Kornelius Vanderwelts Gefährtin

By Rudolf Herzog

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Title: Kornelius Vanderwelts Gefährtin

Author: Rudolf Herzog

Release date: June 9, 2025 [eBook #76254]

Language: German

Original publication: Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger, 1928

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KORNELIUS VANDERWELTS GEFÄHRTIN ***



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                     Anmerkungen zur Transkription.

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des
Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
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                   Kornelius Vanderwelts Gefährtin




                        Kornelius Vanderwelts
                              Gfeährtin


                                Roman

                                 von

                            Rudolf Herzog


                            2.-50. Tausend




                        [Illustration: MDCXL]


                            1 · 9 · 2 · 8


               J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
                         Stuttgart und Berlin




 Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten Für die
Vereinigten Staaten von Amerika: Copyright, 1928, by J. G. Cotta'sche
            Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin




                          An Emma Elisabeth




                                  1


Das Mädchen stand mitten auf der Landstraße, als Kornelius Vanderwelts
Wagen in weiter Ferne wie eine winzige Staubwolke sichtbar wurde.
Die Hände hielten das im Winde flatternde Mäntelchen in den Taschen
am Körper fest. Der kleine Handkoffer ruhte wohlbehütet vor dem
Straßenschmutz auf den Stiefelspitzen.

Das Mädchen stand mit einem gesammelten Ausdruck des Gesichtes und
sah dem Wölkchen entgegen. Die schmale Gestalt hielt sich, als wäre
es so und nicht anders selbstverständlich, aufrecht in den Schultern.
Aber die kräftig betonte Linie dieser Mädchenschultern und die
kleinen, festen Bogen der Brüste, die der hastige Flußwind in das
Gewand kerbte, zeigten wohl, daß die Schmalheit der Gestalt eher
einer Herbheit der Erdentage als einer Mißgunst des Schöpfungstages
zuzuschreiben sei.

Die Augen, von dem hellen Grau durchtränkt, das dem dämmernden
Tageslicht gleicht, schlossen sich zu einem schmalen Spalt, sammelten
blitzschnell ihr Licht und ließen es frei. Der Ausdruck des Gesichtes
änderte sich keine Sekunde. Nicht verschlossen, unaufgeschlossen
erschienen die merkwürdig ruhigen Züge, von einem Mädchentum
zusammengehalten, das, sich selber unbewußt, nach Art scheuer Tiere
eine Schutzfarbe sucht.

Es war, als ob nur die Augen atmeten, der Körper sprungbereit gehalten
würde.

Das Flußbett der Ruhr zur Linken, herbstroten Buschwald zur Rechten,
kam Kornelius Vanderwelts Wagen näher und näher. Der Fahrer, wohl auf
Geheiß des Herrn, schlug ein langsameres Zeitmaß an, und Kornelius
Vanderwelt saß mit bloßem Kopfe am heruntergesenkten Fenster, ließ
den Wirbelwind in seinem Haar wühlen und trank mit den Augen die
weltabgewandte Flußlandschaft in sich hinein. Keine andere Erfrischung
war ihm lieber zwischen den lauten Stunden der Schifferbörse und der
nachmittäglichen Kontorzeit.

Kornelius Vanderwelt lachte lautlos vor sich hin, als er diesem
Gedanken Raum gab. Sein Gesicht bräunte sich. Fast hätte er als
ehrlicher Mann die heißen Zecherstunden der Nächte vergessen.

»He, Wilm! Was ist los?«

Das Mädchen auf der Landstraße hatte den Arm gehoben. Das
freigewordene Mäntelchen flatterte wie schlagende Flügel hoch in der
Luft, und der Wind preßte das Kleid fest zwischen die überschlanken
Knie.

»Bitte!« rief das Mädchen dem Fahrer zu, ohne sich um den Herrn zu
kümmern.

»Was will sie denn, Wilm?«

»Ob das hier richtig wär, nach Ruhrort!«

Kornelius Vanderwelt beugte sich ein wenig vor. Seine breiten
Schultern füllten das Fenster. Er sagte nichts, aber seine Augen
schossen ein lustiges Licht auf das gestraffte Menschlein, das ihm der
Kuppler Wind in allen Linien preisgab.

»Geht hier der Weg nach Ruhrort?« rief die Stimme des Mädchens den
Fahrer noch einmal an.

»Mein gnädiges Fräulein,« erwiderte Kornelius Vanderwelt, »der Fahrer
ist stumm und auch taub, wenn er den Herrn fährt. Wie es sich gehört.
Sie müssen also schon mit mir fürlieb nehmen.«

Das Mädchen wandte den Kopf und sah den Herrn an. Es sah in den
hellgefärbten Mannesaugen den Spott und mit dem unbeirrbaren
Tastgefühl, das unerweckter Jugend gleich den Schlafwandlern zu eigen
ist, daß der Spott nur ein Übermut sei.

»Geht hier der Weg nach Ruhrort?« rief die Mädchenstimme zum dritten
Male, und keine Schwingung in ihr war anders als zuvor.

»Gewiß, mein stolzes Fräulein. Seit den Tagen der alten Römer geht
hier der Weg.«

»Wie weit noch --?« fragte sie zurück.

»Wenn Sie die Fußwanderung vorziehen: zwei Stunden. Mit dem Wagen:
knapp eine halbe.«

»Danke!« klang es durch den Wind. Und als sie sich bückte, um die
Handtasche von den Stiefelspitzen aufzunehmen, sprang der Wind wie
ein meckernder Kobold sie im Wirbel an, von links und von rechts, von
vorne und im Rücken, wie sie sich auch wenden mochte, um den Mantel zu
haschen, um das aufflatternde Kleid über die Knie niederzuschlagen.
Über der geraden, schmalrückigen Nase grub sich eine Furche steil in
die breitgelagerte Stirn. In den grauen Augen saßen, tief auf dem
Grunde, heiße Lichter.

»Einsteigen!« gebot Kornelius Vanderwelt. Und als das Mädchen nicht
alsogleich im Kampf mit dem Winde nachzulassen vermochte, öffnete er
den Wagenschlag von innen und sprang hinaus.

Sie reckte sich augenblicks hoch und ließ flattern, was wollte. Dicht
voreinander standen sie, und ihr Scheitel, von einer dunklen Wollmütze
bedeckt, reichte dem Vierzigjährigen bis ans Herz.

»Sind Sie so klein?«

»Nein. Sie sind so groß!«

»Richtig. Es kommt immer auf den eigenen Standpunkt an.«

Er nahm sie um die Mitte und hob sie ohne Widerrede in den Wagen. Die
leichte Tasche hielt sie mit beiden Händen an sich gezogen.

»Mit halber Kraft auf Ruhrort. Los, Wilm.«

Der Wagenschlag schnappte zu. Vorwärts ging's. Links schimmerte in
Schlangenlinien der weiße Wasserspiegel der Ruhr. Rechts lohte in
heißer Herbstfeier der Buschwald in Rot und Gold.

Kornelius Vanderwelt streckte die Beine und äugte über die Schulter
hin auf seinen Fahrgast. Der saß schmal und steif in die Ecke gerückt
und hielt die Reisetasche auf den Knien.

»So setzen Sie sie doch hin. Ich stehle keine Reisetaschen. Vielleicht
fresse ich von Zeit zu Zeit junge Mädchen.«

Aus ihrer Kehle stieg ein einzelner Ton. Nie im Leben wurde sich
Kornelius Vanderwelt darüber klar, ob es ein Lachen oder ein Knurren
gewesen sei.

»Zeigen Sie doch mal Ihren Mund. Nein. Nicht die Zähne. Das sind
wahrhaftig alle Zweiunddreißig. Was tun Sie denn mit einem so
herrlichen Gebiß?«

»Beißen,« sagte sie halblaut und zog die Muskeln des Leibes zusammen.
Wie ein Tier, das sich zum Sprunge schickt.

Diesmal aber wußte Kornelius Vanderwelt mit Bestimmtheit, daß es ein
drohendes Knurren war.

»Ach so. Das war die Antwort auf den ›Menschenfresser‹.«

Da lachte sie ein kinderhohes, erlöstes Lachen.

»Ja,« fuhr er fort, als hätte er bisher den Erklärer gemacht, »und nun
wundern Sie sich wohl, daß dieses paradiesische Landschaftsbild der
Vorhof zur schwarzen Hölle Ruhrort ist. Aber das muß wohl so sein.
Als ausgleichende Gerechtigkeit. Die in der Hölle braten, haben den
Himmel am nötigsten. Zeigen Sie doch mal Ihre Augen her.«

Starr, die Haltung versteift, sah sie ihm mitten in die Augen.

Er tat, als gewahre er die Abwehr nicht. Er forschte in Ruhe weiter.

»Hm -- grau. Ist das nun grauer Himmel oder -- ist es der Vorhang zum
Himmel?«

»Fragen Sie doch die eigenen Augen! Sie sind so grau wie die meinen!«

»Kind, Kind, das hätten Sie sich nicht wünschen sollen. Auch nicht im
Zorn. Wenn ich danach meine grauen Augen frage -- weiß Gott, Sie haben
recht, im Grunde sind sie grau wie die Ihrigen -- wenn ich danach
meine grauen Augen frage, werden sie blitzblau vor lauter wilder
Freud'. Denn nur sie wissen, was hinter ihrem Vorhang steckt. Bitte --
nehmen Sie doch mal die Mütze ab.«

»Weshalb --?«

»Weshalb? Weil ich glaube, daß wir auch von der gleichen Haarfarbe
sind. Menschen, die durch die höhere Bildung jeden Blick verloren
haben, nennen es Tizianblond. Wir aber wissen, daß es das heiße Blond
unserer Vorfahren gewesen ist, denen Sonne und Seewasser abwechselnd
den Schädel peitschte. Die meinen waren Seeräuber. Fraglos! Und die
Ihren?«

»Vielleicht nicht weit davon.« -- --

Sein Auge, voller Belustigung unter dem erkünstelten Ernst, prüfte
sie genauer. Wen hatte er sich da aufgeladen? Was lief denn zu Fuß
mit einer Reisetasche stundenweit über die Landstraße und ließ sich
zerzausen? Eine kleine Arbeiterin oder eine kleine Abenteurerin?
In Kornelius Vanderwelt kämpfte der scharfe Geschäftsmann, für
den er über das ganze Hafengebiet Ruhrort hinaus bis zu den Zechen
und Hochöfen im weiten Umkreis galt, mit dem noch schärferen, laut
bejubelten und heimlich getadelten Lebensbezwinger einen nur kurzen
Kampf und unterlag in der Freude am Augenblick.

»Seltsam. Da reden sich die Menschen ein, nur die ungleichen Pole
zögen sich an. Die Hellen und die Dunklen. Die Starken und die
Schlappen. Die Glückseligen, die ihr Blut wie Götter verspüren, und
die Armseligen, denen die Angst den Magen verstört. Ewige Eselei. Als
ob der königliche Löwe -- nein, werden wir nicht hochtrabend -- als ob
der starke Wolf mit einer anderen Kumpanin jagen könnte als mit einer
Wölfin. Stimmt meine Rechnung? Wie alt bist du eigentlich, Kind?«

»Das Kind,« wiederholte sie, und durch die Nüstern pfiff der Atem,
»das Kind ist zwanzig Jahre alt.«

In ihrer Mädchenentrüstung schien sie ihm zum jungen Weibe zu wachsen.
Das gefiel ihm.

»Hältst du auch das Fahrgeld bereit?«

»Das -- Fahrgeld?«

»Aber -- aber! Ein jeder Gast muß doch das Fahrgeld im voraus
entrichten. Auf der Eisenbahn und in der Postkutsche. Selbst im
Gasthof, wenn er ein gänzlich Unbekannter ist.«

Ihr Gesicht, das in der Ruhe verharrt hatte, erblaßte vor innerer
Erregung. Noch schmaler schien es. Noch schmaler die gerade Nase, der
dunkle, fest zusammengepreßte Mund. Die Augen aber funkelten aus dem
Blaß in einem noch tieferen und heißeren Grau.

»Was kostet mich die Fahrt?«

Ihre Hände nestelten an der Reisetasche. Sie suchten das Schloß zu
öffnen. Und Kornelius Vanderwelt sah auf diese Hände und sah, daß
sie feingegliedert und in jedem Glied ausdrucksvoll waren, wie ein
erlesen Kunstwerk, oder doch wie erlesenes Werkzeug, der Kunst die
feinsten Quellen zu erschließen. Er nahm die beiden Hände in seine
starken, gut gehaltenen Manneshände und schloß sie darin ein, daß
sie wie Edelmetall im Erzgestein lagerten. In der Landschaft draußen
war der silberhelle Fluß, war das Paradiesgärtlein verschwunden.
Auf schwarzgesprenkelter Halde wuchsen statt lodernder Purpurbäume
rauchende Schlote auf, einzeln erst, dann in Heeresmassen, fernhin von
den Festungstürmen speiender Hochöfen umgrenzt.

»Was die Fahrt kostet?« fragte Kornelius Vanderwelt zurück. »Nein,
nicht in Mark und Pfennigen ausrechnen. Im Märchen geht es immer um
Sternentaler. Und die heilige Zahl ist drei. Zuck' nicht mit den
Fingerlein. Gib dein Mündchen. Einmal -- zweimal -- dreimal -- -- --«

Und er küßte sie kräftig auf die linke Wange und küßte sie kräftig
auf die rechte Wange und küßte sie ganz zart nur, als wär es ein
Streicheln, über die Linie des Mundes.

Ein Ruck -- ihre Hände waren frei, schlugen nach ihm, zu Fäusten
geballt, in entfesseltem Zorn.

»Einmal -- zweimal -- dreimal!«

Er wischte die Fäuste wie Blumenblätter von der Stirn, kämmte die
Fingerlein durch und sagte nur: »Falsch. Beim dritten Mal hab' ich nur
gestreichelt, du aber hast auch zum drittenmal geschlagen. Nun hat das
Märchen einen falschen Ausklang, und wir müssen es wiederholen.«

Da schossen ihr die Zornestränen aus den Augen ...

Schmal und steif saß sie in die Ecke gerückt und hielt die Reisetasche
auf den Knien. Aber die Muskeln des Leibes zogen sich zusammen.

»Bitte!« bat Kornelius Vanderwelt, und er bat wie ein großer,
ungestümer Junge, der sein Ungestüm bereut und doch vor einem kleinen
Mädchen nicht die Segel streichen möchte. »Bitte! Keine Tränen weinen!
Tränen kann ich nicht sehen! Hörst du auch? Oder ich muß sie alle
fortküssen. Alle. Aus deinen Augen. Von deinen Wangen. Und wenn sie
dir zwischen die Brüstlein laufen, dann hilft es nichts: ich muß sie
-- alle -- alle --«

Was war geschehen?

Der Wagen kreuzte in der Vorstadt eine elektrische Straßenbahn.
Er fiel ein paar Sekunden in Schritt. Und schon hatte der Fuß des
Mädchens die Türklinke niedergedrückt, hatte das Knie des Mädchens
den Wagenschlag weit aufgestoßen. Ein geschmeidiges Tier konnte nicht
schneller in der Freiheit sein.

Wo sie untergetaucht war im Gewühl, vermochte Kornelius Vanderwelt in
den wenigen Augenblicken, die ihm belassen wurden, nicht zu ergründen.
»Wagenschlag schließen! Wollen Sie Kleinholz machen?« donnerte ein
Schutzmann, erkannte Kornelius Vanderwelt, legte die Hand an den Helm
und grüßte mit seinem fröhlichsten Gesicht.

Und Kornelius Vanderwelt grüßte mit seinem fröhlichsten Gesichte
wieder, mit den hellen und übermütigen Augen, die ihm die Liebe alles
Hafenvolkes gewannen und den Neid aller eigenen Kreise, zog den
Wagenschlag ins Schloß und rief den Fahrer an.

»Zum Kontor. Los, Wilm.«

Er saß, die Beine übereinandergeschlagen, das Kinn in der
aufgestützten Hand versenkt, grübelnd im Polster. Aber er grübelte
nicht über das verschwundene Mädchen. Hatte er auf seiner
Entspannungsfahrt überhaupt ein Mädchen zu Gesicht bekommen? Oder gar
ein paar Herzschläge lang im Arm gehalten? Unsinn. Die Wasser des
Rheins stiegen, und die Frachten würden fallen zu Berg und zu Tal,
gen Mannheim und gen Rotterdam. Aber da war die selten so günstige
Arbeitslage auf dem Kohlenmarkt. Jeder Zeche, jedem Großhändler mußte
an der Ausnutzung gelegen sein, und die bedrohten Frachtlöhne würden
sich wieder hochreißen lassen.

Kornelius Vanderwelt saß im Lederpolster seines Wagens und seine
Gedanken fuhren sieghaft rheinauf und rheinab und weit über die
schiffbefahrene See -- --

Träumte er und wachte er zu gleicher Zeit? Konnte er seine Wachheit
in Traumländer hinüberspielen und aus seinen Traumbildern heraus
haarscharf den wachen Tag überblicken? Der Wagen bog in die Straßen
Duisburgs, glitt durch gepflegte Anlagen, wand sich durch das Gewirr
der langen Häuserzeilen, die angefüllt waren mit dem Verkehrstreiben
und der geschäftlichen Anspannung der arbeitschwangeren,
arbeitgebärenden Großstadt. Und Kornelius Vanderwelts Augenlider
öffneten sich, sobald sie sich öffnen mußten, und senkten sich, sobald
die Achtsamkeit nicht verlangt wurde. Jetzt neigte er in höflichem
Ernst den Oberkörper, und der Gruß galt einem vorüberbrausenden
Zechenherrn und schien zu sagen: Hier haben Sie den Mann für die
schnellste Verfrachtung Ihrer Förderungen. Jetzt hob er grüßend
die Hand, und der kurze Wink rief einem eifrig dahintrottenden
Geschäftsfreunde zu: Halbpart, mein Junge, oder du kommst über Bord.
Jetzt zeigte er nur in vertraulichem Lachen die Zähne, und der
Schiffer, der in Strickweste und weiten Manchesterhosen breitbeinig
eine Hafenbrücke überquerte, drehte bei, lüftete grinsend die Mütze
und machte die Gebärde des Schnapsverholens, eine Gebärde, die von
Kornelius Vanderwelt in einem schönen Gleichmaß wiederholt wurde,
gleichsam als füge er ein Prosit hinzu. Und wiederum schlossen sich
träumerisch die Augenlider bis auf einen schmalen Schlitz, durch den
er den wachen Tag einließ.

Enger und rauchiger wurden die Straßen, als der Wagen die letzte
der Hafenbrücken hinter sich gelassen hatte. Ein Gewirr von Gassen
und Wasserzeilen tat sich auf. Geschwärzte Giebel schwammen auf
kohlenschwarzen Wasserspiegeln. Und Schiffsrumpf an Schiffsrumpf.
Plump, riesenstark, mit unersättlich geöffneten Mäulern.

Ruhrort -- das schwarze Venedig.

Und Kornelius Vanderwelt dachte aus Träumen und Wachen, als der
Wagen in eine Toreinfahrt bog und stand: Immer mehr Land muß noch
verschwinden, immer mehr Wasser sich breiten, Rheinwasser und
Ruhrwasser, in Hafenbecken und Kanälen, und die Kanäle sollen die
Kohlen aus den Zechenfeldern saugen, und die Ruhrhäfen sollen sie
aufschlucken und unermüdlich die Beute dem Herrn überantworten, dem
Rhein, und dem Herrn des Rheins -- uns -- uns, uns!

Aufrecht, nur noch die Wachheit des Tages in den Augen, stieg
Kornelius Vanderwelt aus dem Wagen und schritt ins Kontorgebäude.
Die schreibenden und rechnenden Herren an den Pulten grüßten kurz
und fuhren ungestört in ihren Arbeiten fort. Wortlos war Kornelius
Vanderwelts Gegengruß. Ein lautes Wort, und ein überflüssiges zumal,
konnte eine Berechnung über den Haufen werfen.

Aus einer holzvergitterten Nische erhob sich der bevollmächtigte
Geschäftsführer und folgte mit einem Bündel Papiere dem Geschäftsherrn
in das Sonderkontor. Kornelius Vanderwelt reichte ihm die Hand,
hing seinen Hut an den Haken und ließ sich in seinem Drehsessel
nieder. Stumm nahm er das Bündel Papiere entgegen, glättete es auf
dem Schreibtisch und begann es durchzusehen. Kaum daß die Blicke
abglitten, zog die Rechte Bleistift und Papierblock heran, schrieb
kurze Merkworte nieder, Zahlen, Gleichungen. Die Blätter raschelten
und schichteten sich zur Seite.

»Setzen Sie sich doch, Beckenried.«

Der ergraute Mitarbeiter nahm geräuschlos an der gegenüberliegenden
Breite des Tisches Platz. Er sah stumm auf die hin und her gleitende
Schreibhand des Herrn. Nur wenn die Schreibhand innehielt oder die
Fingerknöchel auf den Tischrand trommelten, vergewisserte er sich
des Papieres, das eben vorlag, und mit einem kurzen Aufblick der
Gesichtszüge des Herrn.

»Mehr Schiffsraum heran, mehr Schiffsraum. Bevor die Zechen in ihren
Kohlenhalden ersticken, verschreiben sie sich mit Haut und Haaren dem
Herrn Eisenbahnminister. Und den kann von uns aus der Teufel holen.«

»Dann müßt' sich der Teufel selber holen.«

»Was soll das? Ach so, Sie meinen: Der, dem man sich mit Haut und
Haaren verschreibt, müßt' unbedingt auch ein Teufel sein. Lieber
Beckenried, nur für Ihr mathematisches Hirn. In Wirklichkeit ist die
Sache gottlob oft anders. Weiter im Text. Mit Frachtaufträgen sind die
Herrschaften verdammt freigebig, wenn der Winter vor der Tür steht und
der kleinste Kanonenofen nach Kohlen schreit. Mit den Frachtpreisen
aber zähe wie Hinterleder. Ne, ne, ich schimpfe ja nicht! Wozu wären
~wir~ denn da?«

Er ließ auf dem Papierblock eine Reihe Zahlen aufmarschieren und hielt
sie seinem Mitarbeiter hin.

»Stimmt das mit den Ihren? Vergleichen Sie mal.«

»Es stimmt. Wie immer.«

»Wollen Sie mit diesem ›wie immer‹ ~mir~ eine Schmeichelei sagen
oder Ihrer eigenen Person? Schön, die unbedingt notwendige Tonnenzahl
stände fest. Was ist in Summa an Kahnraum und Schleppdampfern heute
früh angeboten? Sind die Abmachungen, die ich von der Schifferbörse
herübergab, ausreichend? Tonnengehalt! Pferdekräfte! Los, lieber
Beckenried.«

»Mit den nachbörslichen Aufträgen brauchen wir das Doppelte. Das ist
nicht im Handumdrehen zu beschaffen, denn es ist nicht nur die Firma
Kornelius Vanderwelt auf der Jagd nach Schiffsraum.«

»Beckenried! Wie oft soll ich Ihnen diese Wahnvorstellungen noch
ausreden! ~Nur~ die Firma Kornelius Vanderwelt braucht
Frachtkähne und Schlepper. ~Nur~ die Firma Kornelius Vanderwelt
ist auf der Jagd nach Schiffsraum. ~Für uns nur Kornelius
Vanderwelt!~ Alle übrigen können uns -- nun, Beckenried,
befleißigen wir uns im Verkehr mit der Geschäftswelt der
ausgesuchtesten Höflichkeit -- also sie können es auch unterlassen.«

Beckenried verbeugte sich kühl.

»Ich habe übrigens ›sie‹ klein geschrieben,« sagte Kornelius
Vanderwelt sachlich. »Und nun fahren Sie fort.«

»Abgemacht,« erklärte der im Geschäft Ergraute, ohne eine Miene zu
verziehen, »der Schiffsraum ist nur für ~uns~ da. Aber die
verschiedenen Arten von Schiffsraum? An der einen Sorte ist viel und
an der anderen ist wenig zu verdienen, besonders wenn es, wie gerade
jetzt, um scharfe Berechnungen geht.«

»Mein verehrter Freund und Mitarbeiter ist mal wieder unzufrieden mit
mir?«

»Wenn ich ein Feigling wäre, was ich aber ~nicht~ bin, und hätte
Angst vor Ihnen,« sagte Beckenried, hauchte auf die Gläser seines
Kneifers und putzte sie spiegelblank, »so würde ich mir bei jeder
Maßnahme des Oberhauptes denken: der Herr ist klüger als du. Oder
sonst was.«

»Das ›oder sonst was‹ verbitte ich mir. Weiter.«

»Halte ich mich aber in Wirklichkeit für Ihren Freund und Mitarbeiter,
so ergibt sich für mich daraus die unbedingte Geschäftspflicht, aus
allen Unternehmungen die höchsten Gewinne herauszuwirtschaften.«

»Mir ganz aus dem Herzen gesprochen, lieber Beckenried.«

»Ich will Ihnen aber gar nicht aus Ihrem Herzen heraussprechen,
sondern von Hirn zu Hirn.«

Kornelius Vanderwelt hob langsam den Kopf. Es war ein schmaler, fester
Kopf mit weitausladenden Stirnknochen. Das dichte blonde Haar trug
einen schimmernden Glanz, wie der lichte Schnurrbart, den er behutsam
mit den Fingerspitzen strich. Und nun hob er langsam die Augenlider
und lächelte seinen Ratgeber mit dem hellsten Hell seiner grauen Augen
an.

»Von Hirn zu Hirn, Beckenried. Das ist ein Wort. Aber was wäre das
Hirn ohne Herz? Eine Maschine unter Druck bis zum Bersten. Ein Reiter
ohne Buddel. Ein Mädchen ohne Liebe. Was nützte dem Reiter alle
Schenkelkraft und dem Mädchen alle Schönheit, wenn nicht zum Ausgleich
irgendwo eine derbe Erdenfreude winkte. Mein kaufmännisches Hirn
treibt mich zu den Schiffsparks der Großreeder. Dort wickeln sich die
Geschäfte schneller und einträglicher ab. Darum habe ich aber doch
mein Herz, das seine Freude will, für die Kleinschiffer entdeckt, für
die Herren ›Partikuliers‹, wie sie sich so bieder und eigentumsstolz
benennen, und wo für die Krippengäule gedroschen wird, bleiben wohl
auch ein paar Hände voll für das lustige Federvieh.«

»Es ist nicht ~mein~ Geschäft,« sagte der Vertraute, steckte den
Kneifer ein und legte die Papiere zusammen. »Ich habe hier nur Rat zu
erteilen.«

»Gut,« entgegnete Kornelius Vanderwelt. »Sie haben ihn erteilt. Und
nun will ich Ihnen auch einen Rat erteilen. Sie waren einmal ein
fröhlicher Bursche. Bitte, keine erstaunten Augen. Sie haben mit
mir manche Flasche leergetrunken und sich manche Ruhrorter Nacht um
die Ohren geknallt, als Sie noch jünger waren und die Firma noch
unbedeutend. Hüten Sie sich vor dem Verknöchern. Es tritt ein, wenn
wir das Geld nur noch um des Geldes willen einscheffeln und nicht mehr
wegen seiner befreienden Eigenschaften. Ich bin weiß Gott ein scharfer
Rechner und rieche einer Mark an, ob ein Taler darin steckt, wenn die
anderen sie noch mißtrauisch in den Fingern herumdrehen. Aber letzten
Endes doch nur, um auch mehr Spaß im Leben davon zu haben als die
Pfennigfuchser, die ihren Spaß im Geldschrank aufhäufen, bis ihnen jäh
der Sargdeckel auf die Nase fällt. Lieber Freund, nur das Leben erhält
jung, und dazu gehört das Lebenlassen.«

»Sie sind entweder eine Dichternatur oder ein ~ganz~ Gerissener.«

»Also bleiben Sie bei dem Ganzgerissenen, da Ihnen die Künste im
Kaufmannsleben ein Greuel sind.« Er erhob sich, legte dem kleineren
den Arm um die Schulter und wiegte ihn hin und her. »Also denken
Sie, daß ich für meine Liebe zu den Herren Partikuliers nicht nur
poetische, sondern auch sehr eigensüchtige Gründe habe. Daß es mir
nicht nur auf die Saufnächte mit den urwüchsigen Kerls ankommt,
sondern auch -- auf ihre Gegenliebe -- am nüchternen Tag -- auf der
Schifferbörse -- bei den Abstimmungen -- und so weiter! -- Verstanden?
-- Verstanden? -- Und nun stecken Sie sich mal diese Zigarre an und
lassen Sie mich arbeiten.«

Der Arbeitsgefährte kniff die Augen ein. Das Hin- und Hergewiegtwerden
hatte ihn schwindlig gemacht.

»Ich verstehe. Ich verstehe. Und ich verstehe immer: Volkstribun.
Soweit mir aus meiner unerfreulichen Schulzeit her noch bekannt
ist, haben Volkstribunen immer noch den Hals gebrochen. Aus
Verschwendungssucht, um volkstümlich zu bleiben. Oder aus
Herrschersucht, um die Patrizier kleinzukriegen. Den Hals aber hat's
immer gekostet.«

Kornelius Vanderwelt dehnte sich in den breiten Schultern. Und die
Augen des Tadlers freuten sich, ob sie wollten oder nicht, an dem
straffen, muskelharten Körper.

»Lassen Sie das meine Sorge sein, Beckenried. Ob Sie einmal aus
Altersschwäche, sozusagen stückweise in den Himmel kommen, oder durch
einen wilden Sprung -- doch das gehört nicht ins Kontor. Liegt nichts
Wichtigeres mehr vor, so können wir unsere Besprechung beenden. Bei
den Einzelkähnen der Partikulierschiffer bleibt es.«

»Die Rotterdamer Maatschappij fragte durch den Fernsprecher an, ob sie
dem nächstfälligen Schleppzug Rückfrachten geben könnte. Preise nach
den Ruhrorter Frachtkursen.«

Ein Blitzstrahl schoß aus den grauhellen Augen. Und der Blitzstrahl
verzehrte jählings den Volkstribunen und ließ ebenso jählings den
Geschäftsherrn Kornelius Vanderwelt erscheinen.

»Hält uns die Rotterdamer Maatschappij für Hinterwäldler? Solch
eine Dummpfiffigkeit. Ruhrorter Frachtkurse! ~Rotterdamer~
Frachtkurse, und wenn die Seeschiffe nicht zur Stunde den Rotterdamer
Hafen anlaufen, und die Übernahme der Rückfrachten sich nicht wie ein
Uhrwerk vollzieht, gesalzene Aufschläge!«

»Die holländischen Gesellschaften sind großmächtige Leute, Herr
Vanderwelt. Vor dieser Gefahr kann man nicht die Augen verschließen.
Und bevor wir die Kähne leer nach Hause schleppen lassen, sollte man
den kleinen Gewinn ...«

»Jawohl. Das sollte man. Wenn kein größerer herauszuschlagen wäre.
Und der ~ist~ herauszuschlagen. Hier«, er pochte auf ein paar
Zettel, »in diesen frischen Drahtnachrichten liegen die letzten
Wetter- und Wasseransagen vor. Schneefälle in der Schweiz und im
Schwarzwald. Pegelstand bei Kehl und bei Mainz leicht steigend. Nur
dieser verrückte Wind braucht sich noch zu legen, und Sie sollen mal
was von Regengüssen erleben. Ich sage Ihnen, innerhalb einer Woche
haben wir einen Meter Wasser mehr im Rhein, und das Frachtgeschäft
drängt bis zur Atemlosigkeit zu Berg und zu Tal und reißt den letzten
Kahn mit, der noch zu schwimmen vermag.«

»Was soll ich nach Rotterdam sagen?«

»Ich besorg's schon selbst. Meine Stimme ist zuweilen verständlicher.«

Er nahm den Hörer vom Fernsprecher. »Kontor? Stellen Sie doch eine
dringende Verbindung mit der Rotterdamer Maatschappij her. Danke.« Er
legte den Hörer auf die Gabel. »So, Beckenried, und nun wollen wir
einmal in den Rotterdamer Großherrenschädeln das Wetter aufklaren.
Großmächtige Leute! Holländische Gefahr! Für die Rheinschiffahrt und
das Frachtengeschäft! Alles wahr. Alles unzweifelhaft richtig, wenn
ihr Ruhrorter euch vor jedem holländischen Gulden klein macht, statt,
wenn's darauf ankommt, drauf zu pfeifen.«

»Geschäft ist Geschäft, Herr Vanderwelt.«

»Ach, Beckenried, ich habe Sie höher eingeschätzt. Sie haben doch so
manche Nacht mit mir gesoffen, als Sie noch nicht verledert waren, und
der Wein fördert die Stimme der Natur. Da hätten Sie aus der meinen
lernen können. Geschäft ist Geschäft nur für Schreiberseelen, denen es
Hekuba ist, von wem Sie befehligt werden, wenn nur am Monatsletzten
bei Heller und Pfennig die Löhnung auf dem Tische liegt. Ein jedes
Geschäft ist aber noch lange kein Geschäft für die Kapitänsseelen, die
unter fremder Flagge Schiffsjungendienste verrichten sollen, und wenn
sie noch soviel Geld verdienen und Sonntags sogar den Kapitänsrock
tragen dürfen. Geld ist gut. Aber Herrenrecht im Hause ist besser.
Hallo, der Fernsprecher.«

Mit kühlen Augen nahm er den Hörer von der Gabel.

»Kornelius Vanderwelt. Ja, selbst. Welche Zeche? Ah, guten Tag, Herr
Direktor.«

Seine Hand tastete nach Bleistift und Papierblock, während sein Ohr
dem Sprecher folgte. Jetzt setzte die Hand einige Zahlen aufs Papier.
Der Blick überflog sie.

»Vielen Dank. Ein schöner Auftrag. Fast zu schön, um ihn zu bezwingen.
Wie meinen, Herr Direktor? Ein Hexenmeister wie ich? Sie kennen doch
das Dichterwort: ›Wächst mir ein Schleppzug auf der flachen Hand?‹ Und
für zwanzigtausend Tonnen brauche ich gut und gern drei Schleppzüge,
wenn ich für je fünf große Kähne in der heutigen Bedrängnis drei
starke Schleppdampfer auftreibe. Nun, für Geld ist alles zu haben.«

Er horchte aufs neue in den Hörer hinein. Seine Augen lachten
stillverschwiegen.

»Natürlich gebe ich Ihrem Auftrag den Vorzug vor allen anderen.
Ich bin sogar bereit, ein großes Geschäft mit Rotterdam
Ihretwegen schwimmen zu lassen. Bitte, bitte, das ist eine
Selbstverständlichkeit. Deutsche an die Front! Aber wenn ich Ihnen
behilflich sein kann, daß Sie mit zwanzigtausend Tonnen vor Ihren
Mitbewerbern in Mannheim landen und die höheren Preise hereinholen
können, so müssen Sie mir auch ein paar Pfennige mehr für die
Schiffer bewilligen. Wie meinen? Jaja. Nennen Sie es nur ruhig
Bestechungsgelder. Der Name tut wirklich nichts zur Sache.«

Und als Kornelius Vanderwelt wieder in den Hörer horchte, waren seine
Augen falkenscharf.

»Abgemacht. Versicherung und Verladekosten zu Ihren Lasten. Es wird
ein Beutezug für Sie werden, für den ich gutsage, und ich freue mich
auf die Flasche Hallgartener Nußbrunnen Auslese, zu der Sie mich im
Namen Ihrer Aktiengesellschaft in der ›Erholung‹ einladen werden.
Frohes Wiedersehen!«

Beckenried schrieb den Auftrag nieder, wie Kornelius Vanderwelt ihn
vorsprach. Er schüttelte den Kopf.

»Kein Schiffsbefrachter Ruhrorts wird den Laderaum in so knapper Zeit,
wie hier gewünscht wird, zusammenbekommen. Verlassen Sie sich darauf.«

»Ich werde mich lieber auf den Volkstribunen verlassen,« sagte
Kornelius Vanderwelt und blickte durch das Fenster über den Hafendamm
ins Weite.

Noch einmal schrillte die Glocke des Fernsprechers. Schriller.
Anhaltender. Mit der Erregung, mit der sie eine Auslandsverbindung
anzeigt. Die Rotterdamer Maatschappij meldete sich.

»Hier Kornelius Vanderwelt in Person. Jawohl, danke sehr, Ihre
Anfrage wurde mir übermittelt. Leider, leider ist es so gut wie
eine Unmöglichkeit, die Kähne auch nur vierundzwanzig Stunden über
die Ausladezeit im Rotterdamer Hafen liegen zu lassen. Wir bekommen
großes Wasser, und das Frachtengeschäft hier in Ruhrort hat sich
über Nacht zum Hochbetrieb entwickelt. Die Schifferbörse war noch
von der Plötzlichkeit überrumpelt, aber morgen schon werden wir den
erfreulichen Umschwung an den Frachtkursen verspüren. Wie hoch ich
die allgemeine Steigerung berechne?. Sie wird bis hundert Prozent
gehen. Und Sie werden es uns nicht verargen, daß wir allen Leerraum
von draußen schleunigst zurückpfeifen und an der hohen Welle teilhaben
lassen.«

Kornelius Vanderwelt sprach über den Fernsprecher hinweg. Er richtete
seine Ausführungen unmittelbar an seinen Mitarbeiter Beckenried, der
sie mit einem verlegenen Lächeln entgegennahm.

»Ob ich das Angebot der Maatschappij annehme? Oh, das meinen Sie
nicht ernsthaft. Ich verstehe nicht. Bei unserer alten und bewährten
Geschäftsverbindung? Ja, das ist auch ~mein~ Stolz, daß sich
unsere alte Verbindung bei gutem und bei schlechtem Wetter bewährt
hat, und ich will es, wenn Sie sich umgehend entschließen, auf meine
Gefahr nehmen, Ihnen die Kähne mit nur fünfzig Prozent über heutigen
Ruhrorter Kurs zur Verfügung zu lassen. Wie? Was? Entschuldigung,
ich erhalte gerade eine Nachricht. Eine unserer großen Kohlenzechen
verlangt von mir dringendste Anschaffung von zwanzigtausend Tonnen
Schiffsraum. Das ist schon der Anfang. Alle Mann an Bord und jeder
Kahn heran!«

Und Beckenried jedes Wort auf den Kopf zusagend, wiederholte Kornelius
Vanderwelt den Rotterdamer Zuruf.

»Mit fünfzig Prozent über heutigen Ruhrorter Kurs. Gut, ich schließe
ab, um Ihnen meine Dienstfreundlichkeit zu zeigen. Selbstverständlich
der gleiche erhöhte Satz für Wartezeit und Ladezeit. Nein, nein,
daran ist nicht zu rütteln. Und nun hoffe ich, daß Sie mich und meine
Dienste zu allen Zeiten bevorzugen. Glückauf!«

»Glückauf,« wiederholte er und machte seinem Geschäftsführer eine
tiefe Verbeugung.

»O ja. O ja doch. Wenn man Kornelius Vanderwelt ist und sein eigener
Herr und Meister --«

»Wenn die Beckenrieds nicht mal über das kleine Einmaleins Herr und
Meister werden können, können sie keine Vanderwelts werden, die nur im
großen Einmaleins tief Atem holen. Darum keine Feindschaft und jeder
an seinem Platz. Lassen Sie im Kontor die Berechnungen durchführen
und die Güterversicherungen. Überprüfen Sie sie bis in die letzte
Pore. Ich unterschreibe blindlings. Mann, wenn ich Sie nicht hätte,
Ihr Kornelius Vanderwelt könnte Partikulierschiffer werden auf seinem
Kohlenkahn.«

Ein Lächeln glitt um Beckenrieds gekniffenen Mund. Ein Lächeln stiller
Zustimmung und Selbstbewertung. Er nahm die Hand, die Kornelius
Vanderwelt ihm rasch entgegenstreckte, und empfahl sich.

Bis zum Abend saß Kornelius Vanderwelt über seine Arbeit gebeugt.
Seine Schriftzüge bedeckten Seiten. Seine Zahlenreihen füllten Bogen
an. O nein, es war keine Rede von blindlings erteilten Unterschriften.
Es war nur die Rede gewesen von der Kunst der Menschenbehandlung.
Früh brach die Dunkelheit in das enge Hafenviertel. Gewohnheitsmäßig
suchte die Linke den Lichtschalter der Tischlampe, während die Rechte
unbeirrt weiterschrieb. Flog der Blick durch das Fenster, so sah er
die Lichter aufflammen in allen Geschäftsräumen der Häuser ringsum,
die Bordlichter an den Kähnen, die Fahrt- und Haltlaternen an den
Masten der Schlepper. Die Festbeleuchtung des schwarzen Venedigs.

Kornelius Vanderwelts Atem ging tiefer. Für Sekundenlänge sog er
das Bild in sich hinein, horchte er, als wäre es ein feingesetztes
Musikstück, auf die grellen Pfiffe, die aus der Dunkelheit ins
Licht stießen, auf das Gerassel ferner Ankerketten, das Anrollen
der Eisenbahnwagen, das Aufkreischen der Verladekipper, die mit
unaufhörlichem Hungergestöhn den Inhalt der Wagen schluckten und
ihn lustbrüllend in die Kähne spien. Und in seinen Augen lagerte
der Widerschein des Musikstückes, während er rechnete und schrieb,
während er den Hörer vom Fernsprecher hob und kurze Gespräche mit
diesem und mit jenem unsichtbaren Kapellmeister führte oder mit einem
der Musikanten selbst. Wieder und wieder öffnete sich die Tür zu
seinem Sonderkontor, wurden Stöße von Briefen, Bestätigungsschreiben,
Versicherungsscheinen zur Unterschrift auf seinen Arbeitstisch
geschoben, wartete der Bote, bis der Herr scharfäugig die Zahlen
verglichen, die Briefe durchflogen, unterschrieben oder zur Abänderung
zurückgegeben hatte. Ein Kleines noch, und im Hauptkontor scharrten
Schuhe eilig den Boden, klappten Türen, wurde es kirchenstill.

Das gelbliche Gesicht Beckenrieds blickte durch den Türspalt, sah
fragend auf den arbeitversponnenen Herrn.

»Sie haben wohl Durst, Beckenried? Den verdanken Sie mir.«

»Ich verdanke Ihnen eine Leberanschoppung, Herr Vanderwelt.«

Kornelius Vanderwelt schloß den Schreibtisch. Er reckte die Glieder
wie ein Soldat nach der Schlacht. Und gähnte, bis die Kiefern knackten.

»Ne, Geliebter, die verdanken Sie Ihrer Unmäßigkeit. Meinethalben
der -- der -- falschen Gewichtsverteilung. Da neigt sich der Kahn
zu Wasser. Zum kohlenschwarzen Wasser, Beckenried, statt zum
himmelsgoldenen Wein. Ich will ein Menschenfreund sein und Sie noch
einmal in die Lehre nehmen.«

»Gott soll mich bewahren. Zerrütten Sie Ihre Gesundheit auf eigene
Rechnung. Meine Leber haben Sie doch in früheren Jahren genug
mißhandelt.«

»Gute Nacht, undankbarer Schüler. Und was meine Gesundheit betrifft
--« er spannte die Brust und schlug lachend mit der Faust auf die
Wölbung. »Nun? Hört sich das wie Zerrüttung an?«

»Ich müßte lügen, Herr Vanderwelt. Es hört sich an wie eine
Weinkanne.« Und er ließ den Geschäftsherrn an sich vorüberschreiten,
um hinter ihm die Kontortür zu schließen.

»Gehen Sie schlafen, Beckenried. Ihnen fehlt jede Begabung für die
Musik des Lebens.«

»Gute Nacht, Herr Vanderwelt.«

Kornelius Vanderwelt schritt den Damm entlang, verharrte am Hafenmund
und schnupperte den teerdurchtränkten Herbstwind ein. Südwind, dachte
er, aber es ist schon ein Hauch von Feuchtigkeit darin, und morgen
werden wir Westwind haben. Westwind. Regen. Großes Wasser. Ruhrorter
Frühlingsluft -- --!

Die Häfen lagen ausgestorben. Der Feierabend hüllte sie in seine
warmen, weichen Schwingen. Nur die Hochöfen gluteten im weiten Rund
wie ruhlos fiebernde, schweratmende Vulkane.

Von einem Holländer Kahn glitten die Klänge einer Harmonika ins
Dunkle. »Wilhelmus von Nassauen« spielte der Schiffer.

Von einem Oberländer Kahn klang die heimatgefärbte Antwort.

  »Bald gras' i am Neckar, bald gras' i am Rhein,
  Bald hab' i ein Schätzel, bald bin i allein ...«

schluchzte die Harmonika und ging in einen handfesten Gassenhauer
über. Irgendwo auf einem Kahn schlug ein Spitz an. Ein zweiter, ein
dritter, ein Dutzend antworteten. Eine Minute lang beherrschte das
hellgestimmte Gekläff das weite, nächtliche Hafengebiet und brach jäh
ab.

Eine Weile noch horchte Kornelius Vanderwelt in das Schweigen hinein.
Dann sah er im Scheine der Hafenlaternen nach der Taschenuhr, bog
in die gartengeschmückte Rheinallee ein und schritt ausholend der
mächtigen Brücke zu, die den dahinflutenden Strom des Rheines
überspannt und Ufer an Ufer reißt, Menschen zu Menschen, Arbeit zu
Arbeit, Freude zu Freude, und stand vor seinem Hause.

Durch einen Vorgarten ging er hindurch. Rosensträucher, noch einmal
aufjauchzend in heißer Blütenpracht, boten dem Herbstwind Trotz.
Eine hochaufragende Weide, Wacht und Schönheit in eins, warf aus
verkuppelter Krone undurchdringbares Zweigegewirr, silbrig wogende
Schleier über das weiße, schlichte Landhaus, lockend und bergend.

Kornelius Vanderwelt spannte das Gehör, als er den getäfelten Hausflur
betrat. Er verzog den Mund, wie von Schmerzen befallen. Klavierspiel
drang an sein Ohr. Vorschriftsmäßig in der Taktgestaltung, aber hart
im Anschlag, unverstanden im Wesentlichsten, dem Geist. Und zu dem
Kinderspiel gebot eine trockene Frauenstimme unablässig: »Eins, und --
zwei, und -- drei, und --!« und legte der silbern hüpfenden Sonate des
göttlichen Wolfgang Amadeus Mozart ein Zwangsleibchen an.

In wenigen Sätzen war Kornelius Vanderwelt die Treppe hinauf, stand er
im Musikzimmer am Flügel. »Mörder!« schrie er, »Schwerverbrecher! Wen
soll ich zuerst erwürgen?«

»Mich, Papa! Mich!« Die Stimme des zwölfjährigen Mädels überschlug
sich vor Entzücken. »Damit die Quälerei zu Ende geht!«

»Vom Klavierbock herunter, Juliane! Ist der Flügel eine Fleischbank,
auf der Wolfgang Amadeus Mozart zu Wurstfleisch zerhackt wird?«

»Sag's doch Fräulein Bilsenbach! Sag's ihr,« hetzte das Mädel
ausgelassen.

»Ich muß doch sehr bitten, Herr Vanderwelt, vor dem Kinde mein Ansehen
zu wahren.«

»O Fräulein Bilsenbach, nichts für ungut, aber das Ansehen Mozarts
geht vor. Außerdem! Wer so bezaubernd kocht, braucht auf das Ansehen
anderer Künstler wirklich nicht neidisch zu sein. Ja, da lächeln Eure
Gnaden. Wie gut Sie das kleidet -- --«

Und er saß auf dem Klavierbock, legte mit leisem Streicheln die Hände
auf die Tasten und blickte über das Notenblatt. Ein Quellengeplauder
hob an unter seinen Fingerspitzen. Ein blitzendes Bächlein sprang
eigenwillig und doch von der Schönheit eingebettet durch die
Blumenwiesen. Mit einem Seufzer der Liebeslust sprang es dem
aufrauschenden Fluß in die Arme, der bewimpelte Schiffe trug und auf
den Schiffen vor Seligkeit singende Menschen. Und der Fluß ward zum
Strom durch tausend Quellen, die ihm ihr blitzendes Wasser brachten
und die Elfenlieder von den Blumenwiesen, und strömte durch goldene
Mittagssonne und purpurnes Abendgold und strömte aus in einem Meer von
Mondlicht und Sternenreigen.

Das Antlitz des alternden Fräuleins hatte sich gerötet, und diese Röte
war angefacht von Beschämung und zwiefach dazu von aufquellender Lust.

»Herr Vanderwelt, ich will doch lieber, wenn Sie es erlauben, Ihnen
zuhören, als den Kindern meinen nur alltägigen Unterricht erteilen.
Der Haushalt und die Überwachung der Kinder verlangen die ganze Kraft.«

Kornelius Vanderwelt träumte noch ein weniges den Mozartschen Weisen
nach. Jetzt wandte er den Drehstuhl und gewahrte das gerötete Fräulein.

»Friedlich, friedlich, Fräulein Bilsenbach. Nicht gleich die Flinte
ins Korn werfen. Sie sind in der Musik eine so taktsichere Frau, wie
Sie es im Leben sind. Nur daß der Takt oft gerade die seltensten
Melodien in der Blüte verkümmern läßt. Denken Sie sich einmal die
Liebe im Takt. Das muß flüstern, stammeln, pausieren, drauflosgehen
wie der Deibel! Oh -- Entschuldigung.«

»Wenn Sie es wünschen, können wir zu Tisch gehen, Herr Vanderwelt.«

»Darf ich um Ihren Arm bitten, Fräulein Bilsenbach?« Und ritterlich
neben ihr schreitend, fragte er sie nach den Mühen des Tages, nach den
Sorgen um die Kinder.

Im Speisezimmer fanden sie die Kinder vor. Wie es der Vater liebte,
standen sie aufrecht hinter ihren Stühlen. Dann aber war des Haltens
nicht länger.

»Papa! -- Papa!«

Zwei Jungen hielten ihn zu gleicher Zeit umschlungen, vierzehn- und
fünfzehnjährige schlanke Burschen. Und der Kopf des zwölfjährigen
Mädels kuschelte sich unter seinen Arm.

»Guten Abend, Justus. Guten Abend, Thomas. Ob die Juliane schon ihren
Kuß weggekriegt hat, weiß ich wirklich nicht.«

»Nein! Nein! Nein! Gib ihn mit Zinsen!«

»Hüt' dich, Mädel, hüt' dich! Wer als erstes an die Zinsen denkt,
denkt als letztes an den Anlagebetrag.«

»Hier hast du meinen Mund!«

»Ist das nun ein liebender Mädchenmund oder ein rechnender?«

»Ach, so küss' ihn doch nur, wenn ich ihn doch hinhalte ...«

»Wenn du so freigebig bist, hast du meistens eine leere Geldtasche.«

»Geraten! Geraten! Und da ich dich in so gute Laune gebracht habe,
gibst du mir ordentlich. Gelt, du Lieber?« --

»Juliane,« rief der fünfzehnjährige Justus, »du beträgst dich wie ein
Gassenmädel.«

»Sieh mal an, das große Brüderlein. Kennt schon Gassenmädel.«

»Nicht doch,« wehrte sanft und überlegen Thomas, der Vierzehnjährige.
»Sie hat im Religionsunterricht von der Salome gehört und spielt sie
uns ein bißchen vor.«

»Mund gehalten, ihr Drei!« Kornelius Vanderwelt schluckte das Lachen
nieder, das fröhlich mittun wollte, richtete sich auf und zeigte
drohende Augen. »Ich bitte mir drei Muster tadellosester Erziehung
aus.«

Die Kinder huschten hinter ihre Stühle. Sie standen in Reih und Glied,
die Hände auf den Lehnen, die Köpfe nach dem Vater gerichtet.

»Fräulein Bilsenbach, ich bitte. Niedersetzen,« gebot er.

Und die Kinder saßen auf den Stühlen, aufrecht und regungslos, bevor
der Hausherr den Stuhl des Fräuleins angerückt hatte und den eigenen
Sitz einnehmen konnte. Und ein dreifach Gelächter begrüßte den
Nachzügler.

»Rangen, habt ihr nicht mehr Ehrfurcht vor eurem alten,
steifgewordenen Vater?«

»Alt! Steifgeworden! Ach, das arme Väterchen! Schon ganz verhutzelt
sieht er aus.«

»Wenn man einen Stuhl auf den Tisch stellt, kann er kaum noch
drüberspringen.«

»Jeden Abend um acht muß er ins Heiabettchen.«

»Ruhe! Ich bitte mir die vollkommenste Ruhe aus.«

»Heute morgen,« lief das Plappermäulchen des Mädchens weiter, »heute
morgen in der Schule sagte noch Antonie Ausdemwerth zu mir, und alle
Mädchen hörten zu, ihre Mama habe gesagt --«

»Juliane, was Antonie Ausdemwerth sagte und was ihre Mama gesagt hat,
ist sozusagen ausgesagt, wenn ich gesagt habe, es wird nichts mehr
gesagt.«

»Sagte, sagte, sagte,« spotteten die Brüder der Schwester nach.

Die zeigte ihnen blitzschnell die Zungenspitze und wischte sich, als
sie den empörten Blick des Fräuleins gewahrte, seelenruhig mit dem
Zünglein die Lippen. »Ach, einen Hunger hab' ich -- --«

Ein älteres Hausmädchen trug die Speisen auf, bot sie dem Fräulein
zuerst, dann mit einem freundlichen, wie um Entschuldigung bittenden
Lächeln dem Hausherrn, auf dessen Anordnung die Reihenfolge geschah,
und den Kindern der Altersstufe nach. Kornelius Vanderwelt nickte
ihr mit gleicher Freundlichkeit einen ›Guten Abend‹ zu. Alle seine
Hausangestellten waren seit langen Jahren im Dienst, noch aus den
Zeiten der schönen Frau Vanderwelt, die nach der Geburt ihres Mädels
allzu rasch in das gesellschaftliche Treiben zurückverlangt hatte und
an zu stark gesteigertem Leben verschieden war.

»Nun dürft ihr wieder reden,« erlaubte der Hausherr, der die
Kinderstimmen liebte und an den sprunghaften Einfällen der jungen
Gehirne seine Freude hatte. »Aber bitte nicht im Chor. Da weiß man
nie, wer die größte Dummheit vorgebracht hat. Also Justus, wie war's
in der Schule?«

»Ausgezeichnet, Papa. Der Lateinlehrer konnte vor Katzenjammer nicht
unterrichten, und ich habe ihm den nassen Klassenschwamm aufs Pult
gelegt.«

»Edler Samariter. Hat er sich stürmisch bedankt?«

»Das nicht. Aber er hat mich ins Klassenbuch geschrieben.«

»Justus,« tadelte der Vater kopfschüttelnd, »wann wirst du lebensklug
werden? Der Herr Lateinlehrer wird den Schwamm nehmen und sich damit
seine letzte Zuneigung zu dir aus dem Schädel wischen.«

»Pah -- ich stehe in der Klasse prima.«

»Und wenn du primissima ständest wie der liebe Gott: die Rache ist
mein, spricht der Herr Lehrer, und seine Wege sind unerforschlich.«

Die Kinder stießen sich unter dem Tische an. Ihre Augenbrauen waren
hoch hinaufgezogen.

»Thomas, erzähl ~du~ mir einmal von deinem heutigen Schulerleben.
Hoffentlich war es lobenswerter.«

»Wir haben den deutschen Klassenaufsatz zurückbekommen, Papa. Er
lautete: Der Charakter der Jungfrau von Orleans. Der meine erhielt
eine Eins. Aber mit einer Bemerkung in roter Tinte.«

»Was wünschte die rote Tinte, Thomas?«

»Der Verfasser möge sich in Zukunft in der Beurteilung von
Frauencharakteren mehr in acht nehmen.«

»Von Frauencharakteren? Ich denke, es handelt sich um eine Jungfrau?«

Die Kinder hielten den Atem an. Das Fräulein räusperte sich und
nestelte das Schnupftuch hervor.

»Das ist nämlich ein Unterschied. Der Charakter einer Jungfrau ist wie
ein Saitenspiel, das auf den Harfner wartet. Es kann auf Dur und Moll
und klar oder verworren abgestimmt sein, erst in der Hand des Harfners
liegt es, den Ton zu bestimmen und zu gestalten, so er ein rechter
Künstler ist. Und der Charakter einer echten Frau wird, ganz gleich,
wie sie als Jungfrau gedacht und empfunden hat, immer die getreue
Widerspieglung des Mannes sein, in dessen Hände sie sich auf Glück
oder Verderb gegeben hat. Auf die Manneshände kommt es an.«

»Das dürfte wohl für die Kinder zu abwegig sein,« sagte das Fräulein,
um der Verlegenheit Herr zu werden.

»Vielleicht für heute, Fräulein Bilsenbach. Aber im Unterbewußtsein
schwingt es weiter und wird dann eines Tages zur Stelle sein, wenn es
in der Auswirkung gebraucht wird.«

»Was ist das: Unterbewußtsein?« fragte die kleine Juliane in Spannung.

Da lachte Kornelius Vanderwelt erlöst und erheitert auf.

»Hör' einmal, Jungfer Naseweis: wenn du dich gleich in dein Bett
begibst, voll bewußt aller deiner Tugenden und Vorzüge, und irgend
etwas redet dir in deinen Schlaf hinein: ›Juliane, du hast mal wieder
deine Schularbeiten nicht gemacht‹, so ist das das Unterbewußtsein.
War das deutlich, mein Mädchen?«

»Ich hab' sie aber -- fast alle.«

»Das freut mich über die Maßen, Juliane. Und den kleinen Rest wirst du
nachher in meinem Arbeitszimmer erledigen. Ich möchte nun auch gern
von dir einmal etwas über die wichtigsten Schulereignisse hören.«

Das Mädchen wetzte mit der Zunge flink die Lippen. In den Augen jagte
die Ungeduld.

»Heute morgen sagte Antonie Ausdemwerth in der Schule zu mir, und alle
Mädchen hörten zu: ihre Mama habe gesagt --«

»Sagte, sagte, habe gesagt,« spotteten die Brüder ihr nach.

»Papa,« rief die Kleine zornig, »du hast ~mich~ gefragt und nicht
den Justus und den Thomas!«

»Ich habe ~dich~ gefragt. Fahre ruhig fort.«

»-- ihre Mama habe gesagt: es gäbe nur einen Mann in Ruhrort, und die
anderen wären Kohlentrimmer, und der Mann hieße Kornelius Vanderwelt.
So, ihr weisen Jungs, nun sagt, ob ihr was Besseres wißt.«

Die Jungen gaben sich geschlagen. Sie prosteten dem Schwesterchen mit
den Wassergläsern zu.

»Frau Ausdemwerth ist eine sehr liebenswürdige Dame,« meinte Kornelius
Vanderwelt und spürte ein leises Erröten vor den Kindern, »aber man
muß nicht auf Schmeicheleien hören, sondern die Tatsachen für sich
reden lassen. Und für dich, meine aufmerksame Juliane, sollen sie
jetzt einmal durch die Schulaufgaben reden. Ich wünsche allerseits
eine gesegnete Mahlzeit. Fräulein Bilsenbach, ich habe letzthin in
Amsterdam nicht besser gegessen. Und die Holländer sind stolz auf ihre
Küche.«

Noch einmal hingen sich die Jungen gute Nacht wünschend an Kornelius
Vanderwelts Hals. Dann suchte der Hausherr sein Arbeitszimmer auf, und
Fräulein Bilsenbach nahm das schweigsam gewordene Mädchen bei der Hand
und folgte ihm nach.

»Nun, mein Mädelchen? Da du ~fast~ alles schon gelernt hast,
wird's ja im Handumdrehen getan sein. Um was handelt es sich denn in
der Hauptsache?«

»Um die französischen unregelmäßigen Zeitwörter.«

»Potztausend. Das ist ja eine ganze Menge. Die paukt man doch nicht
mit einem Male in sich hinein?«

»Sie lernen schon seit Wochen daran,« sagte das Fräulein, »aber
Juliane bringt ihnen nicht die nötige Beachtung entgegen.«

»Französisch lerne ich einmal in Lausanne,« erklärte die Kleine
hochmütig. »Und Englisch auf der Insel Wight. Papa gibt mich ja doch
in die allerfeinsten Erziehungsanstalten. Da brauch' ich doch nicht
hier schon mit den dummen unregelmäßigen Zeitwörtern geplagt zu
werden.«

Kornelius Vanderwelt winkte dem aufbegehrenden Fräulein freundlich ab.
Er wandte sich an Juliane.

»Mein liebes Kind, was dein Vater einmal tun wird oder nicht tun
wird, darauf kommt es hier nicht an, sondern was ~du~ tun wirst.
Ein jeder Mensch hat sich nur auf sich selber zu verlassen. Denn die
väterlichen Geldbeutel können über Nacht ein Loch kriegen, und dann
heißt es, nach dem Schulsack greifen und Nachschau halten, ob der gut
gefüllt ist. Ist er's, so bist du für das Leben gesichert und bleibst
Dame in den schwierigsten Verhältnissen. Hast du aber ~nicht~
vorgesorgt, so sinkst du wie Blei auf den Grund, und wenn dein Vater
tausendmal Kornelius Vanderwelt war. Denn ein jeder Mensch steht nur
für sich. Nur!«

Das vom Leben gerüttelte alte Fräulein nickte kurz vor sich hin. Es
ließ sich im Winkel des Arbeitszimmers nieder und zog das Kind an sich
heran. »Ihre Gegenwart dürfte schon genügen,« sagte der Blick, der den
Herrn des Hauses traf, und bald füllte ein leises Gemurmel das Gemach,
einförmig, zuweilen nur ärgerlich sich steigernd. »+Venir, tenir,
vouloir, s'en aller, s'asseoir, prendre, battre, mettre+ ...«

Rauchend saß Kornelius Vanderwelt im Ledersessel und überflog die
Abendzeitungen. Die Börse war leidlich, eher zurückhaltend. Da
hieß es achtgeben, denn man schien zu einem überraschenden Schlag
auszuholen. Von den städtischen Nachrichten fanden nur die neuen
Hafenplanungen seine regere Anteilnahme, und auch diese schienen
seinem Vorwärtsdrängen noch nicht aus dem größten Augenwinkel erfaßt.
Die Politik? Er hatte unter den erwählten Volksboten genügend brave
Seifensieder kennengelernt, von denen er wohl seine Seife, aber nicht
seine politische Weisheit bezogen haben würde. Ah ... Er lehnte sich
bequemer zurück. Hier stand über die Großen im Reiche der Kunst zu
lesen. Klavierabende. Beethovensche Symphonien. Uraufführungen neuer
Opern. Ein Wogen und Wallen war um ihn, ein Kämpfen und Erlösen,
Aufschreie der Menschennatur, Zurruhestreicheln, Jubel oder Untergang.

Längst saß er vornübergebeugt, das starke Kinn vorgeschoben, die
Nüstern geweitet. Und mit einem Male knüllte er mit einem Griff die
Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb.

Sofort erhob sich das Fräulein, nahm das aufstrahlende Kind bei der
Hand und näherte sich ihm.

»Es geht jetzt leidlich, Herr Vanderwelt. Wir können uns zurückziehen.«

Kornelius Vanderwelt hatte sich höflich erhoben. »Gute Nacht,« sagte
er. »Es war sehr lieb von Ihnen, daß Sie mir die unregelmäßigen
Zeitwörter abgenommen haben. Man hat sich im eigenen Leben genug damit
abzuplagen. Gute Nacht, kleine Juliane. Auswendiglernen ist noch das
leichteste.«

Er küßte sie auf die schlafmüden Augen und stand, bis die Tür ins
Schloß gefallen war.

»Allein,« sagte er vor sich hin. »Mutterseelenallein. Man kann doch
nicht auch noch in der Nacht von Kohlenladungen reden ... Herrgott,
ständ' ich doch am Steuer eines Seeschiffes, all das tausendmal
durchgeackerte Philisterland hinter mir, neues Inselland vor mir, mit
nackten Menschen, unverkleideten Leidenschaften, unberührt, unberührt.
O du wilde, du zarte, du zärtliche Schöpferfreude ... Geh in ein
Wirtshaus, Kornelius Vanderwelt.«

Vor einem Bilde verharrte er noch, vor einem strahlend fröhlichen
Frauenbild.

»Ja, ja, Du warst wild, du warst zart, du warst zärtlich und warst
alles in eins bis zur Selbstvernichtung. Mit dir lohnte es noch.« -- --

Er ging und verließ trotz später Stunde das Haus.




                                  2


Wie das Haus eines alten Wikings, der ruhebedürftig nach wilden
Küstenfahrten und doch in ruheloser Sehnsucht nach dem Wasser, das
zum Meere strebt und den Weg zeigt zu den fernsten, wogenumbrandeten
Ländern, seine Ausrast am unteren Stromlauf des Rheines nahm, nahe
den Schlupfwinkeln der Ruhr-, der Emscher- und Lippemündungen, erhebt
sich auf dem Damm zu Ruhrort das Versammlungshaus der Schiffer und der
Schiffahrtsfirmen, der ungezählten Hunderte, die in den Wasserarmen
der Rhein-Ruhr-Häfen laden und löschen, harren und handeln, aus
Schiffsraum und Maschinenkraft, Wetter, Wasser und Wind ihr tägliches
Brot holen, verschwitzte Groschen oder Gold, wie es aus der Präge
kommt. Fachwerkartig strebt das Haus in den mittelalterlichen Giebel,
und das Gerippe des dunklen Eichengebälks gibt ihm Sturmfestigkeit,
Ansehen in den Augen der Strombefahrer und die Gewähr der Dauer.
Von alters her gewöhnt an Luft und Ellbogenfreiheit, blieb das Volk
der Schiffer dem Damm, der Straße vor der Schifferbörse, treu, doch
wenn der Regen peitschte, der Nebel von der See her in Schwaden
über die Niederungen zog oder naßkalter Winterwind die Wolken gen
Holland trieb, stapften sie zufrieden in den Wappen-, Bilder- und
spruchgezierten Börsensaal, äugten in die Seitenkojen, die von den
großen Verfrachtern und Schiffsmaklern gemietet waren, und harrten und
handelten gemächlich und bedächtig, als läge ihnen nichts an Zeit und
Geld, und noch viel weniger an dem drängenden Eifer der Geschäftsleute.

Aus allen Häfen des Rheins und des Rhein-Seeverkehrs, aus allen
Plätzen der Kanalschiffahrt ins deutsche Binnenland, nach Holland,
Belgien und Frankreich hinein, sammelten sich die Schiffer, die bei
Ruhrort vor Anker lagen und neue, günstige Ladeabschlüsse erharrten,
um die elfte Morgenstunde auf dem Damm und erwarteten Begrüßung und
Angebot der Herren aus Ruhrort, aus Duisburg, Homberg und Hochfeld,
der Kohlenzechen, Eisenhütten und Stahlwerke, die nach leerem
Schiffsraum fahndeten. In breitem Schiffergang trotteten sie heran, in
Hosen aus braunem Baumwollsammet und derbgestrickten Westen, in blauen
Leinwandhosen und verfärbten Wetterjacken, in dunklen Tuchanzügen
mit goldenen Ankerknöpfen, den goldenen oder silbernen Ring im Ohr,
Mützen jeder Gattung in den Nacken geschoben. Die Tonpfeife qualmte in
Kräuseln, die zerbissene Zigarre hing im Mundwinkel, der Priemtabak
lagerte unsichtbar hinter den Zähnen verstaut.

Viele aber, die keine Ladung zu löschen hatten und nicht an die Stunde
gebunden waren, erschienen schon frühzeitig wiegenden Ganges auf dem
Damm, blinkten in den engen Quergassen nach den Kneipenschildern und
löschten ihren frühzeitigen Durst. Und die Geschäfte, die zwischen
einigen Geneverschnäpsen zustande kamen, erschienen oft beiden
Vertragsteilen als die besseren und bequemeren.

»Döres, noch eine Lage. Verdammt hartleibig heute, der Klaas. Tu ihm
ein Stücksken Zucker 'rein, damit et ihm glatter in den Magen geht.
Also, Klaas: ein Mann un ein Wort. Ist dein Kahn nun frei für mich
oder nicht?«

Dichter und dichter füllte sich der Damm vor der Schifferbörse. Längst
kamen Gefährte nicht mehr durch die Massen hindurch und mußten
einen Bogen schlagen. Weithin vernehmbar gab eine Glocke das Zeichen
zum Beginn der Börsenstunde, und das Gewoge schien lebensgefährlich
anzuschwellen und war doch nur ein gemütliches Vordrängen und ein
ruhiges Hin und Her zwischen dem Börsensaal und der Straße.

»Wat notieren die Kurse?«

»Nach dem Nordpol oder dem Südpol, du Dämel?«

»Nach Amsterdam!«

»Junge, Junge, un wenn du selbs mit deinem Äppelkahn heil da 'runter
kommst, die Amsterdamer Meischen sind dich über.«

»Alles wat rechtens is, Hein: der Pitter spricht aus Erfahrung.«

»Als er wiederkam, hatt' er dich die Hosentaschen leer und den
Hosenboden voll.«

Und in das Gelächter der Umstehenden brachen drängend die Stimmen der
Makler ein und brachten alles Gelächter zum Schweigen: »Zehntausend
Tonnen direkt Rotterdam. Zwanzigtausend Tonnen direkt Mannheim.
Fünfzehntausend Tonnen Zwischenlandungen zu Berg. Wer bietet an? He,
Petrus, frei mit wieviel? Gebhardt, was kann ich von Ihnen bekommen?«

»Wir kriegen steigend Wasser,« sagte der Gebhardt bedächtig, rollte
den Priemtabak in die andere Backe und blickte den Makler abwartend an.

»Vor Abend is Regen da,« stellte der Petrus fest, beleckte den
Zeigefinger und hob ihn prüfend in die Luft.

Der Makler machte sein Angebot. Die Männer schwiegen vor sich hin.
Der Makler drängte: »Schlagt zu, Leute, bevor die großen Reedereien
unterbieten.« -- »Wat fordern denn die großen Klause? Bangemachen gilt
nich.«

Durch alle Reihen, durch alle Gruppen drängten sich die Makler,
anfeuernd, belehrend, lustige Schlagworte tauschend und schon wieder
emsige Geschäftsvermittler. Schiffsbefrachter, die ohne Maklerhilfe
ihr Schäflein ins Trockene zu bringen suchten, spielten ihre eigene
Geige. Sie verkehrten in vertraulicher Rede, nahmen in Herzlichkeit
die Klagen entgegen, um sie mit einem derben Scherze zu zerstreuen
und die Lacher in den Bann ihres guten Einvernehmens zu ziehen.
Angestellte der Großreedereien, vielerorts die Geschäftsherren selbst,
verhandelten mit gesammelten Mienen in der Börsenhalle, in den Kojen.
Ihre geräumigen Schiffsparks waren der Straße entrückt, bildeten
das feste Gerippe des Umschlagegeschäfts, den Zeiger an der Uhr der
Frachtkursnotierungen. Hier und da feilschte ein Börsenbesucher, der
nur eine einzelne Ladung zu vergeben hatte, um eine Beteiligung und
kam nach langwierigen Bemühungen nur mit hohem Aufgeld davon.

Die Schiffsvermieter reckten die Hälse, wandten die Dickschädel.
Einige unterbrachen die angesponnenen Verhandlungen und warteten
den Mann ab, dem die angestauten Haufen mit Bereitwilligkeit Platz
machten, um ihn alsbald in die Mitte zu nehmen.

»Guten Morgen, Herr Vanderwelt.«

»Guten Morgen? Gut Wetter, müßt ihr sagen, Leute. Steigend Wasser und
Regen in Sicht. Gut Herbstgeschäft allwege!«

»Zum Deuwel, Herr Vanderwelt, wenn einer die Wahrheit sagt, sind Sie
et.«

»Sie reden wenigstens nich stundenlang um den Brei herum, als wenn et
keine Fische mehr im Rhein zu fangen gäb.«

»Keine Fische mehr im Rhein?« Kornelius Vanderwelt zeigte seine weißen
Zähne. »Jungens, sie beißen wie nie, und wenn ihr die Nase nur lang
genug ins Wasser haltet, beißt einer an. Ich bin hier, um Geschäfte
zu machen, und ihr seid hier, um Geschäfte zu machen. Darin sind wir
uns wohl einig.«

»Verdammich, Herr Vanderwelt, dat is ein Wort von Mann zu Mann.«

»Kommt nur drauf an, wer dat bessere Geschäft dabei macht. Der
Vanderwelt oder wir.«

»Drickes, wenn Ihr mir nicht traut, schert ruhig mit Eurem Kahn aus
der Reihe.«

»Nix für ungut, Herr Vanderwelt, aber wir kriegen letzthin dat Fell
so oft über die Ohren gezogen, dat et bloße Denken oft lauter zutage
tritt, als man gewollt hat.«

Kornelius Vanderwelt faßte ihn mit beiden Händen bei den Schultern.

»Drickes,« sagte er und sah ihm mit zusammengezogenen Augen in
den queren Blick, »ich müßte doch der größte Schafskopf auf der
Duisburg-Ruhrorter Hammelwiese sein, wenn ich meine Geschäfte nicht
Hand in Hand mit den Euren gehen ließ. Wer Geld verdienen will, muß
Geld springen lassen. Denn das springende Geld, Drickes, schafft
aufgeräumte Laune, schafft Schwung in die Arbeitsleistung und schafft
schnelle Bereitwilligkeit und Vorsprung vor den anderen, die ewig
Frachttreibereien fürchten. Heda, du Blindgänger, sind das aufgedeckte
Karten oder nicht? Ich will nicht nur Geschäfte machen, sondern ich
will so schnell wie möglich Geschäfte machen, und das kann ich nur,
wenn ich Euch ohne lang Hinundher beteilige. Ist das klar?«

»Bieten Sie an, Herr Vanderwelt. Bieten Sie an,« rief es aus dem
Haufen. »Gestern notierten die Frachtkurse nach Mannheim eine Mark
zwanzig die Tonne. Un heut schlägt et Wetter um.«

»Ohne viel Gefackel, Jürgens: zehn Prozent drauf!«

»Ohne viel Gefackel, Herr Vanderwelt: fünfzehn Prozent! Ne.
Abgerundet auf eine Mark vierzig. Dat rechnet sich besser. Wollen Sie
meine vierhundert Tonnen dafür? Meine sechshundert? Meine achthundert?«

Ein Dutzend und mehr riefen ihm zu. Aus anderen Gruppen winkte man ihm
mit den Händen, zeigte man ihm durch die Fingersprache die Tonnenzahl
an. Kornelius Vanderwelt zog sein Notizbuch und rechnete.

»Herrschaften, da muß ich aber den Zechenonkels die Daumenschrauben
anziehen.«

»Dat würden Sie ja auch ohne unsere Mithilfe besorgen.«

Einige lachten, einige kraulten sich in gebändigter Erregung den
Schifferbart und harrten gespannt auf den Zuschlag.

»Also auf meine Gefahr hin,« sagte Kornelius Vanderwelt kurz. »Aber
mit ~einer~ Bedingung.«

»Brauchen Sie uns nich erst zu sagen. Wir spucken in die Hände, dat et
schäumt.«

»Der erste Schleppzug, der herausgeht, ist der von Kornelius
Vanderwelt, Pitter, und wenn et hollandsche Meischen regnet!«

»Dann,« meinte Kornelius Vanderwelt mit seinem übermütigsten Gesicht,
»würd' ich mir an eurer Stelle die Sache noch mal überlegen.
›Meischen‹ fallen unter die ›höhere Gewalt‹. Gesegnete Mahlzeit,
Herrschaften. Heute nachmittag auf dem Kontor die Ladeweisungen
abholen.«

Die angestaute Menge machte ihm Platz. »Mahlzeit, Herr Vanderwelt,
Mahlzeit.« Und Kornelius Vanderwelt schritt hindurch und in die
Börsenhalle. Hier suchte er die Kojen der Großreeder auf.

»Wieviel bieten Sie an?« fragte er, sein Merkbuch in der Hand.

»Ach ne. Lückenbüßerspielen is nich.«

»Machen Sie doch keine Scherze. Selbst der Wüstenlöwe überläßt den
armen Schakalen die Beutereste ohne zu blinzeln.«

»Aber erst, wenn er sich selber den Ranzen zum Platzen vollgeschlagen
hat.«

»Vor diesem Platzen möchte ich Sie ja gerade bewahren. Gegen
Ihre großen Schiffsparks kommt die ganze Gilde der Kleinschiffer
zusammengenommen nur mit einem Halbteil an. Also machen Sie eine
großmütige Geste und gönnen Sie den armen Kerls ihren Beuteanteil im
voraus. Der Löwenanteil bleibt Ihnen ja doch, und Sie erhalten sich
die gute Kameradschaft für schlecht Segelwetter.«

»Vanderwelt, an Ihnen ist ein Sonntagsprediger verloren gegangen. Aber
einer, der Christus sagt und Kohlen meint. Was können wir für Sie tun,
ohne geradezu über den Löffel barbiert zu werden?«

»Wieviel bieten Sie an? Und zu welchen Notierungen?«

»Im Vertrauen, Vanderwelt: die heutigen Kurse werden um zehn Prozent
in die Höhe schnellen. Greifen Sie zu, wenn Sie sich decken müssen.
Eine gewisse Zeche soll schon einem gewissen Schiffsbefrachter
›+plein pouvoir+‹ gegeben haben, wenn er ihre Förderungen als die
ersten auf den Wasserweg bringt.«

»Was Sie nicht sagen,« meinte Kornelius Vanderwelt gelassen. »Solche
Schlauberger gibt's? Da muß ich mich wohl beeilen, beizubleiben,
und Ihre zehn Prozent auf Treu und Glauben bewilligen. Zehntausend
Tonnen? Ach, auf einmal können's zwanzigtausend sein? Gut, ich
will sie übernehmen, wenn Sie mir mit dem Schlepperlohn gründlich
entgegenkommen. Lassen wir das einmal billigst zusammen berechnen.«

Er hockte bei den Herren nieder, und während die Stimmen der Hunderte
in der Halle sie umbrandeten, lösten sie die Fragen wie in der Stille
des Kontors.

»Der erste schöne Tag im Jahr,« sagte aufatmend der Reeder Hinrichsen.
»Heut haben wir das Mittagessen verdient.«

»Bis zum Abend dürfte es vielleicht zu einer besseren Flasche in der
›Erholung‹ langen,« meinte der Reeder Auffermann und rieb sich das
spiegelglatte Kinn. »Ich wäre imstande, die dritte zu bezahlen.«

»Glauben Sie, Auffermann, daß Hinrichsen die beiden ersten übernimmt?«

Die entrüsteten Reeder wandten sich gemeinsam gegen den Sprecher.
»Wie? Was? Und Sie selber? Nur mittrinken möchten Sie? Vanderwelt, Ihr
Schamgefühl muß doch erheblich gelitten haben.«

»Es schämt sich nur der ewig gleichen Langeweile, meine Herren.
Vielleicht nehmen Sie ~nach~ der ›Erholung‹ noch ein Glas Bier
oder einen Brandewein von mir an? Es kommt von Herzen.«

»Ah --! Ah --! Hinterher! Bei einem Wirte wundermild.«

»Auf Wiedersehen, meine Herren, im Festgewand.«

Er suchte die eigene Koje auf, schrieb die Auftragszettel aus und
schickte sie durch einen Boten an Beckenried zur Weiterbearbeitung.
Die vereidigten Kursmakler verließen gerade das Beratungszimmer. Der
ermittelte Frachtenkurs erschien an den Tafeln. Kornelius Vanderwelt
warf einen Blick auf die Tafeln und sah, daß er, Kleinschifferraum und
Großreederraum gegeneinander gerechnet, gut abgekommen war.

An der Straßenecke fand er seinen Wagen.

»Los, Wilm. Irgendwohin ins Freie. Heute müssen wir's kürzer machen.«
--

Zwei Stunden später saß er schon in seinem Sonderkontor, der
Geschäftsführer ihm gegenüber. Verteilungsplan und Reihenfolge
der Kähne lag fertig vor. Die Anweisungen für die Schiffer wurden
ausgefertigt.

Kornelius Vanderwelt klingelte die Zeche an, die ihm den dringlichen
Auftrag erteilt hatte.

»Den Herrn Direktor, bitte. Ah, schon zur Stelle? Ja, ja, wer heute
Geld verdienen will, muß den anderen um ein paar Bootslängen voraus
sein, und ich war so frei, nach derselben Richtschnur zu handeln.
Ihre Kohlen können auf und davon. Die Kähne werden bis morgen Mittag
an Ihrem Kipper verholt. Haben Sie mit Eisenbahnwagen vorgesorgt?
Gottlob! Dann lassen Sie ab morgen Mittag anrollen, was die Achsen
leisten können. Kein Dank notwendig. Freut mich, daß ich Ihnen den
Dienst erweisen konnte. Glückauf.«

»Na, Beckenried? Krieg' ich diesmal ein Patschhändchen? Freund,
nicht die alte Litanei. Ich hätte ~noch~ mehr aus dem Geschäft
herausholen können, ich weiß. Wenn ich nur mit den Großkophtas und
zu zehn Prozent abgeschlossen hätte. Aber dann wär's eben nur ein
Geschäft gewesen und keine Freud'!«

»Seltsame Freud', sein gutes Geld zwecklos wildfremden Menschen in die
Hand drücken.«

»Wildfremd, Beckenried? Das wäre nur ein Schuldbekenntnis, daß wir sie
nicht zutraulich zu machen wußten. Und zwecklos, sagen Sie? Sehen Sie
sich gleich mal die verschmitzten Mienen an, wenn meine Schiffsmannen
hereingetrampt kommen. Kein Gesicht, in dem nicht zu lesen ständ:
›den Kornelius Vanderwelt haben wir aber diesmal hineinfallen lassen.
Wir sind nämlich ~auch~ mit Rheinwasser getauft. Wir!‹ Ach,
Beckenried, fröhliche Mitmenschen schaffen -- wenn das keine Freud'
ist!«

»Draußen im Kontor versammeln sich die fröhlichen Mitmenschen schon,«
sagte Beckenried aufhorchend. »Wünschen Sie sie einzeln oder in der
Gesamtheit zu empfangen?«

»Einzeln. In der Reihenfolge ihrer Kähne. Hier, nehmen Sie die Liste
mit.«

Kornelius Vanderwelt erhob kaum den Kopf von der drängenden
Schreibarbeit, als der erste eintrat. Der Mann scharrte mit den
Stiefelsohlen und bot dem Kaufherrn die Tageszeit.

»Setzen Sie sich, Gebhardt, ich bin gleich so weit. So ...! Ihr habt
gut lachen, wenn Ihr auf dem Rhein schwimmt und habt Ruhrort im
Rücken. Ich kann mir die Finger krumm schreiben.«

Der Schiffer streckte seine borkigen Hände vor.

»Sehen Sie sich ~dat~ mal an. Die sind vom Tauziehen und
Ruderpacken auch nich die feinsten geblieben. Ich mein' als immer, wie
ich auf die Welt gekommen wär', hätten die ganz anders ausgesehen.«

Kornelius Vanderwelt ergriff die Hand und schüttelte sie.

»Aber eingesalbt hab' ~ich~ sie heute mittag.«

»Wenn wir ~Sie~ man bloß nich eingesalbt haben, Herr Vanderwelt,«
grinste der Schiffer. »Ich sag' Ihnen ja nix Neues mehr damit, dat
wir Partikulierschiffer über Tageskurs mit Kornelius Vanderwelt
abgeschlossen haben. Lassen Sie et sich nich gereuen. Der eine oder
andere möcht' sich auch mal einen zweiten Kahn bauen lassen können.«

»Wohin damit, Mann? Die Liegeplätze sind voll, die Häfen dicht
besetzt, alle Kranen und Kipper überbeschäftigt.«

»Herr Vanderwelt, meine Kameraden meinen, gerade der Herr Vanderwelt
wäre der Mann dazu, hier Abhilfe zu schaffen. Durchzusetzen, dat et
Hafennetz gründlichst Erweiterung erfährt, dat mit der Herstellung
von neuen Kanälen begonnen wird, dat -- dat -- in einem Wort gesagt,
dat die Brotfrage für den Schiffersmann leichter wird un seine
Hoffnungsmöglichkeiten. Unsereins möcht' ebensowenig versacken, wie
die Herren auf den Kontoren und möcht' seine Familie in die Höhe
bringen.«

Kornelius Vanderwelt stand am Fenster und blickte nach dem Strome.
Schwerfällig segelten graue Wolkenungetüme darüber hin. In Fäden
begann es zu regnen.

»Gebhardt, Sie irren sich. Ich bin nicht der mächtige Mann. Soll meine
Stimme stärkere Geltung bekommen, so muß sie noch recht gekräftigt
werden. Durch Euch, Gebhardt. Durch Euch und die ganze Kameradschaft.
Nicht durch Eure Lungenkraft. Durch Schreien hat noch keiner sein
Recht auf Arbeit bewiesen. Dadurch, Gebhardt, daß Ihr für mich
schafft, wie für keinen anderen! Daß die Machthaber im Ruhrorter
Geschäft merken, mit dem Vanderwelt arbeitet es sich am schnellsten,
und sich an mich heranmachen. Bis meine Stellung unangreifbar ist und
meine Vorschläge Durchschlagskraft gewinnen. Es liegt an Euch.«

Der Schiffer sah ihm scharf in die Augen. Dann plinkte er ihm
vertraulich zu.

»Hab' verstanden, Herr Vanderwelt, un bei den anderen werd' ich et
Verständnis schon wecken. Wat die Firma Kornelius Vanderwelt an
Schiffsbefrachtung un Abwicklung in die Hand nimmt, dat soll fluppen,
als wär der fliegende Holländer von der Partie. Kann ich meine Papiere
haben?«

»Hier, Gebhardt. Ihr Kahn ladet zuerst. Wann kann er verholt sein?«

»Heute abend noch liegt er ladefertig unterm Kipper.«

»Vorwärts denn. Lassen Sie den nächsten eintreten.«

Durch die Türfüllung schob sich vierschrötig der Schiffer Petrus. Sein
wettergebräuntes Gesicht schien mit einem helleren Rot aufgefrischt.
In den Augenwinkeln schwamm es feucht.

»Hallo, Petrus. So angestrengt gefrühstückt?«

»Bei allen vierzehn Nothelfern, Herr Vanderwelt: nich einen Bissen
hab' ich heruntergekriegt.«

»Glaub' ich unbesehen. Es gibt auch flüssige Leckerbissen. Na, wohl
bekomm's. Und Achtung jetzt auf die Papiere.«

»Wat Sie meinen, is nich, Herr Vanderwelt,« beschwor der Schiffer und
schlug sich dreimal auf die Brust. »Un nu können Sie et glauben oder
nich: et is nix als die Rührung. Jawohl.«

»Rührung, altes Rauhleder?«

»Jawohl hab' ich gesagt. Weil et im Ruhrorter Hafen unter all den
verdammt feinen Kerls wenigstens einen so gemeinen Menschen gibt wie
den Kornelius Vanderwelt.«

»Also für einen ganz hundsgemeinen Menschen halten Sie mich? Das ist
ja allerhand.«

»Herr Vanderwelt. Keine Silben stechen. Wenn ich gemein sage, mein'
ich doch ~mit uns~ gemein. Po--Populär. Aber Fremdwörter, da
sehen Sie et, Fremdwörter sind immer Glückssache.«

»Mein lieber Petrus,« sagte Kornelius Vanderwelt zärtlich, »dafür
verlass' ich mich auch auf meine Freunde. Buchstabieren Sie Ihre
Anweisungen. Ich hab' mein Wort verpfändet, daß ihr vollgeladen
habt und schwimmt, bevor die anderen anfangen, und Ihr werdet es
einlösen. Der Gebhardt liegt mit seinem Kahn heut abend schon unterm
Kipper. Sie sind Nummer zwei und werden sich nicht für einen heurigen
Schiffsjungen verschleißen lassen.«

Der Wetterbraune wuchs. Die Papiere klatschte er in seine Brieftasche.

»Gotts Donner, Herr Vanderwelt, wenn sich der Gebhardt keine Flügel am
Hinterteil wachsen läßt, ramm' ich seinem Kahn ein Loch in die Rippen.«

»Beim Matthes ›Zu den fünf Erdteilen‹ soll es noch Bindewasser die
Fülle geben. Auch um Mitternacht. Der nächste!«

Der Schiffer schlug sich die Mütze ins Genick, legte das Steuer um und
nahm Kurs ins Freie. Und schon stand statt seiner der lange Hein vor
dem Herrn aufgepflanzt, die schwarze Locke über der Stirn, um den Hals
das flatternde bunte Seidentuch, den Silberring verwegen im Ohr.

»Zur Stelle, Herr Vanderwelt.«

»Kerl! Hein! Sie werden mit jedem Tag gefährlicher. Man sollte Ihnen
wahrhaftig keinen Kahn nach Mannheim mehr anvertrauen.«

»Oho, Herr.«

»Ich glaub', selbst die schönste Jungfrau Lorelei hängt sich Ihnen ins
Schlepp, geschweige denn die anderen Frauenzimmer.«

»Ah -- ~so~ meinen der Herr Vanderwelt.« Der Bursche lachte
geschmeichelt. »Ja, dafür kann der Hein nix. Der is von Natur so
gewachsen. Aber in seine Schiffergeschäfte läßt sich der nich
'ereinliebeln.«

»Nicht? Und wenn's in Ruhrort nur so um ihn herumwimmelt? Da wär' ich
doch gespannt. Ernsthaft, Hein, mir hat ein Vögelchen gepfiffen, es
würden da verschiedene« -- er rieb den Daumen gegen den Zeigefinger --
»Anforderungen gestellt, und der Hein wär für bestimmte Hafenplätze
nicht mehr zu haben.«

Die Siegermiene geriet ein wenig ins Wanken. Die herausfordernde Geste
wich.

»Ein Wort im Vertrauen, Herr Vanderwelt, wenn Sie gestatten würden.
Bei solchen Geschichten fehlt zwar meistenteils der Beweis. Aber
vorsichtiger wär et immerhin, wenn der Herr Vanderwelt für meinen Kahn
als Eigentümer zeichnen wollt, bevor sie mir den verramschen.«

Seine Augen schielten nach dem Herrn, und die schwarze Locke hing ein
wenig kläglich.

»Mit anderen Worten: Sie möchten mir den Kahn anhängen und auf Löhnung
fahren. Soso. Wenn Sie von der Mannheimfahrt zurückkommen und Ruhrort
anlaufen, wollen wir das Geschäft besprechen. Es ist Ihre Sache, sich
zu beeilen. Sie sind in der Ladefolge der dritte. Sorgen Sie, daß Ihr
Kahn morgen früh pünktlich am Ort liegt.«

»Herr Vanderwelt! Wenn Sie mal im Leben ein paar zärtlich zupackende
Fäuste brauchen -- dat hier, dat wären die Muster!«

»Flott, Hein,« sagte Kornelius Vanderwelt und blickte über ihn hinweg,
»die anderen stehen sich die Beine in den Leib.«

Und einer folgte dem anderen, wurde kurz auf Herz und Nieren geprüft,
bei seiner schwächsten Stelle genommen, erhielt sein Stichwort und
schob sich mit einem vergnüglichen Grinsen zur Türe hinaus.

Im Zimmer blieb ein Schwaden von Teer, Schweiß und Branntwein.

Kornelius Vanderwelt hob den Hörer vom Fernsprecher. »Ich bitte Herrn
Beckenried zu mir.«

Der Geschäftsführer erschien mit der Unterschriftenmappe. Er verzog
krampfhaft das Gesicht und nieste.

»Ja, mein Lieber, das ist der Ozon, der uns zum Leben nötig ist.«

»Die Vanderweltschen Lungen sind nun mal anders geartet als die
üblichen. Sie gestatten wohl, daß ich beide Fensterflügel öffne, oder
ich habe meine Verhandlungsunfähigkeit zu erklären.«

»Nehmen Sie eine Zigarre, Beckenried. Nicht bei der Arbeit? Gerade bei
der Arbeit qualmt der Schornstein am fröhlichsten. Also zur Sache. Die
Verladung ist im Lot. Meine Freunde, die uns eben verlassen haben,
werden schuften wie die schwarzen Teufel. Bis sie fertig sind, werden
auch die Herren Großreeder nachgerückt sein, so daß es eine Lücke
nicht gibt. Keine Stunde Ruh' sollen sie vor dem Fernsprecher haben.
Und nun -- Feierabend.«

Ein tiefer, langgezogener Seufzer stieg ihm aus der Brust.

»Wahrhaftig, Beckenried, Sie haben recht. Der Ozon war diesmal ein
bißchen reichlich.«

»Ich geh' trotzdem nicht mit Ihnen, Herr Vanderwelt.«

»Wirklich nicht? Auch nicht, wenn ich Ihnen einen Abend der tiefsten
Sammlung in Aussicht stelle? Ja, was machen Sie denn mit der unendlich
langen Nacht? Man schläft doch nur, wenn man einmal müde ist.«

»Dann lernen Sie es nie, Herr Vanderwelt. Bitte, noch ein Dutzend
Unterschriften.«

Kornelius Vanderwelt setzte sich wieder, überflog die Bogen,
verbesserte ein Wort, eine Wendung, und unterschrieb Blatt um Blatt.

»Beckenried,« sprach er, während die Feder die Namenszüge zog, »es
ist auch das einzige, was ich nicht lernen will. Der Schlaf ist die
törichtste Unterbrechung jeder Lebensfreude und tritt immer ein, wenn
man die Minute für die aller- allerschönste hält. Ach, Beckenried, ich
wollt', Sie könnten für mich mit schlafen.«

»Es sollte mein Geheimnis bleiben, Herr Vanderwelt: ich tu's schon
seit Jahren!«

»Lieber Freund, wenn Sie darauf anspielen wollen, daß Sie mir mit
Ihren täglichen zehn Kontorstunden über sind, dann bewahre Ihnen Gott
Ihren frommen Kinderglauben. Amen.«

Er erhob sich, drückte seinem Mitarbeiter die Briefmappe in den Arm,
klopfte ihm auf die Schulter und nahm Abschied. Draußen empfing ihn
der Regen. Er atmete tief und gierig die Nässe ein, zog den Mantel
näher heran und schlug den Nachhauseweg ein.

»Nun, Fräulein Bilsenbach? Waren Sie mit dem Tag zufrieden?«

»Mit der Juliane war es heute besonders schwer, Herr Vanderwelt. In
ihre Klavierübungen wollte sie sich nicht mehr hineinsprechen lassen.
Sie spielte, wie es ihr paßte, ob es in den Noten stand oder nicht,
und als ich ihr ihre Eigenmächtigkeiten verwies, behauptete sie, der
Papa hätte es ihr so vorgespielt.«

»Wie wir uns verstehen, Fräulein Bilsenbach. Wenn ich nur frage, ob
Sie mit dem Tag zufrieden waren, kommen Sie ohne weiteres auf die
Kinder zu sprechen.«

Das Fräulein stutzte. Die Züge verschärften sich, die Schultern zogen
sich hoch, als hätten sie eine neue Last des Gekränktseins auf sich zu
nehmen.

»Ich habe ja nicht nur die Sorge um das Hauswesen zu tragen, sondern
auch die Sorge um die Kinder.«

Kornelius Vanderwelt zog begütigend ihre Hand an seine Lippen.

»Ich bin Ihnen zu unendlichem Dank verpflichtet. Das weiß keiner
besser als ich. Und nun nicht gleich böse sein. Außer den Kindern gibt
es nämlich auch noch andere Menschen und Dinge, die einer Unterhaltung
wohl wert wären und deren Berechtigung man nicht stets von vornherein
von den kleineren oder größeren Unarten der Kinder abhängig machen
sollte. Fräulein Bilsenbach, ich habe es in allen Häusern, in denen
sich alles und jedes um die Kinder und immer wieder um die Kinder
drehte, am drückendsten und unerträglichsten gefunden, in den Häusern
aber, in denen die Erwachsenen ohne Weiterungen auf ihrem Lebensanteil
bestanden, am frohesten und klarsten.«

»Bitte, Herr Vanderwelt, entlasten Sie mich von dem Klavierunterricht.
Ich bin ihm nicht mehr gewachsen.«

»Er ruht, bis ich eine geeignete Lehrkraft gefunden habe. Gestatten
Sie mir nur den Hinweis, Fräulein Bilsenbach, daß Sie persönlich den
Klavierunterricht als eine Art Entspannung von den Hausgeschäften zu
übernehmen wünschten und ich Sie keineswegs dazu gedrängt habe.«

»Ich bin ihm nicht mehr gewachsen,« wiederholte das Fräulein und
schüttelte ängstlich den Kopf.

»Quälen Sie sich doch nicht. Menschen, die alles können, erweisen sich
in keinem Einzelfache als sattelfest. Und die Küche meines verehrten
Fräulein Bilsenbach wäre nicht durch das verlockendste Klavierspiel
desselben Fräulein Bilsenbach zu ersetzen.«

Die Verbitterung löste sich. Ein kleines Lächeln kroch hervor.

»Sie verstehen es, die Menschen aufzurichten. Nun schäme ich mich
fast, daß ich so wenig an Ihre abgearbeiteten Nerven dachte. Es kann
sofort zu Abend gegessen werden, Herr Vanderwelt.«

Und auch an diesem Abend wiederholte sich der laute Begrüßungssturm
der Kinder, das Verhör in den Vorkommnissen des Schultags, die Übungen
in der Kunst des geistigen Florettfechtens in Angriff und Abwehr.

»Vergeßt mir nur nicht, ihr +discipuli+, daß der Geist erst durch
das Gemüt seine Lebensgeltung erhält. Sonst wäre er wie ein tönendes
Erz und eine klingende Schelle. Gute Nacht, ich muß meine Weisheit
noch anderorts ausschenken.«

Eine halbe Stunde später schritt er unter triefendem Schirm, den
ärmellosen Tuchumhang über den Gesellschaftsanzug geworfen, dem
Klubhaus der Ruhrorter Herren, der ›Erholung‹, zu. Breit und
selbstsicher stieß es hinein in die dunklen Gassen des Hafenviertels.

Eine gewichtige Anzahl von Herren saßen bequem um die Tische geschart.
Und daß nicht nur die Zahl eine gewichtige war, zeigten viele und
viele der ausgearbeiteten Köpfe an, der scharfgemeißelten Schädel, der
aufmerksam spähenden Augen. Männer, bei denen tagsüber Spannkraft und
Willenskraft zuhause war und abends ein gelöstes Sichgehenlassen.

Der Wein schwamm in den Römern, die Unterhaltung schwoll an,
tiefgründige Worte wurden in ein derbes Scherzwort abgeleitet, von
dröhnendem Lachen belohnt. An den Spieltischen klappten die Karten.

Als Kornelius Vanderwelt eintrat, schauten nur wenige auf. Aber
die wenigen gaben ihre Erkenntnis durch Blicke weiter, die die
Aufmerksamkeit der Umsitzenden weckten und auf den Eintretenden
hinlenkten.

»Sieh da. Herr Kornelius Vanderwelt in Person. Sagen Sie, lieber
Vanderwelt, leiden Sie unter Anwandlungen von blindlings gesteuerter
Langeweile?«

»Wenn ich wüßte, was ~Sie~ wissen, Herr Kommerzienrat, langweilte
ich mich an keinem Tische der Erde.«

»Verdammter Kerl, der. Nicht schlecht gegeben. Bin nur gespannt, was
ich da wieder mehr wissen soll.«

»Oh, nur einiges. Zum Beispiel, ob die neuen Hafenpläne zur Ausführung
gelangen oder nicht?«

»Das müssen Sie den Herrn Oberbürgermeister fragen. Ich beuge mich der
Allmacht der Behörde.«

Kornelius Vanderwelt zeigte lachend die Zähne.

»Der Herr Oberbürgermeister sitzt ja allabendlich neben Ihnen. Sollte
da nicht eine Befruchtung der Allmacht in aller Stille möglich sein.«

»Hören Sie auf! Das grenzt an Gotteslästerung.«

»Mein verehrter Herr Vanderwelt,« mischte sich die feine Stimme des
Oberbürgermeisters ein, »seitdem die Verschmelzung von Ruhrort und
Meiderich mit Duisburg glücklich vor sich gegangen ist, hat sich auch
die Zahl der Erzengel in meinem Verwaltungshimmel vermehrt, und die
vereinigten Herren Stadtverordneten haben mehr denn je das Wort.«

Kornelius Vanderwelt verneigte sich tief.

»Das Wort! Und Ihr kluges Lächeln sagt: ›Ihrer sei das Wort, mein sei
die Tat!‹«

»Hierher, Vanderwelt! Wir wollen auch unseren Nutzen ziehen! Heda!
Unsereins auch!«

Kornelius Vanderwelt schritt weiter, verharrte an einem Tische, ließ
sich zu einem anderen winken. Hinter ihm blieb ein Flüstern.

»Ein Kerl von Geist und Weitsicht,« meinte nachdenklich der
Kommerzienrat. »Zuweilen von einer gefährlichen Weitsicht.«

»Wie reimt sich das zusammen, Herr Kommerzienrat?«

Der überlegene Geschäftsmann schob langsam die buschigen Augenbrauen
hoch.

»Seltsame Frage das. Es braucht kein Kornelius Vanderwelt in die
›Erholung‹ zu kommen, um uns die Erweiterung der Hafenbauten zu
predigen. Etwas anderes ist es, ob wir Nächstbeteiligten mit
unseren Schiffsparks Schritt halten können, ob wir uns in unserem
Wirkungskreis nicht einen neuen, wenig erwünschten Wettbewerb
hereinholen, oder die Kleinschiffer durch die Not an Kahnraum stärker
in den Vordergrund gerückt werden, als es für den reibungslosen
Großbetrieb gut ist. Das nenn' ich ~gefährliche~ Weitsicht.
An der Notwendigkeit der Hafenerweiterungen zweifle ich nicht eine
Sekunde, und der Herr Oberbürgermeister, wie ich seine Tatkraft kenne,
ebensowenig.«

Eine Weile wandte sich das Gespräch mit voller Lebhaftigkeit den
Lebensadern der Stadt, den Hafenbecken und Kanälen zu. Die Finger
zeichneten Entwürfe auf die Tischplatte, die Köpfe schmiedeten Pläne.
Bald schon, und keiner wollte dahinten bleiben, der eine den anderen
überbieten, bis die Trumpfkarte fiel.

»Ich schlage vor, sämtliche Straßen Ruhrorts in schiffbare Kanäle zu
verwandeln, sämtliche Plätze in Hafenbecken.«

»Halt, halt,« rief ein hoher Hafenbeamter in das aufdröhnende
Gelächter hinein, »der Einfall ist nicht von Ihnen!«

»Haben ~Sie~ ihn etwa zutage gefördert, Herr Regierungsrat?«

»Der Vater des Kindes heißt Vanderwelt.«

»Ich muß doch sehr bitten. Zu meinen Kindern bin ich selber Vater.«

»Es ist schon einige Zeit, da fuhr er mit mir auf dem Regierungsboot
durch die Rhein-Ruhr-Häfen. Es war Hochbetrieb, in allen Wasserstraßen
drängten sich die Kähne, die Hochöfen feuerwerkten wie besessen, und
die Häuserreihen standen wie verloren im schwarzen Kohlenschleier.«

»Sie werden ja ganz poetisch, Herr Regierungsrat.«

»Ich nicht, aber der Vanderwelt wurde es. Mit einer Liebe ohnegleichen
starrte er auf das dunkle Städtebild, das sich hier, dort, überall im
dunkelgefärbten Wasser spiegelte, wandte sich zu mir und sagte leise:
›Das schwarze Venedig!‹« -- --

Keiner lachte. Jeder nickte versonnen vor sich hin und spann den
Gedanken weiter.

»Seltsamer Mensch das,« sagte ernst der Kommerzienrat. »Zwei Seelen
wohnen in seiner Brust.«

Und wieder war der Bann gebrochen, und wieder hieß der neue
Gesprächsstoff Kornelius Vanderwelt. Dichtung und Wahrheit stritten
sich um den Mann.

»Er spielt auf dem Klavier wie unsereins an der Börse.«

»Er liest die Dichter wie unsereins die Kurszettel.«

»Was ihn aber nicht hindert, mit aller seiner Kunst unsereins übers
Ohr zu hauen.«

Der aber, von dem die Reden im Schwange waren, saß unbekümmert fernab
an einem Ecktischchen und becherte mit den beiden Reedern Hinrichsen
und Auffermann um die Wette. Seine Augen leuchteten hellauf, sein Mund
sprudelte über von Geschichten aus der weitesten Welt und Gleichnissen
aus der nächsten Nähe. Der schlanke Hinrichsen bog sich in den Hüften,
der beleibte Auffermann legte sich die Arme wie Faßreifen um den
hüpfenden Bauch. »Machen Sie es gnädig, Vanderwelt, machen Sie es
gnädig. Wir glauben Ihnen alles -- alles -- alles --!«

»Das kann mich nicht kümmern, meine Herren. Kommen Sie erst einmal
nach den Südseeinseln. Da gibt es kein verstohlenes Herumdrücken in
den Kaschemmen und Freudenhäusern. Da herrscht Liebe auf den ersten
Blick und der Zauber paradiesischer Umgangsformen.«

»Wachsen denn dort Feigenbäume, Vanderwelt? Feigenbäume in rauhen
Massen?«

»Gott,« sagte Vanderwelt träumerisch, »es war wohl zu schön, zu
überirdisch schön, um an Torheiten zu denken ...«

»Ja, waren Sie denn selber da drunten? Drunten im Unterland, wo's halt
so schön ist? Und am Viktoria Njansa? Und bei den Roten am Orinoko
und den Schlitzäugigen in der Malakkastraße? Mann, wo waren Sie denn
eigentlich ~nicht~?«

Kornelius Vanderwelt spielte mit den Fäden seines Schnurrbartes.

»Wo ich ~nicht~ war? Meinen Sie, ~bevor~ ich endgültig in
Ruhrort vor Anker ging, ~oder~ --«

»Achtung, Hinrichsen, jetzt kommt eine bodenlose Grobheit.«

»Oder -- alsdann? ~Alsdann~ war ich noch nie unter so
hinterhältigen Gentlemen, die mich erzählen lassen, während sie selber
den Wein wegtrinken. Die dritte Flasche, Auffermann, bitte ich in
zweifacher Ausfertigung vorzuführen. Keine Einwendungen, oder wir
nehmen den Mann nicht mit auf hohe Fahrt, Hinrichsen.«

Der Reeder Auffermann rieb sich das spiegelblanke Kinn.

»Hohe Fahrt? Das überredet mich. ›Dein Mund fleußt über alle Zeit von
süßem Sanftmutsöle‹, steht in einem alten Gesangbuchliede zu singen
und zu sagen. Darauf trinken wir die vierte, und Hinrichsen zahlt die
fünfte und die sechste. ~Worüber~ beschweren Sie sich? Sie hätten
schon die erste und die zweite gezahlt? Still, Hinrichsen. Nicht in
Gegenwart unseres Gastes.«

Und Kornelius Vanderwelt dachte, während der Wein die grünen Römer
füllte, es sind landläufige Burschen, aber als Saufkumpane geschaffen
wie weiland Ritter Falstaff für den Junker Heinz. Und er hob sein
Glas, stieß an und trank in langen, durstigen Zügen.

Allmählich leerte sich das Gemach. Eine Zecherrunde nach der anderen
rückte ab, und an den Kartentischen errechnete man Gewinn und Verlust,
beglich die Rechnung und verabredete sich auf morgen.

»Kaum Mitternacht,« stellte Kornelius Vanderwelt fest, »und schon
löschen sie die Kesselfeuer und kriechen in die Hängematten. Ich
krieg' das Frieren bei so viel Kaltblütern.«

»Kaltblütern? Hinrichsen, hat er ›Kaltblüter‹ gesagt? Wollen Sie
meinen Puls fühlen, Vanderwelt? Wollen Sie Hinrichsens Puls fühlen?
Wenn wir auch nicht mit Südseeinsulanerinnen Vielliebchen aßen, wenn
wir auch nicht -- wenn wir auch nicht -- mit Suahelimädchen -- na,
Hinrichsen, nun sagen Sie's doch schon, was wir ~nicht~ mit den
Suahelimädchen ...«

»Mit Kokosnüssen Tennis spielten,« half Hinrichsen aus, »und mit den
Schlitzäugigen: ›Wieviel Finger sind das?‹ ...«

»So haben wir doch Ruhrorter Blut,« fuhr Auffermann fort. »Heißes
Ruhrorter Blut. Verdammt heißes Ruhrorter Blut. Und jetzt gehen wir
auf die Straße, wo's am schönsten ist.«

Hinter ihnen erlosch das Licht im Saale. Die Mäntel über den
Gesellschaftsanzug geworfen, den steifen Hut auf dem Kopf, traten die
Herren in den Hauseingang, mühten sich, in Regen und Wind die Schirme
aufzuspannen, und hielten in fröhlicher Erregung den Schritt an.

Vor ihnen verzwirnten sich die engen Hafengassen, und das Licht der
Laternen kämpfte vergebens mit den grauen Regenfluten der Nacht.
Aber das Licht kämpfte nicht allein. Es kämpfte Dunkelheit gegen
Dunkelheit, Menschen der Nacht gegen Menschen der Nacht.

»Wat sagen Sie? Sie hätten dat Mädchen nur angekuckt, Sie Piekfeiner?«

»Bleiben Sie mir vom Leibe. Ich habe mit Ihnen nichts zu schaffen.«

»Aber meiner Braut möchten Sie zu Leibe, was? Mit meiner Braut möchten
Sie sich zu schaffen machen? Jetz wollen wir einmal ›Du‹ zueinander
sagen, du Lauser, un jetz kriegst du meine Visitenkarte --«

Klatsch!

Der Geschlagene taumelte einen Schritt zurück, hob den Spazierstock
und schlug blindlings in die Luft. Das Frauenzimmer kreischte, der
Matrose duckte sich zum Sprung und sprang dem Gegner an die Brust.

Klatsch! Klatsch! Von beiden Seiten.

Schon knäulte sich ein halbes Dutzend, schon ein Dutzend Menschen um
die nächtlichen Kämpfer herum. Kneipentüren öffneten sich, strömten
breite Lichtwellen ins Gassendunkel und mit den Lichtwellen behende
Gäste, die da fürchteten, zu spät zu kommen. »Hau ihn, Hendrik! Du
läßt dir doch woll nich in 'n Kurs segeln von so 'nem Laffen?«

Klatsch! Klatsch! Klatsch! -- Hin und her.

In der Tür der Gastwirtschaft ›Zu den fünf Erdteilen‹, die durch ihre
Ecklage das Gassengewirr beherrschte, stand in Hemdärmeln und blauer
Schürze breitbeinig der Wirt im roten Lichtkegel. Die Hände in den
Schürzenlatz geschoben, die Augen blinkernd vor Vergnügen, feuerte er
Kämpfer und Zuschauer gleichermaßen an.

»Hendrik, der saß bei ~dir~! Blaue Augen sind schön, Hendrik,
aber zumehrst beim anderen! So war's recht, mein Junge! So! Und so!
Junger Herr, Sie werden doch nicht vor einem schlichten Matrosen Leine
ziehen?«

Aber der Piekfeine dachte gar nicht daran, denn der Hendrik hatte
im Eifer des Gefechts einen der Umstehenden vor das Schienbein
getreten und einen Dankesstoß erhalten, der ihn über den Haufen
warf. Und schon lag der Feine über dem Matrosen und bearbeitet ihn
wütend mit den Fäusten. Das aber ging einer Handvoll Schiffersleuten
gegen Strich und Faden. Einer von ihnen krakeelte den Mann an, der
sein Schienbein gerächt hatte, und erhielt stracks eine gesalzene
Maulschelle zur Antwort. Andere stürzten sich auf die am Boden
Liegenden, rissen den Oberen vom Unteren, verloren den Halt, befanden
sich in tobendem Handgemenge, ohne zu wissen, wie und für welche
Sache. Denn auch der Mann, der sein Schienbein gerächt hatte, hatte
eingreifen müssen und den Krakeelenden, der ihn wie ein Stier
anlief, in den Knäuel geschleudert. Ein dumpfer Schmerzensschrei des
Aufschlagenden, und die Zuschauermenge verlor den letzten Rest von
Besinnung, stürmte in atemloser Erregung vor, gurgelte Schimpfworte
und Kampfesrufe, schlug klatschend drein, traf auf den Falschen,
teilte sich in blind ineinander verbissene Einzelgruppen, während
der Mann mit dem mißhandelten Schienbein bald in diese, bald in jene
Gruppe einen Angreifer hineinschleuderte, die Verbindungen zwischen
den Einzelgruppen wieder herstellte und eine allgemeine tobende
Kampfeslage schuf.

»Warte, Bürschken, dich sucht' ich als lang.«

»Komm her, du Großmaul, ich hau' dir ein Pechpflaster drauf.«

Klatsch! Klatsch!

»Du da! Du da! Du hast noch wat vom letzten Mal bei mir im Salz.
Willste wohl nich ausreißen, du Feigling?«

»Vor so wat ausreißen? Hahaha! Nur zu klebrig biste mir.«

Klatsch! Klatsch!

»Nimm die Hand vom Hals, Hein. Nimm die Hand vom Hals --«

»Tuste Abbitte? Schön Abbitte? Bin ich ein Mädchenhändler, du Lump,
oder ein Ehrenmann wie du --?«

Die drei Herren aus der ›Erholung‹ waren längst unter dem schützenden
Hauseingang hervorgetreten. Dichter und dichter drängten sie an
den Kampfesring heran. Fäuste griffen nach ihnen. Sie hoben die
Regenschirme hoch und zeigten ihre lachenden Gesichter.

»Dat sind Herren von der ›Erholung‹! Seid ihr denn ~ganz~ blind,
ihr wütigen Maulwürfe?«

Und augenblicklich zogen sich die Fäuste zurück, lüfteten die Kerle
grinsend die Kappe. Uralte, schweigende Übereinkunft bewährte sich
zwischen den heimkehrenden Herren der ›Erholung‹, den Reedern und
Frachtverladern, und den rauflustigen Gästen des Hafenviertels. Ein
derbes und herzliches Nachtverhältnis.

»Guten Abend, Herr Auffermann. Guten Abend, Herr Hinrichsen.«

»Guten Abend auch, Herr Vanderwelt. Große Ehre, mit 'ner schlichten
Runde Boxkampf aufwarten zu dürfen.«

Plötzlich hielt das Kampfgetöse den Atem an. Die Griffe lockerten
sich, die Köpfe streckten sich vor.

»Was denn, Jungens,« rief Kornelius Vanderwelt, »ihr werdet doch
nicht aufhören wollen, wenn's am schönsten ist? Wenigstens noch eine
Ehrenrunde! Ich schlage vor: zwischen den beiden Herren, die das
Zauberstück zuerst zur Aufführung gebracht haben.«

Unter dem niederströmenden Nachtregen, vom Licht der Laternen flackrig
beleuchtet, zog man den zerbeulten Matrosen hervor und stellte ihn auf
den Platz. »Wo ist der Piekfeine?« grollte er. »Bringt mir nur den
Piekfeinen noch mal her.«

Aber so viel man auch suchte, der Piekfeine blieb verschwunden. Und
als der Matrose den Namen seiner Braut brüllte, kam auch von dort kein
Echo.

Der Piekfeine hatte die Kampfpause benutzt und sich davongemacht.
Nicht ohne dem strittigen Gegenstand einen vertraulichen Wink zu geben.

Von unbändigem, immer sich erneuerndem Gelächter begleitet, nahm
der Matrose neuen Kurs und stürmte, die Ellbogen angezogen, die
Fäuste geballt, in die Dunkelheit, die ihn im niederströmenden Regen
verschwinden ließ.

Das nächtliche Zauberstück war zu Ende gespielt. Die Mitwirkenden
lüfteten ihre Heldenmasken, erkannten sich als gute Kameraden und
biedere Mitbürger und grinsten sich an.

»Ich glaub' wahrhaftig -- et regent ...« stellte der eine fest.

»Verdammich, weshalb lassen wir uns denn eigentlich hier naß regnen?«
fragte verwundert ein anderer.

Und ein dritter schlug vor: »Wir könnten unsere Abendunterhaltung doch
ebensogut unter Dach und Fach fortsetzen.« Und er fand ungeteilte
Zustimmung.

Kornelius Vanderwelt tauschte Gruß und Handschlag mit dem Mann, der um
sein Schienbein besorgt gewesen war.

»Petrus! Natürlich! Kein anderer zwischen Mannheim und Rotterdam
befördert Stückgut so im Schwunge wie Ihr!«

Der vierschrötige Schiffer machte einen Kratzfuß.

»Ich schmeichle mir, Herr Vanderwelt. Aber bevor ich den Schwung auf
seiner glänzendsten Höhe hatte, war die Stückzahl schon erledigt.
Schade drum.«

Kornelius Vanderwelt schob seinen Arm in den ungeschlachten des
Kraftmenschen und ging im Schritt mit ihm auf die Gastwirtschaft
›Zu den fünf Erdteilen‹ zu. Der Riese setzte nur Fuß neben Fuß.
Er fühlte sich sehr geehrt unter dem gemeinsamen Regenschirm und
schielte backbord und steuerbord, ob auch eine genügend große Zahl von
Kameraden die Bevorzugung gewahr werde.

»Petrus,« fragte Kornelius Vanderwelt, und Wein, Straße, Nacht waren
vergessen, »ist Ihr Kahn verholt?«

»Herr,« entgegnete der Schiffer, »wat der Pitter ~ein~mal gesagt
hat, dat hat er für ~alle~ mal gesagt. Der Kahn liegt längsseits
dem Gebhardt seinen, un nu hat der Kohlenkipper et Wort.«

»Das hat wohl Durst gemacht, Petrus?«

»Herr Vanderwelt, arme Leut haben immer Durst. Durst un Hunger. Auf
en ordentlich Stampglas Schnaps, auf en staatses Frauenzimmer, dat
mit einem et Tanzbein schwingt, un nich zuletzt auf die Harmonika,
auf so 'n richtig Stücksken für die gerührte, unsterbliche Seele.
Wat davon abseits liegt, Herr Vanderwelt, heißt für unsereins Arbeit,
Verantwortung und Kohlenstaub in 'n Hals. Durst haben wir immer.«

»Heda, Matthes, angetreten!«

Der Wirt ›Zu den fünf Erdteilen‹ trottete dem hohen Gast durch Nacht
und Regen entgegen.

»Jammerschad', Herr Vanderwelt. Ich tat Ihnen doch einen
Warnungspfiff, noch nich dat schöne Familienbild zu stören.«

»Pfeifen Sie bei solch einem Krach nächstens mit der Sirene und nicht
mit dem gespitzten Maul.«

»Ganz die meine Meinung,« stimmt der Kahnschiffer zu. »Außerdem war
außer dem Matthes nix mehr zu verprügeln.«

Der Wirt zeigte mit dem Daumen über die Schulter, während er mit der
freien Hand den Schirm nahm und ihn sorgsam über die Häupter seiner
Gäste hielt.

»Gerad' hatten sie die Volksbelustigung auch im ›König von Portugal‹
vernommen. Sehen Sie, meine Herren, da wimmeln sie schon heran und
machen verblüffte Gesichter.«

»Matthes,« sagte Kornelius Vanderwelt, »lassen Sie die Portugiesen
ruhig auf eigene Rechnung spielen. Ich hoffe, es ist gemütlich in
Ihrem Winterpalast. Wo bleibt der Einzugsmarsch der Gladiatoren?«

Der Wirt klappte den triefenden Schirm zu und rief einen Befehl in die
verräucherte Stube. Eine Harmonika setzte ein. Mit einem heulenden Ton
ließ sie die Winde aus den Zügen, sog sich aufs neue voll und rauschte
den feierlich Einziehenden wuchtig den Pariser Einzugsmarsch entgegen.
Die Wirtsstube füllte sich mit Menschen. Auch ein paar Bräute rückten
stolz am Arm ihrer Burschen ein und wurden auf Vorschlag des Reeders
Auffermann, da es an Damen mangele und Taschenmesser nur beim Essen
in Gebrauch genommen werden sollten, für den Weiterverlauf dieses
schönen Abends jeglicher Brautschaft entkleidet.

Hinter dem letzten Nachzügler schloß Matthes zweimal die Tür ab.

»Weshalb so fürsorglich, Herbergsvater?«

»Herr Auffermann, et geschieht erstens wegen der Polizeistunde,
zweitens wegen des geordneteren Bezahlens.«

»Treffliche Geschäftsumsicht. Nur zu loben.«

»Um welche Zeit«, fragte der Reeder Hinrichsen und gähnte leise
und müde, »tritt denn so allgemach für die >Fünf Erdteile< die
Polizeistunde ein?«

»Keine Gefahr,« flüsterte der Wirt vertraulich. »Für drei Abende in
der Woche hab' ich ›Geschlossene Gesellschaft‹ angemeldet. Den Verein
›Schifferkameradschaft‹, den Verein der ›Harmonikafreunde‹ und die
Karnevalsgesellschaft ›Haste nix -- dann kriegste nix!‹ Wat wollen
Sie, Herr Hinrichsen, meine Gäste kommen so selten von Bord an Land,
dat sie mit Begeisterung Mitglieder in allen drei Vereinen geworden
sind. Un über fröhliche Menschen kann die Polizei sich doch nur
freuen.«

Der Reeder Hinrichsen beugte schicksalsergeben das Haupt.

»Ruhe, die verehrten Herrschaften. Die Frauenzimmer sollen dat
Kreischen lassen. Herr Vanderwelt bezweckt, uns mit einer kleinen
Ansprache zu erfreuen.«

Kornelius Vanderwelt stand lässig an seinem Tisch, die Hände in den
Taschen seines Gesellschaftsanzugs vergraben. Aus halbgeschlossenen
Augen blickte er über die gedrängt sitzenden Bruderschaften und
Schwesternschaften dahin.

»Hohe Festversammlung. Schon unter den alten Heiden war es schönste
Sitte, daß sich fremdhergewanderte Gäste nicht mit leeren Händen den
Gaststätten nahten, sondern mit wohlerwogenen Gastgeschenken. Diese
Geschenke sollten dazu dienen, den Gastfreunden die ihnen zustehende
tiefe Verehrung zu erweisen und ihnen die Herzen zu öffnen zu
traulichem Verkehr. So seien Sie denn erbötig, auch unsere Geschenke
entgegenzunehmen. Ich bitte Sie, Ihre Augen nach dem Schenkentisch zu
richten.«

»Sie haben sich wohl vertan, Herr Vanderwelt. Da sitzt dem Matthes
seine süße Hausehre.«

»Sehen Sie, wenn ich Ihnen raten darf, über die verehrte Frau Matthes
hinweg. Nicht etwa wegen des eifersüchtigen Gatten --«

»~Der~ Kerl un eifersüchtig!« höhnte die süße Hausehre und duckte
sich vor dem Blick ihres Gebieters zu einem armen Häuflein Leid.

»Aufgebaut sehe ich auf dem Schenkentisch Gläser köstlicher Soleier,
Kistchen mit goldgelben Kieler Sprotten, rotbackene Käse von Holland,
wohlriechende von Mainz, tränenfeuchte aus der Schweiz. Dazu Schinken
und Würste in verlockendem Anschnitt. Mein Freund Hinrichsen macht
sich ein Vergnügen daraus, sie Ihnen anzubieten.«

Ermüdet suchte Hinrichsen Verwahrung einzulegen. Der Reeder Auffermann
überstimmte ihn lärmend.

»Nichts da, Hinrichsen. Bei den alten Heiden war das schon der Brauch.
Und Sie wollen ein -- ein -- vorgeschrittener Christ sein?«

»Mein Freund Auffermann hingegen,« fuhr Vanderwelt fort, »bittet Sie
durch meinen Mund, ein Fäßlein Bier auf seine Gesundheit und Rechnung
zu leeren und auch des Schnapses nicht zu vergessen.«

Der Reeder fuhr auf. Er lehnte mit Bestimmtheit die Bevormundung ab.
Bis Hinrichsens müde Stimme erklang: »Schon bei den alten Heiden ...
sagten Sie nicht soeben so, lieber Auffermann?«

Da setzte sich der beleibte Mann seufzend nieder.

»Und Sie, Vanderwelt? Was stiften Sie?«

Kornelius Vanderwelt öffnete weit die Augen, lachte über die
vorgestreckten Köpfe hinweg, als brächte er ihnen allen eine Huldigung.

»Ich stifte die Musik, den Tanz und alle Freuden der Jugend! Leg' los,
Harmonikamann!«

Und er warf dem Spieler im Schwunge einen Taler zu, den der
Aufmerksame geschickt zwischen den Zügen seiner Harmonika auffing, um
alsbald mit Kraft und Hingabe einen Walzer zu beginnen.

Ein Taumel brach los, der über Ruhrort hinaus nach flämischen
Vorbildern griff. Auf den Schenkentisch stürzte sich die gastfrohe
Menge, kämpfte um den kürzesten Weg, stellte dem Sieger ein Bein,
setzte über Tisch und Bänke, errang eine Kiste Sprotten, einen Edamer
Käse, ein Schinkenbein, und eine schwerbusige Weibsperson barg den
Glasbehälter mit den köstlichen Soleiern so heftig an der Brust, daß
das Glas zerplatzte und die Eier an die Erde rollten.

»Nich ausbrüten! Nich ausbrüten! Man muß dat Mädchen belehren!«

Der Matthes aber ließ den Bierhahn spielen, schwenkte die Gläser in
einem Springbrunnen um und füllte sie mit dem schäumenden Naß. Hurtig
rannte die hagere Frau Matthes von Tisch zu Tisch, setzte ihre Lasten
ab, rannte zurück, um neue Lasten zu holen, sah dem Gebieter nach den
Augen und bot Schnäpse an.

Und durch das Gelärm, das Geklapper der Gläser, die gellenden Zurufe
und das Aufgekreisch der Frauenspersonen rangen sich rauschend und
frech, wehmütig und wimmernd die Klänge der Harmonika hindurch,
gewannen die Oberhand, gingen unter, erkämpften sich aufs neue den
Sieg.

»Was fürs Herz!« schrie der Schiffer Petrus und schlug vor dem
Harmonikaspieler die Hand auf den Tisch.

Der riß seine Künstlerstimmungen hin und her wie Gäule an den Zügeln.
Die Harmonika schluchzte auf.

»Teure Hei--i--mat, sei gegrüßt!«

Der Schiffer Petrus sang mit. Seine Augen glänzten, seine Hingabe war
hemmungslos. Bässe brummten die Grundmelodie. Frauensoprane schwelgten
in süßen Höhen. Mit den Füßen zog man die Tische heran. Ein Bursche
erhob sich, bewegte den Körper nach dem Takt der Weise und schlurfte
auf gleitenden Füßen in den engen Tanzraum. Schon folgte ihm ein
Mädchen, nachtwandlerisch, mit wiegendem Körper, die Arme mit kraftlos
tastenden Händen ausgestreckt, bis sie die Schultern des Burschen
erreichten, bis die Glieder sich im Tanze verkrampften. Ein zweites
Paar, ein drittes. Die Zechenden wurden an die Wände gedrückt.

Das hochbusige Frauenzimmer hatte sich den Reeder Auffermann erkoren.
Es warb um einen Tanz. Es umschmeichelte ihn. Mit einer Handbewegung
schob es der Reeder zur Seite. Da brach das Ungestüm durch, loderndes
Gassenfeuer. »Komm her! Komm her! Ich will dich! Dich! Dich!«

Und der Reeder kam. Wortlos packte er das ungestüme Weib, wortlos
hob er sie hoch, daß die Röcke rauschten, und setzte sie in den
aufspritzenden Springbrunnen, dessen Becken sie füllte.

Des Festes Höhepunkt war erreicht. Wild wogte der Tanzreigen um das
zeternde, unerlöste Weib. Die Lieder überschlugen sich. Die Harmonika
warf ihre grellsten Feuerfetzen in den Aufruhr der Gemüter.

Und plötzlich war es Kornelius Vanderwelt, als wäre er all diesem
Menschenirrsinn weit entrückt, als führe er, ein Einsamer, durch
eine weltabgewandte Flußlandschaft, zur Linken in schimmernden
Schlangenlinien den weißen Wasserspiegel, zur Rechten in heißer
Herbstfeier den Buschwald in Rot und Gold, und als er sich träumerisch
suchend dem Bilde hingab, war ihm, als hörte er eine Mädchenstimme
rufen, und er horchte ihr grübelnd nach und vernahm sie wieder und
horchte angestrengter.

War das ein Wortwechsel im Haus? Ahnte er ihn nur im alles
verschlingenden Lärm?

Und mit einem Male erhob sich Kornelius Vanderwelt, warf seinen
Tuchumhang über, griff Schirm und Hut und trat ungesehen hinter dem
Schenkentisch ins Haus.

Er preßte sich an die Flurwand. Er glaubte eine Erscheinung zu haben
und schloß für Sekunden die Augen.

Das Mädchen von der Landstraße kam die Treppe herab, blaß, mit
verstörten Augen, die Reisetasche fest an sich gezogen. Und wie ein
Gespenst zappelte die Frau des Matthes vor ihr her, keifend, ihr den
Weg verlegend.

»Sie bleiben hier. Sie haben dat Zimmer nur gekriegt, weil Sie länger
wohnen wollten.«

»Ich habe das Zimmer täglich bezahlt. Ich kann nicht mehr. Wo bin ich
denn nur? Ich will fort!«

Der Wirt tauchte auf. »Marsch, ins Geschäft!« herrschte er seine Frau
an, die wie ein Hauch verschwand. »Entschuldigen Sie, Fräuleinchen,«
sagte er süßlich und legte ihr den Arm um den Leib, »aber Sie sollen
mal sehen, wie schnell man sich an die Musik gewöhnt.«

Und jäh verzerrten sich seine Züge, warf sich sein Kopf nach hinten
herum.

»Ah, Sie sind et, Herr Vanderwelt. Da können Sie von Glück sagen, dat
ich Sie erkannt habe. Nehmen Sie die Daumenschrauben vom Arm.«

»Befehle, Matthes? Finger weg, oder ich dreh' Ihnen die Schulter
ab. Sie kennen mich im Zorn, Matthes. So ist's recht. Und kein Wort
darüber. Nicht das kleinste, oder die Freundschaft ist aus. Gehen Sie
zu Ihren Gästen.«

Das Mädchen stand auf den Treppenstufen, blaß, mit verstörten Augen,
die Reisetasche fest an sich gezogen.

Kornelius Vanderwelt sah dem Wirte nach. Er sah auf das Mädchen und
öffnete die Tür, die ins Freie führte. Die Nacht quoll herein und mit
ihr der peitschende Regen.

Kornelius Vanderwelt stand und sah auf das zusammenschauernde Mädchen,
das ihm entgegenschritt. Er öffnete den Schirm, den er schützend in
die regendurchflutete Nacht hinaushielt, und als er in der engen Tür
ihre frostbebende Schulter spürte, hob er seinen Umhang und nahm sie
mit unter das wärmende Tuch.

»Ich will Ihnen nur auf den rechten Weg helfen,« sagte er leise, und
sie sah nach seinen Augen.

So schritten sie schweigend in Nacht und Regen, der Mann und das
Mädchen.




                                  3


Als der Mann und das Mädchen aus der Gasse heraustraten, packte sie
am Hafendamm der fegende Rheinwind erst mit seiner vollen Gewalt, und
der Mann stemmte seine Schultern an, um des Windes und Wetters Herr zu
werden. Mit der einen Hand streckte er den Schirm vor, mit der anderen
hielt er den Zipfel des Umhangs gepackt, aus dem das Angesicht des
Mädchens starr und regennaß in die Dunkelheit lugte.

»Legen Sie vor allen Dingen einmal die Starrheit ab,« gebot die Stimme
Kornelius Vanderwelts und drang durch das Wetter zu ihrem Ohr. »Was
Sie in der Gastwirtschaft ›Zu den fünf Erdteilen‹ gesucht haben,
werden Sie mir später erzählen, jetzt sagen Sie mir, was Sie in
Ruhrort wollen oder wohin Sie wollen.«

Das Mädchen versuchte zu sprechen. Aber Regen und Wind machten sie
atemlos. Ihr Mund bewegte sich und die Brust bäumte sich auf in der
Anstrengung des Sprechens.

»Langsam, langsam,« beruhigte die Stimme Kornelius Vanderwelts. »Es
ist so spät geworden, daß es auf ein paar Minuten wirklich nicht mehr
ankommt. Verstehe ich recht? Klavierspielerin sind Sie? Und kommen
von der Hochschule für Musik? Unterricht wollen Sie erteilen, um Ihre
Laufbahn fortsetzen zu können? O Sie junge Jüngerin der heiligen
Cäcilie, welcher dunkle Trieb führte Sie denn geradeswegs nach
Ruhrort?«

Wieder sprach die Stimme des Mädchens, und die Worte flatterten
zerfetzt davon.

»Nein,« sagte Kornelius Vanderwelt, »so geht es nicht. Meine Stimme
ist an das Hafenwetter besser gewöhnt. Ich werde sprechen und Sie
werden nicken oder mit dem Kopfe schütteln. Verstanden?«

Das Mädchen schloß nur die Augen zur Bejahung.

»Ich werde es ganz kurz machen,« fuhr Kornelius Vanderwelt fort. »Sie
sind hier. Daran ist nicht zu zweifeln. Sie suchen Arbeit. Arbeit ist
für jeden ernsthaft Suchenden zu beschaffen. Vorher aber suchen Sie
eine Unterkunft. Das ist zu dieser vorgerückten Nachtstunde und in dem
Zustand, in dem Sie sich befinden, schon eine schwierigere Aufgabe.«

Er wartete, und das Mädchen schwieg und mühte sich, das Frösteln zu
unterdrücken.

Kornelius Vanderwelt beugte sich zu ihr nieder. Ganz nahe über ihre
Augen, die ihm entgegenstarrten.

»Nicht diesen Blick. Bitte -- ohne jede Angst und Zurückweisung. Als
wir aus den ›Fünf Erdteilen‹ in die Nacht traten, versprach ich Ihnen
meine Hilfe. Sehen meine Augen aus, wie die Augen eines Wegelagerers?
Ach so, da war gestern oder vorgestern Mittag so eine Geschichte ...
Auf der Landstraße ... Das war Landstraßenübermut. Das überkam mich
so, wie ich Sie in Ihrer jüngferlichen Abwehr sah. Jetzt stehen Sie
unter meinem Schutz, und dort ist mein Haus, und wir gehen hinein.«

»Nein,« sagte sie nur.

»Ja,« wiederholte er, »wir gehen hinein. Denn im Regen schwimmen wir
fort, und es scheint mir für den in ganz Ruhrort und Umgebung bestens
bekannten Kornelius Vanderwelt -- so ist mein Name, mein Fräulein --
nicht sonderlich passend, vor den Fenstern seiner schlafenden Kinder
mit einer unbekannten jungen Dame durch die schwärzeste Nacht zu
lustwandeln. Sehen Sie das ein?«

Sie machte sich ganz steif unter dem gemeinsamen Umhang.

»Mein liebes Fräulein,« sagte er ernst. »Ich bin nicht abergläubisch,
aber hier scheint mir doch so etwas wie die Stimme des Schicksals
mitzureden. Vielleicht finden Sie bei mir die Arbeit, die Sie suchen.
Meinen Kindern tut eine tüchtige Klavierlehrerin not. Zeigen Sie mir
morgen, was Sie können, und jetzt treten Sie ein.«

Das Mädchen bewegte den Mund, es begann zu sprechen.

»Nein, ich fürchte mich nicht. Ich fürchte mich auch nicht vor der
ungewöhnlichen Stunde. Aber da ist etwas -- nein, nein, es zieht mich
nicht zurück -- und ich bin auch nicht abergläubisch -- es redet mir
zu -- und einer ist dem anderen doch ein Fremder.«

Und die Augen des einen befragten verwundert die Augen des anderen.

Fremde? Sind wir uns Fremde? Was ist es, was den einen für den anderen
sprechen läßt?

»Ich gebe Ihnen mein Manneswort, daß Sie unter meinem Dach so sicher
sind, wie meine Kinder.«

Sie antwortete nicht mehr. Aber sie ging ruhig an seiner Seite durch
den Vorgarten, und die Rosenranken griffen nach ihr mit den Dornen,
und sie griff hinein und spürte nur die sprühende Rose, die sie in der
Hand behielt.

Kornelius Vanderwelt schloß die Türe auf und entzündete im Hausflur
das Licht. Wie eine Nachtwandlerin, die eines jeden Schrittes sicher
ist, folgte sie ihm in den Kleiderablegeraum, ließ sie sich von
seinen Händen Hut und Mantel abnehmen, folgte sie ihm weiter, nur die
Reisetasche in der Hand, und wartete geduldig in der Dunkelheit eines
Raumes, bis ihr Führer auch hier das Licht aufflammen ließ.

Ihre Augen wanderten ringsum. Ernst und ohne Überraschung, als hätte
sie die neue Umwelt so und nicht anders erwartet.

»Sie sind in meinem Arbeitszimmer,« sagte Kornelius Vanderwelt
freundlich. »Setzen Sie sich nieder. Nein, nicht auf den steiflehnigen
Stuhl. Hier in den tiefen Sessel können Sie sich gemütlicher
hineinkuscheln. So ... Ganz Wohlbehagen ... Es wartet kein Zahnarzt
mit der Zange. Aber es ist zwei Uhr nachts, und Sie haben nach dem
Familienabend in den ›Fünf Erdteilen‹ die Berechtigung, müde zu sein.«

»Nein -- ich bin nicht müde. Aber die Hausfrau schläft.«

»Mein liebes Fräulein, die Hausfrau schläft schon seit Jahren den
ewigen Schlaf. Ich lebe mit meinen Kindern allein, zwei Jungen
und einem Mädchen, und eine ältere Hausdame betreut uns. Soll ich
Ihnen das Gastzimmer anweisen, oder wollen Sie mir noch ein wenig
Gesellschaft leisten?«

»Wenn Sie es wünschen -- will ich Ihnen noch -- Gesellschaft leisten.«

»Recht so. Man lernt sich kennen und weiß am nächsten Tage, wer der
andere ist. Das erleichtert die Möglichkeit Ihres Hierbleibens. Und
nun wollen wir plaudern und zum Plaudern einen Tee trinken.«

Die Tiefe des Sessels verschlang die Mädchengestalt. Und aus der
Tiefe heraus verfolgten die ernsten, grauen Augen jede Bewegung des
Mannes, sahen auf seine starken, gutgepflegten Hände, die am Kamin
die Schnur des elektrischen Kochers einschalteten, auf den jugendlich
federnden Gang, der das Zimmer durchmaß, hin und her, her und hin, bis
die dampfenden Teegläser auf dem Tische standen und eine verdeckte
Schüssel. Kornelius Vanderwelt aber ließ ein jedesmal, wenn er den
Schritt wandte, seinen Blick über das Mädchen schweifen, und er
gewahrte den strengen Schnitt ihres Gesichtes, das flimmernde Rotblond
des windverwehten Haares, die eigentümliche Ruhe der Augen, hinter der
die Stürme müde geworden oder noch unerweckt zu schlafen schienen.
Und wieder schweifte sein Blick über sie hin und gewahrte das billige
Kleid und unter dem Kleid die Magerkeit der Glieder, die dennoch über
den Fesseln eine feingeschwungene Linie zeigten, und die festgerundete
Mädchenbrust, die unhörbar atmete. Und immer wieder schweifte sein
Blick über die Hände, die im Schoße ruhten und ihm in ihrer Gliederung
so ausdrucksvoll schienen, als sprächen sie eine eigene, beseelte
Sprache.

Leise zog er sich seinen Sessel heran und setzte sich ihr gegenüber.
Die Schüssel hatte er abgedeckt.

»Greifen Sie zu,« bat er freundlich. »Die kleinen Imbißbrote werden
jeden Abend für mich zurecht gestellt. Ich bin, wie Sie leider
schon bemerkt haben werden, ein bißchen außenhäusig geworden. Und
trinken Sie tapfer Tee. Er langt für mehrere Gläser und wärmt Ihren
durchfröstelten Lebensmut wieder an.«

Sie beugte sich vor und nahm das Glas aus seinen Händen. »Zucker?«
fragte er und ließ, als ihre Lippen sich bewegten, ein Stück in ihr
Glas gleiten.

Sie trank mit weitgeöffneten Augen. Nicht gierig, aber in langen,
durstigen Zügen, als wär alles in ihr erstarrt gewesen und taute nur
langsam auf unter dem heißen Trank.

»Nicht das Essen vergessen,« ermunterte Kornelius Vanderwelt, und
sie nahm gehorsam eins der schmackhaften Brote und senkte die Augen,
während sie aß.

Kornelius Vanderwelt tat, als leistete er ihr bei Speise und
Trank Gesellschaft. Aber während er sie mit einer geräuschlosen
Ritterlichkeit bediente, kam die Verwunderung über sein Tun in ihm
hoch und wuchs und wuchs, daß er unruhig glaubte, ein Lachen in
sich aufsteigen zu spüren, ein Lachen über Kornelius Vanderwelt,
der von der Straße nächtlichen Besuch hereinnahm und ihm wie einem
Edelfräulein aufwartete.

Und die Verwunderung wurde noch stärker, weil das Lachen ausblieb und
nicht einmal einem Mitleid Platz machte, sondern nur ein grübelndes
Lächeln wurde: wie schön ist es, mit diesem Mädchen zusammenzusitzen,
und weshalb ist sie mir so vertraut?

Da gewahrte er, daß sie ihn anblickte.

»Nichts mehr?« fragte er. »Nicht ein kleines Brötchen mehr? Aber das
Teeglas wird noch einmal gefüllt --«

»Ja, ich danke Ihnen,« sagte sie, und er sah an dem Hauch, der in
feinem Rot ihr Gesicht überzog, daß sie sich erholt hatte.

»Wollen Sie mir jetzt Ihren Namen nennen? Eine Anrede ist die Hälfte
des Bekanntseins.«

»Ich heiße Angela Freydag.«

»Angela? Ah, das bedeutet soviel wie ›Engel‹?«

Ihre Hand tastete nach der Reisetasche, die sie an ihren Sessel
gelehnt hatte. Sie drückte auf das Schloß.

»Mein Gott,« fragte Kornelius Vanderwelt erstaunt, »haben Sie das Ding
da sogar ins Zimmer mitgenommen?«

»Meine Brieftasche ist darin, und in der Brieftasche sind meine
Papiere.«

»Mein liebes Fräulein Freydag, Sie verwechseln den Ort. Sie befinden
sich hier nicht vor einer Behörde, sondern bei einem Ruhrorter Bürger
mit Namen Kornelius Vanderwelt, der Ihnen freiwillig Gastfreundschaft
anbot.«

Sie aber nestelte die Brieftasche hervor und öffnete sie vorsichtig
auf den Knien. Zwischen wenigen kleinen Geldscheinen lagen in sauberem
Umschlag ihre Ausweispapiere.

Kornelius Vanderwelt nahm sie mit kurzer Verbeugung aus ihren Händen.

»Wenn es wirklich Ihr Wunsch ist --« Und er las.

»Angela Freydag, Musikbeflissene. Tochter des verstorbenen
Kapellmeisters Sebastian Freydag und seiner ebenfalls verstorbenen
Ehefrau, der Sängerin Barbara Freydag geborene Brandt.«

Er ließ die Hände in den Schoß sinken und schaute sie an.

»Es folgt die Personalbeschreibung, Fräulein Freydag, die ich aber
schon auswendig weiß. Also beide Eltern -- beide dahin? Und keine
Geschwister? Und Anverwandte? Ebensowenig?« Er legte die Papiere in
ihre Hand zurück und behielt ihre Hand eine kurze Weile still zwischen
der seinen.

»Und obendrein ist sowas noch ein Mädel -- läuft mutterseelenallein
über die Landstraße, um ihre Groschen zu sparen -- jedem Zugriff
ausgesetzt -- nein, nein, ich weiß, es sind Krallen und Zähne
vorhanden -- gerät in die hochansehnliche Gastwirtschaft ›Zu den fünf
Erdteilen‹ -- ja, nun sagen Sie mir nur, weshalb gerade in diese?«

»Es war die billigste,« antwortete sie ruhig.

»Und was trieb Sie nach dem schwarzen Ruhrort?«

»Ich komme von der Musikhochschule in Köln. Meine Mittel sind eher
erschöpft, als meine Ausbildung abgeschlossen sein wird. Da hab' ich
mich auf den Weg gemacht, neue Mittel hinzuzuverdienen. Denn« -- und
ihre Augen sahen ihn mit einem stählernen Glanz an -- »ich kann etwas
und will noch viel mehr können.«

»Bravo. Aber weshalb gerade Ruhrort?«

»In Köln und in Düsseldorf und in den anderen großen Städten wachsen
die Klavierlehrerinnen wie das Gras zwischen den Steinen. Da dachte
ich an das Industriegebiet. Ich kam von der Ruhrstadt Kettwig her, als
ich Ihren Fahrer auf der Landstraße anrief. Ich hatte nichts erreicht.
Aber in Kettwig sprachen die Leute von der großen Entwicklung des
Hafenplatzes Ruhrort. Und irgend etwas stieß mich auf den Weg.«

»Auf meinen Weg,« sagte Kornelius Vanderwelt grüblerisch. Und er
befreite sich aus dem Dunkel der Gedanken und setzte munter hinzu:
»Die erste Begegnung hat Sie wohl sehr erschreckt?«

Zum ersten Male sah er, daß sie lachen konnte. Nicht laut und auch
nicht lautlos. Die Kehle blieb unbewegt. Nur in den Augen sprang ein
Licht auf, tief im Hintergrund der grauen Augen, aber es beschien das
ganze Gesicht mit einem heiteren Schein.

»Nein, die erste nicht, Herr Vanderwelt. Ich wußte wohl, daß ich im
Winde stand wie eine Vogelscheuche, als mir die Kleider wegflogen. Und
daß Sie mich trotzdem und ohne viel Fragens in den Wagen hoben, das
empfand ich gerade darum als die erste Kameradschaft unter Menschen.«

»Das Empfinden hielt nicht lange an, und Ihre Zähne und Fäuste
bedankten sich auf eine eigene Weise.«

»Hätte ich aus dem Wagen springen können, ich hätte es getan, Herr
Vanderwelt.«

»So abscheulich erschien ich Ihnen? Als ein so gemeiner Wegelagerer?«

»Ich schämte mich vor mir selber und -- und -- nun muß ich es doch
sagen -- und für Sie.«

»Für mich, Fräulein Freydag? Hatte ich denn beim ersten Blick einen so
guten Eindruck auf Sie gemacht?«

Sie zog nachsinnend die Stirn zusammen, daß sich über der geraden Nase
steil eine Furche hob.

»Ich fragte mich: greift ein Mann wie dieser Mann so wahllos nach
jeder? Und wenn es ein so fadenscheiniges und abgemagertes Ding ist
wie ich? Das schüttelte mich.«

»Es war nicht wahllos,« sagte Kornelius Vanderwelt. »In dieser Stunde
weiß ich es, und Sie wissen es auch.«

»Ja,« entgegnete sie aus ihrem Sinnen heraus, »in dieser Stunde weiß
ich es, und nun darf ich Ihnen dankbar sein.«

Kornelius Vanderwelt erhob sich.

»Da schlägt die Uhr drei. Seit zehn Uhr wenigstens gehören Sie ins
Bett. Jetzt werde ich Sie in Ihr Zimmer bringen, und Sie stehen
nicht vor Mittag auf. Ausnahmsweise werde ich zu Tisch kommen. Ich
hole Sie aus Ihrem Zimmer ab und bitte mir einen lebensfrischen und
lebensfröhlichen Hausgenossen aus. Noch eines, Fräulein Freydag.«

Sie hatte sich bei seinen ersten Worten erhoben, und er stand vor ihr
und lachte ihr in die Augen.

»Wie ein Abenteuer fing es an. Aber Sie sollen auch nicht eine
Minute länger als notwendig die Rolle einer Abenteurerin spielen.
Der Wertschätzung wegen, die Sie bei sämtlichen Bewohnern dieses
Hauses finden sollen. Und da bleibt nichts als eine ganz, ganz kleine
Schwindelei für die Neugierigen. Ohren gespitzt. Gestern abend habe
ich die Kölner Hochschule für Musik angerufen und den Direktor
gebeten, mir noch in der Nacht eine seiner besten Klavierschülerinnen
zu schicken. Solche Plötzlichkeiten ist man bei mir gewöhnt. Sie
sind mit dem Nachtzug in Duisburg eingetroffen und haben sich
absprachegemäß in der ›Erholung‹ zu Ruhrort bei mir gemeldet. Worauf
ich Sie ohne viel Federlesens hierherbrachte und diebessicher
einschloß. Wort für Wort verstanden?«

Mein Gott, dachte Kornelius Vanderwelt, wie übermütig das Mädel
aussehen kann!

Und doch trat keine Ausgelassenheit in ihrem Wesen zutage. Nur die
Augen waren es, in denen es aufleuchtete, strahlte und sprühte, wie in
mädchenlustiger Heiterkeit.

Und Kornelius Vanderwelt dachte: ein wie großes Kind muß diese junge
Lebenskämpferin doch geblieben sein, daß ihr das bißchen Verkleiden
schon ein so helles Vergnügen machen kann.

»Sie sind also bereit, meine Spießgesellin zu spielen?«

»Ich bin bereit, Ihre Spießgesellin zu spielen,« wiederholte sie mit
einer hell anklingenden Stimme.

»Kommen Sie mit mir, Fräulein Freydag.«

Er ging ihr voran, und sie folgte ihm wortlos. Über den
teppichbelegten Gang, eine teppichbelegte Treppe hinauf und wieder
über einen teppichbelegten Gang. Er öffnete ein Eckzimmer, trat ein
und machte Licht. Es war ein behaglicher Schlafraum in Weiß mit alten,
goldgerahmten Kupferstichen an den Wänden. Über dem Bett wölbte sich
ein kleiner Himmel, und die Falbeln des Behangs zitterten leicht in
der Zugluft.

Sie starrte mit einem kinderseligen Gesicht darauf hin.

»Angela bedeutet doch ›Engel‹, und Engel müssen im Himmel wohnen,«
meinte Kornelius Vanderwelt lächelnd. »Ich sehe, für die Erde ist
Ihnen ja die Reisetasche treu geblieben. Schlafen Sie wohl, Fräulein
Freydag. Gute Nacht.«

»Gute Nacht ...« klang es wie aus weiter Ferne zurück.

Unhörbar schritt Kornelius Vanderwelt den Gang entlang und die Treppe
hinab zu seinem Arbeitszimmer. Er blickte sich um. Er suchte etwas
und wußte, daß es nicht mehr um ihn war. Bis auf einen Duft, der sich
scheu an ihn hing.

Er zog ihn in sich hinein, und der Duft war sein.

Wie ein Primaner, der hinter einem Mädchen herwittert, dachte er,
reckte sich müde in den Gliedern, drehte das Licht ab und suchte sein
Schlafzimmer auf. Und schlief traumlos bis zum Morgen.

Sein erster Gedanke beim Erwachen waren die Kähne. Die Kähne, die
schon unterm Kohlenkipper verholt lagen, und die anderen, die sich
im Anmarsch befanden. Seine Uhr zeigte die achte Morgenstunde. Sein
Kopf war so wunderbar frisch und klar, als wäre kein Zutrunk in der
›Erholung‹, kein Kampfgetöse in der Hafengasse, kein Zechgelage in
des Matthes ›Fünf Erdteilen‹ gewesen. Im Badezimmer reckte sich sein
Körper unter der Brause. Den Bademantel übergeworfen, saß er in seinem
Arbeitszimmer vor dem Fernsprecher.

»Bitte Zeche« -- und er nannte den Namen. »Ich danke Ihnen, mein
Fräulein. Hier Kornelius Vanderwelt selbst. Ich lasse den Herrn
Direktor um eine halbe Minute bitten. Guten Morgen, Herr Direktor.
Ob ich schon auf den Beinen bin? Selbst die Nacht war mir nicht zu
schade, um Ihre Geschäfte zu fördern. Gegen Mitternacht sprach ich
noch meine Schiffer. Zwei Kähne liegen schon unterm Kipper. Und
sperren die Mäuler auf. Lassen Sie die Eisenbahnwagen anrollen. Ich
habe einen halben Tag zugunsten Ihrer Verladung herausgewirtschaftet.«

Er horchte auf die Antwort.

»Sehr schmeichelhaft. Für Schmeicheleien aus Ihrem Munde bin ich sehr
empfänglich. Lassen Sie mich den ›Zauberkünstler‹ nur recht oft für
Sie spielen. Also dann: Glückauf!«

Er kehrte in sein Ankleidezimmer zurück, beendete seinen Anzug und
begab sich ins Frühstückzimmer.

»Guten Morgen, Fräulein Bilsenbach. Schön ist der Tag heut, wie?«

»Es herrscht ein trostloser Regen, Herr Vanderwelt.«

»Ruhrorter Arbeitswetter. Die Wasser des Rheines steigen, die
Wasser der Ruhr steigen, die Arbeitskräfte der Schiffahrttreibenden
steigen, und weil die Blätter des Herbstes fallen und die Winterkohle
eingekellert werden muß, steigen sogar trotz des hohen Wassers die
Frachtlöhne.«

Er strich sich ein Brot, nahm eine Schinkenscheibe auf den Teller und
begann zu frühstücken.

»Der Zechendirektor nannte mich vorhin am Fernsprecher den
Zauberkünstler Ruhrorts. Ich denke mir das Wort nur um ein weniges
anders, als dies brave Arbeitspferd am Göpel des ewigen Einerlei. Aus
Kohle Gold zaubern. Jawohl. Aber aus dem Gold Freude zaubern, Freude,
Freude, Freude, damit das Leben sich lohnt.«

Das alternde Fräulein blickte eine Weile still in den trostlosen Regen.

»Ja, zaubern Sie Freude, Herr Vanderwelt. Sie fehlt allenthalben auf
der Welt. Und die Welt altert so schnell.«

»Wenn das die Welt tut, müssen wir sorgen, daß wir umso jünger
bleiben.«

Das Fräulein erhob sich und begann aufzuräumen.

»Sie brachten noch Gesellschaft mit heim, Herr Vanderwelt. Haben Sie
alles Wünschenswerte vorgefunden?«

Kornelius Vanderwelt legte mit einem Ruck die Morgenzigarre auf den
Tisch, die er gerade in Brand bringen wollte.

»Fräulein Bilsenbach! Ja, da soll doch gleich ein doppelt geschwänzter
Teufel -- nein, nein, er soll nicht, denn Sie hören ihn nicht gern
--. Hat der Zauberkünstler bei aller Ruhmredigkeit sein Hauptstück
vergessen! Also aus und vorbei ist es mit allem unglückseligen
Flötenspiel. Gestern abend noch erreichte ich durch den Fernsprecher
den Direktor der Kölner Musikhochschule. Eine Stunde darauf saß
seine beste Klavierbeflissene, ein Fräulein Angela Freydag, auf der
Eisenbahn und dampfte durch die Nacht gen Duisburg. Nach Mitternacht
hatte sie in Ruhrort die ›Erholung‹ aufgefunden und ließ sich bei mir
melden. Es klappte wie auf dem Theater. Ich habe dem halb erfrorenen
Wesen noch einen Tee zu trinken gegeben und sie oben im Eckzimmer
untergebracht. Bis zum Mittag soll sie ungestört schlafen. Ich komme
heute zu Tisch und besorge dann die Vorstellungsfeierlichkeiten. Guten
Morgen, Fräulein Bilsenbach.«

»Ich hätte,« stammelte das Fräulein, »ich hätte ja noch herzlich gern
weiter unterrichtet ...«

Kornelius Vanderwelt betrat das Kontorgebäude. Ein kurzer,
freundlicher Gruß hinüber und herüber, und er schritt weiter an
Beckenrieds abgegitterter Nische vorüber, in die er einen lauten
Gutenmorgengruß hineinschallen ließ, in sein abgesondertes Gemach.
Eine Anzahl Blicke folgten ihm, forschten nach Gang und Haltung und
kehrten zu ihren Briefen und Berechnungen zurück. Es sollte, so lief
die Morgenmär, im Hafenviertel diese Nacht lustig zugegangen sein. Der
Herr aber war, wie er immer war.

Eine Weile schon hatte der Geschäftsführer mit Herrn Vanderwelt
die Morgenpost durchgesprochen. Jetzt hob Kornelius Vanderwelt
überraschend den Kopf und gewahrte die prüfenden Augen seines
Mitarbeiters.

»Diese Nacht soll es ja hier in der Nähe eine muntere Prügelei gesetzt
haben? Ich hoffe, Sie waren nicht allzu stark beteiligt?«

»Ich zeichne nur in ~Ab~wesenheit des Herrn für die Firma.«

»Es ist wahr, man kann nicht überall sein. Wohin hatten ~Sie~
denn diese Nacht den Schauplatz Ihrer Tätigkeit verlegt?«

»Ins Bett, Herr Vanderwelt, wo brave Bürger hingehören.«

»Brave Bürger können sich auch im Bett prügeln,« sagte Kornelius
Vanderwelt und entließ ihn mit herzlichem Händedruck.

Um die Börsenstunde durchschritt er wie immer das Gedränge vor der
Schifferbörse. Spannkräftig, mit kühlen Augen, die, wenn sie der
Gegenstand wert genug dünkte, eine Flut von Wärme verschwenden
konnten. Und das Unnachahmliche in der Haltung, das zu vertraulicher
Aussprache aufrief und dennoch dem Nähertretenden unsichtbare Grenzen
zog. Mützen wurden gelüftet, und Kornelius Vanderwelt lüftete den Hut.
Fragen wurden gestellt und Auskünfte erbeten, und Kornelius Vanderwelt
antwortete dem einen und beriet den anderen. Irgendwoher, aus einem
der Schifferhaufen, kam ein heiserer Zuruf.

»Verflixt, Herr Vanderwelt, Sie haben aber wieder mal vorgelegt. Bis
in den Ausguck hab' ich noch den Nebel im Kopp!«

Kornelius Vanderwelts kühle Augen suchten den Rufer.

»Wenn dir die Luft an Land zu scharf geht, bleib in der Hängematte,
Mann. Aber langweile ernsthafte Geschäftsleute nicht mit Dingen von
gestern.«

Und es war ein beifälliges Gemurmel und ein achtungsvolles Zunicken.

In der Halle der Schifferbörse traf Vanderwelt auf den Reeder
Hinrichsen, der knapp und geschäftsmäßig eine Verhandlung führte.
Und wie an jedem Morgen saß der Reeder Auffermann in seiner Koje,
rechnete mit seiner Kundschaft auf Heller und Pfennig und reichte
seinem Geschäftsfreunde Vanderwelt nur kurz die Hand herüber. Was
zum Ruhrorter Hafengebiet gehörte, wußte Tag und Nacht schiedlich zu
trennen.

Um ein weniges pünktlicher nur als sonst händigte Kornelius Vanderwelt
dem harrenden Geschäftsboten seine Aufzeichnungen ein, nahm im
Vorübergehen die eben erst berechneten Kursnotierungen mit und begab
sich nach Hause. Noch waren die Kinder nicht aus der Schule daheim. Es
war ihm lieb. Der nächtliche Gast sollte für die Kinder schon im Licht
des Tages stehen.

Im Badezimmer wusch er sich den Kohlenstaub des Hafens von Gesicht und
Händen, horchte ins Haus und schritt die Treppe hinauf und den Gang
entlang dem Eckzimmer zu.

Er klopfte, vernahm ein Wort, das von innen zu ihm wollte, und öffnete
die Tür.

»Guten Morgen, Fräulein Angela Freydag. Wie haben Sie geruht?«

»Ich glaube, ich habe seit meiner Kinderzeit noch nicht so fest
geschlafen. Guten Tag, Herr Vanderwelt.«

Er streckte ihr die Hand entgegen, und während er die ihre hielt, nahm
er ihr Bild in sich auf und über sie hinweg das Bild ihres Zimmers.

»Sie haben ja mit sich und Ihrer Umgebung schon ordentlich aufgeräumt,
Fräulein Freydag.«

Das Zimmer lag wie unberührt. Straff und faltenlos zog sich die
Schondecke über das weiße Bett, die Falbeln des Himmels schwebten wie
weiße Schmetterlingsflügel, und die Goldleisten der englischen Kupfer
zeigten kein Stäubchen auf. Jedes Ding lag und stand wie unberührt,
und nur das Mädchen schien eine andere.

Sie trug eine helle Bluse zum dunklen Rock, unter dem umgelegten
Kragen schlipsartig einen bunten Seidenstreifen, an den Füßen
gutgehaltene Halbschuhe. Das aber war es nicht, was Kornelius
Vanderwelts Aufmerksamkeit erregte. Nicht was aus der Reisetasche
hervorgegangen war, vermochte sein geschultes Auge zu fesseln. Das
Mädchen selbst war es, der frohe, freie Mensch, der sich aus der Nacht
zum Tage durchgerungen hatte.

Zwei klare, kluge Augen schauten ihn unter hochgewölbter Stirn an.
Die Nüstern der graden Nase atmeten leise. Die Lippen waren wie ein
blutvoller Spalt, der die Zähne hindurchschimmern ließ. Und das Haar
lag locker gewellt über der Stirn und in geflochtenem Knoten im Nacken.

Durch ihr ganzes Wesen aber lief ein Drängen. Ein Drängen der Ungeduld
auf das neue Leben.

»Wenn Sie«, sagte Kornelius Vanderwelt nach einer Pause, »am Klavier
dieselbe Künstlerin sind, wie als Menschenkind in Ihrem Stübchen --
ich meine, wenn Sie die Schönheit der Verhältnisse hochachten und
ihnen dennoch aus der persönlichen Gefühlswelt heraus ein neues und
eigenes Leben zu geben wissen, dann kann es nicht mangeln.«

»Prüfen Sie mich ...«

»Wie ein Rassepferd vor dem Rennen. Ich sehe Ihr Blut in den Adern.«

»Prüfen Sie mich.«

»Zunächst«, sagte Kornelius Vanderwelt heiter, »haben Sie eine andere
Prüfung zu bestehen. Ich werde Sie Fräulein Bilsenbach vorführen,
der Behüterin des Hauses. Bald werden sich auch Ihre Schüler zur
Begutachtung einstellen.«

Sie schritt neben ihm her, das Kinn erhoben, mit dem zusammengerafften
Ausdruck, den stolze Kinder vor dem Glanz fremder Häuser anzunehmen
pflegen. Und Kornelius Vanderwelt sah es und freute sich.

Wieder saß sie, wie in der Nacht, im Arbeitszimmer des Hausherrn und
ihre Augen tasteten die Wände ab, Bilder und Bücherreihen, langsam und
ernsthaft, als müßten sie sich Zoll um Zoll der neuen Umwelt zu eigen
machen.

Kornelius Vanderwelt hatte dem Hausmädchen geklingelt. »Ist Fräulein
Bilsenbach für mich frei?«

»Fräulein Bilsenbach ist gerade nach oben gegangen, ins Gastzimmer,
Herr Vanderwelt.«

»Sagen Sie Fräulein Bilsenbach, ich ließe sie, sobald sie frei wäre,
zu mir bitten.«

Aha, dachte er, sie hält Besichtigung ab. Und er wandte ein wenig das
Gesicht, damit der Gast nicht das vergnügliche Schmunzeln gewahr werde.

Dann kamen schnelle Schritte über den Gang, und Fräulein Bilsenbach
klopfte und trat ein.

Kornelius Vanderwelt sah ihr in Spannung entgegen und sah, was er
erwartet hatte: Augen, die das Erstaunen rundete und ärgerlich
schienen, weil sie verblüfft worden waren.

»Ich möchte Ihnen unsere neue Hausgenossin, Fräulein Angela Freydag,
vorstellen, Fräulein Bilsenbach. Ich hoffe, es wird Fräulein Freydag
gelingen, Ihre Gunst zu erringen.«

Der Gast hatte sich augenblicks erhoben und wartete achtungsvoll auf
die Begrüßung der Älteren. Und die Ältere sah der Jüngeren unruhig ins
Gesicht, sah mit fliegendem Blick die Überschlankheit der Glieder und
erkannte den Hunger.

»Ich begrüße Sie im Hause Herrn Vanderwelts herzlich,« murmelte sie
und streckte die Hand vor. Und das Mädchen legte die schmalen Finger
hinein, knickste tief und beugte einen Herzschlag lang die Stirn über
die hartgewordene Hand.

Das alternde Fräulein starrte auf den flimmernden Scheitel. Scheu fuhr
es darüber hin. Und die beiden Frauen standen und schauten sich in die
Augen.

»Sie haben eine anstrengende Nacht gehabt, Fräulein Freydag. Herr
Vanderwelt liebt nur die ~raschen~ Entschlüsse.«

Da lachte das fremde Mädchen so heiter, daß es die andere fast in
Verwirrung brachte.

»Menschen wie ich sind ja ~auch~ auf die raschen Entschlüsse
angewiesen, und ich habe diesen nicht bereut.«

Der Blick der Älteren flatterte zu dem Hausherrn hinüber, der einen
Brief geöffnet hatte. Sie rang um eine Fortführung des Gesprächs. Und
leise sagte sie und im Tone des Vorwurfs: »Sie haben ja schon Ihr
Zimmer in Ordnung gebracht. Weshalb haben Sie das nicht dem Mädchen
überlassen?«

»Dem Mädchen? Ich bin doch auch ein Mädchen, Fräulein Bilsenbach, und
habe noch immer für mich selbst gesorgt.«

»Ich meine, ich meine -- weil Sie doch von der gehetzten Fahrt sicher
müde waren?«

»Aber diese gehetzte Fahrt ging doch ins Leben!«

Kornelius Vanderwelt schloß einen Augenblick über dem Brief die Lider.
Er lauschte angestrengt den hastigen Worten des Mädchens nach. Wo
kamen sie her? Aus seinem eigenen Innern? Nur ein Widerhall --?

Da dröhnte die Haustür ins Schloß. Da stürmten rücksichtslose Stiefel
über den Gang. Krähend flog eine Jungmädchenstimme auf. »Heda, heda,
wird heute nicht gegessen?« Zwei Knabenstimmen hetzten hinein.
»Fräulein Bilsenbach! Fräulein Bilsenbach! Unser Hungertod über Ihr
strenges Haupt!«

»Bande!« sagte Kornelius Vanderwelt vor sich hin.

»Wirtschaft! Wirtschaft! Wirtschaft!« Die Tür zum Arbeitszimmer wurde
aufgerissen. »Der Papa -- -- --!«

»Seit wann wird an meiner Zimmertür nicht mehr geklopft, wie? Seit
wann ist mein Arbeitszimmer Wartehalle für lärmendes Jungvolk?«

»Verzeihung, Papa. Wir ahnten nicht, daß -- daß -- du -- so ganz
ausnahmsweise -- --«

»Meine ›ausnahmsweise‹ Anwesenheit entschuldigt euch nicht. Dieses
Zimmer hat kein einziger ohne meine Erlaubnis zu betreten. Und nun
bitte ich um die gebräuchliche Begrüßung.«

Die Knaben küßten der Hausdame flüchtig die Hand, hinter ihnen
knickste Juliane. Und schon rannten sie auf den Vater zu und warfen
ein Gewirr von Armen um ihn.

»Dort steht wohl ~noch~ eine Dame,« tadelte Kornelius Vanderwelt
und drehte die Knaben an den Schultern herum.

»Justus Vanderwelt.« -- »Thomas Vanderwelt.« -- Die Stiefelabsätze
klappten.

»Juliane,« sagte spitz die Kleine und knickste sehr zurückhaltend.

»Fräulein Angela Freydag,« stellte Kornelius Vanderwelt mit kurzer
Handbewegung vor. »Unsere neue Hausgenossin, die euch in der Kunst des
Klavierspiels zu vervollkommnen gedenkt.«

»Gleich hab' ich's geahnt,« flüsterte die Schwester den beiden zu.

Angela Freydag reichte einem jeden die Hand. »Guten Tag,« sagte
sie freundlich. »Guten Tag,« antwortete Justus nach einem raschen
Überblick. »Die Arbeiten für die Obersekunda lassen leider nur knappe
Zeit.« Und die zungengewandte Juliane schloß sich eilig an. »Ich habe
auch noch den Tanzunterricht und Tennisstunden und -- und --« »Guten
Tag,« schloß Thomas die Reihe. »Ich spiele gern Klavier, aber nicht
gern wie die anderen.«

»Ich auch nicht,« stimmte ihm Angela Freydag bei und schüttelte ihm
mit einem Aufblitzen der Augen die Hand.

»Nun?« fragte Kornelius Vanderwelt. »Sind es nicht vielversprechende
Zöglinge?«

»Wir haben Hunger, Papa!«

»Hunger? Kennt ihr euch in eurem Schiller nicht aus? Was erhält denn
das Getriebe? Der Hunger und die Liebe! Hungrig muß der Mensch sein,
hungrig, hungrig auf alles, was noch im Nebel liegt.«

»Auch das Mittagessen liegt noch im Nebel, Papa!«

»O über eure grobe Sinnlichkeit! Dürfen wir, Fräulein Bilsenbach? Ich
bitte um Ihren Arm.«

»Mach' zu,« raunte Justus dem Bruder Thomas zu. »Ich nehme die
Juliane.«

Und der junge Thomas Vanderwelt verneigte sich höflich vor dem Gast,
bot ihm den Arm und folgte feierlich dem Vater. Hinter ihnen wisperten
Bruder und Schwester um die Wette.

Kornelius Vanderwelt saß zwischen der Hausdame und der Fremden.
»Wollen Sie sich«, fragte er den Gast, »unseren Hausgewohnheiten
gleich anpassen? Wir pflegen zu den Mahlzeiten nur Wasser zu trinken,
um den Kopf arbeitsklar zu halten. Wein erst nach Feierabend.«

Das aufwartende Mädchen reichte die Speisen. Es reichte sie streng
der Reihe nach. Der Hausdame, weil es der Herr nicht anders wünschte,
zuerst, dann dem Herrn, daraufhin erst dem fremden Fräulein und zum
Schluß den Kindern.

»Entschuldigen Sie,« bat Kornelius Vanderwelt die stumm gewordene
Nachbarin, »daß ich ein wenig haste. Ich brause sonst zwischen den
Geschäftsstunden im Wagen durch die Wälder und Felder und verschlinge
höchstens« -- er hustete -- »was die Landstraße bietet. Am Abend erst
gesell' ich mich zur Familie -- solange sie nicht schlafsüchtig ist.
Heute machte ich eine Ausnahme. Um Sie gebührend einzuführen.«

Angela Freydag hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als er die
Landstraße erwähnte. Jetzt hob sie die Stirn. »Darf ich noch
vorspielen ...?« fragte sie.

»Ja, Fräulein Freydag. Darum wollte ich Sie jetzt bitten.«

Er stand auf, verbeugte sich nach rechts und nach links und schritt
voran ins Musikzimmer. Allein der große Flügel wuchtete im Gemach.
Als Sitzgelegenheiten ein paar geschnitzte Lehnsessel, ein paar
geschnitzte Kirchenbänke. Und über dem Flügel hing als einziges
Bild ein Schleierreigen schlanker Frauenkörper von Hans Deiters'
Meisterhand.

Angela Freydag trat dicht hinter Kornelius Vanderwelt ein. Sie ging,
ohne sich umzusehen, geradeaus. Als wäre nur der Flügel und sie allein
in dem Gemach, und der Flügel riefe sie.

Kornelius Vanderwelt trat zur Seite und schaute auf sie. Die Hand hob
er hoch, damit die Nachdrängenden auf den Zehenspitzen gingen, sich
geräuschlos niederließen. Und schaute mit schwerem Atem wieder auf die
Fremde.

Jetzt hatte Angela Freydag den Flügel erreicht. Jetzt stand sie still,
öffnete die Lippen, und ihre Zähne schimmerten.

Jetzt beugte sie sich vor, strich mit den Händen hauchfein über das
spiegelnde Holz und öffnete den Deckel.

Ganz aufrecht saß sie auf dem Klavierstuhl. Ihre Gestalt schien
zu wachsen -- und sank plötzlich vornüber, nur noch den Händen
hingegeben, die mit aufzuckenden Fingern aus Tasten Töne und aus Tönen
~Beethoven~ schufen.

Und schon hatte die Spielerin vergessen, für wen sie spielte und
um was sie spielte. Und schon hatten die jäh Aufhorchenden die
unscheinbare Gestalt der Spielerin vergessen und sahen nur noch den
eigenwillig strengen Kopf und den blutroten Strich des Mundes. Und
dann versank für Kornelius Vanderwelt auch der Kopf, und er sah
nichts als die Hände, die feingegliederten, ausdrucksstarken, die wie
Falterfächeln des Einsamen Herzweh sangen, wie Quellenrieseln sein
stilles Sehnen, sich zusammenkrallten vor der Fratze des Schicksals
und sich wie Pantherkatzen in das Dunkel warfen, anspringend,
zerfleischend, um mit steilem Titanentrotz das Siegeslied anzustimmen,
das sich durchrang zum hinreißenden Menschenjubel der Erlösung von
sich selbst.

Noch rangen und riefen die Geister übermenschlichen Liebesrausches,
der Selbstvernichtung um der Liebe willen, in der Luft. Noch saß die
Spielerin in sich zusammengesunken mit schlaff herniederhängenden
Armen und horchte aus totenblassem Gesicht dem verklingenden Leben
nach, das in die Auferstehung langte.

Das Spiel war aus, und keiner rührte sich.

Und dann stand Kornelius Vanderwelt von seinem Sitze auf, trat hinter
der Spielerin Stuhl und schlug ihr wie Pranken die Hände in die
Schultern.

Sie hob langsam den gesenkten Kopf, hob ihn höher und bog ihn langsam
nach hinten, bis sein Gesicht über ihr stand. Und sie wußte nichts von
dem schmerzenden Griff und lachte ihn lautlos an.

»Das war es,« sagte Kornelius Vanderwelt, »das war es.« Und nickte den
anderen zu und verließ Zimmer und Haus.

Eine Weile harrten die Kinder noch aus. Juliane entschlüpfte zuerst,
und Justus, der älteste, folgte ihr nach kurzer Überlegung. »Ich habe
viel für die Schule zu arbeiten,« entschuldigte er sich bei Fräulein
Bilsenbach. »Bleibt mir noch Zeit für den Klavierunterricht, so melde
ich mich.«

Dann saß nur noch Thomas Vanderwelt auf seinem Platz, strich sich mit
einer langsamen Gebärde das helle Haar aus der Stirn zurück, lugte
nach der Fremden und ersah ihre Hände, unbewußt, wie es der Vater
getan hatte.

Und hinter Angela Freydags Rücken sagte eine benommene Knabenstimme:
»Das war schön ... Nein, es war nicht nur anders -- es war die
Schönheit. Ja ...«

Angela Freydag horchte auf die liebenswürdige Stimme. Sie hörte die
Klangfarbe des Vaters heraus, nur weicher und ungefestigt. Und der
Klavierstuhl wandte sich der Stimme zu, und Angela Freydag saß Auge
in Auge mit dem Jungen. Nein, es war doch nicht der Vater. Es war ein
feiner, frühmüder Junge, der seiner Gelangweiltheit den Ausdruck der
Überlegenheit zu geben wußte. Oder war die Überlegenheit das echte
und der Ausdruck der Gelangweiltheit der Schein? Dann stak doch wohl
Kornelius Vanderwelt am meisten in diesem seinem Sohne.

»Freut Sie die Musik, Thomas?«

»Ich kann nicht sagen, ob es die Musik ist. Vielleicht ist es nur das
Verlangen, sich in eine andere Welt hinüberzutäuschen. Hier ist alles
so plump und lächerlich.«

»Wie alt sind Sie, Thomas? Vierzehn? Und Untersekundaner? Da wird
Ihnen als dem Sohne Kornelius Vanderwelts auch diese Welt noch rosiger
aufgehen.«

»Ach, nein, Fräulein Freydag. Die ganze Vanderweltsche Kraft liegt
beim Vater. Für uns bleibt nicht viel übrig.«

Angela Freydag blickte den Frühreifen aus dem Augenspalt an.

»Man kann auch aus eigener Kraft, Thomas. ~Neben~ dem Vater. Nur
irgendwo mit Willenskraft beginnen. Wollen wir es mal bei der Musik
anpacken? Nicht um uns einzulullen -- um uns zu befreien.«

»Ich bring's nicht heraus, Fräulein Freydag. Ich meine nicht das
Notenspielen. Ich meine das, was ich ausdrücken möchte und was immer
schlapp wird, wenn der große Ansprung kommt. Das meiste lohnt ja
nicht, weil es lächerlich ist.«

»Spielen Sie mir einmal vor,« gebot Angela Freydag und machte den Sitz
frei.

Der junge Thomas dankte höflich und nahm den Platz ein. »Es muß ja
wohl sein, wenn Sie mir Klavierunterricht erteilen sollen. Viel Freude
werden Sie nicht an mir erleben.«

»Das wollen wir der Zukunft überlassen. Jedenfalls bin ich dazu da, um
Ihr Spiel zu verbessern.«

Er nahm ein Notenheft vor, blickte hinein und schlug lässig an. Es war
die Mozartsche Sonate, die er geübt hatte. Lässig spielten die Hände
die perlenden Tonfolgen und wischten den Schmelz von den Perlen.

»Sie spielen im Regen, und Mozart zauberte in Sonne, Thomas.«

»Mozart lebte in Wien, und ich lebe in Ruhrort, Fräulein Freydag.«

»Das sind rein körperliche Dinge. Der Geist fragt nicht danach und
fliegt auch von Ruhrort aus in die Sonne.«

Ein leichtes Rot lief über des Jungen Gesicht. Unmerklich raffte er
sich in der Haltung zusammen, überwand er die Hemmungen und suchte für
sein Spiel die stärkeren Ausdrucksmöglichkeiten, dem Meister nach. Die
Töne quollen heller, die Farben langten nach dem Goldschimmer, die
Läufe erheiterten sich an ihrem Perlenfall. Und langsam, ganz langsam
brach aus dem Notengespiele eine Knabensehnsucht hervor.

Angela Freydag sprach kein Wort mehr hinein. Sie rückte einen Stuhl
dicht neben den seinen, ließ den Blick nicht von seinen beschwingter
werdenden Fingern, griff nur plötzlich nach seinen Handgelenken und
zwang sie, zu verweilen, mit jäh verdoppelter Kraft ein Tongewoge
aus den Tasten zu schlagen, mit aufgelöster Kraft die Wogen zur Ruhe
zu streicheln. Angela Freydag spielte, und des jungen Thomas Hände
rührten die Tasten.

»Das haben ~Sie~ gespielt, nicht ich,« sagte der junge Thomas
tief aufatmend.

»Ich habe Sie nur in die weitgeöffneten goldenen Fluren
hineingestoßen,« sagte die junge Lehrerin, und ihr Atem sprang nicht
minder.

»Ich kam aber bedenklich vom Wege ab. Oft ging's ohne Weg und Steg.«

»Auf die musikalische Ausschöpfung kommt's an! Nicht auf die einzelne
ordnungsmäßige Note!«

»Ist das im Leben wirklich gerade so, Fräulein Freydag?«

»Ich weiß es nicht. Aber die Musik ist Spiegelbild und Widerhall der
Natur, Thomas, und die Hingabe an die Natur heißt Befreiung und nicht
neuer kleinlicher Fesselnkram.«

»Wie Sie das trefflich sagen. Wo haben Sie das nur gelernt?«

»Das innerste Wesen der Befreiung? Nun werden Sie lachen, Thomas. Ich
habe es in den Fesseln des Lebens gelernt.«

Der junge Thomas streifte mit schnellem Blick die Magerkeit ihrer
Gestalt, die billige Kleidung, und schaute geradeaus.

»Soll ich Ihnen jetzt die Juliane zum Vorspielen schicken? Der Justus
ist nur schwer heranzukriegen, aber ich werde ihm zureden.« Und er
erhob sich, ohne eine Antwort abzuwarten, verbeugte sich höflich und
küßte seiner Lehrerin die Hand.

Angela Freydag saß und wartete auf das Mädchen. Und während sie
wartete, liefen ihre Gedanken dem Jungen nach. Klug war er über seine
Jahre. Klug und verwöhnt. Und weil er vom Leben verwöhnt war, reckte
sich seine Klugheit in die Frühreife und nahm die Geschehnisse des
Lebens nicht für ernsthaft.

War Kornelius Vanderwelt in seinem Sohne?

Die zwölfjährige Juliane stand vor ihr, und sie hatte sie nicht
eintreten hören. Mit kecken Augen, kurzen Gebärden.

»Thomas sagt, ~ich~ wär' an der Reihe.« Und sie hockte sich auf
den Sitz und spielte auswendig darauflos.

»Was ist es, Juliane? Wer hat denn das in Musik gesetzt?«

»Ach, Fräulein Freydag, Namen kann ich so wenig behalten wie die
Jahreszahlen in der Geschichtsstunde. Hauptsache ist doch, daß man
Musik macht.«

»Ja, mein kleines Mädchen: wenn man Musik ~machen~ könnte. Du
kannst einen Lärm von Tönen machen oder ein Gehack auf dem Klavier,
wie der Holzhauer Holz hackt, aber Musik kannst du nicht machen, du
kannst sie nur in der Seele empfinden, so dankbar empfinden, daß du
sie weiterleiten möchtest in andere Menschenseelen.«

Das kleine Mädchen aber war ärgerlich, weil es ein kleines Mädchen
genannt worden war.

»Seele!« wiederholte es geringschätzig. »Seele! Man spielt doch zum
Vergnügen. Wollen Sie einen Walzer hören?«

Nein. Angela Freydag wollte keinen Walzer hören. »Ich weiß jetzt,
was du kannst und wo instandgesetzt werden muß, Juliane. Am besten,
wir beginnen morgen ganz von neuem und bauen von unten auf. Wenn wir
fleißig sind -- und wir ~sind~ fleißig, Juliane -- haben wir das,
was du heute zu können glaubst, in sechs Wochen wieder. Aber nicht
nur äußerlich, Juliane.«

Und das kleine, vorlaute Fräulein fragte spöttisch: »Ja, üben wir denn
Klavier oder üben wir Seele?«

»Ich fürchte, du und ich, wir werden nur Klavier üben. Das aber, ich
verspreche es dir, gründlich.«

Da duckte sich die Kleine, sah furchtsam nach der steilen Furche in
der Stirn, knickste und schlüpfte hinaus.

Wie kam Kornelius Vanderwelt zu dieser Tochter? Berechnung und
Gefallsucht hatte dieser Mann doch nicht zu vererben? Oder stümperte
die Natur und brachte in der Entwicklung Sprünge in den Guß, ließ
die Sprünge zu weiterfressenden Fehlern werden, schuf Künstlertum
um in kaltes Laientum? Nein, sie stümperte nicht, die Natur, nur
rücksichtslos offen zeigte sie, daß es ihr genug sei mit dem einen und
daß für die Geschlechtsnachfolger nur die Überreste des Gießererzes
zur Verfügung stünden.

Und dann kam Justus, der älteste, stolz und zufahrend, wissend und
seines Namens bewußt. Angela Freydag fuhr aus der Verkettung der
Gedanken auf, als sie seinen Schritt vernahm, der wie der Schritt des
Vaters erklang.

»Bitte, Fräulein Freydag, machen Sie es gnädig mit mir. Ich habe einen
Krach mit dem Lateinlehrer, und nun soll er in meiner Rüstung auch
nicht den geringsten Riß finden, seinen Dolch hineinzustoßen.«

»Das nenn' ich eine ritterliche Rache, Justus.«

»O nein. Ärgern soll er sich. Nun erst doppelt und dreifach.«

Auch er spielte die Mozartsche Sonate. Er spielte sie geläufig und
mit verblüffender Kunstfertigkeit, aber es war für Angela Freydags
Sinnenempfindsamkeit wohl ein Feuerwerk, aber nicht das Feuer. Nicht
das echte Feuer, das darum hinreißt, weil es sich selber hingibt.

»Ich danke Ihnen, Justus. Ich weiß für heute genug und möchte Ihre
Rachepläne nicht stören.«

»Ich werde ihm schon seine Anrempelungsgelüste legen,« sagte der Junge
hochfahrend, machte seine knappe Verbeugung und ließ Angela Freydag am
Flügel allein. Und während Angela Freydag mit ausgestreckten Händen
eine Trübung von den Tasten strich, ohne die Tasten zu berühren,
suchte sie auch diesen Sohn in ein Gleichnis zu seinem Vater zu
bringen, und er erschien ihr als der unähnlichste, weil er sich der
ähnlichste dünkte.

Sie fror. Und sie dachte an Kornelius Vanderwelt und spürte eine
strömende Wärme.

Das war es.

Ihre Finger streckten sich aus und brachten ein paar Tasten zum
Klingen. Mehr, mehr. Aus dem Klingen wurde ein Klang. »Das war es.«
So hatte auch Kornelius Vanderwelt gesprochen, so und nicht anders,
als seine Hände wie Pranken in ihre Schultern griffen. Wahrhaftig,
dachte sie, die Schultern schmerzen. Aber es ist ein Schmerz, den man
nicht eintauschen möchte gegen tausend Schmeicheleien. Weil er wie ein
Ritterschlag ist.

Immer belebter wurde ihr Spiel, immer kraftvoller, hinreißender.
Sie spürte nicht, daß die frühe Dunkelheit des Herbsttages in das
Zimmer einbrach und alle Ecken füllte. Sie spürte nicht, daß das
alternde Fräulein eintrat, schweigend verharrte und schweigend das
Zimmer wieder verließ. Angela Freydag spielte, spielte aus dunkel
empfindendem, sehnsüchtig begehrendem, jungem, jungem Herzen heraus,
was in ihm wogte und nach Licht begehrte, nach Leben. Dem Leben, für
das sie nach dem kümmerlichen Hinleben und Lebenfristen keinen anderen
Namen wußte als: das Leben.

Und brach mitten im Spiele ab und fuhr steil in die Höhe.

»Sind Sie so schreckhaft, Fräulein Freydag, oder sind Sie es nur vor
mir?« fragte neben ihr Kornelius Vanderwelts Stimme.

»Schreckhaft?« wiederholte sie. »Schreckhaft? Nein, ich weiß gar
nicht, was Angst bedeutet.«

Und in ihr lachte die Freude, daß der Helfer aus der Not wieder neben
ihr war.

»Sie hatten sich so dicht in ihre Tonbilder versponnen, daß Sie mich
gar nicht gewahr wurden, Fräulein Freydag.«

Doch, doch. Auf der Stelle war sie ihn gewahr geworden. Mitten im
wuchtigsten Tongewoge, das sie zerriß, um ihn sehen zu können. Und sie
sah ihn in der Dunkelheit wie bei Tage.

Plötzlich füllte blendendes Deckenlicht ihre Augen. Aber die Augen
schlossen sich nicht und hielten stand.

»Es schmerzt nicht,« sagte er und hielt seine Hand über ihre Augen.
»Man muß Licht und Dunkel gleichermaßen ertragen können.« Und sie
schüttelte hinter seiner Hand den Kopf und wiederholte. »Es schmerzt
nicht. Es tut wohl.«

»Was haben Sie mit dem Nachmittag begonnen, Fräulein Freydag?«

Seine Hand sank nieder. In zwei Kirchensesseln saßen sie sich
gegenüber, und Angela Freydag berichtete von ihren Prüfungsversuchen
und Erfahrungen. Aufmerksam hörte Kornelius Vanderwelt ihr zu.

»Es ist keine Kleinigkeit mit Ihren Schülern. Fahrig sind sie alle
drei. Und doch grundverschieden. Bei dem einen wird vielleicht einmal,
wenn das Leben gründlich hämmert, eine Goldquader zutage treten,
während es bei den anderen« -- er strich sich über die Stirn -- »bei
Glimmer oder Katzengold verbleiben wird. Nun, die Zeit wird es lehren.
Haben Sie nach dem Ausfall Ihrer Prüfungen noch den Mut, auch noch
den Schöpfer dieser drei Herrlichkeiten als Schüler anzunehmen?«

»Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Vanderwelt ...«

»Halten Sie mich für einen so hoffnungslosen Fall?«

»Ich halte Sie für einen -- für einen hochstehenden Kulturmenschen,
der sich über mich lustig macht.«

»Dann führen Sie diesem Kulturmenschen mal die Kraft und Größe Ihrer
Natur vor die Augen.«

In ihre Stirn sprang die Furche, in ihre Augen der aufflackernde Funke.

»Ich werde mit Ihnen spielen, wenn Sie es wünschen, Herr Vanderwelt.«

»Nun wollen wir zu Tisch gehen. Fräulein Bilsenbach wird schon
unglücklich sein. Ein geschäftliches Wort noch, und dann nichts mehr
davon: Das Entgelt für Ihre Mühen finden Sie an jedem Monatsersten auf
Ihrem Zimmer vor. Eine Bestätigung ist überflüssig. Und jetzt schnell
meinen Arm.«

Da schoß ihr vor Freude das Blut ins Gesicht und machte sie schwer und
unbeholfen an seinem Arm.

»Was haben Sie?« fragte er und beugte sich besorgt über sie.

Und sie riß sich zusammen und schritt federkräftig an seiner Seite.

»Es war nur der Wechsel,« sagte sie, und ein fernes Lachen schwang
mit. »In den ›Fünf Erdteilen‹ gab es gestern ganz andere feierliche
Gebräuche.«

Es war das erste Mal seit Jahren, und das alternde Hausfräulein wußte
sich nicht des Tages zu entsinnen, wann es gewesen sein könnte, daß
Kornelius Vanderwelt nach der gemeinsamen Abendmahlzeit sich nicht
in sein Zimmer zurückzog, daß er nicht nach kurzer Ruhepause, die er
einem Buche widmete, das schlummerversunkene Haus wieder verließ.
Schon hatten sich die Kinder zur Nacht verabschiedet, schon hatte das
Hausmädchen das Geschirr abgetragen, und immer noch saß der Hausherr
vor der Flasche Wein, die auf seinen Wink vor ihn hingestellt worden
war, füllte die Gläser nach, die vor seinen Nachbarinnen standen, tat
selber zuweilen einen behaglichen Zug und lockte durch sein fröhliches
Plaudern zuletzt sogar das Geplauder der zurückhaltenden Frauen hervor.

Einmal entdeckte er, wie sich die Hand des arbeitsmüden Fräulein
Bilsenbach verräterisch zum Munde hob.

»Noch einen Abschiedsgesang an den Tag,« bat er. »Ein Erntedanklied.
Nein, Fräulein Bilsenbach, ich mute es Ihnen nicht zu, noch eine
Stunde im Musikzimmer auf der Bank zu sitzen. Sie haben des Tages Last
und Mühen mehr als wir alle getragen. Seinen Kleinkram nämlich. Gute
Nacht, schlafen Sie recht wohl.«

Er erhob sich gemeinsam mit den beiden Frauen und forschte in den
Augen der jüngeren, und er sah, daß die Augen Angela Freydags so wach
waren, wie am hellen Tage. Er winkte ihr zu, und sie beugte sich über
die Hand der älteren und folgte ihm.

Das Musikzimmer lag feierlich still im Glanz der Deckenlichter. Als
schritten sie durch eine Kapelle, so schritten sie hindurch zum
Hochaltar des Flügels. Kornelius Vanderwelt schlug ein Notenbuch auf,
blätterte und rückte es auf den Notenhalter. »Brahms?« fragte sie
leise und froh. Er nickte. »Seine Gedanken über Händel. Ein Gespräch
zwischen zwei Geistesriesen. Es ist zu vier Händen gesetzt.«

Er vertauschte den Klavierstuhl mit einer kurzen Bank. Und sie saßen
dicht nebeneinander, daß der eine den Bluttakt des anderen wie den
gleichen Pulsschlag fühlte. Angela Freydag neigte das Haupt. Sie
begannen.

Schwer und spröde rangen sich die Bekenntnisse der Brahmsschen Seele
hervor und huldigten dem Geiste des großen Abgeschiedenen. Und aus der
Unsterblichkeit antwortete der deutsche Riese, und was er dem jüngeren
zurief, übersetzte der Schwerblütige in die eigene Sprache, bis sie,
des unsterblichen Geistes voll, sich freirang von der Erdenschwere
und sich in Klängen ausströmte über Menschenworte hinaus von Geist zu
Geist.

Die Hände ruhten. Eine Röte flackerte über Kornelius Vanderwelts
Stirn, und Angela Freydags Stirn war erblaßt.

»Man darf nicht nachlassen, man darf nicht nachlassen,« murmelte der
Mann. »Die Schale mag so rauh und widerborstig sein, wie sie will --
irgendwo, irgendwo findet der Suchende doch den süßen Kern. Ach, über
das ewige Suchen!«

Er klappte den Deckel zu. Seine Augen schweiften nach der Diele. Eine
Wanduhr schlug.

»Sie wollen schlafen gehen --?« fragte das Mädchen scheu.

»Schlafen? Suchen gehen will ich. Suchen. Mit der Gewißheit, nur leere
Schalen zu finden, die man mit Wein hinunterspülen muß.«

Da tastete das Mädchen nach des Mannes Hand und wußte selber nicht,
woher es seinen Mut nahm.

»Tun Sie es nicht, Herr Vanderwelt. Bitte, tun Sie es nicht. Sie sind
zu gut dazu.«

»Wozu?« fragte er barsch zurück. »Und was wissen Sie von meiner
Gutheit? Nein, lassen Sie Ihre Hand nur liegen, wo sie liegt. Sie
redet greifbarer als Ihre Worte. So muß die Hand Brahms' geredet
haben, wenn ihm der Erdenmund versagte.«

Ganz locker lagen ihre Finger um seine große Hand. Sie wartete mit der
Geduld eines Kindes.

Da begann er zu sprechen und griff auf ihren Anruf zurück.

»Wozu sollte ich zu gut sein ... Ach, es ist der Wildwestabend, der
Ihr Mädchengemüt beschwert. Wissen Sie denn nicht, daß ich Tag um Tag
Kohlen verfrachte, Kohlen in Kähne und Kähne voll Kohlen stromauf und
stromab? Die halbe Welt kann man damit anheizen und brennt selber
dabei leer wie ein Krater. O gewiß, ein jeder Mensch hat seinen Beruf
und findet sein Glücksbehagen darin, ihn auszufüllen. Ich gehöre
aber nicht zu diesen Glücklichen und viel weniger noch zu diesen
Behaglichen. In mir ist eine Unze Blut zu viel! Weshalb zucken Sie
mit den Fingern? Eine Unze Blut zuviel ist ein Gnadengeschenk des
Herrgottes oder eine seiner wilden Launen.«

»Beides stammt aus seinem Willen, und wir sind seine Kinder,« sagte
sie hastig.

»Sieh einer den Klügler! Dann wäre es aus mit Sünde und
Sündenbereuung, und die Unze Blut mehr rechtfertigte uns vor Gott und
den Menschen.«

»Gott«, sagte sie langsam, »ist mir zu groß und zu fern, und die
Menschen sind mir zu nah und zu klein. Ich muß den Glauben haben, daß
mir der Schöpfer aller Kreatur die Unze Blut nicht unnütz zugegeben
hat.«

»Unnütz, Sie kleine Sternendeuterin? Was nennen Ihre Mädchengedanken
-- nein, Ihre Künstlergedanken unnütz?«

»Wenn es nicht nützte, das Schöne vom Gemeinen zu unterscheiden und
mich selber über den Alltag der Menschen emporzuheben.«

Kornelius Vanderwelt streichelte die kaltgewordene Hand.

»Bleiben wir beim Gegenstand. Nach einer Brahmsschen Musik sehen wir
zu leicht durch eine überirdische Brille. Mich trieb die Unrast des
Blutes in Jünglingsjahren auf die See, und ich durchstürmte die
Entwicklungsjahre in den Meeren aller Erdteile. Es war nichts als
eine dunkle Sehnsucht. Ein Drang, von irgendeiner Erdenschwere meine
Brust zu befreien, zum Genuß des Unsagbaren zu gelangen. Es hätte mich
ebensogut auf eine Hochschule für Musik treiben können.«

»Ja,« sagte sie nur, »es ist wohl dieselbe Sehnsucht.«

»Nur keine Kopfhängerei,« gebot er hart. »Die heulenden Derwische
waren mir immer das greulichste. Ich habe zugepackt und jedes Ding auf
meine Sehnsucht untersucht und hohl gefunden und wieder zugegriffen.
Zum Schlusse blieben mir nur noch grobe Gehäuse in den Händen mit
rasselnden Kernen. Der Matthes aus den ›Fünf Erdteilen‹ fuhr auch
als Matrose, und wir waren schon in allen richtigen fünf Erdteilen
zusammengetroffen, bevor wir uns nach dem Tode meiner Frau in seiner
Kneipe wiederfanden.«

»Frau Vanderwelt starb schon jung?« -- --

»Sieht man mir das Kneipenlaufen so sehr schon an?« scherzte er.
»Ich war fünfundzwanzig Jahre und Offizier in der Handelsflotte, als
die junge Ruhrorter Erbtochter mich sah und nicht mehr von mir ließ.
Wohlgemerkt: ich ließ ebensowenig von ihr! Da gab's nur Heiraten. Und
das Geschäft übernehmen. Drei Kinder hat sie mir geschenkt und sich
selbst. Sich selbst bis in den Rest. Und das Licht erlosch und es
wurde dunkel und in der Dunkelheit wurde nichts mehr geboren als nur
dunkler Drang, unstetes Übersichselbsthinaussehnen ...«

Er schwieg eine Weile vor sich hin.

»So kam ich zum Matthes. Der Kerl war für mich nichts als ein
Ankerplatz heftig schwärmender Erinnerungen. Für Sie aber war es
der unrechte Ankerplatz, und ich freue mich, daß ich Sie aus der
Wetterecke wieder hinauslotsen durfte.«

Auch das Mädchen schwieg eine Weile vor sich hin. Und dann sprach es
unaufgefordert und eilend.

»Die Wetterecken waren mir vertraut genug. Ich habe als Kind in
mancher Wetterecke gestanden und auf meinen Vater gewartet. Er war
ein so großer Kapellmeister gewesen, wie meine Mutter eine große
Sängerin gewesen war. Bevor sie sich heirateten. Da zerschlugen
sie gegenseitig ihre Kunst aus kleiner, ganz kleiner körperlicher
Eifersucht heraus. Die Mutter fuhr dem Vater lärmend in die Proben
und Unterrichtsstunden, immer argwöhnisch, seine Künstlerbegeisterung
für eine Sängerin hätte andere Gründe. Der Vater, mehr und mehr
seiner Persönlichkeit entkleidet, suchte im Leben der Mutter, um
aus der Tiefe auftrumpfen zu können. War die Mutter beschäftigt, so
trank der Vater in der Wetterecke. War der Vater beschäftigt, so
trieb die Unrast die Mutter lauschend durch die Gassen. Bald habe ich
auf den einen, bald auf den anderen in einer Ecke, in einem Torgang
gewartet. Bis sie sich um die letzte Stelle gebracht hatten und im
Haß aufeinander verstarben. O ja, die Wetterecken sind mir vertraut
geworden.«

Kornelius Vanderwelt strich ihr mit der flachen Hand über Schulter und
Rücken, als beruhigte er ein Kind.

»Menschenkindlein -- Menschenkindlein -- wer sich in der Irre und
Wirre begegnet, ist sich nicht fremd.«

Sie schloß die Augen unter seinem zarten Streicheln. Wie vor einem
unbekannten Geschehen.

Wieder schlug die Dielenuhr. Das Mädchen öffnete die Augen und heftete
sie auf den Mann.

Kornelius Vanderwelt schüttelte den Kopf.

»Sie ruft nicht mehr nach mir. Der Matthes wird seinen Schlummerpunsch
alleine trinken. Ich weiß einen Schlaftrunk, der über den Alltag
hinweghilft und doch die Sinne jung erhält. Ihre Musik, Mädchen.
Ihre innerliche Musik. Spielen Sie mir noch einmal die Sonate von
Beethoven, und wir wollen zur Ruhe gehen.«

Angela Freydag setzte sich aufrecht. Die Müdigkeit, die sie überkommen
hatte, schüttelte sie ab. Über ihr Gesicht lief ein Zucken -- ein
Aufhorchen fern, fernhin. Und der Körper gab den Händen nach und
die Hände vergaßen den Körper und wandelten sich zu fremden Wesen,
taumelnd, trunken, in Stürmen standhaltend, aus unermeßlichen
Freiheitswonnen heimkehrend zu den auserlesenen Händen Angela
Freydags. -- --

Kornelius Vanderwelt verließ seinen Platz. Aber er trat nicht auf die
Erschöpfte zu. Er ging mit leisen Schritten durch die Verbindungstür
in sein Arbeitszimmer, suchte aus den Büchergestellen einen Band
hervor und brachte ihn aufgeschlagen herein.

»Ich muß Ihnen doch irgendeinen Dank sagen. Lesen Sie.«

Sie nahm das Buch aus seinen Händen und sah, daß es ein Gedichtbuch
war. Und das Gedicht, das er für sie aufgeschlagen hatte, trug die
Überschrift: »Sonate«.

  Du spielst ... Ich will nicht wissen, was es sei --
  Am Flügel lehn' ich. Nur der Finger Fliehen
  Und Wiederkehr seh' ich vorüberziehen
  Wie Falterspiel im reichen Blütenmai;
  Wie Mondesstrahlen, die im Dämmer geistern,
  Die, wundersam, wohin ihr Weg sie führt,
  Zum Klingen bringen, was noch unberührt --
  Und wie die Hände stolz den Flügel meistern,
  Blaß wie die Farbe seines Elfenbeins
  Hin~stürmen~ -- jetzt wie ~Hauch~ die Tasten fächeln --
  Sucht, einen Herzschlag lang, dein Auge meins --
  Da träumt in deinem Blick für mich ein Lächeln ...

  Wie fern die Welt! Still wird des Blutes Tosen.
  Ich lieg' in eines Parks vergeßner Ruh',
  Die wehenden Gräser decken tief mich zu,
  An meinen Schläfen spür' ich ein Liebkosen,
  Scheu, spielend, wie von schlanken Frauenhänden,
  Als würd' die Stirn gestreift von weißen Faltern --
  Um mich ein Duft, den seltne Lilien senden --
  In mir ein Glück: -- nie -- niemals -- kann ich -- altern ...

       *       *       *       *       *

»Gute Nacht,« klang die Stimme des Mannes.

»Gute Nacht,« klang die Stimme des Mädchens, das das Buch in den
Händen behielt. -- -- --

An diesem Abend wurden Kornelius Vanderwelt und die junge Angela
Freydag Freunde.




                                  4


Nie war aus Kornelius Vanderwelts Wesen ein größerer Ernst
hervorgewachsen als in dem Winter dieses Jahres, als in dem
neuen Frühling und dem neuen Sommer, der in Blüten rauschte, um
Früchte zu reifen. Kein grüblerischer Ernst, der die Blätter der
Vergangenheit durchstrichen hätte um einer neuen Lebensführung
willen. Ein Mannesernst, der aus der Freude geboren und so tief von
den Freudenwehen der Geburt durchtränkt war, daß er die Freuden des
Daseins bald als ein Heiliges zu nehmen gezwungen war, als kristallene
Quellen, die in der Stille am lautesten riefen und das Verlangen
köstlicher tränkten als der Lärm der Nachtwachen. Wohl, daß Kornelius
Vanderwelt, wenn sein Weg ihn durch die Hafengassen führte und an
dem stürmischen Kap ›Zu den fünf Erdteilen‹ vorüber, dem Matthes ein
übermütiges Wort zuwarf, wohl, daß er wie bisher das Gedränge der
Schiffer vor der Schifferbörse durchschritt und sich durch heiße
Laune und klaren Ratspruch die Herzen gewann. Aber es war ein anderer
Klang seines Starkmutes, der sich zur führenden Note durchrang, ein
klingenderer Klang, wie aus einem nachgeschliffenen Glase, der die
Augen aufblicken machte und die gröblichste Zudringlichkeit entfernte.
Die Zechbrüder und geringen Geister zogen ein Maul und meinten wohl
gar, der Kornelius Vanderwelt sei nun auch unter die ›Herren‹
gegangen. Die Ernsthaften des Gewerbes aber blickten auf sein
wirksames Tun und gaben der Ansicht Ausdruck, daß es für den Ruhrorter
Hafen eine noch viel stärkere Auswirkung haben werde, wenn der Mann
der kleinen Leute für die Großen nicht als der Spaßmacher gelte,
sondern als zuverlässiger Posten in der Gesamtbuchführung.

Wenn auch Kornelius Vanderwelt nicht mehr durch die Ungebundenheit der
Führerbegabung die lärmenden Nachtwachen verstärkte, so war er doch zu
gegebenen Zeiten an den Tischen der ›Erholung‹ anzutreffen, erzielte
unter den Größen des Handels zunächst einige Verwunderung, wurde
eine Weile mit der gebotenen kaufmännischen Zurückhaltung angehört,
allmählich aber mit der geweckten Teilnahme der Weitsichtigen und
Überragenden, die die Bedeutung des Mannes als Stürmer und Dränger
bald erkannten und für die eigenen Großpläne im Hafengetriebe nicht
missen mochten.

»Nur das Wasser verbindet die Erde,« betonte Kornelius Vanderwelt
immer wieder. »Wer zur See gefahren ist, weiß es am besten und weiß
vor allem, wie winzig die Erde ist und wie sich das Leben darauf
zusammenballt. Nur das Wasser vermag die Erde zu entlasten, nur
das Wasser, meine Herren, weil es nur Straße und nichts als Straße
ist. Und gerade dort, wo sich das Land in einem nicht absehbaren
Gebärungsverfahren befindet wie im Lande der Kohle. Wasser heran und
immer wieder: Wasser. Der Herrgott hat unserer Stadt, hat dem ganzen
umliegenden Gebiet ein großes Pfund gegeben, und mit einem Pfunde
soll man, schon nach dem Bibelwort, wuchern. Dieses Pfund ist der
nutzbringendste Binnenhafen der Welt. Nutzbringend nicht nur für die
Lebenden. Das hieße einen Fischteich leerfischen und austrocknen
lassen. Nutzbringend für uns, für die, die nach uns kommen und letzten
Endes für die gesamte Menschheit, die die Arme nach der verbilligten
Kohle streckt. Denn die Kohle ist der Urstoff allen Lebens, ist
Heizkohle und Öl, Farbstoff, Heilmittel, Wunder und Wahrheit. Leiten
Sie sie der Welt so zu, daß auch der Ärmste danach greifen kann, daß
ihm aus Wunder Wahrheit wird, nämlich die Lebensberechtigung und die
verstärkte Freude an dem bißchen Leben. Und fürchten Sie sich nicht
vor dem gesteigerten Wettbewerb, den neue Hafenbecken, neue Kanäle
zwischen den Städten und Stromgebieten, neue Zufahrtstraßen zu den
Seehäfen und somit zur ganzen, weiten Welt hervorrufen könnten.
Gesteigerter Wettbewerb heißt Steigerung unserer Kräfte, und ich
wiederhole es: wir sind nicht zum Schlafen auf die Welt gekommen.«

Aber es war nicht nur ein Reden, es war auch ein werktätig Handeln.
Bei den Strombaubehörden und Hafenverwaltungen holte er sich Rat und
arbeitete die gewonnenen technischen Erfahrungen immer wieder mit
den mitbestimmenden kaufmännischen Gesichtspunkten zu einer Einheit
zusammen, die er Prüfungen unterzog, umgestaltete, klärte, bis er
seine Ergebnisse den ausschlaggebenden Stellen vorlegen konnte und
nicht locker ließ, bis der Kampf entbrannte.

»Er ist wie ein Wolf,« hieß es oft und öfter von ihm. »Was er packt,
hält er fest und läßt sich eher totschlagen, als es freiwillig wieder
loszulassen.«

Im Geschäft hatte Beckenried gute Tage. Er brauchte nicht mehr in
ängstlicher Hut zu sein, zur Zielscheibe unliebsamer Scherze zu
dienen. Er fand den Geschäftsherrn stets gesammelt und auch bereit,
des Mitarbeiters Stimme zu würdigen. Nur die Ausnutzung des Geldes bis
in seine letzten Wirkungen ließ sich Kornelius Vanderwelt so wenig
vorschreiben wie in früheren Tagen, und jede Mahnung des trockenen
Rechners schob er mit den Worten zur Seite: »Sie sind eben nur ein
Lebewesen, lieber Beckenried, und kein lebendiger Mensch.«

Nach wie vor galt Kornelius Vanderwelt das Geld als Schlüssel zum
erweiterten Leben.

»Wenn wir Ruhrort zum bedeutendsten Binnenhafen der Welt erheben
wollen, lieber Beckenried, dürfen seine Anwohner keine Pfennigkrämer,
müssen sie Menschen von Weltempfinden sein. Und Weltempfinden
verlangt: die Welt erleben bis in die letzte Pore und beitragen, daß
sie uns lebenswert bleibt. Mit Klageweibern bringen Sie das nicht
zustande, wohl aber mit notbefreiten Geschöpfen.«

»Sie werden Notbefreiung säen und Habgier oder Verschwendungssucht
ernten, Herr Vanderwelt.«

»Nicht bei allen. Und um die, auf die Ihr Seherwort zutreffen sollte,
ist es nicht schade. Hingegen glaube ich, daß gegen eine kleine
Gehaltsaufbesserung selbst Sie nichts einzuwenden hätten.«

Nein, Herr Beckenried hatte ~nichts~ dagegen einzuwenden, und
er bedankte sich mit einem stillen Geschmunzel. Und die Herren im
Hauptkontor erhoben sich, als Kornelius Vanderwelt am Abend den
Raum durchschritt, von ihren Sitzen und machten ihrem Brotherrn ein
paar erregte Dankesverbeugungen, denn auch sie waren bei dem stark
gehobenen Geschäftsgang nicht vergessen worden.

»Lassen Sie sie in Gottes Namen auf ihre Art selig werden,«
erwiderte am nächsten Morgen Kornelius Vanderwelt auf die grämliche
Anklage Beckenrieds, die Herren seien in der Frühe mehr ins Kontor
hineingetaumelt als hineingegangen. »Die Hauptsache ist nämlich das
~Selig~werden. Die ~Art~ hängt vom persönlichen Geschmacke
ab, und der klärt sich.«

Es war ein Jahr der Selbsterkenntnis für Kornelius Vanderwelt
geworden, und die Erkenntnis seiner selbst war ihm gekommen durch die
Erkenntnis des jungen Geschöpfes an seiner Seite.

Denn Angela Freydag war ihm zur Seite, wo er ging und stand. Er
mochte sich dagegen wehren, und er hatte es lange genug getan, er
fand, ob er durch das Gewoge vor der Schifferbörse schritt, ob er die
Häfen durchkreiste oder in der Stille seines Sonderkontors hinter
Abmachungen und Planungen hockte, seine Gedanken immer wieder in einer
Art Zwiesprache mit ihr, wie sie der Meister mit dem bevorzugten
Lehrling hält, und unwillkürlich richtete sich seine öffentliche
Haltung wie seine innerliche nach den gläubigen Mädchenaugen seines
Gedankenbildes.

Und die Einbildung wurde zur Wirklichkeit, je weiter der Winter
fortschritt und die Abende sich dehnten in die Feierstunden des
Advents und in die tieferen Besinnlichkeiten der Seele.

»Sonst«, sagte er zu seiner Begleiterin auf dem Flügel, »pflegte ich
den ungeklärten Empfindungen aus weihnachtlicher Zeit kurzer Hand
bei Freund Matthes den Garaus zu machen. Heute lasse ich mich davon
einlullen, ich weiß nicht wie, und könnte mich stundenlang mit Ihnen
über das Christkind unterhalten. Wenn es keine Alterserscheinung ist,
muß es doch wohl die Jugend in mir sein.«

Und Angela Freydag erwiderte: »Es ist die Jugend.«

»Das ist eine Behauptung und kein Beweis.«

»Was man empfindet, braucht man nicht zu beweisen. Sie empfinden ja
auch die Hand des Schöpfers, ohne sie in Worten beschreiben zu können.«

»Hübsch gesagt. Nur spielt meine Jugend bei dem Vergleich eine sehr
nebensächliche Rolle.«

»Nein, nein. Das glaube ich nicht. Es gibt keine Größenverhältnisse,
wenn das Gefühl spricht.«

»Wollen Sie es nicht ein wenig mehr sprechen lassen, Fräulein
Freydag? Es ist so ein schummeriger Abend. Draußen fällt der Schnee
wie weiche Watte, die ganz dicken Flocken pochen mit Geisterfingern an
die Scheiben, und wo selbst die schwarzen Kohlenhalden Hermelinmäntel
tragen, dürfen wir uns wohl auch für ein Stündchen in einen
Märchenmantel wickeln.«

Sie schlug mit suchenden Fingerspitzen ein paar Töne an, die im Raume
hängen blieben.

»Es ist kein Märchen, es ist Wahrheit, daß Sie jünger sind als wir
alle. Von den anderen will ich nicht sprechen. Weil Sie es wünschen,
von mir. Vielleicht ist es mir selber noch gar nicht zum Bewußtsein
gekommen, was Jugend ist und was sie sein kann. Vielleicht ist sie
eine große, große Kunst und nicht jedem gegeben. Ganz sicher aber bin
ich, daß Sie die Kunst besitzen. Wie ein Musikstrebender die Kunst der
Meister verspürt und nicht erst nach der Haarfarbe der Meister sieht.
Ja, das scheint wohl ziemlich töricht dahingeredet.«

»Die Märchen um Weihnachten herum«, meinte Kornelius Vanderwelt, und
auch seine Hände suchten ein paar Tasten und brachten sie zum leisen
Weiterklingen, »erscheinen ~auch~ oft in törichtem Gewande.
Wissen Sie auch, weshalb? Weil sie nur für die Törichten erfunden sind
und nicht für die Tüftler und Neunmalweisen. Und Jugend muß wohl eine
besonders süße Torheit sein, sonst würden sich die Erleuchteten unter
den Menschen nicht so schrecklich ihrer schämen.«

»Nein, das haben Sie nie getan und werden es auch niemals tun.«

»Mein Wort darauf: nein. Und wenn Sie es wollen, will ich Ihrem
dunklen Tasten immer Lehrmeister sein, so wie ich Ihr ernsthaftester
Schüler wurde in der Erschließung unserer musikalischen Welt.«

»Es geht wohl um das gleiche,« sagte Angela Freydag sinnend.

Und dann begannen sie ihr Zusammenspiel. --

Es war nicht die leichteste Aufgabe, die Angela Freydag im Hause
Kornelius Vanderwelt zugefallen war. Der Unterricht der Kinder
gestaltete sich selten zu Feierstunden und es gab mürrische Mienen,
trotzige Worte oder stumme Widerstände fast täglich zu überwinden.
Angela Freydag überwand sie. Sie überwand sie mit dem Ernst ihrer
Augen, in deren Tiefe urplötzlich ein Funke aufspringen konnte wie
eine drohende Lohe. Und sie überwand sie mit einem jähen Streicheln
ihrer Hand, das die Kinder überraschte und benommen machte. Dann hatte
Angela Freydag gedacht: es sind Kornelius Vanderwelts Kinder.

Es war auch nicht die leichteste Aufgabe, ihre Stellung neben der
langjährigen Vertreterin des Hauses zu wahren und zu festigen.
Hatte auch das alternde Fräulein niemals ihren Wünschen so weiten
Lauf gelassen, dem Hausherrn im Arbeitszimmer oder im Musikzimmer
abendliche Gesellschaft leisten zu dürfen, so erregte doch die
Gewährung solcher Vorrechte an die Fremde einen Kampf in ihrem
Innern, der sich nur bis zur wortkargen Duldung des Eindringlings
beschwichtigen ließ.

Kornelius Vanderwelt gewahrte es bald.

»Weshalb schließen Sie sich aus, Fräulein Bilsenbach?« fragte er
freundlich. »Sie sollten Unterricht bei Fräulein Freydag nehmen.«

Das Fräulein wies die Zumutung, eine Schülerin abzugeben, mit
Entrüstung zurück.

»Ich bin zu alt dazu, um noch in die Lehre zu gehen, Herr Vanderwelt.«

»Ich würde, wenn ich wüßte, es gäbe irgendwo eine Schönheit des
Lebens zu erlernen, tausend Meilen zu Fuß pilgern. Und wenn ich das
Asthma hätte.«

Mit diesem Versuch war die Angelegenheit endgültig für ihn abgetan.

»Fräulein Freydag,« bat er, als sie am späten Abend in der Stille des
Arbeitszimmers über ein Dichterwerk gebeugt saßen, »vergessen Sie
unter keinerlei Umständen, daß Sie ~mir~ zuliebe in diesem Hause
sind.«

Sie hob den Kopf und sah ihm stumm in die Augen.

Und dann blätterten sie weiter, und Kornelius Vanderwelt deutete ihr
an dem einen Abend die Dichter und an dem anderen Abend die Maler
und Bildhauer der Zeiten. Er wies ihr die Baustile und ihre größten
Meister und brachte alles, was er von den Meistern wußte und in ihnen
lieben gelernt hatte, in ein Gleichnis von musikalischen Formeln,
damit die Musikerin in ihr leichter die Wege fände. Da war es oft,
daß sie mit Ausdrücken um sich warfen, als behandelten sie statt
eines Wortgemäldes, eines farbigen Bildes oder steinerner Bauformen
eine Beethovensche Symphonie, und die Tasten des Flügels erklingen
ließen, um sich leichter Rede und Antwort zu stehen und die Fragen der
Schülerin zu klären. Oft auch, daß sie auserwählte Gedichte lasen und
das Ergebnis ihrer Empfindungen auf dem Flügel mit dem Stimmungsgehalt
der Tonschöpfungen verglichen, die das Gedicht als Lied neu geboren
hatten, und Brahms und Schubert, Schumann und Mendelssohn sangen durch
den Abend, und Hugo Wolf und Richard Strauß antworteten in ihren
Weisen.

Wie zwei junge Menschen gleichen Alters saßen sie an solchen Abenden
Schulter an Schulter, und die Schülerin tat hastige, frohe Atemzüge
der Erkenntnis, und der Lehrer steigerte sein Wissen, um dem Erwachen
der Schülerin Schritt zu halten. Während sie aber lehrten und
lernten, lernten und lehrten, fühlte das Mädchen, wie die schweren
Nebel der Vergangenheit sanken, wie die verschlossen gebliebenen
Türen und Fenster ihrer Wesenheit sich öffneten und Licht und Wärme
nie geahnter Art hineinwogten, die das Bewußtsein ihres Lebens
aufwühlten, mit Schauern der Freude füllten und es aufschnellen ließen
wie zitterndes Reis nach der Sonne; fühlte der Mann, wie Hasten und
Lasten der Gegenwart gleich Fremdkörpern aus dem Blute wichen und
die Vergangenheit, dort, wo sie am schönsten gewesen war, die Augen
aufschlug und sprach: Nein, ich bin noch nicht tot.

Da war es, daß Angela Freydag ihre wundgelaufenen Füße nicht mehr
spürte und Kornelius Vanderwelt nicht mehr sein wundgehetztes Hirn.
Als sie sich beide auf dem Wege zur Jugend trafen und der eine
Weggenoß den anderen staunend bei der Hand nahm.

Wie verklärt sie aussieht, dachte Kornelius Vanderwelt. Die Erkenntnis
ihrer Jugend hat ihre Jungfräulichkeit gereift. Und er sagte laut:
»Angela! Angela bedeutet Engel.«

Sie lachte ihn an und schüttelte heftig den Kopf.

»Ich bin kein Engel. Engel hängt man in den Weihnachtsbaum, und ich
habe Hunger und Durst nach der Erde.«

»Was für ein Geschöpf möchten Sie lieber sein, Engel?«

»Fragen Sie doch nicht. Sie wissen es ja, was ich bin. Sie formen ja
das Geschöpf aus Ihren Händen heraus.«

»Engel,« sagte er und forschte in ihren Augen, »ich sehe kluge,
ernste, graue Augen. Mädchenaugen. Und doch sehe ich zuweilen darin
jäh über den Horizont springende Blitze, als sprängen Panther an.«

Sie hielt die Augen weit auf vor seinem forschenden Blick.

»Ich glaube nicht, daß es so vornehme Tiere sind, Herr Vanderwelt. Es
werden wohl arme, hungrige Wölfe sein.«

»Setzen Sie mir nicht den Wolf herunter, Engel. Der Wolf war den Alten
heilig und stand den Göttern nahe. Nicht nur dem kriegerischen Wodan
der Germanen. Auch Apollo, der Gott der Künste, wählte den starken
Wolf zu seinem Begleiter. Und eine Wölfin säugte die Erbauer Roms.«

Sie lehnte die Ehrungen mit einem Kopfschütteln ab.

»Das klingt gewiß sehr schön, aber die alten Göttersagen liegen mir
zu weit. Ich weiß von der Wölfin nur, daß sie mit dem Wolf gemeinsam
jagt, in allen Stücken ihm gleicht, daß der Hunger sie stark und
furchtlos macht und daß sie Geschöpfe der eigenen wie der fremden Art
abwürgt, wenn sie sich als Schwächlinge erweisen. Den Romulus und
Remus wird die Wölfin nur aufgesäugt haben, weil sie das Starke in
ihnen witterte.«

»Ach, Engel, man müßte die Naturgeschichte nur von Frauen lehren
lassen.«

»Warum --?«

»Weil ihr Naturtrieb immer auf das Einfachste stößt.« --

Zu Weihnachten standen die Tische gedeckt. Im Arbeitszimmer des
Vaters drängten sich erwartungsvoll die Kinder, und nun rief
ein Klingelzeichen nach Fräulein Bilsenbach, die sich mit ihrer
Festgewandung verspätet hatte, und nach den Angestellten in Haus und
Küche. »Fräulein Freydag fehlt,« bemerkte der unruhige Thomas, stürmte
die Treppe hinauf und holte sie aus ihrem Zimmer.

Vom Flügel her erklangen schlicht und kindergläubig die
Weihnachtslieder von Cornelius. Der Hausherr spielte. Und als er
geendet hatte, öffnete Fräulein Bilsenbach die Tür, die zum Eßzimmer
führte, und der Weihnachtsbaum stand in stiller Lichterpracht, und sie
öffnete die Tür, die zum Musikzimmer führte, und Kornelius Vanderwelt
griff in die Tasten und ließ zum gemeinsamen Gesang die Weise von
»Stille Nacht -- heilige Nacht« ertönen. Scheu und fremd kauerte
Angela Freydag auf ihrem Stuhle hinter den festfrohen Reihen.

Die Weihnachtsanbetung verklang. Das Schweigen der Erwartung lastete.
Da erhob sich der Hausherr von seinem Sitz und schritt unter die
Harrenden.

»Fröhliche, selige Weihnachten euch allen,« rief er und schüttelte
herzlich aller Hände. Eine Sekunde nur stutzte er vor dem glanzlosen
Ausdruck in Angela Freydags Gesicht. Und mit der Hand, die er ihr
hingestreckt hatte, zog er sie hoch.

»Vorwärts!« rief er Kindern und Angestellten zu. »Wer läßt den
Gabentisch warten? Sturm! So ist es recht.« Und mit dem Strudel wurde
Angela Freydag fortgezogen und war doch in der Woge allein.

Voll von kleinen Tischen stand das geräumige Eßzimmer, und auf
jedem Tische hielt ein Lebkuchenmann ein Namensschild. Ein kurzer
Wirrwarr, und ein jeder hatte seinen Namen herausgefunden. Gellender
Aufschrei der Kinder, ein staunendes Aufseufzen der älteren, und ein
jeder betastete, hob empor, legte nieder, griff nach einem anderen
Gegenstand, einem dritten, probte, untersuchte, lachte, schwatzte und
drehte sich blitzschnell im Kreis.

Kornelius Vanderwelt ging von einem zum andern. Er bewunderte Juliane
in der goldenen Halskette, die einen Skarabäus schaukelte, und ließ
sich von dem erregten Mädchenmund die unzähligen Köstlichkeiten an
Leibwäsche und Kleidern erklären, als hätte er das alles nie vordem
gesehen. Er trat zu Justus und Thomas, die das kleine Abbild einer
Segeljacht in Händen hielten, wies geheimnisvoll lächelnd mit dem
Zeigefinger nach dem Bootshaus da draußen irgendwo und ließ die
stürmischen Umarmungen der jungen Jachtinhaber über sich ergehen. Er
nahm dem verwirrten Fräulein Bilsenbach den Pelzmantel aus den Händen
und half der beschämt Widerstrebenden, hineinzuschlüpfen, damit die
Versammlung das königliche Bild besser entgegennehme. Er redete mit
dem Fahrer über Tabaksorten, Juchtenleder und Aachener Tuch, mit den
Hausmädchen über Aussteuerleinen, Brautlaken und Bräutigam und wandte
sich um und stand vor Angela Freydag.

»Darf ich nachfragen, Engel, ob der Weihnachtsmann zu Ihrer
Zufriedenheit gewirkt hat?«

Er hatte den Scherznamen, einmal angewandt, nicht mehr aufgegeben.

»Zu meiner Zufriedenheit?« wiederholte sie nur. »Zu meiner
Zufriedenheit?«

»Ich glaube gar,« sagte Kornelius Vanderwelt und trat dichter an
sie heran, »Sie haben dem Weihnachtsmann noch nicht einmal einen
freundlichen Blick geschenkt.«

»Doch, doch,« stieß sie hervor und wies auf ihren Platz. »Vielen,
vielen Dank für Ihre Güte. Es ist nur schon so lange her, daß ich
Weihnachten gefeiert habe -- und es war nie schön -- ich weiß mich gar
nicht mehr zu benehmen.«

»Dies ist ein Koffer,« erklärte Kornelius Vanderwelt, und der Klang
seiner Stimme ließ sie sofort zur Ruhe kommen. »Und dies ist auch ein
Koffer. Der größere ist als Reisegepäck gedacht, der kleinere als
Handgepäck. Denn aus der lieben Reisetasche sind Sie mittlerweile
herausgewachsen wie aus den lieben Kinderschuhen. Hilft nichts. Und
nun müssen Sie öffnen und weiterforschen.«

»Öffnen und -- weiterforschen?«

Er bastelte für sie die Schlüssel los und ließ die Schlösser
aufschnappen. Den Handkoffer öffnete er zuerst. Er bot in einer
seitlichen Einrichtung silberverkapselte Flaschen und Kristalldosen,
Bürsten und Kämme und Spiegel dar. Die Mädchenaugen starrten darauf
hin. Und dann wurde das Mädchengesicht weiß. Kornelius Vanderwelt
hatte den größeren Koffer geöffnet.

»Jetzt müssen Sie urteilen, Engel. Der Weihnachtsmann konnte nur
seinem Männergeschmack nachgehen.«

Es kam keine Antwort, und er blickte auf und sah in das verkrampfte
Gesicht.

»Engel,« sagte er leise, »Fassung, mir zuliebe.«

Da riß ein wilder Freudenausbruch den Krampf auseinander, und sie
beugte sich vor und wühlte mit ihren Händen in den Schätzen von feiner
Leibwäsche.

»Nun müssen Sie den Einsatz herausheben, Engel.«

»Immer noch mehr? Gut, immer noch mehr! Nur immer zu! Freude! Freude!
Und wenn sie sich wie eine Flut über mich wirft, ich tauch' auf, ich
halt' stand, ich -- ich --«

Sie stutzte. Ihre Augen waren ganz weit und dunkel. Ihre Lippen
bewegten sich weiter. Und Kornelius Vanderwelt mußte an sich halten,
um sich nicht in den Mädchentaumel hineinreißen zu lassen.

»Das ist eine ganze Ausrüstung,« sagte Angela Freydag atemlos. »Die
Ausrüstung einer Dame. Reisekleid und Gesellschaftskleid. Jacke, Pelz,
Muff. Eine Pelzmütze sogar. Es fehlt nichts -- nichts von dem Bilde,
was ich mir gemacht hatte.«

»Von ~was~ hatten Sie sich ein Bild gemacht?«

Sie stand vor ihm und hielt ihre Hände über den Brüsten.

»Und ich habe nichts für Sie. Gar nichts, gar nichts.«

»Schenken Sie mir Ihre alte Reisetasche, Engel. Sie haben sie immer so
innig an sich gedrückt, daß ein wenig von der Innigkeit wohl noch auf
mich übergeht.«

Da lachte sie ihn lautlos an.

Das war Kornelius Vanderwelts liebstes Weihnachtsgeschenk, dies
lautlose Lachen des Verstehens. Für die Gaben von Kinderhand, für
die sorglichen Arbeiten seines Hausfräuleins hatte er sich laut und
herzlich bedanken können. Hier fehlte ihm das Wort. »Engel,« sagte er
nur ganz leise.

Ihre Hände glitten über die Schätze und plätteten sie. Sie schloß
die Kofferdeckel, zog die kleinen Schlüssel ab und senkte sie in
den Halsausschnitt. Alles mit einer streichelnden Zärtlichkeit. Der
Zärtlichkeit der Besitzerin.

»Wollen Sie denn nicht anproben? Das Putzen und Proben gehört doch zur
Weihnachtsfreude.«

»Bitte,« bat sie, »bitte, nicht vor den andern. Wenn ich allein bin,
brauche ich nicht an mich zu halten.«

Und wieder war Kornelius Vanderwelt von den Kindern umringt und von
den Angestellten und mußte bestaunen und sein Urteil abgeben. Und
Fräulein Bilsenbach brachte den weihnachtlichen Südwein, und jeder
erhielt sein Glas, und während unter der leuchtenden Christtanne ein
neues Weihnachtslied angestimmt wurde, ging Kornelius Vanderwelt von
einem zum andern, ließ an jedem Glas das seine erklingen und sprach
seinen Gruß: »Fröhliche Weihnacht.«

Spät am Abend erst wurde das Mahl aufgetragen. Des weihnachtlichen
Gedränges wegen in des Hausherrn Zimmer. Langsam ebbte die
Flut zurück. Mit schlafmüden Augen verabschiedete sich das
alternde Hausfräulein zuerst, um noch in ihrem Stübchen ein paar
Gesangbuchverse zu lesen. Noch schmiedeten die Kinder Pläne für die
Feiertage. Dann kam auch ihnen die Ermüdung, und sie traten an den
Vater heran, bedankten sich und küßten ihn. Hinter ihnen war Angela
Freydag an Kornelius Vanderwelt herangetreten. Sie reichte ihm die
Hand und sah zu ihm auf.

»Darf ich Ihnen heute auch einen Kuß geben?«

Kornelius Vanderwelt nahm sie in die Arme, wie er seine Kinder in die
Arme genommen hatte. Einen Herzschlag länger. Und während des einen
Herzschlags freute er sich an der roten Linie ihres Mundes. Er beugte
sich nieder und empfing ihren Kuß. Ruhig verließ sie das Zimmer.

Er ging in das Musikzimmer hinüber und setzte sich vor den Flügel,
ohne zu spielen. Irgend etwas machte ihn lächeln, und er wußte nicht,
was? Ja, doch, das war es. Der Mädchenkuß von Angela Freydag war es.
Der echte und rechte Mädchenkuß. Geküßt von einem Munde, der es nie
gelernt hatte. Mit geschlossenen Lippen. Ernsthaft wie eine feierliche
Handlung. Ein wenig herb -- und ein ganz klein wenig zitternd.

Und plötzlich stieg eine warme Freude in ihm hoch, daß es so gewesen
war und nicht anders.

Das Mädchen hatte ihm gegeben, was es noch keinem gegeben hatte. Er
war der reicher Beschenkte. --

Als Kornelius Vanderwelt in der Nacht sein Schlafzimmer aufsuchte,
fand er an das Bett gelehnt Angela Freydags Reisetasche. -- --

Seit dem Weihnachtsfest machte sich die Wandlung in Angela Freydags
Wesen von Tag zu Tag bemerkbarer. Es war wohl weniger eine Wandlung,
als eine rascher einsetzende Entwicklung. Als ob ein Stauwehr
überwunden wäre, und die Wasser ihres Lebens strömten befreiter dem
Ziele zu.

Daß Kornelius Vanderwelts ritterliche Weise das Stauwehr in ihr
beiseite geräumt hatte, das erkannte allein die Dankbarkeit der
Wenigverwöhnten. Aber die Dankbarkeit erschien ihr als ein zu
geringer Ersatz, ein Trieb war in ihr erwacht, in seine Gedankenwelt
hineinzuwachsen, sich formen zu lassen nach seinem Bilde und nach
einer Spanne, sie sei kurz oder lang, seiner Schöpferfreude zeigen zu
dürfen, daß sie sich nicht an ihr vergeudet hätte.

Bis zu dieser Spanne griff sie die Arbeit an Kornelius Vanderwelts
Kindern mit neuer, zäher, Willenskraft, als einen Beweis ihres Wollens
und Könnens an und ließ sich nicht durch die Unbotmäßigkeit der
Schüler noch durch die eigene Ungeduld abschrecken, den steinigen
Acker immer wieder zu durchpflügen.

Am steinigsten war er bei Juliane. In der Entfaltung des Mädchens
stritten Selbstbewußtsein und Gefallsucht um die Oberstimme, aber das
Selbstbewußtsein hatte leider nichts von der sicheren Vanderweltschen
Note, sondern gründete sich auf dem Bewußtsein, ein augenfällig
schönes und frühreifes Geschöpf zu sein, und diente der Gefallsucht
nur als leichte Maske. Das hatte Angela Freydag vom ersten Tage an
durchschaut, und nun mühte sie sich mehr als je, eine andere Unterlage
zu schaffen und damit dem jungen Selbstbewußtsein eine stärkere
Berechtigung. Und es begann der Kampf zwischen den Sonaten und den
Tagestänzen.

»In meinem Leben spiele ich das Zeug nicht,« versicherte die erzürnte
Kleine. »Wer Sonaten hören will, mag ins Konzert laufen. Ich will
einmal glänzende Bälle geben können und am Flügel sitzen und
aufspielen.«

»Das ist für leere Stunden, Juliane. In den schweren Stunden, die bei
keinem ausbleiben, wirst du Gott danken, in den Werken der Meister die
eigene Erlösung zu finden.«

»Ach nein, Fräulein Freydag,« spottete das Mädchen, »die schweren
Stunden sind für die Dummen, die alle Sachen schwer nehmen. Die Klugen
schlagen einen Bogen, wie wir's in der Schule machen.«

»Es sind Flachköpfe, Juliane, und du bist Kornelius Vanderwelts
Tochter. Wenn du es vergessen solltest, so vergeß ich es nicht. Und
nun üben wir ernsthaft.«

Es waren weniger die Tanzweisen, die Angela Freydag auszurotten
trachtete, als der leichtfertige, kühl abwägende Sinn, der in Angela
Freydags Stirn die Furche kerbte. Eine Leichtfertigkeit aus Geblüt
wäre ihrem Grübeln noch verständlich erschienen. Hier aber sah sie
eine Leichtfertigkeit aufwachsen, die von der Berechnung auf Wirkung
und überrumpelnden Erfolg eingegeben war, und ihre Natur wehrte sie
wie eine Unreinlichkeit ab.

Mit aller Beherrschung nahm sie den Kampf auf, und wenn sie nichts
anderes gewann als die Stunden der Ablenkung vom übrigen Tag, diese
wollte sie auf ihr Guthaben buchen.

Anders, wenn auch nicht weniger schwierig, gestaltete sich die
Unterweisung des ältesten Sohnes Justus, der wenige Wochen vor
Ostern zum Primaner aufgerückt war. Sein schnelles Erfassen
der Schulwissenschaften verliehen ihm die Berufung, Höhenwege
einzuschlagen, aber er verwechselte die Anwartschaft auf Höhenwege mit
einem hochfahrenden Sinn, der in jedermann einen Untergebenen oder
doch ein seinen Lebensforderungen untergeordnetes Wesen und in Angela
Freydag niemals mehr als eine wenig beachtenswerte Klavierlehrerin sah.

»O je, Justus, nicht die Meister vergewaltigen! Bitte diesen Satz noch
einmal.«

»Ich bin schon über ihn hinweg und möchte mich nicht wiederholen.«

»Man ist nur über eine Sache hinweg, wenn man sie restlos erledigt
hat. Sonst steht sie als Feind hinter einem auf.«

»Ich pflege mich nicht um das zu bekümmern, was hinter mir herdroht.
Damit macht man meine Pferde nicht scheu.«

»Erst muß man Pferde ~besitzen~! Sie reiten vorläufig noch auf
einem Mietgaul.«

»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein Freydag, wollen wir uns über
Lebensanschauungen nicht unterhalten.«

Sie sah ihm ruhig in die Augen, bis ihm das Blut in die flaumbärtigen
Wangen stieg.

»Gewiß ist es mir recht. Und der so starkgeprägte Sinn für
Ritterlichkeit in Ihnen wird Ihnen selber sagen, worüber Sie sich mit
Ihrer Klavierlehrerin zu unterhalten haben. Und auf welche Weise,
Justus.«

Der Jüngling schlug das Notenblatt um und jagte den beanstandeten Satz
in Windeseile herunter.

»Ich danke Ihnen,« sagte sie, ohne mit dem Auge zu zucken. »Sie sind
reich begabt und werden es bei fester Selbstzucht zu hohen Graden
bringen.«

Am leichtesten fand sie sich mit Thomas, dem zweiten Sohne. Und
doch wurde gerade dieser je länger, je mehr ihr Sorgenschüler. Die
Überlegenheit, die er als jugendlicher Schöngeist jungen und auch
älteren Menschen gegenüber so gern auszuspielen pflegte, sonderlich
aber jungen Mädchen gegenüber, die er als »ergötzlich durch ihre
Minderwertigkeit« bezeichnete, behielt er im Verkehr mit Angela
Freydag nicht bei. Sobald ihre Hände aus den Tasten Leben schlugen,
wurde jeder Spottgedanke in ihm abwegig, wurde er der feine,
liebenswürdige Junge, der am stärksten an den Vater erinnerte. Und
doch war es nächst der Spottsucht gerade diese weiche Feinheit, die
Angela Freydags Gedanken zu schaffen machte.

»Bitte, bitte, Fräulein Freydag, spielen Sie weiter.«

»Jetzt ist Unterrichtsstunde, Thomas. Die Reihe ist an Ihnen.«

»Nein, nein. Es wäre Barbarei, mitten in der wunderbarsten
Stimmungsmalerei abzubrechen. Ich verspreche Ihnen dafür, heute eine
Stunde länger zu üben.«

»Thomas,« warnte sie ihn und spielte weiter, »es ist nicht gut, sich
von jeder Stimmungsmalerei besiegen zu lassen. Das macht weich und
schlaff. Wie Kranke, die sich nach dem Fieber sehnen, weil es ihnen so
angenehm das Bewußtsein für das Wirkliche verschleiert.«

»Fräulein Freydag, Sie sprechen bereits wie der Vater.«

»Tu ich das?« fragte sie zurück und beugte sich über ihr Spiel. »Wenn
ich das schon als Fremde tue, ist es Ihre Schuldigkeit als Sohn, so
wie der Vater zu ~werden~.«

»Ach, Fräulein Freydag, der Vater ist ja auch der Musik untertan.
Sehen Sie denn nicht, daß ich ihm nacheifere?«

»Lieber Thomas, der Vater ist der Musik nicht untertan, sie ist für
ihn nur der Nährboden für neue Kräfte. Und für Sie wird die Musik die
Verleiterin zur Einlullung und Schwächung Ihrer Kräfte werden, wenn
Sie sich aus der Zuhörerrolle nicht aufraffen und selber in die Tasten
hineinhauen, daß sie den Befehlshaber spüren.«

»Gibt es das? In der Musik?«

»Das gibt es in der Musik wie in der Lebensmusik. Der Befehlshaber
ist kein rücksichtsloser Mensch, der durch sein Brüllen alle Welt
erschreckt. Der wirkliche Befehlshaber ist der Freund und Bruder und
-- der Meister der Menschen. Und wenn seine Kraft es befiehlt und er
hineinhaut in die Tasten, so müssen sie aufjauchzen und jubeln vor
Begeisterung, hingerissen in den Tod wie hingerissen in das Leben.«

Thomas Vanderwelt horchte noch immer auf ihr Spiel.

»Fräulein Freydag -- wenn man aber das Leben nur als ein belustigendes
Zwischenspiel ansieht, das es in Wirklichkeit ist? --«

»Dann würde ich Ihnen raten: spielen Sie mit, Thomas, damit es
ernsthaft wird und den Einsatz lohnt.«

Sie brach ab und machte ihm Platz.

»Nur Zaungäste drücken sich, wenn Zahlung verlangt wird. Sie, Thomas
Vanderwelt, werden sich nicht lumpen lassen.«

Und der junge Mensch begann. Mit einer müden Weltüberwundenheit, die
seinem Spiel die Marke der Ungewöhnlichkeit aufdrücken sollte, mit
leichtspöttischen Betonungen der Gefühlswelt, bis ihm Angela Freydags
stählerner Zuruf wie eine Klinge in die selbstgefällige Auslage fuhr
und ihn zum Kampfe mit sich selber zwang. Ihre Hände packten seine
Handgelenke, spielten mit ihm einen Satz, einen Lauf nach ihrem
Willen, bis der Wille auf ihn übersprang und ihn das Ende selber
finden ließ in aufgerüttelter Selbstbesinnung.

»Thomas, sich nicht selber aufgeben! Spott ist die Waffe der
Schlachtenbummler. Nur ganz große Vorbilder dürfen sich den Spott
erlauben, und sie tun es nur bei geistigen Müßiggängern, wenn die Güte
versagt. Finden Sie sich selber, Thomas.«

Dann kam es wohl, daß ihr der junge Mensch beschämt die Hand küßte.

Im fortschreitenden Frühling nahm Kornelius Vanderwelt sie des öfteren
mit auf seine Hafenfahrten. Zusammengerafft hielt sie sich neben ihm
im Boot, in gesteigertem Bemühen, jedes seiner Worte zu verstehen,
jedes Bild sofort mit seinen Augen zu erfassen. Dort kreischten die
Krane unter ihren Lasten, und es war Musik. Dort donnerten die Kipper
stäubende Wagenladungen in die Kähne, und es war wieder Musik. Dort
wanden sich die Schiffszüge aus den Hafenbecken, dort rauschten sie in
ununterbrochenen Reihen gen Holland zu Tal oder gen Mannheim zu Berg,
und alles, alles wurde zur Musik; und zur geheimnisvollsten und darum
feierlichsten Musik das Gewerbe der Menschen, der winzigen, schwarzen,
durch ihre Beseeltheit ruhelosen Blutkörper der Erde. Und hingerissen
starrte sie auf die Riesenleistungen dieser Zwergenmenschen, auf die
keuchenden Schlote der Stahlwerke, auf die Höllengluten ausspeiender
Hochöfen, die selbst dem Himmel ihre Farben aufzwangen.

Und Kornelius Vanderwelt sprach zu ihr, wenn seine heißen Augen über
die erregten Bilder glitten: »Es kann Musik sein, wenn es mehr wird
als Erregung. Aber in sich selber haben muß man die Musik, sonst
bleibt das alles Tagesmühen und Hinüberfristen von einem Tag in den
anderen.«

»Nein, das lohnte nicht das Leben,« stieß sie heraus. »Irgendwo muß
ein Preis sein.«

»Die meisten Mitmenschen glauben, ihr steigendes Bankguthaben sei
der Preis. Ich meine, es müsse das steigende Guthaben am Leben sein.
Hei, du Leben, du bist mir einen Ehrenbecher schuldig, weil mich mein
Schöpferwerk durstiger gemacht hat als die Zuschauer! Oder dies Leben
ist ein Schwindelunternehmen.«

»Nein,« hastete sie hervor, »das ist es nicht! Ich habe den Mut, daran
zu glauben.«

Er legte den Arm um ihre Schulter, und seine Blicke entspannten sich.
--

Oft und öfter sprach er mit ihr über seine Planungen und
Unternehmungen, und wenn sie ihm auch nicht zu antworten wußte, so
wußte sie doch aufzuhorchen und mit jeder Welle ihres Daseins in ihn
hineinzugleiten, daß er es wie einen belebenden Strom empfand.

»Engel,« sagte er, »ich spüre Sie als Anspannung und Entspannung in
eins. In Ihnen ist die echte Mischung der Frau.«

Schon lange legte er den Arm um ihre Schulter, wenn sie bei Sonne
oder Wind im Boote standen und die Antriebmaschine die Bootsstirn
pfeilschnell durch das Wasser drückte. Es war keine Verwunderung in
ihr hochgekommen, nicht beim erstenmal und nicht, als die Wiederholung
Gewöhnung wurde. Der Arm um ihre Schulter gehörte zu ihr, wie das
Atmen zu ihr gehörte und alles Werden und Wachsen.

»Wissen Sie auch, Engel, daß Sie sich nicht nur geistig staunenswert
entwickeln, sondern auch körperlich? Das sind die festen Schultern
einer Frau geworden, und die Schmächtigkeit hat sich besonnen und
blüht auf wie ein kraftvoller Lilienstengel.«

Sie sah an sich hinab, ohne Scheu vor seinen Worten und ohne
Beschämung, daß er ihre Körperlichkeit gewahrte. Nur eine Freude stieg
in ihr hoch, daß auch hierin ihre Armut sich gewandelt hatte, und sie
streckte sich heimlich und prüfend in seiner Armumschlingung, ob ihre
Schulter die seine bald erreiche.

Sie fuhren auf dem Rhein, und eine Segeljacht holte vor ihnen auf,
legte die Segel um und gehorchte im Bogen dem Steuer. Zwei weiße
Mützen schwenkten im Winde, zwei wetterbraune Gesichter schrien ihnen
Begrüßungen zu. Rauschend schoß die Segeljacht im Kreise um ihr Boot
herum, gewann den Wind zurück und entfloh.

»Justus! Thomas!« schrie Angela Freydag aus vollem Halse, riß ihre
Mütze von den Flechten und winkte hinter ihnen drein. »Hei, Herr
Vanderwelt, Ihre Jungens! In jeder Wendung Schiffer von Geblüt!«

Aufmerksam hatte Kornelius Vanderwelt jede Bewegung der Segeljacht
verfolgt. In den scharf zusammengekniffenen Augen lauerte der Vater
und der Seemann.

»Wir hätten sie rammen können, wenn unsere Maschine nicht beizeiten
abgestoppt hätte. Der Bootsmann hatte meine Jungen erkannt.
Ihre Waghalsigkeit verläßt sich viel zu sehr darauf, daß sie
Vanderweltjungen sind. Übrigens verlange ich von meinen Söhnen die
Schifferprüfung auf dem Rhein, sobald sie die Schule verlassen haben.«

»Die Schifferprüfung auf dem Rhein?« fragte sie verwundert. »Auch wenn
sie einen anderen Beruf wählen?«

»Ein jeder Mensch muß ein Handwerk verstehen. Versagt einmal das
Brustschwimmen, so muß man sich mit dem Rückenschwimmen helfen können.
Mein Gott, wie oft habe ich auf dem Rücken schwimmen müssen.«

In der Klammer seines Armes sah sie ihn von unten herauf an.

»Lachen Sie nicht, Engel. Helden, die immer siegen, gibt es so wenig,
wie Väter, die in der Schule immer oben gesessen haben.«

Da lachte sie, daß seine Schulter gerüttelt und geschüttelt wurde.

»Das Lachen haben Sie mittlerweile auch gelernt, Engel.«

»Ja, ja, ja!« schrie sie in den Wind. »Das Lachen und alles, alles,
was uns das Lachen schenkt!«

Seine Hand glitt von ihren Schultern über ihren Arm. Hin und her. Her
und hin.

»Ich freue mich, Engel.« --

Jedesmal, wenn sie von gemeinsamer Fahrt heimgekehrt waren, empfand es
Kornelius Vanderwelt, daß Angela Freydags Spiel in die Tiefe wuchs,
um den Höhenweg zu nehmen. Dann war ein Ringen in ihr um die letzte
Befreiung, um den letzten sieghaften Ansprung ins Licht. Jeden Morgen
hindurch, wenn die Schüler das Haus verlassen hatten, saß sie am
Flügel, stundenlangen, nimmermüden Fingerübungen hingegeben, in einer
Selbstbeobachtung bis ins Schmerzhafte, in einer Selbstzucht, die das
geringste zum bedeutungsvollen erhob.

»Sie übertreiben, Engel,« verwarnte sie Kornelius Vanderwelt, als er
an einem Mittag vor der Zeit heimgekehrt war und lauschend in der Tür
gestanden hatte. »Das halten die Nerven keines Menschen aus. Weshalb
also?«

»Ich muß mein eigner Lehrer sein. Wenn der Schüler Pause machen will,
greift der Lehrer ein und läßt wiederholen.«

Kornelius Vanderwelt ließ lange seinen Blick auf der zähen Kämpferin
am Flügel ruhen.

»Ich weiß Sie ungern draußen allein, Engel. Es ist ganz gewiß ein gut
Teil Selbstsucht dabei. Ein Mann meiner Anschauungsart ist nun einmal
selbstsüchtiger, als die vielen, die sich nur von der Abwechslung
Wunder versprechen. Na, schon gut. Keine rührsame Tünche darüber
gestrichen. Sie werden von heute an jede Woche einmal nach Köln fahren
und Ihrem Professor vorspielen. Zur letzten Überfeilung. Denn eine
Künstlerin sind Sie heute schon.«

Ihr Spiel brach ab. Ihr Gesicht wandte sich, schneeweiß geworden, ihm
zu. Ihre Augen leuchteten bis in die Tiefe.

»So sehr erfreut Sie die Aussicht, aus dem Käfig heraus und nach Köln
zu kommen?«

»Ihretwegen -- Ihretwegen!« stieß sie heraus. »Dann ist es kein Käfig
mehr, in dem Sie mich sitzen sehen. Dann werde ich vor Ihren Augen
fliegen können, ach, überall hin, wo Sie mich sehen wollen, und
brauche nicht mehr hinterdreinzulaufen und Sie mit mir aufzuhalten,
wenn Sie große Schritte machen möchten.«

»Ist das nun alles Unbewußtheit?« fragte er zögernd und strich über
ihr Haar.

Sie aber verstand den Sinn der Frage nicht und blickte ihm, wie eine
Schülerin dem Lehrer, nach den Augen. Und seine Brust, durch die der
Zweifel gerieselt war, tat plötzlich so tiefe Atemzüge, als müßte
bis in die Fugen reingefegt werden, was etwa sich einzunisten willens
gewesen wäre.

»Geben Sie mir den Namen Ihres Professors. Ich werde den Herrn an den
Fernsprecher rufen lassen und mit ihm die Stunden verabreden. Sie
können dann, wenn alles nach Wunsch geht, schon morgen fahren.«

Wohl verstand es das leidenschaftliche Wesen Kornelius Vanderwelts
wie überall, so auch hier, seinen Wünschen Geltung und Erfüllung
zu verschaffen. Und doch dehnte sich ihm der nächste Tag, an dem
Angela Freydag zur Musikhochschule nach Köln gefahren war, zu einer
schier unerträglichen Länge, und eine verschwommene Leere in ihm
hinderte so stark seine Arbeitslust, daß er zum ersten Male sein
befehlshaberisches Wünschen mit einer Verwünschung bedachte. Um die
Mittagstunde ging er nicht heim. Weit hinaus auf die Landstraße
zwischen der silbrigen Ruhr und den frühlingssaftigen Wäldern mußte
ihn der Wagen entführen, und als er zum Abend sein Geschäftshaus
verließ und es immer noch eine Stunde währte, bis die Eisenbahn
Angela Freydag von ihrem Ausflug zurückbringen konnte, fand er sich
alter und lange nicht geübter Gewohnheit gemäß durch das Gassengewirr
des Hafenviertels schlendern und das Wirtshausschild ›Zu den fünf
Erdteilen‹ buchstabieren.

Er lachte dröhnend, als er unverzüglich den Matthes hervorstürzen sah
wie den Sperber auf die Beute.

»Gute Brise, was, alter Seeräuber?«

»Einen Augenblick nur. Bitte sich nur für einen kleinen Augenblick
hereinzubemühen, Herr Vanderwelt.«

»Ne, mein braver Matthes, kapern ist nicht. Ich danke Gott, daß ich
das Gift aus Ihrer Bude wieder ausgeschwitzt habe.«

»Es handelt sich nicht um das Gift, Herr Vanderwelt, es handelt sich
um die Bude selbst.«

»Rauscht der Pleitegeier?« fragte Kornelius Vanderwelt und folgte dem
Bittsteller ein paar Schritte in den Hausgang.

»Herr Vanderwelt,« begann der Matthes und verschleppte seinen hohen
Gastfreund in den stillsten Winkel, »daß die ›Fünf Erdteile‹ im
Begriff sind, sich bis auf die Ratten zu entvölkern, ist nicht meine
Schuld, denn Küche und Keller sind nach wie vor prima. Tut mir leid,
es geraderaus sagen zu müssen, daß es alleinig die Schuld des Herrn
Vanderwelt ist.«

»Matthes, Sie haben wohl einen Rausch? Seit länger als einem halben
Jahr habe ich keinen Schritt in Ihren Feenpalast getan.«

»Dat is et ja eben,« folgerte der Mann. »Dat is et, wat ich zur
Entschuldigung meiner Wirtschaft hören wollt'. Als hätten Sie dat Haus
durch Ihr plötzlich Wegbleiben in den Verruf getan, genau so is et.
Da haben sich die Leute gesagt, der Herr Vanderwelt bevorzugt jetzt
gewiß en noch viel doller Wirtshaus, un haben rund herum gesucht, un
der eine is hier und der andere da auf eine Sandbank geraten oder in
der Kreide hängen geblieben, un die Mehrzahl im ›König von Portugal‹,
der flottere Betriebsgelder hat. Daher, mein ich, wär et nich mehr als
recht un billig, Herr Vanderwelt --«

»-- daß ich als stiller Teilhaber an den ›Fünf Erdteilen‹ einträte?
Ne, verehrter Freund, das liegt mir nun doch nicht.«

»Herr Vanderwelt, lumpige fünfundzwanzigtausend Mark auf
Grundverschreibung. Ich lass' dafür dat Besitzerrecht an den Kasten
auf Ihren Namen schreiben.«

»Sie haben doch irgendwo eine Tochter mit einem kleinen Mädchen
wohnen, Matthes. Denken Sie daran.«

»Nix da. Sie is mir aus dem Haus gelaufen, weil et ihr in den ›Fünf
Erdteilen‹ nich anständig genug schien, viel anständiger aber, im
feinen Düsseldorf ein Kind ohne Vatersnamen zu kriegen. Reden wir von
unseren Geschäften, Herr Vanderwelt.«

Und plötzlich sah Kornelius Vanderwelt eine regendurchwühlte
Herbstnacht vor sich und sah ein anderes herumgehetztes Mädchen
dasselbe Haus verlassen, das ihr nicht anständig genug erschien, und
in ihm schrie eine Stimme auf: »Angela! Angela Freydag!« als müßte er
sie heute noch vor dem Hause hüten.

Des Wirtes Augen hatten die jähe Veränderung in des Gastes Minen
sofort erspäht. Blitzschnell setzte er seinen Trumpf aufs Geratewohl.
»Herr Vanderwelt, ich habe auch nach dem letztenmal, wo ich die Ehre
hatte, et Maul gehalten, selbst vor meiner Frau, und hätt' mich aus
alter Seekameradschaft eher totschlagen lassen, als --«

Kornelius Vanderwelt winkte gelassen ab. Aber er spürte dabei, daß er
den rascher werdenden Atem bändigen mußte.

»Mit solchen Albernheiten erreichen Sie bei mir nichts, Matthes. Wenn
ich Ihnen aus Ihrer verdammten Patsche helfe, so geschieht es, weil
Sie die alte Seekameradschaft anrufen und die Schiffsjungen vom Rhein
sich über den trockengelegten Seebären nicht halbtot lachen sollen.
Nur deshalb will ich auf den Handel eingehen und meinen Namen auf
Ihr Haus eintragen lassen. Kommen Sie morgen mit Ihren Papieren ins
Kontor. Die Bude ist knapp die Hälfte wert, und der Teufel täte ein
gutes Werk, wenn er sie heute statt morgen holte.«

Er zog hastig die Uhr.

»Ich habe keine Zeit mehr. Na, nun legen Sie wohl auf Fortsetzung
unserer stillen Zwiesprache selber keinen Wert.«

»Herr Vanderwelt,« schwor der Matthes, »Herr Vanderwelt, dat kann nu
kommen wie et will, zart oder rauh oder aus det Deubels Kochgeschirr:
Der Mann hier gehört Ihnen.«

Kornelius Vanderwelt schritt schnellsten Schrittes durch die Gassen,
querte den Hafendamm und erreichte sein Haus, wo er den Wagen hatte
halten lassen. »Los, Wilm. Zum Bahnhof Duisburg.« Der Wagenschlag
klappte zu. Der Wagen wand sich durch die Straßen, brauste über
die Brücken, gewann die Duisburger Innenstadt und erreichte den
Hauptbahnhof, als der Kölner Zug einlief und die Reisenden durch die
Sperre auf den Platz hinaustraten.

Kornelius Vanderwelt saß im Wagen, ohne sich zu regen, und spähte
durch die Scheiben in den Abend. Da war sie. So aufgereckt und mit dem
Blick in die Weite ging nur Angela Freydag. Würde sie -- würde sie
insgeheim hoffen, ihn hier vorzufinden? Jetzt schweifte ihr Blick für
Sekundenlänge ab. Über den Platz hin. Über die harrenden Wagen. Und
schon hatte er den Schlag geöffnet, und sie huschte zu ihm hinein und
saß an seiner Seite.

»Los, Wilm. Nach Hause.«

Sie drückte fröhlich seine Hand, und er entzog sie ihr.

»Lassen Sie mal fühlen, Engel, ob Sie auch heil geblieben sind. Ein
Unfug, so ein Ding allein reisen zu lassen.«

Und seine Hand glitt über ihr Haar und über ihre Wangen, glitt über
Schultern, Arme und Rücken und blieb unter ihrem Herzen liegen. Sie
schloß die Augen, öffnete sie und lachte ihn an.

»Es war so schön -- es war so schön ... Der Professor hat gestaunt,
und ich wollt', Sie wären dabei gewesen!«

»So, das haben Sie gewollt? Und gewußt haben Sie auch, daß ich Sie vom
Bahnhof holte?«

Sie lehnte mit der Zutraulichkeit eines Kindes in seinem Arm. So
hingegeben und so sicher.

»Gewußt nicht. Aber -- aber -- jetzt werden Sie mich gleich auslachen
-- aber -- heimlich gewünscht.«

»Weshalb denn nur, Engel? In zehn Minuten wären Sie auch ohne mich zu
Hause gewesen.«

»Weil ich besser aus mir heraus sprechen kann, wenn ich mit Ihnen
allein bin. Weil die anderen glauben könnten, ich lobte mich selber,
wenn ich erzählen sollte. Und doch muß ich Ihnen -- Ihnen alles, alles
hersagen, was der Professor gesagt, nein, was für Augen er gemacht
hat. So große Augen -- so! Und daß ich zu einer überraschenden Höhe
herangereift wäre und bei Nichtnachlassen eine Künstlerlaufbahn vor
mir haben würde wie wenige nur. Ach, und Sie allein, Sie allein sind
schuld daran.«

Und Kornelius Vanderwelt dachte: Soeben sollte ich die Schuld tragen
am Zusammenbruch des Matthes, und jetzt soll mein die Schuld sein an
der Auferstehung dieses Mädchengeistes.

»Weiter, Engel, erzählen Sie weiter. Ich freue mich ja, als sollte ich
selber auf die Bühne.«

Und sie erzählte und erzählte, wie aus einem Rausch heraus, ihr
Wiedersehen mit dem Professor, sein Staunen über ihr gereiftes
Aussehen, sein größeres Staunen über ihr gereiftes Spiel, und was sie
gespielt und wie sie es aufgefaßt hätte und wo und wie der Professor
eingegriffen und die Feile angelegt hätte. In immer neuen Abwandlungen.

Kornelius Vanderwelt horchte nur noch auf den tanzenden Herzschlag
dicht über seiner Hand. Er brauchte den Laut der begleitenden Worte
nicht. Diesen tanzenden und jagenden Herzschlag verstand er aus seinem
eigenen Blut heraus.

Woche um Woche fuhr Angela Freydag zur Musikhochschule nach Köln,
holte sie Kornelius Vanderwelt vom Duisburger Bahnhof, und er fühlte
ihr Herz immer leidenschaftlicher und stärker schlagen.

In der Nacht wachte er auf, als weckte ihn dieser ungestüme Herzschlag
aus einem Traum. Und der Gedanke quälte ihn: Ist es das Erwachen der
Künstlerin oder das Erwachen des Weibes?

Nein! Nur jetzt nicht mit selbstsüchtiger Hand in die Entwicklung
eingreifen. Keine Sünde gegen den heiligen Geist. Aber mehr als je
nahm er sie mit sich auf seinen Erholungsfahrten, und der Sommer
kochte über den Ruhrwiesen und die Wälder zitterten im Spiel der
grüngoldenen Lichter und der violetten Schatten. Dann stiegen sie aus
und gingen den Lichtern nach und hörten im Walde den Sommer so hoch
und leise singen wie eine junge Frau, die ihre Mutterstunde nahen
fühlt. Und sie nannten es das Lied des Sommers.

Woche um Woche gingen sie durch den Wald und durch den Sommer, und
nie ging sie anders als in seinem Arm, und seine Hand streichelte
über sie hin, als formte sie den neuen Menschen, wie seine Worte den
neuen Menschen wachgestreichelt hatten. Wenn seine Hand auf ihrer
Hüfte ruhte, war ihm bei jedem ihrer Schritte, als ginge sie aus
seiner Hand hervor, als seine Schöpfung, als Teil seiner selbst, und
die Schöpferfreude wurde so übermächtig in ihm, daß sie ihm das Wort
verschlug und sie stundenlang wortlos wanderten und doch einer vom
anderen durchpulst und durchblutet.

Wie kommt es, fragte sich Kornelius Vanderwelt in solchen Stunden,
daß man die eigenen Kinder nicht so zu formen vermag wie diese
Blutsfremde? Weil sie schon das Blut des Vaters in sich tragen und
diese nicht? Weil sich dies Blut schon von dem Blute der Mutter
verwirren und von den Blutsbahnen des Vaters abzweigen läßt in
lockende Nebenpfade, und diese hier nichts von mir hat als den
Glauben? Kann Blut allein Kindschaft bedeuten, oder muß erst die
Wesenseinheit von hüben und drüben durchblutet sein?

Und wieder streichelte er über sie hin, als müßte jede Form seiner,
nur seiner Hand entspringen und ins Leben hineinblühen wie beseligte
Sommermärchen.

»Engel, sprechen Sie ein Wort. Ich möchte an Ihrer Stimme hören, ob
wir wachen oder träumen.«

Sie schüttelte den Kopf und schmiegte sich nur fester in die Form.

So schritten sie durch den Sommer, und das Werk wurde wie der Meister,
und der Meister wurde sein Werk. --

Kein Herbst wollte kommen, so glühte die Sonne dieses Jahres in den
September, in den Oktober hinein. Der Wasserstand des Rheines senkte
sich bis auf die Riffe und Bänke im Strombett, und die Schiffer
schauten so sehnsüchtig nach dem westlichen Himmel, als wollten sie
die Wolken mit den Augen heranziehen und zur Entladung bringen. Auf
den Menschen des Ruhrorter Hafengebietes lagerte ein Druck. Die
geschäftlichen Sorgen sprangen über Nacht in den Tag und zerrten an
den Nerven der eisenfesten Männer.

Öfter als bisher mußte Kornelius Vanderwelt auf seine mittäglichen
Entspannungsfahrten Verzicht leisten, um die Stunden zu nützen, das
Rad im Schwung zu halten, um Frachtenkähne ausfindig zu machen, die
durch leichtere Bauart und geringeren Tiefgang die Flachwasser zu
überwinden vermochten, um in langwierigen Darlegungen die Verfrachter
zu bestimmen, dem drängenden Bedarf bei dem geringen Angebot und der
erhöhten Verlustgefahr der Schiffer durch emporschnellende Frachtsätze
Abfluß zu schaffen. Die großen Kahneigner fluchten, denn die
Kleinschiffer, die ›Partikuliers‹, schöpften den Rahm von der Milch,
wurden breitspurig im Gefühl ihrer Unersetzlichkeit und bereiteten
durch ihre hochgeschraubten Forderungen selbst ihrem Freund und Gönner
Vanderwelt Stunden des heiligen Zornes.

»Dat geht reihum, Herr Vanderwelt. Un wer den Breilöffel glücklich
in die Finger kriegt, muß sorgen, dat er sich den Bauch gründlich
vollschlägt.«

Das war eine Beweisführung, die in Kornelius Vanderwelts
Anschauungsart ein lachendes Echo fand, und er half den Blinden und
Lahmen zum Hochzeitsmahl.

Der heißeste Tag des Oktobers kam, und die Sonne brannte wie im
August. Die Schulen hatten Spätherbstferien angetreten, und die
Vanderweltskinder nutzten sie aus bei Freundesfamilien in Rotterdam.
Fräulein Bilsenbach war im herbstlichen Hausputz unsichtbar geworden
und Angela Freydag übrig geblieben, schlaff und schwerblütig durch die
Ungewöhnlichkeit der Witterung.

»Heute hol' ich sie. Es mag biegen oder brechen,« sagte Kornelius
Vanderwelt. Und in der Mittagsstunde holte er sie. Auf die Landstraße
hinaus, auf der sie vor Jahr und Tag den Fahrer angerufen und
den Führer gefunden hatte. In den Wald, in dem die grüngoldenen
Märchenwunder purpurrote Gewänder übergestreift hatten.

Sie gingen wie sonst, einer in den anderen versenkt. Doch Angela
Freydags Gang war heute schwerer und langsamer.

»Was ist Ihnen, Engel?«

»Ich weiß es nicht.«

»Zeigen Sie mal Ihre Augen her. Darin wetterleuchtet es ja. Sitzt die
Wölfin wieder drin und möchte anspringen? Weshalb?«

»Weil Sie mich so hungrig machen.«

»Ich -- Sie? Auf was denn, Mädchen?«

»Auf was --? Ach -- auf was -- --?«

Brausend bogen sich die Wipfel. Ein Sturmstoß pfiff gellend hindurch,
daß sich die Wanderer gegen ihn stemmen und sich aneinander halten
mußten. Am Himmel trieb eine Wolke heran, lastete ungefüge über dem
Wald, erdrückte das Licht und verdunkelte Weg und Steg.

Der wetterkundige Mann schreckte auf. Seine Augen waren auf Wind und
Wolke gerichtet.

»Ein Unwetter, Engel! Das ist Sommers Ende! Aber herrlich wird er
Abschied nehmen. Geben Sie acht.«

Grell fuhr ihnen ein Blitz in die Augen. Sein Widerschein tauchte
den tiefschwarzen Himmel in aufschreiende Lohe. Krachend fuhr
der Donnerschlag hinterdrein. Und die Wolke zerbarst wie ein
zerschmettertes Glas, und Wasserwogen rauschten nieder, überstürzten
sich, rissen das Geäst in Fetzen, zerpeitschten, was ihnen im Wege war.

»Engel! Arme um meinen Hals! Festhalten! Ist das nicht schön?«

»Schön! schön! schön!«

»Engel! was ist mit Ihnen? Sie zerfließen mir unter den Händen!«

»Wohl ist mir! Ach, so wohl!«

Er sprach kein Wort mehr. Er fühlte ihre Haut unter seinen Händen,
ihre kühle, nackte, regenzerpeitschte Haut. Von Wolkenbruchgewalten
hinweggefegt wie Spinngeweb war das schleierdünne Oberkleid, und ein
wilder Jubel von Urvätern her sprang in sein Blut und lachte in
seinen Augen über die schlohweiße Seemannsbeute.

Und jäh wie das Wetter gekommen war, vertobte es und schwieg.

Angela Freydags wirre Augen starrten auf die Nacktheit der Schultern,
der Mädchenbrust. Sie suchten das Kleid und fanden nur Fetzen. Ihre
Hände lösten sich von seinem Halse, hoben sich nach dem Haupte,
griffen in die Flechten und rissen das regennasse Haar herunter, um es
über die Brüste zu schlagen.

»Laß das! Laß das! Ich rühr' dich nicht an!«

»Oh -- -- --!«

Ganz hell und hoch kam der Ton. Wie ein aufseufzender Geigenstrich von
fernher.

»Ich rühr dich nicht an ... Aber in mich hineintrinken will ich das,
in mich hineintrinken, daß es mir für Zeit und Ewigkeit gehört. -- --
-- Jetzt kannst du mir in dieser und jener Welt nicht mehr verloren
gehen.«

Ganz aufrecht hielt sie sich, den Kopf im Nacken. Und schloß erst die
Augen, als sie das aufsteigende Blut in den Schläfen fühlte.

»Ich danke dir,« sagte er. Und hastig zog er seinen Rock aus, warf ihn
über ihre Schultern und knöpfte ihn über ihrer Brust und unter ihrem
Halse zusammen.

»Und wenn's nur ein Waldmensch wäre, der nach deiner weißen Schönheit
schielte. Mit einem Ziegelstein schlüge ich den Menschen tot, und wenn
ich bis Australien ihm nach müßte.«

Da hob sie die Arme hoch, und wieder kam der ganz hohe und helle Ton
aus ihrer Kehle wie ein aufseufzender Geigenstrich von fernher, und
sie warf die Arme um seinen Nacken, riß seinen Kopf an sich und preßte
ihre Lippen auf seinen Mund, atemlos.

»Du -- du -- du --! Ach, du -- -- --!«

Und er wußte nichts zu erwidern, als das gleiche: »Du -- du --! Ach,
deine Lippen -- -- --!«

Ihre Wangen brannten, und ihr Leib schreckte vor Frost. Er umfing
sie fester und lief mit ihr, um sie zu erwärmen, vor dem Winde durch
den Wald, bis sie den Wagen erreichten. Und während der Wagen die
Landstraße dahinbrauste, lag ihr Kopf an seiner Brust, und das Auge
des einen suchte im Antlitz des anderen.

»Dein Mund, dein Mund, Engel ... wie der rote Spalt eines
Granatapfels.«

»Deine Augen, deine Augen, du ... so glühend sind sie und so zärtlich
sind sie, und ich muß sie lieben.«

»Dein Leib, Engel, und deine Seele, Engel ... Marmorschale und
Myrrhenduft, und ich muß beides lieben.«

Und der eine langte nach dem anderen, daß die Lippen sich küßten --
sich küßten -- --

So aufrecht wie immer war sie aus dem Wagen gestiegen, hatte sie ihr
Zimmer aufgesucht. Als Kornelius Vanderwelt am Abend nach Fräulein
Freydag fragte, hörte er, daß sie sich frühzeitig zu Bett begeben
habe. Er schritt die Treppen hinauf, pochte leise an ihre Zimmertür
und rief: »Gute Nacht!« -- Und wie ein Echo kam ihm »Gute Nacht!«
zurück.

Früher als sonst suchte er am Morgen sein Geschäftshaus auf. Er wollte
den Nachmittag für sich gewinnen. Und kehrte heim und fand Angela
Freydag nicht mehr in seinem Hause.

»Haben Sie vergessen, Herr Vanderwelt, daß Fräulein Freydag abreisen
mußte? Fräulein Freydag sagte, Sie wüßten es schon.«

Er nickte dem alten Fräulein zu, ging in sein Zimmer und nahm vom
Arbeitstisch ihren Abschiedsbrief.

»Lieber, liebster Mann, ich gehe. Bliebe ich, so würde ich in wilder
Hingabe zerbrechen, denn so liebe ich Dich. Und Du würdest ärmer an
mir werden statt reicher. Ich aber will an Deiner Seite schreiten
können im gleichen Schritt und Tritt, ebenbürtig Dir als Genossin
Deiner Liebe und Deiner Kämpfe. Laß mich draußen durch meine Kunst
~ich selbst~ werden, und dann laß mich wiederkommen als Starke
zum Starken. ~Deine~ Angela.«

Eine Stunde darauf senkte Kornelius Vanderwelt den Brief in Angela
Freydags Reisetasche und verschloß beides.




                                  5


Die Jahre, die da kamen, änderten sich in nichts. Im Frühling woben
die Wälder grüne Schleier von Wipfel zu Wipfel und Blumenranken in die
Teppiche der Wiesen. Im Sommer tanzten die Sonnengluten auf feurigen
Schuhen über den Ährenfeldern. Im Herbst lief der Wind durch die
Stoppeln, kletterte von Baumgeäst zu Baumgeäst und fegte das welke
Laub. Und im Winter fiel Tage und Nächte der Schnee, klirrte der Frost
in Luft und Gewässer, wandelte sich Eis und Schnee in Schmutz und
Wüstenei, bis wieder die Reihe an den Frühling kam und das ewige Spiel
von neuem begann.

Die Jahre, die da kamen, änderten sich in nichts. Und wenn die
Menschen wähnten, den Lenzwind wie ein seliges Lächeln deuten zu
müssen und die Winterstürme der Tag- und Nachtgleiche wie ein
drohendes Fratzengesicht, Kornelius Vanderwelt hatte weder Deutung
für das eine noch für das andere und ließ die Sonne scheinen wie
sie wollte und mußte und die Stürme über die Wasser brausen wie sie
sollten und mochten. Der Wechsel der Jahreszeiten war für ihn zum
Einerlei geworden, ihre Zauberkünstlerüberraschungen nicht wert, den
Puls des Blutes um einen Schlag zu steigern, und selbst die großen
Lebensfragen der Arbeit schieden mit ihren Spannungen allmählich für
ihn aus, weil es für ihn eine Selbstverständlichkeit wurde, daß der
Rhein zu Zeiten hohes und zu anderen Zeiten niederes Wasser führte.

Nicht, daß Kornelius Vanderwelt in Arbeitskraft und Arbeitsleistung
nachgelassen hätte. Er griff an, kämpfte im zähen Kampfe und siegte
wie bisher. Aber er tat es aus der Gewohnheit heraus, seiner
Kämpfernatur zum alten Rechte zu verhelfen, nicht, weil ihm die
Siegerfreude die Adern zum Springen bringen wollte. Die Freude war aus
Kornelius Vanderwelts Leben und Streben hinausgewichen.

War sie an dem Tage gegangen, an dem Angela Freydag ging?

Oft grübelte er dem Gedanken nach, oft mitten in der Arbeit, wenn es
sich um einen großen Schlag und um schnelle Entschlüsse handelte,
oft in der lastenden Feierabendstille, wenn er in seinem Musikzimmer
saß, den Kopf auf die Hände gestützt und die Arme auf den Deckel des
verstummten Flügels.

War sie die einzige in seinem Leben gewesen oder eine Ziffer in einer
Zahl?

Dann gebot er den Gesichten und lud die Frauen vor seinen
geschlossenen Blick, die er geliebt hatte für die Dauer heißer Stunden
oder die Dauer noch heißerer Jahre. Schemen flatterten vor ihm auf
und zerflatterten. Körperlichkeiten, die sich in nichts anderem zu
erfüllen gehabt hatten, als den heißen Stunden Fleisch und Blut
zu geben und mit ihnen zu vergehen. Die eigene, leidenschaftlich
bewegte und erregte Frau wuchs vor seinen Augen auf, die ihm die
Kinder geboren hatte und doch nur ihn beschenken wollte bei Tag und
bei Nacht. Aufstöhnend wühlten seine Gedanken in ihrer Schönheit und
griffen in nichts.

Weshalb? Weshalb? War die Vergänglichkeit schneller oder die Liebe --?

Kornelius Vanderwelt hob den Kopf. Er öffnete weit und starr die
geschlossenen Augen.

Liebe ...?

Hatte ihn ein Ton gerufen, ein ganz hoher und heller, irgendwoher --?

Er erhob sich und ging dem Tone nach, bis seine Stirn gegen das
Fenster stieß. Er merkte es nicht. Seine Augen suchten in der Ferne,
sein Gehör verfeinerte sich, alle seine Sinne waren angespannt.

Liebe ...? Ist Liebe ein Wühlen in der Schönheit und Leidenschaft, ein
Jauchzen im Besitz, ein Verschenken und Wiederverschenken von einem
zum anderen? Narrheit, Knabennarrheit! Was ist es denn? Was denn? Die
Liebe -- ach, ich bin es selbst! Ich selbst bin die Liebe! Und was
~Du~ mir bringst, Geliebte, ist ein Teil von ~mir~, gehört
zu mir, wie das eine Auge zum anderen, die eine Hand zur anderen
gehört. Wie kann ich mir schenken lassen, was mein ist, wie kann ich
dir schenken wollen, was dein ist? Ich bin das eine Auge und du bist
das andere. Ich bin der eine Blutstropfen und du bist der andere,
und zusammen sind wir der eine und einzige Blutstrom unseres Lebens.
Verbluten muß, wer dem anderen nicht gibt, was ihm zum Atmen und
Leben gebührt. Denn du bist ein Teil meiner Kraft, wie ich ein Teil
der deinen bin. Zwillingsblütler sind wir am Zweigeschlechterbaum und
müßten verdorren, wenn wir nicht mehr aus derselben Wurzel trinken.
Angela! Angela Freydag! Du wie ich! Denn nur vereint sind wir ein Mann
oder ein Weib. Sind wir wir selbst -- durch den Drang unserer Liebe,
die den einen gleich dem anderen befruchtet.

Angela. Angela Freydag. Du warst nicht die einzige Frau in meinem
Leben und doch keine Ziffer in der Zahl. Du warst ~ich~, der Teil
von mir, den ich lieben muß wie das göttlichste Geheimnis. Wie ich
dich sprechen höre, aus Fernen heraus: »Und du bist ich, seit Gott den
Menschen schuf und Mann und Frau aus einem Gebilde. Du, Geliebtester,
bist Angela Freydag, und ich, deine Geliebteste, bin Kornelius
Vanderwelt.«

Angela! So schreit mein Blut nach meinem eigenen Blute, wenn es nach
~dir~ schreit. -- --

Nur noch ein Einerlei waren für Kornelius Vanderwelt die Jahre, die
auf und nieder tauchten. Geschäft, Schifferbörse, Erziehung der Kinder
wurde von ihm nach des Tages Gebot und Bedarf geregelt und gemeistert.
Die Söhne durchliefen die Schule, bestanden die Reifeprüfung
leichthin. Im Korpsleben Bonns fühlte sich der stolze Justus
Vanderwelt, der Student der Rechte, wohler als in den geschäftlich
abgesteckten Grenzen Ruhrorts. Auf der Handelshochschule zu Köln
wurden dem zu früh gereiften Thomas Vanderwelt genug der Einblicke ins
Leben, um seiner Zweifelsucht den Schein der Weltweisheit zu verleihen.

Und nun war auch Juliane Vanderwelt, sechzehnjährig, in eine
Erziehungsanstalt der französischen Schweiz abgereist, mit der festen
Vorberechnung, dort Dame und nichts als Dame zu werden.

Es war einsam geworden in dem lebhaften Vanderwelthaus, und alles
Laute hatte sich in Stille verkehrt.

Das alte Fräulein Bilsenbach ging wie ein Geist durch die Räume,
immer bemüht, jedes Geräusch, selbst das Geräusch ihres eigenen
Schrittes von dem ernstgewordenen Hausherrn fernzuhalten und nicht
den geringsten Grund zu einer Rüge aufkommen zu lassen. So lieb
diese Vorsorge Kornelius Vanderwelt im Anfang war, so stark rissen
die altjüngferlichen Übertreibungen auf die Dauer an seinen Nerven.
Wenn er, aufschauend, ihren schwarzen Schatten durch das Zimmer
huschen sah, die Hand bittend erhoben, sie nicht zu bemerken, wenn
er im Nebenzimmer das Wispern und Flüstern vernahm, mit dem sie den
Hausangestellten ihre Anordnungen erteilte, so mußte er krampfhaft an
sich halten, um nicht mit einem Matrosenfluche hineinzuwettern, nur um
diese lawendelduftende Krankenhausluft zu säubern und aufzufrischen.

»Himmel und Hölle, Fräulein Bilsenbach, ist ein Totes im Hause?«

»Gott möge uns vor dem Unglück bewahren, Herr Vanderwelt. Wie kommen
Sie nur auf so Schreckliches?«

»Oder halten Sie mich für einen Geisteskranken oder einen
Kindischgewordenen?«

»Weshalb -- weshalb denn nur, Herr Vanderwelt? --«

»Weshalb? Weil Sie alles Leben um mich herum zum Schweigen bringen,
weil Sie jedem Ding um mich herum einen Trauerflor anhängen, weil --
ja, das soll doch der leibhaftige Teufel holen -- weil Sie zittern und
beben, wenn ich Sie anspreche.«

»Sie sprechen mich ja nicht an, Herr Vanderwelt, Sie schreien mich ja
an --«

»Oh! Oh! das nennen Sie schreien? Ich wollt', Sie schrien ebenso,
damit diese gottverdammte Filzsohlengeräuschlosigkeit endlich mal
wieder einem herzhaften Krach Platz machte. Ach du liebes Elend, nun
schwimmen wir mal wieder in Tränen.«

Das alte Fräulein schluchzte in ihr Taschentuch.

»Ich -- ich tu hier mein Bestes und ich will ja gar keinen Dank, wenn
-- wenn Sie nur das Fluchen unterlassen wollten, Herr Vanderwelt.«

»Das Fluchen?« Kornelius Vanderwelt lachte auf wie in seinen frohesten
Tagen. »Ach, Sie liebe Unschuld glauben, ich wollte den lieben Gott
damit ärgern? Wie ein kleiner Junge hinter dem Herrn Lehrer, der ihm
die Hosen vollgehauen hat, ›Fottenhäuer‹ herruft?«

»Herr Vanderwelt -- ich bin eine Dame!«

»Entschuldigen Sie, mein verehrtes Fräulein Bilsenbach, aber auf
Hochdeutsch können selbst Sie das nicht sagen. Na, nun lachen
Sie schon. Doch, doch, ich hab's gesehen. Und um auf das Fluchen
zurückzukommen -- ja wie soll ich das Ihrem zarten Hausfrauensinn
beschreiben? Das ist wie ein großes Reinemachen. All der Dreck des
Lebens, der sich in einem eingenistet hat und nicht durch Gebet und
gute Worte herauszubringen ist, der wird durch ein paar Kraftflüche
hinausgeschleudert wie der Lavadreck aus einem Vulkan, und das
geläuterte Feuer hat wieder die Oberhand und bereitet den schönsten
Gottesgedanken die Wohnung.«

Dann ging das alte Fräulein leise mit dem Kopfe schüttelnd und lautlos
wie ein Geist aus dem Zimmer.

In diesem Dunstkreise atme ich, dachte Kornelius Vanderwelt, und er
ging wie ein gefangenes Tier im Zwinger ruhelos im Raume auf und ab,
auf und ab.

Es war keine Mißachtung der ängstlichen Sorgerin, die in ihm aufkam,
es war nur die Abwehr ihrer kleinen Welt, die ihn vorzeitig in
Schlafrock und Pantoffeln einlullen wollte, und aus der Abwehr ihrer
kleinen Welt wurde eine Abneigung gegen die lautlose Persönlichkeit,
die demütig zum Gesangbuch griff, statt einmal, einmal nur zornwütig
die Arme gen Himmel zu strecken und hineinzurufen: Auch ich bin ein
Gotteskind, ein Erbe, und kein hündischer Sklave!

Und allmählich empfand er die Abneigung fast körperlich.

Das machte ihm den Aufenthalt im Hause mehr und mehr zur Qual, und
wenn er die spärlichen Briefe der heranwachsenden Kinder gelesen
hatte, wenn die Antworten, streng nach der Eigenart des Einzelnen,
verfaßt und abgesandt waren, nahm er Hut und Mantel und durchwanderte
das immer mächtiger um sich greifende Hafengebiet, bis er in
später Nacht in die Gasse einbog, in der wie ein Eckpfeiler die
Gastwirtschaft ›Zu den fünf Erdteilen‹ heraussprang.

Das erste Mal wartete er, bis sich der letzte Gast getrollt hatte und
der Matthes den Riegel vorschieben wollte.

»Gut Freund,« murmelte er und ging an dem Erstaunten vorüber in die
Kneipstube.

Der Wirt kam eilig hinter ihm hergelaufen, wischte mit der Mütze den
Tisch sauber, stemmte sich mit den Fäusten auf die Tischkante und
starrte ungläubig auf den Gast.

»Der Herr Kornelius Vanderwelt? Wahr un wahrhaftig der Herr Kornelius
Vanderwelt?«

»Soll ich Ihnen vielleicht meine Handschrift über das Maul schreiben,
Matthes? Dies Haus gehört bis zum letzten Sparren mir, und ich darf
wohl auch des Nachts eine Besichtigung vornehmen.«

Der Matthes, immer noch von der Überraschung bewältigt, schielte ihn
in aufkommender Unruhe an.

»Geht es um die Zinsen, Herr Vanderwelt? Sie kriegen sie. Sie kriegen
sie auf Ehr' un Gewissen.«

»Ihr ›Ehr' und Gewissen‹ will ich nicht geschenkt haben. Grog will
ich, und morgen am Tage laß ich Sie durch den Gerichtsvollzieher
auspfänden, wenn es nicht unverschnittener Rum von Jamaika ist.«

Der Matthes stand stramm wie ein berichterstattender Matrose.

»Frisch geschmuggelt vom holländischen Kahn ›+Ora et labora+‹.
Gott soll mich verdammen, wenn Sie den unverfälschten Jamaika nich
beim ersten Schluck herausschmecken.«

»Lieber Matthes, machen Sie doch nicht die langen Redensarten.«

Da holte Matthes die kurzbauchige und langhalsige Flasche, wies den
unverletzten Siegellack vor und entkorkte sie mit einem schnalzenden
Knall. Fragend blickte er auf seinen Gast.

»Ne, mein Junge, ans Schnapssaufen bin ich doch noch nicht gekommen.
Kochendes Wasser her. Meinetwegen zwei Gläser statt einem. Wäre ja
möglich, daß Sie mittrinken möchten. Schon gut.«

Der kupferne Wasserkessel summelte und surrte auf dem Tisch und stieß
den Dampf aus dem gebogenen Hals. Die Groggläser warteten neben der
geschmuggelten Flasche aus Jamaika. Und der Matthes schob seine
Vierschrötigkeit geräuschlos zwischen den Stühlen und Tischen einher,
schloß die Türen, dichtete die Fensterläden und kehrte zu seinem Gast
zurück, um den Grog zu mischen.

»Lassen Sie das meine Sorge sein, Matthes. Ich bin der Gastgeber und
messe nicht nach Fingerhüten.«

Es wurde ein steifer Grog, den Kornelius Vanderwelt mischte, und der
Matthes saß breitbeinig am Tische und tat Bescheid. Ein einsames Licht
leuchtete über dem Ecktisch, an dem die Männer hockten.

»Wie geht es Ihrer Frau? Liegt sie schon in den Federn?«

»Der Frau geht's gut. Einer Frau geht's beim Matthes immer gut, wenn
sie Order pariert.«

»Begierig, Mann, was Sie darunter verstehen.«

»Nix mehr un nix weniger, als wat ich gesagt hab'. Wenn ich der Herr
bin, hat sich die Frau danach zu richten.«

»Verdammt bequem für den Mann. Meinen Sie nicht auch?«

»Frauensleut haben immer Raupen im Kopp. Die müssen 'raus. Reinweg.«

Kornelius Vanderwelt tat einen langen, durstigen Zug. Und sprach
weiter, um das Gespräch im Gang zu halten.

»Was sind denn das für Raupen, Matthes? Ihre Frau ist doch die
Unterwürfigkeit in Person.«

»Unterwürfig? Eine Frauensperson un unterwürfig? Die möcht' ich sehen.
Alles Anstellerei, solange sie spürt, dat sie sich unterm Daumen
befindet. Aber lockern Sie den nur mal für ein paar Sekunden, un sie
sind hinten un vorne betrogen. Et hat noch kein Frauenzimmer mit Moral
im Leib gegeben, solang die Welt steht.«

»Drehen Sie bei, Matthes. Ihre Frau ist die Tugend selbst.«

»En alt Weib hat leicht tugendhaft sein. Dat heißt, ich hätt' ihr auch
in jüngeren Jahren nix anderes anraten mögen. So sind wir nu doch
nich. Aber ich brauch' nur mal, wat selten vorkommt, en Mittagsschlaf
zu halten, un schon schickt sie der verloren gegangenen Tochter un --
un deren Krott die Postpakete nach Düsseldorf.«

»Wenn Sie doch wissen, Matthes, daß Ihre Tochter in Düsseldorf wohnt,
ist sie doch nicht verloren gegangen.«

»Dat is gut, Herr Vanderwelt. Nich verloren gegangen? Wo sie doch dat
Kind ohne Vatersnamen hat?«

»Matthes, soweit mir erinnerlich, war Ihr Mädel auch schon auf der
Welt, bevor Sie Hochzeit hielten.«

»Aber sie wurde gehalten, die Hochzeit!« ereiferte sich der Mann. »Un
wenn sie nich pünktlicher gehalten wurde, so trifft mich daran keine
Schuld, denn ich konnt' doch in den südamerikanischen Gewässern nich
wissen, dat et mit der Annemarie in Ruhrort so eilig geworden war.
Anständiger Kerl, der man is.«

»Matthes, Ihre Tochter hat auch geglaubt, daß der andere ein
anständiger Kerl wär'. Das ist gehauen wie gestochen, und wenn der
Liebhaber ein Lump war und das Mädel mit dem Kind im Unglück sitzen
ließ, so gibt Ihnen das weiß Gott nicht die Berechtigung, den
Tugendengel vorzuspielen.«

»Dat is meine Sache, Herr Vanderwelt. Ich kehr' vor meiner eigenen
Tür.«

»Prost, Matthes. Vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen schon öfters
kehren geholfen hab'. Lassen Sie mich doch, zum Kuckuck, meinen Satz
aussprechen. Es ist gewiß nicht schön, daß Ihr Mädel in die Patsche
geraten ist. Aber die Eltern vergessen so gern, wie es war, als sie
selber drin saßen und jeden für einen Engel Gottes hielten, der ihnen
nur den kleinen Finger hinstreckte. Matthes, wenn wir für alles zur
Verantwortung gezogen würden, was wir im Leben angestellt haben!
Vielleicht kriegt jeder mal die Rechnung. Vielleicht. Jedenfalls
können wir sie erst als ›bezahlt‹ beiseite legen, wenn ein Guthaben
als Deckung vorhanden war.«

»Ein Guthaben ...« knurrte der Mann. »Is wohl zu hoch für meinen
Verstand.«

»Sie verstehen mich ganz gut. Wenn alle Gerechten, die auf Stelzen
gehen, Farbe bekennen müßten, gäb' es auf der Welt kaum eine einzige
klare Farbe mehr. Also beizeiten heran an das Klärungsverfahren. Und
nicht die Nase gerümpft über die, die Unglück hatten, wo die anderen
Glück hatten, sondern aufgeholfen. Natürlich bleibt ein Unterschied
zwischen einem Unglück und einer Ferkelei.«

Der Matthes erhob sich und guckte in den Wasserkessel.

»Befehlen der Herr Vanderwelt noch eine neue Auflage?«

Kornelius Vanderwelt mischte den zweiten Grog. Er hob sein Glas
prüfend gegen das Licht.

»Wir wollen einmal auf Ihre Enkelin anstoßen, Matthes. Wird jetzt
schon ein Schulmädel sein. Na, dies Wurm wenigstens kann doch nichts
und wieder nichts zu seiner Notlage. Also: auf Großvaterfreuden.«

Der Mann trank widerwillig. Das Glas klappte hart auf die Tischplatte
zurück.

»Wenn et Ihnen genehm is, Herr Vanderwelt, sprechen wir jetzt mal
von anderen Sachen. Et gibt soviel schönere auf der Welt, sogar in
Ruhrort. Da wär' zum Beispiel der Hafen.«

»Matthes, der Hafen wird eine Pracht. Und der neue Kanal wird bis zum
Nordseehafen Emden geführt. Der Warenumschlag ist ohnegleichen auf der
Welt und noch unbeschränkt in der Entwicklungsmöglichkeit.«

»Herr Vanderwelt, dat et jetzt mit Siebenmeilenstiefeln geht, daran
tragen ~Sie~ die Schuld.«

»Eine Schuld, die entlastet, Matthes. Jeder Mensch muß sein Guthaben
besitzen.«

»Sie haben Ihr Guthaben! Sie haben et in Ruhrort un bei allen
Schiffern zwischen Mannheim un Rotterdam!«

»Hunderttausend Fahrzeuge dies Jahr in den Duisburg-Ruhrorter Häfen
angelaufen, Matthes! Achtundzwanzig Millionen Tonnen Umschlag! Der
gewaltige Seehafen Hamburg hatte nur neunzehn Millionen!«

»Herr Vanderwelt! Himmelherrgottdonnerwetter, Herr Vanderwelt.« -- --

Die Nachtstunden beim Matthes hatten Kornelius Vanderwelt gut
getan. Das Kreisen seiner Gedanken war unterbrochen worden. Andere
Bilderreihen hatten sich eingefügt. Nach kurzer Zeit wiederholte er
den Ausflug. Und wieder nach kurzer Zeit kehrte er auch schon zu
Stunden ein, zu denen die Gäste noch das Wirtszimmer bevölkerten,
die Schiffer ihre Gläser auf die Tischplatte stießen und die
Harmonika schluchzte. Über eine Weile, und die Gastwirtschaft ›Zu den
fünf Erdteilen‹ begann, sich in Schifferkreisen wieder wachsender
Beliebtheit zu erfreuen.

Ein Seltsames nur bewegte Kornelius Vanderwelts Gedanken, die um
Angela Freydag kreisten. Als bedürfte er einer Entschuldigung, daß
er wieder in der Wirtsstube ›Zu den fünf Erdteilen‹ säße. Er wollte
auch hier bei Angela Freydag weilen, selbst hier sollte der Geist der
Verschollenen über ihm sein. Und er ging hin und ließ das Grundstück,
das das gesamte Anwesen des Matthes umschloß, auf Angela Freydags
Namen überschreiben.

Und ein Seltsames nicht minder war die große Ruhe, die von Stund' an
über ihn gekommen war.

Der alte Beckenried hatte mit Kopfschütteln die Rückkehr seines Herrn
zu den alten Gewohnheiten beobachtet. Aber der Herr war nicht mehr
gewillt, Anspielungen seines knöchernen Mitarbeiters entgegenzunehmen,
und schnitt sie ihm im Munde ab.

»Lieber Freund, ich möchte in der Arbeit nicht mit Privatgesprächen
behelligt werden. Nach Feierabend soll es mich freuen.«

Der lebergelbe Beckenried aber hütete sich, seine Haut nach Feierabend
zu Markte zu tragen, denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß
das Gelb seiner Haut im außergeschäftlichen Umgang mit Kornelius
Vanderwelt nur verstärkt zunähme. Und da der Geschäftsherr in der Tat
schärfer arbeitete als je zuvor, so spielte er den Beobachter nur noch
wortlos und in der Heimlichkeit.

Aber es war nicht nur Beckenried, dem die Rückverwandlung Kornelius
Vanderwelts bemerkbar wurde. Auch die Herren, die in der ›Erholung‹
zusammenzukommen pflegten, wurden aufmerksam, wenn an manchen Abenden
und immer öfter der aufsprühende Geist Kornelius Vanderwelts in ihrer
Runde fehlte, und sie besprachen die Angelegenheit ernsthaft.

»Ein Extratanz in den ›Fünf Erdteilen‹ kann ihm wohl vergönnt werden.
Von einer gelegentlichen Mitwirkung sprechen wir uns selbst nicht
frei. Aber es muß ein Spaß bleiben und darf nicht zur Gewohnheit
ausarten. Stadt und Hafen verdanken der Vanderweltschen Tatkraft zu
viel, und es muß uns daran gelegen sein, dem Manne das Ansehen zu
erhalten.«

Der Vorsitzende übernahm es, ihm freundschaftlich ins Gewissen zu
reden.

Ein Weilchen hörte Kornelius Vanderwelt den gütigen
Auseinandersetzungen des greisen Großindustriellen zu. Dann richtete
er den Blick auf ihn, und der Blick aus den stolzen, hellen Augen ließ
den Warner mitten im Satze abbrechen und einen neuen Gesprächsstoff
suchen.

»Herr Vanderwelt, ich bitte mich als Ihren Freund zu betrachten. Ich
bin nicht von kleinen Gesichtsmaßen. Wenn einer, so weiß ich, was
Sie für die Entwicklung des Platzes Ruhrort getan haben und rastlos
weiter tun. Aber eine solche hochgesteigerte Rastlosigkeit bedarf
eines Ausgleiches, wenn sie auf lange hinaus wirksam bleiben soll.
Sie sind ein Mann in der Reife der Jahre. Mehr als das: in der Reife
der Kraft. Frauenliebe, hochverehrter Freund, Frauenliebe allein
erhält uns Männern der Arbeit diese Kraft, deren wir viel, viel länger
bedürfen, als unsere Neider und Bewunderer ahnen. Denn mit uns steht
und fällt nicht nur ein ganzes Geschlecht, sondern ein Zeitalter. Das
des ungeheuerlichsten Aufschwunges, der auf dem Scheitelpunkt seiner
Entwicklungsmöglichkeiten nicht unterbrochen werden darf. Was die
Jungen können, haben sie noch zu beweisen. Ich schweife ab, weil ich
mit meinem Freundesrat nicht aufdringlich erscheinen möchte. Und doch,
lassen Sie es mich aussprechen, was ich für Sie fühle: Sie müssen sich
wieder verheiraten, Herr Vanderwelt.«

Die Blicke der beiden Männer waren nicht voneinander gewichen, und
der alte Geschäftsherr freute sich der stolzen und hellen Augen seines
Gegenübers.

»Verzeihen Sie mir meine Eindringlichkeit, Herr Vanderwelt, die keine
Zudringlichkeit sein sollte.«

»Ich fühle aus jedem Worte Ihre Freundschaft, die mich hoch ehrt, Herr
Kommerzienrat. Aber gerade meine Reife verbietet mir, die Rolle des
schmachtenden Liebhabers zu spielen.«

»Kornelius Vanderwelt würde nie einen schmachtenden Liebhaber abgeben.«

»Ich freue mich herzlich, daß auch Sie diese Vorstellung von mir
haben.«

»Es gibt in unserem Kreise auch andere Frauen, Herr Vanderwelt.
Frauen, die einen geruhigen Lebensabend verbürgen.«

»Für diese Frauen -- ich bitte mir meine Aufrichtigkeit zu verzeihen
-- fühle ich mich wieder zu jung.«

Wieder lagen die Blicke der beiden Männer ineinander, und der
Altgewordene freute sich gegen seinen Willen.

»Sie setzen mich schachmatt, Herr Vanderwelt. Die Jungen sind Ihnen
zu jung und die Älteren zu alt. Ich glaube, Sie müssen einen neuen
Schöpfungstag einlegen und sich die Gefährtin, die zu Ihnen paßt,
eigenwillig schaffen.«

»Fast glaube ich es auch,« entgegnete Kornelius Vanderwelt, und ein
eigentümliches Grübeln war in seinen Augen, als er dem freundlichen
Mahner mit herzlichem Dank die Hand schüttelte.

An diesem Abend ging Kornelius Vanderwelt auf kürzestem Wege nach
Hause.

Er betrat das Musikzimmer, ließ das Deckenlicht aufflammen und schritt
auf den Flügel zu. Aber er öffnete ihn nicht. Nur über den glänzenden
Deckel strich er ein paarmal mit den Händen hin.

Einen feinen, singenden Ton gab das Holz von sich. Und Kornelius
Vanderwelt horchte auf.

»Engel,« sagte er, »hast du alles vernommen, was der gute alte Mann
zu mir sprach? Das Alter hat die Gabe des zweiten Gesichts. Eine
Gefährtin wünscht er mir, damit ich stark bleibe im Schaffen und mich
am Leben nicht schmutzig mache. Und einen Schöpfungstag wünscht er
mir, damit ich mir die Gefährtin selber forme aus meinem eigenwilligen
Fleisch und Blut und der noch eigenwilligeren Seele. Das sah sein
zweites Gesicht. Was es aber nicht sah, Engel, und was es nicht
erkannte, war, daß ich diesen neuen Schöpfungstag schon mit allen
Fibern genossen hatte, daß ich dich mir schaffen und formen durfte als
mein bestes Teil, ›als wär's‹, wie's im alten Liede heißt, ›als wär's
ein Stück von mir.‹

»Engel, es ist überflüssig, dir alles wiederzusagen, denn du hast
alles vernommen.«

»Weil du und ich untrennbar sind, Engel, im Fleisch und im Geist.«

Mit übersichtigen Augen saß er am verstummten Flügel und sah ihr Bild.
Ihre klaren grauen Mädchenaugen wurden zu Frauenaugen, und tief aus
ihrem Grunde sprang das geheime Funkeln auf, das wie ein Blitz ihr
Wesen erleuchtete, die Urnatur ihrer Liebe: Hingabe an den Gefährten,
Verteidigung ihres Besitzes.

»Ich habe dir nicht nachgespürt,« sagte Kornelius Vanderwelt. »Es
hätte uns nicht zu Gesicht gestanden. Seit sechs Jahren warte ich auf
dich, und ich weiß, an einem Tage kommst du und gibst mir ein Zeichen.
Das wird an dem Tage sein, an dem du die Größe erreicht zu haben
glaubst, die du für mich suchst. Für mich. Wie stolz mich das Warten
macht, Engel.«

Und er horchte hinaus und hörte ihre Antwort. --

Die Nacht ging über in den Morgen. -- --

Und es kam ein Morgen über die Welt, der für Millionen die Nacht
brachte. Die alte Erde sprengte die dünne Kruste der Gesittung und
spie Feuer und Verderben. Engel und Teufel rangen, die Hand am Halse
des anderen, und da Himmel und Hölle sich verwirrten, wucherten die
Erdentriebe geil durch die Lande.

Der Weltkrieg war über das Geschlecht der Menschen gekommen.

Die Lava kochte über. Mochte sie. Hinter ihr mußte das heilige Feuer
den Platz ergreifen.

Schon war Justus Vanderwelt mit den blauen Bonner Husaren, denen
er als Leutnant angehörte, ins Feld gerückt. Schon hatte sich
Thomas Vanderwelt bei den grünen Krefelder Husaren als Freiwilliger
gemeldet und sofort seine Ausbildungszeit angetreten. Schon war
Juliane Vanderwelt, achtzehnjährig, aus der Erziehungsanstalt der
französischen Schweiz heimgeflattert und hatte einen Begleiter ins
Haus gebracht.

»Papa, es ist der Klaus Beckenried. Erkennst du ihn denn nicht? Der
Sohn deines alten, grämlichen Freundes. Aber der Klaus ist nicht
grämlich. Sieh ihn dir an. Frisch aus dem Ausland, aus bedeutender
Bankstellung heraus. Wir trafen uns auf dem Genfer Bahnhof. Er hat
mich unter seinen starken Schutz genommen, Papa, sonst lebte ich
wohl nicht mehr. Es war so köstlich unter seinem Schutz in all den
Soldatenzügen. Er ist Artillerieoffizier, muß sich morgen in Köln bei
seinem Regiment stellen, und übermorgen soll unsere Kriegstrauung
stattfinden. Papa! Papa!«

Da war es, daß Kornelius Vanderwelt zum erstenmal vor der
Oberflächlichkeit seiner Tochter erschrak.

»Du schwärmst wohl ein wenig, Juliane. Eine Ehe ist kein Tänzchen,
zu dem man einen Partner auffordert. Diese Zeit verlangt nach ernsten
Frauen und Müttern.«

»Lieber Papa, es ist mir sehr ernst damit, eine Frau und Mutter zu
werden. So frage doch Klaus.«

Kornelius Vanderwelt wandte sich nach dem jungen Manne um. Lange
blickte er auf die straffe Gestalt, in die begeisterten Augen. Seine
Stimme wurde milder.

»Was haben Sie mir zu sagen, Klaus Beckenried? Sie sehen nicht aus wie
ein Windspiel und beteiligen sich doch an den Luftsprüngen?«

»Herr Vanderwelt -- es mag eine große Kühnheit bedeuten, so vor Ihnen
zu stehen. Aber ich glaube an mich. Und ich bitte Sie, auch an mich
zu glauben und an meinen Ernst. Wir haben von Genf bis hierher acht
Tage gebraucht, Juliane und ich, und ich mußte Juliane als meine Braut
ausgeben, um überhaupt Unterkunft für sie zu beschaffen. Für Juliane
und mich. Denn allein konnte sie als junge Dame in dem Gewoge der
Menschen, der Umsteigestellen und der überfüllten Herbergen unmöglich
gelassen werden. So kam es, daß Juliane mich kennen und -- ich darf es
heute freudig sagen -- lieben lernte und mich nicht mehr lassen will.
Ich bin der einzige Sohn Ihres getreuen Mitarbeiters, Herr Vanderwelt,
und habe mir schon eine Stellung geschaffen. Komme ich lebend aus dem
Feldzug heim, so ist an meiner Seite für Juliane gesorgt. Bleib ich
vor dem Feind, so ist Juliane einzige Erbin des Vermögens, das sich
mein Vater erwerben durfte. Ich habe schon seit meiner Knabenzeit
immer in tiefer Verehrung zu Ihnen aufgeschaut, Herr Vanderwelt. Ich
enttäusche Sie nicht.«

Kornelius Vanderwelts Blicke wanderten von dem begeisterungsvollen
Jünglingsantlitz zu den gespannten Mienen der Tochter. Wie schön das
Mädchen geworden war. Blendend schön. Ja, blendend ... Denn der Zug
der Berechnung, den schon das Kindergesicht aufgewiesen hatte, war
für das geschärfte Vaterauge geblieben.

»Gut, Klaus Beckenried, Sie werden mich nicht enttäuschen. Aber wissen
Sie denn nach einer wilden Reise von acht Tagen, daß Juliane Sie nicht
enttäuschen wird? Warten Sie das Ende des Feldzuges ab. Ich rate es
Ihnen.«

Heftig drängte sich das schöne Geschöpf in des Verlobten Arm.

»Nein -- nein -- nein! Ich will nicht in Angst und Bangen warten, ob
er wiederkommt oder nicht. Ich will seine Frau sein und nicht eine
Übriggebliebene. Kein Mensch weiß, was kommen mag. Was ich habe,
besitze ich.«

Kornelius Vanderwelt sah seine Tochter lange an.

»Ich will nicht fragen, Juliane, was dich zu dieser Sprache treibt.
Liebe hat verschiedene Gesichter, und ihr habt euch mit dem Gesicht
eurer Liebe zu befreunden. Sei's drum, und mögt ihr die Hast nie
bereuen.« --

Wenige Tage später wurde Juliane Vanderwelt mit Klaus Beckenried
kriegsgetraut. Eine Woche später, und Klaus Beckenried war mit seiner
Ersatzbatterie ins Feld gerückt und Juliane ins väterliche Haus
heimgekehrt. --

Wenn Kornelius Vanderwelt des Glaubens gewesen war, seine Tochter in
seiner Obhut zu wissen, so sollte er schnell von seinem Irrtum bekehrt
werden. Mit dem Tage der Eheschließung hatte Juliane die Rechte ihres
selbständigen Frauentums ergriffen und gab sie nicht um eines Zolles
Breite preis. Ob sie zu Hause war oder nicht, was sie tat oder ließ,
es war ihre Sache. Ihre Sache, mit wem sie verkehrte und mit wem sie
ausflog. Rechenschaft darüber zu erteilen, lehnte sie mit einer Kühle
ab, als sei sie Alleingebieterin ihres Lebens geworden, und dieses
Leben sollte ein vergnügtes sein.

»Es läuten so viel Trauerglocken,« belehrten sie ihre Freundinnen,
die sich in Bewunderung um sie scharten, »daß wir uns wirklich nicht
daran zu beteiligen brauchen.« Und unter den Freundinnen war es
vor allem Antonie Ausdemwerth, die sich begierig zu ihr hielt, die
leichtentzündete Antonie, deren fröhliche Mutter vor Jahren einmal den
Ausspruch getan hatte: Nur einen Mann gäbe es in Ruhrort, und er heiße
Kornelius Vanderwelt, und alle anderen seien nur Kohlentrimmer.

»Weißt du es noch, Antonie?«

»Ob ich es noch weiß! Noch heute läuft es mir ganz heiß und kalt den
Rücken hinunter, wenn ich deinen Vater sehe. Geht es dir bei deinem
Manne gerade so, Juliane?«

»Ich glaube, es ist umgekehrt. Ich lasse ihn gern ein bißchen zappeln.
Die Vanderwelts führen immer die Regierung.«

»Sind alle Vanderwelts so? Sag doch: ist der Justus heißblütiger oder
der Thomas?«

»Der Justus schlägt sich im Felde herum. Aber der Thomas übt noch in
Krefeld bei den Husaren und ist erreichbar.«

Die tiefschwarzen Augen der Antonie Ausdemwerth funkelten auf. Sie
hatte begriffen.

»Wollen wir den Thomas überfallen, Juliane? Bitte! Bitte! Ich vergeß
es dir nicht!«

»Das will ich hoffen, du verliebtes Mädel.« Und am Nachmittag waren
sie bei Thomas Vanderwelt in Krefeld.

Wie sah er aus, der feine Genießer! Wohin war seine überlegene
Weltmüdigkeit? Ohne Rücksicht zusammengeknufft war sie unter den
derben Fäusten des Wachtmeisters und des Reitunteroffiziers, die
Genießerfeinheit im zerbeulten Kochgeschirr untergegangen, und die
verschossene Husarenmütze war trübselig und wütend zugleich in den
Nacken gezerrt.

Mit einem Jubelschrei begrüßte der einst so zurückhaltende Thomas
Vanderwelt die beiden feinen Frauengestalten aus seiner früheren Welt.

»Thomas, die Antonie ließ nicht nach. Sie hat eine Schwäche für die
grünen Husaren und wollte dich als Reitersmann bewundern.«

Da riß er sich zusammen, schlug sporenklirrend die Hacken zusammen und
verbeugte sich vor der Jugendbekannten.

Sie reichte ihm mit einer hingebenden Bewegung die Hand hin und bog
sich doch, als fürchtete sie sich, in den Schultern zurück. Aber
sie wußte, daß es ihrem schönen Wuchse vorteilhaft war. Und Thomas
Vanderwelt ergriff die Hand und sog mit geblähten Nüstern den Duft
ein, der von ihrer elfenbeinfarbenen Haut ausströmte, und seine
entwöhnten Augen tranken das Bild ihres biegsamen Leibes in sich
ein, und die Sinne erwachten aus der Abgestumpftheit und sahen nur
Schönheit, Schönheit.

»Ich mußte doch Abschied von Ihnen nehmen, Thomas,« sagte verwirrt
Antonie Ausdemwerth. »Wer weiß, ob es ein Wiedersehen gibt.«

Sie hätte noch eine größere Alltäglichkeit aussprechen können,
der einst so feinfühlige Thomas hätte es überhört. Er spürte nur
einen warmen Hauch, liebkosende Worte, leise, zarte Töne. Nicht das
Geschnaube der Gäule im Stall, das Gebrüll auf dem Reitplatz, die
Gräßlichkeiten der Rekrutenstube.

»Nein, nein, Antonie. Noch keinen Abschied nehmen. Es kann noch Wochen
dauern, bis wir verladen werden.«

»Verladen ...« wiederholte sie und schauerte in den Schultern.

»Antonie ... Weshalb hab' ich Sie früher nur so selten gesehen? Ein
wie feiner Mensch sind Sie geworden ...«

»Darf ich noch einmal wiederkommen, Thomas? Ich komme gern, wenn Sie
es mögen ...«

Ein Trompetenruf fuhr aufscheuchend über den Kasernenhof.

»Verdammt,« zischte der Husar, »Stalldienst. Ihr müßt wiederkommen,
wenn ich dienstfrei bin. Morgen. Übermorgen. Am liebsten jeden Tag.«

»So gebt euch doch einen Kuß,« sagte Juliane kaltblütig und wandte den
Abschiednehmenden den Rücken.

Einen Augenblick stutzte Thomas Vanderwelt. Dann riß er den heißen,
duftigen Mädchenleib in seine Arme, wie ein Raubtier sich auf seine
Beute wirft, und wühlte seinen Mund in ihre blutwarmen Lippen. -- --

Tag um Tag fuhr die junge Frau Juliane Beckenried mit ihrer Freundin
Antonie Ausdemwerth nach Krefeld, Thomas Vanderwelt zu treffen. Tag
um Tag wartete der abgehetzte Husar fiebernd auf die Grüße, auf die
Düfte, auf die Klänge aus der anderen Welt. Unter den Freundinnen
zu Ruhrort fielen die Ausflüge, fiel die Abwesenheit der jungen
Damen immer unliebsamer auf. Es galt für die Frauen und Mädchen,
ein dringenderes Gebot der Stunde zu erfüllen, als auf heimlichen
Liebeswegen zu wandeln. Gerade sie, die den Gatten, Bruder oder
Bräutigam draußen im blutigen Felde wußten, zogen sich ernsthafter
als je auf ihre Frauenpflicht zurück, und die erste Bewunderung für
die so köstlich erblühte Vanderwelttochter machte bald einer stillen
Beschämung Platz über die Selbstsüchtigkeiten Julianes und ihrer
mannstollen Freundin.

Die Absonderung der Ernstschaffenden kümmerte die beiden Freundinnen
kaum. Sie waren eine lästige Verantwortung los und lebten nur sich zu
Gefallen. --

Dann geschah es, daß Kornelius Vanderwelt vor seinem Sohne Thomas
stand.

»Was soll das, mein Junge? Ich habe dich für zu klug und zu eigen
geartet gehalten, als daß du den Unfug deiner Schwester nachahmtest.«

»Es ist kein Unfug, Vater.«

»Was ist es denn? Vielleicht um ein paar Schwingungen verschieden beim
einen und beim anderen. Ein bißchen mehr Brunst, ein bißchen mehr
Schwärmerei. Und die Partnerschaft bleibt dem Zufall überlassen.«

»Es ist die Liebe, Vater,« sagte der Junge mit weißen Lippen.

Sie waren zum Krefelder Stadtwald hinausgewandert und hatten nicht
acht auf Sonne, Wald und Wasser.

»Die Liebe?« wiederholte Kornelius Vanderwelt und atmete schwer.
»Die Liebe, mein Junge, ist wie der Name Gottes. Du sollst ihn nicht
ungestraft im Munde führen. Junge Menschen mögen verliebt sein. Um den
Begriff ›Liebe‹ zu verstehen, dazu gehört die Reife der Erkenntnis.
Geh und hol' sie dir. Sie liegt wie die Rose im Dornbusch.«

»Vater, ich bin seit wenigen Monaten mündig.«

»Damit würde ich nicht protzen, Thomas, so lang ein Mädchenmund dich
noch um den Verstand bringen kann.«

Thomas Vanderwelt bebte die Stimme, bebten die Hände vor Erregung.

»Willst du uns, die wir dem Tode entgegengeschickt werden, nicht das
bißchen Seligkeit auf den Weg gönnen?«

»Besteht die Seligkeit nur im Beilager, Thomas?«

»Wie soll ich es wissen? Ich kenne das alles ja nicht. Auf Ehre, nein,
Vater. Aber im Besitz besteht sie, das habe ich gefühlt, und ich will
wissen, daß der Besitz mein und keines andern ist, bevor ich ins
Dunkle marschiere.«

In dieser Stunde lernte Kornelius Vanderwelt zum unwiderruflichen
Male, daß Kinder nicht durch die Geburt die Kinder des Erzeugers sind,
sondern es erst zu werden vermögen -- vielleicht nie, vielleicht nach
Jahren der Erfahrungen erst -- durch eine seelische Wiedergeburt.

Kornelius Vanderwelt spürte seinen Sohn aus seinen Händen gleiten. Der
Vater hatte zu warten.

»Du verlangst nach der Kriegstrauung mit Antonie Ausdemwerth. Ich
kann es nicht hindern. Glaube nicht, daß ich die Bedeutung der
Kriegstrauung unterschätze. Sie ist für Menschen, die aufeinander
gewartet haben, die kurz vor dem ersehnten Ziel voneinandergerissen
werden sollen, die Erfüllung ihres Lebens und ein Segensspruch, dem
selbst der Tod nicht gewachsen ist. Anderen verstattet sie nur eine
Menschlichkeit mehr: die Hemmungslosigkeit. Du hast zu wählen, Thomas.«

»Ich wähle«, sagte Thomas Vanderwelt mit vor Erregung klirrenden
Zähnen, »die Menschlichkeit und die Göttlichkeit in eins. Ich will
nicht ohne das große Geheimnis gehen, das das Leben über die Erde
hebt.«

»Ich liebe dich, Thomas, und wünsche dir, daß eure Liebe nie über die
Erde schleift.«

Und Thomas Vanderwelt schritt mit Antonie Ausdemwerth zur
Kriegstrauung und zog mit den grünen Husaren ins blutige Feld, während
die jugendliche Frau zur Mutter ins warme Nest zurückschlüpfte. --

Die altgewordene Hausdame im Vanderweltschen Hause kränkelte und
lief doch noch wie ein treues Arbeitspferd in den Sielen. Kornelius
Vanderwelt bemerkte es wohl, und er überwand sich und setzte sich
oft am Abend mit der Zeitung zu ihr. Denn Juliane huschte zu jeder
Stunde zur Schwägerin Antonie hinüber, und die jungen Schwägerinnen
führten endlose Gespräche, weil sie sich beide Mutter fühlten, wie die
Schönheit des Körpers zu wahren und zu steigern wäre.

Im ersten Kriegsjahre fand Kornelius Vanderwelt eine Mitteilung in
der Zeitung über die durch den Krieg im Ausland zurückgehaltenen
Künstler. Eine Meldung aus Neuyork nannte unter anderen Namen den
Namen der Pianistin Angela Freydag.

Er hielt die Zeitung auf den Knien und las nichts anderes mehr als die
beiden Worte. --

Er ging zu Bett und nahm die Zeitung mit in sein Schlafzimmer. Und
mitten in der Nacht stand er auf, zündete das Licht an und holte sich
das Blatt aufs neue.

»Angela Freydag ...«

Und diesmal las er weiter und las das Ruhmeslob, das ihr gezollt
wurde als einer der stärksten und urtümlichsten Eigenarten auf
nachschaffendem Gebiet.

Er warf sich zurück und blickte mit weit offenen Augen in das
funkelnde Licht. Und merkte es nicht, daß er vor sich hinlachte, mit
den stolzen, hellen Augen, die sie so geliebt hatte, mit dem frohen
und herrischen Klang seiner Stimme. »Angela. Engel. Stärkste und
urtümlichste Eigenart. Urtümlichste! Der Kerl hat dich begriffen.«

Er hätte auch wohl den Schöpfer und Erwecker ihrer Eigenart, er hätte
wohl auch Kornelius Vanderwelt in seiner Urtümlichkeit begriffen,
wie ihn die Männer des Hafengebiets begriffen und ihm nacheiferten.
Doppelte Arbeit mußte geleistet werden, für die Tausende mit, die aus
den Schiffsparks, aus den Hafenanlagen, aus den Industriebetrieben
herausgezogen und in die Reihen der Kämpfenden eingereiht worden
waren. Und Kornelius Vanderwelts anfeuerndes Wort, zupackender Griff
war überall, wo die Erschlaffung drohte, und versagte die Peitsche des
Wortes und der Tat, so wußte seine wilde Laune zu siegen.

»Heda, Jungens, wollen wir zwischendurch mal Fußball spielen? Die
faulsten Fötte nach vorne! Und hinein mit dem Stiebel! Wer über Bord
geht, soll mit den gefallenen Brüdern in die Zeitung!«

Und die Leute stießen sich wiehernd in die Rippen, dachten an die
Kameraden, die mit dem Tode Brüderschaft machten und spuckten in die
Hände. Die Frauen halfen mit, und das Rüstzeug für das Heer konnte
bald in unversiegbarem Flusse verladen werden. --

Im Mai des folgenden Jahres fanden in den verschwägerten Häusern
die frohen Familienereignisse statt. In den ersten Tagen des Monats
schenkte die junge Frau Juliane, in den letzten Tagen des Monats die
junge Frau Antonie einem Sohne das Leben. Der Draht trug die Nachricht
hinaus ins Feld. Klaus Beckenried und Thomas Vanderwelt vermochten
einen gemeinsamen Urlaub zu verabreden, kehrten auf die Dauer knapper
Tage heim und hielten die Taufe ab.

Todernsten Gesichtes, aber die Augen voll Glück erschien der Leutnant
Beckenried, mit einer verlegenen Lässigkeit in Wort und Gebärde der
Unteroffizier Vanderwelt. Das erste Wiedersehen mit ihren Frauen
blieb ohne Zeugen. Dann hatte die Welt das Wort. Mit der Miene leiser
Selbstverspottung ließ sich Thomas Vanderwelt von seiner Frau ins
Schlepptau nehmen. Seiner Jugend wollte die Rolle als Vater ein wenig
lächerlich erscheinen, und seine Hagerkeit im verblichenen Waffenrock
stach ihm allzusehr ab von der körperlich so wohlgepflegten und in
Kleidung und Gebaren das Aufsehen herausfordernden jungen Dame, die an
seiner Seite weniger die Frau des Mannes als die Zugehörige zu einer
der bekanntesten Familien der Stadt hervorzukehren wußte. Lieber als
er gekommen, kehrte er ins Feld zurück, während der Schwager Klaus
Beckenried, in Unruhe aus seiner männlichen Sammlung herausgerissen,
eine Verlängerung seines Urlaubs beantragte, um die Übersiedlung von
Frau und Kind in das väterliche Haus zu bewerkstelligen und die Fülle
der Rechnungen zu prüfen, die er auf dem Tische seiner Frau Juliane
vorgefunden hatte.

»Wenn dein Sinn nach einem Dienstmädchen stand, hättest du deine Augen
nicht zu den Vanderwelts erheben sollen, mein lieber Klaus.«

»Wir dienen alle, Juliane. Mach' mir die Dienstmädchen nicht
verächtlich, wenn du ihnen die Arbeit nur deswegen aufbürdest, um im
Nichtstun feiern zu können. Wer eine Ehe schließt, muß erwerben wollen
und nicht verschleudern.«

»Lieber Klaus, du bist fast zehn Jahre älter als ich, hast dich zur
Genüge in der Welt herumgetrieben und des Schönen so viel erlebt, daß
du satt bist. Ich aber spüre jetzt erst den rechten Hunger. Und das
Verlangen, ihn an allem, was ich schön finde, zu stillen, lasse ich
mir von meinem Manne wirklich nicht nehmen.«

»Ich bin weder satt, noch habe ich in meinem Arbeitsleben genug
an Schönem erlebt. Ich will es an dir und mit dir erleben. Die
Gemeinsamkeit ist die tiefste Erfüllung der Ehe.«

»Leg' den ererbten Krämer ab, und du wirst die bezauberndste Frau
haben.«

»Juliane,« fragte der ernste Mensch mit ruhelos forschenden Augen,
»weshalb hast du mich eigentlich zum Manne gewollt?«

Sie hielt ihm neckend die Augen zu.

»Weil du ein stattlicher Mann bist und wir beide das schönste Paar
abgeben.«

»Deshalb -- -- --?«

Und auch Klaus Beckenried kehrte zu seiner Truppe zurück, in die
Einsamkeit und in die Entbehrung.

Aus einem heißen Hoffnungsjahr in das andere sprang der Weltkrieg,
und nur wenige Male kehrten die jungen Väter auf Urlaub bei ihren
Frauen ein, um ihre Enttäuschungen spöttisch oder erregt in ein
neues Hoffnungsjahr des Krieges hineinzutragen. Es wurde kein frohes
Familienfest mehr in den verschwägerten Häusern begangen. --

Im letzten Kriegsjahre ging es auch mit den Kräften des vorzeitig
gealterten und gänzlich ermatteten Fräulein Bilsenbach zu Ende. Die
Füße trugen sie nicht mehr aus ihrer Stube heraus. Ein kleines noch,
und die Füße konnten aus dem Bette nicht mehr den Boden gewinnen. Da
gab sie nach.

Nie war Kornelius Vanderwelt im Geschäft, im Hafengetriebe, in den
Versammlungen notwendiger gewesen als in diesen Tagen. Aber er
brach seine Arbeiten ohne zu zögern ab, ließ den alten Beckenried
die laufenden Geschäfte betreiben, lud die Sorgen um das Gemeinwohl
auf andere kräftige Schultern und saß bei der Sterbenden. In ihrem
altjüngferlichen Stübchen saß er und an ihrem Altjungfernbette und
hielt ihre dürre Hand.

»Liebe, alte Freundin ...« sagte er. »Liebe alte Freundin -- mit
dem Krieg geht es zu Ende. Anders, als wir es vor vier Jahren in
der Aufwallung der Gemüter ahnen konnten. Wir wollen nicht darüber
sprechen. Wir wollen unsere Toten begraben und so nahe zusammenrücken,
daß sich die Reihen wieder schließen. Ich bin immer ein Mann des
Zukunftsglaubens gewesen und durfte es, weil ich in Ihnen die beste
Hüterin meines Hauses wußte.«

Sie lehnte mit einer matten Kopfbewegung ab und sprach leise und
angestrengt aus den Kissen heraus.

»Das liegt dahinten, Herr Vanderwelt. Es ist das alte Haus nicht
mehr. Die Kinder haben es verlassen, und der Hausherr braucht für die
Einsamkeit eine andere Hüterin.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf und streichelte so lange ihre Hand,
bis sie ruhig in der seinen lag.

»Nein, der Hausherr braucht keine andere Hüterin. Die Hüterin sind und
bleiben Sie. Nicht aufbegehren. Hätte ich Sie nicht gehabt, die den
Hausfrieden hütete, woher hätte ich die Ruhe und die Spannkraft zu
allen meinen Arbeiten da draußen nehmen sollen. Wenn man mir einmal
einen Denkstein setzt, Fräulein Bilsenbach, muß Ihr Name mit darauf.
›Hier ruht im Tode sanft Kornelius Vanderwelt, weil seinem Leben
Auguste Bilsenbach die nötige Ruhe schuf!‹«

Sie zog, wie erschrocken, die Augenlider hoch, als er ihren Vornamen
nannte. Und dann griff ihre Hand in die seine.

In den wenigen Tagen, die noch folgten, sprach er mit ihr von nichts
als den heiteren Tagen der Vergangenheit. Er erzählte von Justus, dem
ältesten, der im Kriege ein so draufgängerischer Offizier geworden
war, wie er sich schon als Knabe der Schulmeister erwehrt hatte. Er
erzählte von Thomas, dem frühbegabten, der so zierlich den Weltmüden
zu spielen wußte, bis jählings die Urnatur über den Weichling zu
siegen strebte. Er erzählte von Juliane und ihren Zickzacksprüngen,
den Schularbeiten und Klavierstunden aus dem Wege zu gehen und
doch die erste Geige zu spielen. Nicht immer leicht wurden ihm die
Erinnerungen, da die Gegenwart verschärftere Bilder vor seine Augen
stellte. Aber er erzählte, weil es der Erschöpften wohl tat, den
Geschichten aus fröhlicheren Tagen zu lauschen, und sie den Abgesang
ihrer Jugend im verklärten Schein darin wiederfand.

Es war in der Nacht, und der Puls der Sterbenden flatterte noch einmal
auf.

»Herr Vanderwelt -- ich bin ganz klar. Es war doch schön -- bei Ihnen
zu leben -- bei Kornelius Vanderwelt. -- Aber das schönste von allem
-- ist doch -- bei Ihnen zu sterben. -- Ganz allein -- bei Ihnen -- --«

Er drückte ihr die Augen zu, legte ihre Hände zusammen und in die
gefalteten Hände ihr geliebtes Gesangbuch. Und während er sie
betrachtete, wurde ihm zum Wissen, was er der eingeengten Welt
dieses gealterten und in ihrem Pflichtleben geräuschlos gewordenen
Menschenkindes bedeutet hatte, daß eine Liebe aus seinem Leben
fortgegangen war und daß er die Einsamkeit spürte wie eine würgende
Hand.

Er beugte sich tief über die Tote hinab und streichelte ihr erkaltetes
Gesicht. -- --

Mit dem Ausgang des Krieges hatte das erschöpfte Fräulein Bilsenbach
ihren Ausgang gehalten. Millionen von Männern fluteten zurück aus
allen Heerlagern der Welt. Kornelius Vanderwelts Haus wurde nicht
voller davon. Justus, der älteste, war heimgekehrt, zornbebend
über die deutsche Schmach, und hatte nach Tagen schon in jagender
Unrast das Vaterhaus und die Vaterstadt wieder verlassen. Zu neuem
Soldatendienst irgendwo. Zu neuem Handeln, neuem Sicheinsetzen und
Sichausleben, statt der Unerträglichkeit dieser faulig stinkenden Ruhe.

Und Thomas war heimgekehrt, hohnvoll bis in die Mundwinkel, und hatte
sich im Hause der kränkelnden Frau Ausdemwerth, in den duftenden
Zimmern ihrer lebenslustigen Tochter, seiner, ja seiner Frau,
niedergelassen wie ein angeketteter blinzelnder Sperber.

Und auch Klaus Beckenried war heimgekehrt in sein väterliches
Haus, zu der Schönheit seiner Juliane und ihrer kühlrechnenden
Vergnügungssucht, und aus dem begeisterten Verehrer war ein stiller
und in sich gekehrter Ehegatte geworden. Keiner von ihnen allen dachte
anders an Kornelius Vanderwelt, als wenn die leibliche oder geistige
Not ihn trieb.

Kornelius Vanderwelt fror in der Einsamkeit seines Hauses, und die von
Tagedieben und Großmäulern überfüllten Kneipen ekelten ihn an. In den
›Fünf Erdteilen‹ saß er wohl an seinem Ecktisch und trank, aber er
tat es Nacht für Nacht ohne Gesellschaft, und die Zudringlichkeit der
platten Burschen wagte sich an die Kälte seiner Augen nicht heran.

Oft saß er und las die Zeitungen, die er zur Ausfüllung der leeren
Stunden von daheim mitgebracht hatte, und es wurde Frühlingsbeginn,
und er las in der Zeitung ~ihren~ Namen.

~Angela Freydag~ ...

Angela Freydag war in Deutschland gelandet und zeigte im Kölner
Gürzenichsaal ihr erstes Konzert an. Angela Freydag war in Rufnähe,
und sie rief ihn: Komm und sieh, ob mein Maß ausreicht.

Und wieder merkte Kornelius Vanderwelt, daß er in kurzen Stößen vor
sich hin lachte. »Engel, du findest mich beim Matthes. Beim Matthes,
Engel, und doch so gut wie auf deinem Grund und Boden.«

Und dann verließ er augenblicks die Wirtsstube und stand barhäuptig am
Hafen, und der nächtliche Frühlingswind ratterte und knatterte in den
Zeitungsblättern, die er in der Hand trug.

Angela Freydag ... Angela Freydag ist heimgekehrt aus Amerika ...
Angela Freydag spielt morgen für Kornelius Vanderwelt im Gürzenichsaal
zu Köln. -- --

Diesmal mußte er es zweimal sagen: »Los, Wilm. Wir fahren nach
Köln.« Dann hatte der Fahrer begriffen, und er steuerte stumm in den
weichen, regenwolkenverhangenen Märzabend hinein, der den Geruch von
junggewordener Erde trug. Über Düsseldorf ging die Fahrt, und bevor
zwei Stunden vorüber waren, hielt der Wagen vor einem Gasthof der
turmreichen Domstadt, und der Fahrer wandte sich fragend um.

»Gut, Wilm. Hier oder anderswo. Wir bleiben über Nacht.«

Er ließ seinen schmalen Reisekoffer auf sein Zimmer bringen, folgte
ihm nach und kleidete sich um. Kurz vor acht Uhr schritt er zu Fuß
dem Gürzenich zu und suchte in dem dichtgefüllten Saale seinen Platz.
Die Künstlerin, so besagten die Ankündigungszettel, spielte mit der
auserlesenen Schar des städtischen Orchesters.

Schon harrten die Musiker auf der Empore, die zuvorderst den mächtigen
Konzertflügel trug. Ein paar prüfende Geigenstriche, ein paar
verklingende Flötentöne, und im Saale erlosch das Licht, und nur die
Empore lag wie eine Insel der Verheißung in strahlender Beleuchtung.

Das Raunen und Rauschen im Saale machte feiertäglicher Stille Platz.

Durch die Gasse der Musiker schritt der große Kapellmeister. Am
Arme führte er eine hochaufgerichtete, kraftvolle und biegsame
Frauengestalt, und wie sie an den Flügel trat und vom Begrüßungssturm
umwogt den Kopf neigte, sprang Kornelius Vanderwelt ein Schrei auf die
Lippen, den er nur mit verhaltenem Atem zu bändigen vermochte, und er
murmelte in sich hinein: »Die Angela. Die Angela. Guten Abend, Engel.«

Sie saß am Flügel, den strenggeschnittenen Kopf lauschend vorgeneigt,
fast als ob sie schliefe. Von den nackten Armen waren die Ärmel
zurückgeworfen. Der seidene Kleiderrock ließ das Bein mit der schmalen
Fußfessel frei. Und plötzlich zuckte die Frau auf, und Kornelius
Vanderwelt gewahrte ihre Hände, die Hände, die er unter tausenden
und im Dunkel der Nacht erkannt haben würde, weil sie für ihn Gottes
auserlesenstes Kunstwerk waren. Ein Anschlag auf den Flügeltasten,
ein hinströmender Laut, der die Seelen aufschreckte und sie aus dem
Erdendunst aufwärts riß in die Bezirke der Riesen und Gottmenschen.

Von diesem Augenblicke an hörte Kornelius Vanderwelt nichts mehr.
Nicht ob Beethoven sprach oder Brahms, nicht ob Mozart oder Händel.
Daß es die alten, heißgeliebten Klänge aus dem Musikzimmer zu Ruhrort
waren, was ging es ihn an? Er hörte nicht mehr mit dem Gehör, er
hörte nur noch mit den Augen. Ihre Hände, die sich sprungbereit
bäumten und klingende Quellen aus den Felsquadern der Meisterwerke
schlugen. Ihre zärtlichen Finger, die den Odem Gottes über die Tasten
fächeln lassen konnten. Ihre schlankgerundeten Arme, die in Pausen
niederhingen, als sögen sie die Kraft aus geheimnisvollen Tiefen, und
sich jählings streckten und hoben und wie im jubelnden Mitklang die
Höhen meisterten. Und er hörte mit den Augen die Dehnung der schlanken
Fessel, wenn die Fußspitze das Pedal suchte und ließ, die Kraft der
weißen Schultern, die Schmiegsamkeit des Frauenleibes, den Drang der
Brüste, die ihr Herz umschlossen. Und auch dies Hören verlor er, denn
seine Augen waren sehend geworden.

Denn seine Augen hatten Angela Freydags große graue Augen gesehen,
wolkenverhangenes Liebesland, jetzt von Sonne durchzittert, jetzt von
Funken erfüllt wie von jäh über den Himmel springender Blitze Triumph.
Die Pantherkatze, lachte es in Kornelius Vanderwelts Seele. Nein, fort
mit dem Bild. Es ist die Wölfin, die vor den Augen des Gefährten jagt.
Die Wölfin im Engel der Liebe. Hussa, Horrido!

Aus -- --!

Sie saß mit schlaff herniederhängenden Armen, ein unerklärliches
Lächeln um den festgeschlossenen Mund. --

Hatte die Menschen um ihn her der Irrsinn gepackt? Was tobte die Meute
wie beim Halali der Jagd? War er nicht allein im Saal, er, Kornelius
Vanderwelt, für den die Naturgewalten gejauchzt und gejubelt, gestürmt
und geschrien hatten, um die Lüfte zu klären und das Herz zur Ruhe
der Seligen zu bringen? Was wollten die Menschen um ihn her, die
aufgesprungen waren, während er saß und in den wiedererleuchteten
Saal hinein erwachte, daß sie im tobenden Beifall die Hände
zusammenschlugen? Ach, es galt der Künstlerin, die so meisterhaft
gespielt hatte und sich jetzt vor der Vielheit der Menschen erhob und
sich verbeugen mußte, wieder und wieder, als dankte sie der tobenden
Vielheit.

Nein, Herrgott, nein! Es war nicht die Künstlerin, die er vor der
blendenden Rampe der Empore sah. Es war ja Angela! Angela war es,
die die Vielheit nicht gewahrte, weil sie für den einen gespielt
hatte. Sie schüttelt den Kopf. Sie kann nicht mehr zugeben. Sie mag
die billigen Zugaben nicht. Sie verbeugt sich und geht, kehrt wieder
unter den begeisterten Zurufen und verbeugt sich aufs neue. Wieder und
wieder. Das Spiel ist an die Menge übergegangen, die sich jubelfroh
ihrer Macht bewußt wird und Hervorruf über Hervorruf erzwingt. Um ein
Ende zu machen, wird der Saal abgedunkelt. Die beifallerregte Menge
bleibt bei ihrem Willen. Und plötzlich eilt ein Mann auf die Empore
zu, schwingt sich hinauf, bietet der todblassen Künstlerin den Arm,
führt sie durch die Gasse der Musiker in ihr Ankleidezimmer.

»Da bist du, Engel, und da bin ich.«

Kornelius Vanderwelts Arme bebten, als er sie um Angela Freydags
Nacken schlang.

Und dann fühlten sie beide, wie das Beben durch ihre Körper rann, als
wären sie Äste und Gezweig desselben Baumes, und wie es hinüberrann
in die Ruhe der Vereinigung, während sie, Brust an Brust, sich
umschlungen hielten.

»Komm,« sagte er, »jetzt bring' ich dich heim.«

»Ja,« wiederholte sie, löste sich aus seinem Arm und hielt doch die
flachen Hände gegen seine Brust gepreßt, »jetzt bringst du mich heim.«

»Angela!«

»Kornelius!«

»Engel, so hat mich seit Menschengedenken kein Mädchenmund mehr
genannt.«

»Es ist auch kein Mädchenmund,« murmelte sie, »es ist der Mund einer
Frau,« und sie hob die Hände, zog seinen Kopf herab und drückte ihre
Wange gegen die seine.

»Nun wollen wir gehen, Kornelius. Das Haus hat sich geleert. Auch der
Kapellmeister wird aus schöner Rücksichtnahme vorausgegangen sein.«

»Vorausgegangen? Mußt du noch mit ihm zusammensein?«

»Ich muß nur mit dir zusammensein, Kornelius. Alles andere ist nur
wesenloser Schein.«

Sie schritten durch die leeren Hallen, und es huschte wie
Geisterschritte neben ihnen her.

»Als ob Kehraus wäre, Kornelius, aus einem vergangenen Leben.«

»Es regnet, Angela. Wo wohnst du hier?«

Sie nannte ihren Gasthof. Und lachte an seiner Schulter.

»Auch als du mich aus den ›Fünf Erdteilen‹ holtest, regnete es in
Strömen. Und es regnete im Walde.«

»Im Walde war es ein Wolkenbruch, Angela. Nie -- nie warst du
schöner.«

Und einer spürte den festen Schulterdruck des anderen, als sie durch
den nächtlichen Regen schritten und sich dem Gasthof näherten.

»Morgen, in aller Frühe, steht mein Wagen am Bahnhof, Engel. Dort
übernimmt er dein Gepäck, du steigst zu mir ein, und wir fahren heim.
Weltflüchtige, die das Leben suchen.«

»Weshalb suchtest du, wo du mich bei dir wußtest -- --?«

»Weil ich, seit du gingst, in der Welt keine Farben mehr sehe. Frage
nicht. Jetzt ist ja alles gut.«

Ihre Finger verstrickten sich mit den seinen zu einem schmerzhaften
Druck.

Er stand und blickte ihr nach, wie sie in ruhigem Gange die Straße
überschritt und die Türe des Gasthofes sich hinter ihr schloß.




                                  6


Durch die Morgendämmerung kämpften sich die ersten Strahlen der
Märzsonne, als Kornelius Vanderwelts Wagen vor dem Kölner Hauptbahnhof
vorfuhr. Es war noch schlummerstill in der großen Rheinstadt. Der
Dom reckte seine ernste Pracht gegen den Himmel, und als Kornelius
Vanderwelts scharfer Blick ihn streifte, gewahrte er, daß es tausend
feine und verborgene Schönheiten, Frohheiten und Lieblichkeiten waren,
die durch ihr edles Maß den Zusammenklang bewirkten und zum Ernste des
Himmelssuchers emporwuchsen.

Wie schön und eindringlich dies Gotteshaus predigt, dachte der
morgenfrühe Beschauer. Alle Schönheit, Frohheit und Lieblichkeit des
Erdenlebens zu edlen Maßen gestalten, und aus der Fülle wird die
weihevolle Einheit.

Seine Gedanken sprangen über auf Angela Freydag, und während sie an
ihrem Bilde formten, guckte das Bild zum Fenster des Wagenschlags
herein, und er wußte für die Länge eines Augenblicks nicht, ist es
das Traumbild oder ist es das Leben? Aber es war das Leben, das an
die Scheibe pochte und ihm zunickte, und er sprang aus dem Wagen und
ergriff es bei den Händen.

»Angela ... Du schon zur Stelle?«

»Kornelius! Guten Morgen! Ich wollte dich nicht warten lassen, und als
ich erwacht war, hatte ich nichts anderes mehr zu tun.«

Als wäre eine Erwartete nach nächtlicher Reise angelangt, half er
ihr in den Wagen, gebot er dem Fahrer, das Gepäck aufzunehmen und die
Koffer auf den Wagen zu schnallen. Und während er die Hantierung des
Mannes zu überwachen schien, klangen ihm ihre kurzen Sätze im Ohr:
»Ich wollte dich nicht warten lassen. Als ich erwachte, hatte ich
nichts anderes mehr zu tun.« Elf Jahre hatte er warten müssen, sechs
Jahre durch ihr Wachstum, ihren Werdegang, fünf Jahre fast durch den
Krieg, und plötzlich waren es ein paar winzige Minuten, die das Warten
nicht mehr ertrugen und nichts mehr mit sich anzufangen wußten. Es gab
nichts anderes mehr zu tun, als beieinander zu sein.

»Nach Hause, Wilm.«

Ein verschlafener Gepäckträger lugte aus der Bahnhofstür hinter ihnen
her und wunderte sich, daß ein Zug angekommen sein sollte. Er rieb
sich die Augen, und der Morgenspuk war verschwunden. Stehend schlief
er weiter.

Über die gewaltige Rheinbrücke glitt der Wagen, vor der hüben und
drüben die vier Preußenkönige auf ihren Gäulen trabten, und er wand
sich schnell durch die morgenöden Straßen des alten Deutz und des
rheinischen Mülheims und gewann an Schloten und Fabriken vorbei rasch
die freie Bahn.

»Sag' mir, Engel, weshalb du vor dich hinlachst?«

»Weil wir immer das umgekehrte tun, wie andere Leute. Weil wir
uns in den hellerwerdenden Morgen hinein entführen, statt in den
dunklerwerdenden Abend. Deshalb, Kornelius.«

»Tun wir das umgekehrte wie andere Leute -- gut, Engel, dann wird es
das richtige sein.«

»Kornelius,« sagte sie leiser und nahm seine Hand in die ihre,
»glaube nicht, daß ich dich nicht verstehe. Ich erkenne die alte
Ritterlichkeit wieder, und sie gibt uns Frauen mehr als glühende
Liebesbeteuerungen.«

»Nun --?«

»Den Ruf wolltest du mir wahren in der Musikstadt Köln und vor den
Augen der Neugierigen, und da die Klugheit Kornelius Vanderwelts so
groß ist wie seine Ritterlichkeit, wählte sie den harmlosen frühen
Morgen, weil --«

»Nun? Weil?«

»Weil in der Nacht das halbe lebenslustige Köln auf den Beinen ist und
in dieser Morgenstunde kaum ein verschlafener Gepäckträger.«

»Hast du ihn auch bemerkt?«

»Jetzt schläft er schon wieder wie das ganze heilige und unheilige
Köln. Guten Morgen Kornelius. Du hast meinen Gutenmorgengruß vorhin
überhört.«

»Mein Gott,« sagte Kornelius Vanderwelt und zog sie an sich. »Guten
Morgen, Angela. Guten Morgen, Engel. Gib mir deinen Mund, damit ich
fühle, daß ich wach bin.«

Eine Weile fiel kein Wort. Der Wagen brauste über die Landstraße gen
Benrath. Zur Rechten türmten sich die Hügelketten des Bergischen
Landes, und die Sonne blitzte und funkelte auf den Zinnen der hohen
fernen Städte.

»Nein,« sagte Kornelius Vanderwelt, »nun fühle ich die Wachheit noch
weniger. Jetzt, da ich deinen lebendigen Mund spüre, komme ich nicht
aus dem Traumzustand heraus. Ach, du hast recht, Engel, wir beide
leben eine umgekehrte Welt.«

Sie antwortete ~nicht~ mehr. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter
und ihre Augen blickten in die Sonne.

In Düsseldorf trafen sie auf das erste Leben. Malerjünglinge zogen zum
Hofgarten aus, das Kommen des Frühlings zu belauschen. Arbeiter gingen
im Gleichschritt ihren Werkstätten zu, um die Frühschicht zu stellen.

Nahe dem verwunschenen Städtlein Kaiserswerth blinkte, pappelumsäumt,
eine weite, breite Wasserstraße auf. Der Niederrhein. Ein Schlepper
stampfte zu Berg. Seine Schlote qualmten, und der Rheinwind riß
die Rauchsäulen zu hundertmeterlangen Fahnen über die Reihe der
angefüllten, bis an den Wasserrand beladenen Schleppkähne hin.

»Meine Kähne,« sagte Kornelius Vanderwelt. »Meine Kähne.«

Sie setzte sich aufrecht, wischte mit der Hand das Fensterglas klar
und schaute über den Strom, über die Schleppzüge, die sich rastlos
folgten, über seine Arbeitswelt. Kohle, Kohle, immer das gleiche Bild,
und die Kähne glichen sich. Aber der Mann an ihrer Seite glich nicht
den anderen und suchte die glühenden und blühenden Farben in das
Einerlei zu mischen. Und als ob er ihre Gedanken wie aus einem offenen
Buche läse, sagte er: »Du mußt mit deiner Hand ganz fest um die meine
herumfassen. Erst dann ist es Kornelius Vanderwelts Welt.«

So fuhren sie in das erwachte Duisburg ein und über die Brücke des
Innenhafens, die Brücken der Ruhr und der Kanäle und Hafenbecken,
hinein nach Ruhrort. Die Krane kreischten, die Kipper donnerten,
die Kähne ächzten und die Dampfer stöhnten vor Ungestüm. Wildes
Eisengeklirr der Werkstätten in der Luft, rote Flammen der Hochöfen,
weiße Kesselschwaden und schwarzer Rauch der Schlote. Und die
junge, warme Frühlingssonne arbeitete sich nur mühsam durch die
kohlengeschwängerte Luft.

In gewaltigen Bogen schwang sich die Rheinbrücke von einem Ufer zum
anderen, riß das Drüben zum Hüben und kettete Arbeit an Arbeit.

»Zu Hause,« sagte Kornelius Vanderwelt, und der Wagen glitt durch die
Toreinfahrt und stand.

Wie mit geschlossenen Augen, so schritt Angela Freydag an Kornelius
Vanderwelts Arm ins Haus, über die Diele, in des Hausherrn
Arbeitszimmer. Anders war ihr Eingang wie einst, als sie gejagt und
regennaß aus des Matthes ›Fünf Erdteilen‹ bei der Nacht in dies Haus
eingetreten war. Aber es war derselbe Arm, der sie führte. Nein, es
war alles wie einst.

Sie stand ganz still und öffnete die Augen ganz weit.

Ihre Brust hob sich unter einem drängenden Atemzug, die Lippen mühten
sich voneinander los, und ganz hell und hoch rang sich ein einzelner
Ton hindurch. Wie ein Weinen und Lachen.

Mit behutsamen Händen nahm Kornelius Vanderwelt ihr den Mantel von
den Schultern, den Reisehut vom flechtenumschlungenen Haupt. Ging
hinaus, gab den Mädchen Aufträge, das Fremdenzimmer zu richten, kehrte
zurück. Hinter sich schloß er die Tür und sah mit einem seltsamen
Wehmutsempfinden, das ihn bis zum Augenblicke nie zu überrumpeln
vermocht hatte, zu, wie Angela Freydag, die Heimgekehrte, Wiedersehen
feierte.

Mit unhörbaren Schritten ging sie von einem der alten Möbelstücke zum
anderen, verharrte ein paar Herzschläge lang, ließ ihre Hände darüber
gleiten und ging unhörbar weiter, von den Möbeln zu den Bildern an
den Wänden, von einem zum anderen, verharrte, hob die Hände und
streichelte darüber hin.

Jetzt wandte sie sich nach ihm um. Ein Lächeln kehrte aus weiter Ferne
auf ihre Lippen zurück.

»Es hat sich nichts verändert, während ich fort war, Kornelius.
Nichts.«

»Nur ich habe graue Haare bekommen, Angela.«

»Ich glaub' es nicht.«

»Und die Gicht vom Saufen.«

»Nun brauchst du es nicht mehr zu tun.«

Er stand vor ihr, und unter seinem Blick reckte sie sich langsam und
unwillkürlich in den Schultern.

»Jetzt ist die Reihe an mir, Ausschau und Einschau zu halten,
Angela-Engel. In Köln tat ich es nur blindlings, auf der Fahrt halb
träumend. Das also -- das ist die Wirklichkeit.«

Er trat näher, und sie rührte sich nicht. Ihr Blick lag in dem seinen.
Nur ihre Brust atmete schneller.

»Es sind dieselben Augen,« murmelte er, »dieselbe Tiefe und
Furchtlosigkeit, nur das Grau ist stählerner geworden, und Stahl
blitzt am stärksten, wenn er tötet.«

»Nur was dir feind ist, Kornelius.«

»Deine Stirn ist wie eine Kuppel der Klugheit geworden, die schöne
gerade Nase wie ein Ausrufungszeichen deines Willens, dein blutroter
Mund spricht von Liebe und Verachtung.«

»Er verachtet die Schwächlinge, die es dir gleichtun möchten.«

»Wie wunderbar stolz die Liebe spricht. Laß mich weiter sehen. Es ist
noch so vieles. Ich sehe deinen lieben, schlanken Leib, und starkes
Frauentum schwellt königlich, was einmal scheues Mädchentum war. Ich
sehe deine liebe, geliebte Brust, und ich bebe vor Freude. Und ich
sehe deine schlanken Füße und deine noch schlankeren Hände, die ich
über alles liebe, weil sie Leidenschaften entflammen und seligkühlende
Ruhe ausströmen lassen können. Aus den Saiten des Flügels und den
unsichtbaren der Seele. Ich sehe Angela Freydag, wie sie war und wie
sie ist, und nichts hat sich verändert, als daß die Gewißheit des
Weibes das Versprechen des Mädchens übertrifft.«

»Und -- meine Seele -- --?«

»Ich halte Angela Freydags Seele seit einem Dutzend Jahren in den
Händen und habe sie keinen Atemzug lang losgelassen. Es ist eine
Seele, die keine Veränderungen kennt. Ein Zweifel wäre ein Frevel.
Sieh selber nach.«

Und er breitete die Arme aus, und sie warf sich hinein.

»Engel, mein Engel. Ich weiß es, du wirst immer wieder kommen.«

»Ich habe dich nicht eine Sekunde lang verlassen,« stieß sie hervor,
hob ihr Gesicht und zog das seine hernieder.

In die lange Stille schlug eine Uhr. Sie horchte in seinen Armen auf,
und er gewahrte es.

»Sie schlägt nicht für dich und nicht für mich. Heute ist Feiertag.«

»Sie schlug,« sagte sie nachsinnend, »als du mich zum erstenmal in
deinem Hause zur Ruhe brachtest. Hier an diesem Tische gabst du dem
ausgehungerten Mädel zu essen und zu trinken.«

Er stutzte, ließ sie aus seinen Armen los und lachte sie an wie ein
ertappter Junge.

»Angela! Engel! Und heute laß ich dich verhungern und verdürsten. Das
ist Mannesart. Um vier Uhr wirst du aufgestanden sein. Ohne Frühstück?
Ah, einen Apfel. Am Bahnhof in der Morgenkühle eine halbe Stunde auf
den herrlichsten der Liebhaber gewartet. Gut. Weniger gut, daß dich
der herrlichste der Liebhaber zwei Stunden in wilder Wagenfahrt durch
die Lande führt und dir am Ziele ein Schock Küsse anbietet statt eines
festlichen Mahles. Setz' dich nieder und denk nach Frauenart: ›es ist
nur die erste Enttäuschung‹. In zwei Minuten soll im Speisezimmer das
Frühstück aufmarschiert stehen.«

»Kornelius -- bitte hier, bei dir, wie damals -- --«

»Dein Wunsch ist mein Wunsch, Engel,« und er ging zur Tür.

»Kornelius!«

Er wandte sich um, und sie winkte ihm mit den Augen, noch einmal zu
ihr zurückzukommen.

»Ich möchte doch lieber noch einen Kuß von dir haben, Kornelius.«

Und die feierliche Getragenheit der Liebesbekenntnisse ernster
Menschen ging unter im lebendigen Leben.

Das Hausmädchen kam auf Kornelius Vanderwelts Anruf, grüßte freundlich
und deckte den Tisch im Arbeitszimmer.

»Unsere liebe Verwandte, Fräulein Freydag, wird längere Zeit bei uns
bleiben, Martha. Sorgen Sie nach besten Kräften, daß sie sich wohl
fühlt.«

Das Mädchen knixte vor dem Gast, der ihr die Hand entgegenstreckte,
und ging.

»Kein Mensch auf der Erde ist mir so nahe verwandt wie du. Es war
keine Unwahrheit, Angela.«

Sie saßen hungrig und durstig am Frühstückstisch und langten zu. Wie
gesunde Menschen, die dem Tage geben, was des Tages ist. Nur daß der
eine den anderen zu bedienen suchte und ein Wettstreit entstand, den
anderen nicht hungern zu lassen. Dann nannte Angela Freydag den Namen
Fräulein Bilsenbachs, die Namen der Kinder.

»Später, später. Wenn es dir recht ist, kann das Mädchen abräumen.«

»Ich fragte nur jetzt schon, weil ich glaubte, du müßtest zum Hafen
hinaus.«

»Sagte ich dir nicht, du liebe Sorgerin, daß heute Festtag ist? Wir
werden noch genug vom Alltag mitbekommen. Aber ich will deine Sorge
beschwichtigen.«

Er nahm den Hörer des Fernsprechers auf, nannte dem Amt die Nummer.

»Schon zur Stelle, Beckenried? Ach, Sie alter Prahlhans, diesmal war
ich früher auf den Beinen, wenn darin die geistige Überlegenheit
steckt. Was liegt vor? So, so. Aber ich habe heute Wichtigeres, und
an der Schifferbörse können sich heute einmal unsere jungen Leute
die Sporen verdienen. Ja, ja, ich meine die Herren Klaus und Thomas,
die viellieben Schwäger. Was? Wenn sie's nicht können, sollen sie's
lernen. Deshalb schicke ich sie ja hin. Und den Rest werden Sie mit
gewohnter Umsicht erledigen. Auf morgen, Beckenried.«

»Klaus und Thomas? Die viellieben Schwäger?« fragte Angela Freydag.

»Später, später.« Und Kornelius Vanderwelt öffnete die Tür zum
Musikzimmer. »Tritt in dein Reich, Angela.«

Wie mit gefesselten Füßen trat sie ein. Und dann eilte sie auf den
Flügel zu, legte beide Hände auf den Deckel, preßte das Kinn auf den
Notenhalter und starrte geradeaus.

Von der Wand grüßte in unvergänglicher Schöne Hans Deiters'
Meisterbild »Der Reigen«, aus edlen Frauenkörpern gewoben. Leise zog
Kornelius Vanderwelt hinter ihrem Alleinsein die Tür ins Schloß.

Jetzt wandte sie über die Schulter den Kopf nach ihm. »Komm,« baten
ihre Augen.

Er trat hinter sie und legte den Arm um sie. Die Hände auf den
Flügeldeckel gestemmt, drückte sie sich tief in den Arm hinein.

»Hier habe ich dich mir erobert, Kornelius. Und konnte nichts gegen
jetzt.«

»Wir sind beide gereift, Angela. Vielleicht auch in den Ansprüchen
aufeinander. Nenn' du mir dein Wachstum.«

»In der Liebe zu dir! Darin liegt es, darin! In der Liebe zu dir!
Damit ist alles gesagt.«

»Wenn ich mir,« sagte Kornelius Vanderwelt ernst, »nach Ansicht meiner
Mitbürger ein paar Verdienste erworben haben sollte, so habe ich heute
den Lohn erhalten.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. In ihre Stirn grub sich, wie in
Mädchentagen, die steile Furche.

»Nein, nein. Was dir die Allgemeinheit schuldet, ist ihre Sache und
geht mich nichts an. Es ist dein Stolz, der dich bescheiden macht.
Und er macht mich mit dir stolz. Aber was ~ich~ dir schulde,
Kornelius -- ach, mir ist die Seele zum Überlaufen voll, und die
Frau sucht vergebens nach Worten, die es dir rückhaltlos aussprechen
könnten und sie doch nicht beschämen, und die Künstlerin kommt sich
neben der Frau ganz armselig vor, daß sie auch ein Wort sagen möchte
und das doch in dieser Stunde so nebensächlich ist, wie draußen das
Wetter.«

»Wie stark und leidenschaftlich du geworden bist, Angela?«

»Geworden? Bin ich es geworden? Ich bin das geworden, wozu du mich
geformt hast. Und nun bin ich nichts als der Dank.«

»Meine alte, junge, ewig gleiche Angela. Das ist das Frauenwunder, das
wir anstaunen und doch nichts anderes ist, als die Wahrhaftigkeit der
Seltenen.«

»Heb' mich nicht zu hoch, Kornelius. Meine Füße stehen so fest auf der
Erde, daß ich die Erde treten kann, wenn ich es will. Und ich will
es, wenn du es willst. Wenn sie uns von unseren Höhen herunterholen
wollen, Kornelius.«

Er strich ihr leise und glättend über das strenggewordene Gesicht, und
sie erhaschte die Hand und drückte sie gegen ihren Mund.

»Setz' dich nieder, Engel. Hier auf die alte Kirchenbank, auf der
wir so oft aneinandergerückt saßen, wenn wir vierhändig ein Werk der
Meister spielten. Heute brauchen die Tasten nicht zu tönen. Heute ist
so viel Gesang in uns selber, daß wir das Handwerkszeug ruhen lassen
können. Sitzt du gut? Lehn' dich nur fest mit der Schulter an. Heute
brauchen wir keine Geheimnisse mehr voreinander zu bewahren.«

In die alte Kirchenbank geschmiegt, saßen sie Schulter an Schulter und
ließen die Minuten rinnen, als wäre der gemeinsame Quell ihrer Stunden
unversieglich. Weil ihr Blut ineinanderrann.

»Wachst du noch, Kornelius?« fragte Angelas Stimme mit einem
schlummermüden Ton.

»Ich höre dir ununterbrochen zu. Erzähle nur weiter, Engel.«

»Ich habe ja gar nicht gesprochen, du. Du hast zu mir gesprochen, und
ich habe kein Wort überhört.«

»Dann, Engel, ist jetzt die Reihe an dir. Und ich will schweigen wie
ein Stummer.«

Eine Weile besann sie sich. Dann war sie wieder in der Welt.

»Ich werde kein Wörtchen überschlagen, wenn du es für wert genug
hältst. Aber vorher sprich mir von deinen Kindern, von Fräulein
Bilsenbach, von deiner Umwelt hier, damit ich weiß, wo ich gehe und
stehe, wenn sie kommen werden.«

»Fräulein Bilsenbach wird nicht mehr kommen, Angela. Sie ist immer
geräuschloser geworden in den langen, heftigen Jahren, und ich habe
sie bei der Hand gehalten, als sie im letzten Sommer starb.«

Angela Freydag saß, ohne sich zu regen, Schulter an Schulter mit
dem berichterstattenden Manne. Hinter ihrer Stirn arbeiteten die
Gedanken und woben das Bild des einsam gealterten Fräuleins aus den
Erinnerungen.

»Sie hatte einen Lohn zu beanspruchen für so viel Unausgesprochenes,
Kornelius. Du hast ihn ihr ohne Zögern ausbezahlt. Als du sie vor der
schwarzen Pforte bei der Hand nahmst und ihr die letzten Schritte so
leicht machtest, daß sie ein Leben aufwogen.«

»Woher weißt du das, Angela?« fragte er erstaunt. »Wie kannst du das
wissen?«

»Ich weiß es, weil ich eine Frau bin und weil ich mich nicht fürchte,
es auszusprechen. Auch ich würde dich lieben, wenn ich alt geworden
wäre und hätte dich jahraus, jahrein vor Augen gehabt. Wie du mich in
deinem Alter noch lieben wirst, wenn du keinen Makel an mir gefunden
hast. So hat dich die einsame Seele des gealterten Fräuleins geliebt,
und es ist nicht lächerlich.«

»Nein,« sagte Kornelius Vanderwelt, »es ist nicht lächerlich. Liebe
ist mehr, als Jugend weiß.«

»Nun sprich mir von der Jugend,« bat Angela Freydag freundlich, »von
deinen Kindern, Kornelius.«

Kornelius Vanderwelt legte die Hand um die Stirn. Unbewußt preßte er
sie zwischen den Fingern, daß sie schmerzte.

»Von meinen Kindern, Angela ... Ganz recht, von meinen Kindern. Ja,
wo soll ich da beginnen und wo enden ... Es sind keine Kinder mehr,
Engel, und es gibt Zeiten, in denen ich mich wundere, daß sie einmal
meine Kinder gewesen sein sollen. Nicht, als ob ich meine Liebe von
ihnen abgezogen hätte. Liebe ist vielleicht ein falsches Wort und
müßte mit Naturtrieb übersetzt werden. Es ist der natürliche Trieb,
der das eigene Blut wittert und sich dagegen aufbäumt, es vor die
Hunde gehen zu lassen.«

Ihre Hand tastete sich in die seine, zog sie von der Stirn, legte sie
auf ihr Knie und hielt sie fest.

»Liebe ...« wiederholte er, und die Wallung seiner Pulse wurde ruhig
unter ihren kühlenden Händen. »Ich habe so viel Liebe in mir, daß
ich meine Kinder lebenslang reich damit machen könnte. Aber Liebe
will erwidert, gewünscht und gewartet sein. Wir sind nicht alle so
anspruchslos wie ein Fräulein Bilsenbach. Nun wohl, Angela, meine
Kinder hatten recht frühzeitig schon das, was sie für Liebe hielten,
für sich selber nötig und ihren mehr oder weniger ergötzlichen
Zeitvertreib. Juliane und Thomas, dein besonderer Freund, wurden
hintereinander kriegsgetraut. Juliane mit achtzehn Lenzen. Thomas in
der stolzen Mündigkeit seiner einundzwanzig Jahre. Nach neun Monaten
pünktlich waren sie Mutter und Vater. Jeder von einem munteren Jungen.
Jetzt sind die Jungen fünf Jahre alt.«

»Wie meinst du, Angela? Ja so, ich habe die Partner vergessen.
Julianes glücklicher Ehegatte ist Klaus Beckenried. Der Sohn meines
knochentrockenen Geschäftsführers. Geschäftstüchtig wie sein
Vater. Infolge des Altersunterschiedes natürlich noch mit einigen
Sehnsuchtsbildern behaftet, die der alte Beckenried längst zum alten
Eisen geworfen hat und die, wie ich fürchte, der junge in nicht allzu
langer Zeit auf denselben Kehrichthaufen werfen wird. Bleibt der
Thomas. Des Thomas glückliche Ehegattin ist Antonie Ausdemwerth, die
Schulfreundin der Juliane. Ich weiß Schönheit zu schätzen, und ich
sehe mit Männeraugen, daß das Frauenzimmer schön ist wie ein lockender
Apfel, fallreif. Aber sie ist immer fallreif, und es lungern viele
unterm Apfelbaum.«

Er schwieg, und dann lachte er hart vor sich hin.

»Meine zornmütige Angela wird denken, die Schwiegerkinder wären die
schwarzen und meine eigenen Kinder die weißen Schafe. Ach, Engel, es
ist nicht so, und wenn ich eine Mohrenwäsche vornähme. Möglich, daß
der junge Beckenried, übrigens ein Mann von einigen dreißig Jahren, zu
früh die leuchtende Hochzeitsweste ausgezogen und sich vom sparsamen
Blut der Beckenrieds erwiesen hat. Zu früh für eine Frau von der
Großdamenhaftigkeit einer Juliane. Sie braucht das Geld, wie andere
die Luft zum Atmen brauchen, und wenn man es ihrer eitlen Putzsucht
vorenthält, so verschafft sie es sich, ohne wählerisch zu sein. Und
ich weiß wirklich nicht, was ich mehr verabscheuen soll: die kühle
Berechnung, aus der sie es tut, oder das geile Sündenblut der Antonie.«

»Damit wären wir beim Thomas, Engel, den du mir immer am ähnlichsten
fandest. Darin, daß er das heimliche Allerweltsdirnchen nicht auf die
Straße warf, nach der sie doch verlangt, darin ähnelt er mir wohl
am wenigsten. Und ebensowenig, daß er aus seiner Schlaffheit eine
Art Sportbelustigung macht, jeden Schritt vom Wege bei seiner Frau
vorhersieht, ihn mit der Gründlichkeit und Ausdauer eines Forschers
verfolgt, zergliedert und zerlegt und sich höchlichst ergötzt fühlt,
wie ein Sieger und Triumphator über die in der eigenen Falle Gefangene
frohlocken zu können.«

»Du siehst, Angela, die Beichte war aufrichtig und vollkommen, und nun
ist mir der Mund trocken.«

»Der Thomas«, sagte Angela Freydag, »weiß nicht ein und aus. Weil er
noch als Junge in die Ehe gegangen ist und sich vom Zeitgeist hat
vorpredigen lassen, die Freizügigkeit von Mann und Frau gehörte zum
guten Ton und wäre ein Erkennungsmerkmal der Freigewordenen. Laß ihn
aus dieser Zeit und ihrem billigen Geist hinauswachsen, und er wird
den Abscheu empfinden wie du und der Sohn des Vaters werden.«

»Wie schön ist meine Angela in ihrer Milde.«

»Weshalb verspottest du mich, Kornelius? Ich kenne doch die Quelle des
Vanderweltschen Blutes, ich kenne doch dich. Und da soll ich glauben,
das Wasser der Bäche tauge nichts? Wind und Wetter können es getrübt,
können es sogar verschlammt haben, aber das klärt sich, wenn die warme
Sonne wieder scheint. Es war viel Wind und Wetter in Deutschland.«

»Ich verspotte dich nicht. Ich muß nur immer wiederholen: wie schön
ist meine Angela in ihrer Milde.«

Ihre Augen färbten sich dunkel. Über den tiefen Grund liefen
leuchtende Funken.

»Ich hatte es als Spott empfunden. Du bist erfahrener als ich in allen
Dingen, und der Spott wird bei dir zum Lächeln und Belächeln. Ich bin
noch nicht so weit wie du, und es ist gewiß Frauenart, daß wir hassen,
was ihr mit einem Lächeln abtut. Kornelius, du sagtest mir einmal, mit
einem Ziegelstein schlügst du den Menschen tot, der nach mir schielte,
und wenn du ihm nach bis Australien müßtest. Und da hältst du mich für
kleiner, obwohl ich inzwischen um einen Fuß gewachsen sein soll? Ich
bin so milde, Kornelius, daß ich jeden, der dich oder deinen Namen
beleidigen möchte, mit diesen Händen zerreißen würde.«

Er griff nach ihren Händen, die sie in Erregung schüttelte, und zog
sie an seine Lippen.

»Glücklicher Kornelius Vanderwelt.«

Sie sah ihn an. Und als sie sah, daß der Ernst aus ihm sprach, legte
sie den Kopf ruhig an seine Brust.

»Wohnt Thomas nicht mehr im Hause? Und Juliane?«

»Thomas haust in der Wohnung seiner Frau, die bei ihrer törichten
Mutter lebt. Und Juliane ist von ihrem zürnenden Mann in das Haus des
Vaters Beckenried verbracht worden, damit ihre Geldangelegenheiten
unter doppelter Aufsicht stehen. Mögen sie sich zurechtfinden. Wie man
sich bettet, so muß man liegen.«

»Welchen Beruf haben die Männer? Können sie ihre Frauen mit ihrer
Arbeit ernähren?«

»Ach, Engel, sie haben den Beruf, meine Geschäftsnachfolger zu werden.
Das ist vielleicht nicht der schlechteste Beruf. Sie arbeiten auf
meinem Kontor und gehen heute zum erstenmal auf die Schifferbörse,
um die Flagge des Hauses Vanderwelt zu zeigen. Ob aber ihre Arbeit
ausreicht, um ihre Frauen zu ernähren, das glaube ich nie und nimmer.«

»Und wenn du ihr Gehalt steigertest, Kornelius?«

»So würden ihre Frauen ihre Forderungen an die Männer um das Dreifache
steigern. Ausprobiert, Angela.«

Sie ließ den Gesprächsstoff fallen. Sie fühlte, daß sein Stolz mehr
litt, als er zeigte. Nur eine Frage wagte sie noch.

»Und Justus? Du sprachst mir noch nicht von deinem Ältesten,
Kornelius.«

»Ja, Justus -- --. Es wär' mir lieb, ich erführe selber mehr von ihm.
Du weißt es, er hatte einen hochfahrenden Sinn. Aber in guten Zeiten
wäre bei seinen raschen Aufnahmefähigkeiten wohl ein Großer aus ihm
geworden, wenn auch ein herrischer. Für die schlechten Zeiten aber war
seine Anschauungswelt nicht gewappnet, und der Ausgang des Krieges hat
ihn zu einem Zerrissenen gemacht, der bald hier, bald dort, wo in den
Ostländern um Rußland herum eine Flamme auflodert, dabei sein muß, um
zu versuchen, sich und die Welt wieder zusammenzuflicken.«

»Er schreibt dir wenig?«

»Zuweilen wie ein Held, zuweilen wie ein Verzweifelter. Das ist heute
die marktgängige Mischung unter den Entwurzelten, die so leicht das,
was dem Vaterland frommt, mit dem, was ihnen selber frommen würde,
verwechseln und darum keine Geduld und keinen Blick für den ›Wechsel
auf Sicht‹ haben.«

»Hilfst du ihm, wenn er ruft?«

»Fragt das meine Angela?«

»Verzeih mir,« bettelte sie, »es war nur ein Vergreifen im Wort. Ich
wollte fragen, ob er dich zur Hilfe ruft.«

»Der Held nie. Der Verzweifelte immer. Dann fragt der Vater nicht
lange, ob es zu vaterländischen Zwecken oder zu eigenen geschieht, und
er hilft. Ich sagte dir schon, es ist der Naturtrieb, der das eigene
Blut wittert.«

Sie strich ihm mit den Fingern durch das Haar. Hin und her, her und
hin.

»Nicht böse sein, Kornelius, daß ich dir diesmal nicht glaube. Nein,
nicht böse sein. Dein Naturtrieb ist ja die Güte. Das hab' ich ja an
mir selbst verspürt, als ich hageres und mageres Menschlein durch den
Straßenschmutz zu dir kam. Alle starken Menschen sind gütige Menschen,
sonst gäb's ja keinen Weg zu ihrer Welt. Und dein Sohn Justus brauchte
nicht dein Sohn und könnte ein Niemandssohn sein, und du würdest ihm
helfen, wenn er dich beim rechten Namen rief.«

»Ich habe ihn mehr geliebt, als ich es aussprechen kann,« sagte
Kornelius Vanderwelt leise. »Denn wie du in Thomas, so habe ich in
ihm mein Ebenbild erhofft. Und nun wird meine Eitelkeit mit einem
arbeitsunlustigen Landfahrer gestraft.«

»Es ist noch nicht aller Tage Abend, Kornelius.« Und sie wiederholte
es: »Es ist noch nicht aller Tage Abend,« bis das Streicheln ihrer
Finger alle Schwere aus seinem Haupte hinweggenommen hatte.

»Darf ich mir eine Zigarre anzünden, Engel? Du siehst, ich streiche
die Jahre aus und behandle dich nicht als feierlichen Gast.«

»Das erst macht mir den Festtag, daß du mich nicht feierlich nimmst.«

»Wollen wir wieder in mein Arbeitszimmer? Komm, Engel. Feierlich,
sagst du? Feierlichkeit ist der Tod der Natürlichkeit und damit aller
Menschenfreude. Das hat mir als Kind den Sonntag so zuwider gemacht,
daß ich im feierlichen Zuge mit zur Kirche schreiten, mit feierlichem
Gesichte bei Tische sitzen, in feierlicher Haltung am Spaziergang
der Erwachsenen teilnehmen mußte und was sonst noch alles. Als ob
der liebe Gott gestorben wäre und nicht auf seinem Sonntagsthron aus
Sonne, Mond und Sternen säße und Ausschau hielte, ob sich auch seine
Menschen aus Leibeskräften über ihre Erde freuten! Rauchst du?«

Sie waren in sein Arbeitszimmer hinübergegangen, und er wies auf die
Zigarrenkisten und Zigarettenschachteln. »Nun?« fragte er.

»Ich muß dir ja doch«, erwiderte sie mit rotem Kopf, »mein Laster
eingestehen. Als ich durch den Ausbruch des Weltkrieges in Amerika
zurückgehalten wurde, ganz besonders aber, als auch Amerika in den
Krieg eintrat und wir, die ihr Deutschtum nicht verraten wollten, als
Gefangene behandelt wurden, da hab' ich mir das Rauchen angewöhnt, um
über das endlose Warten und das noch endlosere Wandern der Gedanken
hinwegzukommen. Wenn ich rauchte, wurde es ruhiger in mir. Aber wenn
du es bei einer Frau nicht gern siehst, kann ich es unterdrücken.«

»Wozu die Entschuldigungen, Engel? Wer weiß, ob du nicht mal wieder in
Gefangenschaft gerätst und das Rauchen brauchst.«

Sie wählte eine Havannazigarette mit einem Tabakdeckblatt.

»Erschrick nicht zu sehr, Kornelius. Die Papierzigaretten sind mir zu
verschwommen.«

Er reichte ihr Feuer und lachte ihr in die Augen.

»Ich hab's mir fast gedacht. ›Entweder -- oder!‹ lautet die Losung bei
Angela Freydag. Wie schön du erröten kannst.«

Sie ließ sich in einen der tiefen Ledersessel nieder und rauchte
in ruhigen Zügen. Und Kornelius Vanderwelt saß ihr gegenüber und
sah durch den feinen Rauchschleier seiner Zigarre ihr Bild wie aus
Nebelfernen zu ihm hinüberlangen.

»Nun bist du für deine Erzählung aus fernen Weiten in die rechte
Beleuchtung gerückt. Nun erzähle du, Angela.«

»Muß ich vom Tage meines Abschieds an beginnen, Kornelius?«

Er nickte. »Seitdem du von mir gingst, Engel.«

»Ich hinterließ dir einen Brief, als ich ging. Darin schrieb dir das
Mädchen sein Weshalb.«

»Der Brief des Mädchens ruht in des Mädchens alter Reisetasche, die
sie mir einmal als Weihnachtsangebinde auf mein Zimmer stellte.«

Eine Weile blieb es still im Sessel Angela Freydags, und der Lauscher
hörte nur einen tiefen Atemzug.

»Ich kehrte nach Köln zurück,« begann die Stimme aus der Nebelferne
der Erinnerungen heraus. »Ich nahm die Stunden mit verdoppelten, mit
verdreifachten Kräften auf. Ich war von dir gegangen, nein, vor mir
selber davongelaufen, weil ich so stolz auf dich und deine Hinneigung
zu mir war, daß ich nicht nur dein kleines Liebchen werden wollte.
Denn so wäre es geworden, Kornelius.«

Diesmal war es die Lauscherin, die aus dem Sessel Kornelius
Vanderwelts nur einen tiefen Atemzug vernahm.

»Der Professor nahm mich mit Freuden als seine Meisterschülerin.
Das Geld, das ich mir in deinem Hause erworben hatte, reichte bei
richtiger Verwendung für zwei Jahre aus. Anschaffungen zu machen,
hatte ich nicht nötig. Du hattest mich zu Weihnachten und zum
Geburtstag für den Alltag und die ersten Konzertreisen überreich
ausgestattet. So konnte ich mich ohne Hemmungen meiner Arbeit
hingeben.«

»Es war nicht ganz so leicht, wie es heute scheint. Aber du halfst
mir, Kornelius. Auch wenn der Lehrer liebenswürdiger werden wollte,
als der Unterricht verlangte. ›Nicht,‹ sagte ich, ›ich bin heimlich
getraut. Der Mann, der mich in seinen Händen hält, kann Hufeisen
zerbrechen.‹ Da beließ er es beim Unterricht.«

Kornelius Vanderwelt sprach kein Wort. Ihm fielen die Verse ein vom
Reiter auf dem Bodensee. Mit keinem Gedanken hatte sein sicherer Sinn
an eine Gefahr gedacht.

»Nach einem Jahre«, fuhr die Erzählerin fort, »durfte ich zum
erstenmal öffentlich spielen. In einem Kurkonzert der verträumten
Badestadt Honnef am Rhein. Es gelang über Erwarten. Der
kunstverständige Arzt des Städtchens schrieb in seiner Besprechung
von einem Licht auf einem hohen Berge. Dieses Licht wollte ich nun in
die Täler der Menschen tragen. So spielte ich im folgenden Winter zum
zweitenmal in Koblenz, und der verstärkte Erfolg führte mich bald nach
Mainz und nach Mannheim, nach Karlsruhe und nach Basel. Damit war ich
im Auslande.

»Gewiß, es war die kleine Schweiz. Aber in Zürich schon spürte ich,
daß sich hier alle Völker ein Stelldichein geben, und in Lausanne und
Genf vernahm ich die Stimme Frankreichs, und ich folgte ihr nach Paris.

»Nach Paris. Wie habe ich die Augen, wie habe ich die Ohren, wie habe
ich alle Sinne geöffnet, um alles in mich hineinzutrinken, was die
Stadt an Kunst mir bot. Alle die ungezählten Möglichkeiten, die sie
dem Lernbegierigen hinhält zum Wachsen und Werden, und die mit jedem
neuen Tage wechseln und neue Weiten bieten.

»Und wieder standst du neben mir, Kornelius, und hieltst mich bei der
Hand. Und ich wußte Tag und Nacht, warum ich hier sei.

»In Paris spielte ich zuerst in einem Konzert der Meisterschülerinnen,
dann zu mehreren Malen in der größeren Öffentlichkeit, und wurde nach
London eingeladen zu einem großen Konzert in der ›Albert Hall‹. Von
hier aus ging die Fahrt geradeswegs nach Amerika.«

»Als hättest du dir auch meine Weltfahrten zu eigen machen wollen,
Angela.«

»Als du mich auf der Landstraße sahst und mich in deinen Wagen
packtest, Kornelius, sprachst du so übermütig von deinen
Seeräubervorfahren, daß ich dir ebenso übermütig antwortete: ›Die
Meinen vielleicht nicht weit davon.‹ Wer will wissen, was in der
Vorzeit war!«

Und Kornelius Vanderwelt dachte an den sagenhaften
Zweigeschlechterbaum der Menschheit, der ihm schon einmal in seinen
Gedanken erschienen war, als er inbrünstig nach Angela rief.

»Erzähle weiter. Ich lebe ~mit~ dir, als lebte ich mein eigenes
Leben.«

»Es ist so. Die Seelen harfen die Musik, nicht die Hände. Und so ist
meine Seele auf deinen Wegen gefahren.«

»Erzähle von Amerika, Angela. Es ist der zweite Teil deiner
Lebensreife und meiner Wartezeit.«

»So war ich mit dir in Amerika, Kornelius,« vernahm er ihre Stimme,
»und es war gut, daß wir beieinander waren. Erst schwoll mir die Brust
in der unbekannten und verstärkten Lebensluft. Die Menschen erschienen
mir aufrechter im Wuchs, großzügiger im Denken, freier im Verkehr
und jeder Handlung. Die Haltung der Männer der Frauenwelt gegenüber
erfüllte mich mit Bewunderung für die Männer, die Stellung der
Frauenwelt erschien mir so göttlich, daß ich mich meiner Erdhaftigkeit
fast schämte und mich bekümmert fragte, ob ich mit meinen besten
Sonntagsgedanken wohl je einer solchen himmlischen Höhe würdig werden
würde. Ach, mein Erwachen aus Traumland war eine starke Erschütterung.
Es lebte da drüben eben ein jeder sein eigenes Leben, Männlein wie
Weiblein, und sie waren bei Licht betrachtet nicht größer als im alten
Europa und nur so frei, als einer dem anderen die Freiheit ließ.
Die so Aufrechten gingen unterm Joch der Arbeit wie bei uns, die so
Großzügigen kämpften vorher um jeden Dollar, die göttliche Verehrung
der Frau war ein Sport wie hundert andere, und manche der Engel Gottes
schleiften insgeheim die Flügel durch den Staub wie in aller Welt. Es
war nichts mit der ungekannten und verstärkten Lebensluft, wenn man
sie erst genügend eingeatmet hatte, und wenn man in Slawien die Frauen
prügelt und in Amerika mit Weihrauch umwedelt, so ist es nichts als
ein anderer Landesbrauch und beileibe keine seelische Vervollkommnung.

»Ach, meine arme Seele. Wie hat sie frieren müssen, als sie erwacht
war. Wie hat sie nach den warmen Tiefen gesucht und die abgekühlten
Oberflächen gefunden. Wie hat sie nach einem zusammenklingenden
Zweiklang gelauscht, wo jeder mit sich und sich allein beschäftigt
war. Nein, die Menschheit unterscheidet sich nirgendwo. Nur ihre
Gepflogenheiten.«

»Sprich weiter, Angela. Es hört sich dir gut zu.«

»Es mag eine gute Gepflogenheit der Yankees sein, daß sie die
Konzertsäle bevölkern. Es gehört zum guten Landeston. Und so spielte
ich vor vollen Sälen in Neuyork und den großen Städten des Ostens, in
Boston, Philadelphia, Baltimore, und der Erfolg verstärkte sich immer
mehr, je weiter ich und die ruhmredigen Ankündigungen über Chikago
nach dem fernen Westen kamen, nach Los Angeles, San Franzisko und nach
Portland und Seattle im Norden. Und wieder ging es den Mississippi
entlang bis Saint Louis und in den grellen Süden hinein bis zu den
spanisch gefärbten Yankees von Neuorleans. Gott habe ich gedankt,
als ich wieder nach dem Osten kam und den Hafen Neuyorks begrüßte,
denn außer den vielfarbigen Wunderbildern der Natur hatte meine Seele
nichts gewonnen als eine immer größere Leere.

»Da stand ich im Hafen. Heimatselig. Und meine Seligkeit hieß
Kornelius Vanderwelt. Und da war der Weltkrieg, und da war das
Ausfahrtverbot.

»Ach, du, das kann ich dir nicht schildern.

»Hundert Wege bin ich gelaufen, hundert geheime Besprechungen habe
ich abgehalten und Überfahrtspreise in jeder Höhe geboten. Ich mußte
bleiben. Und dann begann die Zeitungspresse ihre Tätigkeit, und in den
Volksmengen fing es an zu quirlen wie in einem gelockerten Moorgrund,
und die Vermittler und Leiter der Konzerte wurden unverschämt, und
die von uns, die sich beugten, wurden gnädig bevorzugt. Nur bei einer
Absage der anderen wurde ich noch zugelassen, und ich spielte in den
Jahren nur noch so oft, daß ich meine Ersparnisse nicht anzugreifen
brauchte, und das war gut so, denn das verhetzte und sich selbst nicht
mehr kennende Amerika sprang in den Weltkrieg hinein.

»Erlaß mir die Schilderung des letzten Jahres. Wir Deutsche wurden
als Gefangene behandelt, und ich gewöhnte mir das Rauchen an.
Tagelang hab' ich geraucht, um über die sehnsuchtswunden Gedanken
hinwegzukommen, die bei jeder Berührung wie Tiere im Käfig schrien,
und über die sehnsuchtswunden Gedanken hinweg zu dir.«

Sie warf den Rest des Tabaks in einen Behälter, wischte sich mit ihrem
Tuch über Fingerspitzen und Lippen.

»Ich bin zu Ende. Von der Heimfahrt weiß ich nichts mehr, als daß
die Wellen schäumten und die Wolken jagten. Das einzige Bild, an
dem ich Gefallen fand. Und daß mich in Hamburg ein Brief meines
greisgewordenen Musikprofessors erwartete, der mir ein Konzert in Köln
anbot. Ich drahtete zurück: ›Angenommen.‹ Plötzlich war mir, als
müßte ich einmal, ein einziges Mal in der großen Öffentlichkeit vor
dir, für dich spielen. Als würdest du kommen. Als würdest du sehen, ob
das entwichene kleine Mädchen Wort gehalten und eine reife Künstlerin
geworden wäre. Und --«

»Und --« wiederholte Kornelius Vanderwelt mit angehaltenem Atem.

»Und ferner wollte ich,« sagte Angela Freydag, ohne zu stocken, »daß
du aus der Menge heraus auch die reifgewordene Frau sehen solltest und
dich fragen könntest: Hat mein Herz noch so schnell geschlagen wie im
Walde?«

»So sicher wußtest du, daß ich kommen würde?«

»So sicher wußte ich es.«

»Und wenn ich nicht daheim gewesen wäre oder krank gelegen hätte?«

»Ich glaube, auch das hätte ich gewußt, und ich wäre zu dir an dein
Bett gekommen. So aber war es schöner.«

Sie atmete tief und wohlig, und ihre Augen lachten ihn an.

»Wie der Seeräuber aus dem Blut deiner Vorfahren kamst du mit dem
Enterbeil auf mein Deck gestürmt, überranntest die Musikanten,
kapertest mich und verschwandest mit der Beute, ohne eine Kielspur zu
hinterlassen.«

»Hat das denn nie ein anderer außer mir gewagt? Hatten denn die Männer
da draußen keine Augen im Kopf?«

»Es hatten da draußen mehr Männer Augen im Kopf, als mir lieb war.
Aber ich hatte ~auch~ Augen im Kopf.«

»Und es fand keiner Gnade vor diesen klugen, grauen Augen?«

Sie schüttelte den Kopf. Das Lachen war verflogen.

»Nicht scherzen, Kornelius. Bitte nicht mit diesem einen Ding. Andere
Männer! Gut, ich will es dir erklären, wenn du so blind oder so
vergeßlich geworden bist. Selbst auf die Gefahr hin, daß du es gern
aus meinem Munde hören möchtest. Andere Männer! Ich kannte keinen,
ehe ich zu dir kam, oder doch nur solche, vor denen ich das Beben
hatte. Du erst hast das Weib in mir geweckt. So zart und sacht, daß es
nicht erschrecken konnte. Du hast das Störrige weich und das Eckige
rund geformt und der Seele ein Haus gebaut, daß sie zum erstenmal
wagte, die Flügel auszubreiten. Jeden Gang meiner Füße hast du richtig
gesetzt, jeden Gang meiner Gedanken höher geleitet. Und das Herz zum
Schlagen gebracht. Wenn deine Hand über mein Haar glitt, wenn deine
Hand über meinen Rücken streichelte, mußte ich die Augen schließen, so
rieselten alle deine Kräfte durch meinen Körper. Und als ich im Walde
sehend wurde und ich den ganzen Reichtum des neuen Lebens gewahrte: du
warst der Schöpfer.

»Andere Männer, Kornelius. Damals in meinem Mädchenüberschwang magst
du mir wie der Ritter Sankt Georg vorgekommen sein. Nun darfst du
lachen. Das erwachte Weib in mir hat es auch getan. Du warst für die
Erwachte der Mann, der einzige, ~der~ Mann.

»So konnte mich keiner da draußen in der Welt überrumpeln, denn meine
Augen hatten von dir das Sehen gelernt. Ungeblendet schaute ich in
jeden hinein, durch jeden hindurch, wie durch ein leeres Glas. Weil
das Mädchen durch dich zum Weibe geworden war und sein Stolz auf deine
Schöpferliebe kein Hinuntersteigen zuließ. Auch nicht zum Scherze.

»Nun hab' ich dir alles gesagt.«

»Und bist zu mir zurückgekehrt, Angela-Engel, ohne Angst?«

»Ich kann kein kleines Liebchen mehr werden, weil ich eine zu starke
Frau geworden bin, Kornelius.«

»So sage mir noch eines, und ich weiß genug für Zeit und Ewigkeit: Wie
lange darf ich dich im Neste halten?«

Angela Freydag legte die Hände im Schoße zusammen. Ihre Augen
wanderten die bildgeschmückten Wände entlang, streichelten im Raum
jedes Gerät, kehrten zurück und lagen voll auf dem Manne.

»Du hast das rechte Wort gewählt, Kornelius. Das Nest. Dies ist
das meine und kein anderes. Die Künstlerin wird zum Winter wieder
ausfliegen müssen, die Angela kehrt immer wieder mit den Schwalben ins
Nest zurück.«

»Es genügt mir,« sagte Kornelius Vanderwelt, »und ich danke dir.«

An die Tür des Arbeitszimmers pochte das Mädchen und fragte an, ob es
das Mittagessen auftragen dürfe.

»Das ist gescheit, Martha. Wir haben Hunger wie die Wölfe.«

Am Arm führte er Angela Freydag ins Eßzimmer hinüber und freute sich
auch hier an ihrer Wiedersehensfreude.

»Dort stand Weihnachten der große Koffer und der kleine Koffer,«
flüsterte sie ihm zu. »Sie sind meine treusten Begleiter geworden.«

»Und in meinem Schlafzimmer steht die alte Reisetasche, die du nicht
von den Knien tatst. Greif zu, Wölfin.«

Da warf sie alle Frauenhoheit ab und aß mit dem Heißhunger des
Mädchens von einst.

»Weil Festtag ist,« sagte er, entkorkte eine edle Flasche und schenkte
die Gläser voll. »Ich trinke dein Wohl in diesem und in jenem Leben,
Angela-Engel.«

»In diesem und in jenem Leben trinke ich das deine, Kornelius.«

Draußen fuhr der Wagen vor. Unbeweglich wartete der Fahrer auf seinem
Sitz.

»Es ist wieder der Wilm von damals, Engel. Aber er kennt dich nicht,
und wenn ich ihn totschlüge.«

»Darf ich mit dir?« fragte sie hastig.

»Wo wäre denn sonst der Festtag, Engel?«

Und sie gingen hinaus und stiegen ein, und Kornelius Vanderwelt gebot
dem Fahrer die Richtung.

Angela Freydag sah das Stadtbild kaum. Sie wartete auf die Landstraße.
Zusammengekauert saß sie in ihrer Ecke, und erst als Städte und Dörfer
hinter ihnen geblieben waren, wurde sie unruhig und rieb die blanken
Scheiben, als wäre es blindes Glas. Keinen Zug verlor er aus ihrem
erregten Gesicht.

»Da ist sie -- die Landstraße! Aussteigen möcht' ich und mit bloßen
Füßen darüber hin und her laufen. Da ist die Ruhr! So silbrig und
rein, als läge kein Ruhrort am Ende ihres Weges. Und da --«

»Da liegt der Wald,« sagte Kornelius Vanderwelt, und seine Stimme
bebte vor Freude.

»Ja, der Wald -- --« sprach sie ihm nach. »Und der Wolkenbruch riß mir
die Kleider vom Leib und das Herz auf die Zunge.«

Ohne sich anzurühren, fuhren sie weiter und fuhren bis Kettwig vor der
Brücke, wo sie wie geruhige Bürgersleute den Kaffee in der blinzelnden
Frühlingssonne eines Gärtchens tranken. Und fuhren am Spätnachmittag
heim und kamen in der Dämmerung an den Hafen.

»Halt, Wilm. Wir steigen aus. Abendessen unnötig. Alles wie immer.«

Der Fahrer grüßte stumm, wendete und fuhr den Wagen nach Hause.

Kornelius Vanderwelt schritt über den Laufsteg zu einem Boot, das in
den Tauen knirschte, und sie folgte ihm. Es war eine zierliche weiße
Motorjacht mit einem Kajütenaufbau, der sich gegen das Steuerrad hin
öffnete und mit Wandschrank, Tisch und Rundpolster ausgestattet war.

»Mein Eigentum,« sagte Kornelius Vanderwelt und wies ihr das Triebwerk
und die Führung.

Der Vorfrühlingsabend hatte seine junge Wärme dem scheidenden Tage
hingegeben, und es wehte frisch über die Rheinwasser.

»Tut nichts. Ich mach' einen Matrosen aus dir, der Wind und Wetter
gewachsen ist.« Und er nahm einen Ölmantel aus dem Schrank, half ihr
hinein und knöpfte ihn ihr bis zum Kinn hinauf zu. Ganz still stand
sie unter seinen Händen. Und die Schirmmütze ließ sie so verwegen auf
dem Kopfe sitzen, wie er sie ihr über die Flechten gezogen hatte. Er
trat einen Schritt zurück und begutachtete sie.

»Wie ein echter und rechter Leichtmatrose schaust du aus. Wie ein ganz
gefährlicher Bursche.«

Sie hob den Kopf und streckte steif die Arme an das Ölzeug.

»Leichtmatrose Engel,« meldete sie. »Zum persönlichen Dienst
angemustert auf Boot ›Kornelius‹!«

»Junge,« sagte er, »wenn dir vielleicht um einen Vorschuß auf die
Heuer zu tun ist --«

»Ich möchte den Baas nicht vorzeitig in Unkosten stürzen.«

»Schlauberger, du willst nur die Zinsen anlaufen lassen.«

»Hat der Baas noch andere Wünsche? Ich kann auch Klavierspielen,
wenn's verlangt wird.«

»Wart's ab, bis wir an Land kommen, du Tausendkünstler. Hier klaviert
der Wind auf den Wellen.«

Er löste die Taue, warf die Maschine an und packte das Steuerrad. Das
Boot trieb vom Steg, stand zitternd unterm Steuerdruck und glitt wie
ein Pfeil von der Sehne. Im schimmernden Rheinwasser arbeitete es
gegen den Strom auf und verschwand in Wasser und Dunst.

»Mach' dich nützlich, Junge! Drück' auf den Knopf links!« Und Angela
Freydag freute sich wie ein kleiner Schiffsjunge, als unter ihrem
Fingerdruck die elektrischen Fahrtenlichter über die Wasserbahn
blitzten. Mit gehöhlten Händen rief sie einem vorüberkeuchenden
Schleppdampfer ihr »Hoiho!« zu und war stolz, als der fremde
Steuermann mit Nachdruck entgegnete.

»Ich hab' ihn zwar nicht verstanden, Kornelius, aber schön war's auf
alle Fälle!«

»Es war eine der landesüblichen Höflichkeiten,« erwiderte Kornelius
Vanderwelt, und der Wind riß ihm die Worte vom Munde. »Die Bedeutung
ist Nebensache. Auf die Gesinnung kommt's an!«

Unter dem breiten Mützenschirm lachten ihre Augen. Ihr Gesicht war vom
Wasserwind gerötet wie das einer Indianerin auf dem Amazonenstrom,
und das geschmeidige Ölzeug schmiegte sich prall um die Linien ihres
Leibes.

»Hei, du mein lieber Schiffsjunge!«

»Hei, du mein lieber Schiffersmann!«

»Ich muß meinem Mund zu tun geben, sonst springt er zu dir hinüber!«

»Steck' dir eine Pfeife an! Rauchen ist das beste Heilmittel! Rauchen
bringt über alles hinweg!«

Er hielt das Steuerrad des brausenden Bootes mit der Linken
und nestelte mit der Rechten die gestopfte Schagpfeife aus der
Seitentasche. Aber wie kunstreich er sich auch mühte, einhändig blieb
er unbehilflich, und der Wind blies ihm wieder und wieder die Flamme
des Streichholzes aus.

»Du pfuschest mir in den persönlichen Dienst, Baas. Gib die Pfeife
her. Ich werde sie dir anzünden.«

Und Angela Freydag nahm ihm die Pfeife aus dem Munde, steckte die
geradgerichtete Spitze zwischen ihre Lippen, wandte sich gegen die
Kajüte und brachte den Tabak zum Glühen.

»Willst du mir wohl die Pfeife nicht ausrauchen, du Unband?«

»Zwei Züge noch. Nein, drei. Ich muß meinem Munde auch zu tun geben.«

Sie trat an ihn heran und steckte ihm die lustig brennende Pfeife
zwischen die Lippen. Und wieder ließ er mit der Rechten das
Steuerruder los und erhaschte ihre Hand und legte sie flach gegen
seine wetterbraune Wange.

»Mein liebes, frohes, frohmachendes Mädchen du -- --«

»Wenn ich das bin, bin ich soviel wie eine Königin.«

»Und ich dein geliebter Untertan.«

»O du geliebter Untertan, wie weise du bist. Ein Untertan, der mein
Geliebter ist, ist mein Herr!«

»Beides sein, Angela-Engel, beides sein! Herr des anderen und Untertan
seiner Liebe! Und das Königreich schließt um uns her alle Tore zu.«

Er gab mit einem kräftigen Druck ihre Hand frei, beugte suchend sich
vor und packte das Steuerrad mit beiden Fäusten, um einen vor Anker
liegenden Schlepperzug zu umfahren. Kreuzend glitt das Boot über den
dunklen Wasserspiegel, und die Stunden rannen.

»Es wird Nacht,« sagte der Steuermann, »und es ist Zeit, umzukehren.
Wende noch nicht den Kopf, Engel. Laß dich überraschen. Das schwarze
Ruhrort ist eine Zauberin und läßt den, der es liebt, das traumhafte
Venedig erblicken.«

Das Boot legte sich schräg gegen das Wasser und beschrieb aufrauschend
einen Bogen. Angela Freydag öffnete den Mund. Sie wollte einen Schrei
ausstoßen und vermochte es nicht. Sie streckte die Arme aus und
starrte mit weitgeöffneten Augen. Ruhrort war versunken. Versunken
mit allem, was im Werktagslicht zu ihm gehörte. Versunken mit den
geschwärzten Giebeln und Schloten und den Kohlenhäfen und den
ächzenden, breitbäuchigen Booten. Und ein Vineta war an seiner Statt
erstanden, aus den geheimnisvoll glitzernden Wassern des Rheins und
der Ruhr, der Hafenbecken und Kanäle aufgetaucht. Tausende von weißen,
Tausende von farbigen Lampen schlangen sich in leuchtenden Gewinden
durch die Luft, überströmten mit Märchenlicht die Mauern, daß sie
wie Paläste schimmerten, schufen aus Schloten ferne Glockentürme,
aus flachen Fabriken morgenländische Festungswerke, rankten sich um
die schlummernden Lastkähne und verzauberten sie in Prunkgondeln
des Dogen, die aufgellenden Harmonikaklänge in sehnsuchtsheißes
Gitarrengetön und die nächtigen Brückenbogen allüberall in
licht-erzitternde Seufzerbrücken der Seligkeit. Und in loderndem
Kranze ringsum, Feuerberge der Sage, spien die Hochöfen ihre Flammen
gegen den purpurgefärbten Himmel.

»Fürstenempfang,« sagte der Mann am Steuer. »Ruhrort begrüßt eine
Fürstin der Kunst.«

»Nein, die Geliebte Kornelius Vanderwelts ...«

Das Boot glitt in den Lichtkreis hinein. Hinter ihm blieb eine
leuchtende Spur. Und es glitt an die Quadermauer des Hafendammes,
stoppte ab und legte am Laufsteg an. Ein Nacherbeben lief durch seine
Glieder.

Kornelius Vanderwelt hatte das Boot am Pflock vertaut und schlang den
Schifferknoten. Er bot der Gefährtin die Hand und half ihr an Land.
»Ach, Engel, du hast noch das Ölzeug an.« Und er öffnete Knopf für
Knopf bis unter das Kinn, und wieder stand sie ganz still unter seinen
Händen.

Als sie durch das Nachtdunkel dem Hause zuschritten, spürten sie
beide, daß ihre Schultern sich suchten.

Das Haus lag dunkel und still. Tiefe Ruhe umfing sie, als sie
eintraten und Kornelius Vanderwelt das Licht aufflammen ließ. Im
Ablegeraum reinigten sie ihre Hände vom Öl und Staub des Schiffes und
betraten das Arbeitszimmer. Im Licht der Lampen stand der Imbiß auf
dem Tisch und wartete der Heimkommenden.

Angela Freydag war es, als hätte sich in dem Dutzend Jahre ihres
Fernseins nichts geändert. Nein -- nichts, nichts.

»Greif zu, Engel, du wirst Hunger haben.«

Sie schüttelte den Kopf. »Iß du --«

Er schenkte zwei Gläser voll Rheinwein. »Mehr kann ich auch nicht. Und
auch das nur, wenn du mir Bescheid tust.«

Sie nahm das Glas aus seiner Hand und ließ es leise gegen das seine
klingen. Und während sie hinter dem schwingenden Klange herhorchten,
der wie ein Gewisper das Zimmer erfüllte, trank ein jeder sein Glas in
langen Zügen leer.

Als sie die Gläser auf den Tisch zurückstellten, berührten sich ihre
Hände. Und so stark schlug die leise Berührung in ihr Blut, daß sie
aufschraken und sich wortlos ansahen, als sähen sie sich so zum ersten
Male. In einem Schrecken, der die Überfülle der Freude war.

Kornelius Vanderwelt sprach zuerst. Er hörte die eigene Stimme wie aus
weiter Ferne.

»Ich muß dir etwas sagen, Angela. Es ist gewiß überflüssig, daß
ich es dir sage, aber es tut dir vielleicht wohl. Als ich dich zum
ersten Male sah, als Glücksritterin auf der Landstraße, gefielst du
mir. Als ich dich zum zweiten Male sah, auf deiner Flucht aus den
›Fünf Erdteilen‹, horchte etwas in mir auf. Als ich dich zum dritten
Male sah, im Walde dich selbst, war eine atemlose Freude in mir. Der
Volksmund sagt: Vor Freud' drückt's mir das Herz ab. Nun sprich du.«

»Ich, Kornelius?«

»Ja du, Angela. Es muß jeder seine Beichte tun.«

»Leg' den Arm um mich, Kornelius, und zieh mich so fest an deine
Brust, daß ich nicht mehr weiß, wo mein Atem endet und wo dein Atem
beginnt, und du hast alle Beichte meines Lebens. In Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft, Kornelius.«

Auge in Auge standen sie, Knie an Knie. Und er umschlang sie so fest,
daß ihr Gesicht weiß wurde und aus dem weißen Gesicht ihr Mund ihm
scharlachrot entgegenleuchtete.

»Dein Herz,« sagte er, und seine Hand lag auf ihrer linken Brust.

»Du drückst mir das Herz ab, du --«

»Wer ist ›Du‹ --?«

»Meine Freude!«

»Und meine Hand hält ~meine~ Freude.« -- --

Es war eine große Feiertagsstille in den beiden Menschen, und die
Feiertagsstille ging durch das ganze Haus. Wunsch und Wille strömten
zusammen zu einer Lebenswelle. -- -- --




                                  7


Keiner von den vielen, mit denen Kornelius Vanderwelt in
geschäftlichem oder geselligem Verkehr stand, die mit ihm arbeiteten
oder mit ihm auf ihre Weise den Feierabend hielten, hatten ihn
seit Jahren so jung und tatendurstig gesehen wie in diesen
Frühlingsmonaten. Sein Auge hatte das alte Feuer zurückgewonnen,
sein Mund die frohe, schlagkräftige Rede, und wenn er um die
Mittagsstunde durch das Gewühl vor der Schifferbörse schritt, aufrecht
in den Schultern und biegsam wie ein Junger, lachte es ihn aus den
verwitterten Gesichtern in vertraulichem Stolze an, und ein Vorlauter
raunte wohl: Kornelius Vanderwelt ist in seine zweite Jugend gekommen.

Der aber, dem das Raunen galt, wußte es besser. Er fühlte es täglich
und stündlich, daß keine zweite, keine Scheinjugend zu ihm gekommen
war und er nicht zu ihr, daß er wieder auf dem Wege seiner ersten und
einzigen Jugend schritt und ihn nicht mehr verlassen würde, bevor die
ewige Nacht es wollte.

Nein, er dachte nicht an die ewige Nacht. Er dachte überhaupt nicht an
Tag oder Nacht. Er dachte nur an das starke Leben, das ihn umfing und
das sich aus dem edlen Ebenmaß der Tage und Nächte zusammensetzte wie
der Körper aus Haupt und Gliedern. Und daß es Angela Freydag war, die
das edle Ebenmaß bewirkte, durch nichts anderes als durch ihr Dasein.

Daß sie da war. Daß sie im Morgen seines Tages stand und im Mittag
und im Abend. Daß sie so sicher und verläßlich da war, wie Morgen,
Mittag und Abend wechselten. Über alle Liebe hinaus war es diese
starke Verläßlichkeit ihres Wesens, die ihm die federnden Kräfte
schenkte. Weil sie ihn des Rückwärtsschauens überhob.

Wenn Kornelius Vanderwelt im Getriebe des Geschäftes der Gefährtin
gedachte -- und er trug ihr Bild im Drang der Kontorarbeit bei sich
und im Getöse des Hafenverkehrs -- so leuchtete sein Inneres wie von
geheimen Lichtern, und eine Wärme floß durch sein Blut, daß er mitten
in Arbeit und Verhandlung die Arme dehnte ...

In den ersten Tagen ihrer Wiederkehr hatte sich Angela Freydag ihr
kleines Reich gerichtet. Kornelius Vanderwelt hatte es lächelnd in
Augenschein genommen.

»Hübsch schaut dein Stübchen aus, Engel. Alles so blank und
säuberlich geordnet, wie die weißen und schwarzen Tasten auf deinem
Konzertflügel. Doch, doch, es ist der deine, der da drüben. Und wenn
du dein Reich nun doch schon mit dem Musikzimmer vergrößern mußt, um
zu dem deinen zu gelangen, so tue ruhig einen Schritt weiter in mein
Arbeitszimmer und nimm die andere Seite des Schreibtisches für dich.«

»Gern, Kornelius, und du sollst nichts von mir merken.«

»Das ist ja eben das Wunderschöne, Engel, daß ich es an der Leere des
Zimmers merken würde, wenn du nicht da wärst.«

»Weißt du auch, daß du mich verwöhnst?«

»Ich weiß nur, daß ich mich verwöhne und daß mir wohl ist, wie nie im
Leben.«

»Wenn es an mir liegt,« erwiderte sie nur und sonst nichts, »sollst du
froh bleiben.«

Und er blieb froh, und sie blieb es mit ihm über alle Maßen. Tief
im Brunnen ihrer Kindheit verschüttete Gaben und Begabungen
tauchten auf, aus den Zeiten, da sie als halbflügges Mädchen für den
kleinen, elterlichen Haushalt einstehen mußte. Wenn der Vater eine
Opernvorstellung leitete und die Mutter, jählings den Nerven folgend,
Haus und Herd im Stiche ließ und dem Manne an der Theaterpforte
auflauerte. Oder aus den Tagen, da der Vater in einer Winkelkneipe
sein Eheelend niedertrank und die Mutter durch die Gassen irrte, um
ihn zu finden und wieder an sich zu ketten. Damals war sie Kind und
Köchin, Hausversorgerin und Helferin in eins gewesen, und während
ihres armseligen, körperlichen Dahinlebens auf der Musikhochschule
waren ihr die bitteren Errungenschaften zum Heil und Segen
ausgeschlagen.

Auf starken Füßen stand sie heute im Leben. Und schon schmückte das
Grün des Lorbeers ihr Haar und wies ihr die weitgeöffneten Tore der
Welt. Und dennoch. Als wären es Schätze, die sie für den Geliebten,
den Toresprenger, aufbewahrt hätte, stieg sie in den Brunnen ihrer
Kindheit hinab und wählte und wog und förderte zutage. Weib war sie
geworden, und weil sie fühlte, daß sie es durch die Liebe zu dem einen
geworden war, gab es kein Ding für sie und kein Tun, das sie hätte
verkleinern können.

Wenn er morgens das Frühstückszimmer betrat, harrte sie schon im
weißen Kleide am weißgedeckten Tisch, und alles wehte ihn wie weiße
Frische an und ließ ihn frische Atemzüge tun. Ihre Hände, die jedem
Gegenstand Ausdruck verleihen konnten, als wären es die singenden
Tasten des Flügels, maßen den Tee in die Kanne, ließen das aufkochende
Wasser über die Teeblätter sprudeln, füllten die Tassen und schnitten
die Brote. Wenn er zum Mittag heimkehrte, fand er sein Arbeitszimmer
blitzblank in der Ordnung, und keine Hand als die ihre war über
den Schreibtisch gewandert, keine Hand als die ihre hatte gesorgt
und gesichtet, zurechtgerückt und doch alles in der alten Stellung
belassen. In schlichtem, kleidsamem Gewande, immer ein paar Blumen
an der Brust, saß sie mit ihm zu Tisch, und während er ihr sein
Erlebtes berichtete und sie kein Wörtlein davon verlor, schoben ihre
schmiegsamen Hände ihm in der Stille zu, was seine Augen suchten, das
Brot, den Wein, eine Frucht. Betrat er aber in der Feierabendstunde
sein Haus, ein wenig müde vom Tag und doch erwartungsvoll vor
dem, was er finden würde, so fand er sein Haus erleuchtet und den
Abendtisch geschmückt und inmitten von Licht und Farben das schöne
Geschöpf Gottes in der starken und gebändigten Freude, dem Manne eine
Freudenbringerin sein zu dürfen und sein bestes Teil. Nie erwartete
sie ihn zu dieser Stunde anders als in einem frohen und frohmachenden
Abendgewande, und der festliche Grundton ihres Beisammenseins war
angeschlagen, bevor sie sich zu Tische setzten, und hallte in
verstärkten Schwingungen fort, wenn sie, ihren Arm in dem seinen, das
Musikzimmer betraten zum ineinanderklingenden Zusammenspiel. Oder,
was er immer heißer liebte, zum Einzelspiel und zur Offenbarung ihrer
machtvoll gesteigerten Natur.

Solcher Gestalt waren die Tage und Nächte, die das edle Ebenmaß
hielten und doch in Farbe und Gestaltung vom Heute zum Morgen
wechselten, wie die Rose dem Flieder folgt und der glühende
Herbststrauß den Rosen und Syringen.

Solcher Gestalt und immer in sich verschieden.

Denn der schnelle Wagen blieb nicht im Gewahrsam und führte sie auf
weiten Fahrten landein und landaus in still träumende Landschaften und
lautwogende Städte. Und die weiße Motorjacht zerrte nicht vergebens im
Getaue und wußte Einblicke und Ausblicke auf den ungezählten Meilen
der Wasserbahn, die mit den Pferdekräften der Maschine spielend zu
gewinnen waren. Oft rötete sich im Osten der Morgenhimmel, und die
schlanken Uferpappeln streckten ihre Spitzen in das Purpurgold, wenn
sie heimkamen und mit verschlungenen Armen das Haus betraten.

Noch war kein Auge in die Verschmolzenheit ihres Lebens, in das
Geheimnis ihrer Kraft und Schönheit eingedrungen.

»Es wird Zeit,« sagte Angela an einem Morgen und strich ganz zart
über seine glücklichen Augen, »es wird Zeit, Kornelius, daß ich deine
Kinder sehe.«

»Meine Kinder sind erwachsene Menschen, wie du bist und ich bin, und
gehen ihre eigenen Wege.«

»Sie sollen nicht glauben, wir versteckten uns im Garten Eden,
Kornelius.«

Seine Augen flammten herrisch auf, und sie bedeckte sie rasch mit
beiden Händen.

»Ruhig, ruhig bleiben,« bat ihre Stimme.

»Wenn ich deine lieben Hände spüre, bin ich es, Engel. Und nun will
ich ganz ruhig sprechen. Meine Kinder haben zeit ihres Lebens nur von
ihren Rechten Gebrauch gemacht und nie an ihre Pflichten gedacht.
Sie haben sich aufs Geratewohl ihr Leben gezimmert, wie es sie am
angenehmsten dünkte, und meine Wünsche in den Wind geschlagen. Kann
ein Mensch oder eine höhere Gewalt von mir verlangen, daß ich die
Gleichstellung, die sie so früh erzwungen haben, noch unterbiete und
mich freiwillig unter ihre Vormundschaft begebe? Nein und nie, Angela.«

Er nahm ihre Hände von seinen Augen, legte sie eine Sekunde lang gegen
seinen Mund und schritt zum Schreibtisch, um die Aufschriften der
eingelaufenen Morgenpost anzusehen.

Sie folgte ihm mit den Blicken, bis er das Briefpaketlein wieder auf
die Tischplatte gleiten ließ und sich nach ihr umwandte. Ihre Blicke
ruhten ineinander.

»Konntest du mich wirklich mißverstehen, Kornelius? Nicht wahr, diese
Frage klingt schon ganz unmöglich? Es war nur dein rascher Zorn, der
den Unbilligkeiten anderer galt und mich dabei streifte. Nein, nein,«
wehrte sie in seiner schnellen Umarmung. »Es tut nicht weh. Wie könnte
mir die Liebe wehe tun? Und den Garten Eden habe ich ja gar nicht
ihrer Bevormundung unterstellen wollen. Eher brennte ich ihn mit
eigenen Händen nieder. Ja, du, ich wäre imstande dazu. Umgekehrt habe
ich es gemeint. Unser Garten Eden steht mir so hoch und unantastbar,
daß nicht einmal der Glaube an ein Versteckenspielen in anderen Köpfen
auftauchen darf, ohne eine Beleidigung zu sein. Unsere Stammeltern
sind nicht aus dem Paradiese vertrieben worden, weil sie vom Baum des
Lebens aßen, sondern weil sie feige waren und sich vor Gott versteckt
hielten, als er sie rief.«

»Und du? Und du?« rief er, hielt ihren Kopf von sich und sah ihr groß
in die Augen.

»Ich?« fragte sie zurück. »Ich oder du, es ist das gleiche. Wenn
dieser Baum unseres Lebens gefällt werden sollte, so würden wir
mitgefällt. Denn er ist nicht im Paradiese, sondern aus Dornen und
Disteln gewachsen und aus allem Unglauben unseres Lebens, so hoch, daß
wir lebensgläubig werden sollten.«

»Wie stark und furchtlos dein Glaube ist, Angela-Engel.«

»Wenn ich einem Menschen das Erdenglück bringen und tief empfinden
darf, wie es im Wechsel in mich zurückflutet, so weiß ich, daß ich
auf dem rechten Wege zum Himmel bin, soweit es Menschenkinder wissen
können.«

»Mit deinen reinen Händen, Angela. An deinen reinen Händen liegt es.«
-- --

Selten war Kornelius Vanderwelt so hochgemut über die Straßen
geschritten wie an diesem Morgen. Noch lag der Widerschein des
Erlebnisses auf seiner Stirn, als er das Geschäftshaus betrat und
durch die Pultreihen hindurch sein Sondergelaß aufsuchte.

Durch den Fernsprecher rief er zum Hauptkontor hinüber.

»Ich bitte Herrn Beckenried mit den Eingängen zu mir.«

Die Verbindungstür öffnete sich und schloß sich. Schritte kamen näher
und hielten an. Kornelius Vanderwelt wandte den Kopf.

»Ah, ihr seid es? Guten Morgen, Klaus. Guten Morgen, Thomas. Weshalb
kommt Vater Beckenried nicht?«

»Mein Vater,« hob Klaus Beckenried an, »läßt sich entschuldigen. Er
liegt krank zu Bett.«

»Oh -- das bedaure ich. Wieder einmal ein Anfall seines alten
Leberleidens?«

»Diesmal ist es die Galle.«

Kornelius Vanderwelt hob die Augen von den Briefschaften. Er sah dem
jungen Manne auf den zusammengekniffenen Mund.

»Du betonst das Wörtchen ›diesmal‹ so eigentümlich, Klaus? Hat es
einen Grund?«

»Ich wollte damit sagen, daß es einmal ein Leberleiden und einmal
ein Gallenleiden ist, was der Vater als Belohnung von dannen trägt.
Diesmal ist es die Galle.«

»Entspricht es deinem besonderen Wunsche, Klaus, daß Thomas unserer
Unterhaltung beiwohnt? Ich pflege sonst den Kreis der Zuhörer selber
zu bestimmen.«

Der junge Beckenried blickte in die Zimmerecke.

»Es entspricht meinem besonderen Wunsch. Er kann nur daraus lernen,
wie ein Mitglied der Familie Vanderwelt sich ~nicht~ zu benehmen
hat. Jawohl, das behaupte ich.«

»Darf ich fragen, um welches Mitglied der Familie Vanderwelt es sich
handelt.«

»Um Juliane handelt es sich.«

»Da bedauere ich recht herzlich. Juliane ist auf dein
leidenschaftliches Begehren vor sechs Jahren aus der Familie
Vanderwelt ausgeschieden, um ohne Aufschub zu einem Mitglied der
Familie Beckenried zu werden. In diesem Falle müßte sich also ein
Mitglied der Familie Beckenried schlecht benommen haben.«

»Es handelt sich hier nicht um Spitzfindigkeiten,« brauste der
Erbitterte auf.

»Nein, es handelt sich in meiner Gegenwart um Ruhe und guten Ton. Wenn
deine Angelegenheit wieder einmal keinen Aufschub verträgt, wie vor
sechs Jahren bei der Kriegstrauung, so nimm Platz und erzähle mir,
durch welche Umstände sich dein Vater ein Gallenleiden zugezogen hat.«

Er wies höflich auf einen Stuhl, und der junge Beckenried setzte sich
widerwillig auf die Kante.

»Darf ich mich jetzt beurlauben,« fragte Thomas Vanderwelt, und über
sein verblaßtes Gesicht lief der Spott.

»Da dein Schwager Klaus dich bestimmt hat, mit einzutreten, so mag er
weiter bestimmen.«

»Ich weiß ja nicht einmal mehr, was ich selber hier soll,« murmelte
der junge Beckenried und hob die Achseln, »nach der geschickten
Wendung, die du dem Gespräch gegeben hast.«

Kornelius Vanderwelt strich sich über die Stirn. Und es war ihm, als
ob er Angelas kühlende Hand fühlte.

»Es freut mich, Klaus, daß du meine Geschicklichkeit, ein Gespräch
ohne Umschweife in die rechte Bahn zu lenken, anerkennst. Du tust es
ein bißchen grimmig. Aber verärgerte Leute haben das Recht des Grimmes
voraus. Also deine Frau hat dir Grund zur Unzufriedenheit gegeben,
und du möchtest meine Erfahrenheit um Rat fragen. Ich bin ganz Ohr.«

»Die schlechte Mädchenerziehung Julianes«, stieß der Erzürnte hervor,
»trägt in der Ehe von Jahr zu Jahr herrlichere Früchte. Ach, was sage
ich! Von Tag zu Tag! Von Tag zu Tag wird ihr Betragen unerträglicher.
Erst hat sie mir das Geld aus der Tasche genommen. Jetzt, da ich mich
vorsehe, nimmt sie es dem Vater. Und gestern --«

»Halt einmal,« ersuchte Kornelius Vanderwelt und winkte mit der Hand
kurz ab. »Die schlechte Erziehung meiner Tochter steht hier nicht
zur Untersuchung, sondern das schlechte Benehmen deiner Ehefrau.
Bitte, ~ich~ habe das Wort, du hast das unfertig erzogene Kind
gewollt, wie es ging und stand und aus der Schweizer Erziehungsanstalt
weggelaufen war. Acht Tage eines ziemlich ungebundenen Zusammenseins
schienen dir vollauf zu genügen, um ihr liebenswertes Gemüt so
schwärmerisch zu ergründen, daß es eine Kriegstrauung auf Knall und
Fall geben mußte. Ich habe dich ernst gefragt und dich ernst gewarnt,
und du hast dich verantwortungsfroh vor mich hingestellt und mir deine
und ihre Vorzüge aufgezählt. Noch höre ich dein Wort im Ohr: ›Herr
Vanderwelt, ich enttäusche Sie nicht‹ und meine Antwortfrage: ›Wissen
Sie denn nach einer wilden Reise von acht Tagen, daß Juliane Sie nicht
enttäuschen wird?‹ Aber mein Rat, das Ende des Feldzuges abzuwarten,
wurde rückhaltlos zur Seite geschoben. Nun ~suchst~ du Rückhalt.«

»Ich suche keinen Rückhalt! Ich ersuche dich um dein väterliches
Eingreifen!«

»Lieber Klaus, das wäre! Eheangelegenheiten liegen immer nur zwischen
zweien. Die seligen Tage wie die weniger beseligenden. Wenn du
einer Frau noch nicht gewachsen warst, so hättest du das Heiraten
unterlassen sollen. Aber keinen Dritten hineinziehen. Keinen Dritten,
wenn dir an Glück und Ehre gelegen ist.«

»Predige es doch deinem Sohn Thomas! Seine Ehre kann es weit mehr noch
gebrauchen als die meine!«

Thomas Vanderwelt zog die Lippen von den Zähnen.

»Ich beklage mich ja auch nicht. Ich belustige mich höchstens. Auch an
dir, teurer Schwager Klaus.«

Kornelius Vanderwelt lehnte sich mit kühler Stirn im Stuhle zurück.

»Die persönlichen Unterhaltungen sind hiermit beendet. Was habt ihr
mir Geschäftliches vorzutragen?.«

Der jüngere Beckenried erhob sich straff von seinem Stuhl, und auch
Thomas Vanderwelt ließ seine Lässigkeit fahren und stand in aufrechter
Haltung vor dem Geschäftsherrn. Das Geschäft regierte die Stunde.

Der junge Beckenried trug die eingegangenen Aufträge vor. Nach jeder
einzelnen Nennung wartete er die Bemerkungen des Geschäftsherrn ab
und machte sich seine Aufzeichnungen. Thomas Vanderwelt berichtete
über das Angebot des Schiffsraumes, nannte die Eigentümer der Kähne
und ihre Forderungen. Dann waren sie entlassen, und Kornelius
Vanderwelt arbeitete für sich, prüfte die Verteilungspläne, Lade- und
Löschzeiten und die Möglichkeiten der Rückfrachten. Oft hob die Hand
den Fernsprecher ab, verhandelte er kurz mit den Werken, Zechen und
Reedereien, rief er die Auftraggeber am Oberrhein, in Holland, an den
Kanalplätzen an und schrieb und rechnete aufs neue. Jeder Gedanke war
scharf auf die Schiffsverfrachtungen gerichtet. Nicht einer sprang ab
und suchte einen Haken auf das persönliche Gebiet zu schlagen. Die
Willenskraft des Mannes hielt sie ans Stichwort gebannt.

Um die elfte Morgenstunde überschritt er den Hafendamm und stand eine
Weile eingekeilt zwischen den angesammelten Schiffern. Hände legten
sich auf seine Schultern, Zurufe wirrten in seinem Ohr.

»Wir finden bei dem Geschäft keine Rechnung mehr, Herr Vanderwelt!
Wenn wir glücklich im Bestimmungshafen anlegen, is et Geld entwertet!
Wat tun wir mit den steigenden Frachtlöhnen, wenn der Geldwert noch
schneller fällt. Dat is Beutelschneiderei! Da soll der Deubel fahren,
aber nich wir!«

»Vernunft behalten!« rief ihnen Kornelius Vanderwelt entgegen, »wenn
der Deubel fährt, könnt ihr die Asche kratzen. Es ist die verfluchte
Zeit, die Beutelschneiderei betreibt, nicht der Handel. Aber es muß
ein Ausweg geschaffen werden.«

»Herr Vanderwelt, Sie haben so oft unsere Sache in Ihre Hände
genommen, helfen Sie uns aus dem Dreck!«

»Wenn ihr Zutrauen zu mir habt --«

»Haben wir alle!«

»Ein weiser Mann hat einmal gesagt: Getretener Quark wird breit, nicht
stark. Und nun laßt mich hineingehen.«

Ein paar Hochrufe erschallten. Und Kornelius Vanderwelt wußte nicht,
ob sie dem Weisen von Weimar galten oder seiner Mittlerperson.

Er betrat die Halle der Schifferbörse und suchte den Vorstand auf.

»Wollen wir keine Stockungen im Handels- und Schiffsverkehr, so
schlage ich die Gutschrift der Löhne in Gulden vor, meine Herren, bis
sich die deutsche Reichsmark wieder sehen lassen kann. Wir stehen
erst am Beginn der Wertsenkung und es wird im Vaterlande ein wüstes
Durcheinander werden. Erhalten wir uns die Kahnführer arbeitsfreudig,
mit einigen Opfern am Kursgewinn kann es geschehen, und die Schiffahrt
wird oben schwimmen, wenn es mit den meisten anderen Unternehmungen
in den dicken Nebel oder jäh in die Tiefe geht.«

Der Vorstand beschloß, sofort die in den Ruhrhäfen verladenden
Firmen und die in den Ruhrhäfen verkehrenden Einzelschiffer, die
›Partikuliers‹, zu einer Börsenversammlung einzuberufen und dem
drohenden Unwetter vorzubeugen.

Die Masse der Schiffer hatte sich noch nicht vom Platze bewegt, als
Kornelius Vanderwelt wieder aus der Halle trat. Die Leute schauten ihn
schweigend, aber mit gekniffenen Augen an.

»Börsenversammlung! Mit abgekürzter Einladefrist!« rief er den
Nächststehenden zu. »Kerle, die in Wind und Wetter ihren Mann stehen,
werden es wohl auch bei dem bißchen Geblase an Land. Also ruhig und
würdig, Leute. Mit dem Koller fährt man auf und mit der Kaltblütigkeit
wirft man das Schiff ins Fahrwasser herum. Wollen mal sehen, was mit
dem holländischen Gulden zu machen ist, he? Die Einzelschiffer stimmen
gleichberechtigt mit den Firmen.«

Die Nächststehenden hatten Satz für Satz weitergegeben. Es wurde
still, und die gekniffenen Augen weiteten sich friedlich. Ein Alter,
der den Bart als Schifferkrause von Ohr zu Ohr trug und baumelnde
Ringe in den Ohren, trat vor und streckte Kornelius Vanderwelt die
rissige Hand entgegen.

»Schönen Dank auch, Herr Vanderwelt. Wir vergessen nix.«

Allein wie er gekommen war, schritt Kornelius Vanderwelt seinem
Geschäftshause zu. Zu Erholungsfahrten war in diesen unruhigen Tagen
nicht die Zeit. Und der Sommer näherte sich schon dem Herbst, bevor
sie wieder hinaus konnten in die Nähe und Weite, die Gefährtin eng an
des Mannes Seite.

Angela Freydag aber hatte längst ihre einstige Schülerin aufgesucht,
und Kornelius Vanderwelt hatte nichts mehr dawider gehabt.

»Du giltst in der Stadt als eine Verwandte, die nach Fräulein
Bilsenbachs Tod mein Hauswesen leitet. Soweit man bei unserer
Abgeschlossenheit überhaupt Vermerk von dir zu nehmen geruht hat. Die
Kinder haben mich noch nicht ein einziges Mal befragt, so sehr sind
sie mit der Fülle ihrer eigenen Angelegenheiten beschäftigt.«

»Ich denke, die Stadt nimmt auch weiter keinen Vermerk von mir. Mein
Tag ist mit dir ausgefüllt.«

»Es liegt im Wesen einer Hafenstadt, Engel, daß man sich die übliche
Neugier ein wenig abgewöhnt, richtiger, daß sie einem abgewöhnt wird.
Jeder Tag bringt hundert neue Schiffe und mit den Schiffen hundert
neue Gesichter. Keiner weiß: Sah ich dies Gesicht schon oder wann sah
ich es zuletzt? Sind es Gäste, Durchreisende, Geschäftsfreunde oder
Angestellte? Und so schwindet die Achtsamkeit schnell.«

Zu einer Vormittagsstunde wurde Juliane Beckenried der Besuch eines
Fräulein Freydag gemeldet.

»Wie sieht sie aus?« fragte sie leichthin und vertraulich das Mädchen.
»Wie eine Dame oder nur wie eine Geschäftsdame?«

»Rechnungen hat sie nicht bei sich, gnädige Frau.«

»Liebes Kind, antworten Sie nächstens genauer auf meine Frage. Ihre
Dummheit in Ehren. Ich lasse das Fräulein bitten.«

Angela Freydag trat über die Schwelle, im schlichten, ruhigen
Straßenkleid. Sie sah nicht das weiße Rokokozimmer mit den farbigen
Bildflecken an den Wänden. Ihre Augen waren verwundert auf die
überschlanke Gestalt im kniefreien, buntseidenen Morgengewand
gerichtet, auf das jungenhaft verschnittene, mit wenigen Strichen
zurechtgekämmte Haar, auf die forschenden Augen mit den fein
nachgezogenen Schattenrändern.

»Sind Sie es, Juliane?«

Juliane Beckenried warf einen flüchtigen Blick auf die Besuchskarte
und trat einen Schritt näher.

»Sie reden mich bei meinem Vornamen an? Haben wir uns denn einmal
gekannt, gnädiges Fräulein?«

»Also ganz in Ihrem Gedächtnis erloschen? Freilich, es sind wohl ein
Dutzend Jahre, und Sie waren noch ein kleines Schulmädchen und sind
heute eine Frau, die wohl selber schon einen kleinen Schuljungen
ausschickt. Ich hieß aber damals, wie ich heute heiße, Angela Freydag,
und erteilte Ihnen ein Jahr lang Klavierunterricht.«

»Ach, Sie sind das? Ich habe vielerlei Klavierlehrerinnen gehabt.
Aber Ihrer entsinne ich mich jetzt. Natürlich, Sie wohnten doch eine
Zeitlang in unserem Hause, wenn ich mich recht erinnere? Ja, doch!
Papa beschenkte Sie zu Weihnachten mit einem ganzen Aussteuerkoffer.
Und ich war furchtbar neidisch.«

»Also das wissen Sie doch noch ...?«

Juliane Beckenried legte den Kopf zurück. Ihre Augen schlossen sich zu
einem Spalt.

»Und nun wollen Sie nachfragen, mein Fräulein, ob ich meinem Sohn
Klavierunterricht erteilen lassen will? Er ist wirklich noch ein wenig
unbedeutend, und die Musik, die Sie lehrten, dürfte auch überholt
sein.«

»Gestatten Sie, daß ich für die kurze Dauer meines Besuches Platz
nehme?« fragte Angela Freydag freundlich.

»Oh -- ganz nach Belieben. Ich erwarte nämlich meine Schneiderin. Das
ist heute eine wichtige Angelegenheit.«

»Nicht wahr? Wichtig und verwunderlich bei den paar Handbreit
Stoffen.«

Sie saß bequem in einem Halbsessel zurückgelehnt und plauderte.

»Nein, Juliane, auf welche Gedanken Sie kommen. Ihr kleiner Junge
hat nichts von meiner Klavierkunst zu befürchten. Ich betreibe sie
sozusagen nur zu meiner und weniger anderer Freude. Beethoven,
wissen Sie, nicht Jazz. Aber das wollen wir ruhig als persönliche
Liebhabereien gelten lassen.«

Juliane Beckenried hatte sich in aufquellender Neugier einen zweiten
Halbsessel herangezogen.

»Oh -- ich habe sehr um Entschuldigung zu bitten. Durch die
Kleidung wird es einem heute so schwer gemacht, eine Dame von einem
berufstätigen Fräulein zu unterscheiden. Denken Sie, ich wurde
kürzlich für ein niedliches Ladenmädchen gehalten und von einem
Ladenjüngling zum Tanz aufgefordert.«

»Hoffentlich haben Sie ihn gebührend in seine Schranken gewiesen.«

»Ach, wieso denn? Der Junge war so belustigend und übernimmt einmal
das Damenkleidergeschäft seines Vaters.«

»Ja, wenn er das tut -- dann ist es freilich eine andere Sache.«

Juliane lachte. Sie wurde nicht recht warm mit der Besucherin, die
selbst beim Scherzen den ernsten Mund behielt.

»Sie befinden sich auf der Durchreise in Ruhrort, Fräulein Freydag?«

»Das wohl nicht. Sowenig wie vor zwölf Jahren. Ihr Herr Vater
behauptet, ein Recht aus einer Verwandtschaft herzuleiten, die uns
von früher verbindet, und hat mich nach Fräulein Bilsenbachs Tod noch
einmal in sein Haus gerufen.«

»Papa sollte uns sein Haus übergeben und eine nette
Junggesellenwohnung beziehen. Dann wäre ihm und uns geholfen und er
brauchte keine Verwandte zu behelligen. Übrigens -- Verwandte? Ich
kenne wirklich keine mehr.«

Angela Freydag sah die Befragerin lächelnd an.

»Die Verwandtschaft liegt wohl schon um ein paar Ecken und Winkel
herum. Aber Ihrem Herrn Vater genügt sie.«

»Der Papa wird alt,« seufzte Juliane, »er täte gut, das Geschäft
langsam in die Hände meines Mannes übergehen zu lassen. Auch Thomas
würde sich freuen.«

»Ich habe Thomas noch nicht wiedergesehen«, sagte Angela Freydag,
»und vermag mir daher ein Urteil über seine Anschauungen noch nicht
zu bilden. Aber ich will gern das Meine tun, in Ihrem Herrn Vater den
Glauben an die Jugend zu erhalten.«

Juliane verstand nicht recht.

»Meinen Sie damit, den Glauben an uns? Dann reden Sie ihm doch zu,
ihn etwas stärker zu beweisen und -- und -- in die Wirklichkeit
umzusetzen. Liebes Fräulein Freydag, wenn Sie meine Freundin werden
wollen -- Sie sehen, ich falle mit der Tür gleich ins Haus -- so
überreden Sie Papa, daß er mir in diesem schrecklich teuren Leben
ein wenig Luft schafft. Ich bin für jede Summe dankbar, die er mir
zuwendet. Am liebsten für ein festes Monatsgeld, damit ich weiß, wie
weit ich springen kann. Und wenn Ihr Sinn einmal aus der alltäglichen
Langweiligkeit hinaus in die Fröhlichkeit reizender junger Menschen
steht, so rufen Sie es mir durch den Fernsprecher zu und ich nehme Sie
mit und führe Sie ein. Es braucht ja nicht gerade Ruhrort zu sein.«

»Bei meinem hohen Alter, Juliane? Wollen Sie mich etwa als Ihre
ehemalige Lehrerin vorstellen?«

»Ach, das wird schon gemacht. Es tun noch Ältere mit, und Sie wirken
ganz jugendlich. Das ist doch heute kein Kunststück.«

»Sehr schmeichelhaft, Juliane. Trotzdem fürchte ich, Sie werden wenig
Ehre mit mir einlegen.«

»Hauptsache ist: bringen Sie recht viel Geld mit. Sie werden es dem
alten Herrn schon abschmeicheln können.«

Angela Freydag erhob sich. Soviel Oberflächlichkeit des Wesens,
soviel einfältige Selbstsucht hatte sie nicht einmal nach Kornelius
Vanderwelts Erzählungen zu vermuten gewagt. Eine Bitterkeit stieg ihr
auf die Lippen, die, stieg sie noch um ein geringes, den ersten Keim
der Feindschaft in sich trug.

»Ihr Herr Vater ist jünger als Sie und ich. Von dem reizenden Kreis
junger Menschen ganz zu schweigen, die nur durch das väterliche Geld
zu ihrem Reiz gelangen. Und er ist auch klüger und wertvoller als
dieser ganze Kreis, denn sonst hielte er nicht mit seinem Gelde und
seinen Gesinnungen zurück. Gehen Sie zu Ihrem Vater, Juliane, und
ergeben Sie sich ihm.«

Auch Juliane hatte sich heftig erhoben. Ein gereiztes Rot stieg ihr in
das hübsche Gesicht.

»Darf ich vielleicht fragen -- was mir denn eigentlich -- die Ehre
Ihres Besuches verschafft?«

»Dazu haben Sie gewiß das Recht,« sagte Angela Freydag und knöpfte
ruhig ihren Handschuh zu. »Ich vermochte nicht zu glauben, daß eine
Tochter so sehr von ihrem Vater verschieden sein könnte, und wollte
versuchen, der Tochter den Weg zur Rückkehr anzubahnen. Ich wiederhole
darum: Gehen Sie zu Ihrem Vater, Juliane, und ergeben Sie sich ihm.«

»Ja, meine hochverehrte Lehrerin, dann hätten wir uns wohl weiter
nichts mitzuteilen.«

»Mögen Sie Ihre Abweisung nie bereuen.«

»Wenn Sie damit sagen wollen, daß Sie im warmen Nest sitzen und Papa
dazu bewegen könnten, sein Testament zu meinen Ungunsten abzuändern --«

»Lassen Sie das!«

Juliane tat einen Schritt zurück. Die blitzenden Augen standen dicht
vor ihr. Sie duckte den Kopf, wie aus einer feigen Furcht, die Fremde
möchte sie anspringen und niederreißen.

Draußen ging die Flurtür. Ein schneller Schritt, und die Tür zum
Empfangszimmer wurde aufgestoßen.

»Ah, Klaus! Zu so ungewöhnlicher Zeit?«

»Wer ist die Dame?« fragte eine schroffe Stimme. »Willst du mich nicht
vorstellen?«

»Meine ehemalige Klavierlehrerin, Fräulein Freydag. Mein Mann. Ein
andermal, Klaus. Du siehst, daß ich Besuch habe.«

»Ich bin im Begriff zu gehen, Herr Beckenried.«

»Ein andermal?« wiederholte Klaus Beckenried ohne die geringste
Rücksicht auf die fremde Dame. »Besuch? Soll ich das vielleicht
auch der Menschensorte sagen, bei der du das Geld schuldig bleibst
und die mich vor den Geschäftsangestellten lächerlich macht? Die
sogenannte Klavierlehrerin kann zuhören, denn was mit dir verkehrt,
kann's vertragen! Eine unerhörte Rechnung über Wagenfahrten wird
mir überreicht. Hab' ich denn eine Verrückte zur Frau? Ich habe die
Tochter Kornelius Vanderwelts geheiratet, und dieser Geizhals --
dieser Geizhals --«

»Sie sind ein Lügner,« sagte Angela Freydag und ging hinaus. --

Das also war die Frauenblüte Julianes. Das also war ihr Gatte Klaus
Beckenried. Und ein wildes und schmerzhaftes Mitleid mit dem Manne
überfiel sie, der soviel Unwürde und Unritterlichkeit aus seinem
Hause auskehren mußte, um -- ein Einsamer zu werden. Nein! schrie es
in ihr. Nie ein Einsamer! Nie, nie, solange ich lebe.

Zu Hause warf sie sich an Kornelius Vanderwelts Brust und umschlang
ihn mit beiden Armen.

»Was hast du, Engel?«

»Was ich habe? Ich habe dich bisher noch lange nicht lieb genug gehabt
und dachte doch schon, weiter ginge keine Liebe.«

Er strich ihr ein Strähnchen des hellen Haares aus der Stirn, wickelte
es um seinen Finger wie einen Ring, strich es wieder glatt.

»Liebe erkennt keine Grenzen an. Das ist das einzige, was wir sicher
wissen. Und ich will dich nicht weiter befragen.«

Sie warf den Kopf in den Nacken und sah ihm in die Augen. Seine Arme
hielten sie.

»Frag' nur immer, Kornelius. Du wirst nie erleben, daß ich nicht
antworten möchte. Ich war bei deiner Tochter Juliane, und ich habe
auch ihren Gatten kennengelernt, und nun wollen wir nicht mehr darüber
sprechen.«

Aber der Tag sollte nicht zur Neige gehen, ohne daß noch einmal der
Name Beckenried fiel. Gegen den Abend hin stellte sich der junge
Thomas Vanderwelt ein, mit einem Strauße auserwählt schöner Rosen, den
er Angela Freydag feierlich überreichte.

»Meine verehrte Gönnerin aus Knabenzeiten,« hob er an, und es lief ein
lustiger Schein über sein verblaßtes Jungmännergesicht, »muß mir aus
dem trüben Schwagerhause Beckenried die Kunde Ihres Hierseins kommen?
Meine geliebte Frau Antonie brachte sie zu Tisch mit heim. Sie war
gleich nach Ihnen in das häusliche Ungewitter geraten und erhielt noch
ihr wohlverdientes Teil. Aus der Berufung auf meine Frau wollen Sie
freundlichst ersehen, daß ich verheiratet bin, etwas lautloser, aber
darum nicht weniger glücklich. Und aus dem Munde meines Vaters wurde
mir heute nachmittag die Bestätigung, daß Sie schon seit Monaten,
schon seit einem halben Jahre fast, bei uns weilen. Und ich darf Ihnen
erst heute diese Willkommrosen zu Füßen legen.«

»Ich danke Ihnen, Thomas. Sie haben sehr schön gesprochen.«

»Das klang wie das ›Wundervoll, wundervoll!‹, wenn ich im Klavierspiel
schrecklich danebengriff.«

»Kommen Sie, Thomas. Setzen Sie sich zu mir. Wollen Sie rauchen?
Natürlich ist es gestattet.«

»Sie sind eine Frau nach dem Herzen Gottes. Mein Gaumen verhungert
geradezu nach einer Zigarette.«

Sie reichte ihm Zigarette und Feuer und rauchte selber nicht.

»Hören Sie, Thomas. Wir wollen diesen Verkehrston gar nicht erst
zwischen uns aufkommen lassen. Wie ich weiß, spricht man so oder
ähnlich mit den Bardamen. Nicht wahr, Sie schätzen mich ein wenig
höher ein. Geben Sie mir Ihre Hand, Thomas. Darf ich Sie als
gestrengen Eheherrn überhaupt noch Thomas nennen?«

Er beugte sich, wie er als Knabe nach einem Verweis getan hatte, über
ihre Hand und küßte sie.

»Sie verstehen es noch immer, eine Verlegenheit in eine Freudigkeit
umzuwandeln, Fräulein Angela. Gelt, so darf ich Sie doch anreden? Von
der fernen Verwandtschaft, die mein Vater endlich anzudeuten beliebte,
gänzlich abzusehen.«

Sie nickte ihm zu und schüttelte ihm die Hand.

»Weshalb machen Sie sich im Hause Ihres Vaters so selten, Thomas? Die
Wiedersehensfreude hätten wir schon eher genießen können.«

»Ich mache mich doch nicht selten, Fräulein Angela? Ich war doch erst
zum Neujahrstage in meines Vaters Hause und habe als guter Sohn meinen
Spruch aufgesagt. Und jetzt schreiben wir kaum Herbstanfang.«

»Thomas,« bat sie und hielt immer noch seine Hand, »wollen wir nicht
auch von Ihrem Herrn Vater miteinander in einem ehrerbietigen Tone
sprechen? Er hat Sie sehr liebgehabt, Thomas.«

Seine hagere Hand zuckte in der ihren. Sie gab sie frei und wartete.

»Donnerwetter, Fräulein Angela. Sie machen nicht viel Federlesen und
greifen gleich die ganze Front an.«

»Sie mögen daraus ersehen, Thomas, daß ich Sie keineswegs
geringschätze. Was haben Sie gegen Ihren Vater?«

Er starrte auf seine Stiefelspitzen und zog die Lippen von den Zähnen.

»Liegt Ihnen wirklich daran, meine Beichte zu hören?« und der Hohn
klang mit.

»Nein, daran liegt mir nichts. Ich fragte nur das eine, was mich am
tiefsten bewegt: was haben Sie gegen Ihren Vater?«

»Die Scham, ihm die neue Tochter ins Haus gebracht zu haben.«

Da wurde es totenstill zwischen ihnen. Wie erschlagene Leiber lagen
die Worte im Raum.

Thomas Vanderwelt prüfte als erster seinen Atem. Er sog ihn tief ein
und stieß ihn heftig aus.

»Was ich doch wissen wollte, Fräulein Freydag: was macht Ihre
göttliche Kunst? Ich hoffe, Sie erfreuen meinen Vater recht oft mit
ihr. Es ist die starke Welle, die ihn über die wildesten Meere trägt.«

»Weil Sie für Ihren Herrn Vater bitten, will ich es gern und zu jeder
Stunde tun.«

Die Gespanntheit seines Gesichtes ließ nach. Er lachte sie echt
jungenhaft an.

»Ich bin durchaus nicht schwerhörig, Fräulein Angela, und ein Lob
pick' ich mir immer noch aus den Vermahnungen heraus wie früher die
schönen braunen Rosinen aus dem Kuchen. Aber nun möchte ich Sie auch
belobigen. Sie waren als junges Fräulein trotz Ihrer Hagerkeit ein
eigenartig rassiges Geschöpf. Ein Dutzend Lebensjahre dazu, und die
schönste Rassigkeit wird zu einer -- na, sagen wir: herben --«

»Hexenhaftigkeit,« half sie ihm aus.

»Nun, das klingt ein wenig hart. Aber da es bei Ihnen nicht zutrifft,
mag es bestehen bleiben. Das Dutzend Lebensjahre dazu hat Ihre
Rassigkeit nur zur antiken Schönheit veredeln können.«

Angela Freydag neigte tief den Oberkörper gegen ihn.

»Meine weibliche Eitelkeit will das Wort ›antik‹ nicht gehört haben.
Es ist ein Fremdwort und läßt sich mit alten Jahren und mit alt im
Geiste des Altertums übersetzen. Für einen geistvollen Mann wie Sie
kommt natürlich nur die letzte Andeutung in Betracht, und ich nehme
die Huldigung mit Vergnügen entgegen.«

Thomas Vanderwelt verneigte sich mit derselben Feierlichkeit. Aber
sein Gesicht behielt den Ernst auch weiter bei.

»Wie wohl muß dem Vater Ihre Gegenwart tun,« sagte er, und seine
Stimme hatte den spottenden Beiklang verloren. »Nicht nur, weil seine
Augen ihn belehren. Es gibt Schönheiten übergenug, die nach der ersten
Neugier nicht mehr das Ansehen lohnen. Weil er Sie geistig empfinden
darf und immer neu und doch immer gleich. Das ist Schönheitsgenießen.«

»Glauben Sie, Thomas, uns Frauen erginge es anders mit euch Männern?«

»O ja, das glaube ich. Und es ist sogar im Laufe der Zeit zur
Gewißheit in mir geworden.«

»Sollte das nicht an der Zusammensetzung Ihrer Umwelt liegen, Thomas?
Mich selbst bitte ich aus Ihrer Gewißheit zu entlassen, und ich
überhebe mich mit dieser Bitte nicht. Es ist eine glückliche Beigabe
der Natur, wenn der Mann als eine schöne und männliche Erscheinung
wirken darf. Aber was uns immer wieder zu ihm hinzieht, und was uns
dauernd an ihn fesselt, was uns ihm im schönsten Sinne des Wortes
untertan macht, das ist die Leuchtkraft seines Wesens, die uns heute
diesen und morgen jenen dunklen Pfad erhellt, wechselnd durch den
Geist und unwandelbar durch die Gesinnung. Die uns bei der Hand nimmt
und so sicher über die Abgründe führt, wie über die Blumenwiesen. Die
keine Sünde kennt, weil sie alles in ihrem Scheine adelt, und die doch
in unsagbarer Dankbarkeit ihr Licht zum Erlöschen bringt, wenn das
unsere aufleuchtet und ihn umfluten will.«

Sie richtete sich aus ihrer Gedankenwelt auf und strich sich über die
Stirn.

»Verzeihen Sie die Getragenheit meiner Rede. Es gibt Dinge, für die
der Sprachgebrauch des Alltags keine Worte besitzt, und man muß schon
zu den gefühlsfeierlichen greifen. Aber mit Überschwang haben sie
nichts zu tun.«

Noch eine Weile horchte Thomas Vanderwelt hinaus, als müsse er mehr
hören. Dann ließ er den blassen Kopf auf die Brust sinken.

»Ich trage meinen Namen schon mit Recht. Ich bin der ungläubige
Thomas. Ich müßte das alles schon am eigenen Leib erleben und mit
Fingern greifen können. Was ich«, und seine Stimme wurde heftiger und
heiserer, »bisher am eigenen Leibe erleben und mit Fingern greifen
durfte, hatte so wenig mit Gefühlsfeierlichkeit und Überschwang zu
tun, wie das Messer in der Hand des Wundarztes.«

»So legen Sie doch das Messer nieder und greifen Sie zu den
ritterlichen Waffen.«

Da lachte Thomas Vanderwelt, daß es ihn schüttelte. Und er schüttelte
mit dem Lachen ab, was an empfindsamen Regungen über ihn gekommen war.

»Ritterlichere Waffen als das Messer? Ach, liebes Fräulein Angela, Sie
kennen das Gesetzbuch der Straße nicht. Da heißt es, sich mit jeder
Waffe bekämpfen, die Erfolg verspricht, und auf der Straße sind die
silberbeschlagenen Degen nicht zu Hause. Was wissen Sie, die Sie über
beleuchtete Berggipfel laufen, wie schmutzig die Straße ist!«

Angela Freydag rührte sich nicht auf ihrem Sitz. Ihre Augen wichen
nicht von dem nervenzerrütteten Manne, und seine Ausbrüche warfen ihre
Seele nicht aus dem Gleichgewicht.

»Lassen Sie uns an dieser Stelle abbrechen, Thomas. Wir treiben hinaus
und verlieren die Ufer aus den Augen. Erzählen Sie mir jetzt einmal
etwas recht Sonniges.«

Er stutzte. Kam zu sich. Und schon gewann der Spott wieder die
Oberhand.

»Ja, ja. Im Dunkeln fürchten sich die verwöhnten Kinder und verlangen
nach der Lampe.«

»Gut, Thomas, da Sie zu den verwöhnten Kindern zählen, und nicht ich,
so will ich Ihnen die Lampe halten, sooft Sie danach Verlangen tragen.
Nach der Beleuchtung, nicht nach der Beschönigung. Und jetzt suchen
Sie einmal Ihre Sonnenstrahlen zusammen. So arm ist kein Mensch, daß
er nicht in die Sonne blicken könnte.«

»Sie belieben in Rätseln zu sprechen, gütige Gönnerin.«

»Wie geht es Ihrem kleinen Sohn? Nikolaus heißt er wohl?«

»Ja -- er heißt Nikolaus. Das ist wahr. Und der Vater bedankt sich für
die freundliche Nachfrage.«

»Sieht er Ihnen ähnlich? Besucht er schon die Schule?«

»Da sei Gott vor, daß er mir ähnlich sähe! Die Natur hat ihren
üblichen Sprung gemacht und ihn dem Großvater angeähnelt. So
schadenfroh bin ich noch nie gewesen, als wie ich das entdeckte. Denn
vor einem Kornelius Vanderwelt hegen die Damen des Hauses Ausdemwerth
eine höllische Scheu.«

»Besucht der kleine Nikolaus schon die Schule?« wiederholte sie, ohne
seine Schärfe zu beachten.

»Gewiß besucht er schon die Schule. Er ist seit Ostern wohlbestellter
Abcschütze und zählt nicht zu den Dümmsten.«

»Das muß Sie doch in Ihrem Vaterstolze glücklich machen, Thomas. Und
da haben Sie ja Ihre Sonne.«

Thomas Vanderwelt lächelte zerstreut vor sich hin.

»Eigentümlich ist, daß auch der Sohn Julianes, daß auch der kleine
Martin Beckenried in allen Stücken seinem Großvater Vanderwelt
gleicht. Als wären uns oder unseren Frauen die Jungen wie eine
tägliche Vermahnung vor die Nase gesetzt worden. Die beiden
Jungen hocken in derselben Klasse und wetteifern um die Palme des
Menschenruhms. Was von den beiderseitigen Eltern beim besten Willen
nicht gesagt werden kann.«

»Ich möchte die beiden Jungen wohl einmal bei mir haben, Thomas.«

Er zog heimlich die Uhr und stellte die fortgeschrittene Zeit fest.

»Die Herren Jungen werden es sich zur höchsten Ehre rechnen, von Ihnen
empfangen zu werden, wie es mir zur höchsten Betrübnis gereicht, mich
jetzt empfehlen zu müssen.«

»Wollen Sie denn nicht die Rückkehr Ihres Vaters abwarten, Thomas, und
den Abend mit uns verbringen?«

»Mein Vater und ich haben uns schon tagsüber im Geschäft herzlich
wenig zu sagen gehabt, und ich möchte den Abend auf der Straße
zubringen, da mir meine Frau abhanden gekommen zu sein scheint.«

»Haben Sie denn eine Verabredung getroffen?«

»Wir haben immer eine Verabredung getroffen, aber sie wird ebenso
häufig mißverstanden. Frau Antonie wünschte, sich mit mir bei Ihnen zu
treffen, da sie darauf brannte, die schöne Unbekannte kennenzulernen.
Sie muß wohl so lichterloh gebrannt haben, daß sie sich in der
Verwirrung verlaufen hat.«

»Guten Abend, Thomas. Vergessen Sie nicht, mir den kleinen Nikolaus zu
schicken und den kleinen Martin.«

»Guten Abend, mütterliche Freundin.«

Er beugte sich über ihre Hand und ging mit seinem federnden Schritt,
wie er ihn schon als Knabe gehabt hatte, aus dem Zimmer und aus dem
Hause. Ein paar Sekunden noch horchte sie dem Schritte nach. Dann
wandte sie sich um.

»Kornelius --!«

Er war durch die Tür seines Arbeitszimmers eingetreten und reichte ihr
die Hand.

»Guten Abend, Engel. Thomas war bei dir, als ich kam. Ich wollte die
erste Aussprache nicht stören und hielt mich zurück.«

»Es war vielleicht richtiger so, und du hast, wie immer, das Rechte
getroffen.«

»Meinst du, Engel? Müssen Vater und Sohn sich in Gefühlsdingen aus dem
Wege gehen?«

»Bis sie die Scham voreinander überwunden haben, Kornelius. Ja, du
lieber, ernster Mann, schau' mich nur so verwundert an. Ich habe
wahrhaftig ›voreinander‹ gesagt. Der Sohn vor dem Vater, weil ihm
in seiner Ehe das peinliche Ehrgefühl zeitweilig abhanden gekommen
ist, und der Vater vor dem Sohne, weil sein Vaterstolz sich bitter
enttäuscht sieht.«

»Genügt das nicht?«

»Kornelius. Zuweilen ist mir, als wollten wir alles zu hastig in
Besitz nehmen. Und dann würden wir es als eine Selbstverständlichkeit
einschätzen und nicht als einen Gewinn oder sogar als ein Verdienst.
Komm, wandere nur dabei mit mir im Zimmer herum, liebster Mensch.
Draußen heult der Herbstwind, und hier drinnen geht es sich an deiner
Schulter wie auf einer Frühlingswanderung.«

»Ich fühle, daß du mir wohl tun willst, Engel. Mehr ist nicht
vonnöten.«

»Ich verlange nichts anderes als die Hälfte dessen, was dich drückt.«

»Du hast dich durch den Augenschein überzeugt, Engel? Du hast einsehen
lernen, daß Kinder die Freude des Lebens und daß Kinder die schwerste
Belastung darstellen können? Nein, nein, ich will nicht klagen.«

»Ich bin bei dir, Kornelius. Und gemeinsam wird es uns schon gelingen,
die Belastung zu vermindern. Weshalb schaust du mich denn so mitleidig
an?«

»Weil meine Angela in meinem Hause schon an das Opferbringen denkt.«

»Würdest du«, fragt sie zurück, »es als ein Opfer ansehen, wenn
du dich meinetwegen deines Besitzes, deines Geschäftes, deiner
Lebensführung entäußern müßtest?«

Seine Hand fuhr zu und bog ihren Kopf zurück. Über ihren
weitgeöffneten Augen standen die seinen. Und in ausbrechender Wildheit
umhalste der eine den anderen, als müßte der eine vor den anderen
hinspringen, um ihn zu schützen und zu verteidigen. -- --

Antonie, die Gattin Thomas Vanderwelts, brauchte mehrere Tage, bis sie
sich zu dem schwiegerväterlichen Hause zurechtgefunden hatte. Sie
kam zu einer Stunde, zu der sie Kornelius Vanderwelt unabkömmlich im
Geschäfte wußte.

Angela Freydag saß am Flügel und übte mit starkem Fleiß, als die
Besucherin ins Zimmer geführt wurde.

»Entschuldigen Sie den Überfall, Fräulein Freydag, denn Sie sind es
doch? Ich bin Antonie Vanderwelt und habe mir als Schwiegertochter des
Hauses die Erlaubnis erteilt, ohne viel Förmlichkeiten einzutreten.«

Angela Freydag bot ihr einen Platz an.

»Herr Kornelius Vanderwelt wird sich ohne Zweifel herzlich über so
viel Familiensinn freuen.«

Sie setzte sich und schüttelte sich in den Schultern.

»Wollen Sie mir eine große Gefälligkeit erweisen, Fräulein Freydag?
Ja? Dann sprechen Sie den Namen meines Schwiegervaters bitte nur dann
aus, wenn es gar nicht anders zu umgehen ist. Zum Beispiel: ›Gerade
tritt Kornelius Vanderwelt ins Haus‹ oder so. Und fort bin ich.«

»Weshalb lieben Sie ihn nicht?« fragte Angela Freydag.

»Lieben --?« wiederholte Antonie Vanderwelt und starrte entsetzt auf
die Fragerin. »Kann man ihn denn lieben? Ich bilde mir ein, er reißt
einen in zwei Stücke, wenn man nach seinem Herzen greift, oder er
stellt Anforderungen, die zu anstrengend für mein heiteres Gemüt sind
und mich zu einem Ausgleich treiben würden.«

»Zu einem Ausgleich? Wie soll ich das verstehen?«

»Aber das ist doch nicht schwer. Man kann sehr stolz auf einen Mann
sein, weil er die Männer aller anderen überragt, aber immer stolz
sein, ermüdet, und das Herz legt sich ein ganz klein wenig auf die
Lauer, um sich sozusagen in den Freiviertelstunden mit einem anderen
vergnügten Herzen ordentlich auszutoben, bevor es wieder fein sittsam
in die Schulstunden geht.«

»Ja, wenn ich nur wüßte, Frau Vanderwelt, was Sie in diesem
Zusammenhange unter Austoben verstehen?«

»Nein, was für eine glänzende Schauspielerin Sie sind? Und ich
harmloses Geschöpf falle auf alle die Fragen hinein und ziehe mich in
der ersten Viertelstunde bis auf das arme Seelchen vor Ihnen aus.«

Angela Freydag saß auf ihrem Klavierstuhl, und während sie der
Besucherin das Antlitz zuwandte, spielten die Finger der Linken
lautlose Läufe über die Tasten hin.

»Sie haben große Pflichten, Frau Vanderwelt.«

»Ach,« klagte sie, »nun beginnen Sie auch schon mit der Litanei. Der
Drang, sittliche Betrachtungen anzustellen, muß wohl an diesem Hause
liegen. Da hätte ich doch gleich ein Kloster wählen können, wenn es
mir unbedingt, um den Heiligenschein ginge.«

»Sie haben große Pflichten, weil Sie ein so schöner Mensch sind, Frau
Vanderwelt.«

»Ach ~so~ ist es gemeint. Das klingt gleich anders, wenn es mir
auch immer noch unverständlich klingt.«

»Wer mit einem so schönen Körper bevorzugt ist, hat die Pflicht, ein
so großes und seltenes Kunstwerk in seinem Wert zu erhalten und zu
bewahren. Törichte Hände können den Farbenschmelz erblinden lassen
oder andere nicht wieder gutzumachende Beschädigungen anrichten. Das
meinte ich damit.«

Antonie Vanderwelt zog das seidenbestrumpfte linke Bein über das Knie
des rechten. Eng in den hochlehnigen Kirchensessel geschmiegt, saß sie
und freute sich mit schimmernden Augen an den feingeschwungenen Linien
ihres Leibes, an dem sinnlichen Reiz ihrer elfenbeinfarbenen Haut.

»Wenn man so schön ist und müßte immer brav sein,« sagte sie mit einem
lustigen Schmollen, »so wär's ja eine Strafe, schön zu sein. Und
wirklichen Kennern darf man doch ein Kunstwerk nicht vorenthalten.«

»Ganz gewiß nicht. Sie dürfen es jederzeit bewundern, aber Sie dürfen
nicht die Hand ausstrecken, um es zu stehlen.«

»Ach, Fräulein Freydag, lassen wir doch nicht drumherumlaufen wie um
ein heißes Eisen. Ich fass' es an. Ich habe vielleicht mehr Blut in
den Adern als Verstand hinter der Stirn. Das geb' ich zu. Aber sich
von einem Manne küssen lassen, den man im Augenblicke nett findet, das
braucht doch keine Todsünde zu sein.«

Angela Freydag faltete die Hände um ihre Knie und bog den Kopf zum
Fenster. Die schimmernden Augen der schmiegsamen Frau waren ihr wie
eine Berührung.

»Ich halte Sie für klug genug, sich die Frage selber zu beantworten,
Frau Vanderwelt. Mit dem ersten Kusse, den ein Mädchen dem Manne
gestattet, ergibt es sich ihm schon so weit, daß er sich zum zweiten
Kusse das ~Recht~ nimmt, daß er sich beim dritten Herr ihres
Körpers bis auf das arme Seelchen fühlt, von dem Sie vorhin sprachen.«

Antonie Vanderwelt schmiegte sich noch enger in den hochlehnigen
Kirchensessel hinein, als schmiegte sie sich in einen Arm.

»Ist es nicht aller Frauengefühle allerköstlichstes, sich zu
verschenken?«

»Ja. Das ist es. Dem einen und einzigen.«

»Man kann einer Irrung unterworfen gewesen sein, man kann verlassen
worden sein oder selber die Pässe zugestellt haben -- da wird eben der
zweite oder der dritte oder der vierte der eine und einzige.«

»Auch das habe ich während meiner Laufbahn oft genug gesehen, Frau
Vanderwelt. Mädchen, die sich so verschenken, ganz einerlei, ob
aus Liebe, aus Mitleid oder aus Berechnung, werden später immer
und ausnahmslos innerlich einsame Frauen. Natürlich auch äußerlich
vereinsamte. Denn der Rückzug von einer vielverschenkenden Frau
erfolgt mit einer so unerbittlichen Pünktlichkeit und Grausamkeit, als
setzte plötzlich eine Massenflucht ein. Übrigens ist das wirklich kein
Gesprächsstoff, Frau Vanderwelt, für zwei klaräugige und aufrechte
Frauenspersonen, und wir wollen ihn schleunigst verabschieden.«

»Und mich dazu,« rief Antonie Vanderwelt nach einem erschrockenen
Blick auf die Armbanduhr. »Ich wollte Ihnen nur einen Knicks machen
und, wie es früher bei unseren Soldaten hieß, Tuchfühlung nehmen, denn
ich hätte gar zu gerne eine resche und fesche Kameradin, die nicht ein
jedes lustige Geheimnis auf der Zungenspitze trägt.«

Die Frauen standen sich, abschiednehmend, gegenüber. Antonie
Vanderwelt lüftete lächelnd das Visier.

»Dazu haben Sie ja wohl,« entgegnete Angela Freydag mit Zurückhaltung,
»Ihre Freundin und Schwägerin Juliane.«

»Juliane ist so berechnend, Fräulein Freydag. Das wirkt so
bloßstellend. Was nicht als Rausch kommt, kühlt ab.«

Und Angela Freydag dachte, während sie sich wortlos zum Abschied
verneigte: Also selbst in der Welt ~dieser~ Frauen gibt es
noch Unterscheidungen, wo doch alles gleich und gemeinsam ist, und
Bloßstellungen, wo keine Blöße mehr entblößt zu werden braucht. Und
es schüttelte sie vor diesen Abwandlungen der größeren und geringeren
Ehre, die denselben Schmutzstreifen hinter sich zogen. -- --

Ach, die köstlichen Stunden der Glücksreinheit, wenn die beiden
kleinen Schuljungen angestampft kamen.

»Tante Engel, was ist das?« Und sie sagten ihr ein Rätsel vor, das sie
frisch aus der Hand des Lehrers erhalten hatten, oder ein Gedichtlein,
deren sie viele und freiwillig über das Aufgabenmaß hinaus mit
Begeisterung auswendig lernten. Angela Freydag aber hockte auf dem
Teppich vor den kleinen glühheißen Männern und wußte bei jedem neuen
Male nicht: ist dies der Nikolaus, oder ist dies der Martin? So sehr
war der eine Kornelius Vanderwelt und der andere Kornelius Vanderwelt,
und es war ihr eine selige und doch andächtige Freude, aus den
knabenweichen Jungengesichtern das Antlitz Kornelius Vanderwelts Zug
um Zug herauslesen zu dürfen.

Oft erzählte sie ihnen Geschichten aus all den Teilen der Erde,
die sie auf ihren Fahrten besucht hatte: von den Indianern der
Felsengebirge, den Goldsuchern Kaliforniens, den Wolkenbewohnern
Neuyorks, und wieder von dem großen und reichen Leben der europäischen
Hauptstädte, von London, Paris und Rom. Dann hockten die Buben auf dem
Teppich und erforschten das Antlitz der Märchentante. Oder aber sie
saß am Flügel und ließ ihre Kunst in launigen Übertragungen zu den
jungen Hirnen sprechen, und Meister Beethovens Wut um den verlorenen
Groschen brachte die erregten Gemüter zum hellen Jauchzen.

Seit die kleinen Schuljungen zum ersten Male in das Haus gestampft
waren, der Martin Beckenried vom Nikolaus Vanderwelt an der Hand
geführt, und zu ihrem Staunen in der schönen Tante einen Menschen
gefunden hatten, der sich um sie und nur um sie bekümmerte, waren die
kleinen Herzen diesem Wundermenschen leidenschaftlich ergeben geworden.

»Tante Engel, weshalb bist du nicht unsere Mama?«

»Ihr habt ja eure Mamas daheim, und sie haben wohl nur nicht immer
Zeit für eure Plappermäulchen.«

»Bist du denn eine Großmama, daß du immer Zeit für uns hast?«

»Ja, ich bin eine Großmama,« sagte sie mit tiefer Stimme, »die im
Bette liegt, als Rotkäppchen kommt, und die eigentlich der wilde Wolf
ist. Seht mich an: Mit solchen Augen!«

Aber die Jungen ließen sich von Angela Freydags funkelnden Augen nicht
bange machen. Sie sprangen ihr an den Hals, kuschelten sich an ihr
Herz, küßten sie, wohin die Lippen, der Liebkosungen ungewohnt, trafen.

»Großmutter Wolf!« jauchzten ihre Stimmchen. »Großmutter Wolf!«

Und wieder sah sie Kornelius Vanderwelt in den Jungen, Kornelius
Vanderwelt, der sie in seinen frohesten Stunden seine Wölfin nannte. --

Im November fuhr Angela Freydag von dannen. Sie fuhr nach Spanien, und
eine Konzertreise führte sie durch das ganze Land. Sie fuhr mit dem
Schiff nach Holland und spielte in den großen Städten.

Wenn Kornelius Vanderwelt in der Morgenfrühe erwachte, spürte er in
sich und um sich eine Leere, daß er nicht wußte, ob der neue Tag das
Aufstehen lohne. Wenn Angela Freydag am späten Abend irgendwo ihr
Lager aufsuchte, spürte sie ihre Heimwehgedanken nach des geliebten
Mannes Brust so stark, daß sie nicht wußte, ob die neue Nacht das
Einschlafen lohne.

Keiner aber ließ es den anderen in seinen Briefen wissen, um ihn nicht
zu einem Opfer zu nötigen.

Es wurde April, als Angela Freydag heimkehrte und am frühen Morgen das
Haus betrat. Gerade wollte Kornelius Vanderwelt sein Arbeitszimmer
verlassen und sich zum Geschäft begeben, als sie vor ihm stand.

Er fuhr hoch und wurde vor Freude so bleich, daß sie sich blindlings
an seine Brust warf.

»Du!« sagte sie immer wieder. »Du! Du!« und ihre Hände tasteten nach
seinem Haar, nach seinen Schläfen, seinen Lippen. »Du! Du!«

Er aber schloß ganz fest die Augen, als wollte er durch nichts aus
seinem Traume aufgescheucht werden, und trank und trank in sich
hinein, was er in seinen Armen hielt.

»Du! Du! Engel! Engel -- --«

Sie hatte feuchte Augenränder, und er meinte, als er endlich die
Augen in die Wirklichkeit öffnete, die Wiedersehensfreude hätte sie
gefeuchtet. Sie aber stand erschrocken vor seiner Hagerkeit und der
blassen Farbe seines Gesichtes, die sich nicht verlieren wollte, als
sein Herzschlag sich beruhigt hatte.

»Warst du denn krank, Kornelius?« Und die Angst bebte durch ihre
Stimme.

»Gewiß war ich krank. Sechs lange Monate, du. Krank nach dir, Engel.«

Da weinte sie fassungslos an seinem Herzen ...

Und das Jahr lief hin, und als es sich wieder dem Herbstende näherte,
reiste Angela Freydag nicht wieder aus und sprach kein Wort darüber,
und Kornelius Vanderwelt gewahrte es mit dem tiefinneren Aufhorchen,
als ob die Geliebte sein Herz ganz zart in ihre Hände nähme, und
stellte keine Fragen, um das Wundersame nicht zu stören.

In diesem Winter aber reiste er viel mit ihr im Vaterlande und saß mit
ihr in den Opernhäusern von Berlin und Wien und München und in den
großen Konzertsälen der deutschen Städte.

Sie empfand es wohl, daß er ihr einen Dank sagen wollte, und ob er
auch seine Geschäfte vernachlässigen mußte, sie freute sich nur seiner
Ritterlichkeit, die ihr das alles und darüber hinaus zu Füßen legte.

Und wieder kam ein Herbst, und Angela Freydag lächelte nur und
fuhr nicht allein auf fremden Meeren. Aber Nebel und Nässe des
Niederrheins hatten ihr einen harten Husten geschaffen, und Kornelius
Vanderwelt brachte die geliebte Frau auf einen Ostasiendampfer im
Hafen von Rotterdam und schiffte sich mit ihr ein und fuhr mit ihr die
Küsten Frankreichs, Portugals und Spaniens entlang durch die Straße
von Gibraltar in das Mittelländische Meer, und der Atlas reckte sich
aus der afrikanischen Bergwelt auf, als sie das Rätsel löste, daß ihr
Ziel Ägypten sei.

Die Freude lief ihr zu Herzen wie ein Strom.

»Warum soviel für mich, Kornelius? Warum soviel für mich?«

»Es ist eine Abschlagszahlung, Engel.«

»Wenn ich am Leben hänge, so ist es nur für dich, Kornelius. Das ist
das schönste Wort: Für dich!«

»Für dich!« wiederholte er. -- --

Sie gesundete rasch, aber sie kehrten erst im späten Frühjahr zurück.
Die Fülle der Mitteilungen, die ihn erwartete, brauchte er ihr nicht
lange zu verhehlen. Die Sperlinge pfiffen die Irrungen und Wirrungen
der Familien Klaus Beckenried und Thomas Vanderwelt von den Dächern.

In diesem Sommer und in dem Winter, der folgte, streute Kornelius
Vanderwelt das Geld mit vollen Händen aus. Als wollte er Angela
Freydag aller und jeder Dinge teilhaftig werden lassen, die das Leben
zu bieten hätte.

»Es ist bei Licht betrachtet lächerlich wenig, aber es ist für dich,
Engel, und ein Lump gibt mehr, als er hat. Vielleicht schafft es dir
Erinnerungen.«




                                  8


Hatte die Zeit eine schnellere Gangart angeschlagen, oder jagten nur
die Wolken schneller am niederrheinischen Himmel dahin? Kornelius
Vanderwelt erhob sich oft aus dringendster Arbeit heraus, stand
eine Weile grübelnd am Fenster und prüfte Wind und Wetter. Wenn er
sich langsam wieder niederließ, wußte er nicht, was ihn zum Grübeln
getrieben und worüber er nachgegrübelt hatte.

Es ist nicht nur die Zeit, dachte er, die mir durch die Finger läuft,
bevor ich sie anhalten und nach allen Seiten wenden und auspressen
kann. Das mag mit den Jahren zusammenhängen, die im fortschreitenden
Lebensalter kürzer und gleitender werden, weil sie uns nicht mehr
auf Schritt und Tritt mit Überraschungen überschütten. Es sind die
Menschen und Dinge, die sich nach dem Völkerzusammenbrodeln eins am
anderen gemessen und geändert haben und sich in der neuen Gestalt dem
alten Maß entziehen.

Und sooft es ihn ans Fenster trieb, und sooft er sich wieder zur
Arbeit niedersetzte, es blieb ein Gefühl auf ihm lasten, das sein Blut
schwerflüssig machte und seine Gedanken aus den goldenen Weiten in den
grauen Tag zog.

Angela Freydag hatte es längst bemerkt. Ihre grauen Augen sannen
hinter ihm einher, wenn er auch daheim in die Ruhelosigkeit
hineinglitt und vom Arbeitstisch zum Fenster, vom Fenster zum Flügel
und vom Flügel wiederum zum Fenster hinüberwanderte, ohne einen
sichtlichen Grund.

»Nimm mich mit,« sagte sie und hängte ihren Arm in den seinen.

»Du bist ja immer bei mir,« gab er zurück und versank doch wieder in
sein Schweigen.

»Mir ist so, Kornelius, als ob du es jetzt zuweilen vergessen
wolltest.«

»Daß du bei mir bist, Engel?« Er blieb bestürzt stehen, und dann
preßte er ungestüm ihren festen Arm. »Sag' es nie wieder, Engel.
Auch nicht im Scherze, Engel. Weil ich dich wie ein Geschenk bei mir
fühle und es von Jahr zu Jahr nur wachsen sehe, statt sich mindern,
möchte ich es lohnen und nicht geruhsam bis auf den letzten Groschen
aufzehren.«

»Ist es das?« fragte sie und strich ihm das Haar aus der Stirn.
»Erstens, Kornelius, ist es kein Geschenk, das du bei dir fühlst,
sondern ein Stück von dir. Das braucht nach so langen Jahren nicht
erst wiederholt zu werden. Und zweitens -- ja, was bleibt denn zum
zweiten, Kornelius? Wenn du ein Stück von dir belohnen willst, so
verweichliche es nicht und laß es gerade am schwersten Tun teilnehmen,
damit es von seinem Daseinszweck überzeugt und viel stolzer noch und
selbstbewußter wird. Was belastet dich? Sind es geschäftliche oder
persönliche Dinge?«

Er blickte in ihre Augen, die nichts von Lebensfurcht wußten, und
zum erstenmal war es ihm, als sähe er nicht Angela Freydag in ihnen,
sondern sich selbst, und jede Miene in ihrem Gesicht schien ihm ein
Abbild seiner selbst zu sein.

»Engel,« sagte er und formte langsam an jedem Wort, »es gibt kein
größeres Wunder als die Liebe.«

»Mit dem Wunder allein ist es nicht getan. Es muß auch Wunder
verrichten können.«

»Es verrichtet sie unaufhörlich, Engel. Und gerade jetzt hat es mir
alles Dunkle aus der Seele genommen.«

»Wunder, die selbsttätig wirken? Ohne groß zu wissen, weshalb
und wozu? Das wäre doch für Menschen unserer Art eine zu bequeme
Auffassung des Seligwerdens. Zeig' mir zuerst das Dunkle vor, damit
ich meine Kräfte daran setzen kann, es hell zu machen.«

»Du liebe, stolze Frau -- -- --«

»Laß das Geschlecht beiseite, Kornelius, und auch die Schmuckworte.
Stolz werde ich erst am Ende aller Tage sein, wenn ich weiß, ich war
auch in der Dunkelheit Kornelius Vanderwelts bestes Teil. Und dann vor
allem, wenn er an das Weib in mir gar nicht dachte.«

Da umschlang er sie mit beiden Armen und hörte nichts als den ruhigen,
gemeinsamen Herzschlag.

»Ich kenne keine Geheimnisse vor dir. Die geschäftlichen Dinge laufen
vielleicht nicht so, wie sie sollten. Aber das liegt an den verwirrten
Zeiten und läßt sich mit einigem Verstand und dem dazugehörigen
festen Willen schon wieder klären. Nur will mir der Wille dazu oft
überflüssig erscheinen.«

»Überflüssig? Der Wille? Das sagt ein Kornelius Vanderwelt?«

»Der Wille, für eine Welt zu arbeiten, die nichts mehr mit der meinen
zu tun hat.«

»Was ist das für eine Welt, Kornelius?«

»Die Welt einer Juliane und einer Antonie. Auch die zersetzende
Spötterwelt eines Thomas, und nicht weniger die bloße Geschäftswelt
des geldanbetenden Klaus Beckenried. Von der Welt des Justus weiß ich
nur, daß sie eine abenteuerliche Triebwelt mit lockeren Tageszielen
bedeutet, aber sie gehört dazu, um das Bild zu runden, das mir des
Anfassens sowenig wert erscheint.«

»Bleibt die unsere, Kornelius. Und die ist noch nicht am Ende.«

»Und was bleibt, wenn sie zu Ende ist? Was bleibt von unserem Glühen
und Blühen und In-den-Himmel-Langen?«

Ihre Arme hielten ihn ganz fest und ruhig an ihrem Herzen.

»Der Widerschein, Kornelius. Und wenn es nichts anderes ist als
der Widerschein. Glaub' es mir, von der Glut, die unser Leben erst
zum Blühen brachte und uns das reichste Glück der Menschenkinder
bescherte, wird eines Tages schon ein Schimmer in die Seelen der
nach uns Lebenden fallen und sie in ihrem Hasten stutzig machen und
ihnen den Sehnsuchtsgedanken nach einem Leben eingeben, das in seiner
unaussprechlichen Schönheit nur mit dem gesteigerten Gefühlsleben
zu erlangen ist. Dann, Kornelius, dann ist unsere Erfüllungszeit
gekommen.«

»Wer bist du?« fragte Kornelius Vanderwelt. »Bist du eine
Schicksalsfrau oder eine Schwärmerin?«

»An deinem Herzen beides.«

»Ich liege ja an deinem, Engel.«

»Es ist dasselbe,« murmelte sie und hielt ihn noch fester. -- -- --

Es war in einer Nacht, und Mitternacht war längst vorüber, als
Kornelius Vanderwelt durch das rasselnde Geläut des Fernsprechers aus
dem Schlafe gescheucht wurde. Er warf einen Morgenmantel über den
Nachtanzug und eilte die Treppe hinab in sein Arbeitszimmer.

Als er schweren Schrittes zurückkehrte, stand Angela Freydag vor der
Tür ihres Zimmers und sah ihm entgegen.

»Justus,« sagte er.

»Justus? Ist er in Not? Hat er nach dir gerufen?«

»Ich hoffe, daß er nur in Not ist. Die Kölner Polizei hat mich
angerufen. Auf der Gasse verunglückt.«

»Schnell auf dein Zimmer, Kornelius. Ich reiche dir alles zu und wecke
den Wilhelm.«

Er schüttelte den Schwächezustand ab und ging ihr schweigend voran.
Und schweigend legte sie ihm zurecht, was er für die Fahrt brauchte.
Keiner sah die Menschlichkeit des andern.

»Geh jetzt, Engel. Der Wilm soll geräuschlos vorfahren.«

»Gib mir meinen Anteil. Laß mich mit dir fahren.«

»Ich gebe dir sogar den größeren Anteil, indem ich dir das Warten
aufbürde. Das Warten und die Vorbereitungen. Triff sie so, daß kein
Mensch mit seinem Trost bei der Hand zu sein braucht, wenn es -- wenn
es ein Unglück sein sollte.«

Und plötzlich umfing er sie, als wollten seine Arme sie erdrücken.

»Drück' nur fester, wenn es dir gut tut ...«

»Der Justus, Engel!« brach es aus ihm heraus. Und er hatte sich wieder
in der Gewalt und küßte sie auf die weitoffenen Augen.

»Geh jetzt, Engel. Laß den Wagen vor das Tor fahren.«

In ihrem Morgenrock huschte sie die Treppen hinab und weckte im
Untergeschoß des Hauses den Fahrer und eilte in das Arbeitszimmer und
bereitete auf dem elektrischen Kocher den Tee.

Jetzt hörte sie den gedämpften Schritt Kornelius Vanderwelts. Sie
öffnete die Tür und bat ihn mit den Augen einzutreten. Er nahm das
Teeglas aus ihren Händen und trank es leer.

»Vergiß dich selber nicht, Engel. Du wirst deine Kräfte so nötig haben
wie ich. Und ich warte.«

Da trank sie willig den Tee, strich mit den Händen über seine
Schultern hin, ob er warm genug gekleidet sei für die nächtliche
Fahrt, und ging mit ihm bis zur Haustür. Erst als das Rollen der Räder
in der Ferne verklungen war, schloß sie die Tür und ging auf ihr
Zimmer zurück.

Lange lehnte sie die Stirn gegen das Fensterglas. Ihre Gedanken
begleiteten den Geliebten auf seinem einsamen Wege. So inbrünstig
heiß, daß er ihre Gegenwart empfinden und der Einsamkeit enthoben sein
mußte. »Lieber, du lieber Kornelius -- -- --«

Sie suchte ihr Lager nicht mehr auf. Sie kleidete sich an und tat,
was er sie als erstes zu tun gebeten hatte: sie wartete. An seinem
Schreibtisch saß sie, das Ohr gegen den Fernsprecher geneigt, die
Augen auf das Fensterglas gerichtet, hinter dem mählich die Dämmerung
brodelte. Und während sie wartete und den geliebten Mann in harter
Seelennot wußte, überfielen die Erinnerungen sie bei jedem Schritt,
den sie an seiner Seite getan hatte, und jeder Schritt führte über
blühende Wiesen, durch rauschende Wälder, immer höher hinauf auf die
Bergeshöhen, die den nahen Himmel als Wirklichkeit erscheinen lassen
und die Welt da drunten als wesenlosen Traum. Und als sie nach den
Erinnerungen griff, die in den Ländern diesseits und jenseits der
Meere ohne ihn verstreut lagen, gewahrte sie, daß sie ins Leere griff,
und daß es kein Opfer für sie bedeutet hatte, von den Kunstreisen
abzulassen und dem Geliebten anzuhangen.

Nur was mit Kornelius Vanderwelt zusammenhing, war ihr Leben, von der
Landstraße im Wirbelwind begonnen.

Wer kann es begreifen, grübelte sie mit weiten Augen, als eine Frau?
Als eine Frau, die bettelarm war, über alle Maßen reich gemacht
wurde durch das Beste und Allerbeste eines Mannes, und der die Scham
geheimnisvoll in den Glauben verwandelt wurde, selber reich gemacht
zu haben, selber, selber, ihn, ihn. Zum Allerreichsten ...

Wer kann es begreifen als eine Frau?

Sie saß an seinem Schreibtisch mit gekreuzten Füßen, die Hände um die
Knie geschlungen, das Ohr gegen den Fernsprecher geneigt. Draußen
tagte neblig und kühl der Wintermorgen. Die ersten Schritte klapperten
über das Pflaster und ein Junge ließ einen Stock über die Eisenstäbe
des Gartengitters rattern. Wagen rollten Lasten heran. Aus den Häfen
schrillten die Arbeitspfeifen herüber, brüllten ein paar Sirenen.
Menschen schritten aus und folgten einander. Und dann wurde es wie
alle Tage.

Das Mädchen hatte im Nebenzimmer den Frühstückstisch gedeckt. Angela
Freydag ging hinaus und teilte ihr mit, daß der Herr abgerufen sei,
und wieder tat sie auf sein Geheiß und nahm etwas zu sich, um sich bei
Kräften zu halten. Als sie in das Arbeitszimmer zurückkehrte, schlug
die Dielenuhr neun.

Es war die Stunde, zu der Kornelius Vanderwelt sein Geschäftskontor
aufzusuchen pflegte, und triebmäßig hob sie den Hörer vom Fernsprecher
und rief das Kontor an.

»Sagen Sie, bitte, den Herren, daß Herr Kornelius Vanderwelt in der
Frühe schon eine Reise hätte antreten müssen und nicht vor morgen
mittag erwartet werden könnte.«

Und wieder saß sie in den Wintermorgen hinein, mit gekreuzten Füßen,
die Hände um die Knie geschlungen, und horchte nach innen und außen.

»Jawohl! Hier Angela Freydag selbst!«

Urplötzlich hatte sie den Hörer des Fernsprechers am Ohr. Urplötzlich
stand sie mit blassen Lippen und bändigte den Atem.

Die Stimme Kornelius Vanderwelts sprach zu ihr. Ihr Herz schlug ihr
so hart bis ins Ohr, daß sie die ersten Worte wie ein Brausen vernahm
und den Sinn erraten mußte. Da aber wurde sie mit Gewalt Herr ihrer
selbst.

»Jawohl, Kornelius.«

»Am Nachmittag«, sprach die Stimme, »wird die Leiche freigegeben. Bis
zum Abend überführe ich sie nach dort. Teile der Friedhofsverwaltung
mit, daß sie noch am Abend in der Friedhofskapelle aufgebahrt werden
soll. Anderen braucht vor meiner Rückkehr keine Mitteilung gemacht zu
werden.«

»Ja, Kornelius.«

»Noch eine Bitte, Angela. Ruf das Geschäftskontor an und entschuldige
mein Fernbleiben mit einer Reise.«

»Ich tat es schon, als es neun Uhr schlug, Kornelius.«

»Ich danke dir für deine Vorsorge. Auf Wiedersehen, Angela.«

»Bleib gesund ...«

Noch immer horchte sie, als müßte noch der letzte Hauch von ihm zu ihr
herüberdrängen. Dann legte sie den Hörer hin, fühlte einen leichten
Schwindel um ihre Stirn gleiten und grub beide Hände in ihr Haar.

Ein wildes Aufschluchzen löste den Krampf. »Kornelius!« Und noch
einmal ein Schrei, als richte er sich gegen Gott im Himmel:
»Kornelius!!«

Nur um den Vater des Toten schluchzte ihr Schmerz auf, nur um den
geliebten Mann. --

Ruhig, sprach sie zu sich selber, ruhig jetzt, du hast ja Pflichten zu
erfüllen. Und sie ging hin und tat alles, was er sie geheißen hatte.
Und tat einen Schritt darüber hinaus und suchte den Friedhofsgärtner
auf und ließ unter ihrer Obhut die noch leere Bahre von grünen
Palmenbäumen umgeben.

Der Trostlosigkeit des Ortes war um ein klein wenig gesteuert.
Kornelius Vanderwelt sollte mit seiner Bürde nicht in die Öde hinein.
Und sie ging die Gräberwege, und ihr Herz war voll Leid um den
Lebenden.

Es dunkelte, als Kornelius Vanderwelts Wagen vor dem Friedhoftore
anfuhr und zur Seite bog. Der Wagen war leer. Wenige Minuten noch,
und ein größerer und schwarzer Wagen fuhr vor und hielt vor dem Tor,
das sich auftat und vier Träger hervortreten ließ. Der Fahrer war
abgesprungen und hatte den rückwärtigen Schlag geöffnet. Die Träger
traten zurück. Ein Lebender stieg aus dem schwarzen Raum und eine
Frauenhand ergriff die Hand des Mannes und hielt sie weiterhin in der
ihren, als müßte es so sein.

Der Eichensarg wurde aus dem Wagen gehoben. Die vier Träger trugen
ihn schweren Schrittes an den Bronzeringen, und der Mann und die
Frau folgten ihm in der Dunkelheit nach, und ihre Hände blieben fest
verschlungen. So traten sie in die erleuchtete Kapelle und blickten
regungslos auf das Tun der vier Männer, bis der Sarg aufgebahrt war
und der grüne Hain ihn umzitterte.

Durch die Dunkelheit gingen sie, die Hände fest verschlungen, den
Weg zurück, den sie gekommen waren. Und der große schwarze Wagen
war verschwunden, und der Wilm war vorgefahren und hielt die Mütze
feierlich in der Hand.

»Nach Hause, Wilm.«

Sie fuhren wortlos heim. Ganz dicht aneinander gedrängt, als müßten
sie sich ihres Besitzes vergewissert halten.

Kornelius Vanderwelt schritt durch sein Arbeitszimmer zum Schreibtisch
und ließ sich ermüdet nieder. Seine Augen ruhten auf Angela Freydag,
und die Frau trat neben seinen Stuhl und legte die Hand über seine
müden Augen.

»Sprich jetzt nicht. Alles das hat Zeit, Kornelius. Es ist gut, daß du
zurück bist.«

Er schloß die Augen unter ihrer kühlenden Hand. Er war geborgen.

Die Glocke des Fernsprechers läutete an. Der Ermüdete fuhr auf. Der
Zorn zerrte über sein Gesicht.

»Noch mehr? Noch mehr? Mit dir allein will ich sein. Schaff' mir Ruhe,
Engel.«

Sie hatte schon das Hörrohr am Ohr. »Es ist der Thomas,« sagte sie
leise.

»Schaff' mir Ruhe. Mit dir allein will ich sein und nicht mit den
Jammergesichtern.«

»Jawohl,« erwiderte sie in den Fernsprecher hinein. »Sie sprechen mit
Angela Freydag. Ja, Thomas, wenn die Abendzeitung den Unglücksfall
schon berichtet ... Ihr Vater ist in diesem Augenblick von Köln
zurückgekehrt und im Begriffe, sich zurückzuziehen. Bitte, gönnen Sie
ihm heute die Ruhe. Ja, kommen Sie morgen in der Frühe. Ihr Vater läßt
Sie herzlich grüßen.«

»Der Thomas legt sich dir schweigend ans Herz, Kornelius. Dafür liebe
ich ihn.«

Er antwortete nicht. Er suchte nach einem Anfang, und sie sah sein
quälerisches Bemühen.

»Sprich jetzt nicht,« wiederholte sie mit ihrer tiefsten Zärtlichkeit.
»Heute muß ich doch deine Sorgerin sein. Du bist so oft mein Sorger
und darfst mir heute gehorchen.«

Sie beugte sich zu ihm nieder, und er strich ihr schwerfällig mit den
Händen über Gesicht und Haar.

»Todmüde bin ich, Engel, und werde doch nicht schlafen können. Aber
ich werde dir gehorsam sein.«

Sie ging neben ihm her bis zur Tür seines Schlafzimmers.

»Es klänge unsinnig, Kornelius, eine ›gute Nacht‹ zu wünschen. Wenn
du mit der Nacht nicht fertig wirst, rufe mich. Nur ruhen sollst du.
Ausruhen.«

Er zog sie an sich und küßte sie aufs Haar.

»Geh auch du zur Ruhe. Hab' Dank für deine Gegenwart. Ich fühlte sie
den ganzen Tag, wie ich dich jetzt fühle, und das allein hat mir über
den Berg geholfen.«

Angela Freydag aber schritt noch einmal durch das Haus und traf
ihre Anordnungen. Sie ging zu den Mädchen und teilte ihnen den Tod
des ältesten Haussohnes mit, denn der Fahrer Wilhelm hatte finster
geschwiegen. Und zu später Stunde erst suchte sie ihr Bett auf.

Lange hatte sie noch in die Nacht hineingewacht, mit den Gedanken, die
jetzt wohl der Mann auf seinem einsamen Lager denken mochte, und mußte
doch endlich wohl vor Übermüdung eingeschlafen sein, denn das Licht
brannte in ihrem Zimmer, als sie die Augen aufschlug und sich nicht
gleich zurechtzufinden wußte.

An ihrem Bette saß Kornelius Vanderwelt. Er war angekleidet und sah
sie an.

»Ist es schon Morgen, Kornelius? Habe ich die Zeit verschlafen?«

Er schüttelte den Kopf und streichelte ihre Hände, die auf der Decke
lagen.

»Es ist noch Nacht. Bleib ruhig liegen. Es wird nicht mehr als drei
Uhr sein.«

»Weshalb bist du denn angekleidet? Hast du dich gar nicht zur Ruhe
gelegt? Du versprachst es doch.«

»Wenn man in das Dunkle hineinsieht, Engel, sieht man die Dinge
schärfer als im Licht. Mit einer grausamen Schärfe, Engel. Weil man
die unerbittliche Kette der Folgerungen gestaltet und die Beweggründe
nicht gelten läßt. Darum bin ich wieder aufgestanden und habe mich
angekleidet und zu dir ans Bett gesetzt.«

»Sitzest du bequem, Kornelius? Nimm doch das Kissen von mir in den
Rücken.«

»Nein, nein. Ich danke dir. Seit ich bei dir sitze und dich ansehe,
hat sich die Schärfe gemildert.«

Da lag sie ganz still und atmete fast unhörbar. Ihr hellfarbiges Haar
glitzerte wie eine seidige Woge auf den Kissen und bettete den ernsten
Frauenkopf mädchenweich. Es schmiegte sich über ihre Brust, und er sah
die seide-gesponnenen Fäden leise erzittern. Ganz nahe jetzt, ganz
nahe. Sein Kopf hatte sich an ihrer Brust eine Ruhestatt gesucht.

Und in ihren Herzschlag hinein begann er zu sprechen, sich von den
Bildern des Tages zu lösen.

»Ich kam nach Köln, Engel. Ich wurde in den Raum geführt, in dem der
Verunglückte lag. Ich erkannte ihn sofort als meinen Sohn, als den
Justus. Er hatte noch im Tode den hochfahrenden Zug um den Mund. Denn
ein Toter lag vor mir, kein nur Verwundeter, Engel. Ein Mensch mit
rohen Messerstichen im Leib, aufgefunden in einer dunklen Gasse, in
der sich das Gesindel herumtreibt.

»Erst habe ich den Körper angestaunt, der einmal so jugendschön
gewesen war. Vergeudet, vertan in einem wilden Leben, das nur sich
anerkannte und seinem Begehr keine Schranken setzte. Und dann habe ich
mit Mühe meinen Mund geöffnet und meine Fragen gestellt.

»Er muß durch einen nächtlichen Lärm in die Gasse gelockt worden sein.
Männer stritten sich um ein Frauenzimmer, und er hat sich ohne viel
Fragen zum Beschützer aufgeworfen. Über sein herrisches Tun ist es
unter den Angetrunkenen zu einem Hallo gekommen, und sie haben einen
wilden Reigen um das Paar geschlungen. Der Justus aber hat mit seinem
Stocke rücksichtslos hineingeschlagen und dem Gesindel die Messer
gelockert. Das Dirnchen war herausgehauen, als er in seinem Blute auf
der Gasse lag und die Polizeibeamten das Gesindel verscheuchten. Er
lag mit gebrochenen Augen.«

Er schwieg und preßte den Kopf fester auf Angela Freydags Brust.
Und Angela Freydag hielt den Atem an, um sein Schweigen in die Ruhe
hinüberführen zu können.

»Engel, Engel!« brach es aus ihm heraus. »Wegen einer Straßendirne!
Ach, was sage ich. Und wenn es um eine Dame der Gesellschaft gegangen
wäre! Aus herrischer Laune, die auf keinem anderen Verdienst fußt als
auf dem ererbten Namen! Engel, Engel, ich habe ihn befragt, den Toten,
und er behielt nur seinen hochfahrenden Zug um den Mund.«

Jetzt spürte er ihre Hand über seinen Rücken gleiten. So sacht und
doch so beredt, wie nur Angela Freydags Hände waren. Und er besann
sich auf Zeit und Raum und gewann seine Ruhe zurück.

»Die Ärzte hatten noch ihr traurig Handwerk auszuführen, um Herkunft
und Beschaffenheit der Wunden festzustellen. Bis zur Freigabe der
Leiche hatte ich überflüssige Zeit. Ich tat, was man bei solchen
Todesfällen zu tun pflegt. Ich suchte Justus letzte Wohnung in Köln
auf, wies mich als Vater aus und packte seine paar Habseligkeiten.
Einige Schulden blieben noch zu zahlen, und ich zahlte sie. Sein
mütterliches Vermögen war wohl bei seinen Abenteuern draufgegangen.
Und dann las ich seine Briefschaften, die aus allen Frauenschichten
stammten und in Anbetungen vergingen, und verbrannte sie. Mit der
Asche war alles verloschen, was Justus Vanderwelts Leben hieß.«

Er hob den Kopf von Angela Freydags Brust und setzte sich aufrecht.
Sie sprach noch immer nicht.

»Nun habe ich dir die Nachtruhe geraubt, Engel, aber ich wußte
mir keinen anderen Rat. Vielleicht glückt es dir, noch einmal
einzuschlafen, vielleicht glückt es auch mir jetzt. Es tut wohl, an
deinem Bette zu sitzen, Engel.«

»Bleib,« bat sie, und ihre Hände umklammerten die seinen.

»Ich bleibe gern noch, Engel, aber du mußt schlafen.«

»Sieh,« sagte sie, und aus ihren Händen strömte es wie warme Wellen in
die seinen über, »es liegt für dich so nahe, dir Gedanken zu machen,
ob deine Erziehungsart die rechte gewesen sei. Und du hast sie dir
schon gemacht, und das hat dich zu mir getrieben. Es wäre für mich
nicht nötig gewesen, ein Jahr lang während der Entwicklungszeit deiner
Kinder die stille Zeugin gewesen zu sein. Ich kenne dich ja wie kein
anderer Mensch in dem selbsterworbenen und gefestigten Reichtum deiner
Wesensart. Deine Kinder brauchten nur zuzulangen, um überreich zu
werden, aber sie wählten sich aus dem Dargebotenen nur das heraus, was
ihrer eigenen Wesensart entsprach. Und davon wollte ich sprechen.«

Er hatte sich mit geschlossenen Augen im Stuhle zurückgelehnt. Nur
über sein Gesicht zuckte es zuweilen hin, wenn ein Wort von ihr ihn
tiefer aufhorchen machte.

»Ja, Kornelius, davon besonders wollte ich sprechen. Denn ich kann
es aus Erfahrung. Eine Erziehung kann gut oder schlecht sein, auf
die Wesensart des Kindes kommt es an, wie sie wirkt und wohin sie
sich auswirkt. Ein schlechter Vater kann an einem gut gearteten
Kinde nicht mehr verderben, als daß er ihm die Kindheit verdirbt.
Und der beste Vater wird seinen Kindern nicht mehr geben können
als eine glückliche Kinderzeit, wenn sie weniger gut geartete oder
eigenwillige Persönlichkeiten sind. Daß der Mensch das Ergebnis seiner
Erziehung wäre -- ach, Kornelius, das ist die bequemste Lüge der
Oberflächlichkeit. Die Erziehung kann ihm das Sprungbrett für seine
Persönlichkeit werden, aber springen muß er selbst, das will heißen,
Kornelius, daß ein jeder zu seiner Erziehung das Beste aus sich selbst
hinzufügen muß, oder es bleibt beim schönen Schein. Wenige Kinder
haben so sehr alle Möglichkeiten gehabt wie die deinen. Längst ist
die Reihe an ihnen, und du und kein Vater kann etwas anderes tun, als
den besorgten Zuschauer spielen. Sieh, Kornelius, das war es, was ich
wahrheitsgemäß einmal aussprechen mußte.«

»Wie gut es sich dir zuhört, Engel --«

»Ich war selber ein Kind, Kornelius, das über wüste Wege mußte und
doch zum Glück kam.«

»Zu einem heimlichen, Engel, und ich beließ es dabei.«

»Nein, ~ich~ beließ es dabei. Sollte ich dich wegen einer bloßen
Form in Widerstreit zu deinen erwachsenen Kindern bringen, die schon
selber Kinder in die Schule schicken? Ja, lächle nur, Kornelius, es
ist so. Und heimlich? sagst du. Mein Glück wäre ein heimliches? Sieh
dir all das Glück an, das sich offen zeigt, und dann vergleiche es mit
dem meinen. Mit dem unsrigen, Kornelius. Das unsrige hat gelernt, daß
Liebe ein Hauch ist, den man behüten muß.«

Er öffnete die Augen und blickte sie mit tiefer Innigkeit an.

»Bei dir -- ach, bei dir ist gut ruhen ...«

Sie saß aufrecht in ihrem weißen Nachtkleid, warf das Haar in den
Nacken und strich ihm die Augen zu. Ihr zärtlicher Atem wehte über ihn
hin. Wie wohl das alles tat -- wie wohl -- --

Er nahm sich vor, diese Stunde auszugenießen, keine Minute dieser
Stunde aus seinem Gedächtnis zu verlieren, -- und war entschlummert.
Ruhig und gleichmäßig gingen seine Atemzüge.

Auf bloßen Füßen stand sie neben seinem Stuhle, bettete sie seinen
Kopf in ihr warmes Kissen, seine Füße in eine wollene Decke, drehte
sie geräuschlos das Licht aus. Und aus ihrem Bette heraus horchte sie
noch lange auf die stillen Atemzüge.

Als er die Augen aufschlug, sah er sie in ihrem weißen Morgenrock, das
Haar unter einem seidenen Strickmützchen, am Fenster stehen und in den
Morgen hinausblicken. Sie wandte sich um und blickte mit einem Lächeln
zu ihm hinüber.

»Wo bin ich, Engel? Wie komme ich hierher? Ist es schon Tag?«

»Du bist bei mir. Du kamst in der Nacht zu mir. Und nun ist es Morgen.«

Seine Gedanken kehrten nur langsam und wie aus weiter Ferne zurück.
Das Erinnern an das gestrige Erleben drängte sich vor, zeigte seine
Dirnenfratze und hatte seine Schrecken verloren. Da stand die starke,
helle Frau und reichte ihm zum Tagesgruße die Hände. Und diese Hände,
die er schon an dem herumgejagten hageren Mädchen liebgewonnen hatte,
diese Hände hatten ihn in Schlummer gewiegt.

Er sprang aus dem Stuhle auf. Der tiefe Schlummer hatte ihm alle
Kräfte zurückgebracht. Und Kornelius Vanderwelt beugte sich über
Angela Freydags Frauenhände und küßte sie. --

Vor der Geschäftsstunde noch kam Thomas Vanderwelt in sein väterliches
Haus. Mit krampfhaft angespannten Gesichtszügen begrüßte er Angela
Freydag, die ihn in seines Vaters Zimmer eintreten ließ und hinter
beiden die Türe schloß. Als Thomas Vanderwelt nach einer halben Stunde
das Zimmer wieder verließ, war sein Gesicht fassungslos und verwüstet.

»Es war wohl weniger der Tod als die Roheit des Todes, die ihn so
aufwühlte,« sagte Kornelius Vanderwelt.

»Ich weiß es nicht, Kornelius. Ich weiß nur, daß ihn noch etwas
aufzuwühlen vermag. Das soll uns heute genügen.«

Es kamen auch die Frauen ins Haus, Juliane und Antonie. Beide in
erlesenen schwarzen Gewändern.

»Es ist gut, daß sie zusammen kommen,« sagte Kornelius Vanderwelt,
als Angela Freydag sie ihm meldete. »Zu zweit bilden sie doch
nur ~eine~ Unwahrheit. Laß sie zu mir, damit ich es schnell
überstehe.«

Nach wenigen Minuten schon kehrten die jungen Frauen mit verstörten
Gesichtern zu Angela Freydag zurück.

»Was ist mit ihm?« fragte Juliane hastig. »Er ist für Trost nicht
zugänglich und wies mich barsch zurück, als ich ihn um ein Andenken an
meinen armen Bruder bat.«

»Ist Justus wirklich bei einer Frau tot aufgefunden worden? Von dem
zornigen Ehemann überrascht, getötet und auf die Gasse geworfen?
Bitte,« bat Juliane mit schauernden Schultern, »erzählen Sie mir doch
alle Einzelheiten.«

»Als Helfer starb er -- aber die Tatsache seines unglücklichen Todes
muß unserer Trauer wohl zunächst genügen,« erwiderte Angela Freydag
und öffnete den verstörten jungen Frauen die Tür.

»Und die beiden Beckenrieds, Vater und Sohn, erschienen und gingen zu
Kornelius Vanderwelt in das Arbeitszimmer. Der Schwiegersohn Klaus
nagte vor Erregung an der Unterlippe und schaute so wild um sich, als
erwarte er selbst ein Wort der Teilnahme, und der alte Beckenried
fand das Wort, wenn auch auf Umwegen, und wies darauf hin, daß nicht
nur die Angehörigen schwer unter den niederdrückenden Umständen
des Todesfalles leiden würden, sondern auch das Geschäft, denn das
Verfrachtungsgeschäft sei nun einmal eine Vertrauenssache.«

Ȇberlassen Sie auch diese Sorge einstweilen mir allein. Wenn ich sie
zu den anderen lege, wiegt sie weniger.«

Und Kornelius Vanderwelt verabschiedete sich von den Herren und rief
nach Angela.

»Sperr' die Fenster auf, Engel. Die Totengräber haben sich in der Türe
geirrt. Noch rieche ich nicht nach der Schippe.«

Am folgenden Tage wurden Justus' Überreste in aller Stille im
Vanderweltschen Erbbegräbnis eingebettet. Keine Traueranzeige war
verschickt worden, kein Teilnehmender hatte sich eingefunden. Die
Herren Beckenried wurden durch die Vertretung der beiden Herren
Vanderwelt im Geschäft zurückgehalten, die junge Frau Antonie war aus
Furcht vor dem Schwiegervater von einem Nervenzittern befallen worden,
und so stand Kornelius Vanderwelt mit seinen beiden Kindern allein an
der Gruft, aber er fühlte Angela Freydags Schulter.

Leise fragte Juliane den Bruder nach dem Pastor. Doch Thomas wies die
Frage durch ein Kopfschütteln zurück. Und der Sarg wurde von den vier
Trägern an den Bronzeringen herangetragen und langsam an den Seilen in
die Gruft hinabgelassen.

Kornelius Vanderwelt zog den Hut. Er erwies dem Tode die Ehrfurcht
und schickte dem Sohne den letzten Vatergruß nach. Fahr wohl und hab'
deine Ruhe, Justus.

Der Totengräber hielt den beiden Männern die Schippe mit den
Erdschollen hin. Und als auch diese Formel erfüllt war und sie sich
zum Gehen wandten, hörte Kornelius Vanderwelt noch einmal Erdschollen
auf dem Sarge aufschlagen. Und er erkannte in dem Manne, der hinter
den Leichensteinen hervorgetreten war und dem lebenden Vanderwelt mehr
als dem toten die Ehre erwies, seinen alten Seegesellen, den Gastwirt
Matthes aus den ›Fünf Erdteilen‹.

Da packte ihn das Würgen im Halse, und er wußte nicht, ob ihn das
Lachen schüttelte oder das Leid.

Der Mann aber war wortlos hinter den Leichensteinen verschwunden.

»Komm,« bat Angela Freydag leise und berührte seine Hand.

»Sahst du ihn?«

»Einer, der dir Freundschaft hält, Kornelius.«

»Und was für einer!«

»Besser ein treuer Kettenhund als ein wildernder Jagdhund. Mich hat es
heute gefreut.«

»Du magst recht haben,« erwiderte er, »und nun können wir gehen.«

Sie fuhren die Kinder bis zu ihren Wohnungen und fuhren allein heim.
Es war Abend geworden, als sie das Haus betraten. Und sie suchten ihre
Zimmer auf, um sich umzukleiden.

An diesem Abend spielte Angela Freydag, wie sie noch nie vor den
Tausenden gespielt hatte. Kein Lied vom Tode und Vergehen. Den
gewaltigen Sang, der in der Herbstnacht sehnsüchtig beginnt und
mit den Frühlingsstürmen sieghaft durch die Wälder braust. Das
Menschheitslied vom ewigen Auferstehen spielte sie, und sie spielte es
für Kornelius Vanderwelts Seele.

Nur für den Mann, der aufrecht in dem alten Kirchenstuhle saß und ihre
Liebe an seinem Herzen hielt.

Ihre Arme sanken am Körper nieder. Ihre Brust hatte den Atem verloren.
Und während sie ihn in schmerzhaften Zügen wiederzugewinnen trachtete,
dachte sie: So und nicht anders ist meine Liebe. Bis mir die Arme vom
Körper sinken. Bis mir der letzte Atem vergeht. Töten und vernichten
könnte ich um seines geliebten Namens willen.

Und sie wandte den erblaßten Kopf nach ihm und lächelte ihm zu ...

Und wieder schritt Kornelius Vanderwelt durch das Gewühl vor der
Schifferbörse wie in früheren Tagen, aber die launigen Zurufe blieben
den Leuten im Munde stecken, die Knäuel öffneten sich und ließen ihn
hindurch, und die Männer zogen die Mützen herunter und schwiegen in
Verlegenheit. Ein wenig hatte er es sich anders gedacht, aber er ließ
es sich nicht anfechten und erledigte im Börsensaal seine Geschäfte.

Und als er in das Gewühl der Wartenden zurückkehrte, bildeten die
Leute aufs neue eine Gasse. Aber sie hatten eine Abordnung unter sich
ausgemacht, aus ihren Ältesten, und die Ältesten traten an Kornelius
Vanderwelt der Reihe nach heran und schüttelten ihm schweigend die
Hand, während die Umgebung sich achtungsvoll räusperte.

Der Winter ging hin. Es war dies Jahr nicht nur für das von den
Feindmächten besetzte Rhein- und Ruhrgebiet, es war für das ganze in
Geldwirren gestürzte Deutschland das atemraubendste Geschäftsjahr
geworden, und in der kaufmännischen Welt reihte sich Trümmerfeld an
Trümmerfeld. Kornelius Vanderwelt schaffte vom Morgen bis zum Abend,
er war überall, wo es not tat, mit der unwiderstehlichen Kraft seiner
Persönlichkeit einzugreifen, und doch fühlte er, daß es rückwärts
gehen wollte und nicht vorwärts. Nein, seine Kraft war die gleiche
geblieben, aber seine Unwiderstehlichkeit hatte nachgelassen. Die
Verlegenheit, die er vor Monaten, nach Justus' Tode, unter dem derb
genug besaiteten Schiffervolk auf dem Börsenplatz beobachten konnte,
äußerte sich bei den Kaufherren und Werksleitern wohl liebenswürdiger
und zurückhaltender. Aber gerade diese Zurückhaltung war es, die ihm
die raschen und frischfröhlichen Geschäftsabschlüsse erschwerte.

In der ersten Zeit sah er über das törichte Menschheitsverhalten
hinweg, auch dann noch, als es sich vornehmlich unter den einstmaligen
Zechgenossen mancher ›hohen Fahrt‹ breit und bemerkbar machte. »Es ist
die alte Leier, Engel,« pflegte er zu sagen, »daß die schmutzigsten
Hände immer die reinsten Handschuhe vorweisen möchten. Ich glaube, im
Gleichnis vom Zöllner und Pharisäer hat der brave Pharisäer auch schon
Handschuhe übergezogen.«

Als er aber in der Folge bei der Verteilung größerer Ladeaufträge
mal auf mal übergangen wurde, geriet zwar seine Zuversicht nicht ins
Schwanken, aber ein Lächeln der Verachtung erschien auf seinen Lippen
und wollte hinfort nicht mehr weichen. Trug doch seine Zuversicht mehr
als je den Namen Angela Freydag.

Was der hochgemute Mann nicht sah, das sahen ihre klaren Frauenaugen.
Sie gewahrten die verstärkte Aufmerksamkeit der Vielheit, die dem
zurückgezogenen Leben Kornelius Vanderwelts galt, und die tastenden
Finger, die nach dem stillen Schleier griffen. Und sie beschränkte
sich immer mehr in der äußeren Lebensführung und wuchs zu einer
inneren Gesammeltheit auf, die bei anderen gefestigten Naturen wohl
aus der Entsagung geboren zu werden pflegt, bei ihr aber nichts
anderes hieß als die heiße Fürsorge für den Geliebten.

Wurde Kornelius Vanderwelt in seinem hohen Traumwandel hellsichtig,
das sagte ihr das untrügliche Empfinden der liebenden und geliebten
Frau, so vernichtete er mit seinen Widersachern sich selbst und sein
Glück. Und immer enger noch an ihn geschmiegt, blieb sie die Gefährtin
seines hohen Traumwandels auf Schritt und Tritt, und es war keine
Wolke am Himmel, die sie nicht zu scheuchen wußte.

In diesen Tagen begann das Leben seine Probe auf die Berechtigung,
Kornelius Vanderwelts Glück zu heißen und er das ihre. Sie dachte
gar nicht darüber nach. An das Selbstverständliche verschwendete
sie keine Gedanken. Nur, daß auch auf ihren Lippen das Lächeln der
Menschenverachtung erschien und blieb.

Mehr als vordem stellte sich Thomas Vanderwelt ein. Er wußte die
Stunden herauszufinden, an denen er Angela Freydag allein zu Hause
traf, und hockte ihr im Sessel gegenüber, rauchend und die Regeln des
Lebens in Widersinnigkeiten verkehrend. Der Tod des Bruders hatte sein
zersetzendes Wesen bis zur Fahrigkeit gesteigert.

»Lieber Thomas,« sagte die geduldige Zuhörerin, »weshalb spielen Sie
sich und mir eine Rolle vor? Das sind Sie ja gar nicht, in dessen
überlegenem Faltenwurf Sie sich gefallen. Sie sind weder eitel noch
unanständig. Weshalb also die Maskerade.«

»Was bin ich denn in Ihren klugen Augen, Frau Engel?«

Seit er den Namen einmal aus dem Munde seines Vaters vernommen hatte,
hatte er ihn sich nicht wieder nehmen lassen.

»Sie sind ganz einfach ein unglücklicher Mensch. Nichts mehr und
nichts weniger.«

»Ein unglücklicher Mensch kann sehr wohl ein Unflat sein. Schon der
Umstand, daß er ein Unglück hinnimmt, spricht dafür.«

»So ändern Sie es doch, oder sind Sie ein Höriger Ihres Unglücks?«

»Sehen Sie,« sagte er bewundernd, »wie scharfsichtig Sie sind, wie Sie
jedes Kindlein gleich beim rechten Namen zu nennen wissen. Ein Höriger
.. Ein Höriger seines Unglücks. Das bedeutet soviel wie ein krankhaft
veranlagter Liebhaber. Wahrhaftig, Sie haben ins Schwarze getroffen.«

»Wenn Sie in dieser Tonart fortzufahren belieben, muß ich Sie zu
meinem größten Leidwesen nach Hause schicken, Thomas.«

Er lächelte sie ungläubig an. Wie ein verwöhnter Junge.

»Das würde nun wiederum ~Ihrem~ Namen keine Ehre machen,
Frau Engel. Denn ich komme ja just zu Ihnen, um von Zeit zu Zeit
festzustellen, was denn eigentlich von dem alten Thomas noch
übriggeblieben ist. Gott, wenn Sie so gütige Augen machen, reizt es
mich, meinen ganzen Musterkasten -- die alten Griechen nannten ihn,
glaube ich, die Büchse der Pandora -- vor Ihnen auszupacken, wenn die
Pandora auch nur Antonie gerufen wird und der Gatte so neugierig ist
wie das Weib.«

»Thomas, Thomas, ich rief Sie schon vor Jahren bei Ihrer
Ritterlichkeit auf. Es gibt nur ein Entweder -- Oder!«

»Ein Entweder -- Oder,« wiederholte er, »und ich habe das letztere
gewählt. Das Entweder ist stets das Langweiligere, das Oder das
Vergnüglichere und das Spannende. Der ›Hörige‹ kommt hinzu. Das
Leben, das sich uns nach dem allgemeinen Weltendurcheinander und der
ausnahmslosen Gleichmacherei darbietet, ist so reizlos geworden, daß
man nach einem Strohhalm greift, wenn er eine Belustigung verspricht.
Meine Antonie ist nun gewiß kein trockener Strohhalm, sondern ein
ausbündig schönes und vollsaftiges Lebewesen der Mutter Erde, aber
darin tut sie es dem Strohhalm gleich, daß sie in Brand gerät, ehe
man sich umgeschaut hat, und das ist über alle Maßen belustigend.
Weshalb? fragen ihre strengen Augen. Weil sie annimmt, daß man sich
~nicht~ umgeschaut hat.«

»Und das nehmen Sie,« fragte Angela Freydag verächtlich, »immer wieder
hin, ohne es zu ändern?«

»Geduld, Geduld,« mahnte Thomas Vanderwelt geheimnisvoll. »Zuweilen
ist es nur ein irrtümlich entstandener Brand, ein Brand aus
Eifersucht, der mir die Glut ihres Herdfeuers bekunden soll. Mir, Frau
Engel. Bei anderen Malen aber gedenke ich aller Ihrer guten Lehren
und nehme den brennenden Strohhalm ungesehen in meine Hände, um ihm
das Lebenslichtlein auszupusten. Ganz unvermutet und auf eine streng
sittliche Weise.«

»Lästern Sie nicht, Thomas, und reden Sie, wenn Sie schon reden
müssen, ohne Beschönigung.«

»Es ist ein bißchen viel Nacktheit dabei, Frau Engel, wie bei den
neuzeitlichen Tanzbelustigungen. Daher die Verbrämtheit meiner Rede
vor Ihren Ohren. Aber urteilen Sie selber über die Tragbarkeit der
sittlichen Grundlagen, auf denen ich meine Abänderungen vollziehe.
Von den kleinen Kunstgriffen schweige ich. Von den Stelldicheins,
von denen mir herumliegende Briefe oder herumfliegende Freundinnen
Kunde taten und zu denen zufällig ich selber erschien, statt des
Erwarteten. Von den nichtigen Techtelmechteln, die ich mit ihren
ähnlich gearteten Freundinnen beginnen mußte, um allerlei Menschliches
und Allzumenschliches meiner vergeßlichen Gefährtin aus Vergangenheit
und Gegenwärtigem zu erfahren und ihre holden Lügen am Bindfädchen zu
halten, wie der Knabe den Maikäfer. Höher hinauf, höher! Da war ein
Fall, würdig, verzeichnet zu werden. Nicht der Strohhalm, die ganze
Garbe brannte. Und der Herrlichste von allen wurde ins Haus geladen.
Es ging nicht anders, es war der Hausfrau Geburtstag. Und sie saßen
sich gegenüber und besprachen sich mit den Augen und sagten sich
Wunderdinge über Wunderdinge. Sollte ich den Dritten im Bunde vor die
Türe werfen? Sie nicken begeistert. Gemach, gemach. Ich erhob mich
aus einem inneren Drange heraus und klopfte mit meinem Obstmesser
ans Glas, denn wir waren beim Nachtisch angelangt, und hielt eine
Geburtstagsrede. Das war es, Frau Engel. Das war die sittliche
Grundlage. Ich verbeugte mich vor der Hausfrau, vor der Gattin, vor
der Mutter meines Kindes. Ich sprach von der tiefen Gläubigkeit des
einen zum anderen Teil in der heiligen Ehe. Von der Lebensgefährtin,
die, abhold jeder Lüge und Verstellung, ihr Leben lasse für den reinen
Schild des anderen. Von der Selbstlosigkeit und Aufopferungsfähigkeit
der wahren und wahrhaftigen Frau, die so hohe Höhen zu erklimmen
wisse, daß wir staubgeborenen Männer anbetend auf den Knien liegen
müßten. Und der Ehrengast war so erschrecklich unruhig geworden und
rutschte vor lauter Beschämung auf seinem Stuhl. Und der Trottel
kriegte sogar feuchte Augen, als ich die Tugend des Weibes der
unsterblichen Seele an die Seite stellte, und er sagte, er habe sich
verschluckt und müsse leider noch vor dem Hoch hinaus, um, wie er
wiederum sagte, rasch einen Arzt zu Rate zu ziehen. Ja, und dann haben
wir den Geburtstag für uns gefeiert.«

Er rieb sich vergnügt die Hände und lachte noch in der Erinnerung über
den gelungenen Streich.

»Weshalb lachen Sie nicht mit, Frau Engel? Sie sind doch eine Frau von
Geist?«

»Weil mir die Sache zu belanglos erscheint.«

»Belanglos? Das ist ein herbes Urteil. Darf ich Ihre Beweggründe
kennenlernen?«

Angela Freydag blickte ihrem Gast in die Augen. So lange, bis eine
Röte über seine Wangen huschte.

»Muß ich sie Ihnen wirklich nennen? Einem Manne, der selber das
Messer des Wundarztes zu führen vorgibt? Also offen heraus, Thomas:
die handelnden Personen erscheinen mir in ihrem Tun und Lassen zu
unwichtig. Was sie mit großartigem Gebaren hervorbringen, sind
bestenfalls eine Kette von schillernden Seifenblasen, die genau so
lange anhalten, wie die Einbildung anhält. Für Kindereien sind wir zu
erwachsen geworden, Thomas.«

Er rauchte seine Zigarette zu Ende, erhob sich und verabschiedete sich
kleinlauter, als er gekommen war.

»Sie messen alles mit einem überlebensgroßen Zollstock, Frau Engel.
Da schneiden wir kleinen Leute schlecht ab. Trotzdem: Es war eine
schöne und lehrreiche Erbauungsstunde.«

Er schritt still zur Tür, griff über seine Augen und kehrte zurück.
Sie sah ihm, ohne den Blick von ihm zu lassen, entgegen. Und er nahm
ihre herabhängende Hand, zog sie stumm an seine Lippen und ging
hinaus. --

Eine schöne und lehrreiche Erbauungsstunde hatte der Spötter Thomas
ihr Zusammensein genannt. Das Wort blieb in Angela Freydag hängen
und fand den Weg zum abwägenden Verstand. Eine Erbauungsstunde?
Das war mitsamt dem Schmuckwort ›schön‹ auf Rechnung der armen
Selbstverspottung zu setzen. Aber lehrreich -- lehrreich war sie
auch für Angela Freydag gewesen, und ihre Menschenverachtung konnte
nur dabei gewinnen. Da lebten zwei junge Menschen in der nackten
Oberflächlichkeit einer Ehe, wie sie die neue Zeit zu Hunderten hatte
ins Kraut schießen lassen, einer Ehe, die nur soweit Gemeinsamkeit
war, als sich die beiderseitigen Naturtriebe in ihr berührten und im
übrigen beiden Teilen Wege offen ließ, die weder hell noch staubfrei
gehalten waren. Aber es war eine Ehe. Sie gab zu reden und offen und
heimlich zu tuscheln, aber solange beide Teile mit ihr zufrieden
waren, nahm auch die Umwelt keine Veranlassung, sie abzulehnen. Und
es lebten da zwei reife Menschen, deren innerste Verbundenheit keine
Lücke zuließ und die doch nicht zur Ehe gelangt waren aus einer
selbstlosen und opferwilligen Rücksicht auf Kinder und Enkelkinder.
Trotz ihrer adligen Gesinnung, trotz ihrer Verdienste um die
Allgemeinheit -- die Umwelt kam ungerufen und legte kopfschüttelnd ihr
zusammengeflicktes Maßband an.

Ja, diese Erbauungsstunde war für die Gefährtin Kornelius Vanderwelts
nicht weniger lehrreich gewesen. Ihre Mienen zogen sich zusammen. Sie
schüttelte die Hände in der Luft.

»Du -- du! Mein Kornelius!«

Und ihre Glieder spannten sich wie zur Verteidigung und zum
Angriffssprung. --

Kornelius Vanderwelt aber ging seinen Geschäften nach, als hätten sich
Zeiten und Menschen nicht verändert. Nur daß er Zeiten und Menschen
als so geringfügig wertete, daß er vor den Ohren Angela Freydags nicht
mehr darüber sprach.

Wenn sie ihn nach dem Stand seiner Aufgaben befragte und ob sie
anzögen oder nachließen, glitt er mit seiner großen Hand über ihr
Gesicht. »Wir haben uns wertvollere Fragen aufzugeben, Engel. Haben
wir erreicht, was wir wollten? Haben wir uns glücklich gemacht? Und
alles ist gefragt und alles ist beantwortet.«

Das waren die Augenblicke, in denen Angela Freydag ein jähes Aufweinen
zurückhalten mußte, ein Aufweinen der Freude über den Mann vor ihr und
mit ihr.

Immer weniger sprachen sie miteinander, wenn der Wagen sie in die
Wälder führte oder die Jacht sie in die nebelnden Fernen trug, die an
Leuchtkraft gewannen, je dunkler es auf der Wasserbahn wurde. Aber
immer enger lehnten sich ihre Schultern aneinander an, und jeder wußte
vom Wünschen und Begehren des anderen und offenbarte sich ihm in der
Stille.

Wenn der Rheinwind über das weiße Boot fauchte und dem Manne die
Flamme des Zündholzes ausschlug, nahm ihm die Frau lächelnd die kurze
Pfeife aus den Lippen, steckte sie zwischen die eigenen und brachte im
Kajütenschutz den Tabak zum Brennen. Und lächelnd sah sie zu, wie er
zu Ende rauchte.

»Das ist eine falsche Einteilung,« sagte er an einem Abend auf dem
Wasser. »Du hast die Anstrengung und ich den Genuß. Ich habe dir auch
ein Pfeiflein mitgebracht, Engel, damit dir ein gerechterer Anteil
wird.« Und von Stund' an rauchten sie ihre Pfeiflein gemeinsam, wenn
sie neben seinem Steuer stand, und sie gewöhnten sich an, es auch zu
Hause gemeinsam zu rauchen.

»Weißt du, wann du zuletzt die Tasten des Flügels angerührt hast,
Engel?« fragte Kornelius Vanderwelt nach einem schweren Arbeitstage.

Sie nickte vor sich hin, hob den Kopf und sah ihn an.

»Möchtest du, daß ich spiele?«

»Es war an dem Tage, an dem wir Justus begraben haben, Engel. Das ist
jetzt schon ein volles Jahr. Ich habe keine Note vergessen, die du
damals spieltest, und was du spieltest und wie du es spieltest. Das
kann nicht mehr überboten werden.«

»Deshalb, Kornelius, wollte ich den Nachklang nicht mehr stören.«

»Er klingt unablässig in mir,« sagte Kornelius Vanderwelt, »und bei
Tag und bei Nacht höre ich dich spielen, auch wenn du keine Taste mehr
anrührst. Gib mir einmal deine Hände.«

»Meine Finger sind steif geworden, Kornelius.«

Und sie ließ sie ihm, und er streichelte jeden einzelnen ihrer Finger
und legte seine Lippen darauf. Aber er bat sie nicht.

Wieder war ein Sommer zu Ende, und die Nebeltage der Adventszeit
drückten auf den Rhein und auf die Gemüter der Menschen. Kornelius
Vanderwelt hatte ein Bücherpaket geöffnet und machte sich mit
Angela Freydag daran, die Bände zu sichten und sie zum Vorlesen zu
ordnen. Mit still leuchtenden Augen waren sie bei ihrem Tun, als die
Haustürglocke anschlug und das Mädchen den Besuch der beiden Herren
Beckenried meldete.

»Schade, es versprach ein so anregender Abend zu werden. Nun wirst du
die Schätze zunächst einmal ohne mich durchstöbern müssen, Engel.«
Und er trug ihr die Bücher in das nebengelegene Musikzimmer, und sie
folgte ihm.

Als er in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, ließ er die Türe
offenstehen. So konnte Angela hören, was ihm die beiden Herren
vorzutragen hatten, und er brauchte es nicht zu wiederholen und den
Abend noch weiter zu verkürzen.

»Lassen Sie die Herren bei mir eintreten,« gebot er dem Mädchen und
sah den Besuchern entgegen.

»Guten Abend, lieber Beckenried. Guten Abend, Klaus. Ein
Familienbesuch gehört mit zu den Seltenheiten in diesem Hause.«

»Wir hätten es gern bei den Seltenheiten belassen, Herr Vanderwelt,«
begann der Ältere, und seine Stimme klang heiser vor Erregung, »und
die Familienbeziehungen gestalten sich nachgerade zu einem -- zu einem
--«

»Klaus, du hilfst wohl deinem Vater.«

Der jüngere Beckenried zitterte vor Zorn.

»Diesen überlegenen Ton, diesen ganz unangebrachten überlegenen Ton
bitte ich in Zukunft zu unterlassen.«

»Ein Glück, daß du bittest, Klaus. In diesem Hause wird nämlich der
Ton nur von mir bestimmt. Aber die Herren scheinen erregt, und wir
wollen uns darum nicht noch aufpeitschen, sondern uns mit der Ruhe
gereifter Männer besprechen. Was also steht den Herren zu Diensten?«

»Zu Diensten?« eiferte der Alte und klopfte sich gegen die Stirn.
»Ja, das wollen wir von ~Ihnen~ erfahren, inwieweit Sie zu
Diensten zu stehen belieben. Was ich in Ihren Diensten ein Leben lang
erworben habe, fort ist es, in den Dreck geschmissen, verjubelt und
vergeudet. Mein guter Name schwimmt auf einer Pfütze. Und meine Frau
Schwiegertochter, diese -- diese --«

»Klaus, bist ~du~ mit Juliane verheiratet oder dein Vater?«

Der Jüngere ließ ihn kaum zu Ende reden. Seine Hände öffneten und
spreizten sich.

»Frag' doch erst einmal an, was deine Tochter getan hat? Mit was
sie allem ihrem bisherigen Tun die Krone aufgesetzt hat? Frag' doch
erst einmal an, bevor du für das unzurechnungsfähige Geschöpf Partei
ergreifst!«

»Ich ergreife durchaus nicht Partei. Wenn meine Tochter sich als
unzurechnungsfähig erweist, so ist mir das gewiß ein bitteres
Vaterleid. Aber ich wiederhole, wie schon so oft: sie steht als deine
Frau nicht unter meiner, sondern unter deiner Obhut.«

»Obhut!« rief der Alte mit einem gellenden Lachen. »Obhut! Über eine
Irrsinnige, wie?«

»Ist das auch die Ansicht des Ehegatten?« fragte Kornelius Vanderwelt
hart.

»Ja, ja, und sooft du willst, ja!« schrie ihm der Jüngere ins Gesicht.
»Eine Größenwahnsinnige, die keinen Schritt hinter den Allerreichsten
zurückbleiben will. O nein, die in allen Mode- und Narrenfragen die
Führung haben muß, als liege das Geld zum Stehlen auf der Straße.
Das Geld, das gute Geld. Das von mir und das vom Vater. Wo ist es
geblieben? In die Luft geblasen hat es die Närrin!«

»Wenn sie eine Närrin ist,« sagte Kornelius Vanderwelt, »so überführe
sie in eine Anstalt. Wenn sie dir aber über den Kopf gewachsen ist und
du bist nicht Mannes genug, ihr den Meister zu zeigen, so reiche die
Scheidung ein. Anderes vermag ich dir nicht zu raten.«

»Der Herr Vanderwelt scheint zu glauben, es handelte sich um eine
Schneiderrechnung?« höhnte der Alte und hielt sich am Tischrand.

»Es handelt sich um ein Vermögen, das wir überhaupt nicht besitzen! Um
mehr! Um mehr!«

»Nenne mir die Summe.«

»Hunderttausend Mark, Herr Vanderwelt! Hunderttausend Mark, wenn das
reicht!«

Als hätte die Ziffer eine schweigende Scheu hervorgerufen, so still
wurde es im Zimmer.

»Hier muß ein Irrtum vorliegen,« sagte Kornelius Vanderwelt endlich.
»Solche Summe schießt man einer Frau Juliane Beckenried nicht vor.«

»Wer spricht von einem Vorschuß? Bei Hinz und Kunz stand sie auf Borg,
und um die lästigen Gläubiger los zu werden, hat sie an der Börse
gespielt! Mit jedem ungewaschenen Lehrling und jedem überspannten
Nähmädel hat sie sich in eine Reihe gestellt, um Geld im Schlafe zu
verdienen. Nur, daß Frau Juliane Beckenried, geborene Vanderwelt, auf
ihren Namen hin größere Summen wagen durfte. Und dann ist die Karte an
einem schwarzen Börsentage falsch herumgeschlagen, und die Bank drängt
auf die Regelung der Verbindlichkeiten. Das ist der Zusammenbruch.«

»Hunderttausend Mark,« wimmerte der Alte. »Ein Elendleben umsonst
gelebt. Dieser Vampir -- --«

»Nicht mehr sehen will ich sie!« stöhnte der Jüngere auf. »Aber das
Geld will ich retten.«

Kornelius Vanderwelt kämpfte einen kurzen Kampf. »Wo sind die Belege?«
fragte er.

»Hier, hier, hier!« und der jüngere Beckenried schlug die Papiere
heftig auf den Tisch.

Kornelius Vanderwelt nahm sie auf und las sie aufmerksam durch. Eine
feine Röte kreiste auf seinen Wangen.

»Die Abrechnungen stimmen,« sagte er so leise, als spräche er mit
sich selbst. »Zwar wird es der Bank nicht möglich sein, die Zahlungen
zu erzwingen, da sie ohne Befragen des Ehegatten gehandelt hat --«

»Klug wie ein Fuchs! Und die geschäftliche Stellung der Beckenrieds?
Natürlich ist das ein Pappenstiel!«

»Ich habe nicht mit ~dir~ gesprochen, sondern mit ~mir~,
Klaus Beckenried. Und ich gestatte mir, weiter mit mir zu sprechen.
Die Bank weiß sehr wohl, daß sie verschwiegen und zuvorkommend sein
muß, wenn sie schadlos befriedigt sein will. Hunderttausend Mark
schüttet in dieser schweren Geschäftszeit kein Mensch aus dem Ärmel.«

»Wer soll sie denn befriedigen? Wer, wer, mein Gott?«

»Ich,« sagte Kornelius Vanderwelt.

»Sie --?«

»Ich werde für die Befriedigung der Bank sorgen, in dem Augenblick,
in dem Sie, Herr Klaus Beckenried -- Sie gestatten, daß ich das
irreführende Du unterlasse -- in keiner Weise mehr als mein
Schwiegersohn zu gelten wünschen. Dann.«

»Soll das heißen: wenn ich die Scheidung von Ihrer Tochter Juliane
vollzogen habe --?«

»Von meiner Tochter Juliane und von meinem Enkel Martin. Das soll es
heißen.«

»Der Junge kommt hier überhaupt nicht in Betracht. Er steht ganz
außerhalb unserer Verhandlungen.«

»Sie dürfen es sich überlegen, ob Sie die Verhandlungen scheitern
lassen wollen.«

»Scheitern? Scheitern? Kein Mensch spricht davon. Aber ich frage Sie,
was wollen Sie um Himmels willen mit dem Jungen?«

Kornelius Vanderwelt blickte über die ratlosen Männer hinweg in eine
nebelhafte Ferne, die aufleuchtete, je stärker die Dunkelheit um ihn
her wurde.

»Ich weiß es nicht,« sagte er leise. »Ich weiß nur, daß es auch nicht
einen vertraulichen Berührungspunkt zwischen uns mehr geben soll. Sie
haben rücksichtslos genug gegen mich gekämpft. Nicht erst seit heute.
Nehmen Sie an, der Geschäftsmann in mir regte sich und wollte bezahlt
sein. Mit dem Jungen. Mir ist er ähnlich, und er hat mein Blut. Er
soll nicht gegen den Namen Vanderwelt eingenommen werden.«

»Herr Vanderwelt --!«

»Es eilt mir nicht. Sie dürfen es sich in Ruhe überlegen. Ich stehe in
jedem Punkte bei meinem Wort.«

Der alte Beckenried näherte sich ihm flüsternd.

»Wissen Sie denn, daß Ihr Bankguthaben diese Belastung gar nicht mehr
verträgt?«

»Lassen Sie das meine Sorge sein, Beckenried. Aber damit Sie in dieser
Nacht ruhiger schlafen können, als Sie es noch vor einer Stunde
geglaubt haben, will ich Ihnen verraten, daß ich mein Haus zum Pfand
setze mit allem, was darinnen ist.«

»Herr Vanderwelt!« stammelte der Alte erschrocken.

»Herr Vanderwelt!« stammelte der Sohn und trat staunend einen Schritt
zurück. »Das ist -- das ist Güte, statt Haß.«

»Werden Sie nicht weichlich. Güte! Güte kann unter Umständen ein
schlimmeres Ding als Rache sein. Aber das verstehen Sie wohl nicht.«

»Sie wollen mich mit Ihrer Güte zur Verzweiflung treiben,« murmelte
der Sohn. »Mir wächst die Unterhaltung über den Kopf. Ich sehe nicht
mehr, was das Rechte und was das Falsche ist. Als Kaufmann muß ich den
klaren Blick bewahren.«

»Den Martin,« gebot Kornelius Vanderwelt. »Er gilt Ihnen nicht genug,
denn Sie haben sich nicht auf der Stelle entscheiden können. Die
Antwort können Sie auf morgen verschieben.«

»Sie sollen sie morgen wissen.«

»Ich glaube nunmehr, meine Herren, daß wir uns zur Sache nichts mehr
zu sagen haben. Gehen Sie getröstet heim und bereiten Sie für morgen
alle Urkunden vor. Guten Abend.«

Vater und Sohn Beckenried verbeugten sich stumm und schritten zur
Tür. Noch einmal wandte sich Klaus Beckenried auf der Zimmerschwelle
um, und sein verwirrter Blick traf in das lächelnde Auge des
Nachschauenden.

»Es war einmal ein begeisterungsvoller Jüngling, Klaus Beckenried,
der von der Liebe bis zum Tode schwärmte. Es war in diesem Zimmer,
und seine Jugend machte ihn zum Dichter. Suchen Sie ihn, bis Sie ihn
wiederfinden, und wenn Sie ein alter Mann darüber werden sollten. Gute
Nacht.«

Die Türe schloß sich.

Er dachte: Es ist gut, daß ich den ganzen Schmutz der Angela nicht
noch einmal zu wiederholen brauche. Und er rief: »Komm nur herein,
Engel. Ich bin ganz allein.«

Ein paar Atemzüge lang stand sie in der Verbindungstür. Ihre Augen
flogen über ihn hin. Wie hager im Kampf sein Gesicht geworden war, wie
grau seine Schläfe. Und wie hell und leuchtend seine Augen geblieben
waren.

Sie warf sich an seine Brust und drückte den Kopf gegen sein Herz.

»Ja, Engel, es wird nun alles ein bißchen anders werden. Der Riemen
schnallt sich enger um den Leib.«

Sie schüttelte mit einer wilden Bewegung den Kopf. Ihre Augen
funkelten ihn an.

»Nie habe ich dich so geliebt. Nie, nie. Die Zwerge glaubten dich auf
dem Boden zu haben. Auf ihrem platten Boden. Wegen eines Sackes Geld.
Ach du! Ach, wie hast du sie gedemütigt. Wie hast du den Zaun zwischen
dir und ihrer Angst und Gier aufgerichtet. Wie ein Riese recktest du
dich auf, und ich wollte zu dir, an deinen Hals, und schreien: ›Ich
gehöre zu ihm! Ich! Ich! Ich!‹«

»Mach' mich nicht stolz. Der eine des Namens hat seinen Körper, die
andere das Geld, wieder der andere seine Seele vergeudet. Was bleibt
von Kornelius Vanderwelt und seinem Werk?«

»Eine Seele«, sagte sie hastig, »ist so unermeßlich und unergründlich,
daß kein Mensch sie vergeuden kann. Deine Seele wird noch die Augen
aufschlagen, wenn wir längst nicht mehr sind. Aus hellen Augen wird
sie um sich schauen, aus Augen, die so leuchtend und kühn sind wie die
deinen. Nie, nie habe ich dich so sehr geliebt ...«

Kornelius Vanderwelt strich ihr das Haar aus der Stirn.

»Es wird allmählich Nacht, Engel, und wir werden schlafen gehen
müssen. Aber wenn ich vorhin dich bat: ›Mach' mich nicht stolz,‹ so
möchte ich diese Worte widerrufen. Doch, Engel, doch, mach' mich immer
noch stolzer. Bald habe ich nichts mehr auf der Welt als diesen Stolz.
Auf dich, Engel, auf dich. Und er reicht aus, um mein ganzes Leben
aufzuwiegen.«

Sie aber streichelte unaufhörlich sein hager gewordenes Gesicht, seine
grau gewordenen Schläfen. -- --




                                  9


Es hatte in diesen Tagen Frau Ausdemwerth, die Mutter Antonies, das
Zeitliche gesegnet. Die fröhliche Frau, die in Julianes Kinderzeit
den überwältigenden Ausspruch getan hatte, es gäbe nur einen Mann in
Ruhrort, und die anderen seien Kohlentrimmer. Ihr Nachlaß bestand
aus der Wohnungseinrichtung, denn ihr einst reiches Vermögen hatte
die Geldentwertung der Nachkriegszeit verschlungen; doch ehe Thomas
und Antonie Vanderwelt daran denken konnten, sich in den herrenlos
gewordenen Zimmern auszudehnen, war Juliane, ihren Sohn Martin an der
Hand, als Heimatlose erschienen, um sich fürerst in Frau Ausdemwerths
Räumen einzunisten.

»Ich lege dir meine Bewunderung zu Füßen,« gestand ihr der Bruder
Thomas. »Du beutest nicht nur die Lebenden aus, du weißt sogar aus den
Toten noch Vorteile zu ziehen. Geh ein in Frieden.«

Antonie Vanderwelt empfing die Schwägerin und Jugendfreundin mit dem
ganzen Gefühlsüberschwang, der den Frauen gelockerter Art gemeinsam
ist.

»Ach Liebste, Ärmste, bist du dem tobsüchtigen Menschen endlich
entgangen? Gott verzeih' ihm seine Schlechtigkeit, ich bringe es nicht
zuwege. Der wäre imstande gewesen und hätte dich verhungern lassen.«

»Wie ich aussehe, Antonie! Als wäre ich aus dem vorletzten Jahre
übriggeblieben.«

»Nun,« ermutigte die Freundin und drehte sie an den Armen prüfend im
Kreis, »vielleicht aus dem letzten Pariser Jahre. Für Ruhrort und
Umgebung bist du noch ein gutes Jahr vor.«

»Gottlob!« seufzte Juliane auf. »Dieser rasende Klaus hat mich ja so
gut wie mittellos gemacht.«

»Aber er hat dir den Martin gelassen! Geschehen denn noch Wunder?«

»Er kann das Vanderweltsche Blut nicht mehr ertragen, sagt er. Und
der Martin? Sieh dir den Jungen an! Ist er nicht Zug für Zug der
Großvater, der Großvater Kornelius Vanderwelt, von dem deine Mutter
einmal sagte -- o mein Gott, Antonie, ich habe dir noch gar nicht
meinen Schmerz zu ihrem frühen Heimgang ausdrücken können und tu' es
hiermit von Herzen.«

»Innigen Dank, Juliane. Wir sind alle sterblich, und wer weiß, wann
~wir~ an der Reihe sind.«

»Wir haben noch große Pflichten an unseren Söhnen zu erfüllen,
Antonie, vergiß das bitte nicht.«

»Ja, der kleine Nikolaus, Juliane. Es geht ihm wie deinem Martin: Zug
um Zug der Großvater. Und klein sind die schlanken Bengel auch nicht
mehr. Die Mädchen schauen sich schon nach ihnen um.«

Thomas Vanderwelt lag im Streckstuhl und freute sich über die Maßen an
der Tiefe und Gründlichkeit der Unterhaltung.

»Könntest du dich nicht ein wenig zusammennehmen, Thomas? So kurz nach
Mamas Tode!«

»Ich freute mich nur so herzlich, weil ~ich~ noch nicht
gestorben bin und Zeuge eures furchtbaren Schmerzes sein darf. Wie
muß er erst losbrechen, wenn er dem liebsten Gatten gilt! Verzeih,
Herzensschwester, es sollte keine Unzartheit gegen deinen Klaus
bedeuten, als ich von der Gattenliebe sprach. Aber wenn erst einmal
das Bettzeug geteilt ist, habe ich mir sagen lassen, ist auch der
Schmerz geteilt und die Freude umso größer.«

»In solchen und ähnlichen unziemlichen Redensarten gefällt sich dein
Herr Bruder, solange ich seine Frau bin.«

»Meine Frau,« wiederholte Thomas Vanderwelt und verbeugte sich aus
seinem Stuhle heraus.

»Ich finde auch,« entrüstete sich Juliane, »daß er unartig genug
gegen wehrlose Frauen ist. Wir wollen in mein Zimmer gehen, damit wir
ungestört und unter uns sind.«

Thomas Vanderwelt lachte belustigt in sich hinein.

»Fünf Minuten befindet sie sich in einem fremden Hause, und schon
geht sie ›in ihr Zimmer‹ und lädt dahin ein. Sollte es bei jungen
Vanderwelts noch lustiger werden können als bisher? Doppelt lustig?«

Juliane aber war klug genug, sich zurückzuhalten, solange das
Auseinandersetzungsverfahren mit ihrem Gatten schwebte. Nur so
erhoffte sie die Hilfe ihres Vaters. Und die beiden Frauen waren mehr
miteinander zusammen, als es Thomas hätte lieb sein können, wäre er
nicht Thomas gewesen.

»Ich bin gespannt,« murmelte er, »ich bin äußerst gespannt. Eine
Mitspielerin mehr ändert jedes Bild und jede Berechnung. Über
Langweiligkeit brauche ich mich nicht zu beklagen.«

Die Scheidungsangelegenheit wurde seitens des Hauses Beckenried mit
Nachdruck betrieben, und da keine der beiden Parteien Schwierigkeiten
machte, durch Entgegenkommen zur schnelleren Lösung beizutragen, so
schritt das Verfahren rasch dem Ende zu. Juliane zählte die Tage. Zur
Frühjahrsmodenschau wollte sie wieder zu den Mitwirkenden rechnen.

Häufiger als sonst erschienen in dieser Zeit die Enkel bei Kornelius
Vanderwelt. Es war, als ob sie es fühlten, daß dem Großvater Gewalt
angetan wurde, und darüber hinaus, als ob sich ihre Jungengemüter von
dem Verdachte reinigen wollten, selbstsüchtige Teilnehmer zu sein.

Das las Kornelius Vanderwelt hinter ihren heißen Stirnen, als sie
nach wenigen Tagen zum zweiten Male vor ihm erschienen und ihm ihre
Aufsatzhefte vorlegten. Die Note ›Sehr gut‹ kehrte in den Heften
beider mit lückenloser Regelmäßigkeit wieder.

Kornelius Vanderwelt griff in die Westentasche und holte ein paar
silberne Markstücke hervor. Die Jungen gewahrten es mit purpurroten
Köpfen.

»Darum haben wir es nicht getan, Großvater,« versicherten sie
erschrocken. »Wir hatten nur gedacht, es machte dir Freude.«

»Heule ich denn vielleicht, ihr blinden Hessen?«

»Wir sind ja gar keine Hessen, wir sind Rheinfranken, Großvater!«

»Wer sagt euch das? Auch Wikinger haben hier gesessen, aus Norwegen
und von den dänischen Inseln. Echtes Germanenblut, Jungens. Und so
sorgt, daß ihr über die Rheinfranken hinaus Deutsche werdet.«

»Das sind wir doch schon, Großvater?« fragten die Jungen verwundert.

»Man hat es euch vorgeredet,« sagte Kornelius Vanderwelt. »Das wahre
Deutschland ist immer noch nicht aufzufinden. Seit eine Geschichte
besteht, wird es gesucht. Und wenn man so nahe herangekommen ist,
daß man es greifen könnte, stellt hurtig einer dem anderen ein Bein,
daß er in den Dreck hinschlägt, und der andere reißt den einen am
Rockzipfel schleunigst mit in die Pfütze.«

»Weshalb sind sie denn so töricht, Großvater, wenn sie wissen, sie
müssen mit hinein?«

»›+Propter invidiam!+‹ sagten schon die römischen Eroberer
von den Deutschen. Aus gemeinem Neid. Aus Neid auf die Größe des
Nachbarn ließen sie eher die Römer das Land erobern, als sich dem
Nachbar als dem Führer zu unterstellen. Baute in den Städten ein
Bürger einen hohen Giebel, so trieb ein Dutzend andere der fressende
Neid, noch viel höhere zu bauen, und wenn ihr Haus schmal war wie ein
Schwindsüchtiger. Und bringt es in deutschen Landen ein Mann zu Ehren,
so ruht die Scheelsucht nicht, bis ein Trüpplein zusammengebracht
ist, das mit Stricken und Stangen loszieht. +Propter invidiam+,
ihr jungen Lateiner, vergeßt es nicht. Und geht dem deutschen Erbübel
zu Leibe und bei euch selber zuerst. Eher bringen wir es nicht zu
einem großen und stolzen Volk, als bis die Bausteine die Ecksteine
gelten lassen und nicht jeder Neidhund ihn besudelt, weil er just
nicht derselbe Eckstein geworden ist. Und was vom einzelnen gilt, gilt
von der Vielheit, gilt vom deutschen Volk. +Propter invidiam.+
Erwürgt den Drachen der deutschen Zwietracht, Jungens, wenn ihr
Deutsche werden wollt!«

»Und -- Dichter und Künstler möchten wir werden. Dürfen wir das?«

Kornelius Vanderwelt lachte, und seine Hand warf ihnen das dichte Haar
durcheinander.

»Ich möcht's euch schon gönnen, Jungens. Aber dazu heißt's lernen
und mitten im Leben stehen, den Bauernburschen begreifen und den
Fürstensohn, das windige Mädchen und die große Frau, den Toren wie
den Weisen. Alles Menschliche erfassen und doch abseits genug gehen,
um vom allzu Menschlichen nicht erdrückt zu werden. Nicht aus Furcht
vor dem Neid. Der findet euch, und wenn ihr beide auf zwei einsamen
Spitzen des Himalaja säßet. Nur ihr selber sollt dem Neide nie
Raum geben, denn der Neider und der Ehrabschneider hocken wie zwei
Giftblüten in dem gleichen Gezweig.«

Als die Osterferien anbrachen, klingelten die Knaben am
großväterlichen Haus, bevor sie ihre Schulzeugnisse daheim vorgezeigt
hatten. Angela Freydag öffnete ihnen. »Versetzt?« fragte sie. Und als
die Knaben nur hastig nickten, weil ihnen die Kinderfreude den Atem
verschlug, breitete sie schnell die Arme aus und nahm die Beglückten
an ihr warmes Herz.

»Geht zum Großvater hinein. Er kann viel Freude vertragen. Und keiner
hat sie verdient wie er.«

Kornelius Vanderwelt war jetzt viel zu Hause. Die wenigen laufenden
Geschäfte zu erledigen, hielt nicht schwer, und an den Wiederaufbau
wollte er erst herangehen, wenn die Abrechnungen mit den Beckenrieds
vollzogen und die Herren ausgeschieden wären. Die Anspannung seiner
ganzen Willenskraft gehörte dazu, den Anblick der wehleidigen
Geldanbeter zu ertragen, und seine vollblütige Natur litt stärker, als
er selber es wußte, in den Geschäftsstunden, in denen er den Vortrag
des älteren Beckenried entgegenzunehmen hatte.

Er wandte sich um, als Angela Freydag die Knaben ins Zimmer ließ. Die
heißen Augen unter den graugewordenen Brauen funkelten sie an. Diese
Augen waren der Enkel Erschauern und Stolz.

»Untertertianer, Großvater,« meldeten sie und standen stramm.

»Ihr macht wohl Witze? Quintaner, meint ihr! Also dann Quartaner! Ihr
tut's nicht anders? Ihr bleibt dabei? Untertertianer? Mein Gott, seid
ihr über Nacht eine Handbreit gewachsen oder beginne ich in die Grube
zu sinken?«

»Wir sind gewachsen, Großvater. Du sinkst noch lange nicht.«

»Nein, solange ihr wachst, kann ich nicht sinken. Enkel und Großvater
in eins bilden erst das geheimnisvolle Ganze. Die eigenen Kinder
stehen einem zeitlich zu nahe und bilden nur die Übergangsform.«

Er setzte sich in seinen Arbeitsstuhl und ließ die Beförderten
antreten. Rechts und links seiner Knie hielt er einen Jungen im Arm,
und seine Augen wanderten prüfend von einem zum anderen.

»Sag' mal deine Zeugnisnoten her, Martin.«

»Deutsch, Geschichte, Erdkunde sehr gut, fremde Sprachen gut,
Mathematik mangelhaft.«

»Und du, Nikolaus.«

»Deutsch, Geschichte, Erdkunde sehr gut, fremde Sprachen gut,
Mathematik mangelhaft.«

»Schreibt ihr voneinander ab?«

»Nur in der Mathematik, Großvater.«

»Null plus Null gibt wiederum Null. Also würde ich's lassen und die
Zeit nutzbringender anwenden. Euer Lehrer kann wohl selber keine
Mathematik?«

»Er kann ~schon~, Großvater, aber er kann nicht begreifen, daß
wir nicht geradesoviel können.«

Kornelius Vanderwelt lachte behaglich über sie hin.

»Freut euch, Jungens, denn wenn ihr geradesoviel könntet, würde er das
wieder für unbegreiflich halten.«

So fand sie Angela Freydag. Die Jungen dicht an die Knie des Alternden
gedrängt, und unter den drei Augenpaaren Kornelius Vanderwelts
Augenpaar das leuchtendste.

»Komm her, Engel, und sag' mir, ohne nach der Jacke zu schielen: wer
ist der Martin und wer ist der Nikolaus?«

»Ich will ihnen lieber allen beiden einen Kuß geben, weil sie die
Enkel Kornelius Vanderwelts sind. Und nichts weiter.«

»Engel, kann ein Großvater nicht sein eigener Enkel sein? Ich möcht'
es meinen.«

Und sie küßte sein geliebtes Gesicht mit den Augen.

»Habt ihr einen Ferienwunsch?« fragte er mit weicher Stimme. »Sagt ihn
auf.«

»Im Düsseldorfer Theater werden die Klassiker gespielt, Großvater.
Dürfen wir einmal hin?«

»Ich schenke jedem von euch zwanzig Reichsmark. Dafür dürft ihr das
Theater besuchen, solang das Geld reicht. Wie ihr nach Düsseldorf
kommt und nach Ruhrort zurück, ist eure Sache.«

»Wir laufen zu Fuß, Großvater, und nachts kriechen wir auf einen
Ruhrorter Kahn, der eine Düsseldorfer Nacht macht, und kommen mit ihm
zu Tal. Alle Schiffer kennen uns.«

»So habe ich mir's gedacht,« sagte Kornelius Vanderwelt, zog ihre
Köpfe an seine Schläfen und schickte die Beglückten nach Hause. Er
blickte ihnen nach, als blickte er seiner Jugend nach.

In den Osterfeiertagen rührte er sich nicht aus dem Hause. Besucher
wurden abgewiesen, der Fernsprecher blieb abgestellt. »Erst wenn man
älter wird,« meinte er zu Angela Freydag, »liebt man in den Sonn-
und Festtagen die Ausruhetage. Als ich jung war, war mir der Sonntag
verhaßt, weil spornstreichs der Montag folgte. Der Montag mit dem
geängstigten Schülergewissen. Eigentlich fürchtet sich doch der Mensch
vor irgend etwas von der Geburt bis zum Tode. Das ist sehr kläglich.«

»Du sprichst doch nicht von dir, Kornelius? Es gibt Menschen, die kein
Alter besitzen. Sie sind da oder sie sind ~nicht~ da, und du
gehörst zu ihnen. Und wissen möcht' ich, wann dein Wildlingsblut sich
vor irgend etwas gefürchtet hätte.«

»Na, Engel, unangenehm war's mir doch, wenn der Lehrer sich vor der
ganzen Klasse mühte, mich über die Bank zu ziehen. Ich hatte nun mal
diese turnerischen Übungen nicht gern, und der Lehrer wußt' es und tat
es doch. Da mußte er mitturnen.«

»Das war eine Abneigung, Kornelius, aber keine Furcht. Im Gegenteil:
die Rauferei kam dir zuweilen gewiß nicht einmal ungelegen.«

»Wenn ich in den lateinischen Regeln nicht vorbereitet war oder in den
französischen unregelmäßigen Verben. Dann ging die Zeit flotter hin.«

»Siehst du? So sah ich dich vor mir. Aber gefürchtet hat sich weder
der kleine Kornelius noch der große.«

»Engel, du kannst einem den Übergang leicht machen. Ich habe verkaufen
müssen, Engel.«

Sie nahm seine Hand von der Stuhllehne und legte sie zwischen ihre
warmen Hände. Seine Hand war kalt, und er sollte es nicht wissen.

»Solange du ~mich~ nicht verkaufen mußt, Kornelius -- und tust
du es, wie ein Wolfshund bräch' ich aus und nähm deine Witterung auf
und suchte dich wieder, und wenn du dich am Ende der Welt versteckt
hieltest.«

»Gegen was sollte ich dich wohl verkaufen, Engel? Gegen meiner Seele
Seligkeit, wie es in den Märchenbüchern heißt? Ach, Engel, du bist
ja meiner Seele Seligkeit, und mein Verstand ist noch nicht aus den
Fugen. Ich habe dies Haus verkauft, in dem wir heute zum letzten Male
die bunten Ostereier auf den Schüsseln sehen, und da es lächerlich
wäre, in Hemdärmeln im Wagen zu sitzen oder in Frackhosen am Steuer zu
stehen, so habe ich auch den Wagen verkauft und auch die Jacht auf dem
Rhein, Engel.«

»Wann müssen wir unsere Siebensachen packen, Kornelius? Oder sind es
keine Siebensachen mehr?«

»Ich hoffe, der künstlerische Teil der Einrichtung bleibt uns
erhalten. Und wenn nicht, so bleibt mir doch das größte Kunstwerk
Gottes: Du. Darum: laß fahren nur dahin. Ich habe drei Monate Zeit,
um mir eine Wohnung zu suchen. Irgendwo wird sich schon ein stiller
Unterschlupf für uns finden. Eine Art Flüchtlingslager, Engel, von dem
aus wir den neuen Eroberungsmarsch vorbereiten.«

»Siehst du nun, daß du das Fürchten nicht kennst?«

»Vor wem sollte ich mich denn fürchten? Doch nicht vor dem lieben
Wettbewerb? Es ist keiner darunter, der über meine sechs Fuß mißt. Ich
bitte, meine Bescheidenheit zu beachten, mit der ich das reingeistige
Gebiet außer Betracht lasse.«

Da lachte sie, und ihre Augen blitzten ihn an.

»Seit ich dich traf, Kornelius, und ich weiß heute nicht mehr, wartete
ich auf der Landstraße auf dich oder kamst du dahergefahren, um mich
zu holen -- jedenfalls hast du seit jenen Tagen den Begriff der Furcht
von mir genommen. Überhaupt -- wir fürchten uns vielzuviel. Wir werden
wahllos in der Furcht erzogen vor dem Guten und vor dem Schlechten.
In der Furcht vor den Eltern. In der Furcht vor dem Herrn Lehrer. In
der gleichen Furcht vor dem lieben Gott und dem bösen Teufel. Und in
der ganz schrecklichen Furcht vor dem Polizeibeamten, und wenn er nur
auffordert, den Schnee zu schippen.«

Seine Hand klopfte die ihre. Beifällig, wie man ein kluges Kind
belohnt.

»Prachtvoll verstehst du es, unseren scharfkantigen
Gesprächsgegenstand in philosophische Watte zu wickeln, Engel. Laß gut
sein, Herzgeschöpf. Ob wir auch in warmer Weltweisheit ~baden~,
unter den kalten Kranen müssen wir zum Schluß doch zurück, und er
heißt: Verkauf.«

»Kornelius,« sagte Angela Freydag und entblößte hohnvoll die starken
Zähne, »glaubst du, die Wiederholung würde mich stärker erschüttern?
Oder möchtest du, daß wir doch noch das Gruseln lernten und uns
jammernd um den Hals fielen? Du willst mich auf die Probe stellen, ich
merk' es wohl, und ich frage mich nur: durch welches Vergehen habe ich
das verdient? Verkaufen? Wiedererobern wollen wir! Wiedererobern! Wir
wollen jung bleiben und nicht altern. ~Das~ ist der Wille.«

Kornelius Vanderwelt legte ihr den Arm um die Schulter. Eine Weile
saßen sie schweigend beieinander. Und dann sagte Kornelius Vanderwelt:
»Es ist wie bei einem Zahnradgestänge. So sicher setzt es ein. An dem
Punkte, an dem Männer ermüden, erwachen die Frauen.«

»Du bist ja so wach wie ich, Kornelius. Und unsere Wachheit wollen
wir benutzen, den Dingen in die Augen zu sehen. Zähl' auf, was du
verkaufen mußt oder verkaufen willst, und mit jedem ausgesprochenen
Wort sackt das aufgeblasene Gespenst in sich zusammen.«

»Dann wäre es schon einfacher, Engel, ich zählte auf, was ich nicht
verkaufen muß. Als Hauptbestand: zwei Frachtkähne, die ich vor Jahren
von windigen Schiffern übernehmen mußte. Sie sind von Fahrt zu Fahrt
vermietet. Verheuert, wie es in der Schiffersprache heißt. Wenn es mal
ganz schlecht geht, stellen wir beide uns ans Steuer und gehen selber
auf Fahrt.«

»Ja, Kornelius. Und was bleibt außer dem Hauptbestand?«

»Ich hätte es gar nicht ›Hauptbestand‹ nennen sollen. Aber das
Vanderweltsche Blut hat leicht etwas Großartiges, und wenn es sich um
Kohlenkähne handelt. Im Geiste sah ich uns schon an Bord schreiten
und die Hausflagge setzen und majestätisch von dannen gleiten bis zum
fernen Wunderland Orplid, wo man unsere Steinkohlen für pures Gold
gelten läßt.«

»Und Kornelius Vanderwelt für den Kaiser der Welt.«

»Und Angela Freydag für die Amazonenkönigin, zu der der Kaiser der
Welt spricht: Ich, dein geliebter Untertan.«

»Sprich nicht weiter,« murmelte sie. »Es ist zu schön.« Und sie wühlte
ihren Kopf in seine Achsel.

Kornelius Vanderwelts Hand liebkoste ihren schimmernden Scheitel. Und
während er fühlte, wie eine tiefe Wärme sein ganzes Wesen erfaßte und
erfüllte, dachte er: nicht ~zu~ schön, über ~alles~ schön
ist es, und so schön, daß man schon deshalb sein Hab und Gut verlieren
möchte, um dafür diese Trösterin zu gewinnen. Wenn es am herbsten
kommt, schlägt sie das Märchenbuch der Liebe auf und liest mitten
hinein ein Kapitel daraus vor. Mit jedem Verluste, der mich trifft,
werde ich reicher.

»Kornelius --?«

»Engel?«

»Wie heißt es doch in der Feldherrnsprache? Getrennt marschieren und
zusammen schlagen. Soll ich nicht wieder auf Konzertreise gehen und
auch für meinen Teil Geld, viel Geld zu verdienen suchen. Und --«

Sie kam nicht weiter. Seine Augen starrten sie wie entgeistert an.

»Ist es schon so weit? Steht es schon so erbarmungswürdig um mich, daß
ich die Frau auf den Hausierhandel schicken muß?«

Sie preßte ihre Lippen auf seinen Mund. So fest, daß er nicht
weitersprechen konnte.

»Nein, Kornelius, ich brauch' nicht wieder fort? Ich bin dir jetzt ja
noch viel nötiger. Denn wir werden allein hausen, und ich werde deine
Dienerin und du wirst mein Diener sein. Schau' dir nur meine Hände
an, auf die du mich immer so eitel gemacht hast. Jahre werden dazu
gehören, um sie wieder gelenkig zu machen und sie wieder zu schulen,
daß sie gleichzeitig gehorchen und Befehle erteilen können. Nein,
Kornelius, du mußt mich schon als Kugel am Bein mit dir schleppen.«

»Du,« grollte er, »das sind Scherze, die tödlich verlaufen können.«

»Wenn wir nur dabei der Liebe in die Augen sehen! Wer von den Narren
der Welt kann das sagen ...«

»Her mit deinen Augen! Her mit ihnen! Nein, mein Angela-Engel, mit
einer Trennung ist es vorbei.«

An diesem Tage sprachen sie nicht mehr von zeitlichen Geschäften.
Sie blieben eng beieinander, und wenn sie durch das Zimmer schreiten
mußten, berührte der eine den anderen heimlich mit der Hand.

Am zweiten Ostertage rief Kornelius Vanderwelt Angela Freydag an
seinen Schreibtisch.

»Daß ich es nicht vergesse, Engel. Das Gasthaus zu den ›Fünf
Erdteilen‹ ist dein Eigentum. Es war in der Zeit, als ich noch
glaubte, das Trinken könnte mich dein Fernsein vergessen machen. Aber
ich wollte nicht beim Matthes trinken, sondern nur auf des Engels
Grund und Boden. So querköpfig hat mich das Alleinsein gemacht. Und
als der Matthes Geld brauchte, kaufte ich ihm Haus und Grundstück ab
und ließ es im Grundbuch auf deinen Namen schreiben. Morgen wollen wir
aufs Amt und deine Unterschrift nachtragen.«

»Muß das sein, Kornelius?«

»Es ist bereits gewesen, Engel. Vor einem Dutzend Jahre, als du noch
in Amerika weiltest. Der Wert der Giftmischerbude ist nur ein rein
begrifflicher. Für uns beide, meine ich. Von dort aus holte ich dich
unter meinem Regenmantel im Triumphe ein. Ach, diese gottgesegnete
Regennacht! Freilich, wird die Eckschenke einmal zugunsten eines
Geschäftsgebäudes niedergelegt, so ist der günstig gelegene Platz sein
Vielfaches wert.«

»Ich brauche kein Geld, Kornelius, zum Klavierunterricht langt es auch
mit steifen Fingern noch.«

»Hältst du es für richtig, Engel, daß Kornelius Vanderwelts geliebte,
geliebteste Frau sich nach seinem Tode in fremden Häusern herumdrückt
und den Rangen die Nasen putzt? Dann können wir natürlich die Sache
fallen lassen.«

Sie stand an seinem Knie, reckte überlegen den Körper hoch und spannte
die Hände um die Hüften.

»Jetzt versucht es der große Räuberhauptmann, sein Opfer bei der Ehre
zu fassen. Ich habe zwar nicht die Großartigkeit des Vanderweltschen
Blutes, aber ich habe es ungezählte Jahre an meinem Herzen gefühlt und
bin dadurch für die übrige Welt in Grund und Boden verdorben. Für die
Kleinen und für die Großen in den fremden Häusern, du! Hörst du wohl?«
Und sie griff ihm mit beiden Händen in sein Haar. »Hörst du es wohl,
Kornelius? Auch ohne daß du den Tod heraufbeschwörst, tue ich, was du
von mir verlangst. Und wenn ich die Wirtin in den ›Fünf Erdteilen‹
spielen soll, so tue ich das auch für dich. Für dich. Und damit hört
es auf.«

»Ich spiele nicht mit dem Todesgedanken,« erwiderte ihr Kornelius
Vanderwelt. »Man bestellt sein Haus gegen Diebstahl, Brand und
Sterben, nur darf vom Sterben nicht gesprochen werden. Denn das ist
unzart und bringt das Gefühl des Hörers in Verlegenheiten. Zum Teufel
mit der falschen Rücksichtnahme. Der Überlebende muß wissen, wie er
aus den Verlegenheiten herauskommt, um im Geist mit dem Verstorbenen
vereint zu bleiben. Und wenn auch die ›Fünf Erdteile‹ in ihrer
augenblicklichen Verfassung nicht mehr als einen Erinnerungswert
darstellen, niedergelegt und mitsamt dem Wirtschaftshof für ein
hochherrschaftliches Kohlen- oder Eisenkontor freigelegt, und der
Kaufschilling trägt eine Rente, die wenigstens vor dem Verhungern und
dem Mitleid der Menschen schützt. Mehr verlange ich nicht.«

»Ach, großer Hexenmeister, ich bin dir ja schon zu Willen.«

Wie wenig Worte die beiden Menschen brauchten, um sich die veränderten
Lebensverhältnisse nahezubringen. Es war -- und war nicht anders.
Darum lag an der Würde der Anpassung mehr als an jedem Wort.

Die weiße Motorjacht war in den Besitz eines Düsseldorfer Sportsmannes
übergegangen und hatte bereits den Heimathafen gewechselt. Den Wagen
hatte ein Kölner Autohaus übernommen und nun auch schon abgeholt. Der
Fahrer Wilm stand vor seinem Herrn.

»Wilm,« sagte Kornelius Vanderwelt, »zuerst mal Ihre Hand. Keinem hab'
ich so vertraut wie Ihnen. Keiner war es so wert. Mit Ihnen stirbt
einmal ein ganzes Geschlecht aus. Das Geschlecht der Schweigenden. Und
dann besteht das Leben nur noch aus dem Allgemeinheitsbrei. Haben Sie
noch einen Wunsch, Wilm?«

»Jawohl, Herr Vanderwelt. Wieder bei Ihnen angestellt zu werden, wenn
der Wind beidreht.«

»Und bis dahin --?«

»Bis dahin möchte ich Ihre beiden Frachtkähne heuern, Herr Vanderwelt,
wenn's erschwinglich ist.«

»Haben Sie denn eine Schifferprüfung gemacht, Wilm? Man läßt nicht
einen jeden auf dem Rheine gondeln.«

»Schon vor zwanzig Jahren, Herr Vanderwelt. Mein Vater war
Partikülier. Sein Kahn liegt im Binger Loch. Es kann höchstenfalls
eine Nachprüfung verlangt werden. Die erledige ich im Schlaf.«

»Melden Sie sich morgen zur Nachprüfung. Die Kähne können Sie sofort
übernehmen. Glückauf!«

»Glückauf, Herr Vanderwelt. Und ich dank' auch für all Ihr Vertrauen.«

Und nun wurde auch der stille schöne Vanderweltsche Besitz in der
Rheinallee zugunsten des Bankhauses aufgelassen. Kornelius Vanderwelt
war in den Räumen, die die Marke seines Lebens trugen, nur noch
ein Geduldeter. Man hatte ihm die Wohnerlaubnis gelassen bis zur
Ermittlung einer anderen, seinen Wünschen entsprechenden Wohnung. Aber
er fühlte sich nicht mehr wohl in den Räumen, die einem fremden Herrn
unterstanden, und die Dienstboten waren bis auf ein Mädchen entlassen.
Weniger noch zog ihn das Geschäftskontor an. In zwei, drei Wochen
sollte an Gerichtsstelle die Scheidung der Ehe Klaus Beckenrieds von
Juliane, geborenen Vanderwelt, ausgesprochen werden. Mit diesem Tage
würden Vater und Sohn Beckenried endgültig das Geschäft verlassen.

»Wo bist du, Engel? Was tust du jetzt den ganzen Tag in der Küche?«

»Ich koche.«

»Ich hätt' es mir eigentlich denken können. Nicht etwa, weil man in
der Küche kein Klavier zu spielen pflegt, sondern weil sich unsere
Mahlzeiten überraschend verbessert haben. Dein tiefer Knicks soll mich
wohl ausspotten? Spotte du nur, aber koche so weiter.«

Es war ein Maientag voll Sonnengold und weicher, schmeichelnder
Wärme. Über die Wasser des Rheins lief ein Glitzern, als hätte eine
Frauenhand darüber hingestrichen und die Wasser erbebten vor ihrem
eigenen Glanz. Kornelius Vanderwelt kam vom Hafen herauf und trat zu
ungewohnter Stunde in sein Haus.

Er traf auf eine kräftige Frauengestalt im weißen Schürzenkleid,
das Haupt zum Schutz der Flechtenkrone mit einem weißen Handtuch
turbanartig umwunden. Auf einer Leiter stand sie in seinem
Arbeitszimmer und stäubte hurtig die Bilderrahmen.

»Laß dich zu mir nieder, Engel. Auf der Wolke, die dich umschwebt.
In vielerlei Gestalten erscheinst du dem Heimatsuchenden, wie Pallas
Athene dem vielgewanderten Odysseus. Spring mir an den Hals.«

»Die Leiter könnte brechen ...«

»Spring!«

Da sprang sie, und er fing die Atemlose auf.

»Was ist heute für ein Tag, Engel?«

»Ein Sonntag. Weil du so früh heimkommst, weil du so fröhlich bist und
weil die Sonne scheint.«

»Ein Sonntagskind ist nur der Mann allein, der ein gutes Weib besitzt.
Ich besitze viel mehr. Ich muß also schon eine Art Maiensonntagskind
sein. Und das wollen wir feiern.«

»Warte, ich streife nur Turban und Schürzenkleid ab und feiere mit.«

»Pack' deinen kleinen Koffer, Engel. Wir fahren nach Orplid.«

»Ich fahre mit, wohin du willst, und es sollte mich nicht wundern,
wenn der liebe Gott selber den Himmel aufhielt.«

»Er tut's, Engel. Wie ich ihn kenne, tut er's. Und ein Gesangverein
wird auch zur Stelle sein und ihn ansingen, so daß wir beide uns
mäuschenstill halten dürfen. Kannst du in einer Stunde reisefertig
sein?«

»In einer halben, in einer Viertelstunde! Ich bin immer reisefertig,
wenn's mit ~dir~ geht!«

»Keine Kurkonzertgewänder, Engel. Der Wilm spielt nur die Harmonika,
und wir tanzen auf den geteerten Planken. Pack' Wäsche, ein paar derbe
Kleiderröcke und dein Ölzeug ein. Wir machen auf dem Frachtkahn eine
Maienreise zum Oberrhein!«

Sie gurgelte einen Ton der Freude hervor und hing an seinem Hals.

»Kannst du denn abkommen in dieser Übergabezeit? Wird es dir nicht
schaden?«

»Eine Woche Ferien? Ferien mit dem Engel? Mit dem Engel auf dem
Rhein, Wasser unter sich, Himmel über sich, wandelnde Ufer um uns
her? Und wir auf dem Rücken liegend, alle viere streckend, nichts,
nichts als in Sonne blinzelnd? Das soll mir schaden, Engel? Und ob
ich abkommen kann? Wann werde ich in absehbarer Zeit abkommen können,
wenn die Beckenrieds mich erst verlassen haben? Denn wenn mir ihre
Philistergesichter auch auf den Tod verhaßt sind, verläßliche Arbeiter
waren sie jederzeit. Fort damit, fort, fort! Ferien, Engel, Ferien!
Ja, willst du denn wirklich zu Hause bleiben?«

Sie rüttelte und schüttelte ihn an den Schultern, ließ ihn los und
rannte die Treppen hinauf.

»Bleib unten,« rief sie über das Geländer zurück. »Ich packe deine
Handkoffer mit!«

Und die nüchternen Worte klangen durch das Haus wie eine Liedstrophe.

Jetzt klingelte es an der Haustür. Der Schiffsjunge erschien und
forderte die Gepäckstücke, die er sich an einem handbreiten Riemen um
den Hals hängte. Er trottete vorauf, und Kornelius Vanderwelt folgte
ihm mit Angela Freydag bis zum Hafendamm, wo sie ein Boot nahmen und
zu dem harrenden Schlepperzug übersetzten.

»Welcher Kahn ist der unsere, Kornelius?« fragte sie, und ihre Wangen
glühten wie Mädchenwangen.

»Der Schleppzug ist von mir zusammengestellt. Daraus folgt, du große
Rechenkünstlerin, daß der letzte Kahn der unsere ist und wir von
unserem Achterdeckplatz nichts als die schäumende Kielspur sehen. Wir
sind dort sozusagen ganz allein auf der Welt.«

Der Wilm empfing sie. Seine ausgestreckte Hand half ihnen an Bord. Er
trug die blaue Schiffermütze und hatte sich einen Silberring ins Ohr
gekniffen, um nicht als Neuling genommen zu werden. Sein Mund schwieg,
wie er immer geschwiegen hatte, aber seine Augen strahlten vor Freude,
als Hauswirt auftreten zu dürfen.

Die Kajüte war durch einen Wandschirm in zwei Hälften geteilt. Die
Lederbank links und rechts diente in der Nacht als Bettgestell. Der
Wilm schlief mit dem Mann, mit dem er das Ruder teilte, und dem Jungen
in den Hängematten des Matrosenverschlags. Aus der kleinen Küche quoll
der Duft von frischer Suppe.

Die Leute mußten an ihre Plätze zurück. Der Schleppdampfer gab mit der
Sirene ein Zeichen. Ein Zittern lief durch Rippen und Bohlen des tief
beladenen Kahns. Ein Seufzen und Abschiedsstöhnen, und nun gab der
Wilm das Ruder frei, die Stahltrossen zogen klirrend an, und der Kahn
folgte als letzter in der Reihe und schwenkte in den Strom.

»Leg' dich nieder, Engel. Platt hin auf die dicken Decken. Halt, erst
die alte Öljacke an. Eitelkeiten gibt's hier nicht, denn der Kaminruß
und der Kohlenstaub machen selbst aus der allerzartesten Prinzessin
hier eine Mulattin. Ach, Engel, es gibt auch sehr liebenswerte
Mulattinnen. Doch darüber später, wenn erst die Mütze auf dem Kopf
festgesteckt ist und dir der gerollte Mantel bequem im Nacken liegt.
Hat die Prinzessin noch weitere Wünsche?«

»Ich hätte schon noch einen ... Aber ich weiß nicht, ob er sehr
prinzessinnenhaft ist.«

»Vielleicht können wir uns einen Kuß geben, wenn wir uns die Pfeifen
anzünden, Engel.«

»Das ist wahr. Die Pfeifen stecken im Handkoffer. Ich werde sie holen.«

»Liegen bleiben! Nicht Hand und nicht Fuß rühren! Oder du kullerst
über Bord!«

Er ging mit dem wiegenden Schritt, der das Gleichgewicht sucht, über
das geschrägte Deck und tauchte in die Kajüte hinein. Wenige Minuten,
und er kehrte mit den in Brand gesetzten Pfeifen zurück und kniete
neben Angela hin. »Heb mal dein Mäulchen, Engel.« Und sie hob es ihm
entgegen. Und als er sich über sie beugte, um ihr die Pfeife zwischen
die Lippen zu schieben, blieb sein Mund auf ihren Lippen haften ...

»Es sind bald zwanzig Jahre, Engel, daß wir uns kennen,« überlegte er,
als er neben ihr auf der Decke hingestreckt lag und den blauen Rauch
gen Himmel blies. »Das wäre ja weiter nicht verwunderlich. Aber daß
uns auch heute noch jede List und Tücke recht ist, um uns um den Hals
zu fallen, das gibt zu denken.«

»Also denken wir nach, Kornelius,« sagte sie und blies wie er den
blauen Rauch gegen den Himmel.

Sie dachten nach und sprachen nicht, und nur die Hände, die sich auf
der Segeltuchdecke begegneten, hatten sich unermeßlich viel zu sagen.

Kaiserswerth mit der Burg Pippins -- Düsseldorf mit dem Turm der
heißblütigen Jakobe von Baden -- Zons mit Mauern und Warten und
mittelalterlichen Toren -- es zog vorbei, wie Wandelbilder sich
entrollen. Und wo eine Lücke war, wuchs ein hämmerndes, ratterndes,
feuerfauchendes Werk, wuchsen die himmelhohen Kamine wie ein
Mastenwald im Hafen.

Einmal erschien der Schiffsjunge und meldete, daß die Suppe fertig sei.

»Bring einen Napf voll her und zwei Teller. Halt, warte, ich werde
dich das erstemal begleiten und dir zeigen, wie man einen Napf trägt,
ohne mit dem Daumen hineinzufahren.«

Angela Freydags glückliches Lachen flog hinter ihm her.

Vor Köln machte der Schleppzug seine erste Nacht. Es war eine
Maiennacht, in der das Märchen mit der Sage einen Reigen schlang,
dicht über den Augen der Schauenden. Dort geisterte der Dom in
den sternenhellen Himmel und stach mit seinen Spitzen in die
Sternenkränze, daß es den Anschein erweckte, als glitten sie ihm wie
Heiligenscheine um die Helmzier. Dort wuchtete der gewaltige Sankt
Martin, und er sah eher wie ein Türke aus, denn wie ein Christ, denn
er hatte sich den halben Mond zur Leuchte an den Helm gesteckt. Dort
glitzerten die Kuppeln, Türme und Dachreiter der ungezählten Kirchen
und Kapellen, und der Rathausturm mischte sich darunter und begann
ein Gespräch über die alte und die neue Zeit und ihre Bürgermeister.
In den Straßen aber kicherten die Legenden und trieben sich mit den
Heinzelmännern gassenab zum Rhein, purzelten ins Wasser und wurden
pfeilschnell von den jungen Nixen bei den Ohren genommen, die auf den
Ankertauen turnten und Angela Freydags mondhelles Antlitz betrachteten.

Kornelius Vanderwelt lag auf Achterdeck neben ihr, die Ellbogen
aufgestützt und den Kopf in den Händen. So lag er wohl schon eine
Stunde und hatte des wunderbaren Städtebildes nicht acht vor dem
wunderbaren Menschenbilde.

Was mag es sein, das sie so schön macht? dachte er. Es gibt sicherlich
ebenso schöne Frauen und schönere, und doch gehst du achtlos an ihnen
vorüber. Und als ihre Brust im Atmen auf und nieder stieg, daß er
glaubte, den ruhigen und starken Schlag ihres Herzens zu hören, da
kannte er den Kern des Geheimnisses und des Rätsels tiefste Lösung:
es war die Ruhe und Kraft, die ihrer Schönheit den Glanz der Firnen
verlieh, und alle Ruhe und Kraft der Erde war ihr gegeben, weil sie
ihre Schönheit nur für einen trug.

In dieser Maiennacht erklangen in Kornelius Vanderwelts innerstem
Menschen Worte, die wie Worte eines Dankgebetes waren, während die
nächtliche Natur im Frühlingsrausche erzitterte.

Gegen Morgen erst, als mit dem ersten Licht die Kühle kam, gingen sie
in die Kajüte, und Kornelius Vanderwelt half ihr aufs schmale Lager
und versorgte sie nach Seemannsbrauch gegen Windzug und Feuchtigkeit,
bevor er sich auf das andere Lager warf. Aber nach Stunden schon waren
sie beide wieder wach, denn die Sirene des Schleppdampfers hatte zur
Obacht gerufen, die Kähne holten ihre Anker ein und der Rudersmann
packte das Steuerruder. Angela Freydag kniete auf ihrem Lager und
lugte durch die runden Kajütenfenster. Und Kornelius Vanderwelt stand
hinter ihr und hatte den Arm um ihren Leib gelegt, damit sie bei einer
jähen Wendung der in Fahrtlinie einbiegenden Frachtkähne nicht das
Gleichgewicht verliere. Und sie lehnte ihren Körper fest und sicher in
seinen Arm.

Den Morgenkaffee tranken sie stehend vor der Küche, stritten, ob es
zum Mittag Linsen mit Wurst oder Wurst mit Linsen geben sollte, und
lagen ausgestreckt auf Sonnenseite, als der Kahn an Bonns Altem Zoll
vorüberzog, vorüber an der winkenden Godesburg und mitten hinein in
das Bannland der Sieben Berge.

Das Siebengebirge prangte im Grün des Maien und im Gold der
Maiensonne. Wie ein selig Beben liefen die Höhen dahin und verloren
sich im weiten Hügelmeer des weiten Westerwaldes. Und auf der linken
Rheinseite das geschwisterliche Stück des Bildes. Dem Drachenfels
des Siebengebirges gegenüber gelagert der Fels des Rolandsbogens, und
über vulkanisches Land hinweg Wellenlinie auf Wellenlinie der zu Stein
erstarrten Eifelmassen.

»Die Porta Rhenana,« sagte Kornelius Vanderwelt, als sie durch das Tor
der Schönheit fuhren, und er wies ihr hüben und drüben die verträumten
Städtlein, deren Antlitz in wechselndem Mienenspiel die schweigenden
Parks der weltflüchtigen und die singenden und klingenden Gaststätten
der Weltsuchenden aufblitzen ließ. Dann aber zog Strom und Kahn
zwischen den Inseln Nonnenwerth und Grafenwerth dahin, feierlich, als
wölbten sich die Baumkronen von rechts und links hoch über sie hin zum
gotischen Kirchendach.

Angela Freydag wandte den Kopf und suchte den Blick ihres verstummten
Begleiters. Der kam aus tiefen Augenhöhlen, und sie setzte sich mit
einem Rucke auf und griff nach seiner Hand.

»Was ist dir, Kornelius?«

»Es lief mir so über die Seele,« sagte er, »und es ist nichts als ein
Unsinn.«

»Was ist ein Unsinn?«

»Daß die uralte Natur alljährlich in den Frühling zurückkehren darf,
während ihr jüngstes Geschöpf, der Mensch, in den Herbst seines Lebens
hinein und nicht wieder hinausgeführt wird. Ach, du, Engel, alles
das noch eine Spanne, noch eine Spanne erleben können! Die Sehnsucht
steigert sich, und steigert sich doch nur in eine wilde Einsamkeit
hinein.«

»Ich bin bei dir, Kornelius,« sagte sie und nahm seinen Kopf an ihre
Brust.

Er hörte nicht hin und sprach in Erregung weiter.

»In eine wilde Einsamkeit, in eine Menschenverachtung hinein,
die kaum ein Lichtpünktlein mehr findet. Wir leben in einer
Menschenunverbundenheit dahin, kein Mensch kennt den anderen, und in
Wahrheit kümmert sich auch keiner um den anderen.«

»Ich bin bei dir, Kornelius,« erklang ihre Stimme.

Da hob er die Arme wie ein Ertrinkender und schlang sie ihr um den
Hals. -- --

Er schlief an ihrem Herzen, und sie bewachte seinen Schlaf und war
voll tiefer Freude, daß er ihr seine Schwäche gezeigt hatte. Denn ihr
Frauengefühl ertastete mit nachtwandlerischer Sicherheit, daß diese
Schwäche nichts anderes war als eine sich aufbäumende Lebenskraft, die
sich ihres Lebens eroberten Inhalt, den Wert zu leben, das Weib seines
Lebens und seiner Liebe zu sein, nicht nehmen lassen mochte durch eine
Herbstlaune des Schicksals, und doch es mußte.

Vor Koblenz, nahe der Einmündung der Mosel in den Rhein, gingen zur
Nacht die Anker nieder. Kornelius Vanderwelt schlug die Augen auf und
rührte sich nicht an ihrem Herzen.

»Ist dir wohl?« sprach sie und strich ihm wieder und wieder das Haar
aus der Stirn.

»Wie einem Kindlein an der Mutterbrust, Engel. So wohl. Ei, du, hatte
ich vorhin nicht einen Schwermutsanfall? Das werden doch nicht die
ersten Alterserscheinungen sein? Nein, nein, umgekehrt ist es, wie
ich es dir vordichtete: die Welt wird alt, und ihre Jahre rinnen
unablässig und unaufhaltsam. Wir aber bleiben Kinder trotz eines
Greisenalters, und rückschauend zerfließen die Jahre in nichts. Was
ist, das lebt, und wir beide sind, Engel.«

»Zuweilen meine ich, ich wäre gar nicht mehr, solange schon bin ich in
dir aufgegangen.«

»Sprich kein Wort mehr, oder ich verschling' dich. Herrgott, hab' ich
einen Hunger.«

»Und ich! Und ich!«

Und einer half dem anderen auf, und das Gleichgewicht suchend
schritten sie über das schräge Deck und gewannen die Küche und
bedrängten den Wilm, den Rudersmann und den Jungen.

In heller Morgensonne stampfte der Schleppzug an Boppard vorbei. Und
je weiter er sich vorwärts arbeitete gegen den Strom, umso reicher
öffneten und offenbarten sich die Bilder der Berge und Burgen, der
Städtchen, Kirchen, Klöster und Kapellen, die den Blick von der
Wirklichkeit abwenden und traumhaft hinübergleiten lassen in die
Flüchtlingsbezirke der Romantik.

Dicht aneinandergeschmiegt lagen die beiden Flüchtlinge aus
Wirklichkeitslanden auf dem Hinterdeck des Frachtkahnes und sprachen
nicht und ließen nur die Augen aufleuchten, wenn ein neuer Gruß von
den Ufern sie traf. Jetzt Sankt Goar, jetzt der niederstürzende
Fels der Lorelei, jetzt die wellenumschäumte Pfalz bei Caub, die
türmereichen Städtlein Oberwesel und Bacharach, Aßmannshausen mit dem
Dichter- und Künstlerheim, der ragenden Kronenwirtschaft, und durch
das brausende Binger Loch hindurch, links Rüdesheim, rechts, vom
Mäuseturm verkündet, Bingen, die uralte Stadt. Der Mond kam über Burg
Klopp hervor und erzählte flüsternd vom vierten Kaiser Heinrich, den
der eigene Sohn in den festen Mauern gefangenhielt, und von blutigen
Jahrtausendkämpfen, geführt um das lachende Land des Rheingaus. Der
Schleppzug lag vor Anker. Die beiden Menschen auf dem Hinterdeck des
letzten Kahnes hatten einer dem anderen den Arm unter den Nacken
geschoben und schliefen einen Kinderschlaf.

Als sie am nächsten Tage am goldenen Mainz vorüberfuhren, vorüber an
der Nibelungenstadt Worms, waren ihre Lippen ganz verstummt. Wie eine
unsagbar tiefe Dankbarkeit stieg es auf vom Grunde ihrer Seelen, und
das Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit brauchte keine Worte mehr.

So erreichten sie Mannheim, den Bestimmungshafen, und gingen
schweigend an Land. -- -- --

Im Gebrause fuhr ein Schleppdampfer mit wenigen Leerkähnen als
Gefolgschaft zu Tal. Die Dämmerung sank über ihn hin und über die
beiden Menschen, die in die gespensternde Kielspur des letzten Kahnes
starrten. Ein silbriges Licht kämpfte sich hindurch und erfüllte die
Dämmerung mit Glanz und Leuchten. Der Mann reckte sich auf, als machte
er seine Schultern stark für neue Arbeitsbürden. Und die Frau erfaßte
fest seine Hand.

Ruhrort -- -- --

Hand in Hand gingen sie durch die Stille der Nacht in ihr Haus, wie
sie so oft gegangen waren. -- --

In den Tagen, die da folgten, sah Angela Freydag ihren Gefährten
nicht anders als in den späten Abendstunden. Das Urteil im
Scheidungsverfahren war gesprochen. Die Familien Vanderwelt und
Beckenried hatten sich für immer voneinander gelöst. Juliane behielt
den Sohn unter Verzichtleistung auf jeden geldlichen Anspruch an ein
Beckenriedsches Erbe. Die Lebenssorge für Tochter und Enkel war auf
Kornelius Vanderwelt übergegangen.

Kornelius Vanderwelt zog den Schlußstrich. Kein Mensch gewahrte eine
Unruhe an ihm. In diesen Tagen, die ihm die Verkleinerung seines
Geschäftsumfanges, die Belastung der gebliebenen Kräfte, den Verlust
seines Wohnhauses brachten, wuchs er so still und stark über sich
selbst empor, daß Angela Freydags Liebe mit ehrfürchtigen Augen ihm
folgte. Aber ihre Augen sahen auch, daß er stumm die Kräfte bis zum
letzten spannte, und es flackerte oft in ihnen auf wie wilder Brand.

In später Nacht saß sie und wartete. Sie wartete auf Kornelius
Vanderwelt, der noch nicht von der Wohnungssuche heimgekehrt war. Und
sie wußte, daß er sich als letztes die ›Fünf Erdteile‹ aufgespart
hatte, die Zimmer, die über der Gastwirtschaft lagen.

Wie sauer ihm der Gang sein wird, dachte sie finster, und sie hätte
aufspringen und zu ihm laufen mögen, um die Arme um seinen Hals zu
schlingen.

Sie schritt ans Fenster und horchte hinaus. Und von einer Unrast
getrieben, durchmaß sie das Zimmer hin und her.

Du bist stärker geworden, Angela, glitt es ihr durch den Sinn. Deine
Glieder schwellen an Kraft. Könntest du sie doch zum Lastentragen
gebrauchen, um seine überbürdeten Schultern zu erleichtern.

Und wieder war sie am Fenster. Das eiserne Tor hatte geklirrt.
Männerschritte kamen schlurfend durch den Garten.

Mit einem Sprunge war sie an der Haustür. Das elektrische Licht
blitzte auf unter ihrer suchenden Hand. Sie öffnete die Tür und sprach
leise hinaus.

Da stand die vierschrötige Gestalt des Matthes und an ihn gelehnt
die hohe, jetzt vornübergebeugte Gestalt Kornelius Vanderwelts.
Angela Freydag griff ohne zu zaudern zu. Von ihrem Arm umschlungen,
tat Kornelius Vanderwelt die letzten Schritte ins Haus, die wenigen
Schritte über die Diele in sein Arbeitszimmer.

»Tun Sie ihm nix,« sagte der Matthes grimmig. »Vom Trinken kommt dat
nich.«

»Gehen Sie.«

Kornelius Vanderwelt saß in einem Sessel, das totenbleiche Antlitz
hintenüber ins Polster gereckt, als suche er Luft. Mit fliegenden
Fingern befreite ihn Angela Freydag von dem Druck des Kragens.

»Sie tun schon besser, mich nich fortzuschicken,« knurrte der Matthes.
»Allein werden Sie nich fertig, Madam.«

»Ziehen Sie ihm die Stiefel aus. Vorsichtig. Und nun wollen wir ihn in
sein Schlafzimmer bringen. Stieren Sie mich nicht an. Ich habe Kräfte
genug, ihn allein zu tragen. Aber da Sie einmal da sind -- wir tragen
ihn im Sessel hinauf.«

Alle Sehnen spannte sie an. Die Zähne gruben sich ihr in die blutenden
Lippen, und es gelang. »Warten Sie unten auf mich.« Und als der
Matthes auf Zehenspitzen hinaus war, entkleidete sie den Erschöpften
und bettete ihn.

Wieder war sie unten, und der Matthes berichtete flüsternd: »Ich sah
et schon, wie er in die Wirtschaft trat und mich in et Nebenzimmer
rief. Fieberheiß. Un et Sprechen wurd' ihm nich nur schwer, weil
et seinen Stolz so verdammt mitnahm. Ich sollt' ihm die Gastzimmer
für eine Wohnung ausräumen, bis er Besseres hätt', un als wir mit
Handschlag abgeschlossen hatten, fiel er gegen die Wand. Ich hab' ihn
die paar Schritte hergebracht, damit et nich hieß, der Herr Kornelius
Vanderwelt wär' in der Wirtschaft liegen geblieben.«

»Ich danke Ihnen. Und nun holen Sie den Arzt.«

»Alte Kameradschaft, Madam, und den Arzt bring' ich sofort.«

Wieder huschte sie die Treppen hinauf, und der Erschöpfte öffnete die
Augen, als sie sich über ihn beugte.

»Hab' ich dir -- einen argen Schrecken -- eingeflößt, Engel?«

»Sprich jetzt nicht. Der Arzt wird gleich hier sein.«

»Der Arzt? Was soll denn der hier? Ich muß nur einmal ausschlafen.«

»Schlaf, Kornelius.«

Er schloß die Augen unter ihrer kühlen Hand. Aber der Atem kämpfte
schwer in der Brust. Und sie horchte auf den Atem und horchte hinaus
auf die Straße. Bis der Matthes mit dem Arzte kam und die Haustür
öffnete.

Sie ließ den Arzt in das Zimmer, und der Kranke redete aus seinen
Fieberträumen heraus. Der Name Engel kehrte immer wieder. In immer
neuen Bildern, in immer neuen Beteuerungen.

»Spricht er immer so viel?« fragte der Arzt und trat näher.

Der Kranke hob horchend den Kopf. Die fremde Stimme hatte ihn sofort
geweckt.

»Waren Sie noch nie verliebt, Doktor? Nie verliebt? Goethesche
Gedichte möchte man hersagen -- und sie fallen einem nicht ein. Ach
was! Sie wagen sich nicht hervor. Nicht hervor vor dem einen Namen.
Dem einen -- Namen ...!«

Der Arzt prüfte den Puls. Er behorchte das Herz und maß das Fieber.
Der Kranke lächelte über ihn hinweg seine Pflegerin an. Als wären sie
ganz allein.

»Sie müssen Ihre Kräfte schonen, Herr Vanderwelt,« gebot der
Arzt. »Was Ihnen not tut, ist Ruhe. Nichts als Ruhe, damit sich
die Erschöpfung der Nerven verliert. Das Fieber beruht auf einer
Erkältung, die Sie sich wohl durch eine Unachtsamkeit zugezogen haben.
Nehmen Sie heute und morgen ein Schlafmittel, und in zwei Tagen ist
alles überstanden.«

Er ging, und der Matthes war auch gegangen, und das Schlafmittel war
zurückgeblieben.

»Laß den Doktor -- nicht mehr -- zu mir herein, Engel. -- Du bist mein
Arzt -- meine Ruhe -- mein -- alles.« --

Sie bettete sein Haupt in die Kissen, aber er verlangte wortlos nach
ihrem Arm, und sie bettete sein Haupt in ihren Arm und wartete, bis
er vor Erschöpfung entschlummert war.

Am Morgen erst schlug er die Augen auf. Sie glänzten fiebrig wie in
der Nacht. Aber sein Bewußtsein war rege.

»Bist du nicht zu Bett gewesen, Engel?«

»Mein Kopf lag auf deinem Kissen, Kornelius. Wir schliefen beide fest.«

»Willst du mir zu trinken geben, Engel? Ich fühle mich viel wohler und
danke dir.«

Sie hatte den Tee schon bereitet und gab ihm zu trinken. Er wunderte
sich über nichts. Er lachte sie nur an.

»Wie schön das ist, müde zu sein und nichts zu spüren als dich. Ewig
möchte ich so müde sein, Engel.«

Im Laufe des Vormittags fuhr er auf und blickte verwundert umher.

»Ich war wieder eingeschlafen, Engel. Und auf einmal rüttelte mich die
Angst auf, ich hätte deine Anwesenheit verschlafen. Kannst du mir die
Stirn abtrocknen, Engel? Ich ertrinke.«

Sie trocknete ihm die Stirn und trocknete ihm die Brust. Und
unablässig sprach er.

»Wie kann das nur sein, Engel? Tausendmal hab' ich mir gesagt: tiefer
hinein und höher hinauf geht die Liebe nicht. Und nun mein' ich: erst
in dieser Stunde gehörtest du mir ganz.«

»Sollen wir einst sagen, Kornelius: vor zwanzig Jahren haben wir uns
über alles geliebt, während wir uns heute nur noch -- ›liebhaben‹?
Wir, Kornelius? Wir folgen einer anderen Bahn als die Herzschwachen.«

»Die Herzschwachen,« wiederholte er. »Weißt du noch, wie ich dich
meine Herzbrust taufte?«

»Ich weiß alles und jedes, Kornelius, und werde nie einen Laut
vergessen.«

Am Nachmittage wurde er unruhiger. Er hatte den Schritt des Arztes
gehört und wehrte ab.

»Mir zuliebe, Kornelius,« bat sie.

»Dir zuliebe. Dann mag er jede Stunde kommen.«

»Es bleibt nichts als die Ruhe,« sagte der Arzt, als er die
Untersuchung beendet hatte. »Er muß seine Kräfte aus dem Schlafe
zurückgewinnen.«

»Weiß das Kontor, daß ich unpäßlich bin, Engel?« fragte Kornelius
Vanderwelt, als der Arzt sich verabschiedet hatte. »Bitte, ruf den
Thomas an. Aber ich will mit dir allein bleiben.«

»Ich habe ihm dein Fernbleiben heute morgen schon gemeldet, Kornelius.
Und wir bleiben allein.«

»Dann ist alles gut.«

Er schloß die Augen. Aufs neue trug ihn die Erschöpfung in den
Dämmerzustand hinüber und hielt ihn zwischen Schlaf und Traum die
halbe Nacht hindurch. Angela Freydag saß an seinem Bette, den Blick
fest auf seine Züge gerichtet, jede Sekunde bereit, zu helfen, zu
lindern, Leib und Seele aufzurichten. So still war es, daß sich das
Ticken der Taschenuhr schmerzhaft in ihr Hirn bohrte.

Plötzlich lachte der Kranke gellend aus der Wirrnis der Träume auf.

»Hahaha! Ich sterbe? Wahrhaftig? Das Leben ist aus? Soviel Sorge um
die kurze Spanne? Ist das alles?«

Sie drückte hastig ihre Lippen auf seinen Mund, und er erwachte.

»Bin ich nicht tot, Engel? Ach, du, ich bäumte mich auf gegen den
Wahnsinn: zu leben, um sterben zu müssen.«

Sie strich über seine Augen, über seine Wangen.

»Für uns gibt es keinen Tod, Kornelius. Für uns gibt es nur ein
Beisammensein.«

Er griff nach ihren Gelenken und zog sich in den Kissen hinauf.

»Tod, Engel ... Du läßt mich nicht, und ich lasse dich nicht. Nicht
hier und nicht dort ...! Tod ... Denke dir, er käme und nähme den
einen oder den anderen hinweg. Und dann wäre ein sonnenschöner Tag,
oder ein Erfolg, ein Ruhm, und man möchte hinlaufen und ihn dem
anderen bringen und stutzt und erstarrt: Der andere -- der andere lebt
ja nicht mehr! Engel!«

Sie wiegte ihn an ihrer Brust und hörte sein Herz dahinjagen, als
hörte sie den Hufschlag hinjagender Pferde.

»Ich habe dich und ich halte dich und gebe dich nicht her, Kornelius.
Und jetzt sprich von allen deinen Fröhlichkeiten.«

»Von meinen Fröhlichkeiten ...« murmelte er. »Dann muß ich von dir
sprechen.«

»Erzähl' aus deiner Jugend, von deinen Meerfahrten, von schönen,
fremden Frauen.«

»Du nennst sie richtig, Engel. Schön waren sie, aber fremd. Du kennst
ihren Körper, wie du eine tickende Uhr kennst. Und sie tickt wirr in
die deine hinein und läuft vor oder nach, und du bringst sie nicht
mit der deinen auf den gleichen Schlag, weil dir das Uhrwerk fremd
geblieben ist und du den Wert nicht prüfen kannst. Nein, ich will
nicht schmähen. Es waren lustige Liebchen darunter, wie die Jugend
sie sich wünscht oder der Mannesübermut. Ja, du, der Mannesübermut.
Du hast ihn ja erfahren. Als er dich auf der Landstraße stellte. Sie
waren mir lieb, die schönen, fremden Frauen. Waren! Waren!« Seine
Erregtheit suchte nach einem wegwerfenden Wort. »Der Teufel hole sie.«

Und sie sprach in seine flackernden Augen hinein, um ihm das Lachen
und die Beruhigung zu bringen: »Hör', du, Kornelius -- mich auch?«

Und seine Erregung ging in ein wildes Lachen über.

»Du, Engel! Ach, du! Du willst mich beleidigen. Und wenn der Vater im
Himmel nach seinen Erzengeln riefe: ›Holt sie mir!‹ Vorspringen würd'
ich, die Erzengel bei den Flügeln packen und gegeneinander klatschen.«

»Recht so, recht so!« rief sie ihm zu, fröhlich, ihn fröhlich zu
sehen. »Daß der Kornelius sich im Himmel herumtreibt, ist eine
Selbstverständlichkeit!«

»Also gut denn, Engel. Wenn der Urian in der Hölle seinen Teufeln
zurufen sollte: ›Holt sie mir!‹ Vorspringen würd' ich, sie anschreien:
›Brennt mich zu Weißglut! Mich, mich! Aber noch ein Mal zu meiner
Wölfin! Noch ein Mal zu meinem Engel!‹« Seine Gedanken verwirrten
sich. Er rang nach dem Faden, der ihm entflattern wollte. »Noch ein
Mal -- ein -- ein Mal -- -- ~Engel~!«

Aus den Kissen hochgeworfen, den Brustkasten vorgereckt, preßte er den
letzten Atem mit wilder Macht in dies eine Wort.

Mit beiden Armen hielt sie ihn. Seine Hände griffen, haltsuchend, in
ihr Gewand. Ihre Brust drängte sich ihm entgegen.

»Kornelius! Kornelius! Ich dank' dir ...«

Seine Augen tranken sie in sich hinein. Und von einem jähen Blitz
gefällt, stürzte er an sie, in ihre Arme, an ihre Brust.

Starr stand sie über ihn gebeugt, ungläubig, daß ihr heißer Blick
nicht mehr imstande sein sollte, das Licht seiner Augen neu zu
entfachen. Und dann warf sie sich über ihn und küßte ihn, als müßte
der letzte Hauch seines Atems ihr Eigentum bleiben.

»Geliebter -- Geliebter -- -- Geliebter -- -- --!«




                                  10


Mit übernächtigen Augen und wirrem Haar, wie er aus dem Schlafe
aufgefahren und in die Kleider gehastet war, stand Thomas Vanderwelt
vor Angela Freydag. Die erste, fahle Morgendämmerung war mit ihm ins
Haus gekommen.

»Sie haben mich angerufen, Frau Engel. Was ist mit dem Vater?«

Seine Stimme kämpfte mit der Atemnot, und seine Augen waren voll
Schrecken.

»Ihr Vater, Thomas -- Ihr Vater -- ist heimgegangen -- --«

Er packte sie bei den Armen. Als ob er sie wachrütteln, als ob er
selbst einen Halt suchen wollte. Sein Gesicht stand dicht vor dem
ihren.

»Was heißt das -- heimgegangen --?«

»In das Land seiner Vergangenheit -- in das Land seiner Vorfahren,
seiner Lieblingsträume. Thomas! Thomas! Er ist tot!«

Der Sohn fiel gegen ihre Schulter. Sie stemmte sich fest auf ihre Füße
und trug die Last. Und dachte: es ist Kornelius Vanderwelts Erbe, und
du mußt es in seinem Sinne zu wahren suchen.

»Tu die Augen auf, Thomas, du mußt deiner Herr werden. Kornelius
Vanderwelt hat einen Sohn hinterlassen, und das bist du.«

Ein Zittern durchlief seinen Körper. Wie ein krampfhaftes Weinen, das
alle Tore verschlossen findet.

»Und das bist du,« wiederholte Angela Freydag und mühte sich in eine
Ruhe hinein. »Laß den Vater nicht warten.«

»Ich?« fragte er zurück und wunderte sich nicht über das Du, das sie
ihm geboten hatte. »Ich? Ein sauberer Erbe, Engel. Ein verwahrloster
Abkömmling. Eine Drohne, wie alle seine Kinder, Engel, Drohnen, die
ihm die Blüten leersogen, bevor sie Frucht ansetzen konnten. Und ich
sein Erbe!«

»Es kommt nicht darauf an, Thomas, wie und was du warst, sondern ob du
ein Erbe sein wirst!«

»Nein, ich bin kein Erbe. Nein, ich bin kein Erbe,« wiederholte er in
gleichmäßigem Tone. »Ich war es einmal, als ich sein Kind war. Sein
geliebtes Kind, wie wir alle. Das ist lange her. Das ist so lange her,
wie ich Antoniens Mann wurde. Habe ich ›Mann‹ gesagt? Der Tote mög' es
mir verzeihen. Ihr Aushängeschild, ihr durchlöchertes, ausgehöhltes,
von meinem Spott überkleistertes. Und ich hatte doch auch den Namen
geerbt, den Namen Vanderwelt, und ließ ihn von Affen- und Narrenhänden
durchlöchern und aushöhlen. Ich, ich, der Erbe.«

»Wenn des Vaters Geist noch im Hause weilt,« sagte Angela Freydag
und schloß die Augen, um den aufquellenden Schmerz um ihren Toten zu
bändigen, »so wird ihm die Einkehr des Sohnes ein Trost im Ausgang
sein.«

»Einkehr? Halte ich Einkehr, Engel? Ich bringe Schmutztapfen ins Haus,
und in dieser Abschiedsstunde sehe ich sie mit einer Deutlichkeit, wie
ich sie noch nie gesehen habe. Das ist alles.«

»Nein, das ist der Anfang.«

»Es ist das Ende. Auch das Ende hat einen Anfang. Und der Anfang
liegt in den Schmutztapfen, die jetzt so sichtbar werden, weil der
Schatten des Vaters sie nicht mehr verdeckt.«

»Es soll wahr sein, Thomas,« sagte die Frau. »Des Vaters Licht
leuchtet nicht mehr und wirft auch keine verhüllenden Schatten
mehr. Nimm die Erbschaft an dieser Stelle auf. Laß sein Licht das
deine entzünden und zu einer Flamme anfachen, in deren Schatten das
Vergangene verdunkelt wird, abstirbt und vergeht. Und nun komm zu ihm.«

»Es ist ja alles zu spät,« murmelte Thomas Vanderwelt und folgte ihr
dennoch.

Droben aber, in Kornelius Vanderwelts Schlafgemach, warf er sich über
des Vaters Bett und umklammerte ihn mit Armen und Händen. Und als er
Angela Freydags schmerzstillende Hände über seinen Nacken gleiten
fühlte, wurden ihm die Pforten aufgetan und ein wildes Sohnesweinen
brach hervor, überstürzte die Dämme und gelangte in den ruhiger
fließenden Strom allen Geschehens.

Unten schlug die Glocke der Haustür an. Angela Freydag richtete den
stiller Schluchzenden auf.

»Es ist der Arzt, Thomas. Ich rief ihn an, als ich dich anrief. Vergiß
nicht, daß unser Schmerz uns allein gehört.«

Und sie ging hinab, öffnete und kehrte mit dem Arzt zurück.

Thomas Vanderwelt empfing ihn mit einer stummen Verneigung. Und der
Arzt trat ans Bett und neigte sich über den Toten. Als er sich wieder
erhob, blickten seine Augen ernst.

»Es war ein Herzschlag,« sagte er so leise, als fürchte er, die
Erhabenheit des Todes zu stören. »Eine Überspannung der Nerven. Ein
Übermaß von Kräften dagegen angesetzt. Das Herz mußte es zahlen.«

Mein Herz, hämmerte es hinter Angela Freydags Stirn, mein -- mein
Herz. Mit seinem Tode noch gab er es mir allein.

Sein Herz, schrie es in Thomas Vanderwelt auf. Er gab es mir, und ich
ließ es wegen eines Zunders verkommen.

Der Arzt drückte ihnen die Hand. Er ging zur Tür und fragte flüsternd,
wo er den Totenschein ausstellen dürfe. Und Angela Freydag geleitete
ihn die Treppe hinab und verharrte schweigend hinter seinem Stuhl,
während er an Kornelius Vanderwelts Schreibtisch saß und das Papier
ausfüllte.

Wieder betrat sie das Sterbegemach, und Thomas Vanderwelt saß am Bette
des Vaters und hielt mit seinen fiebrigen Händen die kalten umspannt.
Als sie seine Schulter berührte, sah er kaum auf.

»Du mußt mich jetzt eine Weile mit ihm allein lassen, Thomas. Es ist
Morgen geworden, und die anderen sollen ihn nur in der Verklärung
sehen.«

»Die anderen. Ach ja, da gibt es noch die anderen. Darf ich nicht
helfen, Engel?«

»Es ist Frauensache, Thomas. Und du wirst es verstehen.«

Er erhob sich schwerfällig, stand vor ihr und suchte in seinem Hirn
nach einem Wort.

»Es ist Sache der Liebe, Engel,« und er ging mit müden Schritten
hinaus, die Treppe hinab und in das Arbeitszimmer seines Vaters. Am
Schreibtisch saß er nieder, horchte eine Zeitlang ins Leere und ließ
den Kopf auf die Arme sinken, die kraftlos über der Tischplatte lagen.

Mit mühsam verhaltenem Atem hatte Angela Freydag den Schritten
gelauscht, die sich weiter und weiter entfernten und verhallten. Jetzt
wandte sie langsam den Kopf. Nach ihm. Ihre Füße bewegten sich. Ihre
Knie stießen an das Bett. Und sie ließ sich in die Knie sinken und
wühlte ihren Kopf in die Kissen, die sein Haupt trugen.

»Dank, Dank, Dank!« Und immer wieder dasselbe Wort, und kein anderes
wußte sie.

Wange an Wange lag sie mit ihm, und die Zeit rann dahin, und die
Sonnenstrahlen kamen und kränzten sie beide.

»Dank, Dank, Dank, Kornelius.« -- -- --

Die Sonnenstrahlen liefen über ihre Stirn und flirrten über ihre
Augen. Es ist Tag, dachte sie wie aus einem Erwachen heraus, und es
war bei ihm und mit ihm kein Tag, der leer war. Bis die anderen ihr
Anrecht bewiesen haben, habe ich dein Erbe zu verwalten.

Beide Hände legte sie ihm um die Schläfen und starrte ihm in das
stillgewordene Kämpferantlitz. Immer näher kam ihm ihr zuckendes
Gesicht. Und dann preßte sich ihr heißer Mund auf seine kalten Lippen,
als könnten sie sie erwärmen, als könnten sie sie mit glühendem Leben
füllen, mit hinreißendem Lachen und dem Glücksjubel, den nur Kornelius
Vanderwelt gekannt hatte.

»Du! Du! Ich bin nur hiergeblieben, weil du noch hier sein mußt. Weil
das Tagewerk noch nicht zu Ende ist. Weil dein Name noch gesichert
werden muß in deinem Fleisch und Blut. Nicht meinetwegen, Kornelius,
nein, das weißt du besser. Ich bin nur dein ander Teil. Aber es wird
ausreichen, dein Tagewerk zu Ende zu führen. Das schwör' ich dir.«

Sie löste sich von seinen Lippen und stand in der Sonne des Morgens.
Einen gurgelnden Atemzug tat sie noch, und dann blickte sie mit weit
sich öffnenden Augen in den Tag und schritt hinein.

Mit Frauenhänden, die voll starker Liebe waren, wusch sie des Toten
Antlitz, Brust und Hände, strich sie ihm sorgsam das Haar, bettete sie
ihn in frische Kissen. So lange war ich wie sein Kind und mehr, dachte
sie. Nun ist er das meine -- und mehr.

Durch die geöffneten Fenster flutete die Frühsommersonne wie eine
Woge, und Kornelius Vanderwelt lag in der Woge mit lächelndem Mund.
Denn er wußte, daß es die Liebe war. --

Als Angela Freydag in Ergriffenheit das Arbeitszimmer betrat, fand
sie Thomas schlafend. Sie trat leise hinter ihn und betrachtete
ihn lange und gewahrte, was ihr früher nie so sehr zum Bewußtsein
gekommen war, daß er die Gestalt des Vaters hatte, etwas hagerer nur
vom unzweckmäßigen Leben, und denselben schmalen Schädel mit der
breitgelagerten Stirn. Sie preßte die Lippen, als die Bilder des
Vergleichs sich drängten. Wie eine Bitterkeit kam es über sie. Denn
der dort oben im ewigen Schlafe lag, schien ihr im Tode noch um ein
Vielfaches größer und stärker als der Namenserbe, der sich hier unten
zurückschlief in das Leben des Tages.

Sie rührte ihn an, und er erwachte.

»Nicht böse sein, Engel. Es warf mich hin. Das traurige Geschäft schon
erledigt? Ich weiß es wohl, an dem Punkte, an dem die Männer ermüden,
erwachen die Frauen. Nur daß es so wenig Frauen gibt wie Männer.«

»Es liegt in der Macht eines jeden einzelnen, es zu ändern, Thomas.
Und du hast nun ein einzelner zu werden.«

»Ich -- habe? Weshalb nennst du mich seit dieser Nacht ›Du‹, Engel?«

»Weshalb?« Ihre Stimme wurde so hart, daß er betroffen zu ihr
aufschaute. »Weil ich das Vertrauen in dich setze, Kornelius
Vanderwelts Nachfolger zu werden. Hüte es, Thomas.«

Über den Grund ihrer Augen sprang ein Blitz. Für Sekunden legte sie
die Hand darüber hin, als schmerze sie das Licht. Und mit ihrer ruhig
schwingenden Stimme sprach sie weiter.

»Geh jetzt, Thomas, und hole Juliane her und deine Frau und die beiden
Jungen. Präg' ihnen ein, sie sollten hier keinerlei Lärm erheben, denn
der Lebende hätte ihn nie in seinem Hause geduldet, und sein Wille
sollte heiliggehalten werden. Kommt gegen Mittag. Ich werde inzwischen
den Sarg bestellen, und am Abend wollen wir den Vater in aller Stille
in die Friedhofkapelle überführen.«

»In aller Stille, Engel? Soll auch die Beisetzung in aller Stille
erfolgen?«

»Ich möchte dich bitten, deiner Schwester gegenüber, wenn es sich als
nötig erweisen sollte, ein Machtwort zu sprechen. Dein Vater hat,
wie alle überragenden Naturen, für seine Größe Zahlungen leisten
müssen. Als er um Justus und Julianes wegen für den Bestand seines
Hauses kämpfen und sich beschränken mußte, wurde ihm seine frühere
Überlegenheit als Überheblichkeit und seine frühere Freigebigkeit als
Verschwendungssucht angerechnet. Das ist nun einmal der kaufmännische
Brauch, und er mag meisthin seine Berechtigung haben. Aber ich
fürchte, dein Vater würde aus dem Sarge hinaus sein unfeierlichstes
Lachen erschallen lassen, wenn er alle die Abwendigen als feierliches
Trauergeleit verspürte.«

»Ja, Engel,« sagte Thomas Vanderwelt, nahm ihre Hand und beugte sich
über sie. Und wie sie ihm durch die Fensterscheiben nachblickte, sah
sie, daß er aufrecht und gesammelten Blickes über die Straße schritt.

Als sie dem Mädchen eingeschärft hatte, keinem die Tür zu öffnen, wer
es auch sei, ging auch sie in die Stadt hinein und wählte die letzte
Behausung für den stillen Gefährten und ließ den eichenen Sarg in die
Wohnung schaffen. Bei der Rückkehr fand sie eine Gestalt im Garten
vor. Wie ein abenteuerliches Wesen stand die Vierschrötigkeit des
Matthes im schwarzen, altväterlichen Leibrock vor ihren Augen.

»Sie gestatten, Madam. Er war mein Freund. Schon aus unseren
Seemannstagen her. Auf keinen bin ich so verdammt stolz gewesen wie
auf den Kornelius. Sie gestatten deshalb, Madam.«

»~Was~ soll ich gestatten?« fragte Angela Freydag zurück.

»Daß ich ihn noch mal zu sehen kriegen darf. Nur auf so lang, daß ich
ihm ›Auf Wiedersehen‹ sagen kann. Nichts für ungut, Madam, aber er war
doch nun mal mein Freund.«

»Kommen Sie,« sagte Angela Freydag und schritt ihm in seltsamer
Erregtheit voran.

Der Mann stand vor dem Entschlafenen. Seine schweren Finger drehten
den Rand des Trauerhutes. Seine Kiefern bewegten sich, formten an
einem Wort, stießen es endlich heraus.

»Kornelius ... verdammt noch mal ... Kornelius -- --«

Die Augäpfel quollen ihm. Aber er hielt stand und ließ keinen Ton mehr
zwischen den Zähnen durch.

Es war ein Scharren und Schieben auf der Treppe. Die Leute brachten
den Sarg, und Angela Freydag ging hinaus und gebot ihnen, ihn vor dem
Sterbezimmer niederzustellen. Als sie in das Zimmer zurücktrat, fand
sie den Matthes unbeweglich vor dem Toten.

Für eine Sekunde suchte sie sein Auge. Und sie sah in dem Auge
des grobgearteten Menschen einen Schein aufleuchten, der wie ein
Abschiednehmen war von der Jugend. Auch diesem Rohen war er das
Erinnerungsbild aller Freude und Frohheit, dachte sie. Selbst diesem.
Der Dank wird dich freuen, Kornelius.

»Sie sollen mir helfen,« sagte sie, »Ihrem Freunde den letzten Dienst
zu erweisen. Wir wollen ihn zusammen in den Sarg legen.«

Der Mann wandte langsam den Kopf. Er glaubte, nicht recht verstanden
zu haben.

»Sprachen Sie zu mir, Madam?«

»Ich sprach zu Ihnen,« und sie wiederholte ihre Worte und wartete auf
seine Antwort.

Der Mann stellte seinen Trauerhut auf den Boden. Seine Hände zitterten
ein wenig.

»Das vergess' ich Ihnen nicht, Madam. Die Ehre nicht. Obwohl ich
glaub', der Kornelius Vanderwelt hätt' sich auch bei mir nicht
gescheut und keinen Unterschied gekannt. Ich steh' zu Ihren Diensten.«

Sie trugen gemeinsam den Sarg vom Vorflur ins Zimmer, und der Mann
sah bewundernd auf die Muskelkraft der Frau. Und Angela Freydag
breitete ein weiches Bett in die letzte Lagerstatt, die sie auf
eine teppichbehangene Bank gehoben hatten, und glättete mit den
Fingerspitzen wieder und wieder das Kissen. Dann streckte sie den
Körper und schritt ruhig auf den Toten zu, bettete ihn an ihr Herz
und trug ihn mit starken Armen, während der Helfer den Arm unter des
Freundes Knie hielt wie eine eiserne Stange.

Ausgestreckt lag Kornelius Vanderwelt in seinem letzten Bett und
lächelte sie an. Seine vergangene Jugend in dem Mann und seine
Ewigkeitsjugend in der Frau. Und Angela Freydag fühlte seinen Gruß.

Der Matthes hatte seinen Hut vom Fußboden aufgenommen und war mit
einem Kopfnicken hinausgegangen. Sie hörte, wie die Haustür hinter ihm
ins Schloß fiel. Und sie breitete eine Decke über die Füße des Toten,
trug einen Stuhl heran und setzte sich in stummer Zwiesprache zu ihm.
Kein Ohr vernahm sie.

So fand sie Thomas, der mit Juliane und Antonie und den beiden Knaben
um die Mittagszeit das Zimmer betrat.

Die Frauen trugen ihre Trauergewänder mit einer leidvollen Anmut.
Die feinmaschigen Schleier gaben den Gesichtern den Ton der Blässe,
doch schweiften unter dem Gewebe die Augen Julianens forschend umher,
während das Gefunkel in Antoniens Blicken von scheuem Schrecken
gedämpft wurde.

Angela Freydag schlug die Augen zu ihnen auf. Jetzt erst wurde sie
inne, daß sie ihr Alltagskleid noch nicht getauscht, daß sie die
äußeren Zeichen der Trauer noch nicht angelegt hatte. Sie erwiderte
die geflüsterte Begrüßung der Frauen durch ein Neigen des Kopfes und
streckte den beiden Knaben die Hände entgegen.

»Guten Morgen, Tante Engel,« sagten die Knaben leise und schmiegten
sich trostsuchend an sie.

»Ihr kommt, um euch vom Großvater zu verabschieden?« fragte sie still
und freundlich. Und sie nahm sie bei den Händen und führte sie an das
Kopfende des aufgebahrten Sarges. »Prägt euch sein Bild ein, Martin
und Nikolaus. Kein besserer, kein tapferer und ritterlicherer Mann hat
je gelebt.«

Die hochaufgeschossenen Jungen standen in ihren Schulanzügen mit
einem Trauerflor am Arm und zwangen sich zur Männlichkeit. Aber der
Aufruhr der Gefühle tat sich in den zuckenden Mundwinkeln kund, und
die Augenlider färbten sich feuerrot, feuchteten sich heiß und ließen
langsam schwere Tränen niedertropfen, die schimmernd auf des Toten
Händen haften blieben. Und durch Angela Freydags Seele zog die erste
wehmütige Freude.

Juliane trat heran und schob die Knaben zur Seite Sie warf den
Schleier zurück, hob die Arme und öffnete den Mund zu einem Schrei.
Angela Freydags Hände drückten die erhobenen Arme nieder, und der
Schrei erstarrte.

»Wir wollen seine Ruhe nicht mehr stören, Frau Juliane. Er hat sie um
uns alle verdient.«

»Sie wollen mein Unglück doch nicht zum Vorwand nehmen, mich für
seinen Tod mitverantwortlich zu machen.«

»Ich sprach wohl von uns allen. Es mag sich jeder seinen Teil
herauswählen.« Sie wandte sich um, und ihr Blick haftete auf der
scheuen Antonie. »Treten Sie näher, Frau Vanderwelt. Auch von Ihnen
nimmt der Tote seinen Abschied.«

Antonie Vanderwelt wehrte mit den Händen. Ihr Blick hatte den Toten
nur gestreift, er heftete sich mit dem Ausdruck unerklärlicher Furcht
auf die steinernen Züge der Frau, die sie an die Seite des Toten
befahl. Und von einem Weinkrampf geschüttelt, mußte sie von Thomas
Vanderwelt aus dem Zimmer geführt werden.

Angela Freydag deckte das Tuch über das Antlitz des Toten.

»Nun können wir gehen,« sagte sie. »Was noch zu besprechen ist,
besprechen wir am besten in einem anderen Raum.«

Im Arbeitszimmer trafen sie Thomas Vanderwelt und seine in Stößen
aufschluchzende Frau. Mit schmalgepreßten Lippen ging Juliane auf den
Bruder zu.

»Wir werden jetzt die Begräbnisanordnungen treffen, Thomas. Es
dürfte sich vielleicht empfehlen, daß ich bis zur Erledigung der
Hinterlassenschaftsgeschäfte im Hause wohnen bleibe.«

Mit blutrotem Kopf blickte der Bruder auf Angela Freydag, die wortlose
Zuhörerin war.

»Ich bitte, meine Schwester zu entschuldigen. Ich bitte sehr darum.
Der unerwartete Todesfall scheint sie um die Besinnung gebracht zu
haben. Die Hinterlassenschaft steht in dieser Stunde gar nicht zur
Besprechung. Und was die Anordnungen zum Begräbnis betrifft, so liegen
sie in Händen, denen wir nicht genug danken können.«

»Ich bitte, in allen Dingen befragt zu werden,« beharrte Juliane
scharf.

»Ich fürchte, liebe Schwester, daß nicht allzuviel zu befragen
übrigbleibt. Augenblicklich befindet sich noch der Herr im Haus, wenn
auch mit geschlossenen Augen.«

»So wollen wir den Wortlaut der Traueranzeigen festsetzen und die
Listen aller --«

»Es ist nicht im Sinne des Vaters,« unterbrach sie der Bruder.
»Die Anzeige in der Zeitung muß uns genügen. Ich habe sie bereits
aufgestellt und abgegeben, Juliane.«

Die Schwester fuhr zornig auf.

»Du hast dich gut beraten lassen, lieber Thomas. Das mag bei kleinen
Leuten von Nirgendwoher der Brauch sein, in unseren Kreisen hat man
sich an die vorgeschriebenen gesellschaftlichen Formen zu halten und
nur danach zu handeln.«

Thomas Vanderwelt trat dicht auf sie zu. Seine Lippen bebten vor Scham.

»Wir ~sind~ kleine Leute. Vergiß das nun nicht mehr und richte
dich danach ein.«

Julianes Augen liefen mit hungrigem Ausdruck vom einen zum anderen.
»Und Sie?« fragte sie die steinerne Zuhörerin schroff. »Was sagen Sie
dazu, da Sie doch nun mal unserer Beratung beiwohnen?«

»Ihr Bruder«, sagte Angela Freydag, »hat als Oberhaupt Ihrer Familie
vorläufig alle Bestimmungen zu treffen.«

»Oberhaupt! Er ist es ja nicht einmal in -- Nun ja. Vorläufig, haben
Sie gesagt. Vorläufig mag es dabei sein Bewenden haben.«

Angela Freydag blickte den Sohn Kornelius Vanderwelts an. Seine
zusammengesunkene Gestalt reckte sich ein wenig.

»Der Sarg wird heute abend in die Friedhofskapelle überführt. Die
Beisetzung findet übermorgen nachmittag statt. Wer irgendwelche
Wünsche und Fragen hat, möge sich voll Vertrauen an Frau Engel wenden.«

»Du meinst wohl an Fräulein Freydag, lieber Thomas.«

»Nach deinem Belieben, Juliane. Du wendest dich also an Fräulein
Freydag.«

Er trat auf Angela Freydag zu, beugte sich lange nieder und küßte ihr
die Hand.

»Auf Wiedersehen am Abend, Engel. Ich werde pünktlich zur Stelle sein.
Vielen Dank.« --

Gegen Abend fuhr der Totenwagen vor das Haus, lud seine Last ein und
fuhr von dannen. In einem geschlossenen Gefährt folgten ihm Angela
Freydag, Thomas Vanderwelt und die beiden Knaben. Vor dem Friedhofstor
harrten die Träger mit der Bahre. Hinter dem schwankenden Brette her
schritten die vier Menschen. Und sie blieben, als die Träger gegangen
waren, wohl noch eine Stunde in der Kapelle und kränzten den Sarg mit
einem Gewinde aus Immergrün und allen dunklen Rosen, die Kornelius
Vanderwelts Garten hervorgebracht hatte.

Der Beisetzungstag kam. Und wieder fuhren sie denselben Weg, und
Juliane und Antonie fuhren mit ihnen. Da die Schleier der beiden
Frauen nicht gedrückt werden durften, kauerten die beiden Knaben eng
aneinandergeschmiegt neben dem Fahrer.

»Es gleicht einer Bettelmannsbeerdigung,« tadelte Juliane heftig.
»Nun ja, wir brauchen uns wenigstens nicht vor einer großen
Teilnehmerschar zu schämen, denn in der Zeitungsanzeige war ja
wohlweislich die Stunde der Beerdigung weggelassen worden.«

Antonie Vanderwelt lehnte in der Ecke des Wagens, von den
Fenstervorhängen verborgen. Sie wünschte nicht, von ihren Freunden in
dieser Lage gesehen und beurteilt zu werden.

Angela Freydag entstieg als erste dem Wagen. Und es fiel Thomas
Vanderwelt, der ihr folgte, auf, wie hoch und voll ihre Gestalt
geworden war. Ihre Züge waren nicht zu erkennen. Dicht lag der
schwarze Schleier vor ihrem Gesicht.

War noch ein anderes Begräbnis für diese Stunde angesetzt? Der
Platz vor der Friedhofskapelle war gefüllt von Menschen. Spiegelnde
Seidenhüte mischten sich mit Schlapphüten und sonntäglichen
Schiffermützen. Es war ein Gewoge wie vor der Schifferbörse, wenn
Kornelius Vanderwelt mit jugendstarkem Schritt und hellen Augen die
Massen durchquert hatte, nur lautloser und ohne Kornelius Vanderwelts
anfeuernden Zuruf.

Und die Massen bildeten eine Gasse und ließen Angela Freydag
hindurchschreiten, wie sie einst Kornelius Vanderwelt hatten
hindurchschreiten lassen, und die Vanderwelt-Kinder und -Enkel gingen
vor ihr oder hinter ihr, sie wußte es nicht.

Sie wußte nur, daß diese Hunderte hier ~un~gerufen gekommen
waren, in Erinnerung an seinen Lebensübermut, in Ehrfurcht vor seinen
vollbrachten Werken, in Teilnahme an seinem Endkampf um Sein oder
Nichtsein des Hauses. Und eine Stimme in ihr sprach, und sie sprach
zu dem geliebten, schlummermüden Mann: »Kornelius, dies hier ist dein
Guthaben. In hunderten Gemütern. Nun ziehst du es ein, und was man
dir je auf die Schuldseite geschrieben haben sollte, es ist entlastet,
und das Guthaben bleibt und verzinst sich.«

Das aber machte sie über die Maßen froh und aufrecht in ihrem Schmerz,
daß er die Ungerufenen zu sich gezwungen hatte.

Die Träger hatten das Gestänge der Bahre ergriffen. In endlosen Zügen
folgten die Menschen zum Erbbegräbnis der Vanderwelts und umringten
es. Die Kinder und Enkel standen vor der offenen Gruft. Neben ihnen,
und doch wie auf einer Insel allein, die ehrfürchtig angestaunte
verschleierte Gestalt der Frau, die Kornelius Vanderwelts Leben aus
den Niederungen zu den einsamen Höhen begleitet hatte.

Und Angela Freydag sah trotz des schwarzen Schleiers alle, die
gekommen waren, und vergaß keinen. Sie hörte die Nachrufe der Werks-
und Handelsherren, der Börsenmitglieder und der Schiffergilde,
und das Niederrascheln ihrer Kranzgewinde. Sie sah die Herren der
›Erholung‹ unter ihrem Vorsitzenden und die Kumpanei aus den ›Fünf
Erdteilen‹ unter Führung des Matthes. Kapitäne und Partikuliers,
Rudersleute, Matrosen und Hafenangestellte. Und selbst die Bräute der
Matrosen gewahrte sie in achtungsvoller Entfernung, für die Kornelius
Vanderwelt so oft die Harmonika hatte spielen lassen. Es kam ihr gar
nicht in den Sinn, in die Gruft zu starren, die den Sarg aufgenommen
hatte. Sie mußte ja alle diese Dinge wissen, um sie ihm einst
berichten zu können. Das nur war es.

Und nun war es still.

Vom Friedhofstor tönte das Rollen der Wagen herüber, die die
Handelsherren und Werksleiter zu ihren täglichen Geschäften
entführten, von der Straße dröhnte noch der Schritt der abziehenden
Massen und verlor sich. Mit stolz geröteten, vom hindernden Schleier
längst befreiten Gesichtern gingen Juliane und Antonie ihren Kindern
voran zu dem harrenden Wagen, und nur Thomas Vanderwelt wartete auf
Angela Freydag, die noch einmal an die verlassene Gruft getreten war.

Sie hob den Schleier, und ihre Augen suchten irgend einen Punkt
irgendwo. Und nie vergaß Thomas Vanderwelt das hinreißende Lächeln,
das über ihr Antlitz zog.

Als sie ihren Abschied genommen hatte, ging er unhörbar fast auf sie
zu und bot ihr den Arm. Sie nahm ihn, und sie folgten den anderen und
fuhren mit ihnen in das vereinsamte Haus.

Die Knaben waren zu ihren Schularbeiten heimgeschickt worden. Die
Erwachsenen hatten ihre Anzüge geordnet, einen Imbiß genommen und sich
alsdann im Arbeitszimmer schweigend niedergelassen.

Das Schweigen wurde drückend, und Thomas Vanderwelt erhob verwirrt den
Kopf, als habe ihn jemand angerufen.

»Es bleibt nichts anderes übrig,« sagte er mit einem müden Seufzer,
»die letzten Willensäußerungen des Vaters müssen verlesen werden.« Und
er nahm den Schlüsselbund vom Schreibtisch und schloß die Tischlade
auf.

Sein Auge fiel auf den großen versiegelten Umschlag, der die
gesuchte Aufschrift trug. Seine Hände waren schwer und zitterten,
als er die Siegel vorzeigte und den Umschlag öffnete. Buchstaben
und Zahlen tanzten vor seinen Blicken. Es war Kornelius Vanderwelts
Rechnungsablage, die er in Händen hielt.

Und es ergab sich, daß das Vermögen verausgabt war, bis auf
weniges. Verausgabt für die Lebensführung der Kinder. Da standen
die Beträge, die Justus als seine Vermögensanteile vorweg erhalten
und in Abenteuern verschleudert hatte. Da standen die Beträge,
die Thomas hingegeben worden waren, um ihn und die Seinen über das
trübe Wasser zu halten. Da standen endlich die Beträge, die alle
anderen verschlangen, gezahlt für die Prahlsucht Julianens, für ihre
Wechselverbindlichkeiten, für die Ablösung ihres Sohnes und die
Abfindung der Beckenrieds. Was blieb, war das Eigentumsrecht an den
beiden verheuerten Frachtkähnen, an Einrichtungsgegenständen und ein
kaum nennenswerter Barbetrag.

Jeden Posten hatte Kornelius Vanderwelts sichere Hand gegen den
anderen verrechnet und die überschießenden Schulden der Tochter
wettgemacht durch die Übertragung der Frachtkähne und der noch
verbleibenden Einrichtungsgegenstände an den Sohn. Der Flügel,
Hans Deiters' Meisterbild, Noten und Bücher sollten Angela Freydag
ausgehändigt werden als ein kleines Zeichen des großen Dankes.

Die Verlesung war zu Ende. Mit fahrigen Händen suchte Thomas
Vanderwelt die Blätter zusammen. Sein Gesicht war weiß.

»Wir haben -- den Vater -- sehr enttäuscht,« murmelte er vor sich hin.

»Nein!« schrie Juliane auf. »Uns hat er enttäuscht! Uns! Uns!«

»Schweig stille, Juliane.«

»Weshalb soll ich stillschweigen? Weil ich in meiner Unwissenheit
Schulden gemacht habe? Jawohl! In meiner Unwissenheit! Wußte ich denn
anders, als daß der Vater ein großmächtiger Geschäftsmann sei und
Gelder über Gelder verdiene? Und daß er mich dem jungen Beckenried zur
Frau gab, weil er auch über die Beckenriedschen Vermögensverhältnisse
Bescheid wußte und sie glänzend für mich fand? Und jetzt? Das ist ja
alles nur ein Wahnsinn.«

»Wir werden alle arbeiten müssen, Schwester.«

»Ja, du! Als Inhaber der Firma! Wie hoch ist denn überhaupt die Firma
bewertet? Das steht nirgendwo geschrieben.«

»Deine Unwissenheit, Juliane«, sagte Thomas Vanderwelt, und der müde,
spöttische Ton wagte sich wieder hervor, »scheint sich nur auf solche
Dinge zu erstrecken, die dir Schaden verursachen. Aber der Gedanke an
die Bewertung der Firma braucht dir auch fernerhin den Schlaf nicht zu
rauben. Der Name steht nur noch auf dem Papier. Auf Einstampfpapier,
Juliane.«

»Was heißt das?«

»Es heißt, daß dein einstiger Gatte und dein einstiger Schwiegervater
nicht an Weichherzigkeit zugrunde gehen werden. Daß sie Geschäftsleute
und nichts als Geschäftsleute sind und den Abgang des unbequemen
Kornelius Vanderwelt von der Bühne dazu benutzt haben, ganze Arbeit zu
machen. Heute vormittag erhielt ich die Anzeige, daß der Mietvertrag
des Geschäftshauses für die Erben Vanderwelt nicht erneuert werde, daß
er vielmehr an die neugegründete Firma Beckenried Sohn übergegangen
sei, die sich auch die Kräfte der bisherigen Mitarbeiter gesichert
habe. Auf meine Mitarbeit wurde höflich Verzicht geleistet. Sie gilt
nun einmal nicht als Kräftezuwachs.«

»Thomas! Darum fehlten die Beckenrieds beim Leichenbegängnis.«

»Thomas ...« wimmerte Antonie Vanderwelt.

»Ich habe nicht das Geld,« erwiderte er ablehnend, »um das Geschäft an
anderer Stelle wieder flott zu machen. Ich werde mich als armseliger
Schreiber verdingen oder als Schiffer fahren müssen.«

»Und was -- was wird aus mir?« rief Juliane fassungslos.

»Du wirst so gut hungern müssen wie wir, liebe Schwester, wenn du ein
bißchen Arbeit nicht vorziehst.«

»Und wer -- wer wird unsere Wohnung bezahlen?«

»Leute, die kein Geld besitzen, werden die Wohnung aufs schnellste
räumen müssen.«

Antonie Vanderwelt wimmerte auf.

»Man wirft uns auf die Straße -- man wirft uns auf die Straße. In
welche Hände bin ich geraten!«

Mit halbgeschlossenen Augen, als wollten sie die anspringenden Bilder
von sich weisen, wandte sich Thomas Vanderwelt ab, und seine Kehle
schluckte mühsam den Ekel hinab. Und Angela Freydag sah, daß sie
alle versagten, die den Namen trugen, und keiner sich mühte, des
Vatersnamens würdig zu werden.

»Hören Sie mich an,« sagte sie, und ihre Stimme wollte nicht wärmer
werden. »Es ist ein furchtbarer Sturz, den Sie tun, und eine Probe
auf Ihre Lebensfähigkeit. Aber ich sehe einen Ausweg. Bleiben Sie
ruhig sitzen, Frau Juliane, ich bin erst beim Beginn und weiß nicht,
wie Ihnen das Ende bekommen wird. Und auch Ihnen, Frau Vanderwelt,
empfehle ich, auf jedes Wort achtzugeben. Es kommt darauf an, sich zu
sammeln und den Lebenskampf mit verkleinerten Mitteln aufzunehmen.
Mit stark verkleinerten Mitteln. Von ganz unten müssen wir nach oben.
Das hat ja auch der Vater gekonnt. Wenn wir uns und unsere Mittel
zusammentun und einer dem anderen unter die Achseln greift, muß es
gelingen.«

»Der Ausweg -- der Ausweg --« hastete Juliane.

»Ihre Wohnungen haben Sie nur durch den Zuschuß des Vaters halten
können,« fuhr Angela Freydag fort, als erstattete sie einen kühlen
Bericht. »Thomas hat zunächst als erwerbslos zu gelten. Der Verkauf
der Möbelstücke, die noch zurückgeblieben sind, dürfte die fünf
Personen Ihrer Familie vielleicht ein Jahr lang bei größter
Sparsamkeit über Wasser halten, wenn Sie keine Auslagen für die
Wohnung haben. Und diese Wohnung biete ich Ihnen.«

»Sie --? Uns --? Woher wollen Sie sie nehmen?«

»Ich habe mir durch meine Konzertreisen eine Summe ersparen dürfen.
Aus einer Laune heraus, die hier nicht zur Erörterung steht, wurde ich
Eigentümerin des Grundstückes ›Zu den fünf Erdteilen‹. Es ist nur eine
Gastwirtschaft zweiten oder dritten Grades. Aber für Anspruchslose
genügen die Zimmer, und Ansprüche sind wohl bis auf weiteres nicht
mehr zu stellen.«

»In eine Kneipe!« rief Juliane. »In eine Kneipe sollen wir!«

»In eine Matrosenkneipe!« rief Antonie und schüttelte sich vor Lachen.

Angela Freydag trat dicht vor die überreizten Frauen hin.

»Schweigen Sie,« herrschte sie sie an. »Schweigen Sie, oder, bei Gott,
ich lasse Sie verhungern.«

Da krochen die Frauen in sich zusammen, und ihr schrilles Lachen
erstarb in einem Wimmern.

»Hören Sie mich noch einmal an,« sagte Angela Freydag kalt. »Ich
sprach vorher von einem Jahr. Sie werden sich schon ohne mich keinen
Monat über Wasser halten können, wenn Sie erst -- Ihre Schulden
bezahlt haben werden. Ich will in Thomas Vanderwelt das Zutrauen
setzen, daß er ein Mann wird. Und von Ihnen verlange ich, daß Sie
sich einfügen und in sich selbst Wandel schaffen. Für Abenteuer öffne
ich das Haus nicht, sondern für die Besinnung. Von der Besinnung zum
Aufstieg ist dann nur noch ein Schritt. Hier meine Hand, Thomas.«

Thomas Vanderwelt hob die schwergewordenen Augenlider. Langsam legte
er seine Hand in die dargebotene. »Nun dürfen wir wohl gehen, Engel.
Die Erschütterungen häufen sich ein wenig.«

Noch am späten Abend sandte Angela Freydag das Mädchen zum Gastwirt
Matthes und ließ ihn zu einer Unterredung zu sich bitten. In der Nacht
fand die Unterredung statt.

»Ich bin die Besitzerin Ihres Hauses. Sie werden es von Ihrem Freunde
erfahren haben. Sonst gibt Ihnen das Grundbuch Auskunft. Weshalb
Kornelius Vanderwelt so handelte, ist seine Angelegenheit. Wir wollen
seine stillen Gründe achten und nie ein Wort darüber verlauten lassen.
Sie werden mich gleich verstehen. Ich übernehme die Wohnung, die
Kornelius Vanderwelt in den ›Fünf Erdteilen‹ mietete, für mich und die
Nachkommen Kornelius Vanderwelts, bis sie das Gehen und Stehen gelernt
haben. Sie rechnen dagegen die Zinsen auf, die Sie mir vierteljährlich
zu zahlen haben. Vielleicht kann ich mich auch sonst in Ihrem
Hauswesen nützlich machen.«

Den Gesichtszügen des Matthes war keine Überraschung anzumerken. Er
sprach, als setzte er eine Unterhaltung fort, die er vor Tagen mit
Kornelius Vanderwelt geführt hatte. »Die Gastzimmer stehen längst
leer. Die Ledigen un Jungen, die keine Bleibe haben, denken heut all
amerikanisch un verlangen fließend Wasser un sonst noch wat für ihre
Schlamperei. Selbst die Kneipe bleibt halb leer, weil ich dat Geld für
dat Gefiedel scheu' und bei der Harmonika geblieben bin. Wann woll'n
Sie einziehen? Für mich is et en Geschäft.«

»In nächster Woche. Sobald der Verkauf aller entbehrlichen Gegenstände
stattgefunden hat.«

»Abgemacht. Dat Sie sich mit der Nachkommenschaft einen bösen Packen
aufbürden, is Ihre Sache.« Er nickte ihr kurz zu, ging zur Tür und
wandte sich noch einmal nach ihr um. Seine Augen blinkerten. »Aber en
Staatsweib, dat sind Sie.«

In dieser Nacht verfaßte Angela Freydag ihre letztwillige Verfügung,
in der sie ihr Grundstück und ihre gesamte Hinterlassenschaft für den
Fall ihres Todes Thomas Vanderwelt, seinem Sohn Nikolaus und seinem
Neffen Martin unter Ausschaltung jedes anderen Erben überschrieb. Und
anderen Tages hinterlegte sie das Schriftstück bei dem zuständigen
Gericht.

Sechzig Jahre hatte Kornelius Vanderwelt erreicht, als er aus seiner
Kraft und seiner Liebe abberufen wurde, und Angela Freydag zählte
vierzig Jahre. --

Der Einzug in die ›Fünf Erdteile‹ war in den Nachtstunden vor sich
gegangen. Der Matthes war mit ein paar älteren Schiffern erschienen,
und die Arbeit war bald getan. Die Knaben hatten ein gemeinsames
Zimmer erhalten, Thomas Vanderwelt und Frau zwei weitere, und Frau
Juliane bewohnte wie auch Angela Freydag ein Einzelzimmer. Die Küche
des Wirtshauses war auch die ihrige.

Angela Freydag schritt durch die einfach eingerichteten Räume und
wies einem jeden sein schmales Reich an. Die Frauen waren kleinlaut
geworden, Thomas Vanderwelt zeigte sein altes, belustigtes Lächeln,
und nur die beiden Jungen freuten sich offen und arglos über das
romantische Zwischenspiel.

Angela Freydag hantierte zwischen dem geringen Hausrat, als wäre sie
in ihre Kindheit zurückversetzt und hätte für den abgehetzten Vater,
die ruhelose Mutter zu sorgen. In derbem Hauskleid verrichtete sie die
Arbeit, die keiner ihr abnahm oder erleichterte, und hatte alles von
sich getan, was an vergangene bessere Zeiten zu erinnern vermochte.
Sie wollte ganz sein, was sie war, und mehr als der Schein. Darum auch
hatte sie den Flügel hingegeben und das Bild und die Bücher bis auf
wenige, und das Geld auf die Sparkasse gelegt. Es war ihr letzter und
schwerster Abschied. Aber sie blickte auf ihre Hände, die arbeitshart
geworden waren und ungelenk für die hohen Anforderungen der Kunst, und
die Hände strichen langsam an den starken Hüften hinab, und sie freute
sich ihrer Stärke.

Es war kein Leichtes gewesen, das Mißtrauen der gedemütigten Frau des
Matthes zu besiegen, aber auch dies hatte sie vollbracht. Als sie der
alten Frau am Küchenherd stillschweigend die schweren Kessel aus der
Hand nahm und ihr zu einem kärglichen Aufatmen verhalf. Noch immer
schielte die Frau argwöhnisch nach der straffen Gestalt der neuen
Mieterin, bis Angela Freydag ohne ein Lächeln die Hand über das Herz
legte und zu ihr sprach: »Es ist für immer vergeben.« Seit dieser
Stunde war eine seltsame Freundschaft zwischen ihnen, die wenig Worte
machte.

Aber es lebte noch ein anderes Mitglied der Familie Matthes im Hause,
das nicht wortkarg war und sich mit dem ganzen Drang der Jugend an
Angela Freydag, die bald schon im Hause allüberall Frau Engel gerufen
wurde, anschloß. Es war das des Matthes Enkelin, das Kind seiner in
Düsseldorf verstorbenen Tochter, und da es keinen Vatersnamen besaß,
hieß es Magdalene Matthes. Die Zwanzigjährige war tagsüber auf einem
Handelskontor beschäftigt und verdiente sich, was sie brauchte, und
der Großvater Matthes mußte sein Schmälen unterlassen, da sie auf
Heller und Pfennig für Kost und Wohnung zahlte.

Das mutige Ding war voll Ansporn und Leben, und da das Leben mit
seiner Fülle nicht zu ~ihm~ gekommen war, so kam das Mädchen mit
seiner Fülle zum Leben, und es war nicht anders, als ob es Gott und
die Welt mit seinem Vorhandensein beschenken wollte.

»Lassen Sie mich Ihnen helfen, die Zimmer in Ordnung bringen, bitte,
Frau Engel. Dafür erteilen Sie mir in den Abendstunden ein wenig
Unterricht.«

»Worin sollte ich Sie wohl unterrichten können, Magdalene.«

»In allem, was ich brauche, um eine Frau zu werden wie Sie.«

»Dazu gehört nur ein wenig Mut und viel, viel Liebe, kleine
Schwärmerin.«

Sie schüttelte die Locken, und in ihre Mädchenstirn grub sich
die Falte des frühreifen Ernstes, die Angela Freydag wie ein
geschwisterliches Zeichen wiedererkannte. Wie oft war Kornelius
Vanderwelts Hand darübergeglitten.

»Ich bin keine Schwärmerin, Frau Engel. Nein, gewiß nicht. Ich weiß,
daß ich vor viele, harte Kämpfe gestellt bin. Aber ich bin jung und
kräftig und will mir meinen Glauben nicht verkümmern lassen.«

»Ich muß Sie einmal ganz schnell in die Arme nehmen,« sagte Frau
Engel. »Und nun helfen Sie in Gottes Namen.«

»Mut,« wiederholte das Mädchen. »Mut und viel Liebe ... Ich denke,
darin kann ich schon ein ganzes Teil Bestellungen entgegennehmen.« Und
sie machte sich mit lautem Gesang an die Arbeit.

Es war für Angela Freydag eine Wohltat, die frisch beherzte
Angreiferin um sich zu haben, denn die beiden Frauen Juliane und
Antonie rührten keine Hand, es sei denn für sich selbst und die
Ausschmückung ihrer Kleider, die sie verstohlen wieder hervorgeholt
hatten und in denen sie sich zum Abend in den Straßen wieder zu
zeigen begannen. Oft und öfter geschah es schon, daß die beiden
Frauen heimlich miteinander tuschelten und kicherten und jäh die
Gleichgültigen spielten, wenn Angela Freydag durch die Zimmer ging.

Einen Monat und länger hatte Thomas Vanderwelt mit der Auflösung der
noch schwebenden Geschäftsverbindlichkeiten zu tun gehabt. Sie hatten
sich ohne Schwierigkeiten vollzogen. Der gute Wille, der absterbenden
Firma Kornelius Vanderwelt die letzten Ehrenbezeigungen zu erweisen,
trat unverkennbar zutage, und ein Willensstarker hätte die freundliche
Meinung auszunützen verstanden und sich außer neuen Aufträgen wohl
auch die Leihsumme der fehlenden Betriebsgelder zu verschaffen gewußt.
Aber Thomas Vanderwelt war kein Willensstarker. Was an Willen in ihm
schlummern mochte, lag im Albdruck unter der Puderschicht, die vom
Wesen seiner Frau auf ihn hinübergeglitten war.

Ein paar Wochen noch ging er Tag für Tag hinaus, um sich eine Stellung
in den Schoß fallen zu lassen oder sich am Hafen nach seinen Kähnen
umzusehen, um mit Wilm über die Heuer der Fahrten zu verhandeln oder
ein anderes minder wichtiges Geschäft als Vorwand zu nehmen. Dann
blieb er, als die Herbstregen rauschten, mehr und mehr daheim und
erhob sich nur lauschend, wenn Antonie das Haus verlassen hatte, um
ihr hinter den Fenstervorhängen nachzublicken und ihr auf demselben
Wege zu folgen.

»Ich könnte Ihnen eine Stelle besorgen,« redete ihn an einem Abend,
als sie ihn allein traf, Magdalene Matthes ohne Umschweife an.

»Ich Ihnen auch, mein Fräulein. Aber ob sie für ein so stolzes
Fräulein gut genug wäre --«

»Das sind Kindereien, Herr Vanderwelt, die Ihnen schlecht zu Gesicht
stehen. Sie wollen natürlich damit sagen, daß für einen so stolzen
Herrn, wie den Herrn Vanderwelt, nicht jede beliebige Stelle passend
erschiene. Jede Stelle aber ist ein Sprungbrett.«

»Ich habe gegen Ihre Denkrichtung nichts einzuwenden,« sagte er und
lächelte freundlich zu ihrem flammenden Unwillen. »Sie scheinen mir
sehr begabt, und begabte Frauen zählen zu den Seltenheiten.«

Jetzt aber flammte sie ihn wirklich an.

»Wie Sie zu Ihren traurigen Betrachtungen über die Frauen kommen,
weiß ich nicht, und ob ich begabt bin oder nicht begabt bin, geht Sie
nichts an. Sicher aber ist, daß ich mir eine Gelegenheit zur Arbeit
nicht aus der Hand schlagen lassen würde und eher eine Meile liefe als
einen Schritt zurück täte.«

Sie wandte sich auf dem Absatz, und Thomas Vanderwelt schaute ihr
gedankenverloren nach, wie sie die Stufen der Treppe nahm und in ihrem
Zimmer verschwand.

»Ich glaube, er weiß nicht einmal, wie ich aussehe, der Sterngucker,«
eiferte sie, als sie Frau Engel ihren Bericht erstattet hatte. »Oder
er hält uns Frauen für so minderwertig, daß es den hohen Herrn eine
Zumutung dünkt, sich von einer Frau behilflich sein zu lassen.
Spottvogel, der.«

»Es kommt wohl auf die Frau an,« sagte Frau Engel. »Und nun haben Sie
genug geschimpft.«

»Geschimpft?« fragte sie bestürzt. »Ich wollte ihn doch nicht
beschimpfen. Dazu habe ich erstens nicht das Recht, und zweitens weiß
ich aus Erfahrung, daß Leute, die im Elend sind, ein ganz besonders
feines Ehrgefühl besitzen.«

»Sehen Sie wohl, Magdalene? Es ist noch nicht aller Tage Abend, und
wir wollen uns inzwischen tummeln.«

Während sie die Zimmer richteten und die Küche besorgten, plauderte
das frische Mädchen unverdrossen. Es erzählte von den Aufgaben, die
ihr im Geschäft gestellt worden seien und über welche Briefausdrücke
sie gestolpert sei, fragte eindringlich und ließ sich voll Eifer
belehren. Dabei überzog sie ein Bett mit festem Leinen oder
wusch das Gemüse unter dem Küchenkranen. Und wie die Fragen mit
Verstand gestellt wurden, so wurden die Antworten aus der Reife der
Lebenserkenntnis erteilt, und es wurde ein Unterricht, bei dem der
Geist des Mädchens alle Pforten öffnete und sich aus allen Pforten in
die Höhe schwang zu Angela Freydags Geist.

Wie oft war es Angela Freydag in diesen Wochen und Monaten, als wären
nur die Gesichter vertauscht. Als trüge das lernbegierige Mädchen die
Züge der jungen, lernbegierigen Klavierlehrerin und sie selbst stünde
als Lehrer an Kornelius Vanderwelts Statt. »Ich gebe deinen Reichtum
weiter, Kornelius,« sprach sie dann wohl für sich hin, »und heute
verstehe ich dein Wort, daß es nicht immer die blutseigenen Kinder
sind, die unsere Seele am stärksten beerben.«

Aber die schwermütige Anwandlung verflog, als wäre sie nie gewesen,
wenn Kornelius Vanderwelts blutseigene Enkel, wenn Martin und Nikolaus
schulentlastet die winklige Treppe hinaufgestürmt kamen und ihr mit
tausend Geschehnissen um den Hals flogen. »Heute hat der Martin ein
Gedicht auf den Großvater gemacht.« »Der Nikolaus hat geholfen und die
gute Hälfte daran.«

»Her damit, Jungens.« Und sie las die stammelnden Strophen.

Ihre Brust hob sich hoch. Ihre Augen funkelten. Nein, es war nicht
vergebens.

Ihr Gedanke schweifte zu den spielerischen Müttern, zu dem lässigen
Vater, der sich spöttelnd ein Kind der Zeit nannte.

Formte die Zeit die Menschen? Oder formen die Menschen die Zeit?
Nur die es versuchen, haben die Berechtigung, zu sein, und dieses
Jungdichtergestammel war über die Zeit erhaben.

»Ich wälze zwei rotbackige Äpfel in Teig und schiebe sie für euch in
den Ofen.«

Ein Jubelschrei aus zwei Kehlen -- und ein beschämtes Innehalten und
Verstummen.

»Schmeckt euch der Lohn zu sehr nach dem Alltag, Jungens? Hattet ihr
auf eine goldene Rose gerechnet?«

»Aber wir haben dich ja gar nicht angedichtet, Tante Engel. Das
Gedicht geht auf den Großvater.«

Da nahm sie die beiden Jungen mit einem herzlichen Lachen in ihre Arme
und an ihre Brust.

»Der Großvater oder ich. Das ist in der Dichtung ein und dasselbe. Ob
wir leben oder gestorben sind.«

Der Knabenverstand erfaßte den Sinn der Worte noch nicht. Aber
die Augen glänzten vor Begeisterung, als die Bratäpfel in die
Ofenröhre geschoben wurden und alsbald ein süßes Duften von
Weihnachtsseligkeiten die Küche erfüllte. --

Für den Matthes aber war es gekommen, wie er es vorausgesagt hatte:
es war für ihn ein Geschäft geworden. Die Verzinsungen fielen für ihn
aus, und die Gastzimmer hatten ohnedies leergestanden und wurden nun
in Obacht und Pflege genommen. Darüber hinaus aber waltete die starke
Frau, die ihren Einzug gehalten hatte, in Küche und Haus, griff seiner
verängstigten Gesponsin nachdrücklich unter die Arme und scheute sich
nicht, wenn's not tat und die Kräfte der Alten versagten, unbeobachtet
in der Wirtschaft zu erscheinen und nach dem Rechten zu sehen.

»So eine wie die, Alte, wenn ich die gehabt hätt' un nich dich
Tränenkrug, die ›Fünf Erdteile‹ wären die erste Wirtschaft am Platz.«

Die Frau kniff erregt die Lippen ein und arbeitete ohne Widerrede
weiter und über ihre Kräfte.

Es war einmal gewesen, daß sie mit einer Handvoll Bierseidel
über einen Kautabak hingeglitten und zu Fall gekommen war, heftig
gemaßregelt von dem Groll des Wirtes und von den Gästen mit Hallo
begrüßt, als Angela Freydag die Wirtsstube betrat. Sie half der
Beschämten auf die Füße, führte sie hinaus und kehrte kühl an den
Schenktisch zurück. »Geben Sie her,« sagte sie zum Matthes.

Er blinzelte in den Tabaksqualm, füllte frische Gläser und schob sie
auf das Schankblech, als wäre nichts weiteres dabei.

»Wer hat bestellt? Wohl bekomm's. Sehen Sie, es geht auch mit der
Ruhe.«

Die Gäste blickten verdutzt auf die Frauengestalt in derbem Hauskleid,
räusperten sich und tranken.

»Schmeckt noch mal so gut,« meinte ein Witzbold.

»Mehr wird nicht verlangt,« antwortete sie und sah dem Manne in die
starrenden Augen, bis sein Blick quer ging.

Von diesem Abend an ging sie zeitweilig, wenn die Frau des Matthes
vor gichtigen Schmerzen nicht weiter konnte, als Stellvertreterin der
Ärmsten in die Wirtsstube hinunter und übernahm die Pflichten der
Wirtin. »Sie haben hier nichts, aber auch gar nichts verloren,« wies
sie das junge Mädchen zurück, das sich ihr hilfsbereit zugesellen
wollte. »Für Männer in Kneipenluft ist eine andere Verfassung am
Platz, als ich sie bei Ihnen wünsche. Diese Bekanntschaften hier
möchte ich Ihnen für Ihren zukünftigen Lebensweg erspart wissen.«

»Aber, Frau Engel, Sie sind eine Dame, und was und woher bin ich?«
erwiderte Magdalene Matthes angriffslustig.

»Sie stellen die Frage falsch, Kind. Nicht: ›woher bin ich?‹, ›wohin
will ich gehen?‹ muß sie heißen und nicht anders. Also belasten Sie
sich nicht mit Dingen, die Ihnen Ihren Weg versperren. Der meine war
schön und weist mich zur Beendigung hierher. Weshalb, das lassen Sie
meine Sorge sein.«

Das Mädchen ging verwirrt von dannen und suchte einen Entgelt darin,
daß es sich mehr als bisher um die Wünsche und Gewohnheiten der
Vanderweltschen Familie kümmerte und ihnen genugzutun sich mühte.

Stark und gefestigt saß Angela Freydag im Schatten des Schenktisches,
die aufglühende Tonpfeife als Freundin. Und sie behielt den Stiel der
glühenden Pfeife in der Hand, wenn sie am Schenktisch die gefüllten
Gläser entgegennahm und zu den Gästen trat. Stark und gefestigt saß
sie wieder auf ihrem Platze, und die voreiligen Witze der Männer
hatten sich in ein Murmeln der Befriedigung verwandelt.

Man war bei Mutter Engel. -- --

»Frau Engel, ich möchte Sie sprechen,« bat in den festfröhlichen
Wintertagen Magdalene Matthes. »Darf ich es sagen?«

»Sagen Sie mir getrost alles, was Sie auf dem Herzen haben. Wir sind
in meinem Stübchen und allein.«

»Sie sind vielleicht durch die Wirtsstube so oft in Anspruch genommen,
daß Sie es nicht bemerkt haben. Und es sind auch ganz gewiß nicht
meine Angelegenheiten. Aber die anderen dürfen doch nicht in die
Mäuler der Leute kommen.«

»Wer sind die anderen?«

»Nun, der Herr Thomas Vanderwelt und -- und -- die Prachtburschen, der
Martin und der Nikolaus.«

»Für die Frauen fürchten Sie nichts?«

»Ach, Frau Engel, die Frauen sind es ja gerade, die -- ja, wie soll
ich es Ihnen sagen? -- die so unvorsichtig sind.«

»Und Sie glauben, ich bemerkte das nicht, wenn ich in der Wirtsstube
sitze? Und Sie denken, weshalb ist sie hinuntergegangen und sitzt
nicht oben und hält die Augen auf? Weil ich denen da oben eine Frist
zur Besinnung gesetzt habe, Mädchen, und zusehen will, für wen es sich
da oben verlohnt, bevor ich an die Abreise denke.«

»Frau Engel,« rief das Mädchen mit erschrockenen Augen, »dann bricht
für die da oben alles zusammen.«

»Magdalenlein,« beruhigte Angela Freydag und strich ihr über die
heißgewordenen Wangen, »es ist noch nicht so weit, und ich hoffe auf
ein Wunder. Wenn auch das, was Sie mir zu sagen haben, nicht ein
Wunder voraussehen läßt.«

»Hätte ich doch nicht damit begonnen!« stieß das Mädchen über sich
selbst erzürnt hervor.

»Nicht so, Magdalene. Sie und ich, wir haben uns liebgewonnen, und
in der Liebe gibt es keine heimlichen Gedanken. Was Sie mir zu sagen
haben, kann nur die Bestätigung meines eigenen Wissens sein, und jede
klare Bestätigung reinigt die Luft. Sie helfen mir also auch mit
weniger schönen Wahrnehmungen.«

Das Mädchen hob den Kopf. Ihre tapferen Augen trugen den Ausdruck der
Entschlossenheit.

»Frau Engel, es ist nicht gut, daß die beiden Frauen allein gehen.
Ich sah sie nicht zum erstenmal in den Straßen, wenn ich abends aus
dem Geschäft kam. Heute wurden sie angeredet, und sie ließen es sich
gefallen und gingen mit den Herren in eine Tanzdiele. Es ist keine
angesehene Örtlichkeit, in die sie gingen, und sie wußten es wohl
nicht.«

Angela Freydag saß und hielt die verschlungenen Hände im Schoß. Aber
die Gelenke ihrer Finger knackten.

»Wollen Sie es den beiden Frauen sagen, Frau Engel? Bitte, sprechen
Sie doch.«

»Es ist die Sache Thomas Vanderwelts, Magdalene. Er hat für den Namen
Sorge zu tragen. Also sprechen Sie mit Thomas Vanderwelt, wenn das
Herz Sie treibt, und ich hoffe für ihn, daß Sie eine glückliche Stunde
haben.«

»Mit -- Thomas Vanderwelt? -- Und was hat mein Herz damit zu tun?«

»Das müssen Sie sich selber fragen. Oder auch nicht, wenn es Ihnen auf
Hilfe ankommt.«

»Ja,« sagte sie mit schwerem Atem, »es kommt mir auf Hilfe an. Gerade
bei ihm. Denn er ist im Grunde ein ganz anderer, als er vortäuschen
möchte.«

»Wer ist er denn? Ein unglücklicher Ehemann?«

»Ein schlaffer Mensch ist er. Ein Mensch, der den Aufschwung nicht
finden kann, weil er immer in den Schmutz stiert. Aber viel, viel
weicher ist er, als seine Spottsucht zugeben will und die wenigsten es
ahnen.«

»Vielleicht, weil er in Ihnen eine so gute Freundin gefunden hat. Und
nun gehen Sie zu ihm, Mädchen.«

Die erhitzten Wangen erblaßten ihr. Mit kleinen, scheuen Schritten
ging sie auf die ernstgewordene Frau zu, die sie in die Arme nahm.

»Ich habe einmal aus dem Munde eines ganz Großen gehört, der auch
nicht in den Gleisen althergebrachter Sitte lief: ›Ich habe das
Heilige angebetet in Gottes reichster Schöpfung. In der Liebe! Alle
reine Liebe ist eine Tugend, Kind. Und es steht kein Mensch so
niedrig, daß er sich ihrem Anruf entziehen könnte.‹«

Da ging sie und suchte Thomas Vanderwelt auf.

Er lag lesend auf dem Sofa, als sie zu ihm eintrat, und er behielt das
Buch in der Hand, als er erstaunt aufsprang und ihr entgegenging. Es
war still im Zimmer. Die Frauen spazierten in der Stadt.

»Soll ich mich durch Ihren Besuch geschmeichelt fühlen, Fräulein
Magdalene, oder das niederdrückende Bewußtsein auf mich nehmen, daß
es für ein junges Mädchen kein Wagnis bedeutet, mich in meiner Höhle
aufzusuchen?«

»Wenn ein ~Löwe~ in der Höhle steckt, mag es schon ein Wagnis
sein, Herr Vanderwelt.«

»Ich verstehe. Sie sind gekommen, um das festzustellen. Ich sah einmal
einen Löwen in einer Tierbude, der ließ sich an den Barthaaren zausen
und weinte.«

»Man hätte ihn aus der Tierbude herauslassen sollen, und die Zauser
hätten das Weinen gekriegt.«

»So hohen Ehrgeiz hatte der Löwe gar nicht. Er war zufrieden, daß er
gefüttert wurde und nicht in den Regen brauchte.«

»Dann hat der Löwe wohl Ehrgeiz und Ehre verwechselt, Herr Vanderwelt.
Das soll in der Gefangenschaft vorkommen.«

»Was wollen Sie?« fragte er mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln.

»Frau Engel behauptet, ich sei Ihre Freundin,« sagte sie furchtlos.
»Es kommt gar nicht darauf an, ob Ihnen daran etwas gelegen ist oder
nicht. Wenn ich Freundschaft für Sie fühle, so muß ich es Ihnen
beweisen, auch wenn es Ihnen unangenehm ist. Ihre Gattin, Herr
Vanderwelt, und Ihre Frau Schwester scheinen zuweilen den Löwen in der
Höhle zu vergessen. Das ist nicht gut, Herr Vanderwelt. Für Sie nicht
und für die Knaben nicht.«

Er trat hastig auf sie zu. Auf seinen blassen Wangen tanzten Flecke.

»Wissen Sie etwas Neues? Etwas, was ich nicht weiß? Ausgezeichnet. Wir
werden Gegenminen legen und sie verblüffen.«

»Haben Sie nicht richtig zugehört?« fragte sie staunend. »Es ist kein
schön Geschäft, die Angeberin zu spielen, und ich möchte es nicht
wiederholen.«

Seine fahrigen Hände hielten inne. Er besann sich, wer sie war.

»Meine Jagdleidenschaft ging lieber andere Wege. Das dürfen Sie mir
glauben. Der röhrende Hirsch. Der wetzende Keiler. Und das Leben
dransetzen, ihn auf die Decke zu kriegen. Aber wir sind kleine Leute
und dürfen nur heimlich mit dem Frettchen auf die Karnickeljagd. Man
gewöhnt sich daran. Es kann eine Leidenschaft werden. Da treiben die
geschmeidigen Tierchen ihren verliebten Unfug in allen Hecken. Husch,
sind sie im Bau und lachen sich eins. Und Sie lassen das Frettchen
hineingleiten, und nun ist das Lachen an Ihnen, wenn die lieben
Tierchen mit gesträubtem Haar aus den Röhren herausgefahren kommen.
Ihnen in den Sack.«

»Herr Vanderwelt, hat Ihnen noch nie ein Mensch gesagt, daß die
Frettchenjäger und die Hundefänger ungefähr auf der gleichen Stufe
stehen?«

Ein Ruck ging durch seinen Körper. In seinen Augen blitzte es drohend
auf. Sie aber freute sich der Drohung.

»Sie sind eine Frau,« sagte er und mühte sich in die Gelassenheit
zurück. »Mit den Begriffen einer Frau soll man nicht rechten, und
wir wollen den Gesprächsstoff wechseln. Übrigens sind Sie eine sehr
hübsche Frau, oder Fräulein, wenn Sie das lieber hören. Schlank und
voll geschwungener Linie, wie die Wiener Rokokofiguren, die ich
besonders liebe. Mit der hellen Haut und dem hellen Haar der Frauen
von Geblüt. Ich meine, wenn Sie sich strecken, müssen Sie mir gerade
bis an den Mund gehen.«

»Loslassen. Oder ich schlage Sie ins Gesicht.«

»Gern?«

»Gern?« wiederholte sie, aus der Fassung gebracht, und fühlte seinen
Arm nicht mehr. »Man schlägt doch einen Menschen nicht gern ins
Gesicht?«

»Sicherlich nicht, wenn man vorgibt, eine Freundin zu sein.« Und er
beugte sich über sie und küßte sie auf den Mund.

Sie setzte sich nicht zur Wehr. Sie streifte nur ruhig seine Arme von
sich ab und trat einen Schritt zurück.

»Herr Vanderwelt, mein Mund ist kein Freiweideland. Mein Mund, das bin
ich! Und wenn Sie wieder einmal Hunger oder Durst nach ihm bekommen
sollten, so vergessen Sie nicht, daß Sie als Zahlung sich selber
mitzubringen haben, oder doch das, was das Beste an Ihnen sein sollte,
den Mann.«

Und sie war hinaus, bevor er sich den Sinn ihrer Worte gedeutet hatte.

Angela Freydag saß vor ihren Büchern und rechnete, als Magdalene
Matthes leise bei ihr klopfte. Und sie errechnete noch ein Vierteljahr
der Frist für die feiernden Hände derer, für die sie Sorge trug. Ihr
Blick kam aus weiten Fernen zurück.

»Haben Sie eine glückliche Stunde angetroffen, Magdalene?«

»Er hat mich geküßt, Frau Engel.«

»Geküßt? So tief ging sein Dank für Ihre Freundeshilfe?«

»Ach, Frau Engel, ganz außerhalb meiner Freundeshilfe hat er mich
geküßt. Wie man ein kleines Mädchen küßt, das ein Gedicht aufgesagt
hat, oder ein größeres, mit dem man schon eine Liebelei anfangen
möchte. Nicht so finster blicken, Frau Engel. Ich bin vergnügter
herausgekommen, als ich hineingegangen bin. Denn ich habe ihm über
seine hohe Mannbarkeit die Leviten gelesen, daß ihm der Spiegel im
Zimmer zuwider sein muß.«

»Hüt' dich, Thomas,« sagte Angela Freydag vor sich hin.

Stark und gefestigt saß sie auch am heutigen Abend am Schattenplatz
der Wirtin, die Arme aufgestemmt, die glühende Tonpfeife zwischen
den weißen Zähnen. Schimmernd lag ihr die Haarkrone um den
schöngebliebenen Kopf, der heute voll dunklen Sinnens war.

Der altgewordene Matthes kam vom Schenktisch. Er zwinkerte mit den
Augen über sie hin und sah das Weiße ihres Armes aus den Ärmeln
blinken. Wie versehentlich ließ er seine Hand an das Weiße streifen.
Sie nahm die Pfeife aus dem Mund und lächelte ihn so fern und seltsam
an, daß es den Mann überlief. Und senkte den glühenden Pfeifenkopf auf
seinen Handrücken.

Ein paarmal blinzelte er. Dann wandte er sich schwerfällig um und
verließ das Zimmer. Ein hellhörig Schweigen blieb hinter ihm, und
die Gäste hockten wie ein verhagelt Hühnervolk auf den Stühlen und
schielten nach der Frau. Der Matthes kehrte zurück. Er trug ein nasses
Tuch um die Hand und stellte sich wortkarg hinter den Schenktisch. --

Die Feierabendstunde schlug, und die Gäste erhoben sich und verließen
die Wirtsstube. Aber ein jeder rückte, was sonst nie der Brauch
der Männer gewesen war, vor der gelassen weiterrauchenden Frau die
Schiffermütze, und ein jeder sprach: »Gute Nacht, Mutter Engel.«

Draußen im Gang schloß der Matthes hinter dem letzten die Haustür.
Dann schlurften seine Schritte die Treppe hinauf.

Auf der nächtlichen Gasse zogen ein paar Mädchen vorbei und sangen ein
Lied.

Angela Freydag hob den Kopf, um den Sinn zu ergründen.

Sie sangen von der Sehnsucht.




                                  11


Es ging bergab mit den ›Fünf Erdteilen‹. Es gab lustigere
Schankbetriebe im mächtig sich dehnenden Hafengebiet, und das
arbeitende Volk war über die weißgescheuerten Tische, die Bierseidel
und Genevergläschen hinausgewachsen und verlangte nach anders
gearteten Genüssen als dem Gedudel der Harmonika. Noch war eine
ältere Stammgemeinde treugeblieben, aber als auch die sprichwörtlich
gewordene Grobheit des Matthes keine Funken mehr schlug und
einzuschrumpfen begann, weil ihr die Hauptzielscheibe, die ein Leben
lang verängstigte Frau, vor Augen fehlte, rückten auch die alten
Kunden in verlegener Langeweile auf ihren Sitzen, und nur hier und
dort klatschten noch die Skatkarten auf die Tischplatten.

Der Matthes alterte zusehends. Von einer Erkältung konnte er sich
schwer erholen, und der vierschrötige Mann schlich wie ein Schatten
umher. Aber noch wollte er nicht zugeben, daß seine besten Trümpfe
ausgespielt wären, und er nörgelte mehr als je in Haus und Betrieb
herum, bis ihn ein neuer Anfall aufs Lager warf.

Angela Freydag sah alles und sah mehr. Sie sah, wie die
niedergedrückten Lebensgeister der alten Frau sich heimlich zu regen
begannen, je mehr sie bei dem alten Manne zu versagen drohten, wie
die Alte sich zusammenraffte, als hätte sie noch etwas vom Leben
nachzuholen, was ihr einen Entgelt bieten müßte für alle Stöße und
Schläge des Daseins. Die alte Frau stand von ihrem Lager auf und
übernahm die Pflege des Mannes.

»Es geht nicht an, Engel,« sagte Thomas Vanderwelt, »daß du auch
noch die Geschäfte der Matthesleute auf deine Schultern nimmst und
vor den Gästen die Wirtsmutter spielst. Ich sage es nicht, weil ich
mich meiner eigenen Unfruchtbarkeit schäme. Ich bin eine taube Blüte,
über die nicht viel mehr zu reden ist. Ich sage es, weil ich an den
Vater denke und an sein Entsetzen, seinen Angela-Engel in solcher
Gesellschaft zu sehen.«

»Beruhige dich, Thomas. Der Vater würde sagen: Der Angela-Engel wird
schon wissen, was er will.«

»Darf ich es auch wissen, Engel?«

Sie säumte an einem Handtuch, und er setzte sich grübelnd zu ihr und
ließ das derbe Leinen durch seine Finger gleiten.

»Was ich will, Thomas? Feststellen, ob es sich lohnt, uns keinen
Augenblick eher aufzugeben.«

»Ob was sich lohnt, Engel? Meine Gedanken sind seit einiger Zeit nicht
mehr bei der Sache, und du mußt ihnen schon zu Hilfe kommen.«

Sie senkte die Arbeit in den Schoß und blickte forschend über ihn hin.

»Eine Frage an dich, Thomas, bevor ich antworte. Wo sind deine
Gedanken seit einiger Zeit?«

Er prüfte das Leinen weiter zwischen seinen Fingern, als wäre es ihm
wichtiger als die Frage.

»Ach, Engel, ich gefalle mir mal wieder in Übertreibungen, das ist
alles. Gedanken! Als ob ich andere Gedanken hätte als ein abgeblaßter
Papagei im Käfig.«

»Unterlaß mir zuliebe die weltschmerzlichen Bilder. Sag' mir, ob es
noch einen Funken geben kann, der dich aufrüttelt?«

»Einen Funken mag es schon geben. Aber ob dieser traurige Rest wert
ist, aufgerüttelt zu werden --«

»Der Rest kann das Beste enthalten. Das Pulver, das sich entzündet und
die Kugel aus dem Lauf treibt.«

»Es lohnt nicht, Engel. Ich habe in der letzten Zeit viel darüber
nachgedacht.«

»Woher willst du müder Mensch wissen, was sich lohnt und was sich
nicht lohnt? Welche Versuche geben dir das Recht dazu? Hast du alle
Möglichkeiten ausgeschöpft? Bist du jeder Betätigungsmöglichkeit
nachgegangen? Ja, es ist richtig, ich habe vorhin dieselben Worte
gebraucht, und du hast mich nach ihrem Sinn gefragt. Den will ich
dir jetzt gern offenbaren. Dein Vater Kornelius Vanderwelt, Thomas,
würde deshalb sagen, der Engel wird schon wissen, was er will, weil
er die großen Ziele sah, das Werk und nicht das Handwerkszeug. Es
würde ihm nicht einfallen, zu fragen, ob es ehrenvoller ist, Bier zu
verkaufen oder Kohlen zu fördern oder Schiffe zu befrachten. Wenn er
das eine oder andere nicht gerade vermocht hätte, so hätte er das
dritte oder vierte getan und den zupackenden Mann gewertet und nicht
den überheblichen Kastengeist, der sich auch nur eine Sekunde besinnt,
ob der Handel mit Stahl und Eisen vornehmer sei als der mit Guano.
Die Art des Mannes ist vornehm, nicht die Art seiner Betätigung.
Das solltet ihr jungen Menschen endlich lernen, die ihr euch ein
funkelnagelneues Geschlecht dünkt.«

»Du selber sprachst davon,« sagte Thomas Vanderwelt nach einer
stummen Weile, »du wolltest feststellen, ob es sich lohnt, uns keinen
Augenblick eher aufzugeben. Wie soll ich das verstehen?«

Sie blickte ihn an und sah, daß sein Kopf wie eine schöne, welke Blüte
an ihrer Schulter lehnte. Und dennoch war es der Schmalkopf des
Vaters mit den breiten Wölbungen der Stirn.

»Thomas -- ich habe mir eine Zeit gesetzt. Es kann sich eine Sache als
so minderwertig herausstellen, daß ihre Beibehaltung eine Vergeudung
von Zeit und Kraft bedeuten würde. Ist der Punkt erreicht, so lege ich
nieder.«

»Was legst du nieder?«

»Die Sorge um den Nachruhm des Namens Kornelius Vanderwelt.«

»Liegt dir so viel daran?«

Sie nahm seinen Kopf mit beiden Händen, schob ihn von ihrer Schulter
und suchte finster in seinen Augen.

»Nicht sehr viel mehr -- wenn mich das der Sohn und Erbe fragt.«

»Und was würdest du tun -- wenn der letzte Punkt erreicht ist?«

»Abreisen,« sagte sie hart, und kein Zug in ihrem Gesicht zuckte.

Sie hörten nur ihren Atem noch. Den ruhigen der Frau, den immer
schneller werdenden des Mannes.

»Engel -- wenn wir anderen dir schon so minderwertig erscheinen, wie
wir es sind -- denk' an die begabten Jungen. Übereile nichts.«

»Denk' du daran, Thomas. Und beeile dich.«

»Ich bin so müde -- so elend müde -- --«

»Müde wird man nur von der Trägheit des Herzens. Reg' die Hände und
reiß das Herz mit. Es läßt sich so gern mitreißen.«

»Ach, Engel, die Hände. Sieh dir die Hände an. Es sind Knabenhände
geblieben.«

»Ist das ein Kunststück, Thomas, aus Knabenhänden Manneshände zu
machen? Manneshände für deine Person und für deine Familie? Glaubst
du, ich ränge mit dir und rüttelte und schüttelte dich, wenn ich
nicht doch noch die Möglichkeit sähe?«

»Zu meiner Familie gehört auch meine Frau.«

Sie zögerte keine Sekunde.

»Gibt es Hindernisse, so sind sie da, um beseitigt zu werden. Du
hältst das Heft zur Scheidung in der Hand.«

Sie wartete auf Antwort und sah, wie er in den Schultern fröstelte.

»Ach,« sagte er klagend, »was ist nicht alles aus meinem Leben
beseitigt worden. Der Stolz auf mich selbst -- und die Freude an der
Frau. Oder war die Reihenfolge die umgekehrte? Alles an Zweck und
Ziel war aus meinem Leben gestrichen, seit ich blindlings in diese
Ehe lief, Engel, und selbst das Jungferntum war aus der Mitgift
gestrichen.«

Angela Freydag spürte ihr Herz hart gegen die Rippen schlagen. Ihre
Nasenflügel weiteten sich.

»Man mag sagen, Thomas, das sei kein Gesprächsstoff zwischen uns
beiden. Aber er ist es doch, wenn es -- wenn es um eine Lebensrettung
geht. Was du soeben ausgesprochen hast, setzt dich ins Unrecht. Denn
du hast trotzdem die Ehe fortgesetzt. Jetzt aber sorge, daß Recht
wird. Nicht mehr vergeben. Nicht mehr! Sagen: das nächstemal -- aus!
Und die Faust hinter das Wort setzen. Aus!«

Ihre Hand zog einen Strich, ballte sich zusammen, fiel hart auf die
Tischplatte. Durch das Zimmer hallte ein Laut, als wäre hart eine Tür
ins Schloß gefallen.

Thomas Vanderwelt hatte sich erhoben. Ein paar Tropfen perlten auf
seiner Stirn. Er fühlte es, als er sich das Haar aus der Stirne
strich. Die nächsten Atemzüge stand er, als ob es um ihn herum
wirbelte, als ob er mit stoßenden Händen in den Wirbel hineinschlagen
müßte. Eine Welle hob ihn hoch und zeigte ihm Land. Eine Welle riß ihn
nieder.

»Engel -- hilf mir! Die Jungen -- die Jungen sind es wert.«

»Ich helf' dir. Dir und den Jungen und keinem anderen. Weißt du, was
helfen heißt? Nicht einen Ertrinkenden aus dem Wasser ziehen. Ihm den
Arm unter die Brust legen, damit er das Schwimmen lernt. Dann ist es
vorbei mit der Ertrinkungsgefahr.«

»Engel -- Engel! Als ich ein Knabe war und nicht lernen wollte, wie
du wolltest, hab' ich zum Schluß doch immer wieder nach deiner Hand
gehascht. Das möcht' ich auch heute. Deine liebe, liebe Hand möcht'
ich.«

Sie öffnete die Hand, die immer noch geballt vor ihr auf der
Tischplatte lag, und streckte sie flach auf den Tisch.

»Sie war einmal eine liebe Hand. Als dein Vater sie so nannte, Thomas,
und sie schön fand. Ja, das war. Jetzt muß sie so hart wie ein Hammer
sein, um eines Tages -- eines Tages -- wieder schön gefunden zu
werden.«

Er ergriff die Hand, und sie ballte sich schmerzhaft fest um die seine.

»Erst das erlösende Wort sprechen, Thomas, sonst wäre jede
Dankbezeigung ein rührseliger Unsinn.«

»Engel,« rang er mühsam hervor, »soll ich es ihr wie eine Kugel vor
den Kopf schleudern?«

Die Klammer ihrer Hand rührte sich nicht. Und er fühlte, daß sie die
Wahrheit gesprochen hatte, daß ihre Hände unerbittlich hart geworden
waren.

»Du kannst es ihr«, gebot sie, »in zwei Malen sagen. Das erste Wort
heißt: Bis hierher und nicht weiter mehr. Und das zweite Wort: Aus! --
Du kannst es auch deiner Schwester Juliane sagen.«

Noch einmal rüttelte er an ihrer Hand. Und sie sprach ganz langsam in
seine erregten Augen hinein: »Im Namen deines Vaters, Thomas.«

»Aus!« schrie er auf. Und er drückte sein Gesicht auf ihre Hand, und
sie ließ sie ihm.

Ärger hat nicht Jakob mit dem Herrn an der Wasserfurt gerungen, dachte
sie, bis der Herr ihn segnen mußte. -- --

Es ging nur langsam aufwärts in der Seele Thomas Vanderwelts. Seine
Lebenswelt war zu viele Jahre abwegig gewesen, und die Staubschicht zu
dick, als daß er sie mit wenigen Atemstößen hätte hinwegblasen können.
Sein Geist aber hatte die Schärfe der Dornen und Disteln, unter
denen er sich so lange zu Hause gefühlt hatte, und sah das Unschöne
schneller als das Gedeihliche. So tat er oft mißtrauisch die Schritte
wieder zurück, die er eben erst vorwärts getan hatte, und glaubte,
ein heimlich Grinsen zu gewahren, wo ihm ein ermunterndes Lächeln
entgegengetreten war.

An einem Vorfrühlingsabend begegnete er Magdalene Matthes auf der
Haustreppe. Sie wollte mit freundlichem Gruß an ihm vorüber, aber er
verstellte ihr den Weg.

»Weshalb haben Sie Ihren Besuch nicht wiederholt? Weshalb weichen Sie
mir aus? Fürchten Sie sich vor mir?«

»Ha,« sagte sie fröhlich, »ich wollt', ich könnt' es, mich vor Ihnen
fürchten. Dann erkennte ich doch Ihre Überlegenheit an. Aber ich will
gern wiederkommen, wenn Sie mir versprechen, mich gruseln zu machen.«

»Liebes Fräulein Magdalene, wollen wir wie ernste Menschen miteinander
reden?«

»Gern, Herr Vanderwelt, und damit Sie sehen, wie hoch ich Männer
achte, die ernste Gespräche führen wollen, bitte ich Sie in mein
Zimmer. Treten Sie ruhig ein. Ich befinde mich unter Ihrem Schutz.«

Er tat, wie sie es wünschte. Er trat ruhig ein und setzte sich an
den kleinen Fenstertisch. Dort stand ihr weißes Bett und dort ihr
Kleiderschrank, und er wartete geduldig, bis sie Jacke und Hut
abgestreift und in den Schrank gehängt hatte.

Sie saß ihm gegenüber und sah ihn ohne Verlegenheit an. Wie einen
guten Gast, der zu Besuch gekommen ist.

»Sie sind ein junges Mädchen von einundzwanzig Jahren, Fräulein
Magdalene. Sie brauchen sich nicht zu wundern, daß ich es weiß. Sie
waren zwanzig, als wir ins Haus zogen, und das ist bald ein Jahr. In
meinem Gedächtnis haben Nebensächlichkeiten leider immer die größte
Rolle gespielt.«

»Ja,« antwortete sie, »ich bin mündig geworden.«

»Und ich, Fräulein Magdalene, zähle vierunddreißig Jahre und kann das
letztere immer noch nicht von mir behaupten.«

»Sie können es nachholen, wann Sie wollen, Herr Vanderwelt.«

»Ich bin nur bei Ihnen eingetreten, um Ihnen zu sagen, daß ich will.
Nur finde ich das Wollen leichter als das Vollbringen, und ich schäme
mich nicht, mich mit Ihnen über das Wie und Wo zu unterhalten.«

»Ich verstehe Sie ganz gut, Herr Vanderwelt. Weil ich aus dem
Geschäftsleben komme, meinen Sie.«

»Ja, weil Sie mitten im Geschäftsleben stehen. Weil Sie bei all Ihrer
Lebenslustigkeit helle und ernste Augen haben, und weil mir mit den
billigen Redensarten vom ›Steineklopfengehen‹ und ›Sandkarren‹ nicht
gedient ist.«

»Ich freue mich ganz -- ganz unbändig über Ihren Besuch, Herr
Vanderwelt.«

»Ich werde mich ebenso unbändig mit Ihnen freuen, wenn etwas
Nennenswertes dabei herausgekommen ist.«

»Darf ich sprechen?« fragte sie.

»Nur um Sie zu hören, sitze ich hier in Ihrem Stübchen.«

»Herr Vanderwelt, nicht ungeduldig werden, wenn nicht alles über
Hals und Kopf geht. Und auch nicht grimmig werden, wenn ich die Dinge
beim rechten Namen nenne. Sie haben gelassen zugesehen, wie man Ihnen
ein Ruder nach dem anderen aus der Hand nahm, und ebenso gelassen
zugesehen, wie der Kahn von dannen schwamm und versackte. Nun heißt
es, ihn mit Geduld wieder heben und flott machen.«

»Geduld. Ich bin vierunddreißig Jahre und habe die Sorge für zwei
Knaben.«

»Das ist schön, daß Sie sie beide nennen. Aber das gehört jetzt
nicht hierher. Erst müssen Sie den Kahn heben, und dann können Sie
die Sitzplätze verteilen. Nun wollen wir einmal überlegen, Herr
Vanderwelt.«

Den Kopf in die Hände gestützt, blickte sie zum Fenster hinaus und die
Gasse entlang zum dämmerigen Hafendamm.

»Überlegen wir nicht schon seit einer halben Stunde?« murmelte der
Besucher.

Sie überhörte seine Ungeduld. Sie sann hinaus, als müßten aus dem
Nebel des Stroms die Bilder steigen. Und die Bilder stiegen wie
Schatten auf, und sie mühte ihr Hirn, den Schatten schärfere Umrisse
zu geben, und die Furche, die sich ihr in die Stirn grub, gab ihrer
Mädchenhaftigkeit das Gesicht einer reifen Frau.

Er saß mit zusammengelegten Händen und sah sie an. Und es wurde heller
und heller in seinen Gedanken, und mit Staunen wurde er gewahr, daß
seine Gedanken dieselben Wege gingen wie die ihren, seit sie das
Gleichnis vom Kahn gebraucht hatte.

»Sie meinen den Rhein?« fragte er leise.

Sie nickte. »Ich meine den Rhein. Ich meine ihn zu Berg und zu Tal,
von Mannheim bis Rotterdam, und so Gott will, darüber hinaus. Und ich
meine Ruhrort als den Hafen. Und wenn man nicht die Möglichkeit hat,
Kähne zu befrachten, so kann man -- so kann man sie steuern. Wenn man
Kähne hat.«

»Ich habe Kähne,« sagte er. »Ich habe zwei. Der Wilm hat sie geheuert.«

»Wir wollen den Wilm nicht vom Brote jagen. Frau Engel hält ihn hoch
in Ehren. Aber mir ist immer -- ist immer, als kämen von diesen Kähnen
Taue herüber an Land, an denen man an Bord klettern könnte. Und einmal
an Bord, geht man mit auf Fahrt und lernt das Handwerksgeschäft und
das Errechnen von Gewinn und Verlust und das Wiedereinholen jedes
Verlustes durch gewinnbringende Ausnutzung der Rückfrachten. Nein,
durch Ausnutzung der eigenen Persönlichkeit. Dahin, daß man in
persönlichen Verkehr zu den Kunden an allen Plätzen tritt. Dahin, daß
man sich die Kunden zu persönlichen Freunden gewinnt. Und aus dem
›Partikülier‹ wird der Verlader.«

»Ha,« rief er, »und aus dem Verlader wird der König von Ruhrort! Das
ist die Geschichte von der Eierfrau, die auf die Nase fiel.«

»Lassen Sie sie doch ruhig auf die Nase fallen,« erwiderte sie und
behielt die nachdenkliche Furche bei. »Wie ich die Eierfrauen kenne,
sind sie zäh wie die Katzen, und aus dem nächsten Korb Eier blökt
schon wieder das Kalb heraus. Es wird sich sicherlich nicht alles wie
an der Schnur abspielen, aber ein Herr Thomas Vanderwelt wird sich ja
auch nicht von einer Eierfrau in den Schatten stellen lassen, und wem
das Goldene-Pläne-Machen Freudenstunden bereitet, der muß auch die
Nackenschläge in den Kauf nehmen können.«

In seinen Augen wurde es heiter. Aber es war nicht die Heiterkeit der
Überlegenheit, sondern die währende Freude an der Stunde, von der ihr
Mädchenmund gesprochen hatte.

»Es sitzt sich gut bei Ihnen,« sagte er und rückte näher an den Tisch.
»Irgend etwas springt von Ihnen zu mir herüber. Was, weiß ich noch
nicht, aber ich glaube, es ist Ihr unbekümmerter Jugendmut.«

»Finden Sie nicht, Herr Vanderwelt, daß ›Wir mit den leeren Taschen‹
die glücklichsten Menschen von der Welt sind? Wir dürfen alles das
planen, was die anderen schon besitzen, und dürfen es viel schöner
noch planen, und wenn nachher nur ein Bruchteil davon in Erfüllung
geht, so bleibt es immer ein Gewinn und ein gewaltig schöner
Glücksfall.«

»Ja, ja,« murmelte er, »es hat seine Reize. Nur darf man den
Glücksfall nicht dem Zufall überlassen.«

Sie streckte ihm aus einem lebhaften Drange heraus über den Tisch die
Hand entgegen, und er nahm sie.

»Das ist es, Herr Vanderwelt. ~Dem~ Wort sind ~Sie~ auf die
Spur gekommen, und es bringt uns einen Sprung weiter. Von morgens früh
bis abends spät am Steuer stehen, jeden Wind ausnutzen, jede steigende
Wasserwelle. Und wäre es auch nur, um sich sagen zu können: ›Ich tat
meinen Teil‹, und damit die anderen sich sagen können: ›Auf den ist
Verlaß!‹«

»Ich möchte morgen früh beginnen, Fräulein Magdalene.«

Sie schüttelte seine Hand hin und her, als sollte er noch mehr
erwachen.

»Sie haben ja schon begonnen. Sie haben ja heute abend schon begonnen.
Und morgen früh ist Fortsetzung, und jeden Tag einen Schritt weiter.
Ach, Herr Vanderwelt, was für eine Freude werden wir von unserer
heimlichen Verschwörung haben.«

»Wir? Wollen Sie denn auch weiter mittun?«

»Natürlich will ich weiter mittun. Sie sind ja seit Jahr und Tag aus
dem Ruhrorter Geschäfts- und Hafenbetrieb heraus. Glauben Sie, der
hätte stillgestanden, seitdem Sie auf die Seite traten? Da kennen
Sie die Geschäftsgewaltigen von Duisburg-Ruhrort und was dazu gehört
schlecht. Ich bin nur eine kleine graue Maus in dem Riesenbetrieb,
aber gerade die Mäuse haben die feinsten Ohren, und es heißt nicht
umsonst bei wichtigen Anlässen: ›Könnt' ich da nur Mäuschen sein!‹«

»Mädel, Mädel, wo nehmen Sie nur den verteufelten Wagemut her?«

»Ich könnte sagen, Herr Vanderwelt: aus meinen leeren Taschen. Aber
das träfe den Nagel nur halb. Den besseren Teil nehme ich aus meiner
Liebe -- zu --«

»Zu --?«

»Zu Frau Engel, Herr Vanderwelt. Zu der Frau, die nur das hohe Ziel
kennt und sich darum nie erniedrigt. Und wenn sie Wäsche spülen müßte.
Solch ein Vorbild sollten Sie sich auch wählen.«

Er schwieg. Und nach einer Weile sagte er ruhig: »Ich möchte selbst
eins werden. Das scheint mir jetzt notwendiger.«

Sie waren aufgestanden, und die Worte fehlten zwischen ihnen. Er griff
nach dem Hut.

»Von morgen an gehe ich in den Hafen. Aber mit offenen Augen. Was ich
an Ballast führe, geht über Bord.«

»Von morgen an«, sagte Magdalene Matthes, »werde ich mit Ihren Augen
ins Geschäft gehen. Aber ich werde meine Kündigung einreichen müssen,
um vor mir selber nicht als Ausspäherin gelten zu müssen.«

»Ich verpflichte Sie hiermit als meine Buchhalterin, als meine
Schriftführerin, als die Gesamtheit meiner Mannschaft. Bis Ihre
Kündigungsfrist abgelaufen ist, muß an meiner Seite Platz für Ihre
Tätigkeit sein. Glückauf, Fräulein Matthes.«

»Glückauf, Herr Vanderwelt,« antwortete sie zukunftsfroh und drückte
ihm herzhaft die Hand. --

Angela Freydag sah ihn am nächsten Morgen das Haus verlassen und mit
gleichmäßigen Schritten dem Hafen zugehen. Und sie sah Magdalene
Matthes das Haus verlassen, und ihre Augen begegneten sich.

»Keine Sorge,« sprachen die Augen des Mädchens, »ich bin mit am Werk.«

»Halt aus, Mädchen,« sprachen die Augen der Frau. »Aushalten ist
Frauensache.«

Von diesem Morgen an kam eine Abgeklärtheit über Angela Freydag, die
sie nicht mehr verlassen sollte. Wie bisher sorgte sie für Haus und
Wirtschaft, aber zuweilen war ihr, als sei sie nur noch als Gast
geladen, dessen Besuchszeit in absehbaren Tagen abliefe, und sie übe
ihre Tätigkeit nur als eine Gegenleistung der Gastfreundschaft.

Kamen diese Gefühle zu ihr, und sie kamen immer öfter und heiterer,
so gab sie sich ihnen nicht träumerisch hin, sondern nahm sie als
Ansporn, das, was ihr in diesem Hause noch zu tun übrigblieb, mit
geschärfteren Sinnen zu durchdenken und den Hebel ihrer Persönlichkeit
mit gesteigertem Nachdruck einzusetzen.

Häufiger als in früheren Tagen pflegte sie die gemeinsame Kammer der
Knaben aufzusuchen, denn die Klingel in der Wirtsstube schlug am
Nachmittage kaum an, und die Versorgung des bettlägerigen Matthes
hatte sich die wiedererstandene Frau als ihr ureigenes Recht
ausbedungen, das die einst so Demütige mit giftigen Worten verteidigen
konnte.

»Ich hab' mit dem Mann noch meine Abrechnung. Geschenkt wird ihm nix.«

Angela Freydag hörte darüber hinweg. Was ging sie die Abrechnung
der Alten an? Sie hatte mit den Jungen zu tun. Und die Jüngsten der
Jungen waren die beiden Knaben, waren Martin und Nikolaus, die vor
fast einem Jahre das Gedicht an den Großvater, an Kornelius Vanderwelt
geschrieben hatten und ihren jungen Geist in die Höhe steigen ließen.

Zu Ostern, in wenigen Wochen, würden sie die Obertertiaklasse erobert
haben. Ein Jahr zu früh für den regelmäßigen Arbeitsgang und doch für
ihre begeisterungsfähigen Seelen nicht früh genug.

In Angela Freydags Augen waren sie beide mutterlos. Selten oder nie
hatte sie Frau Juliane oder Frau Antonie in der Kammer der Knaben
angetroffen, es sei denn, daß eine der Frauen mit wichtigem Auftrag
die Knaben aus der Arbeit aufschreckte und mit einem Brieflein durch
die halbe Stadt entsandte. Thomas Vanderwelt aber war nun dabei,
sich draußen im Hafen sein Floß zu zimmern, um den freien Rhein zu
gewinnen. Da blieb die Sorge um die Knaben Angela Freydag, und es war
ihre liebste Sorge.

»Was treibt ihr?« fragte sie, wenn sie beim Eintritt in die Kammer mit
Jubelgeheul bewillkommnet wurde.

»Setz' dich einmal nieder, Tante Engel. Hierher an den Tisch.
Nikolaus, wirf die Scharteken vom Stuhl. Sitzest du gut, Tante Engel?
Das Publikum muß in eine freundliche Gemütsverfassung gebracht werden.«

»Narren ihr! Sammelt die Schulbücher vom Boden auf und zeigt mir eure
Hausaufgaben.«

»Muß das sein, Tante Engel? Hat's nicht Zeit? Inzwischen verpufft die
ganze Begeisterung.«

»Recht so, Jungens. Da habt ihr die Probe aufs Beispiel, und die
haltet mir fest. Was verpufft, ist nicht echt und nicht lebensfähig.
Das schillert nur in allen Regenbogenfarben und zerplatzt.«

»Baus!« machten die Jungen und suchten ihre Bücher zusammen.

»Das Aufgabenheft brauche ich nicht,« sagte Angela Freydag und
schob es zurück. »Zwischen uns herrscht Vertrauen. Ich belüg' euch
ja auch nicht. Außerdem predigt euch euer heller Verstand, daß der
Wissende der Herr ist und der Unwissende der Knecht. So, das wäre die
Mathematik. Verstehe ich nicht, aber die Zeichnungen sind sauber.
Und das wäre das Latein. Verstehe ich auch nicht, aber es sind zwei
Seiten voll und wird wohl genügen. Und das -- das ist Griechisch, und
ich verstehe es noch viel weniger. Wollt ihr euch lustig machen, ihr
Sonntagsreiter?«

»Sonntagsreiter hat sie gesagt, Martin! Sonntagsreiter! In der Woche
braucht man den Klepper nicht, und Sonntags hoppelt man darauf herum.
Tante Engel, du hättest nur ~unsere~ Reihenfolge bestehen lassen
sollen.«

»Wißt ihr es denn nicht mehr aus eurer Kinderzeit? Erst mußtet ihr
den Lebertran schlucken, dann kam die Backpflaume als Belohnung.
Schmäht mir den Lebertran nicht. Er fördert den Knochenbau. Wie das
Lateinische und Griechische Verstand und Geist. Die Kunst aber ist die
große goldene Feierabendsonne.«

»Gilt sie nur für den Feierabend?« fragten die Knaben enttäuscht.

»Ihr habt mich mißverstanden, ihr lieben, heißen Jünger. Am Abend geht
sie auf und gibt die Kraft für die Nacht und den ganzen neuen Tag.
Damit der Mensch den Werktag durchhält und mit jeder Arbeit, die er
hinter sich bringt, der Freude näher kommt. Sonst müßte er ja glauben,
die Sonne am Himmel schiene nur für die Müßiggänger.«

»Schreib's auf, Nikolaus, für die nächste Nummer.«

»Es kann noch in diese, Martin. Wir machen den Leitspruch daraus. Los.
Ein jeder für sich.«

Der eine saß am Fensterbrett, der andere am Bettpfosten und strichelte
Buchstaben aufs Papier. Jetzt lief der eine zum anderen, und sie
verglichen die Blätter. Aus Rand und Band geraten, schlugen sie sich
auf die Schultern, hin und her. Die Prägung der Worte war fast die
gleiche geworden und bedurfte nur geringer Feilung.

»Erfahre ich nun bald,« fragte Angela Freydag, »was für Narrheiten ihr
treibt?«

»Tante Engel, du mußt unser Mitarbeiter werden. Wir verpflichten dich
feierlich. Eigentlich wollten wir es ja ganz alleine machen, aber
was wir nur unter Hochdruck zutage fördern, das sagst du so ganz
selbstverständlich daher.«

»Ist es wahr, Tante Engel, daß es ›geborene Künstler‹ gibt? Die ganz
und gar Kunst sind?«

»Ja, ihr Jungen. Es gibt Menschen, die aus ihrem bloßen Leben das
größte Kunstwerk gestalten. Sie sind noch seltener als die namhaften
Künstler, und Kornelius Vanderwelt, euer Großvater, war einer von
ihnen.«

Die Knaben kamen ihr näher. Ihre Augen leuchteten, als sie von ihrem
Vorfahren vernahmen, der ein so großer Künstler gewesen war. Es wurde
ihnen zumut, als ginge ein Schein von seinem stolzen Haupte auf ihre
Jugendlocken über.

»Tante Engel, du bist doch auch eine berühmte Künstlerin gewesen. Auf
dem Konzertflügel.«

»Ihr wollt mich wohl nicht ganz leer ausgehen lassen, wenn ihr an den
Großvater denkt?«

»Der Großvater und du, Tante Engel, das ist doch derselbe Begriff.
Seit wir denken können, haben wir euch immer zusammen gesehen, und
der Martin, als er noch ganz klein war, hat mich einmal gefragt, ob du
der Großvater seiest oder der große Mann da.«

»Tante Engel, es war der Nikolaus. Er wollte dich damals heiraten,
aber er wußte nicht, ob das anginge, da du doch der Großvater seiest.«

»Weil du die Piep rauchtest, Tante Engel.«

Angela Freydag saß zwischen Kornelius Vanderwelts Enkeln und ließ sich
die Jugendwogen warm und wohlig zu Herzen gehen. Ihre Hände griffen in
die blonden Schöpfe, ihre Augen lachten in die Knabenaugen.

»Muß ich nun zum dritten Male fragen, was es mit euren Heimlichkeiten
auf sich hat? Ich muß doch wissen, ob ich an einer Sprengbombe
mitarbeiten soll oder an Apollos Sonnenwagen.«

Die Knaben blickten sich an. Dann sprangen sie gemeinsam an den
Tischschubkasten und suchten einen Stoß geschriebener Blätter hervor.
»Mit der ersten großen Einnahme wird eine Schreibmaschine gekauft.
Natürlich eine ›gebrauchte‹,« erklärten sie beruhigend.

Angela Freydag nahm die Blätter entgegen. Ihr wurde froh und sogar ein
wenig feierlich zumute, als sie auf die beschriebenen Seiten blickte.
»Aus Sehnen und Leben« benannte sich die handschriftliche Zeitung,
die sie in den Händen hielt. Ob nicht der junge Kornelius Vanderwelt,
bevor ihn das Sehnen nach dem Leben auf die Weltmeere getrieben hatte,
auch eine solche Schülerzeitung gedichtet und geschrieben haben mochte?

Die erste Seite in zwei Spalten geteilt. Auf jeder ein Gedicht, beide
in genau der gleichen Verszahl. Links Martins, rechts Nikolaus' Name.

»Tante Engel, das war ein Spaß. Dort saßen wir, wo wir eben saßen. Der
eine am Fensterbrett, der andere auf der Bettkante. Eins -- zwei --
drei -- und los! Da schwirrten die Saiten. Der Martin war mit seinem
Gedicht zuerst zu Rande gekommen, dafür hatte es bei näherem Zuschauen
eine Strophe weniger als das meine, und er mußte eine Strophe
hinzudichten, damit auf der ersten Seite das schöne Gleichmaß bewahrt
blieb. Wieder 'ran an den Feind, und auf die Sekunde wurde er mit mir
fertig. Wie haben wir gelacht, Tante Engel!«

Und Angela Freydag dachte: Da sitzen sie in einem elenden Bauwerk,
den Himmel über sich und unter sich eine Schifferkneipe, und das Blut
bricht doch durch und schlägt vor lauter Freude Purzelbäume von einem
Stern zum anderen.

»Umblättern, Tante Engel,« drängten die jungen Dichter. Sie wollten
das Staunen genießen.

Ein Märchen folgte vom Rhein. Eine Erzählung aus dem Hafen.
Gleichnisse zwischen Schule und Freiheit, in denen die Freiheit
triumphierte. Ein Sportbericht wie ein schottisch Tuch, so bunt
überwürfelt mit Fachausdrücken. Eine Spalte voll rheinischen Humors.
Und dann der Briefkasten. Der Briefkasten, in dem unzähligen
Anfragern immer wieder aufs neue versichert werden mußte, daß die
Nummer wirklich nur fünfzig Pfennig koste, obschon noch keine Nummer
erschienen und noch kein Anfrager möglich war.

Die Kaufmannsader der Vanderwelts, dachte Angela Freydag. Sie hält auf
ihren Preis.

Unter den größeren Arbeiten prangten die Namen der Verfasser, die
geringeren waren mit ›Bischof‹ und ›Ruprecht‹ gezeichnet. Angela
Freydag wies mit dem Finger darauf. »Was bedeutet das?«

»Verstecknamen, Tante Engel. ›Bischof‹ bedeutet Martin, denn der
heilige Martin war ein Bischof, und ›Ruprecht‹ bedeutet Nikolaus,
denn der liebe, liebe Nikolaus läuft auch als Knecht Ruprecht durch
den Wald. Wärst du darauf gekommen? Ehrlich, Tante Engel.«

»Es sind prachtvolle Verstecknamen,« gestand sie, zog ihre Geldtasche
und blickte hinein. »Wie oft erscheint die Zeitung?«

»Monatlich,« sagten die Jungen atemlos.

»Bin ich euer erster Besteller?«

»Ja! -- Willst du bestellen?«

»Ich bestelle hiermit die Monatsschrift ›Aus Sehnen und Leben‹ auf ein
Jahr. Macht, soweit ich richtig rechnen kann, sechs Mark. Und da ich
euch nicht eines Tages mit dem Gelde auf und davon gehen möchte, so
erlege ich es in bar. Nehmt hin. Auf jeden Dichter kommt ein Taler.«

»Tante Engel! Tante Engel!« schrien die Jungen, vom Glück wie
benommen. Und warfen sich ihr an den Hals, saßen auf ihren Knien,
wiegten sich an ihrer Brust.

»Wollen wir es ihr sagen, Nikolaus?« flüsterte der Martin.

»Alles, alles, und wenn wir damit hineinfallen.«

»Tante Engel -- also -- du bist doch unsere Vertraute -- die Gedichte
von der ersten Seite, die haben wir an eine Berliner Zeitschrift
geschickt.« Und lagen wieder still an ihrer Brust und ließen sich
wiegen. -- --

Es war eine Woche später, als Angela Freydag die beiden Himmelsstürmer
unter strömenden Tränen fand. Sie taten keinen Klagelaut, aber die
Tränen bahnten sich auch lautlos ihren Weg, rollten über die Wangen
und zogen in den Schulheften trübselige Furchen.

»Ihr seid mir ja ein paar nette Sonnenanbeter,« tadelte sie die
Zerschmetterten. »Wie wollt ihr denn euere Leser an die Sonne in
eueren Gedichten glauben machen, wenn ihr selber das graue Elend
habt? Oder hat Berlin euch die Gedichte zurückgeschickt? Mein
Zartgefühl hätte das zuerst fragen sollen.«

»Berlin -- Berlin -- hat sie angenommen.« Und die Jungen lächelten
unter Tränen.

»Martin! Nikolaus! Wollt ihr wohl gefälligst die Schlappheit
unterdrücken? Seit wann steht ihr nicht mehr auf, wenn ich mit euch
spreche? Das Glück fällt euch in den Schoß, und ihr wollt euch hier in
Weltschmerz gefallen?«

Die Jungen waren aufgesprungen, purpurne Scham auf den Wangen.

»Entschuldige, Tante Engel. Entschuldige vielmals. Es soll nicht
wieder vorkommen.«

»Und weshalb ~ist~ es vorgekommen? Darf ich das als euere
vertraute Mitarbeiterin vielleicht erfahren?«

Die Jungen blickten scheu in die Zimmerecken. Ihr Knabentum vermochte
den Helden noch nicht zu spielen. Und der Blick wagte sich zu der
gebietenden Frau empor, die für sie nur die Güte gewesen war, und als
sie das Verständnis bemerkten, das sie ihrem Schmerze entgegenbrachte,
sprangen sie ihr an den Hals.

»Tante Engel, nicht wahr, das glaubst du nicht von uns, daß es
Geldgier wäre? Aber es war doch das erste, selbstverdiente Geld, und
wir wollten doch die gebrauchte Schreibmaschine dafür kaufen. Das
ist nun für ewige Zeiten aus und vorbei, und mit dem Bestellgeld für
die Zeitung können wir es nicht machen, weil wir auch das eingehende
Bestellgeld abliefern müssen.«

»An wen?«

»An die Mutter. An Tante Juliane.«

»Also an Frau Juliane. Ist das richtig? Und was hattet ihr von Berlin
eingenommen?«

»Denke dir, Tante Engel! Denk' dir doch nur! Zwanzig Mark für jedes
Gedicht! Zwanzig Mark, und zusammen vierzig.«

»Hei,« sagte sie, »das ist ein feiner Anfang, und ich muß euch
beglückwünschen. Der Rückschlag schadet nicht. Manche werden
überheblich, bevor sie erprobt haben, ob es Glück oder Verdienst war.
Manche denken, sie brauchten in Zukunft nur irgend etwas auf Papier
zu schreiben, was sich reimt, und es hätte Geldeswert. Der Künstler
muß durch das Leid hindurch wie der Titan durch die Schicksalswelt, um
seinen Adel zu spüren, aber so weit seid ihr gottlob noch lange nicht,
und ihr dürft noch um den verlorenen Groschen weinen.«

Sie sagte die Worte vor den Ohren der Knaben, leicht und launig und
schmerzstillend. Aber in ihrem Innern zog sich drohend eine Wolke
zusammen.

»Hüt' dich, Habgier und Eigennutz, die helleuchtenden Kerzen auf dem
Kindesaltar auszulöschen.«

Sie ging in das Zimmer, in dem die beiden Frauen beieinander saßen.
Kopf neben Kopf an das Fenster gepreßt, mit den Händen Grüße winkend.
Sie fuhren herum, als sie Angela Freydags Schritte vernahmen, wie auf
böser Tat ertappt.

»Was verschafft uns die Ehre?« fragte Juliane. »Gilt Ihr Besuch mir
oder meiner Schwägerin?«

»Er dürfte Ihnen beiden gelten. Aber da Herr Thomas Vanderwelt berufen
genug erscheint, die Angelegenheiten mit seiner Frau selbst zu ordnen
--« Frau Antonie erhob sich und verließ ohne aufzublicken das Zimmer
-- »so ist es mir recht, mit Ihnen allein zu reden. Ich habe mit einer
besonderen Art von Genugtuung bemerkt, daß Sie begonnen haben, der
starken Begabung der beiden Knaben Ihre Anteilnahme zuzuwenden. Diese
Anteilnahme äußerte sich vor allem darin, den Knaben ihre Einnahmen
wieder abzunehmen.«

»Vierzig Mark! Was sagen Sie dazu? Vierzig Mark für zwei Gedichte.«

»Das Geld ist Nebensache. Die Freude am Erfolg, der sich in dem Gelde
wie in einem Wertmesser auswirkt, ist die Hauptsache. Ich bitte Sie,
das zu bedenken und die Freudenquellen nicht zu verstopfen.«

»O nein! O nein! Wie sollte ich? Halten Sie mich für eine solche
Törin? Das Geld kam mir geradewegs vom Himmel gesandt, denn ich
brauchte ein Frühlingskleid wie das liebe Brot und konnte doch
nur mit einer Anzahlung aufwarten. Eine Frage noch. Es wäre mir
lieb, sie von fachmännischer Seite beantwortet zu hören, und Sie
gehörten doch auch einmal der Kunst an. Können sich die Einnahmen
der Jungen steigern lassen? Ich meine, können diese Nebeneinnahmen,
wenn die Jungen erwachsen und zu einem Hauptberuf übergegangen sind,
große Summen erreichen? Ich für meinen Teil werde ja doch meine
Unterhaltungspflicht eines Tages allein auf meinen Sohn übertragen
müssen und, wenn nicht alle Zeichen trügen, meine verehrte Schwägerin
auf den ihren. Da möchte man jede Möglichkeit, die Lebenshaltung zu
verbessern, ausnutzen und die Jungen beizeiten an die Trense nehmen.
Wie denken Sie als Fachmännin darüber?«

»Fühlen Sie nicht, Frau Juliane, wie Sie sich mit jedem Worte an dem
heiligen Geist Ihres Jungen versündigen? Und an dem des Neffen dazu?
Sind Sie so bar jedes Mutter-, Frauen- und Familiengefühls, daß Sie
die Begabung der Jungen, ganz gleich, ob sie auf kaufmännischem oder
künstlerischem Gebiet zum Ausdruck kommen sollte, nur an die Leine
nehmen möchten, um Ihren Wagen ziehen zu lassen? Nein, es hat keinen
Zweck, mit Ihnen darüber zu reden. An Ihrer Selbstsucht prallt
jeder Versuch einer Einwirkung ab. Seit Mädchenzeiten, Frau Juliane.
Aber daß Sie eine schwere Gefahr für die Enkel Kornelius Vanderwelts
bedeuten, das ist mir erst heute offenbar geworden.«

»Sie gestatten, daß ich mich aus dem Gespräch zurückziehe.«

»Nur aus dem Gespräch?« fragte Angela Freydag und schritt an ihr
vorüber. »Das scheint mir etwas zuwenig.«

Den ganzen Tag durchwanderte sie das Haus und wurde ihren vielen
Pflichten gerecht, und doch sah sie vor ihren Augen nichts als das
Bild der beiden Knaben, der flügelschlagenden, sonnendurstenden, und
alles Flügelschlagen brachte sie nicht höher hinauf, weil sie eine
Eisenkugel am Beine schleppten, und kein Sonnendurst wurde ihnen
gestillt, weil sie den unersättlichen Erdendurst anderer zu stillen
hatten und darüber verkamen.

Wie eine Wölfin durchwanderte Angela Freydag das Haus, und ihre Blicke
sonderten das Kranke von dem Gesunden.

Es waren noch andere Kranke im Hause als die durch die
Sumpfniederungen gleitenden Frauen Juliane und Antonie. Aber Angela
Freydag brauchte sie nicht zu sondern, denn sie hatten sich allein
schon abgesondert, wie Tiere tun, die ihre letzten ohnmächtigen
Zuckungen den Blicken des Tages entziehen. Der alte Matthes lag
hilflos auf seinem Schmerzenslager, und die alte Frau hielt die
Kammertür verschlossen und ließ keinen zu ihm.

»Einen Schnaps, Alte! Einen großen Schnaps, um über die höllischen
Schmerzen wegzukommen.«

»Du brauchst keinen Schnaps. Hättst du im Leben weniger getrunken,
hättst du jetzt die Schmerzen nich auszuhalten. Damals mußt'
~ich~ sie aushalten. Dat is die Strafe.«

»Willst du kuschen? Hol' den Schnaps her! Oder ich komm' dir an die
Naht!«

»Du? Ogottogott. Bekuck' dich doch mal im Spiegel un freu dich, dat
~ich~ dir nix tu.«

»O du niederträchtig Geschöpf. Un so wat hat man mehr als vierzig Jahr
neben sich geduldet.«

»So is richtig. Vierzig Jahr hab' ich nich mucksen dürfen, un jetz
hältst du et Maul un schläfst.«

Nicht Hand noch Fuß konnte der Matthes rühren und nur ohnmächtig mit
den Zähnen knirschen. Ob er wachte oder schlief, sie war da und das
Grinsen, das ihre Teilnahme ausdrücken sollte. Klapprig und ledergelb
schlurfte sie in der Kammer umher und versorgte ihn mit Speise und
Trank.

»Die Magdalene soll kommen.«

»Weshalb soll die Magdalene kommen? Die Magdalene hat Besseres zu tun,
als solch 'nen alten Kerl zu bekucken.«

»Die Magdalene soll kommen! Ich will meine Enkelin Magdalene an meinem
Bett wissen un nich dich Hexe du!«

»Du hast ja nich mal deine leibliche Tochter in deinem Haus wissen
wollen. Da hat auch die Tochter von der Tochter nix an deinem Bett zu
suchen.«

»Zwanzig Mark -- hörst du? -- zwanzig Mark an die Armen, könnt' ich
jetzt ~an~ dich.«

»Betrag dich anständig, dat et en Christenmensch neben dir aushalten
kann.«

Zuweilen kam der Arzt, verschrieb ein paar Pulver oder Tropfen und
lobte vor des Matthes Ohren umständlich die treue Pflegerin, die
selber sterbensmatt sei und dennoch nicht wiche und wanke in der Sorge
um den Gatten.

»Ein Engel des Herrn, Matthes. Ein Engel des Herrn.«

Er war gegangen, und nach kurzer Weile reichte Magdalene Matthes die
neu verschriebene Arznei durch den Türspalt in die Kammer. Der Kranke
verfluchte den Apothekerkram und befahl einen Grog.

»Is et nich einen widerwärtigen Menschen?« fragte die alte Frau, bevor
die Tür sich schloß.

»O du Satan!« schrie der Matthes und mühte sich, sich auf den Ellbogen
aufzurichten. »Tat ich nicht recht, dat ich dich zeitlebens unterm
Daumen hielt, du Satan? Dat Leben hättst du mir zur Hölle gemacht,
wenn et nach dir gegangen wär, o du -- Engel des Herrn!«

Die Alte zählte die Arzneitropfen in den Löffel und gab sie dem Gatten
zu schlucken.

Immer schneller schwand der Matthes dahin. Der Arzt erwartete nur noch
den Eintritt der letzten Lungenentzündung. Und die Alte saß an seinem
Lager, strich ihm die Kissen glatt, reichte ihm zu trinken, wischte
ihm die Stirn.

Der Matthes hielt sich gut. Er wollte dem Weibe den Triumph nicht
gönnen, ihn weinerlich gesehen zu haben. Einmal aber spannten sich
seine Mienen, horchten seine Augen und Ohren auf. Die alte Frau hatte
ein Lied zu singen begonnen.

  »Das menschliche Leben
  Eilt schnelle dahin.
  Wie die Räder am Wagen,
  Wie die Räder am Wagen.
  Wer weiß, ob ich morgen
  Am Leben noch bin.«

Da wußte er, daß seine Zeit gekommen war, nahm nicht mehr Arznei noch
kühlenden Trank, sondern sah dem Kaperschiff entgegen, das mit dunklen
Segeln aus den Nebeln heraus ihn ansteuerte.

Und das Seltsame geschah. Von der Stunde an, da der ins Wesenlose
entgleitende Mann der alten Frau nicht mehr bedurfte, kroch sie
auf das Lager neben ihn und war teilnahmlos geworden für Umwelt
und Geschehnisse. Sie verweigerte die Nahrung, sie gab auf Fragen
keine Antworten mehr, sie sah in der Nacht den Matthes sterben und
starb am nächsten Tage hinter ihm drein. Wie eine Frau, die ohne den
bewunderten Gatten nicht mehr leben kann noch mag.

Angela Freydag ging zu den Entschlafenen in die Kammer und verweilte
lange bei ihnen. Es war kein billiges Mitleid in ihr und keine
rührselige Regung über das Zufallspiel des Todes. Aber ihr war, als
ob mit dem Dahinschwinden der beiden alten Menschen eine Hemmung mit
dahingegangen wäre, und als ob die Rechnung, an der sie seit Tagen und
Nächten unablässig rechnete, leichter aufging.

»Hab' Dank für dein Sterben, Matthes.« Und sie nickte der alten Frau
nicht anders zu.

Die Wirtschaft blieb an diesem Abend und an den nächsten Tagen
geschlossen. Angela Freydag hatte in ihrer Stube den Besuch von
Magdalene Matthes erhalten, und es war eine Weile still zwischen ihnen
geblieben. Angela Freydag stand am Fenster und ließ die Blicke über
die dämmernde Frühlingslandschaft des Stromgebietes schweifen.

»Ich möchte Sie noch bitten, mir eine Frage zu beantworten, Magdalene.
Wahrheitsgemäß, wie es unter uns guter Brauch ist. Hat das Mitleid Sie
zu Thomas Vanderwelt geführt?«

»Ich glaube, daß es so war, Frau Engel.«

»Mitleid ist ein Trinkgeld, Magdalene. Große Menschen zahlen in großer
Münze. Es gibt nichts Ärgeres im Zusammenleben zweier Menschen als
den Gedanken, daß der eine vom anderen ein Trinkgeld angenommen habe.«

»Bitte, sprechen Sie weiter.«

»Ich habe nichts weiter mehr zu sagen, Magdalene. Eher einen Trunk aus
einem gemeinsamen Glase als Trinkgelder.«

»Ich antwortete Ihnen, als Sie fragten, Frau Engel: ich glaubte, daß
es Mitleid gewesen wäre. Seit ich Sie sprechen höre, weiß ich, daß ich
es mir nur vorgeredet habe. Aber Sie erlassen es mir gewiß, weiter
darüber zu reden, da ich mit mir selber noch nicht darüber gesprochen
habe.«

»Dann ist es gut. Wann erwarten Sie Thomas Vanderwelt?«

»Herr Vanderwelt muß jeden Augenblick das Haus betreten. Er wollte
noch eine Besprechung mit mir abhalten und die letzten Berechnungen
vornehmen. Er läßt nicht mehr locker, der Herr Vanderwelt.«

Thomas Vanderwelt kam die Treppe herauf. Er hörte die Frauen in
Angelas Stube sprechen, klopfte an und wurde hereingerufen.

»Ich freue mich, daß du vorwärts wirkst, Thomas. Nimm Platz und laß
uns plaudern. An welchem Ende willst du beginnen?«

»Rheinseitig, Engel, rheinseitig. Der Rhein weiß nicht, wer ich bin,
und wenn er es zu wissen glaubt, denkt er an einen waschlappigen Kerl,
dem man nicht einmal eine Frau anvertrauen könnte, geschweige denn
Frachten. Und die Leute am Rhein wissen es auch nicht besser. In ein
paar Tagen schwimmen meine Kähne. Der Wilm fährt den einen, ich den
andern. Der Vater verlangte ja die Schifferprüfung von mir. Und wenn
wir in die Häfen kommen, werde ich die Kundschaft besuchen und zu ihr
sprechen: Ich wollte euch nur zeigen, daß wieder ein Vanderwelt das
Ruder hält und Verlaß ist.«

»Und wenn du zurückkommst, Thomas?«

»Dann werde ich ein kleines Kontor aufmachen mit zwei Räumen. Wir
haben sie schon gemietet, Engel. Wie zwei kleine Kojen sind sie. Die
eine Koje für die Mannschaft, die andere für den Kapitän.«

»Ist das die Mannschaft?« fragte Angela und wies auf Magdalene Matthes.

»Das ist sie, Engel. Aber du mußt sie dir unter immer neuen
Verkleidungen vorstellen, wie auf einem Seeräuberschiff. Jetzt
stellt sie die Wache im Vorzimmer dar, die nichts tut, als die
vielen Besucher melden. Jetzt die Geheimschreiberin eines großen
Zechenwerkes, die mit ungeheuren Aufträgen eingetroffen ist. Jetzt die
Geschäftsbevollmächtigte, die in einem eigenen Zimmer haust, weil im
Gewühl des Hauptkontors --«

»Ich bin zufrieden, Thomas. Ein Kaufmann muß Erfindungskraft besitzen
wie ein Dichter, oder er ist nur ein Krämer. Wie lange willst du mit
deiner Mannschaft in den Kojen hausen?«

Er blickte schnell zu seiner Kameradin hinüber, und da sie so wenig
wie er eine Antwort wußte, bekam sie einen roten Kopf vor Erregung.

»Ich hätte einen Plan,« sagte Angela Freydag. »Seit heute habe ich
ihn, seitdem es keinen Wirt ›Zu den fünf Erdteilen‹ mehr gibt. Was
glaubt ihr großen Rechenkünstler wohl, was dieses alte Eckhaus für
einen Wirklichkeitswert besitzt? Nein, nicht das Haus. Der Eckplatz,
der das ganze Geviert beherrscht. Die beste Lage des landarmen
Ruhrorts. Hafen, Strom und Schifferbörse wenige Schritte vor sich,
und von der Stadt lebendig umklammert. Ach, ihr meint, das seien
schöne Traumbilder, weil das Baugeld fehlt. Ihr sollt ja auch gar
nicht bauen, ihr bescheidenen Anfänger. Eine Baugesellschaft soll
bauen, die an die Stelle der ›Fünf Erdteile‹ ein machtvolles Hochhaus
erstehen läßt, mit Stockwerken voller Kontore. Und ihr bedingt euch
die günstigsten Kontorräume aus. Zu ebener Erde. Damit Jan Maat nicht
Treppen erklimmen muß.«

»Wir bedingen uns aus?« fragte Thomas Vanderwelt verwundert. »Es ist
doch nicht unser Haus, sondern das deine.«

Ein Hauch lief über Angela Freydags Gesicht. Und sie hatte ihre
Gelassenheit wieder.

»Das Haus ist mein, und das Geschäft mit der Baugesellschaft werde ich
mir nicht nehmen lassen. Ich bringe das Bauland ein und werde meine
Bedingungen stellen. In die Luft hinein können sie nicht bauen. Ich
werde für ~euch~ meine Bedingungen stellen.«

In den Augen Thomas Vanderwelts funkelte es auf. Das Kaufmannshirn war
an der Arbeit. Und in den Augen der Magdalene Matthes wetterleuchtete
es. Auch hier war ein Kaufmannshirn an der Arbeit.

»Für euch und für die Jungen,« sagte Angela Freydag und horchte hinaus.

Aber das Horchen ihres Geistes wurde ein Wirklichkeitshorchen. Und sie
wandte den Kopf.

»Was hast du, Engel?«

»Ich höre einen Mann durch das Haus gehen.«

»Laß mich nachsehen, Engel.«

»Er tastet sich die Treppe hinauf. Nein, bleib, Thomas. In meinem
Hause muß ich selbst nach dem Rechten blicken.«

Sie ging auf den Flur und schloß die Tür hinter sich. Wie eine
Erscheinung wuchs die Frau vor dem Fremden auf.

»Wohin wollen Sie?«

Der Fremde tat, als ob er den Anruf der Frau nicht vernommen hätte.
Er stieg nur schneller die Stufen zum oberen Stockwerk empor.

»Antworten Sie. Oder soll ich Sie wie einen Einbrecher an der Kehle
fassen?«

»Guten Abend,« sagte der Fremde. »Ich besuche hier eine Bekannte.«

»Wie heißt Ihre Bekannte?«

»Hören Sie, um mir meine Geheimnisse abfragen zu lassen, bin ich nicht
ins Haus gekommen.«

»Dann bedaure ich, Sie nicht eher aus dem Hause lassen zu können, als
die Polizei eingetroffen ist. Sie wird gleich benachrichtigt werden
und feststellen, mit was für einer Art Besucher wir es zu tun haben.«

»Bin ich denn hier in ein Tollhaus geraten?« fragte der Fremde
ungeduldig. »Dort oben am Fenster sitzt eine Frau und winkt, und hier
auf dem Flur steht eine andere, als wollte sie einen niederreißen.«

»Werde ich jetzt bald den Namen erfahren?« beharrte Angela Freydag.
»Wer hat Ihnen gewinkt?«

»Wer? Wer? Wie soll ich den Namen wissen? Den dachte ich oben zu
erfahren?«

»Und Sie wagen, in ein Haus einzudringen, um Abenteuer zu suchen? Sind
Sie bei Sinnen, oder soll ich Sie zur Besinnung zurückführen?«

»Entschuldigung,« sagte der Fremde. »Wenn Sie, wie aus Ihrem Benehmen
hervorgeht, die Hauswirtin sind, so scheinen Sie über Ihr eigenes
Haus schlecht unterrichtet zu sein. Das ist doch in der ganzen
Nachbarschaft bekannt, daß hier oben ein paar Herumtreiberinnen
sitzen, und wegen der läuferischen Frauenzimmer wollen Sie mich mit
der Polizei in Berührung bringen?«

»Gehen Sie! Laufen Sie! Daß ich meine Gutheit nicht bereue.«

Wie ein Erlöster sprang der Fremde die Treppe hinunter. Die Haustür
schlug ins Schloß.

»Ich habe«, sagte die Stimme der Magdalene Matthes neben Angela
Freydag, »Herrn Vanderwelt gebeten, die Säuberung des Treppenhauses
Ihnen als der Hausfrau zu überlassen. War das recht, Frau Engel?«

»Es war recht. Wer ein neues Leben beginnen will, Thomas, muß
wenigstens ein paar saubere Hände mitbringen.«

Thomas Vanderwelt ging ruhig die Stiegen hinauf zu den Wohnkammern
der Familie. Er öffnete die gemeinsame Kammer der Knaben. Sie waren
ausgeflogen. Er öffnete das Zimmer seiner Schwester Juliane. Sie
war nicht daheim. Und als er das dritte Zimmer öffnete, sah er
Frau Antonie im Fensterwinkel stehen, und ihre Augen flackerten in
Ungewißheit zu ihm hinüber.

Er nickte ihr zu.

»Jawohl, Antonie.«

Und trat näher, legte die geballte Faust auf den Bettpfostenknauf und
sagte nur noch das eine Wort: »Aus!« -- --

In dieser Vorfrühlingsnacht lag Angela Freydag schlaflos, und hinter
ihrer rastlos arbeitenden Stirn reiften die letzten Entschlüsse.




                                  12


Die Karwoche war angebrochen. Schon waren die Morgennebel von
der Sonne durchleuchtet, und über den Wasserbahnen hoben sich
die flimmernden Streifen wie Vorhänge zu einer anderen Welt. Die
ergrünenden Fluren und die erwachenden Geschöpfe staunten in
die Wandlungen hinein und schickten Sehnsucht und Erwartung als
Kundschafter ins gelobte Land voraus.

Wer hatte es gelobt --? Angela Freydag lächelte am Fensterausblick
über ihre eigene Frage und beantwortete sie selbst.

»Die wenigen, die es erreichten. Aber es sind ~immer~ die
wenigen, die in der Wildnis die Wege roden, und immer die wenigen, die
den Weg zum Menschenglück zeigen. Ob er kurz ist oder lang. Es geht um
die Erfüllung.«

Und während sie in der Stille des Morgens beobachtete, wie die junge,
warme Sonne die Nebel aufsog und der entlasteten Winterlandschaft das
aufatmende Frühlingsgesicht verlieh, blieb ihr das Lächeln, und sie
sprach mit sich weiter.

»Wenn die wenigen nicht wären, die ihr Leben zu schmücken wüßten, was
sollten die vielen tun? Sie würden nur die Karwoche sehen, nur den
grauen Weg, und nicht das Ziel, den Auferstehungstag. So aber haben
sie die lebendige Hoffnung vor Augen: es kann auch uns glücken wie den
Vorläufern.«

Über die Gasse hörte sie Schritte klappern. Sie lehnte sich an
das Fensterkreuz und gewahrte Martin und Nikolaus mit den weißen
Zeugnisbogen in der Hand auf das Haus zustürmen. Sie rührte sich
nicht. Aber ihr Blick nahm das Bild der hoffnungsseligen Jugend auf
wie einen Gruß, der ihr zur Pflegschaft und Weitergabe anvertraut
wurde.

Die Knabenstiefel polterten auf den Stiegen. Sie machten halt vor
Angela Freydags Kammertür.

»Kommt nur herein, ihr Ungeduldigen,« rief ihre Stimme, und die Knaben
brachen herein, mit erhitzten Wangen und erwartungsvoll leuchtenden
Augen, und streckten ihr stumm die Zeugnisbogen entgegen.

»Versetzt?« fragte Angela Freydag über die raschelnden Papiere hinweg.

»Versetzt?« wiederholten sie, und der Übermut der Sieger schwang in
ihren Stimmen mit. »War daran ein Zweifel, Tante Engel? Obertertia.
Selbstverständlich. Aber lies nur mal! So lies doch nur!«

Sie tat ihnen die Freude an, bei jeder neuen Note wie in Verwunderung
aufzublicken, und dann las sie das Ganze noch einmal in Ruhe und
verglich beide Bogen miteinander.

»Hast du nichts bemerkt, Tante Engel? Hast du wirklich nichts
bemerkt?« drängten die Ungeduldigen.

»Ich habe bemerkt,« sagte Angela Freydag, und ihre Augen lagen in
heimlicher Freude auf den angespannten Zügen des einen und des
anderen, »daß man die Bogen vertauschen kann, und sie bleiben bis auf
die Namen dieselben, und ich habe bemerkt, daß man auch den Martin
und den Nikolaus vertauschen kann, als wäre es nur dieselbe Person in
zwei gleichen Teilen, und sie ergäben zusammen immer nur eine einzige
Person.«

»Welche Person --?« fragten sie und wußten nicht, wo sie hinauswollte.

»Eueren Großvater, ihr Jungen -- Kornelius Vanderwelt meine ich.«

»Kornelius Vanderwelt« ... wiederholten sie und sahen sich an. Und
aus gleichem Antrieb heraus nahmen sie sich in die Arme, rangen
miteinander, hoben sich hoch in die Luft.

Mit halbgeschlossenen Augen sah Angela Freydag dem Kräftespiel der
Jungen zu. Dann wandte sie den Kopf zur Tür.

»Es klopft. Tritt nur ein, Thomas. Es ist Vanderweltsche Jugend, die
hier ihr Wesen vollführt. Der Fink hat wieder Samen.«

Thomas Vanderwelt kam schon vom Hafen her. »Ferien?« fragte er. »Laßt
sehen, was sie bringen.«

Die Jungen hatten mit einem Ruck innegehalten. Sie suchten ihre
Zeugnisse zusammen und überreichten sie ihm. Wieder begann das
erwartungsvolle Spiel ihrer Knabenaugen.

Thomas Vanderwelt war mit den Zeugnissen ans Fenster gegangen. Und
Angela Freydag trat hinter ihn, als wolle ihre Hand auf besonders
bedeutungsvolle Punkte hinweisen.

»Bemächtige dich der jungen Seelen,« flüsterte sie ihm zu. »Nimm die
Leitung in Mannes Hand. Zeig' ihnen deine Freude. Und schaff' ihnen
neue. Kinder ergeben sich dem Freudenbringer.«

Thomas Vanderwelt sah auf. Ihre Augen hafteten ineinander.

»Du setztest viel Hoffnungen in mich, Engel.«

»Alle. Sonst ließ' ich dir die beiden nicht.«

Thomas Vanderwelt zog die Oberlippe von den Zähnen. Eine Woge des
Stolzes ging durch ihn hindurch. Und Angela Freydag sah nichts, als
daß er seinem Vater zu ähneln begann.

»Jungens,« sagte Thomas Vanderwelt über die Schulter hinweg und
klopfte auf die Zeugnisbogen, »glaubt ihr, daß diese Kritzeleien hier
mit einer Schleppschiffahrt nach Rotterdam bezahlt wären? Es geht ein
Haniel-Schleppdampfer um die Mittagszeit, der Kapitän ist mein Freund,
und wenn ihr euch sputet --«

Er kam nicht mehr dazu, auszusprechen, was, wenn sie sich sputen
würden, Wirklichkeit werden könnte. Er spürte vier Knabenarme um
seinen Hals, die ihn zu erdrosseln suchten, und ungekannte warme
Lippen auf seinen Augen und auf seinen Wangen. Ein paar Herzschläge
lang gab er sich dem Ungestüm der ungewohnten Zärtlichkeiten hin. Dann
setzte er sich kräftig zur Wehr.

»Wollt ihr mir den Atem lassen, ihr Räuber und Wegelagerer?«

»Vater! Oheim! Du läßt ihn ~uns~ ja nicht! Ganz atemlos sind wir
vor lauter Freud'! Von welchem Haniel-Dampfer sprichst du? Wo ist der
Liegeplatz? Genügen die Rucksäcke? Ach, Tante Engel, so hilf uns doch!«

Es kam Ordnung in den Wirrwarr. Die Knaben stürmten die Treppe hinauf,
um droben ihr Glück zu verkünden. Und Angela Freydag wandte sich
langsam zu Thomas Vanderwelt und reichte ihm beide Hände hin.

»Da hast du sie, Thomas. Nicht meine Hände. Die Knaben aus meinen
Händen heraus in die deinen. Mach' aus ihnen, was du aus dir selber zu
machen gedenkst.«

»Das war dein reichstes Geschenk, Engel,« sagte Thomas Vanderwelt und
hielt ihre Hände.

Und nach einer Weile: »Nicht, daß du mir die Knaben anvertraust. Daß
du ~mir~ vertraust, Engel.«

»Wann trittst du die eigene Fahrt an, Thomas?«

»Übermorgen, Engel. Es ist eine Stückgutfahrt mit Zwischenlandungen
in den rheinischen Häfen bis Mannheim. Gerade das Rechte für mich und
meine Pläne.«

»Ich hätte noch einen Wunsch, Thomas. Es ist ja nicht allzuoft, daß
ich mit Wünschen hervortrete.«

»So sprich ihn doch nur aus. Du wünschest ja doch nur zu meinen
Gunsten.«

»Nimm die Magdalene mit. Sie hat eine Ausspannung verdient, und es
steht ihr harte Arbeit bevor.«

»Die Magdalene --?« fragte er unsicher. »Ja, hältst du es denn für
angängig?«

»Soeben danktest du mir erst, daß ich dir vertraute, Thomas. Mein
Vertrauen ist noch viel größer.«

Er schüttelte hastig den Kopf, als wollte er eine falsche Annahme von
sich abweisen.

»Du darfst dein Vertrauen auf mich so weit spannen, wie du nur kannst,
Engel. Die Magdalene wäre bei mir so sicher aufgehoben wie in deiner
Obhut. Aber du hast nicht bedacht, daß ich die Scheidung eingereicht
habe und seit Tagen schon auf einem leeren Gastzimmer hause. Da sollte
man den Leuten nicht freiwillig die Mäuler öffnen.«

»Besprich dich mit dem Wilm, Thomas. Sie könnte für beide Kähne
die Küche besorgen und zur Nacht in der Kajüte des einen Kahnes
wohnen, während du mit dem Wilm die Kajüte des anderen teilst. Keine
Menschenseele wird sie kennen.«

Er überlegte. Der Gedanke tat ihm wohl, aber das Weshalb wollte ihm
nicht klar werden.

»Weshalb kann sie nicht einen anderen Ausflug machen? Sie hat sich in
den letzten Wochen stark überanstrengt, und ich bin innerlich sehr
froh darüber, daß sie es für mich getan hat. Aber gerade darum, meine
ich -- --«

»Was meinst du --?«

»Man bringt eine Frau, die man so ehrlich schätzen gelernt hat, nicht
in Ungelegenheiten.«

»Und wenn sie sie gar nicht als Ungelegenheiten empfindet?
Sondern im Gegenteil als einen Beweis, daß euere Kameradschaft auf
vertrauensfesten Füßen steht?«

»Weshalb drängst du so, Engel? Du bist ja dann ganz allein?«

»Kein Mensch ist allein, der seine Arbeit zu verrichten hat. Du
und Magdalene aber, ihr habt euere Arbeit nun einmal aufeinander
eingestellt, und es ist nicht nur gut, daß ihr in täglicher
Verständigung miteinander bleibt, es wird euch die erste gemeinsame
Ausreise ins Arbeitsleben auch für die Zukunft die Quelle des
Erinnerungsstromes bedeuten, denn nur in der Kraft der Erinnerungen
lebt sich der Mensch vorwärts.«

»Woher weißt du das alles?« fragte Thomas Vanderwelt ehrfürchtig.

»Mein Lehrmeister trug den von dir ererbten Namen, Thomas, er hieß
Kornelius Vanderwelt. Und wenn er mich nicht mit auf seine Fahrten
genommen hätte, wäre ich der ärmste Mensch unter dem Nachthimmel und
bin der reichste Mensch unter der Sonne geworden. Nun weißt du es
auch.«

»Engel! Engel! Zuweilen weiß ich nicht, ob ich mehr von dir oder vom
Vater ererbt habe.«

»Es ist das gleiche, Thomas. Aber etwas Besseres konntest du mir nicht
sagen.« --

Die Jungmannen kamen mit Gepolter die Treppe herunter. Sie trugen in
den Rucksäcken Schuhe und Fernglas, Nachtzeug und Waschgegenstände.
Und in einem gemeinsamen, schmalen Handkoffer die Sonntagsanzüge und
die Hemden. Droben war der Abschied genommen. Jetzt sollte er drunten
beginnen.

Angela Freydag packte ihnen den eisernen Mundvorrat für eine Woche in
die Rucksäcke und kargte nicht. Sie hieß die Jungen Westen und Hemden
öffnen und hängte einem jeden ein flaches Geldtäschchen auf die bloße
Brust, das durch einen Knopf verschlossen war. »Damit ihr in der
Ferne nicht zu betteln braucht,« sagte sie, und die Jungen strahlten
sich an. »Ein paar Zehrpfennige für den Alltag stecke ich euch in
die Hosentasche,« und sie steckte jedem ein paar Silbermünzen zu.
»Vorwärts denn. Folgt dem Vater.«

Gern hätte sie hinzugesetzt: »und euerem Großvater, Jungens,« aber
sie unterdrückte rasch die feierliche Regung und ließ sich dafür so
unfeierlich wie möglich in die Knabenarme nehmen und sich jedes Glied
am Körper zusammendrücken, ohne sich zu wehren.

»Dank, Dank, Tante Engel! Laß es dir gut ergehen. Glückauf!«

»Fahr wohl, Martin! Fahr wohl, Nikolaus! Allzeit gut Wind und Wetter
vorauf!«

Drunten marschierten sie über die Straße, links und rechts von Thomas
Vanderwelt. Und Angela Freydag stand hinter dem Fenster und schaute
ihnen nach, bis sie auf den Hafendamm bogen.

»Euch hab' ich in Sicherheit,« sagte sie, und ihre Augen hatten einen
dunklen Glanz. »Ich hoffe: für ein Leben lang.« --

Am späten Nachmittag kam Magdalene Matthes aus ihrem Handelskontor. Es
war ihr letzter Diensttag gewesen. Und nun gehörte sie frank und frei
dem neuen Vanderwelt-Unternehmen an. Sie wußte schon von der Weltfahrt
der Knaben. Sie hatte Thomas Vanderwelt im Hafen getroffen.

»Frau Engel, er hatte noch mit Wilm zu verhandeln. Ahnen Sie es wohl,
weshalb? Mein Gott, ich soll mit auf die Reise! Mein Gott!«

»Freuen Sie sich darüber, Magdalene?«

»Freuen? Freuen ist gar kein Wort! Das hab' ich mir ja seit
Kindheitstagen gewünscht, wenn ich irgendwo bei Düsseldorf an der
Uferböschung lag und die Schleppzüge kommen und verschwinden sah:
Wer da mitreisen könnte! So ins Unendliche aller Wünsche hinein! Und
nun darf ich mit. Und darf mich jetzt schon für die Firma Vanderwelt
nützlich machen. In der Küche, jawohl! Aber das ist ja ganz einerlei
...!«

»Ich hoffe, Sie werden sich nicht nur für die Firma, sondern viel mehr
noch für den Firmenträger nützlich machen können.«

»Nicht sprechen, Frau Engel, nicht sprechen. Nein, ich fürcht' mich
nicht.«

»Frauen fürchten sich vor nichts, wenn der Mann voranschreitet.«

Am nächsten Tage trafen sie alle Vorbereitungen. Und als gegen Abend
die Schiffsjungen kamen und mit dem Gepäck abgezogen waren, blieben
sie zu dritt allein: Angela Freydag, Thomas Vanderwelt und Magdalene
Matthes. In den Kammern über ihnen war es ruhig. Der Brief, der am
Nachmittag aus einer Rechtsanwaltskanzlei für Frau Antonie Vanderwelt
eingetroffen war, hatte den beiden Schwägerinnen Gelegenheit geboten,
zur vorgerückten Stunde noch das Haus zu verlassen, um sich bei
Freunden Rat zu holen.

Die drei Menschen saßen beieinander am Tisch und schwiegen
miteinander, ohne es zu bemerken. Dann nahm Angela Freydag das alte
Pfeiflein auf, das sie noch von den gemeinsamen Fahrten mit Kornelius
Vanderwelt besaß, entzündete es und tat still ihre Züge.

»Sprachst du, Engel?« fragte Thomas Vanderwelt und legte seine Hand
auf die ihre.

»Tat ich es, Thomas? Ich tat es wohl aus Gedanken heraus. Ich dachte
gerade darüber nach, wie verkehrt es ist, sich die Karwoche grau
in grau zu malen. Am Schlusse winkt doch die einzige Erlösung der
Heilsgeschichte, der Auferstehungstag.«

»Ja, so lehrt die christliche Religion.«

Sie bewegte den Kopf, als sei ihr das nicht genug.

»Es kommt nicht auf die Religion, es kommt auf die Frömmigkeit an.«

Und sie grübelten hinter den Worten her, die die geheimsten Kräfte
bargen.

»Wenn ihr wiedergekehrt seid,« sagte Angela Freydag nach einer
Weile, »darfst du an nichts anderes mehr denken, Thomas, als an die
Auferstehung der alten Firma. Alles, was Karwoche geheißen hat, muß
vor diesem Morgenlicht verschwunden sein wie ein Rudel Gespenster.
Und wenn du dann über den Platz vor der Schifferbörse schreitest,
sorg', daß die Schiffer sich anstoßen und zu sich sprechen: ›Kornelius
Vanderwelt ist wieder auferstanden.‹«

Die Hand, die auf der ihren lag, drückte zu. Und der harte Druck
gefiel ihr.

Magdalene Matthes erhob sich und zündete das Licht an. Ein kurzes
Zwinkern war, und die Augen standen weit geöffnet und schauten
einander an, als ob sie neue Menschen sähen.

»Keinen überflüssigen Ballast,« sagte Angela Freydag. »Nichts
Wertloses. Das Schiff muß Ladung haben, die sich lohnt.«

»Ja,« erwiderte Thomas Vanderwelt, und seine Brust hob sich.

»Ja,« wiederholte Magdalene Matthes.

Wieder kehrte das Schweigen ein. Und sie bemerkten es nicht, bis
Thomas Vanderwelt noch eine Frage tat.

»Bleiben die ›Fünf Erdteile‹ geschlossen, Engel? Jetzt, wo ich auf
Fahrt gehe, und ich meine nicht nur diese Rheinfahrt, Engel, entfällt
ja wohl der Grund für dich, die Wirtin zu spielen.«

Sie tat ein paar Züge aus dem alten Pfeiflein und nickte vor sich hin.

»Die ›Fünf Erdteile‹ -- hören auf, zu bestehen. Meine Pflichten sind
erfüllt. Für dich und die Jungen darf keine Belastung mehr vorhanden
sein, wenn ihr das neue Leben angreift, sie könnte geartet sein, wie
sie wollte.«

»Es ist bald ein Jahr, daß der Vater starb und du uns hier sammeltest
und sichtetest.«

»Ich konnte es nicht schneller machen, Thomas.« -- --

In der Morgendämmerung verließen Thomas Vanderwelt und Magdalene
Matthes das Haus. Auf ihren Gesichtern war der Glanz der Jugend.

»Dank, Dank, Engel, für alles und viel mehr,« riefen sie der
Zurückbleibenden zu und schlossen sie kräftig in die Arme.

Und Angela Freydag erwiderte mit dem alten Schifferspruch, den sie
schon den Knaben mit auf den Weg gegeben hatte: »Fahr wohl, Thomas,
fahr wohl, Magdalene. Allzeit gut Wind und Wetter vorauf!«

Noch einmal stand sie am Fensterkreuz ihrer Kammer und sah die beiden
rüstigen Schrittes über die Straße schreiten, bis ihre Umrisse in
die sonnendurchzitterten Nebel des Stromgebietes hineinwuchsen, als
gehörten der Strom und die Menschen zusammen.

Ihr Gesicht wurde schmal, und eine Blässe zog darüber hin. Aber der
Mund erzwang ein Lächeln.

»Nun seid auch ihr in Sicherheit, und ich kann an die Reise denken.
Bist du mit mir zufrieden, Kornelius?«

Am nächsten Tage ging sie durch die Stuben und errechnete den Wert
der geringen Hinterlassenschaft des Matthes. Und sie saß an ihrem
Schreibtisch und verglich die Summe mit dem Betrag, den sie noch auf
der Sparkasse liegen hatte. Und überschrieb den Betrag an Fräulein
Magdalene Matthes mit einer zurückgesetzten Zeitangabe.

Auf der Sparkasse ließ sie sich ihr Fach öffnen, das ihre wenigen
Anlagepapiere barg, und ließ das Schreiben zwischen ihre Papiere
gleiten.

Als sie heimkehrte, hatten sich die Frauen noch nicht erhoben. Aber
Juliane rief aus ihrer Schlafstube nach ihr und bat um das Frühstück,
da sie zu müde seien, um sich zu erheben.

»Wir haben bis spät in die Nacht hinein Besprechungen mit unserem
Rechtsbeistand gehabt,« erklärte sie. »Für mich liegen die Dinge ja
klar am Tage. In zwei Jahren wird mein Martin mit der Schule Schluß
machen und eine kaufmännische Lehre antreten. Bei seiner großen
Begabung wird es ihm nicht schwer fallen, bald Geld zu verdienen.
Er hat es ja heute schon gezeigt, daß er es kann. Und da er für
seine Mutter unterhaltungspflichtig ist, wird er sich, wie ich ihn
kenne, ganz besonders anspornen. Für meine Schwägerin Antonie liegen
die Dinge anders. Und wenn Sie auch als die Freundin meines lieben
Bruders Thomas auftreten, mein Brüderlein wird sich freuen, die
Scheidungsklage zurückziehen zu dürfen, denn der Rechtsbeistand hat
mit einem Lärm gedroht, der Thomas Vanderwelt für das Geschäftsleben
unmöglich machen würde. Ich denke also, es bleibt vorläufig alles beim
alten.«

Angela Freydag ließ den Strom der Worte über sich ergehen und spielte
die Bedienerin. Sie entzündete das Gasöfchen auf dem Wandtisch und
wärmte das Frühstück darauf. Und tat ein übriges und betrat auch
Antonie Vanderwelts Schlafzimmer, entzündete auch hier das Gasöfchen
auf dem Wandtisch und erwärmte das Frühstück. Die seidenen Röcke
Antoniens lagen zerknittert vor dem Bette.

Am Abend flogen die Frauen aus. Und wieder währte es bis zum Morgen,
daß Angela Freydag ihre gleitenden Schritte erhorchte. Heute aber
verschliefen sie das Frühstück ganz, und es war der Karsamstag.

Im Hause war alles geregelt. Ein jedes Teil stand auf dem Platze, auf
den es hingehörte. Und nur die Frauen lagen gegen Abend noch in ihren
Betten und baten Angela Freydag mit Klagelauten zu sich.

»Es sind so anstrengende Tage für uns,« klagte Frau Juliane. »Unsere
Freunde tun ja für uns, was sie können, um uns über unsere trüben
Gedanken hinwegzubringen, aber es bleibt doch immer noch ein Rest, den
wir allein verarbeiten müssen. Morgen, ja, über die Ostertage hinaus
wollen wir mit auswärtigen Freunden einen Ausflug unternehmen, der uns
wirklich erfrischen soll. Deshalb möchten wir heute gar nicht erst
aufstehen, da wir morgen in aller Herrgottsfrühe hinaus müssen. Würden
Sie uns die Freundlichkeit erweisen und uns ein kleines Abendbrot
bereiten?«

Und wieder entzündete sie die Gaskocher in den Zimmern der beiden
Frauen und wärmte die Speisen auf, und die seidenen Röcke lagen wie
tags vorher zerknittert vor den Betten.

Es wurde elf Uhr abends, und Angela Freydag ging durch das ganze Haus.
Und schloß alle Fenster und Türen. Als sie den Hausflur betrat, zogen
ein paar feuchtfröhliche Schiffer Arm in Arm durch die Türe ein.

»Guten Abend, Mutter Engel. Ist hier Ankergrund?«

»Es ist Feierabend für die ›Fünf Erdteile‹, meine Herren.«

»Für alle fünf Erdteile? Spaß, Mutter Engel. Irgendwo in den fünf
gesegneten Erdteilen muß doch Ankergrund sein?«

»Die Schankerlaubnis ist mit dem Wirt Matthes und seiner Frau
erloschen. Gute Fahrt, meine Freunde.«

»Nix mehr zu machen? ›Meine Freunde‹ hat sie doch gesagt. Wirklich gar
nix mehr?«

»Es tut mir leid -- aber es ist Schlafenszeit.«

»Hoiho! Mutter Engel hat zum Abschied einen Reim geschmiedet. ›Es tut
mir leid -- aber es ist Schlafenszeit!‹ Weiß die Mutter Engel auch,
was das nach Schiffersbrauch bedeutet?«

»Was bedeutet es denn nach Schiffersbrauch, Jan Maat?«

»Wer nach altem Schiffersbrauch einen Reim in der Rede schmiedet, ohne
zu wollen, der kriegt mit Gewißheit noch in der Nacht seinen Schatz zu
sehen.«

»Oho! Hoho! Mutter Engel kriegt die Nacht noch ihren Schatz zu sehen!«

Angela Freydags Augen leuchteten über sie hinweg.

»Wer weiß, ob es nicht wahr ist.« -- --

Sie hatte hinter den feuchtfröhlichen Männern die Haustür geschlossen.
Der Riegel schnappte ein, und der Klang zog hallend durch das
verlassene Haus. Sie wandte sich und ging hinauf.

Ich weiß es noch, dachte sie, wie er mich seine Wölfin nannte. Von der
mitjagenden Wölfin sprach er. Und von der säugenden -- wie bei Romulus
und Remus. Und ich weiß noch, wie ich ihm erwiderte, daß die Wölfin,
die starke Wölfin, die Wunden und Gezeichneten der Gattung zerreiße,
um den Lebensstarken die Bahn zu säubern. Kornelius, nun halte ich
mein Wort. Und du wirst weiterleben.

Sie ging hinauf in das Stockwerk der Frauen, und als sie die Zimmer
der Frauen betrat, fand sie sie eingeschlafen. Sie griff nach den
Schaltern des elektrischen Lichtes und löschte es in beiden Zimmern.
Und in beiden Zimmern griff sie nach den Hähnen der Gaskocher und
öffnete sie mit ruhiger Hand. Und als sie in das Haus hinuntergegangen
war, bis in die leere Wirtsstube, tat sie hier ebenso, und sie saß am
Tisch, stark und gefestigt, und der einschläfernde Duft umwogte sie.

Eine Kirchenuhr schlug Mitternacht. Der Ostertag brach an.

Angela Freydag zählte die Glockenschläge bis zum letzten. Nun war sie
müde.

»Ich komme, Kornelius,« sagte sie. Und sie nahm das Pfeiflein
Kornelius Vanderwelts zwischen die Zähne, tastete nach dem Feuerzeug
und zündete ein Holz für die Pfeife an ...

Ahoi! -- was war? Eine Jacht in Abendrotflammen! Kornelius Vanderwelts
leuchtende Gestalt am Steuer! Hoiho! Angela Freydag im Sprunge neben
ihm! Hochöfen in Gluten! Blitzlichter, hunderttausende, über den
Häfen! Das schwarze Venedig in Funken und Feurio!

Krachend stürzten die Decken zusammen. Die Mörtelmauern barsten. Ein
Trümmerhaufen schoß hoch und begrub die ›Fünf Erdteile‹ mit allem, was
in ihnen geatmet hatte. -- --

       *       *       *       *       *

Den Heimkehrenden aber erzählten die Nachbarn, eine Flamme wäre aus
dem Dache gefahren, so sprühend und wild, als wäre eine feurige Wölfin
~geradenwegs in den Himmel hineingesprungen~.




  Druck der
  Union Deutsche Verlagsgesellschaft
  in Stuttgart




J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachf., Stuttgart und Berlin


                            Rudolf Herzog

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  Ganzleinen Rm. 3.80

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~J. G. Sprengel~

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Tausend

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-- Dritte Reihe in sechs Bänden. 1.-10. Tausend

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=Rudolf Herzogs Leben und Dichten.= Von ~Johann Georg
Sprengel~. Mit acht Bildnissen.

  Halbleinen Rm. 2.20





*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK KORNELIUS VANDERWELTS GEFÄHRTIN ***


    

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