Amok: Novellen einer Leidenschaft

By Stefan Zweig

The Project Gutenberg EBook of Amok, by Stefan Zweig

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Title: Amok
       Novellen einer Leidenschaft

Author: Stefan Zweig

Release Date: September 5, 2018 [EBook #57850]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK AMOK ***




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                               Die Kette
                           Ein Novellenkreis


                            Der erste Ring:
                            Erstes Erlebnis
                       Geschichten aus Kinderland


                            Der Zweite Ring:
                                  Amok
                      Novellen einer Leidenschaft






                                  Amok


                      Novellen einer Leidenschaft


                                  Von
                              Stefan Zweig


                    Im Insel-Verlag zu Leipzig 1922


                           1. bis 10. Tausend


                            Frans Masereel,
                 dem Künstler, dem brüderlichen Freunde

                        Salzburg, Frühling 1922






   Tu auf dich, Unterwelt der Leidenschaften:
   Gestalten ihr, geträumt und doch empfunden,
   Laßt eure Lippen heiß an meinen haften,
   Trinkt Blut von Blut und Atem mir vom Munde!

   Brecht vor aus euren Zwielichtfinsternissen
   Und schämt euch nicht der Qual, die euch umschattet!
   Wer Liebe liebt, will nicht ihr Leiden missen,
   Was euch verstört, ists, was mich zu euch gattet.

   Nur Leidenschaft, die ihren Abgrund findet,
   Läßt deine letzte Wesenheit entbrennen,
   Nur der sich ganz verliert, ist sich gegeben.

   So flamm dich auf! Erst wenn du dich entzündet,
   Wirst du die Welt in deiner Tiefe kennen:
   Erst wo Geheimnis wirkt, beginnt das Leben.




                             Der Amokläufer


Im März des Jahres 1912 ereignete sich im Hafen von Neapel bei dem
Ausladen eines großen Überseedampfers ein merkwürdiger Unfall, über den
die Zeitungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausgeschmückte
Berichte brachten. Obzwar Passagier der »Oceania«, war es mir
ebensowenig wie den andern möglich, Zeuge jenes seltsamen Vorfalles zu
sein, weil er sich zur Nachtzeit während des Kohlenladens und der
Löschung der Fracht abspielte, wir aber, um dem Lärm zu entgehen, alle
an Land gegangen waren und dort in Kaffeehäusern oder Theatern die Zeit
verbrachten. Immerhin meine ich persönlich, daß manche Vermutungen, die
ich damals nicht öffentlich äußerte, die wirkliche Aufklärung jener
erregenden Szene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubt mir
wohl das Vertrauen eines Gespräches zu nutzen, das jener seltsamen
Episode unmittelbar vorausging.

                   *       *       *       *       *

Als ich in der Schiffsagentur von Kalkutta einen Platz für die Rückreise
nach Europa auf der »Oceania« bestellen wollte, zuckte der Clerk
bedauernd die Schultern. Er wisse noch nicht, ob es möglich sei, mir
eine Kabine zu sichern, das Schiff wäre jetzt knapp vor dem Einbruch der
Regenzeit immer schon von Australien her ausverkauft, er müsse erst das
Telegramm von Singapore abwarten. Am nächsten Tage teilte er mir
erfreulicherweise mit, er könne mir noch einen Platz vormerken, freilich
sei es nur eine wenig komfortable Kabine unter Deck und in der Mitte des
Schiffes. Ich war schon ungeduldig heimzukehren: so zögerte ich nicht
lange und ließ mir den Platz zuschreiben.

Der Clerk hatte mich richtig informiert. Das Schiff war überfüllt und
die Kabine schlecht, ein kleiner, gepreßter, rechteckiger Winkel in der
Nähe der Dampfmaschine, einzig vom trüben Blick der kreisrunden
Glasscheibe erhellt. Die stockende, verdickte Luft roch nach Öl und
Moder: nicht für einen Augenblick konnte man dem elektrischen Ventilator
entgehen, der wie eine toll gewordene stählerne Fledermaus einem surrend
über der Stirne kreiste. Von unten her ratterte und stöhnte wie ein
Kohlenträger, der unablässig dieselbe Treppe hinaufkeucht, die Maschine,
von oben hörte man unaufhörlich das schlurfende Hin und Her der Schritte
vom Promenadendeck. So flüchtete ich, kaum daß ich den Koffer in das
muffige Grab aus grauen Traversen verstaut hatte, wieder zurück auf
Deck, und wie Ambra trank ich, aufsteigend aus der Tiefe, den süßlichen
weichen Wind, der vom Lande her über die Wellen wehte.

Aber auch das Promenadendeck war voll Enge und Unruhe: es flatterte und
flirrte von Menschen, die mit der flackernden Nervosität eingesperrter
Untätigkeit unausgesetzt plaudernd auf und nieder gingen. Das
zwitschernde Geschäker der Frauen, das rastlos kreisende Wandern auf dem
Engpaß des Decks, wo vor den Stühlen der Schwarm in schwatzhafter Unruhe
vorbeiwogte, um sich unablässig zu begegnen, tat mir irgendwie weh. Ich
hatte eine neue Welt gesehen, rasch ineinanderstürzende Bilder in
rasender Jagd in mich eingetrunken. Nun wollte ich mirs übersinnen,
zerteilen, ordnen, nachbildend das heiß in den Blick Gedrängte
gestalten, aber hier auf dem gedrängten Boulevard gab es nicht eine
Minute Ruhe und Rast. Die Zeilen in einem Buch zerrannen vor den
flüchtigen Schatten der Vorüberplaudernden. Es war unmöglich, mit sich
selbst auf dieser schattenlosen wandernden Schiffsgasse allein zu sein.

Drei Tage lang versuchte ichs, sah resigniert auf die Menschen, auf das
Meer, aber das Meer blieb immer dasselbe, blau und leer, nur im
Sonnenuntergang plötzlich mit allen Farben jäh übergossen. Und die
Menschen, sie kannte ich auswendig nach dreimal vierundzwanzig Stunden.
Jedes Gesicht war mir vertraut bis zum Überdruß, das scharfe Lachen der
Frauen reizte, das polternde Streiten zweier nachbarlicher holländischer
Offiziere ärgerte nicht mehr. So blieb nur Flucht: aber die Kabine war
heiß und dunstig, im Salon produzierten unablässig englische Mädchen ihr
schlechtes Klavierspiel bei abgehackten Walzern. Schließlich drehte ich
entschlossen die Zeitordnung um, tauchte in die Kabine schon nachmittags
hinab, nachdem ich mich zuvor mit ein paar Gläsern Bier betäubt, um das
Souper und den Tanzabend zu überschlafen.

Als ich aufwachte, war es ganz dunkel und dumpf in dem kleinen Sarg der
Kabine. Den Ventilator hatte ich abgestellt, so schwälte die Luft fettig
und feucht an die Schläfen. Meine Sinne waren irgendwie betäubt: ich
brauchte Minuten, um mich an Zeit und Ort zurückzufinden. Mitternacht
mußte jedenfalls schon vorbei sein, denn ich hörte weder Musik noch den
rastlosen Schlurf der Schritte: nur die Maschine, das atmende Herz des
Leviathans, stieß keuchend den knisternden Leib des Schiffes fort ins
Unsichtbare.

Ich tastete empor auf Deck. Es war leer. Und wie ich den Blick aufhob
über den dünstenden Turm des Schornsteins und die geisterhaft glänzenden
Spieren, drang mit einmal magische Helle mir in die Augen. Der Himmel
strahlte. Er war dunkel gegen die Sterne, die ihn weiß durchwirbelten,
aber doch: er strahlte; es war, als verhüllte dort ein samtener Vorhang
ungeheures Licht, als wären die sprühenden Sterne nur Luken und Ritzen,
durch die jenes unbeschreiblich Helle vorglänzte. Nie hatte ich den
Himmel gesehen wie in jener Nacht, so strahlend, so stahlblau hart und
doch funkelnd, triefend, rauschend, quellend von Licht, das vom Mond
verhangen niederschwoll und von den Sternen und das irgendwie aus einem
geheimnisvollen Innen zu brennen schien. Weißer Lack, flimmerten im
Monde alle Randlinien des Schiffes grell gegen das samtdunkle Meer, die
Taue, die Rahen, alles Schmale, alle Konturen waren aufgelöst in diesem
flutenden Glanz: gleichsam im Leeren schienen die Lichter auf den Masten
und darüber das runde Auge des Ausgucks zu hängen, irdische gelbe Sterne
zwischen den strahlenden des Himmels.

Gerade aber zu Häupten stand mir das magische Sternbild, das Südkreuz,
mit flimmernden diamantenen Nägeln ins Unsichtbare gehämmert, schwebend
scheinbar, indes nur das Schiff Bewegung schuf, das leise bebend sich
mit atmender Brust nieder und auf, nieder und auf, ein gigantischer
Schwimmer, durch die dunklen Wogen stieß. Ich stand und sah empor: mir
war wie in einem Bade, wo Wasser warm von oben fällt, nur daß dies Licht
war, das mir weiß und auch lau die Hände überspülte, die Schultern, das
Haupt mild umgoß und irgendwie nach innen zu dringen schien, denn alles
Dumpfe in mir war plötzlich aufgehellt. Ich atmete befreit, rein, und
jäh beseligt spürte ich auf den Lippen wie ein klares Getränk die Luft,
die weiche, gegorene, leicht trunken machende Luft, in der Atem von
Früchten, Duft von fernen Inseln war. Nun, nun zum ersten Male, seit ich
die Planken betreten, überkam mich die heilige Lust des Träumens, und
jene andere sinnlichere, meinen Körper weibisch hinzugeben an dieses
Weiche, das mich umdrängte. Ich wollte mich hinlegen, den Blick hinauf
zu den weißen Hieroglyphen. Aber die Ruhesessel, die Deckchairs waren
verräumt, nirgends fand sich auf dem leeren Promenadendeck ein Platz zu
träumerischer Rast.

So tastete ich weiter, allmählich dem Vorderteil des Schiffes zu, ganz
geblendet vom Licht, das immer heftiger aus den Gegenständen auf mich zu
dringen schien. Fast tat es schon weh, dies kalkweiße, grell brennende
Sternenlicht, ich aber hatte Verlangen, mich irgendwo im Schatten zu
vergraben, hingestreckt auf eine Matte, den Glanz nicht an mir zu
fühlen, sondern nur über mir, an den Dingen gespiegelt, so wie man eine
Landschaft sieht aus verdunkeltem Zimmer. Endlich kam ich, über Taue
stolpernd und vorbei an den eisernen Gewinden bis an den Kiel und sah
hinab, wie der Bug in das Schwarze stieß und geschmolzenes Mondlicht
schäumend zu beiden Seiten der Schneide aufsprühte. Immer wieder hob,
immer wieder senkte sich der Pflug in die schwarzflutende Scholle, und
ich fühlte alle Qual des besiegten Elements, fühlte alle Lust der
irdischen Kraft in diesem funkelnden Spiel. Und im Schauen verlor ich
die Zeit. War es eine Stunde, daß ich so stand, oder waren es nur
Minuten: im Auf und Nieder schaukelte mich die ungeheure Wiege des
Schiffes über die Zeit hinaus. Ich fühlte nur, daß in mich Müdigkeit
kam, die wie eine Wollust war. Ich wollte schlafen, träumen und doch
nicht weg aus dieser Magie, nicht hinab in meinen Sarg. Unwillkürlich
ertastete ich mit meinem Fuß unter mir ein Bündel Taue. Ich setzte mich
hin, die Augen geschlossen und doch nicht Dunkels voll, denn über sie,
über mich strömte der silberne Glanz. Unten fühlte ich die Wasser leise
rauschen, über mir mit unhörbarem Klang den weißen Strom dieser Welt.
Und allmählich schwoll dies Rauschen mir ins Blut: ich fühlte mich
selbst nicht mehr, wußte nicht, ob dies Atmen mein eigenes war oder des
Schiffes fernpochendes Herz, ich strömte, verströmte in diesem ruhelosen
Rauschen der mitternächtigen Welt.

                   *       *       *       *       *

Ein leises, trockenes Husten hart neben mir ließ mich auffahren. Ich
schrak aus meiner fast schon trunkenen Träumerei. Meine Augen, geblendet
vom weißen Geleucht über den bislang geschlossenen Lidern, tasteten auf:
mir knapp gegenüber im Schatten der Bordwand glänzte etwas wie der
Reflex einer Brille, und jetzt glühte ein dicker, runder Funke auf, die
Glut einer Pfeife. Ich hatte, als ich mich hinsetzte, einzig
niederblickend in die schaumige Bugschneide und empor zum Südkreuz,
offenbar diesen Nachbarn nicht bemerkt, der regungslos hier die ganze
Zeit gesessen haben mußte. Unwillkürlich, noch dumpf in den Sinnen,
sagte ich auf deutsch: »Verzeihung!« »Oh, bitte ...« antwortete die
Stimme deutsch aus dem Dunkel.

Ich kann nicht sagen, wie seltsam und schaurig das war, dies stumme
Nebeneinandersitzen im Dunkeln knapp neben einem, den man nicht sah.
Unwillkürlich hatte ich das Gefühl, als starre dieser Mensch auf mich
genau wie ich auf ihn starrte: aber so stark war das Licht über uns, das
weißflimmernd flutende, daß keiner von keinem mehr sehen konnte als den
Umriß im Schatten. Nur den Atem meinte ich zu hören und das fauchende
Saugen an der Pfeife.

Das Schweigen war unerträglich. Ich wäre am liebsten weggegangen, aber
das schien doch zu brüsk, zu plötzlich. Aus Verlegenheit nahm ich mir
eine Zigarette heraus. Das Zündholz zischte auf, eine Sekunde lang
zuckte Licht über den engen Raum. Ich sah hinter Brillengläsern ein
fremdes Gesicht, das ich nie an Bord gesehen, bei keiner Mahlzeit, bei
keinem Gang, und sei es, daß die plötzliche Flamme den Augen wehtat oder
war es eine Halluzination: es schien grauenhaft verzerrt, finster und
koboldhaft. Aber ehe ich Einzelheiten deutlich wahrnahm, schluckte das
Dunkel wieder die flüchtig erhellten Linien fort, nur den Umriß sah ich
einer Gestalt, dunkel ins Dunkel gedrückt und manchmal den kreisrunden
roten Feuerring der Pfeife im Leeren. Keiner sprach, und dies Schweigen
war schwül und drückend wie die tropische Luft.

Endlich ertrug ichs nicht mehr. Ich stand auf und sagte höflich »Gute
Nacht«.

»Gute Nacht,« antwortete es aus dem Dunkel, eine heisere, harte,
eingerostete Stimme.

Ich stolperte mich mühsam vorwärts durch das Takelwerk an den Pfosten
vorbei. Da klang ein Schritt hinter mir her, hastig und unsicher. Es war
der Nachbar von vordem. Unwillkürlich blieb ich stehen. Er kam nicht
ganz nah heran, durch das Dunkel fühlte ich ein Irgendetwas von Angst
und Bedrücktheit in der Art seines Schrittes.

»Verzeihen Sie,« sagte er dann hastig, »wenn ich eine Bitte an Sie
richte. Ich ... ich ...« -- er stotterte und konnte nicht gleich
weitersprechen vor Verlegenheit -- »ich ... ich habe private ... ganz
private Gründe, mich hier zurückzuziehen ... ein Trauerfall ... ich
meide die Gesellschaft an Bord ... Ich meine nicht Sie ... nein, nein
... Ich möchte nur bitten ... Sie würden mich sehr verpflichten, wenn
Sie zu niemandem an Bord davon sprechen würden, daß Sie mich hier
gesehen haben ... Es sind ... sozusagen private Gründe, die mich jetzt
hindern unter die Leute zu gehen ... ja ... nun ... es wäre mir
peinlich, wenn Sie davon Erwähnung täten, daß jemand hier nachts ... daß
ich ...« Das Wort blieb ihm wieder stecken. Ich beseitigte rasch seine
Verwirrung, indem ich ihm eiligst zusicherte, seinen Wunsch zu erfüllen.
Wir reichten einander die Hände. Dann ging ich in meine Kabine zurück
und schlief einen dumpfen, merkwürdig verwühlten und von Bildern
verwirrten Schlaf.

                   *       *       *       *       *

Ich hielt mein Versprechen und erzählte niemandem an Bord von der
seltsamen Begegnung, obzwar die Versuchung keine geringe war. Denn auf
einer Seereise wird das Kleinste zum Geschehnis, ein Segel am Horizont,
ein Delphin, der aufspringt, ein neuentdeckter Flirt, ein flüchtiger
Scherz. Dabei quälte mich die Neugier, mehr von diesem ungewöhnlichen
Passagier zu wissen: ich durchforschte die Schiffsliste nach einem
Namen, der ihm zugehören konnte, ich musterte die Leute, ob sie zu ihm
in Beziehung stehen könnten: den ganzen Tag bemächtigte sich meiner eine
nervöse Ungeduld, und ich wartete eigentlich nur auf den Abend, ob ich
ihm wieder begegnen würde. Rätselhafte psychologische Dinge haben über
mich eine geradezu beunruhigende Macht, es reizt mich bis ins Blut,
Zusammenhänge aufzuspüren, und sonderbare Menschen können mich durch
ihre bloße Gegenwart zu einer Leidenschaft des Erkennenwollens
entzünden, die nicht viel geringer ist als jene des Besitzenwollens bei
einer Frau. Der Tag wurde mir lang und zerbröckelte leer zwischen den
Fingern. Ich legte mich früh ins Bett: ich wußte, ich würde um
Mitternacht aufwachen, es würde mich erwecken.

Und wirklich: ich erwachte um die gleiche Stunde wie gestern. Auf dem
Radiumzifferblatt der Uhr deckten sich die beiden Zeiger in einem
leuchtenden Strich. Hastig stieg ich aus der schwülen Kabine in die noch
schwülere Nacht.

Die Sterne strahlten wie gestern und schütteten ein diffuses Licht über
das zitternde Schiff, hoch oben flammte das Kreuz des Südens. Alles war
wie gestern -- in den Tropen sind die Tage, die Nächte zwillingshafter
als in unseren Sphären -- nur in mir war nicht dies weiche, flutende,
träumerische Gewiegtsein wie gestern. Irgend etwas zog mich, verwirrte
mich, und ich wußte, wohin es mich zog: hin zu dem schwarzen Gewind am
Kiel, ob er wieder dort starr sitze, der Geheimnisvolle. Von oben her
schlug die Schiffsglocke. Dies riß mich fort. Schritt für Schritt,
widerwillig und doch gezogen, gab ich mir nach. Noch war ich nicht am
Steven, da zuckte plötzlich dort etwas auf wie ein rotes Auge: die
Pfeife. Er saß also dort.

Unwillkürlich schreckte ich zurück und blieb stehen. Im nächsten
Augenblick wäre ich gegangen. Da regte es sich drüben im Dunkel, etwas
stand auf, tat zwei Schritte, und plötzlich hörte ich knapp vor mir
seine Stimme, höflich und gedrückt.

»Verzeihen Sie,« sagte er, »Sie wollen offenbar wieder an Ihren Platz,
und ich habe das Gefühl, Sie flüchteten zurück, als Sie mich sahen.
Bitte, setzen Sie sich nur hin, ich gehe schon wieder.«

Ich eilte, ihm meinerseits zu sagen, daß er nur bleiben solle, ich sei
bloß zurückgetreten, um ihn nicht zu stören. »Mich stören Sie nicht,«
sagte er mit einer gewissen Bitterkeit, »im Gegenteil, ich bin froh,
einmal nicht allein zu sein. Seit zehn Tagen habe ich kein Wort
gesprochen ... eigentlich seit Jahren nicht ... und da geht es so
schwer, eben vielleicht weil man schon erstickt daran, alles in sich
hineinzuwürgen ... Ich kann nicht mehr in der Kabine sitzen, in diesem
... diesem Sarg ... ich kann nicht mehr ... und die Menschen ertrage ich
wieder nicht, weil sie den ganzen Tag lachen ... Das kann ich nicht
ertragen jetzt ... ich höre es hinein bis in die Kabine und stopfe mir
die Ohren zu ... freilich, sie wissen ja nicht, daß ... nun sie wissens
eben nicht, und dann, was geht das die Fremden an ...«

Er stockte wieder. Und sagte dann ganz plötzlich und hastig: »Aber ich
will Sie nicht belästigen ... verzeihen Sie meine Geschwätzigkeit.«

Er verbeugte sich und wollte fort. Aber ich widersprach ihm dringlich.
»Sie belästigen mich durchaus nicht. Auch ich bin froh, hier ein paar
stille Worte zu haben ... Nehmen Sie eine Zigarette?«

Er nahm eine. Ich zündete an. Wieder riß sich das Gesicht flackernd vom
schwarzen Bordrand los, aber jetzt voll mir zugewandt: die Augen hinter
der Brille forschten in mein Gesicht, gierig und mit einer irren Gewalt.
Ein Grauen überlief mich. Ich spürte, daß dieser Mensch sprechen wollte,
sprechen mußte. Und ich wußte, daß ich schweigen müsse, um ihm zu
helfen.

Wir setzten uns wieder. Er hatte einen zweiten Deckchair dort, den er
mir anbot. Unsere Zigaretten funkelten, und an der Art, wie der
Lichtring der seinen unruhig im Dunkel zitterte, sah ich, daß seine Hand
bebte. Aber ich schwieg, und er schwieg. Dann fragte plötzlich seine
Stimme leise:

»Sind Sie sehr müde?«

»Nein, durchaus nicht.«

Die Stimme aus dem Dunkel zögerte wieder. »Ich möchte Sie gerne um etwas
fragen ... das heißt, ich möchte Ihnen etwas erzählen. Ich weiß, ich
weiß genau, wie absurd das ist, mich an den ersten zu wenden, der mir
begegnet, aber ... ich bin ... ich bin in einer furchtbaren psychischen
Verfassung ... ich bin an einem Punkt, wo ich unbedingt mit jemandem
sprechen muß ... ich gehe sonst zugrunde ... Sie werden das schon
verstehen, wenn ich ... ja, wenn ich Ihnen eben erzähle ... Ich weiß,
daß Sie mir nicht werden helfen können ... aber ich bin irgendwie krank
von diesem Schweigen ... und ein Kranker ist immer lächerlich für die
andern ...«

Ich unterbrach ihn und bat ihn, sich doch nicht zu quälen. Er möge mir
nur erzählen ... ich könne ihm natürlich nichts versprechen, aber man
habe doch die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten. Wenn man
jemanden in einer Bedrängnis sehe, da ergebe sich doch natürlich die
Pflicht zu helfen ...

»Die Pflicht ... seine Bereitwilligkeit anzubieten ... die Pflicht, den
Versuch zu machen ... Sie meinen also auch, Sie auch, man habe die
Pflicht ... die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten.«

Dreimal wiederholte er den Satz. Mir graute vor dieser stumpfen,
verbissenen Art des Wiederholens. War dieser Mensch wahnsinnig? War er
betrunken?

Aber als ob ich die Vermutung laut mit den Lippen ausgesprochen hätte,
sagte er plötzlich mit einer ganz andern Stimme: »Sie werden mich
vielleicht für irr halten oder für betrunken. Nein, das bin ich nicht --
noch nicht. Nur das Wort, das Sie sagten, hat mich so merkwürdig berührt
... so merkwürdig, weil es gerade das ist, was mich jetzt quält, nämlich
ob man die Pflicht hat ... die Pflicht ...«

Er begann wieder zu stottern. Dann brach er kurz ab und begann mit einem
neuen Ruck.

»Ich bin nämlich Arzt. Und da gibt es oft solche Fälle, solche
verhängnisvolle ... ja, sagen wir Grenzfälle, wo man nicht weiß, ob man
die Pflicht hat ... nämlich, es gibt ja nicht nur eine Pflicht, die
gegen den andern, sondern eine für sich selbst und eine für den Staat
und eine für die Wissenschaft ... Man soll helfen, natürlich, dazu ist
man doch da ... aber solche Maximen sind immer nur theoretisch ... Wie
weit soll man denn helfen? ... Da sind Sie, ein fremder Mensch, und ich
bin Ihnen fremd, und ich bitte Sie, zu schweigen darüber, daß Sie mich
gesehen haben ... gut, Sie schweigen, Sie erfüllen diese Pflicht ... Ich
bitte Sie, mit mir zu sprechen, weil ich krepiere an meinem Schweigen
... Sie sind bereit, mir zuzuhören ... gut ... Aber das ist ja leicht
... Wenn ich Sie aber bitten würde, mich zu packen und über Bord zu
werfen ... da hört sich doch die Gefälligkeit, die Hilfsbereitschaft
auf. Irgendwo endets doch ... dort, wo man anfängt mit seinem eigenen
Leben, seiner eigenen Verantwortung ... irgendwo muß es doch enden ...
irgendwo muß diese Pflicht doch aufhören ... Oder vielleicht soll sie
gerade beim Arzt nicht aufhören dürfen? Muß der ein Heiland, ein
Allerweltshelfer sein, bloß weil er ein Diplom mit lateinischen Worten
hat, muß der wirklich sein Leben hinwerfen und sich Wasser ins Blut
schütten, wenn irgendeine ... irgendeiner kommt und will, daß er edel
sei, hilfreich und gut? Ja, irgendwo hört die Pflicht auf ... dort, wo
man nicht mehr kann, gerade dort ...«

Er hielt wieder inne und riß sich auf.

»Verzeihen Sie ... ich rede gleich so erregt ... aber ich bin nicht
betrunken ... noch nicht betrunken ... auch das kommt jetzt oft bei mir
vor, ich gestehe es Ihnen ruhig ein, in dieser höllischen Einsamkeit ...
Bedenken Sie, ich habe sieben Jahre nur fast zwischen Eingeborenen und
Tieren gelebt ... da verlernt man das ruhige Reden. Wenn man sich dann
auftut, flutets gleich über ... Aber warten Sie ... ja, ich weiß schon
... ich wollte Sie fragen, wollte Ihnen so einen Fall vorlegen, ob man
die Pflicht habe zu helfen ... so ganz engelhaft rein zu helfen, ob man
... Übrigens ich fürchte, es wird lang werden. Sind Sie wirklich nicht
müde?«

»Nein, durchaus nicht.«

»Ich ... ich danke Ihnen ... Nehmen Sie nicht?«

Er hatte irgendwo hinter sich ins Dunkel getappt. Etwas klirrte
gegeneinander, zwei, drei, jedenfalls mehrere Flaschen, die er neben
sich gestellt. Er bot mir ein Glas Whisky, an dem ich flüchtig nippte,
während er mit einem Ruck das seine hinabgoß. Einen Augenblick stand
Schweigen zwischen uns. Da schlug die Glocke: halb eins.

                   *       *       *       *       *

»Also ... ich möchte Ihnen einen Fall erzählen. Nehmen Sie an, ein Arzt
in einer ... einer kleineren Stadt ... oder eigentlich am Lande ... ein
Arzt, der ... ein Arzt, der ...«

Er stockte wieder. Dann riß er sich plötzlich den Sessel heran zu mir.

»So geht es nicht. Ich muß Ihnen alles direkt erzählen, von Anfang an,
sonst verstehen Sie es nicht ... Das, das läßt sich nicht als Exempel,
als Theorie entwickeln ... ich muß Ihnen meinen Fall erzählen. Da gibt
es keine Scham, kein Verstecken ... vor mir ziehen sich auch die Leute
nackt aus und zeigen mir ihren Grind, ihren Harn und ihre Exkremente ...
wenn man geholfen haben will, darf man nicht herumreden und nichts
verschweigen ... Also ich werde Ihnen keinen Fall erzählen von einem
sagenhaften Arzt ... ich ziehe mich nackt aus und sage: ich ... das
Schämen habe ich verlernt in dieser dreckigen Einsamkeit, in diesem
verfluchten Land, das einem die Seele ausfrißt und das Mark aus den
Lenden saugt.«

Ich mußte irgendeine Bewegung gemacht haben, denn er unterbrach sich.

»Ach, Sie protestieren ... ich verstehe, Sie sind begeistert von Indien,
von den Tempeln und den Palmenbäumen, von der ganzen Romantik einer
Zweimonatsreise. Ja, so sind sie zauberhaft, die Tropen, wenn man sie in
der Eisenbahn, im Auto, in der Rikscha durchstreift: ich habe das auch
nicht anders gefühlt, als ich zum erstenmal herüber kam vor sieben
Jahren. Was träumte ich da nicht alles, die Sprachen wollte ich lernen
und die heiligen Bücher im Urtext lesen, die Krankheiten studieren,
wissenschaftlich arbeiten, die Psyche der Eingeborenen ergründen -- so
sagt man ja im europäischen Jargon -- ein Missionar der Menschlichkeit,
der Zivilisation werden. Alle, die kommen, träumen denselben Traum. Aber
in diesem unsichtbaren Glashaus dort geht einem die Kraft aus, das
Fieber -- man kriegts ja doch, mag man noch so viel Chinin in sich
fressen -- greift einem ans Mark, man wird schlapp und faul, wird weich,
eine Qualle. Irgendwie ist man als Europäer von seinem wahren Wesen
abgeschnitten, wenn man aus den großen Städten weg in so eine verfluchte
Sumpfstation kommt: auf kurz oder lang hat jeder seinen Knax weg, die
einen saufen, die andern rauchen Opium, die dritten prügeln und werden
Bestien -- irgendeinen Schuß Narrheit kriegt jeder ab. Man sehnt sich
nach Europa, träumt davon, wieder einen Tag auf einer Straße zu gehen,
in einem hellen steinernen Zimmer unter weißen Menschen zu sitzen, Jahr
um Jahr träumt man davon, und kommt dann die Zeit, wo man Urlaub hätte,
so ist man schon zu träge, um zu gehen. Man weiß, drüben ist man
vergessen, fremd, eine Muschel in diesem Meer, auf die jeder tritt. So
bleibt man und versumpft und verkommt in diesen heißen, nassen Wäldern.
Es war ein verfluchter Tag, an dem ich mich in dieses Drecknest verkauft
habe ...

Übrigens: ganz so freiwillig war das ja auch nicht. Ich hatte in
Deutschland studiert, war recte Mediziner geworden, ein guter Arzt sogar
mit einer Anstellung an der Leipziger Klinik; irgendwo in einem
verschollenen Jahrgang der Medizinischen Blätter haben sie damals viel
Aufhebens gemacht von einer neuen Injektion, die ich als erster
praktiziert hatte. Da kam eine Weibergeschichte, eine Person, die ich im
Krankenhaus kennen lernte: sie hatte ihren Geliebten so toll gemacht,
daß er sie mit dem Revolver anschoß, und bald war ich ebenso toll wie
er. Sie hatte eine Art, hochmütig und kalt zu sein, die mich rasend
machte -- mich hatten immer schon Frauen in der Faust, die herrisch und
frech waren, aber diese bog mich zusammen, daß mir die Knochen brachen.
Ich tat, was sie wollte, ich -- nun, warum soll ichs nicht sagen, es
sind acht Jahre her -- ich tat für sie einen Griff in die Spitalskasse,
und als die Sache aufflog, war der Teufel los. Ein Onkel deckte noch den
Abgang, aber mit der Karriere war es vorbei. Damals hörte ich gerade,
die holländische Regierung werbe Ärzte an für die Kolonien und biete ein
Handgeld. Nun, ich dachte gleich, es müßte ein sauberes Ding sein, für
das man Handgeld biete, ich wußte, daß die Grabkreuze auf diesen
Fieberplantagen dreimal so schnell wachsen als bei uns, aber wenn man
jung ist, glaubt man, das Fieber und der Tod springt immer nur auf die
andern. Nun, ich hatte da nicht viel Wahl, ich fuhr nach Rotterdam,
verschrieb mich auf zehn Jahre, bekam ein ganz nettes Bündel Banknoten,
die Hälfte schickte ich nach Hause an den Onkel, die andere Hälfte jagte
mir eine Person dort im Hafenviertel ab, die alles von mir
herauskriegte, nur weil sie jener verfluchten Katze so ähnlich war. Ohne
Geld, ohne Uhr, ohne Illusionen bin ich dann abgesegelt von Europa und
war nicht sonderlich traurig, als wir aus dem Hafen steuerten. Und dann
saß ich so auf Deck wie Sie, wie alle saßen und sah das Südkreuz und die
Palmen, das Herz ging mir auf -- ah, Wälder, Einsamkeit, Stille, träumte
ich! Nun -- an Einsamkeit bekam ich gerade genug. Man setzte mich nicht
nach Batavia oder Surabaya, in eine Stadt, wo es Menschen gibt und Klubs
und Golf und Bücher und Zeitungen, sondern -- nun der Name tut ja nichts
zur Sache -- in irgendeine der Distriktstationen, zwei Tagereisen von
der nächsten Stadt. Ein paar langweilige, verdorrte Beamte, ein paar
Halfcast, das war meine ganze Gesellschaft, sonst weit und breit nur
Wald, Plantagen, Dickicht und Sumpf.

Im Anfang wars noch erträglich. Ich trieb allerhand Studien; einmal, als
der Vizeresident auf der Inspektionsreise mit dem Automobil umgeworfen
und sich ein Bein zerschmettert hatte, machte ich ohne Gehilfen eine
Operation, über die viel geredet wurde, ich sammelte Gifte und Waffen
der Eingeborenen, ich beschäftigte mich mit hundert kleinen Dingen, um
mich wach zu halten. Aber all dies ging nur, solang die Kraft von Europa
her in mir noch funktionierte: dann trocknete ich ein. Die paar Europäer
langweilten mich, ich brach den Verkehr ab, trank und träumte in mich
hinein. Ich hatte ja nur noch zwei Jahre, dann war ich frei mit Pension,
konnte nach Europa zurückkehren, noch einmal ein Leben anfangen.
Eigentlich tat ich nichts mehr als warten, stilliegen und warten. Und so
säße ich heute noch, wenn nicht sie ... wenn das nicht gekommen wäre.«

                   *       *       *       *       *

Die Stimme im Dunkeln hielt inne. Auch die Pfeife glimmte nicht mehr. So
still war es, daß ich mit einem Male wieder das Wasser hörte, das sich
schäumend am Kiel brach, und den fernen, dumpfen Herzstoß der Maschine.
Ich hätte mir gern eine Zigarette angezündet, aber ich hatte Furcht vor
dem grellen Aufschlag des Zündholzes und dem Reflex in seinem Gesicht.
Er schwieg und schwieg. Ich wußte nicht, ob er zu Ende sei, ob er
duselte, ob er schlief, so tot war sein Schweigen.

Da schlug die Schiffsglocke einen geraden, kräftigen Schlag: ein Uhr. Er
fuhr auf: ich hörte wieder das Glas klingen. Offenbar tastete die Hand
suchend zum Whisky hinab. Ein Schluck gluckste leise -- dann plötzlich
begann die Stimme wieder, aber jetzt gleichsam gespannter,
leidenschaftlicher.

»Ja also ... warten Sie ... ja also, das war so. Ich sitze da droben in
meinem verfluchten Nest, sitze wie die Spinne im Netz regungslos seit
Monaten schon. Es war gerade nach der Regenzeit, Wochen und Wochen hatte
es auf das Dach geplätschert, kein Mensch war gekommen, kein Europäer,
täglich, täglich hatte ich dagesessen mit meinen gelben Weibern im Haus
und meinem guten Whisky. Ich war damals gerade ganz »_down_«, ganz
europakrank: wenn ich irgendeinen Roman las von hellen Straßen und
weißen Frauen, begannen mir die Finger zu zittern. Ich kann Ihnen den
Zustand nicht ganz schildern, es ist eine Art Tropenkrankheit, eine
wütige, fiebrige und doch kraftlose Nostalgie, die einen manchmal packt.
So saß ich damals, ich glaube über einem Atlas, und träumte mir Reisen
aus. Da klopft es aufgeregt an die Tür, der Boy steht draußen und eines
von den Weibern, beide haben die Augen ganz aufgerissen vor Erstaunen.
Sie machen große Gebärden: eine Dame sei hier, eine Lady, eine weiße
Frau.

Ich fahre auf. Ich habe keinen Wagen kommen gehört, kein Automobil. Eine
weiße Frau hier in dieser Wildnis?

Ich will die Treppe hinab, reiße mich aber noch zurück. Ein Blick in den
Spiegel, hastig richte ich mich ein wenig zurecht. Ich bin nervös,
unruhig, irgendwie gequält von unangenehmem Vorgefühl, denn ich weiß
niemanden auf der Welt, der aus Freundschaft zu mir käme. Endlich gehe
ich hinunter.

Im Vorraum wartet die Dame und kommt mir hastig entgegen. Ein dicker
Automobilschleier verhüllt ihr Gesicht. Ich will sie begrüßen, aber sie
fängt mir rasch das Wort ab. »Guten Tag, Doktor,« sagte sie auf englisch
in einer fließenden (etwas zu leicht fließenden und wie im voraus
eingelernten) Art. »Verzeihen Sie, daß ich Sie überfalle. Aber wir waren
gerade in der Station, unser Auto hält drüben« -- warum fährt sie nicht
bis vors Haus, schießt es mir blitzschnell durch den Kopf -- »da
erinnerte ich mich, daß Sie hier wohnen. Ich habe schon so viel von
Ihnen gehört, Sie haben ja eine wirkliche Zauberei mit dem
Vizeresidenten gemacht, sein Bein ist wieder tadellos _allright_, er
spielt Golf wie früher. Ah, ja, alles spricht noch davon drunten bei
uns, und wir wollten alle unseren brummigen Surgeon und noch die zwei
andern hergeben, wenn Sie zu uns kämen. Überhaupt, warum sieht man Sie
nie drunten, Sie leben ja wie ein Joghi ...«

Und so plappert sie weiter, hastig und immer hastiger, ohne mich zu
Worte kommen zu lassen. Etwas Nervöses und Fahriges ist in diesem
talkigen Geschwätz, und ich werde selbst unruhig davon. Warum spricht
sie soviel, frage ich mich innerlich, warum stellt sie sich nicht vor,
warum nimmt sie den Schleier nicht ab? Hat sie Fieber? Ist sie krank?
Ist sie toll? Ich werde immer nervöser, weil ich die Lächerlichkeit
empfinde, so stumm vor ihr zu stehen, übergossen von ihrer prasselnden
Geschwätzigkeit. Endlich stoppt sie ein wenig, und ich kann sie
hinaufbitten. Sie macht dem Boy eine Bewegung, zurückzubleiben, und geht
vor mir die Treppe empor.

»Nett haben Sie es hier,« sagt sie, in meinem Zimmer sich umsehend. »Ah,
die schönen Bücher! die möchte ich alle lesen!« Sie tritt an das Regal
und mustert die Büchertitel. Zum erstenmal, seit ich ihr
entgegengetreten, schweigt sie für eine Minute.

»Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?« fragte ich.

Sie wendet sich nicht um und sieht nur auf die Büchertitel. »Nein,
danke, Doktor ... wir müssen gleich wieder weiter ...: ich habe nicht
viel Zeit ... war ja nur ein kleiner Ausflug ... Ach, da haben Sie auch
den Flaubert, den liebe ich so sehr ... wundervoll, ganz wundervoll, die
>_Education sentimentale_< ... ich sehe, Sie lesen auch französisch ...
Was Sie alles können! ... ja, die Deutschen, die lernen alles auf der
Schule ... Wirklich großartig, so viel Sprachen zu können! ... Der
Vizeresident schwört auf Sie, sagt immer, Sie seien der einzige, dem er
unter das Messer ginge ... unser guter Surgeon drüben taugt gerade zum
Bridgespiel ... Übrigens wissen Sie -- (sie wendete sich noch immer
nicht um) heute kams mir selbst in den Sinn, ich sollte Sie einmal
konsultieren ... und weil wir eben vorüberfuhren, dachte ich ... nun,
Sie haben jetzt wohl zu tun ... ich komme lieber ein andermal.«

»Deckst du endlich die Karten auf!« dachte ich mir sofort. Aber ich ließ
nichts merken, sondern versicherte ihr, es würde mir nur eine Ehre sein,
jetzt und wann immer sie wolle, ihr zu dienen.

»Es ist nichts Ernstes,« sagte sie, sich halb umwendend und gleichzeitig
in einem Buch blätternd, das sie vom Regal genommen hatte, »nichts
Ernstes ... Kleinigkeiten ... Weibersachen ... Schwindel, Ohnmachten.
Heute früh schlug ich, als wir eine Kurve machten, plötzlich hin, _raide
morte_ ... der Boy mußte mich aufrichten im Auto und Wasser holen ...
nun, vielleicht ist der Chauffeur zu rasch gefahren ... meinen Sie
nicht, Doktor?«

»Ich kann das so nicht beurteilen. Haben Sie öfter derlei Ohnmachten?«

»Nein ..., das heißt ja ... in der letzten Zeit ... gerade in der
allerletzten Zeit ... ja ... solche Ohnmachten und Übelkeiten.«

Sie steht schon wieder vor dem Bücherschrank, tut das Buch hinein, nimmt
ein anderes heraus und blättert darin. Merkwürdig, warum blättert sie
immer so ... so nervös, warum schaut sie unter dem Schleier nicht auf?
Ich sage mit Absicht nichts. Es reizt mich, sie warten zu lassen.
Endlich fängt sie wieder an in ihrer nonchalanten, plapperigen Art.

»Nicht wahr, Doktor, nichts Bedenkliches das? Keine Tropensache ...
nichts Gefährliches ...«

»Ich müßte erst sehen, ob Sie Fieber haben. Darf ich um Ihren Puls
bitten ...«

Ich gehe auf sie zu. Sie weicht leicht zur Seite.

»Nein, nein, ich habe kein Fieber ... gewiß, ganz gewiß nicht ... ich
habe mich selbst gemessen jeden Tag, seit ... seit diese Ohnmachten
kamen. Nie Fieber, immer tadellos 36.4 auf den Strich. Auch mein Magen
ist gesund.«

Ich zögere einen Augenblick. Die ganze Zeit schon prickelt in mir ein
Argwohn: ich spüre, diese Frau will etwas von mir, man kommt nicht in
eine Wildnis, um über Flaubert zu sprechen. Eine, zwei Minuten lasse ich
sie warten. »Verzeihen Sie,« sage ich dann geradewegs, »darf ich einige
Fragen ganz frei stellen?«

»Gewiß, Doktor! Sie sind doch Arzt,« antwortet sie, aber schon wendet
sie mir wieder den Rücken und spielt mit den Büchern.

»Haben Sie Kinder gehabt?«

»Ja, einen Sohn.«

»Und haben Sie ... haben Sie vorher ... ich meine damals ... haben Sie
da ähnliche Zustände gehabt?«

»Ja.«

Ihre Stimme ist jetzt ganz anders. Ganz klar, ganz bestimmt, gar nicht
mehr plapprig, gar nicht mehr nervös.

»Und wäre es möglich, daß Sie ... verzeihen Sie die Frage ... daß Sie
jetzt in einem ähnlichen Zustande sind?«

»Ja.«

Wie ein Messer scharf und schneidend läßt sie das Wort fallen. In ihrem
abgewandten Kopf zuckt nicht eine Linie.

»Vielleicht wäre es da am besten, gnädige Frau, ich nehme eine
allgemeine Untersuchung vor ... darf ich Sie vielleicht bitten, sich ...
sich in das andere Zimmer hinüber zu bemühen?«

Da wendet sie sich plötzlich um. Durch den Schleier fühle ich einen
kalten, entschlossenen Blick mir gerade entgegen.

»Nein ... das ist nicht nötig ... ich habe volle Gewißheit über meinen
Zustand.««

                   *       *       *       *       *

Die Stimme zögert einen Augenblick. Wieder blinkert im Dunkel das
gefüllte Glas.

»Also hören Sie ... aber versuchen Sie zuerst einen Augenblick sich das
zu überdenken. Da drängt sich zu einem, der in seiner Einsamkeit
vergeht, eine Frau herein, die erste weiße Frau betritt seit Jahren das
Zimmer ... und plötzlich spüre ichs, es ist etwas Böses im Zimmer, eine
Gefahr. Irgendwie überliefs mich: mir graute vor der stählernen
Entschlossenheit dieses Weibes, die da mit plapprigen Reden
hereingekommen war und dann mit einemmal ihre Forderung zückt, wie ein
Messer. Denn was sie von mir wollte, wußte ich ja, wußte ich sofort --
es war nicht das erstemal, daß Frauen so etwas von mir verlangten, aber
sie kamen anders, kamen verschämt oder flehend, kamen mit Tränen und
Beschwörungen. Hier aber war eine ... ja, eine stählerne, eine männliche
Entschlossenheit ... von der ersten Sekunde spürte ichs, daß diese Frau
stärker war als ich ... daß sie mich in ihren Willen zwingen konnte, wie
sie wollte ... Aber ... aber ... es war auch etwas Böses in mir ... der
Mann, der sich wehrte, irgendeine Erbitterung, denn ... ich sagte es ja
schon ... von der ersten Sekunde, ja, noch ehe ich sie gesehen, empfand
ich diese Frau als Feind.

Ich schwieg zunächst. Schwieg hartnäckig und erbittert. Ich spürte, daß
sie mich unter dem Schleier ansah -- gerade und fordernd ansah, daß sie
mich zwingen wollte zu sprechen. Aber ich gab nicht so leicht nach. Ich
begann zu sprechen, aber ... ausweichend ... ja unbewußt ahmte ich ihre
plapprige, gleichgültige Art nach. Ich tat, als ob ich sie nicht
verstünde, denn -- ich weiß nicht, ob Sie das nachfühlen können -- ich
wollte sie zwingen, deutlich zu werden, ich wollte nicht anbieten,
sondern ... gebeten sein ... gerade von ihr, weil sie so herrisch kam
... und weil ich wußte, daß ich bei Frauen nichts so unterliege als
dieser hochmütigen kalten Art.

Ich redete also herum, dies sei ganz unbedenklich, solche Ohnmachten
gehörten zum regulären Lauf der Dinge, im Gegenteil, sie verbürgten
beinahe eine gute Entwicklung. Ich zitierte Fälle aus den klinischen
Zeitungen ... ich sprach, ich sprach, lässig und leicht, immer die
Angelegenheit ganz wie eine Banalität betrachtend und ... und wartete
immer, daß sie mich unterbrechen würde. Denn ich wußte, sie würde es
nicht ertragen.

Da fuhr sie schon scharf dazwischen, mit einer Handbewegung gleichsam
das ganze beruhigende Gerede wegstreifend.

»Das ist es nicht, Doktor, was mich unsicher macht. Damals, als ich
meinen Buben bekam, war ich in besserer Verfassung ... aber jetzt bin
ich nicht mehr allright ... ich habe Herzzustände ...«

»Ach, Herzzustände,« wiederholte ich, scheinbar beunruhigt, »da will ich
doch gleich nachsehen.« Und ich machte eine Bewegung, als ob ich
aufstehen und das Hörrohr holen wollte.

Aber schon fuhr sie dazwischen. Die Stimme war jetzt ganz scharf und
bestimmt -- wie am Kommandoplatz.

»Ich _habe_ Herzzustände, Doktor, und ich muß Sie bitten, zu glauben,
was ich Ihnen sage. Ich möchte nicht viel Zeit mit Untersuchungen
verlieren -- Sie könnten mir, meine ich, etwas mehr Vertrauen
entgegenbringen. Ich wenigstens habe mein Vertrauen zu Ihnen genug
bezeugt.«

Jetzt war es schon Kampf, offene Herausforderung. Und ich nahm sie an.

»Zum Vertrauen gehört Offenheit, rückhaltlose Offenheit. Reden Sie klar,
ich bin Arzt. Und vor allem nehmen Sie den Schleier ab, setzen Sie sich
her, lassen Sie die Bücher und die Umwege. Man kommt nicht zum Arzt im
Schleier.«

Sie sah mich an, aufrecht und stolz. Einen Augenblick zögerte sie. Dann
setzte sie sich nieder, zog den Schleier hoch. Ich sah ein Gesicht, ganz
so wie ich es -- gefürchtet hatte, ein undurchdringliches Gesicht, hart,
beherrscht, von einer alterslosen Schönheit, ein Gesicht mit grauen
englischen Augen, in denen alles Ruhe schien und hinter die man doch
alles Leidenschaftliche träumen konnte. Dieser schmale, verpreßte Mund
gab kein Geheimnis her, wenn er nicht wollte. Eine Minute lang sahen wir
einander an -- sie befehlend und fragend zugleich, mit einer so kalten,
stählernen Grausamkeit, daß ich es nicht ertrug und unwillkürlich zur
Seite blickte.

Sie klopfte leicht mit dem Knöchel auf den Tisch. Also auch in ihr war
Nervosität. Dann sagte sie plötzlich rasch:

»Wissen Sie, Doktor, was ich von Ihnen will, oder wissen Sie es nicht?«

»Ich glaube es zu wissen. Aber seien wir lieber ganz deutlich. Sie
wollen Ihrem Zustand ein Ende bereiten ... Sie wollen, daß ich Sie von
Ihrer Ohnmacht, Ihren Übelkeiten befreie, indem ich ... indem ich die
Ursache beseitige. Ist es das?«

»Ja.«

Wie ein Fallbeil zuckte das Wort.

»Wissen Sie auch, daß solche Versuche gefährlich sind ... für beide
Teile ...?«

»Ja.«

»Daß es gesetzlich mir untersagt ist?«

»Es gibt Möglichkeiten, wo es nicht untersagt, sondern sogar geboten
ist.«

»Aber diese erfordern eine ärztliche Indikation.«

»So werden Sie diese Indikation finden. Sie sind Arzt.«

Klar, starr, ohne zu zucken, blickten mich ihre Augen dabei an. Es war
ein Befehl, und ich Schwächling bebte in Bewunderung vor der dämonischen
Herrischkeit ihres Willens. Aber ich krümmte mich noch, ich wollte nicht
zeigen, daß ich schon zertreten war. -- »Nur nicht zu rasch! Umstände
machen! Sie zur Bitte zwingen,« funkelte in mir irgendein Gelüst.

»Das liegt nicht immer im Willen des Arztes. Aber ich bin bereit, mit
einem Kollegen im Krankenhaus ...«

»Ich will Ihren Kollegen nicht ... ich bin zu Ihnen gekommen.«

»Darf ich fragen, warum gerade zu mir?«

Sie sah mich kalt an.

»Ich habe kein Bedenken, es Ihnen zu sagen. Weil Sie abseits wohnen,
weil Sie mich nicht kennen -- weil Sie ein guter Arzt sind, und weil Sie
...« jetzt zögerte sie zum ersten Male -- »wohl nicht mehr lange in
dieser Gegend bleiben werden, besonders wenn Sie ... wenn Sie eine
größere Summe nach Hause bringen können.«

Mich überliefs kalt. Diese eherne, diese Merchant-, diese
Kaufmannsklarheit der Berechnung betäubte mich. Bisher hatte sie ihre
Lippen noch nicht zur Bitte aufgetan -- aber alles längst auskalkuliert,
mich erst umlauert und dann aufgespürt. Ich spürte, wie das Dämonische
ihres Willens in mich eindrang, aber ich wehrte mich mit all meiner
Erbitterung. Noch einmal zwang ich mich sachlich -- ja fast ironisch zu
sein.

»Und diese größere Summe würden Sie ... würden Sie mir zur Verfügung
stellen?«

»Für Ihre Hilfe und sofortige Abreise.«

»Wissen Sie, daß ich dadurch meine Pension verliere?«

»Ich werde sie Ihnen entschädigen.«

»Sie sind sehr deutlich ... Aber ich will noch mehr Deutlichkeit. Welche
Summe haben Sie als Honorar in Aussicht genommen?«

»Zwölftausend Gulden, zahlbar auf Scheck in Amsterdam.«

Ich ... zitterte ... ich zitterte vor Zorn und ... ja auch vor
Bewunderung. Alles hatte sie berechnet, die Summe und die Art der
Zahlung, durch die ich zur Abreise genötigt war, sie hatte mich
eingeschätzt und gekauft, ohne mich zu kennen, hatte über mich verfügt
im Vorgefühl ihres Willens. Am liebsten hätte ich ihr ins Gesicht
geschlagen ... Aber wie ich zitternd aufstand -- auch sie war
aufgestanden -- und ihr gerade Auge in Auge starrte, da überkam mich
plötzlich bei dem Blick auf diesen verschlossenen Mund, der nicht
bitten, auf ihre hochmütige Stirn, die sich nicht beugen wollte ... eine
... eine Art gewalttätiger Gier. Sie mußte irgend etwas davon fühlen,
denn sie spannte ihre Augenbrauen hoch, wie wenn man jemand Lästigen
wegweisen will: der Haß zwischen uns war plötzlich nackt. Ich wußte, sie
haßte mich, weil sie mich brauchte, und ich haßte sie, weil ... weil sie
nicht bitten wollte. Diese eine, diese eine Sekunde Schweigen sprachen
wir zum erstenmal ganz aufrichtig zueinander. Dann biß sich plötzlich
wie ein Reptil mir ein Gedanke ein, und ich sagte ihr ... ich sagte ihr
...

Aber warten Sie, so würden Sie es falsch verstehen, was ich tat ... was
ich sagte ... ich muß Ihnen erst erklären, wie ... wieso dieser
wahnsinnige Gedanke in mich kam ...«

                   *       *       *       *       *

Wieder klirrte leise im Dunkel das Glas. Und die Stimme wurde erregter.

»Nicht daß ich mich entschuldigen will, mich rechtfertigen, mich
reinwaschen ... Aber Sie verstehen es sonst nicht ... Ich weiß nicht, ob
ich je so etwas wie ein guter Mensch gewesen bin, aber ... ich glaube,
hilfreich war ich immer ... In dem dreckigen Leben da drüben war das ja
die einzige Freude, die man hatte, mit der Handvoll Wissenschaft, die
man sich ins Hirn gepreßt, irgendeinem Stück Leben den Atem erhalten zu
können ... so eine Art Herrgottsfreude ... Wirklich, es waren meine
schönsten Augenblicke, wenn so ein gelber Bursch kam, blauweiß vor
Schrecken, einen Schlangenbiß im hochgeschwollenen Fuß, und schon
heulte, man solle ihm das Bein nicht abschneiden, und ich kriegte es
noch fertig, ihn zu retten. Stundenweit bin ich gefahren, wenn irgendein
Weib im Fieber lag -- auch so wie diese es wollte, habe ich geholfen,
schon in Europa drüben an der Klinik. Aber da spürte mans wenigstens,
daß dieser Mensch einen _brauchte_, da wußte mans, daß man jemand vom
Tode rettete oder vor der Verzweiflung -- und das braucht man eben
selbst zum Helfen, dies Gefühl, daß der andere einen braucht.

Aber diese Frau -- ich weiß nicht, ob ich es Ihnen schildern kann -- sie
regte mich auf, reizte mich von dem Augenblick, da sie scheinbar
promenierend hereinkam, durch ihren Hochmut zu einem Widerstand, sie
reizte alles -- wie soll ichs sagen ... sie reizte alles Gedrückte,
alles Versteckte, alles Böse in mir zur Gegenwehr. Daß sie Lady spielte,
unnahbar kühl ein Geschäft entrierte, wo es um Tod und Leben ging, das
machte mich toll ... Und dann ... dann ... schließlich wird man doch
nicht schwanger vom Golfspielen ... ich wußte ... das heißt, ich mußte
plötzlich mit einer -- und das war jener Gedanke -- mit einer
entsetzlichen Deutlichkeit mich daran erinnern, daß diese Kühle, diese
Hochmütige, diese Kalte, die steil die Augenbrauen über ihre stählernen
Augen hochzog, als ich sie nur abwehrend ... ja fast wegstoßend
anblickte, daß die sich zwei oder drei Monate vorher heiß im Bett mit
einem Mann gewälzt hatte, nackt wie ein Tier und vielleicht stöhnend vor
Lust, die Körper ineinander verbissen wie zwei Lippen ... Das, das war
der brennende Gedanke, der mich überfiel, als sie mich so hochmütig, so
unnahbar kühl, ganz wie ein englischer Offizier anblickte ... und da, da
spannte sich alles in mir ... ich war besessen von der Idee, sie zu
erniedrigen ... von dieser Sekunde sah ich durch das Kleid ihren Körper
nackt ... von dieser Sekunde an lebte ich nur im Gedanken, sie zu
besitzen, ein Stöhnen aus ihren harten Lippen zu pressen, diese Kalte,
diese Hochmütige in Wollust zu fühlen so wie jener, jener andere, den
ich nicht kannte. Das ... das wollte ich Ihnen erklären ... Ich habe
nie, so verkommen ich war, sonst als Arzt die Situation zu nutzen
gesucht ... Aber diesmal war es ja nicht Geilheit, nicht Brunst, nichts
Sexuelles, wahrhaftig nicht ... ich würde es ja eingestehen ... nur die
Gier, eines Hochmuts Herr zu werden ... Herr als Mann ... Ich sagte es
Ihnen, glaube ich, schon, daß hochmütige, scheinbar kühle Frauen von je
über mich Macht hatten ... aber jetzt, jetzt kam noch dies dazu, daß ich
sieben Jahre hier lebte, ohne eine weiße Frau gehabt zu haben, daß ich
Widerstand nicht kannte ... Denn diese Mädchen hier, diese zwitschernden
kleinen zierlichen Tierchen, die zittern ja vor Ehrfurcht, wenn ein
Weißer, ein »Herr«, sie nimmt ... sie löschen aus in Demut, immer sind
sie einem offen, immer bereit, mit ihrem leisen, glucksenden Lachen
einem zu dienen ... aber gerade diese Unterwürfigkeit, dieses Sklavische
verschweint einem den Genuß ... Verstehen Sie jetzt, verstehen Sie es,
wie das dann auf mich hinschmetternd wirkte, wenn da plötzlich eine Frau
kam, voll von Hochmut und Haß, verschlossen bis an die Fingerspitzen,
zugleich funkelnd von Geheimnis und beladen mit früherer Leidenschaft
... wenn eine solche Frau in den Käfig eines solchen Mannes, einer so
vereinsamten, verhungerten, abgesperrten Menschenbestie frech eintritt
... Das ... das wollte ich nur sagen, damit Sie das andere verstehen ...
das, was jetzt kam. Also ... voll von irgendeiner bösen Gier, vergiftet
von dem Gedanken an sie, nackt, sinnlich, hingegeben, ballte ich mich
gleichsam zusammen und täuschte Gleichgültigkeit vor. Ich sagte kühl:
»Zwölftausend Gulden? ... Nein, dafür werde ich es nicht tun.«

Sie sah mich an, ein wenig blaß. Sie spürte wohl schon, daß in diesem
Widerstand nicht Geldgier war. Aber doch sagte sie:

»Was verlangen Sie also?«

Ich ging auf den kühlen Ton nicht mehr ein. »Spielen wir mit offenen
Karten. Ich bin kein Geschäftsmann ... ich bin nicht der arme Apotheker
aus Romeo und Julia, der für >_corrupted gold_< sein Gift verkauft ...
ich bin vielleicht das Gegenteil eines Geschäftsmannes ... auf diesem
Wege werden Sie Ihren Wunsch nicht erfüllt sehen.«

»Sie wollen es also nicht tun?«

»Nicht für Geld.«

Es wurde ganz still für eine Sekunde zwischen uns. So still, daß ich sie
zum erstenmal atmen hörte.

»Was können Sie denn sonst wünschen?«

Jetzt hielt ich mich nicht mehr.

»Ich wünsche zuerst, daß Sie ... daß Sie zu mir nicht wie zu einem
Krämer reden, sondern wie zu einem Menschen. Daß Sie, wenn Sie Hilfe
brauchen, nicht ... nicht gleich mit Ihrem schändlichen Geld kommen ...
sondern bitten ... mich, den Menschen, bitten, Ihnen, dem Menschen, zu
helfen ... Ich bin nicht nur Arzt, ich habe nicht nur Sprechstunden ...
ich habe auch andere Stunden ... vielleicht sind Sie in eine solche
Stunde gekommen ...«

Sie schweigt einen Augenblick. Dann krümmt sich ihr Mund ganz leicht,
zittert und sagt rasch:

»Also wenn ich Sie bitten würde ... dann würden Sie es tun?«

»Sie wollen schon wieder ein Geschäft machen -- Sie wollen nur bitten,
wenn ich erst verspreche. Erst müssen Sie mich bitten -- dann werde ich
Ihnen antworten.«

Sie wirft den Kopf hoch wie ein trotziges Pferd. Zornig sieht sie mich
an.

»Nein, -- ich werde Sie nicht bitten. Lieber zugrunde gehen!«

Da packt mich der Zorn, der rote, sinnlose Zorn.

»Dann werde ich fordern, wenn Sie nicht bitten wollen. Ich glaube, ich
muß nicht erst deutlich sein -- Sie wissen, was ich von Ihnen begehre.
Dann -- dann werde ich Ihnen helfen.«

Einen Augenblick starrte sie mich an. Dann -- o ich kann, ich kann nicht
sagen, wie entsetzlich das war -- dann spannten sich ihre Züge, und dann
... dann _lachte_ sie mit einem Male ... lachte sie mir mit einer
unsagbaren Verächtlichkeit ins Gesicht ... mit einer Verächtlichkeit,
die mich zerstäubte ... und die mich berauschte zugleich ... Es war wie
eine Explosion, so plötzlich, so aufspringend, so mächtig losgesprengt
von einer ungeheuren Kraft dieses Lachen der Verächtlichkeit, daß ich
... ja daß ich hätte zu Boden sinken können und ihr die Füße küssen.
Eine Sekunde dauerte es nur ... es war wie ein Blitz, und ich hatte das
Feuer im ganzen Körper ... da wandte sie sich schon und ging hastig auf
die Tür zu.

Unwillkürlich wollte ich ihr nach ... mich entschuldigen ... sie
anflehen ... meine Kraft war ja ganz zerbrochen ... da kehrte sie sich
noch einmal um und sagte ... nein, sie _befahl_:

»Unterstehen Sie sich nicht mir zu folgen oder nachzuspüren ... Sie
würden es bereuen.«

Und schon krachte hinter ihr die Türe zu.«

                   *       *       *       *       *

Wieder ein Zögern. Wieder ein Schweigen ... Wieder nur dies Rauschen,
als ob das Mondlicht strömte. Und dann endlich wieder die Stimme.

»Die Tür schlug zu ... aber ich stand unbeweglich an der Stelle ... ich
war gleichsam hypnotisiert von dem Befehl ... ich hörte sie die Treppe
hinabsteigen, die Haustür zumachen ... ich hörte alles, und mein ganzer
Wille drängte ihr nach ... sie ... ich weiß nicht was ... sie
zurückzurufen, oder zu schlagen oder zu erdrosseln ... aber ihr nach ...
ihr nach ... Und doch konnte ich nicht. Meine Glieder waren gleichsam
gelähmt wie von einem elektrischen Schlag ... ich war eben getroffen,
getroffen bis ins Mark hinein von dem herrischen Blitz dieses Blickes
... Ich weiß, das ist nicht zu erklären, nicht zu erzählen ... es mag
lächerlich klingen, aber ich stand und stand ... ich brauchte Minuten,
vielleicht fünf, vielleicht zehn Minuten, ehe ich einen Fuß wegreißen
konnte von der Erde ...

Aber kaum daß ich einen Fuß gerührt, war ich schon heiß, war ich schon
rasch ... im Nu eilte ich die Treppe hinab ... Sie konnte ja nur die
Straße hinabgegangen sein zur Zivilstation ... ich stürze in den
Schuppen, das Rad zu holen, sehe, daß ich den Schlüssel vergessen habe,
reiße den Verschlag auf, daß der Bambus splittert und kracht ... und
schon schwinge ich mich auf das Rad und sause ihr nach ... ich muß sie
... ich muß sie erreichen, ehe sie zu ihrem Automobil gelangt ... ich
muß sie sprechen ...

Die Straße staubt an mir vorbei ... jetzt merke ich erst, wie lange ich
oben starr gestanden haben mußte ... da ... auf der Kurve im Wald knapp
vor der Station sehe ich sie, wie sie hastig mit steifem geradem Schritt
hineilt, begleitet von dem Boy ... Aber auch sie muß mich gesehen haben,
denn sie spricht jetzt mit dem Boy, der zurückbleibt, und geht allein
weiter ... Was will sie tun? Warum will sie allein sein? ... Will sie
mit mir sprechen, ohne daß er es hört? ... Blindwütig trete ich in die
Pedale hinein ... Da springt mir plötzlich quer von der Seite etwas über
den Weg ... der Boy ... ich kann gerade noch das Rad zur Seite reißen
und krache hin ...

Ich stehe fluchend auf ... unwillkürlich hebe ich die Faust, um dem
Tölpel eins hinzuknallen, aber er springt zur Seite ... Ich rüttle mein
Fahrrad hoch, um wieder aufzusteigen ... Aber da springt der Halunke
vor, faßt das Rad und sagt in seinem erbärmlichen Englisch: »_You remain
here._«

Sie haben nicht in den Tropen gelebt ... Sie wissen nicht, was das für
eine Frechheit ist, wenn ein solcher gelber Halunke einem weißen >Herrn<
das Rad faßt und ihm, dem >Herrn<, befiehlt, dazubleiben. Statt aller
Antwort schlage ich ihm die Faust ins Gesicht ... er taumelt, aber er
hält das Rad fest ... seine Augen, seine engen, feigen Augen sind weit
aufgerissen in sklavischer Angst ... aber er hält die Stange, hält sie
teuflisch fest ... »_You remain here_,« stammelt er noch einmal. Zum
Glück hatte ich keinen Revolver bei mir. Ich hätte ihn sonst
niedergeknallt. »Weg, Kanaille!« sage ich nur. Er starrt mich geduckt
an, läßt aber die Stange nicht los. Ich schlage ihm noch einmal auf den
Schädel, er läßt noch immer nicht. Da faßt mich die Wut ... ich sehe,
daß sie schon fort, vielleicht schon entkommen ist ... und versetzte ihm
einen regelrechten Boxerschlag unters Kinn, daß er hinwirbelt. Jetzt
habe ich wieder mein Rad ... aber wie ich aufspringe, stockt der Lauf
... bei dem gewaltsamen Zerren hat sich die Speiche verbogen ... Ich
versuche mit fiebernden Händen sie geradezudrehen ... Es geht nicht ...
so schmeiße ich das Rad quer auf den Weg neben den Halunken hin, der
blutend aufsteht und zur Seite weicht ... Und dann -- nein, Sie können
nicht fühlen, wie lächerlich das dort vor allen Menschen ist, wenn ein
Europäer ... nun, ich wußte nicht mehr, was ich tat ... ich hatte nur
den einen Gedanken: ihr nach, sie erreichen ... und so _lief_ ich, lief
wie ein Rasender die Landstraße entlang vorbei an den Hütten, wo das
gelbe Gesindel staunend sich vordrängte, einen weißen Mann, den Doktor,
_laufen_ zu sehen.

Schweißtriefend kam ich in der Station an ... Meine erste Frage: Wo ist
das Auto? ... Eben weggefahren ... Verwundert sehen mich die Leute an:
als Rasender muß ich ihnen erscheinen, wie ich da naß und schmierig
ankam, die Frage voranschreiend, ehe ich noch stand ... Unten an der
Straße sehe ich weiß den Qualm des Autos wirbeln ... es ist ihr gelungen
... gelungen wie alles ihrer harten, grausam harten Berechnung gelingen
muß.

Aber die Flucht hilft ihr nichts ... In den Tropen gibt es kein
Geheimnis unter den Europäern ... einer kennt den andern, alles wird zum
Ereignis ... Nicht umsonst ist ihr Chauffeur eine Stunde im Bungalow der
Regierung gestanden ... in einigen Minuten weiß ich alles ... Weiß, wer
sie ist ... daß sie unten in -- nun in der Regierungsstadt wohnt, acht
Eisenbahnstunden von hier ... daß sie -- nun sagen wir, die Frau eines
Großkaufmannes ist, rasend reich, vornehm, eine Engländerin ... ich
weiß, daß ihr Mann jetzt fünf Monate in Amerika war und nächster Tage
eintreffen soll, um sie mit nach Europa zu nehmen ...

Sie aber -- und wie Gift brennt sich mir der Gedanke in die Adern hinein
-- sie kann höchstens zwei oder drei Monate in andern Umständen sein
...«

                   *       *       *       *       *

»Bisher konnte ich Ihnen noch alles begreiflich machen ... vielleicht
nur deshalb, weil ich bis zu diesem Augenblicke mich noch selbst
verstand ... mir als Arzt immer die Diagnose meines Zustands selbst
stellte. Aber von da an begann es wie ein Fieber in mir ... ich verlor
die Kontrolle über mich ... das heißt, ich wußte genau, wie sinnlos
alles war, was ich tat; aber ich hatte keine Macht mehr über mich ...
ich verstand mich selbst nicht mehr ... ich lief nur in der Besessenheit
meines Ziels vorwärts ... Übrigens warten Sie ... vielleicht kann ich es
Ihnen doch begreiflich machen ... Wissen Sie, was Amok ist?«

»Amok? ... ich glaube mich zu erinnern ... Eine Art Trunkenheit bei den
Malaien ...«

»Es ist mehr als Trunkenheit ... es ist Tollheit, eine Art menschlicher
Hundswut ... ein Anfall mörderischer, sinnloser Monomanie, der sich mit
keiner andern alkoholischen Vergiftung vergleichen läßt ... ich habe
selbst während meines Aufenthaltes einige Fälle studiert -- für andere
ist man ja immer sehr klug und sehr sachlich -- ohne aber je das
furchtbare Geheimnis ihres Ursprungs freilegen zu können ... Irgendwie
hängt es mit dem Klima zusammen, mit dieser schwülen, geballten
Atmosphäre, die auf die Nerven wie ein Gewitter drückt, bis sie einmal
losspringen ... Also Amok ... ja, Amok, das ist so: Ein Malaie,
irgendein ganz einfacher, ganz gutmütiger Mensch, trinkt sein Gebräu in
sich hinein ... er sitzt da, stumpf, gleichgültig, matt ... so wie ich
in meinem Zimmer saß ... und plötzlich springt er auf, faßt den Dolch
und rennt auf die Straße ... rennt geradeaus, immer nur geradeaus ...
ohne zu wissen wohin ... Was ihm in den Weg tritt, Mensch oder Tier, das
stößt er nieder mit seinem Kris, und der Blutrausch macht ihn nur noch
hitziger ... Schaum tritt dem Laufenden vor die Lippen, er heult wie ein
Rasender ... aber er rennt, rennt, rennt, sieht nicht mehr nach rechts,
sieht nicht nach links, rennt nur mit seinem gellen Schrei, seinem
blutigen Kris in dieses entsetzliche Geradeaus ... Die Leute in den
Dörfern wissen, daß keine Macht einen Amokläufer aufhalten kann ... so
brüllen sie warnend voraus, wenn er kommt: »Amok! Amok!«, und alles
flüchtet ... er aber rennt, ohne zu hören, rennt, ohne zu sehen, stößt
nieder, was ihm begegnet ... bis man ihn totschießt wie einen tollen
Hund oder er selbst schäumend zusammenbricht ...

Einmal habe ich das gesehen, vom Fenster meines Bungalow aus ... es war
grauenhaft ... aber nur dadurch, daß ichs gesehen habe, begreife ich
mich selbst in jenen Tagen ... denn so, genau so, mit diesem furchtbaren
Blick geradeaus, ohne nach rechts oder links zu sehen, mit dieser
Besessenheit stürmte ich los ... dieser Frau nach ... Ich weiß nicht
mehr, wie ich alles tat, in so rasendem Lauf, in so unsinniger
Geschwindigkeit flog es vorbei ... Zehn Minuten, nein, fünf, nein zwei
... nachdem ich alles von dieser Frau wußte, ihren Namen, ihr Haus, ihr
Schicksal, jagte ich schon auf einem rasch geborgten Rad in mein Haus
zurück, warf einen Anzug in den Koffer, steckte Geld zu mir und fuhr zur
Station der Eisenbahn mit einem Wagen ... fuhr, ohne mich abzumelden
beim Distriktsbeamten ... ohne einen Vertreter zu ernennen, ließ das
Haus offen stehen und liegen wie es war ... Um mich standen Diener, die
Weiber staunten und fragten, ich antwortete nicht, wandte mich nicht um
... fuhr zur Eisenbahn und mit dem nächsten Zug hinab in die Stadt ...
Eine Stunde im ganzen, nachdem diese Frau in mein Zimmer getreten, hatte
ich meine Existenz hinter mich geworfen und rannte Amok ins Leere hinein
...

Geradeaus rannte ich, mit dem Kopf gegen die Wand ... um sechs Uhr
abends war ich angekommen ... um sechs Uhr zehn war ich in ihrem Haus
und ließ mich melden ... Es war ... Sie werden es verstehen ... das
Sinnloseste, das Stupideste, was ich tun konnte ... aber der Amokläufer
rennt ja mit leeren Augen, er sieht nicht, wohin er rennt ... Nach
einigen Minuten kam der Diener zurück ... höflich und kühl ... die
gnädige Frau sei nicht wohl und könne nicht empfangen ...

Ich taumelte die Türe hinaus ... Eine Stunde schlich ich noch um das
Haus herum, besessen von der wahnwitzigen Hoffnung, sie würde vielleicht
nach mir suchen ... dann nahm ich mir erst ein Zimmer im Strandhotel und
zwei Flaschen Whisky auf das Zimmer ... die und eine doppelte Dosis
Veronal halfen mir ... ich schlief endlich ein ... und dieser dumpfe,
schlammige Schlaf war die einzige Pause in diesem Rennen zwischen Leben
und Tod.«

                   *       *       *       *       *

Die Schiffsglocke klang. Zwei harte, volle Schläge, die noch im weichen
Teich der fast reglosen Luft zitternd weiterschwangen und dann verebbten
in das leise, unaufhörliche Rauschen, das unter dem Kiele und zwischen
der leidenschaftlichen Rede beharrlich mitlief. Der Mensch im Dunkeln
mir gegenüber mußte erschreckt aufgefahren sein, seine Rede stockte.
Wieder hörte ich die Hand hinab zur Flasche fingern, wieder das leise
Glucksen. Dann begann er, gleichsam beruhigt, mit einer festeren Stimme.

»Die Stunden von diesem Augenblick an kann ich Ihnen kaum erzählen. Ich
glaube heute, daß ich damals Fieber hatte, jedenfalls war ich in einer
Art Überreiztheit, die an Tollheit grenzte -- ein Amokläufer, wie ich
Ihnen sagte. Aber vergessen Sie nicht, es war Dienstag nachts, als ich
ankam, Samstag aber sollte -- dies hatte ich inzwischen erfahren -- ihr
Gatte mit dem P. & O.-Dampfer von Yokohama eintreffen, es blieben also
nur drei Tage, drei knappe Tage für den Entschluß und für die Hilfe.
Verstehen Sie das: ich wußte, daß ich ihr sofort helfen mußte, und
konnte doch kein Wort zu ihr sprechen. Und gerade dieses Bedürfnis, mein
lächerliches, mein tollwütiges Benehmen zu entschuldigen, das hetzte
mich weiter. Ich wußte um die Kostbarkeit jedes Augenblickes, ich wußte,
daß es für sie um Leben und Tod ginge, und hatte doch keine Möglichkeit,
mich nur mit einem Flüstern, mit einem Zeichen ihr zu nähern, denn
gerade das Stürmische, das Tölpische meines Nachrennens hatte sie
erschreckt. Es war ... ja, warten Sie ... es war, wie wenn einer einem
nachrennt, um ihn zu warnen vor einem Mörder, und der andere hält ihn
selbst für den Mörder, und so rennt er weiter in sein Verderben ... sie
sah nur den Amokläufer in mir, der sie verfolgte, um sie zu demütigen,
aber ich ... das war ja der entsetzliche Widersinn ... ich dachte gar
nicht mehr an das ... ich war ja schon ganz vernichtet, ich wollte ihr
nur helfen, ihr nur dienen ... einen Mord hätte ich getan, ein
Verbrechen, um ihr zu helfen ... Aber sie, sie verstand es nicht. Als
ich morgens aufwachte und gleich wieder hinlief zu ihrem Haus, stand der
Boy vor der Tür, derselbe Boy, den ich ins Gesicht geschlagen, und wie
er mich von ferne sah -- er mußte auf mich gewartet haben --, huschte er
hinein in die Tür. Vielleicht tat er es nur, um mich im geheimen
anzumelden ... vielleicht ... ah, diese Ungewißheit, wie peinigt sie
mich jetzt ... vielleicht war schon alles bereit, mich zu empfangen ...
aber da, wie ich ihn sah, mich erinnerte an meine Schmach, da war ich es
wieder, der nicht wagte, noch einmal den Besuch zu wiederholen ... Die
Knie zitterten mir. Knapp vor der Schwelle drehte ich mich um und ging
wieder fort ... ging fort, während sie vielleicht in ähnlicher Qual auf
mich wartete.

Ich wußte jetzt nicht mehr, was tun in der fremden Stadt, die an meinen
Fersen wie Feuer glühte ... Plötzlich fiel mir etwas ein, schon rief ich
einen Wagen und fuhr zum Vizeresidenten, zu demselben, dem ich damals in
meiner Station geholfen, und ließ mich melden ... Irgend etwas muß schon
in meinem äußern Wesen befremdend gewesen sein, denn er sah mich mit
einem gleichsam erschreckten Blick an, und seine Höflichkeit hatte etwas
Beunruhigtes ... vielleicht erkannte er schon den Amokläufer in mir ...
Ich sagte ihm kurz entschlossen, ich erbäte meine Versetzung in die
Stadt, ich könne auf meinem Posten nicht mehr länger existieren ... ich
müsse sofort übersiedeln ... Er sah mich ... ich kann Ihnen nicht sagen,
wie er mich ansah ... so wie eben ein Arzt einen Kranken ansieht ...
»Ein Nervenzusammenbruch, lieber Doktor,« sagte er dann, »ich verstehe
das nur zu gut. Nun, es wird sich schon richten lassen; aber warten Sie
... sagen wir vier Wochen ... ich muß erst einen Ersatz finden.« »Ich
kann nicht warten, nicht einen Tag,« antwortete ich. Wieder kam dieser
merkwürdige Blick. »Es muß gehen, Doktor,« sagte er ernst, »wir dürfen
die Station nicht ohne Arzt lassen. Aber ich verspreche Ihnen, daß ich
noch heute alles einleite.« Ich blieb stehen, mit verbissenen Zähnen:
zum erstenmal spürte ich deutlich, daß ich ein verkaufter Mensch, ein
Sklave sei. Schon ballte sich alles zu einem Trotz zusammen, aber er,
der Geschmeidige, kam mir zuvor: »Sie sind menschenentwöhnt, Doktor, und
das wird schließlich eine Krankheit. Wir haben uns alle gewundert, daß
Sie nie herkamen, nie Urlaub nahmen. Sie brauchen mehr Geselligkeit,
mehr Anregung. Kommen Sie doch wenigstens diesen Abend, wir haben heute
Empfang bei der Regierung, Sie finden die ganze Kolonie, und manche
mochten Sie längst kennen lernen, haben oft nach Ihnen gefragt und Sie
hierhergewünscht.«

Das letzte Wort riß mich auf. Nach mir gefragt? Sollte sie es gewesen
sein? Ich war plötzlich ein anderer: sofort dankte ich ihm höflichst für
seine Einladung und sicherte mein Kommen pünktlich zu. Und ich war auch
pünktlich, viel zu pünktlich. Muß ich Ihnen erst sagen, daß ich, von
meiner Ungeduld gejagt, der erste in dem großen Saale des
Regierungsgebäudes war, schweigend umgeben von den gelben Dienern, die
mit ihren nackten Sohlen wippend hin und her eilten und mich -- wie mir
in meinem verwirrten Bewußtsein dünkte -- hinterrücks belächelten. Eine
Viertelstunde war ich der einzige Europäer inmitten all der
geräuschlosen Vorbereitungen und so allein mit mir, daß ich das Ticken
der Uhr in meiner Westentasche hörte. Dann kamen endlich ein paar
Regierungsbeamte mit ihren Familien, schließlich auch der Gouverneur,
der mich in ein längeres Gespräch zog, in dem ich beflissen und, wie ich
glaube, geschickt antwortete, bis ... bis ich plötzlich, von einer
geheimnisvollen Nervosität befallen, alle Geschmeidigkeit verlor und zu
stammeln begann. Obzwar mit dem Rücken gegen die Saaltür gelehnt, spürte
ich mit einem Male, daß sie eingetreten, daß sie anwesend sein müßte:
ich könnte Ihnen nicht sagen, wieso mich diese plötzliche Gewißheit
verwirrend faßte, aber noch während ich mit dem Gouverneur sprach, den
Klang seiner Worte im Ohr, spürte ich im Rücken irgendwo ihre Gegenwart.
Glücklicherweise endete der Gouverneur bald das Gespräch -- ich glaube,
ich hätte mich sonst plötzlich brüsk umgewandt, so stark war dieses
geheimnisvolle Ziehen in meinen Nerven, so brennend gereizt meine
Begier. Und wirklich, kaum daß ich mich umwandte, sah ich sie schon ganz
genau an jener Stelle, wo sie unbewußt mein Gefühl geahnt. Sie stand in
einem gelben Ballkleid, das ihre schmalen, reinen Schultern wie mattes
Elfenbein vorleuchten ließ, plaudernd inmitten einer Gruppe. Sie
lächelte, aber doch, mir war, als hätte ihr Gesicht einen gespannten
Zug. Ich trat näher -- sie konnte mich nicht sehen oder wollte mich
nicht sehen -- und blickte in dieses Lächeln, das gefällig und höflich
um die schmalen Lippen zitterte. Und dieses Lächeln berauschte mich von
neuem, weil es ... nun weil ich wußte, daß es Lüge war, Kunst oder
Technik, Meisterschaft der Verstellung. Mittwoch ist heute, fuhr mir
durch den Kopf, Samstag kommt das Schiff mit dem Gatten ... wie kann sie
so lächeln, so ... so sicher, so sorglos lächeln und den Fächer lässig
in der Hand spielen lassen, statt ihn zu zerkrampfen in Angst? Ich ...
ich, der Fremde ... ich zitterte seit zwei Tagen vor jener Stunde ...
ich, der Fremde, lebte ihre Angst, ihr Entsetzen mit allen Exzessen des
Gefühls mit ... und sie ging auf den Ball und lächelte, lächelte,
lächelte ...

Rückwärts setzte die Musik ein. Der Tanz begann. Ein älterer Offizier
hatte sie aufgefordert, sie ließ mit einer Entschuldigung den
plaudernden Kreis und schritt an seinem Arm gegen den andern Saal zu, an
mir vorbei. Wie sie mich erblickte, spannte sich plötzlich ihr Gesicht
gewaltsam zusammen -- aber nur eine Sekunde lang, dann nickte sie mir
mit einem höflichen Erkennen (ehe ich mich noch zu grüßen oder
nichtgrüßen entschlossen hatte) wie einem zufälligen Bekannten zu:
»Guten Abend, Doktor« und war schon vorbei. Niemand hätte ahnen können,
was in diesem graugrünen Blick verborgen war, und ich, ich selbst wußte
es nicht. Warum grüßte sie ... warum erkannte sie mich nun mit einmal
an? ... War das Abwehr, war es Annäherung, war es nur die Verlegenheit
der Überraschung? Ich kann Ihnen nicht schildern, in welcher Erregtheit
ich zurückblieb, alles war aufgewühlt, war explosiv in mir
zusammengepreßt, und wie ich sie so sah, lässig walzend am Arme des
Offiziers, auf der Stirne den kühlen Glanz der Sorglosigkeit, indes ich
doch wußte, daß sie ... daß sie so wie ich nur _daran_ ... daran dachte
... daß wir zwei hier allein ein furchtbares Geheimnis gemeinsam hatten
... und sie walzte ... in diesen Sekunden wurde meine Angst, meine Gier
und meine Bewunderung noch mehr Leidenschaft als jemals. Ich weiß nicht,
ob mich jemand beobachtet hat, aber gewiß verriet ich mich in meinem
Verhalten noch viel mehr, als sie sich verbarg -- ich konnte eben nicht
in eine andere Richtung schauen, ich mußte ... ja, ich mußte sie
ansehen, ich sog, ja ich zerrte von ferne an ihrem verschlossenen
Gesicht, ob die Maske nicht für eine Sekunde fallen wollte. Und sie
mußte diesen starren Blick unangenehm empfunden haben. Als sie am Arme
ihres Tänzers zurückschritt, sah sie mich im Blitzlicht einer Sekunde
an, scharf befehlend, wie wegweisend: wieder spannte sich jene kleine
Falte des hochmütigen Zornes, die ich schon von damals kannte, böse über
ihrer Stirn.

Aber ... aber ... ich sagte es Ihnen ja ... ich lief Amok, ich sah nicht
nach rechts und nicht nach links. Ich verstand sie sofort -- dieser
Blick hieß: sei nicht auffällig! bezähme dich! -- ich wußte, daß sie ...
wie soll ich es sagen? ... daß sie Diskretion des Benehmens hier im
offenen Saal von mir wollte ... ich verstand, daß, wenn ich jetzt
heimginge, ich morgen gewiß sein könne, von ihr empfangen zu werden ...
daß sie es nur jetzt, nur jetzt vermeiden wollte, meiner auffälligen
Vertraulichkeit ausgesetzt zu sein, daß sie -- und wie sehr mit Recht --
von meinem Ungeschick eine Szene fürchtete ... Sie sehen ... ich wußte
alles, ich verstand diesen befehlenden grauen Blick, aber ... aber es
war zu stark in mir, ich mußte sie sprechen. Und so schwankte ich hin zu
der Gruppe, in der sie plaudernd stand, schob mich -- obwohl ich nur
einige der Anwesenden kannte -- ganz an den lockeren Kreis heran nur aus
Begier, sie sprechen zu hören, und doch immer scheu mich duckend wie ein
geprügelter Hund vor ihrem Blick, wenn er kalt an mir vorbeistreifte,
als sei ich eine der Leinenportieren, an der ich lehnte, oder die Luft,
die sie leicht bewegte. Aber ich stand, durstig nach einem Wort, das sie
zu mir sprechen sollte, nach einem Zeichen des Einverständnisses, stand
und stand starren Blickes inmitten des Geplauders wie ein Block.
Unbedingt mußte es schon auffällig geworden sein, unbedingt, denn keiner
richtete ein Wort an mich, und sie mußte leiden unter meiner
lächerlichen Gegenwart.

Wie lange ich so gestanden hätte, ich weiß es nicht ... eine Ewigkeit
vielleicht ... ich _konnte_ ja nicht fort aus dieser Bezauberung des
Willens. Gerade die Hartnäckigkeit meiner Wut lähmte mich ... Aber sie
ertrug es nicht länger ... plötzlich wandte sie sich mit der
prachtvollen Leichtigkeit ihres Wesens gegen die Herren und sagte: »Ich
bin ein wenig müde ... ich will heute einmal früher zu Bett gehen ...
Gute Nacht!« ... und schon streifte sie mit einem gesellschaftlich
fremden Kopfnicken an mir vorbei ... ich sah noch die hochgezogene Falte
auf der Stirn und dann nur mehr den Rücken, den weißen, kühlen, nackten
Rücken. Eine Sekunde lang dauerte es, bevor ich begriff, daß sie
fortging ... daß ich sie nicht mehr sehen, nicht mehr sprechen könnte
diesen Abend, diesen letzten Abend der Rettung ... einen Augenblick lang
also stand ich noch starr, bis ichs begriff ... dann ... dann ...

Aber warten Sie ... warten Sie ... Sie werden sonst das Sinnlose, das
Stupide meiner Tat nicht verstehen ... ich muß Ihnen erst den ganzen
Raum schildern ... Es war der große Saal des Regierungsgebäudes, ganz
von Lichtern erhellt und fast leer, der ungeheure Saal ... die Paare
waren zum Tanz gegangen, die Herren zum Spiel ... nur an den Ecken
plauderten einige Gruppen ... der Saal war also leer, jede Bewegung
auffällig und im grellen Licht sichtbar ... und diesen großen weiten
Saal schritt sie langsam und leicht mit ihren hohen Schultern durch, ab
und zu einen Gruß mit ihrer unbeschreiblichen Haltung erwidernd ... mit
dieser herrlichen erfrorenen hoheitlichen Ruhe, die mich an ihr so
entzückte ... Ich ... ich war zurückgeblieben, ich sagte es Ihnen ja,
ich war gleichsam gelähmt, bevor ich es begriff, daß sie fortging ...
und da, als ich es begriff, war sie schon am andern Ende des Saales
knapp vor der Türe ... Da ... oh, ich schäme mich jetzt noch, es zu
denken ... da packte es mich plötzlich an und ich _lief_, -- hören Sie:
ich lief ... ich ging nicht, ich _lief_ mit polternden Schuhen, die laut
widerhallten, quer durch den Saal ihr nach ... Ich hörte meine Schritte,
ich sah alle Blicke erstaunt auf mich gerichtet ... ich hätte vergehen
können vor Scham ... noch während ich lief, war mir schon der Wahnsinn
bewußt ... aber ich konnte ... ich konnte nicht mehr zurück ... Bei der
Tür holte ich sie ein ... Sie wandte sich um ... ihre Augen stießen wie
ein grauer Stahl in mich hinein, ihre Nasenflügel zitterten vor Zorn ...
ich wollte eben zu stammeln anfangen ... da ... da ... _lachte_ sie
plötzlich hellauf ... ein helles, unbesorgtes, herzliches Lachen, und
sagte laut ... so laut, daß es alle hören konnten ... »Ach, Doktor,
jetzt fällt Ihnen erst das Rezept für meinen Buben ein ... ja, die
Herren der Wissenschaft ...« Ein paar, die in der Nähe standen, lachten
gutmütig mit ... ich begriff, ich taumelte unter der Meisterschaft, mit
der sie die Situation gerettet hatte ... griff in die Brieftasche und
riß ein leeres Blatt vom Block, das sie lässig nahm, ehe sie ... noch
einmal mit einem kalten, dankenden Lächeln ... ging ... Mir war leicht
in der ersten Sekunde ... ich sah, daß mein Irrsinn durch ihre
Meisterschaft gutgemacht, die Situation gewonnen ... aber ich wußte auch
sofort, daß alles für mich verloren sei, daß diese Frau mich um meiner
hitzigen Narrheit haßte ... haßte mehr als den Tod ... daß ich nun
hundertmal und hundertmal vor ihre Tür kommen könnte und sie mich
wegweisen würde wie einen Hund.

Ich taumelte durch den Saal ... ich merkte, daß die Leute auf mich
blickten ... ich muß irgendwie sonderbar ausgesehen haben ... Ich ging
zum Büfett, trank zwei, drei, vier Gläser Kognak hintereinander ... das
rettete mich vor dem Umsinken ... meine Nerven konnten schon nicht mehr,
sie waren wie durchgerissen ... Dann schlich ich bei einer Nebentür
hinaus, heimlich wie ein Verbrecher ... Um kein Fürstentum der Welt
hätte ich jenen Saal nochmals durchschreiten können, wo ihr Lachen noch
gell an allen Wänden klebte ... ich ging ... genau weiß ichs nicht mehr
zu sagen, wohin ich ging ... in ein paar Kneipen und soff mich an ...
soff mich an wie einer, der sich alles Wache wegsaufen will ... aber ...
es ward mir nicht dumpf in den Sinnen ... das Lachen stak in mir,
schrill und böse ... das Lachen, dieses verfluchte Lachen konnte ich
nicht betäuben ... Ich irrte dann noch am Hafen herum ... meinen
Revolver hatte ich zu Hause gelassen, sonst hätte ich mich erschossen.
Ich dachte an nichts anderes, und mit diesem Gedanken ging ich auch heim
... nur mit diesem Gedanken an das Schubfach links im Kasten, wo mein
Revolver lag ... nur mit diesem einen Gedanken.

Daß ich mich dann nicht erschoß ... ich schwöre Ihnen, das war nicht
Feigheit ... es wäre für mich eine Erlösung gewesen, den schon
gespannten kalten Hahn abzudrücken ... aber wie soll ich es Ihnen
erklären ... ich fühlte noch eine Pflicht in mir ... ja, jene Pflicht zu
helfen, jene verfluchte Pflicht ... mich machte der Gedanke wahnsinnig,
daß sie mich noch brauchen könnte, daß sie mich brauchte ... es war ja
schon Donnerstag morgens, als ich heimkam, und Samstag ... ich sagte es
Ihnen ja ... Samstag kam das Schiff, und daß _diese_ Frau, diese
hochmütige, stolze Frau die Schande vor ihrem Gatten, vor der Welt nicht
überleben würde, das wußte ich ... Ah, wie mich solche Gedanken
gemartert haben an die sinnlos vertane kostbare Zeit, an meine
irrwitzige Übereilung, die jede rechtzeitige Hilfe vereitelt hatte ...
stundenlang, ja stundenlang, ich schwöre es Ihnen, bin ich im Zimmer
niedergegangen, auf und ab, und habe mir das Hirn zermartert, wie ich
mich ihr nähern, wie ich alles gutmachen, wie ich ihr helfen könnte ...
denn daß sie mich nicht mehr vorlassen würde in ihrem Haus, das war mir
gewiß ... ich hatte das Lachen noch in allen Nerven und das Zucken des
Zornes um ihre Nasenflügel ... stundenlang, wirklich stundenlang bin ich
so die drei Meter des schmalen Zimmers auf und ab gerannt ... es war
schon Tag, es war schon Vormittag ...

Und plötzlich schmiß es mich hin zu dem Tisch ... ich riß ein Bündel
Briefblätter heraus und begann ihr zu schreiben ... alles zu schreiben
... einen hündisch winselnden Brief, in dem ich sie um Vergebung bat, in
dem ich mich einen Wahnsinnigen, einen Verbrecher nannte ... in dem ich
sie beschwor, sich mir anzuvertrauen ... Ich schwor in der nächsten
Stunde zu verschwinden, aus der Stadt, aus der Kolonie, wenn sie wollte:
aus der Welt ... nur verzeihen sollte sie mir und mir vertrauen, sich
helfen lassen in der letzten, der allerletzten Stunde ... Zwanzig Seiten
fieberte ich so hinunter ... es muß ein toller, ein unbeschreiblicher
Brief wie aus einem Delirium gewesen sein, denn als ich aufstand vom
Tisch, war ich in Schweiß gebadet ... das Zimmer schwankte, ich mußte
ein Glas Wasser trinken ... Dann erst versuchte ich den Brief noch
einmal zu überlesen, aber mir graute nach den ersten Worten ... zitternd
faltete ich ihn zusammen, faßte schon ein Kuvert ... Da plötzlich fuhrs
mich durch. Mit einem Male wußte ich das wahre, das entscheidende Wort.
Und ich riß noch einmal die Feder zwischen die Finger und schrieb auf
das letzte Blatt: »Ich warte hier im Strandhotel auf ein Wort der
Verzeihung. Wenn ich bis sieben Uhr keine Antwort habe, erschieße ich
mich.«

Dann nahm ich den Brief, schellte einem Boy und hieß ihn das Schreiben
sofort überbringen. Endlich war alles gesagt -- alles!«

                   *       *       *       *       *

Etwas klirrte und kollerte neben uns. Mit einer heftigen Bewegung hatte
er die Whiskyflasche umgestoßen: ich hörte, wie seine Hand ihr suchend
am Boden nachtastete und sie dann mit einem plötzlichen Schwung faßte:
in weitem Bogen warf er die geleerte Flasche über Bord. Einige Minuten
schwieg die Stimme, dann fieberte er wieder fort, noch erregter und
hastiger als zuvor.

»Ich bin kein gläubiger Christ mehr ... für mich gibt es keinen Himmel
und keine Hölle ... und wenn es eine gibt, so fürchte ich sie nicht,
denn sie kann nicht ärger sein als jene Stunden, die ich von vormittag
bis abends erlebte ... Denken Sie sich ein kleines Zimmer, heiß in der
Sonne, immer glühender im Mittagsbrand ... ein kleines Zimmer, nur Tisch
und Stuhl und Bett ... Und auf diesem Tisch nichts als eine Uhr und
einen Revolver und vor dem Tisch einen Menschen ... einen Menschen, der
nichts tut als immer auf diesen Tisch, auf den Sekundenzeiger der Uhr
starren ... einen Menschen, der nicht ißt und nicht trinkt und nicht
raucht und sich nicht regt ... der immer nur ... hören Sie: immer nur,
drei Stunden lang ... auf den weißen Kreis des Zifferblattes starrt und
auf den kleinen Zeiger, der tickend den Kreis umläuft ... So ... so ...
habe ich diesen Tag verbracht, nur gewartet, gewartet, gewartet ... aber
gewartet wie ... wie eben ein Amokläufer etwas tut, sinnlos, tierisch,
mit dieser rasenden, geradlinigen Beharrlichkeit.

Nun ... ich werde Ihnen diese Stunden nicht schildern ... das läßt sich
nicht schildern ... ich verstehe ja selbst nicht mehr, wie man das
erleben kann ohne ... ohne wahnsinnig zu werden ... Also ... um drei Uhr
zweiundzwanzig Minuten ... ich weiß es genau, ich starrte ja auf die Uhr
... klopft es plötzlich an die Tür ... Ich springe auf ... springe, wie
ein Tiger auf seine Beute springt, mit einem Ruck durch das ganze Zimmer
zur Tür, reiße sie auf ... ein ängstlicher kleiner Chinesenjunge steht
draußen, einen zusammengefalteten Zettel in der Hand, und während ich
gierig darnach greife, huscht er schon weg und ist verschwunden.

Ich reiße den Zettel auf, will ihn lesen ... und kann ihn nicht lesen
... Mir schwankt es rot vor den Augen ... denken Sie die Qual, ich habe
endlich, habe endlich das Wort von ihr ... und nun zittert und tanzt es
mir vor den Pupillen ... Ich tauche den Kopf ins Wasser ... nun wirds
mir klarer ... Nochmals nehme ich den Zettel und lese:

»Zu spät! Aber warten Sie zu Hause. Vielleicht rufe ich Sie noch.«

Keine Unterschrift auf dem zerknüllten Papier, das von irgendeinem alten
Prospekt abgefetzt war ... hastige, verworrene Bleistiftzüge einer sonst
sicheren Schrift ... ich weiß nicht, warum mich das Blatt so
erschütterte ... Irgend etwas von Grauen, von Geheimnis haftete ihm an,
es war wie auf einer Flucht geschrieben, stehend an einer Fensternische
oder in einem fahrenden Wagen ... Etwas Unbeschreibliches von Angst, von
Hast, von Entsetzen schlug kalt von diesem heimlichen Zettel mir in die
Seele ... und doch ... und doch, ich war glücklich: sie hatte mir
geschrieben, ich mußte noch nicht sterben, ich durfte ihr helfen ...
vielleicht ... ich durfte ... oh, ich verlor mich ganz in den
wahnwitzigsten Konjekturen und Hoffnungen ... Hundertemal, tausendemal
habe ich den kleinen Zettel gelesen, ihn geküßt ... ihn durchforscht
nach irgendeinem vergessenen, übersehenen Wort ... immer tiefer, immer
verworrener wurde meine Träumerei, ein phantastischer Zustand von Schlaf
mit offenen Augen ... eine Art Lähmung, irgend etwas ganz Dumpfes und
doch Bewegtes zwischen Schlaf und Wachsein, das vielleicht
Viertelstunden dauerte, vielleicht Stunden ...

Plötzlich schreckte ich auf ... Hatte es nicht geklopft? ... Ich hielt
den Atem an ... eine Minute, zwei Minuten reglose Stille ... Und dann
wieder ganz leise, so wie eine Maus knabbert, ein leises aber heftiges
Pochen ... Ich sprang auf, noch ganz taumelig, riß die Tür auf --
draußen stand der Boy, ihr Boy, derselbe, dem ich den Mund damals mit
der Faust zerschlagen ... sein braunes Gesicht war aschfahl, sein
verwirrter Blick sagte Unglück ... Sofort spürte ich Grauen ... »Was ...
was ist geschehen?« konnte ich noch stammeln. »_Come quickly_«, sagte er
... sonst nichts ... sofort raste ich die Treppe herunter, er mir nach
... Ein Sado, so ein kleiner Wagen, stand bereit, wir stiegen ein ...
»Was ist geschehen?« fragte ich ihn ... Er sah mich zitternd an und
schwieg mit verbissenen Lippen ... Ich fragte nochmals -- er schwieg und
schwieg ... Ich hätte ihm am liebsten wieder ins Gesicht geschlagen mit
der Faust, aber ... gerade seine hündische Treue zu ihr rührte mich ...
so fragte ich nicht mehr ... Das Wägelchen trabte so hastig durch das
Gewirr, daß die Menschen fluchend auseinanderstoben, lief aus dem
Europäerviertel am Strand in die niedere Stadt und weiter, weiter ins
schreiende Gewirr der Chinesenstadt ... Endlich kamen wir in eine enge
Gasse, ganz abseits lag sie ... vor einem niedern Hause hielt er an ...
Es war schmutzig und wie in sich zusammengekrochen, vorne ein kleiner
Laden mit einem Talglicht ... irgendeine dieser Buden, in die sich die
Opiumhäuser oder Bordelle verstecken, ein Diebsnest oder ein
Hehlerkeller ... Hastig klopfte der Boy an ... Hinter dem Türspalt
zischelte eine Stimme, fragte und fragte ... Ich konnte es nicht mehr
ertragen, sprang vom Sitz, stieß die angelehnte Tür auf ... ein altes
chinesisches Weib flüchtete mit einem kleinen Schrei zurück ... hinter
mir kam der Boy, führte mich durch den Gang ... klinkte eine andere Tür
auf ... eine andere Türe in einen dunklen Raum, der übel roch von
Branntwein und gestocktem Blut ... Irgend etwas stöhnte darin ... ich
tappte hin ...«

                   *       *       *       *       *

Wieder stockte die Stimme. Und was dann ausbrach, war mehr ein
Schluchzen als ein Sprechen.

»Ich ... ich tappte hin ... und dort ... dort lag auf einer schmutzigen
Matte ... verkrümmt vor Schmerz ... ein stöhnendes Stück Mensch ... dort
lag sie ...

Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen im Dunkel ... Meine Augen waren noch
nicht gewöhnt ... so tastete ich nur hin ... ihre Hand ... heiß ...
brennend heiß ... Fieber, hohes Fieber ... und ich schauerte ... ich
wußte sofort alles ... sie war hierher geflüchtet vor mir ... hatte sich
verstümmeln lassen von irgendeiner schmutzigen Chinesin, nur weil sie
hier mehr Schweigsamkeit erhoffte ... hatte sich morden lassen von
irgendeiner teuflischen Hexe, lieber als mir zu vertrauen ... nur weil
ich Wahnsinniger ... weil ich ihren Stolz nicht geschont, ihr nicht
gleich geholfen hatte ... weil sie den Tod weniger fürchtete als mich
...

Ich schrie nach Licht. Der Boy sprang: die abscheuliche Chinesin brachte
mit zitternden Händen eine rußende Petroleumlampe ... ich mußte mich
halten, um der gelben Kanaille nicht an die Gurgel zu springen ... sie
stellten die Lampe auf den Tisch ... der Lichtschein fiel gelb und hell
über den gemarterten Leib ... Und plötzlich ... plötzlich war alles weg
von mir, alle Dumpfheit, aller Zorn, all diese unreine Jauche von
aufgehäufter Leidenschaft ... ich war nur mehr Arzt, helfender,
spürender, wissender Mensch ... ich hatte mich vergessen ... ich kämpfte
mit wachen, klaren Sinnen gegen das Entsetzliche ... Ich fühlte den
nackten Leib, den ich in meinen Träumen begehrt, nur mehr als ... wie
soll ich es sagen ... als Materie, als Organismus ... ich spürte nicht
mehr sie, sondern nur das Leben, das sich gegen den Tod wehrte, den
Menschen, der sich krümmte in mörderischer Qual ... Ihr Blut, ihr
heißes, heiliges Blut überströmte meine Hände, aber ich spürte es nicht
in Lust und nicht in Grauen ... ich war nur Arzt ... ich sah nur das
Leiden ... und sah ...

Und sah sofort, daß alles verloren war, wenn nicht ein Wunder geschehe
... sie war verletzt und halb verblutet unter der verbrecherisch
ungeschickten Hand ... und ich hatte nichts, um das Blut zu stillen in
dieser stinkenden Höhle, nicht einmal reines Wasser ... alles, was ich
anrührte, starrte von Schmutz ...

»Wir müssen sofort ins Spital,« sagte ich. Aber kaum daß ichs gesagt,
bäumte sich krampfig der gemarterte Leib auf. »Nein ... nein ... lieber
sterben ... niemand es erfahren ... niemand es erfahren ... nach Hause
... nach Hause ...«

Ich verstand ... nur mehr um das Geheimnis, um ihre Ehre rang sie ...
nicht um ihr Leben ... Und -- ich gehorchte ... Der Boy brachte eine
Sänfte ... wir betteten sie hinein ... und so ... wie eine Leiche schon,
matt und fiebernd ... trugen wir sie durch die Nacht ... nach Hause ...
die fragende, erschreckte Dienerschaft abwehrend ... wie Diebe trugen
wir sie hinein in ihr Zimmer und sperrten die Türen ... Und dann ...
dann begann der Kampf, der lange Kampf gegen den Tod ...«

                   *       *       *       *       *

Plötzlich krampfte sich eine Hand in meinen Arm, daß ich fast aufschrie
vor Schreck und Schmerz. Im Dunkeln war mir das Gesicht mit einemmal
fratzenhaft nah, ich sah die weißen Zähne, wie sie sich bleckten in
plötzlichem Ausbruch, sah die Augengläser im fahlen Reflex des
Mondlichts wie zwei riesige Katzenaugen glimmen. Und jetzt sprach er
nicht mehr -- er schrie, geschüttelt von einem heulenden Zorn:

»Wissen Sie denn, Sie fremder Mensch, der Sie hier lässig auf einem
Deckstuhl sitzen, ein Spazierenfahrer durch die Welt, wissen Sie, wie
das ist, wenn ein Mensch stirbt? Sind Sie schon einmal dabeigewesen,
haben Sie es gesehen, wie der Leib sich aufkrümmt, die blauen Nägel ins
Leere krallen, wie die Kehle röchelt, jedes Glied sich wehrt, jeder
Finger sich stemmt gegen das Entsetzliche, und wie das Auge aufspringt
in einem Grauen, für das es keine Worte gibt? Haben Sie das schon einmal
erlebt, Sie Müßiggänger, Sie Weltfahrer, Sie, der Sie vom Helfen reden
als von einer Pflicht? Ich habe es oft gesehen als Arzt, habe es gesehen
als ... als klinischen Fall, als Tatsache ... habe es sozusagen studiert
-- aber _erlebt_ habe ichs nur einmal, miterlebt, mitgestorben bin ich
nur damals in jener Nacht ... in jener entsetzlichen Nacht, wo ich saß
und mir das Hirn zerpreßte, um etwas zu wissen, etwas zu finden, zu
erfinden gegen das Blut, das rann und rann und rann, gegen das Fieber,
das sie vor meinen Augen verbrannte ... gegen den Tod, der immer näher
kam und den ich nicht wegdrängen konnte vom Bett. Verstehen Sie, was das
heißt, Arzt zu sein, alles wissen gegen alle Krankheiten -- die Pflicht
haben, zu helfen, wie Sie so weise sagen -- und doch ohnmächtig bei
einer Sterbenden zu sitzen, wissend und doch ohne Macht ... nur dies
eine, dies Entsetzliche wissend, daß man nicht helfen kann, ob man sich
auch jede Ader in seinem Körper aufreißen möchte ... einen geliebten
Körper zu sehen, wie er elend verblutet, gemartert von Schmerzen, einen
Puls zu fühlen, der fliegt und zugleich verlischt ... der einem
wegfließt unter den Fingern ... Arzt zu sein und nichts zu wissen,
nichts, nichts, nichts ... nur dazusitzen und irgendein Gebet stammeln
wie ein Hutzelweib in der Kirche, und dann wieder die Fäuste ballen
gegen einen erbärmlichen Gott, von dem man weiß, daß es ihn nicht gibt
... Verstehen Sie das? Verstehen Sie das? ... Ich ... ich verstehe nur
eines nicht, wie ... wie man es macht, daß man nicht mitstirbt in
solchen Sekunden ... daß man dann noch am nächsten Morgen von einem
Schlaf aufsteht und sich die Zähne putzt und eine Kravatte umbindet ...
daß man noch leben kann, wenn man das miterlebte, was ich fühlte, wie
dieser Atem, dieser erste Mensch, um den ich rang und kämpfte, den ich
halten wollte mit allen Kräften meiner Seele ... wie der wegglitt unter
mir ... irgendwohin, immer rascher wegglitt, Minute um Minute und ich
nichts wußte in meinem fiebernden Gehirn, um diesen, diesen einen
Menschen festzuhalten ...

Und dazu, um teuflisch noch meine Qual zu verdoppeln, dazu noch dies ...
Während ich an ihrem Bett saß -- ich hatte ihr Morphium eingegeben, um
die Schmerzen zu lindern, und sah sie liegen, mit heißen Wangen, heiß
und fahl -- ja ... während ich so saß, spürte ich vom Rücken her immer
zwei Augen auf mich gerichtet mit einem fürchterlichen Ausdruck der
Spannung ... Der Boy saß dort auf den Boden gekauert und murmelte leise
irgendwelche Gebete ... Wenn mein Blick den seinen traf, so ... nein,
ich kann es nicht schildern ... so kam etwas so Flehendes, so ... so
Dankbares in seinen hündischen Blick, und gleichzeitig hob er die Hände
zu mir, als wollte er mich beschwören, sie zu retten ... verstehen Sie:
zu mir, zu mir hob er die Hände wie zu einem Gott ... zu mir ... dem
ohnmächtigen Schwächling, der wußte, daß alles verloren ... daß ich hier
so unnötig sei wie eine Ameise, die am Boden raschelt ... Ah, dieser
Blick, wie er mich quälte, diese fanatische, diese tierische Hoffnung
auf meine Kunst ... ich hätte ihn anschreien können und mit dem Fuß
treten, so weh tat er mir ... und doch, ich spürte, wie wir beide
zusammenhingen durch unsere Liebe zu ihr ... durch das Geheimnis ... Ein
lauerndes Tier, ein dumpfes Knäuel saß er zusammengeballt knapp hinter
mir ... kaum daß ich etwas verlangte, sprang er auf mit seinen nackten
lautlosen Sohlen und reichte es zitternd ... erwartungsvoll her, als sei
das die Hilfe ... die Rettung ... Ich weiß, er hätte sich die Adern
aufgeschnitten, um ihr zu helfen ... so war diese Frau, solche Macht
hatte sie über Menschen ... und ich ... ich hatte nicht Macht, ein
Quentchen Blut zu retten ... O diese Nacht, diese entsetzliche Nacht,
diese unendliche Nacht zwischen Leben und Tod!

Gegen Morgen ward sie noch einmal wach ... sie schlug die Augen auf ...
jetzt waren sie nicht mehr hochmütig und kalt ... ein Fieber glitzerte
feucht darin, als sie, gleichsam fremd, das Zimmer abtasteten ... Dann
sah sie mich an: sie schien nachzudenken, sich erinnern zu wollen an
mein Gesicht ... und plötzlich ... ich sah es ... erinnerte sie sich ...
denn irgendein Schreck, eine Abwehr ... etwas ... etwas Feindliches,
Entsetztes spannte ihr Gesicht ... sie arbeitete mit den Armen, als
wollte sie flüchten ... weg, weg, weg von mir ... ich sah, sie dachte an
_das_ ... an die Stunde von damals ... Aber dann kam ein Besinnen ...
sie sah mich ruhiger an, atmete schwer ... ich fühlte, sie wollte
sprechen, etwas sagen ... Wieder begannen die Hände sich zu spannen ...
sie wollte sich aufheben, aber sie war zu schwach ... Ich beruhigte sie,
beugte mich nieder ... da sah sie mich an mit einem langen, gequälten
Blick ... ihre Lippen regten sich leise ... es war nur ein letzter
erlöschender Laut, wie sie sagte ...

»Wird es niemand erfahren? ... Niemand?«

»Niemand,« sagte ich mit aller Kraft der Überzeugung, »ich verspreche es
Ihnen.«

Aber ihr Auge war noch unruhig ... Mit fiebriger Lippe ganz undeutlich
arbeitete sie's heraus.

»Schwören Sie mir ... niemand erfahren ... schwören.«

Ich hob die Finger wie zum Eid. Sie sah mich an ... mit einem ... einem
unbeschreiblichen Blick ... weich war er, warm, dankbar ... ja,
wirklich, wirklich dankbar ... Sie wollte noch etwas sprechen, aber es
ward ihr zu schwer. Lang lag sie, ganz matt von der Anstrengung, mit
geschlossenen Augen. Dann begann das Entsetzliche ... das Entsetzliche
... eine ganze schwere Stunde kämpfte sie noch: erst morgens war es zu
Ende ...«

                   *       *       *       *       *

Er schwieg lange. Ich merkte es nicht eher, als vom Mitteldeck die
Glocke in die Stille schlug, ein, zwei, drei harte Schläge -- drei Uhr.
Das Mondlicht war matter geworden, aber irgendeine andere gelbe Helle
zitterte schon unsicher in der Luft, und Wind flog manchmal leicht wie
eine Brise her. Eine halbe, eine Stunde mehr, und dann war es Tag, war
dies Grauen ausgelöscht im klaren Licht. Ich sah seine Züge jetzt
deutlicher, da die Schatten nicht mehr so dicht und schwarz in unsern
Winkel fielen -- er hatte die Kappe abgenommen, und unter dem blanken
Schädel schien sein verquältes Gesicht noch schreckhafter. Aber schon
wandten sich die glitzernden Brillengläser wieder mir zu, er straffte
sich zusammen, und seine Stimme hatte einen höhnischen, scharfen Ton.

»Mit ihr wars nun zu Ende -- aber nicht mit mir. Ich war allein mit der
Leiche -- aber allein in einem fremden Haus, allein in einer Stadt, die
kein Geheimnis duldete, und ich ... ich hatte das Geheimnis zu hüten ...
Ja, denken Sie sich das nur aus, die ganze Situation: eine Frau aus der
besten Gesellschaft der Kolonie, vollkommen gesund, die noch abends
zuvor auf dem Regierungsball getanzt hat, liegt plötzlich tot in ihrem
Bett ... ein fremder Arzt ist bei ihr, den angeblich ihr Diener gerufen
... niemand im Haus hat gesehen, wann und woher er kam ... man hat sie
nachts auf einer Sänfte hereingetragen und dann die Türen geschlossen
... und morgens ist sie tot ... dann erst hat man die Diener gerufen,
und plötzlich gellt das Haus von Geschrei ... im Nu wissen es die
Nachbarn, die ganze Stadt ... und nur einer ist da, der das alles
erklären soll ... ich, der fremde Mensch, der Arzt aus einer entlegenen
Station ... Eine erfreuliche Situation, nicht wahr? ...

Ich wußte, was mir bevorstand. Glücklicherweise war der Boy bei mir, der
brave Bursche, der mir jeden Wink von den Augen las -- auch dieses gelbe
dumpfe Tier verstand, daß hier noch ein Kampf ausgetragen werden müsse.
Ich hatte ihm nur gesagt: »Die Frau will, daß niemand erfährt, was
geschehen ist.« Er sah mir in die Augen mit seinem hündisch feuchten und
doch entschlossenen Blick: »_Yes, Sir_,« mehr sagte er nicht. Aber er
wusch die Blutspuren vom Boden, richtete alles in beste Ordnung -- und
gerade seine Entschlossenheit gab mir die meine wieder.

Nie im Leben, das weiß ich, habe ich eine ähnlich zusammengeballte
Energie gehabt, nie werde ich sie wieder haben. Wenn man alles verloren
hat, dann kämpft man um das Letzte wie ein Verzweifelter -- und das
Letzte war ihr Vermächtnis, das Geheimnis. Ich empfing voll Ruhe die
Leute, erzählte ihnen allen die gleiche erdichtete Geschichte, wie der
Boy, den sie um den Arzt gesandt hatte, mich zufällig auf dem Wege traf.
Aber während ich scheinbar ruhig redete, wartete ... wartete ich immer
auf das Entscheidende ... auf den Totenbeschauer, der erst kommen mußte,
ehe wir sie in den Sarg verschließen konnten und das Geheimnis mit ihr
... Es war, vergessen Sie nicht, Donnerstag, und Samstag kam ihr Gatte
...

Um neun Uhr hörte ich endlich, wie man den Amtsarzt anmeldete. Ich hatte
ihn rufen lassen -- er war mein Vorgesetzter im Rang und gleichzeitig
mein Konkurrent, derselbe Arzt, von dem sie seinerzeit so verächtlich
gesprochen und der offenbar meinen Wunsch nach Versetzung bereits
erfahren hatte. Bei seinem ersten Blick spürte ichs schon: er war mir
Feind. Aber gerade das straffte meine Kraft.

Im Vorzimmer fragte er schon: »Wann ist Frau ... -- er nannte ihren
Namen -- gestorben?«

»Um sechs Uhr morgens.«

»Wann sandte sie zu Ihnen?«

»Um elf Uhr abends.«

»Wußten Sie, daß ich ihr Arzt war?«

»Ja, aber es tat Eile not ... und dann ... die Verstorbene hatte
ausdrücklich mich verlangt. Sie hatte verboten, einen andern Arzt rufen
zu lassen.«

Er starrte mich an: in seinem bleichen, etwas verfetteten Gesicht flog
eine Röte hoch, ich spürte, daß er erbittert war. Aber gerade das
brauchte ich -- alle meine Energien drängten sich zu rascher
Entscheidung, denn ich spürte, lange hielten es meine Nerven nicht mehr
aus. Er wollte etwas Feindliches erwidern, dann sagte er lässig: »Wenn
Sie schon meinen, mich entbehren zu können, so ist es doch meine
amtliche Pflicht, den Tod zu konstatieren und ... wie er eingetreten
ist.«

Ich antwortete nicht und ließ ihn vorangehen. Dann trat ich zurück,
schloß die Tür und legte den Schlüssel auf den Tisch. Überrascht zog er
die Augenbrauen hoch:

»Was bedeutet das?«

Ich stellte mich ruhig ihm gegenüber:

»Es handelt sich hier nicht darum, die Todesursache festzustellen,
sondern -- eine andere zu finden. Diese Frau hat mich gerufen, um sie
nach ... nach den Folgen eines verunglückten Eingriffes zu behandeln ...
ich konnte sie nicht mehr retten, aber ich habe ihr versprochen, ihre
Ehre zu retten, und das werde ich tun. Und ich bitte Sie darum, mir zu
helfen!«

Seine Augen waren ganz weit geworden vor Erstaunen. »Sie wollen doch
nicht etwa sagen,« stammelte er dann, »daß ich, der Amtsarzt, hier ein
Verbrechen decken soll?«

»Ja, das will ich, das muß ich wollen.«

»Für Ihr Verbrechen soll ich ...«

»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich diese Frau nicht berührt habe, sonst ...
sonst stünde ich nicht vor Ihnen, sonst hätte ich längst mit mir Schluß
gemacht. Sie hat ihr Vergehen -- wenn Sie es so nennen wollen -- gebüßt,
die Welt braucht davon nichts zu wissen. Und ich werde es nicht dulden,
daß die Ehre dieser Frau jetzt noch unnötig beschmutzt wird.«

Mein entschlossener Ton reizte ihn nur noch mehr auf. »Sie werden nicht
dulden ... so ... nun, Sie sind ja mein Vorgesetzter ... oder glauben es
wenigstens schon zu sein ... Versuchen Sie nur, mir zu befehlen ... ich
habe mirs gleich gedacht, da ist Schmutziges im Spiel, wenn man Sie aus
Ihrem Winkel herruft ... eine saubere Praxis, die Sie da anfangen, ein
sauberes Probestück ... Aber jetzt werde _ich_ untersuchen, _ich_, und
Sie können sich darauf verlassen, daß ein Protokoll, unter dem mein Name
steht, richtig sein wird. Ich werde keine Lüge unterschreiben.«

Ich war ganz ruhig.

»Ja -- das müssen Sie diesmal doch. Denn früher werden Sie das Zimmer
nicht verlassen.«

Ich griff dabei in die Tasche -- meinen Revolver hatte ich nicht bei
mir. Aber er zuckte zusammen. Ich trat einen Schritt auf ihn zu und sah
ihn an.

»Hören Sie, ich werde Ihnen etwas sagen ... damit es nicht zum Äußersten
kommt. Mir liegt an meinem Leben nichts ... nichts an dem eines andern
-- ich bin nun schon einmal soweit ... mir liegt einzig daran, mein
Versprechen einzulösen, daß die Art dieses Todes geheim bleibt ... Hören
Sie: ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß, wenn Sie das Zertifikat
unterfertigen, diese Frau sei an ... nun an einer Zufälligkeit
gestorben, daß ich dann noch im Laufe dieser Woche die Stadt und Indien
verlasse ... daß ich, wenn Sie es verlangen, meinen Revolver nehme und
mich niederschieße, sobald der Sarg in der Erde ist und ich sicher sein
kann, daß niemand ... Sie verstehen: _niemand_ -- mehr nachforschen
kann. Das wird Ihnen wohl genügen -- das _muß_ Ihnen genügen.«

Es muß etwas Drohendes, etwas Gefährliches in meiner Stimme gewesen
sein, denn wie ich unwillkürlich nähertrat, wich er zurück mit jenem
aufgerissenen Entsetzen, wie ... wie eben Menschen vor dem Amokläufer
flüchten, wenn er rasend hinrennt mit geschwungenem Kris ... Und mit
einemmal war er anders ... irgendwie geduckt und gelähmt ... seine harte
Haltung brach ein. Er murmelte mit einem letzten ganz weichen
Widerstand: »Es wäre das erstemal in meinem Leben, daß ich ein falsches
Zertifikat unterzeichnete ... immerhin, es wird sich schon eine Form
finden lassen ... man weiß ja auch, was vorkommt ... Aber ich durfte
doch nicht so ohne weiteres ...«

»Gewiß durften Sie nicht,« half ich ihm, um ihn zu bestärken -- (>Nur
rasch! nur rasch!< tickte es mir in den Schläfen) -- »aber jetzt, da Sie
wissen, daß Sie nur einen Lebenden kränken und einer Toten ein
Entsetzliches täten, werden Sie doch gewiß nicht zögern.«

Er nickte. Wir traten zum Tisch. Nach einigen Minuten war das Attest
fertig (das dann auch in der Zeitung veröffentlicht wurde und glaubhaft
eine Herzlähmung schilderte). Dann stand er auf, sah mich an:

»Sie reisen noch diese Woche, nicht wahr?«

»Mein Ehrenwort.«

Er sah mich wieder an. Ich merkte, er wollte streng, wollte sachlich
erscheinen. »Ich besorge sofort einen Sarg,« sagte er, um seine
Verlegenheit zu decken. Aber was war das in mir, das mich so ... so
furchtbar ... so gequält machte -- plötzlich streckte er mir die Hand
hin und schüttelte sie mit einer aufspringenden Herzlichkeit.
»Überstehen Sie's gut,« sagte er -- ich wußte nicht, was er meinte. War
ich krank? War ich ... wahnsinnig? Ich begleitete ihn zur Tür, schloß
auf -- aber das war meine letzte Kraft, die hinter ihm die Tür schloß.
Dann kam dies Ticken wieder in die Schläfen, alles schwankte und
kreiste: und gerade vor ihrem Bett fiel ich zusammen ... so ... so wie
der Amokläufer am Ende seines Laufs sinnlos niederfällt mit zersprengten
Nerven.«

                   *       *       *       *       *

Wieder hielt er inne. Irgendwie fröstelte michs: war das erster Schauer
des Morgenwinds, der jetzt leise sausend über das Schiff lief? Aber das
gequälte Gesicht -- nun schon halb erhellt vom Widerschein der Frühe --
spannte sich wieder zusammen:

»Wie lang ich so auf der Matte gelegen hatte, weiß ich nicht. Da rührte
michs an. Ich fuhr auf. Es war der Boy, der zaghaft mit seiner devoten
Geste vor mir stand und mir unruhig in den Blick sah.

»Es will jemand herein ... will sie sehen ...«

»Niemand darf herein.«

»Ja ... aber ...«

Seine Augen waren erschreckt. Er wollte etwas sagen und wagte es doch
nicht. Das treue Tier litt irgendwie eine Qual.

»Wer ist es?«

Er sah mich zitternd an wie in Furcht vor einem Schlag. Und dann sagte
er -- er nannte keinen Namen ... woher ist in solch einem niedern Wesen
mit einmal so viel Wissen, wie kommt es, daß in manchen Sekunden ein
unbeschreibliches Zartgefühl derlei ganz dumpfe Menschen beseelt? ...
dann sagte er ... ganz, ganz ängstlich ... »_Er_ ist es.«

Ich fuhr auf, verstand sofort und war sofort ganz Gier, ganz Ungeduld
nach diesem Unbekannten. Denn sehen Sie, wie sonderbar ... inmitten all
dieser Qual, in diesem Fieber von Verlangen, von Angst und Hast hatte
ich ganz an >ihn< vergessen ... vergessen, daß da noch ein Mann im
Spiele war ... der Mann, den diese Frau geliebt, dem sie
leidenschaftlich das gegeben, was sie mir verweigert ... Vor zwölf, vor
vierundzwanzig Stunden hätte ich diesen Mann noch gehaßt, ihn noch
zerfleischen können ... Jetzt ... ich kann, ich kann Ihnen nicht
schildern, wie es mich jagte, ihn zu sehen ... ihn ... zu lieben, weil
sie ihn geliebt.

Mit einem Ruck war ich bei der Tür. Ein junger, ganz junger blonder
Offizier stand dort, sehr linkisch, sehr schmal, sehr blaß. Wie ein Kind
sah er aus, so ... so rührend jung ... und unsäglich erschütterte michs
gleich, wie er sich mühte, Mann zu sein, Haltung zu zeigen ... seine
Erregung zu verbergen ... Ich sah sofort, daß seine Hände zitterten, als
er zur Mütze fuhr ... Am liebsten hätte ich ihn umarmt ... weil er ganz
so war, wie ich mirs wünschte, daß der Mann sein sollte, der diese Frau
besessen ... kein Verführer, kein Hochmütiger ... nein, ein halbes Kind,
ein reines, zärtliches Wesen, dem sie sich geschenkt.

Ganz befangen stand der junge Mensch vor mir. Mein gieriger Blick, mein
leidenschaftlicher Aufsprung machten ihn noch mehr verwirrt. Das kleine
Schnurrbärtchen über der Lippe zuckte verräterisch ... dieser junge
Offizier, dies Kind mußte sich bezwingen, um nicht herauszuschluchzen.

»Verzeihen Sie,« sagte er dann endlich, »ich hätte gerne Frau ... gerne
noch ... gesehen.«

Unbewußt, ganz ohne es zu wollen, legte ich ihm, dem Fremden, meinen Arm
um die Schulter, führte ihn, wie man einen Kranken führt. Er sah mich
erstaunt an mit einem unendlich warmen und dankbaren Blick ... irgendein
Verstehen unserer Gemeinschaft war schon in dieser Sekunde zwischen uns
beiden ... Wir gingen zu der Toten ... Sie lag da, weiß, in den weißen
Linnen -- ich spürte, daß meine Nähe ihn noch bedrückte ... so trat ich
zurück, um ihn allein zu lassen mit ihr. Er ging langsam näher mit ...
mit so zuckenden, ziehenden Schritten ... an seinen Schultern sah ichs,
wie es in ihm wühlte und riß ... er ging so wie ... wie einer, der gegen
einen ungeheuren Sturm geht ... Und plötzlich brach er vor dem Bett in
die Knie ... genau so, wie ich hingebrochen war.

Ich sprang sofort vor, hob ihn empor und führte ihn zu einem Sessel. Er
schämte sich nicht mehr, sondern schluchzte seine Qual heraus. Ich
vermochte nichts zu sagen -- nur mit der Hand strich ich ihm unbewußt
über sein blondes, kindlich weiches Haar. Er griff nach meiner Hand ...
ganz lind und doch ängstlich ... und mit einemmal fühlte ich seinen
Blick an mir hängen ...

»Sagen Sie mir die Wahrheit, Doktor,« stammelte er, »hat sie selbst Hand
an sich gelegt?«

»Nein,« sagte ich.

»Und ist ... ich meine ... ist irgend ... irgend jemand schuld an ihrem
Tode?«

»Nein,« sagte ich wieder, obwohl mirs aufquoll in der Kehle, ihm
entgegenzuschreien: »Ich! Ich! Ich! ... Und du! ... Wir beide! Und ihr
Trotz, ihr unseliger Trotz!« Aber ich hielt mich zurück. Ich wiederholte
noch einmal: »Nein ... niemand hat schuld daran ... es war ein
Verhängnis!«

»Ich kann es nicht glauben,« stöhnte er, »ich kann es nicht glauben. Sie
war noch vorgestern auf dem Balle, sie lächelte, sie winkte mir zu. Wie
ist das möglich, wie konnte das geschehen?«

Ich erzählte eine lange Lüge. Auch ihm verriet ich ihr Geheimnis nicht.
Wie zwei Brüder sprachen wir zusammen alle diese Tage, gleichsam
überstrahlt von dem Gefühl, das uns verband ... und das wir einander
nicht anvertrauten, aber wir spürten einer vom andern, daß unser ganzes
Leben an dieser Frau hing ... Manchmal drängte sichs mir würgend an die
Lippen, aber dann biß ich die Zähne zusammen -- nie hat er erfahren, daß
sie ein Kind von ihm trug ... daß ich das Kind, sein Kind, hätte töten
sollen, und daß sie es mit sich selbst in den Abgrund gerissen. Und doch
sprachen wir nur von ihr in diesen Tagen, während derer ich mich bei ihm
verbarg ... denn -- das hatte ich vergessen, Ihnen zu sagen -- man
suchte nach mir ... Ihr Mann war gekommen, als der Sarg schon
geschlossen war ... er wollte den Befund nicht glauben ... die Leute
munkelten allerlei ... und er suchte mich ... Aber ich konnte es nicht
ertragen, ihn zu sehen, ihn, von dem ich wußte, daß sie unter ihm
gelitten ... ich verbarg mich ... vier Tage ging ich nicht aus dem
Hause, gingen wir beide nicht aus der Wohnung ... ihr Geliebter hatte
mir unter einem falschen Namen einen Schiffsplatz genommen, damit ich
flüchten könne, ... wie ein Dieb bin ich nachts auf das Deck
geschlichen, daß niemand mich erkennt ... Alles habe ich zurückgelassen,
was ich besitze ... mein Haus mit der ganzen Arbeit dieser sieben Jahre,
mein Hab und Gut, alles steht offen für jeden, der es haben will ... und
die Herren von der Regierung haben mich wohl schon gestrichen, weil ich
ohne Urlaub meinen Posten verließ ... Aber ich konnte nicht leben mehr
in diesem Haus, in dieser Stadt ... in dieser Welt, wo alles mich an sie
erinnert ... wie ein Dieb bin ich geflohen in der Nacht ... nur ihr zu
entrinnen ... nur zu vergessen ...

Aber ... wie ich an Bord kam ... nachts ... mitternachts ... mein Freund
war mit mir ... da ... da ... zogen sie gerade am Kran etwas herauf ...
rechteckig, schwarz ... ihren Sarg ... hören Sie: ihren Sarg ... sie hat
mich hierher verfolgt, wie ich sie verfolgte ... und ich mußte
dabeistehen, mich fremd stellen, denn er, ihr Mann, war mit ... er
begleitet ihn nach England ... vielleicht will er dort eine Autopsie
machen lassen ... er hat sie an sich gerissen ... jetzt gehört sie
wieder ihm ... nicht uns mehr, uns ... uns beiden ... Aber ich bin noch
da ... ich gehe mit bis zur letzten Stunde ... er wird, er darf es nie
erfahren ... ich werde ihr Geheimnis zu verteidigen wissen gegen jeden
Versuch ... gegen diesen Schurken, vor dem sie in den Tod gegangen ist
... Nichts, nichts wird er erfahren ... ihr Geheimnis gehört mir, nur
mir allein ...

Verstehen Sie jetzt ... verstehen Sie jetzt ... warum ich die Menschen
nicht sehen kann ... ihr Gelächter nicht hören ... wenn sie flirten und
sich paaren ... denn da drunten ... drunten im Lagerraum zwischen
Teeballen und Paranüssen steht der Sarg verstaut ... Ich kann nicht hin,
der Raum ist versperrt ... aber ich weiß es mit allen meinen Sinnen,
weiß es in jeder Sekunde ... auch wenn sie hier Walzer spielen und Tango
... es ist ja dumm, das Meer da schwemmt über Millionen Tote, auf jedem
Fußbreit Erde, den man tritt, fault eine Leiche ... aber doch, ich kann
es nicht ertragen, ich kann es nicht ertragen, wenn sie Maskenbälle
geben und so geil lachen ... diese Tote, ich spüre sie, und ich weiß,
was sie von mir will ... ich weiß es, ich habe noch eine Pflicht ... ich
bin noch nicht zu Ende ... noch ist ihr Geheimnis nicht gerettet ... sie
gibt mich noch nicht frei ...«

                   *       *       *       *       *

Vom Mittelschiff kamen schlurfende Schritte, klatschende Laute: Matrosen
begannen das Deck zu scheuern. Er fuhr auf wie ertappt: sein zerspanntes
Gesicht bekam einen ängstlichen Zug. Er stand auf und murmelte: »Ich
gehe schon ... ich gehe schon.«

Es war eine Qual, ihn anzuschauen: seinen verwüsteten Blick, die
gedunsenen Augen, rot von Trinken oder Tränen. Er wich meiner
Anteilnahme aus: ich spürte aus seinem geduckten Wesen Scham, unendliche
Scham, sich verraten zu haben an mich, an diese Nacht. Unwillkürlich
sagte ich:

»Darf ich vielleicht nachmittags zu Ihnen in die Kabine kommen ...«

Er sah mich an -- ein höhnischer, harter, zynischer Zug zerrte an seinen
Lippen, etwas Böses stieß und verkrümmte jedes Wort.

»Aha ... Ihre famose Pflicht, zu helfen ... aha ... Mit der Maxime haben
Sie mich ja glücklich zum Schwatzen gebracht. Aber nein, mein Herr, ich
danke. Glauben Sie ja nicht, daß mir jetzt leichter sei, seit ich mir
die Eingeweide vor Ihnen aufgerissen habe bis zum Kot in meinen Därmen.
Mein verpfuschtes Leben kann mir keiner mehr zusammenflicken ... ich
habe eben umsonst der verehrlichen holländischen Regierung gedient ...
die Pension ist futsch, ich komme als armer Hund nach Europa zurück ...
ein Hund, der hinter einem Sarg herwinselt ... man läuft nicht lange
ungestraft Amok, am Ende schlägts einen doch nieder, und ich hoffe, ich
bin bald am Ende ... Nein, danke, mein Herr, für Ihren gütigen Besuch
... ich habe schon in der Kabine meine Gefährten ... ein paar gute alte
Flaschen Whisky, die trösten mich manchmal, und dann meinen Freund von
damals, an den ich mich leider nicht rechtzeitig gewandt habe, meinen
braven Browning ... der hilft schließlich besser als alles Geschwätz ...
Bitte, bemühen Sie sich nicht ... das einzige Menschenrecht, das einem
bleibt, ist doch: zu krepieren wie man will ... und dabei ungeschoren zu
bleiben von fremder Hilfe.«

Er sah mich noch einmal höhnisch ... ja herausfordernd an, aber ich
spürte: es war nur Scham, grenzenlose Scham. Dann duckte er die
Schultern, wandte sich um, ohne zu grüßen, und ging merkwürdig schief
und schlurfend über das schon helle Verdeck den Kabinen zu. Ich habe ihn
nicht mehr gesehen. Vergebens suchte ich ihn nachts und die nächste
Nacht an der gewohnten Stelle. Er blieb verschwunden, und ich hätte an
einen Traum geglaubt oder an eine phantastische Erscheinung, wäre mir
nicht inzwischen unter den Passagieren ein anderer aufgefallen mit einem
Trauerflor um den Arm, ein holländischer Großkaufmann, der, wie man mir
bestätigte, eben seine Frau an einer Tropenkrankheit verloren hatte. Ich
sah ihn ernst und gequält abseits von den andern auf und ab gehen, und
der Gedanke, daß ich um seine geheimste Sorge wußte, gab mir eine
geheimnisvolle Scheu: ich bog immer zur Seite, wenn er vorüberkam, um
nicht mit einem Blick zu verraten, daß ich mehr von seinem Schicksal
wußte als er selbst.

                   *       *       *       *       *

Im Hafen von Neapel ereignete sich dann jener merkwürdige Unfall, dessen
Deutung ich in der Erzählung des Fremden zu finden glaube. Die meisten
Passagiere waren abends von Bord gegangen, ich selbst in die Oper und
dann noch in eines der hellen Cafés an der Via Roma. Als wir mit einem
Ruderboot zu dem Dampfer zurückkehrten, fiel mir schon auf, daß einige
Boote mit Fackeln und Azetylenlampen das Schiff suchend umkreisten, und
oben am dunklen Bord war ein geheimnisvolles Gehen und Kommen von
Karabinieris und Gendarmerie. Ich fragte einen Matrosen, was geschehen
sei. Er wich in einer Weise aus, die sofort zeigte, daß Auftrag zum
Schweigen gegeben sei, und auch am nächsten Tage, als das Schiff wieder
friedfertig und ohne Spur eines Zwischenfalles nach Genua weiterfuhr,
war nichts an Bord zu erfahren. Erst in den italienischen Zeitungen las
ich dann, romantisch ausgeschmückt, von jenem angeblichen Unfall im
Hafen von Neapel. In jener Nacht sollte, so schrieben sie, in unbelebter
Stunde, um die Passagiere nicht durch den Anblick zu beunruhigen, der
Sarg einer vornehmen Dame aus den holländischen Kolonien von Bord des
Schiffes auf ein Boot gebracht werden, und man ließ ihn eben in
Gegenwart des Gatten die Strickleiter herab, als irgend etwas Schweres
vom hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit den Trägern und dem
Gatten, die ihn gemeinsam niederhißten, mit sich in die Tiefe riß. Eine
Zeitung behauptete, es sei ein Irrsinniger gewesen, der sich die Treppe
hinab auf die Strickleiter gestürzt habe, eine andere beschönigte, die
Leiter sei von selbst unter dem übergroßen Gewicht gerissen: jedenfalls
schien die Schiffahrtsgesellschaft alles getan zu haben, um den genauen
Sachverhalt zu verschleiern. Man rettete nicht ohne Mühe die Träger und
den Gatten der Verstorbenen mit Booten aus dem Wasser, der Bleisarg aber
ging sofort in die Tiefe und konnte nicht mehr geborgen werden. Daß
gleichzeitig in einer andern Notiz kurz erwähnt wurde, es sei die Leiche
eines etwa vierzigjährigen Mannes im Hafen angeschwemmt worden, schien
für die Öffentlichkeit in keinem Zusammenhang mit dem romantisch
reportierten Unfall zu stehen; mir aber war, kaum daß ich die flüchtige
Zeile gelesen, als starre plötzlich hinter dem papierenen Blatt das
mondweiße Antlitz mit den glitzernden Brillengläsern mir noch einmal
gespenstisch entgegen.




                      Die Frau und die Landschaft


Es war in jenem heißen Sommer, der durch Regennot und Dürre
verhängnisvolle Mißernte im ganzen Lande verschuldete und noch für lange
Jahre im Andenken der Bevölkerung gefürchtet blieb. Schon in den Monaten
Juni und Juli waren nur vereinzelte flüchtige Schauer über die
dürstenden Felder hingestreift, aber seit der Kalender zum August
übergeschlagen, fiel überhaupt kein Tropfen mehr, und selbst hier oben,
in dem Hochtale Tirols, wo ich, wie viele andere, Kühlung zu finden
gewähnt hatte, glühte die Luft safranfarben von Feuer und Staub.
Frühmorgens schon starrte die Sonne gelb und stumpf wie das Auge eines
Fiebernden vom leeren Himmel auf die erloschene Landschaft, und mit den
steigenden Stunden quoll dann mählich ein weißlicher drückender Dampf
aus dem messingenen Kessel des Mittags und überschwülte das Tal.
Irgendwo freilich in der Ferne hoben sich die Dolomiten mächtig auf, und
Schnee glänzte von ihnen, rein und klar, aber nur das Auge fühlte
erinnernd diesen Schimmer der Kühle, und es tat weh, sie schmachtend
anzusehen und an den Wind zu denken, der sie vielleicht zur gleichen
Stunde rauschend umflog, indes hier im Talkessel eine gierige Wärme
nachts und tags sich zudrängte und mit tausend Lippen einem die Feuchte
entsog. Allmählich erstarb in dieser sinkenden Welt welkender Pflanzen,
hinschmachtenden Laubes und versiegender Bäche auch innen alle lebendige
Bewegung, müßig und träge wurden die Stunden. Ich, wie die andern,
verbrachte diese endlosen Tage fast nur mehr im Zimmer, halb entkleidet,
bei verdunkelten Fenstern, in einem willenlosen Warten auf Veränderung,
auf Kühlung, in einem stumpfen, machtlosen Träumen von Regen und
Gewitter. Und bald wurde auch dieser Wunsch welk, ein Brüten, dumpf und
willenlos wie das der lechzenden Gräser und der schwüle Traum des
reglosen, dunstumwölkten Waldes.

Aber es wurde nur noch heißer von Tag zu Tag, und der Regen wollte noch
immer nicht kommen. Von früh bis abends brannte die Sonne nieder, und
ihr gelber, quälender Blick bekam allmählich etwas von der stumpfen
Beharrlichkeit eines Wahnsinnigen. Es war, als ob das ganze Leben
aufhören wollte, alles stand stille, die Tiere lärmten nicht mehr, von
weißen Feldern kam keine andere Stimme als der leise singende Ton der
schwingenden Hitze, das surrende Brodeln der siedenden Welt. Ich hatte
hinausgehen wollen in den Wald, wo Schatten blau zwischen den Bäumen
zitterten, um dort zu liegen, um nur diesem gelben, beharrlichen Blick
der Sonne zu entgehen; aber auch diese wenigen Schritte schon wurden mir
zu viel. So blieb ich sitzen auf einem Rohrsessel vor dem Eingang des
Hotels, eine Stunde oder zwei, eingepreßt in den schmalen Schatten, den
der schirmende Dachrand in den Kies zog. Einmal rückte ich weiter, als
das dünne Viereck Schatten sich verkürzte und die Sonne schon heran an
meine Hände kroch, dann blieb ich wieder hingelehnt, stumpf brütend ins
stumpfe Licht, ohne Gefühl von Zeit, ohne Wunsch, ohne Willen. Die Zeit
war zerschmolzen in dieser furchtbaren Schwüle, die Stunden zerkocht,
zergangen in heißer, sinnloser Träumerei. Ich fühlte nichts als den
brennenden Andrang der Luft außen an meinen Poren und innen den hastigen
Hammerschlag des fiebrig pochenden Blutes.

Da auf einmal war mir, als ob durch die Natur ein Atem ginge, leise,
ganz leise, als ob ein heißer, sehnsüchtiger Seufzer sich aufhübe von
irgendwo. Ich raffte mich empor. War das nicht Wind? Ich hatte schon
vergessen, wie das war, zu lange hatten die verdorrenden Lungen dies
Kühle nicht getrunken, und noch fühlte ich ihn nicht bis an mich
heranziehen, eingepreßt in meinen Winkel Dachschatten; aber die Bäume
dort drüben am Hang mußten eine fremde Gegenwart geahnt haben, denn mit
einem Male begannen sie ganz leise zu schwanken, als neigten sie sich
flüsternd einander zu. Die Schatten zwischen ihnen wurden unruhig. Wie
ein Lebendiges und Erregtes huschten sie hin und her, und plötzlich hob
es sich auf, irgendwo fern, ein tiefer, schwingender Ton. Wirklich: Wind
kam über die Welt, ein Flüstern, ein Wehen und Weben, ein tiefes,
orgelndes Brausen und jetzt ein stärkerer, mächtiger Stoß. Wie von einer
jähen Angst getrieben, liefen plötzlich qualmige Wolken von Staub über
die Straße, alle in gleicher Richtung, die Vögel, die irgendwo im Dunkel
gelagert hatten, zischten auf einmal schwarz durch die Luft, die Pferde
schnupperten sich den Schaum von den Nüstern, und fern im Tale blökte
das Vieh. Irgend etwas Gewaltiges war aufgewacht und mußte nahe sein,
die Erde wußte es schon, der Wald und die Tiere, und auch über den
Himmel schob sich jetzt ein leichter Flor von Grau.

Ich zitterte vor Erregung. Mein Blut war von den feinen Stacheln der
Hitze aufgereizt, meine Nerven knisterten und spannten sich, nie hatte
ich so wie jetzt die Wollust des Windes geahnt, die selige Lust des
Gewitters. Und es kam, es zog heran, es schwoll und kündete sich.
Langsam schob der Wind weiche Knäuel von Wolken herüber, es keuchte und
schnaubte hinter den Bergen, als rollte jemand eine ungeheure Last.
Manchmal hielten diese schnaubenden, keuchenden Stöße wie ermüdet wieder
inne. Dann zitterten sich die Tannen langsam still, als ob sie horchen
wollten, und mein Herz zitterte mit. Wo überall ich hinblickte, war die
gleiche Erwartung wie in mir, die Erde hatte ihre Sprünge gedehnt: wie
kleine, durstige Mäuler waren sie aufgerissen, und so fühlte ich es auch
am eigenen Leibe, daß Pore an Pore sich auftat und spannte, Kühle zu
suchen und die kalte, schauernde Lust des Regens. Unwillkürlich
krampften sich meine Finger, als könnten sie die Wolken fassen und sie
rascher herreißen in die schmachtende Welt.

Aber schon kamen sie, von unsichtbarer Hand geschoben, träge
herangedunkelt, runde, wulstige Säcke, und man sah: sie waren schwer und
schwarz von Regen, denn sie polterten murrend wie feste, wuchtige Dinge,
wenn sie aneinander stießen, und manchmal fuhr ein leiser Blitz über
ihre schwarze Fläche wie ein knisterndes Streichholz. Blau flammten sie
dann auf und gefährlich, und immer dichter drängte es sich heran, immer
schwärzer wurden sie an ihrer eigenen Fülle. Wie der eiserne Vorhang
eines Theaters senkte sich allmählich bleierner Himmel nieder und
nieder. Jetzt war schon der ganze Raum schwarz überspannt,
zusammengepreßt die warme, verhaltene Luft, und nun setzte noch ein
letztes Innehalten der Erwartung ein, stumm und grauenhaft. Erwürgt war
alles von dem schwarzen Gewicht, das sich über die Tiefe senkte, die
Vögel zirpten nicht mehr, atemlos standen die Bäume, und selbst die
kleinen Gräser wagten nicht mehr zu zittern; ein metallener Sarg,
umschloß der Himmel die heiße Welt, in der alles erstarrt war vor
Erwartung nach dem ersten Blitz. Atemlos stand ich da, die Hände
ineinandergeklammt, und spannte mich zusammen in einer wundervollen
süßen Angst, die mich reglos machte. Ich hörte hinter mir die Menschen
herumeilen, aus dem Walde kamen sie, aus der Tür des Hotels, von allen
Seiten flüchteten sie, die Dienstmädchen ließen die Rolläden herunter
und schlossen krachend die Fenster. Alles war plötzlich tätig und
aufgeregt, rührte sich, bereitete sich, drängte sich. Nur ich stand
reglos, fiebernd, stumm, denn in mir war alles zusammengepreßt zu dem
Schrei, den ich schon in der Kehle fühlte, den Schrei der Lust bei dem
ersten Blitz.

Da hörte ich auf einmal knapp hinter mir einen Seufzer, stark
aufbrechend aus gequälter Brust und noch mit ihm flehentlich
verschmolzen das sehnsüchtige Wort: »Wenn es doch nur schon regnen
wollte!« So wild, so elementar war diese Stimme, war dieser Stoß aus
einem bedrückten Gefühl, als hätte es die dürstende Erde selbst gesagt
mit ihren aufgesprungenen Lippen, die gequälte, erdrosselte Landschaft
unter dem Bleidruck des Himmels. Ich wendete mich um. Hinter mir stand
ein Mädchen, das offenbar die Worte gesagt, denn ihre Lippen, die
blassen und fein geschwungenen, waren noch im Lechzen aufgetan, und ihr
Arm, der sich an der Tür hielt, zitterte leise. Nicht zu mir hatte sie
gesprochen und zu niemandem. Wie über einen Abgrund bog sie sich in die
Landschaft hinein, und ihr Blick starrte spiegellos hinaus in das
Dunkel, das über den Tannen hing. Er war schwarz und leer, dieser Blick,
starr als eine grundlose Tiefe gegen den tiefen Himmel gewandt. Nur nach
oben griff seine Gier, griff tief in die geballten Wolken, in das
überhängende Gewitter, und an mich rührte er nicht. So konnte ich
ungestört die Fremde betrachten und sah, wie ihre Brust sich hob, wie
etwas würgend nach oben schütterte, wie jetzt um die Kehle, die
zartknochig aus dem offenen Kleide sich löste, ein Zittern ging, bis
endlich auch die Lippen bebten, dürstend sich auftaten und wieder
sagten: »Wenn es doch nur schon regnen wollte.« Und wieder war es mir
Seufzer der ganzen verschwülten Welt. Etwas Nachtwandlerisches und
Traumhaftes war in ihrer statuenhaften Gestalt, in ihrem gelösten Blick.
Und wie sie so dastand, weiß in ihrem lichten Kleide gegen den
bleifarbnen Himmel, schien sie mir der Durst, die Erwartung der ganzen
schmachtenden Natur.

Etwas zischte leise neben mir ins Gras. Etwas pickte hart auf dem
Gesims. Etwas knirschte leise im heißen Kies. Überall war plötzlich
dieser leise surrende Ton. Und plötzlich begriff ichs, fühlte ichs, daß
dies Tropfen waren, die schwer niederfielen, die ersten verdampfenden
Tropfen, die seligen Boten des großen, rauschenden, kühlenden Regens.
Oh, es begann! Es hatte begonnen. Eine Vergessenheit, eine selige
Trunkenheit kam über mich. Ich war wach wie nie. Ich sprang vor und fing
einen Tropfen in der Hand. Schwer und kalt klatschte er mir an die
Finger. Ich riß die Mütze ab, stärker die nasse Lust auf Haar und Stirn
zu fühlen, ich zitterte schon vor Ungeduld, mich ganz umrauschen zu
lassen vom Regen, ihn an mir zu fühlen, an der warmen knisternden Haut,
in den offenen Poren, bis tief hinein in das aufgeregte Blut. Noch waren
sie spärlich, die platschenden Tropfen, aber ich fühlte ihre sinkende
Fülle schon voraus, ich hörte sie schon strömen und rauschen, die
aufgetanen Schleusen, ich spürte schon das selige Niederbrechen des
Himmels über dem Walde, über das Schwüle der verbrennenden Welt.

Aber seltsam: die Tropfen fielen nicht schneller. Man konnte sie zählen.
Einer, einer, einer, einer, fielen sie nieder, es knisterte, es zischte,
es sauste leise rechts und links, aber es wollte nicht zusammenklingen
zur großen rauschenden Musik des Regens. Zaghaft tropfte es herab, und
statt schneller zu werden, ward der Takt langsam und immer langsamer und
stand dann plötzlich still. Es war, wie wenn das Ticken eines
Minutenzeigers in einer Uhr plötzlich aufhört und die Zeit erstarrt.
Mein Herz, das schon glühte vor Ungeduld, wurde plötzlich kalt. Ich
wartete, wartete, aber es geschah nichts. Der Himmel blickte schwarz und
starr nieder mit umdüsterter Stirn, totenstill blieb es minutenlang,
dann aber schien es, als ob ein leises, höhnisches Leuchten über sein
Antlitz ginge. Von Westen her hellte sich die Höhe auf, die Wand der
Wolken löste sich mählich, leise polternd rollten sie weiter. Seichter
und seichter ward ihre schwarze Unergründlichkeit, und in ohnmächtiger,
unbefriedigter Enttäuschung lag unter dem erglänzenden Horizont die
lauschende Landschaft. Wie von Wut lief noch ein leises, letztes Zittern
durch die Bäume, sie beugten und krümmten sich, dann aber fielen die
Laubhände, die schon gierig aufgereckt waren, schlaff zurück, wie tot.
Immer durchsichtiger ward der Wolkenflor, eine böse, gefährliche Helle
stand über der wehrlosen Welt. Es war nichts geschehen. Das Gewitter
hatte sich verzogen.

Ich zitterte am ganzen Körper. Wut war es, was ich fühlte, eine sinnlose
Empörung der Ohnmacht, der Enttäuschung, des Verrats. Ich hätte schreien
können oder rasen, eine Lust kam mich an, etwas zu zerschlagen, eine
Lust am Bösen und Gefährlichen, ein sinnloses Bedürfnis nach Rache. Ich
fühlte in mir die Qual der ganzen verratenen Natur, das Lechzen der
kleinen Gräser war in mir, die Hitze der Straßen, der Qualm des Waldes,
die spitze Glut des Kalksteines, der Durst der ganzen betrogenen Welt.
Meine Nerven brannten wie Drähte: ich fühlte sie zucken von elektrischer
Spannung weithinaus in die geladene Luft, wie viele feine Flammen
glühten sie mir unter der gespannten Haut. Alles tat mir weh, alle
Geräusche hatten Spitzen, alles war wie umzüngelt von kleinen Flammen,
und der Blick, was immer er faßte, verbrannte sich. Das tiefste Wesen in
mir war aufgereizt, ich spürte, wie viele Sinne, die sonst stumm und tot
im dumpfen Hirne schliefen, sich auftaten wie viele kleine Nüstern, und
mit jeder spürte ich Glut. Ich wußte nicht mehr, was davon meine
Erregung war, und was die der Welt; die dünne Membran des Fühlens
zwischen ihr und mir war zerrissen, alles einzig erregte Gemeinschaft
der Enttäuschung, und wie ich fiebernd hinabstarrte in das Tal, das sich
allmählich mit Lichtern füllte, spürte ich, daß jedes einzelne kleine
Licht in mich hineinflimmerte, jeder Stern brannte bis in mein Blut. Es
war die gleiche maßlose, fiebernde Erregung außen und innen, und in
einer schmerzhaften Magie empfand ich alles, was um mich schwoll,
gleichsam in mich gepreßt und dort wachsend und glühend. Mir war, als
brenne der geheimnisvolle, lebendige Kern, der in alle Vielfalt einzeln
eingetan ist, aus meinem innersten Wesen, alles spürte ich, in magischer
Wachheit der Sinne den Zorn jedes einzelnen Blattes, den stumpfen Blick
des Hundes, der mit gesenktem Schweife jetzt um die Türen schlich, alles
fühlte ich, und alles, was ich spürte, tat mir weh. Fast körperlich
begann dieser Brand in mir zu werden, und als ich jetzt mit den Fingern
nach dem Holz der Tür griff, knisterte es leise unter ihnen wie Zunder,
brenzlig und trocken.

Der Gong lärmte zur Abendmahlzeit. Tief in mich schlug der kupferne
Klang hinein, schmerzhaft auch er. Ich wendete mich um. Wo waren die
Menschen hin, die früher hier in Angst und Erregung vorbeigeeilt? Wo war
sie, die hier gestanden als lechzende Welt und der ich ganz vergessen in
den wirren Minuten der Enttäuschung? Alles war verschwunden. Ich stand
allein in der schweigenden Natur. Noch einmal umgriff ich Höhe und Ferne
mit dem Blick. Der Himmel war jetzt ganz leer, aber nicht rein. Über den
Sternen lag ein Schleier, ein grünlich gespannter, und aus dem
aufsteigenden Mond glitzerte der böse Glanz eines Katzenauges. Fahl war
alles da oben, höhnisch und gefährlich, tief drunten aber unter dieser
unsicheren Sphäre dämmerte dunkel die Nacht, phosphoreszierend wie ein
tropisches Meer und mit dem gequälten wollüstigen Atem einer
enttäuschten Frau. Oben stand noch hell und höhnisch eine letzte Helle,
unten müde und lastend eine schwüle Dunkelheit, feindlich war eines dem
andern, unheimlich stummer Kampf zwischen Himmel und Erde. Ich atmete
tief und trank nur Erregung. Ich griff ins Gras. Es war trocken wie Holz
und knisterte blau in meinen Fingern.

Wieder rief der Gong. Widerlich war mir der tote Klang. Ich hatte keinen
Hunger, kein Verlangen nach Menschen, aber diese einsame Schwüle hier
draußen war zu fürchterlich. Der ganze schwere Himmel lastete stumm auf
meiner Brust, und ich fühlte, ich könnte seinen bleiernen Druck nicht
länger mehr tragen. Ich ging hinein in den Speisesaal. Die Leute saßen
schon an ihren kleinen Tischen. Sie sprachen leise, aber doch, mir war
es zu laut. Denn mir ward alles zur Qual, was an meine aufgereizten
Nerven rührte: das leise Lispeln der Lippen, das Klirren der Bestecke,
das Rasseln der Teller, jede einzelne Geste, jeder Atem, jeder Blick.
Alles zuckte in mich hinein und tat mir weh. Ich mußte mich bemeistern,
um nicht etwas Sinnloses zu tun, denn ich fühlte es an meinem Pulse:
alle meine Sinne hatten Fieber. Jeden einzelnen dieser Menschen mußte
ich ansehen, und gegen jeden fühlte ich Haß, als ich sie so friedlich
dasitzen sah, gefräßig und gemächlich, indessen ich glühte. Irgendein
Neid überkam mich, daß sie so satt und sicher in sich ruhten, anteillos
an der Qual einer Welt, fühllos für die stille Raserei, die in der Brust
der verdurstenden Erde sich regte. Alle griff ich an mit dem Blick, ob
nicht einer wäre, der sie mitfühlte, aber alle schienen stumpf und
unbesorgt. Nur Ruhende und Atmende, Gemächliche waren hier, Wache,
Fühllose, Gesunde, und ich der einzige Kranke, der Einzige im Fieber der
Welt. Der Kellner brachte mir das Essen. Ich versuchte einen Bissen,
vermochte aber nicht, ihn hinabzuwürgen. Alles widerstrebte mir, was
Berührung war. Zu voll war ich von der Schwüle, dem Dunst, dem Brodem
der leidenden, kranken, zerquälten Natur.

Neben mir rückte ein Sessel. Ich fuhr auf. Jeder Laut streifte jetzt an
mich wie heißes Eisen. Ich sah hin. Fremde Menschen saßen dort, neue
Nachbarn, die ich noch nicht kannte. Ein älterer Herr und seine Frau,
bürgerliche ruhige Leute mit runden gelassenen Augen und kauenden
Wangen. Aber ihnen gegenüber, halb mit dem Rücken zu mir, ein junges
Mädchen, ihre Tochter offenbar. Nur den Nacken sah ich, weiß und schmal
und darüber wie einen Stahlhelm schwarz und fast blau das volle Haar.
Sie saß reglos da, und an ihrer Starre erkannte ich sie als dieselbe,
die früher auf der Terrasse lechzend und aufgetan vor dem Regen
gestanden wie eine weiße, durstende Blume. Ihre kleinen, kränklich
schmalen Finger spielten unruhig mit dem Besteck, aber doch, ohne daß es
klirrte; und diese Stille um sie tat mir wohl. Auch sie rührte keinen
Bissen an, nur einmal griff ihre Hand hastig und gierig nach dem Glas.
Oh, sie fühlt es auch, das Fieber der Welt, spürte ich beglückt an
diesem durstigen Griff, und eine freundliche Teilnahme legte meinen
Blick weich auf ihren Nacken. Einen Menschen, einen einzigen empfand ich
jetzt, der nicht ganz abgeschieden war von der Natur, der auch mitglühte
im Brande einer Welt, und ich wollte, daß sie wisse von unserer
Bruderschaft. Ich hätte ihr zuschreien mögen: »Fühle mich doch! Fühle
mich doch! Auch ich bin wach wie du, auch ich leide! Fühle mich! Fühle
mich!« Mit der glühenden Magnetik des Wunsches umfing ich sie. Ich
starrte in ihren Rücken, umschmeichelte von ferne ihr Haar, bohrte mich
ein mit dem Blick, ich rief sie mit den Lippen, ich preßte sie an, ich
starrte und starrte, warf mein ganzes Fieber aus, damit sie es
schwesterlich fühle. Aber sie wendete sich nicht um. Starr blieb sie,
eine Statue, sitzen, kühl und fremd. Niemand half mir. Auch sie fühlte
mich nicht. Auch in ihr war nicht die Welt. Ich brannte allein.

Oh, diese Schwüle außen und innen, ich konnte sie nicht mehr ertragen.
Der Dunst der warmen Speisen, fett und süßlich, quälte mich, jedes
Geräusch bohrte sich den Nerven ein. Ich spürte mein Blut wallen und
wußte mich einer purpurnen Ohnmacht nahe. Alles lechzte in mir nach
Kühle und Ferne, und dieses Nahsein, das dumpfe, der Menschen erdrückte
mich. Neben mir war ein Fenster. Ich stieß es auf, weit auf. Und
wunderbar: dort war es ganz geheimnisvoll wieder, dieses unruhige
Flackern in meinem Blute, nur aufgelöst in das Unbegrenzte eines
nächtigen Himmels. Weißgelb flimmerte oben der Mond wie ein entzündetes
Auge in einem roten Ring von Dunst, und über die Felder schlich
geisterhaft ein blasser Brodem hin. Fieberhaft zirpten die Grillen; mit
metallenen Saiten, die schrillten und gellten, schien die Luft
durchspannt. Dazwischen quäkte manchmal leise und sinnlos ein Unkenruf,
Hunde schlugen an, heulend und laut; irgendwo in der Ferne brüllten die
Tiere, und ich entsann mich, daß das Fieber in solchen Nächten den Kühen
die Milch vergifte. Krank war die Natur, auch dort diese stille Raserei
der Erbitterung, und ich starrte aus dem Fenster wie in einen Spiegel
des Gefühls. Mein ganzes Sein bog sich hinaus, meine Schwüle und die der
Landschaft flossen ineinander in eine stumme, feuchte Umarmung.

Wieder rückten neben mir die Sessel, und wieder schrak ich zusammen. Das
Diner war zu Ende, die Leute standen lärmend auf: auch meine Nachbarn
erhoben sich und gingen an mir vorbei. Der Vater zuerst, gemächlich und
satt, mit freundlichem, lächelndem Blick, dann die Mutter und zuletzt
die Tochter. Jetzt erst sah ich ihr Gesicht. Es war gelblich bleich, von
derselben matten, kranken Farbe wie draußen der Mond, die Lippen waren
noch immer, wie früher, halb geöffnet. Sie ging lautlos und doch nicht
leicht. Irgend etwas Schlaffes und Mattes war an ihr, das mich seltsam
gemahnte an das eigene Gefühl. Ich spürte sie näher kommen und war
gereizt. Etwas in mir wünschte eine Vertraulichkeit mit ihr, sie möchte
mich anstreifen mit ihrem weißen Kleide, oder daß ich den Duft ihres
Haares spüren könnte im Vorübergehen. In diesem Augenblick sah sie mich
an. Starr und schwarz stieß ihr Blick in mich hinein und blieb in mir
festgehakt, tief und saugend, daß ich nur ihn spürte, ihr helles Gesicht
darüber entschwand und ich einzig dieses düsternde Dunkel vor mir
fühlte, in das ich stürzte wie in einen Abgrund. Sie machte noch einen
Schritt vor, aber der Blick ließ mich nicht los, blieb in mich gebohrt
wie eine schwarze Lanze, und ich spürte sein Eindringen tiefer und
tiefer. Nun rührte seine Spitze bis an mein Herz, und es stand still.
Ein, zwei Augenblicke hielt sie so den Blick an und ich den Atem,
Sekunden, während derer ich mich machtlos weggerissen fühlte von dem
schwarzen Magneten dieser Pupille. Dann war sie an mir vorbei. Und
sofort fühlte ich mein Blut vorstürzen wie aus einer Wunde und erregt
durch den ganzen Körper gehen.

Was -- was war das? Wie aus einem Tode wachte ich auf. War das mein
Fieber, das mich so wirr machte, daß ich im flüchtigen Blick einer
Vorübergehenden gleich ganz mich verlor? Aber mir war gewesen, als hätte
ich in diesem Anschauen die gleiche stille Raserei gespürt, die
schmachtende, sinnlose, verdurstende Gier, die sich mir jetzt in allem
auftat, im Blick des roten Mondes, in den lechzenden Lippen der Erde, in
der schreienden Qual der Tiere, dieselbe, die in mir funkelte und bebte.
Oh, wie wirr alles durcheinander ging in dieser phantastischen schwülen
Nacht, wie alles zergangen war in dies eine Gefühl von Erwartung und
Ungeduld! War es mein Wahnsinn, war es der der Welt? Ich war erregt und
wollte Antwort wissen, und so ging ich ihr nach in die Halle. Sie hatte
sich dort niedergesetzt neben ihre Eltern und lehnte still in einem
Fauteuil. Unsichtbar war der gefährliche Blick unter den verhangenen
Lidern. Sie las ein Buch, aber ich glaubte ihr nicht, daß sie lese. Ich
war gewiß, daß, wenn sie fühlte wie ich, wenn sie litt mit der sinnlosen
Qual der verschwülten Welt, daß sie nicht rasten könnte im stillen
Betrachten, daß dies ein Verstecken war, ein Verbergen vor fremder
Neugier. Ich setzte mich gegenüber und starrte sie an, ich wartete
fiebernd auf den Blick, der mich bezaubert hatte, ob er nicht
wiederkommen wolle und mir sein Geheimnis lösen. Aber sie rührte sich
nicht. Die Hand schlug gleichgültig Blatt um Blatt im Buche, der Blick
blieb verhangen. Und ich wartete gegenüber, wartete heißer und heißer,
irgendeine rätselhafte Macht des Willens spannte sich, muskelhaft stark,
ganz körperlich, diese Verstellung zu zerbrechen. Zwischen all den
Menschen, die dort gemächlich sprachen, rauchten und Karten spielten,
hub nun ein stummes Ringen an. Ich spürte, daß sie sich weigerte, daß
sie es sich versagte, aufzuschauen, aber je mehr sie widerstrebte, desto
stärker wollte es mein Trotz, und ich war stark, denn in mir war die
Erwartung der ganzen lechzenden Erde und die dürstende Glut der
enttäuschten Welt. Und so wie an meine Poren noch immer die feuchte
Schwüle der Nacht, so drängte sich mein Wille gegen den ihren, und ich
wußte, sie müßte mir nun bald einen Blick hergeben, sie müßte es.
Rückwärts im Saale begann jemand Klavier zu spielen. Die Töne perlten
leise herüber, auf und ab in flüchtigen Skalen, drüben lachte jetzt eine
Gesellschaft lärmend über irgendeinen albernen Scherz, ich hörte alles,
fühlte alles, was geschah, ohne aber für eine Minute nachzulassen. Ich
zählte jetzt laut vor mich hin die Sekunden, während ich an ihren Lidern
zog und sog, während ich von ferne durch die Hypnose des Willens ihren
störrisch niedergebeugten Kopf aufheben wollte. Minute auf Minute rollte
vorüber -- immer perlten die Töne von drüben dazwischen -- und schon
spürte ich, daß meine Kraft nachließ -- da plötzlich hob sie mit einem
Ruck sich auf und sah mich an, gerade hin auf mich. Wieder war es der
gleiche Blick, der nicht endete, ein schwarzes, furchtbares, saugendes
Nichts, ein Durst, der mich einsog, ohne Widerstand. Ich starrte in
diese Pupillen hinein wie in die schwarze Höhlung eines photographischen
Apparates und spürte, daß er zuerst mein Gesicht nach innen zog in das
fremde Blut hinein und ich wegstürzte von mir; der Boden schwand unter
meinen Füßen, und ich empfand die ganze Süße des schwindelnden Sturzes.
Hoch oben über mir hörte ich noch die klingenden Skalen auf und nieder
rollen, aber schon wußte ich nicht mehr, wo mir dies geschah. Mein Blut
war weggeströmt, mein Atem stockte. Schon spürte ich, wie es mich
würgte, diese Minute oder Stunde oder Ewigkeit -- da schlugen ihre Lider
wieder zu. Ich tauchte auf wie ein Ertrinkender aus dem Wasser,
frierend, geschüttelt von Fieber und Gefahr.

Ich sah um mich. Mir gegenüber saß unter den Menschen, still über ein
Buch gebeugt, bloß mehr ein schlankes junges Mädchen, regungslos,
bildhaft, nur leise unter dem dünnen Gewand wippte das Knie. Auch meine
Hände zitterten. Ich wußte, daß jetzt dieses wollüstige Spiel von
Erwartung und Widerstand wieder beginnen sollte, daß ich Minuten
angespannt fordern mußte, um dann plötzlich wieder so in schwarze
Flammen getaucht zu werden von einem Blick. Meine Schläfen waren feucht,
in mir siedete das Blut. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich stand
auf, ohne mich umzuwenden, und ging hinaus.

Weit war die Nacht vor dem glänzenden Haus. Das Tal schien versunken,
und der Himmel glänzte feucht und schwarz wie nasses Moos. Auch hier war
keine Kühlung, noch immer nicht, überall auch hier das gleiche,
gefährliche Sichgatten von Dürsten und Trunkenheit, das ich im Blute
spürte. Etwas Ungesundes, Feuchtes, wie die Ausdünstung eines
Fiebernden, lag über den Feldern, die milchweißen Dunst brauten, ferne
Feuer zuckten und geisterten durch die schwere Luft, und um den Mond lag
ein gelber Ring und machte seinen Blick bös. Ich fühlte mich müde wie
nie. Ein geflochtener Stuhl, noch vom Tag her vergessen, stand da: ich
warf mich hinein. Die Glieder fielen von mir ab, regungslos streckte ich
mich hin. Und da, nur nachgebend angeschmiegt an das weiche Rohr,
empfand ich mit einemmal die Schwüle als wunderbar. Sie quälte nicht
mehr, sie drängte sich nur an, zärtlich und wollüstig, und ich wehrte
ihr nicht. Nur die Augen hielt ich geschlossen, um nichts zu sehen, um
stärker die Natur zu fühlen, das Lebendige, das mich umfing. Wie ein
Polyp, ein weiches, glattes, saugendes Wesen umdrängte mich jetzt,
berührte mich mit tausend Lippen die Nacht. Ich lag und fühlte mich
nachgeben, hingeben an irgend etwas, das mich umfaßte, umschmiegte,
umringte, das mein Blut trank, und zum erstenmal empfand ich in dieser
schwülen Umfassung sinnlich wie eine Frau, die sich auflöst in der
sanften Ekstase der Hingebung. Ein süßes Grauen wars mir, mit einem Male
widerstandslos zu sein und ganz meinen Leib nur der Welt hinzugeben,
wunderbar war es, wie dies Unsichtbare meine Haut zärtlich anrührte und
allmählich unter sie drang, mir die Gelenke lockerer löste, und ich
wehrte mich nicht gegen dieses Laßwerden der Sinne. Ich ließ mich
hingleiten in das neue Gefühl, und dunkel, traumhaft empfand ich nur,
daß dies: die Nacht und jener Blick von früher, die Frau und die
Landschaft, daß dies eins war, in dem es süß war, verloren zu sein.
Manchmal war mir, als wäre diese Dunkelheit nur sie, und jene Wärme, die
meine Glieder rührte, ihr eigener Leib, gelöst in Nacht wie der meine,
und noch im Traume sie empfindend, schwand ich hin in dieser schwarzen,
warmen Welle von wollüstiger Verlorenheit.

Irgend etwas schreckte mich auf. Mit allen Sinnen griff ich um mich,
ohne mich zu finden. Und dann sah ichs, erkannte ichs, daß ich da
gelehnt hatte mit geschlossenen Augen und in Schlaf gesunken war. Ich
mußte geschlummert haben, eine Stunde oder Stunden vielleicht, denn das
Licht in der Halle des Hotels war schon erloschen und alles längst zur
Ruhe gegangen. Das Haar klebte mir feucht an den Schläfen, wie ein
heißer Tau schien dieser traumhaft traumlose Schlummer über mich
gesunken zu sein. Ganz wirr stand ich auf, mich ins Haus zurückzufinden.
Dumpf war mir zumute, aber diese Wirrnis war auch um mich. Etwas grölte
in der Ferne, und manchmal funkelte ein Wetterleuchten gefährlich über
den Himmel hin. Die Luft schmeckte nach Feuer und Funken, es glänzten
verräterische Blitze hinter den Bergen, und in mir phosphoreszierte
Erinnerung und Vorgefühl. Ich wäre gern geblieben, mich zu besinnen, den
geheimnisvollen Zustand genießend aufzulösen: aber die Stunde war spät,
und ich ging hinein.

Die Halle war schon leer, die Sessel standen noch zufällig durcheinander
gerückt im fahlen Schein eines einzelnen Lichtes. Gespenstisch war ihre
unbelebte Leere, und unwillkürlich formte ich in den einen die zarte
Gestalt des sonderbaren Wesens hinein, das mich mit seinen Blicken so
verwirrt gemacht. Ihr Blick in der Tiefe meines Wesens war noch
lebendig. Er rührte sich, und ich spürte, wie er mich aus dem Dunkel
anglänzte, eine geheimnisvolle Ahnung witterte ihn noch irgendwo wach in
diesen Wänden, und seine Verheißung irrlichterte mir im Blut. Und so
schwül war es noch immer! Kaum daß ich die Augen schloß, fühlte ich
purpurne Funken hinter den Lidern. Noch glänzte in mir der weiße,
glühende Tag, noch fieberte in mir diese flirrende, feuchte, funkelnde,
phantastische Nacht!

Aber ich konnte hier im Flur nicht bleiben, es war alles dunkel und
verlassen. So ging ich die Treppe hinauf und wollte doch nicht.
Irgendein Widerstand war in mir, den ich nicht zu zähmen wußte. Ich war
müde, und doch fühlte ich mich zu früh für den Schlaf. Irgendeine
geheimnisvolle, hellsichtige Witterung verhieß mir noch Abenteuerliches,
und meine Sinne streckten sich vor, Lebendiges, Warmes zu erspähen. Wie
mit feinen, gelenkigen Fühlern drang es aus mir in den Treppengang,
rührte an alle Gemächer, und wie früher hinaus in die Natur, so warf ich
jetzt mein ganzes Fühlen in das Haus, und ich spürte den Schlaf, das
gemächliche Atemgehen vieler Menschen darin, das schwere, traumlose
Wogen ihres dicken schwarzen Blutes, ihre einfältige Ruhe und Stille,
aber doch auch das magnetische Ziehen irgendeiner Kraft. Ich ahnte
irgend etwas, das wach war wie ich. War es jener Blick, war es die
Landschaft, die diesen feinen purpurnen Wahnsinn in mich getan? Ich
glaubte irgend etwas Weiches durch Wall und Wand zu spüren, eine kleine
Flamme von Unruhe in mir zitterte und lockte im Blut und brannte nicht
aus. Widerwillig ging ich die Treppe hinauf und blieb doch immer stehen
auf jeder Stufe und horchte aus mir heraus; nicht mit dem Ohr nur,
sondern mit allen Sinnen. Nichts wäre mir wunderlich gewesen, alles in
mir lauerte noch auf ein Unerhörtes, Seltsames, denn ich wußte, die
Nacht konnte nicht enden ohne ein Wunderbares, diese Schwüle nicht enden
ohne den Blitz. Noch einmal war ich, wie ich da horchend auf dem
Treppengeländer stand, die ganze Welt draußen, die sich reckte in ihrer
Ohnmacht und nach dem Gewitter schrie. Aber nichts rührte sich. Nur
leiser Atem zog durch das windstille Haus. Müde und enttäuscht ging ich
die letzten Stufen hinauf, und mir graute vor meinem einsamen Zimmer wie
vor einem Sarg.

Die Klinke schimmerte unsicher aus dem Dunkel, feucht und warm zu
fassen. Ich öffnete die Tür. Rückwärts stand das Fenster offen und tat
ein schwarzes Viereck von Nacht auf, gedrängte Tannenwipfel drüben vom
Wald und dazwischen ein Stück des verwölkten Himmels. Dunkel war alles
außen und innen, die Welt und das Zimmer, nur -- seltsam und
unerklärlich -- am Fensterrahmen glänzte etwas Schmales, Aufrechtes wie
ein verlorener Streifen Mondschein. Ich trat verwundert näher, zu sehen,
was da so hell schimmerte in mondverhangener Nacht. Ich trat näher, und
da regte sichs. Ich erstaunte: aber doch, ich erschrak nicht, denn etwas
war in dieser Nacht in mir wunderlich dem Phantastischesten bereit,
alles schon vorher gedacht und traumbewußt. Keine Begegnung wäre mir
sonderbar gewesen und diese am wenigsten, denn wirklich: sie war es, die
dort stand, sie, an die ich unbewußt gedacht, bei jeder Stufe, bei jedem
Schritt in dem schlafenden Haus, und deren Wachheit meine aufgefunkelten
Sinne durch Diele und Tür gespürt. Nur als einen Schimmer sah ich ihr
Gesicht, und wie ein Dunst lag um sie das weiße Nachtgewand. Sie lehnte
am Fenster, und wie sie dastand, ihr Wesen hinausgewandt in die
Landschaft, von dem schimmernden Spiegel der Tiefe geheimnisvoll
angezogen in ihr Schicksal, schien sie märchenhaft, Ophelia über dem
Teiche.

Ich trat näher, scheu und erregt zugleich. Das Geräusch mußte sie
erreicht haben, sie wendete sich um. Ihr Gesicht war im Schatten. Ich
wußte nicht, ob sie mich wirklich erblickte, ob sie mich hörte, denn
nichts Jähes war in ihrer Bewegung, kein Erschrecken, kein Widerstand.
Alles war ganz still um uns. An der Wand tickte eine kleine Uhr. Ganz
still blieb es, und dann sagte sie plötzlich leise und unvermutet: »Ich
fürchte mich so.«

Zu wem sprach sie? Hatte sie mich erkannt? Meinte sie mich? Redete sie
aus dem Schlaf? Es war die gleiche Stimme, der gleiche zitternde Ton,
der heute nachmittag draußen vor den nahen Wolken geschauert, da mich
ihr Blick noch gar nicht bemerkt. Seltsam war dies, und doch war ich
nicht verwundert, nicht verwirrt. Ich trat auf sie zu, sie zu beruhigen
und faßte ihre Hand. Wie Zunder fühlte sie sich an, heiß und trocken,
und der Griff der Finger zerbröckelte weich in meiner Umfassung. Lautlos
ließ sie mir die Hand. Alles an ihr war schlaff, wehrlos, abgestorben.
Und nur von den Lippen flüsterte es nochmals wie aus einer Ferne: »Ich
fürchte mich so! Ich fürchte mich so.« Und dann in einem Seufzer
hinsterbend wie aus einem Ersticken: »Ach, wie schwül es ist!« Das klang
von ferne und war doch leise geflüstert wie ein Geheimnis zwischen uns
beiden. Aber ich fühlte dennoch: sie sprach nicht zu mir.

Ich faßte ihren Arm. Sie zitterte nur leise wie die Bäume nachmittags
vor dem Gewitter, aber sie wehrte sich nicht. Ich faßte sie fester: sie
gab nach. Schwach, ohne Widerstand, eine warme, stürzende Welle fielen
ihre Schultern gegen mich. Nun hatte ich sie ganz nahe an mir, daß ich
die Schwüle ihrer Haut atmen konnte und den feuchten Duft ihres Haares.
Ich bewegte mich nicht, und sie blieb stumm. Seltsam war all dies, und
meine Neugier begann zu funkeln. Allmählich wuchs meine Ungeduld. Ich
rührte mit meinen Lippen an ihr Haar -- sie wehrte ihnen nicht. Dann
nahm ich ihre Lippen. Sie waren trocken und heiß, und als ich sie küßte,
taten sie sich plötzlich auf, um von den meinen zu trinken, aber nicht
dürstend und leidenschaftlich, sondern mit dem stillen, schlaffen,
begehrlichen Saugen eines Kindes. Eine Verschmachtende, so fühlte ich
sie, und so wie ihre Lippen sog sich ihr schlanker, durch das dünne
Gewand warm wogender Körper mir ganz so an, wie früher draußen die
Nacht, ohne Kraft, aber voll einer stillen, trunkenen Gier. Und da, wie
ich sie hielt -- meine Sinne funkelten noch grell durcheinander --
spürte ich die warme feuchte Erde an mir, wie sie heute dalag, dürstend
nach dem Schauer der Entspannung, die heiße, machtlose, glühende
Landschaft. Ich küßte und küßte sie und empfand, als genieße ich die
große, schwüle, harrende Welt in ihr, als wäre diese Wärme, die von
ihren Wangen glühte, der Brodem der Felder, als atmete von ihren
weichen, warmen Brüsten das schauernde Land.

Doch da, wie meine wandernden Lippen zu ihren Lidern emporwollten, zu
den Augen, deren schwarze Flammen ich so schauernd gefühlt, da ich mich
hob, ihr Gesicht zu schauen und im Anschauen stärker zu genießen, sah
ich überrascht, daß ihre Lider fest geschlossen waren. Eine griechische
Maske aus Stein, augenlos, ohnmächtig, lag sie da, Ophelia nun, die
tote, auf den Wassern treibend, bleich das fühllose Antlitz gehoben aus
der dunklen Flut. Ich erschrak. Zum erstenmal fühlte ich Wirklichkeit in
dem phantastischen Begeben. Schaudernd überfiel mich die Erkenntnis, daß
ich da eine Unbewußte nahm, eine Trunkene, eine Kranke, eine
Schlafwandlerin ihrer Sinne in den Armen hielt, die mir nur die Schwüle
der Nacht hergetrieben wie ein roter, gefährlicher Mond, ein Wesen, das
nicht wußte, was es tat, das mich vielleicht nicht wollte. Ich erschrak,
und sie ward mir im Arme schwer. Leise wollte ich die Willenlose
hingleiten lassen auf den Sessel, auf das Bett, um nicht aus einem
Taumel Lust zu stehlen, nicht etwas zu nehmen, was sie vielleicht selbst
nicht wollte, sondern nur jener Dämon in ihr, der Herr ihres Blutes war.
Aber kaum fühlte sie, daß ich nachließ, begann sie leise zu stöhnen:
»Laß mich nicht! Laß mich nicht!« flehte sie, und heißer sogen ihre
Lippen, drängte ihr Körper sich an. Schmerzhaft war ihr Gesicht mit den
verschlossenen Augen gespannt, und schauernd spürte ich, daß sie wach
werden wollte und nicht konnte, daß ihre trunkenen Sinne aus dem
Gefängnis dieser Umnachtung schrieen und wissend werden wollten. Aber
gerade dies, daß unter dieser bleiernen Maske von Schlaf etwas rang, das
aus seiner Bezauberung wollte, war gefährliche Lockung für mich, sie zu
erwecken. Meine Nerven brannten vor Ungeduld, sie wach, sie sprechend,
sie als wirkliches Wesen zu sehen, nicht bloß als Traumwandlerin, und um
jeden Preis wollte ich aus ihrem dumpf genießenden Körper diese Wachheit
zwingen. Ich riß sie an mich, ich schüttelte sie, ich klemmte die Zähne
in ihre Lippen und meine Finger in ihre Arme, damit sie endlich die
Augen aufschlüge und nun besonnen täte, was hier nur dumpf ein Trieb in
ihr genoß. Aber sie bog sich nur und stöhnte unter der schmerzhaften
Umklammerung. »Mehr! Mehr!« stammelte sie mit einer Inbrunst, mit einer
sinnlosen Inbrunst, die mich erregte und selbst sinnlos machte. Ich
spürte, daß das Wache bereits nahe in ihr war, daß es aufbrechen wollte
unter den geschlossenen Lidern, denn sie zuckten schon unruhig. Näher
faßte ich sie, tiefer grub ich mich in sie ein, und plötzlich fühlte
ich, wie eine Träne die Wange hinabrollte, die ich salzig trank.
Furchtbar wogte es, je mehr ich sie preßte, in ihrer Brust, sie stöhnte,
ihre Glieder krampften sich, als wollten sie etwas Ungeheures sprengen,
einen Reif, der sie mit Schlaf umschloß, und plötzlich -- wie ein Blitz
war es durch die gewitternde Welt -- brach es in ihr entzwei. Mit
einemmal ward sie wieder schweres, lastendes Gewicht in meinen Armen,
ihre Lippen ließen mich, die Hände sanken, und wie ich sie zurücklehnte
auf das Bett, blieb sie liegen gleich einer Toten. Ich erschrak.
Unwillkürlich fühlte ich sie an und tastete ihre Arme und ihre Wangen.
Sie waren ganz kalt, erfroren, steinern. Nur an den Schläfen oben tickte
leise in zitternden Schlägen das Blut. Marmor, eine Statue, lag sie da,
feucht die Wangen von Tränen, den Atem leise spielend um die gespannten
Nüstern. Manchmal überrann sie noch leise ein Zucken, eine verebbende
Welle des erregten Blutes, doch die Brust wogte immer leiser und leiser.
Immer mehr schien sie Bild zu werden. Immer menschlicher und kindlicher,
immer heller, entspannter wurden ihre Züge. Der Krampf war entflogen.
Sie schlummerte. Sie schlief.

Ich blieb sitzen am Bettrand, zitternd über sie gebeugt. Ein friedliches
Kind lag sie da, die Augen geschlossen und den Mund leise lächelnd,
belebt von innerem Traum. Ganz nahe beugte ich mich herab, daß ich jede
Linie ihres Antlitzes einzeln sah und den Hauch ihres Atems an der Wange
fühlte, und von je näher ich auf sie blickte, desto ferner ward sie mir
und geheimnisvoller. Denn wo war sie jetzt mit ihren Sinnen, die da
steinern lag, hergetrieben von der heißen Strömung einer schwülen Nacht,
zu mir, dem Fremden, und nun wie tot gespült an den Strand? Wer war es,
die hier an meinen Händen lag, wo kam sie her, wem gehörte sie zu? Ich
wußte nichts von ihr und fühlte nur immer, daß nichts mich ihr verband.
Ich blickte sie an, einsame Minuten, während nur die Uhr eilfertig von
oben tickte, und suchte in ihrem sprachlosen Antlitz zu lesen, und doch
ward nichts von ihr vertraut. Ich hatte Lust, sie aufzuwecken aus diesem
fremden Schlaf hier in meiner Nähe, in meinem Zimmer, hart an meinem
Leben, und hatte doch gleichzeitig Furcht vor dem Erwachen, vor dem
ersten Blick ihrer wachen Sinne. So saß ich da, stumm, eine Stunde
vielleicht oder zwei über den Schlaf dieses fremden Wesens gebeugt, und
allmählich ward mirs, als sei es keine Frau mehr, kein Mensch, der hier
abenteuerlich sich mir genaht, sondern die Nacht selbst, das Geheimnis
der lechzenden, gequälten Natur, das sich mir aufgetan. Mir war, als
läge hier unter meinen Händen die ganze heiße Welt mit ihren
entschwülten Sinnen, als hätte sich die Erde aufgebäumt in ihrer Qual
und sie als Boten gesandt aus dieser seltsamen, phantastischen Nacht.

Etwas klirrte hinter mir. Ich fuhr auf wie ein Verbrecher. Nochmals
klirrte das Fenster, als rüttelte eine riesige Faust daran. Ich sprang
auf. Vor dem Fenster stand ein Fremdes: eine verwandelte Nacht, neu und
gefährlich, schwarzfunkelnd und voll wilder Regsamkeit. Ein Sausen war
dort, ein furchtbares Rauschen, und schon baute sichs auf zum schwarzen
Turm des Himmels, schon warf sichs mir entgegen aus der Nacht, kalt,
feucht und mit wildem Stoß: der Wind. Aus dem Dunkel sprang er, gewaltig
und stark, seine Fäuste rissen an den Fenstern, hämmerten gegen das
Haus. Wie ein furchtbarer Schlund war das Finstere aufgetan, Wolken
fuhren heran und bauten schwarze Wände in rasender Eile empor, und etwas
sauste gewalttätig zwischen Himmel und Welt. Weggerissen war die
beharrliche Schwüle von dieser wilden Strömung, alles flutete, dehnte,
regte sich, eine rasende Flucht war von einem Ende zum andern des
Himmels, und die Bäume, die festgewurzelten in der Erde, stöhnten unter
der unsichtbaren, sausenden, pfeifenden Peitsche des Sturmes. Und
plötzlich riß dies weiß entzwei: ein Blitz, den Himmel spaltend bis zur
Erde hinab. Und hinter ihm knatterte der Donner, als krachte das ganze
Gewölk in die Tiefe. Hinter mir rührte sichs. Sie war aufgefahren. Der
Blitz hatte den Schlaf von ihren Augen gerissen. Verwirrt starrte sie um
sich. »Was ists,« sagte sie, »wo bin ich?« Und ganz anders war die
Stimme als vordem. Angst bebte noch darin, aber der Ton klang jetzt
klar, war scharf und rein wie die neugegorene Luft. Wieder riß ein Blitz
den Rahmen der Landschaft auf: im Flug sah ich den erhellten Umriß der
Tannen, geschüttelt vom Sturm, die Wolken, die wie rasende Tiere über
den Himmel liefen, das Zimmer kalkweiß erhellt und weißer als alles ihr
blasses Gesicht. Sie sprang empor. Ihre Bewegungen waren mit einemmal
frei, wie ich sie nie an ihr gesehen. Sie starrte mich an in der
Dunkelheit. Ich spürte ihren Blick schwärzer als die Nacht. »Wer sind
Sie ... Wo bin ich?« stammelte sie und raffte erschreckt das
aufgesprengte Gewand über der Brust zusammen. Ich trat näher, sie zu
beruhigen, aber sie wich aus. »Was wollen Sie von mir?« schrie sie mit
voller Kraft, da ich ihr nahe kam. Ich wollte ein Wort suchen, um sie zu
beruhigen, sie anzusprechen, aber da merkte ich erst, daß ich ihren
Namen nicht kannte. Wieder warf ein Blitz Licht über das Zimmer. Wie mit
Phosphor bestrichen, blendeten kalkweiß die Wände, weiß stand sie vor
mir, die Arme im Schrecken gegen mich gestemmt, und in ihrem nun wachen
Blick war grenzenloser Haß. Vergebens wollte ich im Dunkel, das mit dem
Donner auf uns niederfiel, sie fassen, beruhigen, ihr etwas erklären,
aber sie riß sich los, stieß die Türe auf, die ein neuer Blitz ihr wies,
und stürzte hinaus. Und mit der Tür, die zufiel, krachte der Donner
nieder, als seien alle Himmel auf die Erde gefallen.

Und dann rauschte es, Bäche stürzten von unendlicher Höhe wie
Wasserfälle, und der Sturm schwenkte sie als nasse Taue prasselnd hin
und her. Manchmal schnellte er Büschel eiskalten Wassers und süßer,
gewürzter Luft zum Fensterrahmen herein, wo ich schauend stand, bis das
Haar mir naß war und ich troff von den kalten Schauern. Aber ich war
selig, das reine Element zu fühlen, mir war, als löste nun auch meine
Schwüle sich in den Blitzen los, und ich hätte schreien mögen vor Lust.
Alles vergaß ich in dem ekstatischen Gefühl, wieder atmen zu können und
frisch zu sein, und ich sog diese Kühle in mich wie die Erde, wie das
Land: ich fühlte den seligen Schauer des Durchrütteltseins wie die
Bäume, die sich zischend schwangen unter der nassen Rute des Regens.
Dämonisch schön war der wollüstige Kampf des Himmels mit der Erde, eine
gigantische Brautnacht, deren Lust ich mitfühlend genoß. Mit Blitzen
griff der Himmel herab, mit Donner stürzte er auf die Erbebende nieder,
und es war in diesem stöhnenden Dunkel ein rasendes Ineinandersinken von
Höhe und Tiefe, wie von Geschlecht zu Geschlecht. Die Bäume stöhnten vor
Wollust, und mit immer glühenderen Blitzen flocht sich die Ferne
zusammen, man sah die heißen Adern des Himmels offen stehen, sie
sprühten sich aus und mengten sich mit den nassen Rinnsalen der Wege.
Alles brach auseinander und stürzte zusammen, Nacht und Welt -- ein
wunderbarer neuer Atem, in den sich der Duft der Felder vermengte mit
dem feurigen Odem des Himmels, drang kühl in mich ein. Drei Wochen
zurückgehaltener Glut rasten sich in diesem Kampf aus, und auch in mir
fühlte ich die Entspannung. Es war mir, als rauschte der Regen in meine
Poren hinein, als durchsause reinigend der Wind meine Brust, und ich
fühlte mich und mein Erleben nicht mehr einzeln und beseelt, ich war nur
Welt, Orkan, Schauer, Wesen und Nacht im Überschwang der Natur. Und
dann, als alles mählich stiller war, die Blitze bloß blau und
ungefährlich den Horizont umschweiften, der Donner nur mehr väterlich
mahnend grollte und das Rauschen des Regens rhythmisch ward im
ermattenden Wind, da kam auch mich ein Leiserwerden und Müdigkeit an.
Wie Musik fühlte ich meine schwingenden Nerven erklingen, und sanfte
Gelöstheit sank in meine Glieder. Oh, schlafen jetzt mit der Natur und
dann aufwachen mit ihr! Ich warf die Kleider ab und mich ins Bett. Noch
waren weiche, fremde Formen darin. Ich spürte sie dumpf, das seltsame
Abenteuer wollte sich noch einmal besinnen, aber ich verstand es nicht
mehr. Der Regen draußen rauschte und rauschte und wusch mir meine
Gedanken weg. Ich fühlte alles nur mehr als Traum. Immer wollte ich noch
etwas zurückdenken von dem, was mir geschehen war, aber der Regen
rauschte und rauschte, eine wunderbare Wiege war die sanfte, klingende
Nacht, und ich sank in sie hinein, einschlummernd in ihrem Schlummer.

Am nächsten Morgen, als ich ans Fenster trat, sah ich eine verwandelte
Welt. Klar, mit festen Umrissen, heiter lag das Land in sicherem,
sonnigem Glanz, und hoch über ihm, ein leuchtender Spiegel dieser
Stille, wölbte der Horizont sich blau und fern. Klar waren die Grenzen
gezogen, unendlich fern stand der Himmel, der gestern sich tief hinab in
die Felder gewühlt und sie fruchtbar gemacht. Jetzt aber war er fern,
weltenweit und ohne Zusammenhang, nirgends rührte er sie mehr an, die
duftende, atmende, gestillte Erde, sein Weib. Ein blauer Abgrund
schimmerte kühl zwischen ihm und der Tiefe, wunschlos blickten sie
einander an und fremd, der Himmel und die Landschaft.

Ich ging hinab in den Saal. Die Menschen waren schon beisammen. Anders
war auch ihr Wesen als in diesen entsetzlichen Wochen der Schwüle. Alles
regte und bewegte sich. Ihr Lachen klang hell, ihre Stimmen melodisch,
metallen, die Dumpfheit war entflogen, die sie behinderte, das schwüle
Band gesunken, das sie umflocht. Ich setzte mich zwischen sie, ganz ohne
Feindlichkeit, und irgendeine Neugier suchte nun auch die Andere, deren
Bild mir der Schlaf fast entwunden. Und wirklich, zwischen Vater und
Mutter am Nebentisch saß sie dort, die ich suchte. Sie war heiter, ihre
Schultern leicht, und ich hörte sie lachen, klingend und unbesorgt.
Neugierig umfaßte ich sie mit dem Blick. Sie bemerkte mich nicht. Sie
erzählte irgend etwas, das sie froh machte, und zwischen die Worte
perlte ein kindliches Lachen hinein. Endlich sah sie gelegentlich auch
zu mir hinüber, und bei dem flüchtigen Anstreifen stockte unwillkürlich
ihr Lachen. Sie sah mich schärfer an. Etwas schien sie zu befremden, die
Brauen schoben sich hoch, streng und gespannt umfragte mich ihr Auge,
und allmählich bekam ihr Gesicht einen angestrengten, gequälten Zug, als
ob sie sich durchaus auf etwas besinnen wollte und es nicht vermöchte.
Ich blieb erwartungsvoll mit ihr Blick in Blick, ob nicht ein Zeichen
der Erregung oder der Beschämung mich grüßen würde, aber schon sah sie
wieder weg. Nach einer Minute kam ihr Blick noch einmal, um sich zu
vergewissern, zurück. Noch einmal prüfte er mein Gesicht. Eine Sekunde
nur, eine lange gespannte Sekunde, fühlte ich seine harte, stechende,
metallene Sonde tief in mich dringen, doch dann ließ ihr Auge mich
beruhigt los, und an der unbefangenen Helle ihres Blickes, der leichten,
fast frohen Wendung ihres Kopfes spürte ich, daß sie wach nichts mehr
von mir wußte, daß unsere Gemeinschaft versunken war mit der magischen
Dunkelheit. Fremd und weit waren wir wieder einander wie Himmel und
Erde. Sie sprach zu ihren Eltern, wiegte unbesorgt die schlanken,
jungfräulichen Schultern, und heiter glänzten im Lächeln die Zähne unter
den schmalen Lippen, von denen ich doch noch vor Stunden den Durst und
die Schwüle einer ganzen Welt getrunken.




                          Phantastische Nacht


Die nachfolgenden Aufzeichnungen fanden sich als versiegeltes Paket im
Schreibtisch des Barons Friedrich Michael von R..., nachdem er im Herbst
1914 als österreichischer Reserveoberleutnant bei einem Dragonerregiment
in der Schlacht bei Rawaruska gefallen war. Da die Familie nach der
Titelüberschrift und bloß flüchtigem Einblick in diesen Blättern nur
eine literarische Arbeit ihres Verwandten vermutete, übergaben sie mir
die Aufzeichnungen zur Prüfung und stellten mir ihre Veröffentlichung
anheim. Ich persönlich halte diese Blätter nun durchaus nicht für eine
erfundene Erzählung, sondern für ein wirkliches, in allen Einzelheiten
tatsächliches Erlebnis des Gefallenen und veröffentliche unter
Unterdrückung des Namens seine seelische Selbstenthüllung ohne jede
Änderung und Beifügung.

                   *       *       *       *       *

Heute morgens überkam mich plötzlich der Gedanke, ich sollte das
Erlebnis jener phantastischen Nacht für mich niederschreiben, um die
ganze Begebenheit in ihrer natürlichen Reihenfolge einmal geordnet zu
überblicken. Und seit dieser jähen Sekunde fühle ich einen
unerklärlichen Zwang, mir im geschriebenen Wort jenes Abenteuer
darzustellen, obzwar ich bezweifle, auch nur annähernd die Sonderbarkeit
der Vorgänge schildern zu können. Mir fehlt jede sogenannte
künstlerische Begabung, ich habe keinerlei Übung in literarischen
Dingen, und abgesehen von einigen mehr scherzhaften Produkten im
Theresianum habe ich mich nie im Schriftstellerischen versucht. Ich weiß
zum Beispiel nicht einmal, ob es eine besonders erlernbare Technik gibt,
um die Aufeinanderfolge von äußern Dingen und ihre gleichzeitige innere
Spiegelung zu ordnen, frage mich auch, ob ich es vermag, dem Sinn immer
das rechte Wort, dem Wort den rechten Sinn zu geben und so jene Balance
zu gewinnen, die ich von je bei jedem rechten Erzähler im Lesen unbewußt
spürte. Aber ich schreibe diese Zeilen ja nur für mich, und sie sind
keineswegs bestimmt, etwas, was ich kaum mir selber zu erklären vermag,
andern verständlich zu machen. Sie sind nur ein Versuch, mit irgendeinem
Geschehnis, das mich ununterbrochen beschäftigt und in schmerzhaft
quellender Gärung bewegt, in einem gewissen Sinne endlich einmal fertig
zu werden, es festzulegen, vor mich hinzustellen und von allen Seiten zu
umfassen.

Ich habe von dieser Begebenheit keinem meiner Freunde erzählt, eben aus
jenem Gefühl, ich könnte ihnen das Wesentliche daran nicht verständlich
machen, und dann auch aus einer gewissen Scham, von einer so zufälligen
Angelegenheit dermaßen erschüttert und umgewühlt worden zu sein. Denn
das Ganze ist eigentlich nur ein kleines Erlebnis. Aber wie ich dies
Wort jetzt hinschreibe, beginne ich schon zu bemerken, wie schwer es für
einen Ungeübten wird, beim Schreiben die Worte in ihrem rechten Gewicht
zu wählen, und welche Zweideutigkeit, welche Mißverständnismöglichkeit
sich an das einfachste Vokabel knüpft. Denn wenn ich mein Erlebnis ein
»kleines« nenne, so meine ich dies natürlich nur im relativen Sinn, im
Gegensatz zu den gewaltigen dramatischen Geschehnissen, von denen ganze
Völker und Schicksale mitgerissen werden, und meine es andererseits im
zeitlichen Sinne, weil der ganze Vorgang keinen größeren Raum umspannt
als knappe sechs Stunden. Für mich aber war dies -- im allgemeinen Sinn
also kleine, unbedeutsame und unwichtige -- Erlebnis so ungeheuer viel,
daß ich heute -- vier Monate nach jener phantastischen Nacht -- noch
davon glühe und alle meine geistigen Kräfte anspannen muß, um es in
meiner Brust zu bewahren. Täglich, stündlich wiederhole ich mir alle
seine Einzelheiten, denn es ist gewissermaßen der Drehpunkt meiner
ganzen Existenz geworden, alles, was ich tue und rede, ist unbewußt von
ihm bestimmt, meine Gedanken beschäftigen sich einzig damit, sein
plötzliches Geschehen immer und immer wieder zu wiederholen und durch
dieses Wiederholen mir als Besitz zu bestätigen. Und jetzt weiß ich auch
mit einemmal, was ich vor zehn Minuten, da ich die Feder ansetzte,
bewußt noch nicht ahnte: daß ich mir dies Erlebnis nur deshalb jetzt
hinschreibe, um es ganz sicher und gleichsam sachlich fixiert vor mir zu
haben, es noch einmal nachzugenießen im Gefühl und gleichzeitig geistig
zu erfassen. Es ist ganz falsch, ganz unwahr, wenn ich vorhin sagte, ich
wollte damit fertig werden, indem ich es niederschreibe, im Gegenteil,
ich will das zu rasch Gelebte nur noch lebendiger haben, es neben mich
warm und atmend stellen, um es immer und immer umfangen zu können. Oh,
ich habe keine Angst, auch nur eine Sekunde jenes schwülen Nachmittags,
jener phantastischen Nacht zu vergessen, ich brauche kein Merkzeichen,
keine Meilensteine, um in der Erinnerung den Weg jener Stunden Schritt
für Schritt zurückzugehen: wie ein Traumwandler finde ich jederzeit
mitten im Tage, mitten in der Nacht in seine Sphäre zurück, und jede
Einzelheit sehe ich darin mit jener Hellsichtigkeit, die nur das Herz
kennt und nicht das weiche Gedächtnis. Ich könnte hier ebensogut auf das
Papier die Umrisse jedes einzelnen Blattes in der frühlingshaft
ergrünten Landschaft hinzeichnen, ich spüre jetzt im Herbst noch ganz
lind das weiche staubige Qualmen der Kastanienblüten; wenn ich also noch
einmal diese Stunden beschreibe, so geschieht es nicht aus Furcht, sie
zu verlieren, sondern aus Freude, sie wiederzufinden. Und wenn ich jetzt
in der genauen Aufeinanderfolge mir die Wandlungen jener Nacht
darstelle, so werde ich um der Ordnung willen an mich halten müssen,
denn immer schwillt, kaum daß ich an die Einzelheiten denke, eine
Ekstase aus meinem Gefühl empor, eine Art Trunkenheit faßt mich, und ich
muß die Bilder der Erinnerung stauen, daß sie nicht, ein farbiger
Rausch, ineinanderstürzen. Noch immer erlebe ich mit leidenschaftlicher
Feurigkeit das Erlebte, jenen Tag, jenen 7. Juni 1913, da ich mir
mittags einen Fiaker nahm ...

Aber noch einmal, spüre ich, muß ich innehalten, denn schon wieder werde
ich erschreckt der Zweischneidigkeit, der Vieldeutigkeit eines einzelnen
Wortes gewahr. Jetzt, da ich zum ersten Male im Zusammenhange etwas
erzählen soll, merke ich erst, wie schwer es ist, jenes Gleitende, das
doch alles Lebendige bedeutet, in einer geballten Form zu fassen. Eben
habe ich »ich« hingeschrieben, habe gesagt, daß ich am 7. Juni 1913 mir
mittags einen Fiaker nahm. Aber dies Wort wäre schon eine
Undeutlichkeit, denn jenes »Ich« von damals, von jenem 7. Juni, bin ich
längst nicht mehr, obwohl erst vier Monate seitdem vergangen sind,
obwohl ich in der Wohnung dieses damaligen »Ich« wohne und an seinem
Schreibtisch mit seiner Feder und seiner eigenen Hand schreibe. Von
diesem damaligen Menschen bin ich, und gerade durch jenes Erlebnis ganz
abgelöst, ich sehe ihn jetzt von außen, ganz fremd und kühl, und kann
ihn schildern wie einen Spielgenossen, einen Kameraden, einen Freund,
von dem ich vieles und Wesentliches weiß, der ich aber doch selbst
durchaus nicht mehr bin. Ich könnte über ihn sprechen, ihn tadeln oder
verurteilen, ohne überhaupt zu empfinden, daß er mir einst zugehört hat.

Der Mensch, der ich damals war, unterschied sich in Wenigem äußerlich
und innerlich von den meisten seiner Gesellschaftsklasse, die man
besonders bei uns in Wien die »gute Gesellschaft« ohne besonderen Stolz,
sondern ganz als selbstverständlich zu bezeichnen pflegt. Ich ging in
das sechsunddreißigste Jahr, meine Eltern waren früh gestorben und
hatten mir knapp vor meiner Mündigkeit ein Vermögen hinterlassen, das
sich als reichlich genug erwies, um von nun ab den Gedanken an Erwerb
und Karriere gänzlich mir zu erübrigen. So wurde mir unvermutet eine
Entscheidung abgenommen, die mich damals sehr beunruhigte. Ich hatte
nämlich gerade meine Universitätsstudien vollendet und stand vor der
Wahl meines zukünftigen Berufes, der wahrscheinlich dank unserer
Familienbeziehungen und meiner schon früh vortretenden Neigung zu einer
ruhig ansteigenden und kontemplativen Existenz auf den Staatsdienst
gefallen wäre, als dies elterliche Vermögen an mich als einzigen Erben
fiel und mir eine plötzliche arbeitslose Unabhängigkeit zusicherte,
selbst im Rahmen weitgespannter und sogar luxuriöser Wünsche. Ehrgeiz
hatte mich nie bedrängt, so beschloß ich, einmal dem Leben erst ein paar
Jahre zuzusehen und zu warten, bis es mich schließlich verlocken würde,
mir selbst einen Wirkungskreis zu finden. Es blieb aber bei diesem
Zuschauen und Warten, denn da ich nichts Sonderliches begehrte,
erreichte ich alles im engen Kreis meiner Wünsche; die weiche und
wollüstige Stadt Wien, die wie keine andere das Spazierengehen, das
nichtstuerische Betrachten, das Elegantsein zu einer geradezu
künstlerischen Vollendung, zu einem Lebenszweck heranbildet, ließ mich
die Absicht einer wirklichen Betätigung ganz vergessen. Ich hatte alle
Befriedigung eines eleganten, adeligen, vermögenden, hübschen und dazu
noch ehrgeizlosen jungen Mannes, die ungefährlichen Spannungen des
Spiels, der Jagd, die regelmäßigen Auffrischungen der Reisen und
Ausflüge, und bald begann ich diese beschauliche Existenz immer mehr mit
wissender Sorgfalt und künstlerischer Neigung auszubauen. Ich sammelte
seltene Gläser, weniger aus einer inneren Leidenschaft als aus der
Freude, innerhalb einer anstrengungslosen Betätigung Geschlossenheit und
Kenntnis zu erreichen, ich schmückte meine Wohnung mit einer besonderen
Art italienischer Barockstiche und mit Landschaftsbildern in der Art des
Canaletto, die bei Trödlern zusammenzufinden oder bei Auktionen zu
erstehen voll einer jagdmäßigen und doch nicht gefährlichen Spannung
war, ich trieb mancherlei mit Neigung und immer mit Geschmack, fehlte
selten bei guter Musik und in den Ateliers unserer Maler. Bei Frauen
mangelte es mir nicht an Erfolg, auch hier hatte ich mit dem geheimen
sammlerischen Trieb, der irgendwie auf innere Unbeschäftigtkeit deutet,
mir vielerlei erinnerungswerte und kostbare Stunden des Erlebens
aufgehäuft, und hier allmählich vom bloßen Genießer mich zum wissenden
Kenner steigernd. Im ganzen hatte ich viel erlebt, was mir angenehm den
Tag füllte und meine Existenz mich als eine reiche empfinden ließ, und
immer mehr begann ich diese laue, wohlige Atmosphäre einer gleichzeitig
belebten und doch nie erschütterten Jugend zu lieben, fast ohne neue
Wünsche schon, denn ganz geringe Dinge vermochten sich schon in der
windstillen Luft meiner Tage zu einer Freude zu entfalten. Eine
gutgewählte Krawatte konnte mich fast schon froh machen, ein schönes
Buch, ein Automobilausflug oder eine Stunde mit einer Frau mich restlos
beglücken. Ganz besonders wohl tat mir in dieser meiner Daseinsform, daß
sie in keiner Weise, ganz wie ein tadellos korrekter englischer Anzug,
in keiner Weise der Gesellschaft auffiel. Ich glaube, man empfand mich
als eine angenehme Erscheinung, ich war beliebt und gerne gesehen, und
die meisten, die mich kannten, nannten mich einen glücklichen Menschen.

Ich weiß jetzt nicht mehr zu sagen, ob jener Mensch von damals, den ich
mir zu vergegenwärtigen bemühe, sich selbst so wie jene anderen als
einen Glücklichen empfand; denn nun, wo ich aus jenem Erlebnis für jedes
Gefühl einen viel volleren und erfüllteren Sinn fordere, scheint mir
jede rückerinnernde Wertung fast unmöglich. Doch vermag ich mit
Gewißheit zu sagen, daß ich mich zu jener Zeit keineswegs als
unglücklich empfand, blieben doch fast nie meine Wünsche unerfüllt und
meine Anforderungen an das Leben unerwidert. Aber gerade dies, daß ich
mich daran gewöhnt hatte, alles Geforderte vom Schicksal zu empfangen
und darüber hinaus nichts mehr ihm abzufordern, gerade dies zeitigte
allmählich einen gewissen Mangel an Spannung, eine Unlebendigkeit im
Leben selbst. Was sich damals unbewußt in manchen Augenblicken der
Halberkenntnis in mir sehnsüchtig regte: es waren nicht eigentlich
Wünsche, sondern nur der Wunsch nach Wünschen, das Verlangen, stärker,
unbändiger, ehrgeiziger, unbefriedigter zu begehren, mehr zu leben und
vielleicht auch zu leiden. Ich hatte aus meiner Existenz durch eine
allzu vernünftige Technik alle Widerstände ausgeschaltet, und an diesem
Fehlen der Widerstände erschlaffte meine Vitalität. Ich merkte, daß ich
immer weniger, immer schwächer begehrte, daß eine Art Erstarrung in mein
Gefühl gekommen war, daß ich -- vielleicht ist es am besten so
ausgedrückt -- an einer seelischen Impotenz, einer Unfähigkeit zur
leidenschaftlichen Besitznahme des Lebens litt. An kleinen Zeichen
erkannte ich dieses Manko zuerst. Es fiel mir auf, daß ich im Theater
und in der Gesellschaft bei gewissen sensationellen Veranstaltungen
öfter und öfter fehlte, daß ich Bücher bestellte, die mir gerühmt worden
waren und sie dann unaufgeschnitten wochenlang auf dem Schreibtisch
liegen ließ, daß ich zwar mechanisch weiter meine Liebhabereien
sammelte, Gläser und Antiken kaufte, ohne sie aber dann einzuordnen und
mich eines seltenen und langgesuchten Stückes bei unvermutetem Erwerb
sonderlich zu freuen.

Wirklich bewußt aber wurde mir diese übergangshafte und leise
Verminderung meiner seelischen Spannkraft erst bei einer bestimmten
Gelegenheit, der ich mich noch deutlich entsinne. Ich war im Sommer --
auch schon aus jener merkwürdigen Trägheit heraus, die von nichts Neuem
sich lebhaft angelockt fühlte -- in Wien geblieben, als ich plötzlich
aus einem Kurorte den Brief einer Frau erhielt, mit der mich seit drei
Jahren eine intime Beziehung verband und von der ich sogar aufrichtig
meinte, daß ich sie liebe. Sie schrieb mir in vierzehn aufgeregten
Seiten, sie habe in diesen Wochen dort einen Mann kennengelernt, der ihr
viel, ja alles geworden sei, sie werde ihn im Herbst heiraten, und
zwischen uns müsse jene Beziehung zu Ende sein. Sie denke ohne Reue, ja
mit Glück an die mit mir gemeinsam verlebte Zeit zurück, der Gedanke an
mich begleite sie in ihre neue Ehe als das Liebste ihres vergangenen
Lebens, und sie hoffe, ich werde ihr den plötzlichen Entschluß
verzeihen. Nach dieser sachlichen Mitteilung überbot sich der aufgeregte
Brief dann in wirklich ergreifenden Beschwörungen, ich möge ihr nicht
zürnen und nicht zuviel an dieser plötzlichen Absage leiden, ich solle
keinen Versuch machen, sie gewaltsam zurückzuhalten oder eine Torheit
gegen mich begehen. Immer hitziger jagten die Zeilen hin: ich solle doch
bei einer Besseren Trost finden, ich solle ihr sofort schreiben, denn
sie sei in Angst, wie ich diese Mitteilung aufnehmen würde. Und als
Nachsatz, mit Bleistift, war dann noch eilig hingeschrieben: »Tue nichts
Unvernünftiges, verstehe mich, verzeihe mir!« Ich las diesen Brief,
zuerst überrascht von der Nachricht und dann, als ich ihn durchblättert,
noch ein zweites Mal und nun mit einer gewissen Beschämung, die sich
bewußt werdend rasch zu einem inneren Erschrecken steigerte. Denn nichts
von allen den starken und doch natürlichen Empfindungen, die meine
Geliebte als selbstverständlich voraussetzte, hatte sich auch nur
andeutungshaft in mir geregt. Ich hatte nicht gelitten bei ihrer
Mitteilung, hatte ihr nicht gezürnt und schon gar nicht eine Sekunde an
eine Gewalttätigkeit gegen sie oder gegen mich gedacht, und diese Kälte
des Gefühls in mir war nun doch zu sonderbar, als daß sie mich nicht
selbst erschreckt hätte. Da fiel eine Frau von mir ab, die Jahre meines
Lebens begleitet hatte, deren warmer Leib sich elastisch dem meinen
aufgetan, deren Atem in langen Nächten in meinen vergangen war, und
nichts rührte sich in mir, wehrte sich dagegen, nichts suchte sie
zurückzuerobern, nichts von all dem geschah in meinem Gefühl von dem,
was der reine Instinkt dieser Frau als selbstverständlich bei einem
wirklichen Menschen voraussetzen mußte. In diesem Augenblicke war mir
zum ersten Male ganz bewußt, wie weit der Erstarrungsprozeß in mir
fortgeschritten war -- ich glitt eben durch wie auf fließendem,
spiegelndem Wasser, ohne irgend verhaftet, verwurzelt zu sein, und ich
wußte ganz genau, daß diese Kälte etwas Totes, Leichenhaftes war, noch
nicht umwittert zwar vom faulen Hauch der Verwesung, aber doch schon
rettungslose Starre, grausam-kalte Fühllosigkeit, die Minute also, die
dem wahren, dem körperlichen Sterben, dem auch äußerlich sichtbaren
Verfall vorangeht. Seit jener Episode begann ich mich und diese
merkwürdige Gefühlsstarre in mir aufmerksam zu beobachten wie ein
Kranker seine Krankheit. Als kurz darauf ein Freund von mir starb und
ich hinter seinem Sarge ging, horchte ich in mich hinein, ob sich nicht
eine Trauer in mir rühre, irgendein Gefühl sich in dem Bewußtsein
spanne, dieser mir seit Kindheitstagen nahe Mensch sei nun für immer
verloren. Aber es regte sich nichts, ich kam mir selbst wie etwas
Gläsernes vor, durch das die Dinge hindurchleuchteten, ohne jemals innen
zu sein, und so sehr ich mich bei diesem Anlaß und manchen ähnlichen
auch anstrengte, etwas zu fühlen, ja mich mit Verstandesgründen zu
Gefühlen überreden wollte, es kam keine Antwort aus jener inneren Starre
zurück. Menschen verließen mich, Frauen gingen und kamen, ich spürte es
kaum anders wie einer, der im Zimmer sitzt, den Regen an den Scheiben,
zwischen mir und dem Unmittelbaren war irgendeine gläserne Wand, die ich
mit dem Willen zu zerstoßen nicht die Kraft hatte.

Obzwar ich dies nun klar empfand, so schuf mir diese Erkenntnis doch
keine rechte Beunruhigung, denn ich sagte es ja schon, daß ich auch
Dinge, die mich selbst betrafen, mit Gleichgültigkeit hinnahm. Auch zum
Leiden hatte ich nicht mehr genug Gefühl. Es genügte mir, daß dieser
seelische Defekt außen so wenig wahrnehmbar war, wie etwa die
körperliche Impotenz eines Mannes nicht anders als in der intimen
Sekunde offenbar wird, und ich setzte oft in Gesellschaft durch eine
künstliche Leidenschaftlichkeit im Bewundern, durch spontane
Übertreibungen von Ergriffenheit eine gewisse Ostentation daran, zu
verbergen, wie sehr ich mich innerlich anteilslos und abgestorben wußte.
Äußerlich lebte ich mein altes behagliches, hemmungsloses Leben weiter,
ohne seine Richtung zu ändern; Wochen, Monate glitten leicht vorüber und
füllten sich langsam dunkel zu Jahren. Eines Morgens sah ich im Spiegel
einen grauen Streif an meiner Schläfe und spürte, daß meine Jugend
langsam hinüber wollte in eine andere Welt. Aber was andere Jugend
nannten, war in mir längst vorbei. So tat das Abschiednehmen nicht
sonderlich weh, denn ich liebte auch meine eigene Jugend nicht genug.
Auch zu mir selbst schwieg mein trotziges Gefühl.

Durch diese innere Unbewegtheit wurden meine Tage immer mehr
gleichförmig trotz aller Verschiedenheit der Beschäftigungen und
Begebenheiten, sie reihten sich unbetont einer an den anderen, wuchsen
und gilbten hin wie die Blätter eines Baumes. Und ganz gewöhnlich, ohne
jede Absonderlichkeit, ohne jedes innere Vorzeichen, begann auch jener
einzige Tag, den ich mir wieder selbst schildern will. Ich war damals am
7. Juni 1913 später aufgestanden, aus dem noch von der Kindheit, von den
Schuljahren her unbewußt nachklingenden Sonntagsgefühl, hatte mein Bad
genommen, die Zeitung gelesen und in Büchern geblättert, war dann,
verlockt von dem warmen sommerlichen Tag, der teilnehmend in mein Zimmer
drang, spazierengegangen, hatte in gewohnter Weise den Grabenkorso
überquert, zwischen Gruß und Gruß bekannter und befreundeter Menschen
mit irgendeinem von ihnen ein flüchtiges Gespräch geführt und dann bei
Freunden zu Mittag gespeist. Für den Nachmittag war ich jeder
Vereinbarung ausgewichen, denn ich liebte es insbesondere, am Sonntag
ein paar unaufgeteilte freie Stunden zu haben, die dann ganz dem Zufall
meiner Laune, meiner Bequemlichkeit oder irgendeiner spontanen
Entschließung gehörten. Als ich dann, von meinen Freunden kommend, die
Ringstraße querte, empfand ich wohltuend die Schönheit der besonnten
Stadt und ward froh an ihrer frühsommerlichen Geschmücktheit. Die
Menschen schienen alle heiter und irgendwie verliebt in die
Sonntäglichkeit der bunten Straße, vieles einzelne fiel mir auf und vor
allem, wie breitumbuscht mit ihrem neuen Grün die Bäume mitten aus dem
Asphalt sich aufhoben. Obwohl ich doch fast täglich hier vorüberging,
wurde ich dieses sonntäglichen Menschengewühls plötzlich wie eines
Wunders gewahr, und unwillkürlich bekam ich Sehnsucht nach viel Grün,
nach Helligkeit und Buntheit. Ich erinnerte mich mit ein wenig Neugier
des Praters, wo jetzt zu Frühlingsende, zu Sommersanfang, die schweren
Bäume wie riesige grüne Lakaien rechts und links der von Wagen
durchflitzten Hauptallee stehen und reglos den vielen geputzten
eleganten Menschen ihre weißen Blütenherzen hinhalten. Gewohnt, auch dem
flüchtigsten meiner Wünsche sofort nachzugeben, rief ich den ersten
Fiaker an, der mir in den Weg kam, und bedeutete ihm auf seine Frage den
Prater als Ziel. »Zum Rennen, Herr Baron, nicht wahr?« antwortete er mit
devoter Selbstverständlichkeit. Da erinnerte ich mich erst, daß heute
ein sehr fashionabler Renntag war, eine Derbyvorschau, wo die ganze gute
Wiener Gesellschaft sich Rendezvous gab. Seltsam, dachte ich mir,
während ich in den Wagen stieg, wie wäre es noch vor ein paar Jahren
möglich gewesen, daß ich einen solchen Tag versäumt oder vergessen
hätte! Wieder spürte ich, so wie ein Kranker bei einer Bewegung seine
Wunde, an dieser Vergeßlichkeit die ganze Starre der Gleichgültigkeit,
der ich verfallen war.

Die Hauptallee war schon ziemlich leer, als wir hinkamen, das Rennen
mußte längst begonnen haben, denn die sonst so prunkvolle Auffahrt der
Wagen fehlte, nur ein paar vereinzelte Fiaker hetzten mit knatternden
Hufen wie hinter einem unsichtbaren Versäumnis her. Der Kutscher wandte
sich am Bock und fragte, ob er scharf traben solle; aber ich hieß ihn,
die Pferde ruhig gehen zu lassen, denn mir lag nichts an einem
Zuspätkommen. Ich hatte zu viel Rennen gesehen und zu oft die Menschen
bei ihnen, als daß mir ein Zurechtkommen noch wichtig gewesen wäre, und
es entsprach besser meinem lässigen Gefühl, im weichen Schaukeln des
Wagens die blaue Luft wie Meer vom Bord eines Schiffes lindrauschend zu
fühlen und ruhiger die schönen, breitgebuschten Kastanienbäume
anzusehen, die manchmal dem schmeichlerisch warmen Wind ein paar
Blütenflocken zum Spiele hingaben, die er dann leicht aufhob und
wirbelte, ehe er sie auf die Allee weiß hinflocken ließ. Es war wohlig,
sich so wiegen zu lassen, Frühling zu ahnen mit geschlossenen Augen,
ohne jede Anstrengung beschwingt und fortgetragen sich zu empfinden:
eigentlich tat es mir leid, als in der Freudenau der Wagen vor der
Einfahrt hielt. Am liebsten wäre ich noch umgekehrt, mich weiter wiegen
zu lassen von dem weichen, frühsommerlichen Tag. Aber es war schon zu
spät, der Wagen hielt vor dem Rennplatz. Ein dumpfes Brausen schlug mir
entgegen. Wie ein Meer scholl es dumpf und hohl hinter den aufgestuften
Tribünen, ohne daß ich die bewegte Menge sah, von der dieses geballte
Geräusch ausging, und unwillkürlich erinnerte ich mich an Ostende, wenn
man von der niederen Stadt die kleinen Seitengassen zur Strandpromenade
emporsteigt, schon den Wind salzig und scharf über sich sausen fühlt und
ein dumpfes Dröhnen hört, ehe dann der Blick hingreift über die weite
grauschäumige Fläche mit ihren donnernden Wellen. Ein Rennen mußte
gerade in Gang sein, aber zwischen mir und dem Rasen, auf dem jetzt wohl
die Pferde hinflitzten, stand ein farbiger dröhnender, wie von einem
inneren Sturm hin und her geschüttelter Qualm, die Menge der Zuschauer
und Spieler. Ich konnte die Bahn nicht sehen, spürte aber im Reflex der
gesteigerten Erregung jede sportliche Phase. Die Reiter mußten längst
gestartet, der Knäuel sich geteilt haben und ein paar gemeinsam um die
Führung streiten, denn schon lösten sich hier aus den Menschen, die
geheimnisvoll die für mich unsichtbaren Bewegungen des Laufes mitlebten,
Schreie los und aufgeregte Zurufe. An der Richtung ihrer Köpfe spürte
ich die Biegung, an der die Reiter und Pferde jetzt auf dem länglichen
Rasenoval angelangt sein mußten, denn immer einheitlicher, immer
zusammengefaßter drängte sich, wie ein einziger aufgereckter Hals, das
ganze Menschenchaos einem mir unsichtbaren Blickpunkt entgegen, und aus
diesem einen ausgespannten Hals grölte und gurgelte mit tausenden
zerriebenen Einzellauten eine immer höher gischtende Brandung. Und diese
Brandung stieg und schwoll, schon füllte sie den ganzen Raum bis zum
gleichgültig blauen Himmel. Ich sah in ein paar Gesichter hinein. Sie
waren verzerrt wie von einem inneren Krampf, die Augen starr und
funkelnd, die Lippen verbissen, das Kinn gierig vorgestoßen, die Nüstern
pferdhaft gebläht. Spaßig und grauenhaft war mirs, nüchtern diese
unbeherrschten Trunkenen zu betrachten. Neben mir stand auf einem Sessel
ein Mann, elegant gekleidet, mit einem sonst wohl guten Gesicht, jetzt
aber tobte er, von einem unsichtbaren Dämon beteufelt, er fuchtelte mit
dem Stock in die leere Luft hinein, als peitschte er etwas vorwärts,
sein ganzer Körper machte -- unsagbar lächerlich für einen Zuschauer --
die Bewegung des Raschreitens leidenschaftlich mit. Wie auf Steigbügeln
wippte er mit den Fersen unablässig auf und nieder über dem Sessel, die
rechte Hand jagte den Stock immer wieder als Gerte ins Leere, die linke
knüllte krampfig einen weißen Zettel. Und immer mehr dieser weißen
Zettel flatterten herum, wie Schaumspritzer gischteten sie über dieser
graudurchstürmten Flut, die lärmend schwoll. Jetzt mußten an der Kurve
ein paar Pferde ganz knapp beieinander sein, denn mit einem Male ballte
sich das Gedröhn in zwei, drei, vier einzelne Namen, die immer wieder
einzelne Gruppen wie Schlachtrufe schrien und tobten, und diese Schreie
schienen wie ein Ventil für ihre delirierende Besessenheit.

Ich stand inmitten dieser dröhnenden Tobsucht kalt wie ein Felsen im
donnernden Meer und weiß noch heute genau zu sagen, was ich in jener
Minute empfand.

Das Lächerliche vorerst all dieser fratzenhaften Gebärden, eine
ironische Verachtung für das Pöbelhafte des Ausbruches, aber doch noch
etwas anderes, das ich mir ungern eingestand -- irgendeinen leisen Neid
nach solcher Erregung, solcher Brunst der Leidenschaft, nach dem Leben,
das in diesem Fanatismus war. Was müßte, dachte ich, geschehen, um mich
dermaßen zu erregen, mich dermaßen ins Fieber zu spannen, daß mein
Körper so brennend, meine Stimme mir wider Willen aus dem Munde brechen
würde? Keine Summe konnte ich mir denken, deren Besitz mich so anfeuern
könnte, keine Frau, die mich dermaßen reizte, nichts, nichts gab es, was
aus der Starre meines Gefühls mich zu solcher Feurigkeit entfachen
könnte! Vor einer plötzlich gespannten Pistole würde mein Herz, eine
Sekunde vor dem Erstarren, nicht so wild hämmern, wie das in den
tausend, zehntausend Menschen rings um mich für eine Handvoll Geld. Aber
jetzt mußte ein Pferd dem Start ganz nahe sein, denn zu einem einzigen,
immer schriller werdenden Schrei von tausenden Stimmen gellte jetzt wie
eine hochgespannte Saite ein bestimmter Name empor aus dem Tumult, um
dann schrill mit einem Male zu zerreißen. Die Musik begann zu spielen,
plötzlich zerbrach die Menge. Eine Runde war zu Ende, ein Kampf
entschieden, die Spannung löste sich in eine quirlende, nur noch schlaff
nachschwingende Bewegtheit. Die Masse, eben noch ein brennendes Bündel
Leidenschaft, fiel auseinander in viele einzelne laufende, lachende,
sprechende Menschen, ruhige Gesichter tauchten wieder auf hinter der
mänadischen Maske der Erregung; aus dem Chaos des Spiels, das für
Sekunden diese Tausende in einen einzigen glühenden Klumpen geschmolzen
hatte, schichteten sich wieder gesellschaftliche Gruppen, die
zusammentraten, sich lösten, Menschen, die ich kannte und die mich
grüßten, fremde, die sich gegenseitig kühl-höflich musterten und
betrachteten. Die Frauen prüften sich gegenseitig in ihren neuen
Toiletten, die Männer warfen begehrliche Blicke, jene mondäne Neugier,
die der Teilnahmslosen eigentliche Beschäftigung ist, begann sich zu
entfalten, man suchte, zählte, kontrollierte sich auf Anwesenheit und
Eleganz. Schon wußten, kaum aus dem Taumel erwacht, all diese Menschen
nicht mehr, ob dies promenierende Zwischenspiel oder das Spiel selbst
der Zweck ihrer gesellschaftlichen Vereinigung war.

Ich ging mitten durch dies laue Gewühl, grüßte und dankte, atmete wohlig
-- war es doch die Atmosphäre meiner Existenz -- den Duft von Parfüm und
Eleganz, der dies kaleidoskopische Durcheinander umschwebte, und noch
freudiger die leise Brise, die von drüben aus den Praterauen, aus dem
sommerlich durchwärmten Walde manchmal ihre Welle zwischen die Menschen
warf und den weißen Musselin der Frauen wie wollüstig-spielend
betastete. Ein paar Bekannte wollten mich ansprechen, Diane, die schöne
Schauspielerin, nickte einladend aus einer Loge herüber, aber ich ging
keinem zu. Es interessierte mich nicht, mit einem dieser mondänen
Menschen heute zu sprechen, es langweilte mich, in ihrem Spiegel mich
selbst zu sehen, nur das Schauspiel wollte ich umfassen, die
knisternd-sinnliche Erregung, die durch die aufgesteigerte Stunde ging
(denn der anderen Erregtheit ist gerade dem Teilnahmslosen das
angenehmste Schauspiel). Ein paar schöne Frauen gingen vorbei, ich sah
ihnen frech, aber ohne innerliches Begehren auf die Brüste, die unter
der dünnen Gaze bei jedem Schritt bebten und lächelte innerlich über
ihre halb peinliche, halb wohlige Verlegenheit, wenn sie sich so
sinnlich abgeschätzt und frech entkleidet fühlten. In Wirklichkeit
reizte mich keine, es machte mir nur ein gewisses Vergnügen, vor ihnen
so zu tun, das Spiel mit dem Gedanken, mit ihren Gedanken machte mir
Freude, die Lust, sie körperlich zu berühren, das magnetische Zucken im
Auge zu fühlen; denn wie jedem innerlich kühlen Menschen war es mein
eigentlichster erotischer Genuß, in anderen Wärme und Unruhe zu erregen,
statt mich selbst zu erhitzen. Nur den Flaum von Wärme, den die
Gegenwart von Frauen um die Sinnlichkeit legt, liebte ich zu fühlen,
nicht eine wirkliche Erhitzung, Anregung bloß und nicht Erregung. So
ging ich auch diesmal durch die Promenade, nahm Blicke, gab sie leicht
wie Federball zurück, genoß ohne zu greifen, befühlte Frauen ohne zu
fühlen, nur leicht angewärmt von der lauen Wollust des Spiels.

Aber auch das langweilte mich bald. Immer dieselben Menschen kamen
vorüber, ich kannte ihre Gesichter schon auswendig und ihre Gesten. Ein
Sessel stand in der Nähe. Ich setzte mich hin. Ringsum begann in den
Gruppen eine neue wirblige Bewegung, unruhiger schüttelten und stießen
sich die Vorübergehenden durcheinander; offenbar sollte ein neues Rennen
wieder anheben. Ich kümmerte mich nicht darum, saß weich und irgendwie
versunken unter dem Kringel meiner Zigarette, der sich weißgekräuselt
gegen den Himmel hob, wo er heller und heller wie eine kleine Wolke im
Frühlingsblau verging. In dieser Sekunde begann das Unerhörte, jenes
einzige Erlebnis, das noch heute mein Leben bestimmt. Ich kann ganz
genau den Augenblick feststellen, denn zufällig hatte ich gerade auf die
Uhr gesehen: die Zeiger kreuzten sich, und ich sah ihnen mit jener
unbeschäftigten Neugier zu, wie sie sich eine Sekunde lang überdeckten.
Es war drei Minuten nach drei Uhr an jenem Nachmittag des 7. Juni 1913.
Ich blickte also, die Zigarette in der Hand, auf das weiße Zifferblatt,
ganz beschäftigt mit dieser kindischen und lächerlichen Betrachtung, als
ich knapp hinter meinem Rücken eine Frau laut lachen hörte, mit jenem
scharfen, erregten Lachen, wie ich es bei Frauen liebe, jenem Lachen,
das ganz warm und aufgeschreckt aus dem heißen Gebüsch der Sinnlichkeit
vorspringt. Unwillkürlich bog es mir den Kopf zurück, schon wollte ich
die Frau anschauen, deren laute Sinnlichkeit so frech in meine sorglose
Träumerei schlug wie ein funkelnder weißer Stein in einen dumpfen,
schlammigen Teich -- da bezwang ich mich. Eine merkwürdige Lust am
geistigen Spiel, am kleinen ungefährlichen psychologischen Experiment,
wie sie mich oft befiel, ließ mich innehalten. Ich wollte die Lachende
noch nicht ansehen, es reizte mich, zuerst in einer Art Vorlust, meine
Phantasie mit dieser Frau zu beschäftigen, mir sie vorzustellen, mir ein
Gesicht, einen Mund, eine Kehle, einen Nacken, eine Brust, eine ganze
lebendige atmende Frau um dieses Lachen zu legen.

Sie stand jetzt offenbar knapp hinter mir. Aus dem Lachen war wieder
Gespräch geworden. Ich hörte gespannt zu. Sie sprach mit leichtem
ungarischen Akzent, sehr rasch und beweglich, die Vokale breit
ausschwingend wie im Gesang. Es machte mir nun Spaß, dieser Rede nun die
Gestalt zuzudichten und dies Phantasiebild möglichst üppig
auszugestalten. Ich gab ihr dunkle Haare, dunkle Augen, einen breiten,
sinnlich gewölbten Mund mit ganz weißen starken Zähnen, eine ganz
schmale kleine Nase, aber mit steil aufspringenden zitternden Nüstern.
Auf die linke Wange legte ich ihr ein Schönheitspflästerchen, in die
Hand gab ich ihr einen Reitstock, mit dem sie sich beim Lachen leicht an
den Schenkel schlug. Sie sprach weiter und weiter. Und jedes ihrer Worte
fügte meiner blitzschnell gebildeten Phantasievorstellung ein neues
Detail hinzu: eine schmale mädchenhafte Brust, ein dunkelgrünes Kleid
mit einer schief gesteckten Brillantspange, einen hellen Hut mit einem
weißen Reiher. Immer deutlicher ward das Bild, und schon spürte ich
diese fremde Frau, die unsichtbar hinter meinem Rücken stand, wie auf
einer belichteten Platte in meiner Pupille. Aber ich wollte mich nicht
umwenden, dieses Spiel der Phantasie noch weiter steigern, irgendein
leises Rieseln von Wollust mengte sich in die verwegene Träumerei, ich
schloß beide Augen, gewiß, daß, wenn ich die Lider auftäte und mich ihr
zuwendete, das innere Bild ganz mit dem äußeren sich decken würde.

In diesem Augenblick trat sie vor. Unwillkürlich tat ich die Augen auf
-- und ärgerte mich. Ich hatte vollkommen daneben geraten, alles war
anders, ja in boshaftester Weise gegensätzlich zu meinem Phantasiebild.
Sie trug kein grünes, sondern ein weißes Kleid, war nicht schlank,
sondern üppig und breitgehüftet, nirgends aus der vollen Wange tupfte
sich das erträumte Schönheitspflästerchen, die Haare leuchteten
rötlichblond statt schwarz unter dem helmförmigen Hut. Keines meiner
Merkmale stimmte zu ihrem Bilde; aber diese Frau war schön,
herausfordernd schön, obwohl ich mich, gekränkt im törichten Ehrgeiz
meiner psychologischen Eitelkeit, diese Schönheit anzuerkennen wehrte.
Fast feindlich sah ich zu ihr empor; aber auch der Widerstand in mir
spürte den starken sinnlichen Reiz, der von dieser Frau ausging, das
Begehrliche, Animalische, das in ihrer festen und gleichzeitig weichen
Fülle fordernd lockte. Jetzt lachte sie wieder laut, ihre festen weißen
Zähne wurden sichtbar, und ich mußte mir sagen, daß dieses heiße
sinnliche Lachen zu dem Üppigen ihres Wesens wohl im Einklang stand;
alles an ihr war so vehement und herausfordernd, der gewölbte Busen, das
im Lachen vorgestoßene Kinn, der scharfe Blick, die geschwungene Nase,
die Hand, die den Schirm fest gegen den Boden stemmt. Hier war das
weibliche Element, Urkraft, bewußte, penetrante Lockung, ein
fleischgewordenes Wollustfanal. Neben ihr stand ein eleganter, etwas
fanierter Offizier und sprach eindringlich auf sie ein. Sie hörte ihm
zu, lächelte, lachte, widersprach, aber all das nur nebenbei, denn
gleichzeitig glitt ihr Blick, zitterten ihre Nüstern überall hin,
gleichsam allen zu: sie sog Aufmerksamkeit, Lächeln, Anblick von jedem,
der vorüberging und gleichsam von der ganzen Masse des Männlichen
ringsum ein. Ihr Blick war ununterbrochen wanderhaft, bald suchte er die
Tribünen entlang, um dann plötzlich, freudigen Erkennens, einen Gruß zu
erwidern, bald streifte er -- während sie dem Offizier immer lächelnd
und eitel zuhörte -- nach rechts, bald nach links. Nur mich, der ich,
von ihrem Begleiter gedeckt, unter ihrem Blickfeld lag, hatte er noch
nicht angerührt. Das ärgerte mich. Ich stand auf -- sie sah mich nicht.
Ich drängte mich näher -- nun blickte sie wieder zu den Tribünen hinauf.
Da trat ich entschlossen zu ihr hin, lüftete den Hut gegen ihren
Begleiter und bot ihr meinen Sessel an. Sie blickte mir erstaunt
entgegen, ein lächelnder Glanz überflog ihre Augen, schmeichlerisch bog
sie die Lippe zu einem Lächeln. Aber dann dankte sie nur kurz und nahm
den Sessel, ohne sich zu setzen. Bloß den üppigen, bis zum Ellbogen
entblößten Arm stützte sie weich an die Lehne und nützte die leichte
Biegung ihres Körpers, um seine Formen sichtbarer zu zeigen.

Der Ärger über meine falsche Psychologie war längst vergessen, mich
reizte nur das Spiel mit dieser Frau. Ich trat etwas zurück an die Wand
der Tribüne, wo ich sie frei und doch unauffällig fixieren konnte,
stemmte mich auf meinen Stock und suchte mit den Augen die ihren. Sie
merkte es, drehte sich ein wenig meinem Beobachtungsplatze zu, aber doch
so, daß diese Bewegung eine ganz zufällige schien, wehrte mir nicht,
antwortete mir gelegentlich und doch unverpflichtend. Unablässig gingen
ihre Augen im Kreise, alles rührten sie an, nichts hielten sie fest --
war ich es allein, dem sie begegnend ein schwarzes Lächeln zustrahlten
oder gab sie es an jeden? Das war nicht zu unterscheiden, und eben diese
Ungewißheit irritierte mich. In den Intervallen, wo wie ein Blinkfeuer
ihr Blick mich anstrahlte, schien er voll Verheißung, aber mit der
gleichen stahlglänzenden Pupille parierte sie auch ohne jede Wahl jeden
anderen Blick, der ihr zuflog, ganz nur aus koketter Freude am Spiel,
vor allem aber, ohne dabei für eine Sekunde scheinbar interessiert das
Gespräch ihres Begleiters zu verabsäumen. Etwas blendend Freches war in
diesen leidenschaftlichen Paraden, eine Virtuosität der Koketterie oder
ein ausbrechender Überschuß an Sinnlichkeit. Unwillkürlich trat ich
einen Schritt näher: ihre kalte Frechheit war in mich übergegangen. Ich
sah ihr nicht mehr in die Augen, sondern griff sie fachmännisch von oben
bis unten ab, riß ihr mit dem Blick die Kleider auf und spürte sie
nackt. Sie folgte meinem Blick, ohne irgendwie beleidigt zu sein,
lächelte mit den Mundwinkeln zu dem plaudernden Offizier, aber ich
merkte, daß dies wissende Lächeln meine Absicht quittierte. Und wie ich
jetzt auf ihren Fuß sah, der klein und zart unter dem weißen Kleide
vorlugte, streifte sie mit dem Blick lässig nachprüfend ihr Kleid hinab.
Dann, im nächsten Augenblick hob sie wie zufällig den Fuß und stellte
ihn auf die erste Sprosse des dargebotenen Sessels, so daß ich durch das
durchbrochene Kleid die Strümpfe bis zum Knieansatz sah, gleichzeitig
schien aber ihr Lächeln zu dem Begleiter hin irgendwie ironisch oder
maliziös zu werden. Offenbar spielte sie mit mir ebenso anteillos wie
ich mit ihr, und ich mußte die raffinierte Technik ihrer Verwegenheit
haßvoll bewundern; denn während sie mir mit falscher Heimlichkeit das
Sinnliche ihres Körpers darbot, drückte sie sich gleichzeitig in das
Flüstern ihres Begleiters geschmeichelt hinein, gab und nahm in einem
und beides nur im Spiel. Eigentlich war ich erbittert, denn ich haßte
gerade an anderen diese Art kalter und boshaft berechnender
Sinnlichkeit, weil ich sie meiner eigenen wissenden Fühllosigkeit so
blutschänderisch nahe verschwistert fühlte. Aber doch, ich war erregt,
vielleicht mehr im Haß wie in Begehrlichkeit. Frech trat ich näher und
griff sie brutal an mit den Blicken. »Ich will dich, du schönes Tier,«
sagte ihr meine unverhohlene Geste, und unwillkürlich mußten meine
Lippen sich bewegt haben, denn sie lächelte mit leiser Verächtlichkeit,
den Kopf von mir wegwendend, und schlug die Robe über den entblößten
Fuß. Aber im nächsten Augenblick wanderte die schwarze Pupille wieder
funkelnd her und wieder hinüber. Es war ganz deutlich, daß sie ebenso
kalt wie ich selbst und mir gewachsen war, daß wir beide kühl mit einer
fremden Hitze spielten, die selber wieder nur gemaltes Feuer war, aber
doch schön anzusehen und heiter zu spielen inmitten eines dumpfen Tags.

Plötzlich erlosch die Gespanntheit in ihrem Gesicht, der funkelnde Glanz
glomm aus, eine kleine ärgerliche Falte krümmte sich um den eben noch
lächelnden Mund. Ich folgte der Richtung ihres Blicks: ein kleiner,
dicker Herr, den die Kleider faltig umplusterten, steuerte eilig auf sie
zu, das Gesicht und die Stirn, die er nervös mit dem Taschentuch
abtrocknete, von Erregung feucht. Der Hut, in der Eile schief auf den
Kopf gedrückt, ließ seitlich eine tief heruntergezogene Glatze sehen
(unwillkürlich empfand ich, es müßten, wenn er den Hut abnehme, dicke
Schweißperlen auf ihr brüten, und der Mensch war mir widerlich). In der
beringten Hand hielt er ein ganzes Bündel Ticketts. Er prustete förmlich
vor Aufregung und sprach gleich, ohne seine Frau zu beachten, in lautem
Ungarisch auf den Offizier ein. Ich erkannte sofort einen Fanatiker des
Rennsportes, irgendeinen Pferdehändler besserer Kategorie, für den das
Spiel die einzige Ekstase war, das erlauchte Surrogat des Sublimen.
Seine Frau mußte ihm offenbar jetzt etwas Ermahnendes gesagt haben (sie
war sichtlich geniert von seiner Gegenwart und gestört in ihrer
elementaren Sicherheit), denn er richtete sich, anscheinend auf ihr
Geheiß, den Hut zurecht, lachte sie dann jovial an und klopfte ihr mit
gutmütiger Zärtlichkeit auf die Schulter. Wütend zog sie die Brauen
hoch, abgestoßen von der ehelichen Vertraulichkeit, die ihr in Gegenwart
des Offiziers und vielleicht mehr noch der meinen peinlich wurde. Er
schien sich zu entschuldigen, sagte auf ungarisch wieder ein paar Worte
zu dem Offizier, die jener mit einem gefälligen Lächeln erwiderte, nahm
aber dann zärtlich und ein wenig unterwürfig ihren Arm. Ich spürte, daß
sie sich seiner Intimität vor uns schämte und genoß ihre Erniedrigung
mit einem gemischten Gefühl von Spott und Ekel. Aber schon hatte sie
sich wieder gefaßt, und während sie sich weich an seinen Arm drückte,
glitt ein Blick ironisch zu mir hinüber, als sagte er: »Siehst du, der
hat mich, und nicht du.« Ich war wütend und degoutiert zugleich.
Eigentlich wollte ich ihr den Rücken kehren und weitergehen, um ihr zu
zeigen, daß die Gattin eines solchen ordinären Dicklings mich nicht mehr
interessiere. Aber der Reiz war doch zu stark. Ich blieb.

Schrill gellte in dieser Sekunde das Signal des Starts, und mit einemmal
war die ganze plaudernde, trübe, stockende Masse wie umgeschüttelt, floß
wieder von allen Seiten in jähem Durcheinander nach vorn zur Barriere.
Ich hatte eine gewisse Gewaltsamkeit nötig, nicht mitgerissen zu werden,
denn ich wollte gerade im Tumult in ihrer Nähe bleiben, vielleicht bot
sich da Gelegenheit zu einem entscheidenden Blick, einem Griff,
irgendeiner spontanen Frechheit, die ich jetzt noch nicht wußte, und so
stieß ich mich zwischen den eilenden Leuten beharrlich zu ihr vor. In
diesem Augenblick drängte der dicke Gatte gerade herüber, offenbar um
einen guten Platz an der Tribüne zu ergattern, und so stießen wir beide,
jeder von einem andern Ungestüm geschleudert, mit so viel Heftigkeit
gegeneinander, daß sein lockerer Hut zu Boden flog und die Ticketts, die
daran lose befestigt waren, in weitem Bogen wegspritzten und wie rote,
blaue, gelbe und weiße Schmetterlinge auf den Boden staubten. Einen
Augenblick starrte er mich an. Mechanisch wollte ich mich entschuldigen,
aber irgendein böser Wille verschloß mir die Lippen, im Gegenteil: ich
sah ihn kühl mit einer leisen, frechen und beleidigenden Provokation an.
Sein Blick flackerte eine Sekunde lang unsicher auf von rot
aufsteigender, aber ängstlich sich drückender Wut hochgeschnellt, brach
aber feige zusammen vor dem meinen. Mit einer unvergeßlichen, fast
rührenden Ängstlichkeit sah er mir eine Sekunde in die Augen, dann bog
er sich weg, schien sich plötzlich seiner Ticketts zu besinnen und
bückte sich, um sie und den Hut vom Boden aufzulesen. Mit unverhohlenem
Zorn, rot im Gesicht vor Erregung, blitzte die Frau, die seinen Arm
gelassen hatte, mich an: ich sah mit einer Art Wollust, daß sie mich am
liebsten geschlagen hätte. Aber ich blieb ganz kühl und nonchalant
stehen, sah lächelnd ohne zu helfen zu, wie der überdicke Gemahl sich
keuchend bückte und vor meinen Füßen herumkroch, um seine Ticketts
aufzulesen. Der Kragen stand ihm beim Bücken weit ab wie die Federn
einer aufgeplusterten Henne, eine breite Speckfalte schob sich den roten
Nacken hinauf, asthmatisch keuchte er bei jeder Beugung. Unwillkürlich
kam mir, wie ich ihn so keuchen sah, ein unanständiger und
unappetitlicher Gedanke, ich stellte ihn mir in ehelichem Alleinsein mit
seiner Gattin vor, und übermütig geworden an dieser Vorstellung,
lächelte ich geradeaus in ihrem kaum mehr beherrschten Zorn. Sie stand
da, jetzt wieder blaß und ungeduldig und kaum mehr sich beherrschen
könnend, -- endlich hatte ich doch ein wahres, ein wirkliches Gefühl ihr
entrissen: Haß, unbändigen Zorn! Ich hätte mir diese boshafte Szene am
liebsten ins Unendliche verlängert; mit kalter Wollust sah ich zu, wie
er sich quälte, um Stück für Stück seiner Ticketts zusammenzuklauben.
Mir saß irgendein schnurriger Teufel in der Kehle, der immer kicherte
und ein Lachen herauskollern wollte -- am liebsten hätte ich ihn
herausgelacht oder diese weiche krabbelnde Fleischmasse ein wenig mit
dem Stock gekitzelt: ich konnte mich eigentlich nicht erinnern, jemals
so von Bosheit besessen gewesen zu sein, wie in diesem funkelnden
Triumph der Erniedrigung über diese frechspielende Frau.

Aber jetzt schien der Unglückselige endlich alle seine Ticketts
zusammengerafft zu haben, nur eines, ein blaues, war weiter fortgeflogen
und lag knapp vor mir auf dem Boden. Er drehte sich keuchend herum,
suchte mit seinen kurzsichtigen Augen -- der Zwicker saß ihm ganz vorne
auf der schweißbenetzten Nase --, und diese Sekunde benützte meine
spitzbübisch aufgeregte Bosheit zur Verlängerung seiner lächerlichen
Anstrengung: ich schob, einem schuljungenhaften Übermut willenlos
gehorchend, den Fuß rasch vor und setzte die Sohle auf das Tickett, so
daß er es bei bester Bemühung nicht finden konnte, so lange mirs
beliebte, ihn suchen zu lassen. Und er suchte und suchte unentwegt,
überzählte dazwischen verschnaufend immer wieder die farbigen
Pappendeckelzettel: es war sichtlich, daß einer -- meiner! -- ihm noch
fehlte, und schon wollte er inmitten des anbrausenden Getümmels wieder
mit der Suche anheben, als seine Frau, die mit einem verbissenen
Ausdruck meinen höhnischen Seitenblick krampfhaft vermied, ihre zornige
Ungeduld nicht mehr zügeln konnte. »Lajos!« rief sie ihm plötzlich
herrisch zu, und er fuhr auf wie ein Pferd, das die Trompete hört,
blickte noch einmal suchend auf die Erde -- mir war es, als kitzelte
mich das verborgene Tickett unter der Sohle, und ich konnte einen
Lachreiz kaum verbergen -- dann wandte er sich seiner Frau gehorsam zu,
die ihn mit einer gewissen ostentativen Eile von mir weg in das immer
stärker aufschäumende Getümmel zog.

Ich blieb zurück ohne jedwedes Verlangen, den beiden zu folgen. Die
Episode war für mich beendet, das Gefühl jener erotischen Spannung hatte
sich wohltuend ins Heitere gelöst, alle Erregung war von mir geglitten
und nichts zurückgeblieben als die gesunde Sattheit der plötzlich
vorgebrochenen Bosheit, eine freche, fast übermütige Selbstzufriedenheit
über den gelungenen Streich. Vorne drängten sich die Menschen dicht
zusammen, schon begann Erregung zu wogen und, eine einzige, schmutzige,
schwarze Welle, gegen die Barriere zu drängen, aber ich sah gar nicht
hin, es langweilte mich schon. Und ich dachte daran, hinüber in die
Kriau zu gehen oder heimzufahren. Aber kaum daß ich jetzt unwillkürlich
den Fuß zum Schritt vorwärts tat, bemerkte ich das blaue Tickett, das
vergessen am Boden lag. Ich nahm es auf und hielt es spielend zwischen
den Fingern, ungewiß, was ich damit anfangen sollte. Vage kam mir der
Gedanke, es »Lajos« zurückzugeben, was als vortrefflicher Anlaß dienen
könnte, mit seiner Frau bekannt zu werden; aber ich merkte, daß sie mich
gar nicht mehr interessierte, daß die flüchtige Hitze, die mir von
diesem Abenteuer angeflogen kam, längst in meiner alten Gleichgültigkeit
ausgekühlt war. Mehr als dies kämpfende, verlangende Hin und Her der
Blicke verlangte ich von Lajos Gattin nicht -- der Dickling war mir doch
zu unappetitlich, um Körperliches mit ihm zu teilen -- den Frisson der
Nerven hatte ich gehabt, nun fühlte ich bloß mehr lässige Neugier,
wohlige Entspannung.

Der Sessel stand da, verlassen und allein. Ich setzte mich gemächlich
nieder, zündete mir eine Zigarette an. Vor mir brandete die Leidenschaft
wieder auf, ich horchte nicht einmal hin: Wiederholungen reizten mich
nicht. Ich sah laß den Rauch aufsteigen und dachte an die Meraner
Gilfpromenade, wo ich vor zwei Monaten gesessen und in den sprühenden
Wasserfall hinabgesehen hatte. Ganz so war dies wie hier: auch dort ein
mächtig aufschwellendes Rauschen, das nicht wärmte und nicht kühlte,
auch dort ein sinnloses Tönen in eine schweigend-blaue Landschaft
hinein. Aber jetzt war die Leidenschaft des Spiels beim Crescendo
angelangt, wieder flog der Schaum von Schirmen, Hüten, Schreien,
Taschentüchern über die schwarze Brandung der Menschen hin, wieder
quirlten die Stimmen zusammen, wieder zuckte ein Schrei -- nun aber
andersfarbig -- aus dem Riesenmaul der Menge. Ich hörte einen Namen,
tausendfach, zehntausendfach, jauchzend, gell, ekstatisch, verzweifelt
geschrien: »Cressy! Cressy! Cressy!« Und wieder brach er, eine gespannte
Saite, plötzlich ab (wie doch Wiederholung selbst die Leidenschaft
eintönig macht!). Die Musik begann zu spielen, die Menge löste sich.
Tafeln wurden emporgezogen mit den Nummern der Sieger. Unbewußt blickte
ich hin. An erster Stelle leuchtete eine Sieben. Mechanisch sah ich auf
das blaue Tickett, das ich zwischen meinen Fingern vergessen hatte. Auch
hier die Sieben.

Unwillkürlich mußte ich lachen. Das Tickett hatte gewonnen, der gute
Lajos richtig gesetzt. So hatte ich mit meiner Bosheit den dicken Gatten
sogar noch um Geld gebracht: mit einem Male war meine übermütige Laune
wieder da, nun interessierte es mich zu wissen, um wieviel ihn meine
eifersüchtige Intervention geprellt. Ich sah mir den blauen Pappendeckel
zum erstenmal genauer an: es war ein Zwanzigkronen-Tickett, und Lajos
hatte auf »Sieg« gesetzt. Das konnte wohl schon ein stattlicher Betrag
sein. Ohne weiter nachzudenken, nur dem Kitzel der Neugierde folgend,
ließ ich mich von der eilenden Menge in die Richtung zu den Kassen
hindrängen. Ich wurde in irgendeinen Queue hineingepreßt, legte das
Tickett vor, und schon streiften zwei knochige, eilfertige Hände, zu
denen ich das Gesicht hinter dem Schalter gar nicht sah, mir neun
Zwanzigkronenscheine auf die Marmorplatte.

In dieser Sekunde, wo mir das Geld, wirkliches Geld, blaue Scheine
hingelegt wurden, stockte mir das Lachen in der Kehle. Ich hatte sofort
ein unangenehmes Gefühl. Unwillkürlich zog ich die Hände zurück, um das
fremde Geld nicht zu berühren. Am liebsten hätte ich die blauen Scheine
auf der Platte liegen lassen; aber hinter mir drängten schon die Leute,
ungeduldig, ihren Gewinn ausbezahlt zu bekommen. So blieb mir nichts
übrig, als, peinlich berührt, mit angewiderten Fingerspitzen die Scheine
zu nehmen: wie blaue Flammen brannten sie mir in der Hand, die ich
unbewußt von mir wegspreizte, als gehörte auch die Hand, die sie
genommen, nicht zu mir selbst. Sofort übersah ich das Fatale der
Situation. Wider meinen Willen war aus dem Scherz etwas geworden, was
einem anständigen Menschen, einem Gentleman, einem Reserveoffizier nicht
hätte unterlaufen dürfen, und ich zögerte vor mir selbst, den wahren
Namen dafür auszusprechen. Denn dies war nicht verheimlichtes, sondern
listig weggelocktes, war gestohlenes Geld.

Um mich surrten und schwirrten die Stimmen, Leute drängten und stießen
von und zu den Kassen. Ich stand noch immer reglos mit der
weggespreizten Hand. Was sollte ich tun? An das Natürlichste dachte ich
zuerst: den wirklichen Gewinner aufsuchen, mich entschuldigen und ihm
das Geld zurückerstatten. Aber das ging nicht an, und am wenigsten vor
den Blicken jenes Offiziers. Ich war doch Reserveleutnant, und ein
solches Eingeständnis hätte mich sofort meine Charge gekostet; denn
selbst wenn ich das Tickett gefunden hätte, war schon das Einkassieren
des Geldes eine unfaire Handlungsweise. Ich dachte auch daran, meinem in
den Fingern zuckenden Instinkt nachzugeben, die Noten zu zerknüllen und
fortzuwerfen, aber auch dies war inmitten des Menschengewühls zu leicht
kontrollierbar und dann verdächtig. Keinesfalls wollte ich aber auch nur
einen Augenblick das fremde Geld bei mir behalten oder gar in die
Brieftasche stecken, um es später irgend jemandem zu schenken: das mir
seit Kindheit so wie reine Wäsche anerzogene Sauberkeitsempfinden ekelte
sich vor jeder auch nur flüchtigen Berührung mit diesen Zetteln. Weg,
nur weg mit diesem Gelde, fieberte es ganz heiß in mir, weg, nur
irgendwohin, weg! Unwillkürlich sah ich mich um, und wie ich ratlos im
Kreise blickte, ob irgendwo ein Versteck sei, eine unbewachte
Möglichkeit, fiel mir auf, daß die Menschen von neuem zu den Kassen zu
drängen begannen, nun aber mit Geldscheinen in den Händen. Und der
Gedanke war mir Erlösung. Zurückwerfen das Geld an den boshaften Zufall,
der es mir gegeben, wiederum hinein in den gefräßigen Schlund, der jetzt
die neuen Einsätze, Silber und Scheine, gleich gierig hinunterschluckte
-- ja, das war das Richtige, die wahre Befreiung.

Ungestüm eilte, ja lief ich hin, keilte mich mitten zwischen die
Drängenden. Nur zwei Vordermänner waren noch vor mir, schon stand der
erste beim Totalisator, als mir einfiel, daß ich gar kein Pferd zu
nennen wußte, auf das ich setzen könnte. Gierig hörte ich in das Reden
rings um mich. »Setzen Sie Ravachol?« fragte einer. »Natürlich
Ravachol,« antwortete ihm sein Begleiter. »Glauben Sie, daß Teddy nicht
auch Chancen hat?« »Teddy? keine Spur. Er hat im Maidenrennen total
versagt. Er war ein Bluff.«

Wie ein Verdurstender schluckte ich die Worte ein. Also Teddy war
schlecht, Teddy würde bestimmt nicht gewinnen. Sofort beschloß ich, ihn
zu setzen. Ich schob das Geld hin, nannte den eben erst gehörten Namen
Teddy auf Sieg, eine Hand warf mir die Ticketts zurück. Mit einem Male
hatte ich jetzt neun rotweiße Pappendeckelstücke zwischen den Fingern
statt des einen. Es war noch immer ein peinliches Gefühl; aber immerhin,
es brannte nicht mehr so aufreizend, so erniedrigend wie das knitterige
bare Geld.

Ich empfand mich wieder leicht, beinahe sorglos: jetzt war das Geld
weggetan, das Unangenehme des Abenteuers erledigt, die Angelegenheit
wieder zum Scherz geworden, als der sie begonnen. Ich setzte mich lässig
in meinen Sessel zurück, zündete eine Zigarette an und blies den Rauch
gemächlich vor mich hin. Aber es hielt mich nicht lange, ich stand auf,
ging herum, setzte mich wieder hin. Merkwürdig: es war vorbei mit der
wohligen Träumerei. Irgendeine Nervosität stak mir knisternd in den
Gliedern. Zuerst meinte ich, es sei das Unbehagen, unter den vielen
vorbeistreifenden Leuten Lajos und seiner Frau begegnen zu können; aber
wie konnten sie ahnen, daß jene neuen Ticketts die ihren waren? Auch die
Unruhe der Menschen störte mich nicht, im Gegenteil, ich beobachtete sie
genau, ob sie nicht schon wieder nach vorne zu drängen begannen, ja ich
ertappte mich, wie ich immer wieder aufstand, um zur Fahne zu blicken,
die bei Beginn des Rennens hochgezogen wurde. Das also war es --
Ungeduld, ein springendes, inneres Fieber der Erwartung, der Start möge
schon beginnen, die leidige Angelegenheit für immer erledigt sein.

Ein Bursche lief vorbei mit einer Rennzeitung. Ich hielt ihn an, kaufte
mir das Programm und begann unter den unverständlichen, in einem fremden
Jargon geschriebenen Worten und Tips herumzusuchen, bis ich endlich
Teddy herausfand, den Namen seines Jockeis, den Besitzer des Stalles und
die Farben rotweiß. Aber warum interessierte mich das so? Ärgerlich
zerknüllte ich das Blatt und warf es weg, stand auf, setzte mich wieder
hin. Mir war ganz plötzlich heiß geworden, ich mußte mir mit dem
Taschentuch über die feuchte Stirn fahren, und der Kragen drückte mich.
Noch immer wollte der Start nicht beginnen.

Endlich klingelte die Glocke, die Menschen stürmten hin, und in dieser
Sekunde spürte ich entsetzt, wie auch mich dieses Klingeln gleich einem
Wecker erschreckt von irgendeinem Schlaf aufriß. Ich sprang vom Sessel
so heftig weg, daß er umfiel, und eilte -- nein, ich lief -- gierig nach
vorne, die Ticketts fest zwischen die Finger gepreßt, mitten in die
Menge hinein und wie von einer rasenden Angst verzehrt, zu spät zu
kommen, irgend etwas ganz Wichtiges zu versäumen. Ich erreichte noch,
indem ich Leute brutal beiseite stieß, die vordere Barriere, riß
rücksichtslos einen Sessel, den eben eine Dame nehmen wollte, an mich.
Meine ganze Taktlosigkeit und Tollwütigkeit erkannte ich sofort an ihrem
erstaunten Blick -- es war eine gute Bekannte, die Gräfin R., deren
hochgezogen zornigen Brauen ich begegnete --, aber aus Scham und Trotz
sah ich an ihr kalt vorbei, sprang auf den Sessel, um das Feld zu sehen.

Irgendwo weit drüben stand im Grünen an den Start gepreßt ein kleines
Rudel unruhiger Pferde, mühsam in der Linie gehalten von den kleinen
Jockeis, die wie bunte Polichinelle aussahen. Sofort suchte ich den
meinen darunter zu erkennen, aber mein Auge war ungeübt, und mir
flimmerte es so heiß und seltsam vor dem Blick, daß ich unter den
Farbenflecken den rotweißen nicht zu unterscheiden vermochte. In diesem
Augenblick klang die Glocke zum zweiten Male, und wie sieben bunte
Pfeile von einem Bogen flitzten die Pferde in den grünen Gang hinein. Es
mußte wunderbar sein, dies ruhig und nur ästhetisch zu betrachten, wie
die schmalen Tiere galoppierend ausholten und, kaum den Boden
anstreifend, über den Rasen hinfederten; aber ich spürte von all dem
nichts, ich machte nur verzweifelte Versuche, mein Pferd, meinen Jockei
zu erkennen, und fluchte mir selbst, keinen Feldstecher mitgenommen zu
haben. So sehr ich mich bog und streckte, ich sah nichts als vier, fünf
bunte Insekten, in einen fliegenden Knäuel verwischt; nur die Form sah
ich allmählich jetzt sich verändern, wie das leichte Rudel sich jetzt an
der Biegung keilförmig verlängerte, eine Spitze vortrieb, indes
rückwärts einige des Schwarms bereits abzubröckeln begannen. Das Rennen
wurde scharf: drei oder vier der im Galopp ganz auseinandergestreckten
Pferde klebten wie farbige Papierstreifen flach zusammen, bald schob
sich das eine, bald das andere um einen Ruck vor. Und unwillkürlich
streckte ich meinen ganzen Körper aus, als könnte ich durch diese
nachahmende, federnde, leidenschaftlich gespannte Bewegung ihre
Geschwindigkeit steigern und mitreißen.

Rings um mich wuchs die Erregung. Einzelne Geübtere mußten schon an der
Kurve die Farben erkannt haben, denn Namen fuhren jetzt wie grelle
Raketen aus dem trüben Tumult. Neben mir stand einer, die Hände
frenetisch gereckt, und wie jetzt ein Pferdekopf vordrängte, schrie er
fußstampfend mit einer widerlich gellen und triumphierenden Stimme:
»Ravachol! Ravachol!« Ich sah, daß wirklich der Jockei dieses Pferdes
blau schimmerte, und eine Wut überfiel mich, daß es nicht mein Pferd
war, das siegte. Immer unerträglicher wurde mir das gelle Gebrüll
»Ravachol! Ravachol!« von dem Widerling neben mir; ich tobte vor kalter
Wut, am liebsten hätte ich ihm die Faust in das aufgerissene schwarze
Loch seines schreienden Mundes geschlagen. Ich zitterte vor Zorn, ich
fieberte, jeden Augenblick, fühlte ich, konnte ich etwas Sinnloses
begehen. Aber da hing noch ein anderes Pferd knapp an dem ersten.
Vielleicht war das Teddy, vielleicht, vielleicht -- und diese Hoffnung
befeuerte mich von neuem. Wirklich war mir, als schimmerte der Arm, der
sich jetzt über den Sattel hob und etwas niedersausen ließ auf die
Kruppe des Pferdes, rotfarben, er konnte es sein, er mußte es sein, er
mußte, er mußte! Aber warum trieb er ihn nicht vor, der Schurke? Noch
einmal die Peitsche! Noch einmal! Jetzt, jetzt war er ihm ganz nahe!
Jetzt, nur eine Spanne noch. Warum Ravachol? Ravachol? Nein, nicht
Ravachol! Nicht Ravachol! Teddy! Teddy! Vorwärts Teddy! Teddy!

Plötzlich riß ich mich gewaltsam zurück. Was -- was war das? Wer schrie
da so? Wer tobte da »Teddy! Teddy!«? Ich selbst schrie ja das. Und
mitten in der Leidenschaft erschrak ich vor mir. Ich wollte mich halten,
mich beherrschen, inmitten meines Fiebers quälte mich eine plötzliche
Scham. Aber ich konnte die Blicke nicht wegreißen, denn dort klebten die
beiden Pferde knapp aneinander, und es mußte wirklich Teddy sein, der an
Ravachol, dem verfluchten, aus brennender Inbrunst von mir gehaßten
Ravachol hing, denn rings um mich gellten jetzt andere lauter und
vielstimmiger in grellem Diskant: »Teddy! Teddy!«, und der Schrei riß
mich, den für eine wache Sekunde Aufgetauchten, wieder in die
Leidenschaft. Er sollte, er mußte gewinnen, und wirklich, jetzt, jetzt
schob sich hinter dem fliegenden Pferde des andern ein Kopf vor, eine
Spanne nur, und jetzt schon zwei, jetzt, jetzt sah man schon den Hals --
in diesem Augenblick schnarrte grell die Glocke, und ein einziger Schrei
des Jubels, der Verzweiflung, des Zornes explodierte. Für eine Sekunde
füllte der ersehnte Name den blauen Himmel ganz bis zur Wölbung. Dann
stürzte er ein, und irgendwo rauschte Musik.

Heiß, ganz feucht, klopfenden Herzens stieg ich vom Sessel herab. Ich
mußte mich für einen Augenblick niedersetzen, so wirr war ich vor
begeisterter Erregung. Eine Ekstase, wie ich sie nie gekannt,
durchflutete mich, eine sinnlose Freude, daß der Zufall so sklavisch
meiner Herausforderung gehorcht; vergebens versuchte ich mir
vorzutäuschen, es sei wider meinen Willen gewesen, daß dieses Pferd
jetzt gewonnen habe, und ich hätte gewünscht, das Geld verloren zu
sehen. Aber ich glaubte es mir selbst nicht, und schon spürte ich ein
grausames Ziehen in meinen Gliedern, es riß mich magisch irgendwohin,
und ich wußte, wohin es mich trieb: ich wollte den Sieg sehen, ihn
spüren, ihn fassen, Geld, viel Geld, blaue knisternde Scheine in den
Fingern spüren und dies Rieseln die Nerven hinauf. Eine ganz fremde böse
Lust hatte sich meiner bemächtigt, und keine Scham wehrte mehr, ihr
nachzugeben. Und kaum daß ich mich erhob, so eilte, so lief ich schon
bis hin zur Kasse, ganz brüsk, mit gespreizten Ellenbogen stieß ich mich
zwischen die Wartenden am Schalter, schob ungeduldig Leute beiseite, nur
um das Geld, das Geld leibhaftig zu sehn. »Flegel!« murrte hinter mir
einer der Weggedrängten; ich hörte es, aber ich dachte nicht daran, ihn
zu fordern, ich bebte ja vor unbegreiflicher, krankhafter Ungeduld.
Endlich war die Reihe an mir, meine Hände faßten gierig ein blaues
Bündel Banknoten. Ich zählte zitternd und begeistert zugleich. Es waren
sechshundertundvierzig Kronen.

Heiß riß ich sie an mich. Mein nächster Gedanke war: jetzt weiter
spielen, mehr gewinnen, viel mehr. Wo hatte ich nur meine Rennzeitung?
Ach, weggeworfen in der Erregung! Ich sah um mich, eine neue zu
erstehen. Da bemerkte ich zu meinem namenlosen Erschrecken, wie
plötzlich alles rings auseinanderflutete, dem Ausgang zu, daß die Kassen
sich schlossen, die flatternde Fahne sank. Das Spiel war zu Ende. Es war
das letzte Rennen gewesen. Eine Sekunde lang stand ich starr. Dann
sprang ein Zorn in mir auf, als sei mir ein Unrecht geschehen. Ich
konnte mich nicht damit abfinden, daß jetzt, da alle meine Nerven sich
spannten und bebten, das Blut so heiß wie seit Jahren nicht mehr in mir
rollte, alles zu Ende sein sollte. Aber es half nichts, mit trügerischem
Wunsch die Hoffnung künstlich zu nähren, dies sei nur ein Irrtum
gewesen, denn immer rascher entflutete das bunte Gedränge, schon glänzte
grün der zertretene Rasen zwischen den vereinzelt Gebliebenen.
Allmählich empfand ich das Lächerliche meines gespannten Verweilens, so
nahm ich den Hut -- den Stock hatte ich offenbar am Tourniquet in der
Erregung stehengelassen -- und ging dem Ausgang zu. Ein Diener mit
servil gelüfteter Kappe sprang mir entgegen, ich nannte ihm die Nummer
meines Wagens, er schrie sie mit gehöhlter Hand über den Platz, und
schon klapperten scharf die Pferde heran. Ich bedeutete dem Kutscher,
langsam die Hauptallee hinabzufahren. Denn gerade jetzt, wo die Erregung
wohlig abzuklingen begann, fühlte ich eine lüsterne Neigung, mir noch
einmal die ganze Szene in Gedanken zu erneuern.

In diesem Augenblick fuhr ein anderer Wagen vor; unwillkürlich blickte
ich hin, um sofort wieder ganz bewußt wegzusehen. Es war die Frau mit
ihrem behäbigen Gatten. Sie hatten mich nicht bemerkt. Aber sofort
überkam mich ein widerlich würgendes Gefühl, als sei ich ertappt. Und am
liebsten hätte ich dem Kutscher zugerufen, auf die Pferde einzuschlagen,
nur um rasch aus ihrer Nähe zu kommen.

Weich glitt auf den Gummirädern der Fiaker dahin zwischen den vielen
andern, die wie Blumenboote mit ihrer bunten Fracht von Frauen an den
grünen Ufern der Kastanienallee vorbeischaukelten. Die Luft war weich
und süß, schon wehte von erster Abendkühle manchmal ein leiser Duft
durch den Staub herüber. Aber das frühere wohlig-träumerische Gefühl kam
nicht wieder: die Begegnung mit dem Geprellten hatte mich peinlich
aufgerissen. Wie ein kalter Luftzug durch eine Fuge drang es mit einmal
in meine überhitzte Leidenschaft. Ich dachte jetzt noch einmal nüchtern
die ganze Szene durch und begriff mich selbst nicht mehr: ich, ein
Gentleman, ein Mitglied der besten Gesellschaft, Reserveoffizier,
hochgeachtet, hatte ohne Not gefundenes Geld an mich genommen, in die
Brieftasche gesteckt, ja dies sogar mit einer gierigen Freude, einer
Lust getan, die jede Entschuldigung hinfällig machte. Ich, der ich vor
einer Stunde noch ein korrekter, makelloser Mensch gewesen war, hatte
gestohlen. Ich war ein Dieb. Und gleichsam, um mich selbst zu
erschrecken, sagte ich mir mein Urteil halblaut hin, während der Wagen
leise trabte, unbewußt im Rhythmus des Hufschlags sprechend: »Dieb!
Dieb! Dieb! Dieb!« Aber seltsam, wie soll ich beschreiben, was jetzt
geschah, es ist ja so unerklärlich, so ganz absonderlich, und doch weiß
ich, daß ich mir nichts nachträglich vortäusche. Jede Sekunde meines
Gefühls, jede Oszillation meines Denkens in jenen Augenblicken ist mir
ja mit einer so übernatürlichen Deutlichkeit bewußt, wie kaum irgendein
Erlebnis meiner sechsunddreißig Jahre, und doch wage ich kaum, diese
absurde Reihenfolge, diese verblüffende Schwankung meines Empfindens
bewußt zu machen, ja ich weiß nicht, ob irgendein Dichter, ein
Psychologe das logisch zu schildern vermöchte. Ich kann nur die
Reihenfolge aufzeichnen, ganz getreu ihrem unvermuteten Aufleuchten
nach. Also: ich sagte zu mir »Dieb, Dieb, Dieb«. Dann kam ein ganz
merkwürdiger, ein gleichsam leerer Augenblick, ein Augenblick, wo nichts
geschah, wo ich nur -- ach, wie schwer ist es, dies auszudrücken -- wo
ich nur horchte, in mich hineinhorchte. Ich hatte mich angerufen, hatte
mich angeklagt, nun sollte dem Richter der Angeschuldigte antworten. Ich
horchte also, und es geschah -- nichts. Der Peitschenschlag dieses
Wortes »Dieb«, von dem ich erwartet hatte, es werde mich aufschrecken
und dann hinstürzen lassen in eine namenlose, eine zerknirschte Scham,
weckte nichts auf. Ich wartete geduldig einige Minuten, ich beugte mich
dann gewissermaßen noch näher über mich selbst -- denn ich spürte zu
wohl, daß unter diesem trotzigen Schweigen etwas sich regte -- und
horchte mit einer fieberhaften Erwartung auf das ausbleibende Echo, auf
den Schrei des Ekels, der Entrüstung, der Verzweiflung, der dieser
Selbstanschuldigung folgen mußte. Und es geschah wiederum nichts. Nichts
antwortete. Nochmals sagte ich mir das Wort »Dieb«, »Dieb«, nun schon
ganz laut, um endlich in mir das schwerhörige, das gelähmte Gewissen
aufzuwecken. Wieder kam keine Antwort. Und plötzlich -- in einem grellen
Blitzlicht des Bewußtseins, wie wenn plötzlich ein Streichholz
angezündet und über die dämmernde Tiefe gehalten wäre -- erkannte ich,
daß ich mich nur schämen _wollte_, aber nicht schämte, ja, daß ich in
jener Tiefe irgendwie geheimnisvoll stolz, sogar beglückt war von dieser
törichten Tat.

Wie war das möglich? Ich wehrte mich, jetzt wirklich vor mir selbst
erschreckend, gegen diese unerwartete Erkenntnis, aber zu schwellend, zu
ungestüm wogte das Gefühl aus mir auf. Nein, das war nicht Scham, nicht
Empörung, nicht Selbstekel, was so warm mir im Blut gärte -- das war
Freude, trunkene Freude, die in mir aufloderte, ja funkelte mit hellen
spitzen Flammen von Übermut, denn ich spürte, daß ich in jenen Minuten
zum erstenmal seit Jahren und Jahren wirklich lebendig, daß mein Gefühl
nur gelähmt gewesen und noch nicht abgestorben war, daß irgendwo unter
der versandeten Fläche meiner Gleichgültigkeit also doch noch jene
heißen Quellen von Leidenschaft geheimnisvoll gingen und nun, von der
Wünschelrute des Zufalls berührt, hoch bis in mein Herz hinaufgepeitscht
waren. Auch in mir, auch in mir, in diesem Stück atmenden Weltalls,
glühte also noch jener geheimnisvolle vulkanische Kern alles Irdischen,
der manchmal vorbricht in den wirbelnden Stößen von Begier, auch ich
lebte, war lebendig, war ein Mensch mit bösem und warmem Gelüst. Eine
Tür war aufgerissen vom Sturm dieser Leidenschaft, eine Tiefe aufgetan
in mich hinein, und ich starrte in wollüstigem Schwindel hinab in dies
Unbekannte in mir, das mich erschreckte und beseligte zugleich. Und
langsam -- während der Wagen lässig meinen träumenden Körper durch die
bürgerlich-gesellschaftliche Welt hinrollte -- stieg ich, Stufe um
Stufe, hinab in die Tiefe des Menschlichen in mir, unsäglich allein in
diesem schweigenden Gang, nur überhöht von der aufgehobenen grellen
Fackel meines jäh entzündeten Bewußtseins. Und indes tausend Menschen um
mich lachend und schwatzend wogten, suchte ich mich, den verlorenen
Menschen, in mir, tastete ich Jahre ab in dem magischen Gang des
Besinnens. Ganz verschollene Dinge tauchten plötzlich aus den
verstaubten und erblindeten Spiegeln meines Lebens auf, ich erinnerte
mich, schon einmal als Schulknabe einem Kameraden ein Taschenmesser
gestohlen und mit der gleichen teuflischen Freude ihm zugesehen zu
haben, wie er es überall suchte, alle fragte und sich mühte; ich
verstand mit einemmal das geheimnisvoll Gewitternde mancher sexuellen
Stunden, verstand, daß meine Leidenschaft nur verkrümmt, nur zertreten
gewesen war von dem gesellschaftlichen Wahn, von dem herrischen Ideal
der Gentlemen -- daß aber auch in mir, nur tief, ganz tief unten in
verschütteten Brunnen und Röhren die heißen Ströme des Lebens gingen wie
in allen andern. Oh, ich hatte ja immer gelebt, nur nicht gewagt zu
leben, ich hatte mich verschnürt und verborgen vor mir selbst: nun aber
war die gepreßte Kraft aufgebrochen, das Leben, das reiche, das
unsäglich gewaltsame hatte mich überwältigt. Und nun wußte ich, daß ich
ihm noch anhing; mit der seligen Betroffenheit der Frau, die zum
erstenmal in sich das Kind sich regen spürt, empfand ich das Wirkliche
-- wie soll ich es anders nennen -- das Wahre, das Unverstellte des
Lebens in mir keimen, ich fühlte -- fast schäme ich mich, solch ein Wort
hinzuschreiben -- wie ich, der abgestorbene Mensch, mit einemmal wieder
_blühte_, wie durch meine Adern Blut rot und unruhig rollte, Gefühl sich
im Warmen leise entfaltete und ich aufwuchs zu unbekannter Frucht von
Süße oder Bitternis. Das Tannhäuserwunder war mir geschehen mitten im
klaren Licht eines Rennplatzes, zwischen dem Geschwirr von Tausenden
müßiger Menschen: ich hatte wieder zu fühlen begonnen, er grünte und
trieb seine Knospen, der abgedorrte Stab.

Von einem vorüberfahrenden Wagen grüßte ein Herr und rief -- offenbar
hatte ich seinen ersten Gruß übersehen -- meinen Namen. Unwirsch fuhr
ich auf, zornig, gestört zu sein in diesem süßrieselnden Zustand des
sich in mich selbst Ergießens, dieses tiefsten Traumes, den ich jemals
erlebt. Aber der Blick auf den Grüßenden riß mich ganz von mir weg: es
war mein Freund Alfons, ein lieber Schulkamerad und jetzt Staatsanwalt.
Mit einemmal durchzuckte es mich: dieser Mensch, der dich brüderlich
grüßt, hat jetzt zum erstenmal Macht über dich, du bist ihm verfallen,
sobald er dein Vergehen kennt. Wüßte er um dich und deine Tat, er müßte
dich aus diesem Wagen ziehen, weg aus der ganzen warmen bürgerlichen
Existenz, und hinabstoßen auf drei oder fünf Jahre in die dumpfe Welt
hinter vergitterten Fenstern, zum Abhub des Lebens, zu den andern
Dieben, die nur die Peitsche der Not in ihre schmierigen Zellen
getrieben. Aber nur einen Augenblick lang faßte mich kalt die Angst am
Gelenk meiner zitternden Hand, nur einen Augenblick lang hielt sie den
Herzschlag an -- dann verwandelte auch dieser Gedanke sich wieder in
heißes Gefühl, in einen phantastischen, frechen Stolz, der jetzt
selbstbewußt und beinahe höhnisch die andern Menschen ringsum musterte.
Wie würde, dachte ich, euer süßes kameradschaftliches Lächeln, mit dem
ihr mich als euresgleichen grüßt, anfrieren um die Mundwinkel, wenn ihr
mich ahntet! Wie einen Kotspritzer würdet ihr meinen Gruß wegstäuben mit
verächtlich geärgerter Hand. Aber ehe ihr mich ausstoßt, habe ich euch
schon ausgestoßen: heute nachmittags habe ich mich herausgestürzt aus
eurer kalten knöchernen Welt, wo ich ein Rad war, ein lautlos
funktionierendes, in der großen Maschine, die kalt in ihren Kolben
abrollt und eitel um sich selber kreist -- ich bin in eine Tiefe
gestürzt, die ich nicht kenne, doch ich bin lebendiger gewesen in dieser
einen Stunde als in den gläsernen Jahren in eurem Kreis. Nicht mehr euch
gehöre ich, nicht mehr zu euch, ich bin jetzt außen irgendwo in einer
Höhe oder Tiefe, nie mehr aber, nie mehr am flachen Strand eures
bürgerlichen Wohlseins. Ich habe zum erstenmal alles gefühlt, was in den
Menschen an Lust im Guten und Bösen getan ist, aber nie werdet ihr
wissen, wo ich war, nie mich erkennen: Menschen, was wißt ihr von meinem
Geheimnis!

Wie vermöchte ich es auszudrücken, was ich in jener Stunde fühlte, indes
ich, ein elegant angezogener Gentleman, mit kühlem Gesicht grüßend und
dankend zwischen den Wagenreihen durchfuhr! Denn während meine Larve,
der äußere, der frühere Mensch, noch Gesichter fühlte und erkannte,
rauschte innen in mir eine so taumelnde Musik, daß ich mich
niederdrücken mußte, um nicht etwas herauszuschreien von diesem tosenden
Tumult. Ich war so voll von Gefühl, daß mich dieser innere Schwall
physisch quälte, daß ich wie ein Erstickender die Hand gewaltsam an die
Brust pressen mußte, unter der das Herz schmerzhaft gärte. Aber Schmerz,
Lust, Erschrecken, Entsetzen oder Bedauern, nichts fühlte ich einzeln
und abgerissen, alles schmolz zusammen, ich spürte nur, daß ich lebte,
daß ich atmete und fühlte. Und dieses Einfachste, dieses urhafte Gefühl,
das ich seit Jahren nicht empfunden, machte mich trunken. Nie hatte ich
mich selbst auch nur eine Sekunde meiner sechsunddreißig Jahre so
ekstatisch als lebendig empfunden als in der Schwebe dieser Stunde.

Mit einem leichten Ruck hielt der Wagen an: der Kutscher hatte die
Pferde angezügelt, wandte sich vom Bock und fragte, ob er nach Hause
fahren solle. Ich taumelte aus mir heraus, hob die Blicke über die Allee
hin: mit Betroffenheit merkte ich, wie lange ich geträumt, wie weit die
Trunkenheit über die Stunden sich ausgegossen hatte. Es war dunkel
geworden, ein Weiches wogte in den Kronen der Bäume, die Kastanien
begannen ihren abendlichen Duft durch die Kühle zu atmen. Und hinter den
Wipfeln silberte schon ein verschleierter Blick von Mond. Es war genug,
es mußte genug sein. Aber nur nicht jetzt nach Hause, nur nicht in meine
gewohnte Welt! Ich bezahlte den Kutscher. Als ich die Brieftasche zog
und die Banknoten zählend zwischen die Finger nahm, liefs wie ein leiser
elektrischer Schlag mir vom Gelenk in die Fingerspitzen: irgend etwas in
mir mußte noch wach sein also vom alten Menschen, der sich schämte. Noch
zuckte das absterbende Gentlemansgewissen, doch ganz heiter blätterte
schon wieder meine Hand im gestohlenen Gelde, und ich war freigebig aus
meiner Freude. Der Kutscher bedankte sich so überschwenglich, daß ich
lächeln mußte: wenn du wüßtest! Die Pferde zogen an, der Wagen fuhr
fort. Ich sah ihm nach, wie man vom Schiff noch einmal auf einen Strand
zurückblickt, an dem man glücklich gewesen.

Einen Augenblick stand ich so träumerisch und ratlos mitten in der
murmelnden, lachenden, musiküberwogten Menge: es mochte etwa sieben Uhr
sein, und unwillkürlich bog ich hinüber zum Sachergarten, wo ich sonst
immer nach der Praterfahrt in Gesellschaft zu speisen pflegte und in
dessen Nähe der Fiaker mich wohl bewußt abgesetzt hatte. Aber kaum daß
ich die Gitterklinke des vornehmen Gartenrestaurantes berührte, überfiel
mich eine Hemmung: nein, ich wollte noch nicht in meine Welt zurück,
nicht mir in lässigem Gespräch diese wunderbare Gärung, die mich
geheimnisvoll erfüllte, wegschwemmen lassen, nicht mich loslösen von der
funkelnden Magie des Abenteuers, der ich mich seit Stunden verkettet
fühlte.

Von irgendwoher dröhnte dumpfe verworrene Musik, und unwillkürlich ging
ich ihr nach, denn alles lockte mich heute, ich empfand es als Wollust,
dem Zufall ganz nachzugeben, und dies dumpfe Hingetriebensein inmitten
einer weich wogenden Menschenmenge hatte einen phantastischen Reiz. Mein
Blut gärte auf in diesem dicken quirlenden Brei heißer menschlicher
Masse: aufgespannt war ich mit einemmal, angereizt und gesteigert wach
in allen Sinnen von diesem beizend qualmigen Duft von Menschenatem,
Staub, Schweiß und Tabak. Denn all dies, was mich vordem, ja selbst
gestern noch, als ordinär, gemein und plebejisch abgestoßen, was der
soignierte Gentleman in mir ein Leben lang hochmütig gemieden hatte, das
zog meinen neuen Instinkt magisch an, als empfände ich zum erstenmal im
Animalischen, im Triebhaften, im Gemeinen eine Verwandtschaft mit mir
selbst. Hier im Abhub der Stadt, zwischen Soldaten, Dienstmädchen,
Strolchen, fühlte ich mich in einer Weise wohl, die mir ganz
unverständlich war: ich sog die Beize dieser Luft irgendwie gierig ein,
das Schieben und Pressen in eine geknäulte Masse war mir angenehm, und
mit einer wollüstigen Neugier wartete ich, wohin diese Stunde mich
Willenlosen schwemmte. Immer näher gellten und schmetterten vom
Wurstelprater her die Tschinellen und die weiße Blechmusik, in einer
fanatisch monotonen Art stampften die Orchestrions harte Polkas und
rumpelnde Walzer, dazwischen knatterten dumpfe Schläge aus den Buden,
zischte Gelächter, grölten trunkene Schreie, und jetzt sah ich schon mit
irrsinnigen Lichtern die Karusselle meiner Kindheit zwischen den Bäumen
kreisen. Ich blieb mitten auf dem Platze stehen und ließ den ganzen
Tumult in mich einbranden, mir Augen und Ohren vollschwemmen: diese
Kaskaden von Lärm, das Infernalische dieses Durcheinander tat mir wohl,
denn in diesem Wirbel war etwas, das mir den innern Schwall betäubte.
Ich sah zu, wie mit geblähten Kleidern die Dienstmädchen sich auf den
Hutschen mit kollernden Lustschreien, die gleichsam aus ihrem Geschlecht
gellten, in den Himmel schleudern ließen, wie Metzgergesellen lachend
schwere Hämmer auf die Kraftmesser hinkrachten, Ausrufer mit heisern
Stimmen und affenhaften Gebärden über den Lärm der Orchestrions
schreiend hinwegruderten, und wie alles dies sich quirlend mengte mit
dem tausendgeräuschigen, unablässig bewegten Dasein der Menge, die
trunken war vom Fusel der Blechmusik, dem Flirren des Lichts und von der
eigenen warmen Lust ihres Beisammenseins. Seit ich selber wach geworden
war, spürte ich auf einmal das Leben der andern, ich spürte die Brunst
der Millionenstadt, wie sie sich heiß und aufgestaut in die paar Stunden
des Sonntags ergoß, wie sie sich aufreizte an der eigenen Fülle zu einem
dumpfen, tierischen, aber irgendwie gesunden und triebhaften Genuß. Und
allmählich spürte ich vom Angeriebensein, von der unausgesetzten
Berührung mit ihren heißen leidenschaftlich drängenden Körpern ihre
warme Brunst selbst in mich übergehen: meine Nerven strafften sich,
aufgebeizt von dem scharfen Geruch, aus mir heraus, meine Sinne spielten
taumelig mit dem Getöse und empfanden jene verwirrte Betäubung, die mit
jeder starken Wollust unweigerlich gemengt ist. Zum erstenmal seit
Jahren, vielleicht überhaupt in meinem Leben, spürte ich die Masse,
spürte ich Menschen als eine Macht, von der Lust in mein eigenes,
abgeschiedenes Wesen überging: irgendein Damm war zerrissen, und von
meinen Adern gings hinüber in diese Welt, strömte es rhythmisch zurück,
und eine ganz neue Gier überkam mich, noch jene letzte Kruste zwischen
mir und ihnen abzuschmelzen, ein leidenschaftliches Verlangen nach
Paarung mit dieser heißen, fremden, drängenden Menschheit. Mit der Lust
des Mannes sehnte ich mich in den quellenden Schoß dieses heißen
Riesenkörpers hinein, mit der Lust des Weibes war ich aufgetan jeder
Berührung, jedem Ruf, jeder Lockung, jeder Umfassung -- und nun wußte
ichs, Liebe war in mir und Bedürfnis nach Liebe wie nur in den
zwielichthaften Knabentagen. Oh, nur hinein, hinein ins Lebendige,
irgendwie verbunden sein mit dieser zuckenden, lachenden, aufatmenden
Leidenschaft der andern, nur einströmen, sich ergießen in ihren
Adergang; ganz klein, ganz namenlos werden im Getümmel, eine Infusorie
bloß sein im Schmutz der Welt, ein lustzitterndes, funkelndes Wesen im
Tümpel mit den Myriaden -- aber nur hinein in die Fülle, hinab in den
Kreisel, mich abschießen wie einen Pfeil von der eigenen Gespanntheit
ins Unbekannte, in irgendeinen Himmel der Gemeinsamkeit.

Ich weiß es jetzt: ich war damals trunken. In meinem Blute brauste alles
zusammen, das Hämmern der Glocken von den Karussells, das feine
Lustlachen der Frauen, das unter dem Zugriff der Männer aufsprühte, die
chaotische Musik, die flirrenden Kleider. Spitz fiel jeder einzelne Laut
in mich und flimmerte dann noch einmal rot und zuckend an den Schläfen
vorbei, ich spürte jede Berührung, jeden Blick mit einer phantastischen
Aufgereiztheit der Nerven (so wie bei der Seekrankheit), aber doch alles
gemeinsam in einem taumeligen Verbundensein. Ich kann meinen
komplizierten Zustand unmöglich mit Worten ausdrücken, am ehesten
gelingt es noch vielleicht mit einem Vergleiche: wenn ich sage, ich war
überfüllt mit Geräusch, Lärm, Gefühl, überheizt wie eine Maschine, die
mit allen Rädern rasend rennt, um dem ungeheuren Druck zu entlaufen, der
ihr im nächsten Augenblicke schon den Brustkessel sprengen muß. In den
Fingerspitzen zuckte, in den Schläfen pochte, in der Kehle preßte, an
den Schläfen würgte das angehitzte Blut -- von einer jahrelangen Lauheit
des Gefühls war ich mit einemmal in ein Fieber gestürzt, das mich
verbrannte. Ich fühlte, daß ich mich jetzt auftun müßte, aus mir heraus
mit einem Wort, mit einem Blick, mich mitteilen, mich ausströmen, mich
weggeben, mich hingeben, mich gemein machen, mich lösen, -- irgendwie
retten aus dieser harten Kruste von Schweigen, die mich absonderte von
dem warmen, flutenden, lebendigen Element. Seit Stunden hatte ich nicht
gesprochen, niemandes Hand gedrückt, niemandes Blick fragend und
teilnehmend gegen den meinen gespürt, und nun staute, unter dem Sturz
der Geschehnisse, sich diese Erregung gegen das Schweigen. Niemals,
niemals hatte ich so sehr das Bedürfnis nach Mitteilsamkeit, nach einem
Menschen gehabt, als jetzt, da ich inmitten von Tausenden und
Zehntausenden wogte, rings angespült war von Wärme und Worten, und doch
abgeschnürt von dem kreisenden Adergang dieser Fülle. Ich war wie einer,
der auf dem Meere verdurstet. Und dabei sah ich, diese Qual mit jedem
Blick mehrend, wie rechts und links in jeder Sekunde Fremdes sich
anstreifend band, die Quecksilberkügelchen gleichsam spielend
zusammenliefen. Ein Neid kam mich an, wenn ich sah, wie junge Burschen
im Vorübergehen fremde Mädchen ansprachen und sie nach dem ersten Wort
schon unterfaßten, wie alles sich fand und zusammentat: ein Gruß beim
Karussell, ein Blick im Anstreifen genügte schon, und Fremdes schmolz in
ein Gespräch, vielleicht um sich wieder zu lösen nach ein paar Minuten,
aber doch es war Bindung, Vereinigung, Mitteilung, war das, wonach alle
meine Nerven jetzt brannten. Ich aber, gewandt im gesellschaftlichen
Gespräch, beliebter Causeur und sicher in den Formen, ich verging vor
Angst, ich schämte mich, irgendeines dieser breithüftigen Dienstmädchen
anzureden, aus Furcht, sie möchte mich verlachen, ja ich schlug die
Augen nieder, wenn jemand mich zufällig anschaute, und verging doch
innen vor Begierde nach dem Wort. Was ich wollte von den Menschen, war
mir ja selbst nicht klar, ich ertrug es nur nicht länger, allein zu sein
und an meinem Fieber zu verbrennen. Aber alle sahen an mir vorbei, jeder
Blick strich mich weg, niemand wollte mich spüren. Einmal trat ein
Bursch in meine Nähe, zwölfjährig, mit zerlumpten Kleidern: sein Blick
war grell erhellt vom Widerschein der Lichter, so sehnsüchtig starrte er
auf die schwingenden Holzpferde. Sein schmaler Mund stand offen wie
lechzend: offenbar hatte er kein Geld mehr, um mitzufahren, und sog nur
Lust aus dem Schreien und Lachen der andern. Ich stieß mich gewaltsam
heran an ihn und fragte -- aber warum zitterte meine Stimme so dabei und
war ganz grell überschlagen? --: »Möchten Sie nicht auch einmal
mitfahren?« Er starrte auf, erschrak -- warum? warum? -- wurde blutrot
und lief fort, ohne ein Wort zu sagen. Nicht einmal ein barfüßiges Kind
wollte eine Freude von mir: es mußte, so fühlte ich, etwas furchtbar
Fremdes an mir sein, daß ich nirgends mich einmengen konnte, sondern
abgelöst in der dicken Masse schwamm wie ein Tropfen Öl auf dem bewegten
Wasser.

Aber ich ließ nicht nach: ich konnte nicht länger allein bleiben. Die
Füße brannten mir in den bestaubten Lackschuhen, die Kehle war verrostet
vom aufgewühlten Qualm. Ich sah mich um: rechts und links zwischen den
strömenden Menschengassen standen kleine Inseln von Grün,
Gastwirtschaften mit roten Tischtüchern und nackten Holzbänken, auf
denen die kleinen Bürger saßen mit ihrem Glas Bier und der sonntäglichen
Virginia. Der Anblick lockte mich: hier saßen Fremde beisammen,
verknüpften sich im Gespräch, hier war ein wenig Ruhe im wüsten Fieber.
Ich trat ein, musterte die Tische, bis ich einen fand, wo eine
Bürgerfamilie, ein dicker, vierschrötiger Handwerker mit seiner Frau,
zwei heitern Mädchen und einem kleinen Jungen saß. Sie wiegten die Köpfe
im Takt, scherzten einander zu, und ihre zufriedenen, leichtlebigen
Blicke taten mir wohl. Ich grüßte höflich, rührte an einen Sessel und
fragte, ob ich Platz nehmen dürfe. Sofort stockte ihr Lachen, einen
Augenblick schwiegen sie (als wartete jeder, daß der andere seine
Zustimmung gebe), dann sagte die Frau, gleichsam betroffen: »Bitte!
Bitte!« Ich setzte mich hin und hatte gleich das Gefühl, daß ich mit
meinem Hinsetzen ihre ungenierte Laune zerdrückte, denn sofort lag um
den Tisch herum ein ungemütliches Schweigen. Ohne daß ich es wagte, die
Augen von dem rotkarierten Tischtuch, auf dem Salz und Pfeffer schmierig
verstreut zu sehen war, zu heben, spürte ich, daß sie mich alle
befremdet beobachteten, und sofort fiel mir -- zu spät! -- ein, daß ich
zu elegant war für dieses Dienstbotengasthaus mit meinem Derbydreß, dem
Pariser Zylinder und der Perle in meiner taubengrauen Krawatte, daß
meine Eleganz, das Parfüm von Luxus auch hier sofort eine Luftschicht
von Feindlichkeit und Verwirrung um mich legte. Und dieses Schweigen der
fünf Leute drosselte mich immer tiefer nieder auf den Tisch, dessen rote
Karrees ich mit einer verbissenen Verzweiflung immer wieder abzählte,
festgenagelt durch die Scham, plötzlich wieder aufzustehn, und doch
wieder zu feige, den gepeinigten Blick aufzuheben. Es war eine Erlösung,
als endlich der Kellner kam und das schwere Bierglas vor mich
hinstellte. Da konnte ich endlich eine Hand regen und beim Trinken scheu
über den Rand schielen: wirklich, alle fünf beobachteten mich, zwar ohne
Haß, aber doch mit einer wortlosen Befremdung. Sie erkannten den
Eindringling in ihre dumpfe Welt, sie fühlten mit dem naiven Instinkt
ihrer Klasse, daß ich etwas hier wollte, hier suchte, was nicht zu
meiner Welt gehörte, daß nicht Liebe, nicht Neigung, nicht die
einfältige Freude am Walzer, am Bier, am geruhsamen Sonntagsitzen mich
hertrieb, sondern irgendein Gelüst, das sie nicht verstanden und dem sie
mißtrauten, so wie der Junge vor dem Karussell meinem Geschenk mißtraut
hatte, wie die tausend Namenlosen da draußen im Gewühl meiner Eleganz,
meiner Weltmännischkeit in unbewußter Feindlichkeit ausbogen. Und doch
fühlte ich: fände ich jetzt ein argloses, einfaches, herzliches, ein
wahrhaft menschliches Wort der Anrede zu ihnen, so würde der Vater oder
die Mutter mir antworten, die Töchter geschmeichelt zulächeln, ich
könnte mit dem Jungen hinüber in eine Bude schießen gehen und kindlichen
Spaß mit ihm treiben. In fünf, in zehn Minuten würde ich erlöst sein von
mir, eingehüllt in die arglose Atmosphäre bürgerlichen Gesprächs, gern
gewährter und sogar geschmeichelter Vertraulichkeit -- aber dies
einfache Wort, diesen ersten Ansatz im Gespräch, ich fand ihn nicht,
eine falsche, törichte, aber übermächtige Scham würgte mir die Kehle,
und ich saß mit gesenktem Blick wie ein Verbrecher an dem Tisch dieser
einfachen Menschen, gehüllt in die Qual, ihnen mit meiner verbissenen
Gegenwart noch die letzte Stunde des Sonntags verstört zu haben. Und in
diesem hingebohrten Hinsitzen büßte ich all die Jahre gleichgültigen
Hochmuts, an denen ich an abertausend solchen Tischen, an Millionen und
Millionen brüderlicher Menschen ohne Blick vorübergegangen war, einzig
beschäftigt mit Gunst oder Erfolg in jenem engen Kreise der Eleganz; und
ich spürte, daß mir der gerade Weg, die unbefangene Sprache zu ihnen,
jetzt, da ich ihrer in der Stunde meines Ausgestoßenseins bedurfte, von
innen vermauert war.

So saß ich, ein freier Mensch bisher, qualvoll in mich geduckt, immer
wieder die roten Karrees am Tischtuch abzählend, bis endlich der Kellner
vorbeikam. Ich rief ihn an, zahlte, stand von dem kaum angetrunkenen
Bierglase auf, grüßte höflich. Man dankte mir freundlich und erstaunt:
ich wußte, ohne mich umzuwenden, daß jetzt, kaum daß ich ihnen den
Rücken zeigte, das Lebendig-Heitere sie wieder überkommen, der warme
Kreis des Gesprächs sich schließen würde, sobald ich, der Fremdkörper,
ausgestoßen war.

Wieder warf ich mich, aber nun noch gieriger, heißer und verzweifelter,
in den Wirbel der Menschen zurück. Das Gedränge war inzwischen lockerer
geworden unter den Bäumen, die schwarz in den Himmel überfluteten, es
drängte und quirlte nicht mehr so dicht und strömend in den Lichtkreis
der Karussells, sondern schwirrte nur schattenhaft mehr am äußersten
Rand des Platzes. Auch der brausende, tiefe, gleichsam lustatmende Ton
der Menge zerstückte sich in viele kleine Geräusche, die immer gleich
hingeschmettert wurden, wenn jetzt die Musik irgendwo gewaltig und
rabiat einsetzte, als wollte sie die Fliehenden noch einmal heranreißen.
Eine andere Art Gesichter tauchte jetzt auf: die Kinder mit ihren
Ballons und Papierkoriandolis waren schon nach Hause gegangen, auch die
breithinrollenden sonntäglichen Familien hatten sich verzogen. Nun sah
man schon Betrunkene johlen, verlotterte Burschen mit lungerndem und
doch suchendem Gang sich aus den Seitenalleen vorschieben: es war in der
einen Stunde, in der ich festgenagelt vor dem fremden Tische gesessen,
diese seltsame Welt mehr ins Gemeine hinabgeglitten. Aber gerade jene
phosphoreszierende Atmosphäre von Frechheit und Gefährlichkeit gefiel
mir irgendwie besser als die bürgerlich-sonntägliche von vordem. Der in
mir aufgereizte Instinkt witterte hier ähnliche Gespanntheit der Begier;
in dem vortreibenden Schlendern dieser fragwürdigen Gestalten, dieser
Ausgestoßenen der Gesellschaft, empfand ich mich irgendwie gespiegelt:
auch sie wilderten doch mit einer unruhigen Erwartung hier nach einem
flackernden Abenteuer, einer raschen Erregung, und selbst sie, diese
zerlumpten Burschen, beneidete ich um die offene, freie Art ihres
Streifens; denn ich stand an die Säule eines Karussells atmend gepreßt,
ungeduldig, den Druck des Schweigens, die Qual meiner Einsamkeit aus mir
zu stoßen und doch unfähig einer Bewegung, eines Anrufs, eines Worts.
Ich stand nur und starrte hinaus auf den Platz, der vom Reflex der
kreisenden Lichter zuckend erhellt war, stand und starrte von meiner
Lichtinsel ins Dunkel hinein, töricht erwartungsvoll jeden Menschen
anblickend, der vom grellen Schein angezogen für einen Augenblick sich
herwandte. Aber jedes Auge glitt kalt an mir ab. Niemand wollte mich,
niemand erlöste mich.

Ich weiß, es wäre wahnwitzig, jemandem schildern oder gar erklären zu
wollen, daß ich, ein kultivierter eleganter Mann der Gesellschaft,
reich, unabhängig, mit den Besten einer Millionenstadt befreundet, eine
ganze Stunde in jener Nacht am Pfosten eines verstimmt quiekenden,
rastlos sich schwingenden Praterkarussells stand, zwanzig, vierzig,
hundertmal dieselbe stolpernde Polka, denselben schleifenden Walzer mit
denselben idiotischen Pferdeköpfen aus bemaltem Holz an mir
vorüberkreisen ließ und aus verbissenem Trotz, aus einem magischen
Gefühl, das Schicksal in meinen Willen zu zwingen, nicht mich von der
Stelle rührte. Ich weiß, daß ich sinnlos handelte in jener Stunde, aber
in dieser sinnlosen Beharrung war eine Spannung des Gefühls, eine so
stählerne Ankrampfung aller Muskeln, wie sie Menschen sonst vielleicht
nur bei einem Absturz fühlen, knapp vor dem Tod; mein ganzes, leer
vorbeigelaufenes Leben war plötzlich zurückgeflutet und staute sich bis
hinauf zur Kehle. Und so sehr ich gequält war von meinem sinnlosen Wahn,
zu bleiben, zu verharren, bis irgendein Wort, ein Blick eines Menschen
mich erlöse, so sehr genoß ich diese Qual. Ich büßte etwas in diesem
Stehen an dem Pfahl, nicht jenen Diebstahl so sehr, als das Dumpfe, das
Laue, das Leere meines früheren Lebens: und ich hatte mir geschworen,
nicht früher zu gehen, bis mir ein Zeichen gegeben war, das Schicksal
mich freigegeben.

Und je mehr jene Stunde fortschritt, um so mehr drängte die Nacht sich
heran. Eines nach dem andern losch in den Buden das Licht und immer
stürzte dann wie eine steigende Flut das Dunkel vor, schluckte den
lichten Fleck auf dem Rasen ein: immer einsamer war die helle Insel, auf
der ich stand, und schon sah ich zitternd auf die Uhr. Eine
Viertelstunde noch, dann würden die scheckigen Holzpferde stillestehn,
die roten und grünen Glühlampen auf ihren einfältigen Stirnen abknipsen,
das geblähte Orchestrion aufhören zu stampfen. Dann würde ich ganz im
Dunkel sein, ganz allein hier in der leise rauschenden Nacht, ganz
ausgestoßen, ganz verlassen. Immer unruhiger blickte ich über den
dämmernden Platz, über den nur ganz selten mehr ein heimkehrendes
Pärchen eilig strich oder ein paar Burschen betrunken hintaumelten: quer
drüben aber in den Schatten zitterte noch verstecktes Leben, unruhig und
aufreizend. Manchmal pfiff oder schnalzte es leise, wenn ein paar Männer
vorüberkamen. Und bogen sie dann, gelockt von dem Anruf, hin zum Dunkel,
so zischelten in den Schatten Frauenstimmen, und manchmal warf der Wind
abgerissene Fetzen grellen Lachens herüber. Und allmählich schob sichs
um den Rand des Dunkels frecher hervor, gegen den Lichtkegel des
erhellten Platzes, um sofort wieder in die Schwärze zurückzutauchen,
sobald im Vorübergehen die Pickelhaube eines Schutzmannes im Reflex der
Laterne schimmerte. Aber kaum daß er weiterging auf seiner Runde, waren
die gespenstigen Schatten wieder da, und jetzt konnte ich sie schon
deutlich im Umriß sehen, so nahe wagten sie sich ans Licht, der letzte
Abhub jener nächtigen Welt, der Schlamm, der zurückblieb, nun da sich
der flüssige Menschenstrom verlaufen: ein paar Dirnen, jene ärmsten und
ausgestoßensten, die keine eigene Bettstatt haben, tags auf einer
Matratze schlafen und nachts ruhlos streifen, die ihren abgebrauchten,
geschändeten, magern Körper jedem für ein kleines Silberstück hier
irgendwo im Dunkel auftaten, umspürt von der Polizei, getrieben von
Hunger oder irgendeinem Strolch, immer im Dunkel streifend, jagend und
gejagt zugleich. Wie hungrige Hunde schnupperten sie allmählich vor zu
dem erhellten Platz nach irgend etwas Männlichem, nach einem vergessenen
Nachzügler, dem sie seine Lust ablocken könnten für eine Krone oder
zwei, um sich dann einen Glühwein zu kaufen in einem Volkskaffee und den
trüb flackernden Stumpf Leben sich zu erhalten, der ja ohnehin bald
auslöscht in einem Spital oder einem Gefängnis. Der Abhub war dies, die
letzte Jauche von der hochgequollenen Sinnlichkeit der sonntäglichen
Masse -- mit einem grenzenlosen Grauen sah ich nun aus dem Dunkel diese
hungrigen Gestalten geistern. Aber auch in diesem Grauen war noch eine
magische Lust, denn selbst in diesem schmutzigsten Spiegel erkannte ich
Vergessenes und dumpf Gefühltes wieder: hier war eine tiefe, sumpfige
Welt, die ich vor Jahren längst durchschritten und die nun
phosphoreszierend mir wieder in die Sinne funkelte. Seltsam, was diese
phantastische Nacht mir plötzlich entgegenhielt, wie sie mich
Verschlossenen plötzlich auffaltete, daß das Dunkelste meiner
Vergangenheit, das Geheimste meines Triebes in mir nun offen lag!
Dumpfes Gefühl stieg auf verschütteter Knabenjahre, wo scheuer Blick
neugierig angezogen und doch feig verstört an solchen Gestalten
gehaftet, Erinnerung an die Stunde, wo man zum erstenmal auf knarrender,
feuchter Treppe einer hinaufgefolgt war in ihr Bett -- und plötzlich,
als ob Blitz einen Nachthimmel zerteilt hätte, sah ich scharf jede
Einzelheit jener vergessenen Stunde, den flachen Öldruck über dem Bett,
das Amulett, das sie auf dem Halse trug, ich spürte jede Fiber von
damals, die ungewisse Schwüle, den Ekel und den ersten Knabenstolz. All
das wogte mir mit einem Male durch den Körper. Eine Hellsichtigkeit ohne
Maß strömte plötzlich in mich ein, und -- wie soll ich das sagen können,
dies Unendliche! -- ich verstand mit einemmal alles, was mich mit so
brennendem Mitleid jenen verband, gerade weil sie der letzte Abschaum
des Lebens waren, und mein von dem Verbrechen einmal angereizter
Instinkt spürte von innen heraus dieses hungrige Lungern, das dem meinen
in dieser phantastischen Nacht so ähnlich war, dies verbrecherische
Offenstehn jeder Berührung, jeder fremden zufällig anstreifenden Lust.
Magnetisch zog es mich hin, die Brieftasche mit dem gestohlenen Geld
brannte plötzlich heiß über der Brust, wie ich da drüben endlich Wesen,
Menschen, Weiches, Atmendes, Sprechendes spürte, das von andern Wesen,
vielleicht auch von mir, etwas wollte, von mir, der nur wartete, sich
wegzugeben, der verbrannte in seiner rasenden Willigkeit nach Menschen.
Und mit einmal verstand ich, was Männer zu solchen Wesen treibt,
verstand, daß es selten nur Hitze des Blutes ist, ein schwellender
Kitzel ist, sondern meist bloß die Angst vor der Einsamkeit, vor der
entsetzlichen Fremdheit, die sonst zwischen uns sich auftürmt und die
mein entzündetes Gefühl heute zum erstenmal fühlte. Ich erinnerte mich,
wann ich zum letztenmal dies dumpf empfunden: in England war es gewesen,
in Manchester, einer jener stählernen Städte, die in einem lichtlosen
Himmel von Lärm brausen wie eine Untergrundbahn und die doch
gleichzeitig einen Frost von Einsamkeit haben, der durch die Poren bis
ins Blut dringt. Drei Wochen hatte ich dort bei Verwandten gelebt,
abends immer allein irrend durch Bars und Klubs und immer wieder in die
glitzernde Musikhall, nur um etwas menschliche Wärme zu spüren. Und da
eines Abends hatte ich so eine Person gefunden, deren Gassenenglisch ich
kaum verstand, aber plötzlich war man in einem Zimmer, trank Lachen von
einem fremden Mund, ein warmer Körper war da, irdisch nahe und weich.
Plötzlich schmolz sie weg, die kalte schwarze Stadt, der finstere
lärmende Raum von Einsamkeit, irgendein Wesen, das man nicht kannte, das
nur dastand und wartete auf jeden, der kam, löste einen auf, ließ allen
Trost wegtauen: man atmete wieder frei, spürte Leben in leichter
Helligkeit inmitten des stählernen Kerkers. Wie wunderbar war das für
die Einsamen, die Abgesperrten in sich selbst, dies zu wissen, dies zu
ahnen, daß ihrer Angst immer doch irgendein Halt ist, sich
festzuklammern an ihn, mag er auch überschmutzt sein von vielen Griffen,
starrend von Alter, zerfressen von giftigem Rost. Und dies, gerade dies
hatte ich vergessen in der Stunde der untersten Einsamkeit, aus der ich
taumelnd aufstieg in dieser Nacht, daß irgendwo an einer letzten Ecke
immer diese Letzten noch warten, jede Hingabe in sich aufzufangen, jede
Verlassenheit an ihrem Atem ausruhen zu lassen, jede Hitze zu kühlen für
ein kleines Stück Geld, das immer zu gering ist für das Ungeheure, das
sie geben mit ihrem ewigen Bereitsein, mit dem großen Geschenk ihrer
menschlichen Gegenwart.

Neben mir setzte dröhnend das Orchestrion des Karussells wieder ein. Es
war die letzte Runde, die letzte Fanfare des kreisenden Lichts in das
Dunkel hinaus, ehe der Sonntag in die dumpfe Woche verging. Aber niemand
kam mehr, leer rannten die Pferde in ihrem irrsinnigen Kreis, schon
scharrte und zählte an der Kasse die übermüdete Frau die Lösung des
Tages zusammen, und der Laufbursche kam mit den Haken, bereit, nach
dieser letzten Runde knatternd die Rolläden über die Bude herabzulassen.
Nur ich, ich allein, stand noch immer da, an den Pfosten gelehnt, und
sah hinaus auf den leeren Platz, wo nur diese fledermausflatternden
Gestalten strichen, suchend wie ich, wartend wie ich, und doch den
undurchdringlichen Raum von Fremdheit zwischeneinander. Aber jetzt mußte
eine von ihnen mich bemerkt haben, denn sie schob sich langsam her, ganz
nah sah ich sie unter dem gesenkten Blick: ein kleines, verkrüppeltes,
rachitisches Wesen ohne Hut, mit einem geschmacklos aufgeputzten
Fähnchen von Kleid, unter dem abgetragene Ballschuhe vorlugten, das
Ganze wohl allmählich bei Hökerinnen oder einem Trödler zusammengekauft
und seitdem verscheuert, zerdrückt vom Regen oder irgendwo bei einem
schmutzigen Abenteuer im Gras. Sie schmeichelte sich heran, blieb neben
mir stehen, den Blick wie eine Angel spitz herwerfend und ein
einladendes Lächeln über den schlechten Zähnen. Mir blieb der Atem
stocken. Ich konnte mich nicht rühren, nicht sie ansehen und doch mich
nicht fortreißen: wie in einer Hypnose spürte ich, daß da ein Mensch um
mich begehrlich herumstrich, jemand um mich warb, daß ich endlich diese
gräßliche Einsamkeit, dies quälende Ausgestoßensein mit einem Wort,
einer Geste bloß wegschleudern könnte. Aber ich vermochte mich nicht zu
rühren, hölzern wie der Balken, an dem ich lehnte, und in einer Art
wollüstiger Ohnmacht empfand ich nur immer -- während die Melodie des
Karussells schon müde wegtaumelte -- die nahe Gegenwart, diesen Willen,
der um mich warb, und schloß die Augen für einen Augenblick, um ganz
dieses magnetische Angezogensein irgendeines Menschlichen aus dem Dunkel
der Welt mich überfluten zu fühlen.

Das Karussell hielt inne, die walzernde Melodie erstickte mit einem
letzten stöhnenden Laut. Ich schlug die Augen auf und sah gerade noch,
wie die Gestalt neben mir sich wegwandte. Offenbar war es ihr zu
langweilig, hier neben einem hölzern Dastehenden zu warten. Ich
erschrak. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Warum hatte ich sie fortgehen
lassen, den einzigen Menschen dieser phantastischen Nacht, der mir
entgegengekommen, der mir aufgetan war? Hinter mir löschten die Lichter,
prasselnd knatterten die Rollbalken herab. Es war zu Ende.

Und plötzlich -- ach, wie mir selbst diesen heißen, diesen jäh
aufspringenden Gischt schildern? -- plötzlich -- es kam so jäh, so heiß,
so rot, als ob mir eine Ader in der Brust geplatzt wäre -- plötzlich
brach aus mir, dem stolzen, dem hochmütigen, ganz in kühler,
gesellschaftlicher Würde verschanzten Menschen wie ein stummes Gebet,
wie ein Krampf, wie ein Schrei, der kindische und mir doch so ungeheure
Wunsch, diese kleine, schmutzige, rachitische Hure möchte nur noch
einmal den Kopf wenden, damit ich zu ihr sprechen könnte. Denn ihr
nachzugehen war ich nicht zu stolz -- mein Stolz war zerstampft,
zertreten, weggeschwemmt von ganz neuen Gefühlen --, aber zu schwach, zu
ratlos. Und so stand ich da, zitternd und durchwühlt, hier allein an dem
Marterpfosten der Dunkelheit, wartend wie ich nie gewartet hatte seit
meinen Knabenjahren, wie ich nur einmal an einem abendlichen Fenster
gestanden, als eine fremde Frau langsam sich auszukleiden begann und
immer zögerte und verweilte in ihrer ahnungslosen Entblößung -- ich
stand, zu Gott aufschreiend mit irgendeiner mir selbst unbekannten
Stimme um das Wunder, dieses krüppelige Ding, dieser letzte Abhub
Menschheit möge es noch einmal mit mir versuchen, noch einmal den Blick
rückwenden zu mir.

Und -- sie wandte sich. Einmal noch, ganz mechanisch blickte sie zurück.
Aber so stark mußte mein Aufzucken, das Vorspringen meines gespannten
Gefühls in dem Blick gewesen sein, daß sie beobachtend stehen blieb. Sie
wippte noch einmal halb herum, sah mich durch das Dunkel an, lächelte
und winkte mit dem Kopf einladend hinüber gegen die verschattete Seite
des Platzes. Und endlich fühlte ich den entsetzlichen Bann der Starre in
mir weichen. Ich konnte mich wieder regen und nickte ihr bejahend zu.

Der unsichtbare Pakt war geschlossen. Nun ging sie voraus über den
dämmerigen Platz, von Zeit zu Zeit sich umwendend, ob ich ihr nachkäme.
Und ich folgte: das Blei war von meinen Knien gefallen, ich konnte
wieder die Füße regen. Magnetisch stieß es mich nach, ich ging nicht
bewußt, sondern strömte gleichsam, von geheimnisvoller Macht gezogen,
hinter ihr her. Im Dunkel der Gasse zwischen den Buden verlangsamte sie
den Schritt. Nun stand ich neben ihr.

Sie sah mich einige Sekunden an, prüfend und mißtrauisch: etwas machte
sie unsicher. Offenbar war ihr mein seltsam scheues Dastehen, der
Kontrast des Ortes und meiner Eleganz, irgendwie verdächtig. Sie blickte
sich mehrmals um, zögerte. Dann sagte sie in die Verlängerung der Gasse
deutend, die schwarz wie eine Bergwerksschlucht war: »Gehn wir dort
hinüber. Hinter dem Zirkus ist es ganz dunkel.«

Ich konnte nicht antworten. Das entsetzlich Gemeine dieser Begegnung
betäubte mich. Am liebsten hätte ich mich irgendwie losgerissen, mit
einem Stück Geld, mit einer Ausrede freigekauft, aber mein Wille hatte
keine Macht mehr über mich. Wie auf einer Rodel war mir, wenn man an
einer Kurve schleudernd, mit rasender Geschwindigkeit einen steilen
Schneehang hinabsaust und das Gefühl der Todesangst sich irgendwie
wollüstig mit dem Rausch der Geschwindigkeit mengt und man, statt zu
bremsen, sich mit einer taumelnden und doch bewußten Schwäche willenlos
an den Sturz hingibt. Ich konnte nicht mehr zurück und wollte vielleicht
gar nicht mehr, und jetzt, wie sie vertraulich sich an mich drückte,
faßte ich unwillkürlich ihren Arm. Es war ein ganz magerer Arm, nicht
der Arm einer Frau, sondern wie der eines zurückgebliebenen skrofulösen
Kindes, und kaum daß ich ihn durch das dünne Mäntelchen fühlte, überkam
mich mitten in dem gespannten Empfinden ein ganz weiches, flutendes
Mitleid mit diesem erbärmlichen, zertretenen Stück Leben, das diese
Nacht gegen mich gespült. Und unwillkürlich liebkosten meine Finger
diese schwachen, kränklichen Gelenke so rein, so ehrfürchtig, wie ich
noch nie eine Frau berührt.

Wir überquerten eine matt erleuchtete Straße und traten in ein kleines
Gehölz, wo wuchtige Baumkronen ein dumpfes, übelriechendes Dunkel fest
zusammenhielten. In diesem Augenblick merkte ich, obwohl man kaum mehr
einen Umriß bemerken konnte, daß sie ganz vorsichtig an meinem Arm sich
umwandte und einige Schritte später noch ein zweitesmal. Und seltsam:
während ich gleichsam in einer Betäubung in das schmutzige Abenteuer
hinabglitt, waren doch meine Sinne furchtbar wach und funkelnd. Mit
einer Hellsichtigkeit, der nichts entging, die jede Regung wissend bis
in sich hineinriß, merkte ich, daß rückwärts am Saum des überquerten
Pfades schattenhaft uns etwas nachglitt, und mir war es, als hörte ich
einen schleichenden Schritt. Und plötzlich -- wie ein Blitz eine
Landschaft prasselnd weiß überspringt -- ahnte, wußte ich alles: daß ich
hier in eine Falle gelockt werden sollte, daß die Zuhälter dieser Hure
hinter uns lauerten und sie mich im Dunkel an eine verabredete Stelle
zog, wo ich ihre Beute werden sollte. Mit einer überirdischen Klarheit,
wie sie nur die zusammengepreßten Sekunden zwischen Tod und Leben haben,
sah ich alles, überlegte ich jede Möglichkeit. Noch war es Zeit zu
entkommen, die Hauptstraße mußte nahe sein, denn ich hörte die
elektrische Tramway dort auf den Schienen rattern, ein Schrei, ein Pfiff
konnte Leute herbeirufen: in scharf umrissenen Bildern zuckten alle
Möglichkeiten der Flucht, der Rettung in mir auf.

Aber seltsam -- diese aufschreckende Erkenntnis kühlte nicht, sondern
hitzte nur. Ich kann mir heute in einem wachen Augenblick, im klaren
Licht eines herbstlichen Tages das Absurde meines Tuns selbst nicht ganz
erklären: ich wußte, wußte sofort mit jeder Fiber meines Wesens, daß ich
unnötig in eine Gefahr ging, aber wie ein feiner Wahnsinn rieselte mir
das Vorgefühl durch die Nerven. Ich wußte ein Widerliches, vielleicht
Tödliches voraus, ich zitterte vor Ekel, hier irgendwie in ein
Verbrechen, in ein gemeines, schmutziges Erleben gedrängt zu sein, aber
gerade für die nie gekannte, nie geahnte Lebenstrunkenheit, die mich
betäubend überströmte, war selbst der Tod noch eine finstere Neugier.
Etwas -- war es Scham, die Furcht zu zeigen, oder eine Schwäche? --
stieß mich vorwärts. Es reizte mich, in die letzte Kloake des Lebens
hinabzusteigen, in einem einzigen Tage meine ganze Vergangenheit zu
verspielen und zu verprassen, eine verwegene Wollust des Geistes mengte
sich der gemeinen dieses Abenteuers. Und obwohl ich mit allen meinen
Nerven die Gefahr witterte, sie mit meinen Sinnen, meinem Verstand
klarsichtig begriff, ging ich trotzdem weiter hinein in das Gehölz am
Arm dieser schmutzigen Praterdirne, die mich körperlich mehr abstieß als
lockte und von der ich wußte, daß sie mich nur für ihre Spießgesellen
herzog. Aber ich konnte nicht zurück. Die Schwerkraft des
Verbrecherischen, die sich nachmittags im Abenteuer auf dem Rennplatze
an mich gehangen, riß mich weiter und weiter hinab. Und ich spürte nur
mehr die Betäubung, den wirbeligen Taumel des Sturzes in neue Tiefen
hinab und vielleicht in die letzte: in den Tod.

Nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Wieder flog ihr Blick unsicher
herum. Dann sah sie mich wartend an: »Na -- und was schenkst du mir?«

Ach so. Das hatte ich vergessen. Aber die Frage ernüchterte mich nicht.
Im Gegenteil. Ich war ja so froh, schenken, geben, mich verschwenden zu
dürfen. Hastig griff ich in die Tasche, schüttete alles Silber und ein
paar zerknüllte Banknoten ihr in die aufgetane Hand. Und nun geschah
etwas so Wunderbares, daß mir heute noch das Blut warm wird, wenn ich
daran denke: entweder war diese arme Person überrascht von der Höhe der
Summe -- sie war sonst nur kleine Münze gewohnt für ihren schmutzigen
Dienst --, oder in der Art meines Gebens, des freudigen, raschen, fast
beglückten Gebens mußte etwas ihr Ungewohntes, etwas Neues sein, denn
sie trat zurück, und durch das dicke, übelriechende Dunkel spürte ich,
wie ihr Blick mit einem großen Erstaunen mich suchte. Und ich empfand
endlich das lang Entbehrte dieses Abends: jemand fragte nach mir, jemand
suchte mich, zum erstenmal _lebte_ ich für irgend jemanden dieser Welt.
Und daß gerade diese Ausgestoßenste, dieses Wesen, das ihren armen
verbrauchten Körper durch die Dunkelheit wie eine Ware trug und die,
ohne den Käufer auch nur anzusehen, sich an mich gedrängt, nun die Augen
aufschlug zu den meinen, daß sie nach dem Menschen in mir fragte, das
steigerte nur meine merkwürdige Trunkenheit, die hellsichtig war und
taumelnd zugleich, wissend und aufgelöst in eine magische Dumpfheit. Und
schon drängte dieses fremde Wesen sich näher an mich, aber nicht in
geschäftsmäßiger Erfüllung bezahlter Pflicht, sondern ich meinte, irgend
etwas unbewußt Dankbares, einen weibhaften Willen zur Annäherung darin
zu spüren. Ich faßte leise ihren Arm an, den magern rachitischen
Kinderarm, empfand ihren kleinen verkrüppelten Körper und sah plötzlich
über all das hinaus ihr ganzes Leben: die geliehene schmierige
Bettstelle in einem Vorstadthof, wo sie von morgens bis mittags schlief
zwischen einem Gewürm fremder Kinder, ich sah ihren Zuhälter, der sie
würgte, die Trunkenen, die sich im Dunkel rülpsend über sie warfen, die
gewisse Abteilung im Krankenhaus, in die man sie brachte, den Hörsaal,
wo man ihren abgeschundenen Leib nackt und krank jungen frechen
Studenten als Lehrobjekt hinhielt, und dann das Ende irgendwo in einer
Heimatsgemeinde, in die man sie per Schub abgeladen und wo man sie
verrecken ließ wie ein Tier. Unendliches Mitleid mit ihr, mit allen
überkam mich, irgend etwas Warmes, das Zärtlichkeit war und doch keine
Sinnlichkeit. Immer wieder strich ich ihr über den kleinen magern Arm.
Und dann beugte ich mich nieder und küßte die Erstaunte.

In diesem Augenblick raschelte es hinter mir. Ein Ast knackte. Ich
sprang zurück. Und schon lachte eine breite, ordinäre Männerstimme. »Da
haben mirs. Ich hab mirs ja gleich gedacht.«

Noch ehe ich sie sah, wußte ich, wer sie waren. Nicht eine Sekunde hatte
ich inmitten all meiner dumpfen Betäubung daran vergessen, daß ich
umlauert war, ja meine geheimnisvolle wache Neugier hatte sie erwartet.
Eine Gestalt schob sich jetzt vor aus dem Gebüsch und hinter ihr eine
zweite: verwilderte Burschen, frech aufgepflanzt. Wieder kam das
ordinäre Lachen. »So eine Gemeinheit, da Schweinereien zu treiben.
Natürlich ein feiner Herr! Den werden wir aber jetzt Hopp nehmen.« Ich
stand reglos. Das Blut tickte mir an die Schläfen. Ich empfand keine
Angst. Ich wartete nur, was geschehen sollte. Jetzt war ich endlich in
der Tiefe, im letzten Abgrund des Gemeinen. Jetzt mußte der
Aufschlag kommen, das Zerschellen, das Ende, dem ich halbwissend
entgegengetrieben.

Das Mädel war von mir weggesprungen, aber doch nicht zu ihnen hinüber.
Sie stand irgendwie in der Mitte: anscheinend war ihr der vorbereitete
Überfall doch nicht ganz angenehm. Die Burschen wiederum waren
ärgerlich, daß ich mich nicht rührte. Sie sahen einander an, offenbar
erwarteten sie von mir einen Widerspruch, eine Bitte, irgendeine Angst.
»Aha, er sagt nix,« rief schließlich drohend der eine. Und der andere
trat auf mich zu und sagte befehlend: »Sie müssen mit aufs
Kommissariat.«

Ich antwortete noch immer nichts. Da legte mir der eine den Arm auf die
Schulter und stieß mich leicht vor. »Vorwärts,« sagte er.

Ich ging. Ich wehrte mich nicht, weil ich mich nicht wehren wollte: das
Unerhörte, das Gemeine, das Gefährliche der Situation betäubte mich.
Mein Gehirn blieb ganz wach; ich wußte, daß die Burschen die Polizei
mehr fürchten mußten als ich, daß ich mich loskaufen konnte mit ein paar
Kronen, -- aber ich wollte ganz die Tiefe des Gräßlichen auskosten, ich
genoß die grausige Erniedrigung der Situation in einer Art wissender
Ohnmacht. Ohne Hast, ganz mechanisch ging ich in die Richtung, in die
sie mich gestoßen hatten.

Aber gerade das, daß ich so wortlos, so geduldig dem Licht zuging,
schien die Burschen zu verwirren. Sie zischelten leise. Dann fingen sie
wieder an, absichtlich laut miteinander zu reden. »Laß ihn laufen,«
sagte der eine (ein pockennarbiger kleiner Kerl); aber der andere
erwiderte, scheinbar streng: »Nein, das geht nicht. Wenn das ein armer
Teufel tut wie wir, der nix zum Fressen hat, dann wird er eingelocht.
Aber so ein feiner Herr -- da muß a Straf sein.« Und ich hörte jedes
Wort und hörte darin ihre ungeschickte Bitte, ich möchte beginnen, mit
ihnen zu verhandeln; der Verbrecher in mir verstand den Verbrecher in
ihnen, verstand, daß sie mich quälen wollten mit Angst und ich sie
quälte mit meiner Nachgiebigkeit. Es war ein stummer Kampf zwischen uns
beiden, und -- o wie reich war diese Nacht! -- ich fühlte inmitten
tödlicher Gefahr, hier mitten im stinkenden Dickicht der Praterwiese,
zwischen Strolchen und einer Dirne, zum zweitenmal seit zwölf Stunden
den rasenden Zauber des Spiels, nun aber um den höchsten Einsatz, um
meine ganze bürgerliche Existenz, ja um mein Leben. Und ich gab mich
diesem ungeheuren Spiel, der funkelnden Magie des Zufalls mit der ganzen
gespannten, bis zum Zerreißen gespannten Kraft meiner zitternden Nerven
hin.

»Aha, dort ist schon der Wachmann,« sagte hinter mir die eine Stimme,
»da wird er sich nicht zu freuen haben, der feine Herr, eine Wochen wird
er schon sitzen.« Es sollte böse klingen und drohend, aber ich hörte die
stockende Unsicherheit. Ruhig ging ich dem Lichtschein zu, wo
tatsächlich die Pickelhaube eines Schutzmannes glänzte. Zwanzig Schritte
noch, dann mußte ich vor ihm stehen. Hinter mir hatten die Burschen
aufgehört zu reden; ich merkte, wie sie langsamer gingen; im nächsten
Augenblick mußten sie, ich wußte es, feig zurücktauchen in das Dunkel,
in ihre Welt, erbittert über den mißlungenen Streich, und ihren Zorn
vielleicht an der Armseligen auslassen. Das Spiel war zu Ende: wiederum,
zum zweitenmal, hatte ich heute gewonnen, wiederum einen andern fremden,
unbekannten Menschen um seine böse Lust geprellt. Schon flackerte von
drüben der bleiche Kreis der Laternen, und als ich mich jetzt umwandte,
sah ich zum erstenmal in die Gesichter der beiden Burschen: Erbitterung
war und eine geduckte Beschämung in ihren unsichern Augen. Sie blieben
stehen in einer gedrückten, enttäuschten Art, bereit, ins Dunkel
zurückzuspringen. Denn ihre Macht war vorüber: nun war _ich_ es, den sie
fürchteten.

In diesem Augenblick überkam mich plötzlich -- und es war, als ob die
innere Gärung alle Dauben in meiner Brust plötzlich sprengte und heiß
das Gefühl in mein Blut überliefe -- ein so unendliches, ein
_brüderliches_ Mitleid mit diesen beiden Menschen. Was hatten sie denn
begehrt von mir, sie, die armen hungernden, zerfetzten Burschen, von
mir, dem Übersatten, dem Parasiten: ein paar Kronen, ein paar elende
Kronen. Sie hätten mich würgen können dort im Dunkel, mich berauben,
mich töten, und hatten es nicht getan, hatten nur in einer ungeübten,
ungeschickten Art versucht, mich zu schrecken um dieser kleinen
Silbermünzen willen, die mir lose in der Tasche lagen. Wie konnte ich es
da wagen, ich, der Dieb aus Laune, aus Frechheit, der Verbrecher aus
Nervenlust, sie, diese armen Teufel, noch zu quälen? Und in mein
unendliches Mitleid strömte unendliche Scham, daß ich mit ihrer Angst,
mit ihrer Ungeduld um meiner Wollust willen noch gespielt. Ich raffte
mich zusammen: jetzt, gerade jetzt, da ich gesichert war, da schon das
Licht der nahen Straße mich schützte, jetzt mußte ich ihnen zuwillen
sein, die Enttäuschung auslöschen in diesen bittern, hungrigen Blicken.

Mit einer plötzlichen Wendung trat ich auf den einen zu. »Warum wollen
Sie mich anzeigen?« sagte ich und mühte mich, in meine Stimme einen
gepreßten Atem von Angst zu quälen. »Was haben Sie davon? Vielleicht
werde ich eingesperrt, vielleicht auch nicht. Aber Ihnen bringt es doch
keinen Nutzen. Warum wollen Sie mir mein Leben verderben?«

Die beiden starrten verlegen. Sie hatten alles erwartet jetzt, einen
Anschrei, eine Drohung, unter der sie wie knurrende Hunde sich
weggedrückt hätten, nur nicht diese Nachgiebigkeit. Endlich sagte der
eine, aber gar nicht drohend, sondern gleichsam entschuldigend:
»Gerechtigkeit muß sein. Wir tun nur unsere Pflicht.«

Es war offenbar eingelernt für solche Fälle. Und doch klang es irgendwie
falsch. Keiner von beiden wagte mich anzusehen. Sie warteten. Und ich
wußte, worauf sie warteten. Daß ich betteln würde um Gnade. Und daß ich
ihnen Geld bieten würde.

Ich weiß noch alles aus jenen Sekunden. Ich weiß jeden Nerv, der sich in
mir regte, jeden Gedanken, der hinter der Schläfe zuckte. Und ich weiß,
was mein böses Gefühl damals zuerst wollte: sie warten lassen, sie noch
länger quälen, die Wollust des Wartenlassens auskosten. Aber ich zwang
mich rasch, ich bettelte, weil ich wußte, daß ich die Angst dieser
beiden endlich erlösen mußte. Ich begann eine Komödie der Furcht zu
spielen, bat sie um Mitleid, sie möchten schweigen, mich nicht
unglücklich machen. Ich merkte, wie sie verlegen wurden, diese armen
Dilettanten der Erpressung, und wie das Schweigen gleichsam weicher
zwischen uns stand.

Und da sagte ich endlich, endlich das Wort, nachdem sie so lange
lechzten. »Ich ... ich gebe Ihnen ... hundert Kronen.«

Alle drei fuhren auf und sahen sich an. So viel hatten sie nicht mehr
erwartet, jetzt, da doch alles für sie verloren war. Endlich faßte sich
der eine, der Pockennarbige mit dem unruhigen Blick. Zweimal setzte er
an. Es ging ihm nicht aus der Kehle. Dann sagte er -- und ich spürte,
wie er sich schämte dabei: »Zweihundert Kronen.«

»Aber hörts auf,« mengte sich jetzt plötzlich das Mädchen ein. »Ihr
könnts froh sein, wenn er euch überhaupt etwas gibt. Er hat ja gar nix
getan, kaum daß er mich angerührt hat. Das ist wirklich zu stark.«

Wirklich erbittert schrie sie's ihnen entgegen. Und mir klang das Herz.
Jemand hatte Mitleid mit mir, jemand sprach für mich, aus dem Gemeinen
stieg Güte, irgendein dunkles Begehren nach Gerechtigkeit aus einer
Erpressung. Wie das wohl tat, wie das Antwort gab auf den Aufschwall in
mir! Nein, nur jetzt nicht länger spielen mit den Menschen, nicht sie
quälen in ihrer Angst, in ihrer Scham: genug! genug!

»Gut, also zweihundert Kronen.«

Sie schwiegen alle drei. Ich nahm die Brieftasche heraus. Ganz langsam,
ganz offen bog ich sie auf in der Hand. Mit einem Griff hätten sie mir
sie wegreißen können und in das Dunkel hinein flüchten. Aber sie sahen
scheu weg. Es war zwischen ihnen und mir irgendein geheimes
Gebundensein, nicht mehr Kampf und Spiel, sondern ein Zustand des
Rechts, des Vertrauens, eine menschliche Beziehung. Ich blätterte die
beiden Noten aus dem gestohlenen Pack und reichte sie dem einen hin.

»Danke schön,« sagte er unwillkürlich und wandte sich schon weg.
Offenbar spürte er selbst das Lächerliche, zu danken für ein erpreßtes
Geld. Er schämte sich, und diese seine Scham -- oh, alles fühlte ich ja
in dieser Nacht, jede Geste schloß sich mir auf! -- bedrückte mich. Ich
wollte nicht, daß sich ein Mensch vor mir schäme, vor mir, der ich
seinesgleichen war, Dieb wie er, schwach, feige und willenlos wie er.
Seine Demütigung quälte mich, und ich wollte sie ihm wegnehmen. So
wehrte ich seinem Dank.

»Ich habe Ihnen zu danken,« sagte ich und wunderte mich selbst, wieviel
wahrhaftige Herzlichkeit aus meiner Stimme sprang. »Wenn Sie mich
angezeigt hätten, wäre ich verloren gewesen. Ich hätte mich erschießen
müssen, und Sie hätten nichts davon gehabt. Es ist besser so. Ich gehe
jetzt da rechts hinüber und Sie vielleicht dort auf die andere Seite.
Gute Nacht.«

Sie schwiegen wieder einen Augenblick. Dann sagte der eine »Gute Nacht,«
dann der andere, zuletzt die Hure, die ganz im Dunkel geblieben. Ganz
warm klang es, ganz herzlich wie ein wirklicher Wunsch. An ihren Stimmen
fühlte ich, sie hatten mich irgendwo tief im Dunkel ihres Wesens lieb,
sie würden diese sonderbare Sekunde nie vergessen. Im Zuchthaus oder im
Spital würde sie ihnen vielleicht wieder einmal einfallen: etwas von mir
lebte fort in ihnen, ich hatte ihnen etwas gegeben. Und dieses Gebens
Lust erfüllte mich wie noch nie ein Gefühl.

Ich ging allein durch die Nacht dem Ausgang des Praters zu. Alles
Gepreßte war von mir gefallen, ich fühlte, wie ich ausströmte in nie
gekannter Fülle, ich, der Verschollene, in die ganze unendliche Welt
hinein. Alles empfand ich, als lebte es nur für mich allein und mich
wieder mit allem strömend verbunden. Schwarz umstanden mich die Bäume,
sie rauschten mir zu, und ich liebte sie. Sterne glänzten von oben
nieder, und ich atmete ihren weißen Gruß. Stimmen kamen singend von
irgendwoher, und mir war, sie sängen für mich. Alles gehörte mir mit
einem Male, seit ich die Rinde um meine Brust zerstoßen, und Freude des
Hingebens, des Verschwendens schwellte mich allem zu. O wie leicht ist
es, fühlte ich, Freude zu machen und selbst froh zu werden aus der
Freude: man braucht sich nur aufzutun, und schon fließt von Mensch zu
Menschen der lebendige Strom, stürzt vom Hohen zum Niedern, schäumt von
der Tiefe wieder ins Unendliche empor.

Am Ausgang des Praters neben einem Wagenstandplatz sah ich eine Hökerin,
müde, gebückt über ihren kleinen Kram. Bäckereien hatte sie,
überschimmelt von Staub, und ein paar Früchte, seit Morgen saß sie wohl
so da, gebückt über die paar Heller, und die Müdigkeit knickte sie ein.
Warum sollst du dich nicht auch freuen, dachte ich, wenn ich mich freue?
Ich nahm ein kleines Stück Zuckerbrot und legte ihr einen Schein hin.
Sie wollte eilfertig wechseln, aber schon ging ich weiter und sah nur,
wie sie erschrak vor Glück, wie die zerknitterte Gestalt sich plötzlich
straffte und nur der im Staunen erstarrte Mund mir tausend Wünsche
nachsprudelte. Das Brot zwischen den Fingern trat ich zu dem Pferde, das
müde an der Deichsel hing, aber nun wandte es sich her und schnaubte mir
freundlich zu. Auch in seinem dumpfen Blick war Dank, daß ich seine rosa
Nüster streichelte und ihm das Brot hinreichte. Und kaum daß ichs getan,
begehrte ich nach mehr: noch mehr Freude zu machen, noch mehr zu spüren,
wie man mit ein paar Silberstücken, mit ein paar farbigen Zetteln Angst
auslöschen, Sorge töten, Heiterkeit aufzünden konnte. Warum waren keine
Bettler da? Warum keine Kinder, die von den Ballons haben wollten, die
dort ein mürrischer, weißhaariger Hinkfuß in dicken Bündeln an vielen
Fäden nach Hause stelzte, enttäuscht über das schlechte Geschäft des
langen heißen Tages. Ich ging auf ihn zu. »Geben Sie mir die Ballons.«
»Zehn Heller das Stück,« sagte er mißtrauisch, denn was wollte dieser
elegante Müßiggänger jetzt mitternachts mit den farbigen Ballons? »Geben
Sie mir alle,« sagte ich und gab ihm einen Zehnkronenschein. Er torkelte
auf, sah mich wie geblendet an, dann gab er mir zitternd die Schnur, die
das ganze Bündel hielt. Straff fühlte ich es an dem Finger ziehn: sie
wollten weg, wollten frei sein, wollten hinauf in den Himmel hinein. So
geht, fliegt, wohin ihr begehrt, seid frei! Ich ließ die Schnüre los,
und wie viele bunte Monde stiegen sie plötzlich auf. Von allen Seiten
liefen die Leute her und lachten, aus dem Dunkel kamen die Verliebten,
die Kutscher knallten mit den Peitschen und zeigten sich gegenseitig
rufend mit den Fingern, wie jetzt die freien Kugeln über die Bäume hin
zu den Häusern und Dächern trieben. Alles sah sich fröhlich an und hatte
seinen Spaß mit meiner seligen Torheit.

Warum hatte ich das nie und nie gewußt, wie leicht es ist und wie gut,
Freude zu geben! Mit einem Male brannten die Banknoten wieder in der
Brieftasche, sie zuckten mir in den Fingern so wie vordem die Schnüre
der Ballons: auch sie wollten wegfliegen von mir ins Unbekannte hinein.
Und ich nahm sie, die gestohlenen des Lajos und die eigenen -- denn
nichts empfand ich mehr davon als Unterschied oder Schuld -- zwischen
die Finger, bereit, sie jedem hinzustreuen, der eine wollte. Ich ging
hinüber zu einem Straßenkehrer, der verdrossen die verlassene
Praterstraße fegte. Er meinte, ich wolle ihn nach irgendeiner Gasse
fragen und sah mürrisch auf: ich lachte ihn an und hielt ihm einen
Zwanzigkronenschein hin. Er starrte, ohne zu begreifen, dann nahm er ihn
endlich und wartete, was ich von ihm fordern würde. Ich aber lachte ihm
nur zu, sagte: »Kauf dir was Gutes dafür,« und ging weiter. Immer sah
ich nach allen Seiten, ob nicht jemand etwas von mir begehrte, und da
niemand kam, bot ich an: einer Hure, die mich ansprach, schenkte ich
einen Schein, zwei einem Laternenanzünder, einen warf ich in die offene
Luke einer Backstube im Untergeschoß, und ging so, ein Kielwasser von
Staunen, Dank, Freude hinter mir, weiter und weiter. Schließlich warf
ich sie einzeln und zerknüllt ins Leere auf die Straße, auf die Stufen
einer Kirche und freute mich an dem Gedanken, wie das Hutzelweibchen bei
der Morgenandacht die hundert Kronen finden und Gott segnen, ein armer
Student, ein Mädel, ein Arbeiter das Geld staunend und doch beglückt auf
ihrem Weg entdecken würden, sowie ich selbst staunend und beglückt in
dieser Nacht mich selber entdeckt.

Ich könnte nicht mehr sagen, wo und wie ich sie alle verstreute, die
Banknoten und schließlich auch mein Silbergeld. Es war irgendein Taumel
in mir, ein sich Ergießen wie in eine Frau, und als die letzten Blätter
weggeflattert waren, fühlte ich Leichtigkeit, als ob ich hätte fliegen
können, eine Freiheit, die ich nie gekannt. Die Straße, der Himmel, die
Häuser, alles flutete mir ineinander in einem ganz neuen Gefühl des
Besitzes, des Zusammengehörens: nie und auch in den heißesten Sekunden
meiner Existenz hatte ich so stark empfunden, daß alle diese Dinge
wirklich vorhanden waren, daß sie lebten und daß ich lebte und daß ihr
Leben und das meine ganz das gleiche waren, eben das große, das
gewaltige, das nie genug beglückt gefühlte Leben, das nur die Liebe
begreift, nur der Hingegebene umfaßt.

Dann kam noch ein letzter dunkler Augenblick, und das war, als ich,
selig heimgewandert, den Schlüssel in meine Türe drückte und der Gang zu
meinen Zimmern schwarz sich auftat. Da stürzte plötzlich Angst über
mich, ich ginge jetzt in mein altes früheres Leben zurück, wenn ich die
Wohnung dessen betrete, der ich bis zu dieser Stunde gewesen, mich in
sein Bett legte, wenn ich die Verknüpfung mit all dem wieder aufnahm,
was diese Nacht so schön gelöst. Nein, nur nicht mehr dieser Mensch
werden, der ich war, nicht mehr der korrekte, fühllose, weltabgelöste
Gentleman von gestern und einst, lieber hinabstürzen in alle Tiefen des
Verbrechens und des Grauens, aber doch in die Wirklichkeit des Lebens!
Ich war müde, unsagbar müde, und doch fürchtete ich mich, der Schlaf
möchte über mir zusammenschlagen und all das Heiße, das Glühende, das
Lebendige, das diese Nacht in mir entzündet, wieder wegschwemmen mit
seinem schwarzen Schlamm, und dies ganze Erlebnis möge so flüchtig und
unverhaftet gewesen sein wie ein phantastischer Traum.

Aber ich ward heiter wach in einen neuen Morgen am nächsten Tage, und
nichts war verronnen von dem dankbar strömenden Gefühl. Seitdem sind nun
vier Monate vergangen, und die Starre von einst ist nicht wiedergekehrt,
ich blühe noch immer warm in den Tag hinein. Jene magische Trunkenheit
von damals, da ich plötzlich den Boden meiner Welt unter den Füßen
verlor, ins Unbekannte stürzte und bei diesem Sturz in den eigenen
Abgrund den Taumel der Geschwindigkeit gleichzeitig mit der Tiefe des
ganzen Lebens berauscht gemengt empfand, -- diese fliegende Hitze, sie
freilich ist dahin, aber ich spüre seit jener Stunde mein eigenes warmes
Blut mit jedem Atemzuge und spüre es mit täglich erneuter Wollust des
Lebens. Ich weiß, daß ich ein anderer Mensch geworden bin mit anderen
Sinnen, anderer Reizbarkeit und stärkerer Bewußtheit. Selbstverständlich
wage ich nicht zu behaupten, ich sei ein besserer Mensch geworden: ich
weiß nur, daß ich ein glücklicherer bin, weil ich irgendeinen Sinn für
mein ganz ausgekühltes Leben gefunden habe, einen Sinn, für den ich kein
Wort finde als eben das Wort Leben selbst. Seitdem verbiete ich mir
nichts mehr, weil ich die Normen und Formen meiner Gesellschaft als
wesenlos empfinde, ich schäme mich weder vor andern noch vor mir selbst.
Worte wie Ehre, Verbrechen, Laster haben plötzlich einen kalten,
blechernen Klangton bekommen, ich vermag sie ohne Grauen gar nicht
auszusprechen. Ich lebe, indem ich mich leben lasse von der Macht, die
ich damals zum erstenmal so magisch gespürt. Wohin sie mich treibt,
frage ich nicht: vielleicht einem neuen Abgrund entgegen, in das hinein,
was die andern Laster nennen, oder einem ganz Erhabenen zu. Ich weiß es
nicht und will es nicht wissen. _Denn ich glaube, daß nur der wahrhaft
lebt, der sein Schicksal als ein Geheimnis lebt._

Nie aber habe ich -- dessen bin ich gewiß -- das Leben inbrünstiger
geliebt, und ich weiß jetzt, daß jeder ein Verbrechen tut (das einzige,
das es gibt!), der gleichgültig ist gegen irgendeine seiner Formen und
Gestalten. Seitdem ich mich selbst zu verstehen begann, verstehe ich
unendlich viel anderes auch: der Blick eines gierigen Menschen vor einer
Auslage kann mich erschüttern, die Kapriole eines Hundes mich
begeistern. Ich achte mit einemmal auf alles, nichts ist mir
gleichgültig. Ich lese in der Zeitung (die ich sonst nur auf
Vergnügungen und Auktionen durchblätterte) täglich hundert Dinge, die
mich erregen, Bücher, die mich langweilten, tun sich mir plötzlich auf.
Und das merkwürdigste ist: ich kann auf einmal mit Menschen auch
außerhalb dessen, was man Konversation nennt, sprechen. Mein Diener, den
ich seit sieben Jahren habe, interessiert mich, ich unterhalte mich oft
mit ihm, der Hausmeister, an dem ich sonst wie an einem beweglichen
Pfeiler achtlos vorüberging, hat mir jüngst vom Tod seines Töchterchens
erzählt, und es hat mich mehr ergriffen als die Tragödien Shakespeares.
Und diese Verwandlung scheint -- obzwar ich, um mich nicht zu verraten,
mein Leben innerhalb der Kreise gesitteter Langweile äußerlich fortsetze
-- allmählich transparent zu werden. Manche Menschen sind mit einemmal
herzlich mit mir, zum drittenmal in dieser Woche liefen mir fremde Hunde
auf der Straße zu. Und Freunde sagen mir wie zu einem, der eine
Krankheit überstanden hat, mit einer gewissen Freudigkeit, sie fänden
mich verjüngt.

Verjüngt? Ich allein weiß ja, daß ich erst jetzt wirklich zu leben
beginne. Nun ist dies wohl ein allgemeiner Wahn, daß jeder vermeint,
alles Vergangene sei immer nur Irrtum und Vorbereitung gewesen, und ich
verstehe wohl die eigene Anmaßung, eine kalte Feder in die warme
lebendige Hand zu nehmen und auf einem trockenen Papier sich
hinzuschreiben, man lebe wirklich. Aber sei es auch ein Wahn -- er ist
der erste, der mich beglückt, der erste, der mir das Blut gewärmt und
mir die Sinne aufgetan. Und wenn ich mir das Wunder meiner Erweckung
hier aufzeichne, so tue ich es doch nur für mich allein, der all dies
tiefer weiß, als die eigenen Worte es ihm zu sagen vermögen. Gesprochen
habe ich zu keinem Freunde davon; sie ahnten nie, wie abgestorben ich
schon gewesen, sie werden nie ahnen, wie blühend ich nun bin. Und sollte
mitten in dies mein lebendiges Leben der Tod fahren und diese Zeilen je
in eines andern Hände fallen, so schreckt und quält mich diese
Möglichkeit durchaus nicht. Denn wem die Magie einer solchen Stunde nie
bewußt geworden, wird ebensowenig verstehen, als ich es selbst vor einem
halben Jahre hätte verstehen können, daß ein paar dermaßen flüchtige und
scheinbar kaum verbundene Episoden eines einzigen Abends ein schon
verloschenes Schicksal so magisch entzünden konnten. Vor ihm schäme ich
mich nicht, denn er versteht mich nicht. Wer aber um das Verbundene
weiß, der richtet nicht und hat keinen Stolz. Vor ihm schäme ich mich
nicht, denn er versteht mich. Wer einmal sich selbst gefunden, kann
nichts auf dieser Welt mehr verlieren. Und wer einmal den Menschen in
sich begriffen, der begreift alle Menschen.




                        Brief einer Unbekannten


Als der bekannte Romanschriftsteller R. frühmorgens von dreitägigem
erfrischendem Ausflug ins Gebirge wieder nach Wien zurückkehrte und am
Bahnhof eine Zeitung kaufte, wurde er, kaum daß er das Datum überflog,
erinnernd gewahr, daß heute sein Geburtstag sei. Der einundvierzigste,
besann er sich rasch, und diese Feststellung tat ihm nicht wohl und
nicht weh. Flüchtig überblätterte er die knisternden Seiten der Zeitung
und fuhr mit einem Mietautomobil in seine Wohnung. Der Diener meldete
aus der Zeit seiner Abwesenheit zwei Besuche sowie einige Telephonanrufe
und überbrachte auf einem Tablett die angesammelte Post. Lässig sah er
den Einlauf an, riß ein paar Kuverts auf, die ihn durch ihre Absender
interessierten; einen Brief, der fremde Schriftzüge trug und zu
umfangreich schien, schob er zunächst beiseite. Inzwischen war der Tee
aufgetragen worden, bequem lehnte er sich in den Fauteuil,
durchblätterte noch einmal die Zeitung und einige Drucksachen; dann
zündete er sich eine Zigarre an und griff nun nach dem zurückgelegten
Briefe.

Es waren etwa zwei Dutzend hastig beschriebene Seiten in fremder,
unruhiger Frauenschrift, ein Manuskript eher als ein Brief.
Unwillkürlich betastete er noch einmal das Kuvert, ob nicht darin ein
Begleitschreiben vergessen geblieben wäre. Aber der Umschlag war leer
und trug so wenig wie die Blätter selbst eine Absenderadresse oder eine
Unterschrift. Seltsam, dachte er, und nahm das Schreiben wieder zur
Hand. »_Dir, der Du mich nie gekannt_«, stand oben als Anruf, als
Überschrift. Verwundert hielt er inne: galt das ihm, galt das einem
erträumten Menschen? Seine Neugier war plötzlich wach. Und er begann zu
lesen:

                   *       *       *       *       *

»Mein Kind ist gestern gestorben -- drei Tage und drei Nächte habe ich
mit dem Tode um dies kleine, zarte Leben gerungen, vierzig Stunden bin
ich, während die Grippe seinen armen, heißen Leib im Fieber schüttelte,
an seinem Bette gesessen. Ich habe Kühles um seine glühende Stirn getan,
ich habe seine unruhigen, kleinen Hände gehalten Tag und Nacht. Am
dritten Abend bin ich zusammengebrochen. Meine Augen konnten nicht mehr,
sie fielen zu, ohne daß ich es wußte. Drei Stunden oder vier war ich auf
dem harten Sessel eingeschlafen, und indes hat der Tod ihn genommen. Nun
liegt er dort, der süße, arme Knabe, in seinem schmalen Kinderbett, ganz
so wie er starb; nur die Augen hat man ihm geschlossen, seine klugen,
dunkeln Augen, die Hände über dem weißen Hemd hat man ihm gefaltet, und
vier Kerzen brennen hoch an den vier Enden des Bettes. Ich wage nicht
hinzusehen, ich wage nicht mich zu rühren, denn wenn sie flackern, die
Kerzen, huschen Schatten über sein Gesicht und den verschlossenen Mund,
und es ist dann so, als regten sich seine Züge, und ich könnte meinen,
er sei nicht tot, er würde wieder erwachen und mit seiner hellen Stimme
etwas Kindlich-Zärtliches zu mir sagen. Aber ich weiß es, er ist tot,
ich will nicht hinsehen mehr, um nicht noch einmal zu hoffen, nicht noch
einmal enttäuscht zu sein. Ich weiß es, ich weiß es, mein Kind ist
gestern gestorben -- jetzt habe ich nur Dich mehr auf der Welt, nur
Dich, der Du von mir nichts weißt, der Du indes ahnungslos spielst oder
mit Dingen und Menschen tändelst. Nur Dich, der Du mich nie gekannt und
den ich immer geliebt.

Ich habe die fünfte Kerze genommen und hier zu dem Tisch gestellt, auf
dem ich an Dich schreibe. Denn ich kann nicht allein sein mit meinem
toten Kinde, ohne mir die Seele auszuschreien, und zu wem sollte ich
sprechen in dieser entsetzlichen Stunde, wenn nicht zu Dir, der Du mir
alles warst und alles bist! Vielleicht kann ich nicht ganz deutlich zu
Dir sprechen, vielleicht verstehst Du mich nicht -- mein Kopf ist ja
ganz dumpf, es zuckt und hämmert mir an den Schläfen, meine Glieder tun
so weh. Ich glaube, ich habe Fieber, vielleicht auch schon die Grippe,
die jetzt von Tür zu Tür schleicht, und das wäre gut, denn dann ginge
ich mit meinem Kinde und müßte nichts tun wider mich. Manchmal wirds mir
ganz dunkel vor den Augen, vielleicht kann ich diesen Brief nicht einmal
zu Ende schreiben -- aber ich will alle Kraft zusammentun, um einmal,
nur dieses eine Mal zu Dir zu sprechen, Du mein Geliebter, der Du mich
nie erkannt.

Zu Dir allein will ich sprechen, Dir zum erstenmal alles sagen; mein
ganzes Leben sollst Du wissen, das immer das Deine gewesen und um das Du
nie gewußt. Aber Du sollst mein Geheimnis nur kennen, wenn ich tot bin,
wenn Du mir nicht mehr Antwort geben mußt, wenn das, was mir die Glieder
jetzt so kalt und heiß schüttelt, wirklich das Ende ist. Muß ich
weiterleben, so zerreiße ich diesen Brief und werde weiter schweigen,
wie ich immer schwieg. Hältst Du ihn aber in Händen, so weißt Du, daß
hier eine Tote Dir ihr Leben erzählt, ihr Leben, das das Deine war von
ihrer ersten bis zu ihrer letzten wachen Stunde. Fürchte Dich nicht vor
meinen Worten; eine Tote will nichts mehr, sie will nicht Liebe und
nicht Mitleid und nicht Tröstung. Nur dies eine will ich von Dir, daß Du
mir alles glaubst, was mein zu Dir hinflüchtender Schmerz Dir verrät.
Glaube mir alles, nur dies eine bitte ich Dich: man lügt nicht in der
Sterbestunde eines einzigen Kindes.

Mein ganzes Leben will ich Dir verraten, dies Leben, das wahrhaft erst
begann mit dem Tage, da ich Dich kannte. Vorher war bloß etwas Trübes
und Verworrenes, in das mein Erinnern nie mehr hinabtauchte, irgendein
Keller von verstaubten, spinnverwebten, dumpfen Dingen und Menschen, von
denen mein Herz nichts mehr weiß. Als Du kamst, war ich dreizehn Jahre
und wohnte im selben Hause, wo Du jetzt wohnst, in demselben Hause, wo
Du diesen Brief, meinen letzten Hauch Leben, in Händen hältst, ich
wohnte auf demselben Gange, gerade der Tür Deiner Wohnung gegenüber. Du
erinnerst Dich gewiß nicht mehr an uns, an die ärmliche
Rechnungsratswitwe (sie ging immer in Trauer) und das halbwüchsige,
magere Kind -- wir waren ja ganz still, gleichsam hinabgetaucht in
unsere kleinbürgerliche Dürftigkeit -- Du hast vielleicht nie unseren
Namen gehört, denn wir hatten kein Schild auf unserer Wohnungstür, und
niemand kam, niemand fragte nach uns. Es ist ja auch schon so lange her,
fünfzehn, sechzehn Jahre, nein, Du weißt es gewiß nicht mehr, mein
Geliebter, ich aber, oh, ich erinnere mich leidenschaftlich an jede
Einzelheit, ich weiß noch wie heute den Tag, nein, die Stunde, da ich
zum erstenmal von Dir hörte, Dich zum erstenmal sah, und wie sollte ichs
auch nicht, denn damals begann ja die Welt für mich. Dulde, Geliebter,
daß ich Dir alles, alles von Anfang erzähle, werde, ich bitte Dich, die
eine Viertelstunde von mir zu hören nicht müde, die ich ein Leben lang
Dich zu lieben nicht müde geworden bin.

Ehe Du in unser Haus einzogst, wohnten hinter Deiner Tür häßliche, böse,
streitsüchtige Leute. Arm wie sie waren, haßten sie am meisten die
nachbarliche Armut, die unsere, weil sie nichts gemein haben wollte mit
ihrer herabgekommenen, proletarischen Roheit. Der Mann war ein
Trunkenbold und schlug seine Frau; oft wachten wir auf in der Nacht vom
Getöse fallender Stühle und zerklirrter Teller, einmal lief sie, blutig
geschlagen, mit zerfetzten Haaren auf die Treppe, und hinter ihr grölte
der Betrunkene, bis die Leute aus den Türen kamen und ihn mit der
Polizei bedrohten. Meine Mutter hatte von Anfang an jeden Verkehr mit
ihnen vermieden und verbot mir, zu den Kindern zu sprechen, die sich
dafür bei jeder Gelegenheit an mir rächten. Wenn sie mich auf der Straße
trafen, riefen sie schmutzige Worte hinter mir her und schlugen mich
einmal so mit harten Schneeballen, daß mir das Blut von der Stirne lief.
Das ganze Haus haßte mit einem gemeinsamen Instinkt diese Menschen, und
als plötzlich einmal etwas geschehen war -- ich glaube, der Mann wurde
wegen eines Diebstahls eingesperrt -- und sie mit ihrem Kram ausziehen
mußten, atmeten wir alle auf. Ein paar Tage hing der Vermietungszettel
am Haustore, dann wurde er heruntergenommen, und durch den Hausmeister
verbreitete es sich rasch, ein Schriftsteller, ein einzelner, ruhiger
Herr, habe die Wohnung genommen. Damals hörte ich zum erstenmal Deinen
Namen.

Nach ein paar Tagen schon kamen Maler, Anstreicher, Zimmerputzer,
Tapezierer, die Wohnung nach ihren schmierigen Vorbesitzern reinzufegen,
es wurde gehämmert, geklopft, geputzt und gekratzt, aber die Mutter war
nur zufrieden damit, sie sagte, jetzt werde endlich die unsaubere
Wirtschaft drüben ein Ende haben. Dich selbst bekam ich, auch während
der Übersiedlung, noch nicht zu Gesicht: alle diese Arbeiten überwachte
Dein Diener, dieser kleine, ernste, grauhaarige Herrschaftsdiener, der
alles mit einer leisen, sachlichen Art von oben herab dirigierte. Er
imponierte uns allen sehr, erstens weil in unserem Vorstadthaus ein
Herrschaftsdiener etwas ganz Neuartiges war, und dann, weil er zu allen
so ungemein höflich war, ohne sich deshalb mit den Dienstboten auf eine
Stufe zu stellen und in kameradschaftliche Gespräche einzulassen. Meine
Mutter grüßte er vom ersten Tage an respektvoll als eine Dame, sogar zu
mir Fratzen war er immer zutraulich und ernst. Wenn er Deinen Namen
nannte, so geschah das immer mit einer gewissen Ehrfurcht, mit einem
besonderen Respekt -- man sah gleich, daß er Dir weit über das Maß des
gewohnten Dienens anhing. Und wie habe ich ihn dafür geliebt, den guten
alten Johann, obwohl ich ihn beneidete, daß er immer um Dich sein durfte
und Dir dienen.

Ich erzähle Dir all das, Du Geliebter, all diese kleinen, fast
lächerlichen Dinge, damit Du verstehst, wie Du von Anfang an schon eine
solche Macht gewinnen konntest über das scheue, verschüchterte Kind, das
ich war. Noch ehe Du selbst in mein Leben getreten, war schon ein Nimbus
um Dich, eine Sphäre von Reichtum, Sonderbarkeit und Geheimnis -- wir
alle in dem kleinen Vorstadthaus (Menschen, die ein enges Leben haben,
sind ja immer neugierig auf alles Neue vor ihren Türen) warteten schon
ungeduldig auf Deinen Einzug. Und diese Neugier nach Dir, wie steigerte
sie sich erst bei mir, als ich eines Nachmittags von der Schule nach
Hause kam und der Möbelwagen vor dem Hause stand. Das meiste, die
schweren Stücke, hatten die Träger schon hinaufbefördert, nun trug man
einzeln kleinere Sachen hinauf; ich blieb an der Tür stehen, um alles
bestaunen zu können, denn alle Deine Dinge waren so seltsam anders, wie
ich sie nie gesehen; es gab da indische Götzen, italienische Skulpturen,
ganz grelle, große Bilder, und dann zum Schluß kamen Bücher, so viele
und so schöne, wie ich es nie für möglich gehalten. An der Tür wurden
sie alle aufgeschichtet, dort übernahm sie der Diener und schlug mit
Stock und Wedel sorgfältig den Staub aus jedem einzelnen. Ich schlich
neugierig um den immer wachsenden Stoß herum, der Diener wies mich nicht
weg, aber er ermutigte mich auch nicht; so wagte ich keines anzurühren,
obwohl ich das weiche Leder von manchen gern befühlt hätte. Nur die
Titel sah ich scheu von der Seite an: es waren französische, englische
darunter und manche in Sprachen, die ich nicht verstand. Ich glaube, ich
hätte sie stundenlang alle angesehen: da rief mich die Mutter hinein.

Den ganzen Abend dann mußte ich an Dich denken; noch ehe ich Dich
kannte. Ich besaß selbst nur ein Dutzend billige, in zerschlissene Pappe
gebundene Bücher, die ich über alles liebte und immer wieder las. Und
nun bedrängte mich dies, wie der Mensch sein müßte, der all diese vielen
herrlichen Bücher besaß und gelesen hatte, der alle diese Sprachen
wußte, der so reich war und so gelehrt zugleich. Eine Art überirdischer
Ehrfurcht verband sich mir mit der Idee dieser vielen Bücher. Ich suchte
Dich mir im Bilde vorzustellen: Du warst ein alter Mann mit einer Brille
und einem weißen langen Barte, ähnlich wie unser Geographieprofessor,
nur viel gütiger, schöner und milder -- ich weiß nicht, warum ich damals
schon gewiß war, Du müßtest schön sein, wo ich noch an Dich wie einen
alten Mann dachte. Damals in jener Nacht und noch ohne Dich zu kennen,
habe ich das erstemal von Dir geträumt.

Am nächsten Tage zogst Du ein, aber trotz allen Spähens konnte ich Dich
nicht zu Gesicht bekommen -- das steigerte nur meine Neugier. Endlich,
am dritten Tage, sah ich Dich, und wie erschütternd war die Überraschung
für mich, daß Du so anders warst, so ganz ohne Beziehung zu dem
kindlichen Gottvaterbilde. Einen bebrillten gütigen Greis hatte ich mir
geträumt, und da kamst Du -- Du, ganz so, wie Du noch heute bist, Du
Unwandelbarer, an dem die Jahre lässig abgleiten! Du trugst eine
hellbraune, entzückende Sportdreß und liefst in Deiner unvergleichlich
leichten knabenhaften Art die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf
einmal nehmend. Den Hut trugst Du in der Hand, so sah ich mit einem gar
nicht zu schildernden Erstaunen Dein helles, lebendiges Gesicht mit dem
jungen Haar: wirklich, ich erschrak vor Erstaunen, wie jung, wie hübsch,
wie federnd-schlank und elegant Du warst. Und ist es nicht seltsam: in
dieser ersten Sekunde empfand ich ganz deutlich das, was ich und alle
anderen an Dir als so einzig mit einer Art Überraschung immer wieder
empfinden: daß Du irgendein zwiefacher Mensch bist, ein heißer,
leichtlebiger, ganz dem Spiel und dem Abenteuer hingegebener Junge, und
gleichzeitig in Deiner Kunst ein unerbittlich ernster, pflichtbewußter,
unendlich belesener und gebildeter Mann. Unbewußt empfand ich, was dann
jeder bei Dir spürte, daß Du ein Doppelleben führst, ein Leben mit einer
hellen, der Welt offen zugekehrten Fläche, und einer ganz dunkeln, die
Du nur allein kennst -- diese tiefste Zweiheit, das Geheimnis Deiner
Existenz, sie fühlte ich, die Dreizehnjährige, magisch angezogen, mit
meinem ersten Blick.

Verstehst Du nun schon, Geliebter, was für ein Wunder, was für eine
verlockende Rätselhaftigkeit Du für mich, das Kind, sein mußtest! Einen
Menschen, vor dem man Ehrfurcht hatte, weil er Bücher schrieb, weil er
berühmt war in jener anderen großen Welt, plötzlich als einen jungen,
eleganten, knabenhaft heiteren, fünfundzwanzigjährigen Mann zu
entdecken! Muß ich Dir noch sagen, daß von diesem Tage an in unserem
Hause, in meiner ganzen armen Kinderwelt mich nichts interessierte als
Du, daß ich mit dem ganzen Starrsinn, der ganzen bohrenden
Beharrlichkeit einer Dreizehnjährigen nur mehr um Dein Leben, um Deine
Existenz herumging. Ich beobachtete Dich, ich beobachtete Deine
Gewohnheiten, beobachtete die Menschen, die zu Dir kamen, und all das
vermehrte nur, statt sie zu mindern, meine Neugier nach Dir selbst, denn
die ganze Zwiefältigkeit Deines Wesens drückte sich in der
Verschiedenheit dieser Besuche aus. Da kamen junge Menschen, Kameraden
von Dir, mit denen Du lachtest und übermütig warst, abgerissene
Studenten, und dann wieder Damen, die in Autos vorfuhren, einmal der
Direktor der Oper, der große Dirigent, den ich ehrfürchtig nur am Pulte
von fern gesehen, dann wieder kleine Mädel, die noch in die
Handelsschule gingen und verlegen in die Tür hineinhuschten, überhaupt
viel, sehr viel Frauen. Ich dachte mir nichts Besonderes dabei, auch
nicht, als ich eines Morgens, wie ich zur Schule ging, eine Dame ganz
verschleiert von Dir weggehen sah -- ich war ja erst dreizehn Jahre alt,
und die leidenschaftliche Neugier, mit der ich Dich umspähte und
belauerte, wußte im Kinde noch nicht, daß sie schon Liebe war.

Aber ich weiß noch genau, mein Geliebter, den Tag und die Stunde, wann
ich ganz und für immer an Dich verloren war. Ich hatte mit einer
Schulfreundin einen Spaziergang gemacht, wir standen plaudernd vor dem
Tor. Da kam ein Auto angefahren, hielt an, und schon sprangst Du mit
Deiner ungeduldigen, elastischen Art, die mich noch heute an Dir immer
hinreißt, vom Trittbrett und wolltest in die Tür. Unwillkürlich zwang es
mich, Dir die Tür aufzumachen, und so trat ich Dir in den Weg, daß wir
fast zusammengerieten. Du sahst mich an mit jenem warmen, weichen,
einhüllenden Blick, der wie eine Zärtlichkeit war, lächeltest mir -- ja,
ich kann es nicht anders sagen, als: zärtlich zu und sagtest mit einer
ganz leisen und fast vertraulichen Stimme: »Danke vielmals, Fräulein.«

Das war alles, Geliebter; aber von dieser Sekunde, seit ich diesen
weichen, zärtlichen Blick gespürt, war ich Dir verfallen. Ich habe ja
später, habe es bald erfahren, daß Du diesen umfangenden, an Dich
ziehenden, diesen umhüllenden und doch zugleich entkleidenden Blick,
diesen Blick des gebornen Verführers, jeder Frau hingibst, die an Dich
streift, jedem Ladenmädchen, das Dir verkauft, jedem Stubenmädchen, das
Dir die Tür öffnet, daß dieser Blick bei Dir gar nicht bewußt ist als
Wille und Neigung, sondern daß Deine Zärtlichkeit zu Frauen ganz
unbewußt Deinen Blick weich und warm werden läßt, wenn er sich ihnen
zuwendet. Aber ich, das dreizehnjährige Kind, ahnte das nicht: ich war
wie in Feuer getaucht. Ich glaubte, die Zärtlichkeit gelte nur mir, nur
mir allein, und in dieser einen Sekunde war die Frau in mir, der
Halbwüchsigen, erwacht und war diese Frau Dir für immer verfallen.

»Wer war das?« fragte meine Freundin. Ich konnte ihr nicht gleich
antworten. Es war mir unmöglich, Deinen Namen zu nennen: schon in dieser
einen, dieser einzigen Sekunde war er mir heilig, war er mein Geheimnis
geworden. »Ach, irgendein Herr, der hier im Hause wohnt,« stammelte ich
dann ungeschickt heraus. »Aber warum bist Du denn so rot geworden, wie
er Dich angeschaut hat,« spottete die Freundin mit der ganzen Bosheit
eines neugierigen Kindes. Und eben weil ich fühlte, daß sie an mein
Geheimnis spottend rühre, fuhr mir das Blut noch heißer in die Wangen.
Ich wurde grob aus Verlegenheit. »Blöde Gans,« sagte ich wild: am
liebsten hätte ich sie erdrosselt. Aber sie lachte nur noch lauter und
höhnischer, bis ich fühlte, daß mir die Tränen in die Augen schossen vor
ohnmächtigem Zorn. Ich ließ sie stehen und lief hinauf.

Von dieser Sekunde an habe ich Dich geliebt. Ich weiß, Frauen haben Dir,
dem Verwöhnten, oft dieses Wort gesagt. Aber glaube mir, niemand hat
Dich so sklavisch, so hündisch, so hingebungsvoll geliebt als dieses
Wesen, das ich war und das ich für Dich immer geblieben bin, denn nichts
auf Erden gleicht der unbemerkten Liebe eines Kindes aus dem Dunkel,
weil sie so hoffnungslos, so dienend, so unterwürfig, so lauernd und
leidenschaftlich ist, wie niemals die begehrende und unbewußt doch
fordernde Liebe einer erwachsenen Frau. Nur einsame Kinder können ganz
ihre Leidenschaft zusammenhalten: die anderen zerschwätzen ihr Gefühl in
Geselligkeit, schleifen es ab in Vertraulichkeiten, sie haben von Liebe
viel gehört und gelesen und wissen, daß sie ein gemeinsames Schicksal
ist. Sie spielen damit, wie mit einem Spielzeug, sie prahlen damit, wie
Knaben mit ihrer ersten Zigarette. Aber ich, ich hatte ja niemand, um
mich anzuvertrauen, war von keinem belehrt und gewarnt, war unerfahren
und ahnungslos: ich stürzte hinein in mein Schicksal wie in einen
Abgrund. Alles, was in mir wuchs und aufbrach, wußte nur Dich, den Traum
von Dir, als Vertrauten: mein Vater war längst gestorben, die
Mutter mir fremd in ihrer ewig unheiteren Bedrücktheit und
Pensionistenängstlichkeit, die halbverdorbenen Schulmädchen stießen mich
ab, weil sie so leichtfertig mit dem spielten, was mir letzte
Leidenschaft war -- so warf ich alles, was sich sonst zersplittert und
verteilt, warf ich mein ganzes zusammengepreßtes und immer wieder
ungeduldig aufquellendes Wesen Dir entgegen. Du warst mir -- wie soll
ich es Dir sagen? jeder einzelne Vergleich ist zu gering, -- Du warst
eben alles, mein ganzes Leben. Alles existierte nur insofern, als es
Bezug hatte auf Dich, alles in meiner Existenz hatte nur Sinn, wenn es
mit Dir verbunden war. Du verwandeltest mein ganzes Leben. Bisher
gleichgültig und mittelmäßig in der Schule, wurde ich plötzlich die
Erste, ich las tausend Bücher bis tief in die Nacht, weil ich wußte, daß
Du die Bücher liebtest, ich begann, zum Erstaunen meiner Mutter,
plötzlich mit fast störrischer Beharrlichkeit Klavier zu üben, weil ich
glaubte, Du liebtest Musik. Ich putzte und nähte an meinen Kleidern, nur
um gefällig und proper vor Dir auszusehen, und daß ich an meiner alten
Schulschürze (sie war ein zugeschnittenes Hauskleid meiner Mutter) links
einen eingesetzten viereckigen Fleck hatte, war mir entsetzlich. Ich
fürchtete, Du könntest ihn bemerken und mich verachten; darum drückte
ich immer die Schultasche darauf, wenn ich die Treppen hinauflief,
zitternd vor Angst, Du würdest ihn sehen. Aber wie töricht war das: Du
hast mich ja nie, fast nie mehr angesehen.

Und doch: ich tat eigentlich den ganzen Tag nichts als auf Dich warten
und Dich belauern. An unserer Tür war ein kleines messingenes Guckloch,
durch dessen kreisrunden Ausschnitt man hinüber auf Deine Tür sehen
konnte. Dieses Guckloch -- nein, lächle nicht, Geliebter, noch heute,
noch heute schäme ich mich jener Stunden nicht! -- war mein Auge in die
Welt hinaus, dort, im eiskalten Vorzimmer, scheu vor dem Argwohn der
Mutter, saß ich in jenen Monaten und Jahren, ein Buch in der Hand, ganze
Nachmittage auf der Lauer, gespannt wie eine Saite und klingend, wenn
Deine Gegenwart sie berührte. Ich war immer um Dich, immer in Spannung
und Bewegung; aber Du konntest es so wenig fühlen wie die Spannung der
Uhrfeder, die Du in der Tasche trägst und die geduldig im Dunkel Deine
Stunden zählt und mißt, Deine Wege mit unhörbarem Herzpochen begleitet
und auf die nur einmal in Millionen tickender Sekunden Dein hastiger
Blick fällt. Ich wußte alles von Dir, kannte jede Deiner Gewohnheiten,
jede Deiner Krawatten, jeden Deiner Anzüge, ich kannte und unterschied
bald Deine einzelnen Bekannten und teilte sie in solche, die mir lieb
und solche, die mir widrig waren: von meinem dreizehnten bis zu meinem
sechzehnten Jahre habe ich jede Stunde in Dir gelebt. Ach, was für
Torheiten habe ich begangen! Ich küßte die Türklinke, die Deine Hand
berührt hatte, ich stahl einen Zigarrenstummel, den Du vor dem Eintreten
weggeworfen hattest, und er war mir heilig, weil Deine Lippen daran
gerührt. Hundertmal lief ich abends unter irgendeinem Vorwand hinab auf
die Gasse, um zu sehen, in welchem Deiner Zimmer Licht brenne und so
Deine Gegenwart, Deine unsichtbare, wissender zu fühlen. Und in den
Wochen, wo Du verreist warst -- mir stockte immer das Herz vor Angst,
wenn ich den guten Johann Deine gelbe Reisetasche hinabtragen sah --, in
diesen Wochen war mein Leben tot und ohne Sinn. Mürrisch, gelangweilt,
böse ging ich herum und mußte nur immer achtgeben, daß die Mutter an
meinen verweinten Augen nicht meine Verzweiflung merke.

Ich weiß, das sind alles groteske Überschwänge, kindische Torheiten, die
ich Dir da erzähle. Ich sollte mich ihrer schämen, aber ich schäme mich
nicht, denn nie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschaftlicher als
in diesen kindlichen Exzessen. Stundenlang, tagelang könnte ich Dir
erzählen, wie ich damals mit Dir gelebt, der Du mich kaum von Angesicht
kanntest, denn begegnete ich Dir auf der Treppe und gab es kein
Ausweichen, so lief ich, aus Furcht vor Deinem brennenden Blick, mit
gesenktem Kopf an Dir vorbei wie einer, der ins Wasser stürzt, nur daß
mich das Feuer nicht versenge. Stundenlang, tagelang könnte ich Dir von
jenen Dir längst entschwundenen Jahren erzählen, den ganzen Kalender
Deines Lebens aufrollen; aber ich will Dich nicht langweilen, will Dich
nicht quälen. Nur das schönste Erlebnis meiner Kindheit will ich Dir
noch anvertrauen, und ich bitte Dich, nicht zu spotten, weil es ein so
Geringes ist, denn mir, dem Kinde, war es eine Unendlichkeit. An einem
Sonntag muß es gewesen sein, Du warst verreist, und Dein Diener
schleppte die schweren Teppiche, die er geklopft hatte, durch die offene
Wohnungstür. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem Anfall von
Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, ob ich ihm nicht helfen könnte.
Er war erstaunt, aber ließ mich gewähren, und so sah ich -- vermöchte
ich Dirs doch nur zu sagen, mit welcher ehrfürchtigen, ja frommen
Verehrung! -- Deine Wohnung von innen, Deine Welt, den Schreibtisch, an
dem Du zu sitzen pflegtest und auf dem in einer blauen Kristallvase ein
paar Blumen standen, Deine Schränke, Deine Bilder, Deine Bücher. Nur ein
flüchtiger, diebischer Blick war es in Dein Leben, denn Johann, der
Getreue, hätte mir gewiß genaue Betrachtung gewehrt, aber ich sog mit
diesem einen Blick die ganze Atmosphäre ein und hatte Nahrung für meine
unendlichen Träume von Dir im Wachen und Schlaf.

Dies, diese rasche Minute, sie war die glücklichste meiner Kindheit. Sie
wollte ich Dir erzählen, damit Du, der Du mich nicht kennst, endlich zu
ahnen beginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Sie wollte ich
Dir erzählen und jene andere noch, die fürchterlichste Stunde, die jener
leider so nachbarlich war. Ich hatte -- ich sagte es Dir ja schon -- um
Deinetwillen an alles vergessen, ich hatte auf meine Mutter nicht acht
und kümmerte mich um niemanden. Ich merkte nicht, daß ein älterer Herr,
ein Kaufmann aus Innsbruck, der mit meiner Mutter entfernt verschwägert
war, öfter kam und länger blieb, ja, es war mir nur angenehm, denn er
führte Mama manchmal in das Theater, und ich konnte allein bleiben, an
Dich denken, auf Dich lauern, was ja meine höchste, meine einzige
Seligkeit war. Eines Tages nun rief mich die Mutter mit einer gewissen
Umständlichkeit in ihr Zimmer; sie hätte ernst mit mir zu sprechen. Ich
wurde blaß und hörte mein Herz plötzlich hämmern: sollte sie etwas
geahnt, etwas erraten haben? Mein erster Gedanke warst Du, das
Geheimnis, das mich mit der Welt verband. Aber die Mutter war selbst
verlegen, sie küßte mich (was sie sonst nie tat) zärtlich ein- und
zweimal, zog mich auf das Sofa zu sich und begann dann zögernd und
verschämt zu erzählen, ihr Verwandter, der Witwer sei, habe ihr einen
Heiratsantrag gemacht, und sie sei, hauptsächlich um meinetwillen,
entschlossen, ihn anzunehmen. Heißer stieg mir das Blut zum Herzen: nur
ein Gedanke antwortete von innen, der Gedanke an Dich. »Aber wir bleiben
doch hier?« konnte ich gerade noch stammeln. »Nein, wir ziehen nach
Innsbruck, dort hat Ferdinand eine schöne Villa.« Mehr hörte ich nicht.
Mir ward schwarz vor den Augen. Später wußte ich, daß ich in Ohnmacht
gefallen war; ich sei, hörte ich die Mutter dem Stiefvater leise
erzählen, der hinter der Tür gewartet hatte, plötzlich mit
aufgespreizten Händen zurückgefahren und dann hingestürzt wie ein
Klumpen Blei. Was dann in den nächsten Tagen geschah, wie ich mich, ein
machtloses Kind, wehrte gegen ihren übermächtigen Willen, das kann ich
Dir nicht schildern: noch jetzt zittert mir, da ich daran denke, die
Hand im Schreiben. Mein wirkliches Geheimnis konnte ich nicht verraten,
so schien meine Gegenwehr bloß Starrsinn, Bosheit und Trotz. Niemand
sprach mehr mit mir, alles geschah hinterrücks. Man nutzte die Stunden,
da ich in der Schule war, um die Übersiedlung zu fördern: kam ich dann
nach Hause, so war immer wieder ein anderes Stück verräumt oder
verkauft. Ich sah, wie die Wohnung und damit mein Leben verfiel, und
einmal, als ich zum Mittagessen kam, waren die Möbelpacker dagewesen und
hatten alles weggeschleppt. In den leeren Zimmern standen die gepackten
Koffer und zwei Feldbetten für die Mutter und mich: da sollten wir noch
eine Nacht schlafen, die letzte, und morgen nach Innsbruck reisen.

An diesem letzten Tage fühlte ich mit plötzlicher Entschlossenheit, daß
ich nicht leben konnte ohne Deine Nähe. Ich wußte keine andere Rettung
als Dich. Wie ich mirs dachte und ob ich überhaupt klar in diesen
Stunden der Verzweiflung zu denken vermochte, das werde ich nie sagen
können, aber plötzlich -- die Mutter war fort -- stand ich auf im
Schulkleid, wie ich war, und ging hinüber zu Dir. Nein, ich ging nicht:
es stieß mich mit steifen Beinen, mit zitternden Gelenken magnetisch
fort zu Deiner Tür. Ich sagte Dir schon, ich wußte nicht deutlich, was
ich wollte: Dir zu Füßen fallen und Dich bitten, mich zu behalten als
Magd, als Sklavin, und ich fürchte, Du wirst lächeln über diesen
unschuldigen Fanatismus einer Fünfzehnjährigen, aber, -- Geliebter, Du
würdest nicht mehr lächeln, wüßtest Du, wie ich damals draußen im
eiskalten Gange stand, starr vor Angst und doch vorwärts gestoßen von
einer unfaßbaren Macht, und wie ich den Arm, den zitternden, mir
gewissermaßen vom Leib losriß, daß er sich hob und -- es war ein Kampf
durch die Ewigkeit entsetzlicher Sekunden -- den Finger auf den Knopf
der Türklinke drückte. Noch heute gellts mir im Ohr, dies schrille
Klingelzeichen, und dann die Stille danach, wo mir das Herz stillstand,
wo mein ganzes Blut anhielt und nur lauschte, ob Du kämest.

Aber Du kamst nicht. Niemand kam. Du warst offenbar fort an jenem
Nachmittage und Johann auf Besorgung; so tappte ich, den toten Ton der
Klingel im dröhnenden Ohr, in unsere zerstörte, ausgeräumte Wohnung
zurück und warf mich erschöpft auf einen Plaid, müde von den vier
Schritten, als ob ich stundenlang durch tiefen Schnee gegangen sei. Aber
unter dieser Erschöpfung glühte noch unverlöscht die Entschlossenheit,
Dich zu sehen, Dich zu sprechen, ehe sie mich wegrissen. Es war, ich
schwöre es Dir, kein sinnlicher Gedanke dabei, ich war noch unwissend,
eben weil ich an nichts dachte als an Dich: nur sehen wollte ich Dich,
einmal noch sehen, mich anklammern an Dich. Die ganze Nacht, die ganze
lange, entsetzliche Nacht, habe ich dann, Geliebter, auf Dich gewartet.
Kaum daß die Mutter sich in ihr Bett gelegt hatte und eingeschlafen war,
schlich ich in das Vorzimmer hinaus, um zu horchen, wann Du nach Hause
kämest. Die ganze Nacht habe ich gewartet, und es war eine eisige
Januarnacht. Ich war müde, meine Glieder schmerzten mich, und es war
kein Sessel mehr, mich hinzusetzen: so legte ich mich flach auf den
kalten Boden, über den der Zug von der Tür hinstrich. Nur in meinem
dünnen Kleide lag ich auf dem schmerzenden kalten Boden, denn ich nahm
keine Decke; ich wollte es nicht warm haben, aus Furcht, einzuschlafen
und Deinen Schritt zu überhören. Es tat weh, meine Füße preßte ich im
Krampfe zusammen, meine Arme zitterten: ich mußte immer wieder
aufstehen, so kalt war es im entsetzlichen Dunkel. Aber ich wartete,
wartete, wartete auf Dich wie auf mein Schicksal.

Endlich -- es muß schon zwei oder drei Uhr morgens gewesen sein -- hörte
ich unten das Haustor aufsperren und dann Schritte die Treppe hinauf.
Wie abgesprungen war die Kälte von mir, heiß überflogs mich, leise
machte ich die Tür auf, um Dir entgegenzustürzen, Dir zu Füßen zu fallen
... Ach, ich weiß ja nicht, was ich törichtes Kind damals getan hätte.
Die Schritte kamen näher, Kerzenlicht flackte herauf. Zitternd hielt ich
die Klinke. Warst Du es, der da kam?

Ja, Du warst es, Geliebter -- aber Du warst nicht allein. Ich hörte ein
leises, kitzliches Lachen, irgendein streifendes seidenes Kleid und
leise Deine Stimme -- Du kamst mit einer Frau nach Hause ...

Wie ich diese Nacht überleben konnte, weiß ich nicht. Am nächsten
Morgen, um acht Uhr, schleppten sie mich nach Innsbruck; ich hatte keine
Kraft mehr, mich zu wehren.

                   *       *       *       *       *

Mein Kind ist gestern nacht gestorben -- nun werde ich wieder allein
sein, wenn ich wirklich weiterleben muß. Morgen werden sie kommen,
fremde, schwarze, ungeschlachte Männer, und einen Sarg bringen, werden
es hineinlegen, mein armes, mein einziges Kind. Vielleicht kommen auch
Freunde und bringen Kränze, aber was sind Blumen auf einem Sarg? Sie
werden mich trösten und mir irgendwelche Worte sagen, Worte, Worte; aber
was können sie mir helfen? Ich weiß, ich muß dann doch wieder allein
sein. Und es gibt nichts Entsetzlicheres, als Alleinsein unter den
Menschen. Damals habe ich es erfahren, damals in jenen unendlichen zwei
Jahren in Innsbruck, jenen Jahren von meinem sechzehnten bis zu meinem
achtzehnten, wo ich wie eine Gefangene, eine Verstoßene zwischen meiner
Familie lebte. Der Stiefvater, ein sehr ruhiger, wortkarger Mann, war
gut zu mir, meine Mutter schien, wie um ein unbewußtes Unrecht zu
sühnen, allen meinen Wünschen bereit, junge Menschen bemühten sich um
mich, aber ich stieß sie alle in einem leidenschaftlichen Trotz zurück.
Ich wollte nicht glücklich, nicht zufrieden leben abseits von Dir, ich
grub mich selbst in eine finstere Welt von Selbstqual und Einsamkeit.
Die neuen, bunten Kleider, die sie mir kauften, zog ich nicht an, ich
weigerte mich, in Konzerte, in Theater zu gehen oder Ausflüge in
heiterer Gesellschaft mitzumachen. Kaum daß ich je die Gasse betrat:
würdest Du es glauben, Geliebter, daß ich von dieser kleinen Stadt, in
der ich zwei Jahre gelebt, keine zehn Straßen kenne? Ich trauerte und
ich wollte trauern, ich berauschte mich an jeder Entbehrung, die ich mir
zu der Deines Anblicks noch auferlegte. Und dann: ich wollte mich nicht
ablenken lassen von meiner Leidenschaft, nur in Dir zu leben. Ich saß
allein zu Hause, stundenlang, tagelang, und tat nichts, als an Dich zu
denken, immer wieder, immer wieder die hundert kleinen Erinnerungen an
Dich, jede Begegnung, jedes Warten, mir zu erneuern, mir diese kleinen
Episoden vorzuspielen wie im Theater. Und darum, weil ich jede der
Sekunden von einst mir unzähligemale wiederholte, ist auch meine ganze
Kindheit mir in so brennender Erinnerung geblieben, daß ich jede Minute
jener vergangenen Jahre so heiß und springend fühle, als wäre sie
gestern durch mein Blut gefahren.

Nur in Dir habe ich damals gelebt. Ich kaufte mir alle Deine Bücher;
wenn Dein Name in der Zeitung stand, war es ein festlicher Tag. Willst
Du es glauben, daß ich jede Zeile aus Deinen Büchern auswendig kann, so
oft habe ich sie gelesen? Würde mich einer nachts aus dem Schlaf
aufwecken und eine losgerissene Zeile aus ihnen mir vorsprechen, ich
könnte sie heute noch, heute noch nach dreizehn Jahren, weitersprechen
wie im Traum: so war jedes Wort von Dir mir Evangelium und Gebet. Die
ganze Welt, sie existierte nur in Beziehung auf Dich: ich las in den
Wiener Zeitungen die Konzerte, die Premieren nach nur mit dem Gedanken,
welche Dich davon interessieren möchte, und wenn es Abend wurde,
begleitete ich Dich von ferne: jetzt tritt er in den Saal, jetzt setzt
er sich nieder. Tausendmal träumte ich das, weil ich Dich ein einziges
Mal in einem Konzert gesehen.

Aber wozu all dies erzählen, diesen rasenden, gegen sich selbst
wütenden, diesen so tragischen hoffnungslosen Fanatismus eines
verlassenen Kindes, wozu es einem erzählen, der es nie geahnt, der es
nie gewußt? Doch war ich damals wirklich noch ein Kind? Ich wurde
siebzehn, wurde achtzehn Jahre -- die jungen Leute begannen sich auf der
Straße nach mir umzublicken, doch sie erbitterten mich nur. Denn Liebe
oder auch nur ein Spiel mit Liebe im Gedanken an jemanden andern als an
Dich, das war mir so unerfindlich, so unausdenklich fremd, ja die
Versuchung schon wäre mir als ein Verbrechen erschienen. Meine
Leidenschaft zu Dir blieb dieselbe, nur daß sie anders ward mit meinem
Körper, mit meinen wacheren Sinnen, glühender, körperlicher,
frauenhafter. Und was das Kind in seinem dumpfen unbelehrten Willen, das
Kind, das damals die Klingel Deiner Türe zog, nicht ahnen konnte, das
war jetzt mein einziger Gedanke: mich Dir zu schenken, mich Dir
hinzugeben.

Die Menschen um mich vermeinten mich scheu, nannten mich schüchtern (ich
hatte mein Geheimnis verbissen hinter den Zähnen). Aber in mir wuchs ein
eiserner Wille. Mein ganzes Denken und Trachten war in eine Richtung
gespannt: zurück nach Wien, zurück zu Dir. Und ich erzwang meinen
Willen, so unsinnig, so unbegreiflich er den andern scheinen mochte.
Mein Stiefvater war vermögend, er betrachtete mich als sein eigenes
Kind. Aber ich drang in erbittertem Starrsinn darauf, ich wolle mir mein
Geld selbst verdienen und erreichte es endlich, daß ich in Wien zu einem
Verwandten als Angestellte eines großen Konfektionsgeschäftes kam.

Muß ich Dir sagen, wohin mein erster Weg ging, als ich an einem nebligen
Herbstabend -- endlich! endlich! -- in Wien ankam? Ich ließ die Koffer
an der Bahn, stürzte mich in eine Straßenbahn -- wie langsam schien sie
mir zu fahren, jede Haltestelle erbitterte mich -- und lief vor das
Haus. Deine Fenster waren erleuchtet, mein ganzes Herz klang. Nun erst
lebte die Stadt, die mich so fremd, so sinnlos umbraust hatte, nun erst
lebte ich wieder, da ich Dich nahe ahnte, Dich, meinen ewigen Traum. Ich
ahnte ja nicht, daß ich in Wirklichkeit Deinem Bewußtsein ebenso ferne
war hinter Tälern, Bergen und Flüssen als nun, da nur die dünne
leuchtende Glasscheibe Deines Fensters zwischen Dir war und meinem
aufstrahlenden Blick. Ich sah nur empor und empor: da war Licht, da war
das Haus, da warst Du, da war meine Welt. Zwei Jahre hatte ich von
dieser Stunde geträumt, nun war sie mir geschenkt. Ich stand den langen,
weichen, verhangenen Abend vor Deinen Fenstern, bis das Licht erlosch.
Dann suchte ich erst mein Heim.

Jeden Abend stand ich dann so vor Deinem Haus. Bis sechs Uhr hatte ich
Dienst im Geschäft, harten, anstrengenden Dienst, aber er war mir lieb,
denn diese Unruhe ließ mich die eigene nicht so schmerzhaft fühlen. Und
geradeswegs, sobald die eisernen Rollbalken hinter mir niederdröhnten,
lief ich zu dem geliebten Ziel. Nur Dich einmal sehen, nur einmal Dir
begegnen, das war mein einziger Wille, nur wieder einmal mit dem Blick
Dein Gesicht umfassen dürfen von ferne. Etwa nach einer Woche geschahs
dann endlich, daß ich Dir begegnete, und zwar gerade in einem
Augenblick, wo ichs nicht vermutete: während ich eben hinauf zu Deinen
Fenstern spähte, kamst Du quer über die Straße. Und plötzlich war ich
wieder das Kind, das dreizehnjährige, ich fühlte, wie das Blut mir in
die Wangen schoß; unwillkürlich, wider meinen innersten Drang, der sich
sehnte, Deine Augen zu fühlen, senkte ich den Kopf und lief blitzschnell
wie gehetzt an Dir vorbei. Nachher schämte ich mich dieser
schulmädelhaften scheuen Flucht, denn jetzt war mein Wille mir doch
klar: ich wollte Dir ja begegnen, ich suchte Dich, ich wollte von Dir
erkannt sein nach all den sehnsüchtig verdämmerten Jahren, wollte von
Dir beachtet, wollte von Dir geliebt sein.

Aber Du bemerktest mich lange nicht, obzwar ich jeden Abend, auch bei
Schneegestöber und in dem scharfen, schneidenden Wiener Wind in Deiner
Gasse stand. Oft wartete ich stundenlang vergebens, oft gingst Du dann
endlich vom Hause in Begleitung von Bekannten fort, zweimal sah ich Dich
auch mit Frauen, und nun empfand ich mein Erwachsensein, empfand das
Neue, Andere meines Gefühls zu Dir an dem plötzlichen Herzzucken, das
mir quer die Seele zerriß, als ich eine fremde Frau so sicher Arm in Arm
mit Dir hingehen sah. Ich war nicht überrascht, ich kannte ja diese
Deine ewigen Besucherinnen aus meinen Kindertagen schon, aber jetzt tat
es mit einmal irgendwie körperlich weh, etwas spannte sich in mir,
gleichzeitig feindlich und mitverlangend gegen diese offensichtliche,
diese fleischliche Vertrautheit mit einer anderen. Einen Tag blieb ich,
kindlich stolz wie ich war und vielleicht jetzt noch geblieben bin, von
Deinem Hause weg: aber wie entsetzlich war dieser leere Abend des
Trotzes und der Auflehnung. Am nächsten Abend stand ich schon wieder
demütig vor Deinem Hause wartend, wartend, wie ich mein ganzes Schicksal
lang vor Deinem verschlossenen Leben gestanden bin.

Und endlich, an einem Abend bemerktest Du mich. Ich hatte Dich schon von
ferne kommen sehen und straffte meinen Willen zusammen, Dir nicht
auszuweichen. Der Zufall wollte, daß durch einen abzuladenden Wagen die
Straße verengert war und Du ganz an mir vorbei mußtest. Unwillkürlich
streifte mich Dein zerstreuter Blick, um sofort, kaum daß er der
Aufmerksamkeit des meinen begegnete -- wie erschrak die Erinnerung in
mir! -- jener Dein Frauenblick, jener zärtliche, hüllende und
gleichzeitig enthüllende, jener umfangende und schon fassende Blick zu
werden, der mich, das Kind, zum erstenmal zur Frau, zur Liebenden
erweckt. Ein, zwei Sekunden lang hielt dieser Blick so den meinen, der
sich nicht wegreißen konnte und wollte, -- dann warst Du an mir vorbei.
Mir schlug das Herz: unwillkürlich mußte ich meinen Schritt
verlangsamen, und wie ich aus einer nicht zu bezwingenden Neugier mich
umwandte, sah ich, daß Du stehengeblieben warst und mir nachsahst. Und
an der Art, wie Du neugierig interessiert mich beobachtetest, wußte ich
sofort: Du erkanntest mich nicht.

Du erkanntest mich nicht, damals nicht, nie, nie hast Du mich erkannt.
Wie soll ich Dir, Geliebter, die Enttäuschung jener Sekunde schildern --
damals war es ja das erstemal, daß ichs erlitt, dies Schicksal, von Dir
nicht erkannt zu sein, das ich ein Leben durchlebt habe, und mit dem ich
sterbe; unerkannt, immer noch unerkannt von Dir. Wie soll ich sie Dir
schildern, diese Enttäuschung! Denn sieh, in diesen zwei Jahren in
Innsbruck, wo ich jede Stunde an Dich dachte und nichts tat, als mir
unsere erste Wiederbegegnung in Wien auszudenken, da hatte ich die
wildesten Möglichkeiten neben den seligsten, je nach dem Zustand meiner
Laune, ausgeträumt. Alles war, wenn ich so sagen darf, durchgeträumt;
ich hatte mir in finstern Momenten vorgestellt, Du würdest mich
zurückstoßen, würdest mich verachten, weil ich zu gering, zu häßlich, zu
aufdringlich sei. Alle Formen Deiner Mißgunst, Deiner Kälte,
Deiner Gleichgültigkeit, sie alle hatte ich durchgewandelt in
leidenschaftlichen Visionen -- aber dies, dies eine hatte ich in keiner
finstern Regung des Gemüts, nicht im äußersten Bewußtsein meiner
Minderwertigkeit in Betracht zu ziehen gewagt, dies Entsetzlichste: daß
Du überhaupt von meiner Existenz nichts bemerkt hattest. Heute verstehe
ich es ja -- ach, Du hast michs verstehen gelehrt! -- daß das Gesicht
eines Mädchens, einer Frau etwas ungemein Wandelhaftes sein muß für
einen Mann, weil es meist nur Spiegel ist, bald einer Leidenschaft, bald
einer Kindlichkeit, bald eines Müdeseins, und so leicht verfließt wie
ein Bildnis im Spiegel, daß also ein Mann leichter das Antlitz einer
Frau verlieren kann, weil das Alter darin durchwandelt mit Schatten und
Licht, weil die Kleidung es von einemmal zum andern anders rahmt. Die
Resignierten, sie sind ja erst die wahren Wissenden. Aber ich, das
Mädchen von damals, ich konnte Deine Vergeßlichkeit noch nicht fassen,
denn irgendwie war aus meiner maßlosen, unaufhörlichen Beschäftigung mit
Dir der Wahn in mich gefahren, auch Du müßtest meiner oft gedenken und
auf mich warten; wie hätte ich auch nur atmen können mit der Gewißheit,
ich sei Dir nichts, nie rühre ein Erinnern an mich Dich leise an! Und
dies Erwachen vor Deinem Blick, der mir zeigte, daß nichts in Dir mich
mehr kannte, kein Spinnfaden Erinnerung von Deinem Leben hinreiche zu
meinem, das war ein erster Sturz hinab in die Wirklichkeit, eine erste
Ahnung meines Schicksals.

Du erkanntest mich nicht damals. Und als zwei Tage später Dein Blick mit
einer gewissen Vertrautheit bei erneuter Begegnung mich umfing, da
erkanntest Du mich wiederum nicht als die, die Dich geliebt und die Du
erweckt, sondern bloß als das hübsche achtzehnjährige Mädchen, das Dir
vor zwei Tagen an der gleichen Stelle entgegengetreten. Du sahst mich
freundlich überrascht an, ein leichtes Lächeln umspielte Deinen Mund.
Wieder gingst Du an mir vorbei und wieder den Schritt sofort
verlangsamend: ich zitterte, ich jauchzte, ich betete, Du würdest mich
ansprechen. Ich fühlte, daß ich zum erstenmal für Dich lebendig war:
auch ich verlangsamte den Schritt, ich wich Dir nicht aus. Und plötzlich
spürte ich Dich hinter mir, ohne mich umzuwenden, ich wußte, nun würde
ich zum erstenmal Deine geliebte Stimme an mich gerichtet hören. Wie
eine Lähmung war die Erwartung in mir, schon fürchtete ich stehenbleiben
zu müssen, so hämmerte mir das Herz -- da tratest Du an meine Seite. Du
sprachst mich an mit Deiner leichten heitern Art, als wären wir lange
befreundet -- ach, Du ahntest mich ja nicht, nie hast Du etwas von
meinem Leben geahnt! -- so zauberhaft unbefangen sprachst Du mich an,
daß ich Dir sogar zu antworten vermochte. Wir gingen zusammen die ganze
Gasse entlang. Dann fragtest Du mich, ob wir gemeinsam speisen wollten.
Ich sagte ja. Was hätte ich Dir gewagt zu verneinen?

Wir speisten zusammen in einem kleinen Restaurant -- weißt Du noch, wo
es war? Ach nein, Du unterscheidest es gewiß nicht mehr von andern
solchen Abenden, denn wer war ich Dir? Eine unter Hunderten, ein
Abenteuer in einer ewig fortgeknüpften Kette. Was sollte Dich auch an
mich erinnern: ich sprach ja wenig, weil es mir so unendlich beglückend
war, Dich nahe zu haben, Dich zu mir sprechen zu hören. Keinen
Augenblick davon wollte ich durch eine Frage, durch ein törichtes Wort
vergeuden. Nie werde ich Dir von dieser Stunde dankbar vergessen, wie
voll Du meine leidenschaftliche Ehrfurcht erfülltest, wie zart, wie
leicht, wie taktvoll Du warst, ganz ohne Zudringlichkeit, ganz ohne jene
eiligen karessanten Zärtlichkeiten, und vom ersten Augenblick von einer
so sicheren freundschaftlichen Vertrautheit, daß Du mich auch gewonnen
hättest, wäre ich nicht schon längst mit meinem ganzen Willen und Wesen
Dein gewesen. Ach, Du weißt ja nicht, ein wie Ungeheures Du erfülltest,
indem Du mir fünf Jahre kindischer Erwartung nicht enttäuschtest!

Es wurde spät, wir brachen auf. An der Tür des Restaurants fragtest Du
mich, ob ich eilig wäre oder noch Zeit hätte. Wie hätte ichs
verschweigen können, daß ich Dir bereit sei! Ich sagte, ich hätte noch
Zeit. Dann fragtest Du, ein leises Zögern rasch überspringend, ob ich
nicht noch ein wenig zu Dir kommen wollte, um zu plaudern. »Gerne,«
sagte ich ganz aus der Selbstverständlichkeit meines Fühlens heraus und
merkte sofort, daß Du von der Raschheit meiner Zusage irgendwie peinlich
oder freudig berührt warst, jedenfalls aber sichtlich überrascht. Heute
verstehe ich ja dies Dein Erstaunen; ich weiß, es ist bei Frauen üblich,
auch wenn das Verlangen nach Hingabe in einer brennend ist, diese
Bereitschaft zu verleugnen, ein Erschrecken vorzutäuschen oder eine
Entrüstung, die durch eindringliche Bitte, durch Lügen, Schwüre und
Versprechen erst beschwichtigt sein will. Ich weiß, daß vielleicht nur
die Professionellen der Liebe, die Dirnen, eine solche Einladung mit
einer so vollen freudigen Zustimmung beantworten, oder ganz naive, ganz
halbwüchsige Kinder. In mir aber war es -- und wie konntest Du das ahnen
-- nur der wortgewordene Wille, die geballt vorbrechende Sehnsucht von
tausend einzelnen Tagen. Jedenfalls aber: Du warst frappiert, ich begann
Dich zu interessieren. Ich spürte, daß Du, während wir gingen, von der
Seite her während des Gespräches mich irgendwie erstaunt mustertest.
Dein Gefühl, Dein in allem Menschlichen so magisch sicheres Gefühl
witterte hier sogleich ein Ungewöhnliches, ein Geheimnis in diesem
hübschen zutunlichen Mädchen. Der Neugierige in Dir war wach, und ich
merkte aus der umkreisenden, spürenden Art der Fragen, wie Du nach dem
Geheimnis tasten wolltest. Aber ich wich Dir aus: ich wollte lieber
töricht erscheinen als Dir mein Geheimnis verraten.

Wir gingen zu Dir hinauf. Verzeih, Geliebter, wenn ich Dir sage, daß Du
es nicht verstehen kannst, was dieser Gang, diese Treppe für mich waren,
welcher Taumel, welche Verwirrung, welch ein rasendes, quälendes, fast
tödliches Glück. Jetzt noch kann ich kaum ohne Tränen daran denken, und
ich habe keine mehr. Aber fühl es nur aus, daß jeder Gegenstand dort
gleichsam durchdrungen war von meiner Leidenschaft, jeder ein Symbol
meiner Kindheit, meiner Sehnsucht: das Tor, vor dem ich tausende Male
auf Dich gewartet, die Treppe, von der ich immer Deinen Schritt erhorcht
und wo ich Dich zum erstenmal gesehen, das Guckloch, aus dem ich mir die
Seele gespäht, der Türvorleger vor Deiner Tür, auf dem ich einmal
gekniet, das Knacken des Schlüssels, bei dem ich immer aufgesprungen von
meiner Lauer. Die ganze Kindheit, meine ganze Leidenschaft, da nistete
sie ja in diesen paar Metern Raum, hier war mein ganzes Leben, und jetzt
fiel es nieder auf mich wie ein Sturm, da alles, alles sich erfüllte und
ich mit Dir ging, ich mit Dir, in Deinem, in unserem Hause. Bedenke --
es klingt ja banal, aber ich weiß es nicht anders zu sagen --, daß bis
zu Deiner Tür alles Wirklichkeit, dumpfe tägliche Welt ein Leben lang
gewesen war, und dort das Zauberreich des Kindes begann, Aladins Reich,
bedenke, daß ich tausendmal mit brennenden Augen auf diese Tür gestarrt,
die ich jetzt taumelnd durchschritt, und Du wirst ahnen -- aber nur
ahnen, niemals ganz wissen, mein Geliebter! -- was diese stürzende
Minute von meinem Leben wegtrug.

Ich blieb damals die ganze Nacht bei Dir. Du hast es nicht geahnt, daß
vordem noch nie ein Mann mich berührt, noch keiner meinen Körper gefühlt
oder gesehen. Aber wie konntest Du es auch ahnen, Geliebter, denn ich
bot Dir ja keinen Widerstand, ich unterdrückte jedes Zögern der Scham,
nur damit Du nicht das Geheimnis meiner Liebe zu Dir erraten könntest,
das Dich gewiß erschreckt hätte --, denn Du liebst ja nur das Leichte,
das Spielende, das Gewichtlose, Du hast Angst, in ein Schicksal
einzugreifen. Verschwenden willst Du Dich, Du, an alle, an die Welt, und
willst kein Opfer. Wenn ich Dir jetzt sage, Geliebter, daß ich mich
jungfräulich Dir gab, so flehe ich Dich an: mißversteh mich nicht! Ich
klage Dich ja nicht an, Du hast mich nicht gelockt, nicht belogen, nicht
verführt -- ich, ich selbst drängte zu Dir, warf mich an Deine Brust,
warf mich in mein Schicksal. Nie, nie werde ich Dich anklagen, nein, nur
immer Dir danken, denn wie reich, wie funkelnd von Lust, wie schwebend
von Seligkeit war für mich diese Nacht. Wenn ich die Augen auftat im
Dunkeln und Dich fühlte an meiner Seite, wunderte ich mich, daß nicht
die Sterne über mir waren, so sehr fühlte ich Himmel -- nein, ich habe
niemals bereut, mein Geliebter, niemals um dieser Stunde willen. Ich
weiß noch: als Du schliefst, als ich Deinen Atem hörte, Deinen Körper
fühlte und mich selbst Dir so nah, da habe ich im Dunkeln geweint vor
Glück.

Am Morgen drängte ich frühzeitig schon fort. Ich mußte in das Geschäft
und wollte auch gehen, ehe der Diener käme: er sollte mich nicht sehen.
Als ich angezogen vor Dir stand, nahmst Du mich in den Arm, sahst mich
lange an; war es ein Erinnern, dunkel und fern, das in Dir wogte, oder
schien ich Dir nur schön, beglückt, wie ich war? Dann küßtest Du mich
auf den Mund. Ich machte mich leise los und wollte gehen. Da fragtest
Du: »Willst Du nicht ein paar Blumen mitnehmen?« Ich sagte ja. Du nahmst
vier weiße Rosen aus der blauen Kristallvase am Schreibtisch (ach, ich
kannte sie von jenem einzigen diebischen Kindheitsblick) und gabst sie
mir. Tagelang habe ich sie noch geküßt.

Wir hatten zuvor einen andern Abend verabredet. Ich kam, und wieder war
es wunderbar. Noch eine dritte Nacht hast Du mir geschenkt. Dann sagtest
Du, Du müßtest verreisen, -- oh, wie haßte ich diese Reisen von meiner
Kindheit her! -- und versprachst mir, mich sofort nach Deiner Rückkehr
zu verständigen. Ich gab Dir eine _Poste restante_-Adresse -- meinen
Namen wollte ich Dir nicht sagen. Ich hütete mein Geheimnis. Wieder
gabst Du mir ein paar Rosen zum Abschied -- zum Abschied.

Jeden Tag während zweier Monate fragte ich ... aber nein, wozu diese
Höllenqual der Erwartung, der Verzweiflung Dir schildern. Ich klage Dich
nicht an, ich liebe Dich als den, der Du bist, heiß und vergeßlich,
hingebend und untreu, ich liebe Dich so, nur so, wie Du immer gewesen
und wie Du jetzt noch bist. Du warst längst zurück, ich sah es an Deinen
erleuchteten Fenstern, und hast mir nicht geschrieben. Keine Zeile habe
ich von Dir in meinen letzten Stunden, keine Zeile von Dir, dem ich mein
Leben gegeben. Ich habe gewartet, ich habe gewartet wie eine
Verzweifelte. Aber Du hast mich nicht gerufen, keine Zeile hast Du mir
geschrieben ... keine Zeile ...

                   *       *       *       *       *

Mein Kind ist gestern gestorben -- es war auch Dein Kind. Es war auch
Dein Kind, Geliebter, das Kind einer jener drei Nächte, ich schwöre es
Dir, und man lügt nicht im Schatten des Todes. Es war unser Kind, ich
schwöre es Dir, denn kein Mann hat mich berührt von jenen Stunden, da
ich mich Dir hingegeben, bis zu jenen andern, da es aus meinem Leib
gerungen wurde. Ich war mir heilig durch Deine Berührung: wie hätte ich
es vermocht, mich zu teilen an Dich, der mir alles gewesen, und an
andere, die an meinem Leben nur leise anstreiften? Es war unser Kind,
Geliebter, das Kind meiner wissenden Liebe und Deiner sorglosen,
verschwenderischen, fast unbewußten Zärtlichkeit, unser Kind, unser
Sohn, unser einziges Kind. Aber Du fragst nun -- vielleicht erschreckt,
vielleicht bloß erstaunt --, Du fragst nun, mein Geliebter, warum ich
dies Kind Dir alle diese langen Jahre verschwiegen und erst heute von
ihm spreche, da es hier im Dunkel schlafend, für immer schlafend, liegt,
schon bereit fortzugehen und nie mehr wiederzukehren, nie mehr! Doch wie
hätte ich es Dir sagen können? Nie hättest Du mir, der Fremden, der
allzu Bereitwilligen dreier Nächte, die sich ohne Widerstand, ja
begehrend, Dir aufgetan, nie hättest Du ihr, der Namenlosen einer
flüchtigen Begegnung, geglaubt, daß sie Dir die Treue hielt, Dir, dem
Untreuen, -- nie ohne Mißtrauen dies Kind als das Deine erkannt! Nie
hättest Du, selbst wenn mein Wort Dir Wahrscheinlichkeit geboten, den
heimlichen Verdacht abtun können, ich versuchte, Dir, dem Begüterten,
das Kind fremder Stunde unterzuschieben. Du hättest mich beargwohnt, ein
Schatten wäre geblieben, ein fliegender, scheuer Schatten von Mißtrauen
zwischen Dir und mir. Das wollte ich nicht. Und dann, ich kenne Dich;
ich kenne Dich so gut, wie Du kaum selber Dich kennst, ich weiß, es wäre
Dir, der Du das Sorglose, das Leichte, das Spielende liebst in der
Liebe, peinlich gewesen, plötzlich Vater, plötzlich verantwortlich zu
sein für ein Schicksal. Du hättest Dich, Du, der Du nur in Freiheit
atmen kannst, Dich irgendwie verbunden gefühlt mit mir. Du hättest mich
-- ja, ich weiß es, daß Du es getan hättest, wider Deinen eigenen wachen
Willen --, Du hättest mich gehaßt für dieses Verbundensein. Vielleicht
nur stundenlang, vielleicht nur flüchtige Minuten lang wäre ich Dir
lästig gewesen, wäre ich Dir verhaßt worden -- ich aber wollte in meinem
Stolze, Du solltest an mich ein Leben lang ohne Sorge denken. Lieber
wollte ich alles auf mich nehmen, als Dir eine Last werden, und einzig
die sein unter allen Deinen Frauen, an die Du immer mit Liebe, mit
Dankbarkeit denkst. Aber freilich, Du hast nie an mich gedacht, Du hast
mich vergessen.

Ich klage Dich nicht an, mein Geliebter, nein, ich klage Dich nicht an.
Verzeih mirs, wenn mir manchmal ein Tropfen Bitternis in die Feder
fließt, verzeih mirs -- mein Kind, unser Kind liegt ja da tot unter den
flackernden Kerzen; ich habe zu Gott die Fäuste geballt und ihn Mörder
genannt, meine Sinne sind trüb und verwirrt. Verzeih mir die Klage,
verzeihe sie mir! Ich weiß ja, daß Du gut bist und hilfreich im tiefsten
Herzen, Du hilfst jedem, hilfst auch dem Fremdesten, der Dich bittet.
Aber Deine Güte ist so sonderbar, sie ist eine, die offen liegt für
jeden, daß er nehmen kann soviel seine Hände fassen, sie ist groß,
unendlich groß Deine Güte, aber sie ist -- verzeih mir -- sie ist träge.
Sie will gemahnt, will genommen sein. Du hilfst, wenn man Dich ruft,
Dich bittet, hilfst aus Scham, aus Schwäche und nicht aus Freudigkeit.
Du hast -- laß es Dir offen sagen -- den Menschen in Notdurft und Qual
nicht lieber, als den Bruder im Glück. Und Menschen, die so sind wie Du,
selbst die Gütigsten unter ihnen, sie bittet man schwer. Einmal, ich war
noch ein Kind, sah ich durch das Guckloch an der Tür, wie Du einem
Bettler, der bei Dir geklingelt hatte, etwas gabst. Du gabst ihm rasch
und sogar viel, noch ehe er Dich bat, aber Du reichtest es ihm mit einer
gewissen Angst und Hast hin, er möchte nur bald wieder fortgehen, es
war, als hättest Du Furcht, ihm ins Auge zu sehen. Diese Deine unruhige,
scheue, vor der Dankbarkeit flüchtende Art des Helfens habe ich nie
vergessen. Und deshalb habe ich mich nie an Dich gewandt. Gewiß, ich
weiß, Du hättest mir damals zur Seite gestanden auch ohne die Gewißheit,
es sei Dein Kind, Du hättest mich getröstet, mir Geld gegeben, reichlich
Geld, aber immer nur mit der geheimen Ungeduld, das Unbequeme von Dir
wegzuschieben; ja, ich glaube, Du hättest mich sogar beredet, das Kind
vorzeitig abzutun. Und dies fürchtete ich vor allem -- denn was hätte
ich nicht getan, so Du es begehrtest, wie hätte ich Dir etwas zu
verweigern vermocht! Aber dieses Kind war alles für mich, war es doch
von Dir, nochmals Du, aber nun nicht mehr Du, der Glückliche, der
Sorglose, den ich nicht zu halten vermochte, sondern Du für immer -- so
meinte ich -- mir gegeben, verhaftet in meinem Leibe, verbunden in
meinem Leben. Nun hatte ich Dich ja endlich gefangen, ich konnte Dich,
Dein Leben wachsen spüren in meinen Adern, Dich nähren, Dich tränken,
Dich liebkosen, Dich küssen, wenn mir die Seele danach brannte. Siehst
Du, Geliebter, darum war ich so selig, als ich wußte, daß ich ein Kind
von Dir hatte, darum verschwieg ich Dirs: denn nun konntest Du mir nicht
mehr entfliehen.

Freilich, Geliebter, es waren nicht nur so selige Monate, wie ich sie
voraus fühlte in meinen Gedanken, es waren auch Monate voll von Grauen
und Qual, voll Ekel vor der Niedrigkeit der Menschen. Ich hatte es nicht
leicht. In das Geschäft konnte ich während der letzten Monate nicht mehr
gehen, damit es den Verwandten nicht auffällig werde und sie nicht nach
Hause berichteten. Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten -- so
fristete ich mir mit dem Verkauf von dem bißchen Schmuck, den ich hatte,
die Zeit bis zur Niederkunft. Eine Woche vorher wurden mir aus einem
Schranke von einer Wäscherin die letzten paar Kronen gestohlen, so mußte
ich in die Gebärklinik. Dort, wo nur die ganz Armen, die Ausgestoßenen
und Vergessenen sich in ihrer Not hinschleppen, dort, mitten im Abhub
des Elends, dort ist das Kind, Dein Kind geboren worden. Es war zum
Sterben dort: fremd, fremd, fremd war alles, fremd wir einander, die wir
da lagen, einsam und voll Haß eine auf die andere, nur vom Elend, von
der gleichen Qual in diesen dumpfen, von Chloroform und Blut, von Schrei
und Stöhnen vollgepreßten Saal gestoßen. Was die Armut an Erniedrigung,
an seelischer und körperlicher Schande zu ertragen hat, ich habe es dort
gelitten an dem Beisammensein mit Dirnen und mit Kranken, die aus der
Gemeinsamkeit des Schicksals eine Gemeinheit machten, an der Zynik der
jungen Ärzte, die mit einem ironischen Lächeln der Wehrlosen das Bettuch
aufstreiften und sie mit falscher Wissenschaftlichkeit antasteten, an
der Habsucht der Wärterinnen -- oh, dort wird die Scham eines Menschen
gekreuzigt mit Blicken und gegeißelt mit Worten. Die Tafel mit Deinem
Namen, das allein bist dort noch Du, denn was im Bette liegt, ist bloß
ein zuckendes Stück Fleisch, betastet von Neugierigen, ein Objekt der
Schau und des Studierens -- ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die
ihrem Mann, dem zärtlich wartenden, in seinem Hause Kinder schenken, was
es heißt, allein, wehrlos, gleichsam am Versuchstisch, ein Kind zu
gebären! Und lese ich noch heute in einem Buche das Wort Hölle, so denke
ich plötzlich wider meinen bewußten Willen an jenen vollgepfropften,
dünstenden, von Seufzer, Gelächter und blutigem Schrei erfüllten Saal,
in dem ich gelitten habe, an dieses Schlachthaus der Scham.

Verzeih, verzeih mirs, daß ich davon spreche. Aber nur dieses eine Mal
rede ich davon, nie mehr, nie mehr wieder. Elf Jahre habe ich
geschwiegen davon, und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmal
mußte ichs ausschreien, einmal ausschreien, wie teuer ich es erkaufte,
dies Kind, das meine Seligkeit war und das nun dort ohne Atem liegt. Ich
hatte sie schon vergessen, diese Stunden, längst vergessen im Lächeln,
in der Stimme des Kindes, in meiner Seligkeit; aber jetzt, da es tot
ist, wird die Qual wieder lebendig, und ich mußte sie mir von der Seele
schreien, dieses eine, dieses eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an,
nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos machte, diese Qual. Nicht Dich klage
ich an, ich schwöre es Dir, und nie habe ich mich im Zorn erhoben gegen
Dich. Selbst in der Stunde, da mein Leib sich krümmte in den Wehen, da
mein Körper vor Scham brannte unter den tastenden Blicken der Studenten,
selbst in der Sekunde, da der Schmerz mir die Seele zerriß, habe ich
Dich nicht angeklagt vor Gott; nie habe ich jene Nächte bereut, nie
meine Liebe zu Dir gescholten, immer habe ich Dich geliebt, immer die
Stunde gesegnet, da Du mir begegnet bist. Und müßte ich noch einmal
durch die Hölle jener Stunden und wüßte vordem, was mich erwartet, ich
täte es noch einmal, mein Geliebter, noch einmal und tausendmal!

                   *       *       *       *       *

Unser Kind ist gestern gestorben -- Du hast es nie gekannt. Niemals,
auch in der flüchtigen Begegnung des Zufalles hat dies blühende, kleine
Wesen, Dein Wesen, im Vorübergehen Deinen Blick gestreift. Ich hielt
mich lange verborgen vor Dir, sobald ich dies Kind hatte; meine
Sehnsucht nach Dir war weniger schmerzhaft geworden, ja ich glaube, ich
liebte Dich weniger leidenschaftlich, zumindest litt ich nicht so an
meiner Liebe, seit es mir geschenkt war. Ich wollte mich nicht zerteilen
zwischen Dir und ihm; so gab ich mich nicht an Dich, den Glücklichen,
der an mir vorbeilebte, sondern an dies Kind, das mich brauchte, das ich
nähren mußte, das ich küssen konnte und umfangen. Ich schien gerettet
vor meiner Unruhe nach Dir, meinem Verhängnis, gerettet durch dies Dein
anderes Du, das aber wahrhaft mein war -- selten nur mehr, ganz selten
drängte mein Gefühl sich demütig heran an Dein Haus. Nur eines tat ich:
zu Deinem Geburtstag sandte ich Dir immer ein Bündel weiße Rosen, genau
dieselben, wie Du sie mir damals geschenkt nach unserer ersten
Liebesnacht. Hast Du je in diesen zehn, in diesen elf Jahren Dich
gefragt, wer sie sandte? Hast Du Dich vielleicht an die erinnert, der Du
einst solche Rosen geschenkt? Ich weiß es nicht und werde Deine Antwort
nicht wissen. Nur aus dem Dunkel sie Dir hinzureichen, einmal im Jahre
die Erinnerung aufblühen zu lassen an jene Stunde -- das war mir genug.

Du hast es nie gekannt, unser armes Kind -- heute klage ich mich an, daß
ich es Dir verbarg, denn Du hättest es geliebt. Nie hast Du ihn gekannt,
den armen Knaben, nie ihn lächeln gesehen, wenn er leise die Lider
aufhob und dann mit seinen dunklen klugen Augen -- Deinen Augen! -- ein
helles, frohes Licht warf über mich, über die ganze Welt. Ach, er war so
heiter, so lieb: die ganze Leichtigkeit Deines Wesens war in ihm
kindlich wiederholt, Deine rasche, bewegte Phantasie in ihm erneuert:
stundenlang konnte er verliebt mit Dingen spielen, so wie Du mit dem
Leben spielst, und dann wieder ernst mit hochgezogenen Brauen vor seinen
Büchern sitzen. Er wurde immer mehr Du; schon begann sich auch in ihm
jene Zwiefältigkeit von Ernst und Spiel, die Dir eigen ist, sichtbar zu
entfalten, und je ähnlicher er Dir ward, desto mehr liebte ich ihn. Er
hat gut gelernt, er plauderte Französisch wie eine kleine Elster, seine
Hefte waren die saubersten der Klasse, und wie hübsch war er dabei, wie
elegant in seinem schwarzen Samtkleid oder dem weißen Matrosenjäckchen.
Immer war er der Eleganteste von allen, wohin er auch kam; in Grado am
Strande, wenn ich mit ihm ging, blieben die Frauen stehen und
streichelten sein langes blondes Haar, auf dem Semmering, wenn er im
Schlitten fuhr, wandten sich bewundernd die Leute nach ihm um. Er war so
hübsch, so zart, so zutunlich: als er im letzten Jahre ins Internat des
Theresianums kam, trug er seine Uniform und den kleinen Degen wie ein
Page aus dem achtzehnten Jahrhundert -- nun hat er nichts als sein
Hemdchen an, der Arme, der dort liegt mit blassen Lippen und
eingefalteten Händen.

Aber Du fragst mich vielleicht, wie ich das Kind so im Luxus erziehen
konnte, wie ich es vermochte, ihm dies helle, dies heitere Leben der
oberen Welt zu vergönnen. Liebster, ich spreche aus dem Dunkel zu Dir;
ich habe keine Scham, ich will es Dir sagen, aber erschrick nicht,
Geliebter -- ich habe mich verkauft. Ich wurde nicht gerade das, was man
ein Mädchen von der Straße nennt, eine Dirne, aber ich habe mich
verkauft. Ich hatte reiche Freunde, reiche Geliebte: zuerst suchte ich
sie, dann suchten sie mich, denn ich war -- hast Du es je bemerkt? --
sehr schön. Jeder, dem ich mich gab, gewann mich lieb, alle haben mir
gedankt, alle an mir gehangen, alle mich geliebt -- nur Du nicht, nur Du
nicht, mein Geliebter!

Verachtest Du mich nun, weil ich Dir es verriet, daß ich mich verkauft
habe? Nein, ich weiß, Du verachtest mich nicht, ich weiß, Du verstehst
alles und wirst auch verstehen, daß ich es nur für Dich getan, für Dein
anderes Ich, für Dein Kind. Ich hatte einmal in jener Stube der
Gebärklinik an das Entsetzliche der Armut gerührt, ich wußte, daß in
dieser Welt der Arme immer der Getretene, der Erniedrigte, das Opfer
ist, und ich wollte nicht, um keinen Preis, daß Dein Kind, Dein helles,
schönes Kind da tief unten aufwachsen sollte im Abhub, im Dumpfen, im
Gemeinen der Gasse, in der verpesteten Luft eines Hinterhausraumes. Sein
zarter Mund sollte nicht die Sprache des Rinnsteins kennen, sein weißer
Leib nicht die dumpfige, verkrümmte Wäsche der Armut -- Dein Kind sollte
alles haben, allen Reichtum, alle Leichtigkeit der Erde, es sollte
wieder aufsteigen zu Dir, in Deine Sphäre des Lebens.

Darum, nur darum, mein Geliebter, habe ich mich verkauft. Es war kein
Opfer für mich, denn was man gemeinhin Ehre und Schande nennt, das war
mir wesenlos: Du liebtest mich nicht, Du, der Einzige, dem mein Leib
gehörte, so fühlte ich es als gleichgültig, was sonst mit meinem Körper
geschah. Die Liebkosungen der Männer, selbst ihre innerste Leidenschaft,
sie rührten mich im Tiefsten nicht an, obzwar ich manche von ihnen sehr
achten mußte und mein Mitleid mit ihrer unerwiderten Liebe in Erinnerung
eigenen Schicksals mich oft erschütterte. Alle waren sie gut zu mir, die
ich kannte, alle haben sie mich verwöhnt, alle achteten sie mich. Da war
vor allem einer, ein älterer, verwitweter Reichsgraf, derselbe, der sich
die Füße wundstand an den Türen, um die Aufnahme des vaterlosen Kindes,
Deines Kindes, im Theresianum durchzudrücken -- der liebte mich wie eine
Tochter. Dreimal, viermal machte er mir den Antrag, mich zu heiraten --
ich könnte heute Gräfin sein, Herrin auf einem zauberischen Schloß in
Tirol, könnte sorglos sein, denn das Kind hätte einen zärtlichen Vater
gehabt, der es vergötterte, und ich einen stillen, vornehmen, gütigen
Mann an meiner Seite -- ich habe es nicht getan, so sehr, sooft er auch
drängte, so sehr ich ihm wehe tat mit meiner Weigerung. Vielleicht war
es eine Torheit, denn sonst lebte ich jetzt irgendwo still und geborgen,
und dies Kind, das geliebte, mit mir, aber -- warum soll ich Dir es
nicht gestehen -- ich wollte mich nicht binden, ich wollte Dir frei sein
in jeder Stunde. Innen im Tiefsten, im Unbewußten meines Wesens lebte
noch immer der alte Kindertraum, Du würdest vielleicht noch einmal mich
zu Dir rufen, sei es nur für eine Stunde lang. Und für diese eine
mögliche Stunde habe ich alles weggestoßen, nur um Dir frei zu sein für
Deinen ersten Ruf. Was war mein ganzes Leben seit dem Erwachen aus der
Kindheit denn anders, als ein Warten, ein Warten auf Deinen Willen!

Und diese Stunde, sie ist wirklich gekommen. Aber Du weißt sie nicht, Du
ahnst sie nicht, mein Geliebter! Auch in ihr hast Du mich nicht erkannt
-- nie, nie, nie hast Du mich erkannt! Ich war Dir ja schon früher oft
begegnet, in den Theatern, in den Konzerten, im Prater, auf der Straße
-- jedesmal zuckte mir das Herz, aber Du sahst an mir vorbei: ich war ja
äußerlich eine ganz andere, aus dem scheuen Kinde war eine Frau
geworden, schön wie sie sagten, in kostbare Kleider gehüllt, umringt von
Verehrern: wie konntest Du in mir jenes schüchterne Mädchen im
dämmerigen Licht Deines Schlafraumes vermuten! Manchmal grüßte Dich
einer der Herren, mit denen ich ging, Du danktest und sahst auf zu mir:
aber Dein Blick war höfliche Fremdheit, anerkennend, aber nie erkennend,
fremd, entsetzlich fremd. Einmal, ich erinnere mich noch, ward mir
dieses Nichterkennen, an das ich fast schon gewohnt war, zu brennender
Qual: ich saß in einer Loge der Oper mit einem Freunde und Du in der
Nachbarloge. Die Lichter erloschen bei der Ouvertüre, ich konnte Dein
Antlitz nicht mehr sehen, nur Deinen Atem fühlte ich so nah neben mir,
wie damals in jener Nacht, und auf der samtenen Brüstung der Abteilung
unserer Logen lag Deine Hand aufgestützt, Deine feine, zarte Hand. Und
unendlich überkam mich das Verlangen, mich niederzubeugen und diese
fremde, diese so geliebte Hand demütig zu küssen, deren zärtliche
Umfassung ich einst gefühlt. Um mich wogte aufwühlend die Musik, immer
leidenschaftlicher wurde das Verlangen, ich mußte mich ankrampfen, mich
gewaltsam aufreißen, so gewaltsam zog es meine Lippen hin zu Deiner
geliebten Hand. Nach dem ersten Akt bat ich meinen Freund, mit mir
fortzugehen. Ich ertrug es nicht mehr, Dich so fremd und so nah neben
mir zu haben im Dunkel.

Aber die Stunde kam, sie kam noch einmal, ein letztes Mal in mein
verschüttetes Leben. Fast genau vor einem Jahr ist es gewesen, am Tage
nach Deinem Geburtstage. Seltsam: ich hatte alle die Stunden an Dich
gedacht, denn Deinen Geburtstag, ihn feierte ich immer wie ein Fest.
Ganz frühmorgens schon war ich ausgegangen und hatte die weißen Rosen
gekauft, die ich Dir wie alljährlich senden ließ zur Erinnerung an eine
Stunde, die Du vergessen hattest. Nachmittags fuhr ich mit dem Buben
aus, führte ihn zu Demel in die Konditorei und abends ins Theater, ich
wollte, auch er sollte diesen Tag, ohne seine Bedeutung zu wissen,
irgendwie als einen mystischen Feiertag von Jugend her empfinden. Am
nächsten Tage war ich dann mit meinem damaligen Freunde, einem jungen,
reichen Brünner Fabrikanten, mit dem ich schon seit zwei Jahren
zusammenlebte, der mich vergötterte, verwöhnte und mich ebenso heiraten
wollte wie die andern und dem ich mich ebenso scheinbar grundlos
verweigerte wie den andern, obwohl er mich und das Kind mit Geschenken
überschüttete und selbst liebenswert war in seiner ein wenig dumpfen,
knechtischen Güte. Wir gingen zusammen in ein Konzert, trafen dort
heitere Gesellschaft, soupierten in einem Ringstraßenrestaurant, und
dort, mitten im Lachen und Schwätzen, machte ich den Vorschlag, noch in
ein Tanzlokal, in den Tabarin, zu gehen. Mir waren diese Art Lokale mit
ihrer systematischen und alkoholischen Heiterkeit wie jede »Drahrerei«
sonst immer widerlich, und ich wehrte mich sonst immer gegen derlei
Vorschläge, diesmal aber -- es war wie eine unergründliche magische
Macht in mir, die mich plötzlich unbewußt den Vorschlag mitten in die
freudig zustimmende Erregung der andern werfen ließ -- hatte ich
plötzlich ein unerklärliches Verlangen, als ob dort irgend etwas
Besonderes mich erwarte. Gewohnt, mir gefällig zu sein, standen alle
rasch auf, wir gingen hinüber, tranken Champagner, und in mich kam mit
einemmal eine ganz rasende, ja fast schmerzhafte Lustigkeit, wie ich sie
nie gekannt. Ich trank und trank, sang die kitschigen Lieder mit und
hatte fast den Zwang, zu tanzen oder zu jubeln. Aber plötzlich -- mir
war, als hätte etwas Kaltes oder etwas Glühendheißes sich mir jäh aufs
Herz gelegt -- riß es mich auf: am Nachbartisch saßest Du mit einigen
Freunden und sahst mich an mit einem bewundernden und begehrenden Blick,
mit jenem Blicke, der mir immer den ganzen Leib von innen aufwühlte. Zum
erstenmal seit zehn Jahren sahst Du mich wieder an mit der ganzen
unbewußt-leidenschaftlichen Macht Deines Wesens. Ich zitterte. Fast wäre
mir das erhobene Glas aus den Händen gefallen. Glücklicherweise merkten
die Tischgenossen nicht meine Verwirrung: sie verlor sich in dem Dröhnen
von Gelächter und Musik.

Immer brennender wurde Dein Blick und tauchte mich ganz in Feuer. Ich
wußte nicht: hattest Du mich endlich, endlich erkannt, oder begehrtest
Du mich neu, als eine andere, als eine Fremde? Das Blut flog mir in die
Wangen, zerstreut antwortete ich den Tischgenossen: Du mußtest es
merken, wie verwirrt ich war von Deinem Blick. Unmerklich für die
übrigen machtest Du mit einer Bewegung des Kopfes ein Zeichen, ich
möchte für einen Augenblick hinauskommen in den Vorraum. Dann zahltest
Du ostentativ, nahmst Abschied von Deinen Kameraden und gingst hinaus,
nicht ohne zuvor noch einmal angedeutet zu haben, daß Du draußen auf
mich warten würdest. Ich zitterte wie im Frost, wie im Fieber, ich
konnte nicht mehr Antwort geben, nicht mehr mein aufgejagtes Blut
beherrschen. Zufälligerweise begann gerade in diesem Augenblick ein
Negerpaar mit knatternden Absätzen und schrillen Schreien einen
absonderlichen neuen Tanz: alles starrte ihnen zu, und diese Sekunde
nützte ich. Ich stand auf, sagte meinem Freunde, daß ich gleich
zurückkäme, und ging Dir nach.

Draußen im Vorraum vor der Garderobe standest Du, mich erwartend: Dein
Blick ward hell, als ich kam. Lächelnd eiltest Du mir entgegen; ich sah
sofort, Du erkanntest mich nicht, erkanntest nicht das Kind von einst
und nicht das Mädchen, noch einmal griffest Du nach mir als einem Neuen,
einem Unbekannten. »Haben Sie auch für mich einmal eine Stunde,«
fragtest Du vertraulich -- ich fühlte an der Sicherheit Deiner Art, Du
nahmst mich für eine dieser Frauen, für die Käufliche eines Abends.
»Ja,« sagte ich, dasselbe zitternde und doch selbstverständliche
einwilligende Ja, das Dir das Mädchen vor mehr als einem Jahrzehnt auf
der dämmernden Straße gesagt. »Und wann könnten wir uns sehen?« fragtest
Du. »Wann immer Sie wollen,« antwortete ich -- vor Dir hatte ich keine
Scham. Du sahst mich ein wenig verwundert an, mit derselben
mißtrauisch-neugierigen Verwunderung wie damals, als Dich gleichfalls
die Raschheit meines Einverständnisses erstaunt hatte. »Könnten Sie
jetzt?« fragtest Du, ein wenig zögernd. »Ja,« sagte ich, »gehen wir.«

Ich wollte zur Garderobe, meinen Mantel holen.

Da fiel mir ein, daß mein Freund den Garderobenzettel hatte für unsere
gemeinsam abgegebenen Mäntel. Zurückzugehen und ihn verlangen, wäre ohne
umständliche Begründung nicht möglich gewesen, anderseits die Stunde mit
Dir preisgeben, die seit Jahren ersehnte, dies wollte ich nicht. So habe
ich keine Sekunde gezögert: ich nahm nur den Schal über das Abendkleid
und ging hinaus in die nebelfeuchte Nacht, ohne mich um den Mantel zu
kümmern, ohne mich um den guten, zärtlichen Menschen zu kümmern, von dem
ich seit Jahren lebte und den ich vor seinen Freunden zum lächerlichsten
Narren erniedrigte, zu einem, dem seine Geliebte nach Jahren wegläuft
auf den ersten Pfiff eines fremden Mannes. Oh, ich war mir ganz der
Niedrigkeit, der Undankbarkeit, der Schändlichkeit, die ich gegen einen
ehrlichen Freund beging, im Tiefsten bewußt, ich fühlte, daß ich
lächerlich handelte und mit meinem Wahn einen gütigen Menschen für immer
tödlich kränkte, fühlte, daß ich mein Leben mitten entzweiriß -- aber
was war mir Freundschaft, was meine Existenz gegen die Ungeduld, wieder
einmal Deine Lippen zu fühlen, Dein Wort weich gegen mich gesprochen zu
hören. So habe ich Dich geliebt, nun kann ich es Dir sagen, da alles
vorbei ist und vergangen. Und ich glaube, riefest Du mich von meinem
Sterbebette, so käme mir plötzlich die Kraft, aufzustehen und mit Dir zu
gehen.

Ein Wagen stand vor dem Eingang, wir fuhren zu Dir. Ich hörte wieder
Deine Stimme, ich fühlte Deine zärtliche Nähe und war genau so betäubt,
so kindisch-selig verwirrt wie damals. Wie stieg ich, nach mehr als zehn
Jahren, zum erstenmal wieder die Treppe empor -- nein, nein, ich kann
Dirs nicht schildern, wie ich alles immer doppelt fühlte in jenen
Sekunden, vergangene Zeit und Gegenwart, und in allem und allem immer
nur Dich. In Deinem Zimmer war weniges anders, ein paar Bilder mehr, und
mehr Bücher, da und dort fremde Möbel, aber alles doch grüßte mich
vertraut. Und am Schreibtisch stand die Vase mit den Rosen darin -- mit
meinen Rosen, die ich Dir tags vorher zu Deinem Geburtstag geschickt als
Erinnerung an eine, an die Du Dich doch nicht erinnertest, die Du doch
nicht erkanntest, selbst jetzt, da sie Dir nahe war, Hand in Hand und
Lippe an Lippe. Aber doch: es tat mir wohl, daß Du die Blumen hegtest:
so war doch ein Hauch meines Wesens, ein Atem meiner Liebe um Dich.

Du nahmst mich in Deine Arme. Wieder blieb ich bei Dir eine ganze
herrliche Nacht. Aber auch im nackten Leibe erkanntest Du mich nicht.
Selig erlitt ich Deine wissenden Zärtlichkeiten und sah, daß Deine
Leidenschaft keinen Unterschied macht zwischen einer Geliebten und einer
Käuflichen, daß Du Dich ganz gibst an Dein Begehren mit der unbedachten
verschwenderischen Fülle Deines Wesens. Du warst so zärtlich und lind zu
mir, der vom Nachtlokal Geholten, so vornehm und so herzlich --
achtungsvoll und doch gleichzeitig so leidenschaftlich im Genießen der
Frau; wieder fühlte ich, taumelig vom alten Glück, diese einzige
Zweiheit Deines Wesens, die wissende, die geistige Leidenschaft in der
sinnlichen, die schon das Kind Dir hörig gemacht. Nie habe ich bei einem
Manne in der Zärtlichkeit solche Hingabe an den Augenblick gekannt, ein
solches Ausbrechen und Entgegenleuchten des tiefsten Wesens -- freilich
um dann hinzulöschen in eine unendliche, fast unmenschliche
Vergeßlichkeit. Aber auch ich vergaß mich selbst: wer war ich nun im
Dunkel neben Dir? War ichs, das brennende Kind von einst, war ichs, die
Mutter Deines Kindes, war ichs, die Fremde? Ach, es war so vertraut, so
erlebt alles, und alles wieder so rauschend neu in dieser
leidenschaftlichen Nacht. Und ich betete, sie möchte kein Ende nehmen.

Aber der Morgen kam, wir standen spät auf, Du ludest mich ein, noch mit
Dir zu frühstücken. Wir tranken zusammen den Tee, den eine unsichtbar
dienende Hand diskret in dem Speisezimmer bereitgestellt hatte, und
plauderten. Wieder sprachst Du mit der ganzen offenen, herzlichen
Vertraulichkeit Deines Wesens zu mir und wieder ohne alle indiskreten
Fragen, ohne alle Neugier nach dem Wesen, das ich war. Du fragtest nicht
nach meinem Namen, nicht nach meiner Wohnung: ich war Dir wiederum nur
das Abenteuer, das Namenlose, die heiße Stunde, die im Rauch des
Vergessens spurlos sich löst. Du erzähltest, daß Du jetzt weit weg
reisen wolltest, nach Nordafrika für zwei oder drei Monate; ich zitterte
mitten in meinem Glück, denn schon hämmerte es mir in den Ohren: vorbei,
vorbei und vergessen! Am liebsten wäre ich hin zu Deinen Knien gestürzt
und hätte geschrien: »Nimm mich mit, damit Du mich endlich erkennst,
endlich, endlich nach so vielen Jahren!« Aber ich war ja so scheu, so
feige, so sklavisch, so schwach vor Dir. Ich konnte nur sagen: »Wie
schade.« Du sahst mich lächelnd an: »Ist es Dir wirklich leid?«

Da faßte es mich wie eine plötzliche Wildheit. Ich stand auf, sah Dich
an, lange und fest. Dann sagte ich: »Der Mann, den ich liebte, ist auch
immer weggereist.« Ich sah Dich an, mitten in den Stern Deines Auges.
»Jetzt, jetzt wird er mich erkennen!« zitterte, drängte alles in mir.
Aber Du lächeltest mir entgegen und sagtest tröstend: »Man kommt ja
wieder zurück.« »Ja,« antwortete ich, »man kommt zurück, aber dann hat
man vergessen.«

Es muß etwas Absonderliches, etwas Leidenschaftliches in der Art gewesen
sein, wie ich Dir das sagte. Denn auch Du standest auf und sahst mich
an, verwundert und sehr liebevoll. Du nahmst mich bei den Schultern:
»Was gut ist, vergißt sich nicht, Dich werde ich nicht vergessen,«
sagtest Du, und dabei senkte sich Dein Blick ganz in mich hinein, als
wollte er dies Bild sich festprägen. Und wie ich diesen Blick in mich
eindringen fühlte, suchend, spürend, mein ganzes Wesen an sich saugend,
da glaubte ich endlich, endlich den Bann der Blindheit gebrochen. Er
wird mich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganze Seele zitterte in
dem Gedanken.

Aber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntest mich nicht, nie war
ich Dir fremder jemals als in dieser Sekunde, denn sonst -- sonst
hättest Du nie tun können, was Du wenige Minuten später tatest. Du
hattest mich geküßt, noch einmal leidenschaftlich geküßt. Ich mußte mein
Haar, das sich verwirrt hatte, wieder zurechtrichten, und während ich
vor dem Spiegel stand, da sah ich durch den Spiegel -- und ich glaubte
hinsinken zu müssen vor Scham und Entsetzen -- da sah ich, wie Du in
diskreter Art ein paar größere Banknoten in meinen Muff schobst. Wie
habe ichs vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht ins Gesicht zu
schlagen in dieser Sekunde -- mich, die ich Dich liebte von Kindheit an,
die Mutter Deines Kindes, mich zahltest Du für diese Nacht! Eine Dirne
aus dem Tabarin war ich Dir, nicht mehr -- bezahlt, bezahlt hattest Du
mich! Es war nicht genug, von Dir vergessen, ich mußte noch erniedrigt
sein.

Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort, rasch fort. Es
tat mir zu weh. Ich griff nach meinem Hut, er lag auf dem Schreibtisch,
neben der Vase mit den weißen Rosen, meinen Rosen. Da erfaßte es mich
mächtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich es versuchen, Dich zu
erinnern. »Möchtest Du mir nicht von Deinen weißen Rosen eine geben?«
»Gern,« sagtest Du und nahmst sie sofort. »Aber sie sind Dir vielleicht
von einer Frau gegeben, von einer Frau, die Dich liebt?« sagte ich.
»Vielleicht,« sagtest Du, »ich weiß es nicht. Sie sind mir gegeben und
ich weiß nicht von wem; darum liebe ich sie so.« Ich sah Dich an.
»Vielleicht sind sie auch von einer, die Du vergessen hast!«

Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. »Erkenne mich, erkenne mich
endlich!« schrie mein Blick. Aber Dein Auge lächelte freundlich und
unwissend. Du küßtest mich noch einmal. Aber Du erkanntest mich nicht.

Ich ging rasch zur Tür, denn ich spürte, daß mir Tränen in die Augen
schossen, und das solltest Du nicht sehen. Im Vorzimmer -- so hastig war
ich hinausgeeilt -- stieß ich mit Johann, Deinem Diener, fast zusammen.
Scheu und eilfertig sprang er zur Seite, riß die Haustür auf, um mich
hinauszulassen, und da -- in dieser einen, hörst Du? in dieser einen
Sekunde, da ich ihn ansah, mit tränenden Augen ansah, den gealterten
Mann, da zuckte ihm plötzlich ein Licht in den Blick. In dieser einen
Sekunde, hörst Du? in dieser einen Sekunde, hat der alte Mann mich
erkannt, der mich seit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich hätte hinknien
können vor ihm für dieses Erkennen und ihm die Hände küssen. So riß ich
nur die Banknoten, mit denen Du mich gegeißelt, rasch aus dem Muff und
steckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mir auf -- in dieser
Sekunde hat er vielleicht mehr geahnt von mir als Du in Deinem ganzen
Leben. Alle, alle Menschen haben mich verwöhnt, alle waren zu mir gütig
-- nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nur Du, nur Du hast mich nie
erkannt!

                   *       *       *       *       *

Mein Kind ist gestorben, unser Kind -- jetzt habe ich niemanden mehr in
der Welt, ihn zu lieben, als Dich. Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich
niemals, niemals erkennst, der an mir vorübergeht wie an einem Wasser,
der auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht
und mich läßt in ewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu halten,
Dich, den Flüchtigen, in dem Kinde. Aber es war Dein Kind: über Nacht
ist es grausam von mir gegangen, eine Reise zu tun, es hat mich
vergessen und kehrt nie zurück. Ich bin wieder allein, mehr allein als
jemals, nichts habe ich, nichts von Dir -- kein Kind mehr, kein Wort,
keine Zeile, kein Erinnern, und wenn jemand meinen Namen nennen würde
vor Dir, Du hörtest an ihm fremd vorbei. Warum soll ich nicht gerne
sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weitergehen, da Du von mir
gegangen bist? Nein, Geliebter, ich klage nicht wider Dich, ich will Dir
nicht meinen Jammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. Fürchte nicht, daß
ich Dich weiter bedränge -- verzeih mir, ich mußte mir einmal die Seele
ausschreien in dieser Stunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt.
Nur dies eine Mal mußte ich sprechen zu Dir -- dann gehe ich wieder
stumm in mein Dunkel zurück, wie ich immer stumm neben Dir gewesen. Aber
Du wirst diesen Schrei nicht hören, solange ich lebe -- nur wenn ich tot
bin, empfängst Du dies Vermächtnis von mir, von einer, die Dich mehr
geliebt als alle, und die Du nie erkannt, von einer, die immer auf Dich
gewartet und die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Du mich
dann rufen, und ich werde Dir ungetreu sein zum erstenmal, ich werde
Dich nicht mehr hören aus meinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein
Zeichen, wie Du mir nichts gelassen; nie wirst Du mich erkennen,
niemals. Es war mein Schicksal im Leben, es sei es auch in meinem Tod.
Ich will Dich nicht rufen in meine letzte Stunde, ich gehe fort, ohne
daß Du meinen Namen weißt und mein Antlitz. Ich sterbe leicht, denn Du
fühlst es nicht von ferne. Täte es Dir weh, daß ich sterbe, so könnte
ich nicht sterben.

Ich kann nicht mehr weiter schreiben ... mir ist so dumpf im Kopfe ...
die Glieder tun mir weh, ich habe Fieber ... ich glaube, ich werde mich
gleich hinlegen müssen. Vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht ist
mir einmal das Schicksal gütig, und ich muß es nicht mehr sehen, wie sie
das Kind wegtragen ... Ich kann nicht mehr schreiben. Leb wohl,
Geliebter, leb wohl, ich danke Dir ... Es war gut, wie es war, trotz
alledem ... ich will Dirs danken bis zum letzten Atemzug. Mir ist wohl:
ich habe Dir alles gesagt, Du weißt nun, nein, Du ahnst nur, wie sehr
ich Dich geliebt, und hast doch von dieser Liebe keine Last. Ich werde
Dir nicht fehlen -- das tröstet mich. Nichts wird anders sein in Deinem
schönen, hellen Leben ... ich tue Dir nichts mit meinem Tod ... das
tröstet mich, Du Geliebter.

Aber wer ... wer wird Dir jetzt immer die weißen Rosen senden zu Deinem
Geburtstag? Ach, die Vase wird leer sein, der kleine Atem, der kleine
Hauch von meinem Leben, der einmal im Jahre um Dich wehte, auch er wird
verwehen! Geliebter, höre, ich bitte Dich ... es ist meine erste und
letzte Bitte an Dich ... tu mirs zuliebe, nimm an jedem Geburtstag -- es
ist ja ein Tag, wo man an sich denkt -- nimm da Rosen und tu sie in die
Vase. Tu's, Geliebter, tu es so, wie andere einmal im Jahre eine Messe
lesen lassen für eine liebe Verstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott
mehr und will keine Messe, ich glaube nur an Dich, ich liebe nur Dich
und will nur in Dir noch weiterleben ... ach, nur einen Tag im Jahr,
ganz, ganz still nur, wie ich neben Dir gelebt ... Ich bitte Dich, tu
es, Geliebter ... es ist meine erste Bitte an Dich und die letzte ...
ich danke Dir ... ich liebe Dich, ich liebe Dich ... lebe wohl ...

                   *       *       *       *       *

Er legte den Brief aus den zitternden Händen. Dann sann er lange nach.
Verworren tauchte irgendein Erinnern auf an ein nachbarliches Kind, an
ein Mädchen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern, undeutlich
und verworren, so wie ein Stein flimmert und formlos zittert am Grunde
fließenden Wassers. Schatten strömten zu und fort, aber es wurde kein
Bild. Er fühlte Erinnerungen des Gefühls und erinnerte sich doch nicht.
Ihm war, als ob er von all diesen Gestalten geträumt hätte, oft und tief
geträumt, aber doch nur geträumt.

Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf dem Schreibtisch. Sie
war leer, zum erstenmal leer seit Jahren an seinem Geburtstag. Er schrak
zusammen: ihm war, als sei plötzlich eine Tür unsichtbar aufgesprungen,
und kalte Zugluft ströme aus anderer Welt in seinen ruhenden Raum. Er
spürte einen Tod und spürte unsterbliche Liebe: innen brach etwas auf in
seiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare körperlos und
leidenschaftlich wie an eine ferne Musik.




                          Die Mondscheingasse


Das Schiff hatte, durch Sturm verzögert, erst spät abends in der kleinen
französischen Hafenstadt landen können, der Nachtzug nach Deutschland
war versäumt. So blieb ein unerwarteter Tag an fremdem Ort, ein Abend
ohne andere Lockung als die einer melancholischen Damenmusik in einem
vorstädtischen Vergnügungslokal oder eines eintönigen Gespräches mit den
ganz zufälligen Reisegenossen. Unerträglich schien mir die Luft in dem
kleinen Speiseraum des Hotels, fettig von Öl, dumpf von Rauch, und ich
fühlte doppelt ihre trübe Unreinlichkeit, weil noch der reine Atem des
Meeres mir salzig-kühl auf den Lippen lag. So ging ich hinaus, aufs
Geratewohl die helle breite Straße entlang zu einem Platz, wo eine
Bürgergardenkapelle spielte, und wieder weiter inmitten der lässig
fortflutenden Woge der Spaziergänger. Anfangs tat es mir gut, dieses
willenlose Geschaukeltsein in der Strömung gleichgültiger und
provinziell geputzter Menschen, aber bald ertrug ich es doch nicht mehr,
dieses Anwogen von fremden Leuten und ihr abgerissenes Gelächter, diese
Augen, die mich angriffen, erstaunt, fremd oder grinsend, diese
Berührungen, die mich unmerklich weiterschoben, dies aus tausend kleinen
Quellen brechende Licht und unaufhörliche Scharren von Schritten. Die
Seefahrt war bewegt gewesen, und noch gärte in meinem Blut ein taumliges
und sanfttrunkenes Gefühl: noch immer spürte ich Gleiten und Wiegen
unter meinen Füßen, die Erde schien wie atmend sich zu bewegen und die
Straße bis auf in den Himmel zu schwingen. Schwindlig ward mir mit einem
Male von diesem lauten Gewirr, und um mich zu retten, bog ich, ohne nach
ihrem Namen zu blicken, in eine Seitenstraße ein und von da wieder in
eine kleinere, in der dies sinnlose Lärmen allmählich verebbte, und ging
nun ziellos weiter ins Gewirr dieser wie Adern sich verästelnden Gassen,
die immer dunkler wurden, je mehr ich mich vom Hauptplatz entfernte. Die
großen elektrischen Bogenlampen, diese Monde der breiten Boulevards,
flammten hier nicht mehr, und über die spärliche Beleuchtung hin begann
man endlich wieder die Sterne zu sehen und einen schwarzen verhängten
Himmel.

Ich mußte nahe dem Hafen sein, im Matrosenviertel, das fühlte ich an dem
faulen Fischgeruch, an diesem süßlichen Duft von Tang und Fäulnis, wie
ihn auch die von der Brandung ans Land gerissenen Algen haben, an diesem
eigentümlichen Dunst verdorbener Gerüche und ungelüfteter Stuben, der
sich dumpfig in diese Winkel legt, bis einmal der große Sturm kommt und
ihnen Atem bringt. Das ungewisse Dunkel tat mir wohl und diese
unerwartete Einsamkeit, ich verlangsamte meinen Schritt, betrachtete nun
Gasse um Gasse, eine immer anders wie ihre Nachbarin, hier eine
friedfertige, dort eine buhlerische, alle aber dunkel und mit einem
gedämpften Geräusch von Musik und Stimmen, das aus dem Unsichtbaren, aus
der Brust ihrer Gewölbe so geheimnisvoll aufquoll, daß kaum die
unterirdische Quelle zu erraten war. Denn alle waren sie verschlossen
und blinzelten nur mit einem roten oder gelben Licht.

Ich liebe diese Gassen in fremden Städten, diesen schmutzigen Markt
aller Leidenschaften, diese heimliche Anhäufung aller Verführungen für
die Matrosen, die von einsamen Nächten auf fremden und gefährlichen
Meeren hier für eine Nacht einkehren, ihre vielen und sinnlichen Träume
in einer Stunde zu erfüllen. Sie müssen sich verstecken irgendwo in
einer Niederung der großen Stadt, diese kleinen Seitengassen, weil sie
so frech und aufdringlich sagen, was die hellen Häuser mit blanken
Scheiben und vornehmen Menschen in hundert Masken verbergen. Musik
klingt und lockt hier aus kleinen Stuben, Kinematographen verheißen mit
grellen Plakaten ungeahnte Prächte, kleine viereckige Lichter ducken
sich unter die Tore und zwinkern mit vertraulichem Gruß eine sehr
deutliche Einladung zu, zwischen dem aufgetanen Spalt einer Tür
schimmert nacktes Fleisch unter vergoldetem Flitter. Aus den Cafés
grölen die Stimmen der Berauschten und poltert der Zank der Spieler. Die
Matrosen grinsen, wenn sie hier einander begegnen, ihre stumpfen Blicke
werden grell von vieler Verheißung, denn hier ist alles, Weiber und
Spiel, Trunk und Schau, das Abenteuer, das schmutzige und das große. All
dies aber ist scheu und doch verräterisch gedämpft hinter den
heuchlerisch gesenkten Fensterläden, alles nur innen, und diese
scheinbare Verschlossenheit reizt durch die doppelte Verführung von
Verborgenheit und Zugänglichkeit. Diese Straßen sind gleich in Hamburg
und Colombo und Havanna, gleich da und dort wie auch die großen Avenuen
des Luxus, denn das Oben und Unten des Lebens hat die gleiche Form.
Letzte phantastische Reste einer sinnlich ungeregelten Welt, wo die
Triebe noch brutal und ungezügelt sich entladen, ein finsterer Wald von
Leidenschaften und Dickicht und voll triebhaften Getiers sind diese
unbürgerlichen Straßen, erregend durch das, was sie verraten, und
verlockend durch das, was sie verbergen. Man kann von ihnen träumen.

Und so war auch diese, in der ich mich mit einem Male gefangen fühlte.
Aufs Geratewohl war ich ein paar Kürassieren nachgegangen, die mit ihrem
nachschleifenden Säbel über das holprige Pflaster klirrten. Aus einer
Bar riefen Weiber sie an, sie lachten und schrien ihnen grobe Scherze
zu, einer klopfte an das Fenster, dann fluchte eine Stimme irgendwo, sie
gingen weiter, das Gelächter wurde ferner, und bald hörte ich sie nicht
mehr. Stumm war wieder die Gasse, ein paar Fenster blinkten unklar in
einem Nebelglanz von mattem Mond. Ich stand und sog atmend diese Stille
ein, die mir seltsam schien, weil hinter ihr etwas surrte von Geheimnis,
Wollust und Gefahr. Deutlich spürte ich, daß dieses Schweigen eine Lüge
war und unter dem trüben Dunst dieser Gasse etwas glimmerte von der
Fäulnis der Welt. Aber ich stand, blieb und lauschte ins Leere. Ich
fühlte die Stadt nicht mehr und die Gasse, nicht ihren Namen und nicht
den meinen, empfand nur, daß ich hier fremd war, wunderbar losgelöst in
einem Unbekannten stand, daß keine Absicht in mir war, keine Botschaft
und keine Beziehung und ich doch all dies dunkle Leben um mich so voll
fühlte wie das Blut unter der eigenen Haut. Dies Gefühl nur empfand ich,
daß nichts für mich geschah und doch alles mir zugehörte, dieses
seligste Gefühl des durch Anteilslosigkeit tiefsten und wahrsten
Erlebens, das zu den lebendigen Quellen meines innern Wesens gehört und
mich im Unbekannten immer überfällt wie eine Lust. Da plötzlich,
horchend wie ich in der einsamen Gasse stand, gleichsam erwartungsvoll
auf irgend etwas, das geschehen müßte, etwas, das mich fortschöbe aus
diesem mondsüchtigen Gefühl des Lauschens ins Leere, hörte ich gedämpft
durch Ferne oder eine Wand, sehr trübe von irgendwo ein deutsches Lied
singen, jenen ganz einfältigen Reigen aus dem »Freischütz«: »Schöner,
grüner Jungfernkranz«. Eine Frauenstimme sang ihn, sehr schlecht, aber
doch eine deutsche Melodie war es, deutsch hier irgendwo in einem
fremden Winkel der Welt und darum brüderlich in einem so eigenen Sinne.
Es war von irgendwoher gesungen, aber doch, wie einen Gruß fühlte ichs,
seit Wochen das erste heimatliche Wort. Wer, fragte ich mich, spricht
hier meine Sprache, wen treibt eine Erinnerung von innen, in
verwinkelt-verwilderter Gasse dies arme Lied sich wieder aus dem Herzen
zu heben? Ich tastete der Stimme nach, ein Haus nach dem andern von all
denen, die halbschlafend hier standen, mit geschlossenen Fensterläden,
hinter denen es aber verräterisch blinzelte von Licht und manchmal von
einer winkenden Hand. Außen klebten grelle Überschriften, schreiende
Plakate, und Ale, Whisky, Bier verhieß hier eine versteckte Bar, aber
alles war verschlossen, abweisend und doch wieder einladend. Und
dazwischen -- ein paar Schritte tönten von fern -- immer wieder die
Stimme, die jetzt den Refrain heller trillerte und immer näher war:
schon erkannte ich das Haus. Einen Augenblick zögerte ich, dann trat ich
gegen die innere Tür, die mit weißen Gardinen dicht verhangen war. Da
aber, als ich mich entschlossen hinbeugte, ward etwas im Schatten des
Flurs jäh lebendig, eine Gestalt, die offenbar eng an die Scheibe
gepreßt dort gelauert hatte, zuckte erschrocken auf, ein Gesicht,
begossen vom Rot der überhängenden Laterne und doch blaß im Entsetzen,
ein Mann starrte mich mit aufgerissenen Augen an, murmelte etwas wie
eine Entschuldigung und verschwand im Zwielicht der Gasse. Seltsam war
dieser Gruß. Ich sah ihm nach. Etwas schien sich noch im entschwindenden
Schatten der Gasse von ihm zu regen, aber undeutlich. Innen klang die
Stimme noch immer, heller sogar, wie mirs schien. Das lockte mich. Ich
klinkte auf und trat rasch ein.

Wie von einem Messer zerschnitten fiel das letzte Wort des Gesanges
herab. Und erschrocken spürte ich eine Leere vor mir, eine Feindlichkeit
des Schweigens, gleichsam als ob ich was zertrümmert hätte. Mählich erst
fand mein Blick sich in der Stube zurecht, die fast leer war, ein Schank
und ein Tisch, das ganze offenbar nur Vorgemach zu andern Zimmern
rückwärts, die mit halbaufgelehnten Türen, gedämpftem Lampenschein und
bereiten Betten ihre eigentliche Bestimmung rasch verrieten. Vorn am
Tisch lehnte auf den Ellbogen gestützt ein Mädchen, geschminkt und müd,
rückwärts am Schank die Wirtin, beleibt und schmutziggrau mit einem
andern nicht unhübschen Mädel. Mein Gruß fiel hart in den Raum, ganz
spät kam ein gelangweiltes Echo zurück. Mir wars unbehaglich, so ins
Leere getreten zu sein; in ein so gespanntes ödes Schweigen, und gern
wäre ich sofort wieder gegangen, doch fand meine Verlegenheit keinen
Vorwand, und so setzte ich mich resigniert an den vorderen Tisch. Das
Mädel, jetzt sich seiner Pflicht besinnend, fragte mich, was ich zu
trinken wünschte, und an ihrem harten Französisch erkannte ich sofort
die Deutsche. Ich bestellte ein Bier, sie ging und kam wieder mit jenem
schlaffen Gang, der noch mehr Gleichgültigkeit verriet als das Seichte
ihrer Augen, die schlaff unter den Lidern glommen wie verlöschende
Lichter. Ganz mechanisch stellte sie nach dem Brauch jener Stuben neben
das meine ein zweites Glas für sich. Ihr Blick ging, wie sie mir
zutrank, leer an mir vorbei: so konnte ich sie betrachten. Ihr Gesicht
war eigentlich noch schön und ebenmäßig in den Zügen, aber wie durch
eine innere Ermattung maskenhaft und gemein geworden, alles fiel schlaff
nieder, die Lider waren schwer, locker das Haar; die Wangen, fleckig von
schlechter Schminke und verschwemmt, begannen schon nachzugeben und
warfen sich mit breiter Falte bis an den Mund. Auch das Kleid war ganz
lässig umgehängt, ausgebrannt die Stimme, rauh von Rauch und Bier. In
allem spürte ich einen Menschen, der müde ist und nur aus Gewohnheit,
gleichsam fühllos weiterlebt. Mit Befangenheit und Grauen warf ich eine
Frage hin. Sie antwortete, ohne mich anzusehen, gleichgültig und stumpf
mit kaum bewegten Lippen. Unwillkommen spürte ich mich. Rückwärts gähnte
die Wirtin, das andere Mädel saß in einer Ecke und sah her, gleichsam
wartend, bis ich sie riefe. Gern wäre ich gegangen, aber alles an mir
war schwer, ich saß in dieser satten, schwelenden Luft, dumpf torkelnd
wie die Matrosen, gefesselt von Neugier und Grauen; denn diese
Gleichgültigkeit war irgendwie aufreizend.

Da plötzlich fuhr ich auf, erschreckt von einem grellen Gelächter neben
mir. Und gleichzeitig schwankte die Flamme: am Luftzug spürte ich, daß
jemand die Tür hinter meinem Rücken geöffnet haben mußte. »Kommst du
schon wieder?« höhnte grell und auf deutsch die Stimme neben mir.
»Kriechst du schon wieder ums Haus, du Knauser du? Na, komm nur herein,
ich tu dir nichts.«

Ich fuhr herum, zuerst ihr zu, die so grell diesen Gruß schrie, als
bräche ihr Feuer aus dem Leib, und dann zur Tür. Und noch ehe sie ganz
aufgetan war, erkannte ich die schlotternde Gestalt, erkannte den
demütigen Blick dieses Menschen, der vorhin an der Tür gleichsam geklebt
hatte. Er hielt den Hut verschüchtert in der Hand wie ein Bettler und
zitterte unter dem grellen Gruß, unter dem Lachen, das wie ein Krampf
ihre schwere Gestalt mit einem Male zu schüttern schien und von
rückwärts, vom Schanktisch, mit raschem Geflüster der Wirtin begleitet
wurde.

»Dort setz dich hin, zur Françoise,« herrschte sie den Armen an, als er
jetzt mit einem feigen, schlurfenden Schritt näher trat. »Du siehst, ich
habe einen Herrn.«

Deutsch schrie sie ihm das zu. Die Wirtin und das Mädel lachten laut,
obwohl sie nichts verstehen konnten, aber sie schienen den Gast schon zu
kennen.

»Gib ihm Champagner, Françoise, den teuern, eine Flasche,« schrie sie
lachend hinüber, und wieder höhnisch zu ihm: »Ists dir zu teuer, so
bleib draußen, du elender Knicker. Möchtest mich wohl umsonst anstarren,
ich weiß, du möchtest alles umsonst.«

Die lange Gestalt schmolz gleichsam zusammen unter diesem bösen Lachen,
der Buckel schob sich schief empor, es war, als wollte das Gesicht sich
hündisch verkriechen, und seine Hand zitterte, als er nach der Flasche
griff, und verschüttete den Wein im Eingießen. Sein Blick, der immer
aufwollte zu ihrem Gesicht, konnte nicht weg vom Boden und tastete dort
im Kreise den Kacheln nach. Und jetzt sah ich erst deutlich unter der
Lampe dies ausgemergelte Gesicht, zermürbt und fahl, die Haare feucht
und dünn auf beinernem Schädel, die Gelenke lose und wie zerbrochen,
eine Jämmerlichkeit ohne Kraft und doch nicht ohne Bösartigkeit. Schief,
verschoben war alles in ihm und geduckt, und der Blick, den er jetzt
einmal hob und gleich wieder erschreckt zurückwarf, gekreuzt von einem
bösen Licht.

»Kümmern Sie sich nicht um ihn,« herrschte mich das Mädel auf
französisch an und faßte derb meinen Arm, als wollte sie mich
herumreißen. »Das ist eine alte Sache zwischen mir und ihm, ist nicht
von heute.« Und wieder mit blanken Zähnen, wie zum Bisse bereit, laut zu
ihm hinüber: »Horch nur her, du alter Luchs. Möchtest hören, was ich
rede. Daß ich eher ins Meer gehe als mit dir, habe ich gesagt.«

Wieder lachten die Wirtin und das andere Mädel, breit und blöde. Es
schien ein gewohnter Spaß für sie, ein alltäglicher Scherz. Aber mir
wars unheimlich, jetzt zu sehen, wie sich dies andere Mädel plötzlich in
falscher Zärtlichkeit an ihn drängte und ihn mit Schmeicheleien abgriff,
vor denen er erschauerte ohne den Mut, sie abzuwehren, und ich erschrak,
wenn sein Blick im Auftaumeln mich traf, ängstlich verlegen und
kriecherisch. Und mir graute vor dem Weib neben mir, das plötzlich aus
ihrer Schlaffheit aufgewacht war und so voll Bosheit funkelte, daß ihre
Hände zitterten. Ich warf Geld auf den Tisch und wollte fort, aber sie
nahm es nicht.

»Geniert er dich, dann werfe ich ihn hinaus, den Hund. Der muß parieren.
Nimm noch ein Glas mit mir. Komm!«

Sie drängte sich heran mit einer jähen, fanatischen Art von
Zärtlichkeit, von der ich sofort wußte, daß sie nur gespielt war, um
jenen anderen zu quälen. Bei jeder dieser Bewegungen sah sie rasch
schief hinüber, und es war mir widerwärtig zu sehen, wie bei jeder ihrer
Gesten zu mir es in ihm zu zucken begann, als spürte er Brandstahl an
seinen Gliedern. Ohne auf sie zu achten, starrte ich einzig ihn an und
schauerte, wie etwas jetzt in ihm wuchs von Wut, Zorn, Neid und Gier,
und sich doch gleich niederduckte, wandte sie nur den Kopf. Ganz nahe
drängte sie sich nun zu mir, ich spürte ihren Körper, der zitterte von
der bösen Lust dieses Spiels, und mir graute vor ihrem grellen Gesicht,
das nach schlechtem Puder roch, vor dem Dunst ihres mürben Fleisches.
Sie von meinem Gesicht abzuwehren, griff ich nach einer Zigarre, und
während mein Blick noch den Tisch nach einem Streichholz absuchte,
herrschte sie ihn schon an: »Bring Feuer her!«

Ich erschrak mehr noch als er vor dieser gemeinen Zumutung, mich zu
bedienen, und mühte mich rasch, mir selbst eines zu finden. Aber schon
von ihrem Worte wie mit einer Peitsche aufgeknallt, kam er mit seinen
schiefen Schritten torkelnd herüber und legte rasch, als könnte er sich
mit einer Berührung des Tisches verbrennen, sein Feuerzeug auf den
Tisch. Eine Sekunde kreuzte ich seinen Blick: unendliche Scham lag darin
und eine knirschende Erbitterung. Und dieser geknechtete Blick traf den
Mann, den Bruder, in mir. Ich fühlte die Erniedrigung durch das Weib und
schämte mich mit ihm.

»Ich danke Ihnen sehr,« sagte ich auf deutsch -- sie zuckte auf -- »Sie
hätten sich nicht bemühen müssen.« Dann bot ich ihm die Hand. Ein
Zögern, ein langes, dann spürte ich feuchte, knochige Finger und
plötzlich krampfartig einen jähen Druck des Dankes. Eine Sekunde
leuchteten seine Augen in die meinen, dann duckten sie sich wieder unter
die schlaffen Lider. Aus Trotz wollte ich ihn bitten, bei uns Platz zu
nehmen, und die einladende Geste mußte wohl schon in meine Hand
geglitten sein, denn sie herrschte ihn eilig an: »Setz dich wieder hin
und störe hier nicht.«

Da packte mich plötzlich der Ekel vor ihrer ätzenden Stimme und vor
dieser Quälerei. Was sollte mir diese verräucherte Spelunke, diese
widrige Dirne, dieser Schwachsinnige, dieser Qualm von Bier und Rauch
und schlechtem Parfüm? Mich dürstete nach Luft. Ich schob ihr das Geld
hin, stand auf und rückte energisch ab, als sie mir schmeichelnd näher
kam. Es ekelte mich, mitzuspielen bei dieser Erniedrigung eines
Menschen, und deutlich ließ ich durch die Entschlossenheit meiner Abwehr
spüren, wie wenig sie mich sinnlich verlocken konnte. Jetzt zuckte ihr
Blut bös, eine Falte kroch ihr gemein um den Mund, aber sie hütete sich
doch, das Wort auszusprechen, und wandte sich mit einem Ruck
unverstellten Hasses gegen ihn, der aber, des Ärgsten gewärtig, eilig
und wie gejagt von ihrer Drohung in die Tasche griff und mit zitternden
Fingern eine Geldbörse herauszog. Er hatte Angst, jetzt allein mit ihr
zu bleiben, das war sichtlich, und in der Hast konnte er die Knoten der
Börse nicht gut lösen -- eine Börse war es, gestrickt und mit Glasperlen
besetzt, wie die Bauern sie tragen und die kleinen Leute. Mühelos war es
zu merken, daß er ungewohnt war, Geld rasch auszugeben, sehr im
Gegensatz zu den Matrosen, die es mit einem Handschwung aus den
klimpernden Taschen hervorholen und auf den Tisch werfen; er mußte
offenbar gewohnt sein, sorglich zu zählen und die Münzen zwischen den
Fingern zu wägen. »Wie er zittert um seine lieben süßen Pfennige! Gehts
zu langsam? Wart!« höhnte sie und trat einen Schritt näher. Er schrak
zurück, und sie, als sie sein Erschrecken sah, sagte, die Schultern
hochziehend und mit einem unbeschreiblichen Ekel im Blick: »Ich nehm dir
nichts, ich spei auf dein Geld. Weiß ja, sie sind gezählt, deine guten
Pfennigchen, darf keines zuviel in die Welt. Aber erst« -- und sie
tippte ihm plötzlich gegen die Brust -- »die Papierchen, die du da
eingenäht hast, daß sie dir keiner stiehlt!«

Und wirklich, wie ein Herzkranker im Krampf sich plötzlich an die Brust
greift, so faßte fahl und zitternd seine Hand an eine bestimmte Stelle
des Rockes, unwillkürlich tasteten seine Finger dort an das heimliche
Nest und fielen dann beruhigt zurück. »Geizhals!« spie sie aus. Aber da
flog plötzlich eine Glut in das Gesicht des Gemarterten, er warf die
Geldbörse mit einem Ruck dem andern Mädel zu, die erst aufschrie im
Schreck, dann hell lachte, und stürmte vorbei an ihr, zur Tür hinaus wie
aus einem Brand.

Einen Augenblick stand sie noch aufgerichtet, hell funkelnd in ihrer
bösen Wut. Dann fielen die Lider wieder schlaff herab, Mattigkeit bog
den Körper aus der Spannung. Alt und müde schien sie in einer Minute zu
werden. Etwas Unsicheres und Verlorenes dämpfte den Blick, der mich
jetzt traf. Wie eine Trunkene, die aufwacht, dumpf mit dem Gefühl einer
Schande stand sie da. »Draußen wird er jammern um sein Geld, vielleicht
zur Polizei laufen, wir hätten ihn bestohlen. Und morgen ist er wieder
da. Aber mich soll er doch nicht haben. Alle, nur gerade er nicht!«

Sie trat zum Schank, warf Geldstücke hin und stürzte mit einem Schwung
ein Glas Branntwein hinunter. Das böse Licht glimmerte wieder in ihren
Augen, aber trüb wie unter Tränen von Wut und Scham. Ekel faßte mich vor
ihr und zerriß mein Mitleid: »Guten Abend,« sagte ich und ging. »_Bon
soir_,« antwortete die Wirtin. Sie sah sich nicht um und lachte bloß,
grell und höhnisch.

Die Gasse, sie war nur Nacht und Himmel, als ich hinaustrat, eine
einzige schwüle Dunkelheit mit verwölktem, unendlich fernem Glanz von
Mond. Gierig trank ich die laue und doch starke Luft, und das Gefühl des
Grauens löste sich in das große Erstaunen vor der Mannigfaltigkeit der
Geschicke, und ich spürte wieder -- ein Gefühl, das mich selig machen
kann bis zu Tränen --, daß immer hinter jeder Fensterscheibe Schicksal
wartet, jede Tür sich in Erlebnis auftut, allgegenwärtig das
Mannigfaltige dieser Welt ist und selbst der schmutzigste Winkel noch so
wimmelnd von schon gestaltetem Erleben wie die Verwesung vom eifrigen
Glanz der Käfer. Fern war das Widerliche der Begegnung und das gespannte
Gefühl wohltuend gelöst in eine süße Müdigkeit, die sich sehnte, all
dies Gelebte in schöneren Traum zu verwandeln. Unwillkürlich blickte ich
suchend um mich, den Weg nach Hause durch diese Wirrnis verwinkelter
Gäßchen zu finden. Da schob sich -- unhörbar mußte er nahegetreten sein
-- ein Schatten an mich heran.

»Verzeihen Sie,« -- ich erkannte sogleich die demütige Stimme -- »aber
ich glaube, Sie finden sich hier nicht zurecht. Darf ich ... darf ich
Ihnen den Weg weisen? Der Herr wohnt ...?«

Ich nannte mein Hotel.

»Ich begleite Sie ... Wenn Sie erlauben,« fügte er sogleich demütig
hinzu.

Das Grauen faßte mich wieder. Dieser schleichende, gespenstische Schritt
an meiner Seite, unhörbar fast und doch hart an mir, das Dunkel der
Matrosengasse und die Erinnerung des Erlebten wich allmählich einem
traumhaft wirren Gefühl ohne Wertung und Widerstand. Ich spürte die
Demut seiner Augen, ohne sie zu sehen, und merkte das Zucken seiner
Lippen, ich wußte, daß er mit mir reden wollte, tat aber nichts dafür
und nichts dagegen aus der Taumligkeit meines Empfindens, in dem die
Neugier des Herzens mit einer körperlichen Benommenheit sich wogend
mengte. Er räusperte sich mehrmals, ich merkte den erstickten Ansatz zum
Wort, aber irgendeine Grausamkeit, die von diesem Weib geheimnisvoll auf
mich übergegangen war, freute sich dieses Ringens der Scham und
seelischen Not: ich half ihm nicht, sondern ließ dieses Schweigen
schwarz und schwer zwischen uns. Und unsere Schritte klangen, der seine
leise schlurfend und alt, der meine mit Absicht stark und rauh, dieser
schmutzigen Welt zu entrinnen, wirr zusammen. Immer stärker spürte ich
die Spannung zwischen uns: schrill, voll inneren Schreis war dieses
Schweigen und schon wie eine übermäßig gespannte Saite, bis er es
endlich -- und wie entsetzlich zagend zuerst -- durchriß mit einem Wort.

»Sie haben ... Sie haben ... mein Herr ... da drinnen eine merkwürdige
Szene gesehen ... verzeihen Sie ... verzeihen Sie, wenn ich noch einmal
davon rede ... aber sie mußte Ihnen merkwürdig sein ... und ich sehr
lächerlich ... diese Frau ... es ist nämlich ...«

Er stockte wieder. Etwas würgte ihm dick die Kehle. Dann wurde seine
Stimme ganz klein, und er flüsterte hastig: »Diese Frau ... es ist
nämlich meine Frau.« Ich mußte aufgefahren sein im Erstaunen, denn er
sprach hastig weiter, als wollte er sich entschuldigen: »Das heißt ...
es war meine Frau ... vor fünf, vor vier Jahren ... in Geratzheim drüben
in Hessen, wo ich zu Hause bin ... Ich will nicht, Herr, daß Sie
schlecht von ihr denken ... es ist vielleicht meine Schuld, daß sie so
ist. Sie war nicht immer so ... Ich ... ich habe sie gequält ... Ich
habe sie genommen, obwohl sie sehr arm war, nicht einmal die Leinwand
hatte sie, nichts, gar nichts ... und ich bin reich ... das heißt,
vermögend ... nicht reich ... oder ich war es wenigstens damals ... und,
wissen Sie, mein Herr ... ich war vielleicht -- sie hat recht -- sparsam
... aber früher war ich es, mein Herr, vor dem Unglück, und ich
verfluche es ... aber mein Vater war so und die Mutter, alle waren so
... und ich habe hart gearbeitet um jeden Pfennig ... und sie war
leicht, sie hatte gern schöne Sachen ... und war doch arm, und ich habe
es ihr immer wieder vorgehalten ... Ich hätte es nicht tun sollen, ich
weiß es jetzt, mein Herr, denn sie ist stolz, sehr stolz ... Sie dürfen
nicht glauben, daß sie so ist, wie sie sich gibt ... das ist Lüge, und
sie tut sich selber weh ... nur ... nur um mir wehe zu tun, um mich zu
quälen ... und ... weil ... weil sie sich schämt ... Vielleicht ist sie
auch schlecht geworden, aber ich ... ich glaube es nicht ... denn, mein
Herr, sie war sehr gut, sehr gut ...«

Er wischte sich die Augen und blieb stehen in seiner übermächtigen
Erregung. Unwillkürlich blickte ich ihn an, und er schien mir mit einem
Male nicht mehr lächerlich, und selbst diese merkwürdige servile Anrede,
»mein Herr«, die in Deutschland nur niedern Ständen zu eigen ist, spürte
ich nicht mehr. Sein Antlitz war ganz von der inneren Bemühung zum Wort
durchbildet, und der Blick starrte, wie er schwer jetzt wieder vorwärts
taumelte, starr auf das Pflaster, als läse er dort im schwankenden
Lichte mühsam ab, was sich dem Krampf seiner Kehle so quälend entriß.

»Ja, mein Herr,« stieß er jetzt tiefatmend heraus, und mit einer ganz
andern, dunklen Stimme, die irgendwie aus einer weicheren Welt seines
Innern kam: »Sie war sehr gut ... auch zu mir, sie war sehr dankbar, daß
ich sie aus ihrem Elend erlöst hatte ... und ich wußte es auch, daß sie
dankbar war ... aber ... ich ... wollte es hören ... immer wieder ...
immer wieder ... es tat mir gut, diesen Dank zu hören ... mein Herr, es
war so, so unendlich gut, zu spüren, zu spüren, daß man besser ist ...
wenn ... wenn man doch weiß, daß man der Schlechtere ist ... ich hätte
all mein Geld dafür gegeben, es immer wieder zu hören ... und sie war
sehr stolz und wollte es immer weniger, als sie merkte, daß ich ihn
forderte, diesen Dank ... Darum ... nur darum, mein Herr, ließ ich sie
immer bitten ... nie gab ich freiwillig ... es tat mir wohl, daß sie um
jedes Kleid, um jedes Band kommen mußte und betteln ... drei Jahre habe
ich sie so gequält, immer mehr ... aber, mein Herr, es war nur, weil ich
sie liebte ... Ich hatte ihren Stolz gern, und doch wollte ich ihn immer
knechten, ich Wahnsinniger, und wenn sie etwas begehrte, so war ich böse
... aber, mein Herr, ich war es gar nicht ... ich war selig jeder
Gelegenheit, sie demütigen zu können, denn ... denn ich wußte gar nicht,
wie ich sie liebte ...«

Wieder stockte er. Ganz torkelnd ging er. Offenbar hatte er mich
vergessen. Mechanisch sprach er, wie aus dem Schlaf, mit immer lauterer
Stimme.

»Das ... das habe ich erst gewußt, wie ich damals ... an jenem
verfluchten Tag ... ich hatte ihr Geld verweigert für ihre Mutter, ganz,
ganz wenig ... das heißt, ich hatte es schon bereitgelegt, aber ich
wollte, daß sie noch einmal käme ... noch einmal mich bitten ... ja, was
sagte ich? ... ja, damals habe ich es gewußt, als ich abends nach Hause
kam und sie fort war und nur ein Zettel auf dem Tisch ... >Behalte dein
verfluchtes Geld, ich will nichts mehr von dir< ... das stand darauf,
sonst nichts ... Herr, ich bin drei Tage, drei Nächte gewesen wie ein
Rasender. Den Fluß habe ich absuchen lassen und den Wald, Hunderte habe
ich der Polizei gegeben ... zu allen Nachbarn bin ich gelaufen, aber sie
haben nur gelacht und gehöhnt ... Nichts, nichts war zu finden ...
Endlich hat mir einer Nachricht gesagt vom andern Dorf ... er habe sie
gesehen ... in der Bahn mit einem Soldaten ... sie sei nach Berlin
gefahren ... am selben Tage bin ich ihr nachgereist ... ich habe meinen
Verdienst gelassen ... Tausende habe ich verloren ... man hat mich
bestohlen, meine Knechte, mein Verwalter, alle, alle ... aber, ich
schwöre es Ihnen, mein Herr, es war mir gleichgültig ... Ich bin in
Berlin geblieben, eine Woche hat es gedauert, bis ich sie auffand in
diesem Wirbel von Menschen ... und bin zu ihr gegangen ...« Er atmete
schwer.

»Mein Herr, ich schwöre es Ihnen ... kein hartes Wort habe ich ihr
gesagt ... ich habe geweint ... auf den Knien bin ich gelegen ... ich
habe ihr Geld geboten ... mein ganzes Vermögen, sie sollte es verwalten,
denn damals wußte ich es schon ... ich kann nicht leben ohne sie. Ich
liebe jedes Haar an ihr ... ihren Mund ... ihren Leib, alles, alles ...
und ich bin es ja, ich, der sie hinabgestoßen hat, ich allein ... Sie
war blaß wie der Tod, als ich hereinkam, plötzlich ... ich hatte ihre
Wirtin bestochen, eine Kupplerin, ein schlechtes, gemeines Weib ... wie
der Kalk war sie an der Wand ... Sie hörte mich an. Herr, ich glaube,
sie war ... ja, sie war beinahe froh, mich zu sehen ... aber als ich vom
Gelde sprach ... und ich habe es doch nur getan, ich schwöre es Ihnen,
um ihr zu zeigen, daß ich nicht mehr daran denke ... da hat sie
ausgespien ... und dann ... weil ich noch immer nicht gehen wollte ...
da hat sie ihren Liebhaber gerufen, und sie haben mich verlacht ...
Aber, mein Herr, ich bin immer wiedergekommen, Tag für Tag. Die
Hausleute haben mir alles erzählt, ich wußte, daß der Lump sie verlassen
hatte und sie in Not war, und da ging ich noch einmal hin ... noch
einmal, Herr, aber sie fuhr mich an und zerriß einen Schein, den ich
heimlich auf den Tisch gelegt hatte, und als ich doch wiederkam, war sie
fort ... Was habe ich nicht getan, mein Herr, sie wieder auszuforschen!
Ein Jahr, ich schwöre es Ihnen, habe ich nicht gelebt, nur immer
gespürt, habe Agenturen besoldet, bis ichs endlich erfuhr, daß sie
drüben sei in Argentinien ... in ... in einem schlechten Hause ...« Er
zögerte einen Augenblick. Wie ein Röcheln war das letzte Wort. Und
dunkler wurde seine Stimme.

»Ich erschrak sehr ... zuerst ... aber dann besann ich mich, daß ich,
nur ich es sei, der sie da hinabgestoßen hatte ... und ich dachte, wie
sehr sie leiden müsse, die Arme ... denn stolz ist sie vor allem ... Ich
ging zu meinem Anwalt, der schrieb an den Konsul und sandte Geld ...
ohne daß sie erfuhr, wer es gab ... nur daß sie zurückkäme. Man
telegraphierte mir, daß alles gelungen sei ... ich wußte das Schiff ...
und in Amsterdam wartete ich ... drei Tage zu früh war ich gekommen, so
brannte ich vor Ungeduld ... Endlich kam es, ich war selig, wie nur der
Rauch vom Dampfer am Horizont war, und ich glaubte es nicht erwarten zu
können, bis er heranfuhr und anlegte, so langsam, langsam, und dann die
Passagiere über den Steg kamen und endlich, endlich sie ... Ich erkannte
sie nicht gleich ... sie war anders ... geschminkt ... und schon so ...
so, wie Sie es gesehen haben ... und wie sie mich warten sah ... wurde
sie fahl ... Zwei Matrosen mußten sie halten, sonst wäre sie vom Steg
gefallen ... Sobald sie am Land war, trat ich an ihre Seite ... ich
sagte nichts ... meine Kehle war zu ... Auch sie sprach nichts ... und
sah mich nicht an ... Der Träger trug das Gepäck voran, wir gingen und
gingen ... Da plötzlich blieb sie stehen und sagte ... Herr, wie sie es
sagte ... so schmerzend weh tat es mir, so traurig klang es ... >Willst
du mich noch immer zu deiner Frau, jetzt auch noch?< ... Ich faßte sie
bei der Hand ... Sie zitterte, aber sie sagte nichts. Doch ich fühlte,
daß nun alles wieder gut war ... Herr, wie selig ich war! Ich tanzte wie
ein Kind um sie, als ich sie im Zimmer hatte, ich fiel ihr zu Füßen ...
törichte Dinge muß ich gesagt haben ... denn sie lächelte unter Tränen
und liebkoste mich ... ganz zaghaft natürlich nur ... aber Herr ... wie
es mir wohltat ... mein Herz zerfloß. Ich lief treppauf, treppab,
bestellte ein Diner im Hotel ... unser Vermählungsmahl ... ich half ihr,
sich anzuziehen ... und wir gingen hinab, wir aßen und tranken und waren
fröhlich ... Oh, so heiter war sie, ein Kind, so warm und gut, und sie
sprach von Hause ... und wie wir alles nun wieder besorgen wollten ...
Da ...« Seine Stimme wurde plötzlich rauh, und er machte mit der Hand
eine Geste, als ob er jemanden zerbrechen wollte. »Da ... da war ein
Kellner ... ein schlechter, gemeiner Mensch ... der glaubte, ich sei
trunken, weil ich toll war und tanzte und mich überkollerte beim Lachen
... während ich doch nur so glücklich war ... oh, so glücklich, und da
... als ich bezahlte, gab er mir zwanzig Francs zu wenig zurück ... Ich
fuhr ihn an und verlangte den Rest ... er war verlegen und legte das
Goldstück hin ... Da ... da begann sie auf einmal grell zu lachen ...
Ich starrte sie an, aber es war ein anderes Gesicht ... höhnisch, hart
und böse mit einem Male ... >Wie genau du noch immer bist ... selbst an
unserem Vermählungstag!< sagte sie ganz kalt, so scharf, so ...
mitleidig. Ich erschrak und verfluchte meine Peinlichkeit ... ich gab
mir Mühe, wieder zu lachen ... aber ihre Heiterkeit war fort ... war tot
... Sie verlangte ein eigenes Zimmer ... was hätte ich ihr nicht gewährt
... und ich lag allein die Nacht und sann nur nach, was ihr kaufen am
nächsten Morgen ... sie beschenken ... ihr zeigen, daß ich nicht geizig
sei ... nie mehr gegen sie. Und am Morgen ging ich aus, ein Armband
kaufte ich, ganz früh, und wie ich in ihr Zimmer trat ... da war ... da
war es leer ... ganz wie damals. Und ich wußte, auf dem Tisch würde ein
Zettel liegen ... ich lief fort und betete zu Gott, es möge nicht wahr
sein ... aber ... aber ... er lag doch dort ... Und darauf stand ...«

Er zögerte. Unwillkürlich war ich stehen geblieben und sah ihn an. Er
duckte den Kopf. Dann flüsterte er heiser:

»Es stand darauf ... >Laß mich in Frieden. Du bist mir widerlich --<«

Wir waren beim Hafen angelangt, und plötzlich rauschte in das Schweigen
der grollende Atem der nahen Brandung. Mit blinkenden Augen, wie große
schwarze Tiere lagen die Schiffe da, nah und ferne, und von irgendwo kam
Gesang. Nichts war deutlich und doch vieles zu fühlen, ein ungeheurer
Schlaf und der schwere Traum einer starken Stadt. Neben mir spürte ich
den Schatten dieses Menschen, er zuckte gespenstisch vor meinen Füßen,
floß bald auseinander, bald kroch er zusammen im wandelnden Licht der
trüben Laternen. Ich vermochte nichts zu sagen, nicht Trost und hatte
keine Frage, spürte aber sein Schweigen an mir kleben, lastend und
dumpf. Da faßte er mich plötzlich zitternd am Arm.

»Aber ich gehe nicht fort von hier ohne sie ... Nach Monaten habe ich
sie wiedergefunden ... Sie martert mich, aber ich will nicht müde werden
... Ich beschwöre Sie, mein Herr, reden Sie mit ihr ... Ich muß sie
haben, sagen Sie es ihr ... mich hört sie nicht ... Ich kann nicht mehr
so leben ... Ich kann es nicht mehr sehen, wie Männer zu ihr gehen ...
und draußen warten vor dem Haus, bis sie wieder herunterkommen ...
lachend und trunken ... Die ganze Gasse kennt mich schon ... sie lachen,
wenn sie mich warten sehen ... wahnsinnig werde ich davon ... und doch
jeden Abend stehe ich wieder dort ... Mein Herr, ich beschwöre Sie ...
sprechen Sie mit ihr ... ich kenne Sie ja nicht, aber tun Sie es um
Gottes Barmherzigkeit ... sprechen Sie mit ihr ...«

Unwillkürlich wollte ich meinen Arm befreien. Mir graute. Aber er, wie
ers spürte, daß ich mich gegen sein Unglück wehrte, fiel plötzlich
mitten auf der Straße in die Knie und faßte meine Füße.

»Ich beschwöre Sie, mein Herr ... Sie müssen mit ihr sprechen ... Sie
müssen ... sonst ... sonst geschieht etwas Furchtbares ... Ich habe mein
ganzes Geld verbraucht, sie zu suchen, und ich lasse sie nicht hier ...
nicht lebendig ... Ich habe mir ein Messer gekauft ... Ich habe ein
Messer, mein Herr ... Ich lasse sie hier nicht mehr ... nicht lebendig
... ich ertrage es nicht ... Sprechen Sie mit ihr, mein Herr ...«

Er wälzte sich wie rasend vor mir. In diesem Augenblick kamen zwei
Polizisten die Straße her. Ich riß ihn mit Gewalt auf. Einen Augenblick
starrte er mich entgeistert an. Dann sagte er mit ganz fremder,
trockener Stimme:

»Die Gasse dort biegen Sie ein. Dann sind Sie bei Ihrem Hotel.« Einmal
noch starrte er mich an mit Augen, in denen die Pupillen zerschmolzen
schienen in ein grauenhaft Weißes und Leeres. Dann verschwand er.

Ich wickelte mich in meinen Mantel. Mich fröstelte. Nur Müdigkeit spürte
ich, eine wirre Trunkenheit, gefühllos und schwarz, einen wandelnden,
purpurnen Schlaf. Ich wollte etwas denken und all das besinnen, aber
immer hob sich diese schwarze Welle von Müdigkeit aus mir und riß mich
mit. Ich tastete ins Hotel, fiel hin ins Bett und schlief dumpf wie ein
Tier.

Am nächsten Morgen wußte ich nicht mehr, was davon Traum oder Erlebnis
war, und irgend etwas in mir wehrte sich dagegen, es zu wissen. Spät war
ich erwacht, fremd in fremder Stadt, und ging eine Kirche zu besehen, in
der antike Mosaiken von großem Ruhme sein sollten. Aber meine Augen
starrten sie leer an, immer deutlicher stieg die Begegnung der
vergangenen Nacht auf, und ohne Widerstand triebs mich weg, ich suchte
die Gasse und das Haus. Aber diese seltsamen Gassen leben nur des
Nachts, am Tage tragen sie graue, kalte Masken, unter denen nur der
Vertraute sie erkennt. Ich fand sie nicht, so sehr ich suchte. Müde und
enttäuscht kam ich heim, verfolgt von den Bildern des Wahns oder der
Erinnerung.

Um neun Uhr abends ging mein Zug. Mit Bedauern ließ ich die Stadt. Ein
Träger hob mein Gepäck und trug es vor mir her dem Bahnhof zu. Da
plötzlich, an einer Kreuzung, riß michs herum: ich erkannte die
Quergasse, die zu jenem Hause führte, hieß den Träger warten und ging --
während er zuerst erstaunt und dann frechvertraulich lachte -- noch
einen Blick zu tun in diese Gasse des Abenteuers.

Dunkel lag sie da, dunkel wie damals, und im matten Mond sah ich die
Türscheibe jenes Hauses glänzen. Noch einmal wollte ich näher treten, da
raschelte eine Gestalt aus dem Dunkel. Schauernd erkannte ich ihn, der
dort auf der Schwelle hockte und mir winkte, ich möge näher kommen. Doch
ein Grauen faßte mich, ich flüchtete rasch fort, aus der feigen Angst,
hier verstrickt zu werden und meinen Zug zu versäumen.

Aber dann, an der Ecke, ehe ich mich wandte, sah ich noch einmal zurück.
Als mein Blick ihn traf, gab er sich einen Ruck, raffte sich auf und
sprang gegen die Tür. Metall blitzte in seiner Hand, da er sie jetzt
eilig aufriß: ich konnte aus der Ferne nicht unterscheiden, ob es Geld
war oder das Messer, das im Mondlicht zwischen seinen Fingern
verräterisch glitzerte ...




                                 Inhalt


                    Der Amokläufer                 9
                    Die Frau und die Landschaft   87
                    Phantastische Nacht          121
                    Brief einer Unbekannten      209
                    Die Mondscheingasse          269






                        INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG

                                --------

                      Dichtungen von Stefan Zweig

    Die frühen Kränze. Gedichte. Dritte Auflage.

    Erstes Erlebnis. Vier Geschichten aus Kinderland. 12. bis
    15. Tausend.

    Brennendes Geheimnis. Novelle. (Insel-Bücherei Nr. 122.)
    36. bis 45. Tausend.

    Das Haus am Meer. Schauspiel in zwei Teilen.

    Tersites. Ein Trauerspiel in drei Aufzügen. Zweite Auflage.

    Der verwandelte Komödiant. Ein Spiel aus dem deutschen
    Rokoko. Zweite Auflage.

    Jeremias. Eine dramatische Dichtung in neun Bildern. 19.
    bis 23. Tausend.

    Legende eines Lebens. Ein Kammerspiel in drei Aufzügen.

    Der Zwang. Novelle (in 470 Ex. mit Holzschnitten von Frans
    Masereel).

    Die Augen des ewigen Bruders. Novelle. (Insel-Bücherei Nr.
    349.) 10. Tausend.

    Drei Meister: Balzac, Dickens, Dostojewski. 9. bis 12. Tausend.

    Die gesammelten Gedichte (in Vorbereitung).

                                --------

                  Von Stefan Zweig wurden übertragen:

    Emile Verhaeren: Rubens. Mit 95 Vollbildern. 26. bis 30.
    Tausend.

    Emile Verhaeren: Rembrandt. Mit 80 Vollbildern. 36. bis 40.
    Tausend.

    Emile Verhaeren: Hymnen an das Leben. (Insel-Bücherei Nr.
    5.) 41. bis 50. Tausend.

                                --------

                  Von Stefan Zweig wurden eingeleitet:

    Charles Dickens: Ausgewählte Romane. -- Dostojewski: Sämtliche
    Romane und Novellen. -- Arthur Rimbaud: Leben und Dichtung.
    -- Alexandre Mercereau: Worte vor dem Leben. -- Marceline
    Desbordes-Valmore: Das Lebensbild einer Dichterin. -- Paul
    Verlaine: Gesammelte Werke.


                      Druck vom Bibliographischen
                          Institut in Leipzig


                     Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Korrekturen, zum Teil unter Zuhilfenahme anderer Ausgaben
(vorher/nachher):

   [S. 86]:
   ... hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit dem Träger ...
   ... hohen Bord niederstürzte und den Sarg mit den Trägern ...

   [S. 160]:
   ... von mir gehaßtem Ravachol hing, denn rings um mich ...
   ... von mir gehaßten Ravachol hing, denn rings um mich ...

   [S. 165]:
   ... ein Mensch mit bösem und warmen Gelüst. Eine Tür ...
   ... ein Mensch mit bösem und warmem Gelüst. Eine Tür ...

   [S. 171]:
   ... inmitten einer weichwogenden Menschenmenge hatte einen ...
   ... inmitten einer weich wogenden Menschenmenge hatte einen ...

   [S. 177]:
   ... für dieses Dienstbotengasthaus mit meiner Derbydreß, ...
   ... für dieses Dienstbotengasthaus mit meinem Derbydreß, ...

   [S. 249]:
   ... -- ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihren ...
   ... -- ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihrem ...

   [S. 280]:
   ... Gesten mir zu es in ihm zu zucken begann, als spürte ...
   ... Gesten zu mir es in ihm zu zucken begann, als spürte ...






End of the Project Gutenberg EBook of Amok, by Stefan Zweig

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK AMOK ***

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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org



Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.