Der Spiegel des Cyprianus

By Theodor Storm

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Title: Der Spiegel Des Cyprianus

Author: Theodor Storm

Release Date: September, 2005  [EBook #8925]
[This file was first posted on August 25, 2003]

Edition: 10

Language: German


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, DER SPIEGEL DES CYPRIANUS ***




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Der Spiegel des Cyprianus

Theodor Storm



Das Grafenschloß--eigentlich war es eine Burg--lag frei auf der Höhe;
uralte Föhren und Eichen ragten mit ihren Wipfeln aus der Tiefe; und über
ihnen und den Wäldem und Wiesen, die sich unterhalb des Berges
ausbreiteten, lag der Sonnenglanz des Frühlings.  Drinnen aber waltete
Trauer; denn das einzige Söhnlein des Grafen war von unerklärlichem
Siechtum befallen; und die vornehmsten Ärzte, die herbeigerufen wurden,
vermochten den Ursprung des Übels nicht zu erkennen.

Im verhangenen Gemache lag der Knabe schlafend mit blutlosem Antlitz.
Zwei Frauen saßen je zu einer Seite des Bettes, mit dem gespannten Blick
der Sorge ihn betrachtend; die eine alt, in der Kleidung einer vornehmeren
Dienerin, die andere, unverkennbar die Dame des Hauses, fast jung noch,
aber die Spuren vergangenen Leides in dem blassen, gütevollen Angesicht.

In den schönsten Tagen ihrer Jugend hatte der Graf um sie, das wenig
begüterte Fräulein, geworben; aber da schon nichts mehr fehlte als das
ausgesprochene Wort, hatte er sich abgewandt.  Eine reiche, schöne Dame,
die dem armen Fräulein dem stattlichen Gemahl und dessen Herrschaft
neidete, hatte den leichtblütigen Mann in ihrem Liebesnetz verstrickt; und
während diese als Herrin in das Grafenschloß einzog, blieb die Verlassene
in dem Witwenstübchen ihrer Mutter.

Aber das Glück der jungen Gräfin hatte keinen Bestand.  Als sie nach
Jahresfrist dem kleinen Kuno das Leben gegeben, wurde sie von einem bösen
Kindbettfieber hingerafft; und als wiederum ein Jahr vorbei war, da wußte
der Graf für sein verwaistes Söhnlein keine bessere Mutterhand als die,
welche er einst verschmäht hatte.  Und sie mit ihrem stillen Herzen vergab
ihm alle Kränkung und wurde jetzt sein Weib.

So saß sie nun sorgend und wachend bei dem Kind ihrer einstigen
Nebenbuhlerin.

"Er schläft jetzt ruhig", sagte die Alte; "Frau Gräfin sollten auch ein
wenig ruhen."

"Nicht doch, Amme", erwiderte die sanfte Frau; "ich bedarf's noch nicht;
ich sitze hier ja gut in meinem weichen Sessel."

"Aber die vielen Nächte durch!  Es ist doch nimmer ein Schlaf, wenn der
Mensch nicht aus den Kleidern kommt." Und nach einer Weile setzte sie
hinzu: "Es hat nicht immer solche Stiefmütter gegeben hier im Schloß."

"Du mußt mich nicht so loben, Amme!"

"Kennt Ihr denn nicht die Geschichte von dem Spiegel des Cyprianus?" sagte
wiederum die Alte; und als die Gräfin es verneinte, fuhr sie fort: "So
will ich sie Euch erzählen; es hilft die Gedanken zerstreuen.  Und seht
nur, wie das Kind schläft, der Atem geht ganz ruhig aus dem kleinen Mund!
--Nehmt noch dies Kissen unterm Kreuz, und nun die Füßchen auf den Schemel
hier!--Und nun wartet ein Weilchen, daß ich mich recht besinne."

Dann, als die Gräfin sich in die Kissen gesetzt und ihr freundlich
zugenickt hatte, begann die erfahrene Dienerin des Hauses ihre Erzählung:

"Vor über hundert Jahren hat einmal eine Gräfin in diesem Schloß gelebt;
die ist von allen Leuten nur die gute Gräfin genannt worden.  Der Name hat
auch rechtgehabt; denn sie ist demütig in ihrem Herzen gewesen und hat die
Armen und Niedrigen nicht gering geachtet.  Aber eine frohe Gräfin ist sie
nicht gewesen.  Wenn sie unten im Dorf hilfebringend in die Wohnungen der
Käthner gegangen, so hat sie mit Leid auf die Häuflein der Kinder geblickt,
die ihr oft den Eingang in die niedrigen Türen versperrten, und dabei
gedacht: 'Was gäbst du nicht hin um ein einziges solcher pausbäckiger
Englein!' Denn schon zehn Jahre lebte sie mit ihrem Gemahl; aber ihre Ehe
blieb ungesegnet; auch war ihr nicht, wie Euer Gnaden, ein mutterlos Kind
vom Herrgott in den Arm gelegt, dem sie den Schatz ihrer Liebe hätte
schenken können.  Der Graf, sonst ein gerechter Mann und der guten Gräfin
in Treue zugetan, hatte begonnen mitunter finster drein zu sehen, daß ihm
der Erbe seiner großen Herrschaft noch immer nicht geboren wurde.--Du
lieber Gott!"--unterbrach sich die Erzählerin--"den Reichen fehlt's; und
die Armen wünschen oft vergebens, daß sie von ihrem Häuflein ein Englein
oder zwei im Himmel hätten, die droben für sie beten könnten."

"Erzähle weiter!" bat ihre Herrin; und die Alte fuhr fort:

Es ist in der letzten Zeit des großen Krieges gewesen, und das Schloß
hier noch oft von Feindes und Freundes Truppen überzogen worden, da hat
es sich eines Tages begeben, daß ein alter Arzt, der mit den Schweden
ins Land gekommen, bei einem Gefecht, dort hinten an dem Wald, von einer
kaiserlichen Kugel verwundet worden, während er des Ausgangs harrend bei
seinen Theriatskasten Wache hielt.  Der Mann, welcher Cyprianus geheißen,
ist hier ins Schloß getragen und, obwohl die Herrschaft gut kaiserlich
gewesen, von der guten Gräfin mit großer Hingebung gepflegt worden.  Sie
hat eine glückliche Hand gehabt; doch ist viel Zeit darüber hingegangen.
Der Friede ist schon geschlossen gewesen, als sie noch oft in dem kleinen
Würzgärtlein hinter dem Schloß an der Seite des genesenden Greises auf und
ab gewandelt ist und seinen Reden von den Kräften und Geheimnissen der
Natur gelauscht hat.  Manchen Wink und manches Heilmittel aus den Kräutern
der Berge hat er ihr angegeben, das später ihren Kranken zugute kommen
konnte.  Und so ist allmählich zwischen der schönen Frau und dem alten
weisen Meister eine gegenseitige dankbare Freundschaft entstanden.

Um diese Zeit ist auch der Graf, welcher seit einem Jahr in der Armee des
Kaisers mit zu Feld gelegen, auf sein Schloß zurückgekehrt.  Als nun die
erste Freude des Wiedersehens vorüber war, glaubte der Arzt mit seinen
forschenden Augen den Zug eines stillen Kummers in dem Gesicht der guten
Gräfin zu erkennen; doch die Bescheidenheit des Alters hatte immer noch
eine Frage darüber auf seinen Lippen zurückgehalten.  Als er aber eines
Tages ein Weib von den schwarzen fahrenden Leuten, die derzeit unter ihrem
Herzog Michel durch das ganze Reich zogen, aus ihrer Kammer schlüpfen sah,
da hat er abends beim Lustwandeln in dem Gärtlein ihre Hand genommen und
ihr eindringlich zugeredet: "Ihr wißt, gnädige Gräfin, ich trage ein
väterlich Herz zu Euch; so sagt mir auch, was ließet Ihr um Mittag, da
Euer Herr sein Schläfchen tat, die arge Heidin in Eure Kammer?"

Die gute Gräfin erschrak; aber als sie in das milde Gesicht des Greises
sah, da sprach sie: "Ich habe ein großes Leid, Meister Cyprianus, und
möchte wissen, ob noch eine Zeit kommt, wo es von mir genommen wäre."

"So öffnet mir Euer Herz!" entgegnete er; "vielleicht, daß ich
bessern Rat weiß als jene fahrenden Leute, die wohl den Betrug der
Leichtgläubigen, aber keineswegs die Zukunft verstehen!"

Auf diese Worte hat die Gräfin dem alten Meister ihren Kummer vertraut,
und wie sie durch ihre Kinderlosigkeit sogar das Herz ihres Gemahls zu
verlieren fürchte.

Sie gingen währenddessen an der Umfassungsmauer des Gärtleins entlang, und
Cyprianus schaute über die unten liegenden Wälder hinaus, auf die schon
der rote Abendschein sich legte.  "Die Sonne scheidet", sprach er; "und
wenn sie morgen emporsteigt, so muß sie mich auf der Reise nach meinem
Heimatland sehen.  Aber ich schulde Euch Leben und Gesundheit, und so will
ich denn gebeten haben, wollet eine Dankesgabe, die ich durch sichere Hand
aus der Heimat an Euch senden werde, nicht verschmähen."

"So müßt Ihr wirklich fort, Meister Cyprianus?" rief die trauemde Frau.
"Da wird mein liebreichster Tröster mich verlassen!"

"Klagt darüber nicht, Frau Gräfin!" entgegnete er; "die Gabe, von der ich
sprach, ist ein speculum, zu deutsch ein Spiegel, unter sondrer Kreuzung
der Gestirne und in der heilbringendsten Zeit des Jahres gefertigt.  Wollt
ihn in Eure Kammer stellen und dort nach Frauen Art gebrauchen, so dürfte
er Euch bald bessere Kunde bringen als die trügerischen Leute der Haide.
--Man hält mich", setzte der Greis geheimnisvoll lächelnd hinzu, "in
meiner Heimat für nicht unkundig der Dinge der Natur." Die Erzählerin
unterbrach sich.--"Ihr wißt wohl, gnädige Gräfin, daß der Name Cyprianus
später im ganzen Norden als eines mächtigen Zauberers bekannt geworden ist.
Die Bücher, die er geschrieben, hat man nach seinem Tod in dem
unterirdischen Gewölbe eines Schlosses an Ketten gelegt, weil man geglaubt
hat, es seien böse, das Heil der Seele gefährdende Dinge darin enthalten.
Aber die das getan, haben sich geirrt, oder sie sind selbst nicht reinen
Herzens gewesen; denn--wie Cyprianus während seines Aufenthalts in diesem
Haus oft gesagt haben soll--'die Kräfte der Natur sind niemals böse in
gerechter Hand.'"

Aber ich will in meiner Geschichte fortfahren.--Einige Monde später,
nachdem der Meister unter trostvollem Zuspruch an die beiden Ehegatten das
Schloß verlassen hatte, hielt eines Tages ein Wägelchen mit einer großen
Holzkiste auf dem Hof; und da der Graf und seine Gemahlin, welche in der
Nachmittagsstunde müßig am Fenster standen, von Neugierde getrieben
hinabgegangen waren, war ihnen von dem Fuhrmann ein auf Pergament
geschriebener Brief des Cyprianus überreicht.  Die Kiste aber enthielt
die bei seinem Abschied verheißene Dankesgabe.  "Möge"--so lautete das
Schreiben--"dieser Spiegel so viele Tage der Freude eurem Leben zulegen,
als er mich Stunden heiligster Arbeit gekostet hat.  Wollt aber nicht
vergessen, das Letzte in allen Dingen steht allezeit in der Hand des
unergründlichen Gottes.--Nur eines ist zu verhüten.  Niemals darf das Bild
einer argen Tat in diesen Spiegel fallen; die heilsamen Kräfte, welche bei
seiner Anfertigung mitgewirkt haben, würden sich sonst in ihr Widerspiel
verkehren; insonders möchte den Kindern, so--das walte Gott!--euch bald
umgeben werden, daraus eine tödliche Gefahr erwachsen, und nur eine Sühne,
aus des Übeltäters eigenem Blut entsprossen, vermochte die Heilkraft des
Spiegels wieder herzustellen.  Allein die Güte eures Hauses ist so groß,
daß solches nicht geschehen kann; und somit wollt in Hoffnung und
Vertrauen diese Gabe aus der Hand eines dankbaren Freundes empfangen."

Und wie der Meister es gewollt, in Hoffnung und Vertrauen empfingen die
Ehegatten sein Geschenk.  Als die Kiste in den Flur getragen und geöffnet
war, zeigte sich zuerst ein Gestell, künstlich in Bronze gearbeitet.  Dann
hob man den Spiegel heraus; ein hohes schmales Glas von einem wunderbar
bläulichen Lichtglanz.  "Ist es nicht, mein Gemahl", rief die Gräfin, die
einen Blick hineingeworfen, "als liege die drinnen abgespiegelte Welt in
sanftem Mondenschein?" Der Rahmen war von geschliffenem Stahl, in dessen
tausenden Facetten der gefangene und gebrochene Lichtstrahl wie in
farbigem Feuer blitzte.

Bald war das schöne Werk in dem Schlafgemach der Eheleute aufgestellt; und
an jedem Morgen, während die Dienerin ihr das blonde Haar strählte oder
die seidene Flechte in einen Knoten legte, saß die gute Gräfin mit
gefalteten Händen vor dem Spiegel des Cyprianus und schaute andächtig und
voll Hoffnung in ihr eigenes liebes Antlitz.  Wenn aber die Frühsonne auf
die Facetten des Rahmens leuchtete, dann saß das Bild der schönen Frau wie
in einem Kranz von Sternenfunken.  Oft nach seinem ersten Gang durch Feld
und Wald trat ihr Gemahl wieder in das Schlafgemach und lehnte schweigend
hinter ihrem Stuhl; und wenn sie ihn dann im Spiegel sah, so meinte sie
jedes Mal, daß seine Augen weniger finster blickten.

Eine geraume Zeit war vergangen, als die Gräfin eines Morgens, da die
Kammerzofe sie schon verlassen, im Vorübergehen noch einen Blick in den
Spiegel tun wollte.  Aber es schien ein Hauch auf dem Glas, so daß sie ihr
Antlitz nicht deutlich zu sehen vermochte.  Sie nahm ihr Schweißtüchlein
und suchte es fortzuwischen; aber es half nicht; und sie sah nun wohl, daß
es nicht ober-, sondem innerhalb des Glases war.  Näherte sie sich dem
Spiegel, so trat ihr Antlitz klar daraus hervor; wenn sie aber weiter
zurücktrat, so schwamm es wie ein rosiger Duft zwischen ihr und ihrem
Spiegelbild.--Sinnend steckte sie ihr Tüchlein ein und ging den Tag über
schweigend und voll stiller Ahnung im Haus umher, so daß ihr Gemahl, der
ihr im Korridor begegnete, ausrief: "Was lächelst du denn so selig,
Herzensfrau?"--Sie schwieg noch immer und legte nur die Arme um seinen
Hals und küßte ihn.

Tag für Tag aber, wenn ihr Gemahl und die Dienerin sie verlassen, stand
sie in der Einsamkeit vor dem Spiegel des guten Meisters, und mit jedem
Morgen sah sie das Rosenwölkchen deutlicher hinter dem Glas schwimmen.

So war der Mai gekommen, und von draußen aus dem Gärtlein wehte der
Veilchenduft durchs offene Fenster; da trat die gute Gräfin eines Morgens
wieder vor den Spiegel.  Kaum hatte sie hineingeblickt, da brach ein
'Ach!' des Entzückens aus ihren Lippen, und ihre Hände fuhren nach dem
Herzen; denn in der Frühlingssonne, die hell in den Spiegel leuchtete,
erkannte sie deutlich ein schlummerndes Kinderantlitz, das aus dem
Rosenwölkchen blickte.  Mit verhaltenem Atem stand sie; sie konnte sich
an dem Anblick nicht ersättigen.

Da hörte sie von draußen vor der Brücke Hörnerschall, und sie entsann
sich, es müsse ihr Gemahl sein, der von der Jagd zurückkehrte.  Sie schloß
die Augen und blieb wartend stehen, bis er, gefolgt von seinem Hund, zu
ihr ins Gemach trat.  Dann umfing sie ihn mit beiden Armen, und in den
Spiegel zeigend, sprach sie leise: "Dich grüßt der Erbe deines Hauses!
"--Nun hatte der gute Graf auch das kleine Antlitz in dem Rosenwölkchen
erkannt; aber, der Freudenblitz aus seinen Augen verschwand auf einmal,
und die Gräfin sah im Spiegel, wie er erblaßte.  "Siehst du es denn
nicht?" flüsterte sie.

"Ich sehe es freilich, Herzensfrau", erwiderte er; "aber es erschreckt
mich, daß das Kindlein weint."

Sie kehrte sich zu ihm und wiegte das Haupt.  "Du törichter Mann", sprach
sie, "es schlummert, es lächelt ja im Traum."

Und so blieb es mit den beiden.  Er ging in Sorge; sie aber rüstete
heiteren Sinnes mit ihrer Schaffnerin die Wiege nebst den Daunenkissen und
den kleinen zarten Gewändern für den künftigen Erben des Hauses.  Mitunter,
wenn sie vor dem Spiegel stand, streckte sie wohl wie in traumhafter
Sehnsucht ihre Arme nach dem Rosenwölkchen aus, aber wenn dann ihre Finger
an die kalte Spiegelfläche stießen, so ließ sie die Arme wieder sinken und
gedachte an ein Wort des Cyprianus: 'Es will alles seine Zeit.'

Und auch ihre Stunde kam.  Das Wölkchen im Spiegel verschwand, und statt
dessen lag ein rosiger Knabe auf dem weißen Leintuch ihres Bettes.  Das
gab große Freude im Schloß und drunten im Dorf, und als der gute Graf
morgens durch seine lachenden Fluren ritt, da ließ er dem wiehernden
Goldfuchs die Zügel schießen und rief es jubelnd in den Sonnenschein
hinaus: "Mir ist ein Sohn geboren!"

Nachdem die Gräfin als Sechswöchnerin ihren Kirchgang gehalten, sah man
sie wiederum an warmen Sommertagen in die Käthnerhäuser des Dorfes gehen;
nur daß sie jetzt nicht mehr in Leid auf die Bauernkinder herabsah.  Sie
stand oft lange und bückte sich zu ihnen und wies sie an in ihren Spielen;
und wo sie einen recht kräftigen Jungen sah, da dachte sie auch wohl: "Der
Meine ist ihm doch noch über!"

Aber, wie Cyprianus geschrieben hatte, das Letzte ruht in der Hand des
unerforschten Gottes.--Mit dem Herbst fiel ein böses Fieber über das Dorf;
die Menschen starben; doch ehe sie starben, lagen sie verschmachtend und
hilfeflehend auf ihrem Lager.  Und die gute Gräfin ließ nicht auf sich
warten.  Mit den Arkanen des alten Meisters ging sie in die Hütten; sie
saß an den Betten der Kranken und wischte, wenn es zum Sterben ging, mit
ihrem Tüchlein den letzten Schweiß von ihren Stirnen.  Endlich aber, da
der kleine Kuno die Hälfte seines ersten Jahres erreicht hatte, schritt
der Tod, dem sie so manches Leben entrissen hatte, mit ihr selber nach dem
Schloß hinauf; und nachdem ihre armen Wangen im Fieber wie zwei dunkle
Rosen gebrannt hatten, streckte er sie weiß und kalt auf ihrem Lager aus.
Da war alle Freude ausgetan.  Der Graf ritt mit gesenktem Haupt durch
seine Fluren und ließ sein Roß die Wege, die es wollte, suchen.  "Nun weiß
ich, warum mein armes Knäblein schon vor der Geburt hat weinen müssen", so
sprach er immer wieder bei sich selbst; "denn Mutterlieb ist nur einmal
auf der Welt."

Einsam stand der kunstreiche Spiegel in dem Schlafgemach; und wie oft
auch die Frühsonne ihre Funken auf den Stahlkranz des Rahmens streute, das
Bild der guten Gräfin saß nicht mehr darin.  "Trage ihn fort", sagte der
Graf eines Morgens zu seinem alten Hausmeister; "das Blitzen tut meinen
Augen weh!"--Der Hausmeister ließ den Spiegel in ein entlegenes Gemach des
oberen Stockwerkes bringen, das derzeit zur Aufbewahrung allerlei alten
Gewaffens diente; und als die Diener, die ihn hinaufgetragen, sich
entfernt hatten, holte der alte Mann ein schwarzes Bahrtuch vom Begräbnis
der guten Gräfin und verhing damit das Kunstwerk des Meisters Cyprianus,
so daß kein Lichtstrahl fürder es berühren konnte.

Allein der Graf war noch jung; und als ein paar Jahre ins Land gegangen
waren und der kräftige Knabe anfing, in den weiten Korridoren des
Schlosses umherzutoben, da dachte der Graf: "Es ziemte sich, daß du deinem
Sohn eine neue Mutter suchtest, die ihn aufzöge in edler Sitte, wie es
sich für deinen Erben ziemt." Und weiter dachte er: "Am Hofe des Kaisers
sind viel holde Frauen; es sollte schlimm kommen, so du nicht die rechte
fändest." Auch eine Stimme war in seinen Ohren, die sprach: "Eine Mutter
für das Kind, ein Weib für dich; denn Frauenliebe ist ein süßer Trank!"

"Und so, als wieder einmal der Mai gekommen war, wurde das Reisezeug
gerüstet, und der Graf zog mit seinem Knaben, von stattlicher Dienerschaft
begleitet, nach der großen Stadt Wien.

"Lange blieben sie aus, und der alte Hausmeister ging in den hohen leeren
Gemächem umher und ließ die Fenster aufsperren, damit das Geräte, das
einst der guten Herrin gedient, in der eingeschlossenen Luft nicht
zugrunde gehe.  Endlich aber, da schon die Herbstfäden über die Felder
flogen, gelangten nacheinander viele Kisten mit kostbaren Teppichen,
goldgepreßten Ledertapeten und allerart modischen Dingen an, wie es von
dem Gesinde dort nie zuvor gesehen war, und der Hausmeister erhielt
Befehl, die großen Gemächer des Erdgeschosses für die neue Herrin zu
bereiten."

Die alte Erzählerin hielt einige Augenblicke inne; denn der kleine Kranke
hatte im Schlaf das Deckbett abgestoßen.  Dann aber, als sie ihn
sorgfältig wieder zugedeckt, und da der Knabe fort schlief, begann sie
wieder:

"Ihr kennt sie, gnädige Gräfin; das lebensgroße Frauenbild, das im
Rittersaal oben neben dem Kamin hängt, soll ihr ähnliches Konterfei sein.
Es ist ein Füchschen mit goldrötlichem Haar, wie sie den Männern,
besonders den älteren, so gefährlich sind.  Ich habe sie mir oft drauf
angesehen; wie sie den Kopf so leicht zurückwirft, und wie der Mund so süß
und hinterhältig lächelt und das goldfarbige Haar in freien Liebeslocken
über den weißen Nacken weht, da hätte vielleicht auch ein kühleres Blut
als das des guten Grafen nicht zu widerstehen vermocht.--Ich will nur das
noch sagen, sie ist eine junge Wittib gewesen; und soll ein Kind aus
dieser ersten Ehe, ein Töchterlein, bei den Verwandten ihres verstorbenen
Gemahls in der Kaiserstadt zurückgelassen haben.  So viel ist gewiß, auf
das Schloß hier ist diese Tochter nie gekommen."

Nun aber!  Endlich rasselten die Wagen in den Schloßhof; und das
versammelte Gesinde sah staunend zu, wie der Graf und eine fremdredende
Kammerjungfer der Dame aus dem Wagen halfen.  Und als sie nun in ihrem
mandelfarbenen Seidenkleid mit leichtem Kopfneigen die Treppe
emporschritt, da hörte ihr feines Ohr manch leis gerauntes Wort über die
Schönheit der neuen Herrin.

Erst als die Dame in der Tür verschwunden war, kam aus dem nachfolgenden
Gesindewagen der kleine Kuno hervorgeklettert.  "Ei, Junker", rief eine
rotwangige Magd ihm zu, "habt Ihr eine schöne Mutter jetzt!" Aber der
Knabe runzelte die Stirn und sagte trotzig: "Es ist nicht meine Mutter!"
Und der alte Hausmeister, der eben von der Begleitung der Herrschaft
zurückkam, sagte finster zu der Dirne: "Siehst du denn nicht, daß das der
Sohn der guten Gräfin ist!" Und dem Knaben zärtlich in die blauen Augen
sehend, nahm er ihn auf seinen Arm und trug ihn in sein väterliches Haus.

Dort wartete denn von nun an die fremde Frau.  Das Gesinde pries ihre
Leutseligkeit, und die Armen im Dorf meinten bald, sie habe eine noch
freigebigere Hand als die Verstorbene; nur auf die Kinder sehe sie gar
nicht, und auch seine Not könne man ihr so nicht klagen wie einst der
guten Gräfin.--Während sie aber die meisten der Schloßbewohner mit ihrer
Schönheit bestrickte, hatte der Hausmeister nur kalte Blicke für sie; es
mißfiel ihm, daß sie auch an Werktagen, wie er sagte, 'geschmückt wie eine
Jesabel' einherging.  Er traute den Liebkosungen nicht, womit sie zuweilen
in seiner und des Grafen Gegenwart den kleinen Kuno überschüttete.  Und
auch den Knaben selbst gewann sie nicht damit; er hatte für sie nichts als
ein schweigendes Anstarren; und wenn ihre Arme und Augen ihn losließen, so
rannte er hinaus ins Freie, holte seine kleine Armbrust und schoß nach
einem Holzvogel, den der Hausmeister ihm geschnitzt hatte; oder er saß
abends in der Stube seines alten Freundes und bilderte in einem großen
Buch von den Freuden des edlen Waidwerks.--Der gute Graf aber sah nichts
als die Schönheit seines Weibes.  Wenn er in das Zimmer und ihr entgegen
trat, so stand sie lächelnd, bis er sie umfing; hatte sie der Tür den
schönen Nacken zugewandt, so hob sie wohl das Handspieglein, das ihr an
goldner Kette vom Gürtel herabhing, aus den Falten ihres Seidenrockes und
nickte dem Eintretenden daraus entgegen.

Als aber das Frühjahr wiederkam, da befiel den Knaben ein Fieber, das er
sich im feuchten Moose des Waldes geholt hatte, und er lag in unruhigem
Krankenschlummer in seinen Kissen.  Neben dem Bett stand der Stuhl der
guten Gräfin mit der geschnitzten Lehne und dem blauen Samtpolster, auf
dem sie so oft vor dem Spiegel des Meisters Cyprianus gesessen hatte,
einst als in der Frühlingsluft die Veilchendüfte zu ihr ins offene Fenster
wehten.  Jetzt blühten draußen wieder einmal die Veilchen; aber der Stuhl
stand leer.  Die schöne Stiefmutter war zwar auch zugegen und saß neben
dem Grafen zu Füßen des kleinen Bettes; denn sie sah es wohl, wie der
Vater um sein Kind sorgte, und wollte es an sich nicht fehlen lassen.  Da
rief der Knabe aus seinem Fieber: 'Mutter, Mutter!' und hob sich mit
offenen Augen aus seinen Kissen.  'Hörst du, mein Gemahl!' sagte die
schöne Frau, 'unser Sohn verlangt nach mir!' Als sie aber auf stand und
sich zu ihm neigte, da streckte das Kind an ihr vorbei seine Arme nach dem
leeren Stuhl der guten Gräfin.

Der Graf erblaßte, und von dem Leid plötzlicher Erinnerung bezwungen, fiel
er neben dem Bett seines Sohnes in die Knie.  Die stolze Frau trat zurück,
und indem sie heimlich die kleine Faust um ihren Gürtel ballte, verließ
sie das Gemach, um es nicht wieder zu betreten.  Doch der Knabe wurde
gesund auch ohne ihre Pflege.

Bald darauf, als draußen die Rosenknospen ausschlugen, genaß die Gräfin
eines Söhnleins.  Der Graf aber wußte nicht, weshalb es ihm so schwer aufs
Herz fiel, als der kleine Kuno ihm mit dieser Nachricht entgegensprang.
Zwar ließ er auch jetzt sein Roß aus dem Stall führen, um mit seinen
Gedanken in die Heide hinaus zu reiten; aber nicht, um sie jubelnd über
Flur und See zu rufen.  Als er eben im Bügel saß, hob der alte Hausmeister
den kleinen Kuno zu ihm auf den Sattel und sagte: 'Vergeßt den Sohn der
guten Gräfin nicht!' Der Vater schloß die Arme um sein Kind und ritt mit
ihm Berg auf und ab, bis die Sonne hinabgesunken war; als sie aber bei der
Heimkehr unter den Fenstem der Kapelle vorüber ritten, in der die
gräflichen Grabgewölbe waren, da ließ er sein Roß langsamer gehen und
raunte in das Ohr des Knaben: 'Vergiß ihrer nicht; denn Mutterliebe ist
nur einmal der auf Welt!'--Als bei seinem Eintritt in das Zimmer der
Wöchnerin die Wartefrau den Neugeborenen in seine Arme legte, überfiel ihn
aufs neue das Heimweh nach der Toten, und er wußte es plötzlich, daß sie
doch allein die Frau seines Herzens gewesen war; der Knabe, obwohl sein
eigen Blut, war ihm wie fremd, weil er nicht auch aus ihrem Blut war.--Die
Augen der Gräfin, welche bald schöner als je aus ihren Wochen erstanden
war, übten fürder keinen Zauber mehr auf ihn.  Einsam ritt er durch die
Felder; ein Wort des Meisters Cyprianus stand wie in dunkler Schrift vor
seinen Augen: 'Rückwärts zu leben ist auch durch Gottes Hilfe nicht
vergönnt!'

Indessen wuchsen die beiden Knaben zusammen auf, und bald zeigte sich eine
große Liebe zwischen ihnen.  Als der kleine Wolf erst mit ins Freie konnte,
wurde Kuno sein Lehrer in allen Künsten, die von den Knaben geübt werden.
Er ließ ihn über Felsen und auf Bäume klettern, er schnitzte ihm die
Bolzen für seine kleine Armbrust und schoß mit ihm nach der Scheibe oder
wohl gar nach dem unerreichbaren Raubvogel, der über ihnen im Sonnenglanz
revierte.

So war wieder einmal der Winter herangekommen, als eines abends ein Mann
in der Uniform eines kaiserlichen Feldobristen mit seinem Diener in den
Schloßhof geritten kam.--Hager hat er geheißen, und ein hagerer knochiger
Mann soll es gewesen sein, mit eckiger Stim und kleinen grimmigen Augen;
der struppige strohgelbe Bart--so heißt es--habe ihm wie Strahlen vom Kinn
und von den Nasenflügeln abgestanden.  Er nannte sich einen Vetter von dem
ersten Gemahl der Gräfin und war, wie er sagte, nur auf Besuch gekommen;
aber er blieb von einer Woche in die andere und wurde allmählich als ein
ständiger Hausgenosse angesehen.--Der Graf hatte sich anfänglich um den
Besuch gar nicht gekümmert; aber der Obrist zeigte sich bald als einen
Meister des edlen Waidwerks, und als der erste Schnee gefallen war, zogen
die beiden Männer zusammen in das Tannendickicht, und von nun an hörte man
fast täglich das Toben der Rüden und das 'Ho Ridoh' der Jäger durch den
stillen Wald.  Da eines Nachmittags bei einer Sauhatz tönte das Hifthorn
des Obristen aus einem entlegenen Talgrund, wohin er ohne Gefolge mit dem
Grafen sich verloren hatte; und als der Rüdenmann und die Jäger, dem Ruf
folgend, dort zusammentrafen, sahen sie das Wildschein verendet zwischen
den Tannen liegen; daneben aber lag auch der Graf in seinem Blut.  Der
Obrist stand auf seinen Jagdspeer gelehnt, das Hifthorn in der Hand.
'Eure Saufedern taugen nichts', sagte er kurz, 'der Keiler hat sie
abgeschlagen'; und als alle von Schreck gelähmt dastanden, blitzte er sie
mit seinen kleinen grimmen Augen an: 'Was steht ihr noch!  Brecht Zweige
zu einer Bahre und tragt euren Herrn ins Schloß!' Und die Leute taten, wie
er befohlen hatte.

Der Graf aber ist nicht wieder mit dem Oberst auf die Jagd gezogen.  Denn
als der alte Hausmeister den Reitknecht nach einem Arzt entsenden wollte,
damit die Wunde untersucht würde, erhielt er den Bescheid, der Arzt sei
nimmer nötig, der Graf sei schon verschieden.

Und bald ruhte er im Grabgewölbe bei seiner guten Gräfin, und der kleine
Kuno war ein vater- und mutterloses Kind.  Der Obrist aber blieb nach wie
vor im Schlosse, und die Gräfin duldete es, daß unmerklich ein Stück des
Hausregiments nach dem andern in seine Hand ging.  Das Gesinde murrte
zwar, wenn er sie mit seiner scharfen Stimme anherrschte; aber sie wagten
es gleichwohl nicht, sich dem grimmen Manne zu widersetzen.--Auch mit den
beiden Knaben machte er sich zu schaffen.  Eines Morgens, als Kuno in den
Stall hinabkam, stand neben dem Rappen des Obersten ein kleines schwarzes
Nordlandsroß mit roter goldgestickter Schabracke.  'Das ist dein eigen',
sagte der Oberst, der mit hineingetreten war, 'klettere hinauf, so zeig
ich dir, wie ein Mann zu Pferde sitzen muß.' Bald sorgte er, daß auch der
kleine Wolf ein Roß bekam, und nun lehrte er die beiden Reiten nach den
Regeln der Kunst.  Nicht lange, so sah man den hagern Obristen auf seinem
hochbeinigen Rappen zwischen den beiden Knaben auf ihren kleinen
Nordlandsrossen über die Felder reiten.  Aber seltsame Reden waren es, die
er dabei mit ihnen führte.  Wenn sie, wie es bei Kindern geschieht, einmal
in Zank gerieten, so bückte er sich von seinem hohen Rappen und flüsterte
dem ältem zu: 'Du bist der Herr; vom Hof kannst du den Burschen jagen!'
und darauf zu dem jüngern nach der andern Seite: 'Er will's dir zeigen,
daß du auf seinem Grund und Boden reitest!' Aber dergleichen Worte
bewirkten nur, daß die Knaben sogleich von ihrem Streite abließen, ja wohl
gar von ihren Rossen sprangen und sich weinend in die Arme fielen.

Der Obrist sah scharf; er hatte es wohl bemerkt, wie die Augen der schönen
Gräfin, wenn sie den Stiefsohn mit ihrem eignen aus der Tür gehen sah, von
plötzlicher Finsternis befallen wurden, und wie dann ihre Blicke dem
Fortgehenden hastig und feindselig nachjagten.

An einem sonnigen Nachmittage stand er mit ihr in dem Würzgärtlein, wo
einst die gute Gräfin der Weisheit des Meisters Cyprianus gelauscht hatte.
Als die stolze Frau über die Ringmauer auf die unten liegenden Wälder und
Auen hinaussah, sagte er lauernd: 'Der Kuno tritt eine schöne Herrschaft
an, wenn er zu seinen eigenen Jahren kommt.' Und als sie schwieg und nur
mit finstern Augen in die Ferne starrte, setzte er hinzu: 'Euer Wolf ist
ein zartes Pflänzlein; aber der Kuno scheint fürs Regiment geboren;
langlebig und handfest schaut er aus.'

In diesem Augenblicke kamen auf der Wiese, die in der Tiefe unterhalb des
Gärtleins lag, die beiden Knaben auf ihren Rossen dahergeflogen.  Sie
ritten so dicht nebeneinander, daß die braunen Locken Kunos mit den
blonden des kleinen Wolf zusammenwehten.  Das Roß des letztern schüttelte
die Mähne und wieherte laut in den Sonnenschein hinaus.  Da erschrak die
Mutter und stieß einen Schrei aus; aber Kuno schlang den Arm um seinen
Bruder, und indem sie vorübertrabten, warf er einen stolzen leuchtenden
Blick zu den Obenstehenden hinauf.

"Wie gefallen Euch diese Augen, schöne Gräfin?" fragte der Oberst.

Sie stutzte und streifte mit einem unsichern Blick über ihn hin.

"Wie meint Ihr das?" flüsterte sie dann.

Er aber, die Hand am Kinn, erwiderte ebenso: "Rechnet auf mich, schöne
Frau; der Oberst Hager ist Euer treuergebener Knecht."

Da raunte sie, und er sah, wie ihr Antlitz totenbleich wurde: "Die Augen
würden mir besser noch gefallen, wenn sie geschlossen wären."

"Und was gäbt Ihr drum, wenn Ihr sie in solcher Schönheit erblicken
könntet?"

Sie legte einen Augenblick ihre weiße Hand in die seine; dann warf sie die
glänzenden Locken zurück und schritt, ohne sich umzublicken, aus dem
Gärtlein.

Als eine Stunde später der kleine Kuno durch die Korridore des obem
Stockwerks streifte, sah er den Obristen in einer Fensternische stehen.
Der Knabe wollte vorüber; denn der Mann schaute so unheimlich drein.  Aber
er wurde angerufen: "Wohin rennst du, Junge?"

"Nach der alten Rüstkammer", sagte Kuno, "ich wollte meine Armbrust holen."

"So gehe ich mit dir." Und der Oberst schritt neben dem Knaben her bis zu
dem entlegenen Gemache, wo noch immer mit dem schweren Bahrtuch verhangen
unter allerlei Gewaffen der Spiegel des Cyprianus stand.  Als sie
eingetreten waren, schob der Oberst den Eisenriegel vor und stellte sich
mit dem Rücken gegen die Tür.  Da aber der Knabe die wilden Augen des
Mannes sah, schrie er: "Hager, Hager, du willst mich töten!"

"Du kannst nicht übel raten", sagte der Oberst und griff nach ihm.  Aber
der Knabe sprang unter seinen Händen fort und riß seine gespannte Armbrust
von der Wand, die er tags vorher dorthin gehangen hatte.  Er schoß, und
den Eindruck seines Bolzens könnt Ihr noch heutzutage in dem schwarzen
Eichengetäfel sehen; aber den Obristen traf er nicht.

Da warf er sich in die Knie und rief: "Laß mich leben; ich schenke dir
mein kleines Nordlandsroß und auch das schöne rote Sattelzeug!"

Der finstere Mann stand mit untergeschlagenen Armen vor ihm.  "Dein
Nordlandsroß", erwiderte er, "läuft mir noch lange nicht schnell genug."

"Lieber Hager, laß mich leben!" rief der Knabe wieder; "wenn ich groß bin,
will ich dir mein Schloß geben und alle schönen Wälder, die dazu gehören!"

"Die will ich bälder noch bekommen", sagte der Oberst.

Da senkte der Knabe das Haupt und rief: "So ergebe ich mich in die
Allbarmherzigkeit Gottes!"

"Das war das rechte Wort!" sagte der böse Mann.  Aber der Knabe sprang
noch einmal auf und flog an den Wänden des Gemaches entlang; der Oberst
jagte ihn wie ein Wildpret.  Als sie aber an den verhangenen Spiegel kamen,
verwickelte der Knabe seine Füße in dem Bahrtuch, daß er jählings zu
Boden stürzte.  Da war auch der böse Mann über ihm.-In demselben
Augenblick--so wird erzählt--als dieser zum Faustschlage ausholte und der
Knabe die kleinen Hände schützend über seinem Herzen kreuzte, stand der
alte Hausmeister tief unten im hintersten Verschlage des Kellers, wo ein
Knecht mit der Abzapfung eines Fasses Ingelheimer beschäftigt war.  "Hast
du nichts gehört, Casper?" rief er und setzte das Lämpchen, das er in der
Hand gehalten, auf das Faß.

Der Knecht schüttelte den Kopf.  "Mir war", sagte der Alte, "als hörte ich
den Junker Kuno meinen Namen rufen."

"Ihr irrt Euch, Meister", erwiderte der Knecht; "hier unten hört sich
nichts!"

Eine Weile stand es an; da rief der Alte wieder: "Um Gott, Casper, da hat
es nochmals mich gerufen; das war ein Notschrei aus meines Junkers Kehle!"

Der Knecht fuhr in seiner Arbeit fort.  "Ich höre nur den roten Wein vom
Fasse rinnen", sagte er.

Der Alte aber ließ sich nicht beruhigen; er stieg in das Schloß hinauf; er
ging von Tür zu Tür, erst in dem Erdgeschoß und dann droben in dem oberen
Stockwerk.  Als er die Tür der entlegenen Rüstkammer öffnete, da leuchtete
ihm der Spiegel des Cyprianus entgegen, auf den die Abendsonne schien.
"Wessen ruchlose Hand hat denn das herabgerissen?" murrte der Alte; als er
aber das Bahrtuch vom Boden hob, sah er darunter den Leichnam des Knaben
und sah die dunkeln Locken über den geschlossenen Augenlidern liegen.

Der alte Mann stürzte in die Kniee und warf sich jammernd über ihn.  Er
löste die Kleider und suchte an dem Körper seines Lieblings nach der Spur
des Todes.  Aber er fand nichts als nur über dem Herzen einen dunkelroten
Flecken.  Lange blieb er noch finster und grübelnd auf den Knien liegen.
Dann hüllte er den Knaben in das Bahrtuch, nahm ihn auf seine Arme und
trug ihn in das Erdgeschoß hinab nach dem Zimmer der Gräfin.  Als er
eintrat, sah er die stolze Frau todbleich und zitternd vor dem Obersten
stehen, der, wie es schien, halb mit Gewalt ihre Hand erfaßt hielt.

Da legte der Alte den Leichnam zwischen die beiden auf den Boden, und fest
die Augen auf sie heftend, sprach er: "Der Erbherr Graf Kuno ist tot; Euer
Söhnlein, Frau Gräfin, ist jetzt der Erbe dieser Herrschaft."

Es mochte ein Monat nach dem Begräbnis des jungen Erbherrn sein, da lehnte
die Gräfin eines Nachmittags an dem Geländer eines kleinen Söllers, der
über der Tiefe schwebend von ihrem Zimmer den Austritt in die freie Luft
gestattete.  Der kleine Wolf stand neben ihr und betrachtete eine Schar
von Vögeln, welche in den Wipfeln der von unten heraufragenden Föhren und
Eichen mit lautem Geschrei ihr Wesen trieben.

"Sieh nur!" sagte die Gräfin.  "Sie beschreien den Kauz; dort sitzt er
neben dem Astloch in der Eiche." Und sie wies mit dem Finger vor sich hin.

Des Knaben Augen folgten mit Begierde.  "Ich seh ihn schon, Mutter", sagte
er; "das ist der Totenvogel; er schrie vor meinem Fenster, als der arme
Kuno starb."

"Hol deine Armbrust und schieß ihn!" sagte die Mutter.

Der Knabe sprang aus dem Zimmer, die Treppen hinab und in den Stall.  Dort
lag die Armbrust neben seinem kleinen Roß.  Aber die Sehne war zerrissen;
er hatte sie lange nicht gebraucht; denn Kuno war nicht mehr da, der ihm
die Bolzen schnitzte und den Holzvogel auf die Stange steckte.--Da lief er
in das Schloß zurück.  Er entsann sich, daß der Bruder seine Armbrust oben
in der Rüstkammer aufzuhängen pflegte.  Als er dort in dem entlegenen
Teile des Schlosses angekommen war und sich mit Mühe durch die schwere
Eichentür gedrängt hatte, leuchtete ihm der Spiegel des Cyprianus mit
seinem bläulichen Schein entgegen.  Die Stahlfacetten des Rahmens blitzten
im letzten Strahl der Abendsonne.  Der Knabe hatte das noch nie gesehen;
denn wenn er auch einmal mit dem Bruder hierher gekommen, so war doch das
Kunstwerk stets mit dem schweren Bahrtuch verhangen gewesen.  Jetzt stand
er davor und besah staunend sein eigenes Bild in diesem Glanze; er schien
die Armbrust ganz vergessen zu haben.--Es mußte indessen außer ihm selbst
noch etwas in dem Spiegel sein, das seinen ganzen Sinn gefangen nahm; denn
er kniete nieder und legte die Stirn an das Glas, um so nahe als möglich
hineinzuschauen.

Plötzlich aber griff er mit beiden Händen nach dem Herzen.  Dann sprang er
mit einem Wehschrei in die Höhe.  "Hilfe!" schrie er, "Hilfe!" und noch
einmal mit durchdringendem Zeter: "Hilfe!" Da hörte es die Mutter unten
auf dem Söller; und in Todesangst irrte sie von Gang zu Gang, von Tür zu
Tür.  "Wolf!  Wo bist du, Wolf?" rief sie; "so gib doch Antwort!" Und
endlich kam sie in die rechte Tür.  Da lag ihr Kind, sich im Todeskampfe
auf dem Boden windend.

Sie warf sich über ihn.  "Wolf!  Wolf!  Was ist geschehen?"

Der Knabe regte die verblaßten Lippen.  "Es hat mir einen Schlag aufs Herz
getan", stammelte er.

"Wer, wer tat es?" flüsterte die Mutter.  "Wolf, sprich nur ein einziges
Wort noch; wer hat das getan?"

Der Knabe wies mit erhobenem Finger in den Spiegel.--Und das sterbende
Kind in ihren Armen haltend, blickte sie vorgebeugt in das Glas des
Cyprianus.  Aber während des Schauens trat das Entsetzen in ihr Angesicht,
und ihr lichtblaues Auge wurde steinern wie ein Diamant.  Denn bei dem
Abendschein, der durch die trüben Fenster brach, sah sie im tiefsten
Grunde wie zusammengeballten Nebel die Gestalt eines Kindes; wie trauernd
kauerte es am Boden und schien zu schlafen.  Sie warf einen scheuen Blick
hinter sich in das Zimmer; aber dort lag nur die Dämmerung in den Winkeln.
Wieder, als ob es sie bannte, blickte sie mit gespannten Augen in den
Spiegel, und noch immer war es dort.--Da fühlte sie den Kopf des kleinen
Wolf ihren Armen entgleiten, und in demselben Augenblicke sah sie einen
leichten Rauch gegen das Spiegelglas ziehen.  Wie ein Hauch lief es
darüber hin.  Dann wurde das Glas wieder klar; aber hinter demselben zog
es wie ein graues Wölkchen in die Tiefe; und jetzt plötzlich sah sie dort
im Grunde des Spiegels zwei kleine Nebelgestalten, die sich umschlungen
hielten.

Mit einem Schrei sprang die Gräfin empor; ihr Sohn lag regungslos mit
wachsbleichem Antlitz; die offenstehenden blauen Lippen verkündeten den
Tod.--Sie riß das seidene Wams von seiner Brust; da sah sie den
dunkelroten Fleck auf seinem Herzen, den sie kurz zuvor auf der Brust des
kleinen Kuno gesehen hatte.  "Hager, Hager!" schrie sie--denn das
Geheimnis des Spiegels war ihr unbekannt--"das ist deine Faust!  Der war
dir auch im Wege; aber noch bist du nicht der Herr im Schloß; und ich
schwör's, du sollst es nimmer werden!"

Sie ging hinab; sie suchte ihn; aber der Oberst war eben zur Jagd auf ein
benachbartes Schloß geritten und hatte auf den morgenden Tag seine
Rückkunft angesagt.

Der plötzliche Tod auch des letzten Grafensohnes verbreitete einen dumpfen
Schrecken unter dem Gesinde.  Auf Treppen und Gängen standen sie und
raunten miteinander, und wenn die Gräfin nahte, stahlen sie sich scheu von
dannen.  Es wurde Nacht.  Der Leichnam des kleinen Wolf war hinabgetragen
und lag ausgestreckt auf seinem Bettchen in der Kammer.  Aber der Gräfin
ließ es bei dem Toten keine Ruh.  Im hellen Mondenschein, während alles
schlief, stieg sie hinauf nach der Rüstkammer.  Dort stand sie vor dem
Spiegel, der in blauem Schimmer leuchtete, blickte mit starren Augen
hinein und wand die Hände umeinander.  Dann wieder, als jage sie ein
plötzliches Grausen, stürzte sie aus dem Gemach und rannte durch die Gänge,
bis sie die Tür ihres Schlafgemachs erreicht und hinter sich ins Schloß
geworfen hatte.--So verging die Nacht.

Als am andern Morgen der Hausmeister in das Zimmer der Gräfin treten
wollte, hörte er hart und heftig drinnen reden.  Er erkannte die Stimme
des Obristen, der eben zurückgekehrt war; und bald antwortete die Gräfin
in gleicher Weise.  Es waren Worte tödlichen Hasses, die der Alte hörte.
Kopfschüttelnd trat er von der Tür zurück.  "Das sind die Gerichte Gottes!"
sprach er und stieg ein paar Treppen höher nach der Platte des runden
Turmes hinauf; denn ihm war, als müsse er Gottes freie Luft schöpfen.

Er lehnte sich über die Brüstung und blickte in den sonnigen Morgen hinaus.
"Wie schön die Wälder grünen!" sprach er vor sich hin.  "Und sie sind
alle tot!  Die gute Gräfin und der Graf, mein Junker Kuno und nun auch der
kleine Wolf!"--Da hörte er unten auf dem Hofe ein Pferd aus dem Stalle
ziehen; nicht lange darauf, so donnerte der Galoppschlag über die
Zugbrücke; dann weniger hörbar draußen auf dem Wege, und drüberhin aus den
Kronen der alten Eichen, die zur Seite standen, flogen die Raben krächzend
in die Luft.

In demselben Augenblicke kam von unten herauf ein Geschrei der Weiber; und
als der Alte hinabgestiegen war, drang es von allen Seiten auf ihn ein,
die Gräfin liege erschlagen in ihrem Blute.--"Wo ist der Oberst?" fragte
der Hausmeister.  "Fort ist er!" rief der Reitknecht, der vom Hofe
heraufkam, "mitsamt seinem hochbeinigen Rappen."

Rasch wurde die Verfolgung von dem Alten angeordnet; aber am andern Morgen
kamen alle auf schaumbedeckten Rossen unverrichteter Sache wieder heim.
--"So laßt uns denn die Toten begraben", sprach er, "und einen Boten
senden an den neuen Herrn dieser schönen Güter!"

"Und so geschah es", schloß die Erzählerin ihren Bericht--"die Herrschaft
kam an einen Vorfahren Eures Gemahls, welcher der Nächste war dem Blute
nach.  Der alte Hausmeister soll noch lange nach seinem Antritt dort unten
in dem Torhäuschen gewohnt haben, ein treuer Wächter an der Gruft seiner
geliebten Herrschaft."

"Das ist eine entsetzliche Geschichte!" sagte die Gräfin, als die Amme
schwieg. "Aber hast du nicht gehört, wie der erste Gemahl jener
unglücklichen Frau geheißen hat?"

"Freilich", erwiderte die Alte, "ihr Witwenname steht auf dem Rahmen des
Bildes." Und hierauf nannte sie eines der ersten Adelsgeschlechter.

"Seltsam!" sagte die Gräfin, "so ist sie meine Urahne!"

Die Alte schüttelte den Kopf.  "Unmöglich", sagte sie, "Ihr, Frau Gräfin,
aus dem Blut jener bösen Frau?"

"Es ist völlig gewiß, Amme; jene Tochter, die in Wien zurückblieb, wurde
die Frau eines meiner Vorfahren."--Das Gespräch wurde durch den Eintritt
des Arztes unterbrochen.  Der Knabe lag nach wie vor in todähnlichem
Schlummer und erwachte auch nicht, als die Hand des Arztes an seinen
kleinen Gliedern nach der Spur des Lebens forschte.

"Nicht wahr, er wird genesen?" sagte die Gräfin, indem sie angstvoll in
das verschlossene Gesicht des Arztes blickte.

"Die Frage ist zu viel für einen Menschen", erwiderte dieser; "aber Frau
Gräfin müssen schlafen; das ist ganz notwendig." Und als sie
Gegenvorstellungen machte, fuhr er fort: "Es wird sich bis morgen mit dem
Kranken nichts ereignen, ich hafte dafür; die Amme kann die Krankenwache
halten."

Endlich war sie überredet und begab sich in ihr Schlafgemach, da der Arzt
erklärt hatte, das Haus nicht verlassen zu wollen, bis er dessen gewiß sei.

Als die Alte mit diesem allein war, fragte sie: "Seid Ihr dessen sicher,
daß Frau Gräfin ruhig schlafen mag?"

"Für die angegebene Zeit, ja.

"Und dann, Herr Doktor?"

"Dann, wenn Eure Herrschaft geschlafen hat, so mögt Ihr sie vorbereiten;
denn der Knabe muß sterben."

Die Alte blickte mit festen Augen auf den Arzt.  "Ist das ganz gewiß?"
fragte sie.

"Ganz gewiß, Amme; es müßte denn ein Wunder geschehen. "-Der Arzt hatte
sich entfernt, und statt der Gräfin teilte jetzt eine junge Magd die
Krankenwache mit der Alten.  Diese stützte den Kopf auf den Rand des
Bettes und betrachtete das bleiche Antlitz des kleinen Kuno, in das der
Tod schon seine scharfen Züge grub.  "Ein Wunder!" murmelte sie ein paar
Mal; "ein Wunder!"

Da regte der Knabe sich auf seinem Kissen.  "Ich will mit den Kindern
spielen!" flüsterte er.

Die Alte riß die Augen auf.  "Mit was für Kindern?" fragte sie leise.

Und der Knabe sagte ebenso im Schlaf: "Mit den Spiegelkindern, Amme!"

Sie schrie fast auf.  "Unglückskind, so hast du in den Spiegel des
Cyprianus gesehen!--Aber der soll ja in der Sakristei stehen; und die
Sakristei ist ja vermauert!" Sie sann einen Augenblick; dann sagte sie zu
dem Mädchen: "Hol mir den Vincenz, Ursel!"

Vincenz, der Reitknecht, kam.--"Bist du neulich bei dem Bau in der Kapelle
gewesen?" fragte die Alte.

"Ich bin jeden Tag dort."

"Ist die Sakristei auch eingerissen?"

"Das geschah schon vor vierzehn Tagen."

"Hast du einen Spiegel dort gesehen?"

Er besann sich.  "Nun freilich, es steht dort einer im Winkel; der Rahmen
scheint von Stahl; aber der Rost hat ihn zerfressen."

Die Alte gab ihm einen großen Teppich.  "Verhänge den Spiegel sorgsam!"
sagte sie; "dann laß ihn hierher ins Ziinmer tragen.  Aber leise, damit
der Knabe nicht erwacht."

Vincenz ging; und bald wurde von ihm und einem Arbeiter ein hohes, mit dem
Teppich verhangenes Gerät in das Zimmer getragen.

"Ist das der Spiegel, Vincenz?" fragte die Amme; und als er es bejaht
hatte, fuhr sie fort: "Stellt ihn zu Füßen des Bettes, so daß der kleine
Kuno hineinblicken kann, sobald der Teppich fortgenommen ist."

Nachdem der Spiegel aufgestellt war und die Träger sich entfernt hatten,
setzte die Alte sich wieder an die Seite des Bettes.  "Ein Wunder muß
geschehen!" sprach sie vor sich hin.  Dann saß sie mit geschlossenen Augen
wie ein steinern Bild; unsichtbar aber kämpften in ihr Furcht und Hoffnung.
Sie harrte auf die Rückkunft der Gräfin; aber wie lang mußte sie noch
warten, bis der Schlaf die ganz verwachte Frau verlassen haben würde.

Da tat sich die Tür auf, und die Gräfin trat herein.  "Es hat mich nicht
schlafen lassen, Amme", sagte sie; "verzeih es mir!  Du bist so treu und
gut, und verständiger wohl als ich; und doch ist mir, ich dürfte das Bett
des Kindes nicht verlassen."

Die alte Frau antwortete nicht darauf.  "Sagt mir noch einmal, Frau
Gräfin", sagte sie, und das Herz schlug ihr so gewaltig, daß sie die Worte
kaum herausbrachte, "seid Ihr dessen ganz gewiß, daß jene böse Frau Eure
Urahne gewesen ist?"

"Ich bin dessen ganz gewiß.  Aber weshalb fragst du, Amme?"

Die Alte stand auf; und mit fester Hand riß sie den Teppich von dem
Spiegel.

Die Gräfin schrie laut auf.  "Mein Kind, mein Kind!  Das ist der Spiegel
des Cyprianus!"--Als sie aber einen Blick in den sanften Schein des Glases
geworfen hatte, so sah sie darin den kleinen Kuno mit offenen Augen auf
seinem Kissen liegen; sie sah ihn lächeln, und wie ein Hauch flog das Rot
der Gesundheit auf seine Wangen.  Sie wandte sich um; da saß er schon
aufrecht, frisch und blühend.

"Die Kinder, die Kinder!" rief er mit heller, klingender Stimme und
streckte die Anne nach dem Spiegel aus.

"Wo sind sie?" fragte die Gräfin.

"Dort, dort!" rief die Alte.  "Seht nur, sie lächeln, sie nicken, ach' und
sie haben Flügel; zwei Englein sind es!"

"Was sprecht Ihr?" sagte die Gräfin; "ich sehe sie ja nicht."

"Dort, dort!" rief wieder der kleine Kuno.--"Ach!" setzte er traurig hinzu,
"nun sind sie fortgeflogen."

Da sank die alte Amme auf den Stuhl zurück.  "Unser Kuno ist gerettet!"
rief sie und brach in lautes Schluchzen aus.  "Eure Liebe hat das getan
und hat den Fluch hinweggenommen von dem Werk des alten Meisters!"

Die Gräfin aber stand und blickte selig lächelnd in den Spiegel.  Auf
seiner Fläche schwamm wie Duft ein Rosenwölkchen, und deutlich schimmerte
ein schlummerndes Kinderantlitz daraus hervor.  "Wolf soll es heißen,
wenn's ein Knabe ist; Wolf und Kuno!" flüsterte sie leise.  "Und laß uns
beten, Amme, daß sie glücklicher werden als die, so einstens ihre Namen
trugen!"


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Der Spiegel des Cyprianus, von
Theodor Storm.




*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, DER SPIEGEL DES CYPRIANUS ***

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