Der Hafen

By Norbert Jacques

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Title: Der Hafen

Author: Norbert Jacques

Release date: July 12, 2025 [eBook #76486]

Language: German

Original publication: Berlin: S. Fischer, 1910

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER HAFEN ***





                               Der Hafen


                               Roman von
                            Norbert Jacques


                       S. Fischer, Verlag, Berlin


      Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
               Copyright 1910 S. Fischer, Verlag, Berlin.




                                        „Und solang du das nicht hast,
                                        Dieses: Stirb und werde!
                                        Bist du nur ein trüber Gast
                                        Auf der dunkeln Erde.“

                                                  Westöstlicher Diwan.




                             Erstes Kapitel


Es war, als tanzte an einem Abend ein ganzes Dorf der schwerfällig
melancholischen Bretagne. Ein ganzes Dorf in Pluderhosen und Blusen, in
Bauschröckchen und engen Jäckchen, aus denen volle nackte Mädchenarme
kamen, und an den Füßen bewegten sich die schweren Holzpantinen steif,
ehrlich und wie mit leise traurigen Lauten. Als wiegten die Leute sich
schwermütig hin und her und setzten auf einmal mit einem trommelnden
Auftakt alle Holzpantinen, melodisch und kurz hintereinander
niederklappernd, daß es wie ein Wirbel klang, auf das Pflaster, während
ein junges Liebespaar still glücklich herauskreiste. Und gleich wieder
schloß sich alles im Reigen mit melodiöser Schwermut langsam plumper
Bewegungen zusammen. Das Meer rauschte vor dem Dorf, wie ein neutraler
Baß, der die Gewalt seiner Stimme gedämpft zurückhielt, obschon es
wußte, daß es Meister sein könnte über alles.

Jeanne Biver spielte die „Danse lente“ von Cesar Franck auf dem Flügel.

Ihr Bruder lag währenddessen auf der Chaiselongue, die zwischen Flügel
und Wand geklemmt war. Er lag auf den Rücken gestreckt, bequem und
aufgelöst, schützte mit der linken Hand seine Augen vor der elektrischen
Hängelampe und schlug, so oft der Anstalt des bretagnischen Tanzes im
Flügel erklang, mit der rechten Hand, die er zur Faust geballt hielt,
den Takt. Diese Musik ergriff ihn. Sie erfüllte ihn ganz, wie
schwermütige Vorstellungen sich langsam in einem aufrichten können,
einen plötzlich bei der Hand nehmen und widerstandslos ihren süßen,
traurigen Weg führen. Er hatte dabei die Vorstellung eines einsamen
Dorfes am Meer, in dem die Luft voll ätzenden Salzes ging, das Leib und
Seele reinigte. Körperliche und innere Schönheit wurden schlank und
plastisch herausgearbeitet. Man schaffte den ganzen Tageslauf mit den
Händen auf dem Meer oder vor den kleinen Türen, und die ungemessene
Sehnsüchtigkeit, die erdengewaltige Macht des Meeres erfüllte jede
Verrichtung, erhob jeden Gedanken, vereinigte alle Herzen.

Die Harmonie dieser Vorstellungen wuchs wie eine Orchesterbegleitung um
die Melodie, die Jeanne mit warmen Regungen aus der Harfe des Flügels
holte. Sie wurde aufgescheucht, als sich plötzlich, wie unter einem
heimlichen Stoß, die Tür öffnete. Als die Geschwister mit dem Kopf
hinfuhren, durch das unerwartete Kreischen in den Türangeln erschreckt,
sahen sie ihren Vater im Rahmen der Tür stehen. Aber er ließ die Klinke
nicht los. Er warf einen scharfen Blick auf seinen Sohn, zog die Türe
wieder zu und die Geschwister hörten ihn im Flur davongehn.

„Kratz mich gefälligst nicht!“ sagte Baptist für sich.

Seine Schwester hatte das Blatt auf dem Notengestell gewechselt. Sie
spielte eine „Chansonette sans paroles“ des Belgiers Lekeu. Es ging wie
in zarten Ringeln, mit sauberer, klarer Süßigkeit immer rundum, ein
zärtliches Tänzchen verliebter Jungmenschlein.

Ein Kätzchen war, als Herr Biver hereinschaute, unbemerkt unter seinen
Füßen durch die Türe geschlüpft. Es erschien nun auf einmal unter einem
Sessel heraus, buckelte sich um die Beine des Flügels, aalte um Jeannes
Schuhe herum und sprang dann auf den Diwan. Dort schmeichelte es
schnurrend und sich windend um Liebkosungen. Es war ein kleines Kätzchen
mit roten und schwarzen Flecken, einem saubern weißen Schnäuzlein und
weißen Samtpantoffeln.

„Sonnenblümchen!“ lockte Jeanne, während sie weiterspielte.

Aber das Sonnenblümchen hatte sich in den Arm von Baptist eingeschmiegt
und sang vor lauter Behaglichkeit. Es spielte mit den weißen Schuhen
seiner Pfötchen an den dunklen Perlmutterknöpfen von Baptists Jakett
herum, schlug mit leise gereizten Krallen nach seinen Fingern, die es
neckten, und es war ein klein wenig unheimlich, daß man nicht wußte, ob
es noch Spaß oder schon Ernst sei. Bis das Kätzchen mit einem
eigensinnigen Satz lautlos auf die Klaviatur des Flügels schnellte und
erstaunt über die Töne erschrak, die unter seinen Pfoten aufklangen.

„Ich stelle mir vor,“ sagte Baptist, „daß es solche Frauen gibt, wie das
Sonnenblümchen. Sie schmeicheln uns ihren Willen auf, und wir glauben,
sie stehn unter unserm. Sie buckeln sich schnurrend mit schlanker
Zartheit über die Widerstände hinweg, die wir ihnen entgegensetzen, und
sind so leise darin, so süß kapriziös, so ganz lieb und warm und
spielerisch. Bei ihnen müßte es einem sicher gut gehn. Was meinst du?“

Jeanne schaute ihren Bruder groß an. Sie hielt ein zu spielen. Dann
sagte sie: „Ich glaube nicht, daß es solche Frauen gibt. Und wenn, dann
taugen sie eben nichts!“

„Wie kratzbürstig ist das Schwesterlein!“

Währenddeß aber besänftigte sich Jeanne. Sie spielte wie verliebt mit
dem Kätzchen, das auf ihre Schultern turnte, sich um ihren Nacken
schlang und eitel Graziosität war.

Dann wurde Sonnenblümchen auf den Boden gesetzt und die Chansonette sans
paroles von neuem begonnen.

„Wie findest du es?“ fragte Jeanne, ohne im Spiel aufzuhören.

„Süß eben!“ antwortete der Bruder und wußte nicht recht, ob das Stück
oder das Kätzchen gemeint war, weil er sich in irgendein Nachsinnen
verloren hatte.

„Mir gefällt es nicht – aber ich höre es gern. Es ist oberflächlich,
aber es tut den Gefühlen wohl, gelt? Das sind gewiß auch oberflächliche
und sentimentale Gefühle, die in einem stecken und die dieses Lied so
leicht in sich aufnehmen!“

„Wahrscheinlich!“ entgegnete Baptist faul.

„Komm, nimm deine Geige. Dann spielen wir es zusammen!“

„Ich liege viel zu gut!“

„Du wirst zu dick, Battist! Du bist schon ganz faul!“

Baptist schaute an sich herab. Er sah seinen großen Körper wohlgenährt,
weich massig in seiner Kräftigkeit daliegen. Deshalb genierte er sich
ein bißchen vor seiner schlanken Schwester, die mit einer sehnigen,
großen und freien Linie leicht über das Griffbrett des Flügels geneigt
saß.

„Wir essen zu viel im Haus und zu gut!“ sagte er auf einmal geärgert.
„Wir müßten leichtere Speisen bekommen und keinen Wein über Tisch
trinken. Schweinemast!“

Für sich dachte er: ich bin nur übernährt! Er stritt mit sich, mit einem
flotten Ruck aufzuspringen, die Geige zu nehmen und sich im Spielen in
den Hüften zu wiegen. Das gäbe ihm dann eine Befreiung von seiner
gemästeten Körperlichkeit.

Er schaute seine Schwester an. Ihr krauses, kastanienbraunes Haar trieb
kleine feine Löckchen heraus, die über die glatt und zart gerundete
Stirn herniederblühten. Das Kerzenlicht, das hinter ihrem Kopf stand,
quoll mit goldigem Leuchten in diese Löckchen, entzündete sie zu einem
lieblichen, dunkelblumigen Licht, in das ein Scheinchen Sonne versenkt
schien.

Aber wie Baptist einmal an dem Kopf vorbeischaute, sah er in dem großen
Spiegel jenseits an der Wand sein Gesicht voll und weich in den Wust
schwarzer Haare eingeschlossen. Er war unzufrieden damit und er legte
den Kopf so, daß er nicht mehr im Spiegel stand.

Dann wirkte das Lied wieder mit wohligem Vergessen, mit sentimentalem
Aufruhr in ihm.

Die Türe öffnete sich mit ihrem kleinen Schrei.

Herr Alois Biver kam herein, machte sich an einem Tisch zu schaffen, auf
dem drei Zigarrenkisten nicht so standen, wie er es mochte. Er öffnete
die Kisten. Das Kätzchen sprang unter dem Tisch hervor und schlang sich
schmeichelnd um die Füße des Mannes. Die schoben es mit einem Stoß
ungeduldig weg. „Viehzeug!“ sagte Herr Biver grimmig, riß die Türe auf
und rief: „Hinaus! ... Lebt nur vom Nichtstun! Das ganze Haus voll
solcher Existenzen!“

Das Kätzchen sprang entsetzt zur Türe und davon.

„Meinst du damit auch mich, Papa?“ fragte Jeanne und lächelte schalkhaft
für sich. Aber Herr Biver drehte sich nicht einmal nach ihr um. Er trat
wieder an die Zigarrenkisten heran, untersuchte sie, tauschte den Inhalt
von zweien und zählte sie. Er schob eine Kiste unter den Arm, ordnete
die beiden andern übereinander und stellte das Feuerzeug drauf.

Dann schlug er förmlich mit einem Blick nach seinem Sohn und verschwand
wieder durch die Türe.

Als die Türe heftig geschlossen worden war, lachte Baptist: „Wie hat er
unsere kleine schmeichlerische Frau behandelt, hast du gesehen? Er hat
wieder sein Ich-beiß-dich-Gesicht!“

„Ach, Battist!“

Jeanne reichte dem Bruder die Hand und drückte die seinige heftig, als
wollte sie mit dieser körperlichen Bewegung einen Ausbruch ihres Gefühls
übermitteln, zu dessen Ausdruck ihr die Worte versagten.

„Papa! ...“ fing sie an, aber sie brach gleich ab, schüttelte die
Schultern. „Ach, nein!“ und griff einige Akkorde, die sich bald in eine
Melodie auflösten.

„Gott ja!“ seufzte Baptist, „so ein Examen!“

Nach einer Weile sagte er ungeduldig: „Wie das Sofa wieder nach Katzen
stinkt! Scheußlich!“

„Ach, Battist, das Sonnenblümchen, es ist doch so lieb. Jetzt bist du
auch gegen das Sonnenblümchen wie der Vater!“

Baptist lächelte.

Die beiden schwiegen, bis Jeanne auf einmal fragte: „Gehst du heut abend
zur Schobermesse?“

„Ja!“

„Papa wird es dir verbieten!“

„Deshalb sag ich es ihm gleich lieber nicht!“

„Dann gehst du heimlich?“

„Natürlich!“

„Hast du das schon einmal getan?“

„Jeden Abend, lieber Beichtvater!“

Da schwieg die Schwester. Die so sehr gerundeten Augen, die wie glänzend
schwarze, fast hartfarbige Perlen in ihrem schmalweichen Gesicht saßen
und trotz ihres entschiedenen Glanzes oft abwesend irrten, nahmen einen
Ausdruck an, unter dem sie sich langsam zu entfernen schienen. Sie
schaute angestrengt in die Notenreihen. Sie verstand nicht und strengte
sich doch an zu billigen. In diesem Zwiespalt wuchs das Gefühl in ihr
auf einmal wie ein vernachlässigter Garten. Es hatte nur den
Selbstzweck: Pflanzen und Pflänzlein zu treiben, irgendwelche Pflanzen,
ob für Menschen, für Insekten, für Schnecken, für Bienen, für Vögel, für
Schmetterlinge, ohne sichtbaren Zweck ...

Und Jeanne freute sich auf einmal an diesem Gefühl, das mit so
prachtvoller Fruchtbarkeit in ihr emporschoß. Sie nannte es Liebe. Es
machte sie weh und zärtlich. Sie umschloß ihren Bruder ganz mit ihm,
hüllte ihn in sich ein, und sie, die ihre Mutter nicht kennen gelernt
hatte, blühte auf in einer großen mütterlichen Güte. Sie war zwanzig
Jahre alt und wußte, was Liebe war, obschon sie niemals noch sich an
einen Mann verloren hatte. Aber ihre Sehnsucht stand wartend nach dem
großen, reichen, prächtigen Empfänger, in den sie einst münden sollte,
wie auf der hohen Flur ein Baum, der den Sturmwind erwartet, um alle
Äste, Zweiglein und Blätter von ihm umspannen und rühren zu lassen.

Sollte sie jetzt endlich von diesen Dingen zu ihrem Bruder sprechen?
Dann gingen sie beide ineinander auf, dachte sie sich wohl, und das war
ein Wunsch, den sie voll Leid und Wärme pflegte, ja, dessen Erfüllung
sie wie ein Wunder erwartete ... Sie hatte niemand Vertrautes in der
kleinen Stadt und dem kleinen Lande gefunden und alles täglich in dem
engen Kreis ihrerselbst hundertmal unfruchtbar erhitzt.

Und Baptist selber, der das stumme Sichändern Jeannes am Klavier sah,
dachte daran, wie er gewartet hatte, sich an die weiche Weiblichkeit
seiner großen Schwester flüchten zu können, als die Schwester von ihm
fern in den Pensionaten in Frankreich und England aufwuchs und er so
allein all die kleinen Schmerzen der Jünglingsjahre auf sich eindringen
sah. Wenn sie einmal aus der Pension zurück sei ... dann werde sie ihm
eine körperlose Geliebte. Sie werde empfangen, ohne daß man gebe. Man
werde sich nicht berühren, und die Luft um einen übermittele die
zartesten Regungen. Jeanne könne die enge Heimat Luxemburgs zu einer
großen Welt auseinanderdehnen ... Und nun war sie schon seit zwei Jahren
wieder im Haus, und sein Leben war in demselben Weg von Qualen und
Genießenwollen, von heißen, immer nur halberfüllten Wünschen und
törichten Sünden geblieben; und er hatte niemals auch nur mit einem
Wörtchen Jeanne dorthinunter gewiesen, wo das alles schmerzvoll und
unerlöst umherging.

Aber so stumm nebeneinander, halb blind für sich selber aufsprießend,
trugen die Geschwister doch die Ahnungen umeinander in sich herum, und
das war für beide so groß, schön und traurig, daß sie immer von neuem
scheuten, Licht hinter sich zu machen.

Ost hatte das Mitteilenwollen aus dem Bruder dem Mädchen
entgegengeknospt, daß die Blume fast herausgesprungen wäre. Aber die
letzten Harzfäden hielten den Ausbruch doch fest. Baptist blieb bei sich
allein und dachte sich nur in heißem Schwelgen die vielen edeln und
vollen Möglichkeiten und Richtungen aus, die in seinem Innern so ganz
anderswohin zeigten, als sein unzufriedenes Leben ihn führte, und die
einmal, sich und der Schwester zur Freude, in Erfüllung gehen müßten.
Und daß er auch hierin die Parallelität des Daseins Jeannes erkannte,
das verband ihn unlösbar der Schwester.

So war ihr schweigendes Verhältnis halb aus unklarem Kummer und halb aus
schönem und edlem Bewußtsein gemischt. Sie wußten, daß sich ihre Wurzeln
im Boden zärtlich die Finger verschränkt hielten, und waren doch jeder
für sich ein Baum. Sie wuchsen in denselben Himmel hinauf und richteten
sich doch jeder frei sich selber.

Deshalb empfand Jeanne es auch als ein Wagnis, das Gespräch dahin zu
wenden, worum ihre Gedanken den ganzen Abend sprangen. Sie fürchtete,
weil sie nicht wußte, in welcher Innerlichkeit bei ihrem Bruder die Frau
saß, von der sie gerne gehört hätte. Als aber schließlich das Bedürfnis
nach Kritik ihre Neugierde unterstützte, sagte sie, indem sie verschämt
und rot geworden lächelte und auf ihre Finger niederschaute, die etwas
fester in die Tasten griffen: „Sie hat so große Hände!“

„Wer?“ fragte Baptist.

Da nahm ihr Mut einen Anlauf.

„Sei nicht bös, Battist, die Italienerin! Bist du mir bös?“

Jeanne hörte zaghaft auf zu spielen. Baptist antwortete nichts. Die
Schwester wollte sich die Gelegenheit aber nicht entfallen lassen.

„Die blonde Italienerin bei der neapolitanischen Kapelle auf der
Schobermesse!“ behauptete sie sich.

„Pfui, Schwester,“ lachte Baptist, „ich bin ein Knabe, der gerade
großjährig geworden ist; der sich schämt, seine Matura noch nicht
gemacht zu haben, wo sie andere schon mit neunzehn hinter sich zu legen
pflegen. Ich arbeite, wovon du dich hoffentlich überzeugt hast, den
ganzen Tag und die halbe Nacht in Sinus’ und Tangenten, Cäsar und
Xenophon, Racine und Schiller, in Säuren und Berechnungen elektrischer
Kräfte. Was würde mein ehrbarer Vater dazu sagen, wenn ich eine
italienische Tamburinschlägerin der Schobermesse umwürbe!“

„Bleibst du denn heute abend zu Haus, um zu studieren?“

„Nein!“

„Wo gehst du denn hin, Battist?“

„Zu der mit den großen Händen.“

„Sie hat Hände wie eine Bauernmagd!“ sagte Jeanne, und die Wut stieß sie
davon.

„Leider!“ bedauerte Baptist lächelnd.

„Sie hat Füße wie ein Pferdeknecht.“

„Ach!“

„Ja, und überhaupt ...“ aber unter dem ironisch tuenden, kalten Blick
ihres Bruders verging Jeannes Heftigkeit. Nun fürchtete sie, ihm
wehgetan zu haben. Sie fragte voll zärtlicher Angst: „Liebst du sie
denn, Battist?“

Da drehte Baptist seinen Kahn plötzlich in den Wind. Er gab seinen
Widerstand auf, der nur äußerlich gewesen war: „Ach nein, ich lieb sie
ja wohl nicht. Aber ... zum Henker, aber, aber, aber ... hundertmal
hintereinander: aber!“

„Ich versteh dich nicht.“

„Ach Gott – es ist doch alles nicht so einfach und solid zum Anfassen,
wie man aussieht. Man hat’s ja nicht so leicht. Ich weiß nicht. Ich
kann’s nicht sagen.“

Er stand auf und küßte seine Schwester.

„Manchmal blickt man etwas klarer in sich hinein. Dann ist mir, als sähe
ich zwei Getrennte: Der eine steht immer still unter dem Boden der
Erscheinung. Der andere, der mit dem Leib, geht sichtbar oben. Aber ich
bin doch natürlich keiner, der das dann so genau sezieren und
kontrollieren kann. Sag’ doch der Köchin, daß sie anders kochen soll. Es
muß doch nicht immer diese fette Mast sein. Ich habe Sehnsucht nach
Hygiene und sehe die des Innern erst hinter der des Körpers. Davon kommt
sicher die ganze Geschichte, daß alle Widerstandskraft in einem
verfettet, daß man über die unbewegliche Masse seines Leibes nicht mehr
hinauskommt. Geh, Jeanne, spiel was!“

Baptist ging im Zimmer hin und her. Jeanne spielte. Es war Chopin, bunt
und zerrissen, schwermütig und voll Glanz. Aber auf einmal klang es jäh
ab; mitten in der Harmonie blieben die Hände still, drückten sich noch
mit einem mißklingenden Akkord auf die Tasten. Jeanne wandte sich um:
„Battist, wenn du dein Examen nicht bestündest?!“

Es war eine Frage und war Entsetzen und Liebe.

„Ja, Gott ... Fragezeichen, Schwesterlein!“ antwortete Baptist. „Dagegen
bin ich nicht gewappnet!“ fügte er nach einer Weile ernster hinzu.

Dann ging er und streichelte seiner Schwester über das Haar.

„Nun spiel etwas Ordentliches, etwas Schönes und Großes. Alles andere
ist doch Dreck. Geh, spiel etwas von Bach!“

Während Jeanne im Notenschrank suchte, begab sich Baptist zum
Rauchtisch, hob das Feuerzeug von den Zigarrenkisten und öffnete die
Kiste, die zu oberst lag und die auf lackiertem Holz den Stempel Uppmann
trug.

Aber er lachte laut auf, als er hineinschaute.

„Der Vater hat hier einen kleinen Tausch vorgenommen“, sagte er. „Wer
ist vom Werte der Umdrehung des alten Sprichworts: Das Kleid macht nicht
den Mönch! so überzeugt, wie er! Groschenzigarren sind Importen, wenn
sie mit irgendeiner Bauchbinde umwickelt in einer Uppmannkiste liegen
und Herr Wampach und Herr Küborn und Herr Faber, die heute nach dem
Abendessen auf diesem Tische Whist spielen werden, sind derselben
luxemburgisch bürgerlichen Ansicht. Das nennen sie dann: frommer Betrug
– und lächeln mild und pfiffig dazu.“

Jeanne kam heran, ein Notenbuch in der Hand. Da ging die Türe auf.

Baptist lächelte vor seinem Vater anzüglich in die Zigarrenkiste hinein.

„Hast du weiter nichts zu tun?“ herrschte ihn der Vater an und klappte
unter Baptists Händen die Kiste zu. „Ich denke, du hast in vier Wochen
Examen. Du willst wohl eine Meisterschaft im Nichtbestehen von Examen
aufstellen, daß alle Leute in Luxemburg mit Fingern auf einen zeigen:
‚Da ist der Vater! Faineant!‘“

„Papa!“ bat Jeanne.

Aber diese Einmischung der schwesterlichen Fürsorge erhitzte in Baptist
den passiven Widerstand, mit dem er solche väterliche Anfälle an sich
vorbeizulassen pflegte. Das Unrecht der beleidigenden Worte schien ihm
nun offensichtlich, und diese Ungerechtigkeit, verstärkt durch die
Erinnerungen an die ununterbrochene Kette solcher Auftritte, ins
Tragische gesteigert durch die innerliche Unzufriedenheit, an der er
seiner Umgebung die Hauptschuld zumaß, hetzte ihn in einen hitzigen
Zornausbruch hinein. Er schoß leidenschaftlich empor, stürzte davon und
schlug, das Wort Cambronnes brüllend, die Türe hinter sich zu.

Der Vater rief ihm nach: „Wart nur, Jüngchen, es gibt mehr Ketten als
rasende Hunde!“

Jeanne ging zum Klavier zurück und mußte den Rest der Schale der
väterlichen Gereiztheit über sich ausleeren lassen.

„Ach du, mit deinem ewigen Geklimper und Geplimper! Schau lieber, daß du
einen Mann bekommst!“

Jeanne hob den Kopf trotzig empor. Sie dachte an die Abgewiesenen, die
sich ihr zu nähern versucht hatten, und schlug mit vollen Händen und
beleidigter Empörtheit den ersten Akkord, der in die dunkel trächtige
Melodie einer Beethovenschen Sonate ausfloß.




                            Zweites Kapitel


Baptist sprang stracks die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer. Es lag
neben seinem Schlafraum im zweiten Stockwerk der Villa und war stets das
Refugium seiner bösen Stunden. Er drehte den kleinen elektrischen
Kronleuchter an und setzte sich auf den Holzstuhl, den er als
Schreibtischsessel benutzte, seitdem er sein Examen vorbereitete.

Aber er vermochte noch immer nicht sich in Ruhe zu fassen.

„Drecks-, Drecks-, Drecksleben!“ schimpfte er laut ins Zimmer hinein.
„Und das Examen mach ich doch niemals!“

Vor ihm lagen die Bücher geordnet, aus denen er täglich fürs Examen
auswendig lernen mußte. Sie setzten seinen Ärger in Flammen. Er sprang
auf, ergriff das zunächstliegende, riß es aus dem Deckel und biß mit den
Zähnen hinein, als wollte er es verschlucken, um seine Wut damit zu
sättigen. Aber es widerstand den Zähnen. Da riß er es fünf-, sechsmal
auseinander und spaltete die paar Blätter, die ihm schließlich in der
Hand blieben, mit einem Ruck mitten entzwei.

Aber wie er diese traurigen, unschuldigen Reste in seiner Hand sah,
mußte er laut herauslachen.

„Ach Gott, nun muß ich mir morgen nur ein neues kaufen!“

Er las die Fetzen vom Boden, knüllte sie zusammen und stopfte das
zerrissene Buch in den Ofen.

„Weiter nichts, nur ein neues kaufen!“ sprach er traurig und resigniert
dem Buche, das in den schwarzen Behälter verschwand, als Grabrede nach.

Aber die Tätlichkeit, der das Buch zum Opfer gefallen war, hatte ihn
doch etwas abgespannt und versöhnt. Er ging auf und ab und ein Bedürfnis
nach Ruhe und Frieden quoll warm in ihm auf. An einer Wand standen zwei
schwere doppeltürige Eichenschränke aus Flandern voll von Büchern, die
der Reichtum seines Vaters ihm erlaubt hatte zu sammeln. Baptist riß
alle Türen weit auf, und im tiefen Schoß der Schränke erschimmerte der
absichtslos bunt gescharte Schwarm der Bücher. Im Schrank, der dem
Fenster am nächsten stand, hob sich aus den farbig gescheckten Regalen
eine Bücherreihe verzärtelt vornehm heraus. Alle hatten denselben Rücken
aus flaumgelbem, samtigem Leder und alle trugen dieselben blauen und
grünen Schilder, golden bedruckt, mit einem feierlichen Reichtum zur
Schau. Das waren Baptists Lieblinge: Werther, Hauff, Eichendorff,
Stifter, Lenau, Cosmopolis von Bourget, Maeterlinck, die Chronik der
Sperlingsgasse, Bruges la Morte, Freund Hein, Sar Peladan, Cyrano ...
verliebt und kritiklos aus dem Schatz des Geschriebenen herausgelesen
und zueinander geschart; uniformiert in all denselben Halbfranzbänden
mit den hellen Lederrücken und den dunkeln Tunkpapierdeckeln, wie sie es
in der empfindsamen und einseitigen Zärtlichkeit des jungen Menschen
waren, der in diesen Bänden wahllos sich mit seinen Tröstern
vereinsamte, seine Geliebten besaß und seine Beispiele ahnte.

Baptist fuhr innig mit der Hand über die Reihe und seine Augen suchten
zugleich an den Wänden die geliebten Bilder auf, und er sagte, während
Rührung zugleich mit Zuversicht in seinem Herzen aufbrauste: „Wir!“

Das Genießen der Bücher und Bilder in dem lieben Schlupf seines
vereinsamten Zimmers führte seine Gedanken zu weiten Streifzügen über
die Wege, die er liebte, und Baptist stand auf einmal vor dem Bild der
Italienerin auf der Schobermesse. Stracks überschwemmten ihn die Wünsche
nach ihr mit weichen, haltlosen Gefühlen, und er begann in einer
Schublade herumzusuchen, ob er nicht irgendein liebes schönes Stück
fände, das er ihr am Abend zugleich mit seiner verliebten Zärtlichkeit
geben könnte.

Da klopfte es und das Zimmermädchen sagte vor der Türe: „Der Herr
Battist möchte zum Abendessen kommen!“

Baptist hörte das Mädchen noch einen Augenblick draußen stehenbleiben,
und er hielt ein, in der Lade zu kramen. Dann ging ihr Schritt,
eingehüllt in das leichte Rauschen der Röcke, davon. Baptist schritt
langsam den Flur entlang und die Treppe hinab. Das Mädchen huschte unter
ihm lautlos in den Stufen und er sah noch gerade ihre weißen, steif
geplätteten Schürzenbänder flattern.

Im Eßzimmer saßen der Vater und Jeanne bereits am Tisch. In einer
Karaffe schlief, dunkel und schwer, roter Wein, der darauf wartete,
erlöst zu werden. Die Schwester ordnete ein paar Blumen in einer Vase
und rückte sie in die Mitte des Tisches, die Karaffe mit dem Bordeaux
etwas beiseite schiebend.

„So! rüttele ihn recht! Das hat er gern!“ brauste Herr Biver auf. „Was
machen überhaupt die Blumen da? Sie nehmen nur Raum weg!“

„Aber Papa!“ wehrte Jeanne. „So sieht der Tisch doch viel freundlicher
aus. Es ist ja auch Platz genug rundum!“

„Ach was, der Tisch ist da für das Essen und nicht für eine
Blumenausstellung. Dafür mußte ich dir den Wintergarten ans Haus bauen!“

Jeanne zuckte mit den Schultern.

„Was hast du daran auszusetzen?“ fragte der Vater und schaute beleidigt
auf.

„Nur, daß ich eine andere Meinung habe!“

„Du kannst deinem lieben Bruder die Hand geben. Der hat auch immer eine
andere Meinung als wie die gewöhnlichen Menschen!“

Baptist horchte nicht hin, während der Vater schwatzhaft weiter
kritisierte. Er fragte sich nur einmal, ob er seiner Schwester
vielleicht zu Hilfe kommen müßte? Aber dann fuhr ein anderer Gedanke,
der schon eine kleine Weile gelauert hatte, in ihm nieder.

Baptist stand auf und ging an dem Mädchen vorbei, das gerade eine Platte
mit Speisen hereinbrachte, zur Türe hinaus. Er schloß die Türe hinter
sich und eilte, die Schritte dämpfend, über die dicken Teppiche an den
geschlossenen Türen des Korridors vorbei. Als er im Seitenflur war, wo
kein Licht brannte, verfinsterte er mit einem kleinen Ruck sein Gesicht.
Er dachte, er sähe jetzt aus wie ein Bösewicht. Aber er biß trotzig die
Zähne aufeinander.

Die letzte Türe führte in das Arbeitszimmer seines Vaters. Baptist
machte sie geräuschlos auf und tastete sich zu dem Sekretär, der gleich
an der Wand stand. Ein schwacher Dämmerschein fiel durch die offene Tür
in das dunkle Zimmer. Als Baptist ein wenig mit den Fingern unter der
hervorstehenden Platte getastet hatte, gab es einen leisen Knall. Das
war das Geheimnis, das Herr Biver mit ängstlicher Genugtuung für sich
allein zu besitzen glaubte. Baptist schob an einem Knopf den Rolldeckel
fausthoch auf, griff in die Öffnung hinein und fühlte gleich den kalten
Schlüsselbund. Er zog ihn vorsichtig heraus, während er in den Flur
hinaushorchte. Seine Brust klopfte mit spitzigen Schmerzen dazu, und die
Finsternis legte sich angstvoll wie Wasser auf ihn.

Baptist schlüpfte mit einem schnellen Schritt zu dem eisernen Ungetüm,
das dunkel erkennbar aus der Wand trat. Seine Finger glitten an einem
Eisenband entlang, rutschten langsam suchend über eine glatte Fläche,
bis sie den Messingknopf trafen; sie drehten ihn rasch herum. Die andere
Hand haftete mit dem kleinen Schlüssel mit dem Strahlenkranz von Bärten
heiß in die Öffnung; das Schloß gab mit einem weichen, dumpfen Schrei
glatt nach, und es war fast, als käme Baptist die schwere Eisentüre
leicht und unheimlich entgegen, um ihn vor die Brust zu stoßen. Aber sie
blieb auf einmal stehen.

Baptist griff in den dunkeln Spalt. Seine Finger trafen eine runde
eiserne Schüssel, die offen war; es fühlte sich an wie brennendes Eis,
als er hineingriff; hastig ließen die Finger Stück für Stück von dem
Inhalt in die Hosentasche gleiten. Baptist wollte zählen, aber er
vermochte es nicht. Es zitterte ihm leise in den Händen und in den
Beinen. Er hatte die Augen geschlossen, während er so tat, und er sah
sein Blut dabei lärmend und mit glitzernden Schwärmen funkelnd im Kopf
herumgehen.

Dann drückte er fiebrig zurückhaltend die hohle Türe ins Schloß. Es
knackte einmal heller und dann noch einmal, wie ein ferner halb
verschallter Hammerschlag Baptist zuckte in erhitzten eckigen Gebärden
mit der Hand unter den Rolldeckel des Sekretärs, legte die Schlüssel
nieder, schob, die Zähne in die Lippen beißend, den Deckel ins Schloß.

Er richtete sich auf in der Dunkelheit und blieb ein paar Augenblicke so
hochgereckt und unbeweglich stehen. Er kniff die Augenlider zu,
krampfhaft fest, als schmerzte es ihn. Das Blut sprang wie in einem
Strahl gewaltsam in seinen Kopf hinauf. Er sagte zu sich: „Dieb!“ aber
alles war plötzlich in ihm hochgespannt. Er fühlte seine Gedanken sich
straffen, daß sie klangen. Sie waren wie aus Glas auf einmal, hart,
scharf und klar. Er sah durch sie hindurch in sich hinein. Er erlebte
wie mit einem Schlag voll schweren Lichtes das, was in ihm vergangen
war, und sah in sich die Möglichkeiten maßlosen Verkommens und großen
Werdens ungebunden nebeneinander stehen. Er spürte seine ungeheure
Widerstandskraft hinter der wohllebigen Weichheit seines Leibes und der
Verfettung seines Willens unberührt und untätig liegen und war angefüllt
mit einer erregten, reichen Abenteuerlichkeit voll möglich gemachter
Taten, über die sich mit dunkel schwerer Gebärde die Fatalität
herniederbückte.

Aber wie ein kleiner körperlicher Schmerz stach ihn gleich darauf die
Häßlichkeit der heimlichen Diebstähle, denen er schon lange ergeben war
und gegen die er sich kaum mehr wehrte.

Er zog die Türe des Zimmers vorsichtig ins Schloß und ging schnell über
die Teppiche zurück in den Speisesaal, von dem er kaum einige Minuten
fortgewesen war. Über seinen Augen lag ein nebeliger Flor, als er
eintrat und sich an seinen Platz setzte. Er nahm unsicher und mit
schwachen Fingern Speisen von den Platten, die das Mädchen ihm hinhielt.
Er legte ohne es zu wissen, seinen Teller übervoll. Wie mit einem
Merkmal im Gesicht saß er da. Er zwang sich, die schweren
Fleischgerichte zu essen, die ihm widerstanden, und die Ungeduld hinaus-
und davonzukommen, blähte sich fiebrig in ihm auf.

Währenddeß dachte er sich zehn-, zwanzigmal hintereinander aus, wie er
diese Diebstähle vollführte. Wie sie in dem müßigen, verweichlichten
Hinfließen seines Lebens die einzigen Taten waren, an denen sich Wagnis
und Widerstandskraft einmal aufrichten konnten, wie sie zugleich gemein,
heimlich und ekelig waren, wo sie ihm Spannkraft und die abenteuerlich
verwilderten Genüsse in den abseitigen Weibercafees gaben, in denen
aller Widerstand des Lebens in den Dunst von Alkohol- und unfruchtbaren
erotischen Räuschen verdampfte. Er stahl und verpraßte und erkaufte sich
mit den harten Schmerzen seines Bereuens die fessellose Romantik seiner
heimlichen, dumpfen Sünden.

Und trotzdem wußte er wohl, daß er sich von dieser Krankheit freimachen
müßte, um die edlen Genüsse des Lebens zu erlangen, die er für sich in
der Ferne bereitet fühlte.

In diesen Vorstellungen gingen seine Gedanken ruhelos hin und her, wie
ein Raubtier in einem Käfig. Immer hin und her, zwischen die engen Wände
gedrückt und durch das Gitter von der Freiheit getrennt. Ein Stück
langsam und regelmäßig, dann mit einem Satz im Bogen an das Gitter
schnellend, dann fiel er in der Mitte wieder zu Boden, begann von vorne,
kühl und sich fassend, und gleich wieder flammend erhitzt, beschönigend,
verzerrend. Seiner Schwester wagte er nicht in die Augen zu schauen.
Aber die wässerigen hellen Augen seines Vaters konnte er dabei mit
kaltem Gleichmut überwachen.

Baptist trank viel von dem Bordeaux aus der Karaffe. Die Goldstücke
wogen in seiner Tasche auf dem Schenkel. Er hatte sie, damit sie nicht
zusammenklingen sollten, mit einem Taschentuch in eine Ecke der Tasche
aneinander gedrückt. Mit den Fingern fühlte er oft heimlich von außen
ihre runden Leiber an und gab ihnen verschwiegene Liebkosungen.

Baptist war satt wie eine Schlange, die sich vollgestopft hat, und er
fühlte sich doch brennend leer zum Empfang. Die Begier, daß es nun
endlich in dem Zimmer und auf dem Tisch fertig sein möchte, brannte mit
zitterndem Züngeln weiter in ihm und er schaute erregt nach dem aus, was
nachher draußen kommen sollte, wenn er erst das Haus verlassen hatte.
Vielleicht wurde es heute etwas Verschwiegenes, etwas heimlich
Frauensüßes, das er noch nie genossen hatte. Wie liebte er Rosa! Wie
liebte er sie! Dazu wirkte sein Feingefühl verletzlich, ja, wie rasend
geschärft auf die geringsten Unappetitlichkeiten, wie sie bei jedem
Essen vorkommen. Es reizte ihn, daß sein Vater mit seiner runden, wie
uneben aufgefütterten Gestalt zu tief in dem weichen Ledersessel saß und
die Serviette hoch um den Hals gebunden hatte. Das erschien ihm wie eine
Vorbereitung auf das Essen, die durch ihre weitläufigen Anstrengungen
abstieß. Auf dem harten blonden Spitzbart seines Vaters lag ein Tropfen
weißer Sauce, und Baptist mußte sich zwingen, nicht hinzuschauen und sah
doch im Wegblicken die starken runden Backenknochen des Vaters im Kauen
wie Kugeln immer drohend zu den Augen aufsteigen und ebenso regelmäßig
niedergehen.

„Das Frikassee ist heute nicht genug epiciert, Anna!“ wandte sich Herr
Biver plötzlich streng und sachkundig an das Mädchen. „Sagen Sie der
Köchin ..., nein, ich werde es ihr nachher selber sagen. Auf Euch ist
doch kein Verlaß!“

Aber Anna erwiderte: „Das gnädige Fräulein gab heute Anweisung, die
Speisen künftig weniger scharf zu bereiten.“

Herr Biver schaute Jeanne empört an: „Nun hör mal – was fällt dir ein?“

„Wir essen zu viel und zu stark!“ sagte Jeanne trotzig und bestimmt.
„Das wird jetzt anders!“

Herr Biver hielt ein mit Kauen. Er blickte betroffen vor sich nieder in
den Teller. Aber Baptist wollte versöhnlich ablenken: „Vater gehst du
heute zur Schobermesse?“ fragte er, obschon er wußte, daß mit der
wichtigen Regelmäßigkeit der Lebensgewohnheiten von Leuten, die sich in
kleinen Städten viel langweilen, an jedem Samstagabend im väterlichen
Haus die Whistpartie zusammenkam. Der Vater antwortete ihm nicht. Statt
dessen sagte er über den Tisch hinweg: „Anna, sagen Sie der Köchin, daß
ich nachher mit ihr zu sprechen wünsche. Vorderhand ist der hier noch
Herr im Haus, und es dauert noch ein Stückchen, bis es anders wird.“

Erst nachdem Herr Biver wieder eine Weile gegessen hatte, warf er
Baptist hin, ohne ihn anzusehen: „Nein, ich geh nicht zur Schobermesse!“

Jeanne zuckte kaum merklich mit dem Gesicht und schob ihren Teller etwas
von sich. Baptist dachte sich: immer lustig gefressen, das ist auch ein
Zeitvertreib! Der kleine Zwischenfall hatte ihn erheitert und aus der
heißgelaufenen Wirrsal seiner Vorstellungen um die Diebstähle wie durch
eine Beschwörungsformel herausgehoben.

Als Herr Biver weitläufig und ohne anzudeuten, daß es bald ein Ende
nehme, weiter aß, hob Jeanne mit der Gebärde einer verletzten Fürstin
den Tisch auf. Baptist war ihr dankbar für diese Bewegung und schloß
sich ihr an, als sie das Zimmer verließ.

Draußen schob er seinen Arm unter den ihrigen und die Geschwister gingen
schweigend bis ans Ende des Flurs. Dann sagte Baptist lächelnd: „Komm,
wir wollen lieber noch ein bißchen zusammen etwas spielen, bevor ich
mich an den großen Händen freuen geh!“

Er wollte noch mit seiner Schwester zusammen sein.

Aber Jeanne nahm ihn bei den Händen: „Ach, gelt, du liebst sie nicht?
Gelt, es ist nur ein wenig zum Zeitvertreib?“

„Hm?“

„Nein, gelt nicht?“

„Weshalb liegt dir denn soviel daran, daß ich sie nicht lieben soll?“

„Weil du eine ganz andere Frau bekommen mußt. So eine Prinzessin oder so
...“

Baptist lachte.

„Ja, ich meine nicht so eine geborene aus einem Fürstenhaus. Das ist ja
auch vielleicht meistens nicht mehr als wie das Gewöhnliche. Ich meine
eine, die durch ihre Schönheit und Klugheit eine Prinzessin unter den
Menschen ist.“

Da streichelte Baptist Jeanne über den Arm: „Ach, das liebe, kleine
Schwesterlein!“ schmeichelte er ihr.

„Ja, das mußt du!“ behauptete sie.

Aber Baptist zog sie in die Türe und drehte das elektrische Licht an.
Die Sonate von Beethoven stand noch auf dem Flügel.

Jeanne schlug die ersten Takte an.

„Ach nein, Jeanne, etwas anderes, etwas leichteres!“ sagte Baptist,
während er den Geigenkasten öffnete.

„Mozart!“ schlug Jeanne vor.

„Nein, etwas Neues, gelt!“

Baptist wollte irgend etwas von der Musik, die man überall hörte, etwas
von jener Musik, in der die Erotik der Zeit, wie ein prickelndes Quirlen
und Verdunsten zu flüchtigem Genuß und nervösem Reiz festgehalten wurde.
Er begann auch gleich solch ein Lied zu pfeifen. Jeanne fiel am Flügel
ein, Baptist schob schnell die Geige unters Kinn und fuhr mit ein paar
Strichen mitten in die Melodie hinein, die die Violine dann sofort mit
einem lostollenden Singen über das Spiel des Flügels, der den
leichtsinnigen Allüren der Geige nicht folgen konnte, hinweghob und
davonführte.

Baptists Geige war ein gutes Stück von Aegidius Barzellini aus Cremona.
Es war das einzige Erbstück der Familie. Der verstorbene Großvater hatte
sie in Paris als junger Bursch geschenkt bekommen – er sagte bis zu
seinem neunundsiebzigsten Lebensjahr, in dem er starb, von einer Frau –
und er hatte sein Leben drauf verfiedelt, statt zu schaffen. Aber ihre
adelige Herkunft war erst nachher festgestellt worden: als Baptist aufs
Musikkonservatorium kam, untersuchte sie schließlich einmal sein Lehrer,
den der süße, singende Ton des Instrumentes schon lange bezaubert hatte.
„Unsere Ahnengallerie!“ nannten die Geschwister die Geige, weil der
Vater jeden Besucher an diesen einzigen hervorragenden Gegenstand
rassiger Herkunft, den das Haus barg, heranführte, und weil die Geige
die den Geschwistern romantischen Erinnerungen an den leichtsinnigen,
fiedelnden Großpapa trug, der sonst als ein gefährliches Gespenst in dem
noch neuen Familienschrank der Biver sorgsam und angstvoll verschlossen
gehalten wurde.

Aber aus seiner behüteten Verborgenheit kam heute Abend der Geist des
Großvaters an Baptist heran. Der junge Mensch fiedelte das erregende
Lied, daß es im Kasten der Geige heiß und menschlich verlangend stöhnte
und tollte, und der Großpapa schien dazu zu lächeln und Rosa von der
Schobermesse tanzte, das Tamburin schlagend, und auf einmal war die
Geige ein Menschlein, ein heiterer Kumpan, der mit einem buckeligen
braunen Lachen bei Baptist war ... war der lustige, abenteuerliche,
leichtfertige Großpapa, den der Spieler in dem bebenden Unterton der
Resonanz des Geigenleibes zu allen Dingen des Tages frech, wurschtig und
humorvoll brummeln hörte. Und Baptist sang übermütig zu seinem
Geigenstreichen, preßte das Wort ‚Ahnengallerie‘ ununterbrochen durch
alle Tonfolgen der werbenden, erhitzenden, einschläfernden Weise ... Ah!
... ahnen ... gal ... le ... ri – ö! A...a...nengallri... und schloß im
Spielen die Hand bewegter um den Geigenhals, drückte die Finger
gefühlvoller auf die Saiten, führte den Bogen zärtlicher, als handelte
es sich darum, im Rausche einem treuen Sauf-, Wander- und Leidgenossen
mit einem empfindsamen Händedruck seine Freundschaft zu bestätigen.

Aber auf einmal fiel die Unrast auf Baptist nieder, wie ein Netz, das
sich im Augenblick zuzog. Baptist warf einen Schnörkel von Akkorden über
die vier Saiten, hüpfte zum Geigenkasten, die Violine sank einmal
aufschallend hinein, der Deckel schnappte zu.

„Gute Nacht, Schwesterlein, jetzt muß ich!“ rief Baptist, sprang am
Flügel vorbei, strich Jeanne rasch über die Schultern und setzte zur
Türe hinaus. In demselben Satz stürmte er die Treppen hinan. Er sah kaum
noch, wie sein Vater seine drei Gäste, die Herren Faber, Wampach und
Küborn, zur Türe des Eßzimmers hineinkomplimentierte, während die weiße
Schürze der Anna in der dunklen Garderobenecke schimmerte.

„So, schön, der Weg ist also schon frei!“ sagte er sich, und eine leise
Atemnot klopfte in seiner Brust, mehr durch die aufgaukelnden
Erwartungen des Abends verursacht, als durch das heftige Treppenlaufen.

Aber Jeanne saß auf dem Sessel am Flügel und schaute die Türe an, die
sich so hinterrücks wieder geschlossen hatte. Bald weinte sie. Er war
ihrer Liebe und Zärtlichkeit entglitten und ging nun zu dem Kirmesweib,
die seiner unwürdig war und an der er sich beschmutzte; Und wieder wuchs
der verwilderte Garten in ihr auf.

Baptist wechselte in seinem Zimmer, nachdem er sich gewaschen hatte, mit
fliegenden und in der Erregung ungeschickten Fingern Kragen und
Krawatte. Sein Gesicht glühte, und das kalte Wasser hatte nur einen
Augenblick wohlgetan. Zu den offenen Fenstern zog die erste Abendkühle
des Septembertags ins Zimmer. Es lag eine leise modrige Ahnung von
Änderungen, von Scheiben und Vergehn in ihr. Sie kam aus der starren
Finsternis des Stadtparks feucht und unaufhaltsam herein.

Baptist legte, als er fertig war, und schon den Hut auf hatte, noch ein
kleines Weilchen mit einer kosenden Bewegung den Kopf zum Fenster hinaus
in ihre wehmütige Herbheit.

Dann verließ er das Zimmer und stürzte die enge Treppe hinab, die im
Seitenflur für das Dienstpersonal Erdgeschoß mit Speicher verband. Er
nahm jedesmal drei oder vier Stufen, und prallte unten auf Anna, die
gerade aus der Küche gekommen war. Um nicht gegen sie zu fallen, mußte
er seine Hand auf ihre Schulter stützen, während er sich mit der andern
am Geländer hielt.

Anna lächelte ihn geniert an, und Baptist ließ seine Hand liegen. Er
spürte unter dem dünnen Taft der Bluse die Formen der Schulter. Er
sagte, ebenfalls gezwungen lächelnd: „Mund halten, daß ich weg bin!“

Anna nickte vertraut, während Baptist mit einer Zärtlichkeit, die sich
nicht eingestehen will, zaghaft und errötend seine Hand niedergleiten
ließ. Das Mädchen schaute verlegen mit warmen Augen an ihm hinauf. Aber
er hatte sich schon abgewandt und Anna sah ihn rasch die kleine Treppe
hinab und zur Seitentüre hinausgehn. Beiden, ihr drinnen, die nun
verlassen die Treppen hinaufging und sich dabei auf das Geländer
stützte, und ihm draußen, der über die Rasen zum Tore schritt, damit
seine Schuhe nicht im Kies der Wege knirschten, war es, als hätten sie
eine kleine Wunde von diesen drei Augenblicken des Zusammenseins in dem
einsamen, schmalen Flur davongetragen.




                            Drittes Kapitel


Die Villa Biver war in jener Zeit gebaut worden, wo die Stadtverwaltung
so wenig Gewissen und Geschmack besaß, daß sie sich bereit fand, an
Private sozusagen ohne Entgelt und nur aus Liebenswürdigkeit und
Vetternschaft die schönsten Winkel ihres alten Parkes aufzuteilen. Die
Villa hatte sich in eine Ecke geschmiegt, die an der Kante des Plateaus
den Park zur Seite des Petrustales beschloß. Zwanzig Schritte von dem
gußeisernen Tor der Villa verlor sich gleich ein Weg in das Baum- und
Buschwerk des Parkes und schlängelte sich heimlich und verlassen dahin.
Alle fünfzig Schritte leuchtete eine altmodische Gaslaterne mit einer
offenen flackernden Flamme rot und düster in einem Strauch. Einmal
umfaßte ein dünner Kreis von solchen Laternen das alte dunkle Gewese des
ehemaligen Forts Louvigny, das seit drei Jahrzehnten vergeblich drum
warb, die Vergnügungsstätte der Luxemburger zu sein. Es lag jeden Abend
verlassen und wie lauschend im Gebüsch. An zwei Stellen schnitten
Straßen breit durch den Part. Sie waren fast ebenso verlassen, wie die
verschwiegenen Pfade im Innern. Nur brannten modernere Gaslichter an
ihren Rändern. Diese Straßen verbanden das neue Ringviertel mit der
Stadt; denn der Park zog sich wie der Gurt eines Stadtwalles im Bogen um
das alte Luxemburg, wo es mit der Hochebene zusammenhing, so daß, als
die Stadt sich ausdehnen mußte, sie jenseits des Parkes den Raum dazu
nahm. Dort auch, aber an dem entgegengesetzten Ende der Villa Biver lag
auf einem alten Glacis das Schobermeßfeld.

Baptist schritt schnell im dunklen Weg ihm entgegen. Drei oder viermal
streifte er Liebespaare, die sich in den Schatten der Finsternis
schmiegten. Alle diese Stellen, über die er ging, waren von Erinnerungen
trächtig. Baptist eilte heute an ihnen vorbei und wischte sie mit einer
Handbewegung weg, wenn sie sich nähern wollten. In der lautlos
gereinigten Nacht scholl das wilde Geräusch der Kirmesmusik auf dem
Schobermeßplatz und verlor in der Entfernung keine Einzelheit. Aber es
dämpfte sich zu einer Wirrnis von haarscharfen, kleinen Tönen, die
durcheinander tollten. Es war wie unverrückbar festgebannt auf seinen
fernen Platz und Baptist schien es auf einmal, als sehe er das
nächtliche Land, das ihm noch grade so voll naher Versprechen gewesen
war, durch ein umgekehrtes Opernglas, ganz sein und kühl geschärft in
allen Umrissen, aber weit, unerreichbar weit entfernt.

Zugleich schlug der Nebel zwischen den Bäumen heran. Er war feucht und
kühl und trug wieder den herben Duft von Vergehen und Tod. Der Park lief
mit seiner ganzen Breite auf die Kante zu, unter der sich das Alzettal
schroff in die Tiefe senkte, und hörte auf einmal mit einer Wehr von
runden starken Eisenstangen zwischen Steinkegeln vor dem Abgrund auf.
Unten im Grund lag die Vorstadt Pfaffental und seitwärts öffnete sich
das enge grüne Tal der Alzette, das langsam an schonen Tagen die
Schenkel seiner einfassenden Hügel weit auseinander dehnte und weich,
lieblich und lau wurde. Aus diesem Tale kam der Nebel herauf.

Baptist kannte die Poesie dieser Stelle am Rande der Tiefe! Diese
verruchte Poesie der Luxemburger Landschaft mit ihrem bescheidenen
Gewähren, ihrer Lieblichkeit einer schönen Magd, mit ihrer kleinen,
etwas trockenen und spröden Traurigkeit.

Und er ging sie zu genießen, gradaus weiter, trotzdem schon über der
Villenreihe, die eng geschart die Rücken dem Parke kehrte, der von den
Lichtern der Karussels und Buden der Schobermesse gerötete Himmel wie
eine schwarzrot illuminierte Glocke unter der Nacht lag. Baptist mußte
wieder einmal diese Poesie aussuchen, die ausgestattet war mit tausend
Alltagen seiner Erinnerungen, tausend Alltagen seiner stummen,
handlungslosen Erlebnisse.

Der Nebel kam immer dichter zwischen den Bäumen. Er ging wie kühle
Tücher um den nächtig Einsamen. Baptist wußte, weil er es so oft erlebt
hatte, daß der Nebel dem Tal entstieg, wie dem Schacht einer Quelle, daß
er sich bleich opalen und lautlos durch die Nacht dehnte, langsam
wanderte, traurig und resigniert war, wie ein stilles Unglück, das sich
in einem Haus am Platze einer kleinen Stadt der Heimat mit Bewegungen
vollzieht, die nicht nach außen dringen dürfen.

Baptist wollte über die breite letzte Straße schreiten, hinter der nur
mehr ein Parkviertel, kaum hundert Meter breit, vor der Tiefe lag. Da
sah er den kleinen Pferdebahnwagen herankommen, der in der
Schobermeßzeit bis zum Budenplatz fuhr, sonst aber schon am letzten Haus
der Neutorstraße seinen Weg beschloß. Er ging ihm, der bequem und etwas
alt daherpolterte, auf den Schienen entgegen. Der Kondukteur trillerte
mit der kleinen schwarzen Holzpfeife. Baptist trat etwas zur Seite und
sprang auf, als der Wagen ihn erreicht hatte. Er war der einzige
Fahrgast.

„Aha, auch noch zur Schobermesse, Herr Biver!“ begrüßte ihn der
grauhaarige Kondukteur.

„Man muß es ausnutzen. Morgen ist der letzte Tag!“ antwortete Baptist.

„Ju, ju!“ bestätigte der Alte und hieb dem kleinen Pferd eins über. Bald
trillerte er noch einmal grell und energisch mit seiner Holzpfeife. Die
Schienen liefen in den Sand des Bodens hinein. Der Lärm von hundert
Orgeln klopfte sich durcheinander heran, als das Prasseln und Klirren
des Trambahnwagens einhielt. Durch den Eingangsspalt über die Ecke
funkelten Streifen und Kugeln von Licht. Schwarze Menschen wogten wie
flüchtige, umleuchtete Schatten langsam davon. Der Lärm der Musik schrie
harthörig und dickköpfig gegen einander, Ton gegen Ton, Orgel gegen
Orgel. Aus den Karussels qualmten dunkle Rauchwehen, die der Abendwind
erfaßte, in den grellen Kanal der Lichter niederdrückte, daß sie einen
Augenblick schwarzgolden waren, und dann zwischen den Budenreihen in den
Gesichtern der Menschen zerstäubte. Über dem Feld schwebte schon der
Nebel und rötete sich blaß und weit hinauf an der Glut der Lichter.

Baptist drang in die Stadt des Feuers und des Lärmens hinein. Er ging an
dem funkelnden Glitzern der zuckerduftenden _Abondance des douceurs de
Nancy_, an rasselnden Karussells mit Schiffen, Autos und hin und her
zappelnden Schimmeln, an der Friture vorbei, deren Kabinen heute leer
waren, an dem _Alcassar de Paris_, aus dem die krähende Stimme einer
französischen Soubrette wie eingewickelt in einen Dunstschwaden schalen
Biergestankes kam; er ging schnell dahin, geradeaus auf die große
Holzbaracke von Hiltchen zu, in der die italienische Kapelle spielte.

Als er eintrat, sah er gleich im Grunde des tiefen, mit Tüchern, Fahnen
und Tannengirlanden verhängten Lokals die Gruppe der Musikanten in
bunten Kleidern aufrecht stehen, spielen und fingen, und Rosa stand vor
ihnen und schüttelte das Tamburin auf ihren Fingern. Sie war untersetzt
und leidenschaftslos und konnte ihre Hüften nicht biegen. Sie schlug das
Tamburin, als müßte sie eine Last heben. Baptist sah gleich ihre
schweren Hände. Ein Gefühl von Mißbehagen ergriff ihn. „Eine Magd!“
sagte er sich und wollte davoneilen.

Aber da sprangen oben in der Nähe der Kapelle zwei Menschen auf und
winkten ihm eifrig zu.

Baptist ging zwischen den Tischen durch zu seinen Bekannten und setzte
sich neben sie. Er war jeden Abend mit diesen beiden zusammen. Er hielt
sie neben sich, wie Angestellte, wenn er nicht gern allein sein mochte,
und bezahlte immer, was sie tranken.

Als er sich setzte, bemerkte er, daß die Italiener ihm grüßend mitten im
Spiel zuwinkten. Aber er tat, als sähe er es nicht.

„Batti, kuck, die Jitzkos wollen dir Guten Abend sagen!“ stieß ihn Adolf
an. Da erwiderte er flüchtig die Grüße.

„Die Rosa hat vorhin gefragt, ob du nicht kämest!“ begann Adolf wieder.

„Was liegt mir an der Rosa!“ sagte Baptist ärgerlich.

„Nachher wirst du das nicht mehr sagen!“ lachte Adolf anzüglich und
rollte mit einem Fluch die Augen dazu, als kostete er im vorneherein
schon etwas übertrieben Genießerisches, was Baptist nachher widerfahren
sollte. Aber der Fluch und das Augenrollen waren falsch, wie ein
geschliffener Glasdiamant am Finger eines sonntäglich geputzten
Bierknechtes. Adolf drehte seinen langen braunen Schnurrbart, der wie
aufgeklebt im Gesichte saß, und lachte, als hielte er nur mit Mühe
zurück, indem er mehrmals mit der Hand auf den Schenkel schlug.

Der Dritte, der ein dünner, blonder Realschüler war, während Adolf schon
seit zwei Jahren in der „Regierung“ schrieb, saß in ruhigem, kostendem
Behagen da, lächelte mit seinen rot umränderten Augen, trank und
schwieg.

Mittlerweile hatten die Italiener ihr Lied heruntergegeigt und gezupft.
Der dicke, schwarzhaarige und schwitzende Kapellmeister und Manager, der
aussah wie ein cholerischer deutscher Bierwirt, kam zu Baptist heran und
gab ihm die Hand. „Wie gehts?“ fragte er lässig auf Hochdeutsch. „Hab’
einen Durst so lang, um dran bis an die Wolken zu klettern! Holla,
Garçon so einen großen Münchener!“

„Ach,“ sagte Baptist, „man kann ja der ganzen Gesellschaft einen
aufführen lassen! Ändri, für alle!“

Der Kellner Andree machte einen ergebenen Diener und ging davon. „Na
ja!“ bestätigte der dicke Italiener.

„Das schlägt Ihnen an bei uns, was?“ machte Adolf und tippte den Dicken
auf den Ranzen. Der blonde Realschüler grub lächelnd seine roten Augen
in den Bierkrug. Der Dicke lachte und schmatzte zwischen den schwarzen
Haaren seines Bartes heraus: „Makkaroni!“

„Einen alten Dreck, Makkaroni!“ warf Adolf mit einer sich wehrenden
Armbewegung hin. „Schweinekoteletti, Bierio, hä Italiano? Daher die
dicke Trommel, bum, bum!“ und er tat, als schlüge er ihn auf den Bauch.
„Makkaroni! – Erstick dran!“ sagte er noch einmal wegwerfend. Der
Italiener lachte, daß alles an ihm in ein kurzes Schaukeln geriet. Seine
kleinen gemeinen Augen kniffen sich zu und stachen funkelnd zwischen den
Augenlidern heraus, daß es aussah, als entfielen ihnen kleine glitzernde
Küglein.

Da kam Rosa und hielt das Tamburin hin, zuerst dem blonden Realschüler,
der einen Sou hineinlegte, darauf Adolf, der sie verbindlich anlächelte
und nichts gab. Sie zog das Tamburin schnell zurück und errötete. Dann
schaute sie zu Baptist hin, lächelte ein bißchen mit ihrem unbeweglichen
Gesicht und winkte ihm zu, indem sie ihm leise sagte: „_Bona Sera,
Signor!_“ Sie sprach kein einziges Wort einer andern Sprache.

Baptist reichte ihr an dem Kapellmeister vorbei die Hand. Sie wunderte
sich etwas darüber und begriff seine Bewegung nicht gleich. Aber ihre
leise und unaufdringliche Art hatte Baptist versöhnt. Er unterschlug
sich ihre Hände und sah nur das ruhige Gesicht, das zu einem sanften
Oval gebildet und lieblich war und die Sonne der Heimat wie einen
zarten, blaßbraunen Reif auf seiner Blondheit trug.

Baptist legte eine Mark in das Tamburin, und die Italienerin nickte
wieder mit ihrem etwas schwerfälligen Lächeln und sagte ein leises:
„_Grazie!_“

Sie ging auf das Podium zurück, und Baptist schaute sie immer an. Es war
ihm wohl und es hatte ihn erlöst, daß er wieder einen Weg zu ihr
gefunden hatte. Der dicke Italiener spaßte weiter mit Adolf. Der
Realschüler hockte sozusagen nur nebenan, wie ein Kinderfräulein bei
einem Ausflug am Tisch ihrer Herrschaft, und beteiligte sich nur durch
lächelnde Mienen.

Als der Italiener ging, um ein neues Stück zu spielen, sagte ihm
Baptist: „Aber gelt, Häuptling, keins von den dummen, die Ihr immer
spielt. Lieber: ‚_Vieni sol mare!_‘“

„Wie Sie wünschen, Herr!“ und die Italiener spielten das Lied. So oft
der Refrain kam, standen sie alle auf und sangen zur Begleitung der
Geigen und Mandolinen: ‚_Vieni sol mare ...!_‘

Und die Melancholie, die Verliebtheit, das süße Leid eines andern,
bunten Volkes erschienen Baptist aus der schwermütigen, weichen Weise.
Das Meer ebbte dunkelblau und sanft. Die Sonne lag drauf wie ein Traum.
Die Ferne stand auf und war voll stiller Einsamkeiten, voll stiller
Wanderwinkel, nach denen Baptist sich sehnte. Er schaute Rosa an, und
ihr liebliches Gesicht, das kein Bewußtsein von sich selbst zu haben
schien, lächelte ihm bisweilen schwerfällig zu.

Ob sie ihn liebte!

Nein, nein, sie liebte ihn nicht. Weshalb sollte sie ihn lieben? Weil er
immer hier sitzt und sie anschaut? ... Er hat noch kein Wort mit ihr
gesprochen. Weshalb sollte sie ihn lieben? Vielleicht war einer der
Musikanten ihr Schatz? Was war auch gleichgültiger als das? Sie stand ja
nur mitten im Lied, mitten in dem Glast des fernen Landes, das mit
seiner Melancholie, seinem funkelnden blauen Meer sich hinter ihr
ausbreitete.

_Vieni sol mare ..._

Es war der Rhythmus von Verzichten, von der traurigen Süße jenes
Verzichtens, in dem man erst recht besitzt. Vor vierzehn Tagen war sie
gekommen. Er hat sie jeden Tag gesehen, hat jeden Tag hier gesessen und
mit Blicken um sie geworben. Morgen wird es das letztemal sein. Und dann
sieht er nicht einmal mehr die Spur, vor der sie davonging! Die Poesie
des Vorüberziehens, fern und keusch!

Aber es war nicht traurig, das so auszudenken. Es zog auf in Baptist wie
die blanken Scharen weißer Wanderwolken an ersten Sommertagen. Seine
Phantasie wanderte und schweifte. Weiten öffneten sich vor ihm, er
brauchte nur hineinzuschreiten. Er war reich und besaß Macht wie ein
Fürst. Eine heiße Fröhlichkeit brach in ihm empor, wie eine zum Himmel
steigende Schwalbe.

„O Jungen,“ rief er auf einmal, „jetzt wird Champagner getrunken!“ Er
winkte dem Kellner: „Ändri, Änder, her mit dir!“

Der Kellner kam ergeben herangestürzt.

„Jetzt bring in einem Faß voll Eis eine Flasche _Moët dry_! oder lieber
gleich zwei! ... Wir wollen mal sausen!“ sagte er den beiden andern, und
die wackelten auf ihren Stühlen und lachten und lächelten. Adolf schlug
sich wieder mit der Hand auf den Schenkel, als klopfte er Lustigkeit da
heraus. „Batti, Batti!“ lachte er.

„Wir wollen sausen, daß Luxemburg über Nacht zum Kaiserreich wird!“

Bald kam der Kellner mit den bestellten Flaschen. „So, Ändri!“ sagte
Baptist, „Nun zählen Sie mal die Gesellschaft auf dem Podium und setzen
Sie ebensoviel Gläser auf ein Tablett und dann bringen Sie auch zwei
Flaschen dahin!“

                   *       *       *       *       *

Über die elfte Stunde wurde es leerer in dem großen Raum, der von dem
trockenen und erhitzten Geruch ungestrichenen Fichtenholzes erfüllt war.
Die Bürger rückten heimwärts. Aber auf ihre Stühle setzten sich die
Junggesellen der Stadt.

Die Junggesellen waren im gesellschaftlichen Leben der Stadt eine Kaste.
Es war eine Kaste, die sich einigermaßen außerhalb von Sitte und Gesetz
gestellt hatte, aus eigener Macht und mit der notwendigen
Rücksichtslosigkeit, denn sie bildeten einen zahlreichen und vielleicht
den wichtigsten Stand in der Gesellschaft von Stadt und Land. Eine
Hauptsache vor allem hatten sie sich gesichert: Die Legitimität ihrer
Maitressen. Die Gesellschaft der kleinen Stadt mußte sie duldend
anerkennen, bis die Verlobung dem anarchischen Stand ein natürliches
Ende bereitete. Aber sie rächte sich dafür, indem sie von diesen Damen
witzige Streiche erfand und verbreitete und ihnen Spottnamen anhing, wie
z. B. das Petrolkännchen oder das Gaslaternchen, der Kaffeesack ...
Namen, unter denen sich für Eingeweihte meist derbe Ergötzlichkeiten
verbargen.

Mit diesen legitimen Maitressen erschienen die Junggesellen, alte und
grüne, bei Hiltchen und besetzten die großen Mitteltische. Um jedes Paar
schwänzelten einige leichtsinnige Ehemänner herum, denen das Privileg
der Junggesellen nicht zugebilligt worden war, und machten den Damen
eindringlich den Hof. Es wurden Krebse und Champagner bestellt, nachdem
man von irgendeinem kräftigen Hotelsouper gekommen war, und die
Heiterkeit schickte derbe Scherze los, dröhnte zu dem Holzdach hinauf
und polterte durch das ganze Lokal.

Da erschien drunten in der Eingangstüre ein Mensch, der plump, knorrig
und verbeult aufgeschossen war, wie ein Birnbaum, der an einem Hügel
wächst. Er ging langsam zwischen den Tischen durch. Sein Kopf saß etwas
kegelig gespitzt auf dem langen Leibe und hatte eine mächtige,
flachgedrückte Entennase, wie eine Last zu tragen. Ein Büschel
schmutzigblonder Haare flatterte unter ihr über die Lippen. Im ganzen
Lande kannte man diesen Menschen wegen seiner Häßlichkeit, und man
sagte: Der oder der ist häßlich, wie der Heng aus Esch.

Herr Heng war von Haus aus Arzt gewesen. Man hatte ihm aber bald die
Praxis genommen und ihm auch zeitweilig die Freiheit entzogen. Das war
wohl schon lange her und so gut wie vergessen. Aber er war dann in die
Welt gewandert, hatte ihre Härte erfahren und war zurück nach der Heimat
gekrochen, wie ein geschlagener Hund. Er saß nun in dem jungen und
unkontrolliert wachsenden Eisenerzstädtchen Esch und heilte die
Jünglinge, die sich scheuten, zum Arzt in Amt und Würden zu gehen, von
ihren heimlichen Krankheiten. Man ließ ihm diesen Erwerb, weil er aus
einer angesehenen Familie war, der man den Skandal vermeiden wollte.

Dieser Herr Heng, der zu allem noch ein Trunkenbold und Raufer geworden
war, ging an den Tischen der Junggesellen vorbei und hob rümpfend die
Nase hoch, als röche es nicht gut in dieser Gesellschaft. Seine großen
gefleckten Giraffenaugen schlugen dabei klappernd jedem der Reihe nach
ins Gesicht, und er räusperte sich herausfordernd vor jedem der
Junggesellen, während er die Stelle, wo eine Dame saß, immer nur mit
einem verächtlichen Blick streifte. So ging der Ausgestoßene an diesem
erlesenen Teil der Gesellschaft vorbei. Aber die Junggesellen leerten
scherzhaft ihre Mißachtung über ihn aus. Sie lachten und sagten laut
unter sich Scherze über den Herrn Heng.

Als er an den Tischen vorbei war, schüttelte Herr Heng den ganzen Körper
und fing an zu wiehern wie ein Pferd, worauf die Tische der Junggesellen
mit allen Damen vor Lachen in ein verrücktes Durcheinanderschaukeln
fielen. Herr Heng drehte sich aber nicht mehr um, sondern ging mit
seinem krummen Stolz zwischen den Tischen weiter, bis er die
Gesellschaft Baptists sah. Da schritt er stracks auf diesen Tisch los,
ließ seine großen dummen Giraffenaugen einen Augenblick über Baptists
Kopf drohend klappern und setzte sich, während Baptist anfing
loszulachen, an den Nebentisch.

Der Wirt war aus dem Verschlag herausgetreten, von dem aus er das Lokal
überwachte. Er stand ernst und würdig in seinem zweigezackten schweren
grauen Bart zwischen den Tischen und hielt Herrn Heng mit den Augen
fest, wie ein General das Schlachtfeld in das Bereich seiner Blicke zu
konzentrieren sucht. Er winkte, aber daß man es kaum merkte, den
Kellnern eine Ordre zu, und dieses Heer schien heimlich bereit, auf das
erste Kommando des Befehlshabers auf Herrn Heng loszustürzen. Die
Italiener strichen, zupften, rasselten und sangen vom _Bello Napoli_,
von dem _Sole mio_, von _Amare e morire, danzare e baciare_, vom _Mare_,
von der _Santa Lucia_ und der _Bella Annita_, von den _Funiculi_ ... Es
war Leben in sie gekommen bei dem Champagner, und die Männer begleiteten
ihr Spiel mit Grimassen und schlugen mit den Beinen dazu wie Frösche,
die im Gras auf dem Rücken liegen und mit Fliegen spielen, die sie
kitzeln wollen.

Die kleine Margherita, die schwarz und kraus war wie ein Äffchen, hüpfte
vom Podium herunter und stieß mit ihrem Glas mit Baptist an. Mit ihm
allein. Ihre kleinen schwarzen Augen lachten ihn an, daß der Blick ihm
wie ein heißer Tropfen ins Herz fiel.

„_Evviva Margherita, la bella Margherita!_“ sagte Baptist leise und
erhitzt.

Aber dann kam auch Rosa langsam und schwerfällig, lächelte wie unbewegt
und stieß mit einer etwas plumpen Gebärde gegen sein Glas, so daß ein
wenig von ihrem Champagner auf seine Knie geschüttet wurde. Da stellte
sie ihr Glas ab, nahm erregt das Taschentuch, um die Weinflecken
abzuwischen. Ihr Gesicht bückte sich dabei zu Baptist nieder und er sah
dieses sanfte, gebräunt blonde Oval in dem leisen Dunst des beginnenden
Rausches, wie etwas unerhört Zärtliches nahe bei sich. Er zog es heran
und küßte leicht die Wange.

Rosa fuhr zurück, langsam und geniert, und die Italiener lachten und
tranken Baptist vom Podium aus zu, einer nach dem andern.

Aber dieser Vorgang erregte das Mißfallen des Herrn Heng. Er klapperte
mit seinem Bierkrug auf den Tisch und rief: „_Nom de Dieu_, _Goddam_!“
Er zog mit einer weiten Gebärde seinen rechten Arm an, faßte sich an den
Bizeps und ließ den Arm dann locker spielen, als boxte er gegen die
Luft. Das war eine Londoner Erinnerung von ihm. Jedoch niemand tat
seiner acht. Die Italiener glaubten, er sei ein harmlos Betrunkener, und
lachten sich an über ihn. Dann klatschte der Dicke die beiden Mädchen
wieder herbei.

„Gelt, Häuptling, noch einmal: _Vieni sol mare!_“ rief Baptist und der
Italiener winkte: ja!

Das Lied regnete wieder auf Baptist herein. Sein Herz ging drunter auf,
wie die Astspitzen der Kirschbäume unter den gewärmten Aprilschauern. Er
stand jetzt mitten im Lied und war selber drin tätig. Er erlebte selber
die süßen Traurigkeiten, von denen es sang. Und da erfaßte ihn ein, wie
ihm schien, ganz unwiderstehlicher und romantischer Einfall. Er sprang
aufs Podium hinauf, nahm dem leicht widerstrebenden Kapellmeister die
Geige unterm Kinn weg, drückte ihn schnell beiseite und spielte nun
selber die führende Violine; und so oft bei dem Refrain das _Vieni sol
mare_ der Stimmen gegen das volle Erbeben seiner Saiten aufzuklingen und
es zu ertränken begann, ließ er die Töne zur Höhe fliegen wie Lerchen.
Sie blieben oben liegen über den Stimmen, wie das Trillern der Vögel
über hochsommerlichen, melancholisch reifen Kornfeldern.

Die Tische in der Mitte des Saales wurden aufmerksam. „Das ist der junge
Biver, der spielt!“ sagten die Junggesellen zu ihren Maitressen, waren
anfangs etwas betroffen und deshalb skeptisch und spöttelnd, aber dann
doch für ihn eingenommen. Sie lärmten nicht mehr und horchten zu. Die
gleichgültigen Augen ihrer Maitressen hängten sich mit kaltem Aufglühen
an den jungen Helden. Sie verglichen ihn mit der polternden Art ihrer
Freunde und dachten sich schon gerührt aus: Welche von uns wird er
nehmen, wenn er sein Examen gemacht hat? Aber ganz in der Nähe hörte
Baptist ein scharfes Trommeln immer in sein Saitenstreichen hämmern. Es
störte ihn und er wußte nicht, was es war. Der Herr Heng, der sich kaum
noch zu fassen wußte, schlug mit dem Bierkrug den Takt zu dem Lied. Er
hatte die Knie angezogen, bereit aufzuspringen. Auf einmal brüllte er
los und setzte mit seinen langen Armen fuchtelnd auf das Podium zu.
Gerade war das Lied aus. Der dicke Italiener klatschte in die Hände und
auf den Tischen in der Mitte hoben sich Champagnerkelche empor, um
Baptist zuzutrinken. Eines der Mädchen begann mit ihrem Glase
heranzukommen. Aber als Baptist vom Podium heruntersprang, stand Heng
unvermittelt und feindselig vor ihm. Die fleckigen großen Giraffenaugen
unter der dreieckigen Stirn waren weit aufgerissen und das pockennarbige
Gesicht schien losbrüllen zu wollen.

„Weg!“ sagte Baptist und schob Heng lässig zur Seite, um zu seinem Tisch
und zum Champagnerglas zu gelangen. Er wollte mit dem Mädchen anstoßen,
das auf ihn zukam.

„_Nom de Dieu_, ich hau dir eine runter, du grüner Junge!“ gröhlte Herr
Heng.

Baptist setzte sich zur Wehr.

„_Goddam_, so ein Bürschchen spielt sich auf! Du Protz!“ schrie Heng.
„Er säuft Champus und glaubt die ergaunerten Millionen seines Vaters
stänken nicht mehr an ihm!“

Kaum hatte Baptist das gehört, da war ihm, als ob er emporgeschleudert
würde. Aber er fiel gleich schwer wie Eisen auf den Feind hernieder. Es
entstand ein brutales Gegeneinanderprallen, ein krachendes Sichvermengen
von Körpern, Fäusten und Muskeln, vor dem Tische und Stühle wie Flöhe
wegsprangen. Es schlug in Baptist alle Vorstellungen heiß, Funken
sausten über ihn nieder. Er wollte bebend alle Kraft der Muskeln
einsetzen. Seine Arme waren auf einmal wie von Blei. Um ihn wurde es
schwarz von stürzenden Menschen und er spürte seine Lippen als etwas
brennend Nasses.

Er stand auf einmal überrascht allein und wischte mit der Hand über den
Mund, in dem eine Flamme zu sitzen schien. Als er seine Hand zurückzog,
war sie voll Blut. Er beugte sich vor und das Blut tröpfelte langsam auf
den Boden. Da stand einer neben ihm und führte ihn zu der kleinen Türe
hinaus hinter die Baracke in die Finsternis. Das Mädchen, das vorher mit
dem Champagnerglas auf ihn zugekommen war, tunkte ihr Taschentuch immer
in ein Glas mit Wasser und näßte und spülte ihm die Lippe, während sie
sanfte Worte dazu sagte. Ein paar Männer bewegten sich um ihn und einer
faßte ihm an die wunde Stelle und ließ eine elektrische Taschenlampe
drauf leuchten. Dann drückte er mit dem Finger zwischen den Lippen auf
die Zähne.

„No, es ist gut gegangen!“ sagte er erleichtert und wie zu einem Kind.

Nun erst kam Baptist wieder zum klaren Bewußtsein. Er dankte dem Mädchen
und stillte mit seinem eigenen Taschentuch das Blut weiter.

Das Mädchen und die paar Menschen standen eng um ihn her. „Der Hund!“
sagte Baptist mit einem Schluchzen.

„Da ist Kognak, trinken Sie das!“ redete eine Stimme begütigend im
Dunkeln und ein kleines Gläschen wurde Baptist vors Gesicht gehalten.
Der Kognak duftete ihm stark zu und er goß ihn hastig in den Mund. Es
brannte auf in der Wunde.

„Er hat ihn mit einem Totschläger auf den Mund gehauen!“ erzählte einer
in der kleinen Türe, in der sich das Licht des Lokals grell funkelnd
zurückzuhalten schien.

Aber die kleine Türe fuhr plötzlich zu.

„Die Polizei!“ sagte eine Stimme. „Rasch weg!“ Eine Bewegung entstand in
den dunklen Gestalten. Jemand ergriff Baptists Arm. Sie drangen in das
finstere Gewirr eines Schuppens.

Nach einer Weile rief draußen eine Stimme: „He, wo seid Ihr? Sie ist
wieder weg!“ Da kamen sie heraus.

Das Blut hörte schon auf zu fließen. „Es ist nicht schlimm!“ sagte
Baptist. Er drückte das nasse Seidentuch auf den Mund und trat mitten
zwischen den dunklen Gestalten wieder in das Lokal hinein.

Es war leer. Die Italiener, die Junggesellen und die Damen und ebenso
Adolf und der blonde Realschüler, alle waren fort. Nur der Wirt schritt
drunten mit seinem langen zweizackigen grauen Bart ernst und streng
zwischen den Tischen herum. Ein Kellner kam und blieb abseits im Wege
stehen. Baptist sah erstaunt, daß er nur drei Menschen um sich hatte. Es
waren drei Realschüler der oberen Klasse, kurz gebaute, breitschulterige
Kameraden, die man in den verrufenen Schlupfwinkeln der heimlichen
Cafees immer zusammen sah. Sie trugen über niedrig umgeschlagenen bunten
Kragen, wie die „Cheminots“ sie lieben, ihre feisten Hälser zur Schau,
in denen sich bei jeder Kopfbewegung die Sehnen wie Stränge spannten.
Ihre runden Rücken schienen die Gewalt der Muskeln unter den Kleidern
kaum mehr zusammenhalten zu können. Sie waren in der brutalen
Eisenerzgegend des Landes daheim und Baptist nicht sonderlich vertraut,
weil sie, wie sie körperlich aussahen, auch innerlich waren. Sie tranken
Branntwein und machten den Soldaten die Dienstmägde der engen,
heimlichen Gassen des Heiligengeistviertels streitig.

„Den Hund wollen wir heute schon noch erwischen!“ sagte der eine und
machte eine Faust. Und alle drei boten sich, ehrliche Athleten, Baptist
vollkommen an. „Der sitzt jetzt in der Bädergasse im Cafee Heinck! Da
gehen wir hin!“ rief einer kriegslustig. „Mit einem Ring zu schlagen, so
ein feiges, hinterlistiges Schwein!“

Aber Baptist fragte: „Wo sind die Italiener?“

„Der Hiltchen hat sie hinausgeworfen, weil sie dir halfen und sich in
den Streit mischten.“

„Dann muß ich mit dem Wirt sprechen!“ entgegnete Baptist gleich und ging
nach dem unteren Teil des Lokales zu.

Als der Wirt ihn kommen sah, schritt er schnell in den Verschlag des
Büfetts und in die angebaute Kammer hinein.

„Herr Hiltchen, Herr Hiltchen!“ rief Baptist, aber niemand kam heraus.
Nur der Kellner war Baptist gefolgt und blieb in derselben abgemessenen
Entfernung stehen, wie vorhin. Da verstand Baptist.

„Wieviel?“ fragte er.

Der Kellner gab ihm einen Zettel, auf dem die Rechnung stand. Baptist
bezahlte.

Dann gingen die vier hinaus.

Auf der Schobermesse waren fast alle Buden geschlossen. Nur vor ein paar
zerstreuten gemeineren Zuckerläden brannten noch dürftige schwälende
Petrollampen. Die vier jungen Menschen eilten im Sturmschritt durch die
breite reglose Straße zwischen den in der Nacht ergrauten toten Fassaden
der Schaubuden und Karussells davon. „_Gare_, wenn wir ihn kriegen!“
drohte einer. Aber Baptist dachte an die Italiener und an Rosa. Er
sagte, jedoch mehr für sich: „Donnerwetter, die Italiener sind doch
feine Kerle.“

Er hatte nicht gedacht, daß sie sich für ihn einsetzen könnten, und er
malte sich aus, wie sie von dem Podium herunterstürzten und Heng an die
Kehle fuhren. Da war gewiß der mit dem vorstehenden Wust von
gekräuselten Haaren, der Schatz der Margherita, voran gewesen. Ein
feiner Kerl!

„Der junge Schwarze, der die Mandoline spielt, das ist ein famoser
Kerl!“ sagte Baptist seinen Kameraden.

Sie gingen in gleich schnellem geschlossenem Marsch die lange Parkstraße
hinab, und die Schienen der Trambahn liefen heimlich neben ihnen und
gleißten nur dann und wann auf, wenn ein Laternenschein sie berührte.

Hier war vorhin der Nebel herangewandert. Aber jetzt lag die Nacht mit
reiner Schwärze zwischen den Bäumen. Es war einsam. Auch als ihre
Schritte in der Neutorstraße an den Häusern hallend klangen, hatten sie
noch keinen Menschen getroffen. In den schwärzeren Schatten eines Baumes
kuschte sich reglos eine unkenntliche Gestalt. Einer der Burschen sagte:
„Vielleicht ist ers!“ und trat auf die Gestalt zu. Aber es war ein
Polizist, der da stand; er hüstelte und ging einige Schritte weiter bis
in den Schatten des nächsten Baumes. Ein leiser Nachtwind strich in den
Straßen und ließ die Laternenscheiben einsam erzittern. Er war frisch,
dieser Wind, als hätte er noch keine Menschenluft durchzogen. Frisch und
traurig war er, voll von verluderten Nächten, dachte sich Baptist.
Dieser Wind hatte ihn oft nach Hause begleitet, und Baptist hatte ihn
oft um sich getragen, wie einen einhüllenden Mantel, wenn nach
verflogenen Genüssen die Stunden kamen, die ihn vereinsamt der Reue
überließen. Er war einsam, dieser Nachtwind, einsam wie ein Menschenkind
nach der Sünde. Wie ein Vorwurf von mütterlich sanftem, aber unendlich
entschiedenem Ernst trug er den Klang der Schritte des jungen
Arbeitstages, der über das Land heranzog, zu den nächtig Fehlenden.

Es war drei Uhr.

Das Glockenspiel auf der Niklauskirche klimperte sorglos die Takte
seiner Melodie unkenntlich durcheinander. Da kam in der Judengasse eine
einsame Nachtdroschke. Baptist rief sie an und wandte sich an die
Kameraden: „Gelt, ihr geht mit! Wir suchen die Italiener! Wenn der Ochs
von Wirt sie hinausgeschmissen hat, weil sie mir halfen, dann muß doch
...“

Die drei waren gerne einverstanden.

Baptist unterhielt sich mit dem Kutscher, wo die Italiener wohnen
könnten.

„Ja, Herr, das Kirmespack, das geht alles in die kleinen Hotels am
Bahnhof. Vielleicht im Hotel Trier oder im Hotel de Paris?“

„Nun denn, fahren wir mal hin!“

Die vier packten sich eng aneinander und die Droschke fuhr los. Sie
jagte in der lautlosen Nacht knallend über das Pflaster, die
Philippstraße hinunter, fuhr sachter über die neue Brücke und hielt nach
einer Viertelstunde vor dem Hotel de Paris. Es war noch Licht im
Wirtszimmer. An einem Tische saßen Türken, die auf der Messe herumzogen
und Teppiche, arabische Metallsachen, Rosenöl und goldbestickte Decken
verkauften. Sie stritten mit leisen fremden Stimmen und beugten die
Oberkörper gegeneinander vor. Um den Schenktisch stand ein Kranz von
Bahnarbeitern, die wohl hier auf die Frühzüge warteten. Baptist rief als
er eintrat: „Ich gebe eine Runde Kognak für die ganze Stube!“

„Das ist nun einmal ein angenehmer Herr!“ sagte einer der Arbeiter, und
alle lachten den Eintretenden fröhlich zum Gruß.

Als der Kognak eingeschenkt war, ging Baptist zum Wirt und fragte:
„Wohnen keine Italiener hier?“

„Ja gewiß doch!“ antwortete der Mann. „Ich hab das ganze Haus voll von
dem Flohpack liegen. Jetzt mit der Schobermesse, wissen Sie, da wird man
die Bagage nicht mehr los!“

„Sind auch die Musikanten von Hiltchen dabei?“

„Ja, warten Sie mal, das könnt schon sein! Warten Sie, ich ruf den
Alfons, der kann ja dann mal mit Ihnen hinaufgehn. Dann können Sie
selber schauen ... Alfons!“ rief er in die Hintertüre. „Alfons!“

Ein stämmiger Bursche erschien.

„Geh zeig doch mal dem Herrn unsere Italiener!“

Die beiden kletterten eine enge, geländerlose Stiege hinauf. Der Knecht
hob unterwegs ein kleines Wandlicht mit einem Reflektor aus einem Nagel
und leuchtete damit in ein Zimmer. Dort lag ein Haufen Schlafender. Sie
lagen in ihren Kleidern auf Strohsäcken mit unordentlichen schwarzen
Haaren, Männer, Frauen und Kinder, Affen, Hunde, Papageien, Vogelbauer,
Drehorgeln, bunte Tücher, alles durcheinander. Ein Mann wälzte sich
schimpfend herum, als das Licht seine Augen traf.

„Nu, gemütlich, Männchen!“ tat der Knecht.

Wie in dem ersten Raum, so sah es in all den andern Stuben aus; die
Musikantengesellschaft war nicht unter den Schlafenden.

Als Baptist enttäuscht wieder in das Lokal hinabkam, erzählte gerade ein
Mann aus der Runde am Schenktisch: „... Ja und dann in Antwerpen nehm
ich das Schiff der Red Star Line. Der Platz ist schon bezahlt. Da
schaut, wenn ihr Einfaltspinsel es nicht glaubt, schaut! Und dann gehts
über den großen Pfuhl, Jungens! Geh weg, das ist drüben doch etwas
anderes als wie hier. Sein ganzes Leben für einen Apfel und eine
Brodrinde vertun ... Hat ja keinen Zweck! Der Teufel, ihr dummen Kerle,
kommt mit! hat ja keinen Zweck!“

Langsam sagte einer der Freunde von Baptist: „Ich hätte sogar Lust!“

Da wandte sich der Arbeiter direkt an ihn und begann wieder zu
schildern, wie es drüben so anders sei; da verdiene man in einer Stunde
so viel wie hier an einem Tag!

Ob er denn schon dagewesen sei, fragte der Kamerad von Baptist.

„Nein, aber ...“

Da fiel ihm der andere ins Wort: „Was maulst du denn, wenn du’s nicht
selber weißt. Aber sonst wäre ich vielleicht mitgegangen.“

Baptist gab nicht weiter acht auf diese Reden. Er war traurig, aber er
war auch ernüchtert. Was wollte er eigentlich? Wozu suchte er die
Italiener? Er war müde an Gliedern und Gedanken und sehnte sich nach
seinem Bett, nach dem wohllebigen Luxus seiner schönen Zimmer in der
Villa am Park.

„Ja, dann gehn wir wohl wieder?“ sagte er zu den Kameraden.

„Ach, was sollst du schon heimgehn! Es ist ja noch nicht einmal hell
draußen!“ entgegnete einer. „Wir bleiben noch!“

Aber Baptist wehrte ab. „Seid nicht bös, ich bin müde!“

Dann wandte er sich an den Wirt: „Was kostet die ganze Flasche Kognak
da?“

„Oh, mit vier Franken wär’ sie nicht zu teuer bezahlt!“

„Überlassen Sie sie dann den Herren!“ bat Baptist. Er gab den dreien die
Hand. „Ich danke euch denn! Gute Nacht, also! Gute Nacht, die Herren!“
verabschiedete er sich.

Und er ging hinaus.

Die Droschke polterte gemächlich in der Finsternis, die den ersten
Morgenstrahl witterte, über das unbebaute alte Glacis, das zwischen dem
Bahnhof und der neuen Brücke lag. Als sie über die Brücke fuhr, die mit
einem Bogen das Petrustal schlank überspannte, lag über den Dächern der
Stadt, zwischen dunklen Wolkenmassen die erste Helligkeit, wie ein
ernstes, unendlich fern herblickendes Auge. Der Turm der Niklauskirche
stach mit seiner kurzen Spitze plump daneben auf.

„Ach Gott, weshalb, wozu nun das alles?“ klagte Baptist und seufzte.
„Weshalb, wozu?“

Seine Lippe schmerzte ein wenig. Er tupfte das nasse Taschentuch an die
kleine Wunde, sie leise kosend, wie ein trauriges Mal.

„Ja, ja, wozu alles? Ach mir ist so ...“

Er stieß mit dem Fuß auf.

„Lächerlich! Jetzt wein ich auch noch! Puh! Es ist geschehn. Ich werde
morgen Nacht mit der Rosa schlafen gehn. Hol’s der Teufel!“

Aber er dachte an seine Schwester Jeanne.

„Nein, ich geh nicht! Es genügt, daß ich mir der Möglichkeit bewußt bin,
es zu können.“

So räsonnierte er, dessen Sinnlichkeit noch keine Erhörung gefunden und
auch noch niemals im Ernst gesucht hatte. Wie ein großer zauberhafter
Vogel stand nur immer über allem, was er dachte und tat, der fromme
Glauben, daß die Erfüllung dieser Wünsche sich wie ein wahr gewordenes
Märchen, wie ein mit Sternen besäter, weiter, dunkler Mantel, der voll
weißer Blumen und voll rätselhaften Jasminduftes sei, auf ihn
niedersenken müßte, ganz von selbst, ohne daß er die Hand oder den Fuß
drum rührte.

Diese Gedanken erfüllten ihn auch, als er vorsichtig auf den Socken die
Gesindetreppe hinauf zu seinem Zimmer schlich. Als er ins Bett sank, war
ihm eine ganze Weile, als läge er in einem wundersamen Bade. Dann
gaukelten die verschwiegenen Wünsche wieder empor, aber während er mit
offenen Augen und mit einer kleinen, harten Melancholie im Herzen das
Licht draußen über den Bäumen des Parkes erwachen sah, zog auf einmal
das Gespräch des Auswanderers in der Kneipe in seiner Erinnerung klar
auf. Einer seiner Kameraden wollte mit dem Arbeiter nach Amerika gehn! –
War das Kraft und Willen! Und schließlich seufzte Baptist, mürbe und
sich hingebend: „Könnt ich das auch!“




                            Viertes Kapitel


Baptist lag noch im Bett, als er vor der Türe Annas Stimme hörte:
„Elis!“ rief sie hastig in den Flur hinein, „der Hämmelsmarsch!“

Halbwach hörte Baptist weiter, wie die Worte von einem ungeduldigen
Davonknistern von Röcken erstickt wurden. Plötzlich rannte ein anderer
gröberer Schritt trommelnd in den ersten Lärm, und in demselben
Augenblick unterschied er mitten in diesen Geräuschen, die ihn im
Halbschlaf überfallen hatten, die Töne von Blasinstrumenten, die
zusammenhangslos ineinander krähten. Er sprang verwirrt aus dem Bett und
stürzte ans Fenster, durch das er seitwärts auf die Straße sah. Dort
waren vier Musikanten aufgestellt, von einer Herde bändergezierter
Hämmel umgeben, die sie, während sie spielten, mit den Füßen energisch
zusammen hielten. Einer stand etwas vor und blies in ein weißes
Nickelpiston; das war der Kellner Ändri von Hiltchen. Eine Schar Kinder
hielten sich neben den Musikanten und sangen mit frechen, spitzen
Stimmen, die aus den Tonmassen der Trompeten gleichsam herausstachen:

   „Die Kanner lossen hire Kaffi stohn
   Fi...ir den Hä...ää...ämel nozegohn,
   Den Hämmel no! ze! gon!“

Den letzten Vers zerhackten sie, gleich als hätten sie es eilig.

Die kurze Melodie begann immer wieder von neuem. Die hungrigen Hämmel
wurden von den Kindern hinterlistig gereizt und sprangen mit kläglichen
Schreien durcheinander. Ändri haute, ohne das Piston abzusetzen, einem
Buben unversehens eine hinter die Ohren. Der Bube sprang heulend weg und
rief: „Wart, du Hund, ich sag’s meinem Vater!“ Aber Ändri blies wie
wütend über das Geschimpf hinweg. Dann ging der Junge auf die andere
Seite der Straße, wartete ein wenig und warf mit einem kleinen Stein
nach Ändri. Ohne umzublicken, stürzte der Bub davon und rannte was gibst
du, was hast du!

Baptist war von dem plötzlichen Zusammenstoß all der Geräusche im
Halbschlaf überrumpelt worden. Nun wollte er enttäuscht vom Fenster
weggehn. Es ärgerte ihn, daß man den alten schönen Gebrauch, die
Schobermesse, das Nationalfest der Stadt, mit dem Hämmelsmarsch
einzuweihen, so zum Gewerbe machte, daß schließlich die Musikanten an
jedem dritten Tag den Marsch spielen gingen. Aber da erschien Anna auf
der Straße und reichte Ändri ein Geldstück. Das weiße Piston glitt vom
Munde ab, und Ändri machte einen Diener. Einen Augenblick spielte nur
der Keuchatem der begleitenden Instrumente. Dann beschrieb Ändri mit der
Linken einen schnellen Schnörkel durch die Luft, jagte mit dem Piston an
den Mund, aber nur zu einem kurzen, zweitönigen Auftakt, der die kleine
Weise abschloß.

Die Musikanten hoben die Trompeten vom Mund. Sie riefen wie aus einem
Hals: „Ein Vive für den Herrn Biver!“

Die Trompeten flogen wieder unter die Schnauzbärte und, eine nach der
andern einsetzend, bliesen sie dreimal hintereinander das „dreimal-hoch,
dreimal-hoch-hoch-hoch!“

Dann lupften die Musikanten die Hüte gegen ein Fenster, in dem Baptist
seinen Vater vermutete, und der Zug setzte sich in Bewegung auf die
nächste Villa zu.

Als Baptist ins Zimmer zurücktrat, fühlte er seinen Kopf schwer und voll
stechender Schmerzen. In seiner Lippe brannte ein kleines Feuer, und er
ging zum Spiegel. Aber die Wunde war kaum sichtbar und nicht
bedeutender, als die Geschwulst eines Wespenstichs. Das beruhigte ihn.
Er goß das Waschbecken voll Wasser und steckte den Kopf hinein, daß das
Wasser über den Rand der großen Schüssel auf den Tisch niederkletterte.

Er zog sich langsam an, indem er die Ereignisse der Nacht vor sich
aufmarschieren ließ, und ging in das Eßzimmer hinab. Dort fand er seinen
Vater am Kaffeetisch über ein Blatt der ‚Luxemburger Zeitung‘ gebückt
sitzen. Der Vater grüßte aus der Lektüre heraus Baptist gut gelaunt und
herzlicher, als seine Gewohnheit war.

Als Anna Baptists Tasse gefüllt hatte, sagte dieser zu seinem Vater:
„Dieser Hämmelsmarsch entwickelt sich schnell zur reinsten Bettelei. Vor
zwei Jahren folgten sie wenigstens noch dem alten Brauch und kamen uns
nur am Schobersonntag in aller Früh’ aus den Betten blasen. Nun kommen
sie auch noch am Donnerstag, und am zweiten Sonntag und warten, bis die
Leute aufgestanden sind. So ist es nicht mehr schön.“

Aber der Vater meinte gutmütig: „Laß’ die Jungen doch ihre paar Mark
verdienen.“

Baptist war nicht einverstanden damit: „Die paar Mark gönne ich ihnen.
Aber daß sie den einzigen alten volkstümlichen Gebrauch, den die Stadt
noch hat, industrialisieren, das meine ich nur damit!“

Sein Vater ging jedoch nicht ein auf Baptists Einwände. „Das
Industrialisieren ist der Zug der Zeit. Diese alten Gebräuche, das kommt
aus der Mode. Heute ist eben eine andre Zeit!“ meinte er gleichgültig
und las wieder in der Zeitung, von der einige Blätter über den Tisch
gebreitet lagen. Dann ging er hinaus, kam aber bald wieder.

„Sag’ mal,“ fragte er, „du hast doch den Professor Hamilius im Examen?“

„Leider!“ antwortete Baptist.

„Horch mal!“ und Herr Biver las aus der Zeitung vor: „Der Sultan von
Marokko, der bei dem Nationalfest der französischen Turner in Reims zu
Gaste war, hat Herrn Professor Albert Hamilius aus Luxemburg, den der
Turnverband des Großherzogtums als Vertreter zu den französischen
Freunden geschickt hatte, den Orden des Nicham Astika am grünweißen Band
verliehen.“

„Den verdient er!“ sagte Baptist spöttisch. „Er ist ein wirklicher
Gymnastiker! Er läßt Knabenschicksale auf seinem Bizeps jonglieren, wie
ein Zirkuskünstler, der mit Messern spielt, die nicht geschliffen sind.“

„Ja, er soll ein strenger Lehrer sein!“

„Streng und gerecht – nach dem Recht von: Ich bin groß und du bist
klein!“ entgegnete Baptist bitter.

„Das ist ein Grund, ihm entgegen zu kommen!“ sagte Herr Biver.

Baptist schaute seinen Vater an. Der sah nicht weg aus der Zeitung. Aber
nach einer Weile stand er auf und trat vor Baptist hin: „Schau mal,
Junge, ich weiß ja, was das ist, mit dem Examensglück. Die einen
haben’s, die andern nicht. Das verändert einen Menschen nicht. Besteht
man es dieses Jahr nicht, so besteht man es im nächsten. Ohne das kommt
man aber auch durch, wie du an mir siehst. Aber du hast nun einmal _den_
Weg genommen, und es wäre doch gerade miserabel dumm, wenn du mit so
einem Examen ein Jahr verlieren müßtest. Ein Jahr ist heute was. In
unserer Zeit, die so schnell lebt, ist ein Jahr ein bedeutendes Stück
Arbeit. Was meinst du, wenn wir der beim Examen so wichtigen Gunst des
Geschicks ein wenig entgegenkämen?“

Baptist stammelte betroffen: „Ja, ich weiß nicht, Vater ...“

„Ich meine,“ fuhr der Vater fort, „wir sichern uns einen Hauptfaktor des
gutgesinnten Geschicks, zum Beispiel den Herrn Hamilius. Herr Hamilius
gibt dir die vier Wochen, die es bis zum Examen noch sind, Unterricht.
Einem bellenden Hund hält man am besten eine Wurst hin, das ist ein
bewährtes Mittel. Wir finanzieren das Glück, und es wird seinen
Vertreter, den Professor Hamilius, günstig gegen uns stimmen. Ich hab’
gestern Abend mit Herrn Wampach darüber gesprochen. Der hat mich gerade
auf Hamilius gebracht, den er aus der Erfahrung seiner Studenten kennt.
Was meinst du, ich nehm den Nicham Astika bei der Krawatte und beweg
mich mal zu dem Herrn Examinator? Ich will ein blaues Känguruh sein,
wenn der Streich nicht gelingt.“

Er schaute Baptist lächelnd und fragend an.

Baptist sagte: „Das würde sicher helfen!“

Aber das Blut kam ihm voll Scham ins Gesicht. Er freute sich an der
unerwarteten Herzlichkeit, mit der sein Vater sich in sein Geschick
mischte, aber er schämte sich, daß der Vater seine Angelegenheit vor das
Kartenkollegium gebracht hatte; vor diese Versammlung kleinbürgerlicher
Rechner, mit denen sein Vater verkehrte, weil ihre gröbern Formen ihm
mehr gingen als der Schliff der Gesellschaft, und weil diese Männer ihn
bedingungslos anerkannten, während er für die andere Klasse noch zu sehr
die Spuren der Arbeit, mit der er sein Vermögen hereingeackert hatte, an
seinen Kleidern trug. Und Baptist haßte diesen Proleten Hamilius, der
wie ein Hofköter hinter dem schwächeren Vieh des Stalles dreinbellte, um
seine rücksichtslose Macht an ihm zeigen zu können, und der durch jede
Wurstpelle zum Bundesgenossen zu machen war. Er konnte sich nicht
vorstellen, daß er sich gerade diesem so ausliefern sollte, wie es sein
Vater vorschlug, obschon er wußte, wie vortrefflich der väterliche Plan
war.

Sein Vater rieb sich hastig die Hände, als fühlte er sich von einer Last
befreit. „Das wollen wir schon deichseln!“ sagte er vergnügt, faltete
die Zeitungen geschäftig zusammen und ging, die Blätter in die Tasche
schiebend, auf die Türe zu. „Heute kann ich nicht gut zu ihm gehen!“
meinte er noch, während er sich an der Türe umdrehte. „Es ist Sonntag.
Das geht dann wohl nicht.“

„Nein!“ antwortete Baptist. „Aber morgen vielleicht!“

Dann entfernte sich sein Vater.

Baptist seufzte. Er wußte nicht, wo er dran war. Seine Gedanken lagen
wie in Nebel gebadet. Er sah keine zwei Schritte weit hinein. Dann
schloß sich ihr Gemengsel zu einem unklaren Dickicht, in dem sich, wie
etwas unerhört Rohes, aber doch Wichtiges, der Zusammenstoß bewegte, den
er gestern mit dem verlumpten Arzt gehabt hatte.

Er wollte mit Jeanne über sich sprechen und klingelte.

Anna kam. Aber sie sagte, Jeanne sei schon ausgegangen.

„Wie spät ist es denn?“ fragte Baptist.

„Gleich elf!“ antwortete das Mädchen lächelnd. Sie räumte auf dem Tisch
herum. Dann fragte sie vertraulich: „War es schön gestern Nacht, Herr
Baptist?“

Baptist erschrak.

„Was wissen Sie denn, wie es war?“

„Ja, Sie sind doch gestern ausgegangen!“

„Ach so! Ja, ja, es war sehr schön!“

„Die jungen Herren amüsieren sich immer gut!“

„Ach was!“ sagte Baptist gedankenlos. Er kam nicht mit sich in Ordnung,
und das Gespräch des Mädchens reizte ihn.

Anna räumte den Tisch auf und verließ mit einem schnippisch
unzufriedenen Gesicht das Zimmer.

Baptist stieg zu seiner Studierstube hinauf. Er setzte sich zum Schein
an seinen Tisch – er konnte ja doch nicht arbeiten und er versuchte auch
gar nicht anzufangen. In das Gespräch seines Vaters mischten sich
unerbittlich die Erlebnisse der Nacht, und beides wollte nicht
ineinander aufgehn. Es war wie zwei Welten, die sich an einander rieben:
die Sorge des äußern Lebens und die Sorge des innern Lebens. Aber aus
dem Mischmasch all dieser zwiespältigen Überlegungen drängten sich die
Schlägerei und die auf seinen Feind losstürzenden Italiener unaufhörlich
grob und faßbar klar heraus, bis die Erinnerung an diese leibhafte Tat
Baptist etwas wie eine Erlösung in dem Verfließen aller andern
Vorstellungen wurde.

So nahm Baptist seinen Hut und ging schnell durch den Park zur
Schobermesse, weil er die Italiener finden mußte.

                   *       *       *       *       *

Auf der Schobermesse schritt Baptist ohne umzublicken zwischen den
Reihen der langsam zum Sonntagsleben erwachenden Buden auf die Baracke
von Hiltchen zu. Die Vorderwand war ausgehoben wegen des Tages, der
sonnig begonnen hatte, und ein paar Vormittagsgäste saßen vereinzelt an
den vorderen Tischen und tranken ihr Pöttchen Bier. Baptist setzte sich
abseits von ihnen tiefer ins Lokal hinein. Ein fremder Kellner bediente
ihn.

„Sind die Italiener noch nicht da?“ fragte ihn Baptist.

„Die lassen wir nicht mehr herein, nein, nein!“ antwortete der Bursche
mit wichtigtuender Aufgeblasenheit.

„So, so!“ sagte Baptist wütend. Er trank sein Glas auf einen Zug leer
und ging wieder.

Als er langsam und unentschieden in der harten Vormittagssonne durch
eine der schattenlosen Budenstraßen schritt, sah er unerwartet den
dicken Italiener vor sich.

„Das ist gut, daß ich Sie finde!“ rief Baptist erfreut. „Ich suchte Sie
grade bei Hiltchen.“

Der Italiener drückte ihm lässig die Hand.

„Bei Hiltchen ist nix mehr!“ sagte er traurig. „Großer Schaden für uns!“
fügte er nach einer Pause hinzu.

„Das ist durch mich, und es ist selbstverständlich, daß ich Sie
entschädige.“

Der Dicke blitzte ihm erstaunt zu.

„Ja, und ich danke Ihnen auch, daß Sie gestern für mich einsprangen!“
fuhr Baptist fort.

Aber auf einmal umringte ihn die ganze italienische Kapelle. Er konnte
nicht begreifen, wo sie alle so plötzlich herkamen. Sie reichten ihm mit
lebhaften Worten alle nacheinander die Hand und schüttelten die seinige,
zuletzt Rosa, und sie fingen an, mit schnellen Bewegungen der Arme, mit
gespreizten und geballten Fingern, mit hüpfenden Sprüngen des Körpers
ihm zu erzählen und zu schildern. Sie mischten in ihr Italienisch die
paar deutschen und französischen Wörter, die sie sich angeeignet hatten,
und waren herzliche Kameraden zu ihm. Margherita drängte sich an ihn
heran und tupfte sich mit dem winzigen Zeigefinger auf die Oberlippe,
riß dann die Augen auf, sperrte alle zehn Finger auseinander und sagte
immer, indem sie die gespreizten Finger wie abwehrend vorhielt, oh, oh,
oh! die ganz entsetzt klangen. Rosa schaute ihn mit dem sanften Mitleid
ihrer gutmütig dummen Augen an und die andern turnten, hüpften, lachten,
drohten und schimpften um ihn herum.

Als aber der Dicke etwas zu ihnen sagte, waren sie bald ruhig. Nur
Margherita konnte ihre entsetzte Miene noch nicht beendigen. Die
Italiener schauten Baptist erwartungsvoll an. Aber er verstand nicht,
worum es sich handelte.

„Wir wollen morgen in der Früh reisen!“ sagte der Dicke.

„Wissen Sie was, Häuptling!“ rief ihn Baptist an. „Wir feiern zusammen
Abschied. Ich lade Sie zum Mittagessen ein, und dann bringen wir auch
die andere Sache in Ordnung. Wollen Sie um zwei Uhr alle zu Engler am
Bahnhof kommen?“

„Gut, gut!“ sagte der Dicke. „Dank schön!“ Er verdolmetschte die
Einladung an die Italiener und sie winkten froh ja!

In dem Augenblick ging eine Kameradin von Baptists Schwester vorbei und
drehte sich auffällig weg, indem sie die Nase rümpfte. Da genierte sich
Baptist der Gesellschaft, zog den Hut und machte sich rasch davon. An
der Ecke, an der er die Schobermesse verlassen wollte, stieß er mit dem
Professor Hamilius zusammen. Der Professor tat, als müßte er vor
Verwunderung, daß der Schüler hier und nicht hinter seinen Büchern war,
einen Schritt lang stehen bleiben. Baptist errötete, weil er an den
Kuhhandel dachte, der ihn vielleicht schon morgen mit diesem Manne
verband. Er lüftete verwirrt den Hut und drückte sich dann rasch in den
Park hinein.

                   *       *       *       *       *

Als Baptist gegen Mittag wieder nach Hause kam, war seine Schwester im
Garten zwischen den Rosen.

„A, Jeanne!“ grüßte er.

„Wir sind heute und morgen Herr im Haus!“ rief Jeanne ihn gleich an,
„Papa fährt um halb eins nach Nancy. Er hat ein Telegramm bekommen. Was
fangen wir an?“

„Armes Schwesterlein, du mußt dich das allein fragen. Ich bin schon
belegt. Ich muß bald weg!“

„Darf man fragen – wohin?“

„Nein, das darf man nicht!“

„So?!“ machte Jeanne enttäuscht und schnitt weiter in dem dichten
Rosenstock.

„Ist der Vater schon weg?“ fragte Baptist.

„Du weißt doch, daß er immer eine Stunde vor Zugabfahrt im Bahnhof sein
muß. Sonst hat der Zug keine Lust einzulaufen!“

„Ja, ja!“ lachte Baptist.

Die Nachricht dieser Reise war ihm sehr angenehm. Er hatte gefürchtet,
daß er nicht bis zwei Uhr bei Engler sein könnte, denn er mußte zu Haus
mit essen. Jetzt war er schon gleich frei. Er ging sich umziehen. Dann
schlenderte er über die neue Brücke dem Bahnhofviertel zu und trat ins
Hotel Engler ein. Er ließ in einem kleinen Saal des ersten Stockes den
Tisch rüsten, bestimmte, was serviert werden sollte, und fing an, auf
die Italiener zu warten.

Sie kamen kurz nach zwei und begrüßten ihn mit einer gewissen steifen
Feierlichkeit. Sie hatten ihre Instrumente mitgebracht und ordneten sie
in einer Ecke zusammen. Als sie sich um den Tisch setzen wollten, wies
der Dicke die Plätze an. Er schob Rosa Baptist zu und nahm sich selber
den Stuhl an der andern Seite des Gastgebers. Baptist gegenüber saßen
Margherita und ihre Mutter. Die Tischgesellschaft zählte neun Personen,
die zuerst etwas geniert anfingen, vor einander zuzulangen. Baptist
hatte das Menü mit Überlegung zusammengestellt, indem er die
Nationalität und die Gewohnheit der Lebenslage der Gäste gegen die
Gebräuche seiner heimatlichen Küche aufrechnete. An Weinen stand ein
leichter Mosel und ein kleiner Bordeaux auf dem Tisch bereit, denen
sich, wer davon mochte, italienische Weine zugesellten. Ein schwererer
Rheinwein wartete in Eiskübeln auf dem Büfett. Es war ein kleines
Meisterstück von Höflichkeit, dieses Mahl, eine diskrete Huldigung für
die Italiener.

Sie merken es wohl nicht! sagte sich Baptist. Aber das störte seine
Laune nicht. Weshalb sollen sie’s auch merken! Die Hauptsache ist ja
nicht für sie, sondern für mich – die Absicht, die wie ein Kern in der
Schale liegt.

Baptist war zum ersten Male allein und unbeobachtet zwischen ihnen, und
es machte ihm Schwierigkeit, immer den Dicken als Dolmetscher
heranziehen zu müssen, wenn einer ihn anredete oder er selber einem
etwas sagen wollte. Es hatte etwas Befremdendes, so eng zwischen ihnen
zu sitzen und sie mit einer ganz andern Führung der Gesten, mit Worten
der fremden Sprache, gegen deren Sinn er vergeblich anrannte,
miteinander verkehren zu sehen. Ja, es hatte etwas Feindliches zum
Ansehn, und jedes Lachen machte Baptist mißtrauisch. Er kam sich
unsicher und wie verraten vor.

Aber bald fühlte er doch heraus, daß lebhafte Gutmütigkeit ihren Verkehr
beherrschte. Er mischte sich öfter und inniger hinein, trank Rosa,
Margherita und ihrer Mutter, auch den Männern zu, und als er ein wenig
getrunken hatte, während zugleich die Italiener ihre Schüchternheit
immer mehr abwarfen und sich mit immer eindringlichern Gebärden und
Wörtern an ihn wandten, war ihm, als verstünde er den ganzen Gang der
Unterhaltungen.

Da gehörte er ihnen mit ganzem Herzen an und erwies den Damen dieselben
galanten Aufmerksamkeiten, die er sich gegen die Freundinnen seiner
Schwester angewöhnt hatte. Aber er zeichnete dabei Rosa immer aus.

Rosas ovales, zartgoldiges Gesicht glühte von dem Essen und dem Wein.
Ihre Augen hatten etwas träge Lüsternes, eine verlangende Schläfrigkeit.
Baptist fühlte, wie die andern ihn immer mehr mit ihr allein ließen. Der
Dicke drehte ihnen schon halb den Rücken.

Baptist unterhielt sich mit Rosa, indem er die kleinen Dinge, die er ihr
sagte, dem Bestand von Wörtern anpaßte, die er aus der fremden Sprache
kannte, und die Lücken durch Gesten füllte. Aber ihre Antworten mußte er
fast rein aus Gebärden erraten. So bekam ihr Verkehr etwas Lebhaftes,
das Glieder und Körper in fortwährende Bewegung setzte und einander
entgegenbrachte, so daß seine Knie bald an ihre Schenkel stießen. Diese
Berührung wurde ihm ein Ausdruck seiner Zärtlichkeit. Er gab sie nicht
mehr auf, und der fortwährende körperliche Kontakt erhitzte das
weinvolle Blut der beiden noch stärker.

Baptist knittelte dem Mädchen mit seinen kargen Sprachkenntnissen ein
paar Verliebtheiten zusammen und sie tat, als glaubte sie sie nicht. Das
war ein Spielchen, das sie eine geraume Weile mit Lust pflogen. Aber
Baptist neigte sich plötzlich zu ihrem Gesicht, dessen seidig blasse
Gebräuntheit jetzt auf einem rosigen Untergrund leuchtete und seine
Wärme auf Baptists Wangen und Augen überströmte. Er fragte, ernster
geworden, und mit einer bedeutsamen Eindringlichkeit: „Willst du jetzt
mit mir allein sein?“

Sie antwortete: „_Io sono come in una stufa!_“

Baptist verstand sie nicht. Er forschte nach: „Du bist wie in ein ...?
wie in was?“

„In _stufa, stufa_!“ sagte Rosa nachdrücklich und schaute im Zimmer
herum.

Aber als Baptist, nicht verstehend, den Kopf schüttelte, rief Margherita
auf einmal herüber: „In Ofen!“

Baptist fuhr erschreckt und beschämt mit dem Kopf auf. Margherita hatte
sie belauscht. Er sah, wie sie ihn mit ihrem kleinen schwarzen
Äffchengesicht vermessen einen Augenblick anschaute. Dann lachte sie ihm
grinsend zu: „Offen, in Offen! Swarser Offen!“ und sie schaute in die
Ecke, ob sie ihm nicht einen Ofen vor Augen führen könnte.

Aber in diesem Augenblick rettete ihn der Dicke: „Wär’s angenehm, wenn
wir jetzt ...“ und er machte ping, ping mit seinem Daumen über den
gebogenen Arm.

„Los, Häuptling!“ rief Baptist und schlug ihm auf die Schulter. Der
Dicke hob die Hand mit einem: ‚_avanti_‘! Die Burschen sprangen auf und
brachten die Instrumente heran.

„_Vieni sol mare?_“ fragte der Häuptling, verständnisvoll lächelnd und
Baptist winkte mit einem Lachen zu.

Baptist saß nun allein am Tisch und die Italiener standen vor ihm in
einer Ecke zusammengeschart, wie auf dem Podium bei Hiltchen und
spielten. Aber sie waren heute nicht alle so wie gleich gehobelt. Jeder
war über Tisch wieder einmal er selbst geworden, hatte sich losgelöst
von dem Beruf auf dem Podium zu stehen und jeder bewegte sich nun anders
unter dem Ertönen seines Instrumentes. Selbst der lange zweite Violinist
mit dem schwarzen, verschlafenen Sarazenengesicht, dessen
Schnurrbartspitzen den Kasten seiner Geige kitzelten, wedelte gefühlvoll
mit dem langen, flachen Körper zu seinem Bogenstreichen.

Da hielt mitten im Spiel der Dicke mit einem fragenden Kopfwinken
Baptist seine Geige hin.

Baptist sprang hinzu und fuhr gleich mit vollem Ton ins Zusammenspiel
hinein und führte es mit der nachdrücklichen Kraft seines Spiels davon,
wie eine Windbö ein paar Segler mit sich zieht. Er ließ wieder die Töne
steigen, als erreichten sie die blaue Uferlosigkeit des Himmels.

Als das Lied fertig war und die Italiener leise in die Hände klatschten,
drückte sich die kleine Margherita verstohlen gegen Baptist an, daß ihr
dickes krauses Haar seinen Hals traf. Er faßte sie lachend unters Kinn
und sagte, auf ihren Bräutigam zeigend: „Er sieht’s ja nicht!“

Der Bräutigam lachte und drehte ihnen mit einem Ruck den Rücken. Da
schauten die kleinen schwarzen Augen des Mädchens Baptist entflammt an.
Wie ein fordernder Blitz schlug es zu ihm herauf und alle seine Gedanken
bäumten sich eine Sekunde vor diesem trotzigen Verlangen. Aber der dicke
Manager rieb sich wie unabsichtlich an ihn, schob seinen Arm unter und
zog ihn zum Fenster. Dort zwinkerte er ihm mit einem Auge zu und warf
mit knapper, ernst tuender Wichtigkeit hin: „Das wär was für Sie!“

Baptist war betroffen. Er glaubte, der Dicke meinte Margherita.

„Das wär was!“ fuhr der Italiener fort. „Da kämen Ihnen die Weiber in
die Arme geregnet. Ich sag Ihnen – was für welche! Da ist die Rosa eine
Henne dagegen!“

Und er beschrieb mit seinen kurzen Armen die Umrisse prächtiger Frauen.

„Ich kann’s Ihnen sagen! Mit Ihrer Figur!“ und er schnalzte mit der
Zunge.

„Ja, was?“ fragte Baptist. Er verstand nicht.

„Was!?“ fuhr ihn der Dicke wichtig an. „Gehn Sie mit uns. Ich gebe Ihnen
die erste Violine zu spielen!“

Baptist lächelte den Häuptling erst ein wenig an.

Auf einmal dachte er an den Auswanderer in der Kneipe, und dann war es,
als sauste der Vorschlag des Italieners wie ein Anker in ihn hinein, biß
sich mit einem einzigen, ganz kleinen, aber froh aufjauchzenden Schmerz
fest und zog ihn wonnig davon.

Ist das die Rettung! Ist das die Zukunft? jubelte es in Baptist.

Im Nu fühlte er sich frei von aller Last der Jugend, der Umgebung, des
Examens. Mit einem Schlag war alles gelöst, alles klar, alles Freude und
Lust, und er – thronend über den Dingen!

Er legte dem dicken Manne beide Hände auf die Schulter und schüttelte
ihn im Überschwang: „Ja, ja, ja!“ rief er.

Der Dicke sagte vorsichtig und untersuchend: „Ich weiß aber nicht, ob
Sie so leben können wie wir? So einfach!“ Mit einer Handbewegung deutete
er auf den Tisch, „so geht’s nicht bei uns zu!“

Aber Baptist meinte: „Ach, das ist das wenigste. Das werde ich schon!“

Er bedachte sich jedoch auf einmal. Er wollte sich nicht ganz ausliefern
und war sich auch nicht ganz sicher, ob die Absichten des Italieners
ernst seien.

„Ich hab ja einiges Geld!“ sagte er vorsichtig. Und dachte sich, daß er
damit immer eine letzte heimliche Macht in der Hand behielt.

Der Italiener winkte zufriedengestellt.

„Wo gehen wir denn zuerst hin?“ fragte Baptist.

„Wir spielen in Brüssel, bis die Ausstellung in Antwerpen im Frühjahr
eröffnet wird. Da haben wir ein gutes Engagement, in einer großen
Bierhalle zu spielen. Wir wollten morgen mit dem Frühzug abreisen.“

„Ja, ja!“ sagte Baptist. „Es ist gut, daß wir gleich aus dem Lande
kommen.“

Der Italiener teilte der ganzen Gesellschaft mit, daß Baptist sie
begleiten wollte und sie drängten sich um ihn, wie Kinder so laut und
fröhlich.

„Aber hören Sie mal Häuptling!“ wandte Baptist ein, „es darf kein Wort
in der Stadt darüber gesagt werden, daß ich mitgehe. Und ihr müßt mir
auch helfen, meine Kleider und so allerlei wegzuschaffen. Ich fahre dann
morgen mit dem Abendzug und komme in der Nacht in Brüssel an.“

Der Italiener winkte mit der Hand und bedeutete lächelnd: „Wird gemacht
werden!“

Dann dachte sich Baptist einen Kriegsplan aus. Zwei von den Italienern
sollten in der Nacht hinter dem Haus die Sachen sammeln, die Baptist an
einem Seil herunterließ. Der Koffer könne dann über das Geländer in den
Park geschafft werden, von dort auf die Straße und Baptist wolle einen
verschwiegenen Droschkenkutscher auftreiben, der die Sachen zum Bahnhof
bringe.

„Punkt zwölf Uhr! Ganz genau zwölf Uhr! Und kein Geräusch machen!“

Der Dicke gab die Weisung weiter. Die Italiener winkten zu. Als sie sich
dann verabschiedet hatten, entfernte sich Baptist zuerst allein.

Er lief mehr als er ging. Mit wirren, stürmischen Gedanken, die
flatterten wie Festfahnen auf hohen Dächern, malte er sich sein neues
Unternehmen aus. Er fluchte und lachte und watete, und ungemessen
stiegen die Hoffnungen auf ihn hernieder.

Nun kommt das Leben zu mir! unterhielt er sich so im Ausschreiten mit
sich selber. Die Welt ist offen. Ich bin frei. Geld? Ach was Geld! Ich
weiß ja, wo davon ist. Es wird nun einmal ernst, was bis jetzt
Verlegenheit und unproper war. Er ist reich genug. Ich schädige
niemanden. Davon kann ich dann eine Zeit leben. Ich nehm genug mit und
werde sparsam sein. Wenn ich dann eine Zeitlang umsonst gespielt habe,
muß der Häuptling mich schon bezahlen. Ich kann ja mehr, als die ganze
Kapelle zusammen. Die Rosa ist meine Freundin, und die Margherita ...
ach, die Margherita! ... daran denk ich lieber nicht. Das soll laufen,
wie es geht. Vielleicht liebt der Italiener sie nicht so sehr. Sie ist
im Gesicht nicht so schön wie Rosa, aber ... nein, nein ich rühr’ daran
nicht. Das soll von selber fließen. Und dann ziehn wir von Stadt zu
Stadt, durch die Länder. Teufel, Teufel!

Jeanne!

Da blieben die Bilder stehn. Es schmerzte ihn, an sie denken zu müssen.

‚Jeanne, Jeanne, liebes Gutes!‘ schmeichelte er dem Geist der Schwester.
‚Geh mit! Du bist ja auch nicht gut hier und bist nicht glücklich! ...‘

‚Jetzt muß ich brutal sein!‘ sagte er auf einmal. ‚Solche Unternehmen
gehen nicht anders. Rücksichtslos und brutal! Ich muß Jeanne das auch
schreiben. Ich werde ihr einen langen schönen Brief hinterlassen. Darin
steht so und so ... und daß es auch gar nicht wegen Rosas ist, und daß
ich das Schwesterlein lieber hab als sonst alle Menschen ...‘

                   *       *       *       *       *

Als Baptist nach Haus kam, ging er gleich, ohne daß jemand ihn gesehen
hatte, in das Arbeitszimmer seines Vaters und schloß die Türe hinter
sich ab. Er ließ das geheime Schloß knacken, schob den Rolladen hoch und
nahm die Schlüssel von ihrem gewohnten Platz.

Mit kühler Ruhe untersuchte er dann den Inhalt des Geldschrankes. Es
lagen wohl einige tausend Mark in Goldrollen und in Scheinen drin. In
einem Fach seitwärts stand ein abgegriffenes Ledertäschchen aufrecht. Er
zog es heraus und sah, daß es mit Papieren gefüllt war.

Da setzte Baptist sich an den Tisch und begann, die Papiere eins nach
dem andern durchzuschauen. Es waren Verträge zunächst. Aber dann kam
etwas wie ein Heft, auf dem in Rundschrift ‚Bilanz‘ stand. Die
Jahreszahl drunter zeigte, daß es die letzte Vermögensberechnung seines
Vaters war, die er in den Händen hielt.

Mit knappen und stumm in einander gebissenen Zeichen war die Sprache
geführt, die diese Seiten füllte. Aber Baptist las sie, indem er seinen
Willen zur Aufmerksamkeit anstrengte. Er sah bald leise Beziehungen sich
zwischen den einzelnen Summen knüpfen; die Seiten lasen sich fort, wie
ein Gewebe. Es war das Gewebe eines Lebens, das sich in dieser
heimlichen, verbotenen Stunde bloßlegte; eines Lebens, in dem das
seinige bis heute gefaßt und gefesselt lag. ‚Also ihr!‘ grollte er und
schlug mit den Knöcheln der geballten Hand in die Zahlenhaufen.

Es war das Leben seines Vaters, und er konnte es nun Schritt für Schritt
verfolgen in seiner vergiftenden Phantasielosigkeit und seinem kleinen,
rasselosen Aufeinanderhäufen. Er konnte so hart und klar aus diesen
ordentlich gescharten Zahlen Tag für Tag aus dem letzten Jahr dieses
Hauses herausheben und sich sie anschauen, wie gefangene Käfer, die sich
zwischen den Fingern nicht wehren können. Tage der Freude: hinter einem
Plus eine Summe; Tage des Griesgrams und hadernder Gereiztheit: hinter
einem Minus eine Summe. Und jene Summen standen unter den Tagen, wo die
kleinen, übeln Zwischenhändler mit am Tisch gegessen hatten, mit
Knechtsmanieren, und sich zur Empörung Jeannes betrunken hatten, während
er selber ihr Benehmen mit einer verlegenen Peinlichkeit überwachen
mußte. Und jene andern Summen trugen die Namen der Herren, hinter deren
Rücken sein Vater lästerte, während er mit einem ergebenen Lächeln ihre
Gespräche empfing, wenn sie sich ins Haus verirrten. Und es gab keine
Teppiche, keine Schlinggewächse, die wohltätig bedeckten. Es war roh und
brutal. Es waren keine großen Zahlen, aus denen waghalsige Ruhelosigkeit
mit Gefahr gespielt hätte. Es waren nur ungezählte, unruhige,
kleinmütige mit drei oder vier Nullen.

Baptist redete sie an: ‚Herr Wampach, Herr Küborn, Herr Faber!‘ Und er
hatte die Summen auf der Hand liegen, wie armselige tote Tierchen, denen
man Fell und Haut abgezogen hat.

Aber in dieser unvermuteten kalten Beschäftigung änderte sich in seinem
Innern das Bild der geplanten Flucht. Es verlor das Genießerische und
bekam etwas Wehrendes. Es schnitt eine Grimasse mit dem schönen Gesicht,
kniff die träumerischen Augen zu und bleckte ein herrliches Gebiß.

‚So machen wir’s jetzt!‘ triumphierte Baptist. ‚So, so, so! Mit den
Muskeln!‘

Er mußte seine Körperkraft in Tätigkeit setzen, sprang auf und hob die
eiserne Kopierpresse mit einer Hand über den Kopf und ließ sie langsam
mit ausgestrecktem Arm wieder auf ihren Platz nieder. Dann machte er
dasselbe mit dem linken Arm. Die Presse war gewichtig. Und die Übung
hatte seine ungeschulten Muskeln ermattet. Schwer atmend ging Baptist zu
den Zahlen zurück. Er schlug genau Seite um Seite um. Das Bild blieb
dasselbe. Nur sein Vater änderte darüber das Aussehn. Baptist drang nun
in ihn hinein, weil er die Zusammenhänge sah. Er dachte fast mit
zärtlichem Mitleid an ihn.

Das letzte eingetragene Datum war der 15. August. Baptist kannte die
Gewohnheit seines Vaters, an diesem Tage das alte Geschäftsjahr zu
beschließen und das neue zu beginnen. Heute war der 5. September. Also
waren die eingetragenen Tintenzeichen, die die kleinen Felder hinter den
Konten: Kassa, Konto – Korrent – Konto bis Kapitalkonto füllten, noch
kaum getrocknet. Baptist wollte darüber wischen, wollte in einem Anfall
von rebellierender Bitternis sie wegwischen. Aber hinter dem ‚Saldo als
Reinvermögen‘ stand fest wie ein eiserner Turm die Schlußzahl:

1 Million 825560 Franken.

Baptist legte das Heft auf den Stoß der Papiere, die er schon
durchblättert hatte. In der Ledermappe war noch ein kleines, in
Wachstuch gebundenes Büchlein. Als er es öffnete, sah er, daß es ein
Sparkassenbuch war. Aber alle die schwarzliniierten Seiten mit den von
der Zeit gebräunten Rändern waren unberührt. Nur auf der ersten stand:
‚Sparkassenbuch, gehörend Baptist und Jeanne Biver. Eingezahlt
zehntausend Mark‘. Dann ein Datum, das neun Jahre zurücklag, und unten
am Rand mit der Handschrift des Vaters ‚Meinen lieben Kindern Baptist
und Jeanne zum Fest ihrer ersten Kommunion 10000 Mark, die sie zu
gleichen Teilen und zu beliebiger eigener Verfügung bekommen, wenn
Jeanne großjährig ist‘.

Baptist blinzelte diese hastig gezogene nervöse Schrift an, als sei es
nicht möglich, daß er sie richtig gedeutet habe; daß das so nahe vor ihm
zu lesen stand. Er las ein paarmal die Wörter und stockte beim Lesen.
Dann schaute er auf, irgendwohin und dann schlug er mit dem Kopf nieder
und weinte.

Er schämte sich, daß er anders über seinen Vater gedacht hatte, und daß
er hinter dem verbitternden Hadern, der hartherzig erscheinenden
Verständnislosigkeit des Vaters für die anders gerichteten Absichten und
Wünsche seiner Kinder nie die Liebe für diese Kinder gesehen hatte. Daß
er ungerecht und verstockt an einer anders gearteten Seele
vorbeigegangen war. Aber er empfand zugleich ganz klar, daß, wenn auch
er selber seinen Vater nicht richtig eingeschätzt hatte, so dieser doch
niemals seine Stellung zu den Daseinszielen des Sohnes nur das geringste
ändern konnte, und er kam sich geschützt und stark vor in seinen jungen
Absichten, wie in einer stählernen Rüstung.

Baptist packte die Papiere wieder in die Mappe und stellte sie in den
Schrank zurück. Aber das Sparkassenbüchlein steckte er in seine
Brieftasche. Er schloß den Schrank, legte die Schlüssel, wo er sie
gefunden hatte, und ging auf sein Zimmer.

Jetzt hatte er Geld! Er kam sich wie bewahrt vor, daß er nicht aus dem
Schrank zu nehmen brauchte, und die Freude an seinem Unternehmen schlug
reiner und freier auf. Er ging erregt auf und ab in dem Raum und
versuchte sich kühl zu berechnen, wie lange er mit fünftausend Mark
durchkommen könnte. Natürlich: leitendes Prinzip – Sparsamkeit ...
Sparsamkeit ... Sparsamkeit! Das kam immer wieder. Aber darüber kam er
nicht hinweg. Die Lust an seiner beginnenden Tat schlug jauchzend über
ihm zusammen.

Er begab sich in die Schlafkammer und suchte in seinen Schränken, was er
mitnehmen sollte, und legte es zusammen.

Ja, er muß doch Jeanne schreiben, sagte er sich während dieser Arbeit
und er eilte nebenan zum Schreibtisch und legte einen Bogen Papier
zurecht. Die Gedanken, Pläne, Hoffnungen umbrausten ihn, wie
Orgelrauschen, das zwischen Kirchensäulen verschallt, und von dem
ganzen, prachtvollen, wundererfüllten Choral kam folgendes aufs Papier:

„Jeanne, ich muß fort. Ich gehe fort mit einem Jauchzen, ich würde dich
am liebsten mitnehmen. Nun wird alles schön und frei. Ach, ich kann
nicht mehr schreiben. Adieu, Schwester. Ich liebe dich. Baptist.“

Ach, was soll ich mehr schreiben. Ich kann auch gar nicht. Ich hab ja
keine Zeit dazu und keine Geduld. Und es steht ja auch alles drin!
entschuldigte er sich, während er den Zettel in ein Kuvert steckte.

Dann ging er wieder zu den Schränken und suchte weiter in den Kleidern
und in der Wäsche; er wählte mit Bedacht die besten und die
praktischsten Sachen.

                   *       *       *       *       *

Schon lange vor Mitternacht hatte er das Licht gelöscht und sich aufs
Fensterbrett gesetzt. Kaum hatte das Glockenspiel auf der Niklauskirche
hinter den zwölf Schlägen ausgeklungen, so war es Baptist, als hörte er
ein Geräusch im Garten. Er bückte sich über die Brüstung.

„_Signor!_“ rief unten eine flüsternde Stimme, „_Signor Battisto!_“

Baptist flüsterte zurück: „_Ssst Italiani?_“

„_Si bene!_“ kam es leise von unten herauf.

Dann ließ Baptist an der Wäscheleine, die er sich vom Trockenboden
geholt hatte, Bündel für Bündel hinab. Die Italiener arbeiteten huschend
katzenleis. Die Dunkelheit der Nacht deckte sie zu.

Endlich flüsterte Baptist hinab: „_Finito! Pss! Finito!_“

„_Bene!_“ hörte er von unten. Schritte schlichen davon. Im Nu war es
stumm.

Baptist hörte am Fenster eine Droschke in der Nähe herankommen. Er
zündete eine Kerze an und ging rasch die Treppen des schlafenden Hauses
hinab und auf die Straße. Die Laternen der Droschke leuchteten neben dem
Park und Baptist eilte ihr entgegen.

„Toni!“ rief er leise, als er sie erreicht hatte.

Das Pferd stand mit einem Ruck still und der Kutscher bückte sich vom
Bock über die Laterne.

„Jawohl, Herr Biver!“ sagte er nach einer Weile.

Baptist trat außerhalb des Lichtkegels der Laterne an den Bock heran.
„Ja, ich bins! Jahren Sie bis zwischen die beiden Laternen. Aber gelt,
leise!“ sagte Baptist flüsternd.

„Gewiß Herr Biver!“

Baptist sprang in die Dunkelheit davon, lief in den Park und pfiff
leise. Auf einmal hörte er nicht weit von sich den Pfiff wiederholt,
ganz fein und wie unterdrückt. Er blieb stehen. Aber er hörte nichts
mehr. Da sagte er mit halblauter Stimme: „_Italiani!_“

„_Signor Battisto, voi?_“ antwortete es neben ihm flüsternd aus einem
Strauch heraus, der am Wege stand. Baptist erschrak ein wenig. Dann
lachte er über die Geschicklichkeit und Vorsicht, mit der die Italiener
ihren Auftrag erledigt hatten. „_Tutto pronto!_“ sagte eine leise
Stimme, und es rauschte geschmeidig im Gebüsch.

Der Korb wurde auf die Droschke geladen. Baptist schloß ihn ab und
steckte den Schlüssel ein. Dann gab er dem Kutscher Anweisung. Die
beiden Italiener sprangen in den Wagen und er rollte davon. Baptist
spazierte noch eine Weile in dem finstern Park hin und her. Dann ging er
ins Haus und in sein Bett, war ermattet und wußte doch, daß er in dieser
Nacht keine einzige Minute verschlafen würde.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Tag waren die notwendigen Besorgungen – als Hauptsache die
Abhebung von fünftausend Mark auf das Sparkassenbuch – bald gemacht. In
der Sparkasse hatte der junge Beamte, der Baptist gut kannte, ihn ein
bißchen wehmütig angeschaut, als er das Geld in deutschen Papierscheinen
aufzählte. Baptist hatte die Bemerkung des Vaters zuvor mit einem
Papierstreifen überklebt.

Als er nach Hause kam, war Jeanne schon fort. Sie hatte Klavierstunde im
Konservatorium und blieb dann bei einer Freundin zum Mittagessen, so
hatte sie Baptist hinterlassen. Er sah sie also nicht mehr, und das
schien ihm gut zu sein. Er strich ruhelos und heiß erregt durch das
Haus, weilte wiederholt in allen Räumen, stieg von Stockwerk zu
Stockwerk und nahm zärtlichen Abschied von seiner lieben Bude, den
Bücherschränken und den Bildern.

Als er dann in Jeannes Räume kam, legte er den Brief und das
Sparkassenbuch in die Schreibmappe ihres kleinen lackierten Tischchens.
Er strich mit der Hand über die Möbel und über das Bett und über die
Wände und bat, sie mögen ihm das Schwesterlein wohl bewahren, daß sie
glücklich drinnen werde. Dann sank er unter der Wehmut dieses
Abschiednehmens zusammen, und ein Weinen brach aus ihm, das warm und
wohltätig quoll, wie ein Mairegen. Aber er riß bald den Kopf hoch und
verließ mit einer melancholischen Energie diese Räume, ging noch im
Garten zwischen den hohen reich bescherten Rosenstöcken auf und ab und
wurde dann zum Essen gerufen. Damit eilte er, appetitlos und unruhig. Er
trank viel Wein. Später trat er noch einmal ins Musikzimmer. Aber er
mochte nicht auf seiner Geige spielen, schlug nur ein paar Läufe und
Ansätze von Melodien über die Tasten des Flügels. Alles zitterte leis
und klingend ruhelos in ihm, wie ein leicht aufgestellter
Metallgegenstand, der auf einem Klavier durch die Tonschwingungen ins
Vibrieren gebracht wird. Es war ihm, als sei er in Feuersgefahr. Er grub
das Gesicht in die kühlen weichen Kissen der Chaiselongue in der dunklen
Ecke, sprang dann auf und schrieb seinem Vater einen kurzen Brief zum
Abschied, in dem er ihn um Verzeihung für alles Leid bat, das der Vater
durch ihn erlitten.

Sein Zug fuhr um halb vier.

Um halb drei ging er wieder ins Musikzimmer, nahm seinen Geigenkasten
unter den Arm und verließ das Haus. Es war alles so feierlich und so
schwer in ihm. Schwer, wie ein Apfel, der in herbstlicher Reise kaum
noch am Zweig hält, und jeden Augenblick ins Gras niederklopfen will.

Baptist schritt über die neue Brücke. Die hohen Mauern der alten
Bastionen schossen grau, verwittert und kahl aus der grünen Tiefe des
Petrustales herauf. Die Stadt lag schmal, wetterhart und nüchtern bis an
ihre Kanten heran. Ein Stück weiter lief mit großen, plumpen Sätzen die
alte ‚Passerelle‘ mit zahllosen engen Bögen übers Tal bis zum
Bahnhofsviertel hinüber.

Baptist zog traurig wie ein beregneter Hund dahin. Diese alte Landschaft
hielt eine kleine Zwiesprache mit dem undankbaren Wanderlustigen – und
er konnte nicht antworten. Denn gegen diese Argumentation halb
verwichener Erinnerungen, die sich in der Zeit die weichen Leiber von
Müttern angepflegt haben, war natürlich nicht aufzukommen. Er ging,
seinen kleinen leichten Geigenkasten unterm Arm, über das noch unbebaute
Glacis wie zwischen Spießruten hindurch zum Bahnhof und weiß der Henker,
als er vom Glacis in die Bahnhofstraße einbog, da machte sich auch noch
dieses widerwärtige, proletisch rechnerische Produkt des modernen
Luxemburgs an ihn heran, das er sein Lebtag gehaßt hatte, weil es wie
ein Firmenschild all der Menschen aussah, zwischen denen er zu leben
gezwungen war.

Aber da hatte er genug. Mit Galgenhumor schnitt er der Bahnhofstraße
eine Fratze, streckte ihr die Zunge heraus und hastete über das Trottoir
zum Bahnhof hinunter. Er wartete fast noch eine Stunde, in der die
gedämpfte Gewalt seines Innern widerstandslos ausbrach und wie eine
Feuersbrunst rasend um ihn herumsprang.

Dann flog der D-Zug in den Bahnhof, wie mit einem donnernden Ruf von
Triumph und Unternehmungskraft. Er trug Baptist davon und hüllte alle
die Zukunftsfreuden der jugendlichen fliehenden Seele in das brüllend
aufgewirbelte, schlagende Rasen seiner Flucht über die gedehnte
Hochebene der Ardennen, wie in den Sturz eines Wasserfalls.




                            Fünftes Kapitel


Baptist stieg mit seinem leichten Geigenkasten in der Hand aus dem Zug
und ließ die Menge der Reisenden langsam um sich vorwärts fluten. Er
schaute angestrengt aus und sah auch bald den dicken Italiener wie einen
Wellenbrecher mitten auf dem Bahnsteig den Strom der hinausdrängenden
Reisenden auseinanderkeilen. Baptist hastete zwischen den Menschen durch
zu ihm und drückte ihm kräftig die Hand.

„Nun, gut gegangen?“ fragte der Italiener.

„Wie Sie sehen!“ antwortete Baptist.

Sie ließen sich dann gemächlich hinausschieben. Vor dem großen Tor auf
dem Platz Charles Rogier standen Margherita und ihr Bräutigam Paolo. Das
kleine schwarze Weibchen hatte sich mit einem großen Tuch vor der
herbstlichen Abendkühle geschützt. Sie war ganz hineingehutzelt, daß nur
das Äffchengesicht dunkel herauskam, und es war rührend für Baptist, die
beiden fremdländischen jungen Menschen so einsam an dem Platz am Tor der
großen abendlich entzündeten Stadt auf ihn warten zu sehen. Sie stürzten
ihm voll Freude entgegen und es war ihm, als wollte sich die kleine
biegsame Hand des Mädchens an seine Finger festkrallen, als sie sich zum
Gruß die Hände drückten.

„Wir nehmen einen Wagen zu eurem Hotel!“ sagte Baptist und er ließ eine
Droschke vorfahren. Das Hotel zum Prinzen von Flandern lag in einer
Sackgasse hinter der Grand’place. Es war eines der alten netten
Brüsseler Hotels, etwas dunkel, aber reinlich und einfach bürgerlich.
Baptist war froh überrascht, daß die Italiener so ordentlich wohnten.

Die Wirtin führte ihn selber in ein Zimmer, das im zweiten Stockwerk
über der Gasse lag und mit alten Möbeln und mit großgeblümten Vorhängen
an Fenster und Bett wohnlich genug aussah. Er fand seinen großen Korb
schon bereitstehn, Bett und Zimmer in wartender Ordnung, und es war ihm
warm, wohl und frei. Als er dann später in das kleine Eßzimmer
hinunterstieg, saß Margherita allein drin und nähte an einer farbigen
Schürze.

Baptist setzte sich auf die andere Seite des Tisches.

Das Mädchen sagte, ohne von der Arbeit aufzublicken:

„Rosa nicht Station. Solamente ich! Ist Zimmer schön?“

„Sehr schön!“ antwortete Baptist und war etwas verwirrt.

„Ich gesucht Zimmer!“

Sie schaute auf und winkte ihm ernsthaft zu. Und er errötete und war
gerührt und hätte das kleine schwarze Tierchen gerne geherzt und geküßt.

Dann sagte sie nichts mehr. Baptist schaute der Flinkheit ihrer kleinen
Finger zu. Ach, es ist schön so! Es ist schön so! bestätigte er sich
unaufhörlich. Schließlich kam Rosa. Sie blieb vor ihm stehen und hielt
ihm unbeholfen die Hand hin, die er drückte, ohne daß sie den Druck
wiedergegeben hätte. Sie lächelte schwerfällig und murmelte ein paar
italienische Wörter. Darauf ging sie sich neben Margherita setzen.

Baptist war enttäuscht. Er hatte sich dieses Wiedersehen anders gedacht.

Einer kam nun nach dem andern. Er drückte allen herzlich die Hand, und
sie setzten sich an ihre Plätze um den Tisch und lachten ihm zu. Dann
brachte ein Kellner das Abendessen.

Das Leben in dem kleinen Hotel nahm etwas zurückgezogen Einförmiges an.
Die drei Frauen bewohnten ein Zimmer, ebenso die Männer. Nur der Dicke
und Baptist hatten jeder ein Zimmer für sich. Das machte, daß sich die
Gesellschaft in kleine Kreise teilte.

„Wie ist’s?“ fragte beim Mittagessen am dritten Tag der Dicke. „Wollen
wir mal zusammen üben, Herr Battisto?“

Nach dem Essen gingen sie darauf alle in das Zimmer der Frauen, das
geräumig und hoch war und abwärts lag. Paolo schleppte einen Stoß Noten
heran und Baptist holte seine Geige. Während er die Noten
durchblätterte, zupfte der Dicke an den Saiten, beklopfte den Rücken und
schnitt dann eine Grimasse anerkennender Bewunderung, indem er mehrmals
den Mund zusammenzog, die Unterlippe weit herausdrückte und mit seinem
dicken Kopf dazu nickte.

„Prachtvolle Violino. Ein großer Suono!“

„Sie ist aus Ihrer Heimat!“ sagte Baptist.

„Oh nein!“ entgegnete jedoch der Italiener, „in Neapel macht man keine
so guten Instrumente.“

Er hob sie unters Kinn und strich ein paar Läufe. „Cremona, Cremona!“
sagte er und machte wieder seine anerkennende Fratze.

„Ja, Cremona!“ bestätigte Baptist.

Dann reichte der Dicke die Geige herum und alle zupften an den Saiten
und winkten wichtig und ernst, daß sie auch mit ihr einverstanden seien.
Baptist geigte alle die Lieder, die der Dicke ihm vorlegte, ohne
Schwierigkeit vom Blatt. Die meisten kannte er und vermochte sie
herunterzuspielen, ohne die Noten anzusehn.

„Das geht besser, als wie wir alle zusammen!“ sagte der Dicke beifällig.
„Aber nun auch noch Zusammenspiel! Avanti!“ Und er klatschte, zu den
andern gewandt, in die Hände.

An jedem Abend wurden nun einige Stunden geprobt. Baptist machte nach
und nach gegen einige der Lieder Einwände und sagte, die seien doch zu
dumm. Aber der Dicke setzte ihm einen querköpfigen und lebhaften
Widerstand entgegen.

„Sie kennen das Publikum nicht!“ rief er. „So, dies Lied da, dies: tra
la ti ta ta ... in den Bäumen geht der Wind ... hoho, das gefällt, das
müssen wir immer _da capo_ spielen. _È vero?_“ wandte er sich an die
andern, die ja nickten.

Ein besonderes und unerwartetes Ergebnis aber hatten diese Proben:
Baptist lernte in dem lebhaften Verkehr, in dem sie ihn mit den
Italienern hielten, ihre Sprache wie von selbst. Er badete sich
scheinbar in ihr, verlor jede Scham, die fremden Wörter heraus zu wagen.
Die Sprache flog ihn an.

Die ersten Tage leitete der Dicke regelmäßig genau und kritisch die
Proben. Aber dann blieb er weg und verließ das Hotel immer gleich nach
dem Essen. „Probt gut!“ sagte er zum Abschied. Einmal wandte er sich an
Baptist, bevor er wegging.

„Wir müssen ein Engagement bekommen. Es steht schlecht. Müssen das Hotel
jede drei Tage bezahlen und verdienen nix! Ich lauf immer herum und find
nix!“

Wenn er wieder einen halben Tag vergebens verfahren hatte, saß er am
Abend mit seinem schwarzen, faltigen Gesicht griesgrämig zwischen den
andern. Er trank viel und behandelte seine Leute wie mit einer nur
mühsam unterdrückten Roheit. Baptist hatte dann das Empfinden, als
bereite sich eine peinliche Verwickelung vor.

In diesen Tagen kam der Dicke einmal unvermutet zu Baptist aufs Zimmer:
„Kein Geld mehr! Alle, alle!“ rief er ihm zu. „Die drunten will
Bezahlung, aber ich kann doch nicht, ich verdien doch nix!“

„Nu, nu, Häuptling, das wird ja auch mal wieder anders werden!“ tröstete
ihn Baptist und reichte eine Hundertfrankennote hin.

Da war der Dicke sehr dankbar und sagte: „Oh, aber wenn wir jetzt mit
Ihnen spielen, dann werden Sie sehn, ganz Brüssel kommt. Wie Sie spielen
und mit Ihrer Violino und mit Ihrer Figur!“

Er ging wieder. Baptist nahm die Angelegenheit mit Humor und ergötzte
sich an diesem ersten Widerstand, der, wenn auch nur, ohne ihn selber
anzufassen, genaht war, und den er dann mit der kleinen Geste seiner
Gabe so leicht hatte brechen können.

Sonst hütete er sein Geld mit einer rechnerischen Sparsamkeit und es
machte ihm viel Freude, sein kleines Vermögen so sicher verwalten und
sein Leben so straff in den Zügeln halten zu können, daß seine Ausgaben
fast immer auf einen Centime nahe den Voranschlag deckten. Er führte
gewissenhaft Buch in einem kleinen Heftchen und lebte so mit einer fast
mechanisch funktionierenden Regelmäßigkeit.

Sein Leben schloß sich äußerlich eng an das der Italiener. Aber
innerlich hielt er sich ihnen doch wie mit einer mild abweisenden
Handgeberde, mit einer nicht merkbaren Überhebung fern. Trotz dieser
kleinen Schranke, die kaum sichtbar, aber für Baptist doch von
unentbehrlicher Wichtigkeit war, besprach er ernsthaft mit ihnen die
Möglichkeiten, bald in Brüssel spielen zu können, und beteiligte sich
mit ganzem Herzen an den naiven und manchmal unzarten Späßen, die sie
trieben. Da diese sich besonders gegen die Frauen richteten, so kam er
oft näher an Rosa heran. Er gewöhnte sich an ihre gutmütige
Schwerfälligkeit und vermochte sie öfters mit warmer Zärtlichkeit zu
umwerben, die sich unmerkbar rasch stets zu Anfällen heimlicher
Sinnlichkeit erhitzten.

An einem Sonntag im Oktober war der Dicke nicht am Mittagstisch. Aber er
kam plötzlich als sie probten ins Zimmer. „Haben wir, Kinderchen!“ rief
er noch in der Türe. Er hatte ein rotes Gesicht, war vergnügt und
drollig wie ein verliebter Frosch und küßte die Mutter der Margherita
feierlich zweimal auf jede Wange.

Er erzählte dann, daß sie am Donnerstag anfangen könnten in einem
Gartenrestaurant beim Bois de la Cambre. Ein großes Etablissement!

„Jetzt im Freien!“ rief Margherita entsetzt dazwischen und schüttelte
sich.

„Aber Liebchen es ist ja noch im Sommer. Und bei schlechtem Wetter
natürlich im großen Saal!“

... Oh, der Saal war schön, mit weißen Säulen, einem blauen Himmel mit
goldenen Sternen und einem Lilipütchen von Springbrunnen, das ganz süß
und s...s...s... zu der Musik plätscherte.

Der Dicke küßte zärtlich in die Luft hinein und alle lachten wie
erleichtert. Die Nachricht war gekommen, wie eine Musikkapelle plötzlich
am Ende einer Straße erscheint und mit fliegendem Marsch sich nähert. Es
tanzte allen in den Beinen. Baptist lief hinunter und bestellte drei
Flaschen Bordeaux. Sie sangen und scherzten, während sie die Flaschen
tranken, und ließen später noch zwei Flaschen heraufbringen.

Als Baptist nachher auf sein Zimmer kam und unter die üblichen
Tagesausgaben für fünf Flaschen Wein fünfzehn Franken eintragen mußte,
die die Wagschalen seines knapp gehaltenen Budgets schwer aus dem
Gleichgewicht brachten, da spürte er eine peinliche Reue. Er fing an,
mit kleinen Bruchteilchen von Franken und mit einer insektenhaften
Geduld einem Ausweg nachzurechnen. Erst als er klar vor sich
aufgebaut hatte, daß die fünfzehn Franken durch bestimmte kleine
Sparsamkeitsmittel in einem Monat wieder ausgeglichen seien, war er
zufriedengestellt.

Während der Tage bis zum Donnerstag erfüllte ihn dann eine fiebrige
Ungeduld. Seine Stimmungen wechselten zwischen der Angst, daß der
Vertrag schließlich doch noch zurückgenommen werden könnte, der leise
stechenden Scham, sich nun öffentlich mit der Geige herauszustellen und
der tiefen Lust, ein tätiges Leben aufzunehmen.

Es wurde unter der Leitung des Dicken wieder ernst und peinlich genau
geprobt. Die Frauen nähten Baptist weiß und blau gestreifte, locker
flatternde Hosen und rote weite Blusen mit umgeschlagenen Kragen. Das
war die Uniform der Kapelle. Für Sonntags war die Bluse aus roter Seide.
Er bekam zwei solcher Garnituren, zu denen die Frauen den Stoff aus
ihren Körben zusammengesucht hatten. Als er eines Tages in sein Zimmer
kam, lagen die beiden Anzüge sorgfältig über sein Bett gebreitet. Er
probierte sie einen nach dem andern an und lachte sich im Spiegel aus.
Aber er fand, daß das Feuer der roten Bluse sich sehr gut zu seinem
weißen Gesicht und den hohen schwarzen Haaren gesellte. Da ging er an
die Tür des Zimmers der Frauen pochen.

„Bin ich schön so?“ fragte er ins Zimmer hinein. Aber er blieb an der
offenen Türe stehen.

„Oh, oh!“ rief Margherita und schlug ihre kleinen Hände zusammen, „sehr,
sehr fein! oh, komm doch herein, Baptisto.“

„Nein, nein!“ antwortete Baptist lachend. „Es ist die Sonntagsuniform,
ich muß sie gleich wieder ausziehen!“

Er lief über den Flur nach vorne zurück und traf den Dicken in seinem
Zimmer.

„Ah, bravo!“ sagte dieser zerstreut, „sehr gut, sehr gut!“ aber er fügte
mit einer geschäftlichen Miene hinzu: „Hier, Herr Baptisto. Unter
Ehrenmännern ist es so Sitte, und ich hoffe, den Zettel bald wieder
zurücknehmen zu können!“

Er reichte ihm ein Papier. Darauf stand auf Deutsch:

„Unterzeichneter bescheinigt, Herrn Battisto 100 Lire schuldig zu sein,
wovon für Kostüme aus Tuch und Seide abzuziehen sind 25 Franken. Rest 75
Lire.

                        Emilio Leprotto, italienischer Kapellmeister.“

„Wär’ aber nicht nötig gewesen“, meinte Baptist und faltete das Papier
zusammen.

„Bahbah! unter Ehrenmännern ...“ entgegnete der Italiener, indem er mit
der Hand eine weitläufige Geste in der Luft zeichnete.

                   *       *       *       *       *

Und nun ging Baptist an dem großen Tag inmitten der andern Musikanten
durch den menschengefüllten Saal des Restaurants _aux vieux chênes_. Es
hatte auf einmal angefangen zu regnen und die Spaziergänger, die den
Herbsttag im Bois genutzt hatten, füllten die Restaurants, die am
Eingang zum Park Spalier standen. Grade die Vieux chenes, die durch
große Plakate italienisches Konzert anzeigten, waren im Augenblick
vollgeschwemmt. Es war fünf Uhr und unter dem grauen Himmel in dem Saal
schon dunkel. Die Kronleuchter funkelten auf. Hereindrängende Menschen,
Stuhlrücken, rufende Stimmen, eilende Kellner, Gläsergeklirr mischten
sich zu einem wüsten Lärm durcheinander, der, als die buntgekleidete
Gruppe der Italiener in der Türe neben dem Büfett erschien, ein paar
Augenblicke lang wie in einem gewaltigen Trichter zu einem hoch
gespannten Aüh! zusammenklang.

Baptist ging in der Maskerade seiner gestreiften Hose und seiner
feurigen Bluse wie zwischen einer funkelnd nebeligen Mauer durch die
Menschen hindurch. Er stieg mit den andern auf die kleine Bühne und sah
nichts, war auf einmal droben und wußte nicht, wie er hinaufgekommen. Er
war nicht so kühn, in die leise schaukelnde Masse zu seinen Füßen zu
schauen. Sie schien nur wie ein tonloses, erhitztes Brüllen
schwindelhaft tief unter ihm zu wogen. Es war ihm, als würde sie ihm die
Augen verbrennen, wenn er hineinblickte. Ein heißer, funkenstiebender
Regen ging dicht um ihn nieder. Er wurde von den andern vorgeschoben, er
setzte den Bogen an und verstand nicht, was er tat. Er spielte, wie ein
Automat, dessen Mechanismus man gerade gelöst hat, und die Töne hatten
etwas Belegtes, wie eine Stimme, die im Schnupfen heiser ist.

Auf einmal sah er in der tiefen verworrenen Flut unter sich etwas
Bekanntes und wußte nach einer Minute dumpfen Erstauntseins, daß das
Bekannte, das er an einem der ersten Tische sah, der dicke Italiener,
der Häuptling war. Und da stand der Herr Leprotto wie mit einem Schlag
als eine wichtige kleine Insel drunten in dem Meer; als eine
aufgeplusterte, winzige, komische Insel. Rasch hob sich das unruhige
Erbrausen bis an die Ufer der Insel und brach sich langsam an ihnen. Um
den Italiener bildeten sich für Baptist klare Kreise, die sich
überblicken ließen. Auch weiterhin ordneten sich seinen mutiger
werdenden Augen nun rasch die Erscheinungen. Er sah, daß eine blaue, mit
goldenen Sternen gepunktete Decke sich von Säulen getragen über dem
Raume schloß; er hörte sogar irgendwo ganz spitz das s...s...s... der
kleinen Fontäne immer hinterlistig zwischen die Töne zischen, und sah
sie auf einmal in einem Spiegel zwischen zwei Säulen. Und sah Menschen
sich um Tische scharen und unter einem ineinander verzogenen Rauschen,
wie unter einem Netz von gedämpftem Lärme liegen.

Nun sprangen ihm die Noten klar und sicher in die Finger. Er stieg aus
dem Zusammenspiel heraus und sah, wie die Menschen unter dem wogenden
Netz anfingen, die Köpfe zu wenden und aufzuhorchen. Da kam er sich
unendlich wichtig vor und er ließ das Intermezzo der Cavalleria aus
seiner Geige fließen, wie einer, der hingestellt ist, die Gemüter der
Menschen beglückend zu erheben.

Er hatte in dem gefühlvollen Verfließenlassen des letzten Tones den
Bogen noch nicht abgehoben, als sich der ganze Saal wie mit drohendem
Radau unter seinem Netz herauszuheben schien. Baptist schrak zusammen
und er faßte krampfhaft Margheritas Hand, die mit einer Mandoline neben
ihm stand.

„Es war schön!“ flüsterte sie ihm trocken heiß zu und drückte seine
Finger mit ihrer kleinen Hand. Er glaubte, er habe etwas angerichtet und
sie wolle ihn trösten. Die Italiener stießen ihn. „Geh vor, geh vor!“
riefen sie ihn erregt an. Er wehrte sich gegen sie. Er war wie von
scharfem Duft betäubt. Da griff Paolo ihn von hinten unversehens unter
die Arme, hob ihn vom Stuhl und schob ihn vorwärts.

Nun erst verstand Baptist, daß er sich verneigend für den Beifall danken
mußte. Er tat es und lächelte ganz verwirrt und mit lichtverblendeten
Augen. Die Zuschauer, die diesen Auftritt sahen und alles für
Bescheidenheit hielten, lachten drunten und klatschten wie verrückt
weiter, trampelten und riefen. Der Dicke saß mit einem ruhig lächelnden
Grinsen zwischen ihnen und machte nur immer eine kleine Bewegung mit
seiner fetten Hand, die hinauftelegraphieren sollte: ‚alle auf, spielt
noch einmal‘.

„Wir müssen es noch einmal spielen!“ sagte Paolo zu Baptist.

                   *       *       *       *       *

Baptist war naiv frisch und robust gegen diese verführerischen ersten
Erlebnisse. Er nahm sie als etwas, das selbstverständlich ist, aber
nicht die geringste Bedeutung hat. Die Leute, die da unten saßen, waren
ihm nur eine gleichgültige Masse. Sie schwabbelte ein wenig in seinen
Vorstellungen. Er spielte vor ihr aus Lust am Spielen, aus inniger,
kräftiger Arbeitsfreude. Er hätte vielleicht ebenso gern in einem Bureau
geschrieben oder bei einem Zimmermann gehobelt. Und das war der
Unterschied zwischen früher und jetzt: Tätigkeit! Tätigkeit mit einem
nahen robusten Ziel. Wie lebendiger Saft auf der Schnittfläche eines
Baumes aufquillt, so sah Baptist sein Schaffen frisch und hell aus sich
steigen. Darüber empfand er einen naiven warmen Stolz.

Einmal sah er, während er spielte, zwei Bekannte aus Luxemburg im Garten
sitzen. Er hatte dort wohl nicht mit ihnen verkehrt, weil sie älter
waren wie er. Aber der Bruder des einen war sein Schulkamerad gewesen
und sie kannten sich gut. Baptist genierte sich ein wenig vor ihnen
wegen seines bunten Kittels. Aber im Grunde freute er sich, daß etwas
von früher her Bekanntes an seinen neuen Weg kam. In den Pausen lugte er
öfter halb befangen und halb neugierig hin. Aber sie saßen zu weit weg,
als daß er irgendeine Antwort auf seine Blicke hätte erkennen können.
Als dann die Musikanten zum Abendessen gerufen wurden und an dem Tisch,
an dem die Luxemburger saßen, vorbeigehn mußten, um ins Haus zu kommen,
war Baptist freudig gespannt, ob sie ihn anhalten und begrüßen und was
sie sagen würden. Er hielt sie mit dem Blick fest, während er zwischen
den Tischen hindurch auf sie zuging, zögerte ein wenig mit den
Schritten, als er an ihrem Tisch angekommen war ... Aber sie redeten
heftig abgewandt auf einander ein, drehten ihm schroff den Rücken, als
wiesen sie ihn damit grob und energisch ab.

Da schoß Baptist die Schamröte ins Gesicht. „Ihr Rindviechers, ihr
Lakels, ihr krummen Hunde!“ schimpfte er vor sich hin, als er davonging.
„Ihr ...“ und schließlich fand er in der Erregung nichts mehr, was
erbitterter, verächtlicher und beleidigender gewesen wäre – und er
sagte: „Ihr Luxemburger!“

Als er dann wieder später zurückkam, wollte er mit einem verächtlichen
Lächeln an ihnen vorbeigehen. Aber ihr Tisch war leer.

Mit einer kindischen Verletztheit trug er das kleine bürgerliche
Erlebnis in den Abend hinein und stach sich dran. Sein Ehrgeiz war
verwundet worden und es wuchs kein Kraut, das zu heilen.

Da spielte er in verweichlichtem Trotz um die Gunst der Masse, die da
unten dumpf ein wenig schwabbelte. Er hielt die sentimentalen Töne mit
einem langen Tremolieren wie an einer zitternden Schnur an einer Stange
über die Tische. Und die Herzen griffen danach. Es war Großstadtabend,
und um die weißen Monde der Bogenlampen zwischen den Bäumen tanzten die
letzten Sommertiere. Aus dem Bois schlugen die scharfen Düfte der ersten
Zersetzung, nach abgeschälten Rinden riechend, bitter und verwirrend in
den Konzertgarten. Draußen fuhren erleuchtete Elektrische vorbei zur
Stadt zurück. Das Jahr, der Bois und der Tag starben.

Das fühlten die Bürger und mehr noch ihre Frauen und ihre Töchter und
sie hatten eine Ahnung, eine dumpfe, ferne traurige Ahnung von den
Zusammenhängen, von der unerbittlichen Sinnbildlichkeit dieser dunklen,
heftigen, erregenden Stunde in dem kühl werdenden Konzertgarten und
fühlten ihre Vorstellungen von den schwermütigen, gefühlvollen
Geigentönen melancholisch bestätigt und bequem ausgedrückt. Und lag
nicht auch Liebe in den Liedern? Die Liebe, in der man sich
zusammenschließt, um jene Traurigkeiten gemeinsam zu tragen.

Und sie klatschten, weil sie gerührt und erregt und weil sie dankbar
waren, und wußten wohl, daß unter den Musikanten da oben es nur der
schöne stattliche Junge sein konnte, der die erste Geige führte und sich
dabei in den Hüften bog und mit dem Körper im Rhythmus schaukelte wie
ein rassiger, koketter Hengst im Zirkus.

Acht Tage nach der schmerzlichen Begegnung mit den Luxemburgern setzte
ein Vorstoß des Winters ein und man fuhr nicht mehr hinaus zum Bois. Die
Vieux Chenes wurden geschlossen. Aber ihr Besitzer leitete das Café de
l’Univers in einer Seitenstraße der Boulevards im Norden und
verpflichtete Leprotto und seine Gesellschaft auf eine weitere Zeit für
dieses große Cafélokal. Dort spielten sie nun jeden Tag von sechs Uhr
bis Mitternacht. Vor sich sahen sie fast immer dieselben Gesichter, die
nur mit den Stunden wechselten. Zwischen dem Podium und den Gästen
entstand ein familiärer Verkehr. Man bewunderte Baptists Spiel und
mancher sagte ihm, ihn wichtig beiseite nehmend, er könne ganz wo anders
sein.

Frauen machten sich an ihn heran. Ein Herr kam oft hin, setzte sich
stets in die Nähe des Orchesters und war außerordentlich liebenswürdig
zu Baptist. Er tat, als schätze er ihn sehr, und Baptist unterhielt sich
gerne mit dem Unbekannten und war froh über seine Teilnahme. Eines
Abends trat der Herr auf ihn zu und bat mit einem großen Aufwand von
Höflichkeitsworten, ob er nicht einmal seine Geige besehen könnte.
Baptist reichte sie ihm hin. Der Herr klopfte und schaute, zupfte an den
Saiten und schaute wieder und gab Baptist das Instrument schließlich
zurück.

„Sehr gut!“ sagte der Herr.

„O ja, es ist eine gute Geige!“ meinte Baptist wohlgelaunt.

„M ... ja ... ich sammle Instrumente aus dieser Zeit. Nur Historisches.
Sie ist Ende sechzehnhundert, Oberitalien ... Würden Sie mir sie für
zweihundert Franken überlassen?“

Der Herr griff in die Brusttasche.

„Ich pflege keine Geigen für zweihundert Franken zu verkaufen, von denen
ich weiß, daß sie zweitausend wert sind!“ antwortete Baptist lachend.

„So, Sie wissen?“ Der Herr machte ein überrumpeltes Gesicht.

„Allerdings!“ sagte Baptist.

Darauf grüßte ihn der Herr nicht mehr.

Dieses Erlebnis erzählte Baptist Margherita, als sie nachts zusammen
nach Haus gingen. Er fügte hinzu: „Wissen Sie, liebe Margherita, es ist
nun wahr, daß diese Geige jetzt für mich so etwas besitzt, wie es eine
Frau hat, die lieb, zärtlich und treu ist. Sie wissen doch, mit der Rosa
ist es nichts! Sie ist so steif und so hölzern. Hat sie eigentlich einen
Leib? ... und nun bin ich wohl ein wenig allein und hab die Geige aber
immer Tag und Nacht als Gesellschafterin.“

Da sagte Margherita leidenschaftlich: „Gehn Sie von uns weg. Sie müssen
mehr werden!“

„Ach Gott, Margherita, das werde ich auch!“ antwortete Baptist. „Aber
hat’s dazu nicht Zeit?“

„Nein! Unser Holz ist morsch und faul und steckt rundum an!“

Aber Baptist ließ sich nicht weiter von diesem Gespräch rühren. Er war
jetzt immer sehr müde, wenn er nach Hause kam, und führte selbst sein
Ausgabenbuch nicht mehr so freudig wie anfangs. Er fühlte sich biegsam
werden. Er versuchte jetzt im Café de l’Univers oft, worauf er an dem
Abend verfallen war, da er die Luxemburger in den Vieux Chenes gesehen
hatte: die Zuhörer an sich heranzuziehen, und empfand in diesem enger
zusammengedrängten Kreis die Wirkung unmittelbarer. Er sah Frauenaugen
begehrlich und erregt leuchtend an ihm hängenbleiben, wenn er die langen
Töne mit süßlicher Eindringlichkeit aus dem Zusammenspiel herauszittern
ließ, und er fühlte sich übergossen von einem heißen, rieselnden Reiz.

Diese Musik noch nervöser zu spielen, als sie schon von Haus aus war,
das war das Rezept, das Baptist dann seinen Zuhörern aufmischte.

Damit konnte er diese zur Nacht erblühten Blumen des Asphalts, diese im
feuchtwarmen Duft des Verkommens fiebernden Frauen, all die aufgelösten,
gierigen Menschlein in erhitzendem Auferwecken an ihren Tischen erregt
tänzeln machen.

Es war eine Morphiumkur. Aber ihre Dünste schlugen ihm selber in die
Adern. Er wurde nun umworben, er der schöne Primgeiger! Er, der den
Zauber der Klänge aus der Geige heben konnte. Die andern fingerten ja
nur! Er, der interessante Flüchtling! Leprotto ging drunten herum und
biederte sich mit den Gästen an, um ihnen die ausgeschmückte, romantisch
verdunkelte Geschichte des Geigers zu erzählen. Die öffentliche
Anteilnahme richtete die blendend erhellende Scheibe ihres Reflektors
auf ihn, und er schwänzelte in diesem Beleuchtungsfeld, wie eine kokette
Frau, die Männerblicke auf sich fühlt.

Er warb, obschon er genug hatte. Er warb weiter, weil seine Nerven eine
austrocknende Hitze bekamen und er sie nur aus dem Saale heraus
auffrischen konnte. Nun machte er auch keine Opposition mehr gegen die
sinnlosen Modestücke und spielte sie mit denselben kokettierenden
Anstrengungen wie die andern. Zugleich aber stumpfte sich sein
zugespitztes Feingefühl ab. Seine Musik war eine Funktion, die jeden Tag
um dieselbe Zeit begann, pauste, endigte. Die jeden Tag dieselben
Höhepunkte, dieselben Anstrengungen und Gleichgültigkeiten hatte. Er
verlor das Gefühl für Nüancierungen. Seine Empfindsamkeit war zum
Handwerk geworden und setzte Huf an.

Als diese innere Empfänglichkeit nicht mehr so sicher auf jeden Kontakt
reagierte, verlor er seine besten Waffen. Das Leben floß frei auf ihn
herein. Das hatte er ja immer gewünscht – das ungebändigte, riechende,
rundum raffende Leben. Aber so wie es die italienischen Musikanten und
die Gesellschaft des Nachtcafés ihm mischten, vermochte er es nicht zu
ertragen. Er war so blutjung und so leichtgläubig. Seine innere Spannung
ermüdete bald an diesem unklug und maßlos hochgespannten Leben und wurde
schlapp. Er sank wie an einer Stange herunter und merkte es nicht, weil
er noch immer die Bewegung des Hinaufkletterns machte.

Nun begann er auch, sein mit Energie geführtes Ausgabenbuch zu
vernachlässigen, und einmal, als er gar nicht mehr herauskam, weil er
schon eine Woche lang nichts eingetragen hatte, nahm er es und warf es
in den Ofen.

Er lud die Italiener oft zum Trinken ein. Sie lagen dann in dem Zimmer
der Männer, spaßten und zechten und erzählten sich aus ihrem Leben. Wenn
sie betrunken waren, küßten sie sich. Sie faulenzten und luderten
zusammen und duzten sich. Die innere Schranke war gefallen. Auf sein
Geld gab Baptist gar nicht mehr acht. Er verschwendete, unfähig, sich
eine Ausgabe zu versagen, die ihn lockte.

Einmal klopfte es an seiner Türe und als er Herein rief, kam Margherita.

„Margherita!“ rief er plötzlich aufgeregt der Unerwarteten zu.

Sie kam ruhig und ernst näher, lehnte sich vor ihm gegen den Tisch und
sagte mit einem herzlichen Ton: „Erinnern Sie sich Baptist, daß ich
Ihnen einmal nachts gesagt hab’, Sie seien besser wie wir und sollen von
uns weggehn?“

„Ja, und? ... Margherita? ... Sie wollen mich los sein?“

„Nein! Aber es ist Ihretwegen. Ich sag’s noch einmal, es ist die höchste
Zeit.“

„Weshalb?“

„Sie sollen nicht mit unsern Männern trinken!“

„Ja, aber ...?“

„Und nicht Ihr Geld verschwenden und nicht so spielen, wie Sie setzt
immer die Lieder spielen im Café, so gemein!“

Da sagte Baptist ihr entflammt: „Margherita, liebst du mich!“

Er hob seine Hände, um das Mädchen an den Schultern an sich
heranzuziehen.

„Nein!“ rief sie, entwand sich ihm und ging aus dem Zimmer. Seine Arme
sanken leer und enttäuscht nieder, und er stand da, aufgehalten in
seiner entflammten Gebärde, betrogen und zornig, trotzig und aufgewühlt.

„Dann geh!“ sagte er ihr grob nach.

Er zog seinen Mantel an und stieg auf die Straße hinunter. Er ging die
Boulevards in der innern Stadt erregt entlang und schaute den Frauen zu.
Sie waren häßlich oder schön, gut oder schlecht gekleidet. Aber alle
waren Frauen. Er schaute ihnen mit einem verächtlichen Begehren nach.

Schließlich machte er eine hastige Bewegung der Ungeduld, trat auf der
Place de Broukere auf eine Droschke zu und sagte heftig: „In ein
Bordell, Kutscher!“

„Gerne, mein Herr!“ erwiderte der Kutscher mit höflicher
Gleichgültigkeit.

So erlebte Baptist in der engen heimlichen Hügelstraße diese erste große
Feierlichkeit seines Lebens. Durch die kleinen quadratischen Fenster sah
er die Häusermassen zurückgehalten den Stadthügel herunterdrängen. Das
stumpfe, gewaltige Turmpaar der gotischen Hl. Gudule-Kirche hob sich mit
schwerfälliger Sehnsüchtigkeit mitten aus der Sturzflut der Dächer in
den grauen Tag.

Und in der herbstlichen regnerischen Nachmittagsstunde erfüllte sich das
nächtig und dunkel erwartete Märchen, das seine Jugend abschloß. Er
erlebte es als eine enttäuschende, schmerzhafte Winzigkeit. Noch lange
blieb es, wie ein trüber Satz in einem Glase, auf dem Grund seines
Innern liegen.




                            Sechstes Kapitel


Baptist trug den heimlichen Besuch in der verfemten Gasse noch eine
Weile quälend mit sich dahin. Er lag in ihm wie ein unlösbarer Rest
einer bittern Tatsache und erschien ihm als die Frucht eines
unabweisbaren, tragischen Sündenzwanges, der alles Menschliche
belastete. Daraus dämmerte ihm mit einem erlebten, tief fruchtbaren
Erfassen die Symbolik hervor, in der die Bibel die Geschichte des
Menschen beginnt. Auch er hatte nun die fluchwürdige Tat begangen, auch
er stand hinter dem Sündenfall. Aber es war ihm nun erst, als hätte er
das wirkliche Leben auf die Schultern genommen, das große, riechende,
raffende Leben, das in ungemischter Kraft nur von den Starken getragen
werden kann; das Leben, in dem keine Lust selbstverständlich, sondern
die Blüte von Arbeit und Qualen ist; das Leben, das nächtig geheimen
Wegs ist, voll angstdrückender Willkür wie ein Blitz.

Eine tragisch erfüllte Wichtigkeit begleitete so mit melancholischem
Schatten die erste Zeit nach seinem Erlebnis und es erschien ihm von
ernster Bedeutung, daß sich nun seinen Vorstellungen das Bild der
Schwester öfters nahte, als jemals, seitdem er sie verlassen. Aber es
war eine Schwester, deren stolzer Sinn von der Traurigkeit über seine
Verfehlung bedrückt und beleidigt war. Sie stand wie der Erzengel
Gabriel am Tor des Paradieses, vor den versunkenen Gefilden seiner
knabenhaften Reinheit, und er war gewärtig der Sühne und Strafe.

Aber Baptist verlebte diese Zeit in Sprüngen und was ihn in den
folgenden Wochen wie in einem einzigen, sturmrauschenden Zug mit sich
riß, trieb ihn unversehens länderweit ab von der naiven
Schmerzhaftigkeit der reuigen Stunden nach dem Sündenfall. Er fühlte
sich auf einmal und ohne daß er zu Atem kam, in einen heißen, sumpfigen
Schwall von Frauenerlebnissen gehüllt, deren dumpfe Süßigkeit, deren
fiebrig anstachelnde Genußsucht ihn keinen Augenblick mehr freigaben. Er
brauchte nur hineinzuspringen. Es war überall weich und ertrinkend wie
in mächtigen Daunenpfühlen. Er fiel vom einen in den andern, und wenn er
vom Podium aus die Blicke über die Gesichter der Frauen im Café spielen
ließ, sah er fast auf jedem einen nickenden Blick eingestandener
Heimlichkeit, wie eine aufreizende Erinnerung an dunkle, wollusterlebte
Stunden, die mit stöhnendem Verlangen in ihm weiterschrien.

So nahm er diese Frauen. Es war nur Duft, unfaßbar, im Augenblick des
Besitzens zu genießen, und nachher löste sich alles in die
verantwortungslose, täuschende Leichtfertigkeit schwül süßer
Erinnerungen. Und er ging unter diesen Frauen wie mit einem heißen,
betrügerischen Schwindligsein an der Kante von Nächten, in denen große
Bäume wie im Wunder plötzlich aufblühten, tolle, flammende Abenteuer ihn
an sich rissen; und er glaubte, ihn hüllte eine ungemessene, unirdische
Romantik ein.

Sein Leben spannte sich in der weichlichen Nachgiebigkeit dieser
widerstandslosen Genüsse immer mehr ab. Es wurde etwas Molluskenhaftes
aus ihm; er spürte keinen festen Boden mehr, sank mit schaukelndem
Dahinleben durch die Tage.

Da kam der letzte Abend in Brüssel. Er war von Leprotto zu einer kleinen
Schlußfeier ausgestattet worden. Am Podium hingen einige Lorbeerkränze
ungenannter Herkunft mit golden bedruckten Schleifen. Girlanden
schlangen sich um die Stühle und Notenpulte, und Baptist spielte mit
einer feierlichen, parfümierten Sentimentalität.

Gegen den Schluß des Abends stand ein Solo für Baptist im Programm. Er
spielte das Lied des Bajazzo: ‚Lache, Bajazzo, und schminke dein Antlitz
...‘ Er konnte spielen mit dem dramatisch melancholischen Gehalt dieser
Melodie, zu der die Zuhörer auch den Text kannten. Er rückte selber an
die Stelle des unglücklichen Gauklers, er war selber der Spieler gegen
Lohn. Und die frisierte Melancholie, die er von zitternden Saiten in die
Herzen hinunterfließen ließ, sprang auf ihn selber zurück, wie die
Strahlen eines Reflektors.

Als er den Bogen hinter dem letzten Ton abhob, wurde mit lärmender
Begeisterung geklatscht und Evviva gerufen. Frauen und Männer erhoben
sich, drängten sich an das Podium heran, um Baptist die Hand zu drücken,
und Päcke von Blumensträußen wurden von allen Seiten heraufgereicht.

Die Italiener schauten mit harmlosem Neid neugierig diesen Begebnissen
zu. Rosa hatte dumme, bewundernde Augen. Nur Margherita blickte mit
einem verächtlich verzogenen Gesichte weg.

Baptist nahm einige der Buketts, reichte der Mutter Margheritas einen,
Rosa einen und wollte für Margherita einen besonders schönen aussuchen.
Während er dies tat, sah er, daß in allen zwischen den Blumen kleine
Visitenkärtchen befestigt waren. Auf einer las er in der Hast Mimi de
belle Vallee, auf einer andern Carmen l’Espagnole ... Da fuhr er hastig
nach den Kärtchen der beiden verschenkten Buketts, die die Frauen an
ihre Gesichter hielten. Aber Margherita kam ihm zuvor. Sie riß mit ein
paar Blumenköpfen die Karte aus dem Strauße Rosas und hielt sie Baptist
trotzig hin.

„Hurenbuketts!“ sagte sie zugleich schroff.

Aber Paolo trat heftig von hinten an sie heran und stieß sie derb in die
Seite. „Bist du verrückt! Mensch!“ schrie er sie unterdrückt an.

Sie machte nur eine verächtliche Handbewegung.

Baptist schaute verwirrt auf das rosige, schmale Kärtlein in seiner
Hand. Er las ein paarmal Juliette ... Juliette ... Sonst stand nichts
drauf. Aber die Buchstaben flogen an ihm ab.

Den Rest des Abends war er bedrückt und verworren. Er dachte mit einer
betäubten Benommenheit an Jeanne, an sein Studierzimmer in Luxemburg mit
den Bücherschränken, an den Park, aus dem der feuchte, wehmütige
Abendduft im September ins Zimmer gestrichen war, an den Nebel, der aus
dem Alzettetal heraufkam und durch den Park wanderte ... er dachte an
Erlebnisse aus seiner Kinderzeit und dann gleich wieder an seinen
Sündenfall, und eine ängstliche Qual schlich ihn heimlich an. Wäre er
allein, allein! Er wollte so ganz gerne weinen! Wieder einmal!

Als er mit den Italienern nach Hause ging, hörte er hinter sich, wie
Paolo heftig auf Margherita einsprach.

„Ich sag dir, jetzt gehst du zu Baptist hin und sagst ihm pardon!“

„Nein!“ schlug Margheritas Stimme zischend durch.

Gleich drauf schrie sie mit einem kleinen Schmerzensruf.

Da wandte sich Baptist um.

„Aber Paolo, was machst du denn?“

„Sie soll sich bei dir entschuldigen!“

„So laß sie doch!“

„Nein, sie soll!“

„Aber ich will nicht!“ sagte Baptist schreiend, um nicht weinen zu
müssen. „Sie hatte recht. Komm, laß sie!“

Dann ging er abseits und aufgeregt weiter.

Als er in sein Zimmer trat, sah er erstaunt, daß Rosa und Margheritas
Mutter ihm folgten. Sie hatten die Arme voll Blumensträuße, legten sie
auf seinen Tisch und gingen dann mit denen, die Baptist ihnen geschenkt
hatte, und mit einem Gute Nacht davon.

Baptist war nun allein. Die Blumen füllten im Nu das Zimmer mit ihrem
bittersüßlichen Treibhausgeruch. Und alle die Abenteuer erstanden aus
ihnen, die Baptist entflammt vom Wege genommen hatte, und er sah nun,
was es war. „Ihr wart ja nur Dirnen! Ihr Frauen!“ sagte er leise und
mild. „Nur kleine Prostituierte, von denen man auch hätte kaufen können,
für abgewägtes Geld, was ihr gabt. Es lag kein Reif mehr auf euch!“

Oh, diese knirschend schmerzende Enttäuschung, dieses graue, fröstelnde
Erwachen!

Baptist legte das Gesicht in den Blumenhaufen, und ein Schluchzen stieg
in ihm auf, wie märzlicher Odem rauh aus den Schollen bricht.

Als er wieder ruhig geworden war, nahm er sanft die Blumen zwischen
beide Arme und warf sie zum Fenster hinaus auf die Straße.

„Ihr müßt weg, ihr Blumen!“ sprach er ihnen nach.

Die Nachtfrische des Märztages fiel herein, strudelte wie kaltes Wasser
um seine Glieder. Baptist suchte alles Geld zusammen, was er noch hatte,
legte es auf den Tisch und setzte sich mit klappernden Zähnen hin. Er
zählte, rechnete seine Schulden zusammen, strich ab, und der Schrecken
sprang ihn grau und krampfhaft an, als er wußte, daß ihm kaum noch
zweihundert Franken blieben.

Wie geht es mir nun? Wie geht es mir nun? fragte er sich, von diesem
jähen Erwachen wie von einem Fall betäubt. In einem Atem schloß er das
Fenster, warf die Kleider ab, löschte die Kerze und duckte sich ins
Bett. Er ließ die kleine, graue Dunkelheit, in der etwas Licht von einer
Gassenlaterne ungelöst lag, schlaf- und wehrlos über sich niedersinken.
Der Duft, der sich von den Blumen im Zimmer eingenistet hatte, zog immer
wieder heran. Er stank süßlich nach feuchtem Saft und war wie ein
widerwärtig übersättigter Geruch von Sünde. Das riechende, raffende
Leben richtete sich daraus wie ein entsetzliches Fabeltier über seinen
Bettrand herüber, und Baptist zuckte verprügelt vor ihm zusammen. Er
floh unter die Leinentücher.

Aber er erwachte am Morgen mit einer neuen Zuversicht. Der Dicke mußte
jetzt eben bezahlen. Ja, und nun erst beginnt dann das Leben, das
richtige, große Leben ... Wenn er auch nun noch damit bestand, was er
selber verdiente, dann erst schloß sich der tätige, trotzige, schöne
Kreis!

Am Nachmittag reiste Leprotto nach Antwerpen, um Quartier zu besorgen
und Vorbereitungen einzuleiten. Er nahm den zweiten Violinisten und den
Klavierspieler mit. Die andern und Baptist sollten erst folgen, wenn ein
Telegramm sie rief.

Die drei Italiener waren noch nicht lange weg, als Baptist von seinem
Fenster aus Margheritas Mutter mit Rosa unten in der Gasse um die Ecke
davonschreiten sah. Er hatte den Wunsch, bei Margherita und Paolo von
seinem neuen Dasein zu sprechen, und wollte auch nachforschen, was sie
zu seinen Plänen meinten.

Er packte noch rasch fertig und verließ dann das Zimmer. Im Augenblick,
als er an die Türe der Männerstube klopfen wollte, öffnete sie sich und
Margherita kam heraus. Aber sie zog die Türe erschreckt hinter sich zu.
Ihr Gesicht flammte rot auf.

Sie wollte vor Baptist davoneilen.

„So bleiben Sie doch, Margherita! Ich will gerne etwas mit Ihnen
besprechen!“ rief er ihr zu.

Margherita blieb wie widerwillig im Flur stehen. Baptist schaute sie
wegen ihres merkwürdigen Benehmens verwundert und schweigend an. Da
sagte sie plötzlich heftig, ohne zu ihm aufzublicken: „Wir sind
schlecht!“

Baptist verstand ihr sonderbares Verhalten nicht. „Was ist denn,
Margherita? Ist etwas geschehen?“

„Nein, nein!“ antwortete sie schnell. Und nach einer Pause: „Sie sind
doch ein Gentiluomo, Baptist!“ Sie reichte ihm impulsiv die Hand. „Ach,
wir sind gemein und schlecht!“

In diesem Augenblick kam Paolo aus dem Zimmer. Er stellte sich an die
Wand zwischen die beiden, von denen er glaubte, sie unterhielten sich
über die Abreise, und sagte scherzhaft lächelnd, indem er Margherita mit
der Hand streichelte:

„Und in Antwerpen? Nun? Wirst du da auch soviel Glück und soviel Frauen
haben wie hier, Baptist?“

Baptist dachte an den Auftritt mit den Blumen und warf verächtlich und
geniert hin: „Ach _die_ Frauen! Faß’ keine an!“

„Nun, nun!“ begütigte Paolo, „Weil dir die Kleine das gestern so frech
gesagt hat, das ist nun nicht ...“

Und er liebkoste zugleich Margherita im Nacken. Es schien Baptist, als
strengte sich das Mädchen mit aller Gewalt an, diese verliebte Hand des
Mannes auf sich zu dulden.

„Nein!“ wehrte Baptist energisch ab.

Aber er hatte nun keine Lust mehr, mit den beiden über sich zu sprechen.
Er verstand auf einmal, was vorangegangen war und weshalb Margherita ihn
so verwunderlich betroffen an der Türe empfangen hatte. Peinlich berührt
machte er sich davon.

Schon am nächsten Vormittag kam das Telegramm: ‚Kommt sofort Hotel Fleur
d’Or Ruelle des Moines Leprotto‘.

Sie reisten am nächsten Nachmittag und erfragten sich in Antwerpen zu
der Ruelle des Moines durch. Es war ein Gäßchen, das dunkel, alt und
schmal sich in den Schatten der Kathedrale begrub, und das Hotel fanden
sie eng und klein, aber bürgerlich ordentlich wie der Prinz von
Flandern. Sie wohnten wieder wie in Brüssel, die Frauen zusammen, die
drei Italiener zusammen und Leprotto und Baptist nahmen jeder ein
Zimmerlein für sich.

Eigentlich hatte Baptist sich vorgenommen, gleich schon den Abend für
die wichtige Unterredung zu nutzen, die seinem Leben die große Wendung
bringen sollte. Es war ihm wohl außer Bedenken, daß der gemütliche Dicke
die Angelegenheit als etwas Selbstverständliches aufnahm. Aber
schließlich genierte es Baptist doch, so rasch schon die äußerliche
Formalität herbeizuführen, und er verschob es auf den nächsten Morgen.

Als er da Leprotto im Flur traf, wie jener gerade in sein Zimmer
eintreten wollte, erfaßte Baptist die Gelegenheit und schloß sich ihm
an. Er wollte die Geschichte in einer burschikos leichten Manier
erledigen, die ihrer äußerlich unwichtigen Form entsprach.

„Also, Sie müssen nun dran glauben!“ lachte Baptist den Italiener an,
als sie im Zimmer waren.

„Woran, woran glauben?“ fragte dieser.

„Ja, ich habe kein Geld mehr!“ entgegnete Baptist.

Da blieb der Italiener stehen, schaute auf, als hätte einer ihn
geschlagen, gegen den er nun anspringen wollte, und fragte schließlich
mit einem brutalen Betroffensein, in dem die Enttäuschung mitschrie:
„Ihr Geld – schon weg!? Ja, hatten Sie nicht mehr? Ja, wie haben Sie
denn gelebt? Sie?!“

Baptist glaubte, der Dicke scherzte mit ihm. Er sagte in demselben
leichten Ton wie vorhin und zuckte bedauernd die Schultern: „Unmäßig,
verschwenderisch! Sie müssen herausrücken!“

„So, so! Muß ich!“ ahmte ihn der Dicke höhnisch nach.

„Ja, Häuptling, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig!“

Aber da sagte der Italiener kalt und hochmütig: „Zunächst, Mann, bin ich
kein Häuptling, sondern Herr Leprotto, italienischer Kapellmeister.
Bitte zu merken!“

Da sah Baptist erst, daß es dem Schwarzen ernst gemeint war, und er
schrak zusammen. Kraftlos stotterte er: „Ja, ... aber ... was? ...“

Leprotto grub die Hände in einen Korb mit Wäsche, der auf dem Tisch
stand, und tat zunächst, als sei Baptist nicht da.

Nach einer Weile sagte er mitten in seiner Beschäftigung und ohne
Baptist anzuschauen: „Sie sind ja eigentlich überflüssig, da ich ja noch
da bin und die erste Geige nehmen kann!“

Baptists Herz setzte mit einer tonlosen wilden Angst springend auf und
ab. Seine Beine bebten heimlich, und er mußte sich an einem Stuhl
halten.

Leprotto drehte sich mit einem Ruck zu ihm und sagte schroff: „Will
sehn, was ich Ihnen gewähren kann!“

„Ja!“ antwortete Baptist mit einer kleinen Hoffnung bescheiden und
bittend.

„Fünfzehn Franken in der Woche. Der Wirt gibt Euch ja das Abendessen!“
warf ihm Leprotto kurz hin.

„Ja!“ antwortete Baptist wieder bescheiden und gleichmütig.

Der Italiener hob die Hand hoch, um anzudeuten, Baptist möchte gehen,
die Geschichte sei erledigt.

Baptist stammelte einen Dank und verbeugte sich linkisch. Sein Hals war
ihm zugeschnürt. Er ging sich in sein Zimmer aufs Bett setzen und
schaute bewegungslos in die verdunkelten Fensterlein. Er kam sich wie
gestürzt vor. Er war auf einmal unsicher und zaghaft, auf einmal klein
und bescheiden.

„O Gott, wenn er mich fallen läßt!“ rief er plötzlich laut, und die
Angst fauchte ihn an. Er drückte die Hände auf die Augen, um die
erschreckenden Bilder abzuwehren.

Bald wurde zum Essen gerufen. Auf dem ersten Stockwerk des Gasthofs war
eine kleine Stube nach hinten gelegen, in der man für die Italiener
allein deckte. Der Raum war gerade groß genug für die neun Leute. Sie
setzten sich um den Tisch, wie sie eintraten, und da die beiden Seiten
schon besetzt waren, als Baptist kam, nahm er den Kopfplatz an der Türe.
Zuletzt erschien Leprotto. Er tippte Baptist auf die Schulter und
deutete mit einer mißachtenden Bewegung des Daumens, er möge aufstehn.
Baptist fuhr im Schrecken in die Höhe und dachte: Jetzt widerruft er,
was er vorhin zugesagt hat.

Aber der Italiener schob ihn nur weg und setzte sich selber auf den
Stuhl. Baptist mußte beschämt und verwundet sich an den andern vorbei
zum Platz drücken, der noch am Fenster frei war. Er sah, wie Margheritas
Kopf aufzuckte und ihre Augen ihn fragend anschauten.

Es schwindelte ihm ein wenig. Die Gedanken zogen langsam und schwer in
ihm durch. Sie waren wie graue, niedrige, bedrückende Gewitterwolken,
voll Regen, voll Dunkelheit, voll Trübsinn. Baptist aß nur zum Schein
und hielt seine Blicke mit ermattender Scham an den andern, den Zeugen
seiner Schmach und seines Unglücks vorbei ins Leere geheftet.

Als die Italiener gegessen hatten, standen sie auf und verließen das
Zimmer. Er wollte ihnen folgen. Aber an der Türe faßte ihn Margherita,
die allein zurückgeblieben war, unversehens an der Hand. Sie schloß
eifrig die Türe, schaute Baptist an und fragte, indem sie ihn an den
Tisch zog und sich mit ihm niedersetzte: „Was ist geschehn?“

Baptist zuckte gequält mit den Schultern.

„Erzählen Sie mir’s!“ bat Margherita.

Und Baptist erzählte mit einer rauhen, wie zerrissenen Stimme, daß er
kein Geld mehr habe und zu Leprotto gegangen sei, und wie der es mit ihm
gemacht habe ...

„Ja, er ist ein Schweinehund!“ sagte Margherita hart.

Baptist schaute qualvoll zum Fenster hinaus in den lichtarmen Hof. Er
hatte die drängende Begierde, sich an das Mädchen zu flüchten. Aber
Margherita fuhr fort: „Er wollte dein Geld! Ich wußte es ja. Er dachte,
daß sich einmal die Gelegenheit fände, es zu bekommen, und meinte wohl,
daß du eine viel größere Summe hättest!“

„Was wird nun aus mir, wenn er mich fallen läßt!“ fragte Baptist. Er
vermochte den Druck nicht mehr auszuhalten und indem er dies sagte, nahm
er die Hände des Mädchens und legte hungrig nach Trost, wie ein
ausgetrockneter Acker nach Regen, heiß aufweinend, sein Gesicht drauf.

„Lieber, sei nicht so verzweifelt!“ tröstete ihn Margherita, indem sie
ihm sanft ihre Hände entzog und ihm übers Haar streichelte. „Das ist
doch noch nicht so finster, wie du es jetzt siehst! Komm, sei ruhig. Ich
setze mich für dich ein und paß auf ...“

Ein Dienstmädchen, das den Tisch abräumen kam, vertrieb sie dann.

                   *       *       *       *       *

Baptist erholte sich nicht mehr. Die Angst und die Verzagtheit blieben
in ihm festgebissen sitzen, auch noch, als sie schon in der großen
Restauranthalle spielten, die zur Feier der Ausstellung an der Ecke der
Avenue de Keyser und des Boulevard du Commerce errichtet worden war. Es
war ihm, als sei alle innere Festigkeit, aller Willen zum Mut aus ihm
herausgeflossen.

Sie spielten schon vierzehn Tage, als eines Morgens Margherita an seine
Türe klopfen kam, sie öffnete und ihm einen Brief hineinreichte.

„Da! Nehmen Sie rasch und lassen Sie sich nicht beim Lesen überraschen!“
flüsterte sie ihm geheimnisvoll zu.

Baptist riegelte sich ein. Er erschrak zu Tod, als er den Namen und die
nervös gedehnte, hastig fliegende Handschrift seines Vaters auf dem
Kuvert sah. Er riß es zitternd auf, ohne sich Zeit genommen zu haben,
die Adresse zu lesen. Zwei Briefe lagen drin. Er las den, der die
Handschrift seines Vaters zeigte, zuerst:

                                             „Luxemburg den 24. April.

Wenn Sie mir noch einmal einen Brief schreiben, wie den, welchen ich
hiermit zurückschicke, so hetze ich Ihnen die Polizei auf Ihren
Flohbuckel. Mein ehemaliger Sohn kann sich mit einem Pack herumschlagen,
mit dem es ihm beliebt.

                                                         Alois Biver.“

Der andere Brief lautete:

„Sehr geehrter Herr!

Weiß wo Ihr Sohn ist. Wenn Sie nötiges Geld zur Verfügung stellen,
könnte ich Ihnen wieder dazu verschaffen. Freundliche Nachricht sieht
bald entgegen

                                                    Hochachtungsvollst
                                                          E. Leprotto.

Postlagernd Hauptamt Antwerpen.“

Baptist empfing diese Briefe wie einen Schlag. Zuerst wollte er gleich
mit ihnen zu dem schwarzen Hund von Italiener stürzen, sich über den
Schuft werfen und ihn bis aufs Blut prügeln. Aber er sank gleich wieder
zurück. Er steckte die Briefe in das Kuvert und ging dann Margherita
suchen, um bei ihr Unterstützung und Anteilnahme zu finden.

Sie stand in der offenen Türe zu der Stube der Frauen und schien
gewartet zu haben.

„Wo ist der Brief? Was war’s?“ fragte sie hastig.

Baptist nahm ihn aus der Tasche.

„Da, lesen Sie!“

„Ich habe mir gleich gedacht, daß es etwas sei, als ich Ihren Namen und
Luxemburg las. Er hatte mich zur Post nachfragen geschickt, ob nichts da
sei!“

„Dann weiß er gar nicht, daß ein Brief gekommen ist?“

„Nein, wir werden sie auch gleich zerreißen!“

Baptist übersetzte ihr die Briefe rasch und flüsternd. Als er fertig
war, schaute ihn Margherita an.

„Was tun Sie nun?“ fragte sie laut und triumphierend.

Aber Baptist fand nichts zur Antwort, als ein weiches, geschlagenes
Armzucken.

Die Gemeinheit dieses brutalen Ereignisses verschlug während des Tages
in ihm zu einem unklaren dumpfen Grollen. Baptist war fassungslos und
wie verwirrt. Er fühlte sich von finstern Gewalten dunkel verfolgt,
sehnte sich nach einem Ausweg und zappelte gepeinigt, verwundet und
ermattet in der Fessel seines plötzlichen Schicksals. Die einzige Ruhe,
die er bekam, gab ihm Margherita. Er stand mit einer kindlichen Wärme,
mit einer ungefaßten, schwärmenden Dankbarkeit den Abend über neben ihr
auf dem Podium und wich auch nicht von ihrer Seite, als sie gegen
Mitternacht nach Haus gingen.

Auf einmal sagte Margherita in der dunklen Straße: „Ach, Baptist, ich
bin krank!“

Er beugte sich zärtlich geängstigt in der Dunkelheit zu ihr nieder.

„Was ist denn, Margherita? Kann ich helfen?“ fragte er besorgt. Aber er
sah, wie sie haltlos bebte, daß sich alle ihre Glieder schüttelten.

„Was fehlt dir? sag! Sag’s doch“, bettelte er erschreckt und
fassungslos. Sie antwortete nicht. Das Zittern schlug sie immer stärker.

Mittlerweile waren die andern herangekommen.

„Margherita ist krank, Paolo!“ rief Baptist den Italiener an.

Paolo fragte: „Was fehlt ihr denn?“

Aber Margherita antwortete nicht. Sie kuschte sich zusammen, als wollte
sie sich gegen das Zittern wehren, das wie Schläge durch sie fuhr.

„Ach was, es ist nichts. Weiter!“ sagte Paolo leichthin.

„Doch, doch!“ widersetzte sich Baptist.

„Also was ist denn?“ fragte Paolo noch einmal.

Als er keine Antwort bekam, befahl er barsch: „Nun mach, daß du weiter
kommst!“ und er stieß sie mit dem Knie ein Stück voran.

„Das ist ja roh!“ schrie ihn Baptist an. „Ich werde eine Droschke holen.
Kutscher, Kutscher!“ rief er aufgeregt.

Vom nahen Standplatz auf der Place de Meir kam ein Wagen heran. Es war
eine große, geschlossene Droschke.

„So!“ liebkoste er Margherita ängstlich, „jetzt kommt ein Wagen und dann
bist du bald im Bett und dann ist’s gleich wieder gut. Es ist nur
Schüttelfrost. Da, nimm meinen Mantel um!“

Die Droschke hielt am Trottoir. Baptist packte die kleine Frau in den
Mantel, hob sie halb auf und schob sie in den Wagen hinein, indem er
selber sich mit in den dunklen Raum neigte, um den Mantel gut um sie
wickeln zu können.

Aber als er sie auf das Polster niedergelassen hatte und die Arme und
den Körper zurückziehen wollte, fühlte er sich auf einmal festgehalten.
Das Gesicht Margheritas löste sich nicht mehr von dem seinigen. Ihre
Arme waren um seinen Hals geknüpft, ihr Mund hing an ihm fest, glühend
und verzweifelt, und küßte mit heißer Wirrsal seine Lippen, seine Augen,
wohin es ging, und mitten in diesem leidenschaftlichen Ausbruch, der wie
Flammen aus hilflosen Fenstern ihn anschlug und einhüllte, sang ihre
Stimme, wie ein zarter, sehnsüchtiger Vogellaut im April: „_Cuor mio!_
...“

Da wurde Baptist zurückgezerrt. Mit einem kurzen, derben Ruck war er
losgerissen von der Wohligkeit und der Milde dieses Erlebnisses, und
verzweifelt sank der bleiche, heiße Frauenkopf vor ihm zurück. Hände
gruben sich in Baptists Rücken und aufgereizt wie ein Tier, das fühlt,
daß es ihm ans Leben geht, raste er herum, hob die Fäuste gegen das
nächste Gesicht, das er im Laternenschein nicht gleich erkannte, und
schrie: „Was, was wollt ihr mit mir?“

Paolo sprang gegen ihn, brüllend: „Verräter, du Schuft, du Betrüger,
Verräter!“

Paolo weinte zugleich mit langgezogenen, rasenden Lauten, die zwischen
jedem Schimpfwort herausstachen wie Messerhiebe.

Baptist wollte ihn beruhigen: „Aber so hör doch, Paolo! Paolo, sei doch
vernünftig. Ich sag dir alles!“ machte Baptist sanft und faßte mit
beiden Händen den Erregten an den Schultern und zog ihn an sich heran.
„Paolo, wir wollen ...“

Aber da war es Baptist, als führe ein knitternder Schrei mit dem
gellenden Knattern eines grellen Donnerschlags durch seinen Leib
hindurch. Er wußte nicht, ob er selber oder ein anderer den Laut
ausgestoßen hatte. Seinen Mund fühlte er auf einmal weich und gewichtig
werden und gleich darauf löste sich sein Leib in eine schlafschwere,
widerstandslos erwärmte Müdigkeit auf, in der er sanft und rasend durch
funkelnd gestreifte Abgründe sank und sein Leben erlebte, als eine
unerhört süße und gewaltsam himmlische Erfüllung.

‚Das hat alles das Liebeswort Margheritas getan!‘ konnte er noch denken,
kurz und aufglühend wie ein Wetterleuchten hinter zackigen Bergfernen.
Dann war es aus und Finsternis.




                           Siebentes Kapitel


Baptist lag fünf Monate im Krankenhaus.

Nur mit zäher Bedächtigkeit schloß seine körperliche Widerstandskraft
die Wunde, die Paolos Stilett ihm zwischen den Rippen bis ins Herz
geöffnet hatte, und von den paar Armeleutebäumen, die im Hofe im
Schatten der hohen verrußten Ziegelmauern des Hospitals griesgrämig den
Sommer gefeiert hatten, sanken willig schon die Blätter, als Baptist zum
ersten Male aus der Stube und an die freie Luft gelassen wurde.

Er mußte dann noch in der ärmlichen Ordentlichkeit des öffentlichen
Krankenhauses wochenlang sorgfältig und von Anordnungen von Ärzten und
Krankenschwestern leben und wurde auf einmal an einem Vormittag auf die
Straße gesetzt.

Er war geheilt.

Baptist hatte eine Zeit müßig geduldigen Verdämmertseins hinter sich. Es
hatte stets alles bereitgestanden, was er gebraucht hatte. Aber in
dieser Armeleuteabteilung des Hospitals waren immer alle Dinge um ihn
herum geschehen, wie mit der knappen mechanischen Funktion eines
Automaten. Nichts war ihm genähert, das in ihm einen wärmeren Gedanken
aufgewirbelt, einen Widerstand angespannt hätte. Dadurch war in ihm eine
bequeme, außerhalb des Bewußtseins stehende Gleichgültigkeit bereitet
worden, in der er es als unglückselig empfand, daß er sich nun auf
einmal draußen dem windigen Lebenszug der Straßen anpassen und
selbständig dem Leben übergeben mußte.

Die aufreibende Verwundung und der zehrende Heilungsprozeß hatten ihn
schlank und mager gemacht. Er trug, als er durch die Rue de l’Hopital
auf die Kathedrale zuging, den Anzug, den er getragen hatte, als er ins
Spital gebracht worden war. Der Stoff bewegte sich in sackigem Übermaß
um seine hagern Glieder und schien ihn bei jedem Schritt in seine Falten
einwickeln zu wollen.

Baptist raffte mit der Hand die Weite der Weste zusammen, und seine
Finger spürten auf einmal die Naht, die das Loch schloß, durch das der
Dolch in seinen Leib gedrungen war. Als er sich am Morgen angezogen,
hatte er auch in der geplätteten Hemdenbrust und in der Unterjacke
dieselben geflickten Schnitte gefunden. Sie entsprachen alle der
schmalen roten Narbe, die über seiner linken Brustwarze lag.

Da dachte er an Paolo. Aber er dachte ohne allen Groll an ihn und nur
ein wenig traurig. Und er dachte ebenso an Margherita. Als hätte er sie
beide verloren. Als seien sie einmal so heftig und heiß nahe bei ihm
gewesen und als seien sie nun fort und davon. Er konnte sich nicht mehr
genau erinnern, wie sie aussahen. Obgleich er angestrengt in seinen
Gedanken ihre Gesichter suchte, fand er sie nur mehr als verflüchtigte
Bilder.

Die ganze Episode seines letzten Jahres war etwas zurückgesunken. Jedoch
erinnerte er sich mit einem müden, aber warmen Verlangen an die Frauen,
mit denen er in Brüssel davonging, wenn das Abendkonzert zu Ende war. Er
kam vom Krankenlager wie ein ganz trockener, leerer, leichter Schwamm.
Alle Poren weit auf, ausgewunden, durstig und hungrig, für alle neuen
Empfänge, für gute wie schlechte, wahllos offen und zittrig bereit.

An diesem Morgen, da ihn das Krankenhaus ohne alle Vorbereitung
entlassen hatte, war Baptist, als sei es sein gewohnter Weg, ganz von
selbst auf die Kathedrale losgesteuert und in die Ruelle des Moines
gegangen. Er trat in die kleine Stube des Hotels zur goldenen Blume, in
die es gleich von der Gasse durch eine Glastüre ging. Der Wirt kam auf
ihn zu: „Sie wünschen, mein Herr?“ fragte er. Er wußte nicht, wer der
Eingetretene war.

Baptist sagte: „Ich wohne hier!“

Da erkannte ihn der Wirt wieder. „Sie, Sie!“ rief er, als sei es ganz
unmöglich, und er schaute Baptist an, indem er ihn ins Licht drehte.

„Was hat man denn mit Ihnen gemacht?“

„Wissen Sie das nicht?“ fragte Baptist gleichgültig.

„Nein, nein, kein Wort. Wie sehen Sie aus! Als hätten Sie im Grab
gelegen! Und diese Wunde über dem Mund!“

„Über dem Mund?“ fragte Baptist und fuhr sich ein wenig erstaunt mit der
Hand an die Lippen. Er hatte im Krankenhaus niemals in einen Spiegel
geschaut. Als der Wirt ihn vor einen solchen führte, sah Baptist eine
rote Narbe, von der Backe aus über den rechten Mundwinkel bis ans Kinn
schneiden.

„So, so! Auch da!“ sagte er dann wie verwundert. „Das wußte ich nicht!“

Er erzählte dann dem Wirt mit kurzen Worten von seiner Verletzung. Der
kleine gemütliche Mann konnte kaum mehr zu sich kommen über solche
schwarze Schlechtigkeit und über solche unerhörten, heftigen
Geschehnisse.

Sie plauderten eine Weile über diese aufregenden Dinge, als der Wirt
plötzlich auffuhr.

„Nun erinnere ich mich, die kleine Schwarze gab mir damals, als die
Italiener weggingen, ein Paket für Sie. Sie kämen es holen! sagte sie,
und ich solle sehr, sehr darauf aufpassen! Das bring’ ich doch mal
gleich.“

Als er wiederkam, legte er ein langes, papierumhülltes und gut
verschnürtes Paket vor Baptist hin. Dieser band es bedächtig auf. Es war
seine Geige.

„Ja, meine Geige!“ sagte er, ohne darüber verwundert zu sein. „Es sind
ja auch noch andere Sachen von mir im Haus!“

Aber der Wirt schaute ihn mißtrauisch an.

„Ein Koffer mit Kleidern und Wäsche!“ fuhr Baptist fort.

„Ohne Kleider und Wäsche!“ sagte aber der Wirt auf einmal kühl.

„Ohne Kleider und Wäsche?“ fragte Baptist ruhig dagegen.

„Ja, sie haben einen leeren Koffer hiergelassen.“

Baptist schaute den Wirt an. „Wer?“ fragte er verständnislos.

„Ihre Italiener!“

„So, einen leeren Korb? Dann haben sie meine Kleider und alles
mitgenommen. Wo sind sie denn?“

„Verdamm mich, soll ich’s wissen! Sie sind schon im Mai, gleich als Sie
nicht mehr kamen, weggezogen.“

„Dann haben sie ja meine Sachen gestohlen!“ sagte Baptist wie
teilnahmslos. „Was mach ich denn jetzt?“

Den Wirt verließ nun doch sein Mißtrauen. Er faßte Bedauern zu dem
Rekonvaleszenten, dem seine Freunde so niederträchtig mitgespielt
hatten. Aber er wollte Baptist doch erinnern, daß er noch in seinem
Buche stehe.

„Wieviel ist’s?“ fragte Baptist.

... „Ja, ja ... es pressiert aber nicht!“ wehrte der Wirt.

„Ich hab’ kein Geld!“ sagte Baptist.

„Nu, vielleicht können Sie sich von irgendwo welches verschaffen. Oder
vielleicht haben Sie einen Vater, der mal einspringt?“

„Nein, ich habe niemanden, von dem ich Geld bekommen kann.“

„So!“ machte der Wirt enttäuscht. Als er ein wenig, wie überlegend,
geschwiegen hatte, sagte er: „Ich bin ein kleiner Mann, es sind doch
gegen hundertzehn Franken!“

„Ja!“ antwortete Baptist.

„Hm, hm! Ja, ja!“ Der Wirt drückte sich und wand sich. „Aber so eine
Garantie sagen wir, so eine Garantie, könnten wir nicht irgendwie so
eine Garantie haben?“

Baptist sagte: „Ich verkaufe meine Geige!“

Er sagte das teilnahmslos und mild, und es war doch ein Einfall, dessen
Ausführung ihm insgeheim wie etwas Ungeheuerliches vorkam; ihm vorkam,
als sprengte er damit seine Vergangenheit, seine Jugend, sein Elternhaus
in die Luft. Es war etwas Verbrecherisches, etwas Revolutionäres!

Der Wirt meinte sorgenvoll: „Ja, aber es sind hundertzehn Franken!“

„Die Geige ist viel mehr wert!“ hielt Baptist dem ruhig entgegen.

Da sagte der Alte beruhigt: „So, so, es ist ein gutes Instrument?“

Aber Baptist sprang ungeduldig auf, er kam sich vor, als säße er mit dem
ruhigen Alten in einer Schinderkammer. „Gehn wir! Zeigen Sie mir einen
Musikhändler, der sie vielleicht kauft,“ sagte er erregt.

Aber als die beiden draußen in der Gasse waren, hatte sich der Anfall,
der wie heißes Wasser über Baptist gestürzt war, wieder verlaufen. Sein
geschwächter Körper war übermüdet von der ungewohnten Freiheit, seine
Gedanken waren wie entfernt von ihm, wie abgetrieben. Sie lagen wie
vereinzelte Menschen auf großen Plätzen, faul und verloren und schlafend
in der Sonne einer rastenden Mittagsstunde.

Der Wirt schleppte ihn in einen kleinen dunklen Laden, in dem neben
allerlei Musikinstrumenten noch einige andere Sachen verkauft wurden;
ein kleiner Instrumentenmacher, der die Lage seines dunklen Winkels und
die Art seiner Kundschaft nützte.

Der Händler nahm die Geige und ging damit ans Fenster.

„Zehn Franken!“ sagte er.

Der Wirt erschrak. Baptist wandte gleichgültig ein: „Es ist eine
Aegidius Barzellini!“

„Nein, nein, Herr!“ entgegnete der Instrumentenmacher und Trödler, „es
ist eine Geige, weißt du!“

Baptist nahm die Geige sacht aus der Hand und bettete sie zärtlich in
den Kasten.

„Dann gehen wir wieder!“ sagte er zum Wirt.

„Zwölfeinhalb Franken!“ warf der Trödler dazwischen.

„Adieu!“ sagten die beiden und verließen den Laden.

Auf der Straße meinte Baptist: „Wir müssen in ein Musikgeschäft gehen,
in ein größeres Musikgeschäft.“

Als sie in der Kipdorpstraße in ein solches traten, begrüßte sie mit
verbindlichem Händereiben und Kopfnicken ein Kommis. Er nahm die Geige,
und tat, als zupfte und guckte er sachverständig dran herum.

Baptist warf hin: „Es ist eine Aegidius Barzellini!“

Diesen Namen mußte der Kommis schon gehört haben. Er schlug die Augen zu
Baptist auf und tat wichtig: „Ah, ah!“ dann kehrte er stracks um und
ging in den Raum hinter dem Laden. Von dort brachte er einen dicken
blonden Herrn mit einem Vollbart und einer goldenen Brille mit zurück.
Der nahm die Geige, beschaute sie ein Weilchen am Fenster und verschwand
dann mit ihr in dem hintern Raum. Kurz darauf hörte Baptist, wie in der
Ferne, Geigentöne aufklingen und gleich wieder verstummen. Das
wiederholte sich ein paarmal.

Nach einer Viertelstunde kam der blonde Mann zurück. Er sagte: „Guten
Tag!“ als er an die beiden herantrat, und fragte gleich hinterher: „Was
wollen Sie dafür?“

Baptist zuckte mit den Schultern.

„Zweihundertfünfzig Franken geben wir Ihnen!“

Der Wirt ließ ein feines Pfeifen hören, wie von einer Maus, so erstaunt
war er. Baptist wußte, daß für dieses Geld die Geige weggeworfen sei.
Aber er war mürbe. Die Verhandlungen und vorher das Herumlaufen wegen
der Geige kamen ihm unwürdig vor. Sie schlugen ihn. Er schämte sich.

Da sagte er: „Ja.“

Er bekam das Geld gleich ausbezahlt und ging mit dem Wirt der Fleur d’Or
rasch davon.

Als die beiden draußen waren, hob der Blonde die Geige noch einmal an
seine Brille. Er schaute noch einmal, wie zu einem behaglichen
Nachgenießen, in den Kasten, über das Saitenbrett. Währenddessen warf er
dem Kommis hin: „Es ist eine Aegidius Barzellini!“

„Ja, eben! Sapperlippopett!“ antwortete der verbindlich.

Da bemerkte der Blonde, daß tief unter das Saitenbrett ein Papier
eingeschoben war. Er arbeitete es mit dem Taschenmesser hervor, während
er den Kommis bat, die beiden zurückzurufen. Der junge Mann verschwand
eine Weile auf der Straße. Aber er kam allein zurück. „Nicht mehr zu
sehen!“ sagte er.

Der Blonde lächelte. Er hatte den Zettel auseinandergefaltet und
gelesen, was drauf stand. Es war italienisch und unbeholfen geschrieben
und hieß:

„Die heilige Jungfrau beschütze Baptist!“

Er kugelte das Zettelchen zusammen und warf es in eine Ecke. Dem Kommis
antwortete er: „Na, ist auch nicht wichtig!“ Dann trug er den erworbenen
Schatz mit einem tänzelnden Gehen seines kurzen, schweren Leibes in die
Räume hinter dem Laden.

                   *       *       *       *       *

Baptist eilte mit dem Wirt durch die Straßen, als drohten die Häuser um
sie herum zusammenzustürzen. Er sagte für sich: Nun bin ich ganz allein!
Aber er sagte bei jedem Schritt diesen selben Satz. Er sagte ihn so, als
schlüge er sich jedesmal damit. Es war ihm, als sei er auf einmal in
eine Schlucht heruntergefallen, seitdem er die Geige nicht mehr besaß.

Er ging immer schneller. Er sah nichts mehr um sich. Seine Blicke
verhüllten sich mit dunklen Tüchern. In seinen eilenden Beinen wurde es
unsicher und warm. Das tat ihm wohl. Auch seine Augen füllten sich nun
mit einem vollen funkelnden Dunkelsein, und auf einmal brachen seine
Beine mit einem kleinen wohligen Schmerz ermattet zusammen.

Er erwachte nach langer Zeit in einem kleinen dunklen Zimmer und in
einem weiß gedeckten Bett und war frisch gekräftigt. Aber zugleich mit
dem Bewußtsein der jungen Kraft stellte sich auch das Gefühl des
unausmeßbaren Verlassenseins ein.

Nach einer Weile öffnete sich die Türe zu Füßen des Bettes und eine
Frau, die er noch nie gesehen hatte, streckte den Kopf herein.

„Sind Sie wach? Sind Sie wieder gut?“ fragte sie.

Baptist bejahte.

Dann kam sie herein. Sie war eine mittelgroße Dreißigjährige mit einem
etwas eckigen Körper in einem sauberen bunten Leinenkleid und einer
weißen koketten Schürze. Ihr unregelmäßiges Gesicht, von dunklen Haaren
umrahmt, hatte zugleich etwas Grobes und etwas Leidendes. Es war blaß,
von feiner Hautfarbe und die Backenknochen sprangen derb vor. Die Augen
waren dunkel und in einem kalten Glanz verschwommen. Dicke Augenbrauen
spannten sich drüber. Sie sahen wie wild aus und herrschten machtbewußt
über das ganze Gesicht.

Die Frau trat nahe ans Bett heran und fragte, indem sie sich
niederbückte, noch einmal: „Ist’s wieder ganz gut?“

„Ich glaube ja!“ antwortete Baptist.

Da schnappte draußen eine Klingel ein paarmal auf und die Frau verließ
rasch das Zimmer. Währenddessen wühlte sich Baptist emsig aus den
Tüchern. Er hatte mit der Hose im Bett gelegen und seine Kleider waren
nebenan auf einem Stuhl geordnet. Er war dabei, sich anzuziehen, als die
Türe wieder geöffnet wurde und die Frau mit dem Wirt der Fleur d’Or
erschien. Mit einem herzlich familiärem „So, na, schon wieder auf!“ trat
der Wirt auf Baptist zu.

Baptist sagte: „Danke!“

„Ja, Sie müssen Fräulein Veroken danken. Die hat Sie in ihr Bett
gelegt.“

Baptist reichte der Frau die Hand. Sie umfaßte seine Finger mit einem
raschen Zudrücken und schüttelte den Kopf.

„Nicht nötig! Gern geschehn!“

Baptist zog sich dann ganz an, bedankte sich noch mehrmals und verließ
mit dem Wirt die Stube. Sie kamen durch einen kahlen weißen Raum, in dem
es nach Kohle roch und Stöße von Hemden auf weißen Brettern lagen, und
traten auf die Straße hinaus.

Das Fräulein begleitete sie bis in die Türe. „Auf Wiedersehn!“ rief sie,
als die beiden schon ein paar Schritte gegangen waren. Baptist drehte
sich um und grüßte noch einmal mit dem Hut. Da las er neben der Türe auf
einem runden, weißgemalten Blechschild: Alientje Veroken, Plätterin.

Es war nicht mehr weit bis zur Fleur d’Or. Dort reichte Baptist dem Wirt
all sein Geld hin. Der zählte hundertzehn Franken ab und schob Baptist
ein paar Gold- und Silberstücke wieder zu.

Baptist schaute ihn verwundert an. Was sollte das Geld? Er hatte doch
dafür seine Geige verkauft; alles Gute seines Lebens hintan geschmissen,
um seine Schuld zu bezahlen.

„Weshalb wollen Sie das nicht?“ fragte er den Wirt verstört.

„Aber lieber Mann, Sie sind mir doch nur hundertzehn Franken schuldig!“

Da verstand Baptist erst. Er steckte den Rest des Geldes resigniert in
seine Westentasche. Der Wirt ließ Essen bringen. Aber Baptist rührte es
kaum an. Bald ging er weg und wieder auf die Straße. Wie freigeworden
von einem Druck irrte er draußen umher.

Er kam an den Hafen und stand lange auf der Promenade, die über die
Lagerschuppen gebaut ist. Zwei große Dampfer luden ein und aus, und
Baptist sah unter sich die Arbeit in knirschender Raserei Land und
Schiff verbinden. Kleine berußte oder verstaubte Menschen tauchten immer
wieder irgendwo aus dem glatten Deck heraus, gingen ein paar hastende
Schritte und verschwanden wieder. Baptist sagte sich traurig: „Ach Gott,
vielleicht wärs das beste, wenn ich auch in solch einen Kasten
verschwände!“

Aber er lehnte sich gleich wieder auf gegen diesen Gedanken. Von seinen
heimatlichen Begriffen her hatte er von diesen Dampfern noch die
Vorstellung, als seien sie große, dunkle Behälter, in die all das
hineintauchte, was die Länder nicht mehr duldeten: die elenden
Flüchtlinge, die ausgebleichten Heimatslosen, Gesindel und Verbrecher,
die in dem rätselhaften Leib dieser schwarzen Schiffe mit sklavischer
Arbeit der Hände ihr verwirktes Leben in Dunkelheit bargen und
jämmerlich dahinfristeten. Und in einem dumpfen Sichausspannen wehrte
Baptist dieses ton- und lichtlose Arbeiten der Hände von sich ab, als
das rettungslose Versinken, als das letzte Sichaufgeben.

Aber er hatte mit dem Gedanken gespielt und er war an ihm haften
geblieben, wie ein Teerfleck, der immer wieder durch alles
hindurchschlägt. Baptist sah drunten die kleinen Leute, die aus den
Luken heraus an Deck krochen, wie Würmer, als seinesgleichen an. Er sah
sich in ihnen. So wie der! So wie der! sagte er von sich bei jedem der
berußten oder verstaubten Arbeiter, die auf den Schiffen erscheinen.
Aber schließlich lief er gepeinigt aus dem Bereich des Hafens hinaus.

Baptist war im Hafen wieder offener geworden für die Notwendigkeiten des
Lebens. Er ging in den ärmlichen Gassen umher und schaute aus, wo er ein
Zimmer mieten könnte. Er suchte nicht lange und nahm das erste, das er
sah. Es kostete fünfzehn Franken im Monat. Es lag in einem geschwärzten
Hof, war aber von bescheidener Ordentlichkeit. Er legte sich gleich ins
Bett.

                   *       *       *       *       *

Als Baptist sich zum ersten Male Wäsche kaufen mußte, wurde er darauf
aufmerksam, daß sein Geld fortfloß. Da begann er mit einer leeren,
tatlosen Angst zuzuschauen, wie Franken um Franken dahinschwand.

Und unversehens schaute eines Abends der alte Hunger einen Spalt breit
zu seiner Türe herein.

Baptist glaubte zunächst nicht, daß es ernst sei. Er dachte: ‚Ach, es
ist so ein wenig zum Bangemachen, wie so ein farbiger Flederwisch im
Kirschbaum für die Staare. Der Wind bläst ihm in die leeren Ärmel, und
selbst die Vögel glauben bald nicht mehr an ihn.‘

Baptist legte sich mit ausgebreiteten Gliedern mit dem Rücken aufs Bett
und unterdrückte den kleinen leeren Schmerz, indem er wie ein Frosch mit
den Beinen und Armen in die Luft hinaufturnte. Dann ging er emsig um den
Tisch herum und fuchtelte mit den Händen vor dem Gesicht, als schlüge er
Fliegen weg. Plötzlich brach eine heiße Welle aus seinem Herzen in den
Kopf und er legte sich mit geschlossenen Augen über die verschränkten
Arme auf den Tisch und dachte sich: ‚Wie ist es doch so roh, ein Kind
mit dieser Strohpuppe zu bedrohen!‘ Er erinnerte sich, daß sie zu Hause
als Kinder niemals die Suppe essen wollten und daß der Vater dann sagte:
„Vielleicht bist du noch einmal mehr als glücklich, wenn du eine solche
Suppe bekommst. Wart nur mal ab!“

Baptist sprang auf.

„Ja, ich wollte, ich hätte jetzt so eine Suppe von daheim!“ sagte er
laut und in einem widersinnigen Trotz. Und langsam kroch die Angst an
den Tischbeinen heran, wie Katzenpfoten, die mit ihren Krallen spielen.
Es war Baptist, als drückte etwas leise schmerzend und dunkel auf seine
Augen. Aber er erwachte gleich wieder, und etwas anderes fiel ihm mit
einem plumpen Fall in den Leib und bohrte sich schwer darin niederwärts.
Das war so gewichtig, daß es ihn auf den Boden niederzwang. Er stieß mit
den Füßen gegen das dickköpfige Ungeheuer; aber es hatte eine knöcherne
Haut. Seine Fäuste wollten nervig an den Hals greifen, aber die Muskeln
gehorchten nicht und schienen in einem feuchtheißen Beben zu schmelzen.
Da saugte sich der Mund des Hungernden bettelnd an das Holz des
Fußbodens fest. Es gab nichts ab. Er biß in die schwachen, leblosen
Hände, bis diese Schmerzen die Qualen des Magens überstiegen. Jedoch der
Sieg dauerte nur drei Augenblicke.

Baptist wimmerte leise.

Der Flederwisch war zu der alten, steinharten Legende geworden, die dürr
und grell wie ein Fels aus der Dunkelheit der Menschwerdung durch alle
Zeiten heraufragte, unvergänglich und unzerbröckelt mit den Zeiten wuchs
– der alte Hunger: Blut und Morde blühten zu seinen leblosen Füßen,
graue Qualen pfiffen wimmernd daneben, wie im Gras verborgen irrende,
verletzte Tierchen.

Diese widerstandslose, unsichtbare, entkräftende Fessel wurde Baptist
etwas so seltsam Unheimliches, daß es wie eine langsam niedersinkende
Mauer auf ihn eindrang. Er wurde, ohnmächtig den Einsturz erwartend, wie
ein Kind. Er plapperte: „Will Essen haben! Will Essen haben!“ Lallend
sagte er: „Bringen Kindi nix! Kindi krank, krank!“ Er schmollte: „’s is
gut! Kindi stirbt!“

Aber dann stieß er einen röchelnden harten Laut aus, kurz wie das
Zerknallen einer Blase und wälzte sich vom Boden auf. Mit zitterigen,
schwachen Beinen glitt er die Treppe hinab und schlich sich ausschauend
an den Häusern entlang durch die Gasse, in der die Laternen schon
leuchteten. An der Ecke rannte eine lärmende Gesellschaft junger Männer
an ihn. Im Nu hatten sie ihn ohne Absicht eingeschlossen.

Da zog Baptist seinen Hut ab und murmelte lautlos und blöde: „Gebt!“

Einer sah es.

Der legte Baptist die Hand auf die Schulter und sagte mit derbem
Wohlwollen auf Deutsch: „Hast du Hunger, armer Teufel?“

„Er hat Hunger!“ wandte er sich dann laut an die andern. Die
wiederholten: „Er hat Hunger!“, nahmen Baptist geräuschvoll in ihre
Mitte und zogen mit ihm wie im Triumph in die Kneipe hinein, die gerade
an der Ecke ihre Türe offen hielt.

‚Zur Loreley‘ hieß sie und die Matrosen waren hier gut bekannt.

„Vater Brix! Er hat Hunger!“ rief einer von der Gesellschaft über den
Schenktisch. „Was kost’ der Schinken!“

Aber er nahm ihn schon. Ein anderer brachte Gabel und Messer; ein
anderer Teller, ein anderer Brot, ein anderer Bier, ein anderer eine
Schnapsflasche. Und sie schnitten ab, gossen ein und schoben Baptist
alles hin.

Der saß mit einem kindlichen Lächeln da und fing an zu essen, wie ein
Mühlenkanal sein Wasser verschluckt. Sein Herz flog auf, wie ein
Luftballon. Er trank und aß und die Fülle um ihn herum kam ihm vor, wie
der goldene Überfluß herbstlicher Kornfelder, wie reiche Bauernhöfe, die
mit Schweinen, Hühnern und Kühen, Früchten und Mehl vollgestopft waren,
kam ihm vor, wie die sieben fetten Jahre Ägyptens. Die deutschen
Matrosen sangen um ihn herum, wie Indianer tanzend: „Trinke mer noch en
Tröppche ...“ und er mußte ihnen, das Essen unterbrechend, Bescheid tun,
einmal mit Bier und einmal mit Branntwein.

Als sich die Lärmfreude ermüdet hatte, und die Matrosen sich ruhiger um
ihn herumsetzten, und mit derber Herzlichkeit ihm zum Essen zuredeten,
bemerkte Baptist an einem andern Tisch einen Kreis junger Leute, deren
Gesichter er schon einmal gesehen haben mußte. Das viele Trinken hatte
seinen Blicken die Schärfe genommen und er konnte nicht mehr genau
hinschauen. Auf einmal erkannte er, daß die jungen Leute fortwährend zu
seinem Tisch herüberblickten und er drehte den Kopf weg. Aber in
demselben Augenblick wußte er, wer die waren, die dort saßen und ihn
anstaunten ... Es waren ehemalige Schulkameraden von ihm aus Luxemburg,
die das Studieren aufgegeben hatten und in Antwerpen in
Geschäftsbetriebe eingetreten waren.

Da schlug die Scham auf ihn nieder, wie mit einer versengenden Flamme.
Er rückte heimlich ans Ende der Bank und glitt zur Türe hinaus, lief
stolpernd die enge Gasse hinauf zu seiner Wohnung. Die Trunkenheit saß
mit einer weichen Unsicherheit in ihm, sie leitete ihn wie schwebend die
Treppen hinauf, in denen die Lichter schon gelöscht waren, und warf ihn
mild aufs Bett. Sie wickelte die Härte seiner verletzenden Vorstellungen
in eine weinerliche, süß schmerzliche Verschwommenheit und übergab ihn
bald sanft dem Schlaf.

Aber wie eine Vergiftung trug er durch die kommenden Tage diese
Begegnung mit den Landsleuten. Er war degradiert, er hatte gebettelt und
er gestand sich nun offen ein, daß er an jenem Tage in die schwarzen
Höhlen der Schiffe hätte hinuntertauchen sollen, um im Leben spurlos zu
verschwinden, wie die Fliegen, die einmal vor ihm an den Fensterscheiben
getanzt haben und von denen man dann niemals wieder etwas sah.

                   *       *       *       *       *

Und dann kam auch bald der steinharte, legendenhaft alte Tag, der ihm
das Dach über dem Kopfe nahm.

Es war eine kalte Novembernacht, in der er zum erstenmal kein Bett mehr
hatte. Er irrte in den schwarzen Gassen herum, betäubt und doch ruhelos,
wie in einem Kerker, und setzte sich dann auf eine Bank, ohne zu wissen,
wo. Er schlief ein wenig ein. Aber er wachte gleich wieder auf. Er
fühlte sich wie geprügelt. Die funkelnde Dunkelheit lag über den kahlen
Bäumen des Platzes, auf den er gelangt, und fiel eisig auf ihn
hernieder. Er war wehrlos. Er lief ein Stück weit gehetzt davon und
schluchzte mit dunklen, kurzen, flehenden Lauten, wie ein verwundetes
Tier, das am Sterben liegt.

Aber er überstand auch diese letzte, höchste Grausamkeit. Seine Kleider
verkamen. Die Menschen wichen schon etwas beiseite, wenn er sich ihnen
näherte. Er aß manchmal in der Volksküche, die im Winter umsonst Suppen
verschenkte. Er aß sie mit angeketteten Löffeln. Er hungerte dreiviertel
der Zeit. Es war ihm, als ränne sein Herz auseinander, und es entstand
eine dumpfe Leere in ihm. Wenn es dunkel wurde, suchte er instinktiv
eine geschützte Stelle zum Übernachten, in einer tiefen Haustüre, einem
Schuppen, einem Eisenbahnwagen.

Und einmal wurde er an solch einem Ort mitten aus dem Schlaf gerüttelt
und ohne daß er sich bewußt wurde, was geschehen war, davongezerrt und
in einen warmen dunklen Raum getan. Dort erwachte er erst bei hellem
Tag. Ein alter verbogener und blöd aussehender Mann lag neben ihm auf
der breiten Holzpritsche. Dann kam ein barscher Polizist herein, rief:
„Aufstehen! Raus!“

Der alte Lump, dessen Hosen und Jackenränder in Fetzen gefranzt waren,
rollte von der Pritsche herunter und lallte ein paar Flüche. Aber er
wälzte sich aufrecht und trollte zur Türe hinaus in den helleren Raum,
in dem zwei Polizisten saßen. Dort stellte er sich krumm und klein neben
Baptist auf.

Ein Polizist sagte: „So, da ist das alte Ferkel ja auch wieder! Laß ihn
doch! Jetzt ist’s Winter. Da wird er ja doch hoffentlich einmal
erfrieren. Lohnt doch das Papier nicht!“ Dann wandte er sich an Baptist:
„Auf welches Schiff gehörst du?“ Aber bevor er eine Antwort haben
konnte, schnauzte der Polizist weiter: „mach, daß du künftighin am Abend
in dein Schiff kommst, statt dich sinnlos zu besaufen. Das nächste Mal
gehts nicht so gelind ab. – Abmarschieren!“ winkte er mit der Hand.

Baptist ging nun neben dem kleinen alten Vagabunden durch die Straße.

„Hast du keine sechs Zenten?“ fragte der Alte lallend. „Es is so bannig
kalt. Möcht mal en lütten ingießen!“

„Ich habe nichts!“ antwortete Baptist.

„Dreckskerl! So ’n Dreckskerl! Weshalb hast du denn nichts, weshalb has
du nix für den armen alten Papa Ladstock? Die Beinchen wollen ja gar
nicht mehr, och die alten, alten kranken Beinchen! ...“ weinte er. Die
Tränen blieben aber in den farblosen Augen glänzend und festgeklebt
hängen, und Baptist fühlte sich vor Mitleid weich und warm werden.

„Wart, ich geh jetzt arbeiten, dann geb ich dir was!“ tröstete er den
Alten.

Aber da blieb der stehen und hob den schmutzigen, dicken Kopf zu Baptist
auf. Er rief empört und fuchswild, daß die Wörter eines über das andere
zu schnappen schienen, und sein zotteliger grauer Bart sich sträubte:
„Was! Arbeiten! Dreckskerl, Hundsgeburt, du willst arbeiten gehn!“

„Nein, dann nicht“, beruhigte ihn Baptist.

„So is man gut!“ sagte der andere getröstet und ging weiter.

Sie schlenderten dann stumm zu dem Hafen hinunter. Bei der Waeser
Station lehnten ein paar Vagabunden an einem Zaun. Papa Ladstock ging
geradeaus auf sie zu, und Baptist folgte, zögernd hinterher gezogen. Die
Vagabunden fröstelten, hatten die Hände in den Hosentaschen und traten
von einem Fuß auf den andern. Sie schickten alle einen scheuen,
verborgenen Blick hastig zu Baptists Gesicht hinauf. Aber sie grüßten
nicht und sprachen kein Wort. Vater Ladstock stellte sich schweigend
mitten zwischen sie an den Zaun. Da tat auch Baptist dasselbe.

Auf einmal sagte Ladstock, ohne sich zu bewegen: „Reich Vatern doch mal
die Katrine – och!“

Es war nicht ersichtlich, an wen er diese Worte richtete.

Zwischen der Gruppe entstand trotz des bisherigen Schweigens etwas wie
eine Pause. Aber langsam rückte dann eine Hand aus einer Hosentasche und
hielt eine kleine flache Blechflasche hin.

Vater führte sie auf ein Weilchen an den Mund. Er drückte sich nachher
wiederholt die Nässe des Bartes mit den zittrigen Fingern über die
Lippen aus und reichte Baptist die Flasche hin.

Baptist trank daraus.

Währenddessen fing einer an hämisch zu lachen. Vater schaute ihn
strafend an. „Wer?“ machte der Lacher, ließ den Daumen aus der
Hosentasche heraus und deutete damit auf Baptist.

„Hundsgeburt!“ wies ihn Vater energisch zurecht, und sein zotteliger
Bart sträubte sich, „Is mein Freund; mein Freundchen!“ Seine kleinen
Augen schauten zu Baptist hinauf und Zärtlichkeit schwamm in ihrem
wässerigen, farblosen Glanz.

Baptist empfand eine gerührte Liebe für den kleinen Alten. Aber er
bäumte sich gleich wieder auf gegen diese Gefühle. Sie legten sich mit
einer faulen und gemütlich saugenden Schwerfälligkeit über ihn nieder,
als wollten sie ihn ersticken, und er bekam Angst vor ihnen. Er dämmte
sie ein, indem er die andern Lumpen zu hassen begann. Sie waren etwas so
Gemeines, so etwas Ekles – Verbrechertum!

Da sagte er auf einmal trotzend: „Jetzt geh ich!“

„Wa – –? ’iebes Freundchen! wirst nich! deinen alten Kameraden im Stich
lassen? Wa, wa?“ jammerte der Alte und streichelte ihm mit einer
unbeholfenen groben Zärtlichkeit über den Arm. Die andern lachten roh.

Nun genierte sich Baptist vor der Liebe des Vagabunden fortzugehn. Aber
er dachte doch gleich daran, es heimlich zu tun, wenn sich eine
Gelegenheit böte.

In diesem Augenblick kam ein Herr aus dem Bahnhof heraus auf die
Gesellschaft los. Er setzte seinen Koffer vor den Lumpen nieder und
fragte: „Wer will mir ihn zum Staatsbahnhof tragen?“

Keiner rührte sich. Die Vagabunden traten weiter von einem Fuß auf den
andern und schauten an dem Fremden vorbei die Straße hinab, als stünde
niemand vor ihnen.

Da ging Baptist mit einem Ruck unversehens aus ihrer Mitte heraus, hob
den Koffer in die Faust und schritt davon.

Vater Ladstock stand da, als glaubte er’s nicht. „Wa, wa?“ lallte er.
Die andern fingen an zu schmunzeln und lachten dann laut heraus. „So ’n
Dreckskerl, so ’n Dreckskerl!“ wütete Vater los und sprudelte die
Schimpfwörter in seinen grauen Bart, daß die Haare wie in einem Regen
auf und nieder flogen.




                             Achtes Kapitel


Der Herr hielt sich unterwegs hart neben Baptist und untersuchte
heimlich und verwundert sein Gesicht und sein Wesen. Der Fremde war ein
blonder Mann mit hohen, schlanken Gliedern. Seine Haare fingen an grau
zu werden. Er trug einen korngelben, etwas wehenden Schnurrbart, nahm
lange Schritte, hatte eine freie, blanke Stirn und darunter ausschauende
helle Augen, eine schlanke Nase und ein starkes Kinn.

Sein Koffer war schwer. Baptist mußte ihn oft von einer Hand in die
andere gehen lassen und ihn schließlich erschöpft ein Weilchen auf den
Boden niedersetzen. Der Mann blieb indessen mit Baptist stehen und
schaute, als ob es ihn nicht interessierte, wie es mit seinem Koffer
zuging, zu den Dächern der Häuser hinauf und an ihren Fassaden entlang.
Diese stumme und untätige Duldsamkeit reizte Baptist. Er hob den Koffer
gleich auf und ging weiter. Als er wieder müde wurde, biß er die Zähne
auf die Lippen fest, als könnte er damit seine Kräfte anspornen und
aufrecht erhalten. Aber die Last wurde fast unerträglich. Sein
geschwächter Körper konnte ihr kaum noch widerstehen, und es kam ihm
vor, als seien seine Glieder ausgehängt. Da ließ er mit einem
knirschenden Seufzer den Koffer zu Boden gleiten und blieb stehen.

Auch der Fremde hielt zugleich seine Schritte an. Baptist fühlte, daß
jener ihn anschaute, und er wandte seinen Kopf weg.

„Sie!“ sagte da der Fremde mit einer Stimme, die so gütig bezwingend
klang, daß Baptist ihm die Augen zukehren mußte. „Wann haben Sie zum
letztenmal gegessen?“

„Gestern um zwölf Uhr!“ antwortete Baptist in Eile und ohne weitere
Überlegung. Es hatte nur den Zweck, rasch über die neuauftauchende
peinliche Angelegenheit wegzukommen.

„Das sind jetzt über vierundzwanzig Stunden her!“

„Oh, ich bin daran gewöhnt!“ Das sagte Baptist zunächst mit der
harmlosen Absicht, diesen unerwarteten Zwischenfall abzutun; aber dann
kam doch, ganz aus innerer Macht unversehens emporgeschleudert, ein so
höhnisches, empörtes und zitteriges Lachen hinein, daß der andere
ausrief: „Wer sind Sie denn? Sie sehen nicht aus, wie die, bei denen Sie
standen!“

Aber Baptist glaubte sich hinter einem querköpfigen Trotz verschanzen zu
müssen: „Sozusagen ein Vagabund, dem es nicht schlechter geht, als den
andern Kollegen!“

Der Fremde schaute ihn mit einem langen, suchenden Blicke an. Dann glitt
sein Auge weg und er sagte mild: „Wollen wir etwas essen gehen! Eine
halbe Stunde Zeit habe ich noch!“

„Nein, danke!“ wies ihn Baptist hartnäckig ab.

Da schwieg der Fremde. Baptist nahm den Koffer wieder auf und sie gingen
weiter. Aber bald blieb der Fremde stehen und bemerkte kurz und wie
obenhin, indem er seine Brieftasche herauszog: „Wenn Sie mal Lust dazu
bekommen, daß es Ihnen anders gehen soll, da haben Sie meine Adresse.
Wenn Sie dann vielleicht in der Gegend sind oder es gibt ja auch eine
Post, – helf ich Ihnen!“

Mit einem trotzigen und verächtlich zweiflerischen „Ho!?“ fuhr Baptist
mit der Karte in die Hosentasche. Aber während er weiterschritt fing er
rasch an, seinen hartsinnigen Trotz zu bereuen. Wie töricht war sein
verlumpter Stolz gegen den Edelmut dieses Mannes! Und wer war dieser
ernste, stolze Mensch, der so neben ihm ging und sich für ihn einsetzen
wollte, obgleich er ihn eben erst aus dem Kreise der Schnapser und
Vagabunden genommen hatte! War in ihm, dem Verluderten, denn noch etwas,
das zurückzeigte nach seinem Ehedem? ...

Baptist liebte den Fremden mit einer scheuen und ergebenen
Haltlosigleit, wie eine gütige Macht, die ihn warm anblies. Während er
den Koffer in der Hand neben jenem herlief, fühlte er sich wie ein Kind,
dessen Phantasie der Fremde die verlockenden Spiele von
Märchenerzählungen zuwarf. Das naiv Unbeholfene, das zärtliche
Abhängigsein des Kindes von der nährenden Phantasie des Erwachsenen
regte sich in Baptist ... Dieses stammelnde Verwundertsein und
verwunderte Zugreifen, das gerührte, schweifende Fabulieren, mit dem das
Kind die schönen Märchen in sich nimmt! Aber er war doch zu zerknetet,
als daß er die Kraft zu dem Märchen selber gefunden hätte: diesem
fremden Manne nun auf einmal in der kalten großen Stadt sein Schicksal
zu offenbaren. Er schlich nur nebenher, und sein Herz quoll wieder zu
einer kleinen, zagen Fruchtbarkeit auf.

Am Bahnhof nahm der Fremde ihm den Koffer aus der Hand.

„So!“ sagte er und reichte Baptist ein Fünffrankenstück, „Ich könnte
Ihnen mehr geben, denn ich weiß, daß Sie es gebrauchen. Aber ich pflege
nie eine Arbeit über Gebühr zu bezahlen, weil ich kein Almosen geben
mag.“

Daran hielt er Baptist zum Abschiedsgruß die Hand hin. Dieser war
darüber so betroffen und so erschrocken, daß er zunächst nur verwirrt
vor sich hinstieren konnte. Aber auf einmal überströmte es ihn, weh und
zärtlich, wild und verlangend; er bückte sich nieder und küßte die Hand
des Unbekannten. Dann stürzte er kopflos davon, und die Tränen sprangen
wie Brunnen in seinen Augen, während er durch die nächsten Straßen vom
Bahnhof weglief.

Als er sich schon wieder gefaßt hatte und die Wirklichkeit hobelnd über
das Erlebnis zu fahren begann, stand er auf einmal, von einem Schild
festgehalten, vor einem Haus. ‚Alientje Veroken, Plätterin‘ ... Aber es
dauerte eine kleine Zeit, bis er den Zusammenhang zwischen dem Schild
und sich gefunden hatte, und in dieser Zeit hatte Alientje durchs
Fenster geschaut, ihn gesehen und war schnell auf die Straße gekommen.

„He da, Herr!“ rief sie. „Man will wohl vorbeigehn?“

„Fräulein Veroken!“ machte Baptist und war froh erschrocken, so
plötzlich etwas Bekanntes vor sich zu haben.

„Nun kommen Sie mal auf einen Augenblick mit herein!“

Und als sie drinnen waren, fragte das Mädchen: „Und wie gehts denn
seitdem?“

„Gut und schlecht!“ antwortete Baptist.

„Aber mehr schlecht?“ sagte Alientje, und ihre starken Augenbrauen
hüpften einmal auf. Dann fügte sie unvermittelt hinzu, indem sie ihre
Stimme sanft und gefühlvoll machte: „Wer gibt sich aber auch mit solchem
Pack von Musikanten ab, Sie Kind!“

Baptist machte eine unentschiedene Gebärde mit dem rechten Arm. Es kam
ihm heute, seitdem er den Fremden verlassen hatte, nichts mehr
erstaunlich vor, und er fand es natürlich, daß diese Frau, die ihm einst
in einer Stunde der Not ihr Bett gegeben hatte, mit solcher
Selbstverständlichkeit an seine innersten Dinge rührte.

„Wie konnten Sie so etwas machen!“ beharrte Fräulein Veroken. „Sie
scheinen ja anderswoher zu sein, als wie Sie jetzt leben. Sie sind ja
noch ein Kind. Wie alt?“

„Dreiundzwanzig!“

Alientje schlug die Hände zusammen und legte sie dann Baptist schwer auf
die Schultern. „Dreiundzwanzig Jahre!“ rief sie aus, und ihr großer Mund
formte mit einer seltsam erregten Bewegung die beiden Wörter, so daß die
Fächer der kleinen Fältchen, die von ihren Mundwinkeln aus niederwärts
ins Kinn gingen, sich verstärkten und wie gekräuselt aussahen. „Sie sind
ja noch ein Kind. Sie brauchen ja noch eine Mutter! Sie sehen schlecht
aus. Haben sich wohl noch nicht ganz erholt von Ihrer Krankheit im
Spital? Wie leben Sie denn jetzt? Sagen Sie mal, wie leben Sie ...!“

Baptist freute sich an dieser Teilnahme. Aber was er in der letzten Zeit
erlebt hatte, war ihm in diesen Stunden unwirklich geworden unter dem
großen Wunsch, den der Fremde in ihn gesät hatte und den sein Herz wie
in einem Vorfrühling durch die Schollen trieb; und er antwortete mit
heißem Aufbegehren: „Ach, ich möchte so gern eine kleine feste Arbeit
haben!“

„Jetzt bringen Sie mir“, sagte Alientje, nachdem sie etwas überlegt
hatte, „einen Korb Wäsche zum St. Paulsplatz in die Taverne du Congo.
Das muß weg und ich mach’ dann die pressante Arbeit, die noch daliegt,
hinter mich. Dann kommen Sie zurück, und wir sprechen mal ordentlich
zusammen!“

„Ganz gern!“ sagte Baptist und das ‚ganz‘ klang mit einem Ton kindlicher
Herzlichkeit. Er war glücklich, schon wieder ein vorgemessenes Stück
Arbeit erledigen zu können. Er nahm den Korb, der mit einem roten Tuch
zugedeckt war, auf die Schulter und ging auf die Straße hinaus. Der St.
Paulsplatz lag kaum eine Viertelstunde von der Wohnung der Plätterin,
und Baptist trat in die Taverne du Congo ein.

Er kam in einen großen Raum, in dem jedes Plätzchen, das Tische, Stühle
und Lampen freigelassen hatten, mit Kuriositäten vollgestopft war.
Bilder von Schiffen waren von Gruppen seltsamer Holzwaffen umrahmt und
dazwischen stachen gewaltig verbogene oder unheimlich lang zugespitzte
Geweihe hervor, fremdartige Geflechte lagen unter ausgestopften
Rieseneidechsen, hühnenhafte Eier hingen von der Decke herunter, ein
paar Schiffsmodelle schaukelten leise im Luftzug, und ein farbiges
Gewölbe von Papiergirlanden hob sich über diesen Gegenständen und
verbarg die braune angeräucherte Decke.

Baptist ging auf den Schenktisch zu, hinter dem ein Mann mit klotzigen,
roten Armen Gläser spülte. Als dieser Baptist mit dem Korb sah,
trocknete er sich die Hände und sagte lebhaft: „So, Sie bringen die
Wäsche schon?“

„Von Fräulein Veroken!“ antwortete Baptist.

Der Wirt kam herausgehüpft. Er war ein kleiner solider Mann von
spaßhaftem Aussehen mit drollig lebhaften, kurz gehackten Bewegungen und
hatte eine erfreuliche rote Nase, die aus einem graugemischten Wust von
Bart herauskam.

„So! Das hält Leib und Seele zusammen in dieser Jahreszeit!“ sagte er
und goß aus einer dunklen Flasche Baptist ein Gläschen ein. „Nun wollen
wir mal schauen, ob sie auch nichts zurückbehalten hat, das Fräulein,
oder ob Sie nichts verloren haben unterwegs.“ Damit hob er Baptist den
Korb aus den Händen und stellte ihn auf den nächsten Tisch. Er zog rasch
Stück für Stück heraus, nahm einen Zettel von einem Nagel und rieb sich
die Nase, während seine Lippen leise gingen und ihre Bewegungen dem
Haarwust seines Bartes verstärkt mitteilten.

„_All right!_“ rief er schließlich. „_C’est juste_, stimmt, _è giusto_!“

Baptist gefiel der drollige Kerl. Er wollte sich mit ihm gut stellen und
sagte: „Sie sind gescheit, vier Sprachen!“

„Ja, was wollen Sie! Hier im Hafen! Und ich müßte dazu noch mindestens
chinesisch, japanisch, kasongolisch und maorisch können, um ein guter
Wirt zu sein, so wie’s Geschäft international wird!“

„Sie sind wohl ein Deutscher?“ meinte Baptist dazwischen.

„Weil ich mein Französisch mit kölnischem Akzent spreche, meinen Sie.
Freilich, ganz direkt aus Köllen, wenn Sie wissen, wo das ist!“

„Selbstverständlich weiß ich das und war schon dort!“ sagte Baptist nun
auf deutsch.

„Psst, psst! Nicht zu laut!“ machte der Wirt und spitzte die Lippen aus
der Wildnis seines Bartes heraus. „Es sind zuviel Deutsche hier in
Antwerpen, die gute Geschäfte machen. Und wenn man Taverne du Congo
heißt ...“ Aber er lachte hinterher wie eine losrasselnde Ankerkette.
„Nee, es is nich so gefährlich. Man verträgt sich ... Sagen Sie mal,
sind Sie so ein bißchen in die Sprachen rin?“ fragte er dann mit einem
andern Ton. „Sie sprechen französisch, wie _monsieur Boulanger de
Paris_.“

Baptist antwortete: „Ja, es geht, neben französisch und deutsch noch
italienisch, englisch und auch ein wenig flämisch.“

„So, so!“ sagte der Wirt. „Ja, ja! Und Lateinisch und Griechisch?!“
Dabei strich er sich pfiffig mit dem Finger über den Mund, an der
Stelle, wo Baptist die Narbe hatte.

„Bonn?“ fragte er dann mit einem verständnisvollen Kopfheben und einer
verschmitzten Sachkenntnis. Aber er fügte gleich bei: „Ihren Kleidern
sieht man keene fünf Sprachen mehr an. N...ja, es geht bisweilen, wie
der Preuß sagt, dreckig zu in Jottes schöner Welt. Das kriegt man in so
einem Hafen ja zu sehn. Wollen Sie eintreten in die Taverne du Congo?
Meiner fährt mir hinterlistig heut Abend nach dem richtigen Kongo im
Afrika drin. Dafür aber in Uniform. Anständiges Essen, ein Kämmerlein,
zwanzig Franken im Monat und dagegen ein bißchen Gläserputzen,
Stubenreinigen, Servieren und wenns scharf kommt, einem zu der guten
Luft des Paulsplatzes verhelfen. Nu schlagen Sie mal rin!“

Das tat Baptist. Er kam sich vor wie in einer Wunderkomödie, in der sich
alles Gute zum Schluß plötzlich überstürzt. Er bekam noch einen Schnaps.

„Morjen früh acht Uhr antrrräten! äh, äh!“ machte der Wirt militärisch
und schlug den dicken Zeigefinger an die knollig runde Stirn.

Baptist ging durch die Straßen und hielt den Kopf hoch. Er war gerührt.
Es war wieder Milde in sein Leben gekommen. Es erwartete ihn wieder ein
Kämmerlein, ein gedeckter Tisch, Menschen. Der frostige Dezembertag
wurde ein Frühlingstag und er schritt wie von einem Tänzchen getragen
leicht hindurch.

‚Das ist der Segen der Arbeit!‘ sagte er sich zwanzigmal auf dem Weg zu
der Plätterin. Wäre ich bei den Lumpen geblieben und hätte den Koffer
nicht getragen, so wäre ich nicht zu Alientje Veroken und nicht zu dem
kölnischen Wirt gekommen. Ob er’s nicht dem Fremden schreiben soll, daß
er nun in einer ordentlichen Anstellung arbeiten wird.

Da las er erst die Karte. Es stand drauf: Just Timmermann, Oevelgönne
bei Hamburg, Flottbecker Chaussee 77a.

Just! sagte er sich, hat die Wurzel von ‚gerecht‘, und Timmermann hat so
etwas von Balken, etwas eichen Aufgebautes ... Zimmermann!

So kam er zur Plätterin zurück.

„Ich glaubte, Sie wollten mich im Stich lassen!“ sagte sie mit einer
Miene zu schmollen, und die zwei Fächer von Fältchen falteten sich um
ihr Kinn auf.

Da erzählte ihr Baptist, was er derweil unternommen habe. Sie zeigte
eine lebendige Freude darüber und klatschte in die Hände, während die
dicken dunklen Augenbrauen leicht auf und ab zuckten.

„Als ob ich eine Vorahnung gehabt hätte!“ sagte sie. „Kommen Sie mein
Kind!“ und sie legte ihre Hand wie mit einer plötzlichen
überschwemmenden Herzlichkeit kräftig um seinen Arm und zog ihn mit sich
in das kleine Zimmer hinter dem vorderen Raum. Dort war es schon dunkel.
Als Baptists Augen an dieses schwere braune Licht gewöhnt waren, sah er
einen gedeckten Tisch mit Brot, Butter und Wurst und mit Bierflaschen.
In dem kleinen eisernen Öfchen brodelte ein Feuer, das lustig durch das
Luftloch in dem Türchen leuchtete und blaßgoldene hüpfende Flecken an
die dunkle Bettstelle warf.

„Für heut schließen wir das Geschäft!“ sagte die Frau dann, indem sie
sich die Schürze abband. Sie ging auf einen Augenblick hinaus, und
Baptist härte, wie der Schlüssel im Schloß der Straßentüre sprang. Als
sie dann wieder in der Stube war, schob sie Baptist auf einen Stuhl,
ließ die Läden vor den Fenstern herunter, zündete die kleine Stehlampe
an und setzte sich nahe an ihren Gast heran an den Tisch. Dann machte
sie Brot zurecht, goß Bier ein, sie aßen und tranken, während sie
Baptist nötigte zu erzählen, wie es in der Taverne gegangen sei.

Baptist saß wieder auf einem ordentlichen Stuhl in einem netten
Stübchen. Das Zimmer war so weichwarm. Das Feuer schnurrte plaudernd im
Ofen und durch das Lufttürlein sprangen die Lichtflecken an der dunklen
Bettstelle hinauf in die weichen Kissen, die über den Rand der
verhängten Lampenglocke hinaus heimlich grau im Schatten lagen. Neben
ihm saß wieder einmal ein Mensch, ein guter Mensch aus Fleisch und Blut,
den er mit den grausamen Stunden seiner letzten Wochen warm machen
konnte. Er sah Alientjes große, kühl glänzende Augen dunkler und inniger
werden an seinen Worten; sie kam unter seinem aufgeweichten, bittern
Erzählen innerlich ganz an ihn heran und in der warmen Berührung mit
ihrer Anteilnahme lösten sich die erlittenen Kümmernisse leicht und
flüchtig von ihm los.

Alientje war enger an ihn gerückt. Der Halsrand ihrer Bluse war noch von
der Arbeit her nach innen eingebogen und das nackte Fleisch ihres
sehnigen Halses schien warm und leuchtend aus dem Ausschnitt heraus. Ihr
Gesicht war von dem, was sie hörte, gespannt. Es hatte einen dunklen,
verwilderten Zug. Die Augenbrauen erhoben sich buschig und schwül darin
und zuckten in der Erregung. Die Frau horchte mit Bewegungen zu, die
sich wie unbewußt springend, wie hastig verlangend dem jungen Menschen
entgegenmachten. Ihr eckig sinnlicher Leib hatte ein vergessenes
Sichhinhalten.

Als Baptist auserzählt hatte, sagte er nach einer Pause, in der ihm die
Stimmung des warmen, heimelig verdunkelten Stübchens mit seiner
Bewohnerin leise umwogte: „Ach, hier ist’s so gut!“ Da legte die Frau
ihre Arme schwer um seinen Hals und glitt zu ihm heran.

„Du bist so schön!“ flüsterte sie ihm ins Gesicht. Er fühlte den
Frauenleib auf seine Glieder drücken. Ihr Atem flog ihn mit einem
feuchtbitteren, aufreizenden Geruch an und er legte seine Arme um sie.
Als seine Hand in dem dünnen Stoff des Kleides unvermittelt ihren Busen
spürte, sagte er sich, wie aus etwas Unklarem aufgeweckt: ‚Sie ist ja
eine Frau!‘

„Du siehst so vornehm aus!“ flüsterte sie wieder. Und ihr Atem strich
erregend warm über sein Gesicht. Er zog sie enger heran; er fühlte ihren
Leib, dessen Blüte schon im Vergehen war, mit rückhaltloser Weichheit
und doch wie steinigt auf seinen Gliedern, und er legte seinen Mund
kosend auf ihr Gesicht. Aber er traf ihre Lippen, die sich heftig auf
die seinigen schlossen, und er lag dann bei ihr in den schmiegsamen,
weichen Tüchern einschläfernd aufgereizt, wehrlos sich hingebend, warm
und dankbar.

                   *       *       *       *       *

In der Taverne du Congo am Paulsplatz fing Baptist dann an zu arbeiten.
Zuerst mutig und zuversichtlich und alle Gedanken von der angestrengten
Arbeit eingehüllt. Des Abends war er immer müde und stieg mit
zufriedener Ermattung, nachdem das Lokal unten geschlossen war, zu
seinem Dachkämmerlein hinauf und legte sich, gewiß des erfüllten
Daseins, in sein wackeliges Eisenbett. Das sichere, gutgenährte und von
körperlicher Beschäftigung erfüllte Leben stärkte langsam seine Glieder
wieder. Er fühlte seine Muskeln straffer, seinen Körper
widerstandsfähiger werden.

Die Kunden, die kamen, und die er gelegentlich bedienen half, waren der
Mischmasch der groben und abenteuerlichen, der einfachen und brutalen
Existenzen, die die Hafenstadt versammelte. Sie kamen und gingen. Nichts
blieb von ihnen zurück. Sie hatten meist viehische Manieren. Baptist
hörte sie ihre gemeinen Geschichten erzählen, sah sie in Streit geraten
und sich roh bedrohen; beobachtete, wie sie sich untereinander und den
Wirt zu betrügen versuchten, wie sie stahlen. Sie brachten ihre
verluderten Weiber mit, kosten sie ohne Scham und prügelten sich, wenn
sie betrunken waren, um diese öffentlichen Bälger, die gleichgültig,
welchem Sieger sie zufielen, mit tierischer Gedankenlosigkeit den rohen
Auftritten zuschauten.

So blieb Baptists Leben flach auf der Linie liegen, wie er’s am ersten
Tage an der Seite des Herrn Hasenklever aus Köln begonnen hatte. Er
fühlte sich manchmal wie schon leise durchsetzt von der brutalen
Atmosphäre, in der sich sein Leben vollzog, und er hörte auf, das
Unbestimmte, verlockend Weiterführende zu erwarten. Er tat seine Arbeit
mit einer ratlosen Gleichgültigkeit und Notwendigkeit. Aber er lag
rastlos und still seinen Pflichten ob und gewann sich die volle
Sympathie des Wirtes.

Jeden Montag Abend, denn die Montagabende waren Geschäftsflauten, hatte
Baptist Ausgehtag. Nach einiger Zeit nahm ihn Hasenklever an diesen
Abenden immer mit in seine Stube. Sie lag mit den Schlafzimmern der
Familie auf dem ersten Stockwerk. Sie aßen dann miteinander zu Nacht,
zusammen mit den beiden Töchtern des Wirts, die stille, einfache Mädchen
waren und ihre ganze Zeit zur Verwaltung der Küche gebrauchten. Wenn sie
dann nachher noch etwas beisammen saßen, benutzte der Wirt die ruhige
Zeit, nahm aus dem kleinen Eichenschrank auf der Kommode die Kasse und
die Bücher und machte mit Baptists Hilfe die Eintragungen der Woche. Bis
das erledigt war, ging es immer bis um die neun Uhr.

Baptist verließ dann das Haus und schritt schnell durch die Abendgassen
zur Sudermanstraße, in der Alientje wohnte. Er klopfte an den Holzladen
der Türe. Bald kam drinnen Antwort. Das Schloß knackte und er schlüpfte
in die Dunkelheit und in die Arme Alientjes hinein, die immer mit einer
gleich zufassenden, wie stürzend überschwemmenden Zärtlichkeit diese
Empfänge vollzog. Die beiden glitten dann aneinanderhängend in die
kleine Stube, in der der Ofen brodelte und goldene Flecken ins Bett
hüpfen ließ. Die großen Augenbrauen Alientjes gingen auf und ab und
Baptist spürte sie aufreizend an seinen Wangen, seinen Augen, seinen
Lippen. Wenn er sich dann an Alientjes warmen nackten Körper drücken
konnte und ihn so nach wortarmen und doch vollen Stunden sorglos erfüllt
und sanft hingegeben, der Schlaf überkam – das war Mitleid, Milde,
Flucht.

Von allem Persönlichen entfernt, waren diese wöchentlichen Nächte, die
ihm das Mädchen gab, wie ein Prinzip der Güte. Er wuchs in ihnen in den
Schoß des warmen Menschlichen, das mit vegetativ unbewußten Absichten
sich um die Paare schlang und sich wie Blitzableiter in die
Gewittergeladenheit der gewalttätigen Tage des Daseins richtete.

Baptist war der Frau deshalb mit einer gedankenlosen
Selbstverständlichkeit verbunden. Es war mehr als Liebe, das diesen Bund
zusammengefaßt hielt; es war der unbewußte, bescheiden gemachte Egoismus
seiner Jugend, seines Ruhebedürfnisses und seiner Angst.

Als er etwas Geld übrig zu behalten begann, brachte er ihr immer kleine
Geschenke mit, und es fing von da ab an, daß sie an den Abenden immer
ein wenig noch wohin gingen, in ein billiges Varietee oder in einen
Konzertgarten. Es war nun wieder Sommer und warm draußen. Alientje
putzte sich dann kokett und angestrengt auf.

„Kuck mal, Schatz,“ sagte sie eines Abends, als Baptist kam, „was ich
bekommen hab!“ und sie zeigte ihm eine kleine goldene Brosche.

„Ja, die ist schön!“ sagte Baptist, während er das kleine Ding in den
Fingern drehte und sich dachte: das hat mehr Wert, als alle die kleinen
Frankengeschenke, die ich ihr in einem Jahr geben kann.

„Und nun rate, von wem?“

Aber Baptist antwortete harmlos: „Wie soll ich das können!“

„Denk’ dir, der dicke reiche Bäcker drüben an der Ecke hat sie
geschickt.“

„Der Bäcker, weshalb?“ fragte Baptist teilnehmend.

„Ja, was meinst du, deine Alientje hat Verehrer!“

Sie zog ihre buschigen Augenbrauen mit einem Ruck hoch; die Fächer der
Fältlein zerrten sich auseinander und blieben auf einmal stehen, und der
Glanz ihrer großen dunklen Augen schimmerte lauernd und kalt entzündet
gegen ihn auf.

Baptist schaute sie verständnislos an. Sie stand da, und ihr Körper
schien sich selber überlassen ihm hinzuhalten. Das Gesicht war aus dem
Licht der Lampe heraus, aber die Augenbrauen beherrschten es um so
schwerer und aufregender. Ein kleiner Schmerz wollte auf Baptist
eindringen. ‚Was kam nun wieder?‘ fragte er sich.

„Wie meinst du das? Alientje?“ stammelte er ängstlich.

„Ja, ja!“ machte sie heimlichtuend, „Ich könnte alle Finger voll haben,
an jedem einen, auch der Uhrmacher drüben steht den ganzen Tag hinterm
Fenster zu schauen, und wenn ich ausgehe, kommt er immer in die Türe.
Und hier den Schal hat mir einer geschickt, von dem ich gar nicht einmal
weiß, wie sein Name ist.“

Der Schmerz hatte sich durchgefressen, und Baptist bettelte mit seinem
ohnmächtigen Blick: „Alientje!“

Da stürzte sie sich begehrlich über ihn und drückte ihn heftig
hinterrücks aufs Bett. Sie lag schwer auf ihm, und er spürte ihren
ganzen Leib, steinigt und zugleich verfließend, in seinem Körper. Sie
biß ihn in den Hals und sagte, als quölle es zitternd in ihr über:
„Liebst du mich denn?“ und ihr Atem schlug ihn an. „Du bist so schön und
stark! Liebst du mich?“ flüsterte sie.

Aber seit diesem Abend wiederholte es sich, daß Alientje von andern
Männern sprach. Bald war es in einer Kundenwohnung, daß der Hausherr
allein zu Hause war und sich unter den freigebigsten Versprechen
begehrlich zu nähern versucht hatte. Bald war es irgendeiner auf der
Straße. Ein starker junger Mensch oder ein eleganter reicher Lebemann,
der ihr bis zur Haustüre gefolgt war und nun öfter an ihrem Weg
angetroffen wurde oder ihr Blumen und kleine Geschenke schickte. Oh, und
es waren lauter schöne, breitschultrige und reiche Männer. Sie reizte
sich und Baptist mit diesen Erzählungen, die sie mit allen kleinen
greifbaren Einzelheiten ausstattete und sprang aus ihnen unmittelbar in
die Liebesausbrüche, mit denen sie auch Baptist in Flammen setzte.

Aber Baptist begann aus der unbewußten Sorglosigkeit und der
instinktiven Lust, mit denen er dieses Gut besaß, herauszugleiten. Er
wurde unsicher und bekam Angst; die einfache, primitive Angst zu
verlieren. Das Leben glitschte ihm wie ein Fisch durch die Hand. Er
hatte es erlebt, wie die Schwelle unversehens unter seinen Füßen
weggewichen war, als er schon glaubte, in dem neuen, stolzen Haus zu
sein. Der Boden rutschte. Er hatte eine dumpfe Angst, als kämen nun mit
dem neuen Verlust, der vor ihm drohte, das Grauen, als käme nun wieder
Heimatlosigkeit und Hunger und die höhnischen, verführerischen
Vagabunden – das Versinken ins Moor des unglückselig haltlosen Lebens.

Baptist gab jede Besonnenheit auf. Zitternd verrann jedes
Wirklichkeitsgefühl vor ihm. Alientje verband die fremden Männer, die er
als Agenten seines unglückseligen Schicksals ansah, immer mit
Geschenken, und der Gedanke hackte sich in ihm fest, daß er mit
Geschenken die böse Macht, die sich wieder näherte, versöhnen und
entfernen konnte. Er begann mit fieberhaftem Begehren nachzusinnen, wie
er mehr Geld bekommen könnte und rieb sich wund an der Ohnmacht, die
über ihm lag.

Einmal lehnte er sich auf. Während er Gläser auswusch, sah er, daß an
einem Tisch ein paar Leute miteinander in Streit zu kommen begannen. Da
fühlte er es brutal und gewalttätig in seinen Muskeln sich regen und er
hatte die unwiderstehliche Lust, in den Menschenhaufen hineinzustürzen,
den Streit, der noch wie der erst halbgelöste Stiel einer reifen Frucht
am Zweig drohend über ihnen hing, roh in sie herabzuschütteln und selber
blind zuzuschlagen. Dann malte er sich aus, wie ein einziger Fausthieb
gut gezielt treffen würde, was für gewaltsame Wirkungen er hätte. Diese
Vorstellungen bekamen etwas dumpf Schwerblütiges, eine wollüstige
Brutalität, die ihn hitzig dahinstieß. Baptist fühlte einen Menschenhals
in seinen Fingern und drückte zu; nicht in Wut, in kalt unbewußtem
Sichaufrecken von Leben gegen Leben. Und so diese Hunde von Männern
hinwürgen, diese Straßenkavaliere ...

Aber Baptist hatte den Einfall noch nicht ausgefühlt, als Hasenklever
herankam und ihm sagte: „Baptist machen Sie sich mal rasch auf, die
Wäsche von der Veroken holen. Das ist ganz vergessen worden und es ist
schon dunkel. Die wird bald zumachen.“

Als Alientje so plötzlich vor Baptist gebracht wurde, sah er, daß sie
bei seinem Wunsche, sich in den Streit zu mischen, nicht unbeteiligt
war. Und so war mit einem Schlag über dem Gläserspülen das Dulden in
Leidenschaft umgeschlagen.

Baptist lief durch die Gassen zur Sudermanstraße. Alientje hatte den
Laden schon an die Türe gehängt, aber den Schlüssel noch nicht
umgedreht. „Du?“ rief sie erschreckt, als sie Baptist plötzlich sah.
Ihre Augenbrauen standen in einem spitzen Winkel gezackt und die Augen
schauten in ihrem kühlen Glanz wie mit einem kalten Fieber. „Was willst
du denn?“ fragte sie unsicher und mürrisch.

Aber als Baptist ihr gesagt, er komme rasch die Wäsche holen, gewann sie
im Nu ihre Beherrschung wieder. Der Korb stand schon bereit. Sie machte
emsig herum, drückte ihn Baptist eilfertig in die Arme: „Na, denn
schnell, wenn Herr Hasenklever es braucht; denn schnell!“

Baptist ließ sich hinausschieben. Erst als er um die Ecke war, kamen ihm
alle Einzelheiten des Empfanges, den ihm Alientje gerade bereitet, zum
klaren Bewußtsein. Er hielt sie auseinander, versponn sie schnell zu
Vermutungen und im Nu fiel ein ganzes schweres Netz verbrennender
Verdächtigungen auf ihn nieder.

‚Was ist jetzt? was ist jetzt?‘ stammelte er laut für sich und wußte
nicht, daß er durch die Gassen lief. Er kam auf einmal auf den St.
Paulsplatz und sah die Taverne du Congo drüben liegen. Die Fenster des
ersten Stockwerks waren dunkel. Er schaute zufällig zuerst dort hinauf
und gleich saß, wie mit einem kleinen derben Ruck ein Haken ins Fleisch
gerissen wird, der Gedanke hitzig in ihm fest. Er dachte sich nichts
aus, lief über den einsamen kleinen Platz und glitt in die dunkle
Flurtüre, eilte lautlos die Treppen hinan und stellte oben den
Wäschekorb ab. Er schlüpfte in den Flur, in die Wohnstube, glitt
zwischen Tisch und Stühlen im Dunkeln zu dem kleinen Eichenschrank,
griff in die Kassette und zog einen Papierschein hervor. Er knüllte ihn
in die Tasche. Sein Atem blieb stehen. Aber im Nu war Baptist wieder auf
der Treppe, auf der Straße und ging durch die Wirtshaustüre in die
Schenkstube.

„Das war ja fix!“ empfing ihn Hasenklever. „Einen Extraschnaps, da!“ und
stellte ein volles Gläschen hin. Dann übergab er ihm den Gläserschrubber
und löste seine Tochter an den Bierhähnen ab. Das große Lokal saß voller
Gäste. An dem Tisch, den vorhin der Streit bedroht, hatten sich alle
umschlungen und sangen:

   „Brüderlich verei...ei...eint,
   Seg’ln wir in die Wä...ä...lt,
   Matrosen, hipp, hipp, hurra!“

„Ihr Geviech!“ sagte Baptist trotzig und drückte ein Glas in der Hand,
daß es zersprang. Hasenklever warf einen kurzen Blick herüber. „Die
Scherben unter den Tisch werfen!“ rief er. Baptist schleuderte sie hin,
daß sie in Splitter zerknallten. „Puh, puh,“ machte Hasenklever ohne
hinzuschauen und strich den Schaum von einigen Gläsern ab, „war’s
Alientje nicht freundlich?“

Baptist war den ganzen Abend über dunkel, trotzig und verbohrt. Er
arbeitete mit heftigen, geräuschvollen Bewegungen, um die Gedanken
hintanzuhalten. Die stauten sich hoch und gefährlich wie zu einem
niederschmetternden Wirbel bereit, rund um die dunkle Tat, die er eben
vollbracht hatte. Als er am nächsten Morgen aufstand und gedankenlos in
die Hosentasche griff, zog er einen Fünfzigfrankenschein hervor. Erst
wußte er nicht, was damit los sei, aber dann kam die Erinnerung mit der
klaren Grausamkeit aller Einzelheiten über ihn gefallen, und eine
marternde Scham begann sich in ihm einzunisten. Aber in einem Augenblick
schlug die Angst um die Frau in ihm hoch und ertränkte alles andere. Mit
einer gequälten Unruhe und einer angstvollen Traurigkeit ging er dann in
die Stadt hinein und zu dem Laden, wo das Jakett ausgestellt war, vor
dem ihn neulich Alientje mit begehrlichen Worten angehalten hatte. Es
kostete gerade fünfzig Franken, wie auf einem großen Schild zu lesen
war. Baptist trat in den Laden und ließ es einpacken.

„Wo dürfen wir es hinschicken?“ sagte das Fräulein. „Aber ich mache Sie
darauf aufmerksam, daß es heute nicht mehr wegkommt, weil Sonntag ist.“

„Ich nehme es selber mit!“ antwortete Baptist. Dann ging er rasch über
die Straßen, den Karton unterm Arm, zu Alientjes Wohnung.

„Baptist!“ rief sie, als er eintrat. Sie ordnete in den Wäschehaufen auf
den weißen Brettern, stellte aber gleich ihre Beschäftigung ein und kam
auf ihn zu. Sie zog ihn in die Hinterstube und drückte ihre Lippen lang
und hart auf seinen Mund, noch bevor er Zeit gehabt hatte, den Karton
abzulegen.

„Ich hab’ dir etwas mitgebracht!“ sagte er schließlich scheu.

Alientje öffnete und geriet in lärmendes, jubelndes Entzücken. „Baptist!
Baptist!“ rief sie immer, „Wie schön ist das! Wie schön ist das!“ und
sie küßte ihn mit einer lärmenden Wucht.

Aber er konnte kein Feuer fangen an ihrer Freude.

Nachdem es lange in ihm gearbeitet hatte, sagte er schließlich
schwerfällig: „Du darfst dich aber nicht mit andern Männern abgeben!“

Aber sie lachte nur oben drüber weg. „Tepp!“ antwortete sie, „Die
schaden dir nichts!“

„Doch!“ rief er brutal und herrisch.

Alientje aber klammerte ihre Hände an seine Schultern und zog sich an
ihm hinauf. Er spürte wieder ihren ganzen Leib und die Augenbrauen
standen wie gezückt.

„Nein, nein!“ flüsterte sie ihm ins Gesicht und küßte ihn. „Das reizt
mich ja nur mehr zu dir!“

Da preßte er sie an sich und stöhnte. „Ja, so, so!“ feuerte sie ihn an,
„noch fester!“

Doch Baptist sagte bedrückt: „Komm, wir sterben zusammen!“

                   *       *       *       *       *

Als Baptist am nächsten Abend auf Hasenklevers Stube saß und der Wirt
nach dem Abendessen Bücher und Kasse aus dem Schränkchen zog, da fühlte
Baptist, daß er kühl und stark wurde. Jetzt zur Wehr gesetzt! Jetzt alle
Muskeln angestemmt! hieß eine Stimme in ihm. Er wußte, daß er in diesem
Augenblick nun alles in sich beherrschte und er stand seiner Tat
gegenüber, wie eine gerüstete Armee gegen die Kriegserklärung des
nachbarlichen Feindes.

Baptist sah Hasenklever rechnen und eintragen. Der Wirt zog einen Strich
und aus seinem Bart kam mit halblauter Stimme eine Zahl:
fünfhundertfünfundsiebzig, die schrieb er dann unter den Strich und
setzte eine Summe davor. Er überrechnete noch einmal und nickte zum
Schluß mit dem Kopf, während er die kleine Kassette heranzog, sie leerte
und mit flüsternden Lippen, deren Bewegungen der Bart verstärkt
widergab, den Inhalt zählte. Dann sagte er mehrmals, damit sich die
Zahl in ihm festsetzte: ‚Fünfhundertfünfundzwanzig Franken,
fünfhundertfünfundzwanzig Franken‘ und blickte in das Buch. Er
schüttelte den Kopf und begann von neuem zu zählen. „Hol mich der
Deibel!“ rief er, als er fertig war, „Zählen Sie mal dieses Geld,
Baptist!“ Hasenklever stand auf und zog Baptist auf seinen Platz.

„Fünfhundertfünfundzwanzig Franken!“ sagte Baptist, nachdem er gezählt
hatte.

„Und nun schauen Sie hier und rechnen Sie selber das nach!“ Hasenklever
schob ihm das Geschäftsbuch hin, und Baptist bestätigte, daß die
Rechnung stimmte.

„Dann fehlen fünfzig Franken!“ sagte Hasenklever.

„Ja, der Unterschied!“ machte Baptist, indem er auf den Geldhaufen und
auf die Zahl hinter Summa zeigte.

„Sagen Sie, Baptist, gibt’s denn Diebe im Haus?“ rief Hasenklever
aufgeregt.

Baptist fragte kühl scherzend: „Meinen Sie mir oder meinen Sie mich?“

„Ach Quatsch, Unsinn, daß das nicht ist, wissen Sie, sonst täte ich hier
nicht so mit Ihnen drüber disputieren! Haben Sie nicht mal was bemerkt,
so irgend etwas Verdächtiges?“

Baptist schien nachzusinnen.

„Bei den Gesellschaften, die sich drunten immer herumbewegen, da ist
schließlich ein jeder verdächtig. Schließen Sie Ihre Türen immer gut
ab?“ fragte er dann, als habe er einen Einfall.

„Nee, is ja wohl wahr!“ antwortete der Wirt.

„Ja, aber Herr Hasenklever, das fordert doch die Vorsicht!“

Doch Hasenklever schimpfte los: „So eine Hundserei! Ich schenk’ einem
fünfzig Franken, aber ich will sie mir nicht stehlen lassen. Man will
doch seine Sicherheit und sein Vertrauen im eigenen Haus in jedem Zimmer
haben.“

„Sie sehen, daß dieser Wille nicht genügt!“ entgegnete Baptist
überlegen.

„Na, da muß auch das anders werden!“ rief Hasenklever zum Schluß.

Als Baptist dann durch die nächtigen Gassen zu Alientje ging, setzte er
mit einem trotzigen Spielen die Komödie, in der er sich droben in der
Stube so sicher gefühlt hatte, für sich fort. „O ja!“ sagte er sich
schließlich, „ich bin weit voran, das ist schon der richtige Weg!“

Aber er klopfte vergeblich an Alientjes Holzladen. Als der Schlüssel
nicht sprang, schritt er erregt in der Gasse auf und ab und kam immer
wieder zu der Türe, pochte ein paarmal leise, dann hieb er einen
ungeduldigen Schlag mit den Knöcheln, immer vergeblich.

Da ging er trotzig weg. Die Ungeduld fuhr ihm zitternd durch alle Adern.
Sein kühles Heldentum fiel langsam von ihm ab. Etwas Dunkles folgte ihm,
durch die engen, abgelegenen Gassen, in die der gröhlende Lärm der
Hafenkneipen nur wie mit zugebundenem Munde schlug. Es schleifte mit
einem leisen Krachen hinter ihm her, und Baptist ging die großen Straßen
aufsuchen. Über die Kipdorpstraße wandte er sich den Avenuen zu und
wurde sich schnell einig, in das Eden-Varietee in der Breydelstraße zu
gehen, wohin ihn Alientje öfter geschleppt hatte.

Als er eintrat, sprangen drei Tänzerinnen auf der kleinen Bühne des
Hintergrundes in einem hellen Licht, dessen Farben sich drehend
änderten. Baptists Augen, noch von der Dunkelheit der Nachtstraße
erfüllt, wurden durch das zitternde Glühen der gleitend aufschlagenden
Farben geblendet, und er trat, um sich zu schützen, seitwärts hinter die
erste Säule. Der Saal war ein flacher, rechteckiger Raum, der durch zwei
Reihen von holzumkleideten Kolonnen gedreiteilt war. Baptist blieb an
der Säule stehen, und seine Augen erholten sich schnell von den
Schlägen, die ihnen die grellen plötzlichen Feuer versetzt hatten. Der
Saal war verdunkelt, und die Menschen, die im Seitenteil an den Tischen
saßen, bewegten sich leise, mit der Bühne zugewandten Gesten als
schwarze Schattenmassen. Baptist schaute in diese dunkle Wirrnis hinein,
ohne etwas anderes zu sehen, als die Farben der Feuer, die in
verschwächtem und blassem Widerschein über die Wände hinaufliefen. Nur
immer, wenn ein helles Licht kam, wurden die Schattenmassen der
Zuschauer auf einmal ein wenig körperlicher.

Wie mit einem Schlage versank dieses Spiel, Bogenlampen knallten,
zischten und zirpten, und weißes Licht strömte plötzlich in die Schatten
und prägte sie zu lebenden Gestalten. Die Menschen klatschten, eine
Wollust des Lärmens raste in ihnen, hob und senkte sie leise wie Wogen.
Und in diesem erregten Spiel, das wie gewaltsam niedergedrückt über alle
Tische lag, sah Baptist auf einmal an einem Tisch vor sich Alientjes
schwarzen Hut mit dem roten Kranz von Mohn. Sie saß zwei Tische von ihm
weg und drehte ihm den Rücken. Sie drückte ihre Schulter an die Schulter
eines ganz jungen, bleichwangigen Menschen, der eine schmale, blutrote
Krawatte unter einem handhohen Kragen hatte und sorgfältig und eng
gekleidet war, wie ein Modewarenverkäufer. Alientjes bleiches Gesicht
war der Bühne zugedreht, und ihre großen dunklen Augen hingen mit kalter
Erregung dorthin gerichtet. Die Fältchen um ihr weißes Kinn waren wie
aus glühend erstarrtem Marmor. Ihre linke Augenbraue, die Baptist sah,
war in dem überhellen Licht schwer und schwarz hochgerichtet, und ihre
Hände klatschten rasch und krampfhaft ineinander, während sie sich immer
heftiger mit der Schulter gegen den jungen Mann andrückte. Der schob auf
einmal seine Hand hinter ihrem Rücken herüber und legte sie unter ihrem
linken Arm fest an ihren Busen.

„So!“ sagte sich Baptist, während er eine große Kälte sich schnell in
seinem Innern aufrichten fühlte. „Das wäre erledigt!“

Er drehte sich gleich um und ging auf die Straße hinaus. Er nahm den
geradesten Weg zum St. Paulsplatz und wurde im Dahinschreiten wie aus
Stein, hoch und schwer und kalt. Ein eiserner Hochmut hämmerte ihn
zusammen. Er kam sich vor, wie von einer ungeheuerlichen Einsamkeit
umgeben, wie von einer eisig kalten Freiheit aus der Scheibe seines
Lebens hochgehalten. Der Kreis dieser Gedanken lag eng und stählern um
ihn. Baptist verließ ihn über den ganzen Weg nicht.

In der Taverne du Congo sah er Licht in den Stubenfenstern. Er wollte
Zeugen seiner Härtung haben und er klopfte oben an. Hasenklevers älteste
Tochter saß mit einer Stickarbeit am Tisch.

„Darf ich eintreten?“ fragte Baptist.

„Gern. Es ist sogar erwünscht!“ sagte Fräulein Grete. Und ohne Umstände
hängte sie Baptist eine Strähne grünes Garn über die Arme und begann es
abzuwickeln. Baptist ließ dieses Geschäft sich vollziehen, als hätte er
nichts dabei zu tun. Er saß mit finster geballten Blicken auf dem Stuhl
und sah starr die grünen Fäden über seine Hände gleiten.

„Wissen Sie denn schon, daß Alientje Verokens Mann zurück ist und
drunten in der Stube sitzt?“ begann Grete Konversation zu machen.

„Wer?“ fragte Baptist rauh.

„Der Mann unserer Plätterin Veroken!“

Nach einer Weile fügte sie mit einem kleinen lauernden Blick hinzu: „Sie
kennen sie doch! In der Sudermanstraße die!“

Baptist knurrte: „Wußt’ nicht! ...“

„Daß sie verheiratet ist!“ rief das Mädchen gleich entzückt. „Ja, das
wußten viele nicht. Das ist überhaupt eine. Auf alle Wochentage hat sie
einen andern. Ja, ihr Mann war ihr in den Kongo davongelaufen, das wird
ihr jetzt noch lange nicht recht sein, daß er wieder hier ist. Oh, ich
sag Ihnen, das ist eine ...“

Baptist sagte kalt und roh: „Sie ist ein Luder!“

Das Mädchen hielt erschreckt im Abwickeln inne. Dann machte sie ein
beleidigtes Gesicht und schwieg. Als das Garn aufgerollt war,
verzichtete Grete, noch einen weiteren Strang von Baptists Händen
abzuwickeln und zog sich abweisend zu ihrem Kanevas zurück, auf das sie
Rosen mit grünen Blättern stickte. Die zwei saßen stumm und voneinander
getrennt.

Baptist wünschte bald Gute Nacht! Das Mädchen antwortete ihm kaum. Er
legte sich ins Bett und die Gedanken bewegten sich schwer in ihm, wie
Eisblöcke. Ihre Kälte hielt ihn wach.

„Und das gestohlene Geld!“

Das Eis war in der aufsiedenden Qual im Nu zerschmolzen. Baptist warf
sich ruhelos, grausam bedrängt auf dem schmalen Bett umher. Er dachte
gleich an die Diebstähle, denen er sich im Hause seines Vaters nicht
hatte entziehen können. Die Umstände, unter denen er dort Geld gestohlen
hatte, entwichen seinem Gedächtnis und er sah diesen als die Fortsetzung
jener Kette der sündhaften Schmach an. Er kam sich vor als ein
Gottverdammter, zum Verbrechen Verfluchter, ein Verächtlicher,
Verkommener.

Aber so oft sich in seiner Wirrsal die Erinnerung an den Betrug der
Plätterin hervordrängte, fühlte er sich trotzig ruhiger werden. Einmal
in einem solchen Augenblick der schrecklichen Stunden sagte er dann mit
lauter Stimme in hartsinniger Grausamkeit gegen sich selbst und sah
dabei den Schimmer einer ganz fernen Sehnsucht aufscheinen: „Ich stelle
mich dem Gericht!“




                            Neuntes Kapitel


Baptist ging in den frühen Morgenstunden nach dem Süden, wo der
Gerichtspalast lag. Das Leben der Straßen hatte noch etwas Taufrisches
vom Schlaf der Nacht her. Auf der Place Verte, die er bald kreuzte,
waren große Haufen von Gemüse aufeinandergeschichtet, welche die
Fruchtbarkeit des Waeslandes hereingeschickt hatte. Es lag noch Tau auf
den grünen Büscheln; sie waren üppig, fruchtbar und saftig, wie
mannbares Leben. Über den Platz zog der Turm der Kathedrale in den
morgenblassen Himmel hinauf, und seine Spitze war rosig von der neuen
Sonne, wie mit duftendem Reif belegt. Das alles sah Baptist und er ging,
in den dumpfen Kreis seiner märtyrerhaften Vorstellungen eingeschlossen,
der selbstbestimmten Sühne entgegen. Er klagte sich öffentlich an. Es
war eine dunkle Feierlichkeit in ihm, seltsam gemischt mit bitterer
Scham und einer weglosen Verzweiflung.

Es war halb acht, als er vor dem Gerichtspalast ankam. Er stieg die
große Treppe hinan mit einer mürrischen und trotzigen Entschlossenheit.
Im Treppenhof stand ein einsamer uniformierter Beamter bewegungslos wie
ein Standbild, und in den Gängen sah man kaum ein paar Menschen auf den
Bänken an den Wänden sitzen. Als Baptist den Treppenhof durchqueren
wollte, setzte das Standbild in Uniform plötzlich ein Bein vor. Wohin?
hieß dieser stumme kleine Schritt.

„Wo ist das Bureau des Staatsanwalts?“ fragte Baptist.

Der Beamte zeigte mit dem Daumen über die Schulter: „Viert’ Tür’
rechts!“ sagte er, als spräche er in die Luft hinein.

Baptist trat schwer in den Flur, in dem auf einmal ein kleines, hartes,
graues Licht war, das durch ein fernes Fenster im Grund herbeikam. Er
klopfte an der vierten Türe. Als er keine Antwort hörte, legte er die
Hand schwerfällig auf die Klinke und drückte nieder. Aber die Türe war
verschlossen.

Da ging er zu dem Beamten zurück und sagte ihm das.

„Gleich sa’n kön’! kom’ erst zehn!“ antwortete der ihm, feierlich trotz
seiner abgeknapperten Sprechweise.

Baptist verließ das Haus wieder, stieg die Treppen hinunter in die
Straße und ging finster der Stadt zu. Er wollte zur Taverne zurück, um
zunächst noch seine Morgenarbeit zu verrichten. Aber so wie er in seiner
dunkel und schwerfällig angetriebenen Bewegung sich der Strafe zu
stellen, auf einmal unerwartet aufgehalten worden war, verließ ihn der
finster geballte Grimm des Sühnenwollens wieder, der ihn festgehalten
hatte. Er war nun wieder nur der Mensch, der das Vertrauen anderer
getäuscht, der sich heimlich am fremden Eigentum vergangen hatte, der
verächtliche, verluderte Dieb. Diese harten Vorstellungen wirbelten
verbrennend in ihm herum und er eilte achtlos durch die Straßen. Er war
auf einmal auf dem Paulsplatz und ging quer hinüber auf die Taverne zu.
Wie unter dem Gewicht der eisernen Gedanken trug er den Kopf gebeugt.
Als er an die kleine Treppe kam, die zu der Wirtschaftstüre
hinaufführte, hob er ihn auf, und es erschien ihm eine Sekunde lang
merkwürdig vertraut, daß eine junge schlanke Dame mitten in der Straße
auf ihn zukam.

Aber in demselben Augenblick, wo die Dame wie gewaltsam angehalten keine
zehn Schritte von ihm weg mit dem Kopf in die Höhe zuckte – erkannte er,
daß es seine Schwester war, die dort vor ihm erschrocken zurückfuhr.

Da wurde er von einem schweren Schlag seines Herzens getroffen, daß er
sich aufbäumte wie eine Woge, die gleich vornüber niederzubrechen droht.
Aber im letzten Augenblick fand er eine verzweifelte, trostlose, leise
wegschiebende Gebärde mit der Hand. Er sprang die Treppen hinan und warf
sich in die Türe hinein. Die Scham goß sich wie heißes, nasses Blut über
sein Gesicht. Er drehte sich nicht mehr um.

Drinnen stürzte er wie gestoßen zwischen den Tischen hindurch, bis er
Hasenklever hinter dem Büfett arbeiten hörte. Da blieb er stehen. Das
Lokal war ganz leer. Er drehte dem Wirt den Rücken und versuchte
seitwärts mit einem scheu verbrannten Blick durch die Fenster die Straße
zu erreichen. Er hörte, wie die Arbeit hinter dem Büfett auf einmal
aufhielt, wie Hasenklever mit ein paar langsamen, neugierigen Schritten
hervorkam und dann stracks zu den Fenstern eilte.

Hasenklever pflanzte sich dort auf. Er sah eine elegant gekleidete junge
Dame mitten auf der Straße stehen und ein kleines weißes Taschentuch
erregt an die Augen pressen. Er konnte deutlich erkennen, wie das
Schluchzen sich in ihrem Körper bewegte. „Deibel, Deibel!“ knurrte
Hasenklever in seinen Bartwust, „Was ist denn nu das wieder?“ Das
ungewohnte Bild vor seiner Türe war ihm doch etwas zu kasongolisch, wie
er sich ausdrückte. „Baptist, Sie Mensch,“ rief er hitzig, „so kommen
Sie doch mal heran, ob Sie schon so was gesehen haben! Am hellen Morgen
steht ein Mädel draußen und plärrt den Sankt Paulsplatz an. Und hol mich
der und der, das arme Frauenzimmer ist nicht aus unserer Gegend. Das ist
was Feines!“

Baptist stand erstarrt in der Mitte des Raumes an einen Tisch gedrückt
und sah seine Schwester draußen weinen. Und Hasenklever hatte noch nicht
ausgesprochen, da kam eine Welle an Baptist heran, hob sich an ihm hoch
und glitt über ihn nieder. Heiß und unwiderstehlich schwer drückte sie
ihn in die Knie. Er warf sich mit dem Kopf über den Tisch und schluchzte
es heraus: „Es ist meine Schwester!“

Hasenklever fuhr herum und kam langsam herzu. Erst war er etwas
fassungslos vor dem langen starken Burschen, der weinte, und er rieb
sich eine Weile seine rote Nase. Als sie ganz warm war, zupfte er seine
Schnurrbartspitzen aus der Wildnis des Backenbartes heraus. Dann legte
er unbeholfen seine dicke Hand auf den Rücken des Weinenden, und
schließlich hatte er’s gefunden.

„Aber nu hör’ doch mal Junge!“ sagte er so leise, wie er konnte, „Wer
geht denn weinen, wenn er seine Schwester wiedersieht! – hat sie dich
reingehn sehn?“ fragte er dann rasch.

Als Baptist Ja nickte, hüpfte Hasenklever auf: „So mein Sohn, jetzt geh’
ich sie stante pedante vom Paulsplatz rein zum Brüderchen in die Stube
holen. Dann fallt ihr euch um den Hals und küßt euch und weint ein
Grützchen zusammen hier drinnen.“ Hasenklevers schwere Stimme begann ein
wenig zu schwanken wie ein Seiltänzer, dem das Seil unter den Füßen ins
Schaukeln geriet. Aber er stieß sich mit der Faust auf den Bauch und
sein Gemüt war wieder im Gleichgewicht. „Ja, jetzt geh ich schlankweg!“
sagte Hasenklever bestimmt.

Baptist lag die erste Weile wie gelähmt über den Tisch. Er hörte den
Wirt davongehn, und das Entsetzen schnürte ihm die Glieder ein. Er wäre
gerne aufgesprungen und hätte sich an ihn festgeklammert, hätte ihn
erwürgt, damit er nicht hinauskonnte. Nur das nicht, nur nicht das
Schwesterlein an seinen Schmutz rühren lassen! das stand unverrückbar
versenkt in ihm, wie ein eiserner Obelisk.

Auf einmal, als Hasenklever schon nach der Türklinke faßte, gewann
Baptist die verzweifelte Kraft über sich. Er ergriff das gewaltsamste
Mittel, das er im Feuer des Augenblicks fand, und schrie: „Ich habe Ihre
fünfzig Franken gestohlen!“

Hasenklevers Hand blieb in der Schwebe auf dem Weg zum Türgriff. Er
drehte den dicken Kopf über die Schulter, das Blut stieg in seinem
Gesicht hoch und rötete es bis in die Wirrnis des Bartes hinein.
„Bürschlein!“ brüllte er auf einmal, drehte sich um und kam langsam
heran, die schweren Arme, an denen die Hemdsärmel bis über die Ellbogen
heraufgestülpt waren, etwas an den Hüften hochgezogen, wie zum Angriff.
Er blieb unbeholfen atmend vor Baptist stehen, und der ganze kleine
schwere Leib war angehalten behende Wut, die nur eines blitzschnellen
Druckes braucht, um loszurasen.

Baptist wiederholte mit leiser, ergebener Stimme: „Ich war’s!“

Auch ihm stieg das Blut über die Wangen, die Augen und die Stirn, heiß
und qualvoll. Er fuhr rasch fort: „Ich war gerade auf dem Gericht, um
mich zu stellen deswegen.“

So einen Tag hatte Hasenklever noch nicht erlebt. Die Wut rann heimlich
und unversehens aus ihm davon. Es ward leise schwindlig in seinem
schweren einfachen Kopf, und er sah wie betreten, daß er zwischen dem
Bruder hier drinnen und der so vornehmen Schwester draußen stand, wie
zwischen zwei dunklen, gefährlichen Dingen voll unglücklicher Rätsel.
Unvermittelt trat er etwas beiseite. Die Überlegung versagte ihm den
Dienst. Er suchte und suchte und fand den Hebel nicht, der die gestörte
Maschine wieder in Gang bringen konnte. Schließlich fluchte er einen
„Deibel“ herbei und sagte mit bekümmerter, sorgenvoller Stimme: „Komm,
wir wollen mal einen Schnaps zusammen trinken!“

Er kippte das gefüllte Glas mit einem kurzen Ruck zwischen seinem Barte
um und setzte es leer auf den Tisch. „Noch einmal!“ murmelte er und
wiederholte das kleine Manöver. Dann schaute er Baptist an, zuerst etwas
scheu, und dann sagte er sich, daß er ihn gern habe und ihm wohl eine
seiner Töchter gebe. Es war ihm schwierig, nun diese Angelegenheit
wegräumen zu müssen. Schwerfällig fragte er: „Also du warst’s? Ist das
denn nu auch ganz gewiß?“

Baptist winkte: „Ja.“

„Wo ist denn das Geld?“

„Es ist fort. Es war nicht für mich!“ antwortete Baptist scheu.

Da wurde es licht in dem schwerfälligen Kopf des Wirtes.

Ja, fast lächelte er, daß er seinen geliebten Baptist so reingewaschen
sah. „So, so!“ tat er tröstend. „Na denn is nich so schlimm. Wofür war’s
denn?“ Er schaute zugleich zu den Fenstern hin und machte schon einen
Schritt auf die Türe zu. Aber die junge Dame war nicht mehr draußen. Der
Paulsplatz war ganz menschenleer und trug nur die Sonne, die von den
Dächern aufs Pflaster herunterglitt. Hasenklever war sehr enttäuscht.

„Das mag ich nicht sagen!“ antwortete Baptist mittlerweile.

„Nu, fort ist fort. Auch egal. An fünfzig Franken gehen wir nicht
kaputt. Besser das, als wie ’n Bein gebrochen. Wollen uns wieder
vertragen!“ sagte er herzlich. Er fühlte sich von einer drückenden,
dunklen Last befreit, daß sich die Angelegenheit nun so klar darbot. Er
meinte noch: „Und es bleibt ganz zwischen uns. Da, Hand drauf!“

Aber Baptist schaute betroffen auf. Dann schüttelte er eifrig den Kopf.
„Nein“, sagte er erregt.

„Ja, was nun wieder: nein!“

„Ich stell’ mich dem Gericht. Der Staatsanwalt ist nur noch nicht
dagewesen!“

Da starrte ihn Hasenklever an. „Helf mir der Heiland, ich muß noch einen
Kümmel heben!“ sagte er. Als er das Glas wieder leer hingestellt hatte,
faßte er Baptist beim Handgelenk und zog die Uhr unter der Schürze
hervor: „Du hast wohl Fieber, Mensch – Ne, ne, seinen alten ‚Patron‘ so
zu plagen!“

Baptist wurde durch diesen Scherz so wundersam, ja lieblich gerührt, daß
er es ganz warm in sich werden fühlte und dem kleinen dicken Mann gerne
um den Hals gefallen wäre. Er stammelte ihn an, die Erregung seines
Gemütes hielt ihn strampelnd zwischen Lachen und Weinen hoch. Aber er
wurde unvermittelt ernst und er erzählte Hasenklever, wie er um seine
Tat litte und daß er sie sühnen müsse. Aus diesen schwerblütigen Worten
glitt ein Schein in das Verständnis des Wirtes, der selber keine
sturmsichere Jugend gehabt hatte und selber oft ohne Grund unter den
Füßen umhergetrieben war. Er erkannte einen Schimmer eigener Erlebnisse
in der Erzählung des andern, ahnte Zusammenhänge und Notwendigkeiten und
er nickte zustimmend. Nur daß das öffentliche Gericht die Angelegenheit
erledigen müsse – dagegen wehrte er sich absolut. „_Die_ Schmach geht ja
nimmer weg!“ sagte er. „Eine Verurteilung, das klebt wie Teer, und das
ist diese Kleinigkeit doch nicht wert. Hol mich die ganze Hölle! Junge
sei doch bei Trost!“ Hasenklever kam in Eifer und trumpfte noch einmal
auf: „Hol mich Beelzebubs Großmama! verrückt! Ich muß als Zeuge hin, und
ich sag’, ich vermisse keine fünfzig Franken bei mir. Da hast du’s!“

Vor diesen Schwierigkeiten stieg allmählich ein anderer Gedanke in
Baptist auf: er könne in die schwarzen Löcher der Schiffe verschwinden!
Aber er sagte Hasenklever nur, daß er dann fort wolle, in die Welt
hinaus!

„Des Menschen Wille ist sein Himmelreich!“ entgegnete der Wirt. Er gab
ihm die Hand und versprach zu helfen.

„Heut noch!“ bestand Baptist.

„Gut denn!“

Sie gingen noch vor der Mittagsstunde zusammen zu den Schiffsbureaus.
Das erste, das sie trafen, war das der Hamburg Ozeanea-Gesellschaft. Als
sie in den Heuerraum eintraten, rief gerade eine Stimme: „Hier Schiff
‚Hamburg‘! Noch Trimmer vorhanden?“

Baptist trat einen kleinen Schritt vor und sagte: „Ja!“

„Papiere?“ fragte der Beamte kurz.

Hasenklever stieß Baptist an: „Nein, nicht doch!“ flüsterte er ihm
erregt zu. „Das ist eine Arbeit für Pferde, das Kohlenschaufeln!“

„Nu, Kap’tain kann er woll nich gleich wer’n!“ warf der Beamte
ungeduldig ein.

Aber Baptist entgegnete einfach: „Es ist gut so!“ und reichte dem
Schreiber die Papiere, die er bei sich hatte. Der schaute sie kaum an.
Er suchte nur den Namen und schrieb. Baptist fragte nicht nach dem Lohn,
nicht nach dem Ziel der Reise, nicht nach der Arbeit. Er übernahm seine
Stellung wie ein Schicksal, in das man sich ergeben hat.

„Gehn Sie damit zum Heueramt. Vier Uhr auf’m Schiff!“ sagte der Beamte,
während er Baptist den Heuerzettel hinreichte, auf dem Baptist sich
verpflichtet hatte, die ganze Reise des Schiffes nach Neuyork, von dort
nach Bahia und zurück nach Hamburg mitzumachen.

Hasenklever war von einer zärtlichen Väterlichkeit zu Baptist. Er half
ihm bei den Formalitäten, die noch zu erfüllen waren, und nahm ihn dann
mit nach Haus. Sie gingen gleich in die Stube hinauf. Sie aßen dort
zusammen zu Mittag und Hasenklever ließ eine Flasche seines besten
Weines heraufholen.

„Der Baptist fährt heut weg!“ sagte er zu seiner jüngsten Tochter, die
mit am Tisch saß.

„Ja, wieso, weshalb so auf einmal!“ fragte die erstaunt.

„Weibervorwitz! Das wissen wir, gelt Baptist!“ Er nickte ihm mit einem
milden guten Blick zu und goß sein Glas wieder voll. Dann begann er von
„Njujork“ zu erzählen und von „Njuorliens“ und Chikago und „Frisko“, wo
er überall gewesen war und wo Baptist nun auch hinkäme, und er nannte
ihm Freunde, die er dort gehabt hatte, und die Baptist vielleicht noch
in jenen Städten fände; er erzählte von seinen Abenteuern und seinen
Bummeltagen und den verhungerten Wochen. „Das waren die sieben magern
Jahre!“ sagte er. „Und ein Mensch, der nichts erlebt hat, der ist
nichts. Das ist heutzutags anders, als wie Anno ehedem, wo es von einem
Städtchen zum andern eine Woche brauchte. Heut muß einen das Leben am
Wickel nehmen und anständig durch die ganze Welt rumschütteln ...“

Aber Baptist ließ Hasenklevers Worte über sich weggleiten. Er war schon
auf dem Dampfer; die Arbeit, die ihn erwartete, stand rätselhaft
verwischt neben seinen Vorstellungen. Es war ihm nur klar, daß er jetzt
das Leben begänne, vor dem er einmal zurückgeschaudert war. Er dachte an
seine Heimat und wußte, daß er nun nie mehr zu ihr zurückgelangen würde;
daß das Leben, das er um vier Uhr über sich nahm, das Versinken in die
dunklen Schiffe sei, das sich die Gedanken seiner Heimat als das
allerletzte, das allerniedrigste, schon ans Verbrechen streifende
vorstellten. Und seine Heimat war ihm nun maßgebend, da er an dieser
letzten Schwelle stand und zum letztenmal seine Blicke auch nur die
Richtung des kleinen Landes erkennen konnten. Es war ihm aber wie ein
kleiner weicher Trost, wie eine ferne mildernde Güte, daß er sich seine
liebe Schwester von ehedem so nahe denken konnte an diesem Tag, an dem
sein Leben die Richtung änderte – zu welchem Ziel? das fragte er sich
nicht.

Dann ging er in sein Schlafstübchen und brachte den kleinen alten
Koffer, den ihm Hasenklever gegeben hatte, mit seinen Sachen gefüllt
herunter. Er verabschiedete sich von den beiden Mädchen und wollte
Hasenklever die Hand drücken. Aber der wehrte ab. „Ich geh doch mit!“
rief er.

Baptist sagte: „Ach, nein!“ Das Herz war ihm schwer und er hätte gerne
dem Wirt dargelegt, daß er diesen letzten Weg lieber allein ginge. Aber
er fand keine Worte und Hasenklever schritt neben ihm zum Hafen
hinunter. Sie fragten sich am Kai entlang durch bis zur „Hamburg“. Der
Dampfer lag zwischen dem Scheldetor und dem Waeslander Bahnhof und
Baptist sah zum Abschied noch den Zaun, an dem er einst mit Vater
Ladstock und den Vagabunden gestanden und aus ihrer Flasche Branntwein
getrunken hatte.

Bald machte er kurzen Abschied von Hasenklever. Er hätte ihn gerne
umarmt, drückte ihm aber dann nur hastig zaghaft die Hand. Er sagte:
„Ich dank’s Ihnen herzlich!“ Doch Hasenklever fuhr auf: „Zum Deibel, sei
still und wir sehn uns noch mal wieder in dieser Welt. Bei Hasenklevers
bist du immer willkommen, wenn dich mal wieder ein Schiff oder ein
anderes Geschick hier an Land bringt!“

Baptist schritt mit seinem Köfferchen in der Hand über den Landungssteg
und sagte dem ersten Menschen, den er traf, er sei auf dem Schiff als
Trimmer angeheuert. Der wies ihn zum ersten Offizier in der Kabine an
Deck. Ein glattrasierter Mann empfing Baptist hinter der Türe mit dem
Eisenschild und dem Messingring und bat um seine Papiere. Die gab ihm
Baptist. Der andere sah sie schnell und gleichgültig durch und schob sie
unter einen Pultdeckel. „_All right!_“ sagte er. „Sie können gehn!“
schrie er Baptist an, als er sah, daß er stehen blieb. Baptist trat
hinaus und schritt langsam an der Reihe der kleinen Türen mit den
Messingringen entlang und als er einen Mann in einer Uniform mit zwei
Goldbändern am Arme sah, trat er auf ihn zu, zog den Hut und sagte, er
sei als Kohlenzieher angeheuert.

Der Angeredete, ein junger Offizier mit einem blonden Spitzbart, machte
über seinen hohen Kragenrand mit einem kurzen Ruck eine knappe
Linksneigung des Kopfes auf Baptist zu und warf verächtlich hin: „’ch
g’meldt?“ – „Jawohl, soeben in der Kabine dort!“ – „’s gutt!“ Dann rief
er in anderm Ton einem dicken Manne zu, der in einer blauen Jacke und
mit einer Uniformmütze auf dem grauen Kopf auf der Reeling saß: „Härr
Obermaschinist, ein Trimmer!“

Der Dicke schob sich vom Eisengeländer ab und kam freundlich heran.
Baptist grüßte höflich und sagte, er sei das erstemal auf einem Schiff,
er müsse bitten, daß man ihm seine Arbeit und alles zeige. „Tjawoll,
tjawoll!“ nickte der Alte liebenswürdig, „wird geschehn, wenn Sie hier
die Luke hinuntersteigen, gleich Backbord hinübernehmen und an der Türe
klopfen, wo ‚Heizer‘ drauf steht. Sagen Sie, ich habe Sie hergeschickt
und was Sie wollen!“

„Danke!“ antwortete Baptist.

Drunten führte ihn dann ein von Ruß nur halb gereinigter Mann zunächst
in die kleine Kabine, in der sechs Betten waren, drei und drei
übereinander. Spärliches Licht fiel durch eine dicke, unklare grüne
Glasscheibe in der Decke über einem der Betten beschwerlich herein.
Baptist mußte dieses Bett nehmen, weil die andern schon belegt waren.
Der Heizer blieb in der Türe stehen und meinte, Baptist könne gleich den
Arbeitsanzug anlegen.

Baptist tat es. Dann ging der Mann vor ihm her durch einen engen
Schluff, zog eine eiserne Türe auf, und Baptist trat auf einem Boden von
Eisenstäben weiter. Unter diesem Boden lag ein weites, dunkles Loch, in
dem er in einiger Tiefe einen zweiten Boden aus Eisenstangen sah.
Allmählich dämmerte drunten, wie auf dem Grund einer gut vergitterten
Grube, ein dunkles Gemenge von Rädern, Eisenrahmen, Kolben und Röhren
auf. Das Licht fiel hoch über seinem Kopf durch einen Glaskasten
hernieder. Die beiden glitten rückwärts enge Eisenleitern hinab und
kamen langsam bis auf den Grund der Grube. Das Licht wurde immer grauer
und kleiner, die Luft gewichtiger und riechender. Sie schlüpften
zwischen stillstehenden Rädern, ruhend versenkten Pleuelstangen,
schweren, geneigten Eisenrahmen, verknüpften und lang hinlaufenden
Röhren hindurch; eine kleine Eisentüre klappte hinter ihnen zu, und
Baptist stand in einem engen Raum, den eine starke Hitze brennend
erfüllte. Zwei kreisrunde große Löcher warfen Licht zuckend und blendend
heraus und ein Mann stocherte mit einer Eisenstange in dem einen der
Löcher. Der Flammenschein glühte auf dem schmalen nackten, steif
zurückgestellten Oberleib. Das Gesicht lag aber über dem scharf
begrenzten Kreis des Feuerscheins im Dunkeln. Dann sprang Baptists
Führer unversehens in ein Loch, das gegenüber der einen der beiden
Feuerhöhlen schwarz aus der Wand schaute.

Baptist folgte ihm in einen Raum, den eine schwere, staubige Finsternis
drückend verengte. Aus der Tiefe donnerte rollender, fallender Lärm
heran. Irgendwo hing eine kleine Glühbirne, leuchtete faul, wie ein
kraftlos roter Ball. Der Flammenschein des nahen Feuers im Kesselraum
schlug schräg bis über den Rand des Loches hernieder und ließ sich in
einem roten Streifen über einem Haufen Kohlen verflackern. Der Führer
erklärte mit schreiender Stimme durch den Lärm hindurch: Das seien die
Kohlenbunker, aus denen die Kohlen hierher geschafft werden, an dieses
Loch und an das andere drüben; danach werden sie zu den Flammrohren
hinauf geschaufelt.

Das war alles.

„Hoi, hoi! Genug!“ rief er plötzlich in die schwere Tiefe hinein und das
prasselnde Fallen hörte auf.

Der Mann wandte sich wieder Baptist zu: „So, Sie können grad beginnen.
Es wird sowieso gleich zur Ablösung glasen!“

Dann war er auf einmal in dem dunkeln Winkel verschwunden. Eine Türe
knallte, ferne, hoch, verstummend, wie ein Schrei in verschlossenem
Mund. Zugleich erlöschte draußen im Kesselraum das Licht des Feuers,
weil die Türe der Esse zugeschlossen wurde. Es wurde finster und stumm
um Baptist, der der leblosen Glühbirne den Rücken kehrte. Er war nun
abgesperrt von dem Dadraußen, war versunken und begraben. Er fühlte den
niedern, finsternisschweren Raum wie einen versenkten Schacht um sich,
bückte sich schwer zu einer Schaufel nieder, die er im dünnen, rötlichen
Dämmern zu seinen Füßen liegen sah, und schob sie in den Kohlenhaufen.
Wie er sich so niederbückte, um die Schaufel in die widerstehende Masse
einzubohren, erblickte er auf einmal einen zarten blauen Schein auf
seinen Händen. Er schaute ihm nach und sah, daß aus der Höhe des
Kesselraumes ein Fädlein dünnes Licht herunter und durch das Loch in der
Wand bis zu ihm sickerte, gleich einem Wasseräderchen auf einem Felsen,
das das Licht des freien Himmels rinnend widerfunkelt. So oft Baptist
nun die Schaufel in den Kohlenhaufen stieß, floß das dünne blaue Licht
ihm leicht wie gleitende Eidechsen über die Hände und die Arme. Das war
der einzige Gruß der weiten, freien Luft.

Auf einmal hörte Baptist in der Düsternis der andern Seite noch eine
Schaufel gehen. Er erschrak ein wenig. Aber er schaute nicht hin.

Kurz darauf hielt die Schaufel drüben ein mit Arbeiten, und eine Stimme
wie eine grelle, heiser klingende Trompete brach plötzlich durch die
Finsternis herüber: „Grüß dich Gott, Kamerad von der heiligen
Kohlenschaufel, auch wieder mal unterwegs?“

Baptist erschrak. Sein Herz gab ihm einen kleinen Schlag, und seine
Hände zuckten einmal mit dem Holzstiel. Aber er bückte sich über seine
Arbeit, emsiger tuend als wie zuvor, und lauerte zugleich mit allen
Sinnen nach dem Fremden hinüber, dessen Gestalt er drüben wie wild aus
dem Dunkeln hervorquellen sah. Sie war von ungewissen Bewegungen belebt,
als näherte sie sich langsam, drohend und unberechenbar tückisch. Bald
jedoch hörte er wieder die Kohlenschaufel gehen und seine geängstigte
Aufmerksamkeit spannte ab.

Ein leises Erdonnern scholl auf, die Eisenwände fingen an dumpf zu beben
und zu klingen; dieser Lärm verstärkte sich allmählich zu einem
stoßenden Poltern und schaukelnden Brüllen, Werfen und Schießen, das
sich die Eisenwände zuzuwerfen schienen, und lief dann bald in ein
starkes, ruhig dahinrollendes Grollen und Stöhnen aus. Das Schiff fuhr.
Eingehüllt in das Toben dieser gewaltsamen Geräusche, in denen der Lärm
seiner eigenen Arbeit erstickt zu sein schien, breitete sich eine
schwerfällige Schläfrigkeit in Baptist aus und er vergaß in seinen
stumpfgeriebenen Gedanken bald den Zwischenfall. Er arbeitete, daß ihm
der Rücken voller Nägel saß und seine Muskeln brannten, und nach einer
unendlichen, mit dumpfer Gedankenlosigkeit erfüllten Zeit stand auf
einmal ein Mensch neben ihm und nahm ihm die Schaufel aus der Hand.

Baptist tastete sich hinaus, irrte über Eisenleitern und durch schmale
Gänge, bis er aufs Deck gelangte. Da trat ihm unvermutet ein
geschwärzter Mann entgegen. Das Weiß der fremden Augen brannte wie zwei
kalte Scheiben aus dem schmalen, verrußten Gesicht, und die dicken roten
Lippen unter der kleinen, verwegen geschärften Nase glühten wie Blumen
aus dem Ruß heraus. Sie öffneten sich, während der rechte Arm die zur
Faust geballte Hand, um Schwung zu nehmen, nach hinten schlug, und eine
wütende, grelle Stimme fuhr Baptist an: „Bin ich dir nicht gut genug?
Willst du meine Faust im Gebiß spüren, du Wackes!“

Baptist schrak zurück. Was war denn nun wieder? Wurde er verfolgt? Er
erkannte sofort die Stimme von unten. Er stammelte, ohne zu wissen, was
er sagte: „Nein!“

„Ja, was denn, was denn?“ bellte der andere ungeduldig zurück. Dann ließ
er den Arm sinken und tat verächtlich: „Wohl ’n vornehmer sogenannter
Hinüberarbeiter?! Willst das Reisegeld sparen, Geizkragen? Hö? Hast du
Geld? Wieviel hast’ schon gespart? Sag wieviel? Zweitausend, viertausend
...? Hö?!“

Aber Baptist sagte mit kleiner Stimme: „Ich hab gar kein Geld!“

Da war der andere plötzlich wie umgewandelt. „Na also denn!“ rief er
fröhlich. „Geben wir uns die Hand! Vertragen wir uns!“ und er reichte
Baptist die Hand hin und drückte die seinige. „Wir müssen uns waschen
gehn!“ sagte er dann und führte Baptist an einen Trog in eine kleine
Kabine. Dann bekamen sie durcheinandergekochtes Fleisch, Gemüse und Brot
in einer Blechschüssel, und als sie gegessen hatten, suchten sie ihre
Betten auf.

„Ich heiße Hartwig!“ sagte der Kamerad zu Baptist, während sie sich
auszogen. Baptist wußte nicht, ob das nun der Vorname oder der
Geschlechtsname sei. Er schwankte ein wenig und nannte dann seinen
Rufnamen. Hartwig legte sich ins oberste Bett, Baptist gegenüber. Es war
dunkel in dem kleinen Raum. Baptist streckte sich auf sein hartes Lager
schwer und zermürbt. Es war so eng unter die Decke geschoben, daß er die
Ellbogen nicht ausstrecken konnte. Seine Hände spielten in der
Schlaflosigkeit mit der runden Glasscheibe, die von einer milden,
dunkeln Helligkeit erfüllt war. Seine Glieder fielen auseinander wie
Steine. Seine Gedanken waren heiß und leblos zermalmt.

Da fragte eine laute, verletzende Stimme von drüben: „Schläfst du?“

Baptist antwortete erschreckt: „Ich kann nicht!“

Er hatte die drei Wörter noch nicht zu Ende gesprochen, als Hartwigs
Stimme, die wie knitterndes Metall klang, wieder losfuhr: „Hölle und
Teufel, ich auch nicht. Das ist immer so am ersten Tag! Diese
Hundearbeit mit den Kohlen! Weißt du, wenn wir jetzt hinüberkommen, so
führ ich dich zur Ilanka. Eine Jüdin! Ein Weib! Dreck und Feuer und
Revolverschuß, ein Weib, ha! Ein Weib! Sie ist ja wohl nur eine Jüdin
aus Polen oder da herum. Aber ein Weib! Ich bin nur ihretwegen herüber
gegangen. Aber meine Verwandten, die Dreckspföter, haben sich nicht mehr
anzapfen lassen. So bring ich nur die hungrige Heuer mit, wenn ich
drüben wieder zu ihr komm’. Und damit zahlt man nicht einmal, daß dieses
Fraumensch einen mit dem Fuß ins Gesäß tritt. Aber wir legen zusammen,
nicht wahr, Kamerad? Was? Das Leben ist uns nun mal so gelaufen. Laß
laufen. Dreck und Hölle, es hätt’ auch anders zum Krepieren geführt.
Aber in diesem Europa ist man schon zu Lebzeiten im Grab. Keine tausend
Bisonstiere aus den Rocky Mountains ... ziehn mich wieder dahin ...
tausend Bison ... Weib! ... Pech ... Schwefel ... Ilanka!“

Das letzte Wort war wie ein Ausflöten gewesen. Baptist hatte zugehorcht
mit einem erschrockenen Erstaunen, mit einem halb besiegten
Sichhingeben. Nun hörte er, wie Hartwig schnarchte. Wie ein Zauberwort,
so hatte dem Kameraden das Wort Ilanka den süßen Schlaf gegeben, auf
einmal, ohne Übergang, und in seine eigene wunde Schlaflosigkeit hinein
wuchs schnell die Frauengestalt der Jüdin Ilanka aus Neuyork und nahm
die Umrisse üppiger Bäume, schwellender Riesenblumen, bereit liegender
Hügel, die weichen Formen märchenhaft ungeheuerlicher Tiere. Die
tückisch haltlos gleitenden Verwechselungen dieses Unwesens schürten die
hitzige Unruhe seines Blutes. Er schlug mit den Armen nach dem heißen
Spuk und fühlte sich atemberaubt eng unter die Decke gefesselt. Endlich
lag er dann in einem schwül lastenden Schlummer.

Am nächsten Morgen, als die beiden wieder Seite an Seite in den
Kohlenbunkern arbeiteten, schien auf einmal etwas wie ein
Tobsuchtsanfall Hartwig zu vergewaltigen. Er griff mit beiden Armen tief
in die Haufen hinein und warf die Kohlenklötze, die er zu fassen bekam,
wie in einem wild gewordenen Tanz weit von sich, daß sie donnernd auf
dem Eisenboden in Splitter zerkrachten. Er steigerte rasch das Tempo
dieser wahnwitzigen Arbeit, die schwarzen Massen regneten bald heftig
ringsum nieder, daß Baptist sich hinter einen Eisenpfosten flüchten
mußte.

Als dieses unverständliche Spiel eine Weile gedauert hatte, blieb
Hartwig plötzlich hoch gereckt stehen. Sein Atem leuchte wie ein hüpfend
dampfgebendes Ventil, der Schweiß quoll aus seinem nackten, geschwärzten
Oberleib und die Tropfen spiegelten das Licht der trüben Glühbirnen.
„Baptist!“ rief er heiser, „komm her! Da, leg deine Finger hin!“

Er führte Baptists Hand auf den Bizeps seines rechten Armes, und kaum
hatten die Finger die Haut berührt, als der Muskel wie eine gebuckelte
Katze mit einem wilden harten Ruck Baptist in die Hand sprang.

„Drüben sind wir aus Dreck und Feuer, zum Teufel. Du sollst mal sehn,
ich zerspreng’ einem die Hirnschale mit diesem Muskel, nur so, daß ich
ihn gegen den Schädel springen laß, wie eine Bulldogge. Weißt du, was
ich jetzt gemacht habe? – Ich war mit Ilanka. Ich hab mit ihr gerungen
und hab sie am Hals gehabt und sie gebändigt. Jede Kohle, die ich zu
fassen bekam, und die wegflog, war ein Griff in ihren Leib, ein
Widerstand, den ich brach. Da schau, ich laß meinen Bizeps springen, wie
eine ganze Schwadron Kavallerie. Es soll mir einer im Weg stehn! Aber
wenn du glaubst, davon hat man was drüben bei uns und das hilft einem –
ein alter Dreck, nein! Siehst du, ich bin aus dem Lothringschen, und die
Parzen oder wie die Viecher heißen, haben mir ein anderes Lied an der
Wiege gesungen. Aber Räuberhauptmann, Amerika, wilde Stiere und tolle
Weiber! Meine Verwandten sagen: der Boden ist ihm weggerutscht. Es wird
wohl so sein, wenn man seine Heimat in die Welt verlegt. Aber man
gewöhnt sich dran, Wasser zu saufen, wenn man keinen Champagner hat und
des Nachts die Abfallkästen zu durchstöbern, wenn man kein Geld hat, um
ein Steak zu kaufen und der Magen einem den Schlund heraufschreit.“

Baptist stand hilflos vor dem Kameraden. Er fühlte sich selber von der
Krankheit ergriffen, deren Höhepunkt der andere erreicht zu haben
schien. Er verabscheute den wilden Gesellen, dessen Leben über die
Ränder der Wirklichkeit hinausgetrieben war, und zugleich vergewaltigte
ihn die Heftigkeit aller Äußerungen Hartwigs. Liebe und Haß für diesen
heißen Hund standen von der ersten Stunde an Baptist in gleicher Nähe
zur Hand.

Tag für Tag, die nun folgten, legte Hartwig mit derselben Wucht und
Brutalität sein Leben vor Baptist bloß. Immer stand die große, starke
jüdische Frau drin hoch gereckt, drohend und begütigend, sie war wie der
Saft, der aus dem verletzten Frühlingsbaume stürzt, wie aufspringendes
Blut, sie gellte wie der Schrei eines, der ermordet wird, sie hatte das
dumme kindliche Blöken eines Lämmchens, den tirelierenden Laut einer
kräftigen, sorglosen Lerche, sie knallte wie ein geflochtener
Lederriemen und säuselte wie der Abendwind.

„Ich kann dir nicht alles sagen von ihr und mir!“ begann eines Abends
Hartwig wieder. „Aber wo sie wohnte damals, da sind die dunkeln,
schmalen Schlüffe in der Stadt, und selbst die Policemans fürchten die!
Sieh mal da das Wasserfaß und den weißen Holzpfropfen im Spund!“

Kaum hatte Baptist Zeit gehabt, sich das etwa zehn Schritte entfernte
Faß anzuschauen, als Hartwigs Arm mit einer kreisenden Bewegung rundum
fuhr, gleich darauf gab es einen kurzen, trocken gellenden Laut, und
Baptist sah in dem weißen Holzpfropfen ein langes Stilett stecken. Aber
blitzschnell flog Hartwig drauf zu, riß mit einem Ruck nach unten das
Messer weg und es war im Nu verschwunden, Baptist sah nicht, wohin.
Hartwig lächelte ihn verächtlich an. „So!“ sagte er kurz und roh.

Baptist verstand nur halb, wie es dem andern gemeint war. Aber er zuckte
vor ihm zusammen und seine Gefühle, Liebe wie Haß, verschärften ihre
Kraft seit diesem Tage. Er war Hartwig unterlegen und wagte nicht gegen
ihn aufzumucken. Er stellte sich Hartwig vor, wie er, ein flatternder
Blitz, durch die Straßen des unberechenbaren Neuyorks tobte und mit
trotzig zusammengebissenen Zähnen, hohnlachend und schmetternd, die
Menschen anbellte. Bis dieser verwegene Räuberhauptmann aufseufzend in
den Schatten der wilden, dunkel großen Gestalt des jüdischen Weibes
trieb und anfing, vor ihren Launen zu winseln, oder in ihrem Geben zu
ertrinken.

So hielt Baptist die verwilderte, sumpfige Romantik des fessellosen
Gesellen in der schweren, dicken Atmosphäre seiner Arbeit in den Bunkern
wach. So wuchsen seine Wünsche hinter dem knallenden Schreiten dieses
Strolches Neuyork entgegen.

Eines Abends erzählte Hartwig ihm mit vielem großtuenden Trara einen der
üblen Streiche, bei denen er in Neuyork mit geholfen hatte. Da kam es
Baptist auf die Zunge, seine eigenen Schandtaten zu verraten, und er
wollte erzählen, wie er schon als Knabe gestohlen und wie er seinen Wirt
in Antwerpen betrogen hatte, und wollte diese Taten gleichermaßen mit
Gefahren und Gemeinheit ausschmücken. Aber daß er sich dennoch enthalten
und diese schmutzigen Flecke in seinem Leben vor dem andern bedeckt
halten konnte, gab ihm zuletzt die Möglichkeit, doch zwischen Hartwig
und sich eine Distanz zu setzen, durch die er das letzte randlose
Gemeinwerden mit dem Verbrecher zurückzuhalten vermochte. Es war ihm,
als habe er die Macht, wenn er nur wollte, sich von dem andern zu
befreien, und es schien ihm, als gewänne er gerade dadurch in den Augen
des eindrucksvollen Weibes Ilanka einen Glanz, den Hartwig bei ihr nicht
besaß.

In einer lichten Nachmittagsstunde lagen sie in ihren Betten, da sie in
der Nacht Schicht gehabt hatten. Baptist konnte nicht schlafen. Es
gingen immer Schritte über die runde grüne Glasscheibe und seine Augen
zuckten unaufhörlich unter ihnen weg. Es war ihm, als traten die Sohlen
ihm aufs Gesicht. Er sah, daß auch Hartwig nicht schlief und sagte
hinüber: „Gehn wir an Deck. Ich kann nicht einschlafen!“

„Gut!“ antwortete Hartwig. „Vielleicht sehn wir schon die amerikanische
Küste.“

Er sprang auf. Sie zogen sich rasch an und gingen auf die Vorderback
hinauf. Hartwig legte gleich die hohlen Hände über die Augen. Dann
schlug er Baptist heftig auf die Schulter und zeigte über das Meer.

„Da hinter wohnt sie!“ rief er und schaute scharf auf einen Punkt in der
Ferne, als sei es möglich, daß er dort jemanden sehen und erkennen
könnte.

„Wer?“ fragte Baptist verwirrt.

„Wer?“ schrie Hartwig dagegen und starrte Baptist entgeistert an. Dann
brüllte er: „Schwefel und Dreck, das Weib! Ilanka!“

Und Baptist schaute nun selber bezwungen scharf in die Ferne, wo sich
nur erst wie eine körperlich werdende Ahnung, wie ein zarter Flaum
ersten Wachstums die Küste abhob. Alles Blut war ihm plötzlich zu Kopf
gestürzt und er wußte auf einmal, daß es nicht die Stadt dort im
Küstenstreifen und nicht das Land dahinter und nicht Hartwig sei,
sondern daß diese schwarze Jüdin Ilanka es war, die seit Tagen seine
ungeduldigen Gedanken trug. Daß dieses Weib selber und ganz allein wie
eine große, mächtige Küste, wie ein einziges einsames Land für ihn
irgendwo in den Fernen stand.

Da war er verzweifelt und entmutigt, denn die Frau stand ohne Umrisse,
die er fassen konnte, ohne Körper, gegen den seine Wünsche anströmen
konnten, in ihrer raumlosen Ferne. Aller Glanz fiel ab, und Baptist
lehnte sich mit einem wilden Anfall von Haß gegen den abscheuvollen
Hartwig auf, den Schurken und Verbrecher, der vorgab, den süßen,
schmerzhaften Spuk dieses Weibes zu besitzen. Er sagte bitter und
schadenfroh: „Du kommst doch nicht zu ihr!“

Da schaute ihn Hartwig einen Augenblick scheel an. Aber sein Gesicht
heiterte sich gleich wieder auf und er lachte polternd los, daß sein
Lachen wie eine Holzkugel über die Back sprang.

„So, so, so!“ lachte er, „ich komm nicht zu ihr. Ich komm nicht zu ihr?
Was sollen wir wetten. Sollen wir den Bettel unserer Heuer gegeneinander
wetten? Schlag ein!“

Er hielt Baptist mit einem spöttischen Grinsen die Hand hin. Aber
Baptist antwortete gebeugt und unsicher: „Es war nur Scherz, daß ich das
sagte!“

„Ich meine auch!“ sagte Hartwig dagegen, und seine heisere, knitternde
Stimme klang wieder rauh und grell. Seine Finger zuckten zusammen und
die Leidenschaft sah man zitternd über seinen magern Körper fahren. Dann
sprach er vor sich hin, wild und doch sanft, wie ein heißes Rufen und
zugleich wie eine kosende Bestätigung: „Schwarze Ilanka!“

Als Hartwig eine Weile über das Meer geschaut hatte, sagte er: „In
Neuyork komm ich dich einmal von Bord holen und dann gehn wir zusammen
zur Ilanka. Es ist schade, daß du dich für die ganze Reise dieses
Kastens geheuert hast. Ich hätte dich in Neuyork gut einführen können!“

Da setzte Baptist alle Hoffnung auf dieses eine Versprechen. Alle seine
Wünsche sammelten sich immer wieder um dieses Versprechen an, unruhig,
flatternd, schreiend, und hoch wie Dohlenscharen um das Dach des
Kirchturms. Und in der Ungeduld dieser letzten Stunden wurde Hartwig ihm
so unausstehlich, daß seine Gegenwart ihn zu brennen schien. Er war ihm
nun ein Feind, der mit allen Listen und allen Mitteln bekämpft werden
mußte. Aber Ilanka wuchs, wuchs, wie ein wilder Garten.

Am nächsten Tage liefen sie in den Hafen ein. Baptist sah die Einfahrt
nicht, weil er Arbeitszeit hatte und in den Bunkern vergraben lag. Aber
er hörte, wie die Maschine anfing, ihr Tempo zu ändern. Oft wechselte
sie es mit kurzen Stößen, arbeitete bald nur noch ruckweise. Auf einmal
verstummte mit einem aufschreienden letzten Laut all der Lärm, der
Baptist sechzehn Tage ununterbrochen eingehüllt hatte, und eine
Grabesstille verbreitete sich im Nu in den niedern dunklen Räumen. Aus
einer Ecke scholl Hartwigs Stimme grell herein: „Wir sind da. Dem Teufel
sei Dank!“




                                 Schluß


Kaum lag das Schiff fest an Land, so war Hartwig verschwunden, ohne ein
letztes Wort und ohne Händedruck. Es war Baptist recht, daß es keinen
Abschied gegeben hatte, denn es ekelte ihn, dem Schurken eine Äußerung
seines Gemütes zu erweisen. Aber er begann jetzt zu warten, daß Hartwig
sein Versprechen lösen würde und ihn holen komme, um ihn zu Ilanka zu
führen. Dieses Erwarten floß wie ein Strom über ihn. Es war ihm oft, als
ertränke er drin, und er stöhnte heimlich in der Bedrängnis seiner
Ohnmacht, dieses Ermatten zu erfüllen. Er sah hinter den Masten der
Schiffe die Stadt anschwellen. Aber die Stadt war nichts Fremdes. Sie
war das große, starke, schwarze Weib, in dessen Willen er sein Leben
liegen fühlte.

Die Arbeit in den dunklen Schlüffen der Bunker war beendet, nachdem die
entleerten Lager wieder frisch mit Kohlen gefüllt waren. Zuerst mußte
dann Baptist am Reinigen des Maschinenraumes mithelfen. Später kam er
aber in die Laderäume und bald darauf, als man begann, für die
Weiterreise nach Brasilien neue Güter aufzunehmen, unterstützte er den
zweiten Offizier, der an Deck das Verladen leitete. Baptist hatte eine
der Dampfwinden am Vorderdeck zu bedienen. Über seinem Kopf streckten
sich die Arme der Ladebäume hin und her. Die Räder der Winden knirschten
und sausten vor ihm. Am Kai lagen hochgestapelte Ballenhaufen, in die
die Ketten hineingriffen, und achtern zur andern Seite scharten sich die
schweren Schuten um das Schiff und beluden sich mit den Waren, die es
aus Europa mitgebracht hatte. Unermüdlich glitten die Ketten, griffen
die Ladebäume, eilten die Menschen. Die Arbeit brauste und brandete wie
ein Meer an einer Küste. Ein wirbelndes Gemisch zuckte hin und her,
schüttelte sich durcheinander, ohne Zusammenhang, mit verwilderten,
wüsten Gebärden, mit einer kleinen, fessellosen Brutalität. Rundum auf
der großen Wasserfläche lagen tausend solcher regellos belebter Flecke
wie der Dampfer „Hamburg“. Überall in ihnen krachten die schreienden
Winden, überall zuckte die Arbeit durcheinander. Überall brüllte die
rasende, zerfetzte Ungeduld.

Aber ruhig erhoben sich die riesenhaften Dämme der Stadt hinter den
Schiffen, und alle Arbeit floß, wie in einem graden, schweren Strom
dorthinaus. Wohin?

Der Hebel der Dampfwinde schlug Baptist in der Faust. Ein ungeheurer
Pack von Säcken wurde von seinen zehn Fingern über den Abgrund der
Laderäume gehalten, und in der Tiefe wimmelte es von kleinen
Menschenkräften, die den Pack erwarteten. Der Offizier hob den Arm wie
einen allmächtigen Signalmast, der dem Eisenbahnzug den Weg in den
Bahnhof schließt, und mit verhaltenem Schwanken blieb die Ladung in den
eisernen Kettenarmen in der Höhe schweben. Dann fiel der Arm, Baptist
riß den Hebel los und mit schießendem Knarren ließ die Winde die Last
vorsichtig in die Tiefe sinken. So ging es stundein und -aus. Baptist
stand am Hebel und fühlte mit einem dumpfen, ängstlichen Staunen, daß in
seinem Willen ein Teil der Kraft lag, die das wüst zerwühlte Feld dieses
Hafens in Arbeit aufpflügte, und wußte nicht, wieso er auf einmal zu
solcher Macht gelangt war. Er sah rundum reckenhaft sich das Werk des
Welthafens vollziehen, aber er erkannte nicht, wie sich das ungeregelte,
wirbelnde Durcheinander zu der groß ausfließenden Richtung fand; er
spürte den Sinn der gewalttätigen Anstrengung nicht.

Und einmal, als ihn die dunkle Macht dieser Lebensäußerung der Weltstadt
überwältigte, brüllte er in die tobenden, ratternd springenden Geräusche
der Winde den mit heimlich wilder Sehnsucht beladenen Namen Ilanka
hinein. Hartwig kam nicht. Es waren Tage vergangen. Die Schiffsräume
hatten sich entleert und frisch gefüllt, die Abreise stand bevor. Der
Hund von Hartwig kam nicht. Wie konnte Baptist zu Ilanka gelangen? Wie
war es möglich, einen Weg in den ungeheuerlichen Damm hinein zu finden,
den dort die Stadt aufwarf? Dunkel verletzt, beleidigt, wund aufgewühlt
erlebte Baptist immer wieder die zwingende Offenbarung der ungemessenen
Große der Stadt, zu der dieser Hafen das Tor war. Wie ein Geschick von
erbitterndster Brutalität warf sich ihm die Stadt und ihr Hafen in den
Weg, der zu dem großen, starken Judenweib ging. Er wütete dagegen an,
und seine heimlichen Schreie schienen oft den Lärm der pustenden Winden
zu überbrüllen.

Eines Nachmittags, als er arbeitsfrei und frei von dem Drucke war, mit
dem ihn sein Werk belegte, überfiel ihn ein verzweifelter Groll. Er
glaubte am Äußersten zu sein. Sein Begehren wuchs mit leidenschaftlicher
Gewalt über ihn her. Er glaubte hin zu müssen, in seiner Raserei Hartwig
erwürgen zu müssen und über seine Leiche zu Ilanka gelangen ... „Du
treuloser Hund!“ schimpfte er Hartwig. „Du hast mich betrogen, ganz
gemein betrogen, du Schuft!“ ... und er raste auf den Kai hinunter und
jagte davon, der Stadt zu. Aber die Arbeitswut des Hafens fing ihn in
ihrem brausenden Sturm auf. Sie schloß sich von Schritt zu Schritt
gewalttätiger um ihn, wie Maschen eines stählernen Netzes. Er begann
sich zu ducken. Er glitt ängstlich und unsicher dahin, und als er an die
Grenzen der Stadt kam, und als er die Maßlosigkeit ihrer Straßen und
Richtungen sah, kehrte er um, vergiftet und durchseucht, das Hirn
wirbelnd voll Todesgedanken.

Er eilte zu seinem Dampfer zurück, kreuz und quer abirrend, über
Eisenbahngeleise, auf denen sich schwerfällige lange Züge heranschoben,
verfolgt von Warnungsrufen; unter donnernden Krähnen hindurch, die mit
Lasten von Fässern, Säcken, Baumstämmen spielten; durch lange Hallen,
die mit Gütern und mit fremden, betäubenden Düften angefüllt waren.
Endlich fand er die ‚Hamburg‘ und ging schnell aufs Deck hinauf. Droben
sah er die Schiffsmannschaft im Kreis zusammenstehen. In ihrer Mitte
hielt einer ein großes Zeitungsblatt, aus dem er eben vorgelesen haben
mußte.

Als Baptist an Deck erschien, sprang der Mann mit der Zeitung in der
Hand heran, hielt ihm aufgeregt das Blatt hin und zeigte mit dem Finger
auf eine dicke Überschrift. „Das ist der Hartwig!“ brüllte er mit
überschlagender Stimme. „Der Hartwig!“ ...

Das Zeitungsblatt glitt in die Hände von Baptist. Er legte sich gegen
die Reeling und las mit spitz klopfendem Herzen: „Grauenhafter Mord ...
Deutschlothringer Hartwig Didier ... seine Geliebte aus Galizien
eingewanderte Jüdin Ilanka B... in ihrer Wohnung erdrosselt ... Körper
mit Dolchstichen zerfleischt ...“

Langsam fühlte Baptist, der mit den Augen fliegend diese ersten Zeilen
erschnappte, Kälte durch sich fließen. Sein Hirn wurde klar, seine
Gefühle grausam und er las nun kalt und zusammenhängend: „Als
Zimmernachbarn, die das Opfer schreien hörten, die Türe einschlugen und
auf den Mörder losdrangen, schoß er gegen sie, ohne jedoch zu treffen.
Der Revolver war bald leer. Da eilte er ans Fenster, über dem ein
Leitungsstrang der Elektrizitätswerke vorbeiführte. Von den Verfolgern
hart bedrängt, schwang er sich aufs Fensterbrett und setzte, ohne sich
zu bedenken, mit einem weiten Sprung an die Drähte hinauf. Er erreichte
sie, glitt im Schwung ein Stück weit an ihnen über die Straße. Die
Menschen, die sich unten versammelt hatten, sahen, ein grauenvolles
Bild, wie ein Menschenkörper in wilden Zuckungen an den Drähten hin und
her schlug. Dann fiel er aus der Höhe des sechsten Stockwerks auf die
Straße nieder, wo er, ein unkenntlicher Haufen von Kleidern, Knochen,
Fleisch und Blut liegen blieb. Aber dieser Absturz wäre nicht mehr nötig
gewesen. Die elektrischen Drähte hatten den Mörder schon hingerichtet.“

Als Baptist das gelesen und der andere ihm wieder die Zeitung aus der
Hand gerissen hatte, stellten sich ihm zunächst nur die beiden Wörter
ein: „Schuld und Sühne“. Dumm und sinnlos sagte er sie immer wieder vor
sich hin. Unzählige Male: „Schuld und Sühne! Schuld und Sühne!“ ...
Kindlich erschrocken lallte er die Wörter weiter, als deckten sie eine
unmeßbar hohe, geheimnisvolle Vorstellung, in der die Erklärung der
dunkel gewaltsamen Tat lag. Er ging lange wie in einem kalten Rausch
umher, machte seine Arbeit mit einer kühlen, fernen Gleichgültigkeit und
wagte kaum zur Stadt hinüber zu schauen, deren Dächer durch das Gewirr
der Masten liefen, ohne es zu berühren. Aber alle Kälte in ihm war nur
ein Kleid, unter dem sich die entsetzliche Spannung seines Innern dem
Erkennen verbarg, und er wurde sich immer mehr bewußt, daß er sich nur
mit Gewalt auf diesem entlegenen, ruhigen Standpunkt hielt.

Da trat, als er den letzten Griff am Hebel der Winde getan und der
Feierabend begonnen hatte, der Kapitän auf ihn zu. Der Kapitän war ein
noch junger Mann, der jedes Wort, das er sprach, und jede Bewegung, die
er machte, mit einer kurzen Entschiedenheit kräftigte.

„Biver,“ sagte er, „es wäre schade, wenn Sie in den Kohlenbunkern
blieben. Wir wollen Ihnen eine andere Beschäftigung an Bord suchen, bei
der Sie sich mehr ausgeben können!“

Baptist schaute den Kapitän verletzt an. Er hatte kaum verstanden, was
gesagt worden war, aber er fühlte sich in seinem künstlichen, mühevollen
Gleichgewicht gestört und er warf geärgert hin: „Ach, wozu?!“

Da sagte ihm der junge Kapitän rauh: „Schämen Sie sich!“

Baptist fuhr mit mürrischem Trotz auf: „Weshalb?!“

Der Kapitän antwortete sofort mit seiner schnellen, scharfen Stimme:
„Das will ich Ihnen sagen. Weil ein Gesetz unter uns ist, das immer die
Anspannung der höchsten Kraft von uns verlangt, die man hergeben kann.
Das sind die Triebfedern der Kräfte, unter deren Druck die Welt
fortschreitet. Es ist eine Schande, wenn einer sich aus irgendeiner
Ursache diesem Gesetz entzieht.“

Dann griff er in die Tasche und sagte kurz: „Da ist ein Brief für Sie!“
Darauf ging er weg.

Baptist hielt den Brief in der Hand. Er las die Aufschrift und sah sich
das Kuvert an und verstand zunächst nicht, daß es eine Einrichtung in
der Welt gab, die sich um ihn kümmerte und sich die Mühe machte, einen
Brief hinter ihm her über das Meer zu schicken. Es war ein großes weißes
Kuvert, mit hohen Schriftzeichen bedeckt. Es war etwas Geheimnisvolles,
etwas Ängstliches, ein Rätsel.

Er ging mit dem Brief in seine Kabine, drehte die düstere Glühbirne an
und brach das Kuvert auf. Er las:

„Lieber Bruder!

Mach es nicht mit diesem Brief, wie Du es in Antwerpen mit mir gemacht
hast. Wenn Du noch manchmal an Deine Schwester denkst, so lies den Brief
zu Ende, ich beschwöre Dich drum. Ich schreib ihn nur, um mit Dir zu
sein in der Einsamkeit, in die ich in Luxemburg eingeschlossen bin. Wir
brauchen ja nicht fröhlich miteinander zu sein, sondern schreiben so,
wie es uns zumute ist. Vielleicht ist es meine Schuld, daß ich immer so
kopfhängerisch umhergehe. Wenn ich meine alten Freundinnen ansehe, so
muß ich das glauben. Aber ich gehe hier wie in einer Schachtel herum.
Die Wände sind so eng, so nah, so hoch. Man kann nicht aus der Schachtel
heraussehn. Die Luft ist so dick und so schläferig, die Menschen machen
so kleine Schritte rundum. Sie haben sich dran gewöhnt. Weshalb kann ich
es nicht?

Ich war damals so stolz auf Dich und wußte, so sicher, wie ich selber
lebte, daß Du etwas Besonderes würdest. Und ich liebe Dich auch heute
so, wie damals. Das muß ich Dir sagen und bitte Dich mit meinem ganzen
gequälten, traurigen Herzen, mir nicht bös zu sein, daß ich von diesen
Dingen spreche. Es scheint uns schwer gemacht zu werden. Ich verstand,
als Du fortgingst damals, so gut, daß Du den Flug in die freie Luft
gewagt hast. Ich war stolz darauf, obgleich es mir so schweren Kummer
machte, daß Du mir nichts gesagt hattest und daß Du nicht schriebst. Ich
wäre Dir nachgekommen. Und ich glaubte, Du kämst eines Tags unerwartet
zurück, frei und selbständig – wie in den Theaterstücken.

Und als ich dann hörte, Du seist in Antwerpen gesehen worden, und es sei
nichts aus Dir geworden, da fluchte ich gegen alles, was mir heilig war.
Mein Gehirn zerrieb sich umsonst an den Widerständen. Aber heute
verstehe ich, daß das Leben die Dinge nicht so einfach serviert, sondern
daß es mit tausenderlei Abstufungen, die wie Töne und Untertöne so fein
klingen, arbeitet. Und wir spekulieren ohne das Leben, das unter der
Kruste seinen Weg mit uns geht, wohin es will. Aus meiner
Leidenschaftlichkeit, meinem Haß, meiner Verachtung, meinen Brüskerien
ist ein bleiches, mageres Mädchen geworden, das nur noch Wünsche hat,
die wie Wolken auf dem Meere liegen, man weiß nicht, ob es Berge oder
nur Dunstgebilde sind. Ich spiele auf Gesellschaften Klavier, bin
zuvorkommend und man findet, daß ich nicht ohne Liebenswürdigkeit auf
dem guten Weg bin, eine alte Jungfer zu werden.

Aber wenn du den Griff meiner Finger spüren könntest, indem ich dies
schreibe in meiner einsamen Nacht! Es ist mir oft, als hätte ich einen
Haß, mächtig genug, das Land, das ganze kleine verfluchte Land zwischen
den Händen zu erwürgen! Aber selbst diese Flammen verrauchen, ohne Hitze
zu lassen, und morgen nachmittag werde ich dem Viehändler X. den Tisch
schmücken und nachher die Verleumderin Y. liebenswürdig behandeln, damit
ich nicht von der Gesellschaft abseits stehn gelassen werde. Könnte ich
nur ganz still resignieren. Aber es ist noch zu viel Feuer in einem.

Ist es nicht komisch, daß ich die Pein meines kleinen Lebens Dir in die
Welt nachschicke? Aber ich habe die Hoffnung, daß sie Dich vielleicht
nicht erreicht. Denn: wo bist Du? Der liebe Herr Hasenklever nannte mir
den Dampfer ‚Hamburg‘. Aber die Meere sind so weit! Die Erde ist so
tief! Man kann so spurlos drin verschwinden. Ich weine und küsse den
lieben Bruder.

                                                              Jeanne.“

Das las Baptist. Er faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in
die Tasche. Es war Nacht geworden und er ging langsam zwischen den Tauen
und Warenballen hindurch hinter die Back an achtern und setzte sich auf
den Anker, der einsam dort lag. Über den schwarzen Stämmen der Tausende
von Masten flog der glühende Himmel auf, der den Schein der Abendlichter
Neuyorks trug. Er war wie blühendes Blut. Wie mit Messerschnitten
arbeiteten die Ereignisse des Tages in Baptist. Er konnte sie nicht
zusammen bringen. Die Klage seiner Schwester, Ilanka, der Mord, der Tod
der beiden Menschen ... alles floß unaufhörlich ineinander. Es war alles
grundlos, alles ohne Erklärung. Wehrlos ließ er es auf sich losschlagen.
Auf fernen Dampfern klopfte die Arbeit. Sie scheute selbst die Nacht
nicht, die milde, heilige Nacht, in deren Dunkelheit die Sterne standen,
wie Bänder, die sich leuchtend nach den verlassenen Ländern knüpfen.

Als Baptist eine lange Weile zu ihnen hinaufgeschaut hatte und langsam
die Erinnerungen an einzelne ihrer Gebilde kamen, die zu Haus über den
Fenstern gestanden hatten, da bohrte sich, wie ein Strudel, ein wildes
Schluchzen aus dem tiefsten Grunde seines Blutes in die Kehle herauf,
die Augen stürzten voll mit Tränen, er schlug mit dem Kopf auf die
Reeling nieder und weinte. Was war das „Zu Haus“? Er wußte erst in
diesem Augenblick, daß er seine Heimat verloren hatte, und er dachte mit
einem heißen, empörten Groll an das kleine, unfruchtbare, harte Land
zurück, das ihn verstoßen hatte und das nun seine Schwester peinigte. Er
weinte lange darüber. Er wurde ganz stumpf von Weinen und legte sich
dann betäubt ins Bett.

Mitten in der Nacht wachte er auf. Er war mit einem Mal ganz wach und
fühlte sich wie neu gekräftigt. Er zog sich an, ging an Deck hinauf und
stellte sich seewärts an die Reeling. Da war ihm auf einmal, als er an
das Schicksal Hartwigs dachte, als sei er einer Gefahr entlaufen. Ihr
letzter Schatten stand noch neben ihm und sie war tief wie ein Abgrund,
daß der Gedanke daran ihn schwindelig machte. Er preßte erschauernd die
Augen zu. Aber gleich ergoß sich eine große Zuversicht über ihn. Er war
gerettet und flüchtete sich mit seligen Gefühlen zu dem Brief seiner
Schwester. Er zog ihn aus der Tasche und drückte lange inbrünstig die
Lippen darauf. Er fühlte einen Schoß irgendwo im Kreise der Welt, der
mild und warm wie eine Höhle war, in die sich Flüchtlinge retten.

Am nächsten Morgen ging Baptist zum Kapitän und entschuldigte sich, daß
er gegen sein Entgegenkommen so unhöflich gewesen sei. Er habe nicht
allein die Schuld daran. Denn Baptist fing an zu verstehen, daß die
Worte des Kapitäns eine Auszeichnung für ihn waren. Der Kapitän war
liebenswürdig zu ihm, ließ ihn am Nachmittag rufen und kündigte ihm an,
der Posten als Verwalter des Schiffsinventariums sei für ihn
frei. Baptist wußte Dank. Aber dieser Aufstieg war ihm etwas
Selbstverständliches. Er bekam nun eine eigene Kabine und der
Obermaschinist weihte ihn gleich in die neue Tätigkeit ein.

                   *       *       *       *       *

Gegen Abend verließ der Dampfer den Hafen. Baptist saß auf Deck auf
einem Kranz von Tauen und schaute auf die Stadt, die zurückblieb.
Überall tollte noch die Arbeit. Der Rauch des Hafens zog in wilden,
dunkeln Schwaden gegen die Dächer der Häuser und verband Hafen und
Stadt. Die Stadt lag wie eine einzige Masse in der nebeligen Luft, breit
zusammengeschlossen, mit einer passiven Wucht, wie eine Frau.

„Da ist es geschehen!“ sagte sich Baptist ... Und so sah diese Stadt
auch aus, wie ein entsetzliches Bett für die dunkle Katastrophe Hartwigs
und der Jüdin. Die Tat war ihm, nachdem er sie nun ruhiger überblicken
konnte, wie eine furchtbare Offenbarung der Natur, einer der
einschlagenden Blitze des Schicksals, bei denen man an eine Absicht
glauben will. So nahm er sie hin, selber, aber außerhalb der eigenen
Wirklichkeit daran beteiligt, und er wälzte dieses Ereignis mit vielen
schweren, dunkel bleibenden Schlußfolgerungen in sich herum. Die
doppelte Katastrophe hatte nichts Fürchterliches mehr, sondern nur die
schwere Gewalt einer urtümlichen Manifestation.

Sie wuchs dort aus der Riesensiedlung heraus. Die Stadt war wie die Burg
einer allgewaltigen Maschine, die ihre Kraft aus der ganzen Erde zieht
und sie verstärkt über die ganze Erde zurückschleudert. Willen und
Notwendigkeit waren die Räder, Menschengeist die Triebkraft. Und das
Schicksal Hartwigs und der Jüdin war von jedem Willen und jedem
Bewußtsein freie Natur, war aufgesprossen wie eine verhängnisvolle,
dumpfe Vegetation, war wie ein Vulkanausbruch in der Stadt aufgeschlagen
... In welcher tiefen, geheimnisvollen Absicht des Schicksals? In
welchem urhaft verwurzelten Zusammenhang zwischen Mensch und Natur?
Willen und Geschehen stiegen wie zwei Säulen nebeneinander auf.

Da war es Baptist auf einmal, als wüßte er wie in einem dämmerigen
großen Mysterium um das Geheimnis seines eigenen Versagens.

Als er diese dunkle Erkenntnis errungen, war eine große Feierlichkeit in
ihm. Er saß abends in seiner einsamen Kabine und blätterte das Pack
deutscher Zeitungen durch, die ein Zufall ihm in die Kabine gebracht
hatte. Da las er, daß ein ganzes Volk sich wie in einer freudetrunkenen
Woge hob, um dem Erfinder eines modernen Gedankens die Kraft zu geben,
das Werk zu vollenden. Er las mit fliegenden Gedanken heraus, daß das
Volk mit tätig sein wollte, wenn das große Neue geschah, das seinem
Leben vielleicht andere Richtungen aufzwang. Hier gab es ein Werk, in
dem sich mit der geschlossenen Kraft einer ganzen Rasse der Willen der
Zeit kund tat. Alle Einzelnen fügten sich zur Masse zusammen, die Masse
drang vorwärts in einer festen Phalanx. Das war auch Neuyork, die
Weltburg des riesenhaften Akkumulators, der sammelte und spendete.

Da kam ihm sein eigenes Leben vor wie ein Einsamgehen, wie ein
kindisches, dummstolzes Spekulieren, und es war ihm nur recht geschehen,
daß es ihn aus dem Kreis der Kraft des Lebens, die wie ein Rad über die
Erde drehte, gestoßen und ihn gestürzt hatte. Er fühlte sich zum
erstenmal als ein Teil von einem Ganzen; als ein Teil, das suchen mußte,
seine sich bescheidende Kraft in das Getriebe des Ganzen einzufügen, wo
sein Platz leer war und wartete.

Gerührte und ergriffene Tage kamen ihm nun, und die Begeisterung
überbrauste ihn, daß am Ende seiner Reife in die Welt der Hafen jenes
Volkes lag. Er hatte schon als Knabe sich in dunklem Drange dem Volk
zugehörig gefühlt. Und in diesem Hafen sollte ihm das neue Leben
beginnen.

So baute er sich an einem Tage, da zum erstenmal vor seinen Augen die
Tropenküste Brasiliens in weißer Glut aus dem Ozean brannte, in der
deutschen Ferne den Hafen einer neuen Heimat auf, und seine Augen
wandten sich von dem flaumweichen, heißen Streifen des Ufers und suchten
verliebt die Richtung nach Osten über das Band der Meere.


                                  Ende




                          Fischers Bibliothek
                        zeitgenössischer Romane

                            Zweiter Jahrgang
                     (Oktober 1909-September 1910)

           1.  Bd.  Hermann Hesse, Unterm Rad
           2.  Bd.  Anny Demling, Oriol Heinrichs Frau
           3.  Bd.  Theodor Fontane, Cecile
           4.  Bd.  Herman Bang, Am Wege
           5.  Bd.  Norbert Jacques, Der Hafen
           6.  Bd.  Laurids Brunn, Van Zantens glückliche Zeit
           7.  Bd.  Emil Strauß, Der Engelwirt
           8.  Bd.  Peter Nansen, Julies Tagebuch
           9.  Bd.  Felix Salten, Olga Frohgemuth
          10.  Bd.  Ruth Waldstetter, Die Wahl
          11.  Bd.  Hans von Kahlenberg, Eva Sehring
          12.  Bd.  Johan Bojer, Unser Reich

                     Jeden Monat erscheint ein Band




                  Im gleichen Verlage ist erschienen:

                        Norbert Jacques: Funchal

      Eine Geschichte der Sehnsucht. 2. Aufl. Geh. 2 M., geb. 3 M.

Von dieser Geschichte muß ich das Beste sagen, das man von einem Buche
rühmen kann: sie ist voll Schönheit und Eigenwuchs. Ein zarter,
vornehmer Stil, ein ungewöhnlicher Inhalt und eine wohlklingende Sprache
geben ihr ein besonderes Gesicht; man glaubt zuweilen in der Bibel zu
lesen, von so knapper, schlichter Größe sind einzelne Stellen; so die
Begegnung Thos und Margarethes am Meere, und ihre Hochzeitsnacht, und
die Wanderschaft Thos.

In einem armen Fischerdorf an der dänischen Küste geht ein fremdes
Schiff zu Grunde; ein Brett mit der Aufschrift Funchal und ein kleines
Kind sind die einzigen Überbleibsel. Der Knabe wird in der Familie des
alten Bootbauers Nielsen aufgezogen, ein Kuckuck im fremden Nest. Mit
siebzehn Jahren wacht in dem braunen Burschen ein Traum von hohen weißen
Bergen auf, eine Unruhe und unstillbare Sehnsucht, die ihn verbrennt. Er
hört von Funchal, der glänzenden Stadt auf Madeira, und beschließt, sie,
die seine Heimat sein muß, zu suchen. Er geht fort über Dünen und
Dörfer, arbeitet, hungert, verdient einen kargen Lohn und kehrt im
Winter wieder heim nach Klitby. So treibt er es durch die Jahre. Nie
kommt er ans Ziel. Alle Frühjahr packt ihn das Heimatfieber, er knüpft
sein Bündel, wandert ans Meer zu einem Hafen, um ein Schiff nach Funchal
zu finden, und kehrt im Herbst zerbrochen heim. Einmal findet er
Margarethe, Nielsens Tochter, badend. Hand in Hand gehen sie zum Vater,
verlobt. Nun wird Tho seßhaft. In der Hochzeitsnacht aber steht vor
seinen Augen die funkelnde Stadt mit den hohen Bergen und die Sehnsucht
seines Lebens ...

Das zitternde Heimweh nach dem unbekannten Vaterlande hat in dieser
Geschichte einen hinreißenden Ausdruck gefunden; der arme, fremde
Bursche, der anderen Blutes ist als die Menschen um ihn, irrt unstet und
von seinem Heimweh geplagt umher, und als er müde das Suchen aufgibt,
lebt seine Sehnsucht weiter in seinem Kind.

Jacques hat nicht zu viel gesagt, als er unter den Titel des schönen
Buches schrieb: eine Geschichte der Sehnsucht. Glühend und blühend redet
sie zu uns und rührt an das Unerfüllte, das in jedem Herzen seine Stätte
hat.

                            (Ludwig Finckh in der „Münchener Zeitung“)


            Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig.




                     Anmerkungen zur Transkription


Verlagsanzeigen wurden am Ende des Buches gesammelt.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 20]:
   ... ihm hochgespannt. Er fühlte seine Gedanken sich sich
       straffen, daß ...
   ... ihm hochgespannt. Er fühlte seine Gedanken sich straffen,
       daß ...

   [S. 129]:
   ... glänzenden Augen dunkler und inniger werden an seinen ...
   ... glänzende Augen dunkler und inniger werden an seinen ...

   [S. 172]:
   ... Dir in die Welt nachschicke. Aber ich habe die Hoffnung, daß ...
   ... Dir in die Welt nachschicke? Aber ich habe die Hoffnung, daß ...






*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER HAFEN ***


    

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Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state
visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate.

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org.

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
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