Heiterkeit und Tränen, obschon ich hoffe, daß ich ... wenigstens nicht
weinen werde. Nun, wie steht’s, Iwan Petrowitsch? So bedenken Sie doch
nur, daß, wenn nicht das geschieht, was ich will, meine ganze
Inspiration zum Teufel gehen kann und Sie dann nichts mehr hören werden.
Nun, Sie aber sind doch einzig zu dem Zweck hier, um etwas zu hören.
Hab’ ich nicht recht?“ fragte er wieder mit einem frechen Blinzeln.
„Nun, dann wählen Sie also.“

Die Drohung war nicht mißzuverstehen. Ich willigte ein. „Will er mich
etwa betrunken machen?“ fragte ich mich. Übrigens dürfte es angebracht
sein, hier eines Gerüchts, daß auch mir zu Ohren gekommen war, Erwähnung
zu tun. Man erzählte vom Fürsten, daß er – der sich doch in der
Gesellschaft stets tadellos und vornehm zeigte – mitunter nachts es wie
der letzte Wüstling zu treiben liebte, sich toll und voll soff und sich
dann heimlich der Ausschweifung hingab, ganz heimlich und gemein ... Ich
hatte Scheußliches von ihm erzählen hören. Aljoscha wußte es, daß der
Vater sich bisweilen betrank, suchte es aber vor allen zu verbergen,
namentlich vor Natascha. Einmal verriet er sich unbedachtsamerweise im
Gespräch mit mir, brach aber sofort ab und überging die Antwort auf eine
meiner diesbezüglichen Fragen. Von diesem Gerücht jedoch hatte ich
andere erzählen hören, nur muß ich gestehen, daß ich es für leeres
Geschwätz hielt und ihm keinen großen Glauben schenkte.

Ich wartete, was weiter geschehen würde.

Der Kellner erschien mit dem Champagner; der Fürst schenkte ein, sich
und mir.

„Ein reizendes, reizendes Mädel! – wenn sie mich auch gescholten hat!“
fuhr er fort, mit Hochgenuß den Wein schlürfend. „Aber gerade in solchen
Momenten sind ja diese reizenden Geschöpfe am reizendsten ... Und sie
glaubte doch sicherlich, daß sie mich beschämt habe – Sie wissen doch:
an jenem Abend? – daß ich einfach vernichtet sei! Hahaha! Und wie ihr
das Erröten steht! Sind Sie ein Weiberkenner? Es gibt blasse Gesichter,
denen ein plötzliches Erröten wundervoll steht, – ist Ihnen das nicht
aufgefallen? Ach, mein Gott! Sie ärgern sich wohl schon wieder?“

„Ja, ich ärgere mich!“ sagte ich, ohne mich noch zu beherrschen. „Ich
wünsche nicht, daß Sie jetzt von Natalja Nikolajewna sprechen ... das
heißt, in einem solchen Tone. Ich ... ich erlaube Ihnen das nicht!“

„Oho! Nun, wie Sie wünschen; ich bereite Ihnen das Vergnügen und werde
auf anderes übergehen. Ich bin ja doch nachgiebig und weich wie Wachs.
Reden wir also von Ihnen. Ich liebe Sie, Iwan Petrowitsch. Wenn Sie
wüßten, welch freundschaftliches, aufrichtiges Interesse ich für Ihr
Schicksal empfinde ...“

„Fürst, wäre es nicht besser, wir kämen zur Sache?“ unterbrach ich ihn.

„Das heißt, zu _unserer_ Sache, wollen Sie sagen. Ich verstehe Sie auch
ohne Worte, ^mon ami^, nur ahnen Sie gar nicht, wie nah wir die Sache
berühren, wenn wir jetzt auf Sie zu sprechen kommen und wenn Sie mich,
was ich hoffe, nicht wieder unterbrechen werden. Also ich fahre fort:
ich wollte Ihnen nämlich sagen, mein teuerster Iwan Petrowitsch, daß so
leben, wie Sie leben, einfach ein Sichzugrunderichten ist. Erlauben Sie
mir einmal, dieses delikate Gebiet zu berühren; ich tu’s aus
Freundschaft. Sie sind arm, Sie müssen sich von Ihrem Verleger einen
Vorschuß zahlen lassen, um Ihre kleinen Schulden bezahlen zu können, und
für das übrige leben Sie ein halbes Jahr nur von Tee und zittern in
Ihrer Dachkammer vor Kälte, in der Erwartung des Augenblicks, wann
endlich Ihr Roman erscheinen wird. Ist es nicht so?“

„Und wenn es auch so ist, so ist es doch ...“

„Doch ehrenwerter als stehlen, Bücklinge machen, Sporteln nehmen,
intrigieren, nun, usw., usw. Ich weiß, ich weiß, was Sie sagen wollen,
das ist ja alles schon längst gedruckt!“

„Folglich dürfte es auch überflüssig sein, davon weiter zu reden. Muß
ich Sie wirklich noch Takt lehren, Fürst?“

„O, selbstverständlich nicht. Nur, was ist da zu machen, wenn gerade
diese delikaten Seiten in der Hauptsache eine große Rolle spielen. Man
kann sie doch nicht totschweigen. Doch übrigens, wie Sie wollen, lassen
wir die Dachkammern in Ruh. Ich habe auch nichts für sie übrig,
abgesehen von gewissen Fällen ...“ Er lachte widerlich. „Mich wundert ja
nur eines: was für ein Vergnügen finden Sie daran, die Rolle der zweiten
Person zu spielen? A propos, einer Ihrer Kollegen sagt ja wohl irgendwo
in einem Werk, soviel ich mich entsinne, daß es vielleicht die größte
Tat sei, wenn ein Mensch es verstehe, sich im Leben auf die Rolle einer
zweiten Person zu beschränken ... Oder so etwas Ähnliches. Ich habe auch
einmal ein Gespräch darüber gehört ... mit halbem Ohr. Ich weiß doch,
daß Aljoscha Ihnen die Braut abspenstig gemacht hat, Sie aber wissen,
gleich einem idealen Schiller, nichts besseres zu tun, als sich für sie
noch aufzuopfern, sie womöglich zu bedienen oder sich von ihnen gar als
Laufbursche benutzen zu lassen ... Verzeihen Sie, mein Lieber, aber das
ist doch nur ein gewisses widerliches Spiel mit großmütigen Gefühlen ...
Daß es Ihnen noch nicht langweilig geworden ist, begreife ich nicht! Man
müßte sich doch eigentlich schämen. Ich würde an Ihrer Stelle, glaube
ich, umkommen vor Ärger, aber in erster Linie würde ich mich doch
schämen, schämen!“

„Fürst! Es scheint, daß Sie mich nur zu dem Zweck hergebeten haben, um
mich zu beleidigen!“ Ich war fast außer mir vor Wut.

„O, nein, mein Freund, nein, ich bin im Augenblick ganz einfach nur ein
Sachverständiger, der Ihr Bestes wünscht. Mit einem Wort, ich will der
ganzen Geschichte einmal ein Ende machen. Doch vorläufig reden wir noch
nicht von der ‚ganzen Geschichte‘, sondern hören Sie mich zuerst bis zu
Ende an, und bemühen Sie sich, sich nicht aufzuregen, wenn auch nur für
die Dauer von zwei Minuten. – Nun, also, was meinen Sie, sollten Sie
nicht heiraten? Sie sehen, ich rede jetzt von ganz _Nebensächlichem_.
Weshalb sehen Sie mich denn so erstaunt an?“

„Bitte, weiter, ich warte,“ antwortete ich. Ich sah ihn in der Tat
verwundert an.

„O, da ist nichts zu erwarten. Ich wollte nur wissen, was Sie dazu sagen
würden, wenn Ihnen jemand von Ihren Freunden, der Ihnen ein dauerhaftes,
wahres Glück wünscht – nicht irgend so ein ephemerisches – ein junges,
nettes Mädchen anböte, das aber ... bereits einiges durchgemacht hat.
Ich rede ganz allegorisch, doch Sie verstehen mich hoffentlich, – nun,
so ^à la^ Natalja Nikolajewna, selbstverständlich mit einer anständigen
Entschädigung ... Vergessen Sie nicht, daß ich von einer Nebensache,
nicht von _unserer_ Sache rede. Nun also: was würden Sie dazu sagen?“

„Ich sage Ihnen, daß Sie ... verrückt geworden sind.“

„Hahaha! Bah! Sie scheinen ja Lust zu haben, tätlich zu werden?“

Es fehlte allerdings nicht viel und ich hätte ihn geprügelt. Ich konnte
es kaum noch aushalten! Ich hatte das Empfinden, einem Geschmeiß, einer
riesigen ekelhaften Spinne gegenüber zu sitzen und ich brannte vor
Verlangen, das scheußliche Tier platt zu schlagen, unter die Füße zu
treten. Er ergötzte sich an seinem Spott, den er mit mir trieb, er
spielte mit mir, wie eine Katze mit der Maus, denn er glaubte, mich ganz
in seiner Gewalt zu haben. Es schien mir, daß er an seiner
Schamlosigkeit ein gewisses Vergnügen fand; vielleicht empfand er sogar
eine gewisse Wollust in dieser Gemeinheit, in diesem Zynismus, mit dem
er vor mir plötzlich sich die Maske vom Gesicht riß. Er wollte sich an
meiner Verwunderung, an meinem Schreck und Ekel weiden, wie es mir
schien. Er verachtete mich aufrichtig und machte sich über mich lustig.

Ich hatte erraten, daß er einen besonderen Zweck verfolgte; ich befand
mich aber in einer solchen Situation, daß ich ihn unter allen Umständen
anhören mußte. Ich mußte es im Interesse Nataschas; ich mußte mich auf
alles gefaßt machen und mußte alles ertragen, denn es war möglich, daß
jetzt die Stunde gekommen war, in der sich ihr Schicksal entschied. Wer
aber hätte diese zynischen, gemeinen Ausfälle auf ihre Rechnung
kaltblütig anhören können? Und er begriff nur zu gut, daß ich gezwungen
war, ihn anzuhören, was natürlich noch die Kränkung vergrößerte.
„Übrigens bin auch ich ihm unentbehrlich,“ dachte ich bei mir und begann
ihm schroff und verächtlich zu antworten. Er merkte es.

„Hören Sie, mein junger Freund,“ begann er plötzlich, mir ernst in die
Augen schauend, „so können wir nicht fortfahren, deshalb ist es besser,
wir verständigen uns sogleich. Ich, sehen Sie mal, ich hatte die
Absicht, Ihnen einiges zu sagen; da müssen Sie aber schon so
liebenswürdig sein und einwilligen, mich anzuhören, gleichviel was ich
Ihnen auch erzähle oder sagen sollte. Ich wünsche so zu sprechen, wie
ich will und wie es mir gefällt, und genau genommen ist es so auch ganz
in der Ordnung, Nun, also wie steht es, mein junger Freund? Werden Sie
Geduld haben?“

Ich bezwang mich und schwieg, obschon er mich plötzlich mit so beißendem
Spott ansah, als wolle er mich absichtlich zu einer schroffen Weigerung
herausfordern. Doch er erriet aus meinem Schweigen, daß ich einwilligte,
alles anzuhören, und so fuhr er denn fort:

„Ärgern Sie sich nicht über mich, mein Freund! Worüber ärgern Sie sich
denn, genau genommen? Einzig über eine äußere Form, nicht wahr? Sie
haben doch von mir im Grunde nichts anderes erwartet, gleichviel wie ich
mit Ihnen spreche: ob mit parfümierter Höflichkeit oder so wie jetzt;
folglich bliebe doch der Sinn immer ein und derselbe. Sie verachten
mich, nicht wahr? Sehen Sie doch, wieviel liebe Einfachheit,
Aufrichtigkeit und Bonhomie in mir ist! Ich gestehe Ihnen alles, sogar
meine Kinderlaunen. Ja, ^mon cher^, ja, ein wenig mehr Bonhomie auch
Ihrerseits und wir würden uns vorzüglich aussprechen, würden in allen
Punkten einig werden und uns gegenseitig vollkommen verstehen. Über mich
aber wundern Sie sich nicht. Ich habe diese ganze Unschuld, Aljoschas
Hirtenlieder und Schäferspiele, dieses ganze Schillerianertum und alle
die Ideale in diesem verwünschten Verhältnis mit jener Natascha –
übrigens an sich ein nettes Mädchen – wie gesagt, alles dies habe ich
jetzt so satt, daß ich mich ganz unwillkürlich der Gelegenheit freuen
muß, mich über diesen ganzen Rummel gründlich lustig machen zu können.
Nun und da haben wir denn jetzt die Gelegenheit. Hinzu kommt, daß ich ja
sowieso einmal mein Herz Ihnen ausschütten oder meine Seele vor Ihnen
ausbreiten wollte. Hahaha!“

„Sie setzen mich in Erstaunen, Fürst. Ich verstehe Sie nicht. Sie
verfallen in den Ton eines Hanswurst; diese plötzlichen Offenbarungen
...“

„Hahaha! Das ist ja doch teilweise ganz richtig! Ein allerliebster
Vergleich! Hahaha! Ich _gehe durch_, mein Freund, ich _gehe durch_, ich
bin froh und zufrieden, nun, und Sie, mein Poet, Sie müssen alle nur
mögliche Nachsicht mit mir haben und sich dazu bequemen, aus Ihren Höhen
tief herabzusteigen. Doch lassen Sie uns trinken!“ unterbrach er sich,
in äußerster Zufriedenheit mit sich selbst, und er füllte die Gläser
nach. „Sehen Sie, mein Freund, allein schon dieser eine dumme Abend bei
Natascha – erinnern Sie sich? – gab mir den Rest. Freilich war sie
selbst sehr nett anzusehen in jenem Augenblick, aber nichtsdestoweniger
verließ ich sie doch in entsetzlicher Wut und das will ich nicht
vergessen. Weder vergessen noch verheimlichen. Natürlich wird auch meine
Zeit mal kommen und sie nähert sich ja schon rapid, doch vorläufig
lassen wir das aus dem Spiel. Indes wollte ich Ihnen erklären, daß ich
einen sehr beachtenswerten Charakterzug besitze, den Sie noch nicht
kennen: das ist, daß mir nichts so verhaßt ist, wie alle diese
ekelhaften, nichtswürdigen, billigen Naivitäten ^et toutes ces
pastourelles^; und einer der pikantesten Genüsse war für mich stets,
zuerst selbst in dieser Tonart zu singen, irgend so einen ewig jungen
Schiller zu entzücken, fast sogar zu begeistern für mich, und dann ihn
plötzlich wie mit einem Keulenschlage zu betäuben, plötzlich die
begeisterte Maske herunterzureißen und ihm eine Grimasse zu schneiden,
ihm die Zunge zu zeigen, und das gerade in dem Augenblick, wenn er am
allerwenigsten eine solche Überraschung erwartete. Wie? Sie begreifen
das nicht, Sie finden es vielleicht schändlich, dumm, gemein, nicht?“

„Selbstverständlich finde ich das.“

„Sie sind ziemlich aufrichtig. Nun, aber was kann ich dafür, wenn diese
Kerls mich schließlich quälen! Auch ich bin dumm genug, aufrichtig zu
sein, aber das ist nun mal mein Charakter. Übrigens will ich Ihnen noch
so einige Episoden aus meinem Leben erzählen. Sie werden mich dann
besser verstehen und das wird sehr interessant sein. Ja, Sie haben
recht, ich erinnere heute vielleicht wirklich an einen Hanswurst, aber
ein Hanswurst ist doch aufrichtig, nicht wahr?“

„Hören Sie, Fürst, es ist jetzt spät und wirklich ...“

„Was? Gott, welche Ungeduld! Was eilt denn so? Lassen Sie uns doch ein
wenig sitzen, wir können bei der Gelegenheit ganz freundschaftlich und
aufrichtig reden, so, wissen Sie, beim Glase Wein, wie es sich guten
Freunden ziemt. Sie glauben, ich sei betrunken? Na, um so besser für
Sie! Hahaha! In der Tat, diese freundschaftlichen Zusammenkünfte bleiben
einem nachher immer so lange noch im Gedächtnis und man denkt mit solch
einer Wonne an sie zurück. Sie sind kein guter Mensch, Iwan Petrowitsch!
Es ist keine Sentimentalität in Ihnen, Sie gehören nicht zu den
Gefühlvollen. Nun, was macht es Ihnen denn aus, ein bis zwei Stunden für
solch einen Freund zu opfern, wie ich es bin? Außerdem gehört das doch
durchaus zur Sache ... Wie sollten Sie denn das nicht verstehen, – Sie,
ein Schriftsteller noch dazu! Sie müßten doch den Zufall einfach segnen.
Sie können ja mich als Modell benutzen und einen großartigen Typ
schaffen, hahaha! Gott, wie reizend offenherzig ich heute bin!“

Der Wein stieg ihm augenscheinlich schon zu Kopf. Sein Gesicht
veränderte sich und nahm einen gewissermaßen verbissenen boshaften
Ausdruck an. Offenbar empfand er das Verlangen, zu verletzen, zu
verspotten, womöglich zu beißen. „Ganz gut, daß er betrunken ist,“
dachte ich, „ein Betrunkener ist immer schwatzhaft und verrät sich in
der Regel.“ Doch ich täuschte mich: er vergaß sich keinen Augenblick und
verfolgte einen besonderen Zweck.

„Mein Freund,“ hub er an – ersichtlich war ihm das Reden ein Genuß –
„ich habe Ihnen soeben ein Geständnis gemacht, das vielleicht nicht ganz
am Platze war. Ich meine, daß ich bisweilen den unbezwingbaren Wunsch
empfinde, irgend jemandem unter gewissen Umständen die Zunge zu zeigen.
Zum Dank für diese meine naive und gutmütige Offenheit vergleichen Sie
mich mit einem Hanswurst, was mich von Herzen erheitert hat. Doch wenn
Sie mir darob Vorwürfe machen wollen, oder sich darüber wundern, daß ich
Ihnen gegenüber unhöflich oder sogar unanständig sei, kurz – plötzlich
einen anderen Ton angeschlagen habe, so sind Sie durchaus im Unrecht.
Erstens paßt es mir nun einmal so, und zweitens bin ich nicht bei mir,
sondern mit _Ihnen_ ... will sagen, wir gehen jetzt beide _durch_, wie
es gute Freunde öfters tun; und drittens – liebe ich über alles Launen.
Wissen Sie auch, daß ich einmal aus Laune sogar Metaphysiker und
Philantrop gewesen bin und mich fast mit denselben Ideen abgegeben habe,
wie Sie heute? Übrigens liegt das so unendlich weit zurück, – in den
goldenen Tagen meiner Jugend war es mal! Ich weiß noch, ich fuhr damals
auf mein Gut, getragen von den humansten Absichten und, versteht sich,
grämte mich und sehnte mich ganz gottverboten. Aber Sie glauben nicht,
was dann mit mir geschah: vor lauter Langeweile begann ich, bei netten
Mädchen Zerstreuung zu suchen ... Schneiden Sie schon wieder eine
Grimasse? O, mein junger Freund! Wir sind doch ganz unter uns und sind
gute Freunde! Wann soll man denn sonst durchgehen, wann sich einmal
auftun, alle Hüllen zurückschlagen! – ich bin doch eine russische Natur,
eine unverfälschte russische Natur, bin Patriot, – wie sollte ich es da
nicht lieben! Und man muß doch den Augenblick erhaschen und das Leben
genießen. Sterben wir – was gibt’s dann noch? Nun, und so trieb ich es
denn mit den Mädeln. Ich entsinne mich noch, eine Hirtin hatte einen
Mann, ein hübscher junger Bursche war’s. Ich bestrafte ihn schmerzhaft
und wollte ihn unter die Soldaten stecken – vergangene Zeiten, mein
Poet! – tat es aber dann doch nicht. Er starb in meinem Krankenhause ...
Ich hatte doch auf meinem Gut ein Krankenhaus errichtet, für zwölf
Betten – großartig! Sauberkeit, parkettierter Fußboden und so weiter ...
Jetzt ist es natürlich schon längst eingegangen, damals aber war ich
sehr stolz auf mein Werk: ich war doch Philantrop! Nun, den Burschen
aber hatte ich seines Weibchens wegen dort zu Tode geprügelt ... Ja,
aber weshalb fabrizieren Sie denn schon wieder eine Grimasse? Es ekelt
Sie an? Empört Ihre edlen Gefühle? Na, na, beruhigen Sie sich. Das ist
ja schon lange her. Das tat ich damals, als ich Romantiker war, als ich
ein Wohltäter der Menschheit werden und eine Philantropische
Gesellschaft gründen wollte ... ich war eben in solches Fahrwasser
hineingeraten. Damals drosch ich denn auch. Jetzt unterlasse ich es;
jetzt muß man Grimassen schneiden; das tun wir doch jetzt alle, – es ist
nun mal solch eine Zeit ... Doch am meisten amüsiert mich im Augenblick
dieser Dummkopf Ichmenjeff. Ich bin überzeugt, daß er von diesem ganzen
Vorfall mit dem Burschen unterrichtet war ... und was glauben Sie?
Einzig aus Herzensgüte, da sein Herz aus Jungfernhonig geschaffen zu
sein scheint, und weil er sich damals in mich geradezu verliebt hatte –
entschloß er sich, keinem Wort davon Glauben zu schenken und – tat es
auch nicht! Verstehen Sie: er glaubte dem Beweise nicht, leugnete die
Tatsache und stand zwölf Jahre lang wie ein Fels für mich ein, bis es
ihm dann selbst an den Kragen ging. Hahaha! Na, das ist ja doch alles
Unsinn! Trinken wir, mein junger Freund: Sagen Sie: wie verhalten Sie
sich zu den Weibern? Lieben Sie sie?“

Ich antwortete nichts. Ich biß die Zähne zusammen und hörte nur zu. Er
hatte bereits die zweite Flasche begonnen.

„Ich rede mit Vorliebe abends nach dem Essen von ihnen. Soll ich Sie
nicht nachher mit einer bekannt machen – Mademoiselle Philiberte, zum
Beispiel – wie? Was meinen Sie? Ja, was fehlt Ihnen denn? Sie wollen
mich nicht einmal ansehen ... hm!“

Er dachte nach. Doch plötzlich hob er den Kopf, sah mich ganz
eigentümlich an und fuhr fort:

„Sehen Sie, mein Poet, ich will Ihnen ein Naturgeheimnis aufdecken,
eines, das Ihnen, wie es scheint, noch ganz unbekannt ist. Ich weiß, daß
Sie mich im Augenblick einen Sünder, vielleicht sogar einen Schurken,
ein Monstrum der Verderbnis und des Lasters nennen. Doch hören Sie, was
ich Ihnen sagen werde. Wenn es nur möglich wäre – ^en parenthèse^: der
menschlichen Natur gemäß ist es absolut unmöglich – also, wenn es
möglich wäre, daß ein jeder von uns sein ganzes Innenleben beschriebe,
jedoch so, daß er nicht nur das, was er für keinen Preis den Menschen
sagen, nicht nur das, was er nicht einmal seinem besten Freunde verraten
würde, sondern sogar das, was er sich selbst kaum zu gestehen wagt,
einmal mit größter Wahrheitstreue beschriebe, so würde es doch in der
Welt einen solchen Gestank geben, daß wir alle ersticken müßten. Deshalb
sind denn auch, nochmals ^en parenthèse^, unsere gesellschaftlichen
Anstandsregeln und Gesetze so zweckentsprechend und segensreich. Es
liegt ein tiefer Gedanke in ihnen, – ich will nicht sagen, daß es gerade
ein sittlicher sei, aber einfach ein erhaltender, bequemer, was
natürlich noch besser ist, denn die Sittlichkeit ist ja doch im Grunde
nur Bequemlichkeit ... das heißt, ich meine, sie ist doch einzig zur
Bequemlichkeit erfunden. Doch von den Anstandsregeln später, ich komme
immer wieder vom Thema ab – erinnern Sie mich nachher daran. Sie
beschuldigen mich der Lasterhaftigkeit, Ausschweifung, Unsittlichkeit,
während man mir doch jetzt vielleicht nur das eine vorwerfen könnte, daß
ich _aufrichtiger_ bin als die anderen, und weiter nichts; daß ich das
nicht geheim halte, was die anderen sogar vor sich selbst verbergen, wie
ich vorhin sagte. Das ist allerdings eine Schändlichkeit von mir, aber
ich will es nun einmal so. Übrigens – beunruhigen Sie sich nicht,“
unterbrach er sich mit einem spöttischen Lächeln, „ich sagte
‚vorwerfen‘, aber ich will mich ja durchaus nicht entschuldigen oder Sie
um Entschuldigung bitten. Und beachten Sie auch das noch: ich will Sie
nicht in Verlegenheit setzen, indem ich Sie frage: ‚haben Sie nicht auch
ähnliche Geheimnisse?‘ – um mit Ihren Geheimnissen dann auch mich in
etwas zu rechtfertigen ... Ich handle also anständig und gentlemanlike.
Überhaupt ist letzteres stets meine Richtschnur ...“

„Sie sind einfach ins Schwätzen gekommen,“ sagte ich und sah ihn mit
Verachtung an.

„Ins Schwätzen ... hahaha! Und wenn man bedenkt, welche Frage Sie dabei
am meisten plagt! Soll ich’s sagen? Sie fragen sich: weshalb hat er mich
hierhergeschleppt und plötzlich mir nichts dir nichts angefangen, mir
alles das zu erzählen? Hab ich’s getroffen?“

„Ja.“

„Na, das werden Sie später erfahren.“

„Die einfachste Antwort ist aber: Sie haben zwei Flaschen Wein getrunken
und sind ... berauscht.“

„Das heißt, einfach betrunken. Auch das ist möglich. ‚Berauscht‘! Das
ist ja wohl eine höflichere Ausdrucksform. O, Sie in Zartgefühl
getauchter Mann! Aber ... ich glaube, wir verfallen schon wieder in
Liebenswürdigkeiten und begannen doch gerade mit einem so interessanten
Thema. Ja, was ich sagen wollte, mein Poet: wenn es in der Welt noch
etwas Reizendes und Süßes gibt, so sind es die Weiber.“

„Ich verstehe nicht, Fürst, weshalb es Ihnen eingefallen ist, gerade
mich zum Zuhörer zu wählen, wenn Sie Ihre Geheimnisse und Liebes ...
erlebnisse zum besten geben wollen.“

„Hm! ... Ja – aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß Sie das nachher
erfahren werden. Beunruhigen Sie sich deshalb nicht, nehmen Sie
meinethalben an, daß überhaupt kein besonderer Grund vorliegt. Sie sind
doch ein Dichter, Sie werden mich verstehen – doch das habe ich Ihnen ja
schon gesagt. Es liegt eine besondere Art Wollust in diesem plötzlichen
Abreißen der Maske, in diesem Zynismus, in dem sich der Mensch einem
anderen plötzlich so zeigt, daß er ihn nicht einmal würdigt, sich vor
ihm zu schämen. Ich werde Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Es war
einmal in Paris ein verrückter Beamter; später wurde er in einer
Irrenanstalt untergebracht, als man sich vollends überzeugt hatte, daß
er verrückt war. Nun, also dieser Mann hatte sich folgendes zu seinem
Vergnügen erdacht: er entkleidete sich zu Hause vollständig, nur die
Stiefel behielt er an, nahm sich dann einen weiten Mantel um, der fast
bis zu den Fersen reichte, hüllte sich in ihn ein und ging dann mit
ernster, erhabener Miene hinaus auf die Straße. Von der Seite gesehen –
ein Mensch in einem Mantel spaziert dort wie alle anderen zu seinem
Vergnügen. Sobald es sich aber so machte, daß ihm jemand entgegenkam,
ringsum aber kein anderer Mensch zu sehen war, so ging er mit dem
ernstesten und vertrauenerweckendsten Gesicht auf ihn zu, blieb dann
plötzlich vor ihm stehen, schlug seinen Mantel auf und zeigte sich in
seiner ganzen ... Naturtreue. Das dauerte nur einen Augenblick, dann
hüllte er sich wieder ein und schritt stumm, ohne auch nur mit einem
Gesichtsmuskel zu zucken, an dem sprachlos ihn Anstarrenden vorüber,
ruhig, majestätisch, wie der Geist von Hamlets Vater. So tat er es mit
allen, Männern, Frauen, Kindern, und darin bestand sein ganzes
Vergnügen. Nun, einen Teil dieses Vergnügens kann man auch dann
empfinden, wenn man einem jungen Schillerianer plötzlich einen solchen
Keulenhieb versetzt und ihm die Zunge zeigt in einem Augenblick, in dem
er am wenigsten so etwas erwartet. Hm, – wie gefällt Ihnen das Wörtchen
‚Keulenhieb‘? Ich habe es irgendwo in unserer – pardon! – in Ihrer
modernen Literatur aufgestöbert.“

„Jener war ein Verrückter, Sie aber ...“

„Ich aber bin bei vollem Verstande?“

„Ja.“

Der Fürst begann zu lachen.

„Sie urteilen sehr richtig, mein Lieber,“ fügte er mit der
unverschämtesten Miene nur kurz hinzu.

„Fürst,“ begann ich empört über seine Frechheit, „Sie hassen uns und
jetzt wollen Sie sich an allen und für alles rächen. Und das tun Sie nur
aus der kleinlichsten Eigenliebe heraus. Sie sind boshaft, und kleinlich
boshaft. Wir haben Sie geärgert; und vielleicht ärgern Sie sich noch
mehr als über alles andere zusammengenommen über – jenen Abend!
Selbstverständlich konnten Sie sich dafür mit nichts so gut an mir
rächen als mit dieser grenzenlosen Verachtung, die Sie mir jetzt
bezeugen. Sie lassen sogar die alltäglichste Höflichkeit, um nicht zu
sagen Anständigkeit zu der wir alle verpflichtet sind, außer acht. Sie
wollen mir so deutlich wie möglich zeigen, daß Sie sich nicht einmal vor
mir schämen – da ich es in Ihren Augen wohl auch nicht ‚wert‘ bin –,
indem Sie so unverhohlen und unerwartet Ihre scheußliche Maske abreißen
und sich in einem sittlichen Zynismus präsentieren, der ...“

„Wozu sagen Sie mir denn das alles?“ fragte er, mich frech und boshaft
betrachtend. „Um Ihren Scharfblick zu beweisen?“

„Um zu beweisen, daß ich Sie durchschaue und um Ihnen das mitzuteilen.“

„^Quelle idée, mon cher!^“ Er verfiel wieder in den früheren
heiter-gutmütigen Plauderton. „Sie haben mich jetzt nur vom Thema
abgelenkt. ^Buvons, mon ami^, erlauben Sie, daß ich Ihnen einschenke.
Ich hatte gerade die Absicht, Ihnen ein entzückendes und höchst
interessantes Abenteuer zu erzählen. Ich will es nur so in großen Zügen
wiedergeben. Ich war einmal mit einer Dame bekannt. Sie war nicht mehr
ganz jung, sondern so zwischen sieben- und achtundzwanzig; dafür aber
eine erstklassige Schönheit. Welch eine Büste, welche Haltung, welcher
Gang! Ihr Blick war durchdringend scharf, hatte etwas Adlerhaftes, doch
blieb er stets streng und hart; in ihrem Benehmen war sie königlich
unnahbar. Es hieß von ihr, sie sei kalt wie ein sibirischer Winter, und
mit ihrer fast grausamen Tugend flößte sie allen Schrecken ein. Ja,
‚grausamen‘! Im ganzen Kreise gab es keinen strengeren Richter als sie.
Sie verurteilte nicht nur das Laster, sondern sogar die geringste
Schwäche an den anderen Frauen, und verurteilte erbarmungslos, ohne
Rücksicht und Appellationsmöglichkeit. Ihr Einfluß, ihre Bedeutung in
der Gesellschaft, waren unermeßlich. Selbst die stolzesten Damen und
wegen ihrer Tugend am meisten gefürchteten Greisinnen beugten sich vor
ihr und suchten sich sogar bei ihr einzuschmeicheln, während sie auf
alle gleichmütig erhaben herabblickte, wie etwa eine Äbtissin eines
mittelalterlichen Klosters. Die jungen Frauen und Mädchen zitterten vor
ihr und erbleichten unter ihrem Blick, denn sie wußten, daß eine
Bemerkung, nur eine Andeutung von ihr genügte, um einen Ruf zu
vernichten – so groß war nun einmal ihr Ansehen in der Gesellschaft.
Sogar die Herren fürchteten sie. Zum Schluß versenkte sie sich in einen
gewissen philosophischen Mystizismus, in dem sie aber übrigens ebenso
ruhig und erhaben blieb. ... Und was glauben Sie: es gibt kein Weib, das
verderbter sein könnte als es diese war. Und ich hatte das Glück, ihr
Vertrauen im vollsten Maße zu gewinnen. Mit einem Wort – ich war ihr
heimlicher Geliebten. Die Zusammenkünfte wußte sie aber so geschickt, so
meisterhaft geschickt zu arrangieren, daß nicht einmal jemand von ihren
Hausgenossen auch nur den geringsten Verdacht schöpfen konnte. Nur ihre
Kammerzofe, eine nette kleine Französin, war in alle ihre Geheimnisse
eingeweiht; doch auf diese Zofe konnte man sich vollkommen verlassen,
denn sie war gleichfalls an den Geheimnissen beteiligt – inwiefern – das
übergehe ich diesmal. Meine Dame war aber so erotisch lüstern, daß
selbst der Marquis de Sade von ihr noch hätte lernen können. Doch das
Stärkste, das Durchdringendste und Erschütterndste an dieser Wollust war
– die Heimlichkeit und die Unverschämtheit des Betruges. Diese
Verhöhnung alles dessen, was die Gräfin in der Gesellschaft als Höchstes
und Heiligstes pries, was sie über Moral und Sittlichkeit sprach, und
schließlich dieses innerliche teuflische Gelächter, mit dem sie es tat,
dieses bewußte Unter-die-Füße-treten und Verleugnen alles dessen, was
man doch nicht verleugnen kann – und alles das grenzenlos, bis zum
äußersten getrieben, bis zu einem Grade, den sich auch die wildeste
Phantasie nicht träumen lassen könnte – sehen Sie, darin lag die
Quintessenz dieses Genusses. Sie war der leibhaftige Teufel, ein Teufel
von Fleisch und Blut, aber dieser Teufel war doch so bezaubernd, daß ihm
niemand hätte widerstehen können. Ich vermag auch jetzt noch nicht, ohne
Begeisterung an dieses Weib zurückzudenken. Gerade in der Glut des
heißesten Genusses begann sie plötzlich zu lachen – wie eine
Wahnsinnige, und ich begriff, begriff vollkommen dieses Gelächter und
stimmte selbst ein in ihr unbändiges Lachen. Auch jetzt noch stockt mir
der Atem, bei der bloßen Erinnerung daran, obschon es vor so vielen
Jahren war. Nach einem Jahr verabschiedete sie mich; sie nahm einen
anderen. Selbst wenn ich gewollt hätte – ich hätte ihr doch nicht
schaden können. Wer hätte es mir denn geglaubt? – Nun, wie finden Sie
diesen Charakter? Was sagen Sie dazu, mein junger Freund?“

„Pfui, welch ein Ekel!“ sagte ich angewidert.

„Sie wären nicht mein junger Freund, wenn Sie anders geantwortet hätten!
Ich wußte es ja, daß Sie genau so antworten würden. Hahaha! Warten Sie,
^mon ami^, Sie werden noch leben und es dann auch begreifen, jetzt aber
– jetzt muß ich Ihnen noch ein Törtchen servieren. Nein, wenn Sie das
nicht verstehen, dann sind Sie kein Dichter: diese Frau begriff das
Leben und sie verstand, es auszunutzen.“

„Aber weshalb es denn so bis zum Tierischen treiben?“

„Wieso, bis zum Tierischen?“

„Zu dem diese Frau gelangte und Sie mit ihr.“

„Ah, Sie nennen das tierisch, – ein Zeichen, daß Sie noch unselbständig
am Kindergängelbande gehen. Übrigens ... ich gebe ja gern zu, daß es
Selbständigkeit auch in der direkt entgegengesetzten Anschauungsweise
geben kann, aber ... reden wir einfacher, ^mon ami^ ... Sie müssen doch
zugeben, daß alles das Unsinn ist!“

„Was ist denn nicht Unsinn?“

„Nicht Unsinn ist – die Persönlichkeit, die bin ich selbst. Alles ist
für mich, die ganze Welt ist nur für mich geschaffen. Hören Sie, mein
Freund, ich glaube noch daran, daß man auf Erden gut leben kann. Das
aber ist der beste Glaube, denn ohne ihn kann man ja nicht einmal
schlecht leben: da müßte man sich vergiften. Ein Dummkopf soll es auch
getan haben. Er philosophierte so lange, bis er mit seiner Philosophie
alles zerstört hatte, alles, sogar die Gesetzmäßigkeit aller normalen
und natürlichen Pflichten der Menschen, und er ging darin so weit, daß
ihm zum Schluß nichts mehr übrig blieb: der Rest war gleich Null, und so
verkündete er denn, daß das Beste im Leben Blausäure sei. Sie werden
sagen: das war Hamlet, Hamlets grausame Verzweiflung, – mit einem Wort,
irgend so etwas Großes, an das wir überhaupt nicht zu denken pflegen.
Aber Sie sind ja Dichter, während ich ein gewöhnlicher Mensch bin, und
deshalb sage ich Ihnen, daß man nur vom praktischsten und gewöhnlichsten
Gesichtspunkt aus auf die Sache sehen muß. Ich zum Beispiel habe mich
schon längst von allen Fesseln und sogar Pflichten befreit. Ich
betrachte mich nur dann zu etwas verpflichtet, wenn mir daraus irgend
ein Vorteil erwächst. Sie können sich natürlich nicht auf diesen
Standpunkt stellen, Ihre Füße sind in Fesseln verwickelt und Ihr
Geschmack ist krank. Sie philosophieren nach dem Maßstab des Ideals.
Aber, mein Lieber, ich wäre doch selbst mit dem größten Vergnügen zu
jeder Anerkennung, die Sie nur wünschen, bereit, bloß – was soll ich
denn tun, wenn ich genau weiß, daß die Grundlage jeder menschlichen
Tugend der größte Egoismus ist. Und je tugendhafter etwas ist, um so
mehr Egoismus ist darin. Liebe dich selbst, – das ist das einzige
Gesetz, das ich anerkenne. Das Leben ist in meinen Augen ein
Handelsgeschäft: für nichts gibt’s nichts. Werfen Sie nicht umsonst Ihr
Geld fort, aber, falls nötig, zahlen Sie für die Bewirtung und Sie
kommen damit all Ihren Verpflichtungen nach, die Sie Ihrem Nächsten
schuldig sind – das ist meine Moral, wenn es Sie zu wissen interessiert
... Doch gestehe ich Ihnen, daß es meiner Meinung nach noch besser ist,
seinem Nächsten nicht zu zahlen, sondern es zu verstehen, ihn kostenlos
auszunutzen. Ideale habe ich nicht und will sie auch nicht haben;
gesehnt habe ich mich nach ihnen niemals. Es läßt sich auch ohne Ideale
so lustig, so reizend auf der Welt leben ... und ^en somme^ bin ich sehr
froh, daß ich ohne Blausäure auskommen kann. Denn – wäre ich nur ein
wenig tugendhafter, so würde ich vielleicht doch nicht ohne sie
auskommen, wie jener Dummkopf von Philosoph – zweifellos ein Deutscher
... Nein! Im Leben gibt es noch soviel Begehrenswertes! Ich liebe
Einfluß, Rang und Titel, ein eigenes Palais, einen hohen Einsatz beim
Spiel – überhaupt liebe ich das Spiel leidenschaftlich. Aber die
Hauptsache, die Hauptsache sind doch – die Weiber ... Weiber jeder
Kategorie; ich liebe sogar ganz heimliche, dunkle Ausschweifung, so eine
etwas seltsamere und originellere, sogar ein wenig mit Schmutz zur
Abwechslung ... Hahaha! Da sehe ich Ihr Gesicht: mit welch einer
Verachtung Sie mich jetzt anblicken!“

„Darin haben Sie recht.“

„Nun, sagen wir, daß Sie recht haben, aber in jedem Fall ist doch dieser
Schmutz immer noch besser als Blausäure. Nicht wahr?“

„Nein, da ist doch Blausäure besser.“

„Ich fragte Sie mit Absicht ‚nicht wahr‘, nur um mich an Ihrer Antwort
zu ergötzen. Ich wußte, was Sie antworten würden. Nein, mein Freund,
wenn Sie ein aufrichtiger Menschenfreund sind, so wünschen Sie allen
klugen Leuten den Geschmack, den ich habe, also auch am Schmutz Gefallen
zu finden, denn sonst würde doch ein kluger Mensch bald nichts auf der
Welt zu tun haben und es blieben einzig die Dummköpfe übrig. Was die
dann glücklich wären! Aber wissen Sie, es gibt nichts Angenehmeres als
unter Dummköpfen zu leben und zu allem, was sie reden, stets ‚Gewiß,
gewiß, sehr richtig!‘ zu sagen. Sie ahnen nicht, wie vorteilhaft das
ist! Beachten Sie es weiter nicht, daß Vorurteile mir gefallen, daß ich
mich nach gewissen Bedingungen richte, mich um größeren Einfluß bemühe.
Ich sehe doch, daß ich in einer leeren Gesellschaft lebe. Aber es ist
vorläufig ein warmer Platz, und ich stimme ihnen bei und tue, als stände
ich wie eine Mauer für sie, und dabei wäre ich bei Gelegenheit der
erste, der sie verläßt. Ich kenne doch alle Ihre neuen Ideen, wenn ich
auch um ihretwillen nie leide – wozu auch? Gewissensbisse habe ich nie
empfunden. Ich bin mit allem einverstanden, wenn es nur mir gut geht.
Und solcher wie ich gibt es unter uns Legionen, und wir sind auch
wirklich glücklich. Alles in der Welt kann untergehen, nur wir allein
werden nie untergehen. Wir existieren ebenso lange wie die Welt
existiert. Sollte auch die ganze Erde irgendwo im All ertrinken, wir
würden selbst dann wie Fett an die Oberfläche kommen und wieder obenauf
schwimmen. Nehmen Sie nur dies eine: sehen Sie doch, wie lebenszäh
solche Menschen wie wir sind. Wir sind doch phänomenal zäh! – ist Ihnen
das noch nicht aufgefallen? Wir leben achtzig, leben sogar neunzig
Jahre! Folglich kann man sagen, daß die Natur selbst uns beschützt,
hehehe ... Ich will unbedingt neunzig Jahre leben. Ich liebe den Tod
nicht, ich fürchte ihn sogar. Weiß der Teufel, wie man noch mal sterben
wird! Doch wozu davon reden! Dieser verd... Blausäuren-Philosoph hat
mich ja nur darauf gebracht. Hol der Teufel die ganze Philosophie.
^Buvons, mon cher.^ Wir begannen doch, wenn ich nicht irre, von den
netten Mädeln ... Wohin wollen Sie?“

„Ich gehe, und auch für Sie wäre es Zeit ...“

„^Eh bien, eh bien!^ Hören Sie mal, das geht so nicht: ich habe hier
mein ganzes Herz vor Ihnen ausgebreitet, und Sie wollen einen so
seltenen Freundschaftsbeweis nicht einmal würdigen! Hehehe! Es steckt
wenig Liebe in Ihnen, mein Poet. Warten Sie, ich will noch eine Flasche
...“

„Die dritte?“

„Die dritte. Was die Tugend betrifft, mein Zögling – Sie erlauben mir
doch, Sie mit diesem Kosewort anzureden? – und wer weiß, vielleicht
fallen meine Lehren noch auf fruchtbaren Boden ... Also, mein Zögling,
was die Tugend betrifft, so habe ich Ihnen ja schon gesagt: je
tugendhafter die Tugend ist, um so mehr liegt in ihr Egoismus. Als
Beispiel hierfür will ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Ich
liebte einmal ein junges Mädchen und liebte sie fast aufrichtig. Sie hat
mir sogar manches geopfert ...“

„Ist das dieselbe, die Sie bestohlen haben?“ fragte ich plötzlich in
beleidigendem Tone, denn ich wollte mich nicht mehr beherrschen.

Der Fürst zuckte zusammen, sein Gesicht veränderte sich und er sah mich
mit seinen entzündeten Augen unverwandt an: in seinem Blick lag
verständnislose Verwunderung und Wut.

„Warten Sie,“ sagte er wie zu sich selbst, „warten Sie, lassen Sie mich
nachdenken. Ich bin in der Tat betrunken, es fällt mir schwer, zu denken
...“

Er verstummte und sah mich böse und gehässig an, während er meine Hand
festhielt, als fürchte er, daß ich fortgehen könnte. Ich bin überzeugt,
daß er sein Denken krampfhaft anspannte, um zu erraten, woher ich von
diesem seinem Erlebnis, von dem doch so gut wie niemand etwas wußte,
erfahren haben konnte, und ob nicht darin irgendeine Gefahr lag? So
verharrte er eine Weile regungslos. Plötzlich veränderte sich sein
Gesicht: der frühere spöttische, trunken heitere Ausdruck erschien
wieder in seinen Augen. Er lachte laut auf.

„Ha–ha–ha! O Talleyrand! Nun, was, ich stand allerdings wie bespien vor
ihr, als sie es mir so ins Gesicht warf, daß ich sie bestohlen habe! Wie
sie kreischte, wie sie mich segnete! Ein verrücktes Frauenzimmer ... und
ohne jede Dressur. Aber so urteilen Sie doch selbst: erstens, hatte ich
sie durchaus nicht bestohlen, wie Sie sich ausdrückten – sie hatte mir
das Geld geschenkt und folglich gehörte es mir. Nehmen wir an, Sie
schenken mir Ihren besten Frack,“ – er warf einen kritischen Blick auf
meinen einzigen und ziemlich billigen Frack, den mir vor drei Jahren der
Schneider Iwan Skornjägin genäht hatte – „ich bin Ihnen dankbar und
trage ihn, nach einem Jahr aber ärgern Sie sich plötzlich über mich und
da verlangen Sie von mir den Frack zurück, ich aber habe ihn schon
vertragen ... So etwas ist unfein. Weshalb haben Sie ihn mir denn
geschenkt? Und zweitens hätte ich ihr das Geld, das mir und nicht mehr
ihr gehörte, unfehlbar zurückgegeben, aber, nicht wahr: wo hätte ich im
Augenblick eine so große Summe hernehmen können? Und vor allen Dingen
kann ich nun mal Schäferspiele und Schillerianer nicht ausstehen, wie
ich Ihnen schon sagte, nun, das aber war eben die ganze Veranlassung ...
Sie glauben nicht, wie sie vor mir Theater spielte, als sie schrie, daß
sie mir das Geld schenke – das Geld, das mir gehörte! Das machte mich
wütend und plötzlich sah ich ganz richtig ein – meine Geistesgegenwart
verläßt mich nie in solchen Augenblicken – daß ich sie ja einfach
unglücklich machen würde, wenn ich ihr das Geld zurückgeben würde. Damit
hätte ich ihr doch den Genuß geraubt, _durch mich_ vollkommen
unglücklich zu sein und mich ihr Leben lang zu verfluchen. Glauben Sie
mir, mein Freund, in einem solchen Unglück liegt sogar ein gewisser
Rausch, wenn man sich selbst so vollkommen im Recht fühlt und wenn man
weiß, daß man großmütig gehandelt hat und berechtigt ist, den Beleidiger
einen Schurken zu nennen. Das sind natürlich zumeist Schillernaturen,
die sich an ihrem Haß so berauschen können. Vielleicht hat sie später
nichts zu essen gehabt, aber ich bin überzeugt, daß sie glücklich war.
Und da ich sie dieses Glückes nicht berauben wollte, sandte ich ihr das
Geld nicht zurück. Somit ist meine Theorie durchaus gerechtfertigt, daß,
je lauter und größer die menschliche Großmut ist, man bei genauerer
Beobachtung einen um so größeren und widerlicheren Egoismus hinter ihr
entdeckt ... Sollte Ihnen das wirklich nicht klar sein? ... Aber ... Sie
wollten mir ja nur ein Bein stellen und mich fangen, ha–ha–ha! ... Nun,
so gestehen Sie doch, daß Sie’s wollten? ... O, Sie Talleyrand!“

„Adieu!“ sagte ich, und ich stand entschlossen auf.

„Einen Augenblick! Nur noch zwei Worte zum Schluß!“ rief er, mich
zurückhaltend, aus, und plötzlich in ernstem Ton, im Gegensatz zu seiner
bisherigen widerlich frivolen Weise. „Hören Sie nur noch das Letzte an,
das ich Ihnen zu sagen habe: aus all dem Gesagten geht, denke ich, klar
und deutlich hervor – ich hoffe, daß auch Sie es gemerkt haben –, daß
ich niemals und unter keiner Bedingung meinen Vorteil jemandem opfern
werde. Ich liebe Geld und ich brauche es. Katherina Fedorowna ist sehr
reich: ihr Vater war zehn Jahre lang Branntweinpächter. Sie hat drei
Millionen Rubel, und dieses Geld wird mir sehr zustatten kommen.
Aljoscha und Katjä sind wie geschaffen füreinander; beide sind sie
Dummköpfe erster Sorte, und das ist es gerade, was ich bedarf. Deshalb
wünsche und will ich, daß sie sich heiraten, und zwar möglichst bald.
Nach zwei, höchstens drei Wochen werden die Gräfin und Katjä Petersburg
verlassen. Aljoscha muß sie begleiten. Ich wünsche es so. Bereiten Sie
also Natalja Nikolajewna darauf vor: damit es zu keinen Szenen kommt und
keine Schillerrollen gespielt werden, und sie sich nicht etwa gegen mich
auflehnt. Ich bin rachsüchtig und böse von Natur; ich werde meinen
Willen durchsetzen. Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich sie fürchte.
Selbstverständlich wird alles nach meinem Willen geschehen und deshalb
geschieht es fast nur in ihrem Interesse, wenn ich sie warnen lasse.
Also sorgen Sie dafür, daß es keine Dummheiten gibt und sie sich
vernünftig benimmt. Anderenfalls würde es ihr schlimm ergehen, sehr
schlimm. Müßte sie mir doch allein schon dafür dankbar sein, daß ich
nicht so, wie es sich eigentlich gehört hätte, mit ihr verfahren bin,
einfach gesetzmäßig. Wissen Sie auch, mein Poet, daß das Gesetz die
Familie beschützt: das Gesetz garantiert dem Vater für den Gehorsam des
Sohnes, und diejenigen, die die Kinder von ihren Pflichten den Eltern
gegenüber ablenken, stehen nicht unter dem Schutz des Gesetzes. Und
ziehen Sie gefälligst auch das in Betracht, daß ich überaus
einflußreiche Verbindungen habe, wessen sie sich nicht im geringsten
rühmen kann, und – begreifen Sie denn nicht, was ich mit ihr tun könnte?
... Ich habe aber noch nichts getan, weil sie sich bisher noch
vernünftig verhielt. Während dieses halben Jahres haben achtsame Augen
jede ihrer Bewegungen beobachtet und ich wurde von jedem letzten Detail
in Kenntnis gesetzt. Und ich wartete ruhig ab, bis der Zeitpunkt kommen
würde, an dem Aljoscha sie von selbst verläßt, was ja jetzt bereits der
Fall ist; vorläufig aber ist es für ihn eine nette Zerstreuung. Und so
bin ich in seinen Augen der humane Vater geblieben, und das wünsche ich
gerade, daß er so über mich denkt. Ha–ha–ha! Wenn ich bedenke, daß ich
ihr beinahe Komplimente gesagt habe – damals, an jenem Abend – und mich
bei ihr quasi bedankt habe für ihre uneigennützige Großmut, die sie
darin bewiesen, daß sie ihn nicht geheiratet – ich möchte bloß wissen,
wie sie das angestellt hätte! Und was meinen damaligen Besuch bei ihr
betrifft, so ging ich nur deshalb zu ihr, weil es doch endlich Zeit war,
mit diesem Verhältnis ein Ende zu machen. Ich mußte mich von allem
persönlich überzeugen, das war es ... Nun, sind Sie jetzt
zufriedengestellt? Oder wollen Sie vielleicht noch erfahren, wozu ich
Sie hierher geführt, weshalb ich diese Gespräche vom Zaun gebrochen und
so rückhaltlos offen gewesen bin, während man dies auch ohne jede
Offenheit Ihnen hätte mitteilen können – ja?“

„Ja.“

Ich bezwang mich gewaltsam und wartete. Zu sagen hatte ich ihm nichts
weiter.

„Einzig deshalb, mein Freund, weil ich in Ihnen ein wenig mehr Vernunft
und klaren Blick bemerkt habe, als sie unsere Närrchen besitzen. Sie
hätten auch früher schon wissen, ahnen, erraten können, wer ich bin,
vielleicht hatten Sie auch schon in bezug auf mich manche Vermutungen
entwickelt, doch nun wollte ich Sie dieser ganzen Mühe überheben und so
entschloß ich mich, Ihnen anschaulich zu zeigen, _mit wem Sie es zu tun
haben_. Ein persönlicher Eindruck will immer viel sagen. Bemühen Sie
sich also, mich zu verstehen, mon ami. Sie wissen, wer ich bin, und da
hoffe ich denn, daß Sie, der Sie sie lieben, Ihren ganzen Einfluß – den
Sie zweifellos auf sie haben – daransetzen werden, um sie von
Handlungen, die _gewisse_ Scherereien nach sich ziehen könnten,
abzuhalten. Sollte das nicht der Fall sein, so wird es Scherereien
geben, und ich versichere Ihnen, versichere Ihnen allen Ernstes, daß es
keine leichten Scherereien sein werden. Nun und dann – der dritte Grund
meiner Offenheit ... aber Sie haben ihn ja doch schon erraten, mein
Lieber: ja, ich wollte in der Tat diese ganze Geschichte einmal etwas
anspeien, und zwar gerade vor Ihnen ...“

„Und Sie haben Ihren Zweck erreicht,“ sagte ich, zitternd vor Empörung.
„Ich gebe zu, daß Sie mit nichts Ihre Wut auf uns und die ganze
Verachtung, die Sie für mich und uns alle empfinden, so gut hätten
ausdrücken können wie gerade mit dieser Offenheit. Sie haben nicht nur
nicht befürchtet, daß diese Offenheit Sie in meinen Augen
kompromittieren könnte, Sie haben sich sogar nicht einmal vor mir
geschämt ... Sie erinnerten in der Tat an jenen Verrückten, der nackt
auf die Straße ging. Sie haben mich nicht für einen Menschen gehalten,
mich wenigstens nicht zu den Menschen gezählt ...“

„Sie haben es erraten, mein junger Freund,“ sagte er ruhig. Er erhob
sich. „Sie haben alles erraten: Sie sind doch nicht umsonst Literat. Ich
hoffe, daß wir uns friedlich trennen werden. Brüderschaft jedoch werden
wir wohl nicht trinken?“

„Sie sind betrunken, nur deshalb antworte ich Ihnen nicht so wie es sich
gehörte ...“

„Wieder ein unvollendeter Satz. – Weshalb sprechen Sie es nicht aus, wie
es sich zu antworten gehörte? Hahaha! Für Sie zu zahlen erlauben Sie mir
nicht?“

„Beruhigen Sie sich, ich zahle selbst.“

„Nun, zweifellos. – Wir haben wohl nicht denselben Weg?“

„Ich werde nicht mit Ihnen fahren.“

„Adieu, mein Poet. Ich hoffe, daß Sie mich verstanden haben ...“

Er verließ mich – wie ich bemerkte, mit etwas unsicheren Schritten –
ohne sich noch nach mir umzuwenden. Der Portier half ihm beim
Einsteigen. Ich ging meiner Wege. Es war gegen drei Uhr morgens. Es
regnete, die Nacht war dunkel ...




                              Vierter Teil


                                   I.

Ich will meine Wut nicht weiter beschreiben. Obschon ich mich so
ziemlich auf alles gefaßt gemacht hatte, fühlte ich mich doch so
überrumpelt, als hätte ich das nicht von ihm erwartet und als wäre er so
überraschend wie ein Blitz aus heiterem Himmel in seiner ganzen
schamlosen Gemeinheit vor mich hingetreten. Übrigens entsinne ich mich,
daß ich mir meiner Empfindungen im Augenblick nicht ganz bewußt war: es
war mir, als sei ich zu Boden gedrückt, verletzt, geschlagen, und
schwerer, undefinierbarer Kummer bedrückte mein Herz. Ich fürchtete für
Natascha. Konnte ich mir doch denken, wieviel Qualen ihr bevorstanden,
und ich suchte halb unbewußt nach Wegen, auf denen man sie umgehen,
vermeiden könnte, und sann auf Mittel, um ihr diese letzte Zeit vor der
endgültigen Entscheidung zu erleichtern. Denn wie diese Entscheidung
ausfallen würde, war doch schon vorauszusehen. Und sie näherte sich
erschreckend schnell.

Ich gewahrte nicht einmal, wie ich den Weg nach Haus zurücklegte,
obschon der Regen mich gründlich durchnäßte. Es schlug drei, als ich ins
Haus trat. Kaum hatte ich an meine Tür geklopft, da hörte ich ein
Stöhnen und wie jemand eilig den Riegel zurückzog. Wie es schien, hatte
Nelly sich nicht zu Bett gelegt, sondern die ganze Zeit an der Tür
gewartet. Das Licht brannte auf dem Tisch. Ich blickte ihr ins Gesicht
und erschrak: es war geradezu entstellt. Ihre Augen glänzten wie im
Fieber, auf den Wangen brannten rote Flecke, und dabei sah sie mich so
wild und scheu an, als erkenne sie mich nicht. Ihre glühend heißen Hände
zitterten.

„Nelly, was fehlt dir, bist du krank?“ fragte ich, mich zu ihr
niederbeugend, und ich umfaßte sie mit meinen Armen.

Sie schmiegte sich zitternd an mich, als fürchte sie sich, und
stoßweise, dabei atemlos schnell, begann sie mir etwas zu erzählen, als
habe sie mich nur deshalb erwartet, um mir alles das zu sagen. Doch ihre
Worte waren seltsam und ganz zusammenhanglos: ich begriff nichts. Sie
aber sprach immer weiter wie im Fieber.

Ich führte sie vorsichtig zum Bett, doch war es mir unmöglich, sie zu
bewegen, sich hinzulegen und einzuschlafen: sie klammerte sich
krampfhaft an mich, immer als fürchte sie sich maßlos und bitte mich,
sie zu beschützen; und als sie dann endlich im Bett lag, griff sie
wieder nach meiner Hand und hielt sie krampfhaft fest, damit ich nur
nicht fortginge. Ich war aber von all dem Erlebten so nervös geworden,
und diese letzte Überraschung hatte mich so erschüttert, daß ich, als
ich so an ihrem Bett saß und ihr fieberglühendes Gesichtchen sah,
plötzlich zu schluchzen begann. Ich war gleichfalls krank. Als sie meine
Tränen bemerkte, sah sie mich lange Zeit unbeweglich mit krampfhaft
angespannter Aufmerksamkeit an: sie schien sich die größte Mühe zu
geben, mich zu verstehen, doch fiel es ihr augenscheinlich sehr schwer.
Endlich löste sich die Spannung in ihren Zügen, und ein Gedanke erhellte
ihr Gesicht. Ich wußte, daß sie nach einem schweren epileptischen Anfall
gewöhnlich eine Zeitlang nicht ganz zu sich kommen konnte und daher
vermochte sie auch nicht zu sprechen. Diesmal war es ebenso: sie
strengte sich vergeblich an, etwas zu sagen, doch als sie erriet, daß
ich sie nicht verstehen konnte, streckte sie nur ihre kleine Hand aus
und wischte mir die Tränen von den Wangen, dann schlang sie ihren Arm um
meinen Hals und küßte mich.

Offenbar hatte sie in meiner Abwesenheit einen epileptischen Anfall
gehabt, und zwar in einem Augenblick, als sie bei der Tür gestanden.
Nachher wird sie dann lange bewußtlos dort gelegen haben und vielleicht
war ihr dann in den Delirien irgend etwas Furchtbares erschienen, was
sie so mit Angst erfüllt hatte. Vielleicht hat sie dann auch unklar
daran gedacht, daß ich bald zurückkehren und an die Tür pochen würde,
und so blieb sie wartend dort liegen, um sich bei meinem ersten Klopfen
zu erheben.

„Aber wie kam sie denn gerade in dem Augenblick zur Tür?“ fragte ich
mich, und plötzlich bemerkte ich zu meiner Verwunderung, daß sie ihren
kleinen Pelz angezogen hatte. Ich hatte nämlich kurz vorher von einer
alten Händlerin, die mich bisweilen aufsuchte und mir Kredit gewährte,
dieses Mäntelchen für sie erstanden. Folglich mußte sie doch im Begriff
gewesen sein, das Zimmer zu verlassen, als der Anfall sie vor der Tür zu
Boden warf. Wohin aber hatte sie denn gehen wollen? Oder sollte sie auch
da schon im Fieber halb bewußtlos gewesen sein?

Ihre Händchen waren heiß, das Fieber mußte gestiegen sein: sie lag
bewußtlos auf dem Bett und phantasierte hin und wieder. Zweimal bereits
hatte sie in meiner Wohnung einen Anfall bekommen, doch diesmal schien
sie ernstlich erkrankt zu sein. Ich saß wohl über eine halbe Stunde bei
ihr am Bett, dann machte ich mir auf dem Diwan ein Lager zurecht und
legte mich, so wie ich war, in den Kleidern hin, um sogleich aufstehen
zu können, falls sie mich rief. Das Licht ließ ich brennen. Bevor ich
einschlief, blickte ich noch mehrere Male zu ihr hinüber: sie war
beängstigend bleich; auf ihren fieberheißen trockenen Lippen bemerkte
ich Blutspuren; aus ihrem Gesicht schwand aber selbst im Schlaf nicht
der Ausdruck von Angst und einer gewissen qualvollen Sorge. Ich
beschloß, am nächsten Morgen so früh als möglich zum Arzt zu gehn, wenn
sich ihr Zustand nicht vorher noch verschlimmerte. Ich befürchtete, sie
könnte Nervenfieber bekommen.

„Das muß der Fürst gewesen sein, der sie so erschreckt hat!“ sagte ich
mir und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ich dachte daran, wie
er von jenem Mädchen gesprochen, das ihm ihr Geld ins Gesicht geworfen.


                                  II.

... Es vergingen zwei Wochen. Nelly ging es besser. Zu einem
Nervenfieber war es glücklicherweise nicht gekommen, aber trotzdem war
sie nach dem Anfall sehr schwer erkrankt. An einem hellen klaren Tage
gegen Ende April verließ sie zum erstenmal das Bett. Es war in der
Karwoche.

Armes kleines Geschöpf!

Ich kann meine Erzählung nicht in der früheren Weise fortsetzen. Jetzt,
wo ich all dies niederschreibe, ist schon viel Zeit darüber vergangen,
und dennoch kann ich nicht ohne bitteres Weh an dies bleiche, schmale
Gesichtchen zurückdenken, an den tiefen Blick ihrer dunklen Augen, wenn
wir allein waren und sie mich von ihrem Bett aus ansah, lange und
regungslos, als wolle sie mich auffordern, zu erraten, was sie im Sinne
hatte; und wenn sie dann sah, daß ich noch immer nichts erriet und sie
verständnislos ansah, lächelte sie still, gleichsam in sich hinein, um
dann plötzlich ihr heißes Händchen mit den hageren Fingerchen mir
entgegenzustrecken. Jetzt gehört das alles schon der Vergangenheit an,
alles hat sich entschieden und alles ist bekannt, nur das Geheimnis
dieses kranken, gequälten kleinen Herzens ist mir auf immer noch ein
Geheimnis geblieben.

Ich weiß, daß es mich von der Erzählung ablenkt, aber ich kann nicht
anders, ich will immer nur an Nelly denken. Wie seltsam ist es jetzt:
ich liege im Hospital auf einem schlichten Krankenbett, vergessen von
allen, die ich einst so geliebt ... Und wenn mir jetzt irgend etwas
Nebensächliches aus jener Zeit einfällt, etwas, das ich damals
vielleicht kaum bemerkt und bald vergessen hatte, so beginnt es hier in
der Einsamkeit unmerklich zu wachsen und wird groß und größer und erhält
eine ganz andere Bedeutung, wird zu etwas Ganzem, Abgerundetem, das mir
nun manches erklärt, was ich damals nicht zu begreifen verstand.

In den ersten vier Tagen ihrer Krankheit waren wir, der Arzt und ich,
sehr besorgt um sie, am fünften Tage aber nahm mich der Arzt beiseite
und sagte mir, daß ich mich beruhigen solle, denn sie werde bestimmt
gesund werden. Es war das derselbe Arzt, der alte Junggeselle und
gutmütige Sonderling, den ich schon bei Nellys erster Erkrankung
konsultiert und der ihr mit seinem Stanislausorden am Halse so
unendlichen Respekt eingeflößt hatte.

„Dann ist also nichts mehr zu befürchten?“ fragte ich erfreut.

„Nein, sie wird jetzt gesund werden, dann aber wird sie bald sterben.“

„Wie das? Sterben? Weshalb denn?“ rief ich ganz erschrocken aus, fast
verblüfft durch dieses seltsame Urteil.

„Ja, sie wird unfehlbar bald sterben. Sie hat einen organischen
Herzfehler und wird bei der geringsten Gemütserregung wieder so weit
sein, daß sie ins Bett muß. Möglicherweise wird sie auch dann noch
einmal gesund werden, aber jedenfalls nicht mehr auf lange.“

„Und kann man sie denn wirklich nicht retten? Nein, das kann unmöglich
so sein!“

„Aber es ist so. Freilich ... wenn man alle Widerwärtigkeiten aus dem
Wege räumen, ihr ein ruhiges, stilles Leben und verschiedene
Vergnügungen bieten könnte, dann ließe sich der Tod noch etwas
hinausschieben. Es gibt allerdings Fälle ... allerdings nur Ausnahmen
... die in der Regel ganz unerwartet vorkommen, daß ... mit einem Wort,
die Kleine könnte sogar unter gewissen überaus günstigen Umständen
gerettet werden, auf immer gerettet aber – niemals.“

„Ja, aber ... mein Gott, was soll man denn jetzt tun?“

„Vor allen Dingen meine Vorschriften befolgen: sie muß ein ruhiges Leben
führen und regelmäßig die Pulver einnehmen. Wie ich bemerkt habe,
scheint die Kleine recht eigensinnig zu sein, vielleicht auch etwas
launenhaft und spottlustig. Jedenfalls liebt sie es nicht sonderlich,
pünktlich nach der Vorschrift die Pulver einzunehmen. Soeben weigerte
sie sich doch mit allem Nachdruck.“

„Ja, Sie haben recht. Sie ist in der Tat etwas sonderbar bisweilen, nur
möchte ich das ihrer krankhaften Reizbarkeit zuschreiben. Gestern war
sie sehr gehorsam; als ich ihr aber heute die Arznei brachte, nahm sie
den Löffel scheinbar aus Versehen so unvorsichtig, daß sie alles
verschüttete. Und als ich mit dem neuen Pulver kam, riß sie mir das
Kärtchen aus der Hand und schleuderte es dorthin in den Winkel, worauf
sie in Tränen ausbrach ... Doch glaube ich nicht, daß sie deshalb
geweint hat, weil sie die Pulver einnehmen sollte.“

„Hm! Nerven, nichts als Nerven! Das hängt mit dem früheren großen
Unglück zusammen, daher auch ihre Krankheit. (Ich hatte dem Doktor
ausführlich und offenherzig Nellys Lebensgeschichte erzählt, und meine
Erzählung hatte einen sehr großen Eindruck auf ihn gemacht.) Das einzige
Mittel dagegen sind diese Pulver, sie muß durchaus die Pulver einnehmen.
Ich werde ihr noch einmal eine Vorlesung halten über die Pflicht, den
ärztlichen Vorschriften nachzukommen ... das heißt im allgemeinen gesagt
... die Pulver einzunehmen.“

Wir verließen beide die Küche, wo unsere Unterredung stattgefunden, und
der Doktor trat wieder ans Bett der Kranken. Nelly mußte unser Gespräch
gehört haben, denn ich hatte aus der Küche bemerkt, wie sie den Kopf hob
und angestrengt zu lauschen schien. Als sie uns jetzt kommen hörte,
schlüpfte sie wieder unter die Decke und sah uns mit einem spöttischen
Lächeln entgegen. Die Arme hatte in diesen vier Tagen ihrer Krankheit
sehr abgenommen. Die Augen lagen in großen Höhlen und immer noch zehrte
das Fieber an ihr. Um so seltsamer fiel ihr schelmischer, herausfordernd
glänzender Blick auf, der meinen guten Doktor, den besten aller
Deutschen in Petersburg, höchst verwundern mußte.

Er sprach ernst, wenn auch nach Möglichkeit mit weicher Stimme und im
zärtlichsten Ton auf sie ein, um sie von der Notwendigkeit und Heilkraft
der Pulver zu überzeugen und daß es also die Pflicht jedes Kranken sei,
dem Arzt zu gehorchen ... Nelly hob das Köpfchen, um die Medizin
einzunehmen, stieß aber wie zufällig mit einer Handbewegung an den
Löffel und die ganze Arzenei wurde wieder verschüttet. Ich bin fest
überzeugt, daß sie es mit Absicht getan.

„Das war eine sehr unangebrachte Unvorsichtigkeit,“ sagte ruhig der
Alte, „und ich glaube, daß sie mit Absicht geschah, was durchaus nicht
lobenswert ist. Doch ... man kann alles wieder gut machen, darum werde
ich ein zweites Pulver zubereiten.“

Nelly lachte ihm offen ins Gesicht. Der Doktor schüttelte methodisch den
Kopf.

„Das ist gar nicht schön,“ sagte er, „sehr, sehr wenig lobenswert.“

„Ärgern Sie sich nicht über mich,“ antwortete ihm Nelly, die sich Mühe
gab, nicht mehr zu lachen, „ich werde die Pulver einnehmen ... werden
Sie mich aber dafür lieb haben?“

„Wenn Sie sich lobenswert führen, werde ich Sie sehr lieb haben.“

„Sehr?“

„Sehr.“

„Sonst aber lieben Sie mich nicht?“

„Auch sonst liebe ich Sie.“

„Würden Sie mich küssen, wenn ich Sie küssen wollte?“

„Ja, wenn Sie es verdienen.“

Nelly konnte wieder nicht mehr an sich halten und brach in Lachen aus.

„Die Patientin scheint einen fröhlichen Charakter zu haben, doch jetzt –
sind es nur Nerven,“ flüsterte mir der Doktor mit ernster Miene zu.

„Nun schön, ich werde die Pulver nehmen!“ rief Nelly plötzlich mit ihrem
schwachen Stimmchen dazwischen. „Doch wenn ich erwachsen sein werde,
werden Sie mich dann heiraten?“

Offenbar schien ihr dieser neue Scherz sehr zu gefallen; ihre Augen
brannten und ihre Lippen zuckten vor Lachen in Erwartung einer Antwort
des einigermaßen in Erstaunen gesetzten alten Doktors.

„Nun, ja,“ antwortete er, unwillkürlich über diese neue Laune von ihr
lächelnd, „wenn Sie gut und ein wohlerzogenes junges Mädchen sein
werden, und gehorsam ...“

„Die Pulver einnehmen werden?“ griff Nelly auf.

„Oho! Stimmt! ... Die Pulver einnehmen werden. Ein gutes Kind ist sie,“
wandte er sich wieder an mich, „in ihr ist viel, viel ... Gutes und
Kluges, doch, heiraten ... was für eine sonderbare Idee ...“

Und wieder reichte er ihr die Medizin, und diesmal tat sie es nicht
einmal mehr versteckt, sondern schlug einfach mit ihrer Hand die Hand
des Alten von unten in die Höh’, so daß ihm die ganze Medizin auf das
Vorhemd und ins Gesicht spritzte. Dabei lachte sie laut auf, doch war es
nicht mehr ein gutes oder fröhliches Lachen ... in ihrem
Gesichtsausdruck lag etwas Grausames, Böses. Die ganze Zeit war sie
meinem Blick ausgewichen, jetzt sah sie nur lächelnd den Doktor an, aber
in ihrem Lächeln lag eine gewisse Unruhe und Erwartung, was der
„lächerliche“ Alte jetzt tun würde.

„O! schon wieder! ... Wie unangenehm! Nun ... man kann das Pulver noch
einmal bereiten!“ Der Alte wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht
ab.

Das setzte Nelly wirklich in Erstaunen. Sie hatte unseren ganzen Zorn
erwartet, hatte gedacht, daß man ihr Vorwürfe machen würde, was sie sich
unbewußt vielleicht sogar herbeigewünscht – als Vorwand um gleich wieder
weinen und schluchzen zu können, die Pulver umzuschütten wie vorhin,
oder aus Ärger irgend etwas zu zerschlagen, um dadurch ihr verbittertes,
schmerzendes Herz zu betäuben. Das geschieht auch mit anderen, nicht nur
mit Kranken und nicht nur mit Nelly. Wie oft bin ich selbst im Zimmer
auf und ab gegangen mit dem unbewußten Verlangen, durch irgendeinen
Vorwand meinem Herzen Luft zu verschaffen. Wie oft verfallen Frauen,
deren Herz voll tiefer Trauer, die sie niemandem mitteilen können, in
Hysterie.

Doch die Engelsgüte des von ihr beleidigten Alten und die Geduld, mit
der er von neuem, zum dritten Male, das Pulver verfertigte, ohne ihr
einen Vorwurf zu machen, entwaffnete Nelly vollständig. Das Lächeln
verschwand von ihren Lippen, sie errötete und der Blick ihrer Augen
verschleierte sich: sie streifte auch mich flüchtig mit ihrem Blick,
wandte sich aber sofort wieder von mir ab. Der Doktor reichte ihr die
Medizin. Sie nahm sie ruhig und bescheiden an, ergriff die rote,
gedrungene Hand des Alten und sah ihm in die Augen.

„Sind Sie böse, daß ich ...“ sie konnte ihren Satz nicht beenden; sie
zog die Decke über den Kopf und fing an zu schluchzen.

„O, mein Kind, weinen Sie nicht ... Das hat nichts zu sagen ... Das sind
Nerven; trinken Sie etwas Wasser.“

Doch Nelly hörte nicht auf ihn.

„Beruhigen Sie sich ... regen Sie sich nicht so auf,“ dabei weinte er
fast selbst vor Rührung, denn er war ein sehr gefühlvoller Mensch, „ich
verzeihe Ihnen alles und werde Sie heiraten, wenn Sie bei gutem Betragen
ein ehrliches Mädchen sein werden, und die ...“

„Pulver einnehmen,“ hörte man unter der Decke wie ein dünnes Glöckchen,
ihr nervöses von Schluchzen unterbrochenes Lachen, das mir so gut
bekannt war.

„Gutes, einsichtsvolles Kind!“ sagte der Doktor triumphierend und fast
mit Tränen in den Augen. „Armes Mädchen!“

Seit der Zeit entwickelte sich zwischen ihm und Nelly eine merkwürdige,
innige Sympathie. Mir gegenüber wurde Nelly jedoch immer finsterer,
nervöser und gereizter. Ich wußte nicht, wie ich mir diesen plötzlichen
Umschwung in ihr erklären sollte. In den ersten Tagen ihrer Krankheit
war sie zu mir so lieb und zärtlich gewesen; es schien, als könnte sie
sich nicht sattsehen an mir, hielt meine Hand in ihrem heißen Händchen,
und wenn sie bemerkte, daß ich erregt oder finster aussah, so bemühte
sie sich, mich zu erheitern, scherzte, lachte und spielte mit mir,
ungeachtet ihrer eigenen Schmerzen. Sie wollte nicht, daß ich arbeitete
und die Nächte über wach saß und war unglücklich, wenn ich nicht auf sie
hörte. Oft sah sie bekümmert und sorgenvoll aus und fragte mich, warum
ich so traurig wäre und was ich auf dem Herzen hätte; doch sonderbar,
kamen wir im Gespräch auf Natascha, so verstummte sie sofort und begann
von was anderem zu reden. Sie schien es vermeiden zu wollen, von
Natascha zu sprechen, und das wunderte mich. Wenn ich nach Hause
zurückkehrte, so freute sie sich, griff ich nach der Mütze, so wurde sie
finster und ein vorwurfsvoller Blick ihrer Augen begleitete mich.

Am vierten Tag ihrer Krankheit saß ich den ganzen Abend bis Mitternacht
bei Natascha. Wir hatten viel zu bereden. Als ich das Haus verließ,
versprach ich meiner Kranken bald zurückzukehren, was ich auch
beabsichtigt hatte. Als ich nun zufällig länger bei Natascha blieb, war
ich in betreff Nellys ganz ruhig: ich wußte, daß sie nicht allein
geblieben. Bei ihr war Alexandra Ssemjonowna, die durch Masslobojeff,
der einen Augenblick bei mir gewesen, erfahren, daß Nelly erkrankt sei
und ich sie ganz allein pflegen mußte. Mein Gott, wie die gute Alexandra
Ssemjonowna sich darüber aufgeregt hatte!

„Also wird er auch Freitag nicht zu uns kommen! ... Und der Arme ist
doch allein, ganz allein. Aber da wollen wir ihm wenigstens unser
Mitgefühl zeigen und den Zufall nicht unbenutzt vorübergehen lassen.“

Sie erschien sofort bei mir und brachte in der Droschke ein ganzes
Bündel Sachen mit sich. Sie erklärte mir denn auch sofort, daß sie mich
nicht mehr allein lassen würde und gekommen sei, um mir zu helfen; dabei
öffnete sie ihr Bündel. In ihm waren eingemachte Früchte für die Kranke,
Hühner für den Fall, wenn es der Kranken besser gehen sollte, Äpfel,
Gebäck, Apfelsinen, Kiewer Bretzeln (für den Fall, daß der Doktor sie
erlaubte), zuletzt Wäsche, Bettücher, Servietten, Frauenhemden,
Kompressentücher – einfach ein ganzes Lazarett.

„Wir haben ja alles,“ sagte sie, so schnell als möglich jedes Wort
aussprechend, als eilte es sehr, „Sie aber leben als Junggeselle, Sie
haben davon wenig. So erlauben Sie mir schon ... und auch Filipp
Filippytsch hat es mir befohlen. Nun, was soll ich jetzt ... schnell,
schnell! Was soll ich jetzt tun? Wie geht es ihr? Ist sie bei
Bewußtsein? Ach, wie schlecht sie liegt, man muß ihr das Kissen zurecht
machen, damit ihr Kopf niedriger zu liegen kommt, wissen Sie was ...
sollte nicht ein Lederkissen besser sein? Kühler. Ach, wie dumm ich bin!
Mir ist es garnicht eingefallen, das Kissen mitzubringen. Ich werde es
noch holen ... Soll ich nicht Feuer anmachen? Ich werde Ihnen meine Alte
schicken. Ich habe eine Alte, Sie haben ja gar keine weiblichen
Dienstboten ... Nun, was soll ich jetzt tun? Was ist das? Die Medizin
hat der Doktor verschrieben? Wahrscheinlich Brusttee? Ich werde sofort
das Feuer anmachen ...“

Ich beruhigte sie und sie war sehr erstaunt, sogar betrübt, daß es gar
nicht so viel zu tun gab wie sie sich gedacht hatte. Doch, im übrigen,
wie gesagt, beruhigte sie sich demnach bald; sie befreundete sich sofort
mit Nelly und hat mir viel zur Zeit ihrer Krankheit geholfen. Sie
besuchte uns jeden Tag und immer schien es, als hätte sie etwas versäumt
und müßte es wieder einholen. Auch fügte sie zu allem hinzu, daß so
Filipp Filippytsch befohlen hätte. Nelly gefiel ihr sehr. Sie liebten
sich bald wie zwei Schwestern und ich glaube, daß Alexandra Ssemjonowna
in vielem noch ebenso ein Kind wie Nelly war. Sie erzählte ihr
verschiedene Geschichten, erheiterte sie und Nelly schien sich bald ohne
sie zu langweilen. Bei ihrem ersten Erscheinen setzte die Kranke sie in
Verwunderung, die es sofort erriet, warum der ungerufene Gast eigentlich
gekommen war und sie ihrer Gewohnheit nach denn auch finster, schweigsam
und unfreundlich empfing.

„Warum ist sie gekommen?“ fragte mich unzufrieden Nelly, als Alexandra
Ssemjonowna uns verlassen hatte.

„Um dir zu helfen, Nelly, und dich zu pflegen.“

„Warum? Wofür? Ich habe ihr doch nichts Gutes getan?“

„Gute Menschen warten nicht darauf, Sie helfen auch ohnedem, wo es
nottut. Es gibt auf der Welt sehr viel gute Menschen, Nelly. Es ist nur
ein Unglück, daß du ihnen nicht begegnet bist, als es nötig war.“

Nelly schwieg; ich entfernte mich auf einen Augenblick. Nach einer
Viertelstunde rief sie mich mit ihrem schwachen Stimmchen selbst zu sich
und bat um Wasser. Plötzlich aber umarmte sie mich und preßte ihr
Köpfchen an meine Brust. Am andern Tage, als Alexandra Ssemjonowna
wieder kam, empfing sie diese mit freundlichem, wenn auch verschämtem
und etwas schuldbewußtem Lächeln.


                                  III.

An diesem Tage hatte ich den ganzen Abend bei Natascha zugebracht. Als
ich zurückkehrte, schlief Nelly bereits. Auch Alexandra Ssemjonowna war
ganz schlaftrunken und erwartete mich am Krankenbette. Sie teilte mir
eilig, leise flüsternd mit, daß Nelly zuerst sehr lustig gewesen und
sogar gelacht habe, als ich aber nicht zurückgekehrt sei, sei sie
traurig, schweigsam und nachdenklich geworden. Sie habe über
Kopfschmerzen geklagt, geweint und so geschluchzt, daß Alexandra
Ssemjonowna nicht gewußt, was mit ihr anfangen. Sie habe auch mit ihr
über Natalja Nikolajewna gesprochen, doch als sie ihr nichts darauf
antworten konnte, hätte sie aufgehört, davon zu sprechen, geweint und
zuletzt sei sie dann unter Tränen eingeschlafen. „Nun, leben Sie wohl,
Iwan Petrowitsch; jetzt ist es ihr leichter, wie es mir scheint, ich muß
auch nach Haus, so hat mir Filipp Filippytsch befohlen. Ich muß Ihnen
gestehen, daß er mich diesmal nur auf zwei Stunden entlassen, und ich
bin bereits viel länger hiergeblieben. Doch, was tut’s, beunruhigen Sie
sich nicht meinetwegen, er wird es nicht wagen ... nur, mein lieber Iwan
Petrowitsch, was soll ich tun: er kommt jetzt immer betrunken nach Haus!
Er ist mit sich irgendwie sehr beschäftigt, spricht kein Wort mit mir,
macht sich Sorgen, ich weiß es, und am Abend kommt er betrunken nach
Haus ... Ich habe gedacht: wenn er nun nach Hause zurückgekehrt ist, wer
wird ihn dann dort empfangen haben? Nun, ich fahre schon, ich fahre!
Leben Sie wohl, Iwan Petrowitsch. Habe mir dort Ihre Bücher angesehen:
wieviel Bücher Sie haben, und alles ernste, kluge Bücher; ich Dumme,
habe noch nie etwas gelesen ... Also, auf morgen ...“

Am nächsten Morgen erwachte Nelly finster und sprach kein Wort mit mir.
Nur ungern antwortete sie auf meine Fragen, als wäre sie mir böse. Ich
bemerkte nur hin und wieder einen ihrer Blicke, mit denen sie mich
heimlich verfolgte; in ihnen lag viel verhaltenes Herzeleid und
unterdrückte Zärtlichkeit, was sonst, wenn sie mich gerade anschaute,
nicht der Fall war. An diesem Tage spielte sich denn auch die
Arzenei-Szene mit dem Doktor ab; ich wußte nicht, was ich denken sollte.

Nellys Verhalten zu mir veränderte sich jetzt vollständig. Ihr seltsames
Wesen, ihre Launen, ja, ihr Haß gegen mich steigerten sich bis zu der
Katastrophe, die unser ganzes Zusammenleben abbrach. Doch davon später.

Es geschah übrigens, daß sie von Zeit zu Zeit, wie früher, zärtlich zu
mir war. Ihre Zärtlichkeit schien sich in diesen Augenblicken sogar zu
verdoppeln; am häufigsten aber weinte sie bitter in diesen Momenten.
Doch diese Stunden vergingen sehr schnell wieder; sie verfiel dann
wieder in ihren früheren Kummer, sah mich feindlich an, wurde launisch,
wie damals mit dem Doktor, und wenn sie bemerkte, daß irgendeiner ihrer
neuen Streiche mich unangenehm berührte, so brach sie in Lachen aus, das
dann in Tränen endete.

Selbst gegen Alexandra Ssemjonowna hatte sie sich unfreundlich benommen,
ihr gesagt, daß sie nichts von ihr brauche. Als ich ihr in Gegenwart von
Alexandra Ssemjonowna darüber Vorwürfe machte, brauste sie auf,
verstummte dann und sprach zwei Tage lang kein Wort mit mir, wollte
keine Medizin einnehmen, weder trinken noch essen, und nur der alte
Doktor verstand es noch mit ihr umzugehen.

Ich sagte bereits, daß sich zwischen ihr und dem Doktor ein merkwürdiges
Freundschaftsverhältnis entwickelt hatte. Nelly schien ihn sehr gern zu
haben und begrüßte ihn immer mit freundlichem Lächeln, wenn er kam, wie
traurig sie auch sonst vor seinem Erscheinen gewesen sein mochte. Der
Alte wiederum besuchte sie jeden Tag und manchmal sogar zweimal am Tage,
und als Nelly sich bereits in der Genesung befand, das Bett schon
verlassen hatte, schien sie ihn dermaßen bezaubert zu haben, daß er ohne
sie den Tag nicht verleben konnte, ohne ihr Lachen und ihre Scherze über
sich zu hören, die oft wirklich sehr drollig waren. Er brachte ihr
Bilderbücher, meistenteils belehrender Art, brachte ihr Süßigkeiten und
Konfekt in schönen Kästchen. Jedesmal erschien er dann mit besonders
feierlicher Miene, als gäbe es eine Namenstagfeier, so daß Nelly sofort
erriet, daß er mit einem Geschenk gekommen war. Das Geschenk zeigte er
aber nicht gleich, sondern lächelte nur pfiffig und setzte sich neben
Nelly mit der Bemerkung, daß, wenn ein junges Mädchen sich gut
aufgeführt und in seiner Abwesenheit sich Achtung erworben, daß so ein
junges Mädchen würdig einer Belohnung sei. Dabei sah er sie so gutmütig
und herzlich an, daß in den strahlenden Augen Nellys, wenn sie ihm auch
offen ins Gesicht lachte, eine aufrichtige und zärtliche Dankbarkeit
aufleuchtete. Zuletzt erhob sich dann der Alte feierlich, zog ein
Kästchen mit Konfekt aus der Tasche und händigte es Nelly ein mit der
Bemerkung: „Meiner zukünftigen und liebenswürdigen Frau Gemahlin.“

In diesem Augenblick war er sicher selbst glücklicher als Nelly.

Darauf folgten dann Gespräche über ihre Gesundheit und medizinische
Ratschläge.

„Vor allem muß man seine Gesundheit zu erhalten streben,“ sagte er zu
ihr, in dogmatischem Tone, „hauptsächlich darum, um leben zu bleiben,
immer gesund zu sein, das Glück des Lebens zu genießen. Wenn Sie, mein
liebes Kind, irgendwelchen Kummer haben, so vergessen sie ihn, oder
besser, trachten Sie, nicht an ihn zu denken. Und wenn Sie keinen Kummer
haben, dann denken Sie erst recht nicht an ihn, sondern denken Sie an
Vergnügungen und Spiel.“

„An welches Vergnügen soll ich denn denken?“ – fragte Nelly.

Der Doktor war nicht wenig verblüfft ...

„Nun, ... an irgendein unschuldiges Spiel, das Ihrem Alter ansieht; oder
so ... etwas Ähnliches ...“

„Ich will nicht spielen; ich spiele nicht gern,“ sagte Nelly. „Ich liebe
zum Beispiel neue Kleider.“

„Neue Kleider! Hm! Nun, das ist bereits weniger gut. Man muß mit seinem
bescheidenen Los im Leben zufrieden sein. Doch, übrigens ... warum nicht
... man kann auch neue Kleider lieben.“

„Und Sie, werden Sie mir viele neue Kleider kaufen, wenn ich Ihre Frau
sein werde?“

„Was für eine Idee!“ der Doktor schien ein wenig unwillig. Nelly lachte
schelmisch und vergaß sich sogar so weit, daß sie auch mir zulächelte.
„Übrigens, warum sollte ich Ihnen auch nicht schöne Kleider kaufen, wenn
Sie es durch Ihr Betragen verdienen,“ fügte er versöhnlicher hinzu.

„Und wenn ich Sie heirate, muß ich dann jeden Tag Pulver einnehmen?“

„Nein, immer brauchen Sie nicht Pulver einzunehmen.“

Jetzt lächelte auch der Doktor.

Nelly krümmte sich einfach vor Lachen. Der Alte folgte ihrem Beispiel,
er freute sich über ihre Fröhlichkeit.

„Ein launisches Köpfchen!“ sagte er, zu mir gewandt. „Doch aus alledem
spricht immer noch ein wenig Gereiztheit.“

Er hatte recht. Ich wußte wirklich nicht, was ich mit ihr anfangen
sollte. Sie wollte scheinbar überhaupt nicht mehr mit mir sprechen, als
wäre ich in irgend etwas schuldig vor ihr. Das tat mir bitter weh. Ich
ärgerte mich schließlich und sprach einmal einen ganzen Tag nicht mehr
mit ihr, doch am nächsten Tage schämte ich mich bereits darüber. Sie
weinte oft, und ich wußte wirklich nicht, womit ich sie beruhigen
sollte. Übrigens einmal brach sie doch das Schweigen mit mir.

Eines Abends kehrte ich vor der Dämmerstunde nach Haus und bemerkte, wie
Nelly unter ihrem Kissen ein Buch versteckte. Das war mein Roman, den
sie jetzt wieder in meiner Abwesenheit zu lesen schien. Wozu mußte sie
ihn vor mir verstecken? „Als schäme sie sich darüber,“ dachte ich und
tat so, als ob ich nichts bemerkt hätte. Eine Viertelstunde nachher, als
ich auf einen Augenblick in die Küche ging, sprang sie schnell aus dem
Bett und legte das Buch an seinen früheren Platz; als ich zurückkam sah
ich es auf dem Tische liegen. Plötzlich rief sie mich zu sich; in ihrer
Stimme zitterte Erregung. Seit vier Tagen hatte sie kein Wort mit mir
gesprochen.

„Gehen Sie ... heute zu Natascha?“ fragte sie mit erstickter Stimme.

„Ja, Nelly; ich muß sie heute durchaus besuchen.“

Nelly schwieg.

„Sie lieben ... sie sehr?“ fragte sie wieder mit schwacher Stimme.

„Ja, Nelly, ich liebe sie sehr.“

„Und auch ich liebe sie sehr,“ fügte sie mit leiser Stimme hinzu.

Wieder trat Schweigen ein.

„Ich möchte zu ihr gehen und mit ihr leben,“ begann Nelly von neuem. Ein
furchtsamer Blick streifte mich dabei.

„Das ist nicht möglich, Nelly,“ antwortete ich einigermaßen verwundert.
„Hast du es denn schlecht bei mir?“

„Warum ist es nicht möglich?“ fuhr sie auf. „Sie bereden mich doch, zu
ihrem Vater zu gehen; zu ihm aber möchte ich nicht. – Hat sie eine
Magd?“

„Ja.“

„Nun, so soll sie ihre Magd fortschicken, ich werde sie bedienen. Ich
werde alles für sie tun und werde keine Belohnung von ihr annehmen; ich
werde sie lieben und ihr Essen kochen. Sagen Sie ihr das, bitte, heute.“

„Was das für Phantasien sind, Nelly? Und was denkst du eigentlich von
ihr: glaubst du denn wirklich, daß sie das zulassen würde? Wenn sie dich
schon zu sich nehmen sollte, so doch nur als gleichberechtigt mit ihr,
als ihre jüngere Schwester.“

„Nein, das will ich nicht ...“

„Warum nicht?“

Nelly schwieg. Ihre Lippen zitterten; sie wollte weinen.

„Der, den sie liebt, verläßt sie jetzt?“ fragte sie schließlich.

Ich war erstaunt.

„Woher weißt du das, Nelly?“

„Sie sagten es mir selbst vor einiger Zeit und vorgestern fragte ich den
Mann von Alexandra Ssemjonowna; er erzählte mir alles.“

„War denn Masslobojeff hier?“

„Ja, er war gekommen,“ sie schlug die Augen nieder.

„Warum hast du mir nicht gesagt, daß er da war?“

„So ...“

Ich dachte einen Augenblick nach. Gott weiß warum dieser Masslobojeff
sich hier geheimnisvoll herumtrieb, und was für Beziehungen er hier
angeknüpft haben mochte? Ich mußte ihn doch aufsuchen.

„Nun, und was dann, wenn er sie verläßt, Nelly?“

„Nun, Sie lieben sie doch sehr,“ antwortete Nelly, ohne mich anzusehen.
„Wenn Sie sie aber so lieben, so werden Sie sie doch heiraten, wenn der
andere fort fährt.“

„Nein, Nelly, sie liebt mich nicht so, wie ich sie liebe, ja und ich ...
Nein, das wird nicht sein, Nelly.“

„Ich aber würde Ihnen allen beiden dienen, und Sie würden glücklich
sein,“ sagte sie kaum hörbar, ohne mich anzusehen.

„Was ist mit ihr, was ist mit ihr?“ dachte ich und mein ganzes Innere
tat mir weh. Nelly verstummte und sprach den Abend kein Wort mehr mit
mir. Als ich fortgegangen war, weinte sie den ganzen Abend; wie
Alexandra Ssemjonowna berichtete, schlief sie wieder unter Tränen ein.
Sogar im Schlaf schluchzte sie noch und im Traum phantasierte sie.

Von dem Tage an wurde sie immer schweigsamer und verschlossener. Mit mir
sprach sie überhaupt nicht mehr. Es geschah wohl, daß ich hin und wieder
einen verstohlenen und flüchtigen Blick von ihr auffing, der voll
unsäglicher Zärtlichkeit zu mir schien. Doch waren das nur Augenblicke
und im Gegensatz zu ihnen wurde sie immer finsterer und verschlossener,
sogar der Doktor wunderte sich über diese Veränderung in ihrem
Charakter. Inzwischen hatte sie sich so weit erholt, daß sie mit
Erlaubnis des Arztes täglich ein wenig an die freie Luft gehen konnte.
Auch die Tage wurden immer heller und wärmer. Es war in der Karwoche,
als ich eines Morgens ausging; ich mußte zu Natascha gehen, hatte aber
Nelly versprochen, früh zurückzukehren, um mit ihr zusammen spazieren zu
gehen. Unterdessen war sie allein zu Hause geblieben.

Ich kann es kaum beschreiben, welch ein furchtbarer Schlag mich traf,
als ich damals nach Hause zurückkehrte! Schon draußen auf der Treppe
fiel es mir auf, daß der Schlüssel von außen in der Tür steckte. Ich
trete ein: es war niemand zu sehen. Ich erstarrte. Auf dem Tisch
erblickte ich einen Zettel mit großen unregelmäßigen Buchstaben
beschrieben:

   „Ich bin von Ihnen fortgegangen und kehre nie mehr wieder. Ich liebe
   Sie aber sehr.

                                                    Ihre treue Nelly.“

Ich schrie auf und stürzte hinaus.


                                  IV.

Kaum war ich auf der Straße, ohne mir noch klar zu werden, wohin ich
mich wenden sollte, als plötzlich vor unserem Haustor eine Droschke
hielt; aus der Droschke stieg Alexandra Ssemjonowna, gefolgt von Nelly,
die sie fest an der Hand hielt, als fürchtete sie, daß Nelly noch einmal
entlaufen könnte. Ich stürzte auf sie zu.

„Nelly, was hast du, wo warst du?“ rief ich.

„Warten Sie, gehen wir so schnell als möglich zu Ihnen, dort werden Sie
alles erfahren,“ sagte Alexandra Ssemjonowna. „Was ich Ihnen für Sachen
zu erzählen habe, Iwan Petrowitsch,“ flüsterte sie mir unterwegs zu.
„Wundern kann man sich ... Kommen Sie nur, Sie sollen alles sofort
erfahren.“

Ihrem Gesicht konnte man ansehen, daß sie außerordentliche Neuigkeiten
mitzuteilen hatte.

„Gehe, Nelly, gehe, lege dich schlafen,“ sagte sie zu ihr, als wir ins
Zimmer traten, „du mußt müde sein. Es ist doch kein Spaß, nach der
Krankheit so herumzulaufen! Lege dich, Täubchen, lege dich hin. Wir aber
wollen hierher gehen, um sie nicht zu stören ...“

Und sie winkte mir zu, mit in die Küche zu kommen.

Doch Nelly legte sich nicht, sie setzte sich auf den Diwan und bedeckte
ihr Gesicht mit beiden Händen.

Wir verließen das Zimmer. Alexandra Ssemjonowna berichtete mir so
schnell als möglich den Tatbestand. Später erfuhr ich noch weitere
Einzelheiten.

Nachdem sie mir den Zettel geschrieben, war Nelly zwei Stunden vor
meiner Rückkunft davongelaufen und hatte sich zuerst zum alten Doktor
begeben. Seine Adresse hatte sie sich schon beizeiten gemerkt. Der
Doktor, wie er erzählte, war einfach starr vor Schreck gewesen, als er
plötzlich Nelly bei sich sah und die ganze Zeit während ihres Daseins
habe er „seinen Augen nicht trauen können.“ „Ich kann es auch jetzt noch
nicht glauben,“ fügte er zum Schluß seiner Erzählung hinzu, „und werde
es nie und nimmer für wahr halten.“ Er saß ruhig im Schlafrock in seinem
Kabinett und trank Kaffee, als sie plötzlich hineinstürzte und, ehe er
zur Besinnung gekommen war, sich ihm um den Hals warf. Sie klammerte
sich an ihn, weinte, küßte ihm die Hände und bat ihn bedingungslos sie
zu sich zu nehmen, mit der Begründung, daß sie bei mir nicht mehr leben
wolle noch könne und darum von mir fortgegangen sei; daß sie leide; daß
sie nie mehr über ihn lachen noch von neuen Kleidern sprechen werde,
sondern sich gut aufführen und lernen wolle, – offenbar hatte sie sich
unterwegs ihre Rede ausgedacht – und daß sie überhaupt gehorsam sein und
jeden Tag, so viel er wolle, Pulver einnehmen würde. Der gute Alte war
vor Schreck so erstarrt, daß er mit offenem Munde dasaß. Als er endlich
zu Wort kam, war ihm die Zigarre ausgegangen.

„Mademoiselle,“ sagte er endlich, „Mademoiselle, so wie ich Sie
verstanden habe, wünschen Sie, daß ich Sie bei mir aufnehme. Doch, das
ist – unmöglich! Sie sehen, ich lebe hier sehr beengt und verfüge über
wenig Mittel ... Und überhaupt, so plötzlich, ohne sich’s zu überlegen
... Das ist schrecklich! Und außerdem sind Sie, so weit es mir scheint,
einfach davongelaufen. Das ist durchaus nicht lobenswert ... Und
schließlich habe ich Ihnen nur erlaubt, an hellen Tagen ein wenig
spazieren zu gehen, unter der Aufsicht Ihres Wohltäters, Sie aber
verlassen Ihren Wohltäter und laufen einfach zu mir, wo Sie sich doch
schonen und ... und ... Medizin einnehmen sollten. Und schließlich ...
schließlich, verstehe ich überhaupt nichts ...“

Nelly ließ ihn nicht aussprechen. Sie fing wieder an zu weinen, ihn
anzuflehen, doch es half nichts. Das Erstaunen des Alten nahm immer mehr
zu und er konnte schließlich nichts mehr verstehen. Endlich gab es Nelly
auf und lief aus dem Zimmer. „Ich war den ganzen Tag unwohl,“ schloß der
Alte seine Erzählung, „und nahm zur Nacht ein Pulver ein.“

Nelly begab sich von dort zu Masslobojeffs. Obgleich ihr die Adresse
bekannt war, fand sie die Wohnung doch nur mit großer Mühe. Masslobojeff
war zu Haus. Alexandra Ssemjonowna schlug die Hände über dem Kopf
zusammen, als Nelly ihre Bitte, sie zu sich zu nehmen, vortrug. Auf ihre
Fragen: warum es ihr Wunsch sei und ob sie es bei mir so schwer habe,
antwortete Nelly nicht, sondern warf sich schluchzend in einen Stuhl.
„Sie schluchzte so sehr, so sehr,“ erzählte mir Alexandra Ssemjonowna,
„daß ich fürchtete, sie könne daran sterben!“ Nelly flehte, sie als
Köchin, als Stubenmagd aufzunehmen, versicherte, daß sie waschen und
plätten könne. Darauf schienen sich alle ihre Hoffnungen aufzubauen. Die
Meinung Alexandra Ssemjonownas war gewesen, sie so lange bei sich zu
behalten, bis die Dinge sich allmählich aufklärten und man mich davon
benachrichtigt hätte. Doch Filipp Filippytsch hatte sich dem durchaus
widersetzt und befohlen, mir den Flüchtling sofort einzuhändigen.
Unterwegs habe Alexandra Ssemjonowna Nelly umarmt und getröstet, doch
dabei habe sie wieder noch mehr zu weinen angefangen. Auch Alexandra
Ssemjonowna hatte dann vor Rührung geweint.

„Warum, warum willst du denn nicht bei ihm bleiben; hat er dich denn
etwa beleidigt, wie?“ fragte sie Nelly unter Tränen.

„Nein, er hat mich nicht beleidigt ...“

„Nun, warum willst du denn ...“

„So, ich will nicht mehr bei ihm leben ... ich kann nicht ... ich bin so
böse zu ihm ... er aber ist gut ... bei Ihnen würde ich nicht böse sein,
ich würde arbeiten,“ antwortete sie, krampfhaft schluchzend.

„Warum bist du denn so böse zu ihm, Nelly?“

„So ...“

„Und ich konnte von ihr nur dieses ‚so‘ erfahren,“ schloß Alexandra
Ssemjonowna, ihre Tränen trocknend. „Warum ist sie nur so trübsinnig?
Wohl von Geburt so? Was denken Sie, Iwan Petrowitsch?“

Wir kehrten zu Nelly zurück; sie lag, das Gesicht in den Kissen
vergraben, und weinte. Ich kniete an ihrem Bett nieder, nahm ihre Hände
und küßte sie. Sie entriß sie mir aber und schluchzte noch heftiger. Ich
wußte nicht, was ich tun sollte. In dem Augenblick trat plötzlich der
alte Ichmenjeff ins Zimmer.

„Guten Tag, Iwan, ich komme zu dir in Geschäften!“ Verwundert sah er uns
alle an.

Der Alte war in der letzten Zeit krank gewesen, war ganz
zusammengefallen, sah blaß und mager aus. Er wollte aber auf die
Ermahnungen seiner Frau nicht hören, legte sich nicht, sondern fuhr fort
– wie er sagte – „seine Geschäfte zu erledigen“.

„Leben Sie jetzt wohl,“ sagte Alexandra Ssemjonowna mit neugierigen
Blicken auf den Alten. „Filipp Filippytsch hat mir befohlen, so schnell
als möglich zurückzukommen. Am Abend, in der Dämmerstunde, werde ich auf
ein paar Stündchen zu Ihnen kommen.“

„Wer ist sie?“ flüsterte mir der Alte zu, offenbar an ganz was anderes
denkend.

Ich beantwortete ihm seine Frage.

„So, hm? Ich bin in einer besonderen Angelegenheit zu dir gekommen, Iwan
...“

Ich wußte, in welcher Angelegenheit, und hatte seinen Besuch bereits
erwartet. Er kam wegen Nelly. Anna Andrejewna hatte endlich
eingewilligt, die Waise in ihr Haus zu nehmen. Das war nach einem
geheimen Übereinkommen zwischen mir und Anna Andrejewna geschehen: ich
hatte sie davon überzeugt, daß der Anblick dieses Waisenkindes, deren
Mutter gleichfalls von ihrem Vater verflucht worden war, sein Herz
rühren und seinen Sinn ändern würde. Dieser Plan hatte ihr so gefallen,
daß sie jetzt selbst in den Alten drang, Nelly ins Haus zu nehmen. Er
seinerseits wollte natürlich vor allem seine Anna Andrejewna befriedigen
und dann hatte er selbst ein besonderes Ziel im Auge ... Davon werde ich
später ausführlicher erzählen ...

Ich sagte bereits, daß Nelly den Alten gleich seit seinem ersten Besuch
nicht gern hatte. Ihr Gesicht drückte sogar einen gewissen Haß aus, wenn
man seinen Namen nannte. Der Alte trug denn auch sofort ohne alle
Umstände sein Anliegen vor, indem er auf Nelly zuging, die ihr Gesicht
noch immer in die Kissen preßte, ihre Hand ergriff und sie fragte: ob
sie an Stelle seiner Tochter zu ihm kommen wolle?

„Ich hatte eine Tochter, die ich mehr liebte, als mich selbst,“ schloß
der Alte, „doch jetzt ist sie nicht mehr vorhanden. Sie ist tot. Willst
du ihren Platz in unserem Hause ... in meinem Herzen einnehmen?“

Und in seinen Augen, die vom Fieber entzündet waren, erglänzte eine
Träne.

„Nein, ich will nicht,“ antwortete Nelly, ohne den Kopf zu erheben.

„Warum denn nicht, mein Kind? Du bist doch ganz allein in der Welt. Du
kannst doch nicht immer bei Iwan bleiben, bei mir aber hättest du es wie
im Elternhause.“

„Ich will nicht, weil Sie böse sind. Ja, böse, böse!“ fügte sie hinzu,
richtete sich auf und setzte sich dem Alten gegenüber aufs Bett. „Ich
selbst bin böse, böser als alle, aber Sie sind noch böser als ich! ...“

Dabei erbleichte sie, ihre Augen funkelten; sogar ihre Lippen
erbleichten und zitterten, ihr Mund verzog sich vor innerer Erregung.
Der Alte sah sie ganz verwundert an.

„Ja, böser als ich, denn Sie wollen Ihrer Tochter nicht vergeben; sie
wollen sie auf immer vergessen und an ihrer Stelle ein anderes Kind
annehmen ... kann man denn sein eigenes Kind vergessen? Werden Sie mich
denn je lieben können? Wenn Sie mich ansehen werden, so müssen Sie sich
erinnern, daß ich Ihnen fremd bin, daß Sie aber eine Tochter hatten, die
Sie vergessen wollten, Sie grausamer Mensch! Ich will nicht bei so
grausamen Menschen leben; ich will nicht, ich will nicht! ...“

Nelly verstummte plötzlich und warf nun mir einen Blick zu.

„Übermorgen ist Ostern!“ fuhr sie fort. „Christ ist erstanden, alles
umarmt sich, alles versöhnt sich, allen wird vergeben ... Nur Sie ...
Sie allein ... wollen es nicht tun, Sie Grausamer! Gehen Sie fort!“

Sie brach in Tränen aus. Auf diese Rede schien sie sich bereits lange
vorbereitet zu haben, für den Fall, daß der Alte sie noch einmal
auffordern sollte, zu ihm ins Haus zu kommen. Der Alte war vollständig
erbleicht, auf seinem Gesicht zeigte sich tiefes Leid.

„Und warum, warum, kümmern sich alle um mich? Ich mag’s nicht!“ rief
Nelly plötzlich außer sich. „Ich werde ... werde ... betteln gehen!“

„Aber Nelly, was ist dir? Was hast du Nelly?“ rief ich unwillkürlich
aus, doch goß ich damit nur Öl ins Feuer.

„Ja, ich werde lieber auf der Straße betteln gehen, als daß ich
hierbleibe!“ schluchzte sie auf. „Auch meine Mutter hat gebettelt und
als sie starb, sagte sie zu mir: sei arm und gehe lieber betteln, als
... Zu betteln ist keine Schande, denn ich bitte nicht nur einen
Menschen, sondern ich bitte alle Menschen. Von allen bitten ist keine
Schande, das hat mir eine alte Bettlerin gesagt; und ich bin klein und
kann mir nichts verdienen. Ich werde alle bitten, alle, ich bin böse,
böse, böser als alle; seht, wie böse ich bin!“

Und dabei griff Nelly ganz unerwartet nach einer Tasse auf dem Tisch und
warf sie zu Boden.

„Da, da ist sie zerschlagen,“ fügte sie triumphierend hinzu, – „da ist
ja noch eine Tasse – ich werde auch die andere zerschlagen ... Woraus
werden Sie dann Tee trinken?“

Sie war wie besessen, und es schien ihr eine Wollust, sich in dieser
Besessenheit gehen zu lassen. Sie fühlte wohl, daß es nicht gut und
eigentlich eine Schande für sie war, darum hetzte sie sich selbst
innerlich immer mehr und mehr dazu auf.

„Sie ist krank, Wanjä, das ist der Grund,“ sagte der Alte, „oder ...
oder ich begreife dieses Kind schon nicht mehr. Lebe wohl!“

Er nahm seinen Hut und reichte mir die Hand zum Abschied. Er war wie
zerschlagen; Nelly hatte ihn furchtbar gekränkt; ich war außer mir.

„Und er tat dir nicht leid, Nelly!“ rief ich aus, als wir allein waren;
„du solltest dich schämen, schämen! Nein, du bist nicht gut, du bist
wirklich schlecht!“

Und, so wie ich war, ohne Hut, lief ich dem Alten nach. Ich wollte ihn
wenigstens bis zum Haustor begleiten, um ihm ein paar Worte zur
Beruhigung zu sagen. Bevor ich hinauslief, bemerkte ich flüchtig Nellys
erblaßtes Gesichtchen.

Ich hatte Ichmenjeff bald eingeholt.

„Das arme Kind leidet und hat seinen eigenen Kummer, und mir fiel es
ein, noch von meinem zu reden,“ sagte er, bitter lächelnd. „Ich rührte
an ihre Wunde. Man sagt, der Satte könne den Hungrigen nicht verstehen
und ich sehe, Wanjä, daß selbst der Hungrige den Hungrigen nicht
verstehen kann. Nun, lebe wohl!“

Ich wollte auf ihn einreden; doch er winkte mir bloß mit der Hand ab.

„Laß doch, mich willst du beruhigen; siehe lieber, daß sie dir nicht
davonläuft; sie sieht mir danach aus,“ fügte er mit Erbitterung hinzu
und beeilte sich so schnell als möglich fortzukommen, wobei er mit
seinem Spazierstock laut vernehmbar auf den Steinen aufschlug.

Er ahnte es wohl selbst nicht, wie richtig seine Prophezeiung gewesen.

Was mit mir geschah, als ich zurückkehrte und Nelly nicht im Zimmer
vorfand, weiß ich selbst nicht. Ich suchte sie auf dem Treppenflur, auf
der Treppe, rief ihren Namen, wollte schon beim Nachbar anklopfen; ich
konnte und wollte es nicht glauben, daß sie wieder davongelaufen sei.
Und wie konnte sie fortlaufen? Es gab doch nur ein Haustor; sie mußte
also an mir vorbeigeschlüpft sein, als ich mit dem Alten gesprochen?
Doch bald darauf kam mir der Gedanke, daß sie sich hier auf der Treppe
versteckt haben mochte, um meine Rückkehr abzuwarten, und um dann hinter
meinem Rücken hinauszulaufen. Jedenfalls konnte sie dann noch nicht sehr
weit gekommen sein.

Mit großer Unruhe machte ich mich auf den Weg, sie zu suchen, und ließ
die Wohnung auf alle Fälle offen.

Zuerst begab ich mich zu Masslobojeffs, traf sie aber nicht zu Haus,
weder ihn noch Alexandra Ssemjonowna. Ich hinterließ ihnen einen Zettel,
in dem ich Nellys neue Flucht meldete und bat sie, falls Nelly zu ihnen
kommen sollte, mich zu benachrichtigen. Darauf ging ich zum Doktor: der
war gleichfalls nicht zu Haus, nur die Magd erklärte mir, daß niemand
dagewesen sei. Was sollte ich tun? Ich begab mich zur Bubnowa und erfuhr
dort von der Frau des Sargmachers, daß die Wirtin seit dem gestrigen
Tage sich auf der Polizei befinde. Nelly hatte man aber seit jenem Tag
nicht mehr wiedergesehen. Müde, gequält, lief ich von dort wieder zu
Masslobojeffs zurück; dieselbe Antwort: niemand zu Hause. Mein Zettel
lag noch auf dem Tisch. Was sollte ich tun?

In tödlicher Angst mußte ich mich schließlich nach Hause begeben. Ich
mußte diesen Abend zu Natascha gehen, sie selbst hatte mich bereits am
Morgen rufen lassen. Auch hatte ich den ganzen Tag noch nichts genossen;
der Gedanke an Nelly hatte nichts anderes in mir aufkommen lassen.

„Was soll das bedeuten?“ dachte ich. „Sollten das wirklich nur die
Folgen der Krankheit sein? Hat sie nicht am Ende ihren Verstand
verloren? Doch, mein Gott, – wo, wo soll ich sie jetzt suchen!“ Kaum
hatte ich das gedacht, als ich plötzlich Nelly einige Schritte von mir
entfernt auf der W-Brücke erblickte. Sie stand dort an einem
Laternenpfosten und sah mich nicht. Ich wollte auf sie zulaufen, doch
blieb ich plötzlich stehen: „Was mag sie hier machen?“ dachte ich und
ich beschloß, da ich sie jetzt nicht mehr aus dem Auge verlieren konnte,
hier zu warten und sie zu beobachten. Es vergingen ungefähr zehn
Minuten, sie stand immer noch und blickte auf die Vorübergehenden.
Endlich kam ein gut angekleideter, alter Herr und Nelly ging auf ihn zu:
der zog, ohne stehen zu bleiben, etwas aus der Tasche und gab’s ihr. Sie
schien ihm zu danken. Ich kann es nicht beschreiben, was ich in diesem
Augenblick empfand. Schmerzhaft zog sich mein Herz zusammen, als wäre
etwas Teures, das ich liebte und hegte, in diesem Augenblick, vor mir
beschmutzt und beschimpft worden. Mir stiegen die Tränen in die Augen.

Ja, Tränen über Nelly, zu gleicher Zeit fühlte ich etwas Unversöhnliches
gegen sie: sie hatte nicht aus Not gebettelt; sie war durchaus nicht der
Macht des Schicksals überlassen gewesen, sie war nicht ihren Peinigern
entlaufen, sondern ihren Freunden, die sie liebten und hegten. Als hätte
sie jemand damit schrecken und in Erstaunen setzen wollen, ja, fast
schien sie damit zu prahlen! In ihrer Seele war etwas Geheimnisvolles
aufgetaucht ... Der alte Ichmenjeff hatte recht, sie war verwundet, und
ihre Wunde wollte nicht vernarben; sie schien durch dieses
geheimnisvolle und mißtrauische Verhalten uns gegenüber geradezu in
ihrem Schmerz wühlen zu wollen, – als gewähre ihr dieser Schmerz, dieser
_Egoismus des Leidens_, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine besondere
Genugtuung. Dieses Gefühl der Genugtuung begriff ich durchaus: denn
viele Erniedrigte und Beleidigte, die vom Schicksal niedergeworfen und
sich der Ungerechtigkeit desselben bewußt sind, müssen es empfinden.
Doch über welche Ungerechtigkeit konnte sich Nelly uns gegenüber
beklagen? Sie schien mit ihren Launen, mit ihren wilden Ausbrüchen uns
gegenüber sich geradezu selbst überbieten zu wollen! Doch warum hatte
sie jetzt gebettelt, da sie sich von uns nicht gesehen glaubte? Fand sie
denn wirklich darin einen Genuß? Wozu brauchte sie dieses Geld?

Als sie das Geld von dem Fremden in Empfang genommen hatte, verließ sie
die Brücke und blieb vor den hellerleuchteten Fenstern eines Ladens
stehen, um es zu zählen; ich stand zehn Schritt von ihr entfernt und
konnte sehen, wie sie eine Menge Geldstücke in der Hand hielt. Offenbar
hatte sie bereits vom Morgen an gebettelt. Darauf ging sie auf die
andere Seite der Straße hinüber und trat in einen Laden. Ich folgte ihr
sofort, blieb an der Tür des Ladens, die offen war, stehen, um zu sehen,
was sie dort tun würde.

Ich sah, wie sie ihr Geld auf den Ladentisch legte und man ihr dafür
eine Teetasse zeigte, eine ganz billige Tasse, ähnlich derjenigen, die
sie zerschlagen. – Sie wollte mir und dem alten Ichmenjeff doch zeigen,
wie böse sie sein konnte. – Die Tasse kostete vielleicht im ganzen nur
fünfzehn Kopeken, vielleicht sogar noch weniger. Der Kaufmann wickelte
sie in ein Papier ein, umschnürte das Päckchen und übergab es Nelly, die
eilig und mit zufriedenem Gesicht aus dem Laden trat.

„Nelly!“ rief ich, als sie sich mir näherte. „Nelly!“

Sie sah auf und zuckte zusammen, die Tasse entglitt ihrer Hand, fiel
aufs Pflaster und brach in Scherben. Nelly erblaßte; als sie mich ansah
und erriet, daß ich alles gesehen, errötete sie plötzlich; es war die
Röte einer quälenden Scham. Ich nahm sie an der Hand und führte sie nach
Hause; wir waren nicht mehr weit davon entfernt. Unterwegs sprach keiner
von uns ein Wort. Nach Hause gekommen, setzte ich mich hin; Nelly blieb
vor mir stehen, finster, nachdenklich und bleich stand sie da, die Augen
zu Boden geschlagen. Sie konnte sich nicht überwinden mich anzusehen.

„Nelly, du hast gebettelt?“

„Ja!“ flüsterte sie, kaum hörbar.

„Du wolltest Geld sammeln, um die zerschlagene Tasse wieder zu
ersetzen?“

„Ja ...“

„Habe ich dir denn dieser Tasse wegen Vorwürfe gemacht? Siehst du denn
wirklich nicht, Nelly, wieviel selbstzufriedene Bosheit in deiner
Handlung liegt? Ist das wirklich gut von dir gehandelt? Schämst du ...“

„Ich schäme mich,“ flüsterte sie kaum hörbar und über ihre Wange rollte
eine Träne.

„Du schämst dich ...“ wiederholte ich. „Nelly, meine Liebe, wenn ich vor
dir schuldig bin, so vergib mir und wir wollen uns wieder versöhnen!“

Sie sah mich an, brach in Tränen aus und umschlang mich mit ihren
Ärmchen.

In diesem Augenblick kam Alexandra Ssemjonowna.

„Wie! Ist sie wieder zu Haus? Ach, Nelly, Nelly, was tust du uns an! Ein
Glück, daß sie nun wenigstens wieder da ist ... Wo haben Sie sie
gefunden, Iwan Petrowitsch?“

Ich gab Alexandra Ssemjonowna zu verstehen, daß sie mich nicht fragen
sollte, und sie schwieg sofort. Ich verabschiedete mich zärtlich von
Nelly, die immer noch bitterlich weinte und bat die gute Alexandra
Ssemjonowna, bis zu meiner Rückkehr bei ihr zu bleiben, ich selbst lief
zu Natascha. Ich hatte mich bereits verspätet und mußte eilen.

An diesem Abend sollte sich unser Schicksal entscheiden: obgleich ich
mit Natascha von vielen anderen Dingen zu reden hatte, erzählte ich ihr
doch alles, was sich mit Nelly zugetragen. Meine Erzählung setzte
Natascha geradezu in Erstaunen.

„Weißt du, Wanjä,“ sagte sie nachdenklich, „mir scheint es, daß sie dich
liebt.“

„Wieso ... wie?“ rief ich ganz erstaunt.

„Ja, mit der Liebe einer Frau ...“

„Was du sagst, Natascha! Sie ist doch noch ein Kind!“

„Das bald vierzehn Jahre alt sein wird. Ihre Verbitterung kann nur daher
kommen, weil du deinerseits ihre Liebe nicht bemerkst und sie ihrerseits
wiederum sich selbst nicht versteht; ihre Verbitterung äußert sich wohl
ganz kindlich, ist aber darum nicht weniger ernst und quälend für sie.
Und dann – sie ist auf mich eifersüchtig. Du bist so mit mir
beschäftigt, daß du zu Hause wohl nur an mich denkst und von mir
sprichst, ihr aber wenig Aufmerksamkeit schenkst. Sie hat das bemerkt
und ist gekränkt. Sie hat vielleicht das Bedürfnis, ihr Herz vor dir
auszuschütten, versteht es aber nicht, schämt sich und wartet auf eine
Gelegenheit. Du aber verstehst sie nicht, läßt sie immer allein, sogar
während ihrer Krankheit bist du zu mir gekommen und hast sie tagelang
allein gelassen. Sie weint darüber, ihr tut es weh, daß du ihren Kummer
nicht bemerkst. Auch in diesem Augenblick hast du sie meinetwegen wieder
allein gelassen. Sie wird noch morgen davon krank sein. Und wie hast du
sie jetzt nur allein lassen können. Gehe doch sofort zu ihr ...“

„Ich hätte sie vielleicht nicht allein gelassen, aber ...“

„Weil ich dich gebeten hatte zu kommen. Doch jetzt gehe ...“

„Ich werde gehen, doch glaube ich natürlich von alledem nichts.“

„Weil es so ungewöhnlich scheint. Bedenke aber, was sie durchgemacht,
bedenke, daß sie anders aufgewachsen ist als wir ...“

Es war trotzdem spät geworden, als ich zurückkehrte. Alexandra
Ssemjonowna erzählte mir, daß Nelly wieder, wie an dem Abend, viel
geweint habe und unter Tränen eingeschlafen sei, ganz wie damals.

„Ich muß jetzt gehn, Iwan Petrowitsch,“ fügte sie hinzu, „so hat mir
Filipp Filippytsch befohlen. Der Arme, er wartet auf mich.“

Ich dankte ihr und setzte mich an Nellys Lager. Mir selbst lastete es
schwer auf der Seele, daß ich sie in einem solchen Augenblick verlassen
hatte. Lange, bis in die Nacht hinein, saß ich grübelnd an ihrem
Bettchen – es war eine schwere, verhängnisvolle Zeit.

Doch muß ich jetzt erzählen, was sich in diesen vierzehn Tagen
ereignete.


                                   V.

Seit dem denkwürdigen Abend, den ich mit dem Fürsten im Restaurant B.
zugebracht hatte, lebte ich in einer ewigen Furcht um Natascha. „Womit
bedrohte dieser gemeine Mensch sie und wodurch wollte er sich an ihr
rächen?“ fragte ich mich jeden Augenblick und erging mich in den
unmöglichsten Kombinationen. Ich kam nur immer zu dem Schluß, daß seine
Drohungen ernst gemeint waren, und daß er Natascha so lange sie noch zu
Aljoscha hielt, viel Schlechtes antun konnte. Denn er war kleinlich,
rachsüchtig, berechnend und wirklich gefährlich, das wußte ich. Es war
daher auch durchaus nicht anzunehmen, daß er die Kränkung durch Natascha
vergessen würde. In einem Punkte hatte er sich auch mir gegenüber
entschieden ganz unzweideutig ausgesprochen: er verlangte die Lösung des
Verhältnisses zwischen Natascha und Aljoscha, und erwartete von mir, daß
ich Natascha auf die nahbevorstehende Trennung vorbereite, damit es
keine sentimentalen Szenen gebe, wie er sagte. Dabei war es ihm
natürlich nur darum zu tun, daß Aljoscha mit ihm zufrieden blieb und ihn
nach wie vor für einen zärtlichen Vater hielt. Damit mußte er durchaus
rechnen, um über Katjäs Vermögen verfügen zu können. So stand ich denn
vor der Aufgabe, Natascha auf die Trennung von Aljoscha vorzubereiten.
Auch in Natascha hatte ich in letzter Zeit eine starke Veränderung
bemerkt; ihre frühere Aufrichtigkeit zu mir hatte sie ganz verloren; und
nicht nur das, sie schien sich geradezu mißtrauisch zu mir zu verhalten.
Mein Trösten quälte sie nur; meine Fragen ärgerten sie, verbitterten sie
sogar. Oft saß ich bei ihr ohne ein Wort zu sprechen. Sie ging, die
Hände über die Brust gekreuzt, im Zimmer auf und ab, düster, bleich,
abwesend, als hätte sie meine Anwesenheit ganz und gar vergessen. Fiel
dann einmal zufällig ihr Blick auf mich, so konnte sie ihr Gesicht
ungeduldig und geärgert abwenden. Ich begriff, daß sie wohl selbst über
den Ausgang der bevorstehenden Trennung nachgedacht, und konnte sie es
denn ohne Schmerz, ohne Qual tun? Daß sie aber die Trennung beschlossen,
davon war ich überzeugt, mich quälte und beunruhigte nur ihre finstere
Verzweiflung. Zudem wagte ich nicht mit ihr darüber zu sprechen und
erwartete mit Bangen, wie sich das alles entscheiden würde.

Was ihr Verhalten zu mir anbetraf, so quälte und beunruhigte es mich
sehr, doch zweifelte ich nicht an dem Herz meiner Natascha; ich sah, wie
schwer sie es hatte und wie sehr sie litt. In solchem Zustande ist das
Einmischen von nahestehenden Menschen, die in unsere Geheimnisse
eingeweiht sind, um so schmerzlicher. Doch war ich andererseits fest
davon überzeugt, daß Natascha im letzten Augenblick doch zu mir kommen
würde, um bei mir Trost und Frieden zu suchen.

Über meine Unterredung mit dem Fürsten schwieg ich natürlich, denn ich
hätte sie damit nur noch aufgeregt und gekränkt. Ich sagte ihr so
nebenbei, daß ich zusammen mit dem Fürsten bei der Gräfin gewesen wäre
und mich davon überzeugt hätte, daß er ein gemeiner Mensch sei. Ich war
sehr froh, daß sie mich auch weiter gar nicht über ihn ausfragte; um so
mehr aber interessierte sie meine Erzählung über die Begegnung mit
Katjä. Wenn sie auch nichts sagte, so bedeckte doch ihr bleiches Gesicht
eine Röte, und sie war den Tag über in erregter Stimmung. Ich
verheimlichte ihr nichts von Katjä und gestand ihr offen, daß Katjä
reizend sei und einen großen Eindruck auf mich gemacht hätte. Und wozu
sollte ich es ihr verhehlen? Natascha hätte ja doch die Wahrheit erraten
und wäre mir böse gewesen. Ich bemühte mich daher, alles so ausführlich
als möglich zu erzählen und versuchte alle ihre Fragen im voraus zu
beantworten, da ihr das Fragen in ihrer Lage nicht leicht fiel.

Ich glaubte, es wäre ihr nicht bekannt, daß Aljoscha auf besonderen
Befehl des Fürsten mit der Gräfin und Katjä aufs Land fahren sollte, und
ich bemühte mich daher, ihr das so schonend als möglich mitzuteilen, um
den Schlag abzuschwächen. Doch wie groß war meine Verwunderung, als
Natascha bei meinem ersten Worte darüber mich unterbrach und mir
erklärte, daß es nicht nötig sei, sie zu trösten, es sei ihr alles schon
seit fünf Tagen bekannt.

„Mein Gott!“ rief ich, „wer hat es dir denn gesagt?“

„Aljoscha.“

„Wie? Er selbst?“

„Ja, und ich habe mich zu allem entschlossen, Wanjä,“ fügte sie mit
Nachdruck hinzu, aus dem klar hervorging, daß sie eine Fortsetzung
dieses Gespräches nicht wünschte.

Aljoscha besuchte jetzt Natascha öfter, doch immer nur auf ein paar
Augenblicke; einmal nur war er während meiner Abwesenheit mehrere
Stunden bei ihr geblieben. Meist erschien er in trauriger Stimmung und
sah sie schuldbewußt und zärtlich an; doch Natascha empfing ihn dann
immer so liebenswürdig und zärtlich, daß er bald alles vergaß und heiter
wurde. Auch mich besuchte er jetzt häufig, fast jeden Tag. Er quälte
sich furchtbar und konnte daher keinen Augenblick allein sein, sondern
lief zu mir, um sich Trost zu suchen.

Was sollte ich ihm sagen? Er warf mir Gleichgültigkeit, Kälte und sogar
Bosheit ihm gegenüber vor; klagte und jammerte und ging dann schließlich
zu Katjä, wo er denn auch immer Trost fand.

An dem Tage als ich von Natascha erfuhr, daß sie von der Abreise
Aljoschas unterrichtet sei (es war eine Woche nach meinem Gespräch mit
dem Fürsten), kam er in Verzweiflung zu mir, umarmte mich, fiel mir um
den Hals und weinte wie ein Kind. Ich schwieg und wartete, was er sagen
würde.

„Ich bin ein niedriger, ein gemeiner Mensch, Wanjä,“ begann er, „rette
mich vor mir selbst. Ich weine nicht darüber, daß ich gemein und niedrig
bin, sondern daß Natascha durch mich unglücklich wird. Denn ich
überliefere sie dem Unglück ... Wanjä, mein Freund, sage du mir, wen ich
mehr liebe: Katjä oder Natascha?“

„Das kann ich nicht bestimmen, Aljoscha,“ antwortete ich ihm, „das mußt
du besser wissen als ich ...“

„Nein, Wanjä; ich würde dir doch nicht eine so dumme Frage stellen, wenn
ich’s wüßte, aber das ist es ja doch, daß ich es nicht weiß. Ich frage
mich und kann mir selbst keine Antwort darüber geben. Du aber hast alles
miterlebt, und kannst es eher wissen, als ... Und, wenn du es auch nicht
weißt, so sage mir doch wenigstens, wie es dir scheint?“

„Mir scheint es, daß du Katjä mehr liebst.“

„Das scheint dir! Aber nein, nein, das ist nicht so! Du hast es nicht
erraten. Ich liebe Natascha grenzenlos und kann sie nie und nimmer
verlassen. Ich habe es Katjä gesagt und Katjä ist durchaus damit
einverstanden. Warum schweigst du? Ich sah soeben, wie du lachtest. Ach,
Wanjä, wie hast du mich getröstet, wenn es mir zu schwer wurde ... Lebe
wohl!“

Er lief aus dem Zimmer, was einen großen Eindruck auf die verwunderte
Nelly machte, die schweigend unserem Gespräch zugehört hatte. Sie war
damals immer noch leidend, hütete das Bett und brauchte Medizin.
Aljoscha sprach bei seinen Besuchen niemals mit ihr, er schenkte ihr
überhaupt keine Aufmerksamkeit.

In zwei Stunden erschien er wieder, und ich wunderte mich über sein
erfreutes Gesicht. Er umarmte mich wie vorher.

„Jetzt ist die Sache beschlossen!“ rief er. „Alle Mißverständnisse
beseitigt. Von Ihnen bin ich geradewegs zu Natascha gegangen: ich war
gequält und konnte ohne sie nicht mehr auskommen. Ich kam zu ihr, fiel
vor ihr auf die Knie und küßte ihre Füße. Ich mußte es tun, sonst wäre
ich vor Kummer gestorben. Sie weinte und umarmte mich schweigend. Da
habe ich es ihr aufrichtig gestanden, daß ich Katjä mehr liebe als sie.“

„Was sagte sie?“

„Sie antwortete mir nichts darauf, streichelte und beruhigte mich –
mich, der ich ihr das eben gesagt! Sie versteht zu trösten, Iwan
Petrowitsch! O, ich habe vor ihr all meinen Kummer ausgeweint, ihr alles
gestanden. Ich habe ihr einfach gesagt, daß ich Katjä sehr liebe, doch
wie lieb ich sie auch hätte, so könnte ich doch ohne sie, ohne Natascha,
nicht leben, sondern müßte elendiglich umkommen. Ja, Wanjä, nicht einen
Tag könnte ich ohne sie verleben! Und darum haben wir beschlossen, uns
unverzüglich trauen zu lassen; da man es aber jetzt in den großen Fasten
nicht tun kann, so müssen wir es auf den Juni verschieben, wenn ich
wiederkomme. Papa wird es erlauben, daran besteht kein Zweifel. Und
Katjä? Was soll ich tun, ich kann ohne Natascha nicht leben ... Wir
werden uns trauen lassen und dort leben, wo Katjä ist ...“

Arme Natascha! Wie mußte es ihr ums Herz sein, diesen Knaben zu trösten,
seine Bekenntnisse anzuhören und diesem naiven Egoisten zu seiner
Beruhigung noch Märchen von einer baldigen Heirat auszudenken! Aljoscha
war auch wirklich auf ein paar Tage beruhigt. Er ging doch nur zu
Natascha, weil sein schwaches Herz nicht imstande war, diesen Kummer
allein zu tragen. Als aber die Zeit der Trennung immer mehr heranrückte,
kam wieder die frühere Unruhe über ihn; wieder kam er öfter zu mir um
seinen Kummer auszuweinen. In der letzten Zeit hatte er sich so an
Natascha angeschlossen, daß er sie nicht auf einen Tag verlassen konnte,
geschweige denn auf anderthalb Monate. Doch war er bis zum letzten
Augenblick fest davon überzeugt, daß er sie nur auf anderthalb Monate
verlassen würde, um dann zur Trauung wiederzukehren. Natascha dagegen
ihrerseits begriff durchaus, daß es eine Trennung auf immer sei, und daß
es so kommen mußte!

Es kam der Tag. Natascha war krank, bleich; mit fieberglänzenden Augen
und trockenen Lippen sprach sie hin und wieder wie zu sich selbst, dann
sah sie mich plötzlich mit durchbohrenden Blicken an, weinte nicht,
antwortete nicht auf meine Fragen und erzitterte wie ein Blatt am Baume
als sie die helle Stimme des eintretenden Aljoscha hörte. Feuer übergoß
ihre Wangen, sie lief zu ihm, umarmte ihn krampfhaft, küßte ihn und
lachte ... Aljoscha sah sie erstaunt an, fragte sie beunruhigt, ob sie
auch gesund wäre und versuchte sie damit zu beruhigen, daß er bald zur
Hochzeit zurückkehren würde ... Mit ganzer Kraft suchte sich Natascha zu
bezwingen und ihre Tränen zu unterdrücken. Sie weinte nicht ...

Einmal hatte er ihr gegenüber die Bemerkung gemacht, daß er ihr für die
Zeit seiner Reise Geld hinterlassen würde, und sie solle sich darüber
nicht beunruhigen, da ihm sein Vater viel Geld für die Reise
versprochen. Natascha wurde finster. Als wir darauf allein blieben,
sagte ich ihr, daß für sie auf jeden Fall hundertfünfzig Rubel bereit
ständen. Sie fragte nicht woher das Geld kam. Das war zwei Tage vor
Aljoschas Abreise, kurz vor der ersten und letzten Begegnung Nataschas
mit Katjä. Katjä hatte durch Aljoscha einen Brief geschickt, in dem sie
Natascha um die Erlaubnis gebeten, sie morgen zu besuchen; auch mir
hatte sie geschrieben und mich gebeten, bei der Begegnung zugegen zu
sein.

Ich beschloß, ungeachtet aller Hindernisse, um zwölf Uhr bei Natascha zu
sein; denn Hindernisse gab es viele. Ganz abgesehen von Nelly hatten
mich auch die alten Ichmenjeffs sehr in Anspruch genommen.

Vor einer Woche hatte ich von Anna Andrejewna einen Brief erhalten, mit
der Bitte, in einer wichtigen Angelegenheit so schnell als möglich zu
ihr zu kommen. Ich eilte zu ihr und traf sie allein zu Hause an: in
zitternder Erwartung ihres Mannes ging sie in fieberhafter Aufregung im
Zimmer auf und ab. Wie gewöhnlich, konnte ich auch diesmal nicht sofort
erfahren, was geschehen und warum sie so erschrocken war, wo es
vielleicht keinen Augenblick zu verlieren gab. Endlich nach heißen und
gar nicht zur Sache gehörigen Vorwürfen: „warum ich nicht zu ihnen
gekommen sei und sie wie Waisen in ihrem Kummer allein gelassen habe,“
so daß schon „weiß Gott was ohne mich hätte passieren können,“ erklärte
sie mir, daß Nikolai Ssergejewitsch in den letzten drei Tagen so
aufgeregt gewesen sei, „daß es unmöglich zu beschreiben wäre“.

„Er ist sich einfach selbst nicht mehr ähnlich,“ erzählte sie, „in der
Nacht schleicht er sich von mir fort, um auf den Knien vor dem
Gottesbild zu beten, im Schlaf phantasiert er, bei Tage ist er nur halb
bei Verstand: gestern aßen wir Kohlsuppe und er konnte seinen Löffel
nicht finden, der neben seinem Teller lag: frägt man ihn dies, so
antwortet er das.

„Jeden Augenblick geht er aus dem Haus: ‚immer in Geschäften,‘ sagt er,
‚um einen Advokaten zu suchen;‘ schließlich hatte er sich heute morgen
in seinem Kabinett eingeschlossen: ‚ich habe,‘ sagte er, ‚einen
Geschäftsbrief zu schreiben.‘ Nun, denke ich, ‚was wirst du für einen
Geschäftsbrief schreiben, wenn du nicht einmal deinen Löffel neben dir
auffinden kannst?‘ Ich spähte durch den Türspalt: da saß er, schrieb und
– weinte. ‚Schreibt man denn so einen Geschäftsbrief?‘ dachte ich. ‚Oder
tut es ihm so leid um Ichmenjeffka; also müssen wir unser Ichmenjeffka
doch auf immer verloren haben!‘ Plötzlich aber springt er vom Stuhl und
wirft die Feder auf den Tisch, feuerrot im Gesicht, mit blitzenden Augen
greift er nach dem Hut und stürzt zu mir hinaus. ‚Ich, Anna Andrejewna,
komme sofort wieder,‘ sagte er und ging hinaus. Ich aber habe dann auf
seinem Schreibtisch unter den vielen Papieren, die da in Stößen
herumliegen, gesucht. Wievielmal habe ich zu ihm gesagt: ‚erlaube, daß
ich deine Papiere in Ordnung bringe und vom Tisch den Staub abwische.‘
Doch, daran war nicht zu denken, er winkte mit Händen und Füßen ab: so
ungeduldig, solch ein Schreier ist er hier in Petersburg geworden. So
ging ich also zum Tisch und fing an zu suchen, was er soeben
geschrieben. Denn ich wußte zu genau, daß er es nicht mitgenommen,
sondern unter die anderen Papiere gesteckt hatte. Da, mein lieber Iwan
Petrowitsch, da ist’s, da ...“

Und sie reichte mir einen Bogen Postpapier, der zur Hälfte beschrieben
und stellenweis so unleserlich beschrieben war, daß man ihn kaum
entziffern konnte. Der arme Alte! Bei den ersten Worten konnte man
erraten, an wen er gerichtet war. Es war ein Brief an seine Natascha, an
seine geliebte Natascha. Er begann warm und innig; er verzieh ihr alles
und rief sie zu sich. Nur war es unmöglich, alles zu entziffern, was er
geschrieben, die Sätze waren abgerissen und alles verwischt. Man fühlte
nur, daß er aus heißem Drang zur Feder gegriffen und die ersten Zeilen
tiefempfunden den hatte, aber auf die ersten Zeilen folgten einige
anderer Art. Er machte seiner Tochter Vorwürfe, beschrieb in grellen
Farben ihr Verbrechen, hielt ihr Eigensinn vor, beschuldigte sie der
Gefühllosigkeit, daß sie garnicht daran gedacht, was sie ihren Eltern
angetan. Für ihren Stolz aber verfluchte er sie und befahl ihr
unverzüglich ins Elternhaus zurückzukehren, dann erst würden ihre Eltern
„nach stillem, musterhaftem Leben im Schoße der Familie ihr vielleicht
Vergebung gewähren,“ schrieb er. Man sah, daß er sein erstes Gefühl für
Schwäche gehalten, sich dessen geschämt hatte und gequält und beleidigt
in seinem Stolz mit wütenden Drohungen schloß. Die Alte stand vor mir
mit zusammengelegten Händen und erwartete in Angst und Schrecken was ich
sagen würde.

Ich sagte ihr alles aufrichtig, so wie es mir schien. Nämlich: daß der
Alte nicht mehr imstand sei, ohne Natascha zu leben, und daß man wohl
annehmen müsse, daß es zu einer baldigen Versöhnung kommen werde; doch
hänge das selbstverständlich alles von den Verhältnissen ab. Auch habe
ihn der schlechte und für ihn unglückliche Ausgang des Prozesses
erschüttert und gereizt, und durch den Triumph des Fürsten wäre er in
seiner Eigenliebe empfindlich getroffen. In solchen Augenblicken sucht
die Seele nach Mitgefühl, und er sehnte sich um so mehr nach derjenigen,
die er über alles in der Welt am meisten liebte. Außerdem habe er
wahrscheinlich erfahren, (da er ja doch von allem unterrichtet ist), daß
Aljoscha sie jetzt verlassen wird. Auch aus seiner Lage heraus begreift
er, wie sehr sie Trost und Hilfe brauchte. Doch konnte er sich diesesmal
doch noch nicht ganz und gar überwinden, da er sich durch sie gekränkt
und erniedrigt fühlt. Ihm kam der Gedanke, daß nicht sie es ist, die zu
ihm kommt, und daß sie vielleicht garnicht an ihn denkt und nach seinem
Troste durchaus nicht verlangt. Darum habe er wohl den Brief nicht
beendigt, auch vielleicht aus Furcht vor neuen Beleidigungen die
Versöhnung noch länger aufgeschoben ...

Die Alte hörte mir zu und weinte. Als ich ihr nun sagte, daß ich sofort
zu Natascha müßte und mich bereits durch sie verspätet hätte, zuckte sie
zusammen und erklärte mir, daß sie die _Hauptsache_ noch garnicht
erzählt hätte. Als sie nämlich den Brief unter den Papieren
hervorgezogen hatte, war das Tintenfaß umgefallen. Die eine Ecke des
Briefes war wirklich ganz mit Tinte übergossen und nun fürchtete sie
sich sehr, daß der Alte durch diesen Klecks erkennen würde, daß sie den
Brief an Natascha gelesen. Ihre Furcht war durchaus gerechtfertigt: denn
bereits der Gedanke, sie wisse sein Geheimnis, hätte ihn so in Zorn und
Wut bringen können, daß er aus Stolz bei seinem Trotz verharren würde.

Ich sah mir die Sache an und konnte die Alte insofern beruhigen, daß er
in dieser großen Erregung sich kaum dieser Kleinigkeiten erinnern
dürfte, und denken würde, er habe selbst den Fleck gemacht. Nachdem sich
nun Anna Andrejewna ein wenig beruhigt hatte, legten wir den Brief
vorsichtig an seinen früheren Platz zurück, und bevor ich fortging,
wollte ich noch einmal in der Angelegenheit Nelly ernst mit ihr reden.
Mir schien es, daß das arme verlassene Kind, deren Mutter von ihrem
eigenen Vater verflucht worden war, den Alten rühren und ihm
großmütigere Gefühle einflößen könnte. Denn alles war in ihm dazu
bereit; der Gram um seine Tochter hatte seinen Stolz und seine
beleidigte Eigenliebe überwunden. Es fehlte nur noch der Anstoß dazu und
die günstige Gelegenheit, und diese konnte vielleicht durch Nelly
gegeben werden. Die Alte hörte mir mit besonderer Aufmerksamkeit zu:
Hoffnung und Begeisterung belebten ihr Gesicht. Sie machte mir natürlich
sofort Vorwürfe, warum ich ihr das nicht bereits früher gesagt hätte,
fragte mich ungeduldig über Nelly aus, und versprach feierlich, daß sie
nun selbst Ichmenjeff bitten würde, die Waise ins Haus zu nehmen. Ja,
sie liebte Nelly bereits aufrichtig, bedauerte, daß sie krank war,
wollte mir für Nelly einen Topf Apfelmus mitgeben, lief in die
Kleiderkammer und brachte mir aus ihrer Rocktasche fünf Rubel, für den
Fall, daß ich kein Geld für den Doktor hätte, und als ich diese nicht
annahm, beunruhigte es sie sehr, ob Nelly auch Kleider und Wäsche hätte
und ob sie ihr da nicht nützlich sein könnte, woraufhin sie sofort ihren
Kleiderkasten um und um wühlte, um Sachen herauszusuchen, die sie der
armen Waise schenken könnte.

Ich aber ging zu Natascha. Als ich die Treppe zu ihrer Wohnung
emporstieg, sah ich jemand vor ihrer Tür stehen, der soeben anklopfen
wollte, doch als er meine Schritte hörte, sich abwandte. Endlich nach
einigem Zögern schien er seine Absicht aufzugeben. Er kam die Treppe
hinunter und begegnete mir auf der letzten Stufe vor dem Treppenabsatz.
Wie groß war aber meine Verwunderung, als ich in ihm Ichmenjeff
erkannte. Auf der Treppe war es auch am Abend dunkel. Er drückte sich an
die Wand, um mir Platz zu machen, und ich erinnere mich noch jetzt des
seltsamen Glanzes seiner Augen, die er fest auf mich gerichtet hatte.
Mir schien es, daß er errötete; wenigstens war er sehr verwirrt und
wußte nicht, was er sagen sollte.

„Ach, Wanjä, du bist es!“ fragte er mit unsicherer Stimme ... „Ich
suchte einen Menschen ... einen Schreiber ... in einer Angelegenheit ...
ich suche ihn überall ... er ist nicht hier, nicht da ... Hier scheint
er auch nicht zu sein. Habe mich geirrt. Lebe wohl.“

Und er ging schnell die Treppen hinunter.

Ich beschloß, Natascha einstweilen von dieser Begegnung nichts zu sagen,
es ihr aber gleich nach Aljoschas Abreise, wenn sie allein war,
mitzuteilen. Gegenwärtig war sie so abgespannt, daß, wenn sie auch die
ganze Tragweite dieses Aktes begriffen hätte, sie ihn doch nicht so in
sich hätte aufnehmen können, wie später in einem Augenblick der letzten
Verzweiflung. Dieser Augenblick war jetzt noch nicht gekommen.

Ich hätte noch am selben Tage zu Ichmenjeffs gehen können, doch tat ich
es absichtlich nicht: Dem Alten mußte jetzt eine Begegnung mit mir sehr
schwer fallen. Ich ging erst am dritten Tage zu ihm; er war sehr
niedergeschlagen, begrüßte mich aber ganz frei und sprach viel von
seinen Angelegenheiten.

„Sag doch, wen hast du denn damals besucht, so hoch oben, weißt du noch,
wo wir uns begegneten ... vor drei Tagen war’s,“ fragte er mich
plötzlich in nachlässigem Tone, obgleich er trotzdem meinen Blicken
auswich.

„Einen Freund,“ antwortete ich und blickte gleichfalls zur Seite.

„Ah! Ich suchte meinen Schreiber Astaffjeff; man hatte mir dieses Haus
angegeben ... es war ein Irrtum ... Um also auf meinen Prozeß zu kommen:
im Senate hat man entschieden ... usw. usw.“

Er errötete sogar, als er von seinem Prozeß zu sprechen begann.

Ich erzählte es noch an demselben Tage Anna Andrejewna, um die Alte zu
erfreuen, bat sie aber doch unter anderem, ihm nicht besonders ins
Gesicht zu schauen, nicht zu seufzen und keine Anspielungen darauf zu
machen, kurz durch nichts zu zeigen, daß sie davon unterrichtet war. Die
Alte war so erstaunt und erfreut, daß sie mir zuerst nicht glauben
wollte. Ihrerseits erzählte sie mir, daß sie Nikolai Ssergejewitsch von
Nelly gesprochen hätte, er aber habe geschwiegen, wo er sie doch sonst
früher immer selbst dazu überredet hatte. Wir beschlossen, daß sie ihn
morgen direkt darum bitten sollte ohne jegliche Umschweife. Doch am
nächsten Tage waren wir seinetwegen in schrecklicher Angst und Pein.

Ichmenjeff hatte am folgenden Morgen einen Beamten gesprochen, der in
seiner Sache unterrichtet war. Der Beamte hatte ihm nun erklärt, daß er
den Fürsten gesprochen, und daß dieser wohl Ichmenjeffka in Besitz
nehmen würde, doch infolge „gewisser Familienangelegenheiten“ dem alten
Ichmenjeff die zehntausend Rubel schenken würde. Nach dieser Nachricht
kam der Alte geradewegs zu mir gelaufen, aufgeregt mit wutblitzenden
Augen. Er rief mich, ich weiß nicht warum, hinaus auf die Treppe und
verlangte von mir, daß ich sofort zum Fürsten ginge und ihn zum Duell
fordere. Ich war so erschrocken, daß ich mich zuerst gar nicht zu fassen
wußte. Ich fing, glaube ich, an, ihn zu bereden. Doch der Alte geriet so
außer sich, daß ihm schlecht wurde. Ich lief nach einem Glas Wasser; als
ich zurückkam, fand ich ihn bereits nicht mehr auf der Treppe.

Am nächsten Tage ging ich zu ihm, traf ihn aber nicht zu Hause; er war
damals auf zwei Tage verschwunden.

Am dritten Tage erfuhren wir erst, was sich mit ihm ereignet hatte. Von
mir aus war er geradewegs zum Fürsten gegangen, und weil er ihn nicht zu
Hause angetroffen, hatte er ihm einen Zettel hinterlassen; in dem
Schreiben teilte er ihm mit, daß er durch diesen Beamten von seinen
Worten unterrichtet sei und sich durch sie tödlich beleidigt fühle, daß
er, der Fürst, ein gemeiner Mensch wäre, und er ihn darum zum Duell
fordere. Zum Schluß warnte er ihn noch, die Aufforderung zum Duell etwa
abzulehnen, da er dann gezwungen wäre, ihn öffentlich zu beleidigen.

Anna Andrejewna erzählte mir, er sei in solcher Aufregung zurückgekehrt,
daß er sich sofort hingelegt und auf alle ihre zärtlichen Fragen nichts
geantwortet hätte. In fieberhafter Ungeduld schien er irgend etwas zu
erwarten. Am nächsten Morgen kam ein Stadtbrief; als er ihn gelesen,
schrie er auf und faßte sich an den Kopf. Anna Andrejewna erstarrte fast
vor Schreck und Angst. Er griff sofort nach Hut und Stock und lief
hinaus.

Der Brief war vom Fürsten. Trocken, kurz und höflich erklärte er
Ichmenjeff, daß er über seine Worte, die er dem Beamten gegenüber
ausgesprochen, niemand Rechenschaft schuldig sei. Obgleich er Ichmenjeff
sehr bedaure, seinen Prozeß verloren zu haben, könne er doch trotz allem
Mitgefühl es nicht für zulässig finden, daß der Verurteilte das Recht
hätte, seinen Prozeßgegner aus Rache zum Duell herauszufordern. Was
endlich die ihm angedrohte „öffentliche Beschimpfung“ beträfe, so bäte
er Ichmenjeff, sich darum nicht zu beunruhigen, da von einer
öffentlichen Beschimpfung gar nicht die Rede sein könne, da er seinen
Brief sofort der Polizei vorlegen würde, die zur bestimmten öffentlichen
Ordnung und Ruhe die entsprechenden Maßregeln treffen muß.

Ichmenjeff stürzte, mit dem Brief in der Hand, sofort zum Fürsten. Der
Fürst war wieder nicht zu Haus; dem Alten gelang es aber durch den
Lakaien zu erfahren, daß der Fürst sich beim Grafen N. befinde. Ohne
sich zu besinnen, begab er sich sofort zum Grafen. Der Portier des
Grafen hielt ihn zurück, als er auf die Treppe hinaufsteigen wollte. Der
alte Ichmenjeff geriet in Wut und schlug mit dem Stock um sich ... Man
ergriff ihn sofort und übergab ihn der Polizei. Der Vorfall wurde dem
Grafen sofort gemeldet. Als nun der anwesende Fürst dem alten Wüstling
von Grafen mitteilte, daß der alte Ichmenjeff der Vater der Natalja
Nikolajewna sei, so begann der Graf zu lachen und sein Zorn wandelte
sich in Milde: er befahl Ichmenjeff sofort zu befreien; doch geschah das
erst in drei Tagen, wobei man (wohl auf Befehl des Fürsten) Ichmenjeff
mitteilte, daß der Fürst selbst den Grafen um Nachsicht für ihn gebeten.

Halb wahnsinnig nach Hause zurückgekehrt, warf sich der Alte aufs Bett
und lag eine ganze Stunde bewegungslos; endlich erhob er sich, und
erklärte feierlich zum Schrecken Anna Andrejewnas, daß er seine Tochter
auf immer und ewig verfluche!

Anna Andrejewna verlor fast ihre letzte Besinnung; zum Glück mußte für
den Alten gesorgt werden. Die ganze Nacht wachte sie an seinem Bette,
machte ihm Eiskompressen, und konnte daher über ihr Unglück weiter nicht
nachdenken. Er lag im Fieber und phantasierte. Ich verließ sie um drei
Uhr nachts. Am nächsten Morgen stand Ichmenjeff auf und kam zu mir wegen
Nelly. Von der Szene zwischen Nelly und ihm habe ich bereits erzählt;
diese Szene erschütterte ihn endgültig. Nach Hause zurückgekehrt, legte
er sich wieder zu Bett. Das geschah am Karfreitag, an dem Tage, an
welchem die Begegnung zwischen Katjä und Natascha stattfinden sollte, am
Tage vor Aljoschas Abfahrt aus Petersburg. Bei dieser Begegnung war ich
zugegen. Das war am Morgen von Nellys erstem Fluchtversuch.


                                  VI.

Aljoscha war eine Stunde vor der Begegnung zu Natascha gekommen, ich kam
gerade in dem Augenblicke, als Katjäs Equipage vor dem Haustor hielt.
Katjä erschien mit der alten Französin, die nach langem Zögern endlich
eingewilligt hatte, sie zu begleiten und ihr sogar erlaubt hatte, allein
den Besuch bei Natascha zu machen, unter der Bedingung, daß Aljoscha
zugegen sein würde. Katjä rief mich zu sich an die Equipage, als sie
mich erblickte, und bat mich, Aljoscha zu ihr zu senden. Ich traf oben
Natascha und Aljoscha in Tränen an: beide weinten. Als Natascha hörte,
daß Katjä gekommen sei, erhob sie sich, wischte sich die Tränen ab und
stellte sich in Erwartung der Tür gegenüber. Gekleidet war sie diesen
Morgen ganz in weiß. Ihre dunkelbraunen Haare waren glatt zurückgekämmt
und hinten im Nacken zu einem dichten Knoten verschlungen. In dieser
Frisur liebte ich sie am meisten. Als sie sah, daß ich beabsichtigte,
bei ihr zu bleiben, bat sie mich auch, den Gästen entgegenzugehen.

„Erst jetzt war es mir möglich, meine Absicht auszuführen, und Natascha
aufzusuchen,“ sagte Katjä zu mir, als wir die Treppe hinaufstiegen, „so
sehr hat man auf mich aufgepaßt, ... es war schrecklich! Mme. Albert
habe ich ganze zwei Wochen bereden müssen, bis sie endlich einwilligte.
Und Sie, und Sie, Iwan Petrowitsch, sind kein einziges Mal zu mir
gekommen! Schreiben konnte ich Ihnen auch nicht und es fehlte mir auch
die Lust dazu, denn im Brief kann man ja doch nicht alles sagen. Und wie
gern hätte ich sie gesprochen ... Mein Gott, wie mir jetzt das Herz
klopft ...“

„Die Treppe ist so steil,“ bemerkte ich.

„Nun, ja ... die Treppe ... Doch, was glauben Sie: wird Natascha mir
zürnen?“

„Nein, weshalb?“

„Nun, ja ... freilich, weshalb; ich werde es ja gleich selbst erfahren;
wozu frage ich Sie noch?“ ...

Ich führte sie am Arme hinauf. Sie war bleich und schien sich sehr zu
fürchten. Auf dem letzten Treppenabsatz blieb sie stehen um Atem zu
schöpfen, dann aber stieg sie, mit einem bedeutsamen Blick auf mich,
entschlossen die letzten Stufen hinauf.

Vor der Tür blieb sie noch einmal stehen und flüsterte mir zu: „ich
werde einfach hineingehen und ihr sagen, daß ich so an sie geglaubt
habe, ohne etwa befürchten zu müssen ... Übrigens, was sage ich, ich bin
doch überzeugt, daß Natascha das edelste Geschöpf ist, das es gibt.
Nicht wahr?“

Sie trat schüchtern wie eine Schuldbewußte ein und sah Natascha starr
an, die ihr zulächelte. Da trat Katjä sofort auf sie zu, ergriff ihre
beiden Hände und küßte sie auf die Lippen. Darauf wandte sie sich, ohne
Natascha ein Wort gesagt zu haben, ernst und streng an Aljoscha und bat
ihn, sie auf eine halbe Stunde allein zu lassen.

„Du, Aljoscha, sei deshalb nicht böse,“ fügte sie hinzu, „ich wünsche es
darum, weil ich mit Natascha über viele ernste und wichtige Dinge zu
reden habe, die du nicht hören sollst. Sei vernünftig, und gehe. Sie
aber, Iwan Petrowitsch, bleiben hier. Sie müssen bei unserem Gespräch
zugegen sein.“

„Setzen wir uns,“ sagte Katjä, als Aljoscha fort war, „so, ich setze
mich Ihnen gegenüber. Ich möchte Sie zuerst ein wenig ansehen.“

Sie setzte sich Natascha gegenüber und betrachtete sie stumm. Natascha
mußte unwillkürlich lächeln.

„Ich kenne Ihre Photographie,“ sagte Katjä, „Aljoscha hat sie mir
gezeigt.“

„Ist sie ähnlich?“

„Sie sind schöner,“ sagte Katjä ernst und bestimmt. „Ich wußte es, daß
Sie schöner sind.“

„Und ich freue mich über Sie, wie reizend Sie sind!“

„Was Sie sagen! reden Sie nicht von mir, meine Liebe!“ fügte Katjä
hinzu, und ergriff mit zitternden Händen Nataschas Hand, und wieder
schwiegen sie und sahen sich gegenseitig an. „Sehen Sie, Natascha,“
unterbrach Katjä das Schweigen, „wir haben nur eine halbe Stunde für
uns; Madame Albert wollte mir kaum diese halbe Stunde schenken, – und
ich habe viel mit Ihnen zu reden ... Ich will ... ich muß ... Sie
einfach fragen: lieben Sie Aljoscha sehr?“

„Ja, sehr.“

„Wenn das so ist ... wenn Sie ihn sehr lieben ... so ... müssen Sie auch
sein Glück wünschen ...“ fügte sie leise schüchtern hinzu.

„Ja, ich wünsche es, daß er glücklich würde.“

„So ist’s ... doch jetzt die Frage: kann ich sein Glück ausmachen? Habe
ich das Recht so zu sprechen, denn ich nehme Ihnen Aljoscha. Wenn es
Ihnen scheint, und wir wollen das jetzt entscheiden, daß er mit Ihnen
glücklicher wird, als, als ... so ...“

„Das ist bereits entschieden, liebe Katjä, Sie selbst wissen es doch,
daß alles entschieden,“ antwortete Natascha und neigte ihr Haupt. Es
fiel ihr offenbar schwer, das Gespräch weiterzuführen.

Katjä hatte wahrscheinlich eine lange Auslegung über dieses Thema
vorbereitet: wer Aljoschas Glück ausmachte und wer von ihnen ihn der
anderen abtreten sollte? Doch durch Nataschas Antwort begriff sie
sofort, daß alles beschlossen und kein Wort mehr zu verlieren sei. Ihre
reizenden Lippen halb geöffnet, sah sie traurig Natascha an, deren Hand
sie immer noch in der ihren hielt.

„Und Sie, Sie lieben ihn sehr?“ fragte Natascha sie plötzlich.

„Ja; und ich wollte Sie auch darum fragen und bin deshalb
hierhergekommen, um zu erfahren, warum Sie ihn lieben?“

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Natascha, in ihrer Antwort lag ein
Ausdruck gewisser Ungeduld.

„Halten Sie ihn für klug?“ fragte Katjä.

„Nein, ich liebe ihn einfach ...“

„Und ich auch. Er tut mir scheinbar immer so leid.“

„Und mir auch,“ antwortete Natascha.

„Was soll man jetzt mit ihm beginnen! Und wie konnte er Sie um
meinetwillen verlassen, ich begreife es nicht!“ rief Katjä aus. „Jetzt,
wo ich Sie gesehen habe, kann ich es nicht verstehen!“

Natascha antwortete nicht und sah zu Boden. Auch Katjä verstummte und
plötzlich erhob sie sich und umarmte sie zärtlich. Sich umarmt haltend,
weinten sie miteinander. Katjä setzte sich auf den Arm des Lehnstuhls
und hielt Natascha fest umschlungen, ihr die Hände küssend.

„Wenn Sie wüßten, wie sehr ich Sie liebe!“ sagte sie in Tränen
aufgelöst. „Wir wollen Schwestern bleiben und uns schreiben ... ich
werde Sie ewig lieben, ewig ...“

„Hat er Ihnen von unserer Hochzeit im Juni gesprochen?“ fragte sie
Natascha.

„Ja, er hat gesagt, daß Sie dareinwilligen. Das ist doch alles nur so,
um ihn zu beruhigen, nicht wahr?“

„Natürlich.“

„So habe ich es auch aufgefaßt. Ich werde ihn sehr lieben, Natascha, und
Ihnen von ihm schreiben. Wahrscheinlich wird man uns bald verheiraten;
so scheint es wenigstens. Sie sprechen alle davon. Liebe Natascha, Sie
werden doch jetzt zu Ihren Eltern gehen?“

Natascha antwortete nicht, sondern küßte sie schweigend.

„Werden Sie glücklich!“ sagte sie.

„Und ... Sie ... Sie auch,“ erwiderte Katjä.

In dem Augenblicke öffnete sich die Tür und Aljoscha trat ein. Er war
nicht imstande, die halbe Stunde abzuwarten und als er sie jetzt umarmt
und in Tränen sah, stürzte er ihnen beiden zu Füßen.

„Warum weinst denn du?“ fragte ihn Natascha. „Wir werden doch nicht auf
lange getrennt sein? Zum Juni kommst du doch wieder?“

„Und dann wird eure Hochzeit sein,“ beeilte sich auch Katjä ihn zu
trösten.

„Doch, ich kann nicht, ich kann dich nicht auf einen Tag verlassen,
Natascha. Ich muß ohne dich sterben ... Du weißt nicht, wie teuer du mir
jetzt bist! Gerade jetzt! ...“

„Nun, mache es doch so,“ sagte plötzlich belebt Natascha, „die Gräfin
bleibt doch längere Zeit in Moskau?“

„Ja, fast eine Woche,“ bestätigte Katjä.

„Eine Woche! Was wäre denn besser: du begleitest sie morgen nach Moskau,
bleibst dort einen Tag und kommst hierher zurück. Wenn sie Moskau
verlassen, fährst du wieder hin und begleitest sie auf einen Monat aufs
Land.“

„So, so ist’s ... Sie werden immerhin noch vier Tage zusammen sein!“
rief Katjä entzückt, mit einem vielsagenden Blick auf Natascha.

Das Entzücken Aljoschas über dieses neue Projekt läßt sich gar nicht
beschreiben. Er schien plötzlich vollkommen beruhigt; sein Gesicht
strahlte, er umarmte Natascha, küßte Katjä die Hand, umarmte mich.
Natascha sah ihn mit traurigem Lächeln an, doch Katjä konnte sich kaum
mehr beherrschen. Sie warf mir einen heißen, zornigen Blick zu, umarmte
Natascha, erhob sich vom Stuhl um aufzubrechen. In dem Augenblick
erschien auch schon der Diener mit der Meldung, daß die halbe Stunde
vorüber sei.

Natascha erhob sich. Beide standen sich jetzt gegenüber und sahen sich
mit einem Blick an, der ihre ganze Seele ausdrücken sollte.

„Wir werden uns niemals wiedersehen,“ sagte Katjä.

„Niemals mehr,“ antwortete Natascha.

„Dann leben Sie wohl.“

Sie umarmten sich.

„Fluchen Sie mir nicht,“ flüsterte ihr eilig noch Katjä zu, „ich werde
immer ... seien Sie überzeugt ... er wird glücklich ... Komm, Aljoscha,
begleite mich!“ stieß sie eilig hervor und faßte ihn an der Hand.

„Wanjä!“ wandte sich Natascha an mich, ganz erschöpft, als sie gegangen,
„folge auch du ihnen ... Aljoscha wird bis zum Abend bei mir sein, bis
acht Uhr; länger kann er nicht, dann muß er gehen. Ich bleibe dann
allein ... Komme gegen zehn Uhr. Bitte!“

Als ich um neun Uhr Nelly (nach der zerschlagenen Tasse) mit Alexandra
Ssemjonowna allein ließ, ging ich zu Natascha, die bereits ungeduldig
auf mich wartete. Mawra gab den Tee; Natascha schenkte mir eine Tasse
ein, setzte sich auf den Diwan und ich mußte mich neben sie setzen.

„Nun ist alles, alles aus!“ sagte sie mit einem Blick auf mich, den ich
nie vergessen werde.

„Ein halbes Jahr der Liebe ... für ein ganzes Leben,“ fügte sie hinzu
und preßte meine Hand.

Ihre Hände brannten. Ich fing an sie zu bereden, sich warm einzuhüllen
und zu Bett zu legen.

„Sofort, Wanjä, sofort. Laß mich nur reden und mich an alles dies
erinnern ... Ich bin wie zerschlagen ... Morgen sehe ich ihn zum letzten
Male, um zehn Uhr ... zum letzten Mal!“

„Natascha, du bist wie im Fieber, gleich wird dich der Schüttelfrost
packen; habe Mitleid mit dir ...“

„Was glaubst du, Wanjä? Ich habe hier auf dich seit einer halben Stunde
gewartet und ich fragte mich, als er fortgegangen war – fragte mich:
liebe ich ihn, oder liebe ich ihn nicht, und was war das eigentlich für
eine Liebe? Dir wird das wohl sonderbar vorkommen, Wanjä, daß es von mir
erst jetzt geschah?“

„Rege dich nicht auf, Natascha ...“

„Siehst du, Wanjä, ich glaube, daß ich ihn nicht so geliebt habe, wie
eine gewöhnliche Frau einen Mann liebt. Ich liebte ihn fast ... wie eine
Mutter. Ich glaube, daß es auf der Welt gar keine solche Liebe gibt, wo
sich gegenseitig beide ganz gleich lieben, ah? Wie denkst du?“

In banger Unruhe beobachtete ich sie und befürchtete einen
Fieberausbruch. Sie schien sich einem sonderbaren Gefühl hinzugeben,
einem Bedürfnis, zu reden; oft ganz unzusammenhängende Worte, die ich
kaum verstehen konnte. Ich fürchtete sehr für sie.

„Er war mein,“ fuhr sie fort. „Gleich von der ersten Begegnung an,
tauchte in mir der unbezwingliche Wunsch auf, daß er mein sei, ganz
mein, und daß er niemanden kennen, niemanden sehen müßte, als nur mich
... Katjä hatte ganz recht vorhin, als sie sagte; ich habe ihn die ganze
Zeit mit einer Liebe geliebt, als ob er mir leid täte ... Immer hatte
ich den unbezwinglichen Wunsch, ja die Qual, wenn ich allein blieb, daß
er unendlich und ewig glücklich sein müsse. Ich konnte sein Gesicht
nicht ruhig ansehen. (Du kennst doch den Ausdruck seines Gesichtes,
Wanjä): einen solchen Ausdruck _gibt es nicht_ noch einmal, und wenn er
lachte, so lief mir ein kalter Schauer über den Rücken ... Das ist wahr!
...“

„Natascha, höre mich an ...“

„Alle sagten,“ unterbrach sie mich, „und übrigens auch du hast es
gesagt, daß er charakterlos und ... sein Verstand der eines Kindes sei.
Nun, und, das war es, was ich am meisten an ihm liebte ... glaubst du es
mir? Ich weiß nicht, ob ich ihn gerade nur darum liebte: kurz, ich
liebte ihn einfach so wie er war und wäre er anders gewesen, so hätte
ich ihn vielleicht gar nicht so lieb gehabt. Weißt du, Wanjä, ich muß
dir noch eines gestehen; erinnerst du dich, vor drei Monaten hatten wir
einen großen Streit, damals, als er mit seinen Kameraden bei dieser
Minna gewesen war ... Als ich es erfahren, glaubst du mir, tat es mir
sehr weh, zugleich war es aber so angenehm, daß er sich vor mir schuldig
fühlte, und ich das Gefühl hatte, daß er sich wie ein Erwachsener
aufgeführt und mit anderen Männern zu schönen Frauen gefahren! Und dann,
welch ein Entzücken, ihm vergeben zu können ... oh, Lieber!“

Sie sah mir ins Gesicht und lächelte so sonderbar. Darauf verfiel sie in
tiefes, tiefes Nachdenken. Und lange saß sie da, mit diesem Lächeln auf
den Lippen und dachte an Vergangenes.

„Ich liebte es unendlich, ihm zu vergeben, Wanjä,“ fuhr sie fort. „Wenn
er mich allein ließ und ich im Zimmer auf und ab ging, weinte und mich
quälte, dann dachte ich immer: je schuldiger er vor mir sein wird, um so
besser ... Ja! Und weißt du: immer schien es mir, daß er ein kleiner
Junge sei: ich sitze da, er legt seinen Kopf auf meinen Schoß und
schläft ein, dann streiche ich ihm leise übers Haar ... Immer habe ich
ihn mir so vorgestellt, wenn er nicht bei mir war ... Weißt du, Wanjä,“
wandte sie sich plötzlich an mich, „wie reizend ist doch Katjä!“

Ich fühlte es, daß sie mit Absicht ihre Wunde aufriß, als fühlte sie ein
Bedürfnis – ein Bedürfnis, der Verzweiflung und des Leides ... Das
geschieht oft mit Herzen, die viel verloren haben!

„Wie es mir scheint, wird Katjä ihn glücklich machen,“ fuhr sie fort.
„Sie hat Charakter und spricht zu ihm so überzeugt, so ernst und
überlegen – und stets von hohen Dingen, wie eine Erwachsene. Und dabei
ist sie selbst – das reine Kind! Ein liebes, liebes Kind! Oh, möchten
sie glücklich sein!“

Tränen und Schluchzen erschütterten ihren Körper. Ganze anderthalb
Stunden konnte sie nicht zu sich kommen, sich irgendwie beruhigen.

Dieser Engel von Natascha! Und doch konnte sie noch an demselben Abend,
trotz ihres Kummers, Teilnahme für mich und meine Sorgen haben, als ich
ihr, um sie zu zerstreuen, von Nelly erzählte ... Wir trennten uns erst
spät abends, ich wartete bis sie eingeschlafen war und bat Mawra, als
ich fortging, heute nacht bei ihrer kranken Herrin zu wachen.

„Oh, schneller, schneller,“ dachte ich, als ich zu mir zurückkehrte,
„schneller ein Ende mit diesen Qualen! Einerlei wodurch, einerlei wie,
nur schneller, schneller!“

Um neun Uhr morgens war ich bereits wieder bei ihr. Zu gleicher Zeit mit
mir fand sich auch Aljoscha ein – um Abschied zu nehmen. Ich möchte
nicht von diesen Augenblicken sprechen, und nicht an sie denken.
Natascha wollte lustig und gleichgültig erscheinen, und konnte es nicht.
Sie umarmte Aljoscha krampfhaft. Sie sprach kein Wort mit ihm, sie sah
ihn nur ganz verstört an. Sie hörte gierig jedem seiner Worte zu und
schien doch nicht zu begreifen, was er zu ihr sprach. Ich weiß, er bat
sie, ihm zu vergeben, ihm und seiner Liebe alles das, womit er sie in
der letzten Zeit gekränkt, seine Untreue zu ihr und seine Liebe zu
Katjä, seine Abfahrt ... Er sprach zusammenhanglos, Tränen erstickten
seine Stimme. Dann versuchte er sie wieder zu beruhigen, sagte, daß er
nur auf einen Monat fortginge oder höchstens fünf Wochen, daß er im
Sommer wiederkomme und dann ihre Hochzeit sei, und daß der Vater
einwilligen würde, und schließlich, was die Hauptsache, daß er
übermorgen aus Moskau zurückkehre, um mit ihr noch vier Tage zusammen zu
verleben, also würden sie jetzt nur auf einen Tag getrennt sein ...

Sonderbar: wenn er fest davon überzeugt gewesen wäre, daß er die
Wahrheit sprach und übermorgen aus Moskau zurückkehrte, – warum weinte
er und quälte er sich so?

Endlich schlug die Uhr elf. Ich konnte ihn nur mit aller Gewalt bereden
aufzubrechen. Der Moskauer Schnellzug fuhr um Punkt zwölf Uhr ab. Es
blieb ihm nur noch eine Stunde. Natascha sagte mir später selbst, daß
sie sich der letzten Augenblicke nicht mehr entsinne. Sie bekreuzte ihn,
glaube ich, küßte ihn, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und lief
ins Zimmer zurück. Ich mußte Aljoscha zur Equipage führen, sonst wäre er
niemals fortgegangen.

„Meine ganze Hoffnung beruht auf Dir,“ sagte er mir beim Abschied.
„Freund Wanjä, ich bin niemals deiner Liebe würdig gewesen, doch bleibe
mir trotzdem ein Bruder; verlasse du sie nicht, schreibe mir alles
ausführlich über sie, so ausführlich, als nur möglich. Übermorgen werde
ich wieder da sein, bestimmt, bestimmt! Doch dann, wenn ich dann
fortfahre, dann schreibst du!“

Ich setzte ihn in den Wagen.

„Bis übermorgen!“ rief er mir noch zu, „bestimmt!“

Als ich mit bangem Herzen oben wieder Nataschas Zimmer betrat, stand sie
mitten im Zimmer, mit verkreuzten Armen und blickte mich so fremd an,
als erkenne sie mich nicht. Ihr Haar war in Unordnung; ihr Blick war
trübe und wie irrsinnig. Mawra stand an der Tür und sah sie angstvoll
an.

Plötzlich blitzten ihre Augen auf.

„Ah! Du bist es! Du!“ schrie sie mich an, „Du allein bist geblieben. Du
mochtest ihn nicht! Du hast es ihm nie verzeihen können, daß ich ihn
liebte ... Jetzt bist du wieder da! Wie? Bist wohl wieder mich beruhigen
gekommen, mich bereden, zum Vater zurückzukehren, der mich verflucht
hat. Das wußte ich bereits seit gestern, seit zwei Monaten! ... Ich will
nicht, will nicht! Ich selbst werde sie verfluchen! ... Geh fort, ich
will dich nicht sehen! Fort, fort!“

Ich verstand, daß sie außer sich war, und daß mein Anblick ihren Zorn
bis zur Raserei steigerte, ich begriff zugleich, daß es so kommen mußte
und beschloß, hinauszugehen. Ich setzte mich auf die erste Treppenstufe
und – wartete. Von Zeit zu Zeit öffnete ich die Tür und rief Mawra
hinaus, um sie auszufragen; Mawra weinte.

So vergingen anderthalb Stunden. Was ich in dieser Zeit durchlebt, ist
nicht wiederzugeben. Mein Herz erstarb in mir und tat mir zu gleicher
Zeit grenzenlos weh. Plötzlich öffnete sich die Tür und Natascha stürzte
in Hut und Mantel heraus. Sie war noch nicht zu sich gekommen und sie
gestand mir selbst später, daß sie nicht gewußt hätte, was sie
beabsichtigt, und wohin sie habe laufen wollen.

Ich konnte kaum von meinem Platze springen, um mich vor ihr zu
verbergen, als sie mich bereits gewahrte und wie angewurzelt vor mir
stehen blieb. „Es fiel mir plötzlich ein, daß ich Wahnsinnige,
Hartherzige, dich hatte fortschicken können, dich, meinen einzigen
Freund, meinen Bruder und Retter!“ erzählte sie mir später. „Und als ich
sah, daß du, den ich beleidigt, vor meiner Tür auf der Treppe sitzest
und wartest bis ich dich wieder rufe, Gott! – wenn du wüßtest, Wanjä,
was damals in mir vorging – als hätte man mir einen Dolch ins Herz
gestoßen ...“

„Wanjä, Wanjä,“ rief sie und streckte mir beide Hände entgegen. „Du
hier! ...“

Und sie fiel in meine Arme.

Ich hob sie auf und trug sie ins Zimmer. Sie war ohnmächtig. „Was tun?“
dachte ich. „Sie wird erkrankt sein, das ist sicher!“

Ich entschloß mich zum Doktor zu laufen; hier mußte sofort eingegriffen
werden. Ich konnte schnell zu ihm fahren, bis zwei Uhr war mein alter
Deutscher immer zu Hause. Ich eilte zu ihm, und befahl Mawra, Natascha
nicht eine Minute, nicht eine Sekunde, allein zu lassen, ihr auch jeden
Ausgang zu verweigern. Gott war mir gnädig: ein wenig später und ich
hätte meinen Alten nicht mehr zu Hause angetroffen. Er begegnete mir
bereits auf der Straße. Ich setzte ihn in die Droschke, so daß er kaum
zur Besinnung kam, und wir fuhren zurück zu Natascha.

Ja. Wirklich, Gott war mir gnädig! In der halben Stunde meiner
Abwesenheit hatte sich bei Natascha etwas zugetragen, das sie
vollständig hätte vernichten können, wenn ich nicht zur rechten Zeit mit
dem Doktor erschienen wäre. Eine viertel Stunde nach meiner Entfernung,
war der Fürst bei ihr erschienen. Er hatte die Seinen zur Bahn begleitet
und war direkt von da zu Natascha gekommen. Dieser Besuch war
wahrscheinlich eine längst beschlossene Sache für ihn gewesen. Natascha
erzählte mir selbst später, daß sie im ersten Augenblick gar nicht
erstaunt gewesen, als sie den Fürsten gesehen. „Mein Geist war
umnachtet,“ sagte sie.

Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie mit zärtlichen und mitleidigen
Blicken an.

„Meine Liebe,“ sagte er seufzend zu ihr, „ich verstehe Ihren Kummer; ich
wußte, wie schwer Ihnen dieser Augenblick fallen würde, darum hielt ich
es für meine Pflicht, Sie aufzusuchen. Trösten Sie sich, wenn Sie
können, wenigstens damit, daß Sie, indem Sie zurückgetreten sind,
Aljoscha den Weg zum Glück freigegeben haben. Doch werden Sie das besser
wissen als ich, denn Sie haben sich selbst zu diesem großmütigen Schritt
entschlossen ...“

„Ich saß da und hörte ihm zu,“ erzählte mir Natascha, „zuerst konnte ich
nicht begreifen, was er sagte. Ich habe ihn nur starr – starr angesehen.
Er ergriff meine Hand und drückte sie in der seinen. Das schien ihm sehr
angenehm zu sein. Ich war so geistesabwesend, daß ich es zuerst nicht
einmal bemerkte.“

„Sie haben verstanden,“ fuhr er fort, „daß, wenn Sie Aljoschas Frau
geworden wären, er Sie in der Folge vernachlässigt hätte, und Sie haben
so viel edlen Stolz ... doch, ich bin nicht gekommen, um Sie zu loben.
Ich wollte Ihnen nur versichern, daß Sie in niemandem und niemals einen
so guten Freund finden werden, als in mir. Ich fühle mit Ihnen und
bedaure Sie. Ich habe in dieser ganzen Angelegenheit sehr Teil an Ihnen
genommen, doch – meine Pflicht mußte ich erfüllen. Ihr vorzügliches Herz
wird das verstehen und sich mit dem meinen aussöhnen ... Mir fiel es
vielleicht schwerer als Ihnen; glauben Sie mir.“

„Genug Fürst,“ erwiderte ihm Natascha. „Lassen Sie mich endlich in Ruh.“

„Gewiß, ich werde Sie sofort verlassen, doch liebe ich Sie, wie meine
Tochter. Werden Sie es mir erlauben, Sie zu besuchen? Sehen Sie in mir
einen Vater und erlauben Sie mir, Ihnen nützlich zu sein.“

„Ich habe nichts nötig, wollen Sie mich bitte verlassen,“ antwortete ihm
wieder Natascha.

„Ich weiß, daß Sie stolz sind ... Doch spreche ich zu Ihnen aufrichtig,
von Herzen. Was beabsichtigen Sie jetzt zu tun? Werden Sie sich mit
Ihren Eltern versöhnen? Das wäre gewiß gut; doch Ihr Vater ist
ungerecht, stolz und ein Despot; verzeihen Sie mir, aber er ist es. In
Ihrem Hause werden Sie nur Vorwürfen und neuen Qualen begegnen ... Es
ist also nötig, daß Sie unabhängig bleiben und meine heilige Pflicht ist
es jetzt – für Sie zu sorgen und Ihnen zu helfen. Aljoscha hat mich
gebeten, Sie nicht zu verlassen und Ihnen ein Freund zu sein. Doch auch
außer mir gibt es Leute, die Ihnen sehr ergeben sind. Sie werden es mir
hoffentlich gestatten, daß ich Ihnen den Grafen N. vorstelle. Er ist ein
Verwandter von uns und mit seinem gütigen Herzen, man kann wohl sagen,
ein Wohltäter unserer Familie; er hat viel für Aljoscha getan. Aljoscha
hat ihn denn auch sehr geachtet und lieb gehabt. Er ist eine sehr hohe
Persönlichkeit, mit großem Einfluß, ein alter Mann, den Sie zu jeder
Zeit empfangen können. Er ist immer bereit, Ihnen, wenn Sie wollen, bei
einer seiner Verwandten, eine vorzügliche Stellung verschaffen. Ich habe
ihm bereits vor längerer Zeit von Ihnen erzählt und er interessiert sich
so sehr für Sie, daß er den Wunsch ausgesprochen hat, Ihnen so bald als
möglich vorgestellt zu werden ... Glauben Sie mir, er ist ein
freigebiger, ehrenwerter, alter Herr, der das Schöne zu schätzen weiß,
der noch unlängst sich Ihrem Vater gegenüber aufs edelste benommen, in
einer Geschichte, die ...“

Natascha fuhr tief gekränkt auf, jetzt hatte sie ihn verstanden.

„Verlassen Sie mich, verlassen Sie mich sofort!“ rief sie.

„Nun, meine Liebe, Sie vergessen sich wirklich: der Graf kann Ihnen und
besonders Ihrem Vater sehr nützlich sein ...“

„Mein Vater wird von Ihnen niemals etwas annehmen. Verlassen Sie mich,
bitte!“ rief nochmals Natascha.

„O, mein Gott, wie ungeduldig und mißtrauisch Sie sind! Wodurch habe ich
das verdient,“ erwiderte der Fürst etwas unsicher werdend. „Auf jeden
Fall, erlauben Sie mir,“ fuhr er fort, ein großes Papierpaket aus der
Tasche ziehend, „Ihnen als Beweis meiner Teilnahme für Sie und auch der
Teilnahme des Grafen N., der mit seinem Rat mir beigestanden, hier in
dem Paket zehntausend Rubel zu überreichen ... Warten Sie einen
Augenblick,“ fuhr er fort, als er sah, daß Natascha sich voll Zorn von
ihrem Platz erhoben hatte. „Hören Sie mich, bitte, geduldig an, Sie
wissen, daß Ihr Vater dieses Geld an mich verloren hat, und diese
zehntausend Rubel sollen jetzt zur Belohnung ...“

„Fort!“ schrie Natascha außer sich, „fort mit diesem Gelde! Ich
durchschaue Sie ganz. – Sie niedriger, gemeiner Mensch!“

Bleich vor Wut erhob sich der Fürst von seinem Stuhl.

Aller Wahrscheinlichkeit nach war er zu Natascha gekommen, um etwas über
ihre jetzige Lage zu erfahren. Auch glaubte er fest daran, dieser armen
und von allen verlassenen Natascha dieses Angebot von zehntausend Rubel
machen zu dürfen. Niedrig und gemein wie er war, hatte er des öfteren
dem alten Lüstling Graf N. einen ähnlichen Dienst erwiesen. Er selbst
haßte Natascha und als er nun sah, daß er sich in der Sache verrechnet
hatte, so wollte er die Gelegenheit nicht unbenützt vorüber lassen, ohne
sie tödlich zu beleidigen.

„Das ist durchaus nicht angebracht, meine Liebe, daß Sie sich darüber so
empören,“ brachte er mit vor Erregung zitternder Stimme vor, in der die
ganze Ungeduld der Erwartung lag, den Effekt seiner Beleidigung so bald
als möglich zu erleben; „man bietet Ihnen Schutz an, Sie aber rümpfen
das Näschen ... Sie scheinen es nicht zu wissen, wie dankbar Sie mir zu
sein haben, denn ich hätte Sie schon längst in eine Korrektionsanstalt
bringen können – als Vater eines von Ihnen verführten Sohnes, den Sie
ausgenützt haben – und ich habe es nicht getan ... he, he, he!“

Doch in dem Augenblick waren wir schon in der Wohnung. Ich hatte bereits
in der Küche die Stimme des Fürsten erkannt, ich ließ den Doktor stehen,
stürzte ins Zimmer und war Zeuge seiner letzten Worte. Er brach in ein
widerliches Gelächter aus, worauf ich Natascha „Oh, mein Gott!“ ausrufen
hörte. In dem Augenblick stürzte ich mich bereits auf ihn.

Ich spie ihm ins Gesicht, ich schlug ihm ins Gesicht. Er wollte sich auf
mich stürzen, als er aber bemerkte, daß wir zwei waren, griff er schnell
nach seinem Geldpaket und lief hinaus. Unterdessen war der Doktor
Natascha zu Hilfe geeilt, die außer sich wie in einem Anfall um sich
schlug. Lange konnten wir sie nicht beruhigen: endlich aber gelang es
uns, sie zu Bett zu legen.

„Doktor! Was fehlt ihr?“ wandte ich mich in meiner Angst an ihn.

„Das muß man erst abwarten,“ antwortete er mir, „noch kann ich nichts
Näheres bestimmen. Das kann mit einem Nervenfieber enden ... Man muß
Maßnahmen treffen ...“

In mir blitzte ein neuer Gedanke auf. Ich flehte den Doktor an, zwei bis
drei Stunden bei Natascha zu verweilen, sie auf keinen Augenblick zu
verlassen. Er gab mir sein Wort und ich lief zu mir nach Haus.

Nelly saß finster und erregt in der Ecke des Zimmers und sah mich
verwundert an. Ich muß wohl sehr sonderbar ausgesehen haben.

Ich ergriff ihre Hand, setzte mich auf den Diwan, hob sie auf meine Knie
und küßte sie heiß und zärtlich. Sie errötete.

„Nelly, mein Engel!“ sagte ich zu ihr. „Willst du unser aller Retter
sein?“

Sie sah mich verwundert an.

„Nelly! Meine ganze Hoffnung ruht auf dir! Es gibt einen Vater: Du
kennst ihn; er hat seine Tochter verflucht und gestern kam er her, um
dich an Kindesstatt anzunehmen. Jetzt hat der, den Natascha liebte, und
um dessentwillen sie von ihrem Vater gegangen war, sie verlassen. Er ist
der Sohn dieses Fürsten, der, du erinnerst dich doch, an einem Abend
hier war, und dich nur allein antraf; du aber warst von ihm fortgelaufen
und nachher davon erkrankt ... Du kennst ihn doch? Er ist ein böser
Mensch!“

„Ich weiß,“ antwortete Nelly und zuckte zusammen.

„Ja, er ist ein böser Mensch. Er haßte Natascha, weil sein Sohn Aljoscha
sie heiraten wollte. Heute ist Aljoscha fortgefahren und eine Stunde
nachher kam der Fürst zu ihr, beleidigte sie und drohte ihr mit der
Korrektionsanstalt und verspottete sie. Kannst du mich verstehen,
Nelly?“

Ihre dunkeln Augen blitzten, doch senkte sie sie schnell zu Boden.

„Ich verstehe,“ flüsterte sie kaum hörbar.

„Jetzt ist Natascha krank und allein; ich habe unseren Doktor bei ihr
gelassen und bin schnell zu dir gelaufen. Höre mich an, Nelly: gehen wir
beide zu Nataschas Eltern; du liebst ihren Vater nicht, du wolltest
nicht zu ihm, doch jetzt, mit mir zusammen mußt du es tun. Wir treten
zusammen ein, und ich sage, daß du willig bist, die Stelle Nataschas bei
ihm einzunehmen. Der Alte ist jetzt krank, weil er Natascha verflucht,
und der Vater Aljoschas ihn vor ein paar Tagen tödlich beleidigt hat. Er
will jetzt nichts von seiner Tochter wissen, doch er liebt sie, liebt
sie, Nelly, und möchte sich mit ihr aussöhnen; ich weiß es, ich weiß es
alles! Es ist so! ... Hörst du, Nelly?“ ...

„Ich höre,“ sagte sie mit demselben Flüsterton.

Ich sprach zu ihr mit tränenerstickter Stimme. Sie sah mich scheu an.

„Glaubst du daran?“

„Ich glaube.“

„Nun, dann komm mit mir! Man wird dich freundlich empfangen und dich
nach allem ausfragen. Ich werde dann das Gespräch auf deine Mutter und
deinen Großvater lenken. Du erzählst ihnen alles, Nelly, wie du es mir
erzählt hast. Erzähle ihnen, wie dieser böse Mensch deine Mutter
verlassen hat, wie sie in der Kellerwohnung bei der Bubnowa gestorben,
wie du mit deiner Mutter in den Straßen gebettelt hast; was sie dir
gesagt, und um was sie dich gebeten, als sie starb ... Bei der
Gelegenheit erzähle auch von deinem Großvater, wie er deiner Mutter
nicht verzeihen wollte, und wie sie dich in ihrer Sterbestunde zu ihm
schickte, damit er ihr Verzeihung gewähre, wie er es ihr verweigerte und
wie sie dann allein gestorben. Alles, alles erzähle! Durch deine
Erzählung wird das Gewissen des Alten aufgerüttelt werden. Denn er weiß,
daß heute Aljoscha sie verlassen, daß sie beleidigt und beschimpft
allein ohne Hilfe und Schutz zurückgeblieben, ihrem Feinde preisgegeben
ist. Er weiß das alles ... Nelly, rette Natascha! Willst du es tun?“

„Ja,“ antwortete sie, schwer atmend und mich mit einem so sonderbaren
Blick starr ansehend; es lag ein stummer Vorwurf in diesem Blick, ich
fühlte es wohl in meinem Herzen.

Doch konnte ich mich von dem Gedanken nicht mehr trennen. Ich glaubte zu
sehr an ihn. Ich faßte Nelly an der Hand und wir gingen hinaus. In der
letzten Zeit war das Wetter so drückend und schwül gewesen, man hörte in
der Ferne jetzt den ersten Donner. Eine dunkle Wolke zog auf und der
Wind wirbelte den Staub hoch auf in den Straßen. Es war drei Uhr
nachmittags.

Wir nahmen eine Droschke. Auf dem ganzen Wege schwieg Nelly, nur von
Zeit zu Zeit sah sie mich mit ihrem sonderbaren, rätselhaften Blick an.
Ihre Brust hob und senkte sich, ich fühlte wie in ihrer kleinen
Handfläche ihr Herzchen schlug, als wollte es herausspringen.


                                  VII.

Der Weg schien mir endlos lang. Endlich kamen wir an und mit beklommenem
Herzen trat ich zu den Alten ins Zimmer. Ich wußte nicht, mit welchen
Gefühlen ich sie wieder verlassen würde, doch eines stand fest, nicht
ohne Versöhnung und Frieden für uns alle erlangt zu haben.

Es war bereits vier Uhr geworden. Die Alten saßen allein, wie
gewöhnlich. Nikolai Ssergejewitsch fühlte sich immer noch sehr schwach
und lag bleich in seinem Lehnstuhl mit verbundenem Kopf. Anna Andrejewna
saß neben ihm und sah ihn hin und wieder mit fragenden und besorgten
Blicken an, was den Alten jedoch sehr zu beunruhigen und zu ärgern
schien. Er schwieg hartnäckig und sie wagte das Schweigen nicht zu
brechen. Unser plötzliches Erscheinen setzte sie beide in Erstaunen.
Anna Andrejewna schien sogar zu erschrecken als sie mich mit Nelly
erblickte, und in dem ersten Augenblick uns gegenüber fast so etwas wie
Schuldbewußtsein zu haben.

„Ich habe Ihnen da meine Nelly mitgebracht,“ sagte ich eintretend. „Sie
hat sich bedacht und selbst eingewilligt zu Ihnen zu kommen. Nehmen Sie
sie und haben Sie sie lieb ...“

Der Alte sah mich mißtrauisch an, ich erriet sofort, daß ihm bekannt,
daß Natascha jetzt verlassen, allein und erniedrigt dastehe. Er wollte
offenbar hinter das Geheimnis unseres Erscheinens kommen und sah mich,
wie Nelly, forschend an. Nelly zitterte und preßte meine Hand fest in
der ihren, sah zu Boden, und warf nur flüchtig hin und wieder ihren
Blick, schnell wie einen Pfeil über uns hin. Doch Anna Andrejewna besann
sich sofort und schien alles erraten zu haben: sie stürzte sich auf
Nelly, küßte und streichelte sie, fing sogar an zu weinen, setzte sie
neben sich und ließ ihre kleinen Hände nicht aus den ihrigen. Nelly sah
sie mit Neugier und Verwunderung von der Seite an.

Nachdem die Alte Nelly gestreichelt und geliebkost hatte, wußte sie
nicht mehr, was nun weiter zu tun, und sah mich in naiver Erwartung
fragend an. Der Alte runzelte die Brauen, weil er wohl begriff, warum
ich Nelly hierhergebracht. Als er sah, daß ich seine unzufriedene Miene
und finstere Stirn bemerkt hatte, führte er die Hand zum Kopfe und sagte
mit abgerissener Stimme:

„Der Kopf tut mir weh, Wanjä.“

Wir saßen noch alle und schwiegen: ich dachte nach, wie beginnen. Im
Zimmer war es düster; die dunkle Wolke kam immer näher, man hörte das
ferne Rollen des Donners.

„So früh im Frühling schon ein Gewitter,“ bemerkte Ichmenjeff. „Ich
erinnere mich, im Jahre siebenunddreißig gab es bei uns in Ichmenjeffka
ebenfalls so früh im Jahr ein Gewitter.“

Anna Andrejewna seufzte.

„Sollte man nicht den Samowar aufstellen?“ fragte sie schüchtern; doch
niemand antwortete ihr, und sie wandte sich daher wieder an Nelly. „Wie
heißt du, mein Täubchen?“ fragte sie sie.

„Nelly,“ sagte sie mit ihrem schwachen Stimmchen und senkte das Köpfchen
noch tiefer. Der Alte sah sie forschend an.

„Das heißt Helene, nicht?“ fügte Anna Andrejewna aufmunternd hinzu.

„Ja,“ antwortete Nelly.

Und wieder folgte minutenlanges Schweigen.

„Bei der Schwester Praßkoffja Andrejewna hieß die Kleine auch Helene,“
bemerkte Nikolai Ssergejewitsch, „man rief sie Nelly.“

„Du hast, mein Täubchen, keinen Vater, keine Mutter mehr?“ fragte wieder
Anna Andrejewna.

„Nein,“ flüsterte Nelly scheu und kurz.

„Das habe ich gehört, das habe ich gehört. Und ist deine Mutter schon
lange tot?“

„Nicht lange.“

„Ach, du mein armes Kind,“ fuhr Anna Andrejewna fort, sie mitleidig
betrachtend.

Nikolai Ssergejewitsch trommelte ungeduldig mit seinen Fingerspitzen auf
den Tisch.

„Deine Mutter war eine Ausländerin, nicht? So erzählten Sie doch, Iwan
Petrowitsch?“ setzte scheu die Alte ihre Fragen fort.

Nelly sah mich mit ihren dunklen Augen flüchtig an, als riefe sie mich
zu Hilfe. Sie atmete schwer und unregelmäßig.

„Ihre Mutter, Anna Andrejewna,“ begann ich, „war die Tochter eines
Engländers und einer Russin, so daß sie noch eher Russin war; Nelly ist
im Auslande geboren.“

„Warum ist denn ihre Mutter mit ihrem Gatten ins Ausland gefahren?“

Nelly wurde plötzlich feuerrot. Anna Andrejewna begriff sofort, daß sie
zu weit gegangen und zuckte unter dem strafenden Blick des Alten
zusammen. Er sah sie streng an und wandte sich dann ab zum Fenster.

„Ihre Mutter ist von einem nichtswürdigen Menschen betrogen worden,“
wandte er sich plötzlich an Anna Andrejewna. „Sie hatte mit ihm den
Vater verlassen und das Geld des Vaters ihm übergeben; er aber brachte
sie ins Ausland, betrog sie um das Geld und verließ sie. Ein guter
Freund von ihr hat ihr dann bis zu seinem Tode geholfen. Als er
gestorben war, kehrte sie zwei Jahre nach seinem Tode zum Vater zurück.
War es so, Wanjä?“ fragte er mich barsch.

Nelly hatte sich in höchster Erregung von ihrem Platze erhoben und
wollte zur Tür gehen.

„Komm her, Nelly,“ sagte der Alte, ihr endlich die Hand reichend, „setze
dich hierher, neben mich, so!“

Er beugte sich über sie, küßte sie auf die Stirn und strich ihr leise
übers Haar. Nelly erzitterte am ganzen Körper, doch beherrschte sie
sich. Anna Andrejewna sah mit Rührung und freudiger Hoffnung zu, wie
Nikolai Ssergejewitsch endlich die Kleine an sein Herz schloß.

„Ich weiß, Nelly, daß ein gemeiner und sittenloser Mensch deine Mutter
zugrunde gerichtet hat, aber ich weiß auch, daß sie ihren Vater geliebt
und geachtet hat,“ sagte erregt Nikolai Ssergejewitsch und fuhr fort
Nellys Köpfchen zu streicheln. Er konnte sich nicht versagen, diese
Herausforderung an uns zu richten. Seine bleichen Wangen röteten sich
und er vermied es, uns anzusehen.

„Mama liebte Großpapa mehr als Großpapa sie liebte,“ sagte Nelly mit
fester Stimme und bemühte sich ebenfalls niemanden anzusehen.

„Woher weißt du denn das?“ fragte sie der Alte heftig und ungeduldig wie
ein Kind.

„Ich weiß es,“ antwortete ihm kurz angebunden Nelly. „Er hat Mama nicht
zu sich genommen ... er hat sie von sich gestoßen ...“

Ich sah, wie Nikolai Ssergejewitsch etwas antworten wollte, zum
Beispiel, daß der Alte das volle Recht gehabt es zu tun, doch er sah uns
an und schwieg.

„Wie das, wo habt ihr denn gewohnt, wenn der Großpapa euch nicht
aufnahm?“ fragte Anna Andrejewna, die plötzlich den Eigensinn zu haben
schien, dieses Thema weiter fortzusetzen.

„Als wir hier ankamen, haben wir lange nach Großpapa gesucht,“
antwortete Nelly, „doch konnten wir ihn nicht finden. Mama erzählte mir
damals, daß Großpapa früher sehr reich gewesen sei und eine Fabrik habe
bauen wollen, und daß er jetzt ganz arm geworden, weil derjenige, der
mit Mama ins Ausland fuhr, ihr das Geld fortgenommen und es ihr nicht
mehr zurückgegeben hat. Das hat mir Mama selbst erzählt.“

„Hm! ...“ brummte der Alte.

„Und sie sagte mir auch,“ fuhr Nelly fort, sich immer mehr und mehr
belebend und offenbar mit dem Wunsch, Nikolai Ssergejewitsch ihre
Aussage zu beweisen, obgleich sie sich an Anna Andrejewna wandte, „sie
sagte mir auch, daß Großpapa auf sie sehr böse gewesen und sie in allem
vor ihm schuldig sei und daß sie jetzt außer Großpapa keinen Menschen
mehr auf der Welt hätte. Als sie mir das erzählte, weinte sie, und sie
sagte mir bereits bevor wir hierher kamen, daß er ihr ‚nie verzeihen‘
wird, doch vielleicht würde er, wenn er mich sieht, mich lieb gewinnen,
und ihr um meinetwillen vergeben. Mama liebte mich sehr und küßte mich
immer, Großpapa aber fürchtete sie sehr. Sie lehrte mich, für Großpapa
zu beten und betete selbst für ihn und immer erzählte sie mir dann, wie
sie früher zusammen mit Großpapa gelebt und wie er sie lieb gehabt habe,
lieber als alles auf der Welt. Sie hat ihm vorgespielt und am Abend
vorgelesen und Großpapa hätte sie reich beschenkt ... Einmal habe er
sich zu Mamas Namenstag sehr geärgert, weil Mama gewußt, was für
Geschenke er ihr machen würde. Mama hatte sich Ohrringe gewünscht und
Großpapa hatte gesagt, daß sie keine bekommen würde. Als Mama am
Namenstage gar nicht verwundert war, daß er ihr doch die Ohrringe
geschenkt, hatte er sich sehr darüber geärgert ... nachher habe er sie
aber geküßt und sie selbst um Verzeihung gebeten ...“

Nelly hatte sich von ihrer eigenen Erzählung fortreißen lassen und ihre
bleichen, kranken Wangen hatten sich gerötet.

Ihre arme Mama schien der kleinen Nelly oft von ihren glücklichen Tagen
erzählt zu haben, als sie da unten in der Kellerwohnung saßen und sie
ihr Kind, das einzige Glück, das ihr geblieben, herzte und küßte und
dabei ihren Kummer ausweinte, ohne daran zu denken, welchen starken und
krankhaften Eindruck ihre Erzählungen auf das frühentwickelte Herzchen
ihres kleinen Kindes machen mußten.

Nelly schien sich plötzlich zu besinnen, sah sich mißtrauisch im Kreise
um und verstummte. Der Alte runzelte die Stirn und trommelte wieder auf
den Tisch; in Anna Andrejewnas Augen zeigte sich eine Träne, die sie
sich schweigend mit dem Taschentuche abtrocknete.

„Mama war sehr krank, als wir hierherkamen,“ fügte Nelly mit leiser
Stimme hinzu. „Sie hatte eine kranke Brust. Wir suchten Großpapa lange
und konnten ihn nicht finden. Da mieteten wir den Winkel im Keller.“

„Eine Kranke in einem Winkel!“ rief Anna Andrejewna entsetzt.

„Ja ... in einem Winkel ...“ antwortete Nelly. „Mama war sehr arm. Mama
hat mir gesagt,“ fügte sie lebhaft hinzu, „daß es keine Sünde sei arm zu
sein, daß es aber Sünde sei, reich zu sein und schlecht ... und daß Gott
sie gestraft habe.“

„Habt ihr euch gleich dort auf Wassilij-Ostroff eingemietet? Dort bei
der Bubnowa?“ fragte der Alte, an mich gewandt mit einer gewissen
Nachlässigkeit. Es genierte ihn offenbar so schweigend dazusitzen.

„Nein, nicht dort ... zuerst in der Meschtschanskaja,“ antwortete Nelly.
„Dort war es sehr feucht und dunkel,“ fuhr sie nach einigem Schweigen
fort „und Mama war wohl krank, doch konnte sie noch gehen. Ich wusch
ihre Wäsche, sie aber weinte. Da lebte eine alte Kapitanscha[6] und ein
verabschiedeter Beamter, der jede Nacht betrunken nach Hause kam und
dann schrie und schimpfte. Einmal wollte er die Kapitanscha schlagen,
die aber war alt und schwach. Mama tat sie leid und sie wollte sie
verteidigen; da schlug der Beamte Mama und ich wieder den Beamten ...“

Nelly hielt inne. Die Erinnerung übermannte sie, ihre Augen blitzten.

„Großer Gott!“ rief Anna Andrejewna, die ganz Ohr war und ihr Auge von
Nelly nicht abwenden konnte. Nelly wandte sich auch hauptsächlich an
sie.

„Da ging Mama fort und nahm mich mit,“ erzählte Nelly weiter. „Wir
gingen den ganzen Tag bis zum Abend in den Straßen herum, Mama ging und
weinte und führte mich an der Hand mit sich. Ich war sehr müde, wir
hatten den ganzen Tag nichts gegessen. Mama sprach die ganze Zeit zu mir
und sagte mir: ‚bleibe arm, Nelly, und wenn ich sterbe, so höre auf
niemanden und nichts. Bleibe allein, gehe zu niemanden, bleibe arm und
arbeite, und wenn du keine Arbeit findest, so bitte um Almosen, aber zu
ihnen gehe du nicht.‘ In der Dämmerstunde gingen wir durch eine große
hellerleuchtete Straße, als Mama plötzlich ausrief: ‚Asorka, Asorka!‘ Es
sprang ein großer Hund herbei, kam winselnd zu Mama und sprang vor
Freude an Mama hinauf, die bleich dastand und sich plötzlich vor einem
hohen alten Herrn, der sich auf einen Stock stützte und immer zur Erde
sah, auf die Knie warf. Und dieser hohe alte Mann im abgetragenen
Überzieher, das war Großpapa. Da habe ich ihn zum ersten Male gesehen.
Großpapa erschrak auch sehr und war ganz bleich, als er sah, wie Mama
vor ihm auf der Straße kniete, aber er stieß Mama zurück, machte sich
von ihr los, schlug mit dem Stock auf die Steine und ging schnell davon.
Asorka aber blieb noch bei uns, winselte vor Freude und beleckte Mama;
darauf lief er zu Großpapa, packte ihn an der Hose und zog und zerrte
ihn zurück, aber Großpapa schlug ihn mit seinem Stock. Asorka kam darauf
wieder zu uns gelaufen, bis Großpapa ihn fortrief, da lief er davon und
heulte noch immer. Mama aber lag da wie eine Tote, um uns versammelten
sich Leute, die Polizei kam herbei. Ich weinte und bemühte mich, Mama
aufzuheben. Sie erhob sich auch endlich, sah ganz verwundert um sich und
ging dann mit mir weiter. Ich führte sie nach Hause. Die Leute sahen uns
noch lange nach und schüttelten die Köpfe ...“

Nelly hielt inne und schöpfte tief Atem, dann raffte sie sich wieder
auf. Sie war sehr bleich, doch in ihrem Blick lag feste
Entschlossenheit. Sie hatte sich vorgenommen, wie es schien, alles zu
sagen. In ihr lag sogar etwas Herausforderndes in diesem Augenblick.

„Nun,“ bemerkte Nikolai Ssergejewitsch mit unsicherer Stimme, in
gereiztem Tone. „Nun, deine Mutter hatte ihren Vater beleidigt, und sie
hatte es verdient, daß er sich von ihr abwandte ...“

„Mütterchen hat es mir auch gesagt,“ versetzte Nelly plötzlich, „und als
wir nach Haus gingen, sagte sie immer: das ist dein Großpapa, Nelly, und
ich habe ihm großes Leid zugefügt, deshalb hat er mich auch verstoßen
und deshalb werde ich jetzt von Gott gestraft, und den ganzen Abend und
alle folgenden Tage sprach sie nur davon. Sie war ganz wie von Sinnen
...“

Der Alte schwieg.

„Aber wie kamt ihr denn später in die andere Wohnung?“ fragte Anna
Andrejewna, der noch die Tränen über die Wangen rollten.

„Mama wurde in derselben Nacht krank, und die Kapitanscha fand
schließlich die Wohnung bei der Bubnowa, und nach drei Tagen zogen wir
dann hin. Als wir dann dort eingezogen waren, wurde Mama ganz krank und
sie lag drei Wochen zu Bett und ich pflegte sie. Geld hatten wir gar
nicht mehr, aber uns halfen die Kapitanscha und Iwan Alexandrowitsch.“

„Der Sargmacher, bei dem sie wohnten,“ bemerkte ich erklärend.

„Und als Mama das Bett wieder verlassen konnte und umherging, da
erzählte sie mir auch von Asorka.“

Nelly brach plötzlich ab. Dem Alten schien es sehr willkommen zu sein,
daß das Gespräch auf Asorka überging.

„Was hat sie dir denn von Asorka erzählt?“ fragte er wie beiläufig, sich
noch mehr nach vorn neigend, als wolle er sein Gesicht verbergen.

„Sie hat mir immer von Großpapa erzählt,“ antwortete Nelly auf seine
Frage, „als sie krank war, erzählte sie auch nur von ihm, und wenn sie
im Fieber phantasierte, sprach sie immer nur von Großpapa. Und als sie
dann anfing gesund zu werden, da erzählte sie mir wieder wie sie früher
gelebt hatte ... und dann erzählte sie auch von Asorka, denn einmal
hatten außerhalb der Stadt mehrere Jungen Asorka an einer Schnur zum
Fluß gezogen, um ihn zu ertränken, und da hatte Mama ihnen Geld gegeben
und Asorka von ihnen gekauft. Als aber Großpapa Asorka zu sehen
bekommen, da hatte er furchtbar über ihn gelacht. Nun war Asorka dann
fortgelaufen und Mama hatte darüber so geweint, daß Großpapa ganz
erschrocken gewesen war und gesagt hatte, er werde hundert Rubel
demjenigen geben, der Asorka wiederbrächte. Am dritten Tage wurde er
denn auch gebracht; Großpapa gab die hundert Rubel und von da an begann
er Asorka sehr zu lieben. Mama aber liebte den Hund bald so sehr, daß
sie ihn sogar zu sich ins Bett nahm. Sie sagte, Asorka sei früher mit
Komödianten herumgezogen und ein Äffchen ist auf Asorka geritten und
Asorka hat zu sitzen verstanden und zu schießen und vieles andere hat er
noch verstanden ... Als aber Mama dann Großpapa verlassen hatte, da
behielt Großpapa Asorka bei sich und ging niemals ohne ihn auf die
Straße, so wußte Mama jedesmal, wenn sie Asorka irgendwo erblickte, daß
Großpapa in der Nähe war ...“

Der Alte hatte nun freilich doch etwas anderes zu hören erwartet und
schien unangenehm berührt zu sein. Weiteres Fragen unterließ er
jedenfalls.

„Und wie war es dann, habt ihr nachher nie mehr den Großvater gesehen?“
fragte Anna Andrejewna.

„Nein, als es Mama besser ging, da begegnete ich ihm wieder einmal. Ich
ging zum Bäcker nach Brot: plötzlich sah ich Asorka mit einem Mann und
ich erkannte in ihm den Großpapa. Ich bog schnell aus und drückte mich
an die Hauswand. Großpapa aber sah mich und sah mich lange an, und er
hatte solch ein böses Gesicht, daß ich sehr erschrak, und er ging an mir
vorüber; Asorka aber erkannte mich und sprang an mir in die Höhe und
leckte meine Hände. Ich ging dann schnell nach Haus, blickte mich aber
noch einmal um, und da sah ich, daß Großpapa in den Bäckerladen eintrat.
Da dachte ich: jetzt wird er dort nach mir fragen, und ich erschrak noch
mehr, und als ich nach Haus kam, sagte ich Mama nichts davon, damit sie
nicht wieder krank werde. Am nächsten Tage ging ich aber nicht mehr zum
Bäcker, ich sagte, mein Kopf schmerze; als ich dann am dritten Tage
ging, begegnete mir niemand, nur hatte ich große Angst, und ich lief so
schnell ich konnte. Am nächsten Tage aber – wie ich um die Ecke bog,
stand dort plötzlich wieder Großpapa vor mir und neben ihm Asorka. Ich
lief schnell fort und lief durch eine andere Straße, um von der andern
Seite zum Bäcker zu kommen; doch stieß ich da plötzlich wieder auf ihn
und ich erschrak so, daß ich stehen blieb und nicht mehr weiter konnte.
Großpapa rührte sich auch nicht, er stand vor mir und sah mich wieder
lange an, dann aber streichelte er mich, nahm meine Hand und führte mich
mit sich, und Asorka kam hinter uns und wedelte mit der Rute. Da sah ich
denn, daß Großpapa gar nicht mehr gerade gehen konnte und sich immer auf
den Stock stützte, und seine Hände zitterten die ganze Zeit. Er führte
mich zum Höker, der an der anderen Straßenecke saß und Äpfel und
Pfefferkuchen verkaufte. Von ihm kaufte Großpapa einen Hahn und einen
Fisch aus Pfefferkuchen und ein Bonbon und einen Apfel, und als er das
Geld aus dem Lederbeutel nahm, da zitterten seine Hände so sehr, daß ein
Fünfkopekenstück auf das Trottoir fiel, und ich hob es auf und gab es
ihm. Er schenkte mir aber die fünf Kopeken und gab mir auch die
Pfefferkuchen und streichelte mich wieder, so über den Kopf, nur sagte
er wieder kein Wort und ging von mir fort nach Haus.

„Als ich dann zu Mama zurückkam, erzählte ich ihr alles vom Großpapa und
wie ich mich zuerst gefürchtet und vor ihm versteckt hatte. Mama glaubte
mir zuerst gar nicht, dann aber war sie so froh, daß sie mich den ganzen
Abend immer wieder nach allem fragte, mich küßte und weinte, und als ich
ihr alles erzählt hatte, sagte sie zu mir, daß ich mich niemals mehr vor
Großpapa fürchten solle, und daß er mich doch liebhaben müsse, wenn er
absichtlich zu mir gekommen war. Und sie sagte, ich solle freundlich zu
ihm sein und antworten, wenn er mich was fragt. Am nächsten Tag aber
schickte sie mich schon am Morgen immer wieder hinaus, obwohl ich ihr
sagte, daß Großpapa immer erst gegen Abend kommt. Und wenn ich ging, kam
sie selbst mir nach und wartete hinter der Ecke, und ebenso auch am
anderen Tage, aber Großpapa kam nicht mehr, und da es an diesem Tage
regnete, erkältete sich Mama, denn sie war doch hinausgegangen in den
Regen und da mußte sie wieder ins Bett.

„Großpapa kam erst nach einer Woche und kaufte mir wieder einen Fisch
und einen Apfel, sagte aber wieder nichts. Als er aber von mir fortging,
versteckte ich mich zuerst und folgte ihm dann heimlich. Das hatte ich
mir schon so vorgenommen, um zu sehen, wo Großpapa wohnte, und um das
Mama zu sagen. Ich ging ganz weit hinter ihm auf der andern
Straßenseite, so, damit Großpapa mich nicht sehen konnte. Er wohnte aber
sehr weit, gar nicht dort, wo er später wohnte und starb, sondern in der
Gorochowaja, auch in einem großen Hause und vier Treppen hoch. Das
erfuhr ich denn alles und kehrte spät zurück nach Haus. Mama hatte sich
sehr geängstigt, denn sie wußte doch nicht, wo ich geblieben war. Als
ich ihr aber alles erzählt hatte, war sie wieder sehr froh und wollte
gleich am nächsten Morgen zu Großpapa gehen; aber am nächsten Morgen
wurde sie wieder nachdenklich und begann sich zu fürchten, und sie
dachte immer an ihn und fürchtete sich ganze drei Tage; und so ging sie
denn nicht zu ihm. Dann aber rief sie mich zu sich und sagte mir: ‚Höre,
Nelly, ich bin jetzt krank und kann nicht zu ihm gehen, aber ich habe
einen Brief an deinen Großpapa geschrieben, geh du zu ihm und gib ihm
diesen Brief. Und sieh zu, Nelly, wie er diesen Brief liest und was er
sagt und wie er überhaupt sein wird. Und küsse ihm die Hand und bitte
ihn, daß er deiner Mama verzeihe ...‘ Und Mama weinte die ganze Zeit und
küßte mich und segnete mich und betete zu Gott und hieß mich, neben ihr
vor dem Muttergottesbilde niederknien, und obschon sie sehr krank war,
begleitete sie mich doch bis auf die Straße hinaus, und als ich
zurückschaute stand sie immer noch dort und sah mir nach wie ich ging
...

„Ich kam zu Großpapa und machte die Tür auf, denn die Tür war nicht
verschlossen und hatte auch gar keinen Griff. Großpapa saß am Tisch und
aß Brot mit Kartoffeln, Asorka aber stand vor ihm, sah ihm zu wie er aß
und wedelte mit der Rute. Großpapa hatte auch dort in jener Wohnung nur
einen Tisch und einen Stuhl und die Fenster waren klein und niedrig. Er
lebte dort ganz allein. Als ich eintrat erschrak er so, daß er ganz
bleich wurde und zitterte. Ich erschrak auch und sagte auch nichts, ich
ging nur zum Tisch und legte den Brief hin. Als Großpapa den Brief sah,
wurde er so böse, daß er aufsprang, nach seinem Stock griff und mich
schlagen wollte, nur schlug er mich nicht, er führte mich nur hinaus in
den Treppenflur und stieß mich. Ich war noch nicht die erste Treppe
hinuntergegangen, als er die Tür nochmals aufriß und mir den Brief
nachwarf, uneröffnet. Ich ging nach Haus und erzählte alles Mama. Da
wurde Mama wieder krank ...“


                                 VIII.

In diesem Augenblick donnerte es plötzlich stark und der Regen schlug in
großen Tropfen an die Fensterscheiben; im Zimmer wurde es dunkler. Anna
Andrejewna schien ganz erschrocken zu sein und bekreuzte sich. Wir waren
alle verstummt.

„Das Gewitter wird bald vorüberziehen,“ sagte der Alte nach einem Blick
zum Fenster hinaus. Dann stand er auf und ging eine Weile im Zimmer hin
und her, wie um sich Bewegung zu machen.

Nelly beobachtete ihn verstohlen. Sie war krankhaft erregt, das sah ich;
doch sie vermied es, mich anzusehen.

„Nun, und was weiter?“ fragte endlich der Alte, indem er sich wieder auf
seinen Platz setzte.

Nelly blickte scheu von einem zum anderen.

„So hast du denn deinen Großvater nicht wieder gesehen?“

„Nein, doch, ich habe ihn wiedergesehen ...“

„Ja! ja? Erzähl’, mein Täubchen, erzähl’ nur weiter,“ ermunterte sie
Anna Andrejewna.

„Drei Wochen sah ich ihn nicht,“ begann Nelly wieder zu erzählen, „bis
zum Winter. Dann wurde es kalt und es schneite. Als ich Großpapa
wiedersah, auf derselben Stelle, wo ich ihm früher begegnet war, da war
ich sehr froh ... denn Mama grämte sich, weil er nicht mehr kam. Als ich
ihn aber erblickte, lief ich absichtlich auf das andere Trottoir, damit
er sah, daß ich von ihm fortlief. Wie ich mich aber nach ihm umschaute,
sah ich, daß er mir sehr schnell nachkam und dann fast lief, um mich
einzuholen, und er rief mich: ‚Nelly, Nelly!‘ Und Asorka lief ihm nach.
Mir tat er leid und so blieb ich stehen. Großpapa kam zu mir, nahm mich
bei der Hand und führte mich; plötzlich sah er, daß ich weinte: da blieb
er stehen, sah mich an, beugte sich über mich und küßte mich. Da sah er
auch, daß meine Schuhe schon ganz schlecht waren und er fragte mich, ob
ich denn keine besseren hätte. Ich sagte ihm, daß Mama gar kein Geld
mehr hatte und der Sargmacher uns nur aus Mitleid zu essen gab. Großpapa
sagte darauf nichts, aber er führte mich auf den Markt und kaufte mir
dort ein Paar Schuhe, die ich gleich anziehen mußte, er wollte es so,
und dann führte er mich zu sich, in die Gorochowaja, und unterwegs ging
er noch in eine Bude und kaufte eine Pastete und zwei Bonbons, und als
wir in sein Zimmer kamen, sagte er, ich solle die Pastete essen, und er
sah mich dabei die ganze Zeit an, während ich aß, und dann gab er mir
die Bonbons. Aber Asorka hatte die Vorderpfoten auf den Tisch gelegt und
bat um ein Stückchen Pastete und ich gab ihm denn auch etwas, und
Großpapa lachte. Dann nahm er mich und ich mußte vor ihm stehen und er
streichelte mein Haar und fragte mich, ob ich schon was gelernt habe und
was ich überhaupt wisse. Ich sagte ihm darauf alles und darauf sagte er,
daß ich jeden Tag um drei Uhr zu ihm kommen müsse, er wolle mich selbst
unterrichten. Dann sagte er, ich müsse mich jetzt mit dem Rücken zu ihm
wenden und zum Fenster hinaussehen, bis er mir sagte, daß ich mich
wieder umkehren könne. Ich stellte mich auch so hin, aber dann guckte
ich mich heimlich doch nach ihm um, und da sah ich, daß er sein Kissen
am unteren Ende auftrennte und vier silberne Rubelstücke herausnahm.
Dann kam er zu mir und gab mir das Geld und sagte: ‚Das ist für dich
allein‘. Ich wollte es schon nehmen, aber dann dachte ich nach und
sagte: ‚Für mich allein nehme ich es nicht.‘ Großpapa wurde sehr böse,
aber er sagte doch: ‚Nun, dann wie du willst, geh!‘ Ich ging fort, er
aber küßte mich nicht zum Abschied.

Als ich nach Haus kam, erzählte ich alles Mama. Sie fühlte sich aber
immer schlechter. Zu jenem Sargmacher, bei dem wir wohnten, kam auch ein
Student; der behandelte Mama und verschrieb ihr eine Arznei.

Ich ging von da an sehr oft zu Großpapa: Mama wollte es so. Großpapa
kaufte das Neue Testament und ein Geographiebuch und unterrichtete mich;
manchmal aber erzählte er mir nur von den Ländern und Völkern und was
für Menschen es überall gibt und was für Meere und Berge, und was früher
alles war, und wie Christus uns alle erlöst hat. Wenn ich selbst eine
Frage stellte, so war er sehr froh und darum fragte ich ihn immer recht
viel und er sagte mir dann alles und auch von Gott sprach er viel.
Manchmal aber lernten wir nicht, sondern ich spielte mit Asorka. Asorka
liebte mich sehr, und ich ließ ihn sitzen und übern Stock springen, und
Großpapa lachte und streichelte wieder meinen Kopf. Nur lachte Großpapa
eigentlich sehr selten.

Zuweilen sprach er sehr viel, plötzlich aber verstummte er und saß dann
so, als wäre er eingeschlafen, die Augen aber waren offen. Und so saß er
bis es dunkel wurde, in der Dämmerung aber wurde er immer so unheimlich,
so alt sah er dann aus ... Zuweilen aber war es so, wenn ich zu Großpapa
kam: er sitzt auf seinem Stuhl, denkt und hört nichts, und Asorka liegt
neben seinem Stuhl. Ich warte, warte – endlich huste ich: Großpapa hört
aber gar nichts und rührt sich nicht. So ging ich denn wieder fort. Zu
Hause aber erwartete mich Mama immer in großer Angst. Und ich erzählte
ihr dann immer alles, alles, während sie im Bett lag, und es wurde
darüber Nacht, ich aber erzählte immer noch von Großpapa und sie hörte
zu: was er erzählt hatte, was für Geschichten, was ich gelernt hatte,
und was ich das nächste Mal lernen würde. Und wenn ich von Asorka
erzählte, wie ich ihn über einen Stock hatte springen lassen und wie
Großpapa darüber gelacht hatte, da begann auch sie plötzlich zu lachen,
und sie lachte und freute sich und ich mußte es ihr von neuem erzählen,
und dann plötzlich begann sie zu beten. Ich aber dachte immer: wie kommt
es, daß Mama, ihn, den Großpapa, so lieb hat, er sie aber gar nicht, und
als ich zu ihm kam, fing ich absichtlich davon an, wie Mama ihn liebte.
Er hörte zu und rührte sich nicht, und so böse sah er aus, kein Wort
sagte er, er hörte nur zu; dann fragte ich ihn, weshalb denn gerade Mama
ihn so liebte, daß sie immer nach ihm fragte, er aber nach ihr gar nicht
fragte. Da wurde Großpapa sehr böse und jagte mich hinaus auf den
Treppenflur. Ich stand dort ein Weilchen hinter der Tür und wartete, da
kam er aber wieder und rief mich zurück, aber er war immer noch sehr
böse und schwieg die ganze Zeit. Als wir aber dann im Neuen Testament zu
lesen begannen, fragte ich wieder, wie es denn komme, daß Jesus Christus
gesagt hat, wir sollen einander lieben und alles verzeihen, er aber
meiner Mama nicht vergeben wolle. Da sprang er auf und schrie, daß ich
von Mama beauftragt sei, das zu fragen, und er stieß mich wieder hinaus
und sagte, daß ich mich nicht unterstehen solle, nochmals zu ihm zu
kommen. Ich aber sagte, daß ich jetzt von selbst gar nicht mehr zu ihm
kommen wolle und auch nicht kommen werde, und ich ging fort ... Großpapa
zog aber am nächsten Tage aus jener Wohnung aus ...“

„Siehst du, ich sagte dir, daß der Regen nicht lange dauern werde – da
hat es schon aufgehört zu regnen und dort scheint auch schon die Sonne
hervor ... sieh, Wanjä,“ sagte Nikolai Ssergejewitsch, sich zum Fenster
wendend.

Anna Andrejewna sah ihn äußerst verwundert an, und plötzlich drückte
sich heftiger Unwille in den Augen der bis dahin ängstlichen,
eingeschüchterten alten Frau aus. Schweigend zog sie Nelly zu sich heran
und nahm sie auf ihren Schoß.

„Erzähle mir, mein Täubchen, mir allein,“ sagte sie, „ich werde allein
zuhören. Laß jene Hartherzigen.“ –

Sie sprach es nicht ganz aus, was sie sagen wollte, und wischte sich
wieder die Tränen aus den Augen. Nelly sah mich, offenbar etwas
verwundert und vielleicht auch erschrocken mit fragendem Blick an. Der
Alte wandte sich zu mir, als wolle er etwas sagen, zuckte jedoch nur mit
der Achsel und wandte sich sogleich wieder fort.

„Erzähle nur weiter, Nelly,“ sagte ich.

„Ich ging drei Tage nicht zu Großpapa,“ begann Nelly wieder zu erzählen,
„Mama aber fühlte sich damals schon sehr schlecht. Geld hatten wir
keinen Kopeken mehr, so konnten wir auch keine Arznei kaufen, und wir
aßen nichts, denn auch der Sargmacher, bei dem wir wohnten, hatte mit
seiner Frau nichts mehr zu essen, und sie begannen uns schon Vorwürfe zu
machen, weil wir uns von ihnen ernähren ließen, wie sie sagten. Da stand
ich am dritten Tage auf und kleidete mich an. Mama fragte mich, wohin
ich denn gehen wolle. Ich sagte: zu Großpapa, um ihn um Geld zu bitten.
Da freute sie sich sehr, denn ich hatte ihr doch alles erzählt, wie er
mich von sich fortgejagt, und daß ich jetzt nicht mehr zu ihm gehen
wollte. Sie weinte wohl und beredete mich, doch wieder zu ihm zu gehen,
aber ich sagte: nein, ich will nicht, ich werde nicht! Ich ging hin und
erfuhr, daß Großpapa von dort ausgezogen war. Ich ging dann zu seiner
neuen Wohnung. Wie ich aber bei ihm eintrat, sprang er auf, stürzte mir
zornig entgegen und stampfte mit den Füßen, aber ich sagte ihm schnell,
daß Mama sehr krank sei und daß wir zur Arznei Geld brauchten, fünfzig
Kopeken, und daß wir nichts zu essen hätten. Großpapa schrie mich an und
stieß mich hinaus auf die Treppe und schlug hinter mir die Türe zu, die
er dann noch verriegelte. Als er mich aber hinausstieß, sagte ich ihm,
daß ich so lange auf der Treppe sitzen und nicht fortgehen werde, bis er
mir Geld gibt. Und ich setzte mich auf die Treppe. Nach einer Weile
machte er die Tür auf und sah hinaus, und als er sah, daß ich dort saß,
da schloß er die Tür wieder zu. Dann verging lange Zeit, bis er wieder
die Tür aufmachte, wieder hinaussah auf die Treppe und wieder die Tür
schloß. Und noch mehrere Mal machte er so die Tür auf und wieder zu.
Endlich trat er mit Asorka aus dem Zimmer, schloß die Tür ganz zu und
ging an mir vorüber aus dem Hause hinaus, ohne ein Wort zu mir zu sagen.
Auch ich sagte kein Wort und blieb so sitzen und saß bis zur Dämmerung.“

„Täubchen, mein Kindchen,“ rief Anna Andrejewna ganz erschrocken aus,
„aber es war doch kalt dort auf der Treppe!“

„Ich war im Pelzmäntelchen,“ sagte Nelly.

„Pelzmäntelchen! Was ist denn solch ein Mäntelchen ... Du mein Täubchen,
wieviel du ausgehalten hast! Nun und – wann kam er denn zurück?“

Nellys Lippen begannen zu zucken, doch sie nahm sich krampfhaft zusammen
und erzählte weiter.

„Er kam als es schon ganz dunkel geworden war, und als er beim
Hinaufsteigen plötzlich auf mich stieß, schrie er: wer ist hier? Ich
sagte, daß ich es sei. Er aber hatte gewiß gedacht, daß ich schon längst
fortgegangen, und deshalb war er, als er mich immer noch dort sitzen
sah, sehr verwundert und stand lange Zeit ganz still vor mir. Plötzlich
schlug er mit dem Stock auf die Treppe, lief dann an mir vorüber, riß
die Tür auf und kam schon im nächsten Augenblick zurück: er brachte mir
Kupfergeld, lauter Fünfkopekenstücke und er warf sie auf die Treppe. ‚Da
hast du,‘ schrie er, ‚nimm, das ist alles was ich habe, und sage deiner
Mutter, daß ich sie verfluche!‘ Und damit schlug er die Tür zu. Aber die
Geldstücke waren alle die Treppe hinunter gerollt. Ich begann sie in der
Dunkelheit zu suchen, aber Großpapa muß es nachher doch eingefallen
sein, daß es schwer war, die verstreuten Kupferstücke im Dunkeln zu
finden, so kam er denn mit einer Kerze aus dem Zimmer und leuchtete, und
da sammelte ich sie schnell auf. Und Großpapa half mir noch beim Suchen
und sagte, daß es im ganzen siebzig Kopeken gewesen seien, und dann ging
er wieder zurück ins Zimmer. Als ich nach Haus kam, gab ich Mama das
Geld und erzählte ihr alles, und Mama fühlte sich wieder schlechter, und
ich war auch die ganze Nacht krank und am anderen Tage hatte ich auch
Fieber, aber ich dachte nur an eines, denn ich war böse auf Großpapa,
und als Mama wieder eingeschlafen war, ging ich hinaus auf die Straße
und ging zu Großpapa, aber noch bevor ich sein Haus erreichte, blieb ich
auf dem Trottoir stehen. Da kam _jener_ ...“

„Sie meint Archipoff,“ sagte ich, „jenen, von dem ich Ihnen, Nikolai
Ssergejewitsch, bereits erzählt habe, – der zusammen mit dem Kaufmann
bei der Bubnowa war und die dort durchgeprügelt wurden. Damals hat ihn
Nelly zum erstenmal gesehen ... Erzähle weiter, Nelly.“

„Als er an mir vorübergehen wollte, hielt ich ihn auf und bat ihn um
Geld, um einen Rubel. Er sah mich an und fragte: ‚Einen Rubel?‘ Ich
sagte: ‚Ja.‘ Da begann er zu lachen und sagte: ‚Komm mit.‘ Ich wußte
nicht, ob ich gehen sollte. Da trat plötzlich ein alter kleiner Herr mit
einer goldenen Brille an uns heran, denn er hatte gehört, was ich haben
wollte, und er beugte sich zu mir und fragte mich, wofür ich gerade so
viel brauchte. Ich sagte ihm, daß Mama krank wäre und die Arznei so viel
kostete. Er fragte, wo wir wohnten und schrieb das in sein Taschenbuch
und gab mir einen Rubel. _Jener_ aber, als er den alten Herrn mit der
Brille sah, ging fort und sagte mir nicht mehr, daß ich mitgehen solle.
Ich ging dann in eine Bude und wechselte das Geld in kupferne
Fünfkopekenstücke; von denen wickelte ich dreißig Kopeken in Papier ein,
die behielt ich für Mama, die übrigen siebzig Kopeken wickelte ich aber
nicht ein, sondern behielt sie in der Hand und ging mit ihnen zu
Großpapa. Als ich vor seinem Zimmer stand, machte ich die Tür auf, blieb
aber auf der Schwelle stehen und schleuderte ihm das ganze Geld hin, so
daß alle Kupferstücke über den Fußboden rollten. ‚Da haben Sie Ihr
Geld!‘ sagte ich zu ihm. ‚Mama braucht es nicht von Ihnen, wenn Sie sie
verfluchen.‘ Und ich schlug die Tür zu und lief fort.“

Ihre Augen glänzten fieberhaft und mit kindlich stolzem,
herausforderndem Blick sah sie den Alten an.

„Das war gut!“ sagte Anna Andrejewna, ohne ihren Gatten weiter zu
beachten und indem sie Nelly fest an sich drückte. „So geschah ihm
recht! Dein Großvater war ein böser, grausamer Mensch ...“

„Hm!“ äußerte sich dazu Nikolai Ssergejewitsch.

„Nun und wie wurde es dann, was geschah darauf?“ fragte Anna Andrejewna
ungeduldig.

„Ich ging nicht mehr zu Großpapa und er kam mir nicht mehr entgegen,“
sagte Nelly.

„Nun, aber wie wurde es denn mit deiner Mama, was tatet ihr? Ach, ihr
Armen, ihr Armen!“

„Mit Mama wurde es immer schlechter, sie konnte fast gar nicht mehr
aufstehen,“ fuhr Nelly mit unsicherer Stimme fort. „Geld hatten wir
überhaupt keines mehr und darum ging ich denn mit der Kapitanscha. Die
Kapitanscha ging in die Häuser und bat um Geld, aber auch auf der Straße
wandte sie sich an gutgekleidete Leute und bat sie um Geld, denn nur
davon lebte sie. Sie sagte mir, daß sie nicht ganz so arm sei, daß sie
aber Papiere habe, auf denen ihr Name geschrieben stand, und auf denen
gesagt war, daß sie sehr arm sei. Diese Papiere zeigte sie immer vor und
dafür gab man ihr Geld. Sie sagte mir auch, daß es keine Schande sei,
von reichen Leuten Geld zu erbitten. So ging ich denn mit ihr und man
gab uns Geld und davon lebten wir. Mama erfuhr das bald, denn die
anderen Einwohner machten ihr Vorwürfe, weil sie arm war, die Bubnowa
aber kam selbst zu Mama und sagte, sie solle mich doch lieber zu ihr
schicken als mich auf der Straße betteln lassen. Sie war auch früher zu
Mama gekommen und hatte ihr Geld gebracht, als Mama es aber nicht von
ihr annahm, sagte sie: ‚Weshalb sind Sie so stolz?‘ und schickte uns
dann etwas zu essen. Als sie das von mir aber Mama erzählt hatte, begann
Mama zu weinen, denn sie war sehr erschrocken, die Bubnowa aber, die
ganz betrunken war, begann sie zu schelten und sagte, daß ich sowieso
ein Bettelkind sei und schon mit der Kapitanscha ginge, und noch am
selben Abend jagte sie die Kapitanscha aus dem Hause. Als Mama das alles
erfuhr, begann sie zu weinen, dann stand sie plötzlich auf, kleidete
sich an, nahm mich bei der Hand und führte mich mit sich fort. Iwan
Alexandrowitsch wollte sie zurückhalten, aber sie hörte nicht auf ihn
und wir gingen hinaus. Mama konnte kaum gehen, alle Augenblicke setzte
sie sich hin und ich stützte sie. Und sie sprach die ganze Zeit und
sagte, daß sie zu Großpapa gehe, und daß ich sie hinführen solle, nur
war es schon lange Nacht geworden. Da kamen wir zu einem großen schönen
Hause, vor dem viele Equipagen standen und viele Menschen kamen aus dem
Hause und alle Fenster waren hell und man hörte auch Musik. Mama blieb
stehen, zog mich an sich heran und sagte zu mir: ‚Nelly, sei arm, bleibe
dein Leben lang arm, gehe nicht zu ihnen, wer dich auch rufen, wer auch
zu dir kommen sollte! Auch du könntest dort sein, in einem reichen,
schönen Kleide, aber ich will es nicht. Sie sind böse und roh, und nun
höre mein Gebot: bleibe arm, arbeite und bitte um Almosen, wenn man aber
zu dir kommt und dich unter jene bringen will, dann sage: ich will nicht
zu euch! ...‘ Das sagte mir damals Mama als sie krank war und ich will
ihr mein ganzes Leben lang gehorchen,“ schloß Nelly zitternd vor
Erregung. Ihr Gesichtchen glühte wie im Fieber. „Und ich werde mein
ganzes Leben lang dienen und arbeiten, und auch zu Ihnen bin ich
gekommen, um zu arbeiten, ich will nicht so wie eine Tochter ...“

„Beruhige dich, mein Täubchen, beruhige dich nur!“ unterbrach sie Anna
Andrejewna, die Nelly wieder mit ihrer ganzen mütterlichen Zärtlichkeit
an sich drückte. „Deine Mama war damals doch ganz krank als sie das
sagte, mein Täubchen.“

„Wahnsinnig war sie!“ bemerkte schroff der Alte.

„Und wenn auch!“ wandte sich Nelly brüsk an ihn, „und wenn sie auch
hundertmal wahnsinnig war, aber sie hat mir das so gesagt, und ich werde
mein ganzes Leben lang so leben. Als sie mir das gesagt hatte, fiel sie
aber in Ohnmacht.“

„Großer Gott!“ rief Anna Andrejewna aus, „im Winter krank, auf der
Straße! ...“

„Man wollte uns auf die Polizei bringen, aber ein Herr trat für uns ein.
Er fragte mich, wo wir wohnten, gab mir zehn Rubel und ließ uns in
seiner Equipage nach Hause bringen. Von da an hat Mama das Bett nicht
mehr verlassen und nach drei Wochen starb sie ...“

„Und der Vater? Der hat ihr nicht verziehen?“ fragte Anna Andrejewna
angstvoll und erschrocken.

„Nein, er hat ihr nicht verziehen!“ sagte Nelly, sich qualvoll
zusammennehmend. „Eine Woche vor ihrem Tode rief sie mich zu sich und
sagte: ‚Nelly, geh noch einmal zu Großpapa, zum letztenmal, und bitte
ihn, daß er zu mir komme und mir vergebe; sage ihm, daß ich nach wenigen
Tagen sterben werde und dich allein auf der Welt zurücklasse. Und sage
ihm noch, daß es mir schwer wird, zu sterben ...‘ Ich ging zu Großpapa
und pochte an die Tür. Er machte die Tür auf, aber wie er mich
erblickte, wollte er die Tür sogleich wieder schließen, doch hatte ich
mich schon mit beiden Händen an die Tür geklammert und schrie ihm zu:
‚Mama stirbt, Sie sollen hinkommen, sie ruft Sie! ...‘ Er stieß mich
aber fort und schlug die Tür zu. Ich ging zu Mama zurück, legte mich
neben sie hin, umarmte sie und sagte kein Wort ... Mama umarmte mich
gleichfalls und fragte mich auch nichts ...“

Hier stützte sich Nikolai Ssergejewitsch mit der Hand schwer auf den
Tischrand und erhob sich langsam, doch blickte er uns alle nur mit einem
seltsamen, trüben Blick der Reihe nach an und sank dann wie erschöpft
wieder auf seinen Platz zurück. Anna Andrejewna beachtete ihn nicht, sie
weinte und umarmte Nelly ...

„Erst am letzten Tage, bevor sie starb, rief sie mich zu sich – es war
schon Abend – und sie nahm meine Hand und sagte: ‚Ich werde heute
sterben, Nelly.‘ Sie wollte noch etwas sagen, aber sie konnte nicht
mehr. Ich sah sie an, und da war es mir, als sehe sie mich gar nicht,
nur meine Hand hielt sie krampfhaft fest. Da befreite ich vorsichtig
meine Hand und lief aus dem Hause und lief den ganzen Weg so schnell ich
konnte bis zu Großpapa. Wie er mich erblickte, sprang er vom Stuhl auf
und sah mich so groß an, und er war so erschrocken, daß er ganz bleich
wurde und zu zittern begann. Ich ergriff seine Hand und sagte nur das
eine: ‚Sie wird gleich sterben,‘ und da war er plötzlich ganz anders: er
lief durch das Zimmer, ergriff seinen Stock und eilte zur Tür; sogar
seinen Hut vergaß er, und es war doch kalt. Ich nahm seinen Hut und gab
ihn ihm und wir liefen beide hinaus auf die Straße. Ich trieb ihn zur
Eile an und sagte, er solle eine Droschke nehmen, denn Mama würde gleich
sterben, aber Großpapa hatte im ganzen nur sieben Kopeken. Er blieb wohl
bei den Droschken stehen und handelte mit den Kutschern, aber die
lachten nur, und auch über Asorka lachten sie, denn Asorka lief uns
nach, und wir liefen immer weiter, immer weiter. Großpapa wurde müde und
atmete schwer, aber er lief doch so schnell er konnte. Plötzlich fiel er
und der Hut flog fort. Ich lief dem Hut nach und hob ihn auf und half
Großpapa aufzustehen und dann führte ich ihn an der Hand, aber es war
schon Nacht als wir nach Hause kamen ... Und Mama war schon tot. Als
Großpapa sie dort liegen sah, erhob er die Arme, erzitterte und starrte
sie an, sagte aber kein Wort. Da ging ich zu meiner toten Mama, zog ihn
ans Bett und schrie: ‚Siehst du, siehst du, du schlechter, herzloser
Mensch, sieh! ... Sieh! ...‘ Da schrie Großpapa laut auf und fiel hin
wie ein Toter ...“

Nelly befreite sich heftig aus den Armen Anna Andrejewnas, sprang von
ihrem Schoß und blieb bleich, erschöpft und über alle Maßen erregt
zwischen uns stehen. Doch Anna Andrejewna stürzte wieder zu ihr, zog sie
von neuem in ihre Arme und rief wie in Ekstase:

„Ich, ich werde deine Mutter sein, Nelly, und du mein Kind! Ja, Nelly,
laß uns von hier fortgehen, verlassen wir die Herzlosen! Mögen sie in
ihrem Stolz Trost finden, Gott aber, Gott wird es ihnen schon anrechnen
... Gehen wir, Nelly, gehen wir von hier fort, komm! ...“

Noch nie hatte ich Anna Andrejewna in einer solchen Erregung gesehn. Und
offen gestanden: ich hätte es auch gar nicht für möglich gehalten, daß
sie sich unter Umständen auch so erregen könnte.

Nikolai Ssergejewitsch richtete sich in seinem Lehnstuhle bei den
letzten Worten etwas auf und als er sah, daß Anna Andrejewna es ernst
meinte, erhob er sich langsam und fragte mit merklich unsicherer Stimme:

„Wohin willst du denn gehen, Anna Andrejewna?“

„Zu ihr, zu meiner Tochter, zu Natascha!“ rief sie erregt, Nelly zur Tür
nach sich ziehend.

„Warte, warte doch, so warte doch!“

„Wie lange soll ich noch warten, du herzloser Vater! Ich habe lange
genug gewartet und sie hat lange genug gewartet, jetzt gehe ich, lebe
wohl! ...“

Sie wandte sich, zum Abschied nickend, noch einmal zu ihrem Mann zurück.
Da! – was war das? – sie starrte ihn sprachlos an. Ihr Nikolai
Ssergejewitsch stand vor ihr mit dem Hut auf dem Kopf und zog sich mit
zitternden Händen seinen Paletot an.

„Du ... du kommst auch!“ stotterte sie, ohne es fassen zu können, dann
faltete sie die Hände und sah ihn an, als wage sie noch nicht, an ein
solches Glück zu glauben.

„Natascha, wo ist meine Natascha? Wo ist sie? Wo ist meine Tochter?“
rang es sich plötzlich hervor. „Gebt mir meine Tochter zurück, mein
Kind! Wo ist sie, wo ist sie?“

Er riß mir seinen Stock, den ich ihm reichte, aus der Hand und wandte
sich hastig zur Tür.

„Er verzeiht! er verzeiht!“ stammelte Anna Andrejewna.

Doch noch bevor der Alte die Tür erreicht hatte, wurde diese von außen
aufgestoßen und ins Zimmer stürzte Natascha, bleich vor Erregung und mit
glänzenden Augen, wie sie sonst nur Fieberkranke haben. Ihr Kleid war
verknüllt und vom Regen naß. Das Tuch, das sie sich um den Kopf
geschlungen hatte, war in den Nacken gesunken und in ihrem welligen Haar
glänzten Regentropfen. Mit einem Schrei warf sie sich vor ihrem Vater
auf die Kniee nieder und erhob flehend die Hände.


                                  IX.

Im nächsten Augenblick lag sie an seiner Brust.

Er hob sie wie ein kleines Kind empor und trug sie zu seinem
Großvaterstuhl, in den er sie sorgsam hineinsetzte, um dann seinerseits
vor ihr niederzuknien. Er küßte ihre Hände, ihre Kniee, er konnte sich
nicht satt sehen an ihr, als wolle er das Versäumte nachholen, als
glaube er noch nicht, daß sie wieder bei ihm war, daß er sie wieder sah
und hörte, – sie, seinen vergötterten Liebling, seine Natascha! Anna
Andrejewna drückte, unfähig ein Wort hervorzubringen, schluchzend
Nataschas Köpfchen an ihre Brust.

„Mein Liebstes! ... Mein Leben! ... Meine Freude du!“ stammelte der
Alte, Nataschas Hände mit Küssen bedeckend, und mit Augen, wie sie nur
Verliebte haben, hing er an ihrem blassen, schmalen, und bei alledem
doch so unendlich liebreizenden Gesicht, an ihren lieben Augen, in denen
Tränen glänzten. „Mein Kind, mein Sonnenschein!“ wiederholte er nur, und
wieder verstummte er, um sie von neuem wie verzückt zu betrachten. „Aber
wie, wie hat man mir denn gesagt, daß sie so abgenommen habe!“ fuhr er
mit seltsamem Kinderlächeln fort, sich halbwegs an uns wendend. „Ja, ein
bißchen ist das Gesichtchen schmäler geworden, auch ein wenig bleicher,
aber sieh sie doch nur an, wie reizend sie ist! Noch schöner als sie
früher war, ja, noch schöner!“ Unwillkürlich verstummte er wie unter
einem seelischen Schmerz, einer jener freudvollen Schmerzempfindungen,
von denen man meint, sie brächen das Herz entzwei.

„Stehen Sie auf, Papa! So stehen Sie doch auf,“ bat Natascha. „Ich will
Sie doch auch küssen ...“

„O, mein Liebling, mein Liebstes! Hörst du, hast du gehört, Annuschka,
wie lieb sie das gesagt hat!“

Und er umarmte sie leidenschaftlich.

„Nein, Natascha, ich ... ich muß so lange zu deinen Füßen liegen, bis
ich fühle, daß du mir verziehen hast! Sage mir, was soll ich tun, um
deine Verzeihung zu erlangen! Ich hatte dich verstoßen, ich hatte dich
verflucht – hörst du, Natascha? – ich hatte dich verflucht! Ich, ich
konnte das fertig bringen! ... Aber du, Natascha, wie konntest du nur
glauben, daß ich dich auf ewig verstoßen würde! Und du hast es doch
geglaubt, hast es geglaubt! Wozu, warum? Nein, du hättest es nicht
glauben sollen! Ganz einfach – nicht glauben sollen hättest du es! Wie
konntest du so grausam sein, mich für so grausam zu halten? Weshalb
kamst du nicht zu mir? Du hättest doch wissen müssen, wie ich dich liebe
... O, Natascha, du weißt doch noch, wie ich dich früher liebte? Nun,
dann wisse, daß ich dich in dieser ganzen Zeit noch einmal so sehr,
nein, tausendmal mehr geliebt habe als früher! Mit meinem ganzen Blut
liebte ich dich! Meine Seele hätte ich aus meinem Blut gezogen, mein
Herz mir aus der Brust gerissen und dir zu Füßen gelegt! ... So liebte
ich dich ... mein Liebling, meine Freude!“

„So küssen Sie mich doch auf den Mund, Papa, auf die Wangen, so wie
Mama!“ rief Natascha mit einer Stimme, in der Tränen zitterten,
Müdigkeit, Qual und Glück.

„Und deine Augen! Auch deine Augen will ich küssen! Weißt du noch, so
wie früher ...“ und der Alte küßte seine Tochter. „O, Natascha! Hat dir
nicht von uns geträumt? Mir bist du fast in jeder Nacht im Traum
erschienen, in jeder Nacht bist du zu mir gekommen und ich habe über
dich geweint. Einmal aber erschienst du als kleines Mädchen, weißt du,
so wie damals, als du noch keine zehn Jahre alt warst und gerade erst
Klavier zu spielen begannst. Du kamst in einem kurzen Kleidchen zu mir,
in hellen Stiefelchen, und deine kleinen Händchen waren rot ... sie
hatte doch damals oft rote Händchen, weißt du noch, Annuschka? – sie kam
zu mir, setzte sich auf meinen Schoß und schlang die Ärmchen um meinen
Hals ... Und du, du böses Mädchen, konntest noch glauben, daß ich dir
die Tür gewiesen hätte, wenn du zu mir gekommen wärest! ... Ich war ja
doch ... höre, Natascha: ich bin doch oft zu dir gegangen, nur hat das
bisher niemand gewußt, auch sie, deine Mutter, nicht, keine
Menschenseele! So stand ich dort auf der anderen Straßenseite und
schaute hinauf zu den Fenstern deiner Wohnung, oder ich wartete in der
Nähe deiner Haustür, in der Hoffnung, du würdest vielleicht ausgehen und
dann könnte ich dich von ferne sehen. Oft sah ich abends eine Kerze auf
deinem Fensterbrett brennen, und oft, Natascha, bin ich nur deshalb
hingegangen sobald es dunkelte, um diese brennende Kerze zu sehen,
vielleicht auch deinen Schatten auf dem Vorhang, und um dich für die
Nacht zu segnen. Hast du auch so an mich gedacht? Hast du? Hast du es
nicht gefühlt, daß ich dort unter deinem Fenster stand? Mehr als einmal
bin ich im Winter spät abends deine Treppe hinaufgestiegen und habe auf
dem dunklen Treppenabsatz gestanden und mein Gehör angestrengt, um durch
die Tür vielleicht doch deine Stimme zu hören. Nun, lachst du nicht? Ich
dich verfluchen! War ich doch an jenem Abend zu dir gegangen, um dir
alles zu verzeihen – ja, das wollte ich! – und erst vor der Tür gab ich
es auf. ... O, Natascha!“

Er stand auf und zog auch sie empor, um sie fest an seine Brust zu
drücken.

„Du bist hier, ich kann dich wieder an mein Herz drücken! Ich danke dir,
Gott, für alles, für alles, auch für deinen Zorn, und danke dir für
deine Güte! ... Und auch für deine Sonne, die du jetzt nach dem Gewitter
auf uns niederscheinen läßt! Für diesen ganzen Tag danke ich dir! O!
mögen wir Erniedrigte, mögen wir Beleidigte sein, was tut das! – wir
sind doch wieder alle beisammen! Und mögen sie doch, mögen sie doch
triumphieren, die Stolzen und Hochmütigen, die uns erniedrigt und
beleidigt haben! Mögen sie nur Steine auf uns werfen! Fürchte dich
nicht, Natascha ... Wir werden Hand in Hand gehen und ich werde ihnen
sagen: dies hier ist meine einzige, meine geliebte Tochter, mein
unschuldiges geliebtes Kind, das ihr beleidigt und erniedrigt habt, das
ich aber über alles liebe, ich, und das ich für alle Zeiten segne! ...“

„... Wanjä! Wanjä!“ rief mich Natascha leise zu sich und streckte mir
über den Arm ihres Vaters die Hand entgegen.

O, niemals werde ich es vergessen, daß sie in diesem Augenblick noch an
mich dachte und mich zu sich rief!

„Wo ist Nelly geblieben?“ fragte plötzlich der Alte, sich umschauend.

„Ach, wo ist sie denn?“ fuhr auch Anna Andrejewna ganz erschrocken auf.
„Mein Täubchen, wo bist du! Haben wir sie doch über der Freude ganz
vergessen!“

Doch Nelly war aus dem Zimmer verschwunden. Unbemerkt war sie ins
Schlafzimmer geschlüpft. Wir gingen alle hin; Nelly stand in einem
Winkel hinter der Tür und wollte sich ängstlich vor uns verstecken.

„Nelly, was fehlt dir, mein Kind, was hast du?“ fragte der Alte
zärtlich, und er wollte den Arm um sie legen.

Doch sie sah ihn nur seltsam starr mit weit offenen Augen an.

„Mama, wo ist Mama?“ fragte sie, als sei sie nicht mehr ganz bei
Besinnung. „Wo ist meine Mama?“ rief sie angstvoll, ihre zitternden
Hände nach uns ausstreckend.

Und plötzlich drang ein unheimlicher, markerschütternder Schrei aus
ihrer Brust; ein krampfartiges Zucken lief über ihr Gesicht und in einem
schweren Anfall fiel sie nieder ...


                          Letzte Erinnerungen.

Mitte Juni. Ein heißer, drückend schwüler Tag; ganz unmöglich in der
Stadt zu bleiben: überall Staub, Kalk, Baugerüste vor den Häusern,
glühend heiße Pflastersteine, von Ausdünstungen verpestete Luft ... Doch
da – o, Freude! – irgendwo in der Ferne donnerte es; der Himmel wurde
trübe, umwölkte sich und wurde düster; der Wind erhob sich und trieb den
Straßenstaub in dichten Wolken vor sich her. Einzelne große Tropfen
fielen schwer zur Erde und plötzlich war es, als öffne der Himmel seine
Schleusen: ein ganzer Strom ergoß sich mit seinen Wassermassen über die
Stadt. Als nach einer halben Stunde wieder die Sonne durch die Wolken
brach, stieß ich das Fenster meiner Dachstube auf und atmete gierig mit
meiner ganzen müden Brust die frische Luft ein. Wie ein Rausch kam es
über mich und ich wollte Feder und Papier liegen lassen, auch den
Verleger vergessen, und auf die Wassiljeff-Insel laufen zu den _Meinen_!
Aber so groß auch die Versuchung war, ich bezwang mich doch und begann
mit einer wahren Wut wieder zu arbeiten: ich mußte heute noch mit meiner
Novelle fertig werden, um jeden Preis! Mein Verleger wartete und nur
wenn ich ihm das fertige Manuskript brachte, würde er mir Geld geben,
das wußte ich. Ichmenjeffs erwarteten mich zwar, doch dafür würde ich
dann am Abend frei sein, vollkommen frei, frei wie der Wind, und dieser
Abend sollte mich für die letzten zwei Tage und zwei Nächte, in denen
ich dreieinhalb große Druckbogen geschrieben, vollauf belohnen.

Und endlich kam dann auch der Augenblick, in dem ich die Arbeit beendet
vor mir liegen sah ... Ich warf die Feder hin und erhob mich, mit einem
Schmerzgefühl im Rücken und in der Brust, und im Kopf drehte sich alles
im Kreise. Ich wußte, daß meine Nerven zum Zerreißen angespannt waren
und es war mir, als hörte ich noch die letzten Worte meines alten
Arztes: „Nein, einer solchen Lebensweise könnte auch die beste
Gesundheit nicht lange standhalten!“ Nun, solange sie noch standhält ...
Vor meinen Augen tanzten grüne Punkte, ich hielt mich kaum noch auf den
Beinen, aber Freude, grenzenlose Freude erfüllte mein Herz. Meine
Novelle war beendet und der Verleger würde mir jetzt, obschon ich ihm
noch viel schuldete, doch wenigstens etwas Geld geben, wenn auch nur
fünfzig Rubel – wie lange aber hatte ich nicht mehr so viel Geld in
Händen gehabt! Freiheit und Geld! ... Ganz begeistert griff ich nach
meinem Hut, schnell das Manuskript unter den Arm, und wie ein Schulbube
lief ich die Treppe hinunter, um den werten Alexander Petrowitsch noch
im Bureau anzutreffen.

Ich kam gerade noch rechtzeitig, denn schon war er im Begriff,
fortzugehen. Auch er hatte soeben erst etwas sehr Wichtiges beendet;
freilich keine Novelle, sondern nur eine ganz unliterarische, doch dafür
um so vorteilhaftere zweistündige geschäftliche Unterredung, und nachdem
er endlich das schwarzglänzende Jüdchen zur Tür geleitet hatte, streckte
er mir freundlich die Hand entgegen und erkundigte sich mit seinem
weichen gutmütigen Baß nach meiner Gesundheit. Er war ja doch ein
herzensguter Mensch und ich war ihm – im Ernst – nicht wenig zu Dank
verpflichtet. Was konnte er denn schließlich dafür, daß er in der
Literatur sein Leben lang _nur_ „Verleger“ gewesen war und bis zum Grabe
auch nur „Verleger“ bleiben würde? Dafür hatte er erkannt, daß unsere
Literatur eines Verlegers bedurfte, und hatte es sogar sehr zur rechten
Zeit erkannt, also Ehre wem Ehre gebührt – in diesem Fall, versteht
sich, allerdings nur Verlegerehre.

Mit wohlgefälligem Lächeln vernahm er, daß ich meine Novelle beendet
hatte und die folgende Nummer der Zeitschrift somit in ihrem Hauptteil
gesichert war. Er äußerte noch in humoristischer Weise seine Bewunderung
darüber, daß ich überhaupt einmal etwas zum Termin hatte beenden können
und machte ein paar Bonmots ... Darauf begab er sich zu seinem
Geldschrank, um ihm die mir versprochenen fünfzig Rubel zu entnehmen,
machte mich aber vorher noch auf einige Zeilen einer Kritik aufmerksam.

Ich nahm das Blatt zur Hand – doch was sah ich: es war meine vorletzte
Novelle, die da besprochen wurde. Sie wurde nicht gerade gelobt, aber
auch nicht gerade heruntergerissen, und alles in allem genommen, konnte
ich sogar sehr zufrieden sein. Unter anderem meinte aber der Kritiker,
daß meine Arbeiten „nach Schweiß“ röchen, daß ich mir gar zu große Mühe
gäbe und so lange an ihnen feilte und polierte, daß es einem wirklich
widerlich würde.

Wir lachten beide herzlich darüber. Ich sagte ihm, daß ich diese meine
vorletzte Novelle in zwei Nächten geschrieben, die soeben gebrachte
aber, die über dreieinhalb Druckbogen lang sein dürfte, in zwei Tagen
und zwei Nächten. Wenn das mein verehrter Kritiker wüßte!

„Aber es ist doch Ihre eigene Schuld, Iwan Petrowitsch: weshalb schieben
Sie das Arbeiten immer so lange auf, daß Sie dann die Nächte zu Hilfe
nehmen müssen!“

Alexander Petrowitsch war ja sonst ein äußerst netter Mensch, nur hatte
er eine kleine, bisweilen etwas lästige Schwäche, und zwar: mit seinem
literarischen Urteil gerade vor jenen großzutun, die ihn, wie er es
mitunter sogar selbst ganz richtig vermutete, schon längst durchschaut
hatten. Ein Gespräch über Literatur und literarisches Schaffen mit ihm
zu führen, war daher auch für mich nichts Verlockendes und so griff ich,
da ich das Geld schon empfangen hatte, abschiednehmend nach meinem Hut.
Alexander Petrowitsch erkundigte sich nach dem Wohin, und wie er hörte,
daß ich auf die Wassiljeff-Insel wollte, bot er mir großmütig einen
Platz in seinem Wagen an, er fahre nach Haus, sagte er – er wohnte im
Sommer auf einer der Inseln in seiner Villa – und da wäre es für ihn
kein Umweg.

„Ich habe doch jetzt einen neuen Wagen – haben Sie ihn noch nicht
gesehen? Na, ich sage Ihnen – tadellos!“

Wir begaben uns zur Vorfahrt. Der neue halboffene Wagen war allerdings
tadellos, und ich fand es begreiflich, daß Alexander Petrowitsch in der
ersten Zeit des Besitzes mit einer ganz besonderen Vorliebe, die sogar
ein gewisses geistiges Bedürfnis verriet, seine Bekannten zu einer
gemeinsamen Fahrt aufforderte.

Unterwegs erging sich Alexander Petrowitsch dafür ungehindert in
Betrachtungen über die zeitgenössische Literatur. Meine Gegenwart
verwirrte ihn nicht im geringsten und mit beneidenswerter Gewissensruhe
wiederholte er verschiedene fremde Gedanken, die er in der letzten Zeit
gehört hatte, in erster Linie, versteht sich, von Literaten, deren
Meinung er für richtig hielt und hochschätzte. Bei der Gelegenheit
passierte es ihm aber, daß er mitunter sehr wunderliche Dinge sagte,
denn da wir Menschen nicht alles auswendig behalten können, was wir nur
einmal hören, verwechselte er so manches mit der größten Harmlosigkeit.
„Und alles das will er noch als seine eigene heilige Überzeugung
respektiert wissen!“ dachte ich seufzend bei mir. Ich saß, hörte
schweigend zu und wunderte mich über die Verschiedenheit und
Grillenhaftigkeit der menschlichen Leidenschaften. „Da haben wir nun
einen Menschen,“ dachte ich weiter, „dessen einziger Lebenszweck es doch
zu sein scheint, Geld und nichts als Geld zusammenzuscharren, und das
müßte ihm doch eigentlich genügen; aber nein, es verlangt ihn noch nach
Ruhm, nach literarischem Ruhm, er will sogar als Kritiker anerkannt
werden!“

So bemühte er sich, während ich dieses dachte, mir eine besondere
Auffassung der Literatur wiederzugeben, eine Auffassung, die er vor drei
Tagen von mir gehört und der er vor drei Tagen, nebenbei bemerkt, heftig
widersprochen hatte, was ihn jedoch nicht hinderte, sie als seine
ureigenste Schöpfung zu wiederholen. Doch was die Vergeßlichkeit in
solchen Dingen – wohlverstanden: nur in solchen Dingen! – anging, so
hatte es Alexander Petrowitsch in seinem Bekanntenkreise bereits zu
einer gewissen Berühmtheit gebracht. Wie froh es ihn machte, in _seinem_
Wagen reden zu können, wie zufrieden er mit seinem Schicksal war, wie
gütig! Er führte ein wissenschaftlich-literarisches Gespräch und sogar
sein weicher Baß versuchte in wissenschaftlich harten Tonfärbungen die
Worte zu modellieren! Ganz allmählich, offenbar ungewollt und unbewußt,
ging er auf den Liberalismus über und verfocht unter anderem die
unschuldsvoll skeptische Überzeugung, daß es in unserer Literatur – das
heißt: in unserer sowohl wie in jeder anderen – weder Ehrlichkeit noch
Bescheidenheit geben könne, sondern einzig und allein ein „um die Wette
laufen“. Ich dachte bei mir, daß Alexander Petrowitsch dann wohl auch
geneigt war, jeden ehrlichen und aufrichtigen Schriftsteller für seine
Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, wenn nicht gerade für einen Esel so doch
zum mindesten für einen Einfaltspinsel zu halten. Selbstverständlich war
diese seine individuelle Auffassung auf nichts anderes als auf seine
ganz außergewöhnliche Unschuld und Naivität zurückzuführen.

Doch ich hörte nicht mehr auf ihn. Auf der Wassiljeff-Insel
verabschiedete ich mich von ihm, stieg aus und eilte zu Ichmenjeffs. Im
Augenblicke hatte ich die Dreizehnte Linie und fünf Minuten später auch
ihr Häuschen erreicht. Anna Andrejewna drohte mir, als sie mich
erblickte, mit dem Finger, legte ihn dann vertikal vor den Mund, winkte
darauf beschwichtigend mit beiden Händen und flüsterte endlich: „Pst! –
leise!“ – damit ich nur ja nicht unnützen Lärm mache.

„Nelly ist soeben erst eingeschlafen, das arme Kind!“ fügte sie dann zur
Erklärung hinzu. „Um Gottes willen, wecken Sie sie nicht auf! Gott, was
ist sie für ein schwächliches Geschöpfchen! Wir sind wirklich in Sorge
um sie. Der Arzt sagt ja wohl, daß es vorläufig nichts Schlimmes sei,
aber aus _dem_ etwas Gescheites herauszubringen, ist ja ganz unmöglich!
Ich danke für diesen _Ihren vielgepriesenen_ Arzt! Und Sie, Sie schämen
sich nicht, Iwan Petrowitsch? Wir haben auf Sie gewartet und gewartet –
die ganze Zeit vor dem Essen ... Sie sind doch zwei Tage nicht mehr hier
gewesen! ...“

„Aber ich habe es Ihnen doch vorgestern ausdrücklich gesagt, daß ich
zwei Tage nicht kommen werde!“ flüsterte ich ebenso leise wie sie. „Ich
mußte meine Arbeit beenden ...“

„Aber Sie versprachen doch, heute zu Mittag zu kommen! Weshalb kamen Sie
denn nicht? Nelly war eigens dazu aufgestanden, wir setzten sie, unser
Engelchen, noch in den Großvaterstuhl und so saß sie am Eßtisch und
wartete. ‚Ich will mit euch zusammen Wanjä erwarten,‘ sagte sie, wer
aber nicht kam – das war Wanjä. Es ist doch schon bald sechs! Wo haben
Sie sich denn wieder herumgetrieben? Ach Gott, wer die Jugend von heute
nicht kennt! Und das hat sie so aufgeregt, daß ich nicht wußte, wie sie
beruhigen ... ein Wunder, daß sie endlich einschlief, mein Engelchen.
... Nikolai Ssergejewitsch ist in die Stadt gegangen – zum Tee wird er
wieder zurück sein – er hat doch Aussicht, eine Anstellung zu bekommen!
Wenn ich aber denke, daß es in der Nähe von Perm ist, so läuft es mir
kalt über den Rücken.“

„Wo ist Natascha?“

„Im Gärtchen ist sie, mein Liebling, hier gleich im Gärtchen! Gehen Sie
mal zu ihr ... Sie scheint mir auch nicht so ganz ... ich weiß nicht,
was ich denken soll ... Ach, Iwan Petrowitsch, das Leben wird einem
nicht leicht! Sie sagt wohl immer, daß sie heiter und zufrieden sei,
aber ich glaube es ihr nicht ... Gehen Sie mal zu ihr, Wanjä, und dann
sagen Sie mir später unter vier Augen, was sie eigentlich hat ... Bitte,
bitte!“

Doch ich war schon unterwegs zum Garten. Dieser Garten gehörte zum
Hause. Er war etwa fünfundzwanzig Schritt lang und ungefähr auch ebenso
breit, und bestand aus einem Rasenplatz, drei großen, alten Bäumen, ein
paar jungen Birken und einigen Fliederbüschen; am Zaune wuchs Geisblatt
und an einer Seite waren Himbeeren und zwei kleine Erdbeerbeete, und
durch das Ganze schlängelten sich zwei schmale Wege. Der alte Ichmenjeff
war von seinem Garten bis zur Begeisterung eingenommen und versicherte,
daß in ihm bald Pilze wachsen würden. Die Hauptsache war aber, daß Nelly
diesen Garten liebgewonnen hatte, weshalb sie denn auch oft im Lehnstuhl
auf den Rasenplatz hinausgetragen wurde. Nelly war bereits zum Abgott
des ganzen Hauses geworden. Doch da erblickte ich schon Natascha: sie
kam mir freudig entgegen und reichte mir die Hand. Wie elend sie noch
aussah, wie bleich! Sie hatte sich auch kaum erst von der Krankheit
erholt.

„Hast du sie schon ganz beendet, deine Novelle, Wanjä?“ fragte sie mich.

„Ganz, ganz! Jetzt bin ich auch den ganzen Abend frei.“

„Nun, Gott sei Dank! Hast du dich sehr beeilt? – Doch nicht zu überhin
geschrieben?“

„Das läßt sich nicht ändern ... Übrigens hat das nichts auf sich. Diese
angespannte Arbeit reizt meine Nerven, meine Gedanken sind dann klarer,
ich fühle und empfinde alles viel lebhafter und auch tiefer, sogar der
Stil paßt sich mir an, so daß gerade diese angespannte Arbeitsweise sich
als die vorteilhaftere erweist. Alles ist gut ...“

„Ach, Wanjä, Wanjä!“

Es fiel mir auf, daß Natascha in der letzten Zeit auf meine
literarischen Erfolge, auf meinen Ruhm entschieden eifersüchtig wurde.
Sie las nochmals alles der Reihe nach, was ich im Laufe dieses Jahres
geschrieben hatte, fragte mich jeden Augenblick nach meinen weiteren
Plänen, interessierte sich für jede Kritik, die über mich geschrieben
wurde, ärgerte sich über jedes absprechende Wort, und wollte unbedingt,
daß ich es zu großer Berühmtheit brächte.

„So wirst du dich aber bald ausschreiben, Wanjä,“ sagte sie zu mir, „du
wirst dich durch eine so angespannte Arbeit schnell erschöpfen; außerdem
untergräbst du damit auch deine Gesundheit. S. zum Beispiel schreibt in
zwei Jahren nur eine Novelle und N. hat in zehn Jahren im ganzen nur
einen Roman geschrieben. Dafür aber – wie ist der auch geschrieben!
Meisterhaft! Da findest du keinen einzigen nachlässigen Satz, kein
einziges flüchtiges, unbedachtes Wort ...“

„Ja, schon möglich, aber diese Herren leben in gesicherten
Verhältnissen, ich aber – bin wie ein gehetzter Postgaul. Ach, nun, das
ist ja doch Unsinn! Reden wir nicht davon. Du? ... Was gibt es sonst
Neues?“

„Vieles! Erstens einen Brief von _ihm_.“

„Noch einen?“

„Noch einen.“

Und sie reichte mir den letzten Brief von Aljoscha. Es war der dritte
nach der Trennung. Den ersten hatte er aus Moskau geschrieben: er teilte
ihr damals mit, daß die Umstände es ihm ganz unmöglich machten, aus
Moskau nach Petersburg zurückzukehren, wie es vor der Trennung
verabredet worden war. Im zweiten Brief benachrichtigte er sie, daß er
in den nächsten Tagen wieder in Petersburg eintreffen werde, um sich
dann mit ihr, Natascha, sogleich trauen zu lassen, das sei nun einmal
sein fester Entschluß, von dem ihn keine Macht der Welt abbringen könne.
Indes verriet der ganze Ton des Briefes nur zu deutlich, daß die anderen
Einflüsse ihn bereits besiegt hatten, weshalb er denn überhaupt nicht
mehr zu wissen schien, was er tun oder lassen sollte. Unter anderem
schrieb er in diesem Brief noch, daß Katjä seine Vorsehung sei, und sie
allein tröste ihn noch und stehe ihm bei. Ich gestehe, daß ich mehr als
neugierig war, diesen seinen letzten Brief zu lesen.

Es waren zwei Briefbogen. Die Handschrift war unordentlich, flüchtig,
der ganze Brief mit Tinte besudelt und hier und da einzelne Worte von
Tränen verwischt. Aljoscha begann damit, daß er sich von Natascha
lossagte und sie bat, ihn zu vergessen. Er bemühte sich, ihr zu
beweisen, daß eine Ehe zwischen ihnen unmöglich sei, daß andere, ihnen
feindliche „Einflüsse“ stärker seien als er, und zu guter Letzt, daß es
doch so am besten sei, denn sowohl er wie Natascha würden in der Ehe
unglücklich geworden sein, da sie doch nicht zueinander paßten.
Plötzlich aber vergaß er alle seine Vernunftschlüsse und Beweise und
gestand – ohne die erste Hälfte seines Briefes zu zerreißen –, daß er
ein Verbrecher, ein verlorener Mensch sei und nicht mehr die Kraft habe,
sich dem Willen seines Vaters, der übrigens auch schon auf dem Gute
eingetroffen war, zu widersetzen. Ferner schrieb er noch, daß er nicht
fähig sei, seine Qualen zu schildern oder sonstwie auszudrücken, was er
empfand, gestand aber im nächsten Satz, daß er durchaus die Fähigkeit in
sich fühle, Natascha glücklich zu machen, worauf er zu beweisen begann,
daß sie vollkommen ebenbürtig und für einander geschaffen wären, um zum
Schluß mit aller Hartnäckigkeit die Einwendungen des Vaters
zurückzuweisen. Mit wahrer Verzweiflung schilderte er die Glückseligkeit
des Lebens, das ihrer harrte, falls sie sich heirateten – um darauf sich
selbst wegen seines Kleinmuts zu verwünschen und – ihr auf ewig Lebewohl
zu sagen!

Man sah es, daß er den Brief unter Qualen geschrieben hatte, daß er in
seiner Ratlosigkeit ganz außer sich gewesen war. Mir traten plötzlich
Tränen in die Augen. Natascha reichte mir einen anderen Brief. Es war
ein Brief von Katjä, den sie in einem Kouvert mit dem Brief Aljoschas
gesandt hatte.

Katjä schrieb ziemlich kurz, daß Aljoscha in der Tat sehr
niedergeschlagen sei, oft weine, mitunter scheinbar der Verzweiflung
nahe und sogar ein wenig krank sei, daß _sie_ aber bei ihm bleiben und
ihn wieder glücklich machen werde. Sie schrieb, Natascha dürfe daraus
nicht schließen, daß Aljoscha sich bald trösten werde und seine Trauer
nicht ernst zu nehmen sei. Im Gegenteil! „Niemals wird er Sie
vergessen,“ schrieb sie, „selbst wenn er es wollte, könnte er es nicht,
denn sein Herz ließe es einfach nicht zu. Er liebt Sie ganz grenzenlos
und wird Sie immer lieben, und ich sage Ihnen: sollte er jemals –
gleichviel wann – aufhören, Sie zu lieben oder aufhören, sich nach Ihnen
zu sehnen bei der Erinnerung an Sie, so werde ich sofort aufhören, ihn
meinerseits zu lieben ...“

Ich gab Natascha beide Briefe zurück: wir sahen uns nur einmal an und
sagten kein Wort. Dasselbe hatten wir auch nach den ersten Briefen
getan. Überhaupt vermieden wir es jetzt, von Vergangenem zu sprechen,
als hätten wir es so verabredet. Sie litt unsäglich, das sah ich, aber
selbst mich wollte sie davon nichts merken lassen. Nach ihrer Rückkehr
ins Elternhaus hatte sie drei Wochen zu Bett gelegen und auch jetzt noch
hatte sie sich kaum erholt. Von der nahe bevorstehenden Trennung
sprachen wir überhaupt nicht, obwohl wir beide wußten, daß ihr Vater
eine Anstellung bekommen würde. Trotzdem aber war sie so lieb zu mir,
interessierte sich in der letzten Zeit so lebhaft für alles, was mich
betraf und hörte mir mit so angespannter Aufmerksamkeit zu, wenn ich ihr
auf ihre dringende Bitte von mir erzählte, daß es mir anfangs das
Beisammensein schwer machte: es schien mir, daß sie mich für das
Vergangene entschädigen wollte. Doch bald begriff ich, daß es sich hier
um etwas ganz anderes handelte, daß sie mich einfach liebte, ja, ganz
unendlich liebte und ohne mich gar nicht mehr leben konnte. Ich glaube,
selbst eine Schwester hätte ihren Bruder nicht so lieb haben können, wie
Natascha mich lieb hatte. Ich wußte sehr gut, daß unsere bevorstehende
Trennung wie ein Alp auf ihr lag und sie quälte, denn auch sie wußte,
daß ich ebensowenig ohne sie leben konnte. Doch wir sprachen nicht
davon, wenn wir uns auch oft genug sehr eingehend über Bevorstehendes
unterhielten ...

Ich erkundigte mich nach Nikolai Ssergejewitsch.

„Er wird bald zurückkommen, denke ich,“ sagte Natascha, „zum Tee
jedenfalls bestimmt.“

„Ist er wegen der neuen Anstellung in die Stadt gegangen?“

„Ja. Übrigens ist es jetzt schon abgemacht, daß er sie bekommt ... Ich
glaube, es war gar nicht so notwendig, daß er heute fortging,“ fügte sie
wie in Gedanken hinzu. „Er hätte es auch morgen tun können.“

„Weshalb ist er denn heute fortgegangen?“

„Weil ich den Brief erhielt ...“

„Er leidet fast mehr als ich,“ fuhr Natascha nach kurzem Schweigen fort,
„und du kannst dir denken, Wanjä, wie mich das quält. Ich glaube, er
denkt an nichts anderes als an mich, nicht einmal im Schlaf scheint er
mich vergessen zu können. Er weiß nicht, wie ich mich in diesem Leben
zurechtfinden werde, was ich denke, was ich fühle. Sehe ich traurig aus,
so ist er wie zerschlagen, und weiß nicht, wie er mich trösten soll,
ohne mich dabei merken zu lassen, daß er mich trösten will. Mein Gott,
ich sehe doch, wie ungeschickt er sich verstellt, wenn er uns Heiterkeit
vortäuscht, sich zum Scherzen und Lachen zwingt! Mama ist dann auch ganz
unglücklich, denn daß er sich nur uns zuliebe verstellt, das sieht sie
doch ... So bleibt ihr nichts übrig, als zu seufzen ... Sich verstellen
– das versteht sie nicht ... wie alle ehrlichen, offenherzigen
Menschen!“ Natascha lächelte. „Und als ich heute den Brief erhielt,
mußte er sogleich aus dem Hause, um nicht meinem Blick irgendwie zu
begegnen ... Ich liebe ihn mehr als mich selbst, ich liebe ihn mehr als
alle anderen auf der Welt, Wanjä,“ fügte sie mit gesenktem Kopfe hinzu
und drückte mir leise die Hand, „sogar mehr als dich ...“

Wir gingen zweimal durch den Garten, ehe sie wieder zu sprechen begann.

„Masslobojeff war heute bei uns, auch gestern war er hier.“

„Ja, er hat euch in letzter Zeit oft besucht.“

„Weißt du auch, weshalb er kommt? Mama glaubt an ihn wie an einen
Allmächtigen. Sie ist überzeugt, daß er alles so genau wisse – nun, da
die Gesetze und alles übrige – daß er alles zustande bringen könne. Und
nun, was meinst du, woran sie denkt? Es tut ihr, weißt du, im Grunde
doch sehr leid, daß ich nicht Fürstin geworden bin. Das läßt ihr jetzt
keine Ruhe, und ich glaube, sie hat Masslobojeff in ihren Kummer
eingeweiht. Papa gegenüber wagt sie natürlich nicht, etwas davon
verlauten zu lassen, und da hofft sie nun, daß sich eventuell durch
Masslobojeff etwas machen ließe, so – vielleicht mit Hilfe irgend eines
Gesetzparagraphen. Masslobojeff ist natürlich klug genug, ihr nicht viel
zu widersprechen und läßt es ruhig geschehen, daß sie ihm jedesmal Wein
vorsetzt,“ schloß Natascha belustigt.

„Glaub’s schon, das sieht ihm ähnlich! Aber woher weißt du es denn?“

„Daß Mama –? ... Ach, Mamachen verrät sich doch immer selbst ... mit
ihren Andeutungen ... Dazu bedarf es nicht fremder Hilfe.“

„Was macht Nelly? Wie ist sie jetzt?“ fragte ich.

„O, ich wundere mich schon die ganze Zeit über dich, Wanjä: erst jetzt
erkundigst du dich nach ihr?“

Ich glaubte aus Nataschas Stimme einen leisen Vorwurf herauszuhören.

Nelly war, wie gesagt, der Abgott des ganzen Hauses. Natascha gewann sie
geradezu leidenschaftlich lieb und auch Nelly erwiderte ihre Liebe bald
von ganzem Herzen. Die arme Kleine hatte es sich wohl nicht träumen
lassen, daß sie je im Leben solche Menschen und soviel Liebe finden
würde, und zu meiner Freude sah ich, daß ihr erbittertes kleines Herz
mit der Zeit ganz weich und zutraulich wurde. Ja, bald erwiderte sie die
allgemeine Liebe, die sie hier umgab, mit einer nahezu fieberhaften
Gegenliebe, die man ihr nach ihrem früheren Mißtrauen, ihrer
Verstocktheit und Unnahbarkeit kaum zugetraut hätte. Übrigens war aber
diese Veränderung doch nicht so schnell vor sich gegangen: lange Zeit
hatte sie sich noch wie ein Muscheltier zu den liebevollen
Annäherungsversuchen der anderen verhalten, bis sie dann endlich ihre
Scheu verlor und sich ganz ihrer Liebe zu uns hingab. Am meisten liebte
sie Natascha und den alten Ichmenjeff. Ich aber, oder vielmehr meine
Gegenwart wurde für sie förmlich zur ersten Lebensbedingung, so daß sich
ihr Zustand jedesmal verschlimmerte, wenn ich an einem Tage nicht zu ihr
kam. So hatte ich sie zum Beispiel das letztemal beim Abschied, als ich
ihr sagen mußte, daß ich zwei Tage nicht zu ihr kommen würde, da ich
eine Arbeit beenden mußte, lange Zeit darüber beruhigen müssen ...
natürlich indirekt. Denn Nelly schämte sich ihrer Gefühle viel zu sehr,
als daß ich offen von ihnen hätte sprechen können, daher mußte ich mir
den Anschein geben, daß ich ihr das alles nur so beiläufig erkläre.

Doch ihr Zustand beunruhigte uns nicht wenig. Selbstverständlich wurde
es schon von Anfang an als stillschweigend beschlossen angenommen – eben
weil es so selbstverständlich war –, daß Nelly bei Ichmenjeffs blieb.
Nun rückte der Tag der Abreise immer näher, Nelly aber wurde noch immer
nicht gesund, ja, ihre Krankheit verschlimmerte sich sogar
augenscheinlich. Erkrankt war sie nach jenem schweren Anfall an dem
Tage, als ich zum erstenmal mit ihr zu Ichmenjeffs gekommen war, am Tage
der Versöhnung des Alten mit Natascha. Doch übrigens, was sage ich! Sie
war ja doch wohl nie ganz gesund gewesen: die Krankheit hatte schon von
Geburt an in ihr gesessen, deshalb machte sie auch, einmal zum Ausbruch
gekommen, so erschreckend schnelle Fortschritte. Worin ihre Krankheit
bestand, vermag ich nicht genau zu erklären. Die epileptischen Anfälle
kehrten jetzt allerdings nach kürzerer Zeit wieder als früher; doch in
der Hauptsache schien es eine Art Zehrung zu sein, ein allgemeiner,
unaufhaltsamer Kräfteverlust, Fieber und ein krankhaftes, nervöses
Erregtsein. Alles dies hatte sie so geschwächt, daß sie in den letzten
Tagen nur noch zu Bett lag. Doch sonderbar: je mehr sie ihrer Krankheit
erlag, um so freundlicher, liebevoller und offener wurde sie zu uns. Vor
drei Tagen griff sie plötzlich nach meiner Hand, als ich an ihrem Bett
vorüberging. Ich blieb natürlich stehen und sah sie an. Sie zog mich
näher zu sich. Es war außer uns niemand im Zimmer. Ihr Gesichtchen, das
so schmal geworden war, und ihre dunklen Augen glühten und in ihren
fieberheißen Händchen zuckte es. Und zuckend, wie vor verhaltener
Leidenschaft, streckte sie sich auf den Kissen näher zu mir, und als ich
mich zu ihr beugte, schlang sie plötzlich ihre dünnen braunen Ärmchen
krampfhaft um meinen Hals und küßte mich fest auf den Mund, und dann
verlangte sie sogleich, Natascha solle zu ihr kommen. Ich rief sie.
Nelly wollte unbedingt, daß sie sich zu ihr aufs Bett setze und sie
ansehe ...

„Ich will euch beide ansehen,“ sagte sie. „Ich habe euch heute nacht
beide im Traum gesehen ... aber nicht nur heute nacht, sondern sehr oft
... in jeder Nacht ...“

Es drängte sie offenbar, uns etwas zu sagen; aber sie begriff vielleicht
ihre Gefühle selbst nicht und wußte daher auch nicht, wie sie es
ausdrücken sollte, was sie auf dem Herzen hatte ...

Nein, am meisten liebte sie nach mir freilich doch den alten Nikolai
Ssergejewitsch. Doch ich muß sagen, daß auch Nikolai Ssergejewitsch sie
fast ebenso liebte, wie seine Natascha. Er verstand es großartig, seine
kleine Nelly zu erheitern: kaum war er in ihr Zimmer getreten, da hörte
man sie schon beide lachen. Nelly wurde heiter und unartig wie ein
kleines unvernünftiges Kind, kokettierte aber zwischendurch sogar mit
dem Alten und lachte ihn aus, um ihm darauf mit ernstestem Gesicht ihre
Träume zu erzählen, wobei sie jedesmal die ungeheuerlichsten Dinge
erfand, die er ihr dann – gleichfalls mit vollkommen ernstem Gesicht –
zu deuten versuchte, worauf er dann ihr wiederum seine Träume erzählte,
bei welcher Gelegenheit er eine nicht minder blühende Phantasie
entwickelte. Kurz, der Alte war von seinem „kleinen Töchterchen“ so
eingenommen, daß er sich bald mit bloßer Liebe zu ihr nicht mehr
begnügte und für sie einfach zu schwärmen begann.

„Gott hat sie uns zum Geschenk gemacht, damit uns die Freude, die sie
uns bringt, für den Kummer dieses letzten Jahres entschädige,“ sagte er
einmal zu mir, als er wieder ganz gerührt Nellys Zimmer verließ, nachdem
er sie zur Nacht gesegnet hatte.

Die Abende verbrachten wir sehr gemütlich: gewöhnlich versammelten wir
uns alle im Eßzimmer um den runden Tisch. Masslobojeff erschien fast an
jedem Abend, der alte Doktor, der sich mit ganzem Herzen Ichmenjeffs
angeschlossen hatte, erschien nicht so oft, aber immerhin ein paarmal in
der Woche. Dann trugen wir Nelly aus ihrem Krankenzimmer zu uns und
setzten sie in den Großvaterstuhl. Die Tür zum Garten stand weit offen
und vor uns lag der grüne Rasenplatz im Licht der Abendsonne. Und es
duftete nach frischem Grün und blühendem Flieder. Nelly rührte sich
nicht in ihrem Großvaterstuhl, ganz still hörte sie unserem Gespräch zu
und nur ihre Augen bewegten sich langsam, wenn sie vom einen zum anderen
sah. Mitunter aber wurde auch sie lebhaft und begann, sich an unserer
Unterhaltung zu beteiligen ... Nur muß ich gestehen, daß wir uns dann
etwas beunruhigt fühlten, zumal sie auf Dinge zu sprechen kommen konnte,
die sie an Vergangenes erinnern mußten, und das war es gerade, was wir
ängstlich zu vermeiden suchten. Wir waren uns unserer Schuld sehr wohl
bewußt, denn wenn sie uns damals nicht ihre Lebensgeschichte hätte
erzählen _müssen_, wäre es vielleicht auch nicht zu jenem schweren
Anfall gekommen, der dann den Ausbruch ihrer Krankheit zur Folge hatte.
Auch der Doktor war sehr gegen diese Erinnerungen und so gaben wir uns
in solchen Fällen gewöhnlich alle die größte Mühe, das Gespräch
möglichst unauffällig auf neutrales Gebiet abzulenken. Dann bemühte sich
wiederum Nelly, uns nicht merken zu lassen, daß sie unsere Absicht
erriet, und sie begann mit dem Doktor und Nikolai Ssergejewitsch zu
scherzen und zu lachen.

Und doch wurde es mit ihr von Tag zu Tag schlechter. Ihre nervöse
Erregbarkeit nahm täglich zu und der Puls wurde immer unregelmäßiger.
Der alte Doktor sagte mir, daß sie sogar sehr bald sterben könne.

Natürlich verriet ich das nicht den anderen, – ‚sie werden es ja noch
früh genug erfahren,‘ sagte ich mir. Nikolai Ssergejewitsch war übrigens
fest überzeugt, daß sie noch vor der Reise vollkommen gesund werden
würde.

„Ah, da ist Papa schon zurückgekehrt!“ sagte Natascha, die seine Stimme
gehört hatte. „Gehen wir, Wanjä.“

Nikolai Ssergejewitsch hatte, kaum über die Schwelle getreten, seiner
Gewohnheit gemäß sogleich laut zu sprechen begonnen, so daß Anna
Andrejewna ihn nicht angstvoll und schnell genug zur Ruhe winken konnte.
Ganz erschrocken hielt der Alte in seiner heiteren Rede inne, um darauf,
als Natascha und ich ins Zimmer traten, flüsternd und – um seine
Verlegenheit zu verbergen – mit geschäftiger Miene das Ergebnis seiner
soeben gehabten Unterredung mitzuteilen: die Stelle, um die er sich
bemüht hatte, war nun endgültig ihm zugesprochen und das freute ihn
natürlich sehr.

„Nach zwei Wochen können wir hinfahren,“ schloß er händereibend, doch
warf er gleichzeitig einen besorgten Blick auf Natascha.

Sie bemerkte den Blick und antwortete ihm mit einem beruhigenden
Lächeln, legte die Hände auf seine Schultern und küßte ihn, was seine
Befürchtungen im Augenblick verscheuchte.

„Ja, dann fahren wir, dann fahren wir, meine Lieben!“ fuhr er erfreut
fort. „Nur du, Wanjä, sieh ... nur die Trennung von dir wird uns schwer
werden ...“

Nebenbei bemerkt: er hatte mich noch mit keinem Wort aufgefordert, mit
ihnen zu fahren, was er, nach seinem Charakter zu urteilen, unbedingt
getan haben würde, wenn er ... nicht um meine Liebe zu Natascha gewußt
hätte.

„Nun, aber was ist da zu machen, Kinder! Was sein muß, muß sein! Es tut
mir mehr als leid, mein Junge ... Aber ich hoffe, daß diese
Lebensveränderung uns allen gut tun wird ... Eine Veränderung der
Lebensweise bedeutet – daß ein neues Leben beginnt und ein altes
_abgetan ist_!“ schloß er, wieder mit einem Seitenblick auf seine
Tochter.

Und er glaubte daran, was er sagte, und dieser Glaube machte ihn froh.

„Aber Nelly?“ fragte Anna Andrejewna.

„Nelly? Wieso, was? ... Nun ja, das Rackerchen ist noch ein wenig
schwach, aber bis dahin wird sie ja wohl wieder auf den Beinen sein. Sie
ist ja auch jetzt schon ein wenig besser, – findest du nicht auch,
Wanjä?“ fragte er mich, wie es schien etwas beunruhigt, und dabei sah er
mich so an, als hinge von mir allein alles ab.

„Ja, wie geht es ihr jetzt? Hat sie lange geschlafen? Ist ihr sonst
nichts passiert? Oder ist sie vielleicht von meinem lauten Sprechen
aufgewacht? Weißt du was, Anna Andrejewna: wir schieben den Tisch
schnell auf die Terrasse und trinken dort unseren Tee, wenn die anderen
kommen, und Nelly kann heute auch mal draußen sitzen, es ist doch ein
Wetter wie geschaffen dazu! ... Das wird schön werden. Aber ist sie
nicht vielleicht doch schon aufgewacht? Ich werde mal nachsehen ...
nein, nein, hab nur keine Angst, ich werde sie schon nicht aufwecken!“
beruhigte er Anna Andrejewna, da sie wieder ängstlich zur Ruhe mahnen
wollte.

Doch Nelly war bereits wach. Nach einer Viertelstunde saßen wir wie
gewöhnlich um den runden Tisch beim Abendtee.

Nelly saß wieder in ihrem Großvaterstuhl. Da erschien auch der Doktor
und bald nach ihm kam Masslobojeff. Letzterer brachte Nelly ein großes
Bukett blühender Fliederdolden, schien aber sonst gereizt und besorgt zu
sein.

Masslobojeff war bei Ichmenjeffs ein gern gesehener Gast und er besuchte
sie fast täglich. Sonderbar war aber eines: obschon wir ihn alle gern
hatten, was ich namentlich von Anna Andrejewna sagen kann, wurde doch
Alexandra Ssemjonownas nie mit einem Wort Erwähnung getan; auch
Masslobojeff sprach nicht von ihr. Da Anna Andrejewna durch mich
erfahren hatte, daß Alexandra Ssemjonowna es noch nicht dazu gebracht,
seine rechtmäßige Gattin zu werden, so war sie zu der Überzeugung
gekommen, daß sie dieses Mädchen nicht nur nicht bei sich empfangen,
sondern nicht einmal von ihr sprechen durfte. Und dabei blieb es – was
zur Charakteristik Anna Andrejewnas dienen mag. Übrigens glaube ich
aber, daß sie, wenn sie nicht Natascha gehabt hätte und – das mag wohl
der Hauptgrund gewesen sein – wenn nicht das geschehen wäre, was
geschehen war, so würde sie vielleicht auch nicht so strengdenkend
gewesen sein.

Nelly war an diesem Abend auffallend traurig und ihre Gedanken schienen
mit etwas Besonderem beschäftigt zu sein. Es war, als habe sie einen
schlechten Traum gehabt und denke nun über ihn nach. Doch über
Masslobojeffs Geschenk freute sie sich sehr und betrachtete mit frohem
Lächeln die Blumen, die Anna Andrejewna in einer Vase vor ihr auf den
Tisch gestellt hatte.

„Also du hast Blumen gern, Nelly?“ fragte der Alte. „Schau, schau! Na,
wart mal,“ meinte er schmunzelnd, „morgen ... na, du wirst schon sehen
...“

„Ja, ich liebe Blumen,“ sagte Nelly, „und ich weiß noch, wie wir Mama
einmal mit Blumen überraschten. Als wir noch dort waren,“ – dort
bedeutete jetzt: im Auslande – „war Mama einmal einen ganzen Monat sehr
schwer krank. Da verabredeten wir uns, Heinrich und ich, für sie, wenn
sie zum erstenmal ihr Schlafzimmer verlassen würde, alle anderen Zimmer
mit Blumen zu schmücken. Und so machten wir es auch. Mama sagte am
Abend, daß sie am nächsten Tage unbedingt mit uns frühstücken wolle. Da
standen wir sehr, sehr früh auf und Heinrich brachte viele Blumen und
wir schmückten das ganze Zimmer mit grünen Ästen und Blumensträußen. Es
waren da auch Efeuranken und noch andere, sehr breite Blätter – ich weiß
nicht mehr, wie sie heißen – und dann noch andere, die überall kleben
bleiben, und dann noch große weiße Blüten und weiße Narzissen – das sind
meine Lieblingsblumen – und dann noch Rosen, so schöne, schöne Rosen,
und noch viele, viele Blumen. Und wir schmückten das ganze Zimmer. Und
dann waren da noch solche Büsche, ganz wie kleine Bäume sahen sie aus,
in großen Kübeln, die stellten wir in die Ecken und zu beiden Seiten von
Mamas Stuhl, und als Mama kam, war sie ganz verwundert und sie freute
sich sehr und Heinrich war auch froh ... Ich weiß noch ganz genau wie
das war ...“

Der Doktor war sichtlich besorgt und schien sie unterbrechen zu wollen,
denn Nelly sah so erschöpft und bleich aus. Aber sie wollte sprechen und
so erzählte sie bis zum Sonnenuntergang von jenem Leben, das sie „dort“
geführt hatten, und wir unterbrachen sie nicht. „Dort“ war sie mit ihrer
Mutter und Heinrich viel gereist und sie erzählte mit glücklichen Augen
vom tiefblauen Himmel, von hohen Bergen mit schneebedeckten Gipfeln, von
Wasserfällen und Gletschern. Dann sprach sie von den Seen und Schluchten
Italiens, von Blumen und Bäumen und von italienischen Bauern und deren
braunen Gesichtern mit den schwarzen Augen; und sie erzählte
verschiedene Erlebnisse, und was ihnen hier und da begegnet war. Dann
sprach sie von großen Städten und Palästen, von einem großen Dom mit
einer großen Kuppel, die plötzlich in den verschiedensten Farben
erstrahlte, als man einmal die ganze Stadt illuminiert hatte; und dann
von einer heißen südlichen Stadt, über der der Himmel ganz wolkenlos und
ganz blau gewesen war und die an einem blauen Meerbusen lag ... Es war
das das erstemal, daß Nelly so ausführlich von ihrer Vergangenheit
erzählte, und wir hörten ihr gespannt zu. Wir hatten bisher nur ihr
Leben in Petersburg gekannt – dieses Leben in einer finsteren,
unfreundlichen Stadt, in einem rauhen, kalten Klima, unter einer trüben,
bleichen Sonne und unter bösen, halbwahnsinnigen Menschen, durch die sie
und ihre Mutter so viel zu leiden hatten. Ich dachte mir, wie sie beide
an so manchem feuchten Abend in der schmutzigen Kellerwohnung auf ihrem
armseligen Lager eng umschlungen gelegen und von Vergangenem gesprochen
haben mögen, vom toten Freunde und von den Wundern anderer Länder. Ich
dachte auch an Nelly, wie sie sich dann später allein dessen erinnert
haben mag, als auch ihre Mutter schon tot war und die Bubnowa sie mit
tierischer Grausamkeit zu Schändlichkeiten zwingen wollte ...

Ganz erschöpft hielt Nelly endlich inne: sie fühlte sich sehr schlecht
und wollte wieder ins Bett getragen werden. Nikolai Ssergejewitsch war
ganz erschrocken und konnte es sich nachher nicht verzeihen, daß er sie
so lange hatte sprechen lassen. Nelly bekam einen leichten
Ohnmachtsanfall; in der letzten Zeit war das öfter geschehen. Als sie
sich wieder etwas erholt hatte, wollte sie mich sprechen. Und sie bat so
dringend, mich zu ihr zu rufen und uns allein zu lassen, daß der alte
Doktor zu guter Letzt selbst darauf bestand, ihren Wunsch zu erfüllen.

„Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen, Wanjä,“ begann Nelly, als wir
allein waren. „Ich weiß, die denken alle, daß ich mit ihnen dorthin
fahren werde; aber ich werde nicht mitfahren, denn ich kann nicht, und
vorläufig will ich bei dir bleiben. Das mußte ich dir jetzt sagen.“

Ich versuchte, sie zu bereden; ich sagte ihr, daß Ichmenjeffs sie so
liebten als wäre sie ihr leibliches Kind, daß sie sehr traurig sein
würden, wenn sie sich von ihr trennen müßten, daß sie bei mir dagegen
ein sehr schlechtes Leben hätte, und daß wir uns daher wohl, so lieb sie
mir auch war, doch würden trennen müssen.

„Nein, das geht nicht!“ sagte sie sehr bestimmt, „denn ich sehe jetzt
Mama oft im Traum und sie sagt mir, daß ich nicht mit ihnen fortfahren,
sondern hierbleiben soll; sie sagt, ich hätte viel gesündigt, weil ich
Großpapa allein gelassen habe, und sie weint immer, wenn sie das sagt.
Ich will hierbleiben und Großpapa pflegen, Wanjä.“

„Aber dein Großpapa ist doch schon tot, Nelly,“ sagte ich, nachdem ich
sie etwas verwundert angehört hatte.

Sie dachte nach und sah mich dabei mit vollkommen unbeweglichem, ernstem
Blick an.

„Erzähle mir noch einmal, Wanjä, wie Großpapa gestorben ist. Erzähle
alles ganz genau, vergiß nichts!“

Ich wunderte mich wieder über ihr eigentümliches Verlangen, begann aber
doch nach bestem Wissen zu erzählen. Ich sagte mir, daß sie vielleicht
nur phantasiere, oder wenn nicht gerade das, so doch nach dem
Ohnmachtsanfall vielleicht noch etwas unzurechnungsfähig war.

Sie folgte aber meiner Erzählung mit angespannter Aufmerksamkeit.
Deutlich sehe ich noch ihre dunkeln, krank blickenden Augen mit dem
Fieberglanz unablässig auf mich gerichtet, solange ich erzählte.

„Nein, Wanjä, er ist nicht tot!“ sagte sie plötzlich überzeugt, als ich
verstummt war und sie noch eine Weile nachgedacht hatte. „Mama spricht
jedesmal von Großpapa, und als ich ihr gestern sagte: ‚Aber er ist doch
tot,‘ da war sie sehr traurig und weinte, und dann sagte sie mir, daß es
nicht wahr sei, daß man es mir nur so sage, daß er aber auch jetzt noch
dort gehe und um Almosen bitte, ‚so wie wir beide früher gingen,‘ sagte
Mama, ‚und er geht immer dort auf der Stelle, wo wir ihn das erstemal
gesehen haben, als ich vor ihm niederfiel und Asorka mich erkannte‘ ...“

„Das ist ein Traum, Nelly, und ein kranker Traum, weil du selbst krank
bist,“ sagte ich ihr.

„Das habe ich auch gedacht, daß es nur ein Traum sein kann, und deshalb
habe ich auch niemandem etwas davon gesagt,“ fuhr Nelly fort. „Nur dir
allein wollte ich es erzählen. Aber heute als ich nach dem Essen
einschlief, nachdem du nicht gekommen warst, sah ich auch Großpapa im
Traum. Er saß bei sich zu Hause und wartete auf mich, und er sah wieder
so unheimlich aus, und er sagte, daß er zwei Tage nichts mehr gegessen
habe und Asorka auch nicht, und er war sehr böse auf mich und machte mir
Vorwürfe. Dann sagte er noch, daß er gar keinen Schnupftabak habe, ohne
diesen Tabak aber könne er gar nicht leben. Das hat er mir wirklich auch
schon früher einmal gesagt, Wanjä, als Mama schon gestorben war und ich
noch zu ihm ging. Dann war er ganz krank und begriff fast gar nicht mehr
was ich ihm sagte. Wie ich das nun heute von ihm hörte, dachte ich bei
mir: ich werde auf die Straße gehen und um Almosen bitten, und dann für
ihn Brot, gekochte Kartoffeln und Schnupftabak kaufen. Und da ging ich
auch auf die Straße, stand und bat, nur sah ich plötzlich, daß auch
Großpapa nicht weit von mir auf der Straße war, er wartete ein wenig und
dann trat er an mich heran und sah nach, wieviel ich bekommen hatte und
nahm mir das Geld fort. ‚Das ist für Brot,‘ sagte er, ‚jetzt sammle für
Tabak.‘ Ich bitte also weiter um Almosen und er kommt dann wieder und
nimmt mir das Geld wieder fort. Ich sage ihm, daß ich ihm doch sowieso
das ganze Geld geben werde, daß ich doch nichts für mich behalten will.
Er aber sagt: ‚Nein, du bestiehlst mich; auch die Bubnowa hat mir
gesagt, daß du eine Diebin bist, deshalb werde ich dich auch niemals zu
mir nehmen. Wo hast du ein Fünfkopekenstück hingetan?‘ Ich begann zu
weinen, weil er mich eine Diebin genannt und mir nicht traute, er aber
hörte nicht auf mich und schrie immer nur: ‚Fünf Kopeken hast du
gestohlen, gib sie her!‘ Und dann fing er an, mich zu schlagen, dort vor
allen Menschen auf der Straße, und er schlug mich so stark, daß ich
schreien wollte vor Schmerz. Und ich weinte sehr ... Sieh, und da denke
ich jetzt, daß er bestimmt noch lebt und irgendwo dort allein geht und
auf mich wartet ...“

Ich begann sie wieder zu beruhigen und ihr zu versichern, daß er
tatsächlich gestorben sei, bis sie es mir zu guter Letzt doch zu glauben
schien. Sie sagte nur, daß sie sich jetzt fürchte, einzuschlafen, weil
sie dann den Großpapa sehen werde. Endlich umarmte sie mich wieder ganz
plötzlich und heiß ...

„Aber ich kann dich doch nicht verlassen, Wanjä!“ sagte sie, ihr
Gesichtchen an meine Wange schmiegend. „Auch wenn Großpapa nicht wäre –
ich würde doch nicht von dir fortfahren!“

Die anderen waren alle sehr besorgt um Nelly. Ich ging mit dem Doktor
ins Nebenzimmer und erzählte ihm dort unter vier Augen von ihren
Träumen. Ich bat ihn, mir seine endgültige Meinung zu sagen.

„Das kann ich nicht, denn ich weiß selbst noch nicht genau, um was es
sich hier handelt,“ sagte er nachdenklich. „Ich beobachte vorläufig
noch, ich kombiniere und versuche es mehr zu erraten, aber ... bestimmt
etwas sagen läßt sich vorläufig noch nicht. Außer dem einen: daß eine
absolute Gesundung prinzipiell unmöglich ist und sie unfehlbar bald
sterben wird. Ichmenjeffs habe ich davon noch nichts gesagt, da Sie mich
darum so gebeten haben, aber ... Ich will sie morgen noch einmal
untersuchen und auch noch andere Ärzte zur Beratung heranziehen.
Vielleicht läßt sich da noch etwas machen, vielleicht! Sie tut mir leid,
die Kleine, es ist mir, als müßte ich mein eigenes Kind verlieren ...
Solch ein liebes, reizendes Mädchen! Und wie verständig sie ist, wie
klug für ihr Alter!“ ...

Nikolai Ssergejewitsch war ganz besonders aufgeregt und trug sich mit
großen Plänen.

„Höre mal, Wanjä, ich habe mir was ausgedacht!“ begann er sogleich, als
ich zu ihnen zurückkehrte. „Sie liebt – Blumen sehr – weißt du, was wir
da machen wollen? Wir arrangieren ihr zu morgen genau solch einen
Empfang mit Blumen, wie sie ihn mit jenem Heinrich ihrer Mutter bereitet
hat, weißt du, so wie sie vorhin erzählte ... Es regte sie so auf als
sie davon sprach ...“

„Das ist eben der Haken, – Aufregung schadet ihr,“ wandte ich ein.

„Ja, aber eine angenehme Aufregung doch nicht! – das ist doch etwas ganz
anderes! Glaube mir nur, Freundchen, verlaß dich auf meine Erfahrung:
angenehme Aufregung schadet nie, im Gegenteil, die kann sogar gesund
machen oder wenigstens zur Gesundung beitragen ...“

Mit einem Wort, der Alte war von seiner Idee so entzückt, daß er sich
für sie fast schon zu begeistern begann. Es war ganz unmöglich, ihm zu
widersprechen. Er fragte auch noch den Doktor nach seiner Meinung, doch
bevor dieser etwas meinen konnte, hatte er schon Hut und Stock in der
Hand und wandte sich zum Gehen.

„Hör’ mal,“ sagte er im Fortgehen, „hier ist eine Orangerie in der Nähe,
eine prächtige Orangerie. Und jetzt ist dort Ausverkauf: da kann man für
den billigsten Preis Blumen kaufen, wirklich, geradezu erstaunlich
billig! ... Du, sag das bei Gelegenheit Anna Andrejewna, damit sie sich
nicht wegen der Ausgabe allzusehr beunruhigt ... Na, also das wäre das
... Ja! Noch eines, Freund: wohin gehst du denn jetzt? Du bist doch
fertig, hast die Arbeit beendet, wozu also jetzt nach Hause eilen?
Nächtige doch bei uns oben, in der Dachkammer – weißt du noch, wie
früher? Deine Kissen, das Bett – alles steht noch auf demselben Fleck, –
nicht angerührt! Wirst wie ein König von Frankreich dort oben schlafen.
Was? Bleib mal hier! Morgen können wir dann früher aufstehen, und dann,
weißt du, wenn die Blumen gebracht werden, können wir beide das Zimmer
schmücken, so daß zu acht Uhr alles fertig ist. Und Natascha wird uns
helfen – sie hat doch mehr Geschmack als wir beide zusammen ... Nun,
bist du einverstanden? Bleibst du?“

Natürlich blieb ich. Der Alte traf sogleich die nötigen Anordnungen.
Inzwischen verabschiedeten sich der Arzt und Masslobojeff und gingen
nach Hause, denn Ichmenjeffs pflegten früh zu Bett zu gehen, gewöhnlich
schon um elf Uhr. Masslobojeff war, als er sich verabschiedete, still
und nachdenklich und wollte mir etwas mitteilen, schob es aber auf.

„Ein anderes Mal, heute ist es zu spät,“ sagte er.

Als ich aber den Alten gute Nacht gewünscht und in meine Dachkammer
hinaufgestiegen war, da fand ich ihn zu meiner Verwunderung dort oben
vor. Er saß am Tisch und blätterte in einem Buch. Offenbar erwartete er
mich.

„Habe unterwegs kehrtgemacht, Wanjä,“ sagte er, „denn schließlich ist es
doch besser, ich erzähle es dir heute noch. Setze dich. Sieh, die ganze
Geschichte ist so dumm, so blödsinnig dumm, daß man sich darüber nur
ärgern kann ...“

„Was, was ist denn los?“

„Los ist nichts, aber dein vermaledeiter Fürst hat mich vor zwei Wochen
so geärgert, so geärgert, sag ich dir, daß mein Ärger selbst in zwei
Wochen noch nichts an Kraft und Größe eingebüßt hat.“

„Wie, was? Stehst du denn mit dem Fürsten immer noch in Verbindung?“

„Na ja, wußt ich’s doch, daß du sogleich Wie und Was schreien wirst, als
wäre Gott weiß was passiert! Du, Freund, du bist auf ein Haar wie meine
Alexandra Ssemjonowna ... Überhaupt ist das alles unerträgliches
Weibergewäsch ... Kann so was nicht verdauen! ... Da braucht nur eine
Krähe einmal zu krächzen, sogleich ist das Gezeter groß: ‚Wie! was!‘“

„Nun, ärgere dich nicht.“

„Tue ich gar nicht, aber man muß doch mit nüchternen normalen Augen auf
die Dinge sehen, nicht durch Vergrößerungsgläser ... Ja.“

Er schwieg eine Weile, als ärgere er sich noch über mich. Ich schwieg
gleichfalls und wartete.

„Siehst du, Freund,“ begann er dann, „ich bin da auf eine Spur gestoßen
... das heißt, genau genommen bin ich weder auf eine Spur gestoßen, noch
hat es eine Spur überhaupt gegeben, aber es schien mir plötzlich so ...
Ich habe gewisse Dinge kombiniert und daraus die Schlußfolgerung
gezogen, daß Nelly ... vielleicht ... nun, mit einem Wort, des Fürsten
rechtmäßige Tochter ist.“

„Was!“

„Na ja, das konnte ich mir ja denken, daß du sogleich ‚was!‘ schreien
würdest! Bei Gott, es ist keine Möglichkeit, mit diesen Leuten zu
reden!“ rief er scheinbar wütend aus. „Habe ich dir denn schon was
Positives gesagt, du leichtsinniger Mensch? Habe ich dir gesagt, daß sie
die _bewiesenermaßen rechtmäßige_ Tochter des Fürsten sei? Habe ich dir
das gesagt oder nicht? ...“

„Höre, mein Bester,“ unterbrach ich ihn erregt, „schreie um Gottes
willen nicht so, sondern tue mir den Gefallen und erkläre es mir ruhig
und deutlich. Bei Gott, ich werde dich verstehen. So begreife doch, bis
zu welch einem Grade das wichtig ist und welche Folgen ...“

„Jawohl, Folgen! Wo willst du die Folgen hernehmen? Wo sind die Beweise?
Ohne Beweise macht man nichts, ich aber erzähle es dir nur als größtes
Geheimnis. Weshalb ich aber überhaupt davon mit dir rede – das werde ich
dir später erklären. Du siehst, es ist notwendig, daß ich’s tue, und
damit basta. Also schweige vorläufig, höre zu und laß dir gesagt sein,
daß es dir nur unter dem Siegel der größten Verschwiegenheit mitgeteilt
wird ... Sieh, die Geschichte verhält sich so: schon im Winter, noch
bevor der alte Smitt starb, begann der Fürst sogleich nach seiner
Rückkehr aus Warschau die ganze Sache ... Das heißt: begonnen hatte er
sie schon viel früher, etwa vor einem Jahr. Damals aber hatte er nach
etwas anderem geforscht, jetzt aber begann er nach etwas Neuem zu
forschen. Die Hauptsache war nämlich die, daß er ihre Spur verloren
hatte. Vor dreizehn Jahren hatte er die Smitt in Paris verlassen, doch
während dieser ganzen Zeit hatte er sie nicht aus dem Auge verloren: so
hatte er gewußt, daß sie mit Heinrich zusammenlebte – mit diesem, von
dem heute die Rede war; er wußte, daß sie eine Tochter, namens Nelly,
hatte, er wußte auch, daß sie selbst krank war; na, mit einem Wort, er
wußte alles, nur verlor er plötzlich die Spur, und das, wie mir scheint,
bald nach dem Tode Heinrichs, als die Smitt nach Petersburg
zurückkehrte. Hier in Petersburg hätte er sie allerdings bald gefunden,
gleichviel unter welchem Namen sie zurückgekehrt wäre; aber sieh, die
Sache war nämlich die, daß seine ausländischen Agenten ihn betrogen
hatten: sie schrieben ihm, daß sie in Süddeutschland irgendwo dort in
einer kleinen Stadt lebe, was sie selber für vollkommen richtig hielten,
doch hatten sie sich getäuscht: das war eine andere Smitt. Und das
dauerte so ungefähr ein Jahr oder noch länger, der Fürst aber begann
schließlich Verdacht zu schöpfen, denn aus gewissen Umständen glaubte er
zu ersehen, daß es nicht diese Smitt sein könne. Jetzt fragte es sich:
wo war die richtige Smitt? Und da kam es ihm in den Sinn – so, ganz von
selbst, ohne jede Handhabe: sollte sie nicht in Petersburg sein? Während
nun seine Agenten sich im Auslande erkundigten, begann er selber hier in
Petersburg nachzuforschen, nur wollte er, wie’s scheint, nicht gar zu
offiziell vorgehen. Na und da wandte er sich an mich. Man hatte mich ihm
empfohlen, so und so, aus Liebhaberinteresse, wie gesagt, befaßt sich
mitunter auch mit solchen Sachen, – nun und so weiter, und so weiter
...“

„Nun und so erklärte er mir denn den Sachverhalt, aber nur so mehr
andeutungsweise, der Hund, so schleierhaft und zweideutig, daß kein
Teufel recht klug draus werden konnte. Versah sich oft, wiederholte
manches mehrmals, und erzählte ein und dasselbe zuerst so, dann wiederum
so und dann nochmals anders, – kurz: alles doppelt, dreifach und
verschieden ... Na, aber wie schlau er auch war, alles läßt sich doch
nicht verbergen. Ich, versteht sich, ich begann mit vollster
Unterwürfigkeit und Herzenseinfalt, mit einem Wort: ergebenster Sklave.
Nach meinem Grundsatz aber, den ich mir ein für allemal aufgestellt
habe, erstens, und zweitens gemäß dem Naturgesetz – denn das ist ein
Naturgesetz, mußt du wissen – dachte ich bei mir: erstens ist das, was
er mir gesagt hat, das, was er wissen will? Und zweitens: verbirgt sich
nicht hinter dem angegebenen Beweggrunde ein ganz anderer, nicht
angegebener, ja nicht einmal angedeuteter? Ist aber das der Fall, so
will er mich – was du, mein Sohn, mit deinem Dichterschädel vielleicht
auch begreifen wirst – so will er mich einfach bestehlen: denn das eine,
siehst du, ist, sagen wir, nur einen Rubel wert, das andere aber
mindestens vier; da müßte ich doch ein Esel sein, wenn ich ihm für einen
Rubel das gebe, was vier wert ist. Ich begann nachzudenken und hin und
her zu raten und allmählich kam ich denn auch der Sache auf die Spur.
Einiges erfuhr ich von ihm selber, anderes von diesem und jenem, auf
wieder anderes verfiel ich selbst, – brauchte nur meinen Verstand
kombinieren zu lassen. Fragst du, weshalb ich das tat? Nun, wenn auch
nur deshalb, weil der Fürst doch etwas gar zu besorgt war, weil er gar
zu vieles zu befürchten schien. Was konnte er aber da schließlich zu
befürchten haben, wenn man es recht bedenkt? Hat aus dem Hause des
Vaters die Geliebte entführt, und als sie in Umständen war, verließ er
sie. Was ist denn dabei Wunderliches? Eine liebe, nette Unart und nichts
weiter! Da hörte doch alles auf, wenn ein Mensch wie der Fürst sich
deshalb fürchten sollte! Er aber fürchtete sich ... Und da schöpfte ich
eben Verdacht. Und da bin ich, mußt du wissen, auf ungemein interessante
Spuren gestoßen, zum Teil auch durch diesen Heinrich. Er ist natürlich
schon längst tot, aber durch eine seiner Kusinen – jetzt ist sie hier
mit einem Bäcker verheiratet – also von dieser Kusine, die einst glühend
in ihn verliebt gewesen ist und ihn fünfundzwanzig Jahre lang
unverändert weitergeliebt hat, ungeachtet der Existenz ihres Mannes, des
Bäckers, mit dem sie ganz aus Versehen acht Kinder in die Welt gesetzt
hat – also wie gesagt, von dieser Kusine habe ich denn endlich nach den
verschiedensten und kompliziertesten Manövern einen ungemein wichtigen
Umstand in Erfahrung gebracht. Dieser Heinrich hatte ihr nämlich nach
deutscher Art lange Briefe geschrieben, und vor dem Tode hatte er ihr
dann noch verschiedene Papiere und so etwas wie ein Tagebuch zugesandt.
Sie, diese Gans, hat natürlich von dem Geschreibsel nur die Stellen
verstanden, wo er vom Monde, meinem lieben Augustin und von Wieland,
wenn ich nicht irre, spricht, doch vom Wichtigen hat sie kein Wort
kapiert. Aus diesen Briefen erfuhr ich aber einiges, das für mich von
großer Wichtigkeit war und vor allem kam ich durch sie auf eine neue
Spur. So erfuhr ich zum Beispiel vom alten Smitt, vom Vermögen, das die
Tochter ihm entwendet hatte, und daß der Fürst dieses Vermögen sich
angeeignet; und zwischen Ausrufen, Allegorien und anderem Zeug las ich
dann die ganze Wahrheit heraus: da heißt, Wanjä, – du verstehst doch?
Nichts Positives! Dieser Schmachtlappen Heinrich hat absichtlich nichts
ausgesprochen, sondern eben nur so angedeutet. Nun, diese Andeutungen
aber verbanden sich für mich zu geradezu himmlischer Harmonie! Versteh:
der Fürst war mit der Smitt regelrecht verheiratet! Wo er sich hat
trauen lassen, hier oder im Auslande, wann, wo die Dokumente sind –
alles das ist unbekannt. Weißt du, Freund Wanjä, ich habe mir vor Ärger
die Haare aus dem Schädel gerauft und Tag und Nacht gesucht und gesucht,
das heißt vielmehr – geforscht ...“

„Endlich kam ich dem alten Smitt auf die Spur, da aber mußte es ihm
plötzlich einfallen zu sterben. So habe ich ihn lebend nicht einmal zu
Gesicht bekommen. Zufällig aber erfuhr ich zu derselben Zeit, daß auf
dem Wassiljewskij-Ostroff eine Frau, auf die schon früher mein Verdacht
gefallen war, gestorben sei. Und da kam ich wieder auf eine richtige
Spur. Weißt du noch, wir trafen uns damals, als ich auf die Insel eilte?
Dort erfuhr ich ziemlich viel. Auch Nelly hat mir hier in mancher
Beziehung geholfen ...“

„Höre,“ unterbrach ich ihn, „glaubst du wirklich, daß Nelly es weiß ...“

„Was?“

„Daß sie vielleicht die Tochter des Fürsten ist?“

„Aber du weißt doch selber, daß sie die Tochter des Fürsten ist,“
versetzte er und sah mich mit einem gewissen Vorwurf an. „Wozu stellst
du so müßige Fragen? Sei nicht langweilig! Nicht das ist die Hauptsache,
ob sie es weiß oder nicht weiß, und auch nicht das, daß sie einfach nur
des Fürsten Tochter ist, sondern: daß sie seine _rechtmäßige_ Tochter
ist – begreifst du jetzt?“

„Das kann nicht sein!“ rief ich aus.

„Das habe ich auch bei mir gedacht, daß es nicht sein könne, auch jetzt
noch sage ich es mir bisweilen. Aber das ist es ja gerade, daß es
tatsächlich so sein _kann_ und höchstwahrscheinlich auch so _ist_!“

„Nein, Masslobojeff, das kann nicht so sein, du hast übertrieben!“
unterbrach ich ihn. „Nicht nur, daß sie es nicht weiß, – sie ist auch in
der Tat nur ein uneheliches Kind. Sollte denn die Mutter, wenn sie nur
irgendwelche Dokumente in Händen gehabt hätte, ein so schreckliches
Elend hier in Petersburg freiwillig ertragen und dabei nicht einmal an
die elende Zukunft ihres Kindes gedacht haben? Geh! Das ist unmöglich!“

„Das habe ich auch gedacht, oder vielmehr: das steht auch jetzt noch als
Rätsel vor mir. Aber sieh: die Smitt war doch an und für sich das
hirnverbrannteste Weib der Welt, ein Frauenzimmer, wie man es sich kaum
denken kann. Stelle dir doch bloß einmal die Verhältnisse vor! Das ist
doch eine Romantik, die nichts mit der Welt zu tun hat, die irgendwo
dort über den Sternen schwebt – einfach die wildeste Dummheit im
verrücktesten Maßstabe! Nimm doch die Sache wie sie ist: zuerst hat sie
nur an einen Himmel auf Erden gedacht und in ihm einen Engel in
Menschengestalt gesehn, kurz: sie war hoffnungslos verliebt, vertraute
schrankenlos, und ich bin überzeugt, daß sie dann später nicht deshalb
den Verstand verloren hat, weil er sie zu lieben aufhörte und verließ,
sondern weil er sie betrogen hatte, weil er _fähig gewesen war_, sie zu
betrügen und zu verlassen, das heißt, weil ihr Engel sich plötzlich als
schmutziger Lump entpuppte, der sie in den Schmutz herabgezogen. Diese
Verwandlung konnte ihre romantische Seele nicht überwinden. Und außerdem
noch diese Kränkung – du begreifst doch, von welch einer Kränkung ich
rede? Entsetzen und Stolz und grenzenlose Verachtung mußte sie
empfinden, als ihr die Augen aufgingen. Und da hat sie vielleicht alles
zerrissen, alle Dokumente und Papiere, und hat ihm auch das Geld
geschenkt, ohne daran zu denken, daß es nicht ihr Geld, sondern ihres
Vaters Geld war. Sie verzichtete einfach auf dieses Geld, wie etwa auf
Straßenschmutz, um ihren Betrüger durch seelische Erhabenheit zu
erdrücken, um ihn als Dieb, der sie bestohlen, ihr Leben lang verachten
zu können, und sie wird ihm wohl gesagt haben, daß sie es für eine
Schmach halte, seine Frau zu sein. Unsere Kirche erlaubt keine
Scheidung, sie aber lebten ^de facto^ geschieden, – wie hätte sie also
noch um Hilfe flehen sollen? Bedenke doch, daß sie, diese Wahnsinnige,
ihrer Tochter Nelly noch auf dem Sterbebett gesagt hat: geh nicht zu
ihnen, arbeite, verkomme, aber geh nicht zu ihnen, gleichviel _wer_ dich
auch rufen sollte. Also hat sie doch immer noch erwartet, daß man sie
_rufen_ werde, folglich aber würde sie Gelegenheit haben, sich noch
einmal zu rächen, dem _Rufenden_ ihre Verachtung zu zeigen. Sagen wir es
kurz: sie hat sich nicht von Brot, sondern von ihrem Haß genährt.
Vieles, Freund, habe ich auch von Nelly erfahren; selbst jetzt noch
forsche ich sie aus. Freilich war ihre Mutter krank, schwindsüchtig; und
die Schwindsucht soll ja im Menschen ganz besondere Erbitterung und
Reizbarkeit hervorrufen. Dennoch weiß ich ganz genau – ich erfuhr es von
einer Gevatterin der Bubnowa – daß sie einen Brief an den Fürsten
geschrieben hat: ja, an den Fürsten ...“

„Einen Brief! Und hat er ihn erhalten?“ fragte ich gespannt.

„Das ist es ja, was ich nicht weiß! Verdammt! Die Smitt hat sich
jedenfalls einmal an diese Gevatterin gewandt – du hast sie doch gesehn,
weißt du, dieses gepuderte Mädchen bei der Bubnowa? Jetzt sitzt sie im
Zuchthaus. Nun, und durch diese selbe wollte sie ihm den Brief senden,
den sie ^nota bene^ bereits geschrieben hatte. Aber da besann sie sich
plötzlich eines anderen und gab ihr den Brief nicht oder forderte ihn
zurück. Das war drei Wochen vor ihrem Tode ... Nichtsdestoweniger ist
das von großer Wichtigkeit: denn wenn sie sich schon einmal entschlossen
hatte, an ihn zu schreiben und ihm den Brief zu übersenden, so kann sie
doch, wenn sie ihn auch zurückgenommen hat, sehr wohl ein anderes Mal
gesandt haben. Hat sie ihn nun abgesandt oder nicht? Wenn ich das wüßte!
Ich habe einen gewissen Grund anzunehmen, daß sie ihn nicht abgesandt
hat, denn ich glaube, daß der Fürst erst _nach_ ihrem Tode mit voller
Sicherheit erfahren hat, daß sie überhaupt in Petersburg war, und daß
sie bei der Bubnowa wohnte. Was der sich gefreut haben muß!“

„Ja, ich entsinne mich, Aljoscha sprach einmal von einem Brief, den der
Fürst erhalten und über den er sich sehr gefreut habe. Das war vor gar
nicht langer Zeit, vor zwei Monaten höchstens. Aber weiter, weiter – wie
ist jetzt dein Verhältnis zum Fürsten?“

„Mein Verhältnis zum Fürsten? Begreifst du, was das heißt: die vollste
moralische Überzeugung und dabei keinen einzigen positiven Beweis haben
– _keinen einzigen_, ungeachtet aller meiner Anstrengungen! Ist das
nicht zum Verzweifeln? Ich hätte im Auslande nachforschen müssen, aber
wo im Auslande? – wer das wüßte! wer das wüßte! Ich begriff natürlich,
daß mir keine so leichte Schlacht bevorstand, daß ich ihm nur mit
Andeutungen einen Schrecken einjagen konnte, wenn ich mich anstellte,
als wüßte ich weit mehr, als es in Wirklichkeit der Fall war ...“

„Nun und?“

„Er ließ sich aber nicht hinters Licht führen; doch erschrak er übrigens
nicht wenig, erschrak sogar so, daß er mich auch jetzt noch fürchtet.
Wir haben mehrere Zusammenkünfte gehabt. Wie er sich jedesmal verstellt
hat! Einmal machte er sich daran, mir – gewissermaßen aus Freundschaft –
selbst alles zu erzählen. Das war damals, als er dachte, ich wisse
alles. Er erzählte gut, das läßt sich nicht leugnen, erzählte mit
Gefühl, offenherzig – d. h. er log mit unglaublicher Gewissenlosigkeit.
Eben daran konnte ich ermessen, wie sehr er mich fürchtete. Eine
Zeitlang spielte ich den dümmsten Tölpel, der sich selbst für sehr
schlau hält. Begann ihn ungeschickt einzuschüchtern, mit Absicht
ungeschickt, sagte ihm Grobheiten, drohte ihm sogar, – alles nur, damit
er mich für einen Tölpel halte und sich dann vielleicht einmal
unvorsichtigerweise verspreche. Er durchschaute mich aber, der Schuft!
Ein anderes Mal spielte ich den Betrunkenen, nur kam dabei auch nichts
Gescheites heraus. Er ist zu gerieben! Versteh’, Wanjä: ich mußte zuerst
feststellen, inwieweit er mich fürchtet, um ihn dann glauben zu machen,
daß ich viel mehr wisse, als ich in der Tat weiß ...“

„Nun und – was erreichtest du damit?“

„Ja – nichts, es kam nichts dabei heraus. Beweise, Beweise waren nötig,
ich aber habe keinen einzigen Beweis. Nur eines begriff er, nämlich, daß
ich einen Skandal heraufbeschwören könnte. Er aber befürchtet ihn um so
mehr, als er hier bereits Verbindungen angeknüpft hat. Du weißt doch,
daß er heiraten wird?“

„Nein ...“

„Im nächsten Jahr! Die Braut hat er sich schon im vorigen Jahr
ausgesucht: damals war sie erst vierzehn Jahre alt, jetzt ist sie schon
fünfzehn, geht noch im Flügelkleide, glaube ich, das arme Dingelchen.
Die Eltern sind selbstverständlich froh. Begreifst du jetzt, wie
notwendig es für ihn war, daß seine Frau starb? Diese Fünfzehnjährige
ist eine Generalstochter, und zwar schwerreich! Wir, Freund Wanjä, du
und ich, wir werden nie so heiraten ... Was ich mir aber zeit meines
Lebens nicht verzeihen werde,“ rief Masslobojeff plötzlich wütend aus
und er schlug mit der Faust auf den Tisch, „das ist: daß er mich
angeführt hat, jawohl! – vor zwei Wochen ... dieser Schuft!“

„Wieso?“

„Ganz einfach! Ich sah schon, er hatte es erraten, daß ich nichts
Positives gegen ihn in der Hand hatte und außerdem fühlte ich, daß er,
je mehr ich die Sache in die Länge zog, um so eher meine völlige
Machtlosigkeit erraten mußte. Nun und da nahm ich denn mit den
Zweitausend fürlieb.“

„Du nahmst Zweitausend! ...“

„In Silber, Wanjä; innerlich knirschend nahm ich sie. Gott, ist denn so
etwas bloß lumpige Zweitausend wert! Ich erniedrigte mich, indem ich sie
nahm! Wie ein übers Ohr gehauener Esel stand ich da vor ihm, er aber
sagte noch: ‚Ich habe Sie, Masslobojeff, für Ihre früheren Bemühungen
noch nicht entschädigt‘ – das war aber gar nicht der Fall, er hatte mir
schon längst der Verabredung gemäß, hundertundfünzig Rubel gezahlt –
‚nun,‘ sagte er, ‚hier sind zweitausend Rubel, und ich hoffe, daß wir
jetzt unsere _sämtlichen_ Geschäfte als erledigt betrachten können.‘ Na
und da antwortete ich ihm: ‚Vollkommen erledigt, Fürst,‘ wagte aber
dabei nicht mal, ihm in die Fratze zu sehen; ich dachte bei mir, in
diesem Gesicht müsse geschrieben stehn: ‚Na, hast du viel
herausgeschunden? Ich gebe dir das Geld ja nur so, einzig aus Großmut!‘
Ich weiß nicht einmal, wie ich seine Wohnung verlassen habe!“

„Aber das ist doch eine Gemeinheit, Masslobojeff!“ rief ich empört aus.
„Bedenke doch, was du mit Nelly getan hast!“

„Das ist nicht nur einfach eine Gemeinheit, das ist einfach
niederträchtig, schmutzig ... Das ... das ... weißt du, es gibt keine
Worte, um das auszudrücken!“

„Mein Gott! Aber er müßte doch wenigstens Nellys Zukunft sicherstellen!“

„Müßte! Wer kann ihn dazu zwingen? Oder meinst du, man könne ihn
einschüchtern? Da sei du unbesorgt: der läßt sich nicht bange machen:
ich habe doch das Geld von ihm angenommen. Damit habe ich doch selbst,
versteh, ich selbst habe damit zugegeben, daß meine ganze Macht gegen
ihn nur lumpige zweitausend Rubel wert ist! Womit kann ich ihn jetzt
noch ängstigen?“

„Aber wie, wie ist es denn möglich, wie können denn Nellys Ansprüche
damit für immer begraben sein?“ fragte ich ganz verzweifelt.

„Das sind sie ja gar nicht!“ rief Masslobojeff und geriet sogar ganz aus
dem Häuschen. „Du glaubst, ich werde ihm das schenken? Ich fange von
neuem an, Wanjä: ich habe mich schon entschlossen. Was ist denn dabei,
daß ich die Zweitausend genommen habe? Na, zum Teufel damit! Ich habe
das Geld einfach für die Kränkung genommen, als Entschädigung, wenn du
willst, denn dieser Spitzbube hat mich betrügen wollen, hat sich über
mich einfach lustig gemacht, hat mich zum Narren gehabt! Ich erlaube es
ihm aber nicht, mich an der Nase zu führen ... Jetzt werde ich, weißt
du, zuerst mit Nelly anfangen. Ich habe sie beobachtet und bin zu der
Überzeugung gekommen, daß sie den Knoten der ganzen Sache in der Hand
hat. Sie weiß _alles, alles_ ... Die Mutter hat es ihr erzählt.
Vielleicht schon vor der Krankheit, vielleicht erst später, im Fieber,
wenn die Qual zu groß wurde. Sie hatte sonst keinen bei sich, dem sie es
hätte klagen können, da wird sie es eben Nelly erzählt haben. Und wenn
sie nur einmal damit begonnen hat, dann hat sie ihr unfehlbar _alles_
erzählt. Vielleicht aber können wir mit Nellys Hilfe auch noch gewisse
Dokumente entdecken!“ fügte er schmunzelnd hinzu und rieb sich
stillvergnügt die Hände. „Begreifst du jetzt, Wanjä, weshalb ich in
letzter Zeit so oft herkomme? Erstens natürlich aus Freundschaft zu dir,
das versteht sich von selbst. Doch der Hauptzweck ist doch: Nelly zu
beobachten. Und drittens, alter Freund, mußt du, ob du willst oder
nicht, – mußt du mir behilflich sein, denn du hast großen Einfluß auf
Nelly ...“

„O, gewiß, ich bin gern bereit,“ sagte ich lebhaft erfreut, „denn ich
hoffe, Masslobojeff, daß du dich in ihrem Interesse bemühst, daß du es
für das arme Waisenkind tun willst, nicht nur um deines eigenen Vorteils
willen ...“

„Gott, was geht das dich an, um wessen Vorteils willen, wie du sagst,
ich mich plagen werde, du seliger Mensch du? Wenn es nur gelingt, – das
ist die Hauptsache! Natürlich, versteht sich: in der Hauptsache für das
Waisenkindchen, so will’s ja auch die Nächstenliebe. Aber du, Wanjä,
Wanjuscha, du verurteile mich nicht bis zu letzter Verdammnis, wenn ich
dabei auch an mich denke. Ich bin ein armer Mensch, wie du weißt, er
aber soll es hinfort nicht wagen, arme Menschen zu beleidigen. Er
entzieht mir das, was mir von Rechts wegen zukommt, und außerdem hat er
mich noch betrogen! Und solch einem Spitzbuben soll ich noch was
schenken, meinst du? Das wird mir gerade einfallen!“

                   *       *       *       *       *

Leider sollte unser Blumenfest am nächsten Tage unserer Erwartung nicht
entsprechen: Nelly fühlte sich bedeutend schlechter und konnte das
Zimmer nicht verlassen.

Und sie sollte es überhaupt nicht mehr verlassen.

Sie starb nach zwei Wochen. In diesen zwei Wochen ihrer Agonie kam sie
nur selten zu sich, gewöhnlich hielten seltsame Phantasien sie gefangen.
Es schien fast, als sei sie nicht mehr bei vollem Verstande. Von Anfang
an war sie fest überzeugt, daß der Großvater sie zu sich rufe und sich
über sie ärgere, weil sie nicht käme, und dann klopfe er mit dem Stock
und sage, sie müsse von „guten Leuten“ Geld zu Brot und Tabak
zusammenbetteln. Oft weinte sie im Schlaf, und wenn sie dann erwachte,
erzählte sie, daß sie ihre Mutter gesehen habe.

Einmal war ich allein bei ihr, als sie wieder zu sich kam; da schob sie
sich näher zu mir und ergriff meine Hand mit ihren abgezehrten,
fieberheißen Händchen.

„Wanjä,“ sagte sie, „wenn ich sterbe, dann heirate Natascha!“

Ich glaube, dieser Gedanke hatte sich schon vor langer Zeit in ihr
festgesetzt, und immerwährend schien er sie zu beschäftigen. Ich
lächelte ihr schweigend zu. Als sie mein Lächeln sah, lächelte sie
gleichfalls und drohte mir schelmisch mit ihrem dünnen Fingerchen und
dann küßte sie mich.

An einem wundervollen Sommerabend – es war drei Tage vor ihrem Tode –
bat sie, man möge den Vorhang vor dem Fenster emporziehen und das
Fenster öffnen. Vor dem Fenster lag das Gärtchen. Lange blickte sie in
das frische Grün und sah die leuchtenden Farben der Abendsonne, und
plötzlich bat sie, uns beide allein zu lassen.

„Wanjä,“ sagte sie mit kaum hörbarer Stimme, denn sie war schon sehr
schwach, „ich werde bald sterben. Sehr bald, und ich will dir sagen, daß
du mich nicht vergessen sollst. Zum Andenken hinterlasse ich dir dieses
hier,“ – sie wies auf ein großes Amulett, das sie an dem Bändchen, an
dem auch ihr Kreuz hing, auf der Brust trug. „Das hat Mama mir sterbend
hinterlassen. Also, wenn ich sterbe, so nimm du dieses Amulett an dich,
nimm es und lies, was darin steht. Ich werde heute auch den andern
sagen, daß du allein dieses Amulett erhalten sollst. Und wenn du gelesen
hast, was hier geschrieben steht, dann geh zu _ihm_ und sage ihm, daß
ich gestorben bin, ihm aber nicht verziehen habe. Sage ihm auch, daß ich
die Bibel vor nicht langer Zeit gelesen habe. Dort ist gesagt: vergebt
allen euren Feinden. Nun, ich habe das gelesen, _ihm_ aber vergebe ich
trotzdem nicht, denn als Mama im Sterben lag und noch sprechen konnte,
war das Letzte, was sie mir sagte: ‚_Ich verfluche ihn_‘. Nun und so
verfluche auch _ich_ ihn, verfluche ihn nicht um meinetwillen, sondern
um Mamas willen ... Und du erzähle ihm, wie Mama gestorben ist, wie ich
bei der Bubnowa allein zurückblieb, erzähle ihm, wie du mich bei der
Bubnowa gesehn hast, – alles, alles erzähle ihm und dann sage ihm auch,
daß ich lieber bei der Bubnowa bleiben wollte, als zu ihm gehen ... Ich
bin nicht zu ihm gegangen ...“

Nelly war bleich geworden, ihre Augen brannten und ihr Herz klopfte so
stark, daß sie auf das Kissen zurücksank und eine Weile kein Wort
sprechen konnte.

„Rufe sie, Wanjä,“ sagte sie dann endlich mit schwacher Stimme. „Ich
will von allen Abschied nehmen. Leb wohl, Wanjä! ...“

Noch einmal, zum letzten Male umarmte sie mich krampfhaft. Der Alte
konnte es nicht fassen, daß sie sterben solle, konnte diese Möglichkeit
überhaupt nicht zugeben. Bis zum letzten Augenblick stritt er noch mit
uns und versicherte, daß sie unfehlbar gesund werden müsse. Er magerte
sichtlich ab vor Sorge und saß ganze Tage und sogar Nächte hindurch an
Nellys Bett. In den letzten Nächten schlief er überhaupt nicht. Den
geringsten Wunsch suchte er ihr schon im voraus zu erfüllen, noch bevor
sie ihn ausgesprochen hatte. Als er an jenem Tage, nachdem sie von uns
Abschied genommen, zu uns ins andere Zimmer kam, weinte er bitterlich,
doch bald begann er wieder zu hoffen und uns zu versichern, daß sie
gesund werden müsse. Ihr Zimmer schmückte er täglich mit Blumen. Einmal
kaufte er ein großes Bukett der schönsten roten und weißen Rosen und
hatte deshalb einen weiten Weg zurückgelegt, nur um seiner kleinen Nelly
eine Freude zu bereiten ... Natürlich regte sie sich darüber nicht wenig
auf: war doch eine so große und so allgemeine Liebe etwas ganz Neues für
sie. Der Alte wollte unter keiner Bedingung Abschied von ihr nehmen. Da
lächelte Nelly ihm zu und bemühte sich den ganzen Abend, fröhlich zu
scheinen und mit uns zu scherzen, ja sie lachte sogar ... Wenigstens
verließen wir sie alle fast hoffnungsfreudig, doch am nächsten Tage
hatte sie schon die Sprache verloren. Nach zwei Tagen starb sie.

Ich erinnere mich noch, wie der Alte ihren Sarg mit Blumen schmückte und
wie verzweifelt er ihr abgezehrtes totes Gesichtchen, ihr totes Lächeln
und ihre schmalen gefalteten Händchen betrachtete. Er weinte, als habe
er sein leibliches Kind verloren. Natascha, ich und überhaupt alle
trösteten ihn, so gut wir zu trösten vermochten, doch er ließ sich nicht
trösten und erkrankte nach ihrer Beerdigung sogar ziemlich schwer.

Anna Andrejewna gab mir das Amulett, das sie Nelly abgenommen hatte. Es
enthielt nur einen Brief, den Nellys Mutter an den Fürsten geschrieben
hatte. Ich las ihn durch. Sie wandte sich mit einem Fluch an ihn, sie
sagte, daß sie ihm nicht vergeben könne; sie beschrieb ihr Leben in den
letzten Jahren und schilderte das Schicksal, das ihre Tochter erwarte,
und darauf flehte sie ihn an, doch etwas wenigstens für das Kind zu tun.
„Es ist _Ihr Kind_,“ schrieb sie, „es ist Ihre Tochter und _Sie wissen
es selbst, daß sie Ihre natürliche, Ihre rechtmäßige_ Tochter ist. Ich
habe ihr gesagt, sie solle zu Ihnen gehen, wenn ich gestorben bin, und
Ihnen diesen Brief übergeben. Wenn Sie das Kind nicht verstoßen, werde
ich Ihnen _dort_ vielleicht noch vergeben, werde am Tage des Gerichts
vor dem Throne Gottes niederknien und den Richter anflehen, Ihnen Ihre
Sünden zu vergeben. Nelly weiß, was in diesem Brief steht: ich habe ihn
ihr vorgelesen; ich habe ihr _alles_ erzählt, sie weiß _alles, alles_
...“

Nelly hatte die Bitte der Mutter nicht erfüllt: sie war nicht zum
Fürsten gegangen und unversöhnt gestorben.

Als wir von ihrer Beerdigung zurückkamen, gingen wir beide, Natascha und
ich, in den Garten. Es war ein heißer, blendend lichtheller Tag. In
einer Woche sollten sie abreisen. Natascha sah mich lange mit seltsamen
Blicken an.

„Wanjä,“ sagte sie, „Wanjä, das war doch nur ein Traum.“

„Was war ein Traum?“ fragte ich.

„Alles, alles das,“ sagte sie, „alles, was in diesem einen Jahr gewesen
ist. Wanjä, weshalb habe ich dein Glück zerstört?“

Und in ihren Augen las ich:

„Wir hätten beide so glücklich sein können!“




                                Fußnoten


[1] Kinderfrau. E. K. R.

[2] Dershawin, geb. 1743, gest. 1816: Justizminister und Verfasser von
Memoiren.

[3] Lomonossoff, geb. 1711, gest. 1765: Schöpfer der modernen russischen
Literatursprache, bekannt durch Oden an Katharina die Große. E. K. R.

[4] Koseform für Wladimir. E. K. R.

[5] Die orthodoxe Kirche gestattet offiziell auch die Ehe nicht zwischen
entfernten Verwandten, selbst dann nicht, wenn keine Blutsverwandtschaft
vorliegt. E. K. R.

[6] Kapitänswitwe.


                     Anmerkungen zur Transkription

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
nach:

                  F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
                   Zweite Abteilung: Neunzehnter Band
           R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1910.

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen
Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben
„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde
vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):

   Ssemjon (Semjon)
   Ssergejewitsch (Sergejewitsch)
   Ssimbirsk (Simbirsk)
   Walkowskij (Walkowsky)
   Wanjä (Wanja)

Auf Seite 353 wurde das Wort „ишь“ nicht übersetzt und statt dessen als
„isch“ transliteriert. Es bedeutet in etwa „da!“ oder „schau!“. An allen
anderen Stellen und auch in späteren Ausgaben wurde es sinngemäß so
übersetzt.

Das letzte Kapitel („Letzte Erinnerungen“) ist sowohl im russischen
Original als auch in späteren Ausgaben als „Epilog“ ausgewiesen.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, zum Teil unter Verwendung späterer Ausgaben und des
russischen Originals, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 299]:
   ... Gedanken hatten: Daß er vollkommen unschuldig. Ja, ...
   ... Gedanken hatten: Daß er vollkommen unschuldig war. Ja, ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK SÄMTLICHE WERKE 19: DIE ERNIEDRIGTEN UND BELEIDIGTEN ***


    

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Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full
Project Gutenberg™ License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™
electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg™ electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person
or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.

1.B. “Project Gutenberg” is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg™ electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg™ electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg™
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation (“the
Foundation” or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg™ electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg™ mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg™
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg™ name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg™ License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg™ work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country other than the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg™ License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg™ work (any work
on which the phrase “Project Gutenberg” appears, or with which the
phrase “Project Gutenberg” is associated) is accessed, displayed,
performed, viewed, copied or distributed:

    This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
    other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
    whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms
    of the Project Gutenberg License included with this eBook or online
    at www.gutenberg.org. If you
    are not located in the United States, you will have to check the laws
    of the country where you are located before using this eBook.
  
1.E.2. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase “Project
Gutenberg” associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg™
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg™ License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg™
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg™.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg™ License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg™ work in a format
other than “Plain Vanilla ASCII” or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg™ website
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original “Plain
Vanilla ASCII” or other form. Any alternate format must include the
full Project Gutenberg™ License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg™ works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
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provided that:

    • You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
        the use of Project Gutenberg™ works calculated using the method
        you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
        to the owner of the Project Gutenberg™ trademark, but he has
        agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
        within 60 days following each date on which you prepare (or are
        legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
        payments should be clearly marked as such and sent to the Project
        Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
        Section 4, “Information about donations to the Project Gutenberg
        Literary Archive Foundation.”
    
    • You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
        you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
        does not agree to the terms of the full Project Gutenberg™
        License. You must require such a user to return or destroy all
        copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
        all use of and all access to other copies of Project Gutenberg™
        works.
    
    • You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
        any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
        electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
        receipt of the work.
    
    • You comply with all other terms of this agreement for free
        distribution of Project Gutenberg™ works.
    

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg™ electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of
the Project Gutenberg™ trademark. Contact the Foundation as set
forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg™ collection. Despite these efforts, Project Gutenberg™
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain “Defects,” such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
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cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the “Right
of Replacement or Refund” described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg™ trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg™ electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg™ electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg™
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s
goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg™ and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org.

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