The Project Gutenberg eBook of Lehrbuch der Gerichtlichen Medicin
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Title: Lehrbuch der Gerichtlichen Medicin
Author: Eduard R. von Hofmann
Release date: July 10, 2024 [eBook #74004]
Language: German
Original publication: Wien: Urban & Schwarzenberg, 1895
Credits: Peter Becker and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)
*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK LEHRBUCH DER GERICHTLICHEN MEDICIN ***
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Anmerkungen zur Transkription
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fett: =Gleichheitszeichen=
gesperrt: +Pluszeichen+
Kapitälchen: ~Tilden~
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LEHRBUCH
DER
GERICHTLICHEN MEDICIN
MIT GLEICHMÄSSIGER BERÜCKSICHTIGUNG
DER
DEUTSCHEN UND ÖSTERREICHISCHEN GESETZGEBUNG
~Von~
D^{R.} ~Eduard R. von HOFMANN~,
K. K. HOF- UND OBERSANITÄTSRATH, O. Ö. PROFESSOR DER GERICHTLICHEN
MEDICIN UND LANDESGERICHTSANATOM IN WIEN
Siebente, vermehrte und verbesserte Auflage
Mit 130 Holzschnitten
WIEN UND LEIPZIG
URBAN & SCHWARZENBERG
1895.
Alle Rechte vorbehalten.
Inhalt.
Seite
=Einleitung= 1
Formeller Theil.
Gesetzliche Bestimmungen, betreffend die Heranziehung von
Sachverständigen überhaupt und von Gerichtsärzten insbesondere
und die dabei zu beobachtenden formellen Vorgänge 5
Gebührentarif für österreichische Gerichtsärzte 11
Oesterreichische Gesetze bezüglich der Sachverständigen 13
Gesetzliche Bestimmungen bezüglich der Sachverständigen für das
deutsche Reich 14
Gebühren der Gerichtsärzte im deutschen Reich 15
Wahl der Sachverständigen 18
Verpflichtung des Arztes, als Sachverständiger zu fungiren 20
Zahl der Sachverständigen 21
Thätigkeit des Gerichtsarztes bei der Vornahme des Augenscheines 23
Gegenstände gerichtsärztlicher Untersuchung 24
Aufnahme des Protokolls 28
Das Gutachten 32
Einholung von Superarbitrien 37
Thätigkeit des Gerichtsarztes bei der Hauptverhandlung 40
Sachlicher Theil.
=Erster Hauptabschnitt.=
=Zeugungsfähigkeit.=
Gesetzliche Bestimmungen 47
Die Begattungsunfähigkeit beim Manne 49
Die Befruchtungsunfähigkeit 56
Die Begattungsunfähigkeit beim Weibe 68
Die Conceptionsunfähigkeit 71
Die Zwitterbildungen 82
=Zweiter Hauptabschnitt.=
= Die gesetzwidrige Befriedigung des Geschlechtstriebes.=
Gesetzliche Bestimmungen 96
Vom gesetzwidrigen Beischlafe 100
Diagnose des stattgehabten Beischlafes 101
Anatomische Veränderungen an den weiblichen Genitalien in Folge
des Beischlafes 102
Nachweis von Sperma 131
Nachweis venerischer Affection 136
Die Umstände, unter welchen der Beischlaf ausgeübt wurde 143
Wirklich ausgeübte Gewalt 144
Absichtliche Betäubung 146
Wehr- und Bewusstlosigkeit ohne Zuthun des Thäters 149
Beischlaf mit Mädchen unter 14 Jahren 157
Wichtige Nachtheile in Folge gesetzwidrigen Beischlafes 159
Unzüchtige Handlungen (Schändung) 164
Widernatürliche Unzucht 167
Die Päderastie 168
Unzucht mit Thieren 177
=Dritter Hauptabschnitt.=
=Fragliche Schwangerschaft und Geburt.=
Gesetzliche Bestimmungen 179
Zeichen der Schwangerschaft 182
Dauer der Schwangerschaft 188
Spätgeburt 190
Die Nachempfängniss 194
Extrauterinschwangerschaft 198
Molenschwangerschaft 200
Verkennen der Schwangerschaft durch die Mutter 201
Diagnose der stattgehabten Entbindung 204
Die Fruchtabtreibung, gesetzliche Bestimmungen 212
Diagnose des stattgefundenen Abortus 216
Untersuchung der Mutter 217
Untersuchung der Abgänge 218
Ursachen des spontanen Abortus 222
Absichtlicher Abortus 225
Innere Fruchtabtreibungsmittel 225
Mechanische Fruchtabtreibungsmittel 243
Folgen der Fruchtabtreibung 252
=Vierter Hauptabschnitt.=
=Die gewaltsamen Gesundheitsbeschädigungen und der gewaltsame Tod.=
Gesetzliche Bestimmungen 264
I. +Von der Gesundheitsbeschädigung und dem gewaltsamen Tod
durch Verletzung im engeren Sinne+ 269
A. Bestimmungen des verletzenden Werkzeuges 269
Verletzungen mit stumpfen oder stumpfkantigen Werkzeugen 269
Die Hautabschürfungen 270
Die Blutunterlaufungen 272
Wunden 277
Commotionen 280
Rupturen innerer Organe 280
Läsionen der Knochen 284
Zermalmungen 284
Schnitt- und Hiebwunden 285
Stichwunden 288
Schusswunden 297
B. Strafrechtliche Qualification der Verletzung 313
_Nicht tödtliche Verletzungen_ 313
Die schwere körperliche Beschädigung im Sinne des
österr. St.-G. 314
Die erschwerenden Umstände des §. 155 österr. St.-G. 324
Die erschwerenden Umstände des §. 156 österr. St.-G. 329
Bestimmungen des §. 132 der österr. St.-P.-O. 336
Die schwere Körperverletzung des deutschen St.-G. 344
Die leichte Körperverletzung des deutschen St.-G. 348
_Tödtliche Verletzungen_ 351
Die nächste Todesursache 352
Zusammenhang dieser mit einer Verletzung 358
Unterscheidung vitaler und postmortaler Verletzungen 359
Ausschluss anderer Todesursachen 370
Der Selbstmord 383
Untersuchungen von Blutspuren 420
Untersuchung von Haaren 440
_Verletzungen nach ihrem Sitze_ 449
A. Die Kopfverletzungen 450
B. Verletzungen des Halses 471
C. Brustverletzungen 473
D. Verletzungen des Unterleibes 482
E. Verletzungen der Genitalien 489
F. Verletzungen der Extremitäten 496
II. +Tod durch Erstickung+ 499
Leichenbefund bei Erstickten 503
Der Tod durch Erhängen 518
Das Erdrosseln 554
Das Erwürgen 564
Tod durch Ertrinken 572
Andere Erstickungsformen 588
III. +Tod durch Verhungern+ 592
IV. +Tod durch hohe und niedrige Temperatur+ 595
Verbrennung und Verbrühung 595
Erfrieren 612
V. +Tod durch Vergiftung+ 616
Gesetzliche Bestimmungen 616
Gift und Bedingungen der Giftwirkung 617
Krankheitsbild bei Vergiftungen 623
Sectionsbefund 629
Der chemische Nachweis 640
Die Umstände des Falles 651
Vergiftung mit Schwefelsäure und anderen Säuren 654
„ „ Aetzlauge 662
„ „ Sublimat 665
„ „ chlorsaurem Kali 667
„ „ Arsenik 669
„ „ Phosphor 680
„ „ Opium und Morphium 689
„ „ Kohlenoxyd 699
„ „ Blausäure 713
„ „ Strychnin 722
„ „ anderen Alkaloiden 725
VI. +Gesundheitsbeschädigungen und Tod durch psychische
Insulte+ 733
+Vom Kindesmorde+ 736
A. Ist das Kind lebend geboren worden? 737
Die durch Luftathmung erzeugten Veränderungen in den
Lungen 740
Anderweitige Lebensproben 761
B. Wie lange hat das Kind gelebt? 768
C. Todesursache des Kindes 775
Tod des Kindes vor der Geburt 775
Tod des Kindes während der Geburt 779
1. Die vorzeitige Unterbrechung der Placentarathmung 780
2. Die Compression des Kopfes 785
Tod des Kindes nach der Geburt 790
1. Tod durch Lebensunfähigkeit 790
2. Tod durch extrauterine Vorgänge 796
Sturzgeburt 796
Verblutung aus der Nabelschnur 806
Absichtliche Tödtung des Neugeborenen 808
+Die Leichenerscheinungen+ 818
Die gerichtsärztliche Aufgabe bei der +Sicherstellung der
Identität von Leichen+ 839
Fünfter Hauptabschnitt.
Die gerichtliche Psychopathologie 873
I. +Fragliche Zurechnungsfähigkeit.+
Gesetzliche Bestimmungen 874
A. Zurechnungsfähigkeit von Kindern und jugendlichen
Personen 880
B. Angeborene psychopathische Zustände 886
1. Der angeborene Blödsinn 886
2. Der angeborene Sinnesmangel 891
3. Originäre psychische Anomalien specifischer Art 894
Das moralische Irrsein 896
C. Die erworbenen Geistesstörungen 915
1. Die einfachen Geisteskrankheiten 916
Die Melancholie und der melancholische Wahnsinn 917
Die Manie und der exaltirte Wahnsinn 924
Der erworbene Blödsinn 928
2. Complicirte Irrseinszustände 930
a) Die paralytische Geistesstörung 930
b) Epileptisches Irrsein 933
c) Hysterisches Irrsein 940
d) Die alkoholische Geistesstörung 944
Der Rausch 944
Alkoholisches Irrsein im engeren Sinne 948
+Allgemeines über Untersuchung und Begutachtung wegen fraglicher
Zurechnungsfähigkeit+ 957
II. +Fragliche Dispositionsfähigkeit+ 971
Gesetzliche Bestimmungen 971
A. Entmündigung (Curatelverhängung) 975
B. Wiederaufhebung der Entmündigung 989
Civilrechtliche Acte, die von nicht entmündigten
Personen ausgeführt wurden 991
III. +Fragliche Verhandlungsfähigkeit+ 1002
Einleitung.
[Sidenote: Umfang. Inhalt und Stellung der Disciplin.]
Unter +gerichtlicher Medicin+ versteht man jene Disciplin, welche
sich mit der Behandlung von Fragen beschäftigt, die in der civil-
und strafrechtlichen Praxis sich ergeben und nur mittelst ärztlicher
Vorkenntnisse beantwortet werden können.
Bekanntlich ist eine grosse Zahl der sowohl in der Civil- als in der
Strafjustizpflege vorkommenden Rechtsfälle der Art, dass entweder
die Feststellung gewisser Thatsachen, oder die Feststellung des
Zusammenhanges gewisser Thatsachen mit anderen, überhaupt die
Constatirung und Aufklärung gewisser, für die richterliche Entscheidung
des einzelnen Falles wichtiger Umstände, ärztliche Kenntnisse
erfordert. Es gehören hierher u. A. alle jene Fälle, in denen
gewaltsame Schädigungen an der Gesundheit oder am Leben Gegenstand
richterlicher Untersuchung werden, ferner jene, in welchen es sich
zunächst um die Constatirung gewisser physiologischer, insbesondere
geschlechtlicher Zustände handelt.
Die Heranziehung von Aerzten geschieht hier aus gleichem Grunde, wie in
anderen Fällen, in welchen, wie sich die österr. Strafprocessordnung
vom Jahre 1853 im §. 78 ausdrückt, die Erforschung eines zu
untersuchenden Gegenstandes besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten
voraussetzt, andere „Sachverständige“, z. B. Bautechniker, Münz- und
Bankbeamte, Kaufleute, Künstler etc., herangezogen werden, um Dinge
zu untersuchen und klar zu stellen, welche juristische Bildung allein
nicht zu beurtheilen im Stande ist, und der auf diese Weise angestrebte
Beweis führt die technische Bezeichnung „Sachverständigenbeweis“,
ein Verfahren, welches fast so alt ist, wie geordnete Rechtszustände
überhaupt, da man unsicheren Spuren desselben, insbesondere des
Abverlangens ärztlicher Gutachten, bereits in den mosaischen
Gesetzen, in den 12 Tafeln und im Codex Iustinianeus, ausdrücklichen
einschlägigen Bestimmungen aber bereits in den Gesetzen der Alemannen
aus dem 6. Jahrhundert, sowie in den späteren Gesetzbüchern,
namentlich aber in der peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karl’s V.
aus dem Jahre 1532 begegnet.[1]
Die Zahl und die Qualität der sich in foro ergebenden, ärztliche
Intervention erfordernden Fragen bestimmt im Allgemeinen den +Umfang
und den Inhalt der gerichtlichen Medicin+. Was jedoch die Details der
Lehre betrifft, so erweitern und vervollkommnen sich dieselben stetig;
einerseits, indem die medicinische Wissenschaft überhaupt, auf welcher
die gerichtliche Medicin basirt, vorwärts schreitet und immer neue
Forschungsresultate zu Tage fördert, die auch unserer Specialdisciplin
zu Gute kommen, andererseits, indem specifisch gerichtsärztliche Fragen
eingehender und unter Anwendung neuer Hilfsmittel, insbesondere aber
auf dem Wege des Experimentes, studirt werden und dadurch vielfach
in gegen früher geändertem Lichte erscheinen. Sie werden aber auch
beeinflusst durch den jeweiligen Stand der Gesetzgebung, welcher
sich die gerichtliche Medicin in formeller, theilweise aber auch in
sachlicher Beziehung anpassen muss, wenn sie ihren Zweck erfüllen soll.
Letzteres Moment macht sich eben in der letzten Zeit in eingreifender
Weise geltend, da sowohl in Oesterreich, als im deutschen Reich
Strafprocessordnung und Strafgesetz eine, neueren Rechtsanschauungen
entsprechende Umgestaltung theils bereits erfahren haben, theils binnen
Kurzem erfahren werden.
Die gerichtliche Medicin ist +angewandte Medicin+, und diese
Thatsache sichert ihr ihre +Stellung+ in der Reihe der medicinischen
Disciplinen. Trotz der specifisch forensischen Zwecke, die die
gerichtliche Medicin verfolgt, löst sie sich niemals vom Mutterboden
der medicinischen Wissenschaft los, baut sich vielmehr aus dieser
auf, wächst und entwickelt sich mit dieser, und die Fragen, die sie
behandelt, die Lehrsätze, die sie aufstellt, behalten immer einen rein
medicinischen Charakter, obgleich es ausser Zweifel steht, dass sie
vorwiegend, ja ausschliesslich forensen Zwecken zu dienen bestimmt
sind. Wenn dennoch einzelne ältere und sogar ein hervorragender neuerer
Autor (+Taylor+) statt der alten, und wenn auch nicht ganz präcisen,
so doch nicht unrichtigen Bezeichnung „gerichtliche Medicin“ (Medicina
legalis seu forensis, Médecine légale, Medicina forense etc.) jene der
„medicinischen Rechtswissenschaft“ (medical jurisprudence) gewählt
haben, so ist dies nicht zu billigen.
Ein viel schwererer Irrthum ist es jedoch, wenn man in falscher
Auffassung der gerichtlichen Medicin als +angewandte+ Medicin sich
der Meinung hingibt, dass, wenn sonst tüchtiges medicinisches Wissen
vorhanden sei, sich dessen Anwendung für forense Zwecke von selbst
ergebe, und sonach der Lehre der letzteren nur eine nebensächliche
Bedeutung zukomme. Leider ist diese irrige Meinung viel verbreitet
und sie hat es zum grössten Theile verschuldet, dass ein Fach von so
eminent praktischer Bedeutung, wie die gerichtliche Medicin, in den
letzten Jahren nicht jene Würdigung gefunden hat, die es verdient.
Man übersieht bei einer solchen Auffassung dreierlei. Erstens, dass
die Anwendung medicinischer Kenntnisse in foro ein volles Verständniss
des Zweckes verlangt, zu welchem man dieser Kenntnisse bedarf, dass
zweitens die Anwendung dieser Kenntnisse formell in bestimmter Weise
erfolgen muss, wenn sie dem Richter verwerthbar sein soll, und dass
drittens eben aus der eigenthümlichen, durch bestimmte Rechtsfälle
dictirten Anwendung medicinischen Wissens Gesichtspunkte und Fragen
sich ergeben, die ganz specifischer Art und der sonstigen Aufgabe
und Richtung der Heilkunde in der Regel vollkommen fremd sind, und
daher besonders gelehrt und gelernt werden müssen. Die erstgenannten
zwei Erfordernisse verlangen Kenntniss des Strafgesetzes und der
Strafprocessordnung. Wie wichtig diese ist, wird insbesondere bei der
Begutachtung von Verletzungen ersichtlich. Was nützt es z. B. dem
Richter, wenn ein Arzt, der herbeigerufen wird, um über eine Verletzung
am Lebenden oder an der Leiche sich auszusprechen, diese sehr schön und
richtig vom klinisch-chirurgischen oder vom pathologisch-anatomischen
Standpunkte erörtert, wenn er nicht angibt, ob die Verletzung eine
jener Qualitäten besitzt, auf welche es dem Richter ankommt, und
wovon die weitere Behandlung des Falles abhängt; und wie kann sich
der Arzt über diese Qualität aussprechen, wenn er die betreffenden
Unterscheidungen des Strafgesetzes nicht kennt, und die Intentionen
nicht versteht, die für den Gesetzgeber massgebend gewesen sind. Was
aber die specifische, von der gewöhnlichen Richtung der Heilkunde
gewöhnlich weitab liegende Natur der Fragen betrifft, mit denen sich
die gerichtliche Medicin beschäftigt, so genügt ein Blick auf die
Materien, die wir in unserem Buche behandeln werden, um Jedermann
hiervon die Ueberzeugung zu verschaffen.
[Sidenote: Häufigkeit gerichtsärztlicher Untersuchungen.]
Erwägen wir dazu die Häufigkeit der Rechtsfälle, in denen die
Intervention des Gerichtsarztes gefordert wird[2], sowie den Umstand,
dass in den meisten derartigen Fällen die ganze weitere Behandlung
des Rechtsfalles, insbesondere der Ausfall des Urtheils, von der
Untersuchung des Gerichtsarztes und von seinem Gutachten abhängen, dass
somit nicht blos allgemein sociale Interessen von höchster Bedeutung,
sondern insbesondere das Schicksal, Ehre, Freiheit und selbst das Leben
der betreffenden Personen in seine Hände gelegt sind, so bedarf es wohl
keiner weiteren Worte, um die Wichtigkeit der gerichtlichen Medicin
und die Nothwendigkeit einer selbstständigen und würdigen Stellung
derselben zu den übrigen medicinischen Fächern zu demonstriren.
Formeller Theil.
Die gesetzlichen Bestimmungen, welche sich auf den formellen
Vorgang bei der Heranziehung von Sachverständigen überhaupt und von
ärztlichen insbesondere, sowie auf das von diesen bei ihren Functionen
zu beobachtende formale Verhalten, als auch auf deren Rechte und
Pflichten beziehen, sind in der österreichischen, beziehungsweise
deutschen Strafprocessordnung, einzelne von ihnen jedoch, namentlich
die auf die Untersuchung von Leichen bezüglichen, in bestimmten
Specialverordnungen, beziehungsweise Regulativen enthalten. Letztere,
sowie die specielle gerichtsärztliche Untersuchungen betreffenden
Bestimmungen der Straf-, beziehungsweise Civilprocessordnungen werden
bei den einschlägigen Capiteln citirt werden, während hier nur die
allgemein giltigen Erwähnung finden sollen.
[Sidenote: Oesterreichische Strafprocessordnung. Sachverständige.]
Die hierher gehörenden Bestimmungen der +österreichischen
Strafprocessordnung vom 23. Mai 1873+ sind in folgenden
Paragraphen derselben enthalten:
§. 116. Der +Augenschein+ ist vorzunehmen, so oft dies zur Aufklärung
eines für die Untersuchung erheblichen Umstandes nothwendig
erscheint. Es sind stets zwei Gerichtszeugen, oder, wenn sich
dies wegen Anerkennung der zu untersuchenden Gegenstände oder zur
Erlangung von Aufklärungen als zweckdienlich darstellt, ist auch der
Beschuldigte zuzuziehen. Dem Vertheidiger des Beschuldigten kann die
Betheiligung bei der Vornahme des Augenscheines nicht versagt werden;
auch ist ein bereits bestellter Vertheidiger, wenn kein besonderes
Bedenken dagegen obwaltet, von der Vornahme des Augenscheines in
Kenntniss zu setzen.
§. 117. Das über den Augenschein aufzunehmende Protokoll ist so
bestimmt und umständlich abzufassen, dass es eine vollständige und
treue Anschauung der besichtigten Gegenstände gewähre. Es sind
demselben zu diesem Zwecke erforderlichenfalls Zeichnungen, Pläne
oder Risse beizufügen; Masse, Gewichte, Grössen- und Ortsverhältnisse
sind nach bekannten und unzweifelhaften Bestimmungen zu bezeichnen.
§. 118. Sind bei einem Augenscheine Sachverständige erforderlich, so
soll der Untersuchungsrichter in der Regel deren zwei beiziehen.
Die Beiziehung +eines+ Sachverständigen genügt, wenn der Fall von
geringerer Wichtigkeit ist, oder das Warten bis zum Eintreffen eines
zweiten Sachverständigen für den Zweck der Untersuchung bedenklich
erscheint.
§. 119. Die Wahl der Sachverständigen steht dem Untersuchungsrichter
zu. Sind solche für ein bestimmtes Fach bei dem Gerichte bleibend
angestellt, so soll er andere nur dann zuziehen, wenn Gefahr
am Verzuge haftet, oder wenn jene durch besondere Verhältnisse
abgehalten sind, oder in dem einzelnen Falle als bedenklich
erscheinen.
Wenn ein Sachverständiger der an ihn ergangenen Vorladung nicht Folge
leistet oder seine Mitwirkung bei der Vornahme des Augenscheines
verweigert, so kann der Untersuchungsrichter eine Geldstrafe von fünf
bis einhundert Gulden gegen ihn verhängen.
§. 120. Personen, welche in einem Untersuchungsfalle als Zeugen
nicht vernommen oder nicht beeidet werden dürfen, oder welche zu
dem Beschädigten oder dem Verletzten in einem der in §. 152, Z. 1,
bezeichneten Verhältnisse stehen, sind bei sonstiger Nichtigkeit
des Actes als Sachverständige nicht beizuziehen.[3] Von der Wahl
der Sachverständigen sind in der Regel sowohl der Ankläger als der
Beschuldigte vor der Vornahme des Augenscheines in Kenntniss zu
setzen; werden erhebliche Einwendungen vorgebracht und haftet nicht
Gefahr am Verzuge, so sind andere Sachverständige beizuziehen.
§. 121. Diejenigen Sachverständigen, welche vermöge ihrer
bleibenden Anstellung schon im Allgemeinen beeidigt sind, hat
der Untersuchungsrichter vor dem Beginne der Amtshandlung an die
Heiligkeit des von ihnen abgelegten Eides zu erinnern.
Andere Sachverständige müssen vor der Vornahme des Augenscheines
eidlich verpflichtet werden, dass sie den Gegenstand desselben
sorgfältig untersuchen, die gemachten Wahrnehmungen treu und
vollständig angeben und den Befund, sowie ihr Gutachten nach bestem
Wissen und Gewissen und nach den Regeln ihrer Wissenschaft oder Kunst
abgeben wollen.
§. 122. Die Gegenstände des Augenscheines sind von den
Sachverständigen in Gegenwart der Gerichtspersonen zu besichtigen und
zu untersuchen, ausser wenn Letztere aus Rücksichten des sittlichen
Anstandes für angemessen erachten, sich zu entfernen, oder wenn die
erforderlichen Wahrnehmungen, wie bei der Untersuchung von Giften,
nur durch fortgesetzte Beobachtung oder länger dauernde Versuche
gemacht werden können.
Bei jeder solchen Entfernung der Gerichtspersonen von dem Orte des
Augenscheines ist aber auf geeignete Weise dafür zu sorgen, dass die
Glaubwürdigkeit der von den Sachverständigen zu pflegenden Erhebungen
sichergestellt werde.
Ist von dem Verfahren der Sachverständigen die Zerstörung oder
Veränderung eines von ihnen zu untersuchenden Gegenstandes zu
erwarten, so soll ein Theil des letzteren, insoferne es thunlich
erscheint, in gerichtlicher Verwahrung behalten werden.
§. 123. Der Untersuchungsrichter leitet den Augenschein. Er
bezeichnet mit möglichster Berücksichtigung der von dem Ankläger
und dem Beschuldigten oder dessen Vertheidiger gestellten Anträge
die Gegenstände, auf welche die Sachverständigen ihre Beobachtung
zu richten haben, und stellt die Fragen, deren Beantwortung er für
erforderlich hält. Die Sachverständigen können verlangen, dass ihnen
aus den Acten oder durch Vernehmung von Zeugen jene Aufklärungen über
von ihnen bestimmt zu bezeichnende Punkte gegeben werden, welche sie
für das abzugebende Gutachten für erforderlich erachten.
Wenn den Sachverständigen zur Abgabe eines gründlichen Gutachtens die
Einsicht der Untersuchungsacten unerlässlich erscheint, können ihnen,
soweit nicht besondere Bedenken dagegen obwalten, auch die Acten
selbst mitgetheilt werden.
§. 124. Die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen gemachten
Wahrnehmungen (Befund) sind von dem Protokollführer sogleich
aufzuzeichnen. Das Gutachten sammt dessen Gründen können sie entweder
sofort zu Protokoll geben oder sich die Abgabe eines schriftlichen
Gutachtens vorbehalten, wofür eine angemessene Frist zu bestimmen ist.
§. 125. Weichen die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen
wahrgenommenen Thatsachen erheblich von einander ab, oder ist ihr
Befund dunkel, unbestimmt, im Widerspruche mit sich selbst, oder mit
erhobenen Thatumständen, und lassen sich die Bedenken nicht durch
eine nochmalige Vernehmung der Sachverständigen beseitigen, so ist
der Augenschein, soferne es möglich ist, mit Zuziehung derselben oder
anderer Sachverständigen zu wiederholen.
§. 126. Ergeben sich solche Widersprüche oder Mängel in Bezug auf das
Gutachten, oder zeigt sich, dass es Schlüsse enthält, welche aus den
angegebenen Vordersätzen nicht folgerichtig gezogen sind, und lassen
sich die Bedenken nicht durch eine nochmalige Verständigung der
Sachverständigen beseitigen, so ist das Gutachten eines anderen oder
mehrerer anderen Sachverständigen einzuholen.
Sind die Sachverständigen Aerzte oder Chemiker, so kann in solchen
Fällen das Gutachten einer medicinischen Facultät der im Reichsrathe
vertretenen Länder eingeholt werden. Dasselbe geschieht, wenn die
Rathskammer die Einholung eines Facultätsgutachtens wegen der
Wichtigkeit oder Schwierigkeit des Falles nöthig findet.
§. 127. Wenn sich bei einem Todesfalle Verdacht ergibt, dass derselbe
durch ein Verbrechen oder Vergehen verursacht worden sei, so muss
vor der Beerdigung die Leichenbeschau und Leichenöffnung vorgenommen
werden.
Ist die Leiche bereits beerdigt, so muss sie zu diesem Behufe wieder
ausgegraben werden, wenn nach den Umständen noch ein erhebliches
Ergebniss davon erwartet werden kann und nicht dringende Gefahr für
die Gesundheit der Personen, welche an der Leichenbeschau theilnehmen
müssen, vorhanden ist.
§. 128. Die Leichenbeschau und Leichenöffnung ist durch zwei Aerzte,
wovon der Eine auch nur ein Wundarzt sein kann, nach den dafür
bestehenden besonderen Vorschriften vorzunehmen.
Der Arzt, welcher den Verstorbenen in der seinem Tode allenfalls
vorhergegangenen Krankheit behandelt hat, ist, wenn es zur Aufklärung
des Sachverhaltes beitragen und ohne Verzögerung geschehen kann, zur
Gegenwart bei der Leichenbeschau aufzufordern.
§. 131. Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so sind der
Erhebung des Thatbestandes nebst den Aerzten nach Thunlichkeit noch
zwei Chemiker beizuziehen. Die Untersuchung der Gifte selbst aber
kann nach Umständen auch von den Chemikern allein in einem hierzu
geeigneten Locale vorgenommen werden.
§. 132. Auch bei körperlichen Beschädigungen ist die Besichtigung des
Verletzten durch zwei Sachverständige vorzunehmen....
§. 133. Ist die körperliche Besichtigung einer Frauensperson nöthig,
so können nach Umständen auch Geburtshelfer oder in minder wichtigen
Fällen Geburtshelferinnen statt der Aerzte oder Wundärzte damit
beauftragt werden.
§. 134. Entstehen Zweifel darüber, ob der Beschuldigte den Gebrauch
seiner Vernunft besitze, oder ob er an einer Geistesstörung leide,
wodurch die Zurechnungsfähigkeit desselben aufgehoben sein könnte,
so ist die Untersuchung des Geistes- und Gemüthszustandes des
Beschuldigten jederzeit durch zwei Aerzte zu veranlassen.
§. 158. Steht die zu vernehmende Person in einem öffentlichen Amte
oder Dienste und muss zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit oder
anderer öffentlicher Interessen eine Stellvertretung während ihrer
Verhinderung eintreten, so ist der unmittelbare Vorgesetzte von deren
Vorladung gleichzeitig zu benachrichtigen.
Diese Vorschrift hat auch dann zu gelten, wenn Angestellte von
Eisenbahnen und Dampfschiffen, im Staats- oder Gemeindedienste
stehende Sanitätspersonen vorzuladen sind.
[Sidenote: Sachverständige bei der Hauptverhandlung.]
§. 221. -- -- -- Zur +Hauptverhandlung+ sind die Zeugen und
Sachverständigen in der Art vorzuladen, dass in der Regel zwischen
der Zustellung der Vorladung und dem Tage, an welchem die
Hauptverhandlung vorgenommen wird, ein Zeitraum von drei Tagen in der
Mitte liegt.
§. 222. Will der Ankläger, der Privatbetheiligte oder der Angeklagte
die Vorladung von Zeugen oder Sachverständigen beantragen, welche
nicht bereits zufolge der Anklageschrift oder des über den Einspruch
gegen dieselbe ergangenen Erkenntnisses vorzuladen sind, so hat
er diese dem Vorsitzenden unter Angabe der Thatsachen und Punkte,
worüber der Vorzuladende vernommen werden soll, rechtzeitig
anzuzeigen.
Die Liste der vorzuladenden Zeugen und Sachverständigen ist dem
Gegner längstens drei Tage vor der Hauptverhandlung mitzutheilen,
ausserdem können diese Personen nicht ohne seine Zustimmung vernommen
werden, unbeschadet jedoch der dem Vorsitzenden in dieser Hinsicht
eingeräumten Macht (§. 254).
§. 235. Der Vorsitzende hat darüber zu wachen, dass gegen Niemand
Beschimpfungen oder offenbar ungegründete oder zur Sache nicht
gehörige Beschuldigungen vorgebracht werden; hat sich der Angeklagte,
der Privatankläger, der Privatbetheiligte, ein Zeuge oder ein
Sachverständiger solche Aeusserungen erlaubt, so kann der Gerichtshof
wider denselben auf Antrag des Beleidigten oder des Staatsanwaltes
oder von Amtswegen Geldstrafe bis fünfzig Gulden oder Arreststrafe
bis zu 8 Tagen, gegen einen Verhafteten aber eine angemessene
Disciplinarstrafe verhängen.
§. 236 enthält gleiche Bestimmungen gegenüber derartigen vom
Vertheidiger oder dem Vertreter des Privatanklägers oder des
Privatbetheiligten ausgehenden Uebertretungen.
§. 241. Bei Beginn der Hauptverhandlung werden die vorgeladenen
Zeugen und Sachverständigen aufgerufen und der Vorsitzende weist sie
an, nachdem er sie an die Heiligkeit des von ihnen abzulegenden Eides
erinnert hat, sich in das für sie bestimmte Zimmer zu begeben. -- --
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
Rücksichtlich der Sachverständigen kann der Vorsitzende in
allen Fällen, in welchen er es für die Erforschung der Wahrheit
zweckdienlich findet, verfügen, dass dieselben sowohl während der
Vernehmung des Angeklagten, als der Zeugen im Sitzungssaale bleiben.
§. 242. Wenn Zeugen oder Sachverständige, der an sie ergangenen
Vorladung ungeachtet, bei der Hauptverhandlung nicht erscheinen, so
kann der Gerichtshof deren ungesäumte Vorführung verfügen.
Ist diese nicht möglich, so entscheidet der Gerichtshof nach Anhörung
des Anklägers und des Angeklagten oder seines Vertheidigers, ob
die Hauptverhandlung vertagt oder fortgesetzt werden und statt der
mündlichen Abhörung jener Zeugen oder Sachverständigen die Verlesung
der in der Voruntersuchung abgelegten Aussagen derselben erfolgen
soll.
Der Ausgebliebene ist zu einer Geldstrafe von fünf bis fünfzig Gulden
zu verurtheilen. Ist die Hauptverhandlung vertagt worden, so hat er
überdies die Kosten der durch sein Ausbleiben vereitelten Sitzung
zu tragen. Auch kann, um sein Erscheinen bei der neu angeordneten
Sitzung zu sichern, ein Vorführungsbefehl wider ihn erlassen werden.
§. 243. Gegen die in Gemässheit des vorstehenden Paragraphen
ausgesprochene Verurtheilung kann der Zeuge oder Sachverständige
binnen acht Tagen nach Zustellung des gegen ihn ergangenen
Erkenntnisses bei dem erkennenden Gerichtshofe Einspruch erheben.
Wenn er nachzuweisen vermag, dass ihm die Vorladung nicht gehörig
zugestellt worden, oder dass ihn ein unvorhergesehenes und
unabwendbares Hinderniss vom Erscheinen abgehalten habe, wird er von
der wider ihn ausgesprochenen Strafe losgezählt.
Eine Minderung der verhängten Strafe oder des ihm auferlegten
Kostenbetrages kann ausgesprochen werden, wenn er darzuthun im Stande
ist, dass diese Strafe oder Kostenverurtheilung nicht im richtigen
Verhältnisse zu seinem Verschulden oder zu den Folgen seines
Ausbleibens steht.
Wird der Einspruch erst nach dem Schlusse der Hauptverhandlung
erhoben, so entscheidet darüber der Gerichtshof erster Instanz in
nicht öffentlicher Sitzung, in einer Versammlung von drei Richtern,
von denen Einer den Vorsitz führt.
Gegen das über den Einspruch ergehende Erkenntniss ist kein
Rechtsmittel zulässig.
§. 247. Zeugen und Sachverständige werden einzeln vorgerufen und in
Anwesenheit des Angeklagten abgehört. -- -- -- --
§. 248. Der Vorsitzende hat bei der Abhörung von Zeugen und
Sachverständigen -- -- -- -- -- -- dafür zu sorgen, dass ein noch
nicht vernommener Sachverständiger nicht bei der Vernehmung anderer
Sachverständigen über denselben Gegenstand zugegen sei.
Zeugen und Sachverständige haben nach ihrer Vernehmung so lange
in der Sitzung anwesend zu bleiben, als der Vorsitzende sie nicht
entlässt.
§. 249. Ausser dem Vorsitzenden sind auch die übrigen Mitglieder
des Gerichtshofes, der Ankläger, der Angeklagte und der
Privatbetheiligte, sowie deren Vertreter befugt, an jede zu
vernehmende Person, nachdem sie das Wort hierzu von dem Vorsitzenden
erhalten haben, Fragen zu stellen (ebenso nach §. 315 die
Geschworenen). Der Vorsitzende ist berechtigt, Fragen, die ihm
unangemessen erscheinen, zurückzuweisen.
§. 252. -- -- -- -- -- -- die Gutachten der Sachverständigen dürfen
nur in folgenden Fällen vorgelesen werden:
1. Wenn die Vernommenen in der Zwischenzeit gestorben sind; wenn
ihr Aufenthalt unbekannt oder ihr persönliches Erscheinen wegen
ihres Alters, Krankheit oder Gebrechlichkeit oder wegen entfernten
Aufenthaltes oder aus anderen erheblichen Gründen füglich nicht
bewerkstelligt werden konnte;
2. wenn die in der Hauptverhandlung Vernommenen in wesentlichen
Punkten von ihren früher abgelegten Aussagen abweichen;
3. wenn Zeugen, ohne dazu berechtigt zu sein, oder wenn Mitschuldige
die Aussage verweigern; endlich
4. wenn über die Verlesung Ankläger und Angeklagte einverstanden sind.
Augenscheins- und Befundaufnahmen -- -- -- -- müssen vorgelesen
werden, wenn nicht beide Theile darauf verzichten.
§. 253. Im Laufe oder am Schlusse des Beweisverfahrens lässt der
Vorsitzende dem Angeklagten und, soweit es nöthig ist, den Zeugen und
Sachverständigen diejenigen Gegenstände, welche zur Aufklärung des
Sachverhaltes dienen können, vorlegen und fordert sie auf, sich zu
erklären, ob sie dieselben anerkennen.
§. 254. Der Vorsitzende ist ermächtigt, ohne Antrag des Anklägers
oder Angeklagten, Zeugen und Sachverständige, von welchen nach dem
Gange der Verhandlung Aufklärung über erhebliche Thatsachen zu
erwarten ist, im Laufe des Verfahrens vorladen und nöthigenfalls
vorführen zu lassen und zu vernehmen.
Ob eine Beeidigung solcher neuer Zeugen oder Sachverständigen
stattfinde, darüber hat nach deren Abhörung und nach Vernehmung der
Parteien der Gerichtshof zu entscheiden.
Der Vorsitzende kann auch neue Gutachten abfordern oder andere
Beweismittel herbeischaffen lassen, mit dem Gerichte einen
Augenschein vornehmen oder hierzu ein Mitglied des Gerichtshofes
abordnen, welches darüber Bericht zu erstatten hat.
§. 384. Sachverständige, welche bei einem Gerichte bleibend als
solche bestellt sind und dafür eine Entlohnung beziehen, haben nur
den Ersatz der zur Erstattung eines Gutachtens nöthig gewesenen
und gehörig nachgewiesenen Vorauslagen anzusprechen. Andere
Sachverständige erhalten ausserdem eine von dem Gerichte mit
Erwägung aller Umstände zu bemessende Gebühr. Soweit hierüber in den
bestehenden Vorschriften nichts Besonderes bestimmt ist, wird die
Gebühr zwischen einem und fünf Gulden, und in dem Falle, wenn zu dem
Gutachten besondere wissenschaftliche, technische oder künstlerische
Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, zwischen zwei Gulden
und zwanzig Gulden bemessen. Zur Bewilligung einer diesen Betrag
übersteigenden Entlohnung ist die Genehmigung des Gerichtshofes
zweiter Instanz einzuholen.
[Sidenote: Gebühren.]
Die Grundlage für die Entlohnung von +ärztlichen Sachverständigen+
bildet die Minist.-Verordng. vom 17. Februar 1855, Nr. 33 R. G. B.,
welche lautet:
§. 1. Für die streng-gerichtsärztlichen Verrichtungen im Civil- und
Strafverfahren hat der beiliegende Tarif I zu gelten.[4]
§. 2. Für andere bei den Gerichtsbehörden vorkommende ärztliche,
wundärztliche und geburtshilfliche Verrichtungen ist die Entlohnung
nach dem beiliegenden Tarife II zu bemessen.
§. 3. Für aussergewöhnliche Verrichtungen, welche in den Tarifen
namentlich nicht aufgeführt erscheinen, ist unter genauer Nachweisung
und Darstellung des Falles ein entsprechender Entlohnungsbetrag
in Anrechnung zu bringen, worüber in jedem einzelnen Falle die
Entscheidung des Oberlandesgerichtes einzuholen ist.
§. 4. Die nach diesen Tarifen gebührenden Entlohnungen werden den
betreffenden Sanitätspersonen unmittelbar vom Aerar selbst dann
vergütet, wenn das Aerar dritten Personen gegenüber den Ersatz dafür
auszusprechen hat.
§. 5. Werden gerichtsärztliche Geschäfte ausserhalb des Wohnortes
der dazu verwendeten Sanitätsperson besorgt, so hat dieselbe, nebst
der für die Verrichtung selbst (nach Tarif I und II) entfallenden
Entlohnung, auch noch eine Zehr- und Fahrkosten-Vergütung
anzusprechen.
I.
Gebühren-Tarif +für die streng gerichtsärztlichen Verrichtungen+.
+-------------+-------------------------------------+----------------+
| | | Oesterr. Währ. |
| | +-------+--------+
| | | fl. | kr. |
| | +-------+--------+
| | =In Civil-Rechtssachen.= | | |
| | | | |
| Allg. bürgl.|Ermittlung des ehelichen Unvermögens:| | |
| Gesetzbuch| _a)_ für die Untersuchung | 2 | 10 |
| §. 100.| _b)_ für jeden hierzu nothwendigen | | |
| | folgenden Besuch | -- | 52,₅ |
| | _c)_ für das schriftliche Gutachten| 1 | 5 |
| | | | |
|§§. 273, 283,| Für die Untersuchung eines an Wahn- | | |
| 567.| oder Blödsinn Leidenden, und zwar: | | |
| | _a)_ wegen Bestimmung des Wahn- }| | |
| | oder Blödsinns }| | |
| | _b)_ wegen Bestimmung der Heilung }| | |
| | desselben } }| 2.10 bis 4.20 |
| | _c)_ wegen Bestimmung der } }| | |
| | heiteren Zwischenzeit }| | |
| | Für jeden folgenden nothwendigen | | |
| | Besuch | 1 | 5 |
| | Für das schriftliche Gutachten, } | | |
| | je nach der geringeren oder } | 2.10 bis 5.25 |
| | grösseren Ausführlichkeit. } | | |
| | | | |
| §. 926.| Für die Untersuchung wegen | | |
| | Gewährleisung fürbestimmte | | |
| | Viehkrankheiten: | | |
| | _a)_ bei Schafen oder anderen | | |
| | kleineren Thieren | | |
| | von 1-5 Stück | -- | 52,₅ |
| | bei 5-10 Stück | -- | 58,₇ |
| | und so fort; | | |
| | _b)_ bei Rindern und Pferden | | |
| | für 1 Stück | 1 | 5 |
| | | | |
| §§. 1325,| Für die Untersuchung bei | | |
| 1328.| körperlichen Verletzungen, | | |
| | insoferne sie ausser dem | | |
| | Strafverfahren vorkommt | 2 | 10 |
| | Für jeden erforderlichen | | |
| | folgenden Besuch | -- | 52,₅ |
| | Für die Abgabe eines abgesonderten | | |
| | Gutachtens | 2 | 10 |
| | | | |
| | =Im Strafverfahren.= | | |
| | | | |
| | _A._ +Verbrechen+. | | |
| | | | |
| Strafgesetz| Für die Untersuchung bei der | | |
| §§. 125,| Nothzucht oder bei der Schändung | 1 | 5 |
| 127, 128.| Für die Untersuchung bei der | | |
| §§. 129,| Unzucht gegen die Natur oder | | |
| 132 zu IV.| bei der Kuppelei durch Verführung | | |
| | einer unschuldigen Person | 1 | 5 |
| | | | |
| §§. 134| Für die gerichtliche Section | | |
| | (Leicheneröffnung) | 3 | 15 |
| bis 143.| Für die Abfassung eines | | |
| | abgesonderten Gutachtens | 2 | 10 |
| | | | |
| §. 161.| Für die gerichtliche Section eines | | |
| | Neugeborenen mit Vornahme der | | |
| | Lungenprobe | 4 | 20 |
| | | | |
| | In Fällen, wo die Untersuchung an | | |
| | faulen Leichen vorzunehmen ist, | | |
| | die oben angeführte Gebühr noch | 2 | 10 |
| | Gebühr noch | | |
| | | | |
| | Für die Vornahme einer chemischen } | | |
| | Untersuchung bei Vergifteten } | | |
| | nebst dem Ersatze der dazu } | | |
| | verwendeten, nach der } | 6.30 bis 10.50 |
| | Arzneitaxe berechneten } | | |
| | Prüfungsmittel } | | |
| | | | |
| | Für die Leitung und Ueberwachung } | | |
| | der Untersuchung und für das } | | |
| | und für das darüber abgefasste } | 3.15 bis 5.25 |
| | Gutachten dem Arzte } | | |
| | dem Arzte } | | |
| | | | |
| | Für die nachträgliche Untersuchung | | |
| | des Mordwerkzeuges oder anderer | | |
| | hieher gehöriger Gegenstände | 2 | 10 |
| | | | |
| | Im Falle aber letztere Gifte wären, | | |
| | nebst Ersatz der Prüfungsmittel | 4 | 20 |
| | | | |
|§§. 144, 148.| Für die Untersuchung der Mutter | | |
| | bei dem Verdachte der Abtreibung | 2 | 10 |
| | der Leibesfrucht | | |
| | | | |
|§§. 149, 151.| Für die bei Weglegung von | | |
| | Neugeborenen erforderlichen | | |
| | Untersuchungen: | | |
| | _a_) bei lebend gefundenen | | |
| | Kindern | 2 | 10 |
| | _b_) bei todt gefundenen | | |
| | Kindern | 4 | 20 |
| | | | |
|§§. 152, 157,| Für die Untersuchung eines | | |
| 160.| körperlich schwer Beschädigten | | |
| | oder im Zweikampfe Verwundeten | 2 | 10 |
| | | | |
| | Für jeden erforderlichen folgenden | | |
| | Besuch | -- | 52,₅ |
| | | | |
| | Für die Abgabe eines abgesonderten | | |
| | Gutachtens | 2 | 10 |
| | | | |
| | Untersuchung eines Gefangenen | | |
| | bezüg. der Leibesbeschaffenheit | | |
| | (Gebrechen) etc. | -- | 17,₅ |
| | | | |
|Strafgesetz | _B._ +Vergehen und Uebertretungen.+ | | |
| §§. 335 | | | |
| bis 337. | _a_) Für die Untersuchung einer | | |
| bis 337. | leichten körperlichen | 1 | 5 |
| | Verletzung | | |
| | _b_) Für die Untersuchung einer | | |
| | schweren körperlichen | 2 | 10 |
| | Verletzung | | |
| | _c_) Für die Untersuchung im | | |
| | Falle der Tödtung | | |
| | (gerichtliche Section) die | | |
| | oben bei den §§. 134 bis | | |
| | 143 vorkommenden Gebühren. | | |
| | | | |
|§§. 339, 340.| Untersuchung der Wöchnerin wegen | | |
| | verheimlichter Geburt | 1 | 5 |
| | | | |
| | Untersuchung einer unreifen Frucht | 1 | 5 |
| | | | |
| | Im Falle die Section des Kindes | | |
| | nöthig ist, dafür sammt Gutachten | 3 | 15 |
| | | | |
| §. 345. | Untersuchung einer verbotenen | | |
| | Arznei (beim Verkauf derselben | | |
| | Seite Berechtigter) | 1 | 5 |
| | | | |
| §. 349. | Für die Untersuchung einer schlecht | | |
| | oder falsch bereiteten Arznei | | |
| | (ausgenommen, wenn eine chemische| | |
| | Untersuchung nöthig wäre) | 1 | 5 |
| | | | |
| §. 353. | Untersuchung von verwechselten | | |
| | Arzneien | 1 | 5 |
| | | | |
| §. 354. | Untersuchung bei unbefugtem Handel | | |
| | mit Arzneien: | | |
| | _a_) einzelner oder einiger | | |
| | ohne Rücksichtenauf die | | |
| | Qualität | 1 | 5 |
| | | | |
| §§. 356 | _b_) vieler oder ganzer | | |
| bis 358.| Sammlungen derselben | 1.05 bis 4.20 |
| | | | |
| | Untersuchung bei einem Verschulden | | |
| | eines Heil-oder Wundarztes die | | |
| | bei §. 335 bezeichneten Gebühren. | | |
| | | | |
| §. 360. | Untersuchung bei Vernachlässigung | | |
| | einer Krankheit | 1 | 5 |
| | | | |
| §. 364. | Untersuchung eines Giftes, wenn es | | |
| | bei Krämern oder Hausirern | | |
| | gefunden wird: | | |
| | _a_) wenn der Augenschein | | |
| | genügt | -- | 21 |
| | _b_) für eine weitläufigere | | |
| | Untersuchung | 1.05 bis 2.-- |
| | | | |
| §. 379. | Untersuchung einer mit einer | | |
| | schändlichen oder sonst | | |
| | ansteckenden Krankheit behafteten | | |
| | Amme oder Hebamme | 1 | 5 |
| | | | |
| §. 387. | Untersuchung eines wüthenden oder | | |
| | wuthverdächtigen Thieres | 2 | 10 |
| | | | |
| §. 391.| Untersuchung eines bösartigen | | |
| | Thieres | 1 | 5 |
| | | | |
| §. 399. | Untersuchung von Fleisch bei | | |
| | Gewerbsleuten | 1 | 5 |
| | | | |
|§§. 400, 401.| Untersuchung von krankem Viehe bei | | |
| | einer Viehseuche, die bei | | |
| | §. 929 a. b. G. B. bezeichneten | | |
| | Gebühren. | | |
| | | | |
|§§. 403, 405.|Untersuchung von Getränken | 1 | 5 |
| | | | |
| §§. 406 | Untersuchung von Zinngeschirr oder | | |
| bis 408.| anderen gesundheitsschädlichen | | |
| | Aufbewahrungen oder Zubereitungen | | |
| | von Genussmitteln, sammt den | | |
| | hierbei erforderlichen chemischen | | |
| | Untersuchungen | 1 | 5 |
| | | | |
| §. 409.| Untersuchung der | | |
| | Selbstverstümmelungen: wie bei | | |
| | leichten oder schweren | | |
| | körperlichen Verletzungen. | | |
| | | | |
| §. 411 | Untersuchung bei Raufhändeln oder | | |
| bis 430.| anderen in diesen Paragraphen | | |
| | bezeichneten Fällen nach | | |
| | Beschaffenheit der stattgefundenen| | |
| | leichteren oder schwereren | | |
| | Verletzungen und der Zahl der | | |
| | verletzten Personen, wie oben. | | |
| | | | |
| §. 431.| Untersuchung der im §. 341 | | |
| | bezeichneten Fälle nach den | | |
| | vorstehend entwickelten Ansätzen. | | |
| | | | |
| | =Anhang.= | | |
| | | | |
| 1. | Für ein von Seite des Gerichtes | | |
| | gefordertes Krankheitszeugniss | 1 | 5 |
| | | | |
| 2. | Für die Beiwohnung bei einer | | |
| | gewöhnlichen Hauptverhandlung, | | |
| | Gerichtssitzung, um Aufschlüsse | | |
| | zu geben: | | |
| | _a_) für einen halben Tag | 3 | 15 |
| | _b_) für einen ganzen Tag | 5 | 25 |
| | _c_) für jeden folgenden | | |
| | halben Tag | 2 | 10 |
| | | | |
| 3. | Gerichtliche Section eines todten | | |
| | Thieres: | | |
| | _a_) eines grösseren | 3 | 15 |
| | _b_) eines kleineren | 1 | 57,₅|
Wenn diese Verrichtungen von einem Wundarzte vorgenommen werden, so
erhält er nur die Hälfte der hier angesetzten Gebühren.
Nebst den hier angesetzten Gebühren haben die von den Gerichten
als Sachverständige in Anspruch genommenen Sanitätspersonen, wenn
die Verrichtung für das Gericht ihre Entfernung von dem Wohnorte
erheischt, die durch die bestehenden Gesetze und Verordnungen
bestimmten Diäten und Reisegelder zu fordern.
[Sidenote: Oesterr. Strafgesetz über Sachverständige.]
Das +österr. Strafgesetz+ vom 27. Mai 1852 enthält bezüglich der
Sachverständigen folgende Bestimmungen:
§. 153. Dieses Verbrechens (der schweren körperlichen Beschädigung)
macht sich auch derjenige schuldig, der -- -- -- -- einen Zeugen oder
Sachverständigen, während sie in der Ausübung ihres Berufes begriffen
sind, oder wegen derselben vorsätzlich am Körper beschädigt.
§. 300. Wer öffentlich, oder vor mehreren Leuten oder in Druckwerken
verbreiteten bildlichen Darstellungen oder Schriften durch
Schmähungen, Verspottungen, unwahre Angaben oder Entstellungen von
Thatsachen -- -- -- -- gegen einen Zeugen oder Sachverständigen
in Bezug auf ihre Aussagen vor Gericht aufzureizen sucht -- -- --
-- ist des Vergehens der Aufwieglung schuldig und mit ein- bis
sechsmonatlichem Arrest zu bestrafen.
Von den einschlägigen Special-Erlässen ist mit Rücksicht auf die
mitunter voreilige Publication gerichtsärztlich interessanter Fälle
+das Gesetz vom 17. December 1862+ zu erwähnen, dessen Art. VII
lautet:
Wer den Inhalt der im Laufe einer strafgerichtlichen Untersuchung zu
den Acten gebrachten Beweisurkunden oder Aussagen von Beschuldigten,
Zeugen oder Sachverständigen vor Beendigung der Untersuchung und
bevor davon in der Hauptverhandlung Gebrauch gemacht worden ist,
durch den Druck veröffentlicht, macht sich eines Vergehens schuldig
und ist mit einer Geldstrafe von 50 bis 500 fl. zu belegen.
[Sidenote: Oesterr. Strafgesetzentwurf.]
Eine gleiche Bestimmung enthält der §. 133 des „+Entwurfes eines
neuen Strafgesetzes+“ (Regierungsvorlage vom Jahre 1889).
Ebenda heisst es im §. 160: Wer vor Gericht -- -- -- -- -- -- --
eine unwahre Aussage mit einem Eide bekräftigt oder auf einen vorher
abgelegten Eid nimmt, wird wegen Meineides mit Zuchthaus bis zu
5 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter drei Monaten bestraft.
Ausserdem kann auf eine Geldstrafe bis zu 5000 fl. erkannt werden,
wenn der Meineid um rechtswidriger Vortheile willen abgelegt wurde.
§. 161. Wer vor Gericht oder vor einem Schiedsgericht, aber nicht
unter Eid, ein falsches Zeugniss, einen falschen Befund oder ein
falsches Gutachten abgibt, wird mit Gefängniss bestraft.
§. 162. Ist der Meineid oder die falsche Aussage in einer Strafsache
zum Nachtheil der Beschuldigten abgelegt worden, so ist auf
Zuchthaus bis zu 10 Jahren zu erkennen. Wenn der Beschuldigte
zur Zuchthausstrafe oder zu einer anderen mehr als dreijährigen
Freiheitsstrafe oder zu einer noch strengeren Strafe verurtheilt
worden ist, so ist im Falle des Meineides auf Zuchthaus nicht unter 3
Jahren zu erkennen.
Ferner im §. 295: Aerzte und andere approbirte Medicinalpersonen,
welche ein unrichtiges Zeugniss über den Gesundheitszustand
eines Menschen zum Gebrauche bei einer Behörde oder
Versicherungsunternehmung wider besseres Wissen ausstellen, werden
mit Gefängniss von einem Monat bis zu 2 Jahren oder an Geld von 100
bis 500 fl. bestraft.
[Sidenote: Deutsche Strafprocessordnung.]
Die auf die Sachverständigen und den Augenschein bezüglichen
Bestimmungen +der deutschen Strafprocessordnung+ vom 1. Februar 1877
lauten:
§. 72. Auf Sachverständige finden die Vorschriften des sechsten
Abschnittes über Zeugen entsprechende Anwendung, insoweit nicht in
den nachfolgenden Paragraphen abweichende Bestimmungen getroffen sind.
§. 73. Die Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen und die
Bestimmung ihrer Anzahl erfolgt durch den Richter.
Sind für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich
bestellt, so sollen andere Personen nur dann gewählt werden, wenn die
besonderen Umstände es erfordern.
§. 74. Ein Sachverständiger kann aus denselben Gründen, welche zur
Ablehnung eines Richters berechtigen, abgelehnt werden.[5] Ein
Ablehnungsgrund kann jedoch nicht daraus entnommen werden, dass der
Sachverständige als Zeuge vernommen worden ist. Das Ablehnungsrecht
steht der Staatsanwaltschaft, dem Privatkläger und dem Beschuldigten
zu. Die ernannten Sachverständigen sind den zur Ablehnung
Berechtigten namhaft zu machen, wenn nicht besondere Umstände
entgegenstehen. Der Ablehnungsgrund ist glaubhaft zu machen; der Eid
ist als Mittel der Glaubhaftmachung ausgeschlossen.
§. 75. Der zum Sachverständigen Ernannte hat der Ernennung Folge zu
leisten, wenn er zur Erstattung von Gutachten der erforderlichen Art
öffentlich bestellt ist, oder wenn er die Wissenschaft, die Kunst
oder das Gewerbe, deren Kenntniss Voraussetzung der Begutachtung ist,
öffentlich zum Erwerbe ausübt, oder wenn er zur Ausübung derselben
öffentlich bestellt oder ermächtigt ist.
Zur Erstattung des Gutachtens ist auch derjenige verpflichtet,
welcher sich zu derselben vor Gericht bereit erklärt hat.
§. 76. Dieselben Gründe, welche einen Zeugen berechtigen, das
Zeugniss zu verweigern, berechtigen einen Sachverständigen zur
Verweigerung des Gutachtens.[6] Auch aus anderen Gründen kann ein
Sachverständiger von der Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens
entbunden werden.
Die Vernehmung eines öffentlichen Beamten als Sachverständigen findet
nicht statt, wenn die vorgesetzte Behörde des Beamten erklärt, dass
die Vernehmung den dienstlichen Interessen Nachtheil bereiten würde.
§. 77. Im Falle des Nichterscheinens oder der Weigerung eines zur
Erstattung des Gutachtens verpflichteten Sachverständigen wird dieser
zum Ersatze der Kosten und zu einer Geldstrafe bis zu 300 Mark
verurtheilt. Im Falle wiederholten Ungehorsams kann noch einmal eine
Geldstrafe bis zu 600 Mark erkannt werden.
Die Festsetzung und die Vollstreckung der Strafe gegen eine dem
activen Heere oder der activen Marine angehörende Militärperson
erfolgt auf Ersuchen durch das Militärgericht.
§. 78. Der Richter hat, soweit ihm dies erforderlich erscheint, die
Thätigkeit der Sachverständigen zu leiten.
§. 79. Der Sachverständige hat vor Erstattung des Gutachtens einen
Eid dahin zu leisten: „dass er das von ihm erforderte Gutachten
unparteiisch und nach bestem Wissen erstatten werde“.
Ist der Sachverständige für die Erstattung von Gutachten der
betreffenden Art im Allgemeinen beeidigt, so genügt die Berufung auf
den geleisteten Eid.
§. 80. Dem Sachverständigen kann auf sein Verlangen zur Vorbereitung
des Gutachtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten
weitere Aufklärung verschafft werden.
Zu demselben Zwecke kann ihm gestattet werden, die Acten einzusehen,
der Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beizuwohnen und an
diesen unmittelbar Fragen zu stellen.
§. 82. Im Vorverfahren hängt es von der Anordnung des Richters ab,
ob die Sachverständigen ihr Gutachten schriftlich oder mündlich zu
erstatten haben.
§. 83. Der Richter kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder
durch andere Sachverständige anordnen, wenn er das Gutachten für
ungenügend erachtet.
Der Richter kann die Begutachtung durch einen anderen
Sachverständigen anordnen, wenn ein Sachverständiger nach Erstattung
des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist.
In wichtigeren Fällen kann das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt
werden.
§. 84. Der Sachverständige hat nach Massgabe der Gebührenordnung
Anspruch auf Entschädigung für Zeitversäumniss, auf Erstattung der
ihm verursachten Kosten und ausserdem auf angemessene Vergütung
seiner Mühewaltung.
[Sidenote: Deutscher Gebührentarif für Gerichtsärzte.]
Die +Gebühren+ für gerichtsärztliche Verrichtungen sind durch das
Gesetz vom 9. März 1872 fixirt. Diesem zufolge entfallen:
Für die Besichtigung eines Leichnams ohne Obduction (einschliesslich
der Terminsgebühr): 2 Thaler.[7]
Für den Bericht hierüber, falls derselbe nicht sogleich zu Protokoll
gegeben wird: 1 Thaler.
Für Besichtigung und Obduction eines Leichnams (einschliesslich der
Terminsgebühr): 4 Thaler.
Wenn der Leichnam bereits 6 Wochen oder länger begraben war oder 14
Tage im Wasser gelegen hatte: 8 Thaler.
Für den vollständigen Obductionsbericht: 2-6 Thaler.
Für jedes andere mit wissenschaftlichen Gründen unterstützte, nicht
bereits im Termin zu Protokoll gegebene Gutachten, es mag dasselbe
den körperlichen oder geistigen Zustand einer Person oder eine Sache
betreffen, 2-8 Thaler.
Die höheren Sätze sind insbesondere dann zu bewilligen, wenn eine
zeitraubende Einsicht der Acten nothwendig war oder die Untersuchung
die Anwendung des Mikroskopes oder anderer Instrumente oder Apparate
erforderte, deren Handhabung mit besonderen Schwierigkeiten verbunden
ist.
Für die Ausstellung eines Befundscheines ohne nähere gutachtliche
Ausführung: 1 Thaler.
Der bei der Obduction zugezogene zweite Medicinalbeamte erhält für
den Bericht: 1-3 Thaler.
Sind zwei Medicinalbeamte zu einem gemeinschaftlichen Gutachten über
den Gemüthszustand eines Menschen aufgefordert, so erhält jeder
derselben die Gebühr.
Für jeden nöthigen besonderen Vorbesuch: 1 Thaler.
Für mehr als 3 Vorbesuche passirt die Gebühr nur insoweit, als die
Vorbesuche auf ausdrückliches Verlangen der requirirenden Behörde
gemacht sind.
Für eine gerichtliche oder medicinal-polizeiliche chemische
Untersuchung einschliesslich des Berichtes nebst Vergütung der
verbrauchten Reagentien und Apparate: 4-25 Thaler.
Für Abwartung eines Termins (Verhandlung) 2 Thaler, und insoferne
der Termin über 3 Stunden dauert, für jede folgende ganze oder
angefangene Stunde 15 Sgr. Diese Sätze finden auch Anwendung für die
Zuziehung zur mündlichen Hauptverhandlung in Untersuchungssachen,
und zwar werden dieselben, wenn die Zuziehung an mehreren
Verhandlungstagen stattgefunden hat, für jeden Tag besonders
berechnet.[8]
§. 86. Findet die Einnahme eines gerichtlichen Augenscheines statt,
so ist im Protokoll der vorgefundene Sachbestand festzustellen
und darüber Auskunft zu geben, welche Spuren oder Merkmale, deren
Vorhandensein nach der besonderen Beschaffenheit des Falles vermuthet
werden konnte, gefehlt haben.
§. 87. Die richterliche Leichenschau wird unter Zuziehung eines
Arztes, die Leichenöffnung im Beisinn des Richters von zwei
Aerzten, unter welchen sich ein Gerichtsarzt befinden muss,
vorgenommen. Demjenigen Arzte, welcher den Verstorbenen in der
dem Tode unmittelbar vorausgegangenen Krankheit behandelt hat,
ist die Leichenöffnung nicht zu übertragen. Derselbe kann jedoch
aufgefordert werden, der Leichenöffnung anzuwohnen, um aus der
Krankheitsgeschichte Aufschlüsse zu geben.
Die Zuziehung eines Arztes kann bei der Leichenschau unterbleiben,
wenn sie nach dem Ermessen des Richters entbehrlich ist.
§. 89. Die Leichenöffnung muss sich, soweit der Zustand der Leiche
dies gestattet, stets auf die Oeffnung der Kopf-, Brust- und
Bauchhöhle erstrecken.
§. 91. Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist die
Untersuchung der in der Leiche oder sonst gefundenen verdächtigen
Stoffe durch einen Chemiker oder durch eine für solche Untersuchungen
bestehende Fachbehörde vorzunehmen.
Der Richter kann anordnen, dass diese Untersuchung unter Mitwirkung
oder Leitung eines Arztes stattzufinden habe.
§. 191. Findet die Einnahme eines Augenscheines statt, so ist der
Staatsanwaltschaft, dem Beschuldigten und dem Vertheidiger die
Anwesenheit bei der Verhandlung zu gestatten.
[Sidenote: Deutsche Strafprocessordnung. Hauptverhandlung.]
Dasselbe gilt, wenn ein Sachverständiger vernommen werden soll,
welcher voraussichtlich am Erscheinen in der Hauptverhandlung
verhindert oder dessen Erscheinen wegen grosser Entfernung besonders
erschwert sein wird.
§. 193. Findet die Einnahme eines Augenscheines unter Zuziehung von
Sachverständigen statt, so kann der Angeschuldigte beantragen, dass
die von ihm für die Hauptverhandlung in Vorschlag zu bringenden
Sachverständigen zu den Terminen geladen werden und, wenn der Richter
den Antrag ablehnt, sie selbst laden lassen.
Den von dem Angeschuldigten benannten Sachverständigen ist die
Theilnahme am Augenschein und an den erforderlichen Untersuchungen
insoweit zu gestatten, als dadurch die Thätigkeit der vom Richter
bestellten Sachverständigen nicht behindert wird.
§. 218. Verlangt der Angeklagte die Ladung von Sachverständigen zur
Hauptverhandlung, so hat er unter Angabe der Thatsache, über welche
der Beweis erhoben werden soll, seine Anträge bei dem Vorsitzenden
des Gerichts zu stellen.
§. 219. Lehnt der Vorsitzende den Antrag auf Ladung einer Person ab,
so kann der Angeklagte die letztere unmittelbar laden lassen. Hierzu
ist er auch ohne vorgängigen Antrag befugt.
Eine unmittelbar geladene Person ist nur dann zum Erscheinen
verpflichtet, wenn ihr bei der Ladung die gesetzliche Entschädigung
für Reisekosten und Versäumniss baar dargeboten oder deren
Hinterlegung bei dem Gerichtsschreiber nachgewiesen wird.
§. 220. Der Vorsitzende des Gerichts kann auch von Amtswegen die
Ladung von Sachverständigen anordnen.
§. 221. Der Angeklagte hat die von ihm unmittelbar geladenen oder
zur Hauptverhandlung zu stellenden Sachverständigen rechtzeitig
der Staatsanwaltschaft namhaft zu machen und ihren Wohn- oder
Aufenthaltsort anzugeben.
Diese Verpflichtung hat die Staatsanwaltschaft gegenüber dem
Angeklagten, wenn sie ausser den in der Anklageschrift benannten oder
auf Antrag des Angeklagten geladenen Sachverständigen die Ladung noch
anderer Personen, sei es auf Anordnung des Vorsitzenden (§. 220) oder
aus eigener Entschliessung, bewirkt.
§. 222. Wenn dem Erscheinen eines Sachverständigen in einer
Hauptverhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit
oder Gebrechlichkeit oder andere nicht zu beseitigende Hindernisse
entgegenstehen, so kann das Gericht die Vernehmung desselben durch
einen beauftragten oder ersuchten Richter anordnen.
Dasselbe gilt, wenn ein Sachverständiger vernommen werden soll,
dessen Erscheinen wegen grosser Entfernung besonders erschwert sein
wird.
§. 238. Die Vernehmung der Sachverständigen ist der
Staatsanwaltschaft und dem Vertheidiger auf deren übereinstimmenden
Antrag von dem Vorsitzenden zu überlassen. Bei den von der
Staatsanwaltschaft benannten Sachverständigen hat diese, bei den von
den Angeklagten benannten der Vertheidiger in erster Reihe das Recht
zur Vernehmung.
§. 239. Der Vorsitzende hat den beisitzenden Richtern auf Verlangen
zu gestatten, Fragen an die Zeugen und Sachverständigen zu stellen.
Dasselbe hat der Vorsitzende der Staatsanwaltschaft, dem Angeklagten
und dem Vertheidiger, sowie den Geschworenen und den Schöffen zu
gestatten.
§. 240. Demjenigen, welcher im Falle des §. 238, Abs. 1 die
Befugnisse der Vernehmung missbraucht, kann dieselbe von dem
Vorsitzenden entzogen werden.
In den Fällen des §. 238, Abs. 1 und des §. 239, Abs. 2 kann der
Vorsitzende ungeeignete oder nicht zur Sache gehörende Fragen
zurückweisen.
§. 241. Zweifel über die Zulässigkeit einer Frage entscheidet das
Gericht.
§. 247. Die vernommenen Sachverständigen dürfen sich nur
mit Genehmigung oder auf Anweisung des Vorsitzenden von der
Gerichtsstelle entfernen.
+Deutsche Civilprocessordnung+ v. J. 1877, Achter Titel. Beweis durch
Sachverständige §§. 367-378 im Allgemeinen identisch mit den analogen
Bestimmungen der St. P. O.
§. 379. (Sachverständige Zeugen.) Insoweit zum Beweise vergangener
Thatsachen oder Zustände, zu deren Wahrnehmung eine besondere
Sachkunde erforderlich war, sachkundige Personen zu vernehmen sind,
kommen die Vorschriften über den Zeugenbeweis zur Anwendung.
+Deutsches Strafgesetzbuch+, §. 278. Aerzte und andere approbirte
Medicinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugniss über den
Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauche bei einer Behörde
oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen ausstellen,
werden mit Gefängniss von einem Monat bis zu zwei Jahren bestraft.
[Sidenote: Wahl der Sachverständigen.]
Aus den vorstehenden gesetzlichen Bestimmungen ist zunächst zu
entnehmen, dass die +Wahl+ der in dem einzelnen Falle heranzuziehenden
Sachverständigen, mithin auch der Gerichtsärzte, im Allgemeinen dem
Richter vorbehalten ist. Es erscheint jedoch dieses Recht schon
insoferne eingeschränkt, als er nach §. 119 der österr., §. 73
der deutschen St. P. O. und §. 369 der deutschen C. P. O., wenn
Sachverständige für ein bestimmtes Fach bei dem Gerichte bleibend
angestellt sind, andere nur dann zuziehen soll, wenn besondere Umstände
dies erfordern, namentlich (österr. St. P. O.) wenn Gefahr am Verzuge
haftet, oder wenn jene durch besondere Verhältnisse abgehalten sind
oder in dem einzelnen Falle als bedenklich erscheinen. Diese Verfügung
kann man nur begrüssen, nicht blos im Interesse der betreffenden
Angestellten, sondern vorzugsweise im Interesse der Sache, da auf diese
Art den Einzelnen Gelegenheit geboten ist, sich durch wiederholte
einschlägige Untersuchungen eigene praktische Erfahrungen zu sammeln,
welche den Blick schärfen und eine gewisse Sicherheit des Urtheils
verleihen, die bei dem Anfänger oder Neuling in solchen Untersuchungen,
trotz mitunter tüchtiger Vorbildung, noch nicht erwartet werden kann.[9]
Ferner ist es dem österr. Richter bei sonstiger Nichtigkeit des Actes
nicht gestattet, solche Personen als Gerichtsärzte beizuziehen, welche
auch als Zeugen nicht vernommen (§. 151) oder wegen eines der im §.
170 angegebenen Umstände nicht beeidet werden dürften, sowie weiter
Personen, die zu dem Beschuldigten oder dem Verletzten in einem der in
§. 152, Z. 1 bezeichneten Verhältnisse stehen.
Auch von Seite des Anklägers und des Beschuldigten können nach §.
120 der österr. und §. 74 der deutschen St. P. O., resp. §. 371 der
C. P. O. Einwendungen gegen die Berufung bestimmter Sachverständiger
zur Vornahme des Augenscheines erhoben werden und es sollen in einem
solchen Falle, wenn die gemachten Einwendungen erheblich sind und nicht
Gefahr am Verzuge haftet, andere Sachverständige beigezogen werden.
[Sidenote: Behandelnder Arzt und Professoren als Sachverständige.]
Eine ausdrückliche Bestimmung, dass dem Arzte, welcher einen
Verstorbenen in der dem Tode unmittelbar vorausgegangenen Krankheit
behandelt hat, die gerichtliche Obduction der Leiche nicht übertragen
werden dürfe, wie im §. 87 der St. P. O. für das deutsche Reich,
ist in der österr. St. P. O. nicht enthalten, dagegen verordnet die
Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeschau vom 28.
Jänner 1855 im §. 7: dass „der Unparteilichkeit des Urtheils wegen der
behandelnde Arzt des Verstorbenen, wo es nur immer möglich ist, als
beschauender Arzt nicht verwendet werden soll“; eine Bestimmung, die
nach allen Richtungen gerechtfertigt erscheint und auch auf andere
gerichtsärztliche Functionen ausgedehnt werden sollte.[10]
Ob ein Arzt, der in einem Untersuchungsfalle Zeuge ist, gleichzeitig
auch als Sachverständiger fungiren kann, wird in der österr. St. P. O.
nicht erwähnt, wohl aber bemerkt die deutsche St. P. O. (§. 74) und
C. P. O. (§. 371), dass daraus, dass der Sachverständige als Zeuge
vernommen worden ist, ein Ablehnungsgrund nicht entnommen werden kann.
Unserer Ansicht nach sollte dies jedoch ebenfalls die „Unparteilichkeit
des Urtheiles“ fordern, und wir kennen in der That Fälle, in welchen
ein österreichischer Richter, wie wir glauben mit Recht, einen
angestellten Gerichtsarzt als Sachverständigen nicht beizog, weil
dieser in demselben Untersuchungsfalle als Zeuge auszusagen hatte.
Erwähnt sei noch, dass zufolge der Min.-Vdg. vom 21. October 1853 die
Professoren der medicinischen Facultäten, wenn es nicht die Wichtigkeit
des Falles oder andere besondere Umstände nothwendig machen, als
Sachverständige zu strafgerichtlichen Untersuchungen nicht verwendet
oder mindestens nicht länger dazu beigezogen werden sollen, als es
unumgänglich nothwendig ist; eine Vorschrift, die mit Justiz-Min.-Erl.
vom 24. März 1855 auch auf die der philosophischen Facultät
zugewiesenen Professoren der Chemie ausgedehnt wurde.
Uns ist nicht bekannt, durch welche Vorkommnisse diese Erlässe
dictirt wurden, wir müssten jedoch entschieden dagegen protestiren,
wenn dieselben auch auf den Professor der gerichtlichen Medicin
ausgedehnt würden, denn es liegt im Interesse seines Faches, dass
er mit gerichtsärztlichen Untersuchungen betraut wird und diese
so viel als möglich zu Lehr- und Lernzwecken ausbeuten kann, denn
das betreffende Material ist für ihn und für sein Fach von eben
so grosser Bedeutung wie das klinische für den Kliniker und das
anatomische für den Anatomen. Wenn demnach in Wien und Prag die
gerichtsärztlichen Untersuchungen den betreffenden Professoren der
gerichtlichen Medicin anvertraut werden, so kann dies nur als eine
die Heranbildung tüchtiger Gerichtsärzte und den Fortschritt des
Faches fördernde Massregel betrachtet werden, ebenso wie es keiner
weiteren Ausführung bedarf, dass die ausgezeichneten Leistungen
eines +Casper+, +Taylor+, +Tardieu+, +Maschka+, +Liman+ u. A. auf dem
Gebiete der gerichtlichen Medicin in erster Linie durch den Umstand
gefördert wurden, dass ihnen ein reichhaltiges gerichtsärztliches
Material zu Gebote stand und von ihnen wissenschaftlich ausgebeutet
werden konnte.
[Sidenote: Verpflichtung aller Aerzte zum Sachverständigendienst.]
Abgesehen von den erwähnten Fällen[11] ist +jeder Arzt verpflichtet+,
der an ihn ergangenen Vorladung, eine Function als Sachverständiger
zu übernehmen, Folge zu leisten, und kann im Weigerungsfalle eine
Geldstrafe von 5-100 fl. über ihn verhängt werden (§. 119). Ebenso
verfällt er in eine Geldstrafe von 5-50 fl., wenn er der an ihn
ergangenen Vorladung ungeachtet bei der Hauptverhandlung nicht
erscheint, in welchem Falle er auch zum Ersatz der Kosten der vertagten
Hauptverhandlung verurtheilt und gegen ihn selbst ein Vorführungsbefehl
erlassen werden kann (§. 242). Der dem Arzte dann offenstehende
Recursweg ist im §. 243 ausgeführt. Analoge Bestimmungen enthält die
St. P. O. für das deutsche Reich im §. 77.
Gegen den in diesen Paragraphen decretirten Berufszwang haben sich
bekanntlich, ebenso wie gegen andere einschlägige gesetzliche
Bestimmungen, viele Stimmen, sowohl einzelner Aerzte als ganzer
ärztlicher Gesellschaften, erhoben. Ohne auf die von diesen geltend
gemachten Einwände einzugehen, möchten wir nur bemerken, dass, wenn
man schon den Zwang nicht umgehen konnte, es doch angezeigt gewesen
wäre, denselben nur auf active Aerzte auszudehnen und unter diesen
besonders auf solche, welche die zur Untersuchung und Beurtheilung des
betreffenden Falles nöthigen Specialkenntnisse besitzen, da es doch dem
Zwecke der Untersuchung direct widerspricht, z. B. eine Untersuchung
des Geisteszustandes eines Individuums einem Arzte zuzuweisen, der
sich niemals mit psychiatrischen Studien befasste, oder über specifisch
gerichtsärztliche Fragen von Jemandem ein Gutachten zu verlangen, der
kaum die nothdürftigsten einschlägigen Kenntnisse besitzt.
[Sidenote: Berufszwang. Oeffentl. angestellte Aerzte als Sachverstdge.
Zahl d. letzteren.]
Die deutsche St. P. O. ist diesen Forderungen wenigstens theilweise
gerecht geworden, insoferne als sie im §. 75 bestimmt, „dass der zum
Sachverständigen Ernannte der Ernennung Folge zu leisten habe, wenn er
zur Erstattung von Gutachten der erforderten Art öffentlich bestellt
ist, oder wenn er die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren
Kenntniss Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerbe
ausübt, oder wenn er zur Ausübung derselben öffentlich bestellt oder
ermächtigt ist“.
Für unsere österreichischen Verhältnisse wäre es vielleicht
am zweckmässigsten, nur diejenigen Aerzte zur Uebernahme
gerichtsärztlicher Functionen unbedingt zu verpflichten, welche die
Physikatsprüfung abgelegt haben, da bei dieser die gerichtliche Medicin
und die forensische Psychologie besonders ausführlich, und zwar
theoretisch und praktisch geprüft wird, die Heranziehung anderer Aerzte
aber auf bestimmte, näher zu präcisirende Fälle zu beschränken.
Sehr gerechtfertigt ist die im §. 158 d. österr. St. P. O. enthaltene
Verordnung, dass, wenn die einzuvernehmende Person in einem
öffentlichen Amte oder Dienste steht und zur Wahrung der öffentlichen
Sicherheit oder anderer öffentlicher Interessen eine Stellvertretung
derselben einzutreten hat, der unmittelbare Vorgesetzte derselben von
der Vorladung gleichzeitig zu benachrichtigen ist, eine Vorschrift, die
auch auf Angestellte an Eisenbahnen, Dampfschiffen und auf im Staats-
oder Gemeindedienste stehende Sanitätspersonen ausgedehnt wurde.
Anschliessend an diese Bestimmung ist zu erwähnen, dass zufolge des
österr. Sanitätsgesetzes vom 30. April 1870, §. 8, lit. d): „die
landesfürstlichen Bezirksärzte als solche auch verpflichtet sind, sich
gegen Bezug der normalmässigen Gebühren als Gerichtsärzte verwenden zu
lassen.“
[Sidenote: Zahl der Sachverständigen.]
Bezüglich der +Zahl+ der zu einem Augenschein zu berufenden
Sachverständigen verordnet der §. 118 der österr. St. P. O., dass in
der Regel deren zwei beizuziehen seien, dass jedoch die Beiziehung
+eines+ Sachverständigen genüge, wenn der Fall von geringerer
Wichtigkeit ist, oder das Warten bis zum Eintreffen eines zweiten
Sachverständigen für den Zweck der Untersuchung bedenklich erscheint.
Ausdrücklich fordert die St. P. O. die Intervention +zweier+
Gerichtsärzte bei der Vornahme einer gerichtlichen Leichenbeschau
und Leichenöffnung (§. 128), und bei Verdacht einer Vergiftung, auch
nach Thunlichkeit die Beiziehung zweier Chemiker (§. 131), dann bei
der Besichtigung von Verletzten (§. 132) und bei Untersuchungen des
Geisteszustandes eines Beschädigten (§. 134); doch bestimmt die
Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeschau vom
Jahre 1855 im §. 5: dass, wenn bei bereits weit vorgeschrittener
Fäulniss der Leiche ein Arzt wegen zu grosser Entfernung nicht schnell
genug herbeigeholt werden könnte, oder eine der Sanitätspersonen
zur bestimmten Stunde nicht erscheint, oder der Augenschein nur aus
Anlass einer Uebertretung vorgenommen wird u. dergl., die Vornahme der
Obduction auch nur durch +eine+ Sanitätsperson zulässig sei, dass aber
die Unterlassung der Beiziehung einer zweiten Sanitätsperson jedesmal
in dem Protokoll besonders angeführt und begründet werden soll.
Die St. P. O. für das deutsche Reich überlässt nach §. 73 die
Bestimmung der Anzahl der herbeizuziehenden Sachverständigen dem
Richter und fordert blos bei der gerichtlichen Leichenöffnung die
Gegenwart zweier Aerzte, während ihr bei der gerichtlichen Leichenschau
die Zuziehung nur eines Arztes genügt, und sogar bemerkt wird, dass die
Zuziehung eines Arztes bei der Leichenschau ganz unterbleiben kann,
wenn sie nach dem Ermessen des Richters entbehrlich ist.
Ueber die Zweckdienlichkeit letzterer Bestimmung, die offenbar der
Institution der englischen Coroners nachgeahmt ist, liesse sich
streiten. Was jedoch die überall geforderte Beiziehung zweier Aerzte
zu einer gerichtlichen Obduction betrifft, so ist es offenbar die
besondere Wichtigkeit einer solchen Untersuchung und die durch
die gleichzeitige Intervention zweier Sachverständigen erhöhte
Verlässlichkeit des Obductionsbefundes, die jene ausdrückliche
Forderung veranlasste. Wenn aber der Motivenbericht zu einer analogen
Bestimmung des Entwurfes einer neuen St. P. O. für Bayern vom Jahre
1870[12] ausserdem bemerkt: Die Zuziehung zweier Sachverständigen
zur Leichenöffnung sei auch deshalb nothwendig, weil nicht alle
Aerzte die dazu nöthige technische Geschicklichkeit und körperliche
Eignung besitzen, so könnten wir nur den letzteren Grund gelten
lassen, gegenüber dem ersteren müssten wir jedoch bemerken, dass
man von Aerzten, denen eine gerichtliche Obduction anvertraut wird,
grundsätzlich die nöthige technische Fertigkeit im Seciren verlangen
sollte, und wir können uns nicht mit der häufig geübten und auch
von der bereits genannten österr. Todtenbeschauordnung im §. 13
geforderten Praxis einverstanden erklären, dass der zweite Arzt
nur zur eigentlichen Section verwendet werde, während der erste
Sachverständige das Protokoll dictirt; vielmehr erscheint es uns
zweckmässig, dass gerade derjenige Sachverständige, bei welchem
zufolge seiner Stellung grösseres Fachwissen und mehr Erfahrung
vorausgesetzt wird, sowohl die eigentliche Obduction als das
Dictiren des Protokolls übernehme, denn es kann nur zweckdienlich
sein, wenn sowohl Untersuchung als protokollarische Aufnahme des
Befundes in +einer+, und zwar der geübteren Hand ruhen, während
es im gegentheiligen Falle möglich ist, dass der blos Zusehende
Manches übersieht und zu Protokoll zu geben unterlässt, was dem
Obducenten selbst nicht entgangen wäre. Die Stellung des zweiten
Arztes bei einer Obduction kann unseres Erachtens blos als die eines
sachverständigen Zeugen und eventuell Assistenten angesehen werden,
und wir halten es für unpassend, ihm statt dessen die Rolle eines
blossen Handlangers des ersten Gerichtsarztes zuzuweisen.
Gleiches gilt von der Thätigkeit und Stellung des zweiten
Gerichtsarztes bei anderen forensisch-medicinischen Untersuchungen,
wenn bei diesen zufolge der Bestimmungen der St. P. O. die Beiziehung
eines solchen nöthig erscheint.
Die Mitwirkung des Gerichtsarztes wird vorzugsweise bei zwei durch
die Strafprocessordnung geforderten richterlichen Acten in Anspruch
genommen: 1. +bei der Vornahme des Augenscheines+ und 2. +bei der
Hauptverhandlung+.
1. Die Thätigkeit des Gerichtsarztes bei der Vornahme des Augenscheines.
[Sidenote: Augenschein. Definition desselben.]
Den +Augenschein+ definirt +Rulf+ in seinem Commentar zur österr. St.
P. O. vom Jahre 1873 (Wien 1873, pag. 120) als „diejenige Handlung,
durch welche sich der +Richter+ von dem Dasein oder Nichtdasein
gewisser, für die Entscheidung einer Strafsache einflussreicher
Thatsachen durch eigene sinnliche Wahrnehmung Kenntniss zu
verschaffen sucht“. Der Augenschein ist somit in erster Linie ein
richterlicher Act, der auch häufig vom Richter allein blos unter
Zuziehung des amtlichen Protokollführers und der zwei vorgeschriebenen
Gerichtszeugen (§. 116 österr. St. P. O.) vorgenommen wird, so
lange die allgemeine und speciell juristische Bildung des Richters
hierzu ausreicht. Erfordert aber der zu untersuchende Gegenstand
andere Specialkenntnisse, dann lässt er eben die Untersuchung durch
Sachverständige vornehmen, die die betreffenden ihm fehlenden
Specialkenntnisse besitzen, und überträgt ihnen diesen besonderen
Theil des Augenscheines, ohne sich jedoch der Leitung des ganzen Actes
zu begeben. Es fällt ihm vielmehr die Leitung des Augenscheines auch
bei gerichtsärztlichen Untersuchungen unter allen Umständen zu (§.
123 österr., §. 78 deutsche St. P. O.) und er hat mit möglichster
Berücksichtigung der vom Ankläger und dem Beschuldigten oder dessen
Vertheidiger gestellten Anträge jene Gegenstände zu bezeichnen, auf
welche die Sachverständigen ihre Beobachtungen zu richten haben,
sowie er auch die Fragen stellt, deren Beantwortung ihm erforderlich
erscheint. Aus diesem Grunde und weil dem Untersuchungsrichter auch die
Verantwortlichkeit für den formell richtigen Vorgang bei der Vornahme
des Augenscheines zufällt, ist die Forderung des §. 122 der österr.
St. P. O. begreiflich, wonach die Gegenstände des Augenscheines von
den Sachverständigen in Gegenwart der Gerichtspersonen zu besichtigen
und zu untersuchen sind, ausser wenn letztere aus Rücksichten des
sittlichen Anstandes für angemessen erachten, sich zu entfernen,
oder wenn die erforderlichen Wahrnehmungen nur durch fortgesetzte
Beobachtung oder länger dauernde Versuche gemacht werden können. In
ersterer Beziehung sind offenbar vorzugsweise die Fälle gemeint, wobei
Untersuchungen an den Genitalien weiblicher Individuen vorgenommen
werden, in letzterer erwähnt die österr. St. P. O. als Beispiel
die Untersuchung auf Gifte und jene Fälle, wo die Constatirung des
physischen, insbesondere aber des Geisteszustandes eines Individuums
längere Beobachtung und wiederholte Untersuchung erfordert. Dasselbe
wird aber auch von den meisten chemischen und mikroskopischen
Untersuchungen gelten, die dem Gerichtsarzte oder dem Chemiker
anvertraut werden.
[Sidenote: Leitung und Gegenstände des Augenscheins.]
Bei jeder solchen Entfernung der Gerichtspersonen von dem Orte des
Augenscheines ist aber auf geeignete Weise dafür zu sorgen, dass die
Glaubwürdigkeit der von den Sachverständigen zu pflegenden Erhebungen
sichergestellt werde. Es ist Sache des Untersuchungsrichters,
Veranstaltungen zu treffen, womit er letzterer etwas dunklen Bestimmung
zu entsprechen vermeint. Die Vertrauenswürdigkeit der betreffenden
Sachverständigen ist wohl unerlässliche Vorbedingung der Berufung
derselben, und der Eid, den dieselben entweder ein- für allemal oder
blos aus Anlass der einzelnen Untersuchung und noch vor Vornahme
derselben zu schwören haben (§. 121 österr., §. 79 d. St. P. O.),
bietet wohl die nöthige Garantie, dass Befund und Gutachten nach
bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln der Kunst von den
Sachverständigen aufgenommen, beziehungsweise abgegeben werden.
Die Vornahme der eigentlich ärztlichen Untersuchung des betreffenden
Objectes ist, wenn man von den einzuhaltenden allgemeinen und
speciellen formellen Vorschriften absieht, einzig und allein Sache
der betreffenden Gerichtsärzte, und sie allein übernehmen die volle
Verantwortung für die Richtigkeit und Vollständigkeit derselben.
Der dabei einzuschlagende Vorgang wird selbstredend von der Natur
des zu untersuchenden Objectes, beziehungsweise von der Qualität der
zu lösenden Frage abhängen. Die Besprechung beider ist Aufgabe des
speciellen Theiles dieses Buches, weshalb hier nur einige allgemeine
Bemerkungen Platz finden sollen.
[Sidenote: Gegenstände gerichtsärztlicher Untersuchung. Leichen.]
Den +Gegenstand+ gerichtsärztlicher Untersuchung bilden im Allgemeinen
entweder Personen oder Sachen. Die ersteren kommen wieder entweder
lebend zur Untersuchung oder als Leichen.
Die Untersuchung lebender +Personen+ bezweckt die Constatirung des
Vorhanden- oder Nichtvorhandenseins entweder physiologischer oder
pathologischer Zustände, zu welchen ersteren beispielsweise die
verschiedenen Alters- und Entwicklungszustände, insbesondere aber die
geschlechtlichen Zustände gehören, während in letzterer Beziehung
die verschiedensten Krankheiten, namentlich aber chirurgische und
Geisteskrankheiten, in Frage kommen. Die blosse Constatirung des
Bestehens oder Nichtbestehens solcher Zustände ist selbstverständlich
in jedem einzelnen Falle der Hauptzweck der Untersuchung, und es
liegt auf der Hand, dass letztere nach keinen anderen als nach
allgemein geltenden klinischen Grundsätzen und Methoden und mit
gleichen Hilfsmitteln wie diese erfolgen kann und muss. Mit dieser
Constatirung des betreffenden Zustandes ist aber nur in seltenen Fällen
die gerichtsärztliche Untersuchung beendet; in der Regel verfolgt sie
noch weitere Zwecke, die insbesondere die Beziehungen dieser Zustände
zu gewissen strafbaren Handlungen im Auge haben, oder Anhaltspunkte
liefern sollen für die vorläufige oder definitive Abschätzung der
Bedeutung solcher Zustände, beziehungsweise ihrer Folgen im Sinne
bestimmter, vom Gesetze aufgestellter Qualitäten. Dadurch aber erhält
eine derartige Untersuchung ihren specifisch gerichtsärztlichen
Charakter, und es müssen hierbei Dinge beobachtet werden, die bei einer
rein klinischen Untersuchung entweder gar nicht oder nur nebensächlich
in Betracht kommen.
Bezüglich der Untersuchung von Leichen unterscheidet sowohl die
österr. als auch die deutsche St. P. O. die Leichenbeschau und
die Leichenöffnung und versteht unter ersterer die blos äussere
Besichtigung und Untersuchung der Leiche, unter letzterer aber die
eigentliche Section oder Obduction. Während jedoch die österr. St. P.
O. (§. 127) die +jedesmalige+ Vornahme beider dieser Acte fordert und
nur die mehrfach erwähnte Todtenbeschauordnung vom 28. Jänner 1855
im §. 38 bestimmt: dass sich die gerichtliche Beschau nur dann auf
die äussere Besichtigung beschränken dürfe, wenn der vorhandene hohe
Grad der Fäulniss kein erhebliches weiteres Ergebniss aus der inneren
Untersuchung gewärtigen lässt, und bei solchen Leichen kein Verdacht
einer Vergiftung mit mineralischen Stoffen oder einer Knochenverletzung
vorhanden ist, trennt die deutsche St. P. O. im §. 87 die gerichtliche
Leichenschau von der Leichenöffnung, sie als verschiedene Arten des
„Augenscheines“ unterscheidend, indem sie zu ersterer die Beiziehung
blos +eines+ Arztes verlangt, die, wenn sie der Richter für entbehrlich
hält, sogar ganz unterbleiben kann, bei der Leichenöffnung aber die
Gegenwart +zweier+ Aerzte ausdrücklich fordert. Wie wir glauben,
versteht das Gesetz unter gerichtlicher Leichenschau die erste
commissionelle Besichtigung einer Leiche, von deren Ergebniss es
abhängt, ob eine eingehendere anatomische Untersuchung der letzteren
verfügt wird oder nicht. Ob und in welchen Fällen dieselbe sich blos
auf die äussere Beschau beschränken kann, ist nicht angegeben, doch
bemerkt der §. 4 des „preussischen Regulativs für das Verfahren bei den
medicinisch-gerichtlichen Untersuchungen menschlicher Leichname“, dass
wegen vorhandener Fäulniss Obductionen in der Regel nicht unterlassen
und von den gerichtlichen Aerzten nicht abgelehnt werden dürfen.
Dass in einzelnen Fällen die blosse äussere Besichtigung der Leiche
genügt, um den Fall klar zu stellen, unterliegt keinem Zweifel, und
wir erwähnen z. B. blos die so häufig zur Untersuchung gelangenden,
irgendwo aufgefundenen abortirten Früchte. In der Regel sollte jedoch
so selten als möglich von der Section abgegangen werden, da sowohl die
Wichtigkeit als die Vollständigkeit einschlägiger Untersuchungen die
Vornahme dieser verlangt.
Ueber die Art und Weise, wie sowohl bei der äusseren Besichtigung
als bei der Section von zur gerichtsärztlichen Untersuchung
gelangten Leichen vorgegangen werden soll, enthalten einerseits
die österreichische Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen
Todtenbeschau vom Jahre 1855, andererseits das preussische Regulativ
vom 6. Jänner 1875 ausführliche Bestimmungen.
Es ist klar, dass bei einer gerichtlichen Obduction im Allgemeinen
dieselben Grundsätze zu beobachten sein werden, wie sie bei jeder
pathologisch-anatomischen Section zur Anwendung kommen, eben so klar
ist es aber, dass dieselbe mit Rücksicht auf die wesentlich anderen
Zwecke, die die gerichtliche Obduction verfolgt, und mit Rücksicht
auf die eigenthümlichen durch die Obduction zu beantwortenden Fragen
Vorgänge einschlägt und Details nachgeht, die für den pathologischen
Anatomen nur eine untergeordnete Bedeutung besitzen und deshalb von
diesem häufig übergangen werden. Wir erinnern z. B. an die Aufnahme
der Befunde, welche die Constatirung der Identität ermöglichen,
an die Wichtigkeit der genaueren Berücksichtigung der sogenannten
Leichenerscheinungen, an den specifischen Vorgang, der bei der Section
Vergifteter, insbesondere aber bei jener Neugeborener einzuschlagen
ist u. dergl., bezüglich welcher auf die speciellen Capitel verwiesen
werden muss.
[Sidenote: Leichenschau und Leichenöffnung. Werkzeuge. Verdächtige
Spuren.]
Von +Sachen+, die Gegenstand gerichtsärztlicher Untersuchung werden
können, kommen am häufigsten verletzende Werkzeuge, insbesondere
Waffen, vor, indem es sich in der Regel entweder um die Frage handelt,
ob mit ihnen eine bestimmte Verletzung erzeugt worden sein konnte,
oder ob dieselben unter die Kategorie von Werkzeugen gehören, deren
Anwendung von Seite des Strafgesetzes besonders qualificirt wird.
[Sidenote: Untersuchung verdächtiger Spuren etc.]
Ferner gehören hierher gewisse verdächtige Spuren (Blutspuren, Samen-
und Meconiumflecken), Haare und dergleichen, deren Bestimmung für
die Klarstellung eines concreten Falles mitunter von der grössten
Wichtigkeit sein kann. Bei diesen Untersuchungen ist die Anwendung des
Mikroskopes, beziehungsweise anderer Hilfsmittel (Spectralapparat,
chemische Reaction) unerlässlich, die aber zweierlei voraussetzt,
erstens den Besitz der betreffenden Apparate, und zweitens die
nöthige Kenntniss und Uebung in dem Gebrauche derselben. Dort,
wo diese Erfordernisse nicht vorhanden sind, erübrigt allerdings
nichts Anderes, als die betreffenden Gegenstände unter Beachtung der
nöthigen Cautelen für eine weitere, von anderen Sachverständigen
vorzunehmende Untersuchung aufzubewahren, was bei den genannten
Gegenständen umso leichter geschehen kann, als dieselben, wenn sonst
keine Schädlichkeit auf sie einwirkt, durch längeres Liegen nichts
oder nur wenig an ihren charakteristischen mikroskopischen und
chemischen Eigenschaften einbüssen. Es ist aber zu bedauern, dass die
erstuntersuchenden Gerichtsärzte so selten in der Lage sind, selbst und
sofort die betreffenden Untersuchungen vorzunehmen. Heutzutage, wo die
mikroskopische Untersuchung für die ärztliche Diagnose überhaupt und
für die gerichtsärztliche insbesondere eine so hohe Bedeutung gewonnen
hat, sollte man von jedem Gerichtsarzt die nöthigen mikroskopischen
Kenntnisse verlangen, und dieselben sind für einen solchen, wenn er auf
der Höhe der Zeit stehen will, geradezu unentbehrlich. Einestheils ist
die Constatirung der genannten Spuren und einschlägigen Objecte als
solcher in der Regel sofort erwünscht, und wenn sie gleich geliefert
werden kann, gewiss von höherem Werthe, als wenn sie erst nachträglich
beigebracht wird. Ausserdem ist aber die Anwendung des Mikroskops
bei der Section so häufig angezeigt, wie z. B. zur Constatirung der
diagnostisch so wichtigen, körnigen und fettigen Degenerationen
verschiedener Organe, zur Constatirung der Natur eines etwa im Magen
oder den Luftwegen gefundenen Inhaltes, und so fort, dass sie auch bei
dieser nicht mehr entbehrt werden kann.
In diesen Umständen liegt ein Grund mehr für die Forderung, dass an
den Gerichtsarzt höhere Ansprüche bezüglich seiner Vorbildung gestellt
werden sollten, als an einen gewöhnlichen praktischen Arzt, und dass
daher das Amt eines Gerichtsarztes nur Aerzten verliehen werden
sollte, die sämmtliche, zu einer solchen Stellung nöthigen Kenntnisse
sich erworben und über deren Besitz sich durch eine eigene Prüfung
(Physikatsprüfung) ausgewiesen haben.[13]
Allerdings müsste man aber auch bei dieser Einrichtung von der bis
jetzt festgehaltenen Zumuthung abgehen, dass sich die Gerichtsärzte
die zu ihren Untersuchungen nöthigen Instrumente und Apparate selbst
anzuschaffen haben, es wäre vielmehr die Einrichtung zu treffen, dass
bei jedem Gerichte solche Apparate (Mikroskop, kleiner Spectralapparat
und ein Kasten mit den nöthigen Reagentien) aufgestellt und den
angestellten Gerichtsärzten in Obhut gegeben werden möchten.
Eine derartige Einrichtung würde eine eventuelle nachträgliche
Untersuchung von anderen Sachverständigen, insbesondere höheren
ärztlichen Instanzen keineswegs anschliessen, wenn die Bestimmung des
§. 122 der österr. St. P. O. beachtet würde, wonach: „wenn von dem
Verfahren der Sachverständigen die Zerstörung oder Veränderung eines
von ihnen zu untersuchenden Gegenstandes zu erwarten ist, ein Theil des
letzteren, insoferne es thunlich erscheint, in gerichtlicher Verwahrung
behalten werden soll“.
[Sidenote: Localaugenschein.]
Da sich Blutspuren und ähnliche verdächtige Befunde nicht selten am
Ort der That ergeben und das Verhalten dieser von mitunter grosser
Bedeutung ist, wird die Intervention des Gerichtsarztes auch bei der
Vornahme des sogenannten Localaugenscheines in Anspruch genommen, und
es wäre zu wünschen, dass dies häufiger und rechtzeitiger geschehen
möchte, als es bisher der Fall ist. Die Stellung oder Lage, in welcher
eine Leiche gefunden wird, die Anordnung der Kleider und der Dinge in
ihrer Nähe, insbesondere aber die Form und Vertheilung der Blutspuren
können häufig sehr wichtige Anhaltspunkte bezüglich der Art und Weise,
wie eine That verübt wurde, ergeben, wenn sie, noch bevor Veränderungen
vorgenommen wurden, von Jemandem untersucht und gewürdigt werden, der,
wie der Arzt, über solche Dinge und deren Bedeutung ein richtigeres und
schnelleres Urtheil sich bilden kann, als dies der Laie in der Regel im
Stande ist.
[Sidenote: Gifte.]
Gifte, oder als solche verdächtige Körper können dann Gegenstand
gerichtsärztlicher Untersuchung werden, wenn sich dieselben beim
Localaugenschein, bei Hausdurchsuchungen oder im Körper, namentlich im
Magen obducirter Leichen, gefunden hatten und eine sofortige Bestimmung
derselben nöthig erscheint, denn die für die Bestimmung mindestens
der wichtigsten und am häufigsten vorkommenden Giftstoffe nöthigen
Kenntnisse sollen ebenfalls bei einem Gerichtsarzte vorausgesetzt
werden. Complicirte Laboratoriumsarbeiten erfordernde Untersuchungen,
insbesondere aber die Untersuchungen von Leichentheilen auf Gift,
sind nicht Sache der Gerichtsärzte, sondern der Gerichtschemiker,
die, wenn der Verdacht einer Vergiftung vorliegt, nach Thunlichkeit
schon der Erhebung des Thatbestandes, also insbesondere der Obduction,
beziehungsweise Exhumation, beizuziehen sind (§. 131 österr. St. P. O.).
[Sidenote: Protokoll.]
Die bei einer gerichtsärztlichen Untersuchung von den Sachverständigen
constatirten Befunde sind +sogleich zu Protokoll+ zu bringen. Auf die
Form des Protokolles wurde früher mehr als nöthig Gewicht gelegt. Im
Allgemeinen ist es nicht Sache der Gerichtsärzte, für die Einhaltung
der vorgeschriebenen Formen bei der Aufnahme des Protokolls zu sorgen,
sondern die des Richters und seines Schriftführers, und deren Aufgabe
ist es, den sogenannten Kopf des Protokolls zu verfassen und nach
Beendigung des Protokolls es in vorgeschriebener Weise abzuschliessen,
eine Aufgabe, die ihnen dadurch erleichtert wird, dass bereits
vorgedruckte Formulare zur Anwendung kommen. Kommen die Gerichtsärzte
in die Lage, den Befund selbst niederschreiben zu müssen, wie es
geschehen kann in den Fällen, in welchen die Untersuchung von ihnen
allein, in Abwesenheit der Gerichtspersonen vorgenommen wird (§. 122
österr. St. P. O.), dann empfiehlt sich die Form des Berichtes zu
wählen, welcher von den untersuchenden Sachverständigen unterzeichnet
und dem Untersuchungsrichter zur weiteren protokollarischen Behandlung
übergeben wird.
[Sidenote: Aufnahme des Protokolls.]
Bei dem streng technischen Theile des Protokolles ist es angezeigt,
der Uebersichtlichkeit wegen, und um im Gutachten auf bestimmte
Punkte desselben leichter hinweisen zu können, jedesmal das Protokoll
in mit fortlaufenden Zahlen zu bezeichnende Absätze zu theilen,
eventuell gewisse Partien von anderen durch deutliche Bezeichnungen
unterscheidbar zu machen. Bei der Aufnahme eines Sectionsprotokolles
ist es durch die österr. Todtenbeschauordnung (§. 115) vorgeschrieben,
den äusseren und inneren Befund in besondere, durch grosse Buchstaben
oder römische Ziffern bezeichnete Unterabtheilungen zu bringen und
diese wieder durch kleine Buchstaben oder arabische Ziffern ihrer Reihe
nach fortlaufend in noch kürzere Absätze zu theilen.
Aehnliches fordert das preussische „Regulativ“ im §. 28. Was die
übrigen Eigenschaften des Protokolls anbelangt, so sind diese im §. 117
der österr. St. P. O. kurz und richtig zusammengefasst, welcher sagt:
„Das über den Augenschein aufzunehmende Protokoll ist so bestimmt und
umständlich abzufassen, dass es eine vollständige und treue Anschauung
der besichtigten Gegenstände gewähre.“ Diese Bestimmung kann nicht
eindringlich genug den Gerichtsärzten zur Beachtung empfohlen werden
und sie werden gut thun, sich bei jeder Untersuchung vor Augen zu
halten, dass sie nicht blos zum Gebrauch für ihr eigenes Gutachten
den Befund zu Protokoll geben, sondern damit ein Schriftstück liefern
sollen, welches auch nachträglich Aufschluss zu geben im Stande ist
über alle damals an dem betreffenden Objecte bestandenen Verhältnisse,
so dass, wenn der Fall anderen Sachverständigen, beziehungsweise den
höheren medicinischen Instanzen zur Begutachtung übergeben wird, diese
deutlich erkennen können, welche Befunde den erst untersuchenden
Aerzten vorgelegen haben.
Es wäre ein müssiges Unternehmen, Regeln aufstellen zu wollen, nach
denen vorzugehen wäre, um den genannten Forderungen zu genügen, schon
aus dem Grunde, weil jeder Fall seine Eigenthümlichkeiten hat, die
richtig erkannt und bei der Aufnahme des Befundes in Betracht gezogen
werden müssen, und weil gerade aus diesem Grunde jedes schablonenhafte
Vorgehen bei gerichtsärztlichen Aufnahmen vermieden werden soll.
[Sidenote: Eigenschaften des Protokolls.]
Doch empfiehlt sich Folgendes zu beobachten:
Erstens, dass man bei allen Aufnahmen vom Allgemeinen zum Besonderen
übergehe. Die Beachtung dieses Grundsatzes erleichtert dem Anfänger
wesentlich seine Aufgabe und verleiht der gesammten Beschreibung eine
gewisse Uebersichtlichkeit. Bei der Aufnahme eines Obductionsprotokolls
ist ein solcher Vorgang in den betreffenden Verordnungen ausdrücklich
vorgeschrieben; er sollte jedoch bei allen Befundsaufnahmen ohne
Ausnahme beachtet werden, indem man z. B. bei jeder Untersuchung einer
Person zuerst deren allgemeine Körperverhältnisse (Alter, Grösse,
Körperbau, Ernährungszustand) aufnimmt, und dann in anatomischer
Ordnung zu den einzelnen Organen und Functionen übergeht, und die an
diesen sich ergebenden Befunde zu Protokoll bringt, wobei man sich
bei jenen besonders aufhält und sie detaillirt schildert, denen im
concreten Falle eine specielle Wichtigkeit zukommt, oder mit Rücksicht
auf die Umstände des Falles oder auf die allgemeine Erfahrung möglicher
Weise später zukommen könnte.
Bei Aufnahme dieser localen Befunde ist wieder der gleiche Grundsatz
wie bei der Totalaufnahme zu beachten, d. h. von der Beschreibung der
allgemeinen Verhältnisse zum Detail überzugehen.
Je ausführlicher ein Protokoll ist und in je eingehenderer Weise sich
dasselbe über alle Detailverhältnisse eines zu untersuchenden Objectes
verbreitet, desto werthvoller ist dasselbe. Doch sollten auch in dieser
Beziehung die richtigen Grenzen eingehalten werden. Ebenso, wie man bei
Sectionen nicht jedesmal die Wirbelsäule oder die einzelnen Gelenke
eröffnet und die dort sich ergebenden Befunde beschreibt, ebenso
wird man bei Untersuchungen lebender Personen Verhältnisse übergehen
oder nur flüchtig berühren, die für den Zweck der Untersuchung keine
Bedeutung besitzen.
Darin aber soll sich das richtige Verständniss und der fachmännische
Blick des Gerichtsarztes äussern, dass er in jedem concreten Falle
erfasst, was für die weitere juristische Behandlung desselben wichtig
ist oder wichtig werden kann, und er wird aus diesem Grunde nicht blos
die positiven Befunde protokollarisch anführen, sondern auch, wie §. 86
der deutschen St. P. O. sehr richtig verlangt, erforderlichen Falles
noch bemerken, welche Spuren oder Merkmale, die im vorliegenden Falle
vermuthet werden konnten, gefehlt haben.
Weiter verdient besondere Erwähnung, dass bei der Protokollirung
pathologischer Befunde nicht Ausdrücke gebraucht werden sollen, die
die summarische pathologische oder pathologisch-anatomische Diagnose
derselben umfassen, sondern jedesmal jene Detail-Erscheinungen
aufzunehmen und protokollarisch zu beschreiben sind, die
zusammengenommen jene Diagnose bilden. So wird man z. B. im Protokoll
nicht kurzweg den Ausdruck Fieber gebrauchen, sondern ausführlich die
gesteigerte Temperatur, vermehrte Pulsfrequenz und Respiration, wie sie
durch die klinische Untersuchung constatirt wurden, zu Protokoll geben,
ebenso wird man bei Obductionen nicht von „Entzündungen“ sprechen oder
andere fertige Diagnosen, wie „Stichwunde“, „Schusswunde“, „Quetschung“
dictiren, sondern die einzelnen Eigenschaften solcher Befunde
beschreiben, welche erst im Gutachten zur Stellung der betreffenden
Diagnose zusammengefasst werden sollen.
Drittens ist nicht zu vergessen, dass das Protokoll auch für das
Gericht, für das es ja sammt dem Gutachten bestimmt ist, möglichst
verständlich sein soll, was nicht der Fall ist, wenn bei der Aufnahme
desselben den Laien fremde Kunstausdrücke gebraucht wurden. Letztere
sollen daher, soweit thunlich, vermieden werden.
[Sidenote: Protokoll. Zeichnungen und Aufbewahrung von Objecten.]
Schliesslich möchten wir einen besonderen Werth darauf legen, dass
bei der Aufnahme von Befunden von der +Beigabe von Zeichnungen und
von der Aufbewahrung von Objecten+, deren unmittelbare Demonstration
im Laufe der Verhandlung, besonders bei der Hauptverhandlung,
wichtig werden kann, häufiger Gebrauch gemacht werden möchte, als
dies erfahrungsgemäss geschieht. Eine, wenn auch nur rohe Zeichnung
gibt über manchen Befund, z. B. über Form, Sitz und Anordnung von
Verletzungen, eine viel bessere Vorstellung, als mitunter die
weitläufigste Beschreibung. Besonders empfehlen sich Zeichnungen bei
Würgespuren und haben wir solche bei Hauptverhandlungen wiederholt
und zur sichtlichen Befriedigung der Richter und Geschworenen
vorgelegt.[14] Die Aufbewahrung von Objecten der gerichtsärztlichen
Untersuchung beschränkt sich, ausgenommen die bei Verdacht auf
Vergiftung für den Chemiker reservirten Leichentheile, in der Regel
nur auf Kleidungsstücke, im Körper gefundene Projectile u. dergl. Es
ist jedoch in gewissen Fällen entschieden opportun und zweckmässig,
wenn auch verletzte oder anderweitig wichtige Leichentheile für
die unmittelbare Demonstration aufbewahrt werden. Hierher gehören
namentlich gewisse Verletzungen des Schädeldaches, deren Form und
Beschaffenheit noch nachträglich die Erkennung des verletzenden
Werkzeuges, resp. die Vergleichung mit bestimmten Werkzeugen, oder der
sonstigen Art der Zufügung ermöglicht, so insbesondere Lochbrüche,
umschriebene Zertrümmerungen, Schuss- und Stichöffnungen. Die einfache
Vorzeigung solcher Objecte gewährt den Richtern, namentlich aber
den Geschworenen, eine richtige Vorstellung von dem Sachverhalt
und erspart dem Gerichtsarzte weitläufige Beschreibungen. Ebenso
sollten aber auch, wo dies voraussichtlich vortheilhaft und leicht
ausführbar erscheint, Weichtheile reservirt werden. So haben wir
in einem Falle von Kindesmord, in welchem die Angeklagte eine
Sturzgeburt am Abort behauptete, wo wir aber an dem Nabelschnurende
deutliche Schnitte fanden, die Nabelschnur in Alkohol reservirt und
bei der Hauptverhandlung den im Vorhinein erwarteten Einwendungen des
Vertheidigers, dass in letzterer Beziehung eine Täuschung vorgelegen
haben könne, durch Vorzeigung des Objectes sofort ein Ende gemacht,
ebenso wie wir bei einer wegen Fruchtabtreibung eingeleiteten
Verhandlung durch Vorzeigung des zerstochenen Uterus ein Argumentum ad
hominem zu liefern vermochten. Die Aufbewahrung solcher und ähnlicher
Objecte ist auch insoferne wichtig, als sie die nachträgliche
Untersuchung derselben durch andere Gerichtsärzte, insbesondere
durch höhere gerichtsärztliche Instanzen, ermöglicht und deren
Aufgabe wesentlich erleichtert, endlich auch bei fraglicher Identität
obducirter Individuen. Für die Opportunität derselben in beiden
Beziehungen liefert der sensationelle Tisza-Eszlaer Fall ein exquisites
Beispiel, da, wenn der Schädel, gewisse Epiphysen, ein Stückchen der
angeblich rasirten Kopfhaut und die angeblich noch vorhanden gewesenen
Nägel auf bewahrt worden wären, auch ohne Exhumation leicht zu
constatiren gewesen wäre, ob die Obducenten richtig gesehen und richtig
geurtheilt haben oder nicht.
Nach Beendigung der schriftlichen Aufnahme des Befundes sollte das
Protokoll jedesmal von dem Dictirenden einer nochmaligen Durchsicht
unterworfen werden, damit etwaige Auslassungen oder Fehler rechtzeitig
corrigirt werden könnten. Bezüglich solcher Correcturen bestimmt der §.
16 der österr. Todtenbeschauordnung: „dass in dem Niedergeschriebenen
nichts Erhebliches ausgelöscht, zugesetzt oder verändert werden,
durchstrichene Stellen noch lesbar bleiben, erhebliche Aenderungen
und Berichtigungen von Seite der Aerzte ausdrücklich aufgenommen,
am Rande oder im Nachhange bemerkt und von den Commissionsgliedern
vorschriftsmässig unterschrieben werden sollen.“
Das beendigte Protokoll ist von beiden untersuchenden Aerzten zu
unterschreiben.
[Sidenote: Gutachten.]
Das +Gutachten+ sammt seinen Gründen kann von den österr.
Gerichtsärzten entweder sofort zu Protokoll gegeben werden, oder sie
können sich die Abgabe eines schriftlichen Gutachtens vorbehalten,
wofür eine angemessene Frist zu bestimmen ist (§. 124 St. P. O.).
Wann ersteres oder letzteres stattzufinden habe, ist in der St. P.
O. nicht angegeben, doch bemerkt der §. 17 der Todtenbeschauordnung,
dass die Gerichtsärzte „besonders in schwierigen Fällen“ das
Gutachten nachträglich abgeben können. Diese Bestimmung erscheint
gewiss gerechtfertigt, aber die Achillesferse dieser Unterscheidung
findet sich in dem Umstande, dass zufolge des Gebührentarifes für
gerichtsärztliche Verrichtungen (vide pag. 11) nur dann für das
Gutachten eine Gebühr berechnet werden darf, wenn dasselbe nicht
sofort dem Untersuchungsprotokoll angeschlossen, sondern „abgesondert“
abgegeben wurde. Allerdings bestimmte der Justiz-Min.-Erl. vom 6.
November 1856, dass bei Obductionen der Betrag von 2 fl. 10 kr.
für das Gutachten in allen Fällen gebühre, möge dasselbe gleich zu
Protokoll dictirt oder abgesondert erstattet werden, aber schon
die Erlässe desselben Ministeriums vom 1. März und 11. August 1869
verfügten, dass als abgesonderte Gutachten nur jene anzusehen seien,
welche wegen Schwierigkeit der Untersuchungsfälle nicht sogleich bei
der Erhebungscommission abgegeben werden können, indem zugleich den
Gerichten aufgetragen wurde, die Aerzte +in der Regel+ zur sofortigen
Abgabe der Gutachten zu verhalten. Die Zwangslage, in welche sowohl
der Gerichtsarzt als auch der Untersuchungsrichter durch diese
Verfügung versetzt werden, liegt auf der Hand, welcher ein Ende zu
machen wohl sehr angezeigt wäre.
[Sidenote: Das Gutachten und seine Eigenschaften.]
Nach §. 82 der St. P. O. für das deutsche Reich hängt es im
Vorverfahren von der Anordnung des Richters ab, ob die Sachverständigen
ihr Gutachten mündlich oder schriftlich zu erstatten haben, bezüglich
der Obductionen wird jedoch im „Regulativ“ ein Unterschied gemacht
zwischen dem vorläufigen Gutachten und dem „Obductionsberichte“.
Ersteres ist zufolge §. 29 jedesmal sofort nach Schluss der Obduction
summarisch und ohne Angabe der Gründe zu Protokoll zu geben, und nur
in Fällen, wo weitere technische Untersuchungen nöthig sind, oder wo
zweifelhafte Verhältnisse vorliegen, ist ein besonderes Gutachten mit
Motiven ausdrücklich vorzubehalten. Ein solches motivirtes Gutachten,
„Obductionsbericht“, kann auch vom Gerichte verlangt werden, und
dasselbe ist von den Obducenten spätestens innerhalb vier Wochen
einzureichen (§. 31).
Die Gebühr für den vollständigen Obductionsbericht ist mit 2 bis
6 Thalern, die „für jedes andere mit wissenschaftlichen Gründen
unterstützte“ Gutachten mit 2 bis 8 Thalern fixirt.
Bezüglich der +Form+ des Gutachtens bestimmt die österr.
Todtenbeschauordnung (§. 18) Folgendes: „Das nachträglich
ausgearbeitete schriftliche Gutachten hat in seinem Eingange aus
der Anführung des ergangenen schriftlichen Auftrages von Seite des
Untersuchungsrichters, aus der Angabe des Ortes, wo, der Zeit, wann
die Untersuchung vorgenommen wurde, und der im Eingang des Protokolls
enthaltenen Daten, insofern sie sich auf die Abgabe des Gutachtens
beziehen, zu bestehen. Hierauf folgt dann das eigentliche Gutachten.“
Auch das „preussische Regulativ“ fordert bei der Abgabe des
„Obductionsberichtes“ die Einhaltung bestimmter Formen, welche dort (§.
31) nachzusehen sind.
[Sidenote: Form und Inhalt des Gutachtens.]
Das Gutachten ist selbstverständlich der wichtigste Theil der
gerichtsärztlichen Thätigkeit, denn auf dieses kommt es dem Richter
besonders an und von seinem +Inhalt+ hängt vorzugsweise die weitere
Behandlung des betreffenden Falles ab; es ist demnach auf die
Verfassung desselben von Seite des Gerichtsarztes das grösste Gewicht
zu legen.
Letztere wird entweder nach allen Richtungen den Gerichtsärzten
überlassen oder dieselben haben sich dabei, wenn auch nicht
ausschliesslich, doch vorzugsweise an die Beantwortung gewisser
Fragen zu halten, die entweder in dem einzelnen Falle vom Richter
gestellt wurden oder welche schon von Seite der (österr.) St. P. O.
für bestimmte Kategorien von Fällen ausdrücklich normirt sind, wie
für das Gutachten nach Obductionen (§. 129 und 130), bei körperlichen
Beschädigungen (§. 132) und theilweise auch bei den Untersuchungen
auf den Geisteszustand eines Individuums (§. 134). Die Schlüsse des
Gutachtens sind ausser in dem vom §. 29 des preussischen Regulativs
angegebenen Falle jedesmal zu motiviren. Die Motivirung ergibt sich
einestheils aus den bei der Untersuchung constatirten und im Protokoll
schriftlich verzeichneten Befunden, anderseits aus dem Zusammenhalten
dieser Befunde mit den Umständen des Falles.
[Sidenote: Acteneinsicht.]
Die Kenntniss und Erwägung letzterer ist in den meisten Fällen für
die gerichtsärztliche Beurtheilung von Wichtigkeit und häufig so
nothwendig, dass ohne dieselbe überhaupt kein brauchbares Gutachten
abgegeben werden kann. Zu diesem Behufe ist aber eine Mittheilung
derselben von Seite des Richters, beziehungsweise die Gestattung der
Einsicht in die Untersuchungsacten in der Regel angezeigt. Es ist
nicht lange her, dass man es für bedenklich und unstatthaft hielt,
den untersuchenden und begutachtenden Aerzten die Einsicht in die
Untersuchungsacten zu gestatten, da man der Meinung war, dass eine
solche Mittheilung bei denselben eine Voreingenommenheit erzeugen
und die Unbefangenheit ihres Urtheils beeinträchtigen könnte. Es
wurden deshalb nicht blos von juristischer Seite Bedenken gegen die
Zulässigkeit der Acteneinsicht erhoben, sondern dieselben sind auch
von ärztlichen Corporationen getheilt worden, wie z. B. von dem
königlichen Obercollegium medicum in Berlin, welches im Jahre 1790
die Acteneinsicht ausdrücklich verbot. Gegenwärtig ist man in dieser
Hinsicht einsichtsvoller geworden, indem der §. 123 der österr. St. P.
O. bestimmt, dass die Sachverständigen nicht nur verlangen können, dass
ihnen aus den Acten oder durch Vernehmung von Zeugen jene Aufklärungen
über von ihnen bestimmt zu bezeichnende Punkte gegeben werden, welche
sie für das abzugebende Gutachten für erforderlich erachten, sondern
dass ihnen, wenn zur Abgabe eines gründlichen Gutachtens die Einsicht
in die Untersuchungsacten unerlässlich erscheint, soweit nicht
besondere Bedenken dagegen obwalten, auch die Acten selbst mitgetheilt
werden können.
Ebenso bestimmt der §. 80 der deutschen St. P. O., dass dem
Sachverständigen auf sein Verlangen zur Vorbereitung des Gutachtens
durch Vernehmung von Zeugen und des Beschuldigten weitere Aufklärung
verschafft werden kann, und dass es ihm zu diesem Zwecke auch gestattet
wird, die Acten einzusehen, der Vernehmung von Zeugen und des
Beschuldigten beizuwohnen und an diese unmittelbar Fragen zu stellen.
[Sidenote: Umstände des Falles.]
Diese Concessionen sind nach jeder Richtung hin gerechtfertigt. Es
handelt sich ja in den meisten Fällen nicht blos um die Constatirung
einer einfachen Thatsache, sondern um den Zusammenhang dieser mit
anderen, und gerade letzteres Moment erfordert Erwägung der Umstände
des Falles schon aus dem Grunde, weil häufig ein und derselbe Befund
durch ganz verschiedene Ursachen erzeugt worden sein konnte. Gerade
bei gerichtlichen Sectionen, bezüglich welcher man mit der Mittheilung
der bereits aufgelaufenen Acten besonders vorsichtig sein zu müssen
glaubte, ist ja häufig die Sachlage so, dass ohne Kenntniss der
Umstände des Falles das Gutachten ganz allgemein und unbestimmt
ausfüllen müsste, womit dem Richter gewiss nicht gedient wäre. Wie
wichtig z. B. für die Beurtheilung eines derartigen Falles die
Kenntniss des Krankheitsverlaufes ist, liegt auf der Hand, und dies
haben auch die Gesetzgeber anerkannt, da sie, wenn dies thunlich, die
Beiziehung des behandelnden Arztes zu einer gerichtlichen Obduction
fordern, damit er aus der Krankheitsgeschichte Aufschlüsse gebe (§. 7
österr. Todtenbeschauordnung und §. 87 deutsche St. P. O.).
Bei anderen Untersuchungen ist die Bekanntgabe der Umstände des Falles
häufig nicht minder wichtig, und man erinnere sich in dieser Beziehung
nur an die Menge derjenigen, deren Kenntniss bei Untersuchungen der
Zurechnungsfähigkeit eines Individuums nothwendig erscheint, und
halte sich vor Augen, dass ja in den meisten zur gerichtsärztlichen
Untersuchung gelangenden Fällen eben die Umstände in der Regel erst die
Richtung angeben, in welcher untersucht werden soll.
Jedenfalls sollen aber die früher in der bezeichneten Richtung zur
Geltung gebrachten Bedenken für den Gerichtsarzt ein Wink sein, wie
sehr er sich unter allen Verhältnissen vor Beeinflussungen seines
Urtheils zu hüten habe.
Die Motivirung der im Gutachten zu ziehenden Schlüsse hat in logisch
richtiger und wissenschaftlich correcter Weise zu erfolgen und
ausserdem so viel als möglich in der Art, dass sie auch dem Laien, für
den sie ja bestimmt ist, verständlich und so geeignet ist, ihm jene
Ueberzeugung beizubringen, die für ihn behufs der weiteren Behandlung
des Falles unbedingt nothwendig erscheint. Aus diesem Grunde ist es
angezeigt, ebenso wie im Protokolle, fremde, dem Laien unverständliche
Kunstausdrücke möglichst zu vermeiden und der Motivirung eine gewisse
populär verständlich gehaltene Fassung zu geben.
[Sidenote: Beweisführung.]
In wissenschaftlicher Beziehung wird die Beweisführung je nach den
vorliegenden Umständen theils auf positivem, theils auf negativem, d.
h. ausschliessendem Wege erfolgen können, immer jedoch gestützt auf
anerkannte wissenschaftliche Sätze und Erfahrungen. Der Verwerthung
von blossen wissenschaftlichen Hypothesen kann sich zwar auch der
Gerichtsarzt nicht ganz entziehen, doch wird er nicht unterlassen,
dieselbe immer mit der nöthigen Vorsicht zur Anwendung zu bringen.
Bezüglich der Berufung auf Autoritäten sind wir im Ganzen der Meinung
des §. 23 der österr. Todtenbeschauordnung, sowie des §. 31 des preuss.
Regulativs, dass dieselbe in der Regel unterbleiben möge. Dagegen ist
eine solche Berufung mitunter in der Hauptverhandlung am Platze, da
es bekannt ist, dass bei dieser sowohl Staatsanwalt als Vertheidiger
häufig mit einschlägigen Citaten bei der Hand sind, die sie allerdings
nicht immer neueren Werken und anerkannten Autoritäten entnehmen.
[Sidenote: Wahrscheinlichkeitsbeweis.]
Es ist begreiflich, dass richterlichen Zwecken vorzugsweise mit
einem möglichst bestimmten Gutachten gedient ist, und deshalb
wird der Gerichtsarzt nicht unterlassen, dort, wo es thunlich,
seine gutachtlichen Schlüsse bestimmt zu fassen. Dass dies aber
nicht immer möglich, liegt in der Natur derartiger Untersuchungen,
und jeder gerichtsärztliche Praktiker weiss, wie häufig er blos
Wahrscheinlichkeitsschlüsse machen und nicht selten die Beantwortung
einer sich ergebenden Frage ganz in suspenso lassen muss. Der
Gerichtsarzt möge sich dadurch nicht beirren lassen. Die Medicin kann
eben ihre Schlüsse nicht mit so genauer Schärfe ziehen, wie etwa die
Mathematik, auch ist sie keine sogenannte „fertige“ Wissenschaft,
sondern in beständiger Ausbildung und Entwicklung begriffen, und der
Grad, in welchem letztere zur Zeit gegeben sind, sowie auch die Natur
des concreten Falles fixiren die Grenzen, bis zu welchen eine präcise
Beweisführung zu gehen vermag. Darüber hinaus beginnt das unsichere
Gebiet der Abschätzung der für und gegen eine Annahme sprechenden
Momente -- des Wahrscheinlichkeitsbeweises, welchem sich der
Gerichtsarzt nicht entziehen kann. Er kann aber dasselbe um so ruhiger
betreten, als zufolge der gegenwärtig bei uns sowohl als in Deutschland
geltenden Strafprocessordnung dem Gutachten der Sachverständigen weder
für den gelehrten Richter, noch für die Geschworenen eine bindende
Kraft zukommt, diese vielmehr nur aus freier, aus gewissenhafter
Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismittel gewonnener
Ueberzeugung zu entscheiden haben. (§§. 258 und 313 der österr. und §.
260 der deutschen St. P. O.)
Unter allen Umständen wird der Gerichtsarzt sich hüten, positive
Schlüsse zu ziehen, wenn die Prämissen derselben nicht ganz klar gelegt
sind, andererseits aber nicht in den entgegengesetzten Fehler verfallen
und durch übertrieben ängstliche Herbeiziehung aller erdenklichen
Möglichkeiten die Beweiskraft seines Gutachtens schwächen.
Für den Schluss des Gutachtens fordert die österr. Todtenbeschauordnung
vom Jahre 1855 (§. 25) eine bestimmte Formel, deren Weglassung wohl
heutzutage von keiner Seite beanstandet werden wird.
Zufolge §§. 125 und 126 der österr. St. P. O. ist es Sache des
Richters, sowohl den durch die Sachverständigen aufgenommenen Befund
(Protokoll), als das von ihnen abgegebene Gutachten einer Prüfung
zu unterziehen. Er hat beide vom „logischen Standpunkt[15] aus zu
prüfen und darauf zu sehen, dass der Befund klar, bestimmt und
widerspruchslos laute, dass das Gutachten begründet, die Schlüsse
folgerichtig seien“. Ist dies nicht der Fall oder weichen die Angaben
der Sachverständigen von einander ab, so hat er das zu veranlassen, was
die erwähnten Paragraphe bestimmen.
[Sidenote: Neuerliche Untersuchung und Begutachtung.]
Weichen nämlich (§. 125) die Angaben der Sachverständigen über die von
ihnen +wahrgenommenen+ Thatsachen erheblich von einander ab, oder ist
ihr +Befund+ dunkel, unbestimmt, im Widerspruche mit sich selbst, oder
mit erhobenen Thatumständen, und lassen sich die Bedenken nicht durch
eine nochmalige Vernehmung der Sachverständigen beseitigen, so ist
der Augenschein, soferne es möglich ist, mit Zuziehung derselben oder
anderer Sachverständiger zu wiederholen.
Es handelt sich demnach in solchen Fällen entweder darum, ein
Einverständniss der betreffenden Sachverständigen ohne nochmalige
Untersuchung des betreffenden Objectes zu erzielen, oder um
Wiederholung der letzteren durch dieselben oder durch andere
Sachverständige. Zu dieser sollte wohl, wenn sich derartige Zweifel
ergeben, in gerichtsärztlichen Fällen jedesmal geschritten werden, wenn
eine neuerliche Untersuchung überhaupt noch möglich und noch irgend
ein Resultat von ihr zu erwarten ist. Inwieweit letztere Möglichkeit
noch besteht, müssen die concreten Verhältnisse des Objectes und das
sachverständige Urtheil selbst ergeben.
Derartige Eventualitäten hatte der Gesetzgeber bei der Bestimmung
im Auge, dass (§. 122), wenn von dem Verfahren der Sachverständigen
die Zerstörung oder Veränderung eines von ihnen zu untersuchenden
Gegenstandes zu erwarten steht, ein Theil des letzteren, soferne dies
thunlich erscheint, in gerichtlicher Verwahrung behalten werden soll.
Ergeben sich solche Widersprüche oder Mängel in Bezug auf das
+Gutachten+, oder zeigt sich, dass es Schlüsse enthält, welche aus
den angegebenen Vordersätzen nicht folgerichtig gezogen sind, und
lassen sich die Bedenken nicht durch eine nochmalige Vernehmung der
Sachverständigen beseitigen, so ist (§. 126) das Gutachten eines
anderen oder mehrerer anderer Sachverständiger einzuholen. Sind die
Sachverständigen Aerzte oder Chemiker, so +kann+ in solchen Fällen das
Gutachten einer medicinischen Facultät der im Reichsrathe vertretenen
Länder eingeholt werden.
[Sidenote: Facultätsgutachten.]
Dasselbe geschieht, wenn die Rathskammer die Einholung eines
Facultätsgutachtens wegen der Wichtigkeit oder Schwierigkeit des Falles
nöthig findet.
Aus der Fassung dieser Bestimmung scheint hervorzugehen, dass nur
die Rathskammer in den letztgenannten zwei Fällen ausdrücklich
verhalten ist, ein Facultätsgutachten einzuholen, während in anderen
obenbezeichneten Fällen der Untersuchungsrichter das Gutachten einer
Facultät blos einholen +kann+, woraus in Verbindung mit dem Inhalte des
vorher gestellten Satzes hervorgeht, dass ein Superarbitrium auch von
einem anderen oder mehreren anderen Sachverständigen abverlangt werden
könne.
Der Vorgang, der bei den einzelnen cisleithanischen medicinischen
Facultäten bei der Erstattung solcher Obergutachten eingeschlagen wird,
ist nicht überall der gleiche. An den kleinen Universitäten wird das
eingelangte Actenstück von Seite des Decans einem Professor übergeben,
in dessen Fach der betreffende Gegenstand besonders einschlägt, und
das Referat wird in einer der folgenden Sitzungen des gesammten
Professorencollegiums auf die Tagesordnung gebracht und durch die
Discussion und Abstimmung erledigt.
Für die medicinischen Facultäten der grösseren Universitäten,
insbesondere Wiens, ist der bei der Erstattung von Facultätsgutachten
einzuschlagende Vorgang durch den Erlass des Unterrichtsministers
vom 28. Januar 1874, Z. 15984, vorgeschrieben, welcher die
Zusammensetzung 12gliedriger Commissionen verlangt, welche von Fall
zu Fall mit Berücksichtigung der speciellen Natur des letzteren aus
dem gesammten Lehrkörper durch den Decan zu constituiren sind.
Wie häufig in Strafrechtsfällen Facultätsgutachten abverlangt werden,
geht aus folgendem Justizmin.-Erl. vom 18. Mai 1874, Z. 6488,
hervor, der in Folge diesbezüglicher Eingaben der medicinischen
Professorencollegien von Prag und Krakau erfolgt ist und den Zweck
hat, die allzu häufige Einholung der Facultätsgutachten soweit
möglich in gewisse Grenzen zu stellen:
Es wurde dem Justizministerium zur Kenntniss gebracht, dass einzelne
medicinische Professorencollegien wegen Abgabe von Facultätsgutachten
in strafrechtlichen Angelegenheiten von den Gerichtsstellen in einer
Weise in Anspruch genommen werden, dass daraus die Besorgniss eines
nachtheiligen Einflusses auf die den Professorencollegien zunächst
obliegenden Lehraufgaben hergeleitet wird.
Das Justizministerium ist nicht in der Lage, in dieser Richtung
auf die Gerichte einen bestimmenden Einfluss zu nehmen, weil
nach den Bestimmungen der Strafprocessordnung die Einholung
des Facultätsgutachtens lediglich in das Ermessen des
Untersuchungsrichters, beziehungsweise der Rathskammer gegeben ist;
und es würde das Justizministerium bei der hohen Bedeutung der
Gutachten der Facultät für die Strafrechtspflege auch bedauern,
wenn bei wichtigen und schwierigen Fällen von der Ermächtigung, das
Gutachten der Facultät einzuholen, Umgang genommen würde.
Da aber die Behauptung aufgestellt wird, dass häufig auch bei Fragen
von untergeordneter Bedeutung die Facultät angegangen wird, ohne
dass zuvor die Beseitigung der obwaltenden Bedenken durch die im
ersten Absatze des §. 126 St. P. O. angedeuteten Mittel versucht
wurde, so wird das löbliche Präsidium ersucht, diesem Umstande
seine Aufmerksamkeit zuzuwenden und im geeigneten Wege auf die
entsprechende Anwendung der bezüglichen Bestimmungen der St. P. O.
hinzuwirken.
Die einschlägige Bestimmung der deutschen St. P. O. lautet:
„§. 83. Der Richter kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder
durch andere Sachverständige anordnen, wenn er das Gutachten für
ungenügend erachtet.
Der Richter kann die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen
anordnen, wenn ein Sachverständiger mit Erfolg abgelehnt ist. In
wichtigeren Fällen kann das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt
werden.“
[Sidenote: Medicinalcollegien. Wissenschaftliche Deputation.]
Diese Fachbehörden für gerichtsärztliche Superarbitrien sind in
Preussen die Medicinalcollegien als erste und die wissenschaftliche
Deputation in Berlin als zweite Instanz. In den §§. 173 und 177 der
bis 1877 geltenden Criminalordnung waren die Fälle genau angegeben, in
welchen das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt werden solle. Sie
sind analog den in der österr. St. P. O. angegebenen und dürften wohl
auch noch jetzt den Richter leiten. Sowohl in den Medicinalcollegien
als in der wissenschaftlichen Deputation werden die eingelangten Acten
zweien Referenten übergeben, von denen jeder über den Fall berichtet
und sein schriftliches Gutachten zum Vortrag bringt. Dasjenige, für
welches sich das Collegium entscheidet, wird dem Gerichte übergeben.[16]
Da der Absatz 2 des §. 255 der deutschen St. P. O. bestimmt, dass,
wenn das Gutachten einer collegialen Fachbehörde eingeholt worden war,
das Gericht letztere ersuchen kann, eines ihrer Mitglieder mit der
Vertretung des Gutachtens in der Zeugenverhandlung zu beauftragen und
dem Gerichte zu bezeichnen, so wäre es möglich, dass auch Mitglieder
der genannten medicinischen Fachbehörden zur Hauptverhandlung
vorgeladen werden könnten, was jedoch wohl nur in ganz besonders
wichtigen Fällen geschehen dürfte.
2. Die Thätigkeit des Gerichtsarztes bei der Hauptverhandlung.
Die Hauptverhandlungen finden statt entweder vor einem Gerichtshofe
erster Instanz (§. 10 österr. St. P. O.), und zwar in Versammlungen von
vier Richtern (§. 13) oder vor Geschwornengerichten (§. 14).
Das Verzeichniss der zur Hauptverhandlung vorzuladenden
Sachverständigen ist bereits in die vom öffentlichen oder
Privatankläger dem Untersuchungsrichter, beziehungsweise der
Rathskammer, zu überreichende Anklageschrift aufzunehmen (§. 207
St. P. O.). Die betreffenden Sachverständigen sind dann von dem
Vorsitzenden der Hauptverhandlung in der Art vorzuladen, dass in der
Regel zwischen der Zustellung der Vorladung und dem Tage, an welchem
die Hauptverhandlung vorgenommen wird, ein Zeitraum von 3 Tagen in der
Mitte liegt (§. 221).
Will der Ankläger, der Privatbetheiligte oder der Angeklagte die
Vorladung von Sachverständigen beantragen, welche nicht bereits
zufolge der Anklageschrift oder des über den Einspruch gegen
dieselbe ergangenen Erkenntnisses vorzuladen sind, so hat er dies
dem Vorsitzenden unter Angabe der Thatsachen und Punkte, worüber der
Vorzuladende vernommen werden soll, rechtzeitig anzuzeigen. Die Liste
der vorzuladenden Sachverständigen ist dem Gegner längstens drei Tage
vor der Hauptverhandlung mitzutheilen, ausserdem können diese Personen
nicht ohne seine Zustimmung vernommen werden, unbeschadet der dem
Vorsitzenden (§. 254) eingeräumten Macht, wonach derselbe auch ohne
Antrag des Anklägers und Angeklagten Sachverständige im Laufe des
Verfahrens vorzuladen berechtigt ist (§. 222).
Aus diesen Bestimmungen geht zunächst hervor, dass die Zahl der zu
einer Hauptverhandlung beizuziehenden Sachverständigen, beziehungsweise
Gerichtsärzte, nicht in gleicher Weise eingeschränkt wird, wie dies
bezüglich des Augenscheines meistens der Fall ist. In der Regel wird
jedoch bei den österr. Gerichtshöfen der Usus beobachtet, dass von
Seite des Gerichts ebenfalls zwei Gerichtsärzte, und zwar meistens
dieselben, die bei der Voruntersuchung functionirt hatten, beigezogen
werden.
Wesentlich abweichend von der früher geltenden Uebung ist die
Bestimmung, wonach auch auf Antrag des Privatanklägers, des
Privatbetheiligten und auch vom Angeklagten, resp. seinem Vertheidiger,
die Beiziehung von Sachverständigen, also auch Aerzten, erfolgen kann.
Diese Einführung scheint auf den ersten Blick bedenklich, da sie den
Gedanken nahelegt, dass dadurch der betreffende Sachverständige auf den
Parteistandpunkt gestellt werde, während doch das Gutachten desselben
unter allen Umständen ein streng objectives und unparteiisches sein
soll. Dem entgegen muss jedoch bemerkt werden, dass, wenn die
Sachverständigen nur von Seite des Gerichtes beigezogen würden, wie
dies bisher üblich war, der gleiche Einwand gemacht werden könnte, dass
ferner die Objectivität bei sonst tadellos dastehenden Sachverständigen
als vorhanden angenommen werden muss, mögen sie von dieser oder jener
Seite vorgeladen werden, und dass die Einhaltung dieser ausserdem durch
den abzulegenden Eid in genügender Weise garantirt erscheint, sowie
es weiter dem Rechtsgefühl entspricht, wenn sowohl dem Ankläger als
dem Angeklagten bezüglich der Beibringung der Beweismittel gleiche
Rechte eingeräumt werden, und dass endlich einer Ueberschreitung der
diesbezüglichen Rechtsbefugnisse insoferne Schranken gesetzt sind,
als zufolge §. 225 St. P. O. nicht alle von den Parteien beantragten
Sachverständigen zur Hauptverhandlung vorgeladen werden +müssen+,
sondern von Seite der Rathskammer zurückgewiesen werden können.
Die einschlägigen Bestimmungen der deutschen St. P. O. weichen in
einigen Beziehungen von denen der österreichischen ab.
Zunächst steht die Ladung der zur Hauptverhandlung beizuziehenden
Sachverständigen der Staatsanwaltschaft zu (§. 213), entweder aus
eigener Entschliessung oder auf Anordnung des Vorsitzenden (§. 221).
Verlangt der Angeklagte die Ladung von Sachverständigen, so hat er
unter Angabe der Thatsachen, über welche der Beweis erhoben werden
soll, seine Anträge bei dem Vorsitzenden des Gerichtes zu stellen (§.
210). +Lehnt der Vorsitzende den Antrag auf Ladung einer Person ab, so
kann der Angeklagte die letztere unmittelbar laden lassen. Hierzu ist
er auch ohne vorgängigen Antrag befugt+ (§. 219). Von einer solchen
Ladung hat der Angeklagte „rechtzeitig“ die Staatsanwaltschaft in
Kenntniss zu setzen unter Angabe des Namens und des Wohnortes der zu
Ladenden. Dieselbe Verpflichtung hat die Staatsanwaltschaft gegenüber
dem Angeklagten, wenn sie ausser den in der Anklageschrift benannten
oder auf Antrag des Angeklagten geladenen Sachverständigen die Ladung
noch anderer Personen bewirkt (§. 221).
Es ist demnach dem Angeklagten, resp. seinem Vertheidiger bezüglich des
Rechtes der Ladung von Sachverständigen noch ein weiterer Spielraum
gelassen als bei den österr. Gerichten.
[Sidenote: Defensionalsachverständige.]
In den deutschen Ländern gestattete schon das
frühere Gerichtsverfahren die Zuziehung von sog.
„Defensionalsachverständigen“, und es wird von diesem Rechte ungleich
häufiger Gebrauch gemacht, als dies in Oesterreich der Fall ist.
Aehnliche Einrichtungen bestehen seit langer Zeit in anderen Ländern,
insbesondere in England und Amerika. Während jedoch dieselben im
Allgemeinen in Deutschland sich bewährten, sind in erstgenannten
Ländern entschieden Uebelstände zu Tage gekommen, die vorzugsweise
darin bestanden, dass auf ein entsprechendes einschlägiges Wissen
der herangezogenen Sachverständigen nicht die gehörige Rücksicht
genommen wurde.[17]
Die geladenen Sachverständigen sind verpflichtet, bei der
Hauptverhandlung zu erscheinen, und können, wenn sie dies unterlassen,
zu einer Geldstrafe von 5-50 fl. und eventuell zum Ersatze der Kosten
für die vereitelte Sitzung verurtheilt werden, wenn sie nicht im
Stande sind, ihr Ausbleiben zu rechtfertigen. Auch kann nöthigenfalls
ein Vorführungsbefehl gegen sie erlassen werden (§§. 242 und 243 der
österr. St. P. O.). In Deutschland gilt für einen solchen Fall die
Bestimmung des bereits erwähnten §. 77 der deutschen St. P. O.
Bei Beginn der Hauptverhandlung werden die Gerichtsärzte aufgerufen
und an die Heiligkeit ihres abgelegten Eides erinnert, beziehungsweise
beeidet (§. 241 österr. und §. 242 deutsche St. P. O.). Hierauf werden
dieselben in der Regel vom Vorsitzenden aufgefordert, im Sitzungssaale
zu bleiben und dem Gange der Verhandlung zu folgen. Die Abhörung
der ärztlichen Sachverständigen erfolgt in den meisten Fällen nach
geschlossener Zeugenvernehmung, kann jedoch, wenn der Vorsitzende
dies verfügt, und die übrigen Betheiligten damit einverstanden sind,
auch früher geschehen. Bei dieser Vernehmung ist dann nach §. 248 der
österr. St. P. O. dafür zu sorgen, dass ein noch nicht vernommener
Sachverständiger nicht bei der Vernehmung anderer Sachverständiger über
denselben Gegenstand zugegen sei.
[Sidenote: Vernehmung der Sachverständigen bei der Hauptverhandlung.]
Es erfolgt demnach zuerst die Vernehmung blos eines Sachverständigen,
während die übrigen auf Aufforderung des Vorsitzenden den Saal
verlassen, um dann nach Abhörung des ersten und jedes folgenden
Sachverständigen einzeln vorgerufen zu werden.
Die Aufgabe der ärztlichen Sachverständigen bei dieser Vernehmung
besteht zunächst darin, dass sie mit Berücksichtigung des von ihnen
oder anderen Sachverständigen vorgenommenen Augenscheines, dessen
Protokoll jedesmal sämmtlichen noch versammelten Aerzten vorgelesen
wird[18], und mit Rücksicht auf das Ergebniss der Hauptverhandlung
ihr Gutachten mündlich abzugeben, ausführlich zu motiviren und die
betreffs dieses oder anderer Verhältnisse entweder von dem Vorsitzenden
oder von den übrigen Mitgliedern des Gerichtshofes, vom Ankläger,
Privatbetheiligten, sowie deren Vertreter oder von den Geschworenen an
sie gerichteten Fragen zu beantworten, eventuell auf gemachte Einwürfe
zu erwidern haben.
Die Grundsätze, die dabei einzuhalten sind, sind im Allgemeinen keine
anderen als jene, deren Einhaltung bei der Abgabe des schriftlichen
Gutachtens empfohlen wurde. Der Arzt hat auch hier sich zu bestreben,
dass seine Auseinandersetzungen wissenschaftlich und logisch
richtig, möglichst bestimmt und namentlich verständlich und auch
den Laien zu überzeugen im Stande sind. Letzteres ist besonders bei
Schwurgerichtsverhandlungen zu beachten, und auf den Bildungsgrad
der Geschworenen Rücksicht zu nehmen, von denen in der Regel viele
unmöglich aus dem Gutachten des Sachverständigen eine Ueberzeugung
gewinnen können, wenn dieser seine Ausführungen in einer Weise gibt,
welcher nur der höher Gebildete zu folgen im Stande ist, oder, was am
häufigsten geschieht, wenn er Ausdrücke gebraucht, deren Verständniss
wieder nur bei Aerzten erwartet werden kann.
Aus gleichem Grunde empfiehlt es sich, weitschweifige und hochtrabende
Auseinandersetzungen zu vermeiden, vielmehr kurz und schlicht den
Sachverhalt zu schildern und das Gutachten abzugeben. Es ist allerdings
ein Rednertalent und die Gabe einer fliessenden klaren Darstellung
nicht Jedermann gegeben und auch dem Eindrucke des Momentes und
des öffentlichen Auftretens wird sich manchmal der Anfänger nicht
entziehen können; doch auch in dieser Beziehung wächst die Sicherheit
mit zunehmender Uebung und Erfahrung, und auch dem Neuling in solcher
Situation soll das Bewusstsein über derartigen Einflüsse hinweghelfen,
dass man von ihm keine oratorischen Leistungen, keine kunstvoll
aufgebauten Plaidoyers verlangt, sondern eine einfache Schilderung der
ärztliche Beurtheilung erfordernden Verhältnisse des concreten Falles
und eine Darlegung der aus diesen sich ergebenden Schlüsse.
Nicht ganz ohne Schwierigkeiten ist die Lage der ärztlichen
Sachverständigen gegenüber den Fragen und Einwürfen der oben
genannten, hierzu berechtigten Personen, insbesondere gegenüber denen
des Anklägers einerseits und des Vertheidigers anderseits, eine
Situation, die durch etwaige Meinungsverschiedenheiten der citirten
Sachverständigen selbst mitunter noch difficiler sich gestalten kann.
[Sidenote: Grundsätze bei der Abgabe des mündlichen Gutachtens.]
In solchen Fällen kommt es besonders darauf an, Ruhe und
Geistesgegenwart zu wahren und sich weder durch das Drängen der
Fragenden, noch durch die gewöhnlich von diesen geübte Taktik, alle
erdenklichen Möglichkeiten herbeizuziehen, einschüchtern zu lassen.
Insbesondere hat der Experte darauf zu achten, dass er bei seinen
Aussagen stets auf streng ärztlichem Standpunkt bleibe und niemals
aus seiner Stellung als Sachverständiger heraustrete. Nach beiden
Richtungen geschehen Fehler, allerdings nicht selten veranlasst durch
das Drängen der Fragenden. Der zur Hauptverhandlung beigezogene Arzt
ist eben nur als Arzt gerufen worden und hat über keine anderen
Verhältnisse sich zu äussern, als über solche, die mit ärztlichem
Wissen beurtheilt werden können. Werden ihm daher Fragen vorgelegt,
die auch ohne medicinische Bildung beantwortet werden können, oder
derart sind, dass zu ihrer Beantwortung ganz andere Fachkenntnisse
erfordert werden, als sie der Arzt besitzt, so kann er ein Eingehen auf
diese ohne Weiteres ablehnen, wenn nicht in einem solchen Falle der
Vorsitzende von seinem Rechte, Fragen, die ihm unangemessen erscheinen,
zurückzuweisen (§. 249 österr. St. P. O.), Gebrauch machen sollte.
Am meisten hat aber der Arzt sich zu hüten, in die Rolle eines
Anklägers oder Vertheidigers zu fallen, es wäre dieses einer der
grössten Fehler, die er als Sachverständiger begehen könnte. Es
kommt ihm durchaus nicht zu, belastende oder entlastende Momente
aufzubringen, er hat sich vielmehr zu hüten, auch nur solche oder
ähnliche Ausdrücke zu gebrauchen, sondern hat nicht zu vergessen, dass
seine Aufgabe blos darin besteht, gewisse Thatsachen oder Verhältnisse
in ganz objectiver Weise klarzustellen, während Anderen die Aufgabe
zufällt, diese vom Arzte klargelegten Verhältnisse als Beweis für die
Schuld oder Unschuld des Angeklagten und für die Urtheilssprechung zu
verwerthen.
Damit ist überhaupt die Stellung von Sachverständigen und insbesondere
die des Gerichtsarztes gekennzeichnet. Er ist kein blosser Zeuge, da
er nicht, wie dieser, nur über gemachte Wahrnehmungen zu berichten,
sondern über diese auch sein Gutachten abzugeben hat, er hat aber
auch den concreten Fall nicht zu entscheiden, sondern nur mit seinem
Specialwissen gewisse Verhältnisse aufzuklären oder sicherzustellen,
die für die Entscheidung von Wichtigkeit sind. Diese Wichtigkeit ist
allerdings in der Regel eine so grosse, dass von dem Gutachten des
Arztes meistens die Entscheidung des Falles abhängt. Dieses mag ihn
aber niemals verleiten, seinen Standpunkt mit dem eines Richters zu
verwechseln, wohl wird ihm aber das Bewusstsein der Wichtigkeit und
Tragweite seines Ausspruches stets vor Augen schweben und ihn noch mehr
veranlassen, bei seinem Gutachten strenge Wissenschaftlichkeit und
unerschütterliche Ehrenhaftigkeit massgebend sein zu lassen, eingedenk
der Worte, die der Dichter des Uriel Acosta (Gutzkow) den Arzt Silva
sprechen lässt, als ihm das Buch Acosta’s von den Rabbinern zur
Beurtheilung übergeben wurde:
-- Zitternd fühlt der Mensch die Zügel
Des +eigenen+ Schicksals, die ihm unsichtbar,
Sich selbst zu nützen oder zu schaden, oft
Ein guter Gott in seine Hände gibt.
Doch wieviel schwerer ist es, sich zu wissen
Als eines +fremden+ Loses Vorsehung
Und Stellvertreter des allweisen Richters
Für einen Anderen, dem +wir+ Schicksal werden.
Nach ihrer Vernehmung müssen die Sachverständigen so lange in der
Sitzung anwesend bleiben, als der Vorsitzende sie nicht entlässt oder
ihr Abtreten fordert.
Die deutsche Str. P. O. enthält im Allgemeinen gleiche Bestimmungen
(siehe oben). Abweichend von denen der österreichischen ist nur die
(§. 238), dass die Vernehmung der Sachverständigen von dem Vorsitzenden
der Staatsanwaltschaft und dem Vertheidiger auf deren übereinstimmenden
Antrag zu überlassen ist, wobei bei den von der Staatsanwaltschaft
benannten Sachverständigen dieser, bei den von dem Angeklagten
benanntem dem Vertheidiger in erster Reihe das Recht zur Vernehmung
zukommt.
[Sidenote: Stellung u. gesetzlicher Schutz d. Gerichtsarztes.
Vertrauensmissbrauch.]
Inwieferne der Gerichtsarzt gegen eventuelle Ausschreitungen von
Seite des Angeklagten u. s. w. geschützt erscheint, geht aus den
oben angeführten §§. 235 und 236 der österr. St. P. O., sowie aus
den §§. 153 und 300 des österr. Strafgesetzes hervor; ebenso aber
ergibt sich aus den §§. 165 und 301 des österr. Strafgesetzentwurfes
und aus dem §. 278 des deutschen Strafgesetzes, welchen Strafen der
Gerichtsarzt anheimfällt, wenn er sich beikommen lassen sollte, seine
Vertrauensstellung zu missbrauchen und eine wissentlich falsche Aussage
zu machen.
Sachlicher Theil.
Die Intervention ärztlicher Sachverständiger wird von Seite der
Gerichte im Allgemeinen in folgenden Fällen in Anspruch genommen:
1. Wenn die Zeugungsfähigkeit eines Individuums in Frage kommt;
2. bei Anklagen wegen gesetzwidriger Befriedigung des
Geschlechtstriebes;
3. bei fraglicher Schwangerschaft und Geburt;
4. bei Anklagen wegen Schädigung eines Individuums an der Gesundheit
oder wegen gewaltsamer Tödtung;
5. bei fraglichem Geisteszustand einer Person.
Es erscheint uns zweckmässig, entsprechend diesen Fällen den sachlichen
Theil unseres Buches in bestimmte Hauptabschnitte einzutheilen, in
denen wir zu behandeln gedenken:
im +ersten Hauptabschnitte+: die Zeugungsfähigkeit;
im +zweiten Hauptabschnitte+: Die gesetzwidrige Befriedigung des
Geschlechtstriebes;
im +dritten Hauptabschnitte+: Die Schwangerschaft und Geburt;
im +vierten Hauptabschnitte+: Die gewaltsamen Gesundheitsbeschädigungen
und den gewaltsamen Tod;
im +fünften Hauptabschnitte+: Die gerichtliche Psychopathologie.
In diesen Hauptabschnitten, welche wieder in Unterabschnitte getheilt
werden sollen, lassen sich die wichtigsten in foro vorkommenden
ärztlichen Fragen unterbringen.
Erster Hauptabschnitt.
Die Zeugungsfähigkeit.
+Oesterr. bürgerl. Gesetzbuch.+
§. 53. Mangel an dem nöthigen Einkommen, erwiesene oder gemein
bekannte schlechte Sitten, ansteckende Krankheiten oder dem Zwecke
der Ehe hinderliche Gebrechen desjenigen, mit dem die Ehe eingegangen
werden will, sind rechtmässige Gründe, die Einwilligung zur Ehe zu
versagen.
§. 60. Das immerwährende Unvermögen, die eheliche Pflicht zu leisten,
ist ein Ehehinderniss, wenn es schon zur Zeit des geschlossenen
Ehevertrages vorhanden war. Ein blos zeitliches, oder erst während
der Ehe zugestossenes, selbst unheilbares Unvermögen kann das Band
der Ehe nicht auflösen.
§. 99. Die Vermuthung ist immer für die Giltigkeit der Ehe. Das
angeführte Ehehinderniss muss also vollständig bewiesen werden, und
weder das übereinstimmende Geständniss beider Ehegatten hat hier die
Kraft eines Beweises, noch kann darüber einem Eide der Ehegatten
stattgegeben werden.
§. 100. Insbesondere ist in dem Falle, dass ein vorhergegangenes und
immerwährendes Unvermögen, die eheliche Pflicht zu leisten, behauptet
wird, der Beweis durch Sachverständige, nämlich durch erfahrene
Aerzte und Wundärzte, und nach Umständen auch durch Hebammen, zu
führen.
§. 101. Lässt sich mit Zuverlässigkeit nicht bestimmen, ob das
Unvermögen ein immerwährendes oder blos zeitliches sei, so sind die
Ehegatten noch durch ein Jahr zusammen zu wohnen verbunden, und hat
das Unvermögen diese Zeit hindurch angehalten, so ist die Ehe für
ungiltig zu erklären.
§. 158. Wenn ein Mann behauptet, dass ein von seiner Gattin innerhalb
des gesetzlichen Zeitraumes geborenes Kind nicht das seinige sei, so
muss er die eheliche Geburt des Kindes längstens binnen drei Monaten
nach erhaltener Nachricht bestreiten und gegen den zur Vertheidigung
der ehelichen Geburt aufzustellenden Curator die Unmöglichkeit der
von ihm erfolgten Zeugung beweisen.
§. 159. Stirbt der Mann vor dem ihm zur Bestreitung der ehelichen
Geburt verwilligten Zeitraume, so können auch die Erben, denen ein
Abbruch an ihren Rechten geschähe, innerhalb drei Monaten nach dem
Tode des Mannes aus dem angeführten Grunde die eheliche Geburt eines
solchen Kindes bestreiten.
+Oesterr.+ St. G. B.
§. 156. Hat aber das Verbrechen _a_) für den Beschädigten -- den
Verlust der Zeugungsfähigkeit -- nach sich gezogen, so ist die Strafe
des schweren Kerkers zwischen 5 und 10 Jahren auszumessen.
+Oesterr.+ St. G. Entwurf.
§. 232. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass der Verletzte --
-- die Fortpflanzungsfähigkeit verliert -- -- so ist wegen schwerer
Körperverletzung auf Gefängniss, nicht unter einem Monate, zu
erkennen.
+Preuss. Allg. Landrecht.+
§. 669. Tit. 2, Th. II: Auch jüngeren (als 50jährigen) Personen kann
es, aber nur unter besonderer landesherrlicher Erlaubniss, gestattet
werden, Kinder zu adoptiren, wenn nach ihrem körperlichen oder
Gesundheitszustande die Erzeugung natürlicher Kinder von ihnen nicht
zu vermuthen ist.
§. 695. Ein Ehegatte, welcher durch sein Betragen bei oder nach
der Beiwohnung die Erreichung des gesetzmässigen Zweckes derselben
vorsätzlich hindert, gibt dem Anderen zur Scheidung rechtmässig
Anlass.
§. 696. Ein auch während der Ehe erst entstandenes, gänzliches oder
unheilbares Unvermögen zur Leistung der ehelichen Pflicht begründet
ebenfalls Scheidung.
§. 697. Ein Gleiches gilt von unheilbaren körperlichen Gebrechen,
welche Ekel und Abscheu erregen, oder die Erfüllung der Zwecke des
Ehestandes gänzlich hindern.
+Rhein. Civilgesetzb.+ (Code civil).
Art. 313. Der Mann kann nicht unter Anführung seines natürlichen
Unvermögens das in der Ehe geborene Kind verleugnen.
+Deutsches+ St. G. B.
§. 224. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass der Verletzte -- --
-- die Zeugungsfähigkeit verliert -- -- so ist auf Zuchthaus bis zu 5
Jahren, oder Gefängniss nicht unter einem Jahre zu erkennen.
[Sidenote: Wann kommt die Zeugungsfähigkeit in Frage?]
Aus vorstehenden gesetzlichen Bestimmungen ergibt sich, dass die
Zeugungsfähigkeit einer Person in folgenden Rechtsfällen in Frage
kommen kann:
1. Bei beabsichtigten Eheschliessungen: wenn an der Zeugungsfähigkeit
eines Theiles gezweifelt wird. (Bürg. Ges.-Buch §. 53.)
2. Wenn es sich um Auflösung einer bereits geschlossenen Ehe wegen
Unvermögen zur Leistung der ehelichen Pflicht handelt. (Bürg. Ges.-Buch
§§. 60, 99, 100, 101, Preuss. Landr. §§. 696, 697.)
3. Wenn die rechtliche Abstammung eines Kindes von einem bestimmten
Vater (oder einer bestimmten Mutter) wegen Zeugungsunfähigkeit dieser
in Zweifel gezogen wird. (Bürg. Ges.-Buch §§. 158, 159.)
4. Wenn Zeugungsunfähigkeit als Folge einer Verletzung zurückgeblieben
sein soll. (Oesterr. St. G. B. §. 156, St. G. Entw. §. 236, Deutsches
St. G. B. §. 224.)
5. Wenn jüngere als 50jährige Individuen Kinder adoptiren wollen.
(Preuss. Landr. §. 669.)
In allen diesen Fällen kann entweder beim Manne oder bei der Frau die
Zeugungsfähigkeit in Frage stehen, und es kann sich dabei entweder um
ein immerwährendes oder um ein blos temporäres Unvermögen handeln.
Ein physiologisch normales geschlechtliches Vermögen erfordert:
1. die Fähigkeit zur Ausübung des Begattungsactes, 2. die
Befruchtungsfähigkeit beim Manne, die Conceptionsfähigkeit beim
Weibe, weshalb seit jeher eine Begattungs- oder Beischlafsunfähigkeit
(Impotentia coëundi) und eine Befruchtungs-, beziehungsweise,
Conceptionsunfähigkeit (Impotentia generandi, concipiendi)
unterschieden wird.
[Sidenote: Impotentia coëundi beim Manne.]
Eine derartige Unterscheidung ist zweckmässig, einestheils, weil in
der That die eine Unfähigkeit ohne die andere vorkommen kann und sogar
nicht selten vorkommt, anderseits, weil auch das Gesetz in analoger
Weise unterscheidet, da es u. A. im §. 53 des österr. Bürg. Ges.-Buch
von „dem Zwecke der Ehe hinderlichen Gebrechen“ überhaupt spricht,
während im §. 60 nur vom „Unvermögen, die eheliche Pflicht zu leisten“,
also nur von der Impotentia coëundi die Rede ist.
Auch das preussische Landrecht spricht im §. 696 nur von einem
Unvermögen zur Leistung der ehelichen Pflicht, und es ist nirgends
angeführt, ob auch eine bei ungestörter Potentia coëundi bestehende
Befruchtungs- oder Conceptionsunfähigkeit einen Scheidungsgrund bilden
könne; doch sollte letzteres vermuthet werden, da im unmittelbar
vorhergehenden Paragraph bestimmt wird, dass ein Ehegatte, welcher
durch sein Betragen bei oder nach der Beiwohnung die Erreichung des
gesetzmässigen Zweckes derselben vorsätzlich hindert, dem Anderen zur
Scheidung rechtmässigen Anlass gibt.
Die Begattungsunfähigkeit beim Manne.
Die wichtigste Bedingung der Potentia coëundi beim Manne ist die
Erectionsfähigkeit seines Gliedes, und der angebliche Mangel
dieser gibt am häufigsten Veranlassung zur Einleitung von
Eheauflösungsprocessen und deshalb zur gerichtsärztlichen Untersuchung.
Die Erection ist ein Reflexvorgang, der unter normalen Verhältnissen
durch wollüstige, auf geschlechtliche Vereinigung gerichtete
Vorstellungen, insbesondere unmittelbar vor letzterer, ausgelöst wird,
aber auch durch periphere Reize anderer Art, z. B. durch Masturbation,
hervorgerufen werden kann.
Dieser normale Reflexvorgang kann nun bei einem Manne entweder
vollkommen fehlen oder nicht mit jener Präcision erfolgen, wie sie de
norma beim Coitus gefordert wird.
Um solche Fälle zu verstehen, ist es nothwendig, festzuhalten, dass die
Erection wie jeder Reflexact zu ihrem Eintreten zweierlei erfordert:
einen entsprechenden peripheren Reiz und eine prompte Reaction des
betreffenden specifischen Reflexcentrums und der zu- und ableitenden
Nervenbahnen.
Der periphere Reiz ist eben die geschlechtliche Aufregung, in die ein
Mann durch den unmittelbaren Verkehr mit einem weiblichen Individuum
versetzt wird, und es ist klar, dass unter sonst normalen Verhältnissen
der Grad dieser Aufregung und die Leichtigkeit, mit welcher sie
eintritt, abhängig sein wird von dem Eindrucke, den das weibliche
Individuum, mit welchem den Coitus auszuüben Gelegenheit geboten ist,
auf die Sinne und durch diese auf den Begattungstrieb des betreffenden
Mannes ausübt. Fehlt dieser Eindruck oder ist derselbe gar derart, dass
er statt geschlechtlicher Zuneigung Widerwillen einflösst, dann ist es
begreiflich, wenn die Erection trotz bestehender Fähigkeit hierzu und
trotz zum Coitus gebotener Gelegenheit sich nicht einstellt, eben weil
jenes Moment, welches dieselbe erweckt, die äussere geschlechtliche
Erregung, nicht gegeben ist. Eine derartige natürliche oder relative
Impotenz kann demnach vorkommen gegenüber alten oder hässlichen Frauen
oder gegenüber solchen, welche an körperlichen Gebrechen leiden, die
Ekel und Abscheu erregen. (§. 697 Preuss. Landr.)
[Sidenote: Behinderung der Erection. Erectionscentrum.]
Doch ist es bekannt, dass gerade in dieser Beziehung die eigene
Individualität des Mannes sich auffallend geltend macht, und dass
ungemein häufig Fälle vorkommen, dass trotz der abschreckendsten
körperlichen Eigenschaften der Frau der geschlechtliche Verkehr
anstandslos erfolgt, ein Umstand, der bei der Beurtheilung solcher
Fälle ebenso zu berücksichtigen wäre, wie die Erfahrung, dass die
Angabe von Ekel und Abscheu vor dem anderen Theile häufig nur als
Vorwand genommen wird, um die lästig gewordenen Fesseln der Ehe zu
lösen, und dass zu diesem Zwecke nicht selten die unverschämtesten
Lügen und Uebertreibungen aufgeboten werden.
Von bei weitem grösserer forensischer Bedeutung als die eben erwähnte
Behinderung der Erection ist jene, welche in abnormen Zuständen des
Mannes selbst ihren Grund hat, und welche demnach als Impotentia
coëundi katexochen zu bezeichnen ist.
Eine solche Behinderung kann begründet sein:
1. in mangelhafter oder fehlender Erregbarkeit der Erectionscentren;
2. in Störungen der Leitungsfähigkeit der den Reflexvorgang
vermittelnden Nervenbahnen;
3. in psychischen Störungen des normalen Ablaufes des Reflexvorganges.
Ad 1. Nach dem gegenwärtigen Stande der Physiologie muss angenommen
werden, dass ebenso wie für andere physiologische Functionen auch für
den Geschlechtstrieb und seine Aeusserungen bestimmte Nervencentren
existiren. Ueber den Sitz derselben ist jedoch noch wenig bekannt. Man
hat denselben früher vorzugsweise im Kleinhirn vermuthet, und einzelne
pathologische Beobachtungen scheinen dies zu bestätigen, z. B. jene
von +Serres+, welcher fand, dass nach apoplectischen Ergüssen in’s
Kleinhirn, speciell in der Wärme, Erection des Penis eintritt; dagegen
erwähnt +Brücke+ (Vorlesungen, II, 63) eines im Hospice des orphelins
beobachteten Falles, in welchem eine Kranke bis zu ihrem Ende der
Onanie ergeben war, obgleich bei der Obduction kein Kleinhirn gefunden
wurde, sondern statt dessen eine gallertige Masse, und im Archiv für
Psychiatrie, IV, 730, findet sich ein von +A. Otto+ mitgetheilter Fall
von hoher geschlechtlicher Erregbarkeit trotz verkümmerten Kleinhirnes.
Neueren Untersuchungen zufolge ist der Sitz des Erectionscentrums
im Rückenmark zu suchen. Insbesondere ist nach +Goltz+ (Pflüger’s
Archiv, VIII, 460) das Lendenmark das selbstständige Centralorgan für
die Erection, welches theils reflectorisch, theils durch Erregung
der höheren Sinnesnerven auch von oberhalb gelegenen Theilen durch
die im Rückenmark verlaufenden Bahnen erregt werden kann. Mit dieser
Behauptung stehen im Einklange die Beobachtungen von mehrere Stunden
andauernder Erection des Penis nach Verletzungen der Halswirbelsäule,
wie eine solche von +Tauszky+ (Wiener med. Presse. 1874, Nr. 31) und
eine zweite von +Reimann+ (Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med.
1875, pag. 461) veröffentlicht worden ist.[19]
[Sidenote: Individuelle Erregbarkeit des Erectionscentrums.]
Es unterliegt keinem Zweifel, dass es Männer gibt, bei welchen schon
von Haus aus die Erregbarkeit der den geschlechtlichen Functionen,
insbesondere der Erection vorstehenden Centren entweder fehlt oder
im abnormen Grade vermindert erscheint. Es ist wohl denkbar, dass
ein solcher Zustand bei sonst normalen Verhältnissen vorkommen
kann, und die alten, in diesen Dingen sehr erfahrenen Canonisten
haben denselben als „Natura frigida“ bezeichnet. Diese Möglichkeit
hat eine festere Basis durch gewisse psychiatrische Beobachtungen
gewonnen, aus welchen hervorgeht, dass als Theilerscheinung gewisser
angeborener psychopathischer Zustände ein vollkommenes Fehlen des
Geschlechtstriebes oder wesentliche Abweichungen desselben von der Norm
vorkommen können.
Es gehören hierher manche Fälle von Blödsinn und Schwachsinn, obgleich
bezüglich dieser bemerkt werden muss, dass der Geschlechtstrieb
mit der Intelligenz in keinem wesentlichen Zusammenhange steht und
als rein instinctiver Trieb sich äussern kann, auch wenn erstere
fehlt oder sehr schwach entwickelt ist, und nicht selten gerade bei
Blödsinnigen schrankenlos sich äussert, weil eben bei diesen das
moralische Fühlen und Vorstellen fehlt, welches beim vollsinnigen
Menschen dem Geschlechtstrieb gewisse Schranken zu setzen bestimmt
ist. Ebenso muss bemerkt werden, dass die bei angeborenem Blödsinn
häufig zu beobachtende Verkümmerung der Hoden keineswegs ein Fehlen
des Geschlechtstriebes bedingt, noch weniger aber die Möglichkeit
der Erection des Penis ausschliesst, wie wir ja auch bei Castraten
(Eunuchen) und den später zu erwähnenden Formen von Hermaphrodisie
trotz Fehlens oder Verkümmerung der Hoden geschlechtliche Regungen
und insbesondere Erectionsfähigkeit des Penis constatiren können.
In diesen Fällen ist eben das Centrum für die Geschlechtsempfindung
functionsfähig. Es kommen jedoch noch häufiger Fälle vor, in
welchen sich als Theilerscheinung des angeborenen Blödsinnes und
Schwachsinnes entweder vollständiges Fehlen des Geschlechtstriebes
oder ein Darniederliegen desselben beobachten lässt. Im letzteren
Falle kann es vorkommen, dass das Individuum auf von einem Weibe
ausgehende geschlechtliche Erregungen nicht reagirt, während sich das
Vorhandensein des Geschlechtstriebes z. B. durch Masturbation äussert.
[Sidenote: Angeborene abnorme Sexualempfindung. Erworbene Schwäche.]
Insbesondere wichtig in vorliegender Beziehung und auch anderweitig
forensisch bemerkenswerth sind die Fälle von angeborener
Verschrobenheit und namentlich von angeborenem Defect des moralischen
Fühlens, bei welchen trotz normaler Körperbildung und gut entwickelter
männlicher Geschlechtsorgane der Geschlechtstrieb gegenüber dem Weibe
entweder vollständig fehlt und selbst Abneigung und Abscheu gegen
das weibliche Geschlecht besteht, oder die Geschlechtsempfindung
eine durchaus verkehrte ist, so dass das Individuum sich gar nicht
als Mann, sondern als Weib fühlt und dem entsprechend sich benimmt.
Eine Zusammenstellung derartiger Fälle, insbesondere von sogenannter
„conträrer Sexualempfindung“ (+Westphal+), hat +Krafft+-+Ebing+
veröffentlicht (Arch. f. Psych. 1877, VII, 201). Dieselben zeigen in
eclatanter Weise, dass auch der Geschlechtstrieb und seine Aeusserungen
von der angeborenen Organisation nervöser Centren abhängen, und
geben uns den Wink, auch bei fraglicher Impotenz die einschlägigen
psychiatrischen Erfahrungen zu berücksichtigen.
In erworbener Weise kann die Erregbarkeit des Erectionscentrums
herabgesetzt sein durch sexuelle Excesse (insbesondere Onanie)
und andere schwächende oder die Erregbarkeit des Nervensystems
herabsetzende Einflüsse, beziehungsweise Erkrankungen, wohin z. B. der
Diabetes und die „traumatische Neurose“ gehören, sowie die Neurasthenie
(+Fürbringer+, Impotentia virilis. Wiener med. Wochenschr. 1889, Nr.
40).
Zweifellos bedingen viele Erkrankungen des Gehirns und namentlich des
Rückenmarks Beeinträchtigung und Verlust der Erectionsfähigkeit, theils
durch pathologische Veränderungen der Centren selbst, theils durch
Störungen der betreffenden Leitungen. Auf den Sitz und die Ausdehnung,
sowie auf die Art und den Grad der Erkrankung würde Rücksicht genommen
werden müssen. Da nach den oben angegebenen Untersuchungen von +Goltz+
die Erection vorzugsweise vom Lendenmark ausgelöst wird, so muss
insbesondere den Erkrankungen des unteren Theiles des Rückenmarkes
ein schädigender Einfluss auf die Potenz zugeschrieben werden; doch
haben wir in der Prager Siechenanstalt einen damals 50jährigen Mann
beobachtet, der, obwohl seit vielen Jahren an den unteren Extremitäten
fast vollständig gelähmt, im hohen Grade der Masturbation ergeben war
und wiederholt mit erigirtem Penis überrascht wurde.
Dass in Folge vorgerückten Alters die Erregbarkeit der Erectionscentren
abnimmt und vielleicht ganz erlöschen kann, ist gewiss anzunehmen, doch
sind geschlechtliche Aeusserungen bei Greisen so häufig, dass gerade
bei diesen weniger das Alter als der individuelle Körperzustand in
Betracht zu ziehen sein wird.
Ad 2. Da der Anstoss zur Erection vorzugsweise von oberhalb dem
+Goltz+’schen Erectionscentrum im Lendenmark gelegenen Nervenorganen
ausgeht, insbesondere von den höheren Sinnesnerven, deren Erregung
mittelst im Rückenmark verlaufenden Bahnen auf das Erectionscentrum
fortgepflanzt wird, so wird es begreiflich, wie auch Erkrankungen des
Gehirnes und der oberen Theile des Rückenmarkes die Erectionsfähigkeit
schwächen und selbst Verlust derselben bedingen können.
[Sidenote: Nervi erigentes. Psychische Störungen der Erection.]
Die centrifugale, die Erection vermittelnde Leitung ist durch +C.
Eckhard+ nachgewiesen worden durch die Entdeckung der Nervi erigentes,
Fasern, die aus dem 1., 2. und 3. Sacralnerven entspringen, in den
Sympathicus übergehen und mit diesem zu den Gefässen des Penis
gelangen, deren Erweiterung sie auf stattgehabte Reizung, und auf
diese Weise die Erection bewirken. Durchschneidung dieser Nerven kann
Erectionsunfähigkeit bedingen, wie durch Versuche an Pferden constatirt
worden ist, ebenso nach +Rémy+ (Journ. de l’anat. et phys. 1886, pag.
205) Durchschneidung der Nervi ejaculatorii; auch Verletzungen der
Wurzel des Penis können Gleiches veranlassen.
Ad 3. Der glatte Verlauf des Reflexvorganges der Erection kann auch
durch psychische Einflüsse verhindert werden.
Nach +Goltz+ kann man bei Hunden, bei welchen in Folge Durchschneidung
des oberen Theiles des Lendenmarkes die Erection des Penis schon auf
geringe Reize eintritt, die Erection nicht auftreten oder verschwinden
sehen, wenn stärkere Hautreize anderwärts eingeleitet werden.
Diese auch bei anderen Reflexen zu beobachtende Thatsache kann auch auf
psychische Einflüsse übertragen werden. So wäre es begreiflich, wenn
bei einem Individuum, das eben im Begriffe wäre, den Coitus auszuüben,
z. B. in Folge eines plötzlichen Schrecks, die Erection ausbliebe
oder unterbrochen würde. Aehnliches können jedoch auch weniger
plötzliche Gemüthsaffecte bewirken, und es ist eine durch zahlreiche
Erfahrungen constatirte Thatsache, dass insbesondere bei Neulingen
im geschlechtlichen Verkehr, sowie bei Individuen, die wegen früher
getriebener Masturbation mit einem schlechten Gewissen in die Ehe
treten, einerseits übertriebene Scham, anderseits durch Vorstellungen
etwaiger Impotenz geweckte Aengstlichkeit den Grund bildet, warum die
Erection ausbleibt, ein Gang der Dinge, der in der Thatsache, dass es
Männer gibt, die nicht in Gegenwart Anderer den Harn lassen können,
sowie in der bekannten Erfahrung, dass auf Eisenbahnen nicht selten die
Defäcation und Harnentleerung durch die Angst, den Zug zu versäumen,
gehemmt wird, sein Analogon findet.
Diese psychische Reflexhemmung erklärt gewiss so manche Fälle
angeblicher oder vermeintlicher Impotenz, welche, wie die Praktiker
wohl wissen, gar nicht so selten bei jungen Ehemännern vorkommt und in
der Regel, sobald durch einen gelungenen Beischlaf das Selbstvertrauen
geweckt und die Angst vor vermeintlicher Impotenz damit gehoben wird,
von selbst verschwindet. Es scheint hierher auch der grösste Theil
jener Fälle zu gehören, in welchen das Individuum trotz normaler
Erection doch keine Ejaculation beim Coitus zu Stande bringt, trotzdem
bei nächtlichen Pollutionen Sperma entleert wird, wie +Ultzmann+
(„Ueber männliche Sterilität.“ Wiener med. Presse. 1878, Nr. 1) einen
solchen mittheilt.
[Sidenote: Mechanische Behinderung der Erection.]
Ausser diesen in Innervationsstörungen gelegenen Ursachen der
Erectionsfähigkeit des Gliedes gibt es Zustände, welche in mechanischer
Weise Gleiches bewirken können. Es gehören hierher schwielige Narben
und chronische Exsudate in den Corporibus cavernosis oder anderen
Theilen des Penis, ebenso gewisse Neubildungen desselben, vielleicht
auch einzelne Formen der Phimose, dann auch in vielen Fällen von
Hypospadie eine angeborene Verkürzung des gespaltenen Frenulums, oder
der die Unterfläche des Penis bekleidenden Haut, wodurch der letztere
hakenförmig nach abwärts gekrümmt und in der Erection behindert
erscheint, ebenso die Verwachsung des Penis mit dem Scrotum, deren
+Oesterlen+ in Maschka’s Handbuch, III, 13, erwähnt.
[Sidenote: Defecte des Penis.]
Weiter kommen Fälle vor, in welchen das Glied zwar die normale
Erectionsfähigkeit besitzt, aber auch im Zustande der Erection so von
Geschwülsten der Nachbarschaft bedeckt wird, dass es über das Niveau
dieser gar nicht hervortritt, somit auch nicht in die weiblichen
Genitalien eingeführt werden kann. Beispiele dieser Art liefern gewisse
Fälle von Elephantiasis scroti und Scrotalhernien.
Einen exquisiten Fall ersterer Art haben wir selbst beobachtet.
Das Scrotum reichte bis an’s Knie und hatte die Grösse von etwa
drei Mannsköpfen. Der Penis war in diesem riesigen Tumor vollkommen
vergraben, und durch eine excoriirte Stelle wurde die Oeffnung
bezeichnet, aus welcher sich der Harn entleerte. Der Mann war
verheiratet und konnte dieses Tumors wegen bereits seit Jahren den
Coitus nicht mehr ausüben, da trotz vorhandener Geschlechtslust der
Penis auch im erigirten Zustande durch die Geschwulst vollkommen
verdeckt wurde.
Ein Fall, in welchem auf diese Weise durch einen grossen Scrotalbruch
Impotenz herbeigeführt wurde, findet sich in +Henke+’s Zeitschrift,
1862, 44. Bd., pag. 379.
Von einer allzugrossen Dicke des männlichen Gliedes als
Begattungshinderniss ist in älteren Büchern viel die Rede, doch
wollen wir die betreffenden Angaben, als nicht durch thatsächliche
Beobachtungen erwiesen, bei Seite lassen.
Vollständiger Defect des Penis, wie er wohl selten angeboren, häufiger
aber durch Gangrän, Noma, fressende Geschwüre u. dergl. Processe
bewirkt, vorkommt, bedingt selbstverständlich Begattungsunfähigkeit.
Bei theilweisem Defect des Gliedes wäre nicht zu vergessen, dass
die Anwesenheit der Eichel nicht unumgänglich zur Erection und zur
Ejaculation nothwendig ist, und dass auch ein bei der Untersuchung kurz
befundener Penisstumpf durch die Erection sich verlängert und auf diese
Weise seine Einbringung in die weiblichen Genitalien ermöglicht werden
kann.[20]
[Sidenote: Allgemeine Bedingungen der männl. Beischlafsfähigkeit.]
Wir haben bei der Besprechung der Ursachen der Impotentia coëundi
bisher nur die Genitalverhältnisse für sich allein in Betracht gezogen;
es ist jedoch klar, dass zur Ausübung eines Beischlafes ausserdem
noch das allgemeine physische Vermögen gehört. Dieser Umstand kommt
insbesondere in Betracht in jenen Fällen, in welchen bestritten wird,
dass ein Kind zu einer bestimmten Zeit von einem bestimmten Manne
erzeugt worden sein konnte.
Es gehören hierher somatische Zustände, die ihrer allgemeinen Natur
nach einestheils die Geschlechtslust sistiren, anderseits, indem sie
das Individuum zu selbstständigen Acten unfähig machen, auch die
Möglichkeit ausschliessen, dass während eines solchen Zustandes von dem
Manne ein Beischlaf hätte ausgeübt worden sein können. Ersteres wird
der Fall sein bei den meisten fieberhaften Erkrankungen, und es ist
kaum anzunehmen, dass z. B. während schwerer fieberhaften oder gar mit
Delirien verbundenen Erkrankungen ein Beischlaf von dem betreffenden
Individuum ausgeübt worden sein konnte. Letzteres Moment wird vorliegen
bei gewissen Lähmungszuständen, z. B. nach Hämorrhagien des Gehirns und
ihren Consequenzen, bei allgemeinen Hydropsien u. dergl., die umsomehr
von Bedeutung sind, als sie nicht schnell vorübergehende, sondern meist
lange dauernde Leiden darstellen.
Fälle, in denen die Legitimität posthum geborener Kinder wegen in
der Zeit vor dem Tode bei dem angeblichen Vater bestandener schwerer
Erkrankung und dadurch bewirkter Beischlafsunfähigkeit bestritten
wurde, finden sich in +Casper+-+Liman+’s Handb. d. gerichtl. Med., I,
pag. 92 und 237, sowie in +Tailor+’s Principles of medic. jurispr.,
1873, II, pag. 297 u. s. f. In einem der von +Casper+-+Liman+
mitgetheilten Fälle hatte ein 72jähriger Mann eine 30jährige Frau
geheiratet, die, nachdem der Gatte nach vierjähriger kinderloser Ehe
und nach endlicher sechswöchentlicher schwerer Krankheit gestorben war,
317 Tage nach dem Tode des Mannes einen Knaben gebar und denselben als
legitim angesehen haben wollte!
Bei der Beurtheilung solcher Fälle ist jedoch zu erwägen, dass
nicht alle schweren Erkrankungen die Möglichkeit eines Beischlafes
ausschliessen. So ist es bekannt, dass namentlich Tuberculöse trotz
weitgediehener Erkrankung den Coitus noch ausüben (Phthisicus salax)
und uns ist insbesondere vorgekommen, dass ein sehr herabgekommener
tuberculöser Bauer noch am Abend vor seinem Tode den Beischlaf ausübte,
womit sein Weib ganz einverstanden war, die es nicht unterliess, dem
Ortspfarrer gegenüber diesen Umstand lobend zu erwähnen. Ebenso
kannten wir einen jungen, geschlechtlich sehr erregbaren Mann, der,
obgleich an Syphilis der Leber und Ascites leidend, dennoch wiederholt
in diesem Zustande den Coitus ausübte.[21]
Die Befruchtungsfähigkeit.
[Sidenote: Impotentia generandi beim Manne.]
Die Potentia generandi des Mannes ist an zwei Bedingungen geknüpft: an
die Gegenwart leistungsfähiger Hoden und an die normale Beschaffenheit
der Samenwege.
Die Hoden müssen nicht blos vorhanden sein, sondern auch
befruchtungsfähigen Samen secerniren.
[Sidenote: Mangel der Hoden.]
[Sidenote: Castraten.]
Vollständiger Mangel beider Hoden bedingt natürlich absolute
Zeugungsunfähigkeit, wenn die Hoden entweder angeboren fehlen oder vor
erreichter Pubertät verloren gegangen sind. Angeborener Hodenmangel ist
wohl als selbstständige Missbildung bei sonst normaler Körperbildung
gewiss ungemein selten und kommt wohl nur bei Missgeburten (Anaedoeus)
vor. Castration im Kindesalter kommt ebenfalls nur äusserst selten
zur Beobachtung. Wurde die Castration nach erreichter Pubertät
ausgeführt, dann lässt sich die Möglichkeit nicht ganz wegleugnen,
dass mit dem noch in den Samenblasen zurückgebliebenen Sperma noch
ein einmaliger befruchtender Beischlaf ausgeübt werden kann. Dieses
muss umsomehr zugegeben werden, als ein solcher Mann durch die
Castration die Beischlafsfähigkeit, soweit sie durch Erections- und
Immissionsfähigkeit des Gliedes bedingt wird, keineswegs einbüsst,
da ja durch diese Operation weder die Erectionscentren, noch die
betreffenden Nervenbahnen verletzt werden. Schon die ältere Literatur
enthält Mittheilungen über Castraten, die den Beischlaf wiederholt
ausübten (P. +Frank+, +Otto+, +Henke+, A. +Cooper+), und Gleiches
wurde in neuester Zeit an den russischen Skopzen beobachtet, von
denen +Pelikan+ (Das Skopzenthum in Russland. Giessen 1867, pag. 93)
angibt, dass jene vom „kleinen Siegel“, d. h. die blos castrirten
Skopzen, die Fähigkeit zum Beischlaf nicht verlieren, sondern sogar
von dieser noch ausgiebigen Gebrauch machen, indem sie heiraten und
mitunter selbst zügelloser Wollust sich ergeben. Ferner sah +Otto+
bei einem Individuum, das sich selbst castrirt hatte, einige Tage
nach der Castration eine Pollution eintreten, und einen gleichen
Fall beobachtete +Krahmer+ (Handb. d. gerichtl. Med. 1857, pag. 303).
Leider wurde in keinem dieser Fälle das ejaculirte Sperma mikroskopisch
untersucht.
Dass der Verlust blos eines Hodens, wenn der andere leistungsfähig ist,
keine Befruchtungsunfähigkeit bewirkt, ist selbstverständlich.
[Sidenote: Kryptorchie.]
Das Fehlen der Hoden im Hodensack wegen nicht erfolgtem Descensus
testiculorum -- die +Kryptorchie+ -- bedingt für sich allein keine
Befruchtungsunfähigkeit. +Taylor+ (l. c. II, 294) erwähnt vier Fälle
dieser seltenen[22] Hemmungsbildung, die sämmtlich Männer betrafen,
welche in, zum Theile wiederholter Ehe Kinder erzeugt hatten, und ein
gleicher Fall wird von +Pelikan+ (l. c. pag. 43-50) mitgetheilt; ebenso
konnte +Beigel+ (Virch. Arch. CVIII, pag. 144) in dem ejaculirten Samen
eines 22jährigen Mannes mit doppelseitiger Kryptorchie Spermatozoiden
in normaler Mengen nachweisen. Diese Thatsachen widersprechen den
ältern, insbesondere von +Hunter+, +Curling+ und +Godard+ gemachten
Behauptungen, wonach der nicht erfolgte Descensus der Hoden immer
auch mit verkümmerter Beschaffenheit dieser verbunden sei, und es ist
immerhin beachtenswerth, dass in drei solchen Fällen, die +Taylor+
(l. c. 293) ebenfalls erwähnt, in dem ejaculirten Sperma keine
Spermatozoiden gefunden werden konnten.[23] Bei dem Umstande jedoch,
als, wie wir hören werden, die Aspermatozie auch bei normalem Situs
der Hoden häufig genug vorkommt, erscheint es möglich, dass in jenen
Fällen weniger der nicht erfolgte Descensus der Testikel als andere
Ursachen das Fehlen der Samenfäden bedingt haben, wie ja schon in dem
Umstande, dass überhaupt Spermaflüssigkeit ejaculirt wurde und die
Beischlafsfähigkeit in dieser Richtung nicht gestört war, der Beweis
liegen dürfte, dass die Hoden keineswegs verkümmert waren, wie dies von
+Hunter+ u. A. bei den Testiconden angenommen wird.
Die zur Befruchtung nothwendige Fähigkeit der Testikel, normalen
Samen zu secerniren, wird zunächst von gewissen Altersverhältnissen
beeinflusst.
[Sidenote: Befruchtungsfähigkeit bei Knaben. Pubertät.]
In dieser Beziehung ist es bekannt, dass erst mit dem Eintritte der
Pubertät die Hoden die Fähigkeit erlangen, Sperma zu bilden. In unserem
Klima stellt sich die Geschlechtsreife gewöhnlich zwischen dem 16.-18.
Jahre ein; es ist jedoch klar, einestheils, dass dieselbe nicht mit
einem Schlage auftritt, sondern allmälig sich entwickelt, und dass
ferner eine Reihe der verschiedenartigsten Verhältnisse den früheren
oder späteren Eintritt derselben modificirt. Insbesondere sind Race
und Erziehung von Einfluss, und diese Momente, sowie etwa stattgehabte
frühzeitige geschlechtliche Reizungen, die unzweifelhaft eine Frühreife
bewirken können, werden in dieser Beziehung in Betracht zu nehmen sein,
sowie überhaupt in solchen Fällen, wo die Zeugungsfähigkeit eines
Knaben namentlich wegen angeschuldeter Vaterschaft in Frage kommt,
an dem Grundsatze festgehalten werden muss, weniger das Alter des
Individuums, als seine körperliche Entwicklung in Erwägung zu ziehen.
Dass letztere und mit ihr die Geschlechtsreife früher als sonst, und
mitunter ungewöhnlich frühzeitig sich einstellen kann, unterliegt
keinem Zweifel. Es existiren darüber thatsächliche Beobachtungen.
Ob der von +Klose+ (Syst. der ger. Physik, pag. 250) bezeichnete
Fall von durch einen 9jährigen Knaben bewirkter Schwängerung Glauben
verdient, ist allerdings fraglich; ein solcher, einen 14jährigen Knaben
betreffend, ist uns aber selbst bekannt. Ebenso erwähnt +Taylor+ (l. c.
289) Fälle von Nothzucht, die von 15-16jährigen Knaben verübt wurden
und zur Verurtheilung letzterer führten.
Anlässlich solcher Fälle möchten wir jedoch bemerken, dass
geschlechtliche Regungen überhaupt, sowie Erections- und daher
Beischlafsfähigkeit bei Knaben viel früher vorhanden sind als die
Befruchtungsfähigkeit, wie ja die so häufige Masturbation und analoge
Erfahrungen bei jungen Thieren, insbesondere Hunden, zur Genüge
beweisen, dass daher aus der Thatsächlichkeit eines durch einen Knaben
vollbrachten geschlechtlichen Actes nicht auch auf bereits vorhandene
Geschlechtsreife, respective Befruchtungsfähigkeit geschlossen werden
darf.
Wie die Erfahrung lehrt, gibt sich die eingetretene geschlechtliche
Reife in der Regel durch gewisse mehr weniger auffallende Veränderungen
in dem körperlichen Verhalten des betreffenden Individuums zu erkennen.
Der Körper bekommt einen mehr männlichen Habitus, die Schamhaare
kommen zum Vorschein, ebenso, jedoch in der Regel später, die ersten
Spuren der Barthaare; die früher infantilen Hoden schwellen an und
werden gegen Druck empfindlicher, das Glied wird turgescenter und
stärker, die Stimme schlägt um u. s. w. Das Vorhandensein oder Fehlen
dieser Symptome wäre zu constatiren, denn es ist nicht zu leugnen,
dass dieselben sehr gut für die Frage, ob das Individuum bereits
zeugungsfähig sei oder nicht, verwerthet werden können. Eine absolute
Beweiskraft kommt jedoch keiner dieser Erscheinungen zu[24], und nur
dem Befunde ejaculirten Spermas könnte eine solche zugeschrieben
werden. Bei dem Umstande als nächtliche Pollutionen ein frühzeitig
sich einstellendes Zeichen eingetretener Geschlechtsreife bilden
und anderseits gerade in der Pubertätsperiode die Masturbation am
häufigsten vorkommt, wäre in einem derartigen Falle nach Spermaflecken
zu fahnden und der mikroskopische Nachweis der Spermatozoiden
anzustreben.
[Sidenote: Befruchtungsfähigkeit bei Greisen.]
Obgleich im Allgemeinen angenommen werden kann, dass im Greisenalter
mit den Jahren die Befruchtungsfähigkeit abnimmt, so lässt sich doch
kein Zeitpunkt bestimmen, von welchem an dieselbe vollkommen aufhört,
es scheint vielmehr, dass in dieser Beziehung, so lange das Individuum
nicht in hohem Grade marastisch oder anderweitig herabgekommen ist,
von der Natur keine Grenzen gesetzt sind, wie dies bezüglich der
Conceptionsfähigkeit des Weibes der Fall ist. Es sprechen dafür
nicht blos zahlreiche zweifellose Beobachtungen von durch Greise
erfolgten Schwängerungen (+Taylor+, l. c. pag. 291), sondern auch die
Thatsache, dass man auch in Leichen sehr alter Leute ungemein häufig
Spermatozoiden in den Hoden sowohl als in den Samenblasen nachzuweisen
im Stande ist. +Duplay+ (Arch. génér., December 1852) hat das Sperma
der Leichen von 51 Greisen untersucht und konnte in 37 Fällen
Spermatozoiden nachweisen; 7mal war die Menge derselben ungeheuer
gross, wie in früheren Jahren, 16mal war noch in jedem Tropfen eine
grosse Zahl zu finden und 14mal waren nur einzelne nachweisbar.
Aehnliche Untersuchungen hat A. +Dien+ angestellt (Journ. de l’anat.
et de la phys. 1867, 449) an den Leichen von 105 Greisen von 64 bis 95
Jahren. Es fanden sich Spermatozoiden in den Samenbläschen bei Greisen
von 64-70 Jahren (14) bei 64·3%, von 70-80 (49) bei 44·8%, von 80-90
(38) bei 26·3%, während in den Leichen von 90-97jährigen Greisen (4)
keine gefunden wurden. Uebrigens kann auch bei Greisen trotz fehlender
Spermatozoiden Geschlechtslust und Beischlafsfähigkeit bestehen. So
obducirten wir einen 74jährigen, noch ziemlich rüstigen Mann, der bei
einer Prostituirten während des Coitus gestorben war, und zwar an
Herzlähmung in Folge von Endarteriitis deformans und consecutiver
Herzhypertrophie. Im Inhalte der Hoden und Samenblasen fand sich keine
Spur von Samenfäden. Interessant war in diesem Falle auch der Befund
einer ausgeheilten embolischen Erweichung des rechten Kleinhirns,
welche fast ein Drittel desselben betraf (vide pag. 50).
Obige Beobachtungen, mit welchen die in unserem Institute gemachten
übereinstimmen, mahnen zur Vorsicht bei der Beurtheilung der
Befruchtungsfähigkeit von Greisen, umsomehr, als Fälle, in denen die
Legitimität von Kindern wegen Alters des Vaters angefochten wird,
verhältnissmässig nicht selten vorkommen. Auch hier wird weniger
das Alter des betreffenden Mannes, als vielmehr sein Körperzustand
zu würdigen sein, und es ist bekannt, dass in dieser Beziehung die
grössten Verschiedenheiten sich ergeben.
[Sidenote: Hodenatrophie.]
Von den pathologischen Processen, welche die Functionsfähigkeit
der Hoden aufheben oder gar nicht eintreten lassen können, sind
insbesondere die +atrophischen Zustände+ zu erwähnen.
Eine angeborene Verkümmerung der Hoden ist verhältnissmässig sehr
selten. Häufiger ist ein Persistiren der Hoden in ihrem infantilen
Zustand, welches insbesondere gleichzeitig mit dem Zurückbleiben der
sonstigen Körperentwicklung, bei gewissen Formen des angeborenen
Blödsinnes, aber auch ohne beides vorkommt.
Wir obducirten kurz hintereinander 3 Fälle einschlägiger Art. Der
erste betraf einen 23jähr. Mann, welcher in Kohlendunst erstickt war.
Es war ein sehr kräftiges, jedoch bartloses Individuum, ein wahres
Modell; der Penis war normal, das Scrotum auffallend klein (kaum
apfelgross), leer. Die Hoden unmittelbar am äusseren Leistenring
knabenhaft klein. Weder in diesen, noch in den Nebenhoden, noch
in den Samenblasen Spermatozoiden. Das äussere Genitale hatte
eine auffallende Aehnlichkeit mit dem des von +Pelikan+ (l. c.)
abgebildeten Kryptorchen. Der zweite Fall betraf einen 40jähr.
herabgestürzten Ziegeldecker von kleinem, zartem Körperbau,
mit ziemlich dichtem Vollbarte, nicht verknöcherten Kehlkopf-
und Rippenknorpeln und offenem Foramen ovale. Die Genitalien
mässig behaart, doch von knabenhafter Kleinheit. Die Hoden blos
haselnussgross, weich. Sowohl in den Samenblasen, als in den
Hoden Spermatozoiden, doch nur sehr spärlich, in ersteren 1-3, in
letzteren 3-5 in einem Gesichtsfelde. Im dritten Falle handelte es
sich um einen 23jähr. Zimmermaler, der auf der Strasse plötzlich
todt zusammengestürzt war. Als Todesursache ergab sich ein Struma
mit hochgradiger säbelscheidenförmiger Compression der Trachea.
Der Körper war 169 Cm. lang, schlank und mager. Die Genitalien
von knabenhaftem Aussehen. Am Schamberg etwa 10 Flaumhaare,
Penis 4 Cm. lang, 1·5 breit, vom Schamberg durch eine niedrige
bogenförmige Hautfalte abgegrenzt. Hodensack klein, flach, leer.
Hoden bohnengross, im Leistencanal unmittelbar hinter dem inneren
Leistenring. Samenbläschen 2·3 Cm. lang, 0·5 breit. Nirgends
Samenfäden. Das Individuum war seit seiner Jugend schwächlich,
soll ein Liebesverhältniss gehabt haben, welches jedoch nach
Coitusversuchen von Seite des Mädchens aufgegeben wurde. Seitdem
soll der Untersuchte stets traurig und verschlossen gewesen sein.
-- Beachtenswerth sind auch die durch mehrere Fälle illustrirten
Mittheilungen +Boreli+’s, wonach ein Zurückbleiben der Entwicklung
des Zeugungsapparates auch als Theilerscheinung von Malariakachexie
vorkommt. (Wiener med. Blätter. 1881, pag. 54.)
Bezüglich der senilen Atrophie gilt das, was oben über die
Spermabildung bei Greisen gesagt wurde.
Die übrigen Formen der Hodenatrophie können durch locale oder durch
entfernte Ursachen veranlasst werden.
Zu den ersteren gehören Excesse in venere, entzündliche Processe der
Hoden und Nebenhoden und von den Nachbarorganen ausgeübter Druck.
Dass excessiver Missbrauch der Hoden Atrophie derselben bewirken kann,
unterliegt keinem Zweifel, weniger ist es jedoch die allzuhäufige
natürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes, die solche Folgen nach
sich zu ziehen vermag, als vielmehr die frühzeitige und excessiv geübte
Masturbation, die ebenso, wie sie den Gesammtkörper herabbringt, auch
die Leistungsfähigkeit der Hoden zu erschöpfen vermag. +Curling+ (On
sterility in Man, 1846) erwähnt derartige Fälle, und ein solcher, wo
bei einem 29jährigen Onanisten Atrophie der Hoden gleichzeitig mit
Atrophie der Prostata beobachtet wurde, findet sich im Jahresberichte
des Wiener allgem. Krankenhauses pro 1871, pag. 141, von +Albert+
beschrieben.
Von den entzündlichen Processen, welche Hodenatrophie herbeiführen
können, sind die gonorrhoische Orchitis und Epididymitis zu erwähnen.
Doch kommt eigentliche Atrophie und consecutive Aspermasie vorzugsweise
nur in den chronischen indurativen Formen der Hodenentzündung zu
Stande, indem die von dem intralobulären Bindegewebe oder von der
Membrana propria der Samencanälchen ausgehende Bindegewebswucherung das
Lumen der Samencanälchen comprimirt und den zelligen Inhalt derselben
durch Druck zum Schwinden bringt (+Rindfleisch+, +Steiner+). Ungleich
häufiger ist die gleich zu erwähnende Aspermatozie (Azoospermie) ohne
Atrophie des Hodens die Folge der genannten Processe.
In gleicher Weise kann Hodenatrophie nach syphilitischer, sowie nach
traumatischer Hodenentzündung zu Stande kommen.
Fortgesetzter Druck auf die Hoden kann dieselben ebenfalls zum
Schwinden bringen. Es kann dies geschehen durch Hydro- und Varicocele
(+Hunter+), durch grosse Scrotalhernien (+Hunter+) und nach +Virchow+
auch durch Elephantiasis scroti. Die in einzelnen Fällen von
Kryptorchie beobachtete Aspermasie (Aspermatozie) hat man ebenfalls
mit durch Druck bewirkter Atrophie der Hoden in Verbindung gebracht.
Es wäre dies namentlich möglich bei Hoden, die im Leistencanal stecken
geblieben sind. So fanden wir bei einem erstochenen Manne blos den
linken Hoden im Scrotum, den rechten aber im Leistencanal. Ersterer war
normal gross und enthielt reichliche Spermatozoen, während im linken,
um zwei Drittel kleineren, nur isolirte sich nachweisen liessen.
Von den entfernteren Ursachen der Hodenatrophie ist zunächst die von
+Obolensky+ (Med. Centralbl. 1867, pag. 497) experimentell geprüfte
Durchtrennung des Nervus spermaticus zu erwähnen. O. fand, dass bei
Thieren nach Durchschneidung des N. spermaticus progressive Atrophie
des Hodens sich einstelle, dass sie schon 2-3 Wochen nach der Operation
beginne und binnen 4 Wochen in der Regel so weit schreite, dass der
betreffende Hode zu einem erbsengrossen Körper zusammenschrumpfe.
-- +Pelikan+ und +Blumberg+ sahen auch nach Durchschneidung der
Samenstränge in toto Atrophie, manchmal aber auch Vereiterung der Hoden
eintreten.
Nach der Operation erfolgte in der Regel Intumescenz des Hodens, in
welchem Zustande derselbe bis zum 16.-20. Tage blieb, worauf sich
derselbe allmälig bis zum Umfange einer Bohne oder Erbse verkleinerte,
so dass der ganze Process in etwa zwei Monaten beendet war. Nach
Durchschneidung des Vas deferens allein trat Atrophie des Hodens
+nicht+ ein, ebensowenig nach Unterbindung desselben.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass ebenso, wie Verletzungen des
N. spermaticus Hodenatrophie bedingen können, letztere auch bei
Erkrankungen des N. spermaticus oder der centralen Nervenorgane,
aus welchen er entspringt, erfolgen kann. Dies wäre insbesondere
bei Erkrankungen der unteren Partien des Rückenmarkes in Betracht
zu ziehen. Möglicher Weise kann eine solche Atrophie auch nach
Erkrankung höher gelegener Rückenmarkstheile und selbst des Gehirns
sich entwickeln, wofür auch die Beobachtung +Larrey+’s spricht, der bei
einem Soldaten, dem in Egypten das kleine Gehirn verletzt worden war,
Hodenatrophie und Impotenz eintreten sah.[25] Weiter kann Hodenatrophie
eintreten nach Thrombose der Art. sperm. interna, welcher für den Hoden
die Bedeutung einer Endarterie zukommt. J. +Mifle+ (Arch. f. klin.
Chir. XXIV, 399) und E. +Niemann+ (Breslauer ärztl. Zeitschr. 1884, Nr.
2) berichten über solche Fälle.
[Sidenote: Impotenz bei Alkoholismus und Morphinismus.]
Die früher behauptete atrophirende Wirkung des Jod auf die Hoden
wurde durch neuere Beobachtungen nicht bestätigt. Gleiches gilt vom
Bromkalium, dem +Huette+ ähnliche Wirkung zuschrieb (+Krosz+, Arch.
f. experim. Path. VI, 3). Dagegen scheint dem Alkoholmissbrauch ein
solcher Effect zuzukommen. Die meisten Säufer sind bekanntlich steril,
und eine Zahl von Leichen derselben, die wir selbst untersucht haben,
hat uns belehrt, dass die Hoden bei diesen Leuten in gleicher Weise
der Verfettung unterliegen wie die übrigen Organe, und dass sich
bei denselben verhältnissmässig selten Samenfäden im Hoden und in
den Samenblasen finden. Anderweitig zu Stande kommende übermässige
Fettbildung wird wahrscheinlich ebenfalls auf die Hoden einen Einfluss
nehmen, wie wir ja wissen, dass sehr fette Individuen seltener Kinder
zeugen als andere.[26]
[Sidenote: Aspermatozie.]
In allen Fällen von Atrophie, resp. Verfettung der Hoden scheint
zuerst die Bildung der Spermatozoiden und hierauf erst jene der
Spermaflüssigkeit zu sistiren. Aspermatozie (Azoospermie) geht demnach
der Aspermie voraus. Es kann jedoch auch Aspermatozie bestehen ohne
jegliche Atrophie, und sie kann sich finden bei Individuen, die
ohne Anstand den Coitus auszuüben im Stande sind und dabei ganz
normal ejaculiren. +Casper+ (l. c. 129), +Mantegazza+ und +Hirtz+
(Prager Vierteljahrschr. 1863, 78. Bd., III) berichten bereits über
solche Fälle, ebenso +Gosselin+, +Curling+ und besonders +Liégeois+
(Virchow’s Jahrb. 1869, I, 257), ferner in späterer Zeit aus unserem
Institute +Schlemmer+[27], dann +Ultzmann+ (l. c.), +Kehrer+ (Beiträge
zur Geburtsk. und Gynäk. Giessen 1879, II, 1 und 1887, pag. 262),
+Duncan+ (Virchow’s Jahrb. 1883, II, 554), +Quedliot+ (Wiener med.
Wochenschr. 1884, 78) und +Fürbringer+ (Deutsche med. Wochenschr.
1888, Nr. 28). Die Mehrzahl dieser Individuen betrifft solche, die
eine (meist beiderseitige) Entzündung der Samenstränge und der
Nebenhoden überstanden haben, und es unterliegt mit Rücksicht auf die
Häufigkeit einschlägiger Beobachtungen keinem Zweifel, dass letztere
Processe zu den häufigsten Ursachen der Aspermatozie gehören. Es
kommt zu Verwachsungen der entzündlich erkrankten Leitungswege, und
die Flüssigkeit, welche später beim Coitus entleert wird, ist kein
Sperma im engeren Sinne, sondern nur das Secret der oberhalb der
Obliterationsstelle gelegenen Samenwege, insbesondere der Samenblasen.
Es gibt jedoch auch Fälle von Aspermatozie im engsten Sinne, bei
welchen, ohne dass Erkrankung der Hoden vorausgegangen wäre, das
Secret derselben keine Spermatozoiden enthält. +Casper+ erwähnt
solcher Beobachtungen. Die Ursache dieser Erscheinung ist vorläufig
unbekannt. Es ist möglich, dass vielleicht einzelne Individuen von
Haus aus nicht fortpflanzungsfähig sind, wie wir dies z. B. bei den
Bastarden von Thieren beobachten können. So ist eine Befruchtung vom
Maulesel unmöglich, weil im Samen desselben wohl Epithelialzellen und
Kerne, aber keine Samenfäden vorkommen, wie +De Martini+ und +Hausmann+
nachgewiesen haben. (Vierteljahrschr. für Veterinärk. 1874, XLI, Heft
1, pag. 6, Anal.[28])
Temporäre Abwesenheit der Spermatozoiden nach wiederholt geübtem Coitus
hat +Casper+ bei einem 60jährigen Manne direct beobachtet. Ueber die
forensisch nicht unwichtige Frage, wie sich im Verlaufe gewisser
Krankheiten oder einige Zeit nach diesen die Spermatozoidenbildung
verhält, existiren Beobachtungen von +Liégeois+ (l. c.), aus welchen
derselbe den Schluss zieht, dass solche Processe die Bildung der
Spermatozoiden nicht aufheben. Dagegen lehren die in unserem
Institute an Leichen gemachten Untersuchungen, dass ebenso wie mit
fortschreitendem Altersmarasmus, auch im Verlaufe langwieriger und
erschöpfender Krankheiten die Neubildung der Spermatozoiden abnimmt
und selbst ganz sistiren kann. Damit stimmen neuere Untersuchungen von
A. +Busch+ in München (Ueber Azoospermie beim gesunden und kranken
Menschen etc. Zeitschr. f. Biologie. Bd. 18, pag. 496) überein,
welcher bei 43 an Phthisis pulmonum und bei 37 an anderen chronischen
Krankheiten Verstorbenen 12mal, beziehungsweise 11mal Azoospermie und
20mal, resp. 13mal nur wenige Spermatozoiden zu constatiren vermochte.
Dass in einem Sperma die Samenfäden fehlen, lässt sich nur durch
mikroskopische Untersuchung constatiren. Doch kann ein solches Sperma
schon makroskopisch durch seine wässerige oder stark pigmentirte oder
colloide Beschaffenheit auffallen (+Schlemmer+, +Ultzmann+).
[Sidenote: Samenwege.]
Wie oben erwähnt, ist die Potentia generandi des Mannes ausser an die
Gegenwart leistungsfähiger Hoden auch an die normale Beschaffenheit der
+Samenwege+ geknüpft. Diese Wege sind die Samengänge und die Harnröhre.
Einen vielleicht einzig dastehenden Fall von angeborenem Mangel der
Vasa deferentia beschreibt +Little+ (Dublin. Journ. LVIII, Aug.
1874). Er betraf einen kräftigen, gesunden Mann mit äusserlich gut
entwickelten Geschlechtsorganen und normalen Hoden. Epididymis
beiderseits unvollkommen entwickelt, Cysten mit Spermatozoiden
enthaltend. Vas deferens fehlt beiderseits vollständig, ebenso die
Ductus ejaculatorii. Von den Samenbläschen nur Rudimente. In einem von
uns secirten Falle von Agenesie der linken Niere fehlte auch die linke
Samenblase und das linke Vas deferens. Leider wurden die Hoden in der
Leiche gelassen, so dass ihr Verhalten nicht mehr constatirt werden
konnte, doch war an ihnen äusserlich keine Atrophie bemerkt worden.
[Sidenote: Obliteration der Samengänge.]
Obliteration der Vasa deferentia kann sowohl, wie schon erwähnt, durch
entzündliche Processe, als durch Compression erfolgen. +Duplay+ (Arch.
génér. Août-Oct. 1855) will bei älteren Leuten häufig (?) Obliteration
des Nebenhodencanals, seltener der Vasa deferentia beobachtet haben,
wobei es ihm auffiel, dass die Hoden selbst nicht verändert waren
und die Samenbildung noch stattfand. Diese Beobachtung würde mit
der oben erwähnten +Pelikan+’s übereinstimmen, welcher fand, dass
Durchschneidung der Vasa deferentia allein keine Atrophie der Hoden
bewirke.
Seit jeher wurde die Möglichkeit besprochen, dass in Folge des
Seitensteinschnittes durch Verletzung der Ductus ejaculatorii
Sterilität entstehen könne. +Cosmao+-+Dumenez+ (Schmidt’s Jahrb.
1863, 120. Bd., 308) beschreibt einen derartigen Fall. Ebenso (Virch.
Jahrb. 1874, II, 312) werden von +Teevan+ vier solche mitgetheilt, die
sämmtlich im besten Mannesalter stehende Individuen betrafen, welche
vom Zeitpunkte der Operation nicht blos kinderlos blieben, sondern auch
übereinstimmend angaben, dass seit dieser Zeit während des Coitus keine
Ejaculation mehr stattfinde. Anderweitige Verletzungen der betreffenden
Partie der Harnröhre können offenbar Gleiches bewirken. In dieselbe
Kategorie gehört auch der von G. +Schmitt+ (Würzb. med. Zeitschr.
III, pag. 361; Schmidt’s Jahrb. 1863, 119. Bd., pag. 39) erwähnte
35jährige, stets gesunde, sinnlich aufgeregte Mann, der nie, weder beim
Coitus, noch bei nächtlichen Erectionen, Sperma entleert hatte, trotz
Wollustgefühl.
[Sidenote: Hypospadie.]
Von den Anomalien der Harnröhre ist insbesondere die Hypospadie als
die am häufigsten vorkommende zu erwähnen. Bei der Beurtheilung
solcher Fälle muss man zunächst von der alten Anschauung abgehen,
dass, damit Befruchtung eintreten könne, der Same tief in die Scheide
eindringen oder gar gegen den Muttermund gespritzt werden müsse. Diese
Anschauung ist durch eine Reihe von Thatsachen zweifellos widerlegt,
worunter insbesondere die später zu erwähnenden Fälle gehören, in
welchen Schwängerung erfolgte, obgleich eine Immissio penis wegen
fast vollständiger Verwachsung des Scheideneinganges und selbst der
Schamlippen gar nicht möglich war. Bei vielen Formen der Hypospadie,
z. B. bei der verhältnissmässig häufig vorkommenden Ausmündung der
Harnröhre an der Wurzel des Frenulums, in der Eichelfurche (Fig. 1),
ist übrigens weder das tiefe Eindringen des Gliedes, noch das directe
Ausspritzen des Spermas gegen den Muttermund wesentlich gehindert,
denn in solchen Fällen ist der Penis in der Regel normal gebildet
und auch die Entleerung des Harns erfolgt ohne Anstand im Strahle.
+Labalbary+[29] sah eine solche Hypospadie bei einem Vater von zwei
Kindern und erwähnt einer weiteren derartigen Deformität, die einen
Vater von 5 Kindern betraf. P. +Frank+ sah sogar in derselben Familie
Hypospadie bei Vater, Sohn und Enkel.
Bei den hochgradigen Formen der Hypospadie, bei welchen die Harnröhre
im Damme ausmündet (Fig. 2), gestalten sich die Verhältnisse auch
dadurch ungünstiger für die Befruchtungsfähigkeit, als in der Regel
gleichzeitig das Glied verkümmert und überdies häufig hakenförmig
nach unten gekrümmt ist. Trotzdem kann auch in einem solchen Falle
die Möglichkeit einer Befruchtung nicht ohne Weiteres in Abrede
gestellt werden, und sie wird in eclatanter Weise durch den Fall
+Traxler+’s[30] dargethan, der ein als Mädchen erzogenes und als Magd
dienendes Individuum mit hermaphroditisch gebildeten Genitalien betraf,
welches mit einer anderen Magd notorisch ein Kind gezeugt hatte, das
eigenthümlicher Weise dieselbe Missbildung seiner Genitalien zur Welt
brachte, wie sie sein Vater besass. Derartige Möglichkeiten erklären
sich einestheils aus dem Umstande, dass auch ein verkümmert aussehender
Penis durch die Erection sich verlängert, in der Weise, dass er
wenigstens zwischen die Schamlippen eingebracht werden kann, sowie
daraus, dass, indem eben dadurch die Schamlippen auseinander gedrängt
werden, dem ausspritzenden Samen der Weg zur Vulva geöffnet wird.
[Illustration: Fig. 1.
Hypospadie leichten Grades.]
[Illustration: Fig. 2.
Hochgradige Hypospadie mit Verkümmerung des Penis.]
[Sidenote: Epispadie.]
Die Epispadie ist viel seltener als die Hypospadie, auch kommen
niedere Formen derselben, denen kein wesentlich störender Einfluss
bezüglich der Befruchtungsfähigkeit zugeschrieben werden könnte, noch
seltener vor als die hohen Grade, in welchen die Harnröhrenmündung
unter der Symphyse sich befindet. Beschreibung und Abbildung einer
Epispadie letzterer Art bei sonst normal gebildetem Penis findet sich
in +Bernt+’s Beiträgen zur ger. Arzneikunde, 1822, V, pag. 200, sowie
in Henke’s Zeitschrift, 1824, pag. 275 (Fig. 3), und zwei solche
seltene Fälle werden von R. +Bergh+ (Virchow’s Arch. 41. Bd., 305)
beschrieben und theilweise abgebildet. Der eine derselben (Fig. 4)
betraf einen Polizisten, der zweimal verheiratet war und viele lockere
geschlechtliche Verhältnisse, jedoch niemals Kinder gehabt hatte.
Er liess den Harn nach Art der Frauenzimmer und glaubt niemals im
Stande gewesen zu sein, den Harn im Strahle zu entleeren. Der zweite
Fall betraf einen 15jährigen Knaben, bei welchem bereits Pollutionen
eingetreten waren. Der Harn kam bei diesem anfangs im Strahle, floss
jedoch dann immer die Seiten des Penis herab.
In derartigen Fällen ist wohl nicht leicht anzunehmen, dass eine
Befruchtung durch Coitus erfolgen könne, da ja der ejaculirte Samen
gar nicht in die Vulva eindringt; absolut unmöglich wäre jedoch eine
Befruchtung doch nicht, da das ejaculirte Sperma doch wenigstens mit
der Vulva in Berührung kommt und durch fortgesetzte Cohabitation
tiefer in die weiblichen Geschlechtstheile eingebracht werden kann.
Die höchsten Grade der Epispadie sind mit Mangel einer geschlossenen
Symphyse und Ecstrophie der Blase verbunden, und es müsste bei einem
solchen Defect noch mehr an der Befruchtungsfähigkeit des Individuums
gezweifelt werden, als bei den oben genannten Formen.
[Illustration: Fig. 3.
Epispadie.]
[Illustration: Fig. 4.
Epispadie.]
In gleicher Weise wie die angeborenen anormalen Ausmündungen der
Harnröhre, müssten die etwa durch Traumen entstandenen beurtheilt
werden.
Den Stricturen der Harnröhre, sowie der Phimose kommt bezüglich der
Befruchtungsfähigkeit eine Bedeutung nicht zu.
Die Begattungsunfähigkeit beim Weibe.
Die Begattungsfähigkeit des Weibes erfordert das Vorhandensein der
Scheide und die Zugänglichkeit derselben für das erigirte Glied.
Sie kann demnach beeinträchtigt werden durch Unzugänglichkeit des
Scheideneinganges, durch Verengerungen der Scheide selbst und durch
Processe anderer Art, die die Immissio penis verhindern.
[Sidenote: Atresien des Scheideneinganges.]
Die verschiedenen Formen der Atresien des Scheideneinganges bilden das
häufigste Begattungshinderniss beim Weibe. Es handelt sich dabei in
der Regel entweder um Verwachsung oder nur epitheliale Verklebung der
Schamlippen[31] oder um eine mehr oder weniger vollständige Atresia
hymenalis, oder endlich um Verengerung des gesammten Scheideneinganges.
Meistens sind die betreffenden Anomalien angeboren, es kann jedoch
eine Verwachsung oder Verengerung der äusseren Genitalien und des
Scheideneinganges auch durch Narben veranlasst werden, wie solche Fälle
nach Verbrennungen, diphtheritischen Processen, nach Variola, aber auch
nach Verletzungen beobachtet worden sind.
Es wird von der näheren Beschaffenheit der betreffenden Anomalien
abhängen, in welchem Grade sie als Begattungshindernisse gelten
können, und bei der forensischen Beurtheilung wird es insbesondere
darauf ankommen, ob dieses Begattungshinderniss ein durch Operation
zu beseitigendes ist oder nicht. In den meisten Fällen ist ersteres
möglich und damit ist in der Regel die forensische Seite derselben
erledigt. Könnte dies nicht behauptet werden, dann wäre wohl der
Umstand, dass, wie erwähnt werden wird, auch bei hochgradiger solchen
Verengerungen Schwängerungen vorgekommen sind, sowie der, dass
mitunter durch wiederholte Coitusversuche eine Art Scheide gebildet
wurde, für die weitere gerichtliche Entscheidung einer aus diesem
Anlasse eingeleiteten Ehetrennungsklage ohne Bedeutung, ebenso wie die
Thatsache, dass statt der fehlenden oder verengerten Scheide schon die
Harnröhre durch fortgesetzten Impetus in dem Grade erweitert wurde,
dass in sie der Coitus ausgeführt werden konnte.
Grosse Labialhernien, sowie Elephantiasis labiorum können ebenfalls
Unzugänglichkeit des Scheideneinganges bewirken.
[Sidenote: Vaginismus.]
Unter die in einem anormalen Verhalten des Introitus vaginae gelegenen
Begattungshindernisse gehört auch der Vaginismus, ein Leiden, auf
welches zuerst von +Simpson+ und +Sims+ aufmerksam gemacht wurde.
Man versteht darunter nach +Schröder+ (Ziemssen’s Handb. X, 487)
eine excessive Empfindlichkeit des Scheideneinganges, verbunden mit
krampfhafter Zusammenziehung des Constrictor cunni und der Muskeln des
Beckenbodens. Die Empfindlichkeit ist mitunter so hochgradig, dass
schon bei blossen Berührungen des Scheideneinganges Krämpfe ausgelöst
werden. Ueber die Ursache dieser Erscheinung sind die Acten noch
nicht geschlossen. Nach +Scanzoni+ wird die Mehrzahl der Fälle durch
das Trauma bei ungeschickten und wiederholten Begattungsversuchen
verursacht, daher das Leiden am häufigsten bei jungen Frauen gesehen
wird, womit auch +Gallard+ („Du vaginisme.“ Annal. de Gyn. Avril
1879) übereinstimmt. Andere betonen den entzündlichen Charakter der
Affection, und +Martin+ hat dasselbe bei Tripperaffection beobachtet.
Es scheint jedoch, dass dem Leiden häufig nur +Fissuren+ des Introitus
vaginae zu Grunde liegen, deren Sitz mitunter sehr versteckt und
deshalb schwer zu entdecken ist. So beschreibt +H. Fritsch+ (Arch. f.
Gyn. 1876, X, 547) einen Fall, bei welchem sich in Folge des Vaginismus
bald eine Geisteskrankheit entwickelt hätte, bis der Grund der enormen
Empfindlichkeit des Scheideneinganges in einer kleinen Fissur unter
der Clitoris entdeckt und diese durch Cauterisation zur Heilung
gebracht wurde. In anderen Fällen beruhen die auftretenden Krämpfe auf
entschieden psychischer Grundlage, besonders auf excessiver Angst vor
Berührung. So hat +Schröder+ bei einer 20jährigen Virgo heftige Krämpfe
der ganzen Beckenmusculatur gesehen, die schon bei der Annäherung des
Fingers auftraten. Wichtig ist zu wissen, dass in einzelnen der bisher
beobachteten Fälle von sogenanntem Vaginismus der Grund der grossen
Hyperästhesie gegenüber Coitusversuchen nicht in dem Scheideneingang
selbst, sondern in Analfissuren gelegen war (+Ewart+, +Fritsch+). Auch
soll erwähnt werden, dass +Neftel+ (+Schröder+ l. c.) den Vaginismus
als Theilerscheinung einer Bleiintoxication auftreten sah.[32]
[Sidenote: Anomalien der Scheide.]
Von den Fehlern der Vagina kann der angeborene Defect derselben und
die partielle oder vollständige Verwachsung der Scheide, die wieder
angeboren oder erworben sein kann, als Begattungshinderniss vorkommen,
dessen Beurtheilung keiner besonderen Besprechung bedarf. Gleiches gilt
von der Ausfüllung oder Verengerung der Vagina durch Geschwülste.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass auch hochgradige
Beckenverengerungen eine Impotentia coëundi des Weibes bedingen
können. Ein solcher, zur gerichtsärztlichen Untersuchung gelangter
Fall wird in Kopp’s Jahrbuch der Staatsarzneikunde, 8. Jahrg.,
397, mitgetheilt und betrifft eine von geizigen Eltern zur Ehe
gezwungene, verkrüppelte Person, die auf Ehescheidung klagte, weil
sie bei brutalen Versuchen ihres Ehemannes, den Beischlaf gewaltsam
auszuüben, seit zwei Jahren zu leiden hatte. Die Aerzte fanden eine
31jährige blasse, sehr abgemagerte, kyphoskoliotische Person, von
Brüsten keine Spur vorhanden; das Becken verschoben und in dem Grade
verengt, dass die Conjugata kaum einen Zoll betrug, dabei die Scheide
sehr eng und kaum für den Finger durchgängig. Die Gerichtsärzte
erklärten die Frau als zum Beischlaf absolut unfähig und
veröffentlichten den Fall, um, wie sie sagen: „Ein Scherflein dazu
beizutragen, dass man auf Fälle dieser Art, aus Menschenliebe und
aus Achtung für die Heiligkeit des Zweckes der Ehe, von Staatswegen
endlich einmal ernstlich Rücksicht nehme“, ein frommer Wunsch, der
auch gegenwärtig noch vollkommen berechtigt erscheint.[33]
Ein reponibler Gebärmuttervorfall ist kein absolutes
Begattungshinderniss, noch weniger ein Prolapsus vaginae; dass aber
durch ein solches Leiden der Beischlaf erschwert und zugleich Abscheu
erregt wird, ist sicher, und diese Thatsache kann unter Umständen,
z. B. wenn das Leiden sich bei einer eben verheirateten Frau ergibt,
einen begreiflichen Grund zu Ehescheidungsklagen abgeben. In einem von
+Mayer+ (Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1877, 26) mitgetheilten
Falle war die Frage zu entscheiden, ob der Mann, welcher, nachdem die
Ehepacten rechtsgiltig geworden waren, mit der Braut das erste Mal,
und zwar vor der Trauung, den Beischlaf ausüben wollte und dabei fand,
dass dieselbe an einem Gebärmuttervorfall leide, dieselbe heiraten und
sonst den Vertrag erfüllen müsse. Die befragten Gerichtsärzte betonten
das Moment des Abscheues, und das Gericht theilte diese Meinung, indem
es den Mann von der Erfüllung der Ehepacten entband, aber zur Leistung
einer Deflorationssumme verurtheilte.
[Sidenote: Abscheu.]
Das Moment des Ekels und des Abscheues spielt, wie schon oben
erwähnt, bei Ehescheidungsklagen eine häufige Rolle. Es ist jedoch
natürlich, dass dasselbe auch von Seite der Frau gegenüber dem Manne
geltend gemacht werden kann. Dieses Moment hat mit der eigentlichen
Begattungsfähigkeit nichts zu thun und ist von so individueller und
leicht vorzuschützender Natur, dass gegenüber solchen Angaben nochmals
die grösste Vorsicht und Objectivität angerathen werden soll.[34]
[Sidenote: Mangelnde Geschlechtslust.]
Das Gleiche gilt vom Fehlen oder Darniederliegen der geschlechtlichen
Erregbarkeit, welche thatsächlich beim Weibe häufiger vorzukommen
scheint als beim Mann, nach +Duncan+ (The Gulstonian lectures on
the sterility of woman. Brit. med. Journ. 1883, pag. 343) besonders
häufig bei sterilen Frauen. Unter 161 solchen fand D. 39 ohne Begierde
und 62 ohne Geschlechtsgenuss. Es unterliegt keinem Zweifel, dass
derartige Defecte das eheliche Zusammenleben beeinträchtigen und zu
Ehescheidungsgesuchen führen können.[35]
Die Conceptionsunfähigkeit.
Die Zeit, wann die Geschlechtsreife und daher Conceptionsfähigkeit
sich eingestellt hat, lässt sich beim Weibe leichter bestimmen als
beim Manne, weil, seltene Ausnahmen abgerechnet, der Eintritt der
Menstruation einen sehr sicheren Anhaltspunkt gewährt.
Dieser Zeitpunkt fällt bei uns im Durchschnitte zwischen das 15. und
16. Lebensjahr. +Szukits+ (Wiener med. Ztg. 1857, XIII, 509) berechnete
aus 2275 Beobachtungen, dass die Wienerinnen im Durchschnitt im Alter
von 15 Jahren 8½ Monaten zum ersten Male menstruiren, während am
Lande dieses erst mit 16 Jahren 2½ Monaten geschieht. In Frankreich
fällt nach +Brierre de Boismont+ der Eintritt der Menstruation im
Mittel bei Mädchen aus den ärmeren Ständen auf 14 Jahre 10 Monate; beim
Mittelstand auf 14 Jahre 5 Monate; bei Reichen auf 13 Jahre 8 Monate.
+Francis R. Hogg+ (Med. Times and Gaz. 1871, Nr. 4) constatirte unter
1948 Fällen den Eintritt der Menses 1mal mit 9 Jahren, 6mal mit 10,
59mal mit 11, 146mal mit 12, 253mal mit 13, 437mal mit 14, 502mal mit
15, 270mal mit 16, 157mal mit 17, 97mal mit 18, 45mal mit 19, 19mal
mit 20, 4mal mit 21, 1mal mit 22 und 1mal mit 30 Jahren. In 17 Fällen
erschien die Menstruation erst nach der Verheiratung.
[Sidenote: Eintritt der ersten Menstruation. Frühreife.]
Schon aus letzterer Zusammenstellung ist zu ersehen, dass in einzelnen
Fällen die Menstruation ungewöhnlich bald eintreten kann. Es existiren
jedoch verhältnissmässig zahlreiche Beobachtungen, wo dies noch früher
geschah. Eine ganze Reihe derartiger Fälle hat +Horvitz+ (Petersb.
med. Ztg. VII. Jahrg., XIII. Bd.) zusammengestellt. Unter diesen
findet sich ein Fall von +Morand+, betreffend ein Mädchen, das, blos 4
Monate alt, schon menstruirte; ein weiterer, wo die Menses bei einem
9monatlichen Mädchen schon sich zeigten, das bereits einen behaarten
Mons veneris und entwickelte Brüste aufwies; ebenso eine gleiche, auch
ein 9monatliches Mädchen betreffende Beobachtung von +Lenhossek+,
aus welcher zu entnehmen ist, dass dieses Mädchen, als es 2 Jahre
alt geworden war, die Entwicklung eines 17- bis 18jährigen Mädchens
zeigte; ferner der Fall von +Parvin+, der ein 4½jähriges und der
von +Peakock+, der ein 5jähriges Kind betraf. Im ersteren dauerte die
Menstruation regelmässig stets 3 Tage; der äussere Habitus war wie bei
einem 10jährigen Mädchen, Körperlänge 3′ 11″, Gewicht 75 Pfund. Die
äusseren Genitalien vollkommen entwickelt, jedoch haarlos, die Brüste
wie bei einem 17jährigen Mädchen.[36]
Diesen Fällen gegenüber könnte man einwenden, dass der
frühzeitige Eintritt der Menstruation nicht auch so frühzeitige
Conceptionsfähigkeit bedeute. Gegen diese Auffassung spricht jedoch,
ausser dem Umstande, dass zufolge der Beobachtungen +Waldeyer+’s die
Eier in dem kindlichen Eierstock schon vorgebildet sind, und dass von
+Slaviansky+ (Med. Centralbl. 1871, 131 und 1875, 165) der Nachweis
geliefert wurde, dass die Follikelreife nicht erst mit der Pubertät
beginne, sondern dass schon beim Kinde reife Follikel sich finden,
die Thatsache, dass wirklich in so frühem Alter Schwangerschaften
beobachtet worden sind.
So sah +Kussmaul+ ein 8jähriges Mädchen schwanger werden und im 9.
Monate niederkommen. +Rüttel+ beobachtete eine Schwangerschaft bei
einem 9jährigen Mädchen, +Boulet+ bei einem 10jährigen, das schon seit
seinem ersten Lebensjahre regelmässig menstruirte, +Macramara+ bei
einem Hindumädchen von 10½, +Cortis+ eine Niederkunft im Alter von
10 Jahren und 8 Monaten, +Fox+ und +Willand+ je eine Schwängerung im
11. und +Horvitz+ eine im 12. Jahre.[37]
[Sidenote: Geschlechtsreife ohne Menstruation.]
Wichtig ist, dass die Geschlechtsreife früher als die Menstruation und
schon ohne diese sich einstellen kann, z. B. bei Chlorotischen, aber
auch bei sonst gesunden Individuen. +Casper+ kannte eine 32jährige
kräftige und gesunde Bäuerin, welche schon 3mal geboren hatte, ohne
jemals menstruirt gewesen zu sein. +Löwy+ (Wiener med. Wochenschr.
1868, Nr. 98) berichtet von einer gesunden 31jährigen Frau, die
bereits 6 Kinder geboren und niemals menstruirt hatte. Erst nach der
6. Entbindung stellte sich die Menstruation zum ersten Male ein und
erschien seitdem regelmässig.
[Sidenote: Menopause.]
Die Zeit, in welcher die Conceptionsfähigkeit des Weibes physiologisch
aufhört, fällt bei uns in der Regel zwischen das 40. und 50.
Lebensjahr. Das Aufhören der Menstruation, die Menopause, signalisirt
in der Regel das Aufhören der Conceptionsfähigkeit. Der Zeitpunkt der
ersteren unterliegt jedoch, je nach Klima, Race u. dergl., grossen
Schwankungen. Bei 57 Frauen, die +Francis Hogg+ beobachtete, hörte die
Menstruation auf:
1mal mit 23 Jahren
1 „ „ 34 „
1 „ „ 35 „
1 „ „ 37 „
5 „ „ 38 „
10 „ „ 40 „
2 „ „ 41 „
6 „ „ 42 „
3 „ „ 43 „
5 „ „ 45 „
3 „ „ 46 „
9 „ „ 47 „
2 „ „ 48 „
3 „ „ 49 „
2 „ „ 50 „
2 „ „ 53 „
Nach +Evers+ (Schmidt’s Jahrb. 1873. 160 Bd., pag. 150), der die
Menopause bei 123 Individuen verzeichnete, erfolgte dieselbe:
im 37. Jahre bei 1 Städterin, bei -- Landbew., im Ganzen 1mal
„ 38. „ „ -- „ „ 1 „ „ „ 1 „
„ 40. „ „ 2 „ „ 2 „ „ „ 4 „
„ 41. „ „ -- „ „ 1 „ „ „ 1 „
„ 42. „ „ 1 „ „ -- „ „ „ 1 „
„ 43. „ „ 2 „ „ 3 „ „ „ 5 „
„ 44. „ „ 2 „ „ 3 „ „ „ 5 „
„ 45. „ „ 12 „ „ 2 „ „ „ 14 „
„ 46. „ „ 10 „ „ 2 „ „ „ 12 „
„ 47. „ „ 4 „ „ 2 „ „ „ 6 „
„ 48. „ „ 11 „ „ 3 „ „ „ 14 „
„ 49. „ „ 12 „ „ 7 „ „ „ 19 „
„ 50. „ „ 16 „ „ 5 „ „ „ 21 „
„ 51. „ „ 2 „ „ 2 „ „ „ 4 „
„ 52. „ „ 3 „ „ 1 „ „ „ 4 „
„ 53. „ „ 3 „ „ 2 „ „ „ 5 „
„ 54. „ „ 5 „ „ 1 „ „ „ 6 „
„ 55. „ „ 1 „ „ -- „ „ „ 1 „
[Sidenote: Climacterium. Conception im höheren Alter.]
Abgesehen von diesen Schwankungen ist zu beachten, einestheils, dass
aus pathologischen Gründen die Menses früher ausbleiben können,
anderseits aber, dass die Fortdauer der Menstruation durch, gerade
im climacterischen Alter nicht seltene, pathologische Blutungen
vorgetäuscht werden kann. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass das
Aufhören der menstrualen Blutungen eine Conception nicht unmöglich
macht. +Barker+ hat die einschlägigen Beobachtungen Anderer um zwei
neue eigene vermehrt (Virchow’s Jahresb. 1874, II, 728), indem er von
einer Frau berichtet, die, Mutter von 5 Kindern, mit 42 Jahren aufhörte
zu menstruiren, aber mit 46 Jahren nochmals schwanger wurde; ebenso
von einer zweiten, die, nachdem durch 3 Jahre die Menstruation bereits
ausgeblieben war, im 47. Lebensjahre concipirte.
Dass Frauen nach dem 45. Jahre noch concipiren, ist im Ganzen eine
seltene Erscheinung, und es kommt überhaupt nicht häufig vor, dass
Frauen noch nach dem 40. Jahre entbinden. So hat +Neverman+ statistisch
nachgewiesen, dass unter 10.000 Geburten blos 436 nach dem 40. Jahre
vorkommen, und von diesen fallen fast alle kurz nach Vollendung des 40.
Jahres, von wo die Zahl der Entbindungen rapid abnimmt. Doch existiren
vollkommen beglaubigte Fälle, dass Frauen noch in weit vorgerücktem
Alter concipirten und niederkamen. Von Beobachtungen dieser Art
erwähnen wir die von +Barker+, welcher in drei Fällen Geburten bei
Frauen beobachtete, die bereits über 50 Jahre alt waren. Darunter
befand sich eine Frau von 51 Jahren, welche nach 27jähriger Ehe zum
ersten und im Jahre darauf zum zweiten Male niederkam.[38]
Die ältere Literatur enthält eine ziemliche Anzahl von Fällen, in
denen die Entbindung in noch späterem Alter erfolgt sein soll; die
Glaubwürdigkeit derselben muss jedoch dahingestellt bleiben. Zufolge
den Angaben +Barker+’s gibt es nur einen einzigen authentischen, von
+Davies+ beobachteten Fall, in welchem eine Frau von 55 Jahren noch
niedergekommen ist. Doch wird uns von Dr. Josef +Mayer+ in Medenice
in Galizien mit Schreiben vom 10. Jänner 1894 mitgetheilt, dass in
der deutsch-evangelischen Colonie Josefsberg Ende December 1893 eine
59jährige Frau Namens Barbara +Porr+ (bereits Urgrossmutter), unter
Intervention der Hebamme Katharina +Meier+ von einem lebenden Kinde
entbunden worden sei, nachdem seit dem 55. Jahre die Menses nur
unregelmässig und in langen Intervallen aufgetreten waren!
[Sidenote: Conceptionsfähigkeit im höheren Alter.]
Die Conceptionsfähigkeit bereits im höheren Alter stehender Frauen
kann in Frage kommen, wenn die legitime Abkunft eines Individuums
aus diesem Grunde angefochten wird, wie +Taylor+ (l. c. II, 305)
einen solchen Fall anführt, in welchem man die Legitimität eines
Erbschaftsprätendenten bestritt, weil man bezweifelte, dass dessen
angebliche Mutter noch in ihrem 49. Jahre empfangen haben konnte.
Ebenso, wenn die gerichtliche Auszahlung einer Erbschaft oder
anderweitig stipulirter Summen von der Beantwortung der Frage abhängt,
ob von der betreffenden Frau noch Kinder erwartet werden können.
Ein Gentleman hatte die testamentarische Verfügung getroffen, dass
sein Vermögen erst seinen Urenkeln ausbezahlt werden dürfe. Er
hatte zwei Söhne hinterlassen und von diesen jeder Kinder. Einige
von letzteren waren gestorben, ohne Kinder zu hinterlassen, und es
blieben zwei Töchter von dem ältesten Sohn des Erblassers, die beide
verheiratet waren, jedoch keine Kinder hatten, und zwei Töchter und
ein Sohn von dem jüngeren. Die erstgenannten Töchter standen im
Alter von 57 und 52 Jahren. Es handelte sich nun, da man annahm,
dass von diesen zwei Frauen, des vorgerückten Alters wegen, keine
Kinder mehr zu erwarten wären, um Uebertragung der Erbschaftsrechte
an die jüngere Linie. Der Richter ging jedoch auf die Sache nicht
ein, da ihm von dem Oberaufseher der Archive (Master of the Rolls)
mitgetheilt wurde, dass in einem Falle ein Kind von einer Frau
geboren wurde, welche um 6 Jahre älter war als die jüngere der beides
Ladies. (+Taylor+, II, 306.)
Aehnliche Rechtsfälle finden sich bei +Casper+-+Liman+, I, 87
u. ff. Bei der Beurtheilung solcher wird man allerdings von dem
Erfahrungssatze ausgehen, dass nach dem 40. Jahre eine Conception mit
den zunehmenden Jahren immer unwahrscheinlicher wird, man wird jedoch
nicht unterlassen, ausser dem Alter und dem Verhalten der Menses
auch den Körperzustand der Frau in Betracht zu ziehen, und desto
vorsichtiger seinen Ausspruch thun, je kräftiger und rüstiger derselbe
noch ist.
[Sidenote: Adoption.]
Das österr. b. G. B. §. 180 sowohl als das preuss. Landrecht bestimmen,
dass die Adoption von Kindern von Individuen gestattet ist, welche
das 50. Lebensjahr bereits zurückgelegt haben, und es geht daraus,
sowie aus der Bestimmung des §. 669 des preuss. Landrechtes, dass
auch jüngeren Personen solches gestattet werden kann, „wenn nach
ihrem körperlichen und Gesundheitszustande die Erzeugung natürlicher
Kinder von ihnen nicht zu vermuthen ist“, hervor, dass das Gesetz das
50. Jahr als die gewöhnliche Grenze betrachtet, bis zu welcher die
Fortpflanzungsfähigkeit als noch bestehend angenommen werden kann.
Diese Annahme trifft, wie aus dem Gesagten zu entnehmen, bei den Frauen
für die bei weitem überwiegende Zahl der Fälle zu, bezüglich der Männer
ist jene Grenze entschieden zu niedrig gegriffen.
Die Befruchtungsunfähigkeit des Weibes kann ferner bedingt sein durch
pathologische Processe.
[Sidenote: Defect und Erkrankungen der Ovarien, der Tuben etc.]
Wenn wir in dieser Beziehung von den Ovarien ausgehen, so kommt
zunächst der vollständige Mangel und die Verkümmerung derselben
in Betracht. Beide können angeboren vorkommen, jedoch wohl nur
ganz ausnahmsweise für sich allein. Die meisten derartigen Fälle
sind von anderweitigen Missbildungen begleitet, namentlich mit
unvollkommener Entwicklung des übrigen Genitalapparates, wie bei
vielen Formen der sogenannten Hermaphrodisie. Erworbener Defect der
Ovarien kann gegenwärtig, wo die Ovariotomie immer häufiger, und
zwar nicht blos wegen Geschwülsten, geübt wird, leicht vorkommen,
und es würde natürlich nach doppelseitiger Ovariotomie von einer
Conceptionsfähigkeit der betreffenden Frau keine Rede mehr sein
können.[39]
Die Anwesenheit von Tumoren der Ovarien berechtigt nicht zur sicheren
Ausschliessung der Conceptionsfähigkeit. Conceptionen bei einseitigen
Tumoren kommen häufig vor, aber auch bei doppelseitigen wurde
mehrmals Schwangerschaft beobachtet, woraus hervorgeht, dass auch
bei vorgerückter Tumorenbildung die Eireifung bisweilen fortbesteht.
(+Leopold+ und +Olshausen+, Virch. Jahrb. 1874, II, 738.)
Es unterliegt keinem Zweifel, dass eine Reihe anderer Erkrankungen
des Ovariums die Functionsfähigkeit derselben sistirt und
Conceptionsunfähigkeit bedingt; es ist jedoch begreiflich, dass die
Mehrzahl dieser Processe für die Diagnose so schwer zugänglich ist,
dass eine forensische Verwerthung in den seltensten Fällen thunlich
sein wird. Gleiches gilt von der Erkrankung der Tuben, insbesondere von
dem Unwegsamwerden derselben, wie sie durch peritonitische Processe,
durch Salpingitis etc. herbeigeführt werden kann.
[Sidenote: Defect, Lageveränderungen etc. des Uterus.]
Angeborener Defect des Uterus bei blind endender, in der Regel
stark verkürzter und häufig auch verengerter Scheide ist wiederholt
beobachtet worden. Wir selbst haben ihn bei der Section einer alten,
verheiratet gewesenen Frau gefunden. Die Scheide hatte eine Länge von
5-6 Centimeter und endete vollkommen blind. Anstatt des Uterus nur
einige pyramidenförmig angeordnete Faserzüge im Lig. latum, Tuben
fehlend, beiderseits rudimentäre, vielfach eingekerbte Ovarien.
(Aehnliche Fälle siehe Virch. Jahrb. 1868, II, 601, und Schmidt’s
Jahrb. 1874, Bd. 164, pag. 260.)
Hat in einem solchen Falle die Vagina eine entsprechende Länge
und Weite, so kann Begattungsfähigkeit bei vollkommen fehlender
Conceptionsfähigkeit bestehen, ebenso wie nach Exstirpation des Uterus.
In einem von +Taylor+ (l. c. 310) mitgetheilten Falle wurde bei der
aus Anlass einer Scheidungsklage vorgenommenen gerichtsärztlichen
Untersuchung einer Frau eine blos ¾ Zoll tiefe Vagina, aber
kein Uterus gefunden, und bei einer zweiten, sechs Monate darauf
vorgenommenen Untersuchung wurde constatirt, dass die Scheide bereits
eine Tiefe von 2 Zoll besass. Die Ehe wurde für null und nichtig
erklärt, jedoch blos wegen der behinderten Begattungsfähigkeit, wobei
der Richter die Ansicht aussprach, dass eine Conceptionsunfähigkeit
bei ungestörter Begattungsfähigkeit keinen genügenden Grund für die
Nullitätserklärung einer Ehe abgeben könne. Wäre demnach in diesem
Falle die Scheide von natürlicher Beschaffenheit gewesen, so wäre
trotz vollkommenem Defect des Uterus die Nullitätserklärung der
Ehe nicht erfolgt, eine Anschauung, welcher gegenüber +Taylor+ mit
Recht bemerkt, dass sie mit dem eigentlichen Zweck der Ehe, als der
nur die Erzeugung von Kindern angesehen werden könne, im offenbaren
Widerspruche stehe.[40]
In gleicher Weise wie der vollständige Defect des Uterus wäre die
rudimentäre Entwicklung der Gebärmutter und der Uterus infantilis
zu beurtheilen, ebenso die Atresien des Uterus. Durch Versionen und
Flexionen behinderte Wegsamkeit des Uterus scheint eine sehr häufige
Ursache der Sterilität zu sein. +Mayer+ fand bei 272 sterilen Frauen
97mal Lageveränderungen der Gebärmutter, ebenso +Beigel+ (Wiener
med. Wochenschr. 1873, Nr. 12) bei 114 solchen Frauen 22mal. Auch
+P. Müller+ („Die Sterilität der Ehe.“ Deutsche Chirurgie, Lief. 55)
betont die Wichtigkeit der Flexionsstenose für die Sterilität. Dagegen
sucht +Grünewald+ (Arch. f. Gynäk. VIII, pag. 414) den Grund der
Unfruchtbarkeit in solchen Fällen nicht in der behinderten Wegsamkeit
des Uteruscanals, sondern in der mit letzterer gewöhnlich verbundenen
anderweitigen Erkrankung des Uterus, indem er darauf hinweist, dass
alle Widerstände, die ein geknickter menschlicher Uterus dem Vordringen
der Spermatozoiden darbieten kann, ein Kinderspiel sind im Vergleiche
mit den Schwierigkeiten, die sich demselben im physiologischen
Cervicalcanal gewisser Thierarten (Sau, Schaf, Hündin) entgegenstellen,
obgleich es bekannt, wie reichlich und regelmässig sich letztere
fortzupflanzen vermögen.
Auch +Stadfeldt+ (Virch. Jahrb. 1874, II, 756) hält die den Flexionen
bezüglich der Sterilität zugeschriebene Bedeutung für übertrieben,
indem er fand, dass Weiber mit Retroflexio uteri ganz tüchtig zur
Vermehrung der Bevölkerung beigetragen, da die 36 Frauen, die er zu
beobachten Gelegenheit hatte, 133mal zur rechten Zeit geboren hatten,
so dass 3·7 Schwangerschaften auf jede Frau kamen, eine Zahl, die
die gleiche ist, wie sie die Statistik für verheiratete Frauen im
Allgemeinen berechnet.
Fibroide des Uterus und Carcinom desselben sind kein absolutes
Hindernis für die Conception, doch wird letztere nach +Schröder+
(Geburtsh., pag. 203) bei den interstitiellen und submucösen Fibroiden
im hohen Grade erschwert und kann beim Carcinom in den späteren Stadien
desselben nicht leicht erfolgen.
[Sidenote: Krankheiten des Uterus.]
Von den Gynäkologen wird noch eine Reihe von Erkrankungen des Uterus,
so Deformitäten der Vaginalportion (+Beigel+), Entzündungsformen
des Uterus und ihre Ausgänge (+Grünewald+), ferner mit Rücksicht auf
ihre mechanische sowohl, als angeblich chemisch den Spermatozoiden
schädliche Wirkung die Blennorrhoe (+Kölliker+, +Scanzoni+,
+Küchenmeister+, +Marion Sims+) mit der Sterilität in ursächlichen
Zusammenhang gebracht, und gewiss mit vielem Recht. Da jedoch solche
Zustände keineswegs immer und absolut die Conceptionsfähigkeit
aufheben, so sind dieselben für die forensische Beurtheilung der
Conceptionsfähigkeit von sehr untergeordneter Bedeutung.
[Sidenote: Scheidenstenose.]
Behinderte Wegsamkeit der Vagina durch Verwachsungen, Tumoren,
Pessarien u. dergl. bilden, wenn der Verschluss kein vollständiger
ist, kein absolutes Conceptionshinderniss. So beobachtete +Olshausen+
(Arch. f. Gyn. II, 278) zweimal Conception trotz permanent getragener
Pessarien. Ausserdem existirt eine bereits grosse Zahl von
Beobachtungen, die fast jährlich um neue sich vermehrt, von erfolgter
Conception nicht blos bei hochgradiger Verengerung der Scheide, sondern
selbst bei fast vollständigem Verschluss des Scheideneinganges.
Aus der grossen Menge solcher Fälle wollen wir einige der
instructivsten hervorheben:
+Hanuschke+ beobachtete Schwangerschaft, trotzdem die grossen
Schamlippen fast vollständig bis auf eine nadelstichgrosse Oeffnung
in der hinteren Commissurgegend mit einander häutig verwachsen waren.
Die Verwachsung war angeboren, und die Person sah in Folge dessen
aus, „wie wenn sie mit Tricots bekleidet wäre“.
+Scanzoni+ (Allg. Wiener med. Ztg. 1864, 4) fand bei der Untersuchung
eines blühend aussehenden, im vierten Monate schwangeren Mädchens
die grossen und kleinen Schamlippen normal, den Scheideneingang
aber durch eine prall gespannte Membran nach oben verschlossen und
in deren Mitte nur eine hirsekorngrosse Oeffnung, durch welche man
eine gewöhnliche Fischbeinsonde durchführen konnte. Nachdem die
Muttermundsränder bereits verstrichen waren, zeigte sich an der
Stelle, wo sich das mittlere mit dem oberen Drittel der Scheide
verbindet, eine zweite, dünne, kreisförmig um die Vaginalwand
ziehende Membran. Diese riss beim Herabrücken des Kopfes von selbst
ein, das verdickte Hymen musste jedoch eingeschnitten werden.
Von +Netzel+ wird folgender Fall berichtet (Virch. Jahrb. 1868, II,
606): Ein 35 Jahre altes Frauenzimmer hatte nie ihre Menstruation
gehabt, noch Molimina gespürt; als sie 23 Jahre alt war, bekam sie
starke Unterleibsschmerzen und es gingen mehrere Pfund ichorösen Eiters
aus der Vagina ab. Im 33. Jahre hatte sie eine ähnliche Attaque und
seit dieser Zeit litt sie an einem unbedeutenden gelben Ausflusse,
der alle 14 Tage blutig wurde. Als sie dieses Leidens wegen in die
Behandlung N.’s trat, fand dieser die Vagina blos 2-3 Cm. lang mit
gesunder Schleimhaut. Links vorn bestand eine kleine Oeffnung, wodurch
eine Sonde 3 Cm. eindrang. Die Oeffnung wurde dilatirt, und über
der verengten Stelle fand nun N. wieder ein Stück Vagina, circa 4
Cm. lang, und in dem Fornix vaginae wieder eine kleine Oeffnung,
passirbar für eine feine Sonde. Nach der Dilatation dieser Oeffnung
fand man erst die Portio vaginalis uteri, mit infundibuliformem,
klaffendem und mit kleinen Ulcerationen besetztem Orificium. Während
der Dilatationsversuche, die mit Laminariasonden bewerkstelligt wurden,
erkrankte die Person an Peritonitis und starb. Als man die Leiche aus
dem Bette herausnehmen wollte, fand man in diesem -- einen Fötus von 15
Cm. Länge, und die Obduction constatirte, dass die Patientin geboren
hatte!
[Sidenote: Conception trotz unmöglicher Immissio penis.]
+K. Braun+ (Wiener med. Wochenschr. 1872, Nr. 45 und 1876) publicirte
mehrere Fälle von Conception bei Imperforatio hymenis und bestimmt
nachgewiesener Unmöglichkeit der Immissio penis, worunter einen,
wo bei der Untersuchung der im letzten Monate schwangeren Frau das
Hymen keine, auch nicht die allerfeinste Oeffnung entdecken liess und
die Vagina in den untersten Theil der Harnröhre 0·5 Cm. hinter dem
hanfkorngrossen Orificium urethrae einmündete.
+Fehling+ (Arch. f. Gyn. 1883, V, 342) beschreibt einen Fall, in
welchem einer 32jährigen Frau, die von ihrer ersten Entbindung eine
Blasenscheidenfistel davongetragen hatte, durch mehrfache Operationen
derselben, schliesslich durch die gänzliche Obliteration der Scheide
soweit geholfen worden war, dass sie nur in aufrechter Stellung, durch
eine kleine, für eine feine Sonde eben durchgängige Oeffnung etwas Urin
aus der Scheide verlor. Trotzdem wurde diese Person geschwängert.
+Leopold+ (Arch. f. Gyn. XI) bringt zwei Fälle von Schwangerschaft bei
vollständiger Impotentia coëundi. In beiden Fällen völlig erhaltenes
Hymen, im zweiten ausserdem starker Vaginismus.
Diese Fälle beweisen, dass eine Conception manchmal unter den scheinbar
ungünstigsten Bedingungen erfolgen kann, sowie sie auch darthun, dass
zur Befruchtung keine vollständige und tiefe Immissio penis nothwendig
ist, wie bis dahin allgemein gefordert wurde.
[Sidenote: Künstl. Befruchtung.]
[Sidenote: Befruchtungsvorgang.]
Auch lassen diese Beobachtungen vermuthen, dass der Uterus bei der
Conception sich nicht, wie man gewöhnlich annimmt und wofür auch
die Beobachtungen +Spalanzani+’s und +Marion Sim+’s über künstliche
Befruchtung[41] zu sprechen scheinen, passiv verhält, sondern
auch eine active Rolle spielen dürfte. +Wernich+ (Berliner klin.
Wochenschrift. 1873, Nr. 9) hat neuerdings das Stattfinden einer
Aspiration des Spermas bei der Cohabitation von Seite des Uterus,
insbesondere von Seite des Cervix betont und beruft sich auf gewisse
Bewegungserscheinungen, die von ihm und Anderen am Orificium uteri
erregbarer Frauen beobachtet wurden. Untersuchungen, die +v. Basch+
und wir über Uterusbewegungen an Hunden anstellten (Wiener med.
Jahrbücher. 1878), haben in der That das Auftreten einer Erection
der Portio vaginalis und ein Oeffnen des Muttermundes nach Reizung
eines vom Aortenplexus des Sympathicus entspringenden und zum Uterus
herabziehenden Nervenpaares ergeben, sind daher geeignet, die Theorie
+Wernich+’s zu stützen und den Vorgang bei der Conception in den
genannten merkwürdigen Fällen zu erklären.
Dass Urinfisteln kein wesentliches Hinderniss für die Conception
bilden, hat +Kroner+ gezeigt. (Ueber die Beziehungen der Urinfisteln
zum Geschlechtsleben des Weibes. Arch. f. Gyn. 1882, XIX, 140.) Von 37
Fistelkranken sind 21 noch einmal, 12 zweimal, 3 dreimal und 1 mehrmal
schwanger geworden.
[Sidenote: Impotentia gestandi und generandi.]
Es unterliegt keinem Zweifel, dass unter die „dem Zwecke der Ehe
hinderlichen Gebrechen“ (§. 53 b. G. B.) auch die Impotentia gestandi
und generandi des Weibes subsumirt werden müssen, und es ist bekannt,
dass es eine Reihe theils localer, theils allgemeiner Zustände
gibt, welche trotz vorhandener Beischlafs- und Conceptionsfähigkeit
das Austragen oder normale Gebären des Kindes nicht zulassen. In
letzterer Beziehung erinnern wir z. B. an die Beckenverengerungen
höherer Grade. Der Gerichtsarzt dürfte vorkommenden Falls nicht
unterlassen, eine nachweisbare Impotentia gestandi oder generandi
im Gutachten in ihrer ganzen Bedeutung auseinanderzusetzen, und es
wäre dann Sache der Behörde, eine derartige, vor dem Eingehen eines
Ehebündnisses constatirte Impotenz eventuell als ein „dem Zwecke
der Ehe hinderliches Gebrechen“ zu behandeln. Dass dies geschehen,
respective eine solche Ehe nicht bewilligt werden möchte, wäre im
Interesse der Moral sowohl als Humanität zu wünschen. Leider lehrt
in dieser Richtung die tägliche Erfahrung, dass bei Eheschlüssen
alle anderen Momente mehr in Betracht gezogen werden als die zu
erwartenden gesundheitlichen Folgen, und dass, wie die Fälle von
mehrmals an einer und derselben Frau vorgenommenem Kaiserschnitt
beweisen, selbst die glücklich überstandene Lebensgefahr die Leute
nicht abhält, sich von Neuem derselben auszusetzen.
In jenen Fällen, in welchen wegen angeblicher Impotenz des einen
Theiles eine Eheauflösung oder Ehescheidung angestrebt wird, genügt
es nicht, das thatsächliche Vorhandensein eines „Unvermögens zur
Leistung der ehelichen Pflicht“ zu constatiren, sondern es fällt dem
Gerichtsarzte noch die Aufgabe zu, darzuthun, ob dieses Unvermögen ein
immerwährendes und unheilbares sei (§. 60 österr. B. G. B., §. 696
preuss. Landrecht), und nach dem österr. Gesetze (§. 60 B. G. B.), ob
dasselbe bereits zur Zeit des geschlossenen Ehevertrages vorhanden war
oder erst während der Ehe eingetreten ist.
Die Beantwortung der ersten Frage ist bei der Impotenz des Mannes in
der Regel dann leicht, wenn derselben locale Defecte oder Erkrankungen
zu Grunde liegen, und sie fällt zusammen mit der Beantwortung der
Frage, ob etwa durch chirurgische Eingriffe die zur Ausübung des Coitus
erforderlichen Verhältnisse hergestellt werden können.
Schwieriger gestaltet sich die Sache in jenen Fällen, in welchen bei
normal beschaffenen Genitalien die Erection behindert ist, und wenn als
Ursache dieser Behinderung nicht etwa ein schweres, durch anderweitige
Symptome sich kundgebendes Leiden centraler Nervenorgane, insbesondere
des Rückenmarkes, sich ergibt, sondern Innervationsstörungen anderer
Art derselben zu Grunde liegen. Die Natur letzterer kann so versteckt
sein, dass sie sich der Diagnose vollkommen entzieht. Da es sich
jedoch in vielen solchen Fällen nur um eine psychische Hemmung des
Reflexvorganges der Erection handelt und diese nicht selten durch
Angewöhnung und fortgesetztes Zusammenleben sich wieder gibt, so
wird man gut thun, in solchen Fällen ein unbestimmtes Gutachten zu
erstatten und auf letztere Möglichkeit hinzuweisen. Es tritt dann
die, offenbar auf einschlägige Erfahrungen basirende Bestimmung des
§. 101 des österr. B. G. B. in Kraft, welche verordnet, dass, wenn es
sich mit Zuverlässigkeit nicht bestimmen lässt, ob das Unvermögen ein
immerwährendes oder blos zeitliches sei, die Ehegatten verbunden sind,
noch durch ein Jahr zusammen zu wohnen, und dass die Ehe erst dann für
ungiltig erklärt werden kann, wenn das Unvermögen diese Zeit hindurch
angehalten hat.
[Sidenote: Heilbarkeit der Impotenz.]
In Folge der mehr passiven Rolle, welche beim Coitus dem Weibe
zufällt, handelt es sich bei der Beurtheilung der Heilbarkeit einer
erwiesenen Impotentia coëundi des Weibes ausschliesslich um die Frage,
ob diese durch Operation zu beseitigen sei oder nicht. Wie aus dem
oben Gesagten hervorgeht, sind viele der beim Weibe vorkommenden
Begattungshindernisse der Art, dass sie durch chirurgischen
Eingriff gehoben werden können, wie dies z. B. von den häutigen
Verwachsungen der Schamlippen und von vielen Formen der Atresie des
Scheideneinganges, insbesondere von der Atresia hymenalis, gilt.
Ueberhaupt sind sämmtliche pathologische angeborene sowohl als
erworbene Processe, die beim Weibe ein Begattungshinderniss bedingen
können, so leicht der Untersuchung zugänglich, dass ebenso wie ihre
Diagnose auch die Begutachtung der Heil- oder Unheilbarkeit keine
besonderen Schwierigkeiten bieten wird.
[Sidenote: Dauer des Unvermögens.]
Was die durch §. 60 des österr. B. G. B. gegebene Frage betrifft,
ob das immerwährende Unvermögen zur Leistung der ehelichen Pflicht
schon zur Zeit des geschlossenen Ehevertrages vorhanden war, so
ergibt sich die Beantwortung derselben dann von selbst, wenn das
Begattungshinderniss seiner allgemeinen Natur nach als ein angeborenes
oder in der Kindheit erworbenes sich darstellt. Bei den im mannbaren
Alter acquirirten Impotenzen ist es theils die Natur und der Grad des
ihnen zu Grunde liegenden Leidens, theils die Anamnese, welche behufs
Beantwortung obiger Frage herangezogen werden muss. Ausserdem wären
namentlich in Fällen, wo die Impotenz des Gatten in Frage kommt, auch
die Genitalien des betreffenden Weibes zu untersuchen, ob sich aus
ihrem Verhalten ein „matrimonium consummatum“ erkennen lässt oder nicht.
Bezüglich letzterer Diagnose muss auf die folgenden Capitel verwiesen
werden.
Die Zwitterbildungen.
Dieselben kommen nicht blos mit Rücksicht auf die Zeugungsfähigkeit der
betreffenden Individuen, sondern auch in anderen gerichtlich wichtigen
Beziehungen in Betracht, verdienen daher eine besondere Behandlung.
Vollkommene Zwitterbildung, d. h. eine vollständige Entwicklung eines
Individuums nach beiden Geschlechtsrichtungen kommt beim Menschen nicht
vor. Dagegen ist eine annähernd vollkommene Zwitterbildung allerdings
möglich, indem nicht blos beiderlei Geschlechtsgänge, sondern auch
beiderlei Geschlechtsdrüsen an einem und demselben Individuum bis zu
einem gewissen Grade sich entwickeln können. Derartige Fälle werden
verständlich, wenn man festhält, dass die Geschlechtsanlage in den
ersten Wochen der embryonalen Entwicklung jedesmal eine bisexuelle ist,
und dass erst nach der sechsten Woche die Geschlechtsentwicklung nach
der einen Geschlechtsrichtung geschieht, während die Embryonalanlage
der Organe des anderen Geschlechtes verkümmert. Ausnahmsweise kann es
nun geschehen, dass ausser der Anlage des einen Geschlechtes sich auch
in mehr weniger ausgesprochener Weise jene des anderen entwickelt,
wodurch eben jenes merkwürdige Verhalten der Genitalien entsteht,
welches wir als Zwitterbildung, Hermaphrodisie, bezeichnen.
[Sidenote: Arten der Hermaphrodisie.]
Je nachdem die bisexuelle Entwicklung sowohl die Geschlechtsdrüsen als
die Geschlechtsgänge, oder nur die letzteren betrifft, unterscheidet
man den +Hermaphrodismus verus+ und die +Pseudohermaphrodisie+.
Vom Hermaphrodismus verus unterscheidet man wieder den H. v.
bilateralis, wenn beiderseits sowohl Hoden als Eierstöcke vorhanden
sind, dann den H. v. unilateralis, wenn die Geschlechtsdrüse auf der
einen Seite einfach, auf der anderen aber sowohl Hode als Ovarium sich
findet, und endlich den H. v. lateralis, wenn auf der einen Seite ein
Hode, auf der anderen ein Ovarium zur Entwicklung gelangte.
Letztere Form ist wiederholt beobachtet worden. Ein solcher
ausführlich beschriebener und mikroskopisch untersuchter Fall ist
der von H. +Meyer+ in Zürich (Virchow’s Archiv. XI). Es fanden sich
bei dem betreffenden Individuum, einem Kinde, hermaphroditische
äussere Genitalien, die Vagina in die Harnröhre einmündend, ein
Uterus mit zwei Tuben, rechts Ovarium mit Parovarium, links ein Hode
mit +Rosenmüller+’schem Organ. Seltener sind die Fälle von H. v.
unilateralis und am seltensten der H. v. bilateralis. Das Vorkommen
des letzteren wurde vielfach angezweifelt. Doch hat +Heppner+
(Dubois-Reymond’s Archiv. 1870, pag. 679) einen derartigen höchst
interessanten Fall veröffentlicht, in welchem hermaphroditische
äussere Genitalien, Vagina, Uterus mit Tuben und unter diesen
beiderseits sowohl langgestreckte Ovarien, als rundliche Hoden
sich fanden, die durch die mikroskopische Untersuchung als solche
constatirt wurden.
Die Fälle des Vorkommens beiderlei Geschlechtsdrüsen auf +einer+ Seite
sind uns durch die wichtigen Untersuchungen +Waldeyer+’s (Eierstock
und Ei, 1870) begreiflich geworden, aus welchen hervorgeht, dass in
der Embryonalanlage nicht blos die Ausführungsgänge beider Genitalien
vorhanden sind, sondern auch die Geschlechtsdrüsen einen ursprünglich
bisexuellen Charakter an sich tragen.
Die häufigste Form der Zwitterbildungen ist die +Pseudohermaphrodisie+,
welche entweder blos darin besteht, dass nur die äusseren Genitalien
des betreffenden Individuums eine Bildung zeigen, wie sie jener des
anderen Geschlechtes entspricht, oder darin, dass mit oder ohne eine
solche Missbildung der äusseren Genitalien auch die Ausführungsgänge
der Genitalien des anderen Geschlechtes zu mehr weniger ausgesprochener
Entwicklung gelangt sind. Sind dabei die Keimdrüsen männlich, so nennt
man eine solche Zwitterbildung +Pseudohermaphrodismus masculinus+, sind
sie aber weiblich, +Pseudohermaphrodismus femininus+, indem man dann
von beiden einen Pseudohermaphrodismus +internus+, einen +completus+
(internus und externus) und einen +externus+ unterscheidet.
[Sidenote: Aeussere Zwitterbildung.]
Das Zustandekommen einer Zwitterbildung der äusseren Genitalien
erklärt sich aus der Thatsache, dass in der ersten Zeit des
embryonalen Lebens die Anlage der äusseren Genitalien sich ganz
gleich verhält und erst später in verschiedener Weise sich
entwickelt. Zwischen der 5. bis 6. Woche sehen wir über dem Sinus
urogenitalis ein kleines, an seiner unteren Seite mit einer Furche
versehenes Wärzchen und zu beiden Seiten des Sinus je eine wulstige
Erhebung der Haut. Entwickelt sich das Individuum zu einem
männlichen, so bildet sich aus dem Wärzchen der Penis, und die Furche
an der Unterfläche desselben schliesst sich zur männlichen Harnröhre,
die seitlichen Wülste aber verwachsen zum Scrotum, dessen Raphe auch
später die ursprünglich bestandene Trennung beider Scrotalhälften
andeutet. -- Wird die Frucht eine weibliche, so entwickelt sich aus
dem Wärzchen die Clitoris und seine Furche schliesst sich nur am
centralen Ende zur Urethra. Der Sinus urogenitalis bleibt offen,
bildet den Introitus vaginae und aus den seitlichen Hautfalten werden
die grossen Labien.
[Illustration: Fig. 5.
Aeussere Genitalien eines Zwitters; die obere Sonde ist in die
Harnröhre, die untere in die Vagina eingeführt.]
Aus diesem Entwicklungsgange ergibt sich, dass eine äussere
Hermaphrodisie sich beim Manne dadurch entwickeln kann, dass der
Penis verkümmert bleibt, die Harnröhre sich nicht vollkommen
schliesst (Hypospadie) und dass die Scrotalhälften nicht vollständig
mit einander verwachsen, sondern eine mehr weniger tiefe, mit
schleimhautartiger Membran überkleidete Grube zwischen sich lassen,
die als Rest des ehemaligen Sinus urogenitalis dann den Introitus
vaginae vortäuscht. Ist mit einer solchen Bildungshemmung, wie nicht
selten, gleichzeitig Kryptorchie verbunden, so wird die Aehnlichkeit
solcher äusserer Genitalien mit weiblichen noch auffallender. Dagegen
können wieder die äusseren weiblichen Geschlechtstheile dadurch eine
gewisse Aehnlichkeit mit männlichen erhalten, wenn die Clitoris sich
ungewöhnlich entwickelt, oder wenn ausserdem die grossen Schamlippen
mit einander verwachsen und eine mehr weniger vollständige Atresie
des Scheideneinganges sich ausbildet. Letztere Form ist die bei
weitem häufigere. Seltener kommt erstere vor, namentlich eine so
bedeutende Vergrösserung der Clitoris, dass sie für einen Penis
genommen werden kann. Doch haben wir bei einem alten, zur Section
gekommenen Weibe, trotz vollkommen weiblicher Genitalien, eine
Clitoris von 4-5 Cm. Länge gesehen, mit vollständig entwickelter,
aber undurchbohrter Eichel und gut ausgebildetem Präputium.
Von derartigen hermaphroditischen Bildungen der äusseren Genitalien
sind blosse Verkümmerung des Penis, dann Hypospadien und beim Weibe
die einfachen Atresien des Introitus vaginae zu unterscheiden, obwohl
zugestanden werden muss, dass sich zwischen diesen und den ersteren
eine scharfe Grenze nicht ziehen lässt.
Die inneren Pseudohermaphrodisien kommen zu Stande, indem sich
beim Manne auch die +Müller+’schen Gänge oder beim Weibe auch die
+Wolff+’schen Canäle entwickeln. Auch hier sind erstere Fälle die
bei weitem häufigsten und sie bestehen darin, dass sich bei einem
Individuum von vorwiegend männlichem Geschlechtscharakter auch
eine mehr weniger ausgebildete Vagina und ein eben solcher Uterus
vorfinden, eine Bildung, die in rudimentärer Weise in der Vesicula
prostatica (Utriculus masculinus) bei jedem Manne nachzuweisen ist.
[Illustration: Fig. 6.
Innere Genitalien eines „Zwitters“. _Bl_ Blase, _Ur_ Ureter, _U_
Uterus, _V_ Vagina, _T_ rechte Tuba, _O_ rechtes, _O′_ linkes Ovarium,
_P_ Parovarium, _L O_ Ligam. ovarii, _A_ und _A′_ Faserzüge im
Ligam. latum, die sich zum Lig. rotundum vereinigen, _C_ und _C′_
Endigungen des Lig. rotundum, _B_ und _B′_ sackartige Ausstülpungen
des Peritoneums (nach vorn gedreht), bei _X_ Sonde in die Bauchhöhle
eingeführt.]
[Sidenote: Geschlechtsbestimmung bei Zwittern.]
Bei solchen Zwitterbildungen kann es sich in foro zunächst einzig und
allein um die Bestimmung des Geschlechtes handeln, dem das betreffende
Individuum angehört. Das Geschlecht bestimmt die sociale Stellung
des Individuums, und es knüpfen sich auch an dasselbe wichtige
Interessen und Rechte, die häufig nicht blos die Person selbst,
sondern auch jene Dritter berühren, und die Verkennung der Sachlage
kann sowohl die Betroffenen selbst, als Andere in die unangenehmsten
Situationen versetzen.[42] Die Wichtigkeit solcher Untersuchungen und
Begutachtungen ist daher mitunter eine bedeutende. Leider aber gehören
dieselben zu den schwierigsten, die sich für den Gerichtsarzt ergeben
können. Namentlich gilt dies bei Kindern, da bei diesen blos die
äusseren Genitalien für die Unterscheidung verwerthet werden können,
das unbestimmte Aussehen dieser aber eben das fast allen sogenannten
Hermaphrodisien Gemeinschaftliche bildet.
Der Nachweis von in den zu beiden Seiten des ehemaligen Sinus
urogenitalis sich erhebenden Hautfalten befindlichen Hoden würde
natürlich in erster Linie anzustreben sein. Häufig sind jedoch solche
Missbildungen der Genitalien mit Kryptorchie verbunden, was die
Diagnose wesentlich erschwert. Anderseits können auch die Ovarien durch
den Leistencanal herabsteigen, und es können Lymphdrüsen, Bruchsäcke
und selbst vielleicht kolbig endigende Ligamenta rotunda (Fig. 6)
Täuschungen veranlassen.
+Klebs+[43] hält den Nachweis von Nymphen als wichtig für die
Geschlechtserkennung, da entwickelte Nymphen bei einer einfachen
Hemmungsbildung des Penis und Perineums nicht wohl entstehen können,
und weist darauf hin, dass Andeutungen dieser auch in dem oben
angegebenen Falle von +Meyer+, sowie bei der +Katharina Hohmann+, die
sich an den meisten Universitäten als Zwitter vorstellte, gefunden
wurden.
[Sidenote: Habitus und Haarwuchs bei Zwittern.]
Im späteren Alter, nämlich nach erreichter Pubertät, kann sich
manchmal die richtige Diagnose aus dem Auftreten gewisser
Geschlechtseigenthümlichkeiten ergeben, und als solche werden zur
Beachtung empfohlen: der sogenannte Habitus, das Verhalten des
Kehlkopfes und der Stimme, das Auftreten gewisser specifischer
Neigungen und sexueller Regungen, insbesondere aber der Nachweis der
Samenbildung einerseits oder der Menstruation anderseits.
Die Beweiskraft der erst erwähnten Erscheinungen ist erfahrungsgemäss
keine absolute, gibt vielmehr zu verschiedenen Täuschungen Veranlassung.
[Sidenote: Haarwuchs bei Zwittern.]
Insbesondere gilt dies vom sogenannten Habitus. Bekanntlich zeigt der
Körpertypus auch bei geschlechtlich vollkommen normal entwickelten
Individuen mannigfache Verschiedenheiten, und knochige, musculöse und
selbst bebartete Weiber[44] sind nichts besonders Seltenes, ebensowenig
wie Männer ohne Spur von Bart und von weibischen Aussehen. Ferner
ist bekannt, dass Castraten ein mehr weibliches Aussehen erhalten,
insbesondere bartlos bleiben, und es ist zu erwarten, dass auch bei
angeborenem Mangel oder angeborener Verkümmerung der Hoden ein solcher
Habitus sich entwickeln könne. Umgekehrt sehen wir bei „Zwittern“ von
zweifellos oder mindestens vorwiegend weiblichem Geschlechte mitunter
entschieden männlichen Habitus und gut entwickelten Bartwuchs. Einen
solchen Fall, der ein als Kammerdiener (!) bedienstetes Individuum
betraf, beschrieb +De Crecchio+[45], und einen fast gleichen haben wir
in den Wiener med. Jahrbüchern, 1877, III, pag. 293, veröffentlicht.
Der Fall betraf einen 38jährigen ledigen Kutscher (!), welcher in Folge
eines Hufschlages an Septicämie gestorben war. Die Leiche war von
kräftigem Knochenbau, stark entwickelter Musculatur, von entschieden
männlichem Habitus. Die Haut erdfahl. An der Oberlippe ein schütterer,
5-7 Mm. langer Schnurrbart, das Gesicht umrahmt von einem 1-1·5 Cm.
langen, dichten, krausen und beschnittenen Barte. Die Beschaffenheit
der äusseren und inneren Genitalien ist aus beiliegenden Abbildungen
(Fig. 5 und 6) ersichtlich. Interessant ist in dieser Beziehung der
von +Debierre+ (Arch. de l’anthropologie criminelle et des sciences
pénales. 1886, I, pag. 314) beschriebene Fall des „Hermaphroditen“
Marie-Madeleine Lefort, dessen Abbildung, sowie seiner Genitalien, wie
sie sich bei der Section ergaben, wir in Fig. 7 und 8 wiedergeben und
der ebenfalls ein weibliches Individuum betraf.
[Illustration: Fig. 7
Der „Hermaphrodit“ Marie-Madeleine Lefort in seinem 65. Jahre. Nach
+Debierre+.]
+Casper+ hat auch das Verhalten der Schamhaare zur Unterscheidung des
Geschlechtes benützen wollen, indem nach seiner Angabe der umschriebene
Kranz von Haaren auf dem Schamberge das Weib und die, wenn auch
geringe, Fortsetzung des Haarwuchses vom Schamberg gegen den Nabel
den Mann erweisen soll. B. +Schultze+ hat aber häufig Ausnahmen von
dieser Regel gefunden, so bei 100 Frauen 5mal das Hinaufreichen des
Haarwuchses bis zum Nabel, und unter 120 Soldaten wiederholt eine
kranzartige Anordnung der Haare um den Schamberg, wie bei Weibern. In
dem Falle von +De Crecchio+ zog sich eine Haarlinie bis zum Nabel und
auch in unserem liess sich eine solche Fortsetzung des Haarwuchses
constatiren. Wir haben ausserdem in zwei Fällen beobachtet, dass
bei jungen weiblichen Individuen, von denen das eine stark brünett
war, sich eine Haarlinie bis zum Nabel und in dem einen Falle sogar
über diesen hinaus bis zwischen die Brüste verfolgen liess. In einem
von +Ruggieri+ mitgetheilten Falle hat sogar der übermässige, auf
den ganzen Bauch sich ausdehnende Haarwuchs zur Scheidungsklage
Veranlassung gegeben.
[Sidenote: Becken bei Zwittern.]
Auch das Verhalten des Beckens gibt keine sicheren Anhaltspunkte für
die Geschlechtsbestimmung. In dem Falle +De Crecchio+’s, sowie in dem
unserigen, die doch entschieden weibliche Individuen betrafen, war das
Becken ein ausgesprochen männliches, und ebenso bei einem anderen
wahrscheinlich weiblichen „Zwitter“, den wir unlängst während des
Lebens zu sehen und zu untersuchen Gelegenheit hatten. Dieses Verhalten
scheint die Ansicht +Schröder+’s (Lehrb. d. Geburtsh. 4. Aufl., pag. 9)
zu unterstützen, zufolge welcher die Verschiedenheiten des weiblichen
und männlichen Beckens bedingt werden durch die Entwicklung der beim
Weibe im kleinen Becken liegenden Genitalien, eine Annahme, für welche
nach +Schröder+ die Fälle von geistig und körperlich verkümmerten
Frauen sprechen, die, mit unentwickelten Genitalien versehen, auch an
allgemeiner Beckenenge leiden, sowie die Beobachtung von +Roberts+,
dass bei weiblichen Castraten unter den Hindus der Schambogen eine ganz
ungewöhnliche Enge zeigt.
[Illustration: Fig. 8.
Aeussere und innere Genitalien des „Zwitters“ Marie-Madeleine Lefort.
Die Sonde ist unterhalb der penisartig vergrösserten Clitoris in den
stark verengerten Introitus vaginae eingeführt. Nach +Debierre+.]
Dagegen hat +Leopold+ (Arch. f. Gyn. 1875, VIII, 487) in einem Falle,
der seiner Meinung nach einen männlichen Scheinzwitter betrifft, bei
vollständigem Mangel des Uterus ein entschieden weibliches Becken
constatirt.
[Sidenote: Kehlkopf, Brüste und Benehmen der Zwitter.]
Weiters wird empfohlen, das Verhalten des Kehlkopfes und der Stimme
zur Differentialdiagnose heranzuziehen. Grössere Dimensionen des
Kehlkopfes und stärkeres Hervortreten des „Adamsapfels“ sollen den Mann
erkennen lassen, ebenso die rauhe Stimme. Die Erfahrung lehrt aber,
dass auch unter gewöhnlichen Umständen bezüglich dieser Verhältnisse
grosse Verschiedenheiten herrschen. Rauhe Stimme bei Weibern und hohe
bei Männern ist eine häufige Erscheinung. Ausserdem kann die hohe
Stimme, respective das Ausbleiben des sogenannten Umschlagens der
Stimme in der Pubertät, sowie das geringe Volum des Kehlkopfes, ebenso
wie bei Castraten, Folge der Nichtentwicklung der obgleich männlichen
Geschlechtsdrüsen sein, und Verkümmerung letzterer geht ja gewöhnlich
mit sogenannter Hermaphrodisie Hand in Hand. Dagegen wurde bei unserem
weiblichen Zwitter erhoben, dass er eine männliche Stimme besessen,
die nur im Affecte in’s Hohe umgeschlagen habe, auch prominirte der
Kehlkopf in ziemlich deutlicher Weise. Gleiches war bei dem Zwitter von
+De Crecchio+ der Fall.
Das Vorhandensein oder Fehlen der Brustdrüsen ist ebenfalls nicht
absolut beweisend. Sowohl in dem Falle von +De Crecchio+ als in
unserem fehlten sie. Dagegen waren in dem Falle von +Leopold+, der,
wenigstens seiner Angabe nach, ein männliches Individuum betraf,
Brüste vorhanden und ebenso bei der Katharina Hohmann trotz notorisch
erwiesener Spermasecretion. Fälle von mehr weniger entwickelten
Brüsten bei Männern wurden wiederholt beobachtet, und es ist bekannt,
dass Schwellung der Brustdrüsen und Milchsecretion (Hexenmilch) bei
neugeborenen Kindern, und zwar bei beiden Geschlechtern gleich häufig,
zur Beobachtung gelangt.
Seit jeher wurde empfohlen, behufs Unterscheidung des eigentlichen
Geschlechtes eines „Zwitters“ dessen Neigungen, Gewohnheiten und
sexuelle Aeusserungen in Betracht zu ziehen. Es ist jedoch erwiesen,
dass eine grosse Zahl der Eigenschaften, die ein Individuum sowohl
als Kind, als in späterer Zeit zeigt, blosse Erziehungsresultate
darstellen, und dass hierbei der Einfluss des Geschlechtes des
Individuums nur indirect zur Geltung kommt. Es kann daher nicht
verwundern, wenn später zweifellos als männlich erkannte Individuen ihr
ganzes Leben lang weibliche Geschäfte betrieben und weibliches Gebahren
zeigten, wenn es constatirt ist, dass sie seit ihrer Kindheit als dem
weiblichen Geschlechte angehörend angesehen und darnach erzogen wurden,
wie solche Fälle verhältnissmässig zahlreich vorgekommen sind.
Auch die Körperentwicklung und das Temperament, welche beide keineswegs
nur allein vom Geschlechte abhängen, spielen in jener Beziehung eine
wesentliche Rolle, und schon bei den Spielen der Kinder sind diese
Momente von Einfluss. Ohne Zweifel dürfte es bei „Hermaphroditen“
weniger das durchschlagende männliche Geschlecht, als das in Folge
stärkerer Körperentwicklung gesteigerte Kraftgefühl sein, welches
das als Mädchen erzogene und behandelte Individuum männlichen
Beschäftigungen zuführt. Dies kann aber geschehen ebensowohl bei
entschieden männlichen „Zwittern“, als auch bei zweifellos weiblichen
Individuen; ebenso wie anderseits Fälle vorkamen, dass eben die
zurückgebliebene schwächliche Körperbildung Veranlassung wurde, dass
das seinem Geschlechte nach vorwiegend oder ausschliesslich männliche
Individuum stets für ein weibliches gegolten hatte.
[Sidenote: Neigungen und sexuelle Aeusserungen der Zwitter.]
Was die Zuneigung zum anderen Geschlechte und die sexuellen Regungen
überhaupt anbelangt, so können diese allerdings in einzelnen Fällen das
eigentliche Geschlecht der betreffenden Person verrathen, dass aber
gerade in dieser Beziehung die gröbsten Täuschungen unterlaufen, ist
thatsächlich.
Es ist zunächst zu constatiren, dass geschlechtliches Fühlen und
geschlechtliche Triebe nicht ausschliesslich von der Gegenwart und
vollständigen Entwicklung der betreffenden Sexualdrüsen abhängen.
Beweise für diese Thatsache liefern die Kinder, die ja so häufig
Onanie treiben, während ihre Geschlechtsdrüsen noch weit vom Zustande
der Functionsfähigkeit entfernt sind, ferner junge Thiere, die,
geschlechtlich noch ganz unentwickelt, schon Coitusversuche anstellen,
und endlich die Castraten, bezüglich deren Beischlafsfähigkeit und
mitunter stürmisch sich äussernden Geschlechtstriebes überraschende
Angaben sowohl in der älteren als in der neueren Literatur sich finden.
Wir verweisen in dieser Richtung insbesondere auf das oben erwähnte
Werk +Pelikan+’s: „Gerichtlich-medicinische Untersuchungen über das
Skopzenthum in Russland“, aus welchem zu ersehen ist, dass bei den
Adepten der Skopzensecte vom „kleinen Siegel“ die Beischlafsfähigkeit,
respective die Erectionsfähigkeit sich erhält, und dass die Skopzen
von dieser Fähigkeit nicht blos Gebrauch machen, sondern sich sogar in
einzelnen Fällen Zügellosigkeiten und excessiver Wollust hingeben.
Unser weiblicher „Zwitter“ hatte notorisch den Coitus nach Männerart
versucht, und ebenso hören wir von +De Crecchio+, dass das seinen
inneren Genitalien nach doch entschieden weibliche Individuum den
Weibern nachstieg, wiederholt den Coitus ausübte und dabei zweimal
mit Tripper angesteckt wurde; und umgekehrt sehen wir nachträglich
entschieden als Männer anerkannte „Hermaphroditen“ als Weiber
verheiratet und auch als solche den Coitus ausübend.
Von dem seinerzeit viel genannten Hermaphroditen Rosina Göttlich,
einem zweifellosen Manne mit Hypospadie und gespaltenem Scrotum,
erzählt +Ammon+ („Die angeb. chirurg. Krankheiten des Menschen.“
Berlin 1842, pag. 93): „Nicht ohne Frechheit sagte das Subject,
dass es den Coitus als Mann und als Weib ausüben könne, dass es
ihn aber in letzterer Geschlechtsbeziehung vorziehe und sich des
ersteren schäme. Es ist dies sehr erklärlich. Bei der Kleinheit
und Difformität des Penis würde der ganze Act sehr unvollkommen
ausfallen. Uebt ihn die Person als Weib aus, so ist dies viel
leichter und auch angenehmer für sie, indem hier die ausgedehnte
Urethra zwischen beiden Hodensackhälften als Substitut der Vagina
fungirt.“
In dem von +Tortual+ beschriebenen Falle („Ein als Weib verheirateter
Androgynus vor dem kirchlichen Forum.“ Vierteljahrsschr. für
gerichtl. Med. X, 18) war das wahrscheinlich männliche Individuum
als Weib verheiratet und eifersüchtig auf den Ehegatten, welcher,
da er den Coitus mit seiner Frau nicht zu Wege bringen konnte, sich
anderweitig umsehen wollte.
Die Marie Arsano (+Casper+-+Liman+, Handb. 1768, I, 75) war 84 Jahre
alt, hatte stets als Weib gegolten, war als solches lange Jahre
verheiratet und erst bei der Obduction wurde sie als Mann erkannt.
[Sidenote: Geschlechtstrieb bei Hermaphroditen.]
Wir haben demnach allen Grund, anzunehmen, dass ein Geschlechtstrieb
auch bei jenen Formen von Hermaphrodisie existiren wird, bei welchen
die Geschlechtsdrüsen entweder fehlen oder ganz verkümmert und
zweifellos functionsfähig vorhanden sind. Zur letzteren Kategorie
scheinen die meisten „Zwitter“ und darunter auch der unserige zu
gehören. Wir müssen aber vermuthen, dass in diesen Fällen die Qualität
des Geschlechtstriebes einen ebenso unbestimmten Charakter besitzen
wird wie die Genitalien, respective die Geschlechtsdrüsen selbst,
und dass es mehr von zufälligen Umständen abhängen wird, ob der
Geschlechtstrieb in dieser oder in jener Richtung zur Aeusserung
gelangt.
Auch ergibt sich aus den in der Literatur verhältnissmässig
häufig verzeichneten Fällen, dass Männer jahrelang mit männlichen
hermaphroditisch gebildeten Individuen verheiratet, und sogar glücklich
verheiratet waren, die für das Verständniss der Aeusserungen des
Geschlechtstriebes interessante Thatsache, dass nicht blos wirkliche,
sondern auch vermeintliche Weiblichkeit den Mann anzuziehen und
geschlechtlich aufzuregen im Stande ist.
Erwägen wir zu dem Gesagten, dass perverses sexuelles Fühlen auch als
psychopathologische Erscheinung vorkommen kann, so folgt, dass die
Anwesenheit männlicher oder weiblicher Geschlechtsdrüsen sich nicht
nothwendig durch specifischen Nixus sexualis kundgeben muss, und
umsoweniger kundgeben wird, je weniger die Sexualdrüsen zur Entwicklung
gekommen sind.
[Sidenote: Sperma.]
Der Nachweis von Sperma würde allerdings jedem Zweifel über die
rechtliche Stellung des betreffenden Individuums ein Ende machen.
Bei der Katharina Hohmann wurde ein solcher Nachweis geliefert,
indem +Schultze+ (Virchow’s Archiv, 43, pag. 429) Spermatozoiden
in dem Schleime constatirte, welcher dem Catheter anklebte, mit
welchem die Harnröhre des genannten „Zwitters“ untersucht worden war.
Vorausgesetzt, dass die Möglichkeit, dass die gefundenen Spermatozoen
vielleicht von einem kurz zuvor zugelassenen Coitus herrührten, positiv
ausgeschlossen würde, könnte, wenn solche in Frage gewesen wären, nicht
daran gezweifelt werden, dass der Katharina Hohmann die Rechte des
Mannes gebühren, und es wäre in dieser Beziehung ohne Bedeutung, dass
bei diesem Individuum die Coexistenz eines oder beider Ovarien, sowie
der weiblichen Genitalgänge keineswegs ausgeschlossen werden kann.
Selbstverständlich ist der Nachweis der Spermatozoiden am Lebenden
nur möglich, wenn nicht blos mindestens ein Hode vollkommen normal
zur Entwicklung gelangte, sondern wenn auch das Vas deferens mit dem
betreffenden Hoden normal sich verbindet, ferner durchgängig ist und
schliesslich nach aussen ausmündet. Ein Blick jedoch auf die bisher
bekannten Fälle von anatomisch untersuchten Hermaphrodisien belehrt
uns, dass in den meisten derselben die männliche Keimdrüse verkümmert
ist, überdies das Vas deferens entweder ganz fehlt, oder kein Lumen
besitzt, oder blind endet. Da, wie der Fall +De Crecchio+’s und der
unsrige darthut, auch bei weiblichen derartigen Individuen die Ovarien
verkümmert sind, so erscheint es gerechtfertigt, anzunehmen, dass
hermaphroditische Bildung der Genitalien gewöhnlich mit Verkümmerung
der Keimdrüsen Hand in Hand geht, und es folgt daraus, dass gerade
in den exquisitesten Fällen von Hermaphrodisie, trotz Vorhandenseins
männlicher Keimdrüsen, selten eine Bildung und noch seltener eine
Ausscheidung von normalem, d. h. Spermatozoiden enthaltenden Samen
erwartet werden kann.
[Sidenote: Menses bei Zwittern.]
Das Bestehen menstrualer Blutungen beweist nicht so absolut das
weibliche Geschlecht des betreffenden Individuums, wie es auf
den ersten Blick erscheinen dürfte. Seitdem man weiss, dass die
Menstruation nicht unbedingt an die Gegenwart von Ovarien geknüpft ist,
was insbesondere aus der Thatsache erhellt, dass bereits wiederholt
Fortdauer der Menstruation trotz beiderseitiger Ovariotomie beobachtet
wurde (v. Aufsatz von +Beigel+, Wiener med. Wochenschr. 1873, Nr. 27
und 28, und 1878, pag. 162), ist man nicht unbedingt berechtigt, aus
dem Vorhandensein einer solchen Erscheinung bei einem „Zwitter“ auf die
Existenz von Ovarien, noch weniger aber auf die Nichtexistenz von Hoden
zu schliessen.
Die Katharina Hohmann soll in früheren Jahren regelmässig menstruirt
haben, und diese Thatsache soll klinisch constatirt worden sein
(+Schultze+ l. c.). In dem Falle von +Tortual+ sollen bei dem
männlichen „Zwitter“ menstruale Blutungen seit dem 19. Lebensjahre
erschienen sein, ebenso gab die später zu erwähnende, unsittlicher
Attentate auf Weiber angeklagte und von den Aerzten als Mann erkannte
Hebamme an, periodische Blutungen aus den Genitalien gehabt zu haben,
und auch die Rosina Göttlich behauptete, dass sie vom 20. Jahre an
unregelmässig menstruirt gewesen (Vierteljahrschr. für ger. Med.
XIX, pag. 317), obgleich sie bei der 1857 angestellten Obduction
als Mann erkannt wurde. In dem Falle von +Blackmann+ (+Heppner+,
l. c., pag. 700) soll das betreffende, männlichen Habitus zeigende
Individuum alle Monate Blutungen aus dem Penis gehabt haben, war auch
während einer solchen gestorben und es fand sich eine, Menstrualblut
enthaltende, in den Blasenhals mündende Scheide, Uterus, Tuben und
Ovarien, aber auch zwei Hoden mit normalen Ausführungsgängen. Leider
ist dieser Fall nicht zweifellos klargestellt. Anderseits liefert
sowohl der Fall +De Creechio+’s als der unsere den Beweis, dass trotz
entschieden weiblicher Bildung der inneren Genitalien menstruale
Blutungen vollkommen fehlen können.
Aus dem Gesagten ist zu entnehmen, dass bei den „Hermaphroditen“
nach der Pubertät die Geschlechtsbestimmung häufig nicht minder
schwierig sich gestaltet, als bei den Kindern, und die bekannten Fälle
erwachsener „Zwitter“, die sich an den medicinischen Facultäten sehen
liessen und von wissenschaftlich hochstehenden Männern untersucht
wurden, illustriren diese Schwierigkeit am deutlichsten; denn während
des Lebens wurden die meisten ebenso oft für männliche als für
weibliche Individuen gehalten, und auch mit dem letzten derartigen
Falle, dem der Katharina Hohmann, ist es ebenso gegangen. Dabei hatte
man überdies immer nur ein Geschlecht im Auge, während wir gegenwärtig
seit den so wichtigen Forschungen +Waldeyer+’s und seit den von +Meyer+
und von +Heppner+ veröffentlichten Beobachtungen zugeben müssen, dass
in der That auch beim Menschen ein wahrer Hermaphroditismus vorkommen
könne, durch welchen Umstand die Diagnose in den einzelnen Fällen noch
mehr erschwert wird.
[Sidenote: Zwitter betreffende Gesetze.]
Das preussische Landrecht, Titel I, Theil 1, enthält bezüglich der
Zwitter folgende Bestimmungen:
§. 19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Eltern, zu
welchem Geschlecht sie erzogen werden sollen.
§. 20. Jedoch steht einem solchen Menschen nach zurückgelegtem
achtzehnten Jahre die Wahl frei, zu welchem Geschlecht er sich halten
will.
§. 21. Nach dieser Wahl werden seine Rechte künftig beurtheilt.
§. 22. Sind aber die Rechte eines Dritten von dem Geschlechte
eines vermeintlichen Zwitters abhängig, so kann Ersterer auf eine
Untersuchung durch Sachverständige antragen.
§. 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet auch gegen die
Wahl des Zwitters und seiner Eltern.
Gegen die ersten dieser Paragraphe ist nicht viel einzuwenden, der
letzte jedoch setzt offenbar voraus, dass die Sachverständigen jedesmal
in der Lage sind, das eigentliche Geschlecht eines Zwitters zu erkennen.
Wie irrig diese Voraussetzung ist, geht aus dem Gesagten zur Genüge
hervor.
Im römischen Rechte L. 10, D. 1, 5, heisst es:
Quaeritur hermaphroditum cui comparamus? et magis puto ejus sexus
aestimandum, qui in eo praevalet.
Welchen Täuschungen man sich bei der Befolgung dieses Grundsatzes
aussetzen kann, ist aus Obigem ebenfalls ersichtlich, obgleich, so
lange das Individuum lebt, kaum etwas Anderes übrig bleiben dürfte, als
sich nach diesem Grundsatz zu richten.[46]
Doch könnte, wenn in einem Falle wichtige Rechte Anderer von dem
Geschlechte eines Hermaphroditen abhängen, gesetzlich dafür Sorge
getragen werden, dass nach erfolgtem Tode das Verhalten der inneren
Genitalien durch eine Legalobduction constatirt werde. Denn nur die
Section ist im Stande, die Erkennung des eigentlichen Geschlechtes
eines solchen Wesens zu ermöglichen, insbesondere, worauf es doch
schliesslich in rechtlicher Beziehung ankommt, den Nachweis zu liefern,
dass in der That Hoden, wenn auch nur verkümmerte, vorhanden sind.
[Sidenote: Gesetzliche Stellung der Zwitter. Unsittliche Handlungen
derselben.]
Ein forensisches Interesse kommt der Hermaphrodisie noch insoferne
zu, als auch von solchen Individuen gesetzwidrige geschlechtliche
Handlungen unternommen werden können. Eine solche Möglichkeit muss
a priori zugegeben werden, da, wie bereits oben ausgeführt, die
Betreffenden des Geschlechtstriebes nicht nur nicht entbehren, sondern
auch davon Gebrauch machen.
In der That enthält die Literatur zwei Fälle, in welchen Zwitter wegen
gesetzwidriger Befriedigung des Geschlechtstriebes in strafgerichtliche
Untersuchung gezogen und auch verurtheilt wurden. So zunächst den von
+Martini+ publicirten („Ein männlicher Scheinzwitter“. Vierteljahrschr.
f. gerichtl. Med. XIX, pag. 303), der eine Hebamme (!) betraf, die
verheiratet war und mit Wöchnerinnen und anderen Weibern Unzucht
getrieben hatte, bis sie als ein angeblich männlicher Zwitter erkannt
wurde[47], und den schrecklichen Fall der Institutsvorsteherin
Wilhelmine +Möller+, welche in Kopenhagen einen der ihrer Obhut
anvertrauten Knaben wiederholt geschlechtlich missbraucht und dann
mit Chloral vergiftet hatte. Sie war als Mädchen getauft und erzogen
worden, wurde jedoch bei der Untersuchung als Mann mit hermaphroditisch
verbildeten Genitalien erkannt und im Juni 1894 wegen Mord zum Tode
verurtheilt!
Es unterliegt keinem Zweifel, dass ein solcher Fall von Seite des
Gerichtes nur dann als „Nothzucht“ aufgefasst werden könnte, wenn
das männliche Geschlecht des betreffenden Zwitters durch ärztliche
Untersuchung sichergestellt wäre. Diesen Beweis scheint im ersten
Falle das Gericht als nicht erbracht betrachtet zu haben, da es das
Verbrechen nur als „widernatürliche Unzucht“ qualificirte. In der That
muss dem Gesagten zufolge dahingestellt bleiben, ob das betreffende
Individuum wirklich ein männliches gewesen ist, wie die Gerichtsärzte
positiv behaupteten.
Wenn Giuseppe +Marzo+ (so hiess der von +De Crecchio+ beschriebene
Zwitter) oder unser Kutscher ein derartiges Attentat begangen
hätten, würde man gewiss mehr Gründe für die Annahme des männlichen
Geschlechtes dieser Individuen gehabt und würde sich doch vollkommen
getäuscht haben, wenn man sie für Männer erklärt haben würde.
Auch die Qualification des Delictes als „widernatürliche Unzucht“
setzt ein bestimmtes Geschlecht des Beschuldigten, und zwar hier das
weibliche, voraus, welches ebenso wenig erwiesen war wie das männliche.
Es würde bei solchen Fällen Aufgabe des Gerichtsarztes sein, offen
zu erklären, dass das eigentliche Geschlecht des Individuums sich
nicht mit der nöthigen Sicherheit bestimmen lasse, und wir zweifeln
nicht, dass auf Grundlage eines solchen Gutachtens das Gericht
Anstand nehmen würde, die betreffende Handlung in die Kategorie
jener Verbrechensqualitäten zu rangiren, bei welchen das Gesetz zum
Thatbestande ein bestimmtes Geschlecht des Thäters gegenüber dem
Objecte seiner That erfordert.
[Sidenote: Zeugungsfähigkeit bei Zwittern.]
Weiter können Hermaphroditen wegen fraglicher Zeugungsfähigkeit Object
einer gerichtsärztlichen Untersuchung werden.
Da erfahrungsgemäss die meisten solchen Individuen als Mädchen getauft
und erzogen werden, und auch als solche heiraten, so dürfte am ehesten
die weibliche Potentia coëundi in Frage kommen. Trotzdem sind die
Fälle, in welchen wegen derartiger Missbildungen Ehescheidungen oder
Eheauflösungen angesucht wurden, verhältnissmässig selten.
Meistens wurde, wie sich nachträglich herausstellte, durch ein solches
Verhältniss das eheliche Zusammenleben nicht gestört, entweder
weil sich die betreffenden Ehemänner accommodirten, oder indem die
vorhandene Genitalspalte theils als solche, theils nachdem sie durch
fortgesetzten Impetus erweitert worden war, den Coitus in genügender
Weise gestattete. In einzelnen Fällen, wie z. B. in dem von +Leopold+
beschriebenen, hatte der Ehemann keine Ahnung von dem Bestehen einer
Missbildung an den Genitalien seiner Frau.
Würde sich bei der Untersuchung eines solchen Zwitters das männliche
Geschlecht desselben herausstellen, so ergäbe sich die Nichtigkeit der
betreffenden Ehe von selbst. Wäre dies nicht der Fall, dann hätte die
Begutachtung nichts Specifisches an sich, sondern würde nach denselben
Principien erfolgen müssen wie die einer durch andere Ursachen
gesetzten Impotentia coëundi beim Weibe.
Bei der Beurtheilung der männlichen Potenz von Hermaphroditen wäre
zunächst zu erwägen, dass die gewöhnlich vorhandene Verkümmerung
und Verkürzung des Penis und die gleichzeitige Hypospadie für sich
kein absolutes Hinderniss der sexuellen Copulation und bei normaler
Beschaffenheit mindestens eines Hodens und seiner Ausführungsgänge auch
nicht der Befruchtungsfähigkeit bildet, wie wir oben ausgeführt haben.
Doch wird im Allgemeinen bei dem bereits berührten Umstande, dass bei
hermaphroditischer Bildung der äusseren Genitalien die Keimdrüsen,
speciell die Hoden, in der Regel verkümmert waren und die Vasa
deferentia entweder mangelten oder obliterirt sich fanden, oder an
vom Perineum weit entfernten Stellen, so namentlich an den Ecken des
gleichzeitig vorhandenen Uterus, mündeten, die Befruchtungsfähigkeit
bei Zwittern nur ausnahmsweise anzunehmen sein.
Dass je beim Menschen eine vollkommene Hermaphrodisie mit nach beiden
Geschlechtsrichtungen functionsfähigen Genitalien vorkommen werde,
ist wohl, obgleich eine solche Bildung entwicklungsgeschichtlich sich
erklären liesse, nicht zu befürchten, und man kann nicht umhin, den
Vorschlag +Teichmeyer+’s zu belächeln, welcher dahin geht, dass man
solchen Zwittern zwar das Heiraten gestatten, sie aber schwören lassen
sollte, ihre Genitalien nur nach +einer+ Richtung zu gebrauchen.
[Sidenote: Psychisches Verhalten der Zwitter.]
Im hohen Grade interessant wäre es, das psychische Verhalten
der „Zwitter“ verfolgen zu können. Da bekanntlich schon die im
Kindesalter vorgenommene Castration einen hemmenden Einfluss auf die
psychische Entwicklung ausübt, so ist zu erwarten, dass eine schon
im Fötus erfolgende Verkümmerung der Keimdrüsen, wie sie gewöhnlich
als Theilerscheinung der Hermaphrodisie eintritt, noch intensiver
in jener Richtung sich äussern werde. Bei den orientalischen
Eunuchen und anderen Castraten findet sich als wichtigste Abweichung
ihres psychischen Verhaltens von der Norm ein Mangel an geistiger
Energie und productiver Kraft, insbesondere aber ein mangelhaftes
moralisches Fühlen[48], und es ist wahrscheinlich, dass ähnliche
psychische Defecte auch bei Zwittern zu Tage treten können. Auch kann
Zwitterbildung als Degenerationszeichen und mit anderen combinirt
vorkommen, ebenso mit infantilem Habitus und damit verbundenem
Schwachsinn. Doch erklärt sich das bei den meisten Zwittern zu
beobachtende Darniederliegen der psychischen Energie, das mehr
passive Verhalten, sowie das scheue, zurückgezogene Wesen auch
daraus, dass dieselben sich des Charakters und der Bedeutung der
Missbildung offenbar wohl bewusst sind, da sie letztere sorgfältig zu
verbergen sich bemühen, und dass dieser Umstand für sich genügt, eine
deprimirte Gemüthsstimmung zu schaffen und damit das eigenthümliche
Verhalten zu motiviren. Jedenfalls wäre dieser Umstand zu beachten,
wenn ein derartiges Individuum sich eines Delictes schuldig machen
würde.
Zweiter Hauptabschnitt.
Die gesetzwidrige Befriedigung des Geschlechtstriebes.
+Oesterr.+ St. G. B.
§. 125. Wer eine Frauensperson durch gefährliche Bedrohung, wirklich
ausgeübte Gewaltthätigkeit oder durch arglistige Betäubung ihrer
Sinne ausser Stand setzt, ihm Widerstand zu thun, und sie in diesem
Zustande zu ausserehelichem Beischlafe missbraucht, begeht das
Verbrechen der Nothzucht.
§. 126. Die Strafe der Nothzucht ist schwerer Kerker zwischen 5
und 10 Jahren. Hat die Gewaltthätigkeit einen wichtigen Nachtheil
der Beleidigten an ihrer Gesundheit oder gar am Leben zur Folge
gehabt, so soll die Strafe auf eine Dauer zwischen 10 und 20 Jahren
verlängert werden. Hat das Verbrechen den Tod der Beleidigten
verursacht, so tritt lebenslanger schwerer Kerker ein.
§. 127. Der an einer Frauensperson, die sich ohne Zuthun des Thäters
im Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindet, oder die noch
nicht das vierzehnte Lebensjahr zurückgelegt hat, unternommene
aussereheliche Beischlaf ist gleichfalls als Nothzucht anzusehen und
nach §. 126 zu bestrafen.
§. 128. Wer einen Knaben oder ein Mädchen unter 14 Jahren oder eine
im Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindliche Person
zur Befriedigung seiner Lüste auf eine andere als die im §. 127
bezeichnete Weise geschlechtlich missbraucht, begeht, wenn diese
Handlung nicht das im §. 129, lit. b) bezeichnete Verbrechen bildet,
das Verbrechen der Schändung und soll mit schwerem Kerker von 1
bis zu 5 Jahren, bei sehr erschwerenden Umständen bis zu 10, und
wenn eine der im §. 126 erwähnten Folgen eintritt, bis zu 20 Jahren
bestraft werden.
§. 129. Als Verbrechen werden auch nachstehende Arten der Unzucht
bestraft: I. Unzucht wider die Natur, das ist _a)_ mit Thieren, _b)_
mit Personen desselben Geschlechtes.
§. 130. Die Strafe ist schwerer Kerker von 1 bis zu 5 Jahren. Wenn
sich aber im Falle der lit. _b)_ eines der im §. 125 erwähnten Mittel
bedient wurde, so ist die Strafe von 5 bis 10 Jahren, und wenn einer
der Umstände des §. 126 eintritt, auch die dort bestimmte Strafe zu
verhängen.
§. 131. II. Blutschande, welche zwischen Verwandten in auf- und
absteigender Linie, ihre Verwandtschaft mag von ehelicher oder
unehelicher Geburt herrühren, begangen wird. Die Strafe ist Kerker
von 6 Monaten bis zu 1 Jahr.
§. 132. III. Verführung, wodurch Jemand eine seiner Aufsicht oder
Erziehung oder seinem Unterrichte anvertraute Person zur Begehung
oder Duldung einer unzüchtigen Handlung verleitet. IV. Kuppelei,
woferne dadurch eine unschuldige Person verführt wurde, oder wenn
sich Eltern, Vormünder, Erzieher oder Lehrer derselben gegen ihre
Kinder, Mündel oder die ihnen zur Erziehung oder zum Unterrichte
anvertrauten Personen schuldig machen.
§. 133. Die Strafe ist schwerer Kerker von 1 bis zu 5 Jahren.
Ausser vorstehenden Paragraphen gehören hierher auch die §§. 500,
501, 504-506 und der §. 516, welche von jenen Verletzungen der
öffentlichen Sittlichkeit und von jenen Unzuchtsformen handeln,
die nur als Vergehen oder Uebertretungen qualificirt werden, denen
keine besondere gerichtsärztliche Bedeutung zufällt, und die auch
thatsächlich nur sehr selten und unter besonderen Umständen zur
gerichtsärztlichen Untersuchung gelangen.
+Oesterr.+ St. G. +Entwurf+:
§. 184. Der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie
(Blutschande) wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren
oder mit Gefängniss nicht unter einem Jahre, an den letzteren mit
Gefängniss bis zu 2 Jahren bestraft.
Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie,
sowie zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern ist mit Gefängniss
bis zu 2 Jahren zu bestrafen.
§. 185. Mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder Gefängniss nicht unter
drei Monaten werden bestraft:
1. Eltern, Adoptiv- und Pflegeeltern, welche mit ihren Kindern,
Vormünder oder Mitvormünder, welche mit ihren Pflegebefohlenen,
Lehrer und Erzieher, welche mit ihren minderjährigen Schülern
oder Zöglingen, Geistliche, welche bei ihren Verrichtungen als
Seelsorger oder aus Anlass derselben mit den ihrer geistlichen
Obhut unterstehenden Personen, oder Beichtväter, welche mit ihren
Beichtkindern unzüchtige Handlungen vornehmen;
2. Beamte, die mit Personen, gegen welche sie eine Untersuchung zu
führen haben, oder welche dienstlich ihrer Obhut anvertraut sind,
unzüchtige Handlungen vornehmen;
3. Beamte und andere Bedienstete, Aerzte und andere
Medicinalpersonen, welche in Gefängnissen, Zwangsarbeitshäusern
oder anderen Detentionsanstalten, oder in zur Pflege von Kranken,
Armen oder anderen Hilfslosen bestimmten Anstalten beschäftigt und
angestellt sind, wenn sie mit den in die Anstalt aufgenommenen
Personen unzüchtige Handlungen vornehmen.
§. 186. Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen
desselben Geschlechtes oder von Menschen mit Thieren begangen wird,
ist mit Gefängniss zu bestrafen.
§. 187. Mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter
6 Monaten wird bestraft, wer
1. eine Frauensperson, die sich im Zustande der Wehr- oder
Willenslosigkeit befindet, zum ausserehelichen Beischlafe
missbraucht; oder
2. mit Personen unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt, oder
dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet.
Ist durch die Handlung eine der in den §§. 231, Z. 1, und 232
bezeichneten Folgen[49] verursacht worden, so tritt Zuchthaus bis zu
10 Jahren, und wenn dadurch der Tod der Verletzten verursacht wurde,
Zuchthaus bis zu 15 Jahren ein.
§. 188. Mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder mit Gefängniss wird
bestraft, wer eine Person durch Gewalt oder durch Drohung mit
gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung unzüchtiger
Handlungen nöthigt, oder solche Handlungen an einer Person vornimmt,
welche sich in einem Zustande der Wehr- oder Willenslosigkeit
befindet.
Der zweite Absatz des §. 187 findet auch für diese Fälle Anwendung.
§. 189. Wegen Nothzucht wird mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder
mit Gefängniss nicht unter einem Jahre bestraft: wer durch Gewalt
oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben
eine Frauensperson zur Duldung des ausserehelichen Beischlafes
nöthigt, oder wer eine Frauensperson zum ausserehelichen Beischlafe
missbraucht, nachdem er sie zu diesem Zwecke in einen Zustand der
Wehr- und Willenslosigkeit versetzt hat.
Wird die Nothzucht an einer Frauensperson, welche mit ihrem Körper
unzüchtiges Gewerbe treibt, verübt, so tritt Gefängniss nicht unter
einem Jahre ein.
Ist durch die Handlung eine der in den §§. 231, Z. 1, und 232
bezeichneten Folgen oder der Tod der Verletzten verursacht worden, so
tritt Zuchthausstrafe bis zu 20 Jahren ein.
§. 190. Wer eine Frauensperson zur Gestattung des Beischlafes dadurch
verleitet, dass er eine Trauung vorspiegelt oder einen anderen
Irrthum in ihr erregt oder benutzt, in welchem sie den Beischlaf für
einen ehelichen hielt, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit
Gefängniss nicht unter 6 Monaten bestraft.
Die Bestrafung erfolgt nur auf Grund einer Privatanklage.
§. 192. Wer ein geschlechtlich unbescholtenes Mädchen, welches das
sechzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat, zum Beischlaf verführt,
wird mit Gefängniss bis zu einem Jahre bestraft. Die Bestrafung
erfolgt nur auf Privatanklage der Eltern oder des gesetzlichen
Vertreters der Verführten.
+Deutsches Strafgesetz+:
§. 173. Der Beischlaf zwischen Verwandten in auf- und absteigender
Linie wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren, an den
letzteren mit Gefängniss bis zu 2 Jahren bestraft.
Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie,
sowie zwischen Geschwistern wird mit Gefängniss bis zu 2 Jahren
bestraft.
§. 174. Mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren werden bestraft:
1. Vormünder u. s. f.
2. Beamte u. s. f.
3. Beamte, Aerzte oder andere Medicinalpersonen, welche in
Gefängnissen oder in öffentlichen, zur Pflege von Kranken, Armen oder
anderen Hilflosen bestimmten Anstalten beschäftigt oder angestellt
sind, wenn sie mit den in das Gefängniss oder in die Anstalt
aufgenommenen Personen unzüchtige Handlungen vornehmen.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht
unter 6 Monaten ein.
§. 175. Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen
männlichen Geschlechtes oder von Menschen mit Thieren begangen
wird, ist mit Gefängniss zu bestrafen; auch kann auf Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
§. 176. Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird bestraft, wer
1. mit Gewalt unzüchtige Handlungen an einer Frauensperson vornimmt
oder dieselbe durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder
Leben zur Duldung unzüchtiger Handlungen nöthigt;
2. eine in einem willenlosen oder bewusstlosen Zustande befindliche
oder geisteskranke Frauensperson zum ausserehelichen Beischlafe
missbraucht, oder
3. mit Personen unter 14 Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt, oder
dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnissstrafe nicht
unter 6 Monaten ein.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein, welcher jedoch, nachdem
die förmliche Anklage bei Gericht erhoben worden, nicht mehr
zurückgenommen werden kann.
§. 177. Mit Zuchthaus wird bestraft, wer durch Gewalt oder
durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben
eine Frauensperson zur Duldung des ausserehelichen Beischlafes
nöthigt, oder wer eine Frauensperson zum ausserehelichen Beischlaf
missbraucht, nachdem er sie zu diesem Zwecke in einen willenlosen
oder bewusstlosen Zustand versetzt hat.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnissstrafe nicht
unter einem Jahre ein.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein, welcher jedoch, nachdem
die förmliche Anklage bei Gericht erhoben worden, nicht mehr
zurückgenommen werden kann.
§. 178. Ist durch eine der in den §§. 176 bis 177 bezeichneten
Handlungen der Tod der verletzten Person verursacht worden, so
tritt Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliche
Zuchthausstrafe ein.
Eines Antrages auf Verfolgung bedarf es nicht.
§. 179. Wer eine Frauensperson zur Gestattung des Beischlafes dadurch
verleitet, dass er eine Trauung vorspiegelt, oder einen anderen
Irrthum in ihr erregt oder benutzt, in welchem sie den Beischlaf für
einen ehelichen hielt, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnissstrafe nicht
unter 6 Monaten ein. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.
§. 182. Wer ein unbescholtenes Mädchen, welches das sechzehnte
Lebensjahr nicht vollendet hat, zum Beischlafe verführt, wird mit
Gefängniss bis zu einem Jahre bestraft.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag der Eltern oder des Vormundes der
Verführten ein.
+Preuss. Gesetz+ vom 24. April 1854, §. 1. Eine Frauensperson,
welche 1. durch Nothzucht, 2. im bewusstlosen oder willenslosen
Zustande geschwängert worden, -- -- -- ist zu verlangen berechtigt,
dass ihr das im Allgemeinen Landrecht, Theil II, Tit. 1, §. 785,
vorgeschriebene höchste Maass der Abfindung zugesprochen werde.
* * * * *
Aus vorstehenden gesetzlichen Bestimmungen ergibt sich, dass sowohl
das gegenwärtig in Oesterreich geltende Strafgesetz als der österr.
Strafgesetzentwurf und das deutsche Strafgesetz nicht nur den
Beischlaf, sondern auch andere „unzüchtige Handlungen“ ahnden, wenn
sie unter bestimmten, im Gesetze ausdrücklich angegebenen Umständen
ausgeübt worden sind; dass ferner diese Gesetze je nach den Umständen,
unter welchen der Beischlaf oder die unzüchtigen Handlungen verübt
wurden, die That verschieden qualificiren, beziehungsweise mit niederen
oder höheren Strafen belegen, und dass bei einzelnen dieser Delicte
die Höhe der auszumessenden Strafe auch abhängig gemacht wird von den
Folgen, welche eventuell durch die betreffende Handlung veranlasst
worden sind.
Aus diesen Verhältnissen ergeben sich die dem Gerichtsarzte in solchen
Fällen zufallenden Aufgaben von selbst. Er hat, so weit dies durch
ärztliche Untersuchung möglich, zu constatiren:
1. ob ein Beischlaf oder eine andere unzüchtige Handlung stattgefunden;
2. ob der Beischlaf oder eine andere unzüchtige Handlung unter
Umständen stattfand, unter welchen solche Acte als gesetzwidrige
betrachtet werden; und
3. ob und welche Folgen durch eine derartige Handlung etwa verursacht
worden sind.
Es empfiehlt sich, die wegen gesetzwidrigen Beischlafes sich
ergebenden gerichtsärztlichen Untersuchungen als die häufigeren und
vieles Specifische darbietenden, von denen wegen anderer unzüchtiger
Handlungen getrennt zu behandeln, um so mehr, als die Besprechung
letzterer dann kürzer gefasst werden kann.
Vom gesetzwidrigen Beischlafe.
Das gegenwärtige österr. Strafgesetz unterscheidet folgende als
Verbrechen zu strafende Formen des gesetzwidrigen Beischlafes: die
Nothzucht, die Blutschande, die Verführung und die Kuppelei. Im Entwurf
des neuen Strafgesetzes findet sich der Ausdruck Blutschande in fast
unveränderter Bedeutung wieder, während der strafrechtliche Begriff der
Nothzucht insoferne eingeengt erscheint, als unter demselben nur der
mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung erzwungene aussereheliche
Beischlaf, sowie derjenige subsumirt wird, welcher an einer
Frauensperson verübt wurde, die vom Thäter zu diesem Zweck in einen
Zustand der Wehr- oder Willenslosigkeit versetzt worden ist.
Das deutsche Strafgesetz gebraucht keinen der erwähntes Ausdrücke mehr,
obgleich es schwer halten dürfte, dieselben in der Praxis zu umgehen.
Diese Aenderungen sind für die gerichtsärztliche Beurtheilung der
betreffenden Fälle ohne alle Bedeutung, da es niemals die Aufgabe
des Gerichtsarztes war, noch ist, einen Beischlafsact im Sinne des
Strafgesetzes zu qualificiren, sondern nur mit seinem ärztlichen Wissen
zur Sicherstellung des betreffenden Thatbestandes mitzuwirken.
In vielen Fällen ist mit dem Nachweis eines stattgehabten Beischlafes
die Aufgabe des Gerichtsarztes beendet; in anderen kommt ihm zu, die
Umstände, unter welchen der Beischlaf ausgeübt wurde, zu untersuchen
und zu begutachten, und in wieder anderen ausserdem die aus dem Acte
etwa entstandenen Folgen zu beurtheilen.
1. +Die Diagnose des stattgehabten Beischlafes.+
Zum physiologischen Begriffe des Beischlafes gehört die Immissio penis
und die Immissio seminis. Es ist jedoch selbstverständlich, dass
im strafrechtlichen Sinne schon die Immissio penis genügt, um den
Thatbestand des Beischlafes zu ergeben.
Allerdings ist von älteren Criminalisten die Immissio seminis als
nothwendig zur vollendeten Nothzucht betrachtet worden, zur Zeit
der Geltung der peinlichen Halsgerichtsordnung Carl V., vielleicht
nur deshalb, um so selten als möglich die auf Nothzucht gesetzte
Todesstrafe eintreten zu lassen[50], und auch +Feuerbach+ hat
diese Ansicht vertreten.[51] Neuere Juristen jedoch halten schon den
Nachweis der erfolgten Vereinigung der Genitalien für genügend, und
das englische Gesetz[52] verlangt ausdrücklich in solchen Fällen nur
den Nachweis der stattgehabten Immissio penis (Penetration), nicht
aber jenen der Immissio seminis. In gleicher Weise hat sich bezüglich
des Thatbestandes des Beischlafes das preussische Obertribunal in
einer Entscheidung vom 3. März 1869 und das deutsche Reichsgericht
mit 17. März 1881[53] geäussert.
In der That liegt es auf der Hand, dass, wenn man bei der
strafrechtlichen Verfolgung des gesetzwidrigen Beischlafes auf der
Forderung eines vollendeten, d. h. bis zur Ejaculatio in vaginam
gelangten Beischlafes bestehen wollte, nicht blos die Sicherstellung
des Thatbestandes in überflüssiger Weise erschwert, sondern auch der
schmählichsten Umgehung des Gesetzes Thür und Thor geöffnet werden
möchte. Es ist auch gewiss weniger die Gefahr der Conception, als der
Schutz der Geschlechtsehre, wodurch die Gesetzgeber bestimmt wurden,
den erzwungenen Beischlaf als Verbrechen zu bestrafen, und es geht
dies schon daraus hervor, dass der Beischlaf auch dann als Verbrechen
qualificirt wird, wenn er, wie dies z. B. in der Regel bei der
Nothzucht mit Mädchen unter 14 Jahren der Fall ist, unter Umständen
verübt wurde, welche die Gefahr einer Schwängerung vollkommen
ausschliessen.
Der Thatsache, dass trotz stattgehabter Vereinigung der Genitalien
eine vollständige Immission des Gliedes verhindert worden sein
konnte, z. B. durch ein festes Hymen oder, wie bei Kindern,
durch unverhältnissmässige Enge der weiblichen Genitalien, trägt
das gegenwärtige österr. Strafgesetz dadurch Rechnung, dass es,
wenigstens im §. 127, nicht einen vollendeten, sondern nur einen
„unternommenen“ Beischlaf fordert, und der österr. Entwurf, sowie
das deutsche Strafgesetz dadurch, dass in den auf geschlechtlichen
Missbrauch von Kindern sich beziehenden Paragraphen (§. 187, 2.
österr. Entwurf, §. 176, 3. deutsches Strafgesetz) der Ausdruck
„Beischlaf“ nicht mehr vorkommt, sondern unter den Begriff der
„unzüchtigen Handlungen“ überhaupt subsumirt und mit gleicher Strafe
belegt wird.
Wenn wir nun auch diese Bemerkungen vorausschicken und sie der
Berücksichtigung empfehlen, so werden wir doch bei der Besprechung
der Diagnose eines stattgehabten Beischlafes den vollendeten Coitus
in erster Linie in Betracht ziehen, wobei wir selbstverständlich nur
das weibliche Individuum im Auge behalten, da die Untersuchung des
Mannes, wenn nicht etwa eine specifische Affection vorliegt, wohl nur
ganz ausnahmsweise irgend ein für die vorliegende Frage verwerthbares
Ergebniss liefern wird.
Es sind im Allgemeinen drei Anhaltspunkte, welche behufs einer solchen
Diagnose herangezogen werden können:
_a_) Die Veränderung der anatomischen Verhältnisse der Genitalien
durch den (ersten) Coitus.
_b_) Der Nachweis einer stattgehabten Ejaculation von Sperma an
den weiblichen Genitalien selbst, oder in ihrer Nähe.
_c_) Die etwaige virulente Affection.
A. Anatomische Veränderungen.
Diese lassen sich begreiflicherweise an den weiblichen Genitalien in
der Regel nur dann erwarten, wenn der betreffende Coitus an einem bis
dahin jungfräulichen Individuum verübt wurde, d. h. mit Defloration
verbunden war. War dies nicht der Fall, so dürften wohl nur unter ganz
besonderen Umständen durch den Coitus selbst Veränderungen zu Stande
kommen, und ihre Entstehung wird desto weniger leicht möglich, je mehr
die weiblichen Genitalien durch vorausgegangene Cohabitationen oder gar
Geburten erweitert worden sind.
In der bei weitem grössten Zahl der zur forensischen Untersuchung
gelangenden Fälle sind es angeblich bis dahin geschlechtlich unberührt
gewesene weibliche Individuen, von denen behauptet wird, dass sie in
gesetzwidriger Weise gebraucht worden seien, und es wird sich unter
diesen Umständen zunächst darum handeln, zu untersuchen, ob die
Genitalien des betreffenden Mädchens noch jene Eigenschaften darbieten,
wie sie dem jungfräulichen Status zukommen, oder ob sie Veränderungen
zeigen, die auf bereits stattgehabte Defloration schliessen lassen.
[Sidenote: Signa virginitatis.]
Als Zeichen noch jungfräulicher Genitalien werden angegeben: pralle,
einander eng anliegende grosse Schamlippen, durch letztere bedeckte
rosenrothe Nymphen, enges Vestibulum, unverletzter Hymen und enge,
stark gerunzelte Vagina.
Das Zusammentreffen aller dieser Befunde berechtigt allerdings in der
überwiegenden Anzahl der Fälle zur Annahme, dass die betreffenden
Genitalien sich noch im jungfräulichen Zustande befinden, doch ist
bezüglich der einzelnen Befunde Folgendes zu bemerken:
[Sidenote: Verhalten der Schamlippen.]
Die pralle und feste Beschaffenheit der +grossen Schamlippen+ wird
nur durch eine genügende Unterpolsterung derselben mit Fett bedingt,
sie kann demnach bei entschieden jungfräulichen Individuen fehlen,
wenn diese von Haus aus mager oder durch Krankheiten in der Ernährung
herabgekommen sind; sie kann aber auch bei Individuen vorkommen, die
selbst wiederholt den Coitus zugelassen haben, wenn sie im guten
Ernährungszustande sich befinden. Im Allgemeinen ist die pralle und
feste Beschaffenheit der Labien als Jugendzustand aufzufassen und als
Theilerscheinung der im jugendlichen Alter bestehenden Turgescenz der
Gewebe, sowie der Geneigtheit zur Bildung körnigen und festen Fettes
im Unterhautzellgewebe. Sie geht daher im vorgerückteren Alter in
dem Masse verloren, in welchem der Ernährungszustand abnimmt, die
Faser erschlafft und das Fett aus dem Unterhautzellgewebe entweder
verschwindet oder seine feste körnige Beschaffenheit verliert.
Von eben diesen Verhältnissen hängt es auch ab, ob die Labien mehr oder
weniger einander anliegen und so die Schamspalte mehr oder weniger
vollständig schliessen, und es ist daher begreiflich, dass dieser
Befund bei entschiedenen Jungfrauen fehlen und ebenso bei entjungferten
Personen vorhanden sein kann.
Ueberdies ist zu bemerken, dass auch bei jungfräulichen und pralle,
anliegende Labien besitzenden Individuen die letzteren auseinander
weichen, wenn die Oberschenkel weit auseinander gezogen werden, und
dass daher das Kriterium des Anliegens der Labien eigentlich nur bei
mässiger Abduction der Oberschenkel gelten kann.
Das Bedecktsein der +Nymphen+ von den grossen Schamlippen oder
das Prominiren derselben zwischen letzteren ist in vielen Fällen auch
nur durch den Zustand der grossen Labien bedingt. Ebenso, wie wir bei
frühzeitig geborenen Früchten die Nymphen vorstehend finden, weil die
Haut überhaupt und jene der Labien insbesondere noch nicht in jenem
Grade mit Fett unterpolstert ist wie bei ausgetragenen Kindern, ebenso
und aus gleichem Grunde sehen wir manchmal auch bei älteren, aber
abgemagerten Mädchen die Nymphen unvollständig von den Labien bedeckt,
selbst wenn der jungfräuliche Zustand nicht in Zweifel gezogen werden
kann. Da aber die Nymphen nur so lange den Charakter einer Schleimhaut
bewahren, als sie durch die sie bedeckenden Labien vor der Einwirkung
der Luft geschützt und feucht erhalten werden, so können sich bei
entschieden jungfräulichen Individuen mehr weniger braun verfärbte
und trockenen, epidermisartigen Ueberzug zeigende Nymphen finden, ein
Befund, der bei alten, insbesondere in der Ernährung herabgekommenen
Jungfrauen verhältnissmässig häufig ist, wobei allerdings die mit dem
Alter sich vollziehende Erschlaffung und daher Verlängerung dieser
Schleimhautduplicaturen auch in Betracht gezogen werden muss. Auch
durch wiederholtes Zupfen und Ziehen an den Labien, also durch Onanie,
können die Labien verlängert werden.
Anderseits aber ist die Angabe irrig, dass bei Individuen, die den
Coitus zugelassen haben, die kleinen Labien gewöhnlich prominiren,
eine welke Beschaffenheit erhalten u. dergl. Dies ist allerdings
häufig der Fall; Jeder aber, der eine grössere Anzahl von deflorirten
Personen zu untersuchen Gelegenheit hat, wird sich überzeugen können,
dass bei diesen die Nymphen häufig von den Labien bedeckt sind und
jene Beschaffenheit zeigen, wie sie eine der Luft nicht ausgesetzte
Schleimhaut darbietet, und dass man dieses Verhalten auch bei
Prostituirten und selbst bei Personen, die geboren haben, finden kann.
Das individuelle Verhalten der Nymphen ist daher ein verschiedenes,
und mit dieser Thatsache stimmt auch die Beobachtung überein, dass
unter sonst gleichen Verhältnissen die Höhe der die Nymphen bildenden
Schleimhautfalte sehr variirt und dass namentlich die Fälle nicht
selten sind, wo die Nymphen einen ganz niedrigen Saum bilden, der auch
trotz wiederholt geübtem Coitus und trotz stattgehabter Entbindung
niedrig bleibt. Auch bezüglich der Pigmentirung herrschen vielfache
individuelle Verschiedenheiten.
[Sidenote: Hymen.]
Das Vorhandensein des unverletzten +Hymen+ wurde seit jeher für
das wichtigste Kennzeichen noch bestehender Jungfräulichkeit gehalten,
und es ist nicht zu leugnen, dass das Verhalten dieses Gebildes für
die Beantwortung der Frage, ob eine Defloration bereits stattgefunden
habe oder nicht, die hauptsächlichsten Anhaltspunkte gewährt, bei
deren Verwerthung es jedoch zunächst angezeigt ist, sich von jenen
schablonenhaften Anschauungen frei zu machen, die bezüglich des
Verhaltens des Hymen überhaupt und beim ersten Coitus insbesondere noch
immer gang und gäbe sind.
Es gibt keine irrigere Anschauung als die, dass der Hymen im
Allgemeinen so ziemlich immer die gleiche Beschaffenheit zeige und
dass daher sein Verhalten beim ersten Beischlafe ebenfalls sich in der
Regel gleich gestalte. Zunächst überzeugt sich Jeder, der das Verhalten
des Hymen systematisch untersucht -- und bei Kindern ist solches
verhältnissmässig leicht durchführbar -- dass letzterer sowohl in der
Form als in seinen sonstigen Eigenschaften vielfach variirt.
[Sidenote: Form und Grösse der Hymenöffnung.]
Im Allgemeinen kann man den ringförmigen Hymen als die Grundform
ansehen, aus welcher sich die übrigen construiren lassen. In seiner
typischen Erscheinung stellt derselbe eine am Ostium vaginae ringförmig
vorspringende Schleimhautfalte dar, welche überall gleich breit eine
runde centrale Oeffnung umschliesst. Eine solche vollkommene Ringform
des Hymen ist sehr selten (Fig. 9), in der Regel liegt die Oeffnung
excentrisch (Fig. 10), und zwar immer der oberen Peripherie des
Scheideneinganges näher als der unteren. Ein umgekehrtes Verhalten
haben wir bis jetzt noch niemals beobachtet. Durch diese excentrische
Lage der Oeffnung ist bereits der Uebergang zum halbmondförmigen
Hymen (Fig. 11) gegeben, welches in seiner vollkommenen Ausbildung
sich als eine halbmondförmig von der unteren Peripherie des Introitus
sich abhebende Falte darstellt, deren beide Enden, sich allmälig
verschmälernd, oben nicht zusammenstossen, sondern mehr weniger weit
von einander entfernt bleiben. Zwischen diesen zwei Hauptformen gibt es
eine Menge Uebergänge, die theils durch die Grösse der Hymenalöffnung,
theils durch ihre Form bedingt werden. -- Erstere variirt ungemein.
Mitunter findet man Oeffnungen, die kaum für eine Sonde durchgängig
sind, so dass nicht viel fehlt zur vollständigen Atresie. In anderen
extremen Fällen ist die Oeffnung wieder so gross, dass man schon bei
ganz kleinen Kindern mit der Spitze des kleinen Fingers in die Scheide
eindringen kann, ohne den Hymen zu zerreissen, welcher dann nur einen
niedrigen Saum bildet, der halbmondförmig oder ringförmig von der
Peripherie des Scheideneinganges sich abhebt.
[Illustration: Fig. 9.
Ringförmiger Hymen.]
[Illustration: Fig. 10.
Ringförmiger Hymen.]
Die Form des Foramen hymenaeum ist nicht immer rundlich, sondern häufig
oval, und dann fast ausnahmslos im sagittalen Durchmesser länger als
im queren, ausserdem nicht selten durch lappenförmiges Vorstehen der
einen oder der anderen Randpartie asymmetrisch. Prävalirt der sagittale
Durchmesser bedeutend über den queren, so dass der obere und untere
Theil des Hymen nur einen schmalen Saum bildet, während die seitlichen
Theile verhältnissmässig breite Lappen darstellen, dann heisst ein
solcher Hymen ein lippenförmiger Hymen, H. labiiformis, welcher, wenn
der obere Saum ganz fehlt und der untere nur angedeutet ist (vollkommen
fehlt letzterer nie), sich beim Auseinanderziehen der Vulva gleichsam
wie ein drittes Paar Schamlippen präsentiren kann.
[Sidenote: Angeborene Kerben an Hymen.]
Ausserdem ist von wesentlichem Einfluss auf die Gestalt der
Hymenöffnung die Beschaffenheit der sie begrenzenden Ränder, und diese
bietet grosse Verschiedenheiten. Bei einer grossen Zahl von Fällen
stellt allerdings der freie Hymenrand, wenn der Hymen gespannt wird,
eine kreisförmige oder elliptische oder halbmondförmige Linie dar; in
einer mindestens ebenso grossen Zahl der Fälle ist aber dieser Rand
eingekerbt oder mehr weniger ausgezackt, eine Thatsache, die forensisch
besonders wichtig ist, da solche von ursprünglicher Bildung herrührende
Einkerbungen und Zacken für traumatische Producte genommen werden
können.
[Illustration: Fig. 11.
Halbmondförmiger Hymen.]
[Illustration: Fig. 12.
Ringförmiger Hymen mit angeborenen symmetrischen Kerben.]
Blosse Einkerbungen des freien Hymenrandes kommen häufig vor, meist an
der oberen Hälfte des Hymen, seltener an der unteren (Fig. 12). Durch
eine grosse Zahl von an Kindesleichen gemachten Beobachtungen haben
wir uns überzeugt, dass insbesondere jene Stelle des Hymen, an welcher
das mittlere Drittel desselben in das obere übergeht, sehr gewöhnlich
den Sitz von angeborenen Einkerbungen bildet, und dass diese dann in
den meisten Fällen, indem an jeder Seite eine Kerbe sich befindet,
symmetrisch gestellt sind. Diese Lage und Stellung der angeborenen
Kerben wird daher bei der Unterscheidung derselben von verheilten
Einrissen zu beachten sein. Die Tiefe solcher Kerben ist verschieden.
Mitunter betreffen sie blos den freien Rand des Hymen, sie können
jedoch, und zwar nicht selten, die ganze Breite desselben bis zur
Insertionsstelle einnehmen, in welchem Falle wir dann eine häufige
Form, den sogenannten gelappten Hymen, vor uns haben, welche meist
darin besteht, dass die oberen Drittel des Hymen beiderseits gesonderte
Lappen darstellen. Wenn zugleich die untere und obere mittlere
Peripherie des Hymen nur einen niedrigen Saum bildet, oder mit anderen
Worten, wenn so tiefe Einkerbungen an einem lippenförmigen Hymen sich
finden, dann sehen wir letzteren aus vier abgerundeten Lappen bestehen,
welche symmetrisch angeordnet sind und von denen die unteren fast immer
grösser sind als die oberen.
[Illustration: Fig. 13.
Hymen fimbriatus.]
[Illustration: Fig. 14.
Deflorirter Hymen fimbriatus.]
[Sidenote: Angeborene Einkerbungen und Fimbrienbildung am Hymen.]
Abgesehen von solchen grösseren Einkerbungen findet sich der freie
Hymenrand nicht selten in seiner ganzen Ausdehnung gleichmässig fein
gekerbt und in einzelnen Fällen wie mit stärkeren, jedoch weichen,
meist kurzen Wimpern besetzt -- Hymen fimbriatus. Letztere Hymenform
hat +Luschka+[54] zuerst beschrieben und abgebildet (Fig. 13).
Einen ebenso schönen Fall aus unserer Sammlung zeigt Fig. 14, der
dadurch noch interessanter ist, dass er von einer jungen Frau stammt,
die zwei Tage nach der Brautnacht an Ulcus ventriculi perforans
gestorben war. Die Fimbrienbildung ist hier besonders ausgezeichnet,
und in der linken Hälfte der unteren Peripherie findet sich ein
seichter Einriss. Geringere Grade von Fimbrienbildung am Hymenrande
sind häufig (v. Fig. 10), und wir haben uns überzeugt, dass eine
derartig gewimperte und auch die gleichmässig gekerbte Beschaffenheit
des Hymenrandes vorzugsweise am gelappten Hymen sich findet, wodurch
dieses, wie +Luschka+ richtig bemerkt, eine gewisse Aehnlichkeit
mit einer Blumenkorolle erhält.
[Illustration: Fig. 15.
Ringförmiger Hymen septus.]
[Sidenote: Hymen lobatus.]
In einzelnen Fällen findet man eine noch complicirtere Lappung,
die dadurch gebildet wird, dass gewisse, und zwar fast ausnahmslos
die oberen Partien der Scheidenklappe aus mehreren hintereinander
liegenden, manchmal vollkommen getrennten, häufiger stellenweise mit
einander verwachsenen und dann taschenartige Einstülpungen bildenden
Blättern bestehen, von denen die hinteren sich mitunter deutlich als
lappenförmige Ausbreitungen der Längsrunzeln der Vagina erkennen lassen.
Dabei sieht man dann häufig auch ein System von Läppchen im Kreise um
die Harnröhrenmündung angeordnet, ebenfalls eine Art kleiner Korolle
bildend, wie dies auch bei den hier abgebildeten Beispielen von Hymen
fimbriatus der Fall ist.
[Illustration: Fig. 16.
Halbmondförmiger Hymen septus.]
[Illustration: Fig. 17.
Ringförmiger sehr fester Hymen mit schief verlaufendem Septum.]
[Illustration: Fig. 18.
Hymen septus mit ungleichen Oeffnungen.]
[Illustration: Fig. 19.
Hymen septus mit ungleich grossen Oeffnungen.]
[Sidenote: Hymen septus. Hymen partim septus.]
Eine eigenthümliche und interessante Form des Hymen ist jene, die
wir schon vor mehreren Jahren als überbrückten Hymen beschrieben
haben.[55] Sie entspricht dem Foramen hymenaeum bipartitum älterer
Autoren und besteht darin, dass ein Band von derselben Structur wie die
Scheidenklappe sich über die Oeffnung derselben, und zwar fast immer in
sagittaler, nur ausnahmsweise in etwas schiefer Richtung, hinwegspannt,
und auf diese Weise dieselbe in zwei seitliche abtheilt (Fig. 15,
16 und 17). Diese Hymenform (Hymen septus) ist keineswegs selten.
Wir hatten sie, als wir unseren Aufsatz schrieben, bereits fünfmal
beobachtet und seitdem sowohl an Lebenden als an Leichen wiederholt
gefunden. Ausserdem ist dieselbe seitdem auch von anderen Beobachtern,
so von H. +Paschkis+, +Delens+, +Heitzmann+, +Dohrn+ und +Fehling+,
gesehen und beschrieben worden. Wir haben dieses Band als den unteren
Saum des in frühen Perioden der embryonalen Entwicklung bestehenden,
den Genitalcanal in zwei Hälften theilenden Septums gedeutet, somit
als den niedrigsten Grad jener Hemmungsbildung, welche in den höheren
Graden als Uterus septus und vagina septa erscheint. Wir wurden in
dieser Anschauung bestärkt durch mehrmals beobachtete Fälle, in welchen
sich die Hymenbrücke thatsächlich in ein in die Vagina aufsteigendes
kurzes und in einem Falle sogar in ein die ganze Länge des
Genitalschlauches durchsetzendes Septum fortsetzte, sowie dadurch, dass
wir zweimal ein solches Hymen bei Uterus unicornis fanden; da jedoch
einzelne Autoren, wie +Schröder+[56] und insbesondere +Dohrn+[57],
das Hymen als eine erst später (in der 19. Woche) sich bildende Klappe
auffassen, so wäre es möglich, dass der Entstehung dieser Hymenform
weniger eine Bildungshemmung, als vielmehr eine excessive Entwicklung
der Hymenanlage zu Grunde liegen könnte.
[Illustration: Fig. 20.
Hymen mit unterem Septumrudiment.]
[Illustration: Fig. 21.
Hymen mit unterem Septumrudiment.]
[Illustration: Fig. 22.
Gelappter Hymen mit unterem Septumrudiment.]
[Illustration: Fig. 23.
Hymen mit oberem Septumrudiment.]
Eine derartige Brücke kann bei allen Hymenformen vorkommen, und
die Grösse der seitlichen Hymenöffnungen kann sich verschieden
gestalten. Sind dieselben sehr klein, so bilden sie den Uebergang
zur vollständigen Atresie des Hymen, doch können bei dieser die
betreffenden Oeffnungen noch durch stärker vorgetriebene und dünnere
Stellen angedeutet sein, wie +Patin+ (Schmidt’s Jahrb. 1858, Bd. 100,
pag. 308) einen solchen Fall beschreibt und +Dohrn+ (l. c.) einen
abbildet. Auch ist es möglich, dass bei einer derartigen Brückenbildung
die eine Oeffnung mehr weniger klein ist als die andere (Fig. 18 und
19), oder dass nur die eine seitliche Oeffnung ausgebildet, die andere
aber verwachsen ist, woraus sich die manchmal zu beobachtende seitlich
excentrische Lage des Foramen hymenaeum erklärt.
[Illustration: Fig. 24.
Hymen mit oberem stachelartig vorragendem Septumrudiment.]
[Illustration: Fig. 25.
Hymen mit oberem und unterem Septumrudiment.]
Auch niedere Grade einer solchen Ueberbrückung der Hymenöffnung kommen
zur Beobachtung. So haben wir mehrmals Fälle gefunden und in unserem
Museum aufgestellt, bei welchen entweder von dem unteren (Fig. 20,
21 und 22) oder vom oberen (Fig. 23 und 24) Hymensaum zapfenartige
Fortsätze in das Lumen der Hymenöffnung hineinragten[58], während in
anderen sowohl von der oberen als von der unteren Hymenperipherie
ein solcher Zapfen abging (Fig. 25). Den Uebergang zu letzterer
Hymenform bilden die Fälle, wo das Septum zwar vollständig, aber in
der Mitte sanduhrförmig verdünnt ist. In einem unserer Präparate
ragt von oben und von unten ein konischer Zapfen in das Lumen der
Hymenöffnung und die Spitzen beider sind durch einen dünnen Faden
verbunden. Dass solche Rudimente eines Hymenseptums mitunter zu langen
polypenartigen Bildungen auswachsen können, zeigt Fig. 26, welche wir
einer interessanten russischen Arbeit über die Hymenformen von L.
+Mierzejewski+[59] entnehmen.
Noch niedere Reste der Brücke finden sich an den meisten
Scheidenklappen und wir betrachten als solche einen dreieckigen mit der
Basis von der hinteren Columna rugarum des Scheideneinganges abgehenden
Pfeiler, welcher, mit der hinteren Wand des unteren Hymentheiles
verwachsen, letzterem gleichsam als Stütze dient. Nicht selten gabelt
sich die Columna rugarum an ihrem untersten Ende und gibt dann zwei,
unter einem spitzen Winkel abgehende Pfeiler an die Hinterfläche des
Hymen ab.
[Illustration: Fig. 26.
Hymen mit fadenförmigem, von dem oberen Rand ausgehendem Fortsatz.]
[Illustration: Fig. 27.
Hymen mit rareficirten symmetrisch gelegenen Stellen, wovon die linke
durchbrochen.]
[Sidenote: Resistenzfähigkeit des Hymen. Hymen cribriformis.]
[Sidenote: Mehrfache Oeffnungen.]
Das bisher Gesagte bezieht sich blos auf das verschiedene Verhalten
der Form der Scheidenklappe. Aber auch in anderen Beziehungen kommen
vielfache Varietäten vor. So zunächst bezüglich der Festigkeit und
daher Resistenzfähigkeit der betreffenden Schleimhautfalte. In
einzelnen Fällen kommen ungewöhnlich feste, fleischige und selbst
sehnige (+Velpeau+) Hymen vor, und diese sind es, welche schon öfters
operative Eingriffe nothwendig machten, damit die Begattung und
selbst die Geburt erfolgen konnte. Fig. 17 gibt ein Beispiel eines
solchen theils durch die fleischige Substanz, theils durch das fast
sehnige kurze und dicke Septum ungewöhnlich festen Hymens. In anderen
Fällen wieder ist der Hymen sehr dünn, selbst durchscheinend. Diese
Rarefaction kann bis zur Lückenbildung sich steigern, wodurch dann der
von älteren Autoren, +Picolhominus+, +Berengar+ carpensis, +Riolan+
und auch von +Velpeau+ (Gaz. des hôp. 31, 1851) vielfach erwähnte
„siebförmige“ Hymen (H. cribriformis) zu Stande kommt. Wir selbst haben
ein eigentliches „siebförmiges“ Hymen bis jetzt noch nicht gesehen,
dagegen ein solches, bei welchem an einem halbmondförmigen Hymen ausser
der gewöhnlichen Oeffnung noch eine andere in der linken Hälfte
des betreffenden Halbmondes sich fand, die, wie die durchscheinende
Beschaffenheit der Randpartien derselben, sowie eine auffallend
verdünnte, ebenso grosse Stelle in der anderen Hälfte des Halbmondes
erkennen liess, offenbar durch Rarefaction zu Stande gekommen war (Fig.
27). Wäre ein solcher Vorgang auch auf der anderen Seite erfolgt, so
würde sich ein Hymen mit drei Oeffnungen ergeben haben, wie +Delens+
(l. c., ebenso bei +Tardieu+: Attent. aux moeurs, 1878) thatsächlich
einen solchen abbildet. Auch in unserer Sammlung befindet sich ein
von einem Säugling stammender Hymen mit drei Oeffnungen (Fig. 28),
doch ist derselbe kein rareficirter, sondern ein sehr fester. Die
Oeffnungen führen sämmtlich in blinde Taschen, während die Vagina
darüber vollkommen fehlt, statt welcher sich ein dünner, zum Uterus
hinaufziehender ganz solider Strang findet.
[Illustration: Fig. 28.
Hymen mit drei Oeffnungen bei Defect der Vagina. Bl Blase. Ut Uterus. V
St Obliterirte Vagina.]
[Sidenote: Dehnbarkeit des Hymen.]
Die Dehnbarkeit der Scheidenklappe ist von dem Baue derselben abhängig.
Die sehnenförmigen sind nicht dehnbar, dafür sehr widerstandsfähig;
die sehr dünnen, zartwandigen reissen sehr leicht, dagegen ist der
gewöhnlich vorkommende, nicht eine einfache Schleimhautduplicatur
darstellende, sondern auch eine bindegewebige und selbst musculöse
Structur besitzende Hymen (+Velpeau+, +Luschka+, +Dohrn+) sehr dehnbar,
wovon man sich sowohl an der Leiche als am Lebenden oft genug zu
überzeugen in der Lage ist, da man, wenn die Hymenöffnung nicht sehr
klein ist, mit einiger Vorsicht nicht blos mit dem Finger, sondern
manchmal selbst mit einem dünnen Speculum in die Scheide gelangen kann,
ohne den Hymen zu verletzen.
[Sidenote: Zusammenlegung des Hymen.]
Wenig beachtet wird die Thatsache, dass der Hymen, wenn die Organe
sich in ihrem normalen Situs befinden, niemals eine straffgespannte
Membran bildet, sondern, da die Vagina kein starres Rohr darstellt,
entsprechend den gegebenen beengten Raumverhältnissen, zusammengelegt
sein muss. Diese Zusammenlegung geschieht einestheils in der Richtung
der Raphe perinaei, indem die beiden seitlichen Hymenhälften
entsprechend der Verlängerung dieser sich in eine vorspringende Falte
legen, andererseits indem der so zusammengelegte Hymen einen Conus
bildet, dessen abgestumpfte Spitze gegen den Scheidenausgang gerichtet
ist.
Erstere Faltung zeigt sich am schönsten beim halbmondförmigen
Hymen, welches nach leichtem Auseinanderziehen der Schamlippen
schiffskielförmig oder wie das „Schiffchen“ einer Schmetterlingsblüthe
hervortritt, wobei man bemerkt, dass, wenn man auch den Hymen
anspannt, doch noch in der Regel eine Art Raphe entsprechend der
früher bestandenen Falte zurückbleibt, welche wie eine Verlängerung
der Raphe perinaei erscheint. Eine solche Raphe findet sich, wie auch
an einzelnen der hier abgebildeten Hymen zu erkennen, an den meisten
Hymenformen und ihr entspricht auch häufig eine Verdickung der Substanz
der Scheidenklappe, die sich in den oben erwähnten Stützpfeiler an der
hinteren Fläche derselben fortsetzt.
Am ringförmigen Hymen tritt wieder die Conusbildung deutlicher hervor,
wobei der Hymen wie ein Hühnersteiss (cul de poule, +Tardieu+)
sich präsentirt, weshalb Einzelne auch von einem „bürzelförmigen“
Hymen sprechen (+Schröder+). Dabei ist entsprechend der äusseren
Fläche des Conus eine Zahl von Längsfalten bemerkbar, die, wenn sie
nicht durch Spannung ausgeglichen werden, dem freien Hymenrande eine
eingekerbte Beschaffenheit verleihen können (Fig. 29).
Beim gelappten Hymen erfolgt die Zusammenfaltung ausserdem in der
Art, dass sich die einzelnen Lappen theilweise dachziegelförmig über
einander legen, wie auch +Liman+ erwähnt.
[Illustration: Fig. 29.
Bürzelförmig zusammengelegter Hymen.]
Sowohl die seitliche Zusammenlegung als die Conusbildung wird bei
geschlechtsreifen Mädchen in der Regel schon durch geringe Anspannung
des Introitus vaginae ausgeglichen und der Hymen bildet dann in der
That meistens eine quer über den Introitus vaginae hinweggespannte
Membran. Bei kleinen Kindern gelingt das Anspannen der Scheidenklappe
nicht immer so leicht und so vollständig, aus dem Grunde, weil
der Hymen häufig verhältnissmässig zum Scheideneingange grössere
Dimensionen besitzt als bei Erwachsenen. Daher kommt es, dass man
namentlich bei Säuglingen mitunter Hymen begegnet, welche einen so
langen Conus darstellen, dass, wie wir wiederholt sahen, die Spitze
desselben aus der Schamspalte etwas hervorragt. Diese Thatsache ist von
+Tardieu+, +Scrzeczka+ u. A. hervorgehoben worden, und es wurde deshalb
der sogenannte „bürzelförmige Hymen“ als die kindliche Form des Hymen
überhaupt bezeichnet. Letztere Anschauung ist aber insofern nicht
ganz richtig, als, wie oben erwähnt, eine Conusbildung auch den Hymen
geschlechtsreifer Mädchen mehr weniger zukommt und als auch bei diesen
manchmal der Conus verhältnissmässig länger ist als in der Regel, und
weil das erwähnte Verhalten auch bei kleinen Kindern keineswegs ganz
constant vorkommt, sondern nur häufiger als bei Erwachsenen.
[Sidenote: Trotz Coitus erhaltener Hymen.]
Der Befund eines vollkommen unverletzten Hymens ist allerdings eines
der werthvollsten Zeichen noch bestehender Virginität, keineswegs
jedoch ein absolutes.
Zunächst kann der Hymen trotz stattgefundenem Coitus intact bleiben,
wenn bei diesem Acte das erigirte Glied gar nicht in die Vagina
eindrang, sondern die geschlechtliche Befriedigung nur im Vestibulum
erfolgte. Dies kann einestheils geschehen, wenn die Festigkeit des
Hymen eine Penetration des Penis nicht gestattete, wie dies ja auch
bei verheirateten Frauen und trotz wiederholtem Beischlaf gefunden
wurde; oder weil, wie z. B. ganz gewöhnlich bei kleinen Kindern,
wegen unverhältnissmässiger Enge der noch unentwickelten Genitalien
eine Einbringung des Gliedes in die Scheide gar nicht möglich war, so
dass sich der Act nur in der Vulva abspielte, wobei der Hymen nicht
zerrissen, sondern höchstens nach einwärts gestülpt wurde. Dieser
Umstand erklärt es, warum in den meisten Nothzuchtsfällen, die Kinder
betreffen, der Hymen unverletzt gefunden wird.
In einer weiteren Kategorie von Fällen kann sich jedoch die
Scheidenklappe vollkommen unverletzt finden, obzwar ein vollständiger,
d. h. mit Penetration in die Scheide verbundener Coitus stattgefunden
hatte. Ob dieses möglich, wird theils von den allgemeinen
Raumverhältnissen der betreffenden weiblichen Genitalien, theils
und zwar vorzugsweise, von der ursprünglichen Beschaffenheit des
Hymen abhängen. In ersterer Beziehung ist es klar, dass bei sehr
jugendlichen, namentlich noch nicht geschlechtsreifen Individuen
eine solche Eventualität ungleich schwieriger erfolgen kann als bei
erwachsenen und geschlechtlich vollkommen entwickelten Mädchen, da
bei ersteren der Introitus vaginae seiner kindlichen Enge wegen kaum
ohne Zerreissung des wie immer beschaffenen Hymen zu passiren sein
wird, während bei erwachsenen Mädchen als Theilerscheinung der bereits
eingetretenen Geschlechtsreife grössere Weite der Genitalien und
grössere Dehnbarkeit derselben besteht, welche eingebrachten fremden
Körpern ungleich leichter den Zutritt gestattet, als dies vor erlangter
Geschlechtsreife der Fall gewesen war.
[Sidenote: Dehnbarkeit des Hymen. Defloration.]
Bei geschlechtlich ausgebildeten Individuen wird es aber vorzugsweise
von der Beschaffenheit des Hymens abhängen, ob dasselbe trotz
stattgehabten vollständigen Beischlafes unverletzt bleiben kann oder
nicht. Form und Structur der Scheidenklappe müssen in dieser Beziehung
erwogen werden. So werden wir, wenn sich ein unverletzter ring- oder
halbmondförmiger Hymen mit kleiner Oeffnung findet, nicht zugeben, dass
eine Penetration stattgefunden haben könne, und selbst bei grösserem
Foramen hymenaeum werden wir dies negiren, wenn die Scheidenklappe von
zarter, insbesondere an den Rändern leicht zerreisslicher Structur
sich erweist und trotzdem keine Spur eines Einrisses oder einer
Einkerbung darbietet. Dagegen wird sich einer solchen Möglichkeit
nichts entgegenstellen, wenn der Hymen eine schlaffe, dehnbare
Beschaffenheit zeigt, einen niedrigen Saum darstellt und eine so grosse
Oeffnung besitzt, dass man anstandslos mit dem untersuchenden Finger
oder gar mit einem Speculum in die Scheide einzudringen im Stande
ist. Ganz besonders begreiflich und fast selbstverständlich wird
das Intactbleiben des Hymen beim Coitus erscheinen, wenn letzteres
überhaupt kein sich spannendes Diaphragma darstellt, sondern ein
lappenförmiges ist, welches seinem Baue nach dem Eindringen des
männlichen Gliedes gar keinen Widerstand entgegensetzt, da die Lappen,
aus welchen es besteht, einfach bei Seite geschoben werden, um so
leichter, als ausser der günstigen Form auch die erwähnte Dehnbarkeit
dieser Theile sich geltend machen wird.
Letztere wird vielfach unterschätzt, obgleich sie bei der Bestimmung
dieser Organe verständlich ist und noch begreiflicher wird, wenn
man erwägt, in welch überraschender Weise viel engere Canäle, z. B.
weibliche Harnröhre und Mastdarm, eine forcirte Erweiterung ohne
Zerreissung zulassen, eine Thatsache, die ja, wie bekannt, von der
modernen Chirurgie vielfach ausgenützt wird.
Wenn man bedenkt, dass ausserdem die Dehnbarkeit des Hymen und
Scheideneinganges individuell eine erhöhtere sein kann und während der
Menstruation, insbesondere aber bei den, auch bei intacten Jungfrauen
nicht seltenen, blennorrhoischen Zuständen der Genitalien sich
steigert, so wird man nicht überrascht sein durch die in der Literatur
zahlreich niedergelegten und auch von uns wiederholt gemachten
Beobachtungen von unverletztem Hymen bei Prostituirten[60] und selbst
bei Erstgeschwängerten[61], und wird begreifen, warum schon die Alten
dem Vorhandensein einer Scheidenklappe keine absolute Beweiskraft für
noch bestehende Jungfrauschaft zuschreiben wollten.
Trotzdem gilt das Einreissen des Hymen beim ersten Coitus als Regel,
und man wird daher vor Allem nach etwaigen Läsionen des Hymen suchen,
wenn es sich um die Beantwortung der Frage handelt, ob ein Beischlaf
stattgefunden habe oder nicht.
[Illustration: Fig. 30.
Halbmondförmiger Hymen mit vernarbtem Einrisse des freien Bandes.]
[Sidenote: Wie zerreisst der Hymen bei der Defloration?]
Das Einreissen des Hymen erfolgt fast ausnahmslos vom freien Rande
aus und beschränkt sich entweder, und zwar häufiger, nur auf
letzteren (Fig. 30) oder dringt durch die ganze Duplicatur bis zu
ihrer Ausgangsstelle von der Peripherie des Introitus vaginae. Ob
nur ein Riss entsteht oder mehrere und an welcher Stelle und bis
zu welcher Tiefe, wird von der ursprünglichen Beschaffenheit der
Scheidenklappe abhängen. Nach +Tardieu+, l. c. pag. 51, zerreisst
der lippenförmige Hymen an der unteren Brücke, so dass zwei verticale
Lappen entstehen: der Hymen semilunaris an zwei seitlichen Stellen,
wodurch ein mittlerer dreieckiger Lappen abgetrennt wird, der Hymen
annularis aber in vier oder mehrere mehr weniger unregelmässige Lappen.
Dieser Gang der Dinge wird jedoch zweifellos alterirt durch die
Structur des Hymen, die keineswegs eine überall gleiche, sondern an
manchen Stellen eine festere ist als an anderen. Zu ersteren gehören
insbesondere jene Partien des Hymen, die durch auf die Hinterwand
desselben sich fortsetzende Vaginalfalten eine Verdickung der Substanz
und zugleich eine Art Stütze erhalten, und da, wie oben erwähnt, ein
solcher dreieckiger Pfeiler sich sehr häufig hinter dem unteren und
mittleren Theile des Hymensaumes befindet, so erklärt sich daraus die
nach +Tardieu+ häufige Beobachtung, dass nach Laceration des
Hymen, insbesondere des halbmondförmigen, ein mittlerer dreieckiger
Lappen stehen bleibt. Fig. 31 gibt ein Beispiel eines derartigen
deflorirten und vernarbten Hymen aus unserer Sammlung, während Fig. 32
einen unregelmässig eingerissenen ringförmigen Hymen zeigt.
[Sidenote: Deflorationsformen.]
Beim überbrückten Hymen kommt, wie wir uns nicht blos an Lebenden,
sondern auch an Museumpräparaten zu überzeugen Gelegenheit hatten,
verhältnissmässig häufig eine sit venia verbo partielle Defloration
vor, insoferne als durch den ersten Coitus nur die eine Hälfte der
Scheidenklappe eingerissen wird, während die Brücke und die andere
Hälfte des Hymen sich erhält und, da der Coitus in der Regel auch
weiter immer auf demselben Wege ausgeübt wird, auch später erhalten
bleibt. Drei Fälle dieser Art beschreibt +Paschkis+ (Wiener med.
Presse. 1877, Nr. 1). Der eine derselben, eine 18jährige Prostituirte
betreffend, ist in Fig. 33 abgebildet. Der Coitus wurde offenbar durch
die rechte Hälfte des Scheideneinganges ausgeübt, da diese ungleich
weiter ist als die linke und auch die Einführung eines mittleren
Röhrenspeculums gestattete, während die linke eben nur den Finger
durchdringen liess.
Doch sahen wir auch Fälle, in denen beide Hymenhälften Einrisse
zeigten, während die Brücke erhalten war. Letztere scheint ein
besondere Resistenz, beziehungsweise Dehnbarkeit, zu besitzen, denn
es finden sich in der Literatur öfter Angaben über ein verticales
fleischiges Band, das den Scheideneingang in zwei seitliche Hälften
theilte und das sowohl bei verheirateten Frauen als selbst bei
Gebärenden gefunden wurde[62], und +Mende+[63] gibt sogar an, dass
in der Sammlung der Göttinger Gebäranstalt sich ein ganzes Fläschchen
voll solcher fleischiger Bänder findet, die im Laufe der Zeit bei
Gebärenden constatirt und ausgeschnitten wurden.
[Illustration: Fig. 31.
Deflorirter halbmondförmiger Hymen mit seitlichen symmetrischen
Einrissen.]
[Illustration: Fig. 32.
Deflorirter ringförmiger Hymen mit mehrfachen vernarbten Einrissen.]
Auch in Fig. 34 war der Hymen ursprünglich ein Hymen septus mit schief
verlaufender Brücke, welche bei der Defloration zerrissen wurde, wobei
zugleich ein Einriss in der linken Hälfte der unteren Peripherie des
Hymensaums entstand.
[Sidenote: Blutung aus Hymeneinrissen.]
In frischen Fällen sind Verletzungen des Hymen unschwer zu erkennen, da
sie sich nicht blos durch die Zusammenhangstrennung, sondern auch durch
gewisse Reactionserscheinungen bemerkbar machen werden.
Zu diesen gehört zunächst die mit der Laceration verbundene Blutung.
Auf das Eintreten dieser in der Brautnacht wurde bekanntlich und
wird noch ein grosses Gewicht gelegt und dasselbe als vollgiltiges
Kennzeichen noch bestandener Jungfrauschaft betrachtet, von dessen
Vorhandensein bei den alten Israeliten sogar die Giltigkeit der
Ehe abhängig gemacht wurde. Da jedoch, wie oben erwähnt wurde, der
Hymen beim Coitus nicht immer zerreissen muss, so wird schon durch
diese Thatsache der Beweiswerth dieser Erscheinung, respective
des Ausbleibens der Blutung, sehr eingeschränkt. Es wird aber bei
thatsächlich erfolgter Verletzung des Hymen einerseits von der
Ausdehnung der Läsion, anderseits von dem Gefässreichthum der
verletzten Partie abhängen, in welchem Grade sich bei einer Defloration
die Blutung bemerkbar machen kann. Im Allgemeinen lehrt die Erfahrung,
dass heftigere Blutungen nach dem ersten Coitus ungemein selten sind,
obgleich in einzelnen Fällen die Blutung einen so starken Charakter
annehmen kann, dass chirurgische Hilfe nothwendig wird. +Zeiss+
(Centralbl. f. Gyn. 1885, Nr. 8), +Mundé+ (Boston med. and surg. Journ.
1885, Nr. 20) und +Dworak+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1885,
XLIII, pag. 36) haben über solche Fälle berichtet, von denen wir den
letzteren mit beobachtet haben.
[Illustration: Fig. 33.
_A_ Einseitig deflorirter Hymen septus. _U_ Urethra. _Cl_ Clitoris. _H_
Vernarbter Hymenrand. _C_ Hymenseptum. _B_ Seitliche Ansicht desselben.]
+Bordmann+ (+Tardieu+, l. c., pag. 55) erwähnt sogar eines Falles von
Verblutung in der Brautnacht aus den Hymeneinrissen bei einer aus
einer Bluterfamilie stammenden Frau, und +Borelli+ (Ibid.) berichtet
von einer hochgradigen Blutung, die aus derselben Quelle bei einem
11jährigen genothzüchtigten Mädchen eingetreten war.
Die Seltenheit profuserer Blutungen bei solchen Gelegenheiten erklärt
sich theils aus dem geringen Reichthum des Hymen an grösseren Gefässen,
besonders aber aus dem Umstande, dass die durch den Coitus entstehenden
Continuitätstrennungen ungleich häufiger blosse Einrisse des freien,
dünnen und daher gefässarmen Hymenrandes als förmliche Lacerationen
darstellen. In den Fällen von +Zeiss+ und +Dworak+ reichte der
Hymeneinriss bis in die hintere Vaginalwand, und dies scheint der
Hauptgrund der profusen Blutung gewesen zu sein. In einem von +Cercha+
(Wiener med. Wochenschr. 1889, Nr. 19) mitgetheilten Falle betraf der
Riss die hintere Partie eines Septums der Vagina, und auch +Frank+
(Prager med. Wochenschr. 1889, Nr. 48) berichtet über bei doppelter
Vagina zu Stande gekommene Scheidenverletzungen.
[Illustration: Fig. 34.
Deflorirter Hymen septus.]
Auch bei operativen, wegen Atresie oder bei der Entbindung nothwendig
gewordenen Eingriffen am Hymen wurden in der Regel nur unbedeutende
Blutungen beobachtet, obgleich in solchen Fällen auch die manchmal
sehnige Beschaffenheit der Scheidenklappe in Betracht zu ziehen ist.
Doch haben +Chiari+ und +Habit+[64] je einen Fall von namhafter Blutung
bei einer derartigen Operation beobachtet.
Selbstverständlich wird in jedem einzelnen Falle, bevor man die
an den Genitalien zu beobachtende Blutung auf einen Hymenriss
bezieht, jede andere Quelle einer solchen auszuschliessen sein.
Zunächst die Menstrualblutung, deren frühzeitiges Eintreten in
einem uns bekannten Falle den Verdacht erweckt hatte, dass an dem
betreffenden Kinde ein Nothzuchtsact verübt worden sei. Ebenso
Blutungen aus anderen Verletzungen der Genitalien, insbesondere der
gefässreichen Clitorisgegend[65], des Frenulum oder anderer Stellen
des Vestibulums und selbst der Vagina, denen allerdings die gleiche
Bedeutung vindicirt werden müsste wie den Beschädigungen des Hymen
selbst. Auch die, zufolge den Angaben +Schlesinger+’s und
+Wernich+’s[66] nicht ganz seltenen, aber stets geringen und rasch
vorübergehenden „Cohabitationsblutungen“, welche auf der Zerreissung
der congestionirten Cervicalgefässe beruhen, sind nicht unbeachtet zu
lassen.
[Sidenote: Verheilte Hymeneinrisse.]
Die Verheilung der Rissstellen erfolgt in wenigen, zwei bis drei Tagen,
und zwar desto früher und unter desto geringfügigeren Erscheinungen,
je weniger eine eigentliche Laceration, als vielmehr nur ein Einriss
des freien Randes stattgehabt hatte. Die in der ersten Zeit bestehende
Schwellung und Röthung der Wundränder, die Verklebung derselben durch
Exsudat etc. wird nicht blos das Auffinden der Rissstelle erleichtern,
sondern auch den Schluss gestatten, dass eben nur ganz kurze Zeit seit
der Zufügung derselben verflossen ist.
Ist einmal die Verheilung der Rissstellen erfolgt, dann ist es mitunter
nicht leicht, dieselben zu erkennen. Eine vollkommene Verheilung eines
solchen Risses per primam und ohne Narbenbildung, wie +Devergie+ sie
als möglich annahm, erfolgt zwar allerdings nicht, aber die verheilten
Stellen sind häufig, da sie gewöhnlich nur aus seichten Verletzungen
sich gebildet haben und nur sehr feine und zarte Narben zurücklassen,
nur bei sehr sorgfältiger Untersuchung als solche zu unterscheiden.
Behufs differentieller Diagnose ist es wichtig, einestheils die oben
angeführten Stellen im Auge zu behalten, an welchen sich häufiger
angeborene Kerben finden, sowie die gewöhnlich symmetrische Lage
derselben, anderseits zu erwägen, ob, wenn man sich den Hymen an der
betreffenden Stelle nicht unterbrochen vorstellt, dieselbe derart
gelegen und beschaffen ist, dass aus mechanischen Gründen beim Coitus
ebendort leichter ein Einreissen erfolgen konnte als an anderen.
Es liegt nahe, zur Unterscheidung zu empfehlen, dahin zu untersuchen,
ob der betreffenden Stelle eine Narbe oder eine von normaler
Schleimhaut überkleidete Einsenkung entspricht. Allerdings wird in
jedem einzelnen Falle ein solcher Nachweis anzustreben sein, allein,
es wäre irrig, zu glauben, dass, wenn die betreffende Einkerbung
thatsächlich einem Einriss ihre Entstehung verdankt, jedesmal eine
ausgesprochene Narbe sich finden muss. Nur in selteneren Fällen und
bei tiefen Einrissen finden sich weissliche Narben von festerer
Consistenz oder gar sehniger Beschaffenheit, in der Regel ist die
betreffende Stelle zart überhäutet und durch Härte und Consistenz
nicht auffällig unterschieden von der umgebenden Schleimhaut, so
dass es manchmal selbst dem Geübteren schwer fällt, sich für einen
verheilten Einriss oder für eine congenitale Einkerbung auszusprechen.
Es ist dann angezeigt, ausser den bereits erwähnten Verhältnissen
die ganze Configuration der Stelle und das Verhalten der Ränder und
Ecken derselben in Erwägung zu ziehen; letzteres insoferne, weil eine
gleichartige Abrundung derselben mehr für einen angeborenen Befund
sprechen wird. Auch wird, was wir besonders empfehlen möchten, die
hintere Fläche des Hymen, soweit diese zugänglich ist, zu untersuchen
sein, und zwar mit Rücksicht darauf, dass, wie bereits oben gesagt
wurde, bei angeborener Lappung des Hymen die einzelnen Lappen
gewissermassen als Fortsetzungen der Scheidenschleimhautfalten sich
verfolgen lassen.
[Sidenote: Untersuchung des Hymen.]
Aus dem Gesagten ist zu ersehen, dass solche Untersuchungen
keineswegs zu den leichten gehören, sondern alle Aufmerksamkeit des
betreffenden Arztes erfordern. Dazu kommt noch, dass insbesondere
bei Kindern durch die Unruhe dieser, sowie durch die Enge der
Genitalien die Untersuchung erschwert wird, in anderen Fällen wieder
durch die eben bestehende Menstruation, durch blennorrhoische und
andere Affectionen. Unter solchen Umständen wird es mitunter geboten
sein, wiederholt zu untersuchen, und die Beachtung dieses Rathes
wird den Neuling am ehesten vor Irrthümern schützen, die, wie die
Erfahrung lehrt, bei keiner gerichtsärztlichen Untersuchung so
häufig vorkommen, wie bei jenen, welche den Zustand des Hymen zum
Gegenstande haben.
Bezüglich des Vorganges bei der Untersuchung sei erwähnt, dass in
allen Fällen, in denen die betreffende Person gerade menstruirt
oder an blennorrhoischen oder anderen Ausflüssen leidet,
eine entsprechende Reinigung der Genitalien der Untersuchung
vorauszuschicken ist; dass ferner auf zweckmässige Lage und gute
Beleuchtung geachtet und dahin gewirkt werden soll, dass der Hymen
so weit als möglich gespannt und dadurch einestheils Faltungen
ausgeglichen, andererseits etwaige Einkerbungen deutlicher sichtbar
gemacht werden. Ist wegen relativer Höhe des Hymensaumes, wie z. B.
bei Kindern, ein vollkommenes Anspannen der Scheidenklappe nicht zu
bewirken, dann ist durch Einführung einer Sonde oder dergleichen
durch die Hymenöffnung der Hymenrand vorsichtig vorzudrängen, und
indem man dieselbe hinter dem Hymen herumführt, von Stelle zu Stelle
anzuspannen und zu besichtigen. Bei kleinen Kindern gelingt es nach
+Maschka+ am besten, den Hymen zu sehen, wenn man das Kind mit
an den Leib angezogenen und von einander entfernten Oberschenkeln
am Rücken liegen lässt, die grossen Schamlippen mit der linken Hand
auseinanderhält und mittelst einer Sonde oder eines ähnlichen dünnen
Gegenstandes die Harnröhrenmündung emporhebt, wodurch die Theile
gespannt werden und der Hymen deutlich zum Vorschein kommt.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass bei derartigen Untersuchungen
der Arzt sich hüten muss, durch ungeschickte oder rohe Exploration
selbst einen Einriss des Hymen zu erzeugen. Thatsächlich bringt
+Liman+ (l. c. I, 153) einen Fall, in welchem eines derartigen
unsachgemässen Verfahrens wegen es dahingestellt bleiben musste, ob
der fragliche Hymenriss bereits früher bestand oder durch den Finger
des Arztes erzeugt worden war.
Haben wir einen Einriss des Hymen als solchen constatirt, so werden wir
die Entstehung desselben nicht ohne Weiteres auf einen stattgehabten
Coitus beziehen, sondern auch andere Möglichkeiten im Auge behalten,
durch welche ebenfalls eine Verletzung des Hymen erfolgen kann.
[Sidenote: Verletzung des Hymen durch Sturz.]
Die von älteren Autoren vertretene Anschauung, dass der Hymen auch
durch plötzliches Auseinanderziehen oder Zerren der Schenkel einreissen
kann, ist als ganz unbegründet bei Seite zu lassen.[67] Dagegen sind
Verletzungen des Hymen durch Auffallen des Körpers mit den Genitalien
auf harte und entsprechend geformte Gegenstände thatsächlich beobachtet
worden und auch begreiflich; doch ist natürlich eine derartige
Entstehungsweise eines Hymenrisses nur dann in Betracht zu ziehen, wenn
die ganz besonderen Umstände eines speciellen Falles an eine solche
Möglichkeit denken lassen.
Am 20. December 1876 Abends wurde das 15 Jahre alte Dienstmädchen R.
K. in einem zwei Klafter tiefen Eiskeller unter einer unverwahrten
Fallthüre auf einer Sandschichte bewusstlos gefunden, nachdem sie
kaum eine Viertelstunde vermisst worden war, und starb wenige
Augenblicke darauf. Die Obduction ergab keine äusserlich sichtbare
Verletzung, dagegen eine handflächengrosse Blutaustretung unter
der Kopfhaut über der linken Lambdanaht, Contusion des linken
Stirnlappens des Grosshirns mit mässigem Blutaustritt an die
Schädelbasis ohne Spur einer Verletzung der Kopfknochen. An den
äusseren Genitalien kein Blut zu bemerken. Der Hymen halbmondförmig
mit scharfem Rand, im unteren Theile 1 Cm. hoch, ziemlich dickwandig,
mit weiter Oeffnung. Entsprechend der tiefsten Stelle des unteren
Segmentes desselben ein die ganze Höhe des Hymen durchsetzender,
vom freien Rande senkrecht nach abwärts bis zur Insertionsstelle
desselben dringender, frisch blutender Einriss mit feingezackten
Rändern, welche, ebenso wie die Basis des Risses im unteren Theile
desselben, deutlich, doch in ganz geringem Grade suffundirt
erscheinen. Ausserdem findet sich eine linsengrosse Ecchymose 3
Millimeter nach rechts von dieser Stelle in der Uebergangsfalte
zwischen Hymen und Vestibulum. In der Scheide blasser Schleim, ebenso
im jungfräulichen Uterus. Trotz sorgfältigster Untersuchung dieses
Schleimes konnte keine Spur von Samenfäden gefunden werden.
In dem Gutachten wurde auseinandergesetzt, dass die Hymenverletzung
bei dem Sturze allerdings hätte geschehen können, jedoch nicht durch
die blosse Erschütterung des Körpers beim Aufschlagen desselben auf
den Boden, sondern nur dann, wenn die R. K. mit den Genitalien auf
einen vorspringenden Körper aufgefallen wäre. Letzteres sei jedoch
aus dem Localaugenschein nicht ersichtlich und bei dem Umstande, als
nicht die geringste Verletzung an den äusseren Genitalien bemerkt
wurde, auch nicht wahrscheinlich. Es liege daher viel näher die
Annahme, dass jener Riss kurz vor dem Sturze durch einen in den
Scheideneingang eingedrungenen festen Körper entstanden ist, der
trotz des nicht gelungenen Auffindens von Samenfäden ein gesteiftes
männliches Glied, aber auch ein Finger gewesen sein konnte.
Im weiteren Verlaufe der Untersuchung tauchte zwar gegen einen jungen
Burschen der Verdacht auf, dass er an jenem Abende mit dem Mädchen in
dem betreffenden dunklen Gange zu thun gehabt hätte, wobei diese in
den offenen Keller gestürzt sei, doch wurde die Sache wegen Abgang
von beweiskräftigen Anhaltspunkten von Seite des Gerichtes nicht
weiter verfolgt.
[Sidenote: Läsionen des Hymen durch Trauma, Onanie etc.]
Eine Zerreissung der Commissur, Fossa navicularis und des Hymen mit
nachfolgender Pyämie fanden wir bei einem Kinde, unter welchem der
irdene Nachttopf zusammengebrochen war, und wiederholt Rupturen der
Fossa navicularis bei kleinen Mädchen, welche durch Ueberfahren um’s
Leben gekommen waren; einmal sogar eine vollständige Abreissung der
Scheide sammt dem Hymen von der Vulva ohne Verletzung der letzteren.
Postmortale bis auf den Hymen übergreifende Rupturen des Dammes
können nach Verbrennungen höherer Grade entstehen und bei den
nicht selten vorkommenden Fällen von Tod durch Feuerfangen
der Kleider haben wir wiederholt solche Sprengungen des wie
gebratenen Mittelfleisches gefunden oder konnten sie leicht durch
Auseinanderziehen der Oberschenkel erzeugen.
Seit jeher wird die Möglichkeit betont, dass auch durch
masturbatorische Manipulationen der Hymen verletzt werden könne; man
hat jedoch dieser Möglichkeit entschieden eine viel höhere Bedeutung
zugeschrieben, als ihr thatsächlich zukommt.
Die Onanie ist zwar unter jungen Mädchen sehr verbreitet, doch wird
dieselbe selten in solcher Weise ausgeübt, dass daraus eine Verletzung
des Hymen resultiren könnte. In der Regel besteht die Onanie blos in
Frictionen der Clitoris und der Innenfläche der Labien, und es ist
bekannt, dass behufs Heilung von aus habitueller Masturbation zur
Entwicklung gekommenen Erkrankungen die Amputation der Clitoris, sowie
der Nymphen empfohlen und auch ausgeführt worden ist. Seltener wird
bei der Selbstbefleckung der Finger in die Scheide selbst eingeführt
und dies nur in Fällen, wo die Weite der Oeffnung des Hymen dies
gestattet, was allerdings, dem oben Gesagten zufolge, in den wenigsten
Fällen einer besonderen Schwierigkeit unterliegen dürfte. Ist die
Hymenöffnung für den Finger des betreffenden Individuums nicht
passirbar, dann muss wohl zugegeben werden, dass durch wiederholt
geübte masturbatorische Manipulationen dieselbe erweitert werden kann,
was dann aber allmälig und ohne Zerreissung des Hymen geschieht; auch
wäre es nicht ganz unmöglich, dass bei solcher Gelegenheit seichte
Einrisse des Randes eines zarten Hymens entstehen könnten, aber es ist
nicht anzunehmen, dass die Masturbation je mit solcher Gewalt geübt
werden möchte, dass es zu ausgedehnten oder gar mehrfachen Einrissen
der Scheidenklappe kommen würde, da die betreffenden Individuen sich
hüten werden, sich selbst Schmerzen zuzufügen. Wir hatten in unserer
früheren Stellung wiederholt Gelegenheit gehabt, Kinder, insbesondere
blödsinnige und epileptische, zu beobachten, die mitunter excessiv
der Selbststupration ergeben waren, und haben in solchen Fällen sehr
gewöhnlich eine Erschlaffung und welke Beschaffenheit des Präputiums,
der Clitoris, der Nymphen und auch des Hymen beobachtet, mitunter auch
ausgesprochene acute oder chronische Reizungszustände, niemals aber
Einrisse oder gar ausgedehnte Zerreissungen der Scheidenklappe. Damit
stimmen auch die Beobachtungen Anderer überein. J. +Behrend+[68]
bemerkt in einem Aufsatze „Ueber die Reizung der Geschlechtstheile
durch Onanie bei kleinen Kindern“, anschliessend an eine einschlägige
Schrift von A. W. +Johnson+[69], dass Hymenverletzung durch Onanie
selten vorkommt. G. +Braun+[70] berichtet über Fälle von Nymphomanie,
die die Amputation der Clitoris nothwendig machten, und in welchen
trotzdem der Hymen zwar sehr schlaff, jedoch ohne Einriss gefunden
wurde. Ein Fall von langjähriger Onanie und unverletztem Hymen findet
sich im Jahresberichte der chirurgischen Klinik von +Dumreicher+
pro 1869-1870[71] und ein weiterer, eine 35jährige, an conträrer
Sexualempfindung leidende Onanistin betreffender Fall wird von
+Westphal+ im Arch. f. Psych. u. Nervenkh., 1869, II, 73, mitgetheilt.
Ebenso hat +Liman+[72] durch eigene Beobachtungen die von dem Arzte des
grossen Berliner Waisenhauses, +Ideler+, gemachte Angabe bestätigen
können, dass bei unzweifelhafter Onanie in der Regel vollkommen normal
beschaffene Genitalien gefunden werden. Auch ist es begreiflich, dass,
wenn es bei der Onanie so leicht zu Läsionen des Hymen kommen würde,
solche Ereignisse sich durch, wenn auch vielleicht minimale Blutungen
aus den Genitalien verrathen möchten, die bei kleinen Kindern den
sorgsamen Eltern u. s. w. kaum entgehen würden, während thatsächlich
über solche Vorkommnisse so gut wie gar keine Beobachtungen existiren,
was bei der Häufigkeit der Onanie bei Kindern gewiss nur geeignet
ist, weiter die Behauptung zu rechtfertigen, dass Verletzungen der
Scheidenklappe durch Selbstbefleckung zu den seltensten Vorkommnissen
gehören. Am ehesten könnten solche vorkommen in Fällen, wo die Mädchen
durch Pruritus vulvae oder Würmer (Oxyuris vermicularis) veranlasst
werden, sich an den Genitalien zu reiben und zu kratzen, und es ist
gewiss auf die Möglichkeit einer Onanie aus solchen pathologischen
Ursachen zu achten.
Von der mit anderen Körpern als mit dem Finger geübten Onanie, die,
wie bekannt, ebenfalls häufig vorkommt, gilt dasselbe wie von der
gewöhnlichen Onanie. Secundäre, mitunter heftige Erscheinungen wurden
zwar bei kleinen Kindern nach Einführung von Nadeln und ähnlichen
Gegenständen in die Harnröhre oder in die Scheide oft genug beobachtet,
niemals aber directe Verletzungen. Was aber die Masturbation mit
voluminösen Körpern betrifft, wie sie bei geschlechtsreifen Individuen
zur Beobachtung kommt, so wird sie geübt, nachdem bereits früher
durch habituelle Onanie oder durch normale geschlechtliche Acte die
Geschlechtstheile erweitert worden sind, und hat demnach für die
vorliegende Frage so gut wie keine Bedeutung.
[Sidenote: Läsionen des Hymen durch fremde Finger und durch ulceröse
Processe.]
Viel wichtiger ist der Umstand, dass ganz gleiche Läsionen des Hymen,
wie wir sie nach dem ersten Coitus finden, auch durch gewaltsames
Einbohren eines fremden Fingers entstehen können. Diese Möglichkeit
ist insbesondere bei der Untersuchung kleiner Kinder im Auge zu
behalten; denn bei diesen liegt letztere Entstehungsweise des
eventuell constatirten Einrisses des Hymen desto näher, je weniger die
räumlichen Verhältnisse der kindlichen Genitalien noch eine Immissio
penis gestattet haben konnten. Eine derartige Erwägung ist auch
deshalb jedesmal angezeigt, weil zufolge des österr. Strafgesetzes
der Beischlaf mit Kindern von anderen mit diesen verübten unzüchtigen
Handlungen ausdrücklich unterschieden wird, indem letztere als
„Schändung“ qualificirt und im Allgemeinen milder bestraft werden
als die Nothzucht mit Mädchen unter 14 Jahren. Wir werden auf den
Gegenstand später zurückkommen.
Es ist endlich zu beachten, dass Narben am Hymen auch durch
diphtheritische Processe[73], durch Noma, sowie durch Variola[74]
veranlasst werden können, in welchen Fällen jedoch, namentlich
nach Diphtherie und Noma, die Grösse der Narbe und die Ausbreitung
derselben auf andere Partien, insbesondere der äusseren Genitalien, im
Zusammenhange mit der Anamnese die Diagnose ergeben wird.
Zerstörungen des Hymen durch venerische und syphilitische Geschwüre
gehören besonders bei Kindern zu den ebenfalls in Erwägung zu ziehenden
Möglichkeiten, da solche auch zu Stande kommen können, ohne dass bei
der Uebertragung des Virus eine Läsion der Scheidenklappe erfolgt sein
müsste. Die Angaben +Hohl+’s und +Devergie+’s, dass der Hymen auch
von innen aus durch Blutklumpen bei Metrorrhagien zerrissen werden
könne, haben blos historisches Interesse. Wurde ja schon oben erwähnt,
dass der Hymen selbst einen Abortus überdauern könne, und es ist in
dieser Beziehung bezeichnend, dass in der Zeitschrift für Geburtsh.,
1877, pag. 123 über ein 15 Jahre altes, noch nicht menstruirtes
Mädchen berichtet wird, bei welchem trotz eines Gebärmuttervorfalles
der Hymen erhalten, jedoch stark dilatirt sich fand. Einen analogen,
einen Säugling (!) betreffenden Fall besitzt unsere Sammlung. Auch
+Schaeffer+ (Virchow’s Jahresb. 1890, I, pag. 250) erwähnt eine solche
Beobachtung.
[Sidenote: Angeborenes Fehlen des Hymen.]
Dass der Hymen angeborener Weise vollständig fehlen könne, ist
mindestens bei sonst normalen Genitalien kaum anzunehmen, doch erwähnt
+Maschka+ bei Besprechung der ersten Auflage dieses Buches (Wiener
med. Wochenschr. 1877, pag. 756) eines Falles aus seiner Sammlung,
in welchem der Hymen fehlt und nur durch eine sehr kleine, ganz
unbedeutende, überall gleichförmige und platte Leiste angedeutet ist.
Das betreffende und ein zweites ebenso gestaltetes Genitale findet
sich abgebildet in Maschka’s Handb. der gerichtl. Med. III, pag. 91.
+Hyrtl+ behauptet, dass bei Vagina duplex der Hymen immer fehle.
Wir haben im Gegentheil in jedem Falle von Vagina duplex auch ein
Hymen gefunden, und zwar ein einfaches ringförmiges, hinter welchem
erst die Scheidewand der Vagina begann, oder ein „überbrücktes Hymen“,
dessen Brücke, wie bereits oben erwähnt, eben von dem unteren Rande des
Vaginaseptums gebildet wurde. +Heitzmann+ (Wiener med. Presse,
1884, pag. 367) hat ein vollständiges Fehlen des Hymen bei einem
21jährigen, mit angeborener Verwachsung der Scheide behafteten Mädchen
beobachtet.
[Sidenote: Zerreissungen der Genitalien.]
Ausser Zerreissungen der Scheidenklappe können in Folge des
ersten Beischlafes auch andere Beschädigungen der Genitalien zur
Entwicklung kommen. Von diesen wurden am häufigsten Einrisse des
Schambändchens, seltener der Nymphen oder gar des Dammes, beobachtet.
Letztere sah +Toulmouche+ (Ann. d’hyg. publ. Juli 1856), und zwar
fast ausschliesslich bei Kindern von 2-14 Jahren. Je enger die
Geschlechtstheile des betreffenden weiblichen Individuums sind,
desto leichter werden derartige Beschädigungen sich bilden können,
daher dieselben vorzugsweise nach an kleinen Kindern vorgenommenen
Nothzuchtsattentaten zur Beobachtung gelangen. Allerdings kann
jedoch auch bei geschlechtsreifen Individuen, wenn der Act mit einer
gewissen Brutalität vollzogen wurde, Gleiches sich ereignen. So sah
+Toulmouche+ einen Dammriss bei einem 25jährigen genothzüchtigten
Mädchen, ebenso +Liman+ (l. c. I, 124) und +Ascher+ (Prager med.
Wochenschr. 1889, Nr. 3) eine schwere Blutung in der Brautnacht, die
durch einen Schleimhautriss in der Fossa navicularis veranlasst war.
+Bandl+ (Virchow’s Jahrb. 1881, II, pag. 577) sah eine Verletzung
des Blasenhalses, die wahrscheinlich durch Coitus entstanden war, und
+Dorffmeister+ (Friedreich’s Blätter, 1887, pag. 3) einen totalen
Prolapsus der Harnröhrenschleimhaut.[75]
Finden sich ausgebreitete Zerreissungen der Genitalien, insbesondere
Rupturen der Vagina, so ist viel eher daran zu denken, dass
dieselben auf andere Weise, namentlich durch gewaltsames Einbohren
der Finger, als durch den Penis entstanden sind, da letzterem eine
solche Kraftleistung nicht gut zugemuthet werden kann. In der That
haben +Casper+-+Liman+ (l. c.) trotz der grossen Zahl von einschlägigen
Untersuchungen, die sie zu machen Gelegenheit hatten, niemals solche
Zerreissungen gesehen. +Maschka+ (Handb. III, pag. 104) constatirte
unter 248 Fällen von Nothzucht derartige Verletzungen nur 5mal und
erklärt sie ebenfalls aus gewaltsamer Nachhilfe des Thäters mit dem
Finger. Bei besonderer Brutalität und grossem Missverhältniss der
Geschlechtstheile kann jedoch eine solche Möglichkeit nicht ganz
bestritten werden, wofür auch einzelne in der Literatur verzeichnete
Beobachtungen sprechen.
So die von +Taylor+ (l. c. II, 443) erwähnten Fälle; ferner ein
von +Albert+[76] berichteter Fall. Ein 16jähriger Araber heiratete
ein 11jähriges, noch nicht mannbares Mädchen. Sie starb in der
Brautnacht, anscheinend erwürgt durch den Mann über den Lärm, den
sie vor Schmerz machte. Man fand die Commissur auf 8 Mm. weit
eingerissen, die Fossa navicularis zerstört und die Scheide in ihrem
hinteren und oberen Theil transversal in einer Länge von 4·9 Cm.
durchrissen und mit dem Abdomen communicirend.
+Cadwick+ (Med. Centralbl. 1885, pag. 912) erzählt einen Fall von
Scheidenverletzung durch Coitus, der bei einer 48jährigen sterilen
Frau eines Seemannes entstand, als dieser nach viermonatlicher
Abwesenheit zum ersten Male wieder Umgang mit ihr pflog. Unter
heftigen Schmerzen entstand eine abundante Blutung. Die Scheide war
senil atrophisch und zeigte im oberen Drittel rechts einen tiefen,
1 Zoll langen Riss. -- +Munde+ (Ibid.) berichtet über einen in der
Hochzeitsnacht entstandenen Riss der Vagina, welcher aber ausserhalb
des Introitus lag und sich bis in das Scheidengewölbe erstreckte.
-- +Zeiss+ in Erfurt (Centralbl. f. Gyn. v. 21. Februar 1885) fand
einen 4 Cm. langen Riss im rechten hinteren Scheidengewölbe bei
einer 25jährigen Frau, welcher während des Coitus entstanden war,
den der Ehemann bald nach der Entbindung in angeheiterter Stimmung,
à la vache, vollzogen hatte. Wir selbst bewahren das Genitale
eines 23jährigen Mädchens auf, welches an Sepsis in Folge eines
Längsrisses der Vagina gestorben ist, welcher sich links von der
Mittellinie vom Hymen bis zum Fornix erstreckt. Das Mädchen war mit
starken Blutungen, die angeblich nach einem ersten Coitus eingetreten
waren, in’s Spital gekommen. Es wurde jedoch constatirt, dass der
Coitus schon früher wiederholt ausgeübt worden war, auch fand sich
vom Hymen nur ein niedriger, vielfach vernarbter Saum. Der Liebhaber
bestätigte, dass der Riss während eines sexuellen Actes entstanden
sei, man konnte jedoch keine Klarheit darüber erhalten, ob er
während des Coitus oder durch Manipulationen erfolgte. Die Scheide
war auffallend kurz, was die Entstehung der Ruptur begünstigt haben
konnte. Ueber weitere solche Fälle berichten +Frank+ (Prager med.
Wochenschr. 1890, 6), +Hofmokl+ (blind endende Scheide, angebliche
Nothzucht [Internationale klin. Rundschau, 1890, Nr. 39]) und +Späth+
(Zeitschr. f. Geburtsh. XIX, pag. 277).
Auch sahen wir auf +Albert+’s Klinik eine grosse Vulvorectalfistel,
die zufolge der Anamnese und ihres ganzen Verhaltens beim Coitus
durch Einreissen der Fossa navicularis unmittelbar an der hinteren
Insertion des sehr festen und eine enge Oeffnung besitzenden, fast
noch völlig erhaltenen Hymen entstanden war. Der Mann hatte Jahre
lang den Coitus durch die betreffende Fistel ausgeführt. Dieser
Fall ist ein Analogon zu den von +Reverdin+ (Virchow’s Jahrb. 1883,
II, 582), +Delens+ und +Dohrn+ (l. c.) mitgetheilten Fällen von
Abreissung des ganzen Hymen von seiner hinteren Insertion.
[Sidenote: Verletzungen und sonstiges Verhalten der Vagina.]
Je gröber die durch den geschlechtlichen Act gesetzten Verletzungen
an den Genitalien sind, desto intensiver gestalten sich die
Reactionserscheinungen, und da diese auch ihrer Natur nach länger
dauernde Processe darstellen und in der Regel bleibende und
auffallendere Veränderungen (Narben) an den Genitalien zurücklassen,
so ist in solchen Fällen die Diagnose im Allgemeinen viel leichter als
unter gewöhnlichen Verhältnissen.
Die sonstige Beschaffenheit der +Vagina+ gewährt im Allgemeinen wenig
Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage, ob eine Immissio penis in
dieselbe stattgefunden habe oder nicht. Am ehesten lassen sich noch bei
sehr jungen Individuen brauchbare Befunde erwarten, da bei diesen wegen
der Enge der Vagina die Einführung des Penis nur mit einiger Gewalt und
mit mehr weniger starker Dehnung der betreffenden Theile erfolgen kann,
deren Spuren man in frischen Fällen nachzuweisen im Stande sein wird.
Bei geschlechtsreifen Mädchen ist die Weite der Vagina, ihrem
physiologischen Zwecke entsprechend, normaler Weise eine solche, dass
von ihr aus, sobald einmal der Introitus vaginae, insbesondere der
Hymen, überwunden ist, kein weiteres Hinderniss dem Eindringen des
erigirten Gliedes sich entgegenstellt, und es ist aus diesem Grunde,
sowie aus der Elasticität des Vaginalschlauches begreiflich, dass
eine einmalige oder nur wenige Male stattgefundene Immissio penis
weder eine auffallende Aenderung in der Weite der Scheide, noch in
dem Verhalten der Runzeln der Scheidenschleimhaut bewirken wird.
Dagegen muss zugegeben werden, dass habituell ausgeübter Coitus eine
bleibende und sich steigernde Ausweitung des Genitalschlauches,
sowie eine Erschlaffung desselben, insbesondere der Constrictoren
der Vagina, erzeugen und ein theilweises Verstreichen der
Scheiden-Schleimhautrunzeln bewirken kann, und dass sich auch
die ursprüngliche Turgescenz der Schleimhaut, sowie die zarte
Beschaffenheit des epithelialen Ueberzuges derselben mehr weniger
verliert, wie man namentlich bei Prostituirten beobachten kann.
[Sidenote: Carunculae myrtiformes.]
Am meisten wird selbstverständlich die ursprüngliche Beschaffenheit
der Vagina durch stattgehabte Entbindungen verändert, wovon an einer
anderen Stelle die Rede sein soll. Hier sei nur erwähnt, dass in der
bei weitem überwiegendsten Zahl der Fälle erst bei der Entbindung eine
vollständige Zerreissung des Hymen, respective der nach der Defloration
zurückgebliebenen Reste, erfolgt, und dass, wie schon +Mende+ (l. c.
pag. 443) aussprach und später wieder die Untersuchungen von
+Lazarewitsch+ und +Bellien+ in Charkow[77] ergaben, erst aus
diesen Einrissen die charakteristischen, dicken, auf breiter Basis
aufsitzenden Carunculae myrtiformes sich entwickeln, während nach der
Defloration, auch nach tieferer Laceration der Scheidenklappe, nur
Lappen zurückbleiben, deren Form und Zahl von der Zahl und dem Sitze
der betreffenden Einrisse bedingt wird.
[Sidenote: Subjective Symptome.]
Ausser den besprochenen objectiven Symptomen werden bei einschlägigen
Untersuchungen allerdings auch die subjectiven in Betracht zu ziehen
sein; doch ist es klar, dass gegenüber subjectiven Angaben die
grösste Vorsicht zu beobachten und denselben nur dann ein gewisser
Werth zuzuschreiben sein wird, wenn sie im Einklange stehen mit der
allgemeinen Erfahrung und mit den speciellen objectiven Befunden. So
werden Angaben über bei dem betreffenden Acte empfundenen Schmerz
dann glaubwürdig erscheinen, wenn ein Missverhältniss zwischen den
beiderseitigen Geschlechtstheilen bestand und Spuren stärkerer Zerrung,
Einrisse u. dergl. gefunden wurden. Unter normalen Verhältnissen, d. h.
bei geschlechtsreifen Mädchen, ist die Defloration, wie die Erfahrung
lehrt, nur ausnahmsweise mit besonderen Schmerzen verbunden, was aus
dem oben über das Verhalten des Hymen Gesagten sich wohl begreift.
Dagegen lässt es sich nicht leugnen, dass, wenn grössere Gewalt zur
Sprengung des Hymen erfordert worden ist, dabei selbst erhebliche
Schmerzen sich einstellen können. Gleiche Erwägungen werden bei
der Beurtheilung von Angaben über die bei dem angeblichen Attentat
eingetretene Blutung platzgreifen müssen; ebenso bezüglich subjectiver
Symptome, die, wie ziemlich häufig angegeben wird, noch in den nächsten
Tagen bestanden haben sollen, z. B. erschwertes Gehen, Schmerz beim
Koth- und Urinlassen u. dergl.
B. Nachweis von Sperma.
Nur ausnahmsweise kommen Fälle, in denen es sich um Constatirung eines
stattgehabten Beischlafes handelt, so frühzeitig zur Untersuchung,
dass noch von der Untersuchung des Scheiden-, beziehungsweise, des
Uterusschleimes auf Spermatozoiden ein Resultat erwartet werden
kann. Bei der grossen Beweiskraft eines solchen Befundes ist
selbstverständlich in frischen Fällen eine solche Untersuchung
niemals zu unterlassen, zu diesem Behufe der Scheidenschleim und
unter Umständen selbst der Uterusschleim hervorzuholen und behufs
nachträglicher, durch den betreffenden Gerichtsarzt selbst oder
durch einen anderen Sachverständigen vorzunehmender mikroskopischer
Untersuchung aufzubewahren, was am einfachsten in der Weise geschieht,
dass man den betreffenden Schleim zwischen zwei Glasplatten
(Objectträgern) einschliesst und entsprechend verpackt.
An der Leiche haben wir bereits wiederholt Gelegenheit gehabt,
Spermatozoiden im Scheidenschleim nachzuweisen, und zwar zweimal bei
Prostituirten, welche nach vollbrachtem Coitus von ihren Liebhabern,
die Eine durch Erwürgen und gleichzeitige Stiche in die Brust, die
Andere durch einen Revolverschuss in den Kopf ermordet worden sind. Im
letzteren Falle fanden sich massenhaft Spermatozoiden, obgleich das
Individuum mit einer profusen Blennorrhoe behaftet war[78], ebenso in
einem Falle von Lustmord.
In derartigen frischen Fällen kann auch die mikroskopische Untersuchung
des an den äusseren Genitalien, insbesondere an den Schamhaaren,
eingetrockneten Schleimes ein positives Resultat ergeben, wie
+Pfaff+[79] einen solchen Fall beschreibt und abbildet.
Bei weitem häufiger kommen Flecke in der Wäsche angeblich
genothzüchtigter Personen zur Untersuchung, bezüglich welcher der
Verdacht besteht, dass sie vom Samen herrühren. Begreiflicherweise
sind es vorzugsweise Hemden und an diesen meistens die unteren und
inneren Theile desselben, an welchen derartige verdächtige Flecke sich
ergeben.
Das äussere Aussehen solcher Flecke kann niemals genügen, um sie als
Samenflecke zu bezeichnen. Denn das bei thatsächlichen Samenflecken
zu findende Verhalten: landkartenartige Contouren, graue Farbe mit
häufig dunklerer Nuance an den Rändern, eigenthümlicher Reflex bei
auffallendem Lichte, wie gestärkte Beschaffenheit der betreffenden
Stelle des Wäschestückes, sowie der bekannte, namentlich beim Reiben
mit dem befeuchteten Fingern stärker hervortretende Geruch (nach
Kastanienblüthe, +Toulmouche+) kann sich theils bei anderen Dingen,
insbesondere bei von blennorrhoischem Secret und selbst von Harn
herrührenden Flecken ergeben, theils ist dasselbe, wie z. B. der
Geruch, von allzu subjectiver und Täuschungen unterliegender Natur, als
dass demselben ein Beweiswerth zugeschrieben werden könnte.
[Sidenote: Samenfäden.]
Der Beweis, dass wirklich ein Samenfleck vorliegt, kann nur durch
mikroskopische Untersuchung geführt werden, und zwar nur dann, wenn
letztere das Vorhandensein von Spermatozoiden ergibt. Es findet
sich zwar im Sperma ausser den Samenfäden eine grosse Menge anderer
morphotischer Elemente: Epithelien aus den Samenwegen, lymphoide
Zellen und Elementarkörnchen in grosser Zahl, auch colloide, aus den
Samenblasen stammende Körper, aber blos die Samenfäden sind für das
Sperma charakteristisch. Auch den von +Böttcher+[80] beschriebenen,
im eingetrockneten Samen zu findenden und einem Eiweisskörper
angehörenden „Spermatinkrystallen“ kann eine diagnostische Bedeutung
nicht zugeschrieben werden, da sich ähnliche und vielleicht gleiche
krystallinische Bildungen auch in anderen eiweisshältigen Secreten
finden, wobei übrigens bemerkt werden muss, dass solche Krystalle nicht
verwechselt werden dürfen mit Tripelphosphat-Krystallen, die sich im
eingetrockneten Sperma häufig in grossen Mengen nachweisen lassen.
+Fürbringer+’s Untersuchungen zufolge (Virchow’s Jahrb. 1881, I, pag.
240) stammen die Spermakrystalle aus dem Prostatasecret und dieses ist
auch der Träger des specifischen Samengeruches.
[Illustration: Fig. 35.
Spermatozoiden aus einem älteren Samenfleck.]
Die Gestalt der Samenfäden muss als bekannt vorausgesetzt werden (Fig.
35). Ihre Länge beträgt 0·033 bis 0·050 Mm., wovon durchschnittlich
0·05 Mm. auf den birnförmigen Kopf und das Uebrige auf den
linienförmigen Schwanz entfallen. Im frischen ejaculirten Samen
finden sich dieselben bekanntlich in lebhafter Bewegung, welche, wenn
der Same nicht eintrocknet und keine sonstigen Schädlichkeiten, wie
Harn oder saure Flüssigkeiten, auch Wasser, eingewirkt haben, sich
durch mehrere Stunden erhalten kann. In einem auf einer Glasplatte
und unter Glasglocke aufbewahrten Spermatropfen haben wir in einem
Falle noch nach 72 Stunden schwache Bewegungen der Spermatozoiden
wahrnehmen können. Durch Eintrocknen, welches desto rascher erfolgt,
in je dünnerer Schichte das Sperma aufgetragen war, erlischt die
Beweglichkeit der Samenfäden. Im saueren Secret der Vagina hören die
Bewegungen ebenfalls sehr bald auf, während der alkalische Schleim
des Cervix und des Uterus den Spermatozoiden besonders günstige
Lebensbedingungen bietet (+Scanzoni+, +Kölliker+, +Küchenmeister+),
worauf bei der Untersuchung frischer Fälle wohl zu achten ist.
[Sidenote: Vorgang bei der Untersuchung auf Spermatozoiden.]
Im eingetrockneten Samen halten sich die Samenfäden, wenn keine
Schädlichkeiten[81] einwirken, jahrelang und können demnach unter
günstigen Bedingungen noch nach langer Zeit durch mikroskopische
Untersuchung nachgewiesen werden. Um diesen Nachweis zu führen,
muss der betreffende Fleck zunächst aufgeweicht werden. Ist die der
Unterlage anhaftende Substanz in stärkerer Schichte aufgetragen, so
dass sich feine Splitter oder Schüppchen ablösen lassen, was uns
wiederholt vorgekommen ist, dann sind solche mit einer Nadel oder
mit der Spitze des Scalpells abzuheben, was bei der Sprödigkeit der
Substanz einige Vorsicht erfordert, sofort auf einen Objectträger zu
bringen und mit einem Tropfen destillirten Wassers aufzuweichen, wobei
man den Process durch Auseinanderzupfen des Splitters mit zwei Nadeln
befördern kann. Das Aufweichen und Zerzupfen des Objectes ist so lange
fortzusetzen, bis dasselbe entweder sich gelöst oder in möglichst fein
vertheiltem Zustande sich befindet. Hierauf wird der Tropfen mit einem
Deckgläschen bedeckt und unter dem Mikroskope durchmustert.
Dieses Verfahren ist immer einzuschlagen, wenn es möglich ist, Splitter
oder Schüppchen von der eingetrockneten Substanz abzulösen, weil
erstens in solchen dicken Schichten zahlreichere Samenfäden zu erwarten
sind, und weil man die fragliche Substanz für sich allein und ohne
störende Beimengungen zu untersuchen in der Lage ist.
[Sidenote: Aufsuchung und Erkennung von Samenfäden.]
In den meisten Fällen ist die Substanz in die Unterlage eingesogen,
in der Art, dass eine makroskopische Trennung derselben nicht möglich
erscheint. Es empfehlen sich dann folgende zwei Verfahren, von denen
jedes zum Ziele führen kann. Man schneidet entweder ein kleines
Stückchen des zu untersuchenden Fleckes aus, wozu man am besten
die Stellen aussucht, die am meisten gesteift und von der Substanz
gesättigt erscheinen, bringt dieses Stückchen auf ein Uhrschälchen,
befeuchtet dasselbe mit ein paar Tropfen destillirten Wassers und
lässt nun das letztere, am besten unter einer Glasglocke, so lange
einwirken, bis das Wasser sich eingesogen und die dem Gewebe anhaftende
Substanz macerirt hat, wobei man wieder durch Zerzupfen des Gewebes mit
Nadeln nachhelfen kann. Je älter und dichter der Fleck, desto länger
hat man das Aufweichen fortzusetzen, und es ist deshalb angezeigt,
jedesmal, nachdem man das wie erwähnt behandelte Object auf ein Uhrglas
gebracht, einige Stunden verstreichen zu lassen, bevor man die weiteren
Untersuchungen vornimmt. Das entsprechend aufgeweichte Gewebe gibt beim
Ausdrücken in der Regel eine molkige Flüssigkeit, welche ohne Weiteres
unter das Mikroskop gebracht und nach Spermatozoiden durchsucht wird.
Das zweite Verfahren besteht darin, dass man aus dem betreffenden
Flecke ein kleines Stückchen ausschneidet und einzelne aus letzterem
ausgezogene Fäden unmittelbar oder nach vorhergeschickter Maceration
auf die Objectträger bringt, unter Zusatz eines Tropfen Wassers mit
Nadeln zerzupft und mikroskopisch untersucht wird.
Selbstverständlich kann man bei der Untersuchung eines und desselben
verdächtigen Fleckes alle drei Methoden zur Anwendung bringen, und
es empfiehlt sich insbesondere dann, es mit einer anderen Methode
zu versuchen, wenn die eine oder die andere kein sicheres Resultat
ergeben hat. Mag man die eine oder die andere Methode anwenden,
stets ist darauf zu achten, dass die betreffende Substanz genügend
lange aufgeweicht werde. Viele Untersuchungen, namentlich alter und
fest eingetrockneter Spermaflecken, missglücken nur deshalb, weil
man dem Macerationsprocess nicht die nöthige Zeit gönnt. Weiter
ist nicht zu unterlassen, verschiedene Stellen einer und derselben
verdächtigen Spur wiederholter Untersuchung zu unterziehen, denn
Jeder, der mit derartigen Untersuchungen sich zu beschäftigen
Gelegenheit hatte, weiss, dass, während in einzelnen Partien eines
notorischen Samenfleckes massenhaft Spermatozoiden vorkommen, in
anderen nur spärliche oder gar keine gefunden werden können. Ausserdem
ist es bekannt, dass der Gehalt des Spermas an Spermatozoiden bei
verschiedenen Menschen verschieden sein kann, und auch bei einem und
demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten wechselt.
[Sidenote: Untersuchung von Spermaflecken.]
Ferner ist es angezeigt, immer mit stärkeren Vergrösserungen zu
untersuchen. Schwächere können bei der Kleinheit und linearen
Beschaffenheit der Samenfäden, namentlich bei Ungeübten, leicht zu
Täuschungen führen. Jedesmal ist das Auffinden vollständiger und
morphologisch wohl charakterisirter Spermatozoiden anzustreben, denn
nur wenn dieses gelingt, kann der betreffende Fleck als zweifellos
von Samen herrührend erklärt werden, und es genügt begreiflicher
Weise schon der Nachweis eines einzigen Samenfadens, um eine solche
Erklärung abzugeben. Der Nachweis isolirter, den Köpfen oder Schwänzen
der Spermatozoiden ähnlicher Elemente kann niemals eine sichere
Diagnose ergeben, da in dieser Beziehung Irrungen allzu nahe liegen,
und man kann sich häufig genug überzeugen, wie namentlich Anfänger
geneigt sind, alle möglichen linienförmigen Gebilde, die meistens von
den zerzupften Geweben herrühren, für Samenfäden oder mindestens für
Schwänze von diesen zu halten.
Vollkommene Spermatozoiden mit anderen Dingen, z. B. den von +Fränkl+
und +Pfeiffer+ sogenannten Trommelschlägelbacterien, zu verwechseln,
ist wohl nur bei einem ganz Ungeübten möglich, und von einem solchen
sollen derartige wichtige Untersuchungen überhaupt gar nicht
übernommen werden.
Statt des Wassers andere Flüssigkeiten bei der Untersuchung auf
Samenfäden anzuwenden, ist im Allgemeinen nicht nothwendig. Am
ehesten empfiehlt sich noch ein Zusatz von Glycerin, einestheils
der Aufhellung wegen, anderseits, um das schnelle Eintrocknen des
Präparates zu verhüten. Zur Aufhellung kann auch verdünnte Essigsäure
benützt werden, sowie, wenn viele Epithelien beigemengt sind, zur
Zerstörung dieser Kalilauge in Anwendung gezogen werden kann, gegen
welche ebenso wie gegen Säuren sich die Samenfäden ungemein resistent
erweisen.
+Roussin+ (Ann. d’hyg. publ. 1867) hat zur Erleichterung des
Nachweises von Samenfäden die Anwendung einer Lösung von 1 Theil Jod
und 4 Theilen Jodkalium auf 100 Theile Wasser empfohlen, die jedoch
keine besonderen Vortheile bietet.
+Ungar+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1887, XLVI) verwendet
zur Färbung der Spermatozoiden die von +Koch+ für den Nachweis von
Mikrozymen eingeführten Trocken-, respective Deckglaspräparate.
Er erhielt Doppelfärbungen durch Combination von Eosin- und
Hämatoxylinfärbung durch Carminalaun und Eosin, sowie durch Vesuvin
und Eosin, empfiehlt aber als besonders einfach die Färbung
der Samenfäden durch eine mit 3-6 Tropfen Salzsäure versetzte
Methylgrünlösung (0·15-0·3 auf 100·0 Aq. destill.), die uns ebenfalls
gute Resultate gegeben hat.
+Pinkus+[82] und +Liman+ haben darauf aufmerksam gemacht, dass,
wenn man ein mit Wasser bereitetes Präparat eintrocknen lässt, die
Samenfäden in den eingetrockneten Netzen unter dem Deckgläschen
auffallend vergrössert hervortreten. Wir können aus eigener
Erfahrung dieses Verhalten bestätigen, das einestheils aus der
grossen Resistenz der Samenfäden, anderseits aus der durch die
zwischen Objectträger und Deckgläschen eingeschlossene Luftschichte
veranlassten stärkeren Brechung sich erklärt. Da jedoch durch
dieselben Ursachen das mikroskopische Bild gleichzeitig verzerrt
wird, können wir im obigen Vorgange keine besondere Methode für den
Nachweis von Samenfäden erblicken.
[Sidenote: Spermaflecke.]
Wenn trotz sorgfältiger Untersuchung eines verdächtigen Fleckes der
Nachweis von Samenfäden nicht gelungen ist, so geht daraus allerdings
nicht mit absoluter Gewissheit hervor, dass der Fleck nicht von
Sperma herrühren könne, da wir ja oben dargethan haben, dass der Same
mitunter, namentlich nach überstandener gonorrhoischer Epididymitis,
keine Spermatozoiden enthalte, wir sind jedoch mit Rücksicht auf die
verhältnissmässige Seltenheit solcher Fälle berechtigt zu erklären,
dass, da keine Spermatozoiden gefunden wurden, die allergrösste
Wahrscheinlichkeit vorliege, dass der fragliche Fleck nicht von
Sperma herrühre, noch mehr aber, wenn wir durch die mikroskopische
Untersuchung nicht blos die vollkommene Abwesenheit von Samenfäden
dargethan, sondern auch Formelemente gefunden haben, welche für
eine anderweitige Provenienz des Fleckes sprechen, so durch Koth,
Scheidenschleim u. dergl. Dagegen werden wir uns hüten, in einem Falle,
wo vielleicht schon makroskopisch der betreffende Fleck Eigenschaften
zeigt, die auf letzterwähnte Provenienz hinweisen, schon in Folge
dieses Umstandes jede weitere Nachforschung nach Samenfäden aufzugeben,
wir werden vielmehr nicht vergessen, dass ein und derselbe Fleck sowohl
durch Sperma, als durch irgend eine andere Substanz, und zwar sowohl
gleichzeitig, als in verschiedener Aufeinanderfolge, entstanden sein
konnte. Dieses gilt speciell von Blutspuren, die einestheils durch
Menstrualblut und Sperma erzeugt worden sein konnten, aber auch durch
letzteres und das bei der Defloration aus den Hymeneinrissen geflossene
Blut.
Im Allgemeinen ist die Untersuchung nach den genannten Richtungen
ungleich leichter, wenn die verdächtigen Flecke auf reiner Wäsche
sitzen, als wenn lange getragene, schmutzige und vielfach besudelte
Hemden u. dergl. vorliegen. Dass aber gerade letzteres häufiger der
Fall ist, ist begreiflich, da ungleich seltener Individuen aus besseren
Ständen, als solche aus niederen und meistens niedersten, Objecte von
Nothzuchtsattentaten werden, wie schon +Casper+ ganz richtig
hervorgehoben hat.
C. Nachweis virulenter Affection.
Nicht selten sind die Fälle, in denen durch den gesetzwidrig
ausgeübten Beischlaf eine virulente Infection des betreffenden
weiblichen Individuums veranlasst wurde, und es bedarf keiner weiteren
Auseinandersetzung, welcher Werth einem solchen Nachweis für die
Diagnose eines stattgefundenen Beischlafes zukommt.[83]
In den meisten Fällen sind es locale catarrhalische oder ulceröse
Processe, welche den Verdacht erwecken, dass sie mit einer virulenten
Infection in ursächlicher Beziehung stehen. Es handelt sich dann immer
zunächst um die Frage, ob die betreffende Affection thatsächlich eine
virulente sei oder ob sie nicht vielleicht anderweitig, insbesondere
etwa nur durch die mechanische Irritation oder durch Verletzung, sich
entwickelt habe. Die Beantwortung dieser Frage ist keineswegs eine
leichte und es ist in dieser Richtung ganz besondere Vorsicht zu
beobachten.
[Sidenote: Virulente Blennorrhoe.]
Dies gilt schon gegenüber +blennorrhoischen Zuständen+. Zunächst ist
festzuhalten, dass catarrhalisch-entzündliche Processe, insbesondere
bei Kindern, auch durch mechanische Reizung sowohl durch Coitusacte
als mit den eigenen oder fremden Fingern entstehen können. Sie können
auch zu Simulationszwecken künstlich hervorgebracht werden, wovon
+Fournier+ (Virchow’s Jahrb. 1880, I, pag. 647) zwei Beispiele anführt.
In einem dieser Fälle hatte die Mutter eines Kindes die Affection durch
wiederholtes Reiben mit einer alten Schuhbürste erzeugt und dann gegen
einen vermögenden Mann die Anklage wegen Missbrauch des Kindes erhoben;
im zweiten war sie durch Einstopfen schmutziger Fetzen erzeugt worden,
um darauf die Nothzuchtsanklage gegen einen Arbeiter, welcher der
Pflegerin des Kindes untreu geworden war, basiren zu können.
Es handelt sich in diesen Fällen in der Regel nur um
Irritationserscheinungen an der Vulva, die bei gehöriger Behandlung,
insbesondere schon bei einfacher Reinigung und Aussetzung der
mechanischen Insulte, binnen wenigen Tagen zu heilen pflegen.
[Sidenote: Differentialdiagnose der Blennorrhoe. Gonokokken.]
Ungleich wichtiger ist die Thatsache, dass catarrhalische Zustände
der wirklichen Genitalien auch aus anderen Ursachen vorkommen und
eine mehr weniger grosse Aehnlichkeit mit dem gonorrhoischen Catarrh
aufweisen können. Bekanntlich sind bei geschlechtsreifen Mädchen,
noch mehr aber bei Frauen, die bereits geboren haben, Schleimflüsse
häufig, die auf gewöhnliche chronisch-catarrhalische Erkrankungen
der Uterusschleimhaut beruhen und mitunter mit constitutionellen
Erkrankungen, wie Tuberculose, lymphatischer Constitution, Chlorose
u. dgl., im ursächlichen Zusammenhange stehen. Aber auch bei Kindern
finden sich solche chronische Affectionen nicht selten. Ausserdem
kommen aber, und zwar mitunter epidemisch, acute Vulvovaginitiden vor,
die, obgleich anderweitigen, wahrscheinlich ebenfalls infectiösen
Ursprungs, doch nicht durch gonorrhoische Ansteckung veranlasst worden
sind.[84]
Es bedarf mitunter einer sehr sorgfältigen Beobachtung und einer
sehr genauen Erwägung aller Umstände des Falles, um eine solche
Erkrankung von wirklicher Blennorrhoe zu unterscheiden, umsomehr, als
weder die Dauer der Incubation, noch die Menge und Beschaffenheit
des Secretes, noch die Intensität der Entzündungserscheinungen, die
Mitbetheiligung der Urethra oder die Dauer des Processes sichere
Unterscheidungsmerkmale liefern.
Nachdem +A. Neisser+ in seinen Gonokokken den specifischen Erreger der
virulenten Blennorrhoe gefunden hatte, der gegenwärtig fast allgemein
als solcher anerkannt wird, lag es nahe, den +Nachweis von Gonokokken+
in verdächtigen Secreten auch für forensische Zwecke zu fordern und
für die Unterscheidung der gonorrhoischen Affectionen von anderen
heranzuziehen. In der That wurde durch +Lober+ (1887), +Aubert+ (1888)
und +Kratter+ (1890) der Nachweis von Gonokokken für forensische Zwecke
empfohlen und in der That angewendet. Da jedoch von mehreren Autoren,
wie +Bockhardt+, +Mannaberg+, +Lustgarten+, +Legrain+, +Oberländer+,
+Zeissl+ und +Combry+, in der gesunden sowohl als kranken Urethra
Diplokokkenarten gefunden wurden, die den +Neisser+’schen ähnelten,
ja theilweise sogar in Form (die zweier mit ihren flachen aneinander
gelegten Kaffeebohnen), in ihrem Vorkommen im Protoplasma der
Eiterkörperchen und in ihrem tinctoriellen Verhalten (Entfärbung der
durch +Gram+’sche Lösung tingirten Kokken durch Alkohol) sich wie die
echten Gonokokken verhalten haben sollen, so konnte man diesem Nachweis
nicht jene Sicherheit vindiciren, die bei gerichtsärztlichen Gutachten
gefordert wird.
[Sidenote: Nachweis von Gonokokken.]
Seitdem es jedoch +Wertheim+[85] gelungen ist, eine leichte, aber
sichere Methode der Reinzüchtung (auf aus menschlichem Blutserum und
Agar gemischtem Nährboden) aufzufinden, ist auch die Erkennung der
gonorrhoischen Affection insofern eine sichere geworden, als, wenn
die Reinzüchtung gelingt, über die specifische Natur des Leidens kein
Zweifel bestehen kann. Nach +Haberda+[86] gibt die Reinzüchtung
selbst noch in jenen Fällen ein positives Resultat, wo die Untersuchung
im Deckglaspräparate, aus welchem Grunde immer, besonders aber in
chronischen Fällen oder überhaupt bei spärlichem Gonokokkengehalt des
Secretes, selbst nach langem Suchen oft nur unsichere Resultate liefert.
Die mikroskopische Untersuchung auf Gonokokken ist namentlich bei
acuten Fällen von Erfolg, doch hat sie +Neisser+ unter 80 Fällen von
chronischer Gonorrhoe 18mal gefunden, wo die Erkrankung länger als 1
Jahr und 20mal, wo sie über 2 Jahre bestand.
Den Untersuchungen +Haberda+’s zufolge lassen sich die Gonokokken
auch in auf Leinwand und dergl. eingetrockneten Flecken noch
nach mehreren Wochen mikroskopisch erkennen, doch sind in dünnen
Flecken schon nach wenigen Tagen, in dicken schon nach einigen
Wochen Kern und Zellleib der Eiterzellen so zerfallen, dass der
differentialdiagnostisch wichtige Umstand, ob die Kokken im Protoplasma
der Eiterkörperchen liegen, nicht mehr zu constatiren ist. Ist
der Eiter vollständig eingetrocknet, so haben die Gonokokken ihre
Vermehrungsfähigkeit verloren, so dass sie dann durch Cultur nicht mehr
nachgewiesen werden können.
[Sidenote: Initialsclerose.]
Gleiche Vorsicht ist bei der Beurtheilung +ulceröser Processe+ an den
weiblichen Genitalien anzuwenden. Verhältnissmässig leicht ist der
Initialeffect der Syphilis -- der harte oder +Hunter+’sche Schanker --
als solcher zu erkennen, da die Induration seiner Basis, die geringe
Eiterung, die zögernde Vernarbung, das meist schon in den ersten
vier Wochen zu constatirende Auftreten indolenter Bubonen und die
ebenfalls bald auftretenden Erscheinungen allgemein syphilitischer
Erkrankung denselben charakterisiren. Bezüglich der Sclerose der Basis
und Umgebung solcher Geschwüre ist jedoch zu bemerken, dass sie nicht
immer in gleich typischer, sondern manchmal in wenig ausgeprägter Weise
einzutreten pflegt, dass ferner mit eigentlicher Sclerose nicht die
teigige, mehr ödematöse Beschaffenheit des Nachbargewebes des weichen
Schankers, der catarrhalischen, sowie der traumatischen Geschwüre
verwechselt werden darf, und dass auch letztere Geschwüre, wenn sie auf
einer dichteren Unterlage, z. B. an der Uebergangsfalte des Präputiums
des Penis oder der Clitoris, sitzen, eine solche Derbheit der Textur
bedingen können, dass diese mit Sclerose verwechselt werden kann. So
erwähnt +Zeissl+ (l. c. II, 59), dass er wiederholt bei Säuglingen
consultirt wurde, bei welchen nach vorgenommener ritueller Circumcision
in dem zurückgebliebenen Theile der Vorhaut oder in der Glans
selbst Induration zu bemerken war, und deshalb, sowie weil auch die
benachbarten Drüsen hyperplastisch vergrössert und zuweilen sogar in
Vereiterung begriffen sich fanden, der Beschneider beschuldigt wurde,
die Kinder inficirt zu haben. Es wurde jedoch constatirt, dass an dem
Beschneider keine Spur einer recenten oder alten Syphilis aufzufinden
war, und dass auch bei den betreffenden Kindern, selbst nach längerer
Beobachtung, keine consecutive Syphilis auftrat.[87]
[Sidenote: Weicher Schanker. Eiternde Bubonen.]
Die Unterscheidung des weichen Schankers von anderweitigen,
insbesondere traumatischen Geschwüren hat mitunter grosse
Schwierigkeiten. Der Sitz des Geschwüres bietet keine Anhaltspunkte für
die differentielle Diagnose. Zwar kommen die meisten Schankergeschwüre
an den Schamlefzen, am Scheideneingange und an der unteren
Scheidencommissur vor (+Zeissl+), aber diese Stellen sind es auch,
an welchen am häufigsten catarrhalische oder traumatische Erosionen und
gröbere Läsionen, worunter auch Hymeneinrisse gehören, vorkommen. Der
Grund und die Beschaffenheit der Ränder sind beim Schanker keineswegs
so charakteristisch, wie gewöhnlich angenommen wird; denn die speckige
Beschaffenheit des Grundes kann, da sie nur eine Necrose der obersten
Schichten der Geschwürsfläche bedeutet, auch bei anderen, insbesondere
unrein gehaltenen, vernachlässigten Geschwüren vorkommen; und was die
Form des Geschwüres und die Beschaffenheit seiner Ränder betrifft,
so ist sie sowohl beim Schanker, als beim traumatischen Geschwüre
meist eine unregelmässige und vielfach bedingt durch den Sitz des
Geschwüres. Es bleibt demnach nur der Verlauf des Processes, der für
die Unterscheidung verwerthet werden kann, insoferne einestheils das
rasche Weitergreifen des Ulcus den Schanker charakterisirt, während
das aus Erosionen oder Verletzungen entstandene Geschwür sich mehr auf
die Ursprungsstelle beschränkt, und als anderseits bei zweckmässiger
Behandlung letztere Defecte viel rascher heilen als die virulente
Affection.
Entzündliche Lymphdrüsenschwellung und Vereiterung kann sowohl in
Folge eines weichen Schankers als in Folge eines traumatischen
Geschwüres auftreten, doch ungleich häufiger im ersteren als im
letzteren Falle, namentlich suppurative Bubonen, an welchen nach den
Angaben +Zeissl+’s (l. c. I, 223) von 100 mit Schanker behafteten
Individuen durchschnittlich 40 zu erkranken pflegen, wobei jedoch
allerdings beachtet zu werden verdient, dass bei Weibern die Bubonen
seltener auftreten als bei Männern.
Da der weiche Schanker bekanntlich auf dasselbe Individuum überimpfbar
ist, so wird man nicht unterlassen, von diesem diagnostisch sehr
wichtigen Hilfsmittel Gebrauch zu machen, umsomehr, als, wenn unter
gewissen Cautelen vorgegangen wird, eine Gefahr für das Individuum
aus einer solchen Inoculation sich nicht ergibt. Es wird jedoch zu
beachten sein, dass mitunter auch gewöhnliche eiterige Secrete, wenn
sie eingeimpft werden, Geschwüre erzeugen können, allerdings niemals
mit jener Constanz und jenem charakteristischen Verlauf wie das Secret
des virulenten Geschwüres.
[Sidenote: Differentialdiagnose.]
Von anderen Processen, die mit Schankergeschwüren verwechselt werden
können, sind die herpetische Eruption und brandige Processe nicht
virulenter Art zu erwähnen.
Die Herpeseruption, gewöhnlich H. praeputialis genannt, obwohl
sie an den allgemeinen Decken der weiblichen Genitalien ebenfalls
vorkommt und sich daselbst ebenso wie beim Manne in Folge der
Irritation beim Coitus entwickeln kann, ist durch die grosse Zahl
der meist stecknadelkopfgrossen und zu Gruppen gestellten Bläschen
gekennzeichnet, welche, ohne weiter zu greifen, vertrocknen und unter
der Kruste heilen.
Gangränöse Processe der äusseren weiblichen Genitalien sind bei
Kindern wiederholt beobachtet worden. Es gehört hierher das Noma,
sowie die Diphtherie, welche namentlich in Begleitung von Scharlach
und Typhus auftreten kann, und es wäre denkbar, dass solche Processe
für phagedänische Schankergeschwüre oder für durch mechanische Insulte
erzeugte Destructionen gehalten werden könnten. +Taylor+[88] berichtet
von einem vierjährigen Mädchen, welches mit Gangrän der äusseren
Genitalien und grossem Schwächezustande in das Spital von Manchester
aufgenommen worden war. Dasselbe hatte mit einem 14jährigen Knaben in
einem Bette geschlafen, und da erhob sich der Verdacht, dass Letzterer
mit dem Kinde unzüchtige Acte getrieben habe. Die Gangrän gewann an
Ausbreitung und das Kind starb. Der Knabe kam wegen Nothzucht vor die
Assisen und wurde nur deshalb freigesprochen, weil sich herausstellte,
dass zu jener Zeit ähnliche destructive Processe auch bei anderen
Mädchen der Nachbarschaft beobachtet worden waren, und dass in einem
dieser Fälle zweifellos der Process im Verlaufe einer typhösen
Erkrankung aufgetreten war.
[Sidenote: Unters. d. Beschuldigten.]
Selbstverständlich ist in jedem Falle, in welchem sich thatsächlich
eine virulente Infection bei einer angeblich geschlechtlich
missbrauchten Person ergibt oder auch nur der Verdacht einer solchen
besteht, auch der Angeschuldigte zu untersuchen, um zu constatiren
einestheils, ob derselbe ebenfalls an einer virulenten Affection leidet
oder gelitten hat, anderseits, ob das betreffende Leiden in seiner
Natur der Affection entspricht, welche bei dem weiblichen Individuum
gefunden wurde, sowie ob der Entwicklungsgrad der Affection bei beiden
Individuen in der That die Annahme gestattet, dass zu einer bestimmten
Zeit durch einen Coitus das Virus durch den Mann auf die betreffenden
weiblichen Genitalien übertragen worden ist.
[Sidenote: Virulente Processe.]
Besteht bei dem Manne ein frisches virulentes Leiden, dann wird dessen
Nachweis keine Schwierigkeit bieten. Dagegen kann ein Nachtripper
sich der ersten Beobachtung entziehen, weshalb es angezeigt sein
wird, wiederholt und insbesondere möglichst lange Zeit nach einer
stattgehabten Harnentleerung zu untersuchen. Auch Geschwürsnarben,
besonders solche von geringer Ausdehnung und wenn sie an faltigen
Stellen sitzen, sind mitunter nicht so leicht zu entdecken, ebenso
nach +Hunter+’schen Geschwüren zurückgebliebene Narben. Da beim
Manne vorzugsweise das Frenulum und das Präputium den Sitz der
Schankergeschwüre bildet, so sind insbesondere diese einer genauen
Untersuchung zu unterziehen, ausserdem jedesmal die Leistengegenden
bezüglich des Verhaltens der Lymphdrüsen, ferner bei Verdacht auf
Syphilis die Haut, die Umgebung des Afters, der Rachen, sowie überhaupt
alle Stellen, an welchen consecutive syphilitische Processe aufzutreten
pflegen.
[Sidenote: Verlauf.]
Der Beweis, dass in der That zu einer bestimmten Zeit, beziehungsweise
durch den in Frage stehenden geschlechtlichen Missbrauch, die bei
der Untersuchung des weiblichen Individuums constatirte specifische
Infection erfolgte, wird zunächst Erhebungen in der Richtung erfordern,
ob der Entwicklungsgrad des virulenten Processes übereinstimmt mit
der Zeitdauer, welche von dem angeblichen Coitus bis zum Momente der
ärztlichen Untersuchung verflossen ist. In dieser Beziehung wird der
durchschnittliche Verlauf venerischer und syphilitischer Erkrankungen
im Auge zu behalten sein, wie er sich der Erfahrung zufolge in der
Regel ergibt, ebenso sind aber auch alle Momente zu berücksichtigen,
welche diesen Verlauf zu beschleunigen oder zu verzögern vermögen.
Beim Tripper pflegt sich nach +Zeissl+ gewöhnlich schon 24
Stunden nach geschehener Infection ein lästiges Prickeln und Jucken
in den Genitalien einzustellen, die betreffende Schleimhaut beginnt
zu schwellen und sich zu röthen und meist schon am 4. bis 6. Tage, in
seltenen Fällen erst am 12. bis 16. Tage, verändert sich das anfangs
seröse oder mucös-seröse Secret zu einem dicken eitrigen, welche
anfangs profuse, später abnehmende Secretion 14 Tage bis 3 Wochen
andauert, dann in eine schleimige sich umwandelt, die bei zweckmässiger
Behandlung binnen wenigen Tagen verschwinden, im gegentheiligen Falle
aber in einen chronisch-catarrhalischen Zustand übergehen kann, der
wochen- und monatelang nachweisbar ist. Hierbei kommt zu bemerken,
dass, wie +Zeissl+ (l. c. I, 117) hervorhebt, der purulente
Vaginaltripper, der schon bis auf ein Minimum geschwunden war, durch
den Eintritt der Menstruation gleichsam wieder angefacht werden kann.
Bezüglich des weichen Schankers haben Impfversuche gelehrt, dass schon
am 6. Tage nach geschehener Infection ein Schankergeschwür entwickelt
sein kann, welches bei günstigen Verhältnissen durchschnittlich 4 bis 5
Wochen um sich greift, um dann mit Granulationen sich zu bedecken und
binnen beiläufig 14 Tagen zu vernarben (+Zeissl+, l. c. I, 190).
Unreines Verhalten kann sowohl die Dauer des Destructionsprocesses
verlängern, als die Vernarbung verhindern. Gleiches findet bei
phagedänischen Geschwüren statt.
Die Entwicklung der typischen Sclerose erfordert mehrere Wochen (nach
+Grünfeld+ durchschnittlich 21 Tage) und hält dann ungleich länger an
als der weiche Schanker. +Zeissl+ (l. c. 57) sah noch keine Induration
vor Ablauf von 90 Tagen vollkommen schwinden, wenn auch der Kranke
gleich beim Beginne der Sclerose mercuriell behandelt wurde. Sehr
häufig erhielt sie sich 8 bis 9 Monate und darüber. Die indolenten
Bubonen pflegen sich schon in der vierten Woche nach stattgehabter
Infection zu zeigen und bleiben trotz antisyphilitischer Behandlung
3 bis 4 Monate stationär (l. c. 64). Die Eruption allgemeiner
consecutiver Erscheinungen scheint nie vor der achten Woche nach
stattgehabter Infection aufzutreten und pflegt dann in der Regel zuerst
auf der Haut, dann auf einzelnen Schleimhäuten (Nasenhöhle, Rachen) und
viel später erst in anderen Organen zu erfolgen (l. c. 81).
Auch bezüglich des Mannes wird von denselben Erfahrungssätzen
ausgegangen werden müssen bei der Beurtheilung der Frage, ob bei ihm
ein bestimmtes virulentes Leiden zu jener Zeit, als angeblich der
geschlechtliche Act ausgeübt wurde, bereits bestand oder noch bestand.
In dieser Beziehung ist auch zu bemerken, dass der Tripper des Mannes,
wie +Zeissl+ (l. c. I, 13) ausführt, bereits in den allerersten
Stadien seines Bestehens, noch bevor eine eitrige Secretion auftritt,
bereits inficiren kann, und dass anderseits selbst jene Formen des
Nachtrippers, in welchen nur noch Spuren eines Ausflusses nachweisbar
sind, Infectionen, insbesondere an den sehr empfänglichen Genitalien
von Kindern, bedingen können.
Die Umstände, unter welchen der Beischlaf ausgeübt wurde.
Von den Umständen, unter welchen die Ausübung des Beischlafes
gesetzwidrig erscheint, bedürfen blos die im §. 125 und §. 127 des
österr. St. G. B., beziehungsweise der §§. 187, 188 und 189 des österr.
St. G. Entwurfes und des §. 176, lit. 2 und 3, sowie des §. 177 des
deutschen St. G. einer besonderen Besprechung.
Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass der Beischlaf als
gesetzwidrig bestraft, beziehungsweise als Nothzucht behandelt wird,
wenn er 1. durch gefährliche Bedrohung oder 2. durch wirklich ausgeübte
Gewalt erzwungen, oder 3. an einer zu diesem Zwecke bewusst- oder
wehrlos gemachten, oder 4. an einer anderweitig im Zustande der Wehr-
oder Willenlosigkeit sich befindenden Person, oder endlich 5. mit einem
Kinde unter 14. Jahren ausgeübt worden ist.
[Sidenote: Bedrohung.]
Ad 1. +Die gefährliche Bedrohung+ oder, wie sich der St. G. Entwurf
und das deutsche St. G. ausdrücken, die Drohung mit gegenwärtiger
Gefahr für Leib und Leben ist kein Umstand, welcher der ärztlichen
Beurtheilung unterliegt, es ist vielmehr klar, dass sich die Erhebung
eines solchen Umstandes der gerichtsärztlichen Competenz vollkommen
entzieht.
[Sidenote: Durch Bedrohung oder Gewalt erzwungener Beischlaf.]
+Maschka+ (Handb. III, 155) bemerkt mit Recht, dass die gefährliche
Drohung nicht ausschliesslich das eigene Leben der Bedrohten,
sondern auch jenes anderer ihr nahestehender Personen betreffen,
eventuell auch in Androhung der Enthüllung wichtiger, die Ehre der
Bedrohten oder ihrer Angehörigen betreffender Geheimnisse bestehen
könne und bringt einen Fall, wo eine junge Frau, die sich lange gegen
die Ueberwältigung gewehrt hatte, schliesslich den Coitus zuliess,
als der Attentäter ihr Kind ergriff und demselben den Schädel an der
Wand zu zerschmettern drohte, wenn sie ihm nicht zu Willen wäre. In
diesem Falle hatte +Maschka+ die Frage zu beantworten, ob letztere
Drohung geeignet war, die Frau willenlos und widerstandsunfähig zu
machen, was er mit Rücksicht auf kleine Verletzungen, welche die
Angabe des vorhergegangenen Kampfes bestätigten, und mit Rücksicht
auf die Umstände des Falles, speciell der Natur der Drohung, bejahte.
Wir sind in dieser Beziehung der Ansicht, dass, strenge genommen, nur
die Constatirung der auf einen Kampf schliessen lassenden Befunde
in das Gebiet des Gerichtsarztes gehörte, aber zur Beurtheilung
des psychischen Einflusses der betreffenden Drohung auf die
Willensbestimmung der Mutter ein ärztliches Gutachten gewiss nicht
nothwendig war.
Ad 2. Handelt es sich um einen angeblich durch +Gewalt+ erzwungenen
Beischlaf, so wird zu erwägen sein, ob es sich im vorliegenden Falle
um die Anwendung grober Gewaltacte, z. B. Niederschlagen, schwere
Verletzungen, Würgen u. dergl., handelt oder um Ueberwältigung im
engeren Sinne.
Im ersteren Falle unterliegt die Beurtheilung keiner Schwierigkeit
und wird insbesondere der Nachweis der betreffenden Verletzungen den
Ausschlag geben. Was aber die Frage betrifft, ob eine erwachsene, ihrer
Sinne mächtige und zum Widerstand fähige Person von einem einzelnen
Manne durch einfache Ueberwältigung zur Duldung des Beischlafes
gezwungen werden könne, so wurde diese von älteren Gerichtsärzten,
so schon von +Paulus Zacchias+[89], +Metzger+[90] und selbst von
ärztlichen Corporationen[91] mit mehr weniger Entschiedenheit verneint,
indem sie darauf hinwiesen, dass, wenn auch eine Ueberwältigung
erfolgt sei, die Einbringung des Penis unschwer durch Bewegungen
des Körpers, insbesondere des Beckens, verhütet werden könne. Wenn
auch im Allgemeinen diesen Anschauungen eine Berechtigung nicht
abgesprochen werden kann, so wäre es doch entschieden irrig, wenn
man ihnen eine ausnahmslose Geltung zuschreiben wollte. Es kommt in
solchen Fällen zunächst der Kräftezustand der dabei Betheiligten in
Betracht. Während z. B. von einer Ueberwältigung nicht wird die Rede
sein können, wenn das Weib robust, der angebliche Attentäter aber
schwächlich befunden wird, wird wohl nicht zu leugnen sein, dass ein
starker Mann ein zart gebautes, keiner ausgiebigen Kraftentwicklung
fähiges, vielleicht dazu timides Mädchen unschwer wird überwältigen,
beziehungsweise zur Duldung des Coitus wird zwingen können. Aber
auch bei nicht schwächlichen weiblichen Individuen ist zu erwägen,
dass selbst energisch geleisteter Widerstand endlich erlahmt, und
dass ausser der Gewalt auch die durch sie erzeugten Schmerzen, sowie
der Einfluss des psychischen Affectes, namentlich des Schreckens und
der Angst, dass Schlimmeres geschehen könnte, in Betracht zu ziehen
sind, welche nach vergeblichem Ringen schliesslich die Person theils
bewegen, nachzugeben, theils überhaupt eine weitere Widerstandsleistung
unmöglich machen.
[Sidenote: Erzwingung des Beischlafes.]
Wenn demnach im Allgemeinen gegenüber Angaben erwachsener und
widerstandsfähig gewesener weiblicher Individuen, dass an ihnen die
Nothzucht mit Gewalt vollzogen wurde, um so mehr die grösste Vorsicht
und Objectivität anzuempfehlen ist, als die Erfahrung lehrt, dass
verhältnissmässig häufig derartige Angaben blos erfunden werden, so
wird doch jeder einzelne Fall als solcher zu erwägen sein, insbesondere
aber auf die beiderseitigen Körperkräfte, sowie darauf Rücksicht
genommen werden müssen, ob beim Weibe dieselben vollständig zur Geltung
gelangen konnten oder nicht.
[Sidenote: Spuren von Gewaltanwendung.]
In jedem derartigen Falle ist nach etwa zurückgebliebenen Spuren der
angethanen Gewalt zu forschen, und es ist klar, dass solche desto
eher erwartet werden können, je intensiver und länger der angebliche
Widerstand gewesen ist. Hautaufschürfungen und Sugillationen, seltener
grössere Verletzungen können gefunden werden, und ihre Beschaffenheit
sowohl als ihr Sitz möglicherweise die Angaben der Klägerin
unterstützen. +Casper+ fand bei einem zartgebauten Mädchen fast
unmittelbar nach der thatsächlich stattgehabten Ueberwältigung ausser
einem frischen Hymeneinriss frische Sugillationen an der Innenfläche
beider Oberschenkel über den Knieen, offenbar vom Fingerdruck
herrührend, beziehungsweise von den Bemühungen des Thäters, die
Schenkel der betreffenden Person auseinander zu bringen. +Maschka+
(l. c. 104) sah bei einem 24jährigen Mädchen, welches sich des
Attentäters nach längerem Kampfe wirklich erwehrte, ein Hämatom der
linken Schamlippe. Dagegen hatten wir Gelegenheit, einen Fall zu
untersuchen, der ein 25jähriges, angeblich mit Gewalt genothzüchtigtes
Mädchen betraf, bei welchem vom erst untersuchenden Arzte
Sugillationen an der Innenfläche beider Oberschenkel diagnosticirt
und von Fingereindrücken des Stuprators abgeleitet wurden, während
sich dieselben bei näherer Untersuchung als jene halbmondförmigen
pigmentirten Hautstellen ergaben, welche sich bei brünetten Mädchen
und Frauen an der Innenfläche der Oberschenkel, den unteren Rand der
Genitocruralfalte bildend, nicht selten und vollkommen symmetrisch zu
finden pflegen. Auch ist zu bemerken, dass, wie +Maschka+ (l. c. 132)
hervorhebt und durch zwei Fälle illustrirt, Verletzungen als Zeichen
angeblich erlittener Gewalt und geleisteter Gegenwehr auch künstlich
erzeugt werden können.
Da die etwa zurückgebliebenen Spuren einer angethanen Gewalt in
der Regel ganz unbedeutende Beschädigungen darstellen, so ist es
begreiflich, dass der Nachweis solcher wohl nur in frischen Fällen wird
gelingen können. Das Gleiche gilt von etwaigen Zeichen geleisteter
Gegenwehr am Körper des betreffenden Mannes, dessen Untersuchung in
dieser Richtung allerdings nicht blos behufs eventueller Constatirung
der erwähnten Spuren (Kratz- und Bisswunden, Sugillationen,
möglicherweise auch Verletzungen an den Genitalien, besonders am
Penis), sondern auch behufs der Erhebung seines Körper-, respective
Kräftezustandes nicht zu versäumen sein wird.
Dass zwei oder gar mehrere Männer verhältnissmässig ungleich leichter
ein selbst kräftiges Mädchen gewaltsam geschlechtlich missbrauchen
können, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Doch wurde in
einer 1872 wegen Nothzucht stattgefundenen Gerichtsverhandlung in
Wien constatirt, dass drei junge Männer nicht im Stande waren, das
18jährige Mädchen, welches sie auf der Landstrasse überfallen hatten,
zu stupriren.
[Sidenote: Absichtliche Betäubung.]
Ad 3. Während §. 125 des österr. St. G. den Ausdruck „arglistige
Betäubung“ gebraucht, spricht der §. 189 des österr. St. G. Entwurfes
von einer zum Zwecke der Vollbringung des Beischlafes eingeleiteten
„Versetzung in einen Zustand der Wehr- und Willenlosigkeit“, der §.
177 des deutschen St. G. aber von einer „Versetzung in einen willen-
oder bewusstlosen Zustand“. Offenbar haben alle diese gesetzlichen
Bestimmungen einestheils die +absichtliche Betäubung+, anderseits
die +absichtlich herbeigeführte Wehrlosigkeit+ im Auge.
Letztere ist eigentlich unter den eben behandelten Umstand angethaner
Gewalt zu subsumiren und bedarf keiner besonderen Besprechung; doch
dürfte der Gesetzgeber hier weniger offene Gewalt, als heimtückisch
erzeugte Wehrlosigkeit im Auge gehabt haben.
Bezüglich des im §. 125 des österr. St. G. B. gebrauchten Ausdruckes
„arglistige Betäubung ihrer Sinne“ bemerkt +Herbst+ in seinem
Handbuch des österr. Strafrechtes[92]: „Eine durch künstliche
Aufregung der Sinne herbeigeführte grössere Geneigtheit, sich dem
Verführer hinzugeben, genügt nicht zum Thatbestande des Verbrechens,
sondern es wird deren eigentliche, die Möglichkeit des Widerstandes
ausschliessende Sinnes+betäubung+ gefordert. Letztere muss überdies
„arglistig“ gewesen sein, was nur dann behauptet werden kann, wenn
dabei eine Irreführung der Frauensperson durch auf Täuschung berechnete
Handlungen oder die Benützung eines Irrthumes oder der Unwissenheit
derselben stattgefunden hat.“
Der Ausdruck „Betäubung“ ist offenbar mit dem der Bewusstlosigkeit
und Willenlosigkeit, wie ihn der österr. Entwurf, beziehungsweise das
deutsche St. G. gebrauchen, identisch und wird im gleichen Sinne zu
commentiren sein. Dagegen kommt in den letzteren Gesetzen der Ausdruck
„arglistig“ nicht mehr vor.
Eine „Betäubung der Sinne“, respective eine Bewusstlosigkeit, kann
bewirkt worden sein einerseits durch mechanische, anderseits durch
narcotische Mittel.
Als mechanisch herbeigeführte Bewusstlosigkeit wäre z. B. eine
Betäubung durch Schläge auf den Kopf oder durch Strangulation[93] zu
erachten, Vorgänge, deren Stattgefundenhaben nach an anderen Stellen
anzugebenden Grundsätzen zu erheben sein wird.
Von narcotischen Mitteln, die zum Zwecke der Betäubung der zu
stuprirenden Person in Anwendung kommen könnten, wären zunächst
alkoholische Getränke zu erwähnen. Nach dem gegenwärtigen österr. St.
G. wird wohl eine behufs Vollziehung des Beischlafes eingeleitete
Berauschung einer erwachsenen Frauensperson mit Alkoholicis nicht als
„arglistige“ Betäubung genommen werden können, da vorauszusetzen ist,
dass eine erwachsene Frauensperson sowohl alkoholische Getränke, als
den Zustand, den ihr Uebergenuss herbeiführt, kennen wird, demnach
von einer „Irreführung der Person durch auf Täuschung berechnete
Handlungen“ nicht die Rede sein kann. Doch würde gewiss auch im
Sinne des österr. St. G. die in der bezeichneten Absicht bewirkte
Berauschung jugendlicher, mit der Wirkung des Alkohols unbekannter
Personen, insbesondere Kinder, hierher gerechnet werden müssen.
Da weder im öster. St. G. Entwurf, noch im deutschen St. G. der
Ausdruck „arglistig“ oder ein ähnlicher vorkommt, so ist wohl kein
Zweifel, dass in den betreffenden Paragraphen auch eine absichtliche
Berauschung einer (erwachsenen) Frauensperson gemeint sein dürfte.
Es scheint jedoch, dass die Gesetzgeber vorzugsweise die Betäubung
mit Schlaf herbeiführenden Mitteln, wie Opium, Morphium, Chloroform,
Chloralhydrat, im Auge hatten. Diese Mittel sind bekanntlich allerdings
geeignet, Bewusstlosigkeit zu bewirken, und es ist auch zuzugeben, dass
sie „arglistig“ beigebracht werden können.
[Sidenote: Chloroformirung Schlafender.]
Es ist jedoch unseres Wissens kein einziger Fall sichergestellt,
dass ein Individuum ausschliesslich zu dem Zwecke narcotisirt wurde,
um an der Betäubten den Coitus auszuüben.[94] Dagegen wird über
Fälle berichtet, in denen während der zu einem anderen Zwecke,
insbesondere behufs Vornahme von Operationen, eingeleiteten Narcose
die betreffenden Individuen geschlechtlich missbraucht worden sind.
+Taylor+[95] berichtet über zwei solche Fälle, und einen gleichen
hat +Schuhmacher+[96] veröffentlicht. In diesen Fällen wurde die
Narcose mit Chloroform erzeugt, und die Möglichkeit eines derartigen
Missbrauches der Chloroformnarcose muss gewiss zugegeben werden.
Dagegen sind Angaben, dass die Betreffenden durch plötzliches
unerwartetes Vorhalten von Chloroform oder anderen narcotischen
Substanzen sofort bewusstlos gemacht oder gar während des natürlichen
Schlafes chloroformirt und dann missbraucht worden sind, nur mit
der grössten Vorsicht zu beurtheilen. Derartige Anschuldigungen
sind thatsächlich vorgekommen und werden von +Taylor+ (l. c.),
ferner von +Kidd+, +Stephens Royers+ u. A.[97] mitgetheilt. Erstere
Angabe ist entschieden zurückzuweisen, da weder Chloroform, noch
ein anderes Narcoticum sofort und unmittelbar, nachdem es vor die
Respirationsöffnungen gebracht wurde, beziehungsweise schon nach einem
oder nur ganz wenigen Athemzügen Bewusstlosigkeit herbeiführt. Was aber
die Möglichkeit der Chloroformirung Schlafender betrifft, so wurde
dieselbe aus Anlass derartiger in foro vorgekommener Behauptungen von
+Stephens Royers+ und 1873 von +Dolbeau+[98] experimentell geprüft.
Ersterer erhielt bei seinen Versuchen mit Thieren negative Resultate.
Ebenso anfangs +Dolbeau+, sowohl bei Thieren als bei einer jungen Frau,
indem er fand, dass zwei bis drei Minuten, nachdem der mit Chloroform
getränkte Schwamm auf mässige Entfernung den Respirationsöffnungen
genähert worden war, die Betreffenden mit den Zeichen des Schreckens
erwachten und aufsprangen. Bei späteren, an kranken Menschen
vorgenommenen Versuchen, gelang es ihm jedoch, von 29 Schlafenden 10,
also ein Drittel, zu chloroformiren, während die übrigen erwachten
und dagegen reagirten.[99] +Winkler+ (l. c.) wendet zwar gegen diese
Versuche ein, dass sie an kranken Personen vorgenommen wurden, wir
glauben jedoch, dass dieser Umstand weniger in Betracht kommt, als der,
dass hier die Chloroformirung mit Sachkenntniss und unter Beobachtung
wissenschaftlicher Cautelen vorgenommen wurde, während bei Laien,
welche gewöhnlich ganz irrige Vorstellungen von der Gebrauchsweise
des Chloroforms haben, eine so vorsichtige Anwendung desselben nicht
leicht, wenigstens nur bei besonderem Raffinement des Thäters oder
unter besonderen Umständen, vorkommen könnte und daher auch kaum zum
Ziele zu führen vermag.
[Sidenote: Arglistige Betäubung. Wehrlosigkeit.]
Berichten über „arglistige Betäubung“ und nachträgliche Beraubung,
eventuell Nothzüchtigung von Reisenden im Eisenbahncoupé kann man von
Zeit zu Zeit in den Tagesblättern begegnen. Diesen Fällen gegenüber
ist die grösste Vorsicht angezeigt, da sie fast ausnahmslos auf
Betrug oder Einbildung hinauslaufen. In einem Wiener Falle wollte
die betreffende Dame sogar durch eine „mit einer narcotischen
Substanz imprägnirte Zeitung“ betäubt und dann beraubt worden sein.
In einem anderen (1885) wollte ein Postmeister, der, wie sich
später herausstellte, wegen Malversationen seinen Posten verlassen
hatte, glaubhaft machen, dass er von einem Manne im Eisenbahncoupé
durch Schnupftabak betäubt und dann in einer ihm unbekannten Gegend
ausgesetzt worden sei. Der Fall wurde anfangs allen Ernstes geglaubt,
machte viel Aufsehen und hatte zur Folge, dass eine Woche darauf
ein junges Mädchen, welches auf derselben Strecke in einem Coupé
I. Classe fuhr, aus dem Fenster springen wollte, als ein im selben
Coupé mit ihr allein sitzender Herr ihr eine Cigarette anbieten
wollte, weil sie meinte, er wolle sie damit betäuben. Dass aber eine
Betäubung von Individuen zum Zwecke der leichteren Verübung von
Verbrechen selbst durch andere Gifte, als die gewöhnlichen Narcotica,
vorkommen kann, hat der 1878 in Wien vorgekommene Fall Simère
bewiesen, in welchem der Raub geschah, nachdem das die betreffende
Wohnung bewachende Dienstmädchen durch Atropin betäubt worden war,
ferner der berüchtigte Fall des Mädchenmörders +Hugo Schenk+, der
einzelne seiner Opfer mit in Liqueur gemischtem Chloralhydrat
betäubte und der ausserdem zu gleichen Zwecken Cyankalium, Blausäure
und Cyanquecksilber (letzteres als sog. „Bändiger“ gekauft) besass.
+Marandon+ (Ann. méd. psychol., Juli und November 1878; Friedreich’s
Bl. 1879, pag. 445) berichtet von einem Verrückten, der eines
Tages einen Mitreisenden im Eisenbahncoupé, gerade als der Zug
durch einen Tunnel fuhr, mit Blausäure vergiftete, entweder um ein
Experiment zu machen oder um des Reisenden Geld zur Fortsetzung
seiner vermeintlichen Entdeckungen zu bekommen. Bekannt ist ferner
die 1882 in Wien vorgekommene, durch angebliche Socialisten
ausgeführte Beraubung eines Bürgers nach vorausgegangener gewaltsamer
Chloroformirung desselben. In einem grossen Scandalprocess, über
welchen +Morache+ (Annal. d’hygiène publ. 1882, Nr. 9, pag. 225)
berichtet, kam hervor, dass das Kammermädchen eines Arztes(!) durch
mehrere Monate mit den Kindern ihres Dienstherrn Unzucht getrieben
und dieselben überdies wiederholt Nachts aus dem Hause geführt
und anderen Individuen zu gleichen Zwecken überlassen hatte. Das
Mädchen war geständig, behauptete aber, die Eltern auf Anrathen
eines Complicen mit einem von diesem gebrachten Schlafpulver,
welches sie ihnen in die Speisen mischte, jedesmal in tiefen Schlaf
versetzt zu haben, wenn sie die Kinder aus dem Hause führte. Letztere
Angaben erwiesen sich als Ausgeburten der krankhaften Phantasie des
hysterischen und mit Nymphomanie behafteten Mädchens.
[Sidenote: Zufällige Wehr- und Bewusstlosigkeit.]
Ad 4. Nicht selten sind die Fälle, in welchen +ohne Zuthun des Thäters+
oder wenigstens ohne dessen dabei ursprünglich gehegte Absicht, den
Beischlaf auszuüben, im Zustande der +Wehr- oder Bewusstlosigkeit+
befindliche weibliche Individuen geschlechtlich missbraucht wurden.
Es ist hierbei wieder zunächst Wehrlosigkeit von Bewusstlosigkeit zu
unterscheiden.
[Sidenote: Missbrauch Wehr- und Bewusstloser.]
Von +Wehrlosigkeit+ wird die Rede sein, wenn die betreffende Person,
obgleich bei Bewusstsein, sich gegen den Vollzug des Beischlafes
entweder gar nicht oder nicht in der ihr unter normalen Umständen
möglichen Weise zu wehren vermochte. +Bernt+[100] erzählt von
einem Jägerburschen, der im Walde den Zeitpunkt abwartete, wo eine
Bauernmagd auf der nahen Wiese ihr Grastuch vollgefüllt, zugebunden,
sich mit dem Rücken darauf niedergelegt, die Armbänder an den Achseln
befestigt hatte und soeben versuchte, sich mit ihrer Last allmälig
aufzuschwingen, dann aus seinem Hinterhalte hervorsprang und ohne
Schwierigkeit den Beischlaf verübte. +Maschka+[101] berichtet über
einen ähnlichen Fall, in welchem das Mädchen, weil es auf einem
Leiterwagen zwischen Federbetten und Stroh eingezwängt war, den
gewaltsamen Beischlaf nicht abzuwehren vermochte. Ebenso wurde uns
von einem vielbeschäftigten Gerichtsarzte mitgetheilt, dass in einem
Falle eine Bauernmagd von ihren Genossinnen auf einem Heuboden aus
Scherz „in den Bock“ gespannt wurde, indem sie ihr die gebundenen Hände
über die aufgezogenen Knie legten und zwischen Armen und Knien eine
Stange durchschoben, sie in dieser Lage verliessen und einen Knecht
hinaufschickten, der die günstige Gelegenheit benützte, seine Lust an
der auf diese Weise vollständig wehrlos gemachten Person von hinten zu
befriedigen.
Ausser durch derartige äussere Vorgänge könnte eine mehr weniger
vollkommene Wehrlosigkeit auch durch krankhafte Schwächezustände,
Lähmungen u. dergl. gegeben sein. So berichtet z. B. +Kuby+ (Virchow’s
Jahrb. 1880, I, 646) über die angebliche Nothzucht einer halbseitig
Gelähmten.
Unter +Bewusstlosigkeit+ wäre nicht blos die vollständige Aufhebung der
Perception äusserer Vorgänge, sondern auch jener Grad von Betäubung
zu verstehen, in welchem zwar diese Perception nicht vollständig
aufgehoben, aber doch so sehr getrübt ist, dass von einer klaren
Beurtheilung des Vorsichgehenden nicht die Rede sein kann. Es gehören
hierher die transitorischen Bewusstseinsstörungen und unter diesen
insbesondere die Trunkenheit, sowie die zu anderen als dem oben
genannten Zwecke eingeleitete Narcose, und zwar nicht blos in ihrer
vollen Entwicklung, sondern auch in jenen Stadien, in denen das
Bewusstsein zwar nicht vollkommen aufgehoben, aber in höherem Grade
getrübt ist. Wenn solche Fälle zur gerichtsärztlichen Beurtheilung
kommen, ist selbstverständlich in der Regel die auf die eine oder
andere Art gesetzte Bewusstseinsstörung nicht mehr vorhanden, und
es erübrigt blos, die Glaubwürdigkeit der Angaben der angeblich
Stuprirten selbst oder der Zeugen über den betreffenden damaligen
Zustand der ersteren zu prüfen, welche Prüfung mit Berücksichtigung
der toxikologischen und psychopathologischen Erfahrungen über die
Wirkung der Alkoholica oder des im concreten Falle in Frage kommenden
Narcoticums zu geschehen hätte, wobei insbesondere zu berücksichtigen
wäre, dass die Betreffende desto weniger von dem mit ihr Geschehenen
etwas wissen kann, je vollständiger die Bewusstlosigkeit gewesen und
je weniger der geschlechtliche Act selbst Spuren an der betreffenden
Person zurückgelassen hatte. Ueberhaupt ist in solchen Fällen mit
Rücksicht auf thatsächliche Erfahrungen zu beachten, dass derartige
Beschuldigungen häufig vollkommen erlogen sind, dass dieselben aber,
was nicht zu übersehen ist, auch auf Illusionen und Hallucinationen
beruhen können, welche unter dem Einflusse der Narcose, aber auch
während anderer Bewusstseinsstörungen, entstehen und, beim Erwachen
in das Bewusstsein herübergenommen, in der betreffenden Person die
Idee erweckt haben konnten, dass ein geschlechtlicher Act mit ihr
vorgenommen worden sei. So berichtet +Kidd+, dass ein Mädchen, welches
bei der Untersuchung mit dem Scheidenspiegel in Ohnmacht fiel und von
dem Arzte mit einem Riechmittel zu sich gebracht wurde, dieses Mittel
für Chloroform gehalten hatte und vor Gericht mit voller Bestimmtheit
erklärte, dass der Arzt sie chloroformirt und während der Narcose
gemissbraucht habe. Es hielt schwer, den Richter und die Geschworenen
von der Schuldlosigkeit des Arztes zu überzeugen.[102]
Andere transitorische Bewusstseinsstörungen, als die genannten, kommen
wohl nur selten in Betracht. In einem von +Maschka+ (l. c., pag. 295)
mitgetheilten Falle gab ein als schwanger befundenes Mädchen an, dass
sie während eines epileptischen Anfalles von dem Angeklagten in eine
Scheuer getragen und dort genothzüchtigt worden sei. Die Details
des ganzen Vorganges wurden jedoch von ihr mit solcher Genauigkeit
geschildert, dass schon dadurch ihre Angabe, sie sei damals bewusstlos
gewesen, widerlegt wurde, abgesehen von anderen Umständen, die die
ganze Anschuldigung als auf Erpressung gerichtet herausstellten.
[Sidenote: Missbrauch einer zufällig Betäubten.]
Ein höchst sonderbarer Fall einschlägiger Art kam laut mir
mitgetheilten Acten vor mehreren Jahren in Wien vor. Am 18. März, 6
Uhr Früh, wurde die 17jährige, in einem Branntweingeschäft dienende
A. F. von ihrem Dienstgeber, der sie, wie gewöhnlich, wecken
kam, in ihrer Kammer im Bette liegend, bewusstlos aufgefunden.
Sie war Abends um 10 Uhr ganz wohl schlafen gegangen, doch hatte
der Dienstgeber und seine Frau, die in einem anstossenden Zimmer
schliefen, beiläufig um 2 Uhr Nachts gehört, wie sich die A. F.
erbrach, und als der Dienstgeber deshalb in die Kammer hineinfragte,
was ihr fehle, antwortete ihm die A. F., „es sei ihr schon besser“,
worauf sie ruhig wurde. Da die A. F. nicht zu sich kam, wurde um 9
Uhr ein Arzt geholt, der den Zustand für einen Rausch erklärte. Man
liess sie den Tag schlafen, als sie aber auch am folgenden nicht
erwachte und Essigwaschungen und dergl. Mittel nichts fruchteten,
liess sie die Frau durch einen „Stammgast“ (offenbar zu Wagen)
in ein Vorstadt-Spital überbringen. Daselbst am 19. um ½9 Uhr
Abends angelangt, wies die A. F. folgende Erscheinungen auf:
Schlummersucht, Bindehäute stark injicirt, Pupillen beiderseits
mittelweit. Temperatur erhöht, Puls sehr frequent, klein, Bewusstsein
nur momentan vorhanden (?), Sprache schwer, meist versagend,
unwillkürlicher Harnabgang, kein Erbrechen, jedoch Aufstossen. Es
wurde der Verdacht auf eine Vergiftung mit Narcoticis ausgesprochen
und darnach behandelt. Am 20. keine wesentliche Veränderung, am 21.
noch getrübtes Bewusstsein, verworrene Antworten, an den Lippen
Hydroa febrilis, Temperatur und Puls fast normal. Pupillen eher
verengert als erweitert. Unterleib mässig aufgetrieben, gespannt.
Aus den (früher nicht untersuchten) Genitalien blutiger mässiger
Ausfluss. Scheideneingang geröthet und geschwellt, sehr empfindlich,
die Scheidenklappe zeigt vier Einrisse, und zwar zwei im oberen,
zwei im unteren Theile, so dass unten ein mittlerer kleiner Lappen
isolirt bleibt. Zugleich waren Hautaufschürfungen am Scheideneingange
und an beiden Gesässbacken bemerkbar, deren nähere Beschaffenheit
ebensowenig angegeben wird, wie die der Hymeneinrisse.
Die A. F. wurde am 23. März polizeilich vernommen, sprach von
einer braunen Medicin, die sie von einem ihr ganz unbekannten
Dienstmädchen erhalten habe, und gab an, dass ihre Regeln seit 14
Tagen ausgeblieben seien. Die Angaben waren so verworren, dass die
Commission zur Ueberzeugung gelangte, dass die A. F. noch nicht bei
Bewusstsein sei. Am 26. gab sie derselben Commission ganz verständige
Antworten, widerrief die am 23. gemachten Angaben und erklärte, sie
wisse sich nur zu erinnern, dass sie am 17. Abends einen halben Liter
Bier getrunken und viel Brot gegessen habe, sowie, dass ihr in der
Nacht schlecht geworden sei und heftige Kopfschmerzen eingetreten
seien.
Da der Verdacht ausgesprochen wurde, dass die A. F. betäubt und dann
genothzüchtigt worden sei, wurde am 30. März eine gerichtsärztliche
Untersuchung veranlasst, wobei sich fand: Allgemeinbefinden normal,
nur an der Unterlippe eingetrocknete Bläschen. Scheideneingang
stärker geröthet. Die Scheidenklappe ringförmig, geschwellt, zu
beiden Seiten mit je einem und nach unten mit zwei noch gerötheten
Einrissen versehen, wodurch ein mittleres Läppchen gebildet
wird. Indagation schmerzhaft, Portio vaginalis und Muttermund
jungfräulich. An der Innenfläche des rechten Oberschenkels, und
zwar in der unteren Hälfte ein gelblich-grüner kreuzergrosser Fleck
und darüber eine etwas grössere dunkelroth gefärbte empfindliche
Hautstelle. Am Gesässe linkerseits gegen den After eine Gruppe von
mehreren, theils rundlichen, theils länglichen, kleinen, braunroth
vertrockneten Hautstellen, etwa von Linsengrösse, zerstreute solche
Stellen auch rechterseits und gegen den After zu ein über 2 Cm.
langer, 0·5 Cm. breiter, gelblich-grüner Streifen.
Auf Grundlage dieses Befundes und der Anamnese äusserten sich
die Gerichtsärzte: 1. dass der Betäubungszustand von narcotisch
wirkenden Substanzen herrühren konnte, 2. dass die Beschaffenheit
der Genitalien auf eine ganz kurz vor der Aufnahme in’s Spital
erfolgte Entjungferung schliessen lasse und dass letztere während des
betreffenden Betäubungszustandes geschehen sein konnte.
Am selben Tage gerichtlich einvernommen, blieb die A. F. bei ihrer
Aussage, dass sie am 17. Abends einen halben Liter Bier getrunken
habe, worauf sie Kopfschmerz und Brechreiz verspürt habe. Am
schlechtesten soll ihr um 10 Uhr Nachts geworden sein, worauf
sie die Besinnung verlor und erst im Spitale zu sich kam. Ein
Liebesverhältniss habe sie nicht gehabt, weiss nichts von einem
an ihr verübten Beischlaf und hat auch Niemanden im Verdacht, sie
während ihrer Bewusstlosigkeit missbraucht zu haben.
Da der Dienstherr sich von jedem Verdachte zu reinigen wusste, ein
Verdacht gegen andere Personen nicht aufkam, wurde der Fall nicht
weiter verfolgt.
Unserer Meinung nach dürfte es sich zunächst weniger um eine Narcose
als um eine durch febrile (infectiöse) Erkrankung veranlasste
Bewusstseinsstörung gehandelt haben, wofür insbesondere das Auftreten
der Hydroa febrilis spricht. Ob nicht etwa eine Kohlenoxydvergiftung
vorlag, wurde nicht erhoben. Dass während dieser Bewusstlosigkeit
der Beischlaf oder vielleicht nur ein Einbohren des Fingers ausgeübt
wurde, ist im höchsten Grade wahrscheinlich, welcher Act sowohl in
der betreffenden Wohnung, aber auch erst während des Transportes
der bewusstlosen Person in’s Spital stattgefunden haben konnte,
zumal letzterer offenbar im Wagen am späten Abend und durch einen
„Stammgast“ des betreffenden Branntweinladens geschehen war.
[Sidenote: Nothzucht an Betäubten und Schlafenden.]
Die von älteren Autoren vielfach ventilirte Frage, ob eine Nothzucht
während eines normalen Schlafes möglich sei, ohne dass die Betreffende
zum Bewusstsein des mit ihr Vorgehenden gelangt, kann wohl heutzutage
ad acta gelegt werden. Dagegen muss zugegeben werden, dass eine
Ueberrumpelung und Ueberwältigung einer schlafenden und zudem etwa in
günstiger Lage befindlichen Person ungleich leichter ist, als bei einer
Wachenden, sowie es gut denkbar ist, dass unter Umständen, namentlich
bei Individuen mit erweiterten Genitalien, eine Immissio penis bereits
erfolgt sein kann, bevor die Betreffende wieder zum vollen Bewusstsein
zurückkehrt. Bei abnorm tiefem Schlafe, wie er namentlich bei jungen
Leuten nach Ueberanstrengung oder nach Alkoholgenuss sich einstellt,
kann dieses noch leichter geschehen und es könnte unter gewissen
Umständen, z. B. wenn die Missbrauchte den Thäter für ihren Ehemann
hielt (§. 179 des deutschen St. G. B. und §. 190 des österr. St. G.
E.), sogar die vollständige Ausführung des Coitus gelingen.
[Sidenote: Nothzucht an Schlafenden und Hypnotisirten.]
In dieser Weise ist der merkwürdige Fall zu deuten, der vom Advocaten
+Cowan+ aus Dumfries in Schottland berichtet wird (Edinb. med. Journ.
1862, pag. 570). Eine seit 16 Jahren verheiratete Gastwirthin,
Mutter dreier Kinder, hatte sich Nachts, nachdem sie die Nacht
zuvor wach geblieben und von Anstrengungen sehr ermüdet war, zu
Bette gelegt, und zwar ganz angekleidet, mit Röcken und Crinoline
und, nach Gewohnheit, auf die linke Seite. Sie fiel in festen
Schlaf. Nachdem sie eine halbe Stunde geschlafen, fühlte sie einen
schweren Druck auf sich, glaubte ihr Mann läge auf ihr, richtete
sich auf, wobei sie bemerkte, dass sie jetzt mehr auf dem Rücken
lag, und sah nun, dass ihr Stallknecht, der seit Jahren in ihren
Diensten war, auf ihr lag, und dass sein Körper mit dem ihrigen in
Berührung, und dass seine Geschlechtstheile in den ihrigen waren.
Sie war ganz nass geworden. Der Knecht hob sich von ihr hinweg, sie
sah, wie er sich die Hose zuknöpfte, rief ihren Ehemann, der noch
im Nebenzimmer die Zeitungen las, theilte ihm sofort Alles mit,
worauf der Knecht augenblicklich der Polizei übergeben und von den
Geschworenen zu 10 Jahren Strafarbeit verurtheilt wurde. Aerzte sind
nicht befragt worden. -- Einen fast gleichen Fall hat +Maschka+
(l. c. pag. 147) begutachtet; ebenso einen weiteren, in welchem ein
15jähriges Mädchen, welches, des Tages stark beschäftigt, erst um
zwei Uhr Nachts zur Ruhe gekommen war, gegen Morgen eine Berührung
ihrer Genitalien und einen Schmerz in denselben empfand, aber erst
durch das Umfallen eines Brettes aufwachte und nun bemerkte, wie
ihr Dienstherr mit entblösstem Gliede, von ihrem Bette herabsprang
und davonlief. Ein Arzt fand einen frisch blutenden Einriss und
+Maschka+ nach 14 Tagen die entsprechende Narbe und eine sehr enge
Scheide. Der Mann war geständig, doch will er nur mit den Fingern
an den Genitalien gespielt, und da das Mädchen die Augen aufschlug,
gemeint haben, dass sie sich seine Manipulation gefallen lasse.
-- Auch +Liègey+ (Virchow’s Jahrb. 1888, I, pag. 553) berichtet
über die Nothzucht einer schlafenden Frau. Ein Bauernbursche hatte
im Wirthshause gewettet, dass er in der Nacht zu einer etwas
schwachsinnigen Bäuerin schleichen und statt deren Mann den Beischlaf
ausüben werde. Die That wurde wirklich ausgeführt. Die Frau erwachte
zwar, liess jedoch den Act zu, weil sie den Thäter für ihren Mann
hielt. Ersterer wurde verurtheilt. -- Die Möglichkeit der Versetzung
eines Individuums in „magnetischen Schlaf“ und der Missbrauch von
Frauen während des letzteren, welche eine bereits abgethane Sache zu
sein schien und auch von +Tardieu+ aus Anlass einzelner derartiger
wirklich vorgekommener Behauptungen in diesem Sinne begutachtet
wurde (l. c. pag. 90 und 173), ist durch den Nachweis sogenannter
+hypnotischer Zustände+ (+Cermak+, +Henkel+, +Charcot+ etc.) wieder
discutirbar geworden. Dass es solche Zustände wirklich gibt und
dass dazu disponirte Individuen (sogenannte Medien) durch gewisse
Manipulationen in den hypnotischen Zustand versetzt werden können,
kann heutzutage nicht mehr geleugnet werden. Wir selbst haben einen
solchen Fall auf der Klinik +Meynert+’s und einen zweiten, eine
Hochschwangere betreffend, bei +C. v. Braun+ gesehen. Letzterer ist
von +Pritzl+ (Wiener med. Wochenschr. 1886, pag. 6) publicirt worden
und deshalb von besonderem Interesse, weil es gelang, die Hypnose
während des Geburtsactes einzuleiten und in diesem Zustande die
Entbindung schmerzlos zu beenden.
[Sidenote: Nothzucht an Hypnotisirten und Geisteskranken.]
Angesichts dieser Thatsache ist es nicht unmöglich, dass gelegentlich
ein solcher absichtlich eingeleiteter oder zufällig bestehender
hypnotischer Zustand zur Ausführung des Beischlafes oder eines
anderen Unzuchtactes ausgenützt werden kann. In der That berichtet
+Brouardel+ (Annal. d’hygiène publ. 1879, pag. 39) über einen in
vielen Beziehungen höchst merkwürdigen Fall, in welchem ein Zahnarzt
an einer 20jährigen Person, die er durch gewisse Manipulationen in
einen „hypnotischen Zustand“ versetzte, wiederholt, und zwar in
Gegenwart der in demselben Zimmer befindlichen Mutter des Mädchens,
den Beischlaf ausgeübt haben soll! Auch +Ladame+ (Annal. d’hygiène
publ. 1882, Nr. 6, pag. 518) berichtet von einem Mädchen, welches
in Gegenwart von Zeugen von einem Manne magnetisirt worden war und
einmal, als dieses ohne Zeugen und gegen ihren Willen geschah,
missbraucht und geschwängert worden sein wollte. Die Anklage gegen
den Mann wurde fallen gelassen, weil es wahrscheinlich war, dass das
Mädchen auf diese Weise einen Freiplatz in der Gebäranstalt erhalten
wollte und weil, wie es in den Motiven lautete, es dem Mädchen, da es
bereits wiederholt unter anderen Umständen in Hypnose versetzt worden
war, leicht gewesen ist, exacte Angaben über derartige Zustände
zu machen. Siehe auch +Vibert+: „De l’hypnotisme au point de vue
médico-légale.“ Ibid. 1881, Nr. 35, pag. 399. Letzterer bemerkt mit
Recht, dass die Schwierigkeit bei der Beurtheilung solcher Fälle
nicht in der Frage liegt, ob eine Person hynotisirbar sei, denn diese
lässt sich durch den Versuch leicht beantworten, sondern in der, ob
dieselbe zur Zeit der an ihr begangenen oder unternommenen Handlung
hypnotisch gewesen sei oder nicht. Da es sich meist um Hysterische
handelt, kann man gegenüber solchen Angaben nicht genug vorsichtig
sein.
Der Hypnose ähnlich sind gewisse +cataleptische Zustände+. +Mabille+
(Annal. méd. psychol. 1884, IV, pag. 83) berichtet über den
Missbrauch eines 22jährigen schwachsinnigen und hysterischen Mädchens
in einem solchen Zustande durch vier Männer. Anfälle von zeitweise
eintretendem, 15 Minuten bis 9 Stunden dauerndem, cataleptischem
Schlaf bestanden seit 10 Jahren und auch während der Hauptverhandlung
wurde das Mädchen von einem solchen ergriffen.
[Sidenote: Missbrauch Geisteskranker.]
Ausser der bis jetzt besprochenen transitorischen Wehr- oder
Bewusstlosigkeit gibt es gewisse Zustände, welche in mehr dauernder
Weise dem Individuum nicht gestatten, die Bedeutung des mit ihm
Geschehenden zu erfassen und in diesem Sinne seinen Willen zu
bethätigen, nämlich gewisse psychische Schwächezustände und die
Geisteskrankheiten im engeren Sinne.
Der geschlechtliche Missbrauch „geisteskranker“ Frauenspersonen wird
nur im deutschen St. G. (§. 176, lit. 2) ausdrücklich erwähnt, und
unter diesem Ausdruck können sowohl an Geistesstörungen im engeren
Sinne als an Blödsinn oder Schwachsinn leidende Personen subsumirt,
beide aber ausserdem auch als „willenlose“ Individuen im Sinne
derselben Gesetzesstelle betrachtet werden.
Das gegenwärtige österr. St. G. enthält keine directen derartigen
Bestimmungen, doch unterliegt es keinem Zweifel, dass, wenn es
von dem Beischlaf mit im Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit
befindlichen Personen spricht, es unter letzteren auch Blödsinnige
und Geistesgestörte gemeint hat. Im St. G. Entwurf ist zwar ebenfalls
weder von Blödsinnigen, noch von Geisteskranken die Rede, aber von
„willenlosen“ Personen, in welchen Begriff offenbar Blödsinnige etc.
miteingeschlossen sind.
Die Diagnose, ob bei einem Individuum ein psychischer Schwächezustand
oder eine Geistesstörung besteht, wird nach allgemein psychiatrischen
Grundsätzen zu beurtheilen sein, und die Frage, in welchem Grade
durch die psychische Anomalie das Individuum gegenüber dem mit ihm
vorgenommenen geschlechtlichen Acte in seinem Unterscheidungs- und
Selbstbestimmungsvermögen verhindert war, nach jenen Principien, die
bei der Besprechung der Dispositionsfähigkeit erörtert werden sollen.
Hier sei nur bemerkt, dass es in derartigen Fällen nicht blos darauf
ankommt, ob das betreffende Individuum thatsächlich zu jener Zeit
geistesschwach oder geisteskrank war, sondern ob dieser Zustand auch
vom Thäter als solcher erkannt worden sein musste.
Zwei Burschen von 16 und 17 Jahren hatten wiederholt eine 20jährige
taubstumme und zugleich blödsinnige Person geschlechtlich gebraucht
und wurden, dabei ertappt, wegen Nothzucht im Sinne des §. 127
angeklagt. Bei der Schlussverhandlung bestritten sowohl die
Angeklagten, als mehrere Zeugen den Blödsinn des Mädchens, indem sie
aus dem Umstande, dass dasselbe sowohl die Angeklagten, als andere
Personen selbst zum Coitus eingeladen hatte, folgerten, dass dieselbe
sehr gut wisse, was sie thue und insbesondere die Bedeutung eines
solchen Actes zu beurtheilen im Stande sei. -- Wir setzten in unserem
Plaidoyer auseinander, dass die Person thatsächlich blödsinnig
und nicht blos taubstumm sei, gaben jedoch mit Rücksicht auf die
Umstände und Zeugenaussagen zu, dass dieselbe von den Angeklagten
für blos taubstumm und sonst dispositionsfähig gehalten worden sein
konnte, worauf auch die Freisprechung erfolgte. Auch +Kornfeld+
berichtet (Arch. f. Psych. IX, pag. 188) über einen derartigen
Missbrauch einer geistesschwachen Person, bei dessen Beurtheilung
das Gericht von einer ähnlichen Anschauung ausging, wie wir in dem
unserigen.
Dieser Umstand wäre auch bei gewissen Formen des hysterischen
Irrsinns, sowie gegenüber den maniakalischen Exaltationszuständen zu
berücksichtigen, welche Psychosen dem Laien nicht sofort als solche
erkennbar sind und bei welchen es um so leichter zu geschlechtlichen
Acten kommen kann, als bekanntlich gerade bei diesen Formen die
gesteigerte sexuelle Erregbarkeit eine fast constante Theilerscheinung
des gesammten Krankheitsbildes zu bilden pflegt. Einen einschlägigen
Fall, betreffend den Missbrauch einer mit Mania menstrualis in
periodischer Wiederkehr und nymphomanischem Krankheitsbild behafteten
Person hat +Krafft+-+Ebing+ begutachtet (+Friedreich+’s Blätter, 1879,
pag. 448).
[Sidenote: Beischlaf mit Mädchen unter 14 Jahren.]
Ad 5. +Beischlaf mit Mädchen unter 14 Jahren+ wird sowohl vom
österreichischen als vom deutschen Strafgesetze mit schwerer
Strafe bedroht, wenn auch, wie in solchen Fällen gewöhnlich, der
geschlechtliche Missbrauch mit Einwilligung der Gebrauchten geschah.
Das Gesetz stellt solche Individuen in gleiche Linie mit wehr- und
bewusstlosen Personen, indem es einerseits die noch nicht erfolgte
psychische Entwicklung, anderseits die psychische Infirmität im Auge
hat. Das 14. Jahr wurde als Grenze gesetzt mit Rücksicht auf die
Erfahrung, dass in unserem Klima die Geschlechtsreife um diese Zeit
sich einstellt, und weil erst von da an angenommen werden kann, dass
das betreffende Individuum die Bedeutung des Beischlafes zu erkennen
und für Zulassung oder Abwehr desselben frei sich zu entscheiden vermag.
Auf die Thatsache, dass nicht selten die Geschlechtsreife erst nach
dem 14. Jahre sich einstellt, nimmt das Gesetz keine Rücksicht.
Dagegen unterliegt es keinem Zweifel, dass ein Beischlaf mit einem
Individuum unter 14 Jahren nur dann strafbar erscheint, wenn der
Thäter wusste, dass dasselbe das vom Gesetze bezeichnete Alter noch
nicht erreicht hatte. Hatte er Gründe, dasselbe zufolge seiner
körperlichen Entwicklung für älter zu halten, dann befand er sich
allerdings in einem nach §. 2, lit. e des österr. St. G. die
Zurechnung ausschliessenden Irrthume.[103] Es wird jedoch frühzeitige
Geschlechtsreife nicht in Betracht kommen, wenn sonst dem Thäter das
Alter bekannt war. In einem von +Taylor+[104] mitgetheilten Falle war
das betreffende Mädchen zur Zeit, als gegen ihren Verführer die Anklage
wegen Nothzucht erhoben wurde, nicht ganz 12 Jahre und 6 Monate alt und
-- befand sich im letzten Monate der Schwangerschaft. Die Menstruation
hatte sich bei dieser Person, einem Fabriksmädchen, im Alter von 10
Jahren und 2 Monaten eingestellt, und der erste, seitdem wiederholt
fortgesetzte Beischlaf hatte stattgefunden, als dasselbe 11 Jahre und 8
Monate alt gewesen war. Trotz diesen Umständen wurde der Angeklagte zu
2 Jahren Kerker verurtheilt.
[Sidenote: Geschlechtlicher Missbrauch von Kindern.]
Die Nothzucht mit Kindern bildet die häufigste Form des
gesetzwidrigen Beischlafes; dies beweist die Criminalstatistik
aller Länder, welche zugleich lehrt, dass nicht vielleicht der
Geschlechtsreife bereits nahestehende Mädchen Opfer solcher Attentate
wurden, sondern dass die grösste Zahl Kinder im zartesten Alter
betraf und dass selbst das Säuglingsalter nicht verschont geblieben
ist.
Das jüngste in der Weise missbrauchte Kind war 8 Monate (!) alt und
der betreffende in Wien vorgekommene Fall wird von +Schauenstein+
(Lehrb. 1875, pag. 125) erwähnt. Nach +Tardieu+ „Attentats aux
moeurs.“ 1878, pag. 19) kamen in Frankreich in den Jahren 1851 bis
inclusive 1875 22.017 Nothzuchtsfälle zur gerichtlichen Untersuchung
und von diesen betrafen nur 4360 erwachsene weibliche Individuen,
dagegen 17.657 Kinder. +Casper+ und +Liman+ (l. c. 115) haben
zusammen bis zum Jahre 1874 406 Individuen wegen an ihnen verübter
Nothzucht untersucht. Von diesen waren mehr als 70 Procent Kinder
unter 12 und mehr als 84 Procent unter 14 Jahren. Hiervon befanden
sich 8 im Alter von 1½-2 Jahren (!), 64 im Alter von 3-6, 161 von
7-10, 59 von 11-12 und 60 im Alter von 13-14 Jahren. Von 248 Fällen
von Nothzucht, die +Maschka+ (l. c. 102) untersuchte, betrafen 3
weibliche Individuen von 4½, 5 von 5, 11 von 6, 37 von 7-10, 60
von 10-12 und 55 von 12-14 Jahren.[105]
[Sidenote: Beischlaf mit Kindern.]
Es wurde bereits oben erwähnt, dass bei Kindern desto weniger von
einem vollkommenen Beischlafe, d. h. von einer Immissio penis in
vaginam die Rede sein kann, je mehr das betreffende Kind noch von
dem Zeitpunkte der Geschlechtsreife entfernt ist. Es bleibt daher
in der Regel nur bei Cohabitationsversuchen, die sich in der Vulva
abspielen und meistens den Hymen intact lassen. Wurde trotz des
Missverhältnisses der beiderseitigen Genitalien die Einführung
des Gliedes forcirt, dann können, wenn der Act mit einer gewissen
Brutalität vollzogen wurde, Zerreissungen der äusseren Genitalien
erfolgen, wobei auch die grössere Zerreisslichkeit der kindlichen
Gewebe zu berücksichtigen sein wird. Doch müssen wir wieder darauf
zurückkommen, was wir bereits oben bemerkt haben, dass es bei dem
Umstande, als der Kraftentwicklung des gesteiften Gliedes schon seiner
Empfindlichkeit wegen gewisse Grenzen gesetzt sind, wie schon daraus
hervorgeht, dass es häufig genug nicht einmal ein festeres Hymen
zu überwinden vermag, wenn grobe Verletzungen der Genitalien sich
finden, in der Regel wahrscheinlicher sein wird, dass dieselben durch
gewaltsame Einführung eines resistenteren Körpers als des Penis,
insbesondere der Finger, entstanden sind. In dieser Weise ist unseres
Erachtens auch der schauerliche, von +Taylor+ (l. c. 444) mitgetheilte
Fall zu deuten, der ein 11monatliches (!) Kind betraf, welches von
einem betrunkenen Soldaten genothzüchtigt worden sein soll und Tags
darauf in Folge der dabei erlittenen Verletzungen starb. Es fanden
sich die gesammten äusseren Genitalien in einem gequetschten Zustande,
das Perineum war fast ganz, die Schleimhautfalten des Vestibulums an
mehreren Stellen eingerissen, die Vagina vom Uterus abgerissen und
durch eine grosse Oeffnung mit der Bauchhöhle in Verbindung stehend. Es
ist nicht denkbar, dass durch den Penis diese Verletzungen entstanden
sein sollten, wohl aber lässt sich ihre Entstehung durch brutale
Manipulationen erklären, wofür auch der Umstand spricht, dass, als die
Mutter den Soldaten bei ihrem Kinde getroffen hatte, dessen ganze eine
Hand blutig gewesen war.
[Sidenote: Folgen der Nothzucht.]
Wohl zu beachten ist jedoch, dass selbst bei von der Pubertät noch
weit entfernten Kindern durch fortgesetzte Manipulationen und
Cohabitationsversuche die Genitalien vorzeitig so erweitert werden
können, dass sie die Immissio penis zu einer Zeit zulassen, in welcher
bei anderen Mädchen dies noch unmöglich gewesen wäre, und eine solche
Erweiterung bietet natürlich sehr wichtige Anhaltspunkte für die
Diagnose von an dem Kinde vorgenommenen geschlechtlichen Acten, um so
mehr, je weiter dieselbe gediehen ist und je mehr sie mit dem Alter
des Kindes im Missverhältniss steht. Es ist interessant in dieser
Beziehung, dass, wie +Taylor+ aus glaubwürdiger Quelle berichtet,
die Eingeborenen von Calcutta die Genitalien kleiner Mädchen mit den
Früchten des Pisang künstlich erweitern, um sie recht bald zum Coitus
tauglich zu machen; noch interessanter ist aber das Factum, dass auch
+Casper+ einen Fall zu untersuchen Gelegenheit hatte, in welchem
eine Mutter ihrer 11jährigen Tochter täglich ein ovales Steinchen
in die Vagina einführte, um dieselbe recht bald zur Zulassung des
Beischlafes zum Behufe des Erwerbes zu befähigen.
Wichtige Nachtheile in Folge gesetzwidrigen Beischlafes.
Die gerichtsärztliche Beurtheilung von in Folge eines Nothzuchtsactes
zur Entwicklung gekommenen Gesundheits- oder Berufsstörungen,
sowie von besonderen im Gesetze ausdrücklich bezeichneten schweren
Folgen (österr. St. G. §. 126, österr. St. G. Entwurf §§. 187,
188 und 189, deutsches St. G. §. 178) fällt zusammen mit der
forensisch-medicinischen Beurtheilung von „Verletzungen“ überhaupt, wie
insbesondere aus der ausdrücklichen Hinweisung der citirten Paragraphe
des österr. S. G. Entwurfes auf die für „schwere Verletzung“ geltenden
Bestimmungen hervorgeht. Indem wir daher auf die Lehre von den
Verletzungen verweisen, beschränken wir uns hier blos darauf, Folgendes
zu bemerken:
[Sidenote: Gesundheitliche Nachtheile nach Nothzucht.]
Wichtigere Nachtheile für die Gesundheit einer durch gesetzwidrigen
Beischlaf missbrauchten Person können hervorgehen erstens aus dem
Beischlaf als solchem, zweitens aus den zur Ermöglichung desselben in
Anwendung gebrachten Mitteln.
Zu ersteren gehören Verletzungen der Genitalien, ferner durch die
mechanische Irritation bewirkte entzündliche Zustände[106] und
stattgehabte virulente Affection, sowie auch insbesondere durch
frühzeitige und wiederholte geschlechtliche Erregung hervorgerufene
Nervenkrankheiten; zu letzteren die Verletzungen anderer Organe,
ferner der mit einer Ueberwältigung einer Person verbundene
allgemein somatische, insbesondere aber psychische Insult, sowie
die Gesundheitsstörung, welche durch ein etwa zur Betäubung
angewendetes inneres Mittel erzeugt worden ist. Alle diese Processe
können entweder nur eine vorübergehende Gesundheitsstörung oder
Berufsunfähigkeit bedingen, und es wird von ihrer Natur abhängen, ob
die Gesundheitsstörung als eine „wichtige“ oder gar lebensgefährliche
im Sinne des §. 125 des österr. St. G. aufzufassen sein wird,
beziehungsweise ob im Sinne des §. 187 und 189 des St. G.-Entwurfes
dieselbe „über eine Woche“ angehalten haben konnte; oder sie
hinterlassen bleibende schwere Folgen, welche dann nach der Bestimmung
des §. 156 des österr. St. G. oder nach jener des §. 232 des österr.
St. G.-Entwurfes, beziehungsweise nach denen des §. 224 des deutschen
St. G. zu begutachten sein werden.
Am häufigsten sind es venerische Affectionen, die als Folgezustände
eines stattgehabten gesetzwidrigen Beischlafes sich ergeben. Nach
der unbestimmten Fassung des §. 126 des österr. St. G. könnte es
fraglich erscheinen, ob eine Ansteckung mit Tripper oder mit einem
weichen Schanker, wenn die Affection local beschränkt bleibt, als
ein „wichtiger“ Nachtheil an der Gesundheit aufzufassen wäre, da der
Ausdruck „wichtig“ Deutungen zulässt. Dagegen unterliegt es keinem
Zweifel, dass ein derartiges Leiden im Sinne des §. 231 des Entwurfes
als ein solches zu bezeichnen wäre, welches eine über eine Woche
dauernde Gesundheitsstörung bildet. Zweifellos ist aber die Affection
als ein „wichtiger“ Nachtheil an der Gesundheit zu erklären, wenn
der Process sich auf die inneren Organe fortpflanzt, was bekanntlich
gerade beim Weibe in der Form der sogenannten ascendirenden Gonorrhoe
häufig geschieht und zu langwierigen und lästigen Leiden Veranlassung
gibt. Auch acute, selbst lebensgefährliche Erkrankungen, namentlich
Arthritis und Peritonitis, kommen nach Gonorrhoe vor, wovon
+Haberda+ (l. c. 243) instructive Fälle mittheilt, darunter der von
+Bordoni+-+Uffreduzzi+, der ein 11jähriges, von einem mit Tripper
behafteten Manne stuprirtes Mädchen, betraf, das darnach an Gonorrhoe
erkrankte, der bald Polyarthritis, Peri- und Endocarditis und Pleuritis
folgte. In dem durch Punction gewonnenen Pleuraexsudate wurden
Gonokokken mikroskopisch und culturell nachgewiesen.
Auch der weiche Schanker kann durch Uebergreifen und Vereiterung der
Drüsen durch phlegmonöse oder gangränöse Processe Thrombosen u. dgl. zu
einem „wichtigen“ gesundheitlichen Nachtheil werden.
Die Infection mit Syphilis wäre unter allen Umständen, namentlich aber
dann als ein wichtiger Nachtheil an der Gesundheit zu bezeichnen, wenn
Consecutiverkrankungen zur Entwicklung gekommen sind, und es wäre
denkbar, dass letztere so weit gediehen sein konnten, dass der Zustand
vielleicht selbst als „Siechthum“ (§. 232 österr. St. G.-Entwurf und §.
224 deutsches St. G.) zu begutachten wäre.
Von den übrigen der genannten Folgen des gesetzwidrigen Beischlafes
seien hier nur noch die neuro- und psychopathischen Zustände erwähnt.
Am häufigsten sind es krampfartige, epileptoide Zustände der Kinder,
welche mit an ihnen begangenen Nothzuchtsacten in ursächliche
Verbindung gebracht werden. Ein solcher Zusammenhang ist, wenn man
einestheils die zarte, gegen starke Reize besonders empfindliche
Constitution der Kinder im Auge behält, anderseits aber die Thatsache
in Betracht zieht, dass periphere Reize auf reflectorischem Wege
epileptoide Zustände hervorrufen können, desto weniger als unmöglich
hinzustellen, je zarter das betreffende Kind und je intensiver
und anhaltender und je öfter sich wiederholend die Reizung seiner
Genitalien durch die Cohabitationsversuche gewesen ist.
[Sidenote: Convulsionen und Psychosen in Folge von Nothzucht.]
Doch ist bei der Beurtheilung solcher Fälle mit grösster Vorsicht
vorzugehen. Zunächst wird das thatsächliche Vorhandensein convulsiver
Anfälle und die Natur der letzteren zu constatiren sein, denn Lügen
und Uebertreibungen von Seite der Angehörigen und auch der Kinder
selbst gehören gerade in dieser Beziehung nicht zu den Seltenheiten.
Ferner wird erhoben werden müssen, ob der Zeitpunkt des Auftretens der
Convulsionen mit jenem der an dem Kinde vorgenommenen geschlechtlichen
Acte zusammenfällt, oder ob dieselben nicht vielleicht schon früher
vorhanden waren oder erst lange darnach aufgetreten sind. Weiter
aber wird es Aufgabe des Arztes sein, nach etwaigen anderen Ursachen
der Convulsionen zu forschen. Bekanntlich werden Convulsionen im
Kindesalter ziemlich häufig beobachtet und es sind insbesondere
hydrocephalische Zustände, die sie veranlassen, ferner periphere Reize
nicht sexueller Art (Wurmreiz), und man weiss, dass namentlich bei
schwächlichen, durch Krankheit herabgekommenen Kindern, dann während
gewisser physiologischer Perioden, wie des Zahnwechsels, der Pubertät,
eine erhöhte Reizbarkeit und grössere Geneigtheit zum Entstehen
neuropathischer, insbesondere convulsivischer Zustände besteht.
Solche natürliche Ursachen der constatirten Krämpfe etc. müssen
zunächst berücksichtigt werden, obwohl wieder zu beachten sein
wird, dass, wenn bereits aus einem der genannten Gründe eine
grössere Reizbarkeit besteht, auch durch hinzugekommene sexuelle
Erregungen leichter neuropathische Zustände hervorgerufen werden
können. Noch weniger wird aber zu übersehen sein, dass habituelle
Onanie ebenfalls im Stande ist, jene Erkrankungen zu erzeugen[107],
und die Rücksichtnahme auf diese Möglichkeit ist um so wichtiger,
als auch durch ein solches Laster an den Genitalien, ausgenommen
Hymenlacerationen, gleiche Veränderungen zu Stande kommen können, wie
nach anderweitigen wiederholt vorgenommenen sexuellen Acten.
Bei Erwachsenen können in Folge der mit gewaltsamer Erzwingung des
Beischlafes verbundenen heftigen Affecte des Schreckens und der
Angst, sowie in Folge der durch den Verlust der Geschlechtsehre
gesetzten gemüthlichen Depression neuro- und psychopathische Zufälle
eintreten. Melancholisches, vorzugsweise aber hysterisches und
hystero-epileptisches Irrsein kann sich aus einer solchen Veranlassung
entwickeln, wie drei einschlägige, von +Krafft+-+Ebing+[108]
veröffentlichte Beobachtungen zeigen. Eine etwa schon früher bestandene
Prädisposition zu geistiger Erkrankung erleichtert das Zustandekommen
derartiger Psychosen und ist bei der Begutachtung in Betracht zu ziehen.
[Sidenote: Tod in Folge von Nothzucht.]
Die höchste Strafe ist auf Nothzucht dann gesetzt, wenn durch dieselbe
der Tod verursacht wurde. Selbstverständlich ist in den betreffenden
Stellen nur der Tod gemeint, der ohne Absicht des Thäters durch seine
auf gesetzwidrige Befriedigung des Geschlechtstriebes gerichtete
Handlung erfolgt ist, und zwar entweder während des betreffenden Actes
oder nachträglich.
Während des Actes kann der Tod durch Erstickung erfolgen, und zwar
durch die Vorgänge, welche der Thäter unternimmt, um einerseits
sein Opfer zu überwältigen, anderseits um dasselbe am Schreien zu
hindern. Also durch Verschluss der Respirationsöffnungen mit der Hand,
Bedecken des Gesichtes mit Tüchern, Betten oder mit den über den Kopf
geschlagenen Röcken der Genothzüchtigten, ferner durch Würgen am Halse.
Der gleichzeitige Bestand von mit Respirationsbeschwerden verbundenen
Krankheiten, wie Lungen- oder Herzkrankheiten, kann den tödtlichen
Ausgang eines solchen Gewaltactes wesentlich begünstigen. Auch kann
der Tod durch Herzlähmung eintreten, und zwar entweder durch von den
heftigen Affecten veranlassten Shock oder durch Ueberanstrengung des
Herzens, und zwar desto leichter, wenn das Herz schon früher erkrankt
war, insbesondere wenn Klappenfehler oder fettige Degenerationen
des Muskelfleisches bestanden, welche Zustände, wie nicht seltene
Erfahrungen lehren, auch bei freiwillig zugelassenem Coitus, und zwar
sowohl beim Manne als beim Weib den Tod herbeiführen können. Der
seinerzeit viel Aufsehen erregende, in Glogau vorgekommene Fall gehört
vielleicht in eine dieser Kategorien.
Nachträglich kann der Tod eintreten in Folge ausgebreiteter Verletzung
der Genitalien und der durch sie veranlassten secundären Processe,
ebenso in Folge bei der Ueberwältigung erzeugter anderweitiger
Verletzungen[109], ferner auch in Folge des etwa angewandten
Betäubungsmittels (Chloroform), welches übrigens auch schon während und
selbst vor dem geschlechtlichen Acte den Tod veranlassen kann, endlich
möglicher Weise auch in Folge der stattgefundenen Ansteckung.[110]
Die Untersuchung und Begutachtung solcher Fälle würde nach den bei
der Besprechung der gewaltsamen Todesarten auseinanderzusetzenden
Grundsätzen zu erfolgen haben. In jenen Fällen, in denen der Tod
während des Actes oder gleich darnach erfolgte, wäre die Diagnose
des thatsächlich stattgefundenen Beischlafes insoferne leichter, als
sowohl die etwa geschehenen Veränderungen an den Genitalien anatomisch
untersucht, als auch Spermatozoen im Genitalcanale selbst gefunden
werden können.
Schliesslich sei bemerkt, dass die von älteren Autoren bestrittene
Möglichkeit einer Conception durch einen ohne Einwilligung
vollzogenen Beischlaf nicht den geringsten Zweifeln unterliegen
kann, dass aber eine durch einen Nothzuchtsact erfolgte Schwängerung
weder vom österreichischen, noch vom deutschen Gesetze als ein
erschwerender Umstand betrachtet wird, obgleich, da auch andere aus
der That entsprungene, wenn auch nicht beabsichtigte wichtige Folgen
(und als solche muss doch eine stattgehabte Schwängerung gewiss
betrachtet werden) dem Thäter imputirt, d. h. bei der Bemessung der
Strafe in Betracht gezogen werden, eine solche Bestimmung vertreten
werden könnte.
Selbstverständlich hat in einem solchen Falle der Thäter alle jene
Paternitätspflichten zu erfüllen, die durch das bürgl. Gesetzbuch
vorgeschrieben sind. Während jedoch das österr. allg. bürgl.
Gesetzbuch bei der Bestimmung des von Seite des Vaters zu Leistenden
auf den bezeichneten Fall keine Rücksicht nimmt, enthält der §. 1 des
preuss. Gesetzes vom 24. April 1854 die ausdrückliche Bestimmung,
dass eine Frauensperson, welche durch Nothzucht oder im bewusstlosen
oder willenlosen Zustande geschwängert worden, berechtigt ist zu
verlangen, dass ihr das im allg. Landrechte vorgeschriebene höchste
Mass der Abfindung zugesprochen werde.
Unzüchtige Handlungen anderer Art.
[Sidenote: Schändung.]
Das gegenwärtige österr. St. G. B. (§. 128) bezeichnet den
geschlechtlichen Missbrauch von Knaben und Mädchen unter 14 Jahren,
sowie von im Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindlichen
Personen, wenn derselbe auf andere Weise als durch Beischlaf erfolgte
und auch nicht die Unzucht zwischen Personen desselben Geschlechtes
darstellte, als +Schändung+, welchen Ausdruck wir der Kürze wegen
beibehalten können.
[Sidenote: Oest. St. G. E. Deutsch. St. G.]
Gleichen geschlechtlichen Missbrauch versteht der österr. St.
G.-Entwurf (§§. 185, 187, 188) und das deutsche St. G. (§§. 174, 176)
unter „unzüchtigen Handlungen“ im engeren Sinne, d. h. abgesehen vom
Beischlaf und von Päderastie. Eine nähere Bezeichnung der Art und
Weise, in welcher in diesem Sinne der geschlechtliche Missbrauch
erfolgt sein muss, ist im Gesetze nicht angegeben, wäre auch bei
der Dehnbarkeit des Begriffes „unzüchtige Handlung“ nicht leicht
auszuführen. Deshalb hat auch das preuss. Obertribunal angenommen,
dass die Frage, welche Handlungen als „unzüchtige“ zu betrachten sind,
thatsächlicher Natur und durch die Geschwornen zu beantworten sei.[111]
Erfahrungsgemäss bestehen derartige unzüchtige Handlungen meistens in
Manipulationen an den Genitalien der betreffenden Personen, oder darin,
dass diese, insbesondere Kinder, zu onanistischen Zwecken missbraucht
werden, Vorgänge, die sowohl mit männlichen als weiblichen Personen und
beidemale sowohl von Männern als von weiblichen Individuen vorgenommen
werden können.[112] In letzterer Beziehung besteht zwischen der
Fassung des §. 128 des österr. St. G. und des §. 187, lit. 2 des
österr. Entwurfes ein wesentlicher Unterschied. Zufolge ersterer
musste, wenn die Handlung als Schändung aufgefasst werden sollte,
der geschlechtliche Missbrauch an der Person der Gemissbrauchten
verübt worden sein und das Verbrechen war nicht vorhanden, wenn
letztere Person blos als Werkzeug der Selbstbefleckung benützt wurde,
in welchem Fall die That als Verführung zur Unzucht (§. 132) zu
qualificiren war.[113] Der erwähnte Paragraph des österr. Entwurfes
behandelt und straft beide Vorgänge auf gleiche Weise, ebenso der §.
176, lit. 3 des deutschen St. G., indem es in beiden heisst: „Mit
Zuchthaus wird bestraft, wer -- -- -- 3. mit Personen unter 14 Jahren
unzüchtige Handlungen vornimmt oder dieselben zur +Verübung+ oder
+Duldung+ unzüchtiger Handlungen verleitet.“
[Sidenote: Aufgaben des Gerichtsarztes bei Untersuch. wegen Schändung.]
Die Aufgaben des Gerichtsarztes sind in allen solchen Fällen die
gleichen wie bei der Beurtheilung eines gesetzwidrig vorgenommenen
Beischlafes. Er hat nämlich zu untersuchen, erstens, ob an dem
angeblich gemissbrauchten Individuum Zeichen vorhanden sind, welche auf
eine mit demselben getriebene unzüchtige Handlung schliessen lassen,
zweitens, ob Zeichen einer stattgehabten Ueberwältigung bestehen oder
mit Rücksicht auf §. 128 österr. St. G., ob das Individuum zur Zeit
der That wehr- oder bewusstlos (geisteskrank) war, und drittens,
ob und welche Folgen aus dem geschlechtlichen Missbrauche für das
gemissbrauchte Individuum entstanden sind.
Wieder sind zunächst die Genitalien zu untersuchen, ob an denselben
Veränderungen bestehen, welche auf an diesen ausgeübte Manipulationen
zu beziehen sind. Die Veränderungen, welche auf diese Weise an den
weiblichen Genitalien entstehen können, werden abhängen einestheils
von der Brutalität, mit welcher vorgegangen wurde, dann aber auch von
der Weite der betreffenden Theile, sowie, was insbesondere bei Kindern
in Betracht kommt, auch davon, ob der geschlechtliche Missbrauch nur
einmal oder nur einigemale und selten, oder wiederholt und in kurzen
Zwischenräumen erfolgte.
Durch brutales Einbohren der Finger in die Genitalien kleiner Mädchen
können aus den oben angeführten Gründen viel leichter Zerreissungen
des Hymen entstehen, als durch den Penis, mit dem ein Vordringen bis
zum Hymen und über dasselbe hinaus desto weniger möglich ist, je
enger noch die betreffenden Organe gewesen sind. Ueberhaupt müssen
bei solchen Verletzungen die Raumverhältnisse der betreffenden
weiblichen Genitalien mit dem Caliber des Penis, beziehungsweise des
Fingers, verglichen werden, um die Frage zu beantworten, ob dieselben
mit diesem oder mit jenem entstanden sein konnten. Mitunter können
sich Befunde ergeben, die sofort als nicht durch den Penis, sondern
durch den eingebohrten Finger oder mindestens ähnliche harte und
verhältnissmässig dünne Körper erzeugte, zu erkennen sind. So bildet
+Tardieu+ (l. c. Taf. II, Fig. 5) einen Fall ab, in welchem, ohne dass
der freie Rand des halbmondförmigen Hymen verletzt war, im mittleren
Theile des letzteren eine unregelmässig eingerissene, senkrecht nach
abwärts bis in’s Schambändchen dringende Zerreissung sich fand, die
offenbar durch den gewaltsam durchgestossenen Finger entstanden ist.
Solche Perforationen sind aber nicht zu verwechseln mit angeborenen
Oeffnungen, welche an diesen Stellen vorkommen können (vide Fig. 27
und 36). Ebenso konnte in dem von +Lender+[114] mitgetheilten Falle,
in welchem aus der hochgradig entzündeten Scheide eines 4jährigen
Mädchens, dessen Hymen frisch gerissen war, ein Stückchen eines von
ihrem Unterröckchen herrührenden Wollstoffes herausgezogen wurde,
kein Zweifel darüber bestehen, dass ein solcher Befund nicht durch
den Penis, wohl aber durch den gewaltsam eingebohrten Finger erzeugt
worden sein konnte. -- In anderen Fällen können die charakteristischen
Abdrücke von Fingernägeln Aufschluss geben über die Art des Insultes,
welcher die betreffenden Genitalien getroffen hatte.
[Illustration: Fig. 36.
Hymen mit einer grösseren oberen und einer kleineren unteren Oeffnung.]
Beschränkte sich der geschlechtliche Missbrauch des Mädchens nur
auf Betastungen der Genitalien u. dergl., so sind, namentlich nach
blos einmaligem oder selten vorgenommenem derartigen Acte keine
Veränderungen an den Geschlechtstheilen zu erwarten. Wiederholte solche
Manipulationen können theils Irritationserscheinungen hervorrufen,
theils jene Erschlaffung und Ausweitung der Theile bewirken, die auch
durch wiederholte Cohabitationsversuche, aber auch durch habituelle
Onanie sich bilden kann.
Geschlechtlicher Missbrauch von Knaben kann Irritationserscheinungen
am Penis, Erschlaffung des Präputiums u. dergl, zurücklassen, die
ihrerseits wieder ebenfalls durch Onanie entstehen können. In
der überwiegenden Zahl der Fälle von Schändung sowohl von Knaben
als Mädchen finden sich keine auffallenden Veränderungen an den
Genitalien, und solche werden natürlich insbesondere dann vollkommen
fehlen, wenn die Schändung nicht im Missbrauche des Individuums selbst
bestand, sondern wenn dieses als Werkzeug zur Selbstbefleckung benutzt
worden ist.
Die Frage, ob Ueberwältigung stattgehabt hatte, oder ob das
missbrauchte Individuum wehr- oder bewusstlos war, ist natürlich nach
denselben Grundsätzen zu untersuchen und zu beantworten, wie sie bei
der Nothzucht besprochen worden sind.
Gleiches gilt von der Beurtheilung der Frage, ob durch die unzüchtige
Handlung Nachtheile für die Gesundheit entstanden sind oder dadurch gar
der Tod herbeigeführt wurde. Venerische Ansteckung kommt bei an Mädchen
von Männern begangenen Schändungsattentaten nur selten vor, leichter
kann dieselbe erfolgen bei Missbrauch von Knaben durch Frauenspersonen,
wie uns selbst ein solcher Fall bekannt ist.
Widernatürliche Unzucht.
Das österr. St. G. (§. 129) unterscheidet widernatürliche Unzucht
zwischen Personen desselben Geschlechtes und mit Thieren. Ebenso
§. 186 des österr. St. G.-Entwurfes und §. 175 des deutschen St.
G., jedoch mit dem Unterschiede, dass im letzteren der Begriff der
widernatürlichen Unzucht zwischen Personen desselben Geschlechtes
nur auf die zwischen Personen „männlichen“ Geschlechtes, also auf
die Päderastie, eingeengt wird. Letztere Beschränkung ist eine sehr
zweckmässige; denn wenn auch widernatürliche Unzucht zwischen Weibern,
die bereits den Alten als „lesbische Liebe“ und „Tribadie“ bekannt
war, auch gegenwärtig häufig genug geübt wird, wie man insbesondere in
Gefangenhäusern und Detentionsanstalten für Prostituirte beobachten
kann[115], so kommt doch dieser, wenn sie nur zwischen Erwachsenen
stattfindet, gewiss nach keiner Richtung hin jene moralische und
insbesondere strafrechtliche Bedeutung zu, wie der Päderastie. Wohl
wäre dieses aber der Fall bei an Kindern oder hilflosen Personen
ausgeübten derartigen Attentaten.
Einen abscheulichen Fall dieser Art bringt +Tardieu+ (l. c. 69).
Eine noch ziemlich junge Frau hatte ihre eigene 12jährige Tochter
durch wiederholte Einführung der Finger deflorirt und die betreffende
Manipulation mitunter mehrmals im Tage durch lange Zeit ausgeführt.
Verhaftet, gab sie an, die Acte im gesundheitlichen Interesse des
Kindes (?) vorgenommen zu haben. Welche Motive sie aber thatsächlich
dazu bewogen hatten, ging aus der positiven Aussage des Mädchens
hervor, welches berichtet, dass ihre Mutter mitunter während der
Nacht die betreffenden Acte vornahm, dieselben selbst stundenlang
fortsetzte, dabei in grosse Aufregung gerieth und erst aufhörte, bis
sie ganz echauffirt und in Schweiss gebadet war.
A. Die Päderastie.
Unter Päderastie im strafrechtlichen Sinne versteht man die
Befriedigung des Geschlechtstriebes durch Immission des Penis in den
Anus eines männlichen Individuums. Die Gesetzgeber hatten bei der
Fixirung der widernatürlichen Unzucht zwischen Personen männlichen
Geschlechtes als besonders zu behandelnden Delictes offenbar nur
die genannte sexuelle Ausschreitung im Auge, obwohl der Ausdruck
„widernatürliche Unzucht“ Deutungen zulässt, worauf umsomehr hätte
Rücksicht genommen werden sollen, als thatsächlich bei vielen, als
widernatürliche Unzucht aufgefassten Fällen die Befriedigung des
Geschlechtstriebes weniger durch den Anus, als vielmehr nur durch
wechselseitige Manustupration erfolgt und häufig combinirte Excesse
vorkommen.[116]
[Sidenote: Coitus analis mit Weibern.]
Bemerkenswerth ist die Thatsache, dass der „Coitus analis“ auch
an weiblichen Individuen geübt wird, wovon schon +Tardieu+
(l. c. 199) Beispiele erwähnt. Aehnliche Fälle, wovon wir einen
weiter unten anführen werden, haben wir wiederholt beobachtet,
die keinen Zweifel übrig lassen, dass die Zulassung des Coitus
per anum sogar eine besondere Art der gewerbsmässigen weiblichen
Prostitution in grossen Städten bildet. Damit stimmen die Angaben von
+Parent+-+Duchatelet+ (La prostitution dans la ville Paris.
1858, I, 214) und neuere Beobachtungen von +Martineau+ (Deutsche
Med.-Ztg. 1882, pag. 9 und Virchow’s Jahrb. 1881, I, 533 und l. c.)
und besonders von +Coutagne+ (Lyon médical. Nr. 35 und 36) überein,
welcher unter 446 Prostituirten 15 mit positiven Zeichen der
Päderastie fand und 165 mit solchen, die wenigstens theilweise von
diesem Laster herrühren dürften.
Die von +Tardieu+ mitgetheilten Fälle betrafen sonderbarer Weise
zum Theile jung verheiratete Frauen, an welchen die betreffenden
Ehemänner, alte Wüstlinge, derartige Attentate versucht hatten.
Ausserdem scheint es, dass die Päderastie hier und da unter Eheleuten
als eine Form des Malthusianismus geübt wird, d. h. zu dem Zwecke, um
dem Kindersegen vorzubeugen.
[Sidenote: Päderastie.]
Die Päderastie ist ein uraltes Laster. Bereits die Bibel setzt Strafen
darauf und warnt vor dem Götzendienste des Moloch und Bal Phegor, bei
welchem die Päderastie eine grosse Rolle spielte. Bekannt ist die
Verbreitung dieses Lasters im classischen Griechenland (griechische
Knabenliebe), sowie die Thatsache, dass man die Ausübung desselben
nicht blos als nicht anstössig betrachtete, sondern dass auch die
berühmtesten Männer Griechenlands sich derselben ergaben.[117] Ebenso
bekannt ist das päderastische Treiben in Rom in der Kaiserzeit und
die Satyren Juvenal’s und Martial’s, die dasselbe geisseln, sowie
die Lex scatinia, die demselben Schranken zu setzen bestimmt war.
Die Verbreitung der Päderastie im Mittelalter, besonders im XVII.
Jahrhundert in Italien ist namentlich aus +Paulus Zacchias+’
Quest. med. leg. tomi tres. Lib. IV, Tit. 2, Qu. 5, zu entnehmen.
[Sidenote: Chantage.]
Gegenwärtig ist die Päderastie nicht minder verbreitet, und zwar
nicht blos im Orient, wo sie ungescheut getrieben wird, sondern
auch in den hochcivilisirten Ländern Europas und Amerikas, so zwar,
dass wir derselben in den grossen Städten sogar in der Form einer
gewerbsmässigen Prostitution begegnen, die sich, wie zahlreiche in
Paris (+Tardieu+, l. c. 201), London (+Taylor+, Medical Jurisprudence.
1873, II, 473), Berlin (+Casper+-+Liman+’s Handb. 7. Aufl., I, 183
u. ff.) und Wien vorgekommene Fälle beweisen, häufig mit systematisch
geübten Erpressungsversuchen (Chantage), mitunter sogar mit Raub und
Mord an den diesen Leuten in die Hände gerathenen Opfern verbindet.
Beachtenswerth ist ferner die Thatsache, dass, wie speciell in Wien
vorgekommene Fälle beweisen, die Chantage auch gegen ganz Unschuldige
geübt wird, indem Personen in Pissoirs, auf einsamen Spaziergängen
u. dergl. von zu diesem Zwecke verbundenen Gaunern überfallen, eines
päderastischen Attentates beschuldigt und mit der Erstattung der
Anzeige bedroht werden. Die peinliche Zwangslage kann ängstliche
Personen in der That zu Zahlungen veranlassen, wodurch sie sich
begreiflicher Weise ihren Verfolgern erst recht in die Hände geben.
[Sidenote: Strafrechtliche Auffassung der Päderastie.]
Die strafrechtliche Behandlung dieses Lasters ist gegenwärtig
eine ungleich mildere, als sie früher gewesen war. Während die
peinliche Halsgerichtsordnung Karl V. die Strafe des Feuertodes auf
widernatürliche Unzucht setzte und in England und Amerika noch in
neuerer Zeit auf dieses Verbrechen der Galgen stand, bestraft das
österr. Gesetz (§. 130) eine solche That nur mit 1 bis 5 Jahren
schweren Kerkers, und der österr. Entwurf, sowie das deutsche St. G.
sogar nur mit Gefängniss.
Diese mildere Auffassung hat ihren Grund in der milderen Beurtheilung
der geschlechtlichen Ausschreitungen überhaupt, die sich in der
modernen Gesetzgebung bemerkbar macht, andererseits aber darin,
dass man in Folge psychiatrischer Erfahrungen geneigt ist, die
geschlechtliche Zuneigung zu Individuen des eigenen Geschlechtes in
einzelnen Fällen mit einem abnormen sexuellen Fühlen in Verbindung zu
bringen.
Das Vorkommen einer conträren Sexualempfindung und in Folge dessen
einer perversen Richtung des Geschlechtstriebes ist eine durch eine
Reihe von Beobachtungen[118] sichergestellte Thatsache, auf welche
bei der Beurtheilung der „widernatürlichen Unzucht“ nothwendig
Rücksicht genommen werden muss. Wir werden auf diese forensisch
sowohl als psycho-pathologisch höchst interessanten Fälle an einer
anderen Stelle zurückkommen, bemerken nur hier, dass eine solche
„angeborene Verkehrung der Geschlechtsempfindung mit dem Bewusstsein
der Krankhaftigkeit dieser Erscheinung“ (+Westphal+) vorzugsweise
als Theilerscheinung anderer neuro- oder psychopathologischer Zustände
beobachtet wurde, und dass es vorläufig noch sehr fraglich erscheint,
ob eine solche conträre Sexualempfindung auch als isolirte Erscheinung
vorkommen könne.
[Sidenote: Ursachen und Formen der Päderastie.]
In der überwiegenden Zahl der Fälle ist die Päderastie weder eine
neuro-, noch eine psychopathologische Erscheinung, wie schon die
Geschichte dieses Lasters und ihre allgemeine Verbreitung im
classischen Zeitalter beweist. Sie findet sich verhältnissmässig
häufig in Straf- und Versorgungsanstalten und erklärt sich dort
einerseits durch die aus dem gedrängten Zusammenleben vieler Männer
sich ergebende Gelegenheit zu solchen Ausschreitungen, anderseits aus
der Unmöglichkeit, den Coitus in normaler Weise auszuüben. Das öftere
Vorkommen dieses Lasters bei Geistlichen erklärt sich unschwer aus dem
Cölibate und aus der Scheu vor den Folgen eines sexuellen Umganges
mit dem weiblichen Geschlechte. Letztere kann aber auch bei anderen
Ständen angehörigen Individuen den Beweggrund abgeben. So setzte der
oben angeführte, wegen Päderastie verurtheilte „Buben-Apis“ den von
ihm missbrauchten Burschen offen auseinander, „dass bei Weibspersonen
etwas Derartiges viel zu gefährlich sei, da es leicht etwas abgeben
könne, während man bei Buben in dieser Beziehung sich nicht zu fürchten
brauche“, und dieser Umstand mag auch wohl die Ursache sein, warum
mitunter Päderastie auch unter Ehegatten getrieben wird. In wieder
anderen treffen wir dieses Laster bei Wüstlingen, für welche der
normale geschlechtliche Genuss bereits seinen Reiz verloren, weshalb
sie stärkere Reize aufsuchen und in verbotener Unzucht finden. Auch
die Verführung spielt eine grosse Rolle. Weiter kommen Fälle vor,
dass durch Onanie erregtes Misstrauen in die männliche Potenz, aber
auch angeborene fehlerhafte Bildung der Genitalien die Betreffenden
veranlasst, die geschlechtliche Befriedigung auf andere Weise zu
suchen. Thatsächlich liefern die Onanisten ein Hauptcontingent für
päderastische Unzucht. Einen Fall von Hypospadie mit Verkümmerung
des Penis bei einem angeblichen Päderasten bringt +Casper+
(l. c. 200) und hier in Wien kam vor einigen Jahren ein Fall vor,
wo bei dem thatsächlich päderastischer (passiver) Unzucht ergebenen
Individuum eine hochgradige Verkümmerung des Penis gefunden wurde. Auch
+Ottolenghi+ (Virchow’s Jahrb. 1888, I, pag. 444) fand bei Päderasten
auffallend häufig Anomalien an den Genitalien und ebenso +Virgilio+
(Lombroso’s Arch. 1889, X, 63).
Man sieht demnach, dass es eine ganze Reihe von Momenten gibt,
welche diese psychologisch allerdings merkwürdige Verirrung
des Geschlechtstriebes auch ohne Annahme eines neuro- oder
psychopathologischen Zustandes vollkommen erklärt, und dieser Umstand,
sowie der, dass auch das Rechtsbewusstsein im Volke solche Handlungen
nicht blos als Laster, sondern als Verbrechen beurtheilt[119],
hat trotz von medicinischer Seite erhobenen und mit Rücksicht auf
obige Beobachtungen theilweise gerechtfertigten Zweifeln über die
Strafwürdigkeit solcher Handlungen, auch die modernen Gesetzgeber
bewogen, die widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen
Geschlechtes in das Strafgesetz aufzunehmen.
[Sidenote: Active und passive Päderastie.]
Die Päderastie kann man, je nach der Rolle, die die einzelne Person
dabei spielt, in eine active und passive unterscheiden.
Die +active Päderastie+ hinterlässt keine charakteristischen
Kennzeichen, selbst dann nicht, wenn sie habituell betrieben
wurde. +Tardieu+ gibt zwar an, dass er bei einzelnen der von ihm
untersuchten activen Päderasten eine hundepenisartig zugespitzte und
verschmälerte Eichel gesehen habe, welche Form er von der gewaltsamen
und wiederholten Einbringung des Penis in den engen After herzuleiten
geneigt ist. Andere haben jedoch nichts Derartiges beobachtet,
auch ist nicht abzusehen, wie ein kurz vorübergehender, wenn auch
wiederholter Druck auf die doch elastische Eichel an dieser eine solche
Formveränderung erzeugen sollte. Wahrscheinlich handelte es sich in
+Tardieu+’s Fällen um angeborene Deformitäten, wie auch +Brouardel+
(Annal. d’hygiène publ. 1880, Nr. 20, pag. 182) bemerkt, der sich
durch zahlreiche Beobachtungen überzeugte, dass Form und Volumen der
Eichel ungemein variiren. Auch +Coutagne+ (l. c.) konnte bei activen
Päderasten in der Regel keine Formveränderung des Penis constatiren,
doch fand er bei einem bei der That überraschten 35jährigen Individuum
eine ringförmige Furche an der Grenze des vorderen und mittleren
Drittels der Eichel, wie sie auch +Tardieu+ in einem Falle gesehen
hatte. Wir selbst haben in den von uns untersuchten, allerdings
spärlichen Fällen niemals eine Formveränderung des Penis, resp. dessen
Eichel, bemerkt und anderseits eine zugespitzte, hundepenisartige
Form der Glans an der Leiche ganz unverdächtiger Personen wiederholt
beobachtet. Bei forcirter Einführung des Gliedes können Excoriationen
an der Eichel und am Präputium entstehen; es ist jedoch begreiflich,
dass diesen für sich allein ein besonderer Beweiswerth nicht zukommt.
Einer der von +Coutagne+ untersuchten Männer besass eine hochgradige
Phimose, +Coutagne+ erklärte, dass letztere die Einführung des Penis in
den Anus gerade nicht unmöglich mache, aber jedenfalls erschwere.
Die +passive Päderastie+ ist eher geeignet, diagnostisch verwerthbare
Kennzeichen zu hinterlassen, und die Natur dieser wird vorzugsweise von
dem Umstande abhängen, ob der betreffende Act zum ersten Male ausgeübt
wurde, oder ob habituelle passive Päderastie vorliegt.
Im ersteren Falle sind Zeichen stattgehabter gewaltsamer Ausdehnung
der Afteröffnung, insbesondere Excoriationen, Einrisse der
Schleimhaut und selbst tiefere Verletzungen, sowie die secundären
Irritationserscheinungen, desto eher zu erwarten, mit je grösserer
Brutalität der Act verübt wurde und je grösser die Differenz der
Dimensionen zwischen der Afteröffnung einerseits und dem Penis
anderseits gewesen ist. Daher insbesondere bei noch im kindlichen
Alter stehenden Individuen. Bei manchen dieser Fälle dürfte es sich
übrigens gar nicht um eine Immission des Penis in den Anus, sondern um
Befriedigung des Geschlechtstriebes in der Gesässfalte handeln. Bei
älteren Individuen ist bekanntlich, wenn der Sphincter erschlafft ist,
der After grosser Ausdehnung fähig, wie die von +Simon+ in die
chirurgische und gynäkologische Praxis eingeführte Untersuchungsmethode
beweist, bei welcher man in der Chloroformnarcose mit der ganzen Hand
und selbst mit dem Arm in das Rectum eingeht und sogar die Nieren
abzutasten vermag.
[Sidenote: Zeichen passiver Päderastie.]
Es folgt daraus, dass bei einem Erwachsenen, wenn dieser den Sphincter
ani nicht wirken lässt, wie dies bei freiwilliger Gestattung des
Actes geschieht, die Einführung des erigirten Gliedes in den After
ohne besondere Schwierigkeit erfolgen kann und auch keine Spuren
zurücklassen muss.
Der Nachweis ejaculirten Spermas wäre natürlich nur in dem Falle
absolut beweisend, wenn es, was nur in ganz frischen Fällen (an
Leichen) möglich ist, gelingen sollte, es im After selbst aufzufinden;
an anderen Körperstellen oder in der Wäsche nur dann, wenn z. B. bei
unreifen Knaben die Möglichkeit, dass die gefundene Spur von eigenem
Sperma herrühren könnte, positiv ausgeschlossen werden könnte. Den
Fall eines achtjährigen von einem 14½jährigen Jungen päderastisch
gemissbrauchten Knaben, in dessen Hemde der Nachweis von Spermatozoen
gelang, beschreibt +Casper+ (l. c. 208).
Uebertragung von Tripper oder virulenten Geschwüren durch Päderastie
ist thatsächlich beobachtet worden, und ein solcher Befund ist
natürlich von grosser diagnostischer Wichtigkeit, namentlich dann, wenn
die Affection blos auf den After und seine unmittelbare Nachbarschaft
sich beschränkt. Der Umstand, dass auch bei anderweitig acquirirter
virulenter Affection die Haut der Gesässfalte an der Erkrankung häufig
participirt (Condylome), ist nicht ausser Acht zu lassen.
Als Zeichen habitueller passiver Päderastie wurde schon von den alten
Satirikern (+Martial+) und Aerzten (P. +Zacchias+), sowie theilweise
auch von anderen Beobachtern (+Tardieu+, +Casper+) angegeben:
Auffallend schlaffe, dütenförmig gegen den After sich einsenkende
Nates (Podice laevis), Erweiterung der Afteröffnung, Schlaffheit des
Sphincter ani, Verstreichung der sonst um die Afteröffnung stern-
oder strahlenförmig angeordneten Hautfältchen und gewisse, theils
hahnenkammförmige, theils ringförmige Wucherungen der Schleimhaut der
Afteröffnung (Mariscae der Alten).
Von diesen Zeichen hat gar keinen Werth die Erschlaffung und
dütenförmige Einsenkung der Hinterbacken, denn die Festigkeit und
Rundung der letzteren, sowie das mehr oder weniger feste Anliegen
derselben hängt, wie wir dies schon bezüglich des ähnlichen Verhaltens
der grossen Labien auseinandergesetzt haben, von dem Ernährungs-
(Jugend-) Zustande des betreffenden Individuums ab und, wie bekannt,
sind bei alten oder anderweitig herabgekommenen Leuten diese Partien
ganz gewöhnlich schlaff, ohne dass man sie päderastischer Unzucht
beschuldigen kann, ebenso wie thatsächlich bei habituellen, jedoch
gut genährten, insbesondere bei jungen passiven Päderasten ganz
normale Hinterbacken gefunden wurden. Bezüglich der trichter- oder
dütenförmigen Einsenkung des Afters bemerkt +Brouardel+ (l. c.), dass
sich dieselbe schon nach dem ersten päderastischen Missbrauch finden
könne, dass dieselbe jedoch nicht auf einer mechanischen Einstülpung,
sondern auf der Reizung und Contraction des Sphincter und der dadurch
bewirkten Einziehung des Afters beruhe. Nach +Tarnowsky+ jedoch („Die
krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes.“ Berlin 1885), einem
sehr erfahrenen Beobachter, entsteht der Anus infundibuliformis
thatsächlich durch die wiederholte centripetale Zerrung des Sphincter
und in ähnlicher Weise wie die trichterförmige Vertiefung der äusseren
Genitalien bei kleinen Mädchen durch wiederholte Nothzuchtsversuche.
Doch habe dieses Zeichen nur einen Werth, wenn es ohne gewaltsames
Auseinanderziehen der Hinterbacken zu Tage tritt.
Ein sehr beachtenswerthes Symptom ist die Erweiterung der Afteröffnung
und die Erschlaffung des Sphincters, das namentlich bei jüngeren und
sonst gesunden Individuen auffallen muss.
Auffällig, besonders bei jungen Leuten, ist nach +Tarnowsky+ die
Leichtigkeit, mit welcher der Finger in das Rectum eingeführt werden
kann, am werthvollsten aber das Klaffen des Orificium ani, wodurch
in der Knieellenbogenlage ohne Weiteres oder bei mässigem Ausdehnen
der Hinterbacken die Wände des Rectum in der Ausdehnung von mehreren
Centimetern sichtbar werden. Diese Erschlaffung bedingt häufig
Incontinentia analis.
Ein von allen Beobachtern (P. +Zacchias+, +Tardieu+, +Casper+)
besonders hochgehaltenes Kennzeichen passiver habitueller
Päderastie ist das Verstrichensein der um die Afteröffnung stern-
oder strahlenförmig angeordneten Hautfältchen, und daher glatte
Beschaffenheit des Aftersaumes. Wir haben diese faltenlose
Beschaffenheit des Afters nebst Erweiterung und Erschlaffung desselben
sehr schön ausgebildet gesehen bei einer Prostituirten, die viele
Jahre in einem Dresdener Bordell zugebracht hatte und ihrem eigenen
Geständnisse zufolge zur Zulassung des Coitus per anum gemiethet
und abgerichtet worden war. Doch findet sich diese Erscheinung nach
+Tarnowsky+ durchaus nicht so constant, als gewöhnlich angegeben wird,
da von 23 von ihm kürzlich untersuchten zweifellosen Kynäden nur 12
dieselbe zeigten.
Die Mariscae oder Cristae der Alten sind Vorwölbungen der Schleimhaut
des Afters, die mitunter knotige oder lappige hahnenkammartige Gebilde,
manchmal aber einen prolapsartigen Saum (+Casper+) darstellen. Da
solche Bildungen, welche man, obgleich ihnen durchaus nicht immer
Venenerweiterungen entsprechen, mit dem Gesammtnamen Hämorrhoiden
bezeichnet, auch bei Nichtpäderasten ungemein häufig vorkommen, so
kann ihnen um so weniger ein Werth zugeschrieben werden, als es gar
nicht sichergestellt ist, dass der Päderastie überhaupt ein fördernder
Einfluss auf die Entstehung der genannten Gebilde zukommt. In unserem
eben erwähnten Falle waren sie nicht vorhanden, dagegen fanden wir
sie, grosse hahnenkammartige und aus cavernösem Gewebe bestehende
Lappen bildend, stark entwickelt an den Leichen zweier 40jährigen
Prostituirten, welche, wie auch andere Merkmale und die Anamnese
erwiesen, ihr Gewerbe a posteriori ausgeübt hatten.
[Sidenote: Zeichen habitueller Päderastie. Können dieselben
verschwinden?]
Narben nach specifischen Geschwüren, wenn sie als solche zweifellos
erkannt werden, sind diagnostisch sehr werthvolle Befunde. Gleiches
gilt vom chronischen Catarrh des Mastdarmes, der bei habituellen
passiven Päderasten vielleicht ebenso häufig vorkommt, wie die
Blennorrhoe der Scheide und des Uterus bei Prostituirten. Sowohl
bei der während des Lebens als bei den als Leichen untersuchten
Prostituirten haben wir einen profusen chronischen Mastdarmcatarrh
gefunden, und Erstere gab an, dass sie bereits seit Jahren und
überhaupt so lange daran leide, als sie den Coitus per anum zulasse. Es
ist einestheils die mechanische Reizung der für solche Insulte nicht
bestimmten Mastdarmschleimhaut, anderseits die Tripperinfection, welche
das Entstehen chronischer Mastdarmcatarrhe bei habituellen passiven
Päderasten wohl begreiflich erscheinen lässt, obwohl +Tarnowsky+
angibt, dass eine Gonorrhoe des Rectums bei Kynäden eine Seltenheit
sei, da er sie nur zweimal beobachtete.[120]
Neu war uns die in einem Fall gestellte Frage, ob die Zeichen
passiver, durch mehrere Jahre geübter Päderastie wieder verschwinden
können, wenn mit der Uebung der letzteren durch mehrere Jahre
ausgesetzt wurde.
Der Fall betraf einen gewissen S. S., welcher im November 1878
angeklagt wurde, in den Jahren 1873 bis 1876 mit zweien seiner
Lehrjungen theils päderastische, theils anderweitige Unzucht
getrieben zu haben.
Die gerichtsärztliche Untersuchung ergab bei allen drei Betheiligten
vollkommen normale Befunde am After und den Genitalien, aus
welcher Thatsache die Vertheidigung den Schluss ziehen wollte,
dass insbesondere die Angabe des L., durch mehrere Jahre von S.
S. päderastisch missbraucht worden zu sein, nicht auf Wahrheit
beruhen könne, weil in diesem Falle doch gewisse Veränderungen am
After zu Stande gekommen wären, die sich trotz der seit dem letzten
Unzuchtsacte eingetretenen zweijährigen Pause hätten erhalten müssen.
Deshalb wurden uns die Fragen vorgelegt: erstens, ob in Folge der mit
L. getriebenen Päderastie nothwendig Veränderungen an dessen After
haben entstehen müssen, und zweitens, ob dieselben, wenn sie wirklich
entstanden waren, nicht nachträglich verschwunden sein konnten?
Die erste Frage wurde von uns dahin beantwortet, dass bei mehrere
Jahre fortgesetzter und häufig geübter passiver Päderastie in der
Regel gewisse Veränderungen am After sich entwickeln, dass dieselben
aber keineswegs besonders auffallend sein müssen, die zweite dahin,
dass, wenn einmal ausgeprägte solche Veränderungen, insbesondere
Ausweitungen und Erschlaffungen des Afters, Verstreichen der Fältchen
um die Afteröffnung, Vorfälle oder Catarrhe der Mastdarmschleimhaut,
zu Stande kamen, nicht zu erwarten ist, dass dieselben sobald wieder
und vollständig verschwinden, dass dies aber wohl möglich sei, wenn
die betreffenden Veränderungen erst im Entstehen begriffen waren und
dann die päderastischen Acte durch längere Zeit ausgesetzt wurden.
Wenn demnach trotz genauer Untersuchung des L. am After desselben
keine Spur von Veränderungen gefunden wurde, so sei es nicht
wahrscheinlich, dass die betreffenden, angeblich durch fast drei
Jahre fortgesetzten päderastischen Acte häufig stattgehabt haben,
wohl aber lässt sich trotz des negativen Befundes nicht leugnen,
dass einzelne solche Acte innerhalb dieser Periode vorgekommen sein
konnten.[121]
[Sidenote: Eigenthümlichkeiten passiver Päderastie. Erzwungene P.]
Eigenthümlich sind die bei einzelnen passiven Päderasten beobachteten
weiblichen Gewohnheiten, so weiblicher Putz, in Locken gedrehte Haare,
Gebrauch von wohlriechenden Salben und Oelen etc. Es wäre irrig,
solche Erscheinungen sofort als Zeichen einer abnormen (conträren)
Sexualempfindung zu deuten, denn derartiges Gebahren erklärt sich auf
gleiche Weise wie die verschiedenen Kunststücke der Coquetterie, die
die Prostituirten anzuwenden pflegen, um Männer an sich zu locken.
+Brouardel+ (l. c.) bemerkt auch mit Recht, dass der bei manchen
passiven Päderasten zu findende weibische Habitus häufig schon von
Haus aus besteht, und dass gerade solche Individuen den perversen
Geschlechtstrieb activer Päderasten erregen.
Die active Päderastie kann mit und ohne Einwilligung des
zweiten Theiles geübt worden sein. Ersteres ist das bei weitem
Häufigste, und wenn der passive Theil nicht etwa ein Kind oder ein
dispositionsunfähiges Individuum gewesen ist, verfallen beide Thäter
dem Gesetze. Die Fälle, in denen die Päderastie ohne Einwilligung des
Opfers unternommen wurde, betreffen meist Kinder; aber auch gegenüber
Erwachsenen sind solche Versuche vorgekommen, wie ein von +Casper+
(l. c. 203) mitgetheilter Fall beweist. Es ist selbstverständlich,
dass ein gewaltsamer Missbrauch eines Erwachsenen zu diesem Zwecke von
Seite eines einzelnen, wenn nicht ganz besondere, der Verübung der That
günstige Umstände vorhanden waren, nicht angenommen werden kann, dass
man daher derartigen Angaben mit noch mehr Vorsicht entgegentreten
wird, als sie schon gegenüber ähnlichen Aussagen angeblich
genothzüchtigter Frauenspersonen angezeigt zu sein pflegt.
[Sidenote: Gesundheitliche Folgen nach Päderastie.]
Auch bei der Päderastie ist es Aufgabe des Gerichtsarztes, nicht blos
Anhaltspunkte für die Sicherstellung des Thatbestandes aufzusuchen,
sondern auch zu constatiren, ob und welche Folgen für die Gesundheit
des gemissbrauchten Individuums aus dem Acte entstanden sind (§.
130 österr. St. G.). Solche Folgen kommen wieder insbesondere
bei gemissbrauchten Kindern in Betracht und können entweder aus
den localen Verletzungen am After, aus der erfolgten virulenten
Infection, aus Verletzungen anderer Art (vide den schauerlichen,
von +Liman+ l. c. 204 mitgetheilten Zastrow’schen Fall, sowie den
nicht minder monströsen von +Tardieu+, l. c. 272, in welchem zwei
Päderasten an der Zerfleischung ihres Opfers, eines 3½jährigen
Knaben, sich betheiligten) oder aus dem durch die locale Reizung
oder den Affect gesetzten Insult des Nervensystems resultiren, und
sind nach demselben Grundsätzen zu beurtheilen, die bereits bei der
Nothzucht auseinandergesetzt worden sind. Die nachtheiligen Folgen,
welche habituelle Päderastie auf die allgemeine Gesundheit der dabei
Betheiligten ausüben soll, sind vielfach übertrieben worden. +Casper+
stellt derartige Behauptungen, die Abmagerung, Tuberculose u. dergl.
von solchem Missbrauch herleiten wollen, entschieden in Abrede. Unserer
Ansicht nach ist es, wenn solcher Missbrauch mit Kindern getrieben
wird, weniger die Päderastie als solche, als vielmehr anderweitige,
in der Regel damit verbundene sexuelle Excesse (Onanie), welche
geeignet erscheinen, die betreffenden Individuen in ihrer Ernährung
und Gesundheit herabzubringen. Wie vorsichtig man aber bezüglich
derartiger Folgen sein muss, beweist der von +Dohrn+[122] mitgetheilte
Fall, in welchem von einem alten Pfründner mit fünf in demselben
Hause wohnenden Knaben Päderastie und andere Unzucht getrieben worden
war, und nachdem fast alle diese Knaben hintereinander erkrankten und
drei davon starben, die Erkrankung sowohl als der Tod dieser Kinder
von dem geschlechtlichen Missbrauch derselben hergeleitet wurde,
während es doch bei genauer Erwägung aller Umstände keinem Zweifel
unterliegen konnte, dass die Kinder an einem typhösen Leiden erkrankt,
beziehungsweise gestorben waren, welches mit der mit ihnen getriebenen
Unzucht in keinem ursächlichen Zusammenhange gestanden hatte.
B. Unzucht mit Thieren.
[Sidenote: Sodomie.]
Dem Laster der +Sodomie+ begegnen wir ebenfalls bereits in den
ältesten Zeiten. Ausserdem, dass diese Unzuchtsform den Bewohnern von
Sodoma und Gomorrha zur Last gelegt wird, finden wir auch sonst in der
Bibel eine Zahl von Stellen, aus welchen hervorgeht, dass dieselbe auch
dem auserwählten Volke Gottes nicht unbekannt gewesen war.
Auch gegenwärtig kommen derartige Ausschreitungen des
Geschlechtstriebes, wenn auch sehr selten, zur Beobachtung, noch
seltener aber zur gerichtsärztlichen Untersuchung.
Die meisten in der Literatur enthaltenen Fälle betreffen
geschlechtlichen Missbrauch weiblicher Thiere[123] durch Männer.
Es ist selbstverständlich, dass nur, wenn die Betreffenden bei der
That ertappt werden, und nur wenn unmittelbar nach einer solchen
That Gelegenheit geboten ist, das betreffende Thier sowohl als den
Thäter zu untersuchen, möglicher Weise ein die verbotene Cohabitation
bestätigender Befund sich ergeben könnte. Die Untersuchung wäre in
einem solchen Falle natürlich zunächst auf den Nachweis von Sperma
in der Scheide des missbrauchten Thieres zu richten. Von Werth wäre
ferner der Befund von Excrementen oder Haaren des Thieres an den
Genitalien des Thäters oder in der Nähe derselben. Einen solchen Fall
hat +Kutter+[124] mitgetheilt. Er betraf einen Knecht, der dabei
getroffen wurde, als er eben eine Stute gemissbraucht hatte und der
sofort ärztlich untersucht werden konnte. Bei diesem Manne fanden sich,
nachdem die Vorhaut zurückgezogen wurde, in der Eichelfurche Härchen,
welche angeblich, freilich ohne mikroskopische Untersuchung, als der
betreffenden Stute angehörig erkannt wurden; ebenso wurden blutige
Flecken auf der Hose und am Hemde des Untersuchten und gleichzeitig ein
blutiger Ausfluss aus der Scheide der Stute constatirt.
Wir selbst hatten nur einmal Gelegenheit, vor Gericht über einen Fall
angeblicher Sodomie befragt zu werden.
Ein Mann hatte von einem Senner eine Ziege gekauft, welche nach
Angabe des Letzteren am selben Morgen vor der Stallthüre todt
gefunden worden war. Bei dem Zerlegen der Ziege will nun derselbe
die äusseren Genitalien des Thieres blutig und die Schambeinfuge
auseinandergesprengt gefunden haben. Diese Befunde erweckten in ihm
den Verdacht, dass jener Senner mit der Ziege Sodomie getrieben habe,
und dass das Thier in Folge der dabei erlittenen Beschädigungen
umgekommen sei, und er erstattete die gerichtliche Anzeige, jedoch
erst nachdem das Fleisch des Thieres stückweise verkauft worden
war. Vom Gericht wurde uns die Frage vorgelegt, ob zufolge der an
dem todten Thiere angeblich beobachteten Befunde in der That auf an
demselben verübte Sodomie geschlossen werden könne. Wir antworteten
darauf, dass, wenn wirklich die Schamfuge des Thieres gesprengt
war, dies nur durch eine sehr bedeutende Gewalt, etwa durch Sturz
von einer Höhe oder durch Auffallen eines wuchtigen Gegenstandes
auf das Thier u. dgl., hat entstehen können, dass es aber absolut
unmöglich sei, dass durch die Einführung des Penis oder auch der
Hand in die Scheide des Thieres jene Verletzung erzeugt worden
sein konnte, dass also die Natur der Verletzung selbst der von dem
Denuncianten geäusserten Vermuthung, dass mit der betreffenden Ziege
Sodomie getrieben wurde, widerspreche, und dass auch sonst nicht der
geringste Anhaltspunkt vorhanden sei, der eine solche Vermuthung
begründet erscheinen lasse.
Noch seltener als Missbrauch weiblicher Thiere durch Männer kommt
die Sodomie von weiblichen Individuen mit männlichen Thieren vor.
Sämmtliche solche bis jetzt publicirte Fälle betrafen Sodomie mit
Hunden. Ein derartiger Fall wurde vor einigen Jahren von +Schuhmacher+
in Salzburg, ein zweiter von +Pfaff+[125] und ein dritter von
+Schauenstein+[126] mitgetheilt. Ob es sich in diesen Fällen um
thatsächlichen Coitus oder nur um Unzucht anderer Art handelte,
ist nicht erwiesen, auch wäre dies strafrechtlich gleichgiltig,
da das Gesetz nur von „Unzucht“ mit Thieren spricht. Auch bei
solchen Vorkommnissen würde der Gerichtsarzt kaum in der Lage sein,
von seinem Standpunkte aus zur Sicherstellung des Thatbestandes
beizutragen. Doch berichtet +Pfaff+, dass in seinem Falle zwischen
den Schamhaaren der betreffenden Dienstmagd ein schwarzes Hundshaar
gefunden wurde, welches mit den Haaren des grossen schwarzen Hundes,
mit dem jene Person sich thatsächlich eingelassen hatte, vollständig
übereinstimmte[127], und +Maschka+ (l. c., pag. 190) fand bei einer
44jährigen Frau, welche in actu angetroffen wurde und auch geständig
war, an der Vorderfläche der Oberschenkel und in der unteren
Bauchgegend mehrere streifige Hautaufschürfungen, welche seiner Meinung
nach durch die Pfoten des Hundes entstanden sein dürften.
Dritter Hauptabschnitt.
Fragliche Schwangerschaft und Geburt.
+Oesterr. bürgerl. Gesetzbuch.+
§. 58. Wenn ein Ehemann seine Gattin nach der Ehelichung bereits von
einem Anderen geschwängert findet, so kann er, ausser dem im §. 121
bestimmten Falle, fordern, dass die Ehe als ungiltig erklärt werde.
§. 120. Wenn eine Ehe für ungiltig erklärt, getrennt oder durch des
Mannes Tod aufgelöst wird, so kann die Frau, wenn sie schwanger
ist, nicht vor ihrer Entbindung, und wenn über ihre Schwangerschaft
ein Zweifel entsteht, nicht vor Ablauf des sechsten Monats zu
einer neuen Ehe schreiten; wenn aber nach den Umständen oder
+nach dem Zeugnisse der Sachverständigen+ eine Schwangerschaft
nicht wahrscheinlich ist, so kann nach Ablauf dreier Monate die
Dispensation ertheilt werden.
§. 121. Die Uebertretung dieses Gesetzes zieht zwar nicht die
Ungiltigkeit der Ehe nach sich, allein die Frau verliert die ihr von
dem vorigen Manne durch die Ehepacte, Erbvertrag, letzten Willen oder
durch das Uebereinkommen bei der Trauung zugewendeten Vortheile. Der
Mann aber, mit dem sie die zweite Ehe schliesst, verliert das ihm
ausser diesem Falle durch den §. 58 zukommende Recht, die Ehe für
ungiltig erklären zu lassen, und beide Ehegatten sind mit einer den
Umständen angemessenen Strafe zu belegen. Wird in einer solchen Ehe
ein Kind geboren und es ist wenigstens zweifelhaft, ob es nicht von
dem vorigen Manne erzeugt worden sei, so ist demselben ein Curator
zur Vertretung seiner Rechte zu bestellen.
§. 138. Für diejenigen Kinder, welche im siebenten Monate nach
geschlossener Ehe oder im zehnten Monate nach dem Tode des Mannes
oder nach gänzlicher Auflösung des ehelichen Bandes von der Gattin
geboren werden, streitet die Vermuthung der ehelichen Geburt.
§. 155. Die unehelichen Kinder geniessen nicht die gleichen Rechte
mit den ehelichen. Die rechtliche Vermuthung der unehelichen Geburt
hat bei denjenigen Kindern statt, welche zwar von einer Ehegattin,
jedoch vor oder nach dem oben (§. 138), mit Rücksicht auf die
eingegangene oder aufgelöste Ehe bestimmten gesetzlichen Zeitpunkt
geboren worden sind.
§. 156. Diese rechtliche Vermuthung tritt aber bei einer +früheren+
Geburt erst dann ein, wenn der Mann, dem vor der Verehelichung die
Schwangerschaft nicht bekannt war, längstens binnen drei Monaten
nach erhaltener Nachricht von der Geburt des Kindes die Vaterschaft
gerichtlich widerspricht.
§. 157. Die von dem Manne innerhalb dieses Zeitraumes rechtlich
widersprochene Rechtmässigkeit einer früheren oder späteren Geburt
+kann nur durch Kunstverständige+, welche nach genauer
Untersuchung der Beschaffenheit des Kindes und der Mutter die Ursache
des ausserordentlichen Falles deutlich angeben, bewiesen werden.
§. 163. Wer auf eine in der Gerichtsordnung vorgeschriebene Art
überwiesen wird, dass er der Mutter eines Kindes innerhalb des
Zeitraumes beigewohnt habe, von welchem bis zu ihrer Entbindung
nicht weniger als sieben und nicht mehr als zehn Monate verstrichen
sind; oder wer dieses auch nur ausser Gericht gesteht, von dem wird
vermuthet, dass er das Kind erzeugt habe.
§. 1243. Der Witwe gebührt noch durch sechs Wochen nach dem Tode
ihres Mannes, und wenn sie schwanger ist, bis nach Verlauf von sechs
Wochen nach ihrer Entbindung die gewöhnliche Verpflegung aus der
Verlassenschaft.
+Oesterr. Strafgesetz.+
§. 339. Die unverehelichte Frauensperson, die sich schwanger
befindet, muss bei der Niederkunft eine Hebamme, einen Geburtshelfer
oder sonst eine ehrbare Frau zum Beistande rufen. Wäre sie aber von
der Niederkunft ereilt oder Beistand zu rufen verhindert worden, und
sie hätte entweder eine Fehlgeburt gethan oder das lebendig geborene
Kind wäre binnen 24 Stunden von der Zeit der Geburt an gestorben, so
ist sie verbunden, einer zur Geburtshilfe berechtigten, oder, wo eine
solche nicht zur Hand ist, einer obrigkeitlichen Person von ihrer
Niederkunft die Anzeige zu machen und derselben die unzeitige Geburt
oder das todte Kind vorzuzeigen.
§. 340. Die gegen diese Vorschrift geschehene Verheimlichung der
Geburt wird nach Herstellung der Verheimlichenden als Uebertretung
mit strengem Arreste von drei bis sechs Monaten bestraft.
+Oesterr. Strafprocess-Ordnung.+
§. 398. Wenn der zum Tode oder zu einer Freiheitsstrafe Verurtheilte
zur Zeit, wo das Strafurtheil in Vollzug gesetzt werden soll,
geisteskrank oder körperlich schwer krank, oder die Verurtheilte
schwanger ist, hat die Vollziehung so lange zu unterbleiben, bis
dieser Zustand aufgehört hat.
Nur dann kann der Vollzug einer Freiheitsstrafe auch gegen eine
Schwangere eingeleitet werden, wenn die bis zu ihrer Entbindung
fortdauernde Haft für sie härter sein würde als die zuerkannte Strafe.
+Preuss. allgem. Landrecht+, Th. II, Tit. 2.
§. 2. Gegen die gesetzliche Vermuthung der Vaterschaft in der Ehe
geborener Kinder soll der Mann nur alsdann gehört werden, wenn er
überzeugend nachweisen kann, dass er der Frau in dem Zwischenraume
vom dreihundertundzweiten bis zweihundertundzehnten Tage vor der
Geburt des Kindes nicht ehelich beigewohnt habe.
§. 3. Gründet er sich dabei in einem Zeugungsunvermögen, so muss er
nachweisen, dass dergleichen völliges Unvermögen bei ihm während
dieses ganzen Zeitraumes obgewaltet habe.
§. 19. Ein Kind, welches bis zum dreihundertundzweiten Tage nach
dem Tode des Ehemannes geboren worden, wird für das eheliche Kind
desselben geachtet.
§. 20. Die Erben des Mannes können die eheliche Geburt eines solchen
Kindes nur innerhalb der Zeit und nur aus den Gründen anfechten, wo
und aus welchen der Verstorbene selbst dazu berechtigt sein würde
(§§. 2 und 3).
§. 21. Ergibt sich jedoch aus der Beschaffenheit eines zu frühzeitig
geborenen Kindes, dass nach dem ordentlichen Laufe der Natur der
Zeitpunkt seiner Erzeugung nicht mehr in das Leben des Ehemannes
treffe, und kann zugleich die Witwe eines nach seinem Tode mit
anderen Mannespersonen gepflogenen verdächtigen Umganges überführt
werden, so ist das Kind für ein uneheliches zu achten.
§. 22. Hat die Witwe wider die Vorschrift der Gesetze (siehe unten)
zu früh geheiratet, dergestalt, dass gezweifelt werden kann, ob das
nach der anderweitigen Trauung geborene Kind in dieser oder der
vorigen Ehe erzeugt worden, so ist auf den gewöhnlichen Zeitpunkt,
nämlich den zweihundertundsiebenzigsten Tag vor der Geburt, Rücksicht
zu nehmen.
§. 22. Fällt dieser noch in die Lebenszeit des vorigen Mannes, so ist
die Frucht für ein eheliches Kind desselben zu achten.
+Reichsgesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die
Eheschliessung vom 6. Februar 1875.+
§. 35. Frauen dürfen erst nach Ablauf des zehnten Monates seit
Beendigung der früheren Ehe eine weitere Ehe schliessen. Dispensation
ist zulässig.
+Rheinländisches Civilgesetzbuch.+
Art. 312. Ein während der Ehe empfangenes Kind hat den Mann
zum Vater. Dieser kann gleichwohl das Kind verleugnen, wenn er
beweist, dass er während der zwischen dem dreihundertsten und
hundertundsechzigsten Tage vor der Geburt des Kindes verlaufenden
Zeit wegen Abwesenheit oder durch irgend einen Zufall sich in dem
Zustande einer physischen Unmöglichkeit befunden habe, seiner Frau
ehelich beizuwohnen.
Art. 315. Die eheliche Geburt eines Kindes, welches 300 Tage nach
Auflösung der Ehe geboren ist, kann bestritten werden.
Art. 228. Die Frau kann eine neue Ehe erst nach Ablauf von 10 Monaten
nach Auflösung der vorherigen eingehen.
+Preuss. Gesetz vom 21. April 1854.+
§. 15. Als Erzeuger eines unehelichen Kindes ist derjenige
anzusehen, welcher mit der Mutter innerhalb des Zeitraumes vom
zweihundertundfünfundachtzigsten bis zweihundertundzehnten Tage vor
der Entbindung den Beischlaf vollzogen hat. Auch bei einer kürzeren
Zwischenzeit ist die Annahme begründet, wenn die Beschaffenheit der
Frucht nach dem +Urtheil der Sachverständigen+ mit der Zeit des
Beischlafes übereinstimmt.
+Deutsches Strafgesetzbuch.+
§. 169. Wer ein Kind unterschiebt oder vorsätzlich verwechselt, -- --
-- -- wird mit Gefängniss bis zu drei Jahren, und wenn die Handlung
in gewinnsüchtiger Absicht begangen wurde, mit Zuchthaus bis zu zehn
Jahren bestraft.
+Strafprocess-Ordnung für das deutsche Reich.+
§. 485. -- -- An schwangeren oder geisteskranken Personen darf ein
Todesurtheil nicht vollstreckt werden.
Aus vorstehenden gesetzlichen Bestimmungen, zu denen überdies jene auf
Weglegung des Kindes und Kindesmord bezüglichen und an einer anderen
Stelle zu erwähnenden gehören, ist ersichtlich, dass in einer grossen
Zahl civil- sowohl als strafgerichtlicher Fälle Schwangerschaft und
Geburt in Frage kommen und zur gerichtsärztlichen Untersuchung und
Begutachtung Veranlassung geben kann.
Dieselben lassen sich unterscheiden in zwei Hauptkategorien, in deren
ersterer es sich um die Diagnose einer eben bestehenden, in der
zweiten aber um jene einer bestandenen, d. h. durch die Geburt bereits
beendeten Schwangerschaft handelt.
In ersterer Beziehung geschieht die Untersuchung in folgenden Fällen:
1. Wenn die Frauensperson nach dem Tode ihres Gatten oder nach
erfolgter Ehescheidung noch vor Ablauf der vorgeschriebenen sechs,
beziehungsweise zehn Monate eine neue Ehe einzugehen beabsichtigt, da
dies zufolge §. 120 des österr. bürgerl. Gesetzbuches nur gestattet
wird, „wenn nach den Umständen und dem Zeugnisse der Sachverständigen
eine Schwangerschaft nicht wahrscheinlich ist“, und auch die im §. 35
des deutschen Reichsgesetzes über die Beurkundung des Personenstandes
und die Eheschliessung vom Jahre 1875 als möglich hingestellte Dispens
wohl zunächst die ärztliche Erklärung erfordern wird, dass bei der
Frau, welche sich noch vor Ablauf der vorgeschriebenen 10 Monate von
Neuem verehelichen will, keine Schwangerschaft besteht.
2. Wenn bei einer zum Tode (§. 398 österr. und §. 485 deutsche St.
P. O.) oder zu einer Freiheitsstrafe (§. 398 österr. St. P. O.)
verurtheilten Frauensperson die Vermuthung vorliegt, dass sie schwanger
sein könnte, oder eine solche Angabe von der Betreffenden gemacht wird,
da zufolge der genannten gesetzlichen Bestimmungen die Vollziehung des
Urtheils, insbesondere des Todesurtheils, so lange zu verschieben ist,
bis die Entbindung erfolgte.
Ungleich häufiger kommt die bereits erfolgte Geburt in Frage so
insbesondere in allen Fällen verheimlichter, sowie bezüglich
der Legitimität fraglicher Geburt, bei Verdacht auf Kindesmord,
Kindesweglegung, Kindesunterschiebung, Fruchtabtreibung, bei
Identitätsfragen u. s. w. In solchen Fällen genügt es nicht, einfach
zu constatiren, dass eine Person geboren habe, sondern es ergibt sich
in der Regel die Nothwendigkeit, die Detailverhältnisse zu erheben,
welche theils die Dauer der Schwangerschaft und die während dieser
aufgetretenen Erscheinungen, theils den Zeitpunkt und den Verlauf der
Geburt, aber auch, wie z. B. bei Verdacht auf Fruchtabtreibung, die
Ursache desselben betreffen können.
Zeichen der Schwangerschaft.
Die wichtigsten Zeichen einer bestehenden Schwangerschaft sind folgende:
1. +Ausbleiben der Menstruation.+ Dieses Symptom signalisirt
bekanntlich den Beginn einer Schwangerschaft, und zwar in so constanter
Weise, dass mit Recht sowohl in der Geburtshilfe, als auch von Laien
auf dasselbe ein hoher diagnostischer Werth gelegt wird, und es ist
bekannt, dass man, wie noch besprochen werden wird, den Beginn einer
Schwangerschaft, respective die Conception, von der Zeit an berechnet,
in welcher die Menses zum letzten Male eingetreten waren. Trotzdem ist,
abgesehen von dem Umstande, dass, wie bereits oben (pag. 73) erwähnt
wurde, Schwangerschaft auch bei Individuen eintreten kann, welche bis
dahin noch nie menstruirt hatten, das Ausbleiben der Menses für sich
allein kein sicheres Kennzeichen eingetretener Schwangerschaft, da
bekanntlich auch aus anderen Ursachen die Menstruation für einige und
selbst für längere Zeit sistiren kann. Anderseits ist die Fortdauer der
Menses auch nach erfolgter Conception in einzelnen, nicht gar seltenen
Fällen beobachtet worden.
+Hohl+[128] will öfters Fortdauer der Menstruation in den ersten
Monaten der Schwangerschaft gesehen haben und ebenso oft die
Wiederkehr der Menses während der ganzen Schwangerschaft.
+Elsässer+[129] hat 50 derartige Fälle zusammengestellt; in 8
Fällen erschien die Menstruation noch einmal, in 10 Fällen zweimal,
in 12 Fällen dreimal, in 5 viermal, in 6 fünfmal, in 5 achtmal
und in 2 neunmal, +Francis Hogg+[130] beobachtete 21mal Fortdauer
der Regeln bis zur Hälfte der Schwangerschaft, viermal durch 6,
nur selten durch 7 oder 8 Monate und nur in 3 Fällen während
der ganzen Schwangerschaft. Wir selbst hatten Gelegenheit, eine
Frau zu untersuchen, die sich, obzwar regelmässig menstruirend,
für im zweiten Monate schwanger hielt, weil sich auch in einer
vorhergegangenen, und zwar ersten Schwangerschaft die Regeln bis
in die zweite Hälfte derselben wie gewöhnlich eingestellt hatten.
Ebenso haben wir in der Vierteljahrsschrift für gerichtl. Med. (N.
F. XXIII, 1) einen Fall veröffentlicht, in welchem ein 17jähriges
Mädchen, welches ein blos 15 Zoll langes Kind zufolge ihrer Aussage
über einem Nachttopf und in den letzteren geboren hatte, angab, dass
ihre Regeln nur einmal ausgeblieben wären, dann aber sich durch die
ganze weitere Zeit stets, und zwar anfangs schwach, in den letzten
zwei Monaten aber stark eingestellt hätten, welche Angabe in dem
betreffenden Falle durchaus nicht der inneren Glaubwürdigkeit
entbehrte, weshalb zugegeben werden musste, dass dieser Umstand die
Betreffende sowohl bezüglich ihres Zustandes im Allgemeinen, als
bezüglich des Zeitpunktes der bevorstehenden Entbindung irregeführt
haben konnte. Auch +Friedberg+ (Gerichtsärztliche Praxis, pag. 148)
bringt einen Fall, wo die des Kindesmordes Angeklagte behauptete,
während der ganzen Schwangerschaft ihre Menses regelmässig gehabt zu
haben, erklärt jedoch die Angabe für unglaubwürdig.
Selbstverständlich ist der Gerichtsarzt bezüglich des Fehlens oder
Bestandenhabens der Menstruation in der vor der gerichtsärztlichen
Untersuchung gelegenen Zeit blos auf die Angaben der betreffenden
Person selbst und auf jene von Zeugen angewiesen, und seine Aufgabe
geht demnach blos dahin, die Glaubwürdigkeit solcher Angaben zu
prüfen. Die Erfahrung hat überdies gelehrt, dass auch die Menstruation
simulirt werden kann. +Casper+-+Liman+ (l. c. 221) erwähnen zweier
solcher Fälle, in deren einem Vogelblut benützt und durch die
mikroskopische Untersuchung als solches erkannt worden war. Wir selbst
hatten über einen Fall von Kindesmord ein Gutachten abzugeben, in
welchem der Mutter der Angeklagten deshalb der Zustand ihrer Tochter
nicht aufgefallen war, weil diese in jedem Monat ein blutiges Hemd in
die Wäsche brachte, während sich nachträglich herausstellte, dass die
Angeklagte, um ihre Mutter zu täuschen, jedesmal das blutige Hemd eines
anderen Mädchens abgegeben hatte.
[Sidenote: Verhalten des Uterus.]
2. +Die Veränderungen am Uterus.+ Von diesen ist die allmälig
zunehmende Ausdehnung desselben und in Folge dessen die successive
Vergrösserung des Bauches diejenige, welche sowohl der betreffenden
Person selbst als ihrer Umgebung aufzufallen pflegt, und häufig
für sich allein bei den Laien den Verdacht erweckt, dass bei einer
bestimmten Person Schwangerschaft bestehe. Bekanntlich ist der
schwangere Uterus erst im vierten Monate über der Symphyse als glatte
Kugel tastbar, und erst nach dieser Zeit macht sich die zunehmende
Ausdehnung des Unterleibes immer deutlicher bemerkbar, bis sie in den
letzten Monaten so auffallend wird, dass sie, wenigstens aufmerksamer
Umgebung gegenüber, nicht leicht verborgen werden kann. Doch lehrt die
Erfahrung, dass der Grad der Ausdehnung, den der Unterleib während
einer Schwangerschaft erfährt, sich verschieden gestaltet je nach der
Grösse der Frucht und besonders je nach der Menge des Fruchtwassers,
und dass durch entsprechende Körperhaltung, sowie durch passende
Kleidung auch noch in den letzten Monaten eine Schwangerschaft vor der
Umgebung verheimlicht werden kann.
Eine bestehende oder bestandene Ausdehnung des Unterleibes beweist
für sich allein nicht das Vorliegen einer Schwangerschaft, da sowohl
Fettleibigkeit als Erkrankungen der in der Bauchhöhle gelegenen Organe
sie ebenfalls bedingen können. Auch kann sie simulirt werden.
[Sidenote: Cervix.]
Wichtige Anhaltspunkte für die Diagnose gewährt das Verhalten des
unteren Uterinsegmentes und der Portio vaginalis. Ersteres wird
schon im zweiten Monat auffallend nachgiebig und compressibel
(+Reinl+-+Hegar+’sche Schwangerschaftszeichen), was man am besten
dadurch constatiren kann, dass man mit dem in’s Rectum eingeführten
Zeigefinger, nachdem der in die Scheide eingeführte Daumen an die
Portio vaginalis gesetzt ist, nach hinten gehend in den Schlupf des
Sphincter ani tertius zu gelangen sucht und, nachdem dieser passirt
ist, langsam die unmittelbar über der Symphyse aufliegende Hand
dem vom Rectum nach vorn sich bewegenden Finger entgegendrängt.
Die Vaginalportion verlängert sich in der ersten Periode der
Schwangerschaft, ist daher anfangs leichter zu erreichen, als dies
früher der Fall war, und wird, was besonders wichtig ist, eigenthümlich
aufgelockert und weich, welche Veränderung zuerst am Muttermund beginnt
und, successive centripetal vorwärtsschreitend, im fünften Monate den
ganzen Cervix begreift. In der zweiten Hälfte der Schwangerschaft wird
die Portio vaginalis immer schwerer als solche unterscheidbar, da sie
durch das Herabgetriebenwerden des ganzen vorderen Scheidengewölbes
sich scheinbar verkürzt und schliesslich in ihrem vorderen Theile
scheinbar verstreicht. Gleichzeitig mit dieser Erscheinung lassen sich
Veränderungen in der Gestalt und Weite des Muttermundes beobachten.
Bei Erstgebärenden beginnt schon im zweiten Monate der früher, obgleich
nicht immer, eine Querspalte darstellende Muttermund sich abzurunden,
bleibt jedoch bis zum neunten Monat geschlossen, wo er anfängt sich zu
öffnen, so dass am Ende des zehnten Monates (bei Mehrgebärenden schon
im fünften Monat) der ganze Cervix für den Finger durchgängig zu sein
pflegt.
[Sidenote: Kindesbewegungen, Herztöne.]
Zu diesen Erscheinungen kommt in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft
das Fühlen der Kindesbewegungen und der Kindestheile, sowie das Hören
der Herztöne der Frucht. Die Kindesbewegungen werden von der Mutter
gewöhnlich schon am Ende des fünften, vom Arzte erst im sechsten Monate
gefühlt. Die Kindestheile lassen sich durch die Bauchdecken gewöhnlich
erst zwischen dem sechsten bis siebenten Monate unterscheiden, und am
Ende des siebenten und im achten Monate bereits von der Scheide aus
der auf dem Beckeneingange ballotirende Kopf. Die Herztöne der Frucht
können schon gegen das Ende des fünften Monates gehört werden. Die
drei letztgenannten Erscheinungen sind die sichersten Kennzeichen der
Schwangerschaft; dass aber auch bezüglich dieser, sowohl von Seite des
Arztes, als noch mehr von Seite der Mutter arge Täuschungen vorkommen
können, geben selbst die erfahrensten Geburtshelfer zu. Wichtig sind
ferner:
[Sidenote: Brüste.]
3. +Die Veränderungen an den Brüsten.+ Dieselben schwellen häufig
schon in den ersten zwei Monaten an und werden gegen Druck
empfindlich. Die Schwellung schreitet successive vor, wird aber
erst in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft auffallend. Die
Milchsecretion tritt gewöhnlich zwischen dem sechsten und siebenten
Monate ein, indem man zu dieser Zeit schon im Stande ist, beim
Druck auf die Drüsen Milch auszudrücken.[131] Letztere hat anfangs
eine mehr wässerige Beschaffenheit, gewinnt später immer mehr an
Consistenz und wird reichlicher secernirt. Die Papillen und noch
mehr die Warzenhöfe beginnen sich schon im zweiten Monate durch
Pigmentbildung dunkler zu färben und diese Verfärbung wird in der
zweiten Hälfte der Schwangerschaft, namentlich aber gegen das Ende
derselben, sehr auffallend. Als eine für bestehende Schwangerschaft
sehr charakteristische, allerdings meist nur bei brünetten Frauen
sich einstellende Erscheinung bezeichnet +Säxinger+ (l. c. 204) die
Ausbildung der sogenannten secundären Schwangerschaftsareole (P.
+Dubois+), welche sich gewöhnlich erst um die Mitte der Schwangerschaft
entwickelt. Sie erscheint als zweiter, gewöhnlich nur schmutzig-gelber
oder gelbbrauner Ring um den viel dunkler pigmentirten Warzenhof, in
welchem eine grössere Zahl weisser, rundlicher bis linsengrosser
Flecken liegt. Auch die Anschwellung der Folliculardrüsen in der
Areola, die ebenfalls bereits im zweiten Monat beginnt, ist eine sehr
constante Erscheinung. +Faye+[132] hat 2308 Schwangere auf diesen
Befund untersucht und denselben bei 95% beobachtet.
[Sidenote: Linea fusca.]
Einen blos unterstützenden Werth hat die Schwellung und weinhefeartige
Verfärbung der Scheidenschleimhaut, das Oedem der äusseren Genitalien
und der unteren Extremitäten, sowie andere durch den Druck des
schwangeren Uterus auf die Unterleibsgefässe bewirkte Erscheinungen,
deren Grad vielfach variirt. Auch der sogenannten Linea fusca, d. h.
einem von der Symphyse zum Nabel und selbst über diesen hinausziehenden
Pigmentstreif, kommt nur eine untergeordnete Bedeutung für die Diagnose
der Schwangerschaft zu. +Faye+ fand unter 1082 Schwangeren die
Linea fusca nur bei 125 deutlich, bei 226 undeutlich, bei 207 aber gar
nicht. Ausserdem fand er sie einmal sehr deutlich bei einem 12jährigen,
noch nicht menstruirten Mädchen. Wir selbst haben sie bei brünetten,
noch niemals schwanger gewesenen Individuen wiederholt beobachtet. Noch
weniger Bedeutung kann dem Chloasma gravidarum zugeschrieben werden,
welches +Jeanin+ (Virchow’s Jahresb. 1869, pag. 623) mitunter auch
während jeder Menstruation sich bilden sah.
Dem Gesagten ist zu entnehmen, dass es nur sehr wenige Symptome gibt,
die einzeln für sich den Bestand einer Schwangerschaft beweisen, und
dass auch bezüglich dieser Täuschungen nicht ausgeschlossen sind. Wohl
aber ist das gleichzeitige Vorkommen mehrerer, der Schwangerschaft
erfahrungsgemäss zukommender Erscheinungen geeignet, die Diagnose zu
sichern, wobei es sich begreift, dass letztere mit desto grösserer
Gewissheit gestellt werden kann, je weiter bereits der Zustand gediehen
ist. Am schwierigsten gestaltet sich die Diagnose in den ersten
drei Monaten der Schwangerschaft, weshalb gerade in dieser Periode
die grösste Vorsicht anzuempfehlen ist und vor voreiligen Urtheilen
ausdrücklich gewarnt werden muss. Es wird in solchen Fällen immer
angezeigt sein, wiederholt und nach verschiedenen Zwischenräumen zu
untersuchen und die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. Letzteres
hat umsomehr zu geschehen, als wohl nur ausnahmsweise die Fälle so
dringend sind, dass eine sofortige oder möglichst baldige Erklärung vom
Gerichtsarzte gefordert wird.
Für die nähere Bestimmung der Periode, in welcher sich die betreffende
Schwangerschaft bereits befindet, gibt +Schröder+ in seinem bekannten
Lehrbuche der Geburtshilfe (l. c. 85) folgende Anhaltspunkte:
+Erster Monat+: Der Uterus nimmt bereits im ersten Monat an Grösse
zu; die Portio vaginalis ist etwas aufgelockert, die Scheide
secernirt stärker. Die Veränderungen sind annähernd dieselben, wie
zur Zeit der Menstruation, doch ist der Uterus grösser, besonders im
Dickendurchmesser.
+Zweiter Monat+: Die Vergrösserung des Uterus lässt sich durch die
combinirte (gleichzeitig durch die Bauchdecken und von der Scheide
oder vom Rectum aus vorgenommene) Untersuchung mit Leichtigkeit
sicherstellen; derselbe erreicht die Grösse einer mässigen Orange
und hat besonders an Dicke stark zugenommen. Die Consistenz ist noch
ziemlich hart. Der Muttermund bleibt weich, aufgelockert und wird
etwas rundlich. Die Brüste werden voller, der Warzenhof und die Linea
alba beginnen sich zu bräunen.
+Dritter Monat+: Der Fundus uteri ist bei der combinirten
Untersuchung als ein weicher, fast teigiger Körper sehr deutlich im
vorderen Scheidengewölbe zu fühlen. Er ist gut kindskopfgross und die
Port. vag. tritt, indem der Fundus mehr nach vorn sinkt, etwas nach
hinten und wird dadurch schwerer zugänglich.
+Vierter Monat+: Der Fundus des fast mannskopfgrossen Uterus lässt
sich in der Regel schon durch die äussere Untersuchung allein über
der Symphyse nachweisen; bei der combinirten Untersuchung fühlt man
ihn, den ganzen vorderen Theil des Beckens ausfüllend und etwas auf
der Symphyse aufliegend. Die Consistenz ist weich und besonders
bei Mehrgebärenden ungleich, an einzelnen Stellen (vom Körper des
Fötus herrührend) härter. Bei gleichzeitiger innerer und äusserer
Untersuchung kann man nicht selten ein Ballotement des Fruchtkörpers
hervorbringen. Bei der Auscultation hört man in diesem Monat bereits
das Uteringeräusch an einer oder an beiden Seiten.
+Fünfter Monat+: Der Uterus ist zwischen Nabel und Symphyse deutlich
fühlbar. Die Port. vag. wird lockerer, der äussere Muttermund lässt
bei Mehrgebärenden den Finger eindringen. Gegen das Ende dieses
Monats fühlt die Mutter die Bewegungen der Frucht[133] und beim
Auscultiren hört man die fötalen Herztöne.
+Sechster Monat+: Der Uterusgrund reicht bis zum Nabel, Kindestheile
lassen sich bei Erstgebärenden häufig nur undeutlich, bei
Mehrgebärenden in der Regel ohne alle Schwierigkeiten unterscheiden.
Die Pigmentablagerungen sind jetzt stark, die Brüste voll und fest.
+Siebenter Monat+: Der Uterus steht zwei bis drei Finger breit über
dem Nabel. Die Nabelgrube verschwindet, „der Nabel ist verstrichen“.
Die Kindestheile sind deutlicher zu fühlen. Die Portio vaginalis, d.
h. der in die Scheide vorragende Theil des Cervix, wird etwas kürzer.
Während bei Erstgebärenden der äussere Muttermund noch vollständig
geschlossen ist, ist bei Mehrgebärenden häufig der ganze Cervix bis
zum inneren Muttermund dem untersuchenden Finger zugänglich. Das
Ballotiren des Kopfes ist bereits nachzuweisen. Die Brüste werden
stärker und aus ihnen lässt sich jetzt regelmässig (gewöhnlich schon
früher) eine dünne milchige Flüssigkeit drücken.
+Achter Monat+: Der Fundus uteri steht in der Mitte zwischen Nabel
und Herzgrube. Die Bauchdecken sind besonders bei Erstgebärenden so
stark gespannt, dass sich das Epigastrium nur unbedeutend eindrücken
lässt. Der Nabel ist vollständig glatt. Kindeslage leicht zu
bestimmen.
+Neunter Monat+: Der Uterus geht bis in die Nähe der Herzgrube und
erreicht damit seinen höchsten Stand. Bei Primiparen öffnet sich der
äussere Muttermund häufig, so dass man das Nagelglied hineinlegen
kann, der Cervix ist aber selten bereits durchgängig; bei Multiparen
gelangt man leicht bis an den inneren Muttermund, mitunter ist auch
dieser geöffnet. Aus den Brüsten lässt sich eine bläuliche, mit
dicken, weissgelben Streifen durchzogene Flüssigkeit ausdrücken.
+Zehnter Monat+: Der Uterus hat sich wieder gesenkt, so dass sein
Fundus ungefähr in derselben Höhe steht, wie im achten Monat. Das
Epigastrium ist jetzt, da der Uterusgrund herabgestiegen ist, auch
bei Erstgebärenden leicht eindrückbar und der Fundus deswegen leicht
abzugrenzen. Bei Mehrgebärenden ist dieses unterscheidende Merkmal
zwischen achtem und zehntem Monate meist nicht so deutlich, da bei
ihnen auch im achten Monate das Epigastrium häufig nicht straff
ist. Der Fundus uteri sinkt dabei weit nach vorn herüber, die
Nabelgegend ist blasenartig vorgetrieben. Bei Erstgebärenden ist
die Falte der Scheidenschleimhaut, die das vordere Scheidengewölbe
bildete, ausgeglichen und in Folge dessen der vordere Scheidentheil
verstrichen. Der Cervix meist durchgängig. Bei Mehrgebärenden ist der
äussere Muttermund erheblich weiter, als der fast immer durchgängige
innere Muttermund. Doch kann auch der letztere schon in der
Schwangerschaft für zwei oder selbst drei Finger durchgängig sein.
Die Schleimhaut der Vagina ist weicher, aufgelockert und secernirt
reichlich einen milden, weisslichen Schleim.
Dauer der Schwangerschaft.
Bekanntlich liegt auch in der gewöhnlichen geburtshilflichen Praxis
die Schwierigkeit für eine genaue Berechnung der Schwangerschaftsdauer
darin, dass es nur in den seltensten Fällen möglich ist, den Tag der
Conception genau zu bestimmen. Uebereinstimmend gehen jedoch die
Erfahrungen der Geburtshelfer dahin, dass die meisten Conceptionen in
den ersten Tagen nach dem Aufhören der Menstruation erfolgen. +Faye+
(+Ahlfeld+, l. c.) gibt den zehnten, +Luschka+ (Schmidt’s Jahrb. d.
gerichtl. Med. 1869. 144, pag. 89) den achten, +Schröder+ (l. c.
60) den siebenten Tag nach der Menstruation als denjenigen an, auf
welchen zufolge einer grossen Zahl von Beobachtungen am häufigsten die
Conception zu fallen pflegt. Von gleicher Erfahrung geht die bekannte
und in der Geburtshilfe allgemein adoptirte +Nägele+’sche Berechnung
aus, welche zum Anfangstage der letzten Menstruation 7 Tage hinzufügt,
von da ab drei Kalendermonate zurückzählt und so den Tag findet, an
welchem gewöhnlich die Schwangerschaft durch die Entbindung beendigt
zu werden pflegt. Selbstverständlich ist durch diese Erfahrungen
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass eine Conception auch zu
jeder anderen Zeit erfolgen kann. Wir werden jedoch gut thun, auch in
zur gerichtsärztlichen Beurtheilung gelangenden Fällen von der durch
unzählige Erfahrungen bestätigten Thatsache auszugehen, dass in der
Regel die Conception und daher der Beginn der Schwangerschaft in die
ersten Tage nach der letzterschienenen Menstruation zu fallen pflegt,
ebenso wie wir die weitere Erfahrung berücksichtigen werden, dass die
ersten Kindesbewegungen gewöhnlich um die 20. Schwangerschaftswoche
gefühlt werden, und dass sonach diese Erscheinung der Mitte der ganzen
Schwangerschaft entspricht. Nicht zu übersehen ist aber, dass die Lage
des Gerichtsarztes in solchen Fällen ungleich schwieriger ist als
die des Arztes in der gewöhnlichen geburtshilflichen Praxis. Während
die Frauenspersonen, mit welchen es letzterer zu thun hat, über das
Verhalten ihrer Menstruation, insbesondere über den Zeitpunkt des
letzten Auftretens derselben, sowie über die weiter aufgetretenen
Erscheinungen genaue und verlässliche Angaben ertheilen und ihm daher
die wichtigsten Anhaltspunkte für die Beurtheilung des Falles geben,
hat der Gerichtsarzt in der Regel allen Grund, die Angaben der von
ihm zu untersuchenden Personen mit grösster Vorsicht aufzunehmen,
und ist sogar häufig gezwungen, von denselben vollkommen abzusehen.
In der Regel steht, wenn nicht etwa Zeugen in der Lage sind, über
das Verhalten der Menstruation Aufschluss zu geben, die Sache so,
dass nur aus dem Zeitpunkt der Geburt und der Entwicklung des
betreffenden Kindes, sowie aus dem Grade der am Körper, insbesondere
an den Geschlechtsorganen der betreffenden Frauensperson zu findenden
Veränderungen auf die Zeit der Conception geschlossen werden kann,
beziehungsweise, ob eine durch die Entbindung beendigte Schwangerschaft
zu einer bestimmten Zeit begonnen haben konnte.
[Sidenote: Dauer der Schwangerschaft. Berechnung derselben.]
Von dem Tage der Conception rechnet man 280 Tage oder 40 Wochen oder
10 Monate, beziehungsweise 9 Kalendermonate, als normale Dauer einer
Schwangerschaft. Es lehrt jedoch die Erfahrung, dass die Entbindung in
den meisten Fällen etwas früher eintritt. Nach +Ahlfeld+ (l. c.)
fällt die grösste Zahl der Geburten in die 39., die nächstgrösste
in die 40. Woche. Die durchschnittliche Dauer der Schwangerschaft
berechnet er auf 271·44 Tage, eine Berechnung, mit der auch die
Beobachtungen +Schröder+’s u. A. übereinstimmen.
[Sidenote: Frühgeburt.]
Tritt die Geburt mehrere Wochen vor dem normalen Ende der
Schwangerschaft ein, so heisst sie Frühgeburt, erfolgt sie vor der
28.-30. Schwangerschaftswoche, also zu einer Zeit, in welcher die
Frucht erfahrungsgemäss noch nicht im Stande ist, selbstständig weiter
zu leben, dann wird sie als Fehlgeburt (Abortus) bezeichnet. Von
letzterer wird später gehandelt werden. Bezüglich der Frühgeburt sei
hier bemerkt, dass sie in strafgerichtlichen Fällen vorzugsweise dann
in Frage kommt, wenn wegen Kindesmord Angeklagte behaupten, früher
als sie erwartet haben, von der Entbindung überrascht worden zu sein,
und wenn es sich um die Lebensfähigkeit des Neugeborenen handelt, in
civilgerichtlichen Fällen insbesondere dann, wenn nach geschlossener
Ehe oder nach ausserehelichem Beischlaf ein Kind noch vor Ablauf von 10
Monaten geboren und die Vaterschaft unter der Angabe, dass das Kind ein
reifes, daher bereits früher erzeugtes sei, abgelehnt wird. (Oesterr.
bürgl. Gesetzb. §§. 156 und 157; Preuss. Landr. II, §. 21 und Gesetz
vom 24. April 1854, §. 15.
Ein derartiger Fall findet sich in der „Allg. österr.
Gerichtszeitung“ vom Jahre 1869.[134]
In diesem ging die Klage gegen einen gewissen B. auf Erfüllung der
Vaterpflichten bezüglich des von der S. A. am 5. December 1860
geborenen Kindes, mit dessen Mutter B. zum erstenmal am 23. April
1860 und später durch mehrere Monate wiederholt den Coitus ausgeübt
haben soll. B. bestritt, schon am 23. April der S. A. beigewohnt
zu haben, aber selbst dieses zugegeben, wollte er das Kind deshalb
nicht als das seine anerkennen, weil dasselbe zufolge der Aussage
der Sachverständigen ein vollkommen reifes sei, daher längere Zeit
vor dem besagten Tage erzeugt worden sein müsse. Die Aussagen der
Sachverständigen gingen dahin, dass das betreffende Kind zwar
schwächlich gebaut, jedoch gross (17 Zoll) und in allen Organen
vollkommen entwickelt sei, somit keine Anzeichen vorhanden wären,
dass dasselbe als ein in der ersten Hälfte des achten Monates (7
Monate 12 Tage) geborenes zu betrachten sei.
Der oberste Gerichtshof bestätigte trotzdem das Urtheil der zweiten
Instanz, welches dahin lautete, dass der vom Geklagten durch die
Sachverständigen gegen die Vermuthung, dass er der Vater sei,
angestrebte Gegenbeweis umsoweniger hergestellt sei, als dieser
Befund selbst nur eine Vermuthung enthält und als durch denselben
der schwächliche Körperbau des Kindes, somit gerade eine Eigenschaft
bestätigt wird, die erfahrungsgemäss frühreif geborenen Kindern
zukommt.
Verhältnissmässig häufiger und ungleich schwerer zu beurtheilen sind
die Fälle, in denen die Legitimität von Kindern, die längere Zeit nach
dem 280. Tage zur Welt gekommen sind, Gegenstand der Frage bildet.
[Sidenote: Spätgeburt.]
Die +Spätgeburt+ hat seit jeher die Gerichtsärzte lebhaft beschäftigt
und die extremsten Behauptungen hervorgerufen. Während die einen
leugneten, dass die Schwangerschaft länger als 40 Wochen dauern
könne, wollen ältere Autoren zwölf- und mehrmonatliche Dauer
der Schwangerschaft beobachtet haben.[135] Die Wahrheit liegt,
wie gewöhnlich, in der Mitte. Gegenwärtig geben die meisten und
erfahrensten Geburtshelfer zu, dass der Eintritt der Entbindung um Tage
und selbst um Wochen sich verzögern kann. +Simpson+[136] theilt vier
Beobachtungen mit, wo die Schwangerschaft länger als 280 Tage gedauert
hatte, und zwar vom Aufhören der zuletzt erschienenen Menstruation
gerechnet 333, 332, 319 und 324 Tage. Nimmt man an, die Conception
sei erst kurz vor dem zu erwarten gewesenen Eintritt der nächsten
Menstruation erfolgt, und rechnet deshalb 23 Tage ab, so bleiben noch
immer 310, 309, 296 und 301 Tage. Unter 782 von +Merimann+, +Murphy+
und +Reid+ zusammengestellten Fällen, in denen sich der letzte Tag, an
welchem die Menstruation noch erschienen war, bestimmen liess, trat
von diesem Tage an gerechnet bei 173 Frauen die Geburt zwischen dem
281. und 287. Tage, bei 99 zwischen dem 288. und 294., bei 63 zwischen
dem 295. und 301. und 20mal zwischen dem 302. und 326. Tage ein. Bei
40 Fällen, in denen bei Frauen und Mädchen der Tag der Conception
mit völliger Sicherheit ermittelt werden konnte, fiel ziemlich die
Hälfte der Geburten (18) auf den 274.-280. Tag, während 6 zwischen
dem 281.-287. und 4 zwischen dem 288.-294. Tage erfolgten. Auch
+Schröder+ (l. c. 60) gibt zu, dass die Geburt bis zum 320. Tage nach
der Conception sich verzögern kann, und damit ist die Möglichkeit einer
Spätgeburt von Seiten anerkannt, die vor Allem berufen sind, darüber
ein Urtheil abzugeben. In einem von +Puppe+ (Zeitschr. f. Med.-Beamte,
1891, pag. 10) mitgetheilten Falle, wo der Conceptionstag bekannt war,
verblieb die Frucht (Anencephalus) 357, respective 348 Tage im Uterus,
in dem von +Purkhauer+ (Virchow’s Jahrb. 1890, I, 477) beobachteten
300, respective 316 Tage. Trotz Leben des Kindes hatten die
Kindesbewegungen in den letzten Monaten aufgehört, so dass vielleicht
der Reiz fehlte, den dieselben auf den Uterus ausüben.
Wir sind demnach auch in forensischen Fällen genöthigt, mit einer
solchen Möglichkeit zu rechnen, umsomehr, als, wie +Simpson+ richtig
bemerkt, auch vom theoretischen Standpunkt nicht abzusehen ist, warum
der physiologische Act der Geburt nicht ebenso gut bezüglich der Zeit
seines Eintretens Schwankungen unterliegen könnte, wie z. B. das
Zahnen, die Pubertät oder die Menstruation, und es ist bekannt, dass
bezüglich letzterer Erscheinung von einzelnen Autoren (+Cederschjöld+,
+Schuster+, +Bischoff+, +Berthold+) die Ansicht vertreten wurde, dass
die Schwangerschaftsdauer 10 individuelle Menstruationsperioden betrage
und deshalb ebenso wie diese bald länger, bald kürzer ausfallen könne,
eine Anschauung, die neuestens von +Paul Löwenhardt+[137] wieder
aufgenommen wurde und auch darin ihre Unterstützung findet, dass, wie
schon +Elsässer+ und +Wald+ hervorgehoben haben, der spontane Abortus
häufig mit dem Zeitpunkte zusammenfällt, in welchem die Menstruation
erscheinen sollte.
Wie aus den oben angeführten Bestimmungen (Oesterr. bürg. Gesetzb.,
§§. 138, 163, Preuss. Landr., II. Th., §§. 2, 19, 22, 1077, Rhein.
Civilr., Art. 312 und 315, und Preuss. Gesetz vom 24. April 1854, §.
15) hervorgeht, nimmt das Gesetz auf die Möglichkeit einer Spätgeburt
ausdrücklich Rücksicht, indem es 300, beziehungsweise 302 Tage als
die äusserste Grenze annimmt, bis zu welcher Jemandem die Vaterschaft
zugemuthet werden kann. Diese Frist ist zwar mit Rücksicht auf die
Thatsache, dass den Angaben der Geburtshelfer zufolge noch bis zum
320. Tage nach der Conception eine Geburt erfolgen kann, gegenüber der
allgemeinen Möglichkeit etwas zu kurz genommen, da jedoch die Fälle,
in denen noch nach dem 300. Tage eine Entbindung erfolgte, ausnehmend
selten sind, und gegenüber der enormen Zahl früher sich beendigender
Schwangerschaften fast verschwinden, so dürften obige Bestimmungen so
ziemlich das Richtige getroffen haben.[138]
Käme ein einschlägiger Fall zur gerichtsärztlichen Untersuchung,
so wäre es Aufgabe des Gerichtsarztes, zunächst den Tag der
erfolgten Entbindung genau sicherzustellen, wenn derselbe nicht
bereits actenmässig erhoben ist. In frischen Fällen kann sowohl die
Untersuchung der Wöchnerin, als die des Kindes Anhaltspunkte für
eine solche Zeitbestimmung gewähren und den Arzt gegenüber einer
etwaigen falschen Angabe des Geburtstages sichern, deren Möglichkeit
in derartigen Fällen deshalb nicht immer auszuschliessen ist, weil,
wie Erfahrungen lehrten, viele der angeblichen Spätgeburten auf puren
Betrug hinauslaufen.
Zweitens ist die Entwicklung des betreffenden Kindes in Erwägung zu
ziehen, auf deren Constatirung auch durch den Wortlaut einzelner der
angeführten gesetzlichen Bestimmungen ein besonderer Werth gelegt wird.
Wir werden die Eigenschaften der Früchte aus den verschiedenen Monaten
der Schwangerschaft an einer anderen Stelle besprechen, ebenso die
Umstände, welche, abgesehen vom Fruchtalter, dieselben zu alteriren im
Stande sind. Hier sei nur bemerkt, dass die Annahme einer Spätgeburt
desto mehr entfällt, je weniger das geborene Kind jene Eigenschaften
zeigt, welche die ausgetragene Frucht charakterisiren, und dass, wenn
die Schwangerschaft einen sonst ungestörten Verlauf genommen, mit Recht
zu erwarten sein wird, dass die betreffende Frucht in Länge, Gewicht
und in sonstigen Eigenschaften eine vorgeschrittenere Entwicklung
zeigen wird, als wir sie sonst bei zur gewöhnlichen Zeit geborenen
Kindern zu sehen in der Lage sind[139], obgleich nicht zu übersehen
ist, dass auch bei letzteren der Grad der körperlichen Entwicklung in
ziemlich weiten Grenzen sich bewegt und insbesondere die Fälle gar
nicht selten sind, wo zur gehörigen Zeit ungewöhnlich stark entwickelte
Kinder zur Welt gebracht werden. Dies gilt nicht blos von der Länge und
dem Körpergewichte, sondern auch von manchen Eigenschaften, die in der
Regel erst nach der Geburt sich einzustellen pflegen. So sind z. B.
Fälle, in denen ausgetragene Kinder bereits Zähne mit zur Welt gebracht
haben, wiederholt beobachtet worden, und es wäre demnach irrig, blos
aus dem Vorhandensein einer solchen Erscheinung auf das Vorliegen einer
Spätgeburt zu schliessen.[140]
Nicht zu übersehen ist ferner bei der Begutachtung derartiger Fälle,
dass nur verhältnissmässig sehr selten Grund vorhanden ist zur Annahme,
dass noch am letzten Tage, nachdem die Ehe durch Tod des Gatten oder
durch Scheidung zur Auflösung kam oder noch kurz vorher der Coitus
ausgeübt worden ist; insbesondere wird im ersteren Falle häufig genug
die Natur der Krankheit, welcher der Betreffende schliesslich erlag,
eine solche gewesen sein, dass nicht angenommen werden kann, dass
während des Bestandes derselben der Beischlaf hat ausgeführt werden
können, und es ist selbstverständlich, dass unter solchen Umständen
die Zeit, während welcher der Mann vor seinem Tode cohabitations-
oder befruchtungsunfähig gewesen war, ebenfalls bei einer angeblichen
Spätgeburt, sowie überhaupt bei einer nach dem Tode des Gatten
erfolgten Entbindung in Betracht gezogen und mitgerechnet werden muss.
Fälle, in denen die Spätgeburt Gegenstand gerichtsärztlicher
Beurtheilung wurde, sind in der Literatur ziemlich zahlreich
vorhanden.
Von den älteren erwähnen wir insbesondere den von +Marc+[141]
mitgetheilten, weil in diesem gleichzeitig die merkwürdige Frage sich
aufwarf, ob im Sinne des Gesetzes als Niederkunft schon der Beginn
der Entbindung oder nur der Zeitpunkt der Ausstossung der Frucht zu
verstehen sei. Der Fall spielt in Bayern zu einer Zeit, als noch die
Bestimmung galt, dass nur dann Paternitätsansprüche erhoben werden
können, wenn die Niederkunft innerhalb des 210. bis 285. Tages
erfolgte. Die Betreffende war nun erst am 286. Tage niedergekommen,
nachdem jedoch schon Tags zuvor, also gerade an dem vom Gesetze als
Grenze bestimmten Tage, Geburtswehen eingetreten waren, welcher
Umstand zu obigem interessanten Rechtsstreit Veranlassung gab, der
jedoch zu Ungunsten der Mutter entschieden wurde.
Ein Fall von angeblicher Spätgeburt in Folge einer erdichteten
Nothzucht (306 Tage nach letzterer) findet sich in Henke’s
Zeitschrift, 1821, pag. 418. Auch in dem bereits oben citirten Falle
+Schuhmacher+’s, in welchem gegen einen Wundarzt die Klage auf in
der Chloroformnarkose vollbrachte Nothzucht erhoben wurde, wollte
die betreffende Frauensperson ihre Schwängerung von diesem Acte
herleiten, obgleich die Entbindung erst 317 Tage darnach eingetreten
war.
Weitere einschlägige Fälle vide +Taylor+ (l. c. II, 269) und
+Casper+-+Liman+ (l. c. I, 92).
Anomalien der Schwangerschaft.
Von diesen wollen wir, als ein forensisches Interesse besitzend,
die Nachempfängniss, die extrauterine und die Molenschwangerschaft
besprechen.
Die Nachempfängniss.
Die Möglichkeit einer Nachempfängniss ist ebenfalls eine bereits von
den Alten erwogene Frage, und noch heute kann dieselbe keineswegs als
gelöst angesehen werden.
Wir müssen, wie die alten Aerzte thaten und wie dies auch ein neuerer
Schriftsteller über diesen Gegenstand -- +Kussmaul+[142] -- thut,
unterscheiden zwischen +Ueberschwängerung+ (Superfoecundatio)
und +Ueberfruchtung+ (Superfoetatio), indem wir unter ersterer
Bezeichnung eine Empfängniss verstehen, die noch während der ersten
Menstruations- (Ovulations-) Periode einer bereits eingetretenen folgt,
unter Ueberfruchtung aber eine neue, in den späteren Perioden einer
bestehenden Schwangerschaft eintretende Empfängniss begreifen.
Die Möglichkeit einer +Ueberschwängerung+ in dem bezeichneten
Sinne wird allgemein zugegeben, weil das befruchtete Eichen in der
Regel noch einige Tage im Eileiter verweilt und weil dasselbe, wenn es
sich auch im Uterus bereits festgesetzt hat, noch kein wesentliches
Hinderniss für eine neue Befruchtung abgibt. Bei Thieren (Hunden
und Katzen) kann man sehr gewöhnlich die Möglichkeit wiederholter
Befruchtung innerhalb einer Ovulationsperiode beobachten, und auch für
den Menschen hat es den Anschein, dass die meisten Mehrlingsgeburten
durch wiederholte Empfängniss innerhalb der ersten Menstruationsperiode
zu Stande kommen.
Bezüglich der +Ueberfruchtung+ bemerkt +Kussmaul+ mit Recht, dass,
bevor man diese zugeben oder ableugnen könnte, zuerst die Frage zu
beantworten wäre, ob während einer Schwangerschaft noch eine Reifung,
beziehungsweise Auslösung von Eichen stattfinden kann. Da es bis
jetzt noch nicht gelungen ist, bei in der Schwangerschaft oder kurz
nach einer Entbindung Verstorbenen frisch geborstene +Graaf+’sche
Follikel zu finden, trotzdem von zahlreichen Beobachtern (+Kiwisch+,
+Virchow+, +Hecker+, +Kussmaul+ u. A.) darnach gesucht wurde, und da
der Befund von blossen gelben Körpern verschiedenen Entwicklungsgrades,
insbesondere verschiedener Grösse, in dieser Richtung nichts beweist,
so bleiben eigentlich nur die, wie oben erwähnt, wiederholt gemachten
Beobachtungen von auch während einer Schwangerschaft in regelmässigen
Zwischenräumen eingetretener Menstruation, welche als Beweis für die
angegebene Möglichkeit genommen werden könnten, wenn es nicht wieder
anderseits, insbesondere mit Rücksicht auf die Thatsache, dass in
einzelnen Fällen die Menstruation auch nach beiderseitiger Ovariotomie
noch fortdauerte[143], fraglich wäre, ob derartige Blutungen immer als
Ausdruck einer vor sich gehenden Eiauslösung zu betrachten sind.
[Sidenote: Befruchtung.]
Letzteres aber zugegeben, würde wieder die Frage entstehen, ob nicht
das im Uterus sich entwickelnde Ei ein absolutes Hinderniss für
eine neuerliche Befruchtung und im günstigsten Fall wenigstens für
die Entwicklung des neu befruchteten Eies abgebe. Dies scheint der
gewichtigste Einwand gegen die Möglichkeit einer Ueberfruchtung zu
sein, doch ist wieder nicht zu übersehen, dass das Eichen einerseits
und die Spermafäden anderseits ganz winzige und letztere sogar
mikroskopische Gebilde darstellen, denen gegenüber der durch die
Frucht und ihre Hüllen gebildete Verschluss nicht als ein hermetischer
betrachtet werden kann. Da wir ausserdem wissen, dass mitunter grosse
Fibroide und Polypen, die scheinbar die Gebärmutter vollkommen
ausfüllen, den Eintritt einer Schwangerschaft nicht verhinderten, und
anderseits die Möglichkeit der Entwicklung eines so befruchteten Eies
neben einem älteren und trotz diesem gegenüber der Erfahrung, die wir
über die Entwicklung anderer Tumoren, selbst in den lebenswichtigsten
Organen, besitzen, auch nicht absolut negirt werden kann, so lässt sich
über die Frage der Ueberfruchtung noch immer streiten. Es ist aber für
die Annahme einer solchen umsoweniger eine Nothwendigkeit vorhanden,
als sich jene Entbindungen, die als Beweis für die Möglichkeit einer
Ueberfruchtung angeführt wurden, auch ohne letztere erklären lassen.
[Sidenote: Ist Superfötation möglich?]
Die Mehrzahl einschlägiger Beobachtungen betraf Fälle, in denen Frauen
mit Mehrlingen, insbesondere Zwillingen, niedergekommen waren, deren
Körperentwicklung eine sehr verschiedene gewesen ist. Diese Fälle
erklären sich ungezwungen daraus, dass in Folge des beengten Raumes
und vielleicht auch durch ungleiche Ernährungsverhältnisse die eine
Frucht auf Kosten der anderen sich mehr entwickelte, und es ist
umsoweniger Grund vorhanden, an eine Ueberfruchtung zu denken, als eine
solche ungleiche Entwicklung bei Zwillingen verhältnissmässig häufig
beobachtet wird und, was besonders wichtig ist, selbst bei solchen,
die, wie das gemeinschaftliche Chorion beweist, aus +einem+ Ei
entstanden sind. Hierher gehört u. A. der von +Bock+ in Marburg
mitgetheilte Fall, in welchem eine Frau, die überdies bis zum siebenten
Schwangerschaftsmonate regelmässig menstruirte, Drillinge gebar, von
denen der eine eine Länge von 18 Zoll besass, während die anderen,
in getrennten Eiern befindlichen, die Entwicklung einer fünf- und
viermonatlichen Frucht zeigten. Sehr interessant sind in dieser
Beziehung die von B. +Schultze+ (Volkmann’s Samml. klin. Vortr. Nr.
34), +Ruge+ (Beitr. z. Geburtsh. und Gyn. III, 1874) und neuestens von
+Breisky+ (Prager med. Wochenschr 1886, pag. 46) mitgetheilten Fälle,
wo in der Placenta einer älteren (in +Schultze+’s Falle nahezu reifen)
Frucht ein wohl erhaltener, vier- bis sechswöchentlicher Embryo mit
eigener Decidua gefunden wurde. Solche Fälle werden übrigens schon von
+Schurigius+ (Embryologie, 1732, pag. 259) angeführt.
Ferner wurden Fälle beobachtet, in denen Frauen in verhältnissmässig
kurzem Zwischenraume entweder verschieden entwickelte oder jedesmal
reife oder wenigstens gleich entwickelte Früchte gebaren. In der ersten
Kategorie derselben erfolgte während einer Schwangerschaft der Abgang
einer unreifen Frucht, während die andere sich weiter entwickelte und
zur normalen Zeit geboren wurde. Solche Vorkommnisse hat man auch als
„partiellen Abortus“[144] beschrieben und sie erklären sich ebenfalls
in der oben angegebenen Weise aus der Verdrängung der einen Frucht
durch die andere. Die erstgeborene Frucht ist gewöhnlich abgestorben,
obgleich auch frühzeitiger Abgang lebender oder wenigstens frischer
Früchte beobachtet wurde. Die abgestorbene Frucht kann übrigens auch im
Uterus zurückbleiben und gleichzeitig mit der sich weiter entwickelnden
geboren werden, ein Vorkommniss, das, obwohl eher geeignet, die
Anschauung bezüglich der Superfötation zu corrigiren, dennoch als
letztere gedeutet worden ist.
Besonders interessant und am ehesten auf Superfötation zu beziehen sind
die Beobachtungen zweiter Kategorie.
Von diesen sind insbesondere die von +Eisenmann+, von +Moebus+, von
+Thielmann+ und von +Generali+[145] mitgetheilten von Wichtigkeit.
[Sidenote: Fälle angeblicher Superfötation.]
In dem Falle von +Eisenmann+ gebar eine Frau am 30. April 1748 einen
ausgetragenen Knaben, der Unterleib blieb jedoch ausgedehnt, die
Frau fühlte deutliche Kindesbewegungen und E. sowohl als andere
Aerzte überzeugten sich von der Gegenwart eines zweiten Kindes. Die
Geburt trat aber erst am 17. September 1748, also 4½ Monate nach
der ersten, ein. -- Die Frau starb 1755 und die Section ergab einen
einfachen Uterus. -- In dem Falle von +Moebus+ wurde eine 35jährige
Frau, die schon viermal geboren, am 16. October 1833 von einem
ausgetragenen Mädchen entbunden, doch wurde durch die Bauchdecken
ein zweites Kind gefühlt. Bei der nachträglich vorgenommenen
Indagation fand sich der Muttermund wieder zusammengezogen, kaum zu
erreichen. Lochialfluss und Milchsecretion blieben aus, wie in dem
+Eisenmann+’schen Falle, und die zweite Geburt erfolgte erst nach
33 Tagen, am 18. November. -- Die Frau, über welche +Thielmann+
berichtet, war zum dritten Male schwanger und die Menstruation war
noch zweimal erschienen. Am 26. März 1853 Geburt eines kleinen,
lebensfähigen Mädchens, am 18. Mai, also 52 Tage darauf, die
einer zweiten, ebenfalls nicht vollständig ausgetragenen, doch
lebensfähigen Frucht. -- +Generali+ endlich berichtet über eine Frau,
die am 17. Februar 1817 einen lebenden reifen Knaben und 4 Wochen
darauf, am 14. März, einen zweiten ebenfalls ausgetragenen gebar.
Im Jahre 1847 starb diese Frau und es fand sich bei der Section ein
doppelter Uterus.
Diese merkwürdigen Fälle lassen sich entweder in der Weise erklären,
dass man annimmt, dass von zwei gleich alten, aber ungleich
entwickelten Früchten die stärkere durch die Entbindung ausgestossen,
die schwächere jedoch von dem entlasteten Uterus noch weiter,
beziehungsweise bis zur völligen Reife, zurückbehalten und dann erst
geboren wurde, oder man ist gezwungen, thatsächlich an Superfötation
zu denken. Für letztere spricht der Umstand, dass in einem dieser
Fälle, wie auch in einem der oben angeführten, die Menstruation
trotz eingetretener Schwangerschaft sich noch einige Male gezeigt
hatte, und der Befund eines doppelten Uterus in dem Falle von
+Generali+, dessen Vorhandensein von +Kussmaul+ auch in jenem von
+Moebus+ vermuthet wird, obgleich auch bezüglich dieses mit Recht
bemerkt wurde, dass bei Schwängerung der einen Hälfte eines doppelten
Uterus auch in der zweiten eine Decidua sich bildet und deren Höhle
durch die zunehmende Ausdehnung der geschwängerten Uterushälfte
ebenfalls, wenn nicht verschlossen, so doch bedeutend verengert werde.
Am meisten sprechen für die Möglichkeit einer Ueberfruchtung jene
Fälle, in welchen neben einer intrauterinen Schwangerschaft eine
jüngere Tubarschwangerschaft gefunden wurde. +Majer+ (Friedreich’s Bl.
1884, pag. 390) berichtet über einen solchen von +Schröder+ und +Braun+
obducirten Fall, und mehrere andere werden von +Rennert+ (Arch. f.
Gyn. 1884, pag. 276) mitgetheilt. In ersteren fand sich im Uterus ein
dreimonatlicher, in der Tuba aber ein sechswöchentlicher Fötus.
Jedenfalls würde ein derartiges Vorkommniss, wenn es, was als möglich
zugegeben werden muss, zu Zweifeln über die legitime Geburt der einen
der in längeren Zwischenräumen geborenen Früchte Veranlassung geben
sollte, zu den schwierigsten und heikelsten Gegenständen gehören, die
zur gerichtsärztlichen Beurtheilung gelangen können. Da von mehreren
Autoren, so namentlich von +Kussmaul+, die Möglichkeit einer
Superfötation wenigstens bei doppeltem Uterus zugegeben wird, so
wäre auf das Vorhandensein dieses, sowie darauf zu achten, ob nicht
während der Schwangerschaft Erscheinungen aufgetreten sind, die, wie
z. B. die Fortdauer der Menstruation, auf noch nach der Conception
erfolgte Ovulation bezogen werden könnten. Sind derartige Momente nicht
nachzuweisen, dann liegt es gewiss viel näher, einen anormalen Verlauf
einer Zwillingsschwangerschaft als eine Ueberfruchtung anzunehmen.[146]
Bei der Beurtheilung einschlägiger Fälle kommt auch die Frage in
Betracht, wann nach der Entbindung eine Frau wieder concipiren
kann. Nach der herrschenden Ansicht ist dies erst 6-8 Wochen nach
der Entbindung, d. h. kurz vor der bei nichtstillenden Frauen
eintretenden Menstruation möglich. Von +König+ wurde jedoch in der
Leipziger Gesellschaft für Geburtshilfe (Centralbl. f. Gyn. 1893,
Nr. 19) ein Fall mitgetheilt, wo 4 Tage post partum der Coitus
ausgeübt und dann 3 Monate ausgesetzt wurde, die Menstruation nicht
wiederkehrte und die Frau 243 Tage nach diesem Coitus ein vollreifes
3550 Grm. schweres Kind gebar.
Die Extrauterinschwangerschaft.
Die häufigste Form der extrauterinen Schwangerschaft ist die
Tubarschwangerschaft. Dieselbe endigt meistens schon im zweiten
bis dritten, mitunter erst im vierten Monate[147], indem das sich
ausdehnende Ei die Tuba sprengt und der Tod entweder sofort durch
Verblutung oder in Folge der nun entstehenden Peritonitis eintritt.
In günstigen Fällen tritt Genesung ein, indem die Frucht entweder
abgekapselt wird und in ein Lithopädion sich umwandelt, oder eine
sogenannte lipoide Umwandlung eingeht[148], oder indem Abscessbildung
unter Ausstossung der abgestorbenen Frucht oder vielmehr ihrer Reste
erfolgt, Vorgänge, die selbst Jahre in Anspruch nehmen, so zwar, dass
in der Zwischenzeit neue und normal verlaufende Schwangerschaften
sich einstellen können, eine Form der Superfötation, die von der eben
besprochenen wohl zu unterscheiden ist.
[Illustration: Fig. 37.
Interstitielle Gravidität mit Ruptur im vierten Monat.]
Abgesehen von letzterem Umstande, hat die
Extrauterinschwangerschaft[149] noch insoferne eine gerichtsärztliche
Bedeutung, als der plötzliche Tod, der sehr häufig in Folge der
Berstung des Fruchthalters erfolgt, den Verdacht einer gewaltsamen
Todesart erwecken kann. So kam in Prag ein Fall vor, in welchem
eine Frauensperson nach dem Genusse von Würsten unter Schwindel und
Würgebewegungen zusammenstürzte und nach wenigen Augenblicken starb,
weshalb an eine Vergiftung gedacht wurde, bis die Section den Fall als
Verblutung in Folge einer Tubarschwangerschaft klarstellte.
Ebenso kann es sich ereignen, dass eine schwangere Tuba, die vielleicht
binnen Kurzem von selbst geborsten wäre, durch verhältnissmässig
unbedeutende Erschütterungen des Unterleibes, z. B. durch Fauststösse
u. dgl., zum Bersten gebracht und dadurch der Tod veranlasst wird,
in welchem Falle „die eigenthümliche persönliche Beschaffenheit oder
der besondere Zustand der Verletzten“ (österr. St. P. O. §. 129, 2,
lit. _b_) besonders hervorgehoben werden müsste. Endlich kann der
Riss in der Uteruswand, welcher nach interstitieller Schwangerschaft
entsteht, für eine anderweitig, insbesondere traumatisch veranlasste
Ruptur genommen werden (Fig. 37).
Molenschwangerschaft.
Unter Mole verstehen wir ein degenerirtes Ei und schliessen folglich
alle anderen Neubildungen, wie Polypen, Fibrome u. dergl., welche
ebenfalls mitunter durch Contractionen der Gebärmutter, also durch
einen Geburtsact, ausgestossen werden können, von diesem Begriffe aus.
Man unterscheidet Fleischmolen und Blasenmolen. Die +Fleischmolen+
entstehen ausser aus zurückgebliebenen Placentaresten oder
Fibringerinnseln durch Hämorrhagien zwischen die einzelnen Eihäute
und mitunter in die Eihöhle selbst, wobei die Frucht abstirbt,
aber keineswegs ein gewöhnlicher Abortus eintritt, sondern das Ei
mit dem abgestorbenen Fötus im Uterus zurückbleibt und, indem sich
das Extravasat organisirt, zu einem die Formen der Uterushöhle
präsentirenden fleischartigen, faserigen Tumor umwandelt, in dessen
Centrum nicht selten noch die Amnionhöhle und selbst Reste des Embryo
erkannt werden können.
Die +Blasen+- oder +Traubenmolen+ entwickeln sich durch Hypertrophie
und cystöse (myxomatöse) Degeneration der Chorionzotten, mitunter
auch durch cystöse Degeneration oder durch subchoriale Hämatome der
Decidua vera, wie +Breus+[150] ausführt und abbildet. Man findet ein
Convolut von erbsen- bis haselnussgrossen dünnwandigen und mit meist
wasserklarem Serum gefüllten Cysten, welche auf langgestreckten und
ein verfilztes Balkenwerk bildenden Stielen von einer centralen Masse
ausgehen, die als Ueberrest des Chorion aufzufassen ist und mitunter
ebenfalls noch Reste der ehemaligen Eihöhle enthält.
Die Entstehung der Molen fällt gewöhnlich in die ersten Monate der
Schwangerschaft, in welchen eben die Ursache des Absterbens der Frucht,
beziehungsweise der Hämorrhagie, in die Eigebilde oder der hydropischen
Degeneration der Chorionzotten gesetzt wurde. Im Allgemeinen werden
Blasenmolen viel länger getragen als Fleischmolen (+Scanzoni+). Die
Symptome einer Molenschwangerschaft unterscheiden sich in der ersten
Zeit gar nicht von einer gewöhnlichen Schwangerschaft. Im späteren
Verlaufe kann der Mangel der Kindesbewegungen und der fötalen Herztöne
Anhaltspunkte für die Diagnose ergeben, auch Blutungen aus den
Genitalien können sich einstellen, dagegen sind die von älteren Autoren
angegebenen Erscheinungen von Abmagerung, Unwohlsein etc. keineswegs
constant. Bei Blasenmolenschwangerschaft ist die unverhältnissmässig
rasche Zunahme des Uterus bemerkenswerth. Ebenso wurden starkes
Erbrechen und hydropische Erscheinungen beobachtet. In einem von
+Leopold+ verfolgten Falle (Arch. f. Gyn. XII, 482) trat schon in den
ersten Wochen der Schwangerschaft heftiges Erbrechen und Oedem des
Gesichtes auf. Ende der achten Woche stand der Fundus uteri bereits
zwei Finger über der Symphyse, Ende des dritten Monates zwei Finger
breit über dem Nabel. Ende der dreizehnten Woche profuser Blutverlust
aus der Scheide und rasche Entbindung von einer grossen, ein ganzes
Waschbecken ausfüllenden Blasenmole.
Verkennen der Schwangerschaft durch die Mutter.
Eine Erwähnung verdient noch das +Verkennen der Schwangerschaft von
Seite der Schwangeren selbst+, eine Behauptung, die in forensischen
Fällen nicht selten vorkommt.
Dass ein Verkennen der Schwangerschaft in den ersten Monaten möglich
ist, wird allgemein zugestanden und ist auch begreiflich, da die
Gravidität anfangs keine auffallenden Veränderungen im Körper
veranlasst und die ersten subjectiven Erscheinungen, wie Unwohlsein
und auch das Ausbleiben der Menstruation, das überdies, wie wir
gehört haben, nicht immer erfolgen muss, auch anderweitig gedeutet
werden können. Ist aber die Schwangerschaft bereits weiter gediehen,
namentlich bereits über die erste Hälfte ihrer normalen Dauer
vorgerückt, dann ist wohl nur unter besonderen Umständen als möglich
zuzugeben, dass eine Person ihren Zustand verkannt haben konnte, da
für gewöhnlich vorausgesetzt werden muss, dass eine vollsinnige und
geschlechtsreife Person sowohl die Bedeutung des Coitus kennt, als die
Folgen, die daraus entstehen können, und da die successive und immer
auffallender werdende und mehrere Monate beanspruchende Entwicklung
der Symptome sie über ihren Zustand in’s Klare bringen muss. Deshalb
kann auch der im früheren preuss. St. G. enthaltenen Bestimmung, dass:
„wenn die Frucht bereits die 30. Woche erreichte, die Ausrede, dass die
Mutter von ihrer Schwangerschaft nichts gewusst habe, nicht mehr gelten
kann“, die Berechtigung nicht abgesprochen werden.
[Sidenote: Verkennen der Schwangerschaft.]
Ausnahmen von dieser Regel könnten jene Fälle bilden, in denen der
betreffende Coitus an einer bewusstlosen Person ausgeführt wurde.
Das Verkennen der daraus entspringenden Schwangerschaft wäre
gewiss begreiflich; ebenso begreiflich ist es aber, dass gegenüber
derartigen Angaben nur die grösste Vorsicht angezeigt ist. Wie
leichtgläubig in dieser Beziehung ältere Aerzte gewesen sind, beweist
der in Schmidt’s Jahrb. 1850, pag. 323 als Beweis für die Möglichkeit
einer unbewussten Schwängerung angeführte Fall: Ein 23jähriges
plethorisches Bauernmädchen erkrankte an heftigen Unterleibsschmerzen
lebensgefährlich. Bei Eröffnung der ungünstigen Prognose fühlte
sich der Bräutigam zu der Mittheilung veranlasst, dass er vor drei
Monaten, als sie sich beide in trunkenem Zustande befunden hätten,
höchst wahrscheinlich (!) mit dem Mädchen den Beischlaf ausgeübt
habe. Am sechsten Tage wurde eine dreimonatliche Frucht geboren,
worauf die Mutter starb. Nun heisst es weiter: „Der gesellschaftliche
(Bauersleute!) und sittliche (beide betrunken!) Standpunkt der
beiden Verlobten musste bezüglich der Angaben des Bräutigams
Vertrauen erwecken und spätere Erkundigungen mussten dieses Vertrauen
bestärken. Der Fall würde also beweisen, dass ein übermässiger Genuss
starker Getränke das Bewusstsein so zu unterdrücken vermag, dass
selbst der Coitus ohne Wissen beider Individuen vollzogen werden
kann.“ (!!!)
Dass bei Blödsinnigen und Geisteskranken ein Verkennen der
Schwangerschaft vorkommen kann, bedarf keines weiteren Beweises.
Wichtiger ist jedoch die Thatsache, dass auch bei blos
schwachsinnigen Individuen Solches zugegeben werden muss, wie
+Fleischmann+ (Henke’s Zeitschr. 1839, pag. 294) einen solchen
Fall beobachtete. Ebenso wäre es denkbar, dass bei Schwängerung ganz
jugendlicher, von dem normalen Zeitpunkt der Pubertät noch weit
entfernter Individuen, wovon wir oben vielfache Beispiele angeführt
haben, schon der noch kindlichen Beschaffenheit der Verstandeskräfte
wegen eine Schwangerschaft verkannt werden könnte.
Der Einfluss von Menstruationsanomalien auf etwaiges Verkennen der
Schwangerschaft wird nicht unbeachtet gelassen werden dürfen. So bei
Individuen, die früher noch niemals menstruirt hatten oder bei denen
die Menses stets unregelmässig und mit vielfachen Unterbrechungen
sich einstellten, namentlich aber, wenn trotz eingetretener
Gravidität die Menstruation noch fortgedauert hätte. Wir haben ferner
oben eines Falles erwähnt, in welchem das Ausbleiben der Menstruation
in Folge eingetretener Schwangerschaft mit dem Eintritt des
Klimakteriums in Verbindung gebracht wurde, und es wäre begreiflich,
wenn eine Person, die trotz wiederholtem Coitus niemals geboren
hatte, wenn sie im vorgerückten Alter wirklich schwanger wird, ihren
Zustand verkennt.
Einen solchen Fall bringt +Tanner+ (Monatsschr. f. Geburtsk. 1863,
XXI, 163). Eine 42jährige Dame, zu welcher T. gerufen wurde,
klagte seit 11 Uhr der verflossenen Nacht über grosse Schmerzen
im Unterleibe, ist mehr denn drei Jahre verheiratet und niemals
schwanger gewesen. Die Catamenien waren seit 10 Monaten ausgeblieben,
was jedoch, da sie früher sehr reichlich gewesen waren, der
Veränderung der Lebensweise zugeschrieben wurde. Der Schmerz im
Unterleibe kam in Paroxysmen und hatte sich weder durch Medicamente,
noch durch Senfteige gebessert. Der Assistent eines benachbarten
Arztes erklärte, dass die Schmerzen von Flatulenz und Entzündung
herrührten. Dies stimmte ganz wohl mit der Meinung der Patientin,
ihres Mannes etc. überein. T. fand jedoch die Frau in Wehen und
extrahirte wenige Stunden darauf ein ausgetragenes Kind -- zu nicht
geringer Befriedigung der erstaunten Eltern. Dieser Fall, sagt T.,
beweist, dass eine Frau empfangen, vollkommen austragen und 10
Stunden lang Wehen haben kann, ohne nur im Geringsten zu ahnen, dass
sie schwanger sei.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass unter Umständen eine
Schwangerschaft auch für einen chronisch-pathologischen Zustand
gehalten werden kann, namentlich dann, wenn ähnliche Symptome
thatsächlich früher bestanden hatten, und noch mehr, wenn die
Betreffende etwa von ärztlicher Seite in dem Wahne, krank zu sein,
bestärkt worden ist. So erzählt +Wald+ von einem Ladenmädchen,
welches, hinter dem Pulte stehend, ein Kind geboren hatte, das in
Folge der dabei erlittenen Schädelfracturen sofort gestorben war.
Die Person war seit jeher kränklich gewesen, litt besonders an
Unterleibsbeschwerden und die Menstruation war stets unregelmässig.
Nur einmal hatte sie den Coitus zugelassen. Die Erscheinungen, die
auftraten, schrieb sie ihrer alten Krankheit zu und wurde in diesem
Glauben durch einen Arzt bestärkt, den sie wiederholt consultirte
und der ihr Landaufenthalt anrieth. Von dort kehrte sie gebessert
zurück und hielt die Zunahme ihres Unterleibes für ein Zeichen
fortschreitender Genesung. In den letzten Monaten consultirte sie
wegen der auffallenden Zunahme ihres Unterleibes ihren Arzt, der noch
acht Tage vor der Entbindung die Diagnose auf Wassersucht stellte und
darnach behandelte. Unter solchen Umständen musste die Möglichkeit,
dass die Betreffende ihre Schwangerschaft verkannt haben konnte,
zugegeben werden. Ist es ja schon vorgekommen, dass Schwangerschaft
für einen Ovarialtumor gehalten und die Ovariotomie gemacht wurde!
Schliesslich sei bemerkt, dass eine Verkennung der Schwangerschaft
unter sonst gleichen Verhältnissen bei einer Person, die bereits
geboren hatte, noch weniger leicht wird zuzugeben sein, als bei
Individuen, die zum erstenmale gravid geworden sind und daher in
diesen Dingen noch keine Erfahrung besitzen.
Ein Unicum war die laut brieflicher Mittheilung des Herrn Collegen
+Fleischer+ in Brüx ihm in einem Ehetrennungsprocesse gestellte
Frage, ob der Ehemann die Schwangerschaft seiner ihm vor wenigen
Wochen angetrauten Frau erkennen musste. Ein Witwer, der in erster
Ehe 6 Kinder gezeugt hatte, heiratete nach vierwöchentlicher
Bekanntschaft ein 24jähriges Mädchen. Nach fünf Wochen gebar die
Frau ein lebendes, jedoch unreifes Kind. Der Mann verlangte die
Ungiltigkeitserklärung der Ehe mit Rücksicht auf §. 58 des österr.
bürg. Gesetzb. Der Vertreter der geklagten Frau machte aber geltend,
dass der Gatte als erfahrener Mann bei dem geschlechtlichen Umgang
mit seiner Frau deren Zustand erkennen musste, sich aber die Sache
offenbar gefallen liess, da er erst nach erfolgter Entbindung Klage
erhob. Da auch die Hausgenossen den Zustand der Frau nicht erkannt
hatten, und das Kind ein unreifes war, musste die Aussage des Gatten,
dass ihm keine Idee von dem Sachverhalte aufgestiegen sei, als
glaubhaft erklärt werden, umsomehr, als er angab, dass er zwar den
Coitus öfters ausgeübt, dass aber seine Frau weitere Berührungen
unter dem Vorwande, kitzlich zu sein, nicht zugelassen habe.
Die Diagnose stattgehabter Entbindung.
Wir haben hier die normale Entbindung von einer ausgetragenen Frucht im
Auge, und zwar zunächst diejenigen Kennzeichen, welche in der ersten
Zeit nach einem solchen Acte zu constatiren sind.
[Sidenote: Erscheinungen nach der Geburt.]
Unmittelbar nach einer Entbindung finden wir die äusseren Genitalien
und deren Umgebung mit Blut verunreinigt, welches theils aus
dem Uterus, theils aus den bei Erstgebärenden in der Regel, bei
Mehrgebärenden sehr häufig vorhandenen kleinen Einrissen des
Scheideneinganges stammt. Die Schamlippen sind geschwollen, der
Scheideneingang und die Scheide so erweitert, dass man bequem mit
der ganzen Hand eindringen kann. Die Scheide selbst, insbesondere
ihre vordere Wand, ist schlaff, die Runzeln verstrichen. Der Cervix
schlaff, der Muttermund weit offen, in der Regel mit frischen
Einrissen versehen. Blutiger Ausfluss aus dem Uterus.[151] Letzterer
als kugeliger Körper zwischen Symphyse und Nabel zu fühlen. Die
Bauchdecken auffallend schlaff und stark gerunzelt, mit frischen
Schwangerschaftsnarben besetzt, ausserdem in der Regel stärker
pigmentirt, namentlich entsprechend der weissen Bauchlinie als Linea
fusca. Die Brüste geschwellt, beim Druck dickliche gelbliche Milch
(Colostrum) entleerend, in welcher sich nebst anfangs spärlichen
Milchkügelchen sogenannte Colostrumkörperchen finden, welche grosse
rundliche, einen Kern und zahlreiche Fetttröpfchen enthaltende Zellen
darstellen, die als im fettigen Zerfall begriffene Drüsenepithelien
aufzufassen sind. Die Brustwarzen und ihre Höfe sind auffallend
pigmentirt und die Follikel in letzteren deutlich geschwellt.
Von allgemeinen Erscheinungen ist die erhöhte Temperatur sehr constant;
die Erhöhung beginnt nach +Schröder+ gleich nach der Geburt,
steigt durchschnittlich bis 39° und schwankt in den nächsten Tagen
zwischen 36-38°, in der Regel mit abendlichen Exacerbationen. Der
Puls ist im normalen Wochenbett in der Regel sehr niedrig, 50-60
(+Schröder+). Gesteigerte Hautthätigkeit und ziemlich bedeutende
Gewichtsabnahme in den ersten Tagen (+Gassner+) sind ebenfalls
constante Befunde.
In den folgenden Tagen und Wochen bilden sich die besprochenen
Erscheinungen allmälig zurück. Die Involution des Uterus schreitet vor,
ist jedoch erst nach 6-8 Wochen vollendet. Der Muttermund contrahirt
sich, bleibt aber meist bis zum 10.-12. Tage offen. Nach 5-6 Wochen
ist der Cervix bereits wieder ziemlich zur Norm zurückgekehrt, etwaige
Einrisse verheilt, ebenso jene des Scheideneinganges. Letzterer, sowie
die Scheide verengern sich, die Wandungen der Vagina werden fester
und gewinnen ihre gerunzelte Beschaffenheit wieder. In der Regel wird
die Verengerung erst in der 3.-4. Woche deutlicher, kann sich jedoch
auch früher einstellen (+Schröder+). Die Bauchdecken verlieren ihre
Schlaffheit, doch erhält sich die Pigmentirung derselben in der Regel
lange Zeit, während die Schwangerschaftsnarben meistens als bleibendes
Merkmal überstandener Gravidität auch später zu bemerken sind, indem
ihre ursprünglich einen Stich in’s Röthliche zeigende Farbe allmälig
jene sehnigglänzende annimmt, die dann meist für die ganze übrige
Lebenszeit persistirt.
[Sidenote: Milchsecretion.]
Die Milchsecretion wird, wie bekannt, erst nach der Geburt intensiver
und hält dann in der Regel so lange an, als das Säugegeschäft
fortgesetzt wird. Bei verheimlichten Geburten ist letzteres natürlich
nicht der Fall, weshalb die Milchsecretion schon nach wenigen Tagen
schwächer wird und in 8-10 Wochen ganz sistirt. Die Brüste nehmen dabei
an Völle ab, werden meist schlaff, die Pigmentirung der Warzen und
Warzenhöfe erhält sich jedoch lange Zeit und bleibt in der Regel in
mehr weniger ausgesprochener Weise für’s ganze Leben. Bemerkenswerth
ist, dass mitunter Milchsecretion auch bei Frauen vorkommt, welche
niemals geboren haben, besonders bei solchen, welche an chronischen
Uterusaffectionen leiden. +Säxinger+ (l. c. 224) bringt ein solches
Beispiel, und wir selbst haben starke Milchsecretion an der Leiche
eines 20jährigen blödsinnigen, vollkommen virginalen Mädchens gefunden.
Die Mammae waren mässig gross und besassen blasse Warzen und Warzenhöfe.
[Sidenote: Blutung bei der Entbindung. Lochien.]
Wichtig für die Zeitbestimmungen in den ersten Tagen und Wochen nach
einer Geburt ist das Verhalten des Ausflusses aus den Genitalien,
der sogenannten Lochien. Unmittelbar nach der Entbindung wird
reines, theils flüssiges, theils geronnenes Blut entleert[152] und
noch durch 2-3 Tage sind die Lochien vorwiegend blutig, werden vom
3. bis beiläufig zum 5. Tage fleischwasserähnlich, vom 5.–8. stark
eiterhältig und dann blennorrhoisch, indem sie anfangs eine mehr
dickliche, rahmähnliche, später mehr schleimige Consistenz zeigen und
schliesslich nach 14 Tagen bis 3 Wochen sich verlieren. Nach +Schröder+
ist die Dauer der Lochien bei stillenden Frauen häufig kürzer als bei
solchen, die nicht stillen. Letzterer Umstand trifft aber bei heimlich
Gebärenden zu, sowie bei diesen auch das unzweckmässige Verhalten
nach der Entbindung geeignet ist, um in der Regel die Rückkehr des
Genitalapparates zur Norm zu verzögern.
Die mikroskopische Untersuchung der Lochien (+Wertheimer+, Virchow’s
Archiv, XXI, 314; +Rokitansky+, Wiener med. Jahrb. 1874, 2;
+Artemieff+, Zeitschr. f. Geburtsh. XVII, 171) ergibt in den ersten
Tagen vorwiegend rothe Blutkörperchen, Fibrinflocken, abgestossene,
fettig degenerirte Epithelien und der Decidua vera angehörige
Gewebsreste, später Eiter und schliesslich Schleimkörperchen in
abnehmender Menge, ausserdem freies Fett, Pigment, sowie constant
Mikrokokken und eigentliche Bacterien, ferner auf der Höhe des
Ausflusses noch abgestossene, junge Bindegewebszellen, durchaus
Befunde, die für sich allein nicht den lochialen Charakter des
Ausflusses beweisen, so dass von einer mikroskopischen Untersuchung
keine verwerthbaren Anhaltspunkte erwartet werden können.
Sind Monate seit der betreffenden Entbindung verflossen, dann kann
man allerdings Zeichen finden, welche beweisen, dass die Untersuchte
überhaupt geboren habe, es ist jedoch nicht mehr möglich, die Zeit
genauer zu bestimmen, wann dies geschah. Zu jenen Zeichen gehören
insbesondere diejenigen, welche auf eine bestandene starke Ausdehnung
der Bauchwand schliessen lassen: die Schlaffheit der Bauchdecken und
der Befund der „Schwangerschaftsnarben“.
[Sidenote: Bleibende Veränderungen in Folge von Schwangerschaft.]
Beide Befunde finden sich besonders dann in unverkennbarer Weise
entwickelt, wenn wiederholte Entbindungen vorausgegangen waren.
Hat jedoch nur eine Entbindung stattgefunden, dann können die
Bauchdecken wieder die normale Spannung gewinnen, was namentlich dann
der Fall ist, wenn in Folge guter Ernährung sich ein reichlicher
Fettpolster ausbildet. Durch letzteren können selbst Diastasen der
Bauchmuskeln, die während einer Schwangerschaft sich nicht selten
entwickeln, unkenntlich gemacht werden. Wichtiger ist der Befund der
Schwangerschaftsnarben. Dieselben präsentiren sich als eigenthümlich
sehnig glänzende, verschieden lange und breite Streifen der Bauchhaut,
welche vorzugsweise in der Unterbauchgegend ihren Sitz haben und meist
von der Symphyse und den beiden Poupart’schen Bändern in gewissermassen
strahlenförmiger Anordnung nach oben und aussen verlaufen. Man bekommt
sie besonders deutlich zu Gesichte, wenn man eine Partie der unteren
Bauchhaut spannt, wo sie dann nicht blos vom Untergrunde besser sich
abheben, sondern auch eine feine Querfaltung der sie überziehenden
Epidermis erkennen lassen. Diese narbigen Streifen, welche
subepidermoidalen Dehnungen der Cutis und einer Auseinanderzerrung
der Bindegewebsbündel derselben ihre Entstehung verdanken[153] und
erst in den letzten Monaten der Schwangerschaft sich bilden, sind sehr
wichtige, weil fast constante und bleibende Merkmale einer dagewesenen
Schwangerschaft, doch ist zu bemerken, dass sie in nicht sehr seltenen
Fällen trotz normaler Dauer der Gravidität sich nicht entwickeln
(nach +Fayé+ fehlten sie unter 514 Fällen 31mal, nach +Credé+ in 10,
nach +Hecker+ in 6 Procenten der Fälle), dass ferner der Grad ihrer
Ausbildung nicht immer der gleiche ist, und dass auch andere bedeutende
Ausdehnungen des Unterleibes sie ebenfalls erzeugen können. Letzterer
Umstand ist, soweit er sich auf krankhafte Ausdehnungen der Bauchwand
durch Ascites, Ovariencysten etc. bezieht, insoferne von geringerer
Bedeutung, als das Bestandenhaben dieser wohl nachweisbar sein wird,
und bei jungen und gewöhnlich alle Zeichen der Gesundheit darbietenden
Individuen, mit denen es der Gerichtsarzt in solchen Fällen in der
Regel zu thun hat, überhaupt nur sehr selten in Betracht kommt.
Wichtiger ist die Thatsache, dass auch jene Ausdehnung der Bauchhaut,
welche durch stärkere Fettbildung im Unterhautzellgewebe erzeugt wird,
zur Bildung derartiger narbenähnlicher Streifen führen kann, wie
+Schultze+[154] zuerst constatirte, dessen Angabe, dass sich solche
Befunde aus gleichem Grunde mitunter auch bei wohlgenährten Männern
(6 Procente) ergeben können, wir aus eigenen zahlreichen, an Leichen
gemachten Erfahrungen bestätigen müssen.
[Sidenote: Kennzeichen ehemaliger Schwangerschaft.]
In dieselbe Kategorie werden auch die falschen Narben gehören, die
+Plagge+ (Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikunde. 1860, XV, 369)
nach Typhus auftreten sah, und die er als eine Atrophie der Cutis in
Folge von Nutritionsdefect auffasst, deren Befund jedoch dadurch zu
erklären ist, dass die bereits früher bestandenen, durch stärkere
Fettbildung im Unterhautgewebe erzeugten narbenähnlichen Streifen
an den abgemagerten Typhusreconvalescenten deutlicher hervortreten.
Solche durch blosse Fettbildung erzeugten Streifen unterscheiden
sich jedoch von den wirklichen Schwangerschaftsnarben durch ihre
grössere Zartheit und geringere Ausdehnung, sowie durch den Abgang
der Pigmentirung der Nachbarhaut, die nach Schwangerschaft, wenn auch
nicht immer, so doch sehr häufig gleichzeitig besteht.
Die Brustdrüsen bieten in der späteren Zeit nur wenig Anhaltspunkte für
die Diagnose, da die Schlaffheit derselben, die anfangs in der Regel
vorhanden ist, sich durch nachträgliche Fettbildung wieder ausgleichen,
anderseits aber auch bei nicht schwanger gewesenen Personen bestehen
kann, weil ferner die Pigmentirung der Warzen und Warzenhöfe nur
eine relative Vermuthung gestattet, da ihr Grad nicht blos von etwa
vorausgegangener Gravidität, sondern auch, wie die Färbung der Haut,
von individuellen anderweitigen Verhältnissen abhängt, und da es ja
in der Regel nicht bekannt ist, wie die betreffenden Theile bezüglich
ihrer Färbung sich früher verhalten haben.
Die verwerthbarsten Kennzeichen wird natürlich die Untersuchung der
Genitalien ergeben. Zunächst das Verhalten des Scheideneinganges,
an welchem sich vernarbte Einrisse des Frenulums und selbst des
Dammes finden können. Ersteres muss nicht nothwendig bei einer Geburt
zerreissen, kann sich vielmehr, wie neuerdings +Wahl+[155] wieder
hervorhob, auch bei der Geburt eines ausgetragenen Kindes erhalten,
obgleich dies gerade bei verheimlichten, ohne Unterstützung des Dammes
und ohne sonstige Cautelen verlaufenden Entbindungen gewiss seltener
geschehen wird. Wichtig ist ferner das Verhalten des Hymen, welches,
wie wir bereits an einer anderen Stelle erwähnten, erst bei einer
Entbindung vollkommen und an mehreren Punkten zerreisst, aus welchen
Rissen sich erst die eigentlichen sogenannten Carunculae myrtiformes
bilden. Wenn wir demnach das Hymen entweder noch erhalten oder nur so
eingerissen finden, dass sich die ursprüngliche Form der Scheidenklappe
noch leicht construiren lässt, dann ist nicht anzunehmen, dass ein
ausgetragenes oder der Reife nahestehendes Kind geboren wurde, während
diese Annahme dann gerechtfertigt ist, wenn sich blos Carunculae
myrtiformes nachweisen lassen. Dieses Verhalten gilt vorzugsweise von
der unteren Hälfte des Hymen, während die oberen seitlichen, von der
Harnröhrenmündung herabziehenden Lappen desselben sich, wie wir uns
wiederholt an Leichen zu überzeugen Gelegenheit hatten, trotz selbst
mehrfachen Entbindungen erhalten können.
Die Weite der Scheide gibt keinen brauchbaren Anhaltspunkt für die
Beantwortung der vorliegenden Frage; denn einestheils kann die durch
eine Entbindung ausgedehnt gewesene Vagina wieder fast vollständig
zu ihrer früheren Beschaffenheit zurückkehren, anderseits kann die
grössere Weite, sowie auch die Schlaffheit derselben auch durch
andere Ursachen, wie häufig geübten Coitus, Blennorrhoen, sowie durch
vorgerückteres Alter bedingt sein.
[Sidenote: Diagnose überstandener Schwangerschaft.]
Dagegen werden wir in der veränderten Form des Muttermundes (siehe
oben), sowie den an demselben zu findenden vernarbten Einrissen die
wichtigsten Befunde erblicken, aus welchen der Schluss auf eine
überstandene normale Geburt gezogen werden kann. Doch kann man auch
in dieser Beziehung Ausnahmen begegnen, indem nicht gar selten auch
ein gravid gewesener Uterus einen spaltförmigen Muttermund darbietet,
und als die Ränder des letzteren so abgerundet und die vernarbten
Einrisse so unbedeutend oder so versteckt sein können, dass namentlich,
wenn die Entbindung die einzige gewesen und seitdem bereits lange
Zeit verstrichen war, die Portio vaginalis und der Muttermund sich
nicht auffallend von jenen unterscheiden, die durch Gravidität nicht
verändert worden sind.
[Sidenote: Leichenbefund bei Entbundenen.]
Die Erkennung einer unmittelbar oder wenige Tage vor dem Tode eines
Individuums erfolgten Entbindung bietet bei der Untersuchung der
betreffenden +Leiche+ keine Schwierigkeiten, da ausser den bereits
durch die äussere Untersuchung sich ergebenden Befunden auch das
Verhalten der inneren Genitalien durch unmittelbare anatomische
Exploration constatirt werden kann. Man findet den Uterus vergrössert,
in der Regel schlaff, die Höhle erweitert, kurz nach der Entbindung
mit Blutgerinnseln gefüllt. Die Innenwand blutig imbibirt, zottig, mit
Fibringerinnseln und Deciduaresten bedeckt, die Placentarinsertion
durch eine gewöhnlich an der hinteren Wand des Fundus liegende, wie
zerwühlte Stelle erkennbar. Die Wandungen des Uterus verdickt, am
Durchschnitt weite klaffende Gefässe zeigend, die Portio vaginalis
verhältnissmässig kurz, wie gequetscht, der Muttermund bedeutend
erweitert, mit frischen Einrissen versehen.
Ist der Tod erst nach einigen Tagen in Folge septikämischer oder
entzündlicher Processe erfolgt, dann ergeben sich entsprechende
Veränderungen am Uterus und anderen Organen, die als bekannt
vorausgesetzt werden müssen. Erwähnt sei nur, dass in solchen Fällen
insbesondere die Gefässe des Uterus sowohl als des Perimetriums
genau zu untersuchen sind, da diese in der Regel Eiter verschiedener
Qualität zu enthalten pflegen. Nicht überflüssig dürfte die Bemerkung
sein, dass durch Erkrankungen der genannten Art die Involution des
Uterus wesentlich aufgehalten wird, und dass dieser Umstand bei der
Bestimmung der Zeit, die seit der betreffenden Entbindung bis zum Tode
verflossen ist, wohl in Betracht gezogen werden muss.
Ist der Tod durch eine andere Ursache und ohne dass die normale
Rückbildung des Uterus behindert wurde, eingetreten, z. B. durch
Selbstmord oder andere gewaltsame Todesart, dann finden wir den Uterus
in dem entsprechenden Stadium der Involution, und da diese ungefähr
nach 6-8 Wochen beendet ist, der Uterus jedoch unter sonst normalen
Verhältnissen schon um die dritte bis vierte Woche bereits in dem Grade
contrahirt zu sein pflegt, dass seine Grösse jener des normalen sich
beträchtlich nähert, so können diese Daten zur Abschätzung der seit
der Entbindung vergangenen Zeit verwendet werden, wobei jedoch wieder
festzuhalten ist, dass eben bei heimlich Entbundenen die Nichtschonung
während des Wochenbettes die Rückbildung des Uterus zu verzögern im
Stande ist.
[Sidenote: Corpus luteum.]
Eine Erwähnung verdient noch der Befund eines sogenannten +Corpus
luteum verum+ in den Ovarien. Das Corpus luteum bildet sich aus den
Resten eines geborstenen +Graaf+’schen Follikels durch Wucherung der
Follikelwandungen und spätere fettige Degeneration der neugebildeten
Zellenmassen, wobei auch das bei der Berstung des Follikels in
den Follikelraum gewöhnlich, aber nicht immer erfolgte geringe
Blutextravasat eine Rolle spielt. Seit jeher hat man nun behauptet,
dass jene Vorgänge besonders dann in intensiv und extensiv erhöhterem
Grade sich einstellen, wenn der betreffenden Eiauslösung sofort
Conception nachfolgt, dass in Folge dessen ein viel grösseres Corpus
luteum sich bilde, als nach einer nicht von Befruchtung gefolgten
Eiauslösung und ungleich länger sich erhalte als das menstruelle. Ein
derartiges Corpus luteum nannte man C. l. verum zum Unterschiede von
dem C. l. falsum, worunter man den kleinen und bald verschwindenden
gelben Körper verstand, der nach jeder Menstruation sich bildet. Man
sah somit in dem Vorhandensein eines Corpus luteum verum den Beweis
einer eben bestandenen oder vor Kurzem beendeten Schwangerschaft
und daher einen auch für die gerichtsärztliche Diagnose der
Schwangerschaft und Geburt wichtigen Befund.
Unseren Erfahrungen zufolge ist es allerdings richtig, dass sich
nach der Conception fast immer ein grösseres Corpus luteum bildet,
welches beiläufig in 3-4 Monaten seine grösste räumliche Entwicklung
zu erreichen, d. h. meist haselnussgross zu sein pflegt. Die
Rückbildung scheint aber nicht so regelmässig zu erfolgen, da man
nach der Entbindung mit einem ausgetragenen Kinde manchmal nur
ein erbsengrosses, häufig jedoch kein Corpus luteum findet oder
nur ein sogenanntes Corpus nigricans, welches sich von einem blos
menstruellen nicht weiter unterscheiden lässt. Wichtiger ist aber
der Umstand, dass auch ohne nachfolgende Conception sich bohnen- bis
haselnussgrosse Corpora lutea entwickeln können, ein Befund, der ein
verhältnissmässig häufiger ist, da wir wiederholt in der Lage waren,
bei plötzlich verstorbenen, entschieden nicht schwangeren Individuen
derartige gelbe Körper zu finden. Damit befinden sich auch die
Angaben anderer Beobachter in Uebereinstimmung.[156]
[Sidenote: Schwanger gewesener Uterus.]
Soll nach Monaten oder Jahren die Frage entschieden werden, ob eine
verstorbene Person einmal oder mehrmal geboren habe, deren Beantwortung
nicht blos in civilrechtlicher Beziehung, sondern auch für die
Sicherstellung der Identität des betreffenden Individuums von Bedeutung
sein kann, dann ist ausser den an den Bauchdecken, am Muttermund und
am Scheideneingang etwa zu findenden Zeichen stattgehabter Ausdehnung
dieser Theile, insbesondere das Verhalten des Uterus als Ganzes
zu beachten, da eine einmal oder gar mehrmal schwanger gewesene
Gebärmutter nicht mehr vollständig zu jener Beschaffenheit zurückkehrt,
die dem jungfräulichen Uterus zukommt, so dass sich letzterer in der
Regel gut von einem solchen unterscheiden lässt, der bereits eine
Gravidität durchgemacht hatte.
Der Unterschied zeigt sich weniger in der Form, denn auch beim gravid
gewesenen Uterus finden wir dieselbe birnförmig und können ebenso wie
beim jungfräulichen in der Regel eine vordere, mehr flache und eine
hintere ausgebauchte Fläche unterscheiden; da jedoch auch die vordere
Seite etwas vorgewölbt erscheint und die Ecken des Uterus nicht so
scharf hervortreten, wie im jungfräulichen Zustande, so zeigt der
gravid gewesene Uterus im Allgemeinen eine abgerundetere Gestalt als
der virginale. Vorzugsweise ist aber die Grösse eine verschiedene.
Aus einer Reihe von Messungen ergab sich uns, dass der jungfräuliche
Uterus durchschnittlich eine Länge von 5·3-6 Cm. aufweist und dass
der Abstand der Tubeninsertionsstellen 3·7-4 Cm., die Dicke der
Uteruswand beiläufig 1 Cm. und die Breite des Cervix am äusseren
Muttermund 2 Cm. betrage. Dem entgegen zeigten zwei Uteri, welche von
Personen stammten, die beide vor einem Jahre geboren hatten, folgende
Dimensionen: Länge der beiden 9 Cm., Tubenabstand bei dem einen 4·5,
bei dem anderen 5 Cm., Dicke der Uteruswand in der Tubenhöhe bei
beiden 2, Cervix bei beiden 1½ Cm., während die Breite des Cervix,
am äusseren Muttermunde gemessen, bei dem einen 2·5, bei dem anderen
2·7 Cm. betrug.[157] Der schwanger gewesene Uterus ist sonach in allen
Dimensionen grösser und zugleich massiger. Diese Befunde, sowie die
viel derberen und weitere Gefässe enthaltenden Wandungen lassen sich
sehr gut für die Diagnose verwerthen, ebenso die weitere Höhlung des
Uteruskörpers. Dagegen können wir die hier und da zu findende Angabe,
dass die Plicae palmatae des Cervix nach der Gravidität nicht mehr so
deutlich sich finden, wie früher, indem sie mehr weniger verstreichen,
nicht bestätigen, haben sie vielmehr nicht blos in den oben erwähnten
zwei Fällen, sondern in vielen anderen sehr gut entwickelt gesehen,
obgleich wir zugeben, dass in manchen Fällen, namentlich wenn
ausgebreitete Zerreissungen stattgefunden haben, die Cervicalfalten
undeutlich werden und selbst ganz verschwinden können.
[Sidenote: Uterus nach Schwangerschaft.]
Lageveränderungen des Uterus und insbesondere peritonitische Adhäsionen
desselben beweisen für sich allein keineswegs eine vorausgegangene
Schwangerschaft; doch ist zu beachten, dass erfahrungsgemäss
verhältnissmässig ungleich häufiger nach Schwangerschaften sich solche
Befunde zu entwickeln pflegen, als ohne dieselben. Dass man auch
ohne vorausgegangene Schwangerschaften Vermehrung des Volumen des
Uterus, z. B. durch chronische Metritis, Neubildungen etc. bemerken
kann, bedarf keiner besonderen Ausführung, ebenso die Thatsache, dass
durch hohes Alter, aber auch durch pathologische Processe, ein durch
überstandene Schwangerschaften vergrösserter Uterus wieder atrophiren
kann. +Dittrich+ (Prager med. Wochenschr. 1890, Nr. 20) hält die
partielle Necrose der Uterusmusculatur für ein untrügliches Zeichen
stattgehabter Geburten. Doch findet sich diese Necrose nur dann, wenn
die Involution des Uterus nicht normal vor sich gegangen, insbesondere,
wenn sie durch puerperale Infectionskrankheiten gestört worden ist.
Die Fruchtabtreibung.
+Oesterr. Strafgesetz.+
§. 144. Eine Frauensperson, welche absichtlich was immer für eine
Handlung unternimmt, wodurch die Abtreibung ihrer Leibesfrucht
verursacht oder ihre Entbindung auf solche Art, dass das Kind todt
zur Welt kommt, bewirkt wird, macht sich eines Verbrechens schuldig.
§. 145. Ist die Abtreibung versucht, aber nicht erfolgt, so soll die
Strafe auf Kerker zwischen sechs Monaten und einem Jahre ausgemessen,
die zu Stande gebrachte Abtreibung mit schwerem Kerker zwischen einem
und fünf Jahren bestraft werden.
§. 146. Zu eben dieser Strafe, jedoch mit Verschärfung, ist der
Vater des abgetriebenen Kindes zu verurtheilen, wenn er mit an dem
Verbrechen Schuld trägt.
§. 147. Dieses Verbrechens macht sich auch Derjenige schuldig, der
aus was immer für einer Absicht wider Wissen und Willen der Mutter
die Abtreibung ihrer Leibesfrucht bewirkt oder zu bewirken versucht.
§. 148. Ein solches Verbrechen soll mit schwerem Kerker zwischen
1 und 5 Jahren, und wenn zugleich der Mutter durch das Verbrechen
Gefahr am Leben oder Nachtheil an der Gesundheit zugezogen worden
ist, zwischen 5 und 10 Jahren bestraft werden.
+Oesterr. Strafgesetz-Entwurf.+
§. 225. Eine Schwangere, welche ihre Frucht abtreibt oder im
Mutterleibe tödtet oder dies durch einen Anderen thun lässt, wird mit
Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter 6 Monaten
bestraft.
§. 226. Dieselbe Strafe trifft Denjenigen, welcher mit Einwilligung
der Schwangeren ihre Frucht abtreibt oder im Mutterleibe tödtet. Hat
er dieses gegen Entgelt gethan, so ist auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren
zu erkennen.
§. 227. Ausser dem Falle des §. 226 wird Derjenige, welcher die
Leibesfrucht einer Schwangeren abtreibt, oder tödtet, mit Zuchthaus
von 2 bis 15 Jahren bestraft. Ist durch die Handlung der Tod einer
Schwangeren verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter
10 Jahren ein.
+Deutsches Strafgesetz.+
§. 218. Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder
im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnissstrafe
nicht unter 6 Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf
Denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die
Mittel zu der Abtreibung oder Tödtung bei ihr angewendet oder ihr
beigebracht hat.
§. 219. Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird bestraft, wer einer
Schwangeren, welche ihre Frucht abgetrieben oder getödtet hat, gegen
Entgelt die Mittel hierzu verschafft, bei ihr angewendet oder ihr
beigebracht hat.
§. 220. Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne deren Wissen und
Willen vorsätzlich abtreibt oder tödtet, wird mit Zuchthaus nicht
unter zwei Jahren bestraft.
Ist durch die Handlung der Tod der Schwangeren verursacht worden,
so tritt Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliche
Zuchthausstrafe ein.
Es würde die diesem Buche gesteckten Grenzen überschreiten,
wenn wir auf die Geschichte der absichtlichen Unterbrechung der
Schwangerschaft, ein so grosses culturhistorisches und insbesondere
forensisch-medicinisches Interesse dieselbe auch bietet, näher
eingehen wollten, und wir müssen uns beschränken, auf die betreffenden
Specialarbeiten[158] hinzuweisen, aus welchen hervorgeht, dass die
Fruchtabtreibung, nachdem sie im classischen Alterthum sehr gewöhnlich
prakticirt wurde und als erlaubt galt, erst im dritten Jahrhundert
n. Chr. in den römischen Gesetzen als strafbar bezeichnet wird, dass
ferner auch die alten germanischen Gesetze die Fruchtabtreibung mit
Strafen belegten und dass die peinliche Halsgerichtsordnung +Karl+
V. die Fruchtabtreibung am Manne mit dem Schwerte, an der Frau durch
Ertränken bestrafte, wenn das Kind bereits „lebendig“ war, während die
Fixirung der Strafe dem Ermessen des Richters überlassen blieb, wenn
das Kind noch nicht „lebendig“ war, eine Bestimmung, die durch die
damaligen Anschauungen über die „animatio foetus“, über die Beseelung
der Frucht dictirt worden ist.
Dass auch in gegenwärtiger Zeit die Fruchtabtreibung sehr häufig
geübt wird, ist eine Thatsache. Bei den orientalischen Völkern gilt
sie noch heutzutage als etwas Erlaubtes und wird strafrechtlich gar
nicht oder nur ausnahmsweise verfolgt. Nach +Pollak+[159] endigen in
Persien, wo die Todesstrafe auf uneheliche Geburt gesetzt ist, alle
derartigen Schwangerschaften mit absichtlich eingeleiteten Abortus.
+Stricker+[160] und +Schort+[161] in dieser Beziehung in der Türkei
herrschen, geht daraus hervor, dass der künstliche Abortus bereits
als Ursache der Entvölkerung angesehen wird, und +Pardo+[162] erzählt
sogar aus Constantinopel, dass in einem Zeitraume von 10 Monaten 3000
(?!) verbrecherische Abortus nachgewiesen wurden, und dass noch vor
wenigen Jahren an einer Pharmacie Stambuls in einem Gefässe ein Fötus
als Aushängeschild des schmählichen Verbrechens zu sehen war, das hier
getrieben wurde.
Aber auch in hochcivilisirten Ländern gehört die Fruchtabtreibung
notorisch zu den häufigen Erscheinungen, obwohl gewiss nur die
geringste Zahl zur Kenntniss der Gerichte gelangt. Ueber ihre
Häufigkeit in Amerika und England wird von +Lex+ (l. c. 194) berichtet,
und bezüglich Frankreichs ergaben die statistischen Zusammenstellungen
+Tardieu+’s[163], dass binnen 11 Jahren (1850 bis 1861) 346 Anklagen
wegen verbrecherischen Aborten vorkamen und +Gallard+ (De l’avortement
au point de vue médico-légale. Paris 1878) hatte innerhalb von
blos zwei Jahren 22mal Gelegenheit, Fälle von angeschuldeter
Fruchtabtreibung zu begutachten, wovon jedoch nur 5 vor die Assisen
kamen. Auch +Chaussinand+ (Étude de la statistique criminelle de la
Fance. Lyon 1881) bezeichnet die Zahl von jährlich 20 bis 25 zur
strafrechtlichen Verfolgung kommenden Fruchtabtreibungsfälle als
„nombre presque dérisoire“. In Preussen kamen nach +Lex+ (pag. 193) in
den Jahren 1843-1859 277 derartige Anklagen vor, während in Oesterreich
(Cisleithanien), wie wir oben (pag. 4) angegeben haben, die höchste
Zahl der in den Jahren 1872-1876 wegen Fruchtabtreibung Verurtheilten
19, die niedrigste 10 betrug.
[Sidenote: Ursachen.]
Die Ursache der Fruchtabtreibung liegt in der bei weitem überwiegenden
Zahl der Fälle in dem Streben, den stattgehabten unehelichen
geschlechtlichen Umgang durch frühzeitige Unterbrechung der
Schwangerschaft zu verheimlichen und eben dadurch auch den übrigen
Folgen zuvorzukommen, die aus einer normalen Entbindung sich zu ergeben
pflegen. Dass von ehelich Schwangeren, d. h. um den Folgen übermässigen
Kindersegens vorzubeugen, zur Fruchtabtreibung geschritten wird, wie
schon +Aristoteles+ vorschlug, und wie dies noch gegenwärtig im
Oriente, wo die Polygamie besteht, thatsächlich der Fall ist[164],
kommt nicht gar selten vor. Vielleicht kann auch die längere Erhaltung
der Körperschönheit, die im Alterthum die Frauen zur Begehung der
Handlung bestimmte und noch gegenwärtig im Oriente dazu bestimmen soll,
das Motiv bilden.[165]
Unter Fruchtabtreibung im strengen Sinne versteht man die Einleitung
der Entbindung zu einer Zeit, in welcher die Frucht noch nicht die
Fähigkeit besitzt, selbstständig weiter zu leben, also vor der 28. bis
30. Schwangerschaftswoche.
[Sidenote: Strafe der Fruchtabtreibung.]
Auch das Strafgesetz (österr. St. G. §§. 144-148, St. G. Entwurf §§.
225-227, deutsches St. G. §§. 218-220) hat in erster Linie diese
Handlung im Auge, straft aber in gleicher Weise die Tödtung der Frucht
im Mutterleibe, worunter offenbar die einer bereits lebensfähigen
gemeint ist.
Eine strenge Scheidung dieser zwei Handlungen ist auch vom rein
ärztlichen Standpunkte nicht vollkommen möglich, da, wie wir hören
werden, auch bei der eigentlichen Fruchtabtreibung das Absterben der
Frucht das Primäre und die Ausstossung derselben erst das Secundäre
sein kann.
Erfahrungsgemäss wird die Fruchtabtreibung seltener durch die
Schwangere selbst, sondern häufig durch Andere oder unter Mitwirkung
Anderer vorgenommen. In einzelnen Fällen ist es der Vater der
betreffenden Frucht, der, vom gleichen Interesse wie die Schwangere
getrieben, die Fruchtabtreibung unternimmt; viel häufiger sind es
jedoch andere Helfershelfer, die dazu gegen Entgelt ihre Hand bieten
und, wie insbesondere die Erfahrung in grossen Städten lehrt, mitunter
gewerbsmässig dieses Geschäft betreiben.
Das Strafgesetz hat auf diesen Umstand Rücksicht genommen; während
jedoch das österr. St. G. auch schon den Vater des betreffenden Kindes,
wenn er bei der Fruchtabtreibung sich betheiligte, mit verschärfter
Strafe bedroht, bestimmt der österr. Entwurf und das deutsche St. G.
nur dann ein bedeutenderes Strafausmass, wenn der Betreffende die
Fruchtabtreibung oder die Tödtung der Frucht im Mutterleibe entweder
gegen Entgelt oder wider Wissen und Willen der Schwangeren unternommen
hatte. Im letzteren Falle hängt das Ausmass der Strafe auch von den
Nachtheilen ab, welche in Folge der Fruchtabtreibung für die Gesundheit
der Schwangeren entstanden sind (österr. St. G. §. 148), und es tritt
Zuchthausstrafe nicht unter zehn Jahren ein, wenn dadurch der Tod der
Betreffenden veranlasst wurde (österr. St. G.-Entwurf §. 227, deutsches
St. G. §. 220).
Erwähnt sei noch, dass die Fruchtabtreibung unter jene Verbrechen
gehört, bei welchen das Gesetz auch den blossen Versuch bestraft.
Im Allgemeinen sind es bei derartigen Untersuchungen drei Fragen, die
von gerichtsärztlicher Seite beantwortet werden müssen.
1. Ob die betreffende Frauensperson wirklich abortirt habe.[166]
2. Ob der nachgewiesene Abortus ohne absichtliches Zuthun der
Schwangeren oder einer anderen Person, also spontan, erfolgt sei oder
ob er absichtlich eingeleitet wurde.
3. Ob und welche Folgen für die Gesundheit der betreffenden
Frauensperson aus der Fruchtabtreibung entstanden sind, beziehungsweise
ob dieselbe den Tod verursacht habe.
Die Diagnose des stattgefundenen Abortus.
Dieselbe gründet sich einestheils auf der Untersuchung der betreffenden
Frauensperson, anderseits auf jener des von ihr Abgegangenen. Ist man
in der Lage, beide Objecte zu untersuchen, dann unterliegt die Diagnose
keinen besonderen Schwierigkeiten, in der Regel ist dies jedoch
nicht der Fall und die Diagnose ist meist einzig und allein aus der
Untersuchung der Angeklagten zu stellen.
Untersuchung der Mutter.
Die Erscheinungen, welche im Falle eines wirklich stattgehabten
Abortus an der Mutter sich finden können, werden abhängen: erstens
von der Schwangerschaftsperiode, in welcher derselbe eingetreten
war, und zweitens von der Zeit, welche seit dem Abortus bis zur
gerichtsärztlichen Untersuchung verflossen ist.
[Sidenote: Befunde nach Abortus an der Mutter.]
In ersterer Beziehung ist es klar, dass unter sonst gleichen
Verhältnissen desto ausgesprochenere Zeichen einer Entbindung zu
erwarten sein werden, je weiter die betreffende Schwangerschaft bereits
vorgerückt war.
In den ersten 4-8 Wochen ist das menschliche Ei viel zu klein, um, wenn
es ausgestossen wird, auffallendere Veränderungen an den Genitalien
zu erzeugen. Die stärkere Blutung, die gewöhnlich einzutreten pflegt,
ist für sich allein ebenfalls nicht beweisend, da sie auch als
profuse Menstruation oder pathologische Blutung aufgefasst werden
kann. Auch am übrigen Körper sind keine ausgesprochenen Merkmale
bestandener Schwangerschaft vorhanden, da diese, wie oben erwähnt,
erst in den späteren Monaten und nur allmälig sich zu entwickeln
pflegen. Die Schwierigkeit, einen so frühzeitigen Abortus als solchen
zu erkennen, wird am besten durch die Thatsache illustrirt, dass
die unten zu besprechende Dysmenorrhoea membranacea, die von den
meisten Gynäkologen als ein menstruelles Leiden aufgefasst wird, von
Anderen[167] als ein Abortus in den ersten Tagen und Wochen gedeutet
wurde. Die verbrecherische Einleitung des Abortus in so früher Zeit
scheint neueren Beobachtungen zufolge[168] häufiger zu sein, als bisher
angenommen wurde, besonders dann, wenn Aerzte oder Hebammen sich eines
solchen Verbrechens schuldig machen oder gar die Fruchtabtreibung
gewerbsmässig betreiben.
In den späteren Monaten ist die Frucht bereits so weit gediehen, dass
ihre Geburt nicht mehr ohne entsprechende Dehnung des Genitalcanals
erfolgen kann, deren Spuren, wenigstens in der ersten Zeit nach der
Entbindung, sich erkennen lassen werden, und zwar desto deutlicher,
je grösser bereits die betreffende Frucht gewesen war. Im Allgemeinen
bestehen zwischen den Befunden, wie sie sich unmittelbar nach einem
Abortus im vierten bis siebenten Monate ergeben, und jenen, die nach
der Geburt eines bereits lebensfähigen Kindes an den Genitalien zu
finden sind, nur Gradunterschiede, von denen der wichtigste der ist,
dass beim Abortus verhältnissmässig ungleich seltener Einrisse am
Muttermund und am Scheidenostium angetroffen werden, und dass deren
Vorkommen, weil es eine bedeutende Ausdehnung der betreffenden Theile
voraussetzt, die bei einem Abortus, wenn derselbe nicht etwa schon nahe
der 28. Woche eintrat, nicht leicht in diesem Grade erfolgen kann,
in der Regel eher auf die Geburt eines lebensfähigen Kindes als auf
eine Fehlgeburt schliessen lässt. Auch die vollständige Zerreissung
der nach der Defloration zurückgebliebenen Hymenreste wird bei einem
Abortus nicht leicht geschehen, und es ist sogar denkbar, dass das
Hymen, wenn es durch den Coitus nicht zerrissen wurde, und wenn es eine
entsprechende Dehnbarkeit besitzt, auch einen Abortus, freilich nur
in den ersten Monaten, überstehen kann, ohne grössere Lacerationen zu
erleiden.[169]
In den genannten Monaten einer Schwangerschaft ist auch die Gebärmutter
bereits so weit ausgedehnt, dass sie sich in den ersten Tagen nach dem
Abortus über der Symphyse tasten lässt; dagegen ist die Ausdehnung des
Unterleibes in der Regel noch keine bedeutende und deshalb weder der
Befund von Schwangerschaftsnarben zu erwarten, noch eine besonders
auffallende Schlaffheit und Runzelung der Bauchdecken unmittelbar nach
erfolgter Geburt. Dafür findet sich meistens bereits die Linea fusca,
sowie die Pigmentirung der Warzen und Warzenhöfe, und ebenso häufig
ist die Schwellung der Brustdrüsen nachweisbar, sowie ein Ausfluss von
milchiger Flüssigkeit beim Druck auf dieselben.
Was die Zeit betrifft, welche seit dem Abortus verflossen ist, so
ist es natürlich, dass sich desto prägnantere und verlässlichere
Kennzeichen bieten werden, je früher nach der Entbindung die
betreffende Person zur Untersuchung gelangt. Längere Zeit darnach ist
die Diagnose ungleich schwieriger, als jene der Entbindung von einem
reifen oder der Reife nahen Kinde, da, wenn keine störenden Einflüsse
eintraten, die durch die Schwangerschaft und durch die Entbindung
veranlassten Erscheinungen viel schneller wieder verschwinden,
die betreffenden Theile ungleich vollkommener zu ihrer normalen
Beschaffenheit zurückkehren, als dies nach einer normalen Geburt der
Fall ist, und insbesondere nicht jene Merkmale zurückbleiben, die, wie
z. B. Schwangerschaftsnarben, die vernarbten Einrisse am Muttermund, am
Frenulum und selbst am Damm noch nach Jahren das Stattgehabthaben einer
normalen Schwangerschaft und Geburt zu diagnosticiren erlauben.
Wir werden daher, wenn nach Ablauf mehrerer Monate ein solcher Fall
zur Untersuchung gelangt, desto weniger verwerthbare Befunde erwarten
können, in je früherer Periode der Abortus eingetreten war.
Untersuchung der Abgänge.
Ein Hauptaugenmerk ist in Fällen, in denen dies noch möglich ist, auf
jene Dinge zu richten, die durch den angeblichen Abortus abgegangen
sind, und es ist, wenn ein derartiger Fall frisch zur Kenntniss des
Gerichtes gelangt, jedesmal die nächste Aufgabe des Gerichtsarztes, in
dieser Richtung Nachforschungen anzustellen, beziehungsweise anzuregen
und sich der betreffenden Objecte zu versichern. Es bezieht sich dies
weniger auf ältere Früchte, die als solche auch für den Laien leicht
kennbar und unter günstigen Umständen auch leichter auffindbar sind,
als vielmehr auf die Abgänge, die bei einem in den ersten Monaten einer
Schwangerschaft eingetretenen Abortus zu erfolgen pflegen und die als
Blutgerinnsel betrachtet und beseitigt werden, während das kundige Auge
des Arztes in diesen mitunter das abgegangene Ei oder Theile desselben
nachweisen und damit die Diagnose des Abortus ausser Zweifel zu stellen
im Stande ist.
Es empfiehlt sich, zu diesem Zwecke die betreffenden Gerinnsel unter
Wasser zu untersuchen und durch fleissiges Erneuern desselben das
anhängende Blut abzuspülen. Es kann bei dieser Untersuchung gelingen,
das ganze Ei nachzuweisen, welches in den ersten zwei bis drei Monaten
in toto abgehen kann, während in der späteren Zeit in der Regel die
Eihüllen zerreissen und zuerst die Frucht und dann die Nachgeburt
ausgestossen wird.
In einem solchen Falle und ebenso, wenn nur die Frucht allein gefunden
wird, ist natürlich die Diagnose klargestellt; nicht so einfach ist
die Sache, wenn blos membranöse Gebilde gefunden werden, welche
nicht ohneweiters als Eihüllen gedeutet werden dürfen, da ähnliche
häutige Gebilde auch ohne Gravidität im Uterus entstehen und durch
Contractionen des Uterus und unter mehr weniger heftigen Blutungen
ausgestossen werden können.
[Sidenote: Decidua menstrualis.]
Wir meinen insbesondere jene häutigen Ausscheidungen, welche bei der
sogenannten Dysmenorrhoea membranacea ausgestossen werden.[170] Es
sind dies Membranen, deren Natur noch nicht vollkommen aufgeklärt
ist. Während Einzelne die Erscheinung blos als eine Steigerung der
bei jeder Menstruation, aber nur partikelweise erfolgenden Abstossung
der fettig degenerirten obersten Schichten der Uterusschleimhaut
auffassen (+Schröder+[171]) und in solchen Membranen ein Analogon der
nach der Conception sich bildenden Decidua sehen, sie als Decidua
menstrualis bezeichnend, betonen wieder Andere den mehr entzündlichen
Charakter solcher Membranen, indem sie für den ganzen Process die
Bezeichnung „Endometritis exfoliativa“ in Vorschlag bringen (+Beigel+).
Derartige Membranen können in toto ausgestossen werden und dann ein in
den ersten Monaten einer Schwangerschaft abgegangenes Ei vortäuschen,
umsomehr, als sie ebenso wie letzteres die Form der Uterushöhle und
gewissermassen einen Ausguss derselben darstellen. In anderen Fällen
gehen solche Membranen stückweise ab und können dann wieder für
Stücke von Eihäuten gehalten werden, eine Täuschung, die umso näher
liegt, als derartige Bildungen unter starker Blutung und wehenartigen
Schmerzen vom Uterus entleert werden und ihrer Bildung in der Regel
Menstruationsstörungen vorhergehen.
[Sidenote: Dysmenorrhoea membranacea.]
Im Allgemeinen ist zwischen der Structur einer solchen Decidua
menstrualis und einer Decidua vera kein wesentlicher Unterschied;
dieselbe kann demnach auch nicht für sich allein die Diagnose
ergeben, ob die betreffende Membran einer Schwangerschaft oder blos
einer Dysmenorrhoea membranacea ihre Entstehung verdankt. Auch
der Umstand, dass sich eine solche Membran in Schichten trennen
lässt, beweist für sich allein nicht, dass Eihüllen vorliegen, da
eine geschichtete Beschaffenheit auch bei der Decidua menstrualis
beobachtet wurde; wohl werden wir aber dann in der Lage sein, die
betreffenden Membranen als Eihäute zu erklären, wenn wir im Stande
sind, Amnion und Chorion zu unterscheiden, wozu in der Regel eine
genaue makroskopische Besichtigung genügt, die eventuell durch
mikroskopische Untersuchung ergänzt werden kann. In den späteren
Wochen sind die Eihäute bereits so ausgedehnt und differenzirt, dass
eine Verwechslung nicht wohl geschehen kann, umsoweniger, als zu
dieser Zeit bereits die Placenta sich bildet und auch die von ihr
abgehende Nabelschnur unterschieden werden kann.
[Illustration: Fig. 38.
Ei aus der ersten Zeit des 2. Monates.
_A_ Amnion. _Ch_ Chorion. _N_ Nabelbläschen.]
Ist es gelungen, die Frucht oder ihre Anhänge oder das ganze
Ei aufzufinden, dann handelt es sich um die Bestimmung der
Schwangerschafts-Periode, aus welcher sie stammen. Zum Zwecke einer
solchen Bestimmung geben wir folgende Anhaltspunkte[172]:
[Sidenote: Frucht im ersten bis dritten Monat.]
+Erster Monat+: Am Ende dieses Monats ist das ganze Ei etwa
taubeneigross, 1·7-2 Cm. lang, das Chorion an seiner ganzen
Oberfläche gleichmässig zottig. Der Embryo 1 Cm. lang, durch eine
sehr kurze Nabelschnur mit dem Chorion verbunden, stark gekrümmt.
Nase und Mund bilden eine Höhle. Am Halse jederseits 4 Kiemenspalten
zu erkennen. Bauchspalte und Nabelblase noch vorhanden, obzwar
bereits in der Rückbildung begriffen. Die Extremitäten als Stummeln
angedeutet.
+Zweiter Monat+: Dass Ei erreicht die Grösse eines Hühnereies. Der
Embryo ist 2·5-3 Cm. lang und fast 4 Grm. schwer. Er ist nicht
mehr gekrümmt; Mund und Nasenhöhle getrennt, die Kiemenspalten
geschlossen, ebenso die Bauchspalte. Nabelbläschen nicht mehr
vorhanden. Die Extremitäten entwickelt, die Finger und Zehen jedoch
noch nicht geschieden. Der Nabelstrang länger. Die Ossification
beginnt im Unterkiefer, in den Schlüsselbeinen, an den Rippen und an
den Wirbelkörpern.
+Dritter Monat+: Das Ei ist gänseeigross. Die Placenta bereits
entwickelt. Die Frucht 7-9 Cm. lang und 5-20 Grm. schwer, Finger
und Zehen getrennt, Geschlecht beginnt sich zu differenziren.
Ossification findet sich auch in den Schädelknochen und in den
Diaphysen der Extremitäten. Das Durchschnittsgewicht der Placenta
beträgt 36 Grm. Die Durchschnittslänge der Nabelschnur 7 Cm.
[Sidenote: Ei und Frucht im vierten bis siebenten Monat.]
+Vierter Monat+: Die Frucht ist 10-17 Cm. lang und bis 120
Grm. schwer. Das Geschlecht deutlich zu unterscheiden. Haare
beginnen sich zu zeigen und die Nägel sind bereits zu erkennen.
Das durchschnittliche Gewicht der Placenta beträgt 80 Grm., die
durchschnittliche Länge der Nabelschnur 19 Cm.
+Fünfter Monat+: Die Frucht misst 18-27 Cm. und wiegt 225-320
(durchschnittlich 284) Grm. Kopf- und Wollhaare deutlich. Die Haut
ist noch hellroth und dünn, das Meconium erscheint bereits gallig
gefärbt. Das durchschnittliche Gewicht der Placenta stellt sich auf
178 Grm., die Länge der Nabelschnur auf 31 Cm. Die Insertionsstelle
der letzteren, die noch im vorigen Monate nahe der Symphyse lag,
beginnt sich von letzterer zu entfernen.
+Sechster Monat+: Die Länge der Frucht beträgt zwischen 28-34 Cm.,
das Gewicht durchschnittlich 634 Grm. Der Kopf im Verhältniss zum
Rumpfe noch gross, doch nicht mehr so auffallend wie in den früheren
Monaten. Die Haut wird dicker und der Fettpolster beginnt sich
zu entwickeln. Kopfhaare deutlicher, die Wollhaare bereits einen
starken Flaum bildend. Käsige Schmiere tritt auf. Hoden noch in
der Bauchhöhle. Die grossen Schamlippen noch wenig entwickelt, die
kleinen und die Clitoris zwischen ihnen hervorragend. Das Gehirn
zeigt bereits die Urwindungen. Pupille noch durch die Pupillarmembran
verschlossen. Die Lösung der Lidnaht gegen das Ende des Monats in der
Regel vollendet. Gewicht der Placenta durchschnittlich 273 Grm. Länge
der von der Symphyse noch weiter entfernten Nabelschnur im Mittel 37
Cm.
+Siebenter Monat+: Fruchtlänge 35-38 Cm., das mittlere Gewicht 1218
Grm. Kopfhaar reichlich 5-6 Millimeter lang. Die Haut noch immer roth
und mager. Wollhaare dicht. Descensus testiculorum beginnt. Weitere
Hirnwindungen fangen an sich zu bilden, doch sind sie immer noch
spärlich. Die Pupillarmembran zeigt gegen die 28. Woche zu bereits
häufig centralen Schwund, im Fersenbein findet sich meist ein 2-5
Millimeter breiter Knochenkern, dessen Andeutungen man schon in der
zweiten Hälfte des sechsten Monates nachweisen kann. Das mittlere
Gewicht des Mutterkuchens 374 Grm., die mittlere Nabelschnurlänge 42
Cm.
Ursachen des Abortus.
Nach den Ursachen des constatirten Abortus zu forschen ist die zweite
Aufgabe des Gerichtsarztes. Diese Ursachen können entweder solche sein,
die ohne Verschulden der Schwangeren oder eines Andern die Fehlgeburt
bewirkt haben oder letztere ist absichtlich herbeigeführt worden. Auf
die Möglichkeit einer spontanen Fehlgeburt ist in jedem einzelnen Falle
Rücksicht zu nehmen, einestheils wegen der notorischen Häufigkeit
derselben[173], anderseits weil die Diagnose einer Fruchtabtreibung
jedesmal auch auf die Ausschliessung jener Einflüsse sich stützen muss,
die erfahrungsgemäss im Stande sind, auch ohne Absicht der Mutter oder
eines Dritten zum Abortus Veranlassung zu geben.
Ursachen des nicht criminalen Abortus.
Am häufigsten scheint der spontane Abortus in den ersten (zwei bis
vier) Wochen einer Schwangerschaft zu erfolgen, obgleich er sich
begreiflicher Weise in den meisten Fällen der Beobachtung entzieht.
Die noch schwache Haftung des Eies, die in dieser Periode besonders
erhöhte Empfindlichkeit des Uterus gegen Reize, aber auch die zu dieser
Zeit in der Regel häufigen unabsichtlichen Insulte, die den schwangeren
Uterus treffen, worunter insbesondere häufiger Coitus und Nichtschonung
anderer Art gehören, erklären diese Thatsache zur Genüge. Abgesehen
von letzterer findet die grosse Mehrzahl der spontanen Fehlgeburten im
dritten und vierten Monate statt[174], aber auch die späteren Monate
liefern ein starkes Contingent, und wir verweisen in dieser Beziehung
auf den Umstand, dass unserer Erfahrung zufolge die grösste Zahl der
macerirt geborenen Früchte dem Ende des sechsten und noch häufiger dem
siebenten Monat angehören, so dass es uns scheint, dass die Zeit, in
welcher die Lebensfähigkeit der Frucht sich einstellen soll, ebenfalls
als eine kritische bezeichnet werden muss.
Die Ursachen des spontanen Abortus können entweder in der Mutter oder
im Ei selbst liegen.
[Sidenote: Ursachen der nicht criminellen Fehlgeburt.]
Zu den ersteren gehören insbesondere alle schweren acuten
Erkrankungen, von welchen wir als häufiger vorkommend die acuten
Infectionskrankheiten (besonders die exanthematischen) und von den
übrigen die Pneumonie[175] und den acuten Morbus Brightii[176]
erwähnen.
Von den chronischen Erkrankungen sind in der genannten Beziehung jene
des Herzens und der Respirationsorgane, sowie der Nieren[177] von
Einfluss, da an diese Organe desto erhöhtere Anforderungen gestellt
werden, je weiter bereits die Schwangerschaft gediehen ist, und
daher, wenn diese erkrankt sind, viel eher als sonst Insufficienz
der betreffenden Functionen und dadurch schwere Folgen, sowohl
für die Schwangere als für die Frucht, eintreten können. Gleiches
gilt von solchen chronischen Erkrankungen, die mit hochgradigen
Ernährungsstörungen einhergehen, und endlich von der syphilitischen
Erkrankung der Mutter, welche erfahrungsgemäss ungemein häufig das
Absterben der Frucht und deren vorzeitigen Abgang bewirkt (nach
+Hecker+ unter 40 Fällen 12mal).
Weiter kann spontaner Abortus durch locale Verhältnisse bewirkt werden.
So durch raumbeengende Tumoren oder ähnliche Processe in der Bauchhöhle
und durch Tumoren und Erkrankungen des Uterus selbst. Ebenso wird
den Flexionen des Uterus ein störender Einfluss auf den Verlauf der
Schwangerschaft zugeschrieben. Wie +Howitz+[178] mittheilt, hatten
19 mit Anteflexion behaftete Frauen im Ganzen nur 30 lebende Kinder
geboren, dagegen 98 Unterbrechungen der Schwangerschaft -- 9 vor dem
fünften Monate, 89 später -- gehabt, und von 14 mit Retroflexionen
wurden nur 15mal lebende Kinder geboren, dagegen 37 Unterbrechungen
der Schwangerschaft beobachtet. Nach +Howitz+ ist es in den meisten
Fällen die durch die Knickung behinderte Ausdehnung des Uterus
(Retroflexio uteri gravidi), welche den Abortus veranlasst, ausserdem
aber auch die erhöhte Reflexirritabilität, welche bei an Flexionen des
Uterus leidenden Frauen gewöhnlich constatirt werden kann. Auf eine
etwa aus anderen Gründen (Hysterie, Status nervosus etc.) bestehende
individuell erhöhte Reizbarkeit ist immer Rücksicht zu nehmen, da eine
solche häufig mit dem spontanen Abortus in ursächlicher Verbindung
steht.
Von den im Ei gelegenen Ursachen sind ausser den bereits bei der
Molenbildung besprochenen Erkrankungen der Eihüllen zu erwähnen die
Hämorrhagien der Placenta, vorzeitige Verfettungen und anderweitige,
insbesondere syphilitische Erkrankungen derselben, Processe, die, wenn
das Ei vorliegt, häufig sich durch unmittelbare Untersuchung nachweisen
lassen. Doch muss bemerkt werden, dass die Verfettungen der Placenta
und der Decidua, sowie die Verfettung oder anderweitige (hydropische)
Degeneration der Chorionzotten auch erst secundär, nachdem früher die
Frucht abgestorben war, sich gebildet haben können.
Torsionen der Nabelschnur sind verhältnissmässig häufig Veranlassung
des Absterbens der Frucht und des dann eintretenden Abortus. Sie kommen
in der ersten Hälfte der Schwangerschaft häufiger vor als in der
zweiten, und lassen sich ebenfalls bei Besichtigung der abgegangenen
Frucht mitunter deutlich erkennen, wobei der Umstand zu statten kommt,
dass sie sich vorzugsweise am fötalen Ende der Nabelschnur zu finden
pflegen.[179]
Primäre Erkrankungen der Frucht und consecutives Absterben derselben
kommen -- ausgenommen die verhältnissmässig häufige Syphilis -- wohl
nur ganz ausnahmsweise vor. Der Nachweis derartiger Erkrankungen,
sowie etwaiger Missbildungen der Frucht und ihrer Adnexa, die ein
frühzeitiges Absterben derselben bewirken können, wird ebenfalls leicht
zu führen sein.
Ausser den genannten Ursachen sind es auch manche derjenigen, die wir
bei der absichtlichen Fruchtabtreibung erwähnen werden, welche, wie
z. B. die Erschütterungen und andere mechanische Irritationen des
Uterus, auch ohne böse Absicht der Schwangeren den vorzeitigen Abgang
der Frucht veranlassen können, und thatsächlich lässt sich in vielen
Fällen, wie wir bereits oben angedeutet haben, der so häufige Abortus
zum ersten Male schwangerer Frauen auf derartige äussere Momente
zurückführen.
[Sidenote: Abgang der Frucht beim spontanen Abortus.]
Der Abgang der Frucht und ihrer Anhänge muss nicht sofort oder kurze
Zeit, nachdem die Ursache desselben nicht geltend gemacht hatte,
erfolgen, es kann vielmehr, namentlich wenn früher die Frucht abstarb,
längere Zeit (mehrere Wochen, in seltenen Fällen aber auch Monate)
verfliessen, bevor der Abortus erfolgt.[180] Die Adnexa, insbesondere
die Placenta, können in solchen Fällen noch weiter wachsen, in
der Regel beginnt jedoch in ihnen ein degenerativer Process, der
schliesslich zur Expulsion führt. +Jakob+ (Virchow’s Jahrb. 1881, II,
pag. 562) beobachtete bei einer Frau, die im vierten Monat abortirt
hatte, dass die Placenta erst volle sieben Monate später ausgestossen
wurde. Sie war nicht zersetzt, sondern hart und ohne Geruch. Die
Veränderungen, welche die Frucht erleidet, werden später besprochen
werden. In den frühesten Monaten der Schwangerschaft kann die Frucht
vollkommen durch Auflösung und Resorption verschwinden. Wir hatten
zweimal Gelegenheit, solche Eier aus dem zweiten und dritten Monat zu
beobachten, von denen das eine während des Lebens abgegangen war, das
zweite in der Leiche einer Selbstmörderin gefunden wurde, und beide,
trotzdem die Eihüllen intact sich erwiesen, keine Frucht, das eine aber
eine kurze, in ein Bläschen endigende, dünne Nabelschnur enthielt.
Bemerkenswerth ist die von einzelnen Beobachtern gemachte Erfahrung,
dass die in frühen Schwangerschaftsmonaten abgestorbene Frucht sich
immer trotz längeren Verweilens im Uterus auffallend frisch erhalten
kann. Nach zwei und in einem von +Holst+[181] mitgetheilten Falle
sogar nach sechs Monaten will man diese Erscheinung constatirt haben.
Dass diesem Umstande auch ein forensisches Interesse zukommt, beweist
ein von +Liégey+ (Virchow’s Jahrb. 1881, I, 533) untersuchter Fall,
in welchem die Mutter behauptete, dass der sechsmonatliche Fötus noch
von ihrem vor 11 Monaten durch Selbstmord gestorbenen Manne herrühre.
Wahrscheinlich lagen in solchem Falle einfach ausgewässerte und sonst
nicht weiter veränderte Früchte vor.
Absichtlicher Abortus. Fruchtabtreibungsmittel.
A. Innere Fruchtabtreibungsmittel.
Die Beurtheilung der angeblich durch innere Mittel vollbrachten oder
versuchten Fruchtabtreibung bildet eines der heikelsten Vorkommnisse
in der forensisch-medicinischen Praxis, und diese Thatsache wird umso
fühlbarer, als erfahrungsgemäss die inneren Fruchtabtreibungsmittel
verhältnissmässig am häufigsten in Anwendung gezogen werden.
Unter inneren Fruchtabtreibungsmitteln verstehen wir Substanzen,
welche, in entsprechender Gabe innerlich genommen, im Stande
sind, Abortus zu bewirken. Im gewöhnlichen Leben fasst man diesen
Begriff entschieden enger, indem man sich unter diesen Mitteln
Substanzen vorstellt, welche, in genügender Dosis innerlich genommen,
Contractionen des schwangeren Uterus (Wehen) und dadurch die
Austreibung der Frucht veranlassen, und zwar mit gleicher oder nahezu
gleicher Sicherheit, mit welcher z. B. Brechmittel Erbrechen und
Abführmittel Stuhlgänge bewirken.
Derartige sichere Abortivmittel kennen wir gegenwärtig nicht, dagegen
unterliegt es keinem Zweifel, dass es Stoffe gibt, nach deren Genusse,
wenn auch nicht immer präcis, so doch mitunter der Abortus erfolgen
kann, freilich seltener in Folge einer specifischen Wirkung des Mittels
auf den Uterus, als vielmehr als Theilerscheinung einer Vergiftung, die
durch das betreffende Mittel gesetzt wurde, wie denn überhaupt fast
alle Substanzen, denen eine abortive Kraft zugeschrieben wird, und die
thatsächlich zu Fruchtabtreibungsversuchen missbraucht werden, unter
die Classe der Gifte gehören, so dass man ganz wohl statt von inneren
von toxischen Fruchtabtreibungsmitteln sprechen könnte.
[Sidenote: Wirkungsweise innerer Fruchtabtreibungsmittel.]
Die abortive Wirkung kann dann in der Weise erfolgen, dass das
betreffende Gift ausser den übrigen ihm zukommenden Functionsstörungen
auch Contractionen der Gebärmutter veranlasst, indem es auf jene
Nervencentren einen Reiz ausübt, welche Uteruscontractionen
hervorzurufen vermögen. Ueber den Sitz dieser ist vorläufig noch
wenig bekannt. +Goltz+[182] ist geneigt, das Lendenmark als das
selbstständige Centrum für den Geburtsact anzusehen, indem er eine
Hündin nach vollständiger Durchtrennung des Rückenmarkes in der
Höhe des ersten Lendenwirbels brünstig werden, den Coitus mehrmals
vollziehen und drei Junge werfen sah. Auch +Schlesinger+[183] hat
Reflexcentren für den Uterus im unteren Theile des Rückenmarkes
nachgewiesen und +Röhrig+ („Untersuchungen über die Physiologie der
Uterusbewegung“. Virchow’s Archiv. 76, I. Heft) im untersten Brustmark.
Es entspringen jedoch die motorischen Nerven des Uterus nach +Körner+
nicht blos aus dem Lendenmark, sondern auch aus dem unteren Theile
des Brustmarkes, und wir haben in unseren gemeinschaftlich mit +v.
Basch+ angestellten Untersuchungen über Uterusbewegungen[184] gefunden,
dass insbesondere ein vom Plexus aorticus abgehendes Nervenpaar
(Nerv. hypogastrici), wenn dasselbe gereizt wird, lebhafte Bewegungen
des Cervix bewirkt, die auch, wie schon +Oser+ und +Schlesinger+
beobachteten, durch isolirte Reizung des Gehirnes hervorgerufen werden
können. Ausser den erwähnten Reflexcentren für die Uterusbewegung
gibt es jedoch zweifellos solche, die im Uterus selbst gelegen sind.
+Kehrer+ hat bereits solche angegeben, und wir und +Basch+ haben sie
ebenfalls constatirt, während +Röhrig+ dieselben leugnet. Nach +Dembo+
und +Kurz+ (Virchow’s Jahresb. 1883, II, 564) sitzen solche auch in der
vorderen Vaginalwand.
Die Reizung dieser Centren kann sowohl unmittelbar, als auch auf
reflectorischem Wege erfolgen. In ersterer Weise scheinen nach den
Versuchen +Röhrig+’s am Kaninchen Strychnin, Pikrotoxin, Nicotin,
Carbolsäure, Coffeïn, Extract. Aloës, ganz besonders aber Oleum
Sabinae Uteruscontractionen zu veranlassen, und in letzterer
Beziehung ist es insbesondere möglich, dass heftige Reizung
der Magen- und Darmschleimhaut, wie sie durch irritirende Gifte
hervorgerufen wird, reflectorische Uteruscontractionen auslösen
kann. Am häufigsten scheinen jedoch vasomotorische Störungen die
Reizung zu veranlassen, indem entweder durch vasomotorische Lähmung
oder durch Gefässkrampf die Blutzufuhr zu den Organen vermindert und
die so entstandene Sauerstoffarmuth des Blutes die cerebrospinalen
oder die parenchymatösen oder beide Centren für Uterusbewegung in
Erregung versetzt, in analoger Weise, wie wir den Beobachtungen
+Spiegelberg+’s[185], +Oser+’s und +Schlesinger+’s[186], sowie unseren
eigenen Erfahrungen zufolge lebhafte Uterusbewegungen während der
Erstickung und schon nach Unterbrechung der Blutzufuhr zum Gehirn oder
zur Gebärmutter auftreten sahen.
[Sidenote: Absterben d. Frucht durch Abortivmittel. Ueberg. tox. Subst.
in d. Frucht.]
In anderen Fällen wieder kann der Abortus eintreten, indem die in
den Organismus der Mutter eingeführte Substanz ein Absterben der
Frucht bewirkt. Da die Ernährung und Respiration des Fötus vom
Mutterleibe aus erfolgt, so können alle toxischen Substanzen, welche
die Ernährungsverhältnisse der Schwangeren herabsetzen, auch den Tod
der Frucht bewirken. Solche für die Frucht fatale Ernährungsstörungen
können sowohl durch die acute Erkrankung gesetzt werden, die das Gift
herbeiführte, als noch mehr durch chronische Inanitionszustände,
die als Folgen der Intoxication zurückgeblieben sind. Weiter kann
die Frucht in Folge der durch vasomotorischen Krampf oder im
Gegentheil durch Gefässlähmung eintretenden Behinderung des fötalen
Gasaustausches zu Grunde gehen, und es hat insbesondere +M. Runge+
(„Ueber den Einfluss einiger Veränderungen des mütterlichen Blutes und
Kreislaufes auf den fötalen Organismus“. Arch. f. experim. Path. X,
324) gefunden, dass jede plötzliche und bedeutende Herabsetzung des
Blutdruckes des Mutterthieres ein tödtlicher Factor für die Frucht
ist, und dass auch eine protrahirte Narcose die Frucht zu tödten
vermag, ohne das Leben der Mutter zu gefährden, wenn durch dieselbe
der Blutdruck auf niedrige Werthe herabgesetzt wird. Daraus dürfte
die von verschiedenen Seiten constatirte Schädlichkeit grösserer
Morphiumdosen für die Frucht sich erklären, während anderseits
vorsichtig geleitete Chloroformnarcosen letztere nicht bedrohen und
auch Beobachtungen vorliegen, wo bei Kreissenden Chloralhydrat bis
zu 4 Grm. pro dosi gegeben wurde, ohne dass daraus ein Nachtheil für
das Kind entstanden wäre (+Müller+). Es kann jedoch das Absterben
der Frucht auch dadurch erfolgen, dass das von der Mutter genommene
Gift in die erstere übergeht und Vergiftung derselben herbeiführt.
Auf diese Möglichkeit wurde bereits von +Adonard+ und +Tardieu+
(l. c.) hingewiesen, und zahlreiche Versuche neuerer Autoren
(+Benicke+, +Zweifel+, +Gusserow+, +Fehling+, +Porak+, +Runge+ u. A.)
haben ausser Zweifel gestellt, dass in den mütterlichen Organismus
eingeführte lösliche Substanzen in die Frucht, beziehungsweise in
die Placenta übergehen können. Insbesondere ist dies von Chloroform,
Salicylsäure, Jodkalium, Ferrocyankalium, Bromkali und Benzoësäure
nachgewiesen. Doch scheinen im Allgemeinen nur verhältnissmässig kleine
Mengen in die Frucht überzugehen und einzelne Substanzen leichter als
andere. Bei Thierversuchen konnte +Walter+ (Med. Centralbl. 1881,
pag. 764) weder Strychnin, noch Morphium, Veratrin, Curare, Secale
cornutum im Fötus nachweisen. Die Diffusionsfähigkeit der Substanz
wird dabei eine wesentliche Rolle spielen, obgleich auch der Uebergang
corpusculärer Elemente (pathogener Mikroben, und nach +Pyle+ auch von
Ultramarin) von der Mutter in die Frucht constatirt worden ist. Ebenso
der Umstand, ob und in welchem Grade dieselbe etwa im Organismus der
Mutter zersetzt oder zurückgehalten wird. So ist es begreiflich, dass
Stoffe, denen eine grosse Affinität zu Eiweisskörpern zukommt, nicht
leicht in die Frucht übergehen können, ebenso auch nicht jene, die, wie
z. B. das Kohlenoxyd, durch das Hämoglobin gebunden werden.[187]
Auch der Umstand kommt in Betracht, ob der toxischen Substanz genügende
Zeit gegönnt war, um in die Frucht überzugehen. Es können demnach
solche Substanzen, die erwiesenermassen langsam aus dem Organismus
ausgeschieden werden, wie z. B. metallische Gifte, eher einen letalen
Einfluss auf die Frucht üben, als Stoffe, die, wie z. B. die Alkaloide
oder flüchtige Gifte, bekanntlich schnell eliminirt werden. Daraus
erklärt sich auch die Beobachtung +Gusserow+’s (Arch. f. Gyn. III,
241), dass er, während er bei acutem Verlaufe die in den Magen der
Mutter gebrachten Substanzen im Fötus nicht finden konnte, im Stande
war, bei schwangeren Frauen, denen er durch längere Zeit (14 Tage)
Jodkalium gegeben hatte, dasselbe im Fruchtwasser und im Harne der
Neugeborenen nachzuweisen.[188]
[Sidenote: Wirkung von Abortivmitteln auf die Frucht. Antisyph. Curen.]
Ob die Empfindlichkeit der Früchte gegen Giftstoffe eine
verhältnissmässig gleiche ist wie beim geborenen Menschen, ist
vorläufig nicht sichergestellt. Bisher war man der Meinung, dass
im Allgemeinen bei solchen Früchten, wie bei Kindern überhaupt,
eine relativ höhere Empfindlichkeit gegen Gifte bestehen dürfte,
neuere Beobachtungen scheinen eher für das Gegentheil zu sprechen.
Insbesondere hat +Gusserow+ (Arch. f. Gyn. XIII, pag. 66) gefunden,
dass, wenn er Thierföten innerhalb des Mutterleibes Strychnin
injicirte, dieselben niemals Strychninkrämpfe bekamen, wohl aber das
Mutterthier.
Eine weitere Ursache des Abortus nach Einverleibung toxischer
Substanzen kann in dem durch manche der letzteren hervorgerufenen
heftigen Erbrechen liegen. Wir haben schon erwähnt, dass Irritation
der Magen- und Darmschleimhaut reflectorische Uteruscontractionen
hervorzurufen vermag. Abgesehen von diesem Umstande kann aber auch der
durch das Erbrechen erzeugte mechanische Insult solches bewirken. So
wenig die Möglichkeit von sich gewiesen werden kann, so ist auch diese
nur mit Vorsicht aufzunehmen, da ja von sämmtlichen Geburtshelfern
als Indication zur Einleitung des Abortus oder der Frühgeburt auch
-- unstillbares Erbrechen der Schwangeren angeführt wird, und ein
neuerer Geburtshelfer[189] sogar das bei vielen Schwangeren auftretende
Erbrechen als einen von der Natur eingeleiteten heilsamen Act
bezeichnet und behauptet, dass Emetica drohenden Abortus verhüten.
[Sidenote: Innere Abortiva. Individuelle Disposition.]
Von dem Standpunkte der besprochenen Möglichkeiten werden die einzelnen
in der Praxis vorkommenden „Fruchtabtreibungsmittel“ zu beurtheilen
sein, doch ist niemals zu vergessen, dass auch die individuellen
Verhältnisse hierbei eine wesentliche Rolle spielen. Wer Gelegenheit
hatte, an Thieren das Verhalten des Uterus gegen diverse Reize zu
verfolgen, wird gefunden haben, dass nicht blos die Reizbarkeit des
Uterus bei verschiedenen Thieren eine verschiedene ist, z. B. bei
Kaninchen eine auffallend grössere als bei Hündinnen, sondern er
wird auch bemerken, dass bei einer und derselben Thierclasse die
Erregbarkeit des Uterus je nach dem Individuum vielfach wechselt, und
dass, während z. B, bei einzelnen schon schwache Reize Contractionen
hervorrufen, bei anderen viel stärkere nothwendig sind, um diese zu
bewirken, ja dass man nicht selten auf Thiere stösst, bei welchen
die Reize ganz ohne Effect bleiben. Bei unseren Versuchen glauben
wir bemerkt zu haben, dass im Allgemeinen junge Thiere viel prompter
reagiren als alte, und dass offenbar die Brunstzeit einen Einfluss in
dieser Beziehung äussert, indem sie die Erregbarkeit des Uterus erhöht.
Auch schwangere Gebärmütter der Thiere verhalten sich verschieden, denn
während in einzelnen Fällen lebhafte peristaltische Bewegungen der
Uterushörner zu beobachten sind, fehlen dieselben in anderen gänzlich
oder treten nur schwach in die Erscheinung.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch beim menschlichen Weibe
ähnliche Differenzen der Reizbarkeit des Uterus im nicht schwangeren
sowohl als besonders im schwangeren Zustande bestehen werden. So ist
es bekannt, dass bei manchen Schwangeren schon geringe Veranlassungen
genügen, um Abortus herbeizuführen, und in den meisten dieser Fälle
lässt sich auch eine anderweitig erhöhtere Reizbarkeit (Nervosität,
Hysterie) constatiren, auf deren eventuelles Vorhandensein jedenfalls
zu reagiren sein wird. Sehr wohl ist es auch denkbar, dass in den
einzelnen Perioden der Schwangerschaft die Reizbarkeit des Uterus
sich verschieden verhält, und dass insbesondere, wie +Elsässer+, +Wald+
u. A. bemerkt haben wollen, zu jener Zeit eine erhöhtere Irritabilität
der Gebärmutter besteht, in welcher die Wiederkehr der Menstruation zu
erwarten gewesen wäre.[190]
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen übergehen wir zu einer kurzen
Besprechung derjenigen Mittel, welche erfahrungsgemäss als
Fruchtabtreibungsmittel im Rufe stehen und thatsächlich zu diesem
Zwecke in Anwendung gezogen werden.
[Sidenote: Secale cornutum. Pilocarpin.]
Wir nennen zuerst das +Secale cornutum+ und seine Präparate. Das
Mutterkorn ist der durch einen Pilz (Claviceps purpurea Tul.)
verbildete Fruchtknoten des Roggens, dessen äussere Eigenschaften als
bekannt vorausgesetzt werden können. Die Giftigkeit des Mutterkornes
unterliegt keinem Zweifel. Sie ist bei der frischen Drogue eine
stärkere, als nach längerem Liegen derselben, tritt jedoch auch
im ersteren Falle erst nach grösseren Dosen auf. In solchen von
mehr als 8 Grm. (+Husemann+) tritt Ekel, Erbrechen, Trockenheit im
Halse ein, ferner Eingenommenheit des Kopfes, Erweiterung (seltener
Verengerung) der Pupille, Magen- und Darmschmerzen, Verlangsamung
des Pulses, endlich Delirien, Betäubung, comatöser Zustand, der in
den Tod übergehen kann. Kleinere Gaben von 1·0 Grm. bewirkten nach
+Schroff+ sen. blos Uebelkeit, Aufstossen, ein Gefühl von Völle im
Magen, das sich später in wirklichen Schmerz verwandelt, Verminderung
des Appetits, Trockensein der Zunge, welche letzteren Erscheinungen bis
zum andern Tage anhielten. Auf den Puls wirkte die Gabe nicht. Heftiger
wirkt das Extract des Mutterkorns, das +Ergotin+, von welchem schon
0·2-0·5 Grm. Bauchschmerzen, Eingenommenheit des Kopfes, Erweiterung
der Pupille und constantes Sinken des Pulses um 12-18 Schläge
veranlassen (+Schroff+).
[Sidenote: Wirkung des Mutterkorns.]
Ueber das im Mutterkorn, beziehungsweise im Ergotin, eigentlich
wirksame Princip existiren zahlreiche Arbeiten, so von +Wenzell+,
+Buchheim+, +Draggendorff+ und +Podwissotzky+, +Kobert+, +Lazarsky+
u. A. +Kobert+ (Arch. f. experim. Path. u. Pharm. XVIII, 317) fand
bei seinen ausgebreiteten Versuchen drei wirksame Principien im
Mutterkorn, die Ergotinsäure, die Sphacelinsäure und das Cornutin.
Erstere hat keine ekbolische, aber eine centrallähmende Wirkung,
die Sphacelinsäure ist das eigentliche Ekbolicum, da sie tetanische
Contractionen des Uterus veranlasst. Auch bewirkt sie periphere
Gangrän (Ergotismus gangraenosus). Das Cornutin bewirkt wellenförmige
Bewegungen des Uterus. Von dem Gehalte der Extracte des Mutterkorns
an den zwei letztgenannten Stoffen hängt die Intensität der Wirkung
ab. Sie ist am grössten bei aus frischem Mutterkorn dargestellten
Präparaten, da sowohl das Cornutin als die Sphacelinsäure im älteren
Mutterkorn, und zwar auch im entölten, schwinden.
Eine contractionserregende Wirkung auf den Uterus kommt also dem
Mutterkorn thatsächlich zu, und es ist bekannt, dass dasselbe,
insbesondere in der Form des Ergotins, von den Geburtshelfern als
wehenbeförderndes Mittel angewendet wird, wenn der Geburtsact bereits
von selbst in Gang gekommen ist. Aber auch zur Einleitung der
künstlichen Frühgeburt bei geburtshilflicher Indication wurde das
Mittel versucht. +Ramsbotham+ und +Krause+ (+Lex+, l. c. 227) haben
vorzugsweise damit experimentirt. Ersterer gab Secale cornutum bis
zu 1½ Unzen, und es gelang ihm, Frühgeburt zu erzielen, will aber
gefunden haben, dass viel mehr Kinder todt zur Welt kamen als nach
Eihautstich; Letzterer führt 80 Fälle an, in denen +Ramsbotham+’s
Methode zur Einleitung der Frühgeburt in Anwendung gezogen wurde. In
62 Fällen wurden dadurch Wehen erregt, 18mal blieb sie erfolglos; 37
Kinder lebten, 3 Mütter starben. Die Dauer der Geburt betrug 1 bis 12
Tage.
Ueber die Ursache dieser Wirkung ist wenig Positives bekannt.
+Wernich+[191] sucht dieselbe in einer durch das Ergotin bewirkten
Verengerung der Gefässe und der dadurch theils im Uterus, theils
im Gehirn und Rückenmark erzeugten Blutarmuth, welche ihrerseits
die cerebrospinalen, beziehungsweise die parenchymatösen Centren
für die Uterusbewegung in Erregung versetzt, eine Erklärung, die
plausibel erscheint, da Pulsverlangsamung als ein constantes Symptom
der Ergotinwirkung angegeben wird und die therapeutischen Erfolge
des Ergotins bei Blutungen ebenfalls mit Contraction der Gefässe
in Verbindung gebracht werden. Andere Beobachter haben jedoch eine
auffallende Gefässverengerung nach der Application von Ergotin nicht
beobachten können und betonen im Gegentheil eine lähmende Einwirkung
desselben auf das Rückenmark. (+Zweifel+, Arch. f. experim. Path.
und Pharm. 1875, IV, 387.)
Jedenfalls geht aus den bisherigen Beobachtungen an Schwangeren und
aus den an Thieren gemachten Experimenten hervor, dass die Wirkung des
Mutterkorns auf den Uterus keineswegs als eine sichere und regelmässige
bezeichnet werden kann. Namentlich kann dies von kleinen Gaben nicht
behauptet werden, während grössere Gaben allerdings Abortus bewirken
können, aber gleichzeitig auch heftige Vergiftungserscheinungen
erzeugen, so dass der Abortus schon durch letztere erklärt wird,
ohne dass man eine specifische Wirkung des Ergotins auf den Uterus
anzunehmen braucht.[192]
Damit stimmen auch die Beobachtungen überein, die bei thatsächlicher
Fruchtabtreibung mit Secale cornutum gemacht wurden, welche
merkwürdiger Weise, trotz der leichten Zugänglichkeit des Mittels
und trotz seiner so häufigen und daher bekannten Anwendung in der
Geburtshilfe, doch nur ganz ausnahmsweise vorgekommen sind.
[Sidenote: Fruchtabtreibung durch Mutterkorn.]
+Tardieu+ (Annal. d’hygiène publ. 1885, Vol. I, pag. 404) berichtet
über eine 24jährige Frauensperson, welche im vierten Monate ihrer
Schwangerschaft abortirte, nachdem sie Mutterkorn in Pulverform
genommen hatte. Sie starb an Peritonitis nach 24 Stunden. Fragmente
von Mutterkorn wurden im unteren Theile der Gedärme gefunden.
Ein ähnlicher, jedoch sorgfältig beschriebener, von +Richter+
mitgetheilter Fall findet sich in der Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1861, XX, 177.[193] Ein 22jähriges kräftiges, im sechsten
bis siebenten Monate schwangeres Mädchen hatte eine auf 4-8 Loth
geschätzte Menge von Mutterkorn genommen. Sie war darauf sofort
unter wiederholtem Erbrechen und heftigem Durst erkrankt, welche
Erscheinungen bereits 2 Tage gedauert hatten, als der Arzt gerufen
wurde. Derselbe fand das Bewusstsein ungetrübt, das Gesicht blass,
grosse Unruhe, raschen Puls, Klagen über unlöschbaren Durst,
Schmerzen im Magen und im ganzen Unterleibe, Harnverhaltung. Die
Geburt hatte bereits begonnen und nach wenigen Augenblicken wurde
eine kürzlich abgestorbene Frucht geboren. Enorme Blutung, die
unter fortdauerndem Erbrechen nach einer Viertelstunde den Tod
herbeiführte. Die Obduction ergab hochgradige Anämie; unscheinbare
Injectionen im Magen; hämorrhagische Erosionen an der grossen
Curvatur und am Fundus, chocoladefarbigen Mageninhalt und streifige
Röthung der Speiseröhre. Mikroskopisch und chemisch wurde das
Gift nicht mit voller Bestimmtheit nachgewiesen. -- +Taylor+
(l. c. II, 193) berichtet aus dem Jahre 1864 über ein Weib, welches,
offenbar in der Absicht, die Frucht abzutreiben, durch 11 Wochen
(!) täglich dreimal einen Theelöffel von Ergotintinctur genommen
hatte. Sie starb in der elften Woche, ohne dass Abortus eingetreten
wäre. Ueber die Erscheinungen während des Lebens wird nichts
mitgetheilt. Bei der Section wurden „entzündliche Flecken“ an der
Magenschleimhaut constatirt und ein dreimonatlicher Embryo im
Uterus gefunden. -- Einen weiteren Fall hat +Otto+ (Memorabilien.
1870, Nr. 2, Virchow’s Jahresb. I, 438) publicirt. Eine Magd war
nach mehrmaligem Erbrechen, über Unterleibsschmerzen klagend, unter
geringem Blutverlust von einem 5 Zoll langen Embryo entbunden
worden. Sehr bald (?) starb sie bewusstlos. Im Magen fand man eine
2 Zoll lange braunrothe Stelle, die hintere Seite des Magens am
Cardialtheil stark injicirt. In demselben eine graue Flüssigkeit,
in welcher zahlreiche kleine missfärbige, klumpige Partikelchen
schwammen, welche durch chemische und mikroskopische Untersuchung
„mit grösster Wahrscheinlichkeit“ als durch den Verdauungsprocess
verändertes Mutterkornpulver erkannt wurden. Im Uterus fand sich
noch der faustgrosse Mutterkuchen. -- +Davidson+ (Ibid. 1883, I,
528) obducirte ein Mädchen, welches eingestandenermassen einige
Tage vor ihrem Tode zwei Hände voll Mutterkorn genommen hatte.
Die klinischen Erscheinungen und der Obductionsbefund waren
ähnlich denen bei einer subacuten Phosphorvergiftung. Der Uterus
enthielt einen fünfmonatlichen Embryo. -- Merkwürdig ist ein von
+Pouchet+ (Annal. d’hygiène publ. 1886, pag. 253) mitgetheilter
Fall, betreffend eine Person, die im Verlauf von 8 Jahren sechsmal
abortirte, nachdem sie einen von ihrem Schwängerer bereiteten Trank,
nach Allem einen Absud von Mutterkorn, getrunken hatte. Sie musste
den Trank mehrmals nehmen, worauf Kolikschmerzen, Schmerzen in
den Nieren, Schwindel, Schwäche der Extremitäten und einige Tage
darauf Metrorrhagien und Abortus eintraten. Zwei Monate (sic) nach
dem letzten Abortus wurde die Person von allgemeinem Unwohlsein,
Schwäche und Schmerzen in den Extremitäten befallen, an letzteren
traten +gangränös+ sich ausbreitende +Flecke+ auf und nach etwa vier
Monaten erfolgte unter grosser Prostration der Tod. Die Obduction
ergab nur ödematöse Infiltration der Bauchhaut und Hautgangrän an
den Extremitäten. Morbus Brightii und Diabetes waren ausgeschlossen.
In den Eingeweiden konnte +Pouchet+ chemisch und spectroskopisch
Ergotin nachweisen. Er erörtert, dass eine chronische Vergiftung
mit Mutterkorn stattgefunden, dass die Bestandtheile des letzteren
sich im Körper angesammelt (sich accumulirt) und schliesslich zur
Hautgangrän geführt haben, wie dies auch bei ökonomischen chronischen
Vergiftungen mit Mutterkorn als gangränöse Form der Kriebelkrankheit
beobachtet worden ist.
[Illustration: Fig. 39.
Mikroskopische Schnitte von Secale cornutum. _A_ mit fetthältigen
Zellen, _B_ nach Behandlung mit Aether.]
[Sidenote: Mutterkorn mikroskopisch und chemisch.]
Für die Erkennung der Mutterkornpartikel im Erbrochenen oder im
Magen und Darmcanal einer Leiche müsste zunächst die mikroskopische
Untersuchung herangezogen werden. Das Gewebe des Mutterkorns ist,
wenn es nicht durch Quellung oder Verdauung zu sehr verändert wurde,
sehr charakteristisch. Es besteht (Fig. 39) aus polygonalen, sehr
enge und ausserordentlich innig mit einander verbundenen Zellen,
welche als Inhalt ein farbloses Fett führen, weshalb die Structur des
Gewebes besonders deutlich hervortritt, wenn man dasselbe mit Aether
u. dergl. extrahirt. In den Zellen der äussersten Gewebsschichte
findet sich überdies ein violetter Farbstoff, der die bekannte
schwarzviolette Farbe der Oberfläche des Mutterkornes bedingt. Dieser
Farbstoff, den +Draggendorff+ (l. c.) Sclererythrin nennt, lässt
sich durch Alkohol ausziehen, welcher durch Zusatz von Schwefelsäure
sofort sich roth färbt (+Jakobi+ und +Böttcher+). Nach +Draggendorff+
gewinnt die Reaction an Schärfe, wenn man die Substanz mit
säurehältigem Alkohol auszieht, mit Wasser mengt, mit Aether
ausschüttelt, den Aether verdunstet und mit dem Rückstande die
Reaction mit Schwefelsäure (rothe Lösung) und Kalilauge (violette
Lösung) vornimmt. Die saure Lösung gibt vor dem Spectralapparat zwei
blasse und schmale Absorptionsbänder in Grün und eines in Blau, die
alkalische zwei eben solche, nahe bei einander stehende in Grün. Eine
weitere Reaction besteht darin, dass man die betreffende Substanz
mit kalter Kalilauge behandelt. Es entwickelt sich, wenn Mutterkorn
vorliegt, Trimethylamin, welches an seinem eigenthümlichen Geruche nach
Häringslake erkannt werden kann. Der Geruch tritt deutlicher hervor,
wenn man, nachdem die Substanz in einer Eprouvette mit Kalilauge
übergossen wurde, erstere mit einem Pfropfe verschliesst und erst nach
einigen Minuten öffnet.
[Sidenote: Sabina.]
Der +Sadebaum+, +Juniperus sabina+ Linn., steht seit den ältesten
Zeiten in dem Rufe eines Abortivum und ist als solches thatsächlich in
Anwendung gezogen worden. Das wirksame Princip ist ein ätherisches Oel
(Ol. sabinae), welches sich in einer „Oeldrüse“ am Rücken der feinen
Nadeln dieser Wachholderart befindet. Die flüchtige Beschaffenheit
dieses Oels bringt es mit sich, dass besonders die frischen Zweige
eine heftige Wirkung äussern, während sie in dem Grade abnimmt, je
mehr dieselben eintrocknen, so dass schliesslich ganz trockenen und
geruchlos gewordenen Zweigen keine Wirkung mehr zukommt. Das Ol.
sabinae ist zu 1 bis 3 Procent in den frischen Zweigen enthalten und
gehört, wie die meisten ätherischen Oele, zu den local irritirenden
Giften, erzeugt daher vorzugsweise die Symptome der Gastroenteritis
toxica (die Sabinazweige rufen nach +Schroff+ schon auf der Haut
Entzündung und Eiterung hervor) mit mehr weniger ausgesprochener
Nebenwirkung auf das Gehirn und Rückenmark. Die Dosis toxica für
den Menschen ist nicht genau bekannt; bezüglich der Thiere wird von
+Husemann+ (l. c. 417) angegeben, dass 8·5 bis 17 Grm. des Oels
Kaninchen in sechs Stunden und etwa 17·5 Grm. des Pulvers einen Hund
getödtet haben. Jedenfalls scheint die Wirkung auch auf den Menschen
eine sehr heftige zu sein, da fast alle bisher bekannten Fälle, in
denen Sabina, insbesondere die Abkochung der frischen Zweige, zu
Abortivzwecken genommen wurde, letal verliefen. Von den Wirkungen
auf das Urogenitalsystem kann jene auf die Nieren als constatirt
angesehen werden, da bei Thieren Hämaturie und Abgang von nach
Sabina riechendem Harn in der Regel beobachtet wurde, ohne dass man
jedoch die Wirkung als eine specifische bezeichnen könnte. Für die
gewöhnlich angenommene specifisch abortive Wirkung ist noch von keiner
Seite ein Beweis beigebracht worden, doch ist es bei den heftigen
Irritationserscheinungen, die im Unterleibe nach dem Genusse grösserer
Gaben von Sabina auftreten, wohl begreiflich, wenn als Folge dieser
Abortus sich einstellt. Auch hebt +Röhrig+ (l. c.) unter den von ihm
geprüften Substanzen insbesondere das Ol. sabinae als eine solche
hervor, die durch directe Reizung der Centren Uteruscontractionen zu
bewirken vermag.
In einem von +Taylor+ (l. c. 187) beobachteten Falle hatte eine im
siebenten Monate schwangere Person drei Tage grüne Massen erbrochen,
die man Anfangs für Galle hielt. Am vierten Tage wurde sie von einem
+lebenden+ Kinde entbunden, welches bald darauf starb. Die Mutter
selbst starb zwei Tage nach der Entbindung. Bei der Section fand sich
Röthung und Ekchymosirung des Schlundes und eine starke umschriebene
Entzündungsröthe im Magengrunde, jedoch keine Erosionen. Der Magen
enthielt eine grünliche Flüssigkeit, in welcher Partikelchen von
Sabina sowohl durch den Geruch, als unter dem Mikroskop erkannt
wurden. Ferner fand sich starke Röthung der Dünndarmschleimhaut und
beginnende Entzündung des Peritoneums und der Nieren. Die Menge der
genommenen Sabina konnte nicht sichergestellt werden.
In einem zweiten nach +Newth+ erzählten Falle wurde die im siebenten
Monate Schwangere acht Stunden, nachdem sie Sabina genommen hatte,
vollkommen bewusstlos und stertorös athmend gefunden, nachdem sie
zuvor wiederholt heftig gebrochen hatte. Sie starb vier Stunden nach
der alsbald erfolgten Entbindung. Der Magen enthielt eine braungrüne,
säuerliche Flüssigkeit, aus welcher Ol. sabinae dargestellt wurde.
Die Schleimhaut war blässer als gewöhnlich und nur an zwei Stellen
unscheinbar ekchymosirt.
In einem dritten von +Tidy+ beobachteten Falle war nach der
Einverleibung des Giftes Trismus und Tetanus eingetreten, so dass,
als die Person einige Stunden darauf starb, an Strychnin gedacht
wurde. Es wurde jedoch im Magen nicht dieses, sondern eine grosse
Menge Sabina nachgewiesen, ebenso in einer Flasche, aus welcher die
Betreffende den grössten Theil ausgetrunken hatte. Bezüglich des
übrigen Sectionsbefundes wird nichts angegeben. Die Frucht war nicht
abgegangen.
Diese Fälle sind deshalb instructiv, als sie die letale Wirkung
grösserer Dosen von Sabina demonstriren, aber namentlich insoferne,
als sie auch zeigen, wie verschieden die Symptome sein können, welche
in Folge einer solchen Vergiftung noch während des Lebens sich
einstellen. Während nämlich im ersten Falle fast ausschliesslich
Symptome der Gastroenteritis toxica auftraten, wurde im zweiten Falle
ausgesprochene Narcose und im dritten wieder Trismus und Tetanus
beobachtet.
+Letheby+ (+Lex+, l. c. 238) sah eine 21jährige Schwangere vier bis
fünf Stunden nach dem Genusse von Sabina unter heftigen Leibschmerzen
und Convulsionen abortiren und gleich darauf sterben. Sabina wurde im
Mageninhalt nachgewiesen.
Dagegen erwähnt +Fodéré+ eines Falles, in welchem, nachdem eine
„starke Dosis“ von Sabinazweigen mit Wein genommen worden war, nur
vorübergehende Symptome der Magenreizung auftraten, die in Genesung
übergingen, ohne dass die Schwangerschaft eine Unterbrechung erlitten
hätte. +Tardieu+ hat Gleiches beobachtet bei einer Schwangeren, die
durch mehrere Tage 10 bis 14 Tropfen „Essence de Sabine“ genommen
hatte. In einem von +Maschka+ (Gutachten, III, 236) mitgetheilten
Falle waren keine Erscheinungen aufgetreten, trotzdem an zwei
aufeinanderfolgenden Tagen eine Abkochung von Sabina genommen worden
war.
Für die Diagnose an der Leiche wird zunächst die auffallend grüne
Farbe des Mageninhaltes von Wichtigkeit sein, die sich findet, wenn
Sabinapulver oder eine Abkochung von Sabina genommen worden war.
+Taylor+ vergleicht sie mit der von „grüner Erbsensuppe“. Aehnliche
Färbung kann jedoch auch von Galle herrühren. Zu beachten ist ferner
der eigenthümliche, dem Ol. sabinae zukommende Geruch, ferner das
eventuelle Vorkommen von Theilchen von Sabinablättern oder Zweigchen,
welche sorgfältig zu sammeln und trocken zur weiteren Untersuchung
aufzubewahren sind. Ausser den allgemeinen botanischen Eigenschaften
solcher Theilchen wird insbesondere das mikroskopische Verhalten feiner
Schnitte, sowie die charakteristische Oeldrüse nachzuweisen sein (Fig.
40 und 41). Ausserdem kann das Oel aus dem Mageninhalte etc. durch
Ausziehen mit Aether und durch Destillation gewonnen werden.
[Illustration: Fig. 40.
_a_, _b_ Zweigspitze von Juniperus sabina, mit der „Oeldrüse“ am Rücken
der einzelnen Blättchen. _2_ Jun. virginiana, _3_ Jun. phoenicea,
_4_ Cupressus sempervirens (aus +Vogl+ und +Schneider+, „Oesterr.
Pharmacopoe“, 1879, pag. 97).]
[Sidenote: Thuja. Taxus baccata.]
In ähnlicher Weise wie Juniperus sabina wirkt Juniperus virginiana
und das von diesem kommende sogenannte Cedernöl. Aber auch aus dem
gewöhnlichen Wachholder lässt sich ein ätherisches Oel bereiten,
welches nach +Semon+ zu 1 Unze auf Kaninchen tödtlich wirkt (+Husemann+
l. c. 416). Doch beschreibt +Fodéré+ einen Fall, in welchem eine
Schwangere drei Wochen lang täglich 100 Tropfen dieses Oels genommen
hatte, ohne dass eine Unterbrechung der Schwangerschaft eintrat.
Ebenso enthalten auch die +Thujaarten+ (Fig. 42), welche bei uns
häufig in den Gärten zu finden sind, ein ätherisches Oel, dessen
Wirkung der des Ol. sabinae sehr nahe steht. +Sander+[194] hat einen
Fall veröffentlicht, in welchem nach einem Thee von Herba Thujae occ.
unter den Erscheinungen einer heftigen Gastroenteritis Abortus, aber
unmittelbar darauf der Tod erfolgte. Nach +Stahlmann+ (Göttinger
Diss., 1884) enthält das ätherische Oel von Thujae occ. 60-70
Procent Thujol, welches bei Kaninchen und Hunden heftigen Tetanus
mit nachfolgenden clonischen Krämpfen, Speichelfluss, Mydriasis und
vermehrte Darmperistaltik bewirkt, wahrscheinlich in Folge von Reizung
der Krampfcentren im verlängerten Mark. Ferner ist als in diese Classe
gehörig der +Eibenbaum+, +Taxus baccata+, zu nennen, welcher schon
wiederholt zu Fruchtabtreibungszwecken in Anwendung gekommen ist.[195]
Die Analogie der Wirkung der Blätter und Zweige von Taxus bacc. mit
jener der Sabina hat +Schroff+ hervorgehoben. Die giftige Wirkung der
Früchte wurde bezweifelt, neuerdings aber durch +Lucca+ (+Husemann+,
„Die Pflanzenstoffe“, 1871, pag. 97) und +Marmé+[196] erwiesen, denen
es auch gelang, das wirksame Princip in Form einer alkaloid-ähnlichen
Substanz -- das Taxin -- darzustellen, von welcher 15-25 Mgrm. in die
Jugularnerven injicirt, Kaninchen, und 30 bis 50 Mgrm. Katzen in 14-20
Minuten zu tödten im Stande sind.
[Illustration: Fig. 41.
Mikroskopischer Querschnitt durch die Oeldrüse von Juniperus sabina.
_E_ Epidermis, _hyp_ Hypodermis, _chl_ Chlorophyllzellen, _O_ Oeldrüse.]
[Illustration: Fig. 42.
Zweigspitze _1_ von Thuja orientalis, _2_ von Th. occidentalis.]
[Sidenote: Terpentinöl.]
Endlich ist noch bei den Coniferen das +Terpentinöl+ zu erwähnen,
welches eines der schärferen ätherischen Oele darstellt und in Dosen zu
3-8 Grm. Bauchschmerzen, Mattigkeit, Vermehrung der Pulsfrequenz und
der Diurese (Veilchengeruch des Harns), aber auch Strangurie, Hämaturie
und Erscheinungen heftiger Gastroenteritis bedingen kann, ohne dass wir
berechtigt wären, diesem oder einem anderen der vorhergenannten Mittel
eine specifisch abortive Wirkung zu vindiciren.
[Sidenote: Aetherische Oele.]
Gleiches gilt von anderen ätherischen Oelen, beziehungsweise von
den Pflanzen, welche sie enthalten, wie z. B. von dem +Bernsteinöl+
(Oleum succini), welches nach +Seydel+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1885, pag. 267) in seiner Gegend im Rufe eines Abortivum steht
und von dem in einem Falle ein Esslöffel voll Bauchschmerzen,
Erbrechen, Prostration, später Durchfall und typhöse Erscheinungen
und am 13. Tage Abortus veranlasste; ferner von +Tanacetum vulgare+
(Rainfarren), welches in Frankreich und von +Ruta graveolens+
(Raute), welche in Amerika als Abortiva im Rufe stehen und auch
angewendet werden. Ebenso von den starken Gewürzen, wie z. B.
+Saffran+[197] und dem aus ihnen bereiteten „Glühwein“.
[Sidenote: Kampher.]
Den ätherischen Oelen chemisch und toxisch nahestehend sind die
Kampherarten. Ueber eine mit gewöhnlichem Kampher versuchte
Fruchtabtreibung berichtet +Kuby+ (Virchow’s Jahresb. 1881, I, 534).
In Tirol steht die Wurzel von Asarum europaeum in dem Rufe eines
Fruchtabtreibungsmittels und wir intervenirten in einem Falle, wo ein
Individuum gewerbsmässig diese Wurzel als Abortivum oder Emmenagogum
verkauft hatte. Das wirksame und der Wurzel den intensiven scharfen
Geruch verleihende Princip ist ein kampherartiger Körper.
[Sidenote: Canthariden.]
Die Einwirkung der +Canthariden+ auf die Nieren ist bekannt und ebenso,
dass dieselben seit jeher als ein Aphrodisiacum angesehen wurden.
Es kann demnach nicht wundern, wenn wir ihnen auch als „Abortivum“
begegnen. In den wenigen sichergestellten Fällen, in denen Canthariden
zum Zwecke der Fruchtabtreibung genommen wurden (vide +Lex+, l. c.
245), erfolgte der Tod der betreffenden Mutter entweder ohne oder nach
vorausgegangenem Abortus. Die hochgradigen Irritationserscheinungen,
die nach der Einverleibung von Canthariden im Verdauungstractus
erfolgen, machen den Eintritt des Abortus im Verlaufe der Intoxication
begreiflich. Dass aber den Canthariden eine specifische Wirkung auf
den Uterus zukommen würde und dass insbesondere nicht toxische, selbst
wiederholte Gaben Contractionen des Uterus hervorrufen könnten, ist
nicht erwiesen.
[Sidenote: Aloe. Drastica.]
Auch bezüglich der +Drastica+, insbesondere der, auch eine
emmenagogische Wirkung besitzenden +Aloe+, kann nicht abgeleugnet
werden, dass sie mitunter in Folge des durch sie verursachten
Eingriffes in die normalen Vorgänge des Organismus Abortus herbeiführen
können, gewiss jedoch nur ausnahmsweise und unter besonders günstigen
Bedingungen, da bis jetzt kein einziger sichergestellter Fall in der
Literatur verzeichnet ist, in welchem ein solcher Effect zu constatiren
gewesen wäre.
[Sidenote: Phosphor etc. als Abortivum.]
Wenn wir nun die Reihe der Mittel erwägen, die als Abortiva im Rufe
stehen, so sehen wir, dass kein einziges derselben im strengen
Sinne als ein solches angesehen werden kann, und dass, wenn hie
und da in Folge eines solchen Mittels wirklich Abortus eintritt,
dieser selten mit einer specifischen und primären Wirkung desselben
auf die motorischen Centren des Uterus oder auf die Frucht im
nachweisbaren ursächlichen Zusammenhange steht, sondern als Folge und
Theilerscheinung anderweitiger im Organismus gesetzter Störungen,
insbesondere als Folge einer Intoxication im weiteren Sinne, aufgefasst
werden muss, woraus wieder hervorgeht, dass eigentlich alle Gifte unter
Umständen auch Abortus bewirken, eventuell zu Fruchtabtreibungszwecken
missbraucht werden können, was auch thatsächlich der Fall ist. So
hat z. B. die unverhältnissmässige Häufigkeit der Vergiftungen mit
+Phosphor+, besonders mit den Köpfchen von Phosphorzündhölzchen, bei
Schwangeren, bei uns schon lange den Verdacht erregt, dass diese
Substanz in manchen dieser Fällen nicht zum Zwecke des Selbstmordes,
sondern als Fruchtabtreibungsmittel genommen worden sei. Dieser
Verdacht wurde zur Gewissheit durch einen von +Kirchmeier+[198]
mitgetheilten Fall, in welchem die betreffende Vergiftete alle Zeichen
eines Abortus im dritten Monate darbot und vor dem Tode eingestand,
dass sie ihrer Schwangerschaft wegen auf Anrathen eines alten Weibes
die Köpfchen von drei Päckchen Zündhölzchen in Milch aufgekocht
genommen habe, ebenso auch durch die in Anschluss an diesen Bericht
gemachte Mittheilung Dr. +Langer+’s, dass binnen Jahresfrist in
demselben Bezirke vier Fälle von Fruchtabtreibung zur Kenntniss des
Gerichtes gelangten, wobei zweimal Schwefelarsen (!) und je einmal
Sabinadecoct und Phosphor verwendet worden waren. Endlich haben wir
wiederholt an subacuter Phosphorvergiftung gestorbene schwangere
Mädchen obducirt, welche eingestandenermassen oder wie anderweitig
klar war, Phosphorzündhölzchenköpfchen genommen hatten, um sich die
Frucht abzutreiben. Auch in Ostpreussen (+Seydel+, Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1893, VI, 281) und in Finnland (+Fagerlund+, Ibid. VIII.
Suppl.) gilt der Phosphor als Abortivum. Es geht daraus hervor, dass
selbst die heftigsten und wie man glauben sollte, als solche bekannten
Gifte in den Ruf von Fruchtabtreibungsmitteln kommen können. Es
unterliegt keinem Zweifel, dass Phosphor thatsächlich Abortus bewirken
kann, denn in vielen Fällen abortirten die Betreffenden wirklich,
so z. B. in einem von +Maschka+ (Wiener med. Wochenschr. 1877, Nr.
36) schon nach 48 Stunden, und in einem von +Seydel+ mitgetheilten,
wobei Hämorrhagien zwischen die Eihäute, sowie zwischen Ei und Uterus
eine wesentliche Rolle zu spielen scheinen[199], und es ist denkbar,
dass in irgend einem Falle eine solche Person Vergiftung und Abortus
überstehen könnte. Trotzdem wird es Niemandem einfallen, dem Phosphor
specifisch abortive Wirkungen zuzuschreiben, beziehungsweise diesen als
Fruchtabtreibungsmittel kat’exochen zu erklären.
[Sidenote: Untaugliche Abortivmittel.]
Wenn demnach ein angeblich zum Zwecke einer Fruchtabtreibung benütztes
Mittel zur gerichtsärztlichen Beurtheilung vorgelegt wird, so wird
zu erwägen sein, ob das Mittel überhaupt geeignet ist, in einer
bestimmten Gabe Functionsstörungen im Organismus hervorzurufen, und im
bejahenden Falle, ob dieselben derart eingreifend sind, dass als Folge
oder Theilerscheinung derselben auch ein Abortus eintreten +kann+.
Sind wir in der Lage, auch auf letztere Frage eine bejahende Antwort
zu geben, so genügt dies dem Richter vollkommen zur Begründung
der Anklage auf versuchte Fruchtabtreibung; denn in dieser
Beziehung handelt es sich, wie es ja schon in dem Begriffe des
„Versuches“ liegt, dem Gerichte keineswegs darum, ob das Mittel ein
„specifisches“ Abortivum und ein solches ist, welches mit einiger
Sicherheit die Fruchtabtreibung zu bewirken vermag, sondern ob
dasselbe diese überhaupt bewirken +konnte+, und das Substrat für eine
solche Anklage entfällt nur dann, „wenn ein +völlig ungeeignetes
Mittel+ gebraucht wurde, nicht aber, wenn ein an sich geeignetes
Mittel wegen Dazwischenkunft eines Hindernisses in zu geringer
Quantität angewendet worden ist, oder wenn das bereitete Mittel
nicht an jeder schwangeren Person ohne Unterschied ihrer physischen
Anlage, sondern nur unter Voraussetzung einer bestimmten physischen
Disposition seine abtreibende Wirkung äussert, weil im ersteren Falle
der Umstand, dass nicht die erforderliche Quantität genommen wurde,
im letzteren aber die mangelnde Disposition als fremdes Hinderniss
oder als Zufall erscheint“.[200]
Dass völlig ungeeignete Mittel in der Intention auf Fruchtabtreibung
genommen und gegeben werden, ist eine ziemlich häufige Beobachtung,
und es fällt in der Regel leicht, sie als solche zu bezeichnen. In
einem von uns begutachteten Falle hatte die Schwangere auf Anrathen
ihres Liebhabers wochenlang feingepulverte Kreide, natürlich
ohne allen Erfolg, genommen, in einem anderen den Schlamm vom
Schleifstein, ein Mittel, das offenbar seines Eisengehaltes wegen
als Abortivum sehr im Rufe zu stehen scheint, da in der Literatur
wiederholt seiner Anwendung zu Fruchtabtreibungszwecken Erwähnung
geschieht. In einem dritten hatte ein Mädchen, offenbar von gleichen
Ideen geleitet, Globuli martiales genommen und +Coutagne+ berichtet
von einem anderen, welches sich schliesslich von einer Hebamme die
Frucht abtreiben liess, nachdem sie früher Safran, Beifuss etc.
vergebens genommen und sich Injectionen mit dem Wasser gemacht
hatte, mit welchem ein Büchsenlauf ausgespült worden war! Auch eine
Menge verschiedener, ganz unschuldiger Thees gehören hierher, wie
denn gerade in diesen Dingen ein wahrer Köhlerglaube sich geltend
zu machen pflegt, der nicht selten von Quacksalbern, Hausirern und
anderen Leuten, an die sich die Schwangeren in ihrer Noth wenden, in
gewissenlosester Art ausgebeutet wird.
[Sidenote: Zusammenhang zwischen Abortus und dem betreff. Abortivum.]
Handelt es sich um einen wirklich eingetretenen Abortus und um
die Frage, ob derselbe mit einem angewandten inneren Mittel
in ursächlichem Zusammenhange steht, so sind insbesondere die
Erscheinungen zu erwägen, die dem Abortus vorausgegangen sind. Da es
nämlich keine Mittel gibt, welche ohne anderweitige Functionsstörungen
den Abortus bewirken würden, so müssen erstere sich in mehr weniger
ausgesprochener Weise kundgeben, und wir sind nicht berechtigt, einen
Abortus als durch ein innerlich genommenes Mittel erzeugt zu erklären,
wenn solche Functionsstörungen nicht aufgetreten sind, oder wenn wir
sie nicht nachzuweisen im Stande waren. Ferner muss erhoben werden,
ob die aufgetretenen Erscheinungen solche sind, die sich auf die
Wirkung eines innerlich genommenen sogenannten Fruchtabtreibungsmittels
zurückführen lassen, und, wenn ein bestimmtes solches Mittel in Frage
steht, ob die Erscheinungen, die aufgetreten sind, mit denjenigen
übereinstimmen, die zufolge der Erfahrungen der Pharmakologie und
Toxikologie nach gewissen Dosen desselben einzutreten pflegen. Ferner
ist die Möglichkeit auszuschliessen, dass gewisse Erscheinungen
nicht etwa von spontanen oder wenigstens von dem genommenen Mittel
unabhängigen Ursachen sich eingestellt und den Abortus veranlasst
haben, sowie endlich auch erwogen werden muss, welche Zeit zwischen
der Einverleibung der verdächtigen Substanz und dem Auftreten der
krankhaften Erscheinungen einerseits und zwischen diesen und dem
Abortus anderseits verflossen ist, und ob in dieser Beziehung eine
unmittelbare Aufeinanderfolge sich constatiren lässt. Da die meisten
zur Anwendung kommenden „Fruchtabtreibungsmittel“ in die Classe der
irritirenden oder narkotisch-scharfen Stoffe gehören, so pflegt die
Wirkung, insbesondere die Gastroenteritis toxica, kurze Zeit nach der
Ingestion derselben einzutreten, es wird daher auch umgekehrt, wenn
der Zeitpunkt, wann das Erbrechen etc. begann, erhoben werden kann,
ein ziemlich sicherer Rückschluss gestattet sein auf die Zeit, wann
beiläufig die toxische Substanz genommen worden ist. Auch was den
Zeitpunkt des Eintrittes des Abortus betrifft, lehrt die Erfahrung,
dass derselbe meistens mit der Höhe der Intoxicationserscheinungen
zusammenfällt oder kurz darnach erfolgt, obwohl die Möglichkeit nicht
bestritten werden kann, dass mitunter, gewiss aber nur in selteneren
Fällen, die Frucht erst nachträglich ausgestossen wird. Nach den
sorgfältigen Zusammenstellungen von +Dölger+ (Friedreich’s Blätter,
1892, S. 56) erfolgte der Abortus im Durchschnitte aus 27 genaueren
Daten nach 60 Stunden.
[Sidenote: Nachweis des Abortivums.]
Selbstverständlich ist es von grosser Wichtigkeit, etwa erbrochene
Substanzen, wenn man ihrer noch habhaft werden kann, einer näheren
Untersuchung zu unterziehen, eventuell dieselben für die durch
einen Specialsachverständigen (Chemiker, Botaniker) vorzunehmende
Untersuchung in zweckmässiger Weise aufzubewahren. Ebenso ist das
Auffinden von im Rufe als Fruchtabtreibungsmittel stehenden Substanzen
bei der Localuntersuchung von hohem Werthe, einestheils weil es den
Verdacht bestärkt, dass die Betreffende mit dem Plane umging, die
Frucht abzutreiben, andererseits weil der Gerichtsarzt dadurch in
die Lage versetzt wird, seine weiteren Untersuchungen in bestimmter
Richtung zu betreiben, insbesondere aber zu vergleichen, ob die an der
Schwangeren aufgetretenen Erscheinungen thatsächlich solche waren, die
den toxischen Eigenschaften der bei ihr gefundenen Substanz entsprechen.
Ob eventuell von einer chemischen Untersuchung der Frucht eine
Aufklärung zu erwarten sei, muss aus den concreten Verhältnissen des
Falles erwogen werden. In einem unserer Fälle, wo der Abgang der Frucht
von einer ungerechtfertigten Jodkaliumcur abgeleitet wurde, ergab die
vom Collegen +Ludwig+ vorgenommene chemische Untersuchung der
Frucht ein negatives Resultat.
B. Mechanische Fruchtabtreibungsmittel.
Unter mechanischen Fruchtabtreibungsmitteln verstehen wir Vorgänge, die
entweder durch Läsion des Eies oder durch mechanische Irritation des
Uterus den Abortus bewirken. Diese sind Abortivmittel im engsten Sinne,
und es gibt welche darunter, die mit solcher Präcision die Fehlgeburt
herbeiführen, dass sie zu diesem Zwecke vom Geburtshelfer angewendet
werden, wenn eine ärztliche Indication die Einleitung des Abortus oder
der Frühgeburt erheischt.
Es liegt in der Natur der Sache, dass derartige Mittel in der Regel
die Mitwirkung von Helfershelfern voraussetzen, die die betreffende
Operation vorgenommen haben, doch ist die Ausführung der letzteren
durch die Schwangere selbst keineswegs ausgeschlossen. Viele von
ihnen erfordern eine gewisse Sachkenntniss, doch sind es keineswegs
ausschliesslich Hebammen oder gar Aerzte, die, wenn sie sich eines
solchen Verbrechen schuldig machen, zu diesen Mitteln greifen; es lehrt
vielmehr die Erfahrung, dass auch Laien Derartiges ausführen, und wenn
sie das Verbrechen gewerbsmässig ausüben, darin selbst eine gewisse
Uebung erlangen können.
Wir wollen von diesen Fruchtabtreibungsmitteln nur diejenigen
besprechen, welche thatsächlich häufiger in der Verbrecherpraxis
vorkommen und welche auch von Laien ausgeführt werden können, während
wir die eigentlichen kunstgerechten Abortivmethoden als jedem Arzte
bekannt voraussetzen.
[Sidenote: Fruchtabtreibung durch Erschütterung des Unterleibes.]
Eine besonders rohe und deshalb nur von Laien geübte Methode der
mechanischen Fruchtabtreibung ist die heftige Erschütterung des
Unterleibes durch Stösse u. dgl. Derartige Acte können den Abortus
bewirken durch Ablösung des Eies von der Uteruswand oder durch
Sprengung desselben, aber auch durch Beschädigung der Frucht oder
dadurch, dass der mechanische Insult Contractionen des Uterus erzeugt.
Diese Methode ist uralt. Schon +Hippokrates+ soll sie angewendet
haben, indem er bei einer schönen Sclavin auf Aufforderung der
Besitzerin derselben die Frucht dadurch abgetrieben zu haben
angibt, dass er sie siebzehnmal nacheinander von einer gewissen
Höhe herabspringen liess, worauf -- „genitura cum sonitu defluxit“.
Auch +Ovid+ spricht von einem „coccus ictus“, dessen man sich
bediente, um Abortus zu bewirken. Dass auch gegenwärtig, und zwar
nicht allein bei den Indianern in Paraguay (+Short+), solche brutale
Fruchtabtreibungsversuche vorkommen, beweist der von +Tardieu+[201]
mitgetheilte Fall, in welchem ein Bauer, der seine Magd geschwängert
hatte, sich mit ihr auf ein feuriges Pferd setzte und dieselbe im
stärksten Galopp zu Boden schleuderte -- ohne jedoch damit den
gewünschten Abortus zu erzielen! In einem uns bekannten Falle hatte
eine schwangere Bauernmagd in der eingestandenen Absicht, den
Abortus zu bewirken, den schweren Flügel eines Scheunenthores auf
ihren Unterleib fallen lassen, ohne dass Abortus eintrat, und in
einem weiteren, den wir bei der Prager Facultät begutachteten, hatte
ein Bauer der von ihm geschwängerten Magd, nachdem er verschiedene
innere Mittel vergebens behufs Erzielung des Abortus angewandt
hatte, aufgelauert und ihr plötzlich einen Hieb mit der Fläche
eines schweren, zum Wäscherollen bestimmten Brettes über den Bauch
versetzt. Die Magd fiel vor Schmerz in Ohnmacht, die Schwangerschaft
wurde jedoch nicht unterbrochen und die Geburt erfolgte zur normalen
Zeit.
[Sidenote: Massage.]
Eine weniger rohe und auch sichere Methode ist die Fruchtabtreibung
durch systematisches Kneten und Drücken des Uterus durch die
Bauchdecken. Es ist bekannt, dass die Massage des Unterleibes in
der geburtshilflichen Praxis, sowohl während des Geburtsactes, als
namentlich in der Nachgeburtsperiode, häufig und mit Erfolg als
wehenbeförderndes Mittel angewendet wird, und es unterliegt keinem
Zweifel, dass dieselbe, wenn systematisch und entsprechend lange
geübt, auch während einer Schwangerschaft den Uterus zu Contractionen
anregen und also Abortus bewirken kann.[202] Auch diese Methode ist
zur Einleitung des verbrecherischen Abortus, und zwar mit Erfolg,
benützt worden. +Wistrand+[203] berichtet, dass in einem Falle nach
energischem und wiederholtem Drücken des Unterleibes, welches heftige
Schmerzen verursacht hatte, der Abortus in der That erfolgte, und in
einem zweiten Falle wurde aus Sugillationen des Bauchfelles, die man
bei der Section der nach einem Abortus verstorbenen Person fand, auf
ähnliche Manipulationen geschlossen, doch dürfte, wie wir glauben,
in diesem Falle, da leichter Icterus, schlaffes Herz und Verfettung
der Leber gefunden wurden, wahrscheinlich eine Phosphorvergiftung
vorgelegen haben. Der gleiche Autor gibt an, dass es in Schweden
Leute gebe, die sich als „Bauchdrücker“ einen Ruf erworben haben,
indem sie durch oft wiederholtes Drücken auf den Unterleib des Weibes
die Frucht abzutreiben verstehen.
[Sidenote: Eihautstich.]
Entschieden die häufigste von den in der Verbrecherpraxis vorkommenden
mechanischen Fruchtabtreibungsmethoden ist das Anstechen oder
Zerreissen der Eihäute durch in den Cervix eingeführte Instrumente.
Bekanntlich ist der „Eihautstich“ eine der ältesten der in der
Geburtshilfe zur Einleitung vorzeitiger Geburt benützten Methoden, die
aber gegenwärtig nur selten geübt wird, der Nachtheile wegen, die der
plötzliche und vorzeitige Abgang der Fruchtwässer mit sich bringt.
Die Eröffnung des Eies, die in der geburtshilflichen Praxis mit der
Uterussonde oder eigenen dazu construirten Instrumenten ausgeführt
wird, geschieht bei der verbrecherischen Einleitung des Abortus
theils mit solchen, theils mit allen möglichen langen und spitzigen
sondenartigen Werkzeugen, wie z. B. mit Stricknadeln, Drähten,
zugespitzten Stäbchen, Federhaltern etc. In einem von +Tardieu+
beschriebenen Falle war ein Brenneisen, in einem anderen von
+Casper+ erwähnten eine Scheere zu diesem Zwecke benützt worden. Die
Hebammen von Teheran bringen hakenförmige Instrumente zur Anwendung
(+Pollak+, l. c.), jene von Constantinopel die grossen Blattrippen der
Tabakblätter. In Japan bedient man sich wieder der Bambusstäbchen oder
zugespitzter Zweige verschiedener Sträucher (+Stricker+, l. c.) und in
Italien der steifen Wurzel von Plumbago Zeylanica (+Short+, l. c.).
Obgleich man glauben sollte, dass eine derartige Methode der
Fruchtabtreibung nur von einer zweiten Person ausgeführt,
beziehungsweise versucht werden könne, so lehrt doch die Erfahrung,
dass auch Schwangere an sich selbst derartiges unternommen haben. So
wird von +Graves+ (Virchow’s Jahresb. 1869, II, 608) ein Fall
mitgetheilt, in dem eine Frau an sich selbst mittelst einer Stricknadel
den Abortus effectuirte, und ebenso wird von einem anderen Falle
berichtet (Ibid. 1873, II, 651), in welchem die betreffende Schwangere
sich einen Draht von einem Regenschirm in die Genitalien eingestossen
hatte. Von +Leblond+ (Annal. d’hyg. publ. 1884, pag. 520) werden
mehrere solche Fälle mitgetheilt.
Bei tiefem Stand des Uterus, wie er factisch in den ersten
Monaten der Gravidität sich findet, halten wir es namentlich bei
Mehrgeschwängerten für möglich, dass die Betreffende sich selbst
ein Instrument in den Cervix einführen kann. Der Vorgang hat dann
eine gewisse Analogie mit der so häufigen Selbsteinbringung von
fremden Körpern in die Harnröhre, und es ist in dieser Beziehung
interessant, dass +Pouillet+ (L’onanie chez la femme. Paris 1884,
4. Aufl.) über Fälle von Selbsteinführung sondenartiger Körper in
den Uterus zu masturbatorischen Zwecken berichtet. Sehr beweisend
in dieser Richtung ist ein von +Herzfeld+ (Wiener klin. Wochenschr.
1889, Nr. 3) mitgetheilter Fall, wo im Uterus einer 25 Jahre alten
Frau der abgebrochene beinerne Griff einer Häkelnadel gefunden wurde,
welchen Herr +Herzfeld+ unserer Sammlung zu schenken die Güte hatte.
Die Frau gab nach verschiedenen Ausflüchten an, sie habe, um dem
überreichen Kindersegen vorzubeugen, auf Rath einer Hebamme sich
nach jedem Beischlafe die Uterushöhle ausgewischt, indem sie den
Griff der Häkelnadel mit einem Lappen umgewickelt und nach Einführung
von zwei Fingern der linken Hand in die Scheide das Instrument
in die Gebärmutterhöhle einschob. Sie habe dabei eine hockende
Stellung angenommen und durch Anspannen der Bauchwand den Muttermund
herabgedrängt. Diese Manipulation will sie seit längerer Zeit geübt
haben, bis ihr eines Tages die Nadel abbrach und sie nur noch den
Lappen herausziehen konnte. Besonders klar wird aber eine solche
Möglichkeit durch den Fall von +Resnikow+ (Centralbl. f. Gyn. 1893, Nr.
44) illustrirt, da die betreffende Frau, welche schon zweimal durch
eigenhändige Einführung der Sonde den Abortus provocirt hatte, die
Manipulation vor dem Arzte an sich selbst demonstrirte.
[Illustration: Fig. 43.]
[Sidenote: Injectionen.]
[Sidenote: Einführung fremder Körper in den Muttermund.]
Fruchtabtreibungen durch Injectionen, insbesondere in den Cervix,
kommen gegenwärtig immer häufiger vor, besonders wenn Sachverständige
sich eines solchen Delictes schuldig machen. Doch wird die Operation
mitunter auch von Laien ausgeführt. So wurde in einem von +Maschka+
(Gutachten. II, 324) mitgetheilten Falle ein seit Langem in dem
Verdachte eines Fruchtabtreibers stehendes Individuum (Nichtarzt) dabei
ertappt, wie es durch Injectionen mittelst einer Spritze und eines
in den Muttermund eingeführten Mutterrohrs den Abortus einleitete.
Scheideninjectionen können auch von den Schwangeren selbst und
mit Erfolg ausgeführt werden. Ausser gewöhnlichen Spritzen werden
Clysopompen, insbesondere aber Balloncatheter benützt. In dem von
+Vibert+ (Annal. d’hygiène publ. 1893) referirten Processe gegen den
Fruchtabtreiber Thomas hatte dieser bei 72 Frauen den Balloncatheter
angewendet. Auch die Einleitung von Dampf wurde schon, und zwar
mit Erfolg versucht. +Schoder+ (Beiträge zur Lehre vom provocirten
Abortus. Diss. Berlin 1893) berichtet über einen solchen Fall. Auf
Rath einer bereits zweimal wegen Fruchtabtreibung bestraften Person,
musste sich die Schwangere mit gespreizten Beinen über einen Eimer
stellen, auf dessen Boden Spiritus gegossen und angezündet worden war
und gleichzeitig heissen Kaffee trinken. Dabei überkam die Schwangere
Schwäche, sie legte sich zu Bette, nach 2 Stunden begann Drängen und es
gingen Blutklumpen ab. Andere Methoden sind verhältnissmässig selten.
In einem von +Thomson+[204] publicirten Falle war unter Anderem auch
der Versuch angestellt worden, durch fortgesetztes Herumbohren mit
dem Finger in der Scheide die Fruchtabtreibung zu bewirken, und in
einem von uns begutachteten war ein übelbeleumundeter Mann, nachdem
er eine ganze Reihe verschiedener innerer Mittel (Branntwein mit
Pfeffer, eine Mischung von Wasser, Stärke und Zucker, dann ein Gebräu
aus Schöllkraut, Kamillen, Safran, Alaun, Kupfervitriol und Kampher,
und hierauf Schlämmkreide) fruchtlos angewendet hatte, um bei seiner
Geliebten die Frucht abzutreiben, sogar auch auf die Idee gerathen,
dies durch forcirten Coitus zu bewirken, zu welchem Zwecke er die
Betreffende durch einige Zeit nicht blos zwei- bis dreimal täglich
gebrauchte, sondern auch einen Freund mitbrachte, der in seiner
Gegenwart dieselbe gebrauchen musste! In einem dritten, uns von den
hiesigen Gerichtsärzten DDr. +Doll+ und +Haschek+ mitgetheilten
Falle hatte ein Mann seiner schwangeren Geliebten ein Instrument
gebracht, welches wir in halber Grösse hier abbilden (Fig. 43), dessen
unterer Theil aus Holz, dessen oberer aus Bein gefertigt ist, mit
der Aufforderung, sich dasselbe in den Muttermund einzuführen und
dort liegen zu lassen, wobei er angab, dass er dasselbe von einem
Arzt gekauft habe, welcher ihn versicherte, dass das Instrument,
wenn richtig eingeführt, die Fruchtabtreibung zweifellos bewirke.
Die Betreffende wandte jedoch trotz wiederholter Aufforderung das
Instrument nicht an, liess die Schwangerschaft regelmässig verlaufen
und producirte erst nachträglich das Instrument vor Gericht, als es
wegen der Erhaltungskosten des Kindes zu Zerwürfnissen zwischen ihr und
ihrem Geliebten gekommen war. Die Gerichtsärzte, denen das Instrument
vorgelegt wurde, gaben ihr Gutachten dahin ab, dass sich in der
Construction desselben eine gewisse Zweckmässigkeit und Sachkenntniss
nicht verkennen lasse, dass dasselbe in den Muttermund möglicherweise
auch von der Frau selbst eingeführt werden könnte, und, wenn dort
liegen gelassen, den Abortus anzuregen im Stande gewesen wäre. Der
Angeklagte wurde wegen versuchter Fruchtabtreibung verurtheilt. Wir
sind im Allgemeinen derselben Meinung wie die Herren Collegen und
sind überzeugt, dass das betreffende Instrument in der Hand eines
Sachverständigen gewiss zum Ziele führen würde, halten es jedoch
für unwahrscheinlich, dass eine Schwangere sich selbst das plumpe
Instrument in den Muttermund einzubringen im Stande sein dürfte.
[Sidenote: Reizung des Cervix.]
Dagegen behauptet +Säxinger+ (l. c. 289), dass das blosse Einlegen
einer Sonde in den Gebärmutterhals keine Wehen hervorrufe. Auch das
einfache Betasten der Innenfläche des Cervix mit der Sonde oder bei
hinreichender Eröffnung mit dem Finger könne nicht als ein solches
Mittel bezeichnet werden. +Müller+ habe bei 100 Schwangeren mit dem
Finger und mit dicken Sonden den ganzen Cervicalcanal behufs genauer
Messung wiederholt abgetastet, ohne je schlimme Folgen davon zu sehen.
Auch durch Einführung reizender Substanzen in die Genitalien ist
die Fruchtabtreibung versucht worden. So hatte das oben erwähnte
Individuum zu den bezeichneten Fruchtabtreibungsversuchen noch den
hinzugefügt, dass es zwei Knoblauchzehen nahm, an der Stelle, wo der
Keim herauswächst, Pfeffer hineinthat und seiner Geliebten „tief in
die Scheide bis zur Gebärmutter“ hineinsteckte, ebenso eine dritte
Zehe in den Mastdarm mit dem Auftrage, diese Körper einen halben Tag
lang an ihrem Orte zu belassen, was die Betreffende allerdings nicht
that, sondern schon nach etwa einer halben Stunde den präparirten
Knoblauch sowohl aus den Genitalien als aus dem After herauszog, da
derselbe ihr starkes Brennen verursachte. Dieser Fall erinnert an die
mit verschiedenen reizenden Substanzen bestrichenen Pessarien, deren
sich bereits die alten arabischen Aerzte zur Einleitung des Abortus
bedienten, und demselben analog sind jene Fälle, in denen heftig
wirkende Giftstoffe, insbesondere Arsenik, zu diesem Zwecke per vaginam
eingeführt wurden. Ein solcher Fall wird in der „Deutschen Klinik“,
1873, Nr. 41, und ein zweiter von +Brisken+ in der Vierteljahrsschr. f.
ger. Med. XXV, 110, mitgetheilt.
[Sidenote: Diagnose der mechanischen Fruchtabtreibung.]
Es unterliegt keinem Zweifel, dass, wenn der Gerichtsarzt in die
Lage kommt, über einen der genannten, sei es durch Eingeständniss
des Thäters oder durch die Angaben der Schwangeren selbst[205], oder
etwa durch Zeugen oder durch besondere Umstände sichergestellten
Vorgänge ein Gutachten abzugeben, es nicht schwer halten wird, sich
auszusprechen, ob ein solcher Vorgang im Allgemeinen geeignet ist,
Abortus zu bewirken; aber es liegt in der Natur der Sache, dass, wenn
solche Aussagen nicht vorliegen, sondern nur ein unbestimmter Verdacht
besteht, dass ein mechanischer Vorgang unternommen wurde, um die Frucht
abzutreiben, die Diagnose eines solchen Vorganges nur dann möglich sein
wird, wenn derselbe objectiv nachweisbare Veränderungen hinterlassen
hatte. Wir werden diese bei den Folgen der Fruchtabtreibung erwähnen.
Ausser der Erhebung solcher Veränderungen wird es weiter wie bei dem
durch innere Mittel veranlassten Abortus Aufgabe des Gerichtsarztes
sein, zu erwägen, in welcher Zeit nach dem angeblich eingeleiteten
Vorgange die Fehlgeburt erfolgt ist, und ob dieselbe mit der Zeit
stimmt, in welcher erfahrungsgemäss nach der Anwendung der betreffenden
Mittel der Abortus zu erfolgen pflegt.
[Sidenote: Eintritt des Abortus nach mechanischer Fruchtabtreibung.]
[Sidenote: Wann erfolgt der Abortus bei den einzelnen Methoden?]
Von den Methoden, die auch in der Geburtshilfe angewendet werden,
führt die aufsteigende Scheidendouche (nach +Kiwisch+) am langsamsten
zum Ziele. Wenn, wie +Kiwisch+ fordert, die warme Douche alle
drei bis vier Stunden durch 12 bis 15 Minuten wiederholt wird,
pflegen sich erst nach drei bis fünf Tagen die ersten Wehen
einzustellen[206], mitunter noch später.[207] Ungleich schneller
wirkt die Uterusinjection (Methode von +Cohen+). In 12 Fällen, in
denen +Lazarewitsch+[208] diese Methode anwendete, begannen die Wehen
fast unmittelbar nach der Injection und die Geburt dauerte 3½
bis 30 Stunden. +Tardieu+ gibt an, dass, wenn diese Methode behufs
verbrecherischer Fruchtabtreibung zur Anwendung kam, die Geburt
bis höchstens 18 Stunden nach der Injection erfolgte. Auch in dem
von +Maschka+ mitgetheilten Falle traten sofort nach der Injection
heftige Schmerzen und acht Stunden darauf der Abortus ein. Die Angabe
+Krause+’s, dass bei dieser Methode die Geburtsdauer im Mittel drei,
in maximo acht Tage betrage, ist daher unrichtig, doch wird gewiss
die Art und Weise, wie die Methode ausgeführt wird, auf den Zeitpunkt
des Eintrittes der ersten Wehen von Einfluss sein, insbesondere
die Tiefe, bis zu welcher das Injectionsrohr zwischen Ei und
Uterus eingeführt, und die Menge der Flüssigkeit, die eingespritzt
wurde. Bei der Methode nach +Krause+ (Einlegung eines elastischen
Katheters zwischen Ei und Uterus) traten nach +Schröder+ (l. c. 329)
bei Mehrgebärenden die Wehen nicht selten sofort, bei Primiparen
wenigstens nach mehreren Stunden auf. +Franque+ dagegen (+Scanzoni+’s
Beiträge zur Geburtshilfe, 1869, VI, 109) fand in seinen Fällen, dass
die mittlere Dauer der Geburt 68 Stunden und die längste 141 Stunden
betrug. Mitunter tritt, trotzdem die Sonde zwischen Uterus und Ei
wiederholt eingeführt und selbst liegen gelassen wurde, dennoch kein
Abortus ein. Interessante derartige Fälle werden von +Säxinger+
(l. c. 290) mitgetheilt. Am präcisesten scheint der Abortus nach
der gegenwärtig vielfach empfohlenen Methode von +Barnès+ und von
+Tarnier+ (Einführung einer Kautschukblase zwischen Ei und Uterus
und Wasserinjection) zu erfolgen. Nach +Machenand+ (Virchow’s Jahrb.
1869, II, 611) trat in 21 Fällen der Abortus im Mittel nach 35
Stunden ein; nach +Spiegelberg+ (Ibid.) war in allen (7) Fällen 1
bis 3 Stunden nach der Application die Geburt im vollen Gange und 4
bis 51 Stunden nach derselben beendet. Ueber den Verlauf des Abortus
nach Dilatation des Cervix mittelst Pressschwamm berichtet +Godson+
(Virchow’s Jahrb. 1875, II, 613) auf Grund von 20 Beobachtungen,
dass die Dauer der Geburt von der Einlegung des Pressschwammes bis
zur Beendigung 24 bis 96 Stunden betrage. Was die bei der criminalen
Fruchtabtreibung am häufigsten geübte Methode, den Eihautstich,
betrifft, so gibt +Hohl+ an, dass 12 bis 48 Stunden nach dem Abfluss
der Wässer die Wehen einzutreten pflegen und auch die Erfahrungen
+Tardieu+’s gehen dahin, dass die Geburt in einigen Stunden und
selten später als nach vier Tagen erfolgt, während +Gallard+ (l. c.
44) den Abortus meist in fünf bis acht Tagen, in einem Falle aber
schon nach 12 Stunden eintreten sah. Im Allgemeinen dürfte bei von
Laien vorgenommenem Eihautstich die Entbindung früher eintreten als
nach kunstgerecht eingeleitetem Abortus, da bei letzterem, wenn er
in Folge ärztlicher Indication ausgeführt wird, die Wässer in der
Regel nicht auf einmal, sondern indem man die Eihäute an einer höher
gelegenen Stelle eröffnet, allmälig abgelassen werden.
Ueber die Zeit, binnen welcher nach Massage des Uterus oder nach
heftigen Erschütterungen des Unterleibes der Abortus sich einstellen
kann, lässt sich nichts Bestimmtes sagen. Wenn, wie bei der Massage,
zunächst Contractionen des Uterus durch den mechanischen Eingriff
hervorgerufen wurden, dann wird der Abortus in der Regel kurz nach
letzterem sich einstellen, wenn jedoch, wie z. B. in Folge von
heftigen Erschütterungen des Unterleibes, zunächst das Ei lädirt,
resp. die Frucht getödtet wurde, dann können Tage und selbst längere
Zeit vergehen, bevor die todte Frucht ausgestossen wird. Der
Macerationsgrad der letzteren lässt sich dann für die Beantwortung
der Frage verwerthen, wie lange Zeit seit dem Tode der Frucht
verflossen ist und ob diese Zeit mit dem Zeitpunkte übereinstimmt, in
welchem angeblich der betreffende Eingriff geschah.
[Sidenote: Besichtigung der Frucht.]
Die +Besichtigung der Frucht+ kann auch dann Anhaltspunkte für
die Diagnose einer mit mechanischen Mitteln herbeigeführten
Fruchtabtreibung ergeben, wenn sich an dieser Verletzungen zeigen,
die durch das eingeführte Werkzeug erzeugt worden sind. Insbesondere
können beim Eihautstich Stichverletzungen an vorliegenden
Kindestheilen zu Stande kommen.
+Tardieu+ fand in einem seiner Fälle eine Stichwunde in der grossen
Fontanelle des abgetriebenen Fötus, welche durch den Sinus falcif.
major bis in’s Gehirn eingedrungen und von Blutextravasat begleitet
war. Andere Fälle dieser Art hat +Lex+ (l. c. 267) zusammengestellt,
ebenso bringt +Gallard+ (l. c. 80 u. ff.) einen, in welchem bei der
Mutter Quetschungen des Cervix und analoge Quetschungen am Kopf und
am Halse des betreffenden Fötus gefunden wurden, und +Liman+ in
der siebenten Auflage seines Handb. I, pag. 267, einen weiteren,
in welchem an der Leiche der Mutter ausgebreitete Zerreissungen
des Cervix und tiefe Suffusionen der hinteren Gebärmutterwand mit
blutiger Infiltration der linken Adnexa constatirt wurden, an der 19
Cm. langen Frucht aber eine 2 Cm. lange, scharfrandige, suffundirte
Oeffnung über dem linken Hüftbeinkamm, aus welcher Dünndarmschlingen
vorragten.
[Sidenote: Abgang des Eies.]
+Gallard+ hat (l. c. 104 und 115, sowie Ann. d’hyg. publ. 1877,
pag. 483) die Behauptung aufgestellt, dass, weil in den ersten
drei Monaten der Schwangerschaft das Ei fast stets en bloc abgeht,
daraus, dass ein Abortus in dieser Periode in zwei Tempis erfolgte,
d. h. zuerst die Frucht und dann die zerrissenen Eihüllen geboren
wurden, mit grösster Wahrscheinlichkeit auf künstliche Eröffnung
des Eies geschlossen werden könne. Diese Angabe ist allerdings
beachtenswerth, keineswegs aber allgemein giltig. In den ersten sechs
Wochen kann beim spontanen Abortus der Abgang des Eies in toto als
Regel angenommen werden. Von der sechsten bis zehnten Woche scheint
der Abgang en bloc und in zwei Tempi gleich häufig vorzukommen.
Die Festigkeit des Eies, die Energie der Uteruscontractionen, der
Widerstand des Cervix spielen dabei eine Rolle, auch ist eine
nachträgliche Beschädigung des in toto abgegangenen Eies wohl
möglich, desto leichter, je zarter dasselbe war. Ueberdies kann auch
nach Eihautstich das Ei unversehrt abgehen, wenn nur die Decidua
reflexa verletzt wurde.
[Sidenote: Blutentziehungen.]
Zu den mechanischen Fruchtabtreibungsmitteln müssen auch noch starke
Blutentziehungen gerechnet werden, von denen insbesondere der Aderlass
verhältnissmässig häufig, seltener das Setzen von Blutegeln in
Anwendung gezogen wird.
Es kann nicht geleugnet werden, dass eine hochgradige, namentlich
eine plötzlich erzeugte Anämie den Abortus möglicherweise zu bewirken
im Stande sein wird, einestheils indem durch die Verminderung der
Blutmenge der Mutter die Respiration der Frucht leidet, andererseits
weil eine plötzliche Anämie der Nervencentren thatsächlich
Uteruscontractionen hervorzurufen vermag, wie die Versuche von
+Oser+ und +Schlesinger+, sowie unsere eigenen gezeigt haben.
Trotzdem wird es wohl nur ganz selten geschehen, dass durch Aderlässe
etc. der Anstoss zur Fehlgeburt gegeben wird, da bei diesen die
Blutentleerung kaum je so weit getrieben wird, dass dadurch entweder
Lebensgefahr für die Frucht bedingt oder eine Reizung der Centra
der Uterusbewegung gesetzt wird, wie auch trotz der Häufigkeit, in
welcher Blutentziehungen zu Fruchtabtreibungszwecken in Anwendung
gezogen wurden, unseres Wissens kein Fall bekannt ist, in welchem
nur durch diese der Abortus hervorgerufen worden wäre. Im Gegentheil
sah +Moriceau+ bei zwei Individuen die Entbindung normal verlaufen,
obgleich das eine 48mal, das andere 90mal sich während der
Schwangerschaft zur Ader gelassen hatte (+Gallard+, pag. 23).
Nichtsdestoweniger sind diese Vorgänge von grosser forensischer
Bedeutung, weil der Befund von frischen Aderlasswunden oder
Blutegelstichen häufig den Verdacht bestärkt, dass die Betreffende
Fruchtabtreibungsversuche unternommen habe, besonders dann, wenn
solche Befunde sich an Stellen ergeben, wo, wie z. B. an den Füssen
oder an den Genitalien, aus therapeutischen Zwecken selten oder gar
nicht Aderlässe oder Blutegel gesetzt werden.
[Sidenote: Elektricität.]
Durch den elektrischen Strom, namentlich den constanten, können
Contractionen des Uterus hervorgerufen werden und wurde derselbe
bereits wiederholt zur Einleitung der ärztlich indicirten Frühgeburt
mit Erfolg angewendet, so insbesondere von +Bayer+ (Zeitschr. für
Geburtsh. und Gyn. XII und Prager med. Wochenschr. 1889, Nr. 48). Die
Kathode wurde in den Cervix eingeführt, die Anode auf den Bauch oder
die Kreuzbeingegend applicirt. Nach +Bayer+ ist dieses in den meisten
Fällen ein sicheres und absolut ungefährliches Mittel zur Einleitung
der künstlichen Frühgeburt, womit allerdings die Erfahrungen anderer
Beobachter (+Fränkel+, +Bumm+, +Fleischmann+, +Brühl+) nicht ganz
übereinstimmen. In Amerika soll das Mittel zur Fruchtabtreibung nicht
gar selten benützt werden. +Rosenstirn+ (Virchow’s Jahresb. 1881,
II, 562) erzählt von einer Dame, an welcher die Operation in einem
„elektrischen Bade“ geschah, wo ihr ein Strom von 60 Daniell’schen
Elementen 10 Minuten lang vom Kreuzbein nach dem Introitus vaginae
durchgeleitet wurde. Der Abortus erfolgte am anderen Tage.
Folgen der Fruchtabtreibung.
Die Folgen einer Fruchtabtreibung kommen in strafrechtlicher
Beziehung insbesondere dann in Betracht, wenn die Fruchtabtreibung
oder die Tödtung der Frucht im Mutterleibe ohne Wissen und Willen
der Mutter bewirkt wurde, da in einem solchen Falle die etwa für die
Betreffende aus der Fruchtabtreibung entstandenen schweren Nachtheile
an der Gesundheit oder Gefahr am Leben die Höhe des Strafausmasses
beeinflussen, und wenn durch eine solche Handlung der Tod verursacht
wurde, Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren und selbst lebenslängliche
Zuchthausstrafe verhängt werden kann. (Oesterr. St. G. §. 148, St.
G.-Entwurf §. 227 und deutsches St. G. §. 220.)
Abgesehen von dieser eventuellen Bedeutung sind solche Folgen auch
insoferne von grosser gerichtsärztlicher Wichtigkeit, weil durch ihren
Bestand nicht blos die Diagnose des stattgefundenen Abortus, sondern
auch die Erkennung der Art und Weise, in welcher derselbe eingeleitet
wurde, wesentlich erleichtert wird.
Schwere Nachtheile für die Gesundheit und selbst Lebensgefahr können
für die betreffende Mutter hervorgehen, sowohl aus dem Abortus als
solchem, als aus den zur Einleitung desselben angewandten Mitteln.
[Sidenote: Sepsis.]
In ersterer Beziehung sind insbesondere die heftigen Blutverluste zu
erwähnen, welche so häufig den Abortus begleiten, vorzugsweise durch
die unvollständige Contraction des Uterus verursacht werden, und die
für sich im Stande sind, Lebensgefahr zu bedingen. Weiter gehören
hierher die puerperalen entzündlichen und septischen Erkrankungen und
ihre Folgezustände. Von dieser Erkrankung sagt +Liman+ in der letzten
Auflage seines Handbuches (I, 250, und Zeitschr. f. Geburtsh. XIV,
Heft 1) Folgendes: „Was speciell die septischen Erkrankungen nach
Abortus betrifft (Endometritis septica puerperalis und Peritonitis), so
setzen dieselben voraus, dass kurz vor oder während der Geburt durch
Personen oder Instrumente oder sonst nicht hinreichend gesäuberte
Dinge Infectionsstoffe dem Uterus zugeführt worden sind. Eireste,
macerirte Früchte können fieberhafte Zustände, Cachexien erzeugen, sie
bedingen aber keine Sepsis. Man kann deshalb trotz +Gallard+’s (l. c.
76) gegentheiliger Behauptung aussprechen, +dass ein Abortus, welcher
wenige Tage später die Erscheinungen schwerer Sepsis bietet, stets den
Verdacht erregt, dass dabei irgend welche Eingriffe geschehen sind,
und dass er durch Einführung von Instrumenten oder sonstigen Dingen
in die Genitalwege bedingt gewesen, also ein provocirter gewesen
ist+.“ Diese Ansicht +Liman+’s ist entschieden beachtenswerth, und es
muss die verhältnissmässige Häufigkeit der genannten Processe nach
instrumentell provocirtem Abortus, auch wenn dieser mit Verletzung
der Mutter nicht verbunden war, Jedermann auffallen; trotzdem ist
diese Thatsache forensisch nur schwer zu verwerthen, einestheils, weil
eine scharfe Grenze zwischen „schweren“ und minder schweren Formen
von Sepsis nicht besteht, und weil anderseits im concreten Falle die
Möglichkeit kaum auszuschliessen sein wird, dass das septische Gift
auch erst nachträglich, d. h. nachdem der Abortus bereits erfolgt war,
in den wunden Uterus gekommen sein konnte, umsoweniger, als letzteres
keineswegs nur durch Manipulationen, sondern auch durch unreines
sonstiges Verhalten geschehen kann (vide +C. v. Braun+, Lehrb. d. Gyn.
1881, pag. 881).
Verhältnissmässig häufiger rühren die schweren Folgen, die nach
Fruchtabtreibungen beobachtet werden, von den zur Einleitung derselben
in Anwendung gebrachten Mitteln her.
Es gehören hierher zunächst die Intoxicationen, die durch manche innere
Fruchtabtreibungsmittel veranlasst werden können. Da, wie wir oben
auseinandergesetzt haben, viele, wenn nicht die meisten Mittel, welche
gewöhnlich zur Fruchtabtreibung angewendet werden, heftige Gifte sind,
so ist es begreiflich, wenn in solchen Fällen die Schwangeren durch
die genommene Substanz häufig in Lebensgefahr gerathen, und dass, wie
wir gesehen haben, viele dieser Unglücklichen ihr Wagniss mit dem
Vergiftungstode bezahlen.
[Sidenote: Vergiftungen und Verletzungen bei Fruchtabtreibung.]
In den meisten Fällen hat die Vergiftung der Natur der betreffenden
Substanzen zufolge einen acuten Charakter und die Genesung oder der Tod
erfolgen bald nach dem Eintritte der ersten Intoxicationserscheinungen.
Im ersteren Falle wäre insbesondere zu erwägen, ob die aufgetretenen
Symptome solche waren, dass um das Leben der betreffenden Mutter
zu fürchten war. Protrahirter Verlauf der Intoxicationen kommt
selten vor, noch seltener langwierige Krankheiten oder gar bleibende
gesundheitliche Nachtheile, die sich aus der Vergiftung entwickelt
haben. Ist der Tod erfolgt, so wird bei der Untersuchung der Leiche
nach denselben Regeln und Vorschriften vorzugehen sein, wie sie bei der
Obduction Vergifteter überhaupt beobachtet werden müssen.
[Illustration: Fig. 44.
Mehrfache Perforation des Fundus uteri mit septischer Erweichung der
Ränder.]
[Sidenote: Verletzungen beim „Eihautstich“.]
Am häufigsten werden schwere Folgen nach der Anwendung mechanischer
Mittel beobachtet, insbesondere nach dem „Eihautstich“, wenn
dieser von Laien unternommen wurde. Da nämlich diese in der Regel
ohne die geringsten Kenntnisse über das anatomische Verhalten der
betreffenden Organe an die Ausführung der Operation gehen, so ist es
begreiflich, dass sie nicht selten, statt mit ihren mitunter ganz
primitiven Werkzeugen zum Ei zu gelangen, mannigfache Verletzungen
der Genitalien verursachen. Am leichtesten entstehen Perforationen
des Scheidengewölbes oder des Cervix uteri. Doch sind solche auch am
Fundus wiederholt beobachtet worden, und zwar auch ohne Verletzung
der Frucht. Ein Uterus mit zwei lochförmigen Perforationen am Fundus
wird von +Kempendik+ (Deutsche med. Wochenschr. 1881, Nr. 5)
abgebildet. Es handelte sich um einen Abortus im vierten bis fünften
Monat, welchen die Mutter angeblich selbst (!) durch Einführung einer
Gänsefeder eingeleitet haben wollte. Einen ähnlichen von uns obducirten
Fall mit septischer Erweichung der Ränder der Perforationsöffnungen
und consecutiver Vergrösserung der letzteren zeigt Fig. 44. Ueber fünf
solche Perforationsfälle berichtet +Maschka+ (Vierteljahrsschr. f.
gerichtl. Med. XLI, pag. 265). Ebenso hat +Lesser+ (Ibid. XLIV, pag.
220) 11 eigene und 29 fremde Beobachtungen von Verletzungen durch
criminelle Provocation des Abortus zusammengestellt und zum Theile
abgebildet. In allen 35 Fällen war 23mal der Hals des Uterus oder
dieser und andere Theile des Körpers und 20mal die Scheide verletzt. In
den selbst beobachteten Fällen fanden sich: 6 Vaginalverletzungen, 13
Cervixverletzungen, 7mal am inneren Muttermund und 7mal am Körper. Eine
Perforation des hinteren Scheidengewölbes in das perirectale Gewebe
durch ein langes Ansatzrohr sah +Mittenzweig+ (Zeitschr. f. Medicinalb.
1888, X, pag. 225). Wir selbst haben ausser ähnlichen Perforationen
einen Fall beobachtet, wo die hintere Blasenwand perforirt war.
Die Umstände machten es wahrscheinlich, dass die Schwangere sich
diese Verletzung selbst beigebracht hatte, indem sie mit ihrem
Instrument statt in die Vagina in die Harnröhre gerathen war. Schwere
Peritonitiden sind fast ausnahmslos die Folge einer solchen Verletzung,
doch ist der Ausgang, wenn auch sehr häufig, doch nicht immer ein
tödtlicher.
+Graves+ (Virchow’s Jahrb. 1869, II, 608) berichtet von einer Frau,
die sich im vierten Monate ihrer Schwangerschaft mittelst einer
Stricknadel den Abort effectuirt hatte. Während desselben wurde der
Abgang von Fäces und Ascariden durch den Muttermund beobachtet.
Schwere Peritonitis trat ein, die jedoch nach einem halben Jahre in
Genesung endete. Die Frau gebar später noch zwei lebende Kinder. --
In einem Falle von +Petrquin+ und +Foltz+ (Ibid. 574) hatte sich
eine Schwangere behufs Fruchtabtreibung durch eine Hebamme eine
Uterussonde einführen lassen. Die Sonde verschwand und der Abortus
erfolgte. Vier Monate darauf bildete sich eine kleine Geschwulst in
der Nähe des Nabels, aus welcher durch Einschnitt die Sonde extrahirt
wurde, ohne dass gefährliche Erscheinungen sich eingestellt hätten.
-- Ein ähnlicher Fall wird von +Barwell+ (Med. Centralbl. 1875,
pag. 400) mitgetheilt. Eine junge Dame hatte durch Einführung und
Liegenlassen eines elastischen Katheters abortirt, wobei nur noch der
Elfenbeinknopf des Instrumentes hatte entfernt werden können; 1½
Jahre darnach fand +Barwell+ eine bedeutende Eiteransammlung über den
Hüften, die er entleerte. Eine Woche später wurde im +Douglas+schen
Raum der Katheter gefühlt und später von Rectum aus entfernt, nachdem
er 20 Monate in der Bauchhöhle gelegen hatte. Die Genesung dauerte
sechs Wochen.
Derartige Verletzungen zeigen in der Regel deutlich den Charakter
von Stichverletzungen, seltener finden sich, wenn grobe Werkzeuge
(Schneiderscheere, +Casper+) gebraucht wurden, oder wenn durch
gewaltsames Einbohren der Finger in den Muttermund etc. die
Fruchtabtreibung unternommen wurde, unregelmässige Läsionen der
betreffenden Theile. Gröbere Verletzungen der Genitalien lassen
sich auch während des Lebens unschwer erkennen; die Erkennung von
Perforationen kann Schwierigkeiten bieten, wenn die Oeffnung in
Folge ihrer Feinheit oder ihrer versteckten Lage der unmittelbaren
Beobachtung sich entzieht. Das Auftreten einer heftigen Peritonitis
ist für sich allein nicht beweisend, da diese auch in Folge anderer
Ursachen sich einstellen kann.
Am günstigsten für die Diagnose gestalten sich die Verhältnisse,
wenn der betreffende Fall letal ablief, welcher unglückliche Ausgang
bei der Fruchtabtreibung durch mechanische Mittel ungemein häufig
vorkommt. In 28 Fällen sah +Tardieu+ 18mal, also in 64·2 Procenten,
den Tod eintreten, und in den meisten dieser Fälle war die nächste
Todesursache in den Verletzungen gelegen, welche durch eben jene
Mittel gesetzt wurden. Letztere sind in der Regel so klar vorliegend,
dass sich die Diagnose sofort ergibt, namentlich dann, wenn deutliche
Stichöffnungen oder Stichcanäle gefunden werden, und überdies der Sitz
und ihre Richtung derart sind, dass über ihre Entstehungsweise Zweifel
nicht obwalten können. Doch ist zu beachten, dass die ursprüngliche
Form der Perforationsöffnungen durch septische Erweichung verändert,
respective unregelmässig vergrössert werden kann[209] und dass auch
metrophlebitische Abscesse in das Lumen des Uterus oder in das
Scheidengewölbe perforiren und die so entstandenen Löcher oder Canäle
Stichwunden vorzutäuschen vermögen.
[Sidenote: Rupturen.]
Finden sich Zerreissungen, so muss, wenn diese den Uterus betreffen,
mitunter die Frage von Wichtigkeit werden, ob die Läsion künstlich
erzeugt wurde oder ob eine spontane Ruptur vorliegt. Man unterscheidet
bekanntlich penetrirende und nicht penetrirende oder partielle
Uterusrupturen. Zu letzteren gehören zunächst die Einrisse des äusseren
Muttermundes, die nach Entbindungen mit lebensfähigen Früchten so
gewöhnlich sind, aber auch beim Abortus in den späteren Monaten
vorkommen können. Zahl und Tiefe dieser Einrisse variirt bedeutend
und wird ausser von der Grösse der Frucht auch von der Schnelligkeit
der Geburt beeinflusst, insoferne, als bei raschem Verlauf und
daher weniger vorbereitetem Muttermund mehr Chancen zur Entstehung
von Einrissen gegeben sind als sonst. Ausgedehntere Einrisse und
Quetschungen des äusseren Muttermundes und des Cervix, die, wie
erwähnt, auch bei einem Abortus in den späteren Monaten vorkommen,
können für Producte äusserer Gewalteinwirkung gehalten werden. Doch
ist auch das Umgekehrte möglich, und es ist begreiflich, dass, wenn
die Verletzungen eben nur Zerreissungen bilden, in der Regel nur
der Umstand, ob dieselben der abgegangenen Frucht gegenüber als
verhältnissmässig erscheinen, die Beantwortung der Frage ermöglichen
wird, ob sie von der Entbindung allein herrühren können oder nicht.
[Sidenote: Traumatische Cervixrupturen.]
Einrisse der Schleimhaut der Vaginalportion und des Cervix sind
nach normaler Entbindung häufig und können auch bei Abortus mit
einer grösseren Frucht erfolgen. Diese Risse können sich auch in
die Muskelschichten erstrecken und dieselben am Cervix mit und ohne
Zerreissung des Peritoneums vollständig durchdringen. Aber auch
durch Einführung von Instrumenten in den schwangeren Uterus können
an diesen Theilen Zerreissungen oder ihnen ähnliche Verletzungen
entstehen, insbesondere am inneren Muttermunde, welcher die engste
Stelle des Cervix bildet, die bei Einführung von Instrumenten in die
Gebärmutterhöhle besonders überwunden und daher, wenn die Einführung
forcirt wird, leicht beschädigt werden kann. Wir hatten zweimal
Gelegenheit, solche, offenbar beim Eihautstich zu Stande gekommene
Verletzungen an der Leiche zu sehen.
[Illustration: Fig. 45.
Abortus im dritten Monate. Tod nach 10 Tagen an Peritonitis.
Verletzungen am inneren Muttermund durch eingeführte Instrumente.]
Der +erste+ Fall betraf eine 29jährige ledige Dienstmagd, welche
bereits zweimal geboren und dreimal abortirt (!) hatte. Sie war
am 20. Juli zu einer Hebamme mit Kreuzschmerzen und Blutung aus
den Genitalien gekommen, indem sie angab, dass sie beim Heben
eines schweren Schaffes sich wehe gethan habe und wahrscheinlich
abortiren werde. Die Hebamme holte am nächsten Tage einen Arzt,
welcher Kreuzschmerzen und starke Blutung aus den Genitalien fand
und Pulv. haemostat. verordnete. Am 22. dauerte die Blutung fort,
der Muttermund war für den kleinen Finger durchgängig und der Arzt
diagnosticirte beginnenden Abortus, welcher auch im Laufe desselben
Tages eintrat. Abends wurde dem Arzte der abgegangene dreimonatliche
Embryo gezeigt und von ihm die Nachgeburt entfernt (wir bekamen
keines dieser Objecte zu Gesichte). Hierbei fühlte der Arzt im
„Collum rechts eine Stelle, aus welcher die Muskelsubstanz wie
herausgerissen erschien“. Da ihm dieser Befund verdächtig erschien,
veranlasste er die Uebertragung der Magd in ein Spital, woselbst
diese bereits mit Peritonitiserscheinungen aufgenommen wurde und am
30. Juli starb, ohne weitere Angaben gemacht zu haben. Die Obduction
ergab ausser eiteriger Peritonitis und puerperalem Uterus drei
bohnengrosse, so ziemlich in gleicher Höhe gelegene, je 1 Cm. von
einander entfernte, trichterförmig vertiefte Verletzungen an der
hinteren und seitlichen Partie des Cervix, entsprechend dem inneren
Muttermunde, deren Gestalt aus der beiliegenden Abbildung zu ersehen
ist. Die Ränder der betreffenden Oeffnungen waren ziemlich scharf,
der Grund mit Eiter belegt, doch nicht fetzig. Alle Verletzungen
dringen tief in die Muskelsubstanz ein, die mittlere bis fast
unmittelbar an’s Peritoneum, so dass eine eingelegte Sonde durch
letzteres durchgefühlt wird. Am äusseren Muttermund rechts hinten
ein tiefer vernarbter Einriss. Frische Einrisse daselbst nicht zu
bemerken, ebensowenig, ausser den beschriebenen trichterförmigen
Oeffnungen, im Cervix. Dass letztere durch sondenartige Instrumente
entstanden sind, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen, und wir
glauben und wurden durch Versuche, die wir an der Leiche von
Multiparis anstellten, in unserer Ansicht bestärkt, dass dieselben
theils durch Einbohren des Instrumentes in den oberen Cervixantheil,
am ehesten aber durch Aufschlitzung des wallartig prominirenden
inneren Muttermundringes erzeugt wurden. Allerdings könnte bei
der Lage der Verletzungen auch daran gedacht werden, dass sie
durch spontane Ruptur während des Entbindungsactes sich gebildet
haben; gegen eine solche Annahme spricht jedoch einestheils die
fast regelmässige Form der Verletzungen und der nahezu scharfe
Rand derselben, die trichterförmige und rasche Verschmälerung
des Lumens derselben, der Abgang von auffälligen Dehnungs- und
Zerrungserscheinungen am übrigen Theile des Cervix, vorzugsweise aber
die frühe Periode, in welcher der Abortus erfolgte (dritter Monat),
in welcher von einer bedeutenden bis zu so tiefen Zerreissungen
gehenden Dehnung des Cervix kaum schon die Rede sein kann. Auch
kann bei dem Umstande, als der Abortus zwei Tage währte, von einem
„unvorbereiteten“ Cervix nicht gesprochen werden, und endlich
unterstützt auch die schon am 20. bestandene starke Blutung die
Behauptung, dass schon damals die betreffenden Verletzungen bestanden
haben.
Im +zweiten+ Falle handelte es sich ebenfalls um eine 29jährige
ledige Mehrgebärende. Dieselbe war am 18. Jänner mit ausgesprochener
Peritonitis in das Krankenhaus aufgenommen worden und starb dort
am 23. d. M., nachdem sie vor dem Tode ihrem Liebhaber gestanden
hatte, dass sie in der sechsten Woche schwanger gewesen und dass ihr
von einem Wundarzte gegen Entgelt die Frucht mit einem Instrumente
abgetrieben worden sei. Sie sei viermal bei dem Arzte gewesen, das
letztemal anfangs Januar. Zugleich hatte sie ihrem Liebhaber einen
Brief des Wundarztes übergeben, worin sich dieser erbietet, ihr
gegen ein Honorar von 50 fl. zu helfen. In einer halben Stunde sei
Alles vorüber etc. Es wurde eruirt, dass das Mädchen am 13. Januar
bei einer Hebamme abortirt hatte, und es gelang nachträglich noch,
des von letzterer dem herbeigeholtes Arzte übergebenen, beiläufig
sechswöchentlichen, 2·5 Cm. langen, noch die Bauchspalte besitzenden
Embryo zu erhalten. Die Obduction ergab eiterige Peritonitis und
einen dem erstbeschriebenen ähnlichen, doch in allen Dimensionen
etwas grösseren Uterus, und ebenso an der hinteren Peripherie des
inneren Muttermundes zwei trichterförmig vertiefte Verletzungen
von auffällig ähnlichem Verhalten wie die im erstbeschriebenen
Falle. Beide zeigten schlitzförmige, ziemlich scharfrandige,
sagittal gestellte und einander nahezu parallele, von einander 1 Cm.
entfernte Eingangsöffnungen von 7-8 Mm. Länge und einen nur wenig
unebenen, mit Eiter bedeckten Grund. Die linke drang bis nahe an das
Peritoneum, die rechte, etwas höher stehende auf 1 Cm. tief in die
Muskelsubstanz. Dass diese Oeffnungen durch einen instrumentellen
Eingriff entstanden waren, war zweifellos. Interessant war
der Umstand, dass der Brief des Wundarztes vom 7. October des
verflossenen Jahres datirt war, und dass somit derselbe sich nicht
auf den letzten, zweifellos in der sechsten Schwangerschaftswoche
erfolgten Abortus beziehen konnte, woraus folgte, dass die
Betreffende damals entweder gar nicht schwanger war oder innerhalb
drei Monaten zweimal abortirt hatte, was, wenn der erste Abortus
auch wie der zweite sehr frühzeitig eingeleitet wurde und ohne jede
Störung verlief, jedenfalls möglich war, da in diesem Falle schon in
der nächsten Menstruationsperiode eine neuerliche Conception erfolgt
sein konnte.
[Sidenote: Uterusrupturen.]
Die spontane, penetrirende Ruptur des Uterus kommt sehr selten vor
und fast sämmtliche derartige Fälle betreffen solche, die erst
während eines am normalen Ende der Schwangerschaft oder kurz vor
demselben eingetretenen Geburtsactes sich ereignet haben[210], wobei
als prädisponirendes Moment eine fehlerhafte Beschaffenheit der
Gebärmutterwand, schwächere Stellen in derselben, Fibrome, Narben,
parenchymatöse Erkrankungen u. dergl., und als veranlassende Ursachen
heftige Anstrengungen des Uterus in Folge behinderter Geburt sich
ergaben, Umstände, die sich in der Regel leicht ausschliessen lassen
werden. In den früheren Monaten der Schwangerschaft, insbesondere in
der ersten Hälfte derselben, sind spontane Rupturen noch viel seltener,
obwohl sie schon im dritten und vierten und selbst eine im zweiten
Monate beobachtet wurden.[211] Von diesen Rupturen sind besonders jene
zu erwähnen, welche bei interstitieller Gravidität durch spontane
Berstung entstehen und auf den ersten Blick für traumatisch entstandene
imponiren können. (S. die Abbildung auf pag. 199.) Rupturen des Uterus
ausserhalb des Geburtsactes während der Schwangerschaft werden von
einzelnen Autoren geleugnet[212], doch hat +Hildebrandt+ (Virchow’s
Jahresb. 1872, pag. 669) eine solche publicirt. Auch in solchen Fällen
bilden Anomalien der Uteruswand die prädisponirende Ursache, und wenn
diese nicht nachweisbar ist, ist umsoweniger Grund vorhanden, an eine
spontane Ruptur zu denken.
Wichtig für die Unterscheidung ist der Sitz der Ruptur. Die spontane
Ruptur sitzt in der Regel im Cervix oder an der Grenze zwischen
diesem und dem Uteruskörper und verläuft meist quer oder etwas schräg
(+Schröder+), seltener longitudinal (+Hohl+); die künstlich erzeugten
Rupturen können an verschiedenen Stellen sich finden und liegen, wenn
sie durch Einführung von Instrumenten per vaginam erzeugt wurden,
meistens in der verlängerten Axe des Genitalcanals, mitunter, wie
+Tardieu+ einen solchen Fall beobachtete, in der Mitte des Fundus uteri.
Ausser aus der Erwägung dieser Verhältnisse ergibt sich die Diagnose
einer künstlichen Ruptur mitunter aus der gleichzeitigen Verletzung
anderer Organe, insbesondere des Darms, die bei einer spontanen
Ruptur nicht vorkommen kann, und die den Fall desto klarer stellt, je
ausgebreiteter die betreffenden Läsionen gefunden werden.
[Sidenote: Folgen von Injectionen.]
Fruchtabtreibungen durch Einspritzungen in die Scheide sowohl als in
den Uterus können ausser durch directe Verletzung durch septische
Infection, durch Eindringen der Luft oder der Injectionsflüssigkeit
in die Tuben oder die Uterusvenen, aber auch durch specifische
Eigenschaften der Injectionsflüssigkeit schwere Erscheinungen und
selbst den Tod veranlassen.
Es ist möglich, dass durch forcirte Injectionen Uterusrupturen
entstehen können. Einen wahrscheinlich so zu deutenden Fall bringt
+Coutagne+ („Des ruptures utérines pendant la grossesse et de leurs
rapports avec l’avortement criminel.“ Paris 1882. 8).
Ein 21jähriges schwangeres Mädchen (Primipara) hatte wiederholt
erklärt, sich die Frucht abtreiben zu wollen, auch wenn sie daran
sterben sollte. Nach verschiedenen Versuchen mit anderen Mitteln
wendete sie sich an eine Hebamme, mit welcher sie 95 Fr. für die
Fruchtabtreibung accordirte. Kurz nach dem zweiten Besuche bei der
Hebamme wurde sie bei dieser halb angekleidet und offenbar schwer
krank gefunden. Die Hebamme gab später an, das Mädchen sei gleich
nach seiner Ankunft von Ohnmacht und Metrorrhagie befallen worden,
weshalb sie 1 Grm. Secale cornutum gegeben habe. Ein Arzt wurde erst
am nächsten Tage geholt, fand die Kranke in extremis mit Zeichen von
Peritonitis, das Collum uteri halb offen, das Os internum jedoch
nicht passirbar. Tags darauf trat der Tod ein. Bei der Obduction
fand sich zwischen Uterus und Rectum, in Blutgerinnsel und Exsudat
eingebettet, ein 15 Cm. langer Fötus sammt Adnexis. Letztere, sowie
Fötus unverletzt. Der Uterus 11·5 Cm. lang, 10·5 Cm. breit, seine
Wand 2·5 Cm. dick, der Grund desselben von einem die Tubarmündungen
verbindenden penetrirenden Riss eingenommen, dessen Ränder gefranst
und von verdünnter Muskelsubstanz gebildet erscheinen, wie wenn sie
vor ihrer Trennung auseinander gezerrt worden wären, sonst normal.
Das Collum halb offen, ohne Narben und ohne frische Verletzungen.
+Coutagne+ schloss wegen normaler Beschaffenheit der Uteruswand
eine Spontanruptur aus, ebenso eine directe Verletzung, weil keine
Beschädigung an der Frucht gefunden wurde und weil der Hebamme kaum
ein so roher Eingriff zugemuthet werden kann. Dagegen hält er für
wahrscheinlich, dass Injectionen gemacht wurden, welche die Ruptur
erzeugt haben konnten. Auch hält er für möglich, dass sich die Ruptur
aus einer partiellen Läsion entwickelt habe, da auch +Spencer Wells+
angibt, dass, als er einmal bei einer Ovariotomie irrthümlich den
schwangeren Uterus punctirt habe und in die Oeffnung den Finger
einführte, ein grosser Riss entstanden sei. +Coutagne+ bemerkt auch,
dass Injectionen mit irritirenden Flüssigkeiten durch entzündliche
Erweichung nachträglich, namentlich unter dem Einfluss der Wehen,
zur Uterusruptur führen können und meint, dass einzelne der in der
Literatur als während der Schwangerschaft durch gangränöse Entzündung
entstandene Spontanrupturen angeführten Fälle in letztere Kategorie
gehören dürften. Wir haben einen fast ähnlichen Fall obducirt, wo
sich ausserdem eine Perforation des hinteren Scheidengewölbes ergab
und auch +Lacassagne+ (Arch. de l’anthropol. criminelle. 1889, pag.
754) berichtet über einen solchen. In beiden diesen Fällen waren
ebenfalls Injectionen gemacht worden und die Betreffenden nach 12,
respective 14 Tagen gestorben.
+L. Sentex+ (Ann. d’hyg. publ. 1882, Nr. 11, pag. 488) obducirte
eine Person, an welcher der Abortus durch Injection von Wasser in
den Uterus mittelst eines zinnernen Mutterrohres eingeleitet worden
war. Gleich nach der Operation hatte die Betreffende Schmerzen in
der rechten Bauchgegend verspürt, und die Obduction ergab eiterige
Peritonitis und eine blos auf die rechte Seite beschränkte eiterige
Salpingitis, so dass die Annahme gerechtfertigt war, dass die
Peritonitis durch Eindringen der Injectionsflüssigkeit durch die
rechte Tuba in die Bauchhöhle veranlasst worden ist.
Eine weitere Gefahr ergibt sich aus der Möglichkeit des Lufteintrittes
in die Uterusvenen. Dies kann schon bei der aufsteigenden
Scheidendouche nach +Kiwisch+ geschehen, wobei der Wasserstrahl gegen
den Muttermund gerichtet wird, da nach +C. v. Braun+ (Lehrb. d. ges.
Gynäk., 2. Aufl., 1881, pag. 716) „bei offenem Muttermunde der mit
Gewalt einströmende einfache Wasserstrahl zwischen Chorion und Decidua
oder zwischen dieser und der Uteruswand bis zum Gebärmuttergrunde
eindringt, die Eihäute in einem sehr weiten Umfange ablöst und den
Lufteintritt in die Uterusvenen begünstigt“.
Am leichtesten kann aber derselbe erfolgen, wenn die Flüssigkeit direct
in den Uterus eingespritzt wird. Auf diese Gefahr wird von allen
Geburtshelfern aufmerksam gemacht, und +C. v. Braun+ (l. c. pag. 717)
theilt 11 Fälle mit, in denen dadurch plötzlicher Tod veranlasst wurde,
darunter einen, der ihm selbst vorgekommen ist.
Wahrscheinlich gehört auch der von +Vibert+ (Un cas de mort déterminé
par un simple cathéterisme du col utérin durant des manoeuvres
abortives. Annal. d’hyg. publ. XXIV, 1890, pag. 541) mitgetheilte
Fall vom plötzlichen Tode einer im vierten Monate Schwangeren
hierher, welcher in dem Momente eintrat, als ihr von einer die
Fruchtabtreibung gewerbsmässig ausübenden Person die Canüle eines
kleinen Kautschukballons in den Cervix eingeführt, letzterer aber
angeblich noch nicht comprimirt worden war. Die Obduction ergab
keine nachweisbare Todesursache und +Vibert+ frägt deshalb, ob nicht
etwa Reizung des Cervix reflectorisch in ähnlicher Weise Shock
herbeiführen könne wie traumatische Insulte des Bauches oder des
Larynx. In der Debatte über diesen Casus wurden Fälle mitgetheilt, wo
nach Clysmen oder Catheterismus des nicht schwangeren Uterus Syncope
eintrat. S. auch +Bonvalot+, Annal. d’hyg. publ. 1892, pag. 24.
Derartige plötzliche Todesfälle können auch bei ohne verbrecherische
Absicht ausgeführten Ausspülungen der Genitalien erfolgen, wovon
+Hectoen+ (Virchow’s Jahresb. 1892, I, 483) Beispiele bringt.
Die Injection reinen Wassers von mässiger Temperatur ist vielleicht
ungefährlich; entschieden bedenklich aber die Einspritzung von
Wasser, welches Keime oder suspendirte Partikelchen enthält. Die
Anwendung unreinen Wassers bei solchen Operationen wird wohl nicht
zu Seltenheiten gehören; auch können zu diesem Zwecke verschiedene
Flüssigkeiten benützt werden. So bediente sich in einem von +Maschka+
(Gutachten, II, pag. 324) mitgetheilten Falle ein gewerbsmässiger
Fruchtabtreiber (Nichtarzt!) einer grünlichen Flüssigkeit,
wahrscheinlich eines Theeabsudes, zu seinen Einspritzungen, und
+Gallard+ (De l’avortement au point de vue médico-légale. Paris
1878, pag. 32) erwähnt einer Wäscherin, welche die Injectionen
mit -- Seifenwasser ausführte, und zwar mittelst einer für
Scheidenausspülungen bestimmten zinnernen Spritze, deren gekrümmtes
Ansatzrohr sie nach Wegnahme der Olive zugespitzt hatte, um dasselbe
direct in den Cervix einführen zu können! Auch +Schoder+ (l. c.)
erwähnt zweier Fälle, in denen Seifenwasser angewendet wurde.
Die Anwendung antiseptischer Flüssigkeiten zu solchen Zwecken wäre
begreiflich und könnte einestheils durch unmittelbares Eindringen
derselben in das Blut toxische Erscheinungen oder in höheren
Concentrationsgraden locale Verätzungen, respective Coagulation des
Blutes bewirken.
[Sidenote: Heisse Injectionen.]
Schliesslich kann die allzu hohe Temperatur der Injectionsflüssigkeit
einerseits eine Verbrühung der Theile, andererseits eine Coagulation
des Blutes in den Uterusvenen und dadurch schwere Erscheinungen und
selbst den Tod bedingen. Dies ist schon bei Anwendung der heissen
Scheidendouche, noch mehr aber dann möglich, wenn allzu heisses
Wasser in die Gebärmutter eingespritzt wird. +Kiwisch+ hat für seine
„aufsteigende Uterusdouche“ ursprünglich eine Temperatur des Wassers
von 30-35°R. empfohlen, +C. v. Braun+ (l. c. 716) nur eine solche von
22 bis 28°R., da er fand, dass bei 30-35°R. die Scheide verbrüht werden
kann. Später wurde im Gegentheil die Temperatur des Wassers absichtlich
sehr heiss genommen (30-40°R.), respective empfohlen, wogegen sich
aber andere Geburtshelfer ausgesprochen haben, vorzugsweise wegen der
grossen Schmerzen und der entzündlichen Anschwellungen, welche darnach
eintreten (+v. Schröder+, Lehrb. d. Geburtsh., 10. Aufl., pag. 276).
Einen gerichtlichen Fall dieser Art haben wir in Friedreich’s
Blätter, 1892, pag. 1 veröffentlicht. Er betraf ein Mädchen, welches
bei einer Hebamme plötzlich gestorben war. Die Obduction ergab
Schwangerschaft im 3. Monat mit Placenta praevia, welche theilweise
vom inneren Muttermund abgelöst war. Die untere Partie des sonst
unverletzten Eies und des Uterus wie gekocht, ebenso das Blut in den
unteren Uteringefässen. Embolie zahlreicher kleiner Lungenarterien.
Ausgewaschene Genitalien mit leichter Trübung des Scheidenepithels.
Anfangs wurde an coagulirende antiseptische Flüssigkeiten gedacht,
da aber die chemische Untersuchung ein negatives Resultat ergab,
blieb nur die Annahme, dass heisses Wasser, vielleicht zum Zwecke
der Stillung der Blutung aus der durch eine Operation verletzten
Placenta, injicirt worden war.
Vierter Hauptabschnitt.
Die gewaltsamen Gesundheitsbeschädigungen und der gewaltsame Tod.
+Oesterr. Strafgesetzbuch.+
§. 134. Wer gegen einen Menschen, in der Absicht ihn zu tödten,
auf eine solche Art handelt, dass daraus dessen oder eines anderen
Menschen Tod erfolgte, macht sich des Verbrechens des +Mordes+
schuldig, wenn auch dieser Erfolg nur vermöge der persönlichen
Beschaffenheit des Verletzten, oder blos vermöge der zufälligen
Umstände, unter welchen die Handlung verübt wurde, oder nur vermöge
der zufällig hinzugekommenen Zwischenursachen eingetreten ist,
insoferne diese letzteren durch die Handlung selbst veranlasst wurden.
§. 140. Wird die Handlung, wodurch ein Mensch um das Leben kommt (§.
134), zwar nicht in der Absicht, ihn zu tödten, aber doch in anderer
feindseliger Absicht ausgeübt, so ist das Verbrechen ein +Todschlag+.
§. 143. Wenn bei einer zwischen mehreren Leuten entstandenen
Schlägerei oder bei einer gegen eine oder mehrere Personen
unternommenen Misshandlung Jemand getödtet wurde, so ist jeder,
der ihm eine tödtliche Verletzung zugefügt hat, des Todschlages
schuldig. Ist aber der Tod nur durch alle Verletzungen oder
Misshandlungen zusammen verursacht worden, oder lässt sich nicht
bestimmen, wer die tödtliche Verletzung zugefügt habe, so ist zwar
keiner des Todschlages, wohl aber sind alle, welche an den Getödteten
Hand angelegt haben, des Verbrechens der schweren körperlichen
Beschädigung schuldig und zu schwerem Kerker von ein bis fünf Jahren
zu verurtheilen.
§. 152. Wer gegen einen Menschen, zwar nicht in der Absicht, ihn zu
tödten, aber doch in anderer feindseliger Absicht auf eine solche Art
handelt, dass daraus eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit
von mindestens zwanzigtägiger Dauer, eine Geisteszerrüttung oder eine
schwere Verletzung desselben erfolgte, macht sich des Vergehens der
+schweren körperlichen Beschädigung+ schuldig.
§. 153. Dieses Verbrechens macht sich auch Derjenige schuldig,
der seine leiblichen Eltern, oder wer einen Geistlichen, einen
Zeugen oder +Sachverständigen+, während sie in der Ausübung ihres
Berufes begriffen sind, oder wegen derselben vorsätzlich an ihrem
Körper beschädigt, wenn auch die Beschädigung nicht die im §. 152
vorausgesetzte Beschaffenheit hat.
§. 154. Die Strafe des in den §§. 152 und 153 bestimmten Verbrechens
ist Kerker von sechs Monaten bis zu einem Jahre, der aber bei
erschwerenden Umständen bis auf fünf Jahre auszudehnen ist.
§. 155. Wenn jedoch:
_a_) die obgleich an sich leichte Verletzung mit einem solchen
Werkzeuge und auf solche Art unternommen wird, womit gemeiniglich
Lebensgefahr verbunden ist, oder auf andere Weise die Absicht,
einen der im §. 152 erwähnten schweren Erfolge herbeizuführen,
erwiesen wird, mag es auch nur bei dem Versuche geblieben sein; oder
_b_) aus der Verletzung eine Gesundheitsstörung oder
Berufsunfähigkeit von mindestens 30tägiger Dauer entstand; oder
_c_) die Handlung mit besonderen Qualen für den Verletzten
verbunden war; oder
_d_) der Angriff in verabredeter Verbindung mit Anderen oder
tückischer Weise geschehen, und daraus eine der im §. 152 erwähnten
Folgen entstanden ist; oder
_e_) die schwere Verletzung lebensgefährlich wurde; -- so ist auf
schweren Kerker zwischen einem und fünf Jahren zu erkennen.
§. 156. Hat aber das Verbrechen:
_a_) für den Beschädigten den Verlust oder eine bleibende
Schwächung der Sprache, des Gesichtes oder des Gehöres, den Verlust
der Zeugungsfähigkeit, eines Auges, Armes oder einer Hand, oder
eine andere auffallende Verstümmelung oder Verunstaltung; oder
_b)_ immerwährendes Siechthum, eine unheilbare Krankheit oder eine
Geisteszerrüttung ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung oder
_c)_ eine immerwährende Berufsunfähigkeit des Verletzten nach sich
gezogen, so ist die Strafe des schweren Kerkers zwischen fünf und
zehn Jahren auszumessen.
§. 157. Wenn bei einer zwischen mehreren Leuten entstandenen
Schlägerei, einem gegen eine oder mehrere Personen unternommenen
Misshandlung Jemand an seinem Körper schwer beschädigt wurde (§.
152), so ist Jeder, welcher ihm eine solche Beschädigung zugefügt
hat, nach Massgabe der vorstehenden §§. 154-156 zu behandeln.
Ist aber eine schwere körperliche Beschädigung nur durch das
Zusammenwirken der Verletzungen oder Misshandlungen von Mehreren
erfolgt, oder lässt sich nicht erweisen, wer eine solche Verletzung
zugefügt habe, so sollen Alle, welche an den Misshandelten Hand
angelegt haben, ebenfalls des Verbrechens der schweren körperlichen
Beschädigung schuldig erkannt und mit Kerker von sechs Monaten bis zu
einem Jahre bestraft werden.
§. 335. Jede Handlung oder Unterlassung, von welcher der Handelnde
schon nach ihren natürlichen, für Jedermann leicht erkennbaren
Folgen, oder vermöge besonders bekannt gemachter Vorschriften, oder
nach seinem Stande, Amte, Berufe, Gewerbe, seiner Beschäftigung oder
überhaupt nach seinen besonderen Verhältnissen einzusehen vermag,
dass sie eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder körperliche
Sicherheit von Menschen herbeizuführen oder zu vergrössern geeignet
sei, soll, wenn hieraus eine schwere körperliche Beschädigung
(§. 152) eines Menschen erfolgte, an jedem Schuldtragenden als
Uebertretung mit Arrest von einem bis zu sechs Monaten, dann aber,
wenn hieraus der Tod eines Menschen erfolgte, als Vergehen mit
strengem Arreste von sechs Monaten bis zu einem Jahre geahndet werden.
§. 411. Vorsätzliche und die bei Raufhändeln vorkommenden
körperlichen Beschädigungen sind dann, wenn sich darin keine
schwerer verpönte Handlung erkennen lässt (§. 152), wenn sie aber
wenigstens sichtbare Merkmale und Folgen nach sich gezogen haben, als
Uebertretungen zu ahnden.
§. 412. Die Strafe der Uebertretung ist nach der Gefährlichkeit und
Bösartigkeit der Handlung, nach der öfteren Wiederholung, zumal bei
Raufern von Gewohnheit, nach der Grösse der Verletzung und nach der
Eigenschaft der verletzten Person, Arrest von drei Tagen bis zu sechs
Monaten.
Auch gehören hierher die §§. 413-421, betreffend die Misshandlungen
bei häuslicher Zucht, nämlich der Eltern an ihren Kindern, der
Vormünder an Mündeln, eines Gatten an dem anderen, der Erzieher und
Lehrer an ihren Zöglingen und Schülern, der Lehrherren an ihren
Lehrjungen und der Gesindehälter an dem Dienstvolke.
+Oesterr. Strafgesetz-Entwurf.+
§. 219. Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, ist, wenn der
Vorsatz in einer und derselben heftigen Gemüthsbewegung gefasst
und ausgeführt wurde, des Todtschlages schuldig. Die Strafe des
Todtschlages ist Zuchthaus von 3 bis 15 Jahren oder Gefängniss nicht
unter 3 Jahren.
War der Thäter ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einer ihm
nahestehenden Person zugefügte Misshandlung oder schwere Beleidigung
von dem Getödteten zum Zorne gereizt und hierdurch auf der Stelle zur
That hingerissen worden, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter einem
Jahre ein.
§. 221. Ist Jemand zur Tödtung eines Menschen durch das ausdrückliche
und ernstliche Verlangen desselben bestimmt worden, so ist auf
Gefängniss nicht unter zwei Jahren zu erkennen.
§. 223. Tritt keiner der in den §§. 219-222 erwähnten Fälle ein, so
ist derjenige, welcher vorsätzlich einen Menschen tödtet, des Mordes
schuldig. Die Strafe des Mordes ist der Tod.
§. 228. Wer eine hilflose Person aussetzt, oder wer eine solche
Person, wenn dieselbe unter seiner Obhut steht, oder wenn er für die
Unterbringung, Fortschaffung oder Aufnahme derselben zu sorgen hat,
in hilfloser Lage verlässt, wird mit Gefängniss nicht unter drei
Monaten bestraft. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-- -- -- -- -- --
Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung der ausgesetzten
oder verlassenen Person verursacht worden, so kann auf Zuchthaus
bis zu zehn Jahren erkannt werden. Wenn durch die Handlung der Tod
verursacht worden ist, tritt Zuchthausstrafe bis zu 15 Jahren oder
Gefängniss nicht unter zwei Jahren ein.
§. 229. Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht,
wird mit Gefängniss bis zu drei Jahren oder an Geld bis zu 2000 fl.
bestraft. -- Wenn der Thäter zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den
Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders
verpflichtet war, so kann bis auf fünf Jahre Gefängniss erkannt
werden.
§. 230. Wer einen Anderen misshandelt oder am Körper oder an der
Gesundheit beschädigt, wird wegen Körperverletzung mit Gefängniss bis
zu sechs Monaten oder an Geld bis zu 500 fl. bestraft.
§. 231. Die Körperverletzung wird mit Gefängniss bestraft:
1. Wenn sie eine über eine Woche anhaltende Gesundheitsstörung
oder Berufsunfähigkeit zur Folge hatte oder mit besonderen Qualen
verbunden war;
2. wenn sie mit Werkzeugen oder unter Umständen verübt wurde, welche
Lebensgefahr begründen;
3. wenn sie an Verwandten aufsteigender Linie begangen wurde.
§. 232. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass der Verletzte einen
Arm, eine Hand, ein Bein, einen Fuss, die Nase, das Sehvermögen
auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder die
Fortpflanzungsfähigkeit verliert oder in Siechthum, Lähmung oder in
eine Geisteskrankheit verfällt oder eine bleibende Verunstaltung
erleidet, so ist wegen +schwerer Körperverletzung+ auf
Gefängniss nicht unter einem Monate zu erkennen.
§. 233. Ist die Körperverletzung in der Absicht zugefügt worden,
eine der im §. 232 bezeichneten Folgen herbeizuführen, so ist auf
Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder Gefängniss nicht unter sechs
Monaten zu erkennen.
§. 234. Hat die Körperverletzung den Tod des Verletzten zur Folge, so
ist wegen tödtlicher Verletzung auf Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder
auf Gefängniss nicht unter einem Jahre zu erkennen.
§. 236. Ist durch eine Schlägerei oder durch einen von Mehreren
gemachten Angriff der Tod eines Menschen oder eine der in den §§.
231, Z. 1, und 232 bezeichneten Folgen verursacht worden, so ist
Jeder, welcher sich an der Schlägerei oder an dem Angriff betheiligt
hat, schon wegen dieser Betheiligung mit Gefängniss bis zu 3 Jahren
zu bestrafen.
Die gegenwärtige Bestimmung ist nicht anwendbar auf Denjenigen: 1.
welcher ohne sein Verschulden in die Schlägerei hineingezogen wurde;
2. welcher lediglich in der Absicht vorging, der Schlägerei ein Ende
zu machen; 3. welchem die Körperverletzung zugefügt wurde.
Ist eine der vorbezeichneten Folgen mehreren Misshandlungen
zuzuschreiben, welche dieselbe nicht einzeln, sondern nur durch ihr
Zusammentreffen verursacht haben, so ist Jeder, welchem eine dieser
Misshandlungen zur Last fällt, mit Gefängniss nicht unter einem
Monate zu bestrafen.
§. 238. Wer durch Fahrlässigkeit einen Anderen am Körper oder
an seiner Gesundheit beschädigt, wird wegen fahrlässiger
Körperverletzung mit Gefängniss bis zu 3 Monaten oder an Geld bis zu
500 fl. bestraft.
Hat die fahrlässige Körperverletzung eine der in den §§. 231, Z. 1,
und 232 bezeichneten Folgen herbeigeführt, so ist auf Gefängniss bis
zu 2 Jahren oder an Geld bis zu 1000 fl. zu erkennen. War der Thäter
zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines
Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet, so kann auf
Gefängniss bis zu 3 Jahren erkannt werden.
§. 239. In allen Fällen der Misshandlung und Körperverletzung kann
auf Verlangen des Verletzten neben der Strafe auf eine an denselben
zu erlegende Geldbusse bis zum Betrage von 3000 fl. erkannt werden.
§. 240. Wegen der in den §§. 230, 231, Z. 3, und 238, Absatz 1,
vorgesehenen strafbaren Handlungen wird die Verfolgung nur auf Antrag
eingeleitet.
Das im §. 231, Z. 3, erwähnte Vergehen wird nur auf Antrag verfolgt.
§. 241. Die Bestimmungen des gegenwärtigen Hauptstückes finden auch
Anwendung auf Ueberschreitung des Züchtigungsrechtes.
§. 247. Wer rechtswidrig einen Menschen gefangen hält oder auf
andere Weise des Gebrauches seiner persönlichen Freiheit beraubt,
wird mit Gefängniss oder an Geld bis zu 500 fl., und wenn die
Freiheitsentziehung über eine Woche gedauert hat, mit Gefängniss
nicht unter einem Monat bestraft.
Wenn die Freiheitsentziehung über 3 Monate gedauert hat, oder wenn
eine schwere Körperverletzung des der Freiheit beraubten durch die
Freiheitsentziehung oder die ihm während derselben widerfahrene
Behandlung verursacht worden ist, so kann auf Zuchthaus bis zu 10
Jahren erkannt werden. Ist der Tod des der Freiheit Beraubten durch
die Freiheitsentziehung oder die ihm während derselben widerfahrene
Behandlung verursacht worden, so ist auf Zuchthaus bis zu 15 Jahren
oder Gefängniss nicht unter 3 Monaten zu erkennen.
§. 251. Auf Zuchthaus von 2-15 Jahren ist zu erkennen, wenn -- -- --
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
4. bei dem Raube ein Mensch körperlich gepeinigt wurde.
§. 256. Auf Zuchthaus nicht unter 5 Jahren ist zu erkennen, wenn die
Handlung eine schwere Körperverletzung oder den Tod des Verletzten
zur Folge hatte.
+Oesterr. bürgerliches Gesetzbuch+:
§. 1325. Wer Jemanden an seinem Körper verletzt, bestreitet die
Heilungskosten des Verletzten, ersetzt ihm den entgangenen, oder wenn
der Beschädigte zum Erwerb unfähig wird, auch den künftig entgehenden
Verdienst und bezahlt ihm auf Verlangen überdies ein den erhobenen
Umständen angemessenes Schmerzensgeld.
§. 1326. Ist die verletzte Person durch die Misshandlung verunstaltet
worden, so muss, zumal wenn sie weiblichen Geschlechtes ist,
insoferne auf diesen Umstand Rücksicht genommen werden, als ihr
besseres Fortkommen dadurch verhindert werden kann.
§. 1327. Erfolgt aus einer körperlichen Verletzung der Tod, so müssen
nicht nur alle Kosten, sondern auch der hinterlassenen Frau und den
Kindern des Getödteten das, was ihnen dadurch entgangen ist, ersetzt
werden.
+Oesterr. Strafprocessordnung+:
§. 127. Wenn sich bei einem Todesfalle Verdacht gibt, dass derselbe
durch ein Verbrechen oder Vergehen verursacht worden, so muss vor der
Beerdigung die Leichenschau und Leichenöffnung vorgenommen werden.
Ist die Leiche bereits beerdigt, so muss sie zu diesem Behufe wieder
ausgegraben werden, wenn nach den Umständen noch ein erhebliches
Ergebniss davon erwartet werden kann, und nicht dringende Gefahr für
die Gesundheit der Personen, welche an der Leichenschau theilnehmen
müssen, vorhanden ist.
Ehe zur Oeffnung der Leiche geschritten wird, ist dieselbe genau
zu beschreiben und deren Identität durch Vernehmung von Personen,
die den Verstorbenen gekannt hatten, ausser Zweifel zu setzen.
Diesen Personen ist nöthigenfalls vor der Anerkennung eine genaue
Beschreibung des Verstorbenen abzufordern. Ist aber der Letztere
unbekannt, so ist eine genaue Beschreibung der Leiche durch
öffentliche Blätter bekannt zu machen.
Bei der Leichenschau hat der Untersuchungsrichter darauf zu sehen,
dass die Lage und Beschaffenheit des Leichnams, der Ort, wo, und
die Kleidung, worin er gefunden wurde, genau bemerkt, sowie Alles,
was nach den Umständen für die Untersuchung von Bedeutung sein
könnte, sorgfältig beachtet werde. Insbesondere sind Wunden und
andere Spuren erlittener Gewaltthätigkeit nach ihrer Zahl und
Beschaffenheit genau zu verzeichnen, die Mittel und Werkzeuge, durch
welche sie wahrscheinlich verursacht wurden, anzugeben und die
etwa vorgefundenen, möglicherweise gebrauchten Werkzeuge mit den
vorhandenen Verletzungen zu vergleichen.
§. 129. Das Gutachten hat sich darüber auszusprechen, was in dem
vorliegenden Falle die den eingetretenen Tod zunächst bewirkende
Ursache gewesen und wodurch dieselbe erzeugt worden sei.
Werden Verletzungen wahrgenommen, so ist insbesondere zu erörtern:
1. ob dieselben dem Verstorbenen durch die Handlung eines Anderen
zugefügt wurden, und falls diese Frage bejaht wird,
2. ob diese Handlung
_a)_ schon ihrer allgemeinen Natur wegen,
_b)_ vermöge der eigenthümlichen persönlichen Beschaffenheit oder
eines besonderen Zustandes des Verletzten,
_c)_ wegen der zufälligen Umstände, unter welchen sie verübt wurde,
oder
_d)_ vermöge zufällig hinzugekommener, jedoch durch sie
veranlasster oder aus ihr entstandener Zwischenursachen den Tod
herbeigeführt habe, und ob endlich
_e)_ der Tod durch rechtzeitige und zweckmässige Hilfe hätte
abgewendet werden können.
Insoferne sich das Gutachten nicht über alle für die Entscheidung
erheblichen Umstände verbreitet, sind hierüber von dem
Untersuchungsrichter besondere Fragen an die Sachverständigen zu
richten.
§. 132. Auch bei körperlichen Beschädigungen ist die Besichtigung
des Verletzten durch zwei Sachverständige vorzunehmen, welche sich
nach genauer Beschreibung der Verletzungen insbesondere auch darüber
auszusprechen haben, welche von den vorhandenen Körperverletzungen
oder Gesundheitsstörungen an und für sich, oder in ihrem
Zusammenwirken, unbedingt oder unter den besonderen Umständen des
Falles als leichte, schwere oder lebensgefährliche anzusehen seien:
welche Wirkungen Beschädigungen dieser Art gewöhnlich nach sich zu
ziehen pflegen, und welche in dem vorliegenden einzelnen Falle daraus
hervorgegangen sind, sowie durch welche Mittel oder Werkzeuge, und
auf welche Weise dieselben zugefügt worden seien.
+Deutsches Strafgesetz+:
§. 211. Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die
Tödtung mit Ueberlegung ausgeführt hat, wegen +Mordes+ mit dem
Tode bestraft.
§. 212. Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn
er die Tödtung nicht mit Ueberlegung ausgeführt hat, wegen
+Todschlages+ mit Zuchthaus nicht unter 5 Jahren bestraft.
§. 221. Gleichlautend mit §. 228 des österr. Entwurfes.
§. 222. Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht,
wird mit Gefängniss bis zu 3 Jahren bestraft.
§. 223. Wer vorsätzlich einen Anderen körperlich misshandelt oder an
der Gesundheit beschädigt, wird wegen +Körperverletzung+ mit
Gefängniss bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 300 Thalern
bestraft.
Ist die Handlung gegen Verwandte aufsteigender Linie begangen, so ist
auf Gefängniss nicht unter einem Monat zu erkennen.
§. 223 _a_.[213] Ist die Körperverletzung mittelst einer Waffe,
insbesondere eines Messers oder eines anderen gefährlichen
Werkzeuges, oder mittelst eines hinterlistigen Ueberfalls, oder von
Mehreren gemeinschaftlich, oder mittelst einer das Leben gefährdenden
Behandlung begangen, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter 2 Monaten
ein.
§. 224. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass den Verletzte ein
wichtiges Glied des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder beiden
Augen, das Gehör, die Sprache oder die Zeugungsfähigkeit verliert,
oder in erheblicher Weise dauernd entstellt wird, oder in Siechthum,
Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Zuchthaus bis zu 5
Jahren oder Gefängniss nicht unter einem Jahre zu erkennen.
§. 225. War eine der vorbezeichneten Folgen beabsichtigt und
eingetreten, so ist auf Zuchthaus von 2 bis 10 Jahren zu erkennen.
§. 226. Ist durch die Körperverletzung der Tod des Verletzten
verursacht worden, so ist auf Zuchthaus nicht unter 3 Jahren oder
Gefängniss nicht unter 3 Jahren zu erkennen.
§. 227. Ist durch eine Schlägerei oder durch einen von Mehreren
gemachten Angriff der Tod eines Menschen oder eine +schwere+
Körperverletzung (§.224) verursacht worden, so ist -- -- --
(gleichlautend mit §. 236 des österr. Entwurfes).
§. 230. Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung eines Anderen
verursacht, wird -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-- --
§. 239. Wer vorsätzlich und widerrechtlich einen Menschen
einsperrt oder auf andere Weise des Gebrauches seiner persönlichen
Freiheit beraubt, wird mit Gefängniss bestraft. Wenn eine
schwere Körperverletzung des der Freiheit Beraubten durch die
Freiheitsentziehung oder die ihm während derselben widerfahrene
Behandlung verursacht worden ist, so ist auf Zuchthaus nicht unter
drei Jahren (bei mildernden Umständen nicht unter 3 Monaten) zu
erkennen.
§. 251. Mit Zuchthaus wird bestraft, wenn bei dem Raube ein Mensch
gemartert, oder durch die gegen ihn verübte Gewalt eine schwere
Körperverletzung oder der Tod desselben verursacht worden ist.
Eine gewaltsame Gesundheitsbeschädigung, beziehungsweise der Tod, kann
erfolgen:
I. durch Verletzung im engeren Sinne (durch Trauma);
II. durch Entziehung der atmosphärischen Luft;
III. durch Entziehung der Nahrung;
IV. durch unverhältnissmäsig hohe oder niedrige Temperatur;
V. durch Gifte und ihnen analog wirkende Stoffe;
VI. durch psychische Insulte.
I. Von der Gesundheitsbeschädigung und dem gewaltsamen Tod durch
Verletzung (Trauma) im engeren Sinne.
Wir reden von einer Verletzung im engeren Sinne, wenn Störungen des
Zusammenhanges oder der Function gewisser Organe oder Organgewebe durch
mechanische Mittel veranlasst wurden.
Derartige Verletzungen können sowohl an Lebenden, als an Leichen zur
Untersuchung und Begutachtung gelangen, im letzteren Falle namentlich
dann, wenn der Verdacht besteht, dass die betreffende Verletzung den
Tod veranlasst habe.
In beiden Fällen ist es Aufgabe des Gerichtsarztes, +erstens+ das
Werkzeug zu bestimmen, mit welchem die betreffende Verletzung zugefügt
wurde, und +zweitens+ letztere im Sinne des Strafgesetzes,
beziehungsweise +drittens+ der Strafprocessordnung zu qualificiren.
A. Bestimmung des verletzenden Werkzeuges.
Man unterscheidet im Allgemeinen stumpfe oder stumpfkantige, scharfe,
stechende und Schusswerkzeuge und diesen entsprechend 1. Verletzungen
mit stumpfen oder stumpfkantigen Werkzeugen, 2. Schnitt- und
Hiebwunden, 3. Stichwunden und 4. Schusswunden.
1. Verletzungen mit stumpfen oder stumpfkantigen Werkzeugen.
Von allen Verletzungen, die zur gerichtsärztlichen Beurtheilung
gelangen, sind diese die häufigsten. Die Werkzeuge, die hierbei
in Anwendung kommen, sind ungemein differenter Natur. Es gehören
hierher, ausser den Extremitäten des Menschen, eventuell auch der
Thiere (Hufe), theils gewisse, wirklich zum Angriff, respective zur
Vertheidigung verfertigte Werkzeuge, wie die sogenannten „Todtschläger“
(Life preservers) und die Schlagringe der Alpenbewohner, theils
Werkzeuge, die ursprünglich zu anderen Zwecken bestimmt, bei den
verschiedenen Raufereien als improvisirte Waffen zum Dreinschlagen
benützt werden, wie Stöcke, Stuhlbeine, Steine etc., und es ist
begreiflich, dass bei solchen Gelegenheiten und überhaupt dort, wo
ohne besondere Vorbereitung Thätlichkeiten verübt werden, zu allen
möglichen wuchtigen und zugleich handlichen Gegenständen gegriffen
wird. Stumpfe oder stumpfkantige Körper kommen ferner zur Geltung beim
Ueberfahrenwerden, beim Gerathen zwischen Stossballen, beim Einsturz
von Bauten, Gerüsten etc., sowie beim Sturz von einer Höhe, in welch
letzterem Falle nicht, wie in den übrigen, das verletzende Werkzeug
gegen das betreffende Individuum geführt worden ist, sondern, wie dies
im kleineren Massstabe auch beim Hinschleudern gegen feste Gegenstände
geschieht, das Umgekehrte erfolgt.
Obgleich sich die Wirkung aller stumpfen und stumpfkantigen Werkzeuge
auf mehr oder minder heftige und plötzliche, mit mehr weniger starker
Verschiebung des Gewebes verbundene Compression von Körpertheilen
zurückführen lässt, so ist es doch bei der Mannigfaltigkeit und ganz
heterogenen Beschaffenheit der Werkzeuge, die in Anwendung kommen
können, insbesondere bei der so ungemein verschiedenen Grösse der
ihnen zukommenden Gewalt, selbst abgesehen von einer ganzen Reihe
von Umständen, die modificirend einwirken können, begreiflich, wie
mannigfaltig der Effect sein wird, der durch sie am menschlichen Körper
veranlasst werden kann. Doch können wir im Allgemeinen, indem wir
von den geringsten ausgehen, folgende Effecte der genannten Gewalten
unterscheiden: _a)_ Hautaufschürfungen, _b)_ Blutunterlaufungen, _c)_
Wunden, _d)_ Erschütterungen des centralen Nervensystems, _e)_ Rupturen
und Lageveränderungen innerer Weichtheile, _f)_ Continuitätstrennungen
und Lageveränderungen der Knochen und endlich _g)_ Zermalmungen und
Abtrennungen ganzer Körpertheile.
_a) Die Hautaufschürfungen._
Hautaufschürfungen (Excoriationen) entstehen vorzugsweise durch
tangentiale Wirkung stumpfer oder stumpfkantiger Werkzeuge, durch
welche die Epidermis von einer Hautstelle abgeschunden und das
darunter liegende Corium blossgelegt wird. Sie können entweder für
sich allein oder in Begleitung anderer Verletzungen vorkommen,
namentlich als Theilbefund einer und derselben Verletzung. So findet
man sehr gewöhnlich die Haut über einer Sugillation oder einer
schwereren Beschädigung tiefer gelegener Theile excoriirt, und ebenso
gewöhnlich kann man bemerken, dass die Ränder der mit stumpfen oder
stumpfkantigen Werkzeugen erzeugten Wunden excoriirt erscheinen. Den
Hautaufschürfungen als solchen kommt, da sie nur eine geringfügige,
meist auf kleine Stellen der allgemeinen Decken beschränkte Läsion
darstellen, eine Bedeutung im chirurgischen Sinne nicht oder nur
ganz ausnahmsweise, z. B. bei Hinzutritt einer Infection, zu. Von
grosser Wichtigkeit sind sie aber in forensischer Beziehung, da sie
die Stelle markiren, auf welche eine Gewalt eingewirkt hatte und bei
Erwägung dieser, sowie der Form und Anordnung solcher Excoriationen
nicht selten mit grosser Sicherheit erkennen lassen, von welcher
näheren Beschaffenheit die betreffende Gewaltthätigkeit gewesen
war. Dies gilt insbesondere von den Hautaufschürfungen in der Nähe
der Respirationsöffnungen und der Respirationswege am Halse, deren
Bedeutung für die Diagnose gewisser Attentate nahe liegt, besonders
dann, wenn sich in der Form derselben deutlich jene der Fingernägel
oder eines Stranges erkennen lässt. Wir werden auf diese Befunde
ausführlicher an einer anderen Stelle zurückkommen. Gleich wichtig
sind die Hautaufschürfungen als Zeichen eines stattgefundenen Kampfes,
beziehungsweise geleisteter Gegenwehr, deren Constatirung in vielen,
sowohl Leichen als Lebende betreffenden Fällen von grosser Bedeutung
sein kann.
[Sidenote: Verhalten der Excoriationen am Lebenden und an der Leiche.]
Unmittelbar nach ihrer Zufügung bluten die Excoriationen in der
Regel wenig oder gar nicht. Kommt es zur Blutung, so stammt dieselbe
aus den verletzten Capillaren der Papillarspitzen. aus welchen
Blutpunkte hervortreten. Bleibt das Individuum am Leben, so bedeckt
sich das blossgelegte Corium schon im Laufe der ersten Stunden mit
einer Schichte fibrinösen Exsudates, welches, wenn die Stelle der
Luft ausgesetzt bleibt, zu einer Kruste vertrocknet, unter welcher
die Heilung in der Regel binnen wenigen Tagen und ohne Narbenbildung
erfolgt. Ist der Tod während oder gleich nach der Entstehung einer
Excoriation erfolgt, so ist eine Blutung aus dem blossgelegten Corium
noch seltener oder noch geringfügiger als im vorigen Falle, da eine
der ersten Erscheinungen des eintretenden Todes das Leerwerden der
Capillaren der Cutis bildet, wie sich aus dem Blasswerden der Haut
erkennen lässt, das während der Agonie sich fast regelmässig, wenn
auch nicht überall gleichzeitig, einzustellen pflegt. Unmittelbar nach
dem Tode zeigt demnach eine derartige Hautaufschürfung, wenn sie nicht
etwa an abhängigen Körperstellen liegt, gegen welche das Blut sich
senkt, die Farbe des anämischen Corium und erscheint feucht. Bleibt
die betreffende Stelle der Luft ausgesetzt, so beginnt sie kurz nach
dem Tode einzutrocknen (an den oberen und an den unbedeckten Stellen
früher, als an den abhängigen oder von Kleidungsstücken bedeckten),
und schon in wenigen Stunden erscheint die Lederhaut in eine gelbbraun
bis braunroth gefärbte, harte und daher schwerer zu schneidende
Stelle verändert, oder wie man sich gewöhnlich auszudrücken pflegt,
pergament- oder lederartig vertrocknet. Diese Vertrocknung ist eine
reine Leichenerscheinung und sie kommt auch zu Stande, wenn die
Epidermis auf andere als mechanische Weise, z. B. durch Verbrennung,
Vesicans etc., abgängig gemacht wurde, und, was forensisch besonders
wichtig ist, in gleicher Weise, ob die betreffende Hautaufschürfung
kurz vor dem Tode oder während des Todes oder erst nach demselben,
z. B. durch Wiederbelebungsversuche erzeugt wurde. Es folgt daraus,
dass wir, wenn nicht Suffusionen im Unterhautgewebe sich befinden,
in der Regel nicht im Stande sind, aus der Beschaffenheit einer
solchen Hautvertrocknung zu entscheiden, ob die ihr zu Grunde liegende
Hautaufschürfung während des Lebens entstanden ist oder nicht. Die
Farbe der vertrockneten Stelle kann, entgegen der Ansicht älterer
Autoren, für eine solche Entscheidung nicht verwerthet werden,
da auch die Farbe postmortal erzeugter und dann vertrockneter
Hautaufschürfungen die verschiedenartigsten Nuancen zeigt und überdies
nicht blos der Blutgehalt der Lederhaut, der ja an der Leiche ebenfalls
ein verschiedener ist, sondern auch die bereits verstrichene Zeit
und der Grad der Eintrocknung die lichtere oder dunklere Farbe einer
solchen Stelle bedingt. Auch der Nachweis kleiner, vertrockneter, aus
den Papillarspitzen stammender Blutpunkte ist nicht absolut beweisend,
da auch bei einer postmortalen Hautaufschürfung die Papillen lädirt
werden, und wenn die betreffende Stelle an einer abhängigen Partie des
Körpers sitzt, auch erst an der Leiche Bluttröpfchen aus den verletzten
Capillaren austreten können, wie man sich durch entsprechende Versuche
leicht zu überzeugen vermag.
Uebrigens sei schon hier bemerkt, dass eine ähnliche postmortale
Vertrocknung, wie wir sie an der Epidermis beraubten Hautpartien
eintreten sehen, auch ohne eine Ablösung der Oberhaut erfolgen
kann, und zwar entweder an solchen Stellen der allgemeinen Decken,
an welchen die Epidermis für gewöhnlich feuchter gehalten wird,
wie z. B. am Scrotum, ferner an den freiliegenden Schleimhäuten,
namentlich an den Lippen, dann aber auch an solchen Hautstellen, die
einer starken Compression ausgesetzt waren, wodurch Blut und andere
Feuchtigkeiten ausgedrückt und dadurch die Stelle zur Eintrocknung
geeigneter gemacht wurde als die umliegende Haut, wie wir z. B. an
Strangfurchen oder an durch Aufliegen oder festes Anfassen der Leiche
gedrückt gewesenen Stellen beobachten können, und endlich an den
Rändern verschiedener, insbesondere gequetschter Wunden, an denen die
Vertrocknung ausser in Folge gewöhnlich vorhandener Hautaufschürfung
auch deshalb früher sich einstellt, weil aus den durchtrennten
Gewebspartien die in ihnen enthaltene Feuchtigkeit besonders leicht
verdunsten kann.
_b) Die Blutunterlaufungen._
Wir haben hier vorzugsweise jene im Auge, welche sich durch subcutane
Quetschung des Unterhautzellgewebes oder der darunter liegenden
Weichtheile zu bilden pflegen. Sie entstehen durch Zerreissung
kleinerer Gefässe und consecutiven Austritt von Blut in das umgebende
Gewebe und kommen entweder ohne weitere Verletzung oder mit solcher
verbunden vor, insbesondere ganz regelmässig im Bereiche gerissener
und gequetschter Wunden. Günstige Bedingungen für die Entstehung
derselben sind, abgesehen von der Intensität der ausgeübten Gewalt,
eine nahe unterhalb der Oberfläche der betreffenden Hautstelle
liegende feste Unterlage und grössere Zerreisslichkeit der von dem
Druck oder Stoss getroffenen Gewebe. In ersterer Beziehung ist es
bekannt, dass namentlich dort, wo die Haut über Knochen hinwegzieht,
so insbesondere am Kopfe, leichter Suffusionen entstehen als anderswo,
und in letzterer Beziehung wissen wir, dass bei Kindern sich leichter
Blutunterlaufungen bilden als bei Erwachsenen, und zwar häufig schon
nach verhältnissmässig ganz geringen Gewalteinwirkungen. Gleiches gilt
aber auch von zarten Frauen und von sehr alten Leuten, bei denen die
Gefässe in und unter der Haut so zerreisslich sein können, dass schon
unbedeutende Veranlassungen genügen, um Suffusionen zu erzeugen.
[Sidenote: Suffusionen. Ausdehnung und Form.]
Die Ausdehnung der Blutunterlaufungen ist bedingt durch den
Gefässreichthum der getroffenen Stelle, durch das Caliber und die Natur
der betreffenden Gefässe (Verletzung arterieller Gefässe veranlasst
ausgedehntere Blutaustretungen, weil das Blut unter höherem Drucke
ausströmt, als aus venösen), aber auch durch die mehr oder weniger
lockere und grossmaschige Beschaffenheit der Gewebsschichten, in
welche der Bluterguss erfolgt. Letzterer Umstand ist der Grund,
warum z. B. die Suffusionen in der Kopfhaut im Allgemeinen eine viel
beschränktere Ausdehnung besitzen, als jene, die sich in dem lockeren
Bindegewebe zwischen Galea und Pericranium entwickeln, und warum die
Suffusionen der Augenlider und des Scrotums oder der Labien mitunter so
beträchtliche Ausbreitung erreichen können.
Die häufigste äussere Form der Sugillationen ist die rundliche und sie
erklärt sich daraus, dass einestheils die meisten Werkzeuge, die sie
veranlassen, mit einer abgerundeten oder ebenen Oberfläche einwirken
und wegen der abgerundeten Form der meisten Körpertheile mit letzteren
in der Regel nur in umschriebene Berührung kommen, woraus wieder
hervorgeht, dass die verschiedenartigsten Werkzeuge Sugillationen von
gleicher oder ähnlicher Form hervorbringen können. In anderen Fällen
trägt die Sugillation in ausgesprochener Weise die Form des Werkzeuges
an sich, durch welches sie entstanden ist, wie wir z. B. an den
striemigen Blutunterlaufungen sehen, die nach Stockschlägen besonders
dort zurückbleiben, wo, wie am Rücken, das Instrument mit einem
grösseren Theile seiner Länge mit der Körperoberfläche in Berührung
kommen konnte. Ausser der Form der Blutunterlaufungen kann auch ihre
Anordnung und Zahl ein Licht werfen auf ihre Entstehungsweise, ebenso
die Stelle, an welcher sie sich befinden. Dies gilt wieder besonders
von den streifenförmigen und meist parallel verlaufenden, in anderen
Fällen wieder mannigfach sich kreuzenden, meist mit erythematöser
Schwellung verbundenen Suffusionen (Striemen) nach Stockstreichen,
vorzugsweise aber von den Suffusionen am Vorderhalse zu beiden Seiten
des Kehlkopfes, die nach Würgeversuchen und wirklich erfolgtem Erwürgen
zurückbleiben können und in der Regel mit den gewöhnlich gleichzeitig
vorhandenen, von Fingernägeln herrührenden Hautaufschürfungen für sich
allein genügen, die Art des Angriffes, beziehungsweise die Todesart
in’s Klare zu stellen.
[Sidenote: Ausdehnung, Farbe und Bedeutung der Blutunterlaufungen.]
Ein in gesundheitlicher Beziehung schwerer Charakter kommt einzelnen
Sugillationen als solchen selten zu, so z. B. bei ausgebreiteten
subcutanen Hämatomen. Dagegen können zahlreiche Suffusionen, von denen
jede einzelne vielleicht nur eine unbedeutende Verletzung bildet,
in ihrem Zusammenwirken, auch abgesehen von der mit ihrer Zuführung
etwa verbundenen heftigen Reizung peripherer Nervenendigungen und
theils reflectorischer, theils direct durch Erschütterung bewirkter
Reizung der Nervencentren, zu intensiven Reactionserscheinungen und
länger dauernder Gesundheitsstörung führen, wie insbesondere nach
Misshandlungen durch zahlreiche Stockschläge (Lynchen) wiederholt
beobachtet worden ist.[214]
Im frischen Zustande präsentiren sich sugillirte Hautstellen als
umschriebene, mitunter etwas prominirende, bläulich oder blauroth
verfärbte, in der Regel etwas empfindliche Flecke, welche, wenn sie
keine besondere Ausdehnung besitzen, in der Regel schon nach Ablauf
von 24 Stunden in Folge der Resorption der flüssigen Theile des
Extravasates sich verkleinern, abflachen und hierauf, indem sich
die Farbe des Fleckes von den Rändern aus in’s Blaugraue, dann in’s
Grünliche und schliesslich in’s Gelbliche verändert, nach verschieden
langer Zeit vollkommen verschwinden. Die Farbenveränderung ist
anfangs durch die Eindickung bedingt, später durch Umwandlung des
Blutfarbstoffes theils in braunes Methämoglobin und später theils in
amorphes, theils in krystallinisches Pigment (Hämatin und Hämatoidin).
[Sidenote: Differentialdiagnose von Blutunterlaufungen.]
An der Leiche kommt den Blutunterlaufungen ausser in den bereits
bezeichneten Beziehungen, sowie überhaupt als Spuren angethaner
Gewalt, beziehungsweise geleisteter Gegenwehr, eine gerichtsärztliche
Bedeutung insoferne zu, als sie die wichtigsten Anhaltspunkte für die
Beantwortung der Frage bieten, ob eine frische Verletzung während des
Lebens oder erst nach dem Tode entstanden sei, eine Frage, welche
wir an einer anderen Stelle näher zu besprechen gedenken. Es handelt
sich bei derartigen Befunden an der Leiche immer zunächst darum, ob
thatsächlich eine Blutunterlaufung vorliegt, und in dieser Beziehung
hat sich der Gerichtsarzt jedesmal vor einer etwaigen Verwechslung
von blossen äusseren sowohl als inneren Leichenhypostasen und ihren
Consequenzen (der Imbibition und Transsudation blutigen Serums) mit
Sugillationen sicherzustellen, eine Cautele, die leider sehr häufig
versäumt wird und nachträglich zu den peinlichsten Situationen
Veranlassung geben kann. Das blosse äussere Verhalten einer
Hautstelle darf dem Obducenten niemals genügen, um dieselbe als eine
suffundirte zu erklären, er hat vielmehr, wie es sowohl die österr.
Todtenbeschau-Ordnung als das preuss. Regulativ vorschreibt, die
betreffende Stelle einzuschneiden und sich zu überzeugen, ob derselben
thatsächlich ein Extravasat entspricht oder nur eine Leichenfärbung zu
Grunde liegt. Auch hat er nicht blos den einen oder den anderen Befund
zu constatiren, sondern darf auch nicht unterlassen, denselben und
den ganzen von ihm eingeschlagenen Vorgang zu Protokoll zu dictiren,
um auf diese Weise nachträglichen Einwürfen im Vorhinein zu begegnen.
Gleiches hat bei der Untersuchung und Constatirung tiefer liegender
Blutaustretungen zu geschehen. An dieser Stelle sei noch erwähnt,
dass nicht blos Leichenhypostasen Sugillationen vortäuschen können,
sondern auch nach dem Tode comprimirt gebliebene Hautstellen, welche
theils in Folge der Compression der Haut selbst, theils in Folge des
durch die Verdünnung der letzteren ermöglichten Durchschimmerns der
Musculatur eine bläuliche Färbung erhalten, wie wir uns namentlich an
Strangfurchen leicht überzeugen können.[215]
[Sidenote: Unterscheidung und Altersbestimmung von Suffusionen.]
Schliesslich sei noch erwähnt, dass Suffusionen sowohl der Haut
als innerer Organe auch ohne äussere Gewalteinwirkung entstehen
können. Es gehören hierher die Ecchymosen der Haut und innerer
Organe bei scorbutischen Processen[216], bei Hämophilie, aber auch
nach Phosphorvergiftung, deren Bildung eine grössere, meist durch
fettige Degeneration bedingte Zerreisslichkeit der peripheren
Gefässe zu Grunde liegt. Eine Verwechslung dieser Ecchymosen mit
traumatischen Suffusionen ist nicht unmöglich und wir haben oben
eines Falles erwähnt, in welchem, offenbar als Theilerscheinung einer
Phosphorvergiftung, zur Entwicklung gekommene grosse Ecchymosen
unter dem Peritoneum als Producte einer Quetschung des Unterleibes
aufgefasst worden sind. Derartige Verwechslungen werden sich bei
genauer Erwägung des Sectionsbefundes unschwer vermeiden lassen.
Auch gewisse Erythemformen, namentlich das Erythema nodosum oder
contusiforme (!), können als Suffusionen imponiren, letzteres
umsomehr, als es insbesondere bei jugendlichen Individuen, Säuglinge
und Kinder mit inbegriffen, sich findet. Dasselbe erscheint nach
+Kaposi+ (Hautkrankheiten, 1880, pag. 284) in Gestalt haselnuss-
bis nussgrosser, sehr schmerzhafter Beulen oder Knollen sehr acut über
Nacht, zuweilen an beiden Unterschenkeln und Fussrücken, seltener
an den Vorderarmen, Oberschenkeln und Nates. Die Knollen sind im
Centrum blauroth, an der Peripherie rosenroth, bestehen 2 bis 3 Tage
unverändert und involviren sich dann binnen 8 bis 14 Tagen, indem das
lebhafte Roth in Blauroth, Gelb und Grün sich umwandelt. Die knollige
Form der Eruptionen, das mitunter typische oder schubweise Auftreten
derselben und die Anfangs rosenrothe Oberfläche erleichtern die
differentiale Diagnose.
Würde es sich an der Leiche um Altersbestimmungen von Suffusionen
handeln, so müsste ausser dem erwähnten äusseren Verhalten der
betreffenden Hautstelle auch die nähere Beschaffenheit des
extravasirten Blutes herangezogen werden. Je älter die Sugillation,
desto eingedickter ist das betreffende Blut und desto mehr ist
die ursprüngliche Farbe desselben verändert. In den ersten Tagen
finden wir das Blut von theerartiger Consistenz und in dicken
Schichten von fast schwarzer Farbe, während in dünnen Schichten noch
die gewöhnliche Blutfarbe sich zeigt. Später wird die Farbe mehr
bräunlich und weiter missfärbig mit mehr weniger deutlichem Stich
in’s Rostfarbige. Die rothen Blutkörperchen sind Anfangs vollständig
erhalten; mit dem Eintritt der Farbveränderung stellt sich auch
der Zerfall derselben ein, ihre Zahl vermindert sich, während
massenhaft contractile Zellen auftreten, die rothe Blutkörperchen in
sich einschliessen, welche in ihnen zu körnigem Pigment zerfallen.
Frühzeitig treten in solchen Extravasaten Hämatoidinkrystalle auf,
deren Zahl in dem Grade zunimmt, als die Eindickung und Verfärbung
des Extravasates vorwärts schreitet. In frischen Leichen lassen
sich derartige Befunde, insbesondere die Hämatoidinkrystalle, zu
approximativer Zeitrechnung allerdings verwerthen; nicht so bei
der Untersuchung fauler Leichen, da sich Hämatoidinkrystalle auch
in faulenden Geweben, und zwar sehr rasch, bilden können. Im Blute
fauler Leichen neugeborener, besonders todtgeborener Kinder finden
sich gewöhnlich massenhaft Hämatoidinkrystalle, und +Virchow+
hat sie in abgestorbenen Amputationslappen schon am vierten, in
Extravasaten schon am siebzehnten Tage gefunden.[217]
_c) Wunden._
[Sidenote: Durch stumpfe Werkzeuge bewirkte Wunden.]
Die Beschaffenheit von Wunden, welche durch stumpfe oder stumpfkantige
Werkzeuge entstehen, hängt vorzugsweise von der Richtung ab, in welcher
das Werkzeug die betreffende Oberfläche getroffen hatte. War die
Richtung eine senkrechte, so entstehen einfach gequetschte Trennungen
der Haut, und zwar entweder durch Platzen der Haut oder dadurch, dass
das Werkzeug wirklich die Weichtheile durchdringt; wurde aber die
Körperstelle schief getroffen oder gleitet das Werkzeug von der Stelle
ab, so bilden sich meist Lappenwunden, indem das Instrument nicht blos
die Haut durchtrennt, sondern auch von der Unterlage abreisst. Sowohl
die gequetschten als die gerissenen Wunden sind in den meisten Fällen
an der unregelmässigen Form, den gequetschten, aufgeschürften und
vielfach gezackten und meist im weiten Umfange suffundirten Rändern,
sowie an der meist unregelmässigen gequetschten Beschaffenheit der
Basis zu erkennen.
[Sidenote: Scharfrandige Wunden durch stumpfe Werkzeuge.]
Es können jedoch auch durch stumpfe oder stumpfkantige Werkzeuge
mitunter lineare Trennungen der Haut entstehen, mit so ebenen und
scharfen Rändern, dass sie sich äusserlich schwer oder gar nicht von
Schnitt- oder Hiebwunden unterscheiden. Derartige Wunden bilden sich
namentlich leichter an solchen Stellen, an welchen die Haut über
eine feste, insbesondere gewölbte Unterlage hinweggespannt ist, und
zwar in der Regel dadurch, dass die Haut durch die Einwirkung des
Werkzeuges meist entsprechend ihrer später zu erwähnenden localen
Spaltbarkeitsrichtung zum Bersten gebracht wird. Solche günstige
Bedingungen, wozu noch die gleichmässige Structur des Gewebes und
die geringe Verschiebbarkeit hinzukommt, sind insbesondere an der
Kopfschwarte gegeben, in welcher auch thatsächlich solche Befunde am
häufigsten zur Beobachtung gelangen. Gleiche Wunden können auch an über
Knochenkanten verlaufenden Hautstellen entstehen. So haben wir bei
einem Verschütteten eine lineare und scharfrandige Trennung der Haut
längs der Kante der Tibia gesehen und in einem zweiten Falle ebenfalls
bei einem Verschütteten eine 15 Cm. lange, vollkommen geradlinige und
scharfrandige Wunde der Bauchhaut, welche quer über die Schambeinfuge
hinwegzog, so dass der Einfluss der letzteren, sowie der horizontalen
Schambeinäste unverkennbar war. Von solchen „Platzwunden“ sind jene
zu unterscheiden, welche von innen aus durch eingetriebene und
perforirende Kanten oder Ecken gebrochener Knochen entstehen. An den
Extremitäten sind solche Befunde als complicirte Fracturen allgemein
bekannt. Aber auch am Kopfe findet ein solcher Vorgang statt, indem
bei grösseren Zertrümmerungen des Schädels Knochenfragmente die
Schädeldecken perforiren. Hier hat diese Thatsache eine besondere
Bedeutung, da erstens eine solche secundär entstandene Wunde für eine
primäre gehalten werden kann, und zweitens, weil mehrfache solche
Wunden auf wiederholte Gewalteinwirkung bezogen werden könnten.
Die Unterscheidung der Platzwunden von Schnitt- oder reinen Hiebwunden
ergibt sich insbesondere aus dem Verhalten des Grundes derselben.
Während bei Schnitt- oder Hiebwunden die Wunde gegen den Grund zu
sich keilförmig vertieft und auf diesem Wege alle Gewebe gleichmässig
und in +einer+ Ebene durchtrennt, finden wir bei durch stumpfe
Werkzeuge veranlassten linearen Wunden in der Regel trotz scharfer und
geradliniger Beschaffenheit der Ränder eine unregelmässig gequetschte
Basis, und sind nicht selten, da die Wunde in der Regel durch Platzen
der Haut entsteht, im Stande, im Grunde resistentere Gewebstheile,
insbesondere Gefässe, nachzuweisen, welche von einer Seite der Wunde
zur anderen brückenförmig hinweg verlaufen, ein Befund, der für sich
allein genügt, die Entstehungsweise der Verletzung sicherzustellen
(Fig. 46). Ebenso kann der Umfang der der Wunde entsprechenden
Suffusion, der nach stumpfen Werkzeugen grösser auszufallen pflegt und
die etwaige nach mehreren Richtungen sich erstreckende Ablösung der
Wundränder von ihrer Unterlage zur Unterscheidung herangezogen werden.
Eine blos einseitige Ablösung des einen Wundrandes kann sowohl nach
stumpfen Werkzeugen als bei Hiebwunden vorkommen.
[Sidenote: Quetschwunden.]
Gerissene und gequetschte Wunden heilen selten durch erste Vereinigung,
ungleich häufiger auf dem Wege der Granulation und Narbenbildung.
Der Grad der Quetschung der getroffenen Theile, beziehungsweise die
darnach zurückgebliebene grössere oder geringere Lebensfähigkeit
derselben bedingt vorzugsweise den Verlauf, und für den Eintritt
sogenannter accidenteller Wundkrankheiten, wie langwieriger
Eiterungen, phlegmonöser Entzündungen, Erysipele, Eitersenkungen
etc. sind günstigere Bedingungen gegeben als sonst. Aus gleichem
Grunde hinterlassen derartige Verletzungen selten lineare, sondern
meist unregelmässige Narben, die desto grösseren Umfang besitzen,
je ausgedehnter die Abstossung der necrotischen Partien und die
consecutive Eiterung gewesen ist.
[Illustration: Fig. 46.
Lineare, fast scharfrandige Wunde am Hinterhaupt mit Gewebsbrücken in
der Tiefe, durch Sturz auf ebenem Boden entstanden. Gefunden bei einem
Manne mit Cor taurinum, welcher in einem Gasthause plötzlich todt
zusammengestürzt war. Nat. Gr.]
[Sidenote: Bisswunden.]
Eine besondere Art von Quetschungen bilden die +Bisswunden+. Dieselben
können sowohl durch Menschen, als durch Thiere veranlasst werden.
Erstere betreffen in der Regel vorspringende, mit den Zähnen leicht
fassbare Körpertheile, wie die Finger und die Nase. Abbeissen der
letzteren aus Eifersucht oder Rache kommt öfters zur Beobachtung.
In einzelnen Thälern Tirols ist das Abbeissen der Ohrmuschel bei
Raufereien üblich und kam uns während unseres Aufenthaltes in Innsbruck
dreimal zur Begutachtung. Die Ränder solcher Wunden, beziehungsweise
Abtrennungen kleinerer Körpertheile, sind vielfach sugillirt und lassen
nicht selten die Abdrücke der Zähne erkennen, welcher Befund die
Erkennung der Provenienz der Verletzung erleichtert.
Bisswunden durch Thiere können die verschiedensten Körpertheile
betreffen, und wenn sie von grösseren Thieren, z. B. grossen Hunden,
Pferden etc., herrühren, ungleich ausgedehntere Verletzungen
verursachen als die Bisse der Menschen. Ein schrecklicher Fall von
Zerfleischung eines 13jährigen Mädchens durch Hunde kam im Jahre
1878 zur gerichtlichen Obduction. Das Mädchen war, weil es sich
eines Vergehens wegen fürchtete nach Hause zu gehen, spät am Abend
über die Umzäunung eines Bauplatzes gestiegen, der von zwei grossen
Fleischerhunden und einem kleinen Bastardhunde bewacht wurde, und wurde
kurz darauf, nachdem wüthendes Hundegebell und Hilferuf gehört worden
waren, aus zahlreichen Wunden blutend und sterbend aufgefunden. Bei der
Obduction fand sich die ganze Kopfhaut vom Schädel abgerissen, die Haut
der rechten Halsgegend vielfach gequetscht und stellenweise inclusive
des rechten Kopfnickers und der rechten Vena jugularis externa
unregelmässig eingerissen, ebenso die Haut und die oberflächlichen
Muskeln am inneren oberen Theile des rechten Oberschenkels mit
Verletzung der Vena saphena. Ausserdem eine Unzahl von theils
unregelmässigen, theils rundlichen, stellenweise in bogenförmigen
Reihen stehenden Hautaufschürfungen und kleinen Trennungen der Haut,
die deutlich den Abdruck der Zähne erkennen liessen. Einzelne dieser
Wunden hatten eine rundliche Eingangsöffnung und setzten sich in
einen kurzen, nur die Haut durchdringenden, kegelförmig zulaufenden
Canal fort. Dieselben waren offenbar durch die kegelförmigen Eckzähne
der Hunde entstanden und sie boten insoferne ein Interesse, als sie
ursprünglich für Stichwunden gehalten worden waren.[218]
Bei durch Thiere veranlassten Bisswunden kommt ausser der Wunde als
solcher auch die Möglichkeit der Infection mit Wuthgift in Betracht.
Charakteristische Sectionsbefunde gibt es bei Lyssa nicht, doch
kann diese, wie zuerst +Pasteur+ angab, durch subdurale Impfung
trepanirter Thiere mit Medullatheilchen auf diese übertragen und so die
Diagnose sichergestellt werden. In unserem Institute wurde von diesem
werthvollen Hilfsmittel wiederholt und stets mit positivem Erfolge
Gebrauch gemacht. +A. Paltauf+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
1889, LI, 312) hat darüber berichtet, sowie über Versuche, die von ihm
mit Rücksicht auf die gegen die Beweiskraft solcher Impfungen erhobenen
Bedenken angestellt wurden.
_d) Erschütterungen wichtiger Nervencentren._
Von diesen kommt insbesondere die Hirnerschütterung, die Erschütterung
des Rückenmarkes und der Bauchgeflechte in Betracht. In eine
nähere Besprechung dieser gedenken wir erst bei der Behandlung der
Verletzungen der einzelnen Körpertheile einzugehen.
_e) Rupturen innerer Organe._
Berstungen innerer Organe können entweder durch directen Stoss oder
durch Contrecoup entstehen. Ihr Zustandekommen setzt in der Regel
eine grosse Gewalt voraus, und man findet sie daher am häufigsten
nach Sturz von bedeutender Höhe, bei Verschütteten und Ueberfahrenen,
bei Individuen, die zwischen die Stossballen von Eisenbahnwaggons
gerathen sind, und nach ähnlichen intensiven Gewalteinwirkungen.
Seltener genügen geringere Gewalten zur Erzeugung derselben, wie z. B.
Fusstritte, Kolbenstösse, Hinschleudern auf den Boden u. dergl. Uns
ist ein Fall bekannt, in dem ein Arzt eine tödtliche Ruptur der Niere
sich dadurch zuzog, dass er, im schnellen Gange begriffen, seiner
Kurzsichtigkeit wegen eine hölzerne Barrière übersah und gegen dieselbe
mit Heftigkeit anrannte.
[Sidenote: Rupturen innerer Organe.]
Vorzugsweise sind es parenchymatöse Organe, die Rupturen ausgesetzt
sind und unter diesen am meisten die Leber, sowohl ihrer Grösse und
Brüchigkeit, als ihrer weniger geschützten Lage wegen.[219] Nächst ihr
kommen die Milz und dann die Nieren, ferner die Lungen und das Herz,
seltener der Magen, die Gedärme oder die Blase, und am seltensten das
Gehirn. Fälle letzterer Art, d. h. Zerreissungen der Hirnsubstanz
bei intactem Schädel, haben +Cooper+, +Adams+, +Casper+-+Liman+
und +Zaaijer+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1893, XI, pag.
239) beobachtet. Im letzteren Falle hatte die Ruptur eine Länge von
13·5 Cm. und ging sagittal durch den einen Linsenkern. Centrale
Rupturen des Gehirns bei Schädelbrüchen sind uns wiederholt begegnet.
Selbstverständlich ist für die grössere oder geringere Leichtigkeit der
Entstehung einer Ruptur unter sonst gleichen Verhältnissen auch die
individuelle Resistenzfähigkeit des betreffenden Organes von Einfluss.
Dies gilt insbesondere von der Milz, insoferne als das vergrösserte und
namentlich das acut geschwellte Organ ungleich leichter und schon nach
geringfügigeren Veranlassungen bersten kann, als die normale Milz.
Diese Thatsache ist namentlich in Fiebergegenden zu berücksichtigen.
+Pellereau+ (Annal. d’hyg. publ. 1882, Nr. 2, pag. 223), Polizeiarzt
in Port-Louis (Insel Mauritius), einer bekannten Fiebergegend,
hat von Anfang 1879 bis September 1881 13 Fälle von Milzruptur
beobachtet, von denen 8 zweifellos traumatischen Ursprungs.
Sämmtliche Fälle betrafen fieberkranke und mit weichen Milztumoren
behaftete Männer. In zweien dieser Fälle hatte ein Stoss mit der
Faust, in einem dritten ein Fusstritt die Ruptur bewirkt. In solchen
Fällen kann es, was forensisch sehr wichtig ist, auch zu +spontaner
Ruptur+ der Milz kommen. In 4 der Beobachtungen von +Pellereau+
handelte es sich zweifellos, in einer fünften wahrscheinlich um
eine Spontanruptur. Ueber analoge Vorkommnisse berichtet +Corre+
aus Guadeloupe (Arch. de l’anthrop. crim. 1889). Auch in unserem
Institute ist ein Fall von Spontanruptur der Milz zur Obduction
gekommen und von +Schlemmer+ (Allg. Wr. med. Ztg. 1878, Nr. 11
u. ff.) unter Anführung von sechs anderen Fällen aus der Literatur
beschrieben worden. Weitere Fälle vide Med. Centralbl. 1878, pag. 686
(+Markham+) und 1879, pag. 127 (+Sidney Stone+), sowie +Maschka+,
Allg. Wr. med. Ztg. 1877, pag. 348 (forensischer Fall, angebliche
Misshandlung; in der Milz multiple Angiome, wovon eines geborsten)
und +Schwing+ (Ueber Milztumoren während der Schwangerschaft und
Geburt. Centralbl. f. Gyn. 1880, Nr. 13). Beachtenswerth ist der
Umstand, dass Milzschwellungen auch bei Säuglingen, sogar bei
Neugeborenen vorkommen und gelegentlich sowohl zu spontanen, als
traumatischen Rupturen führen können. +Birch+-+Hirschfeld+ hat einen
und +Steffen+ (Jahrb. f. Kinderheilk. XVII, 1. Heft) zwei Fälle von
Ruptur der kindlichen Milz während des Geburtsactes beobachtet, und
wir haben zwei Säuglinge obducirt, bei welchen sich als Todesursache
innere Verblutung in Folge eines Kapselrisses der acut geschwellten
und sehr blutreichen Milz ergab, müssen jedoch ausdrücklich bemerken,
dass uns wiederholt Fälle vorkamen, wo, wie aus der flüssigen, leicht
abspülbaren Beschaffenheit des in der Bauchhöhle gefundenen Blutes
und aus dem Abgang von Verblutungserscheinungen geschlossen werden
musste, die mitunter ganz unscheinbare Ruptur der sehr zarten und
gespannten Kapsel offenbar erst postmortal entstanden war.
Bezüglich der Leber bestehen analoge, obgleich seltenere Erfahrungen.
+Chiari+ berichtet über eine Ruptur einer mit medullaren Knoten
durchsetzten Leber, die beim Umwenden im Bette entstanden war und
+Heinzelmann+ (Friedreich’s Bl. 1886, pag. 360) über einen ähnlichen
Fall im Verlaufe einer Pleuropneumonie und Pericarditis, wo die acute
parenchymatöse Degeneration das die Ruptur begünstigende Moment
gebildet hatte. Ebenso sah +Tamassia+ eine Ruptur einer verfetteten
und Ecchinococcusblasen enthaltenden Leber nach einem unbedeutenden
Stoss eintreten. Die Ruptur sass über einer Ecchinococcusblase.
[Sidenote: Verlauf der Rupturen innerer Organe.]
Rupturen des Herzens und der grossen Gefässe oder ausgedehnte Rupturen
der Lungen, der Leber und der Milz bewirken in der Regel sofortigen
Tod durch Verblutung. War die Blutung wegen geringerer Ausdehnung des
Risses oder wegen geringerer Bluthältigkeit des Organes nicht sofort
eine profuse, oder wurde dieselbe durch besondere locale Verhältnisse
verzögert, dann kann der Tod auch erst nach einiger Zeit durch innere
Verblutung oder durch secundäre Processe erfolgen. Auch ist es unter
Umständen möglich, dass selbst nach höhergradigen Rupturen innerer
Organe die betreffenden Individuen sich noch zu erheben und weiter zu
gehen vermögen.
So vermochte in einem von +Zühlin+[220] mitgetheilten Falle ein
Individuum, welches durch Auffallen eines Balkens eine Ruptur der
Milz und eine vollständige Zerreissung der linken Niere erlitten
hatte, sich noch zu erheben und 20 Schritte weit zu gehen und
starb erst nach 7½ Stunden, und wir haben einen 30jährigen
kräftigen Eisenbahnarbeiter obducirt, welcher, vom Waggon gegen
eine Wand gedrückt, sofort ohnmächtig zusammenstürzte, sich aber
nach Essigwaschungen wieder erholte, auf sein eigenes Verlangen
in’s Spital gebracht wurde und erst auf dem Transporte starb,
obwohl, wie die Obduction ergab, eine totale Zerreissung der Milz,
mehrfache Leberrupturen (wovon eine 11 Cm. lang und 1 Cm. tief),
vollständige Querruptur der rechten Niere und eine Fractur der linken
sechsten Rippe mit oberflächlicher Lungenverletzung bestand; ebenso
einen Kutscher, der einen Hufschlag in den Bauch und dadurch eine
fast vollständige Abreissung des linken vom rechten Leberlappen,
sowie eine hochgradige Nierenberstung erlitten hatte, aber noch
im Stande war, in den ersten Stock eines Hauses auf den Abort zu
gehen, wo er erst zusammensank. Endlich sahen wir einen Fall, wo
sogar eine Herzruptur erst nach 10 Stunden zum Tode führte. Der
Fall betraf einen 17jährigen Pferdewärter, welcher um 9 Uhr Morgens
einen Hufschlag auf die Brust erhielt und dadurch gegen eine Mauer
geschleudert worden war. Ein sofort herbeigeholter Arzt fand
den Burschen bewusst- und pulslos, cyanotisch, die Extremitäten
kalt, unwillkürlichen Kothabgang. Trotzdem erfolgte der Tod erst
um 7½ Uhr Abends. Die Obduction ergab zwei über bohnengrosse
Hautvertrocknungen am unteren Ende des Sternums, drei Querfinger
von einander entfernt und durch einen ½ Cm. breiten vertrockneten
Streifen mit einander verbunden. Im Herzbeutel eine grosse Menge
theils flüssigen, theils geronnenen Blutes. Das Herz contrahirt,
an seiner Unterfläche unmittelbar unter der Einmündung der Vena
cava ascendens eine über 1 Cm. lange, quere, schlitzförmige,
suffundirte Oeffnung in der Herzwand, welche mit dem rechten Vorhof
communicirt und gerissene Ränder besitzt. Wahrscheinlich war letztere
ursprünglich kleiner und wurde erst nachträglich durch das sich
vordrängende Blut erweitert, woraus die lange Agonie sich erklärt.
Oberflächliche Einrisse der drüsigen Organe können heilen. Namentlich
gilt dies von oberflächlichen Einrissen der Leber, insbesondere
jenen verhältnissmässig häufig vorkommenden, die nur das Peritoneum
betreffen. Wir haben bei einem Säufer, der an einer Hämorrhagie aus
einer pachymeningitischen Membran gestorben war, einen 8 Cm. langen
und blos auf 0·5 Cm. in die Tiefe dringenden Riss der Leber gefunden,
den sich der Betreffende zwei Tage vor seinem Tode durch einen Fall
von der Treppe zugezogen hatte. Der Riss war verklebt und zeigte
keine entzündlichen Reactionserscheinungen in seiner Umgebung, auch
war die aus demselben ausgetretene Blutmenge eine nur sehr geringe,
so dass aller Grund vorhanden war zur Annahme, dass, wenn die
Hirnhämorrhagie nicht eingetreten wäre, der Leberriss wahrscheinlich
geheilt haben würde. Auch +Klob+[221] hat über eine in Verheilung
begriffene, und zwar 6-8 Cm. tiefe Leberruptur berichtet. Zwei in
Heilung begriffene Milzrupturen bewahrt unser Museum. In beiden
Fällen handelte es sich um Sturz von bedeutender Höhe und in beiden
war der Tod durch Schädelfracturen eingetreten, in dem einen Falle
nach 10, im anderen nach 11 Tagen. Mitunter beobachtet man sowohl
nach Leber-, als nach Milzrupturen anämische Necrose mehr weniger
ansehnlicher Partien.
Von der Ruptur des Magens und der Gedärme werden wir bei den
Verletzungen des Unterleibes sprechen.
Beachtung verdient die Thatsache, dass selbst grossartige Quetschungen
der inneren Organe zur Ausbildung kommen können, ohne dass Spuren der
denselben zu Grunde liegenden Gewalt an den Hautdecken zurückbleiben
müssen.
Wir hatten häufig Gelegenheit, die Leichen Verschütteter, von Höhen
Herabgestürzter oder zwischen Puffern Erdrückter zu obduciren, bei
welchen sich keine Spur einer Aufschürfung oder Sugillation der
Haut bemerken liess, obgleich die innere Untersuchung vielfache
Berstungen innerer Organe, Brüche sämmtlicher Rippen etc. ergab.
Insbesondere ergab die Untersuchung eines 20jährigen Mädchens,
welches sich vom dritten Stockwerk auf das Strassenpflaster
herabgestürzt hatte und erst eine Stunde darnach gestorben war, blos
eine Anfangs nicht bemerkte thalergrosse, blau verfärbte Stelle in
der linken Schenkelgefässfalte, sonst aber nicht die geringste Spur
einer äusseren Verletzung. Trotzdem fanden sich Rupturen der linken
Lunge, der Milz und einer Niere, sowie ferner eine Fractur der
Lendenwirbelsäule und eine ausgebreitete Zertrümmerung des Beckens.
Die Abwesenheit äusserer Verletzungen hatte in diesem Falle Zweifel
erregt, ob der Tod wirklich durch Sturz erfolgt sei, weshalb auch die
Obduction veranlasst wurde.
[Sidenote: Resistenz der Haut.]
Derartige Befunde erklären sich aus der grösseren Resistenzfähigkeit
der Haut, die ein Zerdrücktwerden der Organe durch dieselbe ebenso
gestattet, wie wir z. B. einen in ein Tuch gewickelten Apfel ohne
Verletzung des Tuches zerdrücken und selbst mit einem nicht allzu
scharfen Messer zerschneiden können. Auch die in den meisten Fällen
sofort eintretende Verblutung mag die Entwicklung von Sugillationen im
Unterhautgewebe verhindern, da bei einer solchen Todesart zur Bildung
der Blutunterlaufungen sowohl die Zeit als das Material fehlt.
_f) Continuitätstrennungen und Lageveränderungen der Knochen._
Knochenfracturen und Luxationen sind eine häufige Folge der
Gewalteinwirkung stumpfer Werkzeuge. Bezüglich ihrer forensischen
Würdigung verweisen wir auf die Besprechung der Verletzung der
einzelnen Körpertheile, insbesondere auf die des Kopfes und der
Extremitäten.
_g) Zermalmungen und Abreissung ganzer Körpertheile._
In der Regel sind es ganz enorme Gewalten, die solches bewirken.
Wir beobachten sie nach Eisenbahnunglücksfällen, bei von Trains
Ueberfahrenen, bei Individuen, die in Maschinen gerathen sind,
u. dergl. Die grossartigsten Zerstörungen finden sich bei durch
Explosion von Pulverstampfen, Dynamitfabriken etc. Verunglückten, da
bei diesen die Zerreissungen des Körpers mitunter einen so hohen Grad
erreichen können, dass von diesem überhaupt nur noch unkenntliche
Reste aufgefunden werden, und dass es Mühe hält, die Identität solcher
Individuen sicherzustellen.[222] Doch bewährt sich auch gegenüber so
enormen Gewalten die grosse Resistenzfähigkeit der Haut in mitunter
ganz auffallender Weise.
In einem uns mitgetheilten Falle fand sich bei einem durch
Zusammenstoss von zwei Bahnzügen verunglückten Manne der ganze Kopf
zu einem flachen Kuchen zusammengedrückt, sämmtliche Knochen und
Weichtheile zu Brei zermalmt, die Kopf- und Gesichtshaut jedoch, bis
auf einige keineswegs ausgedehnte Einrisse, unverletzt. Wir hatten
wiederholt Gelegenheit, Individuen zu untersuchen, denen Bahnzüge
oder schwere Wägen gerade über den Hals gegangen waren. In einigen
dieser Fälle war der Kopf vollkommen vom Rumpfe getrennt worden, in
andern hatte sich jedoch die stellenweise aufgeschürfte Haut als
Ganzes erhalten und bildete einen schlaffen Sack, durch welchen der
Kopf mit dem Rumpfe in Verbindung stand, obwohl Wirbelknochen und
Weichtheile des Halses zu Brei zerquetscht waren.
Aus dieser grossen Widerstandsfähigkeit der Haut erklärt sich auch die
Seltenheit von isolirten Berstungen der Körperhöhlen nach Sturz von
einer Höhe, Verschüttetwerden und ähnlichen Gewalten.
Wir haben dieselben erst dreimal beobachtet, und zwar einmal
bei einem durch eine Erdmasse Verschütteten, bei welchem die
Bauchhaut ihrer ganzen Breite nach aufgeplatzt war und die Gedärme
sich vorgedrängt hatten, ein anderesmal bei einer geisteskranken
Frau, die sich vom dritten Stockwerke auf das Strassenpflaster
herabgestürzt hatte und offenbar senkrecht auf den Kopf gefallen
war. Letzterer fand sich in sagittaler und vollkommen medianer
Richtung so auffallend geborsten, dass der erste Eindruck ein
solcher war, wie wenn der Kopf durch einen Schwerthieb in zwei
seitliche Hälften gespalten worden wäre, umsomehr, als die mitten
durch Stirn, Nase und Oberlippe geborstene Gesichtshaut und ebenso
der vordere Theil der geborstenen Kopfhaut blos feingezackte Ränder
zeigten. Die Ränder des hinteren Theiles der Berstung waren vielfach
eingerissen, der Schädel in zahllose Stücke zertrümmert, und vom
Gehirne waren nur noch unbedeutende Reste vorhanden. Der dritte Fall
betraf eine Taglöhnerin, welche von einem 19 Klafter hohen Gerüste
herabgestürzt war. Es fand sich nebst Zertrümmerung des Schädels
und mehrfachen Fracturen der Extremitäten eine sagittale Berstung
der Haut von der Mitte der Lendenwirbelsäule bis zum After, aus
welcher das vielfach ecchymosirte und geborstene ganze Jejunum, ein
Theil der =S=-förmigen Schlinge, das der Länge nach gebrochene
Kreuzbein und -- der Uterus in Form eines mannskopfgrossen Klumpens
hervorragten. Auch in diesen Fällen ist es möglich, dass es sich
weniger um eigentliche Berstungen der allgemeinen Decken, sondern nur
um ein Einreissen derselben von Innen aus durch scharfe Knochenkanten
handelte.
2. Schnitt- und Hiebwunden.
Reine Schnittwunden charakterisiren sich durch ihren meist geradlinigen
Verlauf, durch scharfe, nicht gezackte Ränder, durch die meist
bedeutend die übrigen Dimensionen der Wunde übertreffende Länge und das
gegen die Tiefe keilförmig sich verschmälernde Querprofil der durch sie
veranlassten Gewebstrennung.
Der geradlinige Verlauf kann fehlen bei Schnittwunden, die über
gewölbte Körpertheile hinweggeführt wurden, die Beschaffenheit der
Wundränder aber kann modificirt werden durch die Beschaffenheit
des Werkzeuges. War z. B. das betreffende Messer stumpf oder gar
schartig, so können die Ränder einer damit erzeugten Wunde mehr weniger
gezackt, unter Umständen selbst eingerissen ausfallen. Eine gezackte
Beschaffenheit der Wundränder kann sich auch bilden, wenn der Schnitt
über Hautfalten schief hinweggegangen ist. Man erhält in diesem
Falle, wenn man die Falte wieder ausgleicht, eine Z-förmige Trennung
der Haut, die, wenn man die Ränder nicht zusammenfügt, respective
die entstandenen Zipfel nicht richtig zusammenlegt, zwei und selbst
drei Wunden vortäuschen kann, ein Verhalten, welches namentlich bei
Schnittwunden am Halse zu berücksichtigen sein wird. Auch kann bei
der Schnittführung das Faltenthal übersprungen werden, so dass durch
+einen+ Schnitt zwei, eventuell mehrere Wunden entstehen.
Wurde der Schnitt senkrecht auf die betreffende Stelle geführt, so sind
die inneren Flächen der Schnittwunde von gleichmässiger Beschaffenheit;
traf aber der Schnitt schief, dann erscheint der eine Wundrand
abgeschrägt, der andere zugeschärft und der zugeschärfte Wundrand
wird desto spitzwinkliger ausfallen, je schiefer der Schnitt geführt
worden ist; auch kann derselbe bei flacher Führung der Klinge einen
förmlichen Lappen bilden. Vorragende, insbesondere kleine Körpertheile,
wie z. B. Nase, Fingerglieder, können vollkommen abgeschnitten werden
und die Schnittwunde präsentirt dann eine mehr weniger ebene Fläche mit
scharfen Rändern.
Die Tiefe einer Schnittwunde wird ausser durch die bei der
Schnittführung angewandte Kraft und die Schärfe des Instrumentes
auch durch die gegebene Möglichkeit des Eindringens bedingt. Häufig
vereiteln Knochen ein tieferes Eindringen und ebenso nicht selten
am Halse, wo verhältnissmässig am häufigsten und die tiefsten
Schnittwunden vorkommen, der verknöcherte Kehlkopf. Grössere
Körperhöhlen eröffnende Schnittwunden sind selten, häufiger solche, die
in Gelenkshöhlen eingedrungen sind.
Der Grad, in welchem Schnittwunden klaffen, hängt von der
Retractibilität der betreffenden Hautpartie ab, beziehungsweise von der
Richtung der Fasern des Hautgewebes und von der Richtung, in welcher
diese getrennt wurden. So klaffen z. B. Schnittwunden der Kopfhaut
fast gar nicht, wohl aber, wenn sie auch die Galea durchtrennt haben.
Nicht unberücksichtigt darf gelassen werden, dass auch die gestreckte
oder gebeugte Stellung des verletzten Körpertheiles ein grösseres
oder geringeres Klaffen einer Schnittwunde bewirken kann. Dies gilt
insbesondere von Wunden des Vorderhalses und der Gelenksbeugen.
Die Bedeutung der Schnittwunden hängt vorzugsweise von ihrer Tiefe ab.
Blossen Hautwunden kommt nur ausnahmsweise eine besondere Bedeutung zu.
Die Heilung erfolgt in der Regel, wenn die Wunde nicht vernachlässigt
wurde, per primam, mit Hinterlassung einer feinen linearen Narbe,
deren geradliniger Verlauf und Verschiebbarkeit ihre Provenienz
leicht erkennen lässt. Tiefe Schnittwunden werden insbesondere durch
Verletzung grösserer Gefässe gefährlich, beziehungsweise tödtlich,
und wir erinnern in dieser Beziehung namentlich an die Schnittwunden
am Halse, durch welche häufig Selbstmord, nicht selten aber auch Mord
verübt zu werden pflegt. Ausserdem veranlassen tiefere Schnittwunden
mitunter langwierige oder bleibende Functionsstörungen, und können
namentlich am Halse Sprachstörungen und an den Extremitäten eine
Behinderung oder vollständige Aufhebung der Brauchbarkeit der
betreffenden Extremität zur Folge haben.
[Sidenote: Hiebwunden.]
+Hiebwunden+ werden ebenfalls durch mit einer Schneide versehene
Werkzeuge zugefügt; während jedoch die Schnittwunden durch ziehenden
Gebrauch des einem Körpertheil aufgesetzten schneidenden Werkzeuges
entstehen, geschieht die Zufügung einer Hiebwunde in der Regel in einer
gegen das Organ senkrechten Richtung. Schon diese Art der Anwendung,
die gewöhnlich mit grosser Kraft erfolgt, noch mehr aber die Wucht der
betreffenden Instrumente haben zur Folge, dass sich die Hiebwunden
von den Schnittwunden schon durch eine verhältnissmässig grössere
Tiefe unterscheiden, und dass, während Schnittwunden in der Regel
durch Knochen u. dergl aufgehalten werden, Hiebwunden häufig dieselben
durchdringen und eben dadurch einen viel gefährlicheren Charakter
erhalten, als derselbe durchschnittlich den Schnittwunden zukommt.
[Sidenote: Hiebwunden der Knochen.]
Das äussere Verhalten einer Hiebwunde hängt zunächst von der Richtung
ab, in welcher der Hieb geführt wurde. War dieselbe eine gegen das
Organ senkrechte, so entstehen lineare, gleichmässig keilförmig gegen
die Tiefe sich verjüngende Wunden; wird das Organ schief getroffen,
so bilden sich mehr weniger stark abgeschrägte Lappen, die selbst
vollständig durch den Hieb abgetragen werden können. Die Reinheit der
Hiebwunde hängt von der Schärfe der Schneide ab und von der geringeren
oder stärkeren Dicke des Keiles, der in die Schneide ausläuft,
ausserdem aber auch von der Wucht der Waffe. Scharfe leichte Säbel
erzeugen viel reinere Hiebwunden, als z. B. ein Beil. Namentlich sind
Hiebwunden mit letzterem oder einem ihm ähnlichen Werkzeuge in der
Regel mit Quetschung der Wundränder und mit Knochenbrüchen, sowie
mit Absprengung und Depression von Splittern verbunden, welche sich
allerdings meist von einer spaltförmigen Durchtrennung der Knochen
verfolgen lassen. Bei Knochenwunden, die durch scharfe und nicht
besonders wuchtige Werkzeuge, wie z. B. durch leichte Säbel, erzeugt
wurden, ist Splitterung des verletzten Knochens seltener zu beobachten.
Dagegen sind Splitterungen der Glastafel auch in diesem Falle sehr
gewöhnlich.
[Illustration: Fig. 47.
Hiebwunden des Schädels, mit einem Faschinenmesser erzeugt.]
Eine Hiebwunde des Knochens klafft desto mehr, unter je weniger spitzem
Winkel die Seitenflächen der Hiebwaffe zur Schneide zusammenliefen. Je
dicker aber der schneidige Keil, desto mehr treibt er die Knochenränder
auseinander und desto leichter kommt es zu Absprengungen derselben oder
zu einer Fortsetzung der Enden der Hiebspalten in einen Knochenriss.
Fig. 47 zeigt ein Schädeldach mit zwei mittelst eines sogenannten
Faschinenmessers erzeugten Hiebwunden, wovon die eine den rechten
Scheitelbeinhöcker abgetragen hatte, die andere einen typischen Spalt
darstellt, von dessen vorderem Ende ein Knochenriss abgeht.
Bei der Beurtheilung von Hiebwunden ist nicht blos die Qualität der
getroffenen Theile, sowie der Umstand, ob sie etwa in Körperhöhlen
penetriren, zu berücksichtigen, sondern auch die Wucht der Waffe
und deren Einfluss. Insbesondere hat dieses bei Kopfhiebwunden zu
geschehen, da bei diesen, wenn sie durch wuchtige Werkzeuge, z. B.
durch ein Beil, erzeugt wurden, zu der aus der Trennung der Theile
durch die Schneide des Instrumentes resultirenden Gefahr sich auch jene
hinzugesellt, die durch die Erschütterung des Gehirns bewirkt worden
ist.
3. Stichwunden.
Stichwunden entstehen durch spitzige, im Verhältniss zu ihrer Länge
schmale Werkzeuge, welche in der Richtung ihrer Längsachse eingestossen
wurden. Es sind vorzugsweise messerartige, einschneidige Werkzeuge,
die in Betracht kommen, meistens gewöhnliche Taschenmesser, seltener
dolchartige zwei- oder mehrschneidige oder konische Instrumente.[223]
[Sidenote: Form der Stichöffnung.]
An typischen Stichwunden lässt sich eine Eingangsöffnung und ein von
dieser in die Tiefe sich fortsetzender Stichcanal unterscheiden.
[Illustration: Fig. 48.
Mit einem conischen Dorn zerstochene Haut der Hinterfläche des Stammes.
(Nach +Langer+.)]
[Sidenote: Stichwunden mit conischen Instrumenten.]
Die Form der Eingangsöffnung in der Haut entspricht nur selten der Form
des Querschnittes des betreffenden Werkzeuges. Dies ist eigentlich nur
bei zweischneidigen Instrumenten der Fall, da bei letzteren in der That
die schlitzförmige, beiderseits in einen spitzen Winkel auslaufende
Gestalt der Stichöffnung der Form des Querschnittes der Stichwaffe
gleicht. Man würde jedoch sehr irren, wenn man aus einer solchen Form
der Eingangsöffnung schliessen wollte, dass das betreffende Werkzeug
ein zweischneidiges gewesen war, da auch nach Stichen mit gewöhnlichen,
also einschneidigen Taschenmessern oder solchen mit konischen und
selbst nach jenen mit gewissen kantigen Instrumenten gerade solche
schlitzförmige und an beiden Enden gleiche spitze Winkel bildende
Eingangsöffnungen entstehen, wie sie mit zweischneidigen Stichwaffen
zu Stande kommen. Am auffälligsten ist die Sache bei +conischen+
Instrumenten. Bereits +Dupuytren+ und +Malgaigne+ hatten darauf
aufmerksam gemacht, dass mit solchen Werkzeugen nicht, wie man erwarten
sollte, rundliche, sondern schlitzförmige Trennungen der Haut entstehen
und +Filhos+ (+Briand+ et +Chaudé+, Manuel de médecine légale. 1879, I,
473) hatte schon 1833 constatirt, dass diese Schlitze an verschiedenen
Körperstellen eine verschiedene Richtung besitzen. +Langer+ („Ueber
die Spaltbarkeit der Cutis.“ Sitzungsber. der mathem.-naturw. Classe
der kais. Akademie der Wissenschaften. 1861, XLIV) verfolgte dieses
Verhalten weiter und fand reguläre Spaltbarkeit, indem er constatirte,
dass die mit einem conischen Dorn erzeugten Stichöffnungen nicht
blos immer spitzwinklige Schlitze darstellten, sondern dass die
Längsachse dieser Schlitze an bestimmten Körperstellen immer eine
bestimmte Richtung zeigte, so dass, wenn die gesammte Haut zerstochen
wurde, regelmässige Figuren sich ergaben, die unverkennbar als der
Ausdruck der regelmässigen Faserung und davon herrührenden regulären
Spaltbarkeit der Haut genommen werden müssen (Fig. 48).
[Illustration: Fig. 49.
Schlitzförmige Stichöffnung, durch eine conisch zugespitzte 2·5 Cm.
dicke Eisenstange erzeugt. Nat. Gr.]
Die Form der durch conische Werkzeuge bewirkten Hautspalten ist
ganz gleich derjenigen, wie sie nach Stichen mit messerartigen
Instrumenten gewöhnlich zu Stande kommen, nämlich ein Schlitz mit
scharfen, bogenförmig auseinanderweichenden und beiderseits zu einem
spitzen Winkel zusammenlaufenden Rändern. Die Länge der Spalten ist
proportional der Dicke des Instrumentes, so dass man, wenn sehr
dicke Werkzeuge zur Anwendung kamen, selbst mehrere Centimeter lange
Wundspalten erhalten kann, die dann eben ihrer Länge wegen noch
leichter für Messerstiche gehalten werden können (Fig. 49).
[Sidenote: Stiche von Taschenmessern. Spaltbarkeit der Haut.]
Auch nach Stichen mit einschneidigen Instrumenten, insbesondere mit
gewöhnlichen +Taschenmessern+, zeigt die Stichöffnung nur ausnahmsweise
die Gestalt eines schmalen Keils, dessen Rücken jenem des Messers
entspricht, sondern fast regelmässig die eines Schlitzes, indem die
Wundränder in flachem Bogen auseinander treten und an beiden Enden
spitzwinklig zusammenlaufen (Fig. 50). Die Ursache dieser Erscheinung
liegt einfach in der Thatsache, dass die betreffende Stichöffnung nur
von der Schneide des Messers erzeugt wird, so dass sie eigentlich nur
eine Schnittwunde darstellt. Man kann sich hiervon leicht überzeugen,
wenn man sich an der Leiche eine Linie zieht und nun mit einem Messer
in der Weise zusticht, dass die Spitze des Messers jene Linie trifft
und die Schneide rechts oder links von dieser liegt. Man sieht dann,
dass das eine Ende des erzeugten Wundschlitzes stets in die betreffende
Linie fällt, der Wundspalt aber stets auf jene Seite, gegen welche die
Schneide gekehrt gewesen war. Es folgt daraus, dass es in der Regel
ganz unmöglich ist, aus der Hautwunde allein zu erkennen, wohin der
Rücken und wohin die Schneide des Messers gekehrt gewesen war. Bei
manchen Taschenmessern, z. B. bei den von Raufern besonders häufig
gebrauchten „stellbaren“ Messern, hat auch der Rücken der Klinge
schneidige Kanten. Das Instrument wirkt dann wie ein dreikantiges
und erzeugt pfeilspitzenförmige Eingangsöffnungen, indem auch die
Rückenkanten die Haut etwas einschneiden (Fig. 51).
[Illustration: Fig. 50.
Neun, mit einem zum Schneiden von Kautschuk dienenden einschneidigen
Messer beigebrachte Stichwunden in der Herzgegend. Selbstmord.]
[Illustration: Fig. 51.
Stichöffnung, durch eine Messerklinge mit schneidigem Rücken erzeugt.
Nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 52.
Stichöffnungen, erzeugt durch einen dreiseitigen scharfkantigen
Stachel.]
[Sidenote: Stichöffnungen von kantigen Waffen.]
Bei +kantigen+ Werkzeugen, wie z. B. Stiletten, Feilen, gewissen
Bajonetten, ist die Form der Stichöffnung und der Haut wesentlich
bedingt durch die Beschaffenheit der Kanten. Sind dieselben schneidig,
so wird die Haut durch das senkrecht eingestochene Instrument nach so
vielen Richtungen aufgeschlitzt, als Schneiden vorhanden sind, und
es entstehen daher im Allgemeinen sternförmige Wunden, an welchen die
Zahl der Strahlen der Zahl der schneidenden Kanten entspricht (Fig.
52). Man überzeugt sich jedoch bei Versuchen leicht, dass auch bei
scharfkantigen Stichwaffen dem geschilderten Verhalten gewisse Grenzen
gesetzt sind, und zwar durch die Zahl der Kanten. Da nämlich mit der
Zahl der Kanten die Schneidigkeit derselben abnimmt, weil die Winkel,
unter welchen die Seitenflächen zur Schneide zusammenlaufen, wenn
erstere nicht etwa gekehlt sind, immer stumpfer werden, so wird das
Aufschlitzen der Haut durch die einzelnen Schneiden immer undeutlicher
und hört schliesslich ganz auf, so dass vielkantige Stichwaffen
schliesslich nicht mehr schneiden, sondern nur die Hautfasern in der
Spaltbarkeitsrichtung auseinanderdrängen, d. h. in gleicher Weise
einfache Schlitze erzeugen, wie dieses bei conischen Instrumenten der
Fall ist (Fig. 53). Hatte das Instrument stumpfe oder abgerundete
Kanten, dann wirkt dasselbe schon bei geringer Zahl der Kanten nur
wie ein conisches Werkzeug, d. h. erzeugt einen einfachen Schlitz,
doch kann man häufig aus Einkerbungen und Eindrücken der Ränder des
letzteren nachträglich erkennen, dass ein mehrkantiges Werkzeug
eingewirkt habe.
[Sidenote: Atypische Stichspalten.]
Von dem erwähnten typischen Verhalten der Form der Eingangsöffnungen
kommen Abweichungen vor. So bei conischen Instrumenten insoferne, als
an jenen Hautstellen, welche zwischen zusammenstossenden Systemen von
Spaltbarkeitscurven der Haut meist als parabolische Dreiecke der Haut
(Wirbel) zurückbleiben, nicht einfache Schlitze, sondern dreieckige
oder pfeilspitzenförmige Wunden entstehen (Fig. 48).
[Illustration: Fig. 53.
Durch einen achtseitigen scharfkantigen Stachel erzeugte Stichwunden,
von denen einzelne bereits den Uebergang zu einfachen, der Spaltbarkeit
der Haut entsprechenden Schlitzen erkennen lassen.]
Auch Messerstiche zeigen nicht immer die einfache Schlitzform. Nicht
selten erscheinen sie winklig, was wohl dadurch geschieht, dass beim
Herausziehen des Messers die Haut in einer anderen Richtung als der
ursprünglichen aufgeschlitzt wird, wovon wieder die Ursache entweder
in einer unmerklichen Wendung des Messers oder in einer Verschiebung
oder Retraction der Haut selbst gelegen ist. Ebenso kann sich eine
zickzackförmige Eingangsöffnung bilden, wenn der Stich eine Hautfalte
schief getroffen hat. Fig. 54 zeigt diese beiden Formen.
[Sidenote: Länge der Stichöffnungen.]
Die Länge der Wundspalte entspricht nicht immer der Breite der
Stichwaffe an der Stelle, bis zu welcher sie eingestochen wurde. Bei
conischen, schmalen Instrumenten ist sie in der Regel etwas grösser,
bei dicken dagegen mitunter bedeutend kleiner, weil die Spaltbarkeit
der Haut gewisse Grenzen hat und beim Einstich eine Dehnung des
ursprünglich gesetzten Wundspaltes stattfindet.
Mit Messern erhält man nur bei vorsichtigem Einstechen und Ausziehen
derselben Schlitze, die in ihrer Länge der Breite der Klinge an der
Stelle, bis zu welcher sie eingestochen wurde, entsprechen. Meist ist
der Wundspalt länger, indem beim Ein- oder Ausstechen derselbe weiter
aufgeschlitzt wurde. Unter Umständen können auf diese Weise colossale
Wunden, respective Aufschlitzungen erfolgen.
[Illustration: Fig. 54.
Winklige Stichöffnung auf der vorderen Brustwand, mit einem starken
Taschenmesser erzeugt. Links oben eine zickzackförmige. (Todtschlag.)]
Forensisch wichtig ist aber die Thatsache, dass auch bei messerartigen
Instrumenten die Stichöffnung mitunter kürzer ausfallen kann, als die
Breite des Messers. Häufig liegt nur eine Täuschung vor und die Kürze
des Wundschlitzes ist blos bedingt durch die Retraction der, besonders
in der Mitte, auseinander weichenden Ränder, daher solche Schlitze
niemals im klaffenden Zustand, sondern nach Aneinanderlegung der
Ränder gemessen werden dürfen. Unter Umständen kann jedoch der Schlitz
absolut, und zwar mitunter um ein Beträchtliches kürzer ausfallen, und
zwar dann, wenn das Messer eine stumpfe Schneide besass. Dies wird
verständlich, wenn wir uns erinnern, dass jede typische Stichwunde
eigentlich eine Schnittwunde ist, welche durch die Schneide des
Messers entsteht, und dass diese normale Wirkung eines Messers desto
weniger zur Geltung kommen und schliesslich ganz entfallen muss, je
stumpfer die Schneide sich gestaltet. Das Instrument dehnt dann den
durch die Spitze gemachten Wundschlitz einfach aus, wobei sich die
Haut trichterförmig einstülpt und nach Ausziehung des Messers wieder
retrahirt. Bei den plumpkantigen, messerartigen und zugleich breiten
Instrumenten, z. B. bei einem ungeschliffenen sogenannten Haubajonet,
ist das Missverhältniss zwischen Länge des Schlitzes und Breite der
Klinge am auffälligsten, und wenn die Kante bis zur Spitze stumpf
ist, so wirkt auch ein solches messerartiges Instrument schliesslich
nur wie ein conisches, indem es nämlich die Haut nur in der localen
Spaltbarkeitsrichtung auseinander treibt, und es kann dann geschehen,
dass der erzeugte Schlitz eine ganz andere Richtung hat, als die Breite
des Messers, wenn nämlich die Klinge nicht parallel mit der localen
Spaltbarkeitsrichtung, sondern schief oder quer auf diese aufgesetzt
worden war. Im letzteren Falle kommen entsprechende, von den Kanten
des Messers herrührende Eindrücke an den Rändern des Wundschlitzes zu
Stande.[224]
Der Einfluss der Retraction der durchtrennten Haut auf die Form
einer Stichöffnung muss immer im Auge behalten werden. Eine
stärkere Verziehung der Wunde durch dieselbe kann insbesondere dort
stattfinden, wo die Haut über ihrer Unterlage leichter verschiebbar
ist. Auch die Richtung, in welcher die Faserzüge einer Hautstelle
durch einen Stich durchtrennt wurden, ist von Einfluss, weshalb
Stichwunden, welche auf der Längsachse einer Extremität senkrecht
stehen, im Allgemeinen mehr klaffen werden als die, welche mit ihr
parallel verlaufen. Eine Verziehung kann auch dort vorkommen, wo die
Haut, wie z. B. über Gelenken oder am Halse, durch Bewegungen dieser
Theile verschoben wird. Dass durch den Heilungsvorgang, Eiterung etc.
die ursprüngliche Form einer Stichöffnung vielfach verändert werden
kann, bedarf keiner weiteren Besprechung.
[Sidenote: Stichöffnungen in Knochen.]
Ungleich einfacher gestalten sich Stichöffnungen in +Knochen+,
besonders am Schädel, wo Stiche verhältnissmässig häufig vorkommen.
Hier entspricht die Form der Stichöffnung wegen der Plasticität, die
das Knochengewebe bis zu einem gewissen Grade besitzt, in der Regel
genau jener des Querschnittes des gebrauchten Instrumentes, so dass man
in der Regel leicht entscheiden kann, nicht blos ob der Stich mit einem
Messer, oder conischen, oder kantigen Werkzeug beigebracht wurde, und
wohin bei Messern die Schneide gerichtet war, sondern auch mitunter,
welches von zwei oder mehreren vorgewiesenen Messern etc. die
Verletzung bewirkt haben konnte. Aus Anlass eines Falles von Todtschlag
durch Stich in die linke Schläfe hatten wir nachträglich die Frage
zu beantworten, ob das verletzende Werkzeug ein Taschenmesser oder
die spitze Branche einer Schneiderscheere gewesen sei. Ein einfacher
Vergleich der Form der Stichöffnung in der aufbewahrten Schläfeschuppe
mit den vorgelegten Werkzeugen genügte, um die Möglichkeit, dass
die Scheere diese Oeffnung erzeugt haben konnte, vollkommen
auszuschliessen. In dem pag. 288 erwähnten Fall von Mord durch einen
grossen Bilderhaken fanden sich regelmässige viereckige Oeffnungen
im Schädel, in welche der Haken vollkommen genau hineinpasste. Bei
Stichwunden am Schädel (auch bei Messerstichen) sind Absprengungen der
Glastafel sehr gewöhnlich und solche der äusseren Tafel nicht selten.
Weniger häufig setzen sich die Enden des Wundspaltes in Knochenrisse
fort, wovon Fig. 55 ein exquisites Beispiel liefert, bezüglich dessen
näherer Besprechung wir auf das Capitel „Hirnsubstanz auf Werkzeugen“
verweisen.
[Illustration: Fig. 55.
Keilförmige, von einem starken Taschenmesser erzeugte Stichöffnung im
linken Scheitelbein mit von den Enden ausgehenden Knochenrissen. Vor
derselben die abgebrochene Messerspitze im Knochen steckend.]
[Sidenote: Stichöffnungen in Weichtheilen.]
Was die Stichöffnungen in den +Weichtheilen+ anbelangt, so
gestalten sich dieselben im Allgemeinen in gleicher Weise, wie in
der Haut. Auch hier hängt die Beschaffenheit der Stichöffnung von
dem Umstande ab, ob die Stichwaffe eine schneidende war oder nicht.
Im ersteren Falle treffen wir bei ein- und zweischneidigen Waffen
scharfrandige Schlitze, bei mehrschneiden sternförmige Wunden, deren
Strahlenzahl die Zahl der Schneiden erkennen lässt. War das Instrument
ein conisches oder stumpfkantiges, wenn auch vielleicht messerartig
geformtes, so drängt es die Fasern des getroffenen Gewebes einfach,
entsprechend der localen Spaltbarkeitseinrichtung des letzteren,
auseinander. Da nun die Spaltbarkeitsrichtung in den heterogenen
Geweben eine verschiedene ist, so kommt die interessante Erscheinung
zu Tage, dass durch einen und denselben Stich Schlitze zu Stande
kommen, die, ohne dass etwa eine Verschiebung stattgefunden hätte,
nicht blos in der Haut eine andere Richtung haben als in den inneren
Organen, sondern auch in den verschiedenen Stratis der letzteren
verschieden gestellt sind, ja sogar sich unter einem rechten Winkel
kreuzen können. So erzeugt z. B. ein mit einem conischen Instrument
bewirkter penetrirender Stich der Magenwand im Peritonealüberzug einen
Schlitz, dessen Längsachse parallel zu den Curvaturen verläuft, in der
Muscularis einen anderen, der meist quer auf dem erstgenannten steht
und endlich in der Schleimhaut einen dritten, der wieder eine andere
Richtung besitzt.
Inwiefern diese von +Katayama+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
1887, XLVI) weiter verfolgte Thatsache für die Erkennung der Natur
des verletzenden Werkzeuges benützt werden kann, liegt auf der Hand,
und wir hatten unter Anderem Gelegenheit, sie in folgendem Fall zu
verwerthen: Ein geisteskranker Optiker hatte seine Frau erstochen,
war dann verschwunden und wurde erst einige Tage darnach als Leiche
aus der Donau gezogen. Bei der Obduction der Frau fanden sich drei
schlitzförmige Stichwunden von 10-12 Mm. Länge. Die eine am inneren
Rande des oberen Antheils des rechten Kopfnickers parallel mit
diesem, die zwei anderen am inneren Ende der linken Clavicula, beide
mit der Längsachse der letzteren gleichlaufend. Die erste war in
die Carotis interna eingedrungen und hatte dieselbe innerhalb ihrer
partiell erhaltenen Scheide vollkommen +quer+ durchtrennt, unter
den zwei anderen fand sich eine vollkommen +quere+ Durchtrennung
der A. subclavia und 0·5 Cm. davon entfernt am centralen Antheil
des durchtrennten Gefässes eine ebenfalls ganz quere schlitzförmige
Durchbohrung der vorderen und hinteren Wand. Da sich somit die
Hautschlitze mit den Trennungen in den darunterliegenden Arterien
kreuzten, so war es klar, dass keine schneidige Stichwaffe, sondern
ein conisches oder ein stumpfkantiges Werkzeug zur Anwendung gekommen
war. In der That ergaben die Erhebungen, dass die Stiche mit einem
myrthenblattförmigen, aus einer Feile (sogenannten Vogelzunge)
gefertigten Polirinstrument mit schmalovalem Querschnitt beigebracht
worden waren.
[Sidenote: Stichcanal.]
Der Verlauf des Stichcanals entspricht nicht immer der Richtung,
in welcher der Stoss geführt wurde, da die Waffe auch abgeglitten
sein konnte. Auch muss der Stichcanal, namentlich wenn er penetrirte
und bewegliche Organe, wie z. B. jene des Thorax oder die Gedärme,
betraf, nicht immer die unmittelbare Fortsetzung der Stichöffnung
bilden, ein Umstand, der namentlich dann, wenn mehrere Stiche
vorliegen, wohl zu beachten ist. Ein eigentlicher, nach allen Seiten
abgeschlossener Stichcanal kann auch fehlen, so z. B. wenn ein Stich
einen Körpertheil blos tangirte und, was natürlich nur bei einer
schneidigen Stichwaffe geschehen kann, die Theile blos aufschlitzt,
wodurch eine Schnittwunde vorgetäuscht werden kann. Am leichtesten
kann dieses an gewölbten Körpertheilen, z. B. an den Extremitäten
oder, besonders wenn das Messer an dem Knochen abgleitet, am Kopfe
geschehen. Aber auch am Halse kann dieses vorkommen und +Pilz+ (Ueber
Stichverletzungen. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII.
Suppl., pag. 192) bildet einen Fall ab, wo die Haut vor dem Kehlkopfe
durch einen Messerstich quer aufgeschlitzt worden war, so dass es
aussah, wie wenn der Versuch einer Halsdurchschneidung gemacht worden
wäre. An inneren Körpertheilen sind solche Aufschlitzungen nicht
selten, so haben wir einen Messerstich gesehen, der zwischen der 7.
bis 8. Rippe in der Axillarlinie eingedrungen war, die linke Kuppe
des Zwerchfells und den unteren Rand der linken Lunge aufgeschlitzt,
an der Hinterfläche des Herzens beide Kammern eröffnet und das Septum
durchtrennt hatte, so dass in keinem der verletzten inneren Organe ein
eigentlicher Stichcanal, sondern rinnenförmige Trennungen gefunden
wurden. Stichwunden, die einen grösseren Körpertheil, z. B. die Brust,
vollkommen durchdringen, sind selten. Es kommt dies nur bei sehr
langen Stichwaffen, z. B. Degen, Bajonetten, ganz ausnahmsweise auch
bei langen Küchenmessern vor, nicht gar selten aber bei peripheren
Körpertheilen, insbesondere an den Extremitäten, wenn sie mehr
tangential getroffen werden. Auch kann dann das Instrument noch in
einen anderen Körpertheil eindringen. +Pilz+ bildet solche Fälle ab,
die eine besondere Bedeutung auch dadurch besitzen, dass die Ausgangs-,
respective secundären Oeffnungen für ebensoviele isolirte Stichwunden
gehalten werden können.
Endlich haben wir in zwei Fällen von Messerstichen in’s Gehirn statt
eines eigentlichen Stichcanals eine hämorrhagische Höhle gefunden, die
offenbar durch das aus verletzten grösseren Hirnarterien ausströmende
Blut in ähnlicher Weise durch Zerwühlung der Hirnsubstanz entstanden
war, wie dies nach spontaner Berstung dieser Gefässe zu geschehen
pflegt. Ein Steckenbleiben abgebrochener Klingen oder deren Spitzen in
Knochen kommt häufig vor, besonders am Schädel. Sie heilen mitunter
ohne Schaden ein, häufiger kommt es, und zwar manchmal erst nach
längerer Zeit, zu Erweichungen, Abscessbildung etc. und zum Tod.
4. Schussverletzungen.
An einer Schusswunde kann man in der Regel die Eingangsöffnung
(Einschuss) und den Schusscanal unterscheiden, welcher entweder blind
endet oder in eine Ausgangsöffnung (Ausschuss) mündet.
[Sidenote: Nahschüsse.]
Die Beschaffenheit der +Eingangsöffnung+ hängt vorzugsweise von
der Entfernung ab, aus welcher geschossen wurde. Bei Schüssen aus
unmittelbarer Nähe wirkt ausser dem Projectil (und dem Propf) auch die
unmittelbare Gewalt der Explosionsgase und die Pulverflamme.
In Folge der combinirten Wirkung des Projectils und der directen Gewalt
der Pulvergase ist der Einschuss in der Regel unverhältnissmässig gross
und desto grösser, je mehr Pulver geladen war, daher wir nach Schüssen
aus Gewehren oder Pistolen ungleich grössere, mitunter colossale
Eingangsöffnungen finden, als nach einem Revolverschuss, und nach
Schüssen aus sogenannten Taschenrevolvern kleinere als nach jenen, die
aus Revolvern grösseren Kalibers abgefeuert wurden.
[Sidenote: Wirkung der Explosionsgase und der Pulverflamme.]
Die Oeffnung erscheint entweder als Substanzverlust und dann meist
vollkommen rund, wie mit einem Locheisen ausgeschlagen (Fig. 56
und 58) oder unregelmässig sternförmig eingerissen (Fig. 57 und
59). Letztere Form findet sich ungleich häufiger bei Pistolen- oder
Gewehrschüssen als nach solchen aus Revolvern, und am häufigsten
dann, wenn der Schuss eine Stelle traf, an welcher die Haut nahe über
Knochen (Schädel, Rippen) gespannt gewesen war. Die Bildung solcher
Lappen und Einrisse kommt wahrscheinlich dadurch zu Stande, dass die
Explosionsgase sofort nach erfolgter Durchlöcherung der Haut durch das
Projectil des geringeren Widerstandes wegen zwischen dieser und der
festeren Unterlage sich ausbreiten, wodurch die Haut aufgehoben und vom
Lochschuss aus zum Bersten gebracht wird. Dafür spricht die Thatsache,
dass die Ränder sowohl der lappenförmig eingerissenen, als der runden
Eingangsöffnungen fast immer mehr weniger unterminirt sind, und dass
entsprechend diesen unterminirten Partien das Unterhautgewebe im weiten
Umfange vom Pulver geschwärzt erscheint. In seltenen Fällen erfolgt
eine einfache lineare Berstung der Haut, bei welcher die Spaltbarkeit
derselben eine Rolle zu spielen scheint (Fig. 60).
[Illustration: Fig. 56.
Runde Eingangsöffnung eines aus unmittelbarer Nähe gegen das Herz
abgefeuerten Pistolenschusses. (Selbstmord.) Nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 57.
Pistolenschuss. (Selbstmord.) Grosse sternförmig zerrissene
Eingangsöffnung. ⅔ nat. Gr.]
Die Wirkung der Pulverflamme äussert sich durch Versengung der Haare
oder Härchen in der nächsten Umgebung der Eingangsöffnung, eventuell
auch durch Verbrennung der Kleidungsstücke. Auch die an der Leiche
gewöhnlich als lederartiger, vertrockneter Saum sich präsentirende Zone
der Einschussöffnung bringt man mit einer Verbrennung der Haut durch
die Pulverflamme in ursächlichen Zusammenhang, sie als „Brandsaum“
bezeichnend. Doch verdankt derselbe nicht nur einer Verbrennung,
sondern auch der Contusion und Aufschürfung der die Eingangsöffnung
begrenzenden Hautpartie seine Entstehung. Man sieht einen solchen
„Brandsaum“ besonders bei rundlichen und kleinen Schussöffnungen und
kann dann, wie Fig. 58 zeigt, in der Regel zwei, meist scharf von
einander getrennte Zonen unterscheiden, eine innere, verhältnissmässig
schmale und dunkler gefärbte und eine äussere, viel breitere. Letztere
entspricht offenbar der Basis des Luftdruck-, respective Flammenkegels,
der die betreffende Hautpartie getroffen hatte, ersterer dagegen dem
Umfange des Projectils, welches die Haut kegelförmig nach einwärts
stülpte und an der Spitze des Kegels durchriss. Dieser Saum, dessen
Bildung man sehr schön verfolgen kann, wenn man gegen Kautschukplatten
schiesst, entsteht somit nur durch Quetschung und Aufschürfung der
betreffenden Hautpartie und kommt auch bei Fernschüssen zur Entwicklung.
[Illustration: Fig. 58.
Schuss in der Herzgegend mit einem Revolver mittlerer Gattung.
(Selbstmord.) Runde Eingangsöffnung. Nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 59.
Sternförmige Eingangsöffnung von einem gegen die Stirn abgefeuerten
Revolverschusse. (Selbstmord.) Nat. Gr.]
[Sidenote: Pulverschwärzung.]
Ein weiterer Effect der Pulverflamme ist die Schwärzung der Umgebung
des Einschusses, die theils durch den Pulverschmauch, theils durch
eingesprengte, halbverbrannte Pulverkörner (Pulverkohle) bewirkt wird.
Ersterer lässt sich abwischen, letztere aber nicht. Die eingesprengten
Pulverpartikelchen sind meist schon mit freiem Auge, noch deutlicher
aber mit der Loupe oder unter dem Mikroskop zu erkennen (Fig. 61).
Die Schwärzung ist natürlich am deutlichsten, wenn die Waffe an den
nackten Körper angelegt worden war, kann aber auch in diesem Falle
mitunter sehr unscheinbar ausgebildet sein, dann nämlich, wenn die
Mündung des Laufes fest angedrückt gewesen war und so der ganze Schuss
sofort in das Innere eindrang. Dafür ist dann die Schwärzung unter der
Haut und in der vorderen Partie des Schusscanals desto stärker. War
die betreffende Stelle von Kleidungsstücken bedeckt gewesen, so ist
die Schwärzung um den Einschuss desto weniger entwickelt, je dicker
die ersteren gewesen waren. Schwärzung und der sogenannte „Brandsaum“
sind um die Einschussöffnung, wenn der Schuss senkrecht auf den
betreffenden Körpertheil abgefeuert wurde, concentrisch angeordnet,
excentrisch dagegen, wenn die Waffe schief aufgesetzt war. In diesem
Falle bildet Schwärzung und Brandsaum ein mehr weniger lang-gezogenes
Oval, dessen grösserer Antheil jenseits der Schussöffnung liegt und die
Pulvereinsprengungen erscheinen mehr weniger beistrichförmig, mit dem
dickeren Ende gegen die Mündung der Schusswaffe gekehrt (+Poix+, Étude
médico-légale sur les plaies d’entré par coups de revolver. Lyon 1885).
[Illustration: Fig. 60.
[Sidenote: Spaltförmiger Einschuss.]
Schlitzförmige Schusswunde bei einem Selbstmörder, der sich mit einer
kleinen Pistole in’s Herz geschossen hatte. Darunter eine nachträglich
mit einem conischen Stichel gemachte schlitzförmige Oeffnung, deren
paralleler Verlauf mit dem durch den Schuss bewirkten Wundschlitz
beweist, dass auch bei diesem die Sprengung der Haut in der localen
Spaltbarkeitsrichtung erfolgte. Nat. Gr.]
Schliesslich kann, wie A. +Paltauf+[225] berichtet, auch der
Kohlenoxydgehalt der Pulverflamme, der namentlich bei den feineren und
kohlenreicheren Pulverarten ein ansehnlicher ist, durch Röthung des
extravasirten Blutes und das für Kohlenoxydhämoglobin charakteristische
spectrale Verhalten sich bemerkbar machen.
[Sidenote: Fernschüsse.]
Nach Schüssen aus einiger Entfernung wird desto mehr nur das Projectil
die Beschaffenheit der Eingangsöffnung bedingen und es wird desto mehr
die Wirkung der anderen oben erwähnten Einflüsse entfallen, je grösser
die Entfernung war, aus welcher gefeuert wurde.
[Sidenote: Zündende Wirkung der Pulverflamme.]
Zuerst entfällt die unmittelbare Wirkung der Explosionsgase, deren
Druck schon bei geringen Distanzen und desto früher sich nicht mehr
geltend macht, je geringer die Pulverladung gewesen, also bei Revolvern
früher als bei Pistolen. Dann verschwindet die wegwischbare Schwärzung
durch Pulverschmauch, sowie die sengende und zündende Wirkung der
Pulverflamme, und zwar auch diese bei Revolvern früher als bei Pistolen
und bei diesen früher als bei Gewehren. +Tourdes+[226] konnte mit
Pistolenschüssen (Sattelpistole) noch auf eine Distanz von einem halben
Meter ein Papier entzünden, und wir haben nach Schüssen mit einem
Revolver von 9 Mm. Durchmesser noch auf eine Entfernung von 10-15 Cm.
ein Versengtwerden der Haare constatirt. Bei Pistolen und Gewehren
kann ein Brandeffect auch durch den mitgerissenen brennenden Pfropf
veranlasst werden, und zwar bei Gewehrschüssen noch auf ziemlich weite
Distanzen. Zuletzt schwindet die Schwärzung der Haut durch eingebrannte
Pulverkörner. Letztere stellen gewissermassen winzige Projectile dar,
die ziemlich weit getragen werden können und einen Zerstreuungskegel
bilden, wie wir dies im Grossen bei den Schrotschüssen sehen. +Tourdes+
fand, wenn er mit einer gewöhnlichen Sattelpistole schoss, noch bei
einer Entfernung von 2 Metern Pulverkörner eingesprengt, bei einem
grösseren (amerikanischen) Revolver noch bei einer Entfernung von
1 Meter, nicht mehr aber, wenn diese 1½ Meter betrug; bei einem
gewöhnlichen sechsläufigen Revolver Schwärzung blos bis zu 40 Cm. Mit
letzterer Angabe stimmen auch unsere Versuche überein. Bezüglich der
Schüsse aus Gewehren ist anzunehmen, dass die Pulverkörner ungleich
weiter getragen werden.
[Illustration: Fig. 61.
Eingangsöffnung einer mit einem Taschenrevolver erzeugten Schusswunde
unter der ersten Brustwarze nach Wegwischung des Pulverschmauches.
Eingesprengte Pulverkörner. (Selbstmord.) Nat. Gr.]
[Sidenote: Schüsse aus grösseren Entfernungen. Form der
Eingangsöffnung.]
Bei grösseren Entfernungen wirkt blos das Projectil, und es hängt,
allerdings nicht ausnahmslos, so doch in der Regel von seiner Form ab,
wie die Form der Eingangsöffnung ausfällt. Die Kugelschüsse erzeugen
meist rundliche, mit Substanzverlust einhergehende Wunden, während
sich, wenn mit Spitzkugeln geschossen wurde, häufig schlitzförmige
Eingangsöffnungen finden. Letztere Form trifft man insbesondere bei
Revolverschüssen, und bei diesen kann, namentlich wenn das Projectil
klein war, mitunter eine ganz unbedeutende schlitzförmige Trennung der
Haut entstehen, welcher selbst eine Aehnlichkeit mit einer Stichwunde
zukommen kann. In der That ist die Verletzung des +Victor Noir+, der,
wie bekannt, durch +Peter Bonaparte+ mit einem Revolver erschossen
wurde, anfangs für eine Stichwunde gehalten worden, und +Braun+[227]
berichtet über eine Spitzkugelschusswunde, deren Eingangsöffnung
wie eine Kratzwunde aussah und per primam heilte, wie er auch bei
angestellten Versuchen fand, dass die mit Spitzkugeln erzeugten
Wunden mitunter so aussehen, als wären sie mit der Lancette gemacht
worden. Auch +Casper+-+Liman+[228] betonen die Verschiedenheit der
Eingangsöffnung bei Schüssen mit gewöhnlichen Kugeln und solchen mit
Spitzkugeln und erwähnen (pag. 289) eines Falles, wo die durch einen
Spitzkugelschuss veranlasste Eingangsöffnung wie ein Stich aussah.
Uns sind derartige Fälle wiederholt vorgekommen, sowie auch ein Fall,
in dem die durch einen Taschenrevolver erzeugte Wunde der behaarten
Kopfhaut ihrer Kleinheit wegen ganz übersehen und erst bei der Section
entdeckt wurde. Die Fig. 62 bis 67 zeigen die verschiedenen Formen der
Eingangsöffnungen bei Revolverschusswunden, insbesondere die Fig. 65,
66 und 67 Beispiele von solchen, die für Stichwunden gehalten werden
könnten.
[Illustration: Fig. 62.
Revolverschuss. Rosettenförmige Eingangsöffnung. Nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 63.
Revolverschuss. Dreieckige, von einem contundirten Hof umgebene
Eingangsöffnung. Nat. Gr.]
Sowohl bei den Kugel- als bei den Spitzkugelschüssen kommt die Dehn-
und Spaltbarkeit der Haut in Betracht, welche der Grund ist, warum die
Oeffnung gewöhnlich kleiner ist als das Projectil. Es ist in dieser
Beziehung, wie auch die Versuche von +Busch+[229] mit Schüssen gegen
Kautschukplatten ergaben, anzunehmen, dass jedes Projectil zunächst
die Haut kegelförmig vor sich hertreibt und dieselbe an der Spitze des
Kegels durchbohrt, worauf sich die Haut wieder retrahirt. +Busch+ fand,
wenn er mit einem Chassepotgewehr gegen eine Kautschukplatte schoss,
nur ein winziges Loch, welches kaum ein Drittel des Durchmessers der
Chassepotkugel hatte, aber einen schwärzlichen, dem Caliber der Kugel
entsprechenden Hof besass. Letzterem Befund entspricht, wie bereits
oben erwähnt, die Hautaufschürfung und Contusion, die als innerste
Zone die Eingangsöffnungen von Kugel- sowohl als Spitzkugelschüssen
einzusäumen pflegt.
[Illustration: Fig. 64.
Revolverschuss. Breite schlitzförmige Eingangsöffnung. Nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 65.
Revolverschuss. Feine schlitzförmige, von einem contundirten Hof
umgebene Eingangsöffnung. Nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 66.
Stichwundenähnliche Eingangsöffnung einer Revolverschusswunde. Nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 67.
Revolverschuss. Schmale schlitzförmige, einem Messerstich ähnliche, von
einem „Brandsaum“ umgebene Eingangsöffnung. Nat. Gr.]
[Sidenote: Schusscanal.]
Auch die Beschaffenheit des +Schusscanals+ gestaltet sich, wenn aus
unmittelbarer Nähe geschossen wurde, in der Regel anders, als wenn der
Schuss aus grösserer Entfernung kam. Im ersteren Falle wirkt ausser dem
Projectil auch die Pulverflamme, welche Schwärzung des Schusscanals in
centripetal abnehmendem Grade bedingt, und die zertrümmernde Gewalt
der Explosionsgase. Letztere meist in noch intensiverer Weise als an
der Haut, weil sich die Explosionsgewalt kegelförmig verbreitert und
weil nun auch die etwa mitgerissenen Gegenstände, wie insbesondere
häufig die von den zunächst getroffenen Theilen herrührenden
Knochensplitter, ebenfalls sich geltend machen. Ueberhaupt ist die
Unterlage der zunächst getroffenen Stelle von wesentlichem Einfluss
auf die Beschaffenheit einer aus unmittelbarer Nähe beigebrachten
Schussverletzung. Wird diese Unterlage von Knochen gebildet, wie
z. B. am Kopfe, so werden entweder Stücke des Knochens lochförmig
herausgerissen und vorwärtsgetrieben oder die Knochen werden durch den
Explosionsdruck auseinandergesprengt, wozu, wenn der Schuss gegen die
Schädelhöhle abgefeuert wurde, auch der hydraulische Seitendruck des
plötzlich auseinander getriebenen Inhaltes der Schädelhöhle hinzukommt,
welche Momente in ihrem Zusammenwirken desto grössere Verwüstungen
anrichten, je grösser die Pulvermenge gewesen ist, mit welcher geladen
war, daher wir, z. B. nach Pistolenschüssen, sehr gewöhnlich den ganzen
Schädel sammt den weichen Schädeldecken auseinandergesprengt und selbst
das ganze Schädeldach abgerissen finden. Unter solchen Umständen ist
ein eigentlicher Schusscanal gar nicht zu unterscheiden, und man
hat mitunter Mühe, die Stelle zu erkennen, die vom Schuss zunächst
getroffen wurde. Mit Revolvern werden so hochgradige Verwüstungen
seltener erzeugt und nur, wenn Revolver grösseren Calibers benützt
wurden. Die kleinen Taschenrevolver bewirken, auch wenn sie gegen den
Schädel abgefeuert wurden, in der Regel nur einen Lochschuss, obgleich
auch bei dieser häufig von der lochförmigen Oeffnung im Knochen
abgehende Risse beobachtet werden.
Auch bei Nahschüssen gegen die Brust begegnen wir, wenn aus Pistolen
oder grossen Revolvern geschossen wurde, bedeutenden Verwüstungen der
inneren Organe, doch pflegt sich häufig die Gewalt in den zunächst
liegenden Organen zu erschöpfen, so dass schliesslich doch nur das
Projectil wirkt und, einen mehr weniger langen Schusscanal bildend,
entweder irgendwo stecken bleibt oder penetrirt.
Bei Schüssen aus einiger Ferne wird der Schusscanal nur durch das
Projectil veranlasst; allerdings ist aber auch in einem solchen Falle
der Effect keineswegs immer der gleiche.
Werden blos Weichtheile getroffen, so findet sich in der Regel
ein einfacher Schusscanal, der entweder blind endet oder zu einer
Ausgangsöffnung führt. Wurden Knochen getroffen, so kommt es wohl
mitunter zu einem einfachen Lochschuss, ungleich häufiger aber finden
sich entweder von einem Lochschuss ausgehende Sprünge und Risse
der Knochen, oder es werden letztere mehr weniger gesplittert und
die Splitter mitgerissen, wodurch die weitere Beschaffenheit des
Schusscanals wesentlich beeinflusst wird.
[Sidenote: Splitterungen am Knochen.]
Bedeutende Splitterungen der Knochen werden vorzugsweise durch die
modernen Hinterlader, insbesondere durch die jetzigen Militärgewehre,
verursacht. Bekanntlich waren die Erfahrungen, die man in dem
deutsch-französischen Kriege gegenüber dem Chassepotgewehre machte,
derart, dass anfangs gegen die Franzosen die Beschuldigung
erhoben wurde, dass sie mit Explosionskugeln geschossen hätten.
Versuche aber, die sowohl mit dem Chassepotgewehre, als mit anderen
Hinterladungsgewehren von +Busch+[230], +Wahl+[231], +Küster+[232],
+Richter+[233], +Heppner+, +Garfinkel+[234] und später von +Kocher+
(Virchow’s Jahrb. 1881, II, 319) angestellt wurden, haben ergeben,
dass durch jene von diesen Gewehren, denen eine besonders hohe
Propulsionskraft zukommt, wenn aus nicht sehr weiten Distanzen (20
Schritte, +Busch+) geschossen wird und die Kugel noch mit voller
lebendiger Kraft aufschlägt, mitunter colossale Verwüstungen, z. B.
Auseinanderreissungen des Schädels, erfolgen können.
Bezüglich der Ursache solcher Zerstörungen sind Einzelne (+Busch+)
der Meinung, dass das, meist aus weichem Blei bestehende Projectil
vermöge seiner Geschwindigkeit beim Durchtritt durch den festen
Körper (Knochen) so erwärmt werde, dass von ihm, das schon in Folge
der Reibung im Laufe und in der Luft erhitzt anlangt, Theilchen
abschmelzen, die in einem Zerstreuungskegel auseinanderfahren.
Manche lassen solche Theilchen mechanisch absplittern, während
Andere, insbesondere +Kocher+, sich die Verwüstungen aus dem enorm
schnellen Rotiren der Kugel erklären, dessen centrifugale Wirkung
sich vorzugsweise im Gehirne, beziehungsweise im Knochenmark geltend
macht und Schädel- und Röhrenknochen durch plötzlichen hydraulischen
Druck auseinandersprengt. Höchst interessante und sinnreiche Versuche
von +Reger+ (Die Gewehrschusswunden der Neuzeit. Strassburg 1884),
worüber derselbe auch in der Berliner Naturforscherversammlung
berichtete, und von +Beck+ (Ueber die Wirkung neuerer
Gewehrprojectile etc. Leipzig 1885) bestätigen +Kocher+’s Anschauung,
sowie die Thatsache, dass die Zerstörungen proportional sind mit
der Weichheit des Geschossmaterials. Diese Beobachtungen haben
insbesondere deshalb eine forensische Bedeutung, da man aus so
bedeutenden Verwüstungen leicht schliessen könnte, dass der Schuss
aus unmittelbarer Nähe gekommen sei. Es wäre jedoch anderseits irrig,
zu meinen, dass Derartiges nur bei modernen Gewehren vorkommen
könne. Auch Gewehre alten Systems können mitunter auf ziemlich weite
Distanzen ungewöhnliche Zertrümmerungen, z. B. Auseinandersprengungen
des Schädels, bewirken. Beweis dessen der in Fig. 68 abgebildete
Fall, wo die hochgradige Zertrümmerung des Schädels bei einem Duell
auf 30 Schritte durch den Schuss aus einer glatten Sattelpistole
alten Systems mit fast haselnussgrosser Rundkugel zu Stande kam.
[Sidenote: Militärgewehre.]
[Sidenote: Knochenzertrümmerung durch Fernschuss.]
Eine besonders hohe Durchschlagkraft besitzen die neuen
+Kleinkaliber-Gewehre+. So nach +P. Bruns+ („Die Geschosswirkung
der neuen Kleinkaliber-Gewehre.“ Tübingen 1889) das Mauser-Gewehr
der belgischen Armee. Das 8 Mm. breite, aus einem Weichbleikern und
einem Mantel aus Kupfernickelblech bestehende Geschoss vermag auf 100
Meter Distanz durch 4-5, auf 800-1200 Meter durch 2-3 Glieder einer
Compagnie durchzudringen, selbst wenn hierbei die stärksten Knochen
getroffen wurden. Doch sind die Erscheinungen von Sprengwirkung
entschieden seltener und weniger ausgesprochen wie bisher und lassen
die Schüsse auf den Schädel die höchsten Grade der Höhlenpressung
wahrnehmen. Der Einschuss ist kreisrund und auch bei Nahschüssen
(12-100 Meter) kleiner als der Durchmesser des Projectils, der
Ausschuss stellt meist einen Hautriss dar, der bei Nahschüssen
eine Länge von bis 15 Cm. erreichen kann. -- Analoge Beobachtungen
bezüglich des österr. 8 Mm. Mannlicher-Stahlmantelgeschosses
wurden von dem k. u. k. Regimentsarzt Dr. +Habart+ (Wien 1892)
veröffentlicht.[235]
[Illustration: Fig. 68.
Hochgradige Zertrümmerung des Schädels durch einen aus der Entfernung
von 30 Schritt abgefeuerten Pistolenschuss.]
[Sidenote: Richtung des Schusscanals.]
Die Richtung des Schusscanals entspricht nicht immer der
Schussrichtung, da das Projectil, wenn es auf Knochen aufschlägt,
entweder unter einem Winkel ricochetiren oder im Bogen abgelenkt
werden und selbst entlang dieser um ganze Körpertheile herumgehen
kann (Bogen-, Contour-, Ringelschuss). Eine solche Ablenkung kann
unmittelbar unter dem Einschuss, aber auch erst im weiteren Verlaufe
des Schusscanals stattfinden. Letzteres ist innerhalb des Schädels an
dessen Concavität nicht selten der Fall. Ebenso ist die Möglichkeit
nicht zu übersehen, dass ein Schuss gar nicht gegen die betreffende
Person abgefeuert, sondern die Kugel irgendwo abgeprallt und gegen den
Körper gelenkt worden sein konnte. Auch kann das Projectil in Folge
seiner eigenen Schwere sich nachträglich senken.
[Sidenote: Indirecte Schussfractur.]
Nicht unwichtig ist es ferner, zu wissen, dass am Schädel auch
ausserhalb des Bereiches des Schusscanals Läsionen sowohl der
Weichtheile als der Knochen durch sogenannten Contrecoup sich bilden
können, und zwar sowohl bei Schüssen aus unmittelbarer Nähe, als bei
solchen aus grösserer Entfernung. Von den Verletzungen der Weichtheile
erwähnen wir vorzugsweise die oberflächlichen Contusionen des Gehirns,
die z. B. bei einem Schusse quer durch die Schläfe an der Spitze
der Stirn- oder Hinterhauptlappen sitzen können, von den indirecten
Knochenverletzungen namentlich die indirecten und isolirten Fracturen
der Orbitaldächer. Solche entfernte Verletzungen bilden sich durch
den plötzlich erhöhten Seitendruck im Innern des Schädels, der bei
Schüssen aus der Ferne durch die centrifugale Rotationswirkung des
Projectils, bei Nahschüssen ausserdem durch die seitliche Expansion
der Pulvergase entsteht. Ueber solche indirecte Schussfracturen des
Schädels hat +Messerer+ (Centralbl. f. Chir. 1884, Nr. 19) geschrieben
und zu den in der Literatur bekannten 17 Fällen einen neuen
hinzugefügt. Unseren Beobachtungen zufolge sind dieselben, wenigstens
bei Nahschüssen, keine Seltenheit.
[Sidenote: Formveränderung des Projectils.]
Am blinden Ende eines Schusscanals findet sich das Projectil. Hatte
der Betreffende die Kugel längere Zeit im Leibe getragen, so kann sich
dieselbe senken und an einer ganz anderen als der ursprünglichen Stelle
gefunden werden. Aber auch in frischen Fällen ist dieses möglich. So
haben wir bereits in zwei Fällen von Revolverschüssen quer durch das
Gehirn das Projectil nicht im Schusscanal, sondern im Hinterhorn des
dem Ende des ersteren näheren Ventrikels gefunden. Das aufgefundene
Projectil zeigt sich selten in seiner ursprünglichen Form erhalten,
sondern in der Regel mehr weniger verändert, und zwar immer dann,
wenn es Knochen durchbrochen hatte oder in Knochen stecken geblieben
war.[236] Die Kugel wird in dem Augenblicke, in dem sie den Knochen
berührt, plattgedrückt, woraus sich erklärt, dass die Schussöffnungen
im Schädelknochen fast immer grösser sind als das Projectil, wie wir
denn auch ein von einem Revolverschuss herrührendes Präparat besitzen,
wo die kuchenförmig plattgedrückte Kugel dem Stirnbeine aufsitzt und
letzteres darunter eine kreisförmige Fissur der äusseren Tafel von
gleichem Durchmesser zeigt, welcher eine kreisförmige, jedoch noch
einmal so grosse Absprengung der Glastafel entspricht. In anderen
Fällen wird das Projectil nicht blos plattgedrückt, sondern halbirt
oder gar in mehrere Stücke getheilt, wodurch, indem jedes Fragment
weiterdringt, zwei oder mehrere Schusscanäle durch +einen+ Schuss
entstehen und dadurch, sowie durch die abgesprengten Knochenfragmente
grosse Verwüstungen angerichtet werden können.
In einem 1877 obducirten Falle war eine Kellnerin von ihrem
Liebhaber mittelst einer durch’s Fenster abgeschossenen Pistole
getödtet worden. Die Kugel war in der linken seitlichen Stirngegend
eingedrungen, hatte die betreffenden Knochen zertrümmert, sich aber
gleichzeitig halbirt und die eine Hälfte der Kugel war zwischen den
weichen Schädeldecken und dem Stirnbein bis zum rechten Stirnhöcker
vorgedrungen, woselbst sie unter der Haut stecken blieb, während die
andere in die Schädelhöhle eindrang und, beide Stirnlappen schief
durchsetzend, an der Innenfläche des rechten Stirnbeines gefunden
wurde. Einen analogen Fall, in welchem der Befund auf zwei Schüsse
bezogen wurde, vide Annal. d’hygiène publ. 1887, pag. 465. Mehrere
Oeffnungen können auch durch ein einziges Projectil dann entstehen,
wenn dasselbe nach Penetration eines Körpertheiles in einen anderen
eindringt. Am häufigsten geschieht dies, wenn zuerst Extremitäten
getroffen wurden. Bei einer Frau, welche von ihrem Manne mit einem
einzigen Revolverschuss aus grösserer Distanz getödtet worden war,
fanden wir in der Herzgegend drei Oeffnungen. Das Projectil war
nämlich durch die hängende Mamma und dann in die Brust eingedrungen.
[Illustration: Fig. 69.
Deformirtes Spitzgeschoss eines Militärgewehres, welches den
Oberschenkel zersplittert hatte. (Nach J. +Baaz+, Wr. med. Presse,
1881, pag. 44.) _a_ Delle, _b_ umgekrämpter Rand.]
Uebergänge zur völligen Spaltung findet man nicht selten, indem z. B.
das zum Theile gespaltene Projectil auf irgend einer Knochenkante
„reitet“. Ausser in dieser Richtung ist die Formveränderung des
Projectils in gerichtsärztlicher Beziehung deshalb von Bedeutung, weil
dadurch die mitunter wichtige Diagnose, ob mit einer Kugel, Spitzkugel
oder mit gehacktem Blei geschossen wurde, erschwert werden kann. Doch
sind die Spitzkugeln in der Regel trotz hochgradiger Formveränderung
dennoch leicht als solche zu erkennen, da sich meist die basale Delle
und der sie umgebende Ring erhält (Fig. 69). Ebenso ist auf die
nachträgliche Formveränderung Rücksicht zu nehmen, wenn es sich um die
Entscheidung handeln sollte, ob das gefundene Projectil aus einer
bestimmten Schusswaffe abgeschossen worden sein konnte.[237]
[Sidenote: Pfropf.]
Von anderen Dingen, die im Schusscanal gefunden werden können,
sind ausser mitgerissenen Stücken der Kleider etc. bei Nahschüssen
eingesprengte Pulverkörner und der Pfropf zu erwähnen. Letzterer Befund
ist von besonderer Wichtigkeit, da derselbe nicht blos beweist, dass
aus nächster Nähe geschossen wurde, sondern weil das Material des
Pfropfes und etwaige besondere Merkmale, die derselbe an sich trägt,
zur Entdeckung des Thäters beitragen können. Es ist daher angezeigt,
jedesmal den gefundenen Pfropf, ebenso wie das Projectil, näher zu
beschreiben und dann dem Gerichte zu übergeben.
[Sidenote: Ausgangsöffnung von Schusswunden.]
Hat ein Schuss einen Körpertheil durchdrungen, so erwächst die Aufgabe,
zu bestimmen, welche von den zwei Oeffnungen, die der Schusscanal
verbindet, die Eingangs- und welche die +Ausgangsöffnung+ (der
Ausschuss) sei. In dieser Beziehung ist Folgendes zu beachten:
Bei Schüssen aus unmittelbarer Nähe ist der Einschuss in der Regel
durch die Versengung und Verbrennung der Nachbarschaft, durch die
Schwärzung der Umgebung, insbesondere durch die eingesprengten
Pulverkörner so gekennzeichnet, dass schon in diesen Befunden der
Beweis liegt, dass die entgegengesetzte Oeffnung die Ausgangsöffnung
sei. In diesem Falle ist auch der Einschuss in der Regel ungleich
grösser als der Ausschuss, da ersterer nicht blos durch das Projectil,
sondern auch durch die unmittelbar wirkenden Explosionsgase erzeugt
worden ist, während beim Ausschuss entweder blos das Projectil oder
ausser diesem nur die mitgerissenen Knochensplitter sich geltend
machen. Eine Ausnahme von diesem Verhalten zeigen natürlich jene aus
unmittelbarer Nähe entstandenen Schussverletzungen, durch welche ganze
Körpertheile abgerissen oder unregelmässig zersprengt worden sind,
bei welchen es eben der ausgebreiteten Zerstörung und des Mangels
eines eigentlichen Schusscanals wegen, wenn nicht die Pulverschwärzung
Aufschluss gibt, mitunter nicht leicht ist, die Stelle zu bestimmen, wo
der Schuss eingedrungen ist.
[Sidenote: Ein- oder Ausschuss?]
Bei Schüssen aus der Ferne ist die Ausgangsöffnung meistens grösser
als der Einschuss. Dies ist fast immer der Fall, wenn Knochen
getroffen wurden, indem einestheils Knochensplitter mitgerissen werden,
anderseits das Projectil, indem es plattgedrückt oder anderweitig in
seiner Form verändert wird, an Breite gewinnt.
[Illustration: Fig. 70.
Eingangsöffnung einer Revolverschusswunde im Stirnbein. ⅓ Gr.]
[Illustration: Fig. 71.
Hintere Seite der in Fig. 70 abgebildeten Oeffnung. ⅓ Gr.]
Sehr grosse Ausgangsöffnungen können insbesondere nach Schüssen aus
Gewehren vorkommen, denen, wie z. B. den Militärhinterladern, eine
grosse Propulsionskraft zukommt; der Schusscanal kann dann von der
Stelle, wo die Kugel auf Knochen aufschlug, nach Art eines Kegels
sich erweitern, dessen Basis eben die Ausgangsöffnung darstellt. Aber
auch bei blossen Weichtheilwunden hat man bei den genannten Gewehren
nach Schüssen aus nahen Distanzen eine kegelförmige Erweiterung des
Schusscanals beobachtet. Bei Schüssen aus Vorderladern kann, wenn keine
Knochen getroffen wurden, die Ausgangsöffnung ebenso weit und selbst
kleiner ausfallen als der Einschuss, da die Eingangsöffnung häufig
mit Substanzverlust verbunden ist, während die Ausgangsöffnung blos
durch Berstung und nicht durch Substanzverlust entsteht (+Pirogoff+,
+Schmidt+’s Jahrbuch. 1850, II, 116).
Die Angabe +Devergie+’s, dass die Ränder der Eingangsöffnung
eingestülpt, jene der Ausgangsöffnung aber nach auswärts gekehrt
sind, mag wohl für viele Fälle zutreffen, doch gewiss nicht immer.
So haben +Casper+ und +Liman+ (l. c. II, 280) darauf hingewiesen,
dass sowohl durch sich hervordrängendes Fett, als durch den
Fäulnissprocess die Ränder einer Eingangsöffnung nach auswärts
gestülpt werden können. Wir können Gleiches aus eigener Erfahrung
bestätigen und möchten noch hinzufügen, dass bei Schüssen aus
unmittelbarer Nähe die Ränder der Eingangsöffnung dann fast immer
nach auswärts gestülpt sind, wenn unter der getroffenen Stelle
Knochen lagen, weil sich in diesem Falle, wie oben erwähnt wurde, die
Explosionsgase zwischen Haut und harter Unterlage ausbreiten, dadurch
erstere nach auswärts drängen und mitunter sogar auf diese Art zum
Platzen bringen.
[Sidenote: Schussöffnungen im Knochen.]
Verhältnissmässig leicht lässt sich an Lochschusswunden der Knochen,
insbesondere am Schädel erkennen, wo das Projectil ein- und wo es
ausgedrungen ist, und diese Frage lässt sich sogar beantworten, wenn
nur eine der im Schädel entstandenen Oeffnungen vorliegt. Jede dieser
Oeffnungen ist nämlich auf der Seite, wo die Kugel zuerst aufschlug,
kleiner als auf der entgegengesetzten und besitzt auf ersterer
vollkommen scharfe, auf letzterer stark abgeschrägte Ränder, weil
durch das Projectil aus begreiflichen Gründen ein flach kegelförmiges
Knochenstück herausgeschlagen wird (Fig. 70 bis 72).
[Sidenote: Schrot-, Prell- und Streifschüsse.]
Das Gesagte gilt vorzugsweise von Kugelschüssen. Nächst diesen
kommen am häufigsten +Schrotschüsse+ vor. Aus unmittelbarer
Nähe erzeugen dieselben noch grössere Zerstörungen als gewöhnliche
Schüsse. Kam der Schuss aus einiger Entfernung, dann finden wir eine
grössere oder geringere Zahl kleiner, mehr weniger auseinanderstehender
Schussöffnungen, welche sich in die entsprechenden Schusscanäle
fortsetzen. Da die Schrotladung in dem Momente, in welchem sie
die Mündung des Gewehrlaufes verlässt, in einen langgestreckten
Zerstreuungskegel auseinanderfährt, so ist es begreiflich, dass unter
sonst gleichen Verhältnissen desto weniger Schrote den Körper treffen
und die Eingangsöffnungen desto weiter auseinanderstehen werden, je
grösser die Distanz gewesen war, aus welcher geschossen wurde. Dieses
Verhalten schliesst jedoch die Möglichkeit nicht aus, dass auch auf
grössere Distanzen mehrere Schrote beisammen bleiben können, wie denn
nicht zu übersehen ist, dass die Dispersion der Projectile sich in den
peripheren Partien des Zerstreuungskegels viel stärker bemerkbar machen
wird als in den centralen.
[Illustration: Fig. 72.
Ausgangsöffnung eines in den Mund abgefeuerten Pistolenschusses am
Scheitel. ⅓ Gr.]
Von anderweitigem Schussmaterial und gewissen atypischen
Schussverletzungen werden wir bei Besprechung des Selbstmordes durch
Erschiessen reden.
Hier sei nur noch der Prell- und der Streifschüsse erwähnt. Erstere
entstehen durch das meist stumpfwinklige Anschlagen matter Geschosse,
wodurch Contusionen veranlasst werden können. Gröbere äussere
Verletzungen werden wohl, wenigstens bei Kleingewehrprojectilen, zu
den grössten Seltenheiten gehören; bei groben Geschossen sind sie
wiederholt beobachtet worden.[238] Dagegen sind Prellungen innerer
Organe in der Nachbarschaft des Schusscanals nichts Seltenes. Hierher
gehören ausser Contusionen am Herzen und der Lunge insbesondere die
von uns wiederholt gesehenen Rupturen der Intima grösserer Arterien,
namentlich der Aorta an jener Stelle des Gefässrohres, an welcher
das Projectil knapp vorbeigefahren war. Es sind dies einfache oder
mehrfache Querrupturen von verschiedener Ausdehnung, die sich nicht
wesentlich von jenen unterscheiden, die nach Ligatur von Arterien oder
in den Carotiden durch Strangulation zu Stande kommen.
Streifschüsse können entweder blosse Excoriationen oder rinnenförmige
Schusscanäle erzeugen, die sich bilden, indem das Projectil blos
tangential eine Körperstelle trifft. Ein solcher rinnenartiger
Schusscanal könnte möglicher Weise eine Riss- oder selbst Schnittwunde
vortäuschen. Bezüglich der sogenannten Luftstreifschüsse haben
+Grossmann+ und +Pelikan+ (Schmidt’s Jahrb. 1858, 97, pag. 265)
Versuche mit schweren Geschossen angestellt, jedoch keine oder eine mir
ganz geringe Wirkung constatirt. Umsoweniger hat demnach die Sache bei
Kleingewehrkugeln eine Bedeutung.
[Sidenote: Verletzungen durch Sprengstoffe.]
Zu den Schusswunden im weiteren Sinne gehören auch die durch
Sprengstoffe, insbesondere Nitroglycerin und seine Präparate
(Dynamit, Dualin etc.), verursachten Verletzungen. Dass mit diesen
Mitteln nicht immer blos zufällige Verletzungen, beziehungsweise
Tödtungen veranlasst werden, beweisen ausser dem bekannten Falle
+Thomas+ in Bremen und den Attentaten in Russland, England etc. die
von +Blumenstok+ publicirten Fälle (Friedreich’s Blätter f. gerichtl.
Med. 1877, pag. 171), deren einer einen Mord durch eine auf die
Brust gelegte Dualinpatrone, der andere eine Tödtung durch eine
vielleicht absichtlich in den Ofen gesteckte Dynamitpatrone betrifft.
Auch ein Selbstmord mittelst Dynamit wird erwähnt und auch uns ist
ein solcher Fall bekannt. -- Vor Kurzem obducirten wir eine Frau,
welche in einer Kapselfabrik durch Explosion von Knallquecksilber
verunglückt war. Sie hatte letzteres auf einer Zinktasse getragen,
als die Explosion erfolgte. Stirnhaare und Wimpern waren versengt,
das ganze Gesicht wie von Rauch geschwärzt und nach dem Abwischen
zahlreiche punktförmige schwärzliche Einsprengungen zeigend. Die
rechte Hand fast vollständig abgerissen, der Stumpf geschwärzt. In
der rechten Leistengegend eine handflächengrosse Wunde, aus welcher
ein Convolut mehrfach eingerissener Dünndarmschlingen und ein über
handflächengrosses, verbogenes, scharfrandiges Zinkblech hervorragte,
welches fest in der Wunde stak und die Art. iliaca ext. unmittelbar
vor dem Schenkelring quer durchtrennt hatte. An der Vorderfläche
des rechten Oberschenkels ein fingerweiter und eben so langer Canal
mit einem Zinkblechstück im blinden Ende. Die abgerissene Hand lag
in etwa 30 geschwärzten Trümmern vor. Bei Behandlung mit Wasser
setzte sich ein Theil der schwärzenden Substanz als schwarzes Pulver
ab, welches mikroskopisch keine Quecksilberkügelchen zeigte, aber,
chemisch untersucht, Quecksilber ergab.
B. Qualification der Verletzung im Sinne des Strafgesetzes.
+Nicht tödtliche Verletzungen.+
Bei der forensischen Beurtheilung der nicht tödtlich gewordenen
Verletzungen wäre die Aufgabe des Gerichtsarztes eine verhältnissmässig
leichte, wenn es genügen würde, vom rein ärztlichen Standpunkte aus die
vorübergehenden oder bleibenden Folgen auseinanderzusetzen, die eine
Verletzung nach sich gezogen hat. Leider ist dies nicht der Fall. Da
nämlich das Strafgesetz je nach der Art und den Folgen einer Verletzung
bestimmte Verletzungskategorien unterscheidet, eine Unterscheidung,
die aus allgemein strafrechtlichen sowohl als processualischen
Gründen nothwendig erscheint, aber ihrer Natur nach ärztliche
Mitwirkung fordert, so wird vom Gerichtsarzte verlangt, dass er eine
concrete Verletzung nicht blos vom rein medicinischen Standpunkte
begutachte, sondern auch im Sinne der strafgesetzlichen Unterscheidung
classificire, eine Forderung, welche der gerichtsärztlichen
Beurtheilung von Verletzungen einen ganz specifischen Charakter
verleiht und sie wesentlich von der rein klinischen unterscheidet.
Das Princip, welches der strafrechtlichen Classification der
Verletzungen zu Grunde liegt, ist nicht überall das gleiche. Während
z. B. das französische Strafgesetzbuch (Code pénal) eine Verletzung
blos nach der Dauer der Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit
taxirt und das deutsche Strafgesetz vorzugsweise die Folgen einer
Verletzung zum Ausgangspunkte seiner Classification nimmt, sehen wir
im gegenwärtig in Oesterreich zu Recht bestehenden Strafgesetz und im
Strafgesetz-Entwurf beide Principien zur Anwendung kommen, wobei wir
überdies ausser der Wirkung, die eine Verletzung thatsächlich hatte,
auch jene, welche möglicherweise hätte erfolgen können, in Betracht
ziehen müssen, da auch dem Instrumente, mit welchem eine Verletzung
beigebracht wurde und der mit dessen Gebrauche etwa verbundenen
Lebensgefahr ein Einfluss auf die strafrechtliche Qualification einer
Verletzung vindicirt worden ist.
Eine Uebereinstimmung des österr. Strafgesetzes und des
Strafgesetz-Entwurfes mit dem deutschen Strafgesetz besteht auch
darin, dass in allen der Ausdruck „schwere Verletzung“ vorkommt,
gewissermassen die Grösseneinheit bildend, welche der gesammten
strafrechtlichen Eintheilung der Verletzungen in Kategorien zu Grunde
liegt.
Während jedoch im gegenwärtigen österr. Strafgesetz die „schwere
Verletzung“ nur einen Bestandtheil des strafrechtlichen Begriffes der
„schweren körperlichen Beschädigung“ bildet und nicht näher definirt
wird, so dass dieser Begriff eine verhältnissmässig weite, jedenfalls
nicht scharf begrenzte Anwendung zulässt, begegnen wir im österr.
Strafgesetz-Entwurfe und im deutschen Strafgesetze der „schweren
Körperverletzung“ in ungleich engerer Fassung, da unter diesen Begriff
blos solche Verletzungen subsumirt werden, welche gewisse, vom Gesetze
ausdrücklich angegebene Folgen nach sich gezogen haben, so dass alle
anderen fortan als im strafrechtlichen Sinne „leichte Verletzungen“
bezeichnet werden müssen, obgleich darunter eine grosse Reihe solcher
sich findet, die als „schwere Verletzungen“ im Sinne des gegenwärtigen
österr. Strafgesetzes zu erklären kein Gerichtsarzt Bedenken tragen
würde.
Diesen Verhältnissen zufolge scheint es uns oportun, zunächst die
einschlägigen Bestimmungen des gegenwärtigen österr. Strafgesetzes
zu besprechen und diesen die Behandlung der Bestimmungen des österr.
Strafgesetz-Entwurfes und des deutschen Strafgesetzes folgen zu lassen.
Gerichtsärztliche Beurtheilung der nicht tödtlichen Verletzungen im
Sinne des österr. Strafgesetzes.
Von den hierher gehörigen gesetzlichen Bestimmungen sind jene der §§.
152, 155 und 156 die wichtigsten. Der erstgenannte Paragraph enthält
gleichsam die Definition des strafrechtlichen Begriffes der „schweren
körperlichen Beschädigung“, die §§. 155 und 156 aber die Umstände,
namentlich jene Folgen, bei deren Vorhandensein das österr. Strafgesetz
höhere Strafsätze bestimmt, als bei einer nicht durch solche
complicirten, also einfachen „schweren körperlichen Beschädigung“.
Wir wollen dieselben der Kürze wegen als die erschwerenden Umstände
bezeichnen.
Die schwere körperliche Beschädigung.
Nach §. 152 ist der Thatbestand einer „+schweren körperlichen
Beschädigung+“ vorhanden, wenn aus einer in feindseliger Absicht
gegen einen Menschen unternommenen Handlung entweder _a_) eine
Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit von mindestens zwanzigtägiger
Dauer oder _b_) eine Geisteszerrüttung oder _c_) eine schwere
Verletzung desselben erfolgte.
[Sidenote: Gesundheitsstörung. Berufsunfähigkeit.]
Ad _a_) +Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit von mindestens
zwanzigtägiger Dauer.+ Der strafrechtliche Begriff der
+Gesundheitsstörung+ ist keineswegs identisch mit Heilungsdauer. Da
nämlich das Gesetz die Gesundheitsstörung von der Berufsunfähigkeit
trennt, letztere aber ohne Vorhandensein einer organischen Störung
nicht gedacht werden kann, so wäre, wenn der Gesetzgeber unter
Gesundheitsstörung die Heilungsdauer verstanden hätte, die specielle
Anführung der Berufsunfähigkeit neben der Gesundheitsstörung
überflüssig und ein reiner Pleonasmus.[239] Es folgt daraus, dass
Gesundheitsstörung gleichbedeutend mit „Krankheit“, mit einer Störung
des Allgemeinbefindens, wie sie sich durch Fieber, Unwohlsein, Schmerz
u. dergl. kundgibt, genommen werden muss, da im gegentheiligen Falle
so manche unbedeutende Verletzung, z. B. eine einfache Sugillation,
die häufig mehr als zwanzig Tage zum völligen Verschwinden braucht,
schon als Gesundheitsstörung erachtet werden müsste, was sowohl den
Intentionen des Gesetzes, als der vulgären Auffassung des Begriffes
„Gesundheitsstörung“ widersprechen würde, während es wohl denkbar
ist, dass eine verhältnissmässig unbedeutende Verletzung, ohne eine
Krankheit zu bedingen, während ihres Bestandes mit Berufsunfähigkeit
verbunden sein kann, so z. B. gewisse Verletzungen der Finger bei
Individuen, welche derselben zu feiner Händearbeit (Nähen, Schreiben,
Telegraphiren, Violinspielen etc.) bedürfen.
Unter „+Berufsunfähigkeit+“ ist die Unfähigkeit zur gewohnten oder
pflichtmässigen Arbeit zu verstehen, insbesondere zu derjenigen, welche
das betroffene Individuum bisher behufs Erwerbes ausgeübt hatte.
Berufsunfähigkeit ist daher nicht Unfähigkeit zur Arbeitsleistung
überhaupt, sondern zu einer speciellen Art von Arbeit, die nach
dem Stande und der bisherigen Beschäftigung des Individuums eine
verschiedene sein kann („Travail personnel“ des Code Napoléon).
Es folgt daraus, dass, wenn die Berufsunfähigkeit eines Individuums
in Frage steht, einestheils die Art seiner Berufsarbeit und die
dazu nothwendigen Organe oder Glieder in Betracht gezogen werden
müssen, anderseits zu erwägen sein wird, ob die betreffende
Verletzung eine solche ist, dass sie den Gebrauch jener Organe oder
Glieder vollständig hindert, oder in der Art erschwert, dass die
betreffende Arbeitsleistung nicht mit der nöthigen Kraftentwicklung
oder Ausdauer erfolgen kann. Es gibt demnach eine vollständige und
eine blos theilweise Berufsunfähigkeit; aus der Fassung des Gesetzes
ist aber nicht zu entnehmen, ob dasselbe nur erstere oder auch die
zweite im Auge hat, ein Umstand, der erfahrungsgemäss geeignet ist,
die Begutachtung einschlägiger Fälle zu erschweren. Trotzdem wird
der Gerichtsarzt nicht anstehen, jede wesentliche Erschwerung der
betreffenden Arbeitsleistung als Berufsunfähigkeit zu erklären, da
es doch nicht darauf ankommen kann, ob etwa das Individuum noch im
Stande ist, mit Anstrengung und grosser Ueberwindung seinem Berufe
nachzugehen und da eine absolute Berufsunfähigkeit verhältnissmässig
selten vorhanden sein dürfte. In minder schweren Fällen erübrigt nichts
Anderes, als dem Richter auseinanderzusetzen, in welchem Grade die
Berufsfähigkeit im concreten Falle beeinträchtigt wurde, und es diesem
zu überlassen, ob er eine Berufsunfähigkeit im Sinne des Strafgesetzes
annehmen wolle oder nicht.
Bei der Bestimmung, dass die Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit
mindestens von zwanzigtägiger Dauer gewesen sein müsse, wenn die ihr zu
Grunde liegende Handlung als schwere körperliche Beschädigung behandelt
werden soll, waren einestheils rein juristische Gründe massgebend, die
die Fixirung einer Grenze zwischen schwerer und leichter körperlicher
Beschädigung forderten, etwa in gleicher Weise, wie der Diebstahl erst
dann als Verbrechen qualificirt wird, wenn die gestohlene Summe einen
vom Gesetze bestimmten Betrag ausmacht (§. 172), andererseits die
chirurgische Erfahrung, dass Verletzungen, denen eine gewisse Bedeutung
zukommt, gewöhnlich etwa 3 Wochen erfordern, bevor die durch sie
veranlasste Krankheit oder Berufsunfähigkeit behoben erscheint.
[Sidenote: Berufsunfähigkeit im straf- u. civilrechtl. Sinne.
Unfallversicherung.]
Die +civilrechtlichen Ansprüche+ der Verletzten, betreffend den
durch die Verletzung erlittenen Schaden, insbesondere an der
„+Erwerbsfähigkeit+“, sind einestheils durch die §§. 1325-1327 des
österr. +bürgerlichen Gesetzbuches+ (s. pag. 267), anderseits durch
das Gesetz vom 28. December 1887 (Reichsgesetzbl. vom 1. Jänner 1888),
betreffend die +Unfallversicherung der Arbeiter+, geregelt. Die
wichtigsten Bestimmungen des letzteren lauten:
§. 6. Im Falle einer Körperverletzung soll der Schadenersatz in
einer dem Verletzten vom Beginne der fünften Woche nach Eintritt
des Unfalles angefangen für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit zu
gewährenden Rente bestehen.
Für die Berechnung der Rente wird zunächst der Arbeitsverdienst
ermittelt, welchen der Verletzte während des letzten Jahres seiner
Beschäftigung in dem Betriebe, wo der Unfall sich ereignete, bezogen
hat. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-- -- -- -- -- -- -- --
Die Rente beträgt:
_a)_ im Falle gänzlicher Erwerbsunfähigkeit und für die Dauer
derselben 60 Procent des Jahres-Arbeitsverdienstes;
_b)_ im Falle theilweiser Erwerbsunfähigkeit und für die Dauer
derselben einen Bruchtheil der unter _a)_ festgesetzten Rente,
welche nach dem Masse der verbliebenen Erwerbsfähigkeit zu bemessen
ist, jedoch nicht über 60 Procent des Jahres-Arbeitsverdienstes
betragen darf.
§. 7. Im Falle der Tod aus dem Betriebsunfalle erfolgt ist, soll
der Schadenersatz ausser in den Leistungen, welche nach §. 6 dem
Verletzten für die Zeit vor dem Eintritt des Todes etwa gebühren,
noch bestehen: 1. in den Beerdigungskosten -- -- -- 2. in einer den
Hinterbliebenen des Getödteten zu gewährenden Rente.
§. 29. Von jedem in einem versicherungspflichtigen Betriebe
vorkommenden Unfalle, durch welchen eine in demselben beschäftigte
Person getödtet worden ist oder eine körperliche Verletzung erhalten
hat, welche den Tod oder eine Arbeitsunfähigkeit von nicht weniger
als drei Tagen zur Folge hatte, ist von dem Betriebs-Unternehmer oder
-Leiter längstens binnen fünf Tagen die schriftliche Anzeige an die
politische Behörde erster Instanz zu erstatten.
§. 31. Gelangt ein Unfall zur Anzeige, durch welchen eine versicherte
Person getödtet wird oder eine Körperverletzung erleidet, welche
voraussichtlich den Tod oder eine Erwerbsunfähigkeit von mehr als
vier Wochen zur Folge haben wird, so hat die politische Behörde durch
geeignete Erhebungen so bald wie möglich insbesondere festzustellen:
1. die Veranlassung und Art des Unfalles; 2. die getödteten oder
verletzten Personen; 3. den Arbeitsverdienst derselben; 4. die Art
der vorgekommenen Verletzungen; 5. den Aufenthalt der verletzten
Personen; 6. die Hinterbliebenen der durch den Unfall getödteten
Personen, welche nach §. 7 zur Erhebung eines Ersatzanspruches
berechtigt sind. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-- -- -- -- -- --
Die allfälligen Kosten der Erhebungen und namentlich jene, welche
durch die erforderlichenfalls etwa beigezogenen +Sachverständigen+
verursacht werden, sind von der Versicherungsanstalt zu tragen, das
Ergebniss der gepflogenen Erhebungen ist der Versicherungsanstalt
mitzutheilen.
[Sidenote: Unfallversicherung der Arbeiter.]
§. 33. Sind versicherte Personen in Folge des Unfalles getödtet, so
hat die Versicherungsanstalt sofort nach Abschluss der Erhebungen
(§. 31) oder, falls der Tod erst später eintritt, sobald sie von
demselben Kenntniss erlangt, die Feststellung der nach §. 7 zu
leistenden Entschädigung vorzunehmen.
Sind versicherte Personen in Folge des Unfalles körperlich verletzt,
so ist nach Ablauf von 4 Wochen nach dem Eintritte des Unfalles
die Feststellung der nach §. 6 gebührenden Rente für diejenigen
verletzten Personen vorzunehmen, welche zu dieser Zeit noch völlig
oder theilweise erwerbsunfähig sind.
Für diejenigen verletzten Personen, welche sich nach Ablauf von vier
Wochen noch in ärztlicher Behandlung behufs Heilung der erlittenen
Verletzungen befinden, ist die Feststellung zunächst auf die bis
zur Beendigung des Heilverfahrens zu leistenden Rentenzahlungen zu
beschränken, im Uebrigen aber die Feststellung der Rente erst nach
Beendigung des Heilverfahrens vorzunehmen.
§. 38. Für jede in Gemässheit dieses Gesetzes errichtete
Versicherungsanstalt wird an dem Sitze derselben ein
+Schiedsgericht+ errichtet, welches zur Entscheidung über
die gegen die Versicherungsanstalt erhobenen, von derselben nicht
anerkannten Entschädigungsansprüche ausschliesslich zuständig ist.
Das Schiedsgericht besteht aus einem ständigen Vorsitzenden, 4
Beisitzern und den nöthigen Stellvertretern. -- -- -- -- -- -- -- --
-- -- -- -- --
Im Uebrigen wird die Zusammensetzung des Schiedsgerichtes und das
Verfahren von demselben, sowie eine allfällige Entlohnung der
Schiedsrichter im Verordnungswege geregelt.
Analoge Bestimmungen enthält das +Unfallversicherungsgesetz für das
deutsche Reich+ vom 6. Juli 1884. Bei den Untersuchungsverhandlungen
(§§. 51 u. ff.) wird ausdrücklich bemerkt: „Ausserdem sind, soweit
thunlich, die sonstigen Betheiligten und, auf Antrag und Kosten der
Genossenschaft, +Sachverständige+ beizuziehen.“ Doch ist letzteres
keineswegs obligatorisch, wie es wohl gefordert werden sollte. Eine
„Anleitung zur Bestimmung der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit nach
Verletzungen mit Rücksicht auf das deutsche Unfallversicherungsgesetz“
hat L. +Becker+, Berlin 1888, herausgegeben, welche viel
Schätzenswerthes in dieser Beziehung enthält. In noch höherem Masse
gilt dies, weil vom Standpunkte des Chirurgen bearbeitet, von der
Broschüre von A. +Krecke+: „Unfallversicherung und ärztliches
Gutachten“, München 1889. Die meisten Versicherungsgesellschaften
richten sich bei der Beurtheilung der vollständigen oder theilweisen
+Erwerbsunfähigkeit+ nach sogenannten +Entschädigungstarifen+. +Becker+
bemerkt jedoch mit Recht, dass solche Tarife vielleicht als ungefähre
allgemeine Anhaltspunkte für einzelne, öfters wiederkehrende Fälle
von Verletzungen und deren Folgen dienen, aber selbst nach mehrfacher
Ergänzung nicht für +alle+ Fälle massgebend sein können. Es bleibt
nichts übrig, als dem concreten Fall sein Recht einzuräumen, und auch
das Reichs-Versicherungsamt ist bei seinen bisherigen Entscheidungen
von dem gleichen Grundsatze ausgegangen.
[Sidenote: Traumatische Psychosen.]
Ad _b_) +Geisteszerrüttung.+ Das Gesetz hat im §. 152 nur eine
vorübergehende Geisteskrankheit im Auge, da es im §. 156 die
Geisteszerrüttung ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung
als besonders gravirender Verletzungsfolge ausdrücklich erwähnt. Es
erscheint uns jedoch angezeigt, beide Arten der Geisteszerrüttung unter
Einem zu behandeln.
Es ist zunächst klar, dass der strafrechtliche Ausdruck
„Geisteszerrüttung“ nicht anders als im Sinne von „Geisteskrankheit“
genommen werden kann; dass demnach darunter nicht etwa blos
vorübergehende Störungen des Bewusstseins, Ohnmachten u. dergl.
zu verstehen sind, wie sie nach vielen Verletzungen und überdies
keineswegs blos nach Verletzungen des Gehirns vorzukommen pflegen,
sondern eine Geisteskrankheit im engeren Sinne, die nach Ablauf der
acuten Symptome einer Verletzung[240] entweder im unmittelbaren
Anschlusse an letztere zurückbleibt oder nachträglich sich entwickelt.
Geisteskrankheiten können nicht blos durch Kopfverletzungen, sondern
auch durch Verletzungen entfernterer Organe und selbst durch den mit
einer Misshandlung verbundenen psychischen Insult veranlasst werden.
[Sidenote: Geistesstörung nach Traumen.]
Dass Kopf- (Gehirn-) Verletzungen nicht selten zur Entstehung einer
Geisteskrankheit Veranlassung geben, ist eine allgemein anerkannte
Thatsache. +Schlager+[241] ermittelte unter 500 Irren 49, bei denen
die Entwicklung der Psychose zweifellos mit einer vorhergegangenen
Körperverletzung im ursächlichen Zusammenhange stand. Nach +Griesinger+
(„Psychische Krankheiten.“ 3. Aufl., 1871, pag. 182) sind es nicht
immer schwere Kopfverletzungen, die eine Geisteskrankheit nach sich
ziehen können, doch macht die Verletzung der Schädelknochen die
Wahrscheinlichkeit nachfolgender psychischer Störung viel grösser, als
blosse Verletzung der Weichtheile. Selbstverständlich sind es zunächst
directe oder indirecte Verletzungen des Vorderhirns, die solche
Folgen haben können, und es genügen schon verhältnissmässig geringe
primäre oder secundäre Läsionen der Hirnrinde, um sie zu bedingen.
Die so häufigen Contusionen der Stirn-, Schläfe- und Scheitellappen
an ihren convexesten Partien, dann intermeningeale Extravasate
und mit Depression der Fragmente geheilte Fracturen scheinen eine
besonders wichtige Rolle zu spielen, und es ist bemerkenswerth, dass
umschriebene Hirnverletzungen latent verlaufen, d. h. bestehen und im
chirurgischen Sinne heilen können, ohne wesentliche Erscheinungen zu
veranlassen.
Die Geisteskrankheit kann entweder in ausgesprochener Weise
unmittelbar aus der Verletzung sich entwickeln, in welchem Falle nach
+Krafft+-+Ebing+[242] ausnahmslos primärer Blödsinn entsteht. Solche
Fälle sind durchwegs sehr schwerer. in der Regel unheilbarer Art,
bieten jedoch der Begutachtung keine Schwierigkeit, da der ursächliche
Zusammenhang zwischen Verletzung und Psychose klar vorliegt und nicht
bezweifelt werden kann.
Grössere Schwierigkeiten bietet die Begutachtung, wenn die
Geistesstörung erst nachträglich aufgetreten war. Es ist in dieser
Beziehung zu beachten, dass die zwischen der Kopfverletzung und ihren
unmittelbaren Folgen und dem Ausbruche der Geisteskrankheit gelegene
Zwischenzeit niemals vollkommen symptomfrei sich erweist, sondern
dass schon in dieser immer gewisse Störungen der Hirnfunctionen
sich bemerkbar machen, die als Prodromalsymptome gedeutet werden
müssen. Als solche werden von +Schlager+ und +Krafft+-+Ebing+
bezeichnet: Störungen der Sinnesthätigkeit (Hyperästhesien des Auges,
Ohrenklingen, Schwerhörigkeit), Schwindel, Kopfschmerz, Neigung zu
Hirncongestionen, Intoleranz gegen Alcoholica, das Fortbestehen von
Lähmungen und Anästhesien oder selbst deren Ausbreitung als Zeichen
einer fortdauernden, durch das Trauma bedingten Herderkrankung, die
dem ganzen Krankheitsbilde eine gewisse Aehnlichkeit mit Dementia
paralytica geben können (+Meynert+, Wiener med. Blätter. 1879, pag.
667), die Fortdauer oder zeitweilige Wiederkehr von apoplectiformen
oder epileptiformen Anfällen, in psychischer Beziehung aber
Gedächtnissschwäche, rasche geistige Ermüdung, erhöhte Reizbarkeit,
Veränderung der Stimmung und des Charakters des Verletzten. Letztere
Symptome, namentlich das progressive Auftreten derselben, sind
besonders zu beachten, auch insoferne, als sie unter dem Bilde des
moralischen Irrseins auftreten können[243], und ihr Vorhandensein wird
sich am deutlichsten dann herausstellen, wenn man den Gemüthszustand
und den Charakter des Individuums mit jenem vergleicht, der vor der
Verletzung bestand.
Wer wie wir Gelegenheit hat, eine grössere Zahl verwahrloster und
als Säufer signalisirter Individuen zu obduciren, dem wird es
auffallen, dass bei diesen Leuten verhältnissmässig häufig ausser
chronischen, pachymeningitischen und meningitischen Processen,
apoplectischen Cysten etc., auch Residuen verschiedener Hirntraumen,
insbesondere von Contusionen der Stirn- und Schläfelappen,
vorkommen. Es liegt nahe, daran zu denken, dass in diesen Fällen die
moralische Verkommenheit und das sonstige Verhalten des Säufers mit
dem betreffenden Trauma in einem causalen Nexus steht, wie wir auch
überzeugt sind, dass die erwähnten chronischen, pachymeningitischen
und meningitischen Processe keineswegs immer Folgen des Abusus von
Alkohol sind, sondern dass in manchen derselben die betreffenden
Processe das Primäre, die moralische und physische Decadenz aber das
Secundäre gewesen ist, wobei die bei defecten Hirnen bekanntlich
gewöhnliche Intoleranz gegen Alkoholica eine Rolle gespielt haben
mag. Auch die leichte Reizbarkeit der Individuen, welche schwere
Kopfverletzungen überstanden haben, ist ein sowohl diagnostisch
werthvolles, als auch für die Frage der Zurechnungsfähigkeit solcher
Personen wichtiges Symptom. Wir haben in der letzten Zeit drei
Männer obducirt, von denen zwei an Herzverfettung und der eine an
einer zufälligen Leuchtgasvergiftung gestorben war und bei denen die
Obduction geheilte schwere Kopfverletzungen ergab. In dem einen Falle
fanden sich geheilte Contusionen beider Stirn- und Schläfelappen, im
zweiten eine solche des linken Stirnlappens mit geheilter Fractur
des Orbitaldaches und im dritten ein geheilter Säbelhieb am linken
Scheitelbein mit fast handflächengrosser Knochenlücke. In allen
drei Fällen ergab die Anamnese, dass die betreffenden Personen sehr
reizbar gewesen waren, sonst aber keine auffälligen Erscheinungen
darboten. Im letzteren Falle, welcher einen Gensdarm betraf, der
im 20. Jahre den Hieb erhalten hatte, hatte die Reizbarkeit in den
letzten Jahren entschieden zugenommen. Interessant ist in dieser
Beziehung die Thatsache, dass, wie +Goltz+ (Med. Centralbl. 1882,
pag. 782) mittheilt, auch bei Hunden nach der Zerstörung der
Scheitellappen eine Veränderung der Gemüthsart ad pejus zurückbleibt.
Die Dauer dieses Prodromalstadiums kann Wochen und Monate betragen,
bis es spontan oder unter dem Einflusse von Gelegenheitsursachen zum
Ausbruche einer manifesten Geistesstörung kommt.
Die dann ausbrechende Geistesstörung kann sich in verschiedener
Weise kundgeben. In einzelnen Fällen ist die zunehmende Demenz das
Hauptsymptom, in anderen kommt es zu ausgesprochener Melancholie oder
zur Entwicklung partieller Verrücktheit, besonders unter dem Bilde
des Verfolgungswahnes, meistens aber zu transitorischen, anfallsweise
wiederkehrenden Psychosen, die unter dem Bilde des epileptischen
Irrseins verlaufen, d. h. an krampfartige (epileptoide oder deutlich
epileptische) Anfälle sich anschliessen oder wenigstens von einer
Aura eingeleitet werden und jene Eigenthümlichkeiten bieten, die wir
bei Besprechung dieser auch anderweitig forensisch wichtigen Form der
Geistesstörung a. a. O. kennen lernen werden.
[Sidenote: Epileptisches Irrsein nach Trauma.]
Von grosser forensischer Wichtigkeit ist die Thatsache, dass auch nach
peripheren Verletzungen Psychosen sich entwickeln können. Sie entstehen
mitunter nach verhältnissmässig unbedeutenden Verletzungen, wenn
durch diese, namentlich durch die aus ihnen sich bildende Narbe, eine
Reizung peripherer Nervenendigungen gesetzt wird. Solche Psychosen
gehören in die Kategorie der reflectorischen Störungen, ähnlich wie
die vielfach beobachtete „periphere Epilepsie“. Eine Reihe derartiger
Fälle, die meist geringfügige Verletzungen betrafen, stellt bereits
+Griesinger+ (l. c. 183) zusammen und spricht sich auch dahin aus,
dass wahrscheinlich viele blos äusserliche Kopfwunden ebenfalls
nur auf diese Weise zur Entstehung von Psychosen führen. Weitere
solche Beobachtungen werden von +Koeppe+ und +Wendt+ beschrieben
(Virchow’s Jahrb. 1874, II, 104) und mehrere andere werden wir bei
den Kopfverletzungen mittheilen. Es wurden sowohl melancholische,
als Exaltationszustände beobachtet und in einzelnen Fällen, wie
namentlich in dem von +Wendt+ beschriebenen (Schussverletzung der
weichen Schädeldecken), trat die psychische Störung periodisch und
anfallsweise auf, hatte somit einen deutlich epileptoiden Charakter,
eine Beobachtung, die für die Erkennung und Begutachtung derartiger
Fälle gut verwerthet werden kann.
[Sidenote: Psychosen nach Schreck etc.]
In einer Reihe anderer Fälle ist es weniger die Verletzung als
solche, als der mit ihrer Zufügung verbundene psychische Insult, der
zur Entstehung der Psychose Anstoss gibt. Dass Angst und Schrecken
Psychosen erzeugen können, ist eine anerkannte Thatsache. Noch mehr
muss dies zugegeben werden, wenn sich derartige Gemüthsaufregungen mit
körperlicher Misshandlung verbinden. Die auf diese Weise erzeugten
psychischen Störungen betreffen weniger die Intelligenz als die
Stimmung und combiniren sich häufig mit hysterischen oder epileptoiden
Zufällen oder verlaufen unter dem später zu erwähnenden Bilde der
„traumatischen Neurose“.
In allen Fällen, in denen Geistesstörung nach Verletzung oder
Misshandlung auftrat, ist zu erwägen, ob nicht andere Ursachen des
Ausbruches der Psychose sich nachweisen lassen, oder ob nicht die
Verletzung oder Misshandlung nur deshalb die Geisteskrankheit bewirkte,
weil bereits eine Prädisposition zu solchen Erkrankungen bestand. Zu
diesem Behufe ist die Anamnese sehr genau zu erheben und auf alle jene
Momente Rücksicht zu nehmen, welche erfahrungsgemäss entweder die
primäre Veranlassung zur Entstehung von Geisteskrankheiten abgeben oder
eine Prädisposition zu diesen bedingen können.
[Sidenote: Prognose traum. Psychosen.]
Da, wie oben bemerkt, das Gesetz zwischen vorübergehender Geistesstörung
und solcher ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung
unterscheidet, so ist in jedem einzelnen Falle auch die Prognose der
psychischen Erkrankung zu erörtern. Primärer Blödsinn nach schweren
Kopfverletzungen ist, wie bereits erwähnt, fast immer unheilbar. Aber
auch die nachträglich nach Kopfverletzungen auftretenden Psychosen
geben eine sehr ungünstige Prognose. Fast alle von +Schlager+
beobachteten Fälle erwiesen sich als unheilbar und 7mal kam der
Ausgang in Blödsinn und Paralyse vor. In einzelnen Fällen, besonders
von epileptiformem Irrsein, das durch eine Depression der Fragmente
geheilter umschriebener Schädelbrüche veranlasst worden war, wurde
Genesung durch Trepanation erzielt. Günstiger gestaltet sich die
Prognose bei durch periphere Verletzungen reflectorisch veranlassten
Psychosen; insbesondere ist die auch von +Koeppe+ (l. c.) constatirte
Erfahrung zu berücksichtigen, dass durch Excision von Narben, die einen
Reiz auf periphere Nervenendigungen ausüben, wesentliche Besserung und
selbst Behebung des psychopathischen Zustandes erzielt werden kann. In
jenen Fällen wieder, wo der psychische Insult die Hauptrolle bei der
Entstehung der Psychose spielte, ist die Prognose in der Regel deshalb
ungünstig, weil dieselben meist Individuen betreffen, bei denen von
Haus aus eine Prädisposition zu geistiger Erkrankung bestand, die, wenn
einmal Anstoss zu ihrem Ausbruche gegeben wurde, einen progressiven
und selbst rapiden Verlauf zu nehmen pflegt. Solches hat auch
+Krafft+-+Ebing+ in den von ihm beschriebenen Fällen constatirt.
[Sidenote: „Schwere Verletzung“ im Sinne d. öst. St. G.]
Ad _c)_ +Schwere Verletzung+. Dieser Ausdruck ist derjenige, welcher
die meisten Schwierigkeiten dem Gerichtsarzte bereitet und seit jeher
zu einer ganzen Reihe der verschiedensten Auslegungen Veranlassung
gegeben hat. Die Schwierigkeit ergibt sich einestheils aus dem
Umstande, dass der Ausdruck „schwere körperliche Beschädigung“ und
„schwere Verletzung“ im gewöhnlichen Sprachgebrauche Gleiches bedeuten,
andererseits daraus, dass das Gesetz nirgends bestimmt, was unter
„schwerer Verletzung“ verstanden werden soll.
Wir können uns diese gesetzliche Bestimmung zunächst nur so
zurechtlegen, dass wir den Ausdruck „schwere körperliche Beschädigung“
als die Bezeichnung für den Gesammtbegriff des im §. 152 im Auge
gehabten Verbrechens auffassen, unter „schwerer Verletzung“ aber eine
solche verstehen, die vom rein ärztlichen Standpunkte, abgesehen
von der Dauer der durch sie bewirkten Gesundheitsstörung oder
Berufsunfähigkeit, als eine solche erklärt werden muss.
Es ist zwar auch der Arzt nicht im Stande, die Grenze zu bestimmen,
wann eine Verletzung aufhört eine „leichte“ zu sein und eine „schwere“
wird, und eine solche Unterscheidung ist eigentlich der medicinischen
Wissenschaft fremd; es folgt jedoch einestheils aus dem gewöhnlichen
Sprachgebrauche, dem zufolge der Ausdruck „schwer“ als identisch mit
„wichtig“ genommen werden muss, anderseits aus dem Zusammenhange
des §. 152 und aus der Gleichstellung der „schweren Verletzung“ mit
zwanzigtägiger Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit, sowie mit
Geisteszerrüttung, dass als schwere Verletzung nur solche erklärt
werden können, durch welche entweder wichtige, wenn auch nur kurz
dauernde Gesundheitsstörungen gesetzt oder wichtige vorübergehende oder
bleibende Folgen veranlasst wurden.
Da der Ausdruck „wichtig“ ebenfalls eine genaue Abgrenzung nicht
zulässt, so ist es begreiflich, dass der individuellen Auffassung
des Gerichtsarztes ein grosser Spielraum gelassen wird, wie es denn
tagtäglich vorkommt, dass Verletzungen, die von einem Arzte als
schwer erklärt wurden, von dem anderen als blos leichte qualificirt
werden. Derartige Controversen sind bei der unbestimmten Fassung des
Gesetzes unvermeidlich, und ihr thatsächliches Vorkommen lässt es um
so erfreulicher erscheinen, dass der neue Entwurf möglichst genau
präcisirt, was er unter „schwerer Verletzung“ verstanden haben will.
Ein ausgezeichneter Commentator unseres gegenwärtigen Strafgesetzes,
+Herbst+ (l. c. 318), will unter schwerer Verletzung eine solche
verstanden haben, „durch welche entweder ein für das Leben
wichtiges Organ oder Organsystem getroffen und in seinen Functionen
gestört wird, oder welche den Verlust oder die Unbrauchbarkeit des
verletzten und zur Integrität des menschlichen Körpers nothwendigen
Körpertheiles zur Folge hat“. Diese Definition stimmt in ihrem
zweiten Theile mit der unserigen überein, mit dem ersten Theile
aber können wir uns nicht ganz einverstanden erklären, da unserer
Ansicht nach nicht die Wichtigkeit des verletzten Organes, sondern
nur der Grad dessen Beschädigung, beziehungsweise Functionsstörung,
die „Schwere“ der Verletzung bedingt. Es handelt sich nämlich, da
zunächst nur die Frage, ob eine leichte oder schwere Verletzung
vorliegt, zu beantworten ist, nicht darum, welche Folgen die
betreffende Verletzung haben konnte, sondern welche sie thatsächlich
hatte, dagegen wird erstere Möglichkeit zu erwägen sein, wenn
in einem bestimmten Falle der im §. 155, lit. _a)_ besonders
hervorgehobene Umstand in Frage kommt. Auch ist es klar, dass nicht
jeder Functionsstörung selbst eines sehr wichtigen Organs ein
schwerer Charakter zugeschrieben werden kann. So entsteht z. B. durch
ein in’s Auge geworfenes Sandkorn jedenfalls eine Functionsstörung
eines wichtigen Sinnesorgans, es wird jedoch Niemandem einfallen,
diese für eine schwere Verletzung zu erklären. Ebenso werden wir
nicht jeden Ohnmachtsanfall, der nach einer Verletzung häufig
vorkommt, sofort als schwere Verletzung auffassen und werden selbst
bezüglich der sogenannten Gehirnerschütterung Unterscheidungen
machen, da ja eine derartige augenblicklich vorübergehende
Functionsstörung auch bei ganz unbedeutenden Insulten, z. B. nach
Ohrfeigen, freilich nur in ihren niedersten Graden, eintreten kann.
Schliesslich wollen wir noch bemerken, dass behufs Qualification
einer Verletzung als einer schweren nicht blos die unmittelbar durch
sie verursachten Erscheinungen, worunter auch der mit ihrer Zufügung
verbundene oder im Wundverlaufe aufgetretene Schmerz gehört, sondern
auch die secundären Zufälle und selbst die etwa nothwendig gewordenen
chirurgischen Eingriffe herangezogen werden müssen.
In allen Fällen, in denen der schwere Charakter einer Verletzung nicht
ausgesprochen vorliegt, empfiehlt es sich, zu erwägen, ob die durch
eine Verletzung primär oder secundär veranlassten Erscheinungen solche
sind, dass ihre Bedeutung gleich hoch angeschlagen werden kann, wie
die übrigen im §. 152 als Kriterien einer „schweren körperlichen
Beschädigung“ angeführten Verletzungsfolgen, nämlich wie eine
mindestens 20tägige Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit oder eine
Geisteszerrüttung, ein Vergleich, der mitunter noch am ehesten geeignet
ist, dem Arzt aus der schwierigen Lage herauszuhelfen, in die er in
einzelnen Fällen in Folge der Unklarheit des Gesetzes gebracht werden
kann.
Die erschwerenden Umstände des §. 155.
Als ein solcher wird angesehen:
+Lit.+ _a)_: „Wenn die obgleich an sich leichte Verletzung mit
einem solchen Werkzeuge und auf solche Art unternommen wird, womit
gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist, oder auf andere Art die
Absicht, einen der im §. 152 erwähnten schweren Erfolge herbeiführen,
erwiesen wird, mag es auch nur bei dem Versuche geblieben sein.“
Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass das Gesetz einen erschwerenden
Umstand darin erblickt, wenn die Verletzung nicht blos überhaupt in
„feindseliger“, sondern +in der Absicht, einen der im §. 152 erwähnten
Erfolge herbeizuführen+, zugefügt worden ist, und den Beweis hierfür
unter Anderem auch dann für erbracht erachtet, wenn die betreffende
Verletzung „mit einem solchen Werkzeuge und auf solche Art unternommen
wurde, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist“.
Es handelt sich in den einschlägigen Fällen um die Beantwortung von
zwei Fragen: erstens ob das betreffende Werkzeug ein solches gewesen,
womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist, und zweitens, ob es
auch in solcher Weise angewendet wurde, mit welcher gemeiniglich
Lebensgefahr sich verbindet?
Was die erste Frage anbelangt, so handelt es sich nicht darum, zu
entscheiden, ob es überhaupt möglich ist, mit dem betreffenden
Werkzeuge eine lebensgefährliche Verletzung zuzufügen, sondern ob
das Werkzeug ein solches war, womit +gemeiniglich+ Lebensgefahr
verbunden ist, ein Ausdruck, der, wie aus dem Contexte obiger
Bestimmung hervorgeht, nur so gedeutet werden kann: ob das Werkzeug
eine solche Beschaffenheit hatte, dass derjenige, der dasselbe
führte, schon zufolge dieser wissen konnte und wissen musste, dass
mit dessen Gebrauche gegen einen Menschen sich in der Regel oder
leicht Lebensgefahr für diesen verbinde. Es gehören somit hierher
alle Werkzeuge, die zum Zwecke des Tödtens eigens verfertigt sind,
also die Waffen im engeren Sinne, worunter ausser den verschiedensten
Schuss-, Stich- und Hiebwaffen auch die sogenannten „Todtschläger“
(Lifepreserver) zu rechnen sind, aber auch Instrumente, die zwar zu
friedlichen Zwecken gefertigt, doch derart sind, dass sie sehr wohl
als gefährliche Waffen benützt werden können und thatsächlich häufig
benützt werden, wie z. B. die Taschenmesser, Beile u. dergl.
[Sidenote: Gemeiniglich lebensgefährliche Werkzeuge.]
Zweifellos müssen aber auch Werkzeuge ganz anderer Art hierher
gerechnet werden, wenn sie solche Eigenschaften besitzen, dass es jedem
vernünftigen Menschen einleuchten muss, dass mit ihrem in gewisser
Weise ausgeführten Gebrauche Lebensgefahr verbunden ist.
So nahmen wir keinen Anstand, in einem Falle, in welchem einem Manne
eine schwere Kopfverletzung mit einer 1·5 Meter langen, 3 Cm. dicken,
vierkantigen Eisenstange zugefügt worden war, das Werkzeug für ein
solches zu erklären, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist.
Dagegen äusserten wir uns in einem anderen Falle, in welchem ein etwa
2 Kilo schwerer Pflasterstein gegen einen Geistlichen geworfen wurde
und diesen nur leicht verletzte, dass dieser Stein nicht als ein
gemeiniglich lebensgefährliches Werkzeug angesehen werden könne.
Auch Messer und andere spitzige Werkzeuge sind nicht unter
allen Umständen so beschaffen, dass man sie als „gemeiniglich
lebensgefährliche Werkzeuge“ erklären kann. So hatte in einem
Falle ein in ein Arbeitshaus eingelieferter Trunkenbold gegen eine
barmherzige Schwester einen Stich mit einem Taschenmesser geführt
und dieser einen unbedeutenden Ritz an der Stirne beigebracht. Das
betreffende Taschenmesser war ein sehr altes und defectes. Die Klinge
sowohl als der Griff blos je 5 Cm. lang und erstere in letzterem im
hohen Grade schlotternd, ausserdem ganz stumpf und insbesondere an
der ehemaligen Spitze durch langen Gebrauch stumpf und abgerundet.
Mit Rücksicht auf diese Eigenschaften sprachen wir uns dahin aus,
dass +dieses+ Messer kein solches Werkzeug sei, mit dessen
Anwendung „gemeiniglich“ Lebensgefahr verbunden ist. Ebenso gaben
wir ein gleiches Gutachten, als uns dieselbe Frage bezüglich einer
alten Schusterahle vorgelegt wurde, mit welcher Jemandem eine leichte
Stichwunde in die Bauchhaut versetzt worden war.
Dass auch bei Schusswaffen die Frage nach der Lebensgefährlichkeit
derselben vorkommen kann, beweist folgender Fall: Ein 36jähriger Mann
hatte aus einem winzigen, sogenannten Faust-Revolver, der nur aus
einer drei Querfinger breiten sechsläufigen Patronenwelle bestand,
zweimal auf seine Geliebte und dann auf einen Sicherheitswachmann
geschossen, ohne dass diese, obgleich getroffen, verletzt worden
wären, und hatte dann die übrigen Läufe gegen seinen Kopf
abgefeuert. Hierauf sah man ihn durch’s Fenster noch einmal laden
und hörte mehrere Schüsse. Als die Thür erbrochen wurde, war der
Mann bewusstlos, kam jedoch bald zu sich und blieb es fortan. Im
Inquisitenspitale fanden sich fünf Schussöffnungen in der rechten
Kopfseite, eine sechste in der linken Schläfegegend und eine siebente
am Hinterhaupt in der Mittellinie desselben. Es wurden vier Kugeln
extrahirt, die ganz oberflächlich sassen, während die anderen Wunden
gar keine enthielten. Hirnstörungen traten nicht auf, nur acht Tage
nach der Verletzung gab der Mann an, gelb zu sehen, eine Erscheinung,
die schon am nächsten Tage verschwand. Bei der Hauptverhandlung wurde
sowohl den Sachverständigen im Waffenfache, als den Gerichtsärzten
die Frage vorgelegt, ob die betreffende Waffe überhaupt eine
lebensgefährliche sei. Von ersteren wurde erklärt, dass schon
auf drei bis fünf Schritte keine Treffsicherheit gegeben und die
Treffkraft so gering sei, dass das Projectil nicht einmal in ein
weiches Brett eindringe, dass daher auch ein Mensch auf eine solche
oder noch weitere Distanz mit dieser Waffe nicht erheblich verletzt
werden könne.
Auch die Gerichtsärzte sprachen sich ähnlich aus und hoben mit Recht
hervor, dass die sieben gegen den Kopf aus nächster Nähe und dennoch
fruchtlos abgefeuerten Schüsse zur Evidenz beweisen, dass ein Schuss
aus einem solchen Revolver nur unter ganz besonderen Umständen, z.
B. wenn das Projectil gerade das Auge getroffen hätte, keineswegs
aber „gemeiniglich“ Lebensgefahr bedingen könne. Trotzdem wurde der
Betreffende wegen versuchten Mordes verurtheilt.
Was die zweite Frage betrifft, ob das als lebensgefährlich erkannte
Werkzeug auch „auf eine solche Art angewendet wurde, womit gemeiniglich
Lebensgefahr verbunden ist“, so ergibt sich die Beantwortung derselben
aus der Erwägung einerseits der Richtung in, anderseits der Kraft,
mit welcher das Werkzeug geführt worden war. Wir werden diese Frage
namentlich dann bejahen, wenn der Hieb, Stich, Schlag u. dergl.
direct gegen Organe geführt wurde, deren Lebenswichtigkeit Jedermann
bekannt ist, so gegen Kopf, Hals, Brust, Bauch, und wir werden behufs
Constatirung einer solchen Richtung nicht blos auf den Sitz der
Verletzung überhaupt, sondern auch auf den Verlauf des Wundcanals und
andere Merkmale von Wunden unser Augenmerk lenken, aus welchen sich ein
Schluss auf die Richtung ziehen lässt, in welcher der Hieb, Stich etc.
geführt wurde, wobei wir die Möglichkeit nicht übersehen werden, dass
das Werkzeug aus seiner ursprünglichen Richtung abgelenkt worden sein
konnte, und zwar sowohl in der Weise, dass durch die Ablenkung eine
lebensgefährliche Verletzung verhindert wurde, als umgekehrt, dass eine
ursprünglich nicht gegen lebenswichtige Organe gerichtete Verletzung
diese Richtung erst durch Ablenkung bekam. Ersterer Vorgang ist der bei
weitem häufigere, daher vorzugsweise zu beachtende und die Ablenkung
kann sowohl durch Pariren, Ausweichen, als auch durch Abgleiten des
Instrumentes an zur Bekleidung gehörigen oder zufälliger Weise vor
der getroffenen Stelle befindlichen harten Gegenständen (Knöpfen,
Schnallen, in den Taschen getragenen Dingen u. dergl.), aber auch an
Knochen (Rippen, Schädelknochen) erfolgen.
Dass das Werkzeug mit einer gewissen Kraft gegen den betreffenden
Körpertheil geführt wurde, kann aus der Beschaffenheit der Verletzung
selbst hervorgehen, so z. B. wenn das Instrument Knochen durchdrungen
hatte, ebenso wird sich aber dies ergeben aus der Erwägung der
Dinge, die das Instrument etwa zu durchdringen hatte, bevor es zur
Körperoberfläche gelangte, oder die das tiefere Eindringen desselben
verhindert hatten, und es wird aus der eventuellen Beschädigung dieser,
mitunter mit grosser Bestimmtheit der Schluss sich ziehen lassen, dass
der Stoss, Schlag u. dergl. mit grosser Kraft geführt und nur dadurch,
dass auf diese Art der Stoss oder Schlag aufgehalten wurde, eine
tiefere Verletzung verhütet worden ist.
In einem uns bekannten Falle hatte ein gegen die Herzgegend geführter
Messerstich ein Actenbündel getroffen, welches der Betreffende
zufälliger Weise in der linken Seitentasche seines Rockes trug, hatte
dieses trotz seiner Dicke und die darunter liegenden Kleidungsstücke
durchbohrt und war noch auf 1 Cm. in die Haut eingedrungen. Es konnte
unter diesen Umständen nicht daran gezweifelt werden, dass sowohl
Instrument als auch die Art seiner Anwendung lebensgefährlich gewesen
war. In einem anderen analogen Falle hatte eine stählerne Uhrkette,
in einem dritten ein starker lederner Flintenriemen den Stoss
aufgehalten, und der Fälle, in welchen die Kopfbedeckung den schweren
Ausgang eines gegen den Kopf geführten Hiebes oder Stiches verhütet
hatte, gibt es eine Menge.
Erwähnt sei noch, dass, wie aus dem Contexte der lit. _a)_ des
§. 155 hervorgeht, die eben behandelte Frage dem Gerichtsarzte sowohl
bei schweren als bei leichten Verletzungen und selbst dann gestellt
werden kann, wenn gar keine Verletzung eingetreten ist.
Einen instructiven Fall dieser Art bringt +Reinsberg+ (Zeitschr. d.
böhm. Aerzte. 1879, pag. 19). Zwei Bauern geriethen miteinander in
heftigen Streit, während dessen der eine auf seinen Gegner losstürzte
und mit seiner schweren Haue einen heftigen Hieb gegen dessen Kopf
führte. Der Angefallene, der gerade bei einem Birnbaum stand, wich
aus, so dass ihn die Haue blos am Scheitel streifte, dafür aber
mit solcher Gewalt in den Baum fuhr, dass von diesem ein grosses
Stück Rinde und sogar ein grosser Splitter vom Holz abgeschlagen
wurde. Mit Recht erklärten die Gerichtsärzte die Verletzung für
eine leichte, die aber mit einem solchen Werkzeuge und auf eine
solche Art beigebracht wurde, womit gemeiniglich Lebensgefahr sich
verbindet. -- Endlich sind hierher ausser den directen Verletzungen
gewisse andere mit Lebensgefahr verbundene Acte zu rechnen, so
z. B. das Herabstürzen aus grossen Höhen, in tiefes Wasser u. dergl.,
vorausgesetzt, dass die betreffende Handlung nur in der Absicht, zu
beschädigen, nicht aber vielleicht zu tödten, geschah.
Ist das Werfen eines Messers gegen einen Menschen eine Handlung,
womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist? Diese Frage wurde
uns aus Anlass eines Falles vorgelegt, wo ein Mann einen tödtlichen
Stich in die Leber mit einem Greisslermesser erhalten hatte, und von
Seite des Thäters behauptet wurde, dass er nicht direct zugestochen,
sondern das Messer im Zorne gegen seinen etwa 1 Meter entfernten
Gegner geworfen habe. Wir haben erklärt, dass es in solchen Fällen,
ausser auf die Beschaffenheit des Messers, vorzugsweise darauf
ankomme, wie das Messer geworfen, respective beim Wurf gehalten
wurde. Wurde das Messer, gewissermassen zielend, mit der Spitze
gegen den Angegriffenen geworfen, dann ist die Anwendung desselben
entschieden eine solche, die als eine gemeiniglich lebensgefährliche
bezeichnet werden muss, während, wenn das Messer beim Wurf quer
gehalten oder mit dem Griff nach vorn gerichtet geworfen würde, nur
ausnahmsweise eine schwere Beschädigung erfolgt.
[Sidenote: 30täg. Berufsunfähigkeit.]
+Lit.+ _b)_: „Wenn aus der Verletzung eine Gesundheitsstörung oder
Berufsunfähigkeit von mindestens dreissigtägiger Dauer erfolgte.“
Bei Beurtheilung dieses Umstandes müssen die gleichen Principien
berücksichtigt werden, die wir bei Besprechung des §. 152, respective
der zwanzigtägigen Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit
auseinandergesetzt haben.
[Sidenote: 30täg. Besondere Qualen. Lebensgefahr.]
+Lit.+ _c)_: „Wenn die Handlung mit besonderen Qualen für den
Verletzten verbunden war.“ Das Gesetz meint hier keineswegs die Qualen,
die Jemand erst nachträglich im weiteren Verlaufe der Verletzung, z.
B. durch die Entzündung oder durch etwa nöthig gewordene schmerzhafte
Operationen, auszustehen hatte, sondern nur jene, die mit der
+Handlung+, also mit der Zufügung der Verletzung, verbunden waren. Da
das Gesetz ferner von +besonderen+ Qualen spricht, so ist darunter
nicht der nothwendig mit jeder einzelnen Verletzung verbundene Schmerz
zu verstehen, wohl aber, wenn Jemand nicht blos einfach verletzt,
sondern durch absichtliche Multiplication der Verletzungen oder
durch absichtliche Verlängerung des mit einer Verletzung verbundenen
Schmerzes gemartert worden ist.
Ersteres kommt namentlich beim sogenannten Lynchen vor, auch mitunter
bei Misshandlung von Kindern. Einen Fall letzterer Art hatten wir zu
begutachten. Er betraf einen Bäckermeister, der bei einem Streite mit
seinem Gesellen, einem sehr starken Individuum, von diesem mit den
Zähnen beim Daumen gepackt und trotz seines Schreiens und Flehens,
und trotzdem sich verschiedene Personen bemühten, ihn von seinem
Peiniger zu befreien, von diesem durch mehrere Minuten festgehalten
und dabei der Daumen so zerquetscht wurde, dass er später durch
Gangrän verloren ging. Da hier eine absichtliche Verlängerung des
mit der Verletzung verbundenen Schmerzes vorlag, unterliessen wir
nicht, zu erklären, dass die Zufügung derselben mit besonderen Qualen
verbunden war. Dieselbe Erklärung gab +Blumenstok+ (Lehre von den
Verletzungen in Maschka’s Handb. I, 121) bei einem Manne ab, der
von einem Ehepaare zu Boden geworfen worden war und vom Manne, der
auf seiner Brust kniete, gewürgt wurde, während das Weib ihm die
Genitalien entblösste und mit beiden Händen die Hoden comprimirte,
durch welche mehrere Minuten dauernde Manipulation ihm unsäglicher
Schmerz bereitet wurde. Die Untersuchung ergab noch nach sechs Tagen
nebst Würgespuren am Halse eine linksseitige Orchitis und Gelbfärbung
der Scrotalhaut. -- Grausame Fesselungen, absichtlich längeres
Hungern- und Durstenlassen, Aussetzen extremen Temperaturen und
andere derartige Roheiten werden ebenfalls als Handlungen bezeichnet
werden können, die mit „besonderen Qualen“ verbunden sind, und es
ist kein Zweifel, dass eventuell auch psychische Qualen unter diesen
Begriff zu subsumiren wären.
[Sidenote: Lebensgefährlich gewordene Verletzungen.]
+Lit.+ _e_): „Wenn die schwere Verletzung lebensgefährlich
wurde.“ Diese Bestimmung bereitet dem Gerichtsarzte nicht
geringe Schwierigkeiten. +Herbst+ (l. c. 322) commentirt
dieselbe folgendermassen: „Eine schwere Verletzung wird dann zur
lebensgefährlichen, wenn das durch sie beschädigte und in seinen
Functionen gestörte Organ oder Organsystem mit seinen Functionen für
das Leben nicht blos wichtig, sondern unumgänglich nothwendig ist.“
Diese Definition ist nicht geeignet, die Schwierigkeiten zu beheben;
denn einestheils können auch Verletzungen nicht lebenswichtiger
Organe lebensgefährlich werden und selbst letal ablaufen, und es ist
bekannt, dass selbst ganz geringfügige Verletzungen mitunter einen
solchen Verlauf nehmen (z. B. Quetschwunden der Finger durch Hinzutritt
von Tetanus), anderseits muss nicht jede Verletzung eines zum Leben
unumgänglich nothwendigen Organes lebensgefährliche und nicht einmal
immer schwere Erscheinungen hervorrufen.
Wir sind der Meinung, dass hier der strenge Wortlaut des Gesetzes zu
beachten und nur jene Verletzung für eine lebensgefährliche zu erklären
ist, welche durch ihre Folgen lebensgefährlich +wurde+, d. h. durch
welche Symptome veranlasst wurden, welche für das Leben des Verletzten
fürchten liessen. Sind solche Symptome nicht eingetreten, dann liegt
kein Grund vor, die Verletzung für eine lebensgefährliche zu erklären,
auch wenn ein zum Leben unumgänglich nothwendiges Organ verletzt worden
ist, denn eine lebensgefährliche Verletzung ohne lebensgefährliche
Symptome wäre ein innerer Widerspruch.
Aber auch in solcher Auffassung bietet die gesetzliche Bestimmung
dem Gerichtsarzte viele Verlegenheiten, da sich der Begriff
„lebensgefährlich“ nicht genau definiren und nicht genau bestimmen
lässt, welche Symptome als lebensgefährlich aufgefasst werden müssen.
Auch hier wird der individuellen Auffassung des Untersuchenden ein
grosser Spielraum gelassen und erfahrungsgemäss zu mannigfachen und
unliebsamen Controversen Veranlassung gegeben, wie überall dort, wo der
Arzt gezwungen wird, das unsichere Gebiet der Prognose zu betreten.
Im Allgemeinen muss den Gerichtsarzt die klinische Erfahrung leiten
und er wird eine Verletzung dann für lebensgefährlich erklären, wenn
Symptome aufgetreten sind, die dieser Erfahrung entsprechend die
Befürchtung aufkommen liessen, dass ein letaler Ausgang bevorstehe. Die
in dieser Beziehung gegebenen Möglichkeiten zu besprechen, erscheint
uns unthunlich und, da beim Gerichtsarzte speciell klinisches Wissen
vorausgesetzt wird, auch überflüssig.
Erschwerende Umstände des §. 156.
Der §. 156 führt jene bleibenden Verletzungsfolgen auf, deren
Vorhandensein das höchste Strafausmass, schweren Kerker zwischen 5 und
10 Jahren, bedingt.
Als solche werden bezeichnet:
+Lit.+ _a_): „Verlust oder bleibende Schwäche der Sprache, des
Gesichtes oder Gehöres, der Verlust der Zeugungsfähigkeit, eines Auges,
Armes oder einer Hand, oder eine andere auffallende Verstümmelung oder
Verunstaltung.“
[Sidenote: Verlust oder Schwächung der Sprache.]
+Verlust oder bleibende Schwächung der Sprache.+ Was unter Verlust
der Sprache zu verstehen sei, bedarf keiner näheren Erörterung, und
man wird an dem Vorhandensein desselben selbst dann nicht zweifeln,
wenn etwa das Individuum noch im Stande wäre, mit Mühe einige mehr
weniger verständliche Laute hervorzubringen. Dagegen ist der Begriff
„Schwächung der Sprache“ sehr dehnbar, da, wenn wir denselben
gleichbedeutend mit Erschwerung des deutlichen Sprechens nehmen, auch
z. B. schon jene, wie sie durch Verlust von Vorderzähnen bedingt wird,
hierher gezählt werden könnte. Offenbar hat jedoch das Gesetz nicht
solche geringe und überdies zu behebende Sprachstörungen, sondern, wie
schon aus der Zusammenstellung mit Verlust der Sprache und mit den
anderen im §. 156 erwähnten schweren Folgen hervorgeht, nur wichtige
Sprachbehinderungen im Auge.
Dieselben können veranlasst werden zunächst durch unmittelbare
Verletzung der lautbildenden Organe, so durch ausgebreitete
Zerstörungen der Zunge, des Gaumens, überhaupt der Mundhöhle,
insbesondere aber des Kehlkopfes[244]; ferner durch Verletzung der bei
der Sprachbildung betheiligten Nerven, insbesondere des N. hypoglossus
(N. loquens!) und des N. recurrens.[245]
Einen Fall letzterer Art haben wir selbst beobachtet. Ein
Bauernbursche, der früher eine kräftige Bassstimme gehabt hatte,
erhielt einen Messerstich in den Hals an der inneren Seite des
rechten Kopfnickers, der die Trachea etwa 3 Cm. unter der rechten
Hälfte des Ringknorpels eröffnete. Der Verletzte war in den ersten
Tagen nicht im Stande, zu sprechen, was mit der Eröffnung der
Trachea in Verbindung gebracht wurde. Aber auch nach Verheilung
der Trachealwunde war die Sprache mühsam und heiser und, obgleich
sich der Zustand etwas gebessert hatte, so fanden wir doch noch
nach ¾ Jahren, als der Fall zur Hauptverhandlung kam, eine
auffallend heisere Stimme und bei der nachträglich vorgenommenen
laryngoskopischen Untersuchung Lähmung des rechten Stimmbandes.
Wir schlossen auf Verletzung des N. recurrens, und obgleich wir
zugaben, dass möglicherweise der Zustand sich bessern könne, so
erklärten wir doch eine vollständige Wiederherstellung der Stimme
für unwahrscheinlich und nahmen daher eine „bleibende Schwächung der
Sprache“ als vorhanden an.
Bemerkenswerth ist ferner die Aphasie nach Gehirnverletzungen,
insbesondere des linken Lobus frontalis.[246] Eine Reihe von
solchen Fällen hat +Bonafont+ (Schmidt’s Jahrb. 1847, LVI, 10)
zusammengestellt. Einen anderen Fall beschreibt +Wernheer+ (Virchow’s
Archiv. 1872, pag. 289). Auch +Clarus+ („Ueber Aphasie bei Kindern.“
Jahrb. f. Kinderheilk. 1874, VII, 369) führt fünf Fälle von Aphasie bei
Kindern nach Kopfverletzungen auf, worunter zwei vollständige und eine
unvollständige Heilung, und weitere Beobachtungen nebst Bemerkungen
über forensische Beurtheilung der Aphasie bringen +Blumenstok+
(Friedreich’s Blätter. 1878, pag. 363 und Maschka’s Handbuch, l. c.
pag. 125), +Soulouwiac+ (Wiener med. Blätter. 1884, pag. 306) und +v.
Limbeck+ (Aphasie nach Schuss. Prager med. Wochenschr. 1890, Nr. 45).
Endlich ist zu erwähnen, dass Verlust und Schwächung der Sprache auch
durch plötzlichen Schreck u. dergl. veranlasst werden kann.
In allen derartigen Fällen ist ausser dem Grade der Sprachstörung zu
erwägen, ob der Verlust oder die Schwächung der Sprache als bleibend zu
erachten sind, da sie nur in diesem Falle unter den §. 156 _a_)
subsumirt werden könnten. Die letzterwähnten Sprachstörungen, die
überdies in der Regel nur bei schon früher neuropathisch gewesenen
Individuen, insbesondere bei hysterischen Frauen vorzukommen pflegen
und auch simulirt werden können, werden selten als „bleibende“
zu bezeichnen sein[247], aber auch bei den aus anderen Ursachen
entstandenen wird man mit dem Ausspruche, dass die Sprachstörung eine
bleibende sei, nicht allzu schnell sein dürfen, da es in der Natur der
meisten der Sprachstörung zu Grunde liegenden pathologischen Processe
begründet ist, dass die Restitutio ad integrum längere Zeit erfordert.
[Sidenote: Verlust und Schwächung des Gesichtes.]
+Verlust oder bleibende Schwächung des Gesichtes.+ Die Fassung dieser
Bestimmung hat insoferne zu Meinungsverschiedenheiten Veranlassung
gegeben, als Einzelne dieselbe nur auf Verlust oder bleibende
Schwächung des Sehvermögens auf +beiden+ Augen bezogen, während Andere
auch schon die Zerstörung oder Beeinträchtigung des Sehvermögens blos
auf +einem+ Auge darunter subsumirt wissen wollten. Wir schliessen
uns letzterer Ansicht insoferne an, als wir den Verlust oder schwere
Beeinträchtigung des Sehvermögens auch nur auf einem Auge als
„Schwächung des Gesichtes“ auffassen, da auch vom rein ärztlichen
Standpunkte zugegeben werden muss, dass, wenn das Sehvermögen auf einem
Auge verloren ging oder wesentlich beeinträchtigt wurde, auch das
„Gesicht“ im Allgemeinen ein minder gutes, also „geschwächtes“ geworden
ist, da ferner der in derselben Alinea gebrauchte Ausdruck „Verlust
eines Auges“, wie aus dem Nachsatze „oder eine andere Verstümmelung
oder Verunstaltung“ hervorgeht, sich auf den Verlust des ganzen Bulbus
und die dadurch bewirkte Entstellung bezieht, und weil auch von
juristischer Seite wiederholt betont wurde, dass schon der Verlust
oder die Störung des Sehvermögens nur auf einem Auge als „Schwächung
des Gesichtes“ im Sinne des Gesetzes aufgefasst werden müsse[248],
eine Auffassung, die auch dadurch ihre nachträgliche Bestätigung
erhielt, dass sowohl das deutsche Strafgesetz als der österreichische
Strafgesetz-Entwurf eine „schwere Verletzung“ im neueren Sinne
annehmen, möge durch dieselbe das Sehvermögen auf beiden oder nur auf
einem Auge verloren gegangen sein.
Da der Begriff „Schwächung“ ein sehr dehnbarer ist, so wird
festzuhalten sein, dass, wie schon aus der Gleichstellung der
Schwächung des Gesichtes mit vollständigem Verlust desselben und mit
den anderen im §. 156 angeführten schweren Folgen hervorgeht, nur
höhere Grade von Beeinträchtigung des Sehvermögens hierher gezählt
werden können.
[Sidenote: Verlust und Schwächung des Gehöres.]
+Verlust oder bleibende Schwächung des Gehöres.+ Obgleich nicht
zu zweifeln ist, dass auch schon der Verlust oder die hochgradige
Beeinträchtigung des Gehöres auf +einer+ Seite eine Schwächung des
ganzen Gehöres bildet, so kann doch einem solchen Verluste keine so
hohe Bedeutung zugeschrieben werden. wie dem Verluste des Sehvermögens
auf einem Auge.
Offenbar hatte der Gesetzgeber den Sinn als Ganzes im Auge und auch im
neuen Entwurf, sowie im deutschen Strafgesetz wird nur vom Gehör im
Allgemeinen gesprochen, nicht aber zwischen dem Gehör auf einem oder
beiden Ohren unterschieden, wie dies bezüglich des Sehvermögens geschah.
Auch hier werden wir festhalten, dass nur erhebliche Beeinträchtigung
des Gehöres als Schwächung des Gehöres im Sinne des betreffenden
Gesetzes begutachtet werden kann und dass es sich ebenso wie bezüglich
der Schwächung des Gesichtes empfiehlt, in zweifelhaften Fällen sich
blos auf die Auseinandersetzung der Natur und des Grades der Störung
der Function des betreffenden Sinnesorganes zu beschränken und es dem
Richter, beziehungsweise den Geschworenen zu überlassen, ob sie auf
Grund dieser Auseinandersetzung den concreten Fall unter die Alinea
_a_) des §. 156 subsumiren wollen oder nicht.
[Sidenote: Verlust der Zeugungsfähigkeit.]
+Verlust der Zeugungsfähigkeit.+ Das Gesetz spricht nur von Verlust
der Zeugungsfähigkeit, nicht aber, wie bei der Sprache, dem Gesichte
und Gehöre, auch von blosser bleibender Schwächung dieser Fähigkeit.
Es macht ferner keinen Unterschied zwischen Verlust der Fähigkeit zum
Beischlaf und jenem der Fähigkeit zur Befruchtung, beziehungsweise
zur Conception, doch unterliegt es keinem Zweifel, dass der Verlust
jeder einzelnen dieser Fähigkeiten als Verlust der Zeugungsfähigkeit
begutachtet werden müsste. Erfahrungsgemäss kommt eine solche
Verletzungsfolge nur selten vor, am ehesten noch bei Männern, deren
Genitalien bei Raufereien, aber auch bei rohen Spässen häufig genug
Gegenstand des Angriffes werden, wobei es jedoch nur ausnahmsweise
zu solchen Verletzungen kommt, die, wie z. B. Verlust des Penis,
beiderseitige Castration oder Quetschung beider Hoden, Verlust der
Zeugungsfähigkeit nach sich ziehen oder ziehen können. Ein Fall, in
welchem einem jungen Manne von seiner früheren Geliebten, die er
verlassen hatte, der Penis an der Wurzel vollkommen abgeschnitten
wurde, ist unlängst in Wien vorgekommen und die Verletzung wurde
selbstverständlich für eine solche erklärt, die Verlust der
Zeugungsfähigkeit nach sich gezogen hatte.
Noch seltener kommt bei Weibern der Verlust der Zeugungsfähigkeit als
Verletzungsfolge in Frage. Hochgradige und unheilbare Verwachsungen der
Scheide nach Zerreissungen oder anderweitigen Verletzungen derselben
könnten sie bedingen.
In einem von +Casper+-+Liman+ (l. c. I, 362) mitgetheilten, einzig
dastehenden Falle wurde ein junges Mädchen von drei Knechten
überfallen und demselben durch Einbohren der Finger, sowie durch
Einstopfen von Sand und Steinen in die Genitalien das Mittelfleisch
und der Scheideneingang so zerrissen, dass erst nach langer
Krankheit und vorgenommener plastischer Operation Genesung erfolgte
mit Zurücklassung einer grossen Narbe des Perineums, jedoch ohne
Beeinträchtigung der Zugänglichkeit des Scheideneinganges und der
Scheide selbst. +Casper+ erklärte in der Schwurgerichtsverhandlung,
dass zwar die Betreffende sowohl beischlafs- als conceptionsfähig
sei, dass aber dieselbe trotzdem durch die Verletzung der
Zeugungsfähigkeit im weiteren Sinne beraubt worden sei, da „die
Gebärfähigkeit“, welche doch einen wesentlichen Factor der
Fortpflanzungsfähigkeit des Weibes bildet, hier in solcher Weise
gelitten habe, dass zu befürchten steht, dass bei einer erfolgenden
Geburt das vernarbte Mittelfleisch wieder zerreissen und die
Person für ihr ganzes Leben wieder elend verstümmelt sein werde.
Staatsanwalt und Geschworene acceptirten diese Interpretation des
Begriffes der Zeugungsfähigkeit und der Thäter wurde zu 12 Jahren
Zuchthaus verurtheilt.
[Sidenote: Verlust eines Armes etc.]
[Sidenote: Verstümmelung oder Verunstaltung.]
+Verlust eines Auges, Armes oder einer Hand oder eine andere
auffallende Verstümmelung oder Verunstaltung.+ Unter +Verstümmelung+
im weiteren Sinne ist der Verlust von Gliedern oder Gliedmassen zu
verstehen. Zweifellos ist jedoch dieser Begriff im Sinne der lit.
_a_) des §. 156 enger zu nehmen, indem, wie aus dem offenbar als
Beispiel angeführten Verlust eines Armes oder einer Hand hervorgeht,
nur der Verlust wichtigerer Glieder des Körpers, insbesondere ganzer
Gliedmassen oder grösserer Theile derselben, hierher gerechnet werden
kann, nicht aber auch schon der Verlust z. B. eines Fingers oder
gar einzelner Fingerglieder. Ob das Gesetz unter Verlust nur die
vollständige Abtrennung des betreffenden Gliedes vom Körper oder
auch schon das Unbrauchbarwerden desselben versteht, ist fraglich.
Da jedoch begreiflicher Weise dem Unbrauchbarwerden eines Armes,
einer Hand etc. für den Verletzten eine wesentlich gleiche Bedeutung
zukommt, wie dem vollständigen Verluste desselben, so erscheint es
auch von ärztlicher Seite gerechtfertigt, beide Verletzungsfolgen zu
identificiren, beziehungsweise die Analogie derselben dem Richter oder
den Geschworenen auseinanderzusetzen.
Die +Verunstaltung+ definirt +Herbst+ (l. c.) als eine widerliche
Veränderung der menschlichen Gestalt, +Geyer+[249] als eine bedeutende
Gestaltsveränderung eines mehr in die Augen fallenden Körpertheile,
+Liman+ (l. c. I, 311) als eine unheilbare Formveränderung eines
Körpertheils, die einen widrigen und unangenehmen Eindruck macht.
Es handelt sich demnach bei dem Begriffe der Verunstaltung oder, was
gleichbedeutend ist, der Entstellung, um einen als Verletzungsfolge
zurückgebliebenen Schönheitsfehler, also um ein rein „ästhetisches
Moment“, dessen Beurtheilung eigentlich gar nicht mehr ausschliesslich
medicinischer Natur ist, sondern auch den Laien, insbesondere den
Geschwornen überlassen werden könnte, was schon deshalb zweckmässig
wäre, da es doch nur auf den allgemeinen Eindruck ankommt, den das
Individuum in Folge der erlittenen Veränderung seiner äusseren
Körperbeschaffenheit. und zwar zunächst auf das Laienpublicum, gewährt.
[Sidenote: Auffallende Verunstaltung.]
Sowohl die Verunstaltung als die Verstümmelung muss eine +auffallende+
sein, wenn sie in die lit. _a_) des §. 156 einbezogen werden soll.
Allerdings ist es unmöglich zu bestimmen, wann eine Verunstaltung
aufhört oder anfängt auffallend zu sein oder nicht, doch empfiehlt
es sich, den Auseinandersetzungen der Commentatoren (+Herbst+, l. c.
322) entsprechend, das betreffende Individuum im bekleideten und nicht
im nackten Zustande zu beurtheilen, und zu erwägen, ob die durch die
Verletzung verursachte Körperveränderung derart ist, dass sie auch im
bekleideten Zustande sofort an dem Individuum sich bemerkbar macht.
Jedenfalls werden Defecte, die sich leicht verbergen oder corrigiren
lassen, nicht hierher zu rechnen sein.
Als Beispiel einer auffallenden Verunstaltung wird von Seite des
Gesetzes der Verlust eines Auges angeführt und im gleichen Sinne
werden wir den Verlust der Nase, ausgebreitete Narben im Gesichte,
wie sie namentlich nach Verbrennungen und Verätzungen vorkommen, aber
auch hochgradige Verschiebungen des Rumpfes, wie wir eine solche nach
ausgebreiteter Verbrennung sahen, sowie ein in Folge von Verletzungen
der unteren Extremitäten zurückgebliebenes auffallendes Hinken u.
dergl. als auffallende Verunstaltung erklären können.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass bei der Begutachtung einer
Verletzungsfolge als Verunstaltung überhaupt und als auffallende
insbesondere auch das Individuum selbst in Betracht gezogen werden
muss. So ist es klar, dass Narben im Gesichte, die wir beim Manne
als eine auffallende Entstellung zu erklären Anstand nehmen werden,
bei einem jungen Mädchen eine solche bilden können, da bei diesem
eine Entstellung des Gesichtes durch Narben nicht blos mehr auffällt,
sondern auch mehr bedeutet, als beim Manne, wie denn auch das
bürgerl. G. B. diesen Umstand beachtet, da es im §. 1326 bestimmt,
dass, wenn die betreffende Person durch die Misshandlung verunstaltet
wurde, auf die Entstellung, +zumal wenn die Person weiblichen
Geschlechtes ist+, insoferne Rücksicht genommen werden soll, als
ihr besseres Fortkommen dadurch verhindert werden kann.
Ebenso können bei Mädchen und jungen Frauen Entstellungen der Arme
und der Brust auffallende Verunstaltungen im Sinne des §. 156 _a)_
bilden, während gleichen Veränderungen beim Manne möglicherweise nur
eine untergeordnete Bedeutung zugeschrieben werden könnte.
Ueberdies ist, insbesondere was die Entstellungen des Gesichtes
anbelangt, auch der frühere Zustand des letzteren zu beachten, und
wir werden Narben im Gesichte einer jungen Person anders beurtheilen,
als im Gesichte einer Greisin oder einer Person, die schon früher im
Gesichte in auffallender Weise entstellt gewesen war.
[Sidenote: Siechthum, unheilbare Krankheit.]
+Lit.+ _b)_: +Immerwährendes Siechthum oder eine unheilbare
Krankheit oder eine Geisteszerrüttung ohne Wahrscheinlichkeit der
Wiederherstellung.+ Entschieden wäre es viel einfacher gewesen, wenn
das Gesetz, statt vorstehende Unterscheidungen zu machen, nur die
unheilbare geistige oder körperliche Krankheit als besonders gravirende
Verletzungsfolge hervorgehoben hätte. Dass es dies nicht that,
davon scheint uns der Grund darin zu liegen, dass das Gesetz durch
besondere Erwähnung des immerwährenden Siechthums und der unheilbaren
Geistesstörung angedeutet haben wollte, dass überhaupt unter diese
Alinea blos unheilbare Krankheiten von höherer Bedeutung zu subsumiren
sind, nicht aber alle unheilbaren Krankheiten ohne Unterschied.
Mit dem Begriffe „Siechthum“ verbindet man dem gewöhnlichen
Sprachgebrauche zufolge nicht blos den einer chronischen Krankheit,
sondern auch den der Schwäche und Hinfälligkeit und dadurch bewirkter
Unfähigkeit zu ausgiebiger Arbeitsleistung und zum Lebensgenuss. Da
das Gesetz nur von „immerwährendem“ Siechthum spricht, so kommen nur
unheilbare Zustände der erwähnten Art in Betracht. Als solche wären
insbesondere Lähmungen des ganzen Körpers oder von Körperhälften zu
betrachten, wie sie nach Kopf- und Rückenmarksverletzungen, aber auch
nach Intoxicationen zurückbleiben können, ebenso epileptische Zustände,
Stricturen der Trachea oder des Oesophagus, wie sie theils nach
Verletzungen, theils nach Verätzungen auftreten, Koth- und Harnfisteln
u. dergl.
Dass „Siechthum“ und „unheilbare Krankheit“ sich von einander nicht
scharf trennen lassen und dass auch die genaue Präcisirung des
letzteren Begriffes zu den Unmöglichkeiten gehört, bedarf keines
weiteren Beweises, doch sei bemerkt, dass rücksichtlich des Begriffes
„unheilbare Krankheit“ sich der oberste Gerichtshof mit Erkenntniss vom
18. Januar 1854[250] dahin ausgesprochen hat, dass unter „Krankheit“
nicht, wie gewöhnlich, blos innerliche, sondern auch äussere
(sogenannte chirurgische) Krankheiten zu verstehen seien.
Ueber die „Geistesstörung ohne Wahrscheinlichkeit der
Wiederherstellung“ haben wir uns bereits oben ausgesprochen.
+Lit.+ _c)_: Auch die +immerwährende Berufsunfähigkeit+ bedarf keiner
besonderen Auseinandersetzung, da wir den Begriff der Berufsunfähigkeit
bereits bei Besprechung der §§. 152 und 155 auseinandergesetzt haben
und die Feststellung der immerwährenden Natur, respective Unheilbarkeit
der Berufsunfähigkeit keiner besonderen Erörterung bedarf.
Anschliessend an die Besprechung der gerichtsärztlichen Beurtheilung
der Verletzungen am Lebenden im Sinne des gegenwärtigen österr. St. G.
muss noch die +Bestimmung des §. 132 der österr. St. P. O.+ erwähnt
werden, welche verlangt, dass die betreffenden Sachverständigen sich
auszusprechen haben, „welche von den vorhandenen Körperverletzungen
oder Gesundheitsstörungen an und für sich oder in ihrem Zusammenwirken
unbedingt oder unter den besonderen Umständen des Falles als leichte,
schwere oder lebensgefährliche anzusehen seien“.
[Sidenote: Zusammenwirkung von Verletzungen.]
Dass Verletzungen, von denen jede einzelne nur als leichte aufzufassen
wäre, in ihrem +Zusammenwirken+ eine schwere, beziehungsweise
lebensgefährliche bilden können, ist begreiflich und kommt auch
thatsächlich nicht selten vor. Es gehören hierher insbesondere
Stock-, Ruthen-, Peitschenhiebe u. dergl., von denen jedem einzelnen
eine Bedeutung in der Regel nicht zugeschrieben werden kann, die
aber zusammengenommen mitunter schwere und selbst lebensgefährliche
Erscheinungen zu bewirken im Stande sind. Ebenso kann eine aus mehreren
Wunden gleichzeitig erfolgte Blutung einen schweren Charakter erhalten,
während dem Blutverlust aus nur einer von denselben ein solcher
Charakter nicht zufällt. Auch bedarf es keiner Auseinandersetzung,
dass auch der weitere Verlauf einer Verletzung durch eine oder mehrere
gleichzeitig gesetzte Verletzungen wesentlich beeinflusst werden kann.
Eine solche combinirte Wirkung von mehreren Verletzungen kann sowohl
bei Misshandlungen durch ein einzelnes Individuum vorkommen, als, und
zwar verhältnissmässig häufiger, bei Schlägereien oder beim Lynchen,
wo die Misshandlung durch mehrere Individuen an einer und derselben
Person verübt worden ist. Darauf bezieht sich auch der §. 157 des St.
G., welcher bestimmt, dass, wenn bei einer zwischen mehreren Leuten
entstandenen Schlägerei etc. die schwere körperliche Beschädigung nur
durch das Zusammenwirken der Verletzungen oder Misshandlungen von
Mehreren erfolgte -- -- -- -- --, Alle, welche an den Misshandelten
Hand angelegt haben, des Verbrechens der schweren körperlichen
Beschädigung schuldig erkannt werden sollen.
Eine grössere Schwierigkeit bietet die Interpretation der +unbedingt
oder nur unter den besonderen Umständen+ des Falles leichten,
schweren oder lebensgefährlichen Verletzung.
[Sidenote: §§. 132 u. 129 der österr. St. P. O.]
Wenn wir berücksichtigen, dass im gleichen Paragraph der Gesetzgeber
auch zu wissen verlangt, „welche Wirkungen Beschädigungen dieser Art
gewöhnlich nach sich zu ziehen pflegen, und welche in dem vorliegenden
einzelnen Falle daraus hervorgegangen sind“, und damit zusammenhalten,
dass auch im §. 129, der sich auf die tödtlich gewordenen Verletzungen
bezieht, offenbar in gleicher Intention verlangt wird, dass der
Arzt sich erkläre, „ob die einer tödtlichen Verletzung zu Grunde
liegende Handlung _a_) schon ihrer allgemeinen Natur nach, oder
_b_) vermöge der eigenthümlichen persönlichen Beschaffenheit oder
eines besonderen Zustandes des Verletzten, oder _c_) wegen der
zufälligen Umstände, unter welchen sie verübt wurde, oder _d_) vermöge
zufällig hinzugekommener, jedoch durch sie veranlasster oder aus
ihr entstandener Zwischenursachen den Tod herbeigeführt habe, und
ob endlich _e_) der Tod durch rechtzeitige und zweckmässige Hilfe
hätte abgewendet werden können“, so scheint es uns klar, dass unter
„unbedingt“ schweren oder lebensgefährlichen Verletzungen nur solche zu
verstehen sind, die ihrer „allgemeinen Natur nach“ es geworden sind,
während als „bedingt, oder nur unter den besonderen Umständen schwere
oder lebensgefährliche Verletzungen“ solche zu bezeichnen sein werden,
welche diese Qualität nur wegen der im §. 129 St. P. O. sub _b_ bis _e_
angeführten Umstände erlangt haben.
Die Berücksichtigung dieser Umstände wurde vielfach perhorrescirt,
da sie an die alten, glücklicherweise abgethanen „Letalitätsgrade“
erinnert, und es wurde insbesondere bezüglich der „eigenthümlichen
Leibesbeschaffenheit“ von Seite eines englischen Richters mit Recht
bemerkt: „dass Niemand verpflichtet werden kann, seine Gesundheit in
einem solchen Zustande zu halten, dass er gegen alle üblen Folgen
einer durch einen Dritten zugefügten Körperverletzung geschützt
wäre“ (+Taylor+, Med. Jurispr. 1865, pag. 485). Trotzdem wird
dieselbe in der Praxis nicht umgangen werden können, und wenn auch
z. B. die deutsche St. P. O. analoge Bestimmungen nicht enthält[251],
so lehrt doch die Erfahrung, dass die Gerichtsärzte in ihren
Gutachten derartige Umstände berücksichtigen, beziehungsweise
hervorheben, und dass auch der Richter bei dem ihm innerhalb gewisser
Grenzen überlassenen +Strafausmasse+ dieselben in die Wagschale legt.
Wir wollen diese Umstände sowohl in Bezug auf die am Lebenden zur
Beurtheilung gelangenden, als auf die tödtlichen Verletzungen unter
Einem besprechen.
Sowohl aus dem Contexte der erwähnten Gesetzesstellen als aus der
allgemeinen Erfahrung geht hervor, dass zweierlei in Betracht kommt:
1. ob die +Handlung+, welche die Verletzung bewirkte, eine solche
war, dass sie ihrer allgemeinen Natur nach (unbedingt) letztere
bewirken musste, und 2. ob der +Verlauf+, beziehungsweise +Ausgang+
der Verletzung einzig in der allgemeinen Natur dieser oder in anderen
Umständen begründet war.
[Sidenote: Eigenthümliche Leibesbeschaffenheit.]
Ad 1. Wenn die Verletzung mit Anwendung grosser Kraft und mit solchen
Werkzeugen zugefügt wurde, deren allgemeinen Eigenschaften nach der
Thäter wissen konnte und musste, dass durch ihren Gebrauch schwere und
lebensgefährliche Verletzungen entstehen können, wie insbesondere mit
Waffen oder sehr wuchtigen Werkzeugen, dann ergibt sich die bejahende
Beantwortung dieser Frage von selbst. Dagegen wird dieselbe negativ
ausfallen, wenn verhältnissmässig unbedeutende und als unschädlich
allgemein bekannte Gewalten, wie Ohrfeigen, Stösse mit der Faust
u. dgl., schwere oder gar lebensgefährliche oder tödtliche Verletzungen
bewirkten, und sich herausstellt, dass eben ganz besondere, dem Thäter
unbekannte Körperverhältnisse der Grund eines so ungewöhnlichen und
unerwarteten Ausganges der Misshandlung gewesen sind. Derartige
Verhältnisse sind eben als „eigenthümliche persönliche Beschaffenheit“
oder, wie der gewöhnliche Ausdruck lautet, als „+eigenthümliche
Leibesbeschaffenheit+“ im Sinne der St. P. O. aufzufassen und
besonders zu erörtern.
Eine derartige eigenthümliche Leibesbeschaffenheit ist der Grund,
warum z. B. manchmal unbedeutende Erschütterungen des Kopfes
durch Schläge mit der Hand oder mit der Faust, ja sogar durch
„Contrecoup“ einen unglücklichen Ausgang nehmen können. +Werner+
(Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1863, XXIV, 117) berichtet über
einen Fall, wo aus Anlass eines Streites ein Mann einen Faustschlag
gegen das Hinterhaupt erhielt und sofort todt zusammenstürzte. Bei
der Section fand sich ein Sarcom der Dura mater, welches an derselben
Stelle, die vom Faustschlage getroffen wurde, den Schädelknochen
usurirt gehabt hatte. Als eigenthümliche Leibesbeschaffenheit
wäre auch die bei Säufern so häufige Pachymeningitis vasculosa
aufzufassen, bei welcher der Natur des Leidens zufolge schon
geringe Erschütterungen genügen, um die zarten Gefässe, aus denen
die pachymeningitischen Membranen bestehen, zur Ruptur zu bringen.
Einen einschlägigen Fall haben wir in der Wr. med. Presse, 1876,
Nr. 45, publicirt und einen anderen, wo die Hämorrhagie nach einer
gewöhnlichen Ohrfeige eingetreten war, unlängst obducirt. Ebenso
obducirten wir am selben Tage einen mit hochgradigem paralytischen
Blödsinn Behafteten, der in der Irrenanstalt vom Wärter bei Seite
geschoben worden war, als er sich einem unrechten Bette näherte und
in Folge dessen so heftig hinstürzte, dass er sich die Nasenbeine
zerbrach, eine Quetschwunde an der Oberlippe zufügte, sofort
somnolent wurde und am anderen Tage starb. Die Obduction ergab
ausser den genannten Verletzungen keine weiteren, sondern nur den
bekannten Hirnschwund der Paralytiker. Hier war eine eigenthümliche
Leibesbeschaffenheit zunächst Ursache, dass das einfache Wegschieben
ein so wuchtiges Hinstürzen veranlasste, und andererseits zugleich
der Grund, dass schon die einfache Hirnerschütterung den Tod
herbeiführte. Auch hydrocephalische Zustände, sowie die durch
vorzeitige Nahtverwachsung bedingten Behinderungen des Hirnwachsthums
kommen in dieser Beziehung in Betracht, und häufig sind diese im
Spiele, wenn, was nicht selten vorkommt, nach gewissen Misshandlungen
von Kindern von Seite der Lehrer (Kopfstücke, Ziehen bei den Haaren
und Ohren) schwere Zufälle auftreten. Wir haben einen Fall obducirt,
in welchem ein 14jähriger, hochgradig hydrocephalischer und mit
angeborener Amaurose behafteter Knabe, der auf einer kaum einen
Meter vom Boden entfernten Stufe sass, von einem anderen Knaben
herabgestossen wurde, und obgleich er nur auf das Gesäss fiel und
nirgends mit dem Kopfe angeschlagen hatte, sofort bewusstlos wurde,
Convulsionen bekam und nach einer Stunde starb, ohne dass bei der
Section etwas Anderes als ein hochgradiger Hydrocephalus gefunden
worden wäre. In einem anderen Falle hatte ein epileptischer Bursche
von seinem Kameraden im Scherze einen Schlag mit der flachen Hand auf
den mit einer Kappe bedeckten Scheitel erhalten, war sofort unter
Convulsionen zusammengestürzt, bekam einen epileptischen Anfall nach
dem anderen und starb am nächsten Tage. Die Obduction ergab im linken
Scheitelbein ein thalergrosses Loch mit theils wulstig abgerundeten,
theils zackig in das Lumen vorstehenden Rändern und über dem Defect
eine schwielige, mit den Meningen verwachsene Narbe. Anamnestisch
wurde constatirt, dass der Untersuchte als kleiner Knabe durch einen
Steinwurf am Kopfe verwundet worden war, lange Zeit bewusstlos
darniederlag und seitdem an Epilepsie gelitten hatte, sowie dass der
Schlag offenbar gerade die betreffende Narbe, an welcher der Bursche
stets sehr empfindlich war, getroffen hatte.
Ebenso müsste man die eigenthümliche Leibesbeschaffenheit
betonen, wenn ein unbedeutender Stoss ein bestehendes Aneurysma
oder ein Darmgeschwür zur Ruptur gebracht hätte, ferner abnorme
Brüchigkeit der Knochen, die Hämophilie, aber auch acute sowohl als
chronische Erkrankungen anderer Art, wie Tuberculose, Alkoholismus
u. dergl. Unlängst obducirten wir eine alte Frau, die von einem
Omnibus niedergestossen und wenige Augenblicke darnach, wie es
in der Polizeianzeige hiess, an Verblutung aus einer grossen
Rissquetschwunde des Unterschenkels gestorben war. Die Obduction
ergab nur ein grosses callöses Fussgeschwür und in dessen Grunde
einen 2 Cm. langen Querriss, welcher einen Varix eröffnet hatte,
sonst keine Spur einer Verletzung. Zwischen dem Niedergestossenwerden
und der betreffenden Risswunde bestand offenbar ein ursächlicher
Zusammenhang, doch hatte ersteres nicht seiner „allgemeinen Natur
nach“, sondern nur wegen der eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit den
betreffenden Effect herbeigeführt.
[Sidenote: Besonderer Zustand. Ungünstiger Verlauf.]
Der im §. 129 sub _2b)_ erwähnte Begriff des „+besonderen Zustandes+“
des Verletzten bezieht sich im Gegensatze zu habituellen offenbar
nur auf vorübergehende Zustände, in denen sich das Individuum
gerade zur Zeit der That befand. Hierher könnte vielleicht unter
Umständen die Schwangerschaft gerechnet werden, insbesondere
z. B. eine Tubarschwangerschaft, bei welcher die betreffende Tuba
möglicherweise schon durch einen unbedeutenden Stoss auf den
Unterleib oder ähnlichen Insult zum Bersten gebracht werden kann.
Auch die Trunkenheit gehört hierher. So hatte in einem der Facultät
übergebenen Falle ein schwer betrunkener Mann, nachdem er bereits
wiederholt niedergestürzt war, sich wieder erhoben und einen andern
angegriffen, worauf er von diesem gepackt und niedergeworfen wurde.
Hierbei fiel er auf den vorspringenden Balken eines Webstuhles, blieb
sofort ruhig und starb nach wenigen Stunden im Sopor. Die Obduction
ergab intermeningeale Hämorrhagie und mehrfache Contusionen des
Gehirnes ohne Schädelfractur. Der ursächliche Zusammenhang zwischen
letzteren Befunden und dem Aufschlagen des Kopfes an den Balken,
respective dem Hinwerfen auf diesen, unterlag keinem Zweifel,
ebensowenig aber auch der Umstand, dass bei dem Ausfall letzterer
Handlung, die doch an und für sich nicht als eine lebensgefährliche
angesehen werden konnte, der schwer betrunkene Zustand des
Betreffenden eine wesentliche Rolle mitgespielt habe, weil derselbe
dadurch weniger im Stande war, sich aufrecht und im Gleichgewicht
zu erhalten und auch das Hinstürzen mit grösserer Gewalt als sonst
erfolgen musste.
Unter „+zufälligen Umständen+“ im Sinne des Gesetzes sind äussere
Zufälligkeiten zu verstehen, durch welche eine sonst minder zu
qualificirende Verletzung einen schweren Effect nach sich gezogen
hat, z. B. das Hinstürzen eines durch einen Schlag vorübergehend
Betäubten auf einen spitzen Gegenstand, oder in eine Tiefe, oder in
eine Flüssigkeit.
Ad 2. Die Fälle sind nicht selten, in denen der Grund des ungünstigen
Verlaufes einer Verletzung insbesondere der langen Dauer der
Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit in individuellen oder in
accessorischen Momenten gesucht werden muss.
Zu den individuellen Momenten gehören bereits viele der allgemeinen
oder localen pathologischen Zustände, die wir als eigenthümliche
Leibesbeschaffenheit bezeichnet haben, vor Allem aber der chronische
Alkoholismus, welcher bekanntlich auf den Verlauf von Verletzungen den
ungünstigsten Einfluss auszuüben pflegt, insbesondere wegen Ausbruch
des Delirium tremens. In Folge letzteren Umstandes kommt es häufig
genug zum Tode bei Verletzungen, die sonst eine günstige Prognose
geboten hätten. Die Beurtheilung solcher Fälle ist deshalb nicht
leicht, weil sich dabei die bekannte und noch keineswegs erledigte
Streitfrage aufwirft, ob der Ausbruch des Delirium tremens der
Verletzung oder nur der meist eingeleiteten Entziehung des gewohnten
Alkoholgenusses zuzuschreiben sei und im letzteren Falle der Einwurf
nahe liegt, dass, wenn man den Alkoholgenuss gestattet hätte, das
Delirium tremens und daher der letale Ausgang ausgeblieben wäre, und
dass nach einer solchen Entziehung das Delirium ausbrechen und zum Tode
hätte führen können, auch wenn gar keine Verletzung bestanden haben
würde. Die concreten Verhältnisse des Falles müssen entscheiden, ob auf
die Entziehung des Alkohols oder auf den Einfluss der Verletzung das
Hauptgewicht gelegt werden soll.
[Sidenote: Accidentelle Wundkrankheiten. Antiseptik.]
Zu den accessorischen Momenten gehören in erster Linie die sog.
+accidentellen Wundkrankheiten+. Wie sehr sich gerade in dieser
Beziehung die Anschauungen geändert haben, ist bekannt. Während
man bis vor Kurzem diese Krankheiten als natürliche, d. h. in der
Wunde selbst gelegene Processe betrachtete, weiss man gegenwärtig,
dass die letzteren sämmtlich mit den betreffenden, noch so schweren
Verletzungen in keinem nothwendigen Zusammenhange stehen, sondern
stets durch andere erst zur Wunde von aussen hinzugekommene, und was
das Wichtigste ist, durch entsprechende (antiseptische) Wundbehandlung
verhütbare Schädlichkeiten bedingt werden. „Im Augenblicke,“ sagt
+Bergmann+ in seiner Berliner Antrittsvorlesung, „nimmt die Chirurgie
an, dass jede Verletzung und jede Verwundung, wenn sie nur nicht die
Function eines lebenswichtigen Organes aufhebt, ohne Lebensgefahr,
ja ohne wesentliche Erschütterung der Gesundheit ausheilen muss,
und dass, wenn sie das nicht thut, andere, nicht durch das Trauma
bedingte Momente mitspielen“, und weiter: „Ist nun irgend eine
Continuitätstrennung, gleichviel ob eine unterhäutige oder eine offene
Wunde, vorhanden, so gross als sie wolle, so ist auch das Leben des
Patienten nicht anders als durch ein sog. Accidens bedroht.“ Schon
früher hat +v. Nussbaum+ („Sonst und jetzt; Einfluss der modernen
Wundbehandlung.“ Ann. der städt. allg. Krankenhäuser zu München. I,
1878, und „Einfluss der Antiseptik auf die gerichtliche Medicin.“
Aerztl. Intelligenzblatt f. Bayern. 1880, Nr. 19 u. 20) die bezüglich
der Auffassung der Wundkrankheiten gegenwärtig wesentlich geänderten
Verhältnisse hervorgehoben und den Wunsch ausgesprochen, „dass auch
die gerichtliche Medicin diesen grossen Fund der Chirurgie (die
antiseptische Wundbehandlung) nicht mehr länger ignorire, sondern zum
Wohle der Betheiligten ausnütze“.
Es geht daraus hervor, dass wir gegenwärtig in allen Fällen, in
welchen Erysipel, Phlegmone, Lymphangioitis, Septicämie, Pyämie etc.
auftreten, beziehungsweise zum Tode führen, diese Processe unter die
in der Alinea _d)_ des §. 129 der österr. St. P. O. erwähnten, zur
Verletzung „zufällig hinzugekommenen, jedoch durch sie veranlassten
oder aus ihr entstandenen Zwischenursachen“ zu rechnen und in diesem
Sinne unser Gutachten abzugeben haben. Daran muss sich aber sofort
die Beantwortung einer zweiten bereits in der Alinea _e)_ des §. 129
gestellten Frage anschliessen: „ob der Tod (respective die accidentelle
Wundkrankheit) durch rechtzeitige und zweckmässige Hilfe hätte
abgewendet werden können?“ und in der Beantwortung dieser Frage liegt
die Schwierigkeit der Sache. In vielen Fällen stehen die Verhältnisse
allerdings so, dass man mit Rücksicht auf die massenhaften Erfahrungen
der modernen Chirurgie erklären kann, dass, wenn die concrete Wunde
correct antiseptisch behandelt worden wäre, höchst wahrscheinlich
die betreffende accidentelle Wundkrankheit und ihre Folgen nicht
eingetreten wären. Es gehören hierher die meisten leicht zugänglichen
Verletzungen peripherer Körpertheile, unter anderen die Wunden der
weichen Schädeldecken, welche früher wegen der „leicht hinzutretenden
Erysipele und Meningitiden“ so gefürchtet waren und gegenwärtig in
kürzester Zeit zur vollständigen Heilung gebracht werden. Dass aber
auch in solchen Fällen selbst die correcteste antiseptische Behandlung
manchmal den Eintritt der Wundkrankheiten nicht verhüten kann, ist
zur Genüge bekannt. Namentlich kann dieses geschehen, wenn der
antiseptische Verband nicht bald genug zur Anwendung kam, ein Umstand,
der gerade in forensischen Fällen verhältnissmässig leicht und auch
ohne Verschulden des Verletzten oder eines Andern sich ereignen kann.
Ueberdies können ja schon durch das verletzende Werkzeug infectiöse
Stoffe in die Wunde gelangen. Eine Reihe anderer Verletzungen,
insbesondere die in Körperhöhlen eindringenden, sind gegenwärtig der
Antiseptik schwer zugänglich und wieder andere tragen wegen gewisser,
schon im Momente der Zufügung gegebener Complicationen den Keim
infectiöser Erkrankung in sich, so z. B. die in den Verdauungscanal
penetrirenden Wunden. Bedenkt man dazu, dass über die Dignität der
einzelnen Antiseptica und antiseptischen Verbandmethoden auch unter den
Chirurgen selbst noch manche Differenzen bestehen, so wird es trotz
der grossartigen Erfolge, welche die Chirurgie mit der Antiseptik
aufzuweisen hat, dennoch im concreten Fall mitunter recht schwer
fallen, ja unmöglich sein, positiv zu erklären, dass das Auftreten der
betreffenden accidentellen Wundkrankheit zu verhüten gewesen wäre.
Es handelt sich auch gar nicht darum, ob die betreffende
Verletzungsfolge überhaupt, sondern ob sie unter den concreten
Verhältnissen des vorliegenden Falles verhütet werden konnte,
namentlich aber darum, ob, wenn dies möglich war, die Unterlassung der
dazu nöthigen Vorkehrungen durch positives Verschulden des Verletzten
selbst oder eines Anderen[252] geschah; denn nur in letzteren Fällen
dürfte obige Erklärung auf die weitere Behandlung des Thäters,
respective des Ausmasses der Strafe durch das erkennende Gericht von
Einfluss sein.
Wie von Seite der Juristen die Sache aufgefasst wird, geht deutlich
aus der Entscheidung des deutschen Reichsgerichtes vom 25. October
1881 hervor, in einem Falle, wo es sich um fahrlässige Tödtung eines
Kindes durch Verbrühung handelte, aber von Seite des Landgerichtes
ein nothwendiger Causal-Zusammenhang zwischen Verbrühung und Tod
deshalb nicht angenommen worden war, weil der Sachverständige erklärt
hatte, dass, wenn sofort antiseptische Mittel angewendet worden
wären, das Kind wahrscheinlich am Leben geblieben sein würde. Das
Reichsgericht hob dieses freisprechende Urtheil auf, weil es auf
einer falschen Auffassung des Begriffes „Causal-Zusammenhang“ beruht.
„+Causal+,“ sagt das Reichsgericht, „ist jede Handlung, welche zur
Hervorbringung eines bestimmten Erfolges mit wirksam gewesen ist.
+Dass die Handlung den Erfolg allein und unmittelbar herbeigeführt
habe, ist nicht erforderlich, es genügt vielmehr, dass sie in der
Weise mitwirkende Ursache gewesen sei, dass ohne dieselbe der
Erfolg nicht eingetreten sein würde.+ Hiervon ausgehend würde der
vermisste Causal-Zusammenhang unbedenklich vorliegen, sobald nur
feststeht, dass die Blutvergiftung ohne die Verbrennung des Kindes
nicht eingetreten wäre. Denn unter dieser Voraussetzung würde der Tod
des Kindes eine Folge der Blutvergiftung, die Blutvergiftung eine
Folge der Verbrennung und endlich die Verbrennung eine Folge des
fahrlässigen Verhaltens gewesen sein“ (Deutsche Medicinal-Zeitung.
1882, Nr. 5).
Gerichtsärztliche Behandlung der nicht tödtlichen Verletzungen im Sinne
des österr. Strafgesetzentwurfes und des deutschen Strafgesetzes.
Die einschlägigen Bestimmungen beider Gesetze sind im Wesentlichen
conform, gestatten daher eine gemeinschaftliche Besprechung. Beide
unterscheiden die „Körperverletzung“ im Allgemeinen und die „schwere
Körperverletzung“, indem sie als letztere solche Körperverletzungen
bezeichnen, welche ganz besonders schwere und im Gesetz ausdrücklich
genannte Folgen nach sich gezogen haben.
A. Die „schwere Körperverletzung“.
Ein Blick auf den §. 232 des österr. Entw. und den §. 224 des
deutschen St. G. zeigt uns sofort, dass der Begriff der „schweren
Körperverletzung“ im Sinne dieser Gesetze ungleich enger genommen
ist und viel genauer präcisirt erscheint, als jener der „schweren
Verletzung“ im Sinne des §. 152 des gegenwärtigen österr.
Strafgesetzes. Während, wie wir oben sahen, im letzteren der Begriff
der „schweren Verletzung“ nicht definirt und dem Gerichtsarzte
überlassen wird, sich denselben zu commentiren, jedenfalls aber sehr
dehnbar erscheint, finden wir, dass im österr. Entw. und im deutschen
St. G. eine Körperverletzung nur dann als „schwere“ im strafrechtlichen
Sinne aufgefasst wird, wenn sie gewisse, im §. 232 des österr. Entw.
und im §. 224 des deutschen St. G. ausdrücklich bezeichnete Folgen
nach sich gezogen hatte, woraus sich zugleich ergibt, dass fortan der
Arzt nicht wie bisher zu erklären haben wird, ob eine Verletzung eine
schwere sei oder nicht, sondern nur, ob jene Folgen aufgetreten sind,
unter welchen das St. G. eine Verletzung als eine „schwere“ auffasst
und bestraft.
Die betreffenden Folgen, welche im Allgemeinen denjenigen entsprechen,
welche wir im §. 156 des gegenwärtigen österr. St. G. kennen gelernt
haben, sind nachstehende:
[Sidenote: Verlust eines wichtigen Gliedes des Körpers.]
_a)_ +Verlust eines wichtigen Gliedes des Körpers.+ Da der vom
deutschen Gesetze gebrauchte Ausdruck „wichtig“ Deutungen zulässt, so
ist die Fassung des österr. Entw. entschieden viel besser, welche die
Glieder, deren Verlust sie als besonders gravirend auffasst, nennt,
und als solche einen Arm, eine Hand, ein Bein, einen Fuss und die Nase
bezeichnet.
Zweifellos wäre der Verlust dieser vom österr. Entwurf ausdrücklich
genannten Glieder auch im Sinne des deutschen St. G. als Verlust
„wichtiger“ Glieder des Körpers zu bezeichnen, der Verlust anderer
aber, z. B. mehrerer oder aller Finger einer Hand, je nach der
concreten Natur des Falles entweder ebenfalls als „Verlust wichtiger
Glieder“ zu erklären oder unter den Begriff der „bleibenden
Verunstaltung“ (österr. Entw.) oder „erheblichen und dauernden
Entstellung“ (deutsch. St. G.) zu subsumiren. Dem Verlust einzelner
Finger oder einzelner Fingerglieder wird wohl kaum eine solche
Bedeutung zugeschrieben werden können.
In einem Falle, wo es sich um Verlust von zwei Gliedern des rechten
Zeigefingers handelte, verneinte das Reichsgericht, dass der Verlust
eines „wichtigen Gliedes“ vorliege, indem es Folgendes hinzufügte:
„Für den Begriff der „Wichtigkeit“ kommt nicht der relative Werth
in Betracht, welchen der Besitz oder Verlust eines Körpergliedes
für den Verletzten besitzt und dasselbe Glied kann nicht für den
Einen werthvoll und für den Anderen werthlos sein. Im Sinne des §.
224 muss auch für das einzelne Körperglied das Werthverhältniss
entscheiden, in welchem dasselbe seiner Wichtigkeit nach noch zu dem
Gesammtorganismus steht und insbesondere das grössere oder geringere
Mass von Unterbrechung oder Beeinträchtigung erwogen werden, welche
die regelmässigen Functionen aller Einzelorgane des gesammten Körpers
durch den Mangel eines oder einzelner derselben durchschnittlich
erleiden.“
Zufolge Erkenntniss des I. Strafsenates vom 15. November 1880 (s.
+Wellenstein+, „Die für den Gerichtsarzt interessanten Erkenntnisse
des Reichsgerichtes in Strafsachen.“ Vierteljahrschrift f. ger. Med.
XXXVI, pag. 49) setzt die Anwendung des §. 224 den physischen Verlust
eines Gliedes des menschlichen Körpers voraus und umfasst daher nicht
den Fall, wenn dieses Glied als ein Theil des menschlichen Körpers
physisch fortdauernd vorhanden, dasselbe jedoch zu seinen Functionen,
sei es völlig oder in erheblicher Weise unbrauchbar ist; z. B. eine
Verletzung, welche die Steifheit von 3 Fingern zur Folge hatte, gehört
nicht hierher.[253]
[Sidenote: Verlust des Sehvermögens.]
_b)_ +Verlust des Sehvermögens auf einem oder beiden Augen.+ Diese
präcise Fassung kann nur begrüsst werden, da sie den oben geschilderten
Schwierigkeiten, die sich aus den diesbezüglichen Bestimmungen des
bisherigen österr. St. G. ergaben, ein Ende macht. Allerdings ist auch
der Begriff des „Verlustes des Sehvermögens auf einem oder beiden
Augen“ keineswegs einer scharfen Begrenzung fähig, doch würde wohl kein
Arzt anstehen, das Sehvermögen für verloren zu erklären, wenn auch etwa
der Betreffende noch im Stande wäre, mit Mühe grosse Gegenstände zu
unterscheiden, da, wenn man eine solche Auffassung nicht gelten lassen
möchte, man gezwungen wäre, den Verlust des Sehvermögens im strengsten
Sinne sogar zu negiren, wenn von letzterem nichts als blos die
quantitative Lichtempfindung geblieben wäre. Sollten in irgend einem
Falle Zweifel entstehen, ob man die Beeinträchtigung des Sehvermögens
als Verlust desselben zu bezeichnen hätte, so wird sich der
Gerichtsarzt damit begnügen, den Grad und die Bedeutung einer solchen
Beeinträchtigung dem Richter oder den Geschworenen auseinanderzusetzen
und diesen die weitere Classificirung der concreten Verletzung zu
überlassen, was er um so leichter thun kann, als der Richter, auch
wenn die Verletzung nicht als eine „schwere Körperverletzung“ erklärt
wird, das höchste Strafausmass eintreten lassen kann, auf welches den
gesetzlichen Bestimmungen zufolge für die als nicht „schwer“ erklärten
Verletzungen erkannt werden darf.
[Sidenote: Verlust des Gehöres etc.]
_c)_ Bezüglich des +Verlustes des Gehöres+, +der Sprache+ oder +der
Fortpflanzungsfähigkeit+ (Zeugungsfähigkeit) verweisen wir auf das bei
der Erörterung der gleichen Bestimmungen des gegenwärtigen österr. St.
G. Gesagte (pag. 332).
[Sidenote: Verfall in Siechthum.]
_d)_ +Verfall in Siechthum oder Lähmung.+ Wir haben oben versucht,
den Begriff des „Siechthums“ zu definiren, und es unterliegt keinem
Zweifel, dass die gleiche Definition auch hier zur Anwendung
kommen muss. Während jedoch das österr. Gesetz (§. 106 _b_) von
„immerwährendem Siechthum“ spricht, findet sich im österr. Entwurf,
sowie im deutschen St. G. dieses Epitheton nicht, und es erscheint
demnach fraglich, ob diese Gesetze unter Siechthum ein unheilbares
Leiden von den oben auseinandergesetzten Qualitäten oder auch nur
einen längere Zeit andauernden, d. h. chronischen Krankheitszustand
dieser Art im Auge hatten, selbst wenn dessen Heilbarkeit nicht
ausgeschlossen ist. Letztere Auffassung ist vielleicht die richtigere,
da in das deutsche Gesetz der von der Berliner wissenschaftlichen
Deputation beantragte Zusatz „anhaltendes“ nicht aufgenommen wurde mit
der Motivirung: „weil der Zustand des Siechthums an sich schon eine
lange Dauer voraussetzt, und der Zusatz leicht Veranlassung zu einer
schwankenden Auslegung geben könnte“.
In einem 1877 abgegebenen „Superarbitrium über einen in Siechthum
verfallenen Verletzten“ hat sich die k. wissenschaftliche Deputation
folgendermassen geäussert (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F.,
XXVII, 385, Ref. +Skrzecka+):
„Was die Frage betrifft, wie lange ein chronisches Leiden andauern
müsse, um mit Recht als Siechthum bezeichnet zu werden, so muss
zunächst hervorgehoben werden, dass im Worte „Siechthum“ der Begriff
der Unheilbarkeit nicht unbedingt liegt, da man auch von der Genesung
eines Menschen nach langem Siechthum spricht, wiewohl dann meist von
einer ungewöhnlichen ausserordentlichen Thatsache. Ein bestimmtes
Zeitmass für die minimale Dauer eines als Siechthum zu bezeichnenden
Krankheitszustandes lässt sich begreiflicherweise nicht aufstellen,
doch leidet hierunter keineswegs die forensische Brauchbarkeit der
Bezeichnung „Siechthum“. Ein Krankheitszustand, welcher in Folge
einer Verletzung eingetreten, zu der Zeit aber, wann die Begutachtung
der Folgen der Verletzung dem Gerichtsarzte aufgetragen wird, bereits
wieder beseitigt ist, wird kaum jemals als ein „Siechthum“ zu
bezeichnen sein, dürfte ausschliesslich in solchen Fällen aufgeworfen
werden, in denen ihre Beantwortung ein prognostisches Urtheil der
Sachverständigen erforderlich macht. Wenn der Gerichtsarzt in einem
solchen Falle von einem zur Zeit bestehenden schweren chronischen
Leiden im Stande ist, mit einiger Sicherheit vorauszusetzen, dass
es werde geheilt werden, so wird er auch der Natur der Sache nach
im Stande sein, anzugeben, wann die Heilung zu erwarten stehe, und
diese Frist wird nie eine besonders lange sein können, weil sich
bei solchen Zuständen ein Urtheil im Voraus auf lange Zeit hinaus
nicht wohl fällen lässt. Auf eine solche Krankheit, deren Heilung in
bemessener Frist -- und sollte dieselbe auch Monate betragen -- von
vornherein mindestens mit Wahrscheinlichkeit in Aussicht gestellt
werden kann, würde die Bezeichnung des Siechthums nicht anwendbar
sein, vielmehr wird dieselbe beschränkt bleiben müssen auf diejenigen
schweren chronischen Krankheitszustände, von denen sich, wenn sie
nicht überhaupt für unheilbar erklärt werden können, doch nicht auch
nur mit einiger Sicherheit vorhersagen lässt, ob dieselben überhaupt
jemals beseitigt werden können, oder wenn dieser günstige Fall
eintreten sollte, in welcher Frist dieses möglicherweise geschehen
könnte.“
[Sidenote: Lähmung.]
Die meisten Schwierigkeiten hat der sowohl im österr. Entwurf, als im
deutschen St. G. vorkommende Ausdruck „Verfall in Lähmung“ geboten,
da es nicht klar war, ob nur eine Lähmung im streng physiologischen
Sinne oder auch anderweitige Beeinträchtigung oder Aufhebung der
Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körpertheile gemeint seien und
welche Körpertheile gelähmt, beziehungsweise zur Bewegung unfähig sein
müssen, wenn der Zustand als „Verfall in Lähmung“ aufgefasst werden
soll. Diese Schwierigkeiten hat das Reichsgericht behoben, indem es
(+v. Wellenstein+, l. c., 1885, XLIII, pag. 365 u. f.) aus Anlass
eines Falles, wo es sich um Lähmung des linken Armes in Folge eines
Stiches in den Kopf handelte, entschied: „dass in der Lähmung eines
Armes an sich und ohne dass hieraus eingreifende Bewegungsstörungen
für den Gesammtorganismus sich ergeben, ein „Verfall in Lähmung“ im
Sinne des §. 224 nicht gefunden werden kann, denn §. 224 versteht unter
„Verfall in Lähmung“ nicht die Beschränkung oder völlige Aufhebung der
Gebrauchsfähigkeit irgend eines einzelnen Gliedes des menschlichen
Körpers, sondern nur eine derartige Affection, welche den Organismus
in einer umfassenden Weise angreift, welche mit ausgedehnter Wirkung
Organe des Körpers der freien Aeusserung ihrer naturgemässen Thätigkeit
beraubt, obgleich nicht ausgeschlossen ist, dass auch die Lähmung
einzelner Gliedmassen den Begriff „Verfall in Lähmung“ erfüllen kann,
soferne sie nämlich bezüglich der Bewegungsfähigkeit des ganzen
Menschen von eingreifender Wirkung ist“.
Auch bezüglich des Verfalls in Lähmung wird nicht fixirt, ob nur
unheilbare oder blos länger dauernde Lähmung darunter zu verstehen
sei, und es gilt demnach das Gleiche, was bezüglich des „Verfalls in
Siechthum“ gesagt worden ist.
[Sidenote: Geisteskrankheit.]
_e)_ Bezüglich des „+Verfalls in Geisteskrankheit+“ müssen wir auf
die Besprechung der vorübergehenden und bleibenden Geistesstörung
in Folge von Verletzungen im Sinne der §§. 152 und 156 _b_ des
jetzigen österr. St. G. (pag. 319) verweisen. Die neuere gesetzliche
Bestimmung unterscheidet sich von der genannten nur dadurch, dass ein
Unterschied zwischen vorübergehender Geistesstörung und solcher „ohne
Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung“ nicht mehr gedacht wird,
und zwar, wie aus unseren obigen Auseinandersetzungen hervorgeht,
mit vollem Recht, ein Umstand, der übrigens seinerseits auch dafür
spricht, dass die Gesetzgeber bei der Aufnahme der Begriffe „Verfall in
Siechthum oder Lähmung“ nicht ausschliesslich unheilbare Zustände vor
Augen hatten.
_f)_ „+Bleibende Verunstaltung+“ (österr. Entw.), „+erhebliche und
dauernde Entstellung+“ (deutsches St. G.). Auch bezüglich dieser
Bestimmungen haben wir dem bereits oben Gesagten nichts Weiteres
hinzuzufügen.
B. Die leichte Körperverletzung im Sinne des deutschen St. G. und des
österr. St. G.-Entwurfes.
Hat die „Körperverletzung“ nicht jene Folgen erzeugt, welche
dieselbe als „schwere Körperverletzung“ im Sinne des Strafgesetzes
qualificiren würde, und auch nicht den Tod bewirkt, so wird sie
als „Körperverletzung“ schlechtweg, beziehungsweise als „+leichte+
Körperverletzung“ bezeichnet. Es dürfte sich empfehlen, letzteren
Ausdruck auch in der österreichischen gerichtsärztlichen Praxis
einzuführen, obgleich er im Entwurf des neuen St. G. nirgends vorkommt,
da es logisch erscheint, der „schweren“ Körperverletzung die „leichte“
entgegenzustellen.
Als „leichte Körperverletzung“ wären demnach alle Verletzungen zu
bezeichnen, welche weder den Tod, noch die im §. 232 des österr. Entw.
und im §. 224 des deutschen St. G. ausdrücklich erwähnten Folgen nach
sich gezogen haben. Daraus ist ersichtlich, dass fortan der Begriff der
„leichten Verletzung“ ein ganz anderer, namentlich ein viel weiterer
sein wird, als er bis jetzt, d. h. solange noch das jetzige österr.
St. G. gilt, gewesen ist. Es ergibt sich aber auch daraus, dass wir
durch diese weitere Anwendung des Ausdruckes „leichte Verletzung“
einigermassen mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch in Collision kommen,
da unter den Begriff der leichten Verletzung fortan nicht blos ganz
unbedeutende, sondern auch eine Reihe solcher Verletzungen fallen
wird, die der vulgären und auch der medicinischen Auffassung zufolge
keineswegs als unbedeutend, sondern geradezu als schwer bezeichnet zu
werden pflegen.
In seiner ursprünglichen Fassung hatte das deutsche St. G. keine
Kategorien der „leichten“ Körperverletzung aufgestellt, sondern es dem
Richter überlassen, je nach den Umständen des Falles auf Gefängniss bis
zu 3 Jahren oder auf eine Geldstrafe bis zu 300 Thalern zu erkennen.
In der Praxis hat sich jedoch die Nothwendigkeit ergeben, auch
zwischen den „leichten“ Verletzungen eine im Strafgesetz ausdrücklich
hervorgehobene Unterscheidung zu machen, beziehungsweise für gewisse
Arten derselben einen höheren Strafsatz zu bestimmen. Es wurde deshalb
(1876) zwischen den §. 223 und den §. 224 ein §. 223 _a_ eingeschaltet,
welcher heisst:
[Sidenote: Lebensgefährliche Werkzeuge.]
„Ist die Körperverletzung mittelst einer Waffe, insbesondere eines
Messers oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges, oder mittelst
eines hinterlistigen Ueberfalles, oder von Mehreren gemeinschaftlich
oder mittelst einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen, so
tritt Gefängnissstrafe nicht unter drei Monaten ein.“
Der österr. St. G.-Entwurf hat von vornherein die Nothwendigkeit einer
solchen Unterscheidung eingesehen, indem er im §. 231 gewisse Umstände
bezeichnet, bei deren Bestand in allen Fällen Gefängnissstrafe zu
verhängen ist, während auf „Körperverletzungen“, denen diese Qualität
nicht zukommt, nur eine Strafe von 6 Monaten Gefängniss +oder+ an Geld
bis zu 500 fl. gesetzt wird.
Dieser Paragraph lautet:
„Die Körperverletzung wird mit Gefängniss bestraft:
1. Wenn sie eine über eine Woche anhaltende Gesundheitsstörung
oder Berufsunfähigkeit zur Folge hatte, oder mit besonderen Qualen
verbunden war;
2. wenn sie mit Werkzeugen oder unter Umständen verübt wurde, welche
Lebensgefahr begründen;
3. wenn sie an Verwandten aufsteigender Linie begangen ward.“
Die Bestimmungen des §. 231 des österr. St. G.-Entwurfes bedürfen
keiner näheren Erörterung, da ihnen identische im §. 155 des
gegenwärtigen St. G. B. vorkommen, die auf pag. 324 besprochen worden
sind.
[Sidenote: Lebensgefährliche Werkzeuge und Handlungen.]
Jene des §. 223 _a_ des deutschen St. G. B. weichen von denen des
analogen Paragraphen des österr. St. G.-Entwurfes insoferne ab,
als schon die Anwendung eines „gefährlichen“, nicht erst eines
„lebensgefährlichen“ Werkzeuges als Gravamen angesehen und die „das
Leben gefährdende Behandlung“ besonders erwähnt wird.
Dass unter „gefährlichen Werkzeugen“ nicht blos diejenigen, deren
Anwendung mit Lebensgefahr verbunden ist, gemeint werden, wie man wegen
der ausdrücklichen Erwähnung der „Waffen und insbesondere des Messers“
und der Gleichstellung mit „einer das Leben gefährdenden Behandlung“
glauben sollte, geht aus wiederholt erflossenen Entscheidungen des
Reichsgerichtes hervor, welche sich dahin ausgesprochen haben,
dass „unter einem gefährlichen Werkzeug ein solches zu verstehen
sei, welches, wenn es als Mittel zu einer Körperverletzung benutzt
wird, nach seiner +objectiven+ Beschaffenheit und nach der +Art
seiner Benutzung+ geeignet ist, +erheblichere Körperverletzungen+
zu bewirken“. Im Sinne dieser Auffassung hat das Reichsgericht in
verschiedenen Entscheidungen ein Bierglas, ein zugeklapptes (!)
Taschenmesser, einen mit einer Schneide versehenen Gegenstand,
dessen sonstige Beschaffenheit aus der Natur der Verletzung nicht
erkannt werden konnte, mit ungenagelten Stiefeln bekleidete Füsse im
Zusammenhange mit dem von ihnen gemachten Gebrauch (Stösse gegen den
Kopf eines am Boden Liegenden), ein umgekehrtes Billardqueue u. dergl.
als ein „gefährliches Werkzeug“ im Sinne des §. 253 _a_ bezeichnet
(vergl. die Zusammenstellung der reichsgerichtlichen Entscheidungen von
+Wellenstein+ und +Fröhlich+).
Im Allgemeinen werden daher zwar dieselben Grundsätze zu beobachten
sein wie bei der Beurtheilung des österr. St. G., nur wird es sich
nicht darum handeln, ob mit dem betreffenden Werkzeug leicht oder
wahrscheinlich eine „lebensgefährliche“, sondern nur, ob damit leicht
oder wahrscheinlich eine „erhebliche“ Verletzung zugefügt werden kann.
[Sidenote: Besondere Qualen.]
Was den Ausdruck „das Leben gefährdende Behandlung“ betrifft, so hat
ihn der deutsche Reichstag aus Anlass der Beschlussfassung über den
nachträglich im deutschen St. G. zugefügten §. 223 _a_ so commentirt,
„ob die Behandlung Seitens des Thäters eine solche war, dass nach
dem Ausspruche des Arztes das Leben bei dieser Behandlung gefährdet
war“ (+Liman+, l. c. I, pag. 386) und +Mair+ (Virchow’s Jahresb.
1885, I, 502) sprach sich unter Berufung auf eine Entscheidung des
Reichsgerichtes dahin aus, dass man den Beweis der Lebensgefährdung
durch eine Handlung nur aus dem vorauszusehenden, +höchst
wahrscheinlichen+ Eintreten solcher Zustände führen dürfe, welche den
Tod mittelbar oder unmittelbar zur gewissen oder wahrscheinlichen
Folge haben müssen, wobei nicht die Voraussicht des Thäters, sondern
nur die allgemeine Voraussicht der objectiven (Lebens-) Gefährlichkeit
in Betracht kommt.
Der §. 231 des österr. Entwurfes enthält ausser der eben besprochenen
auch noch die Bestimmung, dass eine Erhöhung des Strafausmasses
einzutreten habe, „wenn die Körperverletzung eine über eine Woche
anhaltende Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit zur Folge hatte
oder mit besonderen Qualen verbunden war“. Auch diese Begriffe bedürfen
keiner besonderen Auseinandersetzung, da dieselben im gleichen Sinne
vom gegenwärtigen österr. Strafgesetze gebraucht werden und ausführlich
erörtert worden sind (v. pag. 328).
Im deutschen Strafgesetze werden besondere Qualen nicht ausdrücklich
als erschwerender Umstand erwähnt, dagegen wird im §. 251 die
Zuchthausstrafe festgesetzt, „wenn bei einem Raube ein Mensch gemartert
wurde“, während im §. 251 des österreichischen Entwurfes aus gleichem
Anlasse der Ausdruck „körperlich gepeinigt“ gebraucht wird, Ausdrücke,
die ihrerseits geeignet sind, zu commentiren, was der Gesetzgeber
unter „besonderen Qualen“, die mit einer Misshandlung verbunden waren,
verstanden haben will.
[Sidenote: Absicht.]
Endlich sei noch erwähnt, dass sowohl der österreichische Entwurf
(§. 233) als das deutsche Strafgesetz (§. 225) bis zehnjährige
Zuchthausstrafe festsetzt, wenn bei einer Körperverletzung eine
der im §. 232 des österreichischen Entwurfes oder im §. 224 des
deutschen Strafgesetzes bezeichneten Folgen, also eine „schwere
Körperverletzung“, herbeizuführen +beabsichtigt+ gewesen war.
In den meisten Fällen ist es Sache des Richters, die Absicht des
Thäters, die erwähnten Folgen zu erzeugen, herauszubringen. Sollte dem
Arzte eine dahin gerichtete Frage gestellt werden, so wird er sich,
wie wir (pag. 324) bei Besprechung des §. 155 _a_ des österreichischen
Strafgesetzes erwähnt haben, darauf beschränken, zu constatiren,
dass die Gewalt gegen ein anerkannt lebenswichtiges Organ gerichtet
war, dass die Führung des Werkzeuges mit grosser Kraft geschah u.
dergl., wird es jedoch dem Richter, beziehungsweise den Geschworenen
überlassen, diese Daten für den Beweis zu verwerthen, dass der
Thäter bei seinem Vorgehen die Absicht hatte, die erwähnten Folgen
herbeizuführen.
Tödtliche Verletzungen.
Jede Verletzung, die den Tod bewirkt hat, ist eine tödtliche
Verletzung. Hierbei ist es für die Bezeichnung der Verletzung als
einer tödtlichen gleichgiltig, ob sie den Tod unmittelbar oder
mittelbar bewirkte, ebenso ob dieselbe vielleicht in irgend einem
anderen Falle nicht tödtlich abgelaufen wäre. Mit anderen Worten: es
wird eine Verletzung dann eine tödtliche genannt werden, wenn sie im
+concreten+ Falle mit dem Tod im ursächlichen Zusammenhang steht,
+wobei die allgemeine oder durchschnittliche Tödtlichkeit derselben
zunächst ausser Betracht kommt+, da die Erwägung dieser und die
Gründe, warum die concrete Verletzung im concreten Falle den Tod
herbeigeführt hatte, erst in die weiteren Theile des Gutachtens gehört.
Im Allgemeinen handelt es sich, wenn der gewaltsame Tod in Folge
mechanischer Verletzung Gegenstand gerichtsärztlicher Untersuchung
und Beurtheilung wird, um die Beantwortung dreier Hauptfragen, die
insbesondere aus den Bestimmungen des §. 129 der österreichischen
Strafprocess-Ordnung entnommen werden können und wie folgt lauten:
1. Was war die nächste Todesursache, oder woran ist der Obducirte
zunächst gestorben?
2. Wurde diese nächste Todesursache durch eine Verletzung und durch
welche veranlasst? und im bejahenden Falle:
3. Ist diese Verletzung durch die Handlung eines Anderen zugefügt
worden, oder auf welche andere Weise?
1. Die nächste Todesursache.
„Das Gutachten hat sich darüber auszusprechen, was in dem
vorliegenden Falle die den eingetretenen Tod +zunächst+ bewirkende
Ursache gewesen und wodurch dieselbe erzeugt worden sei“, sagt der
§. 129 der österr. St. P. O., und ebenso bestimmt der §. 29 des
preussischen Regulativs, dass „auf jeden Fall das Gutachten zuerst
auf die Todesursache, und zwar nach Massgabe desjenigen, was sich
aus dem objectiven Befunde ergibt, nächstdem aber auf die Frage der
verbrecherischen Veranlassung zu richten ist. Ist die Todesursache
nicht aufgefunden worden, so muss dies ausdrücklich angegeben werden.
Niemals genügt es, zu sagen, der Tod sei aus innerer Ursache oder aus
Krankheit erfolgt; es ist vielmehr die letztere anzugeben“.
Die Bestimmung der nächsten Todesursache, d. h. der Ursache, woran
ein Mensch in Folge einer Verletzung zunächst gestorben ist, ist
keineswegs immer leicht, namentlich dann nicht, wenn dieselbe nicht
durch materielle Veränderung lebenswichtiger Organe, sondern durch
anatomisch nicht nachweisbare oder nur schwer erkennbare Störungen
lebenswichtiger Functionen erzeugt worden ist. In letzteren Fällen sind
wir nicht selten gezwungen, die nächste Todesursache weniger aus dem
Sectionsresultate als aus der Anamnese herauszulesen, beziehungsweise
mit Rücksicht auf pathologische und physiologische Erfahrungen,
zusammengehalten mit der Natur der betreffenden Verletzung, zu
construiren.
Man kann im Allgemeinen die nächsten Todesursachen nach Verletzungen
unterscheiden in primäre oder unmittelbare Todesursachen und in
secundäre oder mittelbare, ohne dass man im Stande wäre, dieselben
scharf zu trennen.
+Zu den primären oder unmittelbaren+ nächsten Todesursachen gehört:
_a_) Die +Vernichtung+ oder grobe Beschädigung eines oder mehrerer
+zum Leben unumgänglich nothwendiger Organe+, z. B. des Gehirns, des
Rückenmarks, der Lungen oder des Herzens, deren höchsten Grad wir in
den Zerfetzungen des ganzen Körpers sehen, die nach Explosionen und
ähnlichen enormen Gewalten zur Beobachtung gelangen.
Die Zerstörung der betreffenden Organe und die dadurch sofort bewirkte
Functionsaufhebung derselben ist so klar, dass es genügt, diese
Zerstörung als nächste Todesursache zu bezeichnen und vollkommen
überflüssig erscheint, etwa noch eine nähere in streng physiologischem
Sinne herbeizuziehen.
_b_) Anderweitige +mechanische Störungen der Functionsfähigkeit+
zum Leben unumgänglich nothwendiger Organe, wie des Gehirns und
Rückenmarks, durch Druck von Extravasaten, der Lungen durch Eröffnung
des Thorax mit oder ohne gleichzeitige Verletzung der Lungen, des
Herzens in Folge Behinderung der Bewegungen desselben durch in den
Herzbeutel sich ergiessendes Blut u. dergl.
[Sidenote: Verblutung.]
_c_) +Verblutung+, eine der häufigsten nächsten Todesursachen nach
mechanischer Verletzung. Sie tritt ein nach Verletzungen des Herzens
oder grösserer Gefässe, aber auch nach Verletzung von blutreichen
parenchymatösen Organen, von denen insbesondere die Leber, Milz und die
Lungen zu nennen sind.
Man kann eine äussere und eine innere Verblutung unterscheiden, indem
man von ersterer spricht, wenn das aus einer Verletzung austretende
Blut den Körper verlässt, von letzterer aber, wenn dasselbe in
Körperhöhlen oder in der Form der sogenannten Hämatome subcutan in
durch Zertrümmerung oder Auseinanderdrängung von Organen gebildete
Räume sich ergiesst.
Die Diagnose einer eingetretenen Verblutung ergibt sich einestheils aus
der Natur der betreffenden Verletzung, sowie aus dem Nachweis grösserer
Mengen ausgetretenen Blutes ausserhalb des Körpers des betreffenden
oder in gewissen Körperhöhlen, dann aber aus der hochgradigen Anämie
der Leiche, welche sich schon äusserlich durch die auffallende Blässe
der Haut und der sichtbaren Schleimhäute, auch durch die geringe
Entwicklung und selbst den gänzlichen Mangel von Todtenflecken,
innerlich durch die geringe Menge von Blut im Herzen und den grösseren
Gefässen, namentlich aber durch die meist augenfällige Blutarmuth und
daher Blässe und Trockenheit der parenchymatösen Organe kundgibt.
In exquisiten Fällen von Verblutung ist dieselbe nicht zu verkennen,
doch ist festzuhalten, dass bei keiner Form der Verblutung alles Blut
den Körper verlässt, sondern jedesmal noch welches zurückbleibt, dass
jedoch die Menge des letzteren vielfach variirt.[254] Am meisten pflegt
die Anämie ausgesprochen zu sein bei der „äusseren Verblutung“, und
wir haben bereits wiederholt sie soweit gediehen gesehen, dass trotz
mehrtägigen Liegens der Leiche keine Spur von Todtenflecken gefunden
wurde. Seltener ist sie bei „innerer“ Verblutung so hochgradig, da
einestheils die Raumverhältnisse den Körperhöhlen die Ansammlung
allzu grosser Blutmengen nicht gestatten, und da in solchen Fällen
durch das sich ergiessende Blut häufig andere Functionen, z. B. die
Herzbewegungen oder die Ausdehnung der Lungen, behindert werden und
dadurch der Eintritt des Todes beschleunigt wird. Abgesehen von diesen
Umständen scheinen auch individuelle Verhältnisse in dieser Beziehung
sich geltend zu machen, da es wahrscheinlich von diesen abhängt, nach
wie grossen Blutverlusten schon der Tod, respective das Aufhören der
Herzthätigkeit erfolgt. Auch lehrt die Erfahrung, dass im Allgemeinen
durch länger dauernde, aber allmälig sich vollziehende oder in
Intervallen auftretende Blutungen höhere Grade der Anämie zu Stande
kommen, als durch acute Verblutung.
Bei der Verwerthung des Befundes von Anämie für die Diagnose einer
stattgehabten Verblutung ist nicht zu übersehen, dass das Individuum
auch früher anämisch gewesen sein konnte, und dass es eine ganze Reihe
von anderweitigen Zuständen gibt, die hochgradige Anämie erzeugen
können (Carcinom, Tuberculose, Leucämie, Chlorose), Zustände, die
allerdings in der Regel leicht auszuschliessen sein werden. Bei einer
schweren, nach 8 Tagen letal gewordenen Anämie nach Leberruptur
fand +Mittenzweig+ (Zeitschr. f. Medicinalbeamte, 1889, pag. 159)
kernhaltige rothe Blutkörper, welche den von +Ehrlich+ bei perniciöser
Anämie constatirten Megalocythen ähnlich sind und sich ebenso wie diese
färben lassen. Ihr Vorkommen lässt auf eine schwere Anämie als Causa
mortis schliessen.
Gegenüber faulen oder macerirten Leichen ist auch im Auge zu behalten,
dass eine Blutleere des Herzens und der grossen Gefässe auch als
Theilerscheinung bereits weitgediehener Fäulniss oder Maceration sich
findet und dadurch bewirkt wird, dass das verflüssigte und zersetzte
Blut in die Gefässwände und durch diese in die Nachbargewebe sich
imbibirt, beziehungsweise in die verschiedenen serösen Säcke und durch
die Haut, namentlich durch verletzte Haut, nach aussen transsudirt.
Es wäre demnach ein grober Fehler, bei vorgerückter Fäulniss oder
Maceration aus der Blutleere des Herzens und der grossen Gefässe allein
die Diagnose einer stattgehabten Verblutung zu stellen.
[Sidenote: Shok. Fettembolien in den Lungen.]
_d_) Zu den primären nächsten Todesursachen nach Verletzungen gehört
auch der sogenannte +Shok+, worunter man den Stillstand des Herzens
(Herzlähmung) versteht, der auf reflectorischem Wege durch intensive
Reizung peripherer Endigungen sensibler Nerven erzeugt wird.[255]
Man kann den Tod durch +Shok+ vorzugsweise nach grossen Verletzungen
beobachten, verhältnissmässig am häufigsten jedoch nach kleinen, aber
zahlreichen und sowohl einzeln für sich, als durch ihre in rascher
Aufeinanderfolge schmerzhaften Verletzungen der Haut, wie sie bei
Misshandlungen durch fortgesetzte Stockschläge, Ruthenhiebe etc. sich
ergeben.
Die Section ergibt unter solchen Umständen ausser den Verletzungen
einen negativen Befund, und es ist begreiflich, dass bei der Natur
einer solchen nächsten Todesursache von einem anatomischen Nachweis
derselben nicht die Rede sein kann, sondern dass dieselbe nur aus dem
Zusammenhalten aller Umstände des Falles erschlossen werden muss. Ein
solcher Schluss ist namentlich dann gestattet, wenn das betreffende
Individuum während oder unmittelbar nach erlittener Misshandlung oder
Verwundung gestorben ist. Ist der Tod nachträglich erfolgt, dann
wird man mit der Annahme eines Shoks desto mehr zurückhalten, ein je
längeres Intervall von relativem Wohlbefinden zwischen der Verletzung
und dem Tode gelegen war, da die Erfahrung zeigte, dass in vielen
solchen Fällen, wo man früher wegen Abgang auffallender, als nächste
Todesursache aufzufassender Befunde den Tod vom Shok herleitete, doch
bei genauerer Nachforschung andere Vorgänge als nächste Todesursache
gefunden wurden.
Es ist insbesondere das Verdienst +Nussbaum+’s und seiner Schüler
(+Wagner+, +Rusch+, +Halm+), die allzu häufig gewordene Annahme
eines Shoks etwas eingedämmt zu haben, indem er zeigte[256], dass in
vielen solchen Fällen nicht der Shok, sondern in einzelnen ein durch
vehemente Resorption septischer Stoffe erzeugter Collapsus, in anderen
die bereits durch +Virchow+ u. A.[257] nach Knochenzermalmungen
constatirten Embolien der Capillargefässe, insbesondere jener der
Lungen mit resorbirtem Markfett, bei grossen Bauchwunden wieder die
von +Wegner+ nachgewiesene Abkühlung des Peritoneums die nächste
Todesursache bilden.
[Sidenote: Pancreasblutungen.]
Nach +Zenker+ (Deutsche Zeitschr. f. prakt. Med. 1874, Nr. 41) kann
auch durch Blutungen in das Pankreas, die sowohl aus natürlicher
Ursache als durch Erschütterungen eintreten können, plötzlicher
Tod veranlasst werden durch Betheiligung des nahegelegenen Plexus
solaris, und Ganglion semilunare. +Reubold+ („Ueber Pankreasblutungen
vom gerichtsärztlichen Standpunkt.“ Aus der Festschrift für +A. v.
Kölliker+. 1887) theilt diese Ansicht nicht und meint, dass dem
Pankreas in Fällen plötzlichen Todes nur deshalb eine besondere
Aufmerksamkeit zuzuwenden sei, weil es auf circulatorische Störungen
leicht und öfter sogar isolirt durch Blutung reagirt, somit zur
Diagnose jener beitragen kann. Auch +Dittrich+ (Vierteljahrschr.
f. gerichtl. Med. LII, 43) hält den Einfluss von Pankreasblutungen
bei plötzlichem Tod für hypothetisch. Solche Blutungen scheinen
insbesondere bei Alkoholikern spontan sowohl als nach verschiedenen
Gelegenheitsursachen in Folge parenchymatöser, entzündlicher oder
brandiger Degeneration und bei sogenannter Fettnekrose des Pankreas
vorzukommen (+H. Chiari+, +Seitz+). Wir haben eine solche bei einem
erhängten Selbstmörder beobachtet.
[Sidenote: Herzlähmung.]
In anderen Fällen scheinen zur Herzlähmung prädisponirende Momente eine
wesentliche Rolle zu spielen, insbesondere die so häufige fettige und
körnige Degeneration des Herzens, wie sie namentlich nach Endarteriitis
deformans sich entwickelt, so dass dann der mechanische (eventuell auch
psychische) Insult nur eine der verschiedenen Gelegenheitsursachen
bildet, die ein so erkranktes Herz zum plötzlichen Stillstand bringen
können. Ist ja die Herzlähmung oder der „Herzschlag“ in Folge von
parenchymatösen Erkrankungen des Herzfleisches die häufigste Ursache
des plötzlichen natürlichen Todes, und es lässt sich häufig nachweisen,
dass stärkere Ansprüche an das Herz (angestrengte Arbeit, Heben
von Lasten, Stiegensteigen, Laufen, psychischer Affect, künstliche
Narkose und selbst Coitus) die Gelegenheitsursache zum Eintritte der
Herzparalyse abgegeben haben.
[Sidenote: Erschütterung der Bauchgeflechte.]
Eine auch forensisch beachtenswerthe Form des Shok ist die durch
traumatische Erschütterung bedingte Lähmung von Gefässnerven,
insbesondere des Splanchnicusgebietes, wodurch plötzliche
Abdominalplethora und consecutiv plötzliche Anämie in den übrigen
Kreislaufgebieten entsteht. Bekannt ist in dieser Beziehung der
+Goltz+’sche Klopfversuch, welcher darin besteht, dass bei Fröschen
durch wiederholte Schläge gegen den Bauch das Herz zum diastolischen
Stillstand gebracht wird, und es unterliegt keinem Zweifel, dass
plötzliche Erschütterung des Unterleibes eines Menschen durch Stoss,
Fall u. dergl. gleiche Folgen nach sich ziehen kann. Da, wie +Goltz+
bei Thieren fand, die Abdominalgefässe hierbei das Sechzehnfache
ihres früheren Inhaltes aufnehmen können, so lässt sich erwarten,
dass auch beim Menschen diese Form des Shoks anatomisch nachweisbare
Veränderungen, nämlich Erweiterung und Hyperämie der Abdominal-,
insbesondere der Darmgefässe, zurücklassen wird, wie sie thatsächlich
nach „Klopfversuch“ bei Thieren gefunden wurden (+Wernich+, „Ueber
die als Neuroparalyse, Nervenschlag, Shok bezeichnete Todesart vom
gerichtsärztlichen Standpunkte“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
1882, XXXVII, pag. 285 u. ff.).
Wir hatten die seltene Gelegenheit, einen solchen glücklich
abgelaufenen „Klopfversuch“ im Grossen am Menschen zu beobachten,
da wir zufällig anwesend waren, als vor unseren Augen ein Arbeiter
beim Verschieben der Waggons auf dem Innsbrucker Bahnhofe zwischen
die Puffer gerieth, so dass ihm der untere Theil des Brustkorbes
zusammengedrückt wurde. Der Mann hatte einen Schrei gethan und sofort
Mageninhalt entleert, wurde augenblicklich unter unserer Mitwirkung
hervorgezogen, war leichenblass und ohnmächtig. Herzschlag und Puls
nicht zu fühlen. Durch Bespritzen mit kaltem Wasser wurde er nach
einigen Augenblicken wieder zu sich gebracht und der Herzschlag, der
mehrere Secunden lang nicht zu fühlen und nicht zu hören gewesen war,
stellte sich zwar wieder ein, war jedoch ebenso wie der Puls schwach
und durch mehrere Minuten unregelmässig. Der Verletzte wurde nach
Hause getragen und war am anderen Tage wieder vollkommen hergestellt.
Zwei Fälle von plötzlichem Tode nach Schlag gegen die Magengegend
bringt +Maschka+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1879, XXX, 231).
Zu den traumatischen vasomotorischen Reflexlähmungen, die ebenfalls den
Tod bewirken können, gehört ferner die Commotio cerebri, von welcher
wir bei den Kopfverletzungen sprechen werden.
[Sidenote: Erstickung.]
_e_) Auch die +Erstickung+ kann in vielen Fällen von Verletzungen als
nächste Todesursache bezeichnet werden. Streng genommen gehört schon
der eben besprochene Shok hierher, da auch bei diesem, sowie bei jedem
plötzlichen Herzstillstand der Tod in letzter Linie durch Erstickung
erfolgt. Ebenso tödten Verletzungen, die die Brusthöhle eröffnen und
dadurch die Entfaltung der Lungen unmöglich machen, durch Erstickung.
Ferner Verletzungen der Medulla oblongata, und es würde nicht schwer
halten, die nächste, respective letzte Todesursache bei fast allen
plötzlichen, durch Verletzung erzeugten Todesarten auf Erstickung
zurückzuführen, da ja z. B. auch die Verblutung nur als Erstickungsform
aufgefasst werden kann. Erstickung im engeren Sinne lässt sich nicht
selten als nächste Todesursache erweisen bei Schnittwunden am Halse,
wie solche besonders häufig bei Selbstmördern gefunden werden, und sie
wird dadurch veranlasst, dass das aus den durchschnittenen Gefässen
ausströmende Blut in die ebenfalls durchtrennten Luftwege geräth,
beziehungsweise aspirirt wird.
[Sidenote: Secundäre Todesursachen.]
Zu den +secundären+ oder +mittelbaren+ nächsten Todesursachen gehören:
_a_) +Entzündliche Processe+ einzelner Organe, wie Meningitis,
Encephalitis, Pneumonie, Pleuritis, Peritonitis, Osteomyelitis etc.
_b_) +Pyämie+, Septicämie, Urämie.
_c_) Der +Tetanus+. Da den neuesten Forschungen zufolge auch der
Wundstarrkrampf durch Infection mit einem specifischen, namentlich
in Gartenerde (nach +Tamassia+ auch im Staube der Spinnweben), auf
schmutzigen Kleidern u. dergl. vorkommenden Bacillus veranlasst wird,
so ist man sowohl dem Verständniss dieser bisher in der Provenienz
dunkel gewesenen accidentellen Wundkrankheit als ihrer anatomischen
Diagnose näher gerückt, letzterer insbesondere durch die Möglichkeit
der Erzeugung des Tetanus bei Versuchsthieren durch Ueberimpfung der
betreffenden Wundflüssigkeit auf diese. Letztere, eventuell Weichtheile
aus der Umgebung der Wunde wären, wenn die Ueberimpfung nicht in loco
geschehen könnte, an eine centrale Untersuchungsstation einzusenden.
_d_) Die +Erschöpfung+, mit welchem Ausdruck man sich behelfen muss,
wenn nach längerer, insbesondere mit Inanition, profuser Eiterung etc.
verbundener Krankheit das Individuum stirbt, ohne dass sich ausser der
Verletzung und der allgemeinen Anämie und Abmagerung ein pathologischer
Befund ergäbe, der als nächste Todesursache bezeichnet werden könnte.
2. Nachweis des ursächlichen Zusammenhanges der nächsten Todesursache
mit der Verletzung.
Der Nachweis, dass die verschiedenen nächsten Todesursachen in der
That durch Verletzung, also auf gewaltsame Weise, bewirkt wurden,
wird geführt, indem wir darlegen, dass die betreffende Verletzung
noch während des Lebens des Individuums ihm zugefügt wurde, und dass
sie geeignet war, jene Veränderungen oder Störungen im Organismus
zu bewirken, die wir als nächste Todesursache erkannt haben, sowie
dadurch, dass wir sowohl den natürlichen, als den etwa durch
anderweitige Gewalten herbeigeführten Tod auszuschliessen uns bestreben.
Ueber den Beweis, dass eine bestimmte Verletzung (Misshandlung)
geeignet war, die als nächste Todesursache erkannten Veränderungen
zu setzen, wollen wir uns nicht weiter ausbreiten, da derselbe nur
nach allgemein klinischen und pathologisch-anatomischen Grundsätzen
geschehen kann, und da wir bei der Besprechung der Verletzung, je
nach ihrem Sitze, Gelegenheit haben werden, das noch Nothwendige zu
bemerken. Dagegen bedarf das erste und letztgenannte Moment einer
näheren Behandlung.
_a) Die Unterscheidung vitaler und postmortaler Verletzungen._
Die Möglichkeit, dass eine bei der Obduction gefundene Verletzung
erst an der Leiche entstanden sein konnte, ist immer im Auge zu
behalten, namentlich bei der Untersuchung von Kindesleichen, da
bei diesen durch die Art, wie sie beseitigt werden (Werfen in den
Abort, Einzwängen in enge Verstecke, Vergraben und Beschweren mit
Steinen u. dergl.), häufig Gelegenheit geboten ist zur Entstehung
postmortaler Verletzungen. Aber auch bei Erwachsenen können solche
sich finden und zu Täuschungen Veranlassung geben. Es gehören
hierher z. B. die zufälligen Verletzungen, die bei vom Wasser
fortgeschwemmten Leichen durch Schleifen über kiesigen Boden, durch
Anstossen an Steine, Balken, Eisschollen u. dergl. sich bilden, und
ebenso jene, die beim ungeschickten Abnehmen von Erhängten, in Folge
des Herabfallens der Leiche, sowie auch die, welche unter gewissen
Umständen durch Benagtwerden von Thieren[258] entstehen können. Auch
ist es möglich, dass erst bei der Section gemachte Verletzungen
für intra vitam entstandene genommen werden können. Hierher gehören
ausser den Muskelzerreissungen beim Strecken oder Zerren todtenstarrer
Glieder, von denen namentlich die der Kopfnicker leicht zu falschen
Deutungen führen können (v. unseren Aufsatz: „Ueber postmortale
Rupturen des Sternocleidomastoideus.“ Wiener med. Wochenschr. 1888,
Nr. 39 u. ff.), die Sprengungen des Schädels bei ungeschickter
Abnahme des Schädeldaches und die bei seniler Osteoporose so leicht
sich bildenden Rippenbrüche, insbesondere aber die Fracturen der
Halswirbelsäule an ihrer grössten Convexität, welche, wie wir uns
wiederholt überzeugt haben, beim Ziehen der Leiche am Kopfe oder
beim starken Rückwärtsbeugen des bereits entleerten Schädels, wie
es zur Erleichterung der Eröffnung und Untersuchung des Halses
geschieht, bei alten Leuten leicht zu Stande kommen. Es können ferner
postmortale Verletzungen auch absichtlich zugefügt worden sein, so
durch Zerstückeln der Leiche eines Getödteten, oder um einen Selbstmord
vorzutäuschen, wie uns ein Fall bekannt ist, in welchem die Leiche
einer höchst wahrscheinlich anderweitig getödteten Frauensperson
in dieser Absicht auf die Schienen gelegt wurde.[259] Auch ist die
Möglichkeit gegeben, dass in irgend einem Falle einem schon anderweitig
getödteten Individuum eine Verletzung beigebracht worden sein konnte,
in der Meinung, dass dasselbe noch am Leben sei.
So obducirten wir in Innsbruck die Leiche eines Italieners, der durch
Zerschmetterung des Schädels ermordet worden war, der aber ausserdem
ein langes Messer im Halse stecken hatte, welches offenbar erst nach
dem Tode eingestochen worden war, da, trotzdem grössere Arterien und
Venenzweige verletzt waren, keine Spur von Reactionserscheinungen an
der Wunde gefunden wurde. Die Erkennung einer solchen Verletzung als
einer postmortalen wäre namentlich dann von Wichtigkeit, wenn sie
durch einen anderen Thäter veranlasst worden wäre, als die, welche
während des Lebens zugefügt wurde und zum Tode führte.
Welche sonderbaren Möglichkeiten bezüglich der Entstehung
postmortaler Verletzungen gegeben sind, zeigt der von +Maschka+
(Gutachten I) mitgetheilte Fall, wo die Leiche eines offenbar im
epileptischen Anfalle umgekommenen Knaben, der durch einige Tage im
Freien gelegen hatte und bis auf den hervorragenden Kopf verschneit
war, von Wilddieben, die letzteren bei Mondbeleuchtung für einen
Hasen gehalten hatten, angeschossen worden war und wo der Befund
von gehacktem Blei in den Schädelknochen und im Gehirne, trotz ganz
minimaler Reactionserscheinungen, die Gerichtsärzte veranlasst hatte,
den Tod des Obducirten von der Schussverletzung herzuleiten, bis erst
nachträglich der wahre Sachverhalt sichergestellt wurde. Ein analoger
Fall von Anschiessen der von einem Baume herabgefallenen, in einem
Gebüsche liegendes Leiche eines erhängten Selbstmörders wird von
+Späth+ (Württemb. Correspondenzbl. 1890, Nr. 14) mitgetheilt.
Sehr beachtenswerth und gewissermassen den Uebergang von vitalen
zu postmortalen Verletzungen bildend, sind die Läsionen, welche
beim Zusammenstürzen aus einer anderen, insbesondere auch aus
natürlicher Todesursache entstehen können. Je plötzlicher und
vollständiger die durch letztere gesetzte Bewusstlosigkeit,
respective Bewegungsunfähigkeit eintritt, mit desto grösserer Gewalt
stürzt der Körper zu Boden und desto leichter können durch dieses
Zusammenstürzen Verletzungen sich bilden, denen begreiflicherweise
namentlich der Kopf ausgesetzt ist. Einfache Contusionen oder
Quetschwunden am Hinterkopf, an der Stirn und der seitlichen
Scheitelgegend sind häufig. Fig. 46 gibt ein solches Beispiel.
Ausserdem haben wir eine ganze Reihe anderer Verletzungen aus
dieser Ursache beobachtet, so Brüche der Nasenbeine, Bruch des
Processus zygom. sin., Fractur der Schneidezähne, zweimal Fractur des
Oberarmes (beidemale bei Greisen mit seniler Osteoporose, einmal bei
plötzlichem Tod durch Pneumonie, einmal bei Haemorrhagia cerebri),
je einmal Luxation des Humerus bei plötzlichem natürlichen Tod und
beim Selbstmord durch Schuss, einmal Fractur der Halswirbelsäule bei
einem alten, am Abort an Haemorrhagia in pontem plötzlich gestorbenen
Mann, der mit dem Rupfe gegen die Abortthüre gefallen war, endlich
einen Sprung des Hinterhauptbeines mit Diastase der Lambdanaht bei
einem auf der Strasse an Endocarditis mycotica und Embolie der
rechten Coronararterie plötzlich Verstorbenen. Dass unter ungünstigen
Umständen, z. B. wenn der Verstorbene gerade auf einer Treppe stand,
oder wenn er auf hervorragende Gegenstände auffiel, noch schwerere
Verletzungen entstehen können, liegt auf der Hand.
[Sidenote: Agonale und postmortale Verletzungen.]
Zu den agonal oder postmortal entstandenen Verletzungen gehören
auch die durch Wiederbelebungsversuche veranlassten. Bekannt sind
in dieser Beziehung die durch Frottirungen entstehenden, an der
Leiche als pergamentartige Vertrocknungen sich präsentirenden
Hautaufschürfungen an den Beugeflächen der oberen Extremitäten,
an der Vorderfläche der Brust und über den Schienbeinen, ferner
die durch Aufträufeln von brennendem Siegellack auf die Brust
und die durch Aderlässe bewirkten Verletzungen, die in ihrer
Natur und Provenienz kaum zu verkennen sind. Wichtiger sind die
durch subcutane Aether- oder andere zur Wiederbelebung gemachte
Injectionen entstehenden Veränderungen an den betreffenden
Hautstellen, da sie gelegenheitlich für etwas Anderes gehalten
werden könnten. Diese Stellen präsentiren sich als bis thalergrosse
rundliche oder ausgebuchtete, bleichgraue und derbe Stellen, an
welchen beim Einschneiden Cutis sowohl als subcutanes Zellgewebe
mehr weniger wie gekocht erscheinen. Dadurch sowohl, als noch mehr
durch den häufig vorhandenen blassrothen Saum haben diese Stellen
mitunter eine ganz auffallende Aehnlichkeit mit Verbrühungen dritten
Grades oder mit den durch Schwefelsäure erzeugten Veränderungen. Auch
können sie für Suffusionen gehalten werden, um so mehr, als mitunter
wirklich eine vom Einstich herrührende Blutaustretung sich darunter
findet. Auch mit gewissen Dermatosen ist eine Verwechslung nicht
ausgeschlossen. Die Stichöffnung liegt fast immer excentrisch, häufig
an der äussersten Peripherie der, wie erwähnt, veränderten Hautpartie
und letztere zeigt beim Einschneiden meist den charakteristischen
Geruch der Injectionsflüssigkeit, so dass bei einiger Aufmerksamkeit
eine Verkennung des Befundes wohl vermieden werden kann.
[Sidenote: Vitale Reactionserscheinungen.]
Da wir bereits oben (pag. 270) das Verhalten vitaler und postmortaler
Hautaufschürfungen besprochen haben und die Suffusionen bei den Wunden
Erwähnung finden können, so wollen wir hier bei der Besprechung jener
Momente, die geeignet sind, vitale von postmortalen Verletzungen zu
unterscheiden, nur die Weichtheilwunden und die Knochenverletzungen im
Auge behalten.
In dieser Beziehung ist zunächst die von +Casper+[260] zuerst
hervorgehobene Thatsache zu beachten, dass an der Leiche sowohl
Weichtheile als Knochen eine grössere Widerstandsfähigkeit gegen
Gewalten, insbesondere gegen stumpfe Gewalten, zeigen, als dies
während des Lebens der Fall ist. Diese Thatsache ist zwar von
+Krahmer+[261] angezweifelt, dagegen von einer Reihe anderer
Beobachter, wie insbesondere von +F. Falk+[262] und von +Aeby+[263],
experimentell geprüft und bestätigt worden. Auch wir müssen auf Grund
zahlreicher Versuche, die wir angestellt haben und jedes Jahr unseren
Schülern vordemonstriren, mit den Angaben der genannten Beobachter
übereinstimmen. Die Ursache dieser Erscheinung liegt unserer Meinung
nach in der geringeren Turgescenz todter Gewebe und in der mehr
teigigen Consistenz und grösseren Plasticität, die die Weichtheile in
Folge der Todtenstarre erhalten.
Weiter muss das Vorhandensein oder Fehlen der vitalen
Reactionserscheinungen berücksichtigt werden. Ist zwischen der
Zufügung der Verletzung und dem Tode längere Zeit verstrichen, dann
sind in der Regel so deutliche Erscheinungen von entzündlicher
Röthung, Schwellung, Eiterung oder von Verklebung oder Granulation
vorhanden, dass die Erkennung einer Verletzung als vitaler keinen
Schwierigkeiten unterliegt, die übrigens, da solche Fälle meistens von
vornherein in dieser Richtung klar sind, dann nur selten Gegenstand
der Frage wird, obgleich bemerkt werden muss, dass der Grad und die
Natur der Reactionserscheinungen sich verschieden gestalten wird,
je nachdem der Wundverlauf ein aseptischer war oder nicht, und
dass auch ganz unzweifelhaft und unverkennbar vorhanden gewesene
Reactionserscheinungen durch die Fäulniss verwischt oder schwer
unterscheidbar werden können.
Ungleich schwieriger kann sich die Sache gestalten, wenn postmortale
von unmittelbar vor dem Tode erzeugten Verletzungen unterschieden
werden sollen. In einem solchen Falle ist zur Unterscheidung
vorzugsweise die Erfahrung heranzuziehen, dass während des Lebens
entstandene Verletzungen mit entsprechender Retraction der
durchtrennten Weichtheile und mit mehr weniger starker Blutung
verbunden sind, während beide Erscheinungen bei postmortalen
Verletzungen gar nicht oder mindestens ungleich schwächer sich
auszubilden pflegen.
[Sidenote: Retraction der Gewebe.]
Die +vitale Retraction+ macht sich insbesondere an der Haut bemerklich
und veranlasst das Klaffen der Wundränder. Der Grad, in welchem
diese Erscheinung bei während des Lebens entstandenen Verletzungen
eintritt, hängt von localen Verhältnissen der betreffenden Hautstelle
ab, namentlich ausser von der Faser- (Spaltbarkeits-) Richtung davon,
in welcher Weise die Anheftung der Haut an die darunter liegenden
Gewebsschichten eine grössere oder geringere Retraction gestattet.
Am meisten wird sie deshalb sich einstellen, wenn die Haut über der
betreffenden Stelle leicht verschiebbar und nur durch lockeres,
grossmaschiges Bindegewebe mit der Unterlage verbunden war, während an
anderen Orten, wie z. B. namentlich an der Kopfhaut oder am Rücken,
einestheils die dichtere und dickere Beschaffenheit der Haut selbst,
andererseits das kurze und straffe Unterhautgewebe ein stärkeres
Zurückziehen der getrennten Haut nicht gestattet. Es ist begreiflich,
dass diese localen Verhältnisse auch bei postmortalen Verletzungen
sich geltend machen werden, wie überhaupt festzuhalten ist, dass
auch die todte Haut bis zu einem gewissen Grade ihre Elasticität und
Retractibilität behält, und dass daher auch postmortale Wunden mehr
weniger klaffen, aber im Allgemeinen nicht in dem Grade, wie wir dies
bei während des Lebens erfolgten Trennungen in der Regel beobachten
können, weshalb auch die Verziehung der ursprünglichen Form einer
Hautwunde bei postmortalen Wunden in weniger auffallender Weise erfolgt
als bei vitalen. Nicht unbeachtet darf übrigens bleiben, dass sowohl
bei vitalen als bei postmortalen Trennungen der Haut das Abstehen der
Wundränder durch die Lage und Stellung des betreffenden Körpertheiles
vielfach modificirt werden kann.
[Sidenote: Retraction verletzter Gewebe.]
Mit grosser Energie äussert sich bei während des Lebens beigebrachten
Verletzungen die Retractibilität der Musculatur; aber gerade bezüglich
dieser ist bekannt, dass sie noch einige Zeit nach dem Tode besteht
und eigentlich erst, nachdem die Todtenstarre eingetreten ist, sich
nicht mehr äussert, woraus folgt, dass eine Verletzung ganz wohl
erst nach dem Tode entstanden sein konnte, obwohl die durchtrennten
Muskelbäuche retrahirt gefunden wurden, wenn nämlich die Verletzung,
z. B. die Zerstücklung einer Leiche, unmittelbar oder so kurz nach dem
Tode vorgenommen wurde, dass die Retractibilität der Musculatur sich
noch zu äussern vermochte. Ist einmal die Todtenstarre eingetreten oder
dieselbe schon abgelaufen, dann retrahirt sich die Musculatur, wenn
sie durchtrennt wird, wenig oder gar nicht. Uebrigens muss auch hier
bemerkt werden, dass die Retractionsfähigkeit eines durchschnittenen
Muskels vielfach beeinflusst wird durch die Art und Weise seiner
Insertion und sein Verhalten zu den Nachbartheilen.
[Sidenote: Blutung.]
Einen wichtigeren Anhaltspunkt für die Beantwortung vorstehender Frage
bietet der Nachweis einer stattgehabten +Blutung+, entweder nach
aussen oder nach einwärts in Körperhöhlen oder in das Nachbargewebe
(Suffusion), beziehungsweise das Fehlen dieser Erscheinungen.
Während des Lebens entstandene Wunden bluten mehr oder weniger. Wir
finden daher an der Leiche theils flüssiges, theils coagulirtes oder
eingetrocknetes Blut an der Wunde und ihrer nächsten Umgebung, und zwar
theils ausserhalb des Körpers, so z. B. an den Kleidern, oder innerhalb
desselben zwischen den getrennten Gewebsschichten oder in Körperhöhlen
ergossen. Wird eine Verletzung einer Leiche beigebracht, so tritt
eine stärkere Blutung in der Regel nur dann ein, wenn grössere, mit
flüssigem Blute gefüllte Gefässe getroffen wurden. So sehen wir z. B.
bei Abnahme des Schädeldaches aus dem eröffneten Sinus oder beim
Aufschneiden der Venae anonymae bei der Abnahme des Brustblattes
mitunter sehr bedeutende Blutmassen ausfliessen.
[Sidenote: Postmortale Blutungen.]
Ebenso können wir, wenn das Blut in der Leiche flüssig war, auch nach
postmortalen Verletzungen blutreicher parenchymatöser Organe, wie
z. B. der Milz, bedeutende Mengen Blut austreten sehen. Postmortale
Verletzungen peripherer Theile, insbesondere der Haut, sind in der
Regel mit keiner oder nur mit ganz geringfügiger Blutung verbunden,
da, wie bekannt und wie das Erblassen der Haut zeigt, schon im Sterben
und noch mehr nach dem Tode, das Blut aus den Capillaren und den
kleineren peripheren Gefässen sich entleert und vorzugsweise im rechten
Herzen und den grossen Venenstämmen sich ansammelt. Doch macht auch
hier die Stelle, wo man eine Verletzung zufügt, einen Unterschied.
Während nämlich Wunden nach aufwärts gelegener Hautstellen gar nicht
bluten, kann an abhängigen Körperpartien, der daselbst entstandenen
oder nachträglich entstehenden Senkungshyperämie wegen, eine Blutung
eintreten, obgleich es auch da nur zu einem Durchsickern des Blutes,
zu einer profusen Blutung aber nur dann kommt, wenn die Wunde tiefer
drang und grössere Venenstämmchen des Unterhautgewebes oder anderer
Weichtheile getroffen hatte, und wenn bei so günstiger Lage des Körpers
dem Ausfliessen des sich von oben herabsenkenden Blutes genügende Zeit
gegönnt war.
Es folgt demnach aus dem Gesagten, dass wir nicht berechtigt sind,
blos aus dem Umstande, dass eine Wunde geblutet hatte, zu folgern,
dass dieselbe noch während des Lebens entstanden ist, sondern dass wir
behufs einer solchen Folgerung früher die Lage der Wunde, die Tiefe
derselben und die Qualität der getroffenen Theile, die Beschaffenheit
des Blutes der betreffenden Leiche, sowie die Menge des aus der Wunde
ausgetretenen Blutes in Betracht ziehen müssen. Handelt es sich um
eine Verletzung grösserer Gefässstämme oder sehr blutreicher Organe,
dann wird ausserdem zu erwägen sein, dass eine postmortale Verletzung,
auch wenn sie grosse und blutreiche Organe traf, niemals diejenigen
Allgemeinerscheinungen bewirken kann, die an Leichen thatsächlich
Verbluteter sich ergeben.
[Sidenote: Suffusion von Wunden.]
Seit jeher wird, und zwar mit vollem Rechte, bezüglich der Diagnose,
ob eine Verletzung während des Lebens geschah, auf den Befund von
+Suffusion+ unterhalb der betreffenden Verletzung oder in dem
Nachbargewebe ein grosser Werth gelegt. Doch ist auch bezüglich dieses
Befundes Folgendes zu bemerken.
Zunächst die Thatsache, dass auch bei vital entstandenen Verletzungen
stärkere Suffusionen der Nachbarschaft vorzugsweise nur bei
contundirten Wunden sich finden, während sie bei Schnitt- oder
Stichwunden in geringerem Grade zur Ausbildung gelangen. Bei Wunden
letzterer Kategorie ergiesst sich das Blut aus den getrennten Gefässen
frei in die Wunde hinein, beziehungsweise aus dieser heraus, imbibirt
sich auch, wenn es nach dem Tode mit den durchtrennten Geweben in
Verbindung bleibt, in diese, aber es ist begreiflich, dass nur, wenn
lockeres Bindegewebe in der Nachbarschaft sich findet, und wenn
grössere arterielle Gefässe verletzt waren, die Verhältnisse darnach
angethan sein werden, dass das ausgetretene Blut auf weitere Strecken
in die Maschen des umgebenden Zellgewebes oder zwischen die Schichten
verschiedener Gewebe einzudringen vermag, schon aus dem Grunde, weil
das Blut aus den durchtrennten Gefässen in der Richtung des geringsten
Widerstandes, also in den Wundspalt, fliessen wird. Waren diese
Bedingungen nicht gegeben, so kann es geschehen, dass thatsächlich
im Leben entstandene Stichverletzungen, wenn, weil das Blut nach
innen sich ergoss, wenig oder kein Blut in der Wunde zurückblieb,
mitunter gar keine Reactionserscheinungen darbieten und sich in Folge
ihrer Blässe, namentlich in Folge des Fehlens der Sugillation der
Nachbarschaft, wie solche verhalten, die erst nach dem Tode entstanden
sind. Diese Thatsache wurde schon von +Casper+ und +Liman+ (l. c. II,
140) hervorgehoben und mit Recht bemerkt, dass auch die Schnelligkeit
des Todes hierbei eine wesentliche Rolle spiele, insofern, als desto
weniger Suffusion sich entwickeln kann, je rascher der Tod erfolgt.
Bei penetrirenden Wunden kommt häufig noch das Moment der inneren
Verblutung dazu, wodurch der peripheren Wunde gleichsam das Material
zur Entstehung der Suffusion entzogen wird. Gleiches geschieht,
wenn sofort nach Zufügung einer Verletzung eine andere, mit rapidem
Blutverlust verbundene, gesetzt wird. So obducirten wir eine Frau, die
von ihrem Manne eingestandenermassen durch zahlreiche bis in’s Gehirn
dringende weitklaffende Hiebe mit der Schneide einer Hacke und durch
nachfolgendes Halsabschneiden getödtet worden war. Die Kopfwunden
zeigten keine Spur von Suffusion und auch die Halswunde, durch welche
sämmtliche Halsgefässe getrennt worden waren, war nur unbedeutend
suffundirt. Auch Operationswunden sind in der Regel nicht suffundirt.
+A. Paltauf+ („Ueber reactionslose vitale Verletzungen.“ Wr. klin.
Wochenschr. 1889, Nr. 37 und 39) hat auf eine bisher unbeachtet
gebliebene Ursache des Ausbleibens einer Blutung in die Nachbarschaft
peripherer Verletzungen aufmerksam gemacht und mehrere Beispiele
dafür angeführt, nämlich auf den Einfluss einer gleichzeitigen
Hirnerschütterung und der damit verbundenen intensiven Reizung des
grossen Vasomotorencentrums, welcher später Gefäss- und Herzlähmung
folgt. „Wir können uns,“ sagt +Paltauf+, „vorstellen, dass dem Blute
nach dem Trauma zuerst durch die Verengerung, ja den Verschluss der
Gefässe die Möglichkeit des Ausströmens benommen wird, hernach aber,
in Folge der Erweiterung des Strombettes, des mangelnden Druckes und
des Versagens des Herzens, der nöthige Druck zum Einströmen in die
peripheren Gefässbezirke fehlt.“ Beim Hirndruck, der überdies meist
mit Hirnerschütterung verbunden ist, kann Aehnliches durch andauernde
Pulsverlangsamung und das stetige Sinken des Blutdruckes veranlasst
werden; bei gewissen Formen des Shok durch die plötzliche Herzlähmung
und bei traumatischer Lähmung des Splanchnicus durch diese.
[Sidenote: Postmortale Bildung und Vergrösserung von Ecchymosen.]
An der Leiche kommen in der Regel solche Suffusionen nicht zu Stande,
aus dem Grunde, weil in den Theilen gewöhnlich das Material zur
Bildung von Sugillationen, das Blut, mangelt und weil auch, selbst
wenn dieses vorhanden war, dem sich entleerenden Blute der Druck
fehlt, der erforderlich ist, um eine Infiltration des Nachbargewebes
mit demselben zu bedingen. Aber es ist klar, dass die zur Bildung
einer Suffusion nöthigen Bedingungen mitunter auch an der Leiche
gegeben sein können. Schon +Engel+[264] hat gefunden, dass, wenn man
Leichen in Stellungen bringt, bei welchen der Kopf den niedrigst
gelegenen Theil bildet, nicht blos intensive Senkungshyperämien in
demselben erzeugt werden können, sondern dass es auch, wenn man den
Versuch genügend lange fortsetzt, zu Rupturen kleiner Gefässe und
dadurch zur Bildung von Sugillationen in der Kopfhaut und zur Bildung
von Ecchymosen in der Conjunctiva kommen kann. Auch wir[265] haben
auf gewisse subepidermoidale stecknadelkopf- bis hanfkorngrosse
Extravasate aufmerksam gemacht, die an den unteren Extremitäten
von Erhängten ziemlich häufig gefunden werden, wenn diese lange am
Stricke geblieben waren und entweder aus kleinen, vital gebildeten
Ecchymosen durch Nachsickerung des Blutes oder dadurch entstehen, dass
die Hautcapillaren schliesslich unter dem Drucke der sich von oben
herabsenkenden Blutsäule bersten. Dieser Vorgang, insbesondere die
Vergrösserung vital entstandener kleinerer Ecchymosen durch agonale
oder postmortale Nachsickerung des Blutes, ist aber auch bei anderen
Körperlagen, z. B. bei der Rücken-, Bauch- oder Seitenlage, an den
am tiefsten und zugleich frei liegenden Hautstellen eine durchaus
nicht seltene Erscheinung und lässt sich auch an tiefgelegenen
Schleimhäuten und in den betreffenden Partien des subcutanen und
anderweitigen Zellgewebes beobachten. Besonders instructiv, weil in
ihrer Provenienz unverkennbar, sieht man die Erscheinung an vielen
Leichen von Personen, die plötzlich unter Erstickungssymptomen
gestorben und längere Zeit mit dem ganzen Körper oder auch nur mit
dem Kopfe auf der einen Seite liegen geblieben sind. In den typischen
Fällen ist die nach aufwärts gelegene Gesichtshälfte blass, die andere
livid durch bis linsengrosse Ecchymosen gefleckt, die Conjunctiva auf
ersterer Seite schwach injicirt, mit den gewöhnlichen punktförmigen
bis stecknadelkopfgrossen Ecchymosen, auf der anderen aber stark und
dicht injicirt mit bis bohnengrossen (nicht etwa blos durch Imbibition
vergrösserten) Ecchymosen und bei Abnahme der Schädeldecken finden sich
diese bedeutend blutreicher auf der lividen Seite als auf der anderen
und die lockeren Zellgewebsschichten, selbst jene unter der Scheide
des Schläfemuskels, sind mit Blutaustritten durchsetzt, welche linsen-
bis bohnengross sein können. Noch auffälliger ist das Bild in Fällen,
wo die Leiche längere Zeit am Bauche oder gar mit herabhängendem
Oberkörper liegen geblieben war, und kann dann die hochgradige livide,
mit Dunsung verbundene Färbung der Haut des Gesichtes, Vorderhalses
und Brustkorbes, sowie das Auftreten zahlreicher und grösserer
Ecchymosen in und unter der Haut und selbst in den tiefer gelegenen
Zellgewebsschichten, z. B. des Vorderhalses, zu fatalen Täuschungen
führen, namentlich insoferne, als an gewaltsame Erstickung, besonders
durch Erwürgen oder Erdrosseln, gedacht werden kann, obgleich nur ein
natürlicher Tod vorliegt.
Diesen Beobachtungen zufolge lässt sich erwarten, erstens, dass
auch traumatisch unmittelbar vor dem Tode entstandene Extravasate
sich postmortal bei entsprechender Lage durch Nachsickerung des
Blutes vergrössern können und zweitens, dass auch nach postmortalen
Verletzungen Extravasate sich bilden werden, wenn die verletzten
Gefässe flüssiges Blut enthielten und die Leiche in eine solche
Stellung gebracht wurde, bei welcher die verletzte Stelle, ohne einen
Druck zu erleiden, nach abwärts zu liegen kam. In der That gelang es
uns bei Hunden, die durch Erstickung getödtet wurden, durch selbst
mehrere (2-4) Stunden nach dem Tode erzeugte Verletzungen der Kopfhaut
durch Hammerschläge, noch mehr durch Einschlagen des Schädels,
ausgebreitete Suffusionen der weichen Schädeldecke zu erhalten, wenn
das Thier nach der Zufügung der postmortalen Verletzung bei den
Füssen aufgehängt und in dieser Stellung mehrere Stunden belassen
worden war. Ebenso konnten wir die Entstehung ausgebreiteter intra-
und extrameningealer Extravasate post mortem und sogar von capillären
Blutungen im Gehirne selbst beobachten, welche das bekannte Bild
der Contusio cerebri darboten und, wie diese, vorzugsweise an der
Spitze der Stirn- und Schläfelappen zu Stande kam. Modificirten wir
aber den Versuch dahin, dass wir der Thierleiche mit einem Hammer
die Knochen der unteren Extremitäten zerbrachen und die Leiche beim
Halse aufhingen, so vermochten wir ausgebreitete Suffusionen in der
Nachbarschaft der zertrümmerten Knochen und an den Knochenenden selbst
zu constatiren, woraus folgt, dass wir nicht unbedingt berechtigt sind,
blos aus dem Befunde einer Suffusion eine Verletzung für eine während
des Lebens entstandene zu erklären, sondern auch erwägen müssen, ob
nicht an der Leiche Bedingungen vorhanden waren, die das Zustandekommen
einer postmortalen Suffusion ermöglichten.
[Sidenote: Geronnenes Blut.]
Seit jeher wurde auf die +geronnene+ Beschaffenheit des Blutes im
Bereiche von Verletzungen ein besonderes Gewicht gelegt und dieses
Verhalten als für vitale Verletzungen charakteristisch bezeichnet.
Wenn man damit sagen wollte, dass das Leichenblut nicht gerinnen
könne, so ist dies entschieden unrichtig, da man sich bei Sectionen
jeden Augenblick überzeugen kann, wie das in den Gefässen gefundene
flüssige Blut, auch Erstickungsblut, nach verhältnissmässig kurzer
Zeit gerinnt, wenn es der Luft ausgesetzt bleibt; ebenso kann demnach
das aus postmortalen Wunden ausfliessende oder aussickernde Blut
gerinnen. Wir haben uns aber bei unseren Versuchen überzeugt, dass
auch bei Contusionen und überhaupt bei Verletzungen, bei welchen die
Haut nicht durchtrennt wurde, somit das in das Gewebe ausgetretene
Blut mit der äusseren Luft nicht in Contact kam, die postmortale
Suffusion aus geronnenem Blut bestand, ein Umstand, der, weil die
Versuche an erstickten Thieren geschahen, bei denen somit das Blut
im Herzen und in den Gefässen flüssig blieb, beweist, dass erst in
den Partien, in welche das Blut ausgetreten war, die Bedingung (das
Ferment) gesetzt wurde, welche nothwendig ist, um aus den sogenannten
Fibringeneratoren (+Schmidt+) Fibrin zu erzeugen. Dieses stimmt auch
mit den Beobachtungen von +C. Seydel+ (Deutsche med. Wochenschr.
1892, Nr. 7), wonach die Gerinnung proportional zu sein scheint mit
der Zerstörung, respective Veränderung der Gewebstheile, die mit
dem Bluterguss in Berührung kommen. Doch muss bemerkt werden, dass
wir bei unseren Versuchen immer nur lockergeronnenes Blut in den
postmortalen Suffusionen fanden, niemals aber so feste Gerinnsel,
wie sie bei vital erzeugten Extravasaten, wenn auch nicht immer, so
doch meistens beobachtet werden. Die eintretende Gerinnung des Blutes
in den Maschen der zerrissenen Gewebe ist mit ein Grund, warum der
Vergrösserung der Extravasate durch postmortale Nachsickerung des
Blutes gewisse Grenzen gesetzt sind.[266] Der gerinnungsbefördernde
Einfluss der Luft kann sich bei offenen Wunden auf weite Strecken in
den Körper, respective in die Gefässe hinein äussern. So von Wunden
der grossen Halsgefässe aus bis in’s Herz. Bei einem kräftigen, wegen
Schulterlage durch Decapitation geborenen Kinde fanden wir die Stümpfe
suffundirt und in den Sinus der Dura mater und im Herzen geronnenes,
sonst überall flüssiges Blut. Auch die gerinnungserregende Wirkung der
Herzbeutelflüssigkeit kann sich bei mit dem Pericard communicirenden
Verletzungen bemerkbar machen, vielleicht auch bei unverletztem
Pericard durch Imbibition, respective Transsudation derselben.
[Sidenote: Reactive Schwellung.]
Die +Schwellung+ und reactive Hyperämie der Wundränder ist eine
Erscheinung, zu deren Zustandekommen immer einige, wenn auch nur ganz
kurze Zeit erforderlich ist; sie wird daher in jenen Fällen fehlen, in
welchen der Tod sofort nach der Verletzung eingetreten war. Ueberdies
kann eine Schwellung der Wundränder auch bei postmortalen Verletzungen
entstehen, wenn diese an Stellen liegen, die in Folge von Hypostase
succulenter erscheinen. Anderseits kann eine thatsächlich bestandene
Schwellung an der Leiche verschwinden, theils durch Verdunstung, theils
durch Senkung des Blutes und sonstiger Flüssigkeiten in die abwärtigen
Theile, wie es ja bekannt ist, dass auch andere, namentlich ödematöse
Schwellungen, die schon vor dem Tode bestanden, nach demselben durch
Hypostase aus nach aufwärts gelegenen Hautstellen sich verlieren oder
mindestens stark an Intensität abnehmen. Eine seröse Infiltration
in der Umgebung von Blutextravasaten ist keineswegs ohne Weiteres
als reactives Oedem aufzufassen, welches ein längeres Ueberleben der
Verletzung voraussetzt, denn eine solche Infiltration kann sich auch
bei unmittelbar vor dem Tode entstandenen Extravasaten finden und rührt
nicht, wie +Lesser+ („Ueber Lymphorrhagien in der Umgebung unmittelbar
oder kurz vor dem Tode erlittener Verletzungen.“ Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1883, XXXIX, pag. 1), sowie +M. Lavallée+ und +Köhler+
(„Décollement traumatique.“ Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1889, XXIX,
pag. 44) meinten, von Lymphorrhagien her, sondern werden, wie wir
bereits in der letzten Auflage dieses Buches andeuteten und wie von +A.
Paltauf+ („Ueber das falsche Lymphextravasat.“ Prager med. Wochenschr.
1892, Nr. 23) experimentell nachgewiesen und +Drews+ (Berliner Diss.
1893) bestätigen konnte, durch den Gerinnungsvorgang im extravasirten
Blute und Trennung des Blutserums vom Blutkuchen veranlasst.
Aus dem Gesagten ist zu entnehmen, dass die Unterscheidung vitaler von
postmortalen Verletzungen und umgekehrt mitunter selbst an frischen
Leichen recht schwierig werden kann und eine genaue Berücksichtigung
aller erwähnten Verhältnisse erfordert, namentlich auch die Prüfung,
ob sich, wie bei postmortalen Verletzungen gewöhnlich. das Blut leicht
abspülen lässt oder nicht.
[Sidenote: Faule Leichen.]
Noch schwieriger kann sich die Unterscheidung gestalten an faulen oder
anderweitig, z. B. durch Verbrennung, Zerstücklung u. s. w. veränderten
Leichen. Insbesondere werden die Schwierigkeiten bei faulen Leichen,
namentlich faulen Wasserleichen, grösser, da bei diesen einestheils
die sogenannten Imbibitions-Erscheinungen Suffusionen vortäuschen,
anderseits aber in Folge der Fäulniss, eventuell Auswässerung,
auch wirklich bestandene Extravasate geronnenen Blutes unkenntlich
gemacht werden können, wozu noch der Umstand kommt, dass gerade an
verletzten und gequetschten Stellen sowohl die Fäulniss, als auch
(bei Wasserleichen) die Auswässerung früher zu beginnen und rascher
zu verlaufen pflegt als an anderen. Es ergibt sich aber eben aus
dieser Thatsache, dass, wenn wir bei einer Leiche trotz des hochgradig
faulen, respective macerirten Zustandes derselben in der Umgebung einer
Verletzung einer Suffusion von geronnenem Blut begegnen, wir schon aus
diesem Befunde berechtigt sind, auf vitalen Ursprung der Verletzung zu
schliessen, da, wenn die Verletzung der schon faulen Leiche zugefügt
worden wäre, Gerinnungen nicht entstehen konnten, wenn dieselbe aber
noch an der frischen Leiche entstand, die Gerinnungen weicher gewesen
und daher der Verflüssigung durch Fäulniss leichter unterlegen wären.
_b) Der Ausschluss anderer Todesursachen._
Derselbe hat nicht blos andere gewaltsame Todesarten, sondern auch
den natürlichen Tod zu betreffen. Es ist jedoch selbstverständlich,
dass es nur in besonderen Fällen nothwendig sein wird, auf die
Möglichkeit, dass blos ein +natürlicher Tod+ vorliegen könnte, näher
einzugehen; denn es ist klar, dass, wenn wir bei der Obduction einen
vollkommen gesunden Organismus nachweisen und an diesem eine grobe,
offenbar während des Lebens entstandene Verletzung lebenswichtiger
Organe finden, die ihrer allgemeinen Natur nach geeignet ist, den
Tod zu bewirken, gar kein Grund vorhanden ist, auch die Möglichkeit
eines natürlichen Todes in Erwägung zu ziehen. Dagegen wird dies
nothwendig erscheinen, wenn ausser der Verletzung und ihren Folgen
noch anderweitige, früher bestandene oder nachträglich und unabhängig
von der Verletzung eingetretene pathologische Processe sich finden,
die erfahrungsgemäss auch den Tod bewirken können, oder wenn der als
nächste Todesursache erkannte Befund ein solcher ist, dass er ebenso
gut durch eine Verletzung (Misshandlung), als durch eine Krankheit im
engeren Sinne hätte entstanden sein können.
So kann es geschehen und ist uns thatsächlich vorgekommen, dass
ein altes marastisches Individuum während einer Rauferei, wo es
Schläge gegen den Kopf erhielt oder bei den Haaren gerissen wurde,
zusammenstürzt und sofort oder kurz darnach stirbt. Wenn man nun in
einem solchen Falle als nächste Todesursache einen apoplectischen
Erguss in’s Gehirn oder auf die Oberfläche desselben nachweist,
so kann es recht schwer werden, zu bestimmen, ob die Ruptur
des atheromatösen oder aneurysmatischen Hirngefässes durch die
Misshandlung, beziehungsweise durch die mit derselben verbundene
Erschütterung des Kopfes eingetreten ist, oder ob die während der
Rauferei bestandene Gemüthsaufregung, gleichzeitiger Alkoholgenuss
etc. die längst zu Rupturen disponirten Gefässe zur Berstung gebracht
habe. In gleiche Lage könnten wir kommen, wenn die Misshandlung einen
Alkoholiker betroffen hätte, und zwar nicht blos wegen der im Gefolge
der chronischen Alkoholdyscrasie eintretenden fettigen Degeneration
der Gefässe, sondern auch wenn die Blutung aus einer bei Säufern
so häufigen Pachymeningitis vasculosa erfolgte, da Blutungen aus
dieser sowohl spontan[267], als in Folge plötzlicher Erschütterungen
eintreten können. Auch in solchen Fällen kann nur die sorgfältigste
Erwägung aller Umstände nach einer oder der anderen Richtung ein
Urtheil gestatten, doch ist es klar, dass meistens über eine blosse
Wahrscheinlichkeitsdiagnose nicht wird hinausgegangen werden können,
und dass, selbst wenn wir Grund haben, der Misshandlung die Hauptrolle
bei der Entstehung der Hämorrhagie zuzuweisen, man doch jedesmal die
„eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“ wird betonen müssen, die die
Veranlassung war, dass die betreffende Misshandlung (wenn sie eine
sonst geringfügige gewesen ist) einen letalen Ausgang genommen hatte.
[Sidenote: Wundinfectionen.]
Bei der Beurtheilung des causalen Zusammenhanges einer
+Infectionserkrankung+ mit einer Verletzung müssen nach +P. Dittrich+
(„Ueber Wundinfectionen, besonders Wundeiterungen und ihre Folgen
vom forensischen Standpunkte.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
1894, VIII, Suppl. pag. 1) in Betracht kommen: die Localisation der
Infection, der Zeitraum zwischen der Verletzung und dem Auftreten
der ersten Infectionserscheinungen und der Ausschluss anderweitiger
Infectionsquellen. Bei von der Verletzung entfernten Entzündungen muss
der Nachweis angestrebt werden, dass diese von der Wunde ausgegangen
sind. Doch ist die anatomische (bakteriologisch-anatomische)
Constatirung der Wege, auf welchen sich die Entzündungserreger
fortpflanzten, keineswegs immer leicht. Auch ist es möglich, dass an
der Wunde selbst keine oder nur geringe Infectionserscheinungen zu
bemerken sind, obgleich die Infectionsstoffe von der Wunde aufgenommen
worden waren, und entfernte Entzündungen erregt haben. Auch wurden
von uns und von Anderen Fälle beobachtet, in denen die äussere Wunde
per primam heilte, in der Tiefe aber die Eiterung fortdauerte oder
nachträglich auftrat.
[Sidenote: Natürl. Erkrankungen od. secund. Proc. nach Traumen.]
Anderseits kann ein Individuum zur Zeit der erlittenen Verletzung
bereits inficirt gewesen oder es kann die infectiöse Erkrankung
unabhängig von der Verletzung erfolgt sein, welche Möglichkeiten
sämmtlich erwogen werden müssen.
Verhältnissmässig häufig sind namentlich Schulkinder betreffende
Fälle, wo +Meningitis+ mit kurz vor der Erkrankung erlittenen
Züchtigungen oder sonstigen kleineren Misshandlungen oder Verletzungen
in ursächlichen Zusammenhang gebracht wird. Wir haben in einer
besonderen Arbeit und gestützt auf zahlreiche Beobachtungen (Wiener
med. Wochenschr. 1888, Nr. 7-9) dargethan, wie bedenklich gerade hier
das „post hoc, ergo propter hoc“ ist und wie man eigentlich nur dann
berechtigt ist, einen causalen Zusammenhang zwischen Misshandlung und
Meningitis als erwiesen anzunehmen, wenn es gelingt, eine äussere
oder innere Läsion nachzuweisen und darzuthun, dass von dieser eine
pyogene Infection ausgegangen ist. Aber auch in diesen Fällen muss
die Meningitis nur als eine accidentelle Wundkrankheit begutachtet
werden. Der Verlauf der Erkrankung ist für sich allein nach keiner
Richtung beweisend. Insbesondere beweist das Eingetretensein der
Krankheitssymptome ganz kurz nach einer Misshandlung für sich allein
durchaus nicht einen causalen Zusammenhang mit diesen. In den meisten
Fällen ist, ganz abgesehen von der tuberculösen und der durch Otitis
media veranlassten Meningitis, eine spontane Erkrankung das näher
Liegende, besonders, wenn zur Zeit spontane Meningitis häufiger
vorkommt und die Anamnese oder die anatomische Untersuchung des
Nasenrachenraumes und seiner Nebenhöhlen, die in solchen Fällen niemals
zu unterlassen ist, ergibt, dass das Individuum, insbesondere das Kind,
an einer catarrhalischen oder gar eitrigen Entzündungen der jene Höhlen
auskleidenden Schleimhaut gelitten hat. Auch ist nicht zu übersehen,
dass in Folge entfernterer Entzündungen Meningitiden auftreten können
und dass insbesondere im Verlaufe croupöser Pneumonien nicht selten
Meningitis sich einzustellen pflegt (+Weichselbaum+).
[Sidenote: Pneumonie nach Kopfverletzgn.]
Hatte der Befund, den wir als nächste Todesursache erkannten, zu
seinem Zustandekommen längere Zeit erfordert und es entsteht die
Frage, ob derselbe mit einer früher erlittenen Misshandlung ursächlich
zusammenhängt oder in Folge natürlicher Erkrankung entstand, so ist
ausser auf die bisher besprochenen Momente besonders darauf Rücksicht
zu nehmen, wann die ersten Erscheinungen des tödtlich gewordenen
Leidens auftraten, ob diese mit der Misshandlung zusammenfielen oder
kurz nach diesen oder im Gegentheil erst lange darnach begannen; denn
es ist begreiflich, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein krankhafter
Zustand von einer Misshandlung herrühre, desto geringer wird, je
längere Zeit zwischen dieser und den ersten Symptomen einer Krankheit
verfloss, von je geringfügigeren unmittelbaren Folgen die Misshandlung
begleitet war, und je mehr Momente sich aus der Anamnese ergeben,
die erfahrungsgemäss auch ohne das Trauma (die Misshandlung) die
betreffende Erkrankung haben veranlassen können. Bei der Beurtheilung
solcher Processe ist die grösste Vorsicht zu beobachten und jedesmal
genau zu erwägen, ob nicht jener pathologische Process, den der
Obducent, weil er etwa in einem von dem verletzten entfernteren Organe
liegt, als einen spontanen aufzufassen geneigt ist, doch nur eine
durch die Verletzung veranlasste secundäre Erkrankung darstellt, und
wir möchten insbesondere davor warnen, pneumonische Erkrankungen ohne
Weiteres als primäre Processe zu nehmen, da es bekannt ist, dass gerade
die Lungen zu den Organen gehören, welche im Verlaufe von Verletzungen
am häufigsten zu erkranken pflegen, wie die hypostatischen Pneumonien,
die im Laufe schwerer Verletzungen sehr gewöhnlich sich einstellen,
ferner die lobulären (metastatischen) im Verlaufe pyämischer
Erkrankungen und jene Pneumonien lehren, welche nach verschiedenen, mit
vorübergehender oder länger dauernder Bewusstlosigkeit einhergehenden
Erkrankungen, wie namentlich nach Kopfverletzungen, beobachtet werden,
und die entweder einer neuroparalytischen Hyperämie in der Lunge oder
aspirirten Mundflüssigkeiten ihren Ursprung verdanken (+Traube+).
Es bedarf demnach einer sorgfältigen Erwägung aller Umstände, bevor man
eine Lungenaffection für eine primäre und mit der (Kopf-) Verletzung
nicht im Zusammenhange stehende erklärt. Was die typische croupöse
Pneumonie betrifft, so bemerkt +Rochs+ („Ueber Kopfverletzungen
mit Berücksichtigung ihres Zusammenhanges mit consecutiver
Lungenentzündung.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1887, pag. 12)
mit Recht, dass in einem solchen Falle der Nachweis eines ursächlichen
Zusammenhanges der Pneumonie mit einer Kopfverletzung überhaupt nicht
zu führen ist.
[Sidenote: Variola oder pyäm. Metastasen.]
Ein interessanter Fall hierhergehöriger Art war folgender: Der 13
Jahre alte J. T. soll 14 Tage vor seinem Tode von seinem Meister in
der Art misshandelt worden sein, dass ihn dieser emporhob und zu
Boden warf, ihn mit Füssen trat und mehrere Faustschläge gegen das
Hinterhaupt versetzte. Am anderen Tage klagte er über Kopfschmerzen
und Schmerzen im rechten Arm. Die linke Stirngegend soll geschwollen
und blau gewesen sein. Acht Tage darauf nahm die Anschwellung zu,
und es sollen am Kopfe und am übrigen Körper vereinzelte Pusteln
aufgetreten sein, zu welchen im Verlaufe von drei weiteren Tagen noch
andere hinzutraten. Am elften Tage verlor der Knabe die Besinnung und
verblieb in diesem Zustande bis zu seinem Tode. Ein Arzt war nicht
beigezogen worden. Bei der gerichtlichen Obduction ergab sich ein
stark abgemagerter Körper mit etwas icterischen Hautdecken. Am linken
Stirnhöcker eine thalergrosse geschwellte, oberflächlich vertrocknete
fluctuirende Stelle. Das linke Augenlid geschwellt und verschlossen.
Am ganzen Körper, besonders im Gesichte und an den Extremitäten,
30-50 zerstreute, erbsen- bis haselnussgrosse, schwappende, mit
einer theils gelblichweissen, theils fleischwasserähnlichen
Flüssigkeit gefüllte Pusteln, ohne Verhärtung der Umgebung. Nach
Einstich entleert sich fast die ganze Pustel und fällt zusammen. Als
weitere Metamorphosen dieser Pusteln sieht man besonders im Gesichte
rundliche, bis in’s Unterhautzellgewebe dringende, mit einer Kruste
bedeckte Geschwüre. Beim Einschnitt in die Stelle an der linken
Stirne entleert sich viel dicker, gelber Eiter und es zeigen sich
sämmtliche Weichtheile bis auf den Knochen mit Eiter durchsetzt.
Auf der Schädelhöhe (?) unterhalb der Beinhaut ein kreuzergrosser
Eiterherd. Schädeldach dünn, unverletzt. An der Innenfläche
desselben, in der Gegend des vorderen oberen Winkels des linken
Scheitelbeines, eine Schichte Eiter. Daselbst eine thalergrosse und
etwas weiter nach vorn eine kleinere, zernagte, mit dickem Eiter
belegte Stelle der Dura. Innere Meningen serös infiltrirt und ebenso
wie das Gehirn blass. Schädelbasis unverletzt.
In beiden Lungen mehrere gelbliche, bis haselnussgrosse keilförmige
Knoten; schlaffes Herz, Fettleber, sonst gewöhnliche Verhältnisse.
Auf Grundlage dieser Befunde gab der Eine der Obducenten sein
Gutachten dahin ab, dass J. T. zunächst an Pyämie in Folge von
Quetschung und Vereiterung der weichen Schädeldecken der linken
Stirngegend und consecutiver pyämischer Metastasen insbesondere der
Haut gestorben sei. Der zweite Gerichtsarzt erklärte die Hautpusteln
für Variola, die gerade in dem Orte herrschte und die Stelle an
der linken Stirne für einen durch Variola confluens entstandenen
brandigen Schorf und gutachtete, dass J. T. demnach an Variola und
consecutiver Pyämie eines natürlichen Todes, keineswegs aber in Folge
einer Misshandlung gestorben sei.
Das Gericht leitete den Fall an die Facultät, welche sich
folgendermassen äusserte: Aus dem Sectionsbefunde geht zweifellos
hervor, dass J. T. zunächst an eiteriger Entzündung der harten
Hirnhaut und Pyämie in Folge des Stirnabscesses gestorben sei und
dass dieser nicht durch Variola, sondern durch Quetschung veranlasst
worden ist.
Gegen die Annahme, dass die betreffenden Eruptionen Blattern
gewesen sind, spreche eine Reihe von Gründen. Zunächst die Angabe
der Mutter, dass die Pusteln nicht auf einmal, sondern im Laufe
von vier Tagen aufgetreten waren, während sich die Eruption der
Blattern ungleich rascher, keineswegs in so protrahirter Weise
vollzieht; ferner der Umstand, dass einzelne der Pusteln bereits
vertrocknet oder noch mit dünner Flüssigkeit gefüllt waren, da bei
Blattern, eben weil sie sämmtlich ziemlich gleichzeitig auftreten,
auch die weiteren Veränderungen fast gleichzeitig erfolgen; ebenen
die Angabe, dass grössere und kleinere und sogar bis haselnussgrosse
„Pusteln“ vorhanden waren, was der Erscheinungsweise der Blattern
nicht entspricht, endlich, dass einzelne weisslichen, andere
fleischwasserähnlichen Inhalt führten und nach dem Einstechen
zusammenfielen, was bei Blattern nicht vorkommt. Bedenkt man dazu,
dass Eruptionen, wie sie vor der Obduction an der Haut des J. T.
beobachtet wurden, thatsächlich, wenn auch nur ausnahmsweise, bei
Pyämischen auftreten, und dass exquisite sonstige Erscheinungen
der Pyämie bestanden, so ist nicht zu bezweifeln, dass auch die
von einem der Aerzte für Blattern gehaltenen Pusteln pyämische
Hautaffectionen gewesen sind. Erwägt man weiter, dass J. T. bereits
am Tage seiner Ankunft im Heimatsorte eine Schwellung und blaue
Verfärbung der linken Stirngegend, somit ausgesprochene Erscheinungen
einer Contusion dieser Stelle an sich trug, bereits damals über
Unwohlsein, sowie über Schmerzen im Kopf und rechten Arm klagte und
fortan liegen blieb, dass ferner der Ausbruch der Hautaffection mit
einer Vergrösserung der Schwellung über dem linken Auge zusammenfiel,
so ist es klar, dass die Entstehung des Abscesses der linken Stirne
und damit die umschriebene eitrige Entzündung der harten Hirnhaut,
sowie die consecutive Pyämie mit jener Contusion in ursächlichem
Zusammenhange stehen, und dass somit J. T. eines gewaltsamen Todes
gestorben ist. Die betreffende Contusion war aber offenbar der Effect
eines Stosses oder Schlages mit oder gegen einen stumpfen oder harten
Gegenstand, und sie konnte in der That, wie der Knabe angab, durch
12 Tage vor dem Tode erlittene Schläge gegen den Kopf oder beim
Niedergeworfenwerden und Aufschlagen mit dem Kopfe auf dem Boden
entstanden sein.
[Sidenote: Tuberculose nach Verletzung.]
Kann +Tuberculose+ durch Trauma entstehen? Diese Frage ergibt sich
in der gerichtsärztlichen Praxis immer häufiger und gehört nicht zu
den leicht zu beantwortenden. Bei der Obduction eines dreijährigen,
von seinem Stiefvater durch volle fünf Monate in allerrohester Weise
misshandelten Mädchens fand +Brand+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. XXXII, pag. 259) zahlreiche Contusionen und Hautabschürfungen
verschiedenen Datums, Miliartuberculose und einen bohnengrossen
Hirntuberkel. Da Eiter- oder Käseherde nicht vorhanden waren,
dagegen zahlreiche Verletzungen, durch welche Zerfall der Gewebe
und daher Gelegenheit zur Verschwemmung von Detritusmassen durch
den Kreislauf geboten war, wobei die schlechten hygienischen
Verhältnisse begünstigend mitgewirkt haben konnten, so nahm +Brand+
den ursächlichen Zusammenhang zwischen Miliartuberculose und
Misshandlung als möglich und sogar als naheliegend an, worauf
die Verurtheilung des Stiefvaters zum Tode erfolgte! +Lebert+
(1872 und 1877), +Brehmer+ („Die Aetiologie der chronischen
Lungenschwindsucht“, Berlin 1885) und +Mendelssohn+ („Traumatische
Phthise.“ Zeitschr. f. klin. Med. 1885, X, pag. 108). Neun von
Letzterem sehr eingehend analysirte Fälle sprechen sich für die
Möglichkeit des Auftretens von Phthise nach Contusionen und Traumen
der Lunge aus. +Kraske+ („Ueber tuberculöse Erkrankung von Wunden.“
Centralbl. f. Chir. 1885, Nr. 47) hat Fälle beobachtet, in denen die
tuberculöse Infection wahrscheinlich von Wunden aus erfolgte, und
seitdem sind so viele einschlägige Beobachtungen gemacht worden,
dass in dieser Beziehung kein Zweifel mehr bestehen kann. Besonders
wichtig sind in dieser Hinsicht die Mittheilungen von +Lehmann+
(Deutsche med. Wochenschr. 1886, Nr. 9) und +Elsenberg+ (Berl. klin.
Wochenschr. 1886, Nr. 35) über Inoculation der Tuberculose durch
Beschneidung und die von +Eiselsberg+ (Wiener med. Wochenschr.
1887, Nr. 53) über Impftuberculose, welcher einestheils eine reiche
Literatur des Gegenstandes bringt, andererseits vier eigene Fälle von
Einimpfung der Tuberculose durch unreine Instrumente (Nadel, Messer,
Injectionsspritze) und durch Wäsche eines Tuberculösen mittheilt.
(Siehe auch A. +Salis+, „Die Beziehungen der Hirntuberculose zu
Traumen des Schädels“, Bern 1888, Diss. und +Lacher+, Friedreich’s
Bl. 1891, pag. 321.) Neuere Arbeiten über den Gegenstand liegen
vor von E. +Grasser+ („Unfall als Ursache von Entzündungen und
Gewächsen.“ Wiener med. Presse, 1893, Nr. 42) und P. +Guder+ („Ueber
den Zusammenhang zwischen Trauma und Tuberculose.“ Vierteljahrschr.
f. gerichtl. Med. 1894, VIII, 1. und 2. Heft.) Am häufigsten scheint
Tuberculose nach Brustverletzungen, insbesondere nach penetrirenden
Brustwunden, sich zu entwickeln. Namentlich haben wir wiederholt
Personen obducirt, die mehrere Wochen oder Monate, nachdem sie eine
penetrirende Bruststichwunde erhielten, an tuberculöser Pleuritis und
ihren Consequenzen gestorben waren. Der causale Nexus der Pleuritis
als solcher mit der Stichverletzung ist in der Regel klar, weniger
aber der Grund, warum dieselbe den tuberculösen Charakter bekam.
War das Individuum zur Zeit der Verletzung entschieden tuberculös
oder fanden sich bei der Obduction tuberculöse Schwielen, alte,
käsige Herde in den Lungenspitzen oder verkäste Bronchialdrüsen
u. dergl., dann ist die Annahme begründet, dass die Pleuritis wegen
der bereits bestandenen Tuberculose oder wegen der Anlage hierzu,
somit wegen „eigenthümlicher Leibesbeschaffenheit des Verletzten“,
den tuberculösen Charakter erhalten hat. Ergeben sich solche Momente
nicht, dann kann trotzdem kaum behauptet werden, dass die Verletzung
„ihrer allgemeinen Natur nach“ die Tuberculose nach sich gezogen
habe, sondern es muss erklärt werden, dass die durch die Verletzung
bedingte Entzündung (die ja für sich allein auch keine absolut
nothwendige Folge solcher Wunden ist) wegen gewisser mehr zufälliger
und uns vorläufig unbekannter Verhältnisse den tuberculösen Charakter
angenommen hat. Theoretisch muss zugestanden werden, dass sowohl das
primäre Trauma, als die durch dasselbe herbeigeführten entzündlichen
und Schwächezustände ein die Einwanderung von Tuberkelbacillen
begünstigendes Moment bilden können, welche wieder dann leichter
als sonst geschehen kann, wenn der Verletzte mit Tuberculösen im
nahen Verkehre stand, weshalb von den erwähnten Beobachtern vor dem
Zusammenlegen (Lungen-) Verletzter mit Phthisikern dringend gewarnt
wird.
[Sidenote: Carcinom durch Trauma.]
Dass Traumen, insbesondere Stösse u. dergl., +Carcinome+ veranlassen
können, ist eine bei den Laien sehr verbreitete Anschauung.
Wissenschaftlich muss die Möglichkeit im Allgemeinen zugegeben
werden, doch dürfte es in concreten Fällen nur beim Zusammentreffen
besonderer Verhältnisse gestattet sein, sich über einen derartigen
causalen Zusammenhang positiv auszusprechen. In neuerer Zeit
hat +Cremer+ (Würzburger Diss. 1885) über ein Nierencarcinom
berichtet, welches seit dem Auffallen eines schweren Balkens auf
den Rücken sich entwickelt hatte und 10 Monate nach dem Trauma
zum Tode führte. Aus der Literatur citirt +Cremer+ 15 verwandte
Fälle. Auch ist es möglich, dass bei bereits bestehendem Krebs ein
Trauma die Gelegenheitsursache zur Verschleppung von Krebskeimen
(Krebsmetastasen) geben kann. Eine solche Möglichkeit bestand
vielleicht bei einem von uns secirten Maurer, der 6 Wochen nach
einem Sturz vom Gerüste unter paraplegischen Erscheinungen und
Decubitus gestorben war und bei dem sich ein ulcerirendes Carcinom
des Oesophagus und eine bohnengrosse Krebsmetastase im Conus des
Rückenmarkes ergab.
[Sidenote: Concurrirende Todesursachen.]
Wurden ausser der als tödtlich erkannten Verletzung noch eine
andere oder mehrere andere gefunden, so wird es nothwendig,
auch die Möglichkeit auszuschliessen, dass die zweite oder die
anderen Verletzungen den Tod herbeigeführt hätten, und die gleiche
Nothwendigkeit ergibt sich, wenn der Sectionsbefund oder die besonderen
Umstände des Falles noch auf andere, als im engeren Sinne traumatische
Gewaltthätigkeiten denken lassen, die den Verstorbenen getroffen und
für sich den Tod desselben herbeigeführt haben konnten.
Die Ausschliessung der letzterwähnten Todesarten erfordert die
sorgfältige Erwägung der Symptome, die diese zu erzeugen pflegen,
und da wir dieselben speciell behandeln werden, so müssen wir
in dieser Beziehung auf die betreffenden Capitel verweisen, in
welchen auch auf die Möglichkeit des gleichzeitigen Vorkommens von
Verletzungen Rücksicht genommen werden wird. Hier sei nur bemerkt,
dass das Zusammentreffen solcher +concurrirender Todesursachen+, wie
+Skrzeczka+[268] diese Eventualität richtig benennt, nicht blos beim
Selbstmord, obzwar bei diesem am häufigsten, sondern auch bei durch
Andere veranlasster Tödtung vorkommen kann.
[Sidenote: Zusammentreffen mehrerer Verletzungen.]
Wurden an einer Leiche mehrere Verletzungen gefunden, so kann sich
zunächst der Fall ergeben, dass keine der gefundenen Verletzungen
einzeln für sich im Stande war, den Tod herbeizuführen, dass aber
alle Verletzungen zusammengenommen diesen bewirkt haben. Auf diese
Möglichkeit bezieht sich der §. 143 des österr. St. G., ebenso der §.
236 des österr. St.-G.-Entwurfes und der §. 227 des deutschen St. G.
Wir haben bereits oben auf solche Fälle aufmerksam gemacht und erwähnt,
dass der Tod dann in der Regel durch Shok oder durch Summirung des
Blutverlustes erfolgt.
Es kann ferner geschehen, dass neben einer offenbar letal gewordenen
Verletzung eine oder mehrere andere leichte oder schwere, aber
keine für sich oder im Zusammenwirken mit anderen lebensgefährliche
Verletzungen gefunden werden. Auch solche Fälle bieten selten besondere
Schwierigkeiten.
Hier haben wir aber vorzugsweise den Fall im Auge, dass an einem und
demselben Individuum zwei oder mehrere Verletzungen sich finden,
von denen jede für sich allein im Stande gewesen sein konnte, den
Tod zu bewirken. Dies wäre eine „Concurrenz von Todesursachen“ im
strengsten Sinne des Wortes und sie hätte insbesondere dann eine
wichtige Bedeutung, wenn die betreffenden Verletzungen nicht alle von
+einem+ Thäter, sondern jede von einem anderen zugefügt worden
wäre.
In solchen Fällen handelt es sich in der Regel um die Beantwortung von
drei Fragen:
1. Welcher von den vorhandenen Verletzungen kommt ein tödtlicher
Charakter zu?
2. Wurden die als tödtlich erkannten Verletzungen gleichzeitig
zugefügt oder nicht und im letzteren Falle, welche früher?
3. Welche von denselben hat dem Leben zunächst ein Ende gemacht?
[Sidenote: Concurrenz „tödtlicher“ Verletzungen.]
Ad 1. Die Schwierigkeit bei der Beantwortung dieser Frage liegt
darin, dass wir nicht, wie bei einer einzigen Verletzung, zu erklären
haben, ob dieselbe im vorliegenden Falle den Tod thatsächlich bewirkt
habe, sondern ob von zwei oder mehreren vorgefundenen Verletzungen
jede einzelne den Tod bewirken +konnte+, beziehungsweise +musste+,
wodurch dem Gerichtsarzt nicht mehr, wie im erstgenannten Falle,
blos die Aufgabe zufällt, den Zusammenhang zwischen Ursache und
Wirkung, zwischen Verletzung und Tod zu constatiren, sondern wodurch
derselbe gezwungen wird, das Gebiet der Prognose zu betreten,
dessen Unsicherheit sich nirgends mehr fühlbar macht, als in der
gerichtsärztlichen Praxis.
Der §. 143 des österr. St. G. bestimmt, dass, wenn bei einer zwischen
mehreren Personen entstandenen Schlägerei Jemand getödtet wurde, Jeder,
der ihm +eine+ (nicht +die+) tödtliche Verletzung zugefügt hatte, des
Todtschlages schuldig sei. Aus dieser Fassung ergibt sich, dass das
Gesetz unter einer „tödtlichen Verletzung“ nicht blos, wie wir dies
bisher festgehalten haben, eine solche versteht, die den Tod wirklich
zur Folge hatte, sondern auch eine solche, die ihn eventuell zur Folge
gehabt hätte, und im gleichen Sinne äussert sich auch +Herbst+ (l. c.
308) bei der Commentirung des §. 143, „dass unter tödtlicher Verletzung
nur eine solche verstanden werden kann, welche für sich allein, nämlich
unabhängig von den übrigen Verletzungen und Misshandlungen, den Tod
herbeizuführen geeignet war“, indem er noch hinzufügt, dass, „wenn
eine Verletzung diese Beschaffenheit hatte, es weiter nicht darauf
ankommt, ob der Tod wirklich aus ihr oder aus einer von einem anderen
Thäter zugefügten, gleichfalls tödtlichen Verletzung hervorging“. Wie
unklar eine derartige Auffassung des Begriffes „tödtliche Verletzung“
ist, geht daraus hervor, dass einestheils bekanntlich häufig genug
Verletzungen letal enden können, die anfangs die günstigste Prognose
boten, anderseits aber selbst die lebensgefährlichsten Traumen heilen
können, und dass es eigentlich nur wenige Verletzungen gibt, die als
absolut letal bezeichnet werden müssen, woraus wieder folgt, dass die
Gefahr gegeben ist, dass eine Verletzung für eine tödtliche im Sinne
des genannten Paragraphes erklärt wird, die möglicher Weise, wenn das
Individuum nicht durch eine andere Verletzung getödtet worden wäre,
nicht mit dem Tode geendet hätte, sonach keine tödtliche gewesen wäre.
So richtig aber dieser Einwurf ist, so werden wir doch in solchen
Fällen mehr die Bedürfnisse der Strafrechtspflege, als die strengen
Forderungen der Wissenschaft berücksichtigen und, wenn an der Leiche
eine Concurrenz von Verletzungen sich ergibt, erklären, welche von
diesen erfahrungsgemäss in der Regel den Tod herbeizuführen pflegt und
daher auch im vorliegenden Falle geeignet war, für sich allein den Tod
zu bewirken, und in +diesem+ Sinne die Verletzung als eine tödtliche
bezeichnen.
Ad 2. Die Frage, in welcher Aufeinanderfolge zwei oder mehrere
tödtliche Verletzungen zugefügt wurden, erfordert zunächst die
Erwägung des Grades der vitalen Reactionserscheinungen, welche die
einzelnen Läsionen darbieten, da anzunehmen ist, dass im Allgemeinen
Verletzungen, die den intacten Organismus getroffen hatten,
verhältnissmässig in- und extensivere solche Erscheinungen zeigen
werden, als später zugefügte. Dies trifft jedoch nur zu unter sonst
gleichen Verhältnissen, denn da, wie wir oben erwähnt haben, die
vitalen Reactionserscheinungen frischer Wunden vorzugsweise durch die
Blutung aus der Wunde und in ihre Nachbarschaft veranlasst werden, so
kann es ganz wohl geschehen, dass eine entschieden später zugefügte
Verletzung ungleich stärkere Reactionssymptome zeigt, als eine früher
beigebrachte, wenn diese blutgefässarmes, jene aber blutreiches
Gewebe oder gar grössere Gefässe getroffen hatte. Am deutlichsten
wird die Differenz in den Reactionssymptomen sich kundgeben, wenn
eine zweite Verletzung in der Agone versetzt wurde, die durch eine
andere veranlasst worden war, während Verletzungen, die nur in einem
durch eine vorangegangene gesetzten Zustande von Bewusstlosigkeit
oder Betäubung zugefügt wurden, nicht blos intensive, sondern noch
intensivere Reactionserscheinungen bieten können als letztere, wie aus
dem unten anzugebenden Fall erhellt.
In manchen Fällen sind es andere Momente, die es gestatten, die
Aufeinanderfolge zweier oder mehrerer Verletzungen zu bestimmen. So bei
Selbstmördern der Umstand, ob der betreffende, nachdem er sich eine
bestimmte Verletzung beigebracht hatte, noch im Stande war, so viel
Kraft zu entwickeln, um sich eine zweite ebenfalls lebensgefährliche zu
versetzen, da es keinem Zweifel unterliegen kann, dass jene Verletzung
die letzte war, welche bei einem Selbstmörder augenblicklichen Tod oder
wenigstens sofortige Unfähigkeit zu weiteren Handlungen bewirken musste.
[Sidenote: Welche der Verletzungen war die zunächst tödtliche?]
Ad 3. Um zu unterscheiden, welche von den gefundenen Verletzungen
zunächst den Tod bewirkte, kommt zuerst zu erwägen, welche derselben
schneller den Tod herbeizuführen geeignet war als die andere. Die
allgemeine Erfahrung muss uns in dieser Beziehung leiten und es wird
sowohl die unmittelbare Lebenswichtigkeit des getroffenen Organes oder
Organtheiles als die In- und Extensität der Verletzung dieses Organes
und die sogenannte „nächste“ Todesursache, wie wir sie oben ausführlich
besprochen haben, in Betracht kommen.
Ist letztere, z. B. Verblutung, klar ausgesprochen und lässt sie
sich nur auf eine bestimmte Verletzung zurückführen, dann ist die
Beantwortung obiger Frage verhältnissmässig leicht.
Waren mehrere Verletzungen da, von denen jede geeignet war, Verblutung
zu bewirken, dann kann man allerdings häufig sagen, aus welcher
Wunde das Blut rascher und in grösseren Mengen ausströmen musste,
welche daher bei verschiedenen Menschen, aber unter sonst gleichen
Verhältnissen, früher den Tod herbeigeführt haben würde. Bei einem
und demselben Individuum aber lassen sich in der Regel zwei oder mehr
durch profuse Blutung sofort lebensgefährliche Verletzungen gar nicht
von einander trennen, da eine die andere beeinflusst, die Verblutung
schliesslich durch den gleichzeitigen Blutverlust aus allen Wunden und
eben deshalb früher erfolgt, als sie sonst nur aus einer erfolgt wäre.
Dagegen sind wir berechtigt, z. B. von zwei Wunden, von denen die eine
verhältnissmässig langsam, die andere äusserst schnell Verblutung
bewirken konnte, die letztere für die zunächst tödtliche zu erklären,
wenn wir nachzuweisen im Stande sind, dass letztere entweder früher
als die erstere oder gleichzeitig mit dieser oder unmittelbar darnach
gesetzt wurde, während wir dieselbe desto weniger als solche werden
begutachten können, je weiter bereits zur Zeit ihrer Zufügung die durch
die erste Wunde gesetzten Verblutungserscheinungen gediehen waren.
Bezüglich anderer Verletzungen wollen wir nur erwähnen, dass gerade
bei den wichtigsten und am häufigsten vorkommenden, nämlich bei
den Kopfverletzungen, die Beantwortung der Frage, ob und wann nach
einer bestimmten Verletzung der Tod eingetreten wäre, die grösste
Schwierigkeit bietet. Wir werden an einer anderen Stelle hören, wie
trügerisch sich die Prognose der Kopf- (Gehirn-) Verletzungen gestalten
kann, wie einestheils Verletzungen, die anfangs keine oder nur
unbedeutende und vorübergehende Symptome erzeugten, nachträglich einen
letalen Ausgang nehmen können und dass andererseits gar nicht selten
Hirnverletzungen heilen, die in der überwiegenden Mehrzahl ähnlicher
Fälle den Tod nach sich zu ziehen pflegen. Da wir sonach häufig gar
nicht mit absoluter Bestimmtheit sagen können, ob eine bestimmte
Kopfverletzung wirklich und nothwendig den Tod nach sich gezogen hätte,
so sind wir noch weniger in der Lage, zu erklären, binnen welcher Zeit
der Tod erfolgt wäre. Es wird also wieder nichts Anderes erübrigen, als
eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose zu stellen und zu diesem Behufe die
Ausdehnung und Art der Verletzung und die Beschaffenheit, respective
die Lebenswichtigkeit der getroffenen Hirntheile zu erwägen. In
ersterer Beziehung wissen wir, dass ausgebreitete Hirnläsionen viel
rascher zum Tode führen, als umschriebene Verletzungen, sowie dass
ausser der unmittelbaren Zusammenhangstrennung eines Hirntheiles
auch der durch gleichzeitige Gefässtrennung erfolgende Blutaustritt,
insbesondere aber bei vielen Verletzungen die mit der Zufügung der
eigentlichen Verletzung verbundene Hirnerschütterung einen wesentlichen
Einfluss auf den Verlauf einer Kopfverletzung nehmen, was umsomehr zu
beachten ist, als die Commotio cerebri keine anatomischen Veränderungen
erzeugt und nur aus der Beschaffenheit der sonstigen Verletzung und
den übrigen Umständen des Falles erkannt werden kann. In der zweiten
Beziehung ist es wieder bekannt, dass die centralen Hirntheile im
Allgemeinen eine viel grössere Wichtigkeit für das animale Leben
besitzen, als die peripheren und dass daher die Verletzung ersterer
ungleich lebensgefährlicher ist, also auch schneller zum Tode führt,
als jene anderer Hirntheile. Am schnellsten tödten bekanntlich
Verletzungen der Brücke und des verlängerten Marks. Doch haben wir
einen Mann obducirt, der einen Messerstich hinter das rechte Ohr
erhalten hatte, welcher entlang der rechten Felsenbeinpyramide bis
in’s Centrum der rechten Hälfte der Varolsbrücke gedrungen war, der
zwar sofort bewusstlos zusammenstürzte, jedoch erst nach 3½ Tagen
starb. Hätte dieser Mann gleichzeitig oder früher oder später eine
andere tödtliche Verletzung erlitten und wäre sofort gestorben, so
hätte man leicht geneigt sein können, den Stich in den Pons als die
nächste Todesursache zu erklären, während die andere Verletzung den Tod
bewirkt haben konnte. Dass spontane Hämorrhagien im Pons nicht immer
sofort tödten, haben wir wiederholt gesehen und erst unlängst eine Frau
obducirt, die, trotzdem die Varolsbrücke bis auf eine schmale corticale
Schichte ganz zerstört war, dennoch die Hämorrhagie noch 12 Stunden
überlebt hatte.
[Sidenote: Concurrenz mehrerer Todesursachen.]
Wenn wir zu dem Gesagten noch erwägen, dass bezüglich der
Schnelligkeit, mit welcher der Tod eintritt, auch verschiedene
individuelle Verhältnisse eine Rolle spielen, insbesondere das Alter
und der Gesundheitszustand, so bedarf es keiner weiteren Ausführung,
um zu beweisen, wie sehr es nöthig ist, dass der Gerichtsarzt, wenn
eine Concurrenz tödtlicher Verletzungen sich ergibt, alle Seiten des
concreten Falles in Betracht ziehe, bevor er ein Urtheil dahin abgibt,
dass gerade nur die eine der gefundenen Verletzungen den Tod veranlasst
habe.
Als Beispiel einer Concurrenz mehrerer Todesursachen möge folgender
unserer Fälle dienen:
Im October 1876 wurde in Wien ein Geldbriefträger ermordet und
ausgeraubt. Bei der Obduction fand sich eine Schusswunde in der
linken Schläfegegend, von einem Revolver kleinsten Calibers
herrührend, wie aus der gleich hinter der Einschussöffnung im
Knochen, in der Hirnrinde steckend gefundenen kleinen Spitzkugel
geschlossen werden konnte. Die Verletzung des Gehirns war sonach
keine ausgedehnte, doch war eine ziemlich starke Blutschichte
zwischen den Meningen in der Umgegend, sowie an der Schädelbasis
ausgetreten. Ferner fand sich eine klaffende, bis auf die Wirbelsäule
durchdringende Schnittwunde am Vorderhalse, die zwischen Kehlkopf und
Zungenbein eindrang, sämmtliche grossen Halsgefässe durchtrennt hatte
und rechts bis in den Canalis arter. vertebralis eingedrungen war.
Ausserdem eine deutliche Strangfurche unterhalb dieser Schnittwunde,
welche die linke Hälfte des Halses umgreifend nach rechts und
aufwärts aufsteigend sich einerseits am Kehlkopf in den rechten Theil
der Halsschnittwunde, andererseits gerade in der Mittellinie des
Nackens im behaarten Theile des Kopfes verlor.
Wir erklärten in unserem Gutachten, dass sämmtliche Verletzungen
während des Lebens entstanden sind, dass jedoch der Tod zunächst
in Folge der Durchschneidung des Halses durch Verblutung erfolgte,
die bei der grossen Anämie der Leiche und da der Ermordete in einer
grossen Blutlache gefunden worden war, keinem Zweifel unterlag.
Ferner setzten wir auseinander, dass die Strangfurche offenbar
vor Zufügung der Halswunde entstand, da, nachdem letztere erzeugt
war, die um den Hals gelegte Schlinge keinen Halt mehr an der
Haut des letzteren gefunden hätte. Bezüglich der Schussverletzung
erklärten wir, dass sie zwar im höchsten Grade lebensgefährlich
war, jedoch keineswegs sofort und nothwendig den Tod, wohl aber
zunächst Bewusstlosigkeit herbeigeführt haben musste, und dass
offenbar die Schnittwunde am Halse, erst als der Ermordete in
Folge der Schussverletzung zusammengestürzt war, zugefügt wurde,
da nicht abzusehen sei, warum der Thäter, nachdem er seinem Opfer
eine so ausgedehnte und für jeden Laien als nothwendig und sofort
tödtlich zu erkennende Schnittwunde am Halse zugefügt hatte, in ganz
überflüssiger Weise diesem noch einen Schuss in den Kopf beigebracht
haben sollte, der ihn durch den Knall zu verrathen im Stande war,
während es sich gut denken lässt, warum der Thäter die Reihe der
gegen den Ermordeten ausgeübten Gewaltacte mit einem Schuss gegen
den Kopf eingeleitet haben mochte. In der That gestand der bald
darauf eruirte Mörder, dass er den Briefträger zuerst mit einem
Taschenrevolver niedergeschossen, dann ihn mit der Schnur gedrosselt,
und als derselbe immer noch Lebenszeichen von sich gab, ihm endlich
mit einem Jagdmesser den Hals durchschnitten habe.
3. +Entstehungsursache der tödtlichen Verletzung.+
+Oesterr.+ St. P. O. §. 129: „Werden Verletzungen wahrgenommen, so
ist insbesondere zu erörtern: 1. ob dieselben dem Verstorbenen durch
die Handlung eines Anderen zugefügt wurden -- -- -- --.“
+Preuss. Regulativ+, §. 29: „Auf jeden Fall ist das Gutachten
zuerst auf die Todesursache -- nächstdem aber auf die Frage der
verbrecherischen Veranlassung zu richten.“
Da wir bereits oben über die Punkte gesprochen haben, aus welchen
sich erkennen lässt, mit welchem Werkzeuge und auf welche Art eine
Verletzung beigebracht wurde, und da wir noch bei der Behandlung
der Verletzungen nach ihrem Sitze Gelegenheit haben werden, weitere
Anhaltspunkte in dieser Richtung zu geben, so wollen wir uns hier blos
darauf beschränken, den Selbstmord und seine Unterscheidung von anderen
analogen Tödtungen zu besprechen, und ferner auf jene Untersuchungen
einzugehen, welche geeignet sind, von ärztlicher Seite theils zur
Eruirung des Thäters, theils zur Aufklärung besonderer Umstände des
Falles beizutragen.
Der Selbstmord.
Wie häufig der Selbstmord geübt wird, ergibt die tägliche Erfahrung,
und die Statistik lehrt, dass die Zahl der Selbstentleibungen in
beständiger Zunahme begriffen ist, deren Grund nicht blos in dem
Steigen der Population, sondern auch in anderen Verhältnissen gesucht
werden muss. So kamen in den cisleithanischen Ländern Oesterreichs
im Jahre 1871 in der Civilbevölkerung 1550, im Jahre 1872 1677 und
im Jahre 1874 bereits 2151 Selbstmorde vor; in dem dichtbevölkerten
Böhmen 1871 550, 1872 620 und 1874 767. In Wien allein sind zufolge
den Physikatsberichten in den einzelnen Jahren 1870-1878 99, 132,
141, 152, 214, 205, 210, 198 und 193 Selbstmorde vorgekommen, in den
Jahren 1881-1884 231, 224, 220 und 248, und in den Jahren 1888 und
1889 345 und 366. Die gleiche Erscheinung zeigt sich auch in anderen
Ländern. So kamen in Bayern[269] in der 7jährigen Periode von 1857-1863
80, in jener von 1864-1870 bereits 90 Selbstmorde auf je eine Million
Einwohner; ebenso kamen auf je eine Million Einwohner in Preussen
1820-1834 88, 1835-1841 103, 1849-1852 108 und 1869 134; in Frankreich
1830-1832 61, 1841-1842 81, 1852 103, 1858 110 Selbstmorde.
Diese steigende Häufigkeit der Selbstmorde verdient auch in
gerichtsärztlicher Beziehung Beachtung bei der Beurtheilung gewaltsamer
Todesarten, umsomehr, als Fälle, in denen die Frage gestellt wird,
ob Selbstmord vorliegt oder gewaltsame Tödtung durch einen Dritten,
verhältnissmässig häufig vorzukommen pflegen.
[Sidenote: Geschlecht.]
Die Statistik aller Länder zeigt unter den Selbstmördern eine
auffallende Prävalenz des +männlichen+ Geschlechtes. So waren
von den im Jahre 1871 in Oesterreich constatirten Selbstmördern
1291 männlichen und blos 269 weiblichen Geschlechtes; von jenen im
Jahre 1872 1365 männlichen, 312 weiblichen Geschlechtes und auch im
Jahre 1874 wurden 1802 Männer und nur 349 Weiber gezählt. In Böhmen
ergab das Jahr 1871 461 männliche, 89 weibliche, das Jahr 1872 490
männliche und 130 weibliche, das Jahr 1874 639 männliche und 128
weibliche Selbstmörder, und in Wien betrug der Antheil des männlichen
Geschlechtes an der Summe der Selbstmorde im Jahre 1871 70·5, 1872
72·4, 1873 68·4, 1874 76·6 und 1875 80 Procent.
Die Ursache dieser Erscheinung liegt vorzugsweise in der grösseren
körperlichen und geistigen Schwäche des Weibes, in der geringeren
Energie desselben, sowie in der grösseren Sanftmuth und Duldsamkeit, in
der grösseren Scheu vor Schmerz und Begehung gewaltsamer Handlungen,
aber auch in der meist secundären Rolle, die das Weib im Kampfe
um’s Dasein spielt und die bewirkt, dass im Ganzen jene Momente
weniger intensiv auf dasselbe einwirken, deren Anstürmen so häufig
das männliche Individuum bewegt, seinem Dasein ein Ende zu machen,
Umstände, die den Grund bilden, warum auch in der Verbrecherstatistik
das Percentualverhältniss der Männer und Weiber in analoger Weise sich
gestaltet.
[Sidenote: Selbstmord in den verschiedenen Lebensaltern.]
Eine Uebersicht über die Zahl der Selbstmorde in den einzelnen
+Lebensaltern+ geben folgende Zusammenstellungen, die wir einerseits
dem bekannten Werke +Quetelet+’s („Physique sociale de l’homme.“ 1869,
Tom. II), andererseits der oben citirten Arbeit +Majer+’s über die
Selbstmorde in Bayern entnehmen, wobei ersterer eine zehnjährige,
letzterer eine vierzehnjährige Beobachtungsperiode zu Grunde gelegt ist.
+=============================+==============================+
| +Quetelet+ | +Majer+ |
+---------------+------+------+----------------+------+------+
| |Männer|Weiber| |Männer|Weiber|
+---------------+------+------+----------------+------+------+
|Unter 16 Jahren| 147 | 45| Unter 20 Jahren| 236 | 54 |
|von 16-21 „ | 862 | 469| von 20-30 „ | 851 | 245 |
|„ 21-30 „ | 3.208| 1.121| „ 30-40 „ | 807 | 204 |
|„ 30-40 „ | 5.729| 1.045| „ 40-50 „ | 923 | 200 |
|„ 40-50 „ | 4.055| 1.270| „ 50-60 „ | 911 | 214 |
|„ 50-60 „ | 3.237| 1.156| „ 60-70 „ | 631 | 103 |
|„ 60-70 „ | 2.473| 889| „ 70-80 „ | 184 | 47 |
|„ 70-80 „ | 1.287| 422| „ 80 und | 38 | 6 |
|„ 80 u. s. w. | 278| 68| darüber | | |
| ===+======+======+ ===+======+======+
| Summe |19.276| 6.485| Summe |4.581 | 1.073|
Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich, dass die meisten Selbstmorde
in die sogenannten besten Jahre fallen, und dass namentlich die Periode
zwischen dem 40. und 50. Jahre die höchste Zahl der Selbstmorde
aufweist, also die Zeit, in welcher zwar die Höhe des Lebens erreicht
ist, aber auch die Sorgen um die eigene und der Familie Existenz
am meisten sich zu häufen pflegen, und häufig auch eine gewisse
Ernüchterung sich geltend macht, die das Erreichte und das noch zu
Erwartende nicht im Verhältniss erscheinen lässt zu den Hoffnungen, die
man in jüngeren Jahren hegte, und zu der Mühe und Arbeit, die darauf
verwendet wurde.
Die grosse Zahl der Selbstmorde bei jungen Leuten resultirt aus der
Prävalenz der Leidenschaften und Triebe, insbesondere aus sexuellen
Einflüssen und aus der gesteigerten Genusssucht, also aus Momenten, die
auch erklären, warum in grossen Städten gerade dieses Alter die grösste
Menge der Selbstmörder liefert, weshalb sich hier das Altersverhältniss
der Selbstmorde etwas anders gestaltet als im Grossen und Ganzen. So
entfiel bei in Wien in den Jahren 1854-1878 vorgekommenen Selbstmorden
das höchste Antheilsprocent (11·9) auf die Altersperiode von 20-25
Jahren; hierauf folgt in absteigender Ordnung die Altersgruppe von
25-30 Jahren (11·5), an welche sich jene von 15-20 Jahren (8·8)
anschliesst. (S. +Sedlaczek+, „Die Selbstmorde in Wien in den
Jahren 1854-1878“. Wiener statist. Monatschrift. 1879, IX u. X.)
Die Zeit vor erreichter Pubertät schliesst den Selbstmord keineswegs
aus, es gibt vielmehr der bisher bekannten Selbstmorde von Kindern eine
verhältnissmässig grosse Zahl.
[Sidenote: Kinder.]
Der jüngste Selbstmörder, den wir zu obduciren Gelegenheit
hatten, war ein 12jähriger Knabe, der sich eines verunglückten
Schulzeugnisses wegen erschossen hatte; in einem anderen Falle
hatte sich ein 13jähriger, wahrscheinlich geisteskranker Gymnasiast
vom zweiten Stockwerk herabgestürzt, und in einem dritten hatte
die 13jährige Tochter eines Officiers sich erschossen -- wegen
unglücklicher Liebe.
In Wien betrug die Zahl der Selbstmörder unter 15 Jahren in den
letzten 25 Jahren 1·8% (+Sedlaczek+). Auch macht sich eine Zunahme
solcher Fälle bemerkbar, da im Jahre 1889 3 Knaben von 14 Jahren sich
erhenkten und 1 Knabe von 7 Jahren (!) und 1 Mädchen von 14 Jahren
sich durch Sturz aus dem Fenster das Leben nahmen. Im Mai 1894 kam
sogar ein Doppelselbstmord zweier Kinder, eines Mädchens von 12 und
eines Knaben von 9 Jahren, vor, welche sich schlechter Schulausweise
wegen in’s Wasser stürzten. Die Kinder gingen entlang des Donaucanals
mit einer anderen 10jährigen Kameradin. Plötzlich entledigten sich
die zwei Erstgenannten der Kopfbedeckungen und das Mädchen auch der
Schuhe; letzteres drückte der Kameradin einen Zettel in die Hand und
Beide liefen gegen den Canal, in den sie sich hineinstürzten und
nicht mehr zum Vorschein kamen. Der Zettel enthielt die Worte: „Liebe
Emilie! Ich danke dir für die Begleitung. Sage der Mutter, dass es
wahr ist. Bitte meine Mutter, dass sie mir verzeihe. Anna.“ Im Hute
des Mädchens fand sich ein zweiter Zettel, lautend: „Wir haben sich
zusammen in die Donau gestürzt. Wohnort Langegasse 39, 1. Stock, Thür
8. Bitte meiner armen Mutter das zu geben.“ (!)
Nach +Durand+-+Fardel+ („Ueber den Selbstmord bei Kindern.“ Annal.
méd. psych. Janv. 1855) fielen von 25.760 in Frankreich vorgekommenen
Selbstmorden 192 in das Alter vor das 16. Jahr. Von diesen hat D.
26 selbst untersucht. Darunter war ein Kind von 5 Jahren, 2 von 9,
2 von 10, 5 von 11, 7 von 12, 7 von 13 und 2 von 14 Jahren. Von
diesen Kindern hatten sich 10 ertränkt, 10 erhängt und 2 erschossen.
Alle Mädchen hatten sich ertränkt. In der Regel sind es die
geringfügigsten Ursachen, die solche Kinder zum Selbstmord bewegen,
so schlechte Schulzeugnisse, Furcht vor Strafe u. s. w. In dem einen
Falle +Durand+-+Fardel+’s tödtete sich ein 9jähriger Knabe aus Kummer
über den Verlust eines Vogels. Es ist in solchen Fällen nicht die
allgemeine Bedeutung der Selbstmordursache zu würdigen, sondern jene,
die dieselbe für das betreffende Kind hatte und zu berücksichtigen,
dass solche in den Augen Erwachsener geringfügige Ursachen Kinder
ganz wohl zu raschen Thaten bewegen können, besonders dann, wenn
diese, wie sich auch in den meisten derartigen Fällen constatiren
liess, schon von Haus aus reizbaren Charakters oder sonst originär
abnorm gewesen sind.
Während die Zahl der Selbstmorde von der Pubertät bis zum 50. Jahre
rasch ansteigt, nimmt sie gegen das hohe Alter zu noch rascher ab.
Dies zeigt sich bei beiden Geschlechtern. Die Abnahme ist jedoch
keine absolute und erklärt sich zunächst daraus, dass im Alter
die Zahl der Individuen bedeutend abgenommen hat. Wenn man aber
das Procentverhältniss der Selbstmorde unter den Individuen der
+einzelnen+ Altersclassen berechnet, so kann man constatiren,
dass das Verhältniss der Selbstmorde zu der Zahl der Lebenden jeder
Altersclasse mit dem Alter beständig zunimmt bis zum 70., ja 80. Jahre,
wodurch die frühere Ansicht, dass der Selbstmord mit dem Alter ab- und
die Liebe zum Leben zunehme, ihre Widerlegung findet.[270]
Von 100.000 Lebenden desselben Alters sind in Preussen durch Selbstmord
gestorben (+Morselli+, l. c. pag. 208):
+==================+============+============+============+
| | 1876 | 1877 | 1878 |
| +------+-----+------+-----+------+-----+
| Im Alter von |männ- |weib-|männ- |weib-|männ- |weib-|
| |liche |liche|liche |liche|liche |liche|
| +------+-----+------+-----+------+-----+
| | Personen | Personen | Personen |
+==================+=====+======+======+=====+======+=====+
|unter 15 Jahren | 3 | 0·2 | 0·7 | 0·3 | 0·8 | 0·3 |
|über 15-20 „ | 13 | 5 | 15 | 7 | 16 | 7 |
| „ 20-25 „ | 29 | 9 | 32 | 8 | 31 | 9 |
| „ 25-30 „ | 23 | 6 | 28 | 6 | 31 | 7 |
| „ 30-40 „ | 33 | 6 | 32 | 7 | 37 | 8 |
| „ 40-50 „ | 46 | 10 | 50 | 10 | 55 | 10 |
| „ 50-60 „ | 58 | 12 | 75 | 9 | 73 | 13 |
| „ 60-70 „ | 72 | 13 | 75 | 14 | 82 | 13 |
| „ 70-80 „ | 72 | 13 | 67 | 13 | 75 | 19 |
| „ 80 u. darüber| 66 | 14 | 46 | 12 | 65 | 6 |
[Sidenote: Wahl der Todesart.]
Was die +Wahl der Todesart+ anbelangt, so lehrt die Erfahrung, dass
gewisse Selbstmordarten gegenüber anderen ungemein prävaliren. Dies
ergibt sich z. B. aus der Selbstmordstatistik für das Königreich
Preussen pro 1869.[271]
+=================+======+======+======+====================+
| |Männer|Weiber|Zusam-| Procentverhältnis |
| +Todesart+ | | |men +------+------+------+
| | | | |Männer|Weiber|Zusam-|
| | | | | | |men |
+=================+======+======+======+======+======+======+
|Erhängen |1.641 | 266 |1.907 | 63·8 | 43·3 | 59·8 |
|Ertränken | 425 | 262 | 687 | 16·5 | 42·7 | 21·6 |
|Erschiessen | 320 | 1 | 321 | 12·4 | 0·1 | 10·1 |
|Schnitt und Stich| 89 | 22 | 111 | 3·5 | 3·6 | 3·5 |
|Vergiften | 61 | 52 | 113 | 2·4 | 8·5 | 3·5 |
|Andere Mittel | 37 | 11 | 48 | 1·4 | 1·8 | 1·5 |
| --------+------+------+------+------+------+------+
| Summe | 2.573| 614 | 3.187| 100 | 100 | 100 |
Von den im Jahre 1871 in Frankreich constatirten Selbstmorden[272]
geschahen 1991 durch Erhängen, 1278 durch Ertränken, 591 durch
Erschiessen, 215 durch Kohlendunst, 152 durch Schnitt und Stich, 143
durch Herabstürzen von Monumenten und anderen Höhen, 70 durch Gift,
50 durch diverse andere Mittel. Von den 1871 in Böhmen vorgekommenen
551 Selbstmördern haben sich 316 erhängt, 107 erschossen, 49 ertränkt,
53 vergiftet, 3 erstochen, 14 haben sich durch Halsschnitt, 3 durch
Aderöffnen, 3 durch Ueberfahren auf der Eisenbahn, 1 durch Ersticken
und 2 durch Sprung in einen Schacht das Leben genommen.
[Sidenote: Statistik der Selbstmordarten.]
In Wien entfielen nach +Sedlaczek+ von der Summe der Selbstmorde
in Procenten:
+==========+======+=====+=======+==========+=======+======+=======+
|Im Quin- |Er- | Gift| Er- | Schnitt- | Herab-| Er- | Andere|
|quennium |hängen| | schie-| u. Stich-| stür- | trin-| Mittel|
| | | | ssen | wunden | zen | ken | |
+----------+------+-----+-------+----------+-------+------+-------+
|1854-1858 | 48·0 | 14·2| 6·7 | 16·1 | 9·2 | 5·0 | 0·8 |
|1859-1863 | 43·6 | 16·6| 9·3 | 13·3 | 9·5 | 5·2 | 2·5 |
|1864-1868 | 35·2 | 30·1| 9·9 | 7·8 | 7·8 | 7·8 | 1·4 |
|1869-1873 | 29·2 | 31·2| 16·3 | 8·3 | 6·8 | 7·1 | 1·1 |
|1874-1878 | 38·0 | 26·9| 20·2 | 7·0 | 5·7 | 6·6 | 0·6 |
Bezüglich des Geschlechtes entfielen von der Gesammtsumme:
von Männern von Frauen
| |
+-----------+---------+
|
in Procenten
Auf den Selbstmord durch Erhängen 40·5 20·4
„ „ „ „ Gift 18·8 47·5
„ „ „ „ Erschiessen 17·9 3·2
„ „ „ „ Schnitt- u. Stichwunden 9·9 7·3
„ „ „ „ Herabstürzen 5·4 13·1
„ „ „ „ Ertränken 6·3 7·3
„ „ „ auf andere Weise 1·2 1·2
Was andere grosse Städte betrifft, so tödteten sich Personen in
+===================+==========+===========+===========+===========+
| |Berlin | Prag | London | Paris |
| |(1869-1872|(1874-1876)|(1860-1878)|(1874-1878)|
| | und | | | |
| |1874-1876)| | | |
+===================+==========+===========+===========+===========+
|Durch Erhängen | 625 | 45 | 1460 | 1016 |
| „ Ertränken | 248 | 27 | 1001 | 723 |
| „ Erschiessen | 230 | 43 | 311 | 334 |
| „ Gift | 217 | 39 | 908 | 149 |
| „ Sturz von | 45 | 5 | ? | 217 |
| einer Höhe | 45 | 5 | ? | 217 |
| „ Schnitt- u. | 40 | 9 | 1141 | 101 |
| Stichwunden | 45 | 5 | ? | 217 |
|Auf andere Weise | 51[273]| 1 | 449 | 845[274]|
Es ergibt sich aus vorstehenden statistischen Daten, dass überall
das Erhängen die häufigste Selbstmordart bildet, dann aber im
Allgemeinen das Ertränken und das Erschiessen folgt. Ferner ergibt
sich, dass Weiber am häufigsten zum Ertränken, in grossen Städten zum
Gift und dann zum Erhängen greifen, während Selbstmordarten durch
Verletzungen, insbesondere durch Erschiessen, verhältnissmässig selten
von ihnen gewählt werden. Die Häufigkeit des Erhängens und Ertränkens
erklärt sich daraus, dass diese Selbstmordarten keiner besonderen
Vorbereitungen und Hilfsmittel bedürfen, leicht auszuführen sind,
den Tod sicher und schnell bewirken und auch als schmerzlos gelten.
Bezüglich anderer Selbstmordarten machen sich verschiedene Einflüsse
bemerkbar. So sehen wir den Selbstmord durch Erschiessen besonders
bei Individuen vorkommen, die mit Feuerwaffen umzugehen verstehen,
und denen sie leicht zur Hand sind. Dies beweist insbesondere
die Selbstmordstatistik beim Militär. So weist der statistische
Jahresbericht über die sanitären Verhältnisse des österreichischen
Heeres vom Jahre 1869 229 Selbstmorde auf, von denen 173 durch
Erschiessen, 44 durch Erhängen, 8 durch Ertränken, 2 durch Sturz
von einer Höhe, 1 durch Vergiftung und 1 durch Ueberfahren auf der
Eisenbahn geschahen. Die Häufigkeit des Selbstmordes durch Vergiftung
in grossen Städten, wie namentlich in Wien, erklärt sich ungezwungen
daraus, dass daselbst Gift ungleich leichter zu haben ist als auf dem
Lande oder in kleineren Städten. Dass auch andere locale Verhältnisse
verschiedener Orte und ganzer Länder sich in dieser Beziehung
geltend machen, ergibt sich u. A. daraus, dass der Selbstmord durch
Kohlenoxydgas (Kohlendunst) in Frankreich stark vertreten ist, während
er in Deutschland (Berlin) nur selten, in Oesterreich, speciell in
Wien, fast gar nicht vorkommt. Auch die Häufigkeit des Selbstmordes
durch Sichherabstürzen von Monumenten und anderen Höhen bei den
Franzosen mag in dem Charakter des Volkes liegen, welcher bewirkt,
dass auch der Selbstmord mit mehr Ostentation ausgeübt wird, als dies
anderwärts zu geschehen pflegt.
[Sidenote: Nachahmung.]
Ebenso ist auch der Einfluss des Beispieles unverkennbar. Es lässt
sich dieser nicht blos an dem bereits im Alterthum beobachteten und
auch gegenwärtig zeitweise vorkommenden epidemieartigen Auftreten der
Selbstmorde erkennen, sondern auch daraus, dass auch bezüglich der Wahl
der Todesart und sogar bezüglich der Wahl der Stelle, wo der Selbstmord
ausgeführt wird[275] und bei Vergiftungen auch in der Wahl des Giftes
sich die Nachahmung bemerkbar macht. So lehrt die Erfahrung, dass die
Selbstmörder sich nicht selten von bestimmten Brücken in’s Wasser
stürzen, und sogar dieselben Stellen der Brücke wählen, die bereits
Andere vor ihnen benützt hatten, und jede grosse Stadt hat bestimmte
Orte, Parke, Wälder etc., wo häufiger als anderswo Selbstmorde begangen
werden.
[Sidenote: Gemeinschaftlicher Selbstmord.]
Psychologisch interessant ist der +gemeinschaftliche Selbstmord+.
Verhältnissmässig am häufigsten ist der Doppelselbstmord von
Liebespaaren. Seltener ist der von Ehepaaren, welcher meist durch
Nothlage bedingt ist und mitunter mit Selbstmord, häufiger mit
Tödtung der Kinder sich combinirt. Noch seltener ist der von
Geschwistern. Doch kam im Mai 1894 ein vierfacher solcher Selbstmord
vor, indem sich ein bekannter Maler mit 3 Schwestern durch Cyankalium
vergiftete. Gemeinschaftlicher Selbstmord von Individuen gleichen
Geschlechtes gehört zu den seltensten Vorkommnissen und betrifft
dann meistens weibliche und nur ausnahmsweise männliche Personen. Vor
einigen Jahren nahmen sich in Wien 4 in Noth gerathene Frauen aus
guter Gesellschaft (Mutter und 3 erwachsene Töchter) gleichzeitig
durch Erschiessen das Leben und vor Kurzem tödteten sich zwei
Freundinnen ebenfalls durch Revolverschüsse wegen unglücklicher
Liebe. Ende 1884 tödteten sich in Wien zwei fallite Kaufleute
(Brüder) in ihrem Geschäftslocal durch Erschiessen. Beide hatten
sich mit einem Revolver in die rechte Schläfe geschossen und man
hatte nur +einen+ Schuss gehört, so dass die That offenbar auf ein
verabredetes Zeichen geschah. Die forensische Bedeutung solcher auf
eine Art „psychischer Infection“ zurückzuführender Fälle liegt,
abgesehen von dem Umstand, dass mitunter die Priorität des Todes
in Frage kommt (s. pag. 377), vorzugsweise darin, dass gegen den
etwa überlebenden Theil die Anklage wegen Mord erhoben werden
kann, was auch dann geschieht, wenn die zweite Person mit ihrer
vollen Einwilligung von der überlebenden getödtet worden ist. Am
häufigsten kommt Gift, Erschiessen und Ertränken in Anwendung,
seltener andere Tödtungsarten. Vor einiger Zeit kam hier ein durch
Halsabschneiden begangener Selbstmordversuch eines Liebespaares vor
die Jury. Der 24jährige Mann hatte in einem Walde seiner Geliebten
mit deren Einwilligung den Hals durchschnitten und dann sich selbst
eine gleiche Wunde beigebracht. Beide waren noch im Stande, sich
nach Hause zu schleppen und genasen nach längerer Krankheit. Der
Mann wurde unter Berücksichtigung der mildernden Umstände nur zu
einjährigem Kerker verurtheilt.
[Sidenote: Ursachen des Selbstmordes.]
Die +nächsten Ursachen+ des Selbstmordes sind sehr verschiedenartig,
und es ist, wie wir schon bezüglich der Kinder angedeutet haben,
ihre Bedeutung nicht vom allgemeinen Standpunkte aus zu beurtheilen,
sondern mit Rücksicht auf die concreten Verhältnisse des betreffenden
Individuums.
Zweifellos begeht eine grosse Zahl der Selbstmörder die
Selbstentleibung im geistesgestörten Zustande, obgleich es irrig
wäre, wenn man, wie dies insbesondere englische Psychiater thaten,
jeden Selbstmord auf Geistesstörung zurückführen wollte. Der Natur
der Sache zufolge sind es besonders melancholische Zustände, die mit
Selbstmordsdrang einhergehen, Zustände, die schon in ihren ersten
Stadien, ohne dass auffallende objective Symptome noch vorhanden wären,
die Idee des Selbstmordes wecken und zur Ausführung bringen können,
aber eben des Mangels objectiv auffallender Erscheinungen wegen nicht
erkannt oder übersehen werden können. Ein grosses Contingent liefern
die Alkoholiker, die Neurasthenischen, die Epileptiker und vielfach
die originär Verrückten (Verfolgungswahn). Bekannt ist das häufige
Vorkommen des Selbstmordes in einzelnen Familien als Theilerscheinung
erblich degenerativer Zustände, neben moralischem Irrsein u. s. w.
In anderen, und zwar häufigeren Fällen lässt sich der Grund der
Selbstentleibung auf Unglücksfälle, Vermögensverluste, drückende
Sorgen zurückführen, die einestheils für sich im Stande sind, ein
genügendes Motiv für die Begehung eines Selbstmordes zu bilden,
andererseits zum Ausbruch von Geistesstörungen und dadurch mittelbar
zum Selbstmord Veranlassung geben können. Weitere Motive bilden Furcht
vor Strafe und Entehrung, heftige Gemüthsaufregungen in Folge von
Familienzwistigkeiten und endlich unglückliche Liebe, die besonders
in den ersten Jahren nach erreichter Pubertät, und namentlich beim
weiblichen Geschlechte, verhältnissmässig häufig zur Selbstvernichtung
führt. In wiederum anderen Fällen sind es körperliche Leiden, die
das Individuum zum Selbstmord bewegen, besonders unheilbare und
schmerzhafte Krankheiten, worunter syphilitische Erkrankungen eine
grosse Rolle zu spielen scheinen.
[Sidenote: Umstände des Selbstmordes.]
Nach +Majer+ tödteten sich von 5654 Selbstmördern 30·4% im Verlaufe
einer Geistesstörung, 20·2 aus unbekannt gebliebenen Motiven, 18·6
wegen Kummer über Vermögensverluste und wegen Nahrungssorgen, 11·3
wegen körperlicher Leiden, 9·9 wegen Furcht vor Strafe, 5·2 aus Zorn
und Rachsucht und 4·4 aus Furcht vor Entehrung. Bei den 4490 im Jahre
1871 in Frankreich vorgekommenen Selbstmorden konnte nur bei 4077 mit
mehr weniger Gewissheit die Ursache des Selbstmordes sichergestellt
werden und es ergaben sich als solche bei 1472 Gehirn- (Geistes-)
Krankheiten, bei 950 schmerzhafte Zustände, bei 651 liederlicher
Lebenswandel und Trunksucht, bei 620 Familienzwistigkeiten und bei
369 Unglücksfälle, ausserdem kam Selbstmord bei 15 Individuen vor,
welche Capitalverbrechen begangen hatten.
Eigenthümlicher Weise fallen die meisten Selbstmorde auf die
schönste +Jahreszeit+, und noch merkwürdiger ist es, dass nicht
blos zufolge den Angaben +Majer+’s in Bayern der Mai die grösste
Zahl der Selbstmörder lieferte, sondern auch in Wien durch drei
Jahre hintereinander (1873 bis 1875) die meisten Selbstmorde im Mai
verzeichnet wurden. Ganz besonders auffallend war dies im Jahre
1894, wo im Mai 39 Selbstmorde und 29 Selbstmordversuche vorkamen,
darunter 6 an +einem+ Tage (den 16.). Es scheint, dass ebenso wie
in südlichen Ländern der Sirocco Unbehagen, Kopfschmerzen bewirkt
und einen deprimirenden Einfluss auf die Stimmung ausübt, auch bei
uns gewisse Witterungsverhältnisse (stürmische Perioden, tiefer
Barometerstand) in ähnlicher Weise insbesondere auf neuro- und
psychopathische Personen sich bemerkbar machen und so das periodisch
häufigere Vorkommen der Selbstmorde erklären. -- Es sind dies
Perioden, in denen auch plötzliche Geistesstörung und Exacerbationen
solcher häufiger vorkommen.[276] -- Erfahrungsgemäss werden auch mehr
Selbstmorde am Tage als in der Nacht begangen (nach +Majer+ 60 gegen
40 Procent).
[Sidenote: Verheimlichung des Selbstmordes.]
Die meisten Selbstmorde geschehen heimlich, nicht selten an
versteckten und abgelegenen Orten, in Kellern, am Dachboden, am
Abort oder in anderen von innen verschliessbaren Localitäten.
Mitunter wird aber der Selbstmord auch ganz ostentativ und in der
offenbaren Absicht, Aufsehen zu erregen, vollbracht, so in Theatern,
auf öffentlichen Spaziergängen. Andere geschehen in Hôtels, in
öffentlichen Bädern, in Kirchen, im Wagen u. s. w., mitunter sogar
bei Prostituirten. In einzelnen Fällen bemüht sich der Selbstmörder,
die Sicherstellung seiner Person zu erschweren oder unmöglich zu
machen, und es kommen sogar Fälle vor, in welchen der Selbstmord
als solcher verheimlicht wird, entweder indem das Individuum die
Ursache der noch während des Lebens gefundenen Verletzungen oder
anderweitiger, insbesondere Vergiftungserscheinungen verschweigt oder
absichtlich falsch angibt[277], oder indem dasselbe den Selbstmord in
einer Weise ausübt, dass er für zufällig gewaltsamen (am häufigsten
beim Tod durch Sturz) oder gar natürlichen Tod imponiren soll. So
haben wir einen Mann obducirt, der im Kaffeehause, während er mit
seiner gewohnten Gesellschaft Karten spielte und Kaffee trank,
plötzlich zusammenstürzte und nach wenigen Augenblicken starb.
Alles sprach für natürlichen Tod, die Obduction aber ergab eine
exquisite Cyankaliumvergiftung. Die gleiche Todesart fand sich bei
einem in bedrängten Verhältnissen befindlichen Fabrikanten, der
in einem Tramwaywaggon todt, wie man meinte, vom Schlage gerührt,
zusammengesunken war; ebenso bei einer versicherten Frau, die
im Opernhause in einer Loge während der Vorstellung plötzlich
zusammengesunken und in wenigen Augenblicken gestorben war. Es
gibt verschiedene Gründe, die den Selbstmörder zur Verheimlichung
seiner That veranlassen können, unter denen Rücksichten für die
Hinterbliebenen die Hauptrolle spielen dürften, insbesondere die
Bewahrung derselben vor socialem und materiellem Nachtheile (Verlust
von Pensionen, Versicherungsprämien etc.).
Dass eine solche Verheimlichung nicht blos beim Selbstmord durch
Verletzungen oder durch Gift vorkommen kann, beweist ein von +Perl+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXVI, pag. 281) mitgetheilter
Fall, in welchem ein 44jähriger Mann wenige Wochen, nachdem er sein
Leben hoch versichert hatte, in einer Badeanstalt in einer Badewanne
todt gefunden wurde, unter Umständen, die den Vertrauensarzt der
Versicherungsgesellschaft veranlassten, zu erklären, dass ein
Selbstmord durch Ertrinken vorliege und die Vermuthung auszusprechen,
dass die seltsame Art der Ausführung auf das Bestreben hindeute, den
Thatbestand des Selbstmordes zu verschleiern.
Die angedeuteten Gründe können aber auch die Angehörigen veranlassen,
den Selbstmord zu verheimlichen, was unseren Erfahrungen
zufolge namentlich beim Selbstmord durch Gift und beim Erhängen
verhältnissmässig am häufigsten vorkommt. Auch von Seite des
Wartpersonale in Kranken- und Irrenanstalten wird der Selbstmord
von Patienten mitunter verheimlicht, um sich der Verantwortung
zu entziehen. In einem solchen Falle (Erhängen) haben wir den
Sachverhalt erst bei der Section entdeckt.
Beim Selbstmord durch Schuss kommt nicht gar selten die Angabe vor,
dass der Betreffende sich in Folge eines +amerikanischen Duells+
das Leben genommen habe. Solche Angaben dürfen, auch wenn sie vom
Thäter selbst mündlich oder schriftlich gemacht worden sind, nicht
ohne Weiteres als wahr angenommen werden. Häufig sind dieselben
nur eine Form der Dissimulation des gewöhnlichen Selbstmordes, was
umso beachtenswerther ist, als solche Angaben gelegenheitlich zu
strafrechtlicher Verfolgung der Betheiligten, und zwar sowohl des
Selbstmörders, wenn seine That misslingt, als seines angeblichen
Gegners führen können. Thatsächlich ist ein solcher Fall in Wien am
19. Februar 1886 zur Verhandlung gekommen. Auch in einem Falle von
Cyankaliumvergiftung hatte der in Folge eines Traumas geisteskranke
Selbstmörder in einem hinterlassenen Schreiben ein amerikanisches
Duell als Ursache der That bezeichnet, was sich als ganz unwahr
herausstellte.
Wir übergehen zur Besprechung der einzelnen Selbstmordformen, wobei
wir hier nur den +traumatischen+ Selbstmord im Auge haben, da von den
übrigen Selbstmordarten an anderen Stellen gesprochen werden wird.
[Sidenote: Selbstmord durch Halsabschneiden.]
Eine der häufigsten derartigen Selbstentleibungen ist die durch
+Durchschneidung des Vorderhalses+ (Halsabschneiden). In der Regel
werden dazu Rasirmesser genommen, aber auch gewöhnliche Taschenmesser,
seltener andere schneidende Instrumente, wie Schlächtermesser,
Jagdmesser u. dergl. In einem uns bekannten Falle war von einem
Gefangenen das Bruchstück des Bodens eines Glasgefässes benützt
worden. Der Schnitt wird in der Regel beim Stehen (mitunter vor dem
Spiegel) oder im Sitzen und gewiss nur ganz ausnahmsweise im Liegen
geführt. Indem der Selbstmörder den Hals streckt, beziehungsweise den
Kopf zurückbeugt, setzt er, wenn er, wie gewöhnlich, mit der rechten
Hand das Messer hält, dies links und oben am Kopfnicker an und führt
dasselbe in einem Zuge über den oberen Theil des Vorderhalses nach
rechts. In diesem Falle zeigt die Wunde in der Regel einen etwas
schräg nach rechts und abwärts ziehenden Verlauf. Es ist jedoch
nichts Ungewöhnliches, völlig queren Schnittwunden zu begegnen und es
ist begreiflich, dass, wenn der Schnitt mit der linken Hand geführt
wurde, die Wunde schräg von rechts und oben nach links und unten
verlaufen kann. Ist der schräge Verlauf der Wunde gut ausgesprochen,
so wird man kaum irren, wenn man als Anfangsstelle des Schnittes das
höher gelegene Ende der Wunde bezeichnet. Bei der Beurtheilung der
Schnittrichtung ist jedoch nicht zu vergessen, dass dieselbe durch die
Retraction der Wundränder, insbesondere aber durch andere Schnitte, die
geführt wurden, unkenntlich werden kann; auch ist nicht zu übersehen,
dass, wenn der Selbstmörder im Momente der Schnittführung den Hals
nicht gleichmässig streckte, sondern, wie es gar nicht überraschen
kann, den Kopf zugleich nach der Seite beugte, welche jener, wo er das
Messer ansetzt, entgegengesetzt ist, der Schnitt nicht blos leichter
eine quere, sondern auch eine gegen das Ende der Wunde zu aufsteigende
Richtung erhalten kann, ein Fall, den wir thatsächlich bei einem
zweifellosen Selbstmord beobachtet haben und in der eben erwähnten
Weise uns erklärten. Der Schnitt dringt in der überwiegendsten Zahl der
Fälle zwischen Kehlkopf und Zungenbein ein oder er trifft den Kehlkopf;
seltener dringt der Schnitt in die Trachea und am seltensten findet er
sich über dem Zungenbein.[278]
Die Tiefe der Wunde hängt zunächst von der Kraft ab, mit welcher der
Schnitt geführt wurde und von der Schärfe des gebrauchten Messers,
wird aber ausserdem durch die Theile beeinflusst, die das letztere auf
seinem Wege traf. Sehr häufig setzt der zunächst getroffene Kehlkopf
dem tieferen Eindringen des Messers eine Grenze, wenn er bereits
verknöchert ist oder zu verknöchern beginnt. Waren solche Hindernisse
nicht vorhanden, so kann auch ein Selbstmörder mit einem scharfen,
kräftig geführten Messer durch sämmtliche Weichtheile des Vorderhalses
bis auf die Wirbelsäule gelangen und selbst noch in diese einschneiden.
Wurde das Messer in einem Bogen und in raschem gleichmässigen Zuge
über die prominenteste Stelle des Halses hinweggeführt, so kann die
Wunde vollkommen symmetrisch ausfallen und in beiden Hälften gleiche
Organe verletzen. Häufiger betrifft die Verletzung vorzugsweise die
eine Seitenhälfte des Halses, besonders wie begreiflich diejenige, an
welcher das Messer zunächst angesetzt und im tangentiellen Zuge über
dieselbe hinweggeführt worden war. Im letzteren Falle sind die Chancen
für eine Verletzung der grossen Halsgefässe günstiger, weil der Schnitt
direct gegen sie tendirt und weil derselbe weniger leicht durch den
Kehlkopf aufgehalten wird, während, wenn der Schnitt gleichmässiger
und tangentiell über die Mittellinie des Halses hinwegging,
verhältnissmässig häufig die grossen Halsgefässe unverletzt gefunden
werden. Die besonders von +Luschka+ hervorgehobene geschützte Lage
der tiefen Halsgefässe erklärt diese häufige Thatsache. Man findet dann
gewöhnlich einen Schnitt, der von einem Kopfnicker zum andern sich
erstreckt, oder auch diese durchtrennt und ausser der Vena jugularis
ext. auf einer oder auf beiden Seiten nur kleinere Gefässzweige,
insbesondere jene der Art. thyreoid. sup., oder diese selbst verletzt.
Der Blutverlust aus diesen Gefässen reicht aber hin, um den Tod zu
bewirken, theils durch Verblutung, theils, was jedesmal bei der
Beurtheilung von Halsschnittwunden berücksichtigt werden muss, durch
Eindringen des ausströmenden Blutes in die durchtrennten Luftwege,
Aspiration desselben und consecutive Erstickung. Letztere kann auch
durch die abgeschnittene und in den Kehlkopf eingetretene Epiglottis
veranlasst werden, wovon mehrere Beispiele beobachtet worden sind. Auch
durch Aspiration von Luft durch die eröffneten Halsvenen kann rascher
Tod erfolgen.
[Sidenote: Zahl und Sitz der Schnitte.]
Ungleich häufiger als einem einzigen begegnen wir an dem Halse solcher
Selbstmörder mehreren Schnitten, und zwar in der Regel neben einem
tiefeindringenden Hauptschnitt mehreren kleinern, die entweder nur die
Haut oder, was noch häufiger beobachtet werden kann, den durch die sich
retrahirende Haut blossgelegten Kehlkopf betreffen. An letzterem lassen
sie sich besonders gut unterscheiden, wobei man bemerken kann, dass
sie ebenso häufig mit einander und der Hauptwunde parallel verlaufen,
als verschiedene Richtungen zeigen oder sich kreuzen. Es kann auch
geschehen, dass ein Schnitt in einen früheren geräth und auf diese
Weise können selbst Schnitte an der Vorderfläche der Wirbelsäule zu
Stande kommen, ebenso wie es geschehen kann, dass erst durch einen
solchen Schnitt tiefere Gefässe verletzt werden, die nach dem früheren
intact geblieben waren. Das häufige Vorkommen mehrerer Schnittwunden
am Halse von Selbstmördern beweist, dass dieselben in der Regel,
nachdem der erste und meist tiefste Schnitt geführt wurde, noch im
Stande sind, sich andere zu versetzen, und dies ist besonders dann
begreiflich, wenn, was, wie oben bemerkt, gewöhnlich geschieht, die
tiefen Halsgefässe anfangs nicht verletzt wurden, obwohl auch in einem
solchen Falle das Bewusstsein nicht sofort schwindet, sondern das
Individuum noch ganz wohl im Stande ist, einige weitere rasche Schnitte
zu führen. Aus der begreiflichen Hast und dem verwirrenden Einflusse
des Momentes erklärt es sich, warum die secundären Schnitte häufig
verschiedene Richtungen zeigen, und selbst andere Stellen als den Hals
treffen können.
Ein Bauer, notorischer Trinker, war in seinem eigenen Keller mit
durchschnittenem Halse todt aufgefunden worden. Es fand sich am
Halse eine 2 Cm. unter dem linken Ohrläppchen beginnende, schief
nach rechts und abwärts über die Mittellinie des Halses verlaufende
13 Cm. lange Schnittwunde, welche den linken Kopfnicker, die linke
Carotis und die ersten Knorpelringe der Luftröhre durchtrennt hatte.
Ausserdem fanden sich 2 je 10 Cm. lange, blos die Haut durchtrennende
Schnittwunden auf der rechten Wange, welche unweit vom rechten
Nasenflügel begannen und mit einander parallel schief zum rechten
Unterkieferwinkel sich herabgezogen, und überdies zwischen sich eine
dritte, blos die Epidermis durchdringende linienförmige Schnittwunde
enthielten. Diese Wunden, sowie der Umstand, dass das neben der
Leiche gefundene Rasirmesser nicht dem Verstorbenen, sondern einem
Nachbar desselben gehörte, hatte den Verdacht erregt, dass nicht
Selbstmord, sondern Mord vorliege.
Wir erklärten in unserem Gutachten, dass der Betreffende zunächst an
Verblutung in Folge der grossen Schnittwunde am Halse gestorben sei,
und dass letztere zufolge ihrer Lage und sonstigen Beschaffenheit
ganz wohl von dem Verstorbenen sich selbst beigebracht worden sein
konnte. Bezüglich der Schnittwunden an der rechten Wange äusserten
wir uns, dass zwar ihr Sitz an einer Stelle, die auch von einem
Laien nicht als lebenswichtige Organe enthaltend angesehen wird,
allerdings eigenthümlich sei, aber der Annahme eines Selbstmordes
nicht widerspreche, da sich dieser Befund dadurch erklären lasse,
dass die betreffenden Wunden erst nach Zufügung jener am Halse und
in der durch das Hervorstürzen des Blutes und die Gemüthsaufregung
verursachten Verwirrung, die eine sichere Schnittführung nicht
gestattete, von dem Verstorbenen erzeugt wurden, was umso leichter
geschehen konnte, als in Folge der vollkommenen Durchschneidung des
linken Kopfnickers der Kopf nach links gedreht und dadurch die rechte
Wange in die Schnittrichtung gefallen sein konnte. Da ferner alle
Schnitte an der Wange parallel verliefen und die gleiche Richtung
zeigten, wie der tödtliche Schnitt am Halse, auch keine Spur einer
geleisteten Gegenwehr bei dem grossen und noch rüstigen Manne
gefunden wurde und für die Annahme, dass er damals berauscht oder
anderweitig bewusstlos gewesen wäre, kein Grund vorlag, so gaben
wir schliesslich unser Gutachten dahin ab, dass der Befund an der
Leiche des Untersuchten der auch durch die Umstände nicht widerlegten
Annahme, dass er einen Selbstmord begangen habe, nicht widerspreche.
[Sidenote: Handlungsfähigkeit.]
In gleicher Weise wie weitere Halswunden, können sich Selbstmörder,
nachdem sie sich einen Schnitt in den Hals beigebracht haben, auch
andere Wunden beibringen; so insbesondere Schnitte in die Ellbogen-
und Handgelenke, eine Combination, die verhältnissmässig häufig sich
ergibt und in der Regel schon für sich allein den Fall als Selbstmord
erscheinen lässt. Häufiger ist es jedoch, dass, nachdem der Selbstmord
früher auf eine andere Weise versucht worden, aber misslungen war,
jener durch Halsabschneiden ausgeführt wird. So haben wir zweimal die
Leichen von Selbstmördern mit durchschnittenem Halse obducirt, die sich
früher durch einen Schuss, und zwar beidesmal in den Mund, zu entleiben
versucht hatten, ohne dass sie mehr als eine Zertrümmerung des Gaumens
erzeugt hätten. In einem dritten Falle war ein Strangulationsversuch
und in einem vierten ein Stich in die Leber vorausgegangen. Ebenso
folgt aus dem Gesagten, dass derartige Selbstmörder keineswegs an
derselben Stelle zusammenstürzen müssen, wo sie sich die Halswunden
beigebracht haben, und es kann selbst dann nicht die Möglichkeit
einer stattgefundenen Locomotion ganz geleugnet werden, wenn die
tiefen Halsgefässe verletzt worden waren, besonders wenn nicht beide
Carotiden, sondern nur eine getroffen worden war.
In dem oben angeführten Falle mit der Schnittwunde an der Wange war
der Todte 14 Schritte von einem mit Blut bespritzten Fasse liegend
aufgefunden worden, und es wurde uns deshalb die Frage vorgelegt, ob
der Untersuchte, nachdem er sich die Halswunde beigebracht, noch 14
Schritte weit gehen konnte. Wir erklärten, dass diese Möglichkeit
umsomehr zugegeben werden muss, als nur die eine Carotis verletzt,
und zwar vollkommen durchschnitten war, so dass sie sich retrahiren
und dadurch die Verblutung verzögert werden konnte, wobei wir
auch erwähnten, dass diese Schritte kaum in langsamen, sondern im
schnellen Tempo und offenbar in der Absicht, um zur Kellerthüre zu
gelangen, zurückgelegt worden sein mochten.
Was Individuen mit durchschnittenem Halse mitunter noch leisten
können, beweist der von +Amos+ (+Fischer+, Verletzungen des Halses,
pag. 72) mitgetheilte Fall, in welchem eine Frau nach Durchschneidung
der Carotis und Jugularis auf einer Seite noch 23 Yards weit zu gehen
vermochte und jener von +Rust+ (+Albert+, Lehrb. der Chirurgie. I,
479) erwähnte: Ein Tischler hatte sich im freien Felde mit einem
Rasirmesser den Hals durchschnitten. Von Reue gequält, warf er das
Messer weg, kroch in einen Schupfen und blieb dort bei grosser Kälte
über Tag und Nacht. Den folgenden Tag begibt er sich in die Stadt
zurück, sinkt dort zusammen, wird in eine chirurgische Officin
gebracht, wo man ihn für betrunken hält und nach Hause führen lässt.
Dort erst wird die Wunde am Halse entdeckt und der Verletzte in’s
Spital gebracht, woselbst er erst nach 14 Tagen starb. Die Section
ergab, dass sowohl Larynx wie auch der Pharynx bis auf die Körper
der Wirbelsäule durchschnitten waren. Trotzdem hatte der Mann einen
weiten Weg zurückgelegt und war sogar in einer chirurgischen Officin
gewesen, ohne dass man eine Ahnung hatte, welche Verletzung das
Halstuch barg.
Mehrere Fälle, in denen trotz solcher tiefer Verletzungen nur ganz
unerhebliche Blutung eingetreten war, werden von +Güterbock+ (l. c.
31) angeführt. Wir glauben, dass hierbei besonders das je nach der
Grösse der Schilddrüse ungemein variirende Caliber der Art. und Vena
thyreoidea superior von Einfluss sein dürfte.
[Sidenote: Mord durch Halsabschneiden.]
+Mord+ durch Halsdurchschneidung ist kein besonders seltenes
Vorkommniss. Am leichtesten ist derselbe bei schlafenden oder
anderweitig bewusstlosen Personen ausführbar, und es ist begreiflich,
dass in solchen Fällen selten Zeichen der Gegenwehr oder andere
anatomische Anhaltspunkte für die Diagnose der durch einen Anderen
bewirkten Tödtung sich ergeben werden. Am wenigsten wird die Richtung
der Wunde am Halse Aufschluss geben, da dieselbe sich ebenso gestalten
kann wie beim Selbstmorde, namentlich wenn der Mörder hinter dem
Kopfe der schlafenden Person steht und das Messer mit der rechten
Hand führt. Doch kann im Allgemeinen eher eine vollkommen quere und
nach beiden Seiten zu symmetrische Wunde entstehen als bei einem
Selbstmorde. Auch gelingt einer fremden Hand das Durchschneiden
sämmtlicher Weichtheile des Vorderhalses mit +einem+ Zuge bis auf die
Wirbelsäule entschieden leichter als der eigenen. Eventuelle Schnitte
in der Wirbelsäule können, wenn sie tief sind und zu ihrer Entstehung
eine Kraft voraussetzen, die bei einem Selbstmörder nicht angenommen
werden kann, für Mord sprechen.
In dem oben erwähnten Falle des ermordeten Briefträgers waren
sämmtliche Weichtheile des Vorderhalses und links beide Gefässe,
rechterseits nur die Carotis durchschnitten, und der Schnitt
war zwischen den linken Querfortsätzen des dritten und vierten
Halswirbels bis in den Canal für die Art. vertebr. sin. eingedrungen,
ohne jedoch diese zu verletzen. Einen ganz gleichen Befund ergab
die Leiche einer durch mehrere Halsschnittwunden ermordeten Frau,
jedoch auf der rechten Seite (sie war im Stehen überfallen worden)
und ausserdem den Umstand, dass blos die Vena jugularis interna und
der N. vagus durchschnitten, von der Carotis aber blos die Adventitia
angeschnitten war, obgleich die Carotis mit der Hälfte ihrer Breite
das innere Ende des Schnittes bedeckte, der sich in der Wirbelsäule
befand. Letztere Thatsache lässt sich daraus erklären, dass der
Kopf im Momente der Schnittführung gegen die entgegengesetzte Seite
gedreht gewesen sein musste, wodurch die betreffende Carotis mehr
nach innen zu liegen kam und von dem über die rechte Halsseite
geführten Schnitte nur tangirt wurde. -- Von drei Kindern, welche ein
Alkoholiker theils durch Hackenhiebe, theils durch Halsdurchschneiden
getödtet hatte, zeigten zwei eine vollkommen durchschnittene
Wirbelsäule, so dass der Kopf nur an der Nackenhaut hing, das eine
Kind überdies einen tiefen Querschnitt in der Hinterhauptschuppe
unmittelbar hinter dem Foramen occipitale!
Auch bei schlafenden oder anderweitig bewusstlosen Personen begnügt
sich der Mörder nicht immer mit einem einzigen Schnitt, sondern führt
nicht selten einen zweiten oder dritten, die jedoch meist in die Wunde
selbst fallen, ähnlich wie dies auch Schächter zu thun pflegen, so dass
in diesem Falle nur eine einzige Wunde vorhanden zu sein scheint, in
deren Grunde jedoch die wiederholte Schnittführung sich erkennen lassen
kann.
Die Ermordung wachender und wehrfähiger Personen ist ungleich
schwieriger ausführbar; von vorne wohl nur unter besonderen
Verhältnissen[279], eher dagegen, wenn der Thäter hinter dem Opfer
steht und unerwartet von hinten den Schnitt führt, wodurch dieser, wie
in unserem unten angeführten Falle, so weit nach rechts fallen kann,
dass schon dadurch die Einwirkung einer fremden Hand und die Stellung
des Thäters erkannt werden kann.
Es ist jedoch zu bemerken, dass Fälle vorkommen, in welchen auch
Selbstmörder sich nicht in „typischer“ Weise den Hals durchschneiden,
sondern den Schnitt seitwärts am Halse direct auf die grossen
Halsgefässe zu führen, so dass der Schnitt wenig oder gar nicht über
die Mittellinie des Vorderhalses hinüber reicht. Wir haben sogar
einen Kellner obducirt, der sich beiderseits fast symmetrisch eine
solche Wunde beigebracht hatte, zwischen deren inneren Enden die
Kehlkopfpartie ganz intact geblieben war. Links war die Vorderwand
der Vena jugularis interna, rechts nur Aeste der Art. und Vena
thyreoidea superior durchschnitten. Es ist nicht unmöglich, dass
bei einer derartigen Schnittführung der Selbstmörder bis zu der
betreffenden Art. vertebralis gelangen und diese verletzen kann.
Von +Lacassagne+ und +Jobert+ (Les +Gauchers+. Lyon 1855) wird
ein solcher Fall erwähnt, wo allerdings die Verletzung mehr eine
Stich- als eine Schnittwunde gewesen zu sein scheint. Der Mann war
ein Linkshänder und hielt, als seine Leiche gefunden wurde, das
Messer noch in der (linken) Hand. Die Wunde selbst sass rechts.
+Flintzer+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. XXXIV, pag. 189)
berichtet sogar über einen kaum glaublichen Fall von Selbstmord, wo
der Schnitt im Nacken (!) sass, 12 Cm. lang war, die Articulatio
atlanto-occipitalis eröffnet und das Rückenmark durchschnitten hatte
(!!). Es lag somit, sagt +Flintzer+, eine halbe Decapitation vor.
Am Rande des linken Unterkiefers fand sich eine seichte, von oben
nach unten ziehende Incision. Die Leiche war in einer von Innen
verschlossenen Bodenkammer gefunden worden, mit dem Messer in der
Hand. Merkwürdig war auch der Befund bei einem 60jährigen, von uns
im März 1888 secirten Manne, welcher sich mit zwei (!) gleichzeitig
angesetzten Rasirmessern den Hals durchschnitten hatte. Es fand
sich beiderseits symmetrisch eine klaffende Wunde, die beide in der
Mittellinie des Nackens, 1 respective 1½ Querfinger unter der
Haarwuchsgrenze begannen. Die rechte, höher gelegene, zog sich bis
zum hinteren Rand des Kopfnickers, durchtrennte die ganze seitliche
Halsmusculatur bis zu den Querfortsätzen der Wirbelsäule und die
Vena jugularis zur Hälfte. Die linke erstreckte sich bis zur Mitte
des hinteren Randes des Schildknorpels und durchschnitt hinten die
ganze Musculatur, vorn aber nur die Haut und den hinteren Rand des
Kopfnickers ohne Verletzung der tiefen Gefässe. Innerlich ergaben
sich geheilte Contusionen und senile Atrophie des Gehirns, sowie
hochgradige Atheromatose.
Eine solche That kann nicht gut ohne Widerstand von Seite der
angegriffenen Person geschehen, welcher wieder das Zurückbleiben von
Spuren derselben erwarten lässt.
Da in einem solchen Falle die angegriffene Person instinctiv dem
Angreifer in die Arme, beziehungsweise in das Messer fällt, so können
Schnittwunden an den Händen, insbesondere an der Innenfläche der Finger
oder Hohlhände als Zeichen geleisteter Gegenwehr zurückbleiben, deren
Befund, da er bei einem Selbstmorde kaum vorkommt, für sich allein
sofort die Natur des Falles in’s Klare stellt.[280] Wir begegnen dann
in der Regel auch am Halse mehreren Schnittwunden und deren Lage (in
einem unserer Fälle auch im Nacken) und ungleichmässige Richtung kann
ebenfalls die Einwirkung fremder Hand errathen lassen.
Wir hatten Gelegenheit, zwei solche Fälle zu beobachten. Der erste
Fall betraf ein 29jähriges Freudenmädchen, welches eines Abends
blutend und halb bewusstlos in einem öffentlichen Garten gefunden
wurde. Bei der Untersuchung im Spitale fand sich in der vorderen
Halsgegend eine 4½ Zoll lange Schnittwunde, die links unter
dem Ohre begann und schief über den Kehlkopf zum Innenrande des
rechten Kopfnickers zog und blos die Brustbein-Zungenbeinmuskeln
blosslegte; dann unter dem rechten Unterkieferwinkel eine 1 Zoll
lange, bis in den Pharynx dringende, stark blutende Stichwunde,
ferner zwischen Zungenbein und Kehlkopf eine 1½ Zoll lange, blos
die Haut durchtrennende Schnittwunde und endlich an beiden Händen
zahlreiche, schief über die Innenseite der Finger hinwegziehende
oberflächliche Schnittwunden. Dass hier ein Mordversuch vorlag, war
klar, und die Verletzte gab auch an, von einem ihr ganz Unbekannten
unmittelbar nach dem Coitus ohne alle Ursache auf die erwähnte Weise
verletzt worden zu sein und blieb auch bei dieser Aussage, obgleich
die sonderbaren Umstände des Falles keinen Zweifel darüber übrig
liessen, dass ihr der Thäter durchaus nicht fremd gewesen war. Die
Heilung erfolgte. Die Person, welche bereits früher Zeichen der
Geistesstörung dargeboten hatte, verfiel später in ausgesprochene
Geisteskrankheit.
In einem zweiten Falle wurde eine rüstige 45jährige Frau in ihrer
Wohnung von einem Manne überfallen und ermordet. Es fand sich eine 10
Cm. lange, bis in den Wirbelsäule-Arteriencanal dringende horizontale
Schnittwunde an der rechten Halsseite, welche die Vena jugularis
int. und den Vagus durchtrennt, die Carotis aber blos angeschnitten
hatte; ferner eine Schnittwunde, die vom linken Unterkieferwinkel
schräg nach rechts und unten über das Ligam. conoideum verlief,
dieses eröffnend, dann eine nach unten abgeschrägte 5 Cm. lange
Schnittwunde, entlang dem rechten Unterkiefer bis auf den Knochen
dringend und weiter je eine kleine scharfrandige lappige Ablösung
der obersten Hautschichten an beiden Unterkiefern. Die Kuppe des
linken Zeigefingers war bis auf den Knochen vollständig und in einer
Ebene schief abgekappt und in der linken Handfläche befand sich
eine geradlinige, blos die Haut durchdringende Schnittwunde, welche
vom unteren Theile des Ulnarrandes schief gegen die Wurzel des
linken Zeigefingers verlief, so dass kein Zweifel darüber bestehen
konnte, dass dieselbe, ebenso wie die Abkappung der Kuppe des
linken Zeigefingers, durch das Greifen gegen das Messer des Thäters
entstanden war. -- Aehnliche Fälle werden von +Taylor+ (l. c. I, pag.
492) beschrieben und abgebildet.
In einzelnen Fällen ist das Verhalten der Blutspuren an der
betreffenden Leiche geeignet, Anhaltspunkte für die Unterscheidung, ob
Selbstmord oder Mord vorliegt, zu bieten. So ist es begreiflich, dass,
wenn der Hals durchschnitten wurde, während eine Person lag, was, wie
oben erwähnt, beim Selbstmord nicht leicht vorkommt, das ausströmende
Blut vorzugsweise zu einer oder zu beiden Seiten des Halses
herabfliessen und auf der Unterlage sich verbreiten wird, während,
wenn die Schnittwunden zugefügt wurden, als das Individuum stand oder
sass, zu erwarten steht, dass das Blut nach abwärts, besonders über
die Vorderfläche des Körpers, herabströmen werde. Doch ist zu beachten
einestheils, dass eine Person, der im Liegen der Hals durchschnitten
wurde, sich unter Umständen noch aufrichten kann, worauf das Blut auch
über die Vorderfläche des Körpers herabfliesst, und dass umgekehrt
Jemand, der sich z. B. im Bette sitzend den Hals durchschnitten hatte,
sofort zurücksinken kann, worauf wieder die Hauptmasse des Blutes sich
in derselben Richtung ergiesst, wie wenn das Halsdurchschneiden im
Liegen geschehen wäre.
Auch die Besudlung der Hände der betreffenden Leiche mit Blut ist zu
beachten. Findet sich z. B. die Hand, mit welcher, wenn ein Selbstmord
vorläge, die betreffende Halswunde erzeugt worden sein musste, von
Blut gänzlich frei, so ist der Fall schon durch diesen Umstand in
hohem Grade verdächtig; denn es ist nicht gut denkbar, ausser wenn das
Messer, insbesondere sein Griff, sehr lang war, dass die betreffende
Hand während der Zufügung einer tödtlichen Wunde vollkommen blutfrei
geblieben sein sollte, und zwar desto weniger, je grössere Gefässe
verletzt worden sind; ganz auszuschliessen ist diese Möglichkeit aber
nur dann, wenn mehrere tiefe Schnitte sich finden, da in einem solchen
Falle die Hand der blutenden Stelle mehrmals genähert worden sein
musste. Andererseits ist es begreiflich, dass auch bei thatsächlichem
Mord die Hände des Opfers blutig sein können, sowohl in Folge der
Gegenwehr, und dann in der Regel mit Wunden an den Fingern oder
Hohlhänden verbunden, als auch in Folge des instinctiven Zugreifens
an den verletzten Hals, und endlich einfach dadurch, dass die Hände
nachträglich mit dem Blute in Berührung kamen, in welchem liegend
die Leiche in der Regel gefunden wird. So fanden sich bei dem oben
erwähnten Briefträger beide Hände über und über mit Blut besudelt,
obwohl die Halswunde dem bereits durch einen Schuss gegen den Kopf
Betäubten und auf dem Boden Liegenden beigebracht worden war.
Von anderen am Orte der That möglicherweise sich ergebenden Blutspuren
werden wir später sprechen.
[Sidenote: Festhalten des Messers.]
Dass ein Selbstmörder das Messer noch in der Hand behält, ist ein
seltener Befund, der aber wiederholt beobachtet worden ist. Es ist
jedoch thatsächlich vorgekommen, dass das Messer, mit welchem Jemand
umgebracht wurde, erst nachträglich der Leiche in die Hand gegeben
worden ist, um Selbstmord vorzuspiegeln. Ein solcher Fall wird von
+Taylor+ (l. c. I, 491) beschrieben und abgebildet. Derselbe war
insoferne klar, als beide Hohlhände seichte, tiefe Schnitte zeigten
und das betreffende Tischmesser verkehrt, d. h. mit dem Rücken gegen
den Körper, in die Hand der Leiche gegeben worden war. Dass +Taylor+
auch eines Falles erwähnt, in welchem einer Frau, die durch Erstickung
getödtet worden war, nachträglich der Hals durchschnitten wurde, um
den Tod als durch Selbstmord erfolgt hinzustellen, wurde bei der
Besprechung der postmortalen Verletzungen angeführt. Bei einer 1885
in Pest sammt ihrer Tochter durch Halsdurchschneiden ermordeten Frau
fanden sich ausgebrochene Stückchen der Schneide eines Rasirmessers in
den angeschnittenen Halswirbeln. Ein solcher Befund ist begreiflicher
Weise wichtig, kann aber auch bei Selbstmord, und zwar sowohl in den
Wirbeln als im Kehlkopf, wenn dieser hart war, vorkommen, und zwar
desto leichter, je feiner das (Rasir-) Messer gewesen war.
[Sidenote: Schreien des Verletzten.]
Schliesslich wollen wir noch die Frage erwähnen, ob Jemand, dem
der Hals durchschnitten wurde, noch schreien kann. +Liman+ (l. c.
II, 356) beschreibt einen Fall von Mord durch Halsdurchschneiden,
in welchem unter Anderem auch diese Frage gestellt wurde. Die
betreffende 4 Zoll lange Wunde hatte links die grosse Blutader
durchschnitten und die Luftröhre vollkommen durchtrennt, den
Oesophagus jedoch unbeschädigt gelassen. +Liman+ sprach sich dahin
aus, dass die Ermordete nach Durchschneidung der Luftwege nicht
mehr „mein Hals, mein Hals!“ habe rufen und überhaupt keinen Ton,
geschweige denn articulirte Töne habe hervorbringen können. Da in
diesem Falle die Trachea vollkommen durchtrennt und wahrscheinlich
eine oder gar beide Nn. recurrentes durchschnitten waren, so muss man
dem Gutachten +Liman+’s zustimmen.
Es wäre jedoch Unrecht, in anderen Fällen, blos weil die Wunde in den
Kehlkopf oder in die Luftröhre eingedrungen ist, die Möglichkeit,
dass der Betreffende noch habe schreien können, in Abrede zu stellen,
da, wenn diese Organe blos angeschnitten sind, die Wunde theils
durch darüber sich vorschiebendes Gewebe, theils durch Beugung des
Halses sich einigermassen verschliessen kann, so dass ein Sprechen
und selbst ein Schreien noch immer möglich ist. So konnte der
Selbstmörder, dessen +Rust+ erwähnt, noch sprechen, obwohl Larynx und
Pharynx bis auf die Wirbelsäule durchschnitten waren, und +Albert+
(l. c. 481) sah im Wiener Irrenhause einen Selbstmörder, der sich
mit einem Rasirmesser den Kehlkopf oberhalb der Stimmbänder und
den Oesophagus vollkommen durchtrennt und bis auf die Wirbelsäule
eingeschnitten hatte; trotzdem gab der Mann einen continuirlichen,
trompetenartig gellenden Schrei von sich, Tag und Nacht unaufhörlich,
bis er am vierten Tage an beiderseitiger Pneumonie starb.
[Sidenote: Durchschneidung der Gelenksbeugen.]
Selbstmord durch +Durchschneidung der Adern in den Gelenksbeugen+,
insbesondere in den Ellenbogen- und Handgelenken, ist keineswegs
selten. Am häufigsten betreffen die Schnitte die linke obere Extremität
und sind dort auch am tiefsten. Das nicht seltene Vorkommen von
Schnittwunden an beiden Armen beweist, dass die Betreffenden durch
eine solche Aderdurchschneidung die Fähigkeit, ein Messer zu fassen
und zu halten, beziehungsweise Schnitte zu führen, in der Regel nicht
verlieren, was sich daraus erklärt, dass meist nur die Sehnen des
oberflächlichen Fingerbeugers durchschnitten oder noch häufiger nur
angeschnitten werden, die übrige Musculatur aber unverletzt bleibt,
wobei ihre geschütztere Lage und insbesondere die oberflächliche Lage
der Knochen und Gefässe eine Rolle spielt. Nur ausnahmsweise sind es
noch andere oberflächlich gelegene Arterien, die der Selbstmörder
durchschneidet. So obducirten wir die Leiche eines Arztes, der sich
im Bade die Arterien in beiden Hand- und Ellenbeugen, aber auch
beiderseits, und zwar mehrmals, die stark rigiden geschlängelten Art.
temporales durchschnitten hatte, und in letzter Zeit kam hier ein Fall
vor, wo bei einer Frau ausser Schnitten in beiden Ellen- und Handbeugen
auch ein Schnitt unter jeder Mamma und ein weiterer über dem inneren
linken Fussknöchel gefunden wurde. Am seltensten werden die Schnitte
gegen die Kniekehlen gerichtet. Wir haben erst zwei solche Fälle
gesehen, einmal bei einer Frau, die sich eine grosse Zahl leichter
Schnitte in beiden Kniekehlen beigebracht, dann Hiebe mit einer Hacke
gegen den Vorderkopf versetzt hatte und ein zweitesmal bei einer Frau,
wo sich zahlreiche Schnitte an beiden Innenflächen der Kniegelenke
fanden, gegen dort befindliche Varicositäten gerichtet waren und
zwei der Varixknoten eröffnet hatten. Relativ häufig begegnet man an
einem und demselben Individuum sowohl Schnitten am Halse als an den
oberen Extremitäten, in welchem Falle diese meist später beigebracht
worden sind als jene, und ein solcher Befund ist selbstverständlich
in der Regel für sich genügend, um den Selbstmord klarzustellen, da
wohl nur bei besonderem Raffinement des Thäters daran zu denken wäre,
dass er einer von ihm durch Halsdurchschneiden getödteten Person noch
Schnittwunden in den Gelenksbeugen beigebracht hätte, um der Sache den
Anstrich eines Selbstmordes zu geben.
Doch ist die Möglichkeit, dass ein Mord durch Durchschneidung der
Gelenksbeugen verübt werden könne, nicht unbedingt ausgeschlossen,
wie ein in Prag vorgekommener Fall beweist, in welchem ein Vater vier
seiner Kinder dadurch umbrachte, dass er ihnen theils den Hals, theils
die Gelenksbeugen, darunter auch die Kniekehlen, durchschnitt, worauf
er sich selbst durch Halsabschneiden das Leben nahm.
Die Schnitte laufen in der Regel entlang der betreffenden
Gelenksbeugen. Doch haben wir bei einer Frau, die sich in einem von
Innen versperrten Raum durch Leuchtgas getödtet hatte, ausser mehreren
queren, mit einem bei der Leiche gefundenen Rasirmesser gemachten
seichten Hautschnitten an der Innenfläche des linken Handgelenkes auch
eine grosse Zahl paralleler, bis 6 Cm. langer, dicht bei einander
stehender seichter Schnitte an der Innenfläche desselben Vorderarmes
gefunden, die den Sehnen der Beuger der mittleren Finger entlang
verliefen.
Die Möglichkeit, dass eine Wunde, wie sie sonst beim Selbstmord
durch Schnitt in einer Gelenksbeuge vorkommt, auch zufällig erzeugt
werden kann, ist nicht ausgeschlossen. So fanden wir bei einem Mann,
der in schwer berauschtem Zustande in eine Glasthüre hineingefallen
und verblutet in seinem Zimmer gefunden worden war, eine schief
verlaufende lange Wunde im inneren Antheil der rechten Ellenbeuge,
welche die Vena basilica durchschnitten hatte. Die Wunde unterschied
sich nicht wesentlich von einer solchen, wie sie beim Selbstmord
entsteht, und der Fall wurde anfangs wirklich für einen solchen
gehalten.
[Sidenote: Erstechen.]
Selbstentleibung durch +Erstechen+ ist verhältnissmässig
selten, dagegen der auf diese Art ausgeübte Mord und Todtschlag
ungemein häufig, ein Missverhältniss, welches bei der Beurtheilung
eines angeblichen Selbstmordes durch Stichverletzung die grösste
Vorsicht gebietet. Die Stelle, welche Selbstmörder wählen, um sich zu
erstechen, ist am häufigsten die Herzgegend, seltener der Hals oder
andere Stellen, z. B. in einem unserer Fälle (Arzt) die Schenkelbeuge,
in einem anderen die Ellenbeuge. Erstere Gegenden sind aber gerade
diejenigen, gegen welche auch von Dritten am häufigsten Stiche geführt
zu werden pflegen, was zu doppelter Vorsicht mahnt.
[Sidenote: Mord durch Erstechen.]
Im Allgemeinen wird in einem solchen Falle ausser den Umständen, die
gerade hier in der Regel den Ausschlag geben, zu erwägen sein, ob die
Stelle, wo die Wunde sitzt, eine solche ist, dass gegen dieselbe bequem
von der eigenen Hand des Individuums ein Stich geführt werden konnte,
und ob die Richtung des Stichcanals auch jener entspricht, die bei
einem solchen Selbstmorde zu erwarten wäre. Auch der Umstand, ob vor
der Erzeugung des Stiches die Kleider bei Seite geschoben waren oder
nicht, muss erwogen werden. Ersteres würde eher für einen Selbstmord
sprechen, während, wenn wir einen Stich finden, der, bevor er den
Körper traf, mehrfache Lagen von Kleidungsstücken oder gar andere
vorgelagerte Gegenstände, z. B. ein Taschentuch, durchdringen musste,
der Selbstmord an Wahrscheinlichkeit verliert oder ganz auszuschliessen
ist. Zahlreiche, auf eine umschriebene Stelle, insbesondere z. B. nur
auf die Herzgegend beschränkte Stichwunden können zwar, wie Fig. 54
zeigt, auch durch fremde Hand vorkommen[281], ungleich häufiger ist
aber dieser Befund beim Selbstmord. Bei letzterem, besonders wenn er
von Geisteskranken ausgeübt wird, findet man mitunter massenhafte
Stichwunden. So fand +Laugier+ in einem solchen Falle 142, +Maschka+
sogar 285 Messerstiche. Bei einem Manne, der sich im Blatterndelirium
mit seinem Taschenmesser erstach, fanden wir 12 Stichwunden, ferner
bei einem Geisteskranken, der sich in gleicher Weise umgebracht hatte,
4 penetrirende und 10 blos die Haut betreffende Stiche an der linken
vorderen Brustwand, besonders in der Herzgegend, ausserdem am linken
Rippenbogen 2 und an der Innenfläche des linken Handgelenkes zahlreiche
quere parallele oberflächliche Hautschnitte, endlich bei einem
anderen Geisteskranken 4 Stiche in der Herzgegend, sowie je 3 seichte
Hautschnitte an beiden Handgelenken und einen 4. schief über der linken
Brustwarze. Auch jene bei den Verletzungen des Herzens zu erwähnenden
Fälle, wo +einer+ Eingangsöffnung mehrere Stichcanäle entsprechen,
weil die Stichwaffe wiederholt in eine und dieselbe Wunde eingestossen
wurde, kommen fast nur beim Selbstmord vor.[282]
[Sidenote: Zufälliges Erstechen.]
Gegenüber Angaben, dass Stichverletzungen zwar durch die Hand eines
Zweiten, aber nur zufällig entstanden seien, ist natürlich die
grösste Vorsicht zu empfehlen, insbesondere gegenüber der häufig
vorkommenden, dass der Verletzte nur zufällig in das Messer des
Anderen hineingerannt oder hineingefallen sei. Diese Möglichkeit
könnte nur unter ganz besonderen Umständen zugegeben werden. In
einem unserer Fälle war eine Frau angeklagt, ihren Mann mit einem
Küchenmesser erstochen zu haben. Die Wunde sass zwischen der
linken Axillarlinie und dem unteren linken Schulterblattwinkel
und war durch den Latissimus dorsi und Serratus anticus major
unter der achten Rippe in den Thorax eingedrungen und dann quer
durch den obersten Theil des linken Unterlappens bis nahe unter
die Innenfläche desselben. Der Tod war in wenigen Augenblicken
durch Verblutung eingetreten. Die Frau gab an, sie sei, als sie
Kartoffeln schälte, mit ihrem schwer betrunkenen Manne in Streit
gerathen. Um zu verhindern, dass der Lärm gehört werde, habe sie
das Fenster schliessen wollen, als sie von ihrem zwischen ihr
und dem Fenster stehenden und mit dem Gesichte gegen letzteres
gekehrten Manne einen Schlag mit dem Rücken der linken Hand
über das Gesicht erhielt, wobei der Mann gleichzeitig auf sie
stürzte, sie gegen die nahe Mauer andrückte und sich das Messer
in den Leib rannte, ohne dass sie es verhindern konnte. -- Da
in diesem Falle das Messer scharf und spitzig war, der Mann nur
mit dem Hemde bekleidet, notorisch schwer betrunken war und bei
der Obduction eine über zuckererbsengrosse Neubildung (Angiom) im
inneren Theile der linken hinteren Centralwindung sich ergab, die
das Gleichgewichtsgefühl beeinträchtigt haben konnte (der Mann soll
thatsächlich an Schwindel gelitten haben und sehr reizbar gewesen
sein), da ferner die Situation der Frau im Momente, wo der Mann
auf sie fiel, thatsächlich eine solche war, die sie am raschen
Zurückziehen des Messers gehindert haben konnte, und die Richtung
der Stichwunde eine solche, die besonders bei tieferer Stellung
der linken Schulter und senkrechter Stellung des Messers zum
Körper zu Stande kommen konnte, was wir durch mehrere Versuche an
Leichen constatirten, so gaben wir angesichts der eigenthümlichen
Verhältnisse des Falles die Möglichkeit zu, dass die betreffende
Wunde nur zufällig auf die von der Frau angegebene Weise entstanden
sein konnte, worauf mit Rücksicht auf die sonst unverdächtigen
Umstände ein Einstellungsbeschluss gefasst wurde. -- In einem anderen
Falle hatte ein Mann seine Frau, welche ihm einen aufgesparten
Nothpfennig gestohlen hatte, mit einem Tranchirmesser erstochen. Der
Stich war durch die vordere Bauchwand in den Magen eingedrungen,
und zwar von unten und vorne nach hinten und aufwärts. Der Mann gab
an, dass er aus verschiedenen Anzeichen merkte, dass ihm die Frau
Geld genommen haben müsse, und in grösster Aufregung das Messer
ergriff, um den versperrten Kasten, in welchem er das Geld versteckt
hatte, aufzubrechen. Auf der Stiege sei ihm aber sein Weib plötzlich
entgegengekommen und wäre ihm in das Messer hineingerannt. Im
Allgemeinen konnte die Möglichkeit eines solchen Vorganges nicht
negirt werden, wohl aber musste dies geschehen mit Rücksicht auf
die nicht besonders spitzige und scharfe Beschaffenheit des Messers
und mit Rücksicht auf eine Reihe von Umständen, die dafür sprachen,
dass die Verletzte die betreffende Wunde an einem anderen Orte als
auf jener Stiege erhalten haben musste. -- In einem dritten Falle
hatte ein Officier in einer Gesellschaft einen Namenstag gefeiert
und hatte nach Mitternacht beim Nachhausegehen letztere eingeladen,
seine Waffensammlung anzusehen. In der Wohnung angelangt, kam dem
Officier und einem Herrn aus der betreffenden Gesellschaft der
Einfall, mit scharfen Säbeln ein Scheinfechten anzustellen, wobei
jedoch der Officier das Unglück hatte, seinen Gegner mit dem Säbel am
Kehlkopf zu verwunden, so dass derselbe zwei Stunden darauf, trotz
herbeigeholter ärztlicher Hilfe, starb. Die Obduction ergab, dass die
Säbelspitze unterhalb des rechten Schildknorpels durch den Kehlkopf
bis in den Oesophagus eingedrungen war und eine rabenfederdicke Vene
aufgeschlitzt hatte, und dass der Tod zunächst an Erstickung in
Folge des aus diesem Gefässe in die Luftröhre eingedrungenen Blutes
eingetreten war. Durch die Umstände dieses Falles, insbesondere
dadurch, dass sich die ganze Scene vor einer grösseren Gesellschaft
abspielte, war der Fall klargelegt und wurde auch nicht weiter
verfolgt; aber man begreift, wie fatal die Situation für den
Officier gewesen wäre, wenn das Unglück bei Abwesenheit von Zeugen
sich ereignet hätte. -- Ueber eine zufällige Stichverletzung, die
dadurch zu Stande kam, dass ein im Zorne auf einen Verkaufstisch
geschleudertes und davon abprallendes Messer einem eben in die
Thür tretenden Knaben in den Kopf fuhr, berichtet +Kumar+
(Wr. med. Blätter. 1879, pag. 891) und ein höchst interessanter
Fall, in dem eine durch zufälliges Auffallen auf den eisernen Stiel
eines Spucknapfes entstandene letale Bruststichwunde den Verdacht
geschehener Ermordung erweckte, wird von +Kuby+ (Friedreich’s
Bl. 1879, pag. 214) mitgetheilt.
Zu den zufälligen Stichwunden gehören auch die nicht gar seltenen
Durchbohrungen des Orbitaldaches von der Orbitalhöhle aus, die durch
Auffallen oder Aufstossen auf vorspringende schmale Gegenstände
oder durch zufälliges Eindringen solcher in die Orbita mit oder
ohne Verletzung des Augapfels entstehen können. Von den uns
vorgekommenen Gegenständen erwähnen wir Spitzen von Regenschirmen und
Spazierstöcken, ein abgebrochenes Rapier, eine Pfeifenspitze, den
Stiel eines Kinderhammers und einen beinernen Federstiel. Letzterer
fand sich in einem Abscess des vorderen Stirnlappens steckend bei
einem Kinde, welches mehrere Tage vor dem Tode, als es nachlässig
schrieb, von seinem Vater einen Schlag mit der Hand auf den
Hinterkopf erhalten hatte, wodurch das Gesicht plötzlich gegen den
Federstiel und dieser in das Auge getrieben wurde, wobei er abbrach.
[Sidenote: Selbstmord durch Schuss.]
Zu den häufigsten Arten des Selbstmordes gehört der durch
+Erschiessen+. In der überwiegendsten Zahl der Fälle sind es kurze
Schusswaffen, welche zu diesem Zwecke benützt werden, Pistolen und
der gegenwärtig so beliebte Revolver. Lange Gewehre, wie Jagd- und
Soldatengewehre, kommen seltener zur Anwendung, weil sie weniger
verbreitet und unbequemer zu handhaben sind, weshalb, wenn solche
dennoch benützt werden und der Arm nicht ausreicht, um das Abdrücken zu
bewirken, manchmal Vorrichtungen getroffen werden, die das Abdrücken
ermöglichen sollen. Mitunter werden so eigenthümliche Schiesswerkzeuge
gewählt, dass schon dadurch der Selbstmord ausser Zweifel gesetzt wird.
So haben wir zweimal Selbstmörder obducirt, die sich mit einer aus
einem hohlen grossen Schlüssel roh hergestellten Pistole erschossen
hatten. In einem anderen Falle hatte ein Schlosser einen röhrenförmigen
Maschinenbestandtheil, in welchen er ein Zündloch eingebohrt hatte,
geladen, in einem Schraubstock eingezwängt und gegen sich abgefeuert,
und in einem dritten hatte eine Kinderkanone dazu herhalten müssen.
Manchmal wieder ist das Projectil von solcher Art, dass zunächst
an Selbstmord gedacht werden muss. So haben wir wiederholt bei
der Obduction erschossener Selbstmörder Steinchen, in einem Falle
ausser einem Stück gehackten Bleies Sand, und in einem weiteren ein
messingenes Quentchengewicht im Wundcanal gefunden. Ein origineller
Befund ergab sich bei einem von uns obducirten Schlosser, der sich
mit einem Revolver erschossen hatte. Es fand sich nämlich über der
Herzgegend ein mit einer mit Flanell gepolsterten Pelotte versehenes
Metallrohr, das mittelst eines um den Thorax verlaufenden Riemens
befestigt war. Durch dieses Rohr, welches er sich selbst verfertigt
hatte und welches ihm offenbar die Herzgegend markiren sollte, hatte
der Selbstmörder den Schuss abgefeuert, der auch das Herz durchbohrte,
aber ihn nicht sofort tödtete, worauf sich der Mann noch einen zweiten
Schuss in die rechte Schläfe beibrachte.
[Sidenote: Blinder Schuss.]
Auch jene seltenen tödtlichen Schussverletzungen +ohne
Zusammenhangstrennung+ der äusseren Haut können wohl nur bei
Selbstmördern vorkommen, die vielleicht in der Aufregung vergessen
hatten, mit einem Projectil zu laden. Hierher gehört der in Wien
vorgekommene und im Physikatsbericht vom Jahre 1871, pag. 123,
erwähnte Fall, wo bei einem 40jährigen Manne, der sich durch einen
Pistolenschuss das Leben genommen hatte, in der Gegend der linken
Brustwarze eine handtellergrosse, schwarzbraune, trockene Hautstelle
ohne Trennung des Zusammenhanges sich vorfand. Die hinter dieser
Stelle gelegene Schicht der Brustwand war suffundirt und gequetscht,
die Rippenknorpel gebrochen. Im Herzbeutel 1½ Pfund Blut, das
Herz contrahirt, auf seiner Vorderseite in der Mitte des Sinus
longitudinalis zwei etwa erbsengrosse Risse des Perikardiums, welche
in die Höhlen beider Ventrikel führten.
In einem uns vorgekommenen Falle, wo leider die Section nicht gemacht
werden durfte, fand sich bei dem betreffenden Selbstmörder, der sich
mit einer Doppelpistole erschossen hatte, eine grosse Schussöffnung
unter der linken Brustwarze und nach aussen und unten von dieser eine
handflächengrosse geschwärzte, vertrocknete Stelle mit eingesprengten
Pulverkörnern, die offenbar von einem blinden Schuss herrührte.
[Sidenote: „Wasserschüsse.“]
Um über die sogenannten +Wasserschüsse+, von denen bei
Selbstmördern häufig die Rede ist, in’s Klare zu kommen, haben wir
Versuche angestellt und darüber in der Wiener med. Wochenschr. 1878,
Nr. 6 und 7, berichtet. Diese Versuche haben ergeben, dass, wenn ein
wasserdichter, z. B. ein gefetteter Pfropf auf das Pulver aufgesetzt
wird, allerdings statt eines festen Projectils auch Wasser geladen
und der Schuss abgefeuert werden kann; dass aber die so verbreitete
Ansicht von der besonderen, jener gewöhnlicher Projectile weit
übersteigenden zerstörenden Wirkung geladenen Wassers jedenfalls
eine übertriebene ist, indem auch bei Wasserschüssen, eben weil
sie Nahschüsse sind[283], der Hauptantheil der Verwüstung, die sie
erzeugen, der unmittelbaren Wirkung der Pulvergase zugeschrieben
werden muss. Grossartig aber wäre die Zerstörung, wenn eine
specifisch schwere Flüssigkeit, insbesondere Quecksilber, geladen
würde. Im letzteren Falle würden die Quecksilberkügelchen in den
zertrümmerten Körpertheil die Diagnose des Vorganges gestatten.
Einen Wasserschuss jedoch zu diagnosticiren, ist wohl in der
Regel unmöglich, höchstens könnte, wie dies bei unseren Versuchen
constatirt wurde, die wie gespritzte Anordnung und in frischen Fällen
noch feuchte Beschaffenheit der Pulverschwärzung um den Einschuss
herum einen Anhaltspunkt gewähren. Aus der Verwüstung allein und
aus dem Nichtauffinden eines Projectils auf einen „Wasserschuss“
zu schliessen, ist ganz unzulässig, da, wie unsere Versuche
gezeigt haben, auch durch Pulver- oder Pfropfladung allein analoge
Verwüstungen, z. B. beim Schuss in den Mund, Auseinandersprengungen
des Schädels erzeugt werden können.[284]
Ein Fall, in welchem ein Selbstmörder sich den Mund mit Pulver
ausstopfte und dieses anzündete, wurde von +Casper+ beobachtet
(l. c. II, 300).
[Sidenote: Sitz der Schusswunde bei Selbstmord.]
Die Stelle, gegen welche Selbstmörder den Schuss abfeuern, ist in der
Regel der Kopf oder die Herzgegend. Am Kopfe wird meistens die Stirn-
und noch häufiger die Schläfegegend gewählt. Sehr häufig sind auch die
Schüsse in den Mund, selten die gegen das Unterkinn oder in das Ohr.
+Draper+ (Boston Journ. 6. März 1890) sah sogar einen Schuss in das
rechte Nasenloch. Nur ausnahmsweise wird die Waffe an Körperstellen
angelegt, die unbequem zu erreichen sind. So hat +Maschka+ in einem
Fall, den auch wir zu sehen Gelegenheit hatten, bei einem zweifellosen
Selbstmörder die Eingangsöffnung des Schusses rückwärts am Kopfe in
der Gegend des Lambdanahtwinkels gefunden, und drei Schädeldächer, an
deren zwei sich der Einschuss auf der rechten Scheitelhöhe und beim
dritten am -- Hinterkopf befindet (das letztere stammt von einem Manne,
der sich coram populo in einem Kaffeegarten erschossen hatte), besitzt
unsere Sammlung. Der Fall wurde von +Haberda+ (Vierteljahrschr. f. ger.
Med. 1893, V, pag. 221) beschrieben und abgebildet. Wiederholt fanden
wir den Einschuss in der Magengrube, die bekanntlich von den Laien
auch mit dem Namen Herzgrube bezeichnet wird und einmal in der linken
Axillarlinie in der Höhe des Herzens.
[Sidenote: Pfropf.]
Fast ausnahmslos wird die Schusswaffe unmittelbar an die betreffende
Körperstelle angesetzt, nachdem in der Regel bedeckende
Kleidungsstücke entfernt oder bei Seite geschoben wurden. Die
betreffenden Schussverletzungen tragen daher fast immer jenen
Charakter an sich, den wir für Nahschüsse an einer anderen Stelle
auseinandergesetzt haben. Aus diesem Grunde wird auch, namentlich wenn
ein Vorderlader benützt worden war, ausser dem Projectil in der Regel
der Pfropf oder Reste desselben in dem Schusscanal, beziehungsweise in
der durch den Schuss erzeugten Zertrümmerung gefunden, der seinerseits,
wie wir schon oben bemerkten, wichtige Aufschlüsse geben kann.[285]
Das Auffinden der abgefeuerten Waffe neben der Leiche eines
Erschossenen beweist natürlich für sich allein nicht den Selbstmord, da
dieselbe absichtlich hingelegt worden sein konnte, andererseits ist es
nichts Seltenes, dass die Waffe sich bei der Leiche nicht findet, weil
sie von Denjenigen, die zuerst hinkamen, weggenommen worden ist.
[Sidenote: Schusswaffe in der Hand.]
Von dem Festhalten der Schusswaffe in der Hand des betreffenden
Selbstmörders gilt dasselbe, wie von dem Festhalten des Messers beim
Selbstmord durch Halsabschneiden. Es scheint jedoch, dass dieser Befund
beim Erschiessen häufiger vorkommt, als bei letzterer Selbstmordart.
Selbst das krampfhafte Festhalten der Waffe ist für sich allein nicht
absolut beweisend, da die Erscheinung auch zu Stande gekommen sein
konnte, wenn der Betreffende, während er die Schusswaffe in der Hand
hielt, von einem Anderen einen sofort tödtlichen Schuss erhielt, z. B.
im Duell.
[Sidenote: Pulverschwärzung.]
Die Hände sind jedesmal auf etwa vorhandene Pulverschwärzung zu
untersuchen. Diese kann desto leichter zu Stande kommen, je mehr
Pulver geladen war. Sie rührt theils vom Pulverrauch her, theils
von zurücksprühenden Pulverkörnern, wovon wir uns bei unseren
Schiessversuchen gegen Leichen überzeugt haben. Am meisten entwickelt
sich dieser Befund bei Schüssen aus Pistolen, namentlich kurzen, aber
auch bei grossen Revolvern, während bei kleineren die Schwärzung der
betreffenden Hand entweder nur sehr gering ist oder ganz fehlt. In der
Regel zeigt die rechte Hand die Pulverschwärzung, seltener die linke,
in welchem Falle der Schluss berechtigt ist, dass der Betreffende ein
Linkshänder gewesen. Bereits zweimal sahen wir die Pulverschwärzung
an der linken Hand, während der Schuss die rechte Schläfe betraf, was
vielleicht davon herrührte, dass der Betreffende mit der linken Hand
den Lauf gegen die Schläfe andrückte, während die rechte den Kolben
hielt. Selbstverständlich wäre auch auf andere Schwärzungen, die an den
Händen vorkommen können, Rücksicht zu nehmen.
[Sidenote: Verletzungen an der Hand. Mehrere Schusswunden.]
Ausser der Pulverschwärzung kann man an der Hand, mit welcher ein
Selbstmörder einen Schuss gegen sich abfeuerte, auch Verletzungen
finden, und zwar nicht blos jene meist gröberen Verletzungen, die durch
Zerspringen der betreffenden, häufig überladenen Schusswaffe entstehen
können, sondern häufiger kleine, als Hautaufschürfungen, Risse
u. dergl. sich präsentirende Verletzungen, die meist am Daumen oder
am Zeigefinger der betreffenden Hand ihren Sitz haben und gewöhnlich
als durch den Rückstoss der überladenen Waffe und dann durch das
Anprallen des Bügels oder anderer vorspringender Theile am Schlosse
der Waffe erzeugt, gedeutet werden. Zweifellos können jedoch solche
Verletzungen auch durch Zurückspringen von Knochensplittern gegen die
in unmittelbarer Nähe befindliche Hand entstehen, und es ist uns nicht
blos aufgefallen, dass namentlich nach Schüssen gegen den Kopf, die mit
grossen Zertrümmerungen desselben verbunden waren, solche Verletzungen
vorkamen, sondern wir haben auch in einem Falle ein hanfkorngrosses
Knochenstückchen in der Haut des Daumens eingesprengt gefunden. Auch
kann man, wenn man Schiessversuche gegen Leichen anstellt und die
Waffe unmittelbar anlegt oder aus nächster Nähe abfeuert, fühlen und
sehen, wie kleine, meist aus Pulverkörnchen, aber auch aus Gewebsresten
bestehende Theilchen gegen die Hand zurückprallen, während es bekannt
ist, dass z. B. beim Scheibenschiessen mit Pistolen, Revolvern
u. dergl. von einem Zurücksprühen von Pulver etc. nichts zu bemerken
ist.
Verletzungen an der Hand, eventuell auch anderwärts können bei
einem Selbstmörder auch durch ungeschicktes hastiges Handhaben und
vorzeitiges Losgehen der Waffe zu Stande kommen. Bei einem jungen
Manne, der sich durch einen Schuss in die linke Schläfe umgebracht
hatte, fanden wir die rechte Hohlhand geschwärzt und einen vom
Daumenballen bis zum Capitulum ulnae dringenden geschwärzten Canal, in
dessen blindem Ende eine Spitzkugel von gleicher Beschaffenheit wie
im Schädel stak, ein Befund, der wohl nur auf die obige Weise sich
erklären lässt. Bei einem Anderen ergab sich ausser der Schusswunde in
der rechten Schläfe eine nicht geschwärzte am rechten Darmbeinkamm,
welche in das rechte Hüftgelenk eingedrungen war. Bei diesem Individuum
fanden sich als Spuren eines früheren Selbstmordversuches Narben von
Schnitten an beiden Handgelenken!
[Sidenote: Mehrere Schusswunden.]
Werden mehrere Schussverletzungen an der Leiche gefunden, so kann die
Frage entstehen, ob der Betreffende, da an eine gleichzeitige Zufügung
derselben nicht leicht gedacht werden kann[286], noch im Stande
gewesen sein konnte, sich nach dem ersten Schuss noch einen zweiten
und sogar noch andere beizubringen, eventuell ob er im Stande war, von
Neuem zu laden und zu schiessen.
Es ist in solchen Fällen die Natur der einzelnen Verletzungen zu
erwägen. Finden wir eine darunter, welche sofort das Individuum
ausser Stand setzen musste, noch eine Handlung zu unternehmen, wie
z. B. eine Zerschmetterung des Herzens oder des Kopfes, so ist es
klar, dass diese die letzte gewesen sein musste, die von eigener Hand
hatte zugefügt werden können. Ergibt sich noch eine zweite solche
Wunde oder ein Anhaltspunkt dafür, dass die andere, nicht sofort
tödtliche, erst später zugefügt wurde, dann ist natürlich Selbstmord
auszuschliessen. Da, wie wir oben erwähnten, Pistolenschüsse ungleich
grössere Verwüstungen anrichten als Schüsse aus Revolvern, und aus
diesen rascher und mehrmals hintereinander gefeuert werden kann, so
ist es begreiflich, warum bei ersteren verhältnissmässig seltener
mehrere Schusswunden an +einem+ Selbstmörder gefunden werden, als
bei letzteren und bei diesen desto häufiger, je kleiner das Caliber
des Revolvers gewesen ist und je weniger daher die unmittelbare
Explosionsgewalt des Pulvers, sondern nur das meist kleine Projectil
zur Wirkung gelangte. Dies gilt insbesondere von den Taschenrevolvern
mit ihren winzigen Projectilen, die so enge Schusscanäle erzeugen,
dass der Selbstmörder, selbst nachdem er bereits das Herz getroffen,
nochmals zu feuern vermag. Fig. 73 zeigt die Eingangsöffnungen von
zwei bei einem Selbstmörder gefundenen Revolverschüssen, von denen
der eine durch die linke, der andere durch die rechte Herzkammer
gegangen war, und unlängst kam ein Fall vor, wo an dem Selbstmörder,
einem alten Officier, 6 Schussöffnungen sich fanden. Eine über der
Glabella frontis, welche bis zur äusseren, eine kreisförmige Fissur
zeigenden Tafel des 1 Cm. dicken compacten Schädels führte, der eine
kuchenförmig plattgedrückte Spitzkugel von 7 Mm. Caliber aufsass,
ferner eine zweite am rechten Jochbein, welche, ohne den Schädel zu
eröffnen, in einen quer durch beide Orbiten ziehenden Canal führte, der
beide Nn. optici durchtrennte und am linken Jochbein mit einer grossen
Ausgangsöffnung endete und endlich 3 dicht beisammenstehende Einschüsse
in der Herzgegend, von denen einer die linke Lunge und die zwei anderen
die linke Herzkammer und die Brustaorta durchdrangen. Offenbar waren
die 2 Schüsse in den Kopf die ersten, die Schüsse durch das Herz die
letzten gewesen. Aus dem Gesagten erklärt sich, warum gegenwärtig
ungleich häufiger verunglückte Selbstmordversuche durch Erschiessen
und Heilungen solcher Selbstmörder vorkommen, als dies früher der Fall
war, da sich herausstellt, dass die grösste Mehrzahl dieser Fälle
Verletzungen betrifft, die mit Revolvern zugefügt waren.
Einen Fall, in welchem ein Selbstmörder 4 Schüsse gegen seine Brust
abfeuerte und doch mit dem Leben davon kam, hat +Lorinser+ (Wiener
med. Wochenschr. 1871, XXI, 12) veröffentlicht. Die Schusswaffe
war ein vierläufiger Revolver. Ein Schuss war zwischen der 2. und
3. Rippe links neben dem Brustbein, ein zweiter zwischen der 3.
und 4., der dritte zwischen der 4. und 5. und der vierte zwischen
der 5. und 6. Rippe in den Thorax eingedrungen. Alle Wunden waren
in der Umgebung geschwärzt; unterhalb des linken Schulterblattes
eine blau sugillirte Stelle, darunter eine Kugel zu fühlen.
Pneumothorax, Heilung ohne Extraction der Kugeln. Aehnliche Fälle
hat +Kumar+ (Bericht des Rudolfspitales für 1875 und Wiener med.
Blätter. 1879, Nr. 28 u. s. f.) mitgetheilt. Ueber 7 Fälle geheilter
Schussverletzungen des Thorax berichtet +Nedopil+ (Wiener med.
Wochenschr. 1877, Nr. 18 bis 20). Nur in einem einzigen derselben
war die Waffe eine kleine Pistole, in allen übrigen ein kleiner
Handrevolver.
[Illustration: Fig. 73.
Zwei Revolverschüsse, die beide durch das Herz gegangen waren.
(Selbstmord.) Nat. Gr.]
Auch in einem von +Casper+-+Liman+ (l. c. II, 74) mitgetheilten
Falle, wo bei einem Selbstmörder zwei Schüsse in der Brust und
ein Schuss mitten in der Stirne gefunden wurden, handelte es sich
offenbar um Revolverschüsse, da unter dem linken Schulterblatt zwei
Spitzkugeln extrahirt wurden. (Die Obduction wurde nicht gemacht.)
Dagegen wird an einer anderen Stelle (pag. 297) ein Fall beschrieben,
in welchem ein Mann, der sich einen Pistolenschuss in die Brust
beigebracht hatte, der das Zwerchfell und die Milz durchbohrt hatte,
noch im Stande war, den Rock und den Ueberrock bis an den Hals
zuzuknöpfen und sich hierauf in einen wenige Schritte entfernten
Teich zu stürzen.
Die Möglichkeit, dass Jemand, der sich eine perforirende Schusswunde
am Schädel beigebracht, noch einen weiteren Schuss gegen sich abgeben
kann, lässt sich nicht absolut negiren. Eine solche Möglichkeit
ist vielmehr dann gegeben, wenn der Schuss mit keiner stärkeren
Hirnerschütterung und keiner plötzlichen starken Blutung verbunden
war und nur solche Hirntheile traf, deren Verletzung nicht sofort
Bewusstlosigkeit oder Lähmung herbeiführt. Solche Bedingungen sind
wieder bei kleinen Schusswaffen, namentlich kleinen Revolvern, gegeben,
da bei diesen die unmittelbare Gewalt der Pulvergase weniger zur
Geltung kommt und da daher nur das kleine Projectil wirkt, welches
verhältnissmässig schmale canal- oder rinnenförmige Durchbohrungen
erzeugt und der geringen Propulsionskraft wegen häufig genug nur in die
peripheren Partien des getroffenen Hirntheiles eindringt. Nach solchen
Verletzungen kann Handlungsfähigkeit noch bestehen, ebenso wie man
diese, wie später erwähnt werden wird, auch bei anderen umschriebenen
Verletzungen des Gehirnes, z. B. Stichwunden, und selbst nach
Hiebwunden und mit Schädelfractur verbundenen Verletzungen mitunter in
ganz auffälliger Weise beobachtet.
+Nägeli+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1884, XLI, pag. 231)
berichtet über einen Fall, wo, weil zwei in’s Gehirn gedrungene
Schusswunden sich fanden, an dem Selbstmord gezweifelt wurde. Der
eine Schusscanal begann mit einer erbsengrossen Oeffnung an der
linken Incisura supraorbitalis, und durchbohrte von links nach
rechts ziehend den rechten Stirnlappen, den vorderen Winkel der
rechten +Sylvi+’schen Grube und den vordersten Theil des rechten
Schläfelappens, ohne die innere Kapsel oder die Centralwindungen zu
verletzen, während der andere etwas unterhalb des inneren linken
Augenwinkels beginnend von vorn nach hinten und etwas nach rechts
unter der Schädelbasis bis zur rechten Seite des Clivus verlief,
die Carotis im Sulcus caroticus durchriss und, das rechte Kleinhirn
quetschend, ohne Verletzung der centralen Theile rechts etwa in
der halben Höhe des Hinterhauptbeines endete. +Nägeli+ und alle
anderen befragten Experten sprachen sich dahin aus, dass, wenn der
Schuss, der durch den rechten Stirnlappen drang, der erste war,
die Möglichkeit nicht absolut ausgeschlossen werden kann, dass der
Untersuchte sich noch den zweiten Schuss hat beibringen können.
Complicirend und befremdend war aber der Umstand, dass der Revolver,
der rechts von der Leiche gefunden wurde, wegen Federbruches nur
bei nach abwärts gerichteter Mündung repetirte und sowohl beim
Aufziehen als Abdrücken sehr schwer ging. +Kappeler+, der den Fall
auch begutachtete, erwähnte mehrere Fälle aus der Literatur, wo
nach ähnlichen Schüssen, wie der durch den rechten Stirnlappen,
das Bewusstsein durch einige Zeit erhalten blieb und eine eigene
Beobachtung, wo ebenfalls zwei perforirende Schädelwunden bei einem
Selbstmörder sich fanden. Es war ein kleiner Revolver benutzt worden.
Der eine Schusscanal begann über der Nasenwurzel, drang durch den
oberen Theil der rechten Grosshirnhemisphäre und war mit Blutung
in den rechten Seitenventrikel verbunden; der zweite begann in der
rechten Schläfegegend und endete, den Knochen durchbohrend, mit
einer 2 Francstückgrossen Quetschung des Schläfelappens 3 Cm. hinter
der Spitze desselben. Wir selbst besitzen in unserer Sammlung ein
Präparat, welches eclatant darthut, dass nach einer in’s Gehirn
eingedrungenen Schusswunde Bewusstsein und Handlungsfähigkeit sich
noch durch einige Zeit erhalten können. Dasselbe stammt von einem
Manne, der in seinem Zimmer mit einem Revolver sich zu erschiessen
versucht hatte. Man fand ihn Morgens in seinem Zimmer am Boden
sitzend mit einer Wunde über dem Ohre, von der er angab, dass sie
durch Fall gegen eine Sophaecke entstanden sei. Auf +Albert+’s Klinik
gebracht, war er bei Bewusstsein und gab an, dass er durch Jemanden
gestossen worden und gegen eine Sophaecke gefallen sei. Die Form
der Wunde sprach nicht dagegen, da dieselbe pfeilspitzenförmig war
(ähnlich der in Fig. 59 abgebildeten). Die Versengung der Haare
aber und die Schwärzung charakterisirte die Schusswunde. Noch am
selben Tage trat Bewusstlosigkeit ein und am anderen der Tod. Die
Obduction ergab einen fingerweiten geschwärzten Schusscanal, der am
Zusammenstoss des rechten grossen Keilbeinflügels mit dem Schläfe-
und Scheitelbein begann, quer durch die hintere Partie des rechten
Stirnlappens bis zum grossen Hirnspalt verlief, von dem er nur durch
die Hirnrinde getrennt war, die Spitze des Vorderhorns des rechten
Seitenventrikels eröffnet und das vordere Ende des rechten Corpus
striatum gestreift hatte. Der Canal enthielt ein stark deformirtes,
nahezu gespaltenes Spitzgeschoss von beträchtlicher Grösse (der
betreffende Revolver hatte ein Caliber von 11 Mm.!). Das Projectil
hatte offenbar den ziemlich dicken Schädel schief durchbohrt, war
an der scharfen Kante der vorderen Peripherie der Schussöffnung im
Knochen nahezu vollständig gespalten worden und hatte dadurch so viel
an Propulsionskraft verloren, dass es nur bis zur Falx vorzudringen
vermochte. In einem anderen 1888 obducirten Falle war ein junger
Mann, nachdem er seiner Geliebten einen Schuss in den Kopf und in’s
Herz und sich selbst einen in die Vorderohrgegend beigebracht hatte,
welcher die Unterfläche des rechten Stirnlappens streifte, noch im
Stande, sich zum Fenster zu begeben und sich herabzustürzen. Analoge
Fälle werden von +Hayes+-+Agnew+ (Virchow’s Jahrb. 1887, I, pag. 508)
mitgetheilt.
[Sidenote: Combinirter Selbstmord durch Schuss.]
Combination von Selbstmord, respective Selbstmordversuch durch
Schuss mit anderen Tödtungsarten kommen nicht gar selten vor.
Jene mit Ertrinken, wie der oben erwähnte Fall von +Liman+, sind
verhältnissmässig am häufigsten, insbesondere solche, wo die
Betreffenden im oder am Wasser sich erschiessen. Diese Fälle können
am ehesten Verdacht erwecken, dass eine Einwirkung fremder Hand
und nachträgliche Beseitigung der Leiche stattgefunden hat. Andere
Combinationen sind in der Regel derart, dass sie als solche den
Selbstmord ausser Zweifel stellen. In einem unserer Fälle hatte
ein Mann einen blinden Schuss in den Mund abgefeuert und hierauf
sich den Hals durchschnitten; in einem anderen hatte sich der
Selbstmörder einen bis in das Herzfleisch dringenden Stich und einen
Schnitt am linken Handgelenk beigebracht, worauf er sich durch einen
Revolverschuss in die rechte Schläfe tödtete; in einem dritten
wurde der Erschossene unter einem Baume mit einer Schlinge um den
Hals gefunden, hatte sich daher entweder früher oder gleichzeitig
zu erhängen versucht. Am seltensten ist die Combination von
Erschiessen mit Vergiftung. Von +Bělohradsky+ (Zeitschr. d. böhm.
Aerzte. 1880, pag. 85) werden zwei solche Fälle aus dem Prager
medicinisch-forensischen Institute mitgetheilt. In einem dieser
Fälle ergab sich ausser der tödtlichen Schusswunde Phosphor-, im
anderen Cyankaliumvergiftung. Anderseits berichtet +Blumenstok+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1890, L, pag. 81) über einen
Gensdarmen, bei dem ausser einer Schusswunde durch den Mund eine
frische Hiebwunde am Kopfe gefunden wurde. Es war ihm kurz vor der
That der Säbel entrissen und damit letztere Wunde beigebracht worden,
worauf aus Kränkung darüber der Selbstmord erfolgte.
[Sidenote: Selbstmord durch Sturz.]
Nicht selten ist die absichtliche Selbsttödtung durch
Sich-+Herabstürzen von einer Höhe+. In Wien betrug die Zahl solcher
Fälle in den Jahren 1870-77 durchschnittlich 6·5 Procente aller
Selbstmorde. In der Regel handelt es sich um Sturz aus dem Fenster,
seltener besteigen Selbstmörder zu diesem Zwecke Höhen (Thürme,
Monumente) oder stürzen sich in Abgründe. Der Sectionsbefund zeigt in
der überwiegenden Zahl der Fälle keine auffallenden Verletzungen der
allgemeinen Decken, mitunter sogar gar keine äusseren Verletzungen, ein
Beweis der grossen Resistenzfähigkeit der Haut.
Meist finden sich blos Hautaufschürfungen, einzelne Sugillationen oder
unbedeutende Hautwunden. Derartige geringfügige äussere Befunde ergeben
sich insbesondere dann, wenn der Körper auf eine ebene Fläche auffiel.
Doch sind offene Fracturen nichts Seltenes und wir haben besonders am
Kopfe bei einer Geisteskranken, die aus dem Fenster gesprungen und
gerade auf den Kopf gefallen war, ein vollständiges Auseinanderplatzen
desselben in zwei fast symmetrische Hälften gesehen. Leichter können
sich äussere Zusammenhangstrennungen entwickeln, wenn der Körper
während des Fallens an vorspringende harte Gegenstände auffiel oder auf
Steine oder ähnliche Dinge aufschlug.
Die Hauptbefunde ergeben sich bei der inneren Untersuchung und können
bestehen in mehr weniger ausgebreiteten Fracturen oder Fissuren des
Schädels, in Brüchen der Rippen, der Wirbelsäule und des Beckens,
namentlich aber in Rupturen innerer Weichtheile in verschiedensten
Combinationen.
Es ist selbstverständlich, dass sowohl die äusseren als die inneren
Befunde die gleichen sein können, ob nun der betreffende Sturz durch
Zufall oder in der Absicht, einen Selbstmord zu begehen, erfolgte, oder
durch fremde Hand veranlasst wurde, dass daher die Obduction für sich
allein nur selten im Stande ist, die Ursache des Sturzes nach einer
dieser Richtungen aufzuklären[287], und nur von den sonstigen Umständen
des Falles eine Aufklärung erwartet werden kann.
[Sidenote: Zufälliges Verunglücken und Mord durch Herabstürzen.]
Zufälliges Verunglücken durch Sturz ist namentlich in grossen Städten
häufig. In Wien kamen im Jahre 1873 83, im Jahre 1874 52 und 1875
70 solche Fälle vor. Sie betrafen vorzugsweise Arbeiter, die bei
Ausübung ihres Gewerbes von Dächern, Gerüsten etc., dann Dienstmägde,
die beim Fensterputzen, und Kinder, die von Fenstern, Stiegenhäusern
u. dergl. herabstürzten, seltener Individuen, die in unverwahrte
Keller etc. hineingefallen waren.
Absichtliche Tödtung Anderer durch Herabstürzen kommt noch am
häufigsten bei Neugeborenen vor und wir werden auf diesen Gegenstand
bei der Besprechung der Sturzgeburt zurückkommen. Bei älteren Kindern
oder gar bei Erwachsenen ist dieselbe selten.
In einem unserer Fälle hatte ein Vater in einem, einem
Blatternausbruch vorangegangenen Delirium sein 4jähriges Kind aus
dem dritten Stock auf die Strasse geworfen und dadurch getödtet.
Aeusserlich fanden sich blos einige Hautaufschürfungen an der linken
Wange, am Gesässe und am Rücken, innerlich ausgebreitete Suffusion
der Kopfhaut und eine sagittale Fissur der Hinterhauptschuppe,
Suffusionen der Hirnhäute, seichte Einrisse in beiden Lungen.
Wir hatten ferner einen Fall zu begutachten, in dem ein Weib
beschuldigt wurde, ihren Mann an einem regnerischen Herbstabend von
einem, längs eines 40 Schuh tiefen Abgrundes sich hinziehenden,
unverwahrten und nur wenige Schuh breiten Bergpfade herabgestossen
und dadurch getödtet zu haben. Der Mann war in einen Bach gefallen,
hatte den Schädel zersplittert und bot zugleich Zeichen des
Ertrinkungstodes. Der Fall war durch seine Umstände (nachgewiesener
Ehebruch der Frau, Drohungen gegen ihren Mann etc.) im hohen Grade
verdächtig; wir mussten jedoch erklären, dass vom ärztlichen
Standpunkte, namentlich nur aus dem Sectionsbefunde, sich unmöglich
entscheiden lasse, ob der Betreffende, wie die Frau angab, in
der Dunkelheit und bei dem durch Regen schlüpfrigen Boden nur
zufällig verunglückt oder von seinem Weibe absichtlich in die Tiefe
heruntergestossen worden sei.
Bekannt ist der in Bozen zur Hauptverhandlung gelangte Fall
+Tourville+, in welchem die Anklage erhoben wurde, dass T. seine
Frau von der Stilfserjochstrasse in einen Abgrund gestürzt,
beziehungsweise sie zuerst betäubt und dann zum Abgrund hingeschleift
habe, während er selbst angab, dass seine Frau an der betreffenden
Stelle einen Selbstmord begangen habe. Auch in diesem Falle waren es
weniger die anatomischen Befunde an der Leiche, als die sonstigen
Umstände des Falles, welche Verdacht erwecken mussten, dass kein
Selbstmord vorliege. Sie bestanden unter Anderem darin, dass die
Strasse an der betreffenden Stelle keineswegs senkrecht abfiel,
sondern in eine allerdings stark geneigte, jedoch mit Steinen,
Baumstrünken und ähnlichen Hindernissen besetzte Lehne überging,
die erst in ziemlicher Entfernung in einen Absturz endete, so dass
erstens die Stelle nicht wohl geeignet war zur Unternehmung eines
Selbstmordes und dass sie auch die Angabe des Angeklagten, dass die
Frau, nachdem sie von der kaum ein Meter über den Anfang der Lehne
erhabenen Strasse herabgesprungen, eine weite Strecke heruntergerollt
sei, nicht glaublich erscheinen liess; ferner in dem Umstande, dass
schon in der nächsten Nähe der doch so niedrigen Strasse bereits
Blutspuren bemerkt wurden, die in einer Linie sich bis zum Abgrund
verfolgen liessen, und dass endlich zwischen dem Abgrund und dem
Fusse der Lehne ein Streifen constatirt wurde, der zufolge seiner
Breite und Gleichmässigkeit sich so verhielt, wie wenn er durch das
Schleifen einer Person über den betreffenden Grasfleck erzeugt worden
wäre.
Ungleich schwieriger war die Beurtheilung in dem von +Kratter+
(Wiener klin. Wochenschr. 1889, Nr. 31) begutachteten Falle eines
Touristen, dessen Leiche in einem Alpenthale unter einer 60 Meter
hohen Felswand gefunden wurde und wo zu entscheiden war, ob Denatus
zufällig abgestürzt und dann ausgeraubt oder früher umgebracht und
dann herabgestürzt worden war, da die Leiche erst nach mehreren
Wochen in hochgradig faulem Zustande zur Untersuchung kam und nur der
Kopf, nicht aber auch die übrigen Körperhöhlen eröffnet worden waren.
Am 1. Mai 1892 secirten wir einen Arbeiter, der von einem Glasdache
herabgestürzt und sofort todt geblieben war. Er hatte mit einem
Zweiten Nieten an der Eisenconstruction einzuschlagen und Letzterer
gab an, dass er fehlgeschlagen und zufällig seinen Kameraden mit dem
Hammer auf die Brust getroffen habe, worauf dieser das Gleichgewicht
verlor und herabstürzte. Es bestand aber der Verdacht, dass die Zwei
am Dach in Streit gekommen waren und dabei der Sturz erfolgt sei.
Positives konnte jedoch nicht herausgebracht werden.
[Sidenote: Selbstmord durch Sichüberfahrenlassen.]
Analoge Verletzungen wie beim Sturz von einer Höhe werden auch durch
+Ueberfahrenwerden+ erzeugt, eine Todesart, die nicht blos als
zufällige häufig vorkommt, sondern in neuerer Zeit auch zum Behufe des
Selbstmordes gar nicht selten gewählt wird. Fast ausnahmslos sind es
Eisenbahntrains, von denen sich die Selbstmörder überfahren lassen.
Die Verletzungen sind in der Regel colossal und lassen schon dadurch
auf ihre Provenienz schliessen. Abtrennungen ganzer Körpertheile, auch
des Kopfes, sind etwas sehr Gewöhnliches und lassen sich durch die
Scheerenwirkung der Schiene einerseits und der Radkante anderseits
erklären.
[Sidenote: Ueberfahren durch Trains.]
Zu bemerken ist, dass nicht alle Verletzungen, die an einer solchen
Leiche gefunden werden, von den Rädern des Trains herrühren müssen,
sondern dass auch die sogenannten Bahnräumer solche bewirken können,
theils durch directe Beschädigung des Körpers, theils, indem sie
denselben von der Bahn wegschleudern. Von verlässlicher Seite wird
uns ein Fall mitgetheilt, in welchem sich bei einem offenbar im
trunkenen Zustand von einem Zuge überfahrenen Mann ausser vielfachen
Quetschungen und Zerreissungen auch eine Wunde am Halse befand, die
ganz das Aussehen einer Stichwunde und eine beträchtliche Tiefe
hatte, ohne jedoch wichtige Theile zu verletzen und wo sich mit
grösster Wahrscheinlichkeit herausstellte, dass die Wunde durch
einen der „Bahnräumer“, die aus steifen harten Besen bestanden,
respective durch ein Reis dieses Besens erzeugt worden war.
Uebrigens können, wie wir wiederholt bei von Trains Ueberfahrenen
sahen, stichwundenähnliche Verletzungen sowohl der Haut, als innerer
Organe durch Knochensplitter, insbesondere durch die eingedrungenen
und wieder zurückgegangenen Bruchenden von Rippen, sich bilden.
In einem 1878 von uns obducirten Falle war eines Morgens ein
Bahnwächter innerhalb eines der Wiener Bahnhöfe bewusstlos neben
den Schienen gefunden worden, mit einer Impression in der rechten
Hinterhauptgegend, und starb nach drei Tagen. Die Obduction
ergab eine 2 Cm. breite, vollkommen kreisrunde Lochfractur der
Hinterhauptschuppe, die auf ein, eine kugelige und kleine Oberfläche
besitzendes Werkzeug schliessen liess. Zufolge den Erhebungen hatte
sich der Betreffende in der Nähe der Schienen niedergelegt, um
den ankommenden Zug zu hören, war aber von diesem überrascht und
von dem abgerundeten und verhältnissmässig dünnen Ende einer der
Kolbenstangen am Kopfe getroffen worden.
Auf die Möglichkeit, dass anderweitig getödtete Individuen auf
die Schienen gelegt werden können, damit ein Selbstmord oder ein
zufälliges Verunglücken vorgetäuscht werde, haben wir bereits oben
aufmerksam gemacht.[288]
[Sidenote: Selbstmord durch Hiebwunden.]
Von anderen selteneren Selbstmordsformen wollen wir nur den Selbstmord
durch +Hiebwunden+ erwähnen. Eine solche Selbstmordart gehört
jedenfalls zu den ganz ungewöhnlichen, ist aber wiederholt beobachtet
worden.
+Casper+-+Liman+ (l. c. II, pag. 262) citiren drei solche Fälle,
ebenso berichtet +Schauenstein+ von einem Lohnbedienten, welcher
sich mit einem Beile 17 Hiebe an der Stirne und am Schädeldache
beigebracht, von welchen einige den Knochen durchdrangen und den
Tod durch Meningitis veranlassten. Ein anderer Fall dieser Art
findet sich im Bericht des k. k. allgemeinen Krankenhauses in
Wien vom Jahre 1871, pag. 79. Ein 32jähriger Tischler hieb sich
in selbstmörderischer Absicht mit einem Hammer auf die rechte
Schläfegegend. Es fand sich eine thalergrosse, den Knochen nicht
blosslegende Quetschwunde. Der Mann war bewusstlos, beide untere
Extremitäten gefühllos, blass, paretisch. Den nächsten Tag Wiederkehr
des Bewusstseins. Nach zwei Monaten vollständige Genesung.
Wir selbst haben eine alte Frau obducirt, die sich zuerst einen
Stich in die Leber versetzt hatte und als der Tod nicht eintrat,
ein Küchenbeil ergriff und theils mit der Schneide, theils mit dem
Rücken desselben so lange gegen die Stirne und den Scheitel (!)
hieb, bis sie bewusstlos zusammensank. Als sie in’s Spital gebracht
wurde, war das Bewusstsein wiedergekehrt, es fanden sich theils
lineare Trennungen der Kopfhaut, theils Quetschungen derselben, es
kam zur Verjauchung und necrotischer Abstossung grosser Partien
der Kopfhaut und der Tod erfolgte nach mehreren Tagen an Pyämie.
Bei der Section konnte nachgewiesen werden, dass einzelne der
mit der Schneide geführten Hiebe die äussere Knochentafel des
Schädeldaches durchtrennt hatten. Ferner sahen wir einen Mann, der im
geistesgestörten Zustand sein Kind mit der Hacke erschlagen, seine
Geliebte schwer verwundet und hierauf sich selbst mit dem Rücken
der Hacke vier Contusionen an der Stirne beigebracht hatte. Ueber
eine Combination von Selbstmord durch Erhängen und Hiebwunden mit
einer Axt bei einem Typhuskranken hat +Haumeder+ (Wiener med.
Wochenschr. 1882, Nr. 18) berichtet.
+Frank+ (Wiener med. Wochenschr. 1885, Nr. 15-17)hat die in der
Literatur enthaltenen derartigen Fälle gesammelt und einen neuen in
unserem Institute obducirten Fall mitgetheilt und abgebildet, der
eine alte Frau betraf, die sich mit der Schneide einer Hacke eine
grosse Zahl zum Theile in den Schädel eindringender, parallel von
vorn nach hinten verlaufender, dicht beisammen liegender Hiebe mitten
in der hinteren Stirngegend und ausserdem seichte Schnittwunden an
der Innenfläche beider Oberarme und in beiden Kniekehlen beigebracht
hatte. Einen ähnlichen Fall hat +Blumenstok+ (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1888, L, pag. 81) mitgetheilt und +Cissel+ (Wiener
klin. Wochenschr. 1892, Nr. 16) einen anderen, wo sich ein alter
schwachsinniger Mann fünf Nägel in den Kopf eingeschlagen hatte,
ohne dass auffällige Functionsstörungen eintraten. -- In einem von
+Kornfeld+ (Friedreich’s Bl. 1891) begutachteten Falle war die Frage
zu beantworten, ob der Nagel, welcher in den Scheitel bis in den
Sinus eingedrungen war und den Tod veranlasst hatte, von dem Manne
selbst eingetrieben wurde oder durch einen Schlag mit einer Latte, in
welcher er gesteckt haben konnte. Wahrscheinlich lag Selbstmord vor,
da der Mann Tags zuvor Phosphorzündhölzchenköpfchen genommen hatte.
Fälle dieser Art könnten, wenn sie nicht durch die Umstände klargelegt
sind, die grössten Täuschungen veranlassen. In der Regel betreffen
sie jedoch entweder Geisteskranke oder Individuen, denen, wie eben
Geisteskranken oder Gefangenen, andere bequemere Mittel zum Selbstmorde
nicht zu Gebote stehen, doch sind thatsächlich solche Vorgänge auch von
Personen unternommen worden, denen die Möglichkeit, sich durch andere
und bequemere Methoden umzubringen, nicht benommen war.
Untersuchung von Blutspuren.
Blutspuren oder Flecke, die den Verdacht erregen, dass sie von Blut
herrühren, können sich finden entweder beim Localaugenschein oder an
Individuen, beziehungsweise ihnen gehörigen Gegenständen, insbesondere
Waffen, die im Verdachte stehen, oder eben solcher Befunde wegen in den
Verdacht kommen, die That begangen zu haben.
[Sidenote: Befund von Blutspuren.]
Das Verhalten der Blutspuren am Orte, wo eine vermeintlich
verbrecherische That begangen wurde, kann mitunter die wichtigsten
Aufklärungen geben über verschiedene, für die gerichtliche Untersuchung
bedeutungsvolle Umstände, und es ist daher jedesmal darauf ein
besonderes Augenmerk zu richten. Es ist sowohl das Verhalten der
Blutspuren an der Leiche selbst, als in der Umgebung zu beachten.
Wir haben bereits bei der Besprechung des Selbstmordes durch
Halsabschneiden darauf aufmerksam gemacht, wie wichtig das
Vertheiltsein der Blutspuren an der Leiche eines mit durchschnittenem
Halse gefundenen Individuums für die Entscheidung der Frage sein
kann, ob ein Selbstmord vorliegt oder ein Mord begangen wurde. Diese
Verhältnisse sind sofort zu erheben, da es begreiflich ist, dass ihre
Erhebung selten mehr einen Werth hat, wenn bereits mit der Leiche
herummanipulirt worden war. Es ist ausser auf die Vertheilung des aus
der Wunde herausgeflossenen Blutes und auf das Verhalten der Hände der
Leiche auch darauf zu achten, ob sich nicht Spuren fremder blutiger
Hände an der Leiche finden.
[Sidenote: Blutspritzer.]
Hochinteressant in dieser Beziehung ist der von +Taylor+ (l. c. I,
522) erwähnte Fall, wo auf dem Rücken der +linken+ Hand eines mit
durchschnittenem Halse todt gefundenen Individuums der Abdruck einer
blutigen, ebenfalls +linken+ Hand constatirt und dadurch der Mord
ausser Zweifel gestellt wurde. In einem von uns begutachteten Falle
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., XIX, 89) ergaben sich an
der Leiche eines erwürgten Mannes zahlreiche, blutig aufgekratzte
Stellen in der Kehlkopfgegend, und am Hemde, mit welchem die Leiche
allein bekleidet war, an beiden Oberarmen Blutspuren, die offenbar
Abdrücke blutiger Hände darstellten, so dass kein Zweifel bestehen
konnte, dass der Thäter mit seinen noch blutigen Händen den Erwürgten
an den Oberarmen gefasst hatte, um gewisse Lageveränderungen
vorzunehmen.
Blutspuren an anderen Stellen der Localität als an der, wo die Leiche
lag, können Aufklärung darüber geben, wo die tödtliche oder zuerst
eine andere Wunde gesetzt, respective das Individuum überfallen wurde,
noch mehr, wenn von dieser Blutspur weitere Spuren bis zur Leiche sich
verfolgen lassen, und es wäre dann weiter zu erwägen, ob von dieser
Stelle der Verletzte noch selbst an den Ort, wo seine Leiche gefunden
wurde, gelangen konnte oder hingebracht wurde. Der oben erwähnte Fall
der angeblich von der Stilfserjochstrasse herabgestürzten Frau gibt ein
solches Beispiel.
Wie wichtige Aufschlüsse in dieser Beziehung das Auffinden von
Blutspuren bieten kann, zeigt ein von +Taylor+ (l. c. I, 521)
mitgetheilter Fall. Ein Weib wurde am Fusse einer Kellerstiege todt
aufgefunden und die Section ergab, dass sie thatsächlich durch den
Sturz an einer Fractur des Schädels und der Wirbelsäule gestorben
war. Es fanden sich jedoch bei der Localbesichtigung an der obersten
Stufe der Treppe in einer Höhe von 4-5 Fuss über dieser frische
Blutspuren an der Ziegelwand, die zufolge ihrer Beschaffenheit
offenbar von einer spritzenden Arterie herrührten. Die Leiche zeigte
aber thatsächlich eine Wunde in der rechten Schläfegegend, welche
die rechte Schläfearterie durchtrennt hatte. Es lag sonach nahe, zu
erklären, dass das Weib diese Wunde oben auf der Stiege, während sie
in der Nähe der betreffenden Wand stand, erhielt und dann erst in den
Keller herabgestossen wurde, und diese Annahme wurde auch durch die
weiteren Erhebungen bestätigt.
Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass die Blutspuren, die durch
eine gegen eine Fläche schief spritzende Arterie an ersterer erzeugt
werden, die Gestalt von in eine Spitze ausgezogenen Tropfen besitzen,
deren dickeres abgerundetes Ende der Stelle entspricht, wo zuerst
der ausspritzende Blutstropfen die Wand getroffen hatte, während die
spitz auslaufende Fortsetzung dem bekannten Beharrungsbestreben des
in Bewegung begriffenen Tropfens seine Entstehung verdankt, wobei die
ganze Figur der Spur desto mehr in die Länge gezogen scheint, mit je
grösserer Kraft der betreffende Tropfen gegen die Fläche angetrieben
worden war. Die Beachtung dieses Verhaltens, zusammengehalten mit der
Lage und dem Caliber der verletzt gefundenen Arterie, kann mitunter
recht wichtige Schlüsse ergeben über die Stellung, die die betreffende
Person in dem Momente eingenommen hatte, als sie jene Verletzung
erhielt.
[Sidenote: Abdrücke blutiger Hände und Füsse.]
Wie wichtig das Auffinden blutiger Fussspuren oder von Abdrücken
blutiger Hände am Orte der That werden kann, liegt auf der Hand.
In einem von +Taylor+ (l. c. 517) mitgetheilten Falle fanden sich
am Fussboden des Zimmers, in welchem eine offenbar ermordete Person
lag, drei Spuren eines nackten blutigen Fusses, die ihrer Schmalheit
wegen sofort den Verdacht erweckten, dass sie von einem weiblichen
Fuss herrührten. Die eigenen Füsse der Ermordeten waren viel grösser
und nicht blutig, konnten daher diese Spuren nicht erzeugt haben. Im
Hause befanden sich nur noch zwei Personen, auf welche der Verdacht,
die That begangen zu haben, fallen konnte, ein Mann und ein Weib. Die
Füsse der Letzteren stimmten mit der Grösse der gefundenen Blutspuren
überein, und als mit Rindsblut Versuche angestellt wurden, ergab
sich, dass die so erzeugten Spuren sich in überraschender Weise
gleich verhielten, wie jene, die im Zimmer der Ermordeten entdeckt
worden waren. Dieser Befund war eines von den zahlreichen anderen
Momenten, durch welches dieses Weib der That überführt wurde.
An gleicher Stelle wird von +Taylor+ ein Fall mitgetheilt, in welchem
sich von dem Hause, in welchem der Ermordete lag, Spuren blutiger
Hände entlang des Hauses bis zu einem nach rückwärts gelegenen
Wohnraume verfolgen liessen und so zur Entdeckung des Mörders
führten, der, indem er in der Finsterniss der Nacht in seine Wohnung
zurücktappte, jene Spuren hinterlassen hatte.
[Sidenote: Bedeutung von Blutspuren.]
Bei der Verwerthung solcher Spuren ist natürlich niemals zu
übersehen, dass sie erst nachträglich durch zur Leiche hinzugekommene
Personen erzeugt worden sein konnten, und nur wenn diese Möglichkeit
sicher auszuschliessen ist, erhalten die gefundenen Spuren die
betreffende Bedeutung. Als warnendes Beispiel in dieser Beziehung
wird von +Bayard+ (Ann. d’hyg. publ. 1847, 2, 219) ein Fall
erzählt, in welchem durch den zuerst herbeigerufenen Arzt (!), der
in das Blut getreten war, Blutspuren von dem Zimmer, in welchem
die Leiche lag, in ein Nachbarzimmer vertragen wurden, und dadurch
nachträglich der Bewohner des letzteren in Verdacht gerieth, die
That begangen zu haben. Uns kam ein Fall vor, in welchem es wichtig
gewesen wäre, zu constatiren, ob der eines Raubmordes Verdächtige
im Blut herumgetreten sei, wo aber, wenn der Nachweis von Blut an
den Stiefeln des Betreffenden gelangen wäre, dieser Befund deshalb
keine Beweiskraft gehabt hätte, weil man den Mann wenige Stunden
nach der That an den Thatort geführt und mit der Leiche confrontirt
hatte, wobei erst derselbe in das Blut hineingetreten sein konnte.
In der That wurden auch 15 offenbar gespritzte Blutflecken, die sich
an der Vorderseite des Oberrockes des Angeklagten fanden, von dem
Vertheidiger daraus erklärt, dass erst bei jener Confrontirung durch
das Eintreten des Mannes selbst oder Anderer in das noch feuchte Blut
sein Rock damit bespritzt worden sei.
Auch die Möglichkeit, dass die gefundenen Blutspuren vom Verstorbenen
selbst erzeugt worden sein konnten, ist nicht aus dem Auge zu lassen.
Auch in dieser Beziehung finden wir im +Taylor+’schen Buche eine
interessante Angabe, betreffend einen Mann, der erhängt gefunden
wurde, ausserdem aber eine blutende Wunde am Halse zeigte. Es fand
sich eine grosse Blutspur in einem anderen Raume und in einer
geöffneten Lade mit Blut befleckte Stricke, woraus, sowie aus den
übrigen Umständen des Falles sich herausstellte, dass der Betreffende
zuerst versucht hatte, sich den Hals abzuschneiden, und als dies
missglückte, mit seinen blutigen Händen einen Strick aus jener Lade
holte und damit sich erhing.
[Sidenote: Conservirung dieser und anderer Spuren.]
Bei der Bedeutung, die dem Auffinden derartiger Spuren, insbesondere
Fussspuren, für die Eruirung des Thäters zukommt, ist es angezeigt,
dafür zu sorgen, dass eine Vergleichung dieser Objecte noch
nachträglich ermöglicht werde. Lässt sich die Spur nicht als solche
aufbewahren, so ist ihre genaue Aufnahme zu veranlassen, wozu sich
am besten die von +Caussé+ (Annal. d’hygiène, pag. 2, Sér. I, 175)
angegebene Methode des „Netzzeichnens“ eignet, welche darin besteht,
dass man die Spur mit einem Rechteck gerader Linien umzeichnet,
die Seiten des Rechteckes in möglichst kleine gleiche Theile
theilt und die Theilungspunkte mit den gegenüberliegenden durch
gerade Linien verbindet. Die Spur erscheint dann mit einem Netz
von Linien bedeckt und kann, wenn man sich ein gleiches und ebenso
eingetheiltes Rechteck auf das Papier zeichnet, auf dieses auch von
einem Nichtzeichner mit Leichtigkeit übertragen werden.[289] Auf
die Bedeutung von Blutspuren bei gewissen Nothzuchtsfällen haben wir
bereits in den betreffenden Capiteln hingewiesen und auf jene für
die Diagnose einer stattgehabten Entbindung werden wir noch bei der
Behandlung des Kindesmordes zurückkommen.
[Sidenote: Blutspuren an der That verdächtigen Personen. Fussabdrücke.]
Die höchste Bedeutung kann der Befund von Blutspuren erlangen, wenn
er sich an einem der That verdächtigen Individuum oder an diesem
gehörenden Gegenständen ergibt. Dass in einer grossen Zahl der Fälle,
in denen Jemand eine blutige That begeht, dieselbe auch Blutspuren
am Thäter zurücklassen wird, ist begreiflich, doch wäre es irrig,
sich der Meinung hinzugeben, dass nothwendig Blutspuren zurückbleiben
müssen. Es wird dies abhängen zunächst von der Natur der Wunde oder
der Wunden, und zwar einestheils von dem Blutverluste, der überhaupt,
und zwar nach aussen, mit ihnen verbunden war, andererseits aber auch
davon, ob das Blut aus der Wunde blos herausfloss oder spritzte. Ferner
ist es klar, dass je nach der Stellung, die der Thäter zu seinem
Opfer einnahm, in einem Falle leicht, in einem anderen schwerer und
in einem dritten gar nicht Blutspuren zurückbleiben werden, ebenso
dass, wenn einem Individuum im Schlafe der Hals abgeschnitten wurde,
dies eher ohne Zurücklassung von Blutspuren an dem Thäter geschehen
kann, als wenn dasselbe, während es wachte und sich wehren konnte,
umgebracht worden ist. Dass ausserdem eine Menge anderer Zufälligkeiten
mitwirken kann, liegt auf der Hand. Auch der Umstand, ob der Thäter
die Leiche unangetastet liegen liess oder damit manipulirte, ferner
das Raffinement des Thäters, die Vorsicht, mit der er vorgeht, sogar
die Uebung, die er eventuell besitzt (Schlächter), können in dieser
Beziehung sich geltend machen. Dies wird z. B. illustrirt durch die
Thatsache, dass in einem von +Taylor+ (l. c. I, 523) erwähnten Falle
der Mord von einem Individuum begangen wurde, welches sich früher
seiner Kleider vollständig entledigt hatte, und durch einen zweiten,
welchen +Dufour+ (Virchow’s Jahrb. 1880, I, pag. 654) mittheilt, wo
der Thäter, ein an Verfolgungswahn leidender Geisteskranker (!), vor
Begehung des Doppelmordes Leinwandfetzen über sein Gewand gezogen
hatte, um dieses vor Besudlung mit Blut zu schützen!
[Sidenote: Blutspuren auf Kleidern und Werkzeugen.]
Ausser den Kleidern und Wäschestücken des Thäters sind es vorzugsweise
diesem gehörig verletzende Werkzeuge, z. B. Messer, an denen Blutspuren
oder ihnen ähnliche Flecke gefunden werden können. Die Möglichkeit,
dass ein Instrument, mit welchem eine Stich-, Schnitt- oder Hiebwunde
beigebracht wurde, unblutig bleiben könne, lässt sich nicht ganz
wegleugnen, namentlich dann nicht, wenn das Instrument mit raschem
Zuge geführt wurde und grössere Gefässe nicht verletzt worden sind,
oder wenn das Blut an den ebenfalls durchstochenen Kleidungsstücken
etc. beim Zurückziehen des Messers wieder abgewischt wurde. +Casper+
hat (l. c. II, 168) aus Anlass eines Falles, wo bei einem Individuum,
das sich selbst den Hals durchschnitten hatte, ein ganz blutfreies
Tischlermesser gefunden wurde, auf diese Möglichkeit aufmerksam
gemacht. Doch dürfte dies jedenfalls nur ausnahmsweise vorkommen, da
zahlreiche Versuche, die wir in dieser Richtung hin anstellten, immer
negativ ausgefallen sind, obwohl allerdings die Menge des Blutes, die
dem gebrauchten Instrumente anhaftete, eine sehr verschiedene gewesen
ist, und wiederholt nur unbedeutende Spuren daran zurückgeblieben
waren. Auch kann man sich bei solchen Versuchen überzeugen, dass, wie
begreiflich, unter sonst gleichen Verhältnissen desto weniger Blut an
der Klinge eines verletzenden Instrumentes zurückbleibt, je blanker
und glatter dieselbe gewesen war. In der Regel erklärt sich das Fehlen
von Blutspuren an einem thatsächlich gebrauchten Werkzeuge ungezwungen
daraus, dass dasselbe nachträglich gereinigt worden ist. Wurde diese
Reinigung nicht sorgfältig vorgenommen, so z. B. das Messer nur
einfach abgewischt, dann können sich trotzdem Blutspuren an rauheren
oder vertieften Stellen des Heftes, besonders in dem Einschnitte,
der zum Oeffnen der Klinge bestimmt ist, oder in dem Charnier der
Klinge, in dem Spalt des Messers u. s. w., erhalten, ebenso bei Beilen
in den Vertiefungen zwischen Stiel und dem Loche des Beiles, durch
welches dieser durchgesteckt ist, durchaus Stellen, die, wenn solche
Untersuchungen vorkommen, besonders beachtet werden müssen.
Zweifellos gibt es eine grosse Reihe von Fällen, in denen schon die
makroskopische Besichtigung einer Spur hinreicht, um dieselbe als durch
Blut erzeugt erkennen zu lassen; dies gilt namentlich von den Spuren,
die sich bei der Vornahme des ersten Localaugenscheines ergeben. Finden
sich jedoch solche Spuren an dem Thäter oder ihm gehörenden Dingen,
dann genügt selbstverständlich niemals die blosse makroskopische
Untersuchung, sondern es ist die Natur des verdächtigen Fleckes
anderweitig sicherzustellen.
Es ist zu diesem Behufe zweierlei anzustreben: erstens der
mikroskopische Nachweis der charakteristischen Blutkörperchen und
zweitens der Nachweis des ebenso charakteristischen Blutfarbstoffes,
des Hämoglobins und seiner Derivate.
[Sidenote: Nachweis von Blutkörperchen.]
Das +Auffinden der Blutkörperchen+ beweist nicht blos in absoluter
Weise die Gegenwart von Blut, sondern ermöglicht auch die Beantwortung
gewisser Detailfragen, welche sich auf die Abstammung des betreffenden
Blutes beziehen. In frischen Fällen unterliegt dieser Nachweis keinen
Schwierigkeiten, da es blos nothwendig ist, etwas von der Substanz,
wenn sie etwa noch feucht ist[290], unmittelbar, wenn nicht, mit
½procentiger Kochsalzlösung, Zuckerwasser oder verdünntem Glycerin
unter das Mikroskop zu bringen, um, wenn die Spur von Blut als solchem
und nicht etwa, wie so häufig, blos von blutigem Wasser herrührt, in
der Regel sofort die charakteristischen Formelemente des Blutes zu
erkennen. In solchen Fällen ist es natürlich auch leicht, nicht blos
die runden und kernlosen Blutkörperchen der Säugethiere von den ovalen
und kernhältigen und überdies viel grösseren der anderen Thierclassen
zu unterscheiden, sondern es können auch mikroskopische Messungen die
Lösung der Frage gestatten, ob die Grösse der vorliegenden runden
Blutkörperchen mit jener übereinstimmt, die den menschlichen zukommt.
Unter den Säugethierblutkörperchen sind bekanntlich die menschlichen
die grössten. Ihr durchschnittlicher Durchmesser beträgt 0·0077 Mm.
(0·0074-0·0080). Ihnen zunächst stehen die des Hundes mit 0·0074
Mm. (0·0060-0·0074), dann folgen die des Kaninchens mit 0·0064, des
Schweines mit 0·0062, des Rindes mit 0·0058, des Pferdes mit 0·0057,
der Katze mit 0·0056 und des Schafes mit 0·0045 Mm.
Da die Blutkörperchen sowohl des Menschen als der einzelnen
Säugethiere nicht alle gleich gross sind, sondern ihre
Grösse innerhalb gewisser Grenzen schwankt, so wird man sich
selbstverständlich nicht mit der Messung einzelner Blutkörperchen
begnügen, sondern eine möglichst grosse Reihe von Messungen
unternehmen und aus dieser die Durchschnittszahl berechnen.
Aber auch alte Blutspuren können den mikroskopischen Nachweis von
Blutkörperchen gestatten, da sich dieselben im einfach eingetrockneten
und weiter unverändert gebliebenen Blute selbst jahrelang erhalten,
wovon man sich leicht und unmittelbar überzeugen kann, wenn man
Blut in dünnen Schichten auf durchsichtigen Glasplatten eintrocknen
lässt. Wir besitzen solche Präparate von Blutkörperchen sowohl des
Menschen als verschiedener Thiere, die bereits mehr als zehn Jahre zu
Demonstrationszwecken dienen und in welchen sich trotz dieser langen
Zeit die Formelemente in ihrer charakteristischen Form unverändert
erhalten haben. +Hammerl+[291] fand sogar, dass so angetrocknete
Blutkörperchen selbst nach Erhitzung über 200° C. ihre Form erhalten.
In derartigen alten Blutspuren gelingt jedoch der Nachweis der
Blutzellen nicht mehr so ohne Weiteres, wie bei frischen, sondern
fordert eine bestimmte Behandlung des Objectes, namentlich mit gewissen
Zusatzflüssigkeiten, die geeignet sind, die Blutkörperchen in der meist
fest eingetrockneten und spröden Substanz wieder sichtbar zu machen.
Von diesen Zusatzflüssigkeiten können wir aus eigener Erfahrung[292]
die etwas modificirte +Pacini+’sche Flüssigkeit (300 Theile Wasser, 100
Theile Glycerin, 2 Theile Kochsalz und 1 Theil Sublimat) empfehlen.
Auch verdünnte, mit Glycerin versetzte Säuren leisten gute Dienste, so
die von +Roussin+[293] angegebene Mischung von 3 Theilen Glycerin und 1
Theil concentrirter Schwefelsäure bis zum spec. Gewicht von 1·028 mit
Wasser verdünnt.
Von +Virchow+ (Archiv, XII, 336) wurde concentrirte 30procentige
Kalilauge zu diesem Zwecke empfohlen, ebenso von +Brücke+ (Vorlesungen,
I, 76) und neuerdings wieder von A. +Rollet+[294], welcher fand,
dass an eingetrocknetem Blute die rasch vorübergehenden Stadien der
Schrumpfung und Quellung, welche man nach der Einwirkung concentrirter
(32procentiger) Kalilauge an den feuchten Blutkörperchen hervortreten
sieht, ausbleiben und dass hier sogleich das an feuchten Blutkörperchen
jenen stürmischen Reactionen erst folgende Stadium der Härte auftritt,
in welchem die Blutkörperchen sich lange Zeit in einer ihrer
natürlichen Form ähnlichen Erscheinungsweise erhalten. Man kann auch
concentrirte Cyankaliumlösung zu diesem Zwecke verwenden. H. +Struve+
(Virchow’s Arch. 79. Bd., pag. 524) empfiehlt concentrirte Weinsäure
oder noch besser die Anwendung der Kohlensäure. Zu diesem Behufe lässt
er in einem Probirgläschen CO₂ durch Wasser durchstreichen und legt
dann die Spur sammt ihrer Unterlage in dieses hinein. Nach etwa 20
Stunden ist die Spur erweicht und kann untersucht werden. +Rezzonico+
(Rivista sperim. XV, 214) hat mit 10procentiger Lösung von Oxalsäure
gute Resultate erhalten.
Wir haben uns ferner bei einer grossen Zahl einschlägiger
Untersuchungen überzeugt, dass, wenn schon sehr alte, hart gewordene
Blutspuren vorliegen, auch die blosse Anwendung destillirten Wassers,
welches bei frischen Blutspuren vermieden werden muss, da es sofort den
Blutzellen den Farbstoff entzieht und diese durch Quellung verändert,
sehr schöne Resultate ergibt, ein Verhalten, welches offenbar darin
seinen Grund hat, dass die Blutkörperchen durch intensives Eintrocknen
eine grössere Resistenz gegen Wassereinwirkung erlangen und auch die
Löslichkeit des Hämoglobins und damit die Leichtigkeit, mit welcher es
sonst durch Wasser den Blutkörperchen entzogen wird, sich vermindert.
Der Vorgang bei solchen Untersuchungen hat in der Weise zu geschehen,
dass man zunächst winzige Partikelchen der betreffenden Substanz auf
einen Objectträger bringt, indem man entweder mit einem Messerchen
etwas von der angetrockneten Spur abschabt, oder, was sich besonders
bei an Stoffen befindlichen Flecken empfiehlt, die Spuren unmittelbar
über dem Objectträger mit einer Nadel ritzt, wobei, wenn wirklich
Blut vorliegt, der braunrothe Strich auffällt, den die ritzende Nadel
erzeugt und ein feines braunrothes Pulver auf den Objectträger fällt,
welches sich zur weiteren Untersuchung vorzüglich eignet.
Man kann entweder sofort die auf dem Objectträger befindliche Substanz
mit einer der erwähnten Zusatzflüssigkeiten behandeln oder früher,
blos mit einem Deckgläschen bedeckt, unter das Mikroskop bringen und
erst dann die Flüssigkeit zusetzen, ein Verfahren, das sich deshalb
empfiehlt, weil man das Sichtbarwerden der Formelemente in den früher
amorph erschienenen Schollen unmittelbar beobachten und auch das
Verhalten der letzteren zu Wasser oder anderen Lösungsmitteln zu
verfolgen im Stande ist.
[Sidenote: Unterscheidung von Blutkörperchen.]
In günstigen Fällen lässt sich nicht blos erkennen, dass die
betreffenden Schollen aus gleichmässig grossen, meist dicht gedrängten,
in ihrer Form und sonstigen Beschaffenheit jener der Blutkörperchen
entsprechenden Elementen bestehen, sondern es kann auch gelingen,
einzelne dieser Elemente isolirt zu Gesichte zu bekommen: letztere
zeigen dann ihre charakteristische, ursprüngliche Form viel deutlicher,
während die in den festen Schollen eingebetteten Blutkörperchen meist
durch gegenseitigen Druck abgeplattet erscheinen und erst bei längerer
Einwirkung einer entsprechenden Zusatzflüssigkeit aufzuquellen und
dadurch eine der ursprünglichen sich nähernde Form anzunehmen pflegen.
Ausser den rothen Blutkörperchen lassen sich häufig in den betreffenden
Schollen auch einzelne weisse unterscheiden, welche sogar eine
grössere Resistenzfähigkeit zu besitzen scheinen, als erstere, da
man sie mitunter noch findet, wenn bereits, wie z. B. bei stark
verwitterten Blutspuren, die rothen schon durch feinkörnigen Zerfall
mehr oder weniger unkenntlich geworden sind. +Corin+ (Virchow’s
Jahresb. 1893, I, pag. 486) fand die Angabe, dass die neutrophilen
Körnchen in den Leucocythen, welche bei der Färbung des Blutes nach
der Methode von +Ehrlich+ sich violett und blau färben, nur beim
Menschenblute vorkommen, bestätigt und empfiehlt daher diesen Nachweis
zur Unterscheidung von Menschenblut vom Thierblut. Doch ergaben die
Nachuntersuchungen von +Tamassia+[295], dass in dieser Beziehung kein
Unterschied besteht.
Schwerer als die Säugethierblutkörperchen sind in alten Blutspuren die
Blutkörperchen der übrigen Thierclassen in ihrer ursprünglichen Form
zu erkennen, wovon die Ursache einestheils in der blässeren Färbung
dieser Formelemente, dann aber besonders in der grösseren Geneigtheit
derselben zu Schrumpfung beim Eintrocknen, sowie in dem weniger
resistenten Verhalten des Stromas gegen die erwähnten Lösungsmittel
gelegen ist, weshalb die Contouren der Blutkörperchen weniger scharf
hervortreten, als dies unter sonst gleichen Verhältnissen bei den
Menschen- und Säugethierblutkörperchen der Fall ist. Dagegen sind
die von solchem Blut, insbesondere von Vogelblut, herrührenden
Spuren durch die meist in grosser Menge in ihnen vorkommenden, das
Licht stark brechenden Kerne charakterisirt, welche namentlich nach
Zusatz schwacher Essigsäure deutlich hervortreten, während, wenn
Säugethierblut vorliegt, die betreffenden Schollen nach einem solchen
Zusatz sich sofort oder in wenigen Augenblicken auflösen und ein kaum
erkennbares blasses Stroma zurücklassen.
Es ist begreiflich, dass, wenn die Blutkörperchen durch Eintrocknen
verschrumpft und durch Anwendung der bezeichneten Flüssigkeit wieder
sichtbar gemacht worden sind, die Unterscheidung, ob dieselben
thatsächlich von Menschenblut oder von dem Blute von Säugethieren
herrühren, grosse Schwierigkeiten haben wird. Da nämlich der Grad
der Schrumpfung der Blutelemente von verschiedenen unberechenbaren
Umständen abhängt und die Reconstruirung der Form und Grösse derselben
mittelst obiger Reagentien auch nicht gleichmässig und vollständig
erfolgt, übrigens auch von der Natur des Reagens und der Dauer seiner
Einwirkung abhängt, und da es sich endlich bei der Unterscheidung
von menschlichen Blutkörperchen von solchen der Säugethiere in der
Regel nur um ganz minimale, zwischen 0·004 bis 0·008 schwankende
Grössendifferenzen handelt, so lassen sich von mikroskopischen
Messungen, selbst wenn sie mit aller Sachkenntniss und Accuratesse
vorgenommen wurden, doch nur precäre Resultate erwarten, wie auch
+Struve+ (Virchow’s Archiv. 83. Bd., pag. 146) auf Grund sehr
eingehender Untersuchungen betont. Trotzdem wird man nicht unterlassen,
vorkommenden Falles solche Messungen zu unternehmen, da ihr Resultat,
namentlich wenn es auf zahlreichen Messungen basirt, doch nicht jedes
Werthes entbehrt, besonders dann nicht, wenn es sich um Unterscheidung
von Blut von Thieren, wie z. B. von Rindern, Katzen, Pferden und
Schafen, handelt, deren Blutkörperchen doch um ein Erkleckliches
kleiner sind, als jene des Menschen.[296]
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Sporen mancher niederen
Pilze, insbesondere Schimmelpilze, eine grosse äussere Aehnlichkeit
mit Blutkörperchen haben. So hat +Erdmann+ die Aehnlichkeit
mit Porphyridium cruentum und +Rindfleisch+ die der Sporen
von Achorion Schönleinii hervorgehoben. Wir können diese aus
eigener Erfahrung bestätigen und müssen als unterscheidend auf
die grosse Resistenzfähigkeit solcher Sporen gegen Säuren und
Alkalien hinweisen. Auch Hefezellen und selbst Fetttröpfchen können
Blutkörperchen vortäuschen. Zur Unterscheidung letzterer ist in
zweifelhaften Fällen, wie schon +Gwosdew+ rieth, Aether, Benzin
u. dergl. zur Anwendung zu bringen.
[Sidenote: Nachweis des Hämoglobins.]
Die weitere Untersuchung der betreffenden Spur bezweckt den +Nachweis
des Hämoglobins+, des Blutroths, jenes eigenthümlichen eiweisshältigen
Farbstoffes, welcher im normalen Zustande den Inhalt der Blutkörperchen
bildet und dem Blute die charakteristische rothe Farbe verleiht.
Dieser Nachweis kann nur gelingen, so lange das betreffende Blut
seine Löslichkeit in Wasser bewahrt hat, denn das Fehlen dieser
ist ein Beweis, dass die betreffende Spur nicht mehr den genuinen
Blutfarbstoff, sondern allenfalls nur dessen Derivate, insbesondere
das im Wasser unlösliche Hämatin, enthält. Das Hämoglobin kann aber
seine Löslichkeit einbüssen, einerseits durch coagulirende Einflüsse,
anderseits durch Alter.
[Sidenote: Löslichkeit von Blutspuren.]
Von ersteren ist insbesondere die Einwirkung kochenden Wassers zu
erwähnen, die einer Blutspur sofort die Löslichkeit benimmt, aber auch
dieselbe auf der Unterlage mehr fixirt, so dass sie weiteren Insulten
gegenüber resistenter wird, als einfach eingetrocknetes Blut, welches
bekanntlich in diesem Zustande eine spröde, leicht zerreibliche
Masse bildet, welche durch Reiben und ähnliche Einwirkungen leicht
von der Unterlage weggebracht werden kann. Interessant ist ein von
+Liman+ (Virchow’s Archiv. 1886, pag. 395) mitgetheilter Fall, wo die
Unlöslichkeit der an einem Sacke befindlichen Flecke durch heisses
Bügeln veranlasst worden war. Aus Anlass dieser Beobachtung von
+Katayama+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLIX) angestellte
Untersuchungen ergaben, dass durch eine Stunde auf 120° erhitztes Blut
sich in Wasser und Boraxlösung nicht mehr löst, auf 140° erhitztes
auch nicht mehr in Cyankaliumlösung, dagegen noch am besten in
Natronlauge und in Eisessig, und wie +Kratter+ („Ueber den Werth des
Hämatoporphyrinspectrums.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1892,
IV, 62), sowie +Hammerl+ (Ibid. pag. 44) fanden, in concentrirter
Salzsäure, besonders aber, selbst nach Erhitzung bis 210°, in
concentrirter Schwefelsäure.
[Sidenote: Alter von Blutspuren. Methämoglobin.]
Was das Alter betrifft, so ist es bekannt, mit welcher Leichtigkeit
frisches Blut im Wasser sich löst und welche Färbekraft demselben
zukommt. Diese Löslichkeit behält eingetrocknetes Blut sehr lange
und kann sie selbst Jahre lang bewahren, wenn von demselben die
zersetzenden Einflüsse von Luft und Licht ferngehalten wurden. Blieb
der Fleck der Luft frei ausgesetzt, so sind es die durch den Sauerstoff
und das Ozon der Luft eingeleiteten langsamen Oxydationsvorgänge,
vielleicht auch die in der Luft, namentlich in jener der Städte,
enthaltenen Säuren (+Sorby+), insbesondere aber der Einfluss des
Lichtes, welche die Löslichkeit der Spur allmälig vermindern und
schliesslich ganz aufheben, indem sich das Hämoglobin anfangs unter
Abscheidung von „Globulin“ zu noch in Wasser löslichem +Methämoglobin+
und schliesslich zu unlöslichem Hämatin verwandelt. Die Schnelligkeit,
mit welcher dies geschieht, hängt theils von der Dicke der betreffenden
Blutspur ab, da die genannten Agentien desto rascher die Zersetzung
erzeugen werden, je dünner und überhaupt je kleiner die betreffende
Blutspur gewesen war, theils von der grösseren oder geringeren
Intensität, mit welcher diese Agentien auf die Blutspur einwirken
können. Am schnellsten und unseren Erfahrungen zufolge schon in wenigen
Wochen, ja wenn derselbe klein war, schon in wenigen Tagen, kann ein
Blutfleck unlöslich werden, wenn er dem directen Sonnenlicht ausgesetzt
blieb, während unter anderen Umständen doch meistens lange Zeit hierzu
erforderlich ist.
Sowohl die durch Coagulation, als die durch Luft- und Lichteinwirkung
entstandenen Zersetzungen des Hämoglobins machen sich schon durch
Veränderung der ursprünglichen Farbe der Blutspur kenntlich.
Diese in verschiedenen Nuancen rothe und namentlich auf lichtem
Untergrunde deutlich hervortretende Farbe wird durch Coagulation
des Blutroths sofort missfärbig und bleibt es fortan. Durch die
Einwirkung von Licht und Luft erhält jede Blutspur sehr bald einen
Stich in’s Braunrothe, wird später immer mehr braun, dann graubraun
und schliesslich vollkommen grau. Auch diese Farbenveränderungen
erfolgen bei Einwirkung directen Sonnenlichtes ungleich rascher,
und man kann dies in sehr instructiver Weise demonstriren, wenn
man ein Stück in Blut getauchte Leinwand trocknet und nun in der
Sonne liegen lässt. Man findet dann nach verhältnissmässig kurzer
Zeit die der Sonne zugekehrte Seite der Blutspur grau, während die
entgegengesetzte die ursprüngliche Blutfarbe noch fast unverändert
zeigt. Bei Bestimmungen des +Alters+ von Blutspuren ist es daher
angezeigt, nicht blos den Grad der Löslichkeit und die Farbe
derselben, sondern auch alle Momente zu erwägen, welche diese
Veränderungen zu beschleunigen oder zu verzögern vermögen. In
den meisten Fällen werden trotzdem solche Altersbestimmungen nur
approximativ ausfallen können.
[Sidenote: Spectrum des Oxyhämoglobins und reducirten Hämoglobins.]
Die Untersuchung der aus einer verdächtigen Spur erhaltenen wässerigen
Lösung geschieht mit dem +Spectralapparat+ und hat den Zweck, die dem
Hämoglobin zukommenden charakteristischen Absorptionserscheinungen zu
constatiren. Seitdem +Hoppe+-+Seyler+[297] zuerst darauf aufmerksam
machte, dass der Blutfarbstoff in eigenthümlicher Weise gewisse
Strahlen des Spectrums absorbire, besitzen wir in der Spectralanalyse
ein ausgezeichnetes und durch zahllose Beobachtungen bewährtes Mittel
zur Erkennung von Blutspuren in forensischen Fällen.
Diese Absorptionserscheinungen bestehen bekanntlich darin, dass, wenn
man Blut entsprechend mit Wasser verdünnt und die Lösung zwischen den
Spalt eines Spectralapparates und eine Lichtquelle bringt, das violette
Ende des normalen Spectrums wie ausgelöscht erscheint und zwei dunkle
Absorptionsbänder in Gelb und an der Uebergangsstelle von Gelb in Grün
zu bemerken sind, von denen das eine schmälere in Gelb unmittelbar
neben der Stelle, wo im Sonnenspectrum die +Fraunhofer+’sche Linie
_D_ sich befindet und zwischen dieser und dem violetten Ende des
Spectrums liegt, während das andere, fast noch einmal so breite, aber
weniger scharf begrenzte und weniger dunkle an der Uebergangsstelle
zwischen Gelb in Grün nahe bei der +Fraunhofer+’schen Linie _E_ sich
befindet (Fig. 74, _1_). Dieses Spectrum ist das des sauerstoffhältigen
Hämoglobins oder des +Oxyhämoglobins+.
Diese Absorptionserscheinung ist noch bei starker Verdünnung der Lösung
zu bemerken, so zwar, dass ein geübtes Auge die Absorptionsstreifen
noch unterscheiden kann, wenn die Lösung makroskopisch kaum mehr
gefärbt erscheint. Wird die Verdünnung weiter fortgesetzt, so
verschwindet zuerst der Streif im Grün und zuletzt erst der bei der
Linie _D_.
Entzieht man der Lösung den Sauerstoff durch Hinzuthun reducirender
Substanzen, wozu gewöhnlich Schwefelammonium benützt wird, so ändert
sich das Spectrum, indem die Streifen des Sauerstoff-Hämoglobins
gewissermassen zusammenfliessen und schliesslich nur ein einziges
breites Absorptionsband zurückbleibt, welches den grössten Theil des
Raumes zwischen den +Fraunhofer+’schen Linien _D_ und _E_ ausfüllt
und ziemlich scharf von den übrigen Theilen des Spectrums sich
abgrenzt (Fig. 74, _2_). Es ist dies das Spectrum des sauerstofffreien
Blutroths, des +reducirten Hämoglobins+, welches sofort in das des
Oxyhämoglobins übergeht, wenn man die Lösung mit Luft schüttelt und so
dem Sauerstoff wieder Zutritt verschafft.
Dieses spectrale Verhalten des Hämoglobins ist im hohen Grade
charakteristisch und genügt für sich allein vollkommen, um einen aus
einer verdächtigen Spur erhaltenen Farbstoff als Blut zu bezeichnen.
Andere Farbstoffe zeigen entweder keine Absorptionsbänder oder
solche, die sich wesentlich von denen des Blutroths unterscheiden.
Nur eine ammoniakalische Carminlösung zeigt in starker Verdünnung
Absorptionserscheinungen, die jenen des sauerstoffhältigen Hämoglobins
gleichen, welche jedoch bei Zusatz von Schwefelammonium sich nicht
verändern, ausserdem bei Zusatz von Essigsäure sich erhalten, während,
wenn man zu einer Blutlösung diese hinzugibt, die Absorptionsstreifen
sofort verschwinden.
[Illustration: Fig. 74.
_1._ Spectrum des Oxyhämoglobins; _2._ Spectrum des reducirten
Hämoglobins.]
Die spectrale Untersuchung unterliegt, wenn nicht zu geringe Mengen
des Farbstoffes erhalten wurden, keinen besonderen Schwierigkeiten.
Ist die Lösung, die man durch Maceration der Spur mit Wasser erhielt,
wie bei älteren Flecken häufig, trüb, so empfiehlt es sich, eine
Spur von Ammoniak zuzusetzen, wodurch dieselbe in der Regel sofort
aufgehellt wird und auch brillanter roth erscheint.
Sind sehr kleine und wenig Farbstoff abgebende Blutspuren zu
untersuchen, so sind entsprechend kleine Gefässe (dünne Röhrchen)
mit der Lösung zu füllen und überhaupt bei der Behandlung so kleiner
Flecke mit Lösungsmitteln das richtige Verhältniss zwischen der Menge
dieser und der zu untersuchenden Substanz zu berücksichtigen. Allzu
verdünnte Lösungen sind im Exsiccator einzuengen. Auch der nach dem
vollständigen Eintrocknen der Lösung im Uhrglase zurückbleibende
Fleck kann unmittelbar oder mit einer Spur von Wasser befeuchtet
vor den Spectralapparat gebracht werden, obwohl die Methode sich
meist nicht empfiehlt. Bei so geringen Mengen Farbstoffes ist das
Mikrospectroskop besonders am Platze, mit welchem noch bei minimalen
Mengen von Blut die charakteristischen Absorptionsstreifen erkannt
werden können.
[Sidenote: Dichroismus. Ozonprobe.]
Andere als die spectralen Eigenschaften von Hämoglobinlösungen
haben nur einen unterstützenden Werth. Hierher gehört der zuerst
von +Brücke+ constatirte Dichroismus, der namentlich nach Zusatz
von etwas Kalilauge deutlich hervortritt und die z. B. in einem
Uhrgläschen befindliche Lösung im reflectirten Lichte grünlich, im
durchfallenden roth (meist burgunderroth) erscheinen lässt; ferner
der durch Kochen oder durch Säuren, oder durch das +Millon+’sche
Reagens nachweisbare Eiweissgehalt der Lösung, dann die Beständigkeit
der Farbe gegen Ammoniak und schliesslich die ozonübertragende
Eigenschaft des Hämoglobins. Auf letzterer Eigenschaft beruht die
zuerst von +van Deen+ und später auch von +Taylor+ und +Liman+
empfohlene sogenannte +Guajacprobe+ oder +Ozonprobe+. Sie wird in der
Weise vorgenommen, dass man zu einer alkoholischen bis zur weingelben
Farbe verdünnten Lösung von Guajacharz, welche bekanntlich durch
Ozon blau gefärbt wird und daher ein ausgezeichnetes Ozonreagens
darstellt, einige Tropfen ozonisirten (d. h. länger unter nicht
luftdichtem Verschluss an der Luft gestandenen) Terpentinöls[298]
zusetzt und nun einen Tropfen der zu prüfenden Lösung hinzuträufelt.
Wenn dieselbe Hämoglobin enthält, so färbt sich die Guajactinctur
blau, indem ersteres die Eigenschaft besitzt, das im Terpentinöl
festgehaltene Ozon frei zu machen, so dass es auf das Ozonreagens,
die Guajactinctur, wirken kann und dieselbe bläut. Diese Probe
ist sehr empfindlich, doch nicht vollkommen beweisend, da ausser
dem Hämoglobin noch andere, wenn auch nur wenige Körper, die
ozonübertragende Eigenschaft besitzen, wie z. B. der Eisenvitriol,
und da es, was noch wichtiger ist, eine Reihe von Körpern gibt,
die die Guajactinctur ohne Weiteres zu bläuen vermögen, wie z. B.
Eisenchlorid, übermangansaures Kali u. a.
[Sidenote: Methämoglobin.]
Von den Derivaten des Hämoglobins ist zunächst das +Methämoglobin+
nochmals zu erwähnen, weil dasselbe gewisse spectrale Erscheinungen
zeigt, denen wir bei der Untersuchung nicht ganz frischer Blutspuren
sehr häufig begegnen. Wenn nämlich ein Blutfleck durch Einwirkung der
Luft oder insbesondere des Lichtes seine Farbe bereits merklich in’s
Braunrothe verändert hat, was bei günstigen Umständen schon nach 3-10
Tagen geschehen kann, zeigt die daraus erhaltene Lösung einen mehr
weniger ausgesprochenen Stich in’s Braune und vor dem Spectralapparat
ausser den Oxyhämoglobinbändern noch ein drittes schmales und weniger
scharf begrenztes Band in Orange zwischen den +Fraunhofer+’schen
Linien _C_ und _D_, näher bei _C_ (Fig. 75, _1_). Dieses Band ist sehr
ähnlich dem sogenannten Säurebande, welches besonders deutlich zu
sehen ist, wenn trockenes Blut mit säurehältigem Alkohol behandelt,
respective gelöst wird, und wird dem sogenannten Methämoglobin[299]
zugeschrieben, einem Zwischenproduct der Umwandlung des Hämoglobins
in Hämatin, das sich von letzterem besonders durch seine Löslichkeit
im Wasser unterscheidet. Das Auftreten des Methämoglobins und seines
Absorptionsbandes geht mit einer mehr weniger ausgesprochenen
Trübung der nun zu erhaltenden Lösungen einher. Setzt man aber
einen Tropfen Ammoniak zu, so klärt sich die Lösung meist sofort,
verändert ihre anfangs braunrothe Farbe in eine mehr rothe und die
Oxyhämoglobinstreifen, die gewöhnlich bei der ersten Untersuchung
weniger deutlich sich repräsentirten, treten nun sehr schön hervor,
während der Streif in Roth (Methämoglobinstreif) verschwindet.
[Illustration: Fig. 75.
_1._ Combinirtes Spectrum des Oxy- und Methämoglobins; _2._ Spectrum
des Hämatins; _3._ Spectrum des reducirten Hämatins.]
[Sidenote: Hämatin und reducirtes Hämatin.]
Ein anderes Derivat des Hämoglobins, welches ein sehr
charakteristisches spectrales Verhalten zeigt und deshalb zum Nachweis
von Blut in verdächtigen, besonders in Wasser bereits unlöslichen
Spuren sehr gut benützt werden kann, ist das +reducirte Hämatin+ von
+Stokes+.[300] Zu diesem Zwecke empfiehlt es sich am besten, die zu
untersuchende Substanz mit concentrirter Cyankaliumlösung,[301]
zu behandeln, und die so erhaltene, meist hellroth, braunroth oder
röthlichbraun gefärbte Lösung vor den Spectralapparat zu bringen. Man
sieht dann im Spectrum entweder ein deutliches breites Band in Grün,
welches dem Bande des reducirten Hämoglobins sehr ähnlich ist, oder
blos eine Beschattung dieses Theiles des Spectrums (Fig. 75, _2_).
Setzt man aber zu der Lösung einen oder einige Tropfen Schwefelammonium
hinzu, so bemerkt man, wie sich sofort das breite Absorptionsband in
zwei auflöst, welche auf den ersten Blick den Oxyhämoglobinstreifen
gleichen, aber von diesen ausser durch ihre Genesis auch durch
ihre dem violetten Ende des Spectrums näher gerückte Lage sich
unterscheiden (Fig. 75, _3_). Letzteres Spectrum kann man auch durch
Anwendung concentrirter (32%) Kalilauge allein ohne Anwendung von
Reductionsmitteln erhalten, und zwar schneller, wenn man mit Kalilauge
kocht, als wenn man diese kalt anwendet. (+Rollet+, l. c.)
Der Nachweis des reducirten Hämatins auf spectroskopischem Wege,
namentlich jener mit Cyankalium, welchem wir den Vorzug geben, ist
nicht blos für die Anwesenheit von Blut ebenso beweisend, wie jener des
Oxyhämoglobins, sondern gibt, wovon wir uns wiederholt überzeugt haben
und betonen müssen, noch Resultate, wenn wegen Kleinheit des Objectes
oder bereits in diesem stattgefundenen Zersetzungsprocessen der
spectroskopische Nachweis des Sauerstoffhämoglobins nicht mehr gelingt.
Bei sehr kleinen Flecken ist es daher rathsam, sofort auf reducirtes
Hämatin zu untersuchen.
[Sidenote: Hämatoporphyrin.]
Den Untersuchungen von +Kratter+ und +Hammerl+ (l. c.) zufolge lässt
sich aus verkohltem Blute, welches keine anderen Blutreactionen mehr
gibt, durch Behandlung mit concentrirter Schwefelsäure noch das
+Hämatoporphyrinspectrum+ (+Mulder+, +Hoppe+-+Seyler+) darstellen.
Dasselbe hat eine Aehnlichkeit mit dem Spectrum des Oxyhämoglobins,
nur sind die Streifen weiter nach links verschoben, insbesondere der
schmälere nach links von der Linie _D_.
Die isolirte Substanz wird mit 1-5 Ccm. concentrirter Schwefelsäure
in einer Eprouvette wiederholt geschüttelt. Färbt sich die Säure
schon in den ersten Minuten braungelb, so ist eine störende
Beimischung vorhanden, die Säure ist dann abzugiessen und durch eine
neue zu ersetzen. Ist das Object Blut, dann quillt dasselbe nach ½–1
Stunde auf, wird mehr weniger transparent und prächtig rothviolett.
Meist hat sich auch die Säure zart violett gefärbt und gibt das
erwähnte Spectrum, wobei zuerst das rechte breitere und dann das
linke Absorptionsband auftritt. Hat sich die Säure nicht genügend
gefärbt, dann gibt noch die zwischen 2 Glasplatten zerquetschte,
gequollene Substanz das charakteristische Spectrum. Giesst man das
in SO₃ gelöste Hämatoporphyrin in die 10-20fache Menge destillirten
Wassers, so fällt dasselbe in Form rothbrauner Flocken aus. Diese
geben gewaschen und mit Alkalien gelöst das Spectrum des +alkalischen
Hämatoporphyrins+, welches aus vier abwechselnd schmalen und breiten
Absorptionsbändern besteht.
[Sidenote: Häminkrystalle.]
Eines der für den forensischen Nachweis von Blutspuren wichtigsten
Derivate des Hämoglobins ist das +Hämin+, welches bei entsprechender
Behandlung der Spur in Form der ungemein charakteristischen
+Häminkrystalle+ erhalten wird, die nach ihrem ersten Entdecker (1853)
auch +Teichmann+’sche +Blutkrystalle+ genannt werden. Diese Krystalle
sind nach den Untersuchungen +Hoppe+-+Seyler+’s salzsaures Hämatin,
für welches der Kürze wegen der Name Hämin allgemein gebräuchlich
ist. Sie werden in der Weise dargestellt, dass man eine Partie der
von der Unterlage losgelösten Substanz mit höchst concentrirter
Essigsäure (sogenanntem Eisessig) unter Zusatz einer Spur Kochsalz in
einem Uhrschälchen oder auf einem Objectträger unter dem Deckgläschen
vorsichtig aufkocht und die so entstehende braune Lösung abdampft,
worauf im Rückstande die Häminkrystalle mikroskopisch nachgewiesen
werden können.
+Struve+ (l. c.) empfiehlt die Darstellung der Häminkrystalle
mittelst Tanninlösung, wobei er folgendermassen verfährt: Man
behandelt den Fleck mit verdünnter Kalilauge, wobei man eine
bräunliche Lösung erhält, welche filtrirt und darauf mit Tanninlösung
versetzt wird, wodurch die Flüssigkeit sofort eine rothbraune
Färbung annimmt. Darauf fällt man mit verdünnter Essigsäure bis zur
deutlich sauren Reaction. Mit dem abfiltrirten und getrockneten
Niederschlag verfährt man dann wie bei der gewöhnlichen Darstellung
der Häminkrystalle.
Die Häminkrystalle finden sich in der Regel in grosser Menge und
erscheinen als winzige, entweder vereinzelte (Fig. 76) oder zu
Zwillingen und Mehrlingen verbundene (Fig. 77) rhombische Stäbchen,
oder, wenn sie nicht vollständig ausgebildet sind, als hanfsamenförmige
Krystalle (Fig. 78) von brauner Farbe in verschiedener Nuance. Sie sind
unlöslich in Wasser, Aether und Alkohol, schwer löslich in Ammoniak,
verdünnter Schwefelsäure und officineller Salpetersäure, leicht
löslich in Kalilauge und englischer Schwefelsäure. Im polarisirten
Lichte zeigen sie Pleochroismus und erscheinen, wie auch +Jaumes+
hervorhebt, in verdunkeltem Gesichtsfeld wie Sterne leuchtend. Ihre
Lösung in Eisessig zeigt Ozon übertragende Eigenschaften.
So leicht die Häminkrystalle in der Regel sich darstellen lassen, so
kommt es doch manchmal vor, dass trotz zweifelloser Anwesenheit von
Blut die Darstellung derselben nicht gelingt. Nach unseren Erfahrungen
scheint es insbesondere die Beimengung fettiger Substanzen zu sein,
welche dieselbe verhindert.[302] Wird diese vermuthet, so empfiehlt es
sich, die zu untersuchenden Bröckchen früher mit Aether zu behandeln
und dann nochmals die Darstellung der Häminkrystalle zu versuchen.
Haftet Blut auf eisernen Werkzeugen, so kann auch die Rostbildung die
Gewinnung der Krystalle erschweren und selbst ganz verhindern. Dagegen
lassen sich dieselben aus durch siedendes Wasser u. dergl. für Wasser
unlöslich gewordenen Blutspuren ganz gut darstellen.
Auch aus bis 140° und selbst darüber erhitzten Blutspuren konnten
+Katayama+ (l. c.) und +Misuraca+ (Virchow’s Jahresb. 1889, I) noch
Häminkrystalle gewinnen. Da in einem solchen Falle das coagulirte Blut
fest an der Unterlage haftet, so kann man den Fleck sammt dieser mit
Eisessig behandeln und so das Hämatin daraus gewinnen, was namentlich
dann thunlich ist, wenn der Fleck auf Leinwand oder einem Stoffe sitzt,
der durch Essigsäure nicht entfärbt wird. Höheres Alter der Spur
hindert für sich allein die Gewinnung der Häminkrystalle nicht und
wir haben solche noch aus Blutspuren dargestellt, die 5-6 Jahre alt
und noch älter gewesen sind. Auch faules oder faul gewesenes und dann
eingetrocknetes Blut gestattet diese Darstellung. +Struve+ fand, dass
Schimmelbildung die Darstellung von Häminkrystallen beeinträchtigt.
[Illustration: Fig. 76.
Vollständig ausgebildete Häminkrystalle.]
[Illustration: Fig. 77.
Zu Zwillingen und Mehrlingen vereinigte Häminkrystalle.]
[Illustration: Fig. 78.
Hanfsamenförmige Häminkrystalle.]
[Sidenote: Hämoglobinkrystalle.]
Die Darstellung der +Hämoglobinkrystalle+ aus Blutspuren, welche auch
zur Erkennung der Blutart höchst wichtig wäre, bietet noch viele
Schwierigkeiten. +Misuraca+ (l. c.) empfiehlt zu diesem Zwecke das
langsame Eintrocknen eines Tropfens der mit einer Spur Ammoniak
oder Kochsalz versetzten Blutlösung unter einem Deckgläschen.
+Moncton Copemann+ (Brit. med. Journ. 1889, July 27) bemerkt, dass
sich die Hämoglobinkrystalle ausser durch ihre Form auch dadurch
unterscheiden, dass die menschlichen nur aus reducirtem, die der
Säugethiere, mit Ausnahme der Affen, nur aus Oxyhämoglobin bestehen.
Er behandelt das frische oder mit etwas Wasser gelöste Blut mit
bereits etwas zersetztem Blutserum oder Pericardialflüssigkeit
oder mit Galle oder Aether und lässt dann einen Tropfen auf einer
Glasplatte eintrocknen, nachdem derselbe im Beginne der Eintrocknung
mit einem Deckgläschen bedeckt worden ist.
[Sidenote: Blutspuren ähnliche Flecke.]
Die Erfahrung lehrt, dass alle möglichen röthlich oder braunröthlich
gefärbten Flecke gelegenheitlich für Blutspuren gehalten werden
können, so von Farben, insbesondere von Fruchtsäften oder
Fruchtfleisch herrührende Flecken, sowie Rostflecke. Wiederholt
erwiesen sich auf Holzprügeln oder dergleichen gefundene rothbraune
Flecke als Rinden- (Bast-)reste. An den Kleidern eines aus dem Wasser
gezogenen Mannes fanden sich ausser „Hautaufschürfungen“ im Gesichte,
besonders am Mund und am Vorderhals zerstreute, wie Blutstropfen
aussehende und auch als solche gedeutete Flecke. Die Obduction
ergab Schwefelsäurevergiftung. Von der Säure rührten sowohl die
„Hautaufschürfungen“ als die Flecke an den Kleidern her. Auch von
Tabaksaft und sogar von Versengung herrührende Flecke wurden uns als
blutverdächtig übergeben. Schliesslich können von Wanzen, Flöhen,
Läusen oder Fliegen herrührende Flecke für Blutspuren gehalten
werden. Dies ist um so wichtiger, als solche Spuren in der Regel
die Blutreaction ergeben. Dass die Excremente solcher blutsaugenden
Insecten Blut theils im zersetzten, theils im unzersetzten Zustande
enthalten, ist lange bekannt und selbstverständlich. Insbesondere
erwähnt schon +A. Schauenstein+ in der zweiten Auflage seines
Lehrbuches d. gerichtl. Med. 1875, pag. 484, dass man aus diesen
Excrementen „stets Häminkrystalle, meist auch Blutzellen deutlich
gewinnen kann“. Vor Kurzem hat +Janeček+[303] darauf aufmerksam
gemacht, dass sich aus Excrementen von Fliegen leicht Häminkrystalle
darstellen lassen und auch bei Behandlung mit der von uns empfohlenen
Cyankaliumlösung (pag. 435), das Hämatinspectrum. Es ist dieses
begreiflich, da die Fliegen sehr gewöhnlich Blut oder bluthältige
Stoffe verzehren. Beachtenswerth ist diese Thatsache gewiss,
eine Nichtbeachtung oder Verkennung derselben jedoch, bei den
bekannten äusseren Eigenschaften solcher Excrementenflecke und bei
gleichzeitiger und sich ergänzender mikroskopischer und chemischer
Untersuchung durch gewiegte Sachverständige, kaum zu befürchten.
Nicht selten sind in diesen Spuren Eier und Bruchstücke der
betreffenden Thiere nachweisbar. +Schöfer+ (Wiener klin. Wochenschr.
1893, Nr. 35) hatte eine Blutspur zu untersuchen, von welcher der
des Mordes Angeklagte behauptete, dass sie von einer zerdrückten
Wanze herrühre. Die Häminprobe ergab ein positives Resultat, auch
liessen sich rothe, den menschlichen ähnliche Blutkörperchen
nachweisen, aber auch Bruchstücke von Tracheen und Borsten, wie sie
thatsächlich bei Wanzen vorkommen, so dass erklärt werden musste,
dass die Spur thatsächlich von einer zerdrückten Wanze herrühren
konnte, umsomehr, als auch ihre Form einer solchen Provenienz
entsprach. In dem Halstheil eines von Läusen besudelten Hemdes
konnte +Schöfer+ Hämin- und Harnsäurekrystalle, hakenförmige Reste
der Fresswerkzeuge und den Kleiderläusen eigenthümliche Borsten
nachweisen.
Untersuchung von Haaren.
Die Untersuchung von Haaren kann unter Umständen für den Verlauf eines
Criminalfalles, insbesondere für die Eruirung des Thäters, eine ebenso
hohe Bedeutung erlangen, wie jene von Blutspuren, namentlich dann, wenn
sich auf verletzenden Werkzeugen, welche einem des Mordes verdächtigen
Individuum gehören, Haare finden.
Eine Reihe derartiger Fälle hat +Oesterlen+ („Das menschliche Haar
und seine gerichtsärztliche Bedeutung.“ 1874, und +Maschka+’s Handb.
der gerichtl. Med., pag. 511) gesammelt. Darunter befindet sich der
Fall von +Lender+, betreffend einen an sechs Personen begangenen
Raubmord, wo es gelang, aus Haaren, die an mehreren meilenweit
vom Orte der That in einer Höhle verborgenen Beilen anklebend
gefunden wurden, den Beweis zu liefern, dass mit diesen die blutige
That begangen worden ist; ferner der Fall von +Lassaigne+, in
welchem der Nachweis, dass ein Mann nicht im Walde durch Räuber,
sondern in seinem eigenen Hause ermordet und dessen Leiche erst
dann verschleppt wurde, dadurch hergestellt werden konnte, dass
man bei der Untersuchung des Hauses an einem Thürpfosten einen
blutigen Gewebsfetzen fand, in welchem Haare eingebettet waren,
die als dem Verstorbenen angehörend erkannt wurden. Wir selbst
hatten Gelegenheit, ein Handtuch zu untersuchen, welches bei
einem Individuum gefunden wurde, das im Verdachte stand, einen
Hausgenossen erwürgt zu haben und welches in seinem oberen Theile
Blutspuren ergab, welche deutlich den Abdruck einer blutigen Hand
zeigten, die an diesem Handtuche abgewischt worden war. In zweien
jener nach aufwärts abgerundeten Flecke, welche den Abdruck der
Fingerkuppen darstellten, fand sich je ein schwarzes, geronnenem
Blute ähnliches Klümpchen, welches bei näherer Untersuchung sich
als ein Epidermisfetzen erwies, in welchem noch jene zarte Härchen
nachweisbar waren, welche in der Haut zu sitzen pflegen. Da die
Haut am Halse des Erwürgten vielfach zerkratzt war und die Nägel
des Angeklagten die Fingerspitzen überragten und hart waren, so lag
die Deutung nahe, dass jene Epidermisreste mit den darin steckenden
Härchen vom Halse des Ermordeten herrührten, beziehungsweise dem
Mörder hinter den Nägeln stecken blieben und beim Abwischen der Hände
auf das Handtuch kamen, ein Umstand, der wesentlich dazu beitrug, den
Angeklagten der That zu überführen. (Vierteljahrschrift f. gerichtl.
Med. N. F. XIX, pag. 89.)
[Sidenote: Untersuchung von Haaren. Fragen.]
Kommen Haare zur gerichtsärztlichen Untersuchung, so handelt es sich
zunächst um Beantwortung der Frage, ob Menschen- oder Thierhaare
vorliegen? Denn es ist begreiflich, dass, wenn die betreffenden Haare
als Menschenhaare erkannt werden, dadurch ein ebenso gravirendes Moment
geliefert wird, wie im Gegentheil ein entlastendes, wenn diese sich als
von einem Thiere herrührend herausstellen.
+Ollivier+ (+Oesterlen+, l. c. 6) führte 1838 vor Gericht den
Beweis, dass Haare an dem Beile eines des Mordes Verdächtigen keine
Menschenhaare, sondern Thierhaare waren; dagegen wurden in einem
anderen Falle an einem Hammer klebende Haare als Menschenhaare
erkannt, obgleich man sie anfangs, da der Hammer auf einem
Ziegenfell gelegen war, für Ziegenhaare gehalten hatte. -- In
einem Nothzuchtsfalle wurden uns zwei Haare übergeben, die die
Mutter des angeblich genothzüchtigten Kindes am Hemde desselben
gefunden hatte und für die Schamhaare des Mannes hielt, während
sich dieselben bei der mikroskopischen Untersuchung als Thierhaare,
höchst wahrscheinlich Hundshaare, herausstellten. -- Unlängst
wurde uns eine Hacke eingesendet, um zu constatiren, ob die daran
befindlichen Flecken von Menschen- oder von Hasenblut herrühren. Der
eines Mordversuches Beschuldigte hatte nämlich angegeben, er habe
auf dem Felde einen todten Hasen gefunden und denselben, nachdem er
den Balg abgezogen, mit der Hacke zerstückt, wobei die Blutflecke
entstanden. Die mikroskopische Untersuchung ergab Blutkörperchen,
die entschieden kleiner waren, als die menschlichen, so dass die
Möglichkeit zugegeben werden musste, dass die Blutspuren von
Hasenblut herrühren können. Entscheidend wäre aber erst das Auffinden
der charakteristischen Hasenhaare an der Hacke gewesen, die sich aber
trotz sorgfältiger Nachschau nirgends ergaben.
[Sidenote: Menschliche Haare.]
Unterziehen wir ein +menschliches Haar+ (Kopfhaar) der mikroskopischen
Untersuchung, so sind wir in der Regel im Stande, am Haarschaft
drei Schichten zu unterscheiden: die Cuticula, die Rindensubstanz
und die Marksubstanz. Die Cuticula oder das Oberhäutchen wird
gebildet durch dachziegelförmig übereinanderliegende, äusserst feine
Epidermisschuppen, welche, wenn sie mit ihren Spitzen etwas vom
Schafte abstehen, diesem ein etwas gezähntes Aussehen geben. Da die
Schuppen mit ihren abgerundeten Spitzen alle gegen das freie Ende des
Haares gerichtet sind, so besitzen wir darin einen ausgezeichneten
Anhaltspunkt, um vorkommenden Falles das periphere Ende eines Haares
vom centralen zu unterscheiden. Die Rinden- oder Corticalsubstanz
bildet die Haupt- und häufig die einzige Masse des menschlichen
Haarschaftes. Sie besteht aus einem System langgestreckter, innig
vereinter Hornzellen, die dem Haarschaft ein der Länge nach
gestricheltes Aussehen geben, und zeigt je nach dem individuellen
Colorit des betreffenden Haares eine verschiedene diffuse und meist
gleichmässige Färbung, ausserdem besonders bei trockenen Haaren
verschiedene Spalträume, die mit Luft gefüllt sind. Die Marksubstanz
präsentirt sich, wenn gut entwickelt, entweder ohne weiters oder nach
Behandlung mit aufhellenden Mitteln, wozu sich insbesondere verdünnte
Salpetersäure eignet, als dunkler, ⅕-¼ der ganzen Haarbreite
einnehmender, in der Regel aber ungleich dicker und mehr weniger
unterbrochener Axenstrang, der meist vollkommen central gelegen
ist. Die Marksubstanz bildet keinen constanten Bestandtheil des
Haarschaftes, vielmehr fehlt sie ungemein häufig oder ist nur partiell
entwickelt. Das Verhältniss der markhältigen zu den marklosen Haaren
ist bei verschiedenen Individuen ein verschiedenes. Wie es scheint,
überwiegen bei dunklen Haaren die markhältigen, während bei blonden
das Umgekehrte der Fall ist. Constant fehlt die Marksubstanz bei den
Wollhaaren und wahrscheinlich bei allen Haaren, die das neugeborene
Kind zur Welt bringt.[304] Die Marksubstanz besteht aus winzigen
Zellen, die an älteren Haaren Luft enthalten, wodurch dieselbe ein
feinkörniges Aussehen und jene dunkle Farbe erhält, die man bis in
die neueste Zeit irrthümlich als von Pigment herrührend gehalten, und
davon die jeweilige Farbe des betreffenden Haares abgeleitet hat,
während letztere nur durch die diffuse Pigmentirung der Rindensubstanz
veranlasst wird.
[Sidenote: Thierhaare.]
Bei den +Thierhaaren+[305] begegnen wir im Allgemeinen denselben drei
Schichten, die den menschlichen Haarschaft zusammensetzen; dieselben
zeigen jedoch in ihrem Verhalten solche Unterschiede, dass es in der
Regel gelingt, ein Thierhaar sofort als solches zu erkennen. Schon die
Cuticula zeigt insofern Verschiedenheiten, als sie bei den meisten
Thierhaaren in Folge ihrer absolut und relativ grösseren Zellen weit
deutlicher hervortritt und der Oberfläche des Haares ein mitunter
charakteristisches Aussehen verleiht, wie z. B. insbesondere die
Schafwolle durch die grossen Zellen der Cuticula und die dadurch
auffallend wellenförmige Zeichnung ihrer Oberfläche leicht zu erkennen
ist (Fig. 79, _4_ und _5_). Bei gewissen Thierhaaren stehen die Spitzen
der Cuticulaschuppen stark vom Haarschaft ab und geben dadurch dem
Haare ein auffallend gezähntes oder sägeförmiges und selbst, wie u. A.
bei den Fledermäusen, ein gefiedertes Aussehen (Fig. 79, _2_).
[Sidenote: Unterscheidung der Thier- und Menschenhaare.]
Was die anderen Theile des Haarschaftes betrifft, so fällt zunächst
das, jenem beim Menschenhaare ganz entgegengesetzte Massenverhältniss
zwischen Rinden- und Marksubstanz in die Augen. Während beim
menschlichen Haar die Corticalsubstanz die Hauptmasse des Haarschaftes
bildet und die Marksubstanz nur einen dünnen, häufig gänzlich
oder theilweise fehlenden Axenstrang darstellt, sehen wir bei den
Thierhaaren als Regel, dass die grösste Masse des Haarschaftes von
der ungewöhnlich breiten Marksubstanz eingenommen wird, während die
Rindensubstanz nur eine dünne Schichte bildet und häufig sich auf
einen saumartigen, meist wie hyalinen Streifen reducirt. Die Prävalenz
des Markes zeigt sich besonders am eigentlichen Haarschaft, während
gegen die Spitze zu die Rindensubstanz in dem Masse vorwiegt, als die
Marksubstanz sich verdünnt und schliesslich noch vor dem Haarende
vollkommen verschwindet.
[Illustration: Fig. 79.
_1_. Haar des Dachses; _2_. Haare der Fledermaus; _3_. Haare vom Fuchs;
_4_. und _5_. Schafwolle. ⁴³⁰⁄₁ nat. Gr.]
Charakteristisch ist ferner der Bau der Marksubstanz. Während beim
menschlichen Haar die zellige Structur derselben so undeutlich
hervortritt, dass bis in die neuere Zeit darüber gestritten wurde,
ob sie überhaupt eine solche besässe, sehen wir beim Thierhaare die
Zellenstructur in so ausgesprochener Weise entwickelt, dass sie sofort
und schon bei Anwendung schwacher Vergrösserungen sich bemerkbar
macht und dem betreffenden Haare ein desto eigenthümlicheres Aussehen
verleiht, je mehr die Rindensubstanz zurücktritt. Wir finden bald
runde oder ovale, bald polygonale Zellen, und, indem häufig einzelne
derselben lufthältig sind, andere nicht, erhält die Marksubstanz
ein scheckiges Aussehen. Manche Haare zeigen eine sehr zierliche
reihenförmige Anordnung der dann meist polygonalen Markzellen und wir
begegnen dann in den dünnen, sogenannten Flaumhaaren oft nur einer
einzigen, meist rosenkranzförmig angeordneten solchen Zellenreihe,
während in den dickeren Haaren mehrere Längsreihen die Marksubstanz
bilden und dabei häufig einen spiraligen Verlauf zeigen, wie z. B.
beim Kaninchen, Hasen u. dergl. Dieses Verhalten der Marksubstanz ist
bei verschiedenen Thieren verschieden und gestattet nicht blos ein
Thierhaar als solches zu erkennen, sondern auch bei einiger Uebung die
Thierclasse zu bestimmen, von der es herrührt (Fig. 79 und 80).
[Illustration: Fig. 80.
_1_. Kopfhaar vom Menschen mit entwickelter Marksubstanz; _2_. Haar vom
Rind; _3_. Haar vom Marder; _4_. Feines Rattenhaar; _5_. ein stärkeres
Rattenhaar nach Behandlung mit Kalilauge; _6_. Hasenhaar. ⁴³⁰⁄₁ nat.
Gr.]
[Sidenote: Thierhaare.]
Doch gilt dies, wie auch neuestens +Jaumes+ (l. c.) bestätigt, nicht
unbedingt und ausnahmslos; es gibt vielmehr Thierhaare, welche ein
gleiches oder wenigstens ähnliches Verhalten zeigen können, wie die
Menschenhaare. Allerdings gibt es kein Thier, dessen Haare sämmtlich
oder auch nur vorwaltend jenen des Menschen gleichen würden, da sich
bei allen Thieren, selbst bei den dem Menschen am nächsten stehenden,
z. B. den Affen, der beschriebene Thiertypus als Regel findet; wohl
können aber +einzelne+ Haare eines Thieres ein von diesem Typus
abweichendes oder jenem des menschlichen Haares ähnliches Aussehen
zeigen. Eine solche Aehnlichkeit kann besonders durch das Fehlen
der Marksubstanz bewirkt werden. Letzteres kommt nämlich, freilich
durchaus nicht so häufig als beim Menschen, auch bei Thieren vor,
und damit fehlt eben der vorzugsweise charakteristische Theil des
Haarschaftes, so dass die Unterscheidung desto schwieriger werden
kann, je ähnlicher die Corticalsubstanz und die Cuticula jener sind,
die wir am Menschenhaare finden. Namentlich sind es Hundehaare, die
häufiger als andere Thierhaare eine mitunter auffallende Aehnlichkeit
mit Menschenhaaren zeigen. Glücklicherweise sind es, wie gesagt, immer
nur einzelne Haare, die sich so verhalten, so dass, wenn mehrere zur
Untersuchung gelangen und keines den Thiertypus zeigt, mit Beruhigung
erklärt werden kann, dass dieselben nicht von einem Thiere herstammen.
Da auch bei Thieren die Marksubstanz nur partiell fehlen kann, was
wieder namentlich beim Hundehaare vorkommt, so ist jedesmal das
betreffende Haar seiner ganzen Länge nach, besonders unter Zusatz von
verdünnter Salpetersäure, zu untersuchen, wobei es doch gelingen kann,
an einzelnen Stellen dieselbe zu treffen und ihr Verhalten für die
Diagnose zu benützen.
Wurden in einem gerichtlichen Falle die vorgelegten Haare als
Menschenhaare erkannt, so entsteht die weitere Frage: von wem stammen
die Haare und von welcher Stelle des Körpers. Der erste Theil der
Frage verlangt eine Vergleichung der vorgelegten Haare mit jenen der
betreffenden Person, eine Vergleichung, die sich natürlich nicht blos
auf das makroskopische Verhalten derselben, sondern auch auf die
mikroskopischen Eigenschaften wird erstrecken müssen.[306]
[Sidenote: Haare der verschiedenen Körperstellen.]
Was die Stelle betrifft, von welcher die Haare stammen, so kommen
vorzugsweise Kopfhaare, Bart- und Schamhaare in Betracht, seltener
andere, am menschlichen Körper vorkommende Haare, wie z. B. in unserem
oben erwähnten Falle. Zur Unterscheidung ist die Länge des Haares,
die Stärke, Form und die Beschaffenheit des freien Endes desselben zu
berücksichtigen. Bezüglich der Länge ist es bekannt, dass die Kopf- und
Barthaare im Längenwachsthum weniger beschränkt sind, als die Haare an
anderen Körperstellen. Durch ihre grössere Länge lassen sich demnach
in der Regel die erstgenannten Haare von den anderen unterscheiden und
es sind namentlich die Frauenkopfhaare durch ihre bedeutende Länge
meist sofort als solche zu erkennen. Die Stärke der Haare bietet nicht
selten wichtige Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage, was
für Haare vorliegen. Am stärksten sind im Allgemeinen die Barthaare,
welche 0·14-0·15 Mm. im Querdurchmesser betragen. Dann kommen die
weiblichen Schamhaare mit 0·15 Mm., ferner die Augenwimpern mit 0·12,
die männlichen Schamhaare mit O·11, schliesslich die männlichen
und weiblichen Kopfhaare mit 0·08 und 0·06 Mm. durchschnittlicher
Dicke. Doch unterliegt bekanntlich die Stärke der Haare ungemeinen
individuellen Unterschieden, welche die Verwerthung der angegebenen
Maasse sehr erschweren. Von diesen sind die Altersunterschiede die
wichtigsten, da, wie bekannt, die Haare bei Neugeborenen ungleich
dünner und zarter sind als die älterer Kinder und diese wieder dünner
als jene von Erwachsenen. Ueberdies ist nicht zu vergessen, dass
ein und dasselbe Haar verschiedene Querdurchmesser bieten kann,
einestheils, indem es sich gegen die Spitze, mitunter auch gegen die
Wurzel zu verschmälert, anderseits, weil viele Haare keine vollkommen
cylindrische oder vielmehr conische Form besitzen. Ausgeprägt
cylindrische Form bietet noch am häufigsten das Kopfhaar, die jedoch
schon bei krausen Haaren in die plattgedrückte übergeht, so dass man
statt runder ovale Querdurchschnitte erhält. Die Barthaare geben in
der Regel dreieckige, die Schamhaare meist ovale Querdurchschnitte,
obgleich verschiedene Uebergangsformen vorkommen.
[Sidenote: Veränderungen der Haarenden durch mechanische Insulte.]
Behufs Beantwortung gegenwärtiger Frage muss auch das Verhalten
des freien Endes der betreffenden Haare untersucht werden. Normal
endigt jedes menschliche Haar in eine Spitze. Sämmtliche Haare der
Neugeborenen, sowie die in der Pubertätsperiode neu hervorsprossenden
und überhaupt alle Haare, die in ihrem natürlichen Wachsthum durch
keine Insulte gestört wurden, zeigen das spitze Ende, ein Umstand, der,
zusammengehalten mit den Durchmessern des Haarschaftes, auch gestatten
kann, annäherungsweise das Alter des Individuums zu bestimmen, von
welchem die betreffenden Haare herrühren. Diese ursprüngliche Endigung
der Haare wird im Laufe der Zeit vielfach verändert, so dass sie sich
bei Erwachsenen ungemein selten findet. Die Veränderung geschieht
beim Kopf- und Barthaar in der Regel frühzeitig durch das übliche
Verschneiden. Die verschnittenen Haare zeigen an ihren Enden anfangs
scharfe quere Trennungen, später runden sich die Contouren der Trennung
vom Rand aus ab und das Haar bietet nach einiger Zeit entweder ein
abgerundetes oder, wenn das Verschneiden lange ausgesetzt wurde, ein
ausgefasertes Ende, ein Verhalten, das eventuell für die Bestimmung der
Zeit verwerthet werden könnte, welche seit der letzten Verschneidung
verflossen ist.
[Illustration: Fig. 81.
Enden von Frauen-Kopfhaaren. ⁷⁰⁄₁, nat. Gr.]
Abgesehen von dem Verschneiden wird die ursprüngliche Endigung der
meisten Haare theils durch mechanische Insulte, theils durch die
Einwirkung von Schmutz und ähnlichen Agentien verändert. Wiederholte
mechanische Insulte, die das Haar getroffen haben, äussern sich als
Ausfaserung oder als Abschleifung des freien Haarendes. Die Folgen
ersterer Art sehen wir in exquisiter Weise an den freien Enden der
Frauenkopfhaare (Fig. 81), die in der Regel nie oder nur sehr selten
beschnitten werden. Schon makroskopisch lässt sich die Ausfaserung
bemerken und noch deutlicher präsentirt sie sich unter dem Mikroskop.
Die Abschleifung des Haarendes bemerken wir vorzugsweise an gewissen
kurzen Haaren, die an Hautstellen sitzen, welche in Folge der Kleidung
beständiger Reibung ausgesetzt sind, so an den Haaren der Extremitäten,
welche in Folge dieser Usur eine mehr weniger abgerundete, meist
keulenförmige Spitze zeigen (Fig. 82). Der Schweiss wirkt durch
Maceration und Auflösung der Bindesubstanz der Hornfasern. Wir finden
aus diesem Grunde Haare, welche an Stellen sitzen, die stark schwitzen
und wo sich überdies meist noch die beständige Reibung geltend macht,
wie z. B. in der Achselgegend, am After und an den Genitalien, nicht
blos vielfach zerfasert und abgewetzt, sondern häufig gequollen und mit
Schweisssedimenten wie incrustirt, die, indem sie sich zwischen die
ausgefaserten Enden des Haarschaftes festsetzen, letzteren ein keulen-
oder kolbenförmiges Aussehen verleihen, durchaus Befunde, die geeignet
sind, auf die Provenienz vorgelegter Haare einen mehr weniger sicheren
Schluss zu gestatten.
[Sidenote: Ausgefallene oder ausgerissene Haare?]
Entsteht die Frage, ob Haare ausgefallen oder ausgerissen wurden,
so ist insbesondere das Verhalten der Haarwurzeln zu untersuchen.
Ein sammt der Wurzel ausgerissenes gesundes Haar zeigt in der Regel
eine nach unten offene, feuchte, kolbige Wurzel mit mehr weniger
beträchtlichen Resten des Haarbalges, während ausgefallene Haare eine
unten geschlossene, glatte, trockene atrophische Wurzel besitzen.
Bei einzelnen Haaren kann die Untersuchung schwieriger sein, leicht
ist sie, wenn ganze Haarbüschel als angeblich ausgerissen präsentirt
werden, weil dann zahlreiche Wurzeln vorliegen und ihr Verhalten in
der angegebenen Richtung geprüft werden kann. In den meisten der
vorgekommenen Fälle (+Maschka+, +Casper+) wurden ausgekämmte Haare
als ausgerissene Haarbüschel vorgelegt, jedoch als erstere sowohl bei
der Besichtigung der Haare selbst, als des betreffenden Haarbodens
erkannt.[307]
[Illustration: Fig. 82.
Haare vom Unterschenkel mit abgeschliffenen Enden. ⁷⁰⁄₁ nat. Gr.]
Von anderen Objecten, deren Untersuchung und Constatirung
theils zur Eruirung des Thäters, theils zur Aufklärung gewisser
Umstände der That beizutragen im Stande ist, wollen wir hier nur
noch die Untersuchung verschiedener künstlicher Gewebe und die
von Gehirnsubstanz erwähnen, aber bezüglich der, auch für die
Bestimmung der Todesart wichtigen Untersuchungen von Meconium,
Fruchtwasserbestandtheilen, sowie von Cloakeninhalt auf die
Besprechung des Kindesmordes verweisen, woselbst diese nähere
Behandlung finden sollen.
[Sidenote: Fasern künstlicher Gewebe.]
Die Untersuchung +künstlicher Gewebe und Gewebsfasern+ reiht sich
in vielen Beziehungen an die Untersuchung der Haare an, da eine
grosse Zahl solcher Gewebe, wie insbesondere Kleiderstoffe, aus
Thierhaaren verfertigt werden. Wie wichtig die Constatirung solcher
Gewebe in einzelnen strafgerichtlichen Fällen werden kann, beweisen
zwei von +Taylor+ (l. c. I, 490 und 513) mitgetheilte Fälle. In dem
einen wurde bei einem Manne, der im Verdachte stand, ein Weib durch
Halsabschneiden umgebracht zu haben, ein Taschenmesser saisirt, an
welchem nicht blos zwischen dessen Schalen eingetrocknetes Blut,
sondern in diesem eingebettet noch einzelne rothbraun gefärbte Fasern
sich fanden, welche sich als gefärbte Schafwolle und in ihrem makro-
und mikroskopischen Verhalten sich als identisch erwiesen mit den
Gewebsfasern einer Wolljacke, die die Ermordete getragen hatte. -- In
einem zweiten Falle wurde ein Mann, den man zwei Stunden früher in
ein Haus gehen gesehen hatte, in der Nähe desselben auf den Schienen
einer Bahn liegend als Leiche gefunden, mit eclatanten Zeichen des
Erwürgungstodes und Blutaustritt aus Mund und Nase, ohne Hut. Bei
der Untersuchung des verdächtigen Hauses fand man Blutspuren und
unter anderen einen eisernen Rechen, an welchem die Reste eines
offenbar angebrannten Gewebes sassen. Unter dem Mikroskope erwies
sich dieses als ein Stückchen eines Filzes aus Hasenhaaren, die mit
Schellack verklebt waren, welches, wie der Vergleich und die weiteren
Nachforschungen ergaben, von dem bei der Leiche nicht gefundenen Hute
des Ermordeten herrührte, welchen die Thäter verbrannt hatten.
Schafwolle und andere zu Geweben verarbeitete Thierhaare werden
sich als solche leicht erkennen lassen, wie schon oben angeführt
wurde. Baumwollfasern präsentiren sich unter dem Mikroskope als
etwas spiralig gewundene flache Bänder mit doppelten Contouren,
Leinenfasern als durch Internodien abgetheilte, solide, meist
ausgefranzte Fasern und Seide in gleichmässig cylindrischen, nirgends
unterbrochenen soliden und structurlosen Fäden. Die meisten dieser
Gewebe sind künstlich gefärbt und ihre Fasern treten daher bei der
mikroskopischen Untersuchung noch deutlicher hervor.
[Sidenote: Hirnsubstanz auf Werkzeugen.]
Wie wichtig die Constatirung von +Hirnsubstanz+ an verletzenden
Werkzeugen werden kann, zeigt folgender, uns vor einigen Jahren
vorgekommener Fall. Bei einer zwischen mehreren Personen entstandenen
Rauferei, wobei +mehrere+ derselben Messer gezogen hatten, erhielt
der eine der Raufenden drei Messerstiche in den Kopf und blieb todt
am Platze. Bei der Obduction fand ich eine Stichwunde über dem
rechten Stirnhöcker, welche zwischen Kopfhaut und Knochen auf 4
Cm. eingedrungen war, ohne die Schädelknochen zu verletzen, weiter
eine Stichwunde vor dem linken Scheitelhöcker, welche die weichen
Schädeldecken und das Schädeldach bis auf die unverletzte Dura
mater durchdrungen und in ersterem die abgebrochene Messerspitze
zurückgelassen hatte und 3 Cm. hinter dieser eine dritte Stichwunde,
von welcher ein Stichcanal senkrecht durch die weichen Schädeldecken,
durch den Knochen und die Hirnhäute, sowie durch den Scheitellappen
des Gehirns in die linke seitliche Hirnkammer sich verfolgen liess,
woselbst er noch auf 2 Cm. in den Boden derselben eingedrungen war.
Die Stichöffnung im Knochen lief nach beiden Enden zu in je eine,
mehrere Centimeter lange Fissur aus und war mit hervorgequollener
Hirnsubstanz ausgefüllt. Gleich nach der Rauferei wurde am Thatorte
ein geöffnetes grösseres Taschenmesser und eine kurze Brotklinge
eines anderen Messers, jedoch ohne Heft, gefunden. Letztere war blank
und hatte eine wohlerhaltene Spitze und eine scharfe Schneide. Von
der Klinge des ersteren jedoch war die Spitze frisch abgebrochen
und das Bruchende passte genau zu dem der im Schädel stecken
gebliebenen Messerspitze. Ferner zeigte das Messer angetrocknete
Blutspuren, die als solche mikroskopisch und chemisch erkannt wurden.
Ausserdem liess sich aber an der einen Fläche der Klinge nahe der
Schneide in geringer Entfernung von der abgebrochenen Spitze ein
schmaler Streifen einer wie erstarrtes Fett aussehenden Substanz
nachweisen, und als diese unter dem Mikroskope untersucht wurde,
liessen sich in derselben Ganglienzellen, zarte Capillaren und feine
Arterienzweigchen in einer feinkörnigen Zwischensubstanz erkennen,
so dass kein Zweifel darüber bestehen konnte, dass Hirnsubstanz
vorlag, ein Befund, der für sich allein und zusammengehalten mit
den Blutspuren mit Sicherheit den Schluss gestattete, dass die
tödtliche Stichwunde mit +diesem+ Messer zugefügt worden sei. Da
ferner auch die im Schädelknochen steckende Messerspitze zu diesem
Messer gehörte, somit auch diese Wunde von letzterem herrührte, und
weil nicht anzunehmen war, dass die bis in das Gehirn eingedrungene
Wunde mit einem Messer, dessen Spitze abgebrochen war, erzeugt worden
sein konnte, so wurde das Gutachten dahin abgegeben, dass mit dem
betreffenden Messer zuerst die tödtliche und hierauf erst diejenige
Wunde beigebracht wurde, in welcher die Messerspitze stecken
geblieben war.
Verletzungen nach ihrem Sitze.
Es erübrigt noch, die Verletzungen nach ihrem Sitze zu besprechen, da
wir so Gelegenheit haben werden, einige für den Gerichtsarzt wichtige
Punkte zu berühren, zu deren Behandlung sich bisher keine Gelegenheit
ergab. Wir gedenken in anatomischer Ordnung vorzugehen und zuerst die
Kopfverletzungen, dann die Verletzungen des Halses, der Brust, des
Unterleibes und der Genitalien und schliesslich die der Extremitäten in
ihren gerichtsärztlichen Beziehungen zu besprechen.
A. Die Kopfverletzungen.
Die Kopfverletzungen bilden gewiss die häufigsten zur forensischen
Untersuchung gelangenden Verletzungen. Der Grund hiervon liegt
einestheils in der exponirten Lage des Kopfes, zufolge welcher derselbe
leichter von gewissen Gewalten getroffen wird als andere Organe, weiter
in der Fragilität der knöchernen Schädelkapsel, sowie in der grossen
Empfindlichkeit des Gehirns und anderer am Kopfe gelegenen Organe gegen
Traumen, endlich aber auch in dem Umstande, dass der Kopf eben der
bekannten Lebenswichtigkeit seiner Organe wegen häufiger der Zielpunkt
gewaltsamer Angriffe wird als andere Körpertheile.
Wir unterscheiden die Verletzungen des Schädels und die Verletzungen
des Gesichtes und der daselbst befindlichen Organe.
Bei der forensischen Beurtheilung der +Schädelverletzungen+ ist
ebenso wie bei der chirurgischen zunächst im Auge zu behalten,
dass die Bedeutung jeder Kopfverletzung von dem Grade abhängt, in
welchem dabei das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wurde; denn
von der Mitleidenschaft des Gehirns hängt nicht blos der Verlauf
einer Schädelverletzung ab, sondern auch die Erscheinungen, welche
unmittelbar nach der Zufügung derselben auftreten, und es ist jedem
Praktiker bekannt, dass eben diese ersten Erscheinungen häufig in
foro Gegenstand der Frage werden, theils indem es sich darum handelt,
zu beurtheilen, ob Jemand, nachdem er die betreffende Verletzung
erhalten hatte, noch im Stande war, weiter zu gehen, gewisse Handlungen
vorzunehmen, oder aber sofort zusammenstürzen musste, theils indem es
sich frägt, wie bald nach zugefügter Verletzung der Tod eingetreten
sein musste, oder indem in anderen Fällen die Erklärung verlangt wird,
warum in einem concreten Falle die schweren Erscheinungen nicht sofort,
sondern erst nachträglich und oft längere Zeit danach eingetreten sind.
Es ist in dieser Beziehung zu beachten, dass, wenn überhaupt bei
einer Kopfverletzung das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wird, die
Natur und Intensität der durch letztere hervorgerufenen unmittelbaren
Erscheinungen durch drei Momente bedingt werden kann, erstens durch
die Verletzung (Zusammenhangstrennung) der Hirnsubstanz selbst,
resp. einzelner Hirntheile, zweitens durch die Hirnerschütterung und
drittens durch den Druck, welcher auf die Gehirnoberfläche durch das
aus den durchtrennten Meningealgefässen austretende Blut ausgeübt wird.
Für die Anfangssymptome einer Schädelverletzung sind im Allgemeinen
die zwei letztgenannten Momente von grösserer Bedeutung als die
Zusammenhangstrennung des Gehirns selbst, wenn diese nicht ausgedehnte
Gebiete der Hirnrinde oder der Stabkranzfasern oder wichtige motorische
Centra oder Bahnen (Linsenkern, Streifenhügel, Hirnschenkel etc.)
betraf. So erklärt sich, warum verhältnissmässig häufig Leute, die
Messerstiche in den Kopf erhielten, unmittelbar nach dem Stiche nur
geringfügige Erscheinungen darbieten, dieselben nicht weiter beachten,
obgleich mitunter die abgebrochene Klinge im Gehirne stecken geblieben
ist[308], ebenso wird es uns aber verständlich, warum Individuen nach
einem gegen den Kopf erhaltenen Schlage bewusstlos zusammenstürzen,
aber nach verhältnissmässig kurzer Zeit sich wieder erholen und
entweder keine weiteren Erscheinungen einer Störung der Hirnfunctionen
darbieten oder erst nachträglich solche zeigen können. Letzteres kann
auch nach bedeutenden, insbesondere nach mit Schädelbrüchen verbundenen
Verletzungen geschehen und die Literatur enthält eine ansehnliche Zahl
von Fällen, in welchen derartige Verletzte anfangs gar nicht oder nur
vorübergehend das Bewusstsein verloren und dann noch gewisse, selbst
complicirte Handlungen mitunter überraschend lange zu verrichten im
Stande waren. Die meisten dieser Fälle erklären sich daraus, dass die
anfänglichen Symptome der Hirnerschütterung bald zurückgingen und eine
intermeningeale Blutung nur allmälig und überhaupt erst später eintrat.
[Sidenote: Handlungsfähigkeit nach Kopfverletzungen.]
C. +Emmert+ („Ueber die nächsten Folgen schwerer
Schädelverletzungen.“ Friedreich’s Bl. 1884, pag. 241) hat über
solche Fälle geschrieben. +Maschka+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1884, XLI, 1) berichtet über einen Mann, der Morgens in einer
180 Cm. tiefen gemauerten Grube, in welche er Nachts wahrscheinlich
im berauschten Zustande gefallen war, herumgehend getroffen wurde,
sich auf erfolgtes Anrufen selbst herausschwang, wie ein Betrunkener
taumelte und, nach Hause geführt, noch am selben Tage starb, bei
dessen Obduction eine vom rechten Seitenwandbein durch das rechte
Schläfebein bis zum Türkensattel ziehende Fissur, ein Einriss am
linken Schläfelappen mit starkem Intermeningealextravasat, Fractur
der vierten bis siebenten Rippe und eine kleine Ruptur der rechten
Niere sich ergab. +Jaumes+ (Montpellier méd. 1885, pag. 523) erzählt
von einem 30jährigen Manne, der um 6 Uhr Abends einen Schlag
auf die linke Schläfe mit einem Steine erlitten hatte, ohne das
Bewusstsein zu verlieren nach Hause gegangen war, dort mit seiner
Familie genachtmahlt und sich dann in’s Theater begeben hatte,
wo er bis 11 Uhr blieb und, nach Hause zurückgekehrt, erst um 2
Uhr zu klagen anfing und um 4 Uhr Morgens starb, an dessen Leiche
eine mit Depression verbundene Fractur der linken Schläfeschuppe,
Verletzung eines Astes der Art. meningea media mit grossem Extravasat
zwischen Knochen und Dura und eine, 1 Frank grosse Contusion der
Rinde am linken Scheitel gefunden wurde. Wir selbst begutachteten
mehrere analoge Fälle, darunter einen, der eine Frau betraf, die
in betrunkenem Zustande von ihrem Manne eine Ohrfeige erhielt, so
dass sie hinstürzte und mit dem Kopfe gegen die massive Leiste einer
geschlossenen Thüre fiel. Sie blutete sofort aus einer Wunde am
Hinterkopfe und war bewusstlos, erholte sich aber, nachdem sie der
Mann abgewaschen hatte, war dann noch im Stande, ihre häuslichen
Geschäfte zu verrichten, zu nachtmahlen und Branntwein zu trinken
und starb plötzlich erst am anderen Morgen, nachdem sie ihrem Manne
noch Wasser gebracht hatte. Die Obduction ergab einen mit partieller
Splitterung verbundenen Sprung des Schädels, der sich von der Mitte
der Hinterhauptsschuppe in das rechte Scheitelbein erstreckte.
Verletzung des Gehirns oder intrameningeales Extravasat soll nicht
vorhanden gewesen sein.
[Sidenote: Hirnerschütterung.]
Die Hauptsymptome der Hirnerschütterung, welche die neue Schule als
vasomotorische Neurose auffasst und entweder durch traumatische
Reflexparalyse der Hirngefässe (+Fischer+) oder durch Reizung und
consecutive Lähmung des vasomotorischen Centrums (+Koch+ und +Filehne+)
sich erklärt, wobei die plötzliche, in der Richtung der comprimirenden
Gewalt erfolgende Bewegung (Verdrängung) der Cerebrospinalflüssigkeit
und die dadurch bewirkte mechanische Reizung namentlich des Bodens
der vierten Kammer und der sensiblen Corpora restiformia eine
wichtige Rolle zu spielen scheint (+Duret+, +Gussenbauer+), sind
sofortige Bewusstlosigkeit, Coma, auffallend verlangsamter Puls,
schwache Respiration, träg reagirende Pupillen und Blässe der Haut.
In den meisten Fällen tritt sofort nach dem Insulte Erbrechen ein.
Convulsionen sind selten. Die Bewusstlosigkeit kann nur minuten-, aber
auch tagelang dauern (in einem Falle von +Pirogoff+ sechs Wochen). Sehr
constant ist ferner die zurückbleibende Amnesie.
Die Hirnerschütterung kann für sich allein, d. h. ohne auffällige
anatomische Veränderungen bestehen, noch häufiger ist sie mit
anderweitigen, wenn auch mitunter nur mikroskopischen Verletzungen
des Gehirns, die ebenso wie die Hirnerschütterung als solche, sowie
intermeningeale oder cerebrale Hämorrhagien auch ohne Verletzung des
Schädels vorkommen können.
Zu ersteren gehören die capillaren Apoplexien in der Hirnsubstanz,
die +Rokitansky+ und +Willigk+ nach heftigen Erschütterungen des
Kopfes beobachteten, dann die Rhexis cerebri, die wir bereits bei
Besprechung der Rupturen erwähnt haben, und ferner die so häufige
Contusio cerebri. Den häufigsten Sitz der Contusio cerebri bilden
die Stirnlappen, namentlich ihre untere und vordere Partie und die
Spitzen und Aussenflächen der Schläfelappen, die Scheitelgegend
und die hinteren Enden der Occipitallappen. Sie präsentirt sich in
Form meist violett verfärbter, gewöhnlich zu Gruppen gestellter
Stellen, an welchen die Rindensubstanz erweicht und von zahlreichen
grösseren und kleineren punktförmigen Blutaustritten durchsetzt ist.
Nach +Duret+ ist die Wand und Umgebung der vierten Hirnkammer ein
häufiger Sitz von traumatischen Hämorrhagien, weil bei plötzlichen
Erschütterungen des Kopfes die Ventrikelflüssigkeit vorzugsweise
gegen diese Partien hingedrängt wird. Auch die gewöhnliche
Contusio cerebri entsteht sehr häufig durch Contrecoup und findet
sich namentlich sehr gewöhnlich an jenen der Gewalteinwirkung
entgegengesetzten Stellen. Bemerkenswerth ist die von +Bollinger+
(„Ueber traumatische Spätapoplexie.“ Festschrift zu +Virchow+’s
70. Geburtstag. II. Bd., pag. 233) gemachte Beobachtung von
Erweichungsnecrosen in der Gegend des Aquaeductus Sylvii und am
Boden der vierten Kammer nach Hirnerschütterung, welche Erweichungen
nachträglich zu Apoplexien führen können. In einem Falle trat
letztere am 32., in einem zweiten Falle erst am 52. Tage ein.
Der Grad, in welchem die einfache oder mit Contusio cerebri verbundene
Hirnerschütterung erfolgt, wird einestheils von der Natur des
gebrauchten Werkzeuges, anderseits von der Gewalt abhängen, mit welcher
dasselbe geführt wurde. Bekanntlich sind vorzugsweise wuchtige stumpfe
oder stumpfkantige Werkzeuge geeignet, Hirnerschütterung zu bewirken,
und das plötzliche Zusammenstürzen der Individuen, die heftige Schläge
mit solchen Werkzeugen gegen den Kopf erlitten haben, ist vorzugsweise
auf die erfolgte Commotio cerebri zu beziehen, und zwar desto mehr,
je geringfügiger die Läsionen waren, die das Gehirn selbst erlitten
hatte, und mit je geringerer Blutung in die Schädelhöhle die Verletzung
verbunden war. Bei Stichverletzungen spielt die Commotio cerebri in
der Regel nur eine nebensächliche Rolle, eine wichtige dagegen bei den
Schuss- und noch mehr bei den Hiebwunden. Bei letzteren zeigt sich der
Einfluss der näheren Beschaffenheit des verletzenden Werkzeuges in
exquisiter Weise, da z. B. bei Hieben mit einem Beil die Erscheinungen
der Hirnerschütterung ungleich intensiver auftreten, als nach Hieben
mit Säbeln und da auch bei letzteren ein wesentlicher Unterschied
bezüglich des Auftretens der Symptome von Hirnerschütterung sich
ergeben wird, je nachdem leichte oder schwere Säbel zur Anwendung
gekommen sind. Aus diesem Grunde muss aber, und dies ist forensisch
wichtig, zugegeben werden, dass unter sonst gleichen Umständen Jemand,
der einen Hieb mit einem leichten und flachen Säbel erhielt, eher bei
Bewusstsein bleiben kann oder noch eine Handlung zu unternehmen vermag,
als Jemand, dem eine gleiche Wunde mit einem schweren und breitrückigen
Säbel oder gar mit einem Beile zugefügt worden ist.[309]
[Sidenote: Hirnerschütterung und Rausch.]
Da eine grosse Zahl der Raufereien, bei welchen es Kopfverletzungen
setzt, sich in Wirthshäusern und in vom Alkohol erregtem Zustande
ereignen, so ist es nicht überflüssig, auf die Aehnlichkeit aufmerksam
zu machen, die den Symptomen eines schweren Rausches und denen der
Hirnerschütterung zukommt, und zu bemerken, dass sowohl Symptome,
die von Alkoholexcess herrührten, für Hirnerschütterung genommen
wurden, als umgekehrt, und zwar noch häufiger Fälle vorkamen, in denen
letztere als Rauschzustand aufgefasst wurden und dementsprechend mit
dem Verletzten verfahren worden ist. Zur Unterscheidung müssen die
genossenen Alkoholmengen und die eventuellen Rauscherscheinungen, die
schon vor der Verletzung bestanden, erwogen werden, vorzugsweise aber
die Symptome, die in dem Momente auftraten, als der Schlag auf den Kopf
etc. erfolgte, sowie der weitere Verlauf des von diesem Zeitpunkte aus
sich datirenden Betäubungszustandes.
Was die mit einer Kopfverletzung verbundene Blutung in die
Schädelhöhle, beziehungsweise auf die Oberfläche des Gehirns betrifft,
so wird dieselbe desto rascher und desto intensiver Erscheinungen des
Hirndruckes bewirken, je grösser die Menge des ausgetretenen Blutes
war, und je rascher sich das Extravasat gebildet hatte. Es ist daher
nicht blos die Zahl und das Caliber der gleichzeitig verletzten
Meningealgefässe zu berücksichtigen, sondern auch, ob dieselben
arterielle oder venöse Gefässe gewesen sind. Von den grösseren
Arterien, die verhältnissmässig häufig bei den verschiedenartigsten
Kopfverletzungen durchtrennt werden und besonders intensive Blutung
und, wenn nicht etwa eine stärkere Haftung der Dura am Knochen bestand
oder nur kleine Aestchen verletzt wurden, sofortige oder baldige
Erscheinungen schweren Hirndruckes bewirken, erwähnen wir besonders
die Art. meningea media und ihre Verzweigungen, wodurch mächtige
kuchenförmige, die betreffende Grosshirnhälfte muldenförmig abflachende
Extravasate zwischen Dura mater und seitlicher Schädelwand entstehen
und von den venösen Gefässen die grossen Sinus der Dura mater. In
vielen Fällen nimmt die intermeningeale Blutung ihren Ausgang von
Contusionen des Gehirns, über welchen die Meningen mehr weniger
zerrissen sind und kann auch erst nachträglich in Folge Erweichung
eintreten.
Die bei weitem grösste Zahl der Kopfverletzungen, welche zur
forensischen Untersuchung gelangen, ist durch stumpfe oder durch
stumpfkantige Werkzeuge veranlasst worden. Den geringsten Grad des
Effectes des letzteren bilden die Suffusionen der Kopfhaut, von denen
wieder die meisten im lockeren Zellgewebe unter der Galea zwischen
dieser und dem Pericranium und unterhalb des letzteren vorzukommen
pflegen. Zu ihrer Entstehung genügen bei dem Blutreichthum der
Kopfhaut und wegen der harten Unterlage schon geringe Gewalten, wie
wir namentlich an den Blutbeulen der Kinder, die sie sich beim Fallen
zuziehen, sehr gewöhnlich beobachten können, und es ist insbesondere zu
bemerken, dass sie sich häufig auch zufällig bei den verschiedensten,
auch natürlichen, plötzlichen Todesarten beim Niederstürzen des
Körpers und Aufschlagen des Kopfes an harte Gegenstände bilden können.
Bezüglich der Wunden der Schädeldecken wurde bereits oben (pag. 278)
hervorgehoben, dass dieselben nicht immer unregelmässige und gezackte
Ränder besitzen müssen, sondern der Spannung und harten Unterlage wegen
häufiger als an anderen Körperstellen auch lineare Trennungen bilden
können, und es wurden zugleich jene Momente erwähnt, welche in einem
solchen Falle trotz der linearen Beschaffenheit der Hautwunde doch die
Diagnose gestatten können, dass dieselbe nicht mit einem schneidigen,
sondern durch ein stumpfes Werkzeug entstanden sei.
[Illustration: Fig. 83.
Lochfractur im l. Scheitelbein durch einen sogen. „Todtschläger“
veranlasst. Nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 84.
Hintere Seite von Fig. 83. Nat. Gr.]
[Sidenote: Wunden der Schädeldecken. Lochfracturen des Schädels.]
Das „Nullum vulnus capitis contemnendum“ der älteren Chirurgen bezog
sich vorzugsweise auf die Wunden der Schädeldecken und auf die
Häufigkeit der accidentellen Wundkrankheiten im Gefolge derselben,
welche die Prognose solcher Wunden so trügerisch gestaltete. Die
Warnung der alten Praktiker verdient auch heutzutage alle Beachtung,
insoferne als erfahrungsgemäss bei Kopfwunden besonders günstige
Bedingungen für den Eintritt gefährlicher septischer Processe
(Erysipelas, Meningitis etc.) gegeben sind. Da wir jedoch gegenwärtig
wissen, dass diese Processe, wenn auch nicht immer, so doch in der
Regel durch correcte (antiseptische) Behandlung vermieden werden
können, so werden wir bei der gerichtsärztlichen Begutachtung solcher
Verletzungen die ursprüngliche Bedeutung und den weiteren ungünstigen
Verlauf derselben wohl auseinanderhalten, beziehungsweise dem Richter
auseinandersetzen, dass die Ursache der ungünstigen Complication
keineswegs in der „allgemeinen Natur der Verletzung“, sondern in
äusseren Schädlichkeiten begründet war, deren Hinzutreten in der
Regel durch richtige Behandlung verhindert werden kann.
Ein sehr häufiger Effect stumpfer Gewalten sind Continuitätstrennungen
des Schädels. Besass das betreffende Werkzeug nur eine kleine, zufolge
der Untersuchungen von A. +Paltauf+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
XLVIII) 4 Quadratcentimeter nicht überschreitende Oberfläche, so können
lochförmige Verletzungen, sogenannte +Lochfracturen+, entstehen, aus
deren Form sich mitunter die nähere Natur desselben vermuthen lässt.
So besitzen wir in unserer Sammlung einen Schädel, an welchem eine
3 Cm. breite, kreisrunde Scheibe aus der äusseren Tafel des linken
Scheitelbeines herausgeschlagen und kegelstutzförmig deprimirt sich
findet, während von der gegenüberliegenden Glastafel ein noch einmal so
grosses und vielfach gesplittertes, aber ebenfalls kreisrundes Stück
abgesprengt erscheint. Das verletzende Werkzeug war ein sogenannter
Todtschläger -- Life preserver -- gewesen (Fig. 83 u. 84).
[Illustration: Fig. 85.
Lochfractur im linken Scheitelbein, durch einen runden Maurerhammer
veranlasst, der mit voller Fläche getroffen hatte. ½ nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 86.
Terrassenförmige Lochfractur links von der Pfeilnaht, durch einen
runden Hammer entstanden, der mit der unteren Kante des Hammerkopfes
getroffen hatte. Der Hieb wurde von rechts geführt. ½ nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 87.
Mit einem viereckigen Hammer erzeugte Lochfractur. Die im Bilde rechts
gelegene durch die Fläche, die linke durch eine Ecke des Hammerkopfes
entstanden. ¼ nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 88.
Viereckige Lochfractur, durch den Kopf einer beilstockartig geformten
Hacke erzeugt, mit eingebrochenen, von der äusseren Knochentafel
gebildeten Rändern. Etwas über ¼ nat. Gr.]
[Illustration: Fig. 89.
Dieselbe Lochfractur von Innen. Die von der Glastafel gebildeten Ränder
in Form eines regelmässigen Rahmens abgeknickt und deprimirt. Etwas
über ¼ nat. Gr.]
Eine ähnliche Verletzung bewirkt der runde Kopf eines Schusterhammers,
wenn derselbe mit der vollen Fläche die betreffende Schädelstelle traf.
Fig. 85 zeigt hiervon ein Beispiel. War letzteres, wie häufig, nicht
der Fall, so entsteht, indem die untere runde Kante des Hammerkopfes
zuerst in den Knochen eindringt, die in Fig. 86 abgebildete
Lochfractur, die wir als die terrassenförmige bezeichnen möchten,
weil das deprimirte Knochenstück parallele bogenförmige Sprünge zeigt,
die ihre Concavität der Stelle zukehren, wo die Kante des Hammers
eingedrungen ist und die zugleich am meisten deprimirt erscheint. Es
liegt nahe, dass eine solche Beschaffenheit der Verletzung auch für die
Bestimmung der Stellung des Thäters zum Getroffenen verwerthet werden
kann.
Als Seitenstück zeigt Fig. 87 zwei Lochfracturen, die durch einen
vierkantigen Hammerkopf veranlasst wurden, welcher einmal mit voller
Fläche, das anderemal mit einer Ecke den Schädel getroffen hatte, und
Fig. 88 und 89 eine andere, welche mit dem viereckigen Kopfe einer
beilstockartig geformten Hacke bewirkt wurde, und zwar bei einem der
zwei Knaben des Wechslers +Eisert+, die bekanntlich sammt ihrem Vater
im Jahre 1884 durch Anarchisten ermordet worden sind. Bemerkenswerth
ist hier der regelmässige Einbruch der Ränder des viereckigen Loches,
welche wie ein Rahmen ein inneres kleineres, ebenso geformtes Loch
umgeben. Ob und in welchem Grade die Form der Angriffsfläche des
verletzenden Werkzeuges an der Lochfractur zur Ausprägung kommt, hängt,
wie die Versuche von A. +Paltauf+ (l. c.) ergaben, ausser von den
bereits erwähnten Momenten auch von der Schärfe der Ecken und Kanten
des Werkzeuges und von der Dicke des Knochens, insbesondere aber von
der Dicke der den Schädel bedeckenden Zwischenlagen (Schädeldecken,
Haarwuchs, Kopfbedeckung) ab, welche desto mehr die Ausprägung der Form
des Werkzeuges verhindern, je dicker sie sind.
[Sidenote: Zertrümmerungen des Schädels.]
[Sidenote: Fracturen und Fissuren des Schädels.]
An die Lochfracturen schliessen sich die Zertrümmerungen grösserer
Partien des Schädels oder des ganzen Schädels an, wie sie durch
mit breiter Fläche einwirkende grosse Gewalten zu Stande kommen.
Verhältnissmässig häufig sind die Fracturen des Planum temporale, so
nach Sturz, Stoss oder Schlag auf oder gegen dieses. Sehr gewöhnlich
kommt es dabei zu Rupturen von Aesten der Arteria meningea media und,
wenn die Dura unverletzt bleibt, zu einem meist mächtigen Bluterguss
zwischen diese und die Innenfläche des Schädels, wodurch die Dura
abgehoben und die betreffende Grosshirnhälfte muldenförmig abgeflacht
wird. Die grossartigsten Zertrümmerungen des Schädels finden sich
nach Sturz von bedeutenden Höhen, Ueberfahrenwerden, besonders durch
Waggons, und ähnlichen grossen Gewalteinwirkungen. Sehr häufig sind
dann die Fracturen complicirte, indem mehr weniger zahlreiche
Fragmente die Schädeldecke durchdringen. Ob letzterer Vorgang auch nach
einem mit den Händen geführten Schlag, mit einem Knüttel, schweren
Stein u. dergl. geschehen kann, ist zweifelhaft, nach wiederholten
Schlägen wäre dieses nicht unmöglich. Dagegen ist zu beachten, dass
auch nach einem einzigen Schlag mit einem solchen Gegenstande ein
dünner oder spröder, z. B. seniler Schädel in zahlreiche Stücke
auseinander gehen kann. So konnten wir 21 Scherben zählen bei einem
Individuum, das einen einzigen Hieb mit einem dicken, schweren Prügel
über den Kopf erhalten hatte und haben bei einem Manne, der in der
Trunkenheit auf vorspringende Steine gefallen war, das Planum temporale
in 12 grössere und mehrere kleinere Stücke zerbrochen gefunden, mit
zwei einestheils in das betreffende Scheitelbein, anderseits durch
die mittlere Schädelgrube bis zur Sella turcica sich erstreckenden
Fissuren. In beiden Fällen war der Schädel dünn und compact. Ebenso
fand +Buchner+ (Lehrb. 1867, pag. 224) nach Schlag mit einer Zaunlatte
den kaum 2 Linien dicken Schädel in 25 Stücke zerschlagen und in einem
von +Bujalsky+ (+Bergmann+, Kopfverletzungen, pag. 71) erwähnten Falle
war ein im höchsten Grade verdünnter Schädel durch den Hufschlag eines
Pferdes in 96 Fragmente getrennt. +Bergmann+ selbst bildet den Schädel
eines 13jährigen Mädchens ab, welcher durch Auffallen eines Steines in
mehrere Stücke zerbrochen war. Auch +Messerer+ (Friedreich’s Bl. 1888,
pag. 374) berichtet über eine hochgradige Schädelzertrümmerung bei
einem alten Manne, der sich nach einem Versuch der Aderndurchschneidung
aus einer Höhe von nur 3 Meter auf eine Tenne herabgestürzt hatte.
Eine andere Kategorie von Schädelverletzungen entsteht durch Berstung
des Schädels in Folge plötzlicher Compression. Die meisten Fissuren
entstehen auf diese Weise. Interessante Versuche von N. +Hermann+,
+Schranz+, insbesondere aber von +Messerer+[310] haben ergeben, dass
nach plötzlich comprimirenden Gewalten der Schädel einfach berstet,
etwa in ähnlicher Weise, wie man dieses z. B. bei einer comprimirten
Haselnuss beobachten kann. +Messerer+ fand dabei, dass solche
Berstungen vom getroffenen Orte aus am Schädelsphäroid in der Richtung
von Meridianen verlaufen, wobei Ablenkungen durch schwächere Stellen
vorkommen können. Vom Scheitel aus können solche Fissuren sowohl quer
als sagittal zur Basis ausstrahlen, dagegen entstehen Querfracturen
der Schädelbasis, wie +Messerer+ übereinstimmend mit +Hermann+ fand,
hauptsächlich durch eine seitliche, sagittale aber durch eine auf das
Hinterhaupt oder die Stirn gerichtete Gewalt. Basisfracturen können
aber auch durch plötzliche Einwirkung oder Eintreibung der Schädelbasis
in das Lumen des Schädels, wie es beim Auffallen eines Gegenstandes
auf den Kopf oder bei einem Fall auf den Scheitel, mitunter aber auch
auf das untere Körperende erfolgt, zu Stande kommen. Eine besondere
Kategorie derartiger Basisbrüche bilden die „Ringfracturen“, bei
welchen die das Hinterhauptsloch umgebenden Partien herausgebrochen und
nach einwärts getrieben wurden. Mitunter ist nur ein Theil des Ringes
ausgebildet.
Combinationen von Fracturen und Fissuren sind häufig, insbesondere
in der Art, dass von umschriebenen Einbrüchen eine oder mehrere
Fissuren ausgehen. Die sogenannten Sternbrüche sind meistens solche
Combinationen, indem von einer Stelle strahlenförmig Fissuren ausgehen
und die um den Ausgangspunkt dieser Strahlen gelegenen Knochenpartien
eingebrochen sind, mitunter in deutlich concentrisch angeordneter
Weise. Auch bei einfachen Fissuren ist der Angriffspunkt der Gewalt,
welche sie veranlasste, gewöhnlich durch mehr weniger ausgebildete
umschriebene Fracturen oder Infractionen markirt, mitunter nur durch
Absprengungen der Glastafel.
[Sidenote: Indirecte Fissuren und Fracturen.]
Durch Druck und Stoss können, wie die Versuche von +Hermann+ und
+Messerer+ ergaben, auch indirecte, d. h. mit der Angriffsstelle der
Gewalt nicht zusammenhängende Brüche entstehen. Zu ihrem Zustandekommen
ist nach +Messerer+ nöthig, dass die Gewalteinwirkung auf relativ
starke Schädeltheile statthat, welche den Angriff auszuhalten und
auf entferntere Theile zu übertragen vermögen, wo dann der indirecte
Bruch entsteht. Unserer Meinung nach sind alle durch Berstung des
Schädels veranlassten Fissuren indirecte, da die Berstung bei der
plötzlichen Compression des Schädels nicht an dem Angriffspunkte der
Gewalt, sondern entfernt davon an der Stelle der grössten Krümmung
und Spannung der betreffenden Schädelpartie beginnt und erst von
da aus in meridianer Richtung zur Stelle der Gewalteinwirkung sich
fortsetzt. Daher klaffen auch solche Fissuren am meisten an den von
dem Angriffspunkt der Gewalt entfernten Stellen, sind auch dort häufig
am meisten suffundirt, während sie gegen letztere zu, sowie gegen das
andere Ende der Zusammenhangstrennung zu sich verschmälern und in
bis haarfeine Sprünge auslaufen.[311] Es kommen aber auch, obgleich
bei Erwachsenen selten, Fissuren vor, die mit der Angriffsstelle
der Gewalt in gar keiner Verbindung stehen. So haben wir bei einem
34jährigen Manne, dem ein Mörtelschaff gerade auf den Scheitel gefallen
war und auf diesem eine 2·3 Cm. lange, bis zum Knochen dringende
Quetschwunde erzeugt hatte, unter der getroffenen Stelle äusserlich am
Scheitel keine Verletzung gefunden, dagegen einestheils eine Diastase
des vorderen Drittels der Pfeilnaht, welche in einen bis über die
Nasenwurzel reichenden und dort gegen die Augenhöhlen ziehenden Sprung
überging, anderseits eine Diastase der linken Lambdanaht, von welcher
am Uebergang des mittleren in das äussere Drittel ein Sprung senkrecht
zur linken Hinterhauptsgrube zog und am Boden der letzteren endete. An
der Innenfläche des Schädels war die vom Mörtelschaff getroffene Stelle
durch eine 21 Mm. lange, senkrecht zur Pfeilnaht ziehende feine Fissur
des linken Scheitelbeines markirt.
Verhältnissmässig am häufigsten kommen derartige indirecte Brüche
bei Neugeborenen vor, bei welchen sich des radiären Baues der
Schädeldeckknochen wegen, nach Fall oder Schlag auf den Scheitel
sehr leicht „Compressionssprünge“ bilden, die in der Regel vom Tuber
des Knochens, namentlich der Scheitelbeine ausgehen und zwischen
den Ossificationsstrahlen verlaufen und häufig genug entweder gar
nicht bis zur zunächst getroffenen Stelle reichen oder überhaupt gar
nicht meridian, sondern, wenn man sich den Angriffspunkt als Pol des
Schädelsphäroids denkt, in der Richtung von Breitekreisen verlaufen.
Von solchen Fracturen sind solche zu unterscheiden, die in der That
durch Contrecoup entstehen. Hierher gehören die indirecten Brüche der
Orbitaldächer durch Schuss (pag. 307), die auch durch einen heftigen
Schlag oder Fall auf den Hinterkopf oder den Scheitel veranlasst
werden können, aber auch dadurch, dass, während der Kopf auf einer
festen Unterlage aufruht, auf die entgegengesetzte Seite eine Gewalt
ausgeübt wird. Es kann darum geschehen, dass überhaupt nur an der dem
Angriffspunkt der Gewalt entgegengesetzten Stelle eine Fractur entsteht.
[Sidenote: In Fissuren eingeklemmte Haare.]
Dass selbst haarfeine Fissuren im Momente ihrer Entstehung bedeutend
klaffen müssen, beweisen die Haare, die man nicht selten in ihnen
eingeklemmt findet. In den bogenförmigen Fissuren der sub Fig.
86 abgebildeten Lochfractur waren zahlreiche Haarstümpfe fest
eingeklemmt und ragten palissadenartig über die Fissur heraus und ein
gleicher Befund ergab sich bei einer durch ein Bierglas erzeugten
Fissur und wiederholt fanden wir denselben an den haarfeinen
Ausläufern von Berstungsfissuren an der Angriffsstelle der Gewalt,
wenn sich dort gleichzeitig eine bis auf den Knochen dringende Wunde
befand. Solche Befunde, auf welche schon +Bruns+ (+Oesterlen+, „Das
Haar etc.“ l. c. 143) aufmerksam gemacht hatte, gestatten einen
doppelten Schluss: Erstens, dass die betreffende Gewalt gleichzeitig
mit einer Wunde der Kopfhaut verbunden war, was namentlich dann
von Wichtigkeit sein könnte, wenn die Weichtheile durch Fäulniss
etc. zerstört oder unkenntlich geworden wären, und zweitens, dass
die Verletzung mit einem nur in umschriebener Ausdehnung wirkenden
und höchst wahrscheinlich kantigen Werkzeuge zugefügt worden sei,
nicht aber durch Sturz mit dem Kopf auf eine Fläche und auch nicht
durch Schlag mit einem breiten und flachen Werkzeuge entstanden sein
konnte.[312]
Anschliessend an diesen Befund erwähnen wir, dass wir bei einem
Selbstmörder, der sich mit einer Pistole in die Schläfe geschossen
hatte, in einem von der Eingangsöffnung auslaufenden Knochensprunge
ein grosses Stück der Dura mater eingeklemmt fanden, obgleich
die Ränder des Sprunges nicht klafften, sowie, dass +Friedberg+
(Virchow’s Archiv, LXIX, 93) einen Fall beschreibt, wo in einer
Fractur der Schädelbasis die Arteria basilaris eingeklemmt gefunden
wurde.
[Sidenote: Brüchigkeit des Schädels.]
Die grössere oder geringere Leichtigkeit, mit welcher Fissuren oder
Fracturen entstehen, ist vielfach durch individuelle Verhältnisse
bedingt. Wie leicht die dünnen und noch strahlenförmige Structur
zeigenden Schädelknochen der Neugeborenen Continuitätstrennungen
erleiden, werden wir bei der Lehre vom Kindesmorde erwähnen. Bei
den Schädeln Erwachsener ist es wieder die verschiedene Dicke des
Schädels, welche bewirkt, dass in einem Falle derselbe leichter
bricht, als in einem anderen; auch ist es bekannt, dass einzelne
Stellen der Schädelkapsel, da sie de norma dünner sind als andere,
häufiger Fissuren und Fracturen unterliegen; so die Knochen der
Schläfengegend.[313] Dass im Allgemeinen die Brüchigkeit des Schädels
wächst, je mehr er sich consolidirt und eine starre Kapsel bildet, geht
daraus hervor, dass bei Erwachsenen durch dieselben Gewalten leichter
Fracturen entstehen als bei jugendlichen Individuen, besonders Kindern,
insbesondere aber aus der Häufigkeit der Fissuren und Fracturen der
Schädelbasis, die bei Erwachsenen so häufig, bei Kindern ungleich
seltener, und bei Neugeborenen niemals, ausgenommen, wenn der ganze
Schädel zerquetscht wurde, vorkommen.
War der Schädel an der zerbrochenen Stelle auffallend dünn, und
die Gewalt eine unbedeutende, dann wäre die „+eigenthümliche
Leibesbeschaffenheit+“ hervorzuheben. Solche abnorm dünne Stellen
können entweder angeboren sein oder sich später entwickelt haben, wie
z. B. die Usuren, die man bei sehr alten Leuten an den früher am
meisten gewölbten Partien der Scheitelbeine sich ausbilden sieht und
die mitunter einen solchen Grad erreichen können, dass der Schädel
an solchen Stellen durchscheinend und selbst durchbrochen wird. In
gleicher Weise wären abnorme Oeffnungen im Schädel zu beurtheilen,
wovon wir oben ein seltenes Beispiel anführen konnten, wie wir auch
bei Besprechung der „eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit“ im Sinne
der St. P. O. nicht unterlassen haben, auch auf die hydrocephalischen
und anderen pathologischen Zustände des Gehirnes aufmerksam zu
machen, welche bewirken können, dass verhältnissmässig unbedeutende
Erschütterungen des Kopfes, wie sie namentlich bei Züchtigungen der
Kinder zu Hause oder in der Schule sich ereignen, schwere und selbst
letale Folgen nach sich ziehen.
Bezüglich der Stich-, Hieb- und Schussverletzungen des Schädels haben
wir bereits bei der Besprechung dieser Verletzungen im Allgemeinen das
Nöthige bemerkt. Hier wollen wir nur erwähnen, dass, wenn dieselben
am Kopfe vorkommen, aber den Tod nicht nach sich gezogen haben, die
Verletzung in der Regel als eine solche zu bezeichnen sein wird, welche
mit einem solchen Werkzeuge und auf eine solche Art bewirkt wurde,
womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist (Oesterr. St. G. B.
155_a_, St. G. Entw. §. 231, 2 und deutsch. St. G. §. 223_a_).
[Sidenote: Folgen von Kopfverletzungen. Lähmung.]
Von den Folgen der nicht letal endigenden Kopfverletzungen kommen
ausser den bereits behandelten Geistesstörungen und der Aphasie noch
die Lähmungen und die epileptischen und epileptoiden Zustände und
der Diabetes in Betracht. Die Lähmungen, die nach Kopfverletzungen
zurückbleiben, werden natürlich von dem Sitze und der Ausbreitung der
Hirn-, respective Hirnnervenläsion abhängen. Man hat sowohl motorische
Lähmungen als Anästhesien beobachtet. Zustände ersterer Art wären
zweifellos „Lähmung“ im Sinne des Gesetzes (österr. Entw. §. 232,
deutsch. St. G. §. 224), obgleich es eine Menge Gradunterschiede
gibt, von unbedeutenden Paresen angefangen bis zur vollständigen
Lähmung und daher vollständigen Unbrauchbarkeit der betreffenden
Körpertheile. Der Umstand, dass erfahrungsgemäss solche Lähmungen im
Laufe der Zeit wesentlich sich bessern und auch ganz verschwinden
können, käme weniger in Betracht, da sie jedenfalls langwierige Leiden
darstellen, und die genannten Gesetze nicht von unheilbarer, sondern
nur von Lähmung überhaupt reden. Ob auch Anästhesien als „Lähmung“ im
Sinne des Gesetzes aufzufassen wären, ist fraglich. Da jedoch solche
Anästhesien gewiss nur ausnahmsweise für sich allein vorkommen, sondern
meist mit motorischen Lähmungen sich combiniren, so wird eben dadurch
die Schwierigkeit behoben. Dass viele solcher Zustände, z. B. die
Hemiplegie, auch als „Siechthum“ aufzufassen sein werden, unterliegt
keinem Zweifel.
[Sidenote: Epilepsie.]
Epileptische oder epileptoide Zustände nach Kopfverletzungen sind
häufig. Diese Möglichkeit hat insbesondere durch die zahlreichen
Studien über die psychomotorischen Rindencentren, namentlich durch
die bekannten Versuche von +Hitzig+, eine festere Basis
erhalten, bei welchen es gelang, durch Reizung der Grosshirnrinde
allein epileptische Anfälle hervorzurufen. Insbesondere sind
Verletzungen der Centralwindungen geeignet, Epilepsie nach sich
zu ziehen (traumatische Rindenepilepsie). Auf die Möglichkeit von
Entstehung von epileptischen Zuständen durch periphere Ursachen
(Narben der Kopfhaut) wäre ebenfalls Rücksicht zu nehmen. Derartige
Zustände wären wohl in der Regel unter den Begriff von „Siechthum“ zu
subsumiren, da wir in epileptischen Anfällen, wenn sie auch nur in
längeren Zwischenräumen auftreten, doch einen chronischen krankhaften
Zustand erkennen müssen, der gewiss geeignet ist, das betreffende
Individuum in, wenigstens temporäre Hilflosigkeit zu versetzen und
ihm den Lebensgenuss zu verbittern, wobei auch zu bemerken ist,
dass die traumatische Epilepsie von denselben psychischen Störungen
begleitet sein kann und sogar gewöhnlich begleitet ist, wie wir sie
bei Besprechung des „epileptischen Irrseins“ kennen lernen werden.
Da, wie oben erwähnt, Geistesstörung vom Gesetze als eine besondere
Verletzungsfolge ausdrücklich erwähnt wird und andererseits solche
Individuen während und in Folge der epileptischen Geistesstörung
strafbare Handlungen verüben können, so haben derartige Fälle eine
besondere gerichtsärztliche Bedeutung.
Instructive Beispiele von traumatischer Epilepsie haben F. H. +Rehm+
(Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1882, pag. 440) und F.
+Zierl+ (Ibid. pag. 345) gebracht. Ersterer berichtet über einen
25jährigen Mann, welcher, bis dahin vollkommen gesund, am 1. Januar
1878 einen Schlag mit einem Prügel auf den Kopf erhalten hatte,
wodurch eine Quetschwunde am linken Scheitel entstand. Er sank
sofort bewusstlos zusammen und blieb es bis zum 7. Januar. Von da
an begann das Bewusstsein wiederzukehren und er wurde am 22. als
geheilt entlassen. Seitdem häufiger Kopfschmerz, blasses Aussehen,
später zeitweilig starrer Blick und verminderte Sehkraft. Am 17.
December maniakischer Anfall, der fünf Tage dauerte. Am 26. October
1881 wurde er in heftigen epileptischen Krämpfen liegend gefunden,
welche sich innerhalb zweier Tage 16mal wiederholten. Am 8. November
ein neuer Anfall, am 9. mehrere und fortan bis zum 13. zahlreiche mit
nur 1–1½stündigen Zwischenpausen. Am 14. Tod im comatösen Zustand.
Die Obduction ergab keine Spur einer Narbe am Kopfe, dagegen zu
beiden Seiten des vorderen Endes der Pfeilnaht Verwachsungen der Dura
mater mit den inneren Meningen und darunter beiderseits geheilte
Contusionen der Hirnrinde in der bekannten Form der Plaques jaunes.
Der causale Zusammenhang der Epilepsie und des Todes, respective der
intermittirenden Geistesstörung mit dem vor fünf Jahren erlittenen
Trauma war zweifellos und der Thäter wurde auch vom Schwurgericht
wegen Todtschlag verurtheilt.
+Zierl+’s Fall gehört in die Kategorie der pag. 321 erwähnten
„peripheren“ oder „Reflexepilepsie“ mit periodischem Irrsein und
consecutiven verbrecherischen Handlungen. Der 34jährige, bis dahin
ganz unbescholtene Colporteur und frühere Mühlbauer L. wurde seit
dem Jahre 1872 11mal an verschiedenen Orten verurtheilt, und zwar
8mal wegen Unterschlagung und je einmal wegen Betrug, Diebstahl
und Sachebeschädigung. Am 27. September 1881 wurde er in die
Irrenanstalt gebracht, wo er sofort angab, dass er seit seiner
Verwundung (Schuss) bei Sedan häufig an Schwindel und Kopfschmerz
leide und eine grübchenförmige Narbe in der linken Schläfe zeigte,
welche in den Knochen sich einsenkt und mit demselben verwachsen ist.
Die Narbe selbst ist nicht empfindlich, wohl aber ein unter dieser
gelegener Punkt. Anfangs zeigte L. nichts Krankhaftes, war heiter
und benahm sich sehr anständig. Später zeigte er jedoch zeitweilig
ein verändertes Wesen, wenn er seinen von ihm selbst so bezeichneten
„Anfall“ bekam, welcher ganz plötzlich eintrat. L. wurde auf einmal
still und ernst, auffallend blass und zog sich mürrisch zurück, wurde
dann insolent, unartig, lärmend und begann über die unglückliche
Lage, in die er durch seine Verwundung gerathen, in der heftigsten
Weise zu raisonniren. Diese Anfälle, die mitunter weniger lärmend
unter Trübsinn verliefen, verloren sich manchmal allmälig, meist
aber verschwanden sie plötzlich. Für einzelne Vorgänge während des
Anfalles fehlte die Erinnerung vollständig, für andere war sie nur
im Allgemeinen vorhanden. Ausserdem wurden während 6 Wochen drei
Krampfanfälle in +einer+ Nacht beobachtet und L. will schon früher
manchmal bemerkt haben, dass er sich in die Zunge gebissen habe,
ohne zu wissen, wie das zugegangen war. Ueber die erst beschriebenen
Anfälle macht L. folgende Angaben: Die Anfälle beginnen mit Kopfweh,
das jedesmal von der Narbe oder eigentlich von einer etwas tiefer
gelegenen Stelle ausgehe (!), zugleich wird der Kopf und bald der
ganze Körper heiss; manchmal kommt Frost, oft Zittern. Im Kopfe
wimmle und brause es durcheinander unter gleichzeitigem Druckgefühl,
dass er sich nicht mehr auskenne; es kommt Schwindel, zu welchem er
auch sonst geneigt sei, dabei verliere er allen Humor, fühle sich
unglücklich, werde hitzig und empfindlich, habe einmal Selbstmord
versucht und wiederholt während des Anfalles die Kleider oder die
Bilder, die er colportirte, zerrissen, seine Uhr zertrümmert, in
Wirthshäusern excedirt etc., ohne nachträglich etwas davon zu wissen.
Ferner habe er in den meisten Anfällen einen unwiderstehlichen
Zwang fortzulaufen und treibe sich dann zwecklos im Freien herum,
wodurch er schon mehrere Stellen verloren habe! Häufig habe er
gleichzeitig die Idee, sehr reich zu sein, und dass etwas, was er
gerade vor sich sehe, auch ihm gehöre, was ihn mitunter zu unsinnigen
Handlungen veranlasse! Seit einigen Jahren habe sein Gedächtniss
und Denkvermögen gelitten, und er werde durch Alkoholica leichter
berauscht als früher. Die Erhebungen ergaben, dass L. nach der
Verwundung bei Sedan sofort bewusstlos wurde und es durch mehrere
Tage blieb. Die Wunde heilte sehr langsam, wobei Knochensplitter
abgingen. Seitdem Unfähigkeit zur früheren Berufsarbeit, Veränderung
des Charakters und wiederholte strafbare Handlungen, die, wie aus
dem Vorstehenden ersichtlich, offenbar alle während der Anfälle
epileptischer Unbesinnlichkeit geschahen.
[Sidenote: Diabetes nach Kopfverletzungen.]
Diabetes scheint zu den häufigen Folgen von Kopfverletzungen zu
gehören. +Brouardel+ (Annal. d’hygiène publ. 1888, XX, 401) hat 33
solche Beobachtungen zusammengestellt, wovon einige auch kleine
Kinder betreffen. In 25 Fällen trat die Krankheit fast unmittelbar
nach der Gewalteinwirkung auf, in 12 in den ersten zwei, in den
anderen nach mehreren Wochen oder nach (2-11) Monaten. In letzteren
Fällen entwickelten sich die Erscheinungen allmälig, in den ersteren
trat frühzeitig grosser Durst und Polyurie auf. In einzelnen
Fällen verloren die Kranken 500-700 Grm. Zucker in 24 Stunden.
Häufig bestand Dyspepsie, Anorexie, Trockenheit im Halse, Pruritus
etc. Impotenz war eines der ersten Symptome. Der Verlauf ist bei
den acuten Fällen meist ein günstiger und geht in 2-3 Monaten in
Genesung über, bei den erst nach längerer Zeit sich entwickelnden
Fällen ist der Ausgang meist letal. In letzteren ist der Nachweis
des ursächlichen Zusammenhanges der Krankheit mit dem Trauma desto
schwerer, je längere Zeit seit diesem verflossen ist. Auch nach
anderen als Kopfverletzungen hat +Brouardel+ Diabetes beobachtet
und +Thomayer+ (Wiener med. Presse. 1889, Nr. 34) berichtet
über 4 Fälle von Diabetes nach Traumen des Abdomens. Eine sehr
ausführliche, zur Zeit der Drucklegung des gegenwärtigen Buches noch
nicht abgeschlossene Arbeit von +W. Ascher+ (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1894, VIII, pag. 219) behandelt das Krankheitsbild des
traumatischen Diabetes vorwiegend vom forensischen Standpunkt.
[Sidenote: Verletzungen des Gesichtes.]
Die +Verletzungen des Gesichtes+ haben vorzugsweise zweier Folgen
wegen, die sie zurücklassen können, eine besondere gerichtsärztliche
Bedeutung. Diese sind die Verunstaltung (Entstellung) und der Verlust
(beziehungsweise die Schwächung) der Functionsfähigkeit der im Gesichte
befindlichen Sinnesorgane, also Folgen, die von den Gesetzen als
besonders erschwerend ausdrücklich angeführt werden.
Bei der exponirten Lage des Kopfes überhaupt und des Gesichtes
insbesondere, sowie bei der hohen Bedeutung, die der Integrität
des letzteren für das Fortkommen des Individuums (besonders des
weiblichen) zukommt, können schon hässliche Narben der Haut, die
nach Verletzungen zurückbleiben, eine auffallende Verunstaltung
(Entstellung) im Sinne des Gesetzes bedingen. Dass auch hier nicht
blos die Ausdehnung der Narbe, sondern auch die individuellen
Verhältnisse in Betracht gezogen werden müssen, haben wir bereits
(pag. 335) auseinandergesetzt. Bemerkenswerth ist übrigens, dass
gerade an Mädchen häufig genug Verletzungen verübt werden, in der
ausgesprochenen Absicht, um eine Entstellung zu verursachen, und
wir wollen in dieser Beziehung nur das Begiessen des Gesichtes mit
Schwefelsäure erwähnen, welches, namentlich als Act weiblicher
Rache, in grossen Städten nicht selten vorkommt und in der Regel
die entsetzlichsten Verunstaltungen des Gesichtes nach sich zieht.
Der Verlust der +Nase+ wird im §. 232 des österr. Entwurfes
ausdrücklich erwähnt, was jedoch überflüssig erscheint, da es
wohl niemals zweifelhaft werden kann, dass ein solcher Verlust
eine bleibende Verunstaltung (erhebliche Entstellung) bildet,
weshalb auch die ausdrückliche Erwähnung dieser Folge im deutschen
St. G. unterblieb. Ausser dem Verluste können auch auffallende
Formveränderungen der Nase eine erhebliche Entstellung bilden, so
starke Einsenkungen des Nasenrückens, wie sie nach Zerschmetterung
der Nasenbeine u. dergl. Verletzungen zurückbleiben können.
[Sidenote: Verletzungen des Auges.]
Bei Verletzungen des +Auges+ wird sowohl die eventuell zurückbleibende
Entstellung, als die Störung des Sehvermögens in Betracht kommen.
Das gegenwärtige österr. St. G. (§. 156 _a_) hat den Verlust eines
Auges neben dem Verluste oder der bleibenden Schwächung des Gesichtes
ausdrücklich erwähnt, um auch ein Beispiel einer auffallenden
Verunstaltung zu geben; es kann jedoch eine solche Verunstaltung nicht
blos durch den vollständigen Verlust eines Bulbus, sondern auch durch
Narben der Cornea u. s. w. entstehen, ebenso aber auch durch Verletzung
der Hilfsapparate des Auges, worunter vorzugsweise die Augenlider und
an diesen z. B. die Narbenektropie und die traumatische Ptose zu nennen
sind.
Verletzungen des Bulbus können zu Stande kommen durch Contusion,
durch Verwundungen mit stechenden und anderen in das Auge
eindringenden Werkzeugen und durch Verbrühung oder Verätzung. Am
häufigsten kommen in forensischen Fällen Contusionen des Bulbus
zur Beurtheilung. Als mögliche Effecte solcher Contusionen nennt
+Arlt+[314] ausser den Sugillationen der Conjunctiva die Prellung der
Cornea (häufig zur Abscedirung führend), Berstung der Binnenhäute
(Iris, Zonula Zinnii, der Linsenkapsel und Luxation der Linse, der
Chorioidea und Retina), ferner die noch fragliche Commotio retinae,
die Iridoplegie und traumatische Accommodationslähmung, endlich die
Ruptur des Bulbus. Von anderen Verletzungen sind die oberflächlichen
Wunden der Cornea (Untersuchung mit Focalbeleuchtung angezeigt),
die penetrirenden Wunden derselben, meist mit Vorfall der Iris, die
Verletzungen des Ciliarkörpers, die sehr oft schleichende sowohl
als acute Entzündungen und leicht sympathische Iridocyclitis des
anderen Auges zur Folge haben, sowie die Verletzungen der Linse und
die consecutiven Trübungen derselben zu erwähnen. Es ist hier nicht
der Ort, um auf die Diagnose dieser Verletzungen näher einzugehen
und wir verweisen in dieser Beziehung auf +Arlt+’s oben genanntes
treffliches Werk. Bezüglich der Ermittlung der zurückgebliebenen
Sehstörungen müssen wir bemerken, dass zwar häufig eine äussere
Besichtigung des Auges genügt, den Verlust oder Schwächung des
Sehvermögens zu constatiren, dass aber, wo derartige auffallende
Veränderungen am Bulbus nicht vorhanden sind, eine sorgfältige
Untersuchung des Auges mit dem Ophthalmoskop niemals unterlassen
werden soll, und dass ferner jedesmal das Sehvermögen lege artis
durch Leseproben, Anwendung entsprechender Gläser und überhaupt mit
dem gesammten Apparat zu geschehen hat, dessen sich auch der Kliniker
zur Constatirung des Sehvermögens bedient.
Bei einer grossen Zahl von solchen Fällen, namentlich bei Amaurosen
und Accommodationsanomalien, ist auch auf die Möglichkeit einer
Simulation Rücksicht zu nehmen. Bei simulirter Kurz- oder
Schwachsichtigkeit sind die Sehproben mit verschiedenen Gläsern und
die Untersuchung mit dem Augenspiegel im Stande, die Simulation zu
constatiren. Bei Amaurosen aber ist die Reaction der Pupille zu
beachten und sind nach dem Vorgange von +Graefe+ prismatische Gläser
zur Anwendung zu bringen, welche, wenn sie zuerst auf beiden und dann
auf jedem einzelnen Auge geprüft werden, besonders geeignet sind,
einen Simulanten zu entlarven, worüber in +Arlt+’s Werk das Nähere
nachzulesen ist.[315]
Dass Verletzungen der Supraorbitalgegend reflectorisch Blindheit
bewirken können, wird von Einzelnen zugegeben, von Anderen
geleugnet. In den meisten dieser Fälle dürfte es sich weniger um
ein reflectorisches Leiden, als vielmehr um retrobulbäre, durch die
Commotion veranlasste Processe handeln, namentlich um Fracturen
des Canalis opticus (+Hölder+, +Berlin+, +Schmidt+-+Rimpler+), um
Neuritis optica und consecutive Sehnervenatrophie (+Blumenstok+).
Drei Fälle von Erblindung nach Gehirnerschütterung werden von
+Bergmeister+ (Bericht über die Landesblindenschule in Purkersdorf
pro 1883) und drei Fälle von sofortiger vorübergehender Erblindung
nach Erschütterung des Sehnerven von +Schweigger+ (Arch. f.
Augenhk. 1883, 13, 2 u. 3) mitgetheilt. +Pflüger+ (Correspondenzbl.
f. Schweizer Aerzte. 1885, pag. 139) beobachtete concentrische
Einschränkung des Gesichtsfeldes am rechten Auge auf 10° nach einem
Schlag über den Kopf, welche sich unter Strychninbehandlung auf 25°
erweiterte. Es handelte sich um den von +Graefe+ als Anaesthesia
retinae bezeichneten Zustand.
Eine specifische Art von Augenverletzung kommt in den Alpenländern
vor -- das sogenannte Augenaushebeln, welches dadurch effectuirt
wird, dass der Bulbus durch den in den inneren Augenwinkel
eingesetzten Daumen aus der Orbita herausgedrängt (luxirt) wird. Wir
haben in Innsbruck nur einmal Gelegenheit gehabt, einen einschlägigen
Fall zu sehen, in welchem es aber nicht zur Luxation des Bulbus,
sondern zur Verletzung der Cornea durch den Fingernagel und Prolapsus
der Iris gekommen war. Verlässliche Angaben über den Effect des
sogenannten Augenaushebelns konnten wir leider nicht erhalten. Wir
haben uns jedoch durch Versuche an der Leiche überzeugt, dass ein
solches Luxiren des Bulbus sich verhältnissmässig leicht vollführen
lasse, ohne dass Zerreissung des Opticus oder gröbere Verletzungen
desselben oder des Bulbus dadurch zu Stande kommen. Die Angabe,
dass solche Verletzungen, da der Bulbus gewöhnlich sofort durch den
Verletzten oder Andere reponirt werde, nur selten schwere Folgen
nach sich ziehen, haben wir nicht für glaublich gehalten, doch wird
von +van Dooremaal+ (Med. Centralbl. 1888, pag. 903) über
einen Metzger berichtet, dem durch Eindringen eines Fleischhakens
der Augapfel so luxirt wurde, dass sich die Lider hinter demselben
schlossen. Der Bulbus wurde in der Narkose reponirt und nach einigen
Tagen wurde der Patient, der nach Abnahme des Druckverbandes einige
Zeit lichtscheu war, mit voller Gesichtsschärfe geheilt entlassen.
Aehnliche Fälle werden von +Chalupecký+ und +Barcal+
(Zeitschr. d. böhmischen Aerzte. 1892, pag. 373 und 406) mitgetheilt.
[Sidenote: Verletzungen des Ohres.]
Von den Verletzungen des +Ohres+ wäre zunächst der Verlust der
Ohrmuschel zu erwähnen. Diese anderswo gewiss seltene Verletzungsfolge
haben wir in Innsbruck dreimal zu begutachten Gelegenheit gehabt.
Alle drei Fälle stammten aus einem bestimmten Thale, wo es Usus ist,
Raufereien durch -- Abbeissen der Ohrmuscheln auszutragen. Wir sprachen
uns in diesen Fällen immer dahin aus, dass die Verunstaltung, welche
der Betreffende erlitt, genüge, um die Verletzung als eine „schwere“
im Sinne des §. 152 des gegenwärtigen österr. St. G. zu erklären,
dass aber die Verunstaltung nicht als eine „auffallende“ im Sinne des
§. 152_a)_ aufgefasst werden könne, da dieselbe erstens durch das
Haar leicht zu verbergen sei und da man den Verlust einer Ohrmuschel
doch nicht in gleiche Linie stellen könne mit den Beispielen von
auffallender Verunstaltung, die der §. 156_a)_ anführt, und auch
nicht mit den anderen schweren Verletzungsfolgen, die noch weiter in
diesem Paragraph besonders hervorgehoben werden. Dieser Auffassung
schloss sich auch jedesmal der Gerichtshof an und die Richtigkeit
derselben wurde dadurch in drastischer Weise illustrirt, dass in dem
dritten Falle erst bei der Hauptverhandlung zufällig durch uns eruirt
wurde, dass der Betreffende auch das +zweite+ Ohr bereits in einer
früheren solchen Affaire verloren hatte, ohne dass Jemand von den
bei der Hauptverhandlung Anwesenden früher davon eine Ahnung gehabt
hätte. Aus den erwähnten Gründen würde man auch, wenn eine solche
Verletzung im Sinne des §. 232 des österr. Entw. oder im Sinne des §.
224 des deutschen St. G. zur Beurtheilung käme, anstehen, sie unter
allen Umständen als eine bleibende Verunstaltung (österr. Entw.)
zu bezeichnen, sondern nur dann, wenn die Umstände des concreten
Falles dieses verlangen sollten. Bei der untergeordneten Bedeutung,
die der Ohrmuschel beim Hören zukommt, könnte auch bei einem
Verluste derselben nicht von bleibender Schwächung, noch weniger
aber vom Verluste des Gehörs auf dem betreffenden Ohre die Rede
sein. Quetschungen der Ohrmuschel können hochgradige Verkrüppelungen
derselben veranlassen. Die sogenannte Ohrblutgeschwulst (Haematoma
auriculae) und ihre Folgen gehören hierher, obgleich sie von Einzelnen,
da sie namentlich bei geisteskranken und anderweitig herabgekommenen
Personen beobachtet wurde, auch auf constitutionelle Ursachen
zurückgeführt wird.
Häufiger gelangen Gehörsstörungen zur Untersuchung, die von erlittenen
Schlägen gegen die Ohrgegend hergeleitet werden. Als Folgen solcher
Insulte kommen insbesondere die Rupturen des Trommelfells und die
Lähmung der Hörnerven in Betracht.
[Sidenote: Trommelfellruptur.]
Die durch Schlag entstandene Trommelfellruptur findet sich nach
+Pollitzer+ (Wr. med. Wochenschr. 1872, Nr. 35) meist in der Mitte
zwischen Hammergriff und Ringwulst, hat eine rundliche oder ovale
Form und scharfe, mit Blut bedeckte Ränder. Die Erkennung einer
traumatischen Ruptur als solcher ist nur in den ersten Tagen leicht;
in der späteren Zeit hält es schwer oder ist sogar unmöglich,
dieselbe von einer durch Suppuration entstandenen Perforation zu
unterscheiden. Die traumatischen Rupturen heilen in der Regel
in den ersten Wochen durch Vernarbung, seltener gehen sie in
suppurative Entzündung über. Die nach einer Trommelfellruptur zu
bemerkende Schwerhörigkeit hat schon kurz nach der Verletzung einen
verschiedenen Grad und ist weniger durch die Läsion selbst als
durch die gleichzeitige Erschütterung des Labyrinths bedingt. Nach
erfolgter Vernarbung kann das Gehör vollkommen oder nahezu vollkommen
zurückkehren. Nur selten tritt zu durch Ohrfeigen etc. erzeugten
Trommelfellrupturen Entzündung des Mittelohrs hinzu; wohl aber leicht
in Folge von Nichtschonung und ungünstigen äusseren Einflüssen
anderer Art (ungeschickte therapeutische Eingriffe, Erkältungen
etc.), in welchem Falle es zu lange dauernden entzündlichen Processen
im Mittelohr kommen kann und auch schwere Hörstörungen zurückbleiben
können.[316]
[Sidenote: Erschütterung des Labyrinths.]
Erschütterungen des Labyrinths können mit und ohne Ruptur des
Trommelfells erfolgen und sind gewöhnlich sofort von bedeutender
Schwerhörigkeit gefolgt, die auch persistiren kann. Der Ton einer
auf den Scheitel aufgesetzten Stimmgabel wird nur im +normalen+
Ohr wahrgenommen, was bezüglich der Differentialdiagnose zwischen
Rupturen des Trommelfelles mit und ohne Labyrintherschütterung
benützt werden kann, da bei letzteren die Stimmgabel nur im
+verletzten+ Ohr empfunden wird.
[Sidenote: Lähmung der Hörnerven.]
Aeusserst selten wird nach Schlag Lähmung des Hörnerven selbst
beobachtet. Einen wahrscheinlich hierher gehörigen, von dem Münchener
Medicinal-Comité begutachteten Fall bringen Friedreich’s Blätter f.
gerichtl. Med. 1876, pag. 409, betreffend ein Individuum, welches
mehrmals bei beiden Ohren gerissen und mit dem Kopfe gegen eine
Thür gestossen worden war, sofort das Gehör verlor, ohne dass eine
Trommelfellruptur oder Gehirnerscheinungen nachgewiesen werden
konnten und auch Simulation ausgeschlossen werden musste.
[Sidenote: Simulirte Taubheit.]
Auch bei angeblich nach Verletzungen zurückgebliebener Taubheit ist
an Simulation zu denken, die gerade hier durchaus nichts Seltenes
ist. Besteht ein solcher Verdacht, so empfiehlt es sich, ausser
dem erwähnten Stimmgabelversuche jene Verfahren einzuschlagen, die
sich insbesondere den Militärärzten zur Entlarvung von Simulanten
bewährt haben.[317] So das gleichzeitige leise Sprechen in beide
Ohren und Nachsprechenlassen des Gehörten. Ist thatsächlich das eine
Ohr taub, so kann der Betreffende sehr gut das nachsprechen, was
ihm in das gesunde Ohr hineingelispelt wird, während, wenn auch das
andere gesund ist, die gleichzeitigen und differenten Schalleindrücke
sich so verwirren, dass der Betreffende gar nicht oder nur verwirrt
nachzusprechen im Stande ist. +Kahsnitz+ (Würzburger Diss. 1883)
hat diese von L. +Müller+ angegebene Untersuchungsmethode einer
sorgfältigen Prüfung unterzogen und hat gefunden, dass die
Ueberleitung der Schallwellen von einem Ohre zum anderen eine sehr
minimale ist, was die Brauchbarkeit obigen Verfahrens zur Entdeckung
der Simulation einseitiger Taubheit wesentlich erhöht. Ebenso spricht
für Simulation, wenn der Betreffende eine Uhr auch dann nicht zu
hören angibt, wenn sie dem angeblich +kranken+ Ohr so weit genähert
wurde, dass er sie schon mit dem +gesunden+ hören müsste; auch kann
der Umstand, dass der Simulant zwischen Tast- und Gehörseindrücken
nicht zu unterscheiden versteht, zu seiner Entlarvung beitragen, wenn
z. B. derselbe, nachdem plötzlich hinter ihm auf den Boden gestampft
wurde, kein Zeichen eines wahrgenommenen Eindruckes verräth,
obgleich auch ein Tauber, freilich nicht den Schall, wohl aber die
Erschütterung wahrgenommen und darauf reagirt haben würde. Andere
Methoden siehe Virchow’s Jahresb. 1891, I, pag. 497.
Auch Ohrenflüsse werden simulirt und meist durch mechanische Reizung
des äusseren Gehörganges hervorgebracht. In einem von der Wiener
Facultät begutachteten Falle gab eine Bauernmagd an, dass vier
Monate nach einem erhaltenen Schlage auf den Kopf ein Ohrenfluss
eingetreten sei, und producirte eine Menge kleiner Knochenstückchen,
welche in der letzten Zeit aus dem Ohre abgegangen sein sollten.
Diese Knochenstückchen waren auffallend gleich und einzelne zeigten
deutliche Schnittränder. Die Annahme einer Simulation lag nahe und
wurde auch durch unmittelbare Untersuchung der Magd ausser Zweifel
gestellt.
[Sidenote: Verletzungen der Lippen und der Zähne]
Die Verletzungen der +Lippen+ und der ziemlich häufig vorkommende
Verlust von +Zähnen+ durch Einschlagen mit den verschiedenartigsten
stumpfen Werkzeugen können wegen der zurückbleibenden Entstellung eine
gerichtsärztliche Bedeutung erhalten; man wird jedoch, wenigstens
bezüglich des Verlustes von Zähnen, selten in der Lage sein, denselben
als eine auffallende Verunstaltung, beziehungsweise für eine
„erhebliche“ Entstellung zu erklären, weil es sich nur ausnahmsweise
um den Verlust mehrerer Zähne oder einer ganzen Zahnreihe handelt,
weil ferner ein solcher Verlust verhältnissmässig leicht künstlich
ersetzt werden kann, und wohl auch darum, weil der Defect von Zähnen
eine so häufige, freilich anderweitig veranlasste Erscheinung ist,
dass er nicht gut in gleiche Linie mit jenen Verunstaltungen gesetzt
werden kann, die das Gesetz offenbar vor Augen hatte. Ein „Verlust“
der Sprache kann durch Verletzungen der Lippen oder durch Verlust von
Zähnen allein nicht entstehen, auch ist nicht wohl anzunehmen, dass
nach derartigen Verletzungen eine solche Erschwerung oder Behinderung
der Sprache zurückbleiben sollte, dass von „bleibender Schwächung der
Sprache“ im Sinne des §. 156 allgem. österr. St. G. gesprochen werden
könnte. Ob der Verlust von Zähnen, insbesondere von Vorderzähnen als
eine „schwere Verletzung“ im Sinne des §. 152 des österr. St. G.
zu erklären ist, wird von der Natur des concreten Falles abhängen,
insbesondere auch von dem Umstand, ob die Zähne, respective das Gebiss
vor derem Verluste gesund gewesen sind oder nicht.
B. Verletzungen des Halses.
[Sidenote: Verletzungen des Kehlkopfes.]
Von den durch stumpfe Werkzeuge bewirkten Verletzungen am Halse
scheiden wir hier jene, die durch Strangulation in ihren verschiedenen
Formen entstehen, aus, da wir diese anderwärts ausführlich besprechen
werden. Von anderen nennen wir zunächst die Contusionen des Kehlkopfes.
Eine heftige Contusion des nervenreichen Kehlkopfes kann nach
+Fischer+[318] auch ohne sonstige Beschädigung desselben plötzlich
durch Shock oder durch Glottiskrampf tödten, eine Möglichkeit,
auf die wir beim Erwürgungstode zurückkommen wollen. Fracturen
des +Kehlkopfes+ oder seiner Hörner können, wenn derselbe seine
jugendliche Elasticität verloren hat, nicht blos durch Strangulation,
insbesondere durch Würgen, sondern durch die verschiedensten directen
Gewalten, wie Schlag, Fall, Tritt, zu Stande kommen, ausserdem aber
auch, wie mehrfache von uns gemachte Beobachtungen[319] ergaben,
indirect durch Fall auf den Kopf und analoge Gewalten, und selbst
durch den bei Durchschneidung des Vorderhalses stattfindenden Druck
von vorne nach hinten, wenn das Messer stumpf oder plump war oder
zunächst den verknöcherten Kehlkopf getroffen hatte. Fracturen des
+Zungenbeines+ können durch Würgen oder auch durch andere Gewalten
erfolgen. Verletzungen des Kehlkopfes sind meist gefährliche
Verletzungen, in Folge der Dyspnoe, die theils durch die verschobenen
Bruchenden der Fractur, theils durch die rasch auftretende Schwellung
der Kehlkopfschleimhaut und ausserdem durch mitunter hinzutretendes
Emphysem der Weichtheile des Halses sehr rasch sich einzustellen pflegt
und zum Tode führt, wenn nicht bald chirurgische Hilfe geleistet
wird. Daher erklärt sich, dass nach Bruch des Kehlkopfes 80 Procent
Sterbefälle verzeichnet sind.
[Sidenote: Verletzungen der Trachea.]
Continuitätstrennungen der +Trachea+ sind ebenfalls selten und kommen
nur nach grossen Gewalten vor. +Gurlt+ hat nur 9 Fälle in der Literatur
gefunden, 4 isolirte und 5 mit Fractur der übrigen, das Skelet des
Vorderhalses bildenden Knorpel. Nur einmal erfolgte Genesung, und zwar
nach vorgenommener Tracheotomie. Ein Fall von wahrscheinlichem Querriss
der Trachea durch einen Hufschlag mit Heilung ohne Tracheotomie wird
von +Lauenstein+ (Med. Centralbl. 1870, 52) mitgetheilt. Wir selbst
haben die Ruptur der Trachea wiederholt, doch jedesmal combinirt mit
anderen schweren Verletzungen, gefunden.
[Sidenote: Halswirbelfracturen.]
Direct den Nacken treffende stumpfe Gewalten können Commotion des
Halsmarkes bedingen, auch Contusion desselben ohne Verletzung der
Wirbelsäule; doch sind solche Folgen ebenso wie die Fracturen und
Luxationen der Halswirbel selten, häufiger dagegen nach indirecter
Gewalteinwirkung, so nach Fall auf den Kopf oder Auffallen schwerer
Gegenstände auf diesen. So haben wir eine Fractur des 2. bis 3.
Halswirbels bei einem Turner gefunden, der vom Reck auf den Kopf
gefallen und sofort todt geblieben war, ebenso eine Fractur des 6.
Halswirbels bei einem Manne, dem man ein 80 Pfund schweres Heubündel
aus einer Dachlucke auf den Kopf geworfen hatte, der aber erst nach 12
Stunden starb. Verrenkungen und Fracturen der Halswirbel, namentlich
der obersten, können ferner geschehen durch plötzliches Niederdrücken
des Kopfes nach vorn, oder durch Aufheben des Körpers beim Kopfe, aber
auch durch plötzliche Rotation (Halsumdrehen).
Bei einer von uns obducirten Frau war eine Fractur des 5. Halswirbels
dadurch entstanden, dass, während die Frau am Boden kniete, ihr
Mann sie bei den Zöpfen packte und bei gleichzeitig zwischen
den Schulterblättern eingesetztem Knie den Kopf plötzlich nach
hinten riss. Auf die Möglichkeit des Entstehens von Zerreissungen
der Halswirbelsäule durch den sogenannten Prager Handgriff bei
nachfolgendem Kopfe und durch ähnliche Manipulationen, die von den
heimlich Gebärenden selbst unternommen werden können, werden wir am
geeigneten Orte zurückkommen. Verletzungen der erwähnten Art bewirken
in den meisten Fällen entweder augenblicklichen oder bald eintretenden
Tod in Folge der meist unvermeidlichen Quetschung des Rückenmarkes,
doch sind Heilungen durchaus nicht selten, namentlich bei sehr jungen
Individuen.
[Sidenote: Stichwunden am Halse.]
Ueber die Schnittwunden am Halse haben wir das Nöthige bei Besprechung
des Selbstmordes durch Halsabschneiden erwähnt. Bezüglich der
Stichwunden sei bemerkt, dass dieselben ausser durch Verletzung der
Luftwege und der grossen Halsgefässe auch durch isolirte Durchtrennung
von Nerven eine besondere Wichtigkeit erlangen können. Einen Fall
von Verletzung des einen Recurrens mit zurückgebliebener „Schwächung
der Sprache“ haben wir oben mitgetheilt. Gleiche Folgen kann eine
Verletzung des Vagus bewirken, die jedoch isolirt auch nach Stich
nicht so leicht vorkommen dürfte. Einseitige Verletzung des N.
hypoglossus ist ebenfalls möglich und thatsächlich beobachtet worden.
Die consecutive Lähmung der betreffenden Zungenhälfte wäre theils
als solche, theils bezüglich ihres Einflusses auf die Sprache zu
beurtheilen. Endlich ist die Verletzung der einzelnen Nerven des Plexus
brachialis zu erwähnen, welche Lähmung und consecutive Atrophie der
betreffenden Extremität nach sich zu ziehen vermag.
Im +Nacken+ können stechende Werkzeuge, besonders in der Lücke
zwischen der hinteren Peripherie des Hinterhauptloches und dem
hinteren Bogen des ersten Halswirbels, leichter eindringen. Solche
Verletzungen sind natürlich meist sofort tödtlich (Genickfang). Doch
haben wir einen Fall bei der Prager Facultät begutachtet, in welchem
ein sehr kräftiger Fleischhauer einen an dieser Stelle eingedrungenen
Messerstich überstand, insoferne, als er, nachdem er sofort gelähmt
zusammengebrochen war, nach mehrmonatlichem Krankenlager sich soweit
erholte, dass nur eine Lähmung derjenigen Körperhälfte zurückblieb,
von welcher aus der Stich eingedrungen war. Offenbar hatte derselbe
nicht das Rückenmark selbst, sondern nur dessen Häute getroffen,
und die schweren Erscheinungen wurden durch die Blutung aus den
getroffenen Gefässen in den Rückenmarkscanal erzeugt und durch den
Druck, den das ausgetretene Blut auf das Rückenmark ausgeübt hatte.
C. Brustverletzungen.
[Sidenote: Contusionspneumonie.]
Heftige Erschütterung der vorderen Brustwand kann durch Shock
gefährlich werden, über welchen bereits oben gesprochen wurde.
Contusionen der Lunge, welche sich anatomisch entweder durch
subpleurale oder durch parenchymatöse Blutextravasate in Verbindung
mit interstitiellem Emphysem kundgeben, sind häufig. In letzterem
Falle kann sich die Verletzung während des Lebens durch Hämoptoe,
umschriebene Lungenverdichtung und Dyspnoe bemerkbar machen (siehe
+Demuth+, „Zur Lehre von der Contusionspneumonie“. Münchener med.
Wochenschr. 1888, XXV, Nr. 32), aber auch echte croupöse Pneumonien
können sich, nach +Litten+, +Weichselbaum+ (Wiener med. Jahrb. 1886, 8
und Wiener med. Wochenschr. 1886, Nr. 39), +Petit+ (Gaz. hebdom. 1886,
Nr. 7) u. A. entwickeln, indem durch die Contusion ein Locus minoris
resistentiae für das entzündungserregende Agens geschaffen wird. Die
Contusionen der Lunge, respective Läsionen der Alveolen können sowohl
direct als auch indirect, d. h. an von den unmittelbar comprimirten
Stellen des Organs entfernteren Partien durch plötzliches Eintreiben
der Luft entstehen.
[Sidenote: Rippenbrüche.]
Eine ungemein häufige Folge von contundirenden Gewalten sind
Rippenbrüche, deren häufigsten Sitz die grösste Convexität des
Rippenbogens bildet. Es ist nichts Seltenes, alle Rippen einer Seite
und selbst beider Seiten an dieser Stelle und daher in einer Linie
gebrochen zu finden, wenn die Gewalt eine heftige und auf den ganzen
Thorax wirkende gewesen war, wie z. B. beim Verschüttetwerden, Sturz
von bedeutender Höhe u. dergl. Die geringere oder grössere Elasticität
der Rippen hat einen wesentlichen Einfluss auf die grössere oder
geringere Leichtigkeit, mit welcher Rippenfracturen entstehen. So ist
bekannt, wie verhältnissmässig leicht Rippen alter Leute brechen,
während uns bereits wiederholt vorgekommen ist, dass schwere Wägen über
den Brustkorb von Kindern hinweggegangen waren und Rupturen der Lunge
etc., aber keine Rippenbrüche erzeugt hatten. Die Rippenbrüche als
solche geben in der Regel eine günstige Prognose, ihre Bedeutung wird
aber dann eine schwere, wenn durch die Fracturen die Intercostalgefässe
oder die Lunge selbst eingerissen wurden. Rascher Tod durch innere
Verblutung ist dann die gewöhnliche Folge. Verletzungen des Herzens
durch eingedrungene Rippen- oder Brustbeinfragmente werden von
+Fischer+ (Langenbeck’s Archiv. IX) und von +Schuster+ (Ueber
Verletzungen der Brust durch stumpfe Gewalt. Prager Zeitschr. f.
Heilkunde. I, pag. 417) angeführt. Wir selbst haben sie oft gesehen und
obducirten einen Verschütteten, bei welchem Fracturen fast sämmtlicher
Rippen in der Achsellinie eine ausgebreitete Zerreissung der linken
Lunge bewirkt hatten und das hintere Bruchende der 7. Rippe durch die
Lunge in den Herzbeutel bis in die Pulmonalarterie unmittelbar über den
Klappen eingedrungen war.
[Sidenote: Rupturen der Brustorgane.]
[Sidenote: Herzrupturen. Stösse etc. gegen den Rücken.]
+Rupturen+ der Brustorgane sind keineswegs selten und betreffen
vorzugsweise die Lungen, und zwar häufiger die äusseren Partien der
Lappen als die Gegend des Hilus; doch haben wir schon die Lunge vom
Hilus fast vollständig abgerissen gesehen, und haben gefunden, dass
die Lungengefässe eine viel grössere Resistenz gegen die betreffenden
Gewalten zeigen als die Bronchien. Auch Rupturen des Herzens kommen
in allen möglichen Formen vor, doch gehören zu ihrer Entstehung,
ebenso wie zu jener der Lungen, bedeutende Gewalten, wie Auffallen
von Lasten, Sturz von bedeutender Höhe u. s. w., ausgenommen, wenn
gewisse pathologische Processe im Herzfleische, wie z. B. Myocarditis,
bestehen, in welchem Falle die Ruptur nicht blos spontan, sondern
auch nach geringfügigen äusseren Veranlassungen eintreten kann,
ebenso wie die Ruptur der ungleich häufiger vorkommenden Aneurysmen
des Anfangsstückes der Aorta.[320] In Fällen letzterer Art wäre
selbstverständlich, wenn eine unbedeutende Gewalt die Ruptur und
dadurch den Tod veranlasste, die Handlung nicht als eine ihrer
allgemeinen Natur nach, sondern nur wegen der eigenthümlichen
Leibesbeschaffenheit tödtlich gewordene zu begutachten. Die
traumatischen Rupturen des Herzens betreffen in der Regel das rechte
Herz seiner schwächeren Wandungen wegen, während der Hauptsitz der
spontanen Rupturen im linken Herzen sich findet, dessen Wandungen, wenn
die Circulation im Gange ist, den grössten Druck auszuhalten haben.
Zu den Curiositäten gehört das vollständige Abreissen des Herzens von
seinen Gefässen, wie es +Fischer+ und +Casper+ (l. c.) beschreiben.
Letzterer obducirte sogar einen Fall, in welchem durch einen
auffallenden Baumstamm der Thorax zum Bersten kam und das abgerissene
Herz mehrere Schritte weit geschleudert wurde und Gleiches haben wir
zweimal bei von Eisenbahntrains Zermalmten beobachtet. +W. Stokes+
(Edinb. med. Journ. 1831) sah auch eine Dextrocardie bei einem Menschen
entstehen, der unter ein Mühlrad gekommen war.
Rupturen des Herzens sind fast ausnahmslos sofort tödtliche
Verletzungen. Sehr kleine oder blos partielle können einige Stunden
überlebt werden.[321] Gleiches gilt in der Regel von den Rupturen der
Lungen, obwohl bei diesen der Tod nicht immer augenblicklich eintreten
muss, wenn dieselbe nur die eine Lunge betraf, grosse Gefässe nicht
verletzt wurden oder die Lunge durch Adhäsionen an den Thorax fixirt
war, da wir einen alten Mann zu obduciren Gelegenheit hatten, bei
welchem die erwähnten Bedingungen bestanden und der, nachdem ihm durch
Ueberfahren die Ruptur der einen Lunge zugefügt wurde, noch im Stande
war, sich zu erheben und unter Beihilfe Anderer in ein nahe liegendes
Haus zu gehen, woselbst er erst nach drei Stunden starb.
Von den Verletzungen der hinteren Brustwand sind ausser den Brüchen
der Wirbelsäule, welche auch nur nach grossen Gewalten vorkommen,
insbesondere die Läsionen des Rückenmarkes durch Erschütterung
zu erwähnen, welche entweder in gröberen Contusionen etc., der
Medulla oder ihrer Hüllen bestehen oder aus anatomisch unscheinbaren
Veränderungen zu chronischen meningo-myelitischen Processen
sich entwickeln und zu schweren Functionsstörungen, namentlich
Lähmungserscheinungen, führen können.
[Sidenote: „Eisenbahnlähmung.“]
Zu letzterer Kategorie wurde die insbesondere aus Anlass von
Entschädigungsklagen vielfach genannte „Eisenbahnlähmung“
(Railway-spine) gerechnet, welche ihren Namen daher führt, weil sie
vorzugsweise nach Zusammenstoss von Eisenbahnzügen und ähnlichen
Unglücksfällen beobachtet worden ist.
Als „Eisenbahnlähmung“ im engeren Sinne (+Erichsen+, +Erb+, +Riegler+
u. A.) wurden insbesondere Fälle bezeichnet, in welchen unmittelbar
nach dem Trauma keine oder nur geringfügige Erscheinungen auftraten und
erst nachträglich allmälig, aber progressiv schwere, theils somatische,
insbesondere Lähmungserscheinungen, theils psychische Symptome sich
entwickeln, welche vorzugsweise in hypochondrischer Verstimmung und
fortschreitender Demenz bestehen, so dass das sich entwickelnde
Krankheitsbild einigermassen dem des paralytischen Irrsinnes oder, wie
+Westphal+ bemerkt, dem der multiplen Sclerose ähnelt.
Als Beispiel eines solchen Falles von „Eisenbahnlähmung“ möge ein
von +Moebius+ (Memorabilien. 1882, pag. 71) beobachteter dienen.
Der bisher ganz gesunde, kräftige, 40jährige C. wurde bei einem
Eisenbahnunfall von der Bank geschleudert, ohne dass er das
Bewusstsein verlor, musste sich, nachdem er noch einige Stationen
mitgefahren war, krank melden und bot schon nach 11 Tagen steife
Haltung, vorsichtigen Gang, Steifigkeit im Nacken und Rücken,
Schmerzhaftigkeit der Brustwirbel, wozu sich bald paretische
Erscheinungen hinzugesellten, die in progressiver Entwicklung den C.
vollkommen dienstunfähig machten. Die nach drei Jahren von +Moebius+
vorgenommene Untersuchung ergab: Alle Einzelbewegungen erschwert,
besonders das Heben der Arme, das Strecken der Unterschenkel und das
Beugen der Wirbelsäule. Gang vorsichtig, unsicher. Unterschenkel
zuckt beim Beklopfen der Patellarsehne. Schmerz- und elektrische
Empfindlichkeit hochgradig herabgesetzt, ebenso das Tastgefühl.
Schwanken nach Schluss der Augen. Schmerzhafte Punkte am Kopfe
und an der Wirbelsäule; Gürtelgefühl; Taubheitsgefühl in Händen
und Füssen. Rasche Ermüdung. Mässige Verminderung der Hörschärfe;
gemüthliche Reizbarkeit, rasche geistige Ermüdung und zunehmende
Gedächtnissschwäche. Ein Jahr darnach bestand derselbe Zustand, doch
war mässige Verschlimmerung zweifellos.
Zahlreiche neuere Beobachtungen, insbesondere von +Moeli+, +Putnan+,
+Thomsen+, +Oppenheim+[322], +Charcot+, welcher die Erkrankung als
Hysterie nach Schreck mit Autosuggestion auffasst, +Page+ (traumatische
Neurasthenie), +Vibert+ (Annal. d’hygiène. 1887, 1888 und 2 Kinder
betreffend 1892), +Strümpell+ (Ueber die traumatische Neurose. Berliner
Klinik. 1888, Heft 3), +Meynert+ (Zum Verständniss der traumatischen
Psychose. Wiener klin. Wochenschr. 1889, Nr. 24) u. A. haben
ergeben, dass das als „Eisenbahnlähmung“ bezeichnete Krankheitsbild
wahrscheinlich gar nicht durch die Erschütterung und dadurch gesetzte
materielle Veränderungen veranlasst wird, sondern als eine durch den
psychischen Shock hervorgerufene Psychose und functionelle Neurose
aufzufassen ist, dass die functionellen Störungen vorzugsweise vom
Grosshirn abzuleiten sind, und dass es daher correcter wäre, den
Ausdruck Railway-spine durch Railway-brain zu ersetzen. Auch wird
das Krankheitsbild gegenwärtig allgemein als „traumatische Neurose“
bezeichnet, umsomehr, als sich ergab, dass dasselbe nicht blos nach
Eisenbahnunfällen, sondern auch nach Erschütterungen und Verletzungen
anderer Art, insbesondere nach Kopfverletzungen (+Oppenheim+), sich
einstellen kann.
Nach +Oppenheim+ bilden hypochondrisch-melancholische Verstimmung und
abnorme Reizbarkeit den Kern der sich entwickelnden Seelenstörung, wozu
meistens Gedächtnissschwäche, Verworrenheit und mitunter ausgesprochene
Demenz hinzutreten. Hysterische Symptome, Schwindel, Kopfschmerz,
Schlaflosigkeit, Parästhesien, insbesondere aber Anästhesien (in den
typischen Fällen Hemianästhesien) der Haut und der Sinnesorgane,
concentrische Gesichtsfeldeinengung, umschriebene Hyperästhesien und
paretische Erscheinungen verschiedener Art wurden beobachtet. Impotenz
und Darniederliegen der Geschlechtslust besteht meist schon frühzeitig,
Heilung ist nicht ausgeschlossen, doch scheint sie selten zu sein,
vielleicht, wie +Oppenheim+ meint, der ungünstigen Verhältnisse
wegen, in welchen viele der Verunglückten in Folge ihres Unfalles und
in Folge Verzögerung der beanspruchten Entschädigung hineingerathen.
Auch mag der Umstand, dass man solche Personen häufig für Simulanten
hält und dementsprechend behandelt, das Seinige dazu beitragen.
Einen solchen Fall hat neuestens +v. Bergmann+ (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1889, LI, pag. 1) mitgetheilt. Dieser Ansicht ist auch
+Löwenfeld+ (Münchener med. Wochenschr. 1889, Nr. 38-40), welcher die
Nothwendigkeit der Annahme einer eigenartigen traumatischen Neurose
nach Erschütterungen nicht anerkennt, da ein für die „traumatische
Neurose“ pathognomonisches Symptom nicht existirt. Ebenso negirend
verhält sich +Seligmüller+ (Deutsche med. Wochenschr. 1890, Nr. 30-34),
welcher die grösste Reserve empfiehlt, da sich schon jetzt 2-30 Procent
der Fälle als Simulation erweist.
Bei der Schwierigkeit solcher Beurtheilungen ist regelrechte
und längere Beobachtung in einem Krankenhause und durch
Specialsachverständige dringend angezeigt.
[Sidenote: Stichwunden am Thorax.]
+Stichwunden+ der Brust sind häufig, namentlich jene der Herzgegend.
Bezüglich dieser ist zunächst zu bemerken, dass nicht selten ein gegen
die Brust gezielter Stoss nicht in den Brustkorb eindringt, weil das
Instrument entweder Knochen (Brustbein, Rippen) traf oder an diesen
abgeglitten war. Es wäre dies wieder ein Fall, in welchem mit Rücksicht
auf den §. 155 _a_ des österr. St. G., beziehungsweise auf den §. 231,
2, des österr. Entw. und den §. 223 _a_ des deutschen St. G. erklärt
werden müsste, dass die Verletzung mit einem solchen Werkzeuge und auf
solche Art beigebracht wurde, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden
ist.
[Sidenote: Stichwunden der Lungen.]
Dass bei penetrirenden Stichwunden gerade am Thorax häufiger als
anderswo eine Verschiebung der Stichöffnungen +eines+ Stichcanals
in den einzelnen Schichten der Brustwand eintreten kann, wurde
bereits oben erwähnt. Penetrirende Stichwunden betreffen, von jenen
der Wirbelsäule abgesehen, entweder die Lungen, oder das Herz oder
die grossen Gefässe des Thorax. Stichwunden der +Lunge+ erzeugen
meist sofort Pneumothorax und je nach dem Caliber und der Zahl der
getroffenen Lungengefässe mehr weniger intensive Blutung in den
betreffenden Brustfellsack; gleichzeitig wird Blut ausgehustet. Die
momentane Lebensgefahr ist vorzugsweise durch die innere Verblutung
gesetzt, während, wenn diese nicht bedeutend ist, der Pneumothorax für
sich allein den Tod nicht sofort herbeiführen muss. Einen wesentlichen
Einfluss auf die Bedeutung einer Lungenstichwunde hat der Umstand, ob
die betreffende Lunge überhaupt, namentlich aber an der getroffenen
Stelle, frei war, oder ob Adhäsionen mit der Thoraxwand bestanden, da
in letzterem Falle ein Pneumothorax nicht oder nicht so leicht sich
bildet und die Lunge, wenn nicht grosse Gefässe verletzt wurden, weiter
fungiren kann. Namentlich für die Beurtheilung des momentanen Erfolges
einer Lungenstichwunde ist der erwähnte Umstand von Wichtigkeit,
ebenso wie es begreiflich ist, dass pleuritische Schwarten desto mehr
ein Eindringen des Stiches in die Lungen zu verhüten im Stande sein
werden, je dicker und fester sie sind. Am Lebenden ist die Diagnose,
dass eine Brustwunde penetrirt, durch Erwägung der Symptome, die sie
veranlasst, sowie durch Percussion und Auscultation zu stellen, niemals
aber durch Sondirung. In einem zur Oberbegutachtung an die Facultät
gelangten Fall, eine Lungenstichwunde betreffend, wurde von dem
betreffenden Referenten mit Recht hervorgehoben, dass wahrscheinlicher
Weise der protrahirte und lebensgefährliche Verlauf, den die Verletzung
genommen hatte, durch Untersuchung der Stichwunde mit der Sonde durch
die Gerichtsärzte (!) veranlasst wurde, da der Betreffende sich bis zu
dieser Untersuchung durch mehrere Tage relativ wohl befunden hatte und
erst nach dieser septische Erscheinungen aufgetreten waren.
[Sidenote: Stichwunden des Herzens.]
Stichwunden des +Herzens+ gehören zu den lebensgefährlichsten
Verletzungen und haben in der Regel nach wenigen Augenblicken den
Tod zur Folge. Die Ursache des letzteren ist nicht immer Verblutung,
sondern häufiger die Behinderung der Herzbewegung durch das in
den Herzbeutel austretende und schnell coagulirende Blut. Die
Schnelligkeit, mit welcher der Tod nach einer Herzverletzung eintritt,
wird abhängen von der Schnelligkeit, mit welcher das Blut aus der
Stichöffnung austritt, und diese ist wieder bedingt durch die Länge
des Stichcanals in der Herzwand (ob schief oder senkrecht diese
durchdringend), ferner durch den Umstand, ob der Stich im Herzen, etwa
versteckt zwischen den Trabekeln, endet oder auch die entgegengesetzte
Herzwand durchbohrt, und ob nur eine oder beide Herzkammern, respective
Vorkammern, eröffnet wurden.
Der Umstand, ob der Stich in longitudinaler oder in querer oder
schiefer Richtung die Oberfläche des Herzens traf, ist wohl für
den Verlauf der Wunde gleichgiltig, da die Faserung des Herzens
eine so complicirte und verfilzte ist, dass von einem prävalirenden
Einfluss bestimmter Muskelfasern auf das Klaffen einer Herzwunde
nicht wohl die Rede sein kann. Dagegen lässt sich nicht leugnen, dass
Verletzungen der linken Herzhälfte unter sonst gleichen Verhältnissen
rascher den Tod, respective Bewusstlosigkeit, herbeiführen, als jene
der rechten, da es sich bei diesen um Verlust venösen, bei jenen aber
um Verlust arteriellen Blutes handelt.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass nicht alle Herzverletzungen ein
sofortiges Zusammenstürzen des Getroffenen bewirken müssen, sondern
dass es ganz wohl denkbar ist, dass nach Manchen Jemand noch im
Stande sein kann, eine Strecke weiter zu gehen oder andere Handlungen
vorzunehmen. So konnte in einem Falle (+Fischer+ l. c.) der Verletzte
sich noch einige Zeit wehren, in einem anderen seinen Feind noch eine
kurze Strecke verfolgen und wir selbst haben eine ganze Reihe von
Fällen obducirt, in welchen der Tod, respective das Zusammenstürzen
erst einige Zeit nach der Verletzung erfolgte, unter Anderen einen
Mann, der, nachdem er bei einer Rauferei einen Messerstich in’s Herz (8
bis 9 Mm. langer penetrirender Querschlitz in der linken Kammerwand)
erhalten hatte, vor der hinzugekommenen Polizei davongelaufen, in der
zweiten Gasse erwischt und erst beim Rücktransport zusammengebrochen
war; und weiter einen Selbstmörder, welcher nach dem Stiche das Messer
zusammenklappen und in die Tasche zu stecken vermocht hatte, so dass
dieses Umstandes wegen anfangs an Mord gedacht worden war. Auch enden
keineswegs +alle+ penetrirenden Herzwunden mit dem Tode.
+Fischer+ fand unter 452 von ihm gesammelten Fällen von
Herzverletzungen 72 Fälle von Heilung, und zwar 36 durch Section
sichergestellt, 36 durch Symptome vermuthet. In 12 Fällen fanden
sich fremde Körper im Herzen eingeheilt, und zwar 6mal Nadeln, 5mal
Kugeln und 1mal ein Dorn. Bezüglich dieser Heilungen ist jedoch zu
bemerken, dass sie auch nur unvollständig sein können, so z. B.
darum, weil die vernarbte Stelle als Locus minoris resistentiae sich
aneurysmatisch erweitern und nachträglich doch zum Tode führen kann.
Ein höchst interessanter Fall einschlägiger Art ist der jenes, auch
von +Fischer+ erwähnten Schusters in Bologna, der zwar von einem
Dolchstich, den er in das Herz bekam, genas, jedoch seitdem Zeichen
der Insufficienz der Bicuspidalklappen darbot und nach mehreren
Monaten in Folge dieses Leidens unter hydropischen Erscheinungen
starb. Die Section ergab, dass das Messer in den linken Ventrikel
eingedrungen war, die Zipfel der Bicuspidalis aufgeschlitzt und
dadurch eine traumatische Insufficienz bewirkt hatte.
Nach unserem Gesetze wäre kein Zweifel, dass, wenn ein derartiger
Fall noch während des Lebens zur Begutachtung käme, die
Verletzungsfolge als „Verfall in Siechthum“ zu classificiren wäre.
Mitunter trifft man Fälle, wo bei +einer+ Stichöffnung in der Haut
zwei oder selbst mehrere in den Brustorganen, besonders im Herzen,
sich finden. +Bayard+ (+Briand+-+Chaudé+, Med. leg. 1879, I, 474),
+Elvert+ (Kopp’s Jahrb. I, 142) und +Haschek+ (Wiener med. Bl. 1879,
671) theilen solche Fälle mit. Wir haben zweimal diesen Befund
gesehen, und zwar jedesmal bei Selbstmördern; im ersten Fall war
bei kleiner einfacher Hautöffnung die vordere Herzwand zweimal,
im zweiten bei ebenfalls einfacher, jedoch 4 Cm. langer Hautwunde
dreimal durchstochen. Ebenso fanden wir bei einem Gastwirth, der
sich mit einem grossen Messer erstochen hatte, +einen+ 5 Cm.
langen Einstich in der linken Mamillarlinie über der achten Rippe,
den betreffenden Rippenknorpel einfach schief durchschnitten, im
Zwerchfell und im linken Leberlappen je drei, in der vorderen
Magenwand fünf und in der hinteren Magenwand, sowie in der Vorderwand
des oberen Stückes der Aorta je vier Stichöffnungen, welche nach
hinten immer schmäler und in der Aorta nur 4-5 Mm. lang waren. Solche
Befunde können zu Stande kommen, wenn die Stichwaffe wiederholt in
eine und dieselbe Hautwunde eingestossen, oder nachdem sie theilweise
herausgezogen, wieder vorgestossen wurde, wobei beidesmal auch
eine Erweiterung der Hautwunde stattfinden kann. Blieb das spitzige
Instrument in der Wunde stecken, so ist es auch möglich, dass die in
die Herzwand gelangte Spitze bei einer Herzcontraction wieder frei
werden und bei der Diastole die Herzwand angespiesst oder geritzt
werden kann.
[Sidenote: Schusswunden des Herzens.]
Bezüglich der Schussverletzungen des Herzens gilt in den meisten
Beziehungen dasselbe, was von den Stichen gesagt wurde. Da solche
Verletzungen meist mit Substanzverlust verbunden sind und in der Regel
auch die entgegengesetzte Herzwand durchdringen, so sind sie meist von
sofortigem Tod begleitet. Dass aber auch nach solchen Verletzungen die
Betreffenden manchmal noch einige Schritte zurücklegen können, lehren
sichergestellte Beobachtungen.
So erzählt +Bartholin+ von einem Hirsch, der noch 50 Schritte
lief, obgleich die Kugel beide Kammern und das Septum durchdrungen
hatte. Ebenso berichtet +Hyrtl+ von einem Hirsch, der, obgleich
in’s Herz getroffen, noch über einen Fluss zu schwimmen vermochte.
Dass Selbstmörder sich mit kleinen Schusswaffen, insbesondere mit
Revolvern, mehrmals durch’s Herz schiessen können, wurde pag. 413
erörtert. Erst unlängst fanden wir bei einem 19jährigen Kellner
drei dicht beisammen stehende geschwärzte Schusswunden in der
Herzgegend, von denen zwei das Herz durchbohrten und die dritte das
Fleisch der linken Herzkammer durchdrang. Dass Herzschusswunden
auch heilen können, geht aus den angeführten Angaben +Fischer+’s
hervor. Nach Verletzungen mit kleinen Spitzkugeln, namentlich aus
Revolvern, kann ein solcher Ausnahmsfall gewiss leichter vorkommen,
als bei Projectilen älterer Art, die grössere und weitere, mit
Substanzverlust verbundene Oeffnungen erzeugen. Hierher gehört
der Fall von Heilung eines Schusses durch den rechten und linken
Ventrikel mit Zurücklassung einer Communication beider, über welchen
+Conor+ berichtet und der ein Seitenstück zu dem Falle des oben
erwähnten Bologneser Schusters bildet (Virchow’s Jahresb. 1877, II,
295), ebenso ein von +Kundrat+ (Anzeiger der k. k. Gesellschaft d.
Aerzte in Wien vom 7. Februar 1884) mitgetheilter, wo nach einem
nicht penetrirenden Nahschuss gegen die Herzgegend, bei einem bis
dahin ganz gesunden Manne sich linksseitige Klappeninsufficienz
und ein partielles Herzaneurysma an der äusseren Wand des linken
Vorhofes über dem Klappenring entwickelt und nach fünf Monaten unter
Erscheinungen von allgemeinem Hydrops zum Tode geführt hatte.
[Sidenote: Rupturen der Aorta.]
Traumatische Rupturen der +Aorta+ sind selten und kommen in der
Regel nur nach sehr bedeutenden Gewalten und combinirt mit anderen
Verletzungen vor. Spontanrupturen der aufsteigenden Aorta haben wir in
der Form des Aneurysma dissecans wiederholt gefunden, und zwar auch
ohne auffällige endarteritische Erkrankung. Zweimal war angeborene
Stenose des Isthmus die Ursache. In einem Falle (Endarteritis deformans
der absteigenden Aorta) vermochte der Mann, da sich das Blut zunächst
unter die Adventitia und erst an einer entfernteren Stelle in die linke
Pleurahöhle ergossen hatte, noch seine und seines Arztes Adresse
anzugeben. Verletzungen der Aorta durch Schuss sind bei Selbstmördern,
die sich in die Brust geschossen haben, häufig; auch kommen bei diesen,
wie bereits oben (pag. 312) erwähnt wurde, Rupturen der Intima, durch
Prellung der Aorta durch das vorbeifahrende Projectil nicht gar selten
vor. Stichwunden der aufsteigenden Brustaorta, eventuell der sonstigen
grossen Brustgefässe, von vorn begegnet man verhältnissmässig häufig.
In einem unserer Fälle war nur die Messerspitze in den Arcus aortae
durch das vordere Mediastinum eingedrungen, so dass die Oeffnung in der
Intima nur 1 Mm. betrug. Die Verletzung wurde, da keine auffälligen
Erscheinungen bestanden, für eine leichte erklärt und der Mann starb
erst am 16. Tage an Pericarditis. Ueber Fälle von geheilten oder in
Vernarbung begriffenen Stichwunden der Brustaorta berichtet +Emmert+
(Friedreich’s Bl. 1880, pag. 129), sowie (Ibid. 1882, pag. 161) über
einen anderen, erst nach 12 Stunden letalen, wo die Messerklinge durch
den 3. Brustwirbel in die Brustaorta eingedrungen war und bei der
Section in das Lumen der letzteren hineinragend gefunden wurde.
[Sidenote: Verletzungen der des Zwerchfelles.]
Verletzungen des +Zwerchfells+ können sowohl vom Brustkorb als von
der Bauchhöhle aus erfolgen. Als isolirte Verletzungen kommen sie
nur selten vor, am seltensten wohl die Rupturen, deren Entstehung
eine bedeutende Gewalt erfordert, die wohl kaum andere Organe intact
lassen wird. Stichverletzung der Zwerchfellkuppe haben wir wiederholt
beobachtet, und es ist wohl denkbar, dass eine solche isolirt oder
wenigstens ohne schwere Läsion anderer Organe vorkommen kann. Die
Gefahr solcher Verletzungen liegt vorzugsweise in dem Austritte der
Baucheingeweide in die Brusthöhle und in der dann leicht erfolgenden
Incarceration. In den Schmidt’schen Jahrb. 1853, I, 56, wird über
eine 14jährige russische Officierstochter berichtet, welche an einem
eingeklemmten Zwerchfellbruch starb, der von Stich- und Hiebwunden her
datirte, die sie als 2jähriges Kind durch Tscherkessen erhalten hatte.
Angeborene Zwerchfellhernien haben wir wiederholt gesehen. Ausserdem
kam ein Fall eines Mannes zur Section, der plötzlich an Herzverfettung
gestorben war, bei dem sich ein kindskopfgrosses Dünndarmconvolut im
linken Brustfellsacke fand, welches mit den Rändern einer grossen
Zwerchfelllücke verwachsen war und keine Incarcerationserscheinungen
darbot. Es blieb zweifelhaft, ob die Hernie angeboren oder etwa durch
traumatische Ruptur entstanden war.
D. Verletzungen des Unterleibes.
[Sidenote: Rupturen des Magens.]
Des Shockes durch Erschütterung des Bauches, sowie der Rupturen der
grossen Drüsen des Unterleibes wurde bereits oben (pag. 280 und 357)
Erwähnung gethan. Rupturen des Magens sind selten. Wir haben eine
solche isolirt noch nicht beobachtet, dagegen wiederholt combinirt mit
anderen Rupturen nach Sturz von bedeutender Höhe und ähnlichen grossen
Gewalten. Wiederholt haben wir traumatische, meist mit lappiger
Ablösung verbundene Rupturen der Magenschleimhaut gesehen, dreimal
combinirt mit Rupturen anderer Bauchorgane nach Gerathen zwischen
Puffer, Auffallen eines schweren Steines und nach Pferdehufschlag, dann
bei einem 45jährigen Manne, der beim Umwerfen eines Wagens unter diesen
gerathen war und eine complicirte Fractur des Unterschenkels erlitten
hatte und endlich combinirt mit Milzruptur bei einer überfahrenen alten
Frau. Derartige Rupturen können vielleicht auch isolirt vorkommen und
zur Entstehung von Magengeschwüren Veranlassung geben. In der That
berichtet +Duplay+ (Virchow’s Jahrb. 1881, II, 178) über 3 Fälle, in
welchen nach Insulten der Magengegend alsbald Blutbrechen und dann
Erscheinungen von Magengeschwür auftraten, und +Leube+ (Wiener med.
Blätter, 1886, pag. 143) über zwei andere, von denen der eine, in
welchem die Zufälle seit einem durch das Sprengstück eines explodirten
Maschinenkessels erfahrenen Insult bestanden, zu forensischer
Untersuchung wegen Schadenersatz Veranlassung gegeben hatte. +Ritter+
(Zeitschr. f. klin. Med. XII) hat die Sache experimentell verfolgt und
es gelang ihm bei Hunden durch Hammerschläge gegen die Magengegend
während der Verdauung Hämorrhagien zwischen Muscularis und Mucosa
zu erzeugen. Bemerkenswerth ist, dass auch spontane Magenrupturen
vorkommen, und +Chiari+, +Lantschner+ und wir haben ziemlich
gleichzeitig je einen solchen Fall beobachtet (Virchow’s Jahresb. 1881,
I, 177). +Key+-+Aberg+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1891)
sah Magenrupturen nach forcirter Ausspülung des Magens entstehen. Bei
seinen Versuchen waren sie stets schlitzförmig und entlang der kleinen
Krümmung situirt.
[Sidenote: Rupturen des Darms.]
Rupturen des Darms können im Allgemeinen desto leichter sich bilden,
je mehr derselbe durch Gas oder sonstigen Inhalt ausgedehnt ist.
Verhältnissmässig am häufigsten sind Rupturen des Duodenums und des
Anfangsstückes des Jejunums und wir haben schon wiederholt eine
vollständige Abreissung des letzteren vom ersteren, einmal sogar
combinirt mit einem Querriss des Duodenums, gefunden. Die Fixirung
dieser Darmschlinge einerseits und die harte Unterlage der Wirbelsäule
anderseits spielen dabei offenbar eine wesentliche Rolle. Noch leichter
können Darmrupturen entstehen, wenn in einem Bruchsack befindliche
Darmschlingen von einer stumpfen Gewalt plötzlich getroffen werden,
weil in diesem Falle der Darminhalt in Folge der momentan an der
Bruchpforte entstehenden Knickung nicht in die Bauchhöhle entweichen
kann. Wir haben drei solche Rupturen gesehen, von denen zwei durch
Fusstritt und die dritte durch einen Pferdehufschlag veranlasst worden
war.[323] Sind Geschwüre im Darm vorhanden, so reicht mitunter eine
unbedeutende Gewalt hin, um dieselben zur Perforation zu bringen.
In einem solchen, sowie in dem vorhergenannten Falle wäre die
„eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“ hervorzuheben.
Beachtenswerth sind die von +Zillner+ (Virchow’s Archiv, Bd. 96,
pag. 307 und A. +Paltauf+ (Ibidem Bd. 111, pag. 491) beobachteten
Spontanrupturen des mit Meconium gefüllten Dickdarms bei Neugeborenen
mit nachfolgender Peritonitis, die wahrscheinlich während des
Geburtsactes und durch denselben entstehen. Sie können eventuell für
Klysmenverletzungen gehalten werden. A. +Ludewig+ (Diss., Greifswald
1891) hat eine solche bei Atresia ani beobachtet.
[Sidenote: Rupturen der Harnblase.]
+Rupturen der Harnblase+ als isolirte Verletzungen gehören zu den
seltenen Vorkommnissen. Wir haben sie zweimal beobachtet, beide
Male bei alten Männern, die im betrunkenen Zustande misshandelt
worden waren, der eine durch Fusstritte, der andere, indem er aus
dem Wirthshause über mehrere Stufen hinausgeworfen wurde. Beide Male
sass die Ruptur am Scheitel der Blase näher der hinteren Fläche.
Die meisten solcher in der Literatur enthaltenen Fälle sind durch
Misshandlung oder Fall u. dergl. im trunkenen Zustande entstanden, und
die Füllung der Blase mit Harn lässt dies erklärlich erscheinen. Ist
die Blase entleert oder nur wenig gefüllt, so liegt sie so geschützt,
dass nur ganz ausnahmsweise eine solche Ruptur wird entstehen können.
Häufiger als die isolirten sind die secundären Rupturen der Harnblase
bei Beckenzertrümmerungen, wovon wir mehrere Fälle und namentlich
wiederholt vollständige Abreissung der Harnblase von der Urethra zu
Gesichte bekamen. Auch durch forcirte Füllung der Harnblase, z. B. bei
Steinoperationen, kann Ruptur der Blase eintreten (+Ullmann+, Wiener
med. Wochenschr. 1887, Nr. 23).
[Sidenote: Fracturen der Lendenwirbelsäule.]
Fracturen der +Lendenwirbelsäule+ und des +Beckens+ kommen nach Sturz
von einer Höhe, bei Verschütteten und Ueberfahrenen sehr gewöhnlich
vor, und lassen ihrer Natur nach immer auf das Stattgehabthaben einer
grossen, mit einem stumpfen Werkzeuge ausgeübten Gewalt schliessen.
[Sidenote: Hernien in Folge von Misshandlungen.]
Verhältnissmässig häufig begegnen wir in der forensischen Praxis der
Angabe, dass ein Individuum in Folge einer Misshandlung eine +Hernie+
davongetragen habe. Die gerichtsärztliche Beurtheilung solcher Fälle
hat zunächst von dem, von sämmtlichen Chirurgen der Neuzeit anerkannten
Grundsatze auszugehen, dass bei einem normal gebauten Individuum
eine Hernie nicht plötzlich entstehen könne, ausgenommen, es wären
Rupturen der betreffenden Stelle der Bauchwand durch die Verletzung
entstanden, sondern dass sich eine solche nur dort zu bilden vermöge,
wo bereits ein Bruchsack durch angeborene Anlage[324] oder durch später
erfolgte allmälige Entstehung (trichterförmiges Hervorgezogenwerden des
Bauchfells durch Fettklümpchen und Erweiterung des Bruchsackes durch
das Nachdrängen der Eingeweide, +Cloquet+, +Emmert+, +Nussbaum+, u.
A.) vorgebildet sei, in welchem Falle allerdings das Heben schwerer
Lasten, Fusstritte gegen den Unterleib, Knieen auf demselben und
ähnliche Misshandlungen das Austreten einer Darmschlinge in die bereits
vorhandene Bauchfellausstülpung veranlassen können. Es setzt demnach
die Möglichkeit der Entstehung einer Hernie durch solche Misshandlungen
immer eine bereits vorhandene Disposition des betreffenden Individuums
zum Acquiriren eines solchen Leidens voraus, die zweifelsohne in die
Kategorie der „eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit“ gehört und als
solche in dem gerichtsärztlichen Gutachten jedesmal hervorgehoben
werden müsste.
Die weitere Beurtheilung würde die Erwägung erfordern, ob thatsächlich
erst die betreffende Misshandlung das Eintreten einer Darmschlinge
in den bereits vorgebildeten Bruchsack bewirkt habe oder nicht.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass einestheils Jemand erst durch
eine Misshandlung auf einen Bruch aufmerksam gemacht worden sein
konnte, der bereits früher bestand, aber weil er klein war und keine
Beschwerden veranlasste, von ihm übersehen wurde, und dass anderseits
die Möglichkeit besteht, dass Jemand einen Bruch erst durch eine
Misshandlung acquirirt zu haben behauptet, während er ihn schon lange
besass und von seinem Vorhandensein auch Kenntniss hatte. Entstand
ein Bruch erst durch eine Misshandlung, so ist nicht gut denkbar,
dass die Bildung desselben, respective das Eintreten einer schon
äusserlich merkbaren Darmschlinge in den vorgebildeten Bruchsack ohne
subjective Symptome, namentlich ohne Schmerz an der betreffenden
Stelle, erfolgt sein konnte. Auch objective Symptome, wie Erbrechen und
Reactionserscheinungen am Bruche selbst, werden sich bemerkbar machen.
Ergibt demnach die Anamnese solche Erscheinungen, dann unterstützen
sie die Angabe des Verletzten, dass erst durch die Misshandlung der
Bruch hervorgetreten sei, während anderseits eine solche Angabe keinen
Glauben verdient, wenn erwiesen wird, dass der Betreffende unmittelbar
nach der Misshandlung keine solchen Symptome darbot, sondern sich in
einer Weise benahm, aus welcher hervorgeht, dass er keine Beschwerden
gehabt haben konnte, oder wenn er gar angibt, dass erst einige Zeit
nach der Misshandlung das Bestehen eines Bruches von ihm bemerkt worden
sei. Auch die Grösse des Bruches muss in Betracht gezogen werden,
da es natürlich ist, dass in Folge einer Misshandlung nur kleine
Hernien entstehen werden, die sich, wie jede andere, erst nachträglich
vergrössern können. Wenn demnach etwa bei Jemandem, der seine Hernie
von einer Misshandlung herleitet, kurz nach letzterer eine Hernie
gefunden wird, die bereits eine beträchtliche Grösse besitzt, eventuell
schon in’s Scrotum herabsteigt, so kann nicht blos von einem causalen
Zusammenhang zwischen Misshandlung und Hernie nicht die Rede sein,
sondern es ist damit auch die Angabe widerlegt, dass der Betreffende
früher das Vorhandensein eines Bruches nicht bemerkt habe.
Liesse sich constatiren, dass eine Misshandlung wirklich die
Bildung einer Hernie, wenn auch nur wegen der „eigenthümlichen
Leibesbeschaffenheit“ des Verletzten, zur Folge gehabt habe, so
wäre eine solche Verletzung wegen der grossen Belästigung, die das
Bestehen einer Hernie sowohl für sich, als durch das Tragen eines
Bruchbandes bewirkt, und weil ein solches Leiden anstrengende Arbeiten
contraindicirt und den Betroffenen den Gefahren einer zufällig
eintretenden Brucheinklemmung aussetzt, im Sinne des gegenwärtigen
österr. St. G. nicht blos als eine „schwere Verletzung“, sondern auch
als eine solche zu bezeichnen, die eine „unheilbare Krankheit“ (vide
pag. 335) im Sinne des §. 156_b_ nach sich gezogen hatte. Würde aber
eine solche Verletzung im Sinne des österr. St. G.-Entwurfes oder im
Sinne des deutschen St. G. zu begutachten sein, so könnte dieselbe
nicht als „schwere Körperverletzung“ erklärt werden, da keine der
Folgen, die der §. 232 des österr. St. G.-Entwurfes, beziehungsweise
der §. 224 des deutschen St. G. erwähnt, hier als vorhanden angenommen
werden könnte. Es sind nur zwei Ausdrücke in diesen Paragraphen,
die in einem solchen Falle in Frage kommen könnten: die Entstellung
und der Verfall in Siechthum. Von einer Entstellung kann aber nicht
die Rede sein, da eine Hernie einestheils verhältnissmässig leicht
verborgen werden kann und anderseits im bekleideten Zustande nicht
auffällt; was aber den Verfall in Siechthum betrifft, so würde
die Annahme einer solchen Verletzungsfolge mit der allgemeinen
Erfahrung im Widerspruche stehen, welche lehrt, dass eine grosse
Zahl von Individuen, die Hernien besitzen, durchaus nicht als Sieche
gelten, sondern, wenn sie gute Bruchbänder tragen, sich in den
meisten Dingen wie Gesunde verhalten und blos gewisse ungewöhnliche
Anstrengungen vermeiden müssen. Daher könnte auch von einer bleibenden
Berufsunfähigkeit (§. 156_c_ des österr. St. G.) nur bei Individuen
die Rede sein, deren Beruf schwere Körperarbeit, insbesondere starke
Anstrengung der Bauchmusculatur, erfordert. In diesem Sinne hat sich
auch anlässlich eines bestimmten Falles das Münchener Medicinal-Comité
ausgesprochen[325] und es wurde in diesem Gutachten auch bemerkt,
dass die Lebensversicherungs-Gesellschaften das Leben Bruchleidender,
wenn dieselben nur passende Bruchbänder tragen, zu normaler Prämie
versichern, woraus hervorgeht, dass die Lebensdauer solcher Individuen,
wenn sie sonst das richtige Verhalten beobachten, durch das Bruchleiden
erfahrungsgemäss nicht wesentlich verkürzt werde.
Dass bei einer bestehenden Hernie durch eine Quetschung des Bauches
oder ähnliche Gewalten der Eintritt einer Incarceration veranlasst
werden kann, kann wohl nicht bezweifelt werden. Eine solche
Einklemmung wäre nach dem österr. Gesetz nur dann als „schwere“,
eventuell lebensgefährlich gewordene Verletzung zu beurtheilen, wenn
die Reposition nicht leicht und bald gelingt, doch wäre unter allen
Umständen das Moment der „eigenthümlichen“, respective „krankhaften“
Leibesbeschaffenheit zu betonen.
[Sidenote: Hernien im Sinne d. Unfallversichg.-G. Penetrirende
Bauchwunden.]
Was die Beurtheilung der +Hernien im Sinne des
Unfall-Versicherungsgesetzes+ betrifft, so hat das deutsche
Reichsversicherungsamt zu dieser häufigen Frage in wiederholten
Entscheidungen eine grundsätzliche Stellung genommen. Hiernach
muss einerseits ein Unfall im gesetzlichen Sinne vorliegen; der
Bruchaustritt muss also ein zeitlich bestimmtes, in plötzlicher
Entwicklung sich vollziehendes Ereigniss darstellen. Anderseits darf
dieser Unfall nicht lediglich zeitlich oder örtlich, sondern er muss
ursächlich mit einem versicherungspflichtigen Betriebe in Zusammenhang
stehen, und zwar dergestalt, dass der Bruchaustritt im Anschluss an
eine schwere körperliche Anstrengung erfolgt, welche zugleich über
den Rahmen der gewöhnlichen Betriebsarbeit hinausgeht. „Es hiesse,“
sagt das Reichs-Versicherungsamt, „den Berufsgenossenschaften ein
ungebührliches Risico aufbürden, wenn ihnen Hernien, die bei natürlich
erweiterter Bruchpforte schon im Anschlusse an die geringeren
Anstrengungen des täglichen Lebens auszutreten geneigt sind, stets
dann zur Entschädigung zugewiesen würden, wenn der Bruch in Folge
einer nicht grösseren Anstrengung im Betriebe oder zwar in Folge einer
schweren Arbeit, die aber dem mit der Bruchanlage behafteten Arbeiter
geläufig ist, hervortritt.“ (Zeitschr. f. Medicinalb. 1892, Nr. 15,
Beilage.) Bei Einklemmung einer Hernie als „Unfall“ würde wohl nur
dann eine dauernde Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit angenommen
werden können, wenn durch die Einklemmung und deren Consequenzen das
Bruchleiden wesentlich verschlechtert oder besondere Folgen, z. B. Anus
praeternaturalis, zurückgeblieben wäre.
[Sidenote: Penetrirende Bauchwunden.]
+Penetrirende Bauchwunden+ können Lebensgefahr theils durch innere
Verblutung, theils durch secundäre entzündliche Vorgänge bedingen. Im
ersten Falle, wenn grosse Gefässe oder blutreiche Organe (Leber, Milz)
getroffen werden, kann der Tod sehr bald nach der Verletzung eintreten.
Secundär entzündliche Processe werden insbesondere durch Verletzungen
des Magens oder des Darmes veranlasst in Folge von Austritt des
betreffenden meist putriden Inhaltes in den Bauchfellsack, und machen
in der Regel erst nach einigen Tagen, mitunter jedoch schon nach
einigen (in einem unserer Fälle, der einen Stich in den Magen betraf,
schon nach 8) Stunden unter Erscheinungen der Perforations-Peritonitis
dem Leben ein Ende. Heilungen von Stich- oder Schussverletzungen des
Magens sowohl als des Darmes sind schon in vorantiseptischer Zeit
vorgekommen, gegenwärtig gelingen sie, wenn rechtzeitig eingeschritten
wird, immer häufiger.
[Sidenote: Verletzungen des Rectums.]
Absichtliche Verletzungen des +Mastdarmes+ kommen nur äusserst
selten vor. Uns ist nur ein solcher Fall bekannt, in welchem einem
Manne, der einem Bauernweibe nachgestiegen war, von dem Gatten der
Letzteren und mehreren Anderen aufgelauert und dann mit Hilfe eines
Steines ein Holzpflock in den After eingetrieben worden war, welcher,
da der Verletzte das Geschehniss verheimlichte, erst nach einigen
Tagen durch einen Chirurgen, nicht ohne Mühe entfernt werden konnte,
ohne dass schwere Erscheinungen aufgetreten wären. Der König Eduard
II. von England wurde bekanntlich durch Einführung eines glühenden
Eisens in den Mastdarm ermordet. Verletzungen des Mastdarmes durch
ungeschickt gesetzte Klysmen sind nicht gar selten. Ein forensischer
Fall dieser Art, in welchem der Tod einer Wöchnerin durch eine
solche Ungeschicklichkeit oder Fahrlässigkeit erzeugt wurde, indem
die Hebamme mit der Spitze der Spritze die Mastdarmwand durchbohrt
und dann die Flüssigkeit eingetrieben hatte, findet sich in der
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1866, pag. 104 u. ff., ein anderer
in Schmidt’s Jahrb. 1870, 182. Auch wir sahen einen solchen Fall, der
durch die Ungeschicklichkeit eines Wärters veranlasst wurde, jedoch
glücklicher Weise günstig verlief, während in den früher genannten
Fällen Verjauchung der Beckenweichtheile und letale Peritonitis die
Folge gewesen war.[326] +Nordmann+ (Baseler Diss. 1887) hat zahlreiche
solche Fälle zusammengestellt. Nach +Esmarch+ (Krankh. des Mastdarmes
und des Afters. 1887, pag. 47) kommen auch spontane Zerreissungen des
Mastdarmes vor.
E. Verletzungen der Genitalien.
A. +Männliche Genitalien.+ Attentate auf diese kommen verhältnissmässig
selten vor und bestehen dann meist nur in Zerrungen oder Quetschungen
derselben. Solche können, wenn sie die Hoden betreffen, Entzündungen
dieser und Atrophie zur Folge haben, die, wenn beide Hoden auf diese
Weise verletzt wurden oder der andere bereits früher functionsuntüchtig
war, Zeugungs- (Befruchtungs-) Unfähigkeit zu bedingen vermögen. Ob
auch ohne Atrophie der Hoden durch Quetschung derselben Aspermatozie
entstehen kann, ist vorläufig noch fraglich. Auch Gangrän des
Penis[327] sowohl als der Hoden kann nach bedeutenden Quetschungen
eintreten und in ihren Folgen Beischlafs-, beziehungsweise
Befruchtungsunfähigkeit bedingen. Castration oder Verlust des Penis
durch Traumen würden bezüglich ihrer gerichtsärztlichen Beurtheilung
keinen Schwierigkeiten unterliegen, namentlich was die Frage des
Verlustes der Zeugungsfähigkeit betrifft, bezüglich welcher wir auf das
an anderen Orten Gesagte verweisen.
Die ohne ärztliche Indication ausgeführte Castration und die
Abtragung des Penis hat in neuerer Zeit eine ganz specifische
forensische Bedeutung erhalten durch die in Russland aufgetauchte
Secte der Skopzen, deren Adepten in Folge religiös-fanatischer
Verblendung ihre Genitalien auf mannigfache Weise verstümmeln.
Wir verdanken die nähere Kenntniss dieser merkwürdigen Secte
+Pelikan+’s ausgezeichneter Arbeit: „Gerichtlich-medicinische
Untersuchungen über das Skopzenthum in Russland“, Giessen 1876,
in welcher eine ganze Reihe forensisch-medicinischer Fragen
besprochen werden, die aus Anlass der strafrechtlichen Verfolgung
dieser Secte sich ergeben haben, und die insbesondere um die
Unterscheidung derartiger absichtlicher Verletzungen von durch
chirurgische Operation oder durch pathologische Processe verursachten
Defecten, sowie um Bestimmung der Zeit, wann und die Art, wie
die Operation vorgenommen wurde, sich drehen und um die Folgen,
die daraus für die Zeugungsfähigkeit entstehen. Wir verweisen
bezüglich dieser hochinteressanten Fragen auf das genannte Werk
und unsere Besprechung desselben in der Wiener med. Wochenschr.
1876, Nr. 50 u. ff. Vorläufig ist nicht anzunehmen, dass auch an
unsere Gerichtsärzte die Nothwendigkeit herantreten werde, auf die
erstgenannten Unterscheidungen Rücksicht zu nehmen; was jedoch
die Erfahrungen betrifft, die aus Anlass der Beobachtungen an den
Skopzen für die Lehre der Zeugungsfähigkeit gewonnen wurden, so
haben wir nicht unterlassen, dieselben bei der Besprechung der
Fortpflanzungsfähigkeit zu verwerthen.
Bei der Beurtheilung der Verletzungen an den männlichen Genitalien ist
auch die bekannte Empfindlichkeit dieser Theile und der Blutverlust
zu erwägen, der gewöhnlich mit solchen Verletzungen einherzugehen
pflegt. Namentlich sind es die Verletzungen des Penis, bei welchen
die Blutung, die theils aus den durchtrennten grösseren Gefässen
(Dorsalgefässen), theils aus den cavernösen Körpern entsteht, selbst
einen lebensgefährlichen Charakter erhalten kann.
Isolirte Verletzungen der männlichen Harnröhre, die sowohl durch
schneidende Instrumente als auf andere Art, z. B. durch Strangulation
des Penis, entstehen können, vermögen traumatische Hypospadie zu
bewirken, die in der Regel noch weniger leicht eine Zeugungsunfähigkeit
bedingen wird, als die angeborene Hypospadie, welche bekanntlich
häufig mit einer Verkümmerung des Penis und hakenförmigen Krümmung
desselben nach abwärts verbunden ist. Auch ist die traumatische
Hypospadie gewöhnlich leicht durch Operation zu beseitigen, was von der
angeborenen nicht immer gesagt werden kann.
[Sidenote: Circumcision.]
Fahrlässige Verletzungen des Penis können auch durch die rituelle
Circumcision erzeugt werden, und zwar entweder dadurch, dass mit
der Vorhaut auch ein Theil der Eichel abgekappt oder dass durch
unreine Instrumente Tuberculose oder Syphilis übertragen wird. Bei
der Beurtheilung des letzteren Vorkommnisses, sowie wenn der weitere
schlechte Verlauf einer Beschneidung in Folge von Erysipel, Gangrän
etc. dem Beschneider zugeschoben wird, ist darauf Rücksicht zu
nehmen, dass entzündliche Infiltrationen in der Eichelfurche und am
Frenulum syphilitische Sklerosen vortäuschen können und dass Erysipel
etc. auch nach richtig ausgeführter Circumcision durch anderweitig
hinzugekommene Schädlichkeiten hervorgerufen worden sein konnte.
[Sidenote: Verletzungen der weiblichen Genitalien.]
B. +Weibliche Genitalien.+ Wir sehen hier, sowie wir dies auch bei
den männlichen Genitalien und bei der Besprechung der Verletzungen
des Afters und Mastdarmes gethan haben, von jenen Beschädigungen ab,
die diese Theile in Folge unzüchtiger Attentate erleiden können, da
wir diese bei der Behandlung der gesetzwidrigen Befriedigung des
Geschlechtstriebes ausführlich erörtert haben.
[Sidenote: Vorfall des Uterus und der Scheide nach Misshandlung.]
Von den Folgen, welche durch contundirende Gewalten, wenn sie
entweder den Bauch oder die Scham selbst getroffen hatten, an den
weiblichen Genitalien auftreten können, verdient nur die Entstehung
von Vorfällen des Uterus oder der Scheide eine besondere Besprechung,
da derartige Verletzungsfolgen nicht gar selten angegeben werden und
deren Beurtheilung keineswegs immer eine leichte ist. Die Erfahrung
lehrt, dass solche Vorfälle in der Regel allmälig sich bilden und
sich somit analog verhalten, wie die Hernien. Ferner lehrt die
Erfahrung, dass ihrer Entstehung gewöhnlich Momente vorausgehen,
welche eine Erschlaffung des ganzen Genitalapparates, insbesondere
aber eine Insufficienz derjenigen Apparate bedingen, die in normalem
Zustande bestimmt sind, Uterus und Scheide in ihrer physiologischen
Lage zu erhalten.[328] Hierher gehören insbesondere vorausgegangene,
namentlich wiederholte Entbindungen, Dammrisse, vorzeitiges Verlassen
des Wochenbettes u. dergl. Am häufigsten ist die Senkung der vorderen
Scheidenwand die Folge von Schwangerschaft. Seltener ist die Senkung
der hinteren Scheidenwand das Primäre und wird dann meist bedingt durch
Dammriss und Schrumpfung der entstandenen Narbe. Die Senkung führt in
ihrer weiteren Entwicklung zum Vorfall und nach und nach wird auch der
Uterus hervorgezerrt (+Martin+). Dass, wenn einmal die Disposition
zur Entstehung solcher Dislocationen der Scheide und des Uterus in
Folge der genannten Momente gegeben ist, gewisse Misshandlungen,
insbesondere Insulte, die den Bauch treffen und dessen Inhalt nach
abwärts drängen, die Bildung eines Vorfalles oder, vielleicht häufiger,
das stärkere Vortreten eines bereits in seinen Anfängen vorhandenen
Vorfalles bewirken können, unterliegt keinem Zweifel. Aber es wäre in
einem solchen Falle ebenso die „eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“
hervorzuheben, wie dies bei der gerichtsärztlichen Beurtheilung von aus
ähnlichen Anlässen entstandenen Hernien angezeigt ist.[329] Ob auch
bei einem Weibe, dessen Geschlechtsorgane normale Verhältnisse bieten,
derartige Misshandlungen die Entstehung, insbesondere die plötzliche
Entstehung von Senkungen oder Vorfällen der Scheide und des Uterus
bewirken können, muss vorläufig noch fraglich erscheinen, dagegen ist
nicht zu zweifeln, dass es gewisse Verletzungen gibt, die, wie z. B.
jene des Dammes, des Scheideneinganges oder der Scheide selbst, theils
indem sie die normalen Stützen der Scheide und des Uterus lädiren,
theils durch den Zug der entstehenden Narben zur Bildung von Senkungen
und Vorfällen die veranlassende Ursache werden können.
Auch in anderen Beziehungen wird bei der gerichtsärztlichen
Beurtheilung solcher Verletzungsfolgen wie bei jener der Hernien
vorzugehen sein. So werden die Natur und Gewalt der betreffenden
Misshandlung und die eventuellen Spuren, die sie zurückliess, in
Erwägung kommen müssen. Ferner ob und welche Erscheinungen sofort nach
der Misshandlung im Allgemeinen sowohl, als besonders an den Genitalien
auftraten und ob der betreffende Vorfall in seinen Eigenschaften die
Behauptung der Misshandelten unterstützt, dass er thatsächlich zu
jener Zeit, in welcher die Misshandlung stattfand, erst entstand,
oder ob eben dieser Eigenschaften wegen geschlossen werden muss, dass
die Betreffende schon früher und vielleicht schon seit Langem damit
behaftet war. Zu letzteren Eigenschaften gehört der Abgang jeder
Reaction, die leichte Reponirbarkeit, sowie die Grösse des Vorfalles,
dann besonders die Beschaffenheit der Schleimhaut desselben, da
bekanntlich bei Vorfällen, die aus der Schamspalte ausgetreten und den
Einflüssen der Luft ausgesetzt sind, der Schleimhautüberzug vertrocknet
und das Epithel einen epidermisartigen Charakter erhält.
Liesse sich der ursächliche Zusammenhang zwischen einer Senkung oder
einem Vorfall der genannten Theile und einer Misshandlung nachweisen,
so müsste der bleibende Nachtheil, den die Verletzte dadurch erlitt,
nach gleichen Grundsätzen beurtheilt werden, wie wir sie bezüglich
der Hernien angeführt haben. Dass solche Senkungen und Vorfälle einen
Verlust der Zeugungsfähigkeit nicht bedingen, haben wir an einer
anderen Stelle bereits erwähnt.
Die +Verwundungen der äusseren Genitalien+ haben eine grosse
forensische Bedeutung der schweren und selbst lebensgefährlichen
Blutungen wegen, die sie veranlassen können.
[Sidenote: Verletzungen der äusseren und inneren Genitalien des Weibes.]
Die Zahl der in der Literatur verzeichneten Fälle von hochgradiger
und selbst tödtlicher Verblutung aus verhältnissmässig unbedeutenden
Verletzungen der äusseren Genitalien ist eine beträchtliche. Die von
+Müller+ und von +Klapproth+ mitgetheilten Fälle haben wir bereits
(pag. 121) angeführt. Eine Reihe anderer findet sich zusammengestellt
in Schmidt’s Jahrb. 1872, CLIII, pag. 310, und 1873, CLVII, pag. 67.
Wir selbst besitzen das Genitale einer Frau, welche im schwangeren
Zustande auf eine Bettleiste auffiel, dabei sich einen 2 Cm. langen
Schleimhautriss zwischen Clitoris und Harnröhrenmündung zuzog,
welcher, da ärztliche Hilfe zu spät gesucht wurde, noch am selben Tage
den Tod durch Verblutung zur Folge hatte. Wir verdanken das Präparat
der Güte des Herrn Prof. +Heschl+. Ebenso obducirten wir vor einigen
Jahren eine kräftige, nach der Entbindung an Verblutung gestorbene
Frau, bei welcher ein Querriss der Schleimhaut an der Basis der
Clitoris als Ursache der profusen Blutung nachgewiesen wurde. Sowohl
unsere, als die meisten anderen Fälle betrafen Schleimhautrisse der
Clitorisgegend und die Verblutung erklärt sich aus dem Gefässreichthum
dieser Partie, vielleicht auch aus der klappenlosen Beschaffenheit der
dortigen Venen (+Parvin+, Schmidt’s Jahrb. 1873, l. c.). In vielen
Fällen, aber keineswegs in allen, waren es Schwangere, die auf solche
Weise in Lebensgefahr kamen, so dass Grund vorhanden ist zur Annahme,
dass die während der Schwangerschaft bestehende grössere Turgescenz
jener Theile eine wichtige Rolle bei solchen Vorkommnissen spielt.
+Weltrubsky+ (Wiener med. Blätter. 1883, pag. 291) erwähnt eines
Falles von +Cramer+, in welchem bei einer 35jährigen Schwangeren nach
dem Coitus mit einem fremden Manne Genitalblutung und Tod eintrat
in Folge eines geborstenen Varix der Clitorisgegend. Auch in dem
Falle von +Müller+ sprachen die Umstände dafür, dass der betreffende
Schleimhautriss durch sexuelle Excesse (Manipulationen) veranlasst
worden war.
Nicht immer sind es zufällige Verletzungen, um die es sich handelt.
+Niemann+ (Gerichtliche Leichenöffnung, drittes Hundert. Henke’s
Zeitschr. XXXIX, 2, pag. 310 u. ff.) berichtet über eine absichtliche
Tödtung einer Frau durch einen Schnitt in die äusseren Genitalien,
welchen sie von ihrem eifersüchtigen Ehemann erhalten und der
unmittelbar hinter der inneren linken Schamlefze 1″ unter der
Clitoris in der Länge von 1″ die Schleimhaut bis in das Untergewebe
durchschnitten hatte. Einen ähnlichen Fall hat +Draper+ (Boston med.
and surg. Journ. 1884, pag. 217) begutachtet, in welchem der Mann
glauben machen wollte, dass sich sein Weib die Verletzung selbst
bei einem Fruchtabtreibungsversuch zugefügt habe. Es fand sich
jedoch ein leerer Uterus. Ferner sahen +Watton+ und +Mitchell Hill+
(+Schauenstein+, l. c. pag. 446) in kurzer Zeit nach einander zwei
Ermordungen der Gattin durch den Ehegatten durch Schnitte in die
Nymphen und die Scheide. In beiden Fällen hatten sich die Thäter
durch die verborgene Stelle der Verletzung so sicher gefühlt, dass
sie, als ihre Opfer im Sterben lagen, ärztliche Hilfe für diese
gesucht hatten, um die Sache als natürliche Blutung hinzustellen. --
Ueber Verletzungen der Genitalien bei weiblichen Skopzen berichten
+Pelikan+ (l. c.) und +Lapin+ (Arch. f. Gyn. XVI, pag. 143).
Verletzungen der +inneren Genitalien+ kommen ausser durch seltene
Zufälligkeiten, wie Auffallen auf spitze und lange Gegenstände,
verhältnissmässig noch am häufigsten bei der Fruchtabtreibung durch
mechanische Mittel vor, wie wir bereits erwähnt haben. Absichtliche
Verletzungen dieser Theile gelangen nur sehr selten zur Beobachtung.
+Schauenstein+ (l. c. pag. 447) erwähnt eines Mordes, der an einer
durch einen Schlag betäubten Frau dadurch ausgeübt wurde, dass man
ihr einen Holzkeil in die Scheide eintrieb, der das Scheidengewölbe
durchriss und in die Bauchhöhle gelangte. Ebenso ist muthwilliges
oder boshaftes Einbringen fremder Körper in die weiblichen
Genitalien mit mehr weniger schweren nachfolgenden Erscheinungen
beobachtet worden. So findet sich in +Maschka+’s Gutachten I ein
Fall, in welchem einem Weibe nach dem Coitus ein Schilfrohr in
die Genitalien gesteckt wurde, das nachträglich zur Bildung einer
Blasenscheidenfistel Veranlassung gab. Hierher gehört auch der
Fall des von +Casper+ erwähnten Mädchens, welchem die Scheide mit
Steinchen ausgestopft und dabei vielfach verletzt worden war. Ueber
beim Coitus entstandene Scheidenverletzung wurde oben (pag. 127)
gesprochen. Bei einer von uns obducirten Prostituirten, welche nach
einem Coitus Blutungen bekam und im Spitale einige Tage darnach
starb, fanden wir septische von einem 4 Cm. langen bis unter das
Bauchfell sich vertiefenden Riss des rechten Scheidengewölbes
ausgehende Erscheinungen. Das Mädchen und der Angeklagte gaben an,
dass von letzterem zuerst der Finger eingeführt und dann der Coitus
ausgeübt wurde. Offenbar war Verletzung durch brutales Einbohren
des ersteren entstanden, wofür auch die trichterförmige Vertiefung
der Wunde und ein deutlich halbmondförmiger, zweifellos von einem
Fingernagel herrührender oberflächlicher Schleimhautriss in der
Nachbarschaft sprach. Ueber Beschädigungen der inneren Genitalien
durch Kunstfehler, namentlich durch ungeschicktes Anlegen der Zange
oder bei der Wendung, s. den trefflichen Vortrag von +Fritsch+
„Uterusruptur in foro“. Virchow’s Jahrb. 1891, I, 527.
Ausser der Lebensgefahr, die einzelne der genannten Verletzungen,
insbesondere die perforirenden, zu bewirken pflegen[330], können andere
bleibende und schwere Nachtheile zurücklassen. Insbesondere wären
unheilbare Harn- und Kothfisteln zweifellos als „Siechthum“ im Sinne
der Gesetze aufzufassen, da bei solchen Leiden alle jene Bedingungen
zutreffen, unter denen von Siechthum gesprochen werden kann. Dass
solche Verletzungen auch Zeugungsunfähigkeit, und zwar nicht blos
Beischlafsunfähigkeit nach sich ziehen können, wurde bei Besprechung
dieser erörtert.
[Sidenote: Abortus nach Misshandlungen.]
[Sidenote: Fehlgeburt nach Traumen.]
Verhältnissmässig häufig wird ein +Abortus+ mit erlittenen
Misshandlungen in ursächlichen Zusammenhang gebracht, und es wurde
mit Entscheidung des obersten Gerichtshofes vom 4. Juli 1855
ausgesprochen, dass eine „schwere Verletzung“ im Sinne des §. 152
des österr. St. G. unzweifelhaft auch dann vorhanden sei, wenn die
Misshandlung einer Schwangeren eine Fehlgeburt zur Folge hatte.
Dass direct den Unterleib, beziehungsweise den Uterus treffende
intensive, namentlich wiederholte Insulte, wie Stösse, Fusstritte
und Quetschungen der verschiedensten Art, Abortus bewirken können,
unterliegt keinem Zweifel. Es kann dies geschehen durch Sprengung des
Eies, durch Ablösung desselben von der Uteruswand, sowohl durch die
directe Erschütterung als durch die consecutive Blutung zwischen Uterus
und Placenta; vielleicht auch durch unmittelbare Tödtung der Frucht
oder durch Uteruscontractionen, die durch die mechanische Irritation
ausgelöst wurden. Auch der allgemeinen Gefäss- und Nervenaufregung,
die mit Misshandlungen verbunden zu sein pflegt, kann ein Einfluss
auf das Eintreten einer Fehlgeburt nicht abgesprochen werden. Bei
Verwundungen der Genitalien sowohl als auch anderer Organe muss eine
solche Möglichkeit noch eher zugegeben werden, da zu der unmittelbaren
Wirkung der Verletzung auch die secundären Zufälle hinzukommen, die sie
veranlassen kann.
Trotzdem lehrt die Erfahrung, dass sowohl die erst erwähnten
Misshandlungen als auch Verwundungen der Genitalien oder anderer
Körpertheile, die an Schwangeren geschehen, verhältnissmässig selten
Abortus bewirken. So berichtet +Thomann+ (Wiener med. Presse. 1867,
Nr. 39 und „Schwangerschaft und Trauma“. Wien 1889) von einer
ausgebreiteten Zerreissung des Dammes und des Mastdarmes, die
sich ein im sechsten Monate schwangeres Weib durch Fall auf einen
Gartenzaun zugezogen hatte, und die mit Heilung endete, ohne dass die
Schwangerschaft unterbrochen worden wäre. Eine Reihe solcher Fälle,
in welchen schwere Verletzungen der Genitalien, die durch Auffallen
auf Zaunpflöcke, Stuhlbeine etc. entstanden waren, keine Fehl- oder
Frühgeburt bewirkten, wird von +Magacz+ im gleichen Blatte, 1872,
189, mitgetheilt.
Ueber den Einfluss grösserer chirurgischer Operationen auf den
Verlauf der Schwangerschaft wurden von +Cohnstein+ (Med. Centralbl.
1874, pag. 192) und von +Massat+ in Paris (Schmidt’s Jahrb. 1874,
CLXIV, pag. 265) Beobachtungen in grosser Zahl angestellt, welche
lehrten, dass in mehr als der Hälfte der Fälle (54·5%, +Cohnstein+)
die Schwangerschaft regelmässig verlief, dass aber der Ort der
Operation sich insoferne bemerkbar mache, als die Fälle, an
welchen an den Harn- und Geschlechtsorganen operirt wurde, das
Hauptcontingent jener lieferten, die mit vorzeitiger Unterbrechung
der Schwangerschaft endeten (von den 54·5% +Cohnstein+’s nicht
weniger als 32%), +Schröder+ und +Veit+ (Virchow’s Jahrb. 1876,
II, 558) sahen die Schwangerschaft ungestört normal verlaufen,
trotz im siebenten Monat vorgenommener Ovariotomie, und nach
+Olshausen+ (Prager med. Wochenschr. 1878, pag. 352) trat bei 14
in der Schwangerschaft Ovariotomirten nur 4mal Unterbrechung der
Schwangerschaft ein.
Es wäre in einem solchen Falle Aufgabe des Gerichtsarztes, die Art der
Misshandlung zu erwägen, ferner die Erscheinungen, die unmittelbar nach
dieser sich eingestellt hatten, sowie jene, die in der Zwischenzeit
zwischen der Misshandlung und dem Abortus eingetreten waren, wobei
insbesondere zu erheben wäre, ob die Erscheinungen in ihrer zeitlichen
Aufeinanderfolge sich so gestalten, dass schon daraus ein causaler
Zusammenhang zwischen Misshandlung und Abortus entnommen werden kann.
Bezüglich der Zeit, wann nach einer Misshandlung ein Abortus erfolgen
muss, um überhaupt noch auf erstere bezogen werden zu können, dürfte es
wohl für die meisten Fälle gelten, dass, wenn der Abortus thatsächlich
durch eine Misshandlung veranlasst wurde, derselbe entweder kurz
nach dieser oder mindestens in den ersten Tagen eintreten werde; es
ist jedoch ganz wohl denkbar, dass durch solche Insulte zwar der
Anstoss zur Fehlgeburt gegeben wird, dass aber dieselbe erst einige
Zeit darnach erfolgt. Dies kann besonders dann geschehen, wenn durch
den Insult zunächst die Frucht zum Absterben gebracht wurde, da die
abgestorbene Frucht bekanntlich längere Zeit im Uterus getragen werden
kann. In einem solchen Falle würde die Frucht macerirt geboren werden,
und es wäre dann zu erwägen, ob der Grad der Maceration mit der Zeit
übereinstimmt, die zwischen Verletzung und Abortus verflossen ist.
Ist durch eine Misshandlung zuerst eine Erkrankung der Schwangeren
veranlasst worden, in Folge welcher erst der Abortus sich einstellte,
dann würde es auch von der Natur und dem Verlaufe dieser Erkrankung
abhängen, ob der Abgang des Eies früher oder später erfolgt.
F. Verletzungen der Extremitäten.
Die forensische Bedeutung der Verletzungen der Gliedmassen beruht
vorzugsweise in dem Einflusse derselben auf die Brauchbarkeit
der betreffenden Extremität und in dem Umstande, dass sowohl die
immerwährende Unbrauchbarkeit einer Gliedmasse als ihr vollständiger
Verlust von allen Gesetzen als besonders schwere Verletzungsfolgen
ausdrücklich hervorgehoben werden.
Von den Verletzungen der Weichtheile erwähnen wir zunächst die der
grossen Gefässe, welche einerseits zu lebensgefährlichen und selbst
tödtlichen Blutungen, andererseits zu secundären Processen und selbst
zum Absterben ganzer Gliedmassen führen können. In ersterer Beziehung
sind wir allerdings häufig in der Lage, zu erklären, dass, wenn sofort
zweckmässige Hilfe bei der Hand gewesen wäre, die Verblutung hätte
verhindert werden können, aber wir haben bei Besprechung des Absatzes
2, lit. e des §. 129 der österr. St. P. O. erwähnt, dass dieser
Umstand nur dann in Betracht kommen könnte, wenn die Herbeiziehung
sachverständiger Hilfe möglich gewesen, aber unterlassen worden wäre,
während es selbstverständlich ist, dass, wenn grosse Gefässe durch
Stich, Schnitt oder Schuss verletzt wurden, meist die Verblutung so
schnell eintritt, dass jede Hilfe in der Regel zu spät kommt.
Verletzungen von Nerven können Lähmungen, beziehungsweise Anästhesien
ganzer Gliedmassen oder einzelner Theile derselben bewirken, und es
wird von der Ausdehnung und Intensität der letzteren abhängen, ob
und in welchem Grade dieselben die Brauchbarkeit der Gliedmassen
beeinträchtigen, und ob sie als „Verfall in Lähmung“ im Sinne des
österr. Entwurfes und des deutschen St. G. aufgefasst werden können.
Bei der Beurtheilung solcher Lähmungen wird zu berücksichtigen sein,
dass, wenn Nerven nur einfach, theilweise oder auch ganz durchtrennt
wurden, die durchtrennten Enden wieder verheilen können und damit auch
die Leistungsfähigkeit der betreffenden Nerven wieder hergestellt
werden kann, obgleich die vollständige Restitutio ad integrum meist
längere Zeit erfordert.
Was die Verletzungen der übrigen Weichtheile, insbesondere der Muskeln
und Sehnen, betrifft, so können diese theils als solche temporär
oder bleibend die betreffenden Muskeln oder Muskelgruppen ausser
Function setzen, oder durch die mannigfachen secundären Processe, die
sich nach solchen Verletzungen nicht selten einzustellen pflegen. Im
letzteren Falle wäre im Gutachten darauf Rücksicht zu nehmen, ob der
betreffende secundäre Process in der allgemeinen Natur der Verletzung
begründet war, oder nur zufällig hinzugekommen ist oder durch äussere
Schädlichkeiten veranlasst wurde. Die Gangrän bildet ein Beispiel aller
dieser drei Möglichkeiten.
[Sidenote: Fracturen und Luxationen der Extremitäten.]
Bei den Verletzungen der Knochen sind Luxationen und Fracturen zu
unterscheiden. Bei beiden kommt insbesondere die Dauer der durch die
Verletzung bedingten Unbrauchbarkeit der Extremität in Betracht.
Luxationen, namentlich der grösseren Knochen, erfordern, selbst
wenn sie sofort eingerichtet werden, mehrwöchentliche Schonung der
betreffenden Gliedmassen, und es kann daher leicht von einer 20- bis
30tägigen Berufsunfähigkeit im Sinne des §. 152 und §. 155 _b_ des
österr. St. G. die Rede sein, jedenfalls aber von einer über eine Woche
anhaltenden Berufsunfähigkeit im Sinne des §. 231, 1, des österr.
St. G.-Entwurfes, vorausgesetzt, dass die Ausübung des Berufes des
Betreffenden thatsächlich an die Functionsfähigkeit der betreffenden
Gliedmasse geknüpft ist.
Bei der Beurtheilung von Luxationen ist auch darauf Rücksicht
zu nehmen, dass bei einem luxirt gewesenen Gelenke leicht eine
Disposition zur Entstehung neuer Luxationen zurückbleibt, was auch
insoferne wichtig ist, als, wenn ein Individuum wiederholt ein und
dasselbe Gelenk luxirt gehabt hatte, einer neuerlichen Luxation,
die etwa durch eine Misshandlung veranlasst wurde, eine wesentlich
geringere und selbst gar keine Bedeutung zukommen kann. So berichtet
+Hyrtl+ von einem Lastträger, der sich den Humerus so oft luxirt
gehabt hatte, dass er schliesslich, wenn die Luxation wieder
entstand, durch eine gewisse Bewegung des Armes selbst im Stande war,
sie wieder zu reponiren; und in der Prager Siechenanstalt befand
sich ein epileptisches Mädchen, das sich fast jedesmal während des
Anfalles eine Luxation des rechten Oberarmkopfes zuzog, die wir
mindestens 30mal zu reponiren in der Lage waren, was jedesmal durch
einfachen Handgriff leicht gelang. Es ist selbstverständlich, dass
sowohl bei dem Lastträger als bei unserem Mädchen der Entstehung
der betreffenden Luxation durch Misshandlung eine gerichtsärztliche
Bedeutung nicht zugeschrieben werden könnte.
[Sidenote: Knochenbrüche. Verkürzung von Extremitäten.]
Knochenbrüche veranlassen Unbrauchbarkeit der betreffenden
Extremität bis zur Verheilung derselben durch festen Callus. Hierzu
sind bei einfachen Knochenbrüchen nach +Gurlt+ durchschnittlich
erforderlich: bei Bruch eines Fingergliedes zwei Wochen, eines
Mittelhand- oder Mittelfussknochens drei Wochen, des Vorderarmes
fünf Wochen, des Oberarmes sechs Wochen, des Oberarmhalses sieben
Wochen, des Unterschenkels acht Wochen, des Schienbeines sieben
Wochen, des Wadenbeines sechs Wochen, des Oberschenkels zehn Wochen,
des Schenkelhalses zwölf Wochen. Auch nach fester Vereinigung der
Bruchenden ist häufig die Brauchbarkeit der Extremität noch nicht
vollkommen vorhanden, insbesondere bedarf es längerer Zeit, bis die
durch die lange Unthätigkeit geschwächte Musculatur wieder ihre
frühere Kraft gewinnt. Solche lähmungsartige Zustände können aber
auch von Zerrung von Nerven herrühren, mit welcher die Fractur
(Luxation) verbunden war. Nach +Golebiewski+’s Erfahrungen bei Unfällen
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VII, pag. 122) konnte keiner
seiner 70 Fälle von Radiusfracturen vor der 13. Woche für erwerbsfähig
erklärt werden und die Zeit bis zur völlig erlangten Erwerbsfähigkeit
erreichte die enorme Höhe von durchschnittlich 3-4 Monaten, während sie
de norma gewöhnlich 6 Wochen beträgt. Die Ursache hiervon ist vielfach
in Verkennen der Fractur zu suchen, die für Verstauchung u. dergl.
gehalten wird, ferner im allzulangen Liegenlassen der Verbände oder
Vernachlässigung.
Dass comminutive oder complicirte Fracturen eine ungleich längere
Heilungsdauer erfordern und häufig einen ungünstigen Verlauf nehmen,
ist bekannt. Aber auch bei einfachen Fracturen kann die Heilung
ungünstig verlaufen, und es können Pseudarthrosen, Verkürzungen oder
Verkrümmungen der Extremitäten u. s. w. zurückbleiben. In solchen
Fällen wäre zu erheben, ob derartige Folgen nicht etwa in einer
unzweckmässigen Behandlung oder in Vernachlässigung der Verletzung
ihren Grund haben, dies umsomehr, als bei keiner Art von Verletzungen
so häufig die Hilfe von verschiedenen Curpfuschern, Natur- und
Beinbruchärzten in Anspruch genommen wird, als bei Verletzungen der
Extremitäten überhaupt und bei Knochenbrüchen insbesondere.
Unheilbare Pseudarthrosen können hochgradige Unbrauchbarkeit der
betreffenden Extremität bedingen und dieselbe wäre eventuell als
„Lähmung“ aufzufassen. Bei Verkrümmungen der Extremitäten nach schlecht
(unter einem Winkel) geheilten Fracturen und ebenso bei starken
Verkürzungen besonders der unteren Extremitäten mit consecutivem
Hinken müsste erwogen werden, ob diese Formveränderungen derart in die
Augen springen, dass sie als auffallende Verunstaltung (erhebliche
Entstellung) angesehen werden müssen.
[Sidenote: Verlust von Extremitäten.]
Den Verlust von ganzen Extremitäten, sowie der Hand und des
Fusses nennen die Gesetze ausdrücklich. Ob jener von Fingern oder
Fingergliedern als Verunstaltung oder erhebliche Entstellung
aufzufassen wäre, müssten die concreten Verhältnisse entscheiden. Der
Umstand, dass im Gesetze blos vom Verlust des Armes, der Hand, eines
Fusses etc. die Rede ist, schliesst die Möglichkeit nicht aus, dass
auch der Verlust kleinerer Theile einer Extremität unter Umständen als
erhebliche Entstellung (Verunstaltung) erklärt werden könnte.
II. Der Tod durch Erstickung.
Gewöhnlich versteht man unter Erstickung den durch mechanische
Behinderung der Aspiration der atmosphärischen Luft veranlassten
Tod, indem man dann unterscheidet: Erstickung durch Verschluss der
Respirationsöffnungen durch feste Körper oder durch ein flüssiges
Medium; Erstickung durch Verschluss der grösseren Respirationscanäle
durch feste oder flüssige Körper oder durch von aussen wirkenden
Druck (Strangulation), ferner Erstickung durch Behinderung der
Excursionsfähigkeit der Brustwände (Erdrückt- und Verschüttetwerden)
und endlich die Erstickung durch traumatischen Pneumothorax.
Es ist nicht zu leugnen, dass diese Erstickungsformen viel
Eigenthümliches besitzen und dass man allen Grund hat, sie für sich
zu behandeln; aber das Eigenthümliche liegt nicht in der letzten
Todesursache, in der Erstickung, sondern in den specifischen äusseren,
mechanischen Vorgängen, durch welche diese veranlasst wurde. Dies folgt
aus der Thatsache, dass eine grosse Reihe anderer, von den erwähnten
ganz verschiedener Vorgänge den Tod ebenfalls durch Sistirung des
respiratorischen Gasaustausches, somit durch Erstickung herbeiführt.
So kann in gleich letaler Weise die Aspiration von Luft dadurch sistirt
werden, dass der Respirationsmechanismus durch innere Vorgänge,
so durch acutes Lungenödem, Pneumothorax oder durch Störungen der
Innervation, ausser Thätigkeit gesetzt wird. In letzterer Weise äussert
sich die Wirkung vieler Gifte, die entweder, wie z. B. das Curare,
die Respirationsmuskeln lähmen, oder, wie das Strychnin, dieselben
tetanisiren, oder die, wie fast alle sogenannten cerebrospinalen Gifte,
das automatische Athmungscentrum mit oder ohne vorausgegangene Reizung
in Lähmung versetzen.
Auch der Tod durch vasomotorischen Krampf (Epilepsie) und durch directe
Reizung oder traumatische Lähmung der Medulla oblongata gehört hierher.
Ausserdem gibt es eine Reihe von Processen, welche durch Sistirung der
sogenannten „inneren Athmung“ den Tod durch Erstickung bewirken. Diese
wird, wie bekannt, durch das circulirende Blut vermittelt, welches den
Sauerstoff in den Lungen aufnimmt und den einzelnen Organen zuträgt,
und es ergibt sich daraus, dass ebenfalls Erstickung erfolgen wird,
wenn entweder die Blutcirculation sistirt, oder wenn die Quantität des
die Lungen passirenden Blutes sich in einem solchen Grade verringert,
dass die durch dieses aufgenommene Sauerstoffmenge nicht mehr genügt,
um den Sauerstoffbedarf des Körpers zu decken, oder endlich, wenn das
Blut die Fähigkeit verliert, Sauerstoff in den Lungen aufzunehmen und
an die einzelnen Organe abzugeben. In ersterwähnter Weise erfolgt der
Tod durch Erstickung bei Herzlähmung, möge nun diese durch Giftwirkung
oder durch Shock oder fettige Degeneration der Herzmusculatur (eine
sehr häufige Ursache des plötzlichen Todes) oder durch andere
Herzkrankheiten bewirkt worden sein, ferner nach Embolie der
Pulmonalarterienstämme; in zweiter Art sehen wir den Tod eintreten bei
der Verblutung und für die dritte bietet uns die Kohlenoxydvergiftung
ein ausgezeichnetes Beispiel, welche dadurch tödtet, dass das
Kohlenoxyd sich mit dem Hämoglobin des Blutes verbindet und diesem so
die Fähigkeit entzieht, den respiratorischen Gasaustausch zu vermitteln.
Es folgt daraus, dass wir unter Erstickung nur den Tod durch Aufhebung
der Respiration überhaupt bezeichnen können und dass, wenn man, wie
gewöhnlich, die Erstickung als den durch Behinderung der Aspiration der
atmosphärischen Luft bewirkten Tod definirt, diese Definition nicht
richtig ist, weil sie nicht für die Erstickung im Allgemeinen, sondern
nur für gewisse, allerdings wohl charakterisirte Erstickungs+formen+
zutrifft. Eine solche allzu enge Auffassung des Begriffes der
Erstickung muss umsomehr aufgelassen werden, als in dem Festhalten
an ihr der Hauptgrund liegt, weshalb bis in die neueste Zeit den
einzelnen, die Diagnose der Erstickung zusammensetzenden Symptomen
nicht immer die richtige Deutung zu Theil geworden ist.
[Sidenote: Mechanische und anderweitige Erstickungsformen.]
Trotzdem wollen wir hier vorzugsweise nur die sogenannten mechanischen
Erstickungsformen im Auge behalten, weil wir die anderweitig,
insbesondere die durch Gift veranlassten, an einer anderen Stelle
behandeln werden und weil die mechanischen Erstickungsformen nicht blos
durch die Vorgänge, die sie bewirken, und die Spuren, die letztere
zurücklassen, viel Specifisches bieten, sondern auch als Typus des
Erstickungstodes überhaupt gelten können, da bei ihnen ausschliesslich
die Entziehung der atmosphärischen Luft den Tod bewirkt, während bei
den übrigen Erstickungsformen noch andere Momente im Spiele sind, oder
mit anderen Worten, weil in den ersteren Fällen der Tod primär, in den
letzteren secundär durch Erstickung veranlasst wird.
Die Erscheinungen, welche die Erstickung +während des Lebens+ erzeugt,
sind zwar vorzugsweise nur an Thieren studirt, trotzdem nicht minder
werthvoll für die Beurtheilung des Ganges der Dinge bei der Erstickung
des Menschen. Wir wollen die wichtigsten derselben kurz besprechen.
[Sidenote: Dyspnoe. Symptome der Erstickung während des Lebens.]
Wird bei unbehindertem Respirationsmechanismus der Zutritt der
atmosphärischen Luft zu den Lungen abgesperrt, so stellt sich nach
wenigen Augenblicken Athemnoth ein, welche sich durch angestrengte,
rasch auf einander folgende stürmische Athembewegungen äussert und
als +Dyspnoe+ bezeichnet wird. Ihr Ursache liegt in dem Reiz, welchen
Erstickungsblut, respective nach +Pflüger+ gewisse, sonst durch den
Respirationsact oxydirte Stoffe auf das in der Medulla oblongata
gelegene automatische Athmungscentrum ausüben.
Die dyspnoischen Athembewegungen zeigen in der ersten Minute nach
erfolgter Suspension der Athmung vorwiegend inspiratorischen
Charakter, während im Anfang der zweiten Minute, zusammenfallend
mit dem Auftreten der Bewusstlosigkeit und der Convulsionen, der
exspiratorische prävalirt, welches Stadium gewöhnlich in der Mitte
der zweiten Minute mit einem secundenlangen Exspirationskrampf
und darauffolgender tiefer Inspiration endigt. Hierauf kann man
in den meisten Fällen einen mitunter minutenlangen Stillstand der
Respiration beobachten, wonach die Respirationsbewegungen als
sogenannte terminale Athembewegungen wiederkehren, welche aus tiefen,
aber kurzen, wie schnappenden, meist mit weitem Oeffnen des Mundes
einhergehenden Inspirationen bestehen, die in immer länger werdenden,
bei jungen Thieren selbst 1-3 Minuten dauernden Zwischenpausen
auftreten, in abnehmender Intensität 5-10mal und selbst noch öfters
erfolgen, um dann dauernd zu sistiren.
[Sidenote: Symptome der Erstickung.]
Die Reihenfolge dieser Erscheinungen ist eine sehr constante, ihre
Dauer aber zeigt manche Abweichungen. Am constantesten ist das
eigentliche dyspnoische Stadium, während die Dauer und Intensität
der sogenannten terminalen Athembewegungen variirt, ebenso auch die
Dauer des Intervalls, welches zwischen der eigentlichen Dyspnoe
und dem Auftreten der letzterwähnten nachträglichen Inspirationen
liegt. Es scheint hierbei weniger die Erstickungsform, als
vielmehr die Individualität von Einfluss zu sein, insbesondere die
grössere oder geringere Schnelligkeit, mit welcher das betreffende
automatische Respirationscentrum seine Erregbarkeit einbüsst.
Letzteres Moment scheint besonders vom Alter und Ernährungszustande
abzuhängen, da wir im Allgemeinen an jüngeren und kräftigeren
Thieren viel deutlicher die erwähnten Stadien unterscheiden
können und durchschnittlich länger dauern sehen als bei alten
und herabgekommenen, ebenso wie Versuche lehren, dass bei durch
frühere Insulte oder Erstickungsversuche ermatteten Thieren die
Respirationsbewegungen viel früher aufhören als unter sonst normalen
Verhältnissen. Aus gleichem Grunde ist der Verlauf der Erscheinungen
am Respirationsapparat bei allmälig erfolgender Erstickung ein
anderer als bei acuter und wir sehen z. B. bei einem Thiere, das
wir unter hermetisch abgeschlossener Glasglocke in seiner eigenen
Exspirationsluft ersticken lassen, die Respirationsbewegungen
allmälig anstrengender und schneller, dann ebenso allmälig seltener
und flacher werden und schliesslich ganz sistiren, ohne dass sich
ein Stadium „terminaler“ Athembewegungen oder eine zwischen diesem
und der eigentlichen Dyspnoe auftretende Pause bemerken liesse.
Auch bei Erstickung Narcotisirter (Berauschter) dürfte sich das
gewöhnliche Erstickungsbild anders gestalten, wenigstens fand
+Leontjew+ („Ueber den Einfluss gewisser Substanzen auf den
Verlauf des Erstickungstodes.“ Virchow’s Jahrb. 1888, I, 423), dass
die Anwesenheit von Alkohol im thierischen Organismus die Erstickung
durch Verlängerung der Athmung verzögere, was er nicht allein der
Fähigkeit des Alkohols, die Desoxydation des Blutes aufzuhalten und
die Kohlensäurebildung zu vermindern, zuschreibt, sondern auch dem
Einfluss auf das Nervensystem gleich dem des Morphin.
[Sidenote: Convulsionen.]
Die +Bewusstlosigkeit+ tritt nach plötzlicher Unterbrechung der
Respiration sehr bald, meist schon vor Beendigung der ersten Minute,
auf und ihr Eintreten fällt zusammen mit dem der allgemeinen
Convulsionen und des Exspirationskrampfes, welche in der ersten Hälfte
der zweiten Minute ihre Höhe zu erreichen pflegen.
Auch in dieser Beziehung werden sich unzweifelhaft individuelle
Unterschiede geltend machen. Bekanntlich ist nicht Jedermann im
Stande, gleich lange den Athem einzuhalten, die Meisten kaum länger
als 30-40 Secunden, und es ist bekannt, dass selbst geübte Taucher
niemals länger als 50 Secunden unter Wasser auszuhalten vermögen.
Unter den aufregenden Einflüssen einer wirklichen Erstickung wird
diese Frist noch kürzer ausfallen und die Bewusstlosigkeit, die
dann eintritt, wird durch den Ausfall der Oxydationsvorgänge im
Grosshirn veranlasst, welches bekanntlich auf solche Störungen
ungemein rasch und empfindlich reagirt. Die von +Rosenthal+ und
+Czermak+ hervorgehobene Thatsache, dass man ungleich länger den
Athem einzuhalten vermag, wenn man durch vorhergegangene, rasch sich
folgende und tiefe Inspirationen einen Ueberschuss von Sauerstoff
dem Blute zugeführt hatte, als wenn dies nicht geschehen war, ist
in forensischen Fällen vielleicht belanglos, mag aber immerhin als
Beweis dienen, dass die Erstickungsnoth und die alsbald folgende
Bewusstlosigkeit nicht immer gleich schnell eintreten muss.
Die +Convulsionen+ sind sehr constante Begleiter des Erstickungstodes.
Ihr Charakter ist ein vorwiegend clonischer, doch treten nicht selten
in der Acme der Erstickung Anfälle von Opisthotonus auf, mit welchen
das convulsive Stadium meist abschliesst. Die Intensität und Dauer
der Convulsionen ist ebenfalls nicht immer gleich, wird vielmehr
entschieden von individuellen Verhältnissen beeinflusst, namentlich
wieder vom Alter und vom Kräftezustand. Bei sehr erschöpften Thieren
können sie ganz ausfallen; ebenso haben wir den Tod ohne Convulsionen
auftreten sehen, wenn wir Thiere früher narcotisirten oder in ihrer
eigenen Exspirationsluft ersticken liessen. Somit lässt sich erwarten,
dass auch bei der Erstickung von Berauschten oder anderweitig
Betäubten oder bei allmälig, z. B. in irrespirablen Gasen, sich
vollziehender Erstickung die Convulsionen ausbleiben oder nur schwach
ausfallen können.[331]
[Sidenote: Asphyxie.]
Auf die Störungen, welche der Kreislauf während des Erstickens
erleidet, insbesondere auf die Erhöhung des Blutdruckes und die
Stauung im venösen Kreislauf, werden wir bei Besprechung der an
der Leiche sich ergebenden Symptome zurückkommen; hier wollen wir
zunächst nur erwähnen, dass in Folge der Reizung und nachträglichen
Lähmung des Vaguskernes durch das Erstickungsblut die Herzbewegungen
während der Höhe der Erstickung verlangsamt sind, hierauf etwas
frequenter werden, um dann allmälig an Zahl und Intensität abzunehmen
bis zum vollständigen Erlöschen. Letzteres erfolgt jedoch keineswegs
gleichzeitig mit der Sistirung der Athembewegungen, sondern in der
Regel erst einige, und zwar mitunter ziemlich lange Zeit nach dieser.
Bei Thieren ist es nichts Seltenes, das Herz noch ¼-½ Stunde nach
der Erstickung schlagen zu sehen, und auch für den Menschen existiren
solche Beobachtungen, die sich namentlich auf asphyktisch geborene
Kinder beziehen, von denen einzelne, wie wir beim Kindesmorde
erwähnen werden, mitunter überraschend lange Zeit den Herzschlag
darbieten, ein Vorkommniss, auf welches wahrscheinlich die meisten
Fälle von sogenanntem „Leben ohne Athmen“ zu beziehen sind. Bei
einer Justification durch den Strang, über welche wir in der Wiener
med. Wochenschr., 1876, Nr. 52, berichteten, schlug das Herz noch 3
Minuten nach der Suspension deutlich und seine Pulsationen konnten
noch durch weitere 5 Minuten durch Auscultation, freilich immer
schwächer werdend, nachgewiesen werden.[332]
Der Leichenbefund bei Erstickten.
Wir haben hier zunächst nur jene Befunde im Auge, welche durch die
Erstickung im Allgemeinen veranlasst, nicht aber jene, die nur durch
bestimmte Erstickungsformen erzeugt werden, da letztere eine besondere
Behandlung finden sollen.
Wir können äussere und innere Befunde unterscheiden.
A. +Aeussere Befunde.+ Von untergeordnetem Werthe ist die bereits von
+Casper+-+Liman+ hervorgehobene Thatsache, dass die Leichen Erstickter
+langsamer erkalten+ als andere, eine Thatsache, die sich ungezwungen
aus dem Umstande, dass es sich meist um ganz gesunde und gut genährte
Individuen handelt, in deren Körper die ganze Blutmenge zurückbleibt,
erklärt.
Nicht unwichtig ist das frühzeitige Auftreten und die intensive
Ausbildung der +Todtenflecke+. Da bei fast allen Erstickungsformen
(ausgenommen die mit Verblutung sich combinirenden) die ganze
Blutmenge im Körper zurückbleibt und das Blut überdies in der Regel
seine flüssige Beschaffenheit behält, so sind zur Bildung der
Senkungserscheinungen überhaupt, insbesondere aber jener in der Haut,
die wir als äussere Leichenhypostasen (Todtenflecke) bezeichnen,
die günstigsten Bedingungen gegeben. Da aber die volle Blutmenge
und die flüssige Beschaffenheit des Blutes auch bei anderen, nicht
durch Erstickung veranlassten Todesarten sich finden kann, so hat
der Befund frühzeitig und intensiv entwickelter Hypostasen nur einen
unterstützenden Werth, wobei überdies nicht vergessen werden darf, dass
eine Erstickung auch eine anämische oder herabgekommene Person treffen
kann.
Durch dieselbe Ursache, wie das frühzeitige und intensive Erscheinen
der Todtenflecke, ist der frühzeitige Eintritt und rasche Verlauf
der +Fäulniss+ bedingt. Auch diese Erscheinung hat nur einen
unterstützenden Werth und verlangt Berücksichtigung aller anderen,
äusseren sowohl als inneren Umstände, die die Fäulniss zu befördern
vermögen.
[Sidenote: Cyanose des Gesichtes.]
Seit jeher wurden die +Cyanose des Gesichtes+, die vorgetriebenen
Augen und die injicirten Conjunctiven als Symptome des Erstickungstodes
angeführt. Wer aber Gelegenheit hat, eine grössere Zahl von durch
Erstickung Gestorbenen zu sehen, wird sich überzeugen, dass gerade bei
den gewaltsam Erstickten solche Befunde nur ausnahmsweise vorkommen
und das Gesicht in der Regel die gleiche Beschaffenheit zeigt, wie
bei den meisten anderen Leichen. Der Grund dieser Erscheinung liegt
einerseits darin, dass die während des Erstickens bestandene Cyanose
schon während der Agone in Folge der Erlahmung der die Circulation
unterhaltenden Kräfte, noch mehr aber nach dem Tode durch Senkung des
Blutes in die abwärtigen Partien zum grossen Theile oder vollständig
verschwindet, andererseits in dem Umstande, dass die während der
Erstickung eintretende Cyanose keineswegs immer einen gleich hohen Grad
erreicht. Bei Erstickungsversuchen kann man sehen, dass die Cyanose des
Gesichtes, die starke Injection der Conjunctiven und der Exophthalmus
mit dem convulsiven Stadium der Erstickung zusammenfallen, und es ist
offenbar besonders der exspiratorische Krampf des Thorax, welcher,
indem er den Rückfluss des Blutes zum rechten Herzen hindert, diese
Erscheinungen erzeugt. Da nun aber, wie bereits erwähnt, gerade das
convulsive Stadium des Erstickungstodes nicht immer gleiche Dauer und
gleiche Intensität zeigt, so ergibt sich daraus, dass auch der Grad
der Cyanose sich verschieden gestalten kann. Beim Erhängen verhindert
die Compression der Halsgefässe das Zustandekommen einer Cyanose des
Gesichtes desto mehr, je vollständiger sie sich gestaltet. Bei zwei
durch den Strang Justificirten, bei welchen wir die sich einstellenden
Erscheinungen aus unmittelbarer Nähe verfolgten, war die Cyanose
des Gesichtes jedesmal nur eine unbedeutende und beschränkte sich
eigentlich blos darauf, dass das Gesicht eine bleigraue, die Lippen
eine blaue Farbe annahmen, eine Erscheinung, die um so mehr auch nur
auf das Hypervenöswerden des Blutes bezogen werden kann, als ein
Aufgedunsenwerden des Gesichtes nicht zu bemerken war.
[Sidenote: Aeussere Ecchymosen bei Erstickten.]
Aus gleicher Quelle wie die Cyanose selbst stammen die +Ecchymosen
der Bindehäute+, die sich nicht selten an der Leiche von Erstickten
finden und denen eine ungleich höhere Bedeutung zukommt als der
Cyanose, da sie, wenn einmal gebildet, sich erhalten und durch
Hypostase nicht verschwinden können. Man kann bei Versuchen an Thieren
leicht constatiren, dass diese Ecchymosen ebenfalls während des
convulsiven Stadiums des Erstickens entstehen in Folge des gesteigerten
Blutdruckes, der schliesslich Rupturen der Capillaren und dadurch
jene capillaren Hämorrhagien veranlasst, die wir eben als Ecchymosen
bezeichnen. Ihr Befund ist von grosser Wichtigkeit, da er beweist, dass
zur Zeit des Todes eine bedeutende Blutstauung in den Gefässbezirken
des Kopfes bestand, und dies noch zu einer Zeit, nachdem alle anderen
Erscheinungen der Blutstauung gewöhnlich bereits verschwunden sind.
Der Werth eines solchen Befundes ist um so grösser, wenn er sich auf
blassen Bindehäuten findet, da in diesem Falle der in manchen Fällen
berechtigte Einwand entfällt, dass die Ecchymosen erst postmortal als
Theilerscheinung einer durch die abhängige Lage des Kopfes bedingten
Leichenhypostase entstanden seien. Auch an der Schleimhaut der Lippen
findet man mitunter Ecchymosen. In der Nasenschleimhaut scheinen sie
häufig vorzukommen.
Ausser an den sichtbaren Schleimhäuten, insbesondere in den
Conjunctiven, können sich kleine Ecchymosen in der Gesichtshaut
selbst finden, namentlich an den Augenlidern. Sie erscheinen da meist
nur als flohstichförmige, häufig dichtgestellte subepidermoidale
Blutaustretungen und entsprechen offenbar Rupturen, welche die in den
Papillarspitzen der Haut verlaufenden Capillarschlingen erlitten haben.
Ausnahmsweise ist auch Hals und oberer Theil des Brustkorbes mehr
weniger mit ihnen besetzt.
Auch an anderen Hautstellen scheinen Ecchymosen häufiger vorzukommen,
als man gewöhnlich meint, doch fallen sie hier wegen grösserer Dicke
der Haut, insbesondere der Epidermis, weniger in’s Auge. Wir haben
schon in den früheren Auflagen dieses Buches auf Hautecchymosen
aufmerksam gemacht, die sich bei Erstickten an abhängigen
Körperstellen finden. Wir haben dieselben bis dahin als eine blosse
Leichenerscheinung aufgefasst, welche durch Senkung des Blutes
in die abhängigen Partien und durch Ruptur der durch beginnende
Fäulniss bereits morsch gewordenen Hautcapillaren in Folge des
Druckes der über ihnen lastenden Blutsäule entstehen. Seitdem haben
wir uns jedoch durch systematische Verfolgung der Erscheinung und
mikroskopische Untersuchung der betreffenden Hautstellen überzeugt,
dass es sich um wirklich vital entstandene Ecchymosen handelt, die
jedoch, ursprünglich klein und unscheinbar, erst post mortem durch
Nachsickerung des Blutes und später durch Imbibition der Nachbarschaft
sich vergrössern und dann als stecknadelkopf- bis linsengrosse, im
Bereiche der Todtenflecke liegende, doch von diesen sich durch ihre
bedeutend dunklere Farbe abhebende violette Stellen sich präsentiren.
An Stellen, wo die Haut und das Unterhautgewebe ein lockeres Gefüge
besitzt, wie im Gesichte, am Vorderhals und an der Vorderfläche des
Brustkorbes, können bei abhängiger und länger andauernder Lage dieser
Körperpartien die in vivo entstandenen Ecchymosen durch postmortale
Nachsickerung des Blutes eine viel bedeutendere Grösse erreichen. Diese
forensisch sehr beachtenswerthe Erscheinung haben wir wiederholt bei
Leichen plötzlich eines suffocatorischen Todes Verstorbener constatirt,
namentlich aber in ganz exquisiter Weise bei solchen, die in Bauchlage,
mit aus dem Bette heraushängendem Oberkörper gefunden worden waren.
[Sidenote: Verhalten der Pupillen und Spermaaustritt bei Erstickten.]
Das Verhalten der +Pupillen+ an der Leiche von Erstickten zeigt
keine Constanz. Am häufigsten finden sie sich mässig erweitert
und beiderseits gleich. Nicht selten finden sich aber auch stark
erweiterte oder mehr als gewöhnlich verengte Pupillen. Ungleichheit
der Pupillen haben wir ebenfalls, obwohl nur in vereinzelten Fällen,
beobachtet. Während des Erstickens von Thieren bemerkt man anfangs
eine rasch vorübergehende Verengerung, dann während der Dyspnoe
eine meist auffallende Erweiterung, die sich während der Asphyxie
wieder ausgleicht, so dass an der Leiche die Pupillen das gewöhnliche
Verhalten zeigen.
Der +Austritt von Sperma+ aus der männlichen Harnröhre ist eine
bei Erstickten häufige, aber auch bei den mannigfachsten anderen,
sowohl gewaltsamen als natürlichen Todesarten keineswegs seltene
Erscheinung. Sie beruht nicht auf einer förmlichen Ejaculation,
die etwa während des Sterbens stattfand, sondern auf mechanischem
Austritt des Sperma aus den Samenblasen nach Erschlaffung der
betreffenden Sphincteren, weshalb sich auch Spermatozoiden häufiger
im hinteren Theile der Harnröhre und selbst in der Harnblase
nachweisen lassen, als an der Harnröhrenmündung. Bemerkenswerth
ist die Thatsache, dass die Spermatozoiden, sowohl des in den
Samenblasen befindlichen, als des in die Harnröhre ausgetretenen
Spermas noch durch 36-70 Stunden nach dem Tode ihre Beweglichkeit
erhalten können.[333] Sehr gewöhnlich ist bei Erstickten, ebenso wie
bei vielen anderen acuten Todesarten die Entleerung der Excremente
in der Agone, die auf einem Krampf der Blase, beziehungsweise der
Darmmusculatur, zu beruhen scheint, da sie, wie Versuche an Thieren
lehren, mit dem convulsiven Stadium zusammenfällt.
B. +Die inneren Befunde.+ Drei von diesen sind es, denen seit
jeher eine hohe Bedeutung für die Diagnose des Erstickungstodes
zugeschrieben wird: 1. Die dunkelflüssige Beschaffenheit des Blutes; 2.
die Stauungshyperämien in den inneren Organen, besonders in den Lungen,
und 3. die Ecchymosen, insbesondere die der Brustorgane.
[Sidenote: Beschaffenheit des Blutes Erstickter.]
Ad 1. +Die dunkelflüssige Beschaffenheit des Blutes+ ist in den Leichen
Erstickter ein sehr constanter und diagnostisch werthvoller Befund,
bedarf jedoch einer anderen Auffassung, als ihm bis jetzt zu Theil
geworden ist. Was zunächst die +dunkle Farbe+ des Erstickungsblutes
anbelangt, so muss festgehalten werden, dass diese Farbe keineswegs
ausschliesslich dem Erstickungstode zukommt, sondern dass dieselbe als
die +normale Farbe des Leichenblutes überhaupt+ aufgefasst werden muss.
Bekanntlich hängt die Farbe des Blutes, wenn wir von pathologischen
Färbungen, wie z. B. bei der Kohlenoxydvergiftung, absehen, von dem
Sauerstoffgehalt desselben ab, und es erscheint desto dunkler, je
weniger Sauerstoff dasselbe enthält oder mit anderen Worten, die dunkle
Farbe ist die des reducirten, die hellrothe jene des sauerstoffhältigen
Hämoglobins. Da aber bei jeder Todesart schon während der Agone die
Aufnahme von Sauerstoff durch die Athmung immer schwächer wird und
schliesslich ganz aufhört, während die Gewebe nicht blos während der
Agone, sondern, wie durch Versuche nachgewiesen ist, auch noch nach
dem Tode den Sauerstoff dem Blute entziehen und der etwa noch übrig
bleibende durch die im Blute zuerst auftretenden Zersetzungsprocesse
aufgezehrt wird, so muss jedes Leichenblut nur reducirtes Hämoglobin
enthalten und daher die gleich dunkle (hypervenöse) Farbe zeigen wie
Erstickungsblut, eine Thatsache, deren Beweis nicht blos makroskopisch,
sondern auch dadurch geführt werden kann, dass man das Blut unter
solchen Vorsichtsmassregeln der Leiche entnimmt, dass von aussen
kein Sauerstoff in dasselbe zu gelangen vermag, in welchem Falle man
sich dann durch sofortige spectrale Untersuchung überzeugt, dass
jedes Leichenblut, wenn es nicht anderweitige chemische Veränderungen
erlitten hat, nur reducirtes Hämoglobin enthält.[334]
[Sidenote: Flüssigkeit des Blutes.]
Die +flüssige+ Beschaffenheit des Blutes ist bei den acuten
Erstickungsformen ein sehr constanter Befund. Auch dieser Befund ist
für den Erstickungstod nicht absolut charakteristisch, kommt vielmehr
fast allen plötzlichen Todesarten zu, möge die primäre Todesursache
Sistirung der Respiration oder eine andere gewesen sein. Dieses
Flüssigbleiben des Blutes bei plötzlichen Todesarten bezieht sich blos
auf das in den Gefässen verbleibende Blut, während jenes, welches mit
der Luft in Contact kommt oder in Körperhöhlen oder zwischen Gewebe
(als Sugillation) sich ergiesst, gerinnt.
Ueber die eigentliche Ursache des Flüssigbleibens des Blutes in der
Leiche nach plötzlichen Todesarten, insbesondere nach Erstickung,
wissen wir vorläufig nichts Positives. Da das aus den Gefässen,
sowohl während des Lebens, als auch nach dem Tode gelassene Blut
gerinnt (allerdings das erstere rascher und intensiver) und ebenso
eine Gerinnung erfolgt, wenn das Blut innerhalb des Körpers in die
Körperhöhlen[335] oder in das Zwischengewebe sich ergiesst, so liegt
die Annahme nahe, dass erst durch das Hinzutreten eines äusseren
Momentes die Gerinnung veranlasst wird, während unter sonst normalen
Verhältnissen, wie auch neuere Versuche von +Baumgarten+ (Med.
Centralbl. 1877, pag. 131) lehren, das Blut dadurch, dass es in
den Gefässen eingeschlossen ist, vor der Einwirkung jenes Momentes
geschützt und daher flüssig bleibt. In der That hat +Alexander
Schmidt+ durch seine bekannten Untersuchungen über die Blutgerinnung
nachgewiesen, dass zwar im Blute zwei Eiweisskörper vorhanden sind,
welche das Material darstellen, aus dem sich der Faserstoff bildet,
die fibrinogene und die fibrinoplastische Substanz, dass jedoch zum
Zustandekommen der Gerinnung noch ein dritter Körper nothwendig
sei, der die beiden Fibringeneratoren zum Zusammentritt zu Fibrin
veranlasst, und er meint, dass dieses Ferment, welches erst nach
Entfernung aus dem Körper sich im Blute bildet, beim Zerfall der
Blutkörperchen, insbesondere der weissen, entsteht. Da dieser Zerfall
auch in der Leiche, und zwar sehr bald, eintritt, so spricht eben das
Flüssigbleiben des Blutes nach plötzlichem Tode dafür, dass nicht
dieser Zerfall der Blutkörperchen allein, sondern noch ein anderes
Etwas das „Ferment“ sein müsse.
+Brücke+ (Vorlesungen. I, 82) legt das Hauptgewicht auf die auch
noch einige Zeit nach dem Tode wirksamen Lebenseigenschaften der
Gefässwände, die das Blut am Gerinnen verhindern. Diese Ansicht
kann nur für die erste Zeit nach dem Tode gelten, nicht aber noch
nach Tagen, wo von vitalen Eigenschaften der Gefässwände nicht
mehr die Rede sein kann. Aeltere Anschauungen, darunter auch die
frühere von A. +Schmidt+, gingen dahin, dass die im Erstickungsblute
angehäufte Kohlensäure einen der Fibringeneratoren, nämlich die
fibrinoplastische Substanz oder das Paraglobulin, ausfälle und
dadurch das Gerinnen verhindere. Diese Anschauung wird zunächst
dadurch hinfällig, dass zufolge der Gasanalysen, die +Pflüger+
(Arch., „Ueber Dyspnoe“, 1869) sowohl während des Erstickens, als
auch nach demselben anstellte, der Kohlensäuregehalt des Blutes
keineswegs so auffallend sich vermehrt, wie man gewöhnlich annimmt,
sondern dass die CO₂-Menge zwar in der Regel etwas vermehrt, häufig
jedoch nicht grösser als im gewöhnlichen Venenblut, ja sogar in
einzelnen Fällen kleiner als in diesem gefunden wird. Weiter wird
dieselbe aber widerlegt durch Versuche, die wir, um über diese
Frage in’s Klare zu kommen, in der Weise anstellten, dass wir
Thiere unter einer Glasglocke in ihrer eigenen Respirationsluft
ersticken liessen, wo dann, trotzdem das Thier schliesslich eine mit
Kohlensäure hochgradig gesättigte Luft athmete, dennoch das Blut im
Herzen und den grossen Gefässen nicht flüssig, sondern coagulirt
gefunden wurde. Dieser letztere, mehrere Stunden beanspruchende
Versuch, sowie eine Reihe anderer, die wir an diesen anschlossen,
ferner die Beobachtungen an einer grossen Zahl von Leichen Erstickter
oder an anderen, meist gewaltsamen Todesarten Verstorbener brachte
uns die Ueberzeugung bei, dass die bereits von älteren Beobachtern
ausgesprochene, aber in Vergessenheit gerathene Ansicht, dass +der
Grad, in welchem das Blut in der Leiche geronnen sich findet, mit der
Länge des Todeskampfes in geradem Verhältnisse stehe+, die richtige
sein dürfte. Daraus erklärt sich die Thatsache, dass, während in
einzelnen Fällen von Erstickung das Blut vollkommen flüssig bleibt,
in anderen, und zwar die gleiche Erstickungsform betreffenden Fällen
sich mitunter gar nicht unbedeutende Blutgerinnsel im Herzen und auch
in den grossen Gefässen finden können.
Der Grund dieser Erscheinung bedarf noch weiterer Studien, vorläufig
erklären wir uns die Sache so, dass das Blut durch einen länger
dauernden Erstickungsprocess oder überhaupt durch eine länger
dauernde Agone sehr bald gewisse Veränderungen erleidet, die offenbar
als Vorstadien jenes pathologischen Verhaltens des Blutes anzusehen
sind, welche wir in vielen, namentlich in entzündlichen Krankheiten
beobachten, bei welchen dann in der Leiche, sowohl im Herzen als in
den grossen Gefässen, meist massenhafte Fibrinausscheidungen gefunden
werden. Vielleicht hängt die Erscheinung mit der von +Litten+ („Zur
Pathologie des Blutes.“ Berliner klin. Wochenschr. 1883, Nr. 27)
constatirten agonalen Leukocytose zusammen, die seinen Beobachtungen
nach ein constantes, gewissermassen physiologisches präagonales und
agonales Phänomen sein soll, von dem insbesondere die Fälle sehr
kurzer Agonie eine Ausnahme bilden. Es kann auch vorkommen, dass
während des Bestehens einer entzündlichen Erkrankung entweder durch
diese (z. B. Bronchitis) oder auf gewaltsame Weise Erstickung erfolgt
(z. B. Selbstmord im Fieberdelirium), und es ist begreiflich, dass
sich in solchen Fällen der bestehenden Hyperinose wegen auch bei
ganz acuter Erstickung mehr weniger mächtige Fibringerinnsel finden
können.[336]
[Sidenote: Erstickungsblut.]
Die flüssige Beschaffenheit des Erstickungsblutes befördert, wie
schon erwähnt, die Bildung der Hypostasen, sowie den Eintritt und
Verlauf der Fäulniss. Beides gilt nicht blos bezüglich der äusseren,
durch die erwähnten Vorgänge bewirkten Veränderungen, sondern auch
von den inneren Hypostasen und den an diese sich anschliessenden
Processen, wie Imbibitionen, Transsudationen und den bereits der
Fäulniss angehörenden Vorgängen, eine Thatsache, welche sowohl bei
der Beurtheilung von Leichen Erstickter als der meisten plötzlichen
Todesfälle alle Beachtung verdient.
[Sidenote: Venöse Hyperämien bei Erstickten.]
Ad 2. Was die +venösen Hyperämien+ in den verschiedenen Organen,
insbesondere aber in den Lungen, betrifft, so ergeben sich diese
allerdings sehr häufig, doch wussten schon ältere Beobachter, dass sie
nicht constant zur Entwicklung kommen, und man half sich gegenüber
dieser Thatsache dadurch, dass man, wenn Lungen und Hirn gleichzeitig
hyperämisch gefunden wurden, von Stickschlagfluss, wenn blos die
Lungen oder blos das Gehirn eine Blutüberfüllung zeigten, von Stick-,
beziehungsweise von Schlagfluss sprach, wenn jedoch nirgends eine
ausgesprochene Hyperämie vorhanden war, das Individuum am Nervenschlag
gestorben sein liess.
Am constantesten findet sich venöse Hyperämie der Lungen, auf deren
Zustandekommen die Dyspnoe und die dabei stattfindenden heftigen
Inspirationsbewegungen des Thorax den Haupteinfluss zu nehmen scheinen.
+Donders+ hat vorzugsweise diese Ansicht aufgestellt, indem er
darauf hinwies, dass während des Erstickungstodes durch Verschluss
der Respirationswege die Circulation des Blutes in den Lungen durch
Luftdruck, unter welchen normal die Lungengefässe stehen, vermindert
werde, wodurch es nothwendig zur Verminderung der Widerstände in
denselben und folgerichtig zum stärkeren Blutzufluss gegen die Lunge
kommen muss. Dieselbe Ursache aber, welche so bedeutend den Zufluss
des Blutes erleichtert, erschwert auch den Abfluss desselben, da das
Blut in den erschlafften Gefässen an Bewegungsgrösse verliert und
nicht mit der nöthigen Schnelligkeit dem linken Herzen zuzuströmen
vermag. Es muss unter solchen Umständen zur Ausbildung einer Hyperämie
in den Lungen kommen, und zwar unter sonst gleichen Verhältnissen in
desto höherem Grade, je länger die Dyspnoe dauert und je intensiver
sich die fruchtlosen Excursionen des Thorax gestalten. Die Dauer und
Intensität der Dyspnoe ist aber, wie wir oben bemerkt haben, keineswegs
immer gleich, und es mag schon dieser Umstand die Differenzen in
der Intensität der Lungenhyperämie, selbst bei einer und derselben
Erstickungsform, erklären.
Ausserdem wird aber auch dem Umstande, ob der Verschluss der
Respirationswege unmittelbar nach einer Inspiration oder Exspiration
erfolgte, ein Einfluss zugeschrieben werden müssen; denn es ist
klar, dass, wenn die +Donders+’sche Ansicht richtig ist, im letzten
Falle eine bedeutendere Relaxation der Lungengefässe und daher eine
stärkere Hyperämie entstehen wird, als wenn der Verschluss unmittelbar
nach einer stattgefundenen Inspiration effectuirt wurde. Ferner
ist es einleuchtend, dass, wenn, wie z. B. beim Erdrücktwerden,
der Thorax an seinen Excursionen gehindert ist, die Bedingung ganz
entfällt, welche nach der +Donders+’schen Anschauung bei Erstickung
durch Verschluss der Respirationsöffnungen oder der Trachea die
Lungenhyperämie veranlasst, und ebenso, wenn die Erstickung in einem
irrespirablen (indifferenten) Gase erfolgt. Wurde aber der Verschluss
der Respirationswege durch ein flüssiges Medium bewirkt, so müsste,
wie schon +Krahmer+ hervorhob, der Blutgehalt der Lungen im verkehrten
Verhältnisse stehen zu dem Grade, in welchem das aspirirte Medium die
sich ausdehnenden Lungen zu füllen im Stande ist, d. h. die Hyperämie
wäre desto intensiver, je weniger beweglich das betreffende Medium
gewesen ist, daher z. B. nach Ersticken in dickem Schlamm, Abtrittskoth
etc. grösser, als nach Ertrinken im Wasser.
So plausibel die +Donders+’sche Theorie über die Entstehung der
Lungenhyperämien beim Erstickungstode zu sein scheint und sich
auch bei von +Patenko+ (Annal. d’hygiène publ. 1885, pag. 209)
angestellten Thierversuchen bestätigte, so stimmt sie doch nicht
vollkommen mit den am Sectionstisch sich ergebenden Beobachtungen,
welche lehren, dass selbst unter Umständen, wo die von +Donders+
hervorgehobenen Bedingungen zur Entstehung von Lungenhyperämien
scheinbar die günstigsten sind, wie z. B. beim Tode durch Erhängen,
keine besonders blutreichen, sondern im Gegentheil entschieden
anämische Lungen gefunden werden, wie wir uns ausser wiederholt
bei Sectionen erhängter Selbstmörder, so auch bei zwei durch
den Strang justificirten kräftigen, jungen, vollkommen gesunden
Männern, die wir 3-4 Stunden nach dem Tode zu obduciren Gelegenheit
hatten, überzeugten. Wahrscheinlich erklärt sich dies daraus, dass
der äussere Atmosphärendruck auf die Lungen nicht so vollständig
entfällt, wie +Donders+ annimmt, sondern vom Bauche aus ausgeglichen
wird, indem letzterer in dem Masse einsinkt, als die seitlichen
Brustwände sich erweitern und den äusseren Luftdruck überwinden.
[Sidenote: Oedem der Lungen.]
Ist die Hyperämie in den Lungen stark entwickelt, so erscheinen
dieselben nicht blos dunkler gefärbt, sondern auch succulenter.
Letztere Erscheinung wird häufig als +Oedem der Lungen+ aufgefasst,
jedoch mit Unrecht, da jede blutreiche Lunge auch stärker durchfeuchtet
erscheinen muss. Bei einer rasch verlaufenden Erstickung fehlt ein
eigentliches Oedem, zu dessen Entwicklung es auch an Zeit gebricht,
da sich ja die ganze Scene in wenigen Minuten abspielt. Wohl kommt
aber ein echtes, d. h. durch während des Lebens erfolgte Transsudation
von Serum durch die Gefässwandungen in das Zwischengewebe und auf die
innere Lungenoberfläche, entstandenes Oedem (zu unterscheiden von
Leichenödem) zur Entwicklung, wenn der Process nicht ganz acut verlief
und die Agone lange dauerte. In solchen Fällen kommt es auch zur
Bildung reichlichen Schaumes in den Bronchien, und wir finden denselben
nicht blos in der Trachea, sondern in manchen Fällen auch im Rachen
und vor dem Munde, ein Befund, der von einzelnen Beobachtern als bei
Leichen Erstickter häufig vorkommend angegeben wird, während er unserer
Erfahrung nach (vom Ertrinkungstode abgesehen) nur ausgesprochen
ist, wenn das Individuum nicht sofort, sondern erst nach längerer
Erstickungsnoth gestorben war.[337]
[Sidenote: Venöse Stauung im Herzen, Gehirn etc.]
Eine weitere Consequenz der beim Erstickungstode meist sich
einstellenden venösen Stase in den Lungen ist eine +Stauung+ des
Blutes im +rechten Herzen+ und den zu und von diesem führenden grossen
Gefässen. Bei der Beurtheilung dieses Befundes ist nicht zu übersehen,
dass es zur Norm gehört, dass schon während der Agone und theilweise
noch nach derselben[338] das Blut aus den Arterien in die Venen
sich entleert, und dass bei jenen Erstickungsformen, in denen das
Herz primär gelähmt wird, häufig gerade das linke Herz die grössere
Blutmenge zu enthalten pflegt.[339]
Ebenfalls als Theilerscheinung der Stauung des Blutes in den Lungen
ist die +Injection der Schleimhaut der Trachea+ aufzufassen, auf
welche +Casper+ aufmerksam machte, die aber in ihrer Intensität ebenso
verschieden sich gestaltet, wie die Lungenhyperämie selbst.
Was die venösen Hyperämien in entfernteren Organen, namentlich im
Gehirn und in den Unterleibsorganen, betrifft, so hat man diese
ebenfalls einfach als Theilerscheinung, respective Folge der Stase
in den Lungen und im rechten Herzen aufgefasst. Zweifellos sind aber
bezüglich des Blutgehaltes dieser Organe noch andere Einflüsse im
Spiele, die vorzugsweise auf einen vasomotorischen Krampf zu beziehen
sind, der während der Erstickung fast regelmässig aufzutreten und
namentlich durch lebhafte Verengerung der kleinen Arterien peripherer
Gefässbezirke sich kundzugeben pflegt.
[Sidenote: Blutstauung im Gehirn.]
Ueber den Blutgehalt des Gehirnes und seiner Häute während der
Erstickung existiren insbesondere zwei Reihen directer, bei
geschlossenem Schädel angestellter Beobachtungen, die von +Donders+
(Schmidt’s Jahrb. 1851, LXIX, 16) und die von +Ackermann+ (Virchow’s
Archiv. XV), welche Beide ihre Studien an Kaninchen anstellten,
denen sie eine kleine Glasscheibe in den trepanirten Schädel
eingeheilt hatten. Leider stimmen die Resultate dieser beiderseitigen
Beobachtungen nicht überein. Während +Donders+ schon 10 Secunden
nach der Behinderung der Respiration eine stärkere Röthung der
Pia beobachtete, die über 2 Minuten lang anhielt, sah +Ackermann+
nach Unterbrechung der Athmung manchmal, jedoch nicht immer, eine
kurz andauernde Cyanose, aber 10-20 Secunden vor dem Tode durchaus
constant ein auffallendes Erblassen der Pia eintreten, so dass er den
Satz aufstellte, dass bei der Erstickung jedesmal mit dem Eintritte
des Todes eine deutliche Anämie des Gehirns zusammenfalle.
Die praktische Erfahrung an den Leichen erstickter Menschen scheint
mehr die Beobachtung +Donders+’ zu bestätigen, denn Hyperämien des
Gehirns und seiner Häute sind ein ziemlich häufiger Befund, obwohl
keineswegs constant und durchaus nicht so häufig, wie gewöhnlich
angenommen wird, während ausgesprochene Anämien verhältnissmässig
selten zu beobachten sind. Trotzdem ist an der Richtigkeit der
Angabe +Ackermann+’s nicht zu zweifeln, da auch die Beobachtung mit
dem Augenspiegel lehrt, dass während der Dyspnoe in der That die
Retinalgefässe regelmässig an Füllung abnehmen, eine Erscheinung, die
ebenso wie die Verengerung der Piagefässe auf vasomotorischen Krampf
zurückgeführt wird.
[Sidenote: Darm und Milz bei Erstickten.]
Ein gleicher Vorgang lässt sich, und zwar viel leichter, an den
Organen des Unterleibes beobachten. Wenn man zunächst an curarisirten
Thieren den Bauch eröffnet und die künstliche Respiration aussetzt,
so sieht man die Gefässe der Darmwandungen durch einige Augenblicke
stärker sich füllen, auf der Höhe der Dyspnoe jedoch sichtlich
anämisch werden und bleiben, bis die gleichzeitig vermehrten
peristaltischen Bewegungen sich wieder beruhigen, worauf,
zusammenfallend mit dem Beginn der Asphyxie, die Gefässe sich
wieder etwas füllen, ohne dass jedoch die Injection einen solchen
Grad erreichen würde, dass man von Hyperämie sprechen könnte.
Wenn trotzdem die Gedärme cyanotisch erscheinen, so wird dieses
nicht durch stärkere Blutfüllung, sondern durch die hypervenöse
Beschaffenheit des Blutes bedingt. Ebenso wie die Gedärme, sieht
man, wie schon +Szabinsky+ (1865) hervorhob, auch die Milz auf der
Höhe der Erstickung ganz constant anämisch werden, sich ausserdem
verkleinern und an der Oberfläche sich runzeln, und man kann weiter
bemerken, wie, selbst nachdem die Contraction der Gefässe in
Erschlaffung übergegangen ist, die Milz doch blass bleibt und auch
jene glatte Oberfläche nicht mehr vollständig erhält, die sie früher
besessen hatte. Es ergibt sich daraus, dass schon bei Erstickung
durch Behinderung der Excursionsfähigkeit des Thorax eher ein
verminderter als ein vermehrter Blutgehalt der Eingeweide zu erwarten
ist. Noch mehr muss sich aber der Blutgehalt in diesen Organen
vermindern, wenn während des Erstickungsactes die Excursionsfähigkeit
des Thorax nicht behindert war; denn es ist natürlich, dass, wenn
unter diesen Umständen durch die dyspnoischen Athembewegungen
grössere Blutmengen in die Lungen geworfen werden, die ausserhalb des
Thorax gelegenen Organe, auch jene des Unterleibes, eine Verminderung
ihres Blutgehaltes erfahren müssen.
[Sidenote: Subpleurale und subpericardiale Ecchymosen.]
Ad 3. Als +subpleurale+, beziehungsweise als +subpericardiale
Ecchymosen+ bezeichnet man kleine Blutaustretungen unter der Pleura
und unter dem Pericardium, die, wenn sie gut entwickelt sind, den
betreffenden Organen ein geflecktes, wie mit Blut bespritztes Aussehen
verleihen. Ihre Grösse schwankt von jener eines Flohstiches bis zur
Hanfkorn- und selbst Linsengrösse. Sie entstehen durch Rupturen
der Capillaren in dem subserösen Bindegewebe der Pleura und des
Pericardiums und finden sich meistens unter den visceralen, seltener
unter den parietalen Blättern, besonders an den äusseren und hinteren
Partien der Lungen und in den zwischen den einzelnen Lungenlappen
gelegenen Spalten; am Herzen ist ihr Hauptsitz an der Herzkrone,
besonders an der Hinterfläche. Auch in der Adventitia der grossen
Gefässe innerhalb des Herzbeutels sind sie häufig und nicht selten
in dem Bindegewebe des Mediastinums, insbesondere in dem um die
Brustaorta, wo sie theils des lockeren Gewebes, theils der postmortalen
Nachsickerung des Blutes wegen eine beträchtliche, mitunter Suffusionen
vortäuschende Grösse erreichen können.[340] Die postmortale
Nachsickerung des Blutes ist auch der Grund, warum die Ecchymosen an
den hinteren Partien der Lunge und des Herzens in der Regel grösser
sind als an den vorderen.
Seit in Deutschland zuerst +Röderer+[341] (1753), später +Bernt+
(1828), +Weber+, +Elsässer+ und +Casper+, in Frankreich +Bayard+
(1841), +Caussé+ (1842) und +Tardieu+ (1853) auf diesen Befund in
den Leichen Erstickter aufmerksam gemacht hatten, wurde derselbe
in der Regel als Theilerscheinung der venösen Stauung in der Lunge
und im rechten Herzen aufgefasst, indem man annahm, dass, wenn die
Stauung einen gewissen Grad übersteigt, einzelne Capillargefässe
dem Drucke nicht zu widerstehen vermögen und bersten. Von Anderen
wurde wieder im Sinne der +Donders+’schen Theorie über das Entstehen
der Lungenhyperämie der aspiratorische Zug hervorgehoben, den der
Thorax bei seinen fruchtlosen inspiratorischen Excursionen auf die
Lungenoberfläche ausübt und die Entstehung der Ecchymosen von dieser,
mit jener eines aufgesetzten Schröpfkopfes ähnlichen Wirkung der
Thoraxwand abgeleitet (+Krahmer+). Wenn auch diesen zwei Momenten eine
Mitwirkung bei der Entstehung der Ecchymosen nicht abgesprochen werden
kann, so spielen sie doch nicht die Hauptrolle; diese fällt vielmehr
dem auf der Höhe der Erstickung sich einstellenden vasomotorischen
Krampf zu und der bedeutenden Vermehrung des Seitendruckes, den
dadurch die Gefässwandungen auszuhalten haben, der um so leichter
zur Berstung von feinen Gefässästchen führen kann, als gleichzeitig
eine Stauung im Kreislaufe besteht, die nicht blos durch den
vasomotorischen Krampf selbst und die oben erwähnten anderen Momente,
sondern auch durch die allgemeinen Convulsionen und den Krampf der
Exspirationsmusculatur veranlasst wird. Thatsächlich kann man sich, wie
wir dies schon bezüglich der subconjunctivalen Ecchymosen angegeben
haben, durch entsprechend eingerichtete Versuche überzeugen, dass
die Bildung der subpleuralen und subpericardialen Ecchymosen in das
convulsive Stadium des Erstickungstodes fällt, also in eine Zeit, in
welcher auch die Dyspnoe weniger durch tiefe Inspirationen, als durch
krampfhafte Exspirationen sich zu äussern pflegt. Unterbricht man die
Erstickung vor dem Eintritte dieses Stadiums, so findet man keine oder
nur vereinzelte Ecchymosen. Ebenso findet man die Ecchymosen nicht,
wenn der Erstickungstod ohne Krämpfe verlief, was allerdings nur
ausnahmsweise geschieht.
Nach +Corin+[342], der die Entstehung der Erstickungsecchymosen an
Thieren mit künstlich, durch Peptoneinspritzungen, flüssiger gemachtem
Blute studirte, bilden sich dieselben zu der Zeit, wo die Erhöhung des
Blutdruckes in den Pulmonalarterien mit Stillstand der Respiration und
Immobilisirung der Lunge zusammenfällt. Muskelkrämpfe seien hierbei
nicht von wesentlichem Einflusse, da die Ecchymosen sich auch bei
(nicht zu tief) curarisirten und narcotisirten Thieren bildeten. Die
Entstehung der von uns oben (pag. 514) erwähnten Ecchymosen in dem
Bindegewebe um die Brustaorta erklärt sich +Kratter+ (Tagblatt der
Wiener Naturforscherversammlung, pag. 244) aus der mechanischen Zerrung
und der mechanischen Zerreissung der kleinen Gefässe um die Aorta
während der Dyspnoe besonders bei kräftigen Individuen. Dieser rein
mechanische Vorgang ist immerhin möglich und findet vielleicht auch bei
der Bildung der Ecchymosen entlang der Intercostalgefässe statt. Der
Angabe jedoch, dass sich dieselben nur bei erstickten Erwachsenen, aber
nicht bei Kindern der ersten Lebensperiode finden, können wir nicht
beistimmen, doch sind diese Ecchymosen bei Kindern begreiflicher Weise
kleiner als bei Erwachsenen.
Die genannten Ecchymosen sind keineswegs nur bestimmten
Erstickungsformen eigen, sondern können bei allen möglichen vorkommen,
weil die Convulsionen überhaupt und der vasomotorische Krampf
insbesondere zum typischen Bilde der Erstickung gehören und nur unter
besonderen mehr exceptionellen Verhältnissen nicht eintreten.
Daher können wir sie nicht blos beim sogenannten mechanischen
Erstickungstod, sondern auch bei dem aus inneren Ursachen, z. B.
Epilepsie, entstandenen, sowie auch bei demjenigen finden, der
durch Giftwirkung eingetreten ist, und im letzteren Falle besonders
nach solchen Vergiftungen, die mit Convulsionen einhergegangen sind.
Damit fällt auch die von +Tardieu+ aufgestellte, von +Liman+ und
Anderen mit Recht angefochtene Behauptung, dass die Lungenecchymosen
nur der „Erstickung im engeren Sinne“, nämlich der durch Verschluss
der Respirationsöffnungen bewirken, eigenthümlich zukommen. Dagegen
unterliegt es keinem Zweifel, dass diese Ecchymosen in ihrem Auftreten
ausser von den genannten Momenten auch von gewissen individuellen
Bedingungen beeinflusst werden. Zu diesen gehört insbesondere eine
gewisse Zerreisslichkeit, respective Zartheit der Gewebe und Gefässe,
und dies ist der Grund, warum sich die subpleuralen Ecchymosen so
häufig und fast regelmässig in den Leichen erstickter Neugeborener
oder Säuglinge finden, im Knaben- und Jünglingsalter seltener werden
und im Mannesalter am seltensten vorkommen, um dann im höheren Alter,
in welchem aus pathologischen Gründen die Gefässe brüchiger werden,
wieder häufiger auftreten. Subpericardiale Ecchymosen dagegen, sowie
solche auf Schleimhäuten und im hinteren Mediastinalgewebe sind bei
Erwachsenen nicht wesentlich seltener als bei Kindern.
Ausser an den Lungen, dem Herzen und in den Conjunctiven und bei
Kindern, besonders neugeborenen, an der Thymusdrüse, können sich die
Ecchymosen noch an anderen Stellen finden. So an der Schleimhaut der
Respirationsorgane, an der Epiglottis, im Kehlkopf und in der Trachea.
Ferner in der Nasenschleimhaut, in der Schleimhaut der Paukenhöhlen, an
beiden Flächen des Trommelfelles und selbst in der Cutisauskleidung der
hinteren Partien des äusseren Gehörganges. Häufig sind sie zwischen den
weichen Schädeldecken und an der Magenschleimhaut, seltener in jener
des Darmes. Der vasomotorische Krampf in den Gedärmen und besonders in
der Milz scheint zur Stauung in den Magengefässen und zur Entstehung
dieser Ecchymosen Veranlassung zu geben.
Am Peritoneum haben wir nur ganz ausnahmsweise und nur isolirte
Ecchymosen beobachtet, dagegen bereits zweimal bei Erhängten, darunter
bei einem durch den Strang Hingerichteten, solche in der Dura an der
Innenfläche derselben, in der mittleren Schädelgrube, entsprechend
den Verästlungen der Art. meningea media. +Legroux+ (l. c.) und
+Tammasia+ („Della morte nel vuoto.“ Rivista sperim. di med. legale.
IV, 451, und Virchow’s Jahresb. 1881, I, pag. 560) sahen Ecchymosen
an der Retina von erstickten Thieren. Vom Erwachsenen sind solche
Befunde nicht bekannt und +Maschka+ (Handbuch, I, 570) fand bei seinen
allein und gemeinschaftlich mit +Hasner+ vorgenommenen Untersuchungen
von Augen Erstickter blos zweimal bei Erhängten ein linsengrosses
Extravasat im retrobulbären Bindegewebe, niemals aber Blutaustritt im
Auge selbst. Bei erstickten Neugeborenen finden sich nach +Nobiling+
(Aerztliches Intelligenzblatt für Bayern, 1884, Nr. 38-40) häufig
Ecchymosen in der Retina. Unter günstigen Bedingungen (besonders
intensive und plötzliche Blutstauung, Zartheit des Ueberzuges) können
die den subepithelialen Ecchymosen zu Grunde liegenden Extravasate zum
Durchbruch des Epithelüberzuges und dadurch zu Blutungen auf die freie
Fläche der betreffenden Schleimhaut führen. Dieses scheint häufig an
der Nasenschleimhaut zu geschehen, aber auch, besonders bei Kindern. an
der Schleimhaut der Bronchien, woher der nicht seltene blutige Ausfluss
aus der Nase, beziehungsweise die blutige Tingirung des Schaums in der
Luftröhre und in exquisiten Fällen der Befund von aspirirtem Blut in
einzelnen Lungenacinis sich erklärt. Häufig kommt es auch zu Blutungen
in den Paukenhöhlen und in einzelnen Fällen, besonders bei Erdrückten
und hier und da bei Strangulirten, zu Blutungen aus dem äusseren
Gehörgang, wie wir sowohl bei Erhängten („Blutung aus den Ohren eines
Erhängten, nebst Mittheilungen über analoge Befunde.“ Wiener med.
Presse, 1880, pag. 202) als bei Selbsterdrosslung wiederholt beobachtet
haben. +Maschka+ (l. c. 592) sah +einmal+ eine Blutung aus den Ohren,
und zwar bei einer Selbsterdrosslung, ebenso +Schleissner+ (Virchow’s
Jahresb. 1887, II, 522). Auch im interstitiellen Gewebe der Lungen und
der Thymus können Ecchymosen zu Stande kommen, wie wir, insbesondere
bei erstickten Kindern, wiederholt gesehen haben. +Patenko+ (l. c.)
hat bei erstickten Hunden auch im verlängerten Mark mikroskopische
Blutaustritte gefunden.
[Sidenote: Ecchymosen u. Blutungen bei Erstickten u. bei anderen
Todesarten.]
Die Ecchymosen sind kein dem Erstickungstode ausschliesslich
zukommender Befund, sondern können auch bei anderen Todesarten
vorkommen, bei welchen irgend eine der Ursachen gegeben ist, welche
zur Ruptur kleiner Gefässe und consecutiver Bildung der bezeichneten
Extravasate führen kann. So finden sich häufig in der Nähe durch
heftige Gewalten entstandener Verletzungen kleine Extravasate
verschiedener Grösse, die offenbar nicht durch directe Gewalt,
sondern durch Erschütterung entstanden sind; hierher gehören unter
Anderem die Ecchymosen der Conjunctiva, die sich nicht selten bei
Selbstmördern finden, die sich durch einen Schuss in den Kopf
getödtet haben. Auch bei der pag. 312 erwähnten, durch Explosion von
Knallquecksilber Umgekommenen fanden wir massenhafte punktförmige
Ecchymosen in der Gesichtshaut, insbesondere der Augenlider, und
zahlreiche bis linsengrosse in den Conjunctiven. Ebenso können bei
Verschütteten oder Herabgestürzten an den verschiedensten Organen
durch blosse Erschütterung Ecchymosen entstehen. Auch die so
gewöhnlichen Ecchymosen in den weichen Schädeldecken Neugeborener
sind traumatischen Ursprunges. Massenhaft können sich bei durch
plötzliche Compression des Thorax und Zerquetschung innerer Organe
Getödteten Ecchymosen oberhalb der comprimirten Stelle finden,
welche rein mechanisch durch plötzlichen Rückstoss der Blutwelle
entstanden sind. Ferner ergibt sich dieser Befund nach Processen, bei
welchen die Widerstandsfähigkeit der Gefässwandungen pathologisch
herabgesetzt ist, so bei Scorbut, Hämophilie, bei Septikämie und
anderen infectiösen Processen (z. B. Variola haemorrhagica), nach
Verbrennungen, insbesondere aber bei der Phosphorvergiftung, bei
welcher mit der allgemeinen Verfettung der Organe auch eine fettige
Degeneration der Gefässe einhergeht und aus dieser Ursache Rupturen
der peripheren, insbesondere der subserösen und submucösen Gefässe
und die consecutiven Ecchymosen zum Gesammtbilde des Leichenbefundes
gehören. Auch die Ecchymosen, wie sie bei frischer Entzündung der
Pleura und anderer seröser Häute gefunden werden, gehören hierher.
Der Tod durch Strangulation.
Unter Strangulation (constringere gulam) versteht man die Erstickung
durch Compression der Luftwege am Halse. Man unterscheidet durch
Hauptformen der Strangulation: das +Erhängen+, das +Erdrosseln+ und das
+Erwürgen+. Bei der ersten und zweiten Strangulationsart geschieht die
Compression durch ein strangartiges Werkzeug; beim Erwürgen durch die
Hand. Erhängen und Erdrosseln aber unterscheiden sich dadurch, dass
beim ersteren das um den Hals gelegte Band durch die eigene Schwere des
Körpers, beim letzteren durch eine andere Kraft zusammengezogen wird.
1. Der Tod durch Erhängen.
Das Erhängen erfolgt in der Weise, dass der Betreffende, nachdem er
sich eine mit ihren Enden irgendwo befestigte Schlinge um den Hals
gelegt, die Schwere des Körpers wirken lässt, wodurch der Vorderhals
von dem Strange eingeschnürt wird, sofort oder in wenigen Augenblicken
Bewusstlosigkeit und hierauf der Tod erfolgt.
[Sidenote: Erhängen. Verschluss der Athemwege und der Halsgefässe.]
Die auf solche Art bewerkstelligte Einschnürung des Halses hat den
Verschluss der Respirationswege, ausserdem aber auch die Compression
anderer am Halse gelegener wichtiger Organe zur Folge. Da, wie wir
später hören werden und wie sich auch aus localen Gründen leicht
begreift, die Schlinge fast immer über dem Kehlkopf, zwischen diesem
und dem Zungenbein zu liegen kommt, so kann der Verschluss der
Respirationswege nicht oder nur ausnahmsweise durch Compression des
Kehlkopfes oder gar der Trachea geschehen, sondern muss auf andere
Weise stattfinden, und zwar so, dass der Zungengrund gegen die hintere
Rachenwand angepresst wird, wobei die Theile gleichzeitig nach oben
gezerrt und verschoben werden, ein Sachverhalt, von welchem man sich
leicht an sagittalen Durchschnitten gefrorener Cadaver von Erhängten
überzeugen kann (Fig. 90). +Langreuter+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. XLV, pag. 294) hat diesen Verschlussmechanismus direct beobachtet,
indem er Leichen suspendirte und die von der Schädelbasis aus eröffnete
Rachenhöhle mit dem Reflector eines Kehlkopfspiegels beleuchtete, wobei
er fand, dass schon bei geringem Anziehen der Schlinge der Zungengrund
nach oben und gegen die Wirbelsäule gedrückt wird und den Nasen- und
Rachenraum tamponirt. Ausserdem wird beim typischen Erhängen, wie
+Haumeder+[343] in unserem Institute durch Präparation des Halses
suspendirter Leichen während der Suspension sich überzeugte, durch
den Druck auf das Lig. hyothyreoideum der Kehlkopf je nach seiner
Consistenz in seinem oberen Antheil mehr weniger plattgedrückt, wobei
die Schildknorpelplatten nach auswärts ausweichen und mit ihren Hörnern
zwischen Wirbelsäule und die grossen Halsgefässe sich hineindrängen
und der Kehlkopf, indem die oberen Ränder der Schildknorpel an die
Wirbelsäule angepresst werden, eine Drehung um seine Querachse erfährt,
die eine Prominenz der Spange des Ringknorpels bedingt.[344] Dieser
Verschluss der Respirationswege am Halse ist für sich allein im Stande,
alsbald Erstickungserscheinungen und den Tod zu bewirken. Trotzdem muss
auch der Compression anderer am Halse gelegener Organe, insbesondere
der grossen Halsgefässe, eine Rolle bei dieser Todesart zugeschrieben
werden.
[Illustration: Fig. 90.
Sagittaler Durchschnitt durch Kopf und Hals eines gefrorenen Erhängten.
(+Ecker+ in Virchow’s Arch., 49. Bd., pag. 920.) _S_ Strangfurche. _H_
Zungenbein. _Z_ Zunge, zwischen den Zähnen eingeklemmt. _V_ weicher
Gaumen, in den Nasenrachenraum hinaufgedrängt. _P_ hintere Rachenwand.
_A_ Atlas. _D_ Epistropheus.]
Dass beim Erhängen die grossen Gefässe am Halse, insbesondere die
Carotiden, eine Compression erfahren, muss schon aus der anatomischen
Lage derselben und aus den beim Erhängen obwaltenden mechanischen
Verhältnissen geschlossen werden. Ausserdem spricht dafür die manchmal
entsprechend der Strangulationsrinne zu findende Ruptur der Intima
carotis und endlich der directe, von uns wiederholt und immer mit dem
gleichen Resultate angestellte und neuerdings mit Rücksicht auf von
+Ignatowski+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1893, VI, pag.
250) erhobene Einwände von +Haberda+ und +Reiner+ (Ibid. 1894, VIII.
Suppl., pag. 126) in erweiterter Weise ausgeführte Versuch[345],
welcher lehrt, dass man bei in typischer Weise suspendirten Leichen
nicht im Stande ist, Flüssigkeit durch die Carotiden durchzutreiben,
es sei denn, dass man, wie z. B. bei Kindesleichen möglich ist,
einen Druck anwendet, der das Gewicht des Körpers überwindet und
daher den Blutdruck weit übersteigt. Die Stelle, an welcher die
Carotis comprimirt wird, liegt in der Regel unmittelbar vor ihrer
Bifurcation, ist somit dieselbe, an welcher die Ruptur der Intima
carotis vorzugsweise beobachtet wurde. Dass unter solchen Umständen
auch die Jugularvenen bis zur Undurchgängigkeit comprimirt werden, kann
nicht gut bezweifelt werden. Ist aber erwiesen, dass beim Erhängen die
Gefässe am Halse comprimirt werden, so müssen wir nothwendig dieser
Compression einen wichtigen Einfluss bei dieser Todesart zuschreiben,
da wir wissen, dass dieselbe schon für sich allein schwere Symptome zu
bewirken im Stande ist.
Schon +Aristoteles+ erwähnt, dass: „quibus in collo venae
apprehenduntur insensibiles fiunt.“ Von neueren Aerzten (+Parry+,
+Lewis+, +Romberg+, +Trousseau+) wurde die Compression der Carotiden
zur Coupirung des epileptischen Anfalles empfohlen und angewendet.
Man beobachtete dabei Verdunklung des Gesichtes, Schwindel,
Betäubung, Ohnmacht, endlich Bewusstlosigkeit und Zusammensinken.
Gleiche Erscheinungen sahen +Kussmaul+ und +Tenner+ nach Compression
der Carotiden auftreten. +Flemming+ (+Vulpian+, l. c. 146)
constatirte an sich und an anderen Personen, dass die Compression
der Halspulsadern einen schlafartigen Zustand herbeiführe. Ferner
fand +Schiff+ (Med. Centralbl. 1873, pag. 18), dass die durch die
Compression der Carotiden erzeugte Gehirnanämie als starker Reiz
auf das Gefässsystem wirke und sowohl Blutdruck als Pulsfrequenz
vermehre, und +Filehne+ (Ibid. 1875, 810) sah nach Compression
der Carotiden das +Cheyne+-+Stokes+’sche Athemphänomen auftreten.
+Pilz+ (Langenbeck’s Archiv. IX) bemerkt, dass unter 600 Fällen
von Unterbindung der Carotis auf einer oder beiden Seiten bei 32%
Hirnerscheinungen auftraten und die Mortalitätsziffer 33½%
betrug. Auch +Bergmann+ (Kopfverletzungen, 1880, pag. 337) erwähnt
solcher Folgen der plötzlichen Sistirung des Kreislaufes in der
Schädelhöhle. Bei diesen Beobachtungen sehen wir schon nach
Abschluss der Carotiden allein Hirnsymptome auftreten, noch mehr
sind solche zu erwarten, wenn, wie bei der Suspension, gleichzeitig
auch die Jugularvenen comprimirt werden. Zufluss sowohl als Abfluss
des Blutes zum und vom Gehirn wird dadurch mit einem Schlage
unterbrochen, und es ist dann, da das Gehirn bekanntlich ungemein
fein auf Ernährungs- (Oxydations-)Störungen reagirt, natürlich und
wohl begreiflich, dass alsbald Hirnerscheinungen, insbesondere
Bewusstlosigkeit, auftreten müssen, und zwar früher, als sie bei
einfachem Verschluss der Respirationswege eingetreten wären, da bei
letzterem die Oxydationsprocesse im Gehirn secundär, hier aber primär
aufgehoben werden. Dies würde, selbst wenn die Vertebralarterien
und Vertebralvenen wegsam blieben, der Fall sein, denn es ist klar,
dass, wenn bei Compression der Carotiden gleichzeitig der Abfluss des
Blutes aus den Jugularvenen gehemmt wird, ein Collateralkreislauf
durch die im Caliber unverhältnissmässig schwächeren Vertebralgefässe
nicht sofort sich etabliren kann, da ja früher das im Gehirn
plötzlich abgesperrte und schnell hypervenös werdende Blut verdrängt
werden müsste. Es haben aber überdies die Untersuchungen und
Experimente von +Haberda+ und +Reiner+ (l. c.) ergeben, dass beim
typischen Erhängen auch die Vertebralarterien, und zwar in dem
zwischen erstem und zweitem Halswirbel gelegenen Stücke comprimirt
werden, so dass dann eine vollständige Unterbrechung des Kreislaufes
im Gehirne stattfindet.
[Sidenote: Compression des Vagus beim Erhängen.]
Auch die Möglichkeit einer Compression des Vagus, der ja mit der
Carotis und Jugularis interna in +einer+ Scheide liegt, ist nicht zu
übersehen. Dass eine solche nicht gleichgiltig sein wird, ist bei der
Bedeutung dieses Nerven, namentlich als Hemmungsnerv des Herzens,
begreiflich, und es ist in dieser Beziehung bemerkenswerth, dass
+Waller+ (Prager Vierteljahrschr. 1871, III, 88) die Compression des
Vagus als Anästheticum anwandte, da die Betreffenden „nach mässigem
Druck auf den Vagus wie vom Blitze getroffen zu Boden fielen“, und
dass Professor +Thanhofer+ in Budapest (Med. Centralbl. 1875: „Die
beiderseitige mechanische Reizung des Vagus beim Menschen“) einen
Studenten, der sich zu physiologischen Zwecken in seiner Gegenwart
wiederholt +einen+ Vagus mit dem Fingernagel comprimirt und es darin
zu einer gewissen Fertigkeit gebracht hatte (ähnlich wie wir dies bei
dem verstorbenen Professor +Czermak+ gesehen haben), bewusst- und
pulslos werden sah, als derselbe eines Tages sich beide Vagi comprimirt
gehabt hatte.[346] Ferner haben +Tamassia+ (Virchow’s Jahresb. 1881,
I, 560) und +Misuraca+ (ibidem 1888, I, 478) den Gegenstand an Thieren
experimentell geprüft und gefunden, dass intensive Compression
beider Vagi dieselben Erscheinungen bedingt, wie die Durchschneidung
derselben, nämlich Herabsetzung der Athemfrequenz und Vermehrung und
Schwäche der Herzpulsationen, und dass durch dieselbe der Eintritt des
Todes bei der Strangulation beschleunigt wird. Den Untersuchungen von
+Ignatowski+, +Haberda+ und +Reiner+ zufolge ist mehr die mechanische
Reizung des Vagus und consecutiver Herzstillstand in der Diastole im
Spiele, die den Vagusstamm entweder direct oder, wie +Ignatowski+
findet, wahrscheinlich vom Laryngeus und seinen Verzweigungen aus
reflectorisch trifft.
[Sidenote: Symptome beim Erhängen.]
Es folgt aus dem Gesagten, dass der Tod durch Erhängen keineswegs blos
als eine durch Verschluss der Respirationswege bewirkte Erstickung
angesehen werden kann, sondern dass bei dieser Todesart jedenfalls
der durch die Compression der Halsgefässe gesetzten plötzlichen
Unterbrechung der Circulation im Gehirn und möglicherweise auch der
durch gleichzeitigen Druck bewirkten Reizung und in den höheren
Graden Lähmung des N. vagus und der dadurch bedingten Störungen der
Herzbewegungen ein Einfluss zugeschrieben werden muss. Aus demselben
Grunde werden wir festhalten, dass beim Erhängen Bewusstlosigkeit
und der Tod viel rascher erfolgen, als durchschnittlich bei anderen
mechanischen Erstickungsarten, und dass insbesondere erstere,
wenigstens bei typischer Lage des Stranges, sich wahrscheinlich sofort
in dem Momente einstellt, in welchem die Zusammenschnürung der um den
Hals gelegten Schlinge erfolgt.
[Sidenote: Schneller Eintritt der Bewusstlosigkeit.]
Das schnelle Eintreten der Bewusstlosigkeit beweisen zunächst die
Aussagen der Geretteten, die übereinstimmend dahin gehen, dass
sofort nach der Zuschnürung des Halses das Bewusstsein schwand, so
dass sie sich von diesem Augenblicke an an nichts mehr zu erinnern
wissen. Ferner spricht hierfür auch die Thatsache, dass, obwohl
sehr viele und vielleicht die meisten Individuen sich in der Art
aufhängen, dass der Körper nicht frei hängt, sondern meist in
einer Entfernung vom Boden, die geringer ist als die des Halses
von letzterem, doch bis jetzt kein Fall bekannt ist, dass ein
solcher Selbstmörder sich selbst aus der Schlinge befreit hätte,
während, wenn die Bewusstlosigkeit nicht alsbald eintreten möchte,
doch vielleicht hier und da ein Fall vorkäme, dass, wie wir dies
bei anderen Selbstmordarten gar nicht selten sehen, das Individuum
von Angst, Schmerz etc. bewogen, den bereits begonnenen Selbstmord
unterbrechen würde, da, um dieses zu effectuiren, blos nothwendig
wäre, sich wieder auf die Füsse zu stellen, wozu dem Individuum bei
der erwähnten Hängungsart die physische Möglichkeit, und bei dem
Umstande, als man die Unterbrechung der Respiration durch 30-40
Secunden ertragen kann, ohne das Bewusstsein zu verlieren, auch
die Zeit geboten wäre. Interessant in dieser Beziehung ist eine
von +Laurent+ (Virchow’s Jahresb. 1888, I, 463) mitgetheilte
Simulation von Selbstmord, da der Betreffende trotz raffinirter
Vorsichtsmassregeln doch das Bewusstsein verlor. Auch ist im August
1888 in Wien ein Fall vorgekommen, in welchem der Erhängte einen
scharf geladenen Revolver in der Hand hielt. Offenbar wollte er sich
gleichzeitig erschiessen, konnte jedoch der plötzlich eingetretenen
Bewusstlosigkeit wegen diesen Plan nicht mehr ausführen.
Die sonstigen Erscheinungen, welche während des Erhängens auftreten,
weichen im Wesentlichen nicht ab von denjenigen, die wir beim
Erstickungstode überhaupt kennen gelernt haben. Wir haben dieselben bei
zwei Justificationen durch den Strang aus unmittelbarer Nähe verfolgt,
und in beiden Fällen sowohl die Dyspnoe als auch die Convulsionen
in gewöhnlicher Weise auftreten gesehen. Ueber die Intensität der
letzteren konnten wir uns kein Urtheil bilden, da in beiden Fällen
die oberen Extremitäten gebunden waren, die unteren aber gehalten und
angezogen wurden. Eine auffallende Cyanose des Gesichtes konnten wir
nicht beobachten und zum Eintritt derselben fehlen bei vollständiger
Compression der Halsgefässe auch die Bedingungen. Dagegen muss es zu
hochgradigen Stauungs-Erscheinungen (Cyanose, Ecchymosen) im Gesichte
kommen, wenn, wie bei asymmetrischer Lage des Stranges, namentlich bei
weit nach vorne liegendem Knoten möglich, nur die Gefässe der einen
Seite oder mehr und früher die Venen als die Arterien comprimirt worden
sind.
Der Leichenbefund bei Erhängten.
Das +äussere Aussehen+ der Leichen Erhängter ist, wenn man von den
localen Befunden am Halse absieht, in der überwiegenden Zahl der Fälle
kein anderes als das der meisten anderen Leichen. Das Gesicht zeigt in
der Regel die gewöhnliche Leichenblässe und auch die Conjunctiven sind
nicht ecchymosirt. In einzelnen Fällen, besonders bei asymmetrischer
Lage des Stranges, findet sich mehr weniger ausgesprochene Cyanose
der Gesichtshaut, sowie Ecchymosirung derselben und der Conjunctiven.
In seltenen Fällen wird Blutung aus den Ohren beobachtet, die aber
nicht, wie ältere Beobachter meinen, von einer Ruptur des Trommelfelles
herrührt, sondern, wie bereits oben erwähnt, von subepidermoidaler
Gefässberstung und Durchbruch des extravasirten Blutes durch den
dünnen und meist macerirten Epidermisüberzug des Trommelfelles,
beziehungsweise der hintersten Partien des äusseren Gehörganges. Das
Verhalten der Pupillen zeigt nichts Charakteristisches. Die Lippen
sind in der Regel bleich, häufig mit eingetrocknetem oder feuchtem
Schleim bedeckt, der aus der Mundhöhle kommt. Derselbe besteht, wie
wir uns auch bei den zwei Gehenkten überzeugten, aus Speichel, der
mechanisch aus den Speicheldrüsen ausgedrückt wird und zum Munde
herausfliesst. Die Zunge ist meist etwas vorgefallen und zwischen den
Kiefern eingeklemmt, ein Befund, dessen Zustandekommen sich aus rein
mechanischen Gründen zur Genüge erklärt, aber nicht dem Erhängungstode
allein zukommt, sondern bei den verschiedensten Todesarten, und zwar
gar nicht selten, beobachtet wird.
Wird die Leiche in den ersten Stunden nach erfolgter Suspension
abgenommen und in der gewöhnlichen Weise gelagert, so ist die
Vertheilung der Todtenflecke die gleiche, wie wir sie an anderen
Leichen beobachten können; blieb jedoch der Körper durch längere Zeit
suspendirt, so senkt sich das Blut gegen die untere Körperhälfte und
wir finden dann letztere, insbesondere die unteren Extremitäten, desto
livider verfärbt, je länger die Leiche gehangen, ausserdem manchmal
mit subepidermoidalen Ecchymosen besetzt, die sich entweder postmortal
durch Ruptur der Capillaren des Papillarkörpers der Haut bilden oder
wenigstens aus früher unscheinbar gewesenen, aber in vivo entstandenen
Ecchymosen durch postmortale Nachsickerung des Blutes zu grösseren und
grossen sich entwickeln und deren wir bereits oben Erwähnung gethan
haben. Ein solcher Befund, der, wenn die Leiche abgenommen wird, sich
trotzdem erhält, berechtigt zum Schlusse, dass die Leiche nicht etwa
nur einige Augenblicke oder nur wenige Stunden, sondern längere Zeit
gehangen haben musste, ein Umstand, dessen Constatirung in einzelnen
Fällen wichtig sein kann. In einem solchen Falle bekommen auch die
Hände eine livide Farbe, indem sich das Blut aus den oberen Theilen der
betreffenden Extremitäten in die Hände herabsenkt.
[Sidenote: Strangfurche.]
Der wichtigste äussere Befund bei Erhängten ist die +Strangfurche+
am Halse. Wie schon der Name ausdrückt, ist dies jener um den Hals
verlaufende, furchenartig vertiefte Eindruck, der als Spur des den Hals
zusammenschnürenden Stranges zurückgeblieben ist.
In der Regel verläuft dieselbe quer über den Vorderhals, steigt
beiderseits ziemlich steil hinter den Ohren, und zwar meist hinter den
warzenförmigen Fortsätzen gegen den Nacken auf, woselbst die Enden
der Furche entweder in der Mittellinie des Nackens zusammentreffen,
oder noch bevor sie diese erreichen, sich in der behaarten Kopfhaut
verlieren.
[Sidenote: Lage des Stranges bei Erhängten.]
Am Vorderhalse kommt der Strang so hoch zu liegen, als es
die anatomischen Verhältnisse gestatten, respective bis die
hinaufgeschobene Schlinge hinter den Unterkieferwinkeln ihren Halt
findet. Sie verläuft dann gerade zwischen Kehlkopf und Zungenbein,
seltener über dem letzteren. Nur ganz ausnahmsweise kann der Strang
auf den Kehlkopf selbst oder noch tiefer zu liegen kommen. Es könnte
dies dann geschehen, wenn die Schlinge, bevor die Schwere des Körpers
zur Wirkung kam, fest um den Hals gelegt und so das Hinaufrutschen
derselben verhindert wurde. Auch das stärkere Prominiren des
Kehlkopfes, namentlich des verknöcherten, kann letzteres bewirken.
Endlich kann die Schlinge auf den Kehlkopf zu liegen kommen, wenn ein
sehr breites Strangwerkzeug genommen wurde oder wenn dasselbe nicht um
den blossen, sondern, wie hier und da vorkommt, um den mit einem Tuche
umwundenen oder durch einen dichten Bart geschützten Hals gelegt und
eben durch diese Unterlage die Verschiebung der Schlinge nach aufwärts
behindert worden war; am leichtesten aber, wenn Tumoren am Halse eine
tiefere Lagerung der Schlinge bedingten.
Wir haben zwei Fälle letzterer Art obducirt. Der eine betraf ein
altes, mit einem starken Cystenkropfe behaftetes Weib, welches
sich den Strick unter dem Kropf angelegt hatte, der andere einen
vierzigjährigen, an einem Riemen suspendirt gefundenen Mann mit
einer fast strausseneigrossen Dermoidcyste unter dem linken
Unterkiefer. Bei dem Manne verlief die Strangfurche quer über die
Mitte des Kehlkopfes, bei dem Weibe sogar unter dem Kehlkopfe über
die Trachea. Auch bei dem in Raab durch den Strang hingerichteten
und nach der Abnahme wieder belebten Mörder Takács bestanden grosse
Drüsentumoren am Halse (Wiener med. Wochenschr. 1880, Nr. 17), und
es ist möglich, dass dieselben den genügend intensiven Verschluss
der Luftwege, sowie der Gefässe am Halse behindert und dadurch die
Wiederbelebung des allerdings schon nach 10 Minuten abgenommenen
Justificirten ermöglicht hatten.
[Illustration: Fig. 91.
Lehrling, der sich an einer schiefen Leiter in der Weise aufgehängt
hatte, dass der Knoten der durchlaufenden Schlinge auf die Mitte des
linken Unterkiefers zu liegen kam.]
[Illustration: Fig. 92.
Selbstmord durch Erhängen; Knoten am linken Unterkiefer nahe am Kinn
(+Tardieu+).]
[Illustration: Fig. 93.
Doppelselbstmord durch Erhängen an +einem+ über einen offenen
Thürflügel gelegten Strangulationsband. Gewöhnliche Lagerung des
letzteren beim Manne, atypische bei dem Mädchen.]
Bei der Bestimmung der Lage der Strangfurche am Vorderhalse ist aber
niemals zu übersehen, dass letztere an der horizontal gelagerten
Leiche immer tiefer liegt, als sie während des Hängens gelegen war.
Man findet sie daher ungemein häufig quer auf dem Kehlkopf liegend,
während man, wenn man den Strang in situ sich denkt, sich sofort
überzeugt, dass die Furche viel höher gelegen sein musste. Auf diesen
ganz natürlichen Vorgang ist umsomehr Rücksicht zu nehmen, je weniger
ein localer Grund nachweisbar ist, der die Schlinge verhindert haben
konnte, die höchst mögliche Lage einzunehmen.
[Sidenote: Verlauf der Strangfurche bei Erhängten.]
Der weitere Verlauf der Strangfurche verhält sich in typischen Fällen
in der Art, dass dieselbe beiderseits unter den Warzenfortsätzen
gegen den Nacken zu aufsteigt und in der Mittellinie desselben,
beziehungsweise des Hinterhauptes, zu einem mit dem Scheitel nach
oben gerichteten Winkel sich vereinigt. Dies ist wenigstens bei einer
sogenannten durchlaufenden Schlinge oder wenn ein Knoten geknüpft
wurde, der Fall, während bei einer sogenannten offenen Schlinge
die Enden der Strangfurchen sich nicht vereinigen, sondern blos
mehr weniger hinter den Warzenfortsätzen convergiren. Ebenso häufig
und vielleicht noch häufiger ist der asymmetrische Verlauf der
Strangfurche, indem die Enden derselben nicht gegen die Mittellinie
des Nackens, sondern seitwärts von dieser convergiren, respective
zu einem Winkel zusammentreten. Sehr gewöhnlich findet letzteres
hinter einem Ohr statt, und zwischen diesem Verlaufe der Strangfurche
und dem typischen gibt es vielfache Uebergänge. In einzelnen, nicht
gerade sehr seltenen Fällen kann der Knoten der Schlinge, respective
der Winkel der Strangfurche, vor dem einen Ohre und sogar nahe am
Kinn zu liegen kommen. Wir haben wiederholt solche Fälle beobachtet,
von denen wir einen vom Polizeiarzt Dr. +v. Britto+ aufgenommenen
in Fig. 91, einen andern, der mit liegender Stellung combinirt war,
an späterer Stelle abbilden. Einen weiteren (Fig. 92) entlehnen wir
einer Publication +Tardieu+’s (Ann. d’hyg. publ. 1870, pag. 94) und
den in Fig. 93 abgebildeten, der wohl ein Unicum darstellen dürfte,
verdanken wir Herrn Dr. +v. Rosen+ in Odessa, welcher die Güte hatte,
uns die betreffende, beim Localaugenscheine aufgenommene Photographie
zur Verfügung zu stellen. Der Fall betrifft einen 21jährigen Mann und
ein 17jähriges Mädchen, welche sich in einem Hôtel gemeinschaftlich
durch Erhängen an +einem+ Strangulationsbande das Leben genommen haben.
Ein Sessel war zum geöffneten Flügel einer Doppelthüre gerückt und
über diesen das aus einem Bettlacken und einem schwarzen Wolltuche
geknüpfte Strangulationsband hinübergeworfen, an dessen beiden zu
einer Schlinge zusammengebundenen Enden je eine Leiche hing. Bei dem
Manne lag der Knoten im Nacken, bei dem Mädchen aber unter dem Kinn
und dem entsprechend war der Kopf bei jenem nach vorn, bei diesem aber
stark nach rückwärts gebeugt. Einem hinterlassenen Zettel zufolge
hatten Beide zuerst mit Kupferspähnen und Phosphorzündhölzchen in
starkem Essig und dann durch Kohlendunst sich zu tödten versucht und
erst als diese Versuche misslungen, sich aufgehängt! +Deininger+
(Friedreich’s Blätter. 1884, pag. 47) sah einen hierher gehörigen Fall.
Die 61jährige Frau war in halb liegender Stellung mit dem Gesicht nach
oben hängend gefunden worden. Der Knoten war gerade unter dem Kinn,
der Kopf nach rückwärts gestreckt, Vorderhals und Kehlkopfgegend frei,
die Strangfurche am stärksten im Nacken ausgebildet. Versuche, die
+Deininger+ an Lebenden und an Leichen anstellte, ergaben, dass bei
einer solchen Stranglage die Luftwege zwar seitlich verengt, doch nicht
vollkommen verschlossen werden, wohl aber die grossen Halsgefässe.
Diese Fälle haben auch deshalb eine specielle Bedeutung, weil die
Strangmarke auch den Nacken quer durchfurcht und daher, wie dies in
zweien unserer Fälle wirklich geschehen ist, für eine Erdrosselungsspur
gehalten werden kann.[347]
[Sidenote: Ausprägung der Strangfurche. Strangwerkzeuge.]
Die Strangfurche ist in der Regel an den dem Knoten gegenüber
liegenden Halspartien, und zwar desto mehr ausgeprägt, je mehr das
Strangulationsband geeignet war, den Hals einzuschnüren, d. h. in
die Haut einzuschneiden. Dies ist desto mehr der Fall, je dünner
und gleichmässiger dasselbe gewesen ist. In der überwiegenden Zahl
der Fälle werden zum Erhängen Stricke (meist sogenannte Rebschnüre)
verwendet und die Strangfurche stellt dann eine von parallelen Rändern
scharf begrenzte, schmale, rinnenartige Furche dar, welche sich in
auffallender Weise von ihrer Umgebung abhebt. Je dünner und daher je
einschneidender der Strick, desto schmäler, aber auch desto tiefer und
schärfer markirt ist die zurückbleibende Furche. +Schulze+ sah einen
Selbstmörder, der sich an einem Eisendraht erhängt hatte, und in Wien
kam im Laufe des Jahres 1876 ein Fall vor, in welchem das Erhängen
an einem Messingdrahte geschah. Leider wurde uns nicht Gelegenheit
geboten, letzteren Fall selbst zu untersuchen, es ist jedoch kein
Zweifel, dass unter allen Strangulationswerkzeugen ein Draht besonders
geeignet ist, eine sehr tiefe und schmale Strangfurche zu erzeugen,
und es wäre wohl denkbar, dass bei dieser Gelegenheit sogar die Haut
durchschnitten und dadurch eine anderweitig entstandene Schnittwunde
vorgetäuscht werden könnte.
Nicht selten wird der Strick doppelt oder mehrfach genommen und man
findet dann eine doppelte oder mehrfache Strangfurche. In der Regel
liegen die Touren des Strickes enge aneinander und daher auch die
ihnen entsprechenden Strangfurchen, so zwar, dass diese nur durch eine
schmale kammartige Hautleiste von einander getrennt sind. Diese Leiste
verläuft, wenn die Stricktouren neben einander lagen, mit den Rändern
der rinnenförmigen Strangfurchen parallel, kreuzt sich aber mit diesen,
wenn dies auch mit den Stricktouren der Fall war. Nur ausnahmsweise
liegen bei doppelt oder mehrfach genommenem Strick die Touren weiter
auseinander, so dass zwischen den einzelnen Strangfurchen bandartige
Hautstreifen sich finden. Letztere sind dann begreiflicherweise wulstig
vorgetrieben und ebenso wie die oben erwähnten Hautkämme mehr weniger
injicirt und selbst punktförmig ecchymosirt. In seltenen Fällen kann es
in Folge der seitlichen Compression zu bläschenförmigen, mit blassem
oder bluthältigem Serum gefüllten Abhebungen der Epidermis kommen.
Wir haben einen einzigen solchen Fall gesehen und +Riecke+ (Ann. der
Staatsarzneikunde, 1838, III, pag. 537) beschreibt einen zweiten.
Verhältnissmässig häufiger scheint, was wir gleich hier erwähnen
wollen, diese Erscheinung beim Erdrosseln vorzukommen, denn +Liman+
(Handb. 7. Aufl., II, 70 und 682) sah dieselbe zweimal und wir einmal
nach Selbsterdrosslung. Ein Oedem der eingeklemmten Hautpartie haben
wir bis jetzt nicht beobachtet, vielleicht nur deshalb, weil es nach
Abnahme der Leiche sich wieder durch Senkung verliert. +Lesser+
(Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. XXXII, pag. 9) sah ein solches
einmal bei einem erdrosselten Neugeborenen.
Wurde ein Riemen benützt, so findet man eine entsprechend breite,
glatte, parallelrandige Strangfurche, innerhalb welcher die Haut
excavirt und blass erscheint, ausgenommen an jenen Stellen, die etwa
den Riemenlöchern oder der Schnalle entsprechen, die vorgetrieben,
stark injicirt und meistens auch ecchymosirt sind.
Geschah das Erhängen an einem Tuche (Halstuch, Sacktuch, Handtuch,
zusammengebundene Servietten etc.), so ist die Strangfurche desto
breiter und flacher, und desto weniger scharf begrenzt, je breiter,
weicher und je weniger gleichmässig das Würgeband war. Hatte das
Tuch Knoten, Nähte oder andere theils vorspringende, theils weniger
nachgiebige Stellen, so erscheinen diese in der Strangfurche mehr
weniger ausgeprägt. Gleiches gilt bezüglich der Windungen, wenn das
Tuch strickartig zusammengedreht gewesen war. Auch wenn Stricke,
besonders neue, zur Anwendung kamen, lassen sich in der Strangfurche
häufig, und zwar häufiger als bei zusammengedrehten Tüchern, die
Windungen als parallele schiefe Leistchen erkennen, welche jenen
Hautpartien entsprechen, die zwischen je zwei vorspringende und daher
comprimirende Windungen des Strickes zu liegen kamen. Da nicht selten
zusammengebundene Stricke zum Erhängen genommen werden, oder das eine
Ende des Strickes zu einer Schlinge geknüpft ist, durch welche das
andere Ende hindurchläuft, so werden auch die betreffenden Knoten an
der Strangfurche sich ausprägen, beziehungsweise das gleichmässige
Verhalten derselben unterbrechen. In einem von +Tardieu+ beschriebenen
Falle war das eine Ende des Stranges durch einen am anderen befestigten
Metallring durchgezogen und der Abdruck dieses Ringes an der Leiche
deutlich erkennbar.
[Sidenote: Nähere Beschaffenheit der Strangfurche.]
Ausser von den genannten Umständen hängt das mehr weniger deutliche
Ausgeprägtsein der Strangfurche auch von dem Körpergewichte des
Erhängten ab, ferner davon, ob dieses, wie beim freien Hängen,
vollständig zur Geltung hat kommen können, oder ob der Körper, nachdem
der Tod eingetreten war, eine Stütze irgendwo gefunden hatte, was
namentlich in jenen häufigen Fällen geschieht, wo die Betreffenden
an niedrigen Gegenständen (Thürdrückern u. s. w.) sich aufgehängt
hatten. Auch der Umstand, ob die Leiche kürzer oder länger hängen
blieb, ist von Einfluss, und schliesslich ist nicht zu übersehen, dass
die Strangfurche immer an der dem Knoten entgegengesetzten Stelle des
Halses am deutlichsten ausgeprägt sein muss, weil hier die Compression
am grössten ist, dass aber diese Stelle eine verschiedene ist, je
nachdem das Erhängen in typischer Weise oder so geschah, dass der
Knoten hinter dem einen Ohre oder gar vor dasselbe zu liegen kam.
An der Leiche erscheint die Strangfurche entweder lederartig
(pergamentartig) vertrocknet und dann mehr weniger braungelb bis
braunroth verfärbt, oder weich, in diesem Falle entweder eine
schmutzig-bläuliche oder die gewöhnliche, nur etwas blässere Hautfarbe
bietend. Die +lederartige+ oder mumificirte Beschaffenheit der
+Strangfurche+ bildet sich erst an der Leiche, ist demnach eine
sogenannte Leichenerscheinung; ihr Zustandekommen setzt aber gewisse
Bedingungen voraus, die ein derartiges postmortales Vertrocknen
ermöglichen.
Zu diesen Bedingungen gehört in erster Linie eine genügend starke
Compression des betreffenden Hautstreifens. Durch eine solche
Compression wird nämlich der Hautstreif nicht blos anämisch,
sondern es wird auch jede andere Feuchtigkeit aus demselben
herausgepresst, was zur Folge hat, dass dieser Hautstreif, der
seine comprimirte Beschaffenheit auch nach dem Tode behält, an der
Leiche früher eintrocknet als die umgebende Haut. Da bei schmalen
Strangulationsbändern die Compression des Halses am intensivsten ist,
so begreift es sich auch aus diesem Grunde, warum besonders, wenn
ein Strick benützt wurde, die pergamentartige Strangfurche gefunden
zu werden pflegt. Ausserdem spielt die Aufschürfung der Haut in der
Strangfurche eine Rolle, indem das Corium mehr weniger blossgelegt wird
und an der Leiche ebenso eintrocknet, wie dies bekanntlich bei den
Hautaufschürfungen geschieht (pag. 270). Je rauher und einschneidender
das betreffende Strangulationsband war, desto leichter kann eine
Abschindung der Epidermis zu Stande kommen, daher besonders häufig,
wenn das Erhängen mit einem Stricke, namentlich einem neuen, geschah.
[Sidenote: Die lederartige und die weiche Strangfurche. Fehlen
derselben.]
Die +weiche Strangfurche+ präsentirt sich entweder als ein bläulicher,
vertiefter, oder als ein mehr flacher anämischer Hautstreifen.
Beide kommen zu Stande, wenn die Entstehung der Strangfurche weder
mit Hautabschindung, noch mit besonders starker Compression der
betreffenden Hautpartie verbunden war, daher vorzugsweise, wenn
breite und weiche Strangwerkzeuge, wie Tücher u. dergl., benützt
worden sind. Die blasse Farbe der Strangfurche rührt von der Anämie
her, die durch die Compression des betreffenden Hautstreifens
veranlasst wurde; die blaue Verfärbung ist nur ein höherer Grad dieser
Compressionserscheinung und kommt theils zu Stande, indem die Haut
durch den Druck verdünnt wird und die Musculatur durchscheint, theils
dadurch, dass die comprimirte und dadurch verdichtete Haut selbst, wie
man sich durch Versuche leicht überzeugen kann, eine blaugraue Farbe
anzunehmen pflegt.
Da die pergamentartige Vertrocknung der Strangfurche eine blosse
Leichenerscheinung ist und zu ihrer Entstehung einige Zeit erfordert,
so folgt daraus, dass wir selbst aufgeschürfte oder hochgradig
comprimirte Strangfurchen noch weich finden können, wenn wir die
Untersuchung bald nach der Suspension vornehmen, oder wenn die
Eintrocknung durch äussere Verhältnisse verlangsamt oder verhindert
worden war. Verzögert kann die Eintrocknung werden schon durch das
Hängenbleiben selbst, indem der Strang die betreffende Furche deckt
und dadurch die Einwirkung der äusseren Luft für einige Zeit abhält.
Ebenso wird in feuchter Luft oder im Wasser die Vertrocknung nicht
erfolgen und es wird sogar eine schon lederartig vertrocknet gewesene
Strangfurche wieder weich, wenn sie der Einwirkung von Wasser oder
anderen Feuchtigkeiten ausgesetzt wird. Diese Umstände dürften bei
Wasserleichen nicht übersehen werden.
Zwischen der weichen und pergamentartig vertrockneten Strangfurche
gibt es eine Menge Combinationen und Uebergänge, und es kommt ungemein
häufig vor, namentlich wenn nicht Stricke, sondern zusammengedrehte
Tücher, Leibriemen, Hosenträger, Gurten, Vorhangschnüre und derartige
Strangwerkzeuge benützt worden waren, dass eine und dieselbe
Strangfurche sowohl weiche als vertrocknete Stellen zeigt, so dass sie
wie unterbrochen erscheint.
Eine mit Hautaufschürfung oder starker und gleichmässiger Compression
der Haut verbundene Strangfurche tritt deutlich am Halse hervor und
verschwindet auch bei längerem Liegen der Leiche nicht, und selbst
an faulen Leichen ist sie, wie wir uns wiederholt überzeugt haben,
meist noch sehr deutlich zu erkennen. Jene weichen und undeutlich
begrenzten Strangfurchen aber, wie sie durch Tücher, namentlich
durch dicke wollene Tücher (Shawls), entstehen, sind häufig sehr
undeutlich ausgeprägt und der flache, blos anämische Eindruck, den sie
veranlassen, kann sich an der abgenommenen Leiche sogar so vollkommen
ausgleichen, dass nachträglich keine Spur mehr von einer Strangfurche
zu sehen ist.
[Sidenote: Undeutliche oder fehlende Strangfurche.]
Hatte sich der Betreffende an niedrigen Gegenständen aufgehängt, so
dass nach dem Tode der Körper Unterstützung fand und daher dessen
Schwere nicht zur vollen Geltung kommen konnte, dann kann sich die
bezeichnete Eventualität noch leichter ereignen.
Ein Mann wurde im Walde mit seinem Sacktuch an einem Aste so hängend
gefunden, dass er nicht blos mit den ausgestreckten Füssen den Boden
berührte, sondern auch mit dem Gesässe auf einer Moosbank theilweise
aufruhte, welche sich am Fusse des betreffenden Baumes befand. Das
Abnehmen der Leiche geschah unter Intervention eines Arztes, der
in seinem Berichte die Strangfurche als flachen blassen Eindruck
beschrieb. Bei der Obduction wurde keine Spur einer Strangfurche
gefunden, weshalb die Obducenten nicht blos den Tod durch Erhängen
ausschlossen, sondern auch den erstuntersuchenden Arzt beschuldigten,
schlecht gesehen zu haben. Das Fehlen der Strangfurche liess sich
aber, wie in dem Facultätsgutachten auseinandergesetzt wurde,
ungezwungen aus den Verhältnisses erklären, unter welchen der
Betreffende erhängt gefunden wurde und die wir oben erwähnt haben.
-- Ebenso fanden wir keine Strangfurche bei einem Manne, der in
ähnlicher Stellung wie der Vorige an einem alten Traggurt sich
erhängt hatte, und +Casper+-+Liman+ (l. c. 667) erwähnen mehrerer
solcher Fälle.
Ein theilweises Fehlen der Strangfurche ist noch häufiger und
kommt namentlich dann wieder vor, wenn zusammengelegte oder
zusammengedrehte Tücher das Würgeband gebildet hatten.
Die Strangfurche kann auch dann fehlen oder undeutlich ausgeprägt
sein, wenn das Würgeband nicht über den blossen Hals gelegt wurde,
sondern zwischen diesem und dem Strangwerkzeug weiche Gegenstände
sich befanden. So werden wir unten eines Falles erwähnen, wo
Abdrücke von Hemdknöpfen für Würgespuren genommen wurden und der
Erhängungstod deshalb ausgeschlossen wurde, weil eine Strangfurche
fehlte. Dieses Fehlen liess sich aber ungezwungen daraus erklären,
dass der Betreffende den dicken Zugstrang, an dem er sich erhängte,
über ein mehrfach gefaltetes Tuch gelegt hatte, das noch am Halse
gefunden worden war. -- Auch ein dichter Bart am Vorderhalse kann
die deutliche Ausbildung einer Strangfurche verhindern. Schliesslich
kann sie durch Liegen im Wasser oder durch Fäulniss mehr weniger
unkenntlich werden. Bei einer Frau, die sich an einem Stricke erhängt
hatte und nach 2 Monaten exhumirt wurde, weil das (unbegründete)
Gerede entstand, dass sie von ihrem Manne umgebracht und dann
aufgehängt worden sei, fand sich keine Spur der bei der ersten
Todtenbeschau sehr deutlich gewesenen Strangfurche, wohl aber eine
Fractur beider oberer Kehlkopfhörner.
[Sidenote: Innere Befunde am Halse.]
Von den +inneren Befunden+ wollen wir die localen am Halse als die
wichtigsten zunächst besprechen.
Die Haut der Strangfurche und das Unterhautgewebe daselbst erscheinen
comprimirt, blutleer und trocken. Suffusionen im Unterhautbindegewebe
unter der Strangfurche gehören zu den seltensten Befunden, sind uns
jedoch bereits mehrmals vorgekommen, darunter einmal im Nacken und
zwischen den Nackenmuskeln, in einem Falle, wo der Knoten fast unter
dem Kinne lag.[348] Die Seltenheit derselben erklärt sich daraus, dass
in der Regel die Gefässe in und unmittelbar neben der Strangfurche
nur eine Compression, respective mässige Zerrung erleiden, aber
nicht zerrissen werden, woraus sich auch begreift, warum auch bei
Wiederbelebten in der Regel nur reactive Röthung und Schwellung der
strangulirten Hautpartie und nur ausnahmsweise Suffusion beobachtet
wird. Wenn in älteren Büchern von blutrünstigen Strangfurchen
gesprochen wird, so liegt der Grund darin, dass entweder die manchmal
blaue Färbung der Strangfurche, deren Erklärung wir oben gegeben haben,
für eine Suffusion gehalten wurde oder, was noch wahrscheinlicher
ist, dass man jenen lividen Saum dafür nahm, der sich nicht selten,
namentlich wenn die Leiche lange gehangen hatte, am oberen Rande der
durch den Strang veranlassten Einschnürung zu finden pflegt, der aber
eine sehr erklärliche Leichenerscheinung, eine Hypostase, darstellt,
die dadurch entsteht, dass das aus dem Kopfe sich herabsenkende Blut
über der eingeschnürten Stelle sich ansammelt und dort jene Verfärbung
der Haut veranlasst, die wir an „Todtenflecken“ überhaupt zu sehen
gewohnt sind.
[Sidenote: Ecchymosen unter der Strangfurche.]
Häufiger, obwohl im Grossen und Ganzen doch nur ausnahmsweise, kommen
Ecchymosen in anderen Theilen des Zellgewebes, in oder neben der
Strangulationsebene des Halses vor, verhältnissmässig am häufigsten in
den Scheiden der tiefen Halsgefässe und im intermusculären Bindegewebe,
sehr selten in oder unter den Schleimhäuten. Eine beträchtlichere
Grösse erreichen dieselben niemals, da einestheils der Tod rasch
eintritt und anderseits, wenigstens in typischen Fällen, die plötzliche
und gleichzeitige Compression der grossen, sowohl venösen, als
arteriellen Gefässe am Halse den Kreislauf fast vollständig sistirt,
woraus sich erklärt, warum selbst grössere Läsionen, die mitunter
beim Erhängen entstehen, wie z. B. die Fracturen der Kehlkopf- und
Zungenbeinhörner, meist ganz unbedeutend suffundirt erscheinen.
[Sidenote: Muskelrupturen.]
Zerreissungen der Muskeln am Halse haben wir wiederholt gesehen;
meist war der Kopfnicker, und zwar entweder beiderseits oder bei
asymmetrisch angelegter Schlinge an der dem Knoten entgegengesetzten
Stelle, einmal ein Musculus thyreohyoideus zerrissen, respective in
den äusseren Portionen eingerissen und in einem Falle (Fig. 94), in
welchem der Strick quer auf dem Ligamentum cricothyreoideum gelegen
war, ergab sich ausser einem Doppelbruch der Spange des Ringknorpels
eine partielle Zerreissung beider Kopfnicker und ein furchenartiger
Eindruck beiderseits an den Brust- und Zungenbeinmuskeln. +Lesser+[349]
fand bei 50 Erhängten 11 Mal Muskelrupturen, und zwar 7 Mal eines,
3 Mal beider Kopfnicker, 5 Mal des Platysma, 2 Mal der Musculi
sternohyoidei und thyreoidei und 1 Mal des Omohyoideus. Diese
Muskelrupturen können, doch nur selten, in vivo entstehen und sind
dann mehr weniger suffundirt, in der Regel sind sie ganz reactionslos
und sind dann offenbar erst postmortal, und zwar meistens erst bei der
Section durch das Strecken und Drehen des todtenstarren Halses, wie es
insbesondere beim Eröffnen des Schädels und den diesem vorangegangenen
Manipulationen stattfindet, künstlich an den eingeschnürt gewesenen
Stellen erzeugt worden. Auch bei suffundirten solchen Rupturen ist die
Möglichkeit einer postmortalen Entstehung nicht sofort ausgeschlossen,
da auch letztere, wenn gleichzeitig bluthältige Gefässe zerrissen sind
und dem Austritte des Blutes einige Zeit gegönnt war, wie suffundirt
erscheinen können.[350]
[Illustration: Fig. 94.
Partielle Ruptur beider Kopfnicker bei einem erhängten Selbstmörder.
Rinnenförmige Querfurchen in beiden Brustzungenbeinmuskeln. Doppelbruch
der Spange des Ringknorpels.]
[Sidenote: Fracturen des Zungenbeins und des Kehlkopfes.]
Auch bei den zwei mehrfach erwähnten Justificirten fanden wir die
Kehlkopf-Zungenbeinmusculatur rechterseits zerquetscht, was aber
durch einen Knoten erzeugt worden war, den der Scharfrichter an
dieser Stelle des Stranges angebracht und während des Hängens
mit aller Kraft gegen den Kehlkopf gedrückt hatte. Diese
Scharfrichterpraxis scheint sehr alt zu sein, denn schon +Morgagni+
(l. c. Epist. XIX) berichtet, dass bei einer solchen Hinrichtung:
Carnificis laqueus musculos, qui os hyoides cum larynge proximisque
partibus connectunt, disruperat, ut illud os ab larynge esset
separatum. Muskelzerreissungen bei 4 Hinrichtungen beschreibt auch
+Maschka+ (l. c. 602) und bemerkt, dass er solche bei Selbstmördern
niemals beobachtet habe.
[Illustration: Fig. 95.
Typische Fractur der Kehlkopf- und Zungenbeinhörner bei Erhängten.]
[Illustration: Fig. 96.
Kehlkopf allein von Fig. 94; zeigt die Details der Doppelfractur des
Ringknorpels.]
Fracturen der Zungenbeinhörner trifft man häufig, meist nahe an ihren
hinteren Enden. Ebenfalls häufig sind, wie wir bereits in der zweiten
Auflage dieses Buches (1881, pag. 482) hervorhoben, die Fracturen der
oberen Kehlkopfhörner, besonders wenn sie bereits verknöchert sind, und
zwar entweder vor ihrem peripheren Ende oder an der Basis (Fig. 95).
Diese Fracturen entstehen wenigstens beim typischen Erhängen nicht,
wie man meinen könnte, durch directen Druck des Stranges, sondern,
wie in unserem Institute, insbesondere durch +Haumeder+ (l. c.),
nachgewiesen wurde, indirect, d. h. als Theilerscheinung und Folge des
oben erwähnten Angedrücktwerdens des Ligamentum thyreohyoideum medium
an die Wirbelsäule und consecutive Zerrung der Ligamenta hyothyreoidea
lateralia, die sich bekanntlich an den Enden des Zungenbeines
einerseits und der Kehlkopfhörner andererseits inseriren. Daher sind
auch die Oeffnungen der Fracturwinkel bei letzteren stets nach oben,
beim ersteren in der Regel nach unten gekehrt.
[Sidenote: Kehlkopffracturen und Rupturen der Carotis bei Erhängten.]
Beschädigungen des eigentlichen Kehlkopfes sind beim typischen
Erhängen sehr selten, doch ist ihr Zustandekommen aus dem erwähnten
Angedrücktwerden des oberen Kehlkopfrandes an die Wirbelsäule und
consecutivem Auseinanderweichen der Schildknorpelplatten begreiflich,
besonders bei fragilen (älteren) Kehlköpfen. Wir selbst haben noch
keinen solchen Fall beobachtet, +Lesser+ dagegen sah zweimal
Infractionen der Schildknorpelplatten.
Am günstigsten ist die Gelegenheit für Entstehung von Kehlkopfbrüchen
dann, wenn der Strang direct auf den Kehlkopf, insbesondere auf die
Membrana crico-thyreoidea, zu liegen kommt. In diesem Falle werden
nicht blos die Schildknorpel direct gequetscht, sondern die vordere
Spange des Ringknorpels nach rückwärts gezerrt, so dass leicht
Fracturen, namentlich des letzteren, entstehen können. +Lesser+ bildet
eine so entstandene Doppelfractur des Ringknorpels ab und eine gleiche
von uns beobachtete zeigt Fig. 94 und 96.
[Sidenote: Ruptur der Intima carotis.]
Zu den localen Befunden, die sich bei Erhängten an den Weichtheilen
des Halses ergeben können, gehört auch die Ruptur der Intima carotis.
+Amussat+ hat zuerst auf diese Ruptur aufmerksam gemacht und seitdem
wurde sie nicht blos bei Erhängten beobachtet, sondern auch bei
Erhängungsversuchen mit Leichen künstlich erzeugt.[351] Nach der
Zusammenstellung von +Peham+ („Ueber Carotisrupturen bei Erhängten.“
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII, Suppl. pag. 176)
fanden sich in unserem Institute solche Rupturen in 8·06 Procent, bei
Justificirten unter 7 Fällen 5mal. Im Ganzen gehören sie demnach bei
Selbstmördern nicht zu den häufigen Befunden, obgleich +Simon+ sie
bei sechs Erhängten zwei Mal und +Lesser+ in 50 Fällen sieben Mal
gesehen hat. In sämmtlichen unserer Fälle, sowie in fast allen der
von Anderen beobachteten befand sich die Ruptur unmittelbar unter
der Theilungsstelle der Carotis, also dort, wo, wie wir uns durch
die oben erwähnten Versuche überzeugt haben, die Carotiden durch
das Würgeband bis zur Undurchgängigkeit comprimirt und gegen die
Wirbelsäule angepresst werden, doch kann sie auch in den Aesten der
Carotis vorkommen. Dieser Druck und die gleichzeitige Zerrung des
Gefässrohrs nach oben bewirkt die Ruptur. +Ignatowski+ (l. c.) legt das
Hauptgewicht auf die Zerrung, während den Versuchen +Peham+’s zufolge
diesem Moment nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Die Ruptur ist
immer quergestellt, einfach oder mehrfach, und betrifft in der Regel
nur einen Theil der Peripherie des Gefässlumens (Fig. 97), selten die
ganze. In den meisten unserer Fälle war der betreffende Riss etwas,
doch immer nur unbedeutend, sugillirt. Es scheint, dass namentlich
dünne und daher stark einschnürende Strangwerkzeuge solche Rupturen
bewirken können; denn in allen unseren Fällen, mit Ausnahme eines
einzigen, wo ein Riemen in Anwendung kam, hatten sich die Betreffenden
an einem Strick aufgehängt. Dass eine gewisse Rigidität der Arterien,
insbesondere ein bestehender atheromatöser Process, das Zustandekommen
der Ruptur erleichtere, können wir nicht bestätigen, denn die meisten
Individuen, bei denen wir sie sahen, befanden sich noch im jüngeren
Alter. Auch können wir nicht behaupten, dass die grössere oder
geringere Stärke des Halses dabei von wesentlichem Einfluss sei. Leicht
können solche Rupturen beim unvorsichtigen Aufschlitzen der Carotiden
entstehen, worauf zu achten wäre.
[Illustration: Fig. 97.
Einfache Querruptur der Intima carotis eines erhängten Selbstmörders
unmittelbar vor der Bifurcation. Nat. Gr.]
[Sidenote: Verletzungen der Wirbelsäule.]
Fracturen, Luxationen oder Zerreissungen der Wirbelsäule gehören
beim Selbstmord durch Erhängen zu den allergrössten Seltenheiten und
kommen wohl nur bei ganz besonderen Verhältnissen vor. +Lesser+ fand
einmal eine partielle Zerreissung der vierten Zwischenwirbelscheibe
mit Fractur der darüber befindlichen periostitischen Osteophyten bei
einer 61jährigen Frau und wir eine Abreissung der Bandscheibe zwischen
dem 3. und 4. Halswirbel vom letzteren zugleich mit der angrenzenden
Corticalis des sehr porotischen Wirbelkörpers bei einem 83jährigen
marastischen Manne, den wir als Leiche aufgehängt hatten.[352] Doch
können, wie wir bereits oben (pag. 360) bemerkten, bei so brüchigen
Knochen die Fracturen der Halswirbelsäule auch erst am Obductionstisch
geschehen. Auch bei der gewöhnlichen Justification durch den Strang
kommen Beschädigungen der Halswirbelsäule wohl nur ausnahmsweise vor.
Dagegen wurden, wie +Kinkead+ (Virchow’s Jahrb. 1885, I, pag. 527) und
+Pellereau+ (Annal. d’hygiène publ. 1886, XVI, pag. 108) berichten,
bei der englischen Hängemethode, bei welcher der Delinquent aus
bedeutender Höhe an einem langen dicken, unter dem Kinn geknüpften
Strick plötzlich fallen gelassen wird, vollständige Abreissungen der
Halswirbelsäule beobachtet. In einem Falle war sogar fast der ganze
Kopf abgerissen.[353]
In einem zur Prager Facultät gelangten Falle wurde ein
hochschwangeres Bauernmädchen in einem Glockenthurme zwischen
dem Glockenstuhl und dem Boden des Thurmes an einem Glockenseil
frei hängend gefunden, und es bestand der Verdacht, dass sie von
ihrem Schwängerer auf die Art umgebracht worden sei, dass er ihr
die Schlinge unversehens um den Hals geworfen und sie dann vom
Glockenstuhl in die Tiefe herabgestossen hatte. Der Fall war höchst
wahrscheinlich nur ein Selbstmord und das Gutachten der Facultät
wurde auch in diesem Sinne abgegeben. Wir erwähnen ihn aber deshalb,
weil hier gewiss die günstigsten Bedingungen zur Entstehung einer
Zerreissung der Wirbelsäule gegeben waren. Leider hatten die
Obducenten unterlassen, letztere zu untersuchen, so dass dadurch eine
der interessantesten und für die Lehre vom Erhängungstode ungemein
wichtigen Beobachtungen der Wissenschaft entgangen ist.
Auch wenn Jemand, selbst bei kurzem Sturz mit der Schlinge um den
Hals von einer Höhe herabspringt, kann es zu Beschädigungen der
Halswirbelsäule kommen. So fand +Liman+ eine solche bei einem Manne,
der mit um den Hals gelegten Riemen von einem Stiegengeländer
herabgesprungen war, allerdings aber nach dem Abschneiden aus
einer Höhe von 12 Fuss auf den gepflasterten Hof gestürzt war.
Einen anderen Fall von Zerreissung der Lig. intervertebralia bei
Selbstmord durch Erhängen soll +Ansiaux+ in Lüttich beobachtet
haben (Schmidt’s Jahrb. 1843, XL, 370). Ferner wird über solche,
nichts weniger als sichergestellte Fälle berichtet: in den
Annalen der Staatsarzneikunde, X, 701, und in der Zeitschrift für
Staatsarzneikunde, 1851, N. F., IX, 153. Aeltere Literaturangaben
über den Gegenstand, sowie Berichte über in dieser Beziehung
angestellte Versuche finden sich in +Orfila+’s Lehrb. d. gerichtl.
Med., übers. v. +Krupp+, 1849, II, 380 u. s. f.
[Sidenote: Innere Befunde.]
Die übrigen Sectionsbefunde sind die dem acuten Erstickungstode
überhaupt zukommenden. Hyperämien des Gehirns und seiner Häute sind
keineswegs constant, obzwar man sie, da die Halsgefässe comprimirt
werden, jene der Wirbelsäule aber offen bleiben, erwarten sollte.
Ecchymosen der harten Hirnhaut haben wir zweimal beobachtet. Ueber
die Inconstanz des Befundes von Hyperämie in den Lungen haben wir
uns bereits oben ausgesprochen. Ecchymosen an den Lungen sind bei
Erwachsenen verhältnissmässig selten. Die Unterleibsorgane zeigen, wenn
die Leiche bald nach der Suspension abgenommen und in die gewöhnliche
Rückenlage gebracht wurde, ein ganz gewöhnliches Verhalten. Je länger
jedoch die Leiche hing, desto blutreicher erweisen sich diese Organe,
ein Befund, der nur als Leichenhypostase aufgefasst werden darf.
Eine stärkere Hyperämie der Nieren, wie sie +Casper+ bei Erhängten
angibt, haben wir ebenfalls nur bei Leichen gefunden, die länger
gehangen hatten. Ebenso fanden wir auffallende Hyperämie der
Darmschleimhaut, selbst mit (wahrscheinlich postmortalen) Extravasaten
auf dieser, wie sie +Samson+-+Himmelstiern+ (Schmidt’s Jahrb. 1885,
7 Heft) und schon früher +Hölder+ (Prager Vierteljahrschr. XXXVI,
Annal. 80) beschrieben, nur unter den erwähnten Umständen. Dagegen
constatirten wir wiederholt stärkere Injection der Magenschleimhaut
und Ecchymosirung des Fundus auch unter Umständen, wo an eine blosse
Hypostase nicht zu denken war, so dass dieselben mit dem während der
Erstickung erfolgenden vasomotorischen Krampf, namentlich mit jenem
im Bereiche der Gefässe des Darms und der Milz, in ursächlichen
Zusammenhang gebracht werden müssen.[354] Auch Pancreasblutungen wurden
beobachtet (pag. 356).
[Sidenote: Selbsterhängen oder Mord?]
Entsteht in irgend einem Falle die Frage, +ob Selbstmord oder Tödtung
durch fremde Hand+ vorliegt, so wird man sich zunächst erinnern,
dass, wie schon bei der Besprechung des Selbstmordes hervorgehoben
wurde, jener durch Erhängen zu den häufigsten Selbstmordarten gehört,
so dass in der überwiegendsten Zahl der Fälle schon dieser Umstand
die Annahme des Selbstmordes nahe legt. Da es ferner nur unter
besonders günstigen Umständen (wie z. B. bei dem im Glockenthurme
erhängt gefundenen Mädchen), bei Kindern oder Bewusstlosen oder bei
Intervention mehrerer Personen gelingen könnte, ein Individuum ohne
heftige Gegenwehr von dessen Seite durch Erhängen zu tödten, so sind
wir, wenn die erwähnten Umstände sich nicht constatiren lassen und wenn
keine Zeichen einer geleisteten Gegenwehr oder einer anderen Todesart
an der Leiche gefunden werden, nicht berechtigt, den Tod von der
Einwirkung fremder Hand herzuleiten.[355]
Im April 1875 hatte ein Schneider in Wien seine fünf Kinder im
Alter von 8 Monaten, 2, 6, 8 und 9 Jahren und dann sich selbst
durch Erhängen getödtet. Eine gleiche That hatte im April 1877 ein
geisteskranker Schuldiener an seinen 13 und 6 Jahre alten Kindern
(Mädchen) vollbracht, die er höchst wahrscheinlich im Schlafe
überfallen hatte. Die von einem Strick herrührende Strangfurche
zeigte bei beiden Kindern den gewöhnlich bei Erhängten zu findenden
Verlauf. Es fand sich jedoch bei beiden Kindern eine kreuzergrosse
Blutaustretung unter der Galea über der Hinterhauptsschuppe und bei
dem älteren Mädchen ausserdem eine bohnengrosse Hautaufschürfung am
vorderen Rande des rechtes Kopfnickers in der Höhe des Kehlkopfes,
ferner eine ebenso grosse Hautvertrocknung an der Stirne und an der
Nasenwurzel und endlich eine erbsengrosse Blutaustretung unter der
Haut der rechten Wange, woraus zu ersehen, dass wenigstens bei dem
älteren Kinde die Tödtung nicht ohne Zurücklassung anderer, als blos
von der Strangfurche herrührender Spuren gelungen ist. -- Ueber
einen an einem alten, sehr herabgekommenen und durch Misshandlungen
geschwächten Mann begangenen Mord durch Erhängen berichtet +Rehm+
(Friedreich’s Bl. 1884, pag. 322). -- In einem unlängst von der
Wiener med. Facultät begutachteten Falle stand ein Mann im Verdacht,
sein Weib aufgehängt zu haben, da die Frau an jenem Tage schwer
betrunken war, in halb knieender Stellung erhängt gefunden wurde und
eine Tour des sehr langen, dicken, an einem Dachsparren befestigten
und doppelt genommenen Strickes quer durch den Mund verlief. Da
nicht erwiesen werden konnte, dass die Frau auch zur Zeit der That
betrunken war, da ferner keine Verletzungen gefunden wurden und die
eine Tour der Doppelschlinge auch nur zufällig beim hastigen Erhängen
in den Mund gerathen sein konnte, so vermochte die Facultät die
Möglichkeit des Selbstmordes nicht auszuschliessen.
[Sidenote: Postmortale Suspension.]
Häufiger dagegen kommt es vor, dass anderweitig Umgebrachte aufgehängt
werden, um den Todesfall als Selbstmord erscheinen zu lassen.
Ist die Tödtung durch eine mechanische Verletzung bewirkt worden, so
ist die Diagnose eine verhältnissmässig leichte, da ja das Auffinden
der Verletzung und ihrer Folgen (z. B. der Verblutung) den Fall meist
sofort klarstellen wird.
So wurde, wie +Casper+ erzählt, ein Matrose in einem Bordell durch
einen Messerstich getödtet, seine Leiche aber von den Mädchen, die
den Fall vertuschen wollten, gewaschen, mit einem frischen Hemd
bekleidet und aufgehängt. In den +Maschka+’schen Gutachten findet
sich ein Fall, wo ein Bursche auf einem Weidenbaum, mehrere Fuss von
der Erde entfernt, hängend gefunden wurde, während die Untersuchung
der mit Vorsicht abgenommenen Leiche eine Fractur des Schädels mit
beträchtlichem Blutaustritt ergab. Ein 64jähriger Bienenzüchter,
über welchen +Lafargue+ (Annal. d’hygiène publ. 1885, XIII, pag.
455) berichtet, wurde auf einer Eiche in nahezu sitzender Stellung
hängend gefunden, mit einer Maske am Kopfe, wie sie die Bienenzüchter
benützen, jedoch so, dass das Visir den Scheitel und die Leinwand das
Gesicht bedeckte; der Strick, an welchem die Leiche hing, war ebenso
wie der Baumstamm mit Blut befleckt, doppelt genommen und verlief
über das Gesicht, respective die dasselbe bedeckende Leinwand, quer
durch den Mund (!). Hinter dem linken Ohre fand sich eine suffundirte
Quetschwunde und darunter eine Zertrümmerung des Schädels mit
Eintreibung der Bruchstücke in das Gehirn und hochgradigem intra- und
extracraniellem Extravasat. In diesen Fällen konnte an der Tödtung
durch fremde Hand und nachträglicher Aufknüpfung nicht gezweifelt
werden.
[Sidenote: Verletzungen bei Erhängten.]
Bei der Beurtheilung solcher Befunde an Leichen Erhängter ist jedoch
wohl zu beachten, dass sich Verletzungen verschiedener Art auch bei
zweifellosen Selbstmördern finden können.
Es können zunächst Verletzungen schon vor dem Erhängen bestanden haben,
und diese können sowohl durch Zufall, als durch fremde und selbst durch
des Selbstmörders eigene Hand beigebracht worden sei.
Bei einem Alkoholiker, der sich erhängt hatte, fanden wir die
ganze rechte Augengegend geschwollen und sugillirt; es wurde
jedoch sichergestellt, dass der Betreffende zwei Tage früher im
betrunkenen Zustande von einer Stiege herabgefallen und dabei sich
die erwähnte Verletzung zugezogen hatte. -- In einem anderen Falle
hatte sich ein Lehrjunge aus Verdruss über eine von seinem Lehrherrn
erhaltene Züchtigung aufgehängt, und es wurden an seiner Leiche
mehrere Striemen am Rücken und an den Extremitäten gefunden, die von
Stockschlägen herrührten, ausserdem zwei kreuzergrosse Extravasate in
der behaarten Kopfhaut. Sämmtliche Verletzungen rührten zweifellos
von der kurz vor dem Erhängen stattgefundenen Züchtigung her. --
Ein Mann (Säufer) hatte acht Tage früher, bevor er sich erhängte,
von seinem Weibe einen Schlag über den Kopf mit dem Rücken eines
Küchenbeiles erhalten und hatte dabei stark geblutet. Da die Meinung
ausgesprochen wurde, dass dieser Schlag eine Gemüthskrankheit beim
Manne hervorgerufen und auf diese Weise zur Begehung des zweifellos
sichergestellten Selbstmordes Veranlassung gegeben haben konnte,
wurde die gerichtliche Obduction veranlasst. Es fand sich eine 2
Cm. lange, mit missfärbigem Eiter belegte Trennung der Kopfhaut
hinter dem linken Ohre mit beträchtlicher Suffusion, beide rechte
Augenlider mit Blut unterlaufen und ausserdem eine thalergrosse
flache Blutaustretung ober der Mitte des Brustbeingriffes. -- Ein
Wirth erhing sich zwei Tage später, nachdem er von seinem Hausherrn
einen Schlag mit einem Schlüssel auf die Stirne erhalten hatte. Der
Selbstmord wurde von der angeblichen Hirnerschütterung abgeleitet.
Die Obduction ergab blos eine bohnengrosse, nicht suffundirte
Borke auf der Stirne. -- Einen analogen Fall bringt +Maschka+
(Gutachten. IV, 20), wo, allerdings erst fünf Monate nach über den
Kopf erhaltenen Hieben mit einer Sense, der Selbstmord verübt wurde,
aber ebenfalls die seltene Frage vorgelegt wurde, ob die betreffende
Verletzung eine Geistesstörung und dadurch den Selbstmord veranlasst
habe? Sowohl in diesem, als in unseren Fällen wurde erklärt, dass
sich dieses weder mit Bestimmtheit, noch mit Wahrscheinlichkeit
behaupten lasse. -- +Liman+ (Handbuch. II, 7. Aufl., 758) berichtet
über Selbsterhängen eines von Jägern angeschossenen Holzdiebes.
[Sidenote: Verletzungen vor und während der Suspension.]
Von eigener Hand des Entleibten können Verletzungen herrühren, wenn
derselbe früher auf eine andere Art sich umzubringen versuchte, da
ihm aber dieses misslang, erst zum Stricke griff. So fand +Casper+
(l. c. 718) bei einer alten Jungfer, die sich an ihrem wollenen Shawl
erhängt hatte, zwei Stichwunden in der linken Brustgegend, welche
bis in den Herzbeutel eingedrungen waren und von denen die eine die
Fettschichte des Herzens oberflächlich durchtrennt hatte. Die Wunde
hatte sich die Betreffende mit einen Tischmesser beigebracht, sich
dann gewaschen und hierauf erst aufgehängt. -- Bei einem offenbar
dem Arbeiterstande angehörigen Unbekannten, der im Prater erhängt
gefunden wurde, ergab sich an der rechten Hand eine ausgedehnte, ganz
frische, unverbundene Rissquetschwunde. Es handelte sich entweder um
eine Maschinenverletzung, die den Mann zum Tode getrieben hatte, oder
um einen vorausgegangenen Selbstmordversuch durch Erschiessen, wobei
die Waffe gesprungen war. Erhängen mit gleichzeitigem Erschiessen
ist uns einmal vorgekommen. Die Rebschnur war doppelt genommen und
dementsprechend fanden sich zwei Strangfurchen mit einer stark
injicirten Hautleiste dazwischen. Die rechte Schläfe war durch einen
Pistolenschuss zertrümmert und ebenso wie die rechte Hand von Pulver
geschwärzt. -- Oben haben wir einen Fall von +Taylor+ mitgetheilt, in
welchem ein Mann sich früher den Hals zu durchschneiden versuchte und
dann erst durch Suspension sich tödtete. -- Ein interessanter Fall
dieser Art kam 1874 in Wien vor und wurde uns vom Polizeiarzte Dr.
+v. Britto+ mitgetheilt. Er betraf einen älteren Mann, der in seinem
von innen versperrten Zimmer am Thürpfosten hängend und todt gefunden
wurde, mit den Fussspitzen den Boden berührend. Der Strick lief durch
eine quere Hautschnittwunde hindurch, die jedoch die Luftwege nicht
eröffnet hatte. In der linken (!) Ellenbeuge fand sich eine quere
Hautschnittwunde und in der Magengrube eine schlitzförmige, ½ Zoll
lange Wunde, welche, wie es schien, in die Bauchhöhle eindrang. Das
Zimmer war über und über mit Blut bedeckt. Eine grössere Blutlache
vor dem Spiegel und daselbst ein blutiges Taschenmesser auf dem
Boden. An den Möbeln zahlreiche Blutspuren, selbst hinter dem Ofen
Abdrücke blutiger Hände und Füsse. Eine Obduction wurde leider nicht
veranlasst, da der Selbstmord ausser Zweifel stand. -- +Haumeder+
berichtet sogar (Wiener med. Wochenschrift. 1882, Nr. 18) über eine
Combination von Selbstmord durch Erhängen mit zahlreichen, selbst
zugefügten Hiebwunden am Kopfe bei einem mit Typhus ambulatorius
Behafteten. -- Weiter obducirten wir einen sehr kräftigen, erst
nachträglich agnoscirten, etwa 24jährigen Mann, der sich in einem
Hôtel an der Thüre mit einer Rebschnur erhängt hatte, bei welchem
sich am Rücken des rechten Zeigefingers zwei schief und parallel
verlaufende, frisch blutende Hautschnitte und als Fortsetzung des
einen ein dritter am Rücken des rechten Mittelfingers ergaben. Die
Provenienz dieser Schnitte blieb unaufgeklärt. Wahrscheinlich dürfte
sich der Mann dieselben beim Zurichten (Abschneiden) des Strickes
zugefügt haben.
[Sidenote: Verletzungen bei Erhängten. Herabfallen.]
Dass während des Erhängens, insbesondere durch die mit dieser Todesart
verbundenen Convulsionen und durch Anschlagen des Körpers an harte,
namentlich vorspringende Gegenstände Verletzungen entstehen können,
ist im Allgemeinen nicht unmöglich, doch zweifellos sehr selten,
wenigstens haben wir nur einen Fall dieser Art gesehen, in welchem
eine Hautaufschürfung mit unbedeutender Sugillation über dem einen
Schulterblatte offenbar durch den vorspringenden Theil eines eisernen
Gitters entstanden war, an welchem sich der Betreffende erhängt hatte.
Gröbere Verletzungen können auf diese Art nicht entstehen.
Viel mehr Beachtung verdient der Umstand, dass erst postmortal
verschiedene Verletzungen entstehen können, namentlich durch
unvorsichtiges Abnehmen oder überhaupt durch ungeschicktes Behandeln
der Leiche oder des Scheintodten.
In einem unserer Fälle wurde in einer Winternacht ein Mann an
dem Fenstergitter des Parterre eines im Bau begriffenen Hauses
von zufällig Vorübergehenden hängend gefunden. In übertriebenem
Rettungseifer zog der Eine ein Messer und schnitt den Strick durch.
In demselben Momente verschwand die Leiche, und es zeigte sich,
dass sie in ein unter dem Fenster befindliches offenes Kellerloch
gestürzt war. Bei der Obduction wurde ausser einer wohlausgeprägten
Strangfurche und den Symptomen des Erstickungstodes eine Diastase
der rechten Lambdanaht gefunden, welche sich in einem bis zum
Foramen lacerum derselben Seite ziehenden Knochensprung fortsetzte
und mit mässiger Sugillation der Kopfhaut am Hinterhaupt und nicht
unbedeutendem Blutaustritt in die hinteren Schädelgruben verbunden
war. Es unterlag keinem Zweifel, dass dieser Sprung erst nachträglich
durch den Sturz des Erhängten in den ziemlich tiefen Keller
entstanden war.
In einem zweiten uns bekannten Falle wurde bei der Obduction
eines erhängten Unbekannten ausgetretenes Blut in der Bauchhöhle
gefunden, welches aus einer ziemlich tiefen Leberruptur stammte. Die
nachträglichen Erhebungen ergaben, dass ein Wachmann die Leiche in
einer ansehnlichen Höhe an einem Baumaste hängend fand, und dass er
hierauf mit seinem Säbel den Strang durchhieb, worauf die Leiche mit
grosser Gewalt heruntergefallen war. Die Leberruptur war offenbar
durch diesen Sturz entstanden und ebenso der consecutive Blutaustritt
in die Bauchhöhle, der bei dem Blutreichthum, den die Leber auch
postmortal zeigt, und bei der allgemein flüssigen Beschaffenheit des
Erstickungsblutes wohl begreiflich erscheint und geeignet ist, das,
was wir an einer anderen Stelle über postmortale Verletzungen gesagt
haben, weiter zu illustriren.
In dem oben erwähnten +Casper+-+Liman+’schen Falle ist die
Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass der Bruch der Wirbelsäule
erst durch den Sturz auf das Hofpflaster aus der Höhe von 12 Fuss
entstanden war.
Als Beweis, wie mitunter mit Leichen Erhängter verfahren wird, möge
ein in Friedreich’s Centralarchiv f. Staatsarzneikunde. 1845, pag.
442, mitgetheilter Fall dienen, in welchem Jemand erhängt auf dem
Dachboden gefunden und, da das Heruntertragen der Leiche beschwerlich
war, einfach aus der Dachlucke -- herabgeworfen wurde, wobei
bedeutende Verletzungen entstanden.
Auch die Möglichkeit ist zu erwägen, dass der Strang unter der Last
des Körpers gerissen und letzterer beim Sturze sich beschädigt
haben konnte. Dies kann sowohl unmittelbar nach dem Erhängen, als
nachträglich geschehen. Ein Fall erster Art kam in Wien vor und
betraf eine geisteskranke Frau, die mit einer Schlinge um den Hals
soporös am Boden liegend gefunden wurde, während über ihr ein Stück
eines abgerissenen Strickes an einem Nagel befestigt war. Die Frau
starb am selben Tage und die Obduction ergab eine Diastase der
Lambdanaht, die sich beiderseits in eine Fractur der Felsenbeine
fortsetzte, welche in der Sella turcica sich vereinigte und offenbar
beim Sturze in Folge des Reissens des Strickes, an welchem sich die
Betreffende erhängen wollte, zu Stande gekommen war. -- Ebenso ist
es vorgekommen, dass, wenn die Fäulniss bis zu einem gewissen Grade
gediehen war, der Kopf vom Rumpfe abriss und die Schlinge hängen
blieb. Eines Falles dieser Art erwähnt +Schauenstein+ (l. c.
579). Einen anderen haben wir obducirt. Die Ablösung war zwischen dem
6. und 7. Halswirbel erfolgt, die übrigen sammt dem Kehlkopfskelet
befanden sich noch am Kopfe. Am ersteren waren die Kehlkopfhörner
gebrochen. Der Schädel selbst war unverletzt.
[Sidenote: Suspension anderweitig Erstickter.]
Schwieriger kann sich die Beurtheilung gestalten, wenn das betreffende
Individuum früher auf eine andere Weise gewaltsam erstickt und dann
erst aufgehängt wurde, da insbesondere der allgemeine innere Befund der
gleiche sein könnte, wie er bei Erhängten gewöhnlich getroffen wird. Es
wäre in solchen Fällen vorzugsweise auf die Zeichen von Ueberwältigung,
geleisteter Gegenwehr, namentlich aber auf das Vorhandensein von
localen Spuren zu reagiren, die anderen Erstickungsformen, besonders
dem Erdrosseln und Erwürgen, zukommen, die wir später ausführlich
besprechen werden. Doch ist im Auge zu behalten, dass auch bei
Selbstmördern ausser der Strangfurche noch andere Druckspuren sich
bilden können, so z. B. durch Knoten oder durch zwischen den Strang und
den Hals gerathene Gegenstände, so z. B. Hemdknöpfe, oder auch durch
Verschiebung des Stranges während des Erhängens und dadurch bewirkte
Aufschindung der Haut.
Ein interessanter Fall ersterer Art wird von +Tardieu+ (Annal.
d’hygiène publ. 1865, XXIII, 341) beschrieben und abgebildet. Er
betraf eine Frau, die auf einem Speicher sitzend und an die Wand
gelehnt todt gefunden wurde, während über ihr eine gerissene Schlinge
(Strick) hing. Um den Hals verlief eine deutliche Strangfurche und
unter derselben, entsprechend einer etwas nach oben ausgebauchten
Stelle der letzteren, fand sich an der linken Halsseite eine
Doppelreihe von 8 rundlichen, nahe bei einander, respective
untereinander stehenden Eindrücken, die den Verdacht auf Erwürgung
durch fremde Hand erweckte, während sie, wie +Tardieu+ ausführt,
offenbar von den Fingerknöcheln der linken Hand herrührten, die, im
Moment des Erhängens zwischen Strick und Hals gelagert, durch das
nachträgliche Reissen des Strickes aber wieder freigeworden war, eine
Möglichkeit, die +Tardieu+ noch plausibler macht durch die Abbildung
eines Sträflings, der im Gefängniss hängend und todt gefunden wurde,
während die rechte Hand noch zwischen Strick und Hals eingeklemmt
war (Fig. 98) und wo an letzterem ähnliche Druckspuren wie bei der
erwähnten Frau gefunden wurden.
[Sidenote: Stellungen erhängter Selbstmörder.]
Der Umstand, ob Jemand freihängend gefunden wurde oder mit den Füssen
oder einem anderen Körpertheil irgendwo Unterstützung fand, kann für
die Frage, ob Selbstmord oder Tödtung durch fremde Hand vorliegt,
nicht verwerthet werden, da unzählige Erfahrungen lehren, dass der
Selbstmord durch Suspension keineswegs immer in der Weise geschieht,
dass dann der Körper frei an dem Strange hängt, sondern, dass ungemein
viele Selbstmörder sich an Gegenständen erhängen, die viel niedriger
angebracht sind, als die Entfernung des Halses vom Boden beträgt, so
dass ihre Leichen in den verschiedenartigsten Stellungen gefunden
werden, wobei sie mit den Füssen oder mit den Knien oder mit dem
Gesässe auf dem Boden aufruhen.
Die hier angeschlossenen Abbildungen, welche wir theils einer
älteren Arbeit von +Marc+ (Annal. d’hygiène publ. 1830, V), theils
einer neueren von +Tardieu+ (Ibid. 1870 und Étude sur la pendaison,
la strangulation et la suffocation. Paris 1879, 2. édit.), theils
unserer eigenen Erfahrung entnahmen, mögen das Gesagte illustriren.
[Illustration: Fig. 98.
Erhängter Sträfling mit zwischen Hals und Strang eingeklemmter rechter
Hand.]
Fig. 99 (+Marc+) betrifft den Prinzen von Condé, welcher sich 1830
in Paris durch Erhängen das Leben nahm und dessen Selbstmord, weil
die Leiche nicht frei suspendirt gefunden wurde, anfangs Verdacht
auf Einwirkung fremder Hand erweckte und deshalb zu der +Marc+’schen
Arbeit Anstoss gab. Der Prinz wurde eines Morgens an dem Riegel eines
geschlossenen Fensterladens seines Schlafzimmers hängend und todt
gefunden. Die Leiche war halb angekleidet und das Strangwerkzeug war
die Cravatte, welche der Prinz gewöhnlich zu tragen pflegte, die mit
einem zusammengedrehten Sacktuch verknüpft war. Der Körper hing nicht
frei, sondern stand mit den Fussspitzen auf dem Boden, während die
Beine leicht gebeugt waren. Neben der Leiche stand ein Sessel. Keine
Spur von Verletzungen wurde gefunden, ebenso nichts Verdächtiges
an den Kleidern oder im Zimmer, so dass die 5 Aerzte, die mit der
gerichtlichen Untersuchung der Leiche betraut wurden, sich sämmtlich
für Selbstmord aussprachen.
In Fig. 100 (+Marc+) sehen wir ein 40jähriges Weib an einem
Stricke hängend, der an einem Topfgestelle befestigt ist. Die
Stellung der Leiche ist eine besonders groteske, da die Beine weit
auseinandergespreizt sind, wobei der rechte vollkommen ausgestreckte
Fuss mit der Ferse, der halb im Knie gebogene linke aber mit den
Zehenspitzen den Boden berührt.
Fig. 101 (+Tardieu+) zeigt einen erhängten Mann, dessen rechter
Fuss auf einem Stuhle aufruht, während der andere frei in der Luft
schwebt, so dass man den Eindruck erhält, wie wenn der Betreffende
eben im Begriffe wäre, vom Stuhle herabzusteigen.
Fig. 102 (+Marc+) stellt einen Gefangenen dar, der sich am
Fenstergitter seiner Zelle mittelst eines Shawls erhängt hatte. Die
Stellung ist eine halbknieende, wobei nicht blos die Spitzen beider
Füsse den Boden berühren, sondern auch das rechte Gesäss theilweise
am Fensterbrette aufruht. Ausserdem sind die Hände mit einem Sacktuch
gebunden, ein Befund, der bei Selbstmördern sehr selten vorkommt, dem
wir aber auch in Fig. 109 begegnen.[356]
[Illustration: Fig. 99.
Selbstmord durch Erhängen in stehender Stellung.]
Fig. 103 (eigene Beobachtung) zeigt einen Mann, der an einem
Wandnagel in hockender Stellung hängend gefunden wurde, in der Art,
dass beide Fusssohlen vollständig am Boden aufstanden.
Fig. 104 (+Marc+) zeigt einen 18jährigen Stallpagen, welcher sich
auf einem Heuboden erhängt hatte, und zwar an einem dicken Seil,
welches zwischen den Dachsparren hinweggespannt war. Ueber dieses
hatte er ein Tuch hinüber geworfen und die Enden desselben unter
dem Kinn zusammengeknüpft. In dieser einfachen, gewissermassen ein
um die Ohren gebundenes Tuch darstellenden Schlinge hing er in der
Weise, dass die Knie etwa einen Schuh von dem am Boden liegenden Heu
abstanden, die Fussspitzen aber den Boden berührten.
Eine ähnliche knieende Stellung, jedoch mit noch mehr gebeugten
Knieen, zeigt Fig. 105 (+Marc+), auf welcher ein Mann dargestellt
ist, der in seinem Bette die Suspension vorgenommen hatte mittelst
eines Strickes, der um einen oberhalb des Bettes eingeschlagenen und
zur Befestigung der Bettvorhänge dienenden Nagel geschlungen war.
[Illustration: Fig. 100.
Selbstmord durch Erhängen. Weit auseinander gespreizte, den Boden
berührende Füsse.]
[Illustration: Fig. 101.
Selbstmord durch Erhängen. Der eine Fuss frei hängend, der andere auf
einem Stuhle aufruhend.]
In Fig. 106 (+Marc+) hängt die Leiche eines Mannes an einem Stricke,
der an einem in der Decke eines gewölbten Gefängnisses angebrachten
Fenstergitter befestigt ist. In Folge der geringen Höhe des letzteren
einerseits und der bedeutenden Länge des Strickes anderseits ist das
Gesäss kaum ein Schuh vom Boden entfernt und die Leiche scheint auf
diesem mit ausgestreckten Beinen zu sitzen.
Fig. 107 (+Tardieu+) betrifft einen Gefangenen, der sich an
einem Gashahn in der Art erhängt hatte, dass er, auf dem Boden
des betreffenden Locales vollkommen sitzend, mit ausgestreckten
Füssen gefunden wurde. Der Fall bot auch insoferne ein besonderes
Interesse, als aus dem Munde ein Leinwandtampon hervorragte,
welchen sich der Betreffende, offenbar in der Absicht, um den
Tod zu befördern, hineingepresst hatte. Ein solcher Befund ist
eine grosse Seltenheit und wurde von uns erst einmal beobachtet,
und zwar bei einer Geisteskranken, die sich in der Irrenanstalt
aufgehängt hatte. Von aussen war ausser der Strangfurche nichts zu
bemerken, beim Herausnehmen der Zunge aber fand man tief im Hals
einen hühnereigrossen und ebenso geformten Tampon, der aus einem
Stückchen Holz bestand, um welches Charpie und verschiedene Fetzen
herumgewickelt und mit einem Faden befestigt waren. Die betreffende
Frau hatte bereits zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen, das
erste Mal durch einen Messerschnitt in die rechte Hüfte, das zweite
Mal dadurch, dass sie sich das vordere Drittel der Zunge mit einem
von einer Sardinenbüchse herrührenden Stück Blech abgeschnitten
hatte. Ausser dem ist uns ein Fall vorgekommen, wo der betreffende
Selbstmörder ein alter Herr, mit durch ein Sacktuch verhülltem Kopfe
und Gesichte hängend gefunden wurde.
[Illustration: Fig. 102.
Selbstmord durch Erhängen. Halbknieende Stellung. Gebundene Hände.]
[Illustration: Fig. 103.
Erhängen in hockender Stellung.]
Fig. 108 (eigene Beobachtung) ist ein interessantes Beispiel von
Erhängen in sitzender Stellung. Er betrifft einen 73jährigen
Mann, der mit seiner Frau und seiner erwachsenen Tochter im
gemeinschaftlichen Haushalt lebte. Eines Vormittags wurde er von
Letzterer auf der Kante einer 56 Cm. hohen Kiste in der Küche sitzend
bewusstlos gefunden, mit dem Rücken an einen Thürpfosten gelehnt.
Die Tochter war der Meinung, dem Vater sei übel geworden, rief die
Mutter herbei und beide bemühten sich, ihn mittelst Essigwaschungen
zu sich zu bringen. Erst während dieser Manipulation bemerkten sie,
dass er an einem Tuche hänge, welches beiläufig 35 Cm. über dem Halse
an einem Haken befestigt war. Das Tuch war mit seiner Mitte über
den Haken gelegt und die Enden unter dem Kinn zusammengeknüpft, und
dieser Verlauf hatte den Eindruck gemacht, wie wenn das Tuch nur
zufällig an dem betreffenden Haken hinge und dadurch das Uebersehen
der Sachlage veranlasst.
Fig. 109 (+Tardieu+) zeigt die Abbildung eines Gefangenen, der
sich an einem niedrigen Gashahn in liegender Stellung in der Art
aufgehängt hatte, dass das Gesicht nach abwärts gerichtet war und
der Vorderhals der Schlinge auflag, wodurch, wie begreiflich, ein
von dem gewöhnlichen ganz abweichender Verlauf der Strangfurche zu
Stande kommen musste, indem dieselbe quer über den Kehlkopf oder die
Trachea verlaufen konnte und nicht gegen den Nacken aufstieg, sondern
horizontal den Hals, wenigstens dessen Vorder- und Seitenfläche,
umkreisen musste. Auch hier hatte sich der Mann früher die Hände
gebunden, und zwar, was den Fall noch interessanter macht, am Rücken.
[Illustration: Fig. 104.
Erhängen in halbknieender Stellung. Eigenthümlicher
Suspensionsapparat.]
[Illustration: Fig. 105.
Erhängen in knieender Stellung.]
Fig. 110 (eigene Beobachtung) betrifft eine dem Trunke ergebene 51
Jahre alte Lumpensammlerin, die am Geländer einer der Eingangsstiegen
in den Alserbach-Hauptcanal erhängt gefunden wurde. Die Leiche befand
sich in halbliegender Stellung, indem der ganze Unterkörper der
leiterartigen, steilen Stiege auflag. Der Hals hing in der Schlinge
eines alten Strickes, der an den Nagel des Stiegengeländers geknüpft
war und deren Knoten +vor+ dem linken Ohre sich befand, so
dass die Strangfurche auch den Nacken umkreiste. Diese Umstände,
sowie durch Ratten veranlasste Abnagungen der Haut an den ineinander
gefaltenen Händen, die anfangs für vital entstandene Wunden gehalten
wurden, hatten zur Einleitung der gerichtlichen Obduction geführt.
[Illustration: Fig. 106.
Erhängen in halbsitzender Stellung.]
[Illustration: Fig. 107.
Erhängen in sitzender Stellung. Knebel im Mund.]
[Illustration: Fig. 108.
Erhängen in sitzender Stellung.]
[Illustration: Fig. 109.
Selbstmord durch Erhängen in liegender Stellung. Auf dem Rücken
gebundene Hände.]
Fig. 111 (eigene Beobachtung) betrifft einen Fall von Erhängen in
liegender Stellung, über welchen ein Facultätsgutachten eingeholt
wurde. Im Juli 1877 erstattete ein Gensdarm die Anzeige, dass die
Bäuerin F. N. am Morgen desselben Tages in ihrem Bette halbliegend
todt gefunden worden sei, wobei sich herausstellte, dass sie ein
Tuch um das Genick geschlungen hatte, welches mit dem Bettvorhange
verknotet war, als ob sie sich erhängt hätte. Da jedoch die
Athmungsorgane hierdurch nicht beeinträchtigt und ganz frei waren und
der Unterleib sehr angeschwollen war, sprach der Gensdarmeriebericht
die Vermuthung aus, dass die Verstorbene auf eine andere Weise
um’s Leben kam und erst später in jene Stellung gebracht wurde.
Die Betreffende hatte zwei Tage vor ihrem Tode ein schwächliches
Kind geboren, welches schon nach 24 Stunden starb. Am Abend vor
ihrem Tode klagte die Frau über Frösteln und Kopfschmerzen, war in
deprimirter Stimmung und soll sich geäussert haben: sie wisse ganz
genau, dass sie nicht wieder gesund werde. Ihre Krankheit könne lange
dauern, aber gesund werde sie nicht mehr. Die gerichtsärztliche
Untersuchung ergab ausser den Zeichen einer vor wenigen Tagen
überstandenen Entbindung und einer starken Vergrösserung der rechten
Schilddrüse eine um den Hals verlaufende tiefe Furche, welche auch
den Nacken quer durchzog, besonders rechterseits ausgeprägt war und
linkerseits am unteren Rande des Unterkiefers, entsprechend seiner
Mitte, in eine grubenförmig vertiefte Ausbreitung überging. Von
Verletzungen, Zeichen geleisteter Gegenwehr u. s. w. wurde keine Spur
vorgefunden. Da das Gutachten der Obducenten nicht ganz bestimmt
lautete und ein anderer Arzt sich geäussert haben sollte, dass
wegen der eigenthümlichen Stellung, in welcher die Leiche gefunden
wurde, ein Selbstmord nicht angenommen werden könne, beschloss das
Gericht die Einholung des Facultätsgutachtens, indem es zugleich
das Würgeband und eine rohe Zeichnung der Stellung, in welcher die
F. N. gefunden wurde, beischloss. Zufolge dieser und der gegebenen
Beschreibungen war die Situation eine solche, wie sie Fig. 111
darstellt, und der Fall zeigt somit zwei vom Gewöhnlichen abweichende
Eigenthümlichkeiten, und zwar dieselben, wie wir sie auch bei dem in
Fig. 110 abgebildeten Falle treffen, nämlich erstens die liegende
Stellung und zweitens den Umstand, dass der Knoten der Schlinge nicht
im Nacken oder, wie häufig, hinter dem Ohre, sondern vor letzterem
an der Mitte des linken Unterkiefers lag. Da aber letztere Lagerung
der Schlinge, wie wir oben erwähnten, bei Selbstmördern thatsächlich
vorkommt und, wie von uns unternommene Versuche an Leichen lehren,
eine vollkommene Verschliessung der Luftwege und auch an der dem
Knoten entgegengesetzten Seite eine Compression der Halsgefässe
zu bewirken vermag und schon, wie ebenfalls Versuche zeigten, das
Gewicht des halbliegenden Körpers genügt, um diese zu bewirken,
somit ganz wohl auf diese Art ein Selbstmord geschehen konnte, da
ferner die F. N. ganz wohl im Stande war, sich den betreffenden
Hängeapparat selbst herzurichten und weiter keine Spur einer anderen,
insbesondere gewaltsamen Todesart gefunden wurde, überdies die
Untersuchte sich eben im Wochenbette befand, also in einem Zustande,
in welchem Antriebe zum Selbstmord entstehen und in That übergehen
können, ausserdem das Tags zuvor erfolgte Absterben ihres Kindes den
Entschluss, sich das Leben zu nehmen, geweckt und bestärkt haben
konnte und die deprimirte Gemüthsstimmung aus den an jenem Tage
gemachten Aeusserungen deutlich hervorgeht, so wurde das Gutachten
dahin abgegeben, dass nichts der Annahme widerspreche, dass die F. N.
sich selbst durch Erhängen das Leben genommen habe.
Fig. 112 (Mittheilung von Dr. +Pontoni+). Beamter, der sich 1884 in
der eigenthümlichen Weise erhängte, dass er sich, auf einem Schemmel
stehend, die Füsse mit dem einen Ende eines Strickes zusammenband,
das andere, mit einer Schlinge versehene Ende über den Querbalken
einer Thüre warf und um den Hals befestigte und dann den Schemel
umstiess, so dass sein Körper in eine fast gondelartig hängende
Stellung zu liegen kam.
[Illustration: Fig. 110.
Erhängen in liegender Stellung auf einer steilen Treppe. Knoten der
Schlinge vor dem linken Ohre.]
[Illustration: Fig. 111.
Selbstmord durch Erhängen in liegender Stellung. Eigenthümlicher
Suspensions-Apparat. Knoten der Schlinge am linken Unterkiefer.]
Obgleich dem Gesagten zufolge zugegeben werden muss, dass ein
Selbsterhängen selbst an ganz niedrigen Gegenständen möglich ist, so
muss doch anderseits bedacht werden, dass, während das Aufhängen der
Leiche eines Erwachsenen in grösserer Höhe nicht so leicht ausführbar
ist, jenes an niedrigen Gegenständen ohne besondere Schwierigkeiten
effectuirt werden kann, so dass, wenn noch anderweitige Befunde sich
ergeben, die den Verdacht wecken, dass fremde Hand bei der Tödtung
des Betreffenden mitgespielt habe, eine solche Stellung mit dazu
beitragen kann, um diesen Verdacht zu bestärken. So kam vor einigen
Jahren in Wien ein Fall vor, wo ein Mann seine Frau auf einem Grasplatz
erdrosselt und dann die Schlinge, offenbar in der Absicht, einen
Selbstmord vorzutäuschen, an die biegsamen Zweige eines niedrigen
Strauches angebunden hatte, so dass die Leiche liegend gefunden wurde.
Ebenso bildet +Taylor+ (l. c. II, 72) eine Frau ab, deren Leiche am
Boden, mit dem Rücken an die Wand angelehnt, mit ausgestreckten Füssen
sitzt und um deren Hals eine Schlinge gelegt ist, die schief und in
beträchtlicher Länge zu einem hoch in der Mauer angebrachten Haken
führt. Bei dieser Frau fanden sich nicht blos mehrfache Sugillationen
und blutige Hautkratzer, sondern auch bei der inneren Untersuchung ein
1½ Zoll langer Riss in der Trachea, so dass der Fall als Mord sofort
klargestellt worden ist.
[Illustration: Fig. 112.
Selbstmord durch Erhängen an einem langen, um die Fussknöchel
gebundenen und über einen Querbalken zum Halse geleiteten Strick.
Gondelartige Stellung.]
[Sidenote: Vitale und postmortale Strangfurche.]
Gegenüber der Möglichkeit, dass Jemand erst als Leiche aufgehängt
worden sein konnte, liegt die Frage nahe, ob nicht aus der
Beschaffenheit der Strangfurche erkannt werden könne, ob Jemand
während des Lebens oder erst nach dem Tode an den Strang gekommen sei?
Leider ist von dieser Seite nur in seltenen Fällen eine Aufklärung zu
erwarten, da eine grosse Zahl von Versuchen, die sowohl von Anderen,
namentlich von +Casper+ (l. c. II, 657), als von uns angestellt wurden,
das übereinstimmende Resultat ergaben, dass die zwei Hauptformen der
Strangfurche, wie wir sie als bei Selbstmördern vorkommend beschrieben
haben, auch an der Leiche erzeugt werden können, und dies ist leicht
begreiflich, da die Strangfurche nur einen durch Compression erzeugten
Eindruck darstellt, der, wie wir gehört haben, nur ganz ausnahmsweise
Reactionserscheinungen, insbesondere Sugillation des Unterhautgewebes,
darbietet, und da die übrigen Bedingungen, die, wie erörtert wurde,
bei Selbstmördern einmal eine lederartig vertrocknete, harte, das
anderemal eine weiche Strangfurche erzeugen, an der Leiche Gleiches
bewirken können, umsomehr, als die mumificirte Strangfurche überhaupt
erst an der Leiche durch Vertrocknung zur vollen Entwicklung kommt.
+Neyding+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1870, XII, 341) hat die
Strangfurche von erhängten Selbstmördern mikroskopisch untersucht
und bei 25 von 30 Fällen winzige Extravasate in derselben gefunden,
denen er, als während des Lebens entstehenden Erscheinungen, einen
grossen diagnostischen Werth zuschreibt. Später hat +Bremme+ (ibidem,
XIII, 247) ähnliche Untersuchungen unter Leitung +Liman+’s und
+Skrzeczka+’s angestellt und gefunden, dass solche mikroskopische
Extravasate keineswegs immer in der Strangfurche lebend Erhängter
sich finden, und dass sie sich auch dann in dieser ergeben können,
wenn die Strangfurche erst postmortal erzeugt wurde. Zu ähnlichen
Resultaten ist auch +Obtulowicz+ (Virchow’s Jahrb. 1877, I, 487) und
+Maschka+ (l. c. 599) gekommen.
Auch wir haben solche Untersuchungen angestellt und schliessen uns
der Ansicht +Bremme+’s an, dass der Befund solcher mikroskopischer
Extravasate für die Unterscheidung, ob die Strangfurche während
des Lebens oder erst nach dem Tode entstanden sei, nicht unbedingt
verwerthet werden könne. Dagegen sahen wir wiederholt bei
aufgeschürften Strangfurchen an der freien Oberfläche derselben
kleine, offenbar aus der Verletzung der Gefässe der Hautpapillen
entstandene angetrocknete Extravasate und können die Beobachtung
+Neyding+’s bestätigen, dass, wenn eine durch einen doppelten
oder mehrfachen Strick erzeugte Strangfurche vorliegt, die in der
Regel auffällig injicirte und häufig punktförmig ecchymosirte
Beschaffenheit des zwischen den Strangtouren gelegenen, meist nur
kammartigen, seltener breiteren Hautwulstes (v. pag. 528) für die
Diagnose, dass die Suspension während des Lebens geschah, verwerthet
werden kann. Allerdings ist der der Erscheinung zu Grunde liegende
Vorgang ein rein mechanischer, der auch an der Leiche stattfindet,
aber eine intensivere Entwicklung der Erscheinung setzt einen
gewissen Grad der Blutfüllung der Gefässe voraus, der an der Leiche
deshalb in der Regel nicht gegeben ist, weil ein Blasswerden der Haut
bekanntlich eines der ersten Symptome des eintretenden Todes bildet
und auch im Gesichte und am Halse von Erhängten gewöhnlich eintritt,
da ja, wie oben erwähnt, die Cyanose zu den Ausnahmen gehört. Dagegen
kann Injection sowohl als Ecchymosenbildung auch an der Leiche in
intensivem Grade zu Stande kommen, wenn die Haut des Vorderhalses der
Leiche zur Zeit der Suspension durch Cyanose oder durch Hypostase
stark bluthältig gewesen war. Daher stimmen wir im Allgemeinen mit
der von +Lesser+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXXII, 2)
ausgesprochenen Ansicht überein, dass Hyperämie und Ecchymosirung des
zwischen zwei Strangtouren eingeklemmten Hautstreifens bei Blässe
der Umgebung die Diagnose gestatte, dass die Suspension während des
Lebens geschehen sei, wobei wir hinzufügen, dass die so entstandene
Hyperämie, wenn die Leiche nicht allzufrüh abgenommen wurde, sich
auch bei längerer Rückenlage der Leiche gut erhält, da das in
der Hautfalte eingeklemmte Blut aus derselben nicht leicht durch
Hypostase sich verlieren kann.[357] Auch der oben beschriebene,
allerdings seltene Befund von Blasenbildung an dem Hautwulst kann
wohl nur während des Lebens zu Stande kommen.
Wichtigere Aufschlüsse als von der Strangfurche allein sind eventuell
von den inneren Befunden am Halse zu erwarten. Da nämlich bei erhängten
Selbstmördern sich in der grössten Zahl der Fälle ein negativer
Befund ergibt, so ist ein solcher geeignet, die Annahme, dass nur ein
Selbstmord vorliegt, zu unterstützen, während, wenn sich Läsionen
der inneren Organe ergeben, desto mehr an eine andere Gewalt gedacht
werden muss, je weniger dieselben sowohl zufolge der allgemeinen
Erfahrung, als bei den Umständen des concreten Falles durch einfaches
Erhängen entstehen konnten. Dies gilt insbesondere von den Läsionen
des Kehlkopfes, die verhältnissmässig häufig beim Erwürgen, aber
ausgenommen jene der oberen Hörner des Schildknorpels, nur unter ganz
besonderen und in jedem einzelnen Falle sicherzustellenden Umständen
beim Erhängen sich ereignen können.
2. Das Erdrosseln.
Bei dieser Todesart wird der Hals durch ein Würgeband comprimirt,
welches jedoch nicht, oder wenigstens nicht ausschliesslich, durch die
eigene Schwere des Körpers, sondern auf eine andere Weise zugeschnürt
wird. Es kann dies, um nur einige von den mannigfachen Möglichkeiten
zu erwähnen, entweder dadurch geschehen, dass die gekreuzten Enden
eines um den Hals gelegten Stranges in entgegengesetzter Richtung
angezogen oder zusammengeknotet werden, oder dadurch, dass ein zu
diesem Zwecke um den Hals gelegtes oder schon früher dort befindliches,
als Strang dienendes Werkzeug (Strick, Halstuch etc.) mittelst der
Hand oder mittelst eines Knebels zugedreht wird, aber auch in der
Weise, dass Jemand, dem eine Schlinge um den Hals geworfen wurde,
an dieser emporgehoben wird. Letztere Methode, die gewissermassen
eine Combination von Erhängen und Erdrosseln darstellt, ist von den
berüchtigten Garotters geübt worden, die vor nicht gar langer Zeit in
England ihr Wesen trieben.
In Spanien werden die Hinrichtungen durch Erdrosseln mit der
sogenannten Garotte vollzogen, indem ein um den Hals gelegtes
(eisernes) Band mittelst einer Schraube gegen einen hinter dem
Delinquenten aufsteigenden Pfahl angezogen wird.
Auch bei dieser Todesart erfolgt der Tod nicht immer ausschliesslich
durch Verschluss der Respirationswege am Halse, sondern es muss auch
der Compression der Halsgefässe und vielleicht auch der beim Erwürgen
näher zu besprechenden traumatischen Reizung der Kehlkopfnerven eine
Rolle zugeschrieben werden. Damit stimmen auch die Angaben der wenigen
Personen überein, welche bei den sogenannten „Garotte robberies“ mit
dem Leben davongekommen waren, welche dahin gehen, dass sie sofort
bewusstlos wurden, als ihnen die Schlinge um den Hals zusammengezogen
worden war. Auch haben wir uns durch Versuche an Leichen überzeugt,
dass es in der That, wenn ein Würgeband mit der Hand oder noch besser
mit einem Knebel um den Hals zugeschnürt wird, gelingt, die Carotiden
bis zur Undurchgängigkeit zu comprimiren.
[Sidenote: Verlauf der Strangfurche nach Erdrosselung.]
An der Leiche ist der wichtigste Befund die Strangfurche am Halse.
Der Verlauf derselben wird, wie begreiflich, von der Art und Weise
abhängen, wie die Strangulation vorgenommen wurde. Geschah dies in
der Art, wie man sich das typische Erdrosseln vorstellt, d. h. durch
horizontales Zusammenziehen einer um den Hals gelegten Schlinge oder
durch Anwendung eines Knebels, so wird eine Marke zurückbleiben, die
mehr weniger ausgeprägt horizontal um den ganzen Hals verläuft, somit
nicht blos den Vorderhals, sondern auch den Nacken durchfurcht, wobei
eine Ausbreitung der Strangmarke die Stelle bezeichnen kann, wo der
Knoten oder der Knebel einen Druck ausgeübt hatte. Eine solche Marke
würde über die stattgefundene Erdrosselung keinen Zweifel aufkommen
lassen. Denn obgleich beim Erhängen, wie wir oben bemerkt haben,
bei stark seitlicher Lage des Knotens, insbesondere vor dem Ohre,
die Strangfurche auch den Nacken durchfurchen kann, so verläuft sie
doch niemals, ausser beim Erhängen im Liegen, horizontal, sondern
steigt gegen den Nacken oder die Seitentheile des Halses deutlich
auf, woselbst sich die beiden Enden der Furche zu einem nach unten
offenen Winkel vereinigen, wobei man bemerkt, dass, weil der Druck der
Schlinge an der dem Knoten entgegengesetzten Stelle am grössten ist
und gegen die Seiten an Intensität abnimmt, auch die zurückbleibende
Marke gegen den Knoten zu weniger ausgeprägt zu sein pflegt, als
an den ihm gegenüber liegenden Partien des Halses, während beim
typischen Erdrosseln die Schlinge den Hals in der Regel gleichmässiger
comprimirt und daher auch eine entsprechend ausgebildete Strangmarke
zurücklässt. Endlich ist zu bemerken, dass bei der bezeichneten Methode
des Erdrosselns der Strang leicht auf den Kehlkopf und selbst auf die
Trachea fallen kann, während, wie wir gehört haben, beim Erhängen
der Strang fast immer über dem Kehlkopf, zwischen diesem und dem
Zungenbein, verläuft.
[Sidenote: Locale Befunde nach Erdrosselung.]
Wäre das Erdrosseln mit einer nach hinten offenen Schlinge verübt
worden, dann wäre der Fall allerdings als solcher klar, wenn die
Strangfurche vorne über den Hals, dann aber nach rückwärts nicht
aufsteigend, sondern entweder horizontal oder gar nach abwärts
ziehend verlaufen würde, wie dies z. B. geschehen könnte, wenn einem
sitzenden oder stehenden Individuum eine Schlinge um den Hals geworfen
und dasselbe mit dieser zu Boden gerissen oder etwa über die Lehne
eines Stuhles oder Sophas u. dergl. herabgezogen worden wäre, da
ein ähnlicher Verlauf höchstens bei so seltenen Fällen von Erhängen
vorkommen könnte, wie ein solcher in Fig. 109 abgebildet ist. Wäre
aber die Schlinge nach aufwärts gezogen, d. h. der Körper an derselben
emporgehoben worden, dann könnte die Strangfurche ganz den gleichen
Verlauf nehmen, wie er nach dem Erhängen gefunden wird.
Einen solchen Verlauf haben wir zweimal beobachtet, einmal bei
dem (pag. 382) erwähnten Briefträger, den der Thäter zuerst durch
einen Revolverschuss in den Kopf niedergestreckt hatte, dann zu
erdrosseln versuchte und schliesslich durch Halsabschneiden tödtete.
Ebenso bei einer alten Frau, die von ihrem eigenen Sohne in der
Weise ermordet wurde, dass er der auf einem Stuhle Sitzenden eine
doppelte Schlinge um den Hals warf, sie zu Boden riss und, indem er
mit den Füssen auf die angezogenen Enden der Schlinge trat, die Frau
ausserdem mit den Händen so lange würgte, bis sie todt war. Doch
ergab sich in letzterem Falle ein Befund, der sofort erkennen liess,
dass die Strangfurche nicht vom Erhängen, sondern vom Erdrosseln
herrührte. Während nämlich die obere Strangfurche zwischen Kehlkopf
und Zungenbein in der bei Erhängten gewöhnliches Weise verlief,
bildete die andere einen nach abwärts gewölbten Bogen an der rechten
Halsseite, dessen grösste Wölbung von der darüberliegenden 6 Cm.
weit entfernt war, an den Enden aber mit der oberen Strangmarke sich
vereinigte. Wir erklärten in unserem Gutachten, dass dieser Befund
entweder dadurch entstand, dass eine doppelte, jedoch in ungleicher
Länge genommene Schnur der Frau um den Hals geworfen wurde, oder dass
ein einfacher Strang zu zwei verschiedenen Momenten und jedesmal
an einer anderen Stelle des Halses angelegt und immer in gleicher
Richtung angezogen worden war. Erstere Vermuthung hat sich durch das
Geständniss des Thäters als richtig erwiesen.[358]
[Sidenote: Mord durch Erdrosseln.]
Die sonstige Beschaffenheit der Strangfurche bei Erdrosselten ist die
gleiche, wie sie sich bei Erhängten je nach dem Grade der Compression,
der Beschaffenheit des Stranges u. s. w. ergeben kann. Suffusionen
sind, ausgenommen bei Kindern, ebenfalls selten und haben sowohl in
den meisten unseren, als in den zahlreichen von +Casper+ und +Liman+
beobachteten Fällen gefehlt. Auch Verletzungen tieferer Organe des
Halses wurden beim Erdrosseln nur ausnahmsweise beobachtet, obwohl
zugestanden werden muss, dass sie beim Erdrosseln häufiger entstehen
können als beim Erhängen, da der Strang leichter auf den Kehlkopf
oder auf die Trachea zu liegen kommt, als bei letzterer Todesart, und
weil die Zerrung der Theile im Allgemeinen eine stärkere und weniger
gleichmässig und in einem Moment sich vollziehende ist als beim
Erhängen.
Der Mord durch Erdrosseln ist nicht gar selten, bei Kindern, besonders
neugeborenen, sogar verhältnissmässig häufig und zweifellos auch bei
Erwachsenen nicht besonders schwierig auszuführen, da, wie insbesondere
die Erfahrungen bei den „Garotte robberies“ gelehrt haben, und auch aus
der Analogie dieser Todesart mit dem Erhängen geschlossen werden kann,
die Bewusstlosigkeit und daher Hilflosigkeit der Betreffenden, wenn die
Schlinge rasch und mit Kraft zugezogen wurde, in wenigen Augenblicken
eintritt. Daher kann eine solche Tödtung ganz wohl erfolgen, ohne dass
Spuren einer anderen Gewalt oder Zeichen geleisteter Gegenwehr sich
finden müssen, namentlich dann, wenn die Betreffenden im Schlafe oder
während eines Rausches oder dadurch erdrosselt wurden, dass ihnen die
Schlinge unversehens von rückwärts über den Hals geworfen und sofort
zusammengezogen worden war. Die meisten der bisher beobachteten Fälle
haben gelehrt, dass der Thäter sich meist mit dem einfachen Erdrosseln
nicht begnügt, sondern dasselbe mit Würgen combinirt, wodurch in der
Regel Befunde entstehen, die für sich geeignet sind, die Einwirkung
fremder Hand zu verrathen.[359]
[Sidenote: Selbsterdrosselung.]
Selbstmord durch Erdrosseln kommt nur ganz ausnahmsweise vor.
+Casper+-+Liman+ beschreiben vier Fälle, und mehrere hat +Maschka+
(Wiener med. Wochenschr. 1879, Nr. 22-26) publicirt. Wir selbst haben
drei solche Fälle obducirt, die wir unten näher beschreiben. Einen
vierten hat +Haberda+ (Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. 1893, V,
229) mitgetheilt. Die Seltenheit derselben ist vielleicht nur eine
zufällige; denn es scheint uns, dass es verhältnissmässig leicht ist,
durch eigenhändiges Zusammenschnüren des Halses mit einem Würgeband die
Luftwege und wenigstens die venösen Gefässe bis zur Undurchgängigkeit
zu comprimiren und rasch Bewusstlosigkeit zu bewirken, worauf, wenn
die Zusammenschnürung mittelst eines Knotens oder Knebels oder
überhaupt auf solche Art geschah, dass sie durch den Eintritt der
Bewusstlosigkeit nicht unterbrochen wurde, nothwendig der Tod erfolgen
muss. Damit stimmt auch die Ansicht +Jacquier+’s[360] überein, welcher
17 Fälle von Selbsterdrosselung beschreibt und dazu bemerkt, dass die
Seltenheit dieser Selbstmordart nicht von wirklicher, sondern von
eingebildeter Schwierigkeit herrühre, was dadurch erwiesen wird, dass
die Zahl der sich selbst Erdrosselnden in jenen Ländern eine viel
grössere ist, wo die Todesstrafe durch Erdrosseln (garrot) dazu die
Idee und sozusagen das Beispiel gibt.
Der erste der von uns obducirten Fälle von Selbsterdrosselung betraf
ein 20jähriges, erst nachträglich agnoscirtes Dienstmädchen, welches
am 15. April 1878 in eine öffentliche Badeanstalt gekommen war und
sich in der ihr zugewiesenen Cabine eingeschlossen hatte. Nachdem
sie nach Verlauf einer halben Stunde auf Klopfen und Rufen nicht
antwortete, wurde die Cabine gewaltsam eröffnet und die Unbekannte
nackt in der Badewanne gefunden, in der Art, dass der Kopf unter
Wasser sich befand und das Gesäss aus letzterem hervorragte. Der Hals
war mit einem dicken, in drei Touren herumgeschlungenen und vorn am
Halse zweimal geknoteten Zuckerspagat so fest zusammengeschnürt,
dass die Haut wulstartig über denselben hervorragte und mit Mühe ein
Messer zwischen den Spagat und die Haut zu bringen war. Das Gesicht
war blauroth angeschwollen und, wie der Polizeibericht angab, dadurch
bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Bei der Obduction fand sich eine auffallende Cyanose des Gesichtes
und der oberen Hälfte des Halses, die an der Strangfurche sich scharf
abgrenzte. Die Augenlider gedunsen, mit punktförmigen Ecchymosen
dicht besetzt. Die Bindehaut injicirt und stark ecchymosirt. Rings um
den Hals verlief in der Höhe des unteren Endes der Kehlkopfkante eine
mehrfache, der Dicke einer Rebschnur entsprechende Strangfurche, von
theils blasser, theils pergamentartig vertrockneter Beschaffenheit,
deren äusserer Verlauf aus Fig. 113 und 114 zu ersehen ist.
Die weichen Schädeldecken waren sehr blutreich, mit Ecchymosen
durchsetzt. Hirn und Hirnhäute sind blutreich. Im Unterhautzellgewebe
und im Bindegewebe zwischen den Muskeln, entsprechend der lividen
Verfärbung des Halses, zerstreute mohnkorn- bis hanfkorngrosse
Ecchymosen (auch im Nacken), ferner eine bohnengrosse, entsprechend
dem oberen Theile des rechten M. hyothyreoideus unter dessen
Scheide, der Muskel selbst an dieser Stelle gequetscht und mit Blut
infiltrirt. Je eine linsengrosse Ecchymose zwischen den beiden M.
cricothyreoidei und dem unteren Rande des Schildknorpels, die Spange
des Ringknorpels rechts von der Mitte leicht nach einwärts geknickt.
Zahlreiche Ecchymosen in der Adventitia und im umgebenden Bindegewebe
der Carotiden entsprechend ihrer Bifurcation. Zungenbein unverletzt,
Schleimhäute des Halses ecchymosirt. Sonst ausgesprochener
Erstickungsbefund. (Nähere Beschreibung des Falles nebst Bemerkungen
über Selbsterdrosselung in der „Wiener med. Presse“, 1879, Nr. 1-6.)
[Illustration: Fig. 113.
Fall von Selbsterdrosselung. Seitenansicht.]
Der zweite unserer Fälle betraf eine 33jährige, verwitwete Wirthin
M. K., welche am Morgen des 20. März 1880 in ihrem Schanklocale auf
der Erde liegend todt aufgefunden wurde. Die Leiche lag auf dem
Rücken und war halb bekleidet. Im Munde befand sich ein aus einer
kleinen Serviette gebildeter Knebel, von welchem ein nur etwa 3 Zoll
langes Stück herausragte. Um den Hals war ein seidenes Tuch ziemlich
fest geknüpft, und nach dessen Entfernung fand man darunter eine
zweimal horizontal um den Hals geschlungene und am Kehlkopf zu einem
Knoten gebundene Zuckerschnur, von deren herabhängenden Enden das
eine eine 4-5 Cm. weite Schlinge bildete. Das Gesicht war gedunsen,
stark cyanotisch und aus beiden Ohren war eine ziemlich starke
Blutung bemerkbar. Die M. K. hatte eben menstruirt, war nach Aussage
von Zeugen in der letzten Zeit trübsinnig gewesen und soll sich
wiederholt geäussert haben: „dass man etwas erleben werde“. Auch war
sie mit ihrer nicht im Hause wohnenden Schwiegermutter im Streite,
weil diese sie zu einer Ehe zwingen wollte. Im Wäschkasten fand
sich ein von der Verstorbenen selbst geschriebener Brief folgenden
Inhalts: „Wertheste Frau Schwiegermutter! Die Vorwürfe, die Sie mir
machten, konnte mein Herz nicht länger ertragen, weil ich sie mir
nicht verdiente und schmerzte mich bis zu diesem Schritte. Der liebe
Gott wird mir verzeihen und mein armes, armes unschuldiges Kind zu
einer guten Christin werden lassen. O, Du armes, unvernünftiges Kind,
zürne Deiner unglücklichen Mutter nicht, aber sie konnte keinen
anderen Schritt thun. Gott segne Dich noch einmal, aber ich konnte
mir nicht helfen.“ Der Selbstmord war sonach zweifellos.
[Illustration: Fig. 114.
Fall von Selbsterdrosselung. Ansicht von vorne.]
Die Obduction ergab einen kräftigen Körper mit starkem Fettpolster,
Gesicht cyanotisch, durch punktförmige Ecchymosen wie gestichelt.
Die Bindehaut injicirt, zahlreiche bis linsengrosse und rechts
eine fast bohnengrosse Ecchymose enthaltend. In der Aushöhlung
beider Ohrmuscheln etwa ein Kaffeelöffel theils flüssigen, theils
geronnenen frischen Blutes, mit welchem auch beide Gehörgänge
gefüllt sind. Hals fett. An der Vorderfläche desselben eine
zwischen Kehlkopf und Zungenbein quer verlaufende, 2-3 Mm. breite,
blasse Furche, welche am vorderen Rande beider Kopfnicker sich
verliert. Am oberen Rande dieser Furche findet sich links neben
der Mittellinie eine quergestellte, 3 Mm. lange, 1 Mm. breite,
braunroth vertrocknete Stelle und einen Querfinger davon nach aussen,
ebenfalls dem oberen Rande der Furche entsprechend, eine gleiche,
mit einem linsengrossen, sugillirten Hofe umgeben. Rechts erscheint
der untere Saum der Furche vom vorderen Rande des Kopfnickers
beginnend in einer Länge von 3 Cm. und einer Breite von 1-2 Mm.
schmutzig violett verfärbt und die Oberhaut daselbst in mehrere,
in einer der Furche parallelen Reihe nebeneinander gestellte, mit
klarem Serum gefüllte Bläschen abgehoben, von denen zwei mittlere
wickenkorngross, die seitlichen hirsekorngross sind. Am rechten
Ellenbogen 3 Cm. lang eine schwach sugillirte Hautaufschürfung. In
der rechten Ellenbeuge zwei linienförmige, lange Hautkratzer. An der
Streckseite des linken Oberarmes neben und unter der Achselfalte
eine kreuzergrosse, bläuliche sugillirte Stelle. Schädeldecke
blutreich, stark ecchymosirt, ebenso beide Schläfemuskeln durch bis
linsengrosse Ecchymosen wie getigert. Hirn und Hirnhäute blutreich.
Die Schleimhaut beider Paukenhöhlen ecchymosirt, im Lumen der
rechten flüssiges Blut. Trommelfelle unverletzt, doch jederseits ein
kleiner Riss im Epidermisüberzuge. Die Epidermis der hintersten
Partien beider äusserer Gehörgänge durch flüssiges Blut blasig
abgehoben, stellenweise geborsten. Im Unterhautzellgewebe unter der
Strangfurche keine Blutaustritte, wohl aber ein linsengrosser am
vorderen Rande des linken Kopfnickers unter dessen Scheide, sowie je
ein bohnengrosser in den Nackentheilen des M. cucullaris unterhalb
dessen äusserer Scheide. Im Rachen und Kehlkopf blutiger Schleim. Die
Schleimhaut dunkelviolett. Kehlkopf und Zungenbein unverletzt. Lungen
angewachsen, blutreich. Herz contrahirt mit punktförmigen Ecchymosen.
Bemerkenswerth ist in beiden Fällen die hochgradige Blutstauung am
Kopfe, die durch besonders starke Cyanose, Ecchymosenbildung und im
zweiten Falle sogar durch Blutung aus den Ohren sich kundgab und sich
daraus erklärt, dass durch das Würgeband vorzugsweise die Venen des
Halses und weniger oder vielleicht gar nicht die Carotiden comprimirt
worden sind.
Einen instructiven Fall von Selbsterdrosselung enthält +Henke+’s
Zeitschrift, 1843, pag. 135, der sich an den bekannten des General
Pichegru anschliesst.
Die Leiche eines Corporals, der wegen Dienstvergehen Bestrafung
zu fürchten hatte, wurde in einem Gebüsche unter einem Baume auf
dem Gesichte liegend gefunden. Zu beiden Seiten des Vorderhalses
standen die Enden eines gewöhnlichen Soldatensäbels vor. Fünf Fuss
von dem Kopfe der Leiche stand ein Baum mit einem in der Höhe von
10 Fuss abgehenden horizontalen starken Aste. An diesem war das
eine Bein einer leinenen Hose fest angebunden, während das andere
bis auf den Boden herabhing. Die Hosennaht war im Spalt auf 1½
Fuss eingerissen. Die Kleider der Leiche waren geordnet. Als man die
Leiche umdrehte, fand man um den Hals ein baumwollenes Tuch fest
zugeschnürt, aus welchem nach vorn eine Schlinge gebildet war, in
welcher ein Militärsäbel mit der Scheide steckte. Rechts neben dem
Kehlkopf war das Tuch zu einem festen Knoten geknüpft. Der unter
das Tuch gesteckte Säbel war offenbar mehrmals herumgedreht worden,
und stak so fest, dass er erst herausgezogen werden konnte, nachdem
man die Klinge aus der Scheide entfernt hatte. Nach mühsamer Lösung
des Knotens des Tuches fand sich am Halse eine horizontal um den
Hals und gerade über den Kehlkopf ziehende, tief eingedrückte, ¾
Zoll breite Rinne, mit einer Ausbreitung, die dem Knoten des Tuches
entsprach. Die Leiche war bereits stark faul und wurde nicht secirt,
so dass über das weitere Verhalten der inneren Organe am Halse
nichts zu ersehen ist. Offenbar hatte sich der Mann früher an seiner
Hose zu erhängen versucht, und da diese die nöthige Tragkraft nicht
besass, sondern im Schlitz zerriss, mit dem um den Hals gelegten und
durch den Säbel als Knebel zusammengeschnürten Tuch sich erdrosselt,
wobei der vorspringende Unterkiefer das Zurückschnellen des Säbels
verhindert hatte.
Ein anderer, nicht minder instructiver Fall wird von +Benetsch+
in der Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1862, XXI, pag. 351
mitgetheilt, der in einigen Beziehungen an den zweiten der von
uns obducirten Fälle erinnert. Ein Matrose kam in ein Gasthaus,
verlangte den Schlüssel vom Abort und wurde dort nach einer halben
Stunde sitzend und todt gefunden. Er hatte früher versucht, mit
einem Federmesser sich die Adern zu durchschneiden und hatte sich
7 Schnitte am linken Handgelenk beigebracht. Um den Hals war ein
halbseidener Matrosenshawl mit einem Knoten fest zugebunden und fest
um den Hals zugezogen. Das eine Ende des Shawls war in der Länge von
2 Fuss in den Mund hineingestopft und die Zähne hielten dasselbe so
fest, dass es nur mit Mühe entfernt werden konnte. Um den Hals fand
man 30 Stunden nach dem Tode eine Strangfurche horizontal verlaufend,
welche unter dem Kehlkopfe verlief, daselbst 2½ Zoll breit und
lederartig vertrocknet war, gegen den Nacken zu sich aber in einen
blos ½ Zoll breiten Streifen verschmälerte.
[Sidenote: Fälle von Selbsterdrosselung.]
Ein interessanter Fall von Selbsterdrosselung nach Selbstmordversuch
durch Halsabschneiden wird von +Schönfeld+ in Brüssel (Annal.
d’hygiène publ. 1879, pag. 257) mitgetheilt. Der Strick fand
sich noch in den Händen der Leiche und davon Eindrücke am Rücken
der linken Hand. Auch verdient ein von +Tardieu+ (l. c. 206)
mitgetheilter Fall +Rendu+’s Erwähnung, weil bei der betreffenden
Person (Frau) an der rechten Hand 4 Finger fehlten und diese
trotzdem im Stande war, sich mit einem seidenen Halstuch zu
erdrosseln. In Friedreich’s Blättern 1889 wird von +Bollinger+
nebst einem interessanten Fall von Erhängen im Liegen auch eine
Selbsterdrosselung in liegender Stellung abgebildet. Die um den
Hals gelegte und mit dem einen Ende am Bettpfosten befestigte lange
Schlinge war durch Anstemmen der Füsse gegen letzteren zugezogen
worden.
[Sidenote: Zufällige Strangulation.]
An die Lehre von der Strangulation mittelst eines Würgebandes wollen
wir noch anschliessen, dass sowohl Erhängen als Erdrosseln auch
zufällig vorkommen kann.
+Taylor+ erwähnt eines Knaben, der sich erhängte, als er, von einer
Hinrichtung kommend, den Gang derselben versuchen wollte; ebenso
eines anderen, der beim Spielen zufällig in eine Schlinge gerieth
und hängen blieb, dann einen ähnlichen Fall von einem Manne, der
in seinem Zimmer Turnübungen an einem Seile anzustellen pflegte.
Man fand ihn hängend, das Seil nicht blos um den Hals, sondern
auch mehrfach um den Körper geschlungen. Nach +Tardieu+ (Annal.
d’hygiène publ. 1870, XXXIII, pag. 98) soll +Bacon+ einen Versuch,
den er anstellte, um den Vorgang beim Erhängen zu studiren, fast mit
dem Tode bezahlt haben, da er nur durch zufällige Hinzukunft eines
Freundes gerettet wurde.
Von +Zülch+ (Zeitschr. f. Medicinalb. 1894, pag. 190) werden zwei
bemerkenswerthe Fälle von zufälligem Erhängen mitgetheilt. Der
eine betraf einen 13jährigen Knaben, der, um nach seinem Vater
auszuschauen, mit stark benützten, daher sehr glatte Sohlen
besitzenden Schlappen auf eine Leiter gestiegen, ausgerutscht und
mit seinem Shawl an einem Haken hängen geblieben war; der zweite
betraf einen Knecht, der in betrunkenem Zustand von einer steilen
Bodentreppe herabgefallen war, und in dem Winkel, welchen die
geländerlose Treppe mit einem Pfahl bildete, am Halse hängend und
todt gefunden wurde. Auch zufällige Erdrosselungen sind wiederholt
vorgekommen.
[Sidenote: Zufällige u. simulirte Strangulation.]
So berichtet +Taylor+ von einem Knaben, der sich damit unterhielt,
dass er ein schweres Gewicht im Zimmer an einer um den Hals gelegten
Schlinge herumtrug. Man fand ihn auf einem Stuhle sitzend todt.
Das Gewicht war hinter die Stuhllehne gerutscht und hatte den Hals
zugeschnürt. Ferner von einem Mädchen, welches einen Korb mit Fischen
mittelst eines um den Hals geschlungenen Riemens trug. Man fand
sie an einer niedrigen Mauer sitzend und todt. Der Riemen ging um
den Hals und war durch die Schwere des Korbes zugeschnürt, welcher
über die Mauer nach hinten zu heruntergefallen war. Wir obducirten
ein 7 Monate altes, kräftiges Kind, welches von seinem Bettchen
herabgerutscht war und mit dem Kopfe zwischen zwei Sprossen eines
angestellten Stuhles steckend und mit dem Vorderhalse auf dessen
Querleiste liegend todt gefunden wurde. Die Obduction ergab eine
schwache Furche am Halse und Erstickungsbefunde. Andere Beispiele von
zufälliger Strangulation finden sich bei +Casper+-+Liman+ (l. c. 729)
und +Maschka+ (l. c. 608 und 623). -- Auch Simulationen von Erhängen
oder Erdrosseln kommen vor. Ein Fall letzterer Art war der von +Roux+
in Montpellier (Maschka’s Handb. I, 627) und über einen Inculpaten,
der, um die simulirte Geisteskrankheit glaublicher zu machen,
Selbsterhängen vorzutäuschen versuchte, dabei aber trotz allem
Raffinement das Bewusstsein verlor, berichtet +Laurent+ (Virchow’s
Jahrb. 1888, I, pag. 463).
[Sidenote: Zufällige Druckstreifen am Halse.]
Noch sei erwähnt, dass etwas fester am Halse anliegende Gegenstände,
wie Hemdkrägen, Bänder, Schnüre, ebenfalls einen streifenförmig um
den Hals verlaufenden Eindruck hinterlassen können. Es ist dies dann
ein blasser, weicher, meist flacher Streif, der aber auch, wenn der
Hals durch Fäulniss anschwillt und das Band nicht nachgibt, sich
rinnenartig vertiefen kann. Bei faulen Wasserleichen hat man nicht
selten Gelegenheit, dies zu beobachten. Die Provenienz eines solchen
Streifens wird sich bei einiger Aufmerksamkeit leicht constatiren
lassen.
Auch jene anämischen Streifen am Halse, die der Tiefe gewisser querer
Hautfalten, namentlich bei wohlgenährten Personen, insbesondere aber
bei Kindern, entsprechen, sind unschwer als solche zu erkennen, da
man beim Strecken und Beugen des Halses sich überzeugen kann, dass
sie einer solchen Hautfalte ihre Entstehung verdanken. Diese Streifen
sind in der Regel weich und blass, anämisch; war jedoch die Stelle,
wie bei kleinen Kindern häufig, nässelnd (Intertrigo), so kann sie
nach dem Tode eintrocknen und mumificirt erscheinen, worauf sehr
zu achten ist, da uns thatsächlich ein Fall vorkam, wo eben der
lederartigen Beschaffenheit wegen eine solche natürliche Furche für
eine Strangfurche gehalten wurde.
[Sidenote: Furchenartige Eindrücke am Halse.]
Auch durch Umschlingung der Nabelschnur um den Hals eines Kindes
kann eine Strangfurche entstehen, entspricht aber dann der Breite
der Nabelschnur, ist weich und lässt sich leicht ausgleichen; auch
konnten wir in einem solchen Falle deutlich einen vom Halse über die
Brust gegen den Nabel zu verlaufenden blassen Streifen unterscheiden,
der die Provenienz der Furche am Halse aufgeklärt hätte, wenn auch
nicht die Schnur noch um den Hals geschlungen gefunden worden wäre.
Auf eine andere Möglichkeit der Entstehung von Strangfurchen, ohne
dass eine Strangulation in vivo stattgefunden hätte, werden wir beim
Ertrinkungstod aufmerksam machen.
3. Das Erwürgen.
Das Erwürgen geschieht durch Compression des Vorderhalses, insbesondere
der Kehlkopfgegend mit der Hand, entweder in der Weise, dass die
betreffende Hand um den Kehlkopf sich zusammenkrallt und diesen
seitlich comprimirt, wobei, wie +Langreuter+ bei seinen oben erwähnten
Beobachtungen mit dem Kehlkopfspiegel constatirte, schon ein äusserst
geringer Druck zum vollkommenen Verschluss der Stimmritze genügt,
oder indem derselbe, oder der Zungengrund, gegen die Wirbelsäule
angedrückt oder nach oben gedrängt wird. Beide Vorgänge verbinden sich
in der Regel gleichzeitig, wobei meistens Kopf und Nacken gegen eine
feste Unterlage angepresst oder mit der anderen Hand der würgenden
entgegengedrückt werden.
[Sidenote: Erscheinungen nach Compression des Kehlkopfs.]
Ein solcher Verschluss genügt natürlich für sich allein, um in
wenigen Augenblicken Erstickung zu bewirken. Trotzdem kann noch ein
anderes Moment beim Erwürgen eine Rolle spielen, und zwar weniger
die Compression der Gefässe am Halse, die meist gar nicht oder
nur einseitig und keineswegs gleichmässig erfolgt, wohl aber die
traumatische Reizung peripherer Vagusendigungen, insbesondere jener
des N. laryngeus superior. Letzteren hat bereits +J. Rosenthal+ als
respiratorischen Hemmungsnerv bezeichnet und +Claude+-+Bernard+ hat
gefunden, dass thatsächlich durch traumatische Reizung des N. laryng.
super. plötzlicher Athemstillstand erzeugt werden könne. Solche
Versuche hat später +F. Falk+[361] mit gleichem Erfolge wiederholt
und auch wir haben ebenfalls solche Resultate erzielt, wenn wir bei
tracheotomirten Hunden den Kehlkopf mit dem Finger zusammenpressten,
wobei wir allerdings, ebenso wie +Falk+, fanden, dass, wenn mit dem
Druck sofort nachgelassen wurde, der Athemstillstand nur einige
Augenblicke dauerte, indem die Respiration wiederkehrte, dass aber,
wenn der Druck fortgesetzt wurde, nach kurzem Athemstillstand Dyspnoe
sich einstellte, die dann aber meist kürzer dauerte als bei einfachem
Verschluss der Trachea. Auch nach Reizung der Endigungen des N.
recurrens beobachtete +Falk+ Aehnliches, ebenso konnte +Bert+, wie
wir bereits oben erwähnt haben, bei Thieren (Enten) sofortigen Tod
hervorrufen, wenn er die Luftröhre zusammenschnürte, und schreibt
dieses der centripetal fortgeleiteten Erregung der Nervenendigungen zu.
Dass auch +Fischer+ den Shock nach Contusion des Kehlkopfes hervorhob,
haben wir bei Besprechung der Kehlkopfverletzungen angeführt.
Von diesen Beobachtungen ist bei der Beurtheilung des Erwürgungstodes
beim Menschen jedenfalls Notiz zu nehmen, umsomehr, als mit Rücksicht
auf die Angaben von Angeklagten die Frage, ob schon ein einmaliges
Zufassen an den Hals eines Individuums, respective ein plötzliches,
aber vorübergehendes Zusammendrücken des Kehlkopfs den Tod bewirken
könne, bereits durch +Casper+ (l. c. II, 653) ventilirt und dahin
beantwortet worden ist, dass ein solcher Hergang zwar möglich, aber
nicht wahrscheinlich sei. Gegenwärtig müssen wir mit Rücksicht auf
die erwähnten experimentellen Beobachtungen die schon von +Casper+
zugestandene Möglichkeit noch mehr zugeben, und wenn wir auch gegenüber
der Angabe, dass schon durch ein einmaliges Zudrücken des Kehlkopfes
der Tod herbeigeführt wurde, höchst vorsichtig sein werden, so müssen
wir doch zugestehen, dass eine sofortige Bewusstlosigkeit nach einem
solchen Insult eintreten kann.
Für diese Möglichkeit spricht folgender Fall: Im Winter 1877 wurde
eine Frau in ihrem Laden von einem Manne überfallen, der sie
plötzlich beim Halse packte und, als sie sofort zu Boden stürzte, das
Geld aus dem Pulte raubte und entfloh. Die Frau wurde nach einigen
Augenblicken bewusstlos aufgefunden und zu sich gebracht. Sie wusste
alle Details des Vorganges bis zum Momente, wo sie plötzlich am
Halse gepackt wurde und erklärte, dass sie in demselben Augenblicke,
in welchem sie die Hand des Mannes an ihrem Halse fühlte, sofort
das Bewusstsein verlor, so dass sie weder Athemnoth, noch Schmerz
gefühlt habe. An ihrem Halse fanden sich auch keine Spuren eines
fortgesetzten Druckes, so dass in diesem Falle offenbar das
plötzliche Zusammenpressen des Kehlkopfes und nicht die Erstickung
das sofortige Zusammenstürzen und die Bewusstlosigkeit herbeigeführt
hatte. Allerdings konnte in diesem, sowie in ähnlichen Fällen
auch eine plötzliche Compression beider Carotiden und dadurch die
Bewusstlosigkeit erzeugt worden sein.
Selbstmord durch Erwürgung ist nicht wohl denkbar; denn wenn auch
zugegeben werden muss, dass Jemand im Stande sein kann, sich selbst bis
zum Eintritte der Bewusstlosigkeit zu würgen, so muss doch zugestanden
werden, dass letztere sofort den Erwürgungsact unterbrechen muss und
dann die unbehinderte Respiration sich wieder einstellen wird. Doch
berichtet +Binner+ (Zeitschr. f. Medicinalb. 1888, pag. 364) über eine
Geisteskranke, der es, nachdem sie sich schon einmal bis zur schweren
Bewusstlosigkeit gewürgt hatte, das zweitemal gelungen ist, sich
auf diese Weise zu tödten. Sie wurde neben einem Bette in hockender
Stellung gefunden, beide Hände am Halse haltend. Die Ellenbogen waren
auf die Knie gestützt und der Kopf war nach vorne über gefallen, so
dass das Gesicht auf dem Bette lag. In Folge dieser Lage hatte die
Athmungsbehinderung auch nach dem Eintritte der Bewusstlosigkeit
fortgedauert und so den Tod bewirkt.
[Sidenote: Mord durch Erwürgen. Aeussere Befunde.]
Dagegen ist die gewaltsame Tödtung Anderer durch Erwürgen ein
verhältnissmässig häufiges Vorkommniss. Die localen Befunde, welche
nach einer solchen That am Halse zurückbleiben, bestehen äusserlich
vorzugsweise aus Hautaufschürfungen am Vorderhalse, welche schon durch
ihre Lage zu beiden Seiten des Kehlkopfes auffallen und nicht selten
durch ihre Anordnung und ihre den Fingerkuppen oder Fingernägeln
entsprechende Form ihre Entstehung durch eine würgende Hand deutlich
erkennen lassen. Da das Würgen meist mit der rechten Hand ausgeführt
wird, so finden wir in der Regel links am Halse zahlreichere
Hautabschürfungen als rechts, wo nur der Daumen auflag, und es könnte
ein gegentheiliges Verhalten den Schluss erlauben, dass mit der linken
Hand gewürgt worden ist, was bezüglich der Eruirung des Thäters von
Wichtigkeit wäre, wie aus einem von +Taylor+ (l. c. II, 74) erwähnten
Fall hervorgeht. In den von uns untersuchten Fällen von Ermordung
durch Erwürgen entsprachen die Würgespuren meistens einer rechten Hand
und es liessen sich jedesmal ausser verschiedenen unregelmässigen
Hautaufschürfungen auch solche erkennen, die nach oben zu scharf
begrenzt mit einem nach aufwärts convexen Bogen begannen und nach unten
und innen zu wie verwischt endeten, sowie auch sehr charakteristische
halbmondförmige, nach oben convexe Hautkratzer, die deutlich dem
Abdruck von Fingernägeln entsprachen. Meist sassen sämmtliche Spuren am
hinteren Rande der Schildknorpel zwischen diesem und den Kopfnickern
und in den meisten Fällen in der Höhe der oberen Kehlkopfapertur
und selbst unter dem unteren Rande des Unterkiefers nahe bei den
Unterkieferwinkeln. Da der Thäter selten sich mit einem einzigen und
dann continuirlich fortgesetzten Griffe begnügen und auch das Opfer
sich durch Bewegung der Hand des Thäters zu entziehen trachten wird,
so ist begreiflich, dass wir selten einen einfachen (sit venia verbo)
Abdruck der Hand am Halse erwarten können, als vielmehr zahlreiche
Hautaufschürfungen verschiedenster Art, die selbst an vom Kehlkopf
entfernteren Stellen sich bemerkbar machen. Die Befunde, welche sich
an der erwürgten Prostituirten fanden, über welche wir in der Wiener
med. Wochenschr., 1882, Nr. 29 u. ff., berichteten, haben wir dort
dargestellt. Bei kleinen Kindern, insbesondere neugeborenen, kann die
erwürgende Hand eines Erwachsenen den +ganzen+ Hals umfassen, was die
Lage und Anordnung der Fingernägelabdrücke beeinflusst, welche sich, je
nachdem der Hals von hinten, von der Seite oder von vorn umfasst wurde,
vorn oder seitlich am Halse oder im Nacken sich finden können. Fig. 115
zeigt einen solchen Fall.
[Illustration: Fig. 115.
Befunde, insbesondere Fingernägelabdrücke, am Halse eines
eingestandenermassen erwürgten Neugeborenen.]
Die ungleichmässige und zugleich heftige Compression des Halses
bewirkt fast immer tiefere Läsionen am Halse. So fanden wir in allen
unseren Fällen Suffusionen im Unterhautgewebe unter einzelnen der
Hautaufschürfungen, ebenso wiederholt Suffusionen in den tieferen
Weichtheilen, so am Unterkieferrande, über dem Lig. thyreohyoideum und
in der Scheide der Vorderhalsmuskeln.[362] Zweimal fanden wir Bruch des
Kehlkopfes und einmal einen Bruch des Zungenbeins; in einem neueren
Falle, wo der Thäter nachträglich noch auf den Hals getreten war,
Fractur beider Kehlkopfhörner, des Adamsapfels entlang seiner Kante und
einen Doppelbruch der Spange des Ringknorpels. Dass beim Würgen auch
die Kopfschlagadern comprimirt und verletzt werden können, beweisen
zwei interessante Fälle +H. Friedberg+’s („Ueber ein neues Zeichen des
Erwürgungsversuches“, Virchow’s Arch. 1880, LXXIX), in deren einem
bei der betreffenden erwürgten Person ein Bluterguss in der Wand der
einen Carotis unterhalb ihrer Theilung, in dem anderen ausserdem
eine Ruptur der Intima gefunden wurde. +F. Falk+ („Zur Casuistik des
Strangulationstodes.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, pag.
279) fand bei einem durch Erdrosseln und Erwürgen getödteten Manne ein
5 Pfennig grosses Extravasat im linken Musculus geniohyoideus und eine
hämorrhagische Infiltration der linken Tonsille.
Das Würgen ist die bei weitem häufigste Entstehungsursache von
Kehlkopfbrüchen. Sie betreffen entweder die Schildknorpel oder deren
Hörner oder den Ringknorpel, den wir in zwei Fällen doppelt gebrochen
fanden, oder auch nur die Aryknorpel; wie +Schnitzler+ einen solchen
Fall beschreibt. Dass aber solche Fracturen, insbesondere der
Kehlkopfhörner, wenn der Kehlkopf seine jugendliche Elasticität
verloren hat, auch durch verschiedene andere Gewalten und zwar auch
indirect, z. B. durch Sturz auf den Kopf oder beim Halsabschneiden
entstehen können, haben wir oben (pag. 471) erwähnt und wurde auch
von +Patenko+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLI, 192) dargethan.
Ecchymosen in den Conjunctiven und in der Gesichtshaut, namentlich in
jener der Haut der Augenlider, finden sich bei Erwürgten sehr häufig,
und es sind für die Entstehung derselben günstige Bedingungen gegeben,
da es sich um eine Erstickung handelt, die, ausgenommen, wenn Shock
erfolgt, durch keine anderweitigen Processe complicirt, daher besonders
geeignet ist, das typische Bild des Erstickungstodes zu erzeugen.
Ausser den durch das Würgen selbst veranlassten Befunden können
sich bei Erwürgten noch andere Verletzungen finden, die theils vom
Niederwerfen des Körpers oder Andrücken desselben gegen eine feste
Unterlage, Knien auf der Brust oder von anderen gleichzeitig erfolgten
Misshandlungen herrühren können.
In dem einen unserer Fälle fanden wir bei der 83 Jahre alten
erwürgten Frau ausser den Würgeeffecten das linke Auge sugillirt,
Hautkratzer an beiden Händen und rechterseits die zweite, vierte und
fünfte Rippe gebrochen. In einem anderen, ebenfalls eine alte Frau
betreffenden Falle wurden zahlreiche Sugillationen der Kopfhaut,
ein Einriss am rechten Ohrläppchen, eine Hautaufschürfung am
rechten Schulterblatt, eine Blutunterlaufung am linken Handrücken
und endlich zwei ausgeschlagene Schneidezähne gefunden, welche
sammt einem quadratischen Holzspan tief im Rachen steckten und, wie
sich aus dem Geständnisse des Angeklagten ergab, dorthin dadurch
gerathen waren, dass er, als er die am Boden Liegende würgte, ihr
gleichzeitig ein Stück Holz in den Mund eingestossen hatte; endlich
in einem dritten ausser zahlreich zerkratzten Stellen im Gesichte
und am Vorderhalse, an beiden Oberarmen und am linken Unterarme
bohnengrosse Sugillationen, die zufolge ihrer Gruppirung und Zahl
als Abdrücke einer fremden Hand nicht zu verkennen waren. Der Fall
bot insoferne noch ein besonderes Interesse, als die Leiche, als sie
aufgefunden wurde, mit dem Gesichte auf dem Rande eines blechernen
Wassergefässes lag und deshalb anfangs daran gedacht wurde, dass die
Hautaufschürfungen im Gesichte nur durch zufälliges Auffallen auf das
betreffende Gefäss entstanden seien.
[Sidenote: Scheinb. Würgespuren.]
Dass auch anderweitig entstandene Hautaufschürfungen und Eindrücke am
Halse Würgespuren vortäuschen können, beweist ein von +Liman+
und auch von uns begutachteter Fall, in welchem bei einem Individuum,
welches von seinem Vater an einem dicken, über das Halstuch gelegten
Zugstrange hängend gefunden und abgenommen worden war, sich keine
Strangfurche, aber auf dem Kehlkopf eine Gruppe von drei rundlichen,
durch einen schmalen, über die Kehlkopfkante verlaufenden Streifen
verbundenen Eindrücken fand, die als Würgespuren aufgefasst wurden,
während sie, wie die Untersuchung des Hemdes ergab, von 3 Knöpfen
herrührten, die am Hemdkragen angebracht waren und gerade auf den
Kehlkopf zu liegen kamen. Auch die symmetrische Anordnung und
regelmässige Beschaffenheit der Eindrücke, sowie besonders ihre Lage
nahe der Kehlkopfkante musste die Provenienz der Eindrücke noch
weiter klarstellen, und es gelang auch bei Hängeversuchen, die mit
Leichen gemacht wurden, denen man ein gleiches Hemd angezogen hatte,
ganz gleiche und ebenso angeordnete Marken zu erzeugen.
[Sidenote: Erscheinungen bei wiederbelebten Strangulirten.]
Die +Erscheinungen+, welche +bei wiederbelebten Strangulirten+ oder
bei solchen sich finden, die nur unvollständig gewürgt oder gedrosselt
worden sind, können theils locale, theils allgemeine sein.
Die Strangfurche präsentirt sich in der Regel als excoriirter
oder durch reactive Hyperämie gerötheter und geschwellter Streif,
dessen Intensität und Dauer mit der Intensität der Strangulation,
insbesondere mit dem Grade des „Einschneidens“ des Stranges,
proportional zu sein pflegt. Wenn weiche Stränge benützt wurden,
so können die betreffenden Druckmarken ganz unscheinbar ausfallen
und selbst ganz fehlen. Nachträgliches Auftreten von Suffusionen in
oder unter der Strangfurche wurde nach Erdrosseln beobachtet. Nach
Erhängen bilden sich dieselben, soweit unsere Erfahrung reicht, nur
ausnahmsweise. Schmerzhaftigkeit des Halses besteht gewöhnlich und
kann, wenn Läsionen der Kehlkopf- oder Zungenbeinhörner entstanden
waren, längere Zeit andauernd und insbesondere beim Schlucken
sich äussern. Schwere Symptome, wie entzündliche Schwellungen,
Glottisödem etc., treten wohl nur ausnahmsweise auf, leicht kann
dies bei Verletzungen des eigentlichen Kehlkopfes geschehen und
aus dieser Quelle noch nachträglich der Tod erfolgen, namentlich
somit nach Drosseln und Würgen, bei welchen Strangulationsformen
derartige Beschädigungen verhältnissmässig häufiger vorkommen, als
beim Erhängen. Bei +Gurlt+ (Lehre von den Knochenbrüchen. 1865, pag.
352) finden sich einige solche Fälle. +C. Majer+ (Friedreich’s Bl.
1882, pag. 460) berichtet über einen Retropharyngealabscess, der bei
einer Frau durch intensives Würgen entstand. Die Schlingbeschwerden
waren für Hysterie gehalten worden. In einem von +Pellier+ (Virchow’s
Jahrb. 1883, I, pag. 525) mitgetheilten Falle blieb der Gerettete
4 Tage lang stimmlos, bekam eine heftige Bronchitis und weiter
einen so fötid riechenden Ausfluss, dass er in’s Freie gelegt
werden musste. Die Strangfurche war 15 Tage lang sichtbar. In einem
Falle +Maschka+’s (ibidem) wurde eine letal verlaufende sphacelöse
Parotitis und in einem von der Wiener Facultät begutachteten eine
diffuse Halsphlegmone von stattgehabtem Würgen abgeleitet, ohne dass
ein solcher Zusammenhang als erwiesen angenommen werden konnte. Dass
sich aus Muskelrupturen, insbesondere aber aus Rupturen der Intima
carotis, schwere Erscheinungen entwickeln können, muss zugestanden
werden, obgleich die Literatur unseres Wissens keine einschlägige
Beobachtung enthält.
Das Bewusstsein kehrt in vielen Fällen rasch zurück, in anderen
Fällen besteht Sopor, der Stunden und Tage andauern und schliesslich
selbst nach partiellem Erwachen des Bewusstseins dennoch zum Tode
führen kann[363], wie insbesondere bei dem in Raab hingerichteten,
nach der nach 10 Minuten vorgenommenen Abnahme wieder zum Leben
zurückgekommenen und am anderen Tage gestorbenen Raubmörder (Wr. med.
Wochenschr. 1880, Nr. 17) beobachtet wurde, ebenso an einem von uns
auf +Meynert+’s Klinik gesehenen Manne, der erst nach 30 Tagen starb,
ohne aus dem Sopor erwacht zu sein. („Zur Kenntniss der Befunde am
Halse von Erhängten.“ Wr. med. Pr. 1881, Nr. 48 u. s. f., woselbst
auch Literaturangaben über wiederbelebte Erhängte.) Convulsionen
während des Sopors, insbesondere epileptiforme, wurden wiederholt
beobachtet. Interessant ist das Auftreten von Geistesstörungen
im engeren Sinne bei Wiederbelebten. Wir sahen unlängst auf
+Schrötter+’s Klinik einen 14jährigen Knaben, der bewusstlos vom
Strange abgeschnitten und wiederbelebt wurde und der unmittelbar nach
dem Erwachen aus dem Sopor in einen tobsüchtigen Anfall verfiel, so
dass er gebunden in’s Spital gebracht werden musste, woselbst er sich
rasch beruhigte. Drei Tage darauf fanden wir eine breite, vielfach
excoriirte, schwach geröthete, nicht sugillirte Strangfurche und
Schmerzhaftigkeit in der Gegend der Basis des rechten Kehlkopfhornes
beim Druck, woselbst auch eine Unebenheit zu fühlen war. Bei einem
25jährigen Mann, über welchen +Griesinger+ (Patholog. u. Ther. d.
psych. Krankh. 3. Aufl., pag. 325) berichtet, kehrte das Bewusstsein
nach dem Abschneiden rasch zurück. Am folgenden Tage ist er still
und wortkarg, am dritten verstummt er. Stierer Blick, injicirte
rollende Augen, Krämpfe der Gesichtsmuskeln. Kein sinnlicher Eindruck
scheint percipirt zu werden, der Kranke geht herum und isst, ohne
Empfinden und Begehren auszudrücken. Erst nach mehreren Wochen kehrt
das Bewusstsein plötzlich zurück. In einem anderen von +Moreaud+
(Virchow’s Jahrb. 1880, I, pag. 648) verblieb der 21jährige Mann
nahezu 3 Tage in Sopor mit intercurrirenden, epileptiformen Anfällen,
erhob sich dann plötzlich, begann im Zimmer herumzulaufen, sprach
verwirrt und aufgeregt, verfiel nach 2 Tagen in einen deprimirten,
schweigsamen Zustand, der sich allmälig verlor. -- +Tardieu+
(Pendaison etc. 1879, pag. 14) beobachtete bei einem wiederbelebten
Erhängten zweitägigen Sopor, hierauf Blasen- und Mastdarmlähmung
mit Zuckungen und Schmerzen in den unteren Extremitäten, und in
einem zweiten Fall zwar rasche Wiederkehr des Bewusstseins, doch
durch 8 Tage zurückbleibendes Gefühl von Völle und Kälte der rechten
Kopf- und Halsseite mit lancinirenden Schmerzen an verschiedenen
Punkten des Gesichtes. -- +Petřina+ (Prager med. Wochenschr. 1880,
Nr. 39) fand einen 57jährigen Mann, der sich mit einer Rebschnur zu
erdrosseln versucht hatte, bewusstlos mit stark markirter, rother
Strangfurche und Ecchymosen in der Conjunctiva. Die Bewusstlosigkeit
hielt an bis zum nächsten Morgen, mit intercurrirenden, klonischen
Krämpfen. Hierauf rechtsseitige Facialisparalyse und linksseitige
Rumpflähmung und Empfindungslähmung, sowie Coordinationsstörungen,
somit Erscheinungen, die auf eine Hämorrhagie im Pons Varoli
schliessen lassen. -- Vielleicht sind capilläre Hämorrhagien im
Gehirn Erstickter nicht gar selten. Im Streifenhügel des gehängten
Präsidentenmörders Guiteau wurden solche gefunden (Virchow’s Jahrb.
1883, I, 507) und bei einem ertrunkenen, sehr fetten, im Februar 1887
obducirten Manne haben wir den Kopf des rechten Streifenhügels in
bohnengrosser Ausdehnung von zahlreichen punktförmigen Blutaustritten
durchsetzt gesehen, so dass die Stelle wie eine Contusion aussah. Es
war aber keine Spur einer sonstigen Verletzung vorhanden. Es wäre
nicht unmöglich, dass sich nach langer Asphyxie ähnliche symmetrische
Necrosen im Linsenkern entwickeln, wie sie nach protrahirter
Kohlenoxydvergiftung wiederholt beobachtet wurden. Neuere
Beobachtungen über Erscheinungen im Bereiche des Centralnervensystems
bei wiederbelebten Erhängten bringt +J. Wagner+ (Jahrb. f. Psych.
1889, VIII, und Wiener klin. Wochenschr. 1891, Nr. 53). Er betont
namentlich die Häufigkeit des Auftretens von Convulsionen vor
Wiederkehr des Bewusstseins und der Amnesie (unter 17 Fällen 11mal),
welche retroactiv ist, da sie sich mehr oder weniger auf die Zeit
vor dem Selbstmordversuche erstreckt.[364] In der letzterwähnten
Publication berichtet +Wagner+ über einen jungen Mann, der
unmittelbar, nachdem er seinen Vater schwer verletzt hatte, sich
erhängte, aber abgeschnitten und zum Leben gebracht wurde. Er zeigte
darauf durch mehrere Tage ausgesprochene Zeichen von Geistesstörung,
Unbesinnlichkeit und Amnesie. Da er wegen der schweren Verletzung des
Vaters in Anklagestand versetzt wurde, entstand die Frage, ob der
junge Mann nicht schon vor dem Selbstmordversuch geistesgestört war,
was jedoch +Wagner+ ausschliessen konnte.
Tod durch Ertrinken.
Wird der Zutritt der atmosphärischen Luft zu den Respirationsöffnungen
durch ein flüssiges Medium abgesperrt, so dass Erstickung erfolgt,
so spricht man von Tod durch Ertrinken. Damit dieser erfolge, ist es
nicht nothwendig, dass der ganze Körper in die betreffende Flüssigkeit
hineingerathe, sondern es genügt selbstverständlich, wenn nur der Kopf,
ja selbst nur das Gesicht in dieselbe zu liegen kommen. Allerdings
ist erstere Art des Ertrinkens die häufigste, aber auch letztere
keineswegs selten, namentlich bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen,
die, wie z. B. Berauschte, oder vom epileptischen Anfall Ergriffene
oder anderweitig Hilf- oder Bewusstlose, selbst in ganz seichten Lacken
u. dergl. ertrinken können. Das Ertrinken kann ausser wie gewöhnlich im
Wasser, in allen möglichen anderen Flüssigkeiten geschehen, von denen
insbesondere die Abortjauche zu nennen ist, in welcher zwar seltener
Erwachsene, desto häufiger aber Kinder, namentlich Neugeborene, ihren
Tod zu finden pflegen.
Den Vorgang beim Ertrinkungstode haben insbesondere +F. Falk+[365] und
+Bert+[366] experimentell geprüft. Diesen sowohl als unseren eigenen
Beobachtungen zufolge können wir bei dieser Todesart drei Stadien
unterscheiden. Im ersten hält das Versuchsthier den Athem durch wenige
Augenblicke ein, das zweite ist das Stadium der Dyspnoe und das dritte
jenes der Asphyxie.
Das Einhalten des Athems im +ersten+ Stadium geschieht wohl
meistens instinctiv, doch fand +F. Falk+, dass auch der durch
die plötzliche Einwirkung des Wassers veranlasste Hautreiz eine
reflectorische Respirationslähmung bewirke, die, wenn das Thier
bereits durch frühere Versuche erschöpft war, in andauernden
Respirationsstillstand übergehen konnte, woraus +Falk+ schliesst,
dass Aehnliches auch beim Menschen, wenn Ermattung, psychische
Aufregung u. dergl. Einflüsse dem Gerathen in’s Wasser vorhergingen,
oder auch bei Neugeborenen sich ereignen könne. Im +zweiten+ Stadium
tritt Dyspnoe ein, bei welcher anfangs tiefe, jedoch kurze und
von sofortigen Exspirationen gefolgte Inspirationen eintreten,
während später krampfhafte Exspirationen sich einstellten, ein
Verhalten, das analog ist demjenigen, das man bei der Dyspnoe anderer
Erstickungsformen ebenfalls beobachtet. Im Anfang der Dyspnoe sind
sowohl Bewusstsein als Reflexe erhalten und die kurzen stossweisen
Exspirationen, die den ersten Inspirationen folgen, geschehen
offenbar reflectorisch durch den Reiz des die Stimmritze berührenden
Wassers. Das exspiratorische Stadium der Dyspnoe lässt sich beim
Ertrinken ungleich deutlicher unterscheiden, als bei anderen
Erstickungsformen, da der jedesmalige Exspirationskrampf durch
Ausstossen von feinblasigem Schaum markirt wird. Convulsionen treten
fast immer auf, doch sind sie von verschiedener Heftigkeit. Wir haben
sowohl klonische als Streckkrämpfe beobachtet. Im +dritten+ oder
asphyctischen Stadium finden wir Bewusstlosigkeit und Darniederliegen
der Reflexe, und begegnen im Anfang desselben jenen tiefen, in langen
Intervallen sich wiederholenden Inspirationen, die mit Aufreissen
des Mundes und Zusammenkrümmen des Körpers verbunden sind, die wir
oben als terminale Athembewegungen bezeichnet haben. Letztere lassen
sich beim Ertrinkungstode besonders deutlich verfolgen und treten
in der Mehrzahl der Fälle auf, dauern jedoch nicht immer gleich
lange und bleiben mitunter ganz aus, ohne dass man andere als innere
(individuelle) Bedingungen dieser Differenzen annehmen kann.
[Sidenote: Aeussere Befunde bei Ertrunkenen.]
Als +äussere Leichenbefunde+ bei Ertrunkenen sind folgende zu
erwähnen:
1. Die auffallende +Kälte+ der Leiche. Dieses zuerst von +Mertzdorf+
hervorgehobene Symptom erklärt sich aus der stärkeren Durchfeuchtung
der Haut und den stärkeren Wärmeverlusten durch die rege
Wasserverdunstung. Diese Erscheinung beweist selbstverständlich nicht
den Ertrinkungstod, da sie auch zu Stande kommen wird, wenn ein Körper
erst als Leiche in das Wasser gelangte.
2. Eine auffallende +Blässe+ der Leiche, wie sie von älteren
Autoren hervorgehoben und auf stärkere Contraction der Hautgefässe
zurückgeführt wurde, konnten wir nicht beobachten, häufig dagegen
erscheinen die Leichenflecken und mitunter die ganze Haut auffallend
hellroth, wenn die Leiche in sehr kaltem Wasser gelegen ist, namentlich
also im Winter.
3. +Ecchymosen in der Conjunctiva+ und in der Gesichtshaut haben wir
bei Wasserleichen nur ganz ausnahmsweise gesehen, dagegen dieselben
wiederholt bei Individuen, besonders Kindern, beobachtet, die in
Abortjauche oder ähnlichen dicklichen Flüssigkeiten erstickt waren.
4. +Schaum vor Mund und Nase+ ist bei Ertrunkenen häufig, in frischen
Fällen feinblasig und wenn das Ertrinken in gewöhnlichem Wasser
geschah, rein weiss.
[Sidenote: Gänsehaut.]
5. Die sogenannte +Gänsehaut+ ist bei Ertrunkenen ein sehr constanter
Befund. Sie ist offenbar ein Effect der Contraction der glatten
Muskelfasern der Haut, wodurch die Mündungen der Haarbälge (und
Hautdrüsen) stärker hervortreten. Es kann als sichergestellt angenommen
werden, dass diese Contraction noch während des Lebens, theils in Folge
der Kälte des Wassers, theils in Folge des Affectes, sich entwickelt,
da es bekannt ist, dass beide diese Momente während des Lebens Gleiches
bewirken, und das Persistiren dieser Erscheinung wird so gedeutet,
dass die contrahirten Muskelfasern nach dem Tode nicht erschlaffen,
sondern in ihrem contrahirten Zustande von der Todtenstarre
ergriffen werden. Trotzdem ist die Gänsehaut für den Ertrinkungstod
nicht charakteristisch, da sie sich nicht selten auch nach anderen
Todesarten, insbesondere plötzlichen, findet und auch bei Ertrunkenen
nicht immer in gleicher Intensität zur Entwicklung gelangt. Ueberdies
kann sich die Gänsehaut auch erst postmortal bilden, wie einschlägige
Beobachtungen Anderer (+Robin+’s) und unsere Versuche ergeben haben.
In gleicher Weise wie die „Gänsehaut“ entwickelt sich die
+Schrumpfung+ des +Penis+, des +Hodensackes+, sowie der +Brustwarzen+
und +Warzenhöfe+. Der Reichthum der Haut dieser Organe an glatten
Muskelfasern, sowie die Verschiebbarkeit der Haut bewirkt, dass an
diesen Stellen sich die Contraction der Haut noch stärker entwickelt,
als an der Haut des Rumpfes und der Extremitäten. Die Schrumpfung
dieser Theile ist immerhin eine beachtenswerthe Erscheinung, doch
können wir derselben keinen grossen Werth für die Diagnose des
Ertrinkungstodes vindiciren, da wir uns durch Versuche an frischen
Leichen überzeugt haben, dass das Phänomen auch postmortal zu Stande
kommen kann.
[Sidenote: Quellung dicker Epidermislagen.]
6. Blieb eine Leiche nach dem Tode mindestens einige Stunden im
Wasser, so bemerkt man, dass die Epidermis an solchen Stellen, wo sie
dickere Schichten bildet, wie namentlich an den +Hohlhänden+ und
+Plattfüssen+, an der Innenfläche der Finger und Zehen, aber auch
bei einzelnen Individuen an den Knien und Ellenbogen eigenthümlich
ausgebleicht, verdickt und gerunzelt erscheint. Diese Veränderung ist
eine Quellungs- (Imbibitions-) Erscheinung, die erst an der Leiche
zu Stande kommt und auch sich bildet, wenn man z. B. abgetrennte
Extremitäten in’s Wasser legt, oder auch nur mit feuchtgehaltenen
Tüchern umhüllt. Sie beweist daher nur, dass die Leiche im Wasser
gelegen war, und der Grad ihrer Entwicklung gestattet gewisse
approximative Schlüsse auf die Zeit, wie lange die Leiche im Wasser
gelegen haben mag. Je dicker die betreffenden Epidermislagen waren,
desto früher und intensiver entwickelt sich das betreffende Symptom,
daher bei Individuen der arbeitenden Classe mehr als bei solchen mit
zarten und dünnen Händen.
Wir sehen sonach, dass alle die genannten äusseren Symptome zwar
beweisen, dass eine Leiche im Wasser gelegen ist, und dass die Erwägung
des Grades ihrer Entwicklung auch zu schliessen gestattet, wie
lange dieselbe der Einwirkung des Wassers ausgesetzt war, dass aber
darunter kein einziges sich befindet, welches als dem Ertrinkungstod
pathognomonisch zukommend angesehen werden könnte.
[Sidenote: Innere Befunde.]
Die +inneren Befunde+ sind im Allgemeinen keine anderen, als wie
sie nach jedem Erstickungstode vorkommen können: dunkelflüssiges Blut
und venöse Hyperämien in einzelnen Organen, die jedoch keineswegs
constant sind, eine Thatsache, die frühere Beobachter veranlasste,
Ertrunkene bald an „Stickfluss“, bald an „Stickschlagfluss“, bald an
„Nervenschlag“ sterben zu lassen.
Von den mehr specifischen Befunden verdient der Befund der
+Ertränkungsflüssigkeit+ in den +Lungen+, im +Magen+ und in den
+Paukenhöhlen+ eine besondere Beachtung, weil derselbe, wenn mit
Vorsicht verwerthet, noch am ehesten gestattet, die Frage zu
beantworten, ob ein Individuum in einer Flüssigkeit ertrunken oder in
dieselbe erst als Leiche gerathen ist.
[Sidenote: Ertränkungsflüssigkeit in den Lungen.]
Das Eindringen der +Ertränkungsflüssigkeit in die Luftwege+ erfolgt
in der Regel erst mit den terminalen Athembewegungen, nachdem die
Bewusstlosigkeit eingetreten und die Reflexerregbarkeit, wenn auch
nicht vollkommen erloschen, so doch bedeutend herabgesetzt worden ist.
Während der Dyspnoe erfolgt die Aspiration der Ertränkungsflüssigkeit
nicht, oder nur ausnahmsweise, weil der Reiz der eindringenden
Flüssigkeit anfangs sofort rasche Exspirationen hervorruft, und in dem
convulsiven Stadium der Dyspnoe durch den dabei sich einstellenden
Exspirationskrampf mit dem Schaum auch die eventuell eingedrungene
Flüssigkeit ausgetrieben wird. Von diesem Gange der Dinge kann man sich
leicht durch den Versuch überzeugen. Legt man nämlich Thieren, bevor
man sie in eine chemisch leicht nachweisbare Ertränkungsflüssigkeit
(wir benützen dazu verdünnte Ferrocyankaliumlösungen, die bekanntlich
mit Eisenchlorid einen intensiv blau gefärbten Niederschlag --
Berlinerblau -- geben) bringt, eine Schlinge um den Hals und zieht
diese zu, bevor noch die terminalen Athembewegungen eingetreten sind,
so findet man keine oder nur wenig Ertränkungsflüssigkeit in den
Lungen, wohl aber bereits im Magen, während, wenn man die terminalen
Athembewegungen ihren Verlauf nehmen lässt, die Flüssigkeit bis in die
feinsten Bronchien, und gar nicht selten bis in die Alveolen hinein
nachgewiesen werden kann, und zwar desto tiefer und in desto grösseren
Mengen, je länger die terminalen Inspirationen gedauert hatten, und je
intensiver sie gewesen sind.[367] Daraus geht hervor, dass auch bei
ertrinkenden Menschen in der Regel die Ertrinkungsflüssigkeit aspirirt
wird und daher in den Luftwegen gefunden werden kann. Gleichzeitig
folgt aber aus dem Gesagten, dass nicht immer und nicht stets gleich
grosse Mengen der Ertränkungsflüssigkeit aspirirt werden, da, wie wir
oben bemerkt haben, die terminalen Athembewegungen bei verschiedenen
Individuen verschieden lange dauern und selbst ganz ausbleiben können.
Damit befinden sich auch die Beobachtungen von +Seydel+ (Tagblatt der
Wiener Naturforscherversammlung, pag. 243) in Uebereinstimmung, wonach
bei narkotisirten Thieren grössere Mengen der Ertrinkungsflüssigkeit
aspirirt werden und ebenso wenn das Ertränken im warmen statt im kalten
Wasser geschah.
Daraus erklären sich auch die verschiedenen Befunde bei Ertrunkenen.
In der Mehrzahl der Fälle finden wir mehr weniger beträchtliche
Mengen der Ertränkungsflüssigkeit in den Luftwegen, und zwar, wenn,
wie gewöhnlich, das Ertrinken im Wasser geschah, letzteres theils als
solches, theils in Form von Schaum, der entweder gleich beim Eröffnen
des Kehlkopfes und der Luftröhre sich zeigt, oder aus dieser beim
Druck auf den Brustkorb oder die Lungen mitunter in grossen Mengen
hervorquillt. Ein solcher Befund verdient alle Beachtung, doch wird
sein Werth dadurch eingeschränkt, dass sich Schaum und wässerige
Flüssigkeit auch bei anderen Todesarten finden können, und zwar nicht
blos bei natürlichen mit Lungenödem einhergehenden Todesarten, sondern
auch beim gewaltsamen Erstickungstode, wenn die Agonie lange gedauert
hatte.
Bei acuten gewaltsamen Erstickungen dagegen erreicht die Schaum-
und Serumbildung in den Lungen niemals einen so hohen Grad, wie man
ihn bei Ertrunkenen in typischen Fällen zu beobachten Gelegenheit
hat. In Folge des in sie eingedrungenen Wassers verhalten sich die
Lungen so, wie von acutem Oedem befallene, sie erscheinen nämlich
mehr weniger gedunsen, collabiren nur unvollständig beim Eröffnen des
Thorax, fühlen sich besonders in den abwärtigen Partien teigig an und
entleeren am Durchschnitt schaumiges Serum in mitunter beträchtlichen
Mengen. Diese Erscheinung (Hypervolumen, Balonirung der Lungen) hat
+Casper+ von einem acuten Emphysem, +v. Cerardini+ (l. c.) und +Lesser+
(Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. XL, pag. 1) von einer während
des Ertrinkens zu Stande kommenden starken Schleimabsonderung in den
Bronchien abgeleitet, woher einestheils die Schaumbildung, anderntheils
durch Verlegung der kleinen Bronchien das Ausbleiben des Lungencollaps
herrühren soll. +A. Paltauf+ („Ueber den Tod durch Ertrinken.“
1888) dagegen hat gefunden, dass der Grund der „ballonartigen“
Auftreibung der Lungen vorzugsweise in einem schon während des
Ertrinkens stattfindenden Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit aus
den Alveolen in das Zwischengewebe zu suchen sei, welches theils auf
präformirten Wegen (Kittleisten, Saftspalten), theils durch kleine
Läsionen der Alveolarwand erfolgt. So erklärt sich auch die schon
von +Falk+ (Virchow’s Arch. XLVII und Vierteljahrschr. für gerichtl.
Med. XIX, pag. 228), sowie von +Brouardel+ und +Vibert+ (Virchow’s
Jahrb. 1880, I, pag. 663) gemachte Beobachtung, dass ein Theil der
Ertränkungsflüssigkeit bis in’s linke Herz und selbst darüber hinaus
gelangen und dadurch, wie +Brouardel+ und +Vibert+ constatirten und
+Paltauf+ durch Untersuchungen mit dem +Fleischel+’schen Hämometer
bestätigte, Blutverdünnung zu Stande kommen kann.[368]
[Sidenote: Lungen und Magen bei Ertrunkenen.]
Derartige exquisite Fälle sind nicht allzu häufig. Nicht selten zeigen
die Lungen eine gewöhnliche Beschaffenheit, und es finden sich nur
geringe Mengen der Ertränkungsflüssigkeit als Schaum in den oberen
Luftwegen und noch weniger davon in den Lungen selbst, wobei überdies
zu bemerken ist, dass solche geringe Mengen der Ertränkungsflüssigkeit,
wenn dies Wasser gewesen ist, sich gar nicht von gewöhnlichem Serum
unterscheiden lassen[369], während specifische Flüssigkeiten (z. B.
Abtrittsflüssigkeit, Blut, Fruchtwasser), selbst wenn nur geringe
Mengen aspirirt wurden, bis in die feinsten Bronchien und manchmal bis
in die Alveolen deutlich verfolgt und unterschieden werden können. Doch
ist bezüglich letzterer zu bemerken, dass im Allgemeinen desto weniger
davon tief in die Lungen aspirirt werden kann, je dicker und zäher sie
gewesen sind.[370]
Bei längerem Liegen der Leiche im Wasser und mit fortschreitender
Fäulniss, respective Maceration, verschwindet der Schaum aus den
Luftwegen, ebenso verliert sich auch allmälig durch Imbibitions-
und Transsudationsvorgänge das aspirirte Wasser aus den Lungen und
man findet dann allerdings, dass letztere beim Eröffnen des Thorax
sich aus diesem hervordrängen, diese Erscheinung ist aber nicht mehr
durch stärkere Blähung der Lunge, sondern durch die blutig-serösen
Transsudate im Pleurasack veranlasst, auf welchen die Lungen schwimmen
und durch welche sie nach vorne gedrängt werden. Am Schnitt finden sich
dann solche Lungen desto trockener, je weiter schon die Transsudation
vorgeschritten ist.
Auch im +Magen+ kann sich die +Ertränkungsflüssigkeit+ finden. Sie
gelangt dahin offenbar in den ersten Stadien der Dyspnoe, indem
das eindringende Wasser theils instinctive, theils reflectorische
Schlingbewegungen veranlasst. Die Mengen, die verschluckt werden,
variiren sehr. Stärkere Anfüllungen des Magens mit Wasser haben wir
nur ausnahmsweise beobachtet (mitunter sogar eine ausgesprochene
Auswässerung der Magenschleimhaut), und bei kleinen Mengen ist es
schwer, ja unmöglich, dieselben von anderweitiger Magenflüssigkeit
zu unterscheiden, während, wenn das Ertrinken in specifischen
Flüssigkeiten geschah, die Unterscheidung leicht gelingt. Bei faulen
Leichen kann allerdings ein Theil und selbst das ganze aufgenommene
Wasser durch Imbibition wieder verschwinden.
Bezüglich des Befundes der Ertränkungsflüssigkeit in den Lungen und
im Magen liegt die Frage nahe, ob diese Stoffe +nicht auch an der
Leiche hineingelangen können+. Diese Möglichkeit wurde vielfach
bestritten, ist jedoch durch zahlreiche Versuche +Liman+’s, denen
wir auch eine grosse Zahl unserer Versuche anschliessen können,
thatsächlich sichergestellt. Am leichtesten dringen wässerige
Flüssigkeiten ein, schwerer dagegen schlammige oder dicke und zähe,
so dass, wenn letztere tief in den Bronchien gefunden werden, nicht
anzunehmen ist, dass sie erst an der Leiche hineingelangten. Auch haben
wir uns überzeugt, dass schon ein geringes Verlegtsein der Luftwege
oder des Oesophagus mit Schleim genügt, um das tiefere Eindringen
von Flüssigkeiten zu verhindern, sowie wir auch gefunden haben, dass
postmortal niemals grosse Mengen der Flüssigkeit in die Lunge oder
in den Magen eindrangen.[371] +Engel+ hat auch darauf aufmerksam
gemacht, dass durch Compression und Nachlassen des Thorax der in einer
Flüssigkeit liegenden Leiche die letztere künstlich aspirirt werden
kann, ein Vorgang, der unabsichtlich beim Herausziehen von Leichen aus
Flüssigkeiten sich ereignen könnte. Doch ist dies nicht erwiesen.
[Sidenote: Postmort. Eindringen d. Ertränkungsflüssigkeit. Darm u.
Paukenhöhle.]
Nicht selten findet sich die Ertränkungsflüssigkeit im +Duodenum und
oberen Dünndarm+ und wir haben dieselbe sogar wiederholt bis in’s Ileum
hinein verfolgen können, was namentlich bei specifischen Flüssigkeiten
(Blut, Abortsjauche u. dergl.) leicht möglich ist. Ein solcher Befund
ist von grösstem Werth und für das Ertrinken in der betreffenden
Flüssigkeit fast absolut beweisend, da, wie in unserem Institute von
+Fagerlund+ („Ueber das Eindringen von Ertränkungsflüssigkeit in die
Gedärme.“ Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1890, LII) angestellte
Versuche ergaben, ein postmortales Eindringen solcher Flüssigkeiten
unter gewöhnlichen Verhältnissen niemals, sondern nur dann stattfindet,
wenn dieselben unter starkem Druck in den Magen eingetrieben werden.
Nachdem, wie wir bei der Lehre vom Kindesmorde erwähnen werden,
+Wreden+ und +Wendt+ die Behauptung aufgestellt hatten, dass beim
sogenannten fötalen Erstickungstod der Früchte durch die dabei
stattfindenden vorzeitigen Athembewegungen Fruchtwasser und Meconium
nicht blos in die Lungen und in den Magen, sondern auch in die
+Paukenhöhlen+ gelangen könne, lag es nahe, dieses Verhalten auch
für die Diagnose des Erstickungstodes zu verwerthen. Nachdem wir
darauf aufmerksam gemacht hatten, konnte +Blumenstok+[372] bei
einem Kinde, das von seiner Mutter in schmutzigem Wasser ertränkt
worden war, die in diesem suspendirten fremden Substanzen auch in
den Paukenhöhlen nachweisen; ebenso waren wir bereits wiederholt
in der Lage, bei in Abortflüssigkeit oder Spülicht erstickten
Kindern die Bestandtheile der letzteren (verschiedene Pflanzenzellen
und Fasern, Reste quergestreifter Muskelfasern, Gallenfarbstoff,
Amylumkörner, Tripelphosphate etc.) in den Paukenhöhlen aufzufinden.
Dagegen gelang uns bei anderen ähnlichen Fällen dieser Nachweis
nicht und ebenso auch nicht bei zwei Männern, die beim Canalräumen
durch die Canalgase erstickt worden waren, obgleich in beiden Fällen
sowohl in den Luftwegen als im Magen Canalinhalt gefunden wurde.
Auch +Lesser+ („Zur Würdigung der Ohrenprobe.“ Vierteljahrschr.
f. gerichtl. Med. XXX, 1) fand bei einem im Koth erstickten
Neugeborenen Fruchtwasser im Mittelohr, aber keine Kothpartikel. Es
scheint daher die Ertränkungsflüssigkeit beim Ertrinken keineswegs
immer, sondern nur häufig einzudringen und im letzteren Falle wäre
ein solcher Befund diagnostisch höchst werthvoll, vorausgesetzt,
dass das Trommelfell unverletzt war, wenn die Möglichkeit eines
postmortalen Eindringens der Ertränkungsflüssigkeit positiv
ausgeschlossen werden könnte. Leider ergaben in unserem Institute
von +Hněvkovský+ ausgeführte Versuche[373], dass nicht blos klare,
sondern auch corpusculäre Elemente enthaltende Flüssigkeiten auch
erst postmortal in das Mittelohr eindringen können, indem bei 45
theils mit ganzen Kindesleichen, theils mit abgeschnittenen Köpfen
Erwachsener unternommenen Submersionen in Ferrocyankaliumlösung,
sowie in Stärkemehl oder Lycopodium enthaltenden oder aus zerriebenem
Fleisch bereiteten Flüssigkeiten 13mal die betreffende Flüssigkeit,
respective die in ihr suspendirten Fremdkörper in der Paukenhöhle
nachgewiesen werden konnten. In den meisten Fällen fand sich die
betreffende Flüssigkeit in beiden Paukenhöhlen, bei einigen war sie
nur in die eine eingedrungen. Die so häufig bei Kindern vorkommende
Entzündung des Mittelohres und der Tuben erschwerten in vielen
Fällen das Eindringen der Flüssigkeit, woraus sich erklärt, dass
bei den 28 Kindesleichen die Flüssigkeit nur siebenmal, bei den 17
Köpfen Erwachsener aber ebenfalls siebenmal, daher verhältnissmässig
häufiger in den Paukenhöhlen gefunden wurde.
[Sidenote: Mord und Selbstmord durch Ertränken.]
Wird eine Leiche aus dem Wasser oder einer anderen Flüssigkeit gezogen
und finden sich an derselben keine anderen Erscheinungen als solche,
wie sie gewöhnlich bei Ertrunkenen beobachtet werden, dann ist es
selbstverständlich nicht möglich, blos aus dem Obductionsbefunde die
Frage zu beantworten, ob das Individuum einen Selbstmord begangen
habe, oder zufällig ertrunken oder durch Schuld eines Anderen in die
Flüssigkeit gerathen sei, und es sind einzig und allein die Umstände
des Falles, die in dieser Richtung Aufklärung zu geben im Stande sind.
[Sidenote: Selbstmord oder Zufall?]
Mord durch Ertränken kommt bei Erwachsenen nur selten vor, häufig
dagegen bei Kindern, namentlich bei Neugeborenen. Selbstmord durch
Ertränken ist sehr gewöhnlich und fast ebenso häufig, wie jener durch
Erhängen, wobei sich die Betreffenden mitunter die Füsse und Hände
zusammenbinden, sich mit Steinen, die sie am Halse oder an den Füssen,
seltener an den Händen (bei einem 82jährigen Mann, der sich eines
acquirirten Schankers wegen ertränkt hatte, war an jeder Hand ein
Bügeleisenstahl angebunden) befestigen oder in die Taschen stecken,
beschweren. Ebenso ist es bekannt, dass zufälliges Verunglücken durch
Ertrinken ein sehr häufiges Ereigniss bildet, besonders im Rausche oder
im Sommer beim Baden, in welchem letzteren Falle die Nacktheit der
Leiche oder Schwimmkleider einen Anhaltspunkt bieten.[374]
[Sidenote: Vitale Verletzungen an Wasserleichen.]
Wurde das Individuum auf eine andere Weise getödtet und erst als Leiche
in’s Wasser geworfen, so können Verletzungen oder Spuren anderweitig
stattgefundener Gewalteinwirkung an der Leiche sich finden, die einen
solchen Vorgang klarstellen. Bei der Beurtheilung derartiger Befunde
sind jedoch analoge Vorsichten zu beobachten, wie wir sie aus gleichem
Anlasse bei Erhängten zu beobachten empfohlen haben. Es ist zunächst
möglich, dass Jemand thatsächlich früher durch fremde Hand eine
Verletzung erlitt, so z. B. bei einer vorausgegangenen Rauferei, und
bald darauf, etwa beim Nachhausegehen im berauschten Zustande, zufällig
ertrank. Es ist ferner möglich, dass Jemand früher auf eine andere
Weise sich umzubringen versuchte und dann erst in’s Wasser sprang, oder
dass er absichtlich am Rande eines Wassers oder in diesem stehend sich
erschoss, den Hals durchschnitt und dergleichen, also einen combinirten
Selbstmord beging, der keineswegs zu den Seltenheiten gehört. Weiter
besteht die Möglichkeit, dass eine an einer Wasserleiche gefundene
Verletzung beim Sturz in’s Wasser und beim Auffallen auf harte, über
oder unter dem Wasser befindliche Gegenstände entstanden sein konnte.
Geschah der Sturz von bedeutender Höhe (von Brücken oder in Brunnen),
so können schwere Verletzungen zu Stande kommen. So obducirten wir
einen Mann, der beim Sprung von einer Brücke in den Fluss, wie
Augenzeugen sahen, zuerst auf einen vorspringenden Mauerpfeiler und
dann erst in’s Wasser gefallen war und wenige Augenblicke darnach
todt herausgezogen wurde, bei dessen Section sich eine bis auf die
Schädelbasis sich fortsetzende Fissur des Scheitelbeins mit Suffusion
der Kopfhaut und Blutaustritt in die Schädelhöhle und ausserdem ein
Bruch zweier Rippen fand, und einen anderen, der sich beim Sturz in
den seichten Wienfluss einen hölzernen Pflock eingestossen hatte,
der von der rechten Leistengegend bis in den rechten Schenkelkopf
eingedrungen war. Dass auch das einfache Auffallen des Körpers auf das
Wasser Verletzungen zu erzeugen im Stande wäre, kann nur bei Sturz
aus bedeutender Höhe angenommen werden, und es wäre möglich, dass bei
flachem Auffallen des Körpers Muskelzerreissungen oder Rupturen innerer
Organe sich bilden könnten. Letztere haben wir bisher nicht gesehen,
wohl aber wiederholt und mitunter zahlreiche Ecchymosen von bis
Bohnen-, selbst Thalergrösse in der Musculatur, besonders der Hals- und
Brustmuskeln, welche auch Dr. +Paltauf+ (l. c.) erwähnt. Sie können vom
Sturz in’s Wasser oder von der heftigen Muskelaction bei den Versuchen,
sich zu retten, oder von den Erstickungskrämpfen, aber auch von
Wiederbelebungsversuchen, z. B. nach +Sylvester+, herrühren.[375] Am
häufigsten haben wir sie bei im Winter Ertrunkenen beobachtet, so dass
wir meinen, dass auch die lebhafte Haut- und Muskelcontraction durch
die Kälte mitwirken kann. +Taylor+ hat bei einer Frau, die von einer
Brücke in die Themse gesprungen war, eine Verrenkung beider Oberarme
gefunden. Schädelbrüche und ähnliche Verletzungen können durch einen
blossen Fall in’s Wasser, selbst wenn er aus bedeutender Höhe geschah,
nicht entstehen. Ueber Fracturen und Luxationen der Halswirbelsäule,
die durch Kopfsprung in seichtes Wasser entstanden, berichten +Taylor+
und +Bamberger+ („Wiener med. Presse.“ 1882, pag. 287). +Chimani+ in
Wien erwähnt in seinem Berichte über die 1867-1877 behandelten 5041
ohrenkranken Soldaten auch einen Fall von Trommelfellruptur durch Sturz
in’s Wasser aus grosser Höhe.
[Sidenote: Postmortale Verletzungen an Wasserleichen.]
Ferner ist zu beobachten, dass an Wasserleichen gefundene Verletzungen
auch erst nach dem Tode entstanden sein konnten. Zunächst dadurch,
dass die Leiche durch stark strömendes Wasser über kiesigen Boden
fortgeschleift wurde. Solche Verletzungen sahen wir bei einem
20jährigen Manne, der in Wien in den hochgehenden Donaucanal gesprungen
war und noch am selben Tage an einer über ¼ Stunde entfernten
Stelle an’s Ufer geschwemmt wurde. Wir fanden die ganze Stirne, den
Nasenrücken und die Wangen aufgeschunden, ferner streifenförmige
Hautaufschürfungen an beiden Handrücken und an beiden Knien, sämmtlich
ohne Reactionserscheinungen. Ebenso können Verletzungen, namentlich am
Kopfe, beim Treiben der Leiche durch Anstossen an feste Gegenstände,
Brückenpfeiler, Eisschollen sich bilden und noch mehr, wenn sie unter
Mühlräder, die Radschaufeln von Dampfschiffen[376] etc. geräth. Eine
solche Entstehungsweise nahmen wir an bei einer Fissur des Stirnbeins,
die vom For. supraorb. bis zur Kranznaht sich hinaufzog und bei einer
hochgradig verfaulten Wasserleiche sich fand, deren Knochen, namentlich
jene des Schädels, von Weichtheilen ganz entblösst waren und die höchst
wahrscheinlich den Eisgang durchgemacht hatte.
Auch Verletzungen durch Wasserthiere sind möglich, solche durch Ratten
in Cloaken häufig. Andere können erst beim Herausziehen der Leiche
aus dem Wasser, beim Heraushacken aus dem Eise oder auch dadurch
entstehen, dass die irgendwo angeschwemmte Leiche wieder in den Fluss
zurückgestossen wird. Dass letzteres nicht selten geschieht, und zwar
um Mühe und Begräbnisskosten zu ersparen, beweist die Thatsache, dass
eine eigene Verordnung erlassen werden musste, welche den Bewohnern
der unterhalb Wiens gelegenen Donauufer ein derartiges Gebahren
verbietet.[377] Im Laufe weit vorgerückter Fäulniss lösen sich
einzelne Theile ab, oder werden von der Wasserströmung abgerissen und
fortgeschwemmt, weshalb die Verstümmlung alter Wasserleichen zu den
gewöhnlichen Befunden gehört.
Bezüglich der Erkennung solcher Verletzungen als postmortaler müssen
wir auf das an einer anderen Stelle (pag. 359) Gesagte verweisen.
Bei faulen Wasserleichen kommen mitunter ganz eigenthümliche
postmortale Verletzungen vor. So obducirten wir die Leiche einer
alten Frau (Selbstmörderin), die erwiesenermassen einen Monat im
Wasser gelegen war. An zahlreichen Stellen des Körpers, insbesondere
dicht stehend an der linken Scheitelgegend, hinter beiden Ohren,
am Halse, an der rechten Seite des Bauches und am Promontorium
fanden sich theils rundliche, theils schlitzförmige, hanfkorngrosse
Oeffnungen in der Cutis, die bis zum Fettgewebe reichten, so dass
die Haut wie zerstochen aussah. Offenbar waren diese Oeffnungen
durch Herausfallen der Haar- und Drüsenbälge entstanden. Einen
noch merkwürdigeren Befund ergab die nackte und stark macerirte
Leiche eines 10-12jährigen Knaben, die im Juli aus dem Wasser
gezogen wurde. Sie kam zur gerichtlichen Obduction, weil der
Polizeiarzt „Stichwunden am Kopf und einen haarseilartig durch
diese durchgezogenen Strick“ bemerkte. In der That war der Anblick
ein ganz frappirender. Die Schädeldecken waren nahezu haarlos und
bildeten einen schlaffen Sack, ähnlich wie man dieses bei macerirten
Früchten gewöhnlich bemerkt. In beiden Scheitelgegenden fanden sich
mehrere schlitzförmige, ½ bis 1½ Cm. lange, durch die Galea
dringende Oeffnungen in der Kopfhaut, aus deren einer scheinbar ein
macerirter Strick heraushing, der im Ganzen eine Länge von 29 Cm.
besass. Bei näherer Besichtigung ergab sich jedoch, dass das innere
Drittel dieses Strickes ein schnurartig zusammengedrehtes Stück des
herausgeschwemmten Pericraniums war, an dessen Ende sich ein Stück
macerirten Schilfrohres angehängt hatte. Auch fand sich, dass auch
aus mehreren der übrigen Oeffnungen schnurartig zusammengedrehte
Pericraniumreste heraushingen. Der Schädel war vollkommen unverletzt,
auch sonst wurde keine Spur einer Gewaltthat gefunden. Es handelte
sich somit um eine blosse Leichenerscheinung. Die Oeffnungen waren
entweder aus den durch Herausfallen der Haarbälge gebildeten Lücken
oder von Innen durch den Druck der Fäulnissgase entstanden, oder
endlich durch Anstossen der Leiche an irgend welche Gegenstände,
wobei zu bemerken ist, dass, wie Versuche ergaben, die Richtung der
Schlitze genau der localen Spaltbarkeitsrichtung der Haut, respective
der Galea entsprach.
[Sidenote: Strangfurchen an Wasserleichen.]
Würden sich an einer Wasserleiche Strangulationsmarken finden, so
wäre nicht zu übersehen, dass ähnliche Befunde sich auch anderweitig
entwickeln können. Auf, von Hemdkrägen etc. herrührende Streifen am
Halse, die, namentlich wenn die Fäulniss den Hals auftreibt, stärker
sich entwickeln können, haben wir bereits aufmerksam gemacht. Eine
wirkliche Strangmarke ohne Strangulation kann aber auch dadurch
entstehen, dass der Betreffende sich absichtlich einen schweren
Gegenstand um den Hals gebunden hatte.
So bekamen wir einen Mann zur Obduction, der wenige Tage, nachdem
er sich ertränkt hatte, aus der Donau gezogen worden war. An seinem
Halse hing an einem doppelten dünnen Strick ein mehrere Kilo
schwerer Ziegelstein und ersterem entsprach eine scharf markirte
doppelte Strangfurche, die einen gleichen Verlauf zeigte, wie man
ihn bei Erhängten zu sehen pflegt. Würde sich die Schlinge im
Wasser gelöst haben, so hätte der Befund der Strangmarke am Halse
den Verdacht erregen können, dass der Betreffende durch einen
Anderen strangulirt und dann in’s Wasser geworfen worden sei. In
der That kam uns seitdem ein solcher Fall vor, betreffend einen
40jährigen Israeliten, dessen Leiche 7 Tage nach seinem Verschwinden
mit einer losen Strickschlinge um den Hals aus der Donau gezogen
worden war. Es bestand Verdacht auf Mord, weil der Mann angeblich
Schulden eincassiren gegangen war; anderseits wurde constatirt, dass
derselbe wiederholt Selbstmordgedanken geäussert habe. Am Halse der
ziemlich faulen Leiche fand sich eine deutliche Strangrinne zwischen
Kehlkopf und Zungenbein, wie bei Erhängten hinter den Ohren gegen
die Mitte des Nackens verlaufend, ohne Verletzungen darunter. Auch
sonst äusserlich keine Verletzung. Dagegen waren die Schädeldecken
stark blutig imbibirt und an der vorderen Partie bis zur Mitte der
Pfeilnaht deutlich suffundirt. Sonst keine innerliche Verletzung.
Kyphoscoliosis, Schwielen in den Lungenspitzen, Herzhypertrophie
und Cholelithiasis. Offenbar hatte der kranke Mann einen Selbstmord
begangen und der am Strick befestigt gewesene Stein hatte sich
abgelöst. Die Suffusion an der Stirnpartie des Schädels war durch den
Sturz in’s Wasser leicht erklärlich. In der Wiener med. Wochenschr.,
1862, Nr. 33 und 34, bringt +Keckeis+ einen Fall, in welchem ein
Ertrunkener in der Weise aus einem Brunnen herausgebracht wurde, dass
man ihm die Kette des Brunneneimers um den Hals band und ihn dann
mit der Winde heraufzog, worauf allerdings eine sehr ausgeprägte
Strangfurche am Halse der Leiche gefunden worden ist.
[Sidenote: Wie lange lag die Leiche im Wasser?]
Bei der Beantwortung der Frage, +wie lange eine Leiche im Wasser
gelegen+ sei, wird, wenn es sich um eine noch frische Leiche handelt,
vorzugsweise das oben erwähnte Verhalten der Epidermis an den Händen
und Füssen in Erwägung kommen. Am frühesten zeigt sich die Entfärbung,
Quellung und Runzelung der Epidermis an den Fingerspitzen, und zwar
schon nach 2-3 Stunden, und schreitet dann, indem sie sich auch an der
Hohlhand, und zwar zunächst an den Ballen derselben, zeigt, successive
vorwärts, so dass gewöhnlich in 2-3 Tagen die gesammte Epidermis der
Innenseite der Hand in der erwähnten Weise verändert erscheint. Später
quillt die Epidermis, und zwar auch am Handrücken, immer mehr auf,
wird schliesslich (in 5-8 Tagen) kreideweiss und ihr Zusammenhang
mit dem Corium beginnt sich zu lockern. An den Füssen geschehen die
Veränderungen dann langsamer, wenn dieselben bekleidet waren, sonst
aber der dickeren Epidermislage wegen meist rascher als an den Händen.
Einfrieren hemmt den Eintritt dieser Macerationserscheinungen.
[Sidenote: Fäulniss und Maceration bei Wasserleichen. Auftauchen
derselben.]
In den weiteren Perioden ist blos der Grad der Fäulniss, respective
Maceration für die immer nur approximative, Zeitbestimmung zu
verwerthen. So lange die Leiche unter Wasser bleibt, schreitet die
Fäulniss nur langsam vorwärts, und zwar desto langsamer, je kälter die
Jahreszeit, respective das betreffende Wasser ist. Auch im strömenden
Wasser langsamer als im stehenden. Sobald aber die Leiche an die
Oberfläche gelangt[378], nimmt die Fäulniss der Leiche einen desto
rapideren Fortgang, je weiter die Maceration bereits gediehen war und
je wärmer das Wasser sowohl als noch mehr die Luft ist. Dann erst
entwickelt sich ungemein rasch die schmutzig-grüne Fäulnissfarbe und
ein rapides Fäulnissemphysem, welches im Sommer in wenigen Stunden
die Leiche, die, so lange sie unter Wasser war, noch ziemlich gut
erhalten sein konnte, „gigantisch“ auftreibt und zur Unkenntlichkeit
entstellt. Die Auftreibung und Missfärbung betrifft vorzugsweise das
Gesicht, den Hals, den oberen Theil des Brustkorbes und die äusseren
Genitalien, besonders den Hodensack, wegen der lockeren Beschaffenheit
des Unterhaut- und intermusculären Bindegewebes.
[Sidenote: Veränderungen an unter Wasser liegenden Leichen.
Algenbildung.]
[Sidenote: Alte Wasserleichen.]
Die Veränderungen, denen die Leiche verfällt, wenn sie längere
Zeit unter Wasser bleibt, bestehen zunächst in einem Fortschreiten
der äusseren Macerationserscheinungen. Der Zusammenhang sowohl der
gequollenen und ausgebleichten Epidermis der Hände und Füsse, als
auch derjenigen am übrigen Körper wird mit der Cutis immer mehr
gelockert, so dass später schon geringe Gewalten, z. B. die des
strömenden Wassers, genügen, um grosse Partien der Epidermis sammt den
Epidermoidalgebilden abzustreifen. Frühzeitig pflegen die Kopfhaare
auszugehen, ebenso handschuhartig die Epidermis der Hände und Füsse
sammt den Nägeln. Das Abgehen der Haare erfolgt nicht gleichförmig,
sondern zuerst an den gewölbtesten und daher am meisten exponirten
Partien des Kopfes, so dass man z. B. häufig an den Schläfen und
am Hinterkopf Haare findet, während der übrige Schädel kahl ist, so
dass ein kahlköpfig gewesenes Individuum vorzuliegen scheint; doch
sind noch die Haarfollikel zu erkennen, die der Cutis ein wie mit
Nadeln zerstochenes Aussehen verleihen. Auch finden sich häufig, trotz
des Abganges der Epidermis, noch einzelne Haare in ihren Follikeln
steckend.[379] Der Abgang der Epidermis sammt den Nägeln an den Händen
und Füssen kann zu Täuschungen in Bezug des Standes des Individuums
Veranlassung geben, da die blossliegende Cutis den Händen und Füssen
ein zartes, wohlgepflegtes Aussehen verleiht und die blossliegenden
Nagelbetten, die sogar eine Lunula zeigen, für schön gepflegte Nägel
imponiren können. Längere Zeit im Wasser gelegene Leichen sind
gewöhnlich mit „Schlamm“ überzogen, der häufig ziemlich fest adhärirt.
Die nähere Untersuchung ergab jedoch, dass dieser „Schlamm“ wenigstens
an den aus unseren Gewässern stammenden Leichen kein eigentlicher
Schlamm, sondern ein sehr dichter, im collabirten und nicht mit
wirklichem Schlamm verunreinigten Zustande wie nasse Watte aussehender
Rasen fädiger Algen (nach +Haberda+ Phycomyceten oder Algenpilze) ist,
die, wie angestellte Versuche ergaben, in fliessendem Wasser sich
mit Vorliebe auf Leichen und Leichentheilen ansetzen und eine sehr
rege Wucherung zeigen. Vielleicht sind es dieselben Algen (Leptomites
lacteus, Oscillaria alba), welche in stark mit organischen Substanzen,
insbesondere mit den Abgängen von Zuckerfabriken, Bierbrauereien etc.
verunreinigten Gewässern sich mitunter massenhaft entwickeln und
sanitäre Uebelstände bedingen können (+Eulenburg+, Gesundheitswesen.
II, pag. 1124). An einer in fliessendes Hochquellenwasser gelegten
frischen Leiche eines Neugeborenen konnten wir schon am 8. Tage
stellenweise einen feinen Algenflaum bemerken und schon am 11.
zerstreute, bis nussgrosse Ballen eines pinselförmig angeordneten
Algenrasens, der rapid wucherte, so dass schon am 18. Tage die Leiche
in Pelz von Algen gehüllt war, welcher nach vollendeter Fructification
(am 28. bis 30. Tage) collabirte, worauf nach etwa 8 Tagen eine
neuerliche Wucherung erfolgte, die denselben Verlauf nahm, wie die
frühere. Es dürfte somit diese Algenwucherung bei Zeitbestimmungen
nicht unbeachtet bleiben. Ausser diesen fädigen Algen siedeln sich nach
einigen (10-12) Tagen eigenthümliche Schleimpilze (Lycogale) an, welche
als punktförmige prachtvoll anilinblau oder zinnoberroth gefärbte
Flecken auftreten, die bis Linsengrösse erreichen können. Gleichzeitig
mit den erwähnten Vorgängen geht ein Auswässerungsprocess der Cutis
einher, so dass letztere an eben aus dem Wasser gezogenen Leichen
blass fleischroth, wie frisch erscheint, eine Farbe, die später immer
bleicher wird, aber allerdings an der Luft bald in die gewöhnliche
schmutzig-grüne Fäulnissfarbe übergeht.
Im Innern des Körpers kommt es zunächst zu Imbibitions- und
Transsudationsvorgängen, so dass im Verlaufe der ersten Wochen die
Organe in ähnlicher Weise blutig imbibirt erscheinen und die serösen
Säcke blutige Transsudate enthalten, wie wir dieses bei macerirt
geborenen Früchten sehen. Später beginnt auch hier, indem das Blut
theils durch die der Epidermis beraubte Cutis, theils durch die
frühzeitig entstehenden Continuitätstrennungen der Haut austritt, eine
Auswässerung und zugleich ein Zerfall durch Maceration und Fäulniss und
schliesslich bleibt, nachdem auch die Cutis der Colliquation verfallen,
ausser den Knochen und den sehnigen Gebilden, Muskelscheiden etc.
nur das subcutane und anderweitige Fett, welches, indem es sich in
Fettsäuren umwandelt, die sogenannte Adipocire oder das Leichenwachs
darstellt, auf welches wir später noch zurückkommen werden.
[Sidenote: Wiederbelebte Ertrunkene.]
Ueber die Erscheinungen bei vorläufig oder definitiv vom
Erstickungstode Geretteten ist wenig bekannt. Viele sterben, ohne das
Bewusstsein wieder erlangt zu haben, nach kurzer Zeit, bei Anderen
kehrt das Bewusstsein vorübergehend, mehr weniger vollständig zurück,
sie sterben aber meist im Laufe des ersten Tages unter Erscheinungen
des Lungenödems. Nachträglich können bronchitische oder pneumonische
Processe eintreten, besonders wenn Schmutzflüssigkeiten aspirirt
wurden. Dass auch epileptische Symptome und retroactive Amnesie sich
einstellen können, wie bei wiederbelebten Strangulirten (s. pag.
570), beweist ein von +Knopf+ (Zeitschr. f. Medicinalbeamte, 1894,
pag. 625) mitgetheilter Fall. Gelegenheitlich kommen auch die Folgen
des Schreckes und die Kältewirkung in Betracht. In einem von uns
obducirten Falle wurde eine Lungentuberculose von einem 9 Monate vor
dem Tode erfolgten Sturz in eine Senkgrube abgeleitet, und in einem
anderen von gleicher Ursache der einige Tage darnach an Pneumonie und
Meningitis eingetretene Tod eines älteren Mannes. In beiden Fällen
konnte nur ein unbestimmtes Gutachten abgegeben werden. Am häufigsten
kommt es vor, dass Neugeborene aus Aborten oder Canälen noch lebend
herausgezogen werden und an pneumonischen Processen erkranken
oder sterben. Der Nachweis des causalen Zusammenhanges ist auch
in diesen Fällen nicht immer leicht, da bekanntlich bronchitische
und pneumonische Processe gerade bei Neugeborenen sich leicht und
häufig anderweitig entwickeln. Bei einem 9 Tage nach dem Sturz in
den Abort gestorbenen Neugeborenen ergab die Obduction eiterige
Mediastinitis anterior, Pleuritis, Pericarditis, Peritonitis superior
und Bronchopneumonie. Der ursächliche Zusammenhang dieser Processe
mit der Infection durch Abortstoffe konnte nicht bezweifelt werden,
umsoweniger, als in der von der Lungenschnittfläche abgestreiften
Flüssigkeit Steinzellen und andere Pflanzentheilchen mikroskopisch
nachgewiesen wurden. -- Die Resorption grösserer Mengen von Wasser
von den Lungen aus (s. pag. 576) kann wohl für sich allein als
irrelevant betrachtet werden.
Andere Formen gewaltsamer Erstickung.
Von diesen wollen wir nur die, durch Verschluss der
Respirationsöffnungen, ferner jene durch Verstopfung der
Respirationswege durch fremde Körper und die Erstickung durch
Behinderung der Excursionen des Thorax erwähnen.
[Sidenote: Erstickung durch Verstopfen der Luftwege.]
Die +Erstickung durch Verschluss der Respirationsöffnungen+
kann besonders bei kleinen Kindern vorkommen und entweder durch
Zuhalten des Mundes und der Nase mit der Hand oder mit anderen,
besonders weichen Gegenständen geschehen. Im ersteren Falle können
Druckspuren zurückbleiben, deren Anordnung und etwa den Fingernägeln
entsprechende Form allein im Stande wäre, über die Erstickungsursache
Aufschluss zu geben. Bei Neugeborenen ist zu beachten, dass solche
Spuren auch von Selbsthilfe der Gebärenden, d. h. davon herrühren
können, dass die letzteren mit den Fingern den Kopf oder Körper des
Kindes zu entwickeln bestrebt waren. Symmetrische und ausschliesslich
um die Respirationsöffnungen gelagerte Druckspuren kommen auf diese
Weise allerdings nicht zu Stande. Hüten wird sich der Gerichtsarzt,
die Vertrocknung der Lippen, die als Leichenerscheinung bei kleinen
Kindern ganz gewöhnlich vorkommt, auf einen auf diese Theile
stattgefundenen Druck zu beziehen. Die Erstickung durch Verschluss
der Respirationsöffnungen mit weichen Gegenständen, Tüchern, Betten
u. dergl. kann sowohl absichtlich unternommen werden, als zufällig
vorkommen dadurch, dass kleine Kinder unter Betten etc. gerathen oder
auf das Gesicht zu liegen kommen. Da solche Vorgänge meist keine
äusseren Spuren zurücklassen, so ist der Gerichtsarzt auch nicht in
der Lage, dieselben aus dem Sectionsresultat zu erkennen, und er wird
sich damit begnügen, zu erklären, dass der Tod an Erstickung erfolgt
sei und dass keine innere Ursache derselben nachgewiesen werden
konnte, worauf er nicht unterlassen wird, die Umstände des Falles zu
verwerthen.
[Sidenote: Erstickung durch fremde Körper.]
Die +Erstickung durch Verstopfung der Luftwege durch fremde Körper+
ist meistens ein zufälliges Ereigniss. Auf diese Weise ausgeführter
Selbstmord ist nur ganz ausnahmsweise beobachtet worden. Mehrere
solche mit Strangulation combinirte Fälle haben wir oben mitgetheilt.
+Handyside+ (Schmidt’s Jahrb. 1843, XXXVIII, 232) berichtet über
einen Selbstmord durch Ausstopfen des Rachens mit Baumwolle,
+Wosidlo+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., I, 293) über
einen gleichen Fall, in welchem Heu eingestopft wurde, und eine Reihe
sehr interessanter anderer Fälle, worunter auch ein Selbstmord durch
einen in den Oesophagus eingezwängten Schlüssel, findet sich in
Schmidt’s Jahrb. 1845, LXVIII, pag. 83 u. s. f. In unserer Sammlung
bewahren wir ein Convolut von Halsschleifen (Cravatten), die ein
Bursche in selbstmörderischer Absicht sich in den Rachen gestopft,
dann aber verschluckt hatte und die dann per anum abgegangen waren.
Noch seltener kommt die Tödtung Anderer durch Verstopfung der
Luftwege zur Beobachtung und dann fast ausschliesslich nur bei
neugeborenen Kindern. Wir selbst hatten ein Gutachten abzugeben
über die Todesart eines sechsjährigen Knaben, in dessen Rachen zwei
Stücke Brotkrume gefunden wurden, wobei der Verdacht bestand, dass
der Stiefgrossvater dieselben gewaltsam dem Knaben eingestopft und
ihn dadurch getödtet habe. Da ein zufälliges Steckenbleiben der
Brotkrume im Rachen nicht ausgeschlossen werden konnte, blieb der
Fall unentschieden, obgleich die Umstände sehr verdächtig waren.[380]
Ferner obducirten wir die Leiche eines etwa sechsmonatlichen Kindes,
welches im Prater mit durch Semmelkrume vollkommen ausgestopfter
Mund- und Rachenhöhle todt aufgefunden worden war. Der Mund war
weit geöffnet und die Backen so ausgestopft, dass schon das äussere
Aussehen die absichtliche Ausstopfung erkennen liess.
Zufällig können solche Erstickungen erfolgen beim Steckenbleiben
grosser Bissen im Schlund. Dies kann geschehen bei Kindern, bei
Berauschten, Blödsinnigen u. s. w., seltener bei vollsinnigen
Personen. Derartige Fälle gibt es eine grosse Menge und kommen uns
solche jedes Jahr mehrmals vor. Namentlich sind es grosse sehnige
Fleischstücke, die ihrer Grösse wegen den Schlund nicht passiven
können, sich dann auf den Kehlkopfeingang legen und selbst in
diesen hineinragend gefunden werden. In anderen Fällen sind es
Substanzen, die während des Erbrechens in die Luftröhre geriethen,
beziehungsweise aspirirt wurden. Auch dieses Vorkommniss betrifft
vorzugsweise Säuglinge, die bekanntlich leicht erbrechen und dann,
namentlich wenn das Erbrechen während des Schlafes erfolgt, die
erbrochenen Substanzen leicht in die Luftwege bekommen und ersticken.
An gleicher Todesart sterben nicht selten schwer Betrunkene,
ebenso anderweitig Bewusstlose, bei welchen einestheils die mit
dem bewusstlosen Zustand verbundene Hilflosigkeit, anderseits das
Darniederliegen der Reflexe das Eindringen der erwähnten Substanzen
in die Luftwege erleichtern kann. Hier muss jedoch bemerkt werden,
dass nicht in allen Fällen, in welchen Mageninhalt in den Luftwegen
gefunden wird, davon der Tod abgeleitet werden darf; denn einestheils
konnte erst während einer, durch eine andere Todesursache gesetzten
Agone Erbrechen und Aspiration des Erbrochenen erfolgt, anderseits
konnte der Mageninhalt erst an der Leiche theils durch Manipulationen
mit derselben oder durch günstige Lage oder durch den Druck der im
Unterleibe sich entwickelnden Fäulnissgase in den Rachen und von da
aus in die Luftwege gelangt sein.
Auch andere Körper können die Luftwege obturiren, so z. B. zufällig
hineingerathene Bohnen, Münzen u. dergl. Solche Fälle betreffen fast
ausnahmslos Kinder und haben kaum ein forensisches Interesse. Wir
hatten eine Frau zu obduciren, welche eines Morgens todt im Bette
gefunden worden war. Die Section ergab Erstickung und als Ursache
derselben ein falsches Gebiss, welches im Kehlkopf steckte und in
der Stimmritze fest eingekeilt, somit nicht etwa, wie dieses häufig
vorkommt, erst postmortal zufällig nach hinten gefallen war.
[Sidenote: Bronchitis. Thymus- und Kropftod.]
Als eine sehr häufige Ursache des plötzlichen Todes von Säuglingen
ist noch die Verstopfung der Luftwege durch bronchitischen Schleim
zu erwähnen. Es werden uns ungemein häufig Kinder zur Obduction
übergeben, welche plötzlich meist unter „Fraisen“ gestorben waren,
ohne ausser Husten irgend welche krankhafte Erscheinungen während
des Lebens geboten zu haben und deren Obduction ausser den Zeichen
der Erstickung, insbesondere, meist zahlreichen, Ecchymosen an den
Lungen und am Herzen, blos eine Ansammlung von Bronchialsecret
in den Bronchien und die sonstigen Merkmale der Bronchitis
ergibt. Die grosse Geneigtheit der Säuglinge zu katarrhalischen
Processen einerseits und die Hilflosigkeit (Muskelschwäche) der
Kinder anderseits erklärt die Häufigkeit dieser Vorkommnisse.
+Grawitz+ (Deutsche med. Wochenschr. 1888, Nr. 22) fand bei zwei
plötzlich verstorbenen Säuglingen eine vergrösserte Thymusdrüse
und ist geneigt, in einer plötzlichen Anschwellung derselben und
consecutivem Verschluss der Luftwege die Todesursache zu sehen.
+Nordmann+ (Schweizer Correspondenzbl. 1889, XIX) erklärt sich
auf diese Weise den Tod eines jungen Mannes mit persistenter
Thymusdrüse, der plötzlich nach einem Seebade gestorben war. +A.
Paltauf+ (Ueber die Beziehungen der Thymusdrüse zu plötzlichen
Todesfällen. Wiener klin. Wochenschr. 1889, Nr. 46 und 1890, Nr.
9) dagegen führt auf Grund zahlreicher Beobachtungen aus, dass
sich die Annahme eines Verschlusses der Luftwege durch eine abnorm
grosse Thymusdrüse nicht rechtfertigen lasse, dass aber, wie auch
+Nordmann+ andeutet, die sogenannte „lymphatische Constitution“, die
sich ausser durch Vergrösserung (Persistenz) der Thymusdrüse auch
durch Schwellung der übrigen lymphatischen Apparate kundgibt, ein zum
plötzlichen Tode disponirendes Moment bildet, der bei Hinzutritt von
Gelegenheitsursachen (febrilen Erkrankungen, körperliche Anstrengung,
Affect u. dergl.) wahrscheinlich durch „Herzlähmung“ erfolgt.
+Seydel+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1893, V, pag. 55) meint,
dass bei rückwärts gestrecktem Halse eine plötzliche Thymusschwellung
plötzlichen Tod veranlassen kann, welche Möglichkeit auch +Kob+
(ibidem, VI, pag. 121) zugibt, während +Tamassia+ (Atti del Istituto
Veneto. 1894) der Meinung der meisten Kinderärzte sich anschliesst,
dass das sogenannte Asthma thymicum und seine Consequenzen mit der
Thymus als solcher nichts zu thun hat, vielmehr eine Neurose ist, die
besonders bei rachitischen und lymphatischen Kindern vorkommt. Auch
fand er bei seinen Versuchen, dass ein 15-20mal grösseres Gewicht
als das der normalen Thymus erforderlich ist, um die Trachea des
Neugeborenen in nennenswerthem Grade zu comprimiren. Hierher gehört
auch der sogenannte +Kropftod+, d. h. eine Erstickung durch völligen
Verschluss der durch eine Struma comprimirten Trachea, durch acute
Schwellung der Trachealschleimhaut oder durch acute Anschwellung des
Kropfes selbst, die durch Hyperämie, Entzündung oder Hämorrhagien
erfolgen kann (+S. Ewald+, „Ueber Trachealcompression durch Struma
und ihre Folgen“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII.
Suppl. pag. 33). -- Bei Kindern kann auch der Durchbruch verkäster
Bronchialdrüsen in einen Bronchus plötzlichen Erstickungstod
veranlassen.
[Sidenote: Erstickung durch Verschüttetwerden.]
Die Erstickung durch +mechanische Behinderung der Excursionsfähigkeit
des Thorax+ kann erfolgen beim Verschüttetwerden und beim
Erdrücktwerden aus anderen Ursachen. Beim Verschüttetwerden erfolgt
der Tod in der Regel durch mechanische Verletzungen, insbesondere
durch Rupturen innerer Organe; er kann jedoch auch nur durch
Ersticken eintreten, indem die auf dem Körper (Thorax und Unterleib)
lastende Masse die Respirationsbewegungen unmöglich macht. Geschieht
letzteres nicht oder nicht vollständig, so kann das verschüttete
Individuum desto längere Zeit in der betreffenden Situation
aushalten, je poröser die über dem Körper lagernde Masse ist, da
durch dieselbe atmosphärische Luft den Respirationsorganen zugeführt
wird. Daher konnte +A. Berenguier+[381] bei seinen Versuchen die in
Asche, Mehl u. dergl. eingegrabenen Thiere noch 15 Stunden lang am
Leben erhalten. So erklärt sich auch, dass verschüttete Erwachsene,
aber auch eingegrabene Kinder noch nach vielen Stunden lebend zu Tage
gefördert wurden. Bereits +Bohn+ berichtet von zwei Neugeborenen, die
nach der Geburt sogleich verscharrt und nach mehreren Stunden noch
lebend ausgegraben wurden. Einen ähnlichen Fall erzählt +Maschka+,
ebenso +Bardinet+ (Schmidt’s Jahrb. 1886, II). In letzterem Falle
hatte die Mutter das Kind, welches sie für todt hielt, in ein Tuch
eingewickelt und 25 Cm. tief unter die Erde vergraben. Nach 8 Stunden
(!) wurde es ausgegraben, zum Leben gebracht und lebte noch 4 Tage.
Besteht die Substanz, mit welcher der Körper bedeckt wurde, aus
beweglichen Theilchen, so können dieselben aspirirt werden, besonders
mit jenen Respirationsbewegungen, die im bewusstlosen Zustande noch
erfolgen. +Berenguier+ konnte in seinen oben angeführten Versuchen
die staubförmigen Substanzen zwar im Rachen und im oberen Theile des
Oesophagus, niemals aber in der Glottis oder im Magen nachweisen.
Dagegen fanden wir bei einem Manne, der beim Einsturz eines Speichers
durch mehrere hundert Zollcentner Kornfrucht verschüttet worden war,
Kehlkopf und Trachea und deren beide Hauptäste mit Getreidekörnern
verstopft und einzelne sogar in den grossen Bronchien der linken
Lungenpforte. Da solche Stoffe auch an der Leiche ohne Schwierigkeit
in die Mundhöhle gelangen können, so werden wir auf eine erfolgte
Aspiration nur dann schliessen, wenn wir dieselben tief in den
Luftwegen oder im Magen oder gar, wie +Maschka+ (Vierteljahrschr.
f. gerichtl. Med. XLV, pag. 242) einen solchen Fall mittheilt, im
Dünndarm finden.
[Sidenote: Ersticken durch Erdrücktwerden.]
Erstickung durch Erdrücktwerden kann auch geschehen im Gedränge
oder bei Kindern durch den Körper der Mutter oder einer anderen in
demselben Bette schlafenden Person. Letztere Todesart ist nur selten
durch die Section allein zu constatiren, sondern muss nur aus dem
Zusammenhalten der Resultate dieser mit den Umständen des Falles
erschlossen werden. Uebrigens wird diese Todesart ungleich häufiger
angenommen, als sie wirklich vorkommt, da in den meisten der von uns
obducirten Fälle eine natürliche Ursache des unerwarteten Absterbens,
insbesondere Bronchitis, nachgewiesen wurde. Fälle, wo die Erstickung
durch Auffallen schwerer Lasten (Wägen, Balken, Steine etc.) bewirkt
wurde, haben wir wiederholt obducirt. Dass auch gegenüber solchen, in
der Regel durch die Umstände klargestellten Fällen Vorsicht geboten
ist, beweist eine Mittheilung +Blumenstok+’s (Maschka’s Handbuch. I,
422), betreffend einen durch Kopfverletzungen umgebrachten Bergmann,
auf welchen nachträglich, um den Tod als zufällige Verunglückung
hinzustellen, ein 5-6 Centner schwerer Felsblock gewälzt worden war!
Nach +Tamassia+’s Versuchen (1892) erfolgt der Tod nach blosser
Belastung des Thorax, auch wenn dieselbe das Gewicht des Körpers
um ½-⅓ übersteigt, erst nach ½-1¾ Stunden, früher, wenn zugleich
der Bauch belastet wird, niemals aber plötzlich. Wenn letzteres
geschieht, so hat noch eine andere Ursache mitgewirkt.
III. Tod durch Verhungern.
Die Zeit, wie lange ein Mensch ohne Nahrung auszuhalten vermag,
ohne zu sterben, lässt sich nicht genau bestimmen. Alter, früherer
Ernährungszustand und der Umstand, ob nur die Nahrung oder gleichzeitig
auch das Getränk (Wasser) entzogen wurde, werden von Einfluss sein.
[Sidenote: Wie lange lebt man ohne Nahrung?]
Wie lange neugeborene Kinder ohne Nahrung leben können, lässt sich
aus den keineswegs seltenen Fällen von angeborener Atresie des
Duodenums und der minder häufigen des Oesophagus schliessen. +R.
Meier+ (+Klebs+, Path. Anat. 165) sah ein Kind mit angeborener
Abschnürung des oberen Stückes des Oesophagus vom unteren erst am
siebenten Tage sterben. Eine grosse Reihe von Fällen von angeborenem
Verschluss des Duodenums hat +Hempel+ (Jahrb. f. Kinderheilkunde.
1873, VI, pag. 381), ebenso +Theremin+ (Deutsche Zeitschr. f.
Chirurgie. 1877, VIII. pag. 34) zusammengestellt. Die Kinder starben
durchschnittlich 3-5 Tage nach der Geburt, doch hatte das Leben in
einem Falle 12 Tage gedauert. Von zwei von uns obducirten Kindern mit
angeborener Verwachsung des Duodenums über dem Diverticulum Vateri
lebte das erste einen, das andere 2½ Tage. Auch +F. A. Falk+
fand bei seinen Studien an verhungernden Hunden (Med. Centralbl.
1876, pag. 472), dass neugeborene und junge Thiere ungleich rapider
an Gewicht abnehmen und ungleich früher sterben, als ältere Hunde,
von denen ein dreijähriger, der auch Wasser erhielt, erst am 61.
Tage starb. Ob Greise, von denen schon +Hippokrates+ sagt: „Senes
facillime jejunium ferunt“, länger das Hungern ertragen, als Menschen
im durchschnittlichen Alter, ist zwar nicht sichergestellt, kann
jedoch mit Rücksicht darauf, dass der Stoffwechsel bei +alten+
Leuten ein trägerer ist und dieselben thatsächlich weniger zu ihrer
Ernährung brauchen, im Allgemeinen zugegeben werden.
Wie lange Erwachsene durchschnittlich das Hungern vertragen, lässt
sich schwer bestimmen. Im Allgemeinen werden 7-8 Tage angenommen
(+Moleschott+). Doch sah +Schleifer+ (Oesterr. Wochenschr. 1843, Nr.
24) einen Gefangenen 17, +Casper+ einen anderen 10 Tage lang hungern,
ohne zu sterben, beide hatten jedoch Wasser getrunken. +Caussé+
(Annal. d’hyg. publ. 1876, Nr. 92, pag. 328) erwähnt eines Mädchens,
welches 11 Tage nach dem Einsturz eines Hauses lebend ausgegraben
wurde. Ein Kind von 4 Monaten, welches sie auf dem Schosse hatte,
war am vierten Tage gestorben. +Falret+ und andere Irrenärzte wollen
Kranke 40 Tage und länger alle Nahrung verweigern gesehen haben, ohne
dass diese dabei zu Grunde gingen (Prager Vierteljahrschr. 1864,
LXXXII, pag. 111), dagegen sagt +Pellevoisin+ (ibidem. LXXXIII,
pag. 95), dass in solchen Fällen der Tod bei beschränkter Nahrung
in 60, bei gänzlicher Abstinenz in 8 Tagen erfolgt. Die bekannten
Hungerproductionen +Tanner+’s und seiner Nachfolger (1886 und
1887) sprechen dafür, dass bei unbehinderter Zufuhr von Wasser der
Mensch viel länger ohne Nahrung auszuhalten vermag, als gewöhnlich
angenommen wird. Auch +Laborde+ (Wr. med. Presse. 1887, pag. 183)
konnte bei einem Hunde, dem er nach Belieben Wasser gab, das Fasten
ohne Gefahr bis zum 40. Tage fortführen, während ein anderer Hund,
dem zugleich das Getränk entzogen wurde, am 20. Tage verendete.
Im Juli 1892 wurden bei Bilin mehrere Bergleute verschüttet und
drei davon nach 17 Tagen noch lebend, obgleich sehr entkräftet,
aufgefunden und am Leben erhalten. Sie hatten die ganze Zeit nur von
Grubenwasser gelebt.
[Sidenote: Erscheinungen bei Verhungern.]
Von den während des Lebens eintretenden Erscheinungen ist zu erwähnen,
dass das anfängliche Hungergefühl sehr bald schwindet. Dieses wurde
in mehreren der erwähnten Fälle constatirt und auch +Ranke+[382]
beobachtete bei einem an sich selbst angestellten Hungerversuch, dass
das Hungergefühl schon am zweiten Tage verschwunden war. Dann erfolgt
rascher Schwund des Fettes, Abnehmen der Kräfte, Obstipation, bei
Abstinenz von Wasser auch Erhöhung des specifischen Gewichtes des
Harns und Verminderung der Menge des Harns, in welchem der Harnstoff
sich nicht oder wenigstens nicht constant vermindert, wohl aber die
Chloride, welche auch ganz aus dem Harn verschwinden können.[383]
Magendrücken, Brechneigung und das Auftreten eines fötiden Geruches
aus dem Munde wurde ebenfalls beobachtet, ebenso die Bildung von
Ecchymosen in der Conjunctiva und auf der Haut (+Schleifer+). Liessen
sich in diesem Stadium die Individuen zum Essen bewegen, so erfolgte
die Erholung sehr rasch und vollständig. In den späteren Stadien stellt
sich unter hochgradiger Zunahme der Schwäche Somnolenz und Delirium ein
und darauf der Tod (O. +Schultze+).
Die Leichen solcher Individuen faulen schnell (+Recklinghausen+),
sind hochgradig abgemagert und anämisch, das Fett auch in den inneren
Organen geschwunden (nach +Cantalamessa+ 1893, niemals vollständig),
Magen und Darm auffallend verengt, leer. Leber, Milz und Nieren, bei
Kindern nach +Seydel+ (1894) auch die Thymus verkleinert, blutarm, das
Blut manchmal theerartig eingedickt.
Das Verhungern kommt in foro selten in Frage. Es kann dies
geschehen bei Kindesweglegung, bei absichtlicher Verminderung
oder vollständiger Entziehung der Nahrung, wie sie sowohl als
unvernünftiges und herzloses Züchtigungsmittel, aber auch als
grausame Tödtungsart hier und da vorzukommen pflegt[384], und fast
immer entweder hilflose Kinder oder Geisteskranke, insbesondere
Blödsinnige, betrifft. Viele solche Fälle erweisen sich bei
näherer Untersuchung als Uebertreibungen, wie wir denn bereits
zweimal Gelegenheit hatten, Kinder zu obduciren, die angeblich
an absichtlicher Entziehung der Nahrung gestorben waren, während
die Section in dem einen Falle eine käsige Pneumonie, im anderen
Syphilis als Todesursache und in beiden Fällen grosse Mengen von
fäculentem Darminhalt ergab. Ebenso könnte der nach Stricturen
oder Verwachsungen des Oesophagus in Folge Vergiftung mit ätzenden
Substanzen eintretende Inanitionstod zur gerichtlichen Verfolgung
Veranlassung geben, und +Casper+ berichtet über einen Fall, in
welchem an einer Frau eine Inunctionscur in so leichtsinniger Weise
durchgeführt wurde, dass Verwachsungen der Kiefer erfolgten und die
Patientin schliesslich am Hungertode starb. Der fahrlässige Wundarzt
wurde zu Festungsstrafe verurtheilt.
Selbstmord durch Verhungern ist wiederholt von Gefangenen, namentlich
aber von Geisteskranken, unternommen, doch nur ausnahmsweise zu
Ende geführt worden. Eine forensische Bedeutung kann auch der lange
fortgesetzten Enthaltung von Nahrung zukommen, wenn sie als solche
oder combinirt mit anderen auffälligen Erscheinungen, wie Ekstase,
Stigmatisirung, vorkommt und als Wunder proclamirt wird. Solche Fälle
kommen bekanntlich immer wieder von Zeit zu Zeit vor, und die Neuzeit
hat ebenfalls solche geliefert. Die Mehrzahl derselben läuft auf
Betrug hinaus und letzterer ist durch scharfe Controle als solcher
sicherzustellen, welche sich nicht blos auf die heimliche Zusichnahme
von Nahrung, sondern auch auf das Verhalten des Körpergewichtes,
des Fettpolsters, insbesondere aber der Ausscheidungen (Harn,
Koth) zu erstrecken hätte. In einer anderen Reihe von Fällen ist
zweifellos gleichzeitig ein neuro-, beziehungsweise psychopathischer
Zustand vorhanden, als Theilerscheinung dessen ein geringeres
Nahrungsbedürfniss existirt, und in wieder anderen ist ein
solcher Zustand mit Betrug combinirt und analog den bekannten
Uebertreibungen, sowie der Sucht, Interesse und Aufsehen zu erregen,
denen wir bei Hysterischen begegnen.
IV. Der Tod durch allzuhohe oder allzuniedrige Temperatur.
A. Tod durch abnorm hohe Temperatur.
Durch Einwirkung hoher Temperatur auf den Körper erzeugte Läsionen
bezeichnet man als Verbrennung. Dieselbe kann erfolgen durch Flamme,
durch heisse Flüssigkeiten, durch heisse Gase und Dämpfe, durch
glühende (geschmolzene) oder heisse, feste Körper, durch strahlende
Wärme und durch die Wärme, die sich bei gewissen chemischen
Zersetzungen entwickelt, wie insbesondere beim Kalklöschen. Die
Verbrennung mit heissen Flüssigkeiten und heissen Dämpfen nennt man
gewöhnlich Verbrühung.
Den genannten Agentien ähnlich wirken ätzende Flüssigkeiten, z. B.
Schwefelsäure, Carbolsäure und Aetzlauge. Dieselben bewirken entweder
erythematöse oder eczematöse Dermatitis oder mehr weniger tiefgehende
Necrose (meist Coagulationsnecrose) der Haut, ganz ausnahmsweise
Blasenbildung (+Zillner+ nach Carbolsäureverätzung, Wiener med.
Wochenschr. 1879, Nr. 47), niemals Verkohlung. Am häufigsten kommen
Verätzungen durch Schwefelsäure vor, namentlich des Gesichtes durch
absichtliches Schleudern der Flüssigkeit in letzteres aus Rache oder
Eifersucht, worauf häufig höchst entstellende Narben, Ectropium der
Augenlider und Narben der Cornea zurückbleiben.
Ferner muss bemerkt werden, dass auch mässig, d. h. nicht bis zum
Verbrennungseffect gesteigerte Temperaturgrade unter Umständen
gesundheitsschädliche Folgen und selbst den Tod herbeiführen können.
+Speck+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1874) berichtet über
einen solchen Fall, in welchem ein contractes 12jähriges Mädchen auf
Rath eines Quacksalbers in eine frische Schafhaut gewickelt, mit
Decken bedeckt und mit frisch gebackenen, heissen Broden umstellt,
liegen gelassen und nach 3 Stunden todt gefunden wurde. +Speck+
leitet den Tod von der Erhöhung der Eigenwärme ab und +Eulenburg+ in
einer dem Aufsatz zugefügten Anmerkung von einer durch die Erhöhung
der Temperatur über die Blutwärme bewirkten Ausdehnung der Blutgase,
welche bis zum Freiwerden der letzteren und zur Herzlähmung und
Luftembolien führen können.
Hierher gehört auch der sogenannte Hitzschlag (Insolation,
Sonnenstich), der theils auf der Erhöhung der Blutwärme durch die
Sonnenhitze, theils auf der durch starken Wasserverlust bewirkten
Eindickung des Blutes zu beruhen scheint.[385] Andererseits ist
es bekannt, dass gewisse Feuerarbeiter bedeutende Temperaturgrade
aushalten, so insbesondere die sogenannten Puddler, welche täglich
8 bis 10 Stunden in einer Temperatur von etwa 58 °C. arbeiten
(+Hirt+, „Krankheiten der Arbeiter“. Gasinhalationskrankheiten. 1873,
pag. 126). Ueber das Verhalten von Menschen in überhitzten Räumen
(55-80 °C.) hat +Hartwich+ (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 239) Versuche
angestellt. +Dittrich+ (Zeitschr. f. Heilkunde. 1893, XIV, 4. Heft)
hat 12 Fälle von Hitzschlag obducirt und fand stets Ecchymosen am
Endo- und Epicard, sowie in den Schädeldecken und an den Lungen,
selten an den Schleimhäuten des Halses, fast immer pathologische
Veränderungen des Herzens, die er als ein zum Hitzschlag
disponirendes Moment ansieht.
[Sidenote: Verbrennungsgrade.]
In der Chirurgie unterscheidet man bekanntlich vier Verbrennungsgrade,
von denen der erste durch Erythem, der zweite durch Blasenbildung,
der dritte durch oberflächliche Verschorfung des Corium sich
charakterisirt, der vierte alle weiteren Verbrennungseffecte umfasst,
deren höchste, nämlich die Verkohlung ganzer Körpertheile oder des
ganzen Körpers bis zur Calcinirung von Knochen, in der Chirurgie selten
oder gar nicht, wohl aber in der forensischen Praxis vorkommen können.
[Sidenote: Lebensgefahr.]
Die Lebensgefahr nach Verbrennungen hängt weniger von dem Grade der
Verbrennung, als von ihrer Ausbreitung ab, und es ist eine anerkannte
Thatsache, dass selbst Verbrennungen der höchsten Grade, wenn sie blos
auf einen umschriebenen Körpertheil sich beschränken, ungleich weniger
gefährlich sind, als Verbrennungen des ersten und zweiten Grades,
wenn diese grosse Strecken der Körperoberfläche betreffen. Bezüglich
letzterer gilt bei den Chirurgen als Erfahrungssatz, dass, wenn die
Verbrennung (Verbrühung) auf mehr als ein Drittel der Hautoberfläche
sich erstreckt, der Tod erfolgt. Dieser Satz gilt nur für die
überwiegende Zahl der Fälle und ist nicht so zu nehmen, dass bei einer
solchen oder noch stärkeren Ausdehnung der Verbrennung eine Heilung
absolut unmöglich wäre.
So hat +Maschka+ einen Fall beschrieben, der einen jungen Mann
betraf, welcher im hochgradig betrunkenen Zustande mit Branntwein
übergossen wurde, den man dann muthwilligerweise anzündete.
Die Verbrennung erstreckte sich auf mehr als die Hälfte der
Körperoberfläche und doch erfolgte Genesung nach 9 Monaten. Es
blieben jedoch ausgebreitete Narben zurück, von denen die am Bauche
und in den Leistengegenden sich so contrahirten, dass der Betreffende
nur in stark gebeugter Stellung zu gehen vermochte. Anderseits ist es
gar nicht selten, dass namentlich kleine Kinder nach Verbrennungen
sterben, die verhältnissmässig geringe Hautstrecken, so nur eine
Extremität oder den Hals, betroffen haben, und zwar nicht immer erst
in Folge der secundären Entzündungs- oder Eiterungsprocesse, sondern
kurze Zeit nach erlittener Verbrennung.
[Sidenote: Todesursache nach Verbrennungen.]
Ueber die Ursache des bald nach Verbrennungen oder Verbrühungen der
Haut meist unter Delirien und Somnolenz erfolgenden Todes ist viel
geschrieben worden und trotzdem ist die Frage noch keineswegs erledigt.
Die intensive Reizung der Hautnerven genügt für sich, durch Shock den
Tod zu erklären. Andere legen ein grosses Gewicht auf die paralytische
Erweiterung der massenhaften Hautgefässe und die consecutive plötzliche
Erweiterung des Strombettes, die auch durch Sinken des Blutdruckes sich
kundgibt, wodurch Insufficienz der Herzpumpe, Stauung im Kreislauf und
der Tod entsteht (+Goltz+). Auch die hochgradigen Wärmeverluste durch
die entblösste Haut werden mit dem Tode in Verbindung gebracht, ferner
die aufgehobene Functionsthätigkeit der Haut als Ausscheidungsorgan
für gewisse deletäre Stoffe, weiter mit Rücksicht auf die von
+Schultze+ und +Rollet+ am erwärmten Objecttisch beobachtete Theilung
der Blutkörperchen und das Absterben der Blutkörperchen bei Erwärmung
auf 45 °C., diese Veränderungen des Blutes und die dadurch bewirkten
Störungen (+Ponfick+), ferner auch die plötzliche Gerinnung des Blutes
in der Haut, sowie des Muskelfibrins (Wärmestarre), endlich auch die
rapide und massenhafte Aufnahme septischer Stoffe in den Kreislauf von
der wunden Hautfläche aus. Chemisch wurde das Blut nach ausgedehnten
Verbrennungen von +Hoppe+-+Seyler+ und +Tappeiner+ (Virchow’s Jahrb.
1881, I, pag. 237 und 251) untersucht. Ersterer fand in einem Falle
2·4, in einem anderen 5 Procent des gesammten Hämoglobingehaltes in das
Serum übergetreten; letzterer in 4 Fällen eine starke Eindickung des
Blutes theils durch Wasserverlust, theils durch enorme Transsudation
von Blutplasma. +Foa+ (ibidem, pag. 559) will den Tod durch
Selbstintoxication mit fibrinogener Substanz erklären, welche in Folge
Destruction des Blutes sich bildet. Nach +Kijanitzin+ (Virchow’s Archiv
1893, CXXXI, pag. 436) findet sich nach ausgedehnten Hautverbrennungen
wirklich ein Gift im Blut, in den Organen und im Harn, welches
darstellbar ist und in seiner Function und Wirkung der Gruppe des
Leichenmuscarins, Neurins und Peptotoxins entspricht. Das klinische
Bild bei einer acut zum Tode führenden Verbrennung ist nicht constant,
indem bald Symptome des Shocks, bald solche prävaliren, die auf localen
Hyperämien oder auf Aufnahme pyrogener, vielleicht auch ptomaineartiger
Stoffe in den Kreislauf zu beziehen sind. Das Auftreten von Hämaturie
(in einem unserer Fälle schon nach 2 Stunden) und Nephritis im acuten
Verlauf von Verbrennungen ist sehr constant und wurde besonders von
+Wertheim+[386] experimentell geprüft. Im chronischen Verlauf von
Verbrennungen kann der Tod durch Erschöpfung oder durch entzündliche
und embolische Processe innerer Organe erfolgen, worunter insbesondere
jene der Lungen zu erwähnen sind.
Ueber +innere Verbrennungen+, und zwar der Respirationswege und
des Verdauungscanals hat +Severi+ (Virchow’s Jahrb. 1885, II, 287)
Versuche angestellt. Zweimal haben wir bei äusseren Verbrennungen auch
solche zweiten Grades in der Mundhöhle und in den oberen Antheilen
der Schling- und Respirationswege gefunden, und zwar einmal nach
Verbrennung durch Flammen und das andere Mal bei einem Kinde, welches
einen Topf mit heissem Wasser auf sich herabgerissen hatte.
[Sidenote: Leichenbefund nach Verbrennungen.]
+Die äusseren Befunde+ an den Leichen Verbrannter werden von dem
Verbrennungsgrade, von der Ursache der Verbrennung und von der Zeit
abhängen, die von der Verbrennung bis zum Tode verflossen war.
Wir haben hier nur die acut zum Tode führenden Verbrennungen, und zwar
nur die der ersten drei Grade im Auge, da wir auf die höhergradigen
Verbrennungen und Verkohlungen später zurückkommen werden. Das durch
Verbrennung oder Verbrühung erzeugte Hauterythem ist an der Leiche in
der Regel nicht mehr zu erkennen, da es durch Hypostase verschwindet,
doch bleibt, wenn der Tod nicht allzuschnell erfolgte, manchmal
eine Schwellung der betreffenden Hautpartie, häufiger aber eine
kleienförmige Abschilferung der Epidermis an jenen Stellen zurück, wo
während des Lebens das Erythem gewesen war. Nach Verbrennungen zweiten
Grades finden wir an der Leiche entweder ausgebildete, serumgefüllte
Blasen oder dieselben geplatzt und collabirt oder von mehr weniger
weiten Strecken der Haut die Epidermis in Fetzen abgelöst und den
Rändern der so veränderten Hautpartie meist in geschrumpftem Zustande
anhaftend. Von Händen und Füssen lässt sich mitunter die Epidermis
sammt den Nägeln wie ein Handschuh abstreifen. Bleibt das Corium,
von welchem die Epidermis abgehoben wurde, von letzterer bedeckt, so
erscheint es an der Leiche meist feucht und blass, seltener und meist
nur an abwärtigen Stellen geröthet. War jedoch eine solche Stelle frei
der Luft ausgesetzt, so vertrocknet sie und erscheint nach einiger Zeit
als eine leder- oder pergamentartige, hart zu schneidende und beim
Anschlagen tönende, in verschiedenen Nuancen gelb, braun bis braunroth
gefärbte, Netze durchscheinender Hautgefässe und mitunter Ecchymosen
enthaltende Schwarte, somit in gleicher Weise verändert, wie wir dies
bei Hautaufschürfungen oder bei auf andere Art von der Epidermis
entblössten Stellen beobachten können. Die Verbrennungen dritten
Grades sind im frischen Zustande durch die weissgraue, mehr weniger
tief gehende Verschorfung sämmtlicher Hautschichten kenntlich, welche
wie gekocht oder (nach Einwirkung von Flamme) wie leicht gebraten
erscheinen.
Die übrigen äusseren Befunde hängen von der Art der Verbrennung
ab. War diese durch Flamme entstanden, so finden wir Verrussung
der Haut und Versengung der Haare, eventuell auch der Nägel an den
getroffenen Stellen. Beides findet sich bei der Verbrühung mit
heissen Flüssigkeiten und heissen Dämpfen nicht, was behufs der
Differentialdiagnose zu beachten ist. Die Zerstörung der Haare kann
auch bei Verbrennung mit glühenden Körpern, weniger leicht bei solchen
mit ätzenden Flüssigkeiten erfolgen. In einzelnen Fällen findet sich
die Substanz, welche die Verbrennung veranlasste, der Haut anhaftend.
So sahen wir in einem Falle den grössten Theil des Körpers mit einer
schwarzen, glänzenden Masse incrustirt, welche aus einem schwarzen
Lack bestand, der während des Kochens aus dem Kessel geschleudert
wurde und den Mann verbrannt hatte; bei einem mit schwarzem Kaffee
verbrühten Kinde wurden zahlreiche Partikel des Kaffeesatzes gefunden,
und bei einem Manne, der in eine Grube mit eben gelöschtem Kalk
gefallen war, letzterer in verschieden dicker Schicht an der Haut. Die
Verbrennungen durch Pulverflamme sind durch Schwärzung der betreffenden
Stelle erkennbar, die nicht blos vom Pulverschmauch, sondern auch von
eingesprengten Pulverkörnern herrührt.
Die Vertheilung der Verbrennung kann manchmal ebenfalls für die
Erkennung der Provenienz derselben verwerthet werden. Geschah die
Verbrennung durch Flamme, so lässt sich häufig erkennen, dass die
Verbrennung von unten nach aufwärts ihren Gang genommen hatte, wie
dies namentlich bei Kindern und Frauen, deren Kleider brennend wurden,
begreiflich ist. Hier ist die Verbreitung mitunter schwimmhosenartig.
Bei Verbrühungen, wenn diese im bekleideten Zustande geschahen, bleiben
die von den Kleidern bedeckten Stellen entweder verschont oder zeigen
geringe Verletzungsgrade, auch geht die Verbrühung häufig von oben
nach abwärts, ausser es wäre das Individuum in eine heisse Flüssigkeit
hineingefallen und nicht, wie gewöhnlich, blos damit begossen worden.
Eng anliegende Kleidungsstücke bilden auch gegenüber der Flamme einigen
Schutz, weshalb Verbrennung durch Fangen der Kleider beim männlichen
Geschlecht ungleich seltener ist, als beim weiblichen, bei welchem das
Abstehen der Kleider vom Leibe, besonders vom Unterkörper, das Aufgehen
derselben in Flammen wesentlich erleichtert. Noch mehr erkennt man den
Schutz eng anliegender Kleidungsstücke daraus, dass man sehr häufig
entsprechend der Taille oder den Strumpfbändern Streifen wohlerhaltener
Haut trifft, während die Umgebung oft die höchsten Verbrennungsgrade
zeigt. Verbrennungen durch strahlende Wärme, durch heisse Luft oder
explodirende Gase sind ebenfalls meist auf die unbedeckt getragenen
Körpertheile beschränkt, doch kann auch die Wirkung durch diese
durchgehen, sowie es z. B. bei Explosionen schlagender Wetter, wenn
auch nur selten, geschieht, dass die Kleider selbst zu brennen
anfangen.[387]
Eine Verwechslung der beschriebenen, durch Verbrennung veranlassten
Veränderungen der Haut mit anderen Processen ist bei einiger
Aufmerksamkeit und Beachtung des eben Gesagten in der Regel zu
vermeiden. Dass jene Ablösungen und blasigen Abhebungen der
Epidermis, wie sie bei bereits weit gediehener Fäulniss vorkommen,
für Verbrennungseffect gehalten würden, wäre ein unverzeihlicher
Irrthum, ist aber in einem uns bekannten, ein neugeborenes, im
Sommer aus einem Düngerhaufen (!) gezogenes Kind betreffenden Fall
thatsächlich vorgekommen. Am ehesten wäre eine Verwechslung mit
mit Hautröthung oder Blasenbildung einhergehenden Hautkrankheiten
möglich. So beschrieben +Casper+-+Liman+ (l. c. 320) und +Friedberg+
(Gerichtsärztl. Gutachten. 1875, pag. 296) Fälle, wo durch Hebammen
veranlasste Verbrühungen von Kindern als „Blätterrose“ erklärt
worden waren und die Erstgenannten auch einen Fall, in welchem
umgekehrt ein Hautausschlag für Verbrennung genommen wurde. In
einem unserer Fälle stellte sich die angebliche Verbrennung
eines Kindes im Bade als Pemphigus heraus, in einem anderen war
Verbrennung diagnosticirt worden, während blos Decubitus vorlag und
in einem dritten, in welchem die Amme dem Säugling den Mund mit
heissem Camillenthee verbrüht haben sollte, fand sich ausgebreitete
Rachendiphtherie. Ausgebreitete postmortale, theils blasige, theils
fetzige Ablösungen der Epidermis können bei im Ausbruchsstadium
acuter Exantheme Verstorbenen vorkommen und dann eine Verbrühung
vortäuschen. Wir haben sie fast über den ganzen Körper ausgebreitet
im Jänner 1886 bei einem kräftigen Manne gesehen, der unwohl und
über Kreuzschmerzen klagend nach Hause gekommen und nach zwei Tagen
unter auffallender Hautröthung gestorben war. Vor dem Tode hatte man
keine Epidermisabhebungen beobachtet, der Todtenbeschauer fand sie
jedoch bereits vor und bezeichnete den Befund als eine „seltene Form
von Hautbrand“. Auch haben wir noch am Obductionstisch denselben für
eine Verbrühung durch heissen Dampf oder heisse Umschläge gehalten,
welche Annahme sich aber durch die weiteren Erhebungen als ganz
unhaltbar erwies. Drei Monate darnach hatten wir Gelegenheit, einen
ganz gleichen Befund bei einem Säugling zu beobachten, der unter
Variolaverdacht gestorben war. Auch ist uns ein Fall vorgekommen,
wo ein durch Petroleumumschläge veranlasstes Ekzem für Verbrennung
gehalten wurde.
[Sidenote: Verbrennung und Verbrühung. Innere Befunde.]
Der +innere Befund+ ist in ganz acuten Fällen meist negativ. +Franz+
fand bei 7 durch schlagende Wetter umgekommenen Bergleuten Ecchymosen
am Herzen, doch dürfte bei diesen, wie +Franz+ selbst zugiebt,
die nächste Todesursache nicht Verbrennung, sondern Erstickung in
irrespirablen Gasen gewesen sein. Dagegen finden sich Ecchymosen unter
den serösen Häuten, aber auch auf Schleimhäuten ziemlich häufig bei
Individuen, die noch einige Tage gelebt hatten, und ihre Bildung fällt
mit der körnigen Degeneration zusammen, die sowohl die Gefässwände,
als namentlich die Musculatur und die parenchymatösen Organe rasch
ergreift. Von letzteren zeigt die Niere am frühesten sich verändert und
bietet das Bild der „trüben Schwellung“. Bei dem oben erwähnten, durch
siedenden Lack verbrannten Manne fanden wir sie nebst blutigem Harn,
obwohl das Individuum die Verbrennung nur sechs Stunden überlebt hatte.
Hyperämien innerer Organe sind nicht constant. Hyperämie der Meningen
und Erscheinungen von Hirnödem haben wir wiederholt beobachtet. Das
Blut ist fast ausnahmslos geronnen.
Haben die Individuen noch länger gelebt, so finden sich ausser noch
weiter vorgeschrittener körniger (fettiger) Degeneration der Organe,
namentlich pneumonische Processe häufig, welche theils hypostatischen,
theils embolischen Ursprunges sind, aber auch durch bronchitische,
selbst croupöse Processe, durch das Einathmen von Rauch und heisser
Luft veranlasst werden. In noch weiteren Stadien marastische
Erscheinungen. Das zuerst von +Curling+ angegebene Duodenalgeschwür
nach Verbrennungen haben wir wiederholt beobachtet. Wir halten dasselbe
ebenso wie +Klebs+ (Pathol. Anat. 278) für eine Corrosionserscheinung,
die sich aus Ecchymosen bildet, welche an der Duodenalschleimhaut
ebenso wie im Magengrunde, nicht blos nach ausgebreiteten
Verbrennungen, sondern auch nach anderen mit Ecchymosenbildung
einhergehenden Todesarten (Erstickung) häufiger als an anderen Stellen
des Verdauungstractes aufzutreten pflegen.
[Sidenote: Tod durch Verbrennung. Eigene und fremde Schuld.]
Der Tod durch Verbrennung ist in den bei weitem meisten Fällen ein
zufälliger oder wurde durch unabsichtliches Verschulden herbeigeführt.
Selbstmord ist selten.
Zwei Fälle von Selbstmord durch Verbrühung, die beide Brauergesellen
betrafen, welche sich in den Braukessel gestürzt hatten, theilt
+Bělohradsky+ (Prager Zeitschr. f. Heilk. 1880, pag. 47 und 48)
mit. Wir haben mehrere einschlägige Fälle beobachtet. Der eine
betraf eine 29jährige geisteskranke Frau, die Petroleum in einen
Nachttopf gegossen, ihren Unterrock darin eingetaucht, diesen
dann angezogen und angezündet hatte; der zweite einen in der
Irrenanstalt untergebrachten Geisteskranken, der, nachdem er sich
zwei oberflächliche Stiche in den Bauch versetzt hatte, den Kopf
in ein Ofenloch hineinsteckte und auf die glühenden Kohlen legte,
wodurch bis auf den Knochen dringende Verbrennungen der einen
Kopfseite entstanden. Im ersten Fall erfolgte der Tod in 12 Stunden,
im zweiten erst nach 12 Tagen. In einem dritten hatte eine junge
Branntweinersgattin nach einem Streite mit ihrem Manne ihre Kleider
mit Spiritus begossen und diese dann angezündet und in einem vierten
wurde ein Mann, wie sich nachträglich herausstellte, ein 72jähriger
pensionirter Officier, brennend in einem öffentlichen Pissoir
angetroffen, wo er sich mit Petroleum übergossen und dann seine
Kleider in Brand gesteckt hatte.
Ebenso selten ist der Mord durch Verbrennen. Ein Gattenmord, begangen
durch Begiessen des Gatten mit Petroleum und Anzünden, kam im Winter
1876 in Znaim vor das Schwurgericht und endete mit Verurtheilung; ein
anderer durch Anzünden des Bettes, in welchem der betrunkene Mann lag,
wurde 1877 in Spandau verhandelt. Eine Reihe ähnlicher Fälle, worunter
auch von durch Verbrühung versuchter Tödtung, bringt +Taylor+ (l. c. I,
693 u. ff.). Auch Verbrennung Neugeborener ist vorgekommen.
[Sidenote: Verbrennungen vor und nach dem Tode.]
Häufiger sind Fälle, in denen anderweitig getödtete Personen dem Feuer
ausgesetzt wurden, entweder um die Leiche zu zerstören oder um ein
zufälliges Verunglücken vorzutäuschen. In solchen Fällen ist es Aufgabe
des Gerichtsarztes, zu sehen, erstens ob die Verbrennung +während des
Lebens oder erst+ nach dem Tode entstanden ist und zweitens, ob sich
nicht Zeichen einer anderen Todesart nachweisen lassen.
In ersterer Beziehung ist Folgendes zu erwägen: Das Hauterythem,
welches den ersten Verbrennungsgrad darstellt, kann an der Leiche
nicht entstehen, da es auf reactiver Hyperämie beruht. Finden wir
daher ein solches Erythem namentlich in unmittelbarer Nähe höherer
Verbrennungseffecte, so ist dies ein Befund, der den Schluss
gestattet, dass die Einwirkung der Hitze noch während des Lebens
stattgefunden habe. Leider schwindet die Injectionsröthe des ersten
Verbrennungsgrades an der Leiche häufig entweder vollständig oder sie
verblasst, wie dies auch mit anderen Exanthemen, wenn sie blos auf
Hyperämie beruhen, der Fall ist. Im Allgemeinen ist das Erythem desto
deutlicher vorhanden, je länger nach der Verbrennung das Individuum
noch gelebt hatte. In dem Vorhandensein von „Brandblasen“, die dem
zweiten Verbrennungsgrade zukommen, suchte man den absoluten Beweis,
dass eine Verbrennung den noch lebenden Körper getroffen habe, indem
man behauptete, dass an der Leiche zwar durch Flamme etc. ebenfalls
blasige Abhebungen der Epidermis erzeugt werden können, dass aber
diese entweder sofort platzen, oder wenn sie stehen bleiben, was
nur ausnahmsweise geschieht, nur Gas, niemals aber Serum enthalten.
Diese Behauptung wurde einigermassen durch die Versuche von +Leuret+,
+Champouillon+, +Maschka+, +Chambert+ und +Wright+ erschüttert, denen
es gelang, freilich nur ausnahmsweise, auch an Leichen serumgefüllte
Blasen zu erzeugen, und +Duvernoy+[388] fand grosse Brandblasen am
Halse eines Mannes, der sich mit einer Flinte in die Brust geschossen
und dessen Kleider dabei Feuer gefangen hatten, obgleich, da Herz und
Aorta gänzlich zerrissen und der zwölfte Brustwirbel zerschmettert war,
der Tod, respective der Stillstand der Circulation, augenblicklich
eingetreten sein musste, ebenso +Bernt+ („Beiträge.“ 1818, I, 122) bei
einem Mädchen, welches von ihrem Geliebten durch einen Schuss in’s Herz
getödtet worden war. +Casper+-+Liman+ dagegen (l. c. II, 306) sahen
trotz zahlreicher Versuche niemals serumhältige Brandblasen nach dem
Tode entstehen und auch uns ist dies niemals gelungen, weshalb der
Befund von solchen mit grösster Wahrscheinlichkeit dafür sprechen wird,
dass die Verbrennung noch während des Lebens (eventuell in der Agone)
des Individuums entstanden ist.
[Sidenote: Verletzungen bei Verbrannten.]
Die Röthung der Basis der Brandblasen ist für die Diagnose nicht zu
verwerthen, da einestheils die während des Lebens bestandene Röthung an
der Leiche meist verschwindet oder erblasst, anderseits auch die erst
an der Leiche blossgelegte Cutis sich durch die Einwirkung der Luft
etwas zu röthen vermag. Auch muss bemerkt werden, dass eben solche bald
blässere, bald dunklere „Schwarten“, wie sie nach vitaler Verbrennung
sich durch postmortale Vertrocknung bilden, auch nach Verbrennung der
Leichenhaut entstehen können.
Sind Verbrennungen dritten Grades vorhanden, so kann die Untersuchung
der noch frischen oder vertrockneten Schorfe wichtige Anhaltspunkte für
die Beantwortung vorliegender Frage ergeben. Da nämlich, wenn höhere
Hitzgrade die Haut treffen, während die Circulation noch im Gange ist,
das in den Hautgefässen eben enthaltene Blut sofort durch die Hitze
coagulirt, so finden wir die betreffende verschorfte Hautstelle wie
injicirt, welche Injection sich, wenn diese Stelle zu einer Schwarte
vertrocknet ist, theils makroskopisch durch ein sehr dichtes[389] Netz
durchscheinender Gefässe kundgibt, noch mehr aber bei mikroskopischer
Untersuchung der betreffenden „Schwarte“ zeigt, während, wenn die
Hitze die todte Haut getroffen hatte, ein solches Bild höchstens an
abhängigen Stellen, wo sich Senkungshyperämien bilden, zu Stande kommen
kann, da sich, wie bekannt, die Hauptcapillaren schon während der
Agone und noch mehr nach dem Tode entleeren. Nicht selten finden sich
in den aus Verbrennungen 2. und 3. Grades entstandenen „Schwarten“
punktförmige bis hanfkorngrosse Ecchymosen, mitunter in grosser Zahl,
deren Befund natürlich den vitalen Ursprung der Läsion beweist.
Die Verbrennungen höherer Grade bis zur Verkohlung geben keine
Anhaltspunkte für die Unterscheidung und es ist begreiflich, dass
diese, wenn sie einige Ausdehnung besitzen, überhaupt erst nach dem
Tode zu Stande kommen können.
Wurde das Individuum früher getödtet und dann erst dem Feuer
ausgesetzt, so können sich die +Zeichen der anderweitigen Todesart+
ergeben.
Werden Verletzungen gefunden, so ist nicht zu übersehen, dass dieselben
auch nur zufällig entstanden sein konnten, so z. B. beim Brande eines
Hauses durch das Einstürzen von Balken, Mauern oder durch Sprung,
respective Sturz von einer Höhe, welchen der von den Flammen Bedrohte
unternahm. Diese Verletzungen und die sie begleitende Blutaustretung
lassen sich mitunter noch bei stark verkohlten Leichen deutlich
erkennen.
So fand +Zillner+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXXVII, 1
u. 2) an der hochgradig verkohlten, am Grunde eines Lichthofes
des Ringtheaters gefundenen Leiche eines Mannes noch deutlich mit
geronnenem Blut ausgefüllte Fracturen am Schädel, ein starkes
Extravasat geronnenen Blutes zwischen den Meningen und auf diesen,
sowie in der verkohlten Bauchhöhle und ein blutleeres Herz, so dass
mit voller Bestimmtheit geschlossen werden konnte, dass der Mann
nicht durch Verbrennung, und, da das spärliche Blut in den inneren
Organen kein Kohlenoxyd enthielt, auch nicht durch Erstickung im
Rauch, sondern durch Sturz in den Lichthof um’s Leben gekommen ist.
Bei Explosionen können Verletzungen auch durch die Gewalt dieser
entstehen. So fand +Franz+ unter 14 Bergleuten, die durch schlagende
Wetter verunglückt waren, sieben, welche theils Schädelfracturen,
theils Rupturen innerer Organe zeigten. Ferner ist zu beachten, dass
die Einwirkung der Flamme auf Knochen, insbesondere auf den Schädel,
nicht blos Abblätterungen der äusseren Tafel, sondern auch Sprünge
des Knochens und, wie unsere Versuche ergaben, selbst Löcher im
Schädeldach erzeugen kann, die theils durch Ausdehnung der Knochen in
Folge der Hitze und die Aufblähung der verkohlenden, in den Knochen
enthaltenen organischen Substanzen, theils aber auch von innen aus
durch die Gewalt der innerhalb der Schädelhöhle entwickelten Dämpfe
sich bilden.[390] Anderseits haben wir uns aus Anlass eines Falles, in
welchem in einem Hause, wo vor drei Jahren ein Mann verschwunden war,
in einem vermauerten Backofen ausser calcinirten Resten von Rippen das
calcinirte Stück eines grösseren Röhrenknochens (Schienbeins?) gefunden
wurde, an welchem deutliche scharfrandige und glatte Hiebscharten
zu sehen waren, durch Versuche überzeugt, dass am feuchten Knochen
erzeugte Hiebspalten, Sägeschnitte u. dergl. auch an calcinirten
deutlich sich erhalten und leicht als solche zu erkennen sind.
Auch Berstungen der Haut können durch die Einwirkung der Hitze zu
Stande kommen, besonders in den Gelenksbeugen, wo sie sich auch erst
nachträglich bei Streckversuchen leicht bilden. In einem von +Curling+
mitgetheilten Falle, in welchem bei einem aus dem Brandschutte eines
Hauses ausgegrabenen Knaben quere Sprünge der Haut in beiden Kniebeugen
gefunden wurden, hatte man diese anfangs für Schnittwunden gehalten.
Doch zeigte die nähere Besichtigung, worauf auch in anderen solchen
Fällen zu achten wäre, dass in der Tiefe die Gefässe und Nerven
unverletzt waren und brückenartig von einer Wundwand zur anderen
verliefen. Wiederholt fanden wir bei verbrannten Kindern Berstungen
der verbrannten Haut an der hinteren Peripherie des Scheideneinganges
in der Mittellinie des Dammes, welche beim Auseinanderziehen der Beine
sich vergrösserten oder erst dabei sich bildeten. Eine unrichtige
Deutung solcher Befunde wäre möglich.
[Sidenote: Gewaltspuren bei Verbrannten. CO-hältiges Blut.]
Dass auch andere als durch mechanische Verletzung herbeigeführte
gewaltsame Todesarten noch an verkohlten Leichen erkannt werden
können, beweist ein von +O. Schüppel+ veröffentlichter Fall, wo am
Halse eines 10jährigen, als verkohlte Leiche aus dem Brandschutt eines
Hauses hervorgezogenen Knaben noch deutlich eine Strangfurche erkannt
werden konnte, und die Versuche +Schüppel+’s haben ergeben, dass sich
die Strangrinne dann an verkohlten Körpertheilen erhielt, wenn das
strangulirende Band (Strick) fest um den letzteren zusammengezogen
und daran belassen worden war. Es ist dies eine analoge Erscheinung,
wie das Erhaltenbleiben unversehrter Hautstreifen an der Taille von
Frauen oder entsprechend den Strumpfbändern, worauf wir oben aufmerksam
gemacht haben. Wie sich auch an sehr verkohlten Leichen einzelne, durch
Kleider oder anderweitig, z. B. durch Beugung eines Körpertheiles
oder durch Aufliegen geschützte Partien des Körpers erhalten können,
haben zahlreiche der aus dem unglückseligen Ringtheaterbrande in
Wien stammenden Leichen gezeigt, über die von uns in der Wiener med.
Wochenschr., 1882, Nr. 2 u. ff. und von +E. Zillner+ (l. c.) berichtet
wurde. Diese Untersuchungen haben zugleich die von uns bereits 1876
(Wiener med. Wochenschr. Nr. 7 und 8) vertretene Ansicht bestätigt,
dass in vielen solchen Fällen die Betreffenden entweder zunächst
im Rauch ersticken oder, noch bevor sie in Folge der Verbrennungen
sterben, mehr weniger Rauch einathmen, ein Vorgang, der sich an der
Leiche durch Verrussung der Respirations-, eventuell auch Schlingwege,
vorzugsweise aber durch den Kohlenoxydgehalt des Blutes kundgibt, so
dass, was praktisch besonders wichtig, selbst an hochgradig verkohlten
Leichen noch erkannt werden kann, dass die Individuen zur Zeit, als
der Brand ausbrach, noch lebten, respective Gelegenheit hatten, einige
Zeit Rauch einzuathmen. Auch die Leichen der 319 bei dem Grubenbrande
in Přibram Verunglückten zeigten wie +Křiz+ (Virchow’s Jahrb. 1892,
I, pag. 479) mittheilt, sämmtlich kohlenoxydhältiges Blut. War diese
Zeit nur ganz kurz, so ist trotz Flammentod kein Kohlenoxyd im Blute
nachzuweisen. Zu bemerken ist, dass auch im ausgetretenen Leichenblut,
das einer Rauchatmosphäre ausgesetzt ist, sich das Hämoglobin in
Kohlenoxydhämoglobin verwandelt, dass aber, so lange das Blut in
unverletzten Abschnitten des Gefässsystemes eingeschlossen ist, eine
solche postmortale Veränderung nicht eintritt. Daher fand sich in
dem oben erwähnten, von +Zillner+ untersuchten Falle wohl in dem
in der Bauchhöhle frei zu Tage liegenden Blutkuchen, nicht aber im
Blute der Aorta Kohlenoxydhämoglobin. Die rothe Farbe des Blutes
stark verbrannter Leichen beweist aber für sich allein nicht, dass
dasselbe Kohlenoxyd enthält, da dieses auch durch die Einwirkung der
Hitze allein postmortal eine auffallend rothe Farbe erhalten kann.
Man kann dann zinnober- oder ziegelrothe Gerinnsel im Herzen und den
grossen Gefässen finden, die keine Spur von CO enthalten. +Falk+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. LXII, pag. 281 und 1888, XLIX,
pag. 28) fand, dass diese Hellfärbung des Blutes von einer directen
physikalischen Wirkung der Hitze auf das Blut herrührt, da sich auch
flüssiges Blut beim langsamen Erhitzen im Wasserbad vor dem Eintritte
der Coagulation auffallend hellroth färbt. Daher rührt wahrscheinlich
auch die auffallend hellrothe Farbe der Muskeln unterhalb gebratener
oder verkohlter Stellen.
[Sidenote: Dauer der Feuereinwirkung.]
Ueber die +Zeit, welche erforderlich ist, um Verkohlung+,
beziehungsweise vollständige Verbrennung der Leiche oder einzelner
Theile derselben zu +bewirken+, wurden aus Anlass des Processes gegen
den Mörder der Gräfin +Görlitz+, welcher nach Tödtung dieser Feuer
angelegt hatte, von verschiedenen Aerzten Versuche angestellt.[391]
Unsere eigenen haben uns überzeugt, dass in einem grösseren, gut
ziehenden, mit Holz geheizten Zimmerofen die Leiche eines neugeborenen
Kindes oder Säuglings, wenn sie eine Stunde der Flamme und eine weitere
der Kohlengluth ausgesetzt blieb, bis auf die calcinirten Knochen
verbrannte. Auch bei einzelnen Körpertheilen Erwachsener, wie bei
Extremitäten und abgeschnittenen Köpfen, genügte die erwähnte Zeit, um
die äusseren Weichtheile zu zerstören und die Knochen zu calciniren.
Die Verbrennung ganzer Leichen Erwachsener im gewöhnlichen Feuer ist
keineswegs leicht, Beweis dessen, dass aus dem Schutt abgebrannter
Häuser in der Regel verkohlte, keineswegs aber vollständig bis auf
die calcinirten Knochen verbrannte Leichen herausgezogen werden. Wir
wissen, dass bei den Alten mächtige Scheiterhaufen nöthig waren, um die
überdies meist in brennbare Substanzen gehüllten Leichen zu verbrennen,
und auch +Filleau+[392], der über eine Hinrichtung durch Feuer
berichtet, sagt, dass nach Aussage des Scharfrichters, den er befragte,
zwei Klafter Holz und noch mehr Reisig und Stroh erforderlich seien,
um einen menschlichen Körper zu zerstören. Endlich haben die Versuche,
die man in neuerer Zeit anstellte, um die Leichenverbrennung als
Bestattungsmodus einzuführen, gelehrt, dass selbst im +Siemens+’schen
Regenerationsofen mehr als eine Stunde erforderlich ist, um die Leiche
zu verbrennen.[393]
[Sidenote: Verkohlung von Leichen.]
Im gewöhnlichen Feuer verkohlen die Haut und die obersten Schichten
der Weichtheile, und diese Verkohlung hält, namentlich am Rumpfe,
die Einwirkung der Hitze von den tieferen Organen ab, welche
centripetal gebraten werden, und wenn die Hitze andauert, allmälig
zusammenschrumpfen, ohne ihre Form zu verlieren. Letztere Thatsache ist
am Gehirn bereits früher von Anderen (+Günsburg+) beobachtet und von
uns experimentell geprüft worden, gilt aber auch für andere Organe.
So wurde aus dem Schutte einer abgebrannten grossen Kerzenfabrik
ein mit verkohlter Musculatur umgebenes männliches Becken und ein
über mannskopfgrosser Klumpen verkohlter Weichtheile hervorgezogen.
Letzterer erwies sich als aus den Lungen, dem Herzen, dem Magen und der
Leber bestehend, welche Organe zwar bedeutend zusammengeschrumpft, aber
nur oberflächlich verkohlt, sonst in ihrer Form und groben Structur
gut erhalten waren. In einem andern Falle wurde die ganz verkohlte
Leiche eines 48jährigen Mannes aus dem Brandschutt eines Hauses
gezogen. Die Genitalien waren so geschrumpft, dass sie ein knabenhaftes
Aussehen boten. Die Scrotalhaut war geborsten und geschrumpft, die
Hoden blossgelegt, kaum haselnussgross. Dieses Verhalten hat sich
auch an den Ringtheaterleichen im Grossen bestätigt und ist insofern
wichtig, als es selbst noch bei stark verkohlten Leichen vor der
Verbrennung bestandene Läsionen zu erkennen gestattet, wie durch den
oben erwähnten Fall und durch entsprechende, von +Jastrowitz+ (l. c.)
angestellte Thierversuche constatirt ist, dann aber für den Fall, wenn
die Altersbestimmung eines so verkohlten Individuums in Frage käme.
In unserem Falle stammten die verkohlten Organe von einem erwachsenen
Manne, und es wurde auch Niemand ausser ihm vermisst. Wäre dies nicht
sichergestellt gewesen und hätte man nicht gleichzeitig das Becken
eines erwachsenen Mannes gefunden, so wäre es möglich gewesen, dass
man die so stark geschrumpften Organe als einem Kinde von 4-6 Jahren
angehörend hätte ansehen können.
[Sidenote: Selbstverbrennung.]
Ueber die Frage der +Selbstverbrennung+, d. h. Selbstentzündung des
menschlichen Körpers durch innere Ursachen, worunter insbesondere der
Alkoholismus hervorgehoben wurde, sind wohl die Acten geschlossen,
trotzdem noch +Bertholle+ (L’Union. 1870, 19) und +A. Ogston+
(Schmidt’s Jahrb. 1870, Nr. 5, pag. 196) die Sache wieder anregten.
Letzterer überzeugte sich in einem Falle, dass das in den Ventrikeln
gefundene alkoholhältige Serum beim Nahen eines Lichtes Feuer fing.
Diese Thatsache mag richtig sein, beweist aber nichts für die
Möglichkeit einer Selbstverbrennung. Uebrigens sind unter Umständen
auch Darm- und Fäulnissgase brennbar, und man kann insbesondere, wenn
man einer hochfaulen Leiche die durch Fäulnissgase aufgetriebene
Haut durchsticht, das ausströmende Gas entzünden und ein einige Zeit
brennendes Flämmchen erhalten. Bei Säufern dürfte auch der grosse
Fettreichthum die Verbrennbarkeit des Körpers erhöhen, wie +Booth+
(Brit. Journ. April 1888, 21) aus Anlass eines von ihm mitgetheilten
und abgebildeten Falles von sogenannter Selbstverbrennung hervorhebt.
[Illustration: Fig. 116.
„Blitzfiguren“ an den Oberschenkeln eines vom Blitz getödteten Knaben.
(+Haberda+, Wiener klin. Wochenschr. 1851, pag. 588.)]
[Sidenote: Tod durch Blitz. Blitzfiguren.]
Verletzungen und Tod durch +Blitz+ bieten nur ein geringes
forensisches Interesse. Nach letzterem wurden häufig gar keine oder
nur unbedeutende Verletzungen gefunden, in einzelnen Fällen wieder
blos Verbrennungen (Contusionen) oder vasoparalytische Veränderungen
der Haut, die mitunter in jenen baumartigen Verästelungen sich
präsentiren, die man als „Blitzfiguren“ bezeichnet, welche den
Eindruck machen, dass der elektrische Funke in der Haut selbst durch
seitliche Ausstrahlung sich erschöpft (Fig. 116). Quetschungen
und Rupturen innerer Organe wurden wiederholt beobachtet, von
+Liman+ sogar eine Herzruptur, ganz ausnahmsweise aber Abreissungen
von Gliedern oder ähnliche Verletzungen, während, wie bekannt,
Zerreissungen und Spaltungen von Bäumen, die vom Blitze getroffen
wurden, sehr gewöhnlich sind. Höchst interessant sind die Versuche
+B. Richardson+’s (Med. Times. 1869, Nr. 985 u. 988) mit einem
riesigen Inductionsapparat, welche lehrten, dass je nach der Art,
wie die Entladung geschah, die Wirkung des Funkens eine ganz
verschiedene war, d. h. in dem einen Falle starke Verbrennungen,
im anderen sofortigen Tod veranlasste, während, wenn z. B. der
secundäre Draht mit dem primären einfach geladen und dann entladen
wurde, der obgleich 29 Zoll lange Funke für die Versuchsthiere sich
fast unschädlich erwies.[394] Auch von anderen Beobachtern wird die
Vermuthung ausgesprochen, dass es verschiedene Arten von Blitzschlag
gebe, je nachdem positive oder negative Elektricität primär oder
secundär zur Wirkung gekommen ist. In nicht letalen Fällen wurden
kürzer oder länger dauernde Erscheinungen von Hirnerschütterung
und diverse Neuropathien, auch Augenaffectionen (+Pagenstecher+),
hysterische Erscheinungen (+Charcot+, Wiener med. Wochenschr. 1890,
Nr. 1-3; +Laveran+, Med. Centralbl. 1892, pag. 239), sowie Lähmungen
(+Limbeck+, Prager med. Wochenschr. 1891, Nr. 13) beobachtet,
abgesehen von den gröberen Verletzungen und Verbrennungen. Für den
Moment des Blitzschlages besteht in der Regel Amnesie und die meisten
der betäubt Gewordenen geben an, weder den Blitz gesehen, noch
den Donner gehört zu haben. Diese Thatsache wurde auch in dem von
+Heusner+ (Wiener med. Blätter. 1884, Nr. 40) mitgetheilten Falle
constatirt, wo bei einem Wettrennen 20 Personen gleichzeitig vom
Blitz getroffen wurden. Vier blieben todt, die übrigen erholten sich
binnen wenigen Minuten bis zu einer Stunde, trugen aber der Mehrzahl
nach erhebliche Beschädigungen davon, die theils in Verbrennungen und
„Blitzfiguren“, bei vielen aber, was bisher nicht beobachtet oder
wenigstens nicht beschrieben worden ist, in mehr weniger zahlreichen
weissgrau umsäumten Durchlöcherungen der Haut an den Fusssohlen,
besonders an den Fusskanten und den entsprechenden Stellen der
Fussbekleidung bestanden, die wie die Löcher aussahen, welche der
elektrische Funke durch Kartenblätter schlägt. In einem von +Kratter+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1891, II, 18) mitgetheilten
Falle fanden sich Kupfermünzen, die der vom Blitz Getroffene bei
sich trug, zusammengeschmolzen, was für sich allein die Diagnose
der Todesart gestattete. Bei Versuchen mit dem Strome eines
elektrischen Beleuchtungsetablissements konnte +Kratter+ ähnliche
Zusammenschmelzungen erzielen.
Eine forensische Bedeutung könnte der Blitzschlag insoferne erhalten,
als der durch ihn bewirkte Tod, beziehungsweise ein anderer Effect,
auf andere Ursachen bezogen werden könnte, aber auch das Umgekehrte
möglich wäre. Wie +Blumenstok+ bei Besprechung der zweiten Auflage
dieses Buches (Wiener med. Presse. 1881, pag. 181) bemerkt, erwähnt
schon +Fidelis+ (De relation. med. lib. IV, cap. ult.) eines
einschlägigen Falles: „Iter extra urbem simul sodales faciebant;
oborta tempestate unum ex his fulmen confecit; hujus propinqui
miserium illum a suis sodalibus perditum enectumque fuisse suspicati,
jure egerunt, ut digna de eis poena sumeretur; nec antea illi judicio
soluti sunt, quam per medicorum relationes constitit, fulmine
illum neque aliter fuisse percussum.“ -- In Rouen geschah es 1845,
dass während eines Gewitters mehrere Gebäude zerstört und einige
darin befindliche Menschen getödtet wurden, und von der einen Seite
die Zerstörung vom Blitz, von der Assecuranz aber, bei welcher die
Gebäude versichert waren, von einem Wirbelwind hergeleitet wurde.
Das von +Pouillet+ abgegebene Gutachten schloss sich letzterer
Ansicht an („Compt. rend.“ Sept. 1845). -- In einem anderen von uns
begutachteten Falle war im Juni 1879 während eines heftigen, von
Hagelschlag begleiteten Gewitters ein Fensterflügel einer im dritten
Stock gelegenen Wohnung so heftig zugeworfen worden, dass der Rahmen
brach und sämmtliche Scheiben zertrümmert und weit in das Zimmer
hineingeschleudert wurden. Zwei fingerlange, messerklingenartig
geformte Glassplitter waren einem 17jährigen Mädchen unter der einen
Clavicula in die Brust gedrungen und hatten sofortigen Tod durch
innere Verblutung veranlasst. Obgleich ein im Zimmer anwesender
Mann in dem Augenblicke, wo das Fenster in Trümmer ging, weder
den Blitz gesehen, noch den Donner gehört hatte, so wurde doch
von den herbeigeholten Angehörigen eine Tödtung durch Blitzschlag
angenommen, ebenso von dem Todtenbeschauer, der auch in diesem Sinne
den Todtenschein ausstellte, worauf die Beerdigung erfolgte. Erst
nach drei Wochen wurde der Fall durch genauere Erhebungen aufgeklärt,
leider aber, da derselbe nicht weiter verfolgt wurde, keine Obduction
veranlasst. -- +Fredet+ endlich (Annal. d’hygiène publ. 1880, Nr.
21, pag. 247) erwähnt eines Falles, wo die durch den Blitz erzeugten
Sugillationen am Vorderhalse eines Mannes jenen ähnlich sahen, wie
sie nach Erwürgen vorkommen, und ausserdem hinter dem linken Ohre
ein kleines Loch mit Suffusion der Umgebung und Versengung der
Haare, somit eine Verletzung gefunden wurde, die eine Schusswunde
vortäuschen konnte.
[Sidenote: Tod durch Elektricität.]
Tödtungen und Verletzungen durch elektrische +Ströme+, namentlich von
+elektrischen Leuchtapparaten+ kommen immer häufiger vor. +Biraud+ (La
mort et les accidents causés par les courents électriques de haute
tension. Lyon 1892) hat im Ganzen 39 solche Fälle zusammengestellt,
wozu seitdem mehrere neue hinzugekommen sind. Solche Unglücksfälle
haben sich am häufigsten bei Wechselströmen mit hoher Spannung
(Starkstromleitungen) ereignet. Der Tod erfolgt meist plötzlich
durch plötzlichen Herz- und Respirationsstillstand, wahrscheinlich
centralen Ursprungs. Die Obduction ergibt in der Regel Verbrennungen
(Brandblasen) an den Contactstellen ohne sonstige äussere Verletzungen,
innerlich wie es scheint in der Mehrzahl der Fälle ausser
„Erstickungsbefunden“ keine auffälligen Veränderungen. In einzelnen
Fällen wurden innere Hämorrhagien gefunden, so in einem von +Kratter+
(Wiener klin. Wochenschr. 1894, Nr. 21) mitgetheilten Falle, wo bei
dem durch Berührung des blanken Kabelendes einer Wechselstromanlage
von 1600-2000 V. Spannung Verunglückten ausser Verbrennungen der Haut
ausgebreitete symmetrische Blutaustritte entlang der Wirbelsäule und
in der linken Vagusscheide gefunden wurden. Auch bei Thierversuchen
fand +Kratter+ solche Blutungen.
+Grange+ (Annal. d’hygiène publ. XIII, pag. 53) berichtet über
den Obductionsbefund von zwei Männern, die am 6. August 1882 bei
einem grossen Feste im Tuilleriengarten, welcher mit alternativ
wirkenden +Siemens+-Maschinen, respective -Lampen beleuchtet
wurde, beim Uebersteigen der Gartenmauer in die in einem Graben
liegenden Leitungsdrähte geriethen und sofort todt blieben. An der
Leiche fanden sich in dem einen Falle Ecchymosen in der Haut, an
den Lungen und am Herzen und ein furchenförmiger Eindruck, der von
der linken Wange über den Hals bis zur linken Schulter zog, beim
zweiten kleine streifige Verbrennungen an der linken Hand, bei beiden
dunkelflüssiges Blut. Bei Versuchen mit einer 16pferdekräftigen,
16 +Brush+’sche Elemente enthaltenden Maschine fand +Grange+,
dass der nicht unterbrochene Strom gut vertragen wurde, der mit
multiplen Interruptionen aber sofort tödtete. Bei allen vier
Versuchshunden fanden sich capilläre Hämorrhagien in der Medulla
oblongata. +Friedinger+ (Wr. klin. Wochenschr. 1891, Nr. 48) fand
bei einem Manne, der mit durchnässten Kleidern in die Drähte einer
mit 50.000 Volt-Ampère Stärke arbeitenden Wechselstrommaschine
gerathen und sofort todt geblieben war, lochförmige Verbrennungen
der Kleider und lochförmige geschwärzte Durchbohrungen der Haut
an verschiedenen Stellen, die wie die von +Heubner+ (s. oben) bei
vom Blitz Erschlagenen beobachteten Durchlöcherungen aussahen.
-- Wir haben im Juni 1892 einen 32jährigen Arbeiter obducirt,
der in der „Rheostatenkammer“ eines mit Wechselstrom grosser
Spannung arbeitenden Elektricitätswerkes mit Ausschöpfen des in
einer Grube angesammelten Wassers beschäftigt war, dicht neben dem
Rheostaten stand und plötzlich mit einem gellenden Schrei auf das
Gesicht hinfiel und sofort starb. Allem Anscheine nach hatte er
sich an den Rheostaten angelehnt. Die Obduction ergab streifige
Hautaufschürfungen an beiden Schultern mit gerötheter Umgebung, von
denen einzelne deutliche Verschorfung und Andeutung von Blasenbildung
zeigten und unter der rechten Achsel zwei stecknadelkopfgrosse
Durchlöcherungen der Haut, von ähnlicher Beschaffenheit wie in
dem von +Friedinger+ publicirten Falle. Die sehr defecten Kleider
waren nicht angebrannt, aber stark durchnässt. Die Spannung des
Stromes betrug 2000 Volt. Bekanntlich wurde die Elektricität
in Amerika auch zu Hinrichtungen („Elektrocution“) verwendet,
worüber von +Lecassagne+, +Biraud+ und insbesondere von +Donald+
(Virchow’s Jahresb. 1892, I, pag. 480) berichtet wurde. Die Section
der Hingerichteten ergab Brandblasen an den Applicationsstellen,
dunkelflüssiges Blut und kleine Hämorrhagien im Gehirn und am Herzen,
aber keine gröberen Verletzungen. +Biraud+ führt auch einen Fall
von Selbstmord durch den elektrischen Strom an. -- Vorübergehende
Betäubungen durch den elektrischen Strom sind wiederholt vorgekommen,
meist ohne weitere Folgen. Mitunter sind Erscheinungen wie nach
Blitzschlag zurückgeblieben, auch wurden solche von „traumatischer
Neurose“ beobachtet. Andere Mittheilungen über den Gegenstand
s. Med. Centralbl. 1887, pag. 596: „Ueber Hinrichtungen durch
Elektricität.“ Ebenda. 1889, pag. 315, Virchow’s Jahresb. 1890,
pag. 497 und +Stricker+, „Ueber strömende Elektricität“. Wien
1894, welcher Angaben über die Spannungsgrenzen macht, bei denen
der elektrische Strom bei +einseitiger+ Ableitung für den Menschen
gefährlich werden kann. Er fand, dass ein Strom von nur 440 Volt
Spannung bei Ableitung von einem Pole durch den Menschen zur Erde
so heftige Zuckungen auslöst, dass er entschieden widerräth, dieses
Experiment zu wiederholen, ausser wenn man, wie er es thut, zur
Abschwächung der Wirkung einen Leiter zweiter Ordnung einschaltet.
Wohl kommen solche heftige Wirkungen nur bei Ableitung von einem Pole
zu einer empfindlichen Stelle vor, doch ist die Gefahr bei zufälliger
Berührung einer solchen mit Kabelstellen oder nackten Polen gross,
da ja, wie z. B. bei Arbeitern in elektrischen Anlagen, durch nasse
Kleider und nassen Boden die Ableitung zur Erde erfolgen kann.
B. Tod durch Erfrieren.
Dass der erwachsene Mensch bei guter Kleidung und unter sonst normalen
Verhältnissen die strengsten Kältegrade zu ertragen vermag, lehren
die Polarexpeditionen, bei welchen die Theilnehmer durch längere Zeit
eine Kälte von 40 bis 50 Grad C. auszustehen hatten, ohne dass Jemand
erfror. Dagegen ist es sichergestellt, dass unter gewissen Umständen
eine geringere Resistenzfähigkeit gegen Kälte besteht, so dass selbst
unbedeutende Kältegrade, und selbst noch über dem Gefrierpunkt stehende
Temperaturen den Tod bewirken können.
Von diesen ist zunächst das Alter des Individuums zu erwähnen. Kinder,
besonders neugeborene, sind sehr empfindlich gegen Kälte, und es kann
bei letzteren, zumal wenn sie, wie gewöhnlich, unbedeckt und mit
feuchter Haut liegen bleiben, schon eine den Gefrierpunkt noch nicht
erreichende Temperatur der Aussenluft, namentlich wenn diese bewegt
ist, eine solche Abkühlung des Körpers veranlassen, dass daraus der Tod
erfolgt. Ebenso müssen wir annehmen, dass alte marastische Leute, bei
welchen die wärmebildenden Processe bereits geschwächt sind, leichter
der Kälte unterliegen werden, während jüngere, kräftige, gut genährte
und namentlich einen stärkeren Fettpolster besitzende Individuen hohe
Kältegrade mit Leichtigkeit ertragen können. Insbesondere ist es aber
Krankheit, sowie Erschöpfung durch Hunger und Anstrengung, welche
die Resistenzfähigkeit gegen Kälte herabsetzt und den Erfrierungstod
begünstigt. Auch geistig deprimirenden Einflüssen muss eine solche
Wirkung zugeschrieben werden, wie die Schicksale der flüchtigen
französischen Armee in Russland beweisen.
Dass der Schlaf schon für sich allein die Resistenzfähigkeit gegen
Kälte herabsetzt, muss im Allgemeinen zugegeben werden; doch ist der
Schlaf, in welchen, wie zahlreiche Fälle lehren, die Individuen vor dem
Erfrieren verfallen, kein normaler, sondern theils durch die Ermüdung
und den herabgekommenen Zustand, theils aber auch durch die in Folge
der Kälte selbst auftretende Somnolenz bedingt.
In welchem Grade ungenügende Bekleidung die Gefahr des Erfrierens
erhöht, bedarf keiner weiteren Erörterung. Die schon früher verbreitete
Ansicht, dass Alkoholgenuss das Erfrieren begünstigt, hat durch den
Nachweis der temperatur-herabsetzenden Wirkung kleiner sowohl als
grosser Alkoholdosen eine weitere Stütze gefunden. Am meisten wächst
die Gefahr bei Berauschung durch die bekannten Symptome derselben.
Besonders gefährlich ist grosse Kälte bei starkem Wind. In den
Karstländern ist in dieser Beziehung die Bora berüchtigt, ebenso die
Schneestürme in den Alpenländern.
[Sidenote: Leichenbefund nach Erfrierungstod.]
Ueber die Vorgänge, die nach Einwirkung starker Kälte im Organismus
geschehen, sind zahlreiche Versuche angestellt worden.[395]
Uebereinstimmend wird vor Allem eine Contraction der Hautgefässe
angegeben, welche eine Congestion in den inneren Organen (Herz,
Lungen, Gehirn) veranlassen soll, die von den meisten Beobachtern als
hauptsächlichste Todesursache angesehen wird. Es scheint uns jedoch,
dass die Contraction der Hautgefässe bei Einwirkung der Kälte nur
anfangs eintritt, später aber einer Verminderung des Gefässtonus
(Gefässlähmung) Platz macht, da die Haut nur anfangs blass, später
aber meist livid gefärbt erscheint, wie wir uns im Winter an uns
selbst zu überzeugen Gelegenheit haben. Damit stimmen auch die
Untersuchungen +Horwath+’s überein, aus welchen hervorgeht, dass
die Kälte vorzugsweise die glatten Muskeln lähme, und zwar schon zu
einer Zeit, in welcher die quergestreiften ihre Contractionfähigkeit
noch nicht eingebüsst haben. Auch die venösen Stauungen und localen
Oedeme, die +Beck+ bei seinen Versuchen sah, lassen sich auf
Gefässlähmung zurückführen und ebenso die allgemeinen Erscheinungen,
wie schwacher Herzschlag, Präcordialangst, Sinken des Blutdruckes,
schwache Respiration, die gesteigerte Kohlensäureausscheidung
(+Wertheim+) und der unter Lethargie auftretende Tod. +Pouchet+ hat
ferner gefunden, dass die Blutkörperchen durch die Kälte zerstört
werden und spricht sich dahin aus, dass desto weniger Hoffnung auf
die Rettung eines Erfrorenen bestehe, je grösser die Menge der
Blutkörperchen ist, die durch die Kälte zerstört wurden. +Crecchio+
betont die ertödtende Wirkung der Kälte auf die Nerven, +Horwath+
wieder jene auf die Musculatur, wobei er mit Recht bemerkt, dass man
bei der Beurtheilung der Erfrierungseffecte nicht blos die Temperatur
des Mediums, sondern auch den Grad der Abkühlung des Körpers im Auge
behalten muss, welche gegen die Tiefe zu immer langsamer erfolgt, so
dass z. B. ein frisches Froschherz, welches er bis zur Steinhärte
gefrieren liess, wieder zu pulsiren anfing, wenn es aufgethaut wurde,
während wenn die Musculatur +durchwegs+ auf nur -5° C. abgekühlt
wurde, die Contractibilität derselben vollkommen erloschen war.[396]
Bezüglich des +Leichenbefundes+ bei Erfrorenen ist zu erwähnen,
dass die festgefrorene Beschaffenheit der Leiche für sich allein
nicht beweist, dass Jemand erfroren ist, da eine solche Veränderung
überhaupt erst nach dem Tode entstehen kann, möge dieser thatsächlich
durch Kälte oder auf eine andere Art eingetreten sein. Ebenso ist ein
Auseinandergewichensein der Kopfnähte, wie es +Krajewski+ mehrmals
bei Erfrorenen beobachtete, eine Leichenerscheinung, die durch
die Ausdehnung des gefrierenden, stark wasserhältigen Gehirns zu
Stande kommen kann. Auch können fest gefrorene, besonders periphere
Körpertheile durch Manipulationen abbrechen. Bei einem bei strenger
Kälte im Freien gefundenen erhängten Selbstmörder fanden wir an der
Wurzel des Penis eine quere reactionslose Hautberstung, ebenso einen
Querriss der Haut über der rechten Wade. Beide Verletzungen waren
offenbar postmortal, letztere beim Stiefelausziehen entstanden. Von
einzelnen Beobachtern (+Ogston+, +Blumenstok+) werden hellrothe
Hautfärbungen (Todtenflecke) als Leichenbefund bei Erfrorenen
angegeben. Dieselben sind zweifellos blosse Leichenerscheinungen,
da sie auch an in Eiskellern aufbewahrten Leichen sich entwickeln.
Ebenso bekommt, wie bekannt, auf Eis aufbewahrtes Fleisch eine rothe
Farbe. Nach +Falk+’s Untersuchungen (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. XLVII, pag. 76 und XLIX, pag. 28) wird die hellrothe Färbung der
Todtenflecke durch Diffusion des Sauerstoffes von aussen und Fixirung
desselben durch das Hämoglobin bewirkt. In die Tiefe, namentlich bis
zum Herzen, dringt deshalb die Röthung nicht. +Keferstein+ (Zeitschr.
f. Medicinalb. 1893, pag. 201) legt einen Werth auf fleckige Röthungen
an nicht abhängigen Stellen, die seiner Meinung nach dadurch entstehen,
dass das Blut an den am meisten der Kälte exponirten Hautpartien
erstarrt, durch das noch circulirende warme Blut aber wieder aufgethaut
wird.
Von +Blosfeld+, +Ogston+, +De Crecchio+ und von +Blumenstok+ (Maschka’s
Handb. I, 785) wird die hellrothe Farbe des Blutes in den inneren
Organen hervorgehoben, von Anderen aber (+Samson++-++Himelstiern+) als
nicht constant angegeben; auch +Dieberg+ („Beitrag zur Lehre vom Tode
durch Erfrieren“, Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. XXXVIII, 1) gibt
an, dass ihm bei den 31 von ihm ausgeführten Sectionen Erfrorener eine
besonders helle Farbe des Blutes nicht aufgefallen sei, dass aber doch
das Blut nicht jene dunkle Farbe besitzt wie Erstickungsblut. Ob dieser
Erscheinung eine specifische Wirkung der Kälte auf das Hämoglobin zu
Grunde liegt oder ein Zurückbleiben von Sauerstoff im Leichenblute,
wie Alb. +Schmidt+ (Med. Centralbl. 1874, pag. 725) meint, mag dahin
gestellt bleiben. Wenn, wie +Blumenstok+ angibt, die Färbung nur eine
postmortal eintretende ist und auch bei absolut ausgeschlossenem
Zutritt von Sauerstoff sich einstellt, dann wäre wohl nur an erstere
Wirkung zu denken.
Das Blut ist nach +Dieberg+ fast immer locker geronnen, was sich
wohl aus dem protrahirten Verlauf des Todes erklärt, verflüssigt
sich aber, wenn es gefroren war, beim Aufthauen. Derselbe Autor
fand in allen seinen 31 Fällen von zweifellosem Erfrierungstod
eine ungewöhnlich starke Ueberfüllung des Herzens in allen seinen
Theilen mit Blut (durchschnittlich 0·293 Kgrm.) und hält daher diese
Erscheinung, die er sich aus dem Zurückgedrängt werden des Blutes aus
den peripheren Gebieten erklärt, für charakteristisch. In zwei von uns
begutachteten Fällen wurden zahlreiche bis bohnengrosse Ecchymosen in
der Musculatur des Halses und Brustkorbes gefunden, die schon während
des Erfrierens, aber auch erst durch nachträgliche Manipulationen
(Wiederbelebungsversuche, Transport) sich gebildet und durch Imbibition
beim Aufthauen sich vergrössert haben konnten.
Von +Blosfeld+ und auch von +Brücke+ wurde angegeben, dass die
Todtenstarre bei Erfrorenen das Aufthauen überdauern könne, eine
Angabe, die von Anderen (+Sommer+) bestritten wurde. Aufgethaute
Leichen faulen sehr rasch, namentlich machen die Imbibitions- und
Transsudationsvorgänge rapide Fortschritte. +Casper+ hat darauf
aufmerksam gemacht (l. c. 785), dass, wenn man im Schnee oder Eis
einen bereits in Verwesung übergegangenen Leichnam findet, daraus
mit Sicherheit geschlossen werden könne, dass der Mensch nicht den
Erfrierungstod gestorben sei, da in Schnee oder Eis liegende Leichen
nicht faulen. Diese Angabe ist im Allgemeinen richtig, es ist jedoch
dabei nicht zu übersehen, dass Jemand thatsächlich erfroren, dann beim
Eintritt milder Witterung aufgethaut und in Fäulniss übergegangen,
hierauf aber wieder verschneit und gefroren sein konnte. Es wären also
auch die in der betreffenden Zeit bestandenen Witterungsverhältnisse in
Betracht zu ziehen.
In unseren Gegenden kommt der zufällige Erfrierungstod, der in
nördlichen Ländern häufig ist, nur selten zur Beobachtung. Von
Selbstmord durch Erfrieren ist unseres Wissens kein Fall bekannt.
Dagegen ist eine absichtliche Tödtung von hilflosen Individuen durch
Aussetzen grosser Kälte möglich, und namentlich bei kleinen Kindern,
besonders Neugeborenen, vorgekommen, bei welchen letzteren, wie schon
erwähnt, geringe Kältegrade genügen, um den Tod herbeizuführen.
V. Tod durch Vergiftung.
[Sidenote: Gesetzliche Bestimmungen.]
+Oesterr. Strafgesetz+, §. 135: Arten des Mordes sind: 1.
Meuchelmord, welcher durch Gift oder sonst tückischer Weise geschieht
...
+Oesterr. Straf-P.-Ordnung+, §. 131: Liegt der Verdacht einer
Vergiftung vor, so sind der Erhebung des Thatbestandes nebst den
Aerzten nach Thunlichkeit auch zwei Chemiker beizuziehen. Die
Untersuchung der Gifte selbst aber kann nach Umständen auch von den
Chemikern allein in einem hierzu geeigneten Locale vorgenommen werden.
+Minist.-Vrdng. vom 2. August 1856+, Nr. 145 R. G. Bl.: Sind Objecte
zur Vornahme einer chemischen Untersuchung an einen anderen Ort zu
versenden, so muss: 1. jedes Object, z. B. ein Organ, Organtheil, ein
Giftstoff, Giftträger u. dergl. für sich, von jedem andern gesondert
in einem eigenen Gefäss verpackt werden; 2. hierzu sind vor Allem
Glas- und Porzellangefässe zu verwenden und durch zweckmässige
äussere Verpackung vor Beschädigung zu verwahren; 3. die Gefässe
sind mit einem geriebenen Glas- oder gereinigten Korkstöpsel zu
verschliessen und die Stöpsel mit Siegellack derart luftdicht zu
verkitten, dass weder von dem Inhalte etwas nach aussen, noch von
aussen etwas zu dem Inhalte gelangen kann; 4. das zur Verpackung
zu verwendende Material muss vollkommen rein sein, damit der zu
untersuchende Gegenstand dadurch nicht verunreinigt oder vergiftet
werde; 5. die Verpackung hat durch einen Sachverständigen, womöglich
durch einen erfahrenen Chemiker zu geschehen.[397]
+Oesterr. Straf-G.-Entwurf+, §. 237: Wer einem Anderen, um dessen
Gesundheit zu beschädigen, Gift oder andere Stoffe beibringt, welche
die Gesundheit zu zerstören geeignet sind, wird mit Zuchthaus
bis zu 10 Jahren bestraft. Ist durch die Handlung eine schwere
Körperverletzung verursacht worden, so ist auf Zuchthaus von 5-15
Jahren, und wenn durch diese Handlung der Tod verursacht worden, auf
Zuchthaus nicht unter 10 Jahren zu erkennen.
+Deutsches Strafgesetz+, §. 229: Im Wesentlichen gleichlautend mit §.
237 des österr. St.-G.-Entwurfes.
+Deutsche St.-P.-Ordnung+, §. 91: Liegt der Verdacht einer Vergiftung
vor, so ist die Untersuchung der in der Leiche oder sonst gefundenen
verdächtigen Stoffe durch einen Chemiker oder durch eine für solche
Untersuchungen bestehende Fachbehörde vorzunehmen. Der Richter kann
anordnen, dass diese Untersuchung unter Mitwirkung oder Leitung eines
Arztes stattzufinden habe.
[Sidenote: Preuss. Regulativ über Obduction Vergifteter.]
+Regulativ vom 13. Februar 1875+, §. 22: Bei Verdacht einer
Vergiftung beginnt die innere Besichtigung mit der Bauchhöhle. Es
ist dabei vor jedem weiteren Eingriff das äussere Aussehen der
oberen Baucheingeweide, ihre Lage und Ausdehnung, die Füllung
ihrer Gefässe und der etwaige Geruch zu ermitteln. In Bezug auf
die Gefässe ist hier, wie an anderen wichtigen Organen, stets
festzustellen, ob es sich um Arterien oder Venen handelt, ob auch
die kleineren Verzweigungen oder nur Stämme und Stämmchen bis zu
einer gewissen Grösse gefüllt sind, und ob die Ausdehnung der
Gefässlichtung eine beträchtliche ist oder nicht. Alsdann werden um
den untersten Theil der Speiseröhre, dicht über dem Magenmunde, sowie
um den Zwölffingerdarm unterhalb der Einmündung des Gallenganges
doppelte Ligaturen gelegt und beide Organe zwischen denselben
durchgeschnitten. Hierauf wird der Magen mit dem Zwölffingerdarm im
Zusammenhange herausgeschnitten, wobei jede Verletzung desselben
sorgfältig zu vermeiden ist. Es wird sofort der Inhalt nach Menge,
Consistenz, Farbe, Zusammensetzung, Reaction und Geruch bestimmt und
in ein reines Gefäss von Glas oder Porzellan gethan.
Sodann wird die Schleimhaut abgespült und ihre Dicke, Farbe,
Oberfläche, Zusammenhang untersucht, wobei sowohl dem Zustande
der Blutgefässe, als auch dem Gefüge der Schleimhaut besondere
Aufmerksamkeit zuzuwenden und jeder Hauptabschnitt für sich zu
behandeln ist. Ganz besonders ist festzustellen, ob das vorhandene
Blut innerhalb von Gefässen enthalten oder aus den Gefässen
ausgetreten ist, ob es frisch oder durch Fäulniss oder Erweichung
(Gährung) verändert und in diesem Zustande in benachbarte
Gewebe eingedrungen (imbibirt) ist. Ist es ausgetreten, so ist
festzustellen, wo es liegt, ob auf der Oberfläche oder im Gewebe, ob
es geronnen ist oder nicht u. s. w. Endlich ist besonders Sorgfalt
zu verwenden auf die Untersuchung des Zusammenhanges der Oberfläche,
namentlich darauf, ob Substanzverluste, Abschürfungen (Erosionen),
Geschwüre vorhanden sind. Die Frage, ob gewisse Veränderungen
möglicherweise durch den natürlichen Gang der Zersetzung nach dem
Tode, namentlich unter Entwicklung gährenden Mageninhaltes, zu Stande
gekommen sind, ist stets im Auge zu behalten. -- Nach Beendigung
dieser Untersuchung werden der Magen und der Zwölffingerdarm in
dasselbe Gefäss mit dem Mageninhalt gethan und dem Richter zur
weiteren Veranlassung übergeben. In dasselbe Gefäss ist auch später
die Speiseröhre, nachdem sie nahe am Halse unterbunden und über
der Ligatur durchschnitten worden, nach vorgängiger anatomischer
Untersuchung, sowie in dem Falle, dass wenig Mageninhalt vorhanden
ist, der Inhalt des Leerdarmes zu bringen. -- Endlich sind auch
andere Substanzen und Organtheile, wie Blut, Harn, Stücke der Leber,
der Nieren u. s. w., aus der Leiche zu entnehmen und dem Richter
abgesondert zur weiteren Veranlassung zu übergeben. Der Harn ist für
sich in einem Gefässe zu bewahren, Blut nur in dem Falle, dass von
einer spectralanalytischen Untersuchung ein besonderer Aufschluss
erwartet werden kann. Alle übrigen Theile sind zusammen in ein Gefäss
zu bringen. -- Jedes dieser Gefässe wird verschlossen, versiegelt
und bezeichnet. -- Ergibt die Betrachtung mit blossem Auge, dass die
Magenschleimhaut durch besondere Trübung und Schwellung ausgezeichnet
ist, so ist jedesmal, und zwar möglichst bald, eine mikroskopische
Untersuchung der Schleimhaut, namentlich mit Bezug auf das Verhalten
der Labdrüsen, zu veranstalten.
Auch in den Fällen, wo sich im Mageninhalt verdächtige Körper,
z. B. Bestandtheile von Blättern oder sonstige Pflanzentheile,
Ueberreste von thierischer Nahrung finden, sind dieselben einer
mikroskopischen Untersuchung zu unterwerfen. -- Bei Verdacht einer
Trichinenvergiftung hat sich die mikroskopische Untersuchung zunächst
mit dem Inhalt des Magens und des oberen Dünndarmes zu beschäftigen,
jedoch ist zugleich ein Theil der Musculatur (Zwerchfell, Hals- und
Brustmuskeln) zur weiteren Prüfung zurückzulegen.
[Sidenote: Begriff „Gift“.]
Unter +Giften+ versteht man Substanzen, welche, schon in
verhältnissmässig kleiner Menge in den Organismus gebracht, auf andere
als mechanische oder thermische Weise die Gesundheit zu schädigen oder
den Tod herbeizuführen vermögen. Diese Begriffsbestimmung lässt zwar
vom streng toxicologischen Standpunkte manchen Einwand zu, entspricht
jedoch dem allgemeinen Sprachgebrauche und dürfte umsomehr genügen, als
es bis jetzt nicht gelungen ist, den Begriff „Gift“ vollkommen genau
zu definiren. Ueberdies hat der Wunsch nach einer genauen Präcisirung
dieses Begriffes gegenwärtig dadurch an Dringlichkeit verloren, dass
die neuen Gesetze (österr. Entw. §. 240 und deutsches St. G. §. 229)
der Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit einer genauen Begriffsbestimmung
von „Gift“ dadurch Rechnung tragen, dass sie nicht blos die Beibringung
von Gift, sondern auch „anderer Stoffe, die die Gesundheit zu zerstören
geeignet sind“, im Auge halten und mit Strafe belegen.
[Sidenote: Bedingungen der Giftwirkung.]
Absolute Gifte, d. h. Substanzen, die, in den Organismus gebracht,
unter +allen+ Umständen die Gesundheit oder das Leben zu zerstören
im Stande wären, gibt es nicht, sondern es können jene Substanzen,
die wir als Gifte bezeichnen, immer nur unter bestimmten Bedingungen
ihre schädliche Wirkung äussern. Da aber von dem Grade, in welchem
diese Bedingungen im concreten Falle gegeben sind, auch der Verlauf
der Vergiftung, insbesondere die Intensität derselben und die
Schnelligkeit, mit welcher die ersten Symptome auftreten, abhängen,
so verdienen dieselben zuerst besprochen zu werden. Diese Bedingungen
können liegen 1. in der Substanz selbst, 2. in der Art ihrer
Beibringung und 3. in gewissen individuellen Verhältnissen.
[Sidenote: Dosis.]
Ad 1. Alle Substanzen, die wir als Gifte kennen, werden dies erst von
einer gewissen +Dosis+ angefangen. Die kleinste Menge der betreffenden
Substanz, die bereits krankmachende Wirkungen äussert, nennen wir
die Dosis toxica und jene, die bereits den Tod zu bewirken im Stande
ist, die Dosis toxica letalis. Es bedarf keiner weiteren Erörterung,
wie schwierig es ist, beim Menschen sowohl die Dosis toxica als
die Dosis letalis für jedes einzelne Gift zu bestimmen, und dass,
wenn solche Dosen aufgestellt werden, dieselben sich immer nur auf
durchschnittliche Verhältnisse beziehen können. Am leichtesten ist
die Bestimmung solcher Dosen bei local wirkenden Giften, schwierig
dagegen bei solchen, denen ausschliesslich oder vorzugsweise eine
Wirkung zukommt, die erst durch Resorption der toxischen Substanz, also
secundär, sich äussert. Da die experimentelle Toxicologie als Gesetz
aufstellt, dass die Allgemeinwirkung eines Giftes eine der Grösse des
Thieres proportionale Dosis erfordert, weshalb man mit Rücksicht auf
die verschiedene Grösse der Thiere bestrebt ist, zu bestimmen, wie viel
Gift im Stande ist, 1 Kilo des betreffenden Thieres krank zu machen
oder zu tödten, so wäre in gleicher Weise auch beim Menschen vorzugehen
und wenigstens zwischen der Dosis toxica bei Erwachsenen und jener bei
Kindern eine Unterscheidung zu machen. Da die österreichische sowohl
als andere Pharmakopöen die Maximaldosen der heroischen Arzneimittel
zusammenstellen (siehe eine solche Zusammenstellung verschiedener
Pharmakopöen in Eulenburg’s Real-Encyclop., Art. „Recept“), so
empfiehlt es sich, wenn an den Gerichtsarzt die Frage herantritt, ob
die Jemandem beigebrachte Menge einer Substanz schon im Stande war,
schädliche Wirkungen hervorzubringen, von den bezeichneten Maximaldosen
der behördlich autorisirten Pharmakopöen auszugehen.
Dass ausser der Dosis und ausser den allgemein chemischen Eigenschaften
der betreffenden Substanz, wovon wir insbesondere den Aggregatzustand
und die Löslichkeit, sowie die Reinheit derselben nennen, noch
andere in der Substanz selbst gelegene Verhältnisse einen Einfluss
auf die Wirkung der letzteren ausüben, zeigen namentlich giftige
Pflanzentheile, von denen es bekannt ist, dass ihr Giftgehalt mit dem
Alter und selbst mit dem Standort[398] der Pflanze wechselt und dass
viele derselben im frischen Zustande wirksamer sind als im getrockneten
und durch längeres Liegen sogar jede Wirksamkeit verlieren können.
Als Beispiel nennen wir die Frondes sabinae, welche frisch so giftig
sich erweisen (pag. 235), während alten ausgetrockneten Zweigen, da
aus ihnen das giftige ätherische Oel verflüchtigt ist, keine oder
nur eine sehr geringe Giftwirkung zukommt. Gleiches gilt von vielen
anderen Pflanzen, deren wirksames Princip ein ätherisches Oel bildet,
und ebenso von Secale cornutum, das im Laufe der Zeit ebenfalls seine
Wirksamkeit verliert. Auch bei giftigen Chemikalien kann im Laufe
der Zeit unter gewissen Umständen eine Zersetzung eintreten, die die
Giftigkeit derselben wesentlich zu ändern im Stande ist, wovon die
Blausäure ein Beispiel liefert, die sich von selbst unter Bildung von
ameisensaurem Ammonium zersetzt, ebenso das Cyankalium, welches beim
Liegen an der Luft schon durch die Kohlensäure der letzteren zersetzt
wird und dessen wässerige Lösung sich besonders bei Zutritt organischer
Substanzen sehr bald in eine braune, nach Ammoniak riechende
Flüssigkeit verwandelt.
[Sidenote: Vehikel.]
Ad 2. Es kommt sowohl das +Vehikel+ in Betracht, in welchem, als der
+Weg+, auf welchem das Gift beigebracht worden ist.
In ersterer Beziehung lehrt die Erfahrung, dass die Gifte, ausgenommen
die flüssigen, selten als solche, d. i. in Substanz, sondern meist in
einem Vehikel genommen oder beigebracht werden. Insbesondere sind es
verschiedene Getränke und Speisen, die als Vehikel des, namentlich
heimlich beizubringenden Giftes dienen müssen. Ein solches Vehikel
kann je nach seinen Eigenschaften die Giftwirkung bald befördern,
bald verzögern oder abschwächen und selbst ganz aufheben. Ist die
Substanz in dem Vehikel löslich, so wird die Wirkung des Giftes
desto intensiver und desto früher eintreten, je vollständiger sich
das Gift zu lösen vermochte, bevor es einverleibt wurde, was ausser
von der Natur (auch Temperatur) des Vehikels, allerdings auch von
der Löslichkeit der Substanz und von der Zeit, durch welche diese
mit dem Vehikel in Berührung stand, abhängig sein wird. Welcher
Einfluss dem erwähnten Umstande zukommt, lehrt am deutlichsten
die Arsenikvergiftung. Wurde das bekanntlich schwer lösliche Gift
sofort als solches oder Speisen beigemischt gegeben, so können
selbst Stunden verfliessen, bevor die Giftwirkung sich zeigt und es
prävaliren dann die Symptome der sogenannten Gastroenteritis toxica;
wurde jedoch der Arsenik gelöst genommen, so tritt die Wirkung nicht
blos ungleich früher auf, sondern sie zeigt nicht selten auch ein
anderes Bild, das des sogenannten Arsenicismus cerebrospinalis, in
welchem, weil die Resorption sehr rasch erfolgt, weniger die localen,
als die secundären Symptome vorwiegen. Ebenso wird die Giftwirkung
befördert werden, wenn das Vehikel aus einer an und für sich giftigen
Verbindung einen noch giftigeren Körper frei macht. Bekanntlich wird
Cyankalium schon durch die schwächsten Säuren zersetzt und entwickelt
Blausäure und man kann sich sofort eine wässerige Blausäurelösung
darstellen, wenn man grobgestossenes Cyankalium mit diluirter Weinsäure
übergiesst (+Clark+). Der gleiche Vorgang wird aber stattfinden,
wenn Jemand Cyankalium in saurem Wein nimmt, in welchem Falle nicht
blos eine intensivere Wirkung des Giftes sich zeigt, sondern auch,
da gleichzeitig das Kalium durch die Säure gebunden wird, jene
aufquellende Wirkung des Kaliumhydroxyds entfällt oder abgeschwächt
wird, welche, wenn wässerige Cyankaliumlösung genommen wurde, sich
an der Magenschleimhaut gewöhnlich in auffallender Weise zu äussern
pflegt.[399]
[Sidenote: Einfluss des Vehikels auf die Giftwirkung.]
Eine Abschwächung, beziehungsweise Verzögerung der Giftwirkung kann
durch das Vehikel zunächst insoferne veranlasst werden, als dasselbe
das Gift diluirt, vertheilt oder einhüllt, und es wird sich dies
desto mehr bemerkbar machen, je grösser die Menge des Vehikels war,
in welchem das Gift genommen wurde. Es kann jedoch eine Abschwächung,
ja selbst eine vollständige Aufhebung der Giftwirkung auch erfolgen,
wenn das Vehikel das Gift chemisch zu binden oder zu neutralisiren
vermag. Dies könnte geschehen, wenn z. B. Gifte, deren Wirkung
vorzugsweise auf ihrer grossen Affinität zu Eiweisskörpern beruht, in
einem eiweisshältigen Vehikel, z. B. Sublimat in einer Eierspeise,
oder Gifte, die, wie viele Alkaloide, durch Tannin gefällt werden, in
schwarzem Kaffee oder Theeabsud oder mit anderen Worten, wenn sie in
einem solchen Vehikel gegeben würden, welches bei einer Vergiftung mit
dem betreffenden Körper als Gegenmittel am Platze gewesen wäre.
[Sidenote: Weg.]
Der häufigste Weg, auf welchem Gifte in den Organismus gelangen, ist
der obere Theil des Verdauungstractes, d. h. sie werden geschluckt.
Nur ganz ausnahmsweise werden sie durch den After eingebracht, z. B.
durch Klysmen oder Suppositorien, oder beim Narcotisiren per rectum
(Wiener med. Blätter. 1884, pag. 788). Ein Unicum ist der am 22.
April 1878 vorgekommene Fall von (eingestandenem) Selbstmord eines
jungen Mädchens durch -- ein Klysma mit Wanzengift (alkoholische
Sublimatlösung!). Medicinale Vergiftungen von der Scheide, respective
von der Uterushöhle aus sind wiederholt vorgekommen, aber auch
verbrecherische Einbringung von Gift auf diesem Wege wurde beobachtet,
und zwar nicht blos zu Fruchtabtreibungszwecken, sondern auch behufs
absichtlicher Tödtung. Insbesondere werden von +Ansiaux+ und +Mangor+
mehrere Fälle erzählt, in denen Frauen durch Einbringung von Arsenik
in die Scheide umgebracht worden sind (Henke’s Zeitschr. I, 3. Heft).
Auch von der äusseren Haut aus können Vergiftungen erfolgen, wobei das
Gift entweder die unverletzte Haut durchdringt, oder zuerst die Haut
erodirt, oder indem es mit von der Epidermis entblössten wunden Stellen
der Haut in Berührung kommt oder subcutan beigebracht wird. Auf diese
Weise können insbesondere medicinale Vergiftungen geschehen, so z. B.
bei hypodermatischer sowohl als namentlich subcutaner Anwendung von
Medicamenten oder bei der antiseptischen Wundbehandlung, insbesondere
mit Sublimat oder mit Carbolsäure. Auch viele septische Vergiftungen
und solche mit vergifteten Waffen, sowie die durch Biss giftiger oder
wüthender Thiere gehören hierher und sind in vielen Beziehungen analog
jenen, welche in der experimentellen Toxicologie durch unmittelbare
Einbringung des Giftes in den Kreislauf erzeugt werden. Endlich
sind die Respirationswege zu erwähnen, durch welche gasförmige oder
flüchtige Gifte in den Körper gelangen können, eine Vergiftungsform,
die nach jener per os am häufigsten vorzukommen pflegt.
Der +Weg+, auf welchem Gifte in den Organismus gebracht werden, ist
keineswegs gleichgiltig, denn einestheils hängt die Schnelligkeit und
Intensität der Giftwirkung von der Applicationsweise ab, anderseits
aber gibt es Substanzen, die überhaupt nur dann eine giftige Wirkung
äussern, wenn sie auf bestimmtem Wege eingeführt worden sind. Am
schnellsten und intensivsten zeigt sich die Giftwirkung, wenn das
Gift unmittelbar in den Kreislauf gelangte, da ja alle Gifte, ausser
die local wirkenden, zuerst in’s Blut aufgenommen (resorbirt) werden
müssen, wenn sie wirken sollen. Es gilt dies jedoch nicht ausnahmslos.
So hat Strychnin, wie +Leube+ und +Rossbach+ (Med. Centralbl. 1873,
Nr. 24) angeben, vom Magen aus eine intensivere Wirkung, als wenn es
subcutan applicirt wird, und vom Arsenik sagt +Boehm+ (Arch. f. exp.
Path. 1874, pag. 96), dass die kleinste letale Dose bei Application
per os noch nicht genügt, um, direct in eine Vene eingespritzt, ein
gleiches Thier zu tödten, und dass bei letzterem Applicationsmodus
der Tod immer etwas später erfolgt, als bei der Vergiftung durch den
Magen. Ebenso hat +Mosso+ (Virchow’s Jahrb. 1875, I, 463) die schon
von Anderen beobachtete Thatsache bestätigt, dass der Brechweinstein
von Venen aus erst nach viel grösseren Dosen (2-2½ Dgrm.) emetisch
wirkt, als dies vom Magen aus der Fall ist.
Ein Beispiel für die Thatsache, dass manche Gifte, wenn sie auf
bestimmtem Wege applicirt werden, ungleich giftiger wirken als auf
anderen, liefern gewisse Kaliumsalze, die, wenn sie direct in den
Kreislauf gebracht werden, sich als heftige Herzgifte erweisen, während
vom Magen aus erst verhältnissmässig grosse Dosen giftige Wirkung
äussern.
Die Ursache dieser Erscheinung ist nach +L. Herrmann+ darin zu suchen,
dass diese Salze vom Magen aus langsam resorbirt, dafür aber sehr rasch
ausgeschieden werden, so dass bei Application des Salzes per os der
Giftgehalt des Blutes nicht hoch genug steigt, um Allgemeinwirkungen
hervorzurufen. Auch vom Curare werden, wenn dieses geschluckt wird,
grosse Dosen ohne Schaden vertragen, während schon geringe Mengen in
das Blut injicirt rasch die bekannte lähmende Wirkung äussern.
[Sidenote: Einfluss der individuellen Verhältnisse und der Angewöhnung.]
Ad 3. Von den +individuellen Verhältnissen+, die auf die Giftwirkung
einen Einfluss üben können, kann man allgemeine und locale
unterscheiden. Zu ersteren gehört insbesondere das Alter, und wir
haben bereits oben erwähnt, dass Kinder auf ungleich kleinere Dosen
eines Giftes reagiren als Erwachsene, auch lehrt die Erfahrung, dass
gegenüber gewissen Giften, so namentlich gegenüber den Opiaten, die
Empfindlichkeit der Kinder sogar eine unverhältnissmässig grosse
sein kann.[400] Ebenso ist die Annahme berechtigt, dass Individuen,
deren Resistenzfähigkeit durch Krankheit oder Alter herabgesetzt ist,
auch empfindlicher gegen Gifte sich erweisen werden, als gesunde
und kräftige Individuen. Von einer Idiosynkrasie gegen bestimmte
giftige Substanzen könnte nur dann die Rede sein, wenn bei einem
Individuum schon nach erfahrungsgemäss nicht toxischen Gaben derselben
Intoxicationserscheinungen auftreten würden, ohne dass man einen
Grund hierfür nachzuweisen im Stande wäre. Für die Möglichkeit einer
solchen eigenthümlichen und ungewöhnlichen individuellen Reaction
sprechen ausser dem erwähnten Verhalten kleiner Kinder gegen Opiate
auch verschiedene Erfahrungen, die man in dieser Beziehung bei
erwachsenen Patienten gegenüber bestimmten Heilmitteln, sowie auch bei
gesunden Personen gegenüber entschieden unschädlichen Nahrungs- oder
Genussmitteln zu machen in der Lage war.
Dass bis zu einem gewissen Grade auch eine +Angewöhnung+ an einzelne
Gifte möglich ist, so dass, wenn diese besteht, Dosen einer toxischen
Substanz vertragen werden können, die sonst heftige und selbst
lebensgefährliche Erscheinungen hervorgerufen hätten, ist eine
vielfach sichergestellte Thatsache. Bekannt sind in dieser Beziehung
die Arsenikesser in den Alpenländern[401], noch mehr aber die
Erfahrungen bei der therapeutischen Anwendung des Morphins, welche
lehren, dass im Laufe derselben mit der Dose gestiegen werden muss,
wenn die betreffende Wirkung erzielt werden soll, und dass die Kranken
schliesslich, allerdings nicht immer ohne Nachtheil (Morphinismus),
bis zu Dosen gelangen können, die sonst bei denselben Individuen sich
als letal erwiesen hätten und selbst zur Tödtung mehrerer Personen
genügen würden. Ausserdem liefert uns aber der Alkohol und das
Nicotin alltägliche Beispiele der Möglichkeit der Angewöhnung an
Gifte, auch lehrt die experimentelle Toxicologie, dass Versuchsthiere
auf neue Dosen gewisser Gifte häufig ungleich schwächer reagiren, als
auf frühere, und dass manchmal, so z. B. beim Nicotin, auch nach der
Restitution eine verminderte Empfänglichkeit, und zwar selbst durch
lange Zeit, also eine „erworbene Immunität“, zurückbleibt.[402]
[Sidenote: Zustand des Magens.]
Von den localen, die Giftwirkung beeinflussenden Verhältnissen ist
insbesondere der +Zustand des Magens+ zu beachten. Zuvörderst ist
es nicht gleichgiltig, ob der Magen zur Zeit, als das Gift gereicht
wurde, leer oder mit Speisen gefüllt war. Im letzteren Falle kann
die Giftwirkung verzögert und selbst bedeutend abgeschwächt werden,
besonders wenn das Gift in Substanz gegeben wurde, während im ersteren,
da das Gift sofort mit der Magenwand in Contact kommt, die Wirkung
schnell und intensiv eintritt. Aber auch die chemische Beschaffenheit
des Mageninhaltes ist von Wichtigkeit und kann in gleicher Weise die
Giftwirkung entweder beschleunigen oder verzögern, wie wir dies vom
Vehikel, in dem das Gift gegeben wurde, auseinandergesetzt haben. Ob
auch der gesunden oder kranken Beschaffenheit der Magenschleimhaut ein
wesentlicher Einfluss auf den Verlauf einer Vergiftung zugeschrieben
werden kann, ist fraglich. +Quetsch+ (Berliner klin. Wochenschr. 1884,
Nr. 23) fand bei seinen Versuchen die Resorptionsfähigkeit des Magens
bei chronischem Magencatarrh und bei Carcinom entschieden verlangsamt,
bei Ulcus rotundum dagegen beschleunigt.
Die Diagnose stattgehabter Vergiftung.
Die Diagnose, dass eine Vergiftung stattgefunden habe, insbesondere,
dass Jemand den Vergiftungstod gestorben sei, muss sich stützen: 1. auf
die Erwägung der dem Tode vorhergegangenen Krankheitserscheinungen,
2. auf das Resultat der Obduction, 3. auf das Resultat der chemischen
Untersuchung der Leichentheile, und 4. auf die Erwägung der Umstände
des Falles.
1. Die dem Tode vorausgegangenen Erscheinungen.
Dieselben werden zunächst abhängen von der Natur und Wirkungsart
des betreffenden Giftes, die wir bei Besprechung der einzelnen
Gifte kennen lernen werden. Hier wollen wir nur bemerken, dass sie
im Allgemeinen von dem Umstande bedingt sind, ob die Veränderungen
und Functionsstörungen, die das Gift veranlasst, zunächst nur die
Applicationsstelle betreffen, oder erst secundär durch die Aufnahme
des Giftes in’s Blut und Uebertragung auf andere entferntere Organe
veranlasst werden. Ersterer Wirkung begegnen wir bei den sogenannten
irritirenden, insbesondere bei den ätzenden Giften, und bezeichnen das
ganze Krankheitsbild, welches durch die Ingestion dieser in dem Magen
hervorgebracht wird, als „Gastroenteritis toxica“.
[Sidenote: Locale und entferntere Vergiftungserscheinungen in vivo.]
Die Symptome derselben bestehen im Allgemeinen in sofort oder bald nach
der Ingestion des Giftes eintretenden Schmerzen in der Magengegend,
beziehungsweise auch in den Schlingorganen, in Brechneigung und meist
wirklichem und heftigem Erbrechen, zu welchem sich Spannung des
Unterleibes, unstillbarer Durst, grosse Unruhe, häufig auch Diarrhöe
und Tenesmus hinzugesellen, und führen diese meistens in wenigen
Stunden unter Collapsus zum Tode, wenn sie nicht eine protrahirtere
Erkrankung bedingen, welche entweder ebenfalls mit dem Tode oder mit
vollständiger oder unvollständiger Genesung enden kann. Die genannten
Symptome sind für sich allein weder für ein bestimmtes Gift, noch
für eine Vergiftung überhaupt absolut charakteristisch, können
vielmehr auch durch natürliche Erkrankung hervorgerufen werden, und
zwar sowohl durch solche localer als allgemeiner Natur. Zu ersteren
gehören acute Magen- und Darmcatarrhe, Incarcerationen, namentlich
innere, und die Peritonitis, insbesondere die P. perforativa und, wie
in einem von +Späth+ (Württemb. Correspondenzbl. 1882, Nr. 26)
mitgetheilten Falle, die Embolie des Stammes der Gekrösarterien, zu
letzteren acute Infectionskrankheiten und von diesen in erster Linie
die Cholera, und zwar sowohl die epidemische, als die Cholera nostras,
deren Aehnlichkeit mit Arsenikvergiftung immer wieder und mit vollem
Recht hervorgehoben wird. Auch die innere Verblutung, besonders die
abdominale, wie sie nach Berstung der schwangeren Tuba, oder von
Aneurysmen der Art. lienalis etc. nicht gar selten vorkommt, führt
unter gastrischen Erscheinungen, namentlich auch unter Erbrechen, zum
Tode.
Jene Gifte, welche erst nach erfolgter Resorption ihre Wirkung äussern,
bewirken entweder Störungen im Stoffwechsel, oder sie rufen Reizung
oder Lähmung von Nervenapparaten hervor.
[Sidenote: Vergiftungssymptom ante mortem.]
Im +ersteren+ Falle sehen wir entweder den Tod unter
Erstickungserscheinungen erfolgen, so z. B. wenn durch das in das
Blut gelangte Gift die respiratorische Function desselben unmöglich
gemacht wurde, wie bei der Vergiftung mit Kohlenoxydgas, oder es treten
subacute oder auch chronische Ernährungsstörungen auf, von denen viele
auf körnige oder fettige Degeneration der Organe zurückgeführt werden
können, wovon insbesondere die Phosphorvergiftung und die chronische
Arsenikvergiftung ein Beispiel liefert. Im +letzteren+ Falle ist
der Verlauf der Vergiftung in der Regel ein sehr acuter, häufig ein
fulminanter, ein Umstand, der bewirkt, dass von einer Beobachtung und
Verfolgung der dem Tode vorausgegangenen klinischen Erscheinungen durch
Andere, insbesondere durch einen Arzt, meist gar keine Rede sein kann
und das Plötzliche oder Unerwartete des Eintrittes des Todes in der
Regel das Einzige ist, was man zu erheben vermag. Bei so fulminantem
Verlauf tritt der Tod fast immer unter den Erscheinungen der Erstickung
auf, die sich durch Dyspnoe, rasche Bewusstlosigkeit und Convulsionen
kundgibt. In nicht so rapiden Fällen lassen sich eher klinische
Symptome constatiren, die diagnostisch verwerthet werden können; so
die Erscheinungen der Narcose, die auf ein narcotisches Gift, die des
Tetanus, die auf Strychnin und ihm verwandte Gifte schliessen lassen.
Auch die genannten Symptome sind für sich allein nicht im Stande,
eine Vergiftung zu beweisen, da gleiche oder ähnliche auch bei
verschiedenen natürlichen Erkrankungen, respective Todesarten,
vorkommen können. So erinnern wir an die Aehnlichkeit des
Krankheitsbildes der Phosphorvergiftung mit acuter Leberatrophie, mit
pyämischen und septischen Processen und selbst mit jenen eines heftigen
Gastroduodenalcatarrhs, und an die Thatsache, dass alle möglichen
plötzlichen oder mindestens raschen Todesarten, wie Hirnhämorrhagie
(besonders H. intermeningealis, welcher in der Regel Berstung eines
Aneurysmas einer der Basilararterien zu Grunde liegt), der so häufige
Tod durch Herzlähmung, ferner jener durch innere Verblutung, dann der
plötzliche Tod im Wochenbett u. dergl. schon zum Verdacht bestehender
Vergiftung Veranlassung gegeben haben, und dass auch Septicämie,
Urämie (Eclampsie der Schwangeren), Acetonämie und manche andere acute
Processe für eine äussere Intoxication gehalten werden können und
thatsächlich gehalten wurden, wovon wir eine ganze Reihe von Fällen aus
unserer eigenen Erfahrung anzuführen im Stande wären.[403] Unter diesen
waren zwei, wo die in dem einen Falle durch Pericarditis, im anderen
durch Pneumonie bewirkte Agonie für eine durch medicinale Anwendung von
Morphium veranlasste letale Narcose gehalten worden war.
Es ist ferner zu beachten, dass bei vielen Giften eine locale mit
der Resorptionswirkung sich combinirt, und dass es, wie bereits vom
Arsenik bemerkt wurde, auch nur von den Umständen abhängen kann,
ob die eine oder die andere Wirkung stärker hervortritt, beides
Thatsachen, die nicht geeignet sind, die Diagnose einer stattgehabten
Vergiftung und noch weniger die Erkennung des Giftes selbst blos aus
den während des Lebens aufgetretenen Erscheinungen zu erleichtern.
Ausserdem ist noch zu bemerken, dass selbst dann, wenn Gelegenheit
war, die Symptome während des Lebens zu beobachten, diese Beobachtung
häufig nur durch Laien gemacht wird, nicht aber durch einen Arzt, der
entweder gar nicht oder bereits zu spät gerufen wurde, wodurch die
einschlägigen Angaben, abgesehen davon, dass sie auch absichtlich
gefälscht werden können, an Verlässlichkeit und diagnostischem Werth
einbüssen müssen.
[Sidenote: Eintritt und Verlauf der Vergiftungssymptome.]
Der Zeitpunkt des Eintrittes der ersten Intoxicationserscheinungen
fällt keineswegs immer zusammen mit dem der Einverleibung des Giftes.
Augenblickliche Wirkung treffen wir nur bei den stark ätzenden Giften,
und diese macht sich schon geltend in dem Momente, in welchem die
Substanz geschluckt wird. Bei allen übrigen Giften verstreicht zwischen
der Einverleibung des Giftes und den ersten Intoxicationserscheinungen
eine gewisse Zeit, die allerdings von wenigen Augenblicken bis zu
mehreren Stunden variiren kann. Die Dauer derselben wird abhängen
einerseits von der Natur der Giftsubstanz, anderseits von der Grösse
der Gabe und den bereits oben erwähnten Verhältnissen, welche die
Giftwirkung theils zu befördern, theils zu verzögern im Stande
sind. Sehr rasch und in der Regel schon wenige Augenblicke nach der
Ingestion treten die Vergiftungserscheinungen nach Blausäure und nach
Cyankalium auf, doch werden wir Fälle kennen lernen, die zeigen,
dass auch bei diesen Giften die Wirkung nicht immer sofort sich
einstellt, sondern die betreffenden Individuen noch im Stande sein
können, nicht blos eine Strecke zu gehen, sondern selbst complicirtere
Handlungen zu unternehmen. Die Wirkung der metallischen Gifte sehen
wir keineswegs immer schon in der ersten halben Stunde nach der
Ingestion sich einstellen, sondern können häufig beobachten, dass
über eine Stunde, mitunter selbst mehrere Stunden vergehen, bevor
Vergiftungserscheinungen sich zeigen. Bei diesen Giften ist besonders
der Umstand von Einfluss, ob dasselbe bereits im gelösten Zustande
oder ungelöst gegeben wurde, und namentlich im letzteren Falle, ob der
Magen gerade leer oder mit Speisen gefüllt gewesen ist. Bezüglich der
giftigen Alkaloide wissen wir ebenfalls, dass die Wirkung selten früher
als nach beiläufig einer halben Stunde eintritt und selbst stundenlang
auf sich warten lassen kann; dies gilt besonders vom Morphium und vom
Strychnin. Hierbei ist ausser der Dosis, dem Mageninhalt etc. auch der
Umstand von Einfluss, ob das reine Alkaloid oder ein Salz desselben
genommen wurde, da es bekannt ist, dass ersteres nur schwer, letzteres
dagegen leicht im Wasser sich löst, daher dieses früher als jenes zur
Resorption gelangen wird.
Die Resorption von den Lungen aus geht sehr rasch vor sich, daher ist
auch die Wirkung gasförmiger oder flüchtiger Gifte, die inspirirt
werden, eine meist schnelle, und zwar eine desto schnellere, je mehr
davon in der Respirationsluft enthalten ist. Kommen die giftigen Gase
ausschliesslich oder nur mit wenig atmosphärischer Luft vermischt zur
Einathmung, so kann das Zusammenstürzen schon nach wenigen Athemzügen
erfolgen, wie dies z. B. häufig beim Reinigen von Abtrittsgruben oder
Brunnen der Fall ist, während in einem Raume, in welchem die Luft
mit dem giftigen Gase nicht übersättigt war, erst nach mehr weniger
längerem Verweilen Intoxicationserscheinungen sich einstellen, die
aber selten plötzlich dem Leben ein Ende machen, sondern erst nach
fortgesetzter Inhalation zum Tode führen, wie wir z. B. bei der
Vergiftung durch Kohlenoxydgas sehen.
Bei acuten und letal endenden Vergiftungen halten die
Vergiftungserscheinungen in der Regel vom Momente ihres ersten
Auftretens bis zum Tode an und nehmen an Intensität gleichmässig zu.
Nur ausnahmsweise geschieht es, dass die Intoxicationserscheinungen für
einige Zeit nachlassen, um, nachdem sich der Kranke scheinbar erholt,
neuerlich und meist mit vermehrter Heftigkeit einzutreten. Solches
wurde in ganz vereinzelten Fällen von Vergiftung mit mineralischen
Giften beobachtet, wiederholt dagegen nach Vergiftungen mit Narcoticis
und als remittirende Form der betreffenden Vergiftung beschrieben.
Es handelt sich in solchen Fällen entweder um neuerliche Resorption
von anfangs nicht mit den Schleimhäuten in Berührung gekommenen
Giftmengen oder um Folgezustände, die durch die Vergiftung veranlasst
wurden und die acut zum Tode führen können, nachdem der erste Sturm
der Vergiftungserscheinungen bereits abgelaufen ist. Wir werden auf
diesen Umstand bei Besprechung der narcotischen Gifte zurückkommen
und wollen hier nur bemerken, dass ein solcher Verlauf deshalb von
grosser Wichtigkeit ist, weil eine neuerliche Exacerbation der
Erscheinungen auf eine abermalige Beibringung von Gift bezogen
werden könnte, also auf einen Vorgang, der bei Giftmorden wiederholt
eingeschlagen worden ist. Von solchen acuten Folgezuständen, die
noch als primäre Giftwirkung aufgefasst werden können, sind die
Erkrankungen zu unterscheiden, die erst nachträglich in Folge der durch
das Gift gesetzten Veränderungen, insbesondere in Folge der reactiven
entzündlichen Processe, eintreten und mitunter erst nach langer Zeit
zum Tode führen können.
[Sidenote: Genesung. Ausscheidung von Giften.]
Der +Ausgang in Genesung+ erfordert erstens die Ausscheidung des im
Körper befindlichen Giftes und zweitens die Beseitigung der durch das
Gift veranlassten Veränderungen. Ein gewisser Theil des Giftes wird
häufig, noch bevor er zur Wirkung gelangt, durch Erbrechen aus dem
Körper entfernt. Je früher das Erbrechen eintritt und je intensiver
sich dasselbe gestaltet, von desto günstigerem Einflusse ist dasselbe
und es kann allein dadurch besonders bei schwerer löslichen und
schwerer resorbirbaren Substanzen die Wirkung grosser Giftdosen
paralysirt oder wesentlich abgeschwächt werden. Solche Substanzen
können aber auch unverändert in den Darm gelangen, und wenn sie nicht
von hier aus zur Resorption kommen oder anderweitig gebunden oder
zerstört werden, mit dem Stuhle abgehen. Die Ausscheidung resorbirter
Gifte geschieht vorzugsweise durch die Nieren, ausserdem aber auch
durch die Speicheldrüsen, die Galle, den Darmcanal und die äussere
Haut, und, wodurch Vergiftung von Säuglingen erfolgen kann, auch
durch die Milch (+Brouardel+, Annal. d’hygiène publ. 1885, pag. 73;
+Fehling+, Arch. f. Gyn. XXVIII), jene der flüchtigen auch durch die
Lungen. Die Ausscheidung der +resorbirten+ Gifte durch den Darmcanal
scheint häufiger vorzukommen als man bisher dachte. Vom Arsenik ist
dieses schon lange bekannt, jetzt kann dieses auch vom Sublimat und
anderen Quecksilberverbindungen als erwiesen angesehen werden und
neuestens auch von der Carbolsäure.[404] +Tauber+ (Arch. f. experim.
Path. 1890, XXVII, pag. 335) hat dieses auch bezüglich des Morphins
gefunden, insbesondere dargethan, dass subcutan einverleibtes
Morphin unverändert durch den Magendarmcanal, respective durch die
Fäces ausgeschieden wird. An den Ausscheidungsstellen kann es zu
krankhaften Veränderungen kommen, so z. B. zu Nephritis, toxischen
Dermatosen, katarrhalischen und selbst nekrotischen Erscheinungen an
der Schleimhaut des Respirations- oder Darmtractus. Bei einzelnen
Giften, namentlich bei den gasförmigen, sowie bei den Alkaloiden und
bei den leichtlöslichen mineralischen Giften erfolgt die Ausscheidung
schnell und die meisten lassen sich schon in den ersten Stunden, d.
h. bald nach dem Auftreten der ersten Intoxicationserscheinungen im
Harne nachweisen, eine Thatsache, die uns den Wink gibt, in allen
solchen verdächtigen Krankheitsfällen zu trachten, den Harn zu
sammeln und der chemischen Untersuchung zu übergeben. Bei Giften,
welche mit den Bestandtheilen des Organismus festere Verbindungen
eingehen, erfolgt die Ausscheidung ungleich langsamer. Hierher
gehören viele metallische Gifte, die eine grosse Affinität zu den
Eiweisskörpern besitzen oder durch Assimilation im Körper verbleiben,
selbst in der Art, dass normale anorganische Bestandtheile des
Körpers durch sie ersetzt werden können.[405]
Die meisten der forensisch wichtigen Gifte werden unverändert
ausgeschieden, andere, nachdem sie im Körper gewisse Veränderungen,
namentlich durch Oxydation erlitten haben. Zu ersteren gehören
insbesondere die metallischen Gifte und Alkaloide[406], zu letzteren
der Phosphor und das Kohlenoxydgas, dann die Säuren und Alkalien,
welche im Harne und in anderen Ausscheidungen als Salze erscheinen.
Die Restitutio ad integrum erfolgt nach Vergiftung mit Alkaloiden,
sowie mit flüchtigen und gasförmigen Giften in der Regel sehr bald
und vollständig, keineswegs aber immer. Namentlich können in jenen
Fällen, wo der Stoffwechsel wichtiger Nervencentren, insbesondere
des Gehirns, durch längere Zeit gestört oder verhindert war, schwere
Functionsstörungen zurückbleiben, an denen, wie z. B. schwere
Kohlenoxydvergiftungen zeigen, die Betreffenden monate- und jahrelang
zu laboriren haben. Die Vergiftungen mit mineralischen Giften zeigen
nicht blos häufig einen protrahirten Verlauf, sondern enden auch
nicht selten mit nur unvollständiger Genesung. Insbesondere sehen wir
nach Vergiftungen mit ätzenden Substanzen Stricturen des Oesophagus,
hochgradige Verdauungsstörungen und in deren Folge Zustände
zurückbleiben, die sogar als „Siechthum“ im Sinne des Gesetzes
bezeichnet werden müssen. Auch nach Vergiftungen mit metallischen
Giften können langdauernde Ernährungsstörungen, namentlich in Folge
der meist eingetretenen körnigen und fettigen Degenerationen,
restiren, in anderen Fällen wieder Störungen der Nervenfunctionen,
wie wir sie manchmal nach Arsenikvergiftung, am häufigsten aber nach
Vergiftungen mit Bleisalzen beobachten können.
2. Der Sectionsbefund.
Bei einzelnen Vergiftungen zeigt schon die äussere Besichtigung der
Leiche gewisse auffallende Befunde. Es gehört hierher die icterische
Färbung der Haut und der Schleimhäute bei der Phosphorvergiftung
und die auffallend hellrothe Farbe der Todtenflecke bei Individuen,
die im Kohlenoxydgas um’s Leben gekommen sind, sowie die graue bei
der typischen Vergiftung mit Kaliumchlorid. Ebenso sehen wir bei
Vergiftungen mit ätzenden Flüssigkeiten, besonders mit Schwefelsäure,
nicht blos die Lippen und die Mundschleimhaut verschorft, sondern
können häufig von den Mundwinkeln herabziehende, lederartige, meist
hellbraun verfärbte Streifen bemerken, die vom Ueberfliessen der
ätzenden Flüssigkeit herrühren. In anderen Fällen kann die Leiche
einen auffallenden Geruch, z. B. nach bitteren Mandeln, ausströmen,
und es ist vorgekommen, dass bei sehr acuten Phosphorvergiftungen (mit
Phosphorpaste) im Dunkeln leuchtende Dämpfe von der Leiche ausgingen
und schon dadurch die Todesart ausser Zweifel stellten.
In den meisten Fällen unterscheiden sich die Leichen Vergifteter
äusserlich nicht wesentlich von anderen, oder bieten wenigstens kein
äusseres Merkmal, welches, wie einzelne der oben genannten, schon für
sich allein den Schluss gestattet, dass eine Vergiftung stattgefunden
habe.
Die innere Untersuchung kann locale oder solche Befunde ergeben, die
erst durch Resorption des Giftes veranlasst wurden.
[Sidenote: Mageninhalt.]
Der Sitz der wichtigsten +localen Befunde+ ist der Magen, und es
ist in dieser Beziehung sowohl der +Mageninhalt+ als das Verhalten
der +Magenwand+ zu beachten.
[Sidenote: Geruch.]
Ersterer kann zunächst einen eigenthümlichen Geruch bieten, so z. B.
nach Phosphor, nach bitteren Mandeln, nach Alkohol, Chloroform, Sabina,
Opium etc. Solche Erscheinungen sind äusserst wichtig und machen sich
besonders in dem Momente bemerkbar, in welchem man den Magen eröffnet,
auch tritt der Geruch deutlicher hervor, wenn man den Mageninhalt in
ein Gefäss verschliesst und nach einiger Zeit wieder dazu riecht.
Nicht jeder eigenthümliche Geruch, den der Mageninhalt bietet, ist
auf eine stattgehabte Vergiftung zu beziehen. So findet sich der
Alkoholgeruch ungemein häufig bei den verschiedensten Todesarten,
welche mit dem Alkoholgenuss in keiner oder doch nur in entfernter
Beziehung stehen; ebenso kann ein ätherischer oder diesem ähnlicher
Geruch von Medicamenten herrühren, die gegeben wurden, und es sind
uns nicht einmal, sondern wiederholt Fälle vorgekommen, wo nicht
blos der Magen, sondern, wie dies auch bei vielen der erwähnten
Vergiftungen häufig sich findet, auch die Lungen und das Gehirn einen
eigenthümlichen Geruch entwickelten, obgleich die Personen zweifellos
eines natürlichen Todes verstorben waren, und wo sich herausstellte,
dass derselbe von belebenden Tropfen (meist Aethertropfen), die
kurz vor dem Sterben gereicht worden waren, oder von subcutanen
Aether- oder Kampherinjectionen herrührten. Einmal fanden wir einen
auffallenden Geruch nach Moschus, der als Analepticum gegeben worden
war und wiederholt den Geruch nach ätherischen Oelen, der von
Genussmitteln herrührte.
Blutiger Mageninhalt ist nach Vergiftung mit ätzenden sowohl als mit
irritirenden Giften sehr häufig und rührt meist von Läsionen der
Gefässe der Magenschleimhaut her, die durch Arosion veranlasst wurden.
Nicht selten kommt jedoch der blutige Mageninhalt erst postmortal zu
Stande, entweder durch Transsudation des Blutes aus der hochgradig
injicirten oder ecchymosirten Magenschleimhaut in die Magenhöhle,
oder dadurch, dass der stark sauere oder alkalische Mageninhalt das
Blut aus der hyperämischen Magenwand in sich aufnimmt, wobei das
Hämoglobin gleichzeitig zum grössten Theile in Hämatin sich zersetzt.
Je weiter diese Zersetzung, sei es schon während des Lebens oder erst
nach dem Tode, gediehen ist, desto mehr ist das Blut in seiner Farbe
verändert und kann schwarzbraun bis schwarz erscheinen. Doch kann
auch die gewöhnliche Magensäure eine kaffeesatzfärbige Zersetzung des
ausgetretenen Blutes bewirken. Nach gewissen Vergiftungen, wie z. B.
nach Cyankaliumvergiftung, kann der blutige Mageninhalt auffallend roth
oder braunroth erscheinen, was in einer specifischen Wirkung des Giftes
auf den Blutfarbstoff seinen Grund hat.
[Sidenote: Farbe und Reaction.]
Auch andere als durch Blut veranlasste und mitunter eigenthümliche
Verfärbungen des Mageninhaltes können vorkommen, so grüne nach
Vergiftung mit chlorophyllhaltigen Pflanzentheilen (Sabina) oder,
wie wir wiederholt sahen, nach Vergiftungen mit Arsengrün, gelbe,
wenn Laud. liq. Sydenhami, Jod oder chromsaures Kali, blaue, wenn
Kupfervitriol genommen wurde u. s. w. Sie können auch von einem
Farbstoff herrühren, mit welchem das Gift gemengt war, was z. B. bei
Zündhölzchenköpfchen und bei Sublimatpastillen vorkommt.[407]
Die Reaction des Mageninhaltes zu prüfen darf niemals unterlassen
werden, und kann namentlich bei Vergiftungen mit stark sauren oder
stark alkalischen Substanzen eine hohe Bedeutung erlangen. Doch ist
nicht zu übersehen, dass die ursprüngliche Reaction theils durch
gereichte Gegengifte, theils erst nachträglich an der Leiche sich
ändern kann. Von noch höherer Bedeutung sind verdächtige Substanzen,
die im Magen gefunden werden können, so verdächtige Pflanzentheile,
insbesondere aber körnige oder krystallinische Körper, die entweder
im Mageninhalt oder in dem der Magenschleimhaut anhaftenden Schleime
eingebettet sind. Letzterer Befund ergibt sich am häufigsten bei der
Arsenikvergiftung und ist hier besonders in der schweren Löslichkeit
des Arseniks begründet. Der Befund anderer Gifte in Körnchen-
oder Krystallform ist im Ganzen selten, doch fanden wir in einem
Falle Bleizucker, in einem anderen Sublimat in Substanz und in
einem dritten eine Menge Krystalle von Strychninum purum. Grössere
Körner oder Krystalle sind verhältnissmässig leicht aufzufinden,
kleinere müssen mehr mit dem Gefühl, als mit den Augen aufgesucht
werden, ein Verfahren, das uns schon wiederholt, namentlich bei
Arsenikvergiftungen, ausgezeichnete Dienste geleistet hat. Bei sehr
faulen, insbesondere bei exhumirten Leichen finden sich häufig
krystallinische, sandig anzufühlende Niederschläge auf der Magen-
und Darmschleimhaut und auf anderen freien Flächen, welche entweder
aus Tyrosinkrystallen oder aus Tripelphosphaten bestehen und, wie
auch +Auerbach+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XL, pag.
66) angibt, für Arsenikkörnchen gehalten werden können. Unser Museum
bewahrt schöne solche Präparate.
[Sidenote: Magenwand nach Vergiftungen.]
Von den Localbefunden an der +Magenwand+ selbst, sowie an den
übrigen Theilen des Verdauungstractes sind insbesondere diejenigen
wichtig, welche durch Aetzgifte zu Stande kommen. Sie sind zunächst
verschieden, je nachdem die primären oder bereits die secundären
Aetzwirkungen vorliegen. Erstere präsentiren sich in der Regel als
Coagulationsnecrose, als sogenannte graue Verätzung. Die betreffende
Schleimhaut, insbesondere ihr epithelialer Ueberzug, erscheint
weissgrau, getrübt, starrer, wie gekocht. Diese Veränderung ist eine
reine Coagulationserscheinung, zu welcher sich bei jenen Aetzgiften,
denen, wie z. B. der Schwefelsäure, eine starke wasserentziehende
Eigenschaft zukommt, auch die Wirkung dieser hinzugesellt, welche eine
gewisse Brüchigkeit, namentlich der zunächst getroffenen epithelialen
Schichten, erzeugt, während sonst eine Consistenzvermehrung und dadurch
bedingte lederartige Beschaffenheit sich findet. Die Intensität des
Verätzungsbildes hängt zunächst theils von der Natur der ätzenden
Substanz, theils von ihrer Concentration ab. In ersterer Beziehung ist
es bekannt, dass einzelne Säuren viel intensiver ätzen, respective
Eiweiss coaguliren als andere. Von den Mineralsäuren kommt insbesondere
der Schwefel-, Salz- und Salpetersäure eine starke Aetzwirkung zu; auch
unter den organischen Säuren besitzen einzelne eine hohe Aetzkraft,
so die Oxalsäure, insbesondere aber die Carbolsäure, die auffallend
weisse und derbe Schorfe erzeugt. Ebenso ätzt Sublimat und Chlorzink
sehr stark, während Bleizucker, Alkohol, arsenige Säure in dieser
Beziehung ungleich schwächer wirken. Die Intensität des primären
Aetzungsbildes ist keineswegs bei allen corrosiven Giften proportional
der Concentration, sondern nur bei solchen, welche das ausgeschiedene
Eiweiss im Ueberschuss des Fällungsmittels nicht lösen. Bei anderen
aber, die dies thun, kann die weissgraue Färbung bei starker
Concentration der Substanz viel schwächer sich gestalten als nach
Einwirkung diluirter Säure und sogar einer Aufhellung des Gewebes Platz
machen. In exquisiter Weise sieht man dieses bei der Schwefelsäure.
Träufelt man nämlich dieselbe im concentrirten Zustande auf eine
Schleimhaut, so wird die getroffene Stelle aufgehellt und transparent,
ähnlich wie dieses z. B. die Aetzlaugen thun und nur an den Rändern,
wo sie durch den Wassergehalt des Gewebes sich verdünnt, bemerkt man
weissgraue Verätzungen. Begiesst man aber die betroffene Stelle mit
Wasser, so erscheint sofort das typische Verätzungsbild, indem die
von der concentrirten Schwefelsäure gelösten Eiweisskörper durch den
Wasserzusatz wieder ausgefällt werden.
[Sidenote: Verätzung.]
[Sidenote: Primäre und secundäre Aetzwirkung.]
Aetzgifte, welche die Eiweisskörper nicht coaguliren, sondern im
Gegentheil lösen, also die Aetzalkalien (Kali- und Natronlauge,
Ammoniak), können natürlich keine Coagulationsnecrose, respective
die geschilderte graue Verätzung und wie gekochte Beschaffenheit als
primäre Wirkung bedingen, sondern nur eine Quellung und Vermehrung
der Transparenz des getroffenen Gewebes, dagegen können allerdings
die auf diese Art mortificirten Gewebe nachträglich sich trüben und
so ebenfalls das Bild der grauen Verätzung bieten, wenn die durch das
Alkali in Lösung erhaltenen Eiweisskörper wieder ausgefällt werden, was
schon durch Neutralisation oder schwache Ansäuerung geschieht.
Die secundären Erscheinungen, welche an und neben den verätzten Stellen
eintreten, sind theils durch den nachträglich fortdauernden Contact der
ätzenden Flüssigkeit, theils durch reactive Entzündung bedingt. Erstere
werden begreiflicherweise besonders im Magen sich entwickeln.
Längerer Contact der corrosiven Flüssigkeit mit einer bestimmten
Schleimhautpartie beeinflusst, abgesehen von den gleich zu
besprechenden secundären Wirkungen, auch die Intensität des primären
Verätzungsbildes. Zunächst die Tiefe der Aetzung. An Stellen, über
welche, wie z. B. in den Schlingorganen, das Gift rasch hinweggleitet,
ist auch die Verätzung eine oberflächlichere als an solchen, wo
dasselbe durch einige Zeit verweilt, weil die ätzende Flüssigkeit im
letzteren Falle in die tieferen Gewebsschichten sich imbibirt. Bei
jenen Aetzgiften, welche die Eiweisskörper nur fällen, nimmt natürlich
die Intensität der grauen Verätzung mit der Dauer der Einwirkung der
Substanz zu bis zur Erschöpfung der Aetzkraft der letzteren; bei
denjenigen, welche im Ueberschuss die ursprünglichen Eiweissfällungen
wieder lösen, kann durch längere Einwirkung eine mehr weniger starke
Wiederaufhellung und selbst Transparenz des Gewebes erfolgen, was
namentlich bei der Oxalsäurevergiftung verhältnissmässig häufig zu
geschehen scheint.
Im weiteren Verlaufe kann es durch die überschüssige Aetzflüssigkeit
zu einem Zerfall der gebildeten Aetzschorfe kommen, namentlich bei
Einwirkung von Schwefelsäure, welche, wie von +A. Lesser+[408] ganz
richtig hervorgehoben wurde, weniger durch Zerfall der Gewebselemente,
die in den Schorfen noch nachweisbar sind, als vielmehr durch Auflösung
der Bindesubstanz erfolgt, eine Eigenschaft der (concentrirten)
Schwefelsäure, die bekanntlich in der Mikroskopie schon lange zur
Isolirung von Hornzellen und glatten Muskelfasern benützt wird. Dieser
Zerfall kann für sich allein zum vollständigen Durchbruch der Magenwand
führen, in anderen Fällen ist die Ursache des raschen Zerfalls der
einzelnen geätzten Gewebsschichten die durch die Wasserentziehung
bewirkte Brüchigkeit der Magenwand, die namentlich bei Einwirkung
sehr concentrirter Schwefelsäure eine sehr hochgradige werden kann,
in wieder anderen und vielleicht den meisten werden die necrotischen
Partien einfach verdaut. Letzteres ist deshalb in der Regel möglich,
weil nur ausnahmsweise die ganze Magenschleimhaut verätzt wird, sondern
in der Regel grössere oder geringere Partien intact oder wenigstens
minder lädirt bleiben, insbesondere die Vertiefungen zwischen den
Falten und die etwa durch Mageninhalt geschützt gewesenen Stellen.[409]
Die weiteren Veränderungen, welche überschüssige Aetzgifte im Magen
ausüben, hängen zunächst von der Wirkung ab, welche der betreffenden
Flüssigkeit auf das Blut zukommt, und in dieser liegt die Hauptursache
einestheils der Verschiedenheit des anatomischen Befundes im Magen
bei verschiedenen Vergiftungen mit ätzenden Substanzen, anderseits
der Grund, warum gewisse chemisch differente, ja sogar, wie z. B.
die Säuren und die Aetzalkalien, einander entgegengesetzte Aetzgifte
Befunde im Magen erzeugen, die wenigstens für den ersten Anblick
einander ähnlich sind. In dieser Beziehung kann man zwei Hauptgruppen
der Aetzgifte unterscheiden, die eine, deren Glieder das Blut einfach
ohne Farbstoffentziehung coaguliren, wobei sich meist rothe oder
braunrothe Gerinnsel bilden, die andere, deren Glieder mit oder ohne
vorausgegangene Coagulation den Blutkörperchen den Blutfarbstoff
entziehen, gewissermassen auslaugen und gleichzeitig in Hämatin
in saurer, respective alkalischer, in der Regel schwarzer oder
schwarzbrauner Lösung verwandeln. Zu den ersteren gehört vorzugsweise
die Carbolsäure, das Sublimat, Bleizucker und der absolute Alkohol, zur
zweiten Gruppe die käuflichen Mineralsäuren, von den Pflanzensäuren
insbesondere die Oxalsäure und von den Alkalien insbesondere die
Aetzlaugen und Ammoniak. Bei den Giften der ersten Kategorie erhält
sich das primäre Verätzungsbild verhältnissmässig lange und ist,
insbesondere in acuten Fällen, noch zur Zeit der Obduction deutlich
ausgeprägt. Bei den Giften zweiter Kategorie gestaltet sich die Sache
wesentlich anders. Da nämlich die Auslaugung des Blutes gleich nach
erfolgter Verätzung beginnt, und desto rascher vorschreitet, je
concentrirter die corrosive Flüssigkeit ist, und je grössere Mengen
im Magen zurückbleiben, und da überdies diese Auslaugung nicht blos
das durch die Corrosion ausgetretene, sondern auch das innerhalb der
Gefässe der verätzten Partien zurückgebliebene Blut betrifft, so geht
auch frühzeitig die ursprüngliche weissgraue Farbe der verätzten
Gewebsschichten, wenn sie überhaupt vorhanden war, verloren und
letztere erhalten die Farbe und das sonstige Aussehen, wie es der
Imbibition derselben mit der betreffenden Hämatinlösung entspricht.
Dem entsprechend erscheinen auch die verätzten Partien braun bis
schwarz in verschiedenen Nuancen gefärbt, und es ist insbesondere
die „wie verkohlte“ Farbe der Schorfe, der wir nach Schwefelsäure-
oder Salzsäurevergiftung begegnen, wenn auch nicht ausschliesslich,
so doch vorzüglich durch die Imbibition der verschorften Magenwand
mit Hämatin in saurer Lösung bedingt. Hat die Hämatinlösung in Folge
specifischer Wirkung der corrosiven Substanz eine besondere Farbe,
so kommt diese auch in dem imbibirten Gewebe zur Geltung, was wir
insbesondere häufig bei der typischen Cyankaliumvergiftung sehen,
wo der Mageninhalt und die gequollene Magenwand roth- bis rothbraun
gefärbt, respective imbibirt erscheinen. Von diesen Färbungen sind
diejenigen zu unterscheiden, welche durch directe Färbung der Schorfe
durch gewisse Gifte erzeugt werden, so die Gelbfärbung, wie sie nach
Chromsäurevergiftung und, von Xanthoproteïnsäurebildung herrührend,
durch concentrirte Salpetersäure veranlasst wird.
[Sidenote: Blutveränderung. Durch Aetzgifte bewirkte Localbefunde.]
Eine andere Kategorie von Veränderungen, welche secundär an den
verätzten Partien eintreten, sind reactiver Natur und bestehen zunächst
in reactiver Hyperämie, entzündlicher, respective ödematöser Schwellung
der unter und neben den verschorften Partien gelegenen Gewebe, womit
sich gewöhnlich Ecchymosenbildung verbindet. Von diesen Ecchymosen
sind diejenigen wohl zu unterscheiden, welche durch directe Läsionen
der Gefässe, durch Verätzung bewirkt werden, wie insbesondere die bei
der Schwefelsäurevergiftung, welche bis Walnussgrösse und darüber
erreichen, der Magenwand ein höckeriges Aussehen verleihen und eben
ihrer Grösse wegen nur auf Läsion grösserer Gefässäste zurückgeführt
werden können. Die Brüchigkeit der verätzten Partien, wahrscheinlich
auch die starke Contraction des Magens in Folge des heftigen Reizes
befördert das Zustandekommen solcher Rupturen. Reactive Hyperämie
und Ecchymosenbildung kommen frühzeitig zu Stande, während die
entzündliche Schwellung längere Zeit erfordert. Im weiteren Verlaufe
kommt es zur Abstossung der necrotischen Partien, Geschwürsbildung und
Vernarbung. Nicht gar selten kommt es zu phlegmonösen Entzündungen,
in Folge welcher grosse Partien der Magen-, respective der
Oesophagusschleimhaut, namentlich der letzteren, in Form von Fetzen
oder Röhren abgestossen und ausgebrochen werden können. Noch häufiger
sind croupöse Entzündungen besonders nach blos oberflächlichen
Verätzungen. Insbesondere häufig haben wir sie bei Kindern, welche
Laugenessenz getrunken hatten, im Rachen und am Kehlkopfeingang
beobachtet. Sehr häufig übergreifen solche croupöse Entzündungen auf
die Luftwege und sehr gewöhnlich sind es in beiden Fällen circumscripte
(Aspirations-) Pneumonien, die meist die eigentliche Todesursache
bilden. Auch Croup des Oesophagus und des Magens haben wir nach solchen
Vergiftungen beobachtet, und es kann auch noch, nachdem die verätzte
Schleimhaut abgestossen wurde, auf der blossliegenden Muscularis ein
croupartiger Belag sich bilden.
[Sidenote: Secundäre Aetzwirkungen.]
Die zurückbleibenden Narben können noch nachträglich schwere
Erscheinungen und selbst den Tod veranlassen, insbesondere durch
Stricturen des Oesophagus.[410]
Eine weitere secundäre Wirkung der Aetzgifte besteht in der
Transsudation derselben durch die Wände des Magens und Imbibition in
die ihm anlagernden Organe. Dieselbe erfolgt meist erst postmortal,
kann aber auch, wie sich +Lesser+ durch directe Beobachtung
überzeugte, schon während des Lebens eintreten. Wir werden auf
dieselben bei den einzelnen Giften zurückkommen. In jenen Fällen, wo
als höchster Grad der Aetzwirkung Durchbruch des Magens erfolgt, sei
es noch während des Lebens oder postmortal, tritt der Mageninhalt
frei in die Bauchhöhle aus und kann dort mehr weniger ausgebreitete
Verätzungen, besonders an den abhängigen Stellen, bewirken.
[Sidenote: Irritationserscheinungen.]
Aetzgifte, die wegen starker Verdünnung wenig oder gar nicht mehr
ätzen, können noch mehr weniger heftige Irritationserscheinungen
hervorrufen. Sehr deutlich kann man dies bei Vergiftungen mit
Mineralsäuren im Darm beobachten, wo verhältnissmässig häufig graue
Verätzung sich findet, die, nach abwärts zu an Intensität abnehmend,
allmälig in catarrhalische Schwellung und Röthung und diese wieder
allmälig in die normale Beschaffenheit der Schleimhaut übergeht, ein
Verhalten, das solche, blos durch locale Giftwirkung entstandenen
Veränderungen wesentlich von jenen diffusen entzündlichen Veränderungen
unterscheidet, die erst secundär durch Resorptionswirkung des
Giftes veranlasst werden. Die irritative Wirkung der Aetzgifte ist
keineswegs proportional der Aetzkraft der letzteren, scheint vielmehr
von anderweitigen Eigenschaften der Substanz abzuhängen. So besitzt
z. B. die arsenige Säure bei unbedeutender Aetzkraft eine hochgradige
Irritationsfähigkeit. Auch gibt es Substanzen, die gar nicht ätzen,
aber auf die Schleimhäute eine mehr weniger intensive Reizwirkung
ausüben. Auch scheint zufolge den Beobachtungen +Lesser+’s die
Irritabilität der einzelnen Schleimhäute eine verschiedene zu sein,
insbesondere die der Magenschleimhaut eine grössere als jene der
Schleimhaut des Darmcanals, was sich aus dem grösseren Gefässreichthum
der ersteren ganz wohl begreift.
[Sidenote: Magenerweichung.]
Von den Befunden im Magen, die irrthümlich auf die Einwirkung
irritirender und ätzender Gifte bezogen werden können und
schon wiederholt bezogen wurden, seien hier erwähnt die
durch katarrhalische Processe oder durch Stauungshyperämie
bewirkten Schwellungen und Röthungen der Magenschleimhaut, die
„Verdauungsröthe“, die Injection und Ecchymosirung, wie sie so häufig
gefunden wird; grosse hämorrhagische Erosionen (hämorrhagische
Necrosen), die diphtheritische und die phlegmonöse Magenentzündung,
endlich die an der Leiche durch Imbibition, sowie durch cadaveröse
Verfärbung und Erweichung zu Stande kommenden Veränderungen, von
denen wir insbesondere die sogenannte „Magenerweichung“ hervorheben
wollen, und zwar sowohl die sogenannte weisse oder graue Erweichung,
welche als reine Leichenerscheinung gewöhnlich bei Säuglingen, die
mit vollem Magen gestorben sind, am Magengrunde sich findet und durch
sauere Gährung des Mageninhaltes bedingt wird, als namentlich die
mit Ecchymosen verbundene und wahrscheinlich aus hämorrhagischen
Erosionen hervorgegangene oder wenigstens auf hyperämischer Grundlage
entstandene sogenannte schwarze oder braune Erweichung, welche auch
bei Erwachsenen, insbesondere häufig bei an schweren Hirnkrankheiten
(auch Verletzungen) Gestorbenen sich findet und wahrscheinlich schon
in der Agone sich zu entwickeln beginnt. Beide Formen können auch
in den unteren Abschnitten des Oesophagus vorkommen und beide zum
Durchbruch und Austritt des Mageninhaltes in die Bauch-, respective
in die Brusthöhle führen. In beiden Fällen reagirt der Mageninhalt
stark sauer, bewirkt opake Trübungen der serösen Häute, mit denen er
in Contact kommt und zersetzt auch das Hämoglobin zu Hämatin, woraus
sich bei der „schwarzen Erweichung“ die kaffeesatzartige Farbe der
Ecchymosen, die braune und schwärzliche Imbibition der erweichten
Gewebe und die schwarze Farbe der in ihr befindlichen Gefässnetze
erklärt. Kommt ein solcher, bereits in saurer Gährung begriffener
oder zu dieser geneigter Inhalt in die Lungen, was sowohl in den
letzten Lebensmomenten als erst postmortal geschehen kann, so bewirkt
er in dieser ähnliche Erweichungen. Wir haben solche wie gangränös
aussehende Stellen insbesondere bei Säuglingen gesehen, denen
Milch, Mehlbrei u. dergl. in die Lungen gerathen war. Auch wollen
wir hier bemerken, dass wir bereits wiederholt ähnlich aussehende,
jedoch nach Essig riechende, mitunter mit schwacher opaker Trübung
der Schleimhäute des Halses verbundene Stellen in den Lungen bei
plötzlich Verstorbenen begegneten, denen offenbar Essigsäure als
Belebungsmittel gereicht worden war.
[Sidenote: Allgemeinbefunde nach Vergiftungen.]
Die durch Resorption von giftigen Stoffen veranlassten +anatomischen
Allgemeinbefunde+ betreffen entweder das Blut oder die Gewebe.
Das Blut spielt neben der Lymphe bei der Resorption von Giften die
Hauptrolle, doch scheint ihm bei den meisten Vergiftungen nur die Rolle
eines Trägers des Giftes zuzufallen, ohne dabei selbst wesentlich
verändert zu werden. In einzelnen erleidet es aber auffallende
Veränderungen, von welchen insbesondere jene forensisch wichtig sind,
welche eine Alteration des normalen Verhaltens des Blutfarbstoffes
des (Hämoglobins) bedingen, die sich theils makroskopisch durch
Farbveränderung des Blutes, theils durch geändertes chemisches
(spectrales) Verhalten kundgibt. Hierher gehört die Umwandlung des
Hämoglobins in Kohlenoxydhämoglobin bei Vergiftungen mit Kohlenoxyd,
ferner die mehr weniger ausgedehnte Zersetzung des Blutfarbstoffes zu
Hämatin bei Vergiftung mit Säuren und Alkalien, mit chlorsaurem Kali
etc.
Eine sehr beachtenswerthe, durch Resorption von gewissen Giften
veranlasste Veränderung in den Geweben ist die +körnige und
fettige Degeneration+ derselben. Wir sehen sie vorzugsweise nach
Phosphorvergiftung und dann nach Vergiftung mit Arsenik, aber auch
bei subacuten Vergiftungen mit Säuren und Alkalien und den meisten
metallischen Giften, dann bei fast allen chronischen Vergiftungen, von
denen in erster Reihe die chronische Alkoholvergiftung zu nennen ist.
[Sidenote: Parenchymatöse Degeneration.]
Wir haben hier vorzugsweise die acuten oder subacuten Degenerationen
im Auge. Die körnige Degeneration zeigt sich besonders im Parenchym
drüsiger Organe, namentlich an der Magenschleimhaut, an den Nieren
und an der Leber. Diese Organe präsentiren in den höheren Graden
der körnigen Degeneration ein Bild, welches +Virchow+ sehr treffend
als „trübe Schwellung“ bezeichnet. Die Magenschleimhaut erscheint
etwas geschwellt, die Leber, insbesondere aber die Nieren, etwas
vergrössert, dabei jedoch schlaff und zeigen sich eigenthümlich
getrübt von matter, grauer oder graugelblicher Farbe, die namentlich
an der Schnittfläche auffällt. Unter dem Mikroskope finden sich die
Labdrüsen, beziehungsweise die Leberzellen und die Nierenepithelien
etwas vergrössert, erstere mehr abgerundet und alle mit einer
feinkörnigen Masse erfüllt, deren einzelne Körnchen das Licht stark
brechen und unter dem Mikroskope schwarz erscheinen. Die körnige
Degeneration ist nur eine Vorstufe der fettigen, bei welcher die
Organe noch mehr an Volum zunehmen, immer deutlicher gelb sich
färben, einen fettigen Glanz, sowie etwas teigige Consistenz annehmen
und unter dem Mikroskop eine mehr weniger reichliche Ablagerung von
Fetttröpfchen in den Drüsenzellen zeigen. Doch erhalten die Organe
nicht jenes pralle Aussehen und jene rein gelbe und transparente
Farbe, wie wir sie z. B. bei der einfachen Fettleber so häufig
zu Gesicht bekommen. In den meisten Fällen begegnen wir den
verschiedensten Uebergängen von körniger zu fettiger Degeneration. In
den ersten Stadien der „trüben Schwellung“ löst sich ein Theil der
die Drüsenzellen erfüllenden Körnchen noch in Essigsäure, später
nur in kaustischen Alkalien, sowie in Alkohol, Aether u. dergl.
Anfänglich sind dieselben daher wahrscheinlich albuminöser, später
zweifellos fettiger Natur.
[Sidenote: Körnige und fettige Degeneration.]
Gleichzeitig wie in den genannten Organen stellt sich die körnige und
dann fettige Degeneration noch in anderen Geweben ein, vorzugsweise
in den Muskeln, besonders im Herzen und in den Gefässwandungen. Das
Herz erscheint in den vorgerückteren Graden schlaff, das Herzfleisch
ist leicht zerreisslich, von eigenthümlich trübem Glanz und grauer,
mitunter lehmartiger Farbe, und das Mikroskop zeigt undeutliche
oder ganz unkenntlich gewordene Querstreifung der Muskelfasern
und letztere in verschiedenen Stadien des körnigen und fettigen
Zerfalles, in deren ersten die Muskelfasern wie bestäubt, in den
späteren von deutlichen Fettkügelchen und das Licht stark brechenden
Körnchen durchsetzt erscheinen. Gleiche Veränderungen, jedoch in
verschiedener Intensität, zeigt die Musculatur des Stammes und der
Extremitäten. Was die Gefässe betrifft, so lässt sich die körnige
und fettige Degeneration vorzugsweise an den kleinen Gefässen der
Pia, der Hirnsubstanz, sowie der serösen Membranen gut verfolgen
und sowohl in der Adventitia als in der Muscularis bemerken. Mit
der fettigen Entartung der Gefässwandungen geht eine grössere
Zerreisslichkeit derselben einher, welche die Entstehung von
Ecchymosen und selbst grösserer Hämorrhagien bedingen kann.
Ueber die +Ursachen+ der acuten körnigen und fettigen Degeneration
bei gewissen Vergiftungen ist man noch nicht vollständig im
Klaren, doch neigt man sich gegenwärtig der Ansicht zu, dass jene
Veränderungen eine partielle Mortification der Gewebe, namentlich
des Inhaltes der Drüsenzellen, bedeuten, die theils durch die
unmittelbare Wirkung des Giftes selbst, theils durch behinderte
Sauerstoffzufuhr veranlasst wird.[411] Das Zusammenwirken beider
Factoren bewirkt ein Missverhältniss zwischen Zersetzung der
Eiweisskörper und Verbrennung der Zersetzungsproducte (worunter
vorzugsweise Fett), welches in der fettigen Degeneration einen
eclatanten Ausdruck findet (+Fränkel+).
Daraus folgt schon theoretisch, dass die betreffenden Veränderungen
nicht ausschliesslich nach gewissen Vergiftungen vorkommen, sondern
auch nach anderweitigen Erkrankungen sich entwickeln können,
die mit Vermehrung des Eiweisszerfalles und Herabsetzung der
Oxydationsvorgänge einhergehen. Thatsächlich finden wir die gleichen
Degenerationserscheinungen sowohl bei einer Reihe natürlicher
Todesarten, wovon wir insbesondere die acuten Infectionskrankheiten,
namentlich die exanthematischen, dann die mit allgemeinen
Ernährungsstörungen einhergehenden Krankheiten (Tuberculose,
protrahirte Anämie) anführen, als auch nach gewissen gewaltsamen
Todesfällen, von denen z. B. der Tod in Folge von Brandwunden und
die septischen und pyämischen Processe zu nennen sind.[412] Auch
die Fäulniss bewirkt Veränderungen, die der „trüben Schwellung“
sehr ähnlich sind, da auch durch sie die Organe anfangs succulenter
werden, sich trüben und selbst einen Stich in’s Gelbliche annehmen
und dann sowohl der Zelleninhalt, als die Musculatur mit körnigen
Massen durchsetzt erscheinen, sie selbst zu kleinen Fetttröpfchen
zusammentreten können.
Nach vielen Vergiftungen, namentlich nach solchen mit organischen
Giften, ergibt die Obduction nichts Auffallendes, noch weniger
aber Charakteristisches. Verhältnissmässig häufig ist der Befund
jenem nach Erstickung ähnlich, was sich daraus erklärt, dass viele
der betreffenden Gifte, so z. B. die meisten Alkaloide, sowie die
gasförmigen und flüchtigen Gifte den Tod durch rasche Lähmung des
Respirationsapparates bewirken.
3. Der chemische Nachweis.
Der chemische Nachweis von Gift in Leichentheilen ist nicht Sache des
Gerichtsarztes, sondern des Gerichtschemikers, dagegen ist es Aufgabe
des ersteren, diesem das Materiale für seine Untersuchung zu liefern.
Wie dabei vorzugehen ist, ist aus den oben angeführten Verordnungen zu
ersehen, aus welchen sich ergibt, dass nebst dem Magen- und Darminhalt
auch der Magen und die Speiseröhre mit einem Stück des Darmes, ferner
Stücke der einzelnen Organe, besonders der Leber und der Nieren[413],
sowie Blut und Harn zur Untersuchung zurückgelegt werden sollen. Es
empfiehlt sich und ist auch theilweise vorgeschrieben, die im Magen
gefundenen verdächtigen Substanzen für sich in einem eigenen Gefässe
aufzubewahren, ebenso den Magen und Zwölffingerdarm sammt Inhalt,
geschieden von den eventuell ebenfalls zu übergebenden unteren
Darmpartien und in gleicher Weise die Stücke der übrigen Organe.
Weshalb das Regulativ die besondere Aufbewahrung des Harnes fordert,
ist aus dem oben über die Ausscheidung der Gifte Gesagten ersichtlich.
Eine gesonderte Reservirung des Blutes wird nur dann gefordert, wenn
eine spectral-analytische Untersuchung angezeigt erscheint.
Sowohl das preussische Regulativ als die österreichische Vorschrift
haben vorzugsweise nur die oberen Partien des Darmes im Auge. Die
unteren sollten jedoch auch nicht vernachlässigt werden, namentlich
nicht bei der Phosphorvergiftung, da es uns wiederholt gelungen ist,
im unteren Ileum und im Dickdarm Phosphor nachzuweisen, während
dies im Magen und den oberen Darmpartien nicht mehr möglich war.
Die Behauptung +Scolosuboff+’s (Annal. d’hygiène publ. 1876), dass
bei Arsenikvergiftung die grösste Menge des resorbirten Giftes
im Gehirn und im Rückenmark sich finde und daher bei solchen und
anderweitigen Vergiftungsfällen insbesondere die genannten Organe
dem Gerichtschemiker übergeben werden sollen, muss in Folge der
gründlichen Untersuchungen unseres Collegen Prof. +E. Ludwig+ („Ueber
die Localisation des Arsens im Organismus nach Einverleibung von
arseniger Säure.“ Wiener med. Blätter. 1879, Nr. 48-52) als ganz
unbegründet zurückgewiesen werden. Dagegen ist es bei Vergiftungen
mit flüchtigen Substanzen, z. B. Chloroform, Blausäure, angezeigt,
das Gehirn für sich aufzubewahren und chemisch zu untersuchen,
da aus diesem der knöchernen Kapsel wegen, in welcher das Gehirn
eingeschlossen ist, die genannten Stoffe schwerer verflüchtigen als
aus anderen Organen. So vermochte +E. Ludwig+ bei einem von uns
obducirten Selbstmordfall durch Chloroform dieses noch im Gehirn,
nicht aber in den übrigen Organen nachzuweisen. -- In Fällen, wo die
Vergiftung per rectum, per vaginam etc. geschah, ist es natürlich
geboten, auch diese Organe separirt dem Chemiker zu übergeben. --
Dass, insbesondere bei leicht zersetzbaren Giften, die Uebergabe der
Leichentheile an den Chemiker thunlichst rasch erfolgen und daher von
den Gerichtsärzten betrieben werden soll, ist selbstverständlich.
Zusatz von Alkohol ist nur bei längerem Transport und zu
befürchtender rapider Fäulniss (die auch die Gefässe sprengen kann)
indicirt; in diesem Falle ist aber stets die Beigabe einer Probe des
betreffenden Alkohols angezeigt.
Von Wichtigkeit, was auch den Kostenpunkt anbelangt, ist es, dass
dem Chemiker von Seite der Gerichtsärzte im Einverständnisse mit
dem Untersuchungsgericht eine Information über den concreten Fall
und über die vom chemischen Standpunkte erforderlichen Aufklärungen
gegeben werde, damit derselbe einestheils nicht überflüssige
Untersuchungen anstellt und andererseits nicht allzu summarisch
verfährt, so dass z. B. wohl ein Giftstoff nachgewiesen, aber
nicht auf dessen quantitative Bestimmungen und auf die Vertheilung
desselben in den verschiedenen Organen Rücksicht genommen wird.
[Sidenote: Chemische Untersuchung der Leichentheile.]
Das Resultat der chemischen Untersuchung der Leichentheile kann
entweder positiv oder negativ ausfallen, d. h. es wird entweder
wirklich eine als giftig bekannte Substanz nachgewiesen oder es wird
nichts gefunden.
Der +positive Ausfall+ der chemischen Untersuchung ist natürlich
von höchster Bedeutung und in der Regel für sich allein im Stande, den
Thatbestand der Vergiftung ausser Zweifel zu stellen. Doch sind in
jedem einzelnen Falle jene Möglichkeiten zu erwägen, durch welche die
betreffende Substanz auch ohne Vergiftung, entweder noch während des
Lebens oder erst nach dem Tode in die Leiche gelangt sein konnte.
In ersterer Beziehung wurde von +Devergie+ und +Orfila+ behauptet,
dass kleine Mengen Arsen normal im menschlichen Körper, namentlich in
den Knochen, vorkommen. Diese Behauptung ist in so weiter Fassung
gewiss unrichtig, doch dürften bei der allgemeinen Verbreitung der
Arsenikalien, insbesondere der arsenhältigen, auch zur Färbung von
Nahrungs- und Genussmitteln benützten Farben, Spuren von Arsen im
menschlichen Körper nicht besonders selten sein. Ungleich häufiger
scheinen, besonders bei älteren Leuten, Spuren von Kupfer, Zink und von
Blei vorzukommen, was bei der grossen Verbreitung dieser Metalle nicht
verwundern kann.
[Sidenote: Durch Medicamente in den Körper gelangte Gifte.]
Von grösserem Gewicht ist der Umstand, dass giftige Stoffe, weil sie
als Medicamente genommen oder als Antiseptica angewendet wurden, im
Organismus gefunden werden können. Auf diese Weise kann Arsen, das
namentlich als Tinctura Fowlerii häufig gegeben wird und in manchen
Mineralwässern (Roncegno, Levico, Guberquelle) in grösserer Menge
enthalten ist, ebenso Antimon, Sublimat und metallisches Quecksilber,
Blei, und von Alkaloiden besonders das so häufig gebrauchte Morphium
in den Körper gelangen und dann bei der chemischen Untersuchung darin
gefunden werden. Es handelt sich dabei nicht immer blos um kleine
Mengen, da die betreffenden Medicamente häufig durch längere Zeit
genommen werden und da man bei einzelnen mit der Dosis steigt und
nicht selten so weit kommen kann, dass die schliesslich zur Anwendung
kommenden Dosen die Dosis toxica letalis weit übersteigen, wie wir dies
vom Arsen und vom Morphium bereits erwähnt haben.
In einem unserer Fälle hatte ein in Folge Nierenschrumpfung an
hochgradiger Herzhypertrophie leidendes, sehr fettes Individuum kurz
vor seinem Tode Tart. stib. genommen, welches ihm von einem Arzte als
Brechmittel gegeben worden war. Dieser wurde sowohl im Magen als in
den Gedärmen und in der Leber nachgewiesen. Bei einem mit Emphysem
und chronischem Bronchialcatarrh behafteten und an Herzverfettung
verstorbenen Fiaker zeigte die Magenschleimhaut orangenrothe
Streifen einer pulverigen Substanz, welche sich als Sulf. aur.
antim., dem Bestandtheil eines kurz vor dem Tode vorgenommenen
Hustenpulvers, erwies. In drei anderen Fällen, in deren einem bei
der Section Strictur der Harnröhre, Cystitis und Pyelitis, in dem
anderen Tuberculose und im dritten Herzverfettung sich fand, wurde
auch Morphium im Mageninhalt und in den Leichentheilen gefunden, da
dasselbe von allen drei Kranken durch längere Zeit, und zwar von
dem einen in subcutaner Injection, von den anderen in Pulverform
gebraucht worden war. Nur in dem einen der drei Fälle (Tuberculose)
konnte eine Vergiftung mit Morphium angenommen werden, da das
Individuum unter entschiedener und länger dauernder Narcose gestorben
war, bei den zwei anderen aber musste dies mit Rücksicht darauf,
dass der rasche Tod auch durch die bei der Section nachgewiesene
Erkrankung bewirkt worden sein konnte, unentschieden gelassen werden.
Da bei allen dreien auch der Verdacht eines Selbstmordes bestand,
so erklärten wir, dass, um sich in dieser Beziehung aussprechen zu
können, einestheils die Menge des in den Leichentheilen vorhandenen
Giftes, andererseits aber auch die Dosis bekannt sein müsste, bis
zu welcher die Betreffenden bereits mit dem Morphium gekommen
waren. Leider konnten weder nach der einen, noch nach der anderen
Richtung sichere Anhaltspunkte gewonnen werden. +Bourneville+
und +Yvon+ (Med. Centralbl. 1875, pag. 830) fanden in der Leber
einer ohne Erfolg mit Kupferoxydammoniak behandelten epileptischen
Person die enorme Quantität von 0·295 Grm. Kupfer, dagegen in der
Leber von zwei Individuen, die sich mit Kupfersalzen vergiftet
hatten, blos 80, respective 120 Mgrm.
[Sidenote: Durch habituellen Genuss etc. in den Körper gelangte Gifte.]
Käme die erwähnte Möglichkeit in Frage, so müsste auf die
quantitative Bestimmung des in der Leiche gefundenen Giftes
einerseits und die Anamnese anderseits besonderes Gewicht gelegt
werden. Letztere hätte sich auf die Natur des Leidens, gegen welches
das Medicament gebraucht wurde, zu beziehen; ferner darauf, wie lange
die Anwendung schon dauerte, insbesondere aber darauf, zu welcher
Dosis der Betreffende bereits gekommen war. Ausserdem dürfte die
grössere oder geringere Schnelligkeit, mit welcher das Gift aus dem
Körper ausgeschieden wird, nicht ausser Acht gelassen werden, da
bei acuten Intoxicationen mit Giften, die erfahrungsgemäss rasch
eliminirt werden, die Menge des in der Leiche gefundenen Giftes mit
grösster Wahrscheinlichkeit, ja mit Bestimmtheit die Dosis gibt,
die kurz vor dem Tode genommen wurde, während, wenn Gifte gefunden
wurden, die schwer den Organismus verlassen, die nachgewiesene Menge
nicht blos von den zuletzt genommenen, sondern auch von den bereits
früher einverleibten, aber nicht ausgeschiedenen Dosen herrühren
kann. Die Leiche selbst kann insoferne einen Anhaltspunkt für die
Entscheidung liefern, als sie krankhafte Befunde ergibt, gegen welche
erfahrungsgemäss häufig bestimmte gifthältige Medicamente angewendet
werden, z. B. Syphilis, ebenso wenn sich Zeichen subcutaner Anwendung
von Medicamenten finden, wie dies bei dem oben erwähnten Individuum
der Fall war, bei welchem an den Armen und selbst an der Brust
zahlreiche, theils geheilte, theils in Heilung begriffene, theils
frische, feine Stichwunden constatirt wurden, wie sie nach subcutanen
Injectionen zurückbleiben.
Eine andere zu erwägende Möglichkeit ist die, dass das Gift dadurch,
dass der Verstorbene in Folge seines Geschäftes, Gewerbes etc. damit
zu thun hatte, in den Körper desselben hineingelangt sein konnte.
Diese Möglichkeit wäre bei Berg- und Hüttenarbeitern, bei Arbeitern
in chemischen, Farbwaaren- oder in Spiegelfabriken[414] und bei
zahlreichen Handwerken, Gewerben, die mit Gift zu thun haben, in
Betracht zu ziehen und auf die Anamnese und die oben angeführten
Momente Rücksicht zu nehmen. Gleiches hätte zu geschehen gegenüber
Arsenessern, Opiophagen etc., obwohl an derartige Möglichkeiten nur
unter besonderen Umständen gedacht werden könnte. In allen solchen
Fällen ist nicht blos die Menge des in der Leiche gefundenen Giftes,
soweit sie sichergestellt werden kann, sondern auch das Verhältniss
der Menge des nicht resorbirten, respective des im Magen und Darm
befindlichen Giftes zu der in den übrigen Organen nachweisbaren zu
constatiren, da im Allgemeinen anzunehmen ist, dass bei chronischen
Vergiftungen die letzteren, in acuten Fällen die ersteren prävaliren
werden, woraus, sowie auch aus anderen bereits angedeuteten Gründen
sich die Zweckmässigkeit der Forderung ergibt, dass die zur chemischen
Untersuchung zurückgelegten Objecte +separirt+ in Gefässe gegeben
werden sollen.
Bei Beurtheilung und diagnostischer Verwerthung des Umstandes, ob und
wieviel von einem Gifte bereits in die sogenannten zweiten Wege und
wie weit dasselbe gelangt ist, ist die Erwägung wichtig, dass bei
älteren, namentlich bei exhumirten Leichen, sowohl vom Magen als von
anderen Stellen aus das gelöste Gift diffundiren und mitunter auf
weite Strecken sich verbreiten kann, und zwar in weit ausgedehnterer
Weise, als wir dies bereits bei den ätzenden Giften (pag. 636),
kennen gelernt haben. Es ist das Verdienst von +Torsellini+ (1889),
+Prescot+ und +Reese+ (+Virchow+’s Jahrb. 1890, I, pag. 498), diesen
Vorgang experimentell constatirt zu haben, indem sie Arsenik, Sublimat,
Brechweinstein, welche sie todten Thieren mit einem Schlundrohr in
den Magen injicirten, nach 3-7 Wochen in den Lungen, im Herzen, in
Milz, Nieren und in der Harnblase nachweisen konnten. +Strassmann+
hat mit +Kirstein+ (Zeitschr. f. Medicinalbeamte, 1893, pag. 191, und
+Virchow+’s Arch. 1894, CXXXVI, pag. 127) diese Angaben nachgeprüft
und namentlich bezüglich des Arseniks bestätigt gefunden, der nach
postmortaler Einführung in den Magen nach einigen, sicher nach 12 Tagen
in den sogenannten zweiten Wegen nachgewiesen werden konnte, ebenso in
unserem Institute +Haberda+ und +Wachholz+ (Zeitschr. f. Medicinalb.,
1893, pag. 393) bezüglich Arsen, Antimon, Sublimat, Cuprum sulfuricum,
Nitrobenzol und wahrscheinlich Kali chloricum. Die Diffusion geht
durchaus stetig centrifugal vorwärts und folgt vorzugsweise den
Gesetzen der Schwere. Zur Unterscheidung einer solchen postmortalen
Imbibition von einer vitalen Resorption empfiehlt +Strassmann+ die
getrennte Untersuchung der paarigen Organe, insbesondere der Nieren auf
ihren Giftgehalt.
[Sidenote: Postmortale Diffusion von Giften. Verpackung.]
Dem Einwurf, dass die von dem Chemiker gefundene giftige Substanz erst
+an der Leiche+ hineingerathen sein konnte, ist zunächst durch correcte
Verpackung der Leichentheile zu begegnen, die in der Weise zu geschehen
hat, dass weder von Aussen etwas zu den betreffenden Objecten gelangen,
noch von diesen etwas verloren gehen kann. Man sollte principiell
nur gläserne Gefässe mit eingeriebenen Glasstöpseln benützen, die
gegenwärtig leicht zu haben sind und allen Anforderungen entsprechen.
Im Nothfall sind gut gereinigte Glasflaschen und neue Korkstöpsel zu
benützen. Zweckmässig ist das Ueberbinden des Stöpsels und Halses des
betreffenden Gefässes mit Schweinsblase (auch Pergamentpapier), wie es
die österr. Vorschrift verlangt. Darüber ist dann Papier zu binden und
auf diesem der Inhalt des Gefässes zu signiren. Sache des Chemikers
aber ist es, dafür zu sorgen, dass nur vollkommen reine und als
solche geprüfte Reagentien zur Verwendung kommen, eine Vorsicht, die
namentlich bei Untersuchungen auf Arsen nicht genug strenge zu beachten
ist.
Stammen die zu untersuchenden Objecte von einer exhumirten Leiche,
so ist auch die Möglichkeit zu erwägen, dass erst im Grabe eine
giftige Substanz in die Leichentheile hineingelangt sein konnte.[415]
Es ist zunächst daran zu denken, dass den Leichen verschiedene
mit metallischen Farben gefärbte Dinge, wie künstliche Blumen und
Blätter, Heiligenbilder, sowie metallische Gegenstände, insbesondere
Kreuze, in’s Grab mitgegeben werden, dass häufig der Sarg metallische
Verzierungen zu besitzen pflegt, und dass auch der Anstrich des
Sarges mit metallischen Farben geschehen sein konnte. So lange
Leiche und Sarg, sowie die mitgegebenen Dinge noch wohl erhalten
sind, ist nicht anzunehmen, dass von letzteren aus giftige Stoffe in
die Leiche gekommen sein konnten. Je weiter jedoch die Fäulniss und
Verwesung der Leiche und damit auch die Zerstörung des Sarges und der
mitgegebenen Dinge vorwärts schreitet, desto eher ist es möglich, dass
die exhumirten Leichentheile aus dieser Quelle giftige Substanzen
enthalten können. Man kann sich dieser Thatsache gegenüber nicht
verschliessen, wenn auch zugegeben werden muss, dass grössere Mengen
von Gift nicht wohl auf diese Art in das Innere der verwesenden Leiche
gelangen, und dass es eher denkbar ist, dass nur local, d. h. dort,
wo ein metallischer oder mit metallischen Farben gefärbter Gegenstand
zu liegen kam, von diesem aus der giftige Körper in die Leichentheile
gelangt sein konnte.
+Schauenstein+ (l. c. pag. 547) fand im Inneren einer schmierigen
Masse, die aus der Magengegend einer nach 7 Jahren exhumirten Leiche
entnommen war, einen zerfressenen Messingknopf und die umgebenden
Partien der erwähnten Masse enthielten deutliche Mengen von Kupfer
und Zink, ausserdem aber auch, sowie die entfernteren Organe, Spuren
von Arsen, welches in dem Knopfe allein nicht nachgewiesen werden
konnte. +Tardieu+ und +Roussin+ (l. c. pag. 78) fanden in einem
Falle eine kupferige Auflagerung an der Magenschleimhaut, die von
einer Nadel herrührte, die nach der Section dort zurückgelassen
worden war, und jener merkwürdige Fall +Casper+’s (l. c. II, 436),
in welchem bei einer nach 11 Jahren ausgegrabenen Frau +nur in den
Kopfhaaren+ Arsen gefunden wurde, lässt sich kaum anders erklären,
als durch die Annahme, dass arsenikhältige Gegenstände (Blumen,
Nadeln etc.) in den Haaren staken, als die Leiche in’s Grab gelegt
worden ist, wie dieses auch in einem von +Ludwig+ und +Mauthner+ (Wr.
med. Bl. 1884, Nr. 1) mitgetheilten Falle nachgewiesen wurde, wo der
Arsengehalt der Kopfhaut einer exhumirten Leiche von einem Kranz von
künstlichen Blumen herrührte. Derartige Möglichkeiten zeigen wieder,
wie nothwendig es ist, auch bei Exhumationen verschiedene Theile
der Leiche zur chemischen Untersuchung zu übergeben und separirt
zu verpacken, wie sie uns auch auffordern, bei Exhumationen nicht
blos der Leiche selbst, sondern auch den Resten der ihr mitgegebenen
Gegenstände ein besonderes Augenmerk zu schenken und alle derartigen
Funde sowohl aufzubewahren, als in ihrer Lage und Beschaffenheit
genau zu Protokoll zu bringen.
[Sidenote: Exhumation.]
[Sidenote: Zufällig in die Erde gelangte Gifte. Arsenhältige Erde.]
Auch der Möglichkeit, dass das Erdreich des betreffenden
Begräbnissplatzes giftige Metalle, insbesondere Arsen, enthalten kann,
welche dann in die lange in solcher Erde liegende Leiche gelangt
sein konnten, ist Rechnung zu tragen. Dass das Erdreich einzelner
Kirchhöfe Arsen enthält, ist eine vielfach constatirte Thatsache.
Zufolge der Untersuchungen +Sonnenschein+’s[416] kann dasselbe schon
primär im Boden enthalten sein und von arsenhältigem Eisenoxyd
herrühren, welches wieder grösstentheils aus verwittertem Schwefelkies
entsteht, der in der Regel Arsen zu enthalten pflegt. In anderen
Fällen stammt der Arsenik noch von der Benützung des betreffenden
Platzes als Feld, dem dieser und andere metallische Substanzen durch
gegen Feldmäuse gestreutes Gift, oder wie wir hinzufügen, durch den
(insbesondere aus den Aborten und Mistgruben der Städte stammenden)
Dünger zugeführt worden sein konnten, während in wieder anderen der
Arsenikgehalt von den Dämpfen benachbarter Sodafabriken stammt, die
durch den herrschenden Wind über den betreffenden Friedhof geführt
und dort niedergeschlagen wurden.[417] Die Bedeutung dieser Thatsache
wird dadurch sehr abgeschwächt, dass zufolge der Untersuchungen
+Orfila+’s und +Sonnenschein+’s der Arsenik im Boden nur in im Wasser
unlöslichen Verbindungen vorkommt und auch, wenn er als solcher in
das Erdreich gelangt, mit Thonerde, Kalk, Eisenoxyd etc. im Wasser
unlösliche Verbindungen eingeht, was schon in den obersten Schichten
des betreffenden Bodens geschieht, aus welchen beiden Umständen sich
begreift, warum selbst bei Leichen, die thatsächlich durch 6-16
Monate in arsenikhältiger Friedhoferde gelegen waren, doch kein
Arsenik aufgefunden werden konnte (siehe +Sonnenschein+, l. c. 146,
und +Mayet+, Annal. d’hygiène publ. 1879, pag. 148). +Ludwig+ und
+Mauthner+ (Wiener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 36) fordern, dass in
jedem Fall geprüft werden soll, ob das in der Friedhoferde enthaltene
Arsen mit gewöhnlichem oder mit ammoniakalischem Wasser ausgezogen
werden kann. Es ist daher bei jeder Exhumation dafür Sorge zu tragen,
dass sowohl von dem den Sarg umgebenden Erdreich, als von dem an
entfernteren Stellen des Friedhofes, Proben zur chemischen Untersuchung
zurückgelegt werden, ersteres schon deshalb, weil es möglich und leicht
begreiflich ist, dass bei der colliquativen Fäulniss mit den aus der
Leiche austretenden Flüssigkeiten auch darin gelöste Giftstoffe in
das umgebende Erdreich sich imbibiren und darin zurückbehalten werden
können. Aus gleichem Grunde sind auch Stücke vom Sargholz, insbesondere
von den abwärtigen Theilen desselben, für die chemische Untersuchung zu
reserviren.
Der §. 109 der österreichischen Vorschrift für die gerichtliche
Todtenbeschau bestimmt hierüber wie folgt: Ist wegen Verdacht einer
Vergiftung eine bereits beerdigte Leiche zu exhumiren, so soll bei
der Exhumation wenigstens einer der Chemiker, welche die chemische
Untersuchung der Leiche vornehmen werden, gegenwärtig sein. Es
wird dabei zu bestimmen sein, ob die Reinigung des Cadavers mit
Bleichkalklösung zulässig ist, oder ob diese Desinfectionsart die
Auffindung des Giftes unmöglich machen würde. -- Handelt es sich
um die Ausmittlung einer Vergiftung entweder mit Arsenik, oder mit
Blei oder mit Kupfer, so sind, insbesondere bei der erstgenannten,
vorzüglich solche Körpertheile zur chemischen Untersuchung zu
wählen, welche mit der die Leiche umgebenden Graberde am wenigsten
in Berührung kamen. -- Ueberdies aber muss immer sowohl von der
den Leichnam zunächst umgebenden, als auch von der entfernteren
Graberde, sowie von der Erde an anderen Stellen des Friedhofes etwas
mitgenommen und chemisch untersucht werden. Auch von dem Sargholze,
vorzüglich von jenen Stellen, wo man bemerkt, dass eine grössere
Ansammlung von Feuchtigkeit stattgefunden habe, sollen Stücke
gesammelt und chemisch untersucht werden.
[Sidenote: Negativer chem. Befund. Widerstandsfähigkeit d. Gifte gegen
Fäulniss.]
Ergibt die chemische Untersuchung ein +negatives Resultat+, so ist
damit der Vergiftungstod keineswegs ausgeschlossen. Es gibt zunächst
eine Reihe von Giften, die die Chemie gegenwärtig nachzuweisen noch
nicht im Stande ist, z. B. die meisten thierischen und Pflanzengifte,
weiter kann aber der Nachweis misslingen, weil das Gift bereits wieder
ausgeschieden oder zersetzt worden ist. Ersteres geschieht schon zum
grossen Theile durch das meist eintretende Erbrechen, sowie durch die
Stuhlgänge, später aber durch den Harn und andere Excrete und desto
vollständiger, je diffusibler das Gift gewesen war und je länger der
Betreffende gelebt hatte. Die vollständige Ausscheidung des Giftes
hindert nicht das Eintreten des Todes, da das Individuum zunächst nicht
an Gift, sondern an den Veränderungen und Functionsstörungen in den
Organen stirbt, die dasselbe veranlasst und die die Elimination des
Giftes sehr wohl überdauern können, wie z. B. die Kohlenoxydvergiftung
zeigt, die sehr häufig den Tod bedingt, obgleich der Betreffende noch
lebend aus der giftigen Atmosphäre gebracht wurde und hierauf, wie die
Spectralanalyse ergibt, sämmtliches Kohlenoxyd bereits aus dem Blute
verschwunden war. Ueber die Veränderungen, die Gifte im Organismus
erleiden und wodurch sie unkenntlich gemacht werden können, wurde
bereits oben bei der Art der Elimination von Giften aus dem Körper
gesprochen.
Bezüglich der Fäulniss ist bekannt, dass mineralische Gifte derselben
in dem Grade widerstehen, dass sie, wenn die Leiche selbst bis auf die
Knochen verwest ist, noch nachgewiesen werden können und thatsächlich
nachgewiesen wurden. Aber auch viele Alkaloide zeigen einen grossen
Widerstand gegen Fäulniss. So fand +Stas+ Morphin in allen Theilen
einer Leiche, die seit 13 Monaten begraben war, und ebenso konnte
+A. Taylor+ meconsaures Morphin, welches fäulnissfähigen Substanzen
zugefügt war, die dann 14 Monate dem Luftzutritt ausgesetzt blieben,
wieder auffinden. Strychnin konnte +Tardieu+ („Die Vergiftungen“, pag.
533) in den faulenden Eingeweiden eines Stieres noch nach 11 Jahren
nachweisen und +E. Heintz+[418] bestätigt die grosse Dauerhaftigkeit
des salpetersauren Strychnins, da es ihm gelang, aus einem Stücke
Fleisch, in welches einige Krystalle davon gelegt wurden, das Gift
noch nach 3 Jahren darzustellen. Dagegen waren Jos. +Ranke+, +L. A.
Buchner+, +Wislicenus+ und +Gorup+-+Besanez+ nicht im Stande, bei
mit 0·1 Grm. salpetersaurem Strychnin vergifteten Hunden das Gift
nachzuweisen, wenn die Thiere 100, 130, 200 bis 300 Tage in der Erde
gelegen waren. +Ipsen+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VII,
1) ist der Meinung, dass das Gift einfach mit den Fäulnissflüssigkeiten
aus den Objecten durch Diffusion verschwunden war, da es ihm bei
Beachtung dieses Vorganges (siehe oben pag. 636 und 644) gelang, das
Strychnin selbst nach jahrelanger Verwesung in Thier- und Kinderleichen
nachzuweisen. +Pellacani+ (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 530 und 1888, I,
479) konnte Physostigmin, Atropin, Pilocarpin und Daturin, welche er
mit Blut faulen liess, noch nach 7, Picrotoxin, Veratrin, Santonin,
Codein und Gurarin noch nach 4 Monaten nachweisen, nicht aber
Digitalin. +Severi+ (ibid. 1888, I, 480) konnte sogar Chloroform bei
einem damit vergifteten und durch 103 Tage begrabenen Hunde noch in den
Leichentheilen nachweisen. Ueber die Nachweisbarkeit der Blausäure und
des Phosphors längere Zeit nach dem Tode werden wir später sprechen.
[Sidenote: Physiologischer Versuch.]
Für jene Fälle, in denen es nicht gelang, in der Leiche eine giftige
Substanz chemisch nachzuweisen und dennoch der Verdacht einer
stattgehabten Vergiftung besteht, empfahlen +Tardieu+ und vor ihm
schon +Orfila+, +Magendie+ und +Christison+ die Vornahme eines
+physiologischen Versuches+ an Thieren, und zwar letztere mit dem
Mageninhalt als solchem, +Tardieu+ aber mit den aus dem Mageninhalt
oder aus den Leichentheilen gewonnenen Extracten. Es ist solchen
Versuchen ein unterstützender Werth nicht abzustreiten, ebensowenig
wie dem nicht selten vorkommenden Umstande, dass Thiere (Hühner,
Hunde, Schweine etc.), die von dem von einem plötzlich erkrankten
Individuum Erbrochenen oder von den betreffenden weggeschütteten
Speisen genossen hatten, zu Grunde gingen. Ein solcher Werth kommt
aber dem physiologischen Experimente nur dann zu, wenn die durch
die Chemie aus den Organen extrahirte Substanz wenigstens einige
chemische Eigenschaften zeigt, die diese als eine von aussen in den
Körper hineingelangte und bekannten Giftstoffen analoge erkennen
lassen, und die betreffenden Reactionen, nicht weil sie vollständig
fehlen, sondern weil sie nicht ganz ausgesprochene Resultate liefern,
einer Ergänzung bedürfen. So kann die durch den physiologischen
Versuch constatirte, blasenziehende oder pupillenerweiternde oder
die Herzaction verlangsamende oder die tetanisirende Wirkung einer
Substanz jedenfalls ungemein viel dazu beitragen, um die Natur
des betreffenden Giftes sicherzustellen, doch ist hierbei die
verschiedene Empfindlichkeit und selbst Immunität einzelner Thiere
gegen gewisse Gifte wohl zu beachten. So berechnet +F. A. Falk+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1874, XX) die niedrigste letale
Dosis von Strychnin auf ein Kilo Thier bei der Ringelnatter mit
23·1, beim Weissfisch mit 12·5, beim Igel mit 2·97, beim Frosch
mit 2·1, beim Hahn mit 2·0, bei der Katze mit 0·75, beim Kaninchen
mit 0·6 und beim Hund schon mit 0·45 Mgrm. Besonders empfindlich
gegen Strychnin sind junge weisse Mäuse, die nach +Falk+ (ibidem.
XLI, 345) noch nach 0·002 Strychninnitrat das charakteristische
Muskelschwirren zeigen. Tauben sind gegen Solanin sehr empfindlich,
während sie gegen Opium, Morphium und Atropin immun sich zeigen (Th.
+Husemann+, Arch. f. experim. Path. IV, 313). Igel, sowie Hühner und
Frösche fressen Canthariden ohne Schaden, ebenso Drosseln und Amseln
Belladonnabeeren und Kaninchen Belladonna- und Tabakblätter, wobei
zu bemerken ist, dass der Genuss des Fleisches solcher Thiere den
Menschen vergiften kann.[419] Anderseits sind Fische gegen Pikrotoxin
in so hohem Grade empfindlich, dass nach der Angabe +Depaire+’s ein
Fisch von 200 Grm. Gewicht, den man in ein Gefäss mit 2 Liter Wasser
gibt, welches nur 0·01 Pikrotoxin enthält, sich sofort auf den Rücken
legt und stirbt (+Roth+ und +Lex+, Militärgesundheitspflege, II,
681), ebenso Hühner gegen Blausäure, da wir diese schon nach dem
Genusse einiger Pfirsichkerne verenden sahen. +Rossbach+ („Ueber die
feinsten Giftproben.“ Berliner klin. Wochenschr. 1880, pag. 509)
findet, dass Infusorien ungemein empfindlich gegen Pflanzengifte
reagiren und verspricht sich viel von der „Infusorienreaction“ für
den physiologischen Nachweis der Alkaloidvergiftung[420], da z. B.
bei Atropin Verdünnungen von 1 : 1000, bei Strychnin schon solche
von 1 : 15.000 auf Infusorien giftig wirken. Andererseits wirken
aber für den Menschen ungiftige Alkaloide, z. B., wie schon +Binz+
nachwies, das Chinin in gleicher Weise toxisch auf die genannten
Organismen und +Langfeldt+-+Sommerfeldt+ (Virchow’s Jahrb. 1880, I,
604) constatirte, dass auch Citronensäure in einer Verdünnung von
1 : 2000 Infusionsthiere binnen 2 Minuten tödtet.
[Sidenote: Ptomaine.]
Was jedoch die Verwerthung des physiologischen Versuches mit aus
Leichentheilen gewonnenen und nicht näher chemisch bestimmbaren
Extracten anbelangt, so muss gegenüber diesen nur die grösste
Vorsicht angerathen werden, da die von +Lussana+, +Moriggia+ und
+Bastini+[421] angestellten Versuche ergeben haben, dass die aus
frischen, noch mehr aber aus faulen Leichen mit Wasser, Alkohol
und Amylalkohol (nicht aber mit Aether) gewonnenen Extracte an
und für sich giftige Eigenschaften zeigen und Thiere zu tödten
vermögen, und da weitere von +Bangnatelli+ und +C. Lombroso+[422]
gemachte Untersuchungen, welche ergaben, dass aus verdorbenem
Mais sich mit Alkohol eine Substanz ausziehen lasse, welcher
theils strychninartige, theils narcotische Eigenschaften zukommen,
darauf hinweisen, dass sich bei den verschiedenen, durch Fäulniss
und Verderbniss veranlassten Zersetzungen organischer Substanzen
Körper zu bilden vermögen, die sich extrahiren lassen und giftige
Eigenschaften zeigen können, womit auch die Untersuchungen von
+W. Zuelzer+ (Arch. f. experim. Path. VIII, 133) übereinstimmen,
ebenso jene von +Selmi+ über die von ihm „Ptomaine“ genannten
Fäulnissalkaloide (Rivista sperim. di med. leg. Ann. IV, 777). Durch
Arbeiten von +Brouardel+ und +Boutmy+, +Nencki+, +Gramm+, +Gautier+,
+Brieger+, +Bocklisch+ u. A. wurde eine Reihe solcher Alkaloide
isolirt, zugleich aber dargethan, dass nur verhältnissmässig wenige
derselben giftig sind (Toxine) und diese mit Pflanzenalkaloiden
nicht leicht verwechselt werden können, ausgenommen mit Muscarin und
gewissen, der Pyridin- und Hydropyridinreihe angehörigen Alkaloiden,
die auch als Ptomaine vorkommen können. Neuere Publicationen über
die Bedeutung der Ptomaine für die gerichtliche Medicin von +Wolff+
und +Kratter+ s. Virchow’s Jahresb. 1890, I, 500. +Ipsen+ (Tagbl.
d. Wiener Naturforscherversamml., pag. 397) hat in mit Strychnin
versetzten Culturen von Tetanusbacillen und anderer pathogener
Bacterien, sowie in mit Tetanusgift und Strychnin vergifteten Thieren
letzteres ohne weiteres nachweisen können.
4. Die Umstände des Falles.
Es gehören hierher alle die Umstände, die eben den Verdacht erweckt
haben, dass eine Vergiftung vorliege und Veranlassung gaben, dass
die gerichtliche Untersuchung eingeleitet worden ist. Diese Umstände
sind allerdings häufig derart, dass sie auch der Laie zu beurtheilen
und zu würdigen vermag, doch hat sie auch der Arzt zu prüfen und für
die Begutachtung des Falles zu verwerthen. In der Regel ist es schon
das Unerwartete oder gar Plötzliche des Todes, was auffällt, doch
ist in dieser Beziehung zu bemerken, dass auch scheinbar kräftige
und gesunde Individuen plötzlich und rasch eines natürlichen Todes
sterben können, und dass andererseits Morde und Selbstmorde durch
Gift keineswegs immer an und von ganz gesunden und rüstigen Leuten,
sondern auch an und von alten gebrechlichen oder anderweitig kranken
verübt werden. Dass die Krankheitserscheinungen, die durch Gifte
hervorgerufen werden, auch durch natürliche Krankheiten erzeugt werden
können, ist bereits erörtert worden, und dies ist umso wichtiger, wenn
nach dem Tode des Individuums keine Section gemacht und die Exhumation
vorgenommen wurde, nachdem die pathologisch-anatomische Untersuchung
wegen vorgerückter Fäulniss oder Verwesung kein Resultat mehr zu geben,
also eine natürliche Todesart nicht mehr auszuschliessen vermochte.
Der Umstand, dass Jemand kurz nach einer Mahlzeit u. dergl. plötzlich
starb, beweist für sich allein eine Vergiftung nicht, da der natürliche
Tod in der Verdauung durch Herzlähmung, Apoplexie etc. ungemein häufig
vorkommt und der vermehrten Peristaltik wegen auch Incarcerationen,
Perforationen von Geschwüren u. dergl. leichter als sonst geschehen
können. Wichtiger wäre es, wenn nachgewiesen werden könnte, dass die
erfahrungsgemäss nach Vergiftungen auftretenden Erscheinungen in mehr
weniger langen Intervallen auftraten, und dass diese Verschlimmerungen
des Zustandes immer zusammenfielen mit der Darreichung bestimmter
Speisen oder Getränke, oder Medicamente, oder wenn die Speise oder das
Getränk, nach dessen Genusse Jemand erkrankte, solche Erscheinungen
darbot, dass aus diesen schon auf die Anwesenheit einer fremdartigen
Substanz geschlossen werden musste, so einen auffallend bitteren oder
brennenden Geschmack oder den Geruch nach Zündhölzchen zeigte, oder
wenn ein Leuchten im Dunkeln[423], oder das Vorhandensein harter,
zwischen den Zähnen knirschender Körnchen beobachtet worden wäre
u. dergl. Ebenso wichtig wäre die Constatirung der Thatsache, dass
Thiere, die von dem Erbrochenen oder Weggeworfenen gefressen hatten,
erkrankten oder zu Grunde gingen. Auch die Thatsache, dass Gift in den
angeblich genossenen Speisen oder Getränken, oder auch blos im Besitze
des Verstorbenen selbst oder Anderer gefunden wurde, wäre in Erwägung
zu ziehen, doch ist es klar, dass der Verwerthung solcher Umstände
gewisse Grenzen gesetzt sind, die der Gerichtsarzt nicht überschreiten
darf, wenn er nicht in die Rolle eines Untersuchungsrichters oder
Anklägers oder in die eines Geschworenen fallen will.
[Sidenote: Eigene oder fremde Schuld?]
Die Erwägung der genannten Umstände muss auch herangezogen werden
behufs Entscheidung der Frage, ob eine +Vergiftung zufällig oder
in selbstmörderischer Absicht oder durch fremde Einwirkung+ zu
Stande gekommen sei und es ist natürlich, dass in den meisten
Vergiftungsfällen einzig und allein die äusseren Umstände im Stande
sind, diese Frage zu lösen. Es ist begreiflich, dass zu Giftmorden
vorzugsweise nur solche Gifte benützt werden, die heimlich beigebracht
werden können, so dass, wenn eine Vergiftung mit einem Gifte vorliegt,
welches, wie z. B. die ätzenden Säuren, schon auf den Lippen und
auf der Zunge heftiges Brennen veranlasst, schon dieser Umstand den
Selbstmord wahrscheinlicher macht als eine zufällige Vergiftung oder
gar einen Giftmord; doch können solche Gifte Kindern und anderen
hilflosen Personen[424] gewaltsam beigebracht werden und auch
das zufällige Verschlucken ist nicht ausgeschlossen, kommt sogar
bei einzelnen ätzenden Substanzen, wie z. B. bei der sogenannten
Laugenessenz, häufig vor und ist sowohl von uns, als von Anderen
selbst bei Schwefelsäure und Salzsäure beobachtet worden. Auch der
Phosphor verleiht, wenn er Speisen oder Getränken beigemengt wird,
diesen so auffallende Eigenschaften, dass man kaum glauben sollte, dass
damit Giftmorde geschehen könnten; trotzdem sind solche wiederholt
vorgekommen und wurden auch von uns beobachtet, vorzugsweise bei
Kindern und solchen Leuten, die sich über den schlechten Geschmack
einer Speise hinwegzusetzen vermögen oder wegen Hungers hinwegsetzen
müssen. Auch kann Geschmack und Geruch durch das Vehikel verdeckt
gewesen sein. Bei gewissen Alkaloiden, insbesondere bei Strychnin,
ist es die enorme Bitterkeit, die auffällt. Dessen ungeachtet sind
zahlreiche solche Giftmorde bekannt, und es ist klar, dass solche
Stoffe, wenn auch nicht gut in Nahrungsmitteln und Getränken, so doch
sehr leicht in Medicamenten oder als Medicamente heimlich beigebracht
werden können.
Mitunter ist es die grosse Menge des in der Leiche gefundenen Giftes,
in anderen Fällen wieder der grobkörnige Zustand desselben, der für den
Selbstmord spricht. So fanden wir in einem Falle von Arsenikvergiftung
ausser einer Unzahl sandkorngrosser Arsenikstücke auch solche von
Erbsen- bis Bohnengrösse; ebenso in einem zweiten, deren Gewicht 16·802
und mit dem im Erbrochenen gefundenen 91·878 Grm. (!) betrug, ausserdem
in einem dritten noch einen zuckererbsengrossen Kieselstein, ferner bei
einem Apotheker, der sich mit Strych. pur. vergiftet hatte, zahlreiche
Krystalle davon, nicht blos im Magen, sondern auch im Munde, namentlich
zwischen den Zähnen, durch welche Befunde in allen vier Fällen der
Selbstmord ausser Zweifel gestellt wurde. Ebenso ist, wenn giftige
Pflanzentheile, wie Beeren, Blätter, Zweige etc., im Magen gefunden
werden, nicht leicht an Giftmord zu denken, wohl aber an zufällige
Vergiftung oder unter Umständen an eine solche, die durch einen
Fruchtabtreibungsversuch veranlasst worden ist.
Dass in solchen Fällen auch jene Umstände, welche eventuell das
betreffende Individuum zum Selbstmord bewogen haben konnten, in
Betracht zu ziehen sind, ist selbstverständlich.
[Sidenote: Combinirter Gifttod.]
Combination von Vergiftung und anderweitiger Gewalteinwirkung kommt
wohl beim Selbstmord, aber nur ganz ausnahmsweise beim Mord vor.
+Bělohradský+ hat, wie er in einer Arbeit über den combinirten
Selbstmord (Zeitschr. d. böhm. Aerzte. 1880, pag. 85) mittheilt, von
Combination von Giftmord und anderweitiger Gewalt nur 2 Fälle in
der Literatur gefunden, den einen in +Casper+-+Liman+’s Handbuch,
betreffend den Buchbinder +Melchior+, der seine Frau und seine Kinder
zuerst mit selbstbereiteter Blausäure vergiftet und dann erwürgt
hatte und den zweiten in Friedreich’s Blätter, 1884, pag. 71, wo
eine Frau einer anderen Arsenik in Branntwein gereicht, und, als
die Vergiftungserscheinungen lange nicht eintraten, dieselbe in’s
Wasser gestossen hatte. Wir obducirten unlängst einen Mann, der
von seinem Schlafkameraden im Schlafe erwürgt und beraubt worden
war. Letzterer gestand die That und dass er vor dem Erwürgen dem
Schlafenden Cyankalium in den Mund zu schieben versucht hatte,
welches jedoch ausgespuckt wurde. Thatsächlich wurden Stückchen von
Cyankalium im Bette gefunden, die chemische Untersuchung des Magens
und der Mundhöhle aber ergab in dieser Beziehung ein negatives
Resultat. Hierher würde noch der von uns besprochene Todesfall der
Prostituirten +Ballogh+ (Wiener med. Wochenschrift. 1882, Nr. 29
u. ff.) gehören, wo der Thäter behauptete, dass er das Mädchen nur
deshalb gewürgt habe, weil dasselbe einen mit Blausäure vermengten
Kaffee, mit dem er sich selbst vergiften wollte, getrunken hatte
und röchelnd zusammengestürzt war, -- wenn diese Angabe nicht jeder
Glaubwürdigkeit entbehren würde.
Die einzelnen Gifte.
Die einzig richtige Eintheilung der Gifte wäre die, welche die
Elementarwirkungen derselben zur Grundlage hätte. Die Kenntniss der
letzteren ist aber leider noch eine so mangelhafte, dass vorläufig an
eine auf ihnen beruhende Classification der Gifte gar nicht zu denken
ist. Andere Eintheilungen haben nur einen relativen Werth und sind,
wenn wir von der ganz werthlosen nach den Naturreichen absehen, nicht
scharf durchführbar. Für forensische Zwecke ist eine systematische
Eintheilung der Gifte keineswegs nothwendig, und es genügt, die
einzelnen Gifte getrennt zu behandeln, wobei es allerdings opportun
ist, zwischen local und den durch Resorption wirkenden Giften zu
unterscheiden.
Die Vergiftung mit Schwefelsäure.
Vergiftungen mit käuflicher Schwefelsäure sind besonders in grossen
Städten häufig, wo dieselbe nicht blos zum Reinigen metallischer
Gegenstände, sondern auch in den verschiedensten Gewerben benützt wird
und daher leicht zu haben ist. Da die Säure auf den Lippen sofort
heftig brennt, so handelt es sich bei Erwachsenen fast immer um
Selbstmord und nur ausnahmsweise um zufällige Vergiftung. Mord ist nur
bei Kindern und hilflosen Personen beobachtet worden, und wurde bei
diesen, ebenso wie die zufällige Vergiftung, sowohl durch Eingiessen
von Schwefelsäure in den Mund, als auch in einzelnen Fällen durch
Beibringung mittelst Klysma ausgeführt.[425]
Die Vergiftungserscheinungen treten +augenblicklich+ nach dem
Verschlucken auf und bestehen in einem heftigen brennenden Schmerz
in den gesammten Schlingorganen und im Magen, in Würgebewegungen und
meist sofort auftretendem Erbrechen, mit welchem stark saure und
anfangs braun, später fast schwarz gefärbte Massen entleert werden.
Der Gesichtsausdruck ängstlich. Haut blass und kühl, Puls schnell und
klein, Bewusstsein erhalten, Harn- und Stuhlgang unterdrückt. Im Harn
tritt sehr bald Eiweiss und Blut auf, und eine starke Vermehrung der
schwefelsauren Salze, niemals aber freie Schwefelsäure. Der durch
Säurezufuhr zum Blute bedingten Alkalientziehung, die der Körper nur
bis zu einem gewissen Grade verträgt, wird von +Salkowski+, +Lassar+
und +Walter+ ein wesentlicher Einfluss auf den Eintritt des Todes
zugeschrieben. Bei sehr acut verlaufenden Fällen tritt schon nach 2-3
Stunden, selten früher, häufiger später, Collapsus und bald darauf der
Tod ein, der meist ruhig, seltener unter Convulsionen erfolgt.
[Sidenote: Schwefelsäurevergiftung. Krankheitsbild und Sectionsbefund.]
In einzelnen Fällen hört das heftige Erbrechen plötzlich auf, während
die übrigen Erscheinungen noch stärker sich entwickeln; es ist dann
Perforation des Magens eingetreten. Meist besteht Heiserkeit bis
zur Stimmlosigkeit, nicht selten ist starke Athemnoth vorhanden
und der Tod erfolgt unter Erstickungserscheinungen. Diese Symptome
lassen auf Anätzung der Schleimhaut der Luftwege und auf Glottisödem
schliessen.[426] Nicht selten ist der Verlauf ein protrahirter, und
dauert nicht blos mehrere Tage, sondern auch noch länger. In solchen
Fällen kommt es zur Abstossung verätzter Schleimhautpartien, namentlich
des Oesophagus, die sogar in toto in Schlauchform ausgebrochen
werden können, und in der Regel zu pneumonischen Processen. Eine
sehr ausführliche Zusammenstellung der klinischen Symptome der
Schwefelsäurevergiftung bringt +Schuchardt+ in Maschka’s Handbuch,
II, pag. 71.
An der Leiche finden sich häufig von den Mundwinkeln herabziehende
braune lederartige Streifen, die durch das Ueberfliessen der Säure
erzeugt wurden. Die Schleimhaut der Mundhöhle und des Oesophagus
findet sich in frischen Fällen entweder nur oberflächlich oder bis
in die tieferen Schichten wie gekocht oder gegerbt, d. h. weissgrau
verfärbt, zäh, in starre Falten gelegt, trocken und von erstarrtes
Blut enthaltenden Gefässen durchzogen. Der Magen fällt meist schon
äusserlich durch seine schiefergraue Farbe und die Verdickung seiner
Wandungen auf. Die Kranzgefässe erscheinen injicirt, das Blut in
ihnen entweder theerartig eingedickt oder so eingetrocknet, dass sich
dasselbe aus den durchschnittenen Gefässen in langen braunrothen
bis schwarzbraunen bröcklichen Cylindern ausdrücken lässt. Im Magen
findet sich ein meist kaffeesatzfärbiger, mitunter ganz schwarzer,
stark sauer reagirender, theils breiiger, theils flüssiger Inhalt,
die Innenwand des Magens in verschiedener Tiefe und Ausdehnung in
einen durch Imbibition mit Hämatin schwarzbraun bis schwarz gefärbten
Schorf verwandelt und unregelmässig höckerig. Letztere Eigenschaft
rührt theils von der Ungleichmässigkeit der Verätzung und der
durch sie bedingten entzündlichen Wandverdickung her, theils von
nachträglicher partieller Abschmelzung (Erweichung, Verdauung) der
necrotischen Schleimhaut, theils von den entstandenen submucösen
Extravasaten, die eine bedeutende Grösse erreichen können und in denen
das Blut durch Wasserentziehung ebenso eingetrocknet wird, wie das
innerhalb der verschorften Partien in den Gefässen zurückgebliebene.
Dementsprechend ist auch die Consistenz der Magenwand, respective ihrer
Innenfläche, eine verschiedene und man kann dicht neben starren Partien
erweichten und leicht zerreisslichen begegnen, ebenso Stellen, die
nur von der Submucosa oder gar nur vom Peritoneum gebildet werden.
Verhältnissmässig häufig ist der Magengrund durch die Säure zerstört
und der Mageninhalt in die Bauchhöhle ausgetreten, woselbst die Organe
an allen Stellen, welche mit demselben in Berührung kamen, getrübt
erscheinen. Der Durchbruch des Magens erfolgt häufig schon während des
Lebens, kann aber auch erst nach dem Tode entstehen durch fortdauernde
Einwirkung der Säure. Nicht selten zerreisst er erst bei der Section.
Die Wirkung der Säure lässt sich häufig weite Strecken in den Darm
verfolgen, woselbst die Schleimhaut in nach abwärts abnehmendem Grade
weissgrau, wie gekocht, starr, das submucöse Bindegewebe mehr weniger
injicirt und nicht selten stellenweise blossgelegt und dann gallig oder
blutig imbibirt und ecchymosirt sich erweist.
Die Nieren zeigen in der Regel das Bild der „trüben Schwellung“,
und zwar desto ausgesprochener, je länger das Individuum gelebt
hatte. Häufig finden sich Fibrincylinder. Das Blut in der Nähe des
Magens reagirt häufig sauer, seltener in entfernteren Gebieten, ist
auch in letzteren meist flüssig, in ersteren aber entweder locker
coagulirt[427] oder auf die oben angegebene Art durch Eintrocknung
verändert, und wir haben nicht selten das Blut nicht blos in den
Kranzgefässen des Magens, sondern auch in der Vena cava ascendens und
selbst noch im rechten Herzen zu einer in Cylindern ausdrückbaren,
brüchigen Masse eingedickt gefunden. Diese Veränderung kommt theils
während des Lebens, theils erst nach dem Tode durch Imbibition der
Säure in die Nachbarschaft des Magens zu Stande, und ebenso die
wie gegerbte Beschaffenheit der dem Magen anliegenden Organe, wie
namentlich der Milz, der linken Niere, des linken Leberlappens,
die nicht selten auch auf das Zwerchfell und den unteren Theil
der linken Lunge übergreift und in einzelnen Fällen sich auch an
der vorderen Bauchwand, sogar schon bei der äusseren Besichtigung
derselben, bemerkbar machen kann. In gleicher Weise können die dem
Magen oder verätzten Darmpartien anlagernden Darmschlingen durch
Imbibition von ersteren aus verätzt werden, ebenso diejenigen, welche,
wie insbesondere die im Becken gelagerten Schlingen, mit dem nach
Durchbruch des Magens in die Bauchhöhle ausgetretenen noch stark
saurem Mageninhalt durch längere Zeit in Berührung gestanden sind.
In solchen Fällen kann man auch noch in tief nach abwärts gelegenen
Darmpartien, insbesondere, wie wir wiederholt sahen, noch im Ileum
oder Colon transversum, ja selbst im C. descendens circumscripten,
mitunter intensiven Corrosionen der ganzen Darmwand begegnen, während
dazwischen mehr weniger ausgedehnte intacte Darmpartien liegen.
Es wäre ein grober Beobachtungsfehler, wenn man solche von aussen
erzeugte discontinuirliche Darmverätzungen noch auf directe Wirkung des
Aetzgiftes beziehen wollte.
In protrahirteren Fällen finden wir die necrotischen Schleimhautpartien
in Abstossung begriffen, das darunter liegende Gewebe, insbesondere
das submucöse, entweder hämorrhagisch infiltrirt, ödematös mit mehr
weniger intensiver Hämatinimbibition, zu welcher sich auch häufig die
gallige[428] hinzugesellt oder im weiteren Verlaufe in verschiedenen
Stadien der Entzündung und Eiterung, und die parenchymatösen Organe
sowohl als die Musculatur in verschiedenen Graden der körnigen und
fettigen Degeneration, in den Lungen pneumonische Processe entweder
hypostatischen oder croupösen Charakters.
[Sidenote: Wirkung von SO₃ auf organische Gewebe.]
Die +Ursache+ der zerstörenden Wirkung der Schwefelsäure liegt
vorzugsweise in ihrer Eiweisssubstanzen coagulirenden und
wasserentziehenden Kraft. Erstere bedingt die Trübung und die wie
gekochte Beschaffenheit der Gewebe durch Gerinnung des in ihnen
enthaltenen Albumens und letztere die Trockenheit und Brüchigkeit
der frisch verätzten Gewebe, sowie die eigenthümliche Eindickung
und Eintrocknung des Blutes innerhalb der Gefässe der verätzten
Partien. Wie bereits oben erwähnt, werden Eiweisskörper nur durch
verdünnte Schwefelsäure gefällt, während concentrirte solche
Fällungen wieder auflöst. Hämoglobin wird sowohl durch concentrirte,
als durch verdünnte Schwefelsäure den Blutkörperchen entzogen und
in braunes bis schwarzbraunes Hämatin verwandelt, und von diesem
rührt die schwarzbraune bis schwarze Farbe des Mageninhaltes und
der verschorften inneren Magenwand her. Doch entstehen bei längerer
Einwirkung von concentrirter Schwefelsäure auch auf blutleere Organe
braune und violette Verfärbungen in verschiedener Nuance, denen
ein Einfluss auf die dunkle Färbung der Schwefelsäureschorfe im
Magen nicht abgestritten werden kann, obgleich eine „Verkohlung“,
wie sie bisher gewöhnlich angenommen wurde, nicht stattfindet. Da,
wenn Schwefelsäure in Wasser gegossen wird, die Mischung sich stark
erhitzt, so ist es für den Verlauf der Vergiftung nicht gleichgiltig,
ob wässerige oder breiige Substanzen gerade im Magen sich befanden
und das Vorhandensein der ersteren trotz der Verdünnung, welche
die Säure erfährt, gefährlich. Die käufliche Schwefelsäure enthält
häufig nicht unbeträchtliche Mengen von Arsenik, was einestheils
das Krankheitsbild compliciren, anderseits, insbesondere bei
Exhumationen, eine Arsenikvergiftung vortäuschen kann, wie ein
von +Schlagdenhauffen+ (Annal. d’hygiène publ. 1884, pag. 227)
mitgetheilter Fall beweist.
[Sidenote: Vergiftung mit Salzsäure.]
Die Vergiftung mit +Salzsäure+ unterscheidet sich nicht wesentlich
von jener durch Schwefelsäure. Da selbst concentrirte Salzsäure
die Haut nicht verätzt, so ist +Husemann+ und mit ihm +Lesser+ der
Ansicht, dass das Fehlen von Hautanätzungen an den Mundwinkeln als
differential-diagnostisches -- wenn auch nicht als pathognomisches --
Merkmal der Salzsäureintoxication gegenüber der durch Schwefelsäure
aufzustellen ist. Leider kommen solche braune lederartige, von
den Mundwinkeln herabziehende Streifen mitunter auch als blosse
Leichenerscheinung vor, und wir haben unter Anderem einen Fall mit
+Chiari+ untersucht wo ein solcher Streif Verdacht auf Vergiftung
erregt hatte, während er offenbar durch Ueberfliessen von in
der Agone erbrochenem gewöhnlichen Mageninhalt entstanden war.
Die frühere Durchfeuchtung und nachträgliche Eintrocknung hatte
denselben bewirkt. Die inneren Befunde inclusive der eigenthümlichen
Eindickung des Blutes in den Gefässen sind dieselben wie bei der
Schwefelsäurevergiftung. In einem nach 5 Stunden letalen Falle
(Salzsäure durch Destillation des Mageninhaltes nachgewiesen) fanden
wir ausser nach abwärts abnehmender grauer Verätzung der Schleimhaut
des oberen Dünndarmes ein über den ganzen übrigen Darm ausgebreitetes
Oedem der Schleimhaut mit zahlreichen Ecchymosen in jener des
Dickdarmes. Bei einem 5 Tage alten Kinde, welches gegen Hämatemesis
Ferrum sesquichloratum (10 Tropfen auf 50 Aq.) erhalten hatte und am
dritten Tage verstorben war, fanden wir blutroth geschwellte Lippen,
die obere Hälfte des Oesophagus geschwellt, hellroth injicirt, mit
zwei seitlichen, bohnengrossen, roth erweichten Stellen im Schlund;
in der unteren Hälfte die Schleimhaut fast überall bis auf die
Muscularis fehlend, die den Substanzverlust begrenzenden Ränder
scharf, geröthet und geschwellt. Der Grund schwarzbraun mit schwarz
injicirten Gefässen, welche trockene Blutcylinder enthalten. Im Magen
viel frisch geronnenes Blut, ebenso im Darm. An der Pyloruspartie
eine 3 Cm. breite, rundliche, missfärbige, fetzige Stelle mit schwarz
injicirten Gefässen im Grunde. Ausserdem zahlreiche hämorrhagische
bis linsengrosse Erosionen entlang der grossen Curvatur. Das
Medicament ergab bei der Untersuchung stark sauere Reaction und
freie Salzsäure. Sonach lag offenbar Combination von Vergiftung mit
Salzsäure und bereits früher bestandenen hämorrhagischen Erosionen
und consecutiver Meläna vor. Auch neutrales Eisenchlorid ätzt in
stärkerer Concentration und bewirkt eine der Farbe des Ferrum
sesquichloratum entsprechende Verfärbung der Schorfe.
[Sidenote: Vergiftung mit Salpetersäure.]
Concentrirte +Salpetersäure+ bewirkt durch Bildung von
Xanthoproteinsäure die bekannte Gelbfärbung der verätzten Partien,
verdünnte dagegen nur die einfache graue Verätzung mit ihren weiteren
Consequenzen. Am ehesten kann man daher der Gelbfärbung im Schlunde
und Oesophagus, wo noch die concentrirte Säure einwirkte, begegnen.
Seltener findet man sie im Magen oder gar im Darm. Einen instructiven
Fall ersterer Art, ein mit rauchender Salpetersäure absichtlich
vergiftetes dreitägiges Kind betreffend, bildet +Lesser+ im 1. Hefte
seines Atlas ab, ebenso +Ipsen+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
1893, VI, pag. 11), und zwei letzterer Art (Selbstmord) bewahrt
unser Museum. Die sonstigen Befunde sind von jenen der Schwefel- und
Salzsäurevergiftung nicht wesentlich verschieden, doch scheinen
Hämatinimbibitionen von jener Schwärze und Intensität, wie sie bei
den letztgenannten Vergiftungen so gewöhnlich zu sehen sind, nach
Salpetersäure nicht vorzukommen, da letztere selbst im concentrirten
Zustande das Blut nicht mit jener Leichtigkeit auflöst, wie dies
Schwefel- und Salzsäure thun.
[Sidenote: Vergiftung durch Essigsäure.]
Eine Vergiftung mit concentrirter +Essigsäure+ (Essigessenz) haben
wir bei einem Epileptiker gefunden, dem während des Anfalles
ein damit getränkter Schwamm an den Mund gehalten worden war;
der Tod erfolgte nach 3 Tagen. Die Obduction ergab epitheliale
weissgraue Verschorfung im Mund, Oesophagus und den Luftwegen und
ausgebreitete Pneumonie, keinen Essiggeruch. Epitheliale Verätzungen
durch gewöhnlich als Belebungsmittel angewendeten Essig haben
wir wiederholt gesehen, unter Anderem bei einem in Steisslage
todtgeborenen Kinde (Fractur des Oberarms und beider Orbitaldächer)
im ganzen Schlingtractus und im Magen, der deutlich nach Essig roch.
[Sidenote: Vergiftung durch Carbolsäure.]
Seitdem die +Carbolsäure+ als Desinfections- und Verbandmittel so
allgemein in Gebrauch kommt, sind zufällige, insbesondere medicinale,
durch innerliche sowohl, als durch äusserliche Anwendung veranlasste
Vergiftungen verhältnissmässig häufig vorgekommen.[429] Auch
Selbstmorde sind nicht selten und wir haben bereits eine ansehnliche
Zahl derselben obducirt, von denen drei Hebammen betrafen. Selbst ein
Mord durch Carbolsäure ist uns vorgekommen. Derselbe wurde an einem
kranken, im Bette liegenden Manne von einer Geisteskranken begangen,
welche denselben zuerst durch Schläge mit einem Holzscheit betäubte
und dann dem wahrscheinlich schon Agonisirenden Carbolsäure in den
Mund goss, welche sie auch der hinzugekommenen Frau des Mannes in’s
Gesicht spritzte. Die tödtliche Dosis bei Hunden wird von +Bert+
und +Joyet+ auf 2-3 Grm., von +Ferrand+ (Schuchardt, l. c. 130)
auf 10-20 Grm., bei Kaninchen schon auf 0·3 Grm. geschätzt. Die
niedrigste letale Dosis für den erwachsenen Menschen soll 30-50 Grm.
betragen. Kinder scheinen ungemein empfindlich zu sein. Bei externer
Anwendung ist die Gefährlichkeit der Carbolsäure weniger mit der
Concentration als mit der Zeit proportional, durch welche die Säure
mit der Wundfläche etc. in Contact gelassen wird. Im Krankheitsbilde
treten, obgleich die Carbolsäure schon in geringer Concentration im
Munde Brennen verursacht, nach dem Verschlucken weniger die Symptome
der Gastroenteritis toxica in die Erscheinung, sondern, wie nach
externer Intoxication, intensive Allgemeinsymptome, insbesondere
rasche Bewusstlosigkeit und Collapsus häufig mit Muskelzuckungen,
seltener mit eigentlichen Convulsionen verbunden. Der Harn zeigt
in nicht ganz acuten Fällen häufig, aber nicht immer, eine
olivengrüne, von Zersetzungsproducten des Hydrochinons, respective
der Hydrochinonschwefelsäure herrührende Farbe, die übrigens nach
+Ludwig+ (Wiener med. Blätter. 1883, pag. 445) auch am Kairinharn
beobachtet wird, und enthält Carbolsäure. Die Section ergibt weisse
Verätzung der Schleimhaut der Schlingorgane und des Magens (eventuell
anderer Theile, z. B. von Wundflächen), Befunde, die durch die
stark coagulirende Eigenschaft der Carbolsäure veranlasst werden.
Die Schorfe nach reiner und nur in Wasser gelöster Carbolsäure
zeichnen sich durch ihre in ihrer Intensität mit der Concentration
der Säure proportionale, fast milchweisse Farbe aus, die sich auch
im Magen gut erhält, da der Carbolsäure die Fähigkeit abgebt,
Hämoglobin in gelöstes Hämatin zu verwandeln und damit die Schorfe
zu imbibiren. Wurde rohe, rothbraune oder gar theerartig aussehende
Carbolsäure benützt, so können die Schorfe mehr weniger braun
erscheinen. Das durch Carbolsäure coagulirte Blut ist auffallend
hellroth, weshalb die Verschorfungen und ihre Nachbarschaft einen
eigenthümlichen röthlichen Stich darbieten und die grösseren Gefässe
rothe Thromben erhalten. Diese Befunde und der lange haftende
Geruch nach Carbolsäure werden die Diagnose gestatten. Ausserdem
kann erstere durch Destillation der Leichentheile nachgewiesen
werden, wie dies +Salkowski+ auch bei dem Blute damit vergifteter
Thiere gelang, ebenso im Harn, in welchem sich die Carbolsäure als
phenylschwefelsaures Salz findet (+Baumann+, +Sonnenberg+, +E.
Ludwig+), durch Destillation desselben mit verdünnten Mineralsäuren.
Vergiftung unter Krämpfen nach Einathmung von Carbolsäuregas hat
+Schmitz+ (Med. Centralbl. 1886, pag. 784) zweimal beobachtet.
[Sidenote: Carbolsäure und deren Präparate. Lysol.]
Aehnlich wie die Carbolsäure wirken die Carbolsäurepräparate,
von denen insbesondere das jetzt stark verbreitete +Lysol+
Erwähnung verdient. Das Lysol besteht nach +M. Gruber+ („Oesterr.
Sanitätswesen.“ 1892, Beilage zu Nr. 32) aus neutraler Kaliseife
von Fettsäuren, etwas Wasser und circa 50 Volumprocenten Kresolen.
Die anfänglich behauptete Ungiftigkeit hat sich nicht bestätigt. Es
besitzt im unverdünnten Zustande, aber auch noch in 10-20procentigen
Lösungen eine deutliche Aetzwirkung, namentlich auf Schleimhäute und
seröse Membranen, doch ist die Aetzwirkung bedeutend geringer als bei
Carbolsäure. Durch continuirliche Anwendung können auch hartnäckige
Dermatitiden entstehen (+Kämpfer+, Deutsche med. Wochenschr.
1894, Nr. 34). Die Resorptionswirkungen zeigen keine wesentliche
Verschiedenheit, wenigstens trat in den bisher beobachteten Fällen
(s. diese zusammengestellt bei +Fagerlund+, Vierteljahrschr.
f. gerichtl. Med. 1894, VIII. Suppl., pag. 64 und +Friedberg+,
Centralbl. f. innere Med. 1894, Nr. 9) sowohl bei durch äussere als
durch innere Anwendung verursachten Lysolvergiftungen fast stets
rasch Bewusstlosigkeit ein, wie bei Carbol. In fast allen diesen
Fällen war die Vergiftung zufällig entstanden, und zwar zweimal mit
letalem Ausgang. Einen Selbstmord hat +Fagerlund+ beobachtet und über
einen an einem Kinde ausgeführten Mord hat +Haberda+ auf der Wiener
Naturforscherversammlung referirt. Das Sectionsbild war in diesen
Fällen ziemlich gleich. Im Munde und in den oberen Schlingorganen
fanden sich theils graue, theils bräunliche Verschorfungen des
Epithels, in den tieferen Partien des Oesophagus und im Magen aber
traten die durch Aetzung veranlassten Veränderungen zurück und es
ergab ausser dem unangenehmen Geruch nach Lysol sich ein Befund, der
an den nach Vergiftung von Laugenessenz erinnerte, da die Schleimhaut
gequollen, braunroth und seifenartig schlüpfrig war, ein Befund, der
offenbar von der Nachwirkung der Kaliseife herrührt.
[Sidenote: Creoline, Solveol, Solutol.]
Die +Creoline+ sind nach +Gruber+ im Wesentlichen Theeröle, welchen
Seifen, besonders Harzseife, zugesetzt sind. Auch kommen Gemische von
Carbolsäure oder Cresolen mit Schwefelsäure im Handel vor. Das von
+Hueppe+ eingeführte +Solveol+ ist eine neutrale wässerige Lösung
der Cresole in creolinsaurem Natron, das +Solutol+ eine alkalische
Auflösung der Cresole in Cresolalkali. Ersteres ätzt nach +Gruber+
nicht, letzteres in unverdünntem Zustand. -- Ueber eine letale,
zufällige Vergiftung mit sogenanntem +Carbolineum+ hat +Flatten+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, pag. 316) berichtet.
Verlauf und Sectionsbefunde entsprachen im Allgemeinen denen bei
Carbolsäurevergiftung.
[Sidenote: Vergiftung durch Oxalsäure.]
Vergiftungen mit +Oxalsäure+ und deren Kalisalz (sogenanntes Kleesalz
oder Zuckersäure) sind verhältnissmässig selten. Wir selbst haben
erst eine gesehen. Die meisten sind medicinale, in Folge Verwechslung
mit Bittersalz etc. geschehene Vergiftungen, doch wurden auch,
besonders in Berlin, Selbstmorde wiederholt beobachtet. Als Dosis
letalis für den Menschen werden 10-30 Grm. angenommen (+Hermann+).
Der Säure, besonders der concentrirten, kommen heftig irritirende
und ätzende, ausserdem aber auch Allgemeinwirkungen zu, namentlich,
wie es scheint, lähmende auf das Centralnervensystem. Es werden
demnach während des Lebens sowohl die Symptome der Gastroenteritis
toxica, als Bewusstlosigkeit und Herzlähmung beobachtet. Doch
stellt +Sarganek+ (Berliner Dissert. 1883) auf Grund von fünf
klinischen Beobachtungen eine specifische Wirkung der Oxalsäure auf
das Herz in Abrede und in einem Falle von +Strassmann+ konnte der
Betreffende trotz der beträchtlichen Menge der genommenen Oxalsäure
noch einen Selbstmord durch Erhängen verüben. Die Befunde an der
Leiche können nach sehr verdünnten Lösungen ziemlich unscheinbar
ausfallen, nach concentrirten findet sich weissgraue Verfärbung
der Schleimhäute der Schlingorgane, brauner bis schwarzbrauner,
stark saurer Mageninhalt, die Magenschleimhaut geschwollen, stark
injicirt, blutig imbibirt und in verschieden hohem Grade verätzt.
Die Schleimhaut ist sehr leicht, häufig schon durch blosses Abspülen
zu entfernen und die Magenwand darunter eigenthümlich durchscheinend
(+Liman+), von mit schwärzlichem Gerinnsel gefüllten Gefässen
durchzogen. Nach +Lesser+ (l. c.) erreichen sowohl die Irritations-,
als die Verätzungserscheinungen niemals einen so hohen Grad, wie bei
Schwefelsäurevergiftung. Fast regelmässig fand er auf der Schleimhaut
weissliche Trübungen, die sich bei der mikroskopischen Untersuchung
als Niederschläge von oxalsaurem Kalk erwiesen. Die Krystalle finden
sich auch in den schwärzlichen Gerinnseln innerhalb der Blutgefässe
der verätzten oder erweichten Partien und (übereinstimmend mit den
Angaben von +Robert+, +Küssner+ und +Münzer+) in den Harncanälchen.
Im Dünndarm äussert sich die Wirkung des Giftes als weissgraue
Verätzung, ebenso imbibirt sich die Säure auch in die Nachbarorgane
und bewirkt dort ähnliche Veränderungen, wie wir sie z. B. bei
der Schwefelsäurevergiftung so häufig sehen. Sie unterscheiden
sich jedoch von letzterer durch den Befund von Krystallen von
Kalkoxalat in den betreffenden Gefässen (+Lesser+). Perforationen des
Magengrundes wurden wiederholt beobachtet, doch scheinen die meisten
erst beim Herausheben des erweichten Magens entstanden zu sein.
Aetzlaugenvergiftung.
Die Aetzlaugenvergiftung ist in grossen Städten nichts Seltenes
und geschieht meistens mit der sogenannten „+Laugenessenz+“, einer
Natronlauge, welche früher nur dann im Kleinhandel verkauft werden
durfte, wenn sie das specifische Gewicht von 1·2 nicht überstieg
(Min.-Erl. vom 16. Mai 1863). In Wien kommen die Selbstmorde mit
Laugenessenz ebenso häufig vor, wie jene mit Schwefelsäure, meistens
bei Weibern, und die Vergiftungen durch zufälliges Trinken derselben
sind sehr gewöhnlich, namentlich bei Kindern. Im Jahre 1878 kam
auch ein Mord durch Laugenessenz zur Beobachtung, begangen an einem
16jährigen, hochgradig tuberculösen Knaben durch die eigene Mutter
desselben, die sich dann auf gleiche Weise tödtete, und im Jahre
1885 ein Fall, wo eine Mutter ihre 2 Kinder und dann sich selbst
vergiftete. Die Vergiftungserscheinungen treten, wenn auch nicht
immer sofort, doch in der Regel in wenigen Augenblicken ein und
bieten das gewöhnliche Bild der Gastroenteritis toxica. Mit dem meist
heftigen und andauernden Erbrechen werden stark alkalische, erst
später blutige und dadurch braune bis schwarzbraune Massen entleert.
Intermission des Erbrechens scheint häufiger vorzukommen, als bei der
Schwefelsäurevergiftung. Diarrhöen können anfangs fehlen, später sind
sie in der Regel vorhanden und sind nicht selten blutig. Harn spärlich,
stark alkalisch. Der Verlauf ist seltener ein so acuter, wie bei den
meisten Schwefelsäurevergiftungen, in der Regel erfolgt der Tod erst
nach 2-3 Tagen unter Collapsus, häufig erst in Folge der Nachwirkungen
der Verätzung.
In acut verlaufenden Fällen findet man an der Leiche das Epithel der
Mundhöhle und des Oesophagus grau verfärbt, getrübt, gequollen, die
oberen Schichten der Schleimhaut ebenfalls missfärbig und mehr weniger
gequollen. Der Magen zusammengezogen, in den Wandungen verdickt,
blutig-schleimige, meist gelatinöse, stark alkalische Massen von
schwarzbrauner Farbe enthaltend. Wiederholt ist uns ein Geruch nach
Häringslake (Trimethylamin) aufgefallen, den wir auch in einzelnen
Fällen von Cyankaliumvergiftung bemerkt haben. Die Magenschleimhaut
erscheint an den meisten lädirten Stellen in einen fast schwarzen,
weichen Schorf verwandelt, an anderen dunkelbraunroth, gequollen,
häufig auf der Faltenhöhe wie transparent und ebenso wie der
Mageninhalt +seifenartig+ anzufühlen, an den übrigen mehr weniger
geröthet und geschwellt. Die Röthung der Magenschleimhaut ist durch
Injection und Ecchymosirung, die Schwärzung, respective braunrothe
Färbung der Schorfe durch Imbibition mit dem durch die Lauge gelösten
(zu Hämatin in alkalischer Lösung verwandelten) Blutfarbstoff bedingt,
während die Quellung, Transparenz und Weichheit dieser Partien durch
die quellende und klärende Wirkung der Lauge sich erklärt und daher
desto deutlicher ausgebildet ist, je mehr von letzterer noch im
Magen zurückgeblieben war. Die Verschorfung dringt mehr weniger tief
in die Schleimhaut, doch haben wir Perforation niemals beobachtet,
dagegen wiederholt eine postmortale Transsudation der Lauge durch die
Magenwand, in Folge welcher die anstossenden Organe, besonders Milz
und linke Niere, eigenthümlich gequollen und transparent erschienen.
Das Blut in den Kranzgefässen des Magens ist locker geronnen, häufig
schmierig.
War der Verlauf, wie meistens, ein protrahirter, so tritt mit der
Erschöpfung oder Neutralisation des Alkali dessen quellende und
klärende Wirkung immer mehr zurück und die verschorften Partien
unterscheiden sich nicht mehr wesentlich von anderweitigen mit
Hämatin imbibirten Necrosen. Auch sind die nun eintretenden
Entzündungserscheinungen und Abstossungsvorgänge die gleichen
wie bei der Schwefel- und Salzsäurevergiftung. Doch kann noch in
späteren Stadien die der letztgenannten Vergiftung eigenthümliche,
der Aetzlaugenvergiftung aber nicht zukommende Eindickung des
innerhalb der Gefässe befindlichen Blutes zu brüchigen Cylindern
eine Differentialdiagnose ermöglichen. Auch kommt es bei der
Laugenessenzvergiftung nicht leicht zu so mächtigen Extravasaten wie
bei der Schwefelsäurevergiftung und natürlich auch nicht zu jener
durch Coagulation und Wasserentziehung bedingten eigenthümlichen
Härtung des extravasirten Blutes, wie sie gewöhnlich bei der
Schwefelsäurevergiftung gefunden wird. Die Anätzung erstreckt sich
manchmal ziemlich weit in den Darm hinein und gibt sich anfangs durch
die eigenthümliche Quellung der Gewebe zu erkennen, in späteren Stadien
ist sie von anderen Anätzungen nicht zu unterscheiden. Der übrige Darm
zeigt meist umschriebenen oder diffusen Catarrh. „Trübe Schwellung“ in
den Nieren und in der Leber tritt bei der Laugenvergiftung ebenso auf,
wie nach jener mit Säuren und es zeigen besonders nach protrahirtem
Verlaufe die betreffenden Organe, sowie auch die Musculatur die
körnige und fettige Degeneration in mehr weniger ausgesprochener
Weise. Pneumonische Processe sind ebenfalls häufig. Bemerkt sei
noch, dass in einzelnen Fällen, ebenso wie wir dies manchmal bei der
Schwefelsäurevergiftung beobachten können, die ätzende Substanz nur in
den Oesophagus, aber nicht in den Magen gelangt, indem sie einestheils
schon während des Schlingactes durch sofortige Würgebewegungen
entleert wird, anderseits durch eben vorhandenen reichlichen,
insbesondere breiigen Mageninhalt von der Magenwand abgehalten wird.
Trotzdem können auch solche Fälle, namentlich bei Kindern, sowohl
durch die Verätzung und consecutive, häufig croupöse oder phlegmonöse
Entzündung der Schlingorgane, als durch Lungenaffection zum Tode
führen, noch häufiger aber zur Entstehung von Stricturen Veranlassung
geben.
[Sidenote: Ammoniakvergiftung.]
Vergiftungen mit +Ammoniak+ kommen hier und da als zufällige
oder fahrlässige Vergiftung (z. B. bei ungeschickter Anwendung
des Ammoniaks als Analepticum) vor und nur ganz ausnahmsweise
als Selbstmord. Es reizt die Schleimhaut, insbesondere die der
Respirationswege, in sehr heftiger Weise, ausserdem bewirkt es
locale, meist nur auf das Epithel beschränkte Ertödtung der Gewebe,
die aber, da Ammoniak Eiweisskörper nicht coagulirt, wenigstens nicht
ursprünglich, als weissgraue mit Consistenzvermehrung einhergehende
Trübung, sondern eher als Quellung und Aufhellung sich präsentirt.
Dem Blute entzieht das Ammoniak das Hämoglobin in Form einer
hellrothen, erst später sich bräunenden Hämatinlösung. Nach dem
Verschlucken tritt sofort heftiges Brennen in den Schlingorganen
ein und Symptome heftiger Bronchialreizung, frühzeitige Abstossung
des Epithels und starke Röthung und Schwellung, im weiteren
Verlauf croupöse Entzündung der Schleimhaut und dem entsprechende
Sectionsbefunde. Die Magenbefunde scheinen in der Regel gegen die in
den Schlingorganen und Respirationsorganen sehr zurückzutreten, da
wohl nur selten grössere Mengen der Substanz geschluckt werden. Einen
Selbstmord durch etwa einen Kaffeelöffel voll 10%ige Ammoniaklösung
(Salmiakgeist) hat +Kauders+ (Wiener med. Blätter. 1881, Nr. 17)
mitgetheilt. Sofort waren heftige Schmerzen in den Schlingorganen,
aber kein Erbrechen eingetreten. Nach drei Stunden fand +Kauders+
fetzige Ablösung des Epithels der Mund- und Rachenschleimhaut,
intensive Schwellung und Röthung der letzteren, Heiserkeit,
Trachealrasseln, Speichelfluss; nach zwei Stunden plötzlich
Erstickungserscheinungen und in wenigen Augenblicken Tod. Die
Obduction ergab Blässe und gallertige Schwellung der Schleimhaut des
Pharynx, des Kehlkopfeinganges und der Trachea mit theils fehlendem,
theils leicht abstreifbarem Epithel, starke Röthung der des Epithels
grösstentheils beraubten Schleimhaut des Oesophagus, blutige
Schwellung und Röthung der Magenschleimhaut, weissliche Trübung
des Epithels im Magen und im oberen Dünndarm. Kein Ammoniakgeruch.
Gleiche Befunde ergab die von uns vorgenommene Section eines
Mannes, der, statt zu einem Fläschchen mit Ammoniak, das ihm als
Schnupfenmittel gereicht wurde, zu riechen, davon getrunken hatte und
2½ Stunden darnach unter Erscheinungen des Glottisödems gestorben
war. -- Auch durch Einathmen von Ammoniakgas, wie beim Springen von
Ammoniakballons oder bei Explosion von Ammoniak-Eismaschinen, werden
ähnliche Symptome veranlasst (+Lehmann+, Arch. f. Hygiene. V, pag.
59).
Sublimatvergiftung.
Von den ätzenden Metallsalzen ist das Quecksilberchlorid (Hydrargyrum
bichloratum corrosivum), gewöhnlich Sublimat genannt, das wichtigste,
einestheils wegen seiner besonders heftigen Giftwirkung und anderseits
wegen der seit der Einführung des Sublimats als Antisepticum und daher
dessen stärkerer Verbreitung immer häufiger werdenden Vergiftungen mit
demselben.
Man kann acute und subacute Vergiftungen unterscheiden. Acute, d. h.
in wenigen Stunden oder im Laufe des ersten Tages letal ablaufende
Fälle kommen als Selbstmord oder nach zufälligem Trinken stärkerer
Sublimatlösungen vor. Es treten sofort Symptome der Gastroenteritis
toxica auf, man bemerkt weissgraue Verschorfung der Mundschleimhaut und
der Tod erfolgt unter Collaps. Der Obductionsbefund ist, da Sublimat
ebenfalls blos coagulirt, aber Hämatin nicht löst, ähnlich wie nach
acuter Vergiftung mit Carbolsäure, und ergibt eine wie gekochte, mehr
weniger in die Tiefe dringende Beschaffenheit der Schleimhaut der
Schlingwege und des Magens, die sich bis in den Dünndarm fortsetzen
und durch Imbibition auch auf die Nachbarorgane des Magens übergehen
kann, wie dies bei zwei von uns obducirten Selbstmördern der Fall war.
Es fehlt jedoch der charakteristische Geruch und die Schorfe sind
auch weniger weiss als die durch Carbolsäure erzeugten und bekommen
namentlich beim Liegen an der Luft, im Wasser oder im Spiritus eine
fast bleigraue Farbe. Das in den grösseren Gefässen der verschorften
Partien befindliche coagulirte Blut ist ebenfalls eigenthümlich roth
gefärbt. Geschah die Vergiftung, wie uns bereits zweimal vorkam, mit
Sublimatpastillen, so kann sich die entsprechende meist anilinrothe
Färbung auch am Mageninhalt und an der Magenwand finden.
Bei der subacuten Vergiftung stellen sich frühzeitig dysenterische
Erscheinungen ein, die nach wenigen Tagen zum Tode führen. Die
Obduction ergibt dann ausser eventuellen localen Verätzungsbefunden
eine dysenterische Entzündung des unteren Ileums, insbesondere aber
des Dickdarmes, die sich in ihrer Erscheinungsform von jener der
gewöhnlichen Dysenterie nicht unterscheidet, namentlich wie diese
vorzugsweise die Höhe der Falten betrifft. Diese Entzündung ist
keineswegs eine Aetzwirkung, da sie sowohl nach Injection per os,
als, und zwar häufiger, nach externer, subcutaner etc. Anwendung des
Sublimats auftritt und auch bei unveränderter Beschaffenheit der oberen
Partien des Verdauungstractes beobachtet wird. Schon +Barthélemy+
(Virchow’s Jahrb. 1880, I, 666) hat diese besondere Wirkung des
Sublimats auf den Dickdarm hervorgehoben. Seitdem ist diese Thatsache
von uns und zahlreichen anderen Beobachtern bestätigt worden, so u.
A. in einer grösseren Zahl von Fällen von +G. Braun+, „Zur Verwendung
des Sublimats in der Geburtshilfe“ (Wiener med. Wochenschr. 1886,
Nr. 21 u. ff.), von +Butte+ (Annal. d’hygiène publ. 1887, XVII,
pag. 167, 20 Fälle), von +Virchow+ (Sitzungsb. der Berliner med.
Ges. vom 23. Nov. 1887; Berliner med. Wochenschr. 1888, Nr. 7) und
+Kaufmann+, „Die Sublimatintoxication“ (Breslau 1888). Ueber die
Ursache dieser Erscheinung ist vorläufig nichts Positives bekannt,
doch werden locale Hyperämien (+Virchow+), embolische, respective
thrombotische Vorgänge (+Kaufmann+) und heftige Contraction der
Darmmusculatur (+Grawitz+) als solche angegeben. +Falkenberg+ und
+Marchand+ (Virchow’s Archiv. CXXIII, pag. 567) konnten bei ihren
Thierversuchen keinerlei Thrombosirungen der Darmgefässe nachweisen,
wohl aber fand +Marchand+ Quecksilber-Albuminatniederschläge in der
Wand der oberflächlichen Schleimhautgefässe, von welcher er die
Necrose des Epithels und der oberen Schleimhautschichten ableitet.
Damit stimmen die Untersuchungen von +Ludwig+ und +Zillner+ (Wiener
klin. Wochenschr. 1890, Nr. 30) überein, welche ergaben, dass in
subacuten Vergiftungsfällen der Quecksilbergehalt im Dickdarm grösser
ist als im Dünndarm. Alle diese Beobachtungen sprechen dafür, dass das
resorbirte Quecksilber durch den Dickdarm ausgeschieden wird. Zu den
häufigeren, jedoch nicht constanten Befunden gehören Kalkablagerungen
in den Nieren (+Senger+, +Virchow+, +Kaufmann+, +Neuberger+). Dieser
anatomische Befund im Darm und in den Nieren findet sich auch nach
Vergiftung mit anderen Quecksilberpräparaten. +Virchow+ hat ihn nach
Intoxication mit Cyanquecksilber, +Kraus+ (Deutsche med. Wochenschr.
1888, pag. 227) nach parenchymatöser Calomelinjection, +Sackur+
(Berliner klin. Wochenschr. 1892, Nr. 25) nach Einreibung von (blos
5 Grm. bei Phlegmone) Unguentum cinereum beobachtet, ebenso wir bei
einer Puerpera, welcher wegen pyämischer Metastase am Humerus der
Ober- und Unterarm mit grauer Salbe eingerieben worden war. Auch wurde
er bei einem im Wiener pathologisch-anatomischen Institut secirten
Falle nach subcutaner Injection von Oleum cinereum constatirt, und
einmal von uns nach Anwendung der Solutio Plenckii zum Aetzen von
breiten Condylomen. Auch fanden wir in einem besonders typischen Falle
von Sublimatvergiftung ausser der Sublimatdysenterie ausgesprochen
Diphtheritis im Rachen und Oesophagus. Es handelte sich um Selbstmord
und der Tod war nach 6 Tagen eingetreten. Eine ähnliche Wirkung auf den
Dickdarm kommt den Beobachtungen von +Steinfeld+ und +H. Meyer+ zufolge
(Arch. f. experim. Path. XX, pag. 40) auch dem Wismuth zu.
[Sidenote: Bleizucker.]
[Sidenote: Vergiftung durch Kupfersalze.]
Von den Bleisalzen ist besonders das essigsaure Bleioxyd, der
+Bleizucker+ (Plumbum aceticum, Saccharum saturni) zu erwähnen, da
sich dieser vorzugsweise zu acuten Vergiftungen eignet. Im Jahre
1862 ist in Köln eine absichtliche letale Vergiftung zweier Personen
durch wiederholt beigebrachten Bleizucker vorgekommen. Zur Erzeugung
acuter letaler Vergiftungen scheinen grössere Dosen des Salzes nöthig
zu sein, wenigstens sind nach +Husemann+ Fälle vorgekommen, in denen
1-2 Unzen Bleizucker ohne tödtlichen Ausgang genommen wurden und es
ist bekannt, dass als Medicament grosse Dosen (10-60 Gran täglich)
gegeben und vertragen werden. Die Bleipräparate werden nur schwer und
langsam aus dem Körper ausgeschieden; fortgesetzte, selbst kleinere
Dosen sind daher im Stande, schliesslich Vergiftungserscheinungen zu
bewirken. Von den Kupfersalzen haben namentlich der +Kupfervitriol+
(schwefelsaures Kupferoxyd) und der +Grünspan+ (essigsaures
Kupferoxyd) vielfach zu ökonomischen Vergiftungen Veranlassung
gegeben. Selbstmorde damit sind in Frankreich häufig, bei uns
ungemein selten. Ebenso verhält es sich mit den Giftmorden. Nach
+Tardieu+ (l. c. 290) steht in der Verbrecherstatistik Frankreichs
Kupfer gleich hinter Arsen und Phosphor, und es wurden allein in den
Jahren 1851-1862 110 criminelle Vergiftungen gezählt, was bei der
bekannten blauen oder grünen Farbe der Kupfersalze und dem intensiven
Kupfergeschmack derselben immerhin auffällt. Kupfervitriol kann
schon in Dosen von 60 Cgrm. angefangen Vergiftungserscheinungen
hervorrufen, Grünspan in Dosen von 2-3 Grm. bedenkliche Zufälle
und selbst den Tod. Die Vergiftungserscheinungen treten sehr
rasch auf. Es werden grüne oder blaue Massen erbrochen. Heftige
Kolik und andauernder Kupfergeschmack, kleiner Puls, Kopfschmerz,
Schwindel, Convulsionen, Icterus werden als Symptome angegeben. Der
Sectionsbefund ist nicht constant. In der Regel findet sich blos
Injection, Ecchymosirung und Schwellung der Magenschleimhaut; in
einzelnen Fällen wurden Ulcerationen und Verschorfungen beobachtet.
Sind noch Kupfersalze im Magen- und Darminhalt vorhanden, so färbt
sich derselbe nach Zusatz von Ammoniak blau, auch belegt sich,
wenn eine blanke Messerklinge oder dergleichen in die angesäuerten
Massen gebracht wird, dieselbe in kurzer Zeit mit einer dünnen
Kupferschichte.
Vergiftung durch chlorsaures Kali.
Das so häufig, insbesondere bei Hals- und Blasenleiden, angewendete
und allgemein als unschädlich angesehene Kali chloricum hat sich in
den letzten Jahren als eine in grösseren Dosen entschieden giftige
Substanz erwiesen. +Hofmeier+ (Deutsche med. Wochenschr. 1880, Nr. 38)
konnte schon 35 solche Vergiftungsfälle aus der Literatur und eigenen
Erfahrung zusammenstellen, und seitdem wird jedes Jahr über weitere,
meist medicinale und nur ausnahmsweise zufällige (Verwechslung mit
Bittersalz, Karlsbader Salz etc.) derartige Vergiftungen berichtet.
Wir selbst haben zwei obducirt, von denen der eine durch +E. Zillner+
(Wiener med. Wochenschr. 1882, Nr. 45) publicirt wurde. Auch zwei
Selbstmorde mit chlorsaurem Kali sind schon vorgekommen (+Schuchardt+,
Deutsche med. Wochenschr. 1888, Nr. 41) und in einem von +Lacassagne+
mitgetheilten Falle wurde dasselbe als Fruchtabtreibungsmittel
benützt. Bei Erwachsenen können schon Gaben von 15 bis 20 Grm. schwere
Erscheinungen und den Tod bewirken; in unserem Falle war letzterer
sogar schon nach 11·75 Grm. eingetreten. Kinder sind noch empfindlicher
und es wurde letaler Ausgang schon nach 10, in einem Falle (bei einem
einjährigen Kinde, +Hall+) schon nach 4·37 Grm. beobachtet. +Jacobi+
(Virchow’s Jahrb. 1879, I, 411) fordert daher, dass Kindern unter 3
Jahren nie mehr als 2·0, Säuglingen 1·25 und Erwachsenen höchstens 8·0
Grm. pro die verabreicht werden sollen! Als Einzelngabe wird 0·5 bis
1·0 empfohlen.
Die Ursache der Giftigkeit des Kali chloricum liegt in der Zersetzung
des Blutes, welche dasselbe bewirkt. Letzteres wird, wie zuerst
+Marchand+ (Virchow’s Archiv. 1877, Bd. 77, pag. 455) nachwies, wie
man dies auch ausserhalb des Körpers nach Zusatz von Kali chloricum
sehen kann, nach kurzer Zeit gallertig und braun, indem unter
Ausscheidung von Globulin das Hämoglobin in Methämoglobin umgewandelt
wird. Gleichzeitig findet eine Zerklüftung und ein Zerfall der rothen
Blutkörperchen statt. Durch diese Veränderung des Blutes, welche nach
+v. Mering+’s Untersuchungen (Berlin 1884, Monographie) auf einer
Reduction des chlorsauren Kali zu Chlorkalium durch Oxyhämoglobin
und Oxydation des letzteren zu Methämoglobin beruht[430], kommt es
einerseits zu respiratorischen Störungen, anderseits zu Embolien,
Hämaturie und Albuminurie, Icterus u. s. w. In einzelnen Fällen ist der
Verlauf ein sehr acuter. So wurde in einem unserer Fälle der 31jährige,
kräftige Mann, nachdem er sich einer Tonsillitis wegen durch fast 3
Tage mit Kali chloricum gegurgelt und dieses offenbar auch geschluckt
hatte, plötzlich von Convulsionen befallen, die wie epileptische
ausgesehen haben sollen, und starb bald nach Ankunft des Arztes. In
anderen Fällen tritt violette, fleckige, später icterische Hautfärbung
ein, gastrische Erscheinungen, Hämaturie und Albuminurie, der Harn
enthält bräunliche, aus zerfallenem Blute bestehende Cylinder und
Schollen.
Den wichtigsten Sectionsbefund bildet, wie sich sowohl bei den von
+Marchand+ vergifteten Thieren, als auch bei den von uns und von
+Lesser+ (Liman’s Handb. 7. Aufl., II, 559) obducirten menschlichen
Leichen ergab, in acuten Fällen die eigenthümliche, durch die
Methämoglobinbildung bedungene Verfärbung des Blutes, die je nach der
Intensität der Blutzersetzung und je nach der Dicke der Schichte, als
eine chocoladebraune, tabaksaft- bis kaffeesatzfärbige erscheinen
kann. Diese Verfärbung des Blutes bedingt ein eigenthümlich graues
Aussehen der ganzen Leiche, insbesondere graue oder grauviolette
Todtenflecke, und eine entsprechende, meist höchst auffällige
Verfärbung sämmtlicher innerer Organe, die theils grau, theils braun
injicirt erscheinen. Insbesondere war bei dem von uns obducirten Mann
das Gehirn wie mit Chocolade injicirt und sogar beide Substanzen
der Knochen, sowie die Gelenksknorpel auffällig grau verfärbt. In
minder acuten Fällen, zu welchen der zweite unserer Fälle, der ein
Kind betraf, gehörte, finden sich charakteristische Infarctirungen
der Harncanälchen mit braunen Blutgerinnseln, die insbesondere den
Pyramiden ein braungestreiftes Aussehen geben, und Icterus, der schon
am zweiten Tage vorhanden sein kann. In einzelnen Fällen starben
die Kranken erst nach mehreren, sogar 14-15 Tagen (+Hofmeier+,
+Wegscheider+). Die Veränderungen in den Nieren und der Icterus
waren dann besonders hochgradig, und es war auch stets ein Milztumor
vorhanden, der sich überhaupt frühzeitig zu entwickeln scheint. Das
Blut zeigt in der Regel den Methämoglobinstreif. Die Zerklüftung und
der Zerfall der Blutkörperchen scheint weniger mit der Schwere der
Vergiftung als mit der Dauer des Verlaufes proportional zu sein.
In gleicher Weise wie das chlorsaure Kali wirkt auch das chlorsaure
Natron (+Marchand+).
Der chemische Nachweis des Giftes gelingt nur in frischen Fällen.
In dem ersten unserer Fälle wurde es durch Professor +Ludwig+ und
+Nowak+ im Mageninhalt und im Harn, nicht aber im Blute nachgewiesen,
im zweiten nur im Magen. In diesem Falle hatte der 2¾ Jahre alte
Knabe innerhalb 2 Tagen wegen Halsentzündung 4 Flaschen von 5·0 Kali
chlor. auf 120 Aq. verbraucht (stündlich 1 Kaffeelöffel). Am 3.
Tage constatirte der Arzt grosse Schwäche, Cyanose des Gesichtes,
livide Flecken in der Kreuzbeingegend, braunschwarzen, trüben, stark
eiweisshaltigen Harn, am 4. spärliche Harnabsonderung, theerartige
Stühle; am 5. Harnabsonderung ganz sistirt, Tod unter Convulsionen.
Kein Icterus.
Vergiftung mit arseniger Säure.
Obgleich Selbstentleibungen mit Arsenik jetzt nicht mehr so häufig
vorkommen, wie dies früher der Fall war, und gegenüber jenen mit
anderen Giften entschieden an Häufigkeit zurücktreten[431], so sind
sie doch auch gegenwärtig keineswegs selten. Die verhältnissmässige
Häufigkeit der Giftmorde durch Arsenik erklärt sich einestheils aus der
Leichtigkeit, mit welcher das Gift, das bekanntlich in vielen Gewerben,
sowie zum Vertilgen des Ungeziefers, gebraucht wird, zu erhalten ist,
anderseits daraus, dass es seiner Geruch- und Geschmacklosigkeit
wegen trotz seiner schweren Löslichkeit leicht heimlich beigebracht
werden kann, und dass es, wie es auch den Laien wohl bekannt, schon
in geringer Menge zu den lebensgefährlichsten Giften gehört. Die
zufälligen Vergiftungen durch Arsenik kommen in Folge der Verbreitung
des Arseniks selbst, insbesondere aber der arsenhältigen Farben,
gegenwärtig noch häufiger vor, als früher.
[Sidenote: Eigenschaften der arsenigen Säure.]
Wir haben hier zunächst die typische Arsenvergiftung, jene mit
arseniger Säure oder mit dem weissen Arsenik (Arsentrioxyd oder
Arseniksäureanhydrid) im Auge und werden anderer Arsenvergiftungen am
Schlusse erwähnen.
Der weisse Arsenik kommt im Handel entweder als weisses
krystallinisches Pulver (Giftmehl) vor oder in amorphen glasartigen,
durchscheinenden, farblosen oder schwach gelblichen Stücken mit
muschligem Bruch, welche durch längeren Contact mit der Luft
undurchsichtig milchweiss, wie Porzellan glänzend werden und eine
krystallinische Beschaffenheit erhalten. Die arsenige Säure ist im
kalten Wasser schwer löslich (1 Theil in etwa 75 Theilen Wasser),
leichter in siedendem Wasser (1 Theil in 10-12 Theilen), woraus sie
beim Erkalten grösstentheils wieder ausfällt. Die glasige arsenige
Säure ist (dreimal) leichter löslich als die krystallinische. Auch
in Säuren oder Alkalien ist das Arsentrioxyd leichter löslich.
Die angesäuerte wässerige Lösung der arsenigen Säure gibt mit
Schwefelwasserstoff sofort eine rein gelbe Fällung von Schwefelarsen.
Bringt man ein Körnchen arseniger Säure in ein in eine Spitze
ausgezogenes Glasröhrchen, schiebt darüber einen Splitter von
Holzkohle und erhitzt zunächst letztere und dann die arsenige Säure
zum Glühen, so wird diese reducirt und es bildet sich am oberen
Theile der Röhre ein Spiegel von metallischem Arsen, gleichzeitig
wird der charakteristische Knoblauchgeruch wahrnehmbar, der sich
auch durch nochmaliges Erhitzen des Spiegels erzeugen lässt. Wird
arsenige Säure gleichzeitig mit Zink und verdünnter Schwefelsäure
im +Marsh+’schen Apparat zusammengebracht, so entwickelt sich
Arsenwasserstoff, aus welchem sowohl durch Glühen des Rohres,
durch welches das Gas entweicht, als durch Einhalten eines kalten
Porzellanscherbens in das aus der Spitze des Rohres entweichende
und angezündete Gas metallisches Arsen in Form des Arsenspiegels
erhalten werden kann, welcher nach Betupfen mit unterchlorigsaurem
Natron (auch Chlorkalklösung) sofort verschwindet (Unterschied vom
Antimonspiegel).
Von arseniger Säure können schon 1-5 Cgrm. Vergiftungserscheinungen
hervorrufen und 10-15 Cgrm. werden schon als letale Dosis angenommen.
Die Maximaldosis der österr. Pharmakopöe beträgt für Erwachsene für
die Einzelngabe 0·006, für die Tagesgabe 0·012, jene der deutschen
Pharmakopöe für die Einzelngabe 0·005, für die Tagesgabe 0·01 Grm.
[Sidenote: Krankheitsbild bei Arsenikvergiftung.]
Die Vergiftungserscheinungen treten selbst bei grossen Gaben nicht
sofort auf, sondern in der Regel erst nach ½ bis 1 Stunde. In seltenen
Fällen, in denen z. B. das Gift gelöst und auf nüchternen Magen
genommen wurde, können die Erscheinungen schon früher auftreten,
und zwar schon innerhalb der ersten Viertelstunde. Häufiger wurden
Fälle beobachtet, in welchen mehr als eine Stunde, nach +Taylor+[432]
3-10 Stunden verflossen, bevor die ersten Intoxicationssymptome sich
einstellten. Die schwere Löslichkeit des in Substanz genommenen
Arseniks und die wahrscheinlich vorhanden gewesene Füllung des Magens
mit genossenen Speisen etc. erklären solche Fälle, obgleich +Taylor+
eines Falles erwähnt, in welchem die Symptome erst nach 3 Stunden
auftraten, obwohl eine Drachme (ungelösten) Arseniks auf nüchternen
Magen genommen worden war. Das klinische Bild der Arsenikvergiftung
ist keineswegs immer gleich. In der Regel ist es das einer heftigen
Gastroenteritis toxica. Es tritt ein brennendes oder kratzendes Gefühl
im Rachen und im Oesophagus ein, dann heftige Schmerzen im Magen und
heftiges Erbrechen schleimiger, selten und nur in den späteren Perioden
blutig gestriemter Massen und profuse Diarrhöen, mit welchen wässerige,
reiswasserähnliche, molkige, d. h. stark mit desquamirtem Epithel und
Schleimflocken gemengte Stühle entleert werden. Dabei Tenesmus und
unauslöschlicher Durst, häufig Kopfschmerz und in der Regel Ziehen im
Kreuze und krampfartige Schmerzen in den Extremitäten (Wadenkrämpfe);
die Haut ist kühl, mit Schweiss bedeckt, anfangs blass, später im
Gesichte, sowie an den Händen und Füssen cyanotisch. Puls schwach und
klein. Grosse Prostration und hierauf Tod unter allgemeinem Collapsus.
In der Regel führen die erwähnten Symptome im continuirlichen Verlaufe
zum Tode, welcher nach 5-20 Stunden erfolgt.
In anderen Fällen hören zwar Erbrechen und die übrigen acuten
Symptome auf, dafür treten andere ein; darunter die Zeichen acuter
parenchymatöser Nephritis (albumen- und bluthältiger Harn-, Epithelial-
und selbst Fibrincylinder), weiter Symptome zunehmender Muskelschwäche,
erschwertes Athmen, schwache Herzaction, icterische Färbung der Haut
und der Schleimhaut, Symptome, die zum grössten Theile mit der bei
der Arsenikvergiftung rasch sich einstellenden körnigen und fettigen
Degeneration der parenchymatösen Organe und der Musculatur in
ursächlichem Zusammenhange stehen, und unter denen in 3-10 Tagen nach
der Vergiftung der Tod erfolgen kann.
In wieder anderen Fällen prävaliren gleich anfangs, sowie auch im
weiteren Verlaufe weniger die Zeichen der Gastroenteritis, sondern die
Erscheinungen einer Cerebrospinalaffection. Die Erkrankung beginnt
mit Schwindel und Kopfschmerz, Ziehen in den Gliedern, Mydriasis,
hierauf treten Ohnmachten und Betäubung ein, manchmal Delirien, ferner
lähmungsartige Erscheinungen, manchmal aber auch Convulsionen, und zwar
meist clonische, selten tetanische, endlich allgemeine Paralyse und der
Tod, welcher bisweilen in der Zeit von 1-2, häufiger in 6-12 Stunden
erfolgt (+Husemann+). Dieses Bild der Arsenikvergiftung nennt
+van Hasselt+ die paralytische Form der Arsenikintoxication, auch
den Arsenicismus cerebrospinalis zum Unterschiede von dem gewöhnlichen
Vergiftungsbilde, welches als Arsenicismus gastrointestinalis
bezeichnet werden kann. Zwischen den genannten Formen der acuten
Arsenikvergiftung gibt es vielfache Combinationen, und es ist
insbesondere verhältnissmässig häufig, dass mit den Erscheinungen der
Gastroenteritis auch cerebrospinale Symptome sich verbinden.
Es ist bisher nicht constatirt, warum in den einzelnen Fällen
die ersteren und in anderen die letzteren prävaliren. Gegen die
Annahme, dass nur die Menge des Giftes oder nur die Form, in der
es beigebracht wurde (gelöst oder in Substanz), den Verlauf der
Intoxication bedinge, sprechen verschiedene Beobachtungen; doch
scheint es, dass alle jene Momente, welche eine rasche Resorption des
Giftes und daher einen raschen Verlauf der Vergiftung begünstigen,
wie grosse Dosis, flüssiger Aggregatzustand desselben und leerer
Magen, das Prävaliren der cerebrospinalen Symptome bedingen. In einem
unserer Fälle wurde ein Dienstmädchen noch um Mitternacht gesund und
in voller Arbeit gesehen und um 3 Uhr Früh bereits todt und starr
am Abort sitzend gefunden. In einem zweiten Falle hatte sich eine
Försterstochter spät Abends gemeinschaftlich mit ihren Angehörigen
gesund zu Bette gelegt: kurze Zeit darauf hörte man sie stöhnen und
fand sie in Krämpfen liegen und sie gab an, Cyankalium genommen zu
haben. Dann wurde sie „ganz steif“ und starb um ½11 Uhr Nachts. In
ihrem Besitze wurde ein Fläschchen mit Strychnin und in einem Papier
eingewickelt Strychnin und Oxalsäure gefunden. Unter diesen Umständen
wurde zunächst an Strychninvergiftung gedacht. Die chemische
Untersuchung des Mageninhaltes ergab aber keines dieser Gifte, auch
kein Cyankalium, sondern beträchtliche Mengen von Arsenik! Erbrechen
und Diarrhoe waren in keinem dieser Fälle beobachtet worden und die
Obduction ergab auch keine typischen Magen- und Darmbefunde.
[Sidenote: Massenvergiftung.]
Auch in jenen Fällen, in denen mehrere Individuen gleichzeitig und
scheinbar unter gleichen Umständen mit verhältnissmässig kleinen
Mengen vergiftet worden sind, wurden verschiedene Erscheinungen
beobachtet. +Taylor+ (l. c. 227) berichtet über eine Vergiftung von
340 Schulkindern mit arsenikhältiger Milch. Jedes Kind hatte etwa
1 Gran Arsenik bekommen. An fast allen kam Frostschauer, Schmerz
im Magen und in den Eingeweiden, bei den meisten Erbrechen, bei
anderen Kopfschmerzen, Coryza, bei sieben croupartiger Husten
zur Beobachtung. Drei erbrachen Blut und bei einem ging Blut mit
dem Stuhle ab. Eine gleichzeitige Vergiftung von 15 Personen mit
arsenikhältigem Pudding hat +Morley+ (Virchow’s Jahrb. 1873, I,
362) publicirt. Die Hauptsymptome waren bei allen Schwäche,
Magenbeschwerden und intensive Schmerzen im Rücken (welche nach
Anwendung eines Brechmittels nachliessen, aber wiederkehrten
und bei den meisten 10 Stunden anhielten), bei vielen bestanden
Schüttelfröste, bei einem Mädchen trat ein Ohnmachtsanfall ein, in
einem Falle geringe Hämatemese. Injection der Bindehäute kam bei
allen vor. Bei mehreren bestanden noch am zweiten Tage Sehstörungen
(Scotomata), so dass Schreiben und Nähen unmöglich war. Bei
einer Patientin wurde am 3. und 4. Tage excessives Hautjucken
beobachtet. +Leroy de Barres+ (ibid. 1886, I, 560) berichtet über
eine Vergiftung von 270 Personen durch arsenikhaltiges Brod. Der
Tod erfolgte in keinem Falle. Die Symptome waren: Uebelkeit und
Diarrhöe, Durst, Brennen im Halse, entzündliche Röthe im Pharynx
(am 2. Tage), Kopfschmerz, Klopfen in den Schläfen, Kreuzschmerzen,
Abgeschlagenheit. Bei ziemlich vielen trat Anschwellung des
Gesichtes (am 3. Tage), bei den meisten Anschwellung der Augenlider
ein. Später fanden sich Hauteruptionen (4. Tag), Herpes, Erythem,
Urticaria (am 6. Tage), Bläschen, Pusteln, Blasen (am 15. Tag). Ueber
die Vergiftung einer grossen Zahl von Individuen in Hyères durch
arsenikhaltigen Wein, sowie über die wahrscheinlich absichtlich
herbeigeführte, in Havre vorgekommene Vergiftung von 15 Personen
durch wiederholte kleine Gaben von Arsenik wurden von +Brouardel+
und +Pouchet+ (Annal. d’hygiène publ. 1889, XXII, pag. 137 u. ff.)
ausführliche Mittheilungen gebracht. In den protrahirter
verlaufenden Fällen liessen sich vier Perioden unterscheiden. In
der ersten prävalirten die gastrischen, in der zweiten grippeartige
Erscheinungen, in der dritten traten Kopfschmerzen, Ameisenlaufen,
schmerzhafte Haut- und Muskelempfindungen und Sensibilitätsstörungen,
inbesondere in den unteren Extremitäten auf. In der vierten Periode
bestanden paralytische Symptome, Muskelschwäche, Schleudern der
Füsse und Entartungsreaction. Zurückbleiben von Lähmungen nach
Arsenvergiftungen wurde wiederholt beobachtet und von +Mařik+ („Ueber
Arsenlähmung.“ Wiener klin. Wochenschr. 1891, Nr. 31-40) ausführlich
besprochen.
[Sidenote: Sectionsbefund.]
Der +Sectionsbefund+ ergibt in den typischen Fällen eingefallene
und halonirte Augen, manchmal Cyanose des Gesichtes, sowie der
Hände und der Füsse. Sonstige äussere Befunde fehlen. Ebenso bietet
die Schleimhaut der Schlingorgane nichts Abnormes. Dagegen finden
sich in der Regel ausgesprochene Veränderungen im Magen, besonders
aber im Darm. Die subperitonealen Gefässe des Magens und des Darms
sind in der Regel stark mit dickflüssigem, dunklem Blute injicirt.
Der Magen enthält meist gallertigen, fadenziehenden oder glasigen,
mitunter wie geronnenen, gewöhnlich blutig tingirten Schleim. Die
Schleimhaut erscheint in exquisiten Fällen gewulstet, gelockert und
intensiv injicirt, häufig auch ecchymosirt. Die Veränderung kann
über die ganze Magenschleimhaut gleichmässig verbreitet sein, oder
ist nur auf gewisse Strecken, besonders auf den Magengrund und die
untere Magenwand, beschränkt, oder auch nur auf der Höhe der Falten
ausgesprochen. In dem gallertigen Schleime, welcher der Schleimhaut
auflagert, sowie auf der Schleimhaut selbst lassen sich, wenn das
Gift nicht etwa in Lösung genommen wurde, in der Regel harte weisse
Arsenikkörnchen sehen, und noch leichter fühlen, und die Schleimhaut
erscheint an jenen Stellen, denen solche Körnchen aufliegen, stärker
geröthet, gewulstet und sammtartig gelockert. Ebenso lassen sich
mikroskopisch Arsenikkrystalle nachweisen. Aehnliche Befunde ergibt
gewöhnlich auch der Zwölffingerdarm und wir haben wiederholt in diesem
grössere Mengen von Arsenikkörnchen in Schleimklumpen eingebettet
gefunden. Förmliche Corrosionen haben wir niemals gefunden. Doch
befindet sich im hiesigen pathologisch-anatomischen Museum ein so zu
deutendes Präparat und von Dr. +Felkl+ wurde uns mitgetheilt, dass
er bei einem Weibe, welches zu Fruchtabtreibungszwecken (!) Arsenik
genommen hatte, ein deutliches Corrosionsgeschwür gefunden habe. Auch
Andere wollen solche beobachtet haben, namentlich +Filehne+ (Virchow’s
Arch. 83. Bd., pag. 1) bei Thieren, der jedoch die Destruction als
eine peptische, in Folge der sauern Beschaffenheit des Mageninhaltes
auftretende Erscheinung erklärt, die auch bei subcutaner Application
von Arsenik sich einstellt, dagegen nicht eintritt, wenn der
Mageninhalt dauernd alkalisch erhalten wird. Die Gedärme, namentlich
die dünnen, sind gewöhnlich schwappend mit wässerigem, molkig getrübtem
Inhalt gefüllt, während der Dickdarm ausserdem meist massenhaften
gallertigen, wie geronnenen Schleim enthält, der die Schleimhaut in
dicker Lage bedeckt und bei der mikroskopischen Untersuchung sich
ausser mit reichlichen desquamirten Darmepithelien mit massenhaften
lymphoiden Zellen durchsetzt erweist und stellenweise selbst einen
croupösen Charakter besitzen kann. Die Schleimhaut des Dünndarms
sowohl als des Dickdarms ist stark gelockert, in der Regel serös
infiltrirt (ödematös), schlotternd, dabei bleich, wie ausgewässert.
Die Gekrösdrüsen sind geschwellt. Die Nieren in den ersten Stadien der
trüben Schwellung, fast constant Fibrincylinder enthaltend, das Blut
im Herzen locker geronnen, in den peripheren Gefässen in Folge des
grossen Wasserverlustes mehr weniger eingedickt, mitunter von syrup-
bis theerartiger Consistenz. Die sonstigen Befunde, wie Hyperämie des
Gehirns und seiner Häute, sowie der Lungen, sind weder constant, noch
charakteristisch.
In protrahirteren Fällen finden sich körnige und fettige Degeneration
der Magenlabdrüsen, der Nieren und der Leber, sowie der Musculatur,
insbesondere jener des Herzens, und zwar desto ausgesprochener,
je länger der Krankheitsverlauf gedauert hatte. Ecchymosen an den
serösen Häuten, namentlich unter dem Peri- und Endocard, besonders
an letzterem, sind häufig und wir haben sie schon in ganz acuten
Fällen, unter Anderem bei einer Dienstmagd, die Abends noch gesund
und am Morgen todt und bereits todtenstarr am Abort sitzend gefunden
wurde, angetroffen. Bei einem 12jährigen Mädchen, welches Arsenik im
gepulverten Zustand genommen hatte und nach 4 Tagen gestorben war,
glich der Befund in vielen Beziehungen dem nach Phosphorvergiftung:
leichter Icterus, fettige Degeneration des Herzens (leicht), der
Leber (stärker) und der Nieren (sehr stark, wie bei der typischen
Phosphorniere); keine in der willkürlichen Musculatur. Ecchymosen
unter der Rachenschleimhaut und im Halszellgewebe, bohnengrosse
unter der Pleura, zu beiden Seiten der Wirbelsäule und in beiden
Mediastinalräumen, bis hanfkorngrosse am Herzen, besonders
hinten. Hämorrhagische Erosionen und trübe Schwellung im Magen,
wässerig-schleimiger, doch gallig gefärbter Inhalt in den Gedärmen
und gelockerte schlotterige Schleimhaut. Auch wurden in vereinzelnten
Fällen diphtheritische Zerstörungen im Dickdarm, besonders auf der Höhe
der Falten, beobachtet.
Die Intensität der betreffenden Erscheinungen ist nicht immer die
gleiche. Namentlich kann die Magenschleimhaut mitunter nur sehr
geringfügige Veränderungen, insbesondere nur die Erscheinungen der
trüben Schwellung, zeigen, während der Befund im Darm ungleich
constanter ist, was mit der Thatsache übereinstimmt, dass nach
Arsenikvergiftungen profuse Diarrhöen fast ausnahmslos sich einstellen.
[Sidenote: Arsenik. Ursache der Giftwirkung.]
Ueber die +Ursache+ der giftigen Wirkung des Arseniks ist gegenwärtig
nicht viel Positives bekannt. Bis in die neuere Zeit wurde das Gift
als ein in erster Linie local irritirendes, ja ätzendes angesehen.
Die irritirende Wirkung kann zwar nicht geleugnet werden, da
entzündliche Röthung und Schwellung der Magenschleimhaut auch bei
ganz acuter Vergiftung fast regelmässig, wenn auch nicht immer in
gleich hohem Grade vorkommt und namentlich an solchen Stellen stärker
zu bemerken ist, welchen Arsenikkörner auflagern. Auch spricht für
die locale Wirkung der hochgradig entzündete und selbst brandige
Zustand der Scheidenschleimhaut und des Muttermundes, der in solchen
Fällen gefunden wurde, in denen bei Frauen entweder in mörderischer
Absicht (Fälle von +Ansiaux+, vide Henke’s Zeitschr. 1821, II,
187) oder zu Fruchtabtreibungszwecken (Fälle: Vierteljahrschrift
f. gerichtl. Med. 1864, XXV, 110, und Deutsche Klinik. 1873, Nr.
41), ferner bei Stuten, mit welchen man in dieser Richtung Versuche
anstellte (+Ansiaux+, l. c.), Arsenik in die Scheide gebracht
worden war. Trotzdem ist weniger die locale, als vielmehr die
Allgemeinwirkung des Arseniks die Ursache seiner Giftigkeit, wofür
ausser den nervösen Symptomen der Arsenvergiftung insbesondere der
Umstand spricht, dass die klinischen und anatomischen Erscheinungen
der Gastroenteritis, insbesondere die eigenthümlichen, über dessen
ganze Länge gleichmässig ausgedehnten Veränderungen im Darmcanal
in gleicher Weise sich entwickeln, ob nun das Gift per os oder auf
anderem Wege, z. B. durch die Haut, beigebracht wurde.[433]
In welcher Weise die körnige und fettige Degeneration bei der
Arsenikvergiftung zu Stande kommt, ist bis jetzt nicht sichergestellt
(vide pag. 638), ebensowenig, wodurch die cerebrospinalen
Symptome veranlasst werden, die mitunter aufzutreten pflegen. Die
eigenthümliche Eindickung des Blutes, die bei an Arsenikvergiftung
Gestorbenen gewöhnlich gefunden wird, erklärt sich aus den profusen
Diarrhöen, respective aus den mit diesen verbundenen grossen
Wasserverlusten. In gleicher Weise kommt die Eindickung des Blutes
bei profusen Darmcatarrhen, namentlich aber bei der Cholera zu
Stande, mit welcher überhaupt das Bild der Arsenikvergiftung sowohl
während des Lebens, als an der Leiche eine grosse Aehnlichkeit
besitzt, worauf wiederholt und mit Recht hingewiesen wurde.[434]
Sonstige Veränderungen des Blutes, insbesondere der Blutkörperchen,
finden sich bei Arsenikvergiftungen nicht, obwohl Blut, wenn man es
mit einer Lösung arseniger Säure zusammenbringt, sich bald dunkler
färbt und das Hämatinspectrum zeigt.
[Sidenote: Mumification durch Arsenik.]
In einzelnen Fällen von Arsenikvergiftung wurde Verzögerung der
Fäulniss und bei exhumirten Leichen Mumification beobachtet, die
sich theils aus den profusen Wasserverlusten, theils aus der
bekannten conservirenden Wirkung des Arseniks erklärt, welch letztere
selbstverständlich nur dort eintreten kann, wo grössere Mengen von
Arsenik im Körper zurückgeblieben sind, während anderseits die
Mumification auch aus anderen Ursachen (z. B. im trockenen, sandigen
Boden) sich einzustellen vermag. +Zaaijer+ (De Toestand der Lijken
na Arsenicum-Vergifting. Amsterdam 1885 und Virchow’s Jahrb. 1885,
I, 533) hat die exhumirten Leichen von 13, von einer gewissen Frau
+van der Linden+ vergifteten Personen untersucht und ausserdem 60
Fälle von Arsenikvergiftung aus der Literatur zusammengestellt und
gefunden, dass sich die Leichen von an Arsenikvergiftung Verstorbenen
weder vor, noch nach der Exhumation anders verhalten als gewöhnliche
Leichen, weshalb er den Bestand einer sogenannten Arsenikmumification
vollkommen in Abrede stellt. Auch verhielt sich die Schimmel- und
Madenbildung wie bei anderen Leichen.
[Sidenote: Ausscheidung des Arsens. Arsenpräparate.]
Die Ausscheidung des Arseniks aus dem Körper erfolgt im Allgemeinen
schneller als bei anderen metallischen Giften. Der durchschnittliche
Termin der vollständigen Elimination wurde von +Orfila+ auf 30,
von +Chatin+ nur auf 12-15 Tage berechnet (+Tardieu+, l. c. 209)
und nach +Flandin+ (+Casper+-+Liman+, l. c. 421) waren bei Thieren
15 Gran sogar schon in 3 Tagen aus dem Körper verschwunden. Von
+Roussin+ (Journ. de pharm. et de chim. XLIII, 102) dagegen wurde
angegeben, dass die Knochen das Arsen noch hartnäckig festhalten,
nachdem es aus anderen Organen längst verschwunden ist. Nach
+Brouardel+’s und +Pouchet+’s aus Anlass der Massenvergiftungen in
Hyères und Havre (s. oben) angestellten Untersuchungen findet sich
bei acuter Intoxication Arsen in der compacten, bei chronischer auch
in der spongiösen Knochensubstanz. Von unserem Collegen Professor
+E. Ludwig+ werden uns folgende Beobachtungen mitgetheilt: Ein
kräftiger Fleischerhund erhielt durch 20 Tage je 0·1 Grm. Arsenik;
39 Tage nach der letzten Arsenikgabe wurde das Thier getödtet. Bei
der chemischen Untersuchung wurden aus der Leber noch einige starke
Arsenspiegel erhalten, während Gehirn, Knochen und Muskeln schon
arsenfrei waren. Ein zweiter Hund erhielt während 16 Tagen je 0·1
Grm. Arsenik; am 28. Tage nach der letzten Arsenikgabe wurde das
Thier getödtet. Die chemische Untersuchung ergab hier im Harn noch
eine sehr geringe Spur von Arsen, im Gehirn und Knochen gleichfalls
noch nachweisbare Arsenmengen, aus der Leber wurden noch starke
Arsenspiegel erhalten. Einem dritten Hunde wurden während 26 Tagen je
0·1 Grm. Arsenik gegeben, 22 Tage nach der letzten Arsenikgabe wurde
das Thier getödtet; in diesem Falle wurden aus der Leber noch mehrere
starke Arsenspiegel erhalten und auch Gehirn, Herz, Knochen und Harn
erhielten noch leise Spuren von Arsen.
Im Allgemeinen ist es nicht undenkbar, dass ein Individuum an den
Folgen einer Arsenikvergiftung stirbt, nachdem das Arsen bereits
vollständig ausgeschieden ist. Noch eher ist es möglich, dass nur
Spuren davon sich ergeben, wobei ausserdem doch zu erwägen kommt,
dass ein grosser Theil des Giftes schon durch Erbrechen und den Stuhl
entleert wird und ein anderer erst im Grabe im Laufe der Fäulniss
und Verwesung dem Körper entzogen werden kann; durchaus Umstände,
die, wenn es sich um die Diagnose einer Arsenikvergiftung überhaupt
handelt oder speciell um die Frage, in welcher Menge das Gift
beigebracht wurde, wohl in Betracht gezogen werden müssen.
[Sidenote: Arsenikhaltige Farben. Arsenwasserstoff.]
Das +metallische Arsen+ (Scherbenkobalt, Fliegenstein) ist als
solches nicht giftig, oxydirt sich jedoch besonders in feuchter
Luft, sowie im Wasser zu arseniger Säure (Fliegenwasser). Die
+Arsensäure+ (As₂O₅) ist weniger giftig als die arsenige Säure,
zeigt aber sonst gleiche Wirkungen wie diese. Bei ihrer beschränkten
Verbreitung sind Vergiftungen mit derselben äusserst selten. Die
+Schwefelverbindungen+ des Arsens, das Zweifachschwefelarsen oder
Realgar (As₂S₂) und das Dreifachschwefelarsen oder das Auripigment
(As₂S₃) gelten im reinen Zustand als ungiftig, doch enthalten die
käuflichen Sorten beträchtliche Mengen arseniger Säure und wirken
daher wie diese. Bei Arsenikvergiftungen wird möglicherweise
ein Theil der arsenigen Säure durch den Schwefelwasserstoff des
Darmcanals in das Sulphid umgewandelt und dadurch unlöslich und
unwirksam gemacht. Dass auch erst in der Leiche in Folge der
Einwirkung des Schwefelwasserstoffes der Fäulnissgase solche Sulphide
sich bilden können, haben +Lerch+ und +Buchner+ (Schmidt’s Jahrb.
1848, LX, 275; Friedreich’s Centralarch. 1849, pag. 696) dargethan;
diese Umwandlung kann jedoch entgegen der früheren Annahme, wie ein
von uns beobachteter Fall („Befund von gelbem Schwefelarsenik im
Verdauungstractus nach Vergiftung mit weissem Arsenik.“ Wiener med.
Wochenschrift 1886, Nr. 10-12) gezeigt hat, im Dickdarm, besonders
im Cöcum schon vor der Beerdigung und vielleicht noch während des
Lebens erfolgen. Bei mit weissem ungelösten Arsenik vergifteten und
der Fäulniss überlassenen Hunden konnten wir diese Umwandlung schon
nach 8-14 Tagen nachweisen und instructive Museumpräparate gewinnen.
+Pearson+ (Virchow’s Jahrb. 1888, I, 480) hat sie schon 7 Wochen
nach dem Tode beobachtet. Sehr verbreitet sind die arsenikhaltigen
+grünen Farben+: das Schweinfurtergrün (arseniksaures und essigsaures
Kupferoxyd) und das +Scheele+’sche Grün (arseniksaures Kupfer).
Damit gefärbte Spielwaaren, Esswaaren u. dergl., ebenso Kleider
und Tapeten haben wiederholt sowohl zu acuten, als zu chronischen
Vergiftungen Veranlassung gegeben. In einem unserer Fälle war
Schweinfurtergrün in grossen Mengen zur Vertilgung von Ungeziefer
angewendet worden und hatte eine acute Vergiftung erzeugt, ebenso
haben wir zweimal Selbstmord mit dieser Farbe beobachtet. Die
Substanz ist in Wasser unlöslich, löst sich aber im sauern Magensaft.
Von den mit Arsengrün gefärbten Ballkleidern (Tarlatan) enthalten
nach +Ziurek+ 20 Ellen 300 Grm. Schweinfurtergrün mit 60 Grm.
Arsenik. Beträchtliche Mengen von arseniger Säure enthalten die
meisten Sorten des käuflichen +Fuchsins+, der bekannten rothen
Anilinfarbe, die gegenwärtig stark zum Färben von Liqueuren, aber
auch zur Weinverfälschung benützt wird.[435] Von arsenikhaltigen
Medicamenten ist die Solutio arsenicalis Fowleri zu erwähnen, eine
Lösung von arsensaurem Kali im Wasser (1 Grm. arseniger Säure in
90 Grm. der Solution nach der österr. Pharm., nach der deutschen
1 Theil auf 90 Theile). Der +Arsenwasserstoff+ ist ein ungemein
heftiges Gift. Beim Arbeiten damit sind Prof. +Gehlen+ in München
und Prof. +Britton+ in Dublin um’s Leben gekommen. Ueber eine
solche Vergiftung eines Chemikers und eines Arbeiters durch ein
Knallgasgebläse, in dessen Wasserstoffapparat statt Schwefelsäure
irrthümlich Arsensäure eingebracht worden war, wird im Jahresber. f.
Pharm. 1870, pag. 522, berichtet; über eine andere von +Frost+ in
der Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, XVIII, 269, welche 3
Arbeitern das Leben kostete und bei 6 anderen eine schwere Erkrankung
veranlasste, und über eine neuere von +Wächter+ (ibid. XXVIII, 251),
welche 4 Italiener betraf, die sich mit der Füllung von Kinderballons
mit Wasserstoff beschäftigten und sich zur Bereitung des letzteren
arsenhältigen Zinks und käuflicher, zweifellos arsenhaltiger
Schwefelsäure bedient hatten. Unwohlsein, Brechneigung, hochgradige
Schwäche, flüssige Stühle, blutiger Urin, soporöser Zustand, auch
Delirien und bei einzelnen Icterus[436] waren die hauptsächlichsten
Erscheinungen. Die Section bot die Erscheinungen wie bei Vergiftung
mit Arsenik. Wichtig ist auch die Beobachtung von +C. Bischof+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1882, XXXVII, 163) über Bildung
von Arsenwasserstoff aus Arsen durch Schimmelpilze, weil dieselbe bei
manchen Vergiftungen durch arsenhaltige Tapeten eine Rolle spielen
kann. Man hat erstere immer nur von dem sich ablösenden arsenhaltigen
Farbenstaub abgeleitet. Viel gefährlicher jedoch scheinen aber
auf feuchten Mauern klebende Tapeten zu sein, und zwar wegen des
sich bildenden Arsenwasserstoffes. Ueber eine wahrscheinlich auf
diese Weise zu Stande gekommene letale Vergiftung mehrerer Kinder
berichtet +Rossbach+ (Tod durch arsenhaltige Tapeten oder Vergiftung
mit Phosphor. Jena 1890), welche deshalb eine besondere Bedeutung
erhielt, weil der in manchen Beziehungen nicht ganz klargestellte
Fall von anderen Sachverständigen für eine (absichtliche)
Phosphorvergiftung gehalten wurde und noch gehalten wird.
Die +chronische Arsenikvergiftung+ hat nur ein untergeordnetes
forensisches Interesse, und wir verweisen bezüglich dieser auf die
Handbücher der Toxikologie. Davon ist zu unterscheiden die langsame
Vergiftung, welche durch wiederholt beigebrachte, nicht letale,
doch toxische Gaben erzeugt worden ist, wie +Flandin+ (+Taylor+,
l. c. 202) einen solchen Fall erzählt, in welchem ein Weib ihrer
Mitmagd täglich kleine Dosen von Arsenik in der Suppe beibrachte,
die jedesmal Ueblichkeit und Erbrechen und schliesslich einen
hochgradigen Schwächezustand erzeugten. Auch in dem berüchtigten
Falle +Duval+ in Paris (Annal. d’hygiène publ. 1878, Nr. 106, pag.
72) wurde dieser beschuldigt, dass er seine Frau durch wiederholt
gereichte kleine Dosen vergiftet habe.
[Sidenote: Baryumvergiftung.]
Eine gewisse Aehnlichkeit mit Arsenikvergiftungen zeigen Vergiftungen
mit (im Magensaft) löslichen +Baryumsalzen+ (Chlorbaryum,
kohlensaurer Baryt). +Seydel+ berichtet über einen Selbstmord
mit kohlensaurem Baryt, der noch nach der Section für eine
Arsenikvergiftung gehalten wurde (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
XXVII, 213) und +Reincke+ (ibid. XXVIII, 248) über eine Vergiftung
von mehreren Personen durch eine Torte, zu welcher mit kohlensaurem
Baryt vermengtes Mehl genommen worden war. Brechdurchfall und
Lähmungserscheinungen waren die Hauptsymptome. Die Section ergab in
dem Falle +Seydel+’s eine hochgradig ecchymosirte Magenschleimhaut
und sandige weisse Körnchen in dem sie bedeckenden Schleim,
zahlreiche Ecchymosen im Duodenum, Schwellung und leichtes Oedem
der Darmschleimhaut. Als Dosis letalis für Chlorbaryum werden von
+Husemann+ schon 15·0 Grm. angegeben.
Die Phosphorvergiftung.
Man unterscheidet bekanntlich den gewöhnlichen, farblosen und den
amorphen oder rothen Phosphor. Letzterer ist als solcher nicht
giftig, ersterer dagegen gehört unter die heftigsten und zugleich
tückischesten Gifte. Als Dosis toxica letalis werden 10-20 Cgrm.
angenommen, doch haben weit geringere Dosen, namentlich bei
Kindern, bereits den Tod herbeigeführt. So erhielt nach +Kessler+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. IV, 271) ein siebenwöchentliches
Kind 6-7 Zündhölzchenköpfchen (mit etwa 8 Mgrm. Phosphor) und starb
nach 3-4 Stunden, und +Sonnenschein+ berichtet sogar von einem 5
wöchentlichen Kinde, das schon in Folge des Verschluckens nur eines
einzigen Zündhölzchenköpfchens gestorben sein soll. Die häufigsten
Vergiftungen geschehen mit den Köpfchen der Phosphorzündhölzchen, die,
da sie in jeder Haushaltung sich finden, immer zur Hand sind. Ihr
Gehalt an Phosphor ist sehr variabel. Durchschnittlich beträgt derselbe
bei der ursprünglichen Zündmasse 6-7 Procent und auf 100 Kuppen werden
etwa 6-8 Cgrm. Phosphor berechnet. Fälle, in denen schon die Köpfchen
+eines+ Päckchens Zündhölzchen zu 80 bis 100 Stück eine tödtliche
Vergiftung Erwachsener bewirkten, sind gewöhnlich. Die Zündmasse der
sogenannten schwedischen Zündhölzchen enthält keinen Phosphor, sondern
nur Kaliumchlorat, Mennige, Schwefelantimon und Kaliumbichromat. Die
Reibfläche der Schachteln besteht aus amorphem Phosphor, der manchmal
arsenhältig zu sein pflegt (Vierteljahrschr. f. gerichtliche Med. 1879,
XXX, 382). Seltener geschieht die Vergiftung mit Phosphorpasta, einer
Mischung von Phosphor mit Mehlteig in verschiedenen Verhältnissen, mit
oder ohne Zusatz von Fett, welche als Mittel zur Vertilgung von Ratten,
Mäusen u. s. w. zur Anwendung kommt. In fetten Oelen ist der Phosphor
etwas löslich (Phosphoröl), weshalb, wenn der Phosphor mit fetten
Substanzen genommen wurde, die Resorption und Allgemeinwirkung leichter
und schneller eintreten kann, anderseits aber das Verabreichen von Oel
und Fett (Milch) als Gegenmittel contraindicirt erscheint.
[Sidenote: Symptome.]
[Sidenote: Acuter und subacuter Verlauf.]
Die +Symptome+ der Phosphorvergiftung können in einzelnen Fällen
schon wenige Minuten nach dem Verschlucken des Giftes eintreten, in
der Regel jedoch verfliesst einige Zeit, selbst mehrere Stunden und
auch halbe, seltener ganze Tage, bevor dies geschieht. Druck und
schmerzhaftes Gefühl in der Magenwand, Ueblichkeiten, Aufstossen nach
Phosphor riechender und im Dunkeln leuchtender Dämpfe und hierauf
Erbrechen[437] ebenso beschaffener Massen, grosser Durst sind die
ersten Erscheinungen. Dieselben können in progressiver Steigerung
schon in wenigen Stunden unter Collapsus zum Tode führen, und zwar, wie
bei Kindern beobachtet wurde, schon nach 4-8 Stunden. Bei Erwachsenen
ist ein so acuter Verlauf verhältnissmässig selten. In einem von uns
untersuchten Falle starb ein Mädchen, welches die Köpfchen von 5
Päckchen Zündhölzchen genommen hatte, schon nach 8 Stunden, in einem
anderen (Phosphorpasta) erfolgte der Tod schon nach 24, in einem
dritten nach 27 und in einem vierten (Phosphor und Laugenessenz) in
40 Stunden. Auch +Tüngel+ sah letalen Ausgang 9½ Stunden nach der
Vergiftung, +Axel Jäderholm+ nach 7, +Maschka+ (Wiener med. Wochenschr.
1884) dreimal nach 8 Stunden, +Hammer+ (Prager Wochenschr. 1888, Nr.
8) und +A. Paltauf+ (Wiener klin. Wochenschr. Nr. 25) nach 9 Stunden
eintreten. Im letzten Falle waren die Köpfchen von 10, im vorletzten
sogar von 38 Päckchen Zündhölzchen genommen worden. In der Mehrzahl der
Fälle ist der Verlauf ein subacuter und führt erst nach mehreren (meist
3-7) Tagen zum Tode. Das Erbrechen kann nachlassen oder es dauert
fort und es werden dann meist kaffeesatzfärbige (bluthältige) Massen
entleert. Die Magengegend ist etwas aufgetrieben und empfindlich. Der
Stuhl anfangs meist zurückgehalten, während später von zersetztem
Blut missfarbige Stoffe entleert werden. Sehr bald, manchmal schon am
zweiten Tage, zeigt sich (hepatogener) Icterus[438], der sich rasch
und intensiv entwickelt, wobei in der Regel eine Grössenzunahme der
Leber nachweisbar ist, die am 4. bis 9. Tage in eine Verkleinerung
übergehen kann. Enorme Muskelschwäche und Hinfälligkeit, kleiner
frequenter Puls, schwacher Herzschlag. Die Temperatur, mässig erhöht,
sinkt vor dem Tode auf die normale Körpertemperatur und selbst unter
dieselbe. Die Harnabsonderung unterdrückt. Der Harn enthält frühzeitig
Gallenpigment und in der Regel schon in den ersten Tagen Eiweiss und
Blut. Faserstoffcylinder fehlen in der Regel, doch wird ihr Befund
von +Mannkopff+ (Wiener med. Wochenschr. 1883, Nr. 26, Beilage)
angegeben. Der Harnstoffgehalt wurde in einzelnen Fällen vermindert
und in anderen bedeutend vermehrt gefunden. Im ersteren Falle treten
niedere Oxydationsproducte des Stickstoffes auf und nach +Schulzen+
constant Fleischmilchsäure. +Schütz+ (Prager med. Wochenschr. 1882,
pag. 111) fand bei Phosphorvergiftung im Harn freies Fett, +Selmi+
(Virchow’s Jahrb. 1880, I, 440) phosphorhaltige Basen, nicht aber
bei Icterus gravis. Das Bewusstsein bleibt meist bis zum Tode
erhalten. In einzelnen Fällen waren Delirien kurz vor dem Tode und
ein comatöser Zustand eingetreten.[439] Bemerkenswerth ist noch das
vereinzelt beobachtete Auftreten von Ecchymosen in der Conjunctiva und
unter der Haut unter dem Bilde der Purpura haemorrhagica. Genesung
nach intensiver Phosphorvergiftung ist nicht häufig, wurde jedoch
wiederholt und selbst in Fällen beobachtet, in denen bereits Icterus
und Collapserscheinungen aufgetreten waren.[440]
[Sidenote: Sectionsbefund nach Phosphorvergiftung.]
Der +Leichenbefund+ hängt wesentlich von der Dauer der durch die
Vergiftung veranlassten Erkrankung ab. In sehr acuten Fällen kann
sich ausgesprochener Phosphorgeruch des Magen- und Darminhaltes,
sowie ein Leuchten desselben beim Schütteln im Dunkeln finden und
man ist mitunter noch im Stande, Phosphorstückchen, beziehungsweise
Zündhölzchenköpfchen zu erkennen. Noch leichter ist es, die Anwesenheit
von Phosphor chemisch, insbesondere durch Destillation in dunklem
Raume, nachzuweisen. Dafür sind die übrigen Befunde meist negativ,
da die Organe ausser etwa trüber Schwellung der Magenschleimhaut
keine auffallenden mikroskopischen Veränderungen bieten. Auch die
mikroskopische Untersuchung kann ein ganz negatives Resultat ergeben,
wie dies bei einem von uns obducirten Mädchen der Fall war, welches
Abends Zündhölzchenköpfchen genommen und am frühen Morgen sich aus dem
Fenster gestürzt hatte. Doch konnten wir bei dem oben erwähnten, schon
nach acht Stunden verstorbenen Mädchen nicht blos „trübe Schwellung“
der Magenschleimhaut, sondern bereits körnige Degeneration der
Leberzellen, sowie ein wie bestäubtes Aussehen der Nierenepithelien und
der Herzmuskelfasern constatiren, noch ausgesprochener aber in den nach
24 oder 40 Stunden abgelaufenen Fällen.
[Sidenote: Ecchymosen.]
War jedoch, wie meistens, der Tod erst nach 3-5 Tagen eingetreten, so
ist der Sectionsbefund ein sehr charakteristischer. Die Leiche ist
auffallend icterisch[441] und die äussere Besichtigung lässt manchmal
Ecchymosen in den Conjunctiven, und durch die Haut durchscheinend,
im subcutanen Zellgewebe erkennen, die mitunter wie traumatische
Suffusionen aussehen können. Die inneren Organe erscheinen mehr
weniger icterisch und von diesen die meisten im Zustande hochgradiger
acuter, fettiger Degeneration. Letztere ist namentlich in der Leber
und in der Niere ausgesprochen, welche vergrössert, auffallend gelb
von Farbe und von teigiger Consistenz erscheinen, am Durchschnitt
fettig glänzen und deren Parenchymzellen unter dem Mikroskope
von massenhaften Fetttröpfchen durchsetzt sich erweisen. Ebenso
zeigen sich die Magenlabdrüsenzellen, insbesondere die Hauptzellen,
hochgradig fettig degenerirt, so dass schon bei makroskopischer
Besichtigung der Magenschleimhaut die Drüsenmündungen in Form
gelblicher Punkte hervortreten (Virchow’s Gastradenitis phosphorica),
während die Schleimhaut im Ganzen eigenthümlich bleichgelb, trüb
und etwas geschwellt erscheint. Ecchymosen der Magenschleimhaut und
hämorrhagische Errosionen finden sich häufig. Der Mageninhalt ist
entweder eine graue trübe Flüssigkeit oder ist bluthaltig und dann
chocoladebraun. Letzterer Inhalt findet sich häufig, und zwar im
Allgemeinen häufiger als im Magen, im Darmcanal, und zwar mit und
ohne Ecchymosirung der Darmschleimhaut. Diese erscheint in der Regel
bleich oder noch häufiger gelblichgrau. Im Dickdarm finden sich in
jenen Fällen, in denen Stuhlverhaltung bestand, lehmfarbige oder
schiefergraue breiige Massen, in denen nicht selten der Nachweis
von Phosphor in Substanz gelingt, während dies im Magen und übrigen
Darminhalt in der Regel nicht mehr möglich ist. Ausser in den
parenchymatösen Organen ist die fettige Degeneration auch in der
Musculatur ausgesprochen, namentlich in jener des Herzens, aber auch
in den Gefässwandungen, besonders in jenen der kleinen Gefässe. Auch
die weissen Blutkörperchen zeigen sich von Fetttröpfchen durchsetzt.
Das Blut ist theils flüssig, theils locker geronnen[442], dabei aber
missfärbig, die Blutkörperchen sind vielfach verknittert und zerfallen,
mit Wasser verdünnt erscheint das Blut auffallend trübe und setzt
einen reichlichen feinkörnigen Bodensatz ab (Globulin?). Ob die
Verknitterung und Auflösung der rothen Blutkörperchen schon während des
Lebens stattfinde oder erst an der Leiche in Folge der meist frühzeitig
eintretenden Fäulniss, ist nicht sichergestellt. Ersteres ist jedoch
wahrscheinlich, wurde auch durch die Untersuchungen von +Taussig+
(Arch. f. experim. Path. 1892, XXX, pag. 161) bestätigt und dieser
Umstand zugleich mit der durch die fettige Degeneration bewirkten
grösseren Zerreisslichkeit der Gefässe ist der Grund eines anderen,
der Phosphorvergiftung sehr constant zukommenden Befundes, nämlich
der Ecchymosen, welche unter den serösen Häuten, aber auch an anderen
Stellen sich finden. Von ersteren ist es insbesondere das Peritoneum,
welches namentlich zwischen den Blättern der Netze und Gekröse grössere
und kleinere Ecchymosen enthält, ebenso die Pleura und das Pericardium.
Häufig sind auch Ecchymosen im subcutanen, insbesondere aber im
intermusculären Bindegewebe, namentlich an abhängigen Stellen, in den
Mediastinalräumen, besonders den hinteren, ferner an den Schleimhäuten,
so schon im Rachen und im Oesophagus gewöhnlich aber in der Magen-
und Darmschleimhaut, sehr constant in den Nierenbecken. In einzelnen
Fällen wurden Ecchymosen sogar im Ependym der Ventrikel beobachtet.
Bei der Entstehung der Ecchymosen können auch mechanische Einflüsse
mitwirken. So fand +Seydel+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1893,
VI, pag. 281) bei einer an subacuter Phosphorvergiftung gleich nach der
Entbindung verstorbenen Frau die Ecchymosen besonders massenhaft in der
vorderen Bauchwand und an einem Oberschenkel, was er einestheils von
der vorgenommenen Placentarexpression, anderseits von einem Fall auf’s
Knie herleitet, den die Untersuchte kurz vor ihrem Tode gemacht hatte.
In den von uns secirten Fällen finden wir auffallend häufig Ecchymosen
an den Rippeninsertionen der Brustmuskeln und an den Rippenbögen
verzeichnet, bei deren Entstehung die Zerrung der Muskeln bei der
angestrengten Athmung eine Rolle spielen dürfte.
[Sidenote: Hautgangrän.]
Bemerkenswerth ist das in einzelnen Fällen beobachtete Auftreten
von (symmetrischer) Hautgangrän an den Füssen. Ausser in einem
1882 von +Ehrlich+ in Berlin veröffentlichten solchen Fall und in
zwei von R. +Paltauf+ und +Kretz+ vor Kurzem beobachteten, aber
noch nicht publicirten Fällen kam ein solcher Befund in unserem
Institute zur Beobachtung und wurde von +Haberda+ bei der Wiener
Naturforscherversammlung (Wiener klin. Wochenschr. 1894, pag. 798)
mitgetheilt. Er betraf ein nach Abortus verstorbenes Mädchen, bei
welchem zwei Tage vor dem Tode an beiden Fussrücken gangränöse Flecken
auftraten. Man dachte an eine Fruchtabtreibung durch Secale cornutum,
während die Obduction eine zweifellose Phosphorvergiftung ergab.
+Haberda+ erklärt diese Gangränen aus der Blutzersetzung, aus den
Veränderungen an den Gefässen, vorzugsweise aber aus der schwachen
Herzaction.
Zwischen diesen höchst ausgeprägten und kaum zu verkennenden Fällen
von Phosphorvergiftung und jenen sehr acuten, die bei der Section
keine auffallenden Veränderungen in den inneren Organen zeigen,
gibt es andere, in denen die genannten Organe die verschiedenen
Uebergänge zwischen „trüber Schwellung“ und fettiger Degeneration
zeigen, und es muss festgehalten werden, dass der Tod in Folge einer
Phosphorvergiftung in allen Stadien derselben erfolgen kann. Auch ist
zu bemerken, dass der Tod noch vor vollständigem Ablauf der Vergiftung
durch Hämorrhagien eintreten kann, die in Folge der fortschreitenden
fettigen Degeneration der peripheren Gefässe sich einstellen können. So
berichtete +Heschl+[443] über einen Fall, in welchem im Verlaufe einer
Phosphorvergiftung eine tödtliche Hirnhämorrhagie auftrat, und einen
gleichen Fall hatten auch wir zu obduciren Gelegenheit, sowie mehrere,
in welchen es zu einer profusen Darmblutung gekommen war, die als
nächste Todesursache aufgefasst werden musste.
[Sidenote: Wirkung des Phosphors.]
Ueber die +Ursache+ der giftigen Wirkung des Phosphors ist man
noch sehr im Unklaren. Eine ätzende Wirkung namentlich auf die
Magenschleimhaut kommt dem Phosphor nicht zu, und die Angaben
Einzelner, dass sie angeätzte und selbst brandige Stellen im Magen
fanden, stehen im Widerspruch mit den zahlreichen Beobachtungen
Anderer, welche niemals ähnliche Befunde constatiren konnten, womit
auch unsere an einer grossen Reihe von Phosphorleichen gemachten
Erfahrungen übereinstimmen. Was die Allgemeinwirkungen des Phosphors
betrifft, so verlangt das Verständniss dieser zunächst eine genauere
Kenntniss über die Art und Weise, wie der Phosphor überhaupt zur
Resorption gelangt. Da letzterer als im Wasser unlöslich angesehen
wird, so ist eine Resorption schwer verständlich, weshalb einzelne
Forscher (+Munk+ und +Leyden+) die Ansicht aussprachen, dass der
Phosphor im Magen sich zu phosphoriger und Phosphorsäure oxydire,
und dass diese Säuren, weil sie im concentrirten Zustand resorbirt
werden, giftig wirken. Diese Anschauung ist unhaltbar, weil sie eine
Anätzung der Magenschleimhaut voraussetzt, die sich niemals findet.
+Schuchardt+ und +Dybkowsky+ wieder sind der Meinung, dass sich im
Magen die nichtentzündliche Varietät von Phosphorwasserstoff bilde
und resorbirt giftig wirke, indem dieser auf Kosten des Sauerstoffes
des Blutes zu phosphoriger Säure sich oxydire. Auch diese Anschauung
hat wegen der geringen Mengen von Sauerstoff, die dem Blute dabei
entzogen würden, nicht viel für sich. Am plausibelsten erscheint
gegenwärtig die Annahme, dass der Phosphor als solcher in das
Blut gelange, und zwar entweder als Phosphordampf, welcher nach
Versuchen +Bamberger+’s thierische Membranen zu durchdringen im
Stande ist, oder indem der Phosphor durch die im Magen oder im Darm
befindlichen Fette gelöst wird und auf diese Weise zur Resorption
kommt. Ueberdies neigen sich einzelne Beobachter zur Ansicht hin,
dass der Phosphor doch nicht im Wasser so ganz unlöslich sei, wie
gewöhnlich angenommen wird.[444] +H. Meyer+ (Arch. f. exp. Path. XIV,
313) findet, dass dem Phosphor eine direct schwächende Einwirkung auf
das Herznervensystem zukomme, ähnlich wie dem Arsen und dem Antimon,
ausserdem eine Einwirkung auf die Blutgase, da die Grösse des
Sauerstoffgehaltes des Blutes zwar normal bleibt, dagegen der Gehalt
der gesammten und der auspumpbaren Kohlensäure ausserordentlich tief
herabsinkt. +Briliant+ wieder (ibid. XV, 39) kommt auf Grundlage
seiner Thierversuche zum Schlusse, dass zwischen den Wirkungen
des Phosphors und des Phosphorwasserstoffes kein wesentlicher
Unterschied bestehe, und dass die Kreislaufstörungen bei diesen
Vergiftungen analog sind denen bei Arsen- und Antimonvergiftung.
Dagegen treten die Gastrointestinalerscheinungen gegen die nervösen
Störungen sehr in den Hintergrund. Als charakteristisch bezeichnet
er das Stadium tiefster Narcose, welches dem Tode bei Phosphor-
oder Phosphorwasserstoffvergiftung unmittelbar vorausgeht, während,
wie oben erwähnt, bei Menschen das Bewusstsein in der Regel bis
zum Tode sich erhält. Neuere Ansichten über den „Mechanismus der
Phosphorvergiftung“ hat +Corput+ am 10. internationalen Congress in
Berlin vorgebracht.
[Sidenote: Acute gelbe Leberatrophie.]
Die hochgradige Verfettung der inneren Organe, der Icterus und die
Ecchymosen an den serösen Häuten und an den Schleimhäuten sind für
die subacute Phosphorvergiftung sehr charakteristisch und gewähren
ein so eigenthümliches Bild, dass dieses in den meisten Fällen für
sich allein die Diagnose gestattet. Trotzdem gibt es einige Processe,
die, wenn auch nicht gleiche, so doch ähnliche Sectionsbefunde
gewähren. Es sind dies alle jene Erkrankungen, die ebenfalls eine
acute körnige und fettige Degeneration der inneren Organe nach
sich ziehen und die wir bereits oben (pag. 638) angeführt haben.
Specielle Erwähnung verdient hier die „acute Leberatrophie“, deren
Aehnlichkeit mit der Phosphorvergiftung seit jeher hervorgehoben worden
ist. Dieselbe tritt bekanntlich am häufigsten bei Schwangeren und
Wöchnerinnen auf und verläuft sehr acut unter dem Bilde des Icterus
gravis, wobei schon während des Lebens eine Abnahme des Lebervolumens
klinisch nachgewiesen werden kann. Die Section zeigt ebenfalls
hochgradige, fettige Degeneration der Nieren und des Herzens, sowie
der willkürlichen Musculatur und auch Ecchymosen unter den serösen
Häuten und auf den Schleimhäuten, wenn auch nicht so constant wie
bei der Phosphorvergiftung. Dagegen bietet, wie gewöhnlich behauptet
wird, die Leber ein anderes Verhalten, als die Phosphorleber. Während
letztere vergrössert erscheint und die teigige Consistenz der Fettleber
zeigt, ist die acut atrophirte Leber, wie schon die Bezeichnung
ausdrückt, verkleinert und dabei auffallend schlaff, die Oberfläche
häufig stellenweise eingesunken. Während ferner die Phosphorleber eine
reingelbe, gleichmässig mit Rothbraun oder Gelbbraun untermischte
Farbe bietet, zeigt das Organ bei der acuten gelben Atrophie ein
schmutziggelbbraunes, am Durchschnitte sowohl als an der Oberfläche
von verwaschenen schmutzigrothen Flecken und Streifen unterbrochenes
Aussehen. Die mikroskopische Untersuchung ergibt nicht eine einfache
Infiltration der Leberzellen mit Fetttropfen, sondern gleichzeitig
einen Zerfall der Leberzellen, die als solche grösstentheils
unkenntlich erscheinen. Dabei sind sowohl in dem Detritus als in
den feinsten Gallengängen massenhaft Bacterien vorhanden, deren
Invasion sich auch in anderen Organen, so namentlich in den Nieren,
im Herzen und in den Hirngefässen, nachweisen lässt (+Waldeyer+,
+Klebs+). Endlich zeigt das interstitielle Lebergewebe eine reichliche
Einlagerung kleiner Rundzellen, deren rapide Wucherung nach Ansicht
+Winiwarter+’s Compression der Gefässe und Zerfall der Leberzellen
bedingt, ein Befund, der sich bei der Phosphorleber gar nicht oder nur
in sehr geringem Grade ergibt. Leider aber zeigt auch bei entschiedener
Phosphorvergiftung die Leber mitunter ein gleiches Verhalten wie bei
der acuten gelben Leberatrophie. Insbesondere kann auch bei dieser eine
Verkleinerung und ein Matschwerden der Leber sich finden. So berichtet
+Ermann+ (Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. 1880, XXXIII, pag. 61)
über einen 19jährigen Mann, der die Köpfchen von 5 Bund Streichhölzchen
verschluckt hatte und nach 10 Tagen starb, nachdem während des Lebens
Chylurie (fetthaltiger Harn) eingetreten war, bei dem eine matsche,
ungleichmässig gefärbte und stark verkleinerte Leber von nur 870 Grm.
gefunden wurde. +Hessler+ (l. c.) constatirte unter 48 Fällen während
des Lebens 12mal eine Vergrösserung der Leber; in 2 Fällen gleich von
Anfang eine Verkleinerung, in den übrigen mit oder ohne vorausgegangene
Vergrösserung eine Verkleinerung vom 2. bis 9. Tage angefangen. Auch
wir haben bei einem entschiedenen Phosphorvergiftungsfalle eine
ausgesprochene Leberatrophie (690 Grm.) gefunden. +Ossikovszky+ (Wiener
med. Wochenschr. 1881, Nr. 33), der schon 1870 auf das Vorkommen
von Leberatrophie bei protrahirteren Formen der Phosphorvergiftung
aufmerksam machte, hält überhaupt die „acute Leberatrophie“ und die
Phosphorvergiftung für identisch. Ob und in welcher Beziehung die
„acute gelbe Leberatrophie“ zu der besonders bei Schwangeren und
Wöchnerinnen von +R. Paltauf+, +Jürgens+ und auch von uns beobachteten
Fällen von „Hepatitis haemorrhagica“ steht, bedarf noch weiterer
Studien.
[Sidenote: Differentialdiagnose. Acute Leberatrophie.]
Ein der Phosphorvergiftung ähnliches Bild erzeugt auch die Variola
haemorrhagica, besonders wenn der Tod im sogenannten Ausbruchsstadium
erfolgt. Bei einem 5½jährigen Mädchen fanden wir nur spärliche,
von einem hämorrhagischen Hof umgebene Knötchen an der linken
Gesichtshälfte, an den Seitentheilen des Thorax, am Bauche und
den Oberschenkeln, aber bis bohnengrosse zahlreiche Hämorrhagien
im subcutanen und intermusculären Bindegewebe, ebenso in beiden
Mediastinalräumen und besonders in den Gekrösen, parenchymatöse
Degeneration der Muskeln, der Leber und der Nieren, trübe Schwellung
im Magen, acuten Milztumor, keinen Icterus.
[Sidenote: Nachweis von Phosphor in der Leiche.]
Bezüglich des Nachweises des Phosphors wurde bereits erwähnt, dass
in einzelnen Fällen die Anwesenheit von Phosphor im Magen- und
Darminhalt durch das charakteristische Leuchten der im Dunkeln bei
Luftzutritt geschüttelten Massen constatirt werden kann. Hier sei
hinzugefügt, dass nur saure oder neutrale Massen leuchten, dass daher
die Contenta, wenn sie, namentlich in Folge der Fäulniss, alkalisch
reagiren, früher angesäuert werden müssen. Das +Mitscherlich+’sche
Verfahren, den Phosphor in Leichentheilen nachzuweisen, besteht in
Destillation der angesäuerten Massen im dunklen Raume. Ist Phosphor
vorhanden, so zeigt sich, wenn die Masse im Kolben in’s Kochen
geräth, an der Stelle, an welcher das vom Kolben abgehende Rohr in
das Kühlrohr eintritt, das charakteristische Leuchten, eine Reaction,
die so empfindlich ist, dass schon 1-2 Zündhölzchenköpfchen dieselbe
geben. Das Leuchten kann jedoch verhindert werden durch Anwesenheit
von Alkohol, Aether, Terpentinöl, Buttersäure und wahrscheinlich
durch andere stark riechende Stoffe, die daher, bevor man den Versuch
anstellt, entfernt werden müssen. Die Methode von +Dussard+ und
+Blondlot+ beruht auf der Darstellung von Phosphorwasserstoff, die
in analoger Weise ausgeführt wird, wie die des Arsenwasserstoffes
im +Marsh+’schen Apparate, und bezweckt den Nachweis der
charakteristischen, prächtig grünen Phosphorwasserstoffflamme.
Da der Phosphor sich im Organismus rasch oxydirt, ein Theil überdies
theils durch Erbrechen und manchmal auch durch Diarrhöen entleert
wird, so gelingt der chemische Nachweis des Phosphors als solcher
in der Regel nur in acuteren Fällen, selten und dann nur im unteren
Darm in jenen, die länger gedauert hatten. Doch kann dann noch
der Nachweis von phosphoriger Säure, die im normalen Organismus
nicht vorkommt, die Diagnose sicherstellen. In acut verlaufenden
Fällen kann der Phosphor unter Umständen noch in der faulen
Leiche unzersetzt sich erhalten. So haben +Fischer+ und +Müller+
(Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1876, XXIV, 1) den Phosphor
noch nach 8 Wochen und noch nach 12 Wochen phosphorige Säure in den
Leichen damit vergifteter Thiere nachweisen können, und +Elvers+
(ibid. XXV, 25) beschreibt einen Fall, in welchem es gelang, in
der exhumirten Leiche einer mit Phosphorpasta vergifteten Frau
noch 35 Tage nach dem Tode die Anwesenheit von Phosphor mittelst
des +Mitscherlich+’schen Apparates zu constatiren. In dem von uns
untersuchten, nach 8 Stunden letal abgelaufenen Fall zeigte der
leicht verschlossen aufbewahrte, hochgradig faule Darminhalt noch
nach 2 Monaten, in einem anderen (Tod nach 8 Tagen) die im Mastdarm
gefundenen, erweichte Zündhölzchenköpfchen und Schwefelstückchen
enthaltenden Fäces noch nach 5 Monaten ein deutliches Leuchten im
+Mitscherlich+’schen Apparate; in einem weiteren (Phosphorpasta) war
schon 7 Tage nach der Aufbewahrung kein Phosphor mehr nachweisbar.
+Friedberg+ (Virchow’s Arch. LXXXIII, 501) berichtet über einen Fall,
in welchem nach 3 Monaten nach der Beerdigung die Phosphorvergiftung
durch den Nachweis von phosphoriger Säure sichergestellt wurde.
Die chemische Untersuchung ergab zugleich kleine Mengen von Arsen
und Antimon, welche auch in dem in Beschlag genommenen Mäusegift
(Phosphorbacillen) gefunden wurden.[445] Da die Zündhölzchenköpfchen
durch Mennige gefärbt sind, sind die Leichentheile auch auf Blei
zu untersuchen, welches sich bekanntlich leicht nachweisen lässt.
Dieser Nachweis ist uns wiederholt im Darminhalt gelungen, nachdem
bereits Phosphor als solcher nicht mehr vorhanden war. In einem von
+Tardieu+ (l. c. 264) mitgetheilten Falle konnte noch nach 1½
Jahren in der exhumirten Leiche Zinnober nachgewiesen werden, womit
die betreffenden Zündhölzchen gefärbt gewesen waren. In einzelnen
unserer Fälle gelang es, im Magen- und Darminhalt noch Stückchen der
Hölzchen aufzufinden und auch unter dem Mikroskope als von Nadelholz
herrührend, an den bekannten Tüpfelgefässen zu erkennen. Insbesondere
fanden wir bei einem aus der Donau gezogenen Manne etwa 30
abgebrochene, bis 1·5 Cm. lange Zündhölzchenstücke im Dünndarm. Auch
der Schwefel der gewöhnlichen Zündhölzchenköpfchen kann nachweisbar
sein, doch kam hier auch ein Fall zur (pathologischen) Section, in
welchem bei einer an Laugenessenzvergiftung verstorbenen Dienstmagd
auch eine Menge von Schwefelstückchen im Magen gefunden wurde, indem
dieselbe gestossenen Schwefel, weil sie diesen entweder für giftig
hielt oder mit Phosphor verwechselte, der Laugenessenz beigemischt
hatte.
Vergiftung mit Opium und Morphium.
Die hierher gehörenden, zur forensischen Untersuchung gelangenden
Vergiftungen geschehen entweder mit dem Absud von Mohnköpfen oder
mit Opium und seinen pharmaceutischen Präparaten oder mit dem
wichtigsten und am meisten bekannten und benützten Alkaloid desselben,
dem Morphin. Die Vergiftung durch Absud von Mohnköpfen betrifft
fast ausnahmslos Kinder, denen derselbe als schmerzstillendes oder
einschläferndes Mittel gereicht wurde, welcher gefährliche Usus so
verbreitet ist und bereits so vielen Kindern das Leben kostete, dass
das gegenwärtige österr. St.-G. sich veranlasst fand, im §. 377
die Anwendung des Absudes von Mohnköpfen bei Kindern ausdrücklich
als Uebertretung, beziehungsweise als Vergehen zu bezeichnen und
hervorzuheben. Zufolge der Untersuchung von +Sydenham+, +Winkler+
und +Menz+ sind in vier Stück unreifer und getrockneter Mohnköpfe
0·019 Grm. Morphium enthalten, doch ist bei der Verwerthung dieser
Angabe ausser auf den wechselnden Morphiumgehalt der Mohnköpfe und des
Opiums überhaupt, auch darauf Rücksicht zu nehmen, dass zerkleinerte
Mohnköpfe, wenn sie gekocht werden, viel mehr Morphium abgeben, als
wenn sie, wie häufig geschieht, in toto gekocht worden sind. Auch ist
der Opiumgehalt der Mohnkapseln ein sehr verschiedener, insbesondere
der der unreifen ein höherer als der reifen. Den Untersuchungen
+Bělohoubek+’s zufolge (Virchow’s Jahresb. 1893, I, pag. 499) soll in
den käuflichen Mohnköpfen auch eine strychninartige Substanz vorkommen.
Ebenso giftig ist der bei uns früher im Handverkauf der Apotheker
gestattete, aus Mohnkapseln bereitete Syrupus Diacodii, der unter dem
Namen „Bockshörndlsaft“ häufig zur Beruhigung der Kinder angewendet
wird. Wir haben mehrere damit vergiftete Kinder obducirt, darunter
einen Säugling, der für 2 kr. (10 Grm.) des Syrups erhalten hatte.
Fast unmittelbar nach der Darreichung erfolgte tiefer Schlaf, der in
Sopor und Tod überging. Die Obduction ergab mässige Bronchitis, enge
Pupillen, ausgedehnte Harnblase und geronnenes Blut. Die Vergiftung mit
Opium als solchem, sowie die mit dessen pharmaceutischen Präparaten,
wie Tinctura opii simplex und crocata, sind bei uns selten und kommen
fast nur als medicinale Vergiftungen vor. In England sind Selbstmorde
damit häufig. Als Dosis toxica letalis vom Opium wird 1-2 Grm.
angenommen. Die Maximaldosis der österreichischen sowohl als der
deutschen Pharmakopöe beträgt 0·15 in der Einzelgabe und 0·5 pro die.
Von Morphium und seinen Salzen sind durchschnittlich 20-40 Cgrm. schon
im Stande, einen Erwachsenen zu tödten.
Maximaldosis der österreichischen Pharmakopöe für Morphin. hydrochl.
pro dosi 0·03 und pro die 0·12; jene der deutschen Pharmakopöe,
sowohl für Morphin als für seine Salze 0·03 für die Einzelngabe und
0·12 pro die, ausserdem für subcutane Injectionen 0·006 bis 0·03.
Kinder reagiren ungleich empfindlicher gegen Opiate als Erwachsene.
+Tardieu+ berichtet von einem 5½jährigen Kinde, das nach Genuss
von 20 Cgrm. Opium in wenigen Stunden starb, und von einem anderen,
bei welchem schon nach ¹⁄₂₀, ja schon nach ¹⁄₉₀ Gran Opium bei
Säuglingen der Tod eintrat. Ebenso sind Fälle, in denen nach
Bruchtheilen eines Grans von Morphium bei Kindern der Tod eintrat,
in beträchtlicher Zahl bekannt (Zusammenstellungen von +Dongall+,
s. Wiener med. Wochenschr. 1878, pag. 924). Anderseits wurden
Genesungen nach 1-1·5 Grm. Morphin und nach 60 bis 192 Grm. Laudanum
beobachtet.[446] Ferner ist es eine Thatsache, dass nach successiver
Steigerung der Gabe schliesslich enorme Mengen von Morphium und
Opium vertragen werden. +Husemann+ sah in Göttingen eine Frau, der
täglich 20 Gran Morphium gegeben wurden. +Credé+ berichtet von einem
Individuum, das täglich 52 Gran Morphium nahm, und nach +L. Herrmann+
(l. c. 373) existirte bei Zürich eine Frau, welche sich täglich 1·2
Grm. Morphinsalz auf einmal einspritzte!
Die Vergiftungserscheinungen treten in der Regel erst nach einer
halben bis einer Stunde ein, manchmal aber noch später und bestehen
zunächst in Schwindel, Schwere des Kopfes, rauschartiger Aufregung,
Sinnesdelirien und grosser Empfindlichkeit gegen Licht und Schall,
manchmal auch Hautjucken (+Husemann+). Ueblichkeiten sind häufig,
ebenso Erbrechen, können jedoch fehlen. Dieses Aufregungsstadium
geht nach kurzer Dauer in das Depressionsstadium über, in dem sich
Betäubung, tiefer, in Sopor übergehender Schlaf einstellt; die Reflexe
sind erloschen, das Athmen nur langsam und später stertorös, der
Puls meist frequent (Vaguslähmung), doch schwach, die Ausscheidungen
sistirt (Blasenlähmung), die Pupillen meist hochgradig verengert, ein
Symptom, auf welches +Taylor+ und +Husemann+ (Deutsche Klinik. 1874,
Nr. 7 und 8) ein besonderes Gewicht legen, und das auch bei mehreren
unserer Fälle constatirt worden ist. In einzelnen, besonders in nicht
letal abgelaufenen Fällen wurden unscheinbare, wahrscheinlich auf
Gefässlähmung beruhende Röthungen der Haut und Hautjucken beobachtet.
(Ueber derartige und andere üble Zufälle nach Morphiuminjectionen vide
insbesondere +Schüle+, Handb. d. Geisteskh. 1878, pag. 668.) Der Tod
erfolgt unter Erscheinungen centraler Lähmung einige (5 bis 12) Stunden
nach Beginn der ersten Intoxicationserscheinungen, bei Kindern in der
Regel ungleich früher.
In einzelnen Fällen kommen die Individuen wieder zum Bewusstsein, um
jedoch nach einiger Zeit wieder in Betäubung und Sopor zu verfallen,
in welchem sie schliesslich, und zwar in der Regel erst auch mehreren
Stunden und selbst Tagen, sterben. +Taylor+ (l. c. III, 9) hat diesen
Verlauf als remittirende Form der Opiumvergiftung beschrieben.
Wir haben einen gleichen Verlauf bei einem Mädchen beobachtet,
welches 2 Gran Morphium in Chloroform genommen hatte (Wiener med.
Presse. 1877, Nr. 3-4), und erklären uns das neuerliche Auftreten
von soporösen Erscheinungen aus pneumonischen Processen, die durch
während der Betäubung und während des Darniederliegens der Reflexe
erfolgende Aspiration von erbrochenen Substanzen sich ungemein rasch
entwickeln, eine Anschauung, die in einem anderen Falle bestätigt
wurde, in welchem bei einem Manne, der über 1 Grm. Morphium pur.
genommen hatte und erst nach 8 Stunden starb, die Bronchien bis in
die feinsten Verzweigungen geronnene Milch enthielten, die man ihm
als Gegenmittel gereicht hatte. -- Bei „nervösen“ Personen kann die
Morphiumvergiftung mitunter einen ganz anormalen Verlauf nehmen
und +Pellacani+ (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 533) hat einen solchen
beobachtet, wo nach subcutaner Injection Trismus und Opisthotonus
aufgetreten waren.
[Sidenote: Sectionsbefund nach Opiumvergiftung.]
Der +Leichenbefund+ bietet nichts Charakteristisches. Eine auffallende
Pupillenverengerung haben wir nur in wenigen unserer Fälle gefunden
und dies erklärt sich daraus, dass die anfangs in der Regel bestehende
Pupillenverengerung in den letzten Stadien der Vergiftung sich wieder
verliert. In einem Falle von Selbstmord durch Morphium war die eine
Pupille mittelweit, die andere enge. Hirn- und Lungenhyperämien sind
sehr constante Befunde und erklären sich aus der Gefässlähmung, die
das Morphium bewirkt. Wenn Opium in Substanz oder als Tinctur genommen
wurde, so kann der charakteristische Opiumgeruch im Magen sich finden,
ebenso eine auffallend safrangelbe Färbung, wenn die Vergiftung mit
Tinct. opii crocata geschah, wie wir in einem Falle beobachteten, wo
eine Unze derselben statt Aq. laxat. Viennensis gegeben worden war. In
einem anderen Falle, wo die Vergiftung mit Abkochung von Mohnköpfen
geschah, vermochten wir noch Partikel der Mohnkapseln im Mageninhalt
zu erkennen. Das Blut ist in sehr acuten Fällen flüssig, in subacuten
locker geronnen. Dauerte die Agone lange und hatten sich bereits
pneumonische Processe oder auch nur Lungenödem zu entwickeln begonnen,
so kann man massigen Fibringerinnseln im rechten Herzen und den
Pulmonalgefässen begegnen.[447]
[Sidenote: Chloroform.]
Dem Morphin in seinen Wirkungen sehr ähnlich ist das +Chloroform+.
Es sind meist medicinale Vergiftungen, die damit vorkommen.
Insbesondere ist die Zahl der Fälle, in denen, während einer
zu chirurgischen Zwecken eingeleiteten Chloroformnarcose, die
Individuen starben, eine nicht unbedeutende. Ueber einen Fall, in
welchem ein Chloroformliniment irrthümlich innerlich genommen wurde,
berichtet +Thomayer+ (Wiener med. Wochenschr. 1882, Nr. 39). Auch
als Berauschungsmittel wurde in einzelnen Fällen das Chloroform
angewandt. Selbstmord, sowohl durch Verschlucken von Chloroform als
durch Inhalation desselben, ist wiederholt und mehrmals auch von uns
beobachtet worden. In einem unserer Fälle wurde eine Frau in ihrem
Bette todt aufgefunden. Vor dem Munde hatte sie einen nach Chloroform
riechenden Schwamm, über welchen ein Stück Wachstaffet und dann ein
Tuch gelegt und letzteres im Nacken zugebunden war. Das Chloroform
war ihr angeblich von einem Arzte zu Inhalationen verschrieben
worden. Es war jedoch aus der Art der Anwendung, die unmöglich von
einem Arzte angerathen worden sein konnte, und aus den Umständen
des Falles ungleich wahrscheinlicher, dass die Betreffende sich
selbst um’s Leben gebracht hatte. Ganz zweifellos war dies bei einem
im Jahre 1851 in seinem Zimmer todt gefundenen Spitalsarzte, der
einen Chloroform enthaltenden Ballon mittelst Heftpflasterstreifen
und Kautschuk am Munde befestigt hatte und bei welchem ausserdem
beide Nasenlöcher mit Pfropfen von Charpie und darübergelegten
Heftpflasterstreifen verschlossen sich fanden. In einem 1877 von uns
obducirten Falle hatte ein 30jähriges blindes Mädchen nach einem
Familienstreite sich in sein Zimmer begeben und war 6-10 Minuten
darauf bereits röchelnd in seinem Bette gefunden worden, und es ergab
sich, dass es 35-40 Grm. Chloroform getrunken hatte. Fälle von Mord
durch Chloroform sind ungemein selten. +Casper+ (l. c. 544) erwähnt
eines solchen, in welchem ein Berliner Zahnarzt seine Frau, zwei
Kinder und dann sich selbst um’s Leben brachte.
Wie viel Chloroform, wenn verschluckt, schon hinreicht, um einen
Menschen zu tödten, lässt sich nicht genau bestimmen. Die maximale
Einzelngabe wird von +C. P. Falck+ mit 0·5-2·0, jene pro die mit 7·5
Grm. angegeben. +Taylor+ sah bei einem 4jährigen Kinde nach blos
3 Grm. und bei einer Frau nach 15 Grm. den Tod eintreten, dagegen
berichtet +Tardieu+ (l. c. 467) von einem Manne, der zwei Unzen
Chloroform verschluckt hatte und doch noch (mittelst Anwendung der
Magenpumpe) gerettet wurde, aber erst nach 14 Tagen vollkommen
genas. Nach dem Verschlucken tritt schon nach wenigen Augenblicken
ein rauschartiger Zustand ein, der bei toxischen Gaben sofort oder
in wenigen (5-10) Minuten in Narcose übergeht, die, wie in unserem
Falle, schon innerhalb der ersten Stunde zum Tode führen kann. Ein
remittirender Verlauf, wie wir ihn bei der Morphiumvergiftung erwähnt
haben, ist ebenfalls beobachtet worden (+Taylor+). Einer unserer
Fälle betraf einen an eiteriger Pericarditis erkrankten Tabiker, der
irrthümlich statt Aq. chlorof. einen Esslöffel reines Chloroform
erhalten hatte, rasch bewusstlos wurde und trotz sofortiger Hilfe in
kurzer Zeit starb. Hier musste zugegeben werden, dass das Chloroform
weniger als solches, sondern wegen des hochgradig krankhaften
Zustandes des Mannes zum Tode geführt habe.
Was die Chloroformeinathmungen betrifft, so ist es aus der
alltäglichen Erfahrung bekannt, dass, wenn correct vorgegangen
wird, Individuen stundenlang ohne Schaden in der Narcose erhalten
werden können. Andererseits sind die Fälle, in denen während der zu
chirurgischen Zwecken eingeleiteten Chloroformnarcose schon nach
wenigen Athemzügen der Tod eintrat, in beträchtlicher, allerdings
aber gegenüber der Unmasse der gelungenen Narcosen verschwindend
kleiner Zahl (nach +Richardson+ kommt 1 Todesfall auf 3500 Narcosen)
vorgekommen. Der Tod erfolgte fast in allen Fällen im Stadium der
Excitation in Folge plötzlichen Aufhörens der Respirationsbewegungen
und des Herzschlages, seltener unter Dyspnoe. Der Stillstand der
Respiration wird auf reflectorische Lähmung des Respirationscentrums
in der Medulla oblongata, der Stillstand des Herzens von Einzelnen
auf reflectorische Reizung des Vaguskerns, von Anderen auf Lähmung
der im Herzen selbst befindlichen motorischen Ganglien zurückgeführt.
In der Mehrzahl der Fälle scheinen individuelle krankhafte Zustände
(Herzkrankheiten) oder eine anormale Reaction des Individuums gegen
Chloroform die Ursache eines so unglücklichen Ausfallens der Narcose
zu sein[448], in einzelnen mag allzu plötzliche oder ungeschickte
Anwendung des Chloroforms die Schuld getragen haben, namentlich
vielleicht der Umstand, dass für genügenden Luftzutritt nicht genug
Sorge getragen wurde.
[Sidenote: Leichenbefund nach Chloroformvergiftung.]
Die +Befunde an der Leiche+ sind in den Fällen, in welchen der Tod
durch Inhalation von Chloroform erfolgte, in der Regel ganz negativ.
Im Allgemeinen finden sich die Zeichen des acuten Erstickungstodes.
Von Chloroformgeruch ist meist nichts zu bemerken. Doch lässt sich
Chloroform mitunter noch chemisch nachweisen, wie dies aus dem Blute
der oben erwähnten Frau gelang, die sich durch Vorbinden eines mit
Chloroform getränkten Schwammes getödtet hatte. Wurde Chloroform
geschluckt, so kann sich dieses noch im Magen durch den Geruch
kundgeben. Bei dem blinden Mädchen, das etwa 40 Grm. Chloroform
getrunken hatte, fanden wir fast die ganze Menge noch im Magen, als
eine schwere, durch Galle grün gefärbte Schichte im Magengrunde.
In diesem Falle war das Epithel des Rachens, des Kehlkopfeinganges
und des Oesophagus missfärbig, theils abgängig, theils erweicht
und leicht abstreifbar. Die Schleimhaut des Magengrundes an einer
zweihandflächengrossen Stelle in einen mürben, grauen, bis in die
tieferen Schichten der Schleimhaut dringenden Schorf verwandelt, die
übrige Schleimhaut getrübt ohne Ecchymosen mit einer dicken Lage zu
einer grauen Sulze geronnenen Schleims belegt, ebenso die Schleimhaut
des Duodenums. Eine Verätzung der betreffenden Schleimhäute war
hier unverkennbar und dieselbe ist auch bei der grossen Menge des
geschluckten Chloroforms und bei dem Umstande, dass letzteres schon
auf den Lippen heftig brennt, begreiflich. Auch haben wir gefunden,
dass die Oberfläche von Organen durch Chloroform thatsächlich getrübt
und grau verfärbt wird, womit sich die Angaben, dass Chloroform die
Eiweisskörper nicht wesentlich verändert, nicht im Einklang befinden.
Ob das Chloroform im vorliegenden Falle vielleicht salzsäurehaltig
gewesen war, liess sich nicht eruiren, doch kann nicht angenommen
werden, dass so grosse Mengen von Salzsäure darin gewesen wären,
dass von diesen allein die Aetzwirkung ausgegangen ist. Auch +Mygge+
(Virchow’s Jahrb. 1881, I, 424) fand bei einem Potator, der 40 Grm.
Chloroform verschluckt hatte und nach 5 Tagen an Pneumonie starb,
ausgebreitete Ulcerationen im Magen und im Jejunum; ebenso +Reuss+
(ibid. 1880, I, 456) bei einer Frau, die 27 Stunden, nachdem sie 50
bis 60 Grm. Chloroform in selbstmörderischer Absicht verschluckt
hatte, gestorben war.
Das Blut ist in jenen Fällen, in denen der Tod plötzlich erfolgt,
dunkelflüssig, wenn aber demselben eine längere Agonie vorausging,
im Herzen und den grossen Gefässen locker geronnen, zeigt aber sonst
kein von der Norm abweichendes Verhalten. Die Fäulniss scheint nach
Chloroformvergiftung rasch einzutreten und davon rührt auch die
Schlaffheit des Herzens her, sowie die Gasblasen im Blute, die von
älteren Beobachtern als pathognomonisch für die Chloroformvergiftung
angegeben wurden.
[Sidenote: Tödtliche Nachwirkung von Chloroform und Bromäthyl.]
Die schon von +Casper+, +Langenbeck+ u. A. hervorgehobene Möglichkeit
einer längeren, insbesondere auch tödtlichen Nachwirkung von
Chloroforminhalationen und nach Ablauf der Narcose ist von +Ungar+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1887, XLVII, Heft 1) und
+Strassmann+ (Virchow’s Arch. 1889, Bd. 115) experimentell an
Hunden geprüft und bestätigt worden. Die Ursache derselben sind
parenchymatöse Degenerationen, insbesondere der Leber und des
Herzens. Auch +Ostertag+ (Virchow’s Arch. CXVIII), sowie +Thiem+
und +Fischer+ (Deutsche Med.-Ztg. 1889, Nr. 96) haben solche
Beobachtungen mitgetheilt und +Kast+ und +Mester+ (Zeitschr. f.
klin. Med. XVIII, 469) experimentell andauernde Steigerung des
Eiweisszerfalles nachgewiesen und die an 100 Chloroformirten
vorgenommenen Untersuchungen von +Friedländer+ (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1894, VIII, Suppl. 94) haben ergeben, dass unter 60
Fällen, deren Harn vor der Narcose vollständig normal war, 36 nach
der Narcose eine kurze Zeit andauernde Albuminurie nachwiesen, von
47 Fällen aber, die früher bereits Eiweiss im Harn zeigten, nach der
Narcose 22 keine Veränderung, 9 eine leichte Steigerung und 7 eine
Verminderung des Eiweisses ergaben. -- Drei Fälle von tödtlicher
Nachwirkung der +Bromäthylnarcose+ wurden, wie +Mittenzweig+
(Zeitschr. f. Medicinalb. 1890, pag. 40) vorläufig mittheilt, kurz
hintereinander in Berlin beobachtet. Die Narcose war nicht tief,
die Dosis nicht allzugross (ca. 20 Grm.). Die Patienten erwachten
ohne erhebliche Beschwerden, fühlten sich erst zu Hause schwach und
unwohl, wurden schwindlich, schliesslich bewusstlos und starben nach
circa 30 Stunden. In einem von +Kollmar+ (Therapeut. Monatsh. 1889,
11) berichteten Falle war irrthümlich statt Aethylum bromatum das
ausserordentlich giftige Aethylenum bromatum angewendet worden. Ueber
eine grosse Zahl von Bromäthylnarcosen berichten +Gleich+ (Wiener
klin. Wochenschrift, 1891, Nr. 53) und +R. v. Baracz+ (ibidem 1892,
Nr. 26) in günstigster Weise; schon wenige Monate darauf war aber
+Gleich+ in der Lage, einen Todesfall mitzutheilen, der während
einer solchen Narcose bei einem an Anthrax operirten Kranken vorkam
und bei dem die von uns vorgenommene Obduction Bromäthylgeruch und
parenchymatöse Degeneration des Herzens ergab (ibidem 1892, Nr.
11). Wir sind der Meinung, dass in den meisten Fällen von Tod in
der Narcose derselbe nicht in Folge einer specifischen Wirkung des
Narcoticums, sondern nur in Folge des durch die Narcose gesetzten
Eingriffes in toto, wozu auch die Aufregung und Angst des Patienten
gehört, eintritt und dass dieser Eingriff nur eine der vielen
Gelegenheitsursachen bildet, welche bei zur Herzlähmung disponirten
Individuen zu dieser führt. Deshalb wird es wahrscheinlich nie eine
Form der Narcose, respective ein Narcoticum geben, welches als ein
unter allen Umständen harmloses wird bezeichnet werden können.
Thatsächlich gibt es fast kein Inhalationsanästheticum, bei welchem
nicht derartige Unglücksfälle vorgekommen wären und auch bei dem
neuesten, dem +Pental+, sind solche bereits vorgekommen.
[Sidenote: Vergiftung durch Chloralhydrat.]
Das jetzt so häufig zur Anwendung gelangende +Chloralhydrat+
(Maximaldose nach +Falck+ 4·0 pro dosi und 8·0 pro die) hat bereits
wiederholt zu (medicinalen) Vergiftungen Veranlassung gegeben[449];
auch wir hatten Gelegenheit, eine Geisteskranke zu obduciren, welche,
nachdem sie etwa 5 Grm. auf einmal verschluckt hatte, soporös wurde
und in einigen Stunden starb. Der Chloralgeruch war im Magen deutlich
und das Chloral wurde auch chemisch nachgewiesen. (Destillation des
Mageninhaltes mit Kalilauge gab Chloroform). Die Magenschleimhaut war
etwas stärker injicirt, namentlich im Fundus, zeigte jedoch weiter
keine Veränderungen. Sonstiger Befund negativ.
Von den neuen Schlafmitteln ist das +Sulfonal+ zu erwähnen, welches
bis zur Maximaldose von 5 Grm. gegeben wird und ähnliche Wirkungen
wie Chloral erzeugt. Schwere Betäubungen wurden schon nach „mässigen“
Dosen von 1-3 Grm. beobachtet. Nach grösseren Dosen oder nach
längerem Gebrauch wird der Harn bluthältig (Hämatoporphyrin).
[Sidenote: Vergiftung durch Alkohol.]
+Alkohol+ coagulirt im concentrirten Zustande Eiweiss und entzieht
den Geweben Wasser, wirkt daher ätzend. Einen Fall von absichtlicher
Vergiftung zweier Kinder mit 30gradigem Spiritus hat +Maschka+
(Prager med. Wochenschr. 1864, 46) veröffentlicht. Wir selbst haben
einen Tischler obducirt, der in selbstmörderischer Absicht etwa
1 Seidel in starkem Alkohol aufgelösten Schellack (sog. Politur)
ausgetrunken, und eine 80jährige Frau, die sich mit Arnicatinctur
vergiftet hatte, ferner einen Branntweinschänker, der 1 Liter Alkohol
in selbstmörderischer Absicht genommen und unmittelbar darauf sich
von der Dampftramway überfahren liess. Im Magen fand sich reichlicher
Alkohol und die Schleimhaut daselbst und in den Schlingorganen war
weissgrau verätzt.
Aber auch mit gewöhnlichen alkoholischen Getränken sind letale
Vergiftungen vorgekommen. So bei Kindern. Nach +Taylor+
starb ein 7jähriger Knabe nach dem Genusse von 3-4 Unzen Gin
(Wacholderbranntwein). Bei Erwachsenen ist der Tod im schweren
Rausche nichts Seltenes. Meistens sind es Individuen, die an
chronischem Alkoholismus leiden, die schliesslich ihren letzten
Rausch mit dem Tode bezahlen, wobei bemerkt werden muss, dass bei
Säufern die Intoleranz gegen Alkoholica in dem Grade zunimmt,
als die Erscheinungen der Alkoholdyscrasie sich entwickeln, so
dass schliesslich verhältnissmässig geringe Mengen von Alkohol
genügen, um den Tod durch Lähmung herbeizuführen. Manchmal sind es
jedoch auch gesunde Individuen, die übermässig genossenem Alkohol
unterliegen. Namentlich sind wiederholt Fälle beobachtet worden,
in denen unsinnige Trinkwetten zum Tode führten. In solchen Fällen
tritt das Depressionsstadium des Rausches meist plötzlich ein.
Die Individuen stürzen bewusstlos zusammen, athmen dyspnoisch,
das Gesicht wird cyanotisch und schliesslich erfolgt der Tod, in
der Regel unter Convulsionen. Die Section ergibt Befunde wie beim
Erstickungstod und Alkoholgeruch nicht blos im Magen, sondern auch in
entfernteren Organen, z. B. in den Lungen und im Gehirn. Als seltener
Befund, der wohl nur bei Combination von acuter mit chronischer
Alkoholvergiftung vorkommt, werden von +Mitscherlich+ das Auftreten
von brandblasenartigen Efflorescenzen an den peripheren Körpertheilen
und von +Heinrich+ der Befund von Ecchymosen im Zellgewebe und in
den Muskeln angegeben. Wir haben bei einem 20jährigen tuberculösen
Burschen, der, nachdem er im betrunkenen Zustande noch ⁵⁄₄ Liter Rum
getrunken hatte, sterbend und cyanotisch auf der Strasse gefunden
worden war, ausser Hyperämie des Gehirns und der Lungen starken
Geruch nach Rum daselbst und im Magen, nussgrosse brandblasenartige
Abhebungen der Epidermis mit gerötheter Umgebung am rechten Fussrist
gefunden. Ob dieselben nicht etwa schon vor der Vergiftung bestanden
als sogenannte abgedrückte Stellen, konnte nicht erhoben werden.
Der Genuss von +denaturirtem Branntwein+ scheint, wie schon
+Strassmann+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1888, XLIX, pag.
332) erwähnt, häufiger vorzukommen als gewöhnlich gedacht wird.
Wir haben einen Schusterlehrling secirt, der nach reichlichem
Branntweingenuss sterbend zusammengestürzt war. Mageninhalt,
Lungen und Gehirn rochen nach denaturirtem Spiritus, auch
wurde Methylalkohol chemisch nachgewiesen. Weiter secirten wir
eine Frau, die sich mit in denaturirtem Branntwein gelösten
Laugenstein vergiftet hatte und kurz darauf todt gefunden wurde.
Es ergaben sich der Laugenessenz entsprechende Befunde und der
charakteristische Geruch nach Methylalkohol und Pyridinbasen, mit
welchen der Branntwein denaturirt wird. Da diese Substanzen zu den
Cerebrospinalgiften gehören (+Kobert+, Intoxicationen, pag. 623), so
musste in beiden Fällen erklärt werden, dass diese zum Eintritt des
Todes beigetragen haben konnten.
[Sidenote: Vergiftung durch Benzin und Petroleum.]
Eine berauschende und vasoparalytische Wirkung kommt auch gewissen
Kohlenwasserstoffen zu. Von diesen sind insbesondere das +Benzin+
und die leicht destillirbaren Bestandtheile des +Petroleums+, die
sogenannten Petroleumäther (Kerosolen, Ligroin etc.), zu nennen,
deren anästhesirende Wirkung ausser Zweifel steht.
Bei einem zweijährigen Knaben, welcher einen Schluck Benzin
gemacht hatte und nach 10 Minuten gestorben war, fand +Falck+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. III, 199) Benzingeruch in der
Bauchhöhle, sonst nichts Abnormes.
+Kelynack+ (Med. Centralbl. 1894, pag. 288) sah nach der zufälligen
Einnahme von 30 Grm. Benzin Bewusstlosigkeit, Cyanose und Tod nach 12
Stunden eintreten und constatirte bei der Obduction unerträglichen
Anilingeruch, Ecchymosen in der Darm- und Bronchialschleimhaut, sonst
nichts Abnormes.
Das gewöhnliche Petroleum ist nicht giftig und verursacht
höchstens Ueblichkeiten, da nur von den erwähnten giftigen,
zugleich flüchtigeren und leicht entzündbaren Bestandtheilen
durch Destillation befreites Petroleum in den Handel gebracht
werden darf. (Min.-V. v. 17. Juni 1865, R. G. Bl. Nr. 40.) Wenn
daher +Reihlen+ (Bayerisches Intellig.-Bl. 1885, Nr. 35) bei
einer Dienstmagd, die 150 Grm. Petroleum in selbstmörderischer
Absicht genommen hatte, mehrstündige Bewusstlosigkeit eintreten
sah, so dürfte es sich um Petroleum gehandelt haben, welches noch
reichlich leichte Kohlenwasserstoffe enthielt. +Lewin+ („Ueber
allgemeine und Hautvergiftung durch Petroleum.“ Virchow’s Arch.
1888, CXVII, pag. 35) findet, dass verschluckte Petroleumpräparate
nur in grösserer Menge Krankheitserscheinungen hervorrufen, die
dann rasch vorübergehen. Thierversuche ergaben, dass insbesondere
jene Petroleumantheile, die über 250° C. sieden, und die an ihnen
reichen schlechten Petroleumsorten die Schleimhäute in Entzündung zu
versetzen vermögen. -- Ein von uns 1879 obducirter, in Folge einer
Oesophagusstenose verstorbener Knabe soll dieselbe durch drei Monate
vor dem Tode geschehenes Trinken von Petroleum acquirirt haben.
Bei der Aufnahme in’s Spital soll noch deutlicher Petroleumgeruch
zu bemerken gewesen sein. Der Fall ist jedoch nicht genügend
klargestellt worden.
Bei einer geisteskranken Potatrix, die sich mit ihrem Leintuch
erdrosselt hatte, fand sich im Magen eine ½ Cm. dicke Schichte
von Petroleum über dem Mageninhalt stehend, mit welchem sich die
Untersuchte offenbar vor der Erdrosselung zu vergiften versucht
hatte. Ausser leichtem Oedem am Kehlkopfeingang und einer geringen
Röthung der Magenwand fand sich kein von der Vergiftung abzuleitender
Befund. Ueber die Erkrankung von 55 Soldaten unter cholera-ähnlichen
Erscheinungen, die einen statt mit gewöhnlichem Oel mit zwei Flaschen
aus Petroleumrückständen dargestelltem „Gewehröl“ bereiteten Salat
genossen hatten, berichtet +Reboud+ (Gaz. des hôp. 1893, 7.
Sept.).
Bei einem an Diphtheritis verstorbenen Kinde fand sich ein um den
ganzen Hals herumlaufender brandwundenähnlicher Streifen, der von
einem 14 Tage vor dem Tode applicirten Petroleumumschlag herrührte
und bei einem anderen ähnliche auf Hals und Brust sich fortsetzende
Stellen, die von herabgeflossenem Petroleum stammten, mit welchem
wegen Läusen der Kopf eingeschmiert worden war.
[Sidenote: Jodoformvergiftung.]
Seit der allgemeinen Anwendung des +Jodoforms+ in der Chirurgie sind
bereits zahlreiche Fälle von Intoxication mit demselben beobachtet
worden. +Mikulicz+ (Langenbeck’s Arch. XXVII) hat die ersten zwei
Fälle von tödtlicher Jodoformintoxication mitgetheilt. +König+
(Centralbl. f. Chirurgie. 1882, Nr. 7-17) konnte bereits 48 und
+Greussing+ (Prager med. Wochenschr. 1882, Nr. 37 u. ff.) bereits
63 Fälle von Jodoformintoxication zusammenstellen. Ueber die Menge
des Jodoforms, welche von Wunden aus schon Vergiftungserscheinungen
bewirken kann, ist nichts Positives bekannt. Es wurden solche schon
nach Dosen unter 50, ja selbst unter 10 Grm. beobachtet, während
andererseits Mengen von weit über 100 Grm. sich als unschädlich
erwiesen. Es scheint somit weniger die Menge, als gewisse, vorläufig
noch unbekannte individuelle Momente von Einfluss zu sein. Nach
+Greussing+ spielt die Lösung des Jodoforms in den Fetten der
Applicationsstelle eine wesentliche Rolle. Nach +König+ kommen in den
schweren Formen nach plötzlich eingetretener Erhöhung der Erregung
des Pulses Schlaflosigkeit, Unruhe, Delirien, Tobsucht, Melancholie
etc. vor, Erscheinungen, welche nach zuweilen wochenlangem Verlauf
zur Genesung oder durch Herz-, respective Lungenlähmung zum Tode
führen oder es treten Erscheinungen von Meningo-Encephalitis
auf. Die Autopsie ergibt parenchymatöse Degeneration von Herz,
Leber und Nieren und sonst negative Befunde. In einem Falle
traten durch Suppositorien von der unverletzten Schleimhaut aus
Vergiftungserscheinungen auf. Die Maximaldosis von Jodoform beträgt
nach der deutschen und österreichischen Pharmakopöe 0·2 pro dosi und
1·0 pro die.
Die Kohlenoxydvergiftung.
Dieselbe kann erfolgen durch Einathmen entweder von Kohlendunst oder
von Leuchtgas.
[Sidenote: Kohlendunst.]
Die Vergiftungen durch +Kohlendunst+ kommen vorzugsweise durch
vorzeitiges Schliessen der Ofenklappe zu Stande, ebenso durch
unvorsichtiges Umgehen mit glühenden Kohlen in geschlossenen Räumen,
wie namentlich beim sogenannten Ausheizen von Neubauten oder überhaupt
beim Heizen oder sonstigen Gebahren mit offenen Kohlenbecken in
kleinen Räumen, z. B. beim Aufthauen von Wasserleitungen oder beim
Löthen in Closets. Letzteren gleich zu achten ist die Heizung mit den
sogenannten Carbonnatronöfen, welche wegen ihrer Gefährlichkeit sowohl
in Deutschland als in Oesterreich verboten worden sind. Vergiftungen
durch solche oder ähnliche, meist mit Briquets geheizte, keinen Abzug
in’s Freie besitzenden kleinen Oefen sind namentlich in Badezimmern,
aber auch in geheizten Fiakern vorgekommen, worüber +Motet+ (Annal.
d’hygiène publ. 1894, XXXI, pag. 258) berichtet. Ausserdem findet
sich CO in der Atmosphäre von Darrhäusern, Kohlenmeilern, Kalk- und
Ziegelöfen, ferner in Giessereien und Hütten, wo Metalloxyde durch
Kohle reducirt werden, und auch beim Ersticken im Rauche, z. B. bei
Bränden, spielt das Kohlenoxyd eine grosse Rolle. Ferner bildet
dasselbe einen Bestandtheil der Gruben- und Minengase. Der Kohlendunst
enthält nach +Eulenberg+ (Die Lehre von den giftigen Gasen. 1865, pag.
108) 2·54% Kohlenoxyd und 24·68% Kohlensäure nebst geringen Mengen
schweren Kohlenwasserstoffs, doch ist selbstverständlich, dass der
Kohlenoxydgehalt je nach dem Brennmaterial variiren und ein desto
grösserer sein wird, je mehr der Zutritt der atmosphärischen Luft zu
den glühenden Stoffen erschwert und die vollständige Verbrennung des
Kohlenstoffes zu Kohlensäure verhindert ist. Das Kohlenoxyd sowohl,
als der reine Kohlendunst sind vollkommen geruchlos, es können
daher reichliche Mengen davon in einem Raume angesammelt sein, ohne
dass dies durch den Geruch zu merken ist. In vielen Fällen verräth
sich allerdings die Anwesenheit von Kohlendunst durch gleichzeitige
Beimischung von Rauch oder brenzlichen Stoffen.
Die Quelle des Kohlendunstes muss nicht immer in demselben Raume sich
finden, in welchem die Vergiftung geschah, derselbe kann vielmehr auch
von anderwärts eingedrungen sein, so z. B. aus einer Nachbarwohnung
oder indem er aus tiefer gelegenen Localitäten in höhere gestiegen
war.[450] Auch ist es möglich, dass, obgleich die Klappe eines Ofens
nicht geschlossen war, doch die Verbrennungsgase in das Zimmer
gedrungen sein konnten, weil entweder der Heizapparat schadhaft oder
unzweckmässig construirt war, oder die Rauchröhren durch Russ etc.
verlegt oder der genügende Abzug der Verbrennungsgase anderweitig,
z. B. durch heftigen Wind, behindert war. Unglücksfälle letzterer
Art, aber auch die früher genannten, können namentlich leicht bei der
Heizung mit Coaks sich ereignen, weil dieses Brennmaterial besonders
reich an Kohlenstoff ist und zur vollständigen Verbrennung sehr
gut ziehender Oefen bedarf, und weil die Rauchentwicklung dabei im
Allgemeinen geringer ist als bei Steinkohlenfeuerung und deshalb
weniger auffällt oder beachtet wird. Die Behauptung, dass die glühenden
Wände eiserner Oefen CO durchlassen oder entwickeln, ist durch Versuche
insoferne widerlegt worden, als sich ergab, dass die aus unmittelbarer
Nähe glühender Oefen durch Blut durchgesaugte Luft keine wesentlichen
Veränderungen in diesem bewirkt.
Die grösste Zahl der Kohlendunstvergiftungen kommt zufällig zu
Stande. Selbstmord ist bei uns so gut wie unbekannt, kommt dagegen
in Frankreich häufig vor und nimmt an Häufigkeit beständig zu. Nach
+Quetelet+ kamen in den Jahren 1838 bis 1844 1886 solcher Selbstmorde
vor. Im Jahre 1871 allein 215. Morde durch Kohlendunst gehören zu den
grössten Seltenheiten. Ein Fall, in welchem eine Frau sich und ihrem
6jährigen Kinde durch Kohlendunst das Leben nehmen wollte, findet sich
in +Casper+-+Liman+’s Handbuch (l. c. 587).
[Sidenote: Leuchtgasvergiftung.]
Die Giftigkeit des +Leuchtgases+ ist vorzugsweise, wenn auch nicht
ausschliesslich, durch dessen Gehalt an Kohlenoxyd bedingt. Letzterer
wechselt jedoch je nach der Bereitungsart und den dazu benützten
Materialien. Nach +Wagner+ fanden sich in 100 Raumtheilen des
Heidelberger Steinkohlengases 5·56-5·73, des Bonner 4·66, in jenem
von Chemnitz 4·45-5·02 und des Londoner Gases 6·8-7·5 Raumtheile
Kohlenoxyd, während vier Analysen von gereinigtem Holzgas einen
Kohlenoxydgehalt von 22·30-40·28% ergaben.
Auch die Leuchtgasvergiftungen sind fast ausschliesslich zufällige
Vergiftungen. Doch sind auch Selbstmorde nicht selten. Wir haben
deren bereits eine ansehnliche Zahl untersucht. Der eine betraf einen
Lampenanzünder des Opernhauses; dieser hatte sich eines Abends in
die sogenannte „Batteriekammer“ eingesperrt, hatte den Hahn eines
Gasometers geöffnet und von diesem einen Schlauch in ein grosses,
fassartiges Gefäss, eine sogenannte „Trommel“, die zur Bereitung des
Drumond’schen Lichtes benützt wurde, geleitet, war dann in diese
gekrochen und hatte den Deckel geschlossen. Hier wurde er dann am
nächsten Tage todt aufgefunden. In 4 Fällen hatten die Betreffenden
die Gashähne aufgedreht (3mal in einem kleinen Laden, 1mal am Abort)
und in 3 weiteren das Gas unmittelbar aus dem Schlauche einer
Gaslampe eingeathmet, der bei dem einen Selbstmörder um den Hals
geschlungen und am Ende mit einem maskenartigen Recipienten versehen
war, der mittelst eines Gummibandes am Gesichte festgehalten wurde.
Ueber durch absichtlich herbeigeführte Leuchtgasausströmung bewirkte
Morde ist uns vorläufig nichts bekannt, begreiflicherweise liegen
aber solche keineswegs ausserhalb des Bereiches der Möglichkeit.
Im Jahre 1893 kam in Wien ein simulirtes Raubmordattentat durch
Leuchtgas vor, indem ein junger Bursche, nachdem er in der Nacht
die Casse seines Vaters eröffnet und beraubt hatte, die Gashähne
aufdrehte und als man auf sein Stöhnen erwachte, die Sache als ein
durch Hausleute herbeigeführtes Attentat hinstellen wollte. In der
That fiel der Verdacht auf eine Magd, die auch mehrere Tage in
Untersuchungshaft blieb, bis die Wahrheit herauskam.
Die zufälligen Leuchtgasvergiftungen geschehen selten dadurch,
dass Gashähne aufgedreht wurden oder offen geblieben waren,
sondern am häufigsten durch das Ausströmen des Gases aus Lücken
der Leitungsröhren, meist aus Undichten, die durch Lockerung
der Verbindungsstellen zweier Röhren oder durch Bruch eines
hohlgelegenen oder grossem Drucke von oben ausgesetzt gewesenen
Rohres entstanden waren. In einem von +Taylor+ beobachteten Falle
war die Gasausströmung aus einer kleinen Oeffnung erfolgt, die durch
das Einschlagen eines Nagels in den Fussboden und durch diesen in
ein unter den Dielen verlaufendes Gasrohr entstand. Einen ähnlichen
Fall aus Cöln, wo durch einen in die Wand eingeschlagenen Nagel eine
Gasröhre getroffen und dadurch eine Leuchtgasvergiftung einer Magd
veranlasst wurde, berichtet +Eulenberg+ („Giftige Gase“, pag. 186).
Ueberaus wichtig ist die Thatsache, dass von einer solchen Undichte
das Gas nicht unmittelbar nach aussen ausströmen muss, sondern dass
es unter der Erde weite Strecken durchdringen und schliesslich
an Orten nach aussen gelangen und seine deletäre Wirkung äussern
kann, die mitunter in bedeutender Entfernung von jenem Orte liegen,
wo die Undichte in der Leitung geschah. So lehrt die Erfahrung,
dass bei den meisten in Wohn-, besonders Schlafräumen erfolgten
Leuchtgasvergiftungen die Gasausströmung von Rohrbrüchen und anderen
Undichten ausgegangen war, die in der auf der Gasse unterirdisch
verlaufenden Leitung zu Stande gekommen waren. Es zeigt sich dann
in der Regel, dass das Gas wegen des dichten Strassenpflasters
oder wegen geringer Durchlässigkeit der über der Leitung gelegenen
Erdschichten, oder weil der Boden gefroren war, nicht ohneweiters
nach aufwärts entweichen konnte und deshalb in den seitwärts
gelegenen Erdschichten sich einen anderen Ausweg gesucht hatte.
Wenn man dazu bedenkt, dass das Gas, besonders zur Nachtzeit, unter
ziemlich starkem Drucke ausströmt, und dass durch geheizte Wohnräume
auch eine Aspiration des Gases erfolgen kann[451], so werden uns
solche Fälle verständlich, und es wird auch begreiflich, warum die
meisten Leuchtgasvergiftungen im Winter geschehen.
[Sidenote: Leuchtgasgeruch.]
Bekanntlich verrathen sich sehr kleine Mengen von Leuchtgas durch
den eigenthümlichen Geruch. Trotzdem geschieht es nicht selten, dass
dieser Geruch, wenn er nicht besonders intensiv ist, nicht beachtet
wird. In einem von +Pettenkofer+ mitgetheilten Falle wurde ein
junger Mann am Typhus behandelt, während die betreffenden Symptome
durch in den Schlafraum entweichendes Leuchtgas veranlasst worden
waren. In einem anderen, von +Wallisch+ (Deutsche Klinik. 1868, 128)
publicirten Falle wurde der Tod von einer Kopfverletzung abgeleitet,
obgleich eine Vergiftung durch Leuchtgas vorlag. In dieser Beziehung
hat unseres Wissens zuerst +Wesche+ (Schmidt’s Jahrb. December 1880)
darauf aufmerksam gemacht, dass Leuchtgas beim Durchdringen von
Erdschichten seinen charakteristischen Geruch verliert. Mit Rücksicht
auf diese Angabe haben +Biefel+ und +Poleck+ („Ueber Kohlendunst-
und Leuchtgasvergiftung.“ Zeitschr. f. Biologie. 1880) entsprechende
Versuche angestellt und gefunden, dass in Folge des Durchströmens
durch eine 3·35 Meter starke Erdschichte circa 75 Procent der
schweren Kohlenwasserstoffe und mit ihnen die im Gase befindlichen
riechenden Theerbestandtheile zurückbehalten werden.
Uebergang von CO aus Gasheizapparaten in die Luft von Wohnräumen
wurde von +Vlemingkx+ u. A. aus Anlass des Falles +Peltzer+
constatirt (Virchow’s Jahrb. 1884, I, 461), wo in einem Zimmer
der Gasofen durch volle 7 Tage fortgebrannt hatte und dadurch das
in einem Lavoir befindliche, mit Wasser verdünnte Blut CO-hältig
geworden war. Versuche in demselben Raume und mit demselben Ofen
ergaben, dass das Blut schon nach 3 Tagen die spectrale CO-Reaction
ergab. Im Jahre 1885 kam in Wien ein Fall vor, wo der CO-Tod eines
Kutschers von einem Gasofen hergeleitet wurde. Hier war jedoch die
Vergiftung wahrscheinlich durch „Zurückschlagen“ und Erlöschen der
Gasflammen des Ofens und einfache Leuchtgasausströmung erfolgt.
[Sidenote: Giftigkeit des CO. Verlauf der CO-Vergiftung.]
Zufolge zahlreicher Versuche an Thieren, die namentlich von +Eulenberg+
und +Pokrowsky+ (Virchow’s Archiv. XXX) angestellt wurden, genügen
schon ½-1% Kohlenoxyd, der Respirationsluft beigemengt, um den Tod
zu bewirken, ebenso schon 10% Kohlendunst und 5% Leuchtgas. Nach den
bisherigen Erfahrungen scheinen auch beim Menschen ebenso geringe
Mengen zum letalen Ausgang zu genügen.[452] Die giftige Wirkung des
Kohlenoxyds und daher auch der dasselbe enthaltenden Gasgemenge
beruht darauf, dass dasselbe an Stelle des Sauerstoffes mit dem
Hämoglobin des Blutes sich verbindet und dadurch dessen Fähigkeit,
den respiratorischen Gasaustausch zu vermitteln, beeinträchtigt oder
vollständig aufhebt. Diese Verbindung ist eine festere, als die des
Sauerstoffes mit dem Hämoglobin, obgleich man durch längeres Schütteln
mit atmosphärischer Luft das Kohlenoxyd theils auszutreiben, theils
in Kohlensäure zu verwandeln vermag. Das Kohlenoxyd tödtet demnach
durch Erstickung, indem es die Sauerstoffathmung unmöglich macht.
Die Erscheinungen, welche während des Lebens eintreten, sind daher
im Allgemeinen diejenigen, die wir auch bei anderen Erstickungen
beobachten können, und sie treten desto schneller auf, je grössere
Mengen von Kohlenoxydgas die betreffende Respirationsluft enthielt,
und zwar auch dann, wenn noch genügende Mengen von Sauerstoff in
letzterer vorhanden waren. Ist der Kohlenoxydgehalt der Luft kein
grosser, so kann es längere Zeit dauern, bevor so viel CO in’s Blut
aufgenommen wird, dass sich Athemnoth bemerkbar macht, und der Verlauf
der Vergiftung ist ein anderer, als in acuten Fällen. Es tritt
zuerst Kopfschmerz, Schwindel, Mattigkeit, Unvermögen, sich aufrecht
zu erhalten, Betäubung und hierauf Bewusstlosigkeit ein. Erbrechen
wird in der Regel und schon frühzeitig beobachtet. Der anfänglichen
Athembeklemmung folgt röchelndes angestrengtes Athmen, welches desto
länger währt, je allmäliger die Vergiftung erfolgt. In diesem Falle
kann der Tod auch ohne Convulsionen eintreten (+Pokrowsky+). Da in der
Regel die Einathmung des giftigen Gases während des Schlafes erfolgt,
so kommen die Individuen entweder gar nicht wieder zum Bewusstsein,
oder sie erwachen in bereits betäubtem Zustande, in welchem sie
allerdings sich zu erheben und weiter zu taumeln, aber nicht mehr
sich zu retten vermögen. Es geschieht häufig, dass von mehreren
Personen, die in einem und demselben Raume und durch gleich lange Zeit
der Einwirkung von Kohlendunst oder Leuchtgas ausgesetzt waren, die
einen todt, andere nur betäubt gefunden werden. Manchmal sind dabei
individuelle Verhältnisse im Spiel und es scheint mit Rücksicht auf
wiederholt vorgekommene Fälle, dass namentlich Kinder eine grössere
Resistenz zeigen; häufiger erklärt sich das Verhalten daraus, dass
die Geretteten in der Nähe der Thüre oder des Fensters gelegen waren
oder an einer Stelle, die von der Quelle, aus welcher das giftige Gas
ausströmte, weiter entfernt gewesen war. Diese Fälle gewinnen dadurch
an Wichtigkeit, weil es, wie +Zenker+, +Rokitansky+ und auch +Skrzecka+
mitgetheilt haben, vorgekommen ist, dass der Ueberlebende in Verdacht
kam, seinen oder seine todt aufgefundenen Zimmergenossen umgebracht zu
haben.
Lehrreich ist in dieser Beziehung ein von +Brouardel+, +Descoust+ und
+Ogier+ (Annal. d’hygiène publ. 1894, XXXI, pag. 376) mitgetheilter
Fall. Im Jahre 1887 wurden Passanten von einer Frau aus dem Fenster
einer Kellerwohnung angerufen, welche angab, dass ihr Mann im Sterben
liege. Man fand den Mann todt und die Leiche eines zweiten Mannes
an der Eingangsthür. Die Frau schien betrunken zu sein. Bei der
Obduction wurde die Schleimhaut des Magens und der Gedärme auffallend
geröthet gefunden und daraus, obgleich die chemische Untersuchung
negativ ausfiel, auf eine Vergiftung durch ein irritatives Gift
geschlossen. Der Verdacht fiel auf die erwähnte Frau, welche zu
lebenslänglicher Zwangsarbeit verurtheilt wurde. Erst nachdem im
Laufe der Jahre mehrere analoge Todes-, respective Erkrankungsfälle
in dieser Wohnung vorkamen, wurde herausgebracht, dass dieselben
durch Emanationen eines anstossenden Kalkofens hervorgebracht wurden
und es wurde durch die Untersuchung festgestellt, dass auch die
ersten Fälle auf zufälliger Kohlengasvergiftung beruhten und dass
daher die Frau, welche seit mehreren Jahren im Kerker schmachtete,
unschuldig verurtheilt worden war. Ebenso berichtet +Landgraf+
(Friedreich’s Blätter. 1894, pag. 172) über einen Fall, in welchem
in einer Stube eine Frau todt und ihr Mann in einem verwirrten
Zustand gefunden wurde, der anfänglich angab, seine Frau erschlagen
zu haben, während sich an dieser keine Verletzungen ergaben und
sich herausstellte, dass offenbar eine Kohlendunstvergiftung vorlag
und die Angabe des Mannes theils durch seine Verwirrung, theils
durch Suggestivfragen, die zu dieser Zeit an ihn gestellt wurden,
veranlasst worden war.
[Sidenote: Sectionsbefund.]
[Sidenote: Verhalten kohlenoxydhältigen Blutes.]
Die +Befunde an der Leiche+ sind in den meisten Fällen von
Kohlenoxydvergiftung sehr charakteristisch und werden durch die
eigenthümliche Veränderung bedingt, welche das Blut in Folge der
Aufnahme von Kohlenoxyd erleidet. Da nämlich das Kohlenoxydhämoglobin
eine hellrothe Farbe besitzt und diese auch nach dem Tode sich erhält,
so fallen die Leichen der im Kohlenoxydgas Umgekommenen in der Regel
durch die hellrothe Farbe der Todtenflecke, noch mehr aber durch die
hellrothe Farbe des Blutes und der inneren Organe auf, umsomehr,
als wir an einer anderen Stelle gehört haben, dass als die normale
Farbe des Leichenblutes die venöse, dunkle angesehen werden muss. Die
Organe zeigen schon oberflächlich eine hellrothe Farbe, die an den
membranösen Organen sogar in’s Rosenrothe geht, wie wir an der Dura,
an den serösen Häuten und unter diesen besonders am Peritoneum, sowie
an den Schleimhäuten bemerken können. Beim Einschneiden entleert sich
flüssiges, in dickeren Schichten kirschsaftähnliches, in dünneren
hellrothes Blut. Letzteres fällt besonders dort durch seine Farbe auf,
wo es auf weissem Grunde hervortritt, wie z. B. an Durchschnitten des
Gehirnes, auf welchen die hervortretenden Blutpunkte fast zinnoberroth
erscheinen.
Das spectrale Verhalten dieses in seiner Farbe so veränderten
Blutes ist ebenfalls ein anderes als das des normalen, und dies ist
besonders charakteristisch und daher diagnostisch wichtig. Bringt man
nämlich das mit Wasser entsprechend verdünnte Kohlenoxydblut vor den
Spectralapparat, so bemerkt man allerdings Absorptionserscheinungen,
die von jenen des normalen Blutes sich nicht wesentlich unterscheiden.
Während jedoch bei letzterem, wie bekannt, die zwei dem Oxyhämoglobin
zukommenden Absorptionsbänder im Gelbgrün nach Zusatz reducirender
Mittel (Schwefelammonium) zu einem einzigen Bande verschmelzen,
welches dem reducirten Hämoglobin entspricht, bleiben, wenn
Kohlenoxydhämoglobin vorliegt, die zwei Absorptionsbänder unverändert.
Kohlenoxydhaltiges Blut zeigt ferner, wie +Hoppe+-+Seyler+ zuerst
angab, beim Behandeln mit Natronlauge ein anderes Verhalten als
gewöhnliches Blut. Gibt man nämlich einige Tropfen gewöhnlichen Blutes
auf eine Porzellanschale und fügt dazu das gleiche oder das doppelte
Volum von concentrirter Natronlauge, so erhält man eine missfärbige
Masse, die in dünner Schicht schmutzig-braungrün erscheint. Stellt
man jedoch dieselbe Probe -- die sogenannte Natronprobe -- mit
Kohlenoxydblut an, so erhält man eine rothe, wie geronnene Masse,
welche auch in dünner Schichte eine zinnoberrothe Farbe zeigt. Auch
nach Zusatz von Schwefelwasserstoffwasser behält, wie +Salkowski+
angab, Kohlenoxydblut seine hellrothe Farbe, während gewöhnliches Blut
sich dunkelgrün färbt. Versetzt man CO-hältiges Blut mit der Lösung
eines Kupfersalzes, so entsteht nach +Zaleski+ (Virchow’s Jahrb. 1885,
I, 112) eine ziegelrothe, dicke, flockige Masse, während gewöhnliches
Blut chocoladebraun wird. Die Farbenunterschiede halten sich bei den
letztgenannten zwei Proben, besonders bei der Schwefelwasserstoffprobe,
in offenen Röhren tagelang, in zugeschmolzenen durch mehrere Wochen.
Nach +Kunkel+ und +Wetzel+ (Würzburger Sitzungsber. 1888, 28.
April und XXIII, Nr. 3) geben verschiedene Substanzen, insbesondere
Tannin und Ferrocyankalium, nach +Rubner+ (1890) auch Bleizucker
rothe Fällungen, während die vom gewöhnlichen Blut braun sind. Nach
+Katayama+ (Virchow’s Archiv. CXIV, pag. 53) erhält kohlenoxydhältiges
Blut nach Zusatz von orangefarbenem Schwefelammonium und Essigsäure
eine schön hellrothe, gewöhnliches Blut aber eine grünliche oder
röthlich-graue Farbe. +Szigeti+ (Wiener klin. Wochenschr. 1893, Nr. 17)
empfiehlt aus dem mit Alkalien und Schwefelammonium versetzten Blut
das CO durch Erwärmen auszutreiben und in eine Hämochromogenlösung zu
leiten, die sich nun in CO-Hämoglobin verwandelt. +Landois+ (Deutsche
med. Wochenschr. 1893, Nr. 44) versetzt drei Theile des Blutes mit 100
Theilen Aq. dest., gibt einige Tropfen verdünnter Kalilauge und dann
wässerige Pyrogallollösung hinzu und schüttelt +einmal+ um. Beim Stehen
wird normales Blut schnell missfärbig-braun, CO-Blut bleibt roth.
Die hellrothe Farbe, das spectrale Verhalten, sowie jenes gegen
Natronlauge etc. sind für Kohlenoxydblut ungemein charakteristisch,
doch sind diese Erscheinungen keineswegs in allen Fällen in
gleich exquisiter Weise entwickelt und können sogar vollkommen
fehlen, obwohl zweifellos eine Kohlenoxydvergiftung vorliegt. Es
ist zunächst ein wesentlicher Unterschied, ob das Individuum in
der Kohlenoxydatmosphäre gestorben ist, oder erst nachträglich,
nachdem, wie z. B. bei Kohlendunstvergiftung geschehen kann, die
Kohlenoxydbildung im Locale wieder aufgehört hatte, oder nachdem der
Betäubte aus dem betreffenden Raume entfernt worden war. In letzterem
Falle wird das Blut desto weniger CO-Hämoglobin enthalten, je länger
das Individuum noch gelebt und kohlenoxydfreie Luft geathmet hat.
Bestimmtes über die Zeit, welche erforderlich ist, damit durch
blosses Luftathmen das CO wieder aus dem Blut verschwinde, ist leider
nicht bekannt. In einem schweren Falle von Leuchtgasvergiftung
waren wir im Stande, in dem zwei Stunden nach der Auffindung des
Betreffenden, respective nach dessen Uebertragung in das Innsbrucker
Krankenhaus entnommenen Blute noch CO durch den Spectralapparat
deutlich nachzuweisen. +Pouchet+ (Virchow’s Jahrb. 1888, I, pag. 482)
soll dieses sogar noch nach 60 (!?) und +Koch+ („Zur Encephalomalacie
nach CO-Vergiftung.“ Diss. Greifswald 1892) nach 10 Stunden gelungen
sein. +Wesche+ dagegen (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1876,
XXV, pag. 276) konnte bei einer Frau, die, nachdem sie in einer
Leuchtgasatmosphäre betäubt gefunden und höchstens zwei Stunden
darnach gestorben war, nur undeutlich die spectrale Reaction des
CO-Hämoglobin constatiren und fand bei Versuchen mit Kaninchen,
die er durch drei Minuten lang dauerndes Einleiten von Leuchtgas
unter einer Glasglocke betäubt hatte, dass, wenn die Thiere nur 15
Minuten reine Luft geathmet haben, die spectroskopische Untersuchung
schon kein genaues Resultat ergab. Diese Beobachtung, sowie die
Thatsache, dass kohlenoxydhaltiges Blut durch blosses Schütteln
mit atmosphärischer Luft in gewöhnliches verwandelt werden kann
(+Liman+, Med. Centralbl. 1876, pag. 353), lässt darauf schliessen,
dass auch bei durch CO betäubten Menschen schon ein verhältnissmässig
kurz dauerndes Athmen von frischer Luft genügt, um das CO aus dem
Blut verschwinden zu machen, ein Umstand, der zugleich zeigt, dass
wir in der Zuleitung frischer Luft und in energischer Einleitung
der künstlichen Athmung die wichtigsten und ausgiebigsten Mittel zu
erblicken haben, um solche Verunglückte zu retten.
[Sidenote: Nachweisbarkeit des CO im Blute.]
Aber auch wenn die Individuen in der betreffenden Atmosphäre selbst
umgekommen sind, wird der Befund modificirt durch die Menge des
Kohlenoxyds, welches in das Blut aufgenommen wurde, respective
durch die Menge des Hämoglobins, welches unverändert geblieben ist.
Auch der Umstand, ob ausser dem CO noch andere giftige Gase der
Atmosphäre beigemengt waren, ist sowohl bezüglich der Schnelligkeit,
mit welcher der Tod eintritt, als bezüglich des Verhaltens des
Blutes von Einfluss. Die exquisitesten Befunde liefert die
Leuchtgasvergiftung, weil es sich dabei um grössere Kohlenoxydmengen
handelt und vorzugsweise nur diese den Tod bedingen, während bei
der Kohlendunstvergiftung, noch mehr aber bei der Erstickung im
Rauch auch grosse Mengen von Kohlensäure mitwirken, die für sich
allein den Tod bewirken können. Auch kann es geschehen, dass eine
genügende Sättigung des Blutes mit CO deshalb nicht zu Stande kam,
weil das Individuum in Folge Aspiration erbrochener Substanzen schon
in früheren Perioden der Vergiftung gestorben ist. Enthält das Blut
aus einem der angeführten Gründe nur wenig CO, so kann das spectrale
Bild der wässerigen Blutlösung ein combinirtes sein, indem ein Theil
des Blutes durch Schwefelammonium reducirt wird, ein anderer (das
Kohlenoxydhämoglobin) aber nicht. Man sieht dann die ursprünglichen
Absorptionsbänder sich erhalten, den Zwischenraum zwischen denselben
aber sich desto mehr verdunkeln, je mehr Oxyhämoglobin in der Lösung
gewesen war. Nach +F. Falk+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med.
II, 260) hält sich das CO in den Muskeln länger als im Blute, ebenso
in Extravasaten länger als im circulirenden Blut. So war in einem
von uns secirten, und von +Szigeti+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl.
Med. 1893, VI, 64) publicirten Falle ein Laternenanzünder, welcher
beim Durchblasen des Brenners einer Gaslaterne betäubt von der Leiter
herabgestürzt war, nach 5 Stunden gestorben. Die Obduction ergab eine
Schädelfissur und intermeningeales Extravasat als Todesursache. Im
Blute konnte kein CO nachgewiesen werden, wohl aber in dem Extravasat
und in den Suffusionen über der Fissur.
Der Fäulniss widersteht das Kohlenoxydhämoglobin lange. Wir waren
wiederholt im Stande, wenn wir das Blut von in Leuchtgas oder
Kohlendunst Umgekommenen in Reagensgläschen aufbewahrten, noch nach
2-3 Monaten zu bemerken, dass das Blut sowohl die rothe Farbe,
als das dem Kohlenoxydhämoglobin zukommende spectrale Verhalten
zeigte. In einem von +Sarkawski+ (Virchow’s Jahrb. 1874, I,
576) mitgetheilten Falle konnte +Blumenstok+ noch nach 51 Tagen
Kohlenoxyd im Blute nachweisen. Die Nachweisbarkeit hat jedoch
ihre Grenze, und wir möchten insbesondere davor warnen, dann,
wenn das Blut bereits missfärbig geworden ist, aus dem Persistiren
zweier Absorptionsstreifen nach Zusatz von Schwefelammonium auf die
Anwesenheit von Kohlenoxydhämoglobin zu schliessen, da das durch
Fäulniss, namentlich bei reichlicherer Gegenwart von Ammoniak, sich
zersetzende Blut nach einiger Zeit in Hämatin umgewandelt wird,
welches ein ähnliches spectrales Verhalten zeigt. Ein solches Blut
ist jedoch missfärbig, trübt sich stark bei Verdünnung mit Wasser
und zeigt anfangs entweder nur undeutliche Absorptionsbänder oder
blos eine Schattirung von Grün und lässt erst +nach+ Zusatz von
Schwefelammonium zwei deutliche Absorptionsbänder erkennen, von denen
besonders das zu Roth näher liegende durch seine Schwärze und seine
scharfe Abgrenzung sich auszeichnet.
[Sidenote: Differentialdiagnose zwischen Kohlendunst- und
Leuchtgasvergiftung.]
Noch wenig ventilirt ist die Frage, ob und inwieferne eine
Differentialdiagnose zwischen Kohlendunst- und Leuchtgasvergiftung
möglich ist. Zum ersten Male trat an uns die Frage heran aus Anlass
eines schrecklichen Falles von Vergiftung von 19 Arbeitern durch
Leuchtgas, da man von geklagter Seite die Möglichkeit plausibel
machen wollte, dass die Genannten überhaupt nicht durch Leuchtgas,
sondern durch Kohlendunst umgekommen seien. Diese Angabe erwies
sich aber als gänzlich unhaltbar, denn es sprachen dagegen ausser
den sonstigen Umständen einestheils die Erhebungen bezüglich der
betreffenden Heizapparate, anderntheils der Obductionsbefund.
In ersterer Beziehung gingen die Aussagen der Geretteten dahin, dass
am Mittag vor der Unglücksnacht zum letzten Male in den zwei in der
betreffenden Kellerwohnung befindlichen englischen Oefen gekocht
wurde, und dass spätestens um 2 Uhr Nachmittags in beiden Herden das
Feuer erloschen und nicht mehr angefacht worden war. Unter diesen
Umständen konnte nicht zugegeben werden, dass die erst zwischen 7 und
8 Uhr Abends begonnenen Erscheinungen der CO-Vergiftung von der zur
Bereitung des Mittagmahles eingeleiteten Feuerung hergerührt haben
konnten, da bis dahin der in die Respirationsluft etwa gekommene
Kohlendunst schon lange wieder verschwunden sein musste. Da ausserdem
ausdrücklich angegeben wurde, dass mehrere der Verunglückten noch
Abends in den Herden nachschauten, ob der ihnen aufgefallene Geruch
nicht etwa von Kohlendunst herrühre, die Oefen aber kalt und die
Kohlen darin erloschen fanden, und dass sie sogar aus Vorsicht die
Klappe in dem einen Ofen öffneten, während der andere überhaupt
gar keinen Vorschieber besass, so folgt daraus, dass selbst, wenn
später als Mittag noch Feuer in den Herden gewesen wäre, doch daraus
keine Kohlendunstvergiftung resultiren konnte, weil der Abzug der
Verbrennungsgase gar nicht gehindert war.
Was den Obductionsbefund betrifft, so ergab derselbe bei den acht
Leichen hellrothe Todtenflecke, rosenrothe Schleimhäute, sowie eine
auffallend hellrothe Farbe des Blutes und consecutiv lebhaft rothe
Färbung sämmtlicher Organe. Die Kohlenoxydvergiftung stand somit
ausser Zweifel, obgleich keine weitere Untersuchung des Blutes
vorgenommen worden war. Aber es musste auch eben aus dem exquisiten
Vorhandensein der genannten Erscheinungen bei so vielen Leichen
und bei dem Umstande, dass noch zehn andere Personen hochgradige
Vergiftungserscheinungen darboten, geschlossen werden, dass sehr
grosse Mengen von CO im Spiele waren, wie sie ganz wohl und leicht
durch die Leuchtgasausströmung, nicht aber unter den erwähnten
Umständen und bei der geringen Menge der in den Oefen gefundenen
Kohlen- und Aschenreste durch unvorsichtige Heizung der Oefen in die
Kellerluft hineingelangt sein konnten.
Ueberhaupt ist festzuhalten, dass im Allgemeinen die
Leuchtgasvergiftungen viel gefährlicher sind, als jene durch
Kohlendunst, weil das Leuchtgas mehr CO enthält als letzterer, und
weil das Zuströmen des Leuchtgases continuirlich erfolgt, beim
Kohlendunst aber nur so lange, als die Kohle glüht, wobei ausserdem
nicht zu übersehen ist, dass das Leuchtgas mit einem gewissen
Drucke ausströmt, der, wie bekannt, gerade in der Nacht, also zur
gefährlichsten Zeit, stärker ist, als am Tage. Daher bieten auch
die Leichen der im Leuchtgas umgekommenen Personen in der Regel
exquisitere Befunde dar, als jene der durch Kohlendunst Vergifteten,
und es ist begreiflich, dass die oben erwähnte Möglichkeit, dass
ein Individuum in einem bestimmten Raume an Kohlenoxydvergiftung
gestorben sein konnte, ohne dass die Leiche die charakteristischen
Erscheinungen der letzteren bietet, überhaupt nur bei der
Kohlendunstvergiftung, kaum aber bei der Leuchtgasvergiftung
vorkommen kann.[453]
Verrussung der Respirationsöffnungen, insbesondere der
Nasenöffnungen, bei der Kohlendunstvergiftung, sowie russige
Niederschläge auf der Schleimhaut der Respirationswege können
selbstverständlich nur vorkommen, wenn die Erstickung in Rauch
geschah, nicht aber bei der Kohlendunstvergiftung im engeren Sinne.
Immerhin müsste man auf einen solchen Befund reagiren, der geeignet
wäre, gegen eine Leuchtgasvergiftung zu sprechen. Einen Geruch nach
Leuchtgas in den Lungen oder sonst im Körper haben wir in unseren
Fällen niemals beobachtet.
In den meisten Fällen wird man bezüglich der Differentialdiagnose
zwischen Leuchtgas- und Kohlendunstvergiftung blos auf die Erwägung
der Umstände des Falles angewiesen sein, und diese sind auch in der
Regel derart, dass sie ohne besondere Schwierigkeit die Entscheidung
gestatten.
Interessant war in dem von uns begutachteten Falle der Umstand, dass
laut Aussage einzelner Zeugen, welche den betreffenden Kellerraum
am Morgen nach der Katastrophe betraten, eine kleine Nachtlampe in
einer Fensternische noch gebrannt haben soll und von geklagter Seite
behauptet wurde, dass dieser Umstand gegen eine Leuchtgasvergiftung
spreche, da es bei einer Leuchtgaseinströmung zu einer Explosion
gekommen wäre. Dagegen musste jedoch eingewendet werden, dass das
Zustandekommen einer Explosion die Anhäufung sehr grosser Gasmengen
erfordert, zu welcher es bei der Entfernung des Locales von der
Quelle der Ausströmung und bei der Ventilation desselben durch zwei
Schlote, vier nicht hermetisch geschlossene Fenster und die Thüre
nicht kommen konnte, dass aber eine weit unter der zur Explosion
erforderlichen stehende Gasmenge genügte, um sämmtliche im Locale
befindliche Individuen zu vergiften. In einem mehrere Personen
betreffenden Vergiftungsfalle durch Leuchtgas war, wie +Guillié+
(Annal. d’hygiène publ. 1893, XXIX, 364) berichtet, sogar eine
Lampe, während mehrere Personen theils schon betäubt waren, theils
Uebligkeiten zeigten, angezündet worden, ohne dass eine Explosion
erfolgte.
[Sidenote: Nachkrankheiten nach CO-Vergiftung.]
Von den Nachkrankheiten, die nach CO-Vergiftung zurückbleiben können,
wurden besonders croupöse Processe im Rachen beschrieben. Wir
fanden die Anfänge derselben bereits bei einem Individuum, welches
17 Stunden nach seinem Auffinden in einer Kohlendunstatmosphäre
gestorben war, ebenso bei einem kleinen Mädchen, das nach einem
Zimmerbrande bewusstlos gefunden wurde (während sein Schwesterchen
bereits todt war) und erst nach mehreren Tagen starb. In einem auch
von +Rochelt+ (Wiener med. Presse. 1875, Nr. 49) beschriebenen
Falle sahen wir nach Leuchtgasvergiftung bei einem kräftigen Manne
primären Blödsinn mit gleichzeitigem Verlust der Sensibilität der
Haut und mit Parese zurückbleiben, der erst nach vielen Monaten in
Genesung überging. Vorübergehende Glycosurie scheint zum typischen
Bilde der Kohlenoxydvergiftung zu gehören, wie zuerst +Hasse+,
dann +H. Friedberg+ u. A., sowie +Kahler+ (l. c.) und +R. Jaksch+
(Prager med. Wochenschr. 1882, Nr. 17) nachgewiesen haben. Ueber
einen Anfall von Mania transitoria im Kohlenoxydrausche hat +Casper+
berichtet; ein anderer solcher Fall, einen im Leuchtgas betäubten
Arbeiter betreffend, findet sich im Jahrbuch f. Pharmacie. 1870,
pag. 540. Interessant ist die retrograde Amnesie, welche nach
Kohlenoxydvergiftungen von +Briand+, +Azam+, +Barthelemi+ etc. und
neuestens von +Fallot+ (Annal. d’hygiène publ. 1892, XXVII, pag.
244) beobachtet wurde. Im letzteren Falle konnte sich die Frau
weder an den Selbstmord, noch an die Ereignisse der drei diesem
vorangegangenen Tage erinnern. In schweren und protrahirten Fällen
kommt es, wie +Klebs+ (Virchow’s Archiv. XXXII) nachwies, zu
vasomotorischen und trophischen Störungen der Haut verschiedener
Art und verschiedenen Grades und daher leicht zur Entstehung von
Hautnecrosen, insbesondere von Drucknecrosen (+Kahler+, Prager med.
Wochenschr. 1881, Nr. 48) und zu symmetrischen Erweichungsherden in
der inneren Kapsel und in den inneren Linsenkerngliedern. Zwei Fälle
letzterer Art sah +Klebs+, ein anderer wird von +Lesser+ (Atlas III)
beschrieben und abgebildet, und einen ganz gleichen mit Dermatitis
bullosa an beiden Händen verbundenen Befund constatirten wir bei
einer im März 1885 obducirten Frau, welche an Kohlendunstvergiftung
nach 5tägiger Asphyxie gestorben war. Einen weiteren (Tod nach 8
Tagen) beobachtete +Poelchen+ (Virchow’s Archiv. CXII, pag. 26). Die
Erweichung war beiderseits im mittleren Gliede des Linsenkernes hart
an der inneren Kapsel. Es fand sich isolirte fettige Degeneration
und Verkalkung der zuführenden Gefässe, deren Grund +Poelchen+ darin
sieht, dass letztere gleich an ihrem Ursprung sehr eng, ausserdem
unverhältnissmässig lang, ohne Anastomosen, ohne Vasa vasorum und
allein auf die Ernährung durch das kreisende Blut beschränkt sind.
Die Degeneration dieser Gefässe ist das Primäre, die Erweichung in
den Linsenkernen das Secundäre. +Kolisko+[454] findet die Ursache
dieser Necrosen, von welchen +Koch+ (Diss. Greifswald 1892) zwei
neue Fälle mittheilt, in dem endarterienartigen Verlaufe der die
Grosshirnganglien versorgenden Gefässäste (Centralarterien, deren
Verschluss und schon die Schwächung des Blutstromes in ihnen zu
Encephalomalacien führen kann. Vielleicht kommen solche Necrosen
nach protrahirten anderweitigen Asphyxien auch vor. Sie können auch
an sich zur Aufklärung gewisser Todesfälle beitragen. In einem
unserer Fälle wurden 2 Arbeiter eines Morgens im April bewusstlos
in einer Kammer gefunden. Es wurde aus äusseren Gründen an eine
Ptomain- (Wurst-) Vergiftung gedacht und, da der eine nach 2
Tagen, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben, starb, die
gerichtliche Obduction eingeleitet. Da diese ausser leichtem Icterus
und beginnender parenchymatöser Degeneration der Organe symmetrische
Necrosen in den vorderen Partien beider Linsenkerne ergab und
uns ausserdem mitgetheilt wurde, dass bei dem anderen Arbeiter
eine brandblasenartige Dermatose am Rücken beider Hände und Füsse
eingetreten sei, habe ich eine Kohlenoxydvergiftung diagnosticirt,
die sich auch wirklich durch die Erhebungen bestätigte. -- Die oben
erwähnte nach CO-Vergiftung auftretende retrograde Amnesie kann auch
nach anderen schweren Asphyxien vorkommen.
[Sidenote: Kohlensäurevergiftung.]
Vergiftung mit +Kohlensäure+ kann geschehen in geschlossenen Räumen,
in welchen organische Substanzen faulen (Grüfte) oder gähren (Bier-
und Weinkeller), an Orten, wo Kohlensäure durch Selbstzersetzung
von Kohlensäureverbindungen, besonders von kohlensaurem Kalk, sich
bildet, wie z. B. in Brunnen[455], ferner in der Nähe von Kalk- und
Ziegelöfen, Kohlenmeilern und in Localen, wo Individuen ihre eigene
Exspirationsluft athmen müssen. Letzteres kann geschehen durch
Einschliessen von Individuen, z. B. Kindern, in enge Räume (Kisten,
Koffer) oder in geschlossenen Localen, wo unverhältnissmässig viele
Menschen angesammelt sind. Entsetzliche solche Fälle finden sich
in +Husemann+’s Toxikologie. So wurden im Fort William in Calcutta
146 Personen in einem blos 20 Quadratfuss messenden geschlossenen
Raum eingesperrt. Bis zum Morgen fand man 123 todt. Im Jahre 1742
wurden in das Wachtzimmer von St. Martin in London, welches 6
Quadratfuss mass und blos 6 Fuss hoch war, 28 Personen gesperrt, von
denen am anderen Tage 4 todt gefunden wurden. Auch im Kohlendunst
und im sogenannten Cloakengas bildet die Kohlensäure einen
wesentlichen Bestandtheil. Der Tod erfolgt unter den Erscheinungen
der Erstickung, und zwar je nach dem Kohlensäuregehalt der Luft
entweder plötzlich oder allmälig. Die Sectionsbefunde sind dieselben
wie beim Erstickungstod. In den meisten solchen Fällen dürfte der
Tod überhaupt weniger durch die Kohlensäure, als vielmehr durch
den Mangel an Sauerstoff erfolgen, da nach +Bert+ u. A. Thiere,
wenn genügend Sauerstoff vorhanden ist, erst bei einem Gehalte von
30 bis 40% der Athmungsluft an Kohlensäure zu Grunde gehen und da
+Demarquay+ durch 10 Minuten eine Luft ohne Schaden athmen konnte,
welche 12·5% CO₂ enthielt. Dies haben auch Beobachtungen +Körber+’s
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLII, 49) bestätigt.
[Sidenote: Schwefelwasserstoffvergiftung.]
Vergiftungen mit +Schwefelwasserstoff+, von welchem nach
+Eulenberg+ 0·12%, nach +Smirnow+ (Med. Centralbl. 1884, Nr. 37)
½%, der Atmosphäre beigemengt, Hunde zu tödten im Stande sind,
kommen besonders durch sogenanntes Cloakengas beim Ausräumen
lange verschlossen gewesener Abtrittsgruben vor, namentlich im
Sommer. Dasselbe ist vorzugsweise ein Gemisch von Kohlensäure,
Schwefelwasserstoff und atmosphärischer Luft, welches bis
zu 8% Schwefelwasserstoff enthalten kann. Ferner bildet der
Schwefelwasserstoff einen Hauptbestandtheil des sogenannten
Lohgrubengases (bis 16%), neben grossen Mengen von Kohlensäure. Auch
im Steinkohlenleuchtgas, sowie in den Pulver- (Minen-) Gasen ist
dasselbe enthalten. Das Zusammenstürzen tritt in solchen Gasgemischen
in der Regel plötzlich ein unter suffocatorischen Erscheinungen.
Auch der Leichenbefund ist analog dem beim Erstickungstode, so
dass wohl in der Regel das Zusammenstürzen, respective der Tod
weniger durch die giftigen Gase als solche, sondern in Folge der
durch ihre Ansammlung veranlassten Sauerstoffverdrängung aus den
betreffenden Räumen zu erfolgen scheint. Als besonderes Symptom
wird von +Casper+ eine auffallend schwarze (tintenschwarze), von
Anderen eine schmutziggrünliche Färbung des Blutes angegeben. In
den von uns obducirten Fällen zeigte das Blut, wenn die Leichen
frisch zur Obduction kamen, nur das Verhalten des gewöhnlichen
Erstickungsblutes; auch eine Zerstörung der Blutkörperchen, wie sie
von Einzelnen hervorgehoben wurde, fand sich nicht. Gleicher Befund
ergab sich auch bei mehreren von uns angestellten Thierversuchen.
Dagegen tritt die Fäulniss bei derartigen Leichen sehr rasch ein,
nicht aber etwa wegen der Einwirkung des Schwefelwasserstoffes,
denn dieser hat, wie +Tamassia+ (Virchow’s Jahrb. 1880, I, 667),
+Froschauer+ (Wiener med. Presse. 1882, pag. 271) und +Cantani+
(Med. Centralbl. 1882, pag. 277) nachweisen, an und für sich
eine antiseptische Wirkung, sondern wegen der anderweitigen
Verhältnisse, unter welchen solche Vergiftungen geschehen.[456] Bei
den Unglücksfällen in Abortgruben kann auch der Tod zunächst durch
Ertrinken in der Abortflüssigkeit erfolgen, in welche die durch das
Cloakengas bewusstlos Gewordenen hineingerathen sind. Man findet
dann meist in den Luftwegen aspirirte Cloakenstoffe und ebensolche
verschluckt im Magen.
Die Vergiftung mit Blausäure.
In forensischer Beziehung kommen die Blausäure als solche und die
metallischen Cyanide in Betracht.
Die österreichische officinelle +Blausäure+ enthält 2% wasserfreie
Säure (Maximaldosis in Einzelngaben 0·05 Grm. oder gutt. 2, und 0·2
oder gutt. 8 pro die). Von der wasserfreien Blausäure werden 5-6
Cgrm. als letale Dosis für einen Erwachsenen angegeben. Die Blausäure
bildet einen Bestandtheil der Aqua amygd. amararum (0·1%), der
Aqua laurocerasi (0·07-0·1%) und der Aqua cerasorum nigr. (0·04%).
Der Blausäuregehalt dieser Arzneistoffe stammt aus dem Amygdalin
der betreffenden Pflanzentheile, welches bei Gegenwart von Wasser
durch das in demselben ebenfalls enthaltene Emulsin in Blausäure,
Bittermandelöl und Zucker gespalten wird. Aus diesem Grunde können
auch die betreffenden Pflanzentheile selbst giftig werden, darunter
namentlich die bitteren Mandeln, von denen nach +Husemann+ 4-6 Stück
hinreichen, um ein Kind zu vergiften. Ein von uns obducirter 3jähriger
Knabe hatte 7-10 Stück bittere Mandeln eines im Freien wachsenden
Baumes gegessen, war kurz darnach erkrankt und in 2 Stunden ohne
ärztliche Behandlung gestorben. Im Magen fand sich eine reichliche
Menge zerkauter Mandeln, aber kein Blausäuregeruch. Auch wurde keine
Blausäure chemisch nachgewiesen und selbst die Guajacharzprobe ergab
ein negatives Resultat. Ueber eine Vergiftung eines Erwachsenen mit 2
handvoll bitterer Mandeln berichtet +Daker+ (Virchow’s Jahrb. 1881,
I, 457). Der Mann wurde gerettet und im ausgepumpten Mageninhalte
Blausäure nachgewiesen. Auch Selbstmorde mit bitteren Mandeln sind
vorgekommen. +Maschka+ (Wiener med. Wochenschr. 1869, pag. 838)
berichtet über einen solchen und einen zweiten haben wir im Jahre 1885
obducirt. Er betraf eine in misslichen Verhältnissen befindliche Frau,
bei welcher Unmassen zerkauter Mandeln und starker Blausäuregeruch
im Magen gefunden wurden. Das im Handel vorkommende Bittermandelöl
enthält in der Regel ebenfalls Blausäure und ist deshalb im hohen Grade
giftig, während reines Bittermandelöl nur nach Art ätherischer Oele
und nur in grösserer Dosis schädlich wirkt. Blausäurehaltig sind auch
gewisse Liqueure, wie Persico, Marasquino etc., zu deren Bereitung
Kerne von Kirschen, Pfirsichen etc. genommen werden. Eine Vergiftung
mit reichlich genossenen Pflaumenkernen hat +Seferowitz+ (Wiener med.
Blätter 1882, Nr. 13) beobachtet.
[Sidenote: Cyankalium.]
Von den metallischen +Cyaniden+ sind vorzugsweise diejenigen giftig,
welche schon in der Kälte mit Säuren Cyanwasserstoff entwickeln, und
unter diesen nimmt das jetzt so verbreitete +Cyankalium+ die erste
Stelle ein. Das Ferrocyankalium (gelbe Blutlaugensalz) und ähnliche
Doppelsalze werden in der Regel für ungiftig gehalten, weil sie
angeblich nur beim Erhitzen mit Säuren Blausäure liefern. Es scheint
jedoch, dass sie unter gewissen Umständen, namentlich wenn gelbes
Blutlaugensalz mit Säuren genommen wurde, doch giftig wirken können, da
+Sonnenschein+ (l. c. 170), +Jirusch+ (Zeitschr. d. böhmischen Aerzte,
1875, pag. 399), +Volz+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1877, XXVI,
pag. 57) und +Landgraf+ (Friedreich’s Blätter, 1885, pag. 201) über
solche Fälle berichten. Von Wichtigkeit ist die aus Anlass eines in
Wien an einem Briefträger begangenen Giftmordes mit Cyankalium, durch
+Ludwig+ und +Mauthner+ (Wiener med. Blätter, 1880, Nr. 44) gemachte
Beobachtung, dass einzelne Sorten von Cyankalium gelbes Blutlaugensalz
enthalten[457], worauf bei Untersuchung auf Blausäure insoferne
Rücksicht genommen werden muss, als auch dieses Salz nicht blos mit
stärkeren, sondern schon mit verdünnten Mineralsäuren und selbst mit
Weinsäure destillirt ein blausäurehaltiges Destillat liefert. Es ist
demnach bei Untersuchung auf Blausäure auf die etwaige Anwesenheit von
gelbem Blutlaugensalz Rücksicht zu nehmen, beziehungsweise dieses vor
der Destillation auszufällen.
[Sidenote: Cyankaliumvergiftung. Verlauf der Blausäurevergiftung.]
Die Häufigkeit der Selbstmorde mit Cyankalium ist bekannt. In Wien
allein kamen im Jahre 1874 32 und im Jahre 1875 27 solche Fälle vor,
dagegen nur einmal, und zwar im Jahre 1875, eine Selbstvergiftung
mit Blausäure. Diese Häufigkeit ist nicht blos in der auch dem
Laien bekannten Thatsache begründet, dass das Gift ungemein rasch
und sicher den Tod herbeiführt, sondern besonders darin, dass
die Beischaffung desselben keinen Schwierigkeiten unterliegt, da
Cyankalium gegenwärtig in der Industrie häufig, so namentlich in der
Galvanoplastik und zu photographischen Zwecken, benützt wird. Die
genannten Momente sind es aber, welche zugleich die Anwendung dieses
Giftes zu verbrecherischen Zwecken ungemein erleichtern, umsomehr,
als dasselbe ohne besondere Schwierigkeiten, so in Spirituosen und
noch mehr in sauren Flüssigkeiten, heimlich beigebracht werden kann.
In der That ist die Zahl der damit verübten Giftmorde eine ziemlich
bedeutende, und zwar nicht blos einzelner Personen, sondern ganzer
Familien. Von beiden haben wir je zwei Fälle untersucht, ebenso zwei
andere, wo Verdacht auf Giftmord bestand, während wahrscheinlich nur
Selbstmord vorlag. Auch gehört hierher der pag. 653 erwähnte Fall,
wo der Mörder vor dem Erwürgen versucht hatte, seinem schlafenden
Opfer Cyankalium in den Mund zu stecken. Zufällige Vergiftungen, die
mit blausäurehaltigen Medicamenten oder Genussmitteln (Liqueuren)
wiederholt geschahen, sind mit Cyankalium verhältnissmässig selten.
Zu diesen gehört unter anderen auch der von +Tardieu+ erwähnte Fall,
einen Photographen betreffend, der, um Lapisflecke von seinen Fingern
wegzubringen, Cyankalium in Substanz benützte und, da ihm dann ein
Stückchen hinter den Nagel kam und die Haut daselbst aufschürfte,
unter Erscheinungen der Blausäurevergiftung zusammenstürzte und 8
Stunden in Lebensgefahr sich befand.
Nach +Husemann+ entsprechen 2½ Gran (18 Cgrm.) Cyankalium etwa
1 Gran (0·073 Grm.) Blausäure, müssen daher als Dosis letalis
angesehen werden. (Als Normaleinzelgabe wird von +Falck+ 0·003 bis
0·03 und als Tagesgabe 0·1 Grm. angegeben.) Das Cyankalium kommt
gewöhnlich in jenen des Kali causticum ähnlichen[458] Stangen oder
in Platten ausgegossen oder in unregelmässigen Stücken vor. Es ist
weiss oder schmutzigweiss, von krystallinischer Structur und riecht
stark nach Blausäure. Dieser Geruch rührt davon her, dass bereits
die Kohlensäure der Luft das Salz zersetzt und Blausäure frei macht.
Ebenso machen schon die schwächsten Säuren, z. B. jene des Weins,
Essig, und noch mehr die Säure des Magens die Blausäure mit grosser
Leichtigkeit frei, woraus sich die schnelle Wirkung erklärt. Der
Geschmack ist scharf alkalisch. Es ist zerfliesslich, im Wasser sehr
leicht, im schwachen Weingeist leicht löslich. Die wässerige Lösung
zersetzt sich bei Gegenwart organischer Stoffe (Staub, Kork) sehr
bald und wird braun, wobei sich Ammoniak und ameisensaures Kalium
bildet.
Die Symptome, welche nach Blausäurevergiftung eintreten, sind jenen,
die wir beim Ersticken beobachten, sehr ähnlich und treten in der
Regel ebenso fulminant und mit ebenso raschem Verlaufe auf, wie dies
nach Unterbrechung der Respiration geschieht. In der Regel stürzt
das Individuum wenige Augenblicke nach dem Verschlucken des Giftes
zusammen, wird dyspnoisch und bewusstlos, bekommt heftige clonische
Krämpfe und stirbt nach wenigen Minuten. Terminale Athembewegungen und
durch einige Zeit fortdauernden Herzschlag haben wir bei Thierversuchen
fast immer beobachtet, ebenso in der Regel Würgebewegungen und häufig
Erbrechen unmittelbar nach dem Zusammenstürzen, namentlich nach
Vergiftung mit Cyankalium. Doch verlaufen Blausäure- (Cyankalium-)
Vergiftungen keineswegs immer so fulminant, es wurden vielmehr
wiederholt Fälle beobachtet, in denen nicht blos mehrere Secunden,
sondern selbst mehrere Minuten verflossen, bevor die ersten
Vergiftungserscheinungen auftraten, so dass die Betreffenden noch
im Stande waren, verschiedene Handlungen zu unternehmen, ebenso
mehrere, in welchen der Tod nicht gleich nach dem Auftreten der ersten
Vergiftungserscheinungen, sondern erst einige Zeit, z. B. erst auf dem
Transport in’s Spital oder in letzterem, erfolgte.
In einem von +Casper+ mitgetheilten Falle war eine Frau, die (höchst
wahrscheinlich bereits theilweise zersetztes) blausäurehaltiges
Bittermandelöl getrunken hatte, noch im Stande, das Fläschchen in
einen Secretär zu verschliessen; in einem anderen[459] konnte ein
Gefangener, der sich in der Nacht vor seiner Hinrichtung vergiftet
hatte, das Fläschchen mit Blausäure noch in seinem Stiefel verbergen,
und in einem dritten ein Mann, in dessen Leiche die enorme Quantität
von 7·24 Grm. Cyankalium gefunden wurde, nach vollbrachter That
noch in das Schlafzimmer seiner Frau sich begeben und von ihr
Abschied nehmen. In einem von +Taylor+ mitgetheilten Falle vermochte
sogar ein Individuum, das sogenannten Bittermandelgeist (1 Theil
Bittermandelöl, 7 Theile Alkohol) verschluckt hatte, noch in den
Hof zu gehen, Wasser zu pumpen und zwei Treppen hoch zu steigen,
worauf es erst zusammenstürzte und nach 20 Minuten starb. Eine Reihe
ähnlicher Beobachtungen haben wir in der Wiener med. Wochenschrift,
1880, Nr. 2, aus Anlass der Publication eines hier vorgekommenen
Falles von Mord durch Cyankalium veröffentlicht, in welchem u.
A. auch die Möglichkeit eines Selbstmordes herangezogen und in
dieser Richtung betont wurde, dass der abscheulich caustische
Geschmack des mit Cyankalium versetzten Liqueurs die Frau vom
unwillkürlichen Austrinken desselben abgehalten haben würde. Es
wurde jedoch erwidert, dass die Betreffende keine Ahnung von der
giftigen Beimischung hatte und unter diesen Umständen schon ungleich
schärfere und ätzendere Flüssigkeiten, z. B. Laugenessenz, getrunken
worden sind, und dass der ekelhafte Geschmack erst nach erfolgtem
Austrinken sich bemerkbar gemacht haben konnte. Durch Einathmen von
Blausäure sind nicht blos acute, sondern auch chronische Vergiftungen
vorgekommen. Bemerkenswerth ist in dieser Beziehung je ein von
+Martin+ (Friedreich’s Blätter. 1888, pag. 3) und +Mittenzweig+
(Zeitschr. f. Medicinalb. 1888, pag. 97) mitgetheilter Fall von
chronischem Siechthum nach längerer Einathmung von Blausäure.
[Sidenote: Ursache der Giftigkeit der Blausäure.]
Die +Ursache+ der so eminenten +Giftigkeit+ der Blausäure ist noch
nicht aufgeklärt. Die auffallende Aehnlichkeit der Erscheinungen,
unter welchen der Tod bei Blausäurevergiftung auftritt, mit jenen
des Erstickungstodes lässt darauf schliessen, dass der Blausäure
entweder eine reizende und dann sofort lähmende Wirkung auf das
verlängerte Mark zukommt, oder dass schon Spuren derselben, wenn
sie in’s Blut gelangen, die respiratorischen Vorgänge im Organismus
erschweren oder aufheben. Letztere Vermuthung erhält eine Stütze in
der von +Schönbein+ gemachten Beobachtung, dass schon ganz geringe
Mengen von Blausäure, dem Blute zugesetzt, im Stande sind, dessen
katalysirende Wirkung auf Wasserstoffsuperoxyd aufzuheben, so
dass letzteres eine Bräunung des Blutes bewirkt, dessen spectrale
Absorptionserscheinungen verschwinden. Nach +Hoppe+-+Seyler+ und
+Preyer+ geht die Blausäure mit dem Hämoglobin des Blutes eine
chemische Verbindung ein, ähnlich wie das Kohlenoxyd, doch ist
dieser Vorgang vorläufig noch nicht sichergestellt, und selbst wenn
er es wäre, so ist es bei der ausserordentlichen Schnelligkeit, mit
welcher schon ganz geringe Mengen von Blausäure den Tod bewirken,
nicht wahrscheinlich, dass diesem Umstand die Hauptrolle bei der
Blausäurevergiftung zukomme, da die Zeit fehlt, damit das Hämoglobin
zahlreicher Blutkörperchen eine Verbindung mit der Blausäure eingehe.
Ueberdies zeigt sich die fulminante Wirkung der Blausäure auch bei
Fröschen, die bekanntlich eine Aufhebung der Function des Blutes
lange Zeit zu vertragen vermögen.[460] Mehr plausibel ist die Ansicht
+Geppert+’s, wonach die Blausäure den Geweben die Fähigkeit nimmt,
dem Blute das O. zu entziehen. Auch ergaben die Untersuchungen von
+Corin+ und +Ansiaux+ (Bull. de l’Acad. Belgique. 1893), dass sich
die Blutdruckcurven bei dieser Vergiftung analog verhalten wie bei
der Erstickung.
[Sidenote: Leichenbefund.]
Bezüglich des +Leichenbefundes+ ist zunächst die Blausäurevergiftung
als solche und die Cyankaliumvergiftung auseinanderzuhalten. Erstere
gibt in der Regel ausser dem nicht immer nachweisbaren, beim längeren
Einathmen Halskratzen verursachenden Blausäuregeruch im Magen[461] und
mitunter auch in anderen Organen und den Zeichen des Erstickungstodes
meist negative Befunde, insbesondere zeigt die Magenschleimhaut
ausser etwa stärkerer Injection und manchmal Ecchymosirung, die
auch nur als Theilerscheinung der Erstickung gedeutet werden kann,
keine Veränderungen, und dies ist auch, selbst wenn der Blausäure
eine local reizende Wirkung zugeschrieben werden könnte, bei der
grossen Schnelligkeit, mit welcher in der Regel der Tod eintritt,
wohl begreiflich. Anders ist der Befund bei Cyankaliumvergiftung. In
exquisiten Fällen derselben finden wir ausser dem charakteristischen
Geruch die Magenschleimhaut allenthalben, besonders aber im Fundus
und auf der Höhe der Falten, blutroth gefärbt, gewulstet und in dem
Grade gequollen, dass die Faltenkämme stellenweise selbst transparent
erscheinen können. Dabei sehen wir die Schleimhaut mit reichlichem,
hellroth oder hellbraunroth tingirtem, fadenziehendem Schleim
bedeckt, und wenn sonstiger Mageninhalt vorhanden ist, auch diesen
blutig gefärbt und von limpider fadenziehender Beschaffenheit. Dabei
reagirt der Mageninhalt stark alkalisch, ist seifenartig-schlüpfrig
zum Anfühlen und verbreitet einen mehr weniger auffallenden
Blausäuregeruch, der sich auch in anderen Organen, so im Gehirn
und in den Lungen, bemerkbar zu machen pflegt. Meist ist zugleich
ein Geruch nach Ammoniak bemerkbar, welches entweder schon in der
Giftsubstanz vorhanden war oder erst im Magen durch Zersetzung der
Blausäure sich bilden kann (+Lacassagne+). Die auffallende Röthung
und Wulstung der Schleimhaut entwickelt sich durch das Zusammenwirken
dreier Factoren, nämlich der reactiven Injection und Ecchymosirung
der Magenschleimhaut, der Quellung des Schleimhautgewebes durch das
Cyankalium und der Imbibition der oberen Schichten mit von Cyankalium
gelöstem Blutfarbstoff. Von diesen Factoren bildet sich nur der erste
während des Lebens und ist bedingt durch die stark alkalischen, jener
des Kali causticum wenig nachstehenden, irritirenden und selbst
ätzenden Eigenschaften des Cyankaliums, die schon in den wenigen
Augenblicken, die bei dieser Todesart gegeben sind, Injectionsröthe und
Ecchymosenbildung bewirken können. Die beiden anderen Factoren treten
erst nach dem Tode in Wirksamkeit, da zum Zustandekommen der durch sie
erzeugten Befunde, nämlich der Quellung und blutigen Imbibition der
Magenschleimhaut, die, ähnlich wie bei der Laugenvergiftung, durch die
stark alkalische Wirkung des Cyankaliums erzeugt werden, längere Zeit
erforderlich ist. Dies lässt sich auch experimentell sicherstellen,
da man bei Versuchsthieren, die man mit Cyankalium vergiftet, wenn
sie sofort nach dem Tode untersucht werden, nichts von Quellung und
blutiger Imbibition der Magenschleimhaut bemerkt, wohl aber, wenn die
Section erst nach mehreren Stunden gemacht wird, und da man ähnliche
Befunde auch erzeugen kann, wenn man in hyperämische Leichenmägen
Cyankaliumlösung bringt und diese durch einige Stunden einwirken lässt.
Aus dem Gesagten ist begreiflich, dass die blutige Imbibition und
Wulstung der Magenschleimhaut desto weniger entwickelt sein wird, je
weniger von dem Gifte genommen wurde, und wir haben wiederholt Fälle
obducirt, bei welchen eben der geringen Dosis wegen jene Befunde nur
unbedeutend entwickelt waren. Dies ist namentlich bei Giftmorden zu
beobachten, da bei diesen kaum so grosse Dosen zur Anwendung kommen,
wie sie gewöhnlich von Selbstmördern benützt zu werden pflegen. Ferner
ist es begreiflich dass die quellende und blutauflösende Wirkung, die
doch nur dem starken Alkali zukommt, dann entfallen wird, wenn durch
ein saueres Vehikel (sauren Wein, Limonade etc.), in welchem das Gift
gereicht wurde, oder durch sauren Mageninhalt das Kali gebunden und in
dieser Richtung unwirksam gemacht wurde. In solchen Fällen entzieht
sich, wenn nicht etwa der Blausäuregeruch deutlich hervortritt, auch
eine Cyankaliumvergiftung der anatomischen Diagnose und letztere kann
nur durch chemische Untersuchung gestellt werden.
Eine ähnliche Quellung und blutrothe Durchtränkung der Magenschleimhaut
kann ausser im Zwölffingerdarm, auch im Rachen und im Oesophagus, im
Kehlkopf und in der Luftröhre und selbst in den Lungen vorkommen,
dann nämlich, wenn durch Erbrechen oder vielleicht postmortal
cyankaliumhaltige Stoffe in diese Organe geriethen, beziehungsweise
aspirirt worden sind und daher dort nachträglich ihre quellende und
blutauflösende Wirkung zur Geltung bringen konnten. In manchen Fällen
sind die Kämme einzelner Schleimhautfalten des Magens schmutzig
weissgrau verfärbt und getrübt, von zäherer Consistenz, während die
Nachbarschaft in gewöhnlicher Weise blutig imbibirt und gequollen
erscheint. Diese Veränderung ist eine secundäre und entsteht an jenen
Faltenkämmen, die der quellenden und klärenden Wirkung des alkalischen
Mageninhaltes weniger ausgesetzt waren, respective aus demselben
hervorragten. Insbesondere finden sich solche Stellen dann, wenn der
Mageninhalt neutral oder nur sehr schwach alkalich oder gar schon
schwach sauer reagirt. Es handelt sich somit um eine nachträgliche
Ausfällung der früher durch das Alkali gelöst erhaltenen Eiweisskörper,
die man auch unmittelbar beobachten kann, wenn man die gequollenen und
transparenten Partien neutralisirt oder schwach ansäuert oder auch
nur auswässert. Auf dieselbe Weise sind die epithelialen Trübungen zu
erklären, die sich mitunter in den Schlingorganen finden.
[Sidenote: Blut nach Blausäure- und Cyankaliumvergiftung.]
Das Blut zeigt sowohl bei der Blausäure als bei der
Cyankaliumvergiftung die Eigenschaften des gewöhnlichen
Erstickungsblutes, ist nämlich dunkelflüssig. Doch haben wir bereits
wiederholt bei Cyankaliumvergiftung eine auffallend hellrothe Farbe des
Blutes gefunden, so dass der Sectionsbefund eine grosse Aehnlichkeit
mit jenem hatte, den wir nach Kohlenoxydvergiftung beobachten
können. Derartige Fälle sind auch von Anderen beobachtet worden.
Die Ursache dieser Erscheinung ist vorläufig unbekannt, namentlich
ist es noch nicht sichergestellt, ob derselben eine Verbindung der
Blausäure mit dem Hämoglobin (Hämatin) zu Grunde liegt oder ob, wie
+Hoppe+-+Seyler+ und mit ihm +Gäthgens+ annimmt (Med.-chem. Unters.
1866 bis 1871, pag. 140, 258, 325 u. s. f.), die hellrothe Farbe
des Blutes davon herrührt, dass nach Aufnahme von Blausäure in das
Blut das Hämoglobin des letzteren seinen lose gebundenen Sauerstoff
viel schwerer hergibt als im normalen Zustande. Wir haben bisher
die hellrothe Farbe des Blutes, respective der Todtenflecke nur
bei Cyankaliumvergiftungen beobachtet und meinen, dass vielleicht
diese Färbung von der Hyperalkalescenz des Blutes herrührt, die
namentlich leicht und schnell durch das Ammoniak bewirkt werden kann,
welches jedes, insbesondere aber älteres, Cyankalium enthält. Dafür
scheint uns auch die bekannte Thatsache zu sprechen, dass Spuren
von Ammoniak Blutlösungen sofort hellroth färben und trüb gewesene
gleichzeitig aufhellen (vgl. pag. 435). Die spectrale Untersuchung des
Leichenblutes ergibt keine Abweichungen vom Normalen. Dagegen zeigt
der blutige Mageninhalt häufig das Spectrum des Hämatins, d. h. ein
dunkles schlecht contourirtes Band oder auch nur eine Schattirung in
Grün, welche sich nach Zusatz von Schwefelammonium sofort in zwei
Absorptionsstreifen im Gelbgrün auflöst, von denen namentlich der dem
Roth nähere sehr dunkel und scharf ausgeprägt erscheint -- Spectrum
des reducirten Hämatins. Dieses spectrale Verhalten des Magenblutes
ist keineswegs für die Cyankaliumvergiftung charakteristisch, ergibt
sich vielmehr auch häufig bei anderen Vergiftungen mit Säuren
oder Alkalien und auch bei anderen Todesarten, bei denen sich ein
blutiger Mageninhalt findet, da das betreffende Blut schon durch die
Magensäure theilweise oder vollständig zu Hämatin zersetzt wird.
+Kobert+ (Dorpater Ber. 1888. pag. 442) leitet die hellrothe Farbe
des Blutes von der Bildung von Cyanwasserstoffhämoglobin her, welches
ein dem des reducirten Hämoglobins ähnliches Spectrum gibt. Ausserdem
empfiehlt er („Ueber Cyanmethämoglobin und den Nachweis von Blausäure.“
1892) eine, seiner Angabe nach charakteristische Reaction, die auf
Cyanmethämoglobinbildung beruht. Gibt man nämlich zu einer verdünnten
Lösung gewöhnlichen Blutes einige Tropfen von Ferridcyankalium (rothen
Blutlaugensalz) hinzu, so ändert sich die rothe Blutfarbe sofort
in’s Braune und im Spectrum erscheinen der Methämoglobinstreif, fügt
man jedoch eine Spur Blausäure oder Cyankalium hinzu, oder macht man
die Reaction mit blausäurehältigem Blute, so wird die Lösung schön
roth und gibt ein breites Band in Grün, welches nach Zusatz von
Schwefelammonium in 2 sich auflöst. Die Untersuchungen von +Becker+,
+Szigeti+, +Richter+ und +Wachholz+ bestätigen dieses Verhalten von
Methämoglobinlösungen zu Cyan, finden jedoch, dass die so entstehende
Röthung der Lösung nicht durch Bildung von Cyanmethämoglobin, sondern
von Cyanhämatin bedingt sei.
[Sidenote: Nitrobenzol.]
Der Blausäurevergiftung, was den Geruch anbelangt, ähnlich ist
jene mit +Nitrobenzol+. Dieses, auch unter dem Namen Mirbanöl oder
falsches Bittermandelöl bekannt, kommt gegenwärtig häufig statt
des echten Bittermandelöls in der Parfümerie, aber auch in der
Conditorei, Liqueurfabrication etc. in Anwendung. Es ist eine
ölige, gelbliche Flüssigkeit von auffallendem Geruch nach bitteren
Mandeln. Ueber die letale Dosis ist wenig bekannt. Doch haben in
einem von +Bahrdt+ (Arch. f. Heilk. 1871, pag. 320) mitgetheilten
Falle schon 20 Tropfen den Tod eines 19jährigen Mannes herbeigeführt.
Aus den bisher beobachteten Fällen von Nitrobenzolvergiftung
(Literatur v. in +Filehne+’s „Ueber die Giftwirkungen des
Nitrobenzols“. Archiv f. experim. Path. IX, 329) ergibt sich, dass
die Vergiftungserscheinungen manchmal erst nach 1-2 Stunden auftreten
können und dass schon in dieser Periode eine eigenthümliche graublaue
Hautverfärbung sich einstellt, die von Einzelnen (+Letheby+) von
einer Reduction des Nitrobenzols zu Anilin hergeleitet wird,
während Andere (+Filehne+) sie aus der behinderten Oxydation und
braunen Verfärbung des Blutes durch Nitrobenzol erklären. Hierauf
folgt in der Regel Leibschmerz und Erbrechen, Zusammenstürzen und
Bewusstlosigkeit, Zuckungen, Dilatation der Pupillen, Tod unter
Sopor. In einzelnen Fällen wurde vorübergehende Besserung, namentlich
Wiederkehr des Bewusstseins, beobachtet (+Bahrdt+). Bei der Section
wurde dunkelbraunes, flüssiges Blut gefunden (diese Farbe bot
im +Bahrdt+’schen Falle schon das aus der Ader gelassene Blut),
braune Verfärbung der Musculatur, Injection und Ecchymosirung der
Magenschleimhaut und ein auffallender Bittermandelgeruch im Magen
und in den übrigen Organen. Dieser Geruch ist intensiver und hält
sich auch in der Leiche ungleich länger als der nach Blausäure. In
einem von uns obducirten Falle von Nitrobenzolvergiftung (2jähriges
Kind, welches von vergossenem Mirbanöl genascht hatte; erste Symptome
nach 2 Stunden, Tod nach 9 Stunden) war der Geruch in den Lungen
und im Magen auffallend und das Blut bräunlich. Sonst fand sich
nichts Auffälliges. In einem zweiten Falle (Tod nach 3 Stunden)
ergab sich derselbe Befund. Der Mann hatte gemeinschaftlich mit drei
anderen Personen aus einer gefundenen, mit „Rum“ bezeichneten, aber
Nitrobenzol enthaltenden Flasche getrunken. Seine Gefährten zeigten
schwere Vergiftungssymptome, kamen aber mit dem Leben davon. Eine
Vergiftung mit anilinhaltigem Nitrobenzol, bei welcher, trotzdem
circa 16·0 genommen wurden, der Tod nicht eintrat, beschreibt
+Litten+ (Berliner klin. Wochenschr. 1881, pag. 23). Die Haut war
blau bis graublau gefärbt, ebenso die Schleimhäute, namentlich der
Conjunctiven. Dieser Befund bestand durch 3 Tage, während welcher
Zeit die Exspirationsluft und der Harn Bittermandelgeruch zeigten.
Aehnliche Fälle haben +Mehrer+ (Wiener med. Presse. 1885, Nr. 1) und
+Müller+ (Med. Centralbl. 1887, pag. 301) beobachtet. In letzterem
war der Obductionsbefund ähnlich wie nach Vergiftung mit chlorsaurem
Kali. Auch fanden sich die Methämoglobininfarcte in den Nieren.
[Sidenote: Nitroglycerinvergiftung.]
Die bereits wiederholt vorgekommenen Vergiftungen mit +Nitroglycerin+
veranlassen uns auch dessen zu erwähnen. Sie geschehen theils mit
flüssigem Nitroglycerin, welches eine klare, ölige, hellgelbe,
süss und gewürzhaft schmeckende Substanz darstellt, oder mit
dem gegenwärtig als Sprengmittel so verbreiteten +Dynamit+ und
+Dualin+. Ersteres ist Nitroglycerin mit ein Viertel seines
Gewichtes Infusorienerde (Kieselguhr) gemischt, letzteres ein durch
Tränkung von Sägespänen mit Nitroglycerin erzeugtes Präparat. Die
Mehrzahl der Vergiftungen geschah zufällig (vgl. Zusammenstellung
der Literatur bis 1868 von +Husemann+ in Virchow’s Jahrb.; weitere
Fälle ibidem, 1870, I, pag. 352 und 436; +Bruel+, „Rech. exp. sur
les effets toxiques de la nitroglycérine et la dynamite“. Paris
1876; +Eulenberg+, Gewerbehygiene. 482), doch sind auch Morde
und Mordversuche vorgekommen. Einen solchen Fall hat +Husemann+
(Deutsche Klinik. 1867, Nr. 18) mitgetheilt, ein zweiter mit Dynamit
unternommener findet sich in Maschka’s Gutachten, 1873, IV, 257, und
einen dritten (Doppelmord durch Vergiftung mit Dynamit) hat +Wolff+
publicirt (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXVIII, 1). Die Dosis
toxica letalis ist noch unbestimmt. Es wird angegeben, dass schon
⅒-⅕ Gran reinen Nitroglycerins Vergiftungserscheinungen bewirken
können. Ein tödtlicher Ausgang wurde nach dem Genusse von 1 Unze
und ein anderer (+Holst+) nach 2 Mundvoll Sprengöl beobachtet. Doch
ist es zweifellos, dass schon viel geringere Mengen letalen Ausgang
herbeiführen können, da schon 2-3 Tropfen im Stande sind, einen Hund
zu tödten. Die Erscheinungen, welche während des Lebens beobachtet
wurden, waren Kopfschmerz, Leibschmerzen, Erbrechen und Diarrhöe,
Geruch des Erbrochenen nach Nitroglycerin, starke Beschleunigung des
Athmens, Frostanfälle, Schwindel, schlafartiger Zustand, Lähmung.
In dem Falle von +Holst+ starb der Mann 6½ Stunden nach Beginn
der ersten Vergiftungserscheinungen, im +Wolff+’schen Fall die Frau
3, der Mann 4 Tage nach der Ingestion. Die Section ergab in diesen
Fällen Injection und Ecchymosirung der Magenschleimhaut, sonst einen
negativen Befund. Bei Vergiftungen mit Dynamit oder Dualin wäre nach
dem charakteristischen Kieselguhr oder nach Sägespänen zu forschen.
Ersteren in den gereichten Speisen nachzuweisen, war in dem von
+Maschka+ mitgetheilten Falle gelungen.
Strychninvergiftung.
Von den strychninhaltigen Pflanzentheilen haben die Ignatiusbohnen
und namentlich die sogenannten Krähenaugen -- Nux vomica -- die zur
Vergiftung schädlicher Thiere von Jägern etc. angewendet werden, zu
meist zufälligen Vergiftungen Veranlassung gegeben. Ueber einen, an
einem kaum zwei Tage alten Kinde mittelst Krähenaugenpulver verübten
Giftmord hat +Führer+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1876,
XXV, 290) berichtet. Als letale Dosis des Brechnusspulvers werden
für Erwachsene 4-12 Grm. angegeben (+Husemann+). Die Maximaldose der
deutschen Pharmakopöe beträgt einzeln 0·20, pro die 0·60.
Selbstmorde mit Strychnin oder Strychninsalzen sind in grosser Zahl
in der Literatur verzeichnet; zufällige Vergiftungen sind des
enorm bitteren Geschmackes wegen, der sich schon in den stärksten
Verdünnungen bemerkbar macht, nicht häufig. Aus gleichem Grunde
scheint es schwierig, ausgenommen etwa in Medicamenten, Jemandem
Strychnin heimlich beizubringen. Trotzdem ist Giftmord durch Strychnin
wiederholt vorgekommen. Bekannt sind in dieser Beziehung die Processe
+Palmer+ und +Demme+-+Trümpy+. Auch in Prag ist vor mehreren Jahren ein
Fall vorgekommen, wo ein Apotheker seine Frau mit strychninhaltigem
Malagawein vergiftete, den er ihr als ein Mittel gegen Epilepsie
bereitet hatte. Als letale Dosis für Erwachsene werden 4-8 Cgrm., für
Kinder schon 7-8 Mgrm. angesehen. Die Maximaldose für Erwachsene wird
von der österr. Pharmakopöe einzeln mit 7 Mgrm. und pro die mit 2 Cgrm.
angegeben, von der deutschen dagegen in der Einzelngabe mit 0·001 und
in der Gesammttagesgabe mit 0·03; zur subcutanen Injection nach +Falck+
mit 0·0015-0·006. Doch sind Fälle beobachtet worden, in denen Genesung
noch nach 24-50 Cgrm. eingetreten ist.[462]
Die ersten Vergiftungserscheinungen treten in der Regel erst 15-20
Minuten nach der Einverleibung auf, können jedoch auch eine Stunde
und selbst noch länger auf sich warten lassen. Ein verzögertes
Eintreten der ersten Erscheinungen ist besonders dann zu erwarten,
wenn Strychninum purum genommen wurde, da dieses so schwer löslich
ist, dass nach +Pelletier+ erst 6667 Theile kalten und 2500 Theile
kochenden Wassers einen Theil Strychnin zu lösen vermögen, während
die Salze leicht löslich sind. Die Erscheinungen beginnen mit
Unwohlsein, Unruhe, Ziehen in den Muskeln, Steifwerden derselben,
Suffocationsgefühl, Trismus und endlich Tetanus (meist Opisthotonus).
Nur ganz ausnahmsweise, wenn die Gabe besonders gross und die
Bedingungen zur raschen Resorption besonders günstig waren, kann schon
im ersten und einzigen Anfalle der Tod eintreten. In der Regel lässt
der Anfall nach 2-5 Minuten nach und es folgt eine Ruhepause, welche
nach kürzerer oder längerer Dauer abermals in den Paroxysmus übergeht,
welcher auch, in Folge der bedeutend gesteigerten Reflexerregbarkeit,
schon nach geringen Erschütterungen oder anderweitigen Reizungen
peripherer sensibler Nerven sofort hervorgerufen werden kann. Das
Bewusstsein ist in der Regel intact, besonders in den Ruhepausen.
Ausnahmsweise wurde Stupor oder gar complete Bewusstlosigkeit
beobachtet.[463] Während des Anfalles ist die Respiration in Folge des
Tetanus der Respirationsmusculatur mehr weniger sistirt, auch erfolgt
der Tod in der Regel während eines Anfalles suffocatorisch, manchmal
nach Sistirung oder Abschwächung der Paroxysmen unter Erscheinungen
der Lähmung der Medulla oblongata und des Rückenmarks. Die Zeit,
binnen welcher nach dem Auftreten des ersten Paroxysmus der Tod
eintritt, ist desto kürzer, je grösser die Gabe und je günstiger die
Resorptionsbedingungen gewesen waren. Es kann dann der Tod schon in der
ersten Viertelstunde und nach wenigen tetanischen Anfällen erfolgen,
während unter anderen Verhältnissen selbst zwei und mehr Stunden
vergehen können.
[Sidenote: Sectionsbefund nach Strychninvergiftung.]
Der +Sectionsbefund+ bietet nichts Charakteristisches. Frühzeitiges
Auftreten (+Wachholz+ 1894), intensive Entwicklung und auffallend
lange Persistenz der Todtenstarre wird angegeben. Ebenso eine
krampfhafte Verdrehung der Glieder. Eine auffallende Einwärtskehrung
der Fusssohlen bei gleichzeitiger starker Streckung der Füsse haben
wir in zwei Fällen von Strychninvergiftung beobachtet, aber auch
keineswegs selten bei anderen gewaltsamen Todesarten. Es ist noch
fraglich, ob die durch den Tetanus bewirkte Contractur den Tod so lange
überdauern kann, dass sie durch die eintretende Todtenstarre fixirt
wird, ebenso wie das sofortige Eintreten der letzteren im Momente des
Todes weder für die Strychninvergiftung, noch für andere Todesarten
sichergestellt ist. Versuche an Thieren zeigen, dass auch, wenn der
Tod im heftigsten Strychninparoxysmus erfolgt, doch nach dem Tode die
Musculatur erschlafft und erst später durch die Todtenstarre wieder
ersteift. Die übrigen Sectionsbefunde sind im Allgemeinen jene des
Erstickungstodes, dunkelflüssiges Blut, venöse Hyperämien im Gehirn
und in den Lungen und Ecchymosen. Die Entstehung letzterer erklärt
sich nicht blos aus den Muskelkrämpfen, sondern auch aus der besonders
heftigen Reizung des in der Medulla oblongata gelegenen vasomotorischen
Centrums und den dadurch bedingten heftigen Gefässkrampf, welcher
der Strychninvergiftung charakteristisch zukommt. Zur Erkennung etwa
aufgefundener Strychninkrystalle kann das sehr charakteristische
Verhalten des in concentrirter Schwefelsäure gelösten Strychnins
gegen doppeltchromsaures Kali benützt werden. Man bringt zu diesem
Zwecke den zu untersuchenden Krystall mit 1-2 Tropfen concentrirter
Schwefelsäure auf ein Porzellanschälchen und fügt, wenn die Lösung
vollständig oder auch nur theilweise erfolgt ist, ein kleines Stückchen
doppeltchromsauren Kalis hinzu, worauf man bemerkt, dass sich die
Umgebung desselben blau oder violett verfärbt und schön violette
Streifen sich bilden, wenn man das Stückchen chromsauren Kali mit einem
Glasstabe verschiebt.
[Sidenote: Brucin.]
Aehnlich in seiner Wirkung mit dem Strychnin ist das +Brucin+,
welches durch Salpetersäure schön roth sich färbt und neben Strychnin
auch in Strychnos Nux vomica vorkommt.
[Sidenote: Picrotoxin.]
Die Früchte von Menispermum coculus L., die sogenannten
Kockelskörner, welche hier und da zur Betäubung der Fische, aber
auch zur Bierverfälschung benützt werden und das in ihnen enthaltene
+Picrotoxin+ bewirken, letzteres in Dosen von 0·2 Grm. und mehr,
Erbrechen und Convulsionen, sowohl tetanische als clonische, doch
haben diese keinen reflectorischen Charakter, wie jene nach Strychnin.
[Sidenote: Nicotin.]
Vergiftungen mit reinem +Nicotin+, welches eine ölige, nach
einiger Zeit sich gelblich färbende Flüssigkeit darstellt und in
den Tabakblättern zu 2-7% enthalten ist, sind ausserordentlich
selten. Bekannt ist der 1850 vorgekommene Fall des Grafen Bocarmé,
der seinen Schwager Fourgnies mit selbstbereitetem Nicotin
vergiftete. Die letale Dosis für Erwachsene wird mit 8-16 Cgrm.
angegeben. Nach +Schroff+ bewirken schon ¹⁄₃₂-¹⁄₁₆ Gran bedeutende
Vergiftungserscheinungen. Vergiftungen mit den äusserlich
angewendeten Blättern sind wiederholt vorgekommen, ebenso mit
Flüssigkeiten, in denen Tabakblätter macerirt wurden. Am häufigsten
sind Vergiftungen mit Tabakrauch und Tabaksaft vorgekommen. Die
Erscheinungen, welche nach den ersten Rauchversuchen einzutreten
pflegen, sind bekannt. Doch wurden schwere und selbst tödtliche
Vergiftungen auch bei Gewohnheitsrauchern beobachtet, namentlich
nach Rauchwetten. +Hellwig+ sah den Tod nach 18, respective 17
Pfeifen, die unmittelbar hintereinander geraucht wurden, eintreten.
Der Fall betraf 2 Brüder, die eine Rauchwette eingegangen waren.
Bezüglich des Tabaksaftes (Schmergel) wird von +Brodis+ angegeben,
dass schon 1 Tropfen davon Katzen zu tödten im Stande ist; auch +Le
Bon+ (Virchow’s Jahrb. 1880, I, 471) fand, dass schon 2-3 Tropfen für
kleine Thiere tödtlich sind, doch sah +Deutsch+ (Schmidt’s Jahrb.
1851, LXX, 27) bei einem kräftigen Manne, der 1 Unze Tabaksaft als
Mittel gegen Bandwurm genommen hatte, Genesung, allerdings nach
sehr heftigen Intoxicationserscheinungen, erfolgen. Ein Fall von
letaler Vergiftung eines kleinen Knaben mit muthwilliger Weise in
einen Erdapfel gegebenem Tabakssaft ist vor einigen Jahren in Böhmen
vorgekommen und wurde von +Matouschek+ beschrieben. Nach +Vohl+ und
+Eulenberg+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1871, XIV, 249) ist
weder im Tabakrauch, noch im Tabaksaft Nicotin vorhanden, da dasselbe
sich beim Rauchen zersetzt, dagegen finden sich in letzterem gewisse,
den Anilinbasen homologe Picolin-, respective Pyridinbasen, welche in
hohem Grade giftig sind. +E. Ludwig+ (Arch. f. klin. Chir. XX, 363)
fand im Tabakrauch neben grossen Mengen kohlensauren Ammoniaks auch
essigsaures Ammoniak und Carbolsäure, dagegen weder Blausäure, noch
SH. Die Vergiftungserscheinungen treten sehr bald auf und bestehen
in Kratzen und Brennen im Schlund, vermehrter Speichelsecretion,
Ueblichkeiten, Schmerzen in der Magengegend, Erbrechen, Blässe
und Kühle der Haut, Kopfschmerz, in höherem Grade Betäubung und
Bewusstlosigkeit und clonischen Convulsionen. Von physiologisch
nachgewiesenen Wirkungen ist die Herabsetzung der Reflexerregbarkeit
des Rückenmarks, heftiger Gefässkrampf und die Reizung der Centra
für Darm- und Uterusbewegung zu erwähnen. Der Sectionsbefund
bietet, wenn nicht etwa der Tabakgeruch im Magen auffällt, nichts
Charakteristisches. Doch wurden in einzelnen Fällen, so im Falle
Bocarmé, Befunde constatirt, die auf eine heftige Irritation der
Schleimhaut der Schlingorgane und des Magens schliessen lassen.
[Sidenote: Atropinvergiftung.]
Vergiftungen mit +Atropin+ geschehen in der Regel entweder mit
den Belladonnabeeren oder mit den in der Augenheilkunde vielfach
gebrauchten und daher verbreiteten Lösungen des Alkaloids. Die
Mehrzahl dieser Vergiftungen ist zufälliger oder fahrlässiger Natur,
doch sind Giftmorde damit wiederholt vorgekommen. Berüchtigt ist
der Fall der Jeanerett, welche als Krankenwärterin mehrere ihrer
Patienten mit Atropin vergiftete. Ein versuchter Raubmord mit Atropin
kam in Wien vor wenigen Jahren zu strafrechtlicher Untersuchung. Als
letale Dosis von Atropin können 7-8 Cgrm. gelten. Die Maximaldose
der österr. Pharm. beträgt einzeln 0·002, pro die 0·006, die der
deutschen 0·001 und 0·003 Grm. Für subcutane Injectionen 0·001. Von
den Beeren sollen schon, insbesondere bei Kindern, 3-10 Beeren, den
Tod bringen können (+van Hasselt+). +Apoiger+ hat an sich selbst nach
4 Beeren heftige Intoxicationserscheinungen beobachtet. +Kauders+
(Wiener med. Wochenschr. 1881, Nr. 45) sah nach dem Genusse von 13
Stück Tollkirschen furibunde Delirien, dann aber Genesung eintreten.
Die Vergiftungserscheinungen treten nach wenigen Minuten ein,
bestehen in Muskelzittern, Betäubung, einem rauschartigen Zustand mit
heiteren Delirien, Pulsbeschleunigung, Röthung des Gesichtes, enormer
Pupillenerweiterung, anfangs Convulsionen, selbst Trismus, später
örtlicher Muskelunthätigkeit, Unvermögen zu schlucken, schwacher
Respiration, Tod unter allgemeiner Lähmung. In einem von +Gross+ in
Philadelphia (Friedreich’s Blätter. 1870, pag. 457) beschriebenen
Falle trat bei einer Frau, die irrthümlich 3 Gran Atropin in einer
Pille genommen hatte, der Tod unter den erwähnten Erscheinungen erst
nach 15 Stunden ein. Die Section zeigt nach Vergiftung mit Atropin
oder seinen Salzen ausser Pupillenerweiterung keinen diagnostisch
verwerthbaren Befund. Nach Vergiftung mit Belladonnabeeren fand
+Kratter+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLIV, pag. 1) die
Pharynxschleimhaut dunkelviolett, die des Oesophagus im unteren
Drittel, sowie die Magenschleimhaut der Cardiahälfte entzündet
und mit croupösem, bluthältigem Exsudate belegt, mit beginnender
Geschwürsbildung an einzelnen Stellen der kleinen Curvatur. Auch in
den oberen Partien des Dünndarms fanden sich Irritationserscheinungen
in Form von Ecchymosen. Ausserdem fanden sich Reste von Tollkirschen
im Dickdarm. +Kratter+ schliesst aus seiner Beobachtung, dass
den Belladonnabeeren, besonders im frischen Zustande, auch eine
irritirende Wirkung zukommt, die dem Atropin und seinen Salzen
gänzlich abgeht. +A. Paltauf+ (Wiener klin. Wochenschr. 1888,
pag. 113) hebt die differentialdiagnostische Bedeutung des in den
Belladonnabeeren enthaltenen eigenthümlichen Schillerstoffes
hervor, dessen Nachweis ihm in den Dejectis eines Mannes gelang, der
Tollkirschen irrthümlich für Brombeeren gegessen hatte. Auch fand er
übereinstimmend mit +Pellacani+, dass sich das Atropin in faulenden
Substanzen noch nach längerer Zeit nachweisen lasse.
[Sidenote: Daturin. Hyosciamin.]
Die Pflanzentheile, besonders die Samen von Datura stramonium und
Hyosciamus niger, sowie das aus ihnen gewonnene Alkaloid +Daturin+
und +Hyosciamin+ bewirken ähnliche Erscheinungen wie Atropin. Von den
Samen haben 15-20 Stück bei Kindern bedenkliche Erscheinungen und
selbst den Tod herbeigeführt.
[Sidenote: Digitalin.]
Die Vergiftung mit +Digitalin+, dem wirksamen Bestandtheil des
Fingerhuts (Digitalis purpurea L.), ist namentlich durch den
von dem Arzte +La Pommerais+ begangenen Giftmord Gegenstand
besonderer Untersuchungen geworden. Medicinale Vergiftungen mit
Digitalisblättern sind ebenfalls beobachtet worden. Neuestens
hat +Köhnborn+[464] über die Vergiftung zweier Männer durch
Digitalispulver berichtet, wovon die eine letal endete. Beide
Männer hatten die Digitalis in Pillen genommen, die sie von einem
Individuum gekauft hatten, um durch sie zu erkranken und dadurch
vom Militärdienste frei zu werden, und die weitere Untersuchung
hat herausgestellt, dass jenes Individuum bereits seit einem
Jahrzehnt das Freimachen von Militärpflichtigen gewerbsmässig
betrieben habe und als „Freimacher“ in der Gegend bekannt war,
aber erst in den letzten Jahren Digitalispillen zu diesem Zwecke
benützt hatte. Die Maximaleinzeldose von Pulv. fol. digit. für
Erwachsene beträgt nach der österr. Pharm. 0·2, jene pro die 0·6,
nach der deutschen Pharm. die erstere 0·3, die letztere 1·0 Grm. Vom
Digitalin, von welchem mehrere Sorten im Handel vorkommen, beträgt
die Maximaleinzeldose nach der österr. Pharm. 0·002, nach +Falck+
0·005, die pro die nach der österr. Pharm. 0·01, nach +Falck+ 0·02
Grm. Die Vergiftungserscheinungen bestehen in Ueblichkeiten, Verlust
des Appetites, Erbrechen, auch in Durchfällen, Herabsetzen der
Pulsfrequenz, grosser Muskelschwäche, Benommenheit des Kopfes, später
Ohnmachten, Schwindel, Sehstörungen (Dunkelsehen, Pupillenerweiterung
ist nicht constant), auch Bewusstlosigkeit und schliesslich
Herzlähmung. Die pulsverlangsamende Wirkung der Digitalis beruht auf
Lähmung der intracardialen motorischen Herzcentren, die schliesslich
diastolischen Herzstillstand herbeiführt. Bemerkenswerth ist die
cumulative Wirkung der Digitalis, so dass fortgesetzte, einzeln
unschädliche Dosen Vergiftungen bewirken können. Nach Vergiftungen
mit Digitalin ergeben sich keine charakteristischen Befunde in
der Leiche. In +Köhnborn+’s Falle fanden sich Zeichen eines
Magencatarrhs, Injection und Ecchymosirung der Schleimhaut, ausserdem
im Mageninhalt grünliche Partikelchen, welche unter dem Mikroskope
sich als Theilchen von Digitalisblättern erwiesen und insbesondere an
den für Digitalisblätter charakteristischen gegliederten Haaren als
solche erkannt wurden.
[Sidenote: Vergiftung mit Helleborus etc.]
Auch den Theilen von +Helleborus+, +Veratrum+, +Aconitum+ und
+Colchicum+ und ihren Alkaloiden scheint eine gleiche oder ähnliche
Wirkung zuzukommen wie dem Digitalin.
[Sidenote: Vergiftung mit Extr. filicis maris.]
Das als Bandwurmmittel und gegen Anchylostomum duodenale so häufig
in Dosen von 2-10 Grm. in 2-4 Partien gebrauchte +Extractum filicis
maris aethereum+ hat sich als ein Mittel erwiesen, bei dessen
Anwendung einige Vorsicht geboten ist. Aus den Zusammenstellungen
von +A. Paltauf+ („Zur gerichtsärztlichen Beurtheilung von
Vergiftungen durch Wurmfarnextract.“ Prager med. Wochenschr. 1892,
Nr. 5 u. 6) und denen von +K. Katayama+ und +Okamato+ („Studien
über die Filix-Amaurose.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894,
VIII. Suppl., pag. 148) ergibt sich, dass bereits mehr als 40 mehr
weniger schwere Vergiftungsfälle durch dieses Mittel, darunter
5 mit letalem Ausgang, vorgekommen sind, wozu noch ein weiterer
(der dritte) in unserem Institute secirter hinzuzurechnen ist.
In den letalen Fällen traten mit oder ohne gastroenteritischen
Erscheinungen Bewusstseinsstörungen und Convulsionen (klonische
sowohl als tonische) auf und der Tod erfolgt unter Sopor. Auch in
den nicht letal abgelaufenen Fällen waren die Vergiftungssymptome
weniger localer als centraler Natur und bestanden in Schwindel,
Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen, Convulsionen und
Collapserscheinungen. In 25 Fällen waren Sehstörungen eingetreten,
darunter 14 Amaurosen, und 8 Fälle von Amblyopie. Hierbei scheint
weniger das sonst ohne allen Schaden und so häufig angewendete
Präparat, als individuelle Verhältnisse von Einfluss zu sein, da die
Vergiftungen vorzugsweise bei schwächlichen Kindern und in ihrem
Kräftezustand herabgekommenen Erwachsenen vorgekommen sind, und
es ist in dieser Beziehung bezeichnend, dass nach +Katayama+ die
Mehrzahl der Sehstörungen bei Anchylostomakranken zur Beobachtung
kamen, da diese gewöhnlich in mehr weniger hohem Grade anämisch
und schwächlich sind. Auch wurden die Sehstörungen nach tagelang
fortgesetztem Gebrauch häufiger beobachtet, als bei nur ein- oder
zweimaliger Anwendung. Das wirksame und zugleich giftige Princip ist
nach +Poulsson+ die Filixsäure. Da diese in fetten Oelen löslich ist,
widerräth +Poulsson+, hinter oder neben dem Extract Ricinusöl zu
geben, wie dies allgemein üblich ist. +Kobert+ (l. c. 669) empfiehlt
die Mitverwendung des ätherischen Oeles der Farnwurzel, welches den
Bandwurm tödtet, für den Menschen aber unschädlich ist. +Grawitz+
(Berliner klin. Wochenschr. 1894, Nr. 52) hat nach Gebrauch des
Extractes Icterus und Lebercirrhose beobachtet und schreibt demselben
eine schädigende Wirkung auf das Lebergewebe zu.
[Sidenote: Giftige Schwämme.]
+Giftige Schwämme.+ Als wirksames Princip des Fliegenpilzes (Amanita
muscaria) haben +Schmiedeberg+ und +Koppe+[465] das +Muscarin+
nachgewiesen, ein krystallisirendes, in Wasser und Alkohol leicht
lösliches, zerfliessliches Alkaloid, durch welches Tanninsolution aus
saueren Lösungen nicht ausgefällt wird. Das Muscarin, welches Katzen
schon in Gaben von 0·002-0·004 Grm. tödtet, ist ein Herzgift und
bewirkt Herzstillstand durch Erregung der im Herzen selbst gelegenen
Hemmungsapparate. Es sind dies dieselben Apparate, die durch Atropin
gelähmt werden, da Atropin den Muscarinherzstillstand beseitigt (+L.
Herrmann+, l. c. 344). Ueber Vergiftungen mit Lorcheln (Morcheln,
Helvella esculenta Kr.) liegen Beobachtungen von +Boström+ (Med.
Centralbl. 1881, pag. 396), +Maurer+ (Bayer. Intelligenzbl. 1881, 1)
und +Ponfick+ (Virchow’s Arch. LXXXVIII, pag. 445) vor. Nach diesen
durch Versuche an Hunden vervollständigten Untersuchungen ist das
Morchelgift schwer löslich im kalten, leichter löslich in lauem und
leicht löslich in heissem Wasser. Die heiss genommene Brühe ist
daher besonders giftig, während die abgebrühten Schwämme unschädlich
sind. Durch Eintrocknen der Schwämme, sowie durch Eindampfen der
Brühe geht das giftige Princip verloren, ebenso scheint es nach
+Ponfick+ durch längeres Maceriren der Pilze zerstört oder wenigstens
abgeschwächt zu werden.[466] Die Symptome der Vergiftung beginnen
einige (nach +Maurer+ 4-7 Stunden) nach der Mahlzeit und bestehen in
Erbrechen, Diarrhöen, Schwäche, bald (in 10-12 Stunden) eintretendem
Icterus, Hämoglobinurie und meist Delirien mit Trismus und Tetanus
und Tod unter Coma. Die Section ergibt Icterus, fibrinarmes Blut,
Ecchymosen in der Cutis (+Maurer+), Hyperämie in den Nieren,
Hämoglobinurie, somit Befunde, die eine Aehnlichkeit mit jenen nach
Phosphorvergiftung haben. Solche mit acuter fettiger Degeneration der
Leber, der Nieren und der Musculatur verbundene Befunde, jedoch ohne
Icterus, constatirten auch +Sahli+ und +Schaerer+ bei durch Amonita
phalloides vergifteten Personen (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 435). Als
wahrscheinlich wirksames Princip fanden +Böhm+ und +Külz+ (Arch. f.
exp. Path. XIX, 403) eine Säure, die +Helvellasäure+, ausserdem auch
reichliche Mengen von Cholin, welches auch in Amanites vorkommt und
curareähnliche Wirkung besitzt und nach +Gram+ (ibid. XX, 125) leicht
in die stark giftige Vinylbase übergeht. Im Magen wäre nach Resten
der genossenen Pilze zu forschen und deren botanische Bestimmung
anzustreben. Bemerkenswerth ist ein von +Taylor+ mitgetheilter Fall,
in welchem eine Arsenikvergiftung für eine Vergiftung mit giftigen
Schwämmen angesehen wurde.
Der §. 240 des ersten österr. St. G. E. und der §. 229 des deutschen
St. G. spricht ausser von Giften auch von +anderen Stoffen, die
die Gesundheit zu zerstören im Stande sind+. Das Gesetz versteht
darunter einestheils Substanzen, die erst in grossen Gaben
gesundheitsschädliche Wirkungen äussern und daher im gewöhnlichen
Sinne nicht als „Gifte“ aufgefasst werden, anderseits aber offenbar
auch die sogenannten mechanischen und endlich die organisirten Gifte.
[Sidenote: Mechanische Gifte.]
Die +mechanischen Gifte+ haben in älteren Toxikologien eine eigene
Abtheilung gebildet. Man rechnete dazu Substanzen, die, innerlich
beigebracht, auf mechanische Weise schädlich werden können. Unter
diesen Substanzen spielt seit jeher +gepulvertes Glas+ eine Rolle
und dasselbe scheint thatsächlich beim Volke im Rufe giftiger
Eigenschaften zu stehen, da es wiederholt in verbrecherischer
Absicht namentlich Kindern beigebracht worden ist. Es ist in
solchen Fällen zu unterscheiden, ob das Glas als sehr feines,
mehlartiges, oder als gröberes Pulver gegeben wurde. Ersteres hält
+Husemann+ (l. c. 4) für unschädlich. Gröberes Glaspulver kann
heftige Irritationserscheinungen an der Magen- und Darmschleimhaut
hervorrufen. Solche Erscheinungen traten in einem von +Maschka+
(Gutachten. II, 213) beschriebenen Falle bei einer 76jährigen Frau
auf, der mehrmals gestossenes Glas theils in Suppe, theils in Kaffee
beigebracht worden war. Einen ähnlichen Fall bringt +Bronowski+
(Virchow’s Jahresb. 1893, I, pag. 505) und über einen an einem
Kinde angeblich durch Beibringung von Nadeln und Stahlfederspitzen
begangenen Mord hat die k. wissenschaftliche Deputation in Berlin ein
Gutachten abgegeben (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, XLII,
pag. 195).
[Sidenote: Organisirte Gifte. Trichinen.]
Was die +organisirten Gifte+ anbelangt, so wären darunter die den
zymotischen Krankheiten zu Grunde liegenden Krankheitserreger und
gewisse Entozoen und Parasiten zu rechnen. Es ist kaum anzunehmen,
dass absichtliche Uebertragungen solcher Substanzen stattfinden
würden, dagegen können fahrlässige, auf diese Weise bewirkte
Gesundheitsschädigungen allerdings Gegenstand der gerichtlichen
Verfolgung werden. So erwähnt +Oesterlen+ (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1875, XXIII, 265) eines Falles, in welchem gegen
mehrere Individuen die Anklage wegen fahrlässiger Verbreitung der
Pockenkrankheit erhoben wurde, die zur Verurtheilung sämmtlicher
Beschuldigten führte. Von den Entozoen sind insbesondere die
+Trichinen+ zu erwähnen, da die Häufigkeit der Trichinenübertragung
das deutsche St. G. zu specieller Erwähnung derselben veranlasste,
und zwar im §. 367, welcher lautet: „Mit Geldbusse bis zu 50 Thalern
oder mit Haft wird bestraft ... 7. wer verfälschte oder verdorbene
Esswaaren oder Getränke, insbesondere trichinenhaltiges Fleisch,
feilhält oder verkauft.“ Auch der §. 22 des Regulativs (vide pag.
617) nimmt auf die Trichinenvergiftung ausdrücklich Rücksicht. Bei
der grossen Zahl und allgemeinen Verbreitung der Publicationen über
Trichinose beschränken wir uns blos darauf, zu erwähnen, dass die
Trichinen, sobald sie mit dem halbverdauten Fleisch aus dem Magen
in den Darm gekommen sind, aus ihrer Umhüllung ausschlüpfen und
sich sofort mit erstaunlicher Schnelligkeit vermehren, indem eine
einzige Muskeltrichine an 1000 lebende Junge zu gebären im Stande
ist. Die neugeborenen Trichinen beginnen schon in der ersten Woche
auszuwandern, indem sie die Darmwände durchdringen und von da aus
die fleischigen Theile (Muskeln) aufsuchen, in welchen sie sich
festsetzen, sich, wenn sie ausgewachsen sind, einrollen und später
einkapseln. Die Auswanderung der Trichinen ist in der ersten bis
zweiten Woche am lebhaftesten, kann jedoch bis vier Wochen und
darüber andauern. In Folge dieser Vorgänge entwickeln sich bei
den betreffenden Menschen in den ersten Wochen Erscheinungen der
Darmreizung, später Fieber, reissende Schmerzen in den Gliedern
mit Anschwellung derselben, Oedeme und Respirationsbeschwerden.
+Rupprecht+[467] unterscheidet daher 3 Perioden: 1. die der
Ingressionserscheinungen, 1. Woche bis zum 10. Tage (choleroides
Stadium); 2. die Periode der Digressionserscheinungen, 3. bis 4.
Woche (typhoides Stadium) und 3. das Regressions- oder rheumatoide
Stadium von der 5. bis 6. Woche. Die Krankheit endet entweder mit
dem Tode und dann meist im acuten Stadium der Erkrankung, oder in
Genesung nach langwieriger Krankheit, indem sich die in die Muskeln
eingewanderten Trichinen einkapseln und dort durch’s ganze Leben
(fortpflanzungsfähig) verbleiben. Die Zahl der bis zum Jahre 1872
beim Menschen nachgewiesenen Trichinenerkrankungen beträgt 1500,
wovon 300 tödtlich endeten. In derartigen Fällen wären der Inhalt des
Magens und des oberen Dünndarmes und die Musculatur, insbesondere
Zwerchfell, Brust- und Halsmuskeln mikroskopisch zu untersuchen und
namentlich auf die Entwicklungsstadien der gefundenen Trichinen zu
achten, welche, zusammengehalten mit der Ausbreitung der letzteren
und mit der Zeit und Dauer der dem Tode vorausgegangenen Erkrankung,
für die Beantwortung der Frage verwerthet werden müssen, ob die
Trichinose mit dem Genusse eines bestimmten Fleisches im ursächlichen
Zusammenhange stehe oder nicht.
[Sidenote: Fleischvergiftungen.]
Ferner gehören hierher die sogenannten +Fleischvergiftungen+, von
welchen insbesondere in den letzten Jahren mehrere schreckliche Fälle
vorgekommen sind. So die Kalbstyphus-Epidemie nach dem Sängerfest
in Kloten (Wiener med. Blätter. 1878, pag. 730), sowie jene in
Birmensdorf (ibid. 1879, pag. 823), die Fleischvergiftung im Bezirke
+Bregenz+ (Prager med. Wochenschr. 1877, 320) und die Erkrankung
zahlreicher Personen in Wurzen (Sachsen) in Folge des Genusses
milzbrandkranken Fleisches (ibid. 878), wegen dessen Verkaufes sowohl
der betreffende Gutsbesitzer, als die betreffenden Fleischer zu
empfindlichen Geldstrafen verurtheilt worden sind. Fast jedes Jahr
bringt weitere solche Fälle.
Ueber den 1885 in Lauterbach vorgekommenen, welcher durch das
Fleisch einer nothgeschlachteten, wahrscheinlich milzbrandkranken
Kuh veranlasst wurde und etwa 50 Personen mit 3 Todesfällen betraf,
hat +C. Spamer+ berichtet, über jenen von Frankenhausen (1888,
59 Erkrankungen mit 1 Todesfall) Gärtner, welcher sowohl in dem
Fleischsaft der betreffenden Kuh, als in der Milz des verstorbenen
Mannes einen eigenen Bacillus fand, der Mäuse, Kaninchen und
Meerschweinchen unter Erscheinungen der Enteritis tödtete und den er
Bacillus enteritidis nennt.
In dem von +Poels+ (Med. Centralbl. 1893, pag. 752) genannten Falle
waren nach dem Genusse des Fleisches einer mit hämorrhagischer
Enteritis behafteten Kuh 92 Personen unter choleraähnlichen
Erscheinungen erkrankt; selbst solche, die das Fleisch in gebratenem
Zustand gegessen hatten. Zahlreiche andere Personen, die von
demselben Fleisch genossen hatten, blieben gesund. Die chemische und
bacteriologische Untersuchung ergab kein positives Resultat.
Merkwürdig war es in den Fällen von +Spamer+, dass die Infection
überall durch wohlausgekochtes Fleisch, in einigen Fällen sogar nur
durch Fleischbrühe veranlasst wurde und dass in keinem einzigen Falle
Carbunkelbildung vorkam. Berüchtigt sind ferner die durch verdorbene
Selchwaaren, insbesondere Würste, veranlassten Vergiftungen mit
sogenanntem Wurstgift (Botulismus). -- In unserem Institute kommen
jedes Jahr Fälle von angeblicher Wurstvergiftung vor. +Haberda+
(Zeitschr. f. Medicinalb. 1893) hat deren 20 zusammengestellt. In
8 derselben ergab die Obduction eine natürliche Erkrankung als
Todesursache, in je einem Phosphor- und Kohlenoxydvergiftung, in
2 Infection durch Milzbrand in Folge Berührens der Speise mit
durch Milzbrandgift verunreinigten Händen (einen dieser Fälle hat
+Dittrich+ in der Wiener klin. Wochenschr. 1891, pag. 880 näher
beschrieben), während in den übrigen, namentlich in einem eine ganze
Familie betreffenden Falle die Möglichkeit einer Wurstvergiftung
nicht ausgeschlossen, aber auch nicht sicher bewiesen werden konnte.
Ueber eine Vergiftung von 4 Personen durch schimmeligen Schinken
und eine andere von 5 Personen durch verdorbenen Speck hat +Roth+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, XXXIX, pag. 240) berichtet.
In allen Fällen, von denen zwei letal verliefen, traten ausser
gastrischen Erscheinungen auch Sehstörungen, Pupillenerweiterung,
Trockenheit und Röthung im Halse auf, so dass an Atropinvergiftung
gedacht werden konnte. Die Reconvalescenz war eine protrahirte. In
einem von +Wiedner+ (Zeitschr. f. Medicinalb. 1890, 409) publicirten
Falle erkrankte etwa die Hälfte von 180 Personen, die bei einem
Feste Gänsebraten gegessen hatten, an krampfartigen Schmerzen,
Erbrechen und Diarrhoe. Alle genasen. Fünfzehn der Gänse waren frisch
geschlachtet durch 12 Stunden in einer Kiste verpackt gewesen und
hatten sich wahrscheinlich Mikroben an der feuchten Haut angesiedelt.
Aehnliche Vergiftungen wurden nach dem Genusse von verdorbenen
Fischen (+J. Schreiber+, Berliner klin. Wochenschr. 1884, Nr. 11;
+Béranger+-+Féraud+, Annal. d’hygiène publ. 1885, 331; +Hirschfeld+,
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1885, LIII) und faulem Käse u.
A. (+Vaugham+, Med. Centralblatt, 1886, 653) beobachtet. Dass auch
sonst essbare, frische und nicht kranke Thiere mitunter giftige
Eigenschaften annehmen können, zeigen die Erfahrungen an gewissen
Fischen (Barben, Neunaugen u. a.; +v. Knoch+ u. +Kobert+, Virchow’s
Jahrb. 1885, I, 661) und insbesondere die in Wilhelmshaven 1885
vorgekommene Massenerkrankung (19 Personen, 5 Todesfälle) durch
Miesmuscheln, die den Untersuchungen von +Virchow+, +Salkowski+,
+Brieger+, +Wolff+ u. A. zufolge wahrscheinlich durch ein Toxin
veranlasst wurde, welches sich in den lebenden Thieren unter
bisher noch unbekannten Umständen gebildet hatte. Gelegenheitlich
könnten analoge Vergiftungen durch medicamentöse und anderweitige
Intoxicationen der Schlacht- und anderer Thiere veranlasst werden.
Möglichst frühzeitige chemische und bacteriologische Untersuchung ist
in allen solchen Fällen dringend angezeigt.
VI. Gesundheitsbeschädigungen und Tod durch psychische Insulte.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass heftige, namentlich plötzliche
psychische Insulte, wie Angst, Schreck und andere Affecte,
Gesundheitsbeschädigungen erzeugen können. Wir haben bereits an einer
anderen Stelle (pag. 162) die neuro- und psychopathischen Zustände
besprochen, die in Folge der mit Nothzuchtsattentaten verbundenen
intensiven Gemüthserregungen zur Ausbildung gelangen können; ferner
(pag. 321) darauf hingewiesen, dass psychopathische Zustände nicht
blos in Folge wirklicher Verletzungen, sondern auch in Folge des mit
einer Misshandlung verbundenen psychischen Insultes sich zu entwickeln
vermögen, und haben auch bei Besprechung des „Verlustes der Sprache
als Misshandlungsfolge“ (pag. 331) darauf aufmerksam gemacht, dass
derselbe auch durch plötzlichen Schreck u. dergl. veranlasst werden
kann. Es handelt sich in solchen Fällen entweder um rein psychische
Insulte, Angst, plötzlichen Schreck u. s. w., oder um eine Combination
dieser mit Verletzungen im engeren Sinne, oder mit anderweitigen
Misshandlungen, die wieder entweder blos in Schmerzzufügung oder in
anderen Insulten, z. B., wie erwähnt, in unsittlichen Attentaten oder
in Begiessen mit kaltem Wasser u. dergl. bestehen können.[468]
In +Maschka+’s Gutachten (IV, 17) findet sich ein interessanter Fall
ersterer Art, in welchem ein früher gesunder, aber sehr furchtsamer
32jähriger Mann beim Anblick von drei Männern, die ihm Nachts im
Walde begegneten, trotzdem zwei andere Männer ihn begleiteten, so
erschrak, dass er heftig zu zittern anfing und, als erstere im Spass
einen Ueberfall fingirten, davonlief, bei einem Baume ohnmächtig
zusammenstürzte und nach Wiederkehr des Bewusstseins in einen Zustand
der Exaltation gerieth, in welchem er sich wie rasend geberdete und
erst nach drei Stunden sich beruhigte. Auch blieb Schlaflosigkeit,
Zittern und Schwäche noch durch einige Tage zurück. Von den Aerzten
wurde die Gesundheitsstörung für eine schwere Verletzung im Sinne
des §. 152 des österr. St. G., von der Prager Facultät jedoch nur als
„leichte Verletzung“ erklärt, die individuelle Disposition des Mannes
hervorgehoben und bemerkt, dass der betreffende rohe Scherz +nicht+
für eine solche Handlungsweise erklärt werden könne, welche schon
nach ihren natürlichen, für Jedermann leicht erkennbaren Folgen eine
Gefahr für das Leben oder die Gesundheit eines Menschen im Sinne des
§. 335 St. G. herbeizuführen geeignet wäre.
[Sidenote: Gesundheitsbeschädigung und Tod nach Schreck.]
Der Fälle, in denen neuro- und psychopathische Zustände nach
plötzlichem Schreck etc. auftraten, ohne dass deshalb eine
strafrechtliche Verfolgung eingetreten wäre, gibt es eine Menge,
und es ist bekannt, dass seit jeher und mit Recht solche psychische
Insulte mit der Entstehung von Geisteskrankheiten, namentlich aber
mit convulsiven (epileptischen) Zuständen, in ursächliche Verbindung
gebracht werden. +Leidesdorf+ legte in einem am 26. Februar 1875
in der k. k. Gesellschaft der Aerzte gehaltenen Vortrage Tabellen
über Epilepsie vor, woraus sich ergab, dass Schreck und Trauma auf
den Kopf die häufigsten Ursachen waren. +Krafft+-+Ebing+ hat nach
heftigem Gemüthsaffect einen länger andauernden Zustand von +Stupor+
beobachtet und +Binswanger+ (Charité-Annalen, VI) berichtet über
einen letal abgelaufenen Fall von Delirium acutum nach Schreck in
Folge eines Selbstmordfalles. Allgemeine Betrachtungen über den
Einfluss von Gemüthsaffecten auf die Entstehung von Psychosen bringt
aus Anlass der Ringtheaterkatastrophe +Schlager+ (Wiener med. Ztg.
1882, Nr. 1-3). Sehr interessant sind in vorliegender Beziehung die
Beobachtungen von +Kohts+ über den Einfluss des Schreckens beim
Bombardement von Strassburg auf die Entstehung von Krankheiten
(Berliner klin. Wochenschr. 1873, Nr. 24-27; Med. Centralbl. 1873,
pag. 826). Die mannigfaltigsten Krankheiten wurden in evidenter Weise
durch plötzlichen Schreck (Einschlagen von Granaten in unmittelbarer
Nähe etc.) entweder erzeugt oder erheblich verschlimmert. Unter den
Affectionen des Centralnervensystems wurde 3mal Paralysis agitans und
5mal Paraplegie, auch plötzliche Lähmung einzelner Extremitäten[469],
sowie heftiges Zittern und durch mehrere Stunden andauernde
Sprachlosigkeit beobachtet. Von Affectionen des Genitalsystems
beobachtete +Kohts+ einmal Suppressio mensium mit consecutiven
hysterischen Erscheinungen, viele Abortuse und einmal ein Aussetzen
der Wehenthätigkeit durch volle 24 Stunden, nachdem der Kopf schon
im Einschneiden begriffen war.[470] Bei einem bisher ganz gesunden
Manne trat Unregelmässigkeit der Herzcontraction ein und am nächsten
Tage Herzpalpitationen, ohne dass eine weitere Abnormität am Herzen
entdeckt werden konnte. Endlich wurde das Auftreten von Hämoptoë und
bei drei Frauen das eines Icterus constatirt, der bei allen dreien
fast unmittelbar nach heftigem Schreck in einem Zeitraum von nur
wenigen Stunden sich ausgebildet hatte.
Von anderen Umständen, die in Folge von Schreck beobachtet wurden,
erwähnen wir die nervöse Dysphagie (Schlingkrämpfe), worunter auch
die Hydrophobie aus Furcht gehört (+Lorinser+), ferner Anästhesien,
darunter auch vorübergehende Anästhesie der Retina (+Hirschler+,
Wiener med. Wochenschr. 1874, Nr. 42-44). Möglicherweise gehören
auch gewisse „hypnotische“ Zustände hierher, die bereits +Kirchner+
1646 bei Thieren nach Angst und Schreck auftreten sah und dessen
„Experimentum mirabile“ von +Czermak+ (Pflüger’s Archiv. 1873, VII,
107) wiederholt und als „Hypnose“ gedeutet, von +Preyer+ jedoch (Med.
Centralbl. 1873, pag. 177) auf eine durch Angst bewirkte und bewusste
Regungslosigkeit zurückgeführt wurde. Ueber eine Paraplegie, die bei
einem Matrosen nach Erblicken eines Haifisches entstand, hat Pel
(Berliner klin. Wochenschr. 1881, Nr. 23) berichtet. Anderweitige
Literatur des Gegenstandes findet sich in +Schauenstein+’s Arbeit:
„Ueber die Schädigung der Gesundheit und den Tod durch psychische
Insulte“ in Maschka’s Handbuch.
Plötzlicher Tod in Folge von Schreck ist ebenfalls beobachtet
worden. +Kohts+ (l. c.) hat mehrere solche Fälle aus der Literatur
zusammengestellt. Andere finden sich in Schmidt’s Jahrb. 1849, LXIII,
pag. 97 und 1852, LXXIV, pag. 80. +Taylor+ (l. c. I, 566) erzählt
einen Fall, in welchem ein Mann des Todtschlages angeklagt wurde,
weil er, indem er einem Knaben als Gespenst erschien, dessen Tod
durch Schreck veranlasst hatte. Wir haben einen Mann obducirt, der
Nachts von einem Wachmanne angetroffen wurde, als er auf offener
Strasse den Stuhl absetzte und in dem Momente todt zusammenstürzte,
als ihn der Wachmann verhaften wollte; ferner eine Frau, die
todt hinfiel, als sie von einem sie attaquirenden Betrunkenen
davonlief. In beiden Fällen fand sich excentrische Hypertrophie und
parenchymatöse Degeneration des Herzens nach Endarteritis deformans.
Bei derartigen Herzkranken können die verschiedensten, die Herzaction
steigernden Gelegenheitsursachen, daher auch Schreck, plötzlichen
Herzstillstand (Herzlähmung) bewirken.
Ueber die Art und Weise, in welcher psychische Insulte die
erwähnten neuro- und psychopathischen Zustände, sowie Erkrankungen
überhaupt und selbst den Tod bewirken können, wissen wir nicht
viel Positives. Vorläufig müssen wir uns Gemüthsaffecte als Reize
vorstellen, die bei plötzlicher oder intensiver Einwirkung im Stande
sind, gewisse Nervencentren direct oder reflectorisch in abnorme
Erregung zu versetzen, oder zu lähmen, oder die Leitungsvorgänge in
den Nervenbahnen in Unordnung zu bringen. Ausser den psychischen
Centren scheinen besonders jene in der Medulla oblongata und die
vasomotorischen Apparate auf plötzliche Gemüthserschütterungen heftig
zu reagiren, woraus sich erklärt, dass nach psychischen Insulten am
häufigsten Psychosen, convulsive Zustände und Störungen der Herz-
und Gefässaction zur Beobachtung gelangen. Dass psychische Vorgänge
zu den Reflexerscheinungen in naher Beziehung stehen und besonders
„Reflexhemmung“ erzeugen können, ist eine bekannte Thatsache. auf
welche bei der Beurtheilung einschlägiger Fälle specielle Rücksicht
genommen werden müsste.
Obzwar die Möglichkeit nicht bestritten werden kann, dass auch bei
bis dahin vollkommen gesunden Personen in Folge psychischer Insulte
die bezeichneten Gesundheitsstörungen und selbst der Tod eintreten
können, so lehrt doch die Erfahrung, dass es vorzugsweise zu Neurosen
oder Psychopathien disponirte oder bereits anderweitig kranke,
insbesondere herzkranke Individuen sind, die in so ungewöhnlicher
Weise auf Schreck u. dergl. reagiren, weshalb niemals zu unterlassen
wäre, die Anamnese in dieser Richtung zu erheben und die eventuell
bestehende „eigenthümliche Leibesbeschaffenheit“ im Sinne des
Gesetzes desto mehr zu betonen, je geringfügiger der betreffende
psychische Insult, beziehungsweise die damit verbundene Misshandlung
gewesen war. Auch die Möglichkeit einer Simulation wäre im Auge zu
behalten, da es bekannt ist, dass Ohnmachten und Krämpfe zu den
Zuständen gehören, welche am häufigsten, und zwar namentlich von
Frauen, simulirt zu werden pflegen, obgleich man anderseits weiss,
dass gerade das weibliche Geschlecht eine grössere Geneigtheit zu
solchen Erkrankungen zeigt, und dass namentlich während gewisser
physiologischer Zustände, wie Menstruation, Schwangerschaft,
vielleicht auch im Climacterium, diese Geneigtheit eine höhere ist,
als ausserhalb derselben.
Vom Kindesmorde.
+Oesterr. Strafgesetz.+ §. 139. Gegen eine Mutter, die ihr Kind
bei der Geburt tödtet oder durch absichtliche Unterlassung des bei
der Geburt nöthigen Beistandes umkommen lässt, ist, wenn der Mord
an einem ehelichen Kinde geschehen, lebenslanger, schwerer Kerker
zu verhängen. War das Kind unehelich, so hat im Falle der Tödtung
10-20jährige, wenn aber das Kind durch Unterlassung des nöthigen
Beistandes umkam, 5-10jährige schwere Kerkerstrafe statt.
§. 339. Eine unverehelichte Frauensperson, die sich schwanger
befindet, muss bei der Niederkunft eine Hebamme, einen Geburtshelfer
oder sonst eine ehrbare Frau zum Beistande rufen. Wäre sie aber von
der Niederkunft übereilt oder Beistand zu rufen verhindert worden und
sie hätte entweder eine Fehlgeburt gethan, oder das lebendig geborene
Kind wäre binnen 24 Stunden von der Zeit der Geburt an gestorben, so
ist sie verbunden, einer zur Geburtshilfe berechtigten Person, oder
wo eine solche nicht zur Hand ist, einer obrigkeitlichen Person von
ihrer Niederkunft die Anzeige zu machen und derselben die unzeitige
Geburt oder das todte Kind vorzuzeigen.
+Oesterr. Strafprocessordnung.+ §. 130. Bei Verdacht einer
Kindestödtung ist nebst den nach §. 129 zu pflegenden Erhebungen auch
zu erforschen, ob das Kind lebendig geboren sei.
+Oesterr. Strafgesetz-Entwurf.+ §. 222. Eine Mutter, welche während
oder gleich nach der Geburt ihr Kind tödtet oder zur Tödtung
desselben mitwirkt oder es durch absichtliche Unterlassung des bei
der Geburt nöthigen Beistandes um das Leben kommen lässt, wird mit
Zuchthaus bis zu 15 Jahren oder mit Gefängniss nicht unter einem
Jahre bestraft. Theilnehmer werden nach den Bestimmungen über Mord
und Todtschlag bestraft.
§. 458. Eine unverehelichte oder von ihrem Manne gerichtlich
geschiedene Frauensperson, welche ein todtes Kind zur Welt bringt
oder deren Kind binnen 24 Stunden nach der Geburt stirbt, ist, wenn
sie die Anzeige hiervon einer zur Geburtshilfe berechtigten oder
obrigkeitlichen Person zu machen unterlässt, oder derselben auf
Verlangen das todte Kind nicht vorzeigt, mit Haft zu bestrafen.
+Deutsches Strafgesetz.+ §. 217. Eine Mutter, welche ihr uneheliches
Kind in oder gleich nach der Geburt vorsätzlich tödtet, wird mit
Zuchthaus nicht unter 3 Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände
vorhanden, so tritt Gefängnissstrafe nicht unter 2 Jahren ein.
+Deutsche Strafprocessordnung.+ §. 90. Bei Oeffnung der Leiche eines
neugeborenen Kindes ist die Untersuchung insbesondere auch darauf zu
richten, ob dasselbe nach oder während der Geburt gelebt habe, und ob
es reif oder wenigstens fähig gewesen sei, das Leben ausserhalb des
Mutterleibes fortzusetzen.
Unter +Kindesmord+ (Kindestödtung) versteht man im strafrechtlichen
Sinne die Tödtung eines Kindes durch die eigene Mutter während oder
gleich nach der Geburt. Der Kindesmord ist eine specielle Art des
Mordes überhaupt und wird fast von allen Gesetzgebungen als solche
besonders erwähnt und ungleich milder bestraft, als dies bei anderen
Mordarten der Fall ist. Die mildere Auffassung dieses Verbrechens
hat ihren Grund theils in der Erwägung der Motive des Kindesmordes,
die doch von jenen anderer Mordthaten sich wesentlich unterscheiden,
besonders aber in der Berücksichtigung des somatischen und psychischen
Ausnahmszustandes, in denen sich eine Gebärende oder eben Entbundene
befindet. Da alle diese Momente vorzugsweise bei unehelichen und
ohne Zeugen sich abspielenden Entbindungen sich geltend machen, so
ist es begreiflich, wenn das gegenwärtige österr. Strafgesetz die
Tödtung eines ehelichen Kindes bei der Geburt durch die eigene Mutter
schwerer ahndet, als jene eines unehelichen, und dass das deutsche
Strafgesetz die mildere Qualification der Kindestödtung nur auf jene
unehelicher Kinder ausdrücklich beschränkt. Trotzdem hat der österr.
Strafgesetz-Entwurf die Unterscheidung zwischen Tödtung des ehelichen
und unehelichen Kindes ganz fallen gelassen und spricht nur von Tödtung
des Kindes überhaupt.
Bei wegen Verdacht auf Kindesmord veranlassten Obductionen ergeben sich
folgende Hauptfragen:
_A._ Ist das untersuchte Kind lebend geboren worden?
_B._ Wie lange hat dasselbe nach der Geburt gelebt?
_C._ Was war die Todesursache?
A. Ist das Kind lebend geboren worden?
[Sidenote: Beginn des extrauterinen Lebens.]
Diese Frage ist eine so cardinale, dass es in der Regel schon von
ihrer Beantwortung abhängt, ob eine weitere strafrechtliche Verfolgung
wegen Kindesmord stattfindet oder nicht, und dass insbesondere die
Verfolgung wegen des genannten Verbrechens dann eingestellt wird,
wenn das ärztliche Gutachten dahin geht, dass das Kind bereits todt
zur Welt gekommen ist. Eine Ausnahme würde nur dann statthaben, wenn
sich constatiren liesse, dass von der Gebärenden, eventuell mit ihrem
Wissen und Willen von einem Dritten, schon in oder während der Geburt
die Frucht getödtet worden ist. Auf diese Möglichkeit nimmt das Gesetz
ausdrücklich Rücksicht, da es nicht blos die Tödtung des Kindes gleich
nach der Geburt, sondern auch in (während) derselben als Verbrechen
der Kindestödtung qualificirt. Es liegt jedoch auf der Hand, dass nur
in ganz seltenen Fällen ein Grund vorhanden sein wird, an eine Tödtung
während der Geburt zu denken, am allerwenigsten aber, wenn die Mutter
allein ohne Intervention einer dritten Person gebar. Am ehesten wäre
ein solcher Vorgang denkbar, wenn bereits Theile der Frucht vor die
äusseren Genitalien ausgetreten wären und, während das Kind entweder
mit den Schultern oder mit dem nachfolgenden Kopfe stecken blieb, der
Mutter Zeit und Gelegenheit gegeben war, gewaltthätige Handlungen gegen
diese zu unternehmen. Von +Bellot+ wird ein solcher Fall mitgetheilt,
der eine Person betraf, die heimlich Zwillinge gebar, den Erstgeborenen
durch Schläge mit einem Holzschuh gegen den Kopf tödtete, beim zweiten
jedoch die Vollendung der Geburt nicht abwartete, sondern demselben
sofort nach Entwicklung des Kopfes den letzteren zerschmetterte
(+Schauenstein+, l. c. 293). +Douterpont+ (Friedreich’s Bl. 1887, pag.
403) berichtet über einen anderen, der eine rachitische Person betraf,
die den vorgefallenen Arm abgeschnitten und dem Kinde einen Stich mit
einem Messer versetzt hatte. Es musste aber dennoch die Wendung gemacht
werden, die ein todtes Kind mit den entsprechenden Verletzungen zu
Tage förderte. Ebenso ist es klar, dass, wenn thatsächlich eine solche
Tödtung vorkommen würde, wir zwar im Stande sein könnten, durch den
Sectionsbefund zu constatiren, dass die tödtende Handlung dem Kinde
noch während es lebte zugefügt wurde, gewiss aber nur ausnahmsweise,
dass diese schon vor vollendeter Geburt geschah.
Wenn wir das Verhalten eben geborener Kinder verfolgen, so bemerken wir
unter normalen Verhältnissen sofort, nachdem das Kind zur Welt kommt,
Aufschlagen der Augen, zuckende Bewegungen der Muskeln um Mund und
Nase, sowie ein Zusammenziehen des Gesichtes wie zum Weinen, worauf
zugleich die erste Inspiration folgt, wobei der Mund sich öffnet
und Brust und Bauch sich hervorwölbt. Die ersten Inspirationen sind
mitunter dyspnoeisch, nehmen jedoch bald den Rhythmus an, der ihnen de
norma zukommt. Schon nach den ersten Inspirationen beginnt das Kind
gewöhnlich zu schreien und gleichzeitig Harn und Meconium zu entleeren.
[Sidenote: Erster Athemzug.]
Als +Ursache des ersten Athemzuges+ ist die Unterbrechung,
beziehungsweise Aufhebung der Placentarrespiration anzusehen,
welche theils durch die Contraction des von der Frucht entlasteten
Uterus und durch die consecutive Verengerung der Uteringefässe,
theils durch die Compression und Ablösung der Placenta veranlasst
wird. Das nun hypervenös werdende Blut wirkt erregend auf das
automatische Athmungscentrum in der Medulla oblongata und löst die
erste Athembewegung aus, welcher dann, nachdem die Athemnoth, mit
welcher die meisten Früchte geboren werden (+Schwartz+, +Pflüger+),
sich gelegt hat, die normale, rhythmische Athmung folgt. Die ältere
Physiologie war der Ansicht, dass insbesondere thermische und
mechanische Hautreize, die auf das Kind bei der Geburt unmittelbar
nach derselben einwirken, den ersten Athemzug auslösen. Ob jedoch
solche Reize thatsächlich einen wesentlichen Einfluss in dieser
Richtung ausüben, ist noch Gegenstand der Frage (vide +Schwartz+,
Hirndruck und Hautreize. Arch. f. Gyn. I, 361). Während Einzelne
(+Poppel+, +Kehrer+) der Meinung sind, dass Hautreize schon für sich
Athembewegungen auslösen können, und auch +Schwartz+ fand, dass bei
Asphyktischen der Wiedereintritt der Inspirationen durch Hautreize
gefördert werde, will +Falk+ die Hautnervenreizung durch die kältere
Atmosphäre nicht als ein adjutorisches, sondern vielmehr als ein
hemmendes Moment für die erste Athmung des Neugeborenen betrachtet
wissen. Neuere Untersuchungen über diesen Gegenstand von +Cohnstein+
und +Zuntz+ s. Pflüger’s Archiv. 1888, XLII, von +Engström+, Med.
Centralbl. 1890, pag. 547. +Ahlfeld+, ibid. 1892, Nr. 6 und +M.
Runge+, Arch. f. Gyn. 1894, XLVI, pag. 512, welcher die Angaben von
+Schwartz+ vollkommen bestätigt.
[Sidenote: Schreien der Neugeborenen.]
Auf das +Geschrei+ des eben geborenen Kindes, als Beweis des
Gelebthabens, wurde früher in civilrechtlicher Beziehung ein hohes
Gewicht gelegt. So forderte das altgermanische Recht in Fällen, wo es
sich um die Succession eines bald nach der Geburt verstorbenen Kindes
handelte: „ut vox ejus audita sil intra quatuor parietes domus, in
qua natus est.“ Bei Anklagen wegen Kindesmord kommt das Schreien des
neugeborenen Kindes sehr häufig zur Sprache, entweder weil es von
Zeugen gehört wurde, oder weil gefragt wird, ob, wenn die Mutter an
einem bestimmten Orte gebar, das Geschrei desselben von nahe oder in
demselben Locale befindlichen Personen hätte gehört werden müssen.
In diesen Fällen wird man sich mit desto mehr Wahrscheinlichkeit
dafür aussprechen können, dass das Kind geschrieen haben musste, je
kräftiger dasselbe gewesen und je vollständiger dasselbe geathmet
hatte. Bei schwächlichen Kindern, oder bei solchen, welche aus
inneren oder äusseren Gründen nicht vollständig zu athmen vermögen,
kann das Geschrei entweder ausbleiben oder so schwach ausfallen, dass
es nur aus nächster Nähe gehört wird.
Die Veränderungen, welche in den +Lungen+ Neugeborener durch den
Beginn des Luftathmens sich einstellen, sind es, welche uns die
wichtigsten Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage gewähren,
ob ein zur Obduction gelangtes Kind lebend geboren worden ist. Diese
Veränderungen, auf welchen alle sogenannten „Lungenproben“ basiren,
werden dadurch veranlasst, dass erstens die bis dahin luftleer
gewesenen Lungen mit Luft sich füllen, und zweitens, dass der kleine
Kreislauf zur vollen Entwicklung gelangt.
Die durch Aspiration von Luft erzeugten Veränderungen der Lungen.
Die Veränderungen, welche fötale[471] Lungen durch die Aspiration von
Luft erfahren, betreffen das Volumen, die Farbe, die Consistenz und das
specifische Gewicht.
Es ist begreiflich, dass die Lungen desto mehr an räumlicher
Ausdehnung, an +Volumen+ gewinnen müssen, je vollständiger sie
sich mit Luft füllen. In Folge dessen erscheinen die Lungen, die
im fötalen Zustande als kleine lappige Organe blos den hinteren
Thoraxraum einnehmen und deshalb bei Wegnahme des Brustblattes
nicht sofort gesehen werden, wenn sie vollständig geathmet haben,
in der Weise ausgedehnt, dass sie jetzt den grössten Theil des
Brustraumes ausfüllen und mit ihren Rändern in der Weise in den
vorderen Brustraum hineinragen, dass letztere die Seitentheile des
Herzbeutels übergreifen, diesen desto mehr bedecken, je mehr sie sich
gegenseitig nähern und in Folge dessen beim Eröffnen des Thorax sofort
erblickt werden können. Dieses Aufblähen der Lunge verändert auch
die Beschaffenheit der Oberfläche und der Ränder des Organs. Während
nämlich die Oberfläche einer fötalen Lunge vollkommen glatt sich
darstellt in gleicher Weise, wie z. B. jene der Leber, und während ihre
Ränder gleichmässig unter einem sehr spitzen Winkel sich verdünnen und
deshalb in ihren äussersten Partien häutig und transparent erscheinen,
finden wir die durch Luftathmung aufgeblähte Lunge an ihrer Oberfläche
wegen der Hervorwölbung der luftgefüllten Lungenbläschen weniger glatt
und desto unebener, je ungleichmässiger die einzelnen Lungenläppchen
von der aspirirten Luft ausgedehnt worden sind, dabei die aufgeblähten
Ränder mehr weniger abgestumpft.
[Sidenote: Veränderung der Farbe der Lungen durch Luftathmen.]
Die +Farbe+ luftleerer Lungen ist wesentlich durch ihren Blutgehalt
bedingt. Eigentlich fötale Lungen sind anämisch, da der kleine
Kreislauf noch nicht zur vollen Entfaltung kam, zeigen deshalb jenen
blassen Fleischton, der vielfach mit der Farbe einer Milchchocolade
verglichen worden ist, sich aber doch mehr der rothbraunen zuneigt. Die
gleiche Farbe finden wir auch bei luftleeren Lungen, die nachträglich
anämisch geworden sind, so an den Lungen macerirter Früchte mit
bereits reichlichem blutigen Transsudat in den Brustfellsäcken. Starb
die Frucht suffocatorisch und unter vorzeitigen Athembewegungen, so
wird die Farbe der Lungen desto dunkler erscheinen, je bluthaltiger
dieselben geworden sind, und zeigt dann die verschiedensten Nuancen von
Violett bis zum Dunkelblauroth. Die Farbe ist desto gleichmässiger,
je anämischer das Organ ist, aber auch bei blutreichen solchen Lungen
tritt die durch die Hypostase bewirkte dunklere Färbung der nach
abwärts gelegenen Partien nicht so auffallend hervor, wie wir dies bei
lufthaltigen Lungen gewöhnlich zu treffen pflegen.
Mit dem Beginne des Luftathmens ändert sich die Farbe der Lungen in’s
Hellrothe, verliert zugleich ihre frühere Gleichmässigkeit und erhält
eine marmorirte Beschaffenheit. Da diese Farbe sich zusammensetzt
aus der Grundfarbe des bluthaltigen Lungengewebes und dem optischen
Eindruck der in den Lungenbläschen enthaltenen Luft, so ist es
begreiflich, dass verschiedene Farbennuancen entstehen werden, je
nachdem das eine oder das andere Moment prävalirt. So gehört es zur
Regel, dass die vorderen Partien der Lungen die hellrothe Farbe
ausgesprochener zeigen als die abwärtigen, in welchen der Hypostase
wegen der Blutgehalt vorwiegt. Aus gleichem Grunde werden anämische
Lungen ungleich heller als blutreiche und ebenso werden wir die
Lungen desto heller roth finden, je vollständiger sie geathmet
haben, und umgekehrt desto dunkler, je weniger die Lungenbläschen
von Luft ausgedehnt sind. Da in letzteren Fällen in der Regel des
Suffocationstodes wegen Hyperämie der Lungen besteht, so können wir
selbst auffallend dunkle Lungen zu Gesichte bekommen, obgleich sich
dieselben, wenn auch nur wenig aufgebläht, so doch als lufthaltig
erweisen. In der That haben wir in einzelnen Fällen bei gleich nach der
Geburt erstickten Kindern Lungen gefunden, deren Farbe auf den ersten
Blick wie jene von Kindern sich verhielt, die schon vor der Entbindung
den sogenannten fötalen Erstickungstod gestorben waren, obgleich sowohl
die nähere Besichtigung als die Lungenschwimmprobe eine gleichmässige,
jedoch geringe Füllung der Lungenbläschen mit Luft ergab. Es folgt
daraus, dass die Begriffe hell und dunkel einerseits und die lufthaltig
und luftleer anderseits sich nicht unter allen Umständen decken, wie
schon +Falk+[472] mit Recht hervorgehoben hat. Auch ist nicht zu
übersehen, dass die hellere und dunklere Farbe der Lunge auch von dem
grösseren oder geringeren Gehalt des Blutes an Sauerstoffhämoglobin,
und dieser wieder davon abhängt, ob der Zutritt der atmosphärischen
Luft zu den Lungen behindert war oder nicht. Daher kommt auch die
bekannte Erscheinung, dass ebenso wie andere Organe auch die Lungen,
wenn man sie an der Luft liegen lässt, eine hellere Färbung annehmen.
[Sidenote: Luftgefüllte Alveolen.]
Betrachten wir eine durch Luftathmen lufthaltig gewordene Lungenpartie
genauer, namentlich mit der Loupe, so sieht man, wie die scheinbar
gleichmässige, in der Regel mehr weniger hellrothe Farbe sich in
ein dichtes Netzwerk injicirter Gefässe auflöst, deren Maschen die
luftgefüllten Alveolen umspinnen, wodurch eine Art Mosaik entsteht,
die ein sehr charakteristisches Bild liefert. Da ferner zwischen den
einzelnen Lungenläppchen stärkere Gefässe verlaufen, so erscheinen
diese deutlicher abgegrenzt als im fötalen Zustande und die
Lungenoberfläche erhält dadurch ein marmorirtes Aussehen, welches
nicht zu verwechseln ist mit jenem, welches dann zu Stande kommt, wenn
einzelne Lungenpartien mehr, andere weniger mit Luft sich füllen,
oder zwischen lufthaltigen hellen, atelectatische, dunkle und dann
eingesunkene Partien verbleiben. Auf das gleichmässige Verhalten der
mit Luft gefüllten, wie Perlbläschen sich präsentirenden Alveolen (Fig.
117) ist sehr zu achten, da dasselbe schon für sich allein den Schluss
gestattet, dass die Luft in die betreffende Lungenpartie nicht durch
Fäulniss hineingekommen ist. Beim Druck auf die Umgebung treten sie
stärker hervor und können schliesslich zum Bersten gebracht werden.
[Sidenote: Luftgefüllte Alveolen. Consistenz und specif. Gewicht der
Lungen.]
Eine weitere Veränderung, die die Lungen durch stattgehabte Luftathmung
erfahren, betrifft ihre +Consistenz+. Luftleere Lungen zeigen eine
mehr weniger fleischige Consistenz und ein gleichmässig festes,
zähes Gefüge, lassen sich fleischartig einschneiden, erweisen sich
am Durchschnitt gleichmässig dicht und entleeren aus letzterem beim
Darüberstreifen schaumloses Blut. Solche, die Luft geathmet haben,
fühlen sich polsterartig an, knistern beim Einschneiden, zeigen am
Durchschnitt ein aufgelockertes schwammiges Gefüge und entleeren
blutigen feinblasigen Schaum, welcher auch beim Einschneiden oder
Drücken der Lungen unter Wasser aufsteigt und ausser im eigentlichen
Lungenparenchym auch in den Bronchien sich findet. Auch diese
Veränderung zeigt verschiedene Grade der Ausbildung, und ist desto
deutlicher, je vollständiger das Kind zum Athmen gekommen ist.
[Illustration: Fig. 117.
Ein Stückchen der Lungenoberfläche eines neugeborenen Kindes nach
erfolgter Luftathmung bei Loupenvergrösserung. Gleichmässig mit Luft
gefüllte, als „Perlbläschen“ sich präsentirende Alveolen.]
Die diagnostisch wichtigste Veränderung der Lungen durch erfolgtes
Luftathmen ist die +Verminderung des specifischen Gewichtes+, und
diese Thatsache bildet die Grundlage der +Lungenschwimmprobe+
oder hydrostatischen Lungenprobe, deren Vornahme, sowie der dabei
zu beobachtende Vorgang sowohl in der österr. Vorschrift für die
gerichtliche Todtenbeschau (§. 129 bis 131), als im preussischen
Regulativ (§. 24) besonders vorgeschrieben ist.
[Sidenote: Lungenschwimmprobe.]
Es wird angegeben, dass der Physikus +Rayger+ in Pressburg 1670
der Erste war, welcher den Vorschlag machte, behufs Entscheidung
der Frage, ob ein Kind lebend oder todt geboren wurde, die Lungen
desselben auf ihre Schwimmfähigkeit zu prüfen, dass jedoch erst
1681 +Schreyer+ im sächsischen Städtchen Zeitz diesen Vorschlag zum
erstenmale bei der gerichtlichen Obduction eines Neugeborenen zur
Ausführung brachte, aber erst 1683 durch einen Bericht über diese
Obduction in die Literatur einführte.[473] Es ist jedoch zweifellos
schon +Galen+ die Veränderung des specifischen Gewichtes bekannt
gewesen, da er die Veränderungen, welche die Lungen durch die erste
Athmung erfahren, kurz und treffend mit den Worten bezeichnet:
Substantia pulmonum (per respirationem) ex rubra, gravi ac densa in
albam, levem et raram transfertur. Auch +Bartholin+ (1663, +Mende+,
l. c. I, 176) gab schon als bekannte Thatsache an, dass Lungen,
die nicht geathmet haben, im Wasser untersinken, solche aber, die
geathmet haben, schwimmen.
Die Vornahme der Lungenschwimmprobe geschieht nach der
+österreichischen Vorschrift+ in der Weise, dass man, nachdem der
Stand des Zwerchfells erhoben, der Thorax eröffnet, die Ausdehnung
der Lungen und ihr Lageverhältniss im Thorax constatirt wurde,
erstens die Lungen sammt dem Herzen und der Thymus aus der Brusthöhle
herausnimmt, das Verhalten ihrer Oberfläche, sowie der Bänder
und der Consistenz beschreibt und hierauf alle genannten Organe
in ungetrennter Verbindung in ein hinreichend tiefes, mit reinem
kalten Wasser gefülltes Gefäss bringt und auf ihre Schwimmfähigkeit
prüft, dann zweitens das Herz und die Thymus abtrennt und mit
jeder einzelnen Lunge die Schwimmprobe vornimmt, wobei man nicht
unterlassen darf, früher die Bronchien des Hylus auf ihren etwaigen
Inhalt zu untersuchen. Hierauf wird drittens jede einzelne Lunge
kunstgerecht eingeschnitten und untersucht und, nachdem alle
Verhältnisse zu Protokoll gebracht wurden, in Stücke zerschnitten und
gesehen, ob alle über dem Wasser sich erhalten, oder ob einzelne, und
welche zu Boden sinken, oder ein Bestreben zum Sinken zeigen.
[Sidenote: Oesterreichische und preussische Vorschrift.]
Das +preussische Regulativ+ bestimmt über diesen Vorgang Folgendes:
§. 24. Ist anzunehmen, dass das Kind nach der 30. Woche geboren
worden, so muss untersucht werden, ob es in oder nach der Geburt
geathmet hat. Es ist deshalb die Athemprobe anzustellen und zu diesem
Zwecke in +nachstehender Reihenfolge+ vorzugehen:
_a_) Schon nach Oeffnung der Bauchhöhle ist der Stand des
Zwerchfelles in Bezug auf die entsprechende Rippe zu ermitteln,
weshalb bei Neugeborenen überall die Bauchhöhle zuerst und für sich
und dann erst die Brust- und Kopfhöhle zu öffnen sind.
_b_) Vor Oeffnung der Brusthöhle ist die Luftröhre oberhalb des
Brustbeins einfach zu unterbinden.
_c_) Demnächst ist die Brusthöhle zu öffnen und die Ausdehnung und
die von derselben abhängige Lage der Lunge (letztere namentlich in
Beziehung zum Herzbeutel), sowie die Farbe und Consistenz der Lungen
zu ermitteln.
_d_) Der Herzbeutel ist zu öffnen und sowohl sein Zustand, als die
äussere Beschaffenheit des Herzens festzustellen.
_e_) Die einzelnen Abschnitte des Herzens sind zu öffnen, ihr Inhalt
ist zu bestimmen und ihr sonstiger Zustand festzustellen.
_f_) Der Kehlkopf und der Theil der Luftröhre oberhalb der Ligatur
ist durch einen Längenschnitt zu öffnen und sein etwaiger Inhalt,
sowie die Beschaffenheit seiner Wandungen festzustellen.
_g_) Die Luftröhre ist oberhalb der Ligatur zu durchschneiden und in
Verbindung mit den gesammten Brustorganen herauszunehmen.
_h_) Nach Beseitigung der Thymusdrüse und des Herzens ist die Lunge
in einem geräumigen, mit reinem kalten Wasser gefüllten Gefäss auf
ihre Schwimmfähigkeit zu prüfen.
_i_) Der untere Theil der Luftröhre und ihre Verzweigungen sind zu
öffnen und namentlich in Bezug auf ihren Inhalt zu untersuchen.
_k_) In beide Lungen sind Einschnitte zu machen, wobei auf
etwa wahrzunehmendes knisterndes Geräusch, sowie auf Menge und
Beschaffenheit des bei gelindem Druck auf diese Schnittflächen
hervorzuquellenden Blutes zu achten ist.
_l_) Die Lungen sind auch unterhalb des Wasserspiegels
einzuschneiden, und zu beobachten, ob Luftbläschen aus den
Schnittflächen emporsteigen.
_m_) Beide Lungen sind zunächst in ihre einzelnen Lappen, sodann noch
in einzelne Stückchen zu zerschneiden und alle insgesammt auf ihre
Schwimmfähigkeit zu prüfen.
_n_) Der Schlund ist zu öffnen und sein Zustand festzustellen.
Endlich ist
_o_) falls sich der Verdacht ergibt, dass die Lungen wegen
Anfüllung ihrer Räume mit krankhaften (Hepatisation) oder fremden
(Kindsschleim, Kindspech) Stoffen Luft aufzunehmen nicht im Stande
waren, eine mikroskopische Untersuchung derselben vorzunehmen.
Da das specifische Gewicht der Lungen (Gewebe + Blut) nach +Krause+
nur 1·045-1·056 beträgt, so genügen schon geringe Luftmengen, um
dieselben über Wasser zu erhalten, und die Schwimmprobe ist daher
im Stande, schon geringen Luftgehalt der Lungen anzuzeigen.[474]
Dieser Umstand, sowie der, dass bei correctem und systematischem
Vorgehen die Schwimmfähigkeit der einzelnen Lungentheile uns sehr
deutlich die Vertheilung der Luft in den einzelnen Lungenpartien
demonstrirt, verleihen der Lungenschwimmprobe einen besonderen Werth
als diagnostischem Hilfsmittel, welche jedoch niemals die Erhebung
der anderen für oder gegen Luftgehalt sprechenden Verhältnisse,
noch weniger aber die sonstige anatomische Untersuchung des Organs
entbehrlich macht. Leider ist es nichts Seltenes, zu sehen, dass über
der Prüfung der Lungen auf ihre Schwimmfähigkeit die Untersuchung der
übrigen Verhältnisse, wenn auch nicht vollständig übergangen, so doch
vernachlässigt wird, und dass es besonders häufig vorkommt, dass der
letzte (dritte) Act der Lungenschwimmprobe, bei welchem die Lungen
in Stückchen zerschnitten werden, um diese auf ihre Schwimmfähigkeit
zu prüfen, vorgenommen wird, bevor die anatomische Untersuchung der
einzelnen Lungenlappen geschah, wodurch diese selbstverständlich ganz
unmöglich gemacht wird.
Die Lungen können bei der Vornahme der hydrostatischen Probe entweder
mehr weniger schwimmfähig gefunden werden oder im Wasser untersinken.
Im ersteren Falle ist vor Allem festzuhalten, dass die Schwimmfähigkeit
der Lungen für sich allein nichts weiter beweist, als dass Luft in
denselben sich befindet, keineswegs aber, dass diese Luft durch Athmen
hineingekommen sei, und dass letzterer Schluss erst dann erlaubt ist,
wenn andere Vorgänge, durch welche Luft in die Lungen gelangen konnte,
ausgeschlossen werden können.
Diese Vorgänge sind aber _a_) die Fäulniss, _b_) ein etwa stattgehabtes
künstliches Einbringen der Luft, insbesondere durch Lufteinblasen.
[Sidenote: Luftgehalt durch Fäulniss.]
_a_) Die Möglichkeit, dass die Schwimmfähigkeit der Lungen von
+Fäulnissgasen+ herrühren könnte, ist selbstverständlich nur dann in
Betracht zu ziehen, wenn die Leiche bereits Zeichen von Fäulniss zeigt
und sie entfällt vollständig, wenn eine frische Leiche vorliegt. Ebenso
entfällt eine solche Annahme, wenn bei bereits anderweitig begonnener
Fäulniss die Lungen noch ein vollkommen frisches Aussehen bewahrt
haben, namentlich noch nicht als missfärbig sich erweisen.
Wenn die Lungen zu faulen beginnen, so werden sie zunächst missfärbig,
welche Farbenveränderung anfangs durch Imbibition, später durch
die Fäulnissveränderungen des Lungengewebes selbst bedingt wird,
vorzugsweise aber vom Blute ausgeht, dessen Hämoglobin in braunes
Methämoglobin und dann in Hämatin und seine grün und schwarzbraun
gefärbten Verbindungen sich zersetzt. Die ersten Fäulnissblasen
zeigen sich im Blute der grossen Gefässe, welches dadurch eine
schaumige Beschaffenheit zu erhalten beginnt, später tauchen solche
sowohl einzeln, als in Gruppen im Lungenparenchym, namentlich in den
blutig imbibirten Partien auf, sind unter der Pleura schon äusserlich
sichtbar, indem sie diese später in grösseren oder kleineren,
verschiebbaren Blasen abheben. In diesem Stadium der Fäulniss halten
sich die Lungen desto leichter über Wasser, je mehr sie von Luftblasen
durchsetzt sind.
Zur Unterscheidung fauler, von durch Athem lufthaltig gewordenen Lungen
wird zunächst empfohlen, wenn nur grössere Luftblasen vorhanden sind,
dieselben aufzustechen und dann die Schwimmfähigkeit zu untersuchen.
Dieses Verfahren verdient jedenfalls Beachtung und gestattet, wenn nach
erfolgtem Aufstechen der Luftblasen die Lunge sinkt, den Schluss,
dass nur Fäulnissblasen vorgelegen sind. Doch ist in dieser Beziehung
zu bemerken, dass diesem Verfahren nur in den früheren Stadien der
Fäulniss ein Beweiswerth zukommt, da in den Endstadien derselben, wenn
die Lunge bereits breiig zerfällt, auch früher lufthaltig gewesene
Organe nur grössere Luftblasen enthalten, nach deren Entleerung
sie im Wasser zu Boden sinken. In den früheren Stadien ist es auch
angezeigt, zu versuchen, durch Fingerdruck die Luft aus den einzelnen
Lungenstücken auszutreiben. Gelingt dies mit Leichtigkeit, so dass die
ausgedrückten Stücke im Wasser sinken, so spricht dieses ebenfalls
für Fäulnissgase, da es sehr schwer hält und nur durch vollständiges
Zerquetschen der Lungen möglich ist, aus dem durch Athem aufgeblähten
Gewebe die Luft durch Druck auszutreiben. Bei bereits begonnenem
Zerfall des Lungengewebes hat auch dieser Vorgang keinen Werth.
Ungleich wichtiger für die Unterscheidung als das erwähnte Verhalten
ist die Vertheilung der Luft im Lungengewebe, da eine gleichmässige
Füllung der Alveolen mit Luft, wie sie Fig. 117 zeigt, nur durch
Athmen, eventuell durch Lufteinblasen, niemals aber durch den
Fäulnissprocess zu Stande kommen kann, und zwar deshalb nicht, weil
einestheils der zur Füllung der Lungenbläschen nöthige gleichmässige
Druck fehlt, anderseits aber die Bildung der Fäulnissgase mit
gleichzeitigem Zerfall des Lungengewebes einhergeht, welcher dort, wo
die Fäulniss bis zur Blasenbildung gediehen ist, die Lungenbläschen
zerstört. Sind wir daher noch im Stande, bei Besichtigung der Lungen
mit freiem Auge, noch mehr aber mit der Loupe eine gleichmässige
Füllung der Alveolen mit Luft nachzuweisen, so sind wir umsomehr
berechtigt, Fäulniss auszuschliessen, über je weitere Strecken
dieses Verhalten ausgebreitet ist, während wenn im Lungengewebe nur
unregelmässig vertheilte und ungleich grosse Luftblasen sich finden,
die Fäulnissprovenienz derselben keinem Zweifel unterliegen kann. In
den höheren Graden der Fäulniss, in welchen das Lungengewebe bereits zu
einer breiigen, weichen, missfärbigen Masse verwandelt ist, entfällt
selbstverständlich jede differentielle Diagnose, und es ist geboten,
in jedem Falle, in welchem die erwähnten Anhaltspunkte nicht mehr
verwerthet werden können, offen zu erklären, dass wegen allzuweit
gediehener Fäulniss eine Entscheidung, ob das Kind nach der Geburt Luft
geathmet habe, nicht mehr möglich sei.
[Sidenote: Differentialdiagnose.]
Bei faulen Leichen Neugeborener sollte jedesmal auch mit der Leber
und Milz, eventuell auch mit anderen Organen die Schwimmprobe
vorgenommen und dieses im Protokoll notirt werden, da diese Organe in
der Regel früher und rascher faulen als die Lungen und daher aus dem
Umstande, dass nur letztere, nicht aber auch Leber, Milz etc. Luft
enthielten, für sich allein in der Regel sich schliessen lässt, dass
jener Luftgehalt nicht von Fäulniss herrührt und weil anderseits,
wenn Leber, Milz etc. schwimmen, die Lungen aber nicht, dieses,
seltene Fälle ausgenommen, klar beweist, dass ein Luftathmen nach der
Geburt nicht stattgefunden hat. Bei einer während des Geburtsactes an
Uterusruptur verstorbenen Frau, die hochgradig faul und „gigantisch“
gedunsen zur Obduction kam, fanden wir auch das in die Bauchhöhle
ausgetretene und durch Fäulnissgase aufgetriebene, ungewöhnlich
grosse und schwere Kind hochgradig faul. Es schwammen nicht blos
Leber, Milz, Nieren, Magen und Darmcanal (!), sondern sogar die ganze
Kindesleiche, nicht aber die Lungen, die nur blutig imbibirt und
vollkommen atelectatisch waren.
[Sidenote: Durch Fäulniss oder Lufteinblasen lufthältig gewordene
Lungen.]
_b_) Die Möglichkeit, dass der in der Lunge constatirte Luftgehalt von
mittelst +Lufteinblasens+ vorgenommenen Belebungsversuchen herrühren
könnte, entfällt in der Regel von selbst, da nicht anzunehmen ist, dass
eine heimlich Gebärende an dem todtgeborenen Kinde Belebungsversuche
anstellen wird, und da, wenn dies von ihr oder von Anderen thatsächlich
unternommen worden wäre, spontane Angaben darüber gemacht werden
möchten.
Würde ein Fall vorkommen, in welchem die Möglichkeit eines
stattgehabten Lufteinblasens in Betracht gezogen werden müsste, so
wäre weniger das Verhalten der Lunge, als jenes des Verdauungstractus
im Stande, Aufschluss in dieser Richtung zu geben. Da nämlich die
experimentelle Erfahrung lehrt, dass, wenn Luft von Mund zu Mund,
oder mit einer, nicht in den Kehlkopf, sondern blos in die Mundhöhle
eingeführten Röhre eingeblasen wird, dieselbe in der Regel weniger in
die Lungen als in den Magen und, wenn mit grosser Gewalt eingeblasen
wird, auch in den Darmcanal gelangt und letzteren aufbläht, und da
anderseits, wie später erwähnt werden wird, Magen und Darm eines
todtgeborenen Kindes luftleer sind und daher im Wasser untersinken,
so wird, wenn wir im concreten Falle Magen- und Darmcanal eines
neugeborenen und nicht etwa faulen Kindes von Luft auffallend
aufgebläht finden, dieser Befund die Angabe, dass Luft eingeblasen
wurde, unterstützen, während dieselbe widerlegt erscheint, wenn weder
im Darmcanal, noch in dem Magen Luft oder nur ganz geringe Mengen davon
enthalten waren. Die Lungen selbst würden nur dann einen diagnostischen
Anhaltspunkt gewähren, wenn durch forcirtes Lufteinblasen ein Emphysem,
insbesondere interstitielles Emphysem, erzeugt worden wäre. Doch
auch dieses wäre nur von geringem Werth, da interstitielle Emphyseme
bei Neugeborenen auch auf andere Weise, so namentlich durch forcirte
Exstirpationen, in Folge von in die Luftwege gerathenen fremden
Körpern, entstehen können. +Kotelewski+ (Wiener med. Blätter, 1882,
Nr. 18) sieht in der durch die Injection der interalveolaren Gefässe
bewirkten „rosafarbigen Marmorirung“ der Lungen ein charakteristisches
Merkmal stattgehabter Athmung, wogegen das Fehlen dieses Merkmals
ein Zeichen für künstliche Lufteinblasung sei. Nun ist aber zwar
allerdings richtig, dass durch das Lufteinblasen wohl Luft in die
Lungen gelangt, aber keine Vermehrung des Blutgehaltes eintritt,
weil eben der beim Luftathmen gleichzeitige Beginn des kleinen
Kreislaufes ausbleibt; da jedoch auch an der luftleeren Lunge die
interalveolaren und interacinösen Gefässe Blut enthalten und namentlich
bei asphyctisch geborenen Kindern viel Blut enthalten können, so wird
auch bei aufgeblasenen Lungen die „rosafarbige Marmorirung“ nicht
vollständig fehlen, allerdings aber desto unvollkommener entwickelt
sein, je weniger Blut die interstitiellen Gefässe von dem Lufteinblasen
enthielten und je weiter letzteres getrieben worden war.
Uns kam es bisher nur ein einzigesmal vor, dass eine des Kindesmordes
Angeklagte mit der Angabe hervortrat, dass sie dem Kinde Luft
eingeblasen habe. Letzteres war noch frisch in einer Abortsgrube
gefunden worden, zeigte vollständig lufthaltige Lungen, freie Luft
im Magen und im oberen Drittel des Dünndarmes, Cloakeninhalt in der
Luftröhre und im Magen, endlich deutlich sugillirte Schädelfracturen.
Unmittelbar nach der Verhaftung gab die Mutter an, sie habe über
der Abtrittsbrille hockend geboren, die Nabelschnur abgerissen und
das Kind in den Abort fallen lassen, welche Angabe sie später dahin
modificirte, dass sie das Kind, an welchem sie kein Lebenszeichen
bemerkte, in den Abortschlauch hineingezwängt habe. Bei der
Hauptverhandlung dagegen gab sie an, sie habe stehend am Fussboden
des Abortes geboren und im letzten Momente sich niedergehockt, dann
die Schnur abgerissen, das Kind aufgehoben und demselben einigemale
in den Mund hineingeblasen, nachdem sie diesen geöffnet hatte, weil
sie gehört habe, dass man scheintodten Kindern dies zu thun pflege.
Nach ½ Stunde hätte sie das Kind in den Abort geworfen, da sie es
für todt hielt. Die Unwahrheit dieser Aussage konnte ausser durch die
vollständige Füllung der Lungen mit Luft und die verhältnissmässig
geringe des Darmcanals auch durch den Befund von Cloakenstoffen im
Magen und die suffundirte Beschaffenheit der Schädelfracturen leicht
erwiesen werden.
[Sidenote: Lufthältigwerden der Lungen durch +Schultze+’sche
Schwingungen.]
Die bisher wenig beachtete Frage, ob nicht auch durch anderweitige
Methoden der +künstlichen Respiration+ die Lungen eines todt
geborenen Kindes lufthaltig werden können, wurde in der letzten Zeit
durch +M. Runge+[475] angeregt und insbesondere bemerkt, dass vor
Allem durch die sogenannten +Schultze+’schen Schwingungen, wobei das
Neugeborene am Oberkörper gefasst und so nach aufwärts geschwungen
wird, dass die untere Körperhälfte auf die obere fällt, die Lungen
in ausserordentlich sicherer Weise in geringerer oder grösserer
Ausdehnung mit Luft sich füllen, so dass sie sich von solchen, die
Luft geathmet haben, nicht wesentlich unterscheiden. Wenn die Luft
in die Lungen in der That so leicht eindringen würde, wie +Runge+
angibt, so wäre dies natürlich von grosser Wichtigkeit. Denn wenn
auch bei heimlichen Entbindungen die Möglichkeit, dass von Jemanden
„Schwingungen“ unternommen würden, gewiss nur höchst ausnahmsweise
in Betracht kommen dürfte, so müsste man doch per analogiam zugeben,
dass ebenso wie durch Schwingungen auch durch andere alternirende
Compressionen und Expansionen des Thorax, wie sie auch nur zufällig
bei den mit der Leiche unternommenen Manipulationen geschehen
können, Luft in die Lungen gebracht werden kann. Wir haben in der
drittletzten Auflage dieses Buches unsere Zweifel ausgesprochen,
ob die Sache selbst bei „Schwingungen“ so leicht geht, wie +Runge+
meint, da Schwingungen, die wir an zweifellos vor dem Blasensprunge
abgestorbenen oder erst bei der Obduction dem Mutterleib entnommenen
Kindern unternahmen, resultatlos geblieben sind. Auch in den seitdem
von uns an solchen Kindern angestellten Versuchen erhielten wir
kein oder (in einem Falle, wo sich nicht positiv ausschliessen
liess, dass der äusserst spärliche Luftgehalt der Lungen schon vor
den Schwingungen bestand) nur ein unsicheres Resultat (siehe auch
Wiener med. Blätter. 1884, Nr. 34 und Wiener med. Wochenschr. 1885,
Nr. 10). Auch haben wir bei zwei vollkommen reifen todtgeborenen
Kindern, an welchen auf +Späth+’s Klinik 10 und 15 Schwingungen
gemacht worden waren, ganz anectatische Lungen gefunden. Unsere
Zweifel haben +Schauta+ (Wiener med. Blätter. 1884, Nr. 29), +B. S.
Schultze+ (ibid. 1885, Nr. 1), +Nobiling+ (Wiener med. Wochenschr.
1885, Nr. 8), +Torggler+ (Wiener med. Blätter. 1885, Nr. 8),
+Runge+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. XLII, 1), +Sommer+
(ibid. XLIII, 253), +Skutsch+ (Deutsche Med.-Ztg. 1886, Nr. 1) und
+Reinsberg+ in Prag (Sbornik lékařský. 1886, pag. 131) zu Versuchen,
respective Mittheilungen veranlasst, aus welchen hervorgeht, dass
ihnen Allen, mit Ausnahme +Nobiling+’s, dessen Versuche negativ
ausfielen, gelang, die Lungen todtgeborener, ausgetragener Kinder
durch Schwingungen lufthältig zu machen. Unsere Misserfolge werden
theils daraus erklärt, dass von uns meist unreife Kinder benützt
wurden, während +Schultze+ selbst bereits vor Jahren angegeben hatte,
dass ihn seine Methode bei nicht reifen Kindern, wegen Weichheit des
Thorax und der Trachealknorpeln, im Stiche gelassen habe, theils
aus der Art der Ausführung unserer Versuche, da durch Schwingungen
„keineswegs leicht Luft in die Lungen eintritt“ und die Ausführung,
wenn sie Erfolg haben soll, auf das Minutiöseste nach +Schultze+’s
Vorschrift geschehen muss (+Skutsch+), theils aus der geringen Zahl
der von uns vorgenommenen Schwingungen, da bei Leichen „mindestens
30 Schwingungen stattfinden müssen, wenn ein nur halbwegs merklicher
Erfolg erzielt werden soll“ (+Reinsberg+). Es geht aus diesen
Einwänden hervor, dass unsere Zweifel nicht ungerechtfertigt waren,
indem durch +Schultze+’sche Schwingungen weder immer, noch leicht
Luft in die Lungen todtgeborener Kinder gebracht werden kann und
jedenfalls an dem bereits einige Zeit todten Kinde schwerer als an
dem eben verstorbenen.[476] Da jedoch diese Möglichkeit wirklich
besteht, so ist mit derselben in Fällen, wo solche Schwingungen
angeblich vorgenommen worden sind, zu rechnen und sind dabei
jene Umstände zu erwägen, die den eben genannten Untersuchungen
und Angaben zu Folge den Effect derselben zu begünstigen oder zu
erschweren vermögen. Eine stärkere Blähung der Lungen scheint selbst
nach energischen und zahlreichen Schwingungen nicht zu Stande zu
kommen und eine vollständige Füllung der Lungen in allen ihren
Theilen mit Luft wurde bisher nicht beobachtet.[477] Ein Eindringen
von Luft in den Magen durch „Schwingungen“ konnte in der Regel nicht
constatirt werden, nur +Sommer+ fand in einem Falle im Magen so viel
Luft, dass derselbe schwamm. Wir selbst fanden bei den zwei oben
erwähnten Kindern, mit welchen auf +Späth+’s Klinik Schwingungen
gemacht worden waren, zwar ganz atelectatische Lungen, aber bei
beiden Luft im Magen, und zwar beim ersten eine erbsengrosse und
eine kleinere Blase in dem im Magen enthaltenen Fruchtschleim, beim
zweiten eine haselnussgrosse und mehrere kleinere. Nur im letzteren
Falle schwamm der Magen und war auch schon vor der Obduction
tympanitischer Schall über demselben nachweisbar.
[Sidenote: Künstliche Respiration.]
Ob auch durch andere Methoden der künstlichen Respiration Luft
in die Lungen todtgeborener Kinder einzudringen vermag, ist von
+Pellacani+ (Rivista sper. di freniatria e di med. leg. XV;
Virchow’s Jahrb. 1889, I) bezüglich der +Pacini+’schen Methode
und auf Anregung +Messerer+’s von +Merkel+ (Friedreich’s Blätter.
1892, pag. 401) bezüglich der Methode von +Marshall+-+Hall+ geprüft
worden. Bei ersterer wurde schon bei der zweiten bis siebenten
Respirationsbewegung das Eindringen der Luft vernommen. +Pellacani+
schliesst jedoch aus seinen Versuchen, dass durch die genannte und
ähnliche Methoden der künstlichen Respiration eine gleichmässige
Luftfüllung der Lungen wie bei vollständigem Leben niemals zu Stande
komme. In einem Falle waren 163 (!) Respirationsbewegungen gemacht
worden und trotzdem war nur eine ungleichmässige Luftfüllung der
Lunge zu Stande gekommen. +Merkel+ konnte kein positives Resultat
erzielen und fand in einem Falle trotz 50 +Marshall+-+Hall+’schen
Schwingungen sowohl Lungen als den Magen luftleer. Unter diesen
Umständen muss wohl die Möglichkeit, dass auch schon durch zufällige
vorübergehende Compressionen des Thorax, wie sie beim Manipuliren
mit der Leiche geschehen können, Luft in die bis dahin atelectatisch
gewesenen Lungen gelangen kann, entschieden negirt werden.
[Sidenote: Luftathmen während der Geburt.]
Ist die Fäulniss, eventuell das Lufteinblasen u. dergl.
ausgeschlossen, so kann man in den wegen Verdacht auf Kindesmord zur
Obduction gelangenden Fällen mit Beruhigung erklären, dass das Kind
nach der Geburt Luft geathmet habe, daher lebend geboren worden sei.
Die Möglichkeit, dass ein Kind noch +während der Geburt Luft athmen
könne+, kommt bei heimlichen Geburten nur insoferne in Betracht,
als ein Kind, das nur mit dem Kopfe geboren ist, schon Luft zu
athmen vermag. Dieses Ereigniss scheint sogar häufig vorzukommen,
da +Schwartz+ (l. c. 381) bemerkt, dass die Inspirationsbewegungen
des Kindes +meistens+ gleich nach dem Durchschneiden des Kopfes,
nächstdem am häufigsten während des Durchganges des Fruchtkörpers
durch die Schamspalte und nicht ganz selten auch erst nach völliger
Austreibung des Kindes erfolgen. In der Regel folgt dem geborenen
Kopfe sofort der übrige Körper, es kann sich jedoch ereignen,
dass dies nicht geschieht, und dass das mit den Schultern stecken
gebliebene Kind stirbt und todt geboren wird, obzwar es bereits Luft
geathmet hatte. +Teichmeyer+ bemerkt bereits in dieser Richtung
(Inst. med. leg. 241): „Fieri potest, ut infans capite exclusus,
antequam totus excludatur, respiraverit, statim vero, antequam
reliquo corpore egressus fuerit, moriatur, et quidem absque malitia
matris.“ Einen solchen Fall beschreibt +Martin+ (Monatsschr. f. Geb.
1863, XXII, 204), einen anderen, verwachsene Zwillinge betreffend,
+Rothe+ (Arch. f. Gyn. 1870, I, 341; zahlreiche ältere Fälle von
+Henke+, Lehrb, d. gerichtl. Med. 1841, pag. 373). In einem zur
Facultät gekommenen und von uns mitbegutachteten Falle hatte eine
Bauernmagd, die auf freiem Felde geboren hatte, angegeben, dass das
Kind schon, als es mit dem Kopfe gekommen war, geschrieen habe, dass
es aber, nachdem es nach einiger Zeit vollständig geboren wurde,
nicht mehr schrie, sondern unter Röcheln verschied. Diese Angaben
wurden von den Obducenten bestritten, mussten jedoch von der Facultät
als wohl möglich zugegeben werden.
Ein Luftathmen des Kindes noch vor geborenem Kopfe kann allerdings
dann erfolgen, wenn, wie dies bei schweren Geburten geschieht,
durch Instrumente oder die Hand des Geburtshelfers Luft in den
Uterus eingeführt wurde. In solchen Fällen kann das Kind noch im
Uterus nicht blos Luft athmen, sondern selbst schreien (Vagitus
uterinus). Es ist selbstverständlich, dass bei gewöhnlichen,
verheimlichten Geburten etwas Aehnliches nicht geschehen kann. Da
jedoch mehrere theils von Anderen, theils von uns beobachtete Fälle
(vide Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1875, XXII, pag. 58 u.
240) gezeigt haben, dass bei verzögerten Geburten schon das blosse
Touchiren mit dem Finger genügt, um Luft zu den Respirationsöffnungen
der Frucht zu bringen, und dass bei +erschlafftem+ Uterus auch
durch Lageveränderungen des Körpers ein Einsaugen von Luft in die
Gebärmutter erfolgen kann (+Schatz+, +Hegar+), so wäre in solchen,
gewiss nur äusserst selten vorkommenden Fällen, in denen eine
verheimlichte Geburt +verzögert+ verlief, oder während des Entbindens
Manipulationen in den Genitalien durch eventuelle Helfershelfer
stattfanden, zu erwägen, ob nicht auch schon während des Geburtsactes
ein Luftathmen möglich gewesen war.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass auch ganz luftleere Lungen
schwimmfähig sein können, so in Folge des Gefrorenseins oder durch
längeres Liegen in Alkohol, da letzterer bekanntlich specifisch
leichter ist als Wasser. Im ersteren Falle sinken die Lungen nach
erfolgtem Aufthauen, im zweiten, nachdem sie einige Zeit im Wasser
gelegen waren.
[Sidenote: Luftleere Lungen.]
Es fragt sich nun, welche Schlüsse sind gestattet, wenn die +Lungen
luftleer+ gefunden werden. In der Regel beeilt man sich in einem
solchen Falle zu erklären, dass das Kind bereits todt zur Welt gekommen
ist. Ein solcher Schluss ist, wenn er sich blos auf die luftleere
Beschaffenheit der Lungen stützt, keineswegs absolut berechtigt, da es
eine ganze Reihe von Möglichkeiten gibt, die bewirken können, dass,
trotzdem ein Kind lebend zur Welt gekommen ist, doch bei der Obduction
luftleere Lungen sich ergeben. Es sind insbesondere drei Möglichkeiten,
die in dieser Beziehung in Betracht kommen: 1. dass bei einem obgleich
lebend geborenen Kinde die Respirationsbewegungen ausgeblieben sein
konnten; 2. dass trotz normal erfolgter Athembewegungen die Aspiration
von Luft behindert gewesen sein konnte, und 3. dass durch Athmung
lufthaltig gewordene Lungen unter gewissen Umständen nachträglich
wieder luftleer werden können.
Ad 1. Bei Früchten, die vor der 28.-30. Woche geboren werden, gehört
es desto mehr zur Regel, dass dieselben, wenn sie auch lebend zur Welt
kommen, sterben, ohne Respirationsbewegungen gemacht zu haben, je
weiter sie noch von der erwähnten Periode entfernt sind. Die Ursache
hiervon liegt wohl vorzugsweise in der noch +ungenügenden Entwicklung
und Leistungsfähigkeit der Respirationsmuskeln+, aber auch darin, dass
die anatomischen +Athmungscentren+ noch nicht so weit ausgebildet sind,
um auf die in Folge Aufhebung der Placentarrespiration eintretende
Sauerstoffverarmung des Blutes mit Auslösung von Respirationsbewegungen
zu reagiren. Daher kommt es, dass wir bei den meisten abortirten
Früchten, auch wenn sie nicht vor der Geburt starben, luftleere Lungen
finden.[478] Auch noch nach der 28. Woche, insbesondere in der ersten
Zeit, kann eine solche Insufficienz der Respirationsmusculatur oder
des Respirationscentrums bestehen und es fällt auf, dass die meisten
Beobachtungen von luftleeren Lungen bei Kindern, die einige Zeit
nach der Geburt gelebt haben, nicht ausgetragene Früchte betreffen.
So berichtet +Pellacani+ (l. c.) über 14 Neugeborene, worunter nur 3
ausgetragene, welche vollständig oder grösstentheils luftleere Lungen
zeigten, obzwar sie lebend geboren wurden und meistens auch geschrieen
hatten (einzelne durch 24 und mehr Stunden) und erklärt sich diese
Erscheinung daraus, dass die „respiratorischen Kräfte“ nicht im Stande
waren, eine Lungenblähung zu bewirken, respective die betreffenden
Hindernisse zu überwinden, so dass nur eine Bronchialathmung stattfand.
Auch die von +Nikitin+ („Die zweite Lebensprobe.“ Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1888, XLIX, pag. 44) beobachteten 3 derartigen Fälle
betrafen sämmtlich nicht ausgetragene Früchte, doch leitet +Nikitin+
das Fehlen der Luft von einer „secundären Atelectase“ ab.
[Sidenote: Lebensschwäche oder Apnoë.]
Bei lebensfähigen Früchten kann der Beginn der extrauterinen Athmung
sich verzögern. Nach +K. Schröder+[479] ist es der gewöhnliche Fall,
dass ein neugeborenes, lebensfrisches Kind wenn auch nur kurze, so doch
messbare Zeit extrauterin lebt, ohne zu athmen. Diese Angabe stimmt
mit den oben angeführten Angaben von +Schwartz+, zufolge welchen die
Kinder meistens schon beim Durchschneiden des Kopfes Athembewegungen
machen, nicht überein, doch erwähnt auch dieser, dass nicht selten ganz
lebensfrische Kinder, nachdem sie völlig geboren wurden, noch einige
Zeit ruhig daliegen, die Augen aufschlagen und erst dann anfangen, mit
successive zunehmender Energie zu respiriren. Einen solchen Fall hat
+Kehrer+ (Arch. f. Gyn. I, 478) ausführlich beschrieben. Die Ursache
dieser Erscheinung ist die +Apnoë+, d. h. jener Zustand, in welchem die
Sauerstoffverarmung des Blutes noch nicht einen solchen Grad erreicht,
dass dadurch das Athemcentrum zur Auslösung von Athembewegungen
angeregt wird, und dieser Zustand tritt bei Neugeborenen dann ein, wenn
nach erfolgter Entbindung die Placenta mit dem Uterus in Verbindung
bleibt und eine Wehenpause erfolgt, so dass die fötale Athmung durch
die Placenta fortdauert. Dieser Zustand, der selbst minutenlang (im
+Kehrer+’schen Falle 2 Minuten) andauern kann[480], unterscheidet sich
von Asphyxie dadurch, dass, während bei dieser nur ein schwacher,
seltener und unregelmässiger Herzschlag besteht, bei der Apnoë das
Herz kräftig und in normaler Frequenz weiterschlägt. Derselbe hat
unter normalen Verhältnissen keine Bedeutung, da nach kurzer Zeit die
Lungenathmung von selbst sich einstellt, wohl aber insoferne, als
während einer solchen Apnoë dem Leben des Kindes ein Ende gemacht
werden kann, ohne dass es zum Luftathmen gelangt.
[Sidenote: Luftleere Lungen wegen Asphyxie oder behinderter Aspiration.]
Eine der häufigsten Ursachen des Ausbleibens der Athembewegungen bei
neugeborenen, obgleich noch lebenden Kindern ist die +Asphyxie+. Jene
Vorgänge, welche, wie wir später hören werden, verhältnissmässig
häufig während des Geburtsactes eintreten und vorzugsweise durch
vorzeitige Unterbrechung der Placentarathmung den suffocatorischen Tod
des Kindes noch vor Beendigung der Geburt herbeizuführen vermögen,
bewirken auch häufig, dass die Kinder noch nicht vollkommen todt,
sondern nur asphyctisch geboren werden. Solche Kinder können sich
entweder wie todte verhalten oder das noch bestehende Leben durch
gewisse Erscheinungen, wie z. B. schwache (terminale) Athembewegungen
oder durch noch nachweisbaren Herzschlag, verrathen. Es lässt sich
keine Grenze bestimmen, von welcher an man solche Kinder als unrettbar
bezeichnen muss, es geht daher nicht an, wie vorgeschlagen wurde,
dieselben als sterbend oder gar wie todtgeboren zu betrachten, da
man mit Rücksicht darauf, dass die Asphyxie der Neugeborenen die
verhältnissmässig günstigsten Chancen für die Wiederbelebung bietet und
thatsächlich viele derartige Kinder wieder zum Leben gebracht wurden,
niemals mit Bestimmtheit die Möglichkeit zu negiren vermag, dass das
betreffende Kind vielleicht noch hätte gerettet werden können.
Endlich kann auch durch intermeningeale Extravasate bewirkter
+Hirndruck+ und consecutive Lähmung der Athmungscentren Ausbleiben
oder ein verzögertes Eintreten der Respirationsbewegungen bedingen
(+Poppel+, +Kehrer+).
[Sidenote: Verlegung der Luftwege durch Eihäute, aspirirte Stoffe etc.]
Ad 2. Die Aspiration von Luft kann zunächst dadurch behindert sein,
dass das Kind in +unverletzten Eihäuten+ geboren wurde oder die
Respirationsöffnungen durch +Eihautstücke+ verlegt waren.
Ersteres ist bei bereits lebensfähigen, namentlich bei völlig
ausgetragenen Früchten ungemein selten. Fälle dieser Art werden in
Henke’s Zeitschr.[481] von +Buttler Lane+ u. A.[482] angegeben.
Vor einigen Jahren kam ein solcher Fall in Wien zur gerichtlichen
Obduction und betraf eine Person, die im Eisenbahncoupé in Gegenwart
zweier erwachsener Mädchen ein 44 Cm. langes und 1800 Grm. schweres
Kind auf diese Weise geboren hatte. Sowohl die Entbundene, als die
Zeugen gaben an, dass sie, wie dies auch im +Buttler Lane+’schen
Falle geschah, nicht wussten, was die abgegangene Masse zu bedeuten
habe und was +sie+ damit anstellen sollten. Dies musste auch im
Gutachten zugegeben werden, und wurde deshalb die Anklage wegen
Tödtung des Kindes durch absichtliche Unterlassung des bei der Geburt
nöthigen Beistandes, respective der Befreiung des Kindes aus dem
Eihautsack fallen gelassen. In einem zweiten Falle hatte die Hebamme
unterlassen, das 42 Cm. lange Kind aus den unverletzten Eihäuten zu
befreien, da sie es für todt hielt, weil der Inhalt des Eisackes
„ganz schwarz“ erschien. Die auf Antrag des Todtenbeschauers
eingeleitete gerichtliche Section ergab aber, dass die schwarze
Färbung von Meconium herrührte und dass das Kind offenbar nur
asphyctisch war. Verlegung der Respirationsöffnungen durch
Eihautstücke ist häufiger beobachtet worden. Ein neuerer Fall wird
von +Schröder+[483] mitgetheilt, welcher, zu einer Mehrgebärenden
gerufen, dieselbe noch 10 Minuten nach der Geburt in der Lage fand,
in welcher sie geboren hatte. Das Kind lag vor den Genitalien und
dessen ganze obere Körperhälfte war von den Eihäuten bedeckt,
namentlich das Gesicht und der Mund, in welchen sie hineingezogen
waren. Das Kind war tief asphyctisch, rührte sich nicht und hatte
einen langsamen Herzschlag, wurde jedoch nach einer Viertelstunde zu
sich gebracht.
Weiter kann die Luftathmung durch Verstopfung der Luftwege mit während
des Geburtsactes aspirirten Stoffen (Fruchtwasser, Fruchtschleim,
Meconium) verhindert werden, dann nämlich, wenn Früchte, welche in
Folge drohender „fötaler Erstickung“ vorzeitige Athembewegungen gemacht
hatten, noch zu einer Zeit geboren wurden, in welcher die Erregbarkeit
des Respirationscentrums noch nicht erloschen war und daher noch
extrauterine Athembewegungen stattfinden konnten. Ebenso kann zufällig
während des Geburtsactes Fruchtschleim in die Respirationsöffnungen
gelangen und dann das Eindringen der Luft in die Lungen verhindern.
Ferner gibt es gewisse +pathologische Processe+, die trotz erfolgender
Athembewegungen eine Aspiration von Luft unmöglich machen. Solche
Processe können zunächst die Lunge selbst betreffen und ihre
Entfaltbarkeit verhindern.
[Sidenote: Behinderte Aufblähung der Lunge.]
Das Vorkommen einer angeborenen Verwachsung der Alveolarwände, wie
sie von +Weber+ und +Elsässer+ angenommen wurde, ist nicht erwiesen.
Wohl aber können angeborene Hepatisationen der Lunge vorkommen, von
denen wir insbesondere die weisse oder die sogenannte Pneumonia
alba nennen, die wir bereits zweimal beobachtet haben. Letztere
beruht auf einer krankhaften Wucherung des Alveolarepithels mit
fettiger Metamorphose desselben, findet sich vorzugsweise, aber
nicht ausschliesslich, bei Syphilitischen[484] und ist auch deshalb
bemerkenswerth, weil einestheils die weissgelbliche Farbe solcher
Lungen, anderseits die gleichmässige Füllung der Alveolen mit
verfetteten Epithelien einen Luftgehalt derselben vortäuschen können.
In zwei Fällen fanden wir hochgradige Hyperplasie des interstitiellen
Zellgewebes, einmal combinirt mit partiellem Situs perversus
viscerum (Leber median, Magen rechts, keine Milz), das anderemal mit
hochgradigem Hautödem, Hydrothorax, Glottisödem und Lebercirrhose.
Beide Kinder waren lebend geboren worden, starben jedoch sofort.
Im ersten Falle fand sich sehr spärlicher Luftgehalt in den nicht
schwimmfähigen Lungen, im zweiten Luftleere der Lungen, aber
Luftblasen im Magen. In beiden Fällen handelte es sich wahrscheinlich
um Syphilis. Verhältnissmässig häufiger finden sich in den Lungen
Gummaknoten. Auch ausserhalb der Lungen bestehende Zustände können
die Aspiration von Luft dadurch verhindern, dass sie eine Ausdehnung
der Lungen nicht gestatten. Von einer manchmal vorkommenden
auffallenden Vergrösserung des Thymus als Respirationshinderniss wird
in der älteren Literatur viel gesprochen (Asthma thymicum), unseren
Erfahrungen zufolge scheint jedoch eine solche Vergrösserung zu den
grössten Seltenheiten zu gehören, da uns trotz der so hohen Zahl
von Neugeborenen und Säuglingen, die wir zu obduciren Gelegenheit
hatten, niemals eine so ungewöhnliche Vergrösserung dieses Organes
vorkam. Dagegen kann ein angeborener Kropf ein Athmungshinderniss
bilden, wie wir wiederholt gesehen haben. Von anderen Processen ist
der angeborene Zwerchfellbruch und die angeborene Cystenniere zu
nennen. Ersterer geht häufig mit verkümmerter Entwicklung der Lungen
einher, kann aber auch, indem bei dem ersten Inspirationsversuche
die Baucheingeweide in den Thorax gedrängt werden, die Aspiration
der Luft verhindern. Ueber einen solchen Fall haben wir in der
Vierteljahrschr. f. gerichtl Med., XIX, 429, berichtet. Die
angeborene Cystenniere ist ein ziemlich häufiger Befund, und sie kann
eine solche Grösse erreichen, dass sie nicht blos ein Respirations-,
sondern sogar ein Geburtshinderniss zu bilden vermag.[485]
[Sidenote: Geburt in Flüssigkeiten.]
Die genannten Processe bilden im Allgemeinen keine Schwierigkeiten für
die Diagnose. Ungleich wichtiger in forensischer Beziehung ist die
Thatsache, dass die Aspiration der Luft nach erfolgter Geburt durch
von aussen, sowohl zufällig, als absichtlich einwirkende Einflüsse
verhindert werden kann. So, wenn das Kind sofort nach seiner Geburt
in Flüssigkeiten geräth (Geburt im Bade, über mit Flüssigkeiten
gefüllten Gefässen, Ertrinken im Fruchtwasser), oder wenn die Geburt
unter Umhüllungen (Betten, Decken, Kleidern) erfolgt, die den Zutritt
der atmosphärischen Luft nicht gestatten, ebenso wenn sofort nach
Durchtritt des Kindskopfes die Respirationsöffnungen absichtlich
verschlossen, der Hals zugeschnürt oder auf andere Weise die
Respiration unmöglich gemacht werden würde. Einzelne dieser Vorgänge,
worunter namentlich die erstgenannten, kommen verhältnissmässig häufig
vor und es ist kein Zweifel, dass es sich keineswegs immer oder auch
nur häufig um Zufälligkeiten, sondern mitunter um raffinirte Tödtungen
Neugeborener handelt, und dass viele Fälle von angeblicher Sturzgeburt
und das häufig vorgeschützte Gebären im bewusstlosen Zustande unter
Decken etc. auf berechnete Handlungen hinauslaufen, wenn es auch in der
Regel unmöglich ist, solche von blossen Zufälligkeiten zu unterscheiden.
[Sidenote: Resistenz Neugeborener gegen asphyxirende Einflüsse.]
Bei der Beurtheilung der erwähnten Vorkommnisse muss die +grosse
Resistenzfähigkeit+ berücksichtigt werden, welche Neugeborene +gegen
asphyxirende Einflüsse+ zu äussern vermögen. Für diese Thatsache
sprechen sowohl Beobachtungen an Thieren, als solche bei menschlichen
Neugeborenen. In erster Beziehung sind die Versuche von +Legallois+,
+Brown+-+Séquard+ und die neueren von +Bert+ (vide unsere
Zusammenstellung in der Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XIX, 246)
bemerkenswerth, welche gelehrt haben, dass neugeborene Thiere 28-36
Minuten unter Wasser leben oder die Entfernung der Medulla oblongata
überleben können, während erwachsene schon nach 3 Minuten sterben,
wobei constatirt wurde, dass diese Resistenzfähigkeit von der Geburt
an allmälig abnimmt, aber erst in 14 Tagen jener der erwachsenen
Thiere gleichkommt. In letzterer Beziehung ist zu erwähnen, dass
der Herzschlag bei asphyctischen Kindern mitunter noch überraschend
lange Zeit persistirt, obgleich es nicht gelingt, die Kinder zum
Leben zurückzubringen. Fälle, wo das Herz ½–¾ Stunde weiterschlägt,
sind häufige Beobachtungen, wir haben diese Erscheinung in einem
Falle noch durch 2 Stunden, bei einigen neugeborenen Thieren noch
durch 5 Stunden (Wiener med. Presse. 1878, Nr. 10) verfolgen können.
+Maschka+ beschreibt sogar einen Fall, in welchem bei einem als
todt beiseite gelegten neugeborenen Kinde noch nach 20 Stunden der
Herzschlag durch Auscultation wahrgenommen wurde; ebenso sah +Fili+
(Schmidt’s Jahrb. 1874, pag. 9) das Herz eines 17·5 Cm. langen Embryo
noch nach 15 Stunden und +Rawitz+ (Med. Centralbl. 1880, pag. 462)
das eines 8 Cm. langen noch nach 4 Stunden fortpulsiren. Ferner
gehören hierher die merkwürdigen Fälle, in denen Neugeborene unter
den für die Respiration ungünstigsten Verhältnissen lebend sich
erhielten. So berichtet +Bohn+ von zwei Fällen, in denen Kinder, die
gleich nach der Geburt verscharrt wurden, nach mehreren (7) Stunden
noch lebend ausgegraben worden sind. Ein gleicher Fall, in welchem
das Kind 8 Stunden lang 25 Cm. unter der Erde vergraben war, wird von
+Bardinet+, und ein anderer, der ein 1 Schuh tief durch 5 Stunden
vergraben gewesenes Kind betrifft, von +Maschka+ beschrieben.
Die Ursache dieser Resistenzfähigkeit ist noch nicht aufgeklärt.
Offenbar ist das Sauerstoffbedürfniss in der ersten Zeit nach der
Geburt kein so grosses, wie in späterer Zeit, und dies stimmt auch
mit der Beobachtung von +Schwartz+ und +Pflüger+ überein, dass die
Sauerstoffaufnahme durch die Placenta eine so geringe ist, dass sie
nicht einmal einen Farbenunterschied in dem Nabelvenenblut bedingt.
Wahrscheinlich verhalten sich aber auch die einzelnen Organe des
Neugeborenen, namentlich die centralen Nervenapparate, in vielen
Beziehungen anders, als wir dies bei Erwachsenen constatiren können.
Wenigstens lässt die noch auffallend weiche und wegen des grossen
Wassergehaltes fast zerfliessliche Beschaffenheit des Gehirns und
Rückenmarks, sowie die noch nicht eingetretene Scheidung zwischen
weisser und grauer Substanz erwarten, dass diese Organe in ihrer
Erregbarkeit sich anders verhalten werden, als in späteren Stadien
ihrer Ausbildung. Thatsächlich hat +O. Soltmann+ bei seinen
interessanten Versuchen (Med. Centralbl. 1875, Nr. 14, 1876,
Nr. 23, 1877, Nr. 26, 1878, Nr. 19) gefunden, dass Neugeborene
(Hunde) auf Reize, und zwar wie +Westphal+ (ibid. 1886, Nr. 943)
nachwies, besonders gegen elektrische, ungleich schwächer reagiren
als Erwachsene und ebenso hat +Gusserow+ (Arch. f. Gyn. XIII, 66)
constatirt, dass eben geborene Junge von Kaninchen, Hunden etc.
nach Injection von Strychnin keine Krämpfe bekommen und Dosen von
O·1-0·15 ohne besondere Erscheinungen überleben. -- Auch +Zuntz+
(Pflüger’s Arch. 1888, pag. 364) nimmt eine geringere Erregbarkeit
des Athmungscentrums beim Fötus an, die erst nach der Geburt von Tag
zu Tag sich steigert.
[Sidenote: Nachträgliches Luftleerwerden der Lungen.]
[Sidenote: Entweichen der Luft aus den Lungen während der Agonie.]
Ad 3. Die Frage, ob Lungen, die durch Athmen lufthältig geworden
waren, wieder luftleer werden können, ist vielfach discutirt worden.
Thatsächlich ist die Zahl der in der Literatur enthaltenen Fälle von
Kindern, die einige Zeit nach der Geburt lebten, deutlich respirirten
und selbst schrieen und dennoch bei der Obduction luftleere oder fast
luftleere Lungen zeigten, keine geringe. Zu den älteren von +Zeller+,
+Heister+, +Torres+, +Loder+, +Remer+, +Schmitt+, +Orfila+, +Bardinet+,
+Taylor+ u. A. mitgetheilten Fällen sind neuere hinzugekommen, die von
+Hudin+, +Pincus+, +Thomas+, +Leyden+ und insbesondere von +Schröder+
(l. c.) beobachtet worden sind. Wir müssen in dieser Beziehung
zunächst jene Fälle ausscheiden, in denen lufthaltig gewesene Lungen
durch nachträglich hinzugetretene pathologisch entzündliche Processe
(Hepatisation) oder durch Bildung von Pleuraexsudaten u. dergl.
luftleer geworden sind. Derartige Processe entfallen in der Regel bei
Neugeborenen und sind auch als solche unschwer zu erkennen; überdies
betreffen sie niemals die gesammten Lungen, sondern entweder nur
die eine, oder blos Theile beider, mitunter allerdings in so hohem
Grade, dass nur wenige Partien der Lungen, besonders die Spitzen
oder Ränder, lufthaltig bleiben. Da hepatisirte Lungenpartien des
in ihnen enthaltenen Exsudates wegen ungleich schwerer sind als
atelectatische, so können solche Lungen im Wasser sinken, obgleich
noch beträchtliche Theile derselben Luft enthalten. Ebenso müssen
wir absehen von partiellen Atelectasen, die ungemein häufig bei
Neugeborenen vorkommen und sich als dunkelviolette eingesunkene Stellen
präsentiren, die entweder wegen schwacher oder allzu kurz dauernder
Respiration oder wegen Verlegung des zuführenden Bronchialastes nicht
zur Aufblähung gekommen sind; solche Atelectasen können auch grössere
Lungenpartien und selbst ganze Lungenlappen betreffen und es kann
nicht Wunder nehmen, dass, trotzdem nur Theile der Lunge fungirten,
die Kinder einige Zeit am Leben blieben, da wir ja oben gehört haben,
dass Neugeborene mit einem Minimum von Sauerstoff für einige Zeit ihr
Leben zu fristen vermögen, und es ist möglich, dass vielleicht, wie
+Krahmer+, +Tamassia+ (Del ritorno spontaneo del polmone allo stato
atelectasico. Rivista sperim. di fren. et di med. leg. VIII, pag.
185) und +Pellacani+ (l. c.) meinen, auch blos bronchiales Athmen
solche Kinder durch einige Zeit am Leben erhalten kann. Wir haben so
hochgradig atelectatische Lungen wiederholt bei im Gebärhause geborenen
und erst einige Zeit nach der Geburt gestorbenen Kindern gefunden. Die
meisten Fälle betrafen unausgetragene schwächliche Kinder, einzelne
aber auch solche, die alle Zeichen der Reife an sich trugen.[486] In
letzteren Fällen gelang es meist, die Verstopfung der betreffenden
Bronchien durch Fruchtschleim nachzuweisen. Auch interstitielle
Hämorrhagien können grössere Lungenpartien luftleer machen. +Schröder+
erklärt seine Fälle, von denen einzelne Kinder betrafen, die ruhig
geathmet und kräftig geschrieen hatten, in der Art, dass er annimmt,
dass bei denselben die Inspirationsfähigkeit aus inneren, nicht
nachweisbaren Ursachen erlahmte, so dass bei den durch die Elasticität
des Lungengewebes bewirkten Exspirationen mehr Luft ausgetrieben wurde,
als durch die jedesmalige Inspiration hineinbefördert werden konnte.
Diese Anschauung ist bei der grossen Elasticität der Lungen, die bei
Neugeborenen verhältnissmässig kräftiger sich geltend machen kann, als
wenn die Lungen schon längere Zeit in Action waren, ziemlich plausibel.
Auch +Ungar+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, XXXIX, 1) ist
der Meinung, dass diese Fälle nicht anders gedeutet werden können, als
dass die Luft aus den Lungen während des allmäligen Erlöschens der
Athembewegungen verschwunden ist, kommt aber auf Grund seiner Versuche
zum Schlusse, dass es sich vorzugsweise um Absorption der Lungenluft
von Seite des in den Lungen circulirenden Blutes handelt, wobei
einestheils der schon von +Gerlach+ hervorgehobene Umstand in Betracht
kommt, dass in der „exspiratorischen“ Lunge die Communication zwischen
Lungenbläschen und Bronchien aufgehoben ist, und anderseits die
Schnelligkeit, mit welcher sich die Luft aus abgesperrten Lungenpartien
durch Absorption verliert.
[Sidenote: Postmortales Luftleerwerden der Lunge.]
Dass, wie +Krahmer+ meint, Fäulnissgase in den Pleurasäcken sich
anhäufen und durch ihren Druck die Lungen luftleer machen können,
wird wohl nur ganz ausnahmsweise vorkommen. Dagegen sind die so
häufigen blutig-serösen Transsudate, die im Verlaufe der Fäulniss in
die Pleurasäcke erfolgen, im Stande, unter günstigen Bedingungen,
z. B. wenn die Leiche im Wasser liegt, die Luft aus den Lungen
auszutreiben, da dieselben nur auf Kosten des Lungenvolumens
sich bilden können und die Menge des Transsudates im verkehrten
Verhältniss stehen muss zum Luftgehalt der betreffenden Lunge. Dass
ein solcher Vorgang thatsächlich stattfindet, davon haben wir uns
durch Versuche überzeugt (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XIX,
261). Werden exenterirte Lungen in frisches fliessendes Wasser
gelegt und darin belassen, so sinken dieselben nach einigen (3-8)
Tagen unter. Diese Thatsache wäre zu berücksichtigen, wenn eine
zerstückelte oder eine solche Kindesleiche im Wasser gefunden würde,
bei welcher in Folge von Wunden dem Wasser der Eintritt in den
Thorax gestattet war. (Aehnliche Beobachtungen bringt +Giovanardi+,
Riv. sper. di med. legale. 1877, pag. 738, und auch der von +Eberty+,
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1885, XLIII, 241, mitgetheilte
Fall ist wohl nur auf diese Weise zu deuten.) +Badstübner+ („Ueber
Verschwinden der Luft aus den Lungen Neugeborener.“ Berliner Diss.
1893) hat bei +Strassmann+ dieses Verhalten verfolgt und gefunden,
dass nur in fliessendem Wasser bei eröffnetem Thorax sich die Lungen
mit Wasser vollsaugen und untersinken, aber, wie auch +Giovanardi+
angab, nach dem Trocknen wieder schwimmen. Was an der Luft liegende
Lungen Neugeborener anbelangt, so hat +Pellacani+ (l. c.) gefunden,
dass dieselben, auch wenn sie vor dem Eintrocknen geschützt werden,
nur in den peripheren Partien luftleer werden, und zwar desto
langsamer, je vollständiger sie gebläht waren. Das Entweichen
der Luft geschieht, wie +Pellacani+ durch einen Versuch mit dem
Pneumo-Plethismograph sich überzeugte, durch Diffusion und die so
entstehende periphere Atelectasie verhindert das Luftleerwerden der
centralen Partien. +De Arcangelis+ aber (Giornale di medic. legale,
1894, I, pag. 22) dagegen fand, dass Lungen nicht ausgetragener
Hunde in der feuchten Kammer nach 5-11 Tagen, ohne zu faulen,
ihre Schwimmfähigkeit verloren, wie er meint, theils durch die
eigene Elasticität, theils durch vermehrten interalveolaren Druck.
Unserer Meinung nach kann die eigene Elasticität der Lunge das
Verschwinden der Luft durch Diffusion etc. befördern, desto mehr,
je weniger die Lunge gebläht war und je grösser die Elasticität der
concreten Lunge gewesen ist. Dass in dieser Richtung individuelle
Unterschiede bestehen, ist kaum zu bezweifeln. Namentlich in den
bereits oben (pag. 755) erwähnten Fällen von stärkerer Entwicklung
des interstitiellen Lungengewebes ist die Elasticität eine ungleich
grössere als sonst und kann einestheils ein Respirationshinderniss
bilden, anderseits das nachträgliche Entweichen der Luft befördern.
Wir haben sogar bei einem 6monatlichen Kinde, welches eine Stunde
gelebt und gewimmert hatte und luftleere, in der erwähnten Weise
verdichtete Lungen zeigte, gesehen, wie letztere, nachdem sie
mässig aufgeblasen worden waren, unter unseren Augen sofort
sich contrahirten und wieder im Wasser untersanken, als mit der
Insufflation ausgesetzt wurde. Endlich muss noch erwähnt werden,
dass lufthaltige Lungen unter gleichzeitiger Schrumpfung auch durch
Kochen und durch Flammenhitze[487], sowie durch Einlegen in Alkohol
oder andere coagulirende Flüssigkeiten luftleer werden, worauf
vorkommenden Falles Rücksicht genommen werden müsste.
[Sidenote: Gutachten bei luftleeren Lungen.]
Es ergibt sich aus dem Gesagten, dass wir nicht mit gleicher
Sicherheit, wie aus dem Luftgehalte der Lungen auf stattgehabtes
extrauterines Leben, aus luftleeren Lungen auf Todtgeburt schliessen
können, ja dass wir eigentlich nur bei macerirt geborenen Kindern
berechtigt sind, mit absoluter Bestimmtheit zu erklären, dass das
Kind bereits vollkommen todt zur Welt gekommen sei. Selbst wenn wir
ausgesprochene Zeichen „fötaler Erstickung“, wie wir sie unten kennen
lernen werden, finden, können wir nicht bestimmt behaupten, dass das
betreffende Kind, als es geboren wurde, bereits vollkommen todt war,
da es blos scheintodt gewesen sein konnte. Dagegen wären wir in dem
Falle, wenn die Lungen zwar luftleer, aber in ihnen fremde Substanzen,
wie Spülicht, Abtrittsinhalt etc., und zwar in solcher Weise sich
fänden, dass sie nur extrauterin aspirirt worden sein konnten, in
der Lage, uns trotz des negativen Ausfalles der Lungenschwimmprobe
dahin auszusprechen, dass das Kind lebend geboren worden sei. Ebenso
dann, wenn wir bei einem noch nicht faulen Kinde zwar keine Luft in
den Lungen, wohl aber diese im Magen, oder in diesem und den obersten
Darmschlingen finden würden, worauf wir noch zurückkommen werden,
endlich wenn sich offenbar extrauterin entstandene Verletzungen mit
deutlichen Zeichen vitaler Reaction finden würden. Ergeben sich keine
Befunde solcher Art, so ist zwar die Todtgeburt wahrscheinlich,
aber nicht gewiss, welcher Thatsache wir dadurch Rechnung tragen
werden, dass wir in einem solchen Falle, wie dies +Casper+ vorschlug,
unser Gutachten in vorsichtiger Weise dahin abgeben: +dass der
Sectionsbefund, insbesondere der in den Lungen, keinen Anhaltspunkt
geboten habe, aus welchem auf ein Leben nach der Geburt geschlossen
werden könnte+.
Die Veränderungen des Blutgehaltes der Lungen.
[Sidenote: Lungenblutprobe.]
Die erste Inspiration hat nicht blos die Aspiration des umgebenden
Mediums zur Folge, sondern auch die Entfaltung des kleinen Kreislaufes,
weshalb die Lungen nach erfolgter Athmung mehr Blut enthalten müssen,
als vor derselben. Diese zweifellos richtige Thatsache bildet die
Grundlage der sogenannten „Lungenblutproben“, insbesondere jener von
+Daniel+ und von +Ploucquet+, welche Beide von dem Satz ausgehen,
dass Lungen, die respirirt haben, schwerer sein müssen als vordem.
Während jedoch +Daniel+ nur das absolute Gewicht der Lungen im Auge
hatte und angab, dass dieses bei fötalen Lungen durchschnittlich 469
Gran betrage, durch die Athmung aber um 2 Unzen zunehme, verglich
+Ploucquet+ das Gewicht der Lungen mit jenem des ganzen Kindeskörpers
und stellte auf Grund seiner Wägungen den Satz auf, dass sich vor
der Athmung das Gewicht der Lungen zum Gewichte des ganzen Körpers
verhalte wie 1 : 70, nach dem Athmen aber wie 2 : 70. Die Verwerthung
der Zunahme des absoluten Gewichtes für die Frage des Gelebt- oder des
Nichtgelebthabens wurde als vielfach variirend bald verlassen; der Satz
+Ploucquet+’s jedoch galt lange als Dogma, bis er durch zahlreiche,
von +Schmitt+, +Lecieux+ (400 Kinder in der Maternité von Paris),
+Elsässer+, +Devergie+ und +Casper+ unternommene Wägungen als ganz
unrichtig sich erwies. Später (1868) hat +Ogston+ in Aberdeen solche
Wägungen wieder aufgenommen und gefunden, dass sich das Verhältniss des
Lungengewichtes zu jenem des ganzen Körpers verhalte: bei Todtgeborenen
wie 1 : 50·302, bei Lebendgeborenen wie 1 : 53·819.
Solche Wägungen haben für die Lebensfrage so gut wie gar keinen Werth,
und zwar nicht blos deshalb, weil, wie von den genannten Forschern
hervorgehoben wurde, sowohl das absolute, als das relative Gewicht
der Lungen vielfachen individuellen Schwankungen unterliegt und auch
der Fäulnissgrad in dieser Beziehung einen Einfluss ausübt, sondern
vorzugsweise aus dem Grunde, weil die meisten der todtgeborenen
Kinder keine fötalen Lungen mehr besitzen, sondern solche, die durch
vorzeitige Athembewegungen verändert worden sind, und weil gerade diese
sehr blutreich sich erweisen, da bei den vorzeitigen Athembewegungen
entweder gar kein oder nur ein zähes Medium in die Lungen eindringt,
daher die Aufgabe, den durch die Thoraxerweiterung sich bilden
wollenden Raum auszufüllen, vorzugsweise oder ausschliesslich dem
Blute zukommt, weshalb auch solche Lungen dunkel von Farbe, etwas
vergrössert und schwer erscheinen. Es kann daher nicht überraschen,
wenn bei Wägungen nicht selten sowohl das absolute, als das relative
Gewicht der Lungen bei todtgeborenen Kindern grösser gefunden wird, als
durchschnittlich bei Kindern, die gelebt und Luft geathmet hatten.
Aus denselben Gründen erscheint auch die von +Zaleski+
(Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1888, XLVIII) angegebene
„Eisenlungenprobe“ nicht verwerthbar, welche darauf beruht, dass
Lungen, welche geathmet haben, mehr Blut und daher auch mehr Eisen
enthalten müssen, als solche, die nicht zur Athmung gekommen
waren. Zu diesem Urtheil ist sowohl +Blumenstok+ (Internat. klin.
Rundschau. 1888, Nr. 2) aus theoretischer Erwägung, als +Jolin+ und
+Key+-+Aberg+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1888, LI, pag. 343)
auf Grund positiver Untersuchungen gelangt.
Anderweitige Lebensproben.
[Sidenote: Entleerung von Meconium.]
Da, wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht, das Verhalten der Lungen
nicht unter allen Umständen darüber Aufschluss gibt, ob ein Kind
lebend geboren wurde oder nicht, war man bemüht, in anderen Organen
nach Anhaltspunkten für die Beantwortung dieser Frage zu suchen.
Einigen Werth glaubte man in dieser Beziehung auf die erfolgte oder
nicht erfolgte +Entleerung von Harn und Meconium+ legen zu sollen,
da die Erfahrung lehrt, dass Kinder in der Regel sofort, wie sie zur
Welt kommen, jene Stoffe zu entleeren pflegen. Dieser Werth wird
bedeutend eingeschränkt durch die Thatsache, dass sich nicht selten
die Entleerung von Harn und noch mehr jene von Meconium verzögert,
vorzugsweise aber durch den Umstand, dass die Kinder, welche während
des Geburtsactes suffocatorisch sterben, während der Suffocation
Harn und Meconium entleeren, wie ja bekanntlich der Abgang von
Meconium während des Geburtsactes ein wichtiges Zeichen ist, dass
sich das Kind in Lebensgefahr befindet. Daher ist es gar nichts
Ungewöhnliches, gerade bei todtgeborenen Kindern die Blase vollkommen
entleert und den Dickdarm theilweise oder ganz frei von Meconium zu
finden.
[Sidenote: Leberblutprobe. Harnsäureinfarct.]
Die sogenannte „+Leberblutprobe+“ von +Schäffer+, welche die
Verminderung des Blutgehaltes und daher auch des Gewichtes der
Leber nach erfolgter extrauteriner Athmung, respective Abnabelung
zur Grundlage hatte, besitzt nur noch einen historischen Werth.
Die im fötalen Zustande senkrechte +Stellung des Magens+ ändert
sich keineswegs, wie man glaubte, sofort nach der Geburt durch das
Herabsteigen des Zwerchfells, sondern geht erst nachträglich und
allmälig in die horizontale über. Das Verhalten der sogenannten
+fötalen Wege+ (Nabelgefässe, Foramen ovale und Ductus Botalli)
ändert sich ebenfalls erst nachträglich, worauf wir noch zurückkommen
werden. Darüber, ob ein neugeborenes Kind lebend oder todt zur
Welt gekommen ist, geben sie keinen Aufschluss. Dem sogenannten
+Harnsäureinfarct+ in den Nieren, auf dessen Vorkommen zuerst +Cless+
aufmerksam machte, und von welchem +Schlossberger+ behauptete, dass
er nur bei Kindern, die nach der Geburt gelebt haben, vorkomme,
kommt eine Bedeutung als Lebensprobe nicht zu. Man bezeichnet als
Harnsäureinfarct eine Anfüllung der +Bellini+’schen Röhrchen in den
Nierenpyramiden mit orangerothem Harnsäuresediment, wodurch dieselben
auf dem Durchschnitte wie geflammt erscheinen. Dieses Sediment
findet sich dann in der Regel gleichzeitig in dem in der Harnblase
enthaltenen Harn. Der Erscheinung liegt eine pathologische Vermehrung
der Harnsäure bei fieberhaften Processen zu Grunde, welche nach
Abfall des Fiebers und vielleicht zum grössten Theil postmortal aus
dem ausgekühlten Harn ausfällt. Bei einem todtgeborenen Kinde haben
wir noch niemals den Harnsäureinfarct gesehen, doch wurde derselbe
wiederholt von Anderen beobachtet. (Vide +Casper+-+Liman+, l. c.
II, 909; +Birch+-+Hirschfeld+, Lehrbuch d. path. Anat. 1877, pag.
1034, ebenso mündlicher Mittheilung zufolge einmal von +Heschl+ und
einmal 1887 von +A. Paltauf+ bei einem Kinde, dessen Mutter gefiebert
hatte.) Derselbe kommt zwar ungleich häufiger bei Kindern vor, die
schon einige Tage gelebt haben, wir haben ihn jedoch schon bei einem
Kinde gefunden, das 23 Stunden nach der Geburt an Erstickung während
eines Brechactes gestorben war. Ausserdem fanden wir einmal bei einem
3950 Grm. schweren und 57 Cm. langen Kinde, welches nach 13stündiger
Wehendauer spontan geboren wurde und 15 Minuten post partum starb und
bei der Section nur partiell lufthaltige Lungen zeigte; die Nieren
waren sehr blutreich und die eine obere Pyramide der linken durch in
den Harncanälchen enthaltenes Harnsäuresediment orangeroth gestreift.
[Sidenote: +Breslau+’sche Magendarm-Schwimmprobe.]
Von ungleich höherem Werth als die genannten „Lebensproben“ ist die
+Breslau+’sche Magendarm-Schwimmprobe. Sie beruht auf der lange
übersehenen Thatsache, dass Magen und Darm der noch ungeborenen
Frucht ebenso luftleer sind wie die Lunge, und dass erst nach der
Geburt, gleichzeitig mit dem Beginn der selbstständigen Athmung,
Luft auch in den Magen und in die obersten Darmschlingen gelangt
und später von da aus durch den ganzen Darm sich verbreitet. Ob die
ersten Luftblasen in den Magen durch Schlingbeschwerden gelangen
oder aspirirt werden, ist noch nicht entschieden. +Breslau+, dem das
Verdienst zufällt, 1866 zuerst auf diese Thatsache aufmerksam gemacht
zu haben, hat vorgeschlagen, den Magen und Darmcanal ebenso durch die
Schwimmprobe auf ihre Lufthaltigkeit zu prüfen, wie die Lungen, und
sprach sich auf Grund seiner Beobachtungen dahin aus, dass dieser
Magendarm-Schwimmprobe ein gleicher Werth als Lebensprobe zukomme,
wie jener, die seit Langem mit den Lungen vorgenommen wird. Auch will
er gefunden haben, dass der Grad des Luftgehaltes des Magens und des
Darmes einen Schluss gestatte auf die Energie, mit welcher, und die
Zeit, wie lange ein Kind nach der Geburt Luft geathmet habe, und
stellte schliesslich die Behauptung auf, dass durch Fäulniss allein die
genannten Organe nicht lufthaltig, beziehungsweise schwimmfähig werden,
weshalb die Darmschwimmprobe auch bei faulen Kindesleichen verwerthet
werden könne.
Eine grosse Reihe von Beobachtungen, die wir in dieser Richtung
anstellten, hat uns zunächst die Richtigkeit des ersten der
+Breslau+’schen Sätze bestätigt, dass in der Regel schon mit den
ersten extrauterinen Athembewegungen Luft in den Magen gelange,
und denselben schwimmfähig mache, weshalb wir dieser Thatsache
einen hohen diagnostischen Werth zuschreiben müssen. Der Umstand,
dass in vereinzelten Fällen auch bei Kindern, die nach der Geburt
gelebt und Luft geathmet hatten, Magen und Darm luftleer gefunden
wurden, ist nicht geeignet, den Werth der +Breslau+’schen Probe
wesentlich zu vermindern, da wir ja auch in dem Verhalten der Lungen
Ausnahmen begegnen, ohne deshalb den Werth der Lungenschwimmprobe zu
unterschätzen. Unter Anderem ist es klar, dass Magen und Darm trotz
stattgehabten extrauterinen Lebens dann luftleer bleiben werden, wenn
durch irgend eine der oben erwähnten Ursachen der Zutritt der Luft
zu den Respirationsöffnungen unmöglich war. Dagegen kann, und das
ist eine besonders werthvolle Seite der Magendarm-Schwimmprobe, Luft
in den Verdauungstractus auch dann gelangen, wenn eine Aspiration
derselben in die Lungen wegen Muskelschwäche oder Verstopfung des
Kehlkopfes oder der Trachea nicht möglich war, und wir haben aus
mehrfachen Beobachtungen die Ueberzeugung gewonnen, dass gerade in
solchen Fällen mehr Luft in den Magen und in den Darm gelangt, als bei
unbehinderter Respiration. Wir haben in einzelnen Fällen, in welchen
die Lungen wegen Lebensschwäche oder Verstopfung der Bronchien fast
vollkommen atelectatisch blieben, den Magen und den ganzen Dünndarm
luftgebläht gefunden, obgleich die Frucht wenige Augenblicke nach der
Entbindung gestorben war, während bei Kindern, die, ohne dass die
Lungenrespiration behindert war, gleich nach der Geburt starben, in der
Regel nur im Magen und im Zwölffingerdarm, höchstens im Anfangsstücke
des Jejunum und nur sehr selten tiefer herab Luft gefunden wird.
Lebhafte Schluck- und Aspirationsbewegungen, sowie die vermehrte,
noch nach dem Tode einige Augenblicke andauernde Darmperistaltik sind
wohl die Ursache obiger Erscheinung, woraus sich auch erklärt, warum
man bei sofort nach der Geburt in Abortsstoffen u. dergl. ertrunkenen
Kindern die Ertränkungsflüssigkeit mitunter weit in den Dünndarm,
sogar bis in’s untere Ileum hinein verfolgen kann (vide +Fagerlund+,
l. c.). +Maschka+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLV, 242) konnte
bei einem lebend vergrabenen Neugeborenen Erde im Magen und auf weite
Strecken im Dünndarm nachweisen und auch eine von +Winter+ (l. c.)
gemachte Beobachtung gehört hierher, die ein vor der Wendung nach dem
Blasensprunge abgestorbenes ausgetragenes, Kind betraf, bei welchem
die Trachea meconiumhältigen Schleim, die Lungen fast keine, der Magen
aber und der Dünndarm bis kurz vor dem Colon viel Luft enthielten. Es
geht daraus hervor, dass der zweite von +Breslau+ aufgestellte Satz,
dass der Luftgehalt des Magens und Darmcanals gleichen Schritt halte
mit der Intensität der Luftathmung und der Dauer derselben, nicht so
richtig ist wie der erste, und dass insbesondere wenn man den Grad der
Luftfüllung des Verdauungstractus für Bestimmungen der Zeit, wie lange
das Kind gelebt haben konnte, verwerthen wollte, jedesmal auch darauf
Rücksicht genommen werden müsste, ob die Lungenrespiration frei oder
behindert gewesen ist.
Der dritte Satz +Breslau+’s, dass ein luftleer gewesener
Verdauungstractus auch bei vorgeschrittener Fäulniss luftleer bleibe,
ist entschieden unrichtig. Wir haben zwar wiederholt bei todtgeborenen
Kindern, die wir faulen liessen, Magen und Darm luftleer gefunden,
konnten jedoch in den meisten Fällen die Entwicklung von Gasblasen
nicht blos unter der Magen- und Darmschleimhaut, sondern im Lumen
selbst beobachten und natürlich auch die Schwimmfähigkeit dieser
Organe constatiren. Auch sahen wir wiederholt den Dickdarm schwimmen
und das enthaltene Meconium mit Gasblasen durchsetzt, wie dies auch
+Falk+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. XLII, 281) beobachtete.
Es scheint auch, dass die Fruchtwässer rasch der Fäulniss unterliegen,
und wenn sie geschluckt wurden bei todtgeborenen Kindern Fäulnissgase
im Magen entwickeln und diesen aufblähen können. So erklären sich die
von +Mittenzweig+ und +Strassmann+ (Berliner klin. Wochenschr. 1889,
Nr. 6) beobachteten Fälle, in welchen bei in unverletzten Eihäuten
geborenen und in diesen eine kurze Zeit liegen gelassenen Früchten Luft
im Magen gefunden wurde. Auch im Uterus kann sich durch Fäulniss Luft
entwickeln (Tympania uteri) und geschluckt werden, wie +Winter+ einen
solchen Fall mittheilt.
Dem Gesagten zufolge müssen wir in der Magendarm-Schwimmprobe ein
werthvolles Mittel sehen zur Beantwortung der Frage, ob ein Kind nach
der Geburt gelebt habe oder nicht, namentlich ein solches, welches die
Lungenprobe, wenn auch nicht zu ersetzen, wohl aber zu unterstützen
und zu ergänzen vermag. Die Vornahme dieser Probe ist daher niemals
zu unterlassen, und geschieht in der Weise, dass man den Magen am
Pylorus und an der Cardia unterbindet und ebenso wie die Darmschlingen
herausnimmt und auf’s Wasser legt. Man kann dann sehr genau beobachten,
ob und bis auf welche Strecke der Verdauungstractus Luft enthält.
Zu denselben Schlüssen sind +E. Ungar+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1887, XLVI, 62 und XLVIII, pag. 234) und +Nikitin+ („Die zweite
Lebensprobe.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1888, XLIX, pag.
44) gelangt. Nach +Ungar+’s eingehenden Untersuchungen gelangt die
Luft vorzugsweise durch Schluckbewegungen oder durch Combination
dieser mit Athembewegungen in den Magen und ist schon im letzteren
wenige Minuten nach der Geburt durch Percussion nachweisbar. +Kehrer+
vermochte dieses schon nach dem ersten Athemzuge, was +Ungar+
nicht bestätigen konnte. Auch fand er bei durch Sectio caesarea
entwickelten und nach 4-7 Athemzügen getödteten Thierföten den Magen
in der Regel noch luftleer. Anderseits ergaben sich ihm bei Föten
Magen und ein Theil des Magens als lufthältig, nachdem die früher
lufthältig gewesenen Lungen durch künstlichen Pneumothorax oder
allmälige Ausschaltung der Athembewegungen wieder atelectatisch
geworden waren (s. pag. 744). Einen analogen Fall beim menschlichen
Neugeborenen hat +Ermann+ (Virchow’s Archiv. LXVI, pag. 395) und
einen anderen +Winter+ (l. c. 7. Fall) beobachtet. Auch können, wie
+Ungar+ bemerkt und wie uns zahlreiche Beobachtungen bestätigen
können, Neugeborene, welche wegen Unreife oder Lebensschwäche ihre
Lungen nicht zu entfalten vermögen, dennoch Luft in ihren Magen
hineinbringen. Auch bei „fötaler Erstickung“ kann, wenn zu dieser
Zeit Luft vor den Respirationsöffnungen steht, diese durch vorzeitige
Schluckbewegungen ebenso in den Magen gelangen wie durch vorzeitige
Athembewegungen in die Lungen (pag. 764). Doch hat dies nur bei
Entbindungen eine Bedeutung, bei welchen operirt oder wenigstens
untersucht wurde. +Winter+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1889,
LI, pag. 101), +Maschka+ (Wiener med. Wochenschr. 1889, Nr. 30) und
+Pellacani+ (Virchow’s Jahrb. 1889, I) bringen solche Fälle. Auch
durch +Schultze+’sche Schwingungen kann Luft in den Magen gebracht
werden, wie wir, +Winter+ (l. c.) und +Haun+ („Ueber die Magen- und
Darmschwimmprobe.“ Berl. Diss. 1889) gefunden haben, während dies
nach +Pellacani+ (l. c.) mit der +Pacini+’schen Methode nicht gelang.
Durch die Peristaltik kann die Luft aus Magen und Darm nach abwärts
getrieben werden; dass sie auch durch Aufsaugung verschwinden kann,
geben sowohl +Falk+ (l. c.) als +Ungar+ zu, doch könnte dieses,
unserer Meinung nach, nur von kleineren Luftmengen zugegeben werden.
[Sidenote: Paukenhöhlenprobe.]
Schliesslich ist noch die +Wendt+-+Wreden+’sche +Paukenhöhlenprobe+
zu erwähnen. Nachdem zuerst +Wreden+ (1868) darauf aufmerksam
gemacht hatte, dass das fötale Schleimgewebe (fötale Sulze,
Schleimhautpolster), welches, wie schon +Tröltsch+ (1858) nachwies,
die Paukenhöhle des Fötus vollkommen ausfüllt, schon in den ersten
Stunden nach der Geburt sich rückbilde, wodurch die Paukenhöhle erst
ein Lumen erhalte, trat +Wendt+[488] mit der Behauptung auf, dass
die Verkleinerung des gallertigen Schleimhautpolsters und damit die
Bildung eines Lumens in der Paukenhöhle sofort mit dem Eintritt
kräftiger Athembewegungen erfolge, indem das aspirirte Medium
gleichzeitig in die Paukenhöhle dringe und das Schleimhautpolster
verdränge.
Durch die Arbeiten von +Lesser+ (l. c.) und +Hněvkovský+[489],
insbesondere durch letztere, ist die Ohrenprobenfrage endgiltig, und
zwar zu ihrem Ungunsten, erledigt worden.
Aus letzterer, welche in unserem Institute ausgeführt wurde, ergibt
sich Folgendes: Die embryonale Paukenhöhle ist thatsächlich von
einem aus sogenanntem +Virchow+’schen Schleimgewebe bestehenden
„Schleimhautpolster“ ausgefüllt. Dasselbe schwindet jedoch in der
Regel frühzeitig (im 5.-7. Monat), indem es sich allmälig zur
Paukenschleimhaut umbildet, wodurch ebenso allmälig die Paukenhöhle
ein Lumen erhält, das theils durch von der Schleimhaut stammende
Flüssigkeit, theils durch von der Tuba aus mechanisch oder bei den
Schlingbewegungen des Fötus eindringende Fruchtwässer ausgefüllt
wird. Nur ausnahmsweise erhält sich das Schleimhautpolster bis in die
letzten Monate der Schwangerschaft. Auch in diesem Falle schwindet
dasselbe und erfolgt die Bildung eines Paukenlumens nur allmälig,
keineswegs aber schon mit den ersten Respirationsbewegungen und durch
das Eindringen des Respirationsmediums, da das „Paukenhöhlenpolster“
seiner Structur wegen eine rasche Verdrängung desselben gar nicht
gestattet, sondern, wie die directe Beobachtung erkennen lässt,
eine nicht unbeträchtliche Resistenzfähigkeit zeigt. Ist das Lumen
der Paukenhöhle, wie gewöhnlich, bereits gebildet, so kann das
umgebende Medium allerdings in die Paukenhöhle eindringen; dies kann
aber ebenso gut wie durch Respirations- oder Schlingbewegungen
auch erst nach dem Tode mechanisch durch Diffusion der betreffenden
Flüssigkeiten oder durch capillare Thätigkeit geschehen, da, wie
+Hněvkovský+ durch zahlreiche Versuche nachwies, auch wenn Leichen in
Flüssigkeiten gelegt werden, letztere in die Paukenhöhle eindringen,
was nicht blos von klaren, sondern auch von corpusculäre Elemente
enthaltenden Flüssigkeiten gilt (vide pag. 579). Insbesondere
durch letzteren Nachweis wird die sogenannte Paukenhöhlenprobe
für die Diagnose des Gelebthabens, respective auch für die des
Ertrinkungstodes, nahezu bedeutungslos.
B. Wie lange hat das Kind nach der Geburt gelebt?
Die Nothwendigkeit einer speciellen Beantwortung dieser Frage erhellt
aus dem Begriffe des Kindesmordes. Da nämlich das Strafgesetz die
Tödtung eines Kindes durch die eigene Mutter nur dann als Kindesmord
betrachtet und milder bestraft, wenn dieselbe +bei+, respective +in+
(+während+) oder +gleich nach der Geburt+ erfolgte, so ergibt sich
daraus, dass die Tödtung als gewöhnlicher Mord behandelt wird, wenn sie
erst einige Zeit nach der Geburt vorgenommen worden ist.
[Sidenote: Abnormer Zustand der Entbundenen.]
Die Zeit nach der Geburt, bis zu welcher die Tödtung eines Kindes
durch die Mutter noch als Kindesmord behandelt wird, ist im Gesetze
nirgends fixirt; es ergibt sich jedoch aus dem Umstande, dass, wie
bereits oben erwähnt wurde, vorzugsweise die abnorme somatische
und psychische Aufregung, in der sich eine Gebärende befindet, den
Grund bildet, warum unser Strafgesetz dem Kindesmord eine mildere
Auffassung zu Theil werden lässt, dass vom Kindesmord nur so
lange die Rede sein sollte, als jener Zustand abnormer Aufregung
besteht, wegen dessen das Gesetz eine mildere Auffassung der Tödtung
platzgreifen lässt. Dass sich in dieser Beziehung eine bestimmte
Frist nicht fixiren lässt, liegt in der Natur der Sache, und daher
kommt es, dass die von älteren Gesetzbüchern aufgestellte Frist,
binnen welcher die Tödtung eines Kindes durch die eigene Mutter
noch als Kindesmord qualificirt werden sollte, sehr verschieden
ausgefallen ist. So betrug dieselbe nach dem bayerischen St.-G.
3 Tage, nach jenem für Sachsen, Württemberg, Braunschweig und
Baden 24 Stunden. Das gegenwärtige österreichische St.-G. sowohl,
als der St.-G.-Entw. und das deutsche St.-G. haben eine präcise
Fristbestimmung nicht für nothwendig erachtet, doch unterliegt es
keinem Zweifel, dass trotz des Ausdruckes „gleich nach der Geburt“,
der sich offenbar nur auf die Zeit unmittelbar nach der Entbindung
bezieht, dennoch die Tödtung eines Kindes durch die eigene Mutter
auch dann als Kindesmord behandelt werden würde, wenn dieselbe erst
nachträglich, aber noch unter dem Einflusse des durch den Gebäract
gesetzten somatischen und psychischen abnormen Zustandes, begangen
worden wäre. Erfahrungsgemäss kommt aber eine nachträgliche Tödtung
des Kindes nur ganz ausnahmsweise vor und wäre ein solcher Fall ganz
concret zu beurtheilen.
Eine Entscheidung des obersten Gerichtshofes vom 7. Juni
1854 erklärte aus Anlass eines derartigen Vorkommnisses für
wünschenswerth, dass in jedem solchen zweifelhaften Falle
sachverständige Aerzte befragt werden sollen, ob bei den vorwaltenden
Verhältnissen nach medicinisch-psychologischen Grundsätzen anzunehmen
sei, dass die Beschuldigte zur Zeit der That sich noch in jenem
abnormen Zustande befunden habe, den das Gesetz bei Begehung eines
Kindesmordes voraussetzt (+Herbst+, Commentar, pag. 300). Ein Fall,
in welchem eine, erst eine Stunde nach der Entbindung begangene
Tödtung des Kindes vom Oberlandesgericht doch noch als Kindesmord
qualificirt wurde, wird in Nr. 15 der „Gerichtshalle“ vom Jahre 1873
mitgetheilt.
Im Allgemeinen werden wir zugeben müssen, dass die durch den
Geburtsact gesetzte psychische Aufregung in der Regel noch mehrere
Stunden nach der Geburt das Handeln der Entbundenen beeinflussen
kann. Für die spätere Zeit könnte dies nur ausnahmsweise zugegeben
werden und es wäre eine solche Ausnahme durch die concreten
Verhältnisse des Falles zu motiviren. Bei der Beurtheilung
solcher Fälle ist im Auge zu behalten, dass die Gemüthsaufregung,
wegen welcher das Gesetz den Kindesmord milder behandelt als den
gewöhnlichen Mord, von dem Gesetzgeber als ein bei Gebärenden,
namentlich bei heimlich Gebärenden, gewissermassen de norma
bestehender Zustand aufgefasst wird, dessen Dauer eine variable ist,
dass aber darunter nicht Einflüsse gemeint sind, die pathologisch die
freie Selbstbestimmungsfähigkeit einer eben Entbundenen oder einer
Wöchnerin beeinträchtigen oder aufheben können, weshalb letztere,
wenn sie vorhanden wären, speciell beurtheilt und als psychopathische
Zustände im engeren Sinne behandelt werden müssten.
Ein Kind, das soeben zur Welt gekommen ist, nennt man +ein
neugeborenes+ und den Zustand desselben, den des +Neugeborenseins+. Bei
Untersuchung von Kindesleichen wegen Verdacht auf Kindesmord handelt es
sich eben darum, ob dieselben die Kennzeichen des genannten Zustandes
bieten oder nicht. Zu diesem Behufe ist sowohl das äussere als das
innere Verhalten der Leiche in Betracht zu ziehen.
[Sidenote: Kennzeichen der Neugeborenen.]
Von den +äusseren Kennzeichen des Neugeborenseins+ hat die
Verunreinigung der Leichen mit Blut den geringsten Werth. Allerdings
ist es sehr gewöhnlich, die Haut neugeborener Kinder mit Blut mehr
oder weniger befleckt zu finden, welches theils von der Mutter, theils
aus den durchtrennten Nabelgefässen, eventuell auch von der Placenta
stammt. Häufig fehlt aber eine solche Besudlung, namentlich dann, wenn
die Leiche in Flüssigkeiten gelegen war. Anderseits kann auch bei
älteren Kindern die Haut sich besudelt zeigen, so z. B. in Folge einer
Nabelblutung oder in Folge von Verletzungen.
[Sidenote: Vernix.]
Wichtiger ist der Befund von „käsiger Schmiere“ (+Vernix caseosa+).
Es ist dies das fettige, mit Epidermisbestandtheilen vermengte Secret
der Talgdrüsen, welches vorzugsweise in den Gelenkbeugen, namentlich
in der Achsel- und Leistengegend, mehr angehäuft zu sein pflegt, aber
auch an anderen Körperstellen, besonders am Kopfe und in den Falten
des Halses, sich finden kann. Die Menge der Vernix caseosa ist bei
verschiedenen Kindern verschieden. Mitunter sind dieselben damit ganz
überzogen, nicht selten findet sich aber keine Spur davon, so dass
die Kinder wie gewaschen erscheinen. Sie besteht unter dem Mikroskop
aus einer grossen Menge von Fett, aus Fettkrystallen, worunter
namentlich Cholesterinkrystalle, zahlreichen Epidermiszellen und aus
Wollhaaren. Flocken derselben sind massenhaft dem Fruchtwasser und dem
Fruchtschleim beigemengt und lassen letztere daran erkennen, wenn sie
in den Lungen oder in den Paukenhöhlen sich finden. Das Vorhandensein
der käsigen Schmiere auf der Haut beweist mit ziemlicher Sicherheit den
neugeborenen Zustand des betreffenden Kindes, doch ist es begreiflich,
dass die Vernix tagelang sich finden kann, wenn das Kind nicht
gereinigt worden ist. Uebrigens ist die käsige Schmiere als fettige
Masse nicht immer so leicht wegzubringen, was auch den Grund abgibt,
warum wir sie mitunter noch bei Kindern sehen können, die einige Zeit
im Wasser u. dergl. gelegen waren. Längeres Liegen in Flüssigkeiten,
sowie die Fäulniss kann dieses Zeichen, das, wie gesagt, auch bei
entschieden neugeborenen Kindern fehlen kann, zerstören.
Die +Färbung+ der Haut der Leichen Neugeborener geht in der
Regel etwas in’s Röthliche, respective Violette, und zwar bei
frühzeitigen Kindern mehr als bei ausgetragenen, doch ist diese
Färbung nicht constant und wird auch durch die Todesart, sowohl bei
neugeborenen als bei älteren Kindern beeinflusst. Einige (2-10) Tage
nach der Geburt beginnt sich die Oberhaut abzuschilfern, entweder
kleienartig oder auch in grösseren Partien. Diese Erscheinung
haben wir wiederholt schon bei kaum einen Tag alten Kindern und
sogar einmal bei einem todtgeborenen Kinde beobachtet und sehen
darin nur eine Austrocknung und consecutive Abschuppung der früher
durchfeuchtet gewesenen obersten Schichte der Epidermis, aus deren
Befund allein keineswegs auf ein mehrtägiges Leben des Kindes
geschlossen werden kann.
[Sidenote: Nabelschnur.]
Von den äusseren Befunden sind für die vorliegende Frage am wichtigsten
diejenigen, die sich am Nabel und an der +Nabelschnur+ ergeben. Findet
sich mit dem Kinde noch die ganze Nabelschnur sammt der Placenta in
Verbindung, dann ist der neugeborene Zustand des Kindes schon durch
diesen Befund ausser Zweifel gesetzt. Gleiches ist der Fall, wenn der
am Nabel haftende Nabelschnurrest noch vollkommen frisch sich erweist.
Ist dieser Rest durch Fäulniss verändert oder im Vertrocknen begriffen
oder schon vollkommen mumificirt, so lässt sich aus der Beschaffenheit
der Nabelschnur allein nicht entscheiden, ob das Kind ein neugeborenes
ist oder nicht, da beide Veränderungen eben so gut während des Lebens
als bei einem wirklich neugeborenen erst nach dem Tode erfolgt
sein konnten. Bleibt das Kind am Leben, so beginnt allerdings die
Nabelschnur in der Regel schon am anderen Tage welk zu werden und
einzutrocknen und mumificirt schliesslich zu einem starren, höckerigen,
rothbraunen Strang; doch ist es gar nichts Seltenes, dass auch während
des Lebens die Nabelschnur fault, besonders wenn sie dick und saftig
war. Die Häufigkeit des ersteren Vorganges hat ihren Grund darin, dass
der Nabelschnurrest trocken gehalten und eingehüllt wird durch Stoffe,
welche die in ihm enthaltene Feuchtigkeit aufsaugen. An der Leiche
eines Neugeborenen fault die Schnur in der Regel, weil meistens die
Bedingungen dazu günstig sind; liegt jedoch der Körper in freier Luft
oder an trockenen Orten, so mumificirt sie eben so schnell und unter
Umständen noch schneller als im Leben, wobei ebenso wie im letzteren
Falle die Vertrocknung vom freien Ende des Nabelschnurrestes beginnt
und gegen den Nabel fortschreitet.
[Sidenote: Verhalten der Nabelschnur.]
Bleibt das Kind am Leben, so erfolgt das Abfallen der, wie erwähnt
veränderten, Nabelschnur durchschnittlich um den fünften Tag.
Die Abstossung geschieht de norma ohne Entzündungserscheinungen,
indem vom zweiten Tage angefangen centripetal die den Nabelstrang
zusammensetzenden Schichten mortificiren und vom lebenden Gewebe
des Nabels sich ablösen, so dass zuletzt die Nabelschnur nur an
den Gefässen hängt, die schliesslich ebenfalls sich abstossen.
Gleichzeitig scheint dabei eine Verengerung des Nabelringes und
das Verkürzungsbestreben der im Bauche gelegenen Nabelgefässe,
namentlich der Nabelarterien, eine Rolle zu spielen, respective die
Abstossung des Nabelschnurrestes zu befördern. In welcher Weise
dieses Verhalten des Nabelschnurrestes für die Bestimmung der Zeit
verwerthet werden kann, wie lange ein Kind nach der Geburt gelebt habe,
braucht nicht besonders erörtert zu werden, doch verdient zweierlei
Erwähnung. Erstens, dass innerhalb der ersten 2 Tage aus dem Nabel
und Nabelstrang, wenn letzterer nicht mehr frisch ist, nicht erkannt
werden kann, ob das Kind gleich nach der Geburt oder später innerhalb
der genannten Frist gestorben ist, da während dieser Zeit an den
genannten Organen keine charakteristischen Veränderungen geschehen:
und zweitens, dass ein Fehlen des Nabelstranges auch bei zweifellos
Neugeborenen vorkommen kann, dann nämlich, wenn er entweder bei einer
Sturzgeburt oder nachträglich von der Mutter ausgerissen worden ist. Im
frischen Zustande ist dann die blutende Nabelwunde leicht als solche
zu erkennen, namentlich wenn, wie gewöhnlich, Fetzen der Amnionscheide
der Nabelschnur ihr noch anhaften, oder die Stümpfe der Nabelgefässe
aus ihr hervorragen. Bei vorgerückter Fäulniss muss weniger die äussere
Beschaffenheit des Nabels als das innere Verhalten desselben und der
Nabelgefässe Aufschluss geben.
[Sidenote: Innere Zeichen d. neugeb. Zustandes. Lungen u.
Verdauungstractus.]
Von den +inneren Befunden+, die für die Bestimmung der Zeit, wie
lange ein Kind nach der Geburt gelebt habe, verwerthet werden können,
sind zunächst die in den +Lungen+ zu erwähnen. Es ist in dieser
Beziehung selbstverständlich, dass, wenn bei einem Kinde die Lungen
luftleer gefunden werden und für die Annahme eines nachträglichen
Verdrängtwordenseins der Luft kein Grund vorliegt, ein Zweifel über
den neugeborenen Zustand des betreffenden Kindes nicht bestehen kann.
Finden wir die Lungen lufthaltig, so werden wir zunächst vor der Frage
stehen, ob schon ein einziger oder einige wenige Athemzüge genügen,
um die Lungen eines eben geborenen Kindes vollständig zu füllen, oder
ob dazu mehrere Inspirationen nothwendig sind. Diese Frage wurde uns
in strafgerichtlichen Fällen wiederholt vorgelegt. Wir stehen nicht
an, sie dahin zu beantworten, dass, wenn die Luftwege vollkommen
frei sind, schon der erste kräftige Athemzug, jedenfalls aber einige
wenige Athemzüge genügen, um alle Theile der Lungen lufthaltig zu
machen. Dafür spricht nicht nur die grosse Zahl der Fälle, die von uns
und von Anderen beobachtet wurden, in welchen, trotzdem die Kinder
sofort nach der Geburt umgebracht worden waren, doch vollkommen
lufthaltige Lungen sich fanden, sondern auch einige Thierversuche,
welche ergaben, dass, wenn man der Reife nahe Früchte aus dem Uterus
der lebenden Mutter rasch ausschneidet und dieselben sofort nach den
ersten Inspirationsbewegungen erdrosselt, in allen Theilen lufthaltige
Lungen sich finden, wenn nicht etwa, was bei solchen Vivisectionen
leicht geschieht, vorzeitige Athembewegungen stattgefunden haben.
Damit stimmen auch die Beobachtungen +Ungar+’s („Ueber den
Nachweis der Zeitdauer des Lebens Neugeborener“, Vortrag in der
Naturforscherversammlung in Wien 1894), welcher zugleich die Angaben
von +Dohrn+, +Eckerlein+ (1869), dass der Luftwechsel der Neugeborenen
bei ruhiger Athmung am ersten Tage noch ein schwacher sei und erst
im Laufe der nächsten Tage ansteige, bestätigt, diese Thatsache aber
nicht wie die Genannten von unvollständiger Füllung der Lungen mit
Luft, sondern nur von geringer Blähung der bereits entfalteten Alveolen
ableitet. (Siehe auch die Bonner Diss. +Büchner+’s, 1892). Finden sich
Atelektasen in den Lungen, so wird im Allgemeinen desto weniger ein
längeres Gelebthaben angenommen werden können, je ausgedehnter die
atelektatischen Partien gewesen sind. Ein solcher Schluss mag besonders
dann gerechtfertigt sein, wenn die atelektatischen Partien über die
lufthaltigen prävaliren. Doch ist zu berücksichtigen, dass Neugeborene
ihres geringen Sauerstoffbedürfnisses wegen mit beträchtlichen
Atelektasen lange fortleben können, und dass es nichts Seltenes
ist, auch bei mehrere Tage und selbst Wochen alten Kindern solche
Atelektasen zu finden, die allerdings erst nachträglich entstanden sein
konnten.
Wichtige Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage nach der
extrauterinen Lebensdauer kann der +Verdauungstractus+ ergeben.
So zunächst sein Luftgehalt. Wenn wir den ganzen Darmcanal eines
Kindes mit Luft gefüllt finden und Lufteinblasen und Fäulniss
ausgeschlossen ist, so können wir schon aus diesem Befunde schliessen,
dass das Kind nicht gleich nach der Geburt gestorben sei, doch
kann unserer Erfahrung zufolge schon im Verlaufe des ersten Tages
der ganze Darmcanal Luft in sich aufnehmen. Dass der Luftgehalt des
Verdauungstractus nicht immer gleichen Schritt hält mit der Intensität
und der Dauer der ersten Athembewegungen, wurde bereits oben bemerkt.
Anderseits ist es nichts Seltenes, auch bei Kindern, die mehrere Tage
gelebt haben, einzelne Darmschlingen und, insbesondere wenn derselbe
keine fäculenten Stoffe enthält und zusammgezogen ist, den ganzen
Dickdarm luftleer zu finden. Meconium im Dickdarm spricht für den
neugeborenen Zustand, da dasselbe in der Regel schon im Laufe des
ersten Tages, aber nicht immer schon in den ersten Stunden entleert
wird. Würde man entweder aus dem Magen- oder aus dem Darminhalt
nachweisen können, dass dem Kinde bereits Nahrung gereicht wurde, dann
würde selbstverständlich die Annahme, dass das Kind gleich nach der
Geburt gestorben ist, entfallen, man wäre aber nicht berechtigt, aus
diesem Befunde allein zu schliessen, dass das Kind mehrere Tage gelebt
haben müsse, da dasselbe schon in den ersten Stunden nach der Geburt
Nahrung bekommen haben konnte.[490]
[Sidenote: Fötale Wege.]
Die sogenannten +fötalen Wege+, nämlich die Nabelarterien und die
Nabelvenen, der Ductus Arantii, das Foramen ovale und der Ductus
Botalli, gehen in den ersten Tagen nach der Geburt keine wesentlichen
Veränderungen ein und schliessen sich erst nach Wochen vollständig. Ihr
Verschluss würde daher allerdings beweisen, dass das Kind nicht blos
nicht neugeboren, sondern schon mehrere Wochen alt ist. Am frühesten
obliteriren die Nabelarterien, indem man diese schon zur Zeit des
Nabelabfalles stark verengert und in ihren Wandungen relativ verdickt
findet, wobei sich gleichzeitig ihre peripheren Enden vom Nabelringe
zurückziehen, indem später nur noch die Adventitia zurückbleibt.
Die Obliteration der Nabelarterien erfolgt nur bis zum Abgange der
Collateraläste, welche der centrale Theil der Nabelarterien zur Blase
abschickt, und sie geschieht in der Regel nicht durch Thrombusbildung,
sondern durch allmälige Verengerung und Verwachsung. Pathologische
Thrombose und Arteriitis umbilicalis ist häufig und betrifft immer den
peripheren Theil der Nabelarterien, welche an der betreffenden Stelle
meist schiefergrau verfärbt und spindelförmig aufgetrieben sind. Die
Wandungen sind dann selbst verdickt und der von ihnen eingeschlossene
Thrombus häufig eiterig zerfallen. Unter normalen Verhältnissen scheint
die vollständige Obliteration des peripheren Theiles der Nabelarterien
4-6 Wochen zu beanspruchen.
[Sidenote: Geburtsgeschwulst.]
Zu den inneren Kennzeichen des neugeborenen Zustandes gehört auch
die Geburts-, insbesondere die +Kopfgeschwulst+ (Caput succedaneum),
welche, wenn sie nicht mit bedeutenden Extravasaten verbunden war,
schon innerhalb des ersten Tages sich zurückzubilden oder wenigstens
bedeutend abzuschwellen pflegt. Braune Färbung der extra- oder
intracraniellen Extravate oder gar der Befund von Hämatoidinkrystallen
in diesen oder der Befund des typischen Kephalhämatoms lassen auf
längeres Leben nach der Geburt schliessen.
[Sidenote: Skelet. Knochenkerne nach der Geburt.]
Das Skelet des Kindes erfährt in den ersten Tagen nach der Geburt
keine wesentlichen Veränderungen, es wird daher das Skelet eines
schon mehrere Tage alten Kindes von jenem eines neugeborenen kaum
zu unterscheiden sein. Skelete von Kindern, die mehrere Wochen nach
der Geburt gelebt hatten, werden sich in der Regel durch die jene
reifer Neugeborener übertreffende Länge, sowie insbesondere durch die
Grösse des Knochenkerns in den unteren Epiphysen der Oberschenkel
erkennen lassen, dessen Durchmesser bei Neugeborenen 9 Mm. nur ganz
ausnahmsweise übersteigt.
[Sidenote: Knochenkerne nach der Geburt.]
Vor Kurzem untersuchten wir eine bis auf die Knochen von Ratten
zerfressene, in einem Abortcanal gefundene Kindesleiche. Die Umstände
sowohl, als der Befund an der Leiche (4 Mm. breiter Knochenkern in
der unteren Femurepiphyse) sprachen für den neugeborenen Zustand.
Nachträglich ergab sich aber, dass das Kind bereits 11 Tage alt, von
der Mutter durch Andrücken an die Brust getödtet und dann erst in den
Abort geworfen worden war! Nach +Filomusi+-+Guelfi+ (Virchow’s Jahrb.
1889, I) lässt ein Kern von 8 Mm. Durchmesser mit Wahrscheinlichkeit,
ein solcher über 9 Mm. mit Gewissheit darauf schliessen, dass
das Kind nach der Geburt längere Zeit gelebt habe. +Fagerlund+
(Wiener med. Presse, 1890, Nr. 5) hat in unserem Institute an 40
Kindesleichen das Verhalten der Knochenkerne der Gliedmassen im
ersten Lebensjahre studirt und gefunden, dass der Kern in der unteren
Femurepiphyse so grossen Schwankungen in seiner Grösse unterliegt,
dass aus ihm keine sicheren Schlüsse auf das Alter des Kindes gezogen
werden können. Ebenso ist der Kern im Caput humeri wenig verwerthbar,
denn wenn er auch regelmässig bei 11-12 Wochen alten Kindern gefunden
wird, so kommt er doch häufig schon früher, mitunter schon am
Ende des letzten Schwangerschaftsmonates vor. Dagegen scheint das
Auftreten eines Kernes in der Eminentia capitata ossis humeri, im Os
capitatum, Os hamatum, in der unteren Epiphyse der Tibia und im Caput
femoris zu gewissen Schlüssen zu berechtigen, da der im Caput femoris
nicht vor einem halben Jahr, die übrigen nicht vor 3 Monaten sich
finden.
C. Todesursache des Kindes.
Es ist Aufgabe des Gerichtsarztes, nicht blos denjenigen Vorgängen,
welche erst nach der Geburt des Kindes dessen Tod bewirken können,
sein Augenmerk zu schenken, sondern auch jenen, welche schon vor
und namentlich während der Geburt den Tod herbeizuführen vermögen,
umsomehr, als erst das Verständniss dieser, sowie die Kenntniss der
Symptome, die sie an der Leiche zurücklassen, den Gerichtsarzt in den
Stand setzt, die Todtgeburt zu diagnosticiren, da, wie aus dem oben
Gesagten hervorgeht, es durchaus nicht angeht, blos aus der luftleeren
Beschaffenheit der Lungen mit jener Bestimmtheit auf Todesgeburt zu
schliessen, mit welcher leider so häufig darauf geschlossen wird.
Tod des Kindes vor der Geburt.
Inwieferne Erkrankungen der Mutter oder der Frucht, sowie pathologische
Processe in der Placenta und in der Nabelschnur das Absterben der
Frucht bewirken können, haben wir bereits bei Besprechung der Ursachen
des spontanen Abortus erörtert (pag. 224) und darauf aufmerksam
gemacht, dass gerade in der Zeit, in welcher die Lebensfähigkeit
bereits beginnt, das Absterben der Frucht häufig vorkomme. Dasselbe
kann aber auch, obgleich seltener, in den späteren Perioden der
Schwangerschaft und selbst kurz vor dem normalen Ende derselben
erfolgen.
Die Möglichkeit, dass eine Frucht noch vor der Geburt auf gewaltsame
Weise getödtet oder wenigstens verletzt werden könne, ohne dass dabei
auch die Mutter das Leben verliert, muss sowohl vom theoretischen,
als vom Standpunkt der Erfahrung zugegeben werden, obgleich derartige
Fälle zu den durch die Umstände des Falles gewöhnlich klargelegten
Curiositäten gehören, die eben deshalb nur eine untergeordnete
gerichtsärztliche Bedeutung besitzen. Von der Vagina aus könnte
selbstverständlich eine intrauterine Tödtung oder Verletzung am
leichtesten vorkommen, und zwar in diesem Falle kaum durch Zufall,
sondern in gleicher Intention, wie wir sie bei der mechanischen
Fruchtabtreibung kennen gelernt haben. Durch die Bauchdecken bis in
den schwangeren Uterus eindringende Verletzungen bewirken natürlich
entweder den Tod der Mutter oder bringen diese in grosse Lebensgefahr,
doch finden sich bei +Gurlt+[491] zwei Fälle, in deren einem die
Schwangere und das Kind durch eine Sense, in dem anderen durch eine
Heugabel verletzt wurden, in Folge dessen die Kinder getödtet wurden,
die Mütter aber am Leben blieben. Eine solche Verletzung durch Schuss
bringt +Kehr+ (Med. Centralbl. 1894, pag. 336).
[Sidenote: Intrauterine Verletzungen der Frucht.]
Die Entstehung intrauteriner Beschädigungen der Frucht durch stumpfe
Gewalten, die den Unterleib trafen und ohne Verletzung des letzteren,
wird begreiflich, wenn wir uns erinnern, dass schwere Verletzungen
innerer Organe und selbst Knochenzertrümmerungen ohne Spur von äusseren
Continuitätstrennungen sich entwickeln können (pag. 283). Heftige
Stösse gegen den Unterleib, namentlich aber Sturz von Höhen, sind
geeignet, solche Verletzungen zu erzeugen. Dieselben können zunächst
die Weichtheile betreffen. So fanden wir bei einer im fünften Monat
Schwangeren, die sich vom vierten Stock herabgestürzt hatte, den Uterus
unverletzt, dagegen die Placenta theilweise abgelöst und die Eihäute
eingerissen, und an der äusserlich unverletzten Frucht eine hochgradige
Zertrümmerung des rechten Leberlappens mit starkem Blutaustritt in die
Bauchhöhle, und in einem andern analogen Falle an der sechsmonatlichen
Frucht einen suffundirten Hautriss hinter dem linken Ohr, je eine
bohnengrosse Ecchymose unter der Haut der rechten hinteren Brustseite
und an der Vorderfläche des linken Oberschenkels und einen suffundirten
Querriss des Peritoneums über dem rechten Leberlappen. +Paul+ (Prager
med. Wochenschr. 1894, Nr. 45) sah einen vollständigen Querriss
der Bauchwand bei einem reifen Kinde, dessen Mutter 2 Tage vor der
Entbindung von einer Treppe herabgefallen war und +Charcot+[492]
eine Ruptur der Milz des Fötus in Folge eines Sturzes der Mutter.
+Dietrich+ (Württ. Corresp.-Bl. 1883, pag. 5) beschreibt einen Fall, in
welchem sich bei dem Kinde einer Frau, welche in der 36. Woche ihrer
Schwangerschaft von einer steilen Treppe herabgefallen war und 16 Tage
darauf geboren hatte, auf beiden Stirnbeinhöckern eine Wunde von der
Grösse eines Groschens fand, deren Rand in Vernarbung begriffen und
deren Grund mit schönen Granulationen bedeckt war. Im Jahre 1872 hat
+Tarnier+ (Union médicale. 1872, Nr. 33) in der Pariser Société de
chirurgie ein einen Tag altes Kind vorgestellt, welches mit einer Narbe
am Scheitel zur Welt gekommen war. Die Provenienz dieser Narbe blieb
unaufgeklärt, doch wurde unter Anderem auch die Vermuthung aufgestellt,
dass die Narbe von einem mechanischen Fruchtabtreibungsversuche
herrühren könne. Unserer Meinung nach handelte es sich in diesem und
wahrscheinlich auch in dem früher angeführten Falle nur um angeborene
Defecte der Kopfhaut, die wir bereits viermal beobachtet haben
(darunter einen von +Hebra+ in den Mittheilungen des Wiener embryol.
Institutes. 1882, II, beschriebenen an beiden Kopfseiten) und von denen
wir zwei in Fig. 118 und 119 abbilden, von welchen der erstere von
einem mechanischen Fruchtabtreibungsversuche abgeleitet wurde. Diese
Defecte sind wahrscheinlich durch fötale Anlöthungen der betreffenden
Kopfpartien an die Eihäute entstanden.[493] Auch multiple solche
Defecte haben wir beobachtet.
[Sidenote: Angeborene Hautdefecte am Kopfe.]
Die intrauterinen Verletzungen des Skeletes betreffen vorzugsweise
die langen Knochen, und die Zahl der Fälle, in welchen Neugeborene
in Verheilung begriffene oder durch Callus geheilte Knochenbrüche
der Extremitäten zur Welt brachten, ist eine beträchtliche, obgleich
zweifellos so manche von Ossificationsdefecten oder sogenannter
Rachitis congenita herrührende Beweglichkeit der Knochen, im Uterus
entstandene Verkrümmung der Knochen, syphilitische Lockerung der
Epiphysen etc. als Fractur genommen worden ist.[494] Beschädigungen
der Schädelknochen aus solchen Anlässen gehören zu den grössten
Seltenheiten. Dass sie vorkommen können, beweist insbesondere der
Fall von +Maschka+ (Prager Vierteljahrschr. 1856, IV, pag. 105), der
ein im 8. Monat schwangeres Mädchen betraf, das vom zweiten Stock
herabgesprungen war und 6 Stunden darauf starb. Bei der Section
fanden sich an dem noch im Uterus befindlichen Fötus mehrfache Brüche
beider Scheitelbeine mit Extravat. Ein ähnlicher Fall findet sich bei
+Neugebauer+ (Virchow’s Jahresb. 1890, I, 501) und bei Gurlt (l. c.
343).
[Illustration: Fig. 118.
Angeborener rundlicher Defect der Kopfhaut bei einer abortirten Frucht.
(Nat. Gr.)]
[Illustration: Fig. 119.
Angeborener Hautdefect am Wirbel eines ausgetragenen Kindes.]
[Sidenote: Macerirte Früchte. Eigenschaften derselben.]
Während der Schwangerschaft abgestorbene Früchte, namentlich
diejenigen, welche aus natürlichen Ursachen starben, gehen nur
ausnahmsweise bald nach erfolgtem Tode ab, sondern erst nach einiger
Zeit, in welchem Falle sie dann im +macerirten+ Zustande geboren
werden.
Solche Früchte sind, wenn sie nicht nachträglich durch Fäulniss
verändert worden sind, leicht zu erkennen. Sie erscheinen, wenn die
abgestorbene Frucht mehrere Tage oder gar Wochen im Mutterleibe
zugebracht hatte, auffallend matsch, in sich selbst zusammengesunken,
in allen Gelenken auffallend biegsam. Die Oberhaut ist entweder in
grossen Strecken fetzig abgelöst oder sehr leicht abgängig. Das
darunter liegende Corium schmutzig braunroth imbibirt, welche Farbe
in verschiedenen Nuancen, aber meist ziemlich gleichmässig, über
den ganzen Körper oder grosse Strecken desselben verbreitet ist
und namentlich bei unreifen Kindern besonders auffällt. Dabei ist
das Corium feucht und schlüpfrig. Der Kopf wie plattgedrückt. Die
Schädeldecken sackartig schlaff, durch dieselbe die aus ihren Nähten
gelösten, verschiebbaren Schädelknochen zu fühlen. Die Bulbi[495]
und Bindehäute blutig imbibirt. Der Hals sackartig, schlaff, der
Unterleib seitlich überhängend, schlaff, schwappend, die Nabelschnur
blutig, häufig auch gallig imbibirt. Bei der inneren Untersuchung
finden wir alle Weichtheile und selbst die Knorpel blutig imbibirt
und von gleichmässig schmutzig rothbrauner Farbe, in verschiedenen
Nuancen; blutig-seröse Transsudate in allen serösen Säcken,
besonders im Pleura- und im Peritonealsack, die Lungen luftleer,
schlaff und mitunter als Zeichen vorzeitiger Athembewegungen und des
suffocatorischen Todes, verwaschene Ecchymosen an der Pleura oder am
Pericardium und Fruchtwässer in den Luftwegen, die allerdings auch
erst post mortem hineingelangen können.
Je früher nach erfolgtem Absterben die Geburt eintrat, desto
weniger sind die genannten Erscheinungen ausgebildet, und Kinder,
die kurz vor dem Beginn des Geburtsactes abstarben, sind, wenn die
Leiche nicht sofort zur Beobachtung kommt, was begreiflicher Weise
in forensischen Fällen fast niemals geschieht, von während des
Geburtsactes abgestorbenen meist nicht zu unterscheiden. Selbst
der Befund einer Kopfgeschwulst würde nicht das erst während der
Geburt erfolgte Absterben mit absoluter Gewissheit beweisen, da eine
sulzige Infiltration der Kopfhaut auch bei abgestorbenen Kindern
sich bildet, und zwar theils als Senkung, theils als postmortale
Transsudationserscheinung, die überdies rasch zu Stande kommt.
In der Regel gehen die während der Schwangerschaft abgestorbenen
Früchte sammt der Placenta ab. Dies erleichtert insoferne die
Diagnose, als häufig die Ursache des Absterbens, die meist in
Erkrankungen der Placenta oder in Torsionen der Nabelschnur gelegen
ist, durch unmittelbare Untersuchung nachgewiesen werden kann.
Dass mitunter die durch Maceration erzeugten Veränderungen für
pathologische Processe gehalten wurden, beweist der alte Name
„Hydrops foetus sanguinolentus“, mit welchem ältere Autoren die
blutig-serösen Transsudate bezeichneten, die sich ganz gewöhnlich
innerhalb der serösen Säcke macerirter Früchte finden. Ausserdem
ist es vorgekommen, dass die Dislocation und Beweglichkeit der
Schädelknochen einer macerirten Frucht für den Effect eines Trauma
gehalten wurde (vide Annal. d’hyg. publ. 1876, Nr. 96, pag. 492).
Anderseits ist es nicht überflüssig zu bemerken, dass mit angeborenem
Pemphigus behaftete lebende (!) Früchte für macerirte gehalten worden
sind. Solche Fälle werden in den Annalen der Staatsarzneikunde, 1838,
pag. 555, und andere von +Hammer+ („Beobachtungen über faultodte
Früchte mit besonderer Berücksichtigung von 6 Fällen +scheinbar
faultodter+ Früchte.“ Leipziger Diss. 1870) mitgetheilt. Wirkliche
Fäulniss tritt innerhalb der geschlossenen Eihäute nicht ein, und es
ist ganz unrichtig, wenn man, wie es häufig geschieht, die Begriffe
macerirt und faultodt identificirt. Wird die macerirende Frucht
monatelang im Uterus oder in der Bauchhöhle zurückgehalten, so
findet, indem das Blut durch Imbibitions- und Transsudationsvorgänge
immer mehr sich aus dem Körper verliert, eine förmliche Ausbleichung
der Frucht statt, die dem Körper ein wie verfettetes Aussehen
verleiht und wahrscheinlich vielfach als sogenannte „lipoide
Umwandlung“ genommen wurde, während die nähere Untersuchung zeigt,
dass die Organe, z. B. insbesondere die Musculatur, jahrelang sich
erhalten können. So fand +Zillner+ bei einer 2½ Jahre nach der
Extrauteringravidität durch Laparotomie entfernten, 44 Cm. langen
Frucht die Organe nicht blos makroskopisch, sondern auch in ihrer
mikroskopischen Structur noch erhalten (Arch. f. Gyn. XIX, 2.
Heft), insbesondere noch die Querstreifung der Musculatur, welche
+H. Chiari+ sogar bei einem 50 Jahre getragenen Lithopädion noch
nachzuweisen vermochte (Wr. med. Wochenschr. 1876, Nr. 42).
Tod des Kindes während (in) der Geburt.
In dem Geburtsacte liegt eine Lebensgefahr für das Kind und es scheint,
dass während der Geburt das Leben reifer oder der Reife naher Früchte
mehr bedroht ist, als vor derselben. Nach einer genauen Statistik
starben in Genf von 280 Todtgeborenen 136 (48%) vor und 144 (52%)
während der Geburt, während nach einer minder genauen Zusammenstellung
in Belgien die Zahl der vor der Geburt gestorbenen 64, jene der während
der Geburt gestorbenen nur 36% betrug.[496] Es ist kein Zweifel, dass
ebenso wie sich die Zahl der Todtgeburten überhaupt bei unehelichen
Kindern fast 2 mal höher stellt, als bei ehelichen[497], auch die
Zahl der während der Geburt gestorbenen unehelichen Kinder ungleich
grösser sein wird als bei ehelichen Entbindungen, insbesondere aber
bei heimlich Gebärenden, da bei diesen jede sachverständige Beihilfe
entfällt, die durch ihre rechtzeitige Intervention nicht selten die
Ursache der Lebensgefahr, in welcher das Kind schwebt, zu beseitigen,
eventuell durch rasche Beendigung der Geburt das Kind zu retten vermag.
Während des Geburtsactes sind es zwei Momente, welche das Leben des
Kindes bedrohen: 1. die vorzeitige Unterbrechung der Placentarathmung
und 2. der Druck, den der Kopf des Kindes erleidet.
_1. Die vorzeitige Unterbrechung der Placentarathmung._
Normal fällt die Aufhebung der Placentarrespiration zusammen mit der
Ausstossung der Frucht, indem, sobald letztere erfolgt, der Uterus auf
das vorläufig mögliche Minimum sich zusammenzieht und dadurch die,
bereits durch die vorausgegangenen Wehen in ihrem Zusammenhang mit dem
Uterus gelockerte Placenta sich löst. Erfolgt diese Aufhebung früher
und wird das Kind nicht noch rechtzeitig geboren, so geht dasselbe
suffocatorisch zu Grunde.
[Sidenote: Compression der Nabelschnur.]
Die Vorgänge, welche während des Geburtsactes eine vorzeitige
Unterbrechung der Placentarathmung zu bewirken vermögen, sind
fast durchwegs solche, die auch bei leichten, demnach auch bei
verheimlichten Geburten vorkommen können. Es gehört hierher zunächst
die +Compression der Nabelschnur+, und zwar in erster Linie diejenige,
welche durch +Vorfall+ der letzteren bedingt wird. Bei 743 von
+Scanzoni+ zusammengestellten Nabelschnurvorfällen wurden 408mal die
Kinder todt geboren, also fast 55 von 100. Bei den von +Kleinwächter+
(Prager Vierteljahrschr. 1870, III, 84) beobachteten Fällen gestaltete
sich das Verhältniss der Todtgeborenen zu den Lebendgeborenen
sogar wie 56·62% zu 43·48%. Dass bei heimlich Gebärenden sich das
Sterblichkeitsverhältniss ungleich höher stellen wird, liegt auf der
Hand.
Weniger gefährlich sind +Umschlingungen der Nabelschnur+, obgleich
nicht zu leugnen ist, dass dieselben ebenfalls eine bis zur
vollständigen Unwegsamkeit der Nabelgefässe sich steigernde Compression
der Nabelschnur bewirken können, insbesondere dann, wenn wegen
Kürze der Nabelschnur oder mehrfacher Umschlingung, der Nabelstrang
während des Vorrückens des Kindskörpers stark gespannt und fest um
den betreffenden Kindstheil zusammengezogen wird. Nach +Hohl+ (l. c.
456) kamen in 181 Fällen von Nabelschnurumschlingung 163 lebende und
nur 18 todte Kinder zur Welt. +Mayer+ (+Casper+-+Liman+’s Handb.,
pag. 940) berichtet aus der +Nägele+’schen Klinik sogar von 685
mit Nabelschnurumschlingungen geborenen Kindern, von denen nur 18
erweislich dadurch den Tod gefunden haben. Auch +Kleinwächter+
beobachtete unter 20 Fällen nur einmal Todtgeburt. Doch wird
auch hier die Zahl der Todtgeburten bei heimlich Gebärenden sich
zweifellos weit höher stellen, zumal wenn man die Häufigkeit der
Nabelschnurumschlingungen berücksichtigt. (+Hohl+ hat unter 200
Geburten 181mal Nabelschnurumschlingungen gesehen.) Sehr leicht kann
eine tödtliche Compression der Nabelschnur bei +Beckenendlagen+ zu
Stande kommen. Bei solchen Geburten kommt natürlich die Nabelschnur,
abgesehen von dem nicht seltenen „Reiten auf der Nabelschnur“, jedesmal
in’s Gedränge, da sie zwischen Beckenring und den nachfolgenden Kopf
geräth, und es ist begreiflich, wie leicht dieser Umstand, wenn der
Kopf stecken bleibt, für das betreffende Kind fatal werden kann.
Bekanntlich wird von den Geburtshelfern eben aus diesem Grunde rasche
Entwicklung des nachfolgenden Kopfes gefordert und zu diesem Zwecke
eine Reihe besonderer Handgriffe empfohlen. Trotzdem ist selbst in
Gebäranstalten die Zahl der Todtgeburten bei Beckenendlagen eine viel
höhere als bei Schädellagen. In der Prager Gebäranstalt betrug nach
+Kleinwächter+ das Verhältniss der in der Steisslage lebend- und
todtgeborenen Kinder 84·37 : 15·63%. Ungleich grösser ist natürlich die
Lebensgefahr für das Kind bei heimlichen Entbindungen, wo Niemand bei
der Hand ist, der den etwa steckengebliebenen Kopf sofort entwickelt,
woraus sich ergibt, dass die Erforschung der Lage, in welcher das Kind
geboren wurde, auch bei forensischen Untersuchungen wegen Verdacht
auf Kindesmord nicht übergangen werden sollte, wozu einestheils die
Erwägung des Sitzes der Geburtsgeschwulst, anderseits die Aussagen der
Mutter zu verwerthen sind.
[Sidenote: Vorzeitige Lösung der Placenta.]
Eine andere, auch bei heimlichen Geburten mögliche Ursache der
vorzeitigen Unterbrechung der fötalen Athmung ist die +vorzeitige
Lösung der Placenta+. Die Gefahr für das Kind ist desto grösser,
je vollständiger diese Lösung ist, d. h. je grösser die Fläche des
Mutterkuchens war, die ihrer respiratorischen Function vorzeitig
entzogen wurde, und je länger darauf die Ausstossung der Frucht sich
verzögert. Stärkere Blutungen, welche schon während der Geburt sich
einstellen, werden auf eine vorzeitige Lösung der Placenta den Schluss
gestatten.
Schliesslich ist nicht zu vergessen, dass durch die +Wehenthätigkeit+
selbst die Placentarrespiration in’s Gedränge gebracht wird, da bei
jeder Contraction des Uterus die Gefässe desselben verengert und
dadurch die Zufuhr sauerstoffhaltigen mütterlichen Blutes zur Placenta
verringert wird, da ferner die Placenta selbst und ihre Gefässe
eine Compression erleiden und überdies mit jeder Wehe die Lösung
des Mutterkuchens vorwärts schreitet. Unter normalen Verhältnissen
erreicht die während einer Wehe erfolgende Sauerstoffverarmung des
fötalen Blutes keinen so hohen Grad, dass dadurch der Fötus in
Erstickungsgefahr gerathen würde, wohl kann dies aber geschehen durch
längere Dauer der einzelnen Wehen (Krampfwehen) oder durch verzögerte
Ausstossung der Frucht.
Wird durch eine der erwähnten Ursachen die fötale Respiration vorzeitig
und dauernd unterbrochen, so treten, indem das sauerstoffarme Blut
die Medulla oblongata erregt, Athembewegungen (wahrscheinlich auch
Convulsionen) auf, deren Dauer und Intensität von der Entwicklung
des Körpers abhängen dürfte, worauf suffocatorische Asphyxie und,
wenn die Geburt sich nicht noch rechtzeitig beendet, der Tod erfolgt.
Jene „+vorzeitigen Athembewegungen+“[498] haben im Allgemeinen
einen analogen Effect, wie wir ihn bei der normalen extrauterinen
Athmung geschildert haben, nämlich die Aspiration des vor den
Respirationsöffnungen des Fötus befindlichen Mediums und die Entfaltung
des Lungenkreislaufes, respective die Vermehrung des Blutgehaltes der
Lungen, und die dadurch entstehenden Veränderungen sind es, welche
uns gestatten, an der Leiche mit grosser Sicherheit die Diagnose zu
stellen, dass das betreffende Kind an „fötaler Erstickung“, d. h. in
Folge vorzeitiger Unterbrechung der Placentarathmung gestorben ist.
[Sidenote: Sectionsbefund nach fötaler Erstickung. Vorzeitige
Athembewegungen.]
[Sidenote: Fruchtwasser. Meconium.]
Das Medium, dessen Aspiration unter solchen Umständen erfolgt, ist
das Fruchtwasser oder der sogenannte Fruchtschleim mit oder ohne
Beimengung von Blut oder Meconium. Letztere Beimengung ist häufig,
namentlich bei Kopflagen, da das Meconium, welches die Frucht während
der Erstickungsnoth entleert, sich sofort herabsenkt und dadurch zu
den Respirationsöffnungen derselben gelangt. Wahrscheinlich werden
diese Stoffe vorzugsweise erst durch die sogenannten terminalen, tiefen
Inspirationen eingeathmet, wie wir dies auch beim Erstickungstode,
mit welchem die „fötale Erstickung“ eine grosse Aehnlichkeit besitzt,
gesehen haben. Je kräftiger und tiefer diese Inspirationen gewesen
und je länger sie gedauert haben, desto mehr von den genannten
Stoffen wird aspirirt und desto tiefer dringen sie ein, so dass man
manchmal in der Lage ist, dieselben bis in die kleinsten Bronchien
zu verfolgen. In der Regel gelangen sie aber blos in die grösseren
Bronchien, da die zähe und meist dickliche Beschaffenheit der
Substanzen ein tieferes Eindringen nicht gestattet. Mitunter finden
sie sich nur in den Choanen und im Rachen, woselbst sie, namentlich
der fadenziehende Fruchtschleim, den Eingang zum Kehlkopf verlegen.
Aspirirte Fruchtwasserstoffe sind häufig schon makroskopisch als solche
zu erkennen, insbesondere durch die beigemengten Bröckchen von Vernix
caseosa und die besonders auf dunkler Unterlage mit blossem Auge zu
erkennenden Wollhaare. Ist Meconium[499] beigemengt, so erscheinen
die Stoffe mehr weniger grünlich und fallen mehr in die Augen. Doch
ist zu bemerken, dass eine derartige Färbung auch andere, auf minder
unschuldige Weise in die Luftwege gerathene Substanzen zeigen können,
z. B. Cloakenstoffe. Entscheidend ist natürlich nur die mikroskopische
Untersuchung, die daher niemals zu unterlassen ist. Man findet dann,
wenn Fruchtwasserstoffe vorliegen, die Hauptbestandtheile der käsigen
Schmiere, grosse, meist in Fetzen zusammenhängende Epidermiszellen,
Fett und Fettkrystalle (Cholesterin) und Wollhaare, welche durch
ihre Dünne und Kürze, sowie durch das Fehlen der Marksubstanz sich
charakterisiren. Ist Meconium beigemengt, so findet man ausserdem
Gallenpigment, meistens in Schollen, seltener in Form von Bilirubin-
(Cholepyrrhin-) Krystallen, ausserdem einzelne zellige Elemente
gallig imbibirt, ferner Cholesterinkrystalle in vermehrter Menge und
auch Darmepithelien. Manchmal ist Blut beigemischt, namentlich wenn
vorzeitige Placentarlösung die Ursache des fötalen Erstickungstodes
gewesen war. Eine Verwechslung dieser Stoffe mit extrauterin in die
Luftwege gerathenen Stoffen kann bei sachgemässer Untersuchung nicht
wohl vorkommen. Namentlich wird sich Abtrittsinhalt, der einige
Aehnlichkeit mit meconiumhaltigen Fruchtwässern besitzt, bei der
mikroskopischen Untersuchung leicht unterscheiden lassen, insbesondere
durch die heterogenen Bestandtheile (Reste pflanzlicher und thierischer
Nahrung, sandige und kohlige Beimengungen, Tripelphosphate etc.), aus
denen er zusammengesetzt ist.
[Sidenote: Lungen nach fötaler Erstickung. Diagnose.]
Da, wie bereits an einer anderen Stelle erwähnt wurde, der Blutgehalt
der Lungen im verkehrten Verhältnisse steht zu der Leichtigkeit, mit
welcher das aspirirte Medium die Lungen zu füllen vermag, so ist es
begreiflich, dass in Folge vorzeitiger Athembewegungen die Lungen
desto blutreicher werden, je weniger die aspirirten Substanzen ihrer
schleimigen und dicklichen Consistenz wegen einzudringen vermochten.
In dem Falle, in welchem die betreffenden Substanzen nur in den
Kehlkopf eindrangen, oder noch mehr dann, wenn trotz vorzeitiger
Athembewegungen gar kein Medium aspirirt werden konnte (z. B. weil
die Respirationsöffnungen durch die Wände der Geburtswege oder durch
Eihäute verlegt, oder weil die Luftröhre durch starke Streckung des
Halses [Gesichtslage], oder feste Umschlingung desselben durch die
Nabelschnur undurchgängig war), muss natürlich die Blutüberfüllung
in den Lungen den höchsten Grad erreichen, da unter solchen Umständen
die Aufgabe, den Brustraum auszufüllen, dem Blute allein zufällt.
Daher kommt es, dass die Lungen der während des Geburtsactes
suffocatorisch gestorbenen Früchte dunkel von Farbe, schwer und etwas
vergrössert erscheinen, und am Durchschnitt viel Blut entleeren,
eine Thatsache, die am besten beweist, wie wenig von der angeführten
+Ploucquet+’schen Lungenblutprobe zu halten ist.
Von anderen Erscheinungen, die sich bei während der Geburt in Folge
vorzeitiger Unterbrechung der fötalen Athmung gestorbenen Kindern
finden, erwähnen wir insbesondere die Ecchymosen in den Lungen und
am Herzen, die zu den fast constanten Sectionsbefunden gehören und
deren reiche Entwicklung sich einestheils aus der hochgradigen
Blutstauung in den Brustorganen, anderseits aus der grossen Zartheit
der kindlichen Gefässe erklärt, in Folge welcher diese, sowohl bei
der ungeborenen, als bei der neugeborenen Frucht weniger leicht eine
Steigerung des Blutdruckes auszuhalten vermögen, als dies später der
Fall ist. Cyanose des Gesichtes, Injection und selbst Ecchymosirung der
Conjunctiva sind ebenfalls häufige Befunde. +Nobiling+ (Bayr. Aerztl.
Intell.-Bl. 1884, Nr. 38), hat auch an anderen Stellen, insbesondere
auch im peribulbären Fettgewebe und in der Retina, häufig Ecchymosen
gefunden. Dass bei dieser Todesart Fruchtwasserbestandtheile, eventuell
Meconium, auch in den Magen und in die Paukenhöhlen gelangen können,
wurde bereits erwähnt. Häufig erscheint die Nabelschnur solcher Kinder
gallig imbibirt, ein Befund, dessen schon +Zittmann+ (+Mende+, I,
200), als den todtgeborenen Kindern eigenthümlich zukommend, erwähnt.
Diese Verfärbung rührt vom entleerten Meconium her, kommt, wie wir
uns durch Versuche überzeugt haben, sehr bald zu Stande und ist daher
diagnostisch verwerthbar. Doch kann sie sich selbstverständlich auch
bilden, wenn das bereits geborene Kind in meconiumhaltiges Fruchtwasser
oder gallige Stoffe enthaltenden Abtrittsinhalt zu liegen kam.
Finden sich die genannten Erscheinungen, dabei luftleere Lungen und
ein luftleerer Verdauungstractus, und fehlen zugleich alle Spuren
einer Maceration, so kann man mit grösster Wahrscheinlichkeit sich
dahin aussprechen, dass das untersuchte Kind schon während der Geburt
an „fötaler Erstickung“ gestorben ist. Mit voller Bestimmtheit die
Todtgeburt zu erklären, geht nicht an, da das Kind auch nur scheintodt
zur Welt gekommen sein konnte.
Es liegt der Einwurf nahe, dass ein ähnlicher Befund, wie der
beschriebene, auch durch extrauterine Erstickung in Fruchtwässern zu
Stande kommen kann. In dieser Beziehung muss bemerkt werden, dass
ein Ertrinken des bereits geborenen Kindes in Fruchtwässern zwar
nicht unmöglich ist, dass jedoch an einen solchen Vorgang nur bei
einem besonderen Verlaufe der Geburt gedacht werden könnte, so z. B.
wenn dieselbe über einem schon Fruchtwässer enthaltenden Gefässe
geschah, oder wenn in ein solches gleichzeitig mit dem Kinde auch die
Fruchtwässer hineinstürzten, dass jedoch auch in einem solchen Falle
meist Gelegenheit geboten ist, dass das Kind durch die extrauterinen
Athembewegungen, die es macht, auch Luft in seine Lungen bekommen
kann.
_2. Die Compression des Kopfes._
Indem der kindliche Kopf durch den Beckencanal durchgepresst wird,
erleidet er eine Compression, die sowohl zu einer vorübergehenden
Verkleinerung des Kindesschädels als zu einer Formveränderung desselben
führt. Diese Veränderung, welche in der Geburtshilfe als Configuration
oder Modellirung des Schädels bezeichnet wird, geschieht vorzugsweise
dadurch, dass das Hinterhauptbein und die Stirnbeine unter die
Scheitelbeine und diese übereinander sich schieben, wobei sich die
Kopfhaut mehr weniger faltet und der Mentooccipitaldurchmesser sich
verlängert. Auch eine Abplattung der dem Promontorium anliegenden
Stelle des Kopfes findet statt. Das Schädelvolumen wird hierbei absolut
verkleinert, indem Cerebrospinalflüssigkeit verdrängt wird.[500]
Für die gleichzeitig stattfindende Compression des Gehirns spricht
die Verlangsamung des Fötalpulses während jeder Wehe, welche zwar
von +Schwartz+ von der durch die Wehe veranlassten Störung des
Placentargasaustausches abgeleitet wurde, neueren Anschauungen und
insbesondere den Experimenten von +Leyden+[501] zufolge aber auf
Hirndruck bezogen werden muss.
[Sidenote: Kopfgeschwulst.]
Der Druck, den der Kindskopf während der Geburt erleidet, bewirkt,
selbst wenn er die Grenzen des normalen nicht überschreitet, gewisse
Veränderungen, denen eine gerichtsärztliche Bedeutung zukommt. Es
gehört hierher die Kopfgeschwulst und die Ecchymosenbildung in den
weichen Schädeldecken.
Das +Caput succedaneum+ präsentirt sich als eine teigige,
mehr weniger sich vorwölbende Geschwulst über jenem Theil des
Schädels, welcher vorgelegen hatte, daher in der Regel über der
kleinen Fontanelle oder über der hinteren und inneren Partie
eines Scheitelbeines, der beim Einschneiden eine sulzige, seröse
Infiltration des Zellgewebes der Schädeldecken entspricht, in welcher
häufig kleinere oder grössere Extravasate eingebettet sind. Die
Kopfgeschwulst gestattet nicht blos einen Schluss darauf, dass das
Kind in einer Kopflage geboren wurde, sondern auch auf die Dauer des
Geburtsactes, insoferne als der Mangel der Kopfgeschwulst auf einen
raschen Verlauf der Entbindung hinweist. Je kleiner der Schädel des
Kindes und je weiter das Becken, desto weniger ist die Kopfgeschwulst
entwickelt. Daher fand +Elsässer+ bei 340 in der Hinterhauptslage
geborenen frühzeitigen Kindern nur 74mal eine Kopfgeschwulst, bei
3789 zeitigen aber 1502mal. Bei Beckenendlagen ist die Schwellung
und seröse, mitunter auch hämorrhagische Infiltration des Scrotums,
beziehungsweise der Labien oder des Gesässes eine analoge
Erscheinung, die von +Elsässer+ unter 130 Fällen 46mal constatirt
wurde. Doch müssen wir bemerken, dass sich Oedeme des Scrotums
verhältnissmässig häufig auch bei Kindern finden, die in der Kopflage
geboren worden sind. Auch an anderen vorgelagerten Körperpartien
entstehen analoge Veränderungen, die mitunter irrige Deutungen
veranlassen können. So obducirten wir ein 8monatliches Kind, dessen
linker Arm in der Ellenbogengegend blauroth geschwollen und theils
serös, theils hämorrhagisch infiltrirt war. Dieses Befundes und der
abnormen Beweglichkeit des Gelenkes wegen war die Sache für eine
Fractur gehalten worden. Das Gesicht war stark cyanotisch, rechts am
Kopfe ein starker Vorkopf und nach aussen am linken Scheitelhöcker
eine bohnengrosse Hautvertrocknung mit thalergrosser Suffusion.
Quetschungserscheinungen an der Sichel und am Promontorium. Offenbar
war der Arm vorgelegen und die Geburt eine schwere, was auch durch
die weiteren Erhebungen bestätigt wurde.
[Sidenote: Extra- und intracranielle Blutungen.]
+Ecchymosen+ in den Schädeldecken gehören zu den ganz gewöhnlichen
Befunden, auch nach leichten Entbindungen. In der Regel sind es
linsen- bis bohnengrosse Sugillationen, die entweder im Zellgewebe
unter der Galea oder noch häufiger zwischen Pericranium und
Knochen sitzen, namentlich in der Nähe der Nähte. Nicht selten
kommen grössere Sugillationen vor und wir haben wiederholt auch
nach leichten Entbindungen solche gesehen, die sich über grosse
Strecken der Schädeloberfläche verbreiteten. Sie entstehen weniger
durch directen Druck als durch Zerrung der Gefässe in Folge der
Verschiebung, die die Theile bei der Modellirung des Schädels
erleiden.[502] Ihre Bedeutung liegt einestheils darin, dass
ihr Befund beweist, dass das Kind unter der Geburt noch lebte,
andererseits darin, dass solche durch den Geburtsdruck entstandene
Suffusionen für Effecte einer Gewalt angesehen werden könnten, die
erst nach der Geburt den Kopf des Kindes getroffen hatte. Zeigen
weder die Kopfhaut, noch die Schädelknochen Spuren von Verletzung,
dann wird man nicht berechtigt sein, Suffusionen der Schädeldecken,
selbst wenn sie über grössere Strecken sich ausbreiten, von
extrauterin stattgehabten Gewalteinwirkungen herzuleiten. Das
+Cephalhämatom+ ist unserer Ansicht nach nur eine Blutaustretung
zwischen Pericranium und Knochen, die nicht immer aus letzterem
stammt, sich ursprünglich von einer gewöhnlichen Suffusion nicht
unterscheidet, sondern erst später durch ihren eigenthümlichen
Verlauf, welcher vielleicht nur von Zufälligkeiten veranlasst wird.
[Sidenote: Blutungen durch d. Geburtsdruck.]
Ueberschreitet die Compression des Kindskopfes während des
Geburtsactes ihre normale Grenze, dann können schwerere Erscheinungen
eintreten. Zunächst kann die durch den Hirndruck veranlasste
Hemmung der Herzbewegung einen solchen Grad erreichen, dass dadurch
der respiratorische Gasaustausch erschwert und Sauerstoffverarmung
des Blutes herbeigeführt wird. In diesem Falle kommt es ebenfalls
zu vorzeitigen Athembewegungen, wie wir sie nach Unterbrechung
des Placentarverkehres eintreten sahen. Ferner können durch allzu
starke Uebereinanderschiebung der Schädeldeckknochen intermeningeale
Extravasate entstehen, am häufigsten durch Zerreissung der zu den
Sinus ziehenden Piagefässe, aber auch der Sinus selbst. +Kundrat+
(Wiener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 46) erklärt sich die Entstehung
solcher Extravasate durch Compression des Sinus falciformis und
consecutive Stauung des Blutes in den zuführenden Venen. Bei schweren
Geburten sind solche Befunde häufig, werden aber auch bei leichten
nicht gar selten beobachtet, und es scheint, dass sie insbesondere
bei stürmischen Entbindungen, bei welchen die Configuration des
Schädels nicht allmälig, sondern plötzlich sich vollzieht, leichter
entstehen können. Solche Extravasate bewirken dauernden Hirndruck
und können auch durch Verlangsamung der Herzpulsationen vorzeitige
Athembewegungen auslösen; doch lehrt die Erfahrung, dass Kinder solche
während des Geburtsactes erlittene Extravasate verhältnissmässig
leichter ertragen als später, insbesondere dieselben tagelang überleben
können. Ausheilungen sind offenbar häufig, da man Residuen derselben,
insbesondere rostfarbigen Auflagerungen an der Innenfläche der Dura
bei den Sectionen von Säuglingen öfter begegnet. Die insbesondere bei
unreifen Früchten häufigen Blutungen in die Ventrikel aus zerrissenen
Gefässen des Plexus chorioideus stammen offenbar von derselben Ursache,
obgleich auch suffocatorische Stauung sie bewirken kann.
[Sidenote: Beschädigungen d. Schädelknochen.]
Beschädigungen der Schädelknochen während der Geburt, durch die
Expulsionskraft des Uterus, sind wiederholt beobachtet worden, und zwar
sowohl blosse Eindrücke oder Einbiegungen einzelner Schädelknochen,
als wirkliche Continuitätstrennungen. Erstere präsentiren sich meist
unter dem Bilde der sogenannten „löffelförmigen Eindrücke“ und
betreffen zumeist das eine Scheitelbein oder das eine Stirnbein,
welche entweder gegen das Promontorium oder gegen die vorspringende
Symphyse ausgedrückt worden waren. Bei normalen Entbindungen kommen
sie gewiss nur ganz ausnahmsweise vor, wohl aber leichter, wenn ein
Missverhältniss zwischen dem Kindskopf und dem Beckencanal bestand,
daher insbesondere bei engem Becken oder ungünstiger Kopflage. An
der tiefsten Stelle des Eindruckes, sowie an den vom Tuber des
Knochens abgehenden Rändern desselben sind sie gewöhnlich mit einer
Infraction oder einer wirklichen Fractur des Knochens verbunden (Fig.
120). Am leichtesten können sich solche Eindrücke bilden, wenn der
hochstehende, besonders der nachfolgende Kopf gewaltsam über das
Promontorium herabgezogen oder beim +Wigand+-+Martin+’schen Handgriff
von den Bauchdecken aus durch das Becken durchgepresst wird. Sie
werden dann mitunter für Zangeneindrücke gehalten. Nähere Angaben
über derartige Verletzungen haben +Dittrich+ (Wiener klin. Wochenschr.
1892, Nr. 33-35) und +Rosinski+ (Zeitschr. f. Geburtsh. 1893, XXVI,
pag. 255) gebracht. Unter letzteren Fällen findet sich ein tiefer,
trichterförmiger Eindruck am linken Scheitelbein mit mehrfachen
Fissuren, der bei einem spontan geborenen Kinde sich ergab. Aehnliche
Eindrücke können aber, wie von uns angestellte Versuche ergaben (Wiener
med. Presse. 1885, Nr. 18-28), auch nach der Geburt durch Druck, z.
B. mit dem zwischen Tuber und Nahtrand aufgesetzten Daumen oder durch
einen Stiefelabsatz u. dergl. und selbst durch Auffallen eines eine
umschriebene Angriffsfläche besitzenden Gegenstandes, oder durch Sturz
mit dem Kopfe auf einen solchen erzeugt werden. Dieses ist insoferne
wichtig, als schon +Passauer+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXX,
260) über einen Fall berichtet, wo es sich darum handelte, ob eine
Schädelimpression bei einem Neugeborenen vom Geburtsact oder von einem
Eingriffe der Mutter herrührte, und als auch wir ein aus dem Abort
gezogenes Kind untersuchten, das neben einer winkligen Fissur des einen
Scheitelbeines eine löffelförmige Impression am anderen besass und
daher zu erwägen war, ob letztere beim Geburtsact oder nachträglich
durch Druck oder beim Durchzwängen durch den Abortstrichter oder
durch den Sturz in den Canal entstanden war. Mit Rücksicht auf die
Umstände musste man zugeben, dass die Impression gleichzeitig mit der
Winkelfissur blos durch den Sturz auf einen vorspringenden Gegenstand
veranlasst worden sein konnte.
[Illustration: Fig. 120.
Löffelförmiger Eindruck des rechten Stirnbeins durch Druck gegen das
Promontorium erzeugt, mit Infractionen an der unteren Partie.]
Von Zusammenhangstrennungen der Kopfknochen, die blos durch
den Geburtsact veranlasst worden waren, hat +Gurlt+ 10 Fälle
zusammengestellt. Meist bestanden dieselben in zwischen den
Ossificationsstrahlen verlaufenden Fissuren, die am häufigsten vom
Pfeilnahtrande des Scheitelbeines ausgingen, doch wurden in einzelnen
Fällen auch Fracturen beobachtet, welche besonders den Nahtrand eines
Knochens betrafen und offenbar durch allzustarke Uebereinanderschiebung
der Knochen entstanden waren. Es waren durchaus verzögerte, zum
Theile schwere Geburten, bei denen sich solche Befunde ergaben,
obgleich sie alle ohne Kunsthilfe beendet wurden. Wir selbst haben bei
ähnlichen Geburten zweimal eine 3 Cm. lange Fissur des Scheitelbeines
beobachtet, die vom Pfeilnahtrande zwischen den Ossificationsstrahlen
zum Scheitelhöcker hinzog. Ausserdem bei einem heimlich geborenen
Kinde einen Knochensprung, der hinter der Mitte der Pfeilnaht,
0·5 Cm. links neben derselben, aus einer papierdünnen Stelle des
Knochens entsprang und durch ähnlich verdünnte Partien bis fast zum
Scheitelhöcker sich hinzog, von welchem wir zugeben mussten, dass
er wegen der durch Ossificationsdefect bedingten abnormen Dünne der
betreffenden Stelle des Scheitelbeines auch schon während der Geburt
durch die starke Krümmung des Knochens entstanden sein konnte, wobei
wir bemerkten, dass eben die einfache Beschaffenheit der Fissur und
die geringfügige Ausdehnung derselben bei der grösseren Brüchigkeit
der betreffenden Stelle des Knochens beweisen, dass dieselbe keiner
directen und grösseren Gewalt ihre Entstehung verdanke und darauf
hinwiesen, dass die Scheitelbeine und namentlich die mittleren Partien
der Pfeilnahtränder durch die Compression des Kopfes im Becken stark
vorgewölbt werden, wobei ein Auseinanderweichen des Knochens entlang
der Ossificationsstrahlen hier leichter möglich ist, als an anderen
Stellen.
Bei leichten Entbindungen können wir, ausgenommen wenn, wie im oben
erwähnten Falle, Ossificationsdefecte und deshalb abnorm brüchige
Stellen an den Schädelknochen sich fanden, nicht wohl zugeben, dass
Fissuren oder gar Fracturen, die wir am Schädel eines Neugeborenen
nachwiesen, durch den Geburtsdruck entstanden sein sollten. Nach
schweren Geburten, namentlich bei engem Becken, werden wir mit
Rücksicht auf obige Beobachtungen einfache Fissuren oder (an den
Nahträndern) einfache Fracturen, die an solchen Stellen sitzen, die
bei der Modellirung des Schädels eine grössere Spannung oder, wie
die Nahtränder, eine stärkere Zerrung erleiden, vom Geburtsdruck
ableiten können, weshalb +Dittrich+ (l. c.) mit Recht behufs
Differentialdiagnose von später entstandenen Brüchen die Erwägung
empfiehlt, ob am Schädel sonstige Spuren einer stattgehabten grösseren
Compression, besonders stärkere Uebereinanderschiebung der Nahtränder,
zu bemerken sind. Dagegen werden wir mit einer solchen Annahme zögern,
wenn ausgebreitete oder mehrfache Fracturen sich finden, oder wenn
gleichzeitig ausgebreitete Quetschungen oder Continuitätstrennungen
der weichen Schädeldecken sich ergeben. +Losser+ (Bericht der
Berliner gynäk. Gesellschaft. December 1883) hat auf Brüche der
Orbitaldächer bei Zangengeburten aufmerksam gemacht. Bei der Dünnheit
der Orbitaldächer wäre es nicht unmöglich, dass Fissuren derselben auch
bei spontanen Geburten sich bilden könnten. Subperiostale Ecchymosen
daselbst sind unseren Erfahrungen nach nicht selten, auch haben wir
bei einem in Steisslage ohne Zange todtgeborenen Kinde, dem bei der
Entwicklung der rechten oberen Extremität der Oberarm gebrochen wurde,
suffundirte Fissuren beider Orbitaldächer gefunden.
[Sidenote: Verblutung.]
Während der Geburt kann die Frucht auch an +Verblutung+ zu Grunde
gehen. Dies kann zunächst geschehen bei der keineswegs seltenen
Insertio velamentosa der Nabelschnur, wenn der vorrückende
Kindstheil das „Velamentum“ zerreisst. +Hüter+ hat 12 solche Fälle
zusammengestellt, wovon 10 schon während der Geburt starben. Einen
anderen Fall bringt +Valenta+, Memorabilien, 1874, Nr. 5, und einen
weiteren +Langerhans+ (Arch. f. Gyn. XIII, 304). Nach +Mironoff+
(Deutsche med. Wochenschr. 1882, Nr. 28) wurde in Dresden die
Insertio velamentosa bei 0·46-0·57% der Schwangeren beobachtet. Doch
wurde dadurch eine das Leben des Kindes bedrohende Blutung niemals
bedingt. Ebenso kann Verblutung eintreten, wenn eine allzu kurze
Nabelschnur abreisst. Es wurden Fälle beobachtet, in welchen die
Nabelschnur blos 10 Mm. lang war (+Sclafer+) und solche, wo sie ganz
fehlte (+Stute+, Monatsschr. f. Geb. 1856, VII, 1). Solch abnorme
Kürze kann auch vorzeitige Lösung der Placenta bewirken. Endlich kann
bei gemeinschaftlicher Placenta ein Zwilling nach Geburt des ersten
sich verbluten, wenn dessen Nabelschnur nicht doppelt unterbunden
wurde. Einen derartigen Fall hat +Brachet+ in Lyon beobachtet. Ueber
zwei Fälle von Verletzung der Nabelschnur während des Geburtsactes
mit Blutung berichtet +Westphalen+ (Arch. f. Gyn. 1893, XLV, pag. 94).
Tod des Kindes nach der Geburt.
_1. Tod durch Lebensunfähigkeit_.
Ein Kind kann nach der Geburt zunächst deshalb sterben, weil es nicht
die Fähigkeit besitzt, selbständig weiter zu leben. Die österr. St.
P. O. vom Jahre 1853 (§. 90) forderte bei Verdacht auf Kindestödtung
ausdrücklich die Erforschung der +Lebensfähigkeit+. Die neue St.
P. O. enthält keine solche Bestimmung, dagegen verlangt der §. 90 der
deutschen St. P. O., dass bei Oeffnung der Leiche eines neugeborenen
Kindes die Untersuchung insbesondere auch darauf gerichtet werde, ob
es reif oder wenigstens fähig gewesen sei, das Leben ausserhalb des
Mutterleibes fortzusetzen.
Letzterer Ausdrucksweise hatte sich auch die frühere österr. St. P.
O. bedient, und es scheint daraus hervorzugehen, dass die Gesetzgeber
hierbei vorzugsweise nur solche Früchte im Auge hatten, welche, weil
sie zu früh geboren wurden, entweder sofort oder kurze Zeit nach der
Geburt sterben müssen. Da jedoch eine Unfähigkeit zum selbstständigen
Leben auch bei vollkommen reifen Kindern bestehen kann und sowohl
diese, als auch wegen vorzeitiger Geburt lebensunfähige Kinder,
obgleich sie den Keim des Todes in sich tragen, doch nicht immer
sofort oder kurze Zeit nach der Geburt sterben müssen, so ist der
Begriff der Lebensfähigkeit, respective Lebensunfähigkeit, selbst in
der angegebenen Fassung, ein sehr verschwommener. Soviel steht jedoch
sicher, dass auch ein Kind, welches binnen Kurzem wegen Unreife
oder anderweitig bedingter Lebensunfähigkeit von selbst gestorben
wäre, getödtet werden kann. Wie ein solcher Fall richterlicherseits
aufgefasst werden würde, ist weder aus dem Strafgesetz, noch aus
der St. P. O. zu ersehen. Doch lässt die Bestimmung des §. 23 des
preussischen Regulativs: „dass, wenn sich aus der Beschaffenheit
der Frucht ergibt, dass dieselbe vor Vollendung der 30. Woche
geboren ist, von der Obduction Abstand genommen werden kann,
+wenn dieselbe nicht von dem Richter ausdrücklich gefordert
wird+“, darauf schliessen, dass eventuell auch bei zweifellos
lebensunfähigen Früchten nach anderweitiger Todesursache geforscht
und der absichtlich bewirkte Tod geahndet werden kann. Zweifellos
könnte in einem solchen Falle die bestandene Lebensunfähigkeit den
Thatbestand der Kindestödtung nicht alteriren, würde jedoch als
Milderungsumstand in Betracht gezogen werden, wie dies einzelne
ältere Strafgesetzbücher ausdrücklich bestimmten.
Die Lebensfähigkeit des Kindes kann zunächst bedingt sein durch
+mangelnde Reife desselben+. Der Zeitpunkt der Schwangerschaft, von
welchem an die Frucht bereits geeignet ist, selbstständig weiter zu
leben, lässt sich nicht genau präcisiren, doch lehrt die Erfahrung,
dass erst von der vollendeten 30. Woche angefangen die Früchte als
lebensfähig angesehen werden können, eine Erfahrung, von welcher auch
das oben erwähnte Regulativ ausgegangen ist.
Auch jüngere Früchte werden von der 20. Woche angefangen und selbst
noch vor dieser meist lebend geboren (nach +Kleinwächter+ 23·58%),
wenn sie auch in der Regel sofort sterben. Ausnahmsweise wurden sogar
Früchte aus der 25. Woche (+D’Outrepont+) und wiederholt solche aus
der 27.-29. Woche (+Ahlfeld+, Arch. f. Gyn. 1875, VIII, 194) am Leben
erhalten. Anderseits tritt auch nach Vollendung der 30. Woche die
Lebensfähigkeit nicht mit einem Schlage und vollständig auf, sondern
ist anfangs eine noch geringe, ebenso wie die Resistenzfähigkeit der
Frucht gegen äussere Schädlichkeiten, und beide nehmen desto mehr zu,
je mehr sich die Frucht ihrer vollkommenen Reife nähert. Daher ist
auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind eines natürlichen Todes
(an Lebensschwäche) gestorben sei, desto grösser, je früher dasselbe
vor dem normalen Ende der Schwangerschaft geboren worden ist.
[Sidenote: Früchte aus der 30. bis 40. Woche.]
Dass eine Frucht bereits +die 30. Woche+ vollendet habe, schliessen
wir zunächst aus der Länge, welche um diese Zeit mindestens 40 Cm.
zu betragen pflegt. Früchte, die weniger als 40 Cm. messen, kann man
schon aus diesem Grunde in der Regel für lebensunfähig erklären, selbst
wenn andere Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die Frucht die 30.
Schwangerschaftswoche bereits überschritten habe. Das Gewicht beträgt
1500-2000 Grm. Die Haut ist stark mit Wollhaaren bedeckt, beginnt
sich mit Fett zu unterpolstern, wodurch sie dicker und gegen früher
weniger geröthet und die Formen des Körpers mehr abgerundet erscheinen;
das Kopfhaar ist noch spärlich und kurz und die Pupillarmembran ist
entweder vollständig verschwunden oder nur in Resten vorhanden.[503]
Bei männlichen Kindern sind die Hoden bereits aus dem Leistencanal
ausgetreten oder wenigstens im Durchpassiren desselben begriffen und
der Hodensack ist stärker gerunzelt; bei weiblichen Kindern beginnen
die Labien durch Fettbildung sich stärker vorzuwölben. Die Nägel
erreichen fast die Fingerspitzen und fangen an härter zu werden.
Das Gehirn besitzt bereits ausgebildete Windungen und im Dickdarm
findet sich reichliches dunkelgrünes Meconium. Im Fersenbein findet
sich gewöhnlich ein Knochenkern von etwa 5 Mm. Durchmesser (+Toldt+,
„Ueber die Altersbest. menschl. Embryonen“. Prager med. Wochenschr.
1879, pag. 121), im Sprungbein ein etwa um die Hälfte kleinerer. Das
mittlere Gewicht des Mutterkuchens beträgt 451 Grm., die mittlere
Nabelschnurlänge 46 Cm.
Am Ende des +neunten Monates+ (36. Woche) hat das Kind eine Länge von
42-44 Cm. und ein mittleres Gewicht von 2000 Grm. Die Fettbildung hat
zugenommen, das Gesicht ist weniger gerunzelt und bekommt ein volleres,
freundlicheres Aussehen. Die Haut hat bereits das blassröthliche
Aussehen wie bei reifen Neugeborenen. Die Wollhaare fangen an sich
etwas zu verlieren. Im Sprungbein findet sich ein Ossificationskern von
5-6 Mm. (+Toldt+). Durchschnittliches Gewicht der Placenta 461 Grm.,
durchschnittliche Länge der Nabelschnur 47 Cm.
[Sidenote: Eigenschaften reifer Kinder.]
Das am Ende des 10. Monates geborene, also +reife Kind+ ist
durchschnittlich 50 Cm. lang und hat ein Gewicht von etwa 3000 Grm.
Die Haut ist mit Fett reichlich unterpolstert, das Gesicht und
die Gliedmassen sind voll und gerundet, die Gelenksbeugen tief,
die Wollhaare an den Schultern meist noch ziemlich reichlich,
sonst spärlich. Das Kopfhaar ist dicht, 1·5-2 Cm. lang. Die
Kopfdurchmesser betragen nach +Casper+-+Liman+’s zahlreichen Messungen
durchschnittlich: bei Knaben der quere 8·5, der gerade 10·8, der
diagonale 12·6; bei Mädchen der quere 8·3, der gerade 10·0, der
diagonale 12·0 Cm. Die Weite der Stirnfontanelle, d. h. den kürzesten
Abstand der parallelen Seiten des Rhomboids berechnet +Fehling+[504]
bei reifen Früchten auf etwa 2 Cm., den Occipitofrontalkopfumfang
auf 34-35 Cm. Die Knorpel der Nase und der Ohren sind fest und
elastisch. Die Schulterbreite beträgt durchschnittlich 12·5, der
Trochanterenabstand 8 Cm. Die Entfernung des Nabels von der Symphyse
schwankt nach +Hecker+ zwischen 3 und 5·2, die von dem Schwertfortsatz
zwischen 5·8 und 8·7 Cm. Die Hoden finden sich im gerunzelten Scrotum;
bei Mädchen ist die Schamspalte geschlossen. Die Nägel sind hornig
und überragen die Fingerspitzen, nicht aber die Spitzen der Zehen.
Die unteren Epiphysen der Oberschenkelknochen enthalten in der Regel
einen etwa 5 Mm. breiten Knochenkern. Häufig findet sich auch in
der oberen Epiphyse der Tibia und im Würfelbein, ausnahmsweise auch
schon in der Epiphyse des Humerus ein Ossificationspunkt (Toldt, l.
c., auch +Barkow+, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XVI, 328).
Das durchschnittliche Gewicht der Placenta beträgt 500 Grm., die
durchschnittliche Länge der Nabelschnur 50 Cm.
[Illustration: Fig. 121.
Knochenkern am Durchschnitt der unteren Epiphyse des
Oberschenkelknochens eines reifen Neugeborenen.]
[Sidenote: Länge. Knochenkerne.]
[Sidenote: Gewicht reifer Kinder.]
Von diesen Zeichen der Reife sind am constantesten und daher
verlässlichsten die Körperlänge und der Knochenkern in den unteren
Epiphysen der Oberschenkelknochen. Doch auch diese zeigen selbst
unter normalen Verhältnissen Differenzen. So fanden +Casper+-+Liman+
als Minimum der Körperlänge 41·8, als Maximum bei Mädchen 56·6,
bei Knaben sogar 62·4 Cm. Neugeborene Mädchen zeigen in der Regel
eine geringere Länge als Knaben. Auch der Ernährungszustand der
Mutter sowohl als des Kindes, sowie eventuelle Krankheiten machen
sich in dieser Richtung bemerkbar. Ebenso zeigen Mehrlinge kürzere
Längen als ebenso alte Einlinge. Der erwähnte +Knochenkern+ ist eine
erbsenförmige Ossification im Centrum der betreffenden Epiphyse, die
aus faulen Epiphysen als rundlicher Körper ausgeschält werden kann.
Er wird in der Weise aufgesucht, dass man das betreffende Kniegelenk
durch einen Querschnitt eröffnet und, indem man die Weichtheile mit
der einen Hand zurückzieht, mit der anderen den Epiphysenknorpel
des Femur durch senkrecht auf die Längsachse des Knochens geführte
Schnitte in dünne Scheiben zerlegt. Ist der Knochenkern vorhanden, so
präsentirt er sich am Durchschnitt als eine kreisrunde, netzförmig
ossificirte, blutreiche Scheibe von Fliegenkopf- bis Linsengrösse
(Fig. 121), die bei frischen Leichen scharf von weissem Knorpel sich
abhebt, weniger, wenn dieser in Folge von Fäulniss blutig imbibirt
erscheint. Der Knochenkern tritt nur ausnahmsweise schon am Ende
des 8. Monates (einmal fanden wir einen 4 Mm. breiten schon bei
einem blos 45 Cm. und +Hassenstein+ [Zeitschr. f. Medicinalb. 1892,
pag. 129] sogar bei einem blos 40 Cm. langen Kind), häufiger im 9.
und am häufigsten erst im 10. Schwangerschaftsmonate auf, so dass
sein Vorhandensein mit grosser Sicherheit die Erklärung gestattet,
dass die Frucht entweder reif oder dem Zeitpunkt der Reife auf 4-6
Wochen nahegerückt sei. Doch ist man nicht berechtigt, aus dem Fehlen
des Knochenkernes allein die Reife der Frucht zu bestreiten, da
es nicht gar selten ist, dass auch bei entschieden ausgetragenen
Kindern der Knochenkern noch vollständig fehlt. +Hartmann+ (Beitr.
zur Osteol. der Neugeb. Tübinger Dissert. 1869) vermisste ihn bei
102 reifen Neugeborenen 12mal, +Liman+ (l. c. 848) unter 413 Fällen
14mal. Wir haben ähnliche Erfahrungen gemacht und noch häufiger
beobachtet, dass bei entschieden reifen Kindern der Knochenkern nicht
wie gewöhnlich 5 Mm., sondern nur 2-3 Mm. im Durchmesser betrug,
was keineswegs nur bei schwächlichen, sondern auch, ebenso wie das
vollständige Fehlen, bei ganz gut genährten und gesunden Kindern
vorkam. Als äusserste Grösse des Knochenkernes bei Neugeborenen wird
von +Liman+ 9 Mm. angegeben. Letztere ist selten, doch haben wir
bereits einmal einen Knochenkern von 9·5 Mm. gefunden. Das Gewicht
neugeborener reifer Kinder variirt vielfach je nach dem Ernährungs-
und Gesundheitszustande der Mutter sowohl, als des Kindes selbst. Als
geringstes Gewicht fanden +Casper+-+Liman+ 1750 und als höchstes 5250
Grm. +Hecker+ fand unter 1096 Kindern nur zwei mit einem Gewichte
von 5000-5500 Grm. Ein ganz ungewöhnliches Gewicht zeigte ein von
+A. Martin+ entbundenes Kind, welches noch nach der Enthirnung 7470
Grm. wog! (Virchow’s Jahresb. 1876, II, 591.) Unter vielen Tausenden
Geburten auf G. +Braun+’s Klinik kamen nach dem Berichte von +C.
Fürst+ (Wiener med. Wochenschr. 1883, Nr. 12) nur zwei Fälle vor, in
denen das Gewicht 5000 und etwas darüber (5300) betrug. Das erste
Kind war 55½, das zweite 57 Cm. lang. Ein von uns untersuchtes,
durch Ruptur des Cervix in die Bauchhöhle ausgetretenes Kind wog
5060 Grm., hatte eine Länge von 60 Cm. und einen 7·5 Cm. breiten
Knochenkern in der unteren Epiphyse des Femur.[505] Die schon
von +Chaussier+ gemachte und neuerdings von Andern bestätigte
Beobachtung, dass das neugeborene Kind in den ersten 2-5 Tagen
nach der Geburt an Gewicht abnimmt (in Folge Wasserverdunstung und
Fettschwund), verdient auch in forensischer Beziehung Beachtung[506],
noch mehr aber die Thatsache, dass nicht blos durch Benagungen
von Ratten u. dergl., sondern auch durch Fäulniss und Maceration,
sowie durch Mumification, sich das ursprüngliche Gewicht bedeutend
vermindern kann. +Dupont+ („De la perte de poids des cadavres
dans l’air atmosphérique“. Pariser These, 1889) und +Ipsen+
(„Ueber postmortale Gewichtsverluste bei menschlichen Früchten“,
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VII, pag. 2), fanden,
dass bei an der Luft liegenden Leichen besonders Neugeborener, die
Gewichtsabnahme schon am ersten Tage beginnt, anfangs gering ist
und mit eintretender Fäulniss rapid vorwärtsschreitet. Bei unreifen
Früchten erfolgt die Gewichtsabnahme rascher. Verletzungen vermindern
durch den Blut-, eventuell Substanzverlust, aber auch durch raschere
Verdunstung und Transsudation das Eigengewicht.
Die Lebensunfähigkeit kann ferner bedingt sein durch +Mangel+ oder
+Verbildung+ oder +angeborene Erkrankung der zum Leben unumgänglich
nothwendigen Organe+.
[Sidenote: Lebensfähigkeit monströser und kranker Früchte.]
[Sidenote: Angeborene Erkrankungen.]
Es gehören hierher zunächst die +Monstrositäten+ im engeren Sinne,
welche schon äusserlich als solche auffallen. Dass auch diese
nicht augenblicklich nach der Geburt absterben müssen, beweisen
zwei Fälle von +Taylor+, in deren einem ein Kind mit zwei Köpfen,
in dem anderen ein Hemicephalus lebend geboren und beidemal von
den assistirenden Frauen -- getödtet wurde. Ebenso berichtet
+Thompson+ (Schmidt’s Jahrb. 1875, II, 214) über ein Kind mit
monströser Cyklopie, das noch 1½ Stunden lebte, und in Wien
wurde ein auf Prof. +G. Braun+’s Klinik geborener Hemicephalus 7
Tage am Leben erhalten (Wiener med. Wochenschr. 1879, pag. 1290).
Bei einem aus einem Abort gezogenen, ausgetragenen frischen Kinde
fanden wir eine auffallende Mikrocephalie mit Verkümmerung des
Grosshirns und Encephalocele anterior duplex. Das Kind dürfte kaum
im gewöhnlichen Sinne lebensfähig gewesen sein. Trotzdem hatte
dasselbe nach der Geburt gelebt und war eines gewaltsamen Todes
durch Ertrinken gestorben, da Lungen und Magen lufthältig waren und
Abortstoffe im Lungenparenchym, im Magen und 15 Cm. weit im Dünndarm
gefunden wurden. Die Mutter wurde leider nicht eruirt, so dass dem
Gerichte die seltene Gelegenheit entging, über einen an einem nicht
lebensfähigen Neugeborenen begangenen Kindesmord zu verhandeln.
Die Siamesischen Zwillinge, sowie die mit dem Rücken verwachsenen
Misses Millie und Christine, die sich gegenwärtig zeigen, sind
Beispiele, dass auffallende Monstrosität keineswegs identisch ist
mit Lebensunfähigkeit. Anderseits gibt es eine Reihe angeborener
Hemmungsbildungen und Verbildungen innerer Organe, die häufig
äusserlich gar nicht auffallen und doch Lebensunfähigkeit bedingen,
obgleich auch mit diesen das Kind nicht sofort nach der Geburt
sterben muss. Hierher gehören u. A. die angeborenen Defecte des
Herzens, namentlich jene des Septums, die wir, verbunden mit einer
Transposition der Gefässe, bei einem 11tägigen und sogar bei einem
6monatlichen Kinde antrafen. Ferner die bereits erwähnten angeborenen
Atresien des Duodenums, mit denen die betreffenden Kinder ebenfalls
noch tagelang fortleben können. Ebenso gehören hierher viele
Zwerchfellhernien und die bereits erwähnte angeborene Cystenniere
höheren Grades, endlich die angeborenen meist syphilitischen
Hepatisationen der Lunge (Pneumonia alba) und gewiss noch viele
andere Erkrankungen, die die Frucht mit sich zur Welt bringt.
Einen interessanten Fall dieser Art bringt +Hecker+ (Friedreich’s
Blätter. 1874, pag. 289), der eine hochgradig hydrocephalische
Frucht betrifft, bei welcher es unentschieden bleiben musste, ob
sie in Folge des Hydrocephalus eines natürlichen oder in Folge von
Verletzungen eines gewaltsamen Todes gestorben war, wobei überdies
auch die Möglichkeit sich nicht ableugnen liess, dass gewisse
Fissuren der mangelhaft ossificirten Scheitelbeine nicht extrauterin,
sondern während der Geburt durch den Geburtsdruck entstanden sein
konnten. In unserem Institute wurde ein am 11. Tage nach der Geburt
an Peritonitis verstorbenes Kind obducirt, welches bei annähernd
normalem Schädel einen so hochgradigen Hydrocephalus congenitus
zeigte, dass das Grosshirn fast vollständig fehlte (+Zillner+,
Wiener med. Wochenschrift, 1880). Auch intermeningeale Extravasate,
die die Frucht während der Geburt acquirirte, können den Tod erst
nach der Geburt bewirken, also im weiteren Sinne Lebensunfähigkeit
bedingen, ebenso die Encephalitis interstitialis, auf welche schon
früher +Rokitansky+ (Pathol. Anat. 3. Aufl., II, 436 und 462), ferner
+Virchow+ (Archiv. XLIV, 4. Heft, ebenso Arch. f. Psychiatrie. 1870,
pag. 65 und Sitzung der Berliner med. Gesellsch. vom 17. October
1883, Wiener med. Blätter, 1883, Nr. 44), +Jastrovitz+ (Prager
Vierteljahrschr. 1871, III, 16) und +Parrot+ (Schmidt’s Jahrb. 1871,
CL, 55) aufmerksam machten und die wir wiederholt, wenn auch bisher
noch nicht wie +Virchow+ bei Neugeborenen, so doch bei Säuglingen
aus den ersten Lebenstagen und Wochen beobachtet haben und die sich
in Form blassgelblicher Herde in der weissen Substanz präsentirt und
unter dem Mikroskope zahlreiche sogenannte Körnchenzellen ergibt.
Ferner kann ein Kind durch vorzeitige Athembewegungen, die es
gethan, in Folge der dadurch bewirkten Verstopfung der Luftwege mit
Fruchtschleim etc., selbst wenn es noch lebend geboren wird, unfähig
sein, weiter zu leben.
_2. Gewaltsamer Tod durch extrauterine Vorgänge._
Es gibt zunächst eine Reihe von Vorgängen, die ohne Verschulden der
Mutter den gewaltsamen Tod des Neugeborenen herbeiführen können. Von
diesen verdient die Sturzgeburt und die Verblutung aus der Nabelschnur
eine besondere Besprechung.
Die Sturzgeburt.
Die Möglichkeit, dass eine Schwangere in der Weise von der Geburt
überrascht wird, dass das Kind, während sie sitzt, kniet oder steht,
aus ihren Genitalien herausstürzt, wird gegenwärtig sowohl von den
Geburtshelfern, als Gerichtsärzten allgemein zugegeben, da die Zahl
der zweifellosen und unter unverdächtigen Umständen vorgekommenen
Beobachtungen eines solchen Geburtsverlaufes, den man gewöhnlich als
+Sturzgeburt+ bezeichnet, eine beträchtliche ist und immer durch neue
vermehrt wird.
[Sidenote: Geburt im Sitzen, Knieen, Stehen etc.]
Von älteren Aerzten, die sich um die Lehre von der Sturzgeburt
Verdienste erwarben, verdient insbesondere +Klein+ Erwähnung, der,
um über die betreffende, immer wieder angezweifelte Möglichkeit
in’s Reine zu kommen, im Jahre 1813 die Regierung von Württemberg
bewog, im ganzen Reiche an die Medicinalpersonen eine Anfrage zu
richten, ob ihnen bei unverdächtigen Personen Fälle von Geburt im
Stehen oder Sitzen vorgekommen seien. Auf dieses Rescript wurden 183
Fälle erwiesener Sturzgeburt berichtet, von denen 155 im Stehen, 22
im Sitzen und 6 im Knien verliefen (+Mende+, l. c. I, 228). Ebenso
hat +Cohen van Baren+ (Schmidt’s Jahrb. 1845, XLV, 84) und +Schütz+
(ibid. 1852, LXXIII, 113) eine beträchtliche Zahl von solchen Fällen
zusammengestellt; dagegen hat +Hohl+ (l. c. 573) die Möglichkeit der
Geburt im Stehen gänzlich geleugnet, indem er behauptete, dass Nichts
die Schwangere hindere, im letzten Momente sich zu legen, und sich
darauf berief, dass, obgleich er einen Preis dafür ausgeschrieben
hatte, doch nur eine +einzige+ von seinen Wöchnerinnen die Geburt im
Stehen zu vollenden im Stande war.[507] +Casper+ (l. c. 935) hat mit
Recht auf die verschiedenen Verhältnisse hingewiesen, die in dieser
Beziehung bei heimlich Gebärenden vorhanden sind, und war überdies
in der Lage, 4 Fälle aus seiner eigenen Erfahrung mitzutheilen, in
denen die Geburt vor Zeugen im Stehen und einmal beim Einsteigen
in’s Bett geschah. In der Naturforscherversammlung zu Speyer (1861)
wurde von +Kuby+ über ein 16jähriges Mädchen referirt, das im Stehen
entband, und +Hecker+, +Lange+ und +Spiegelberg+ fügten ähnliche
von ihnen selbst beobachtete Fälle hinzu. Ebenso haben +Klusemann+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1861, XX, 235), +Olshausen+
(Monatschrift f. Geburtsk. 1860, XVI, 33), +Reinhard+ (23 Fälle von
präcipitirten, sogenannten Gassengeburten, darunter 6 Sturzgeburten,
Marburger Dissert. 1871) und +Kondratowicz+ (Virchow’s Jahresb. 1874,
II, 806) über Entbindungen in aufrechter Stellung berichtet. Wir
selbst haben in unserer Gegenwart die Entbindung einer verheirateten
Frau so rasch verlaufen sehen, dass in dem Momente, als sie in’s
Bett gebracht wurde, das Kind von ihr schoss. Ebenso kennen wir eine
Frau, die während der Fahrt im Wagen gebar, wobei das Kind zu Boden
fiel, und haben ein Kind gesehen, welches von seiner Mutter in dem
Augenblicke geboren wurde, als sie vor dem Thore der Gebäranstalt aus
dem Wagen stieg, so dass das Kind in den Schnee stürzte, der gerade
in dicker Lage gefallen war, ohne sich hierbei zu beschädigen, ferner
1878 ein anderes obducirt, welches vor dem Wiener Gebärhause im
Stehen geboren worden und auf den Boden gefallen war.
Die Geburten in sitzender, kauernder oder kniender Stellung haben
nichts Ueberraschendes an sich, da es noch fraglich ist, ob nicht
diese Stellungen, wenigstens für den Verlauf der Austreibungsperiode,
zweckmässiger sind, als die Rücken- oder Seitenlage, in welcher
man die Entbindung gewöhnlich verlaufen lässt (vide +Schröder+,
Lehrb. 1871, pag. 151; +Ploss+: „Ueber die Lage und Stellung der
Frau während der Geburt bei verschiedenen Völkern“, 1872, mit
6 Holzschnitten und Wiener med. Blätter, 1883, Nr. 42, und die
Dissertation von +Felkin+, Marburg 1885, über denselben Gegenstand).
Neuere, auch forensisch werthvolle Arbeiten über präcipitirte
Geburten haben +Winckel+ (München 1884, Festschrift) und +G. Koch+
(Arch. f. Gyn. 1886, XXIX, 271) geliefert. Ersterer liegt ein
Material von 216, letzterer von 37 Fällen zu Grunde, welches einem
Procentsatz von 0·9 sämmtlicher Geburten entspricht.
[Sidenote: Untersuchung der Mutter und des Kindes bei angebl.
Sturzgeburt.]
Eine Sturzgeburt kann für das Kind fatal werden entweder durch den
Sturz selbst und die Beschädigungen, die das Kind, insbesondere dessen
Kopf, dabei erleidet, oder dadurch, dass, wie namentlich bei der
Geburt am Abtritt, das Kind in Flüssigkeiten hineinfällt[508], oder
durch beide diese Momente zusammen. Die Gefahr der Verblutung aus der
durchrissenen Nabelschnur kommt nur ausnahmsweise in Betracht.
Kommt eine Sturzgeburt in Frage, so sind die Befunde an der
betreffenden Mutter, ferner jene am Kinde und endlich die Umstände des
Falles zu erwägen.
Was die +Mutter+ betrifft, so begegnet man häufig der Ansicht, dass
bei Mehrgebärenden wegen der Weite ihrer Genitalien eine Sturzgeburt
leichter stattfinden könne als bei Erstgebärenden. Dem entgegen lehrt
die Erfahrung, dass die meisten Fälle von Sturzgeburt Erstgebärende
betreffen, was sich vorzugsweise daraus erklärt, dass letztere die
Zeichen bevorstehender Entbindung, die sie noch nicht kennen, leichter
zu übersehen und zu verkennen vermögen als Mehrgebärende, die eine
solche bereits durchgemacht haben. So ist es nichts Seltenes, dass
die ersten Wehen von Erstgebärenden als Darmkolik, Stuhldrang u. s. w.
aufgefasst werden, was sie veranlasst, sich auf den Abort etc. zu
begeben, woselbst dann die Sturzgeburt erfolgen kann. Ueberdies gehört
Drang zum Stuhl- und Harnlassen zu den Erscheinungen, die in der Regel
den Geburtsact begleiten. Ferner muss festgehalten werden, dass es
zwei Formen von Sturzgeburten gibt; die eine, bei welcher der +ganze+
Geburtsact ungewöhnlich schnell verläuft, die präcipitirte Geburt
im engeren Sinne, und die andere, bei welcher nur die Austreibung
des Kindes plötzlich und unerwartet erfolgt. Die erstere Form der
Sturzgeburt kann bei Missverhältniss zwischen den Dimensionen des
Beckens und jenen der Frucht nicht zugegeben werden, während die zweite
Form, obgleich leichter bei kleinen Früchten (+Winckel+, +Koch+),
so doch auch bei grossen Kindern oder verhältnissmässiger Enge der
Geburtswege sich ereignen kann und unserer Erfahrung zufolge bei
heimlichen Geburten ungleich häufiger sich ereignet als die eigentliche
überstürzte Geburt.
[Sidenote: Verhalten der Nabelschnur.]
Am +Kinde+ ist, ausser dessen Grösse, zunächst das Verhalten der
Nabelschnur zu beachten. Erfolgt die Geburt derart, dass die
Nabelschnur beim Sturze des Kindes gespannt wird, und hierzu ist
begreiflicher Weise besonders bei der Geburt am Abtritt oder im Stehen
Gelegenheit geboten, so wird entweder die Nabelschnur zerreissen oder
es wird gleichzeitig die Placenta mitgerissen, wobei die Nabelschnur
undurchtrennt bleibt. Beide Befunde sind geeignet, die Angabe, dass
eine Sturzgeburt stattfand, zu unterstützen, sind aber keineswegs
hinreichend, für sich allein das Stattgehabthaben einer solchen zu
beweisen, da die Schnur auch von der Mutter abgerissen worden sein
konnte und weil die Geburt des Kindes sammt der Placenta auch bei einer
gewöhnlichen Entbindung sich ereignen kann.
[Illustration: Fig. 122.
Mit einer Scheere quer und glatt abgeschnittene Nabelschnur.
Unmittelbar unter der oberen Trennungsfläche zwei mit ihr und unter
einander parallele scharfrandige Einschnitte. Nat. Gr. Kindesmord.]
[Sidenote: Zerreissung der Nabelschnur.]
Dass bei einer Sturzgeburt die Nabelschnur verhältnissmässig leicht
zerreissen kann, unterliegt keinem Zweifel. Zwar haben +Négrier+ (Annal
d’hygiène publ. XXV, 126), +Späth+ (Wiener med. Wochenschrift, 8.
Nov. 1851), +Schatz+ (Arch. f. Gyn. IX, 28), sowie +Neville+ (Dublin
Journ. of med. Sciences. Febr. 1883) gefunden, dass die Nabelschnur
bei +allmäliger+ Belastung im Mittel ein ungleich höheres Gewicht
(durchschnittlich 4000 bis 5000 Grm.) zu ertragen vermöge, als das
des reifen Neugeborenen beträgt, doch ist es selbstverständlich, dass
es sich bei einer Sturzgeburt nicht um eine allmälige Dehnung der
Nabelschnur, sondern um einen plötzlichen Ruck handelt, den dieselbe
theils durch die Fallkraft des Kindes, theils durch die Gewalt
erleidet, mit welcher das Kind ausgetrieben wird, und dass unter diesen
Umständen nach physikalischen Gesetzen ein ungleich geringeres Gewicht
genügt, um den Nabelstrang zum Zerreissen zu bringen. In der That haben
sehr exacte Versuche, die von +Pfannkuch+ (Arch. f. Gyn. 1875, VII,
pag. 28) angestellt wurden, gezeigt, dass schon 1000 Grm. und weniger
(2mal schon 500 Grm.) genügten, um durch ihre Fallkraft Zerreissung
der Nabelschnur zu bewirken, womit auch die Resultate unserer
eigenen Versuche, die wir jedes Jahr vor unseren Hörern anstellen,
übereinstimmen, bei welchen die Nabelschnur nur ausnahmsweise das
fallende Gewicht eines Kilo auszuhalten vermochte. Je länger die
Nabelschnur ist, d. h. je grössere Fallgeschwindigkeit das Kind
erreicht, desto leichter zerreisst die Schnur. Doch hat +Pfannkuch+
gefunden, dass auch bei halber Länge der Nabelschnur (durchschnittlich
21 Cm.) in der Regel 1000 Grm. genügten, um Zerreissung derselben
zu bewirken. Gewöhnlich erfolgt die Zerreissung im fötalen Theile
der Nabelschnur, mitunter ganz nahe am Nabel und es kann die Schnur
selbst ganz aus dem Nabel ausgerissen werden.[509] Die Zerreissung der
Nabelschnur mit den Händen erfordert zwar an der Leiche immerhin einige
Anstrengung, doch genügt ein kräftiger Ruck, um, wenn die Schnur
fest gepackt wurde, sie zum Zerreissen zu bringen. Das Zerreissen
einer lebenden, turgescirenden Nabelschnur muss zweifellos ungleich
leichter gelingen, um so mehr, als die eine Hand der Mutter am Körper
des Kindes eine Stütze findet. Auch in diesem Falle wird die Schnur in
der Regel nahe am Körper des Kindes durchrissen und kann auch aus dem
Nabel ausgerissen werden Bei sehr dünner Nabelschnur, wie sie sich
z. B. bei unreifen Früchten findet, kann das Zerreissen der Schnur auch
spontan oder beim Aufheben des Kindes oder bei Selbsthilfe oder durch
sonstigen geringen Zug unabsichtlich erfolgen. Aber selbst bei reifen
Früchten ist dies nicht ganz unmöglich. +Koch+ (l. c. 283) hat drei,
+Budin+ (Virchow’s Jahrb. 1887, I, 518) zwei und +Darène+ (ibid. 1888,
I, 485) einen solchen Fall beobachtet, und auch auf +Breisky+’s Klinik
in Wien sind kurz hintereinander zwei derartige Fälle vorgekommen.
Auch beim Aufstehen der Entbundenen bei noch haftender Placenta könnte
ausnahmsweise die Schnur reissen, ein Vorgang, der bei Thieren häufig
vorkommen soll.
[Sidenote: Abgeschnittene Nabelschnur.]
Die Frage, ob eine Nabelschnur durchrissen oder abgeschnitten wurde,
lässt sich aus der Beschaffenheit des peripheren Endes derselben
in der Regel leicht erkennen. Bei der durchschnittenen Nabelschnur
zeigt nicht blos die Amnionscheide scharfe Trennungsränder, sondern
es lässt sich auch constatiren, dass die übrigen Bestandtheile
der Nabelschnur in +einer+ Ebene durchtrennt worden sind, welche
allerdings nicht mehr quer, sondern auch schief auf der Längsachse
der Nabelschnur stehen kann. Dies ist insbesondere dann der Fall,
wenn der Strang mit +einem+ Zug durchschnitten worden ist. Wurde
mehrmals zugeschnitten, dann bildet allerdings die Trennungsfläche
nicht eine Ebene, aber in der Scheide sind mehrere Einschnitte zu
bemerken, die sich meist sehr deutlich präsentiren (Fig. 122).
Wir konnten in einem Falle 5 solche scharfrandige und parallele
Einschnitte, die wahrscheinlich von einer kurzen Scheere herrührten,
constatiren; trotzdem blieb die Angeklagte hartnäckig dabei, dass
das Kind, welches keine Spur einer Verletzung, wohl aber Zeichen
von Erstickung zeigte, von ihr im Stehen geboren wurde, wobei die
Schnur zerrissen sei. War die Schnur abgerissen, so zeigt die
Amnionscheide fetzige, meist schräge, häufig in einen centripetalen
Längsriss sich fortsetzende Ränder, während die Gefässe in ungleicher
Höhe abgetrennt erscheinen. Die ausgezogenen Arterien ragen nicht
selten, eine oder beide aus der Wunde heraus (Fig. 123). In der Regel
reisst der Nabelstrang an der Concavität einer Windung, woselbst die
Amnionscheide wie die Sehne eines Bogens beim Zuge sich spannt und
auch zuerst einreisst, worauf zuerst Dehnung und hierauf Zerreissung
der Gefässe und des übrigen Theiles der Nabelschnur erfolgt. Nur
selten erfolgt der Riss quer, zeigt aber auch dann fetzige Ränder
und unebene Trennungsfläche. Anderweitige Durchtrennungen der
Nabelschnur, z. B. Durchquetschung derselben, kommen gewiss nur
ausnahmsweise vor, schon deshalb, weil sie längere Zeit erfordern.
Dagegen kann es, wie +Huber+ (Friedreich’s Bl. 1884, pag. 391) mit
Recht hervorhebt, geschehen, dass die Nabelschnur nur angeschnitten
und der Rest durchrissen wird.
Im frischen Zustande ist die Beschaffenheit des Trennungsendes
leicht zu erkennen. Ist die Nabelschnur mumificirt, so muss sie
früher aufgeweicht werden, wozu kurze Zeit genügt. Auch weit
gediehene Fäulniss macht die ursprüngliche Beschaffenheit des Endes
unkenntlich, ebenso kann sie bei Leichen, die in Aborten lagen, durch
Benagung von Ratten verändert werden.
[Sidenote: Befund am Kopfe.]
Das Fehlen eines Vorkopfes unterstützt die Angabe, dass eine
Sturzgeburt stattgefunden habe. Das Vorhandensein desselben spricht
jedoch nicht dagegen, da, wie oben bemerkt, die Austreibungsperiode
auch plötzlich verlaufen kann, obgleich der Kopf einige Zeit im
Beckenring eingeklemmt gewesen war. Bei Beckenendlagen können
präcipitirte Geburten, weil der nachfolgende Kopf in der Regel, wenn
auch nur vielleicht für ganz kurze Zeit, stecken bleibt, nicht leicht
vorkommen, doch wurden einzelne solche Fälle von +Winckel+
(l. c.) thatsächlich beobachtet und auch uns ist ein solcher bei einer
22jährigen verheirateten (!) Primipara vorgekommen.
[Illustration: Fig. 123.
Placentarende einer bei einer Sturzgeburt gerissenen Nabelschnur. Nat.
Gr. [510]]
[Sidenote: Kopfverletzungen durch Sturzgeburt.]
Verletzungen, insbesondere Kopfverletzungen, entstehen nicht immer;
namentlich wird bei einer Geburt über einem Eimer oder sonstigen Gefäss
es nicht auffällig sein, dass keine Verletzungen sich finden. Auch
bei der Geburt im Stehen können sie ausbleiben, während sie sich beim
Sturz in einen Abort desto leichter bilden werden, je tiefer derselbe
war und je weniger Flüssigkeit etc. er gerade enthielt. In allen
diesen Fällen wird es sich vorzugsweise darum handeln, zu erwägen, ob
die Kopfverletzungen thatsächlich solche sind, wie sie durch einen
einfachen Sturz entstehen können, oder ob sie Eigenschaften an sich
tragen, die auf eine andere Gewalteinwirkung schliessen lassen. Die
Fissuren und Fracturen des Schädels, welche durch einfachen Sturz
eines neugeborenen Kindes sich bilden, betreffen, wie man sich durch
Versuche leicht überzeugen kann, wenn auch nicht ausschliesslich,
so doch vorzugsweise die Scheitelbeine, und zwar ebenso häufig nur
eins als beide Scheitelbeine. Am häufigsten findet man einen Sprung,
der vom Pfeilnahtrande meist gegen die Mitte zu beginnt, zwischen
den Ossificationsstrahlen radiär zum Scheitelhöcker hinzieht und von
da aus unter einem nahezu rechten Winkel abermals radiär entweder
gegen die Kranznaht oder gegen die Lambdanaht sich fortsetzt. Auch
nur eine einfache solche Fissur kann sich bilden. Seltener sahen wir
wirkliche zackige Fracturen entstehen, indem der Knochensprung schräg
über die Ossificationsstrahlen hinwegzog, immer den inneren Theil
des Seitenwandbeines betreffend. Manchmal fanden wir in dem einen
Scheitelbein eine winklige Fissur, im anderen eine zackige Fractur,
aber in allen Fällen hatten die betreffenden Schädelbrüche eine solche
Beschaffenheit, dass sie deutlich ihre Entstehung aus plötzlicher
Compression der Scheitelwölbung des Schädels erkennen liessen.
Geschah der Sturz von einer bedeutenden Höhe und auf hartem Boden, so
können entlang der Fissur nicht blos die Meningen, sondern auch die
Schädeldecken, letztere durch die scharfen Knochenkanten, einreissen,
wobei aus dem Risse Gehirn austreten kann. Eine unregelmässige oder
mehrfache Zertrümmerung der Schädelknochen kann sich nur bei Sturz aus
grossen Höhen bilden, während solche Beschädigungen bei absichtlicher
Tödtung des Kindes leicht vorkommen können, da sich die betreffende
Mutter, wenn sie ihr Kind durch eine gegen dessen Kopf gerichtete,
mit stumpfen oder stumpfkantigen Werkzeugen ausgeübte Gewalt tödtet,
kaum mit einem einzigen Schlag oder Hieb, Tritt u. s. w. begnügt,
sondern, um sicher zu gehen, diese Gewaltacte wiederholt. Wiederholt
sahen wir bei den in den Abort gestürzten Neugeborenen ausser einfachen
Fissuren der Scheitelbeine Fracturen des Orbitaldaches. Intermeningeale
Blutungen, sowie Quetschungen des Gehirns können auch ohne Fissuren
oder Fracturen geschehen. Bei einem von +Koch+ untersuchten, im Stehen
geborenen und nach 11 Tagen gestorbenen, 42 Cm. langen Kinde fand sich
eine walnussgrosse Zertrümmerung des rechten Stirnlappens.
[Sidenote: Verhalten der Lungen nach Sturzgeburt.]
Endlich muss auch das Verhalten der Lungen herangezogen werden. Handelt
es sich um eine Geburt am Abort, oder über einem mit Flüssigkeit
genügend gefüllten Gefässe, so ist es begreiflich, dass, wenn
thatsächlich eine Sturzgeburt stattfand und das Kind sofort aus den
Genitalien der Mutter in eine Flüssigkeit fiel, die es vollständig
bedecken musste, eine Luftathmung gar nicht oder nur unvollständig
erfolgen kann, und dass wir daher, wenn wir die Lungen vollständig
mit Luft aufgebläht, oder namentlich, wenn wir nicht blos den Magen,
sondern auch einen Theil der Gedärme lufthaltig finden, berechtigt
sind, eine Sturzgeburt auszuschliessen. Doch muss bemerkt werden, dass,
wenn in den betreffenden Orten nur flache Schichten von Flüssigkeit
angesammelt waren, oder dicker Koth u. dergl., welcher das sofortige
Untersinken des Körpers nicht gestattete, das Kind auch noch nach dem
Sturze Luft zu athmen im Stande sein kann. Dafür sprechen wiederholt
beobachtete Fälle, in denen Neugeborene noch lebend aus dem Abort
herausgezogen worden sind. Dass besonders zu erheben sein wird, ob das
Kind noch lebend in die betreffende Flüssigkeit gelangte und darin
ertrunken ist oder nicht, ist selbstverständlich, in welcher Beziehung
wir auf das beim Ertrinkungstode Gesagte verweisen.
Handelt es sich um eine Sturzgeburt, wobei das Kind auf festen Boden
gefallen sein und dabei sich tödtlich beschädigt haben soll, so wäre
es irrig, aus dem Nachweis einer vollständig erfolgten Athmung zu
schliessen, dass der angegebene Vorgang nicht stattgehabt haben konnte,
da Neugeborene selbst nach beträchtlichen Schädelverletzungen nicht
sofort sterben, sondern noch einige Zeit fortathmen können.
Dies beweisen insbesondere jene Fälle, in denen Kinder nach
vorgenommener Perforation und Kephalotripsie noch lebend und athmend
zur Welt gekommen sind. Einen solchen Fall beschreibt +Wisbrand+
(Schmidt’s Jahrb., 3. Supplementbd., pag. 331), ferner +Laborie+
(ibid. 1845, XLV, 191, das Kind lebte noch über eine Stunde) und
wir selbst hatten zweimal Gelegenheit, solche Fälle zu obduciren,
in denen die kephalotribirten Kinder nach der Geburt noch einige
Athemzüge gemacht hatten und auch lufthaltige Lungen zeigten. Ebenso
fanden wir bei der Obduction eines in der Hausflur todt gefundenen
neugeborenen Kindes den Schädel in Stücke zerschmettert, das
Gehirn zum grössten Theile zerstört und sämmtliche Weichtheile in
so ausgedehnter Weise suffundirt, dass kein Zweifel bezüglich der
vitalen Entstehung dieser Verletzungen bestehen konnte. Trotzdem
fanden sich im Magen zwei Camillenblüthenköpfchen in einer trüben,
wie die mikroskopische Untersuchung erwies, aus Spülicht bestehenden
Flüssigkeit und eben diese nebst zwei Blüthenblättern der Camille
in den Bronchien. Da nicht angenommen werden konnte, dass das Kind
früher in das betreffende Spülicht gebracht und dann erst durch
Schädelzerschmetterung getödtet wurde, so erschien es plausibel, dass
die Mutter dem Kinde zuerst den Schädel zerschmettert und dasselbe
dann erst in das Spülicht und die Reste eines kurz zuvor genommenen
Camillenthees enthaltende Gefäss geworfen hatte, woselbst das Kind
noch einige Schluck- und Athembewegungen zu machen im Stande war.
[Sidenote: Umstände des Falles bei angebl. Sturzgeburt.]
Die Erwägung der +Umstände des Falles+ ist bei der
gerichtsärztlichen Beurtheilung von angeblichen Sturzgeburten von
grösster Wichtigkeit, und meistens geben diese nach der einen
oder der anderen Richtung den Ausschlag. Es gehört hierher nicht
blos eine genaue Prüfung der Angaben der betreffenden Mutter über
Schwangerschaftsdauer und Geburtsverlauf, sondern insbesondere
eine sorgfältige Erwägung der localen Verhältnisse, deren Erhebung
namentlich bei angeblich am Abtritt stattgefundenen Sturzgeburten
niemals umgangen werden sollte. Inwiefern Blutspuren verschiedene
Aufschlüsse über den Ort, wo die Geburt stattgefunden, geben können,
bedarf keiner besonderen Erörterung, ebenso wie es klar ist, dass von
einer Sturzgeburt auf einem Abort nicht gut die Rede sein kann, wenn an
demselben unmittelbar nach der Geburt von Zeugen nicht die geringsten
Blutspuren bemerkt worden sind, und wenn auch die Annahme, dass solche
etwa vertilgt wurden, entfällt. Noch wichtiger ist die Erhebung der
Beschaffenheit, insbesondere der Weite der Abtrittsbrille, eventuell
des darunter befindlichen Trichters oder der von ersterer oder von
letzterem abgehenden Röhre. Je grösser die Weite dieser Oeffnungen und
Canäle ist, desto eher kann eine Sturzgeburt zugegeben werden, zuweilen
ergibt aber eine einfache Besichtigung derselben, dass theils der Enge,
theils der Krümmung wegen ein einfaches Durchfallen des Kindes nicht
angenommen werden kann, sondern letzteres durchgeschoben worden sein
musste.
So betrug in einem unserer Fälle, in welchem die Angeklagte angab,
über dem Abortsbrette hockend eine Sturzgeburt erlitten zu haben,
der Durchmesser der runden Brillenöffnung blos 14 Cm. und die der
unteren Apertur des etwas gebogenen darunter befindlichen Trichters
blos 11 Cm. Da nun das Kind ein offenbar ausgetragenes war und die
Schulterbreite desselben 12 Cm. betrug, so konnte nicht angenommen
werden, dass das Kind einfach aus den Geburtswegen der Mutter in den
Abort herabgefallen sei, und das Gutachten, dass es durchgeschoben
worden ist, war um so gerechtfertigter, als sich an demselben eine
handflächenbreite Hautaufschürfung am linken Schulterblatt fand,
welche sich gegen das Gesäss zu verschmälerte und die, weil das Kind
beim Fall in den Abortsraum nirgends anstossen konnte und in eine
starke Schichte dicker Abortsstoffe gerathen war, offenbar nur beim
Durchzwängen durch die untere Oeffnung des Aborttrichters entstanden
sein musste. -- In einem anderen Falle wurde ein ausgetragenes Kind
in einem Topfe vergraben aufgefunden, und die sofort eruirte Mutter
gab an, über diesem Topfe mit auseinandergespreizten Beinen stehend
geboren zu haben, wobei das Kind sofort in den Topf fiel und daselbst
blieb, worauf sie es als todt vergrub. Dieser Topf hatte aber eine
Höhe von 30 Cm. und seine Oeffnung einen Durchmesser von blos 14
Cm., während die Länge des an der Leiche gefundenen abgerissenen
Nabelschnurrestes zusammengenommen mit jenem an der, an einem anderen
Orte gefundenen Placenta 60 Cm. betrug, und es musste unter diesen
Umständen erklärt werden, dass es ein besonders merkwürdiger Zufall
oder geradezu ein Kunststück gewesen wäre, bei einer Geburt in der
von der Mutter angegebenen, an und für sich unwahrscheinlichen
Stellung das Kind gerade in die verhältnissmässig enge Oeffnung
des Topfes hineinzugebären, und dass, dies selbst zugegeben, bei
der geringen Entfernung der Oeffnung des Topfes von den Genitalien
und bei der Länge der Nabelschnur (wozu noch die halbe Länge der
Frucht gerechnet werden muss) eine Zerreissung derselben umsoweniger
hat erfolgen können, als der fallende Kindskörper jedenfalls beim
Passiren der engen Oeffnung des Topfes aufgehalten worden wäre.
-- In einem dritten Falle sollte die Geburt in sitzender Stellung
auf dem Abort erfolgt sein. Aus den Aussagen zweier Zeugen, die
gerade vor dem betreffenden Abort standen, ging jedoch hervor, dass,
während die Angeklagte sich im Abort befand, plötzlich an der Thüre
gerüttelt wurde, wie wenn Jemand an der Klinke sich festhalten
würde, und unmittelbar darnach ein Geschrei „wie von jungen Katzen“
zu hören war, das jedoch sofort verstummte, worauf nach einigen
Augenblicken die Angeklagte heraustrat, wobei man sah, wie sie
ihre blutigen Hände an der Schürze abwischte. Das aus dem Abort
gezogene Kind zeigte eine winklige Fissur des rechten Scheitelbeins,
vollkommen lufthaltige Lungen, Erstickungserscheinungen, ferner
Abortsinhalt in der Luftröhre und eine knapp am Nabel abgerissene
Nabelschnur. Im Gutachten wurde erklärt, dass, wenn auch bei
einer Sturzgeburt ein Athmen des Kindes während des Falles nicht
unmöglich erscheint doch ein Schreien desselben nicht zugegeben
werden könne, dass also schon aus diesem Grunde und weil die Lungen
vollständig aufgebläht waren, eine Sturzgeburt nicht angenommen
werden kann. Noch mehr musste diese Annahme entfallen mit Rücksicht
auf das Ergebniss der Localbesichtigung, da sich herausstellte,
dass der vordere Rand des Abtrittssitzes von der Thüre 1·47 Meter
entfernt war, weshalb die Angeklagte unmöglich zu der Zeit, wo sie
auf der Abortsbrille sass, zugleich an der Thür gerüttelt haben
konnte, während, wie das gleichzeitig vernommene Schreien des
Kindes beweist, die Geburt offenbar in letzterem Momente vor sich
gegangen war. -- Bei Waterclosets ist auch die treibende Kraft des
Wasserstrahles zu berücksichtigen, besonders in Fällen, wo die
Angeklagten angeben, dass sie erst, als sie die Klappe öffneten,
das Kind bemerkten, welches eben in dem selben Momente verschwand.
Dass ein unwillkürliches Entschlüpfen der Frucht unter solchen
Umständen möglich ist, lehrte der folgende Fall: Eine hochgradig
tuberculöse, verheiratete Patientin eines hiesigen Spitales hatte
am Abort unerwartet entbunden. Auf ihr Geschrei kam die barmherzige
Schwester aus dem anstossenden Krankenzimmer herbei, hob die Kranke,
von der sie meinte, sie sei unwohl geworden, vom Abort und sah in
diesem Moment ein sich regendes Kind im Abortstrichter liegen. In
ihrer Verwirrung ergriff sie die Handhabe der Klappe, die sich sofort
öffnete, worauf im selben Augenblick das Kind hinabgespült wurde und
verschwand, bevor die Nonne es erfassen konnte. Das mit der Placenta
in Verbindung stehende Kind wurde mit zerschmettertem Kopfe aus dem
zwei Stockwerke tiefen Abort hervorgeholt. In einem anderen Falle gab
die Angeklagte an, sie hätte die Klappe geöffnet, um das Kind vom
Blut zu reinigen, wobei ihr dasselbe entschlüpfte.
Die Verblutung aus der Nabelschnur.
Ueber die Frage, ob eine Verblutung aus der nicht unterbundenen
Nabelschnur überhaupt, oder wenigstens leicht möglich sei, oder nur
ausnahmsweise erfolgen könne, ist ungemein viel geschrieben worden.
Gegenwärtig sind sowohl die Geburtshelfer, als die Gerichtsärzte
darüber einig, dass sie nur sehr selten eintrete. Namentlich sprechen
gerichtsärztliche Erfahrungen für diese Thatsache, welche lehren,
dass, obgleich bei heimlichen Geburten die Nabelschnur in der Regel
sofort durchtrennt und fast niemals unterbunden wird, doch nur
ausnahmsweise Kinder vorkommen, bei welchen eine Verblutung aus der
nicht unterbundenen Nabelschnur angenommen werden kann.
Die +Ursache+, warum eine Verblutung aus der durchtrennten
Nabelschnur für gewöhnlich nicht erfolgt, ist in erster Linie
in der lebhaften Contraction der Nabelarterien zu suchen, deren
mächtige Längs- und Quermuskelschichte bei geringer Entwicklung der
elastischen Fasern sie besonders befähigt, sich sowohl zu verengern,
als ein centripetales Verkürzungsbestreben zu äussern (+Strawinski+,
„Ueber den Bau der Nabelgefässe und über ihr Verhalten nach der
Geburt“. Sitzungsb. d. Akad. d. Wissensch. 1874, LXX, 3. Abth.,
Juliheft). Ausserdem scheint eine grössere Reizbarkeit dieser Gefässe
zu bestehen, welche bewirkt, dass schon der Contact der äusseren
Luft, vielleicht auch der mechanische Reiz bei der Trennung der
Nabelschnur lebhafte und dauernde Contraction derselben zur Folge
hat. Ob die Temperatur des umgebenden Mediums von Einfluss ist, ist
fraglich, wenigstens sahen wir, wenn neugeborenen oder lebend aus dem
Uterus herausgeschnittenen Hunden die Nabelschnur durchtrennt wurde,
die Blutung aus dieser in wenigen Augenblicken sistiren, ob nun der
Unterleib des Thieres früher in kaltes oder warmes Wasser getaucht
worden war. Dagegen verengerten sich die Arterien lebhaft, wenn in
dieselben eine Borste eingeführt wurde. Ein wesentlicher Einfluss
auf den Stillstand der Blutung aus der durchtrennten Nabelschnur
wird dem Beginn des kleinen Kreislaufes zugeschrieben, wodurch der
Aorta descendens eine grosse Blutmasse entzogen und deshalb und weil
der Druck der rechten Kammer entfällt, der Druck in sämmtlichen
Gefässen des Aortensystems vermindert wird, welche Druckverminderung
sich vorzugsweise peripher bemerkbar macht. Der Einfluss dieser
Verminderung des Blutdruckes ist nicht zu unterschätzen, noch
weniger die verhältnissmässige Schwäche des erst nach der Geburt
hypertrophirenden linken Ventrikels, die bewirkt, dass auch andere
Gefässe und selbst die Carotiden, wenn sie bei neugeborenen Thieren
durchschnitten werden, nicht wie später, im starken Strahle spritzen,
sondern ihr Blut mehr sprudelnd entleeren, wie wir uns durch directe
Beobachtung an neugeborenen Hunden überzeugt haben, wobei wir
zugleich fanden, dass die Nabelarterien in der Bauchhöhle noch einige
Zeit (in dem einen Falle noch nach einer halben Stunde) fortpulsiren,
nachdem Puls und Blutung im Nabelschnurreste bereits aufgehört haben
und die Respiration in vollen Gang gekommen ist (Oesterr. Jahrb. f.
Pädiatr. 1887, pag. 188).
Letztere Beobachtung, sowie die geburtshilfliche Erfahrung, dass die
Nabelschnur auch noch nach der Geburt einige Augenblicke, manchmal auch
durch längere Zeit, fortpulsirt (+Mende+, l. c. III, 289; +Hohl+, l. c.
454), machen es ganz wohl möglich, dass in einzelnen Fällen eine
Verblutung aus der nicht unterbundenen Nabelschnur erfolgen kann, und
diese Möglichkeit wird durch wiederholt gemachte Beobachtungen dieser
Art bewiesen.[511] Die Ursache, warum die Blutung aus der durchtrennten
Nabelschnur nicht wie gewöhnlich still stand oder nachträglich wieder
auftrat, lässt sich nicht immer eruiren. Unvollkommene oder behinderte
Respiration scheint den Eintritt einer Nabelschnurverblutung zu
begünstigen, da der kleine Kreislauf sich nicht vollkommen entfaltet
und daher der Blutdruck im Aortensystem nicht blos nicht sinkt, sondern
im Gegentheil wie bei jeder Erstickung steigt. Ob ein warmes Medium,
in welches die Frucht geräth, die Verblutung aus der Nabelschnur
fördere, die Kälte aber diese verzögere, muss obigen Beobachtungen
zufolge dahingestellt bleiben. Dass aus einer durchrissenen oder
durchquetschten Nabelschnur weniger leicht eine letale Blutung
erfolgen kann, als aus einer durchschnittenen, muss aus der Analogie
mit anderen Wunden zugegeben werden. Die Stelle, wo der Nabelstrang
durchtrennt wurde, ist nicht gleichgiltig, insoferne, als aus einem
langen Nabelschnurrest weniger leicht ein starker Blutverlust zu
befürchten ist, als aus einem kurzen, obgleich, wie zahlreiche Fälle
lehren, selbst wenn die Nabelschnur aus dem Nabel ausgerissen wurde,
nicht nothwendig Verblutung erfolgen muss. Ein anormaler Ursprung der
Nabelarterien wäre ebenfalls zu beachten.
Nach +Rokitansky+ (Path. Anat. 3. Aufl., III, 547) ist gar nicht
selten nur eine Nabelarterie zugegen als unmittelbare Fortsetzung der
Abdominalaorta. Wir selbst haben wiederholt nur eine Nabelarterie
gefunden, die aber stets normal aus der Hypogastrica entsprang,
jedoch noch einmal so stark war als gewöhnlich.
Die meisten in der Literatur enthaltenen Fälle von Verblutung aus den
Nabelgefässen sind solche, in welchen die Verblutung erst nachträglich,
und zwar während der Abstossung des mortificirten Nabelstranges
oder bald darnach eingetreten war. Einzelnen dieser Fälle liegt ein
anormaler Verlauf der Obliteration der Nabelgefässe zu Grunde, meistens
aber ist die Blutung durch septische Processe am Nabel oder in den
Nabelgefässen bedingt (+Klebs+, +v. Ritter+, +Eppinger+).
An eine Verblutung aus der nicht unterbundenen Nabelschnur kann bei der
Untersuchung einer Kindesleiche selbstverständlich nur dann gedacht
werden, wenn letztere ausgesprochene Zeichen der Anämie darbietet.
Findet sich aber eine solche, so werden wir sie nur dann auf eine
Verblutung aus der Nabelschnur beziehen, wenn andere Ursachen der
Anämie, insbesondere Verletzungen grösserer Gefässe oder blutreicher
Organe, sich nicht nachweisen lassen. Dabei ist der Umstand, dass der
Nabelschnurrest etwa unterbunden gefunden wird, für sich allein nicht
genügend, um eine Verblutung aus dieser Quelle auszuschliessen, da die
Ligatur auch erst nachträglich angelegt worden sein konnte, und weil
einzelne Fälle bekannt sind, in welchen trotz erfolgter Unterbindung,
weil die Schlinge von selbst oder wegen Schwund der Sulze sich
gelockert hätte, Verblutung eingetreten war.
Absichtliche Tödtung des Neugeborenen.
Der §. 139 des österr. St. P. unterscheidet eine Tödtung des
Neugeborenen durch activen Eingriff der Mutter und eine solche durch
Unterlassung des bei der Geburt nöthigen Beistandes. Der österr.
Entwurf (§. 222) enthält die gleiche Unterscheidung, ohne jedoch auf
die Tödtung durch Unterlassung des bei der Geburt nöthigen Beistandes
eine geringere Strafe festzusetzen, wie dies merkwürdiger Weise im
gegenwärtigen St. G. geschieht. Das deutsche St. G. spricht nur von
„Tödtung“ schlechtweg, ohne die Art und Weise näher zu berühren, durch
welche dieselbe bewirkt werden kann.
Von den +activen Tödtungsarten+, die bei Neugeborenen zur Anwendung
kommen, ist die durch +Verletzung des Schädels+ mit stumpfen oder
stumpfkantigen Werkzeugen eine der häufigeren, wobei die betreffenden
Werkzeuge entweder gegen den Kopf des Kindes geführt werden oder
dieser gegen harte Körper geschleudert wird. Die Folgen solcher
Gewalteinwirkungen sind meist Continuitätstrennungen der Schädelknochen
mit Extravasat in die Schädelhöhle. Die Beurtheilung dieser kann
im Allgemeinen nach keinen anderen Grundsätzen geschehen, als die
jener bei Erwachsenen. Doch bieten die Continuitätstrennungen am
Schädel Neugeborener manches Eigenthümliche dar, und zwar, abgesehen
davon, dass sie auch schon, wie bereits besprochen wurde, während
des Geburtsactes und sogar vor demselben entstehen können, auch
insoferne, als eine Verwechslung mit Ossificationslücken denkbar ist,
und auch die Möglichkeit, dass die constatirten Läsionen erst nach
dem Tode entstanden sein konnten, wegen der grossen Fragilität der
Schädelknochen des Neugeborenen ganz besonders in Betracht gezogen
werden muss.
[Sidenote: Ossificationsspalten am Schädel des Neugeborenen.]
Die +Ossificationslücken+ zerfallen in spaltförmige oder anderweitig,
d. h. rundlich oder unregelmässig geformte.
Erstere kommen mit grosser Constanz an der Hinterhauptsschuppe vor
und stehen wahrscheinlich mit der Anordnung der Vasa Santorini in
einem ursächlichen Zusammenhang, während sie früher als Rest der
ursprünglich paarigen Trennung der Ossificationskerne betrachtet
wurden, aus denen sich die Hinterhauptsschuppe angeblich aufbaut. Man
unterscheidet hier eine senkrechte und zwei seitliche Spalten (Fig.
124). Die senkrechte zieht von der Spitze der Hinterhauptsschuppe
senkrecht herab zum Hinterhauptshöcker und ist selten länger als
1·5 Cm. Die seitlichen Spalten springen symmetrisch von beiden
Seitenfontanellen in die Hinterhauptsschuppe ein, schief nach innen
und oben in der Weise verlaufend, dass sie meist in der Höhe des
Hinterhaupthöckers 1-1·5 Cm. von diesem entfernt enden. Ihre Länge
beträgt selten weniger als 2 Cm. und ihr Verlauf ist nicht immer ein
geradliniger, sondern häufig ein wellenförmiger. Ausserdem zeigt der
untere Rand der Hinterhauptsschuppe fast immer eine Einkerbung gerade
in seiner Mitte, welche zuweilen in eine nach aufwärts ziehende
Spalte sich verlängert und in sehr seltenen Fällen sogar, mit der von
oben kommenden Spalte sich vereinigend, eine Theilung der Schuppe
in 2 seitliche Hälften bewirkt. Häufiger vereinigen sich die beiden
seitlichen Spalten, wovon wir zwei Beispiele in unserer Sammlung
besitzen (Fig. 125).
[Illustration: Fig. 124.
Embryonale Spalten an der Hinterhauptsschuppe des Neugeborenen.]
[Illustration: Fig. 125.
Durch Vereinigung der zwei seitlichen embryonalen Spalten quergetheilte
Hinterhauptsschuppe eines Neugeborenen.]
Auch die Scheitelbeine zeigen sehr gewöhnlich, wenn auch nicht
so constant wie die Hinterhauptsschuppe, derartige „embryonale
Spalten“. Am häufigsten sieht man solche im hinteren Drittel des
Pfeilnahtrandes, und zwar jederseits ganz symmetrisch je eine,
selten mehr als 1·5 Cm. lange, zwischen den Ossificationsstrahlen
sich nach aussen ziehende Spalte, welche der Stelle entspricht, wo
sich später die Foramina parietalia bilden. Indem die inneren Enden
dieser Spalten häufig auseinanderweichen, bilden sie eine rhombische
oder ovale Lücke in der Pfeilnaht, die man als „accessorische
Fontanelle“ bezeichnet (Fig. 126). Ebenfalls häufig sieht man an der
Uebergangsstelle des mittleren in das obere Drittel der Lambdanaht
symmetrisch gelegene Spalten in die Scheitelbeine einspringen und
nach vorn und aussen gegen das Tuber parietale verlaufen. Dieselben
sind in der Regel nur kurz, können aber auch, wie wir einen solchen
Fall beschrieben haben[512], bis nahe zum Scheitelhöcker verlaufen
und dann eine überraschende Aehnlichkeit mit traumatischen Fissuren
erhalten (Fig. 127).
Die Verwechslung solcher angeborener Spalten mit traumatischen
Fissuren ist thatsächlich vorgekommen und wir haben einige solche
Fälle in der eben citirten Arbeit zusammengestellt.[513] Die
Unterscheidung ergibt sich zunächst aus dem stets constanten Sitze
der Spalten und ihrer symmetrischen Anordnung, ferner aus der
zugeschärften oder abgerundeten Beschaffenheit der Ränder derselben,
die jedoch nicht immer gerade, sondern auch wellen- und selbst
zickzackförmig verlaufen können, und bei frischen Schädeln ausserdem
dadurch, dass der zwischen den Spalträndern bestehende Raum mit
embryonalem Knorpel ausgefüllt ist, mit welchem, wie an den Nähten,
einestheils das Pericranium, anderseits die Dura ziemlich fest
verwachsen sind.
[Illustration: Fig. 126.
Schädeldach eines Neugeborenen mit _a_) accessorischer Fontanelle und
Spaltbildungen im hinteren Drittel der Pfeilnaht und _b_) symmetrischen
embryonalen Spalten im Lambdanahtrande beider Scheitelbeine.]
[Illustration: Fig. 127.
Hochgradige symmetrische Spaltbildung im hinteren Theile beider
Scheitelbeine bei einem Neugeborenen.]
Die rundlichen oder unregelmässig geformten Ossificationslücken,
welche nicht selten an den Schädelknochen Neugeborener vorkommen,
verdanken einer mangelhaften Ossification ihre Entstehung und
werden daher als +Ossificationsdefecte+ schlechtweg bezeichnet
(Fig. 128). Der häufigste Ort, wo dieselben vorkommen, ist das
Scheitelbein, seltener das Stirnbein und nur ganz ausnahmsweise das
Hinterhauptsbein. An den Scheitelbeinen sitzen die Defecte fast immer
zwischen der Pfeilnaht und dem Tuber, näher der ersteren. Häufig ist
dann der Defect beiderseitig, ohne deshalb einen gleichen Grad der
Ausbildung zeigen zu müssen. Auch an dem Stirn- und Hinterhauptsbein
sitzen die Ossificationsdefecte, wenn sie dort vorkommen, niemals
im Tuber, sondern stets in den peripheren Partien des Knochens. Sie
präsentiren sich entweder als rundliche oder unregelmässige Lücken
im Knochen, gegen welche zu letzterer sich allmälig verdünnt, oder
als papierdünne, durchsichtige Stellen, oder noch häufiger als
Combinationen beider dieser Erscheinungsformen. Sie sind häufig
schon durch die Kopfhaut als eindrückbare, manchmal wie crepitirende
Stellen zu fühlen, und lassen sich am blossgelegten Schädelknochen
am besten dann deutlich als solche erkennen, wenn man denselben
nach Ablösung des Pericranium und der Dura gegen das Licht hält,
wo man dann die durchscheinenden Partien des Knochens, sowie die
allmälig gegen das Lumen sich verdünnenden Ränder der Lücken sehr gut
erkennen kann. Dieses Verhalten, sowie die die Lücke ausfüllende,
mit dem Pericranium und der Dura mater verwachsene Primordialmembran
unterscheiden solche Oeffnungen von anderweitig (durch Trauma)
erzeugten. Trotzdem sind Fälle vorgekommen, in denen eine solche,
kaum zu entschuldigende Verwechslung stattgefunden hat. Eine andere
forensisch wichtige Bedeutung solcher Ossificationsdefecte liegt
in der Leichtigkeit, mit welcher an solchen Partien des Knochens
der abnormen Dünne und Brüchigkeit wegen Fracturen und Fissuren
entstehen können. Letztere können, wie bereits erwähnt, schon
während des Geburtsactes entstehen, aber auch nach der Geburt
reichen schon geringfügige Gewalten hin, um an solchen Stellen
Continuitätstrennungen zu erzeugen, und es ist klar, dass sich dann
die mit solchen Einwirkungen verbundene Erschütterung leichter durch
das abnorm verdünnte oder durchbrochene Schädeldach auf das Gehirn
fortpflanzen wird, als wenn dieses die normale Dicke und Festigkeit
besessen hätte. Es ist dies ein Umstand, der insbesondere bei
Beurtheilung des Effectes einer Sturzgeburt in Betracht zu ziehen ist.
[Illustration: Fig. 128.
Ossificationsdefecte an den Scheitelbeinen eines Neugeborenen.]
[Sidenote: Rachitis foetalis.]
Die Ossificationsdefecte können bei sonst ganz gesunden Kindern
vorkommen, mitunter aber sind sie eine Theilerscheinung des
Hydrocephalus, was ebenfalls Beachtung verdient. Erwähnung verdienen
auch die als Rachitis congenita oder Osteogenesis imperfecta
(+Vrolik+) beschriebenen Fälle, in welchen, als Theilerscheinung
einer allgemein mangelhaften Ossification, die Schädeldeckknochen
aus einer grossen Zahl kleiner und dünner, meist sternförmiger
Knochenplatten bestehen, die entweder von einander getrennt sind
oder die mannigfachsten Stadien der gegenseitigen Verschmelzung
darbieten (Fig. 129). Solche Schädel können sich von aussen anfühlen,
wie wenn sie in mehrere Stücke gebrochen wären. In der Regel
bestehen auch die übrigen Knochen, insbesondere die Diaphysen der
Extremitätenknochen, aus unregelmässig ossificirten Stücken (Fig.
130), welche ebenfalls Fracturen vortäuschen können, wie dies in
dem abgebildeten Falle thatsächlich geschehen ist. Dabei ist zu
bemerken, dass solche Knochen sehr spröde sind und daher ungemein
leicht brechen, wie denn auch an dem abgebildeten Schädel wirkliche
Fracturen sind, die wahrscheinlich während des Geburtsactes und durch
diesen, vielleicht aber auch nachträglich durch die mit dem Kinde
vorgenommenen gewöhnlichen Manipulationen entstanden sind.
[Illustration: Fig. 129.
Rachitis foetalis des Schädels für traumatische Zertrümmerung gehalten.]
[Sidenote: Postmortale Schädelverletzungen.]
Dass Fissuren oder Fracturen, die sich an einem Kindesschädel finden,
möglicherweise +erst nach dem Tode+ entstanden sein konnten, ist
immer im Auge zu behalten, einestheils wegen der bereits erwähnten
Leichtigkeit, mit welcher solche Continuitätstrennungen an den
kindlichen Schädelknochen entstehen, anderseits deshalb, weil bei der
Beseitigung oder Verbergung der Leichen Neugeborener häufig in einer
Weise verfahren wird, dass ausgiebige Gelegenheit geboten ist zur
Bildung solcher Verletzungen. So z. B. wenn die Leichen in Aborte,
Gruben oder über Mauern geworfen, vergraben, mit Steinen beschwert, in
enge Verstecke eingezwängt werden u. dergl. Es muss in solchen Fällen
zunächst der Ort erwogen werden, wo die Leiche gefunden wurde, und
ob das Gelangen dieser an jenen mit einer gewissen Gewalteinwirkung
verbunden gewesen sein musste, ebenso eventuelle nachträgliche
Gewalten, die namentlich beim Herausbefördern der Leiche eingewirkt
haben konnten. So fanden wir an einem offenbar todtgeborenen, aus dem
Abort herausgezogenen Kinde zahlreiche Hautaufschürfungen am Körper
und mehrfache reactionslose Fissuren und Fracturen der Scheitelbeine,
welche umsomehr als postmortal entstandene erklärt werden mussten,
als sich herausstellte, dass die Kindesleiche in der Abortsröhre
stecken geblieben war und dass man, um die Verstopfung der Röhre,
deren Grund man nicht ahnte, zu beseitigen, das Hinderniss mit einer
Stange herabgestossen hatte, was erst nach längerer Anstrengung gelang.
In einem anderen ähnlichen Falle ergab sich ein schmaler Stichcanal,
welcher den ganzen Rumpf schief durchdrang und von einem langen Drahte
herrührte, mit welchem die Abortröhre, wo die Kindesleiche stak,
sondirt worden war. Ausser solchen Erwägungen können nur der Befund
oder das Fehlen vitaler Reactionserscheinungen entscheiden, ob es sich
um eine während des Lebens oder erst postmortal entstandene Verletzung
handelt.
[Illustration: Fig. 130.
Rachitis foetalis. Becken, Ober- und Unterschenkel für fracturirt
gehalten.]
[Sidenote: Leberrupturen etc.]
Tödtungen des Kindes durch gegen andere Körpertheile gerichtete
Schläge, Stösse, Tritte u. dergl., kommen nur ausnahmsweise und dann
in der Regel combinirt mit Verletzungen des Schädels vor. Fälle von
Tödtung Neugeborener durch Erzeugung von Leberrupturen haben +Pincus+,
+Bittner+ und +Koehler+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1875. XXII,
pag. 1, XXIII, pag. 33 und 1877, XXVI, pag. 71), sowie +Merner+ (ibid.
1882, XXXVI, 226) und neuestens +Lindner+ (ibid. 242) beschrieben.
Diese Fälle sind, abgesehen von ihrer Seltenheit, deshalb interessant,
weil aus Anlass derselben die Frage angeregt wurde, ob eine Leberruptur
auch beim Abreissen der Nabelschnur entstehen könne. Es kann dies wohl
nicht leicht vorkommen, denn auch dann, wenn die Mutter, ihre Hand
an dem Kinde stützend, die Nabelschnur abreisst, kann eine Ruptur
durch den Druck der Hand nicht gut erfolgen, da die Zerreissung der
Nabelschnur, wie bereits erwähnt, keine besondere Gewalt erfordert.
Doch haben wir bei einem kurz vor Ankunft der zur (unehelichen)
Entbindung gerufenen Hebamme geborenen Kinde die Nabelschnur aus dem
Nabel und aus der Placenta ausgerissen und an der Convexität des
rechten Leberlappens eine seichte Ruptur gefunden und in einem Falle
von Sturzgeburt eine Abreissung der Nabelvene innerhalb der Bauchhöhle
(pag. 799). Dagegen sind heftige Quetschungen der Lebergegend,
wie sie beim Treten des Kindes und bei ähnlichen activen Gewalten
stattfinden, ebenso aber auch ein Sturz von beträchtlicher Höhe auf
harten Boden geeignet, solche Rupturen zu erzeugen, und es ist bei der
unverhältnissmässigen Grösse der kindlichen Leber, dem Blutreichthum
und der grösseren Zartheit der Gewebe zu verwundern, dass sie z. B. bei
den aus Aborten gezogenen Kindern nicht häufiger beobachtet werden.
[Sidenote: Tödtung Neugeborener durch Schnitt, Stich und Erstickung.]
Sehr selten sind die Tödtungen Neugeborener durch schneidende oder
stechende Werkzeuge. Doch haben wir mehrmals Gelegenheit gehabt, Fälle
zu begutachten, in welchen die Mutter ihr neugeborenes Kind durch
Halsabschneiden getödtet hatte, und einen, in welchem das Kind durch
eine eiserne Schaufel tödtlich verletzt worden war. Erstechen ist uns
bisher nicht vorgekommen.
[Sidenote: Selbsthilfe.]
Erstickung ist häufig. Wurde sie mit einigem Raffinement, z. B.
durch Verschluss der Respirationsöffnungen mit weichen Gegenständen,
Tüchern, Betten u. dergl., vorgenommen, dann können äussere Merkmale
der Todesart vollkommen fehlen. Die Tödtung durch Zuhalten des Mundes
oder der Nase mit den Händen könnten Fingernägeleindrücke und andere
Hautaufschürfungen in der Nähe der Respirationsöffnungen verrathen.
Doch wäre zu beachten, dass Hautkratzer im Gesichte durch Selbsthilfe
entstehen können. Nicht gar selten sind die Tödtungen durch Verstopfung
der Mund- und Rachenhöhle mit den Fingern oder anderen fremden Körpern,
in welchen Fällen sich entweder letztere noch vorfinden oder mehr
weniger ausgebreitete Quetschungen oder Zerreissungen des Rachens
oder Gaumens den Vorgang verrathen. Wir haben eine beträchtliche Zahl
solcher Fälle untersucht. Da in zweien derjenigen, wo kein fremder
Körper vorgefunden wurde, auch am Vorderhalse Druckspuren sich fanden,
haben wir auch die Möglichkeit erwogen, ob solche Zerreissungen des
Rachens nicht auch durch brutales Würgen entstehen können und in
dieser Richtung einige Versuche angestellt, jedoch mit negativem
Resultate. +Haberda+ (Wiener klin. Wochenschr. 1893, Nr. 45-47) hat
die in unserem Institute vorgekommenen derartigen Fälle (im Ganzen 17)
näher beschrieben und theilweise abgebildet und erörtert ausführlich
die Differentialdiagnose solcher von blos zufällig entstandenen
Verletzungen. Bezüglich der Spuren, die am Halse des Neugeborenen
nach Erwürgen zurückbleiben können, verweisen wir auf die Besprechung
dieser Todesart bei Erwachsenen. Jedoch muss bemerkt werden, dass
Sugillationen zwischen den Weichtheilen des Halses, insbesondere in
der Scheide des Sternocleidomastoideus (Haematoma st. cl. m.), sich
auch bei Selbsthilfe in Folge heftiger Zerrung, respective Streckung
des Halses, sowohl bei zuerst geborenem, als bei nachfolgendem Kopfe
bilden können, wie durch wichtige Beobachtungen von +Hirschsprung+
(Virchow’s Jahresb. 1869, II, 662), +Skrzeczka+ (Vierteljahrschr.
f. gerichtl. Med. 1869, X, 129) und +Fassbender+ (ibidem, 1874,
XXI, 176) sichergestellt worden ist[514], wie denn auch forensisch
nicht unbeachtet bleiben kann, dass bei Anwendung des sogenannten
Prager Handgriffes zur Extraction des zuletzt kommenden Kopfes, von
+Schröder+ zweimal eine Lossprengung des Partes condyl. von der
Hinterhauptsschuppe beobachtet wurde, ebenso einmal von +Winckel+
bei gewöhnlicher Schädellage (+Bergmann+, Pitha-Billroth’s Handb.
1873, III, pag. 46). Aehnliche Beobachtungen von +Sassen+ an 33 durch
Extraction geborenen Kindern vide Virchow’s Jahresb. 1874, II, 803.
Ueber Zerreissungen des Mundes und sogar Fracturen des Unterkiefers
bei der Selbsthilfe, insbesondere beim nachfolgenden Kopf, respective
durch Einführen der Finger in den Mund und Zug am Unterkiefer haben
+Skrzeczka+ (Maschka’s Handb. I, 956), +Braxton+-+Hicks+ (Virchow’s
Jahresb. 1885, I, 498) und +Kop+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1886, XLV, pag. 87) berichtet. Bei Strangulationen mit einem
Würgband können sich Sugillationen im Unterhautgewebe und in den
tieferen Weichtheilen bei Neugeborenen, der grösseren Zartheit
und Zerreisslichkeit der Gewebe wegen, leichter bilden, als bei
Erwachsenen. In einem Falle, in welchem das Kind mit einem Kleiderärmel
erdrosselt worden war, haben wir sie sehr deutlich ausgebildet
gefunden. Dass eine (weiche) Strangfurche auch durch Umschlingung der
Nabelschnur um den Hals entstehen und dass gut genährten Kindern der
anämische Grund von Querfalten der Haut am Halse eine Strangfurche
vortäuschen könne, wurde bereits erwähnt.
Anderweitige Tödtungsarten, die überdies ausser dem Ertränken nur ganz
ausnahmsweise vorkommen, bieten keine specifischen Seiten und sind
nach denselben Grundsätzen zu beurtheilen, die bei Besprechung der
betreffenden Arten des gewaltsamen Todes bereits an anderer Stelle ihre
Auseinandersetzung gefunden haben.
[Sidenote: Unterlassung d. Beistandes.]
Die Tödtung des Neugeborenen durch +Unterlassung des bei der Geburt
nöthigen Beistandes+ könnte geschehen durch absichtliche Unterlassung
der Unterbindung der Nabelschnur, ferner durch absichtliche
Unterlassung der Beseitigung von Respirationshindernissen und endlich
durch Nichtbeschützen des Kindes gegen äussere schädliche Einflüsse.
[Sidenote: Ohnmacht bei der Geburt.]
Es ist selbstverständlich, dass, wenn es auch gelang, zu constatiren,
dass das betreffende neugeborene Kind an Verblutung aus der nicht
unterbundenen Nabelschnur gestorben ist, doch nur in den seltensten
Fällen Anhaltspunkte gegeben sein werden, um den Nachweis zu führen,
dass die Unterbindung +absichtlich+ unterlassen wurde, umsoweniger,
als man wenigstens bei Erstgebärenden, und um diese handelt es
sich meistens, nur selten in der Lage sein wird, zu behaupten,
dass die betreffende die Nothwendigkeit einer Unterbindung der
Nabelschnur kennen musste, sowie auch, wie dieselbe vorzunehmen
sei. Ebenso wird man, falls ein Kind in unverletzten Eihäuten
oder mit durch Eihautstücke oder durch Fruchtschleim verlegten
Respirationsöffnungen zur Welt kommt, es begreiflich finden, wenn die
Mutter die Gefahr, in welcher das Kind schwebt, nicht erkennt und
daher die Respirationshindernisse zu entfernen versäumt. Würde es
sich um eine Sturzgeburt auf einem Gefässe, oder um eine Entbindung
unter Betten u. dgl. handeln, dann muss man allerdings annehmen,
dass der natürliche Verstand der Entbundenen sagen musste, dass das
Kind aus der betreffenden Lage zu entfernen sei, wenn es am Leben
erhalten werden solle. Hier begegnet man aber häufig der Angabe der
Angeklagten, dass sie im Momente der Entbindung bewusstlos wurde, oder
wegen Erschöpfung nicht im Stande war, dem Kinde Hilfe zu leisten.
Die Möglichkeit einer Bewusstlosigkeit, insbesondere einer Ohnmacht
während oder unmittelbar nach dem Geburtsacte, kann gegenwärtig nicht
mehr bestritten werden. +M. Freyer+ („Die Ohnmacht bei der Geburt vom
gerichtsärztlichen Standpunkt.“ Berlin 1887) gebührt das Verdienst,
jeden Zweifel in dieser Richtung beseitigt zu haben, indem es ihm
gelang, in der Literatur 3 unantastbare, von +Mende+, +Schmitt+ und
+Wildberg+ mitgetheilte Beispiele nachzuweisen, ferner bei streng
kritischer Durchsicht einer grossen Zahl seit 1879 vorgekommenen,
Kindsmord betreffenden Kriminalfällen 5 zu eruiren, in welchen die
Angeklagten zur Zeit des Gebäractes von Zeugen im Ohnmachtszustande
angetroffen wurden und 10 andere, in welchen die Angeklagten das
Vorhandengewesensein einer Ohnmacht aufrecht erhielten, obgleich
sie die Mordthat eingestanden. Ein einschlägiger Fall wird auch von
+Kornfeld+ (Friedreich’s Bl. 1888, pag. 64) berichtet. Aufrechte
Körperstellung, grosser Schmerz, heftige Gemüthsbewegung, plötzliche
Entleerung der Frucht und starke Blutung begünstigen das Eintreten
einer Ohnmacht und diese Bedingungen können bei einer heimlichen
Entbindung leichter in verschiedenen Combinationen vorkommen als bei
gewöhnlichen Geburten. Man kann daher Angaben von heimlich Entbundenen,
dass sie im Momente der Geburt das Bewusstsein verloren hätten, nicht
ohne weiteres als Lüge oder Uebertreibung bezeichnen. Gleiches gilt
gegenüber von Angaben, dass die Betreffenden wegen Erschöpfung für
einige Zeit unfähig gewesen wären, dem Kinde zu helfen. Trotzdem
werden wir in jedem einzelnen Falle nicht blos die allgemeine
Möglichkeit der erwähnten Vorgänge im Auge behalten, sondern auch
prüfen, ob die übrigen Umstände des Falles sich mit einer solchen
Möglichkeit im Einklang befinden.[515] Eine Tödtung des Kindes durch
Nichtbeschützung desselben vor äusseren schädlichen Einflüssen könnte
vorzugsweise dadurch geschehen, wenn das Kind am Orte der Entbindung
liegen gelassen worden und etwa durch die gerade herrschende Kälte
umgekommen wäre. Wir haben bereits an einem anderen Orte erwähnt, dass
bei Neugeborenen nicht gerade Gefrierkälte nöthig ist, um den Tod
herbeizuführen, und zugleich auf die Schwierigkeit hingewiesen, die
die Diagnose einer solchen Todesart bietet. Den Nachweis zu führen,
dass das Kind absichtlich der Kälte ausgesetzt gelassen wurde, fällt
begreiflicher Weise in einem solchen Falle weniger dem Arzte, als
dem Untersuchungsrichter zu, da nur die äusseren Verhältnisse des
Falles im Stande sind, in dieser Richtung Aufklärung zu geben. Auch
verhungern kann ein Kind unter solchen Umständen. Diese Möglichkeit
war bei einem von uns obducirten Kinde vorhanden, welches seine Mutter
eingestandenermassen, trotzdem es schrie, im Keller liegen gelassen,
dort, als sie erst nach 3 Tagen nachsah, todt gefunden und dann
vergraben hatte.
[Sidenote: Verstümmelte Kindesleichen.]
Schliesslich sei noch bemerkt, dass nicht immer +ganze+ Kindesleichen
zur Obduction gelangen, sondern manchmal nur Theile derselben,
während andere, sei es durch absichtliche Zerstücklung („Seltener
Fall von grosser Verstümmelung eines neugeborenen Kindes; fehlender
Kopf, fehlende Lungen, Schnitte in den Extremitäten.“ +Meyer+,
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XII, 87. Ein anderer Fall, wo
nur die untere Körperhälfte gefunden wurde, wird von +Raimond+
mitgetheilt. Virchow’s Jahrb. 1889, 1) oder, was häufiger vorkommt,
weil sie von Ratten oder anderen Thieren gefressen wurden, fehlen.
In solchen Fällen wird es von der Natur der noch erhaltenen Theile
abhängen, welche von den bei der Untersuchung Neugeborener sich
ergebenden Fragen noch beantwortet werden können. Am ehesten lässt
sich eruiren, ob das betreffende Kind ein neugeborenes war und ob
es bereits die vollständige Reife besass oder nicht. Die Frage,
ob dasselbe lebend geboren wurde, wird nur dann mit mehr weniger
Sicherheit beantwortet werden können, wenn sich noch die Lungen
oder der Verdauungstractus finden. Würde blos der Kopf vorliegen,
so wären auch die Paukenhöhlen in der oben angegebenen Richtung zu
untersuchen. Diese könnten, wenn sie fremde Substanzen enthielten,
auch über die Todesart des Kindes Aufschluss geben, ebenso andere
Körpertheile, wenn an ihnen Verletzungen sich fänden, die als
während des Lebens entstandene sich erkennen lassen.
[Sidenote: Gefundene Nachgeburt.]
Es kann ferner vorkommen, dass sich gar kein Kind, sondern nur die
Nachgeburt findet. In diesem Falle würde ausser der Untersuchung,
der Mutter, die auch in den eben erwähnten Fällen nicht versäumt
werden dürfte, die Grösse und das Gewicht der Placenta in Betracht
zu ziehen sein, um daraus +annäherungsweise+ das Fruchtalter zu
bestimmen. Deshalb haben wir bei Beschreibung der Früchte aus den
einzelnen Schwangerschaftsmonaten auch jedesmal das durchschnittliche
Gewicht und den Durchmesser des Mutterkuchens angegeben. Würde sich
eine doppelte Placenta finden, so wäre daraus nicht sofort auf
eine Zwillingsgeburt zu schliessen, da bereits wiederholt auch bei
einfacher Frucht ein doppelter Mutterkuchen beobachtet wurde, wobei
allerdings jeder in der Regel nur halb so gross war, als der normale
(Fälle vide Schmidt’s Jahrb., 1844, XLIII, pag. 44. 1851, II, 209
und 1854, LXXXIII, pag. 323). Der Nabelstrang theilt sich in solchen
Fällen entweder unmittelbar vor der Placenta in zwei Hauptstämme,
oder er bildet eine sogenannte Insertio velamentosa.
Fälle, in denen die Früchte von Schweinen vollkommen aufgefressen
wurden und nur die Nachgeburt und die Mutter Gegenstand der
Untersuchung war, finden sich u. A. in Autenrieth’s Aufsätzen, pag.
341 und in Friedreich’s Bl. 1871, pag. 436.
Die Leichenerscheinungen.
Es ist für den Gerichtsarzt unumgänglich nothwendig, jene
Veränderungen zu kennen, welche nach dem Tode und in Folge desselben
an der Leiche geschehen, einestheils, weil der Grad, in welchem sich
diese Veränderungen ergeben, für die Bestimmung der Zeit, welche
seit dem Tode verflossen ist, verwerthet werden kann, andererseits,
weil die Kenntniss dieser Veränderungen der in forensen Fällen
nicht genug zu vermeidenden Möglichkeit vorbeugt, dass einfache
Leichenerscheinungen für pathologische Befunde genommen werden.
[Sidenote: Locale Lebenssymptome.]
Ein Individuum ist todt von dem Momente, in welchem Respiration
und Herzthätigkeit dauernd sistiren. Die dauernde Sistirung dieser
beiden wichtigsten Lebenserscheinungen erfolgt keineswegs immer
gleichzeitig. In der Regel überdauert der Herzschlag den Stillstand
der Respiration um einige Augenblicke, manchmal, besonders bei
Neugeborenen, selbst um längere Zeit (vide pag. 757). Seltener
überdauern die Athembewegungen, so nach grösseren Herzverletzungen,
oder nach dem Tode durch Herzlähmung. Bei decapitirten Thieren kann
man ein schnappendes, in Pausen erfolgendes Oeffnen des Mundes
durch längere Zeit beobachten, und +Vezin+ hat solche Bewegungen an
zwei abgeschlagenen Köpfen Hingerichteter 10 Minuten lang verfolgt;
+Gad+ (Med. Centralbl. 1885, 724) an einem anderen durch 1½
Minuten. Nach erfolgtem Stillstand des Herzens und der Respiration
erhalten sich noch gewisse Lebensäusserungen in den Geweben durch
einige Zeit. Hierher gehört die elektro-musculäre Reizbarkeit,
die von +Eppinger+ an Spitalsleichen noch 2-6 Stunden p. m., von
+Jeanselme+ und +Drasche+ an Choleraleichen noch ½-2 Stunden und
von älteren Beobachtern bei Hingerichteten noch nach längerer Zeit
constatirt werden konnte; die Reizbarkeit der glatten Hautmuskeln,
welche die postmortale Erzeugung einer Gänsehaut gestattet, die
Reactionsfähigkeit der Pupille, welche nach +Marschall+ (The Lancet,
1885, pag. 286) auf Atropin in den ersten 4, auf Eserin in den ersten
2 Stunden nach dem Tode noch reagirt, und nach +Regnard+ und +Loye+
(Progrès méd. 1885, pag. 33) bei Guillotinirten, bei Lichteinfall
sich noch durch einige Zeit contrahirt[516], ferner die Fortdauer
der Flimmerbewegung und die der Spermatozoen, die bei plötzlich
Verstorbenen nicht selten noch 24-28 Stunden nach dem Tod und
manchmal noch später beobachtet werden kann, endlich die bereits a.
a. O. (pag. 506) erwähnte reducirende Kraft der Gewebe.
Von den Veränderungen, die unmittelbar oder schon in den ersten
Stunden nach dem Tode an der Leiche vor sich gehen, sind als in
forensischer Beziehung wichtig zu erwähnen: das +Erkalten der
Leiche+, die Bildung von +Hypostasen+ und die +Todtenstarre+.
[Sidenote: Erkalten der Leiche.]
Das +Erkalten+ der Leichen erfolgt an der Oberfläche und blos
für das Gefühl durchschnittlich in 8-17 Stunden (+Casper+); mit
dem Thermometer gemessen erfordert die vollständige Abkühlung nach
+Seydeler+ durchschnittlich 23 Stunden. Ob das Erkalten der
Leiche früher oder später erfolgt, hängt theils von individuellen,
theils von anderen Verhältnissen ab. Leichen kleiner Kinder erkalten
rascher als die von Erwachsenen und magere früher als fette. Von
äusseren Momenten ist insbesondere die Temperatur des umgebenden
Mediums von Einfluss, so die durch die Jahreszeit modificirte
Temperatur der Luft im Freien sowohl, als in geschlossenen Localen.
Im kühlen Wasser erfolgt das Erkalten sehr rasch, langsam dagegen
in Abtrittsgruben u. dergl. Ausserdem wird zu berücksichtigen sein,
ob die Leiche nackt oder bekleidet war, oder ob durch Betten, Heu,
Stroh u. dergl., mit welchen die Leiche bedeckt war, der Wärmeverlust
verzögert wurde. Die Temperatur einer Leiche gleicht sich nicht
einfach mit jener der umgebenden Luft aus, sondern sinkt unter
letztere in Folge der an der Oberfläche stattfindenden Verdunstung
und der dadurch bewirkten Wärmebindung, weshalb sich die Leichen in
der Regel mehr weniger kalt anfühlen.
[Sidenote: Prä- und postmortale Wärmesteigerung.]
Die früher allgemein geltende Ansicht, dass die Körperwärme schon
während des Sterbens, noch mehr aber nach dem Tode gleichmässig
sinke, bis sich die Temperatur der Leiche mit der des umgebenden
Mediums ausgeglichen hat, ist durch den von +Wunderlich+ und Anderen
geführten Nachweis der prä- und postmortalen Temperatursteigerungen
bei einzelnen Todesarten bedeutend alterirt worden. Bekanntlich
wurden diese besonders nach infectiösen Krankheiten (Cholera),
sowie nach Tetanus und nach Krankheiten des centralen Nervensystems
beobachtet, und zwar bis 44 und mehr Grad C., mitunter 15-20 Minuten
nach dem Tode anhaltend. Ob auch einzelne und welche acute gewaltsame
Todesarten mit prä- oder postmortalen Temperatursteigerungen
einhergehen, ist vorläufig noch nicht genügend sichergestellt,
doch scheint dieselbe beim Erstickungstode, sowie bei gewissen
unter Erstickungserscheinungen oder unter Convulsionen verlaufenden
Vergiftungen, sowie nach Verletzungen des Gehirns und des oberen
Theiles des Rückenmarkes aufzutreten, während bei Verblutung, beim
Ertrinken und Erfrieren, sowie vielleicht nach Verbrennungen oder
Verbrühungen (wenn wegen Abgang der Epidermis starke Wärmeverluste
stattfinden) niedere Temperaturen sich erwarten lassen.[517]
[Sidenote: Todtenflecke. Déplacement und abnorme Lage derselben.]
Schon während des Sterbens ändert sich, wie das Blasswerden der
Haut beweist, die Blutvertheilung theils in Folge der Erlahmung
der die Circulation unterhaltenden activen Kräfte, theils weil
die Schwere des Blutes sich zu äussern beginnt. Letztere kommt
insbesondere nach dem Tode zur vollsten Geltung und bewirkt, dass
das Blut aus den oberen Partien des Körpers in die abhängigen sich
senkt. Daraus resultirt einestheils ein weiteres Erblassen der Haut
an den höher gelegenen Körpertheilen und andererseits die Bildung
von Senkungshyperämien in den tiefer situirten. Von letzteren oder
den sogenannten Hypostasen unterscheidet man äussere und innere,
indem man erstere mit dem vulgären Namen +Todtenflecke+ bezeichnet.
Je mehr Blut die Leiche enthält und je flüssiger dasselbe nach dem
Tode geblieben ist, desto frühzeitiger treten die Todtenflecke auf.
Durchschnittlich finden wir sie schon 3-10 Stunden nach dem Tode
deutlich ausgebildet. Später werden sie desto intensiver, je mehr
Blut sich in die betreffenden Hautpartien senkt und je mehr zu
der anfänglichen Senkungshyperämie eine weitere Erscheinung, die
Imbibition, das heisst die Durchtränkung der Gewebe mit blutigem
Serum, hinzutritt. Bevor letztere eintritt, können die Todtenflecke
durch Veränderung der Körperlage wieder zum Verschwinden gebracht
werden und bilden sich dann anderwärts später, aber desto weniger, je
mehr bereits die Imbibition ausgebildet ist. +Tourdes+ (Dictionnaire
encyclopédique des scienes médicales) fand, dass die Todtenflecke
noch nach 4 Stunden durch Veränderung der Körperlage zum Verschwinden
gebracht werden können und dann an einer anderen Stelle auftauchen.
Nach 12-15 Stunden erblassen sie blos, ohne ganz zu verschwinden,
nach 30 Stunden werden sie ebenfalls blässer, bilden sich aber nicht
mehr von Neuem. Aehnliche Versuche wurden auch aus Anlass des Falles
+Bernay+ in Brüssel angestellt (Virchow’s Jahrb. 1884, I, 462), wobei
sich ergab, dass, wenn eine Leiche nach 4, 6 und 12 Stunden aus der
Rückenlage in eine andere gebracht wurde, noch ein „Déplacement“ der
Todtenflecke stattfand, nicht mehr aber nach 23-28 Stunden. Auch beim
Verblutungstode bilden sich in der Regel Todtenflecke, die dann meist
spärlich und blass ausfallen und in seltenen Fällen sogar vollständig
fehlen können, wie wir bereits wiederholt zu beobachten Gelegenheit
hatten. Bei gewöhnlicher Lage der Leiche finden sich die Todtenflecke
vorzugsweise an der Rückenfläche und den Seitentheilen des Körpers.
Befand sich aber die Leiche längere Zeit nach dem Tode in einer
anderen Lage, dann werden sich natürlich die Hypostasen an anderen
Stellen entwickeln und es lassen sich demnach aus der Lage der
Todtenflecke Schlüsse ziehen auf die Stellung, in welcher die Leiche
längere Zeit nach dem Tode belassen wurde. Am häufigsten kommt eine
andere Lage der Todtenflecke bei Erhängten zur Beobachtung, deren
untere Körperhälfte eine desto lividere Färbung zeigt, je länger der
Körper gehangen hatte. Zweimal obducirten wir Leichen von Personen,
die in sitzender Stellung vom plötzlichen Tode ereilt wurden und die
Nacht über in dieser Stellung verblieben waren. Die Todtenflecke
waren vorzugsweise am Unterkörper entwickelt. In beiden Fällen war
der eine Arm heruntergehangen und in Folge dessen auffallend livid
und ecchymosirt. War die Leiche auf dem Gesichte liegen geblieben,
so wird dieses und die Vorderfläche des Körpers die Todtenflecke
bieten, die Rückenfläche aber die gewöhnliche Leichenfarbe. Sehr
gewöhnlich ist es, die eine Gesichtshälfte livid und die Conjunctiva
des betreffenden Auges injicirt zu finden, während die andere
Gesichtshälfte und die Bindehaut des anderen Auges blass erscheinen.
Dieser Befund entsteht bei dauernder Seitenlage des Kopfes und ist
eine einfache Leichenerscheinung, die jedoch leicht zu Täuschungen
Veranlassung geben kann. Dafür spricht namentlich eine Mittheilung
+Maschka+’s Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, XXXVIII, pag.
77), wonach bei einer alten, an Haemorrhagia cerebri verstorbenen
Frau, deren Leiche im Bette auf der rechten Seite liegend gefunden
worden war, die livide Verfärbung und Ecchymosirung der rechten Seite
des Gesichtes, Halses und der Brust auf Erwürgen bezogen wurde.
Aus begreiflichen Gründen werden die Hypostasen an solchen Stellen
der Haut fehlen oder weniger sich entwickeln, die einem Drucke
ausgesetzt gewesen waren, sei es durch die Schwere des Körpers
selbst oder durch andere Vorgänge. Zu den ersten Stellen gehören
bei gewöhnlicher Rückenlage die Gegend der Schulterblätter,
der Gesässbacken und die Waden, sowie alle den Kleiderfalten
aufliegende Hautstellen; zu den letzteren Hautpartien, die durch
ein Kleidungsstück, Band etc. comprimirt waren, z. B. die Taille
oder die durch die Strumpfbänder gedrückte Haut. Am Halse kann eine
solche Compression durch ein Würgeband, aber auch durch enganliegende
Kleidungsstücke (Hemdkrägen) und selbst, wie bei fetten Personen,
namentlich bei kleinen Kindern, in den, zwischen den natürlichen
Hautfalten gelegenen Furchen zu Stande kommen. Derartige Stellen
stechen durch ihre blasse Farbe von der Umgebung ab und können,
besonders am Halse, zu falschen Deutungen Veranlassung geben.
Auch kann sich über einer solchen comprimirten Stelle das sich
herabsenkende Blut stauen, einen lividen Saum bilden, der dann für
eine Sugillation gehalten werden kann (vide pag. 532).
Die gewöhnliche Farbe der Todtenflecke ist die bekannte livide in
desto dunklerer Nuance, je länger sie bestehen und je reichlicher
und flüssiger das Blut ist, welches in der Leiche zurückgeblieben
war, also besonders bei Erstickten. Hat das Blut der Leiche eine
andere als die gewöhnliche (hyper-) venöse Farbe, dann erhalten
natürlich auch die Hauthypostasen ein anderes Colorit, so z. B. ein
hellrothes bei der Kohlenoxydvergiftung, ein graues bei der durch
chlorsaures Kali. Dass die Todtenflecke auch durch Kälte und stärkere
Durchfeuchtung der Haut ein hellrothes Aussehen erhalten können,
wurde beim Ertrinkungs- und Erfrierungstode erwähnt.
Ausser in den angedeuteten Beziehungen kommt den Todtenflecken
auch insoferne eine gerichtsärztliche Bedeutung zu, als die durch
sie bedingten Verfärbungen für Cyanose oder gar für Sugillation
gehalten werden könnten. Ueber letztere Möglichkeit und über den
behufs Unterscheidung einzuschlagenden und auch vorgeschriebenen
Vorgang wurde bereits an anderen Orten (pag. 275) gesprochen. Die
Unterscheidung einer durch Hypostase entstandenen Verfärbung von
einer cyanotischen wird sich ausser durch den erwähnten Vorgang
insbesondere aus der Erwägung der Lage und Ausbreitung, sowie aus der
nach aufwärts allmälig abnehmenden Intensität der Verfärbung ergeben.
[Sidenote: Innere Hypostasen.]
Gleichzeitig mit den „Todtenflecken“ und nach denselben Gesetzen
bilden sich auch +Hypostasen in den inneren Organen+, die hier eine
besondere gerichtsärztliche Bedeutung deshalb besitzen, weil sie
pathologische Processe vortäuschen können. Ein gewöhnlicher Befund
dieser Art ist am Kopfe schon der stärkere Blutreichthum und die
stärkere Succulenz der abwärtigen Partien der Kopfschwarte und der
darunter liegenden Bindegewebsschichten, ein Befund, der bei stark
abhängiger Lage des Kopfes einen sehr hohen und, wie die Versuche
+Engel+’s gezeigt haben, bis zur Ecchymosenbildung gehenden Grad
erreichen kann. Noch häufiger, und zwar auch an der Körperoberfläche,
kommt es vor, dass schon vital entstandene, jedoch ursprünglich
klein gewesene Ecchymosen an den tief liegenden Partien des Körpers
durch Nachsickern des Blutes sich vergrössern. Ferner gehört hierher
die stärkere Füllung der abwärtigen Sinus der Dura mater mit
Blut, insbesondere aber die intensivere Injection der Gefässnetze
der Pia an ihren tiefer gelegenen Partien, die eine intra vitam
entstandene Hyperämie vortäuschen kann. Am Halse machen sich die
Hypostasen besonders in den abwärtigen, lockeren Zellgewebslagen
unter der äusseren Haut und zwischen der Musculatur, ferner an
der hinteren Rachenwand bemerkbar, ebenso an der hinteren Wand
der Luftwege und des Oesophagus und dem zwischen diesem und der
Wirbelsäule gelegenen Bindegewebe. In der Brusthöhle sind namentlich
die Hypostasen in den Lungen von Wichtigkeit. Der Gefässreichthum
der Lungen einerseits und die lockere, grossmaschige Beschaffenheit
des Lungengewebes andererseits liefern ganz besonders günstige
Bedingungen für die Entstehung von Senkungshyperämien, und es gehören
daher mehr oder weniger ausgebildete Grade von Hypostasen in den
Lungen zum regelmässigen, in keiner Leiche fehlenden Befund. In Folge
derselben erscheinen auch ganz gesunde Lungen an ihrer Oberfläche
in den abwärtigen Partien dunkler gefärbt als in den oberen, und
diese Färbung geht nach aufwärts allmälig in eine lichtere über.
Für das Gefühl erscheinen diese Partien derber und sind beim
Einschneiden blutreicher, succulenter und weniger lufthältig als
die anderen. Täuschungen mit Infarcten, Pneumonien und bei Kindern
mit Atelectasen liegen hier nahe.[518] Wieder wird insbesondere
die Lage der betreffenden Partie und der allmälig und immer in
bestimmter Richtung, d. h. nach aufwärts sich vollziehende Uebergang
des blutreichen, succulenten und weniger lufthaltigen Gewebes in
normale Partien, nöthigenfalls die mikroskopische Untersuchung, die
Unterscheidung bieten. Die geringere Lufthältigkeit solcher durch
Hypostase veränderter Stellen ist namentlich bei Neugeborenen zu
beachten. Es ist wohl möglich, dass unter Umständen durch blosse
Senkung des Blutes tiefer gelegene, früher lufthältig gewesene
Lungenpartien vollständig luftleer werden können. Weniger leicht wird
dies bei erst nach dem Tode entstandenen Hypostasen sich ereignen,
als bei solchen, deren Bildung bereits in der Agonie begonnen hat.
Im Unterleibe sind insbesondere die Hypostasen an der hinteren
Magenwand und an den abhängigen Stellen des Darmcanals, sowie an den
im kleinen Becken gelagerten Schlingen zu berücksichtigen. Namentlich
sind die Hypostasen im Magen von anderweitig entstandenen Hyperämien
wohl zu unterscheiden. Auch die Nieren sind Hypostasen unterworfen
und ihre tiefe Lage begünstigt die Entstehung derselben. An der
hinteren Körperseite findet sich bei gewöhnlicher Rückenlage der
Leiche sowohl das Unterhautbindegewebe als die betreffende Musculatur
succulenter und mehr weniger auffallend blutreich. In einem unserer
Fälle wurde dieser Befund als Congestionserscheinung aufgefasst und
von Stockschlägen abgeleitet. Aus gleichem Grunde zeigen sich die
spinalen Venenplexus in der Regel strotzend mit Blut gefüllt, und
ebenso ist die Hypostase in den Venen der Pia mater des Rückenmarkes
entwickelt. Eine falsche Deutung dieser Verhältnisse kann hier um
so leichter erfolgen, als, wie +Casper+-+Liman+ richtig bemerken,
der Rückenmarkscanal nur sehr selten geöffnet wird und daher vielen
Obducenten dieses ganz gewöhnliche Verhalten weniger bekannt ist.
Das geschilderte Verhalten der inneren Hypostasen bezieht sich auf
Leichen, die nach dem Tode in der üblichen Rückenlage geblieben
sind. Selbstverständlich werden diese Senkungserscheinungen die ganz
entgegengesetzten Stellen einnehmen, wenn die Leiche auf dem Bauche
gelegen war, und können dann leicht beirren. Bei Erhängten, wenn sie
nicht bald abgeschnitten wurden, werden die Hypostasen natürlich
vorzugsweise an der unteren Körperhälfte sich entwickeln. Wir finden
dann die Gedärme stärker injicirt, die Nieren sehr blutreich und
insbesondere die venösen Geflechte der Beckenhöhle strotzend mit
Blut gefüllt, alles Erscheinungen, die als für den Erhängungstod
pathognomonisch angegeben worden sind, ohne es im Geringsten zu
sein, da sie, ebenso wie die früher so hochgehaltene Turgescenz der
äusseren Genitalien, auch zu Stande kommen, wenn man eine frische
Leiche in die hängende Lage bringt und einige Zeit in derselben
belässt.
[Sidenote: Todtenstarre.]
Eine bald nach dem Tode eintretende Leichenerscheinung ist
die +Todtenstarre+. Bei den Leichen Erwachsener pflegt sie
durchschnittlich schon in den ersten 2-4 Stunden zu beginnen und in
weiteren 4-6 Stunden den ganzen Körper zu ergreifen. Die Angabe,
dass die Leichen herabgekommener und alter Individuen früher von
der Leichenstarre befallen werden als jene kräftiger Personen,
bedarf noch weiterer Bestätigung. Dagegen scheinen Neugeborene und
Säuglinge thatsächlich früher zu erstarren als Erwachsene (+Feis+,
„Intrauterine Leichenstarre“. Arch. f. Gyn. 1894, XLVI, pag. 384).
Aus analogen Erfahrungen bei Thieren lässt sich schliessen, dass nach
rapider Verblutung, nach Verletzung des Halsmarkes, nach gewissen
Vergiftungen (mit Säuren, mit Strychnin), vielleicht auch nach
Insolation und Blitzschlag die Todtenstarre ungleich früher eintreten
könne als sonst; doch fehlen auch in dieser Beziehung sichergestellte
Beobachtungen an menschlichen Leichen. Bei abortirten Früchten
scheint die Todtenstarre gar nicht einzutreten. Aber auch bei
Erwachsenen kann sie mitunter ausbleiben oder nur ganz schwach sich
bilden, so namentlich bei acuter parenchymatöser Degeneration der
Musculatur, wie nach Phosphorvergiftung, nach manchen Vergiftungen
mit Schwämmen (+Sahli+) und nach infectiösen und septischen Processen.
Da die Degeneration nicht alle Muskelgruppen gleichmässig
ergreift, so erklärt sich auch, warum in solchen Fällen auch die
Ausbildung des Rigor an verschiedenen Körpertheilen verschieden
sich gestalten kann. Die von uns häufig gemachte Beobachtung
findet ihr Analogon in dem Verhalten des Herzens, das so häufig
und frühzeitig der parenchymatösen Degeneration verfällt und dann
selbst bei Frühsectionen schlaff angetroffen wird, welche Schlaffheit
proportional ist mit der Intensität der Degeneration.
[Sidenote: Zeitpunkt des Eintrittes der Todtenstarre. Kataleptische
Todtenstarre.]
[Sidenote: Festhalten der Waffe.]
In neuerer Zeit wurde wiederholt die Frage angeregt, ob die
Leichenstarre den ganzen Körper oder wenigstens einzelne
Muskelgruppen auch schon im Momente des Todes ergreifen könne.
Als Beweis für eine solche Möglichkeit wurden gewisse, auf
den Schlachtfeldern der letzten Kriege gemachte Beobachtungen
herangezogen, die Soldaten, aber auch Pferde betrafen, deren Leichen
in Stellungen erstarrt gefunden wurden, welche, wie z. B. die des
Ladens, Sturmlaufens, Sprungstellung, als im letzten Augenblicke
des Lebens bestandene und gewollte aufgefasst wurden. Zuletzt
hat +Seydel+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1889, L, 76)
über solche Fälle berichtet. +Du Bois+-+Reymond+ hat für diese
Art des Rigor mortis die Bezeichnung +kataleptische Todtenstarre+
vorgeschlagen, welche, obgleich nicht ganz passend, der Kürze wegen
acceptirt werden kann. Versuche, namentlich die von +Schroff+ junior
und von +Falck+ angestellten (vide unsere Leichenerscheinungen
l. c.), haben ergeben, dass bei Thieren, die durch Verletzung des
oberen Theiles des Rückenmarkes getödtet wurden, die tetanische
Contraction der Musculatur unmittelbar in die Todtenstarre
überging, und es ist denkbar, dass auch beim Menschen nach analogen
Verletzungen solches erfolgen kann[519]; ob jedoch auch die durch
den Willen im Augenblicke des Todes bestandene Contraction von
Muskelgruppen sofort durch den Rigor mortis fixirt oder einige
Zeit nach dem Tode bis zum Eintritte desselben erhalten werden
kann, muss noch dahingestellt bleiben. Vorläufig lassen sich die
eben angeführten Beobachtungen viel ungezwungener daraus erklären,
dass die betreffenden Leichen jene Stellungen nur zufällig beim
Niederstürzen angenommen hatten und in diesen erstarrten, oder dass
sie durch gewisse Zufälligkeiten am Niederstürzen gehindert worden
waren. Thatsächlich kommen eigenthümliche Stellungen der Leichen und
namentlich der Gliedmassen in der gewöhnlichen forensischen Praxis
gar nicht selten vor, da die Leichen in denjenigen, mitunter ganz
sonderbaren Stellungen erstarren, in denen sie nach dem Tode liegen
geblieben waren, und diese Stellungen häufig derart sind, dass sie
scheinbar gewollten entsprechen. Dazu kommt noch, dass die durch den
Eintritt des Todes bewirkte Erschlaffung der Musculatur, respective
gewisser Muskelgruppen, nicht immer von Lageveränderung der
betreffenden Theile gefolgt sein muss, sondern dass sich die durch
die letzte Muskelaction bewirkte Stellung eines Körpertheiles, wegen
gleichzeitiger Erschlaffung der Antagonisten, dort erhalten kann,
wo die Schwere der betreffenden Theile nicht zur Geltung kommt. So
haben unsere Untersuchungen ergeben, dass die Faustbildung ungemein
häufig, sowohl an den Händen der Leichen Erwachsener, als namentlich
von Kindern vorkommt, ebenso andere, offenbar im Momente des Todes
bestandene und noch durch vitale Contraction des Muskels entstandene
Stellungen der Finger. Es liegt kein Grund vor, die Ursache der
Persistenz dieser Stellungen, insbesondere der Faustbildung, in der
Fortdauer der Contraction der betreffenden Muskeln nach dem Tode oder
in plötzlich eingetretener Todtenstarre zu suchen, sondern einfach
darin, dass die während des Todes geschlossen gewesene Faust auch
nach erfolgtem Tode keineswegs sich öffnen muss, da gleichzeitig mit
den Beugern auch die Strecker erschlaffen, also eine Lageveränderung
nur durch die eigene Schwere der Theile erfolgen kann, die nicht
immer zur Geltung kommt. Dieser Gang der Dinge hat nichts Besonderes
an sich, da ja auch im Leben, nachdem wir die Finger zur Faust
geballt haben, die Fingerbeuger erschlaffen können, ohne dabei die
Faust öffnen zu müssen, und er wird noch weiter bestätigt durch
die Thatsache, dass sich die Fauststellung auch erhält, nachdem
die Todtenstarre bereits vollkommen verschwunden war. Daraus wird
auch begreiflich, wie bei Leichen von Individuen, die sich selbst
erschossen oder erstochen haben etc., die betreffende Waffe noch in
der Hand derselben gefunden werden kann, ein Befund, der allerdings
auch wird zu Stande kommen können, wenn der Betreffende, während er
die Waffe o. dergl. in der Hand hielt, von Anderen getödtet worden
ist.[520]
[Sidenote: Verlauf der Todtenstarre.]
Die Leichenstarre befällt nicht die ganze Musculatur auf einmal,
sondern beginnt fast immer zunächst im Nacken und am Unterkiefer
und übergeht dann auf den Rumpf, dann auf die oberen und hierauf
auf die unteren Extremitäten; Ausnahmen von diesem Gange, welcher
sich unserer Ansicht nach aus der nach unten zunehmenden Masse der
Musculatur erklärt, sind selten. Den Untersuchungen +Pellacani+’s
zufolge (Virchow’s Jahrb. 1884, I, 462) scheint der Typus descendens
die Norm bei kräftigen, der Typus ascendens die bei schwächlichen und
herabgekommenen Individuen zu sein. Was die Dauer der Todtenstarre
betrifft, kann als feststehend angenommen werden, dass letztere desto
früher abläuft, je weniger die Musculatur entwickelt oder je mehr sie
in ihrem Ernährungszustand herabgekommen war. Am schnellsten verläuft
sie bei unreifen Früchten, so dass von diesen behauptet wurde, dass
sie überhaupt nicht vom Rigor ergriffen würden. Bei reifen und gut
genährten Neugeborenen kann man sie noch nach 24-36 Stunden, selten
länger, finden. Bei Säuglingen beträgt die Dauer der Todtenstarre
durchschnittlich etwa 40 Stunden und wird durch Alter und
Ernährungszustand modificirt. Was die Leichen Erwachsener betrifft,
so lehren unsere Erfahrungen, dass bei dem Gros derselben die
Todtenstarre noch nach 48 Stunden vollkommen ausgebildet ist, dass
sie von da an allmälig zu schwinden beginnt und dass die vollkommene
Lösung derselben gewöhnlich zwischen die 72. und 84. Stunde nach
dem Tode zu fallen pflegt. Bei abgezehrten und marastischen Leichen
schwindet die Starre ungleich früher, ebenso bei wassersüchtigen.
Dass der Eintritt der Fäulniss die Starre löse, ist insoferne
unrichtig, als es nichts Seltenes ist, dieselbe noch bei grünfaulen
und bereits stark aufgedunsenen Leichen zu finden. Trotzdem scheinen
es doch in die Classe der Fäulnissvorgänge gehörige Processe zu
sein, die das Myosin, dessen Gerinnung, wie die Physiologen lehren,
die Todtenstarre bedingt[521], wieder lösen und so dem Rigor ein
Ende machen, denn wenn man, wie wir seit einigen Jahren in unserem
Institute zu thun im Stande sind, Leichen im Winter in kalten
Räumen und unter Bedingungen aufbewahrt, wo sie nicht faulen, aber
auch nicht gefrieren können, so kann man dieselben wochenlang in
todtenstarrem Zustande erhalten. Das Gefrieren der Leiche macht die
Verwerthung der Starre für Todeszeitbestimmungen illusorisch, wobei
bemerkt werden muss, dass nach +Brücke+ die Todtenstarre sogar das
Aufthauen der betreffenden Leiche zu überdauern vermag.
[Sidenote: Dauer der Todtenstarre.]
Der Rigor mortis schwindet nicht überall gleichzeitig, sondern in
der Regel in denjenigen Muskelgruppen früher, in welchen er früher
aufgetreten war, doch ist es nichts Seltenes, die Starre in den
Extremitäten früher schwinden zu sehen als am Kopfe und am Halse.
Am längsten und sehr constant pflegt sich die Todtenstarre in den
Sprunggelenken zu erhalten.
[Sidenote: Postmortale Vertrocknungen.]
Zu den Leichenerscheinungen, die ebenfalls schon in der ersten Zeit
nach dem Tode und noch vor Eintritt der Fäulniss sich einstellen
können, gehören auch die +Vertrocknungen+ der Haut, die sich an
von der Epidermis entblössten, oder früher feucht gehaltenen oder
auch comprimirt gewesenen Stellen in Folge der Einwirkung der Luft
sehr bald entwickeln, deren wir bereits a. a. O. (pag. 271 und 529)
erwähnt haben; ferner gewisse Veränderungen am +Auge+, die zunächst
darin bestehen, dass das Auge meist schon gleich nach dem Tode seine
Spannung und damit seinen Glanz in Etwas einbüsst, dass später der
Bulbus zu collabiren beginnt und die Cornea sich trübt. Letztere
erscheint anfangs wie bestäubt, dann legt sich die Oberfläche in
feine Runzeln, worauf die Hornhaut immer trüber und undurchsichtiger
wird, bis sie später eine ganz opake Beschaffenheit erhält. Sehr
bald nach dem Tode beginnt auch die Conjunctiva, wenn die Lider
nicht vollkommen geschlossen waren, an den mit der Luft in Berührung
stehenden Stellen zu vertrocknen, wodurch gelblichbraune, dreieckige
Flecken zu beiden Seiten der Cornea sich bilden, die wiederholt als
verlässliche Zeichen des wirklich eingetretenen Todes hervorgehoben
worden sind. Weiterhin collabirt der Bulbus immer mehr, indem der
Glaskörper sich verflüssigt und die Häute des Augapfels sich blutig
imbibiren, und man findet schliesslich letzteren als sackartiges
Gebilde, welches seiner fibrösen Beschaffenheit wegen dann noch lange
der Zerstörung widersteht. Alle diese Veränderungen scheinen bei
geschlossenen Augenlidern langsamer vor sich zu gehen als bei offenen.
[Sidenote: Aeussere Fäulnisserscheinungen.]
Die weiteren Veränderungen, die mit der Leiche geschehen, gehören der
+Fäulniss+ an. In der Haut äussert sich der Beginn derselben
zuerst durch Imbibitionsvorgänge. Die Todtenflecke werden diffuser
und missfärbig, und livide diffuse Flecken treten auch an anderen
relativ abhängigen Körperstellen auf und nehmen an Ausdehnung zu.
Gleichzeitig beginnt eine eigenthümliche schmutzig-grüne Verfärbung
der Haut an einzelnen Stellen aufzutreten, und zwar gewöhnlich zuerst
in den Leistengegenden, von wo aus sie sich zunächst über den Bauch
und, indem sie auch anderwärts, insbesondere zunächst im Gesicht und
am Oberkörper, auftritt, über den ganzen Körper verbreitet.[522]
Mit dem Fortschreiten der Imbibition in der Haut wird diese,
namentlich entsprechend den Hypostasen und den grünverfärbten
Stellen, succulenter, und es beginnt die Transsudation missfärbigen
blutigen (an weniger abhängigen Stellen mitunter nur leicht gelblich
gefärbten) Serums auf die äussere Fläche des Corium, zwischen dieses
und die Epidermis. Die Epidermis wird dadurch entweder in Blasen
abgehoben oder der Zusammenhang zwischen ihr und dem Corium wird so
gelockert, dass sich die Epidermis leicht in Fetzen abstreifen lässt.
Es kommt dann, oder wenn die erwähnten Blasen platzen, das feuchte
missfärbige, später schmierige Corium zum Vorschein, welches entweder
der weiteren Colliquation anheimfällt oder durch die Einwirkung
der Luft vertrocknet. Gleichzeitig mit den erwähnten Vorgängen
beginnt die Entwicklung von Fäulnissgasen im Unterhautzellgewebe,
das Fäulnissemphysem, besonders im Gesichte, am Halse, am oberen
Theile des Brustkorbes, an den Genitalien und Extremitäten. Solche
Stellen erscheinen aufgetrieben, elastisch, unter dem Fingerdrucke
crepitirend und lassen in sich von Gasblasen ausgedehnte und in Folge
der Imbibition der Gefässwand und der Nachbarschaft als missfärbige
Streifen durchscheinende Venennetze erkennen. Da gleichzeitig
der Unterleib meteoristisch vorgewölbt wird, so wird der ganze
Körper schliesslich in solchem Grade aufgetrieben, dass er, wie
+Casper+ sehr bezeichnend sich ausdrückt, ein „gigantisches“
Aussehen erhält. Der Brennbarkeit der Fäulnissgase wurde bereits oben
(pag. 607) Erwähnung gethan.
Die weiteren Veränderungen, welche mit der Leiche vor sich gehen,
erfolgen verhältnissmässig zu den bisher geschilderten langsam. Die
Epidermis löst sich in immer weiterer Ausdehnung vom durchfeuchteten
und missfärbigen Corium ab, und Nägel und Haare werden so gelockert,
dass sie einem leichten Zuge folgen; die grünen Hautstellen
werden immer dunkler und schliesslich fast schwarz, die roth und
braunroth imbibirten Partien immer missfärbiger, die Gasbildung im
Unterhautgewebe und in den Körperhöhlen nimmt immer mehr zu, bis die
Fäulnissgase an irgend einer Stelle durchbrechen, worauf der Leib
zusammensinkt[523] und die Weichtheile der putriden Colliquation,
eventuell der Eintrocknung und hierauf der Verwesung verfallen.
[Sidenote: Innere Fäulnisserscheinungen.]
[Sidenote: Imbibitions- u. Transsudationserscheinungen.]
Auch in den +inneren Organen+ sind es Imbibitions-
und Transsudationserscheinungen, welche die Reihe der
Fäulnissveränderungen eröffnen, und diese beginnen wieder zunächst
an den Stellen, an welchen Hypostasen sich entwickelt haben, daher
an den abwärtigen Partien der verschiedenen Organe, indem blutiges
Serum durch die Gefässwandungen transsudirt und theils die Gewebe
selbst durchtränkt, theils die Organe verlässt und ausserhalb
dieser, besonders innerhalb der serösen Säcke, sich ansammelt.
Frühzeitig bilden sich Imbibitionen an der Schleimhaut des Rachens,
des Kehlkopfes und der Luftwege, ferner an der hinteren Wand des
Magens, an den abhängigen Darmpartien, an der Intima der Gefässe
und am Endocard, ebenso an den Meningen, und die dadurch sich
bildenden diffusen, fleckigen oder streifigen Röthungen sind wohl zu
unterscheiden von anderweitig entstandenen; ebenso die erst an der
Leiche entstandene stärkere Durchfeuchtung und blutige Durchtränkung
ganzer Organe, namentlich der Lungen, von pathologischen Processen.
Dass die im Pleurasack sich bildenden Leichentranssudate bei
Neugeborenen die Luft aus den Lungen zum grossen Theile und unter
Umständen selbst gänzlich verdrängen können, wurde pag. 759 erwähnt.
Je mehr die Fäulniss vorwärts schreitet, desto mehr verschwindet das
Blut durch Imbibition und Transsudation aus den Gefässen, und es
wäre daher ein unverzeihlicher Irrthum, bei einer hochfaulen Leiche
aus der Leere der Gefässe und des Herzens etwa auf eine stattgehabte
Verblutung zu schliessen. Je flüssiger das Blut ursprünglich war,
desto schneller verschwindet es aus den Gefässen. Da die wässerigen
Bestandtheile früher versickern als die festeren, so kommt es, wie
wir uns wiederholt, besonders bei Leichen Erstickter, die längere
Zeit, ohne zu faulen, gelegen sind, überzeugt haben, anfangs mitunter
zu einer Eindickung des Blutes. Aber auch geronnenes Blut wird
schliesslich durch Fäulniss verflüssigt, wobei sich nach +Falk+ das
Fibrin in Globulin verwandelt. Ebenso wie das Blut in den Gefässen,
verflüssigt auch extravasirtes Blut und traumatische Blutaustretungen
können bei hoher Fäulniss auf diese Weise vollkommen verschwinden
oder wenigstens unkenntlich werden. Uebrigens verfallen auch andere
Flüssigkeiten, wie z. B. seröse Ergüsse, Oedemflüssigkeit, Galle
und andere gelöste Farbstoffe (pag. 631) und, wie oben (pag. 644)
erwähnt, auch gelöste Gifte der Imbibition und Transsudation.
Die sonstigen makroskopischen Veränderungen, die sich in Folge der
Fäulniss in den einzelnen Organen einstellen, bestehen im Allgemeinen
ausser im Missfärbigwerden in einer fortschreitenden, mit Gasbildung
einhergehenden Erweichung und schliesslich in vollkommenem Zerfall
der betreffenden Gewebe in eine schmierige Masse.
[Sidenote: Mikroskop. Veränderungen.]
Die +mikroskopischen+ Veränderungen, welche die Gewebe durch die
fortschreitende Fäulniss erleiden, sind vorzugsweise durch +F. Falk+
und +Tamassia+, sowie auch durch uns (vide „Leichenerscheinungen“,
l. c. pag. 259) verfolgt worden. Diese Beobachtungen haben ergeben,
dass schon sehr frühzeitig die Muskelfasern sowohl, als die
Drüsenepithelien sich trüben und von körnigen, stark lichtbrechenden
Massen durchsetzt erscheinen, wodurch Bilder entstehen, die mit
jenen, welche wir bei der sogenannten körnigen Degeneration oder
„trüben Schwellung“ beschrieben haben, eine grosse Aehnlichkeit
besitzen. Da letzterer eine hohe diagnostische Bedeutung bei gewissen
Vergiftungen, aber auch für viele andere, namentlich infectiöse
Erkrankungen zukommt, so ist die Thatsache, dass die Fäulniss
ähnliche Bilder erzeugt, wohl im Auge zu behalten (vide pag. 640).
[Sidenote: Fäulnissbedingungen.]
Die Zeit des Eintrittes der Fäulniss und die Schnelligkeit ihres
Verlaufes hängt von gewissen Bedingungen ab, deren Kenntniss von
grösster Wichtigkeit ist, da nur bei sorgfältiger Berücksichtigung
dieser Schlüsse aus dem Grade der Verwesung einer Leiche auf den
Zeitpunkt des eingetretenen Todes gestattet sind. Man kann äussere
und innere +Fäulnissbedingungen+ unterscheiden.
[Sidenote: Mumification.]
[Sidenote: Luft u. Wasser. Maceration.]
Zu den +äusseren+, besonders wichtigen, gehören zunächst
gewisse Luft-, Wasser- und Wärmeverhältnisse. Der Zutritt der
+atmosphärischen Luft+ ist zur Unterhaltung der Fäulniss unbedingt
nothwendig, weil sie einestheils den nöthigen Sauerstoff, anderseits
die Fäulnissfermente (Bakterienkeime) zuführt. Je freier derselbe
gestattet ist, desto rascher geht unter sonst gleichen Verhältnissen
die Zersetzung vor sich. Eine Ausnahme machen scharfe oder trockene
Luftströmungen, die gerade das Gegentheil, nämlich Eintrocknen oder
die sogenannte +Mumification+ der Leiche, bewirken können, welche
dann zunächst die am meisten exponirten und zugleich am wenigsten
fleischigen Theile ergreift. So fanden wir bei einem Manne, der
sich in einem luftigen Keller erhängt hatte und erst nach 20 Tagen
gefunden wurde, den Kopf sammt dem Gesicht, die Hände und die
nackten Füsse mumificirt, den sonstigen Körper verhältnissmässig
frisch. Am raschesten beginnt und verläuft daher die Fäulniss,
wenn die Leiche frei an der Luft liegen blieb, weniger rasch unter
Wasser und bei vergrabenen Leichen; im letzteren Falle desto
langsamer, je weniger der betreffende Boden die Luft durchlässt
und je reichlicher die über der Leiche lagernde Schicht desselben
ist. Dass sowohl bei freiliegenden als bei beerdigten Leichen auch
die Kleidung und andere Hüllen die Fäulniss, wegen Erschwerung des
Zutrittes der Luft, der Fäulnisskeime, der Fliegenmaden und anderer
die Zerstörung befördernder Organismen verlangsamt, und zwar desto
mehr, je dichter die Hülle ist, davon haben die Erfahrungen auf
den französischen Schlachtfeldern Belege geliefert. Nach +Créteur+
sollen Gummimäntel am meisten verzögernd gewirkt haben. Dass schon
die gewöhnlichen Holzsärge einen verzögernden Einfluss auf die
Fäulniss ausüben, wurde wiederholt constatirt; noch mehr macht
sich derselbe unseren Erfahrungen zufolge bei den immer mehr in
Anwendung kommenden Metallsärgen bemerkbar, da wir bei Exhumationen
noch nach mehreren, in einem Falle noch nach 10 Jahren (!) die
Leiche in stinkender Fäulniss und von Fäulnissjauche umgeben,
vorfanden, ein Umstand, der unserer Ansicht nach die Anwendung von
Metallsärgen bei gewöhnlichen Beerdigungen unstatthaft erscheinen
lässt. Ein gewisser Grad von +Feuchtigkeit+ ist zur Unterhaltung
der Fäulniss unbedingt nothwendig. Da der menschliche Körper etwa
85 (nach +Voit+ nur 63) Procent Wasser enthält, so genügt anfangs
die eigene Körperfeuchtigkeit, um die Fäulniss einzuleiten und zu
unterhalten. Geht aber, wie gewöhnlich, ein Theil der Fäulnissjauche
durch Transsudation und Verdunstung verloren, wie an trockenen,
luftigen Orten, oder wird diese von der Unterlage aufgesaugt, wie im
trockenen, porösen Boden, so kommt bald ein Zeitpunkt, wo die eigene
Feuchtigkeit der Leiche zur Unterhaltung der Fäulniss nicht mehr
ausreicht. Es kommt dann zur Eintrocknung und langsamen Vermoderung
der noch übrigen Theile. Eine Reihe der sogenannten natürlichen
+Mumien+ verdankt diesem Gange der Dinge ihre Entstehung. Eine
gewisse Menge von aussen kommender Feuchtigkeit ist daher für den
vollständigen Verlauf der Fäulniss in der Regel nothwendig, und je
grösser sie ist, desto flotter gestaltet sich die letztere. Ausser
der chemischen kommt hierbei auch die auflockernde macerirende
Wirkung des Wassers in Betracht. Bleibt die Leiche unter Wasser, so
wird der Eintritt und Verlauf der Fäulniss desto mehr verzögert,
je frischer das Wasser ist, daher im strömenden Wasser mehr als im
stehenden und in kühler Jahreszeit mehr als in der wärmeren. Auch
bleibt die Leiche von Fliegenmaden und anderen nur in der Luft
lebenden Organismen geschützt, was ebenfalls zu ihrer Conservirung
beiträgt. Dafür verfällt die Leiche der sogenannten +Maceration+,
worunter man theils die Auswässerung, theils gewisse, durch die
lockernde und Imbibitionswirkung des Wassers bewirkte Veränderungen
versteht. Der reinsten, das heisst mit Fäulniss nicht combinirten
Form der Maceration begegnen wir bei während der Schwangerschaft
abgestorbenen und bei uneröffneten Eihäuten im Uterus oder in
der Bauchhöhle zurückgebliebenen Früchten. Dieselbe wird, wie
bereits oben (pag. 778) beschrieben wurde, durch Imbibitions- und
Transsudationsvorgänge eingeleitet, wozu frühzeitig eine Lockerung
des Zusammenhanges der Epidermis, beziehungsweise Abhebung
derselben durch Transsudat hinzutritt. Im weiteren Verlauf kommt
es zu fortschreitender Entblutung und Entwässerung der Frucht mit
consecutiver Auslaugung und Volumsverminderung derselben, während
die Organe nicht blos in ihren groben, sondern selbst in feineren
Eigenschaften jahrelang sich erhalten können und nur das Fett sich
in Fettsäuren umwandelt. Solche Früchte werden fälschlich als in
lipoider Umwandlung begriffen bezeichnet und können im weiteren
Verlaufe, durch Resorption der flüssigen Theile und hinzutretender
Abscheidung von Kalksalzen, zu sogenannten Lithopädien werden. Der
Vorgang bei unter Wasser liegenden Leichen ist im Allgemeinen ein
ähnlicher, wird jedoch einestheils durch die wenn auch langsam
vorwärtsschreitende Fäulniss, anderntheils durch den Einfluss des
beständigen Contactes mit Wasser, insbesondere durch die mit der
Dauer des Contactes zunehmende, bleichende und lockernde, sowie auch
bei strömendem Wasser durch die mechanisch trennende Wirkung des
letzteren modificirt, durch welche Einflüsse ein allmäliger Zerfall
der Leiche eingeleitet wird.
[Sidenote: Fettwachsbildung.]
Hier ist der Ort, der sogenannten +Fettwachsbildung+ oder
Saponification von Leichen zu erwähnen. Seitdem zuerst +Fourcroy+
aus Anlass der Ueberlegung des Friedhofes „des Innocents“ in Paris
auf solche Befunde aufmerksam gemacht hatte, wurde die Fettwachs-
(Leichenfett- Adipocire-) Bildung als ein Umwandlungsprocess
sämmtlicher Weichtheile, namentlich der Muskeln, aufgefasst,
indem man annahm, dass unter gewissen Bedingungen, zu welchen
insbesondere das Liegen der Leiche im Wasser oder im feuchten Boden
und ungenügender Luftzutritt gerechnet wird, die Weichtheile, statt
der colliquativen Fäulniss zu verfallen, in Fett sich umwandeln,
welches später verseift. An dieser Anschauung hält auch noch
+Kratter+ (Oesterr. ärztl. Vereins-Ztg. 1879, Nr. 11, Zeitschr.
f. Biologie. 1880, XVI und „Berichte des X. internationalen
medicinischen Congresses in Berlin“) fest.[524] Wir haben jedoch mit
Rücksicht auf unsere Beobachtungen schon 1879 („Bemerkungen über
das sogenannte Fettwachs.“ Wiener med. Wochenschr. Nr. 5-7) die
Ansicht ausgesprochen, dass in vielen und vielleicht den meisten
Fällen die als Fettwachs angesprochenen Massen nicht aus einer
postmortalen Verfettung der Weichtheile hervorgegangen sind, sondern
nur das subcutane und anderweitige Fett darstellen, welches nach der
Colliquation der übrigen Weichtheile, besonders der Muskeln (deren
Scheiden in einzelnen unserer Fälle noch ausgezeichnet erkennbar
waren), zurückblieb, nachdem es sich in Fettsäuren verwandelt hatte.
Weitere uns vorgekommene Fälle, von denen mehrere in unserem Museum
aufgestellt sind, haben diese Anschauung bestätigt und wir haben
darüber am X. internationalen Congress berichtet (Wiener med. Presse.
1890, Nr. 37). Ebenso gelangten +E. Ludwig+ (Artikel „Leichenfett“ in
Eulenburg’s Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde. Wien 1881) auf
Grund chemischer Untersuchung, +H. Reinhard+ („Beobachtungen über die
Zersetzungsvorgänge in den Grüften und Gräbern auf den Friedhöfen.“
11. Jahresbericht über das Medicinalwesen in Sachsen auf das Jahr
1880, pag. 148, insbesondere Absatz „Fettwachsbildung“, pag. 165),
+Ermann+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1882, XXXVII, pag. 51
und 1884, XL, pag. 29) und +Reubold+ (Sitzungsber. d. Würzburger
physiol.-med. Gesellsch. 1885) auf Grund positiver Beobachtungen
theils an beerdigten, theils an aus dem Wasser gezogenen Leichen zu
gleichen Resultaten. Zweifellos gibt es verschiedene Zwischenstufen
der sogenannten Fettwachsbildung. In den ausgeprägten Formen, d. h.
nach mehrmonatlichem Liegen in Wasser, sieht der Körper wie
versteinert aus und man findet bei näherer Untersuchung, dass das
Skelet kürassartig von einer kalk- oder stearinartigen, meist
grauweissen, an der Oberfläche grobkörnigen Masse umgeben ist, welche
im frischen Zustande einen stark fäculenten, im getrockneten mehr
ranzigen Geruch verbreitet, über Wasser schwimmt, beim Erhitzen
schmilzt und bei der mikroskopischen Untersuchung vorzugsweise aus
kugeligen, von radiär angeordneten, nadelförmigen Fettsäurekrystallen
gebildeten Körnern bestehend sich erweist. Derartige Leichen wurden
wegen der mitunter merkwürdig erhaltenen Körperformen, sowie
wegen der festen Consistenz und des kalkartigen Aussehens der
Fettwachsmassen schon wiederholt für „verkalkte“ Leichen gehalten
und können noch nach Jahren Abdrücke von Kleidern, Riemen und selbst
von Strangfurchen erkennen lassen (+Ganner+, Wiener med. Ztg.
1887, Nr. 8 und +Kratter+, Virchow’s Jahrb. 1887, I, pag. 511). Je
stärker das Fett zur Zeit des Todes entwickelt war, desto leichter
bilden sich compacte, die Form der Körpertheile conservirende
Adipociremassen, doch scheint auch die Natur des Fettes, insbesondere
der Gehalt desselben an Fettsäuren, von Einfluss zu sein. Namentlich
bildet sich leicht Fettwachs bei Kindern und Potatoren. Schöne
Präparate haben wir aus Säufer- und aus Phosphorlebern erhalten.
Den sehr eingehenden Untersuchungen zufolge, welche der leider so
früh verstorbene +Zillner+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
1885, XLII, 1) in unserem Institute ausführte, spielt bei der
Adipocirebildung ein Vorgang eine wichtige Rolle, welchen er als
„Wanderung des Fettes während des Verwesungsprocesses“ bezeichnet,
welcher darin besteht, dass in den späteren Stadien der Maceration
die bei gewöhnlicher Temperatur flüssigen Neutralfette in ähnlicher
Weise sich imbibiren und transsudiren, wie dieses in früheren
Stadien die Blutflüssigkeiten thun, woher es kommt, dass sich dann
Fett in Räumen findet, die früher leer oder von anderen Körpern
(Muskeln) eingenommen waren.[525] Diese sowohl, als die in ihrer
Heimat zurückgebliebenen Fette zersetzen sich zu Glycerin und freien
Fettsäuren, von denen die bei gewöhnlicher Temperatur flüssige
Oelsäure sammt dem Glycerin verschwindet und nur die höheren
Fettsäuren in Krystallform zurückbleiben, welche sich theilweise mit
Kalk und Magnesia zu einer Seife verbinden, wodurch, sowie durch
Niederschläge aus dem Wasser, der Adipocirepanzer an Festigkeit
gewinnt. +Zillner+ wies ferner nach, dass die „mammelonirte“
Beschaffenheit der Oberfläche typischer Adipocireleichen davon
herrührt, dass die Cutis wegfault und die körnige subcutane erstarrte
Fettschichte nun blossliegt.
[Sidenote: Einfluss der Wärme.]
Eine weitere, für den Eintritt und Verlauf der Fäulniss wichtige
Bedingung ist ein gewisser Grad von +Wärme+ des umgebenden Mediums.
Wärme, namentlich feuchtwarme Luft, ist besonders fördernd für
Fäulnissprocesse, und es ist bekannt, wie sich gewisse Jahreszeiten
in dieser Beziehung geltend machen. Ebenso tritt in geheizten
Localen, aber auch in Düngerhaufen, Abtrittsgruben u. dergl. die
Fäulniss ungemein rasch auf. Warme trockene Luft und noch mehr
höhere Hitzegrade bewirken dagegen Eintrocknung und Mumification.
Dass Gefrierkälte den Eintritt der Fäulniss verhindert oder die
bereits eingetretene sistirt, ist bekannt.
[Sidenote: Organismen in faulenden Leichen. Zerstörung d. Leichen durch
Thiere.]
[Sidenote: Schimmelpilze. Innere Fäulnissbedingungen.]
Eine wichtige und offenbar die wesentlichste Rolle bei der fauligen
Zerstörung von Leichen spielen +thierische+ und +pflanzliche
Organismen+. Constante Begleiter der stinkenden Fäulniss sind die
Bacterien, und es ist bekannt, dass diese als die septische Processe
einleitenden Fermente anzusehen sind.[526] Ihr Vorkommen gehört
mit zum Begriffe der Fäulniss und diese Thatsache wird jedenfalls
gegenüber den jetzt so häufig genannten mycotischen Processen wohl
zu beachten sein. Fliegenmaden können sich im Sommer schon in den
ersten 12 Stunden finden, namentlich in den Augen- und Mundwinkeln.
Ihr zerstörender Einfluss ist bekannt. Die ganz frische Leiche eines
6 Wochen alten, gut genährten Kindes, welche wir am 12. Juli offen
im Secirsaale liegen liessen, war bereits am 15. mit winzigen Maden
besetzt, wimmelte am 18. von diesen und war am 22. von ihnen bis auf
Haut, Sehnen und Knochen aufgezehrt. Durch weitere Versuche haben wir
uns überzeugt, dass die Maden der Schmeissfliege schon am nächsten
Tage nach der Deponirung der Eier auskriechen, ungemein rasch
wachsen, schon am 8. Tage sich zu verpuppen beginnen, worauf nach
weiteren 10 Tagen die Fliegen aus der Puppe auskriechen. Ausserdem
helfen in der warmen Jahreszeit Raub- und Aaskäfer und deren Larven,
sowie Ameisen an der Luft liegende Leichen zu zerstören.[527]
+Krahmer+, +Dommes+ und +Locherer+ berichten von Leichen Erwachsener,
die im Hochsommer, im freien Felde liegend, binnen 4-8 Wochen
angeblich von Ameisen (unserer Meinung nach wohl zunächst durch
Fliegenmaden) skelettirt worden waren. Dass Leichen von Ratten benagt
und die von Kindern sogar grösstentheils aufgezehrt werden, kommt
namentlich bei in oder nahe bei Düngerhaufen und Ställen oder in
Abtritten liegenden Leichen ungemein häufig vor. Auch Raubthiere und
Schweine können Leichen beschädigen, aufzehren und verschleppen.
Begrabene Leichen werden ebenfalls von Fliegenmaden durchwühlt, die,
wenn die Leiche nicht etwa nur oberflächlich verscharrt war, aus
Eiern stammen, die, als die Leiche noch an der Luft lag, deponirt
wurden. In zu einem schmierkäseähnlichen Brei verfaulten Weichtheilen
exhumirter Leichen haben wir bis jetzt jedesmal massenhaft winzige,
lebhaft sich bewegende Nematoden angetroffen, der Gattung Pelodera
angehörig. Diese Nematoden leben nach +Schneider+ in feuchter Erde
und suchen in diese gelangende faulende Substanzen auf, die sie
verzehren. Bei Wasserleichen kommen, so lange sie unter Wasser
liegen, nur Wasserkäfer, Wasserratten und Krebse in Betracht. Fische
sollen faules Fleisch verschmähen. Sobald jedoch die Leiche über
Wasser kommt, etabliren sich, besonders im Sommer, sofort zahlreiche
Maden und befördern die Zerstörung (vide auch pag. 817). Weisse und
gelbe Schimmelpilze finden sich bei nach längerer Zeit exhumirten
Leichen häufig. Aber auch in feuchter Luft liegen gebliebene Leichen
schimmeln, so z. B. die in Kellern aufbewahrten, die nach einiger
Zeit mit einem dichten Rasen von Schimmelpilzen bewachsen sein
können. Letztere hat +Heim+ (Annal. d’hygiène publ. 1893, XXX,
pag. 97) näher bestimmt. Diese Pilze hinterlassen in abgestorbenem
Zustande schwärzliche Flecke, welche der Haut und den Wäschestücken
ein wie getigertes Aussehen geben können. Ueber die Algenbildung auf
Wasserleichen wurde bereits oben gesprochen.
Was die +inneren+ oder +individuellen+ Fäulnissbedingungen betrifft,
so kann zunächst als Regel gelten, dass die Fäulniss desto rascher
die betreffende Leiche zerstört, je geringer die Masse des Körpers
gewesen ist, daher die von Kindern früher als die von Erwachsenen.
Auch die grössere Zartheit und der grössere Wassergehalt der Gewebe
macht, dass erstere früher der Fäulniss unterliegen als letztere.
Bei Neugeborenen kann der Umstand, dass die Gedärme noch keinen
fäculenten Inhalt führen, eine verhältnissmässige Verzögerung
des Eintrittes der Fäulniss bedingen. Weiter ist, ausser dem
Ernährungszustand, besonders die Todesart von Einfluss. Vor Allem
sind es die an septischen Processen Verstorbenen, die ungemein rasch
der Fäulniss anheimfallen und die man, namentlich im Sommer, schon
nach 12-24 Stunden in einem Grade grünfaul finden kann, zu welchem
sonst mehrere Tage erforderlich sind. Frühzeitigen Eintritt und
raschen Verlauf der Fäulniss sehen wir ferner bei Erstickten, und der
reichliche Blutgehalt der Organe, sowie die flüssige Beschaffenheit
des Blutes ist hiervon die Ursache. Gleiches beobachten wir bei
Vergiftungen, die in letzter Linie durch Erstickung tödten oder
nach welchen das Blut aus anderen Gründen flüssig bleibt, wie z. B.
nach Phosphorvergiftung. Eine merkwürdige Verzögerung der Fäulniss
will man nach Vergiftungen mit Carbolsäure, Alkohol, Arsenik und
Sublimat beobachtet haben, ebenso nach Vergiftung mit Schwefelsäure.
Dieselbe könnte wohl nur dann stattfinden, wenn grössere Mengen
dieser antiseptischen Stoffe im Körper zurückblieben, und kann
sich dann wohl local, z. B. im Magen, nicht leicht aber am ganzen
Körper bemerkbar machen. Die rapide Fäulniss nach Insolation
und Blitzschlag ist weniger in der Todesart als in den Umständen
begründet, unter welchen sie sich ereignet. Hohe Beachtung verdient
die schon von +Casper+ hervorgehobene Thatsache, dass erheblich
verletzte oder verstümmelte Leichen sehr schnell faulen, und sie
ist begreiflich, wenn man bedenkt, dass die inneren Organe ihrer
Gewebsbeschaffenheit und ihres Blutgehaltes wegen rasch der Fäulniss
unterliegen, und dass bei Verletzungen der Schutz entfällt, den sonst
die intacte Haut gegenüber der Fäulniss für einige Zeit gewährt.
Die Fäulniss ergreift dann zunächst die blossgelegten Theile und
schreitet von da aus rasch vorwärts. Ist aber die Haut unverletzt
geblieben, so ist es wieder die gequetschte Beschaffenheit der
verletzten Organe selbst, besonders die Durchtränkung derselben und
der Nachbargewebe mit extravasirtem Blut, welche bewirken, dass an
solchen Stellen frühzeitig Fäulnisserscheinungen auftreten und von
hier aus rasch sich verbreiten. Von dieser Thatsache kann man sich
schon bei oberflächlichen Sugillationen überzeugen.
[Sidenote: Resistenz der einzelnen Organe gegen Fäulniss.]
[Sidenote: Gehirn und Knochen.]
Die Widerstandsfähigkeit der einzelnen Organe gegen Fäulniss ist
keineswegs eine gleiche, vielmehr lehrt die Erfahrung, dass manche
sehr lange sich erhalten, während andere verhältnissmässig viel
früher unterliegen. Blutgehalt des betreffenden Organs, Festigkeit
seines Gewebes und erleichterter oder erschwerter Luftzutritt ist
in dieser Beziehung von Einfluss, Blut fault ungemein schnell und
zuerst. Je blutreicher daher ein Organ, desto früher wird es von
der Fäulniss ergriffen, und eben deshalb sehen wir die Fäulniss in
der Regel von Hypostasen aus beginnen. Je fester die +Structur+
eines Organs, desto widerstandsfähiger ist dasselbe gegen den
Fäulnissprocess. Das lockere subcutane und intermusculäre Zellgewebe
fault sehr rasch und wird auch frühzeitig von Fäulnissgasen
durchsetzt. Fascien und Sehnen dagegen erhalten sich ausser den
Knochen am längsten. Eine grosse Widerstandsfähigkeit zeigt auch
die Haut und die Arterienstämme, insbesondere die Aorta. Auch der
Uterus widersteht ungemein lange und kann mitunter noch gut erhalten
gefunden werden, nachdem sämmtliche Weichtheile unkenntlich geworden
sind. Bei einer wegen Verdacht auf Fruchtabtreibung nach einem
Jahre exhumirten Frau konnten wir den dem 2. Schwangerschaftsmonat
entsprechenden Uterus und ein Stück des Chorion deutlich erkennen.
Wie sich der +Luftgehalt+ der Organe bezüglich der Fäulniss geltend
macht, ist namentlich am Magen und den Gedärmen ersichtlich;
doch ist nicht zu übersehen, dass die dort enthaltene Luft schon
ursprünglich den Charakter von Fäulnissgasen besitzt. Vom Fett fault
nur das Zwischengewebe. Das eigentliche Fett fault nicht, sondern
verwandelt sich in Fettsäuren (wird ranzig), welche, wenn sie in
compacten Massen vorkommen, die oben erwähnte Adipocire (Leichenfett,
Leichenwachs) darstellen, die den weiteren Zersetzungsvorgängen
jahrelang zu widerstehen vermag. Auch die an Leichen zehrenden
kleinen Organismen scheinen lieber die stickstoffhaltigen Organe als
das Fett aufzusuchen, und wir haben bei den oben (pag. 586) erwähnten
Versuchen mit unter Wasser liegenden Leichen Neugeborener bemerkt,
dass die mit Vernix caseosa bedeckten Stellen vom Algenrasenansatz
freigeblieben sind.[528] In ähnlicher Weise scheint sich das
Gehirn zu verhalten, was sich aus seinem grossen Gehalt an Fett,
Cholesterin und fettähnlichen Körpern (Lecithin, Cerebrin) erklärt.
Wir haben deutlich als solche erkennbare Hirnreste bei einem durch
Zertrümmerung des Schädels ermordeten und nach 2 Jahren in Gartenerde
verscharrt gefundenen Manne gesehen, in einem anderen Falle noch
nach 4 Jahren und bei Gelegenheit der Exhumationen auf einem alten
Cholerafriedhofe als schwarze bröcklige, stellenweise aber noch
schmierige Masse noch nach 50 Jahren! Zahlreiche Beobachtungen
über das Erhaltensein des Gehirns bei nach 10 und mehr Jahren
exhumirten Leichen bringen +Moser+, +Schwandler+ und +Kirn+ (vide
unsere „Leichenerscheinungen“, l. c.) und neuere +Reinhardt+ (l. c.
pag. 160 und 164), sowie, Wasserleichen betreffend, +Ermann+ in
seiner oben citirten Arbeit: „Zur Kenntniss der Fettwachsbildung.“
Bei Leichen Erwachsener genügen durchschnittlich 2-3 Jahre Liegens
in der Erde, um die Weichtheile verschwinden zu machen. Die Bänder
und Knorpel halten sich länger und werden erst nach 5 und mehr
Jahren vollkommen zerstört. Die weiteren Veränderungen in den
Knochen gehen nur äusserst langsam vor sich und ihre Entfettung und
Austrocknung beansprucht noch viele (durchschnittlich 10) Jahre.
Noch später werden die Knochen morsch und brüchig, können sich
aber unter günstigen Umständen durch Jahrzehnte und Jahrhunderte
erhalten. Wichtig ist, zu wissen, dass auch uralte und selbst aus
geologischen Zeiten stammende Knochen noch Knochenknorpel enthalten.
600 Jahre alte Menschenknochen, die +Orfila+ untersuchte, gaben noch
27% Gallerte und beinahe 10% Fett. Auch +Kornfeld+ (Wiener med.
Wochenschr. 1886, Nr. 43) fand bei etwa 100jährigen ausgegrabenen
Knochen nur geringe Unterschiede in ihrer Zusammensetzung im
Vergleich mit frischen Menschenknochen.
[Sidenote: Todeszeitbestimmung bei faulen Leichen.]
Die genannten äusseren und inneren Momente werden sorgfältig
zu erwägen sein, wenn es sich darum handeln sollte, aus dem
Fäulnissgrade die Zeit zu bestimmen, die seit dem Tode eines
Individuums verflossen ist; es ist jedoch aus der grossen Zahl
dieser Momente und aus der Schwierigkeit, den Einfluss jedes
einzelnen derselben zu bestimmen, begreiflich, dass in der Regel nur
approximative Schlüsse gestattet sein werden, wobei festzuhalten
ist, dass, bei dem Umstande, als die späteren Fäulnissveränderungen
langsamer verlaufen als die ersten, die äussersten Grenzen des
Zeitraumes, innerhalb dessen der Tod erfolgt sein konnte, desto
weiter zu stecken sind, je weiter die Fäulniss oder Verwesung der
Leiche bereits gediehen ist. Da die Möglichkeit und der Grad der
Einwirkung der wichtigsten, nämlich der äusseren Fäulnissbedingungen,
vorzugsweise durch das Medium beeinflusst werden, in welchem die
Leiche lag, so ist besonders dieser Umstand zu berücksichtigen.
Die Sicherstellung der Identität von Leichen.
+Oesterr. Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeschau
vom 28. Januar 1855.+
§. 11. Ehe zur Eröffnung der Leiche geschritten wird, ist, um deren
Identität ausser Zweifel zu setzen, die Besichtigung der Leiche
durch Personen, welche den Verstorbenen gekannt haben, sowie durch
den etwa schon bekannten Beschuldigten zu veranlassen. Ist der
Verstorbene ganz unbekannt und noch keine Beschreibung der Person,
der Kleidungsstücke und der vorgefundenen Effecten vorhanden, so ist
eine solche noch vor der Leichenöffnung zu verfassen, eine etwa von
dem Todtenbeschauer bereits vorgelegte Beschreibung zu prüfen und das
ihr Fehlende, wo es nöthig ist, zu ergänzen.
§. 15 bestimmt, dass der Kopf des Sectionsprotokolles auch die
Anerkennung der Identität zu enthalten hat.
§. 31. Hierauf wird zur Untersuchung und Beschreibung der
Kleidungsstücke geschritten, welche schon deshalb von besonderer
Wichtigkeit ist, weil sie nebst der der übrigen vorgefundenen
Effecten bei Unbekannten zur Constatirung der Identität der Person
Aufschlüsse gibt.
§. 32. Die Beschreibung der Kleidungsstücke kann in derselben
Ordnung, wie sie am Leibe getragen wurden, geschehen, und es müssen
der Stoff, seine Färbung, der Schnitt, das Futter, die vorhandenen
Taschen und ihr Inhalt, die alte und abgenützte oder neue und noch
brauchbare Beschaffenheit derselben berücksichtigt werden. Bei
Stücken, die gewöhnlich mit Märkzeichen versehen sind, ist diesen
nachzuforschen, die vorgefundenen, so viel als möglich ähnlich mit
Bemerkung ihrer Farbe und Art im Protokolle anzugeben, wo sie aber
fehlen, ist auch dieser Umstand anzuführen.
§. 48. Bei Unbekannten hat die äussere Besichtigung mit der
Personalbeschreibung zu beginnen, in welcher die Grösse mit genauer
Angabe des Masses, das Geschlecht, das beiläufige Alter, die
Körperbeschaffenheit überhaupt, die Farbe der Haare und Augen, die
Form des Gesichtes, die Bildung der Stirne, der Nase, der Lippen
und des Mundes, die Art des allenfalls vorhandenen Bartes, die
Beschaffenheit der Zähne, andere auffallende Kennzeichen: als Narben,
Warzen, Muttermäler, durchstochene Ohrläppchen, Missbildung u. s. w.
aufzunehmen sind.
§. 127. St.-P.-O. bestimmt: ...... Ehe zur Oeffnung der Leiche
geschritten wird, ist dieselbe genau zu beschreiben und deren
Identität durch Vernehmung von Personen, die den Verstorbenen gekannt
haben, ausser Zweifel zu setzen. Diesen Personen ist nöthigenfalls
vor der Anerkennung eine genaue Beschreibung des Verstorbenen
abzufordern. Ist aber der letztere unbekannt, so ist eine genaue
Beschreibung der Leiche durch öffentliche Blätter bekannt zu machen.
Bei der Leichenschau hat der Untersuchungsrichter darauf zu sehen,
dass die Lage und Beschaffenheit des Leichnams, der Ort, wo, und die
Kleidung, worin er gefunden wurde, genau bemerkt, sowie Alles, was
nach den Umständen für die Untersuchung von Bedeutung sein könnte,
sorgfältig beobachtet werde.
+Preussisches Regulativ vom 13. Februar 1875+:
§. 10. ...... Die Obducenten sind verpflichtet, in den Fällen, in
denen ihnen dies erforderlich scheint, den Richter rechtzeitig zu
ersuchen, dass vor der Obduction ihnen Gelegenheit gegeben werde,
die Kleidungsstücke, welche der Verstorbene bei seinem Auffinden
getragen, zu besichtigen.
In der Regel wird es jedoch genügen, dass sie ein hierauf gerichtetes
Ersuchen des Richters abwarten.
§. 13. ...... Demgemäss sind betreffend den Körper im Allgemeinen,
soweit die Besichtigung solches ermöglicht, zu ermitteln und
anzugeben: 1. Alter, Geschlecht, Körperbau, allgemeiner
Ernährungszustand, etwa vorhandene Krankheitsresiduen, z. B.
sogenannte Fussgeschwüre, besondere Abnormitäten (z. B. Mäler,
Narben, Tätowirungen, Ueberzahl oder Mangel an Gliedmassen) ......
Betreffend die einzelnen Theile ist Folgendes festzustellen: 1. Bei
Leichen unbekannter Personen die Farbe und sonstige Beschaffenheit
der Haare (Kopf und Bart), sowie die Farbe der Augen.
[Sidenote: Identität.]
Aus diesen Bestimmungen ergibt sich zunächst, dass bei jeder Obduction
die Identität der vorliegenden Leiche sicherzustellen und eine
diesbezügliche Bemerkung in dem Kopfe des Protokolles einzuschalten
ist. Ist die Person, wie in den meisten Fällen, bekannt, so ist es
Sache des Untersuchungsrichters, die Agnoscirung durch Personen, welche
den Verstorbenen während des Lebens gekannt haben, zu veranstalten.
Gehört die Leiche einem unbekannten Individuum an, oder lässt sich
die Identität vorläufig noch nicht mit genügender Bestimmtheit
sicherstellen, so ist es Aufgabe des Gerichtsarztes, eine möglichst
genaue Personsbeschreibung aufzunehmen, damit auf Grundlage dieser noch
nachträglich die Constatirung der Identität ermöglicht werden könnte,
welche begreiflicher Weise nicht blos in strafrechtlicher, sondern auch
in polizeilicher und civilrechtlicher Beziehung (Todeserklärung §. 24
a. B. G. B.) eine grosse Bedeutung besitzt.
[Sidenote: Kleidungsstücke und Effecten.]
Zu diesem Behufe sind zunächst die +Kleidungsstücke+ zu beschreiben,
ebenso die +Effecten+, die das Individuum bei sich hat. Die Wichtigkeit
dieser Gegenstände für die Agnoscirung ist klar, es liesse sich
jedoch darüber streiten, ob die Aufnahme und Beschreibung derselben
in das Ressort des Gerichtsarztes und nicht vielmehr in das des
Untersuchungsrichters gehöre. Vorläufig kommt nach den Bestimmungen der
§§. 31 und 33 der citirten österr. Vorschrift die betreffende Aufgabe
dem Gerichtsarzte zu und es ist dabei nach den in diesen Paragraphen
enthaltenen Angaben vorzugehen.
Wie übrigens, wenn man bei Agnoscirung einer Leiche nur auf deren
Kleider und Effecten Rücksicht nehmen wollte, fatale Irrthümer
unterlaufen könnten, beweist folgender in Ungarn vorgekommener
Fall: Im April 1880 wurde im Walde bei Neusohl die verstümmelte
Leiche eines Mannes gefunden, der dort ermordet worden war. Bei
dem Ermordeten wurden Kleider und Notizen des Viehhändlers G. aus
Z. gefunden und wurde in der Leiche die Person des abgängigen G.
agnoscirt. Auch G.’s Frau hatte die Leiche als die ihres Mannes
sofort erkannt. G. hatte bei zwei Pester Assecuranzgesellschaften
sein Leben versichert, und zwar bei der einen mit 10.000 fl., bei der
anderen mit 5000 fl., welche Summen nach seinem Ableben seiner Frau
ausbezahlt werden sollten. Eine der betreffenden Assecuranzen leitete
auch ihrerseits die nöthigen Schritte zur Constatirung des Todes G.’s
ein, und so gelangte sie auch in den Besitz der Photographie des
Ermordeten. Die Aerzte der Assecuranzgesellschaft, welche G. früher
beim Abschlusse des Lebensversicherungsvertrages untersuchten, und
vier Verwandte G.’s konnten jedoch in der Photographie des Ermordeten
G. nicht erkennen, ja nicht einmal eine Aehnlichkeit mit demselben
herausfinden. In Folge dessen wurden genauere Nachforschungen
gepflogen, und es stellte sich bald heraus, dass der ermordet
geglaubte G. noch lebe. Nach einer telegraphischen Anzeige wurde
derselbe auch bald eruirt und verhaftet. Wie nun hervorkam, hatte
G. selbst im Walde bei Neusohl einen unbekannten Mann ermordet,
demselben einen Theil seiner eigenen Kleider angezogen und auf den
Namen G. lautende Notizen in dessen Tasche gesteckt, um die Behörden
irrezuführen, augenscheinlich zu dem Zwecke, dass seiner Frau die
erwähnten Lebensversicherungsprämien anstandslos ausbezahlt würden
(„N. Fr. Pr.“ 8. Mai). -- Auch +Ossiander+ (Maschka’s Handb. I, 656)
berichtet über einen Fall, wo einer in’s Wasser geworfenen Leiche
die Kleider eines von Werbern gewaltsam entführten Mannes angezogen
wurden. Endlich ist es bekannt, dass auch im Tisza-Eszlár-Fall
behauptet wurde, dass die aufgefischte Leiche nicht dem vermissten
Mädchen, sondern einem anderen Individuum angehörte, dem man nur
die Kleider des ersteren angezogen hätte. -- Im Jahre 1893 hatte
ein Kammerdiener defraudirt und war mit Hinterlassung eines Briefes
verschwunden, worin er angab, dass er den Tod suchen wolle. Am
nächsten Tage wurde ein Mann in Livré und mit nach Bedientenart
ausrasirtem Bart erhängt in einem Vororte Wiens gefunden. Die Leiche
wurde für die des verschwundenen Kammerdieners gehalten, welcher
jedoch einige Tage darauf eruirt und verhaftet wurde.
In gleicher Weise, wie die Kleidungsstücke, sind auch andere Hüllen, in
welche eingewickelt namentlich Kindesleichen häufig getroffen werden,
aufzunehmen, ebenso das Bändchen, mit welchem etwa die Nabelschnur
unterbunden war, u. dergl. Alle diese Dinge sind nach erfolgter
Beschreibung dem Gerichtsbeamten zu übergeben.
Das Gesagte bezieht sich zwar zunächst auf gewöhnliche, mehr weniger
frische und nicht weiter veränderte Leichen, es ist aber begreiflich,
dass Resten von Kleidungsstücken und Effecten eine noch höhere
Bedeutung zukommt, wenn es sich um die Constatirung der Identität
hochgradig verfaulter, verstümmelter oder anderweitig unkenntlich
gemachter Leichen handelt.
In drastischer Weise wurde dieses illustrirt durch einen von
uns mitgetheilten Fall[529], der ein aus dem Wasser gezogenes,
hochgradig verstümmeltes männliches Skelet betraf. Kopf, Hals und
theilweise auch die Extremitäten fehlten und von Weichtheilen
waren nur die Bandapparate und einige Adipocirereste vorhanden.
Die Agnoscirung dieses Individuums wäre, trotzdem die unteren
Extremitäten noch in Röhrenstiefeln steckten und ein Stück einer
blauen Barchentunterhose, sowie ein um die Lenden geschnallter Riemen
vorhanden war, kaum je möglich gewesen, wenn sich nicht im kleinen
Becken (!) eine lederne Geldbörse mit Stahleinfassung gefunden
hätte, die ausser verschiedenen Kleinigkeiten eine zusammengelegte,
mit Nr. 710 bezeichnete Quittung einer Gesellencasse enthielt, die
dem Zimmergesellen Mathias +Thymal+ über einen für das erste
Quartal 1877 eingezahlten Betrag von 40 Kreuzern ausgestellt und
in allen ihren Details, inclusive Stampiglie der Casse, vollkommen
deutlich zu lesen war. An der Hand der so gegebenen Daten gelang
es mit Leichtigkeit, zu constatiren, dass das Skelet dem genannten
Zimmergesellen angehörte, der seit 16. April 1877 vermisst wurde und
somit nahezu sechs Monate im Wasser gelegen war.
[Sidenote: Kleiderreste bei exhumirten Leichen.]
Bei exhumirten Leichen lässt sich der Befund von Kleiderresten auch
für die Bestimmung der Zeit verwerthen, die seit dem Verscharren
verstrichen war. Im Allgemeinen lassen noch erhaltene Reste von
Kleidern auf keinen allzu langen Zeitraum schliessen. Doch fand
+Moser+[530] in einem seiner Fälle noch nach zwanzig Jahren die
Sohlen der Fussbekleidung in ganz gutem Zustande, in einem anderen
noch nach vierzehn Jahren von den Kleidungsstücken viele recht gut
erhaltene Ueberreste, z. B. Bänder mit noch ganz frischen grünen und
weissen Farben; die weissen baumwollenen Strümpfe noch wenig morsch
und die Schuhe fast noch brauchbar. +H. Reinhard+ bemerkt in seinen
werthvollen: „Beobachtungen über die Zersetzungsvorgänge in den Gräbern
und Grüften der Friedhöfe“[531]: „Der Zerfall der Kleidungsstücke
geht, ausser bei Adipocireleichen, immer langsamer von statten, als
der der Weichtheile und so findet man sie nicht selten in Särgen,
wo von den Weichtheilen nur die Humusreste vorhanden sind, noch in
erkennbarem Zustande vor, wenn auch zum Theile morsch, zerreisslich
und dunkel gefärbt. Am frühesten verschwinden die aus vegetabilischen
Fasern hergestellten, die leinenen und baumwollenen Stoffe. Später
erst, d. h. nach acht bis zehn Jahren. sind die wollenen Stoffe bis zur
Unkenntlichkeit zerstört und am längsten dauern die seidenen Stoffe,
die oft noch nach zwanzig und mehr Jahren in ziemlich festem Zustande
gefunden werden, während alle übrigen Theile der Bekleidung vollständig
verschwunden sind.“
Unter den Knochen, die wir von einem seit etwa 80 Jahren aufgelassenen
Friedhofe erhielten, fand sich auch ein dicker Zopf rothbrauner
Haare, in welchen ein noch ganz gut erkennbares schwarzes Seidenband
eingeflochten war.
Man darf jedoch nicht übersehen, dass diese Beobachtungen an in Särgen
auf Friedhöfen beerdigten Leichen gemacht wurden. Bei ohne eine solche
Hülle und oberflächlich verscharrten Leichen wird der Zerfall der
Kleidungsstücke zweifellos rascher vor sich gehen.
In einem von +Orfila+ und +Lesueur+[532] mitgetheilten Falle, der das
nach kaum drei Jahren ausgegrabene Skelet eines unter verdächtigen
Umständen verschwundenen Italieners betraf, fanden sich ausser einem
zusammengelegten Taschenmesser, die Schuhe und einige hölzerne und
metallene Knöpfe, sonst aber nur einige um den Hals geschlungene
Fetzen und Reste von Tuch und Sammt. In einem anderen von diesen
Autoren erwähnten Falle wurden an den verseiften Ueberresten einer in
einem feuchten Keller durch beiläufig drei Jahre vergraben gewesenen
männlichen Leiche nur Reste der Gamaschen und einige Fetzen grober
Leinwand, sowie eine verrostete, an einem Stück Leder hängende Schnalle
gefunden.
Ebenso konnten wir an dem Skelette eines vor zwei Jahren ermordeten
und 1·5 Meter tief im Gartengrunde vergraben gewesenen Mannes, das wir
zu untersuchen Gelegenheit hatten, ausser dem zu einer Doppelschlinge
geknüpften Bande einer Unterhose mit einem Reste der letzteren, sowie
zwei Knöpfen, nur unkenntliche, zunderartig morsche Reste der sonstigen
Kleider vorfinden, dagegen aber ein um die linke Hand gebundenes Sack-
oder Halstuch, welches, ausgebreitet, ursprüngliche Farbe und das
Dessin in allen seinen Einzelheiten ganz gut erkennen liess.
Auch bei Flammen ausgesetzt gewesenen und mehr weniger verkohlten
Leichen können sich mitunter noch ansehnliche Kleiderreste, Effecten
u. s. w. wohl erhalten finden, wovon namentlich die von uns und
+Zillner+ untersuchten Ringtheaterleichen höchst interessante
Beispiele lieferten, worüber a. a. O. nachzulesen ist.
[Sidenote: Personsbeschreibung.]
Die zweite Aufgabe des Gerichtsarztes besteht in der
+Personsbeschreibung+ im engeren Sinne, d. h. in der Aufnahme jener
Körpereigenschaften, welche die Agnoscirung der betreffenden Person
ermöglichen. Auf welche Eigenschaften hierbei besonders Rücksicht zu
nehmen ist, wird im §. 48 der oben angeführten Todtenbeschauordnung
näher ausgeführt. Letztere hat zwar in dieser Bestimmung nur die
äusseren Körpereigenschaften im Auge, es ist jedoch selbstverständlich,
dass bei der Constatirung einzelner derselben auch auf den inneren
Befund Rücksicht genommen werden muss, besonders dann, wenn wegen
Fäulniss, Verstümmelung etc. die äussere Besichtigung keine genügende
Aufklärung ergibt.
Es sind aufzunehmen: Die Körpergrösse, das Geschlecht, das beiläufige
Alter, die Körperbeschaffenheit überhaupt, Kopf und Gesichtsbildung und
endlich die besonderen Kennzeichen.
[Sidenote: Messen der Leichen.]
_A._ +Die Körpergrösse.+ Die Aufnahme dieser ist nicht blos wegen der
bekannten Verschiedenheiten der Statur der gleichalterigen Individuen
von Wichtigkeit, sondern auch mit Rücksicht auf die Altersbestimmung
von nicht erwachsenen Individuen. Die Aufnahme der Körperlänge hat
durch Messung zu geschehen und erfolgt am besten mit einem steifen
Massstabe, auf welchem die Leiche im gestreckten Zustande gelegt wird.
Bei ganzen Leichen wird vom Scheitel bis zur Ferse gemessen, wobei
der Fuss rechtwinklig zum Unterschenkel zu stellen ist.[533] Bei
verstümmelten Leichen[534] misst man die einzelnen Körpertheile, soweit
sie ein anatomisch abgeschlossenes Ganze bilden und einen Schluss auf
die gesammte Körpergrösse gestatten.
Die Möglichkeit, dass eine Leiche selbst bei genauester Messung
etwas länger erscheinen kann, als der Körper im Leben gewesen
war, ist nicht abzuleugnen, da sowohl unmittelbar nach dem Tode,
als insbesondere, wenn bereits die Todtenstarre nachgelassen und
die Fäulniss begonnen hat, eine Erschlaffung der Weichtheile,
insbesondere auch der Bandapparate besteht und bei faulen Leichen,
namentlich bei Wasserleichen, noch die Schwellung der Haut und
anderer Weichtheile hinzutritt. Grössere Längendifferenzen kommen
jedoch auf diese Weise nicht zu Stande.
[Sidenote: Geschlechtsbestimmung. Behaarung.]
_B._ +Das Geschlecht.+ Unter gewöhnlichen Verhältnissen unterliegt
die Bestimmung desselben natürlich keinen Schwierigkeiten, wohl aber
können sich solche bei hochgradig verfaulten, bei verstümmelten und bei
verkohlten Leichen ergeben.
Auch bei sehr faulen, verstümmelten und selbst bei partiell verkohlten
Leichen können schon die Kleider und ihre Reste, ebenso Schmucksachen,
sowie der Haarwuchs das Geschlecht verrathen. Lange, nach
Frauenzimmerart geflochtene und geknotete Haare lassen bezüglich des
Geschlechtes kaum einen Zweifel übrig, und diese Verhältnisse sind noch
nach sehr langer Zeit zu constatiren, da die Haare der Fäulniss sehr
lange widerstehen. Beweis der oben angeführte, noch nach beiläufig 80
Jahren aufgefundene Zopf und zahlreiche Erfahrungen bei Exhumationen.
So wurden z. B. nach +Gaultier+ (Annal. d’hygiène publ. Janv. 1843)
bei der nach 10 Jahren vorgenommenen Ausgrabung der Ueberreste der
Juli-Gefallenen die Köpfe der Frauen sofort an den langen Haaren
erkannt. Bartwuchs lässt den Mann desto zweifelloser erkennen, je
mächtiger derselbe entwickelt ist. Dass auch bei Frauen, besonders
bei älteren, mitunter Bartenwicklung vorkommt, ist allerdings nicht
unberücksichtigt zu lassen. Eine Zusammenstellung exquisiter solcher
Fälle bringt +Taylor+ (Med. Jurisprudenz, 1873, II, 279). Beachtung
verdient auch die sonstige Behaarung des Körpers, so der Vorderfläche
der Brust und der Extremitäten, die im stärkeren Grade fast nur bei
Männern vorkommt. +Casper+ hat auch das Verhalten der Schamhaare zur
Unterscheidung des Geschlechtes benützen wollen, indem nach seiner
Angabe (Handb. 1876, II, 119) der umschriebene Kranz von Haaren auf
dem Schamberge das Weib, die, wenn auch noch so geringe Fortsetzung
des Haarwuchses vom Schamberge gegen den Nabel den Mann erweisen
soll. +B. Schultze+ dagegen (Jena’sche Zeitschrift. Bd. IV, 312) hat
häufig Ausnahmen von dieser Regel gefunden, so bei 100 Frauen 5mal ein
Hinaufreichen des Haarwuchses bis zum Nabel und unter 140 Soldaten
wiederholt eine kranzartige Anordnung der Haare um den Schamberg,
wie bei Weibern. Wir selbst haben ebenfalls solche Abweichungen vom
Normalen bei beiden Geschlechtern beobachtet, unter Anderem bei einer
18jährigen Selbstmörderin, bei der sich zwischen den Brustdrüsen ein
bis zum Brustbeingriff aufsteigender schmaler Streif ziemlich dichter,
brauner, offenbar beschnittener (!) Haare fand, der sich nach unten
in einen, über der Magengrube kaum angedeuteten, dann aber immer
stärker und breiter werdenden, bis zu den Schamhaaren herabsteigenden
Haarstreif fortsetzte (Wiener med. Presse. 1877, Nr. 3 bis 4). Auch
sind wir der Meinung, dass, wenn in einem Falle noch derartige Details
erkennbar sind, und nicht etwa blos die Bauchhaut vorliegt, wohl noch
andere und wesentlichere Anhaltspunkte für die Geschlechtsbestimmung zu
finden sein werden.
Bekannt ist es, dass bei Fäulniss und Maceration der Zusammenhang der
Epidermis mit dem Corium sich lockert und diese dann sammt den Haaren
und Nägeln theils von selbst abgeht, theils leicht abgestreift werden
kann. In Folge dessen ist es insbesondere bei macerirten Wasserleichen
sehr gewöhnlich, dass mit der Epidermis auch die Haare fehlen, wodurch
die Geschlechts- und auch die Altersbestimmung aus dem äusseren
Aussehen erschwert und mitunter ganz unmöglich gemacht wird.
Ebenso können die Haare an den Leichen Verbrannter fehlen, wenn die
betreffenden Theile von der Flamme erreicht worden sind. Durch letztere
kann selbst der ganze Haar- und Bartwuchs in wenigen Augenblicken
vollständig weggesengt und dadurch Kopf und Gesicht zur Unkenntlichkeit
entstellt werden. Ein dichter Haarwuchs widersteht der Flamme länger
als ein schütterer; geflochtene Haare (Zöpfe) länger als ungeflochtene,
und, wie es scheint, auch gefettete länger als trockene. Aus dem
Zusammentreffen solcher Momente erklärt sich, warum mitunter selbst
bei stark verbrannten Leichen noch Haarreste gefunden wurden, wie dies
bereits von anderen Beobachtern, neuerdings von +Jastrowitz+ („Ueber
den Tod durch Verbrennen.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1880,
XXXII, pag. 11) bemerkt wird und auch bei den Ringtheaterleichen
beobachtet wurde.
Auf den weiblichen oder männlichen „Habitus“ des ganzen Körpers
oder seiner Theile allein ist nicht viel zu geben, da bei
beiden Geschlechtern Abweichungen vorkommen, und bei noch nicht
geschlechtsreifen Individuen kein wesentlicher Unterschied in dieser
Beziehung besteht. Ueberdies können die ursprünglichen Körperformen
durch Fäulniss, Verkohlung etc. ganz auffallende Veränderungen erleiden.
Entscheidend für die Geschlechtsbestimmung ist der Nachweis des
weiblichen oder männlichen Geschlechtsapparates oder charakteristischer
Theile desselben.
[Sidenote: Mammae.]
Der Nachweis der Mammae ist von begreiflicher Wichtigkeit, doch ist
es bekannt, dass dieselben mitunter bei Mädchen und Frauen ganz
unentwickelt bleiben oder nachträglich atrophiren können, während
anderseits bei Männern, wenn auch seltener, eine Entwicklung der
Drüsensubstanz, so doch häufig in Folge Wucherung des Fettpolsters
eine Vorwölbung der Brustdrüsengegend vorkommt. Bei Neugeborenen
oder Säuglingen aus einer Anschwellung der Brustdrüsen und aus dem
Ausfliessen von milchartiger Flüssigkeit (Hexenmilch) beim Drucke auf
weibliches Geschlecht des Kindes schliessen zu wollen, wäre ein Fehler,
da diese Erscheinung bei beiden Geschlechtern gleich häufig sich findet.
[Sidenote: Aeussere und innere Genitalien bei faulen Leichen.]
Von den Genitalien können am leichtesten die äusseren unkenntlich
werden. So zunächst durch colliquative Fäulniss, weniger durch
Mumification, ferner durch Verstümmelung durch Fliegenmaden, Ratten
u. dgl., was besonders häufig bei Kindesleichen vorkommt. Ganz
unkenntlich können die äusseren Genitalien durch Verkohlung werden,
wovon die Ringtheaterleichen zahlreiche Beispiele lieferten. Sowohl
in diesen als in den früher genannten Fällen kann noch die innere
Untersuchung positive Resultate ergeben. So zunächst das Auffinden
des Uterus, welches wegen der bekannten Derbheit und Festigkeit des
normalen Uterus selbst noch dann gelingen kann, wenn die übrigen
Weichtheile durch Fäulniss bereits zur Unkenntlichkeit zerstört sind.
Ein interessantes Beispiel dafür bringen +Casper+-+Liman+ (l. c. II,
55).
Ein junges Dienstmädchen, das angeblich sehr hübsch gewesen sein
sollte, war plötzlich verschwunden. Alle Nachforschungen nach ihr
blieben vergeblich und ein auftauchendes Gerücht, dass sie von
einem ihr nahestehenden verheirateten Manne im Hause geschwängert
und von diesem beseitigt worden, machte den Fall noch bedenklicher.
Nach fast 9 Monaten wurde die Abtrittsgrube des Hauses gereinigt.
Ganz unerwartet fanden die Arbeiter bei dieser Gelegenheit im Kothe
einen ganz und gar verwesten menschlichen Körper, und es lag die
Vermuthung nahe, dass es der des verschwundenen Mädchens sei. „Einen
höheren Grad von Verwesung,“ sagt +Casper+, „werde ich wohl nie
wieder zur Beobachtung bekommen!“ Von einer eigentlichen Obduction
musste natürlich Abstand genommen werden. Doch wurde die Bauchhöhle
untersucht mit Rücksicht auf die aufgeworfene Frage, ob Denata
zur Zeit ihres Todes schwanger gewesen sei oder nicht. Sämmtliche
Gedärme, ebenso Leber, Milz und Nieren waren in eine unkenntliche
schwarze, schmierige Masse verwandelt. Trotzdem fand sich noch der
Uterus. Derselbe war hellroth gefärbt, hart und fest zu fühlen und zu
schneiden, von jungfräulicher Form und Grösse und leer. Somit konnte
wenigstens mit Gewissheit das Urtheil dahin abgegeben werden, dass
Denata im Augenblicke ihres Todes nicht schwanger gewesen sein könne,
womit jenes bei der Auffindung der Leiche mit Lebendigkeit wieder
aufgetauchte Gerücht in Nichts zerfiel und der angezweifelte gute Ruf
des angeblichen Schwängerers und muthmasslichen Mörders, eines bis
dahin unbescholtenen Mannes, wieder hergestellt war.
[Sidenote: Genitalien an verkohlten Leichen.]
Auch bei hochgradig verkohlten Leichen kann sich der Uterus noch
finden, wovon ausser in der Festigkeit des Uterus, auch in der
geschützten Lage desselben der Grund zu suchen ist. Bei einer Reihe
der Ringtheaterleichen, bei denen die Bauchhöhle eröffnet und die
Baucheingeweide ganz verkohlt gefunden wurden, liess sich trotzdem
der Uterus, wenn auch äusserlich verkohlt, erkennen, und zwar nicht
blos durch seine äussere Form, sondern auch durch seine Lagerung zu
den Nachbarorganen, die ihrer geschützten Lage wegen ebenfalls weniger
als andere Gebilde gelitten hatten. In einzelnen Fällen war der Uterus
zu einem unförmlichen, äusserlich ganz harten Körper verkohlt, war
jedoch beim Aufschneiden deutlich als solcher erkennbar und liess sogar
Details, z. B. Gefässdurchschnitte, Endometrium, Plicae palmatae etc.,
unterscheiden. In anderen Fällen konnte schon aus dem Fehlen eines
massigen Gebildes zwischen Harnblase und Rectum geschlossen werden,
dass ein männliches Individuum vorliege.
Nicht selten waren trotz hochgradiger Verkohlung der Bauchorgane noch
die Ovarien aufzufinden und an der Form, Lage, sowie am Durchschnitte
als solche zu erkennen. Gleiches war bei der Harnblase der Fall und
auch bezüglich des centralen Antheiles der Harnröhre, was insoferne
wichtig, als an diesem wesentliche Geschlechtsunterschiede sich
bemerkbar machen, nämlich beim Manne der Befund des Schnepfenkopfes,
der an der weiblichen Harnröhre fehlt, und der Corpora cavernosa
penis. Aus solchen Befunden allein können schon positive Schlüsse
auf das Geschlecht des Individuums gemacht werden, und wir wollen
hier bemerken, dass wir auch bei dem oben erwähnten, nach einem
halben Jahre aus dem Wasser gezogenen Individuum in den scheinbar zur
Unkenntlichkeit verfaulten Weichtheilen der Beckenhöhle noch deutliche
Reste der Corpora cavernosa penis, sowie die hintere Partie der
Harnröhre mit dem Schnepfenkopfe gefunden haben, welcher Nachweis für
sich allein genügt haben würde, das Individuum für ein männliches zu
erklären. Dagegen war bei dem, ebenfalls oben angeführten, vor 2 Jahren
ermordeten und dann vergrabenen Manne von dem Urogenitalapparate nichts
mehr zu erkennen.
[Sidenote: Skelet.]
Am Skelet lassen sich für die Geschlechtsbestimmung folgende
Verhältnisse verwerthen: Im Allgemeinen ist beim Weibe das ganze
Skelet kleiner und schwächer als das männliche und auch die einzelnen
Knochen sind verhältnissmässig weniger stark entwickelt, doch ist es
bekannt, in welcher Weise äussere und individuelle Verhältnisse dieses
im Ganzen richtige Gesetz alteriren können. Der Thorax ist beim
Weibe im Allgemeinen kürzer, aber weiter, besonders im oberen Theile.
Nach +Henle+ ist die Flächenkrümmung des hinteren Theiles der Rippen
stärker, dagegen die Kantenkrümmung (nach unten) schwächer als beim
Manne. Die erste und zweite Rippe sind absolut länger (+Meckel+). Das
Brustbein ist meist kürzer und breiter als beim Manne, erscheint daher
plump, während das des Mannes schlanker und graciler aussieht (+M.
Strauch+). Die Längendifferenz beruht vorzugsweise auf der Kürze des
Körpers des weiblichen Sternums.
[Sidenote: Geschlechtsunterschiede des Beckens.]
Das Becken ist derjenige Theil des Skelettes, in welchem sich der
Geschlechtsunterschied am bestimmtesten, und zwar ebensowohl in der
Form, wie in den Dimensionen, ausspricht. +Henle+ beschreibt
diesen Unterschied folgendermassen: Die Flächen der Darmbeine nähern
sich beim Weibe in der Regel mehr der horizontalen Lage als beim Manne;
das Promontorium springt beim männlichen Becken meistens weiter vor,
und so ist für das männliche Becken die Herzform, für das weibliche
Becken die quer-elliptische Form der oberen Apertur die normale. Das
untere Becken des Weibes ist absolut niedriger als das männliche, aber
geräumiger. Bei beiden Geschlechtern nimmt die Weite der Höhle des
unteren Beckens gegen den Ausgang ab, bei dem Manne aber in stärkerem
Masse als beim Weibe, so dass also die untere Apertur des weiblichen
Beckens absolut und relativ weiter ist. Hiermit steht in Verbindung,
dass die unteren Ränder des Leistenbeins am männlichen Becken unter
einem spitzigeren Winkel zusammenstossen als am weiblichen. Der
Schambogen des Weibes ist eine Curve, der Schambogen des Mannes gleicht
mehr einer gebrochenen Linie. Das weibliche Kreuzbein ist breiter und
kürzer.
Nach +Toldt+ (Maschka’s Handb. III, 562) können als die mittleren Masse
für die wichtigsten Beckendurchmesser gelten:
Weib Mann
+------+ + -----+
| | | |
+Im Beckeneingang+: Conjugata vera 118 Mm. 113 Mm.
Querdurchmesser 135 „ 127 „
Schräger Durchm. 124 „ 120 „
+Im Beckenraum+: Gerader Durchmesser 126 „ 114 „
Querer „ 120 „ 109 „
+Im Beckenausgang+: Gerader „ 90-110 „ 75-95 „
Querer „ 110 „ 82 „
Alle diese Angaben beziehen sich auf das typisch-weibliche, respective
männliche Becken, doch kommen Abweichungen und Zwischenformen
vielfach vor. Auch ist es selbstverständlich, dass die genannten
Geschlechtsunterschiede erst beim erwachsenen Weibe deutlicher
ausgebildet sind, obgleich den Beobachtungen von +Fehling+
zufolge schon das Becken neugeborener Mädchen und Knaben gewisse
Verschiedenheiten bieten soll.
Die Richtigkeit der Angabe, dass beim Weibe der Winkel, der die
Längsachse des Oberschenkelbeines mit der des Schenkelhalses bildet,
ein nahezu rechter, beim Manne aber ein stumpfer ist, wird von
+Merkel+ bestritten.
[Sidenote: Altersbestimmung an der Leiche.]
_C._ +Das Alter.+ Die oben citirte österreichische Instruction für die
gerichtliche Todtenbeschau verlangt nur die Angabe des beiläufigen
Alters, und zwar mit Recht, da wegen Mangel ganz zweifelloser und nur
einzelnen Lebensjahren zukommender Kennzeichen blos eine Diagnose der
Altersperiode, nicht aber des genauen Alters möglich ist. Selbst bei
frischen und ganzen Leichen und nach Erwägung aller äusseren sowohl als
inneren Merkmale ist stets nur eine approximative Schätzung innerhalb
eines gewissen, je nach der Natur des Falles mehr weniger weiten
Spielraumes zulässig. Noch mehr Vorsicht ist angezeigt, wenn es sich um
verfaulte, verstümmelte oder verkohlte Leichen, oder gar nur um Reste
derselben handelt.
Bei erhaltenen Leichen gestattet zwar schon das äussere Aussehen häufig
einen approximativen Schluss auf das Alter des Individuums, und es
können Länge des Körpers, Ernährungszustand, Beschaffenheit der Haare
und der Zähne in dieser Beziehung verwerthet werden. Dass aber bei
einseitiger Auffassung dieser Eigenschaften grosse Irrungen geschehen
können, ist begreiflich. Die Statur schwankt bekanntlich in weiten
Grenzen, ein Grauwerden oder Ausfallen der Haare in jüngeren Jahren
ist nichts Seltenes und ebenso kann ein marastisches Aussehen auch bei
verhältnissmässig jungen Personen vorkommen und man weiss, wie sehr
auch das Verhalten der Zähne bezüglich ihrer Festigkeit, Gesundheit und
sonstigen Aussehens variirt! Es muss daher auch bei solchen Leichen auf
die inneren Verhältnisse recurrirt werden, noch mehr aber bei faulen
oder anderweitig veränderten.
Diese Verhältnisse betreffen vorzugsweise die Knochen und die Knorpel,
aber auch gewisse Weichtheile.
Für Altersbestimmungen innerhalb der Periode von der Geburt bis zum
vollendeten Wachsthume muss die zunehmende Höhe des ganzen Skelettes
und die wachsende Dimension der einzelnen Knochen, namentlich aber der
Grad der Verknöcherung der einzelnen Skelettheile, herbeigezogen werden.
[Sidenote: Körperlängen in den einzelnen Wachsthumsperioden.]
Die Höhe des Skelettes, respective des ganzen Körpers, unterliegt in
den einzelnen Perioden des Wachsthums eben solchen Verschiedenheiten,
wie nach Vollendung des letzteren, so dass in einer und derselben
Altersclasse weit auseinanderstehende Körpergrössen vorkommen, wovon
namentlich die Erfahrungen an Schulkindern eclatante Beispiele liefern.
Die Verwerthung der Körperlänge für die Altersbestimmung muss daher
immer mit Vorsicht und unter Berücksichtigung anderer Verhältnisse
geschehen und kann überhaupt stets nur zu approximativen Schlüssen
führen.
Unsere an Leichen vorgenommenen Messungen haben für die Periode von der
Geburt bis zum vollendeten 6. Jahre folgende Körperlängen ergeben:
+============+===========================+===========================+
| | +Knaben+ | +Mädchen+ |
| +-----+---------------------+-----+---------------------+
| |Zahl | Längenmasse in |Zahl | Längenmasse in |
| +Alter+ |der | Centimetern |der | Centimetern |
| |Beob-+---------------------+Beob-+---------------------+
| |ach- | | | |ach- |Dschn.| Maxim.|Minim.|
| |tun- |Dschn.|Maxim.| Minim.|tun- |Dschn.| Maxim.|Minim.|
| |gen | | | |gen |Dschn.| Maxim.|Minim.|
+============+=====+======+======+=======+=====+======+=======+======+
| bis 1 Mon. | 280 | 50·9 | 64 | 35 | 245 | 50·1 | 56·5 | 35 |
| 1-2 „ | 78 | 53·3 | 61 | 40 | 62 | 53·7 | 68·5 | 47 |
| 2-3 „ | 54 | 55·4 | 69 | 41 | 60 | 54·7 | 63 | 47 |
| 3-4 „ | 61 | 57·5 | 72 | 50 | 61 | 57·4 | 74 | 50 |
| 4-5 „ | 40 | 57·9 | 67 | 45 | 37 | 57·7 | 72 | 47 |
| 5-6 „ | 33 | 60·8 | 68 | 52 | 20 | 58·8 | 75 | 52 |
| 6-7 „ | 27 | 62 | 75 | 56·5 | 26 | 61·6 | 67 | 56 |
| 7-8 „ | 23 | 63·5 | 72 | 54 | 15 | 61·2 | 70 | 53 |
| 8-9 „ | 22 | 62·5 | 71 | 53 | 15 | 62·2 | 69 | 56 |
| 9-10 „ | 11 | 65·8 | 70 | 60 | 14 | 61·7 | 68 | 54 |
| 10-11 „ | 8 | 66·8 | 72 | 63 | 10 | 64·7 | 71 | 52 |
| 11-12 „ | 9 | 66·5 | 74 | 56·5 | 7 | 66·4 | 70 | 61 |
| 1-1½ Jahr | 48 | 70·9 | 85 | 51 | 51 | 69·2 | 80 | 54 |
| 1½-2 „ | 40 | 73·4 | 83 | 49 | 30 | 71·3 | 83 | 60 |
| 2-2½ „ | 34 | 76·2 | 88 | 68 | 34 | 75·2 | 86 | 61 |
| 2½-3 „ | 22 | 79·8 | 91 | 68 | 17 | 75·3 | 88 | 58 |
| 3-3½ „ | 22 | 83 | 102 | 68 | 16 | 79·1 | 88 | 53 |
| 3½-4 „ | 12 | 88·8 | 104 | 77 | 7 | 85·6 | 95 | 75 |
| 4-4½ „ | 20 | 89·9 | 106 | 60 | 25 | 88·5 | 100 | 72 |
| 4½-5 „ | 3 | 97·3 | 99 | 94 | 3 | 96·6 | 98 | 96 |
| 5-5½ „ | 12 |100·4 | 111 | 93 | 9 | 97·1 | 108 | 92 |
| 5½-6 „ | 3 |104·3 | 108 | 100 | 8 | 93·3 | 106 | 84 |
Für die Körperhöhe in der Periode vom 6. bis zum 19. bis 20. Jahre
existiren sehr zahlreiche und sorgfältig ausgeführte Messungen von
Schulkindern, die insbesondere aus Anlass der Schulbankfrage in
verschiedenen Ländern vorgenommen wurden. Von diesen mögen, weil auf
grossen Zahlen beruhend, insbesondere die Messungen der Frankfurter
Commission hier Aufnahme finden, welche die Jugend der Frankfurter
öffentlichen Schulen, und zwar 3459 Knaben und 2448 Mädchen, umfassen
(Vierteljahrschrift f. öffentl. Gesundheitspflege. IV, pag. 300).
Knaben.
+=======+===========+=============+=========+==========+
| |Anzahl der | Durch- | | |
|+Alter+|Gemessenen |schnittliche | Minimum | Maximum |
| | |Körpergrösse | | |
+=======+===========+=============+=========+==========+
| 6-7 | 96 | 119·9 | 100·0 | 126·2 |
| 7-8 | 349 | 117·3 | 103·0 | 134·5 |
| 8-9 | 409 | 122·8 | 104·5 | 141·4 |
| 9-10 | 452 | 126·4 | 104·0 | 144·5 |
| 10-11 | 438 | 131·3 | 114·5 | 153·9 |
| 11-12 | 407 | 135·8 | 111·0 | 164·5 |
| 12-13 | 389 | 140·6 | 122·0 | 178·0 |
| 13-14 | 388 | 147·0 | 129·0 | 172·6 |
| 14-15 | 357 | 152·3 | 122·8 | 172·0 |
| 15-16 | 153 | 161·7 | 137·0 | 184·0 |
| 16-17 | 66 | 165·0 | 132·4 | 181·5 |
| 17-18 | 31 | 169·1 | 145·0 | 185·0 |
| 18-19 | 13 | 167·6 | 146·0 | 179·0 |
| 19-20 | 5 | 171·8 | 167·0 | 178·0 |
| 20-21 | 6 | 169·1 | 166·0 | 172·5 |
Mädchen.
+=======+===========+=============+=========+==========+
| |Anzahl der | Durch- | | |
|+Alter+|Gemessenen |schnittliche | Minimum | Maximum |
| | |Körpergrösse | | |
+=======+===========+=============+=========+==========+
| 6-7 | 44 | 115·0 | 101·5 | 124·9 |
| 7-8 | 304 | 116·3 | 99·0 | 129·0 |
| 8-9 | 353 | 121·2 | 106·0 | 139·9 |
| 9-10 | 335 | 125·1 | 106·0 | 140·1 |
| 10-11 | 345 | 129·8 | 112·0 | 156·5 |
| 11-12 | 307 | 135·7 | 118·0 | 154·0 |
| 12-13 | 305 | 141·1 | 124·0 | 161·0 |
| 13-14 | 233 | 143·4 | 119·0 | 170·0 |
| 14-15 | 151 | 150·9 | 122·0 | 169·0 |
| 15-16 | 49 | 156·6 | 142·0 | 172·2 |
| 16-17 | 16 | 156·5 | 151·0 | 166·8 |
| 17-18 | 4 | 161·2 | 153·8 | 170·0 |
| 18-19 | 2 | 155·5 | 154·0 | 157·0 |
Beim erwachsenen Mann beträgt die Länge des Skelettes zwischen 157 und
180 Cm. Beim erwachsenen Weib zwischen 153 und 166 Cm.
Wenn man von der Länge der reifen Neugeborenen von 50 Cm. ausgeht,
erreicht der Mensch etwa im 5. Jahre die doppelte (100 Cm.), in
weiteren 10 Jahren, nämlich bis zum 15. Lebensjahre, die dreifache
Länge (150 Cm.) des Neugeborenen. Im ersten Jahre geschieht das
Längenwachsthum am raschesten und beträgt monatlich 1-2, somit im
Ganzen 12-24 Cm., vom 1. bis 5. Jahre jährlich blos 7-8, vom 5. bis 15.
blos jährlich 5 Cm. Zur Zeit der Pubertät ist das Wachsthum wieder ein
rascheres und erreicht der Körper nahezu die künftige Länge, zu welcher
dann bis zur Beendigung des Wachsthums meist nur noch wenig hinzukommt.
[Sidenote: Dimensionen der einzelnen Knochen.]
Der Schluss aus den Dimensionen +einzelner+ aufgefundener Knochen,
respective Körpertheile, auf das Alter, respective die Statur des
betreffenden Individuums ist natürlich stets ein prekärer und wird sich
in der Regel noch in weiteren Grenzen bewegen müssen als bei ganzen
Leichen, beziehungsweise vollständigen Skeletten.
+Sue+ (Orfila’s Lehrbuch der gerichtl. Medicin. I, 103) hat in
dieser Beziehung folgende Verhältnisse gefunden: Ein Kind von einem
Jahre, dessen Grösse 66 Cm. betrug: Länge des Stammes 39 Cm., der
oberen Extremitäten 27 Cm., der unteren Extremitäten 27 Cm. Kind
von drei Jahren, dessen Grösse 99 Cm. betrug: Länge des Stammes 57
Cm., obere Extremitäten 42 Cm., untere 43 Cm. Kind von 10 Jahren,
dessen Grösse 132 Cm. betrug: Länge des Stammes 72 Cm., der oberen
Extremitäten 57 Cm., der unteren Extremitäten 61 Cm., Kind von 14
Jahren von 1 M. 65 Cm. Grösse: Länge des Stammes 84 Cm., der oberen
Extremitäten 73 Cm., der unteren Extremitäten 81 Cm. Individuen von 20
bis 25 Jahren, deren Gesammthöhe 1 M. 92 Cm. betrug: Länge des Stammes
96 Cm., der oberen Extremitäten 90 Cm., der unteren Extremitäten 96 Cm.
[Sidenote: Maasse einzelner Knochen.]
Tabellarische Zusammenstellungen des Verhältnisses der Dimensionen
einzelner Knochen zur Höhe des ganzen Skelettes finden sich an der
citirten Stelle bei +Orfila+, in Taylor’s Medical Jurisprudence,
1873, I, 154, bei +Langer+ (Wachsthum des menschlichen Skelettes mit
Bezug auf den Riesen. Denkschrift der k. Akademie der Wissenschaften,
mathematisch-naturwissenschaftl. Classe. 1872, XXXI) und insbesondere
bei +Toldt+ (l. c. 531). Letzterer Autor constatirte an der Wirbelsäule
und an den Extremitätenknochen folgende Maasse (in Millimetern):
+=======================+====+====+============+=====+====+====+=====+
| |Länge der |Humerus |
| |Wirbelsäule | |Ulna |
| | |Clavicula | | |Radius |
| +Alter+ | | | Scapula | | | |Hand-|
| | | +-----+------+ | | |länge|
| | | |Länge|Breite| | | | |
| | | | | | | | | |
+=======================+====+====+=====+======+=====+====+====+=====+
|M. Embryo Ende des | | | | | | | | |
|6. Mon., K.-L. 30 Cm. |133 | 25 | 25 | 16 | 50 | 40 |36·5| 34 |
|Knabe, Neugeb., reif, | | | | | | | | |
|K.-L. 48·8 Cm. |235 |43·5| 41 | 29 | 80 | 70 | 61 | 61 |
|Knabe, Neugeb., reif, | | | | | | | | |
|K.-L. 52·5 Cm. |260 | 46 | 46 | 26·5 | 83 | 71 | 60 | 71 |
|Mädchen, 1½ Jahre | | | | | | | | |
|alt, K.-L. 74 Cm. |346 | 64 | 58 | 45 |119·5| 98 | 84 | 87 |
|Mädchen, 2½ Jahre | | | | | | | | |
|alt, K.-L. 83 Cm. |378 | 66 | 63 | 52 | 134 |110 | 94 | 101 |
|Mädchen, 4 Jahre alt, | | | | | | | | |
|K.-L. 96 Cm. |444 | 80 | 80 | 64 | 166 |125 |110 | 110 |
|Knabe, 6½ Jahre alt, | | | | | | | | |
|K.-L. 106 Cm. |494 | 84 | 84 | 65 | 186 |150 |133 | 123 |
|Knabe, 12 Jahre alt, | | | | | | | | |
|K.-L. 137·8 Cm. |584 |110 | 116 | 78 | 270 |219 |191 | 154 |
|Knabe, 15 Jahre alt, | | | | | | | | |
|K.-L. 152 Cm. |646 |134 | 125 | 97 | 297 |230 |206 | 179 |
|Mann, 24 Jahre alt, | | | | | | | | |
K.-L. 163 Cm. |765 |140 | 141 | 113 | 300 |236 |221 | 175 |
|Mann, 24 Jahre alt, | | | | | | | | |
|K.-L. 175 Cm. |775 |161 | 160 | 114 | 326 |264 |235 | 190 |
+=======================+=====================+====+====+====+=====+
| | Hüftknochen |Femur |
| +----------+----------+ |Tibia |
| +Alter+ |von Spina |von Spina | | |Fibula |
| |oss. ilei |oss. ilei | | | |Fuss-|
| | ant bis | post. zu | | | |länge|
| | tuber | Symph. | | | |länge|
| | ischii |oss. pub. | | | |länge|
+=======================+==========+==========+====+====+====+=====+
|M. Embryo Ende des | | | | | | |
|6. Mon., K.-L. 30 Cm. | 29 | 27 | 56 | 43 | 43 | 39 |
|Knabe, Neugeb., reif, | | | | | | |
|K.-L. 48·8 Cm. | 51 | 46 | 90 | 73 | 71 | 70 |
|Knabe, Neugeb., reif, | | | | | | |
|K.-L. 52·5 Cm. | 57 | 53 | 99 | 80 | 81 | 72 |
|Mädchen, 1½ Jahre | | | | | | |
|alt, K.-L. 74 Cm. | 71 | 63 |151 |122 |123 | 104 |
|Mädchen, 2½ Jahre | | | | | | |
|alt, K.-L. 83 Cm. | 88 | 89 |179 |147 |148 | 124 |
|Mädchen, 4 Jahre alt, | | | | | | |
|K.-L. 96 Cm. | 100 | 106 |213 |178 |181 | 140 |
|Knabe, 6½ Jahre alt, | | | | | | |
|K.-L. 106 Cm. | 108 | 113 |256 |203 |226 | 169 |
|Knabe, 12 Jahre alt, | | | | | | |
|K.-L. 137·8 Cm. | 145 | 141 |383 |308 |302 | 208 |
|Knabe, 15 Jahre alt, | | | | | | |
|K.-L. 152 Cm. | 156 | 162 |422 |353 |350 | 226 |
|Mann, 24 Jahre alt, | | | | | | |
|K.-L. 163 Cm. | 161 | 175 |417 |335 |342 | 225 |
|Mann, 24 Jahre alt, | | | | | | |
|K.-L. 175 Cm. | 191 | 179 |477 |375 |371 | 246 |
Für die Kopfknochen fand +Toldt+ folgende Maasse:
+=====================+===========+===========+===========+===========+
| |Hinter- |Scheitel- |Stirn- |Schläfen- |
| |haupts- |bein |bein- |bein- |
| +Alter+ |schuppe | |schuppe |schuppe |
| +====+======+====+======+====+======+===========+
| |Höhe|Breite|Höhe|Breite|Höhe|Breite|Höhe|Breite|
+=====================+====+======+====+======+====+======+====+======+
|Reifer neugeborener | | | | | | | | |
|Knabe, K.-L. 51·6 Cm.| 67 | 66 | 85 | 80 | 62 | 57 | 23 | 32 |
|Mädchen, 3 Monate alt| 78 | 83 |111 | 94 | 76 | 65 | 24 | 37 |
|Mädchen, 6 Monate alt| 83 | 92 |112 | 104 | 80 | 61 | 25 | 33 |
|Mädchen, 9 Monate alt| 91 | 104 |123 | 120 | 95 | 75 | 40 | 46 |
|Knabe, 13 Monate alt| 91 | 108 |113 | 117 | 93 | 72 | 33 | 50 |
|Knabe, 2 Jahre alt |100 | 120 |133 | 124 |108 | 83 | 33 | 51 |
|Knabe, 3 Jahre alt |108 | 151 |131 | 121 |116 | 81 | 45 | 52 |
|Knabe, 4 Jahre alt |101 | 122 |130 | 125 |104 | 81 | 41 | 54 |
|Knabe, 5 Jahre alt |105 | 131 |133 | 125 |116 | 90 | 42 | 55 |
|Knabe, 7 Jahre alt |110 | 125 |136 | 125 |110 | 85 | 42 | 59 |
|Knabe, 9 Jahre alt |115 | 128 |130 | 129 |111 | 84 | 43 | 61 |
|Knabe, 12 Jahre alt |117 | 130 |125 | 124 |114 | 88 | 40 | 68 |
|Knabe, 16 Jahre alt |112 | 128 |137 | 139 |121 | 91 | 42 | 62 |
|Ausgewachsener { |105 | 128 |130 | 120 |108 | 80 | 42 | 60 |
|Mann { |bis | bis |bis | bis |bis | bis | bis| bis |
| { |120 | 145 |140 | 142 |125 | 94 | 54 | 50 |
|Ausgewachsenes { |100 | 120 |122 | 120 |106 | 78 | 37 | 58 |
|Weib { |bis | bis |bis | bis |bis | bis | bis| bis |
| { |130 | 130 |140 | 130 |120 | 94 | 48 | 70 |
+=====================+====+====+====+====+=====+====+=================
| |Querabstand der
| |Warzenfortsätze
| | |Grösste Breite des
| | |Keilbeines
| | | |Grösste Breite des
| +Alter+ | | |Oberkiefers
| | | | |Höhe des Oberkiefers
| | | | | |Querabstand der
| | | | | |Unterkieferwinkel
| | | | | | |Länge des Unterkiefers
+=====================+====+====+====+====+====+====+==================
|Reifer neugeborener | | | | | | |
|Knabe, K.-L. 51·6 Cm.| 55 | 62 | 51 | 24 | 42 | 33 |
|Mädchen, 3 Monate alt| 71 | 86 | 57 | 31 | 51 | 40 |
|Mädchen, 6 Monate alt| 74 | 90 | 58 | 32 | 51 | 41 |
|Mädchen, 9 Monate alt| 79 |101 | 64 | 39 | 59 | 51 |
|Knabe, 13 Monate alt| 85 | 99 | 64 | 41 | 59 | 47 |
|Knabe, 2 Jahre alt | 89 |111 | 70 | 41 | 67 | 50 |
|Knabe, 3 Jahre alt | 84 |100 | 75 | 43 | 59 | 50 |
|Knabe, 4 Jahre alt | 99 |103 | 68 | 45 | 65 | 53 |
|Knabe, 5 Jahre alt |108 |115 | 76 | 54 | 76 | 60 |
|Knabe, 7 Jahre alt |110 |116 | 80 | 54 | 76 | 63 |
|Knabe, 9 Jahre alt |116 |114 | 86 | 51 | 77 | 69 |
|Knabe, 12 Jahre alt |113 |114 | 89 | 63 | 86 | 74 |
|Knabe, 16 Jahre alt |112 |124 | 86 | 60 | 84 | 72 |
|Ausgewachsener { |120 |120 | 90 | 69 | 86 | 72 |
|Mann { |bis |bis |bis |bis |bis |bis |
| { |130 |136 | 98 | 73 |102 | 86 |
|Ausgewachsenes { |112 |114 | 87 | 54 | 82 | 70 |
|Weib { |bis |bis |bis |bis |bis |bis |
| { |118 |120 | 92 | 92 | 88 | 84 |
Die wichtigsten Anhaltspunkte für die Altersbestimmung ergeben die
Ossificationsverhältnisse der einzelnen Skelettheile. Dieselben
gestalten sich zufolge der Angaben +Henle+’s, +Langer+’s, +Toldt+’s
u. A., sowie zufolge unserer eigenen Untersuchungen im Allgemeinen
in nachstehender Weise, wobei jedoch bemerkt werden muss, dass
individuelle, Geschlechts- und Racenverhältnisse den Gang der
Ossification vielfach beeinflussen. Insbesondere scheint, wie auch
+Wachholz+ („Altersbestimmung aus dem Verhalten der Ossification
des oberen Humerusendes“. Friedreich’s Bl. 1894) bestätigte, beim
weiblichen Geschlechte die Ossification des Skelettes früher sich zu
vollenden als beim männlichen, und bei Individuen (Racen) von kleiner
Statur früher als bei solchen von grosser.
[Sidenote: Skelet im 1. Lebensjahre.]
Im Laufe des +ersten+ Lebensjahres beginnt die Verschmelzung der
beiden Stirnbeinhälften vom unteren Ende der Stirnnaht aus und schon
in den ersten Monaten nach der Geburt verschwinden die seitlichen
Fontanellen, während sich die grosse verkleinert. Der Warzentheil
verwächst mit dem übrigen Schläfebeine und es bildet sich die Andeutung
eines Warzenfortsatzes. Die fötalen Spalten am Occiput verschwinden;
die Temporalflügel des Keilbeines wachsen an den Körper an und es
vereinigen sich die beiden Unterkieferhälften. Der vordere Bogen
des Atlas enthält einen Knochenkern und es beginnt die knöcherne
Vereinigung der Wirbelbögen zuerst an den Brust- und unteren Hals-,
dann an den Bauchwirbeln und zuletzt am Atlas. Die Knochenkerne im
Brustbeine vermehren sich und es entstehen neue im Proc. coracoideus,
im Caput humeri und im Oberschenkelkopf. In der Regel im 7. Monate
erfolgt der Durchbruch der Milchzähne meist in folgender Ordnung:
Zuerst brechen die unteren mittleren Schneidezähne hervor und bald
darauf die Schneidezähne des Oberkiefers; nach einigen Wochen die
oberen äusseren Schneidezähne und dann die unteren äusseren, so dass
mit Ende des ersten Jahres in der Regel alle 8 Schneidezähne zum
Vorscheine gekommen sind.[535]
[Sidenote: Skelet im 2. Lebensjahre.]
Im Verlaufe des +zweiten+ Jahres verknöchert die Stirnnaht vollständig
und am Ende desselben ist die Verschliessung der grossen Fontanelle
vollendet. Die knöcherne Vereinigung der Wirbelbögen schreitet vor und
Knochenkerne bilden sich im grösseren Höcker des Oberarmkopfes, in den
unteren Enden des Radius, der Tibia und Fibula und in den Köpfchen
der Mittelhand- und Mittelfussknochen. Der Durchbruch der Milchzähne
macht weitere Fortschritte. Etwa im 15. Monate zeigen sich die ersten
Backenzähne, im 18. bis 22. die Spitzzähne und zuletzt die zweiten
Backenzähne, so dass mit Ende des zweiten Jahres in der Regel 20 Zähne
in den Kiefern sich finden.
[Sidenote: Skelet vom 3. Lebensjahre bis zur Pubertät.]
Im +dritten+ Lebensjahre verwächst die Hinterhauptsschuppe mit dem
Körper; der Warzenfortsatz des Schläfenbeines erhält die dem reifen
Zustande entsprechende Grösse, der Zahnfortsatz verschmilzt mit dem
Körper des Epistropheus und die knöcherne Vereinigung der Wirbelbögen
wird vollendet. Im +vierten+ Jahre bilden sich Ossificationspunkte im
schwertförmigen Fortsatze, Knochenkerne treten auf im kleinen Höcker
des Oberarmkopfes (häufig schon Ende des dritten Jahres), im grossen
Trochanter und im oberen Ende der Fibula und die Verknöcherung der
Patella beginnt. Im +fünften+ Jahre sind Kopf und Höcker des Humerus
zu einer Epiphyse verwachsen; Knochenkerne bilden sich im medialen
Epicondylus des unteren Endes des Humerus und im oberen Ende des
Radius. Im +sechsten+ Jahre synostosirt die vordere Interoccipitalfuge,
zwischen Gelenk- und Basilartheil des Hinterhauptbeines (+Toldt+),
beginnt Verknöcherung der beiden Enden der Ulna und die Verknöcherung
der Patella und der aufsteigenden Aeste des Sitzbeines ist vollendet.
Im +siebenten+ Jahre erfolgt der Zahnwechsel. Nachdem bereits früher
in der Regel der erste Mahlzahn durchgebrochen, fallen die abgenützten
Milchzähne aus und werden durch die bleibenden ersetzt. Mit dem Beginne
des +achten+ Jahres sind meist sämmtliche bleibende Schneidezähne
bereits zum Durchbruchs gekommen, denen dann die beiden Backenzähne
und im 10. und 11. Jahre die wahren Eckzähne folgen. Um dieselbe Zeit
vollzieht sich die Verknöcherung der Steisswirbel und beginnt die
Verwachsung der Kreuzbeinwirbel, und zwar zuerst der unteren und der
Querfortsätze früher als der Körper. Im 12. Jahre tritt ein Knochenkern
im Olecranon und in der Trochlea des Oberarmbeins, im 13. und 14.
Jahre ein solcher im lateralen Epicondylus dieses Knochens auf und es
verknöchert gleichzeitig der kleine Trochanter. Der zweite Mahlzahn ist
bereits vorhanden. Im 14. bis 15. Jahre bilden sich Knochenkerne im
Processus coracoideus und im Acromion.
[Sidenote: Skelet in der Pubertät und bis zum 40. Lebensjahre.]
Um die Zeit der +Pubertät+ finden sich unbeständige kleine
Knochenkerne an den Spitzen der Dorn- und Querfortsätze sämmtlicher
Wirbel; beständig besitzt jeder Wirbelkörper an der oberen
und unteren Fläche eine scheibenförmige Epiphyse, welche ein
zusammenhängendes Kalkplättchen enthält, das durch Verschmelzung
kleiner Kalkeinlagerungen entsteht, die als distante Körnchen bereits
vom 10. bis 11. Lebensjahre an sich finden (+Toldt+). Gleichzeitig
entstehen an Köpfchen und Höcker der Rippen besondere Knochenkerne,
welche bald mit dem Körper verschmelzen. Der Proc. coracoid. verwächst
mit dem Schulterblatte und die wagrechte Fuge im oberen Theile der
Gelenkspfanne des letzteren verstreicht. Die Knochenkerne des Acromion
verschmelzen und verwachsen etwa im 18. bis 19. Jahre mit der Gräte,
auch bildet sich ein Knochenstreif längs der Basis und ein Knochenkern
im Winkel der Scapula. Am Sternalende der Clavicula tritt eine Epiphyse
auf in Form einer dünnen Lamelle, welche einige Jahre später mit dem
Körper verwächst. Die obere Epiphyse der Ulna verschmilzt mit der
Diaphyse. In der Pfanne vereinigt sich das Darmbein mit dem Sitzbein,
dann mit dem Schambein. Im 17. bis 18. Jahre verschmilzt das hintere
Ende des Fersenbeins mit dem Vorderstücke. Im 18. bis 22. Lebensjahre
verschmelzen die Kreuzwirbel mit einander vollkommen. Zwischen dem 16.
bis 20. Jahre obliterirt die Naht zwischen Keil- und Hinterhauptbein,
verschwindet die letzte Quernaht des Körpers, des Brustbeins[536]
und verschmilzt die Epiphyse des Humerus[537] des unteren Endes der
Ulna, des Radius, die Epiphysen des Femur, der Tibia und Fibula,
sowie die der Mittelhand- und Mittelfussknochen und Phalangen mit
den betreffenden Diaphysen. Vom 22. bis zum 25. Jahre erfolgt die
vollständige Verknöcherung des Schulterblattes, die völlige Verwachsung
der Epiphysenplatten der Wirbelkörper und endlich die vollständige
Verwachsung der Epiphysen des Hüftbeins, am spätesten die der Epiphyse
am oberen Rande des Darmbeins und am Schambeinwinkel, und die
Entwicklung des Knochengerüstes ist vollendet. Um diese Zeit erfolgt
häufig erst der Durchbruch des sogenannten Weisheitszahns, in der Regel
aber schon um das 18. Jahr.
[Sidenote: Skelet im Greisenalter. Schwund der Knochen.]
In der Periode bis zum 40. Lebensjahre treten keine wesentlichen
Veränderungen am Skelette auf und der Grad der Abnützung der Zähne ist
so ziemlich der einzige Anhaltspunkt, auf welchem Altersbestimmungen
sich basiren können. In der Periode von 40 bis 50 Jahren verwächst
Körper und Schwertfortsatz des Brustbeins, seltener Körper und Griff,
und es beginnen häufig schon früher die Kehlkopfknorpeln und die
Rippenknorpeln zu verknöchern.[538] Im höheren Alter findet eine
Obliteration der Schädelnähte statt, welche von der inneren Tafel
gegen die äussere fortschreitet, zuerst gewöhnlich in der Scheitelnaht,
dann in der Kronen- und Hinterhauptsnaht, zuletzt in der Warzennaht,
doch ist es nach +Zuckerkandl+ (Mittheilungen der anthropologischen
Gesellschaft in Wien. 1884, IV) nicht besonders selten, dass die
Synostose der Pfeil- und Kranznaht schon im 20., die der Pfeilnaht
schon um das 27. Lebensjahr beginnt. Auch +Dwight+ (Medicinisches
Centralblatt. 1890, pag. 624) erwähnt diesen Umstand und überhaupt
den vielfach unregelmässigen Gang, welchen die Verwachsung der
Schädelnähte nimmt. Die höchsten Altersstufen werden am Skelette durch
den fortschreitenden senilen Schwund der Knochen gekennzeichnet.
Derselbe macht sich in der Regel am Schädel am deutlichsten bemerkbar.
Der Schädel wird im Ganzen leichter, seine Wandungen dünner. Der
Schwund zeigt sich namentlich an schon früher dünn gewesenen Stellen
des Schädels, so entsprechend den Pacchionischen Granulationen, an
der Decke der Paukenhöhle, an den grossen Flügeln des Keilbeins,
besonders aber an den Orbitalwänden, woselbst die Knochen papierdünn,
durchscheinend und sehr häufig ganz durchbrochen werden. Häufig finden
sich die Scheitelbeinhöcker durch Usur wie abgeschliffen. In Folge
des Ausfallens der Zähne atrophiren und verstreichen schliesslich
die Alveolarfortsätze, der Oberkiefer verschmälert sich und tritt
immer mehr zurück; der Körper des Unterkiefers bildet, nachdem die
Alveolen abgeschliffen sind, einen rippenförmigen Bogen, der mit
seinem mittleren Theile immer weiter über den Rand des Oberkiefers
hervortritt und seine Aeste bilden wieder mit dem Körper einen stumpfen
Winkel, ähnlich wie in der ersten Zeit nach der Geburt. -- Auch an
den Knochen des Rumpfes wird der senile Schwund immer deutlicher. Die
Knochen werden dünner, leichter und brüchiger und es schwindet die
spongiöse Substanz, was sich in bekannter Weise besonders am oberen
Ende der Oberschenkelknochen, dann am Schulterblatte und den Darmbeinen
bemerkbar macht. Gleichzeitig schreitet die Ossification in dem
Kehlkopfe und den Rippenknorpeln vor und schliesslich verknöchern auch
die Zwischenwirbelscheiben.
Bei der Beurtheilung der letzterwähnten Befunde ist nicht zu vergessen,
dass die senile Körperbeschaffenheit überhaupt nicht immer durch
hohes Alter bedingt ist, und dass Schwund, der gesammten sowohl, als
insbesondere nur gewisser Knochen, z. B. der Kiefer, sich auch aus
anderen Ursachen ausbilden kann.
[Sidenote: Altersbestimmung aus Weichtheilen.]
Auch das Verhalten der inneren Weichtheile kann bis zu einem gewissen
Grade zu approximativen Altersbestimmungen verwerthet werden. So
lässt sich in der Regel schon aus der Grösse der einzelnen Organe
schliessen, ob sie einem Kinde oder einem älteren Individuum angehören.
Vorsicht in dieser Beziehung ist nur gegenüber stark verkohlten Organen
angezeigt, da dieselben in Folge der successiven Einwirkung der
Flammenhitze unter Erhaltung ihrer Form so geschrumpft sein können,
dass sie, obgleich erwachsenen Individuen angehörend, wie die von
Kindern aussehen können (s. pag. 607).
Von den physiologischen Zuständen innerer Organe, welche gewisse
Altersbestimmungen gestatten, wollen wir nur den Zustand des Herzens
und der weiblichen Genitalien erwähnen. Bezüglich des ersteren muss
zunächst auf das Verhalten der sogenannten fötalen Wege, worunter
auch die Nabelgefässe gehören, hingewiesen werden, die erst mehrere
Wochen nach der Geburt verwachsen und daher die Entscheidung gestatten,
ob man es mit einem neugeborenen oder bereits älteren Kinde zu thun
habe, ebenso auf die bekannte Thatsache, dass beim Neugeborenen eine
Differenz der Ventrikel bezüglich der Dicke ihrer Wandungen nicht
besteht, da der linke Ventrikel erst nachträglich hypertrophirt.
An den weiblichen Genitalien ist der infantile Uterus von dem
geschlechtsreifen und von dem senilen zu unterscheiden, und ausserdem
der jungfräuliche von dem gravid gewesenen, was ebenfalls für die
beiläufige Altersbestimmung verwerthet werden kann, ebenso wie das
Verhalten der Ovarien, aus deren fehlender, spärlicher oder stärkerer
Kerbung man schliessen kann, ob und wie viele Ovulationsperioden
beiläufig stattgefunden haben.
Dass eine Reihe pathologischer Zustände ausschliesslich oder
vorzugsweise dem vorgerückteren Alter zukommt, ist bekannt und kann
vorkommenden Falles für die Altersbestimmung benützt werden.
[Sidenote: Ernährungszustand.]
_D._ Die +Körperbeschaffenheit+ überhaupt. Darunter versteht die
Todtenbeschauordnung offenbar ausser den bei den „besonderen
Kennzeichen“ zu erwähnenden Abweichungen vom normalen Körperbaue
insbesondere den +Ernährungszustand+. Bei frischen Leichen unterliegt
die Constatirung desselben natürlich keinen Schwierigkeiten,
dagegen können bei faulen Leichen Täuschungen insoferne vorkommen,
als die „gigantische“ Auftreibung des Körpers durch Fäulnissgase,
insbesondere das subcutane Fäulnissemphysem und die dadurch bewirkte
Volumsvermehrung und Prallheit der Theile für eine durch reichlichen
Fettpolster und stark entwickelte Musculatur bewirkte imponiren kann.
Dies gilt namentlich von faulen Wasserleichen. Ganz magere und
selbst marastische Individuen können hier ein wohlgenährtes Aussehen
erhalten, und es ist begreiflich, wie sehr dadurch die Agnoscirung der
Leiche erschwert werden kann, umsomehr, als die durch Fäulnissgase
bewirkte Völle der Glieder, des Gesichtes, bei Frauen auch der Brüste,
selbst bei ganz alten Leuten die Meinung vortäuschen kann, dass ein
noch junges Individuum vorliege. Man darf sich daher in solchen
Fällen nicht mit der blossen Inspection begnügen, sondern muss sich
durch Einschneiden überzeugen, welcher Antheil an dem Volumen des
betreffenden Theiles dem Fettpolster und der Musculatur und welcher der
Auftreibung durch Fäulnissgase zukommt.
Das Gegentheil bewirkt die Mumification, die unter gewissen Bedingungen
sowohl an der Luft als in der Erde eintreten kann. Die dabei
stattfindende Einschrumpfung der Theile, insbesondere des Gesichtes,
erzeugt ein greisenhaftes oder abgezehrtes Aussehen, das sowohl bei
Bestimmung des Alters als bei der des ehemaligen Ernährungszustandes
irreführen könnte.
Durch Verkohlung kann der Ernährungszustand ganz unkenntlich werden,
um so leichter, als zu der Einschrumpfung durch Wasserverlust noch
hinzukommt, dass das Fett theils schmilzt, theils, und zwar leichter
als die übrigen Weichtheile, verbrennt.
[Sidenote: Kopf- und Gesichtsbildung.]
_E._ Die +Kopf-+ und +Gesichtsbildung+. Kopf und Gesicht sind
bekanntlich die am meisten charakteristischen Körpertheile der
einzelnen Individuen, und es ist begreiflich, dass der Beschreibung der
Eigenschaft dieser Theile ein besonderes Augenmerk zugewendet werden
muss.
[Sidenote: Photographie.]
Aber selbst die detaillirteste Beschreibung gibt nur eine unvollkommene
Vorstellung des Aussehens der betreffenden Person und steht weit
zurück hinter dem Werthe, der einer bildlichen Aufnahme zukommt.
Ganz besonders ist hier die photographische Aufnahme am Platze, und
von diesem gegenwärtig leicht ausführbaren Mittel sollte so viel als
möglich Gebrauch gemacht werden, umsomehr, als die Vervielfältigung
einer solchen Photographie keinen Schwierigkeiten unterliegt und eine
Verbreitung, respective öffentliche Ausstellung gestattet, die ungleich
mehr geeignet ist, die nachträgliche Agnoscirung einer Person zu
ermöglichen, als selbst die ausführlichste Personsbeschreibung in den
öffentlichen Blättern.[539]
Eventuell wäre auch die Abnahme einer Gypsmaske vortheilhaft und ist
diese ebenfalls leicht ausführbar.
[Sidenote: Conservirung von Leichen.]
Doch ist weder die letztgenannte, noch die photographische Aufnahme im
Stande, die unmittelbare Besichtigung des Originalobjectes vollkommen
zu ersetzen, und letztere ist daher wenigstens in wichtigeren Fällen
so lange als thunlich zu ermöglichen. Es ist daher angezeigt, die
Beerdigung der Leichen unbekannter Personen so lange zu verschieben,
als dies ohne sanitäre Gefahr zulässig erscheint. In Wien ist es Usus,
unter gewöhnlichen Verhältnissen 3 Tage zuzuwarten, und wird diese
Frist bei frischen Leichen und kalter Jahreszeit auch auf längere
Zeit erstreckt. Auch ist es begreiflich, dass selbst in der warmen
Jahreszeit, wenn es möglich ist, das Faulen der Leiche durch gewisse
Vorkehrungen (Kälte, Balsamirung) zu hindern oder wenigstens zu
verlangsamen, die Leiche lange Zeit im agnoscirbaren Zustande erhalten
werden kann.
In grösseren Städten, wo häufig Leichen unbekannter Personen
aufgefunden werden, empfiehlt sich eine analoge Einrichtung, wie sie in
Paris als Morgue schon seit Decennien besteht, d. h. von Leichenhallen,
in welchen die Leichen Unbekannter öffentlich ausgestellt werden unter
Bedingungen, welche den Eintritt oder das Fortschreiten der Fäulniss so
lange als möglich hintanzuhalten bestimmt sind.[540]
Ist die Aufbewahrung der ganzen Leiche nicht mehr möglich, so ist es in
wichtigen Fällen angezeigt, wenigstens den Kopf zurückzubehalten und am
besten in Alkohol zu conserviren, wie wir bereits mehrmals gethan haben.
Was nun die protokollarische Beschreibung des Kopfes und Gesichtes
betrifft, so kommt die Kopf- und Gesichtsbildung im Allgemeinen in
Betracht, ferner aber die nähere Beschaffenheit der Haare (Kopf-
und Barthaare, Augenbrauen, eventuell auch Augenwimpern), der
Gesichtshaut, der Augen, der Nase, der Zähne und der Ohren. Da die
meisten Eigenschaften, auf welche hierbei Rücksicht zu nehmen ist,
selbstverständlich sind, so wollen wir uns darauf beschränken, blos
bezüglich der Haare, der Augen, der Nase und der Zähne Einiges zu
bemerken.
[Sidenote: Verhalten der Haare.]
Bei den +Haaren+ kommt bekanntlich, ausser der Dichte, Länge, Stärke
und Anordnung vorzugsweise die Farbe in Betracht. Aber gerade in Bezug
auf diese Eigenschaft ist in vielen Fällen Vorsicht geboten. Dies gilt
insbesondere bei exhumirten Leichen, bei welchen, wie bereits oben
erwähnt wurde, die Haare noch nach vielen Jahren erhalten gefunden
werden können und daher die Verwerthung ihrer Eigenschaften für die
Sicherstellung der Identität besonders nahe liegt.
Es ist nämlich eine durch zahlreiche Beobachtungen constatirte
Thatsache, dass die Haare durch langes Liegen im Grabe ihre Farbe
verändern, und zwar fast immer in’s Rothbraune. Schon +Chevalier+
(Annal. d’hygiène publ. 1856, pag. 444) hat in einem solchen Falle
gefunden, dass weisse Haare sich in braune verwandelt hatten, ebenso
beobachtete +Moser+ (l. c. pag. 65) bei einer 79jährigen, seit 4
Jahren beerdigten Frau eine ähnliche Farbenveränderung. Auch +Orfila+
und +Lesueur+ berühren in ihren „Gerichtlichen Ausgrabungen“ diese
Thatsache und +Casper+ (l. c. pag. 121) fand bei einer nach 11 Jahren
ausgegrabenen Leiche die Kopfhaare hellblondröthlich und die Verwandten
erklärten, dass sich die Farbe im Grabe verändert haben müsse.
+Hauptmann+ (Virchow’s Archiv. XLVI) berichtet über die Exhumation
der Leiche eines Mannes nach 20 Jahren, wobei die früher dunkelbraun
gewesenen Haare jetzt roth gefunden wurden. Eine gleiche Veränderung
constatirte +Sonnenschein+ (Handbuch der gerichtl. Chemie. 1869, pag.
122 und 343) bei einer nach 24 Jahren ausgegrabenen Leiche. Auch
die von uns an nach mehreren Jahren exhumirten Leichen beobachteten
Haare waren sämmtlich rothbraun. Die Ursache dieser Verfärbung kann
zunächst in der Einwirkung der Fäulnissjauche liegen, wie dieses auch
+Chevalier+ und insbesondere +O. Oesterlen+ („Das menschliche Haar und
seine gerichtsärztliche Bedeutung.“ Tübingen 1874, pag. 139) durch
Versuche constatirten; Gleiches können aber auch die Humussubstanzen
bewirken; endlich aber ist es bekannt, dass, wie das „Fuchsigwerden“
alter Perrücken beweist, todte Haare überhaupt im Laufe der Zeit
röthlich werden. So sind auch die Haare der egyptischen Mumien fast
durchaus rothbraun und +H. Schaffhausen+ (Archiv f. Anthropol. V, pag.
125) fand in den Grüften einer Kirche zu Bonn aus dem 15. Jahrhunderte
das Haar fast aller Leichen noch erhalten und in allen Fällen röthlich.
Diese Verblassung des Haarpigmentes scheint in einzelnen Fällen bis zur
vollkommenen Ausbleichung des Haares gehen zu können, da +Moser+ (l. c.
pag. 54) bei einem nach 7 Jahren exhumirten 37jährigen Manne und (pag.
64) bei einer 42jährigen, nach 6 Jahren exhumirten Frau die früher
schwarzen, beziehungsweise braunen Kopfhaare nun weiss fand. Diese
Beobachtungen stehen aber ganz vereinzelt da, so dass es nahe liegt,
daran zu denken, dass vielleicht die Haare während des Lebens gefärbt
gewesen sein mochten.
Dass die Haare auch durch grössere Hitze eine Farbenveränderung in’s
Röthliche erleiden, ist bekannt, und kann beim sogenannten Brennen
der Haare oft genug beobachtet werden. Bei den Leichen Verbrannter,
wo mitunter, wie schon oben erwähnt, nur Reste der Haare gefunden
werden, ist auf diesen Umstand Rücksicht zu nehmen. Wir haben dieses
Verhalten an den Haaren der Ringtheaterleichen in verschiedenen Graden
beobachtet, noch häufiger eine Verdeckung der eigentlichen Haarfarbe
durch intensive Schwärzung durch Russ, so dass erstere erst nach
Abwaschung des Haares zum Vorscheine kam.
[Sidenote: Abgehen der Haare.]
Dass die Haare einer Leiche mitunter absichtlich entfernt werden,
um die Agnoscirung des Individuums zu erschweren, beweist der unten
anzuführende Fall. Doch kann auch andererseits ein erst nachträglich an
der Leiche durch Maceration oder Fäulniss oder zufällige mechanische
Insulte erfolgter Abgang der Haare als eine absichtlich vorgenommene
Entfernung der Haare gedeutet werden. Bekannt ist in dieser Beziehung
der bereits pag. 586 erwähnte Tisza-Eszlárer Fall, wo es sich um eine
über 2 Monate im Wasser gelegene Leiche handelte und die Haare theils
mit den Wurzeln abgegangen, theils an und in der Haut abgebrochen und
abgerissen waren, welcher Befund auf ein stattgehabtes Abrasiren der
Haare bezogen wurde. Auch hatten wir ein Gutachten über eine 3½
Monate im Freien gelegene weibliche Leiche abzugeben, bei welcher die
Obducenten die offenbar durch die hochgradige Fäulniss und durch Thiere
bewirkte Entblössung des Schädels von Weichtheilen und von Haaren von
einer absichtlich zum Zwecke der Entstellung vorgenommenen Scalpirung
der Leiche abgeleitet hatten, obgleich die betreffenden Haarzöpfe
wenige Schritte von der Leiche entfernt gefunden worden waren!
[Sidenote: Verhalten der Augen.]
Bei den +Augen+ kommt namentlich die Farbe der Iris in Betracht.
Unter gewöhnlichen Verhältnissen ist dieselbe leicht zu constatiren,
schwerer, wenn die Cornea durch Fäulniss oder anderweitig getrübt oder
ganz undurchsichtig geworden ist. Im ersteren Falle kommt zur Trübung
der Cornea noch die bald sich einstellende und fortschreitende blutige
Imbibition der Iris, welche die ursprüngliche Farbe der Iris ganz
unkenntlich machen kann.[541] Gleiches kann durch Einwirkung von Hitze
geschehen.
[Sidenote: Veränderung der Cornea durch Hitze.]
Bei vielen der Ringtheaterleichen, mitunter selbst bei stark
verbrannten, zeigten sich die Bulbi ganz unverletzt und man sah
deutlich, dass die in allen Fällen geschlossen gefundenen Augenlider
dieselben geschützt hatten. In vielen anderen dagegen, besonders bei
den verkohlten Leichen, war die Cornea trotz geschlossener Augenlider
in verschiedenem Grade milchig getrübt, welche Trübung, besonders in
ihrer niederen Entwicklung, bei oberflächlicher Betrachtung „blaue
Augen“ vortäuschte, obzwar die Iris braun war, wie dies auch bei
faulen Leichen geschehen kann. In einigen dieser Fälle war durch
die getrübte Cornea hindurch die gelblichweiss getrübte Linse zu
erblicken, so dass das Auge wie ein cataractöses aussah.
Die milchige Trübung der Cornea betraf nur die epitheliale Schichte
derselben, die mitunter in fetziger Ablösung begriffen war. Unter
dieser war die Cornea, wenn der Bulbus noch nicht geschrumpft war,
meist klar und durchsichtig. Die gleiche Erscheinung kann man,
wie wir uns durch Versuche überzeugt haben, beobachten, wenn man
den Augapfel in kochendes Wasser bringt. Sofort trübt sich die
epitheliale Schichte milchig bis zur Undurchsichtigkeit und löst sich
theilweise ab. Streift man diese Schichte ab, so kommt darunter die
klare und durchsichtige Cornea zum Vorscheine, welche, was sich aus
dem chondrinogenen Gewebe der Hornhaut erklärt, diese Beschaffenheit
auch trotz minutenlangen Kochens behält, selbst dann noch, wenn
bereits die Linse vollkommen gelblichweiss getrübt erscheint. Zu
dieser Zeit ist der Bulbus so hart und gleichzeitig so elastisch,
dass er, wenn man ihn auf den Boden fallen lässt, wie ein Gummiball
bis auf ½ Meter in die Höhe springt. Schneidet man nun den Bulbus
ein, so spritzt die unveränderte Glaskörperflüssigkeit im Strahle
heraus, worauf der Bulbus und die Cornea zusammenschrumpfen und
letztere ganz undurchsichtig wird.
Bei den hochgradig verkohlten Leichen fanden sich die Bulbi mehr
weniger geschrumpft, und zwar mit Erhaltung ihrer Form, wie dies
schon +Ammon+ („Einfluss grösserer Hitze auf das Auge.“ Deutsche
Klinik. 1851, 45, und Schmidt’s Jahrb. 1853, LXXVII, pag. 107)
beobachtet und beschrieben hat.
[Sidenote: Nase.]
Wie die Beschaffenheit der +Nase+ zur individuellen Charakteristik des
Gesichtes beiträgt, ist allgemein bekannt, weshalb deren Beschreibung
eingehend vorzunehmen ist. Durch das Fehlen der Nase, häufig schon
durch die Formveränderung, die letztere durch Fäulniss oder Maceration
erleidet, wird ein Gesicht so entstellt, dass mitunter die nächsten
Angehörigen das Individuum nicht zu erkennen vermögen. Zur Illustration
dieser Thatsache, sowie dessen, dass Verbrecher bei Beseitigung der
betreffenden Leichen auch absichtlich Verschiedenes unternehmen können,
um die Agnoscirung der Leiche zu erschweren oder unmöglich zu machen,
möge folgender von +J. G. Pinkham+ (Boston med. and chirg. Journal. 9.
Sept. 1880) publicirter Fall dienen:
„Am 27. Februar 1879 wurde im Sangus River unterhalb einer Brücke ein
alter Korb gefunden und darin eine Leiche, welche später als die der
Jennie +Clarke+ erkannt wurde. Der Korb war mit Ziegeln und drei
leeren Bierflaschen beschwert, von denen die eine verkorkt war und so
als Boje gedient hatte. Die Nase der Leiche war abgeschnitten, ebenso
das Kopfhaar, offenbar in der Absicht, die Erkennung der Leiche zu
erschweren. Die Obduction ergab als Todesursache Peritonitis in Folge
eines Abortus, weshalb sofort criminelle Fruchtabtreibung vermuthet
wurde. In der That ergab sich, dass die J. C. im 4. Monate schwanger
war, am 12. Februar von einem gewissen G. „operirt“ wurde, am 18.
abortirte und am 25. im Hause eines gewissen K. starb, worauf sie
in der erwähnten Weise verstümmelt und in’s Wasser geworfen wurde.
Die Identificirung der Leiche war wesentlich erschwert durch das
Fehlen der Nase, wodurch das Gesicht so verändert war, dass mehrere
Personen die Leiche als die einer Angehörigen erklärten, bis endlich
die Identität durch die noch in den Ohren befindlichen Ohrgehänge
und durch mehrere kleine Merkmale am Körper, insbesondere aber durch
gewisse äussere Umstände constatirt wurde. Bevor letzteres geschah,
wurde aus den gut erhaltenen Zähnen und aus dem Umstande, dass nur
einer der Weisheitszähne durchgebrochen, geschlossen, dass die
Person nicht weit über 20 Jahre alt gewesen sein konnte, was sich
nachträglich auch bestätigte. Ebenso wurde, weil die Leiche noch
frisch war, obgleich nach Abortus und Peritonitis die Fäulniss rasch
einzutreten pflegt, und bei dem Umstande, als nach dem Aufthauen
der etwas gefrorenen Leiche noch Todtenstarre in den Kaumuskeln und
einzelnen Gelenken nachweisbar war, erklärt, dass die Untersuchte
bald nach dem Tode in den Fluss geworfen sein musste, und dass
dieselbe mit Rücksicht auf die damaligen Witterungsverhältnisse vor
1-3 Tagen an den Fundort gelangt sein dürfte. Nachträglich wurde
constatirt, dass der Tod 54 Stunden oder 2¼ Tage vor der Autopsie
eingetreten war.“
[Sidenote: Zähne.]
Von grosser Wichtigkeit ist die Beschaffenheit der +Zähne+, umsomehr,
als diese selbst an schon ganz verfaulten oder anderweitig entstellten
Leichen unverändert nachweisbar sein können und überdies, wie schon
oben bemerkt, gewisse Schlüsse auf das Alter des Individuums gestatten.
Interessante Fälle, in denen die Beschaffenheit der Zähne (auch
künstlicher Gebisse) bei der Agnoscirung der betreffenden Leiche
eine grosse Rolle spielte, finden sich bei +Casper+ (l. c. 121) und
insbesondere bei +Taylor+ (l. c. I, 132, berühmter Mordprocess gegen
Dr. +Parkmann+; 149, Fall der Karoline +Walsh+ und 152, Fall der Lydia
+Atlee+).
Die Eigenschaften, welche an den Zähnen zu constatiren sind, sind
entweder physiologischer oder pathologischer Natur. Zu ersteren gehört
das Vorhandensein von Milchzähnen, der bereits erfolgte Zahnwechsel,
der Durchbruch der Weisheitszähne, die normale Abnützung der Zähne und
endlich der senile Ausfall der Zähne mit der bekannten consecutiven
Atrophie der Zahnfächer und der ganzen Kiefer, zu letzteren die
verschiedenen abnormen Stellungen der Zähne, die so häufige Caries, die
Abnormitäten des Zahnschmelzes (geriffte oder des Schmelzes beraubte
Zähne), endlich auch die plombirten und die falschen Zähne, respective
Gebisse.
[Sidenote: Veränderung der Zähne durch Flamme.]
Eine interessante und für die Agnoscirung wichtige Erscheinung ist die
Calcination der Zähne bei verkohlten Leichen. Dieselbe zeigte sich bei
den Ringtheaterleichen in verschiedenen Graden ausgebildet.
In den höchsten Graden, die nur gleichzeitig mit hochgradiger
Verkohlung oder mehr weniger ausgebildeter Calcination des Schädels
vorkamen, ergaben sich nur völlig weiss gebrannte, beim Anfassen
zerbröckelnde Stümpfe der Zähne, die ganz locker in den Alveolen sassen
oder bereits herausgefallen waren. In anderen Fällen fand sich das
verkohlte und mit der Wurzel noch im Alveolus steckende Zahnbein mit
daran haftenden Resten des calcinirten Emails. In vielen Fällen aber
fanden sich trotz mitunter bedeutender Verkohlung des Kopfes die Zähne
noch vollständig in ihrer Form erhalten, aber eigenthümlich verändert.
In einer Reihe dieser Fälle glaubte man normale Zähne vor sich zu haben
und erst bei näherer Betrachtung ergab sich, dass der Glanz des Emails
ein matterer war und die Farbe in’s Graue spielte; ausserdem liessen
sich feine Risse erkennen, welche das Email durchzogen. Solche Zähne
brachen beim festeren Anfassen mit den Fingern oder mit der Pincette
entweder an der Wurzel ab, oder es liess sich auf diese Art das weiss
gebrannte Email von dem mehr weniger verkohlten Zahnbeine in schaligen
Stücken ablösen oder leicht absprengen. An den Bruchflächen stach die
weisse Emailschichte in der Regel ganz scharf und auffallend von dem
mehr weichen kohlschwarzen Zahnbeine ab. Diese Erscheinung erklärt sich
einestheils aus der ungleich dichteren Structur der Emailschichte,
vorzugsweise aber aus dem sehr geringen Gehalte des Schmelzes an
organischen und daher verkohlungsfähigen Substanzen, an denen dagegen
das Zahnbein fast ebenso reich ist, wie gewöhnlicher Knochen.
Endlich kamen Zähne vor, deren Kronen mit einer schwarzen oder
schwarzbraunen, in der Regel fast metallisch glänzenden Masse wie
überzogen waren. Diese Zähne befanden sich offenbar in den ersten
Stadien der Verkohlung, und die erwähnte Masse rührte theils von Kohle,
theils von theerartigen Producten der trockenen Destillation her, die
sich beim Verkohlen organischer, insbesondere leimgebender Substanzen,
die ja das Zahnbein enthält, entwickeln, welche theils noch in der
Zahnmasse selbst enthalten sind, theils an der Oberfläche desselben
gewissermassen ausschwitzen oder sich auf diese niederschlagen.
Diese Veränderungen der Zähne durch Flammenhitze sind für die
Agnoscirung von begreiflicher Wichtigkeit. Einestheils weil die
durch die Calcination noch während der Einwirkung des Feuers oder
nachträglich bewirkte Abbröcklung der Zähne für einen anderweitigen,
insbesondere durch Caries bedingten Defect gehalten werden kann, ferner
wegen der erwähnten schwarzen Verfärbung der Zahnkronen, namentlich an
ihren oberen Partien, die für jene Verfärbung genommen werden kann, die
bekanntlich so häufig an den sogenannten „schwarzen Zähnen“ beobachtet
wird. Ebenso ist aber umgekehrt eine Erschwerung der Agnoscirung
dadurch möglich, wenn früher thatsächlich „schwarz“ gewesene Zähne
durch Calcination weiss geworden sind, da ja der schwarze Belag
solcher Zähne von organischen, also veraschungsfähigen Substanzen, oder
von mit diesen stark verunreinigtem Zahnsteine herrührt. Versuche,
die wir in dieser Richtung angestellt, haben diese Vermuthung
bestätigt.[542]
An die Besprechung des Gesichtes und seiner Theile wollen wir noch die
Bemerkung anschliessen, dass in solchen Fällen, wo wegen hochgradiger
Fäulniss und dadurch bewirkter Missfärbung und Aufdunsung des Gesichtes
letzteres so stark entstellt ist. dass die Agnoscirung schwierig
und eine eventuelle photographische Aufnahme zwecklos wird, eine
Reconstruction des ursprünglichen Aussehens des Gesichtes bis zu einem
gewissen Grade möglich ist.
Solche Versuche haben zuerst +Tourdes+ und +Wilhelmi+ in Strassburg
(„Gerichtsärztlicher Erfundbericht und Gutachten, das Auffinden einer
unbekannten Frau in einer Kiste auf der Eisenbahnstation Engersheim
betreffend“. Henke’s Zeitschr. für Staatsarzneikunde. 1845, pag.
388) und später +Richardson+ (Med. Times and Gaz. 1863, pag. 672) an
einer aus der Themse herausgefischten Leiche angestellt, indem sie
sowohl äusserlich als mittelst Injection theils coagulirende, theils
bleichende Flüssigkeiten einwirken liessen.
[Sidenote: Reconstruction des Gesichtes.]
Wir selbst haben wiederholt derartige Reconstructionsversuche
vorgenommen, insbesondere zuerst in einem bereits 1876 publicirten
Falle, der eine aus der Donau gezogene, gigantisch aufgetriebene
Leiche betraf, bei welcher es wichtig war, zu entscheiden, ob
dieselbe, wie sich thatsächlich herausstellte, einem bestimmten,
wegen Mordversuches verfolgten Manne angehöre oder nicht. Da wir
schon früher gefunden hatten, dass der grüne Farbstoff und seine
Modification, welcher der bekannten faulgrünen Verfärbung der Haut
zu Grunde liegt und hauptsächlich die Entstellung bedingt, im Wasser
löslich ist, so verfuhren wir zunächst einfach in der Art, dass wir
den in gewöhnlicher Weise geöffneten, abgeschnittenen Kopf, nachdem
wir das Gehirn entfernt und in der Hinterhaupts- und Seitengegend
des Kopfes einige tiefe Einschnitte gemacht hatten, in fliessendes
Hochquellenwasser legten, um denselben auszuwässern. Nach 12 Stunden
war durch diese einfache Procedur die grüne Verfärbung der Gesichtshaut
zum grössten Theile verschwunden oder wenigstens stark abgeblasst,
und auch die emphysematische Schwellung war bedeutend zurückgegangen.
Hierauf wurde das Schädeldach wieder aufgesetzt, die Kopfhaut zugenäht
und nun der ganze Kopf in concentrirte alkoholische Sublimatlösung
eingelegt, in welcher nach weiteren 12 Stunden die grüne Färbung und
das Fäulnissemphysem vollkommen zurückgingen, so dass schliesslich das
Gesicht die normalen Formverhältnisse und jenes Aussehen bot, wie wir
es bei einbalsamirten frischen Leichen beobachten.
Dieses Verfahren haben wir mit gleich günstigem Erfolge in zwei anderen
Fällen angewandt, würden jedoch in weiteren Fällen statt Sublimat
Chlorzink nehmen, da dieses bei gleichem sonstigen Effecte die Hände
nicht angreift und insbesondere die Nägel nicht schwärzt, wie dies
Sublimat in unangenehmer und lange dauernder Weise thut.
In Fällen, wo die Fäulniss noch nicht weit vorgeschritten ist, würde
eine einfache Injection des Kopfes mit Sublimat oder Chlorzinklösung
von den Carotiden aus gute Effecte erzielen; bei vorgerückter Fäulniss
ist sie nicht angezeigt, da die Injectionsflüssigkeit wegen der grossen
Zerreisslichkeit der kleinen Gefässe extravasirt.
Selbstverständlich hat die Möglichkeit der Reconstruction des Gesichtes
ihre Grenzen. Insbesondere ist in den Fällen, wo bereits die Haare
ausgegangen sind und Defecte in der Gesichtshaut sich zu bilden
beginnen, in dieser Beziehung nichts mehr auszurichten.
[Sidenote: Besondere Kennzeichen.]
_F._ +Besondere Kennzeichen.+ Die Todtenbeschauordnung hat offenbar
zunächst die verschiedenen pathologischen, schon äusserlich mehr
weniger auffallenden Eigenthümlichkeiten im Auge. Es gehören
hierher die Abnormitäten der ganzen Statur, z. B. die verschiedenen
Verkrümmungen der Wirbelsäule und ihre Folgen und die der einzelnen
Körpertheile. Von letzteren würden begreiflicher Weise namentlich
Beachtung verdienen die Abnormitäten im Gesichte und am Kopfe
überhaupt, also eventuelle Abweichungen von der normalen Kopfbildung
(eine der Ringtheaterleichen wurde vorzugsweise an dem „Thurmkopfe“
erkannt). Besonderheiten in der Behaarung, Eigenthümlichkeiten
der Gesichtshaut (Blatternarben, Finnen, Muttermäler, Narben),
pathologische Befunde an den Augen, an der Nase (Defect, Acne rosacea
etc.), an den Lippen (Hasenscharte) und die bereits besprochenen
Abnormitäten an den Zähnen. Am Halse die so häufige Struma, am Thorax
ausser den verschiedenen, insbesondere rhachitischen Verbildungen das
Verhalten der Brustdrüsen, am Bauche die Schwangerschaftsnarben, sowie
die Hernien, deren Bestehen ausser durch unmittelbare Beobachtung und
Untersuchung auch durch angelegte Bruchbänder sich verrathen kann,
und zwar begreiflicher Weise noch an verfaulten oder, wie dies bei
einigen Opfern der Ringtheaterkatastrophe der Fall war, an hochgradig
verkohlten Leichen. An den Genitalien kommt beim Weibe insbesondere der
jungfräuliche oder deflorirte, oder der durch Entbindungen veränderte
Zustand in Betracht, beim Manne ausser pathologischen Veränderungen
am Penis und an den Hoden insbesondere das Vorhandensein oder Fehlen
des Präputiums, da man aus letzterem Umstande schon für sich allein,
noch mehr aber im Zusammenhange mit den anderweitigen bekannten
Eigenthümlichkeiten einen ziemlich sicheren Schluss auf die Race, der
das Individuum angehört, zu machen vermag.
An den Extremitäten kommen als besondere Kennzeichen in Betracht:
Defecte derselben oder ihrer einzelnen Theile, Verkrümmungen,
Verkürzungen und Anchylosen, Tätowirungen, in Beschaffenheit der Hände,
Geschwüre und Narben, letztere besonders an den unteren Extremitäten.
Von diesen „besonderen Kennzeichen“ wollen wir nur die Tätowirungen und
die an den Händen sich ergebenden Eigenthümlichkeiten näher besprechen.
[Sidenote: Tätowirungen.]
+Tätowirungen+ kommen nur ausnahmsweise bei Leuten aus besseren Ständen
vor, nicht gar selten dagegen bei Handwerkern, Matrosen und Soldaten,
häufig auch bei ehemaligen Inwohnern von Gefängnissen und mitunter auch
bei Prostituirten der niedersten Classe. Nur ein einziges Mal haben wir
eine Tätowirung bei einem Kinde, einem 10jährigen Knaben, gefunden,
und zwar ein wahrscheinlich mit Tinte gemachtes Herz mit Buchstaben
darinnen und der Jahreszahl darüber, aus welcher hervorging, dass der
Knabe schon im 6. Lebensjahre tätowirt worden war.
Das Tätowiren geschieht nur ausnahmsweise mit „Tätowirpressen“, sondern
in der Regel in der Weise, dass die betreffende Zeichnung mit einfachen
oder zusammengebundenen Nadeln durch directes Einstechen, oder, indem
man mit einem Gegenstande auf die Nadeln klopft und sie eintreibt,
ausgestochen wird, worauf die frischen Stichöffnungen mit dem
betreffenden Farbstoffe (Zinnober, Tusche, Tinte, Asche, Kohlenpulver,
Schiesspulver, Berlinerblau etc.) eingerieben werden, welcher in den
kleinen Wunden einheilt und so die Marke bildet. Letztere besteht
entweder aus Buchstaben (Anfangsbuchstaben des eigenen oder des
Namens von Geliebten, seltener aus ganzen Namen oder Sätzen) oder
Jahreszahlen, häufig aber, und zwar meist mit Buchstaben und Zahlen
combinirt, aus verschiedenen Zeichnungen, worunter besonders Herzen,
Kronen, Kränze, Blumen und Kreuze, seltener Thiere (in unseren Fällen
einmal ein Schwan, ein zweitesmal eine Schlange) eine Rolle spielen.
Ebenso häufig sind Zeichnungen, die sich auf das Gewerbe oder den Stand
des Tätowirten beziehen, so gekreuzte Gewehre und Säbel bei Soldaten,
Anker bei Seeleuten, Beile bei Fleischern und Zimmerleuten, Hämmer
bei Maurern und Schlossern etc. Nicht gar selten trifft man obscöne
Zeichnungen mitunter der gemeinsten Art. Ausdehnung und Ausführung
variiren sehr. Meist handelt es sich nur um kleine und roh ausgeführte
Zeichnungen, mitunter findet man aber auch grössere und mit Geschick
ausgeführte Tätowirungen.
Der Sitz der Tätowirung ist am häufigsten die Innenfläche des Ober-
und Unterarmes, seltener die Brust oder der Handrücken, noch seltener
andere Stellen, z. B. der Unterleib, die Gesässbacken oder gar der
Penis, wie +Lombroso+ in seinen „L’Uomo delinquente“ einen solchen Fall
abbildet.[543]
Die Wichtigkeit des Befundes solcher Tätowirungen an der Leiche
eines Unbekannten liegt auf der Hand. Sie erleichtern nicht blos die
Agnoscirung des Individuums durch seine Angehörigen oder Bekannten,
sondern gestatten mitunter an und für sich gewisse Schlüsse auf den
Stand des Unbekannten oder auf gewisse andere Umstände, die für die
weitere Verfolgung des Falles von Wichtigkeit sein können.
Ein besonderes forensisches Interesse haben solche Marken durch
+Casper+ erhalten, der in einem sehr complicirten Falle, in welchem es
sich vorzugsweise um die Sicherstellung der Identität der Leiche des
Ermordeten handelte (l. c. II, pag. 121 und 139), auch die Frage zu
beantworten hatte, ob Tätowirungen, die im Leben vorhanden waren, im
Laufe der Zeit wieder verschwinden können?
Dass Letzteres geschehen kann, unterliegt nach den Untersuchungen,
die zuerst +Casper+ und nach ihm +Hutin+ und +Tardieu+ an einer
grossen Zahl tätowirter alter Soldaten anstellten, keinem Zweifel
mehr. +Casper+ fand, dass im Laufe der Zeit unter 9 Fällen einmal die
betreffende Tätowirung verschwunden war, und ein ähnliches Verhältniss
constatirte +Hutin+ (1 : 10½), während +Tardieu+ unter 25 Fällen nur
einmal ein vollkommenes Verschwinden der Tätowirungsmarke beobachtete.
Das frühere oder spätere Verschwinden einer solchen Marke wird
zweifellos zunächst von der Natur des betreffenden Farbstoffes
abhängen. Lösliche Farbstoffe verschwinden sehr bald. Wir selbst haben
bei einem 28jährigen Marineofficier, dem als 16jährigen Knaben ein
Kreuz mit Tinte auf den Vorderarm tätowirt worden war, keine Spur mehr
davon auffinden können. Unlösliche Farbstoffe halten sich länger, und
zwar desto mehr, je mehr davon eingerieben wurde und je gröber die
einzelnen Partikelchen gewesen sind.
Bei dem allmäligen Verschwinden von Tätowirungen spielen die
Lymphgefässe die Hauptrolle. +Follin+ (Bull. de l’Acad. 1848-49, T.
XIV) hat zuerst die Einwanderung der Farbstoffpartikelchen in die
Lymphdrüsen nachgewiesen, und gleiche Beobachtungen hat +v. Meckel+
gemacht. Es hat diese Thatsache nichts Ueberraschendes in sich, da
ja ungelöste Stoffe selbst von der unverletzten Haut, von serösen
Häuten u. s. w. durch Vermittlung der Lymphgefässe resorbirt werden
können.[544] Ueber die benachbarten Drüsen kommen solche Farbstoffe
nach +Virchow+ nie hinaus. Sie finden sich daher in diesen jedesmal und
können darin noch nachgewiesen werden, nachdem die Marke in der Haut
schon verschwunden war. Die Farbstoffpartikelchen sitzen vorzugsweise
in den peripheren Partien der Drüsen und sind sowohl an der ganzen
Drüse, als insbesondere an Durchschnitten derselben makroskopisch zu
erkennen. Namentlich gibt der sehr häufig angewendete Zinnober ein
hübsches Bild. Unter dem Mikroskope erhält man ebenfalls schöne Bilder,
doch sei bemerkt, dass Zinnoberkörnchen nur bei auffallendem Lichte
schön roth, beim durchfallenden aber schwarz erscheinen.
+Tardieu+ hat darauf aufmerksam gemacht, dass man Tätowirungen auch
künstlich wieder wegbringen könne, indem es ihm, den Angaben eines
Gefangenen folgend, der seine Tätowirung so beseitigt hatte, gelang,
bei einem Kranken mittelst ätzender Säuren ein tätowirtes Kreuz
derart zu beseitigen, dass nur eine flache Narbe zurückblieb. Auch
+Parent+-+Duchatelet+ (l. c. pag. 125) erwähnt, dass Prostituirte,
wenn sie ihre Liebhaber wechseln, die Namen des letzten wegbringen
und die des neuen sich eintätowiren lassen. Die Verlöschung der alten
Marken geschieht durch Bestreichung der Stelle mittelst eines Pinsels
mit Indigoschwefelsäure, wonach nur eine flache Narbe zurückbleibt.
+Parent+-+Duchatelet+ sah im Gefängnisse St. Madelaine 15 solche
Narben an den Armen, an der Brust und am Halse(!) einer erst 25 Jahre
alten Prostituirten. Zweifellos wird es von der Tiefe, in welcher die
Farbstoffpartikelchen in dem Corium sitzen, abhängen, ob zur Entfernung
derselben ein mehr oder weniger energisches Verfahren nothwendig
sein wird. In dem Falle von +Tardieu+ muss die Marke jedenfalls ganz
oberflächlich gesessen sein. +Lacassagne+ (l. c. 103) sah 18 Fälle, wo
mit mehr weniger Erfolg versucht worden war, die Marke wegzubringen,
und zwar theils durch ätzende Säuren, theils durch Nachtätowirung
mit Kleesalz oder Frauenmilch! Ebenso mehrere, wo die Marke durch
neuerliche Tätowirung verändert worden war. +Richardson+ hat
Natriumäthylat zur Beseitigung von Tätowirungsmarken mit gutem Erfolge
benützt (Virchow’s Jahrb. 1881, I, 419) und wir sahen einen Lehrling,
der sich einen Theil seiner Tätowirungen mit Laugenessenz weggeätzt
hatte.
An der Leiche kann eine bestehende Tätowirung schwer erkennbar werden
durch Missfärbung der betreffenden Hautstelle in Folge der Fäulniss.
Doch haben wir bei einer grünfaulen Wasserleiche an dem blossgelegten,
schon hochgradig missfarbigen Corium des Armes noch sehr deutlich die
rothe Tätowirung unterscheiden können. Bei einem ausgeschnittenen
tätowirten Hautstücke, welches wir im Wasser faulen liessen, wurde
die Marke allerdings unkenntlich, aber blos in Folge der Quellung und
Runzelung der Epidermis. Nach Entfernung der letzteren kam sie sofort
wieder zum Vorscheine.
An vertrockneten Hautstücken präsentiren sich Tätowirungen weniger
deutlich als an frischen, da die Farben von dem schmutzig-gelbbraunen
Untergrunde nicht deutlich genug abstechen. In zweifelhaften Fällen
dürfte Aufweichen des mumificirten Hautstückes und Entfernung der
Epidermis angezeigt sein.
Nicht unwichtig für die Constatirung der Identität sind auch die nach
Schröpfköpfen, Aderlässen, Baunscheidtismus, Morphininjectionen,
Blutegeln[545] etc. zurückbleibenden Narben.
[Sidenote: Beschaffenheit der Hände.]
Beachtenswerth ist bei Leichen Unbekannter die +Beschaffenheit
der Hände+, da diese gewisse Folgerungen auf den Stand und die
Beschäftigung des betreffenden Individuums gestattet. An der frischen
Leiche ist der schwere Handarbeiter sofort als solcher aus der
Beschaffenheit seiner Hände zu erkennen und selbst an stark faulen,
insbesondere an faulen Wasserleichen ist diese Diagnose noch möglich,
so lange die Epidermis der Hände und die Nägel sich noch finden,
wobei zu erwähnen ist, dass an den schwieligen Händen des Arbeiters
die bekannten Quellungsveränderungen, welche an der Oberhaut der
Innenfläche der Finger und der Hohlhände durch das Liegen im Wasser
eintreten, früher und intensiver sich entwickeln, als an Händen mit
dünner Epidermis. Ferner ist es bekannt, dass bei gewissen Professionen
ganz bestimmte Veränderungen an den Händen sich ausbilden, aus
deren Bestehen man daher mit grösserer oder geringerer Sicherheit
auf den Beruf des Betreffenden schliessen kann. Studien über diese
Veränderungen und ihre Beziehungen zur Identitätsfrage liegen vor
von +Tardieu+[546] und insbesondere von +M. Vernois+[547], letztere
mit hübschen colorirten Abbildungen. Es kommen in dieser Beziehung
zunächst die verschiedenen theils abwaschbaren, theils durch längere
Zeit persistirenden Verfärbungen der Hände in Betracht, wie sie bei
Gerbern, Färbern, Ultramarinarbeitern u. dergl. vorkommen, ebenso auch
die durch „Abbrennen“ der frei der Sonne ausgesetzt gewesenen Hände
und Arme an diesen entstehende Farbenveränderung, weiter aber auch
gewisse locale pathologische Veränderungen, die durch ganz bestimmte
Werkzeuge oder Hantirungen erzeugt werden, wobei insbesondere die
eigenthümlich localisirten Druckschwielen der verschiedenen Arbeiter
und die bei Schlossern, Schmieden u. dergl. an den Händen und
Vorderarmen zu findenden, von zurücksprühenden glühenden Eisentheilchen
herrührenden, zahlreichen Narben gehören, ebenso der zerstochene
linke Zeigefinger der Schneider etc. +Liman+ geht zu weit, wenn er
bei Erwähnung der Mittheilungen +Tardieu+’s und +Vernois’+ (l. c.
II, 124) erklärt, die Verwerthung dieser Angaben zur Feststellung
der Identität unbekannter Verstorbener deutschen Gerichtsärzten
nicht empfehlen zu können, und wir glauben, dass er blos vor allzu
gewagten Schlüssen warnen wollte. Haben ja auch deutsche Autoren die
professionellen Veränderungen an der Haut, insbesondere der Hände,
eingehender Beachtung gewürdigt und das Charakteristische mancher
derselben für gewisse Berufsarten hervorgehoben, so +Hebrag+-+Kaposi+
(„Lehrb. d. Hautkrankheiten.“ Erlangen 1872), +Kaposi+ („Pathologie
und Therapie der Hautkrankheiten.“ Wien 1880, pag. 508), +I. Neumann+
(„Lehrb. d. Hautkrankheiten.“ Wien 1880, pag. 349) und insbesondere
+L. Hirt+ („Die Krankheiten der Arbeiter.“ 2. Abth., pag. 10 u. ff.),
welcher namentlich die verschiedenen Formen und die Localisationen
der Schwielen bei den einzelnen Handwerkern ausführlich aufzählt und
in Gruppen zusammenstellt.[548] Es wäre ganz ungerechtfertigt, diese
Thatsachen in forensischen Fällen nicht zu verwerthen, und wir selbst
waren wiederholt in der Lage, aus der Beschaffenheit der Hände einer
unbekannten Leiche mit ziemlicher Sicherheit die Beschäftigung zu
erkennen, welcher das Individuum ergeben war.
[Sidenote: Verhalten der Fingernägel.]
Nicht unwichtige Anhaltspunkte für die Agnoscirung eines unbekannten
Individuums kann das Verhalten der Fingernägel ergeben und dieses
ist jedesmal protokollarisch zu verzeichnen. Grobe und abgestossene
Nägel charakterisiren die Hand des schweren Handarbeiters, während
wohlgepflegte Nägel einen solchen Stand ausschliessen, wenn sie
auch für sich allein keineswegs zum Schlusse berechtigen, dass das
Individuum einer höheren gesellschaftlichen Stellung angehört haben
müsse. Bei weiblichen Leichen wäre ein solcher Schluss noch voreiliger
als beim Manne.
Bekanntlich variirt die Form der Nägel vielfach, so dass diese desto
mehr zur Erkennung des Individuums beitragen kann, je mehr sie etwa
von der gewöhnlichen abweicht. Hierher gehört insbesondere die
eigenthümliche Veränderung, welche die Nägel durch die üble Gewohnheit
des „Nägelbeissens“ erleiden. Die Nägel werden dadurch auffallend
verkürzt, so dass mitunter nur Reste von der Grösse der „Lunula“ des
normalen Nagels zurückbleiben und treten gleichzeitig immer weiter von
der Kuppe der Finger zurück.
Zu bemerken ist noch, dass es Professionen gibt, durch welche
nur die Nägel, nicht aber auch die Haut eigenthümliche Färbungen
erhalten, welche eventuell verwerthet werden könnten. So findet man
bei Gerbern braunrothe, bei den Kunsttischlern schwarzbraune, bei
den Tabakarbeitern braune, bei den Indigoarbeitern blaue und bei den
Arbeitern mit Pikrinsäure gelbe Nägel (+Hirt+, l. c. 11).
Auch können wir im Anschlusse an das Gesagte nicht unerwähnt lassen,
dass in einem von +Casper+-+Liman+ (l. c. II, 123) berichteten Falle
die eigenthümliche Frage sich ergab, ob ein Trauring im Leben getragen
oder erst der Leiche aufgesteckt worden war, ein Zweifel, der durch den
Befund einer tiefen Rinne am Finger leicht gelöst wurde.
[Sidenote: Knochenanomalien.]
Zu den „besonderen Kennzeichen“, welche noch bei hochgradig
veränderten Leichen, insbesondere aber noch nach Monaten und Jahren
die Constatirung der Identität ermöglichen oder wenigstens wesentlich
erleichtern können, gehören begreiflicher Weise Abnormitäten an den
Knochen, denen daher, namentlich bei aufgefundenen Skeletten, eine
besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. In der That haben solche
Abnormitäten schon wiederholt eine Rolle bei der Agnoscirung von
Skeletten und hochgradig faulen Leichen gespielt. Interessant in
dieser Beziehung ist der in +Orfila+ und +Lesueur+’s gerichtlichen
Ausgrabungen, II, pag. 431, mitgetheilte Fall, wo die Identität des
aufgefundenen Skelettes mit dem eines vor einigen Jahren verschwundenen
Italieners, der rechts 6 Finger und 6 Zehen gehabt hatte, dadurch
zweifellos sichergestellt wurde, dass am fünften Mittelbandknochen
des betreffenden Gerippes in der That eine Theilung in zwei Aeste
constatirt wurde, von denen jeder eine Gelenksfläche besass. In einem
anderen, von diesen Autoren angeführten Falle zeigte das in einem
Keller vergraben gefundene Skelet auffallende rhachitische Verkrümmung
beider Unterschenkel. -- Ebenso beschreibt +Maschka+ im 4. Bande seiner
Gutachten einen Fall, bei welchem als individuelle Eigenthümlichkeit
des untersuchten Gerippes eine hochgradige Scoliose des Schädels
gefunden wurde. Lehrreich ist auch ein von +Casper+-+Liman+ (l. c.
II, 781) mitgetheilter Fall, wo an einem nach 2 Jahren aufgefundenen
Skelette eines Ertrunkenen die Recognition ausser durch einige Effecten
insbesondere dadurch noch gelang, dass der Bruder des Betreffenden
angab, Denatus habe eine Knochenauftreibung auf der linken Kopfseite
gehabt, die sich denn auch am linken Scheitelbeine in der Form einer
halb durchgeschnittenen kleinen Nuss wirklich vorfand. Auch die
Leiche des in Paris ermordeten und bei Lyon gefundenen +Gouffe+ wurde
an einer Anomalie der Fusswurzelknochen, in Folge welcher +Gouffe+
gehinkt hatte, erkannt (Virchow’s Jahrb. 1890, I, pag. 497). Uns selbst
kamen 2 Fälle vor, bei denen Knochenanomalien bei der Agnoscirung der
betreffenden Individuen eine wichtige Rolle spielten.
Im ersten, auch in anderer Beziehung instructiven Falle handelte es
sich um die Leiche eines etwa 18jährigen Knaben, welche im Sommer
1878 in hochgradig faulem Zustande aus dem Donaucanale gezogen worden
war. Die Leiche wurde von einem Ehepaare als die ihres vermissten
Sohnes agnoscirt und feierlich bestattet. Als aber die Eltern von
der Beerdigung nach Hause zurückgekehrt waren, stellte sich zu ihrer
nicht geringen Ueberraschung auch der verloren geglaubte Sohn ein,
und es unterlag sohin keinem Zweifel, dass sie eine fremde Leiche
agnoscirt und bestattet hatten. Mittlerweile wurde ein anderer Junge
gleichen Alters in einer anderen Familie vermisst und die Eltern,
vermuthend, dass jene irrthümlich agnoscirte Leiche die ihres Sohnes
sein dürfte, verlangten die Exhumirung, indem sie erklärten, ihren
Sohn an einer Verkürzung des rechten Armes erkennen zu können. In
der That ergab die unter Intervention unseres verehrten Collegen,
Ober-Sanitätsrathes +Nusser+, vorgenommene Exhumation sofort
eine offenbar in der Kindheit acquirirte Ankylose des rechten
Ellenbogengelenkes, die der Verkürzung zu Grunde lag.
Der zweite Fall betraf das Skelet eines Mannes, welcher vor 2 Jahren
durch Zertrümmerung des Schädels ermordet und dann in einem Garten
verscharrt worden war. Die Untersuchung des Skelettes ergab eine
ziemlich starke Scoliose der Wirbelsäule und Arthritis deformans der
Lendenwirbel, sowie einzelner der Extremitätengelenke und durch die
nachträglichen Erhebungen wurde in der That sichergestellt, dass der
seit 2 Jahren vermisste 46jährige Mann eine etwas verschobene Haltung
gehabt und an „Gicht“ gelitten habe.
Fünfter Hauptabschnitt.
Die gerichtliche Psychopathologie.
Der Geisteszustand eines Individuums kommt vor Gericht in Frage:
1. Wenn nach Begehung einer strafbaren Handlung an der
+Zurechnungsfähigkeit+ des Thäters gezweifelt wird.
2. Bei fraglicher +Dispositionsfähigkeit+, d. h. wenn es sich darum
handelt, ob Jemand die Fähigkeit, über seine Person, sein Vermögen
oder seine sonstigen Interessen frei zu verfügen, besitzt oder besass.
3. Bei fraglicher +Verhandlungsfähigkeit+, wenn nämlich Zweifel darüber
bestehen, ob den Aussagen eines Individuums jene Verlässlichkeit und
Beweiskraft zugeschrieben werden kann, wie dieses bei Geistesgesunden
gewöhnlich der Fall ist.
4. Wenn behauptet wird, dass Geistesstörung +in Folge einer Verletzung+
eingetreten sei (Oesterr. St.-G. §§. 152 und 356, St.-G.-E. §. 232,
Deutsches St.-G. §. 224).
5. Bei angesuchter +Ehescheidung+ wegen Geistesstörung (Preuss. Allg.
Landr. Thl. II, Tit. 1, §. 698).
6. Wenn ein +Aufschub des Strafvollzuges+ wegen nach der Verurtheilung
eingetretener Geistesstörung erfolgen soll (Oesterr. St.-P.-O. §. 398,
Deutsche St.-P.-O. §§. 485 und 487).
7. Wenn es sich um Entlassung oder Transferirung während der Strafhaft
geisteskrank gewordener Verbrecher handelt.
Von diesen Möglichkeiten bedürfen nur die drei ersten einer besonderen
Behandlung, da die Geistesstörungen nach Verletzungen bereits a. a.
O. (pag. 318) besprochen wurden, und die übrigen Möglichkeiten keine
specifischen Seiten darbieten.
I. Fragliche Zurechnungsfähigkeit.
Oesterr. St.-G.-B.
§. 2. Die Handlung oder Unterlassung wird nicht als Verbrechen
zugerechnet:
_a_) wenn der Thäter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist;
_b_) wenn die That bei abwechselnder Sinnesverrückung zu der Zeit, da
die Verrückung dauerte; oder
_c_) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen
Berauschung (§§. 236 und 523) oder einer anderen Sinnesverwirrung, in
welcher der Thäter sich seiner Handlung nicht bewusst war, begangen
worden;
_d_) wenn der Thäter das vierzehnte Jahr noch nicht zurückgelegt hat
(§§. 237 und 269). -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-- --
§. 46. Milderungsumstände, welche auf die Person des Thäters
Beziehung haben, sind:
_a_) wenn der Thäter in einem Alter unter zwanzig Jahren, wenn er
schwach an Verstand oder seine Erziehung sehr vernachlässigt worden
ist; -- -- --
_b_) wenn er auf Antrieb eines Dritten, aus Furcht oder Gehorsam das
Verbrechen begangen hat;
_c_) wenn er in einer aus dem gewöhnlichen Menschengefühl
entstandenen heftigen Gemüthsbewegung sich zu dem Verbrechen hat
hinreissen lassen; -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
§. 52. -- -- -- -- -- -- Wenn der Verbrecher zur Zeit des begangenen
Verbrechens das Alter von zwanzig Jahren noch nicht zurückgelegt hat,
so ist anstatt der Todes- oder lebenslangen Kerkerstrafe auf schweren
Kerker zwischen zehn und zwanzig Jahren zu erkennen.
§. 236. Obgleich Handlungen, die sonst Verbrechen sind, in einer
zufälligen Trunkenheit verübt, nicht als Verbrechen angesehen werden
können (§. 2), so wird in diesem Falle dennoch die Trunkenheit als
eine Uebertretung bestraft (§. 523).
§. 237. Die strafbaren Handlungen, die von Kindern bis zu dem
vollendeten zehnten Jahre begangen werden, sind blos der häuslichen
Züchtigung zu überlassen; aber von dem angehenden zehnten bis zu
dem vollendeten vierzehnten Jahre werden Handlungen, die nur wegen
Unmündigkeit des Thäters nicht als Verbrechen angerechnet werden (§.
2, lit. _d_), als Uebertretungen bestraft.
§. 269. Unmündige können auf zweifache Art schuldig werden:
_a_) durch strafbare Handlungen, welche nach ihrer Eigenschaft
Verbrechen wären, aber wenn sie Unmündige begehen, nach §. 237 nur
als Uebertretungen bestraft werden;
_b_) durch solche strafbare Handlungen, welche schon an sich nur
Vergehen oder Uebertretungen sind.
§. 270. Die von unmündigen begangenen strafbaren Handlungen
der ersten Art sind mit Verschliessung an einem abgesonderten
Verwahrungsorte, nach Beschaffenheit der Umstände von einem Tage
bis zu sechs Monaten zu bestrafen. Diese Strafe kann nach §. 253
verschärft werden.
§. 523. Trunkenheit ist an demjenigen als Uebertretung zu bestrafen,
der in der Berauschung eine Handlung ausgeübt hat, die ihm ausser
diesem Zustande als Verbrechen zugerechnet würde (§. 236). Die
Strafe ist Arrest von einem bis zu drei Monaten. War dem Trunkenen
aus Erfahrung bewusst, dass er in der Berauschung heftigen
Gemüthsbewegungen ausgesetzt sei, soll der Arrest verschärft, bei
grösseren Uebelthaten bis zu sechs Monaten erkannt werden.
Oesterr. Strafprocess-Ordnung.
§. 134. Entstehen Zweifel darüber, ob der Beschuldigte den Gebrauch
seiner Vernunft besitze, oder ob er an einer Geistesstörung leide,
wodurch die Zurechnungsfähigkeit desselben aufgehoben sein könnte,
so ist die Untersuchung des Geistes- und des Gemüthszustandes des
Beschuldigten jederzeit durch zwei Aerzte zu veranlassen.
Dieselben haben über das Ergebniss ihrer Beobachtungen Bericht
zu erstatten, alle für die Beurtheilung des Geistes- und
Gemüthszustandes des Beschuldigten einflussreichen Thatsachen
zusammenzustellen, sie nach ihrer Bedeutung, sowohl einzeln als
im Zusammenhange zu prüfen und, falls sie eine Geistesstörung als
vorhanden betrachten, die Natur der Krankheit, die Art und den Grad
derselben zu bestimmen, und sich sowohl nach den Acten als nach
ihrer eigenen Beobachtung über den Einfluss auszusprechen, welchen
die Krankheit auf die Vorstellungen, Triebe und Handlungen des
Beschuldigten geäussert habe und noch äussere, und ob und in welchem
Masse dieser getrübte Geisteszustand zur Zeit der begangenen That
bestanden habe.
§. 319. Ist behauptet worden, dass ein Zustand vorhanden gewesen oder
eine Thatsache eingetreten sei, welche die Strafbarkeit ausschliessen
oder aufheben würden, so ist -- -- -- -- eine dieser Behauptung
entsprechende Frage (an die Geschworenen) zu stellen.
Oesterr. Strafgesetz-Entwurf.
§. 56. Eine Handlung ist nicht strafbar, wenn derjenige, der
sie begangen hat, zu dieser Zeit sich in einem Zustande von
Bewusstlosigkeit oder krankhafter Hemmung oder Störung der
Geistesthätigkeit befand, welcher es ihm unmöglich machte, seinen
Willen frei zu bestimmen oder das Strafbare seiner Handlung
einzusehen.
§. 60. Auf Unmündige, welche bei Begehung einer Handlung das zwölfte
Jahr noch nicht zurückgelegt haben, findet das Strafgesetz keine
Anwendung.
Ist jedoch die Handlung mit einer Verbrechens- oder Vergehensstrafe
bedroht, so kann die Sicherheitsbehörde nach Umständen die
angemessene Bestrafung des Unmündigen durch dessen Eltern oder
durch andere Personen verfügen und hat dieselbe mit Zustimmung der
Pflegschaftsbehörde nöthigenfalls für die Unterbringung in einer
Besserungs- oder Erziehungsanstalt Sorge zu tragen.
§. 61. Auf Personen, welche zur Zeit einer begangenen Handlung das
zwölfte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr zurückgelegt
hatten, findet das Strafgesetz keine Anwendung, wenn ihnen die zur
Erkenntniss der Strafbarkeit der Handlung erforderliche Einsicht
gefehlt hat.
In diesem Falle findet die Bestimmung des §. 60, Absatz 2, Anwendung;
doch kann auch das Gericht die Verwahrung des Beschuldigten in einer
Besserungsanstalt anordnen, in welcher derselbe so lange, bis er
Proben der Besserung abgelegt hat, jedoch niemals über das vollendete
zwanzigste Lebensjahr angehalten werden darf.
§. 63. Personen, welche zur Zeit der Verübung einer strafbaren
Handlung das zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr
zurückgelegt haben, sind, wenn sie die zur Erkenntniss der
Strafbarkeit der That erforderliche Einsicht besassen, nach den
folgenden Bestimmungen zu bestrafen:
1. Ist die Handlung mit dem Tode bedroht, so ist auf Gefängniss von
drei bis zwanzig Jahren zu erkennen.
2. Ist die Handlung mit lebenslänglichem Staatsgefängniss oder
Zuchthaus bedroht, so tritt im ersteren Falle Staatsgefängniss, im
zweiten Falle Gefängniss in der Dauer von drei bis fünfzehn Jahren
ein.
3. In anderen Fällen darf die Strafe die Hälfte des Höchstmasses der
auf die Handlung gedrohten Strafe nicht übersteigen, und kann bis
auf das gesetzliche Mindestmass der gedrohten Strafart herabgegangen
werden. Statt Zuchthausstrafe ist jedoch Gefängniss in gleicher Dauer
zu verhängen.
Bei der Vollziehung der Freiheitsstrafen sind solche jugendliche
Personen von anderen Sträflingen, welche einen nachtheiligen Einfluss
auf dieselben üben könnten, strenge gesondert zu halten.
Gegen denjenigen, welcher zu einer Zeit, wo er zwar das achtzehnte,
aber nicht das zwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hatte, eine That
beging, auf welche das Gesetz die Todesstrafe oder lebenslängliche
Freiheitsstrafe verhängt, ist im ersteren Falle auf Zuchthaus
von zehn bis zwanzig Jahren, im zweiten Falle auf die angedrohte
Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf bis zwanzig Jahren zu erkennen.
§. 452. Wer im Zustande einer die Zurechnung ausschliessenden vollen
Trunkenheit (§. 56) eine Handlung verübt, welche das Gesetz mit einer
Verbrechensstrafe bedroht, ist mit Haft zu bestrafen.
Deutsches St.-G.-B.
§. 51. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter
zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von
Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit
befand, durch welchen die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.
§. 52. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter
durch unwiderstehliche Gewalt -- -- -- zu der Handlung genöthigt
worden ist.
§. 55. Wer bei Begehung der Handlung das zwölfte Lebensjahr nicht
vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich verfolgt
werden.
Gegen denselben können jedoch nach Massgabe der landesgesetzlichen
Vorschriften die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten
Massregeln getroffen werden. Insbesondere kann die Unterbringung
in eine Erziehungs- und Besserungsanstalt erfolgen, nachdem durch
Beschluss der Vormundschaftsbehörde die Begehung der Handlung
festgestellt und die Unterbringung für zulässig erklärt ist.
§. 56. Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das
zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte,
eine strafbare Handlung begangen hat, ist freizusprechen, wenn
er bei Begehung derselben die zur Erkenntniss ihrer Strafbarkeit
erforderliche Einsicht nicht besass.
In dem Urtheile ist zu bestimmen, ob der Angeschuldigte seiner
Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt
gebracht werden soll. In der Anstalt ist er so lange zu behalten,
als die der Anstalt vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für
erforderlich erachtet, jedoch nicht über das vollendete zwanzigste
Lebensjahr.
§. 57. Wenn ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das
zwölfte, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, eine
strafbare Handlung begangen hat, bei Begehung derselben die zur
Erkenntniss ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besass, so
kommen gegen ihn folgende Bestimmungen zur Anwendung:
1. Ist die Handlung mit dem Tode oder mit lebenslänglichem Zuchthaus
bedroht, so ist auf Gefängniss von drei bis fünfzehn Jahren zu
erkennen;
2. ist die Handlung mit lebenslänglicher Festungshaft bedroht, so ist
auf Festungshaft von drei bis fünfzehn Jahren zu erkennen;
3. ist die Handlung mit Zuchthaus oder mit einer anderen Strafart
bedroht, so ist die Strafe zwischen dem gesetzlichen Mindestbetrage
der angedrohten Strafart und der Hälfte des Höchstbetrages der
angedrohten Strafe zu bestimmen. Ist die hier bestimmte Strafe
Zuchthaus, so tritt Gefängnissstrafe von gleicher Dauer an ihre
Stelle;
4. ist die Handlung ein Vergehen oder eine Uebertretung, so kann in
besonders leichten Fällen auf Verweis erkannt werden;
5. auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte überhaupt oder einzelner
bürgerlicher Ehrenrechte, sowie auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht
ist nicht zu erkennen.
Die Freiheitsstrafe ist in besonderen, zur Verbüssung von Strafen
jugendlicher Personen bestimmten Anstalten oder Räumen zu vollziehen.
§. 58. Ein Taubstummer, welcher die zur Erkenntniss der Strafbarkeit
einer von ihm begangenen Handlung erforderliche Einsicht nicht
besass, ist freizusprechen.
Deutsche Strafprocess-Ordnung.
§. 81. Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des
Angeschuldigten kann das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen
nach Anhören des Vertheidigers anordnen, dass der Angeschuldigte in
eine öffentliche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werde.
Dem Angeschuldigten, welcher einen Vertheidiger nicht hat, ist ein
solcher zu bestellen. Gegen den Beschluss findet sofortige Beschwerde
statt. Dieselbe hat aufschiebende Wirkung. Die Verwahrung in der
Anstalt darf die Dauer von 6 Wochen nicht übersteigen.
§. 262. -- -- -- -- Die Schuldfrage begreift auch solche vom
Strafgesetze besonders vorgesehene Umstände, welche die Strafbarkeit
ausschliessen, vermindern oder erhöhen.
§. 295. Ueber solche vom Strafgesetze besonders vorgesehene Umstände,
welche die Strafbarkeit vermindern oder erhöhen, sind geeigneten
Falles den Geschworenen besondere Fragen vorzulegen (Nebenfragen).
Eine Nebenfrage kann auch auf solche vom Strafgesetze besonders
vorgesehene Umstände gerichtet werden, durch welche die Strafbarkeit
wieder aufgehoben wird.
§. 298. Hatte ein Angeklagter zur Zeit der That noch nicht das
achtzehnte Lebensjahr vollendet, so muss die Nebenfrage gestellt
werden, ob er bei Begehung der That die zur Erkenntniss ihrer
Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen habe.
Dasselbe gilt, wenn ein Angeklagter taubstumm ist.
[Sidenote: Bedingungen für die Zurechnungsfähigkeit.]
Sämmtliche Strafgesetzbücher gehen von der Erfahrung aus, dass der
Mensch unter normalen Verhältnissen, nachdem er die Kinderjahre im
engeren Sinne zurückgelegt hat, die Fähigkeit besitzt, das Strafbare
gewisser Handlungen einzusehen und seinen Willen nach sittlichen und
rechtlichen Grundsätzen zu bestimmen. Von diesem Zeitpunkte erscheint
das Individuum vor dem Gesetze als zurechnungsfähig, wird wegen der von
im begangenen gesetzlich verpönten Handlungen zur Verantwortung gezogen
und bestraft. +Einsicht+ in die Strafbarkeit verpönter Handlungen
und +Fähigkeit der Willensbestimmung+ im Sinne des Guten und
Rechten bilden somit die Bedingungen der Imputabilität.
Die zur Erkenntniss der Strafbarkeit verpönter Handlungen erforderliche
Einsicht setzt eine gewisse Entwicklung der Intelligenz, insbesondere
einen gewissen Grad des Unterscheidungsvermögens zwischen Gutem und
Bösen, Recht und Unrecht voraus, so dass das Individuum im Stande ist,
nicht blos die allgemeine Bedeutung und Tragweite der betreffenden
Handlungen zu erkennen, sondern auch die unsittliche und rechtswidrige
Seite derselben; die Fähigkeit der Willensbestimmung, im Sinne dieser
Erkenntniss aber eine gewisse Entwicklung des Vermögens, sinnliche
Regungen, Leidenschaften etc. zu beherrschen, oder mit anderen
Worten, die Kraft, seine egoistischen Antriebe höheren Forderungen
unterzuordnen. Das Vorhandensein der Anlage zu beiden Fähigkeiten
ist beim normalen Menschen selbstverständliche Voraussetzung, die
Ausbildung derselben ergibt sich jedoch keineswegs von selbst, sondern
erfordert Erziehung und Schulung, insoferne als erst durch diese
sittliche und rechtliche Vorstellungen und Begriffe dem Bewusstsein
zugeführt und der Mensch angeleitet und gewöhnt wird, sein Handeln
nicht ausschliesslich nach den eigenen, sondern in erster Linie nach
jenen Interessen einzurichten, welche die Grundlage des staatlichen
Zusammenlebens bilden.
Wenn auch die Anlage zu den erwähnten Potenzen als eine allen
Culturmenschen innewohnende Eigenschaft angesehen werden muss, so
unterliegt es doch keinem Zweifel, dass die Entwicklungsfähigkeit
derselben eben so vielfachen individuellen Verschiedenheiten
unterliegt, wie die des psychischen Leistungsvermögens im Grossen
und Ganzen. Wenn wir dazu bedenken, wie sehr variabel sich das zur
weiteren Entfaltung der erwähnten Anlage nöthige äussere Moment der
Erziehung gestaltet und wie mannigfach die genannten Fähigkeiten auch
nachträglich nicht blos durch äussere, sondern auch durch innere
Momente, d. h. durch Zustandsverhältnisse der psychischen Centren
und des sonstigen Organismus beeinflusst werden, so können wir nicht
zugeben, dass die Fähigkeit für die Begehung oder Unterlassung
strafbarer Handlungen sich zu entscheiden, allen Menschen in gleichem
Grade verliehen sei, es fordert vielmehr die logische Consequenz,
dass wir die alten metaphysischen und theologischen Anschauungen, die
dem Menschen eine absolute Willensfreiheit vindicirten, aufgeben und
uns nur mit der Annahme einer relativen begnügen, so zwar, dass wir
in der sogenannten Willensfreiheit nur ein beschränktes, namentlich
körperlich vielfach bedingtes Vermögen sehen werden, welches einer
beständigen Fortbildung fähig ist, dessen vollständige Ausbildung
aber beim Menschen niemals gefunden, sondern nur ideal gedacht werden
kann.
[Sidenote: Willensfreiheit.]
Diese Auffassung der „Willensfreiheit“ kommt gegenwärtig immer
allgemeiner zum Durchbruch, und liegt insbesondere den neuen
Strafgesetzbüchern, beziehungsweise den Entwürfen derselben,
zu Grunde, wenn dies auch nicht immer mit gleicher Offenheit
ausgesprochen wird, wie in dem Motivenbericht zum italienischen
St.-G.-Entwurf.[549] Keineswegs aber ist man, wie dies in Folge
einseitiger Auffassung der organischen Einflüsse, zum Theil auch
in Folge unrichtiger Deutung der statistischen Thatsache, dass bei
einem gegebenen Zustande einer Bevölkerung die jährliche Zahl von
Heiraten, Selbstmorden, Verbrechen u. s. w. constant bleibt und sich
förmlich voraus berechnen lässt[550], berechtigt, den Menschen
als ein widerstandsloses Opfer seiner Organisation hinzustellen.
Denn wenn auch dem Menschen nur eine beschränkte „Willensfreiheit“
zukommt, so ist er doch nicht willenlos, vielmehr lehrt die
tägliche Erfahrung, dass jeder normale Mensch seine Neigungen zu
beherrschen und seinen Willen nach anderen als blos egoistischen und
sinnlichen Motiven zu lenken vermag. Ueberdies verlangt das Gesetz
zur Zurechnungsfähigkeit keineswegs hohe Bildung oder die höchste
Klarheit des Urtheils, sondern nur die Fähigkeit der Unterscheidung
und des allgemeinen Verständnisses von Recht und Unrecht, sowie das
Bewusstsein, dass das Individuum das Rechte üben, das Unrecht aber
unterlassen solle und auch könne. Diese Eigenschaften sind aber
beim normalen Menschen verhältnissmässig frühzeitig vorhanden, da
selbst die primitivste Erziehung dieselben weckt und pflegt und da
die täglichen Vorkommnisse in beständiger Wiederholung den Menschen
an diese Fähigkeiten mahnen und zur Uebung derselben auffordern.
Dass sowohl die weitere Ausbildung dieser Eigenschaften, als auch
die Möglichkeit der Geltendmachung derselben gegenüber den concreten
Impulsen sich verschieden gestalten kann, ja gestalten muss, soll
nicht geleugnet werden; diese Thatsache beeinflusst aber nicht die
Zurechnungsfähigkeit im Allgemeinen, respective die Schuldfrage,
wohl aber kann dieselbe bei der Bemessung der Strafe in Betracht
gezogen werden, und es wird ihr auch in allen Strafgesetzbüchern,
insbesondere in den neueren, dadurch ausreichend Rechnung getragen,
dass für die einzelnen Delicte Maxima und Minima der Strafe bestimmt
sind, zwischen welchen ein möglichst weiter Spielraum gestattet ist,
während in anderen, insbesondere im gegenwärtigen öst. St.-G.-B.
(§. 46), solche Verhältnisse als Milderungsumstände ausdrücklich
angeführt werden.
Die vom Gesetze geforderten Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit,
nämlich die Einsicht in die Strafbarkeit einer Handlung und die
Selbstbestimmungs- (Selbstbeherrschungs-) Fähigkeit, beziehungsweise
+eine+ dieser Fähigkeiten, können, abgesehen von dem, nicht der
ärztlichen Beurtheilung unterliegenden Falle eines äusseren Zwanges,
sowie in Folge schlechter oder gar nicht erhaltener Erziehung fehlen,
oder nicht in dem nöthigen Grade vorhanden sein:
_A._ In Folge noch nicht erreichter physiologischer Entwicklung, wie
bei Kindern und jugendlichen Individuen.
_B._ In Folge angeborener oder in frühester Jugend erworbener
psychopathologischer Zustände oder Sinnesdefecte.
_C._ Durch dauernde oder transitorische Störungen der psychischen
Thätigkeiten, welche nach bereits erreichter psychischer Reife sich
einstellen, wohin in erster Linie die Geisteskrankheiten im engeren
Sinne gehören.
A. Die Zurechnungsfähigkeit von Kindern und jugendlichen Personen.
Dass auch beim normalen Menschen erst mit einem gewissen Alter
jene Bedingungen vorhanden sein können, welche die strafrechtliche
Zurechnungsfähigkeit erfordert, bedarf keiner weiteren
Auseinandersetzung. Schwierig dagegen ist es, die Grenze festzustellen,
von welcher an jene Bedingungen als bereits vorhanden angenommen werden
können.
Das gegenwärtig noch in Rechtskraft bestehende österreichische
Strafgesetz fixirt das vollendete zehnte Lebensjahr als die Grenze,
von welcher an die strafrechtliche Zurechnung beginnt (§. 237),
verfügt jedoch, dass Handlungen, welche sonst Verbrechen bilden, bis
zum vollendeten vierzehnten Jahre nicht als solche, sondern nur als
Uebertretungen bestraft werden dürfen (§. 2, lit. d, §§. 237, 269 und
270). Ausserdem betrachtet dasselbe ein Alter des Verbrechers unter 20
Jahren als einen Milderungsumstand (§. 46) und verfügt insbesondere,
dass bei solchen Verbrechern niemals auf Todesstrafe erkannt werden
darf (§. 52).
Diese Bestimmung leidet zunächst an dem Fehler, dass sie die, wenn auch
geminderte, strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit allzu früh beginnen
lässt. Auch nach vollendetem zehnten Lebensjahre ist das Individuum
körperlich und geistig noch viel zu wenig entwickelt und noch ein
Kind im vollen Sinne des Wortes; die Erziehung, selbst die elementare
Schulbildung, noch nicht vollendet und daher der gesammelte Vorrath
von ethischen, moralischen und rechtlichen Begriffen noch so gering
und noch so wenig in Fleisch und Blut gedrungen, dass einestheils die
Einsicht in die Strafbarkeit verpönter Handlungen noch nicht in dem
nöthigen Grade besteht, andererseits der sogenannte Charakter noch so
wenig entwickelt ist, dass er gegenüber den sinnlichen Anregungen und
Neigungen noch kein entsprechendes Uebergewicht zu äussern vermag.
Selbst die Italiener haben bei Berathung des neuen Strafgesetzes
gezaudert, trotz der in südlichen Ländern früher eintretenden Reife,
den Beginn der Zurechnungsfähigkeit schon auf das vollendete zehnte
Lebensjahr zu verlegen und wollten, dass mindestens noch ein halbes
oder besser ein ganzes Jahr hinzugegeben werde.[551]
Eine zweite, und zwar viel wichtigere Schwäche, die obiger Bestimmung
des österreichischen Strafgesetzes anhaftet, ist die, dass dieselbe
den Beginn der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit einzig und allein
von der Erreichung eines bestimmten Alters abhängig macht, was, wie
einleuchtend, nur dann gerechtfertigt wäre, wenn die körperliche und
geistige Entwicklung bei allen Kindern gleichen Schritt hielte, so
dass anzunehmen wäre, dass mit Vollendung des zehnten, beziehungsweise
des vierzehnten Lebensjahres bei +allen+ sonst normalen Kindern jener
Grad von Einsicht und Selbstbestimmungsfähigkeit bereits besteht, den
das Gesetz für dieses Alter voraussetzt. Dies ist aber schon wegen der
so verschiedenen, die Geistes- und Körperentwicklung beeinflussenden
äusseren Umstände nicht anzunehmen, noch weniger aber, wenn man
bedenkt, dass, ebenso wie verschiedene andere physiologische Vorgänge,
wie z. B. das Wachsthum, das Zahnen, die Geschlechtsreife bei vielen
Menschen sich verzögern, auch die psychische Entwicklung aus inneren,
keineswegs immer pathologischen Gründen langsamer verlaufen kann, als
sie sonst zu verlaufen pflegt.
Es kann daher die Annahme, dass mit einem bestimmten Lebensalter bei
den Kindern bereits der entsprechende Grad von Unterscheidungs- und
Selbstbestimmungsvermögen vorhanden ist, nur für das Gros der unter
annähernd gleichen äusseren Verhältnissen lebenden Menschen gelten; es
ist jedoch billig, dass auch auf diejenigen Rücksicht genommen werde,
bei welchen die geistige Entwicklung aus irgend einem Grunde langsamer
sich entfaltet und daher später jenen Grad der Ausbildung erlangt, der
für gewöhnlich in dem betreffenden Alter vorhanden ist.
Beiden Uebelständen hat sowohl das deutsche Strafgesetz als der
österreichische Strafgesetz-Entwurf dadurch abgeholfen, dass sie
zunächst erst vom vollendeten zwölften Lebensjahre eine strafrechtliche
Verfolgung von Verbrechen und Vergehen gestatten (§. 60 österr. Entw.,
§. 55 deutsch. St. G.), und weiter (§. 61 österr. Entw., §. 56 deutsch.
St.-G.) verordnen, dass auch derjenige, der zur Zeit einer begangenen
Handlung bereits das zwölfte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr
zurückgelegt hatte, dann straflos bleibt, +wenn ihm die zur Erkenntniss
der Strafbarkeit der Handlung erforderliche Einsicht gefehlt+ hat; und
die Strafprocess-Ordnung für das deutsche Reich (§. 298) geht in ihrer
Vorsicht so weit, dass sie bestimmt, dass, wenn ein Angeklagter zur
Zeit der That noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatte, den
Geschworenen die Nebenfrage, ob derselbe bei Begehung der That die zur
Erkenntniss ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht besessen hatte,
gestellt werden +muss+. Es wird daher im Sinne dieser Gesetze nicht
mehr genügen, bei einem jugendlichen Verbrecher blos zu erwägen, ob er
die von der Gesetzgebung festgehaltene Altersgrenze von zwölf Jahren
bereits überschritten hat, sondern auch, wenn dieses thatsächlich
der Fall, ob derselbe jenen Grad von Einsicht in die Strafbarkeit
der betreffenden verpönten Handlung bereits besitzt, wie sie mit
vollendetem zwölften Lebensjahre gewöhnlich vorhanden ist.
[Sidenote: Einsicht und Selbstbestimmungsfähigkeit bei Kindern.]
Das erforderliche Maass der Einsicht kann aber bei solchen Individuen
sowohl aus äusseren als aus inneren Gründen noch fehlen, oder wegen
Zusammentreffens beider.
Die Beurtheilung der äusseren Gründe, wie fehlende oder mangelhafte
oder schlechte Erziehung, bedarf keiner ärztlichen Kenntnisse, und
bleibt dem Gerichte, respective den Geschworenen überlassen.[552]
Zu den inneren, ärztlicher Beurtheilung unterliegenden Gründen gehört
ausser dem bei den angeborenen psychischen Defecten zu besprechenden
Schwachsinn, sowie dem angeborenen und in frühester Jugend erworbenen
Sinnesmangel die Verzögerung der Intelligenzentwicklung, wie sie
aus gewissen, nicht näher zu erkennenden physiologischen Ursachen,
besonders in den ersten Jahren nach Ueberschreitung des vom Gesetze
fixirten Alterstermines zur Geltung kommen kann, oder durch Krankheiten
bewirkt wird, die das Kind am Schulbesuche verhinderten oder überhaupt
bewirkten, dass der Unterricht nicht mit jener In- oder Extensität
stattfinden konnte, die zur Erzielung des erforderlichen Intelligenz-
(Einsichts-) Grades nothwendig erscheint.
Eigenthümlicher Weise und einigermassen im Widerspruche mit der
sonstigen Auffassung der Zurechnungsfähigkeit macht das Gesetz
letztere bei Individuen unter achtzehn Jahren nur abhängig von einer
gewissen Entwicklung des Unterscheidungsvermögens, ohne zugleich eine
gewisse Entwicklung des Selbstbeherrschungsvermögens zu fordern. Darin
liegt jedenfalls eine Schwäche des Gesetzes. Eine gewisse Einsicht
in die Strafbarkeit verpönter Handlungen ist nämlich beim Kinde
verhältnissmässig frühzeitig vorhanden und sie verräth sich meist durch
das heimliche, häufig sogar schlaue Vorgehen des Kindes bei der That.
Was aber häufig trotzdem fehlt, das ist die genügende Willenskraft,
um den Anreizungen zur That zu widerstehen. Zu dieser gehört bereits
eine gewisse Consolidirung des Charakters und ein gewisses Uebergewicht
ethischer, moralischer und rechtlicher Vorstellungen und Begriffe über
egoistische Antriebe, und ob diese Bedingungen in dem dem betreffenden
Alter sonst zukommenden Grade vorhanden sind oder nicht, sollte nicht
unberücksichtigt bleiben.
Die Nothwendigkeit einer solchen Unterscheidung ergibt sich von selbst
aus der Erwägung der Natur der strafbaren Handlungen, die von Kindern
und jugendlichen Individuen begangen werden.
[Sidenote: Strafbare Handlungen von Kindern und jugendlichen Personen.]
Eine Reihe dieser Handlungen lässt allerdings deutlich erkennen, dass
das betreffende Individuum sich der Bedeutung und Tragweite derselben
gar nicht oder nur undeutlich bewusst war und daher die zur Erkenntniss
der Strafbarkeit der That erforderliche Einsicht nicht besass. Es
gehören hierher z. B. die verschiedenen, aus Muthwillen und Uebermuth
verübten (sogenannten dummen Jungen-) Streiche, viele Fälle, wo Steine
auf die Bahn gelegt werden, gegen Züge geworfen oder geschossen
wird, durch Reise-, Entdeckungs- und Abenteuerdrang veranlasste
Handlungen, unsinnige Conspirationen und geheime Verbindungen, diverse
Beschädigung fremden Eigenthums und selbst einzelne Brandlegungen.
Andere und vielleicht die meisten der betreffenden Handlungen sind aber
derart, dass man das Fehlen der erforderlichen Einsicht nicht annehmen
kann. So bei fast allen von Kindern und jugendlichen Individuen
begangenen Diebstählen und Betrugsfällen. Hier wird es sich nun darum
handeln müssen, ob ausser der Einsicht auch der für das betreffende
Alter vorausgesetzte Grad von Selbstbestimmungsfähigkeit, respective
Stärke des Charakters und Schulung der Willenskraft vorhanden war oder
nicht. Gerade in dieser Beziehung besteht aber in den meisten solchen
Fällen ein Defect, und dass demselben Rechnung getragen werde, ist
gewiss eine psychologisch sowohl als strafrechtlich gerechtfertigte
Forderung. In Folge dieses Defectes kann eine weit unter der normalen
Grenze stehende Selbstbestimmungsfähigkeit existiren, trotz gut
entwickelter und selbst mehr als gewöhnlich entwickelter Intelligenz.
Leider ist man aber in solchen Fällen geneigt, entsprechend dem
alten Satze: malitia supplet aetatem, gerade aus der durch schlaues,
ja mitunter raffinirtes Vorgehen des jugendlichen Thäters sich
documentirenden Intelligenz sofort auf einen analogen Grad von
Willensfreiheit zu schliessen, während einleuchtet, dass bei gleich
mangelhafter sittlicher Basis des Charakters das geistig aufgewecktere
Kind leichter auf Abwege gerathen kann, als das in dieser Beziehung
schwächer angelegte, um so mehr, als bei ersterem die organischen
Triebe in der Regel stärker sich zu äussern pflegen als bei letzteren,
und überhaupt ein lebhafteres Temperament besteht.
[Sidenote: Verbrecherische Handlungen der Kinder.]
Eine andere Kategorie von verbrecherischen Handlungen jugendlicher
Individuen entspringt aus Affecten, insbesondere des Zornes und der
Rache. Hier wird festzuhalten sein, dass auch schon bei Kindern
bezüglich der grösseren und geringeren Leichtigkeit, mit welcher
Affecte ausgelöst werden, sich individuelle Verschiedenheiten zeigen,
die theils durch das angeborene Temperament bedingt sind, theils davon
abhängen, ob das Kind in der Bewältigung der Affecte eingeübt wurde
oder nicht. Fehler in der Erziehung machen sich gerade in dieser
Beziehung so häufig bemerkbar, und die Selbstbestimmungsfähigkeit
erscheint dann ebenso gemindert, wie durch eine angeborene grössere
Geneigtheit zu heftigen Gemüthsschwankungen.
Unzüchtige Handlungen, begangen von Individuen unter achtzehn,
beziehungsweise zwanzig Jahren, sind nicht selten. In den ersten der
bereits die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit involvirenden Jahre
fehlt in der Regel ein genügendes Verständniss für die Bedeutung der
betreffenden strafbaren Handlung schon aus dem einfachen Grunde,
weil die Geschlechtsreife meist noch nicht eingetreten ist. Ist aber
die Geschlechtsreife bereits vorhanden, so kann der Geschlechtstrieb
desto eher zu sträflichen Handlungen führen, je frühzeitiger sie sich
eingestellt hatte und je weniger ein entsprechend starker Charakter die
betreffenden Antriebe zu corrigiren vermag, was insbesondere bei den
nicht seltenen Fällen von Frühreife wohl zu beachten sein wird.
[Sidenote: Irrsein bei Kindern.]
Von den bisher besprochenen Verhältnissen, welche innerhalb der Breite
psychischer Gesundheit das rechtzeitige Eintreten der Bedingungen der
Zurechnungsfähigkeit zu verzögern oder ganz zu verhindern vermögen
und zu denen auch die leichte Bestimmbarkeit durch Andere hinzugefügt
werden muss, sind die Geisteskrankheiten im engeren Sinne zu
unterscheiden, welche auch bei kindlichen und jugendlichen Individuen
bestehen und deren Zurechnungsfähigkeit aufheben können.
Es gehören hierher die psychischen Schwächezustände: Blödsinn
und Schwachsinn, die sowohl in Folge angeborener Defecte in den
psychischen Organen bestehen, als auch erst nachträglich insbesondere
in Folge überstandener Erkrankungen des Gehirns und seiner Häute und
nach Kopfverletzungen eintreten können. Ferner Zustände krankhaft
erhöhter Reizbarkeit, welche entweder in Folge angeborener, in
der Regel hereditär fehlerhafter Organisation, meist mit erhöhter
motorischer Reflexerregbarkeit (Neigung zu Convulsionen), oder auch
nach überstandenen Hirn- und anderweitigen schweren Erkrankungen,
oder endlich in Folge der im Pubertätsstadium geschehenden Vorgänge
sich finden, aber auch nach Schreck, Onanie oder in Folge gewisser
Reize, z. B. Wurmreiz, sich entwickeln kann. Eine solche krankhafte
Reizbarkeit kann ganz ungewöhnliche Reactionen bedingen und zu
Gewaltthaten gegen Andere und die eigene Person führen. Eine Reihe
der bereits an einem anderen Orte (pag. 386) erwähnten Selbstmorde
von Kindern und jugendlichen Individuen gehören hierher. Das
angeborene „moralische“ oder „impulsive Irrsein“, von dem später
die Rede sein wird, äussert sich schon frühzeitig einestheils durch
undisciplinirbares Verhalten, anderseits durch böse Neigungen und
mitunter ganz perverse gewaltthätige Antriebe und Handlungen, zu
welchen selbst Morde gehören.[553]
Melancholisches Irrsein wird seltener bei Kindern, häufiger dagegen
in der Pubertätsperiode beobachtet. Im Verlaufe derselben kann
Neigung zu Selbstmord bestehen und auch raptusartige Aufregung
auftreten mit gemeinschädlichem Charakter. Maniakalische Zustände sind
verhältnissmässig selten und beruhen dann meist auf choreatischer oder
epileptischer Grundlage. Dagegen wurde wiederholt hallucinatorisches
Irrsein, insbesondere in der Form des Verfolgungswahnes, sowohl in der
Pubertätszeit, als bei Kindern beobachtet.
[Sidenote: Jugendliches Alter als Milderungsgrund.]
Auch in jenen Fällen, in denen bei jugendlichen Verbrechern die
nöthige Einsicht und Selbstbestimmungsfähigkeit als vorhanden
angenommen werden muss, trägt das Gesetz der noch nicht vollkommenen
körperlichen und geistigen Entwicklung dadurch Rechnung, dass es
den betreffenden Individuen eine mildere Behandlung zu Theil werden
lässt als volljährigen Verbrechern. Das gegenwärtige österr. St.-G.
erklärt im §. 46 lit. a ein Alter des Thäters unter 20 Jahren
ausdrücklich als Milderungsumstand und bestimmt im §. 52, dass,
wenn der Verbrecher zur Zeit des begangenen Verbrechens das Alter
von 20 Jahren noch nicht zurückgelegt hat, anstatt der Todesstrafe
oder lebenslangen Kerkerstrafe auf schweren Kerker zwischen 10 bis
20 Jahren zu erkennen ist. -- Das deutsche Strafgesetz (§. 55-57)
und der österr. St.-G.-Entwurf (§. 60-63) gehen noch humaner vor,
indem sie für sämmtliche von Individuen unter 18 Jahren begangenen
strafbaren Handlungen das Strafausmaass herabsetzen, insbesondere
niemals Todesstrafe und statt der Zuchthausstrafe nur Gefängniss
eintreten lassen und auch bei Individuen zwischen 18-20 Jahren statt
der Todes- oder lebenslänglichen Freiheitsstrafe nur höchstens
20jährige Zuchthausstrafe fixiren, vorzugsweise aber durch die
Verordnung, dass bei der Vollziehung der Freiheitsstrafen jugendliche
Individuen unter 18 Jahren von anderen Sträflingen, welche einen
nachtheiligen Einfluss auf dieselben ausüben könnten, strenge
gesondert zu halten sind.[554]
Nicht unerwähnt soll die von verschiedenen Seiten, insbesondere
neuestens bei Berathung des italienischen St.-G.-Entwurfes, gestellte
Forderung bleiben, dass man auch im weiblichen Geschlechte eines zum
Verbrecher gewordenen Individuums einen in das Gesetz ausdrücklich
aufzunehmenden Strafmilderungsgrund erblicken solle. Keines der
modernen Strafgesetzbücher, respective der betreffenden Entwürfe,
ist auf diese Forderung eingegangen, wie wir glauben mit Recht,
da beim Weibe im Allgemeinen weder in der Intelligenz, noch in
der Selbstbestimmungsfähigkeit so wesentliche Unterschiede von
denselben Eigenschaften des Mannes bestehen, wie etwa zwischen jenen
jugendlicher oder gar kindlicher Individuen und Erwachsener. Trotzdem
ist nicht zu leugnen, dass in einzelnen Fällen dem zarteren Fühlen
des Weibes und namentlich seinen besonderen Sexualzuständen Rechnung
getragen werden muss. Dass dies aber thatsächlich geschieht, zeigen
insbesondere die milden Bestimmungen über den Kindesmord, die wir an
einer anderen Stelle bereits kennen gelernt haben.
B. Angeborene oder in frühester Kindheit erworbene psychopathologische
Zustände.
Es gehört hierher die angeborene oder in der Kindheit erworbene
Schwäche des Intellects oder der angeborene Blödsinn, die psychische
Entwicklungshemmung, wie sie durch angeborenen oder in frühester
Kindheit erworbenen Sinnesmangel veranlasst wird, und gewisse
angeborene Defecte oder Fehler der psychischen Organisation
specifischer Art, die, meist auf hereditärer Grundlage beruhend,
sich vorzugsweise durch ein abnormes Fühlen und Wollen äussern und
einestheils in dem moralischen, anderseits in dem impulsiven Irrsein
ihre wichtigsten Repräsentanten finden.
Wir wollen alle diese Zustände schlechtweg als angeborene bezeichnen.
1. Der angeborene Blödsinn.
Man versteht darunter den Ausfall oder die Schwäche des Intellects,
entweder in Folge angeboren fehlerhafter oder durch in frühester
Jugend eingetretene Störungen gehemmter Hirnentwicklung. Es gibt
eine Menge Grade dieses Defectes. In den schwersten Fällen fehlt
die Intelligenz vollkommen und damit auch die Sprache -- idiotische
Stummheit. Solche Individuen führen ein vegetirendes Dasein, haben nur
ein theilweises Bewusstsein von der Aussenwelt, verhalten sich meist
ganz passiv, müssen sogar gefüttert werden u. s. w. Derartige Idioten
sind zu Handlungen gar nicht fähig und haben deshalb für die Frage der
Zurechnungsfähigkeit gar keine Bedeutung.
In anderen Formen ist die Perception der Aussenwelt und eine
Unterscheidung der eigenen Persönlichkeit vorhanden, das Bewusstsein
jedoch nur von sinnlichen, durch unmittelbare Wahrnehmung aufgenommenen
Vorstellungen und daraus gebildeten primitiven Urtheilen und Begriffen
erfüllt. Aber auch die Menge und der Umfang dieser ist ein sehr
variabler, je nach der grösseren oder geringeren Schwierigkeit,
mit welcher derartige Vorstellungen aufgenommen, im Bewusstsein
festgehalten und verarbeitet werden. Die Fähigkeit zur Aufnahme und
Verarbeitung abstracter (übersinnlicher) Vorstellungen und Urtheile
fehlt, daher kann auch weder von Einsicht in die sittliche oder
rechtliche Bedeutung von Handlungen, noch von der Beherrschung
egoistisch-sinnlicher Antriebe durch diese die Rede sein.
Der Umstand, dass, wie insbesondere die Resultate der Idiotenanstalten
zeigen, selbst hochgradig blödsinnige Kinder einer gewissen Erziehung
fähig sind, kann nicht beirren, denn letztere bleibt doch schliesslich
nur eine Art Dressur, wie sie auch bei Thieren bis zu einem gewissen
Grade möglich ist, und man wird einen Idioten, der mühsam einzelnen
seiner Antriebe zu widerstehen gelernt hat, ebenso wenig eine, wenn
auch nur theilweise strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit vindiciren,
wie etwa einem Jagdhunde, der vor dem Wilde zu stehen dressirt worden
ist.[555] Auch wird man sich durch die wiederholt constatirte Thatsache
nicht täuschen lassen, dass Idioten mitunter trotz hochgradig defecter
Intelligenz einzelne mechanische Fertigkeiten und anderweitige,
z. B. musikalische Talente zeigen können, ja dass sogar einseitige,
mitunter überraschende Entwicklung des Gedächtnisses für Namen, Zahlen
u. dergl. vorkommen kann, und dass solche Individuen keineswegs immer
rücksichtslos und ohne alle Vorsicht, sondern auch mit einem gewissen
Grad von Ueberlegung und selbst von Schlauheit zu handeln vermögen, wie
ja Solches auch bei Thieren häufig beobachtet werden kann.
Die leichteren Formen des Blödsinns pflegt man gewöhnlich in den
Begriff des +Schwachsinns+ zusammenzufassen. Zwischen diesem und dem
eigentlichen Blödsinn gibt es verschiedene allmälige Uebergänge,
so dass eine scharfe Abgrenzung beider Formen unmöglich ist. Doch
empfiehlt es sich mit +Krafft+-+Ebing+, das Auftreten übersinnlicher
abstracter Vorstellungen und Begriffe als Unterscheidungsmerkmal
des Schwachsinnes vom eigentlichen Blödsinn zu fixiren, so dass
beim Schwachsinnigen bereits alle die Intelligenz zusammensetzenden
Bedingungen gegeben sind, wie beim Vollsinnigen, aber nicht in dem
Grade sich zu entwickeln vermögen, wie bei diesen. Es besteht demnach
gegenüber dem eigentlich Blödsinnigen ein qualitativer, gegenüber dem
Vollsinnigen nur ein quantitativer Unterschied.
Auch beim Schwachsinn gibt es eine Menge Abstufungen: Schwerere Formen,
bei welchen die Bildung und Verarbeitung übersinnlicher Vorstellungen
noch sehr schwierig und unvollständig vor sich geht, und leichtere
Formen, die den Uebergang zur normalen psychischen Leistungsfähigkeit
bilden und mitunter schwierig von jener geringen Entwicklung der
Intelligenz sich unterscheiden, die in Folge äusserer Ursachen auch
beim normalen Menschen vorkommen kann.
Die Analyse der Vorstellungsthätigkeit ergibt bei allen Schwachsinnigen
mehr weniger auffallende Defecte. Schon die Aufnahme der
Sinneseindrücke erfolgt nicht so präcis wie bei Vollsinnigen, sondern
mit einer gewissen Schwerfälligkeit und Langsamkeit, was namentlich
gegenüber feineren Wahrnehmungen auffällt. Mitunter besteht eine
auffallende Stumpfheit einzelner Sinne.
Es erfolgt demnach schon die Bildung sinnlicher Vorstellungen und die
Verarbeitung derselben zu sinnlichen Urtheilen und Begriffen mit
unverhältnissmässiger Schwierigkeit, noch mehr jene der übersinnlichen.
Es ist eben einestheils die Empfänglichkeit der psychischen Centren
für von Aussen kommende Eindrücke eine mehr weniger geringere als beim
normalen Menschen, andererseits sind dieselben weniger fähig, einmal
aufgenommene Eindrücke festzuhalten (Gedächtnissschwäche); endlich
aber besitzt der die Ideenassociation vermittelnde Apparat nicht
jene Feinheit und Präcision der Leistungsfähigkeit, die ihm de norma
zukommen sollte.
Diese Defecte machen sich schon zur Zeit des Schulbesuches bemerkbar.
Das Kind begreift langsam, merkt sich das Gelernte nur schwer,
reproducirt dasselbe nur mechanisch, ohne näheres Verständniss und
bleibt in Folge dessen hinter den übrigen Kindern zurück, was sich
desto mehr kundgibt, je schwieriger die Anforderungen im Laufe des
Unterrichtes sich gestalten und je weniger der frühere aufgenommen
worden war.[556] Ebenso träge und schwerfällig gestaltet sich
die intellectuelle Thätigkeit auch im weiteren Leben, ja selbst
noch träger und beschränkter, da nun die systematische Vermehrung
des Bewusstseinsinhalts durch fremden Unterricht entfällt und
das Individuum sich selbst überlassen bleibt. Der Vorrath von
Intelligenzelementen, insbesondere von abstracten, den das betreffende
Individuum besitzt, steht demnach sowohl an In- als Extensität hinter
demjenigen zurück, der sich unter sonst gleichen Verhältnissen
bei Anderen zu finden pflegt, um so mehr, als dasselbe auch durch
Beobachtung und Verkehr mit anderen Menschen nur wenig oder gar nichts
in sich aufnimmt. Doch ist auch hier zu bemerken, dass die Schwäche
keineswegs in allen geistigen Leistungen vollkommen gleichmässig zu
Tage treten muss, sondern in einzelnen mehr, in anderen weniger, und
dass selbst bei hochgradigem Intelligenzdefect einseitige, insbesondere
mechanische Fertigkeiten und Talente sich finden können. Auch ist der
Defect gegenüber feinen psychischen Leistungen immer auffälliger als
gegenüber gröberen, insbesondere bezüglich abstracter, übersinnlicher
Vorstellungen und Urtheile unverhältnissmässig stärker als gegenüber
den sinnlichen.
Dass unter solchen Umständen das moralische, ethische und rechtliche
Verständniss immer nur ein mangelhaftes und der Charakter nur ein
schwacher sein kann, und dass ein solches Individuum weniger im Stande
sein wird, seine Handlungen nach höheren Principien zu regeln, d. h.
seinen Willen gegenüber egoistischen Antrieben im Sinne des Guten
und Rechten zu beherrschen, als der normale Mensch, ist begreiflich.
Es wäre jedoch zu weit gegangen, wenn man die Schwachsinnigen unter
allen Umständen als unzurechnungsfähig erklären wollte. Es gibt eine
Menge Schwachsinniger, die sich im gewöhnlichen Leben, namentlich in
gewissen, keinen besonderen geistigen Fond erfordernden Stellungen, gut
und selbstständig fortbringen. Eben deshalb muss zugegeben werden, dass
solche Individuen unter gewöhnlichen Verhältnissen die strafrechtliche
Bedeutung gewisser einfacher Handlungen in genügender Weise begreifen
können, und wenn die Reflexion ungestört verlaufen konnte, auch im
Stande sind, sich für die Unterlassung einer solchen Handlung zu
entscheiden. In Fällen von prämeditirtem Diebstahl und Betrug ist dies
wohl zu beachten.
Anders gestaltet sich die Sache bei aussergewöhnlichen und mehr weniger
plötzlich an das Individuum herantretenden verbrecherischen Impulsen.
In solchen Fällen zeigt sich der Defect deutlich. Der schon unter
gewöhnlichen Verhältnissen mühsam arbeitende Reflexionsapparat geräth
leicht in Verwirrung oder Stockung und ein überlegtes besonnenes
Handeln wird noch weniger möglich als unter ähnlichen Umständen
bei vollsinnigen. Insbesondere erfolgt das Auftauchen der ohnehin
spärlichen und schwachen contrastirenden Vorstellungen entweder gar
nicht oder viel zu langsam, als dass sie den Willen zu bestimmen
vermöchten. Dies ist insbesondere bei den im Affecte begangenen
Handlungen zu erwägen und dabei zu beachten, dass, ebenso wie wir
beim eigentlichen Blödsinn +apathische+, harmlose und +reizbare+
gefährliche Formen unterscheiden, auch beim Schwachsinn keineswegs
immer nur ein apathisches oder phlegmatisches Verhalten, sondern nicht
selten eine erhöhte Reizbarkeit und daher eine grössere Geneigtheit
zu Affecten besteht, in welchem Falle das Individuum mit desto
unverhältnissmässigerer Heftigkeit auf wirkliche oder vermeintliche
Kränkungen und anderweitige aufregende Vorkommnisse, besonders aber
Schädigungen seiner leiblichen Interessen, reagirt, je mehr der
Schwachsinn entwickelt ist.
[Sidenote: Strafbare Handlungen Schwachsinniger.]
Sehr häufig verleitet die Macht der Triebe die Schwachsinnigen
zu strafbaren Handlungen, insbesondere der Geschlechts- oder der
Nahrungstrieb.
Bezüglich des ersteren ist die Meinung sehr verbreitet, dass bei
Blödsinnigen eine besonders starke Entwicklung des Geschlechtstriebes
sich finde. Im Allgemeinen ist eher das Gegentheil der Fall,
insbesondere bei den schwersten Formen des Blödsinns, in welchen
man nicht selten verkümmerte Genitalien, mangelhafte oder fehlende
Entwicklung der Scham- und Barthaare und persistirenden knabenhaften
Habitus findet.[557] In den übrigen Fällen ist es meist nur die
Rücksichtslosigkeit der Aeusserung des Geschlechtstriebes, welche
für ungewöhnliche Stärke des Triebes imponirt. Trotzdem kann in
einzelnen Fällen der Trieb sich stärker äussern als in anderen,
wie ja auch beim normalen Menschen gerade in dieser Beziehung
bedeutende individuelle Verschiedenheiten sich geltend machen, und
es ist namentlich die Annahme nicht unberechtigt, dass bei den
reizbaren Formen des Blödsinns und Schwachsinns auch eine regere
Geschlechtsthätigkeit besteht als bei den apathischen. Ein genügendes
Verständniss der Bedeutung geschlechtlicher Handlungen kann nur
in den leichten Formen des Schwachsinns angenommen werden, in den
schwereren, sowie beim eigentlichen Blödsinn kann von einem solchen
nicht wohl die Rede sein. Auch handelt es sich in diesen Fällen
seltener um normale Befriedigung des Geschlechtstriebes, sondern
in der Regel um anderweitige unzüchtige Handlungen, besonders um
onanistische Manipulationen, die dann fast ausschliesslich an Kindern
vorgenommen werden, also um Acte, deren strafrechtliche Bedeutung
einem Schwachsinnigen noch weniger verständlich sein wird, als die
des wirklichen Coitus.
Was den Nahrungstrieb betrifft, so ist die Gefrässigkeit der meisten
Blödsinnigen bekannt. Auch bei Schwachsinnigen wird sich derselbe
desto stärker und rücksichtsloser äussern, je weniger von einer
Ausbildung des Charakters die Rede sein kann. Es ist dabei nicht
zu vergessen, dass auch beim normalen Menschen der Trieb nach
Befriedigung des Nahrungs- und Genussbedürfnisses eine der häufigsten
Ursachen strafbarer Handlungen bildet und dass daher dieser Trieb um
so leichter bei Individuen zu solchen Handlungen führen kann, deren
ganzes Leben und Streben in der Befriedigung der sinnlichen Regungen,
wenn auch nicht wie bei Blödsinnigen vollkommen aufgeht, so doch
vorzugsweise um diese sich dreht.
Nicht selten sind die betreffenden Handlungen Schwachsinniger so
kindisch, naiv oder albern, dass sich aus ihnen selbst sofort der
Schwachsinn ergibt. Es gehören hierher viele Fälle von Beschädigungen
fremden Eigenthums, einzelne Betrugsfälle und selbst Fälschungen, die
mitunter die naivsten Zumuthungen an die Leichtgläubigkeit der zu
Betrügenden involviren.
[Sidenote: Beurtheilung Schwachsinniger. Cretinismus. Sinnesmangel.]
Aus allem Gesagten ergibt sich, dass bei der Beurtheilung der
Zurechnungsfähigkeit Schwachsinniger nicht einzig und allein die
Constatirung des Schwachsinnes genügen kann, sondern zu erwägen sein
wird, ob und in welchem Grade derselbe den betreffenden Schwachsinnigen
verhinderte, bei der Begehung einer +bestimmten+ Handlung das Strafbare
derselben zu erkennen und für die Begehung oder Unterlassung derselben
sich zu entscheiden. Zu diesem Behufe wird einestheils der allgemeine
Grad des Schwachsinns zu erheben sein, anderseits die Natur der
begangenen Handlung, ob und welchen Grad der Intelligenz die Einsicht
in die Strafbarkeit derselben erforderte, beziehungsweise documentirt,
ferner die Motive, durch welche sie veranlasst wurde, sowie das
Verhältniss der Stärke dieser zu dem individuellen Charakter,
respective zu dem Vorrath an moralischen und Rechtsbegriffen, und
endlich ob den letzteren Gelegenheit und Zeit geboten war, sich
geltend zu machen und den Widerstreit im Bewusstsein in ihrem Sinne
zu entscheiden. Auch wird das eventuell jugendliche Alter, sowie
der Umstand in Betracht zu ziehen sein, ob und welche Erziehung dem
Individuum bereits zu Theil geworden ist. Sollte nach Abschätzung
aller dieser Verhältnisse sich ergeben, dass sowohl Einsicht als die
Willenskraft im entsprechenden Grade vorhanden waren, so ist der
Schwachsinn des Individuums dennoch zu betonen, da, wenn auch von Seite
des Richters oder der Geschworenen auf Zurechnungsfähigkeit erkannt
wird, doch die geringe Intelligenzentwicklung beim Strafausmaass in
Betracht gezogen wird und weil insbesondere der §. 46 des österr.
St.-G.-B. lit. a die Schwäche des Verstandes ausdrücklich als
Milderungsumstand erklärt.
[Sidenote: Cretinismus. Sinnesmangel.]
Blödsinn und Schwachsinn kann bestehen trotz sonst normaler
Verhältnisse. Häufiger ist derselbe mit anderen Anomalien combinirt.
Hierher gehören insbesondere solche der äusseren Körperbildung,
von denen namentlich jene am Kopfe wohl zu beachten sind, wie
Hydrocephalus, durch vorzeitige oder asymmetrische Verwachsung der
Nähte entstandene Verbildungen des Schädels, die Mikrocephalie
u. s. w. Die mit erheblicher körperlicher Missstaltung und
Kropf verbundene angeborene Idiotie bezeichnet man gewöhnlich
als Cretinismus. Namentlich versteht man darunter den endemisch
vorkommenden, mit solcher Missstaltung verbundenen Idiotismus, als
dessen Prototyp der alpine Cretinismus gilt (infantiles Myxödem).
Höchst beachtenswerth ist jedoch die von +Klebs+[558] hervorgehobene
Beobachtung, dass ein anatomisch vollständig entwickelter Cretintypus
auch ohne jede oder nur mit geringer geistiger Störung bestehen
kann. Häufig finden sich andere Symptome anomaler Function der
centralen Nervenapparate, insbesondere die sogenannte „neuropathische
Constitution“ („reizbare Schwäche“), Convulsionen verschiedenen
Charakters (epileptische und epileptoide Zustände, Veitstanz, gewisse
eigenthümliche automatische Bewegungen), andererseits Lähmungen.
Anamnestisch lassen sich mitunter die Anfänge der geistigen Schwäche
auf in früher Jugend überstandene Erkrankungen oder Kopfverletzungen
zurückführen und Residuen derselben, insbesondere der letzteren, noch
anderweitig nachweisen.
2. Der angeborene Sinnesmangel.
+Deutsches Straf-Gesetzbuch+, §. 58: Ein Taubstummer, welcher
die zur Erkenntniss der Strafbarkeit einer von ihm begangenen
Handlung erforderliche Einsicht nicht besass, ist freizusprechen.
+Deutsche Straf-Process-Ordnung+, §. 298, vide pag. 877.
Vom angeborenen Sinnesmangel hat die angeborene Blindheit unter
gewöhnlichen Umständen nur eine untergeordnete Bedeutung für die
Frage der Zurechnungsfähigkeit, da durch dieselbe der Unterricht,
insbesondere die Aufnahme von höheren Vorstellungen und Urtheilen in
das Bewusstsein, nicht wesentlich behindert wird; wohl fällt dieselbe
aber dann in’s Gewicht, wenn sie sich mit anderen Sinnesdefecten (z. B.
Taubstummheit, Schwerhörigkeit oder mit Geistesschwäche) combinirt,
sowie wenn kein entsprechender Unterricht stattgefunden hatte.
[Sidenote: Taubstummheit.]
Von ungleich höherer Bedeutung ist der angeborene oder in frühester
Jugend erworbene Mangel des Gehörs und die dadurch bedingte
Taubstummheit, da durch diesen Defect der wichtigste Weg entfällt,
auf welchem die Aufnahme der Bildungselemente erfolgt und weil durch
den consecutiven Mangel der Sprache auch Reproduction und Mittheilung
des Bewusstseinsinhaltes, daher auch die Correctur desselben durch
Andere wesentlich erschwert ist. Besonders ist die Einverleibung
übersinnlicher Vorstellungen und Urtheile in’s Bewusstsein schwierig,
somit gerade jener Elemente des Charakters, die sinnlichen und
egoistischen Antrieben das Gegengewicht halten sollen.
Im Allgemeinen besteht daher eine Analogie mit dem angeborenen
Blödsinn und Schwachsinn. Während jedoch bei diesem der Defect im
Gehirne selbst liegt und irreparabel ist, besitzt letzteres bei
den gewöhnlichen Formen der Taubstummheit die Anlage zur normalen
Leistungsfähigkeit, deren Entfaltung erschwert, aber nur der
gewöhnlichen Unterrichtsmethode gegenüber unmöglich ist. Wird aber
eine solche eingeschlagen, die, den Defect berücksichtigend, auf
anderen Wegen die Bildungselemente dem Gehirne zuführt, dann können
die psychischen Anlagen, wenn auch ungleich mühevoller als beim
gewöhnlichen Unterricht, doch so weit ausgebildet werden, dass das
Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsvermögen nicht wesentlich
verschieden ist von demjenigen Vollsinniger. Welche überraschenden
Resultate in dieser Beziehung erzielt werden können, zeigen die in
allen Culturländern bestehenden und an Zahl immer mehr zunehmenden
Taubstummen-Unterrichtsanstalten zur Genüge, ebenso die Thatsache, dass
gegenwärtig zahlreiche Taubstumme die verschiedenartigsten bürgerlichen
Stellungen bekleiden, sich verheiraten und ebenso gut sich fortbringen,
wie ihre vollsinnigen Collegen, und dass einzelne sogar als Lehrer,
Beamte u. s. w. verwendet werden und selbst literarische Leistungen
aufzuweisen haben.
[Sidenote: Unterrichtete und nicht unterrichtete Taubstumme.]
Es folgt daraus, dass bei Beurtheilung von Taubstummen wegen fraglicher
Zurechnungsfähigkeit zunächst ein Unterschied zu machen sein wird
zwischen solchen, die einen Taubstummen-Unterricht und solchen,
die keinen genossen haben. Letztere sind den Blödsinnigen gleich
zu achten, da ihr Bewusstsein keine oder nur spärliche und ganz
unvollkommene übersinnliche Vorstellungen enthält und daher wohl unter
Umständen von einer Dressur, nicht aber von einem Unterscheidungs- und
Selbstbestimmungsvermögen im strafrechtlichen Sinne die Rede sein kann.
Anders gestaltet sich die Sache bei unterrichteten Taubstummen, da
bei diesen die letztgenannten Eigenschaften desto mehr vorhanden sein
werden, je vollständiger der Unterricht war, den sie genossen hatten.
Doch ist zu bemerken, dass auch bei Taubstummen dieselben Unterschiede
in der individuellen psychischen Leistungsfähigkeit bestehen müssen,
wie bei Vollsinnigen, und dass bei dem schwereren und nur auf
Umwegen zu erzielenden Unterricht die Differenz der individuellen
Geistesgaben sich nothwendig intensiver geltend machen muss, als
unter gleichen Umständen bei Vollsinnigen gegenüber dem gewöhnlichen
Unterricht. Daraus ergibt sich aber folgerichtig, dass schon solche
geringe Grade niederer intellectueller Leistungsfähigkeit, die beim
Vollsinnigen noch in die Breite des Normalen fallen, bei Taubstummen
den Unterricht in gleicher Weise erschweren können, wie wir dies sonst
bei im pathologischen Sinne Schwachsinnigen zu constatiren vermögen,
und weiter, dass aus gleichem Grunde im Allgemeinen der Unterricht
einen langsameren Verlauf nehmen und der vom Gesetze als Minimum
geforderte Grad von Einsicht durchschnittlich später vorhanden sein
wird, als dies unter normalen Umständen das Gesetz annimmt, was bei
der Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit taubstummer Kinder und
jugendlicher Individuen im Auge behalten werden muss, ebenso wie der
Umstand, dass sich die Taubstummheit mit angeborenem oder in frühester
Jugend erworbenem Blödsinn und Schwachsinn, sowie mit angeborenen
oder erworbenen psychischen Anomalien anderer Art combiniren und dann
auch den besten Unterricht illusorisch machen kann. Es kann daher
der Nachweis des stattgehabten Taubstummen-Unterrichtes für sich
allein keineswegs zur Erklärung genügen, dass die Bedingungen zur
Zurechnungsfähigkeit, insbesondere die vom deutschen Strafgesetze
ausdrücklich geforderte „Einsicht“, vorhanden seien, sondern es
muss an die Möglichkeit gedacht werden, dass trotz eines solchen in
Folge einer oder mehrerer der erwähnten Verhältnisse, sowohl die
Einsicht als die Selbstbestimmungsfähigkeit sowohl im Allgemeinen als
gegenüber einer bestimmten strafbaren Handlung mangeln oder wesentlich
vermindert sein kann. In letzterer Beziehung sind die gleichen
Erwägungen am Platze, wie sie bezüglich der analogen Handlungen
Unmündiger und Schwachsinniger auseinandergesetzt wurden, doch ist es
selbstverständlich, dass die Prüfung des Intellects des betreffenden
Taubstummen durch das Examen selten ohne Intervention eines Dolmetsch
(Taubstummenlehrers) wird geschehen können, und dass selbst in solchen
Fällen, wo ein schriftlicher Verkehr mit dem zu Untersuchenden möglich
wäre, doch die Intervention des Dolmetsch nicht zu entbehren sein wird.
3. Originäre psychische Anomalien specifischer Art.
Bekanntlich finden wir schon beim vollkommen normalen Menschen
selbst unter sonst gleichen Verhältnissen vielfache originäre
Unterschiede im psychischen Verhalten. Wir finden sie sowohl im
Bereiche der Intelligenz, als des Fühlens und der Willensenergie. In
erster Beziehung wissen wir, wie verschiedenartig sich die geistige
Leistungsfähigkeit gestaltet und sprechen von grösseren oder geringeren
Talenten, indem wir dabei bald nur die allgemeine Bildungsfähigkeit,
bald nur den Sinn und das Geschick für besondere geistige Leistungen im
Auge haben. Ebenso bekannt und gewöhnlich sind die Verschiedenheiten
in der Willensenergie. Insbesondere auffallend sind aber die
individuellen Verschiedenheiten im Bereiche des Fühlens, und dies ist
um so wichtiger, als das Denken und Handeln, das ganze Wesen eines
Individuums vorzugsweise durch sein Fühlen beeinflusst wird. Schon die
Alten kannten die Verschiedenheit der „Temperamente“, unter welchen sie
so wie wir nicht blos die habituelle Gemüthsanlage, sondern auch die
grössere oder geringere Geneigtheit des Individuums zu Gemüthsaffecten
und Leidenschaften verstanden. Insbesondere gibt es leicht erregbare
und anderseits nach allen Richtungen phlegmatische Temperamente,
weiche gefühlvolle und anderseits harte, abstossend strenge Naturen,
und die tägliche Erfahrung lehrt, dass auch bezüglich des moralischen
und ethischen Fühlens individuelle Unterschiede sich finden und
welch verschiedene Färbung die relative Prävalenz der sogenannten
altruistischen oder der egoistischen Gefühle den einzelnen Charakter
verleiht.
Wir können ferner bemerken, dass auch im Bereiche des sinnlichen
Empfindens die verschiedenartigsten Unterschiede und selbst Extreme
vorkommen und dass insbesondere gewisse feinere Gefühlsqualitäten,
z. B. musikalisches, künstlerisches Fühlen, bei einzelnen Individuen
in hoher und höchster Entwicklung bestehen, bei anderen trotz gleicher
und selbst höherer Intelligenz mehr weniger vollkommen fehlen können.
Wenn wir dazu bedenken, dass auch die Stärke der organischen Triebe,
insbesondere des wichtigsten derselben, des Geschlechtstriebes, bei
verschiedenen Menschen verschieden sich gestaltet und anderseits
erwägen, in wie eingreifender Weise gerade die thierischen Triebe das
Gesammtfühlen des Menschen beeinflussen, so müssen wir +Lotze+
vollkommen beistimmen, der da[559] sagt, dass „unsere angeborene
Constitution durch individuell eigene und eigenartige Empfindungen
einem Jeden sein individuelles Lebensgefühl bestimmt“, und werden auch
in dessen weiterer Bemerkung, dass „der Einzelne das Lebensgefühl eines
Anderen nie zu begreifen vermag“, keine Uebertreibung erblicken.
Auch geht daraus hervor, wie sehr das in der modernen Strafrechtspflege
immer mehr zum Durchbruch kommende Streben gerechtfertigt ist, bei der
Beurtheilung der Strafbarkeit von Handlungen auch bei ganz normalen
Individuen nicht den fictiven „Durchschnittsmenschen“ im Auge zu haben,
sondern das einzelne Individuum, und zwar nicht blos in seinen äusseren
Beziehungen, sondern auch in seiner concreten psychischen Organisation.
[Sidenote: Angeborene Unterschiede im psychischen Verhalten.]
Ungleich wichtiger ist die Thatsache, dass, ganz abgesehen von den
bereits besprochenen angeborenen psychischen Schwächezuständen, bei
einzelnen Individuen schon von Haus aus, d. h. in Folge angeborener
Organisation der psychischen Centren, Eigenthümlichkeiten der
psychischen Grundthätigkeiten bestehen können, die als pathologisch
aufgefasst werden müssen und das ganze Gebahren des Individuums
und seinen Charakter beeinflussen. Solche Anomalien finden sich,
wenn auch nicht immer, so doch vorzugsweise bei Individuen, die aus
Familien stammen, in denen Irrsinn und andere Nervenleiden heimisch
sind, so dass Alles darauf hinweist, dass wir in einem derartigen
abnormen psychischen Verhalten die Aeusserungen einer hereditär
überkommenen fehlerhaften Organisation und in der Regel den Ausdruck
einer psychischen Degeneration zu erblicken haben (erbliche Belastung,
+Griesinger+).
[Sidenote: „Grenzgebiet.“]
Die betreffenden Eigenthümlichkeiten können in ihrer Intensität sehr
verschieden sich gestalten, auch in einzelnen psychischen Thätigkeiten
mehr hervortreten, als in anderen, und es ist höchst bemerkenswerth,
dass einzelne derselben sogar bei geistig hervorragenden, genialen
Naturen sich ergeben, so bei Gelehrten, grossen Dichtern, Künstlern,
von denen, wie +Hohnbaum+[560] bemerkt, Einzelne mitunter in eilf
Dingen erhaben und im zwölften Idioten sind, oder durch besondere
Verirrungen der Phantasie, Schrullen, fixe Ideen, Vorurtheile und
selbst Aberglauben, grosse Reizbarkeit etc. auffallen, Beobachtungen,
die beweisen, dass eine scharfe Grenze zwischen geistiger Gesundheit
und Irrsein gar nicht besteht, sondern dass es ein „Grenzgebiet“
(+Maudsley+) gibt, in welchem sich mannigfache Uebergänge beider
Zustände finden.
Die Bedeutung solcher originärer Unterschiede des psychischen
Verhaltens für die Frage der Zurechnungsfähigkeit liegt auf der
Hand und sie wird noch speciell dadurch erhöht, dass die originäre
psychopathische Constitution sich weniger durch Störungen der
Intelligenz als durch abnormes Verhalten der übrigen psychischen
Thätigkeiten kundgibt, somit gerade jenes Kriterium fehlt oder
nicht genügend sich manifestirt, welches der Laie für die Erkennung
abnormer Geisteszustände als das wichtigste und beweisendste hält und
welches für ihn den Massstab bildet, nach welchem er den Grad einer
Geistesstörung zu beurtheilen gewohnt ist.
Von den hierher gehörenden Zuständen wollen wir insbesondere
das sogenannte „+moralische Irrsein+“ einer näheren Besprechung
unterziehen, weil dasselbe eine besonders ausgeprägte Erscheinungsform
der ersteren bildet und nur diese am eingehendsten studirt worden ist.
Das moralische Irrsein.
Man versteht darunter einen in Folge angeborener, meist hereditär
überkommener, fehlerhafter Organisation der psychischen Centren
bestehenden Defect im Bereiche des moralischen Sinnes, wodurch das
betreffende Individuum, bei scheinbar intacter oder nicht auffallend
gestörter Intelligenz, ausser Stande ist, ästhetisch, moralisch und
rechtlich zu fühlen, im Sinne solcher Gefühle seinen Charakter zu
entwickeln und seine Handlungen darnach zu richten. Man hat diesen
Zustand noch als sittliche Insensibilität oder moralische Idiotie
bezeichnet und vielfach mit der Farbenblindheit verglichen. Ebenso wie
es bekanntlich Individuen gibt, die gewisse Farben, z. B. Roth, nicht
zu unterscheiden vermögen, weil ihre Netzhaut für die betreffenden
farbigen Lichtstrahlen unempfindlich ist, ebenso gibt es Menschen,
die von Haus aus sittlich blind sind, und die nicht anders als nach
egoistischen oder mechanisch eingelernten Motiven handeln können, weil
sie jener Gefühle bar sind, welche den normalen Menschen unsittliche
oder rechtswidrige Handlungen als solche erkennen und verstehen lassen
und ihn bewegen sollen, dieselben zu unterlassen.
Die Aufstellung des moralischen Irrseins als eigene Irrsinnsform
ist von +Pinel+, namentlich aber von +Prichard+ ausgegangen,
welcher zuerst die Bezeichnung „Moral Insanity“ einführte. Eine
eingehende Bearbeitung fand das moralische Irrsein durch +Morel+,
welcher dasselbe als eine der Erscheinungsformen seiner „Folie
héreditaire“ beschrieb. In neuerer Zeit haben sich insbesondere
+Maudsley+, +Krafft+-+Ebing+ und +Legrand du Saulle+, der diese und
analoge Psychopathien unter der Bezeichnung „Folie raisonnante“
zusammenfasst, ferner +Livi+, +Lombroso+, +Tammassia+ und Andere
Verdienste um das Studium dieser Psychose erworben.
Das Vorkommen eines solchen scheinbar isolirten Defectes wird uns
verständlich, wenn wir Folgendes erwägen: Erstens, dass, worauf
insbesondere die Ergebnisse neuester Forschungen hinweisen (s. die
Lehre von der Aphasie, die psychomotorischen Centren +Hitzig+’s und
+Frisch+’s, die Arbeiten von +Charcot+ und von +Ferrier+ etc.), den
einzelnen psychischen Functionen wahrscheinlich bestimmte Hirntheile
entsprechen, deren isolirte Erkrankung oder Entwicklungshemmung daher
möglich ist, wenn wir auch über den Sitz des moralischen Sinnes oder
des „Hemmungsapparates für das Begehrungsvermögen“ vorläufig kaum
Vermuthungen haben; zweitens, dass, wie erwähnt, auch im Bereiche
des normalen Fühlens die verschiedenartigsten Unterschiede und
selbst Extreme vorkommen, dass auch bei anderen Psychosen eine tiefe
Alteration des Fühlens bestehen kann, ohne auffallende Störung der
Intelligenz, wie namentlich in den Anfangsstadien der Melancholie und
der Manie; endlich aber, dass wir im moralischen Fühlen nicht nur die
höchste Stufe der Gefühlsentwicklung allein, sondern die höchste und
feinste geistige Leistung überhaupt zu sehen haben, deren Auftreten,
wie +Maudsley+ sich treffend ausdrückt, erst die eigentliche
Menschwerdung bezeichnet und die erst durch Jahrhunderte lange
Uebung, erbliche Uebertragung und Entwicklung zu jener Stufe der
Ausbildung gedieh, welche die einzelnen Individuen der Culturvölker
durchschnittlich besitzen, die aber eben als feinste Leistung des
Menschenhirns eher als alle anderen erkranken oder entarten kann.
Damit stimmt die Thatsache, dass eine Reihe von Geisteskrankheiten im
engeren Sinne mit einer Veränderung des Charakters ad pejus beginnt,
wie insbesondere das paralytische, das alkoholische und das senile
Irrsein demonstrirt und dass nach Genesung von solchen oder von
Apoplexien, Kopfverletzungen und anderen schweren Hirnerkrankungen,
trotz wiedergekehrter Intelligenz, nicht selten ein moralischer
Defect (erworbenes moralisches Irrsein) noch lange und selbst für
immer zurückbleibt. +Es leidet eben bei einer Hirnerkrankung die
feinste Leistung zuerst und kehrt zuletzt und am schwierigsten wieder
zur Norm zurück+ (+Maudsley+). In gleicher Weise aber wird es uns
begreiflich, wenn die erworbenen psycho- und neuropathischen Zustände
in hereditärer Uebertragung auch als moralisches Irrsein sich zu
äussern vermögen, und wenn bei psychisch degenerirenden Familien die
Reihenfolge der Degenerationserscheinungen so häufig mit ethischer
Depravation beginnt.
Derartige Individuen zeigen meist schon in der Kindheit die Zeichen des
Defectes. Sie sind halsstarrig, boshaft, grausam und nur durch Gewalt,
nicht aber durch moralische Mittel disciplinirbar, durch Appellation
an ihr Scham- und Schicklichkeitsgefühl, ihr Mitleid, ihre Eltern- und
Geschwisterliebe etc. ist nichts auszurichten, weil sie solche nicht
besitzen. Ebenso sind ihnen Ehrgeiz, Gewissensbisse, Reue fremd, die
Werthschätzung durch Andere gleichgiltig und ihr ganzes Sinnen und
Trachten nur durch Egoismus bedingt. Dass unter solchen Umständen
die Erziehung, soweit sie die Einverleibung ethischer Elemente in’s
Bewusstsein und die Bildung eines sittlichen und rechtlichen Charakters
bezweckt, resultatlos bleiben muss, ist begreiflich.
Dem entsprechend ist auch das Verhalten solcher Individuen in ihrem
späteren Lebenslaufe. Hier zeigt sich der Mangel jedes sittlichen Halts
und der Mangel altruistischer Gefühle desto intensiver, je mehr das
Individuum sich selbst überlassen wird und je weniger dasselbe durch
äussere Gründe an der Aeusserung seiner sinnlichen und egoistischen
Neigungen behindert wird. Sie werden Taugenichtse, ergeben sich dem
Trunke, sowie geschlechtlichen und anderen Excessen, zu welchen sie
sich die Mittel auf die rücksichtsloseste Weise verschaffen, halten in
keinem Amte, keiner Beschäftigung aus, ergeben sich der Vagabondage
und bieten schliesslich das Bild ganz verkommener Individuen, die
immer wieder in diesem Zustande verfallen, wenn sie aus dem Gefängniss
oder einer sonstigen strengen Beaufsichtigung entlassen worden sind
(+Krafft+-+Ebing+).
Dieses Bild lässt mannigfache Variationen zu und wird insbesondere
durch den Grad des Defectes, das Verhalten des Intellects, durch das
individuelle Temperament, sowie durch Erziehung und Stand modificirt.
Der Grad des Defectes im Bereiche des moralischen Fühlens lässt
zweifellos Abstufungen zu. +Schüle+ (Handb. d. Geisteskr. 1878, pag.
51) unterscheidet zwei Hauptformen; in der ersten fehlen sittliche
Vorstellungen und sittliche Gefühle vollständig, in der zweiten sind
die Vorstellungen wohl da, aber gleichsam als leblose, trockene
Schemata ohne gemüthliche Betonung. Erstere Form ist jedenfalls die
schwerere. Dabei ist, wie +Schüle+ richtig bemerkt, zu beachten, dass
niedrigere Gefühlswerthe in ungeschmälerter Entfaltung vorhanden sein
können, während der Defect nur gegenüber höheren, feineren Gefühlen
sich kundgibt.
Das Verhalten der Intelligenz ist ein verschiedenes. In den meisten
Fällen besteht entschiedener Schwachsinn, der sich unter Anderem
durch Leichtgläubigkeit, geringe Vorsicht bei dem Begehen strafbarer
Handlungen, die mitunter für Muth imponirt, durch unverhältnissmässig
hohe Vorstellung von der eigenen Bedeutung, vorzugsweise aber dadurch
sich kundgibt, dass das Individuum das Unpassende und Thörichte,
ja ganz Unzweckmässige seines Handelns nicht einsieht, ebenso auch
nicht die materiellen und socialen Nachtheile, die ihm daraus
erwachsen, sondern trotz aller Ermahnungen, Vorstellungen und selbst
Zwangsmittel immer wieder in das frühere lasterhafte Leben verfällt,
welches doch nichts weniger als Annehmlichkeit im gewöhnlichen Sinne
zu bieten vermag. Deshalb wird auch das „moralische Irrsein“ von
+Meynert+ u. A. unter die Formen des angeborenen Schwachsinnes
gerechnet und als „Imbecillität mit Gefühlsentartung“ bezeichnet,
unter welche Bezeichnung jene Schwachsinnigen mit Aufregung fallen,
welche vorzugsweise durch Unverständniss der familialen und socialen
Beziehungen und Forderungen und Unfähigkeit zur Unterordnung unter
letztere sich bemerkbar machen.
In anderen Fällen ist der Intellect scheinbar intact, ja der
Betreffende kann sogar mit einer gewissen Dialektik sein Benehmen
zu motiviren im Stande sein: „Folie raisonnante.“ Der Verstand ist,
wie sich +Schüle+ (l. c. 81) geistreich ausspricht, zum advocatus
diaboli der krankhaften Stimmungen und Triebe geworden. Doch auch
in solchen Fällen documentirt die vollkommene Unzugänglichkeit
für fremde Logik die geistige Schwäche, ebenso wie der Cynismus,
mit welchem solche Individuen die unnatürlichsten Handlungen und
Verbrechen als gerechtfertigte Thaten hinzustellen versuchen, das
Alberne und Verkehrte ihres Fühlens manifestirt. Nicht selten finden
sich anderweitige Anomalien des Vorstellens[561], ein abspringender
Ideengang, phantastische oder fixe Ideen, sowie Störungen in der
Reproductionstreue, die als Verlogenheit imponiren (+Krafft+-+Ebing+).
Von wesentlichem Einfluss auf das Gebahren der betreffenden Person
ist das individuelle Temperament, respective die individuelle
Reizbarkeit. Gleichwie man beim Blödsinn apathische, ruhige und
agitirte gemeinschädliche Formen unterscheidet, so findet man auch bei
der moralischen Idiotie Individuen, die mehr passiv sich verhalten
und deshalb für die Gesellschaft weniger gefährlich erscheinen,
anderseits aber solche von grösserer Reizbarkeit und Regsamkeit, die
eben die typischen Formen der Anomalie repräsentiren und am ehesten zu
Conflicten mit dem Strafgesetz führen können.
Auch Erziehung und Stand sind von Einfluss, insoferne als erstere,
wenigstens bei den weniger schweren Formen durch Dressur Etwas zu
leisten vermag, und letzterer in der Richtung, dass die moralische
Verkommenheit im Allgemeinen desto mehr auffällt, je weniger sich
solche in dem betreffenden Stande aus anderen Ursachen zu finden
pflegt.[562]
[Sidenote: Moralisches Irrsein in foro.]
Die hohe Bedeutung der moralischen Idiotie in strafrechtlicher
Beziehung liegt auf der Hand, und es ist einleuchtend, dass bei solchen
Individuen desto weniger von einer Einsicht in die Strafbarkeit
bestimmter Handlungen und von der im Gesetze festgehaltenen
Selbstbestimmungsfähigkeit die Rede sein kann, je hochgradiger sich
der Defect gestaltet, da das Individuum unmöglich die That in ihrer
sittlichen und rechtlichen Bedeutung erkennen, noch weniger aber
nach sittlichen und rechtlichen Grundsätzen für die Begehung oder
Unterlassung derselben sich entscheiden kann, wenn es nicht moralisch
fühlt, und aus solchem Fühlen entspringende Vorstellungen und Urtheile
seinem Charakter mangeln. Ueber die Unzurechnungsfähigkeit solcher
Individuen dürften dann auch bei Richtern und Geschworenen kaum
Zweifel bestehen, es sei denn, dass man, wie dies leider häufig genug
geschieht, das blos oberflächliche Bewusstsein der Strafbarkeit einer
That, und die etwa aus Furcht vor Strafe oder analoger Schädigung
leiblicher Interessen des Individuums bis zu einem gewissen Grade
mögliche Selbstbeherrschung für genügend erachten sollte, um auf
Zurechnungsfähigkeit zu erkennen. Die Schwierigkeit der Beurtheilung
solcher Fälle liegt aber darin, dass die Erkennung der moralischen
Unempfindlichkeit oder Stumpfheit als eines angeborenen, in
fehlerhafter Organisation der psychischen Centren begründeten Defectes
und die Unterscheidung desselben von anderweitiger moralischer
Verkommenheit keineswegs so leicht und sicher ist, wie es die
Wichtigkeit der Sache wünschen lassen würde.
Wenn man im Allgemeinen desto mehr berechtigt ist, an einen
pathologischen Defect im Bereiche des Fühlens zu denken, je mehr
eine verbrecherische That dem menschlichen Gefühle widerstreitet,
und wenn auch diese Berechtigung sich erhöht, wenn Jemand habituell
dem Verbrechen oder einem lasterhaften Leben sich ergibt und als
unverbesserlich sich erweist, und wenn auch anthropologische Studien
der Verbrecher, wie sie in ausgezeichneter Weise von +Despine+,
+Thomson+, +Benedikt+, +Lombroso+[563] u. A. vorliegen, höchst
beachtenswerthe Resultate (auffallend hohe Morbilität und Mortalität,
grössere Geneigtheit zu geistigen Erkrankungen, das häufige Vorkommen
entschiedenen Schwachsinnes, namentlich aber das häufige Vorkommen
gewisser Anomalien der körperlichen Bildung, die wir als körperliche
Degenerationszeichen kennen lernen werden, und endlich die Häufigkeit
der Recidiven) ergaben, so ist doch selbst das schwerste Verbrechen für
sich allein kein Beweis von moralischem Irrsinn, da eine moralische
Stumpfheit auch in Folge mangelnder oder schlechter Erziehung bestehen
kann, da es ferner genug egoistische und wohl zu beherrschende Motive
gibt, die den Menschen bewegen können, trotz richtigem ethischen
Verständniss und trotz normalem moralischen und rechtlichen Fühlen
die schwersten Handlungen zu begehen, und weil endlich auch die
Möglichkeit einer Angewöhnung an das Laster und einer systematischen
und wohlbewussten Zurückdrängung und Ueberwältigung des normalen
psychischen Fühlens durch gewisse Annehmlichkeiten und Vortheile
desselben nicht bestritten werden kann.
+Es kann demnach von moralischem Irrsinn nur dann gesprochen werden,
wenn die durch verbrecherische Handlungen sich documentirende
moralische Gefühllosigkeit sich auf eine pathologische Ursache,
respective auf eine fehlerhafte psychische Organisation zurückführen
lässt.+ Dieses ist aber nur durch sorgfältige Erhebung der Anamnese,
ferner durch genaue klinische Untersuchung des betreffenden Individuums
und erst in dritter Linie durch Erwägung der verbrecherischen Handlung
selbst möglich.
[Sidenote: Anamnese. Einfluss der Pubertät.]
In anamnestischer Beziehung ist insbesondere darauf Rücksicht zu
nehmen, dass der angeborene oder in frühester Jugend erworbene
moralische Irrsinn fast immer als Ausdruck einer hereditär überkommenen
defecten Organisation, insbesondere als Ausdruck und häufig erstes
Symptom der in einer Familie bestehenden oder beginnenden Degeneration
aufzutreten pflegt. Es sind daher zunächst die gesundheitlichen
Verhältnisse der Familie zu erwägen, insbesondere der Umstand, ob in
dieser psychische oder neurotische Erkrankungen vorgekommen sind, die
erfahrungsgemäss hereditäre Uebertragung einer defecten Organisation
der psychischen Centren bedingen können. Weiter ist das psychische und
somatische Verhalten des Individuums während seiner Entwicklungsperiode
in Betracht zu ziehen. Wie erwähnt, zeigt sich der angeborene Defect im
Bereiche des moralischen Sinnes, ebenso auch die mit demselben meist
combinirten anderweitigen psychischen Anomalien (Schwachsinn, perverse
Triebe, neuropathische Constitution), schon frühzeitig insbesondere
gegenüber der Erziehung im Haus und in der Schule und die moralische
Verkehrtheit und Undisciplinirbarkeit fällt dann desto mehr auf, je
besser und rationeller die Erziehung war, wie es denn bezeichnend ist,
dass gerade die Fälle von moralischer Verkommenheit in den besten
Familien, trotz bester Erziehung und günstigen äusseren Verhältnissen,
es waren, die zuerst den Gedanken erweckten, dass erstere auch auf
organischen Defecten der Nervencentren beruhen könne (+Maudsley+).
In somatischer Beziehung ist aber insbesondere zu beachten, dass bei
mit hereditär fehlerhafter Anlage behafteten Individuen die letztere
anfangs wenig bemerkbar, gewissermassen latent sein kann, bis sie
durch gewisse Einflüsse (Gelegenheitsursachen) zum Ausbruche kommt.
Erkrankungen, Traumen, besonders Kopfverletzungen, aber auch psychische
Insulte können diesen bewirken, insbesondere aber die Einflüsse der
Pubertätsentwicklung. Auf die Gefahr, welche letztere für hereditär
neuropathisch disponirte Individuen mit sich bringt, hat namentlich
+Falret+ und neuerlich +Legrand du Saulle+ (l. c.) hingewiesen und
hervorgehoben, dass nicht selten solche erblich belastete Kinder,
die bis dahin in intellectueller Beziehung sich gut entwickelt
hatten und selbst ausgezeichnete Schüler waren, in Folge der durch
die Pubertät veranlassten Einwirkungen entweder dem Schwachsinn oder
jener pathologischen Verkehrung des Charakters verfielen, die wir
als moralisches Irrsein bezeichnen. Hierbei dürften allerdings auch
die frühzeitigen und eingreifenden sexuellen Excesse, denen sich die
Betreffenden hingeben, in erster Linie die Onanie, eine wichtige Rolle
spielen.
[Sidenote: Degenerationszeichen bei „Moral insanity“.]
In +klinischer+ Beziehung zeigen solche Individuen häufig schon
äusserlich mehr weniger auffallende Abweichungen vom Normaltypus.
Hierher gehören insbesondere pathologische Schädelformen, so
asymmetrische oder auffallend kleine Schädel, Schädel mit abgeplattetem
Hinterhaupt, mit unverhältnissmässig entwickelten Kiefern und mit
sogenannter fliehender Stirne.[564]
Von anderen physischen Anomalien werden asymmetrische oder unschöne
Körper-, insbesondere Gesichtsbildung, auffallend grosse oder
kleine Ohren, angewachsene oder fehlende Ohrläppchen (+Griesinger+,
+Lannois+, +Frigerio+), Strabismus, mangelhafte Entwicklung der
Genitalien, ferner Motilitätsstörungen (Gesichtskrämpfe, Chores,
epileptische und epileptoide Zustände[565], Contracturen, partielle
Lähmungen), Anästhesien und Hyperästhesien, vasomotorische Neurosen
u. dergl. beobachtet, und wenn auch solche Befunde ohne jede geistige
Störung vorkommen können und keineswegs unter allen Umständen als
„Degenerationszeichen“ aufgefasst werden dürfen, so ist doch auf ihr
Vorhandensein zu reagiren und dieses bei der klinischen Diagnose
zu verwerthen, da die meisten solcher Zustände auf Hemmungen,
beziehungsweise Störungen der Entwicklung der centralen Nervenapparate
bezogen werden müssen, von welchen auch die psychischen Organe
getroffen worden sein konnten.
Gegen die allzu einseitige Auffassung der Degenerationszeichen,
insbesondere der Asymmetrie des Schädels, haben +Stadfeldt+
(Virchow’s Arch. XCIX, pag. 391) und +Benedikt+ (Wr. med. Presse.
1886, Nr. 1 bis 4) mit Recht ihre Stimme erhoben; Ersterer, indem er
darauf hinweist, dass Asymmetrien des Schädels auch bei ganz normalen
Menschen ungemein häufig (etwa in 70%) vorkommen und Letzterer,
indem er sich dahin ausspricht, dass es gar keine selbstständige
Anthropologie der Verbrecher gebe, sondern dass die sogenannten
biopathologischen Kennzeichen der Verbrecher nur jene des atypischen,
untertypischen und degenerirten Menschen überhaupt sind. Viele dieser
Kennzeichen sind überdies zweideutig, indem sie bald Perfection, bald
Degeneration bedeuten, z. B. die Makrocephalie. Andere wieder, wie
z. B. Asymmetrien des Schädels, können als Ausdruck einer Compensation
aufgefasst werden. In sehr objectiver Weise hat auch +Knecht+ (Allg.
Zeitschr. f. Psych. 1883, pag. 584) die „Degenerationszeichen“ bei
Verbrechern und Geisteskranken besprochen und nachgewiesen, dass sie
bei letzteren ungleich häufiger (in etwa 80%) vorkommen, als bei
ersteren (etwa 48%).
In psychischer Beziehung springt insbesondere das abnorme Verhalten
des Fühlens mehr weniger in die Augen, und zwar zunächst die
Gemüthsstumpfheit, welche in einzelnen Fällen bis zur vollständigen
Gemüthslosigkeit gesteigert sein kann; dabei kann abnorme Reizbarkeit
und eine Geneigtheit zu unmotivirtem Stimmungswechsel bestehen. Die
Sensibilität ist bei Einzelnen krankhaft erhöht, bei Anderen wieder
auffallend herabgesetzt (+Lombroso+).
[Sidenote: Anomalien des geschlechtlichen Fühlens.]
Sehr beachtenswerth ist das Verhalten des geschlechtlichen Fühlens und
die Aeusserung des Geschlechtstriebes. Wir wissen, dass schon unter
normalen Verhältnissen die Qualität des geschlechtlichen Fühlens das
Gesammtfühlen wesentlich beeinflusst, dass reges geschlechtliches
Fühlen dem Charakter eines Individuums eine gewisse Energie verleiht,
während anderseits, wie wir bei Eunuchen und Zwittern beobachten
können, das Fehlen desselben mit Energie- und Charakterschwäche
einhergeht. Auch ist es bekannt, welchen wichtigen Einfluss sowohl
das Erwachen des Geschlechtstriebes (Pubertät) als das Erlöschen
desselben (Climacterium) auf das körperliche und geistige Verhalten
eines Individuums auszuüben vermag. Es kann daher nicht auffallen,
wenn wir als Ausdruck und Theilerscheinung einer originär fehlerhaften
psychischen Anlage, insbesondere des „moralischen Irrseins“, auch
verschiedenen Anomalien des geschlechtlichen Fühlens begegnen, und
man wird begreifen, welche abnorme Färbungen des Wesens und Handelns
dadurch zu Stande kommen können.
Verhältnissmässig häufig findet sich auffallend frühzeitige Entwicklung
des Geschlechtstriebes und ungewöhnlich hohe Erregbarkeit in dieser
Beziehung. Frühzeitige geschlechtliche Excesse, insbesondere Onanie,
mit ihrem weiteren so schädigenden Einfluss auf Körper und Geist,
sind gewöhnlich die Folgen der Frühreife. Die geschlechtliche
Erregbarkeit eines solchen Individuums bringt dasselbe um so
leichter mit dem Strafgesetze in Conflict, je weniger es zufolge
seines Defectes ethische Begriffe in seinen Charakter aufzunehmen
im Stande war und je weniger äussere Momente der schrankenlosen
Befriedigung des Geschlechtstriebes entgegentreten. Noch wichtiger sind
gewisse Perversitäten des Geschlechtstriebes, die zu ganz abnormen
geschlechtlichen Handlungen zu führen vermögen. Es gehören hierher die
„conträre Sexualempfindung“ und die Fälle, in welchen die Betreffenden
statt im Coitus oder ausser in diesem, in Misshandlung oder Tödtung,
selbst Zerfleischung ihres Opfers und sogar in Anthropophagie und
Leichenschändung eine geschlechtliche Befriedigung finden.
[Sidenote: Conträre Sexualempfindung.]
Als „+conträre Sexualempfindung+“ bezeichnet +Westphal+[566] „eine
angeborene Verkehrung der Geschlechtsempfindung mit dem Bewusstsein
der Krankhaftigkeit dieser Erscheinung“. So charakterisirt wurde die
letztere bisher nur bei mit anderweitiger angeborener neuro- oder
psychopathischer Constitution behafteten Individuen beobachtet. Dass
dieselbe auch als isolirte Erscheinung vorkommen könne, ist vollkommen
unerwiesen, sehr beachtenswerth aber die Thatsache, dass sie auch
ohne auffällige Intelligenzstörung bestehen kann. Sie wurde sowohl
bei weiblichen als bei männlichen Individuen, und zwar häufiger bei
letzteren, beobachtet, doch ist die Zahl der gut beobachteten Fälle
eine noch viel zu geringe, als dass ein erschöpfendes Urtheil über
diese eigenthümliche Anomalie des Geschlechtstriebes gestattet wäre.
Einen solchen Fall, ein weibliches Individuum betreffend, in welchem
sehr auffällige anderweitige Erscheinungen einer angeborenen
fehlerhaften Organisation sich ergaben, bringt +Westphal+ (l. c.).
Derselbe betrifft ein 35jähriges Fräulein, welches schon vom 8.
Lebensjahre an sich von einzelnen Mädchen „wie magnetisch angezogen
fühlte“, diesen förmlich die Cour machte und deren Genitalien zu
betasten suchte. In der Zeit vom 18. bis 23. Jahre schlief sie
durch 5 Wochen mit einer Cousine und trieb mit dieser ihr Wesen.
Diese Zeit nennt sie die glücklichste ihres Lebens. +Sich selbst
liess sie niemals berühren.+ Später onanirte sie, besonders kurz
vor und nach Eintritt der Periode, wobei sie sich ein geliebtes
Mädchen vorstellte. Wenn sie dies zu thun unterliess, will sie
stets einen widerwärtigen Geruch und Geschmack, wie von ihren
Genitalien aufsteigend, empfunden haben. In ihren wollüstigen
Träumen erschien sie sich selbst immer in der Situation eines
Mannes. Sie gesteht ungefragt ihre Neigung zum eigenen Geschlechte,
die ihr selbst schrecklich sei. Im Jahre 1863 fasste sie eine
Leidenschaft für ein junges schönes Mädchen, welches sie wiederholt
attaquirte und gerieth, als diese solche Zumuthungen entrüstet
zurückwies, schliesslich in solche Aufregung, dass sie in eine
Irrenanstalt gebracht werden musste. -- Der Vater der Kranken
endete durch +Selbstmord+. Der Kopf der Patientin ist klein, die
Gesichtshälften etwas asymmetrisch, an der Oberlippe findet sich
die Narbe von einer operirten +Hasenscharte+, der harte und weiche
+Gaumen+ sind +vollständig gespalten+. Aeusserer Habitus weiblich.
Geschlechtstheile normal.[567] Hymen intact, lässt kaum die Spitze
des kleinen Fingers eindringen. Die Kranke lernte in der Schule
schwer, war eigensinnig, reizbar und heftig, was immer ihrem Unglück
(dem Wolfsrachen) zugeschrieben und deshalb nachgesehen wurde. In
den letzten Jahren zeigte sie periodische Anfälle von Schwermuth,
denen Aufregungszustand folgte (Folie circulaire), ausserdem häufigen
Kopfschmerz und Schwindelanfälle.
Von grösster Bedeutung ist das Vorkommen einer sogenannten conträren
Sexualempfindung beim männlichen Geschlecht, da es nahe liegt, gewisse
Fälle von Päderastie mit einer solchen Anomalie des Geschlechtstriebes
in Verbindung zu bringen. Dass es eine Menge von Motiven gibt, die
vollkommen normale Menschen zur Päderastie führen können, und dass es
daher nicht angeht, in allen solchen Individuen pathologische Naturen
zu sehen, wurde bereits a. a. O. (pag. 171) ausgeführt, dies darf
jedoch nicht abhalten, daran zu denken, dass eine Neigung zu derartiger
abnormer geschlechtlicher Befriedigung, sowie überhaupt eine auffällige
geschlechtliche Zuneigung zu Individuen desselben Geschlechtes
als Theilerscheinung einer angeborenen fehlerhaften Organisation
thatsächlich bestehen kann, und dann ganz anders beurtheilt werden
muss, als gewöhnliche Päderastie.
[Sidenote: Perversitäten des Geschlechtstriebes.]
Einen einschlägigen, mit entschiedenem angeborenen Schwachsinn,
moralischer Verkehrtheit und periodisch auftretenden
Erregungszuständen (Folie circulaire) verbundenen Fall hat +Servaes+
(Arch. f. Psych. 1876, VI, 485) mitgetheilt: Ein 25jähriger Mann,
Franz E., wurde Abends auf der Strasse verhaftet, weil er an einen
Nachtwächter unzüchtige Zumuthungen stellte, und da man Spuren von
Geistesstörungen an ihm bemerkte, in die Beobachtungsabtheilung
der Irrenanstalt gebracht. Es fand sich männlicher, mässig starker
Habitus, aschblonde Haare, spärlicher blonder Bart, gesucht
weibliche Stimme, auffallend lüsterner Blick. Der Untersuchte gibt
sich sofort als Päderast zu erkennen und vertheidigt seine Gelüste
mit unverholenem Cynismus, so dass sich deutlich der Mangel jeder
Regulirung seiner Gedanken durch ein sittliches Gefühl kundgab. Die
Mutter geistig beschränkt, bigott, Erziehung vernachlässigt. Im 9.
Jahre päderastischer Missbrauch durch einen Hauslehrer, seitdem
fortgesetzte (passive) Päderastie, die er als den köstlichsten und
erhabensten aller Genüsse schildert. Niemals Neigung zu Frauen,
deren Umgang er perhorrescirt. F. ist ein äusserst beschränkter
Mensch, seine Schulkenntnisse im hohen Grade mangelhaft.
Selbstständige geistige Arbeit unmöglich. Läppisches Wesen,
unmotivirter Stimmungswechsel, hochgradige Gemüthlosigkeit, Hang
zur Lüge. Während des Aufenthaltes in der Irrenanstalt periodische
Exaltationszustände mit nachfolgender melancholischer Depression
(Folie circulaire), während ersterer grosse sexuelle Erregung, keine
anderen Gedanken als seine päderastischen Neigungen, die er mit
grosser Redseligkeit vertheidigt.
Von hohem Interesse sind die Selbstbekenntnisse einzelner
Päderasten, wie sie bei +Casper+-+Liman+ (l. c. pag. 183 und 195)
und bei +Tardieu+ (Attent. aux moeurs. 7me édit. 1878, pag. 210)
sich finden, weil aus diesen hervorgeht, dass ganz eigenthümliche
und uns vorläufig ganz unverständliche Perversitäten im Bereiche
des Geschlechtstriebes auch ohne auffallende Störungen der
Intelligenz bestehen können, obgleich sich bei näherem Studium
dieser „Selbstbekenntnisse“ meist unschwer erkennen lässt, dass
die eigenthümliche Geschlechtsempfindung keineswegs ein isolirtes
Symptom, sondern die Theilerscheinung eines originär oder erworben
psychopathischen Zustandes und in einem der Fälle (Cajus)
zweifellosen Schwachsinns gewesen ist. Sehr beachtenswerth sind die
Worte, welche +Tardieu+ der Mittheilung der „Selbstbekenntnisse“
des betreffenden Päderasten anschliesst: „Es gibt Fälle, in welchen
es schwer fällt, bei Päderasten eine wirkliche und krankhafte
Verkehrung der moralischen Gefühle zu negiren. Wenn man sieht,
wie tief Menschen von Erziehung und Stellung sich erniedrigen und
Individuen von empörendem Schmutz aufsuchen oder zulassen, so wird
man häufig versucht, zu glauben, dass diese Menschen in ihrem Fühlen
und in ihrem Verstande irre sind, und man kann nicht leicht daran
zweifeln, wenn man Thatsachen erwägt, wie sie einer der in der
Verfolgung von Päderasten geschicktesten und energischesten Beamten,
+C. Busserolles+, berichtet. Einer dieser Unglücklichen stieg von
einer hohen Stellung herab zum untersten Grad der Erniedrigung,
lockte schmutzige Kinder von der Gasse zu sich, vor welchen er sich
niederkniete und ihnen mit der tiefsten Leidenschaft die Füsse
küsste, bevor er sie missbrauchte, und einem anderen verursachte
es den höchsten Genuss, wenn er sich von einem Individuum der
verächtlichsten Sorte -- derbe Fusstritte auf den Hintern versetzen
liess! Wie kann man solche monströse Handlungen begreifen, wenn man
sie nicht auf Irrsinn bezieht?“
Neuere Beobachtungen bestätigen diese Anschauungen, und wir
verweisen in dieser Beziehung, sowie was andere Perversitäten des
Geschlechtstriebes anbelangt, insbesondere auf die monographischen
Bearbeitungen des Gegenstandes von +B. Tarnowsky+ („Die krankhaften
Erscheinungen des Geschlechtssinnes“, Berlin 1885) und insbesondere
auf das bekannte, bereits in mehreren Auflagen erschienene
Werk von +Krafft+-+Ebing+: „Psychopathia sexualis.“ Stuttgart.
Letzterer berichtet auch („Zur conträren Sexualempfindung in
klinisch-forensischer Beziehung.“ Allg. Zeitschr. f. Psych.
XXXVIII, pag. 211) über folgende Fälle: +Beobachtung 1.+ Graf Z.,
37 Jahre alt, hereditär belastet, Onanist, seit dem 13. Jahre an
Neurasthenia spinalis, in den letzten Jahren an elektromagnetischem
Verfolgungswahn leidend, fühlte sich seit dem 13. Jahre zu Männern
hingezogen, bei deren Annäherung und Berührung er bis zur Extase
wollüstig aufgeregt wird. Seit einem missglückten Beischlaf im 20.
Jahre verabscheut er geschlechtlichen Verkehr mit Weibern. Patient
ist weder unglücklich über seine verkehrte Geschlechtsempfindung,
noch vermag er sie als eine krankhafte zu erkennen. Er zeigt einen
männlichen Habitus, einen offenen, noblen Charakter und seine edle
Empfindung gibt sich auch in seinen Gedichten kund. Nur gewisse
Männer ziehen ihn an. Umarmung, Küssen genügt ihm und erzeugt
Samenergiessung. Päderastie verabscheut er. +Beobachtung 2.+ G.,
50 Jahre alt, Dr. phil., wurde von einem Soldaten angezeigt, der
sich ihm hingegeben hatte. Erblich veranlagt, cynisch, coquett, von
männlichem Habitus, Onanist seit der Kindheit. Er berichtet mit
grossem Behagen, dass er eine angeborene „conträre Sexualempfindung“
besitze! Schon mit 5 Jahren war es seine grösste Lust, sich als
Mädchen zu kleiden, einen Penis zu sehen, weshalb er um die
Anstandsorte herumlungerte. Neigung zu Weibern empfand er nie. Er
sucht seine verkehrte Geschlechtsrichtung philosophisch zu erklären.
Mit Entrüstung weist er die Zusammenwerfung der „Urninge“ mit
Päderasten zurück. Der Verkehr der ersteren sei nur gegenseitige
Onanie. G. macht den Eindruck eines originär verrückten Menschen.
+Beobachtung 3.+ Herr v. H., 30 Jahre alt, von einer neuropathischen
Mutter stammend, selbst seit der Kindheit neuropathisch mit auffällig
weiblichen Neigungen. Onanie wird geleugnet, ist aber wahrscheinlich.
Seit der Pubertät schlaffe, weibliche, träumerische Gedankenrichtung,
Neigung zu Tändeleien, kein Verständniss für ernste Angelegenheiten.
Will im 22. Jahre mit Weibern geschlechtlich verkehrt, aber
keine Befriedigung dabei gefunden haben. Dagegen empfindet er
geschlechtliche Zuneigung zu Männern. Das Aeussere erinnert
entschieden an weibliche Verhältnisse. Thorax und Becken weiblich,
Körper fettreich, zart. Genitalien zwar gut entwickelt, doch der
linke Hode im Leistencanal zurückgeblieben. Stimme hoch, spärlicher
Bartwuchs, weibliche Züge, geziertes Wesen, bringt stundenlang am
Toilettentisch zu. Neurasthenie, Mattigkeit, ziehende Schmerzen in
den Extremitäten, Proc. spinosi der Brustwirbel empfindlich. Patient
schrickt leicht zusammen und geräth bei Bewegung mit antipathischen
Leuten in Zustände eigenthümlicher Angst und Verwirrung.
Zwei analoge, wegen widernatürlicher Unzucht verurtheilte
Sträflinge betreffende Fälle werden von +L. Kirn+ („Ueber die
klinisch-forensische Bedeutung des perversen Sexualtriebes.“ Allg.
Zeitschr. f. Psych. XXXIX, pag. 216) mitgetheilt. Der erste Fall
betrifft einen 30jährigen Kattundrucker, ohne erbliche Anlage,
von weiblichem Aussehen, normalen Genitalien, verstrichenen
Afterfalten, eine weichliche poetische Natur. Als Kind mädchenhafte
Neigungen, Vorliebe für Romanlectüre, Demoralisirung durch Umgang
mit Fabriksarbeitern. Onanie seit dem 15. Jahre. Sah Männer immer
auffallend gern, doch wurde ihm erst im 16. Jahre der Grund zu dieser
Neigung klar, als ihn ein Herr auf’s Zimmer nahm. Seitdem wiederholt
geschlechtlicher Verkehr mit Männern, der meist nur in gegenseitiger
Onanie, selten in Päderastie bestand. Knüpfte absichtlich eine
Bekanntschaft mit einem Mädchen an, um sich von seinem räthselhaften
Triebe zu heilen, versuchte auch dreimal den Beischlaf ohne Erfolg,
wobei er Abscheu und Ekel empfand. Schriftliche Selbstbekenntnisse
liegen vor. In der Strafanstalt musterhaftes Betragen. Periodicität
in der Herrschaft seiner sexuellen Richtung liess sich nicht
feststellen, doch tritt dieselbe entschieden zeitweise mehr
hervor, sowie auch Zustände leichter Exaltation mit solchen von
Depression wechseln. -- Der zweite Fall betrifft einen 31jährigen
Naturforscher aus hochachtbarer Familie, welcher wiederholt Knaben
an sich gelockt und deren Hinterbacken, niemals aber die Genitalien
betastet hatte, wobei manchmal Samenergüsse eintraten. Päderastie
hat er niemals geübt, auch nicht Onanie. Mütterlicherseits erbliche
Veranlagung, im 6. Jahre schwere Hirnentzündung, an welche sich
in den zwei folgenden Jahren nervöse und psychische Störungen,
namentlich Gesichtsillusionen anschlossen. Auch litt er an Chorea
und im 14. Jahre an nervösen Erscheinungen: Stottern, Absterben der
Finger, Gefühl, als ob die Gegenstände seinen Auges zustrebten. Im
18. Jahre schwerer Typhus. War stets still und schüchtern, pflog
nie geschlechtlichen Umgang mit Frauen, dagegen litt er schon als
Student periodisch an lüsternem Begehren zur Betastung von Knaben,
das ihm schon damals zum Selbstmordversuch bewog. Auch nach der
Verhaftung Selbstmordversuch durch Stich in die Herzgegend, welcher
Hämatopneumothorax zur Folge hatte. Inculpat ist mittelgross,
von mässig kräftigem Körperbau, ohne Hemmungsbildungen. Schädel
symmetrisch; timides, schülerhaftes Benehmen, unsicherer Blick,
Stottern, sobald er in Verlegenheit kommt. Somit erbliche Belastung
und organischer Zwang. Trotzdem Verurtheilung.
[Sidenote: Anthropophagie und Necrophilie.]
In anderen Fällen äussert sich die Perversität des Geschlechtstriebes
darin, dass das betreffende Individuum statt im Coitus oder ausser in
diesem in Misshandlung oder Tödtung und selbst Zerfleischung seines
Opfers und sogar in Anthropophagie eine geschlechtliche Befriedigung
findet. Die Literatur enthält wahrhaft entsetzliche Beispiele dieser
Art, die fast alle Individuen betrafen, welche als originär psychisch
abnorme Menschen angesehen werden müssen und auch sonstige Zeichen
eines psychischen Degenerationszustandes darboten. Anderseits kommen
Fälle vor, in denen ein Individuum in an ihm vom Weibe, respective
Manne ausgeübten Misshandlungen (Flagellation etc.) sexuelle
Befriedigung findet. v. +Krafft+-+Ebing+, bezeichnet diese Form als
„Masochismus“.
Eine ausführliche Zusammenstellung solcher Fälle bringt insbesondere
+Krafft+-+Ebing+ („Psychopathia sexualis“), ferner +Lombroso+
(„Verzeni e Agnoletti.“ Roma 1873), ebenso +Tardieu+ (Attent. aux
moeurs, l. c. pag. 1882 u. s. f.).
Der von +Lombroso+ begutachtete Verzeni hatte in verschiedenen
Zwischenräumen vier Frauen nahezu erwürgt, ferner ein 14jähriges
Mädchen erstickt, die Leiche in ein Feld geschleppt, Gedärme
und Genitalien herausgerissen, die Schenkel zerbissen und das
Blut ausgesaugt und sogar ein Stück der rechten Wade, nachdem er
es ausgesaugt, mitgenommen, um es zu Hause zu rösten; endlich
eine 28jährige Frau in ähnlicher Weise überfallen, getödtet und
verstümmelt. Verzeni war 22 Jahre alt, hatte einen asymmetrischen
Schädel, enorm entwickelte Kieferknochen und schielte. Zwei
Onkel sind Cretins, ein dritter Mikrocephal. Der Vater leidet an
Hypochondria pellagrosa, ein Vetter an Hirncongestionen, ein anderer
ist Gewohnheitsdieb. In der Untersuchungshaft zeigte V. gewöhnliche
Intelligenz, war verschlossenen Wesens, cynisch und der Masturbation
ergeben. Er gestand nach längerem Leugnen sämmtliche Thaten.
Stuprirt habe er die Frauen nie, doch habe ihn schon das blosse
Würgen unbeschreiblich aufgeregt und Erection und Samenergiessung
verursacht, und das wollüstige Gefühl sei ein weit höheres gewesen,
als wenn er onanirte. Es sei ihm gleich gewesen, ob die Frauen
jung oder alt, schön oder hässlich waren. Gewöhnlich sei schon bei
dem Würgen die Ejaculation eingetreten und dann habe er die Frauen
am Leben gelassen, in den übrigen Fällen habe ihr Eintritt sich
verzögert und dann habe er seine Opfer zu Tode gewürgt.
In einem analogen Falle hatte ein 24jähriger Winzer (+Leger+) ein
12jähriges Mädchen genothzüchtigt, die Geschlechtstheile verstümmelt,
das Herz herausgerissen und verzehrt; in einem anderen, von +Maschka+
begutachteten, ein 55jähriger Mann ein altes Weib erwürgt, ihr die
Brüste und Genitalien abgeschnitten und zu Hause mit Knödeln und
Brühe gegessen. Beide diese Monstra waren von Haus aus verschlossene,
finstere und offenbar erblich belastete Individuen.
Aehnliche Verstümmelungen sind mit päderastischem Missbrauch auch
an Knaben vorgekommen (vide den schrecklichen Fall +Zastrow+,
+Casper+-+Liman+’s Handb. I, pag. 204, und den ebenso grässlichen,
von +Tardieu+ in den Attent. aux moeurs, pag. 272, mitgetheilten,
der einen 3½jährigen Knaben betraf), und +Lombroso+ (L’uomo
delinquente, pag. 200) berichtet sogar von einem gewissen
Artusio, der einen Knaben durch eine -- Bauchwunde geschlechtlich
missbrauchte, die er ihm zugefügt hatte!
Hierher gehört endlich auch der von +Tardieu+ (Étude sur la
folie. 1872, pag. 112, und Attent. aux moeurs. 1878, pag. 114)
publicirte Fall des Sergeanten +Bertrand+, der eine entschieden
originär und hereditär psychopathologische Natur und seit seinem 8.
Lebensjahre Onanist, anfangs Thiere tödtete und während er ihnen die
Gedärme ausriss, sich durch Masturbation befriedigte, später auf
verschiedenen Friedhöfen Frankreichs eine grosse Zahl von weiblichen
Leichen ausgrub und diese entweder geschlechtlich missbrauchte oder
mit ihnen ebenso verfuhr, wie er es früher mit Thierleichen gethan
hatte!
Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch manche Fälle von Sodomie
auf ähnliche psychopathologische Zustände, insbesondere auf eine
eigenthümliche Verkehrung des Geschlechtstriebes zu beziehen sind und
wahrscheinlich auch jene merkwürdigen Fälle, in denen der Anblick von
sterbenden oder in Schmerzen sich windenden Thieren mit wollüstigen
Empfindungen sich verband. Viel Aufsehen erregte im Jahre 1878 in
Wien der Process Steiner-Ballogh (Erwürgung einer Prostituirten)
auch dadurch, dass mehrere Prostituirte übereinstimmend eines Mannes
erwähnten, den sie als „Hendelmann“ bezeichneten, weil derselbe sich
vor den geschlechtlichen Acten durch Martern und Tödten von Hühnern,
Tauben, Gänsen und anderen Vögeln aufzuregen pflegte. Diese Thatsache
steht nicht vereinzelt da, denn auch +Lombroso+ (L’uomo delinquente,
pag. 201) berichtet von 2 Individuen, die Ejaculationen bekamen,
wenn sie Hühner und Tauben erdrosselten oder schlachteten, und von
einem Dritten, einem ausgezeichneten Dichter, der beim Anblick des
Zerlegens eines geschlachteten Kalbes und selbst beim Erblicken des
aufgehängtes blutigen Fleisches in geschlechtliche Aufregung gerieth.
[Sidenote: Exhibitionisten.]
Mit den angeführten sind die bei originär psychopathischen
Individuen möglichen perversen Aeusserungen des Geschlechtstriebes
noch keineswegs erschöpft. Auch noch andere Erscheinungsformen
kommen vor. In einem von +Arndt+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. N. F. XVII, pag. 49) beschriebenen Falle hatte ein 32jähriger
Student wiederholt jungen Mädchen auf offener Strasse seine
heraushängenden Genitalien gezeigt, indem er die Schösse seines
Rockes auseinanderschlug. In einzelnen Fällen hatte er die Mädchen
verfolgt, sich an sie herangedrängt und ohne ein Wort zu sprechen
-- sie mit seinem Urine beschmutzt. Mutter und Vater des jungen
Mannes sind nervös, ein Bruder leidet an Epilepsie. Der Untersuchte
selbst war seit der frühesten Jugend nervös und der Onanie ergeben,
litt häufig an Ohnmachten und kataleptischen Zuständen, klagte
während der Beobachtung über zeitweise melancholische Verstimmung,
selbstquälerische Gedanken und perverse Antriebe, zu denen er
selbst kein Motiv finden könne. -- Analoge Unzuchtsacte scheinen in
grossen Städten keine sehr seltene Erscheinung zu sein. +Laségue+
nennt solche Individuen „Exhibitionisten“ und hat sie (Union
médicale. 1877, Mai) ebenso wie +Langier+ (Annal. d’hyg. publ.
1878, Nr. 106, pag. 164) zum Gegenstande eigener Abhandlungen
gemacht.[568] Es wäre ein grosser Irrthum, alle derartigen Fälle
auf psychopathische, insbesondere aber auf originär psychopathische
Zustände zu beziehen, aber ein ebenso grosser Fehler, in solchen
Acten nur den Ausdruck wohlbewusster unlauterer Absichten zu
erblicken; es zeigen vielmehr gerade die „Exhibitionisten“, wie ein
und dieselbe Handlung einmal als Symptom einer originär fehlerhaften
psychopathischen Anlage, ein andermal als Symptom einer erworbenen
Psychose (maniakische Exaltation, paralytisches Irrsein, erworbene
psychische Schwächezustände) vorkommen[569], und ein drittesmal
einen im vollkommen zurechnungsfähigen Zustande begangenen Act
darstellen kann, dass somit nicht die Handlung für sich allein, so
auffällig sie sein mag, den Schluss auf geistige Störung begründet,
sondern nur die Erwägung ihrer psychischen Genese. So sind auch
jene hier und da beobachteten Fälle der „Zopfabschneider“[570],
„Mädchenstecher“ u. dergl. aufzufassen. In vielen dieser Fälle
mag es sich blos um muthwillige oder boshafte Streiche gehandelt
haben, wie +Casper+-+Liman+ (l. c. I, 766) meinen, in einzelnen aber
lag zweifellos eine geistige Störung, insbesondere ein originär
psychopathischer Zustand der betreffenden Handlung zu Grunde, wie
z. B. bei dem von +Roser+ (Annal. der Staatsarzneikunde. 1842, VI.
Jahrg.; Schmidt’s Jahrb. 1843, XXXVII, pag. 94) mitgetheilten Fall
des Innsbrucker „Mädchenstechers“, der zu verschiedenen Zeiten 7
Mädchen mit einem Messer in die Schamgegend gestochen hatte, weil,
wie es im Gutachten heisst: „sein periodisch (sic!) bis zur Wuth
gesteigerter Geschlechtstrieb darin eine unnatürliche Befriedigung
fand“. Es war dies ein von Haus aus anormales Individuum, das, seit
dem 10. Jahre der Onanie ergeben, wiederholt unsittliche Acte mit
unreifen Mädchen begangen und sogar Sodomie getrieben hatte.
[Sidenote: Impulsives Irrsein.]
[Sidenote: Monomanien.]
Aus mehreren der bisher angeführten Fälle, insbesondere aus den
letzteren, lassen sich bereits zwei weitere, wenn auch nicht absolut
constante und charakteristische Eigenthümlichkeiten im psychischen
Verhalten hereditär belasteter Individuen erkennen: das Instinctive,
Triebartige mancher ihrer Handlungen und die periodische Wiederkehr
der Antriebe zu diesen. Letztere sind bei Individuen der genannten
Kategorie mitunter so auffällig und scheinbar so isolirt dastehend,
dass von vielen Psychiatern ein +impulsives+ Irrsein als eigene
Aeusserungsform angeborener psychischer Degeneration aufgestellt
wird. Man spricht von diesem insbesondere dann, wenn das Individuum
Handlungen, z. B. Brandlegungen, Diebstähle, unzüchtige Acte,
Selbstmorde oder gar Morde begeht, die mit seinem sonstigen Fühlen
und Denken ganz contrastiren und zu welchen dasselbe nicht durch
äussere begreifliche Motive, aber auch nicht durch Wahnvorstellungen
oder überwältigt durch melancholische oder maniakische Verstimmungen,
sondern durch unwiderstehliche und ihm selbst unverständliche Antriebe
gezwungen wird. Das Vorkommen solcher Impulse ist auch den älteren
Psychiatern nicht entgangen und hat in der Aufstellung einer Mania
sine delirio, insbesondere aber in den sogenannten „Monomanien“
ihren Ausdruck gefunden, indem man das Vorkommen einer isolirten
Mordmonomanie, Kleptomanie, Pyromanie u. s. w. annahm, eine Annahme,
gegen welche von gerichtsärztlicher Seite sowohl (+Casper+-+Liman+),
als noch mehr von juristischer Seite gekämpft und selbst entschieden
protestirt wurde, was bei dem Missbrauch, welcher mit der Annahme
solcher Monomanien getrieben werden konnte und thatsächlich getrieben
wurde, wohl begreiflich erscheint. Heutzutage ist das Vorkommen
solcher impulsiver Antriebe und die Möglichkeit der Ueberwältigung des
Individuums durch diese zweifellos constatirt, und von den Psychiatern
(+Maudsley+, +Krafft+-+Ebing+, +Schüle+, +Legrand du Saulle+) allgemein
anerkannt, und es ist daher auch in der gerichtlichen Psychopathologie
mit dieser Thatsache zu rechnen; doch wird man festhalten, dass
solche impulsive Antriebe niemals als vollkommen isolirte krankhafte
Erscheinungen auftreten, so sehr dieses mitunter den Anschein hat,
sondern nur als Symptom einer auch anderweitig sich kundgebenden
Erkrankung, insbesondere einer originär psychopathischen Constitution
gemeinschaftlich mit anderen, mehr weniger deutlich hervortretenden
Eigenthümlichkeiten der letzteren, deren Existenz nachzuweisen die
Aufgabe des Gerichtsarztes sein wird. Der Antrieb kann ganz plötzlich
auftreten und auch sofort in die betreffende Handlung übergehen,
oder der Antrieb besteht längere Zeit, bis er sich den Uebergang in
die That erzwingt. Im ersten Falle gehen fast ausnahmslos gewisse
Symptome voraus, die den Anfall gewissermassen einleiten, namentlich
Veränderung der Stimmung, unbestimmte Angst, grosse Reizbarkeit,
Kopfschmerz oder Schwindel. Während der That ist der Betreffende der
Handlung, die er begeht, entweder vollkommen sich bewusst, oder nur
momentan verwirrt, und weiss sich auch des Geschehenen zu erinnern,
obgleich er über die Ursache derselben sich selbst keine Rechenschaft
zu geben vermag. Durch den Ausfall der Bewusstseinsstörung und der
Amnesie unterscheidet sich das „Impulsive Irrsein“ von analogen
impulsiven Acten, wie sie bei Epileptikern vorkommen, mit denen
dasselbe auch wegen des periodischen Auftretens viele Aehnlichkeit
hat[571], ebenso auch von den mitunter ganz plötzlichen Gewaltthaten,
wie sie im Raptus melancholicus durch den melancholischen Angstanfall
zu Stande kommen. Im zweiten Falle besteht der Antrieb durch einige,
meist nur kurze Zeit, anfangs vielleicht nur als unbestimmter Drang,
später in bestimmter Richtung, und der Kranke ist sich nicht blos
desselben bewusst, sondern kann ihn auch noch beherrschen, bis sich
derselbe den Uebergang in die That erzwingt. Die Aehnlichkeit mit
den „Zwangsvorstellungen“ bei Melancholischen und den aus diesen
hervorgehenden Acten ist eine auffällige und eine Unterscheidung
häufig schwer, mitunter unmöglich.[572] Der Nachweis der originär
psychopathischen Constitution, sowie die periodische Wiederkehr solcher
Impulse muss für die Differentialdiagnose herangezogen werden.
[Sidenote: Fälle von impulsivem Irrsein.]
Zu den Fällen +erster+ Kategorie gehört der merkwürdige Fall
+Nichol+’s (+Krafft+-+Ebing+, l. c. 174). Ein gewisser S. überfiel
eines Morgens ein Mädchen auf der Strasse, riss ihr einen Schuh vom
Fusse, entfloh und wurde unmittelbar darauf verhaftet und wegen
Strassenraub angeklagt. Die That ist ihm erinnerlich, doch weiss er
kein Motiv hierfür anzugeben. Es kam hervor, dass er bereits mehrmals
solche Attentate ausgeübt hatte, und dass er alle 3-4 Monate von
einem solchen Gelüste nach Schuhen ergriffen wurde. Einmal hatte
er sogar seiner eigenen Schwester einen Schuh aus dem Schlafzimmer
entwendet. S. war bei der Verhaftung stark aufgeregt, aber keineswegs
geistesgestört. Sein moralisches Gebahren und seine Lebensweise waren
untadelhaft. Seine Intelligenz gewöhnlich. Zahlreiche Irrsinnsfälle
in der Ascendenz. Wiederholte Hirnerschütterung. Seit dem 14. Jahre
Anfälle von Kopfweh mit jenen sonderbaren Antrieben. S. wurde
freigesprochen und beging bald darauf einen ähnlichen Diebstahl -- an
seiner eigenen Frau.
Ein analoger Fall wurde vor einiger Zeit (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1878, XXVIII, pag. 61) von +Passow+ mitgetheilt, der
einen 45jährigen Mann betraf, der seit längerer Zeit eine grosse
Menge Diebstähle begangen hatte, aber niemals etwas Anderes als
Damenwäsche gestohlen und bei sich behalten hatte, so zwar, dass man
schliesslich an 300 Stück diverser Damenhemden, Damenbeinkleider,
Strumpfbänder, Corsette, Damenstrümpfe u. dergl. bei ihm fand. Eine
erbliche Anlage zu Geistesstörungen liess sich nicht erweisen, doch
war der Untersuchte seit frühester Jugend wunderlich und sonderbar in
seinem Benehmen. Eigenthümlich ist in beiden Fällen die zweifellos
sexuelle Färbung der betreffenden periodisch wiederkehrenden Antriebe.
Ein Beispiel der +zweiten+ Kategorie bringt u. A. +Legrand du Saulle+
(Annal. d’hygiène publ. 1875, Nr. 88, pag. 427). Ein gewisser Th.,
24 Jahre alt, verliess am 11. Juni 1874 ohne einen Grund seinen
Dienstgeber, irrte durch die Strassen, kaufte ein Taschenmesser und
traf ein öffentliches Mädchen, mit welchem er die Nacht zubrachte.
Am anderen Morgen, nach dem gemeinschaftlich genossenen Frühstück,
zog er das Messer aus der Tasche, prüfte dasselbe und erwog, ob er
nicht das Mädchen erstechen solle: da er jedoch fand, dass man seine
That leicht als behufs Diebstahl ausgeführt nehmen könnte, und,
wie er sich ausdrückte, nicht für einen elenden Mörder (égorgeur)
Prostituirter genommen werden wollte, unterliess er dieselbe,
streifte hierauf, das offene Messer in der Tasche haltend, in
den Strassen herum, entschlossen, den ersten besten Passanten zu
erstechen, ohne jedoch seinen Entschluss auszuführen. Mittags trat
er in ein Restaurant, forderte ein Déjeuner und schrieb, während
dieses bereitet wurde, nieder, dass er ein Verbrechen begehen müsse
und nicht mehr widerstehen könne, dass er aber nicht wisse, ob er die
Dame des Comptoirs oder die Kellnerin ermorden solle. Letztere stach
er in der That nieder, als sie das Essen brachte. Sofort arretirt,
betrug er sich ruhig und blieb es auch in der Untersuchungshaft, ohne
seine That zu leugnen oder zu beschönigen. -- Th. ist ein uneheliches
Kind, wurde im Gefängniss St. Lazare geboren, seine Mutter war
damals 15, sein Vater 63 Jahre alt, Letzterer war reich, geizig
und gewaltthätig. Th. hatte ein sehr bewegtes Vorleben und hatte
es mit verschiedenen Geschäften versucht. Seit dem 14. Lebensjahre
wiederholte Ohnmachtsanfälle, später häufiger Schwindel. Seit einiger
Zeit periodische Antriebe, Jemanden zu ermorden, gleichzeitig
mit Unruhe und grosser Reizbarkeit. -- +Legrand du Saulle+ und
+Falret+ hielten den Fall für larvirte Epilepsie, Laségue, der
dritte Sachverständige, sprach sich namentlich mit Rücksicht auf das
vollkommen erhaltene Bewusstsein für „impulsives Irrsein“ aus und
gegen Epilepsie.
Bekannt ist der von +Marc+ mitgetheilte Fall des Chemikers und
Dichters R., welcher selbst die Irrenanstalt aufsuchte, weil er durch
den Trieb, Jemand zu morden, in Angst versetzt wurde, so dass er sich
selbst vor den Altären niederwarf und Befreiung von dem entsetzlichen
Triebe erflehte. Er beruhigte sich erst, nachdem man ihm die Hände
gebunden hatte. Später machte er dennoch den Versuch, einen Freund zu
ermorden und starb selbst im maniakischen Anfalle.
[Sidenote: Periodisches Irrsein.]
[Sidenote: Circuläres Irrsein.]
Eine weitere Eigenthümlichkeit der originär psychopathischen Zustände
besteht in dem +periodischen+ Auftreten gewisser anomaler Erscheinungen
oder wenigstens in der Geneigtheit zu periodischen Exacerbationen
gewisser mehr habitueller Zustände. Solche „Paroxysmen“ können spontan
oder in Folge verschiedener Gelegenheitsursachen (von Affecten,
Excessen, besonders in Alkoholicis, im Gefolge von sexualen Zuständen)
auftreten, und besonders im ersten Falle an gewisse epileptiforme
Zufälle sich anschliessen, was nicht überraschen kann, da Epilepsie
und epileptoide Erscheinungen ebenfalls als Folge einer angeborenen
und namentlich hereditär überkommenen fehlerhaften Constitution der
centralen Nervenapparate bestehen und, wie wir hören werden, mit
verschiedenen psychischen Störungen sich combiniren können. Diese
Exacerbationen können in der Form der genuinen Melancholie oder Manie
verlaufen oder in der Art, dass Manie und Melancholie unmittelbar
aufeinander folgen, sich zu einem Anfalle verbinden, dann in ein
Intervall übergehen, um nach kürzerer oder längerer Zeit abermals und
in gleicher Reihenfolge aufzutreten. Diese Form des Irrseins wird als
+periodisches Irrsein+ und die letztere Erscheinungsform insbesondere
als +circuläres Irrsein+ („Folie circulaire“, +Falret+) bezeichnet.
Beide Erscheinungsformen scheinen überhaupt nur bei originär
bestehender psychischer Degeneration vorzukommen. Die periodische
Melancholie oder Manie können Wochen bis Monate dauern, ebenso
die aus Manie und consecutiver Melancholie sich zusammensetzenden
Paroxysmen des circulären Irrseins. Die Dauer des Intervalls ist eine
verschiedene, selbst Monate lange, in einem und demselben Falle aber
eine ziemlich gleiche, beinahe gesetzmässige. Die Paroxysmen treten
in der Regel ohne auffällige Prodromalsymptome ein und bestehen
meist nur in den entsprechenden krankhaften Verstimmungen und den
mit diesen einhergehenden Veränderungen des Charakters, ferner
in impulsiven Antrieben zu verschiedenen Handlungen, während die
Vorstellungsthätigkeit allerdings im Sinne der betreffenden Verstimmung
formell gestört, aber inhaltlich meist wenig alterirt erscheint und
insbesondere Wahnvorstellungen seltener aufzutreten pflegen als bei
den analogen genuinen Formen des Irrseins. Diese Thatsache, sowie der
Umstand, dass namentlich die periodische Manie sich nur in der Form
der maniakischen Exaltation (vide diese) mit perversen Trieben und
unsittlichen Neigungen zeigen kann, verleiht dem periodischen Irrsein
ein besonderes forensisches Interesse, einestheils weil während dieser
Paroxysmen das Individuum leicht Thaten begehen kann, die es mit dem
Strafgesetz in Collision bringen, andererseits weil die maniakische
Aufregung mit ihren Consequenzen als Psychopathie verkannt oder
anderweitig gedeutet werden kann.
Im Allgemeinen lässt sich bei allen Individuen der hier im Auge
gehaltenen Kategorien, selbst wenn sie noch kein auffallendes, im
strengen Sinne pathologisches Verhalten des Geistes darbieten,
eine ungleich grössere Labilität des psychischen Gleichgewichtes
constatiren, vermöge dessen verhältnissmässig geringe Anlässe genügen,
um letzteres zu stören, beziehungsweise Geistesstörung herbeizuführen.
Daher die Geneigtheit (Disposition) solcher Individuen zu periodischen,
aber auch zu dauernden Geisteskrankheiten, daher aber auch eine
beachtenswerthe Eigenschaft derselben: die Intoleranz gegen Alkoholica,
in Folge welcher einerseits schon geringe Quantitäten alkoholischer
Getränke Rauschzustände veranlassen, andererseits letztere einen
pathologischen Charakter annehmen können, worauf wir bei Besprechung
der durch Alkohol bewirkten psychischen Störungen noch zurückkommen
wollen.
C. Die erworbenen Geistesstörungen.
Wir verstehen darunter die psychopathischen Zustände, von denen der
Mensch nach bis dahin normaler psychischer Entwicklung, insbesondere
nach bereits erlangter psychischer Reife, befallen werden kann, und
zwar einestheils die +Geisteskrankheiten+ katexochen, die sich in
mehr weniger dauernden Krankheitsbildern kundgeben, andererseits
die +transitorischen Bewusstseinsstörungen+, wie sie theils durch
physiologische Zustände (Traum, Schlaftrunkenheit), theils durch
toxische Einflüsse (Rausch) oder durch fieberhafte Erkrankungen
veranlasst werden. Bei den Geisteskrankheiten katexochen erscheint es
wieder opportun, die einfachen Geisteskrankheiten von jenen zu trennen,
die mit anderweitigen Neuropathien sich compliciren und dadurch
mitunter ein ganz eigenthümliches Gepräge erhalten.
1. Die einfachen Geisteskrankheiten.
[Sidenote: Primäre und secundäre Geisteskrankheiten.]
Man unterscheidet primäre und secundäre Formen. Unter +primären+
Geisteskrankheiten versteht man im Allgemeinen diejenigen Formen
psychischer Störungen, die sich unmittelbar aus psychischer
Gesundheit entwickelt haben, unter +secundären+ aber solche, die
aus den primären hervorgegangen sind und daher die Folgezustände
der letzteren darstellen. Die primären Geisteskrankheiten sind
dadurch charakterisirt, dass sich die Erkrankung vorzugsweise
durch ein anormales Verhalten der Stimmung äussert, während
intellectuelle Störungen, insbesondere fixirte Wahnvorstellungen
oder Zeichen von Schwäche des Intellects, nicht, wenigstens nicht
im auffallenden Grade, bestehen, und man unterscheidet dann, je
nachdem die krankhafte Verstimmung sich gestaltet, die psychischen
Depressions- und die psychischen Exaltationszustände, erstere
unter der Bezeichnung +Melancholie+, letztere unter +Manie+
zusammenfassend. Dagegen kennzeichnen sich die +secundären+
Geisteskrankheiten durch Störungen des Intellects, welche entweder
in fixirten Wahnvorstellungen bestehen, die, je nach der primären
Form, aus welcher sie hervorgegangen, einen deprimirten oder
exaltirten Charakter besitzen, oder in allgemein psychischer Schwäche
verschiedenen Grades sich äussern. Erstere Zustände bezeichnet man
als +Wahnsinn+, depressiven und exaltirten Wahnsinn unterscheidend,
letztere als erworbene psychische Schwächezustände, als +erworbenen
Blödsinn+.
Diese bisher ziemlich allgemein festgehaltene Eintheilung der
Psychosen in primäre und secundäre, insbesondere aber die erwähnte
allgemeine Charakterisirung derselben hat, abgesehen davon, dass
sie den primär erworbenen Blödsinn ziemlich unberücksichtigt liess,
in der neueren Zeit durch die von zahlreichen Psychiatern (+Snell+,
+Morel+, +Sander+, +Westphal+, +Meynert+, +Schüle+ u. A.) gewonnene
Erkenntniss eine wesentliche Aenderung dadurch erfahren, dass bei
einer grossen Zahl der das Bild des Wahnsinns (insbesondere des
Verfolgungswahns) oder der sogenannten partiellen Verrücktheit
bietenden Fälle, welche bisher als secundäre Formen im obigen Sinne
erklärt wurden, die betreffenden Wahnvorstellungen keineswegs
secundär, das heisst erst aus melancholischen oder maniakischen
Zuständen sich bilden, sondern direct in Folge unmittelbarer
Umwandlung von Vorstellungen oder Sinnesperceptionen zu fixirten
Wahnvorstellungen entstehen, durch welche dann erst nachträglich die
dem Inhalte des Wahnes entsprechende Verstimmung erzeugt wird, wobei
die sonstige psychische Mechanik erhalten bleibt. Diese Psychosen
werden als +primäre Verrücktheit+, Paranoia, bezeichnet und die
ihnen ähnlichen secundären Wahnsinnsformen bereits zu den erworbenen
psychischen Schwächezuständen gerechnet. Letztere unterscheiden
sich von ersterer ausser durch die Genese dadurch, dass bei ihnen
auch ausserhalb der betreffenden Wahnvorstellungen mehr weniger
intellectuelle Schwäche besteht, insbesondere aber dadurch, dass sie
in der Regel in exquisiten Blödsinn übergehen, während die primäre
Verrücktheit, respective die sie constituirende Wahnvorstellung, das
ganze Leben bei sonst nicht auffallend gestörter Intelligenz bestehen
kann.
Diese veränderte Auffassung einzelner, und zwar häufig vorkommender
Psychosen ist natürlich, sowie für das Verständniss der erworbenen
Geistesstörungen überhaupt, so insbesondere auch für die
gerichtsärztliche Beurtheilung von Wichtigkeit; da jedoch die
primären und secundären intellectuellen Störungen gemeinschaftlich
behandelt werden können, wollen wir aus Opportunitätsgründen uns an
das alte Schema halten und nach diesem wenigstens die wichtigsten
Erscheinungsformen der erworbenen Geisteskrankheit besprechen, wobei
wir bemerken, dass vom Gerichtsarzte keineswegs verlangt wird, dass
er, wie dies leider in civilrechtlichen Fällen noch das österr.
bürgerl. Gesetzbuch (§§. 21, 48, 270, 566) fordert, eine bestimmte
Form der Geistesstörung herausbringe, sondern im Sinne des §. 2a
und b des österr., des §. 51 des deutschen St.-G. und des §. 56 des
österr. St.-G.-Entwurfes, sowie entsprechend den Bestimmungen der
Strafprocessordnung (österr. §. 134) constatire, ob überhaupt eine
krankhafte Störung, beziehungsweise Hemmung der Geistesthätigkeit
vorliegt und ob durch dieselbe das Individuum verhindert wurde,
seinen Willen frei zu bestimmen oder das Strafbare seiner Handlung
einzusehen.
_Die Melancholie und der melancholische Wahnsinn._
Erschwerter Ablauf (Hemmung), sowie schmerzliches Empfinden der
psychischen Vorgänge und die damit verbundene traurige, peinliche
Verstimmung charakterisiren die Melancholie.
Eine äusserlich nicht motivirte traurige Verstimmung bildet das erste
objectiv erkennbare Symptom der Erkrankung, und dem entsprechend zeigt
sich das Verhalten des Individuums in mehr weniger auffälliger Weise
verändert. Für den Kranken beginnt das Leiden mit vagen Gefühlen von
Druck, Beklemmung und unbestimmtem Seelenschmerz, über die er sich
keine Rechenschaft zu geben im Stande ist. Der Kranke fühlt, dass
etwas mit ihm vorgeht, und wird desto mehr geängstigt, je mehr er sich
der mit ihm geschehenden Veränderung, insbesondere der unheimlichen
Veränderung, seines Fühlens, bewusst wird und je weniger er sich
dieselbe zu erklären vermag. Im weiteren Verlaufe beherrschen
peinliche Gefühle das Bewusstsein immer mehr, und da gleichzeitig die
psychische Hyperästhesie zunimmt, erscheint dem Kranken die Aussenwelt
in ganz verändertem trüben Lichte, und weil jeder Eindruck, selbst der
früher angenehm gewesene, schmerzlich empfunden wird und überhaupt jede
psychische Arbeit peinlich erscheint, ist es begreiflich, wenn der
Kranke sich von der Gesellschaft und selbst von seiner eigenen Familie
zurückzieht, die Berührung mit der Aussenwelt möglichst vermeidet, die
Einsamkeit aufsucht, ein verschlossenes Wesen annimmt u. s. w., ebenso
wenn er auf äussere, besonders an und für sich unangenehme Eindrücke,
seiner Verstimmung entsprechend, d. h. unverhältnissmässig heftig
reagirt.
Der peinliche Seelenzustand wird immer drückender und überwältigender,
die Unlust und Traurigkeit steigert sich zu Affecten der Furcht und des
Schreckens, die den geängstigten Kranken schliesslich zur Verzweiflung
treiben oder zu einer solchen, mitunter plötzlichen Steigerung des
Angstgefühles (besonders in der Form der Präcordialangst) führen, dass
dadurch das Bewusstsein vollkommen aufgehoben wird und der Affect
in sinnlosem Wüthen, dem sogenannten „Raptus melancholicus“, sich
entladet. In anderen Fällen macht sich auch in motorischer Beziehung
eine Hemmung, ein gewisses Gebundensein bemerkbar, welches sich durch
Passivität und Energielähmung äussert. Die Willensschwäche kann bis zur
vollkommenen Willenslähmung sich steigern (M. attonita) oder es können
die Willensäusserungen einen ganz einseitigen, insbesondere einen gegen
sich selbst oder Andere feindseligen Charakter annehmen.
Die Vorstellungsthätigkeit ist in den ersten Stadien blos formal
gestört, insoferne als der Ablauf der Vorstellungen mehr weniger
gehemmt ist. Diese Hemmung, welche der Kranke fühlt, wirkt für sich
deprimirend auf das Gemüth des letzteren, andererseits bewirkt sie
im Vereine mit der Verstimmung des Kranken, indem dieser nur mit
Vorstellungen sich beschäftigt, die auf seinen Zustand sich beziehen
und meist durch diesen hervorgerufen werden, eine gewisse Einseitigkeit
der Vorstellungsthätigkeit, die bis zur Monotonie sich steigern kann.
Mit dieser blos formalen Störung des Vorstellens kann der Zustand lange
bestehen und selbst ablaufen. Wahnvorstellungen gehören meist nur den
späteren Stadien der Erkrankung an.
[Sidenote: Zwangs- und Wahnvorstellungen.]
Einen Uebergang zu diesen bilden die sogenannten Zwangsvorstellungen,
d. h. entweder aus hypochondrischen Sensationen oder durch äussere
Veranlassungen, z. B. Hinrichtungen, Selbstmorde, Erblicken von Waffen
u. dgl. entstandene Vorstellungen mit peinlichem, meist provocirendem
Inhalt, die sich immer wieder aufdrängen und schliesslich so
fixiren, dass der Kranke ihrer nicht mehr los werden kann. Aehnliche
Vorstellungen können zwar auch bei Gesunden auftreten, indem bei
manchen Gelegenheiten, z. B. am Rande eines Abgrundes, beim Erblicken
von Gift, Ergreifen geladener oder anderer Waffen unwillkürlich der
Gedanke an Selbstmord oder Mord im Bewusstsein aufsteigt. Der Gesunde
kennt solche Vorstellungen und weiss sie zu corrigiren, bemerkt jedoch
nicht selten, dass dieselben nicht immer so rasch verschwinden, wie
sie auftauchten, sondern dass sie nicht selten länger haften, ja dass
man mitunter einige Mühe hat, solcher Ideen wieder los zu werden. Man
wird es dann begreiflich finden, dass eine solche Vorstellung in einem
kranken Gemüth sich fixiren und bei der bestehenden Einseitigkeit des
Vorstellens zur That werden kann.
Eigentliche Wahnvorstellungen bilden sich meistens entweder aus
der pathologischen Verstimmung selbst und den aus dieser sich
entwickelnden Affecten oder aus Erklärungsversuchen des Kranken, oder
aus Sinnestäuschungen. Meist wirken mehrere oder alle diese Momente
zusammen.
[Sidenote: Hallucinationen und Illusionen.]
In ersterer Beziehung kann die deprimirte Gemüthsstimmung für
sich allein einen Kleinheitswahn hervorrufen, z. B. den Wahn,
verloren oder verdammt zu sein. Die peinlichen Erwartungsaffecte
(Bangigkeit, Furcht, Angst) veranlassen den Wahn drohenden Unglückes,
bevorstehender Verluste an Geld oder des Amtes, den Wahn, die Familie
nicht mehr ernähren zu können oder Hungers sterben zu müssen u. s. w.,
wobei häufig die thatsächlich bestehende und vom Kranken gefühlte
Unfähigkeit zum Arbeiten und die Energielähmung eine Rolle spielt,
indem sie dem Inhalt der Wahnvorstellung die entsprechende Färbung
ertheilt. Da der Kranke den eigentlichen Grund der mit ihm
vorgegangenen Veränderung, nämlich die Hirnerkrankung, nicht zu
erkennen vermag, sucht er sich dieselbe anderweitig zu erklären.
Er bringt dann mitunter die sonderbarsten äusseren oder inneren
Einflüsse, respective Zustände, in ursächliche Verbindung mit seinem
Leiden. Die betreffenden Vorstellungen haben, der pathologischen
Verstimmung entsprechend, stets einen peinlichen Inhalt, entstehen
mitunter plötzlich und nehmen zunächst den Charakter von
Zwangsvorstellungen an, die der Kranke anfangs als unmotivirt noch
zu erkennen vermag, später aber nicht mehr zu corrigiren im Stande
ist und für reell nimmt. Auf diese Weise entwickelt sich der Wahn,
schwere Verbrechen oder grosse Sünden begangen zu haben und analoge
Wahnvorstellungen. Häufig lassen sich die Wahnvorstellungen auf
Sinnestäuschungen zurückführen, denen Melancholische sehr gewöhnlich
unterworfen sind. Es sind dies entweder Sinnestäuschungen im engeren
Sinne, +Hallucinationen+, indem der betreffenden Wahrnehmung kein
äusserer Sinneseindruck entspricht, sondern erstere im Gehirne selbst
entstanden ist, oder +Illusionen+, indem äussere Sinneseindrücke
ganz verfälscht wahrgenommen und gedeutet werden. Am häufigsten
sind Sinnestäuschungen des Gesichtes (Gespenster, Dämone und
Gestalten verschiedener Art, drohende oder höhnische Geberden etc.)
und des Gehörs (Stimmen), nicht selten solche des Geschmackes
und Geruches. Immer sind es unangenehme Wahrnehmungen und ihnen
entsprechend gestaltet sich der Inhalt der aus diesen entstehenden
Wahnvorstellungen.
[Sidenote: Verfolgungswahn.]
Wenn sich die auf eine oder die andere Weise entstandenen
Wahnvorstellungen im Bewusstsein fixiren und nachdem die allgemein
melancholische Verstimmung sich beruhigt, nur in ihrem Sinne das
Bewusstsein verfälschen, während sonst normale oder wenigstens
nicht auffallend gestörte Intelligenz besteht, so lässt sich der
Zustand als +melancholischer Wahnsinn+ bezeichnen. Entsprechend der
pathologischen Verstimmung, aus welcher sie sich entwickelten, sind
die betreffenden Wahnvorstellungen sämmtlich peinlichen, unangenehmen,
finsteren Charakters. Der Hauptrepräsentant dieser Wahnsinnsform ist
der +Verfolgungswahn+, das ist der Wahn der Bedrohung oder Schädigung
der eigenen Individualität und ihrer Interessen durch Personen oder
anderweitige Mächte. Nachstellung und Lebensdrohung durch eingebildete
Feinde überhaupt oder durch bestimmte Personen spielt die Hauptrolle,
häufig ist ferner der Vergiftungswahn, sowie der Wahn polizeilicher
Beachtung und Verfolgung, dann der Wahn ehelicher Untreue, der
Wahn der Beeinflussung durch elektromagnetische Kräfte (besonders
häufig bei Onanisten) oder durch Dämone, welche Formen fast alle mit
entsprechenden Hallucinationen und Illusionen einhergehen, welche der
Betreffende ebensowenig zu corrigiren im Stande ist, wie die aus ihnen
entstehenden Vorstellungen. Die betreffenden Ideen und die ihnen zu
Grunde liegenden Sinnestäuschungen bestehen häufig in ganz latenter
Weise und treten nur gelegentlich zu Tage. Der Kranke kann sie lange
verbergen und die aus ihnen entspringenden Impulse beherrschen, so dass
er desto mehr für einen geistig Gesunden gelten kann, je weniger seine
sonstige Intelligenz von der Norm abweicht, was insbesondere bei jenen
Formen der Fall, die gegenwärtig als primäre partielle Verrücktheit
bezeichnet werden, bei welchen, wie pag. 917 erwähnt wurde, die
betreffenden Wahnvorstellungen durch unmittelbare Verfälschung
von Sinneswahrnehmungen oder Vorstellungen entstanden sind, wobei
eine melancholische Verstimmung entweder gar nicht voranging oder
unauffällig verlief.
[Sidenote: Querulantenwahn.]
Eine besondere Art des Verfolgungswahnes ist der sogenannte
Querulantenwahn, bei welchem das betreffende Individuum von dem Wahne
erlittenen Unrechtes, insbesondere durch behördliche Entscheidungen
erlittenen Unrechtes, beherrscht wird und durch beständige Eingaben an
die Gerichte und andere Behörden sein vermeintliches Recht zu erlangen
sich bestrebt. Diesem Wahne liegen nicht selten wirkliche Vorkommnisse
zu Grunde, die aber ganz entstellt aufgefasst und wiedergegeben werden.
Dieser Umstand, sowie die durch neuerliche Abweisung gesteigerte
Irritation, führt immer wieder zu neuen und immer schärferen Eingaben,
sowie zu neuen Behelligungen und selbst Insultirungen der Behörden,
bis endlich, und zwar nicht selten nachdem das Individuum wegen
letztgenannter Delicte wiederholt in Untersuchung gezogen und bestraft
worden ist, der Querulant als ein Wahnsinniger erkannt und entsprechend
behandelt wird.
[Sidenote: Gewaltthaten aus melancholischer Verstimmung.]
Die Gewaltthaten Melancholischer können hervorgehen: 1. aus der
melancholischen Verstimmung als solcher, 2. aus Angstgefühlen,
besonders dem Raptus melancholicus, 3. aus Zwangs- und
Wahnvorstellungen.
Ad 1. Die melancholische Verstimmung bewirkt zunächst eine veränderte
Reaction gegen äussere Eindrücke. Da letztere überhaupt schmerzlich
empfunden werden, selbst solche, die früher angenehm gewesen waren,
so ist es begreiflich, dass insbesondere auf solche Eindrücke leicht
unverhältnissmässig heftige Reactionen erfolgen können, die an und
für sich provocirender Natur sind. Auf diese Art können äusserlich
mehr weniger motivirt erscheinende Gewaltacte zu Stande kommen, deren
pathologischer Charakter aber desto deutlicher hervortreten wird, je
weniger die Heftigkeit der Reaction mit der äusseren Ursache derselben
im Verhältnisse steht. Die veränderte Selbstempfindung, sowie die immer
peinlicher sich gestaltenden Beziehungen zur Aussenwelt, welche nur im
trüben Lichte und jedes Reizes bar erscheint, erklären die Häufigkeit
des Selbstmordes schon in den ersten Stadien der Melancholie, da es
für den Kranken nahe liegt, sich durch eine solche That von seiner
Seelenqual zu befreien.
Dieselben Ursachen, sowie die bangen Erwartungsaffecte, von denen
der Kranke beherrscht wird, können bewirken, dass demselben auch die
Existenz und Zukunft seiner Angehörigen in einem so trüben Lichte
erscheint, dass er darin ein Verdienst erblickt, sie aus einer
solchen Existenz zu befreien und vor einer so traurigen Zukunft zu
bewahren. Diese Logik kann den Melancholiker auch ohne eigentliche
Wahnvorstellungen zum Morde seiner Angehörigen veranlassen und spielt
insbesondere bei dem Morde der eigenen Kinder eine beachtenswerthe
Rolle. Zu gleicher That kann jedoch den Kranken auch die häufig ganz
begründete Befürchtung veranlassen, dass den Kindern eine Nothlage
bevorstehe, wenn er, der bisherige Ernährer der Familie, einen
Selbstmord begehe. Es wäre ein Fehler, wenn man aus einem solchen,
für sich genommen richtigen Urtheile auf Zurechnungsfähigkeit des
betreffenden Individuums schliessen wollte.
Weniger verständlich sind die bei Melancholikern wiederholt
vorgekommenen, sogenannten „indirecten Selbstmorde“, d. h. Morde
und andere Gewaltthaten, die in der Absicht begangen wurden, um
dafür hingerichtet zu werden. Hier handelt es sich offenbar bereits
um tiefere Störungen der Intelligenz, insbesondere um eine durch
fehlerhafte Logik sich kundgebende Schwäche der Intelligenz und um eine
eigenthümliche Verkehrung der Willensenergie, die dem Betreffenden
nicht gestattet, sich selbst das Leben zu nehmen, wohl aber an Anderen
eine solche That zu begehen.
Die peinliche Verstimmung kann jedoch den Kranken auch so überwältigen,
dass er in seiner Verzweiflung in irgend einer Gewaltthat eine
Erleichterung zu finden glaubt. Zerstörungen lebloser Gegenstände,
aber auch Angriffe auf Lebende können in dieser Weise als
„Entäusserungsversuche“ des Kranken zu Stande kommen, bei deren
Beurtheilung nicht zu übersehen ist, dass die Verstimmung als solche
nur ihr entsprechende Vorstellungen im Bewusstsein aufkommen lässt,
und dass die Vorstellungsthätigkeit im Allgemeinen krankhaft gehemmt
ist, wodurch insbesondere das rechtzeitige Auftauchen contrastirender
Vorstellungen und damit die Correctur der betreffenden Impulse
behindert wird.
Die Antriebe zu den durch die Verstimmung allein veranlassten
Gewaltthaten können, besonders im letztgenannten Falle, plötzlich
sich einstellen, und eben so rasch zur That führen. Häufiger trägt
sich der Melancholische längere Zeit mit seinen Ideen, bis er sie zur
Ausführung bringt, wobei gelegentliche Ursachen, äussere sowohl als
innere, die nächste Anregung geben können. Ein planmässiges Vorgehen,
ein Abpassen günstiger Gelegenheit kann dabei ganz gut vorkommen, in
welchem Falle weniger die Handlung als solche, als vielmehr ihre Genese
das Krankhafte erkennen lässt. Während der That ist das Bewusstsein
erhalten oder wenigstens nicht auffallend getrübt; der Thäter erinnert
sich daher an das Geschehene, sieht auch nachträglich das Unrechte
und Strafbare seiner Handlung meistens ein und überliefert sich
nicht selten selbst dem Gericht. Geschah die That in Folge der bis
zur Verzweiflung gediehenen Verstimmung und als Entäusserungsversuch
derselben, dann fühlt sich der Kranke nach Begehung derselben wirklich
entlastet, doch meist nur für kurze Zeit, d. h. um nachträglich wieder
in die Verstimmung zu verfallen, welche die Erinnerung an die begangene
That nur noch düsterer gestaltet.
[Sidenote: Angstanfall]
Ad 2. Sehr leicht kann es zu schweren Gewaltthaten kommen, wenn
die die Melancholie begleitende Beklemmung zum Angstanfall sich
steigert. Das entsetzliche, wahrscheinlich im vasomotorischen Krampf
begründete Gefühl unsäglicher Angst fordert dringend Entlastung, welche
schliesslich bei aufgehobenem Bewusstsein durch motorischen Reflex
erfolgt. Die Natur der daraus resultirenden Gewalthandlung hängt
von zufälligen Momenten ab, da letztere nicht ihrer selbst willen
erfolgt. Möge aber die That welche immer sein, möge sie in Tödtung oder
Verletzung Anderer, in mechanischer Zerstörung lebloser Objecte oder
in Brandlegung u. s. w. bestehen, immer trägt sie mehr weniger den
Charakter planlosen, blinden Wüthens an sich und lässt schon dadurch
ihre Genesis wenigstens vermuthen.
Der Angstanfall erfolgt entweder ganz plötzlich oder es gehen demselben
Prodromalsymptome voraus. In beiden Fällen liegt die Aehnlichkeit
mit gewissen epileptischen Affectionen nahe, die später Besprechung
finden sollen. Diese Aehnlichkeit wird noch gesteigert durch die
Amnesie oder blos traumhafte Erinnerung gegenüber der That, die aus der
hochgradigen Bewusstseinsstörung und selbst Bewusstseinsaufhebung auf
der Höhe des Anfalles sich erklärt. Nach der That kehrt die Besinnung
meistens ziemlich rasch, selbst plötzlich zurück. Der Kranke sieht
dann die Bedeutung seiner That ein, fühlt Reue darüber und handelt
dem entsprechend, indem er z. B. sich selbst dem Gerichte stellt oder
einen Selbstmord begeht. In anderen, wie es scheint selteneren Fällen
hält die Bewusstseinsstörung auch nach der That an und der Kranke kehrt
allmälig zur Besinnung zurück.
Ad 3. Inwiefern Zwangsvorstellungen zu Gewaltthaten führen können,
wurde bereits oben auseinandergesetzt. Mit einer solchen Vorstellung
kann sich der Kranke mitunter lange tragen und den aus ihnen sich
ergebenden Impulsen längere Zeit widerstehen, bis sie sich den
Uebergang in die That erzwingt. Dabei ist sich derselbe des Unrechten
eines solchen Antriebes wohl bewusst, und sowohl diese Thatsache, als
der Gedanke an die Möglichkeit der Ausführung ängstigen den Kranken in
der Art, dass dadurch dessen peinliche Verstimmung nur noch vermehrt
wird und im weiteren Verlaufe, namentlich unmittelbar vor Begehung
der That, ein Angstanfall der oben beschriebenen Art ausgelöst werden
kann. Letzteres gilt noch mehr von den bei Melancholischen so häufig
und mitunter ganz plötzlich auftauchenden Sinnestäuschungen. So
bemerkt +Schüle+ (l. c. 443), indem er hervorhebt, dass man wegen der
leicht auftretenden Angstanfälle +keinem+ Melancholiker trauen dürfe,
dass insbesondere die mit Hallucinationen und Illusionen verbundenen
Melancholien oft eine +plötzliche+ Angst auslösen können, welche die
Waffe des Selbstmordes oder der Lebensgefährdung Anderer sofort dem
Kranken in die Hand drückt und hat einen Kranken beobachtet, der in
einem solchen Augenblicke sein Kind, welches er plötzlich schwarz
werden sah, zerschellte, aus Angst, dass soeben ein feindlicher Geist
in dasselbe seinen Einzug halte. Von den eigentlichen Wahnvorstellungen
sind es zunächst die aus langen Erwartungsaffecten entspringenden,
welche den Kranken zu Gewaltacten, insbesondere zum Selbstmord und
Tödtung der Angehörigen zu bewegen vermögen, so der Wahn, verhungern
zu müssen, brodlos zu werden u. s. w. Ausserdem können, insbesondere
unter dem Einfluss von Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen der
verschiedensten Art auftauchen, die sämmtlich einen Inhalt besitzen,
der der peinlichen und geängstigten Stimmung des Kranken entspricht.
Am häufigsten kommen religiöse, insbesondere dämonomanische
Wahnvorstellungen und solche vor, deren Inhalt auf Beeinträchtigung
oder Bedrohung der eigenen Persönlichkeit durch Feinde hinauslaufen,
die, wenn sie im Bewusstsein sich fixiren, den Verfolgungswahn in
seinen verschiedenen Formen constituiren, und es ist begreiflich, dass
bei diesem die Verfolgungsideen desto leichter zu Gewaltthaten führen
können, je ängstigender und provocirender ihr Inhalt sich gestaltet und
je reeller sie dem Kranken erscheinen. Diese Kategorie von Irren gehört
zu den gefährlichsten, umsomehr, als die betreffenden Wahnvorstellungen
lange und von der Umgebung ungeahnt bestehen können, bis sie in einer
Gewalthandlung zum Ausbruch kommen.
_Die Manie und der exaltirte Wahnsinn._
Die Manie ist in ihren Grundzügen das gerade Gegentheil von der
Melancholie. Statt der die letztere charakterisirenden Depression
des Gemüthes und der daraus sich ergebenden traurigen, peinlichen
Affecte finden wir bei der Manie eine äusserlich unmotivirte heitere
Stimmung, statt der Hemmung der psychischen Thätigkeit das Gefühl einer
gewissen Leichtigkeit und Ungebundenheit derselben mit consecutiven
Wonnegefühlen und statt der nur durch peinliche Affecte höchsten
Grades zu überwindenden psychomotorischen Lähmung einen auffallenden,
durch erhöhtes Kraft- (Muskel-) Gefühl bedingten Bewegungsdrang, der
schliesslich in Tobsucht ausartet.
Man kann die einfache maniakalische Exaltation von der Manie auf der
Höhe ihrer Entwicklung oder der Tobsucht unterscheiden.
Die +maniakalische Exaltation+ kann längere Zeit für sich bestehen
und auch ablaufen, ohne in eigentliche Tobsucht überzugehen. Ihrem
Auftreten geht in der Regel ein melancholisches Stadium voraus,
welches sich durch entsprechende Charakterveränderung kundgibt und
daher in diagnostischer Beziehung werthvoll ist. Die Erscheinungen
in den ersten Stadien der maniakischen Exaltation haben eine grosse
Aehnlichkeit mit jenen, wie wir sie, allerdings vorübergehend, im
Anfange von Rauschzuständen beobachten: die Stimmung wird eine
heitere, aufgewecktere, die Vorstellungsthätigkeit ist erleichtert,
der Kranke spricht viel und rasch, die Triebe sind erhöht und in Folge
des gesteigerten Muskelgefühles besteht ein erhöhter Bewegungsdrang.
Dieses Verhalten ruft nicht blos beim Kranken ein Wohlbehagen hervor,
das ihn veranlasst, seinen Zustand zu loben und sich für gesünder als
je zu halten, sondern kann auch bei der Umgebung den Eindruck voller
geistiger Gesundheit hervorrufen oder es wird die erhöhte Lebhaftigkeit
des Kranken als Alkoholwirkung aufgefasst, umsomehr, als die heitere
Verstimmung das Individuum thatsächlich zum Alkoholgenusse verleitet,
andererseits eine gewisse Intoleranz gegen Alcoholica besteht und schon
geringe Mengen der letzteren das bereits kranke Gehirn zu afficiren
vermögen. Im weiteren Verlaufe wird die Stimmung immer exaltirter,
aufgeregter, die Verletzungen der Rücksichten der Convenienz und des
Anstandes werden immer auffälliger, die Reizbarkeit und Geneigtheit zu
Affecten, insbesondere des Zornes, nimmt zu, die anfangs erleichterte
Vorstellungsthätigkeit erhält in Folge des Wegfalles jeglicher
Hemmung immer mehr den Charakter des Ueberstürzten und gestaltet sich
schliesslich zur förmlichen Ideenflucht, die motorische Aufregung
wird immer auffälliger, sich durch Unruhe, Wandertrieb, scheinbar
muthwillige Handlungen und Drang nach Zerstörung lebloser Objecte, aber
auch durch unmotivirte Angriffe auf Personen äussernd, wozu die immer
ungebundener sich äussernden Triebe, insbesondere der Geschlechtstrieb
und die Leichtigkeit, mit welcher namentlich durch Widerstand Affecte
ausgelöst werden, ihrerseits beitragen.
[Sidenote: Tobsucht.]
Die eigentliche +Tobsucht+ charakterisirt sich durch die höchsten Grade
motorischer Aufregung. Der Kranke lärmt und schreit. Der innere Drang
nach Bewegungen explodirt förmlich zu diesen, ohne schliesslich mehr
durch Vorstellungen vermittelt zu werden und die Bewegungen erhalten
immer mehr den Charakter nicht intendirter Bewegungen, obgleich sie
niemals wie krampfartige, sondern stets wie gewollte sich verhalten.
Die Ideenflucht gestaltet sich zu einem ganz ungeordneten Auftauchen,
Jagen und Verdrängen der Vorstellungen, deren Inhalt theils zufällig
ganz verschieden und beständig wechselnd sich gestaltet, theils durch
Hallucinationen und Illusionen beeinflusst wird. Letztere, sowie die
daraus resultirenden Wahnvorstellungen, sind nur flüchtiger Natur und
ebenso wechselnd wie die Stimmung, die ohne Uebergänge aus lärmend
heiterer in die finstere und drohende überspringt und selbst durch
melancholische Depressionszustände vorübergehend unterbrochen wird.
Es gibt vielfache Abweichungen von diesem Verlaufe der Manie, die
insbesondere die Dauer der ganzen Erkrankung und ihre einzelnen Stadien
betreffen, aber auch die einzelnen Symptome, wobei die Ursachen der
Psychose, namentlich aber der Umstand, ob die nächste Krankheitsursache
ein bisher gesundes, rüstiges Gehirn oder ein von Haus aus oder in
Folge bereits überstandener oder noch bestehender Erkrankungen schon
defectes getroffen hatte, eine wesentliche Rolle spielt.
[Sidenote: Handlungen in maniakalischer Exaltation.]
In gerichtsärztlicher Beziehung hat im Allgemeinen die maniakische
Exaltation eine viel grössere Bedeutung als die eigentliche Tobsucht,
weil letztere sich meist durch ausgesprochene, auch dem Laien
auffallende Symptome charakterisirt, während erstere besonders in ihren
Anfängen leicht verkannt werden kann, und nicht selten selbst von den
nächsten Angehörigen mitunter lange Zeit verkannt wird. Und doch ist
leicht einzusehen, dass, wie schon die durch Alkoholgenuss bewirkte
Exaltation, mit welcher die maniakische eine so grosse Aehnlichkeit
besitzt, so häufig zu strafbaren Handlungen verleitet, noch leichter
die maniakische zu Conflicten mit dem Strafgesetze führen kann, da
es sich bei dieser meist um dauernde und zugleich viel intensivere
Störungen des Fühlens und des Vorstellens handelt, denen gegenüber
eine Correctur oder Beherrschung von Seite des Individuums schon
frühzeitig nicht mehr möglich ist, was bei Rauschzuständen bekanntlich
erst in den späteren Stadien geschieht. Die betreffenden Handlungen
haben jedoch insofern eine gewisse Aehnlichkeit, als sie in beiden
Fällen meist in Excessen verschiedener Art, Widersetzlichkeiten gegen
behördliche Organe, Ehren- und Majestätsbeleidigungen, unsittlichen
Attentaten, scheinbar muthwilligen Beschädigungen fremden Eigenthums,
Misshandlungen und selbst Tödtungen von Personen bestehen, und in
beiden Fällen theils durch die reizbare und übermüthige Stimmung,
theils durch den erhöhten Drang nach Kraftäusserungen, theils durch die
abnorm erhöhten Triebe veranlasst werden, während Sinnestäuschungen
oder gar Wahnvorstellungen erst in den späteren Stadien des
Krankheitsverlaufes in’s Spiel kommen.
[Sidenote: Mania transitoria.]
Eine besondere Erwähnung verdient die sogenannte +Mania acutissima+
oder +transitoria+. Es handelt sich nach +Krafft+-+Ebing+, der
diese Form der Manie besonders eingehend behandelte[573], um einen
bei vorher ganz Gesunden auftretenden, in 20 Minuten bis 6 Stunden
verlaufenden Tobsuchtsanfall mit hochgradiger Verworrenheit,
massenhaften Sinnesdelirien und nachfolgender vollständiger Amnesie.
Charakteristisch ist auch die gleichsam kritische Lösung des Anfalles
mit einem Stadium tiefen Schlafes, aus welchem der Betreffende
psychisch wieder ganz frei erwacht. Solche im Leben des Betreffenden
meist ganz vereinzelte Anfälle wurden fast ausschliesslich bei Männern,
insbesondere bei jungen Männern beobachtet. Vollblütigkeit, Geneigtheit
zu Congestionen gegen den Kopf scheinen ein prädisponirendes Moment
zu bilden, und auch das den Anfall zunächst auslösende dürfte in
acuten Hyperämien des Gehirnes und diese veranlassenden Ursachen,
wie Alkoholgenuss, grosse Hitze (Sonnenstich), Affecte u. dergl.
m., zu suchen sein. Es besteht eine grosse Aehnlichkeit solcher
Anfälle mit gewissen, aus epileptischer Ursache auftretenden Manien,
weshalb sie von Einzelnen auch als vereinzelt dastehende Anfälle
psychischer Epilepsie aufgefasst wurden. Auch die Gewaltthätigkeit
und Gefährlichkeit ist in beiden Fällen die gleiche. Jedenfalls
wäre auf etwa schon früher bestandene Anfälle ähnlicher Art, sowie
auf Epilepsie, insbesondere larvirte oder unbeachtet gebliebene, zu
reagiren. Die Beurtheilung solcher Vorkommnisse kann auch nur nach den
bei jener des einzelnen epileptischen Manieanfalles zu beobachtenden
Grundsätzen erfolgen. Das Plötzliche und Unmotivirte des betreffenden
Gebahrens, der wuthartige, planlose, verworrene Charakter desselben,
dann der allerdings nicht so leicht zu liefernde Nachweis von Delirien
und insbesondere der nie fehlenden Amnesie sind Momente, die die
Unterscheidung eines solchen Anfalles von etwa blos in hochgradiger
Gemüthserregung, Jähzorn etc. begangenen Handlungen gestatten werden.
Zwei Fälle dieser Art werden von +Netolitzky+ (Prag. med. Wochenschr.
1879, pag. 310) mitgetheilt. Der erste Fall betraf einen 63jährigen,
bisher ganz gesund gewesenen Holzhacker. Derselbe kaufte sich am 4.
April Morgens um 4 Kreuzer Schnaps, trank gegen die Gewohnheit sofort
die Hälfte aus, um sich wegen einer durch schwere Arbeit veranlassten
Erschöpfung zu stärken, klagte über Kopfschmerzen und schickte sich
an, in den Wald zu gehen. Er trank den Rest des Branntweines und
gerieth alsbald mit seinem Weibe ohne Ursache in Streit. Die Nachbarn
hörten ihn toben, sahen, wie er barfuss zum Schuster lief, der ihm
Stiefel flicken sollte; er borgte unter Drohungen von einem Nachbar
einen Schlitten, zerschlug seinen eigenen in Stücke, zankte heftig
mit dem Nachbar, agirte mit den Händen, schien sich gegen eine ihn
bedrohende Macht zu vertheidigen, rannte schliesslich in sein Haus,
woselbst er unmittelbar darauf an einem Dachsparren hängend gefunden
wurde. Abgeschnitten und zu Athem gebracht, verfiel er in einen
7stündigen Schlaf, aus welchem er mit vollständiger Amnesie erwachte.
Im zweiten Falle war eine kräftige, bisher stets gesunde Lehrersfrau,
nachdem sie den ganzen Tag angestrengt gewaschen, bei starker
Schwüle eine halbe Stunde weit gegangen und hatte darauf gegen ihre
Gewohnheit einen halben Liter Bier getrunken. Zurückgekehrt klagte
sie über Kopfschmerzen und legte sich um 10 Uhr in’s Bett. Gegen 1
Uhr erwachte ihr 7jähriger Knabe, sah die Mutter mit einem Stricke in
der Hand im Zimmer herumlärmen, aus dem Kasten ein Messer hervorholen
und die Schärfe desselben prüfen, wobei sie heftig gesticulirte und,
nachdem sie mit drohender Miene zum Bette des Knaben getreten war,
das Zimmer verliess. Der Knabe weckte den Vater, der ihr nacheilte
und sie in der Dachkammer aus einer tiefen Halswunde blutend traf,
als sie sich eben aufhängen wollte. N., sofort herbeigeholt, fand
die Frau in grosser Unruhe, von schreckhaften Wahnideen befallen,
mit geröthetem Gesichte. Um 3 Uhr Nachts verfiel die Frau in einen
tiefen Schlaf, der 8 Stunden dauerte und aus dem sie ohne jegliche
Erinnerung an das Vorgefallene erwachte. Epilepsie war in keinem
dieser Fälle nachweisbar.
[Sidenote: Grössenwahn.]
Wenn im weiteren Verlaufe der Manie die Aufregung sich legt und
einzelne der Wahnvorstellungen sich fixiren, so entwickelt sich
in analoger Weise, wie wir dies bei der Melancholie gesehen
haben, als Ausgangsform der Tobsucht exaltirter Wahnsinn oder der
+Grössenwahn+.
Die Wahnideen, von denen ein solches Individuum beherrscht wird, haben,
entsprechend der exaltirten Stimmung, aus welcher sie hervorgingen,
einen durchwegs exaltirten Charakter, während ihr sonstiger Inhalt
je nach äusseren oder individuellen Umständen verschieden sich
gestaltet. Am häufigsten kommt der Wahn grossen Besitzes an Geld und
Gut vor, sowie der hohen Bedeutung und Macht, ebenso ungewöhnlich
hoher geistiger oder körperlicher Leistungsfähigkeit, der bewirkt,
dass sich der Kranke im ersteren Falle z. B. für einen bedeutenden
Staatsmann, Gelehrten oder Dichter, im letzteren für einen Riesen
oder einen Ausbund von Ausdauer, geschlechtlicher Potenz etc. hält.
In anderen Fällen halten sich die Kranken für Kaiser, Könige etc.,
für weltbedeutende Reformatoren, Propheten oder Erfinder, und nicht
selten geht der Wahn noch weiter, indem sich die Betreffenden mit
wirklich bedeutenden, der Geschichte oder der Gegenwart angehörigen
Personen identificiren. -- Dass durch solche Wahnvorstellungen leicht
Gewaltthaten veranlasst werden können, ist begreiflich. Trotzdem sind
dieselben bei weitem nicht so gefährlich, wie jene des depressiven
Wahnsinns, einestheils weil sie im Allgemeinen weniger provocirenden
Charakters sind, als z. B. Verfolgungsideen, andererseits weil sie
ihrer Natur nach nicht latent bleiben, sondern meist offen vorgebracht
und dann von der Umgebung in der Regel leicht als Wahnideen erkannt und
darnach behandelt werden, desto leichter, je mehr sie, wie meist der
Fall, mit den factischen Verhältnissen im Widerspruche stehen.
_Der erworbene Blödsinn._
Jene psychischen Schwächezustände, in welche der Mensch verfällt,
nachdem er bereits die geistige Reife erreicht hatte, bezeichnet man
als +erworbenen Blödsinn+ und nennt denselben einen primären, wenn er
sich unmittelbar aus geistiger Gesundheit entwickelte, einen secundären
aber, wenn er als Ausgangsstadium anderweitiger Geistesstörung
aufgetreten ist.
+Primärer Blödsinn+ kann sowohl nach spontanen Erkrankungen, als nach
gewaltsamen Einwirkungen auf die psychischen Centren sich entwickeln.
In ersterer Beziehung sind zunächst die schweren, sowohl acuten als
chronischen Erkrankungen des Gehirns und seiner Häute, wie Meningitis,
Encephalitis, Neubildungen, insbesondere aber die senile Hirnatrophie
und die Apoplexie, sowie die Embolie zu erwähnen, ferner schwere
Allgemeinerkrankungen, z. B. Typhus, in letzterer vor Allem die
Kopfverletzungen (pag. 318), aber auch Vergiftungen, sowohl acute, z.
B. mit Kohlenoxyd, als chronische (Alkohol, Blei) und wie einzelne,
allerdings seltene Fälle lehren, auch intensive Erstickungsgefahr, z.
B. bei Strangulation (Erhängen, Fall: +Griesinger+, 3. Aufl., pag. 325).
Der +secundäre Blödsinn+ bildet das Endstadium anderweitiger
Psychosen, aus welchen er seltener unmittelbar, sondern meist
mittelst der Durchgangsformen des Wahnsinnes (Verfolgungs- sowohl als
Grössenwahnsinn) sich entwickelt.
[Sidenote: Secundäre Verrücktheit.]
Das Hauptsymptom aller Formen des erworbenen Blödsinns ist ebenso
wie beim angeborenen die Schwäche der Intelligenz, welche wieder,
wie bei letzterem, in verschiedenem Grade vorhanden sein kann. Man
pflegt auch hier die weniger hochgradigen Fälle als Schwachsinn,
die höheren als Blödsinn im engeren Sinne zu bezeichnen. Erstere
sind forensisch ungleich wichtiger als die auch für Laien leicht
als solche erkennbaren schweren Formen. Viele dieser Fälle sind
derart, dass die Schwäche der Intelligenz gar nicht als solche
auffällt und sich erst ergibt, wenn man die gegenwärtige psychische
Leistungsfähigkeit mit jener vergleicht, die früher, z. B. vor der
Verletzung oder schweren Hirnerkrankung, bestand, wobei sich ergibt,
dass das gesammte Denken langsamer und schwerer erfolgt als früher,
dass das Gedächtniss abgenommen habe, dass schon verhältnissmässig
geringe geistige Anstrengungen ermüden, sowie dass die Urtheils-
und Selbstbestimmungsfähigkeit, sowie die ganze geistige Energie
eine geringere geworden ist. Diese geistige Decadenz ist desto
auffälliger, je intelligenter und geistig lebhafter das Individuum
früher gewesen war. Von diesen niederen Graden des Schwachsinns bis
zum vollständigen Erlöschen jeder geistigen Thätigkeit gibt es eine
Menge von Abstufungen. Dabei ist es eigenthümlich, dass selbst in den
schweren Formen des erworbenen Blödsinns noch einzelne oder ganze
Reihen correcter Vorstellungen und Urtheile aus der früheren gesunden
Zeit sich erhalten können, was bei einseitiger Beurtheilung und
oberflächlicher Prüfung das Individuum, namentlich Laien gegenüber,
als ein geistig gesundes erscheinen lassen kann. Wahnvorstellungen
sind namentlich bei jenen Formen des Blödsinns nicht selten, die sich
entweder aus der Manie oder Melancholie entwickelt haben; ihr Inhalt
zeigt dann die diesen Zuständen entsprechende Färbung, ohne dass jedoch
die Stimmung und das Gebahren des Individuums derselben entsprechen
würde, so dass es sich meistens nur um eine mechanische Reproduction
der früher bestandenen Wahnvorstellungen depressiven oder exaltirten
Charakters handelt, die meist weder untereinander, noch mit den
sonstigen Vorstellungen in einem logischen Zusammenhange stehen und
mitunter als systematisirter Unsinn zu Tage gefördert werden. Derartige
Formen bilden die sogenannte +secundäre Verrücktheit+, zu welcher der
secundäre Verfolgungs- und Grössenwahn nur die Uebergänge bildet. Von
den Formen primären Blödsinns ist es insbesondere der Altersblödsinn,
bei welchem Wahnvorstellungen auftauchen, insbesondere Verfolgungswahn;
aber auch bei den übrigen können solche intercurrirend auftreten,
und es muss überhaupt festgehalten werden, dass ebenso wie bei der
angeborenen (namentlich hereditären) psychischen Degeneration auch bei
dem nachträglich defect gewordenen Gehirn eine grössere psychische
Labilität besteht als bei dem rüstigen, daher auch solche psychische
Störungen leichter auftreten können, wie wir sie bei angeboren
fehlerhafter psychischer Anlage theils als affectives und impulsives
Irrsein, theils als primäre Verrücktheit kennen gelernt haben.
Was das Verhalten des Fühlens betrifft, so kann man ebenso wie beim
angeborenen Blödsinn apathische und agitirte Formen unterscheiden. Doch
kommen letztere ungleich häufiger vor, und die leichte Reizbarkeit
gehört sogar zum charakteristischen Bilde mancher Formen des
erworbenen Schwachsinns und Blödsinns, wie z. B. namentlich jenes nach
Verletzungen, sowie in vielen Fällen des Blödsinns nach Apoplexie
und des Greisenblödsinns. Weiter begegnen wir häufiger unmotivirtem
Stimmungswechsel, der bis zu intercurrirenden Melancholien oder
Aufregungszuständen mit oder ohne entsprechende Wahnvorstellungen
(Verfolgungswahn bei Greisen und Apoplektikern häufig) sich steigern
kann. Inwieferne, theils aus der Intelligenzschwäche, theils aus dem
eben besprochenen krankhaften Verhalten der Stimmung, eventuell aus
Wahnvorstellungen, Handlungen, die sonst strafbar sind, hervorgehen
können, bedarf keiner besonderen Auseinandersetzung. Eine specielle
Erwähnung verdient aber die forensisch äusserst wichtige Thatsache,
dass die erworbenen Formen des Schwachsinns sich auch als moralisches
Irrsein in der Weise kundgeben können, dass entweder nach der Genesung
von einer schweren Affection, an welcher auch das Gehirn betheiligt
war, eine gewisse moralische Insensibilität zurückbleibt, die mit
mehr oder weniger ausgesprochenem Schwachsinn verbunden ist, oder,
wie dies insbesondere beim Greisenblödsinn sich findet, das erste
Symptom bildet, welches den psychischen Schwächezustand einleitet
und lange bestehen kann, bevor noch die übrigen Erscheinungen des
letzteren eclatant zu Tage treten. Es sind dies sehr beachtenswerthe
Formen des sogenannten erworbenen moralischen Irrseins, auf welche
bereits bei Besprechung der angeborenen moralischen Idiotie (pag.
897) hingewiesen wurde, welche sich vorzugsweise durch eine sonst
unmotivirte Veränderung des Charakters ad pejus kundgeben und
insbesondere auffallen, wenn man das Gebahren des Individuums mit
dem früher bei demselben bemerkten vergleicht. Personen, die früher
die Forderungen der Sitte, der Convenienz etc. beobachteten, fangen
an, ihr Aeusseres zu vernachlässigen, die Gesetze des Anstandes zu
verletzen, sich in Wirthshäusern herumzutreiben, in geschlechtlicher
Beziehung zu excediren u. s. w. Verhältnissmässig häufig pflegt eine
solche Charakterveränderung den Greisenblödsinn einzuleiten, und es
ist insbesondere eine Reihe der von Greisen begangenen unzüchtigen
Handlungen, anrüchiger Liaisonen etc. ausser auf die Schwäche der
Intelligenz auf die pathologische Abnahme des moralischen Fühlens
zurückzuführen, nicht aber, wie man gewöhnlich glaubt, auf eine Art
Wiedererwachen des Geschlechtstriebes.
2. Complicirte Irrseinszustände.
Es gehören hierher die paralytische Geistesstörung, das epileptische
Irrsein, die Hysterie und das Irrsein der Säufer.
_a) Die paralytische Geistesstörung._
Das paralytische Irrsein oder Irrsein mit progressiver Paralyse
bildet eine gegenwärtig allgemein als specifisch anerkannte Form der
Geistesstörung. Diese Geistesstörung, deren anatomische Grundlage noch
nicht genügend aufgedeckt ist (+Meynert+, Erkrankung des Vorderhirns
mit Atrophie; +Leidesdorf+, Chronische interstitielle diffuse
Encephalitis), ist eine Krankheit der besten Jahre (meist zwischen
40-50) und betrifft vorzüglich Männer und nur ausnahmsweise Frauen.
Die psychischen Störungen gehen in der Regel den paralytischen voraus
oder beide treten gleichzeitig und allmälig auf. Sehr selten ist das
Umgekehrte.
Man kann bei dieser Geistesstörung ein Initialstadium, ein Stadium der
vollen Entwicklung und ein Ausgangsstadium unterscheiden. Letzteres
besteht immer in vollständigem Blödsinn, daher auch die ganze Krankheit
häufig als paralytischer Blödsinn bezeichnet wird.
[Sidenote: Initialstadium.]
Das +Initialstadium+ kann mehrere Jahre dauern und geht in der Regel
mit Remissionen und Exacerbationen einher, von denen erstere Monate
und selbst Jahre lang anhalten und daher Genesung vortäuschen können,
während die Erfahrung lehrt, dass wenigstens die typische paralytische
Geistesstörung (nicht etwa die ihr ähnliche, auf luetischer Grundlage
oder auf Alkoholismus beruhende) zu den unheilbaren Erkrankungen gehört
und den einmal von ihr Befallenen, trotz der langen Remissionen,
allmälig, aber sicher dem Blödsinne und dem Tode zuführt.
Das erste Symptom der Erkrankung ist eine meist mit einem kurzen
melancholischen Vorstadium beginnende, allmälig sich vollziehende
Aenderung des bisherigen Wesens, insbesondere des Charakters. Das
Individuum zeigt eine gewisse Unruhe, vermehrte Reizbarkeit, ein
geändertes Verhalten in seinen Gewohnheiten, seinem Verkehre mit
anderen und in seinen Geschäften, das mitunter nur in Kleinigkeiten
oder Einzelheiten sich kundgibt und nur bei genauerer Beobachtung und
Prüfung auffällt. Der Kranke fängt an, die Gesetze des Anstandes und
der Convenienz zu verletzen, sein Aeusseres und die Reinlichkeit zu
vernachlässigen oder Excesse in Baccho oder Venere zu begehen. Dabei
macht sich schon frühzeitig in dem Gebahren des Individuums ein Accent
des Blödsinns bemerkbar (+Meynert+), der im weiteren Verlaufe der
Krankheit immer deutlicher hervortritt. Der Kranke wird vergesslich,
macht Fehler in Rechnungen, lässt beim Schreiben einzelne Buchstaben,
selbst Worte aus, irrt sich häufig im Datum, und in den Geschäften,
Büchern etc. des Betreffenden vermisst man die gewohnte Pünktlichkeit
und begegnet Fehlern, Lücken, Unregelmässigkeiten u. s. w. Bald
machen sich die ersten Lähmungserscheinungen bemerkbar, Ungleichheit
der Pupillen, Zittern der Lippen, Zittern der hervorgestreckten
Zunge, leichte Behinderung der Sprache bis zum Stottern, erschwerte
Articulation. Später treten die ersten Lähmungserscheinungen an den
Extremitäten hinzu; zunächst an den oberen als Tremores oder atactische
Störungen, die insbesondere gegenüber feineren, eine grössere
Präcision erfordernden Bewegungen, z. B. beim Schreiben, Nähen,
Clavierspielen, sich bemerkbar machen, während an den unteren der
Beginn der Lähmung meist erst später als Unsicherheit des Ganges sich
zeigt. Sämmtliche genannte Lähmungserscheinungen können während der
Remissionen zurückgehen, um bei den Exacerbationen wieder und stärker
hervorzutreten.
Letztere tragen im Allgemeinen den Charakter maniakalischer Exaltation
an sich, doch ist die Verworrenheit und das confuse Wesen meist viel
ausgesprochener als bei der gewöhnlichen Manie. Häufig zeigen solche
Exacerbationen das Bild der Folie raisonnante, wobei bereits mehr
weniger erkennbare Grössenwahnideen zum Vorschein kommen.
Collisionen mit der Polizei und dem Strafgesetz sind in diesem Stadium
der Erkrankung häufig. Insbesondere führt die erhöhte Reizbarkeit, die
durch Alkoholmissbrauch bei Intoleranz gegen Alkoholica noch gesteigert
wird, und der gesteigerte Geschlechtstrieb zu denselben. Misshandlungen
und Körperverletzungen Anderer, Injurien, Majestätsbeleidigungen,
Widersetzlichkeiten gegen behördliche Organe, öffentliches Aergerniss
erregende Unsittlichkeiten und geschlechtliche Excesse anderer Art
kommen auf diese Weise zu Stande. Die Unruhe führt zur Vagabondage, die
bereits bestehende Verworrenheit und Vergesslichkeit zu Aneignungen
fremden Eigenthums, die als Diebstähle, sowie zu Fehlern in Rechnungen,
in Geschäftsbüchern, die als absichtliche Fälschungen genommen werden
können. Auch die zufälligen Brandlegungen, welche aus dieser Quelle
stammen, können den Betreffenden als absichtliche imputirt werden.
[Sidenote: Volle Entwicklung.]
Das +Stadium der vollen Entwicklung+ ist charakterisirt durch
meist exorbitanten Grössenwahn, hochgradige Verworrenheit mit
maniakischer Aufregung und ausgesprochene Lähmungserscheinungen. Die
Unruhe wird auffallend und die Kranken treiben sich auf den Strassen,
in Wirthshäusern, Spaziergängen etc. herum, verfallen aus einer
Unternehmung in die andere, machen zahlreiche zwecklose Besuche und
entfalten überhaupt eine immer auffälligere äusserlich unmotivirte
Lebhaftigkeit. Die Verworrenheit und Gedächtnissschwäche wird immer
hochgradiger, und immer auffälligere für den Kranken und seine Umgebung
gefährliche Handlungen, insbesondere Aneignungen fremden Eigenthumes,
Brandlegungen etc. gehen daraus hervor. Die Rücksichten des Anstandes
werden ganz bei Seite gesetzt, und ein solcher Kranker ist ebenso im
Stande, mitten in feiner Gesellschaft über den Tisch zu spucken, als
auf der Strasse seine Genitalien zur Schau zu stellen, zu onaniren
u. s. w.
Dabei besteht aufdringliches, rechthaberisches Wesen, grosse
Redseligkeit, mit Ueberstürzung oder Incohärenz des Vorgebrachten,
insbesondere aber Grössenwahn, der ausser durch das Gebahren im
Allgemeinen, durch immer exorbitanter sich gestaltende und eben dadurch
den zunehmenden Schwachsinn documentirende Wahnideen sich kundgibt.
Der Kranke fühlt sich als Ausbund an Kraft oder Gesundheit, ist enorm
reich und lässt seinen Reichthum von Millionen zu Milliarden steigen,
besitzt die kostbarsten Sachen, ist ein Mann von höchster Bedeutung,
heiratet in die höchsten Familien, jene der regierenden Häuser nicht
ausgenommen, ist in geschlechtlicher Beziehung, in Alcoholicis ganz
enorm leistungsfähig u. s. w., während in Wahrheit die körperliche
und geistige, sowie die gesellschaftliche Decadenz immer krasser zum
Vorschein kommt und im grellen Widerspruche steht zu dem Gebahren und
den Aeusserungen des armen Irren. Derartige Kranke entfalten nicht
selten auch im Schreiben eine ungewöhnliche Rührigkeit, sie verfassen
Eingaben, Projecte etc., deren Inhalt von Grössenwahnideen strotzt,
und unterzeichnen sie mit eingebildeter Titulation. Solche Schriften
sind ungemein werthvoll für die Diagnose, weil aus ihnen oder ihrem
Inhalte nicht blos die krankhafte Vorstellungsthätigkeit leichter
zu erkennen ist, sondern auch, weil die Schrift als solche, durch
ihre Schleuderhaftigkeit, Incorrectheit, durch die Auslassung von
Buchstaben, Worten und selbst Sätzen die geistige Verworrenheit und
Ideenflucht ebenso documentirt, wie die zittrigen, schliesslich in
Gekritzel ausartenden Schriftzüge, die zunehmende Lähmung. Letztere
ist nun auffallend und gibt sich insbesondere durch schwankenden,
taumelnden Gang, Zittern der Hände und der vorgestreckten Zunge, sowie
durch auffallende Sprachstörungen (Stottern) kund.
Auch in diesem Stadium kommt es zu mitunter wochen- und selbst
monatelangen Remissionen, die aber insoferne keine ganz vollständigen
sind, als meist nur die Aufregung und das Delirium sich legt, während
die geistige Schwäche und die Lähmungserscheinungen in mehr weniger
erkennbarer Weise zurückbleiben. Diese Thatsache ist von grosser
forensischer Wichtigkeit, weil es nahe liegt, dass eine solche
Remission desto mehr für ein vollständiges Lucidum intervallum
angesehen und eine darin begangene Handlung als vollkommen imputabel
betrachtet werden könnte, je intensiver die psychischen Symptome
zurückgegangen sind.
[Sidenote: Endstadium.]
Das +Endstadium+ ist charakterisirt durch ausgesprochenen Blödsinn
bis zum vollständigen Erlöschen jeder psychischen Thätigkeit und
hochgradige Lähmung bis zur vollständigen Unfähigkeit zu jeglicher
Bewegung. Eine forensische Bedeutung kommt diesem Stadium kaum zu,
da die Krankheit schon in den letzten Uebergangsformen zu diesem
auch von Laien erkannt wird, die enorme Bewusstseinsstörung, der
Mangel der Orientirungsfähigkeit, die grosse Unreinlichkeit etc.
immer mehr auffällt und die Unterbringung solcher Individuen in
Versorgungsanstalten etc. veranlasst und weil in den allerletzten
Stadien der Kranke sich ganz passiv verhält und zu jeder Handlung
unfähig ist.
_b) Epileptisches Irrsein._
Das in Begleitung von Epilepsie auftretende Irrsein bildet eine der
forensisch wichtigsten Irrseinsformen, deren nähere Kenntniss wir
vorzugsweise neueren Studien verdanken.[574] Diesen zufolge muss man
ein habituelles Irrsein der Epileptiker von demjenigen unterscheiden,
welches transitorisch in Begleitung eines epileptischen Anfalles oder
vicariirend statt diesem auftreten kann.
[Sidenote: Epileptische Degeneration.]
Unter +habituellem Irrsein der Epileptiker+ oder, wie +Krafft+-+Ebing+
sich ausdrückt, unter +epileptischer Degeneration+ versteht man die
allgemeine und dauernde Anomalie des psychischen Verhaltens der mit
Epilepsie behafteten Personen. Es wäre irrig, zu meinen, dass bei allen
Epileptikern solche Anomalien bestehen müssen, im Gegentheil lehrt die
Erfahrung, dass es manche Epileptiker gibt, die ausserhalb der Anfälle
kein vom gewöhnlichen abweichendes psychisches Verhalten zeigen, und
man weiss, dass sogar geistig sehr hoch stehende Personen Epileptiker
gewesen sind.
Trotzdem kann als das Häufigere angesehen werden, dass Epileptiker auch
ausserhalb der Anfälle in ihrem psychischen Verhalten mehr weniger
ausgesprochene Abweichungen vom Normalen zeigen. Diese Abweichungen
betreffen im Allgemeinen weniger die Intelligenz, als vielmehr die
Gefühls- und Willenssphäre, und können sich in einzelnen Fällen als
erhöhte Reizbarkeit, misstrauisches, mürrisches, oder im Gegentheil
exaltirtes Wesen, in anderen als habituelle oder intercurrirende
melancholische Verstimmung mit Neigung zum Selbstmord, ferner als
Hypochondrie oder Hysterie äussern, während bei einer weiteren
Kategorie solcher Individuen sich die psychische Degeneration in
der Form einer gewissen moralischen Verkehrtheit als „moralisches
Irrsein“ mit triebartigen Impulsen kundgeben kann. Mit derartigen
Charaktereigenthümlichkeiten, aber auch ohne diese, bestehen häufig
intellectuelle Schwächezustände und nicht selten leiden Epileptiker an
ausgesprochenem Blödsinn, wobei zu bemerken ist, dass der epileptische
Schwachsinn und Blödsinn ungleich häufiger die Form des agitirten
bietet, als des apathischen, weshalb auch solche Individuen ungleich
gefährlicher sind als gewöhnliche Blödsinnige. Wird noch hinzugefügt,
dass bei den Epileptikern häufig eine gewisse Intoleranz gegen
Alcoholica besteht, insoferne als entweder schon geringe Quantitäten
Rauschzustände veranlassen oder letztere abnorm sich gestalten, so
haben wir allen Grund, bei der Beurtheilung des Geisteszustandes von
Epileptikern auch ausserhalb der Anfallszeit vorsichtig zu sein.
[Sidenote: Transitorisches Irrsein.]
Noch wichtiger sind die +transitorischen Geistesstörungen, die mit den
einzelnen epileptischen Anfällen+ in Beziehung stehen. Es muss hier
zunächst vorausgeschickt werden, dass der epileptische Einzelninsult
sich keineswegs immer unter dem bekannten Bilde der classischen
Epilepsie präsentirt, sondern auch unter der Form unvollständiger
(epileptiformer oder epileptoider) Anfälle auftreten kann, so
insbesondere in der Form periodisch wiederkehrender Schwindelanfälle
(Vertigo) mit vorübergehender Verworrenheit, ohne Convulsionen oder nur
unbedeutenden motorischen Störungen, oder in der Form von periodischen
Ohnmachtsanfällen, Congestionen, Präcordialangst u. dergl. Die Anfälle
letzterer Art, welche man auch als abortive oder larvirte Epilepsie zu
bezeichnen pflegt, haben insoferne eine besondere Wichtigkeit, weil sie
leicht verkannt und selbst übersehen werden können, und weil gerade
in Begleitung solcher Anfälle verhältnissmässig häufiger specifische
Geistesstörungen vorzukommen pflegen, als bei den ausgesprochenen
epileptischen Insulten. Auch ist zu bemerken, dass derartige
epileptoide Formen häufig bei Individuen vorkommen, welche in ihrer
Jugend an gewöhnlicher Epilepsie gelitten haben.
Eine transitorische Geistesstörung kann nun auftreten, entweder vor dem
betreffenden Anfall oder nach demselben, oder endlich vicariirend statt
diesem.
+Vor dem Anfall+ ist sie verhältnissmässig selten, hat dann die
Bedeutung einer Aura, wiederholt sich in ganz typischer Weise vor jedem
folgenden (+Krafft+-+Ebing+) und besteht entweder in Hallucinationen,
meist schreckhaften Charakters, oder in Angstgefühlen, melancholischer
Depression, grosser Reizbarkeit, oder in Umnebelung des Bewusstseins,
rauschartiger Verwirrtheit.
[Sidenote: Epileptoide Zustände. Präepileptisches Irrsein.]
+Mendel+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLII, 292)
berichtet ausführlich über präepileptische psychische Störungen.
Verhältnissmässig häufig sind Hallucinationen des Gesichtes
(Lichterscheinungen: ein Kranker sah eine Frau im rothen Mantel
auf sich zulaufen, welche ihm einen Schlag auf den Kopf versetzte,
worauf er umfiel) und des Gehöres, seltener die der anderen Sinne.
In anderen Fällen traten unter Trübung, nicht aber Aufhebung des
Bewusstseins triebartige, den Zwangsvorstellungen analoge Ideen
auf, so bei einem 16jährigen Burschen der Trieb, sich Frauenkleider
anzuziehen. Er holte sich dann vom Boden die Kleider der Dienstboten
und wurde wiederholt mit diesen angethan im epileptischen Anfall auf
der Treppe getroffen.
Bei einem anderen Kranken trat, in der Regel schon mehrere Tage vor
dem Anfalle, die Vorstellung auf, er müsse Jemanden umbringen, und er
selbst bat, man möge entfernt von ihm bleiben. In einem dritten Falle
kam einem epileptischen Alkoholiker in der Bodenkammer die Idee,
Feuer anzulegen, seine Frau, mit der er in Unfrieden lebte, werde so
seiner am besten los. Er holte Spähne, zündete sie an und ging dann
in die Werkstatt, sah dort wild um sich, rollte die Augen und sein
Gesicht war grauschwarz. Als man ihn auf sein Aussehen aufmerksam
machte, verlangte er einen Spiegel, wollte dann am hellen Tage, weil
er nichts sehe, Petroleum auf die Lampe giessen, holte Streichhölzer
hervor, indem er sagte: „Jetzt stecke ich die Bude an“, und verfiel
dann vor den Augen seiner Mitgesellen in einen epileptischen Anfall.
Als dieser nach 5 Minuten vorüber, geht er in seine Wohnung und
verlangt Mittagessen. Nun ertönt Feuerlärm, und jetzt kommt ihm der
Gedanke, dass er Feuer gelegt habe. Er läuft in die brennende Etage,
rettet, was er kann und stellt sich dann dem Gerichte. Mit dem
Ertönen des Feuerlärmes ist erst der epileptische Anfall, der in der
Bodenkammer mit präepileptischem Irrsein begann, vorüber.
Das +postepileptische Irrsein+ erscheint entweder unter dem Bilde
des von +Falret+ sogenannten Petit mal oder des Grand mal, oder
in der Form des postepileptischen Stupor (+Samt+), oder unter dem
Bilde eigenthümlicher Dämmer- und Traumzustände (+Krafft+-+Ebing+,
+Legrand du Saulle+). Das Petit mal äussert sich durch melancholische
Verstimmung mit Angstanfällen, grosser Unruhe und Verworrenheit
und hochgradiger Bewusstseinsstörung mit Antrieben zu gewaltsamen
Handlungen, insbesondere Selbstmord und Mord, welcher in für diese
Form des epileptischen Irrseins sehr charakteristischer Weise mit
auffallender Brutalität, z. B. Zerfleischung des Opfers oder mehrerer
Opfer, geübt wird. Aus diesem, in der Regel nur einige Stunden
dauernden Anfall erwacht der Kranke ziemlich plötzlich, entweder ohne
jede oder blos mit summarischer Erinnerung an das Vorgefallene, wobei
es nach +Samt+ auch geschehen kann, dass der Kranke unmittelbar nach
der That sich des Geschehenen erinnert, dann aber in Stupor verfällt,
aus welchem er mit vollkommener Amnesie erwacht. Das +Grand mal+
verläuft unter dem Bilde einer furibunden, mit den schreckhaftesten
Delirien und enormen Angstgefühlen verbundenen Tobsucht. Der Anfall
tritt fast plötzlich ein und endet nach einigen Stunden, seltener
Tagen, ebenso plötzlich mit vollständiger Amnesie. Während desselben
sind die Kranken höchst gefährlich und die von ihnen begangenen
Gewaltthaten zeigen ebenfalls einen höchst brutalen Charakter.
Hierher gehört der von +Combes+ (Annal. médico-psychologique. 1880,
IV, pag. 49) mitgetheilte Fall, welcher einen Epileptiker betrifft,
der am 20. Mai in’s Spital aufgenommen worden war, woselbst in
derselben Nacht drei, in der darauffolgenden Nacht zwei und in
der dritten ein epileptischer Anfall erfolgte. Am nächsten Tage
stürzte er sich plötzlich auf eine Nonne und verwundete sie mit
einem Messer, ebenso eine zweite Nonne und einen Mann, die zur Hilfe
herbeieilten, sprang hierauf, blos mit dem Hemde bekleidet, in den
für Frauen bestimmten Krankensaal, wo er eine der Patientinnen durch
einen Stich in den Hals tödtete, drei andere schwer verwundete und
nur mit Mühe gebändigt werden konnte. Vollständige Amnesie. Bereits
vor 7 Jahren hatte er eines Morgens, nachdem in der betreffenden
Nacht epileptische Anfälle aufgetreten waren, ohne irgend ein Motiv
Alles zertrümmert und mit einem Messer seine Angehörigen bedroht.
In den letzten Jahren hatte er sein Weib verlassen und trieb sich
unstät herum. Epileptische Anfälle wurden in dieser Zeit wiederholt
beobachtet, und eine Zeugin sagt aus, dass er nach den Anfällen
häufig verstimmt und verwirrt gewesen sei und einen wilden Blick
gezeigt habe.
[Sidenote: Postepileptisches Irrsein.]
Der postepileptische Stupor (+Samt+) ist charakterisirt durch
ein stummes, ängstliches Verhalten des Kranken, mit religiösen,
um Höllenstrafen, Sünde u. s. w. sich drehenden Delirien und
triebartiger Gewaltthätigkeit. Er kann Stunden und Tage dauern, um
dann ebenfalls ziemlich brüsk zu verschwinden. Die epileptischen
Dämmer- oder Traumzustände sind Zustände von meist kurzer, wenige
Minuten oder Stunden, seltener 2-3 Tage anhaltender, traumartiger
Geistesabwesenheit mit Hallucinationen, impulsiven Antrieben und
nachträglicher vollständiger Amnesie, die sich namentlich an Anfälle
sogenannter larvirter Epilepsie, besonders an den epileptischen Vertigo
anschliessen. Diese Anfälle können entweder ruhig verlaufen oder die
Individuen treiben sich zwecklos umher, oder sie verüben Handlungen,
die mit ihrem sonstigen Charakter in auffallendem Widerspruche stehen,
worunter insbesondere Aneignungen fremden Eigenthums (namentlich
Ladendiebstähle) eine häufige Rolle spielen, wobei es eigenthümlich
ist, dass bei jedem neuerlichen Anfall immer wieder dasselbe Gebahren
sich zeigt und dieselben Handlungen verübt werden, wie bei den früheren.
Ein charakteristisches Beispiel eines solchen epileptischen
Dämmerzustandes bringt +Legrand du Saulle+ (Annal. d’hygiène publ.
1875, pag. 423). Es betraf einen jungen, sehr intelligenten Mann
aus reicher Familie, von noblen Manieren und höchst anständigem
Charakter. Drei- oder viermal des Jahres bekam er ein eigenthümliches
Gefühl in der Magengegend, wurde einige Secunden darauf wie von einem
Nebel umgeben, worauf er sofort das Bewusstsein verlor. Zu sich
gekommen, nach wenigen Stunden, mitunter auch nach 2-3 Tagen, fand er
sich zu seinem Erstaunen ganz abgeschlagen, fern von seiner Wohnung,
auf der Eisenbahn oder im Gefängniss mit derangirten, schmutzigen
Kleidern, ohne die geringste Erinnerung, wie er in diesen Zustand
gekommen, mit Portemonnaies, Bijoux, Sacktüchern, Cigarrentaschen,
Federmessern, Zahnstochern und eine Menge diverser anderer, mitunter
ganz werthloser Dinge in den Taschen, deren Provenienz er nicht
anzugeben vermochte. Wiederholt wurde der junge Mann wegen in
Theatern, in Läden oder an anderen öffentlichen Orten begangener
Diebstähle verhaftet und deren gerichtliche Verfolgung nur durch den
zweifellos geführten Nachweis der periodischen, auf epileptischer
Basis beruhenden Geistesstörung verhindert.
Ein anderer von uns beobachteter Fall betraf eine seit ihrer Kindheit
halbseitig unvollständig gelähmte Frau, die im Prager Siechenhause
versorgt war, aber öfters zu kleinen Botengängen verwendet wurde.
Sie hatte in ihrer Kindheit an exquisiten epileptischen Anfällen
gelitten, die später immer seltener wurden und alle Jahre kaum
einmal in der Form mit Bewusstlosigkeit verbundener Krampfanfälle
sich einstellten. Dafür traten zeitweilig abortive Anfälle auf,
welche darin bestanden, dass die Frau plötzlich von Schwindel und
Zuckungen in den Gesichtsmuskeln befallen wurde, wobei sie sich
anhalten musste, einige Augenblicke in einem katalepsieartigen
Zustande verharrte, dann mit ängstlichem Ausdruck im Gesichte anfing,
die ersten besten Gegenstände, die sich in ihrer unmittelbaren Nähe
befanden, zusammenzuraffen, mitunter auch bei ihr stehenden Personen
aus den Händen zu reissen und damit sich hastig zu entfernen.
Dieses Gebahren dauerte meist nur wenige Minuten, worauf die Frau
wie aus einem Traum zu sich kam, sich die Gegenstände ruhig abnehmen
liess und nicht die geringste Erinnerung von dem besass, was mit
ihr geschehen war. Diese Anfälle und ihre Folgen waren im Hause
wohlbekannt, führten aber zu Collisionen, wenn die betreffende Person
auf der Gasse von ihnen befallen wurde, so dass ihr, namentlich als
sie einmal in einem Fleischerladen, wo sie einen Einkauf zu besorgen
hatte, sämmtliches am Verkauftisch aufliegende Fleisch zusammenpacken
und damit sich aus dem Staube machen wollte, der Ausgang verboten
werden musste.
[Sidenote: Psychisch-epileptisches Aequivalent.]
Höchst bemerkenswerth ist die Thatsache, dass die eben besprochenen
Geistesstörungen auch +vicariirend statt+ eines +epileptischen
Anfalles+ auftreten können. +Samt+ hat für diese die Bezeichnung
„psychisch-epileptisches Aequivalent“ eingeführt, während Andere
mit Vorliebe die Bezeichnung „psychische Epilepsie“ gebrauchen. Sie
unterscheiden sich von den postepileptischen Irrseinsformen nur durch
den Abgang eines vorhergehenden epileptischen Anfalles. Deshalb und
weil die wirkliche Existenz eines solchen, besonders eines blos
abortiven Anfalles auch übersehen und larvirt sein kann, leugnen
Einzelne, insbesondere +Legrand du Saulle+, das vicariirende Vorkommen
derartiger Psychosen und behaupten, dass Psychosen von dem Charakter
der beschriebenen immer nur im Zusammenhange mit einem epileptischen
oder epileptoiden Anfalle auftreten. Erfahrungen deutscher Forscher
sprechen gegen die allgemeine Giltigkeit dieser Ansicht und dafür, dass
der ganze epileptische Anfall nur unter dem Bilde der beschriebenen
Psychosen verlaufen kann. Der epileptische Charakter der letzteren
ergibt sich dann aus dem periodischen typischen und zugleich brüsken
Auftreten der Psychose, aus der kurzen Dauer und dem fast plötzlichen
Aufhören derselben, aus den ängstlichen Delirien, dem triebartigen,
ganz unmotivirten Charakter der während des Anfalles begangenen
Handlungen, der grossen Brutalität, mit welcher sie verübt werden, und
endlich aus der hochgradigen Bewusstseinsstörung und consecutiven,
meist vollständigen Amnesie oder wenigstens blos traumhaften,
summarischen Erinnerung an das Vorgefallene.[575] Noch zweifelloser
wird derselbe durch den Nachweis früher bestandener oder vielleicht
noch bestehender gewöhnlicher epileptischer oder epileptiformer
Anfälle. In dieser Beziehung ist festzuhalten, dass selbst in frühester
Jugend bestandene und scheinbar geheilte Epilepsie noch im reifen Alter
eine gewisse Geneigtheit zu periodischen Geistesstörungen bedingen
kann und dass häufig die Anfälle evidenter Epilepsie zwar aufhören,
dafür aber abortive (epileptoide) zurückbleiben, die mitunter so
selten auftreten und unter so unscheinbaren Formen sich verbergen,
dass sie der Umgebung gar nicht auffallen und sogar vom Kranken selbst
nicht besonders beachtet werden. Insbesondere ist es der epileptische
Vertigo, der am häufigsten verkannt wird. Aber auch Anfälle classischer
Epilepsie können der Beobachtung entgehen, wenn sie während des
Schlafes eintreten. Derartige Anfälle können sich aber durch periodisch
eintretende nächtliche Urinincontinenz verrathen, auf welches Symptom,
daher wie schon +Trousseau+ hervorhob, reagirt werden muss, wenn
der Verdacht auf Epilepsie besteht, ebenso wie darauf, ob nicht
unmittelbar nach solchen Nächten an den betreffenden Individuen gewisse
Veränderungen des psychischen Verhaltens, der Stimmung, Reizbarkeit
oder andere Erscheinungen, wie Kopfschmerz u. dergl., bemerkt wurden.
Zwei von +Legrand du Saulle+ mitgetheilte Beispiele mögen das Gesagte
illustriren.
[Sidenote: Transitorisches Irrsein einen epileptischen Anfall
vicariirend.]
Im Mai 1867 erstach ein gewisser Philibert V., 20 Jahre alt, einen
friedlichen Familienvater, den er früher nie gesehen hatte, ohne
allen Grund auf der Strasse, als dieser gerade aus einem öffentlichen
Brunnen Wasser schöpfte. Er wurde in der nächsten Strasse eingeholt
und mit dem blutigen Messer in der Hand arretirt. Als der Mann nach
einem summarischen Verhör in die Irrenanstalt zur Prüfung seines
Geisteszustandes gebracht worden war, fand +Legrand du Saulle+ einen
sanften und vernünftigen Burschen, der sich an nichts erinnerte, was
mit ihm vorgegangen war, über die Einschliessung sich ganz verwundert
zeigte und entlassen zu werden verlangte. Die Anamnese ergab, dass
Philibert V., sonst ein fleissiger, ruhiger und nüchterner Arbeiter,
von Zeit zu Zeit in eine reizbare, drohende Stimmung verfiel, im
aufgeregten Zustand seine Wohnung verliess, meist in der Richtung
gegen den Wald von Meudon forteilte und nach 24 bis 48 Stunden in
ganz abgehetztem Zustande zurückkehrte, ohne beim besten Willen
angeben zu können, was er während der Zeit gemacht, wo er gegessen
und wo er geschlafen habe. Den Tag vor der That hatte er in der
Weltausstellung zugebracht, hatte darauf die ganze Nacht gelesen,
trotz wiederholter Aufforderung seiner Mutter, sich zur Ruhe zu
begeben. Am Morgen war er höchst aufgeregt, hatte sich mit Lärm
angekleidet, seine Mutter beschimpft und war dann, nachdem er
sich in der Küche eines Messers bemächtigt hatte, auf die Strasse
gerannt, woselbst er offenbar den ersten Besten, der ihm begegnete,
niederstach. Die Amnesie war eine vollständige und auch in der
Anstalt selbst wurde noch in demselben Jahre ein analoger Fall von
Geistesstörung beobachtet. Der Vater des Mannes litt ebenfalls an
Epilepsie und befand sich zur Zeit der That seines Sohnes in einem
Irrenhause.
[Sidenote: Psychische Epilepsie.]
Der zweite Fall betrifft einen gewissen G., ehemaligen Soldaten
und dann Cassadiener bei einem Notar. Dieser Mann, welcher während
18 Jahren ein musterhafter Soldat von exemplarischer Nüchternheit
gewesen war, erschien von Zeit zu Zeit unruhig, verstimmt, abgespannt
und gab dann stets in unbestimmter Weise zu verstehen, dass er wegen
der grossen Verantwortung beim Cassadienst seine Stelle niederlegen
wolle, erholte sich aber stets schnell von seiner Verstimmung
und sprach über die Sache nicht mehr. Eines Tages legte er ganz
unerwartet Rechnung, verliess das Haus des Notars, begab sich ganz
aufgeregt zu seiner Schwester, sprach mit dieser freundschaftlich,
fiel dann plötzlich ohne alle Ursache über sie her und ermordete
sie durch 63 (!) Hiebe mit einem Hackmesser. Nach Bicêtre gebracht,
wusste er seine That nicht zu erklären und konnte sich nur ganz
dunkel an sie erinnern, war von einer herzbrechenden Traurigkeit,
weinte häufig und sprach fast gar nicht. Es stellte sich heraus,
dass G. schon als Soldat sich zeitweise in der Nacht bepisst hatte,
und dass auch in Bicêtre dies von Zeit zu Zeit geschah, dass G.
dann immer ganz ermattet erwachte und deshalb liegen blieb. Er
selbst hatte wiederholt Militär- und Civilärzte der nächtlichen
Harnincontinenz wegen consultirt, jedoch stets die Antwort erhalten,
dies geschehe im Traume und könne Jedermann passiren. An Epilepsie
dachte Niemand, die doch zweifellos bestand.
_c) Das hysterische Irrsein._
Abnorm gesteigerte spinale Reflexerregbarkeit, Geneigtheit zu
allgemeinen sowohl als localen Convulsionen, Hyperästhesien und
Anästhesien, sowie ganz eigenthümliche Organgefühle bilden bekanntlich
den Kern der in ihren Erscheinungsformen ungemein variablen Neurose,
die wir Hysterie nennen, welche fast nur beim weiblichen Geschlechte
vorkommt, obwohl das männliche davon nicht ganz ausgeschlossen ist
(+Morel+, +Charcot+). Dieses anomale, wie es scheint, meist in
angeborener (ererbter) fehlerhafter Organisation begründete Verhalten
des Nervensystemes kommt bei den Hysterischen auch in psychischer
Beziehung mehr weniger zum Ausdruck.
Die wichtigste Anomalie besteht im Bereiche des Fühlens als erhöhte
Empfindlichkeit und Reizbarkeit, welche bedingt, dass schon
durch verhältnissmässig geringe Veranlassungen Affecte ausgelöst
werden. Charakteristisch ist der häufige und unmotivirte oder
wenigstens unverhältnissmässige und meist in Extremen sich bewegende
Stimmungswechsel, der sich unter Anderem auch durch krankhafte Neigung
oder Abneigung gegen Personen, Thiere, Beschäftigungen etc., überhaupt
durch Launenhaftigkeit kundgibt. In anderen Fällen findet sich eine
gewisse Gemüthsstumpfheit, die sich durch boshafte, selbst grausame
Handlungen äussert, und nicht selten erreicht die Gemüthlosigkeit,
die moralische Verkehrtheit, sowie der daraus entspringende Egoismus
einen solchen Grad, dass sich das Bild des moralischen Irrseins
ergibt. Häufig sind gewisse Anomalien des geschlechtlichen Fühlens
vorhanden, die man seit jeher mit den Begriffen der Hysterie verband,
und welche entweder in erhöhter geschlechtlicher Erregbarkeit oder
in perversen Aeusserungen des Geschlechtstriebes bestehen, häufig zu
Onanie und anderen geschlechtlichen Excessen führen, die wieder für
sich auf Körper und Geist ungleich schädigender einwirken als bei
sonst gesunden Individuen. Zu den Abnormitäten des Fühlens gehören
auch verschiedene eigenthümliche Gelüste, die bekanntlich ebenfalls
den Hysterischen häufig zukommen, ebenso wie Capricen anderer Art.
Von anderen Eigenschaften Hysterischer ist insbesondere die krankhaft
erhöhte Einbildungskraft, die Sucht Aufsehen zu erregen, sowie der Hang
zur Lüge und Uebertreibung zu erwähnen; doch ist in letzterer Beziehung
zu bemerken, dass Angaben Hysterischer, die sich als unwahr oder
als Uebertreibung herausstellen, keineswegs immer auf absichtlicher
Feststellung der betreffenden Thatsachen beruhen müssen, sondern auch
nur in exaltirter Auffassung des Geschehenen oder, worauf insbesondere
+Krafft+-+Ebing+ aufmerksam machte, in Fehlern der Reproductionstreue
begründet sein können, so dass das Individuum von der Richtigkeit
seiner Angaben vollkommen überzeugt sein kann, obzwar die Unrichtigkeit
derselben ausser allem Zweifel steht.
[Sidenote: Hysterisches Temperament.]
Die forensische Beurtheilung der leichteren Formen der Hysterie,
des sogenannten „hysterischen Temperamentes“, ist im Allgemeinen
viel schwieriger, als die des eigentlichen hysterischen Irrsinnes,
obwohl gerade erstere wegen der Unverträglichkeit, Reizbarkeit
und der Gefühlsperversitäten der betreffenden Personen, ungemein
häufig zu Collisionen Veranlassung geben. Insbesondere sind es
Ehrenbeleidigungen, Verleumdungen, boshafte und selbst grausame
Handlungen, deren sich solche Individuen schuldig machen, oder sie
veranlassen Eifersuchts- und andere Scandalscenen, die mit ihrem
krankhaften sexuellen Fühlen in irgend einem Nexus stehen, worunter
auch fälschliche Anschuldigungen von an ihnen begangener Nothzucht
eine Rolle spielen. Auch Diebstähle sind häufig, deren Ursache sich
mitunter auf blosse Bosheit oder auf die erwähnten krankhaften Gelüste
zurückführen lässt. Sämmtliche diese Handlungen tragen im Allgemeinen
das Gepräge wohlbewusster und berechneter Acte, die desto mehr als
solche imponiren, je deutlicher ein äusseres Motiv für ihre Begehung
nachweisbar ist. Mitunter lässt allerdings das Missverhältniss zwischen
letzterem und der That, und die habituelle Geneigtheit zu solchen
Handlungen die krankhafte Basis dieser vermuthen, im Allgemeinen
ist jedoch diese weniger aus der betreffenden einzelnen Handlung zu
erkennen, sondern aus dem Vorhandensein der klinischen Symptome der
Hysterie. Diese und ihren Grad zu constatiren und ihren Einfluss
auf das Fühlen, Denken und Handeln des betreffenden Individuums zu
erörtern, ist Aufgabe des Gerichtsarztes. Wohl selten wird er sich
berechtigt fühlen, zu erklären, dass durch das abnorme Fühlen die freie
Willensbestimmung vollkommen ausgeschlossen gewesen sei (§. 51 deutsch.
St.-G.), oder ganz unmöglich geworden sei (§. 56 österr. St.-G.-E.),
noch weniger aber, dass eine gänzliche Beraubung der Vernunft im Sinne
des §. 2, lit. a, des gegenwärtigen österr. St.-G.-B. bestanden habe;
dagegen wird er häufig zugeben müssen, dass die betreffende Person
in Folge ihres Leidens weniger im Stande war, sich zu beherrschen,
respective den durch äussere Motive oder durch innere Gefühle
aufgetretenen Impulsen zu widerstehen, als unter analogen Verhältnissen
der normale Mensch. Sache des Gerichtes wird es sein, diese Thatsache
als Milderungsumstand aufzufassen und bei dem Ausmasse der Strafe in
Anrechnung zu bringen.
In den schwereren Formen des Hysterismus sind Sinnesdelirien
verschiedener Art eine häufige Erscheinung, und diese, sowie die
verschiedenen hypochondrischen Sensationen können leicht zur Ausbildung
entsprechender Wahnvorstellungen führen, da bei der Hysterie, ebenso
wie bei anderen Erscheinungsformen der psychischen Degeneration eine
grosse Geneigtheit zur einseitigen Fixirung gewisser Vorstellungen im
Bewusstsein und zur primären Verfälschung desselben besteht. In der
That ist das Bild, welches solche Individuen dann bieten, jenem der
primären Verrücktheit sehr analog, und insbesondere ist hier wie dort
der Verfolgungswahn eine häufige Erscheinung, sowie, und zwar noch
häufiger, gewisse Formen des religiösen Wahnsinns, namentlich die
Besessenheit und die visionär-ekstatischen Zustände.
Maniakische sowohl als melancholische Verstimmungen mit entsprechenden
Delirien, sowie die letztgenannten Zustände können im Anschlusse an
periodische Anfälle von „hysterischen Krämpfen“ auftreten, denselben
vorangehen oder vicariirend für diese sich einstellen. In diesem
Falle können wir denselben Aeusserungen begegnen, wie bei den
besprochenen analogen Formen der Epilepsie, insbesondere denselben
schreckhaften Delirien und Angsthandlungen. Doch sind die Details
des ganzen Paroxysmus ungleich variabler als bei der Epilepsie und
die Bewusstseinsstörung im Allgemeinen seltener so hochgradig als
bei dieser, weshalb auch die Amnesie, welche bei den epileptischen
Paroxysmen die Regel ist, bei den rein hysterischen die Ausnahme bildet
(+Schüle+).
[Sidenote: Dämonomanie.]
Von diesen Erscheinungsformen des hysterischen Irrseins haben
die dämonomanischen, sowie die visionär-ekstatischen noch eine
besondere Bedeutung einestheils insoferne, als dieselben gläubigen
Seelen als Aeusserung der Einwirkung höherer Mächte imponiren, und
von religiösen Fanatikern oder Proselytenmachern in ihrem Sinne
ausgebeutet werden, anderseits aber, weil sie auch bei anderen
disponirten Individuen den Anstoss zum Ausbruch ähnlicher psycho- oder
neuropathischer Erscheinungen und so selbst zum Auftreten förmlicher
hystero-dämonomanischer, insbesondere unter der Form des Besessenseins
sich präsentirender Epidemien Veranlassung geben können, die keineswegs
nur dem Mittelalter angehören, sondern auch in unseren Zeiten vorkommen
und trotz aller Aufklärung immer wieder zu denselben Verwirrungen
bezüglich ihrer Deutung führen.
[Sidenote: Besessenheit.]
Eine derartige Epidemie ist im Jahre 1878 und 1879 in Verzegnis in
Oberitalien vorgekommen, worüber in der „Rivista sperimentale“,
1879, pag. 89 von Dr. +Franzolini+ berichtet wird. Dieselbe ging
aus von einem 26jährigen Mädchen Namens Vidusson, welches bereits
seit 8 Jahren Symptome von Hysterie gezeigt hatte, insbesondere
Globus hystericus und häufigen unmotivirten Stimmungswechsel. Seit
Januar 1878 hatten sich hysterische Krämpfe eingestellt, die anfangs
von Jedermann für krankhaft gehalten und darnach behandelt wurden.
Allmälig entstand jedoch das Gerede, dass die Krämpfe und das mit
diesen verbundene Schreien eine ungewöhnliche Ursache haben müsse
und bald war das ganze Dorf sammt Umgebung der Ueberzeugung, dass
die V. besessen sei, umsomehr, als auch die Geistlichkeit dieser
Ansicht war und öffentliche Exorcismen einleitete, die das Uebel
nur verschlimmerten. Trotzdem blieb die V. durch 7 Monate mit
ihrer Krankheit isolirt. Erst im Juli fing ein anderes, ebenfalls
schon früher hysterisch gewesenes Mädchen an, ähnliche Symptome
zu zeigen und sofort darauf ein drittes und viertes, und nachdem
diese Erkrankungen ruchbar geworden waren und einen grossen
Zusammenlauf von Volk veranlasst hatten, namentlich aber, nachdem
die Geistlichkeit im Hause und öffentlich zahlreiche Exorcismen
vorgenommen hatte, wurde die Krankheit epidemisch, so dass im Ganzen
etwa 40 Frauen und Mädchen von derselben ergriffen wurden. +Bei
allen bestanden schon früher Erscheinungen gewöhnlicher Hysterie+,
Globus hystericus, Hyperästhesien, allgemeine sowohl als einzelner
Sinne, besonders des Gehörs, vorübergehende motorische und sensible
Lähmungen, hohe Reizbarkeit etc. Unter dem Einflusse der obgenannten
Umstände steigerten sich diese Erscheinungen nicht nur, sondern es
traten auch neue auf in der Form von dämonomanischen, anfallsweise
auftretenden Delirien von meist einstündiger Dauer, die meist
durch Gemüthsaufregungen, insbesondere durch religiöse Vorgänge
(Exorcismen) hervorgerufen wurden. Inhalt des Deliriums bildete stets
die Idee des Besessenseins, wobei die Kranken von einem in ihrem
Körper sich aufhaltenden bösen Geiste sprachen und sich so benahmen,
wie wenn die Schreie und Schimpfworte, die sie ausstiessen, von
diesem bösen Geiste ausgehen würden. Nach dem Anfalle verblieben
einige in einem Zustand von Somnolenz oder Ermattung, andere dagegen
boten ausser mässiger Erregung keine sonstigen Erscheinungen. Alle
erklärten, nichts von dem zu wissen, was während des Anfalles mit
ihnen geschah, was die untersuchenden Aerzte bezweifeln. Ueberhaupt
zeigte sich in diesen wie in anderen Fällen ein sonderbares Gemisch
von entschieden pathologischen Erscheinungen und zweifelloser
Simulation, eine Thatsache, durch welche sich der begutachtende
Arzt nicht beirren lassen wird, um so weniger, als gerade bei
Hysterischen die Neigung zu Uebertreibungen, Entstellungen etc.
mit zum Krankheitsbilde gehört und ebenso gegenüber thatsächlichen
äusseren Vorkommnissen als gegenüber den eigenen Sensationen und
pathologischen Symptomen sich geltend machen kann, wobei überdies
nicht zu übersehen ist, dass manche Aeusserungen, die als Simulation
imponiren, auch nur auf krankhafter Störung der Reproductionstreue
beruhen können.
[Sidenote: Visionär-ekstatische Zustände.]
Auch die +visionär-ekstatischen+ Zustände entwickeln sich aus
Hysterie und Hysteroepilepsie, treten ebenfalls anfallsweise auf,
meist in Verbindung mit Convulsionen und bestehen in einseitiger
traumhafter Fixirung des Bewusstseins durch religiöse Hallucinationen
und Wahnvorstellungen in religiös-hallucinatorischer Verzückung mit
mehr weniger vollständiger Amnesie für die Dauer des Anfalles. Auch
hier begegnen wir, ebenso wie bei den „Besessenen“, in der Regel
jener eigenthümlichen Combination mit offenbar simulirten Angaben
und Handlungen, deren Grund meist auf von den Kranken selbst oder
ihrer Umgebung beabsichtigte Irreführung oder Ausbeutung gläubiger
Seelen zu beziehen ist, im besten Falle aus der durch die gefundene
Beachtung und vermeintliche Bedeutung geweckten Eitelkeit sich
erklärt.
Eine interessante Beobachtung dieser Form hysterischen Irrseins
bringt +Krafft+-+Ebing+ (Lehrb. d. for. Psychop., pag. 200, und
Friedreich’s Blätter, 1874, pag. 374), betreffend eine 15jährige,
schon als Kind schreckhafte, nervöse Bauerstochter, welche in der
Entwicklungsperiode an polymorphen Krämpfen zu leiden hatte, zu
welchen sich im weiteren Verlaufe Verlust des Bewusstseins und
visionär-ekstatische Zustände hinzugesellten, während deren sie
den messelesenden Priester und den Empfang himmlischer Speisung
darstellt, später allerhand andere religiöse Pantomimen hinzufügt
und im offenbaren Einverständnisse mit ihren Angehörigen eine
vollständige Enthaltung von irdischer Nahrung simulirt hatte, weshalb
sie wegen Betrug in Anklagestand versetzt wurde.
_d) Die alkoholische Geistesstörung._
Es ist zu unterscheiden der +Rausch+ oder die transitorische
Geistesstörung, die durch den vereinzelten Genuss grösserer Mengen
von alkoholischen Getränken zu Stande kommt, von dem eigentlichen
+alkoholischen Irrsein+, welches in Folge habituellen Missbrauches
derselben sich entwickelt.
Der Rausch.
[Sidenote: Depressionsstadium.]
Man kann eine Exaltations- und eine Depressionsperiode des Rausches
unterscheiden. Das +Exaltations-+ oder +Excitationsstadium+ umfasst
die verschiedenen Grade der erregenden Wirkung des Alkohols. Die
niedersten Grade dieser Wirkung, wie sie nach mässigen Dosen dieses
Reizmittels sich einstellen, sind allgemein bekannt und bestehen in
Hebung der Stimmung, Erhöhung des Muskelgefühls und in Erleichterung
der Vorstellungsthätigkeit, somit zunächst in einer Erhöhung der
körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit, deren Erzielung den
Hauptgrund des so verbreiteten Genusses alkoholischer Getränke bildet.
Von dieser erwünschten Wirkung des Alkohols bis zum eigentlichen
Rausche gibt es mannigfache Uebergänge. Die Stimmung wird immer
erregter, übermüthiger, die Reizbarkeit wird erhöht, das Benehmen
lärmend, streitsüchtig, die Vorstellungsthätigkeit anfangs abnorm
beschleunigt, später überstürzt und ungeordnet und daher weniger im
Stande, die Handlungen des Betreffenden zu reguliren, insbesondere
die gleichzeitig erhöhten Triebe, namentlich den Geschlechtstrieb, in
entsprechender Weise zu beherrschen. Mit diesen Erscheinungen geht eine
zunehmende Röthung des Gesichtes und Pulserregung einher und die ersten
Zeichen beginnender Störung im Bereiche der Sinnesperception, sowie
motorische Störungen machen sich bemerkbar. Die Sinneswahrnehmungen,
besonders jene des Gesichtes, stehen mit den betreffenden Objecten
nicht mehr im richtigen Verhältnisse, werden unrichtig aufgefasst,
es kommt zu Fehlern in der Localisation der Objecte, die Sprache
wird überstürzt, später lallend, der Gang unsicher, das freie Stehen
erschwert. Hiermit ist der Uebergang zum +Depressionsstadium+ gegeben.
Die Sinnesperception wird immer trüber, matter, die Objecte erscheinen
wie verschleiert und verschwommen und schliesslich werden nur die
gröbsten Sinneseindrücke empfunden. Das Vorstellen wird ungeordnet,
die Betäubung immer auffälliger, das Sprechen immer schwerer und
geht schliesslich in unverständliches Lallen über; die Unfähigkeit
zum Gehen und Stehen nimmt zu, bis endlich das Individuum bewusstlos
zusammensinkt und in einen soporösen Zustand verfällt, aus welchem es
selbst durch Rütteln, Schreien und ähnliche Eindrücke gar nicht oder
nur unvollkommen erweckt werden kann und der dann in tiefen Schlaf
übergeht.
[Sidenote: Volle Berauschung.]
Von den hier in Betracht genommenen Gesetzen erwähnt nur das
gegenwärtige österr. St.-G. die Rauschzustände ausdrücklich, indem
es in §. 2 c eine Handlung oder Unterlassung auch dann für nicht
zurechenbar erklärt, wenn dieselbe in einer ohne Absicht auf das
Verbrechen zugezogenen „+vollen Berauschung+“ begangen worden ist. Wie
der Gesetzgeber diesen Ausdruck verstanden haben wollte, geht aus dem
Nachsatze derselben Alinea hervor, welcher lautet: „oder einer anderen
Sinnesverwirrung, in welcher der Thäter sich seiner Handlung nicht
bewusst war“. Es wäre demnach dieser Begriff im Allgemeinen identisch
mit dem der „Bewusstlosigkeit“, wie ihn der §. 56 des österr. St.-G.-E.
und der §. 51 des deutschen St.-G. gebrauchen, ohne die Trunkenheit
speciell zu erwähnen.[576]
[Sidenote: Einfluss des Rausches auf die Einsicht und
Willensbestimmung.]
Der Gesetzgeber scheint also ein berauschtes Individuum erst von
dem Zeitpunkte an als unzurechnungsfähig anzusehen, von welchem an
dessen Unterscheidungsvermögen (in dem oben auseinandergesetzten
weiteren Sinne) als gänzlich aufgehoben oder wenigstens hochgradig
getrübt anzusehen ist. Dies ist der Fall in den höheren Graden des
Depressionsstadiums des Rausches; es unterliegt jedoch keinem
Zweifel, dass schon in den früheren Stadien des Rauschzustandes und
noch bevor das Unterscheidungsvermögen in dem vom Gesetze offenbar
gemeinten Grade alienirt ist, die Fähigkeit des Betreffenden, gewissen
Impulsen zu widerstehen, so wesentlich beeinträchtigt sein kann, dass
auch schon deshalb die Zurechnungsfähigkeit als aufgehoben angesehen
werden muss. Dies muss umsomehr zugegeben werden, als sich aus dem
Gebahren Berauschter unschwer erkennen lässt, dass überhaupt der
Einfluss des Alkohols sich früher in Störungen der Selbstbestimmungs-
(Selbstbeherrschungs-) Fähigkeit und in Alterationen des Fühlens
bemerkbar macht, als in solchen der Intelligenz.[577]
Obgleich im Allgemeinen die verschiedenen Grade der Störung, die
sowohl die Intelligenz, als die Selbstbestimmungsfähigkeit im Rausche
erleidet, so bekannt sind, dass man meinen sollte, dass Richter und
Geschworene allein im Stande wären, sich über das Vorhandensein
derselben und ihren Einfluss auf die Zurechnungsfähigkeit selbst ein
Urtheil zu bilden, und obzwar, weil diese Meinung allgemein verbreitet
ist, in solchen Fällen, wo blos die Trunkenheit des Thäters in Frage
kommt, in der Regel eine ärztliche Begutachtung des Geisteszustandes
nicht gefordert wird, so ist doch die Beurtheilung solcher Fälle
keineswegs eine leichte, einestheils der vielfachen Uebergänge
wegen, die zwischen vollkommener und bereits beeinträchtigter
Selbstbestimmungsfähigkeit, sowie noch mehr zwischen letzterer und
vollkommener Aufhebung derselben existiren, anderseits weil schon unter
normalen Verhältnissen eine ganze Reihe individueller und äusserer
Umstände die Intensität der Alkoholwirkung beeinflusst, so z. B. von
ersteren die Angewöhnung, von letzteren die Qualität (Stärke) des
Getränkes, die Menge, die in einer bestimmten Zeit getrunken wurde,
die Temperatur des betreffenden Raumes, anderweitige Aufregung etc.
Auch ist leicht einzusehen, dass es im Verlaufe des Rausches, so lange
das Individuum überhaupt noch handlungsfähig ist, keine Erscheinung
gibt, deren Auftreten für sich allein etwa die Grenze zwischen blos
geminderter und bereits aufgehobener Selbstbestimmungsfähigkeit
bezeichnen würde. Eine solche Erscheinung wäre allerdings der Verlust
der Erinnerung, und auf dieselbe zu reagiren ist von besonderer
Wichtigkeit. Die Amnesie ist aber natürlich erst nachträglich
constatirbar, ihr Nachweis auf objectivem Wege nicht leicht zu
führen und Vorsicht in dieser Beziehung umsomehr angezeigt, als bei
Individuen, die im Rausche irgend eine strafbare That begangen haben,
nichts gewöhnlicher ist, als die naheliegende Angabe der Amnesie.
Anderseits schliesst vollkommene Erinnerung an das Vorgefallene
eine Unfähigkeit zur Selbstbestimmung keineswegs aus, da ja, wie
oben erwähnt, letztere auch bestehen kann, ohne dass der Rausch bis
zur „Bewusstlosigkeit“ gediehen sein musste. Letzterer Umstand ist
auch deshalb beachtenswerth, weil man bei Laien ganz gewöhnlich der
Ansicht begegnet, dass in hoher Trunkenheit begangene Handlungen
nothwendig einen confusen verworrenen Charakter an sich tragen
müssen, während trotz aufgehobener oder hochgradig beeinträchtigter
Selbstbestimmungsfähigkeit noch Handlungen vorkommen können, die sich
in ihrer äusseren Erscheinung von frei gewollten nicht wesentlich
unterscheiden.
Das Verhalten nach der That ist bei bis zur Unzurechnungsfähigkeit
Berauschten keineswegs immer gleich. In vielen Fällen bleibt das
Gebahren des Individuums auch nach der That ein dem bisherigen
entsprechendes und das Fortdauern dieses Gebahrens, respective das
Fortdauern oder gar die Zunahme der Symptome der Trunkenheit ist
von hoher diagnostischer Bedeutung, von noch grösserer das etwa
bald auftretende Verfallen in jenen tiefen Schlaf, wie er schwere
Rauschzustände abzuschliessen pflegt. In anderen Fällen folgt der
That eine gewisse Ernüchterung, in Folge welcher der Betreffende die
Bedeutung seiner Handlung erkennt und darnach sich zu benehmen vermag.
Fälle dieser Art sind ungleich schwieriger zu beurtheilen als die
erstangeführten, insbesondere die betreffenden Handlungen umsoweniger
von blossen Affecthandlungen zu unterscheiden, je mehr sie in dieser
Richtung motivirt erscheinen. Hier ist es besonders angezeigt, sich
nicht etwa nur an einzelne Symptome, Motive etc. zu halten, sondern
sämmtliche Momente in ihrem Zusammenwirken einer sorgfältigen Würdigung
zu unterziehen, um zu einer Abschätzung des Geisteszustandes des
Betreffenden im Momente der That zu gelangen.
[Sidenote: Abnorme Reaction gegen Alkohol.]
Wir haben bisher den Alkoholrausch im Auge behalten, wie er sich unter
gewöhnlichen Verhältnissen zu äussern pflegt. Forensisch ungemein
wichtig ist aber die Thatsache, dass verhältnissmässig häufig +abnorme
Reactionen gegen Alkoholgenuss+ vorkommen, die sich entweder dadurch
kundgeben, dass schon verhältnissmässig geringe Quantitäten von Alkohol
Rauschzustände hervorrufen oder dadurch, dass im Verlaufe letzterer
ungleich intensivere oder solche Geistesstörungen eintreten, die beim
gewöhnlichen Rausche sich nicht einzustellen pflegen. +Krafft+-+Ebing+
(l. c. 261) fasst solche abnorme Erscheinungsformen der Alkoholwirkung
unter der Bezeichnung „der pathologischen Rauschzustände“ zusammen,
eine Bezeichnung, die insoferne nicht ganz richtig ist, als ja auch der
gewöhnliche Rausch als ein pathologischer Zustand aufgefasst werden
muss.
Der Intoleranz gegen Alcoholica wegen nicht erfolgter Angewöhnung
an diese wurde bereits Erwähnung gethan und sie muss insbesondere
bei Frauen und sehr jugendlichen Individuen in Betracht gezogen
werden. Eine solche kann aber auch aus pathologischen Gründen
bestehen, insbesondere als Theilerscheinung einer abnorm labilen
Gehirnorganisation, wie bei Hereditariern, bei Epileptikern, in den
Anfangsstadien und im weiteren Verlauf von Psychosen, so namentlich
in maniakischen Zuständen, beim paralytischen Irrsein, oder sie kann
nach der Genesung von Psychosen oder anderen schweren Hirnerkrankungen,
namentlich nach Kopfverletzungen, zurückbleiben oder endlich als
Theilerscheinung des chronischen Alkoholismus selbst sich entwickeln.
Verhältnissmässig geringe Mengen alkoholischer Getränke genügen,
um die Functionen solcher defecter Hirne in Unordnung zu bringen,
und derartige Individuen werden leicht für gewöhnliche Trunkenbolde
gehalten, während der Leichtigkeit und Häufigkeit, mit welcher sie in
Rausch verfallen, pathologische Hirnzustände zu Grunde liegen.
Die Rauschzustände selbst gestalten sich bei solchen Individuen leicht
abnorm, entweder indem die Excitation den Charakter maniakischer
Aufregung annimmt oder indem Delirien auftreten oder beide Zustände
sich combiniren. Rauschzustände dieser Art sind meist gefährlichen
Charakters und zeigen nicht selten eine gewisse Aehnlichkeit mit aus
anderen Ursachen auftretenden transitorischen Manien, mit denen sie
auch das Brüske des Auftretens, die tiefe Störung des Bewusstseins, den
raschen Verlauf und den Ausgang in tiefen Schlaf mit nachträglicher
Amnesie gemein haben.
Alkoholisches Irrsein im engeren Sinne.
Die Summe der krankhaften Veränderungen, die sich in Folge habituellen
Uebergenusses alkoholischer Getränke einstellen, pflegt man als
chronischen Alkoholismus zu bezeichnen. Das alkoholische Irrsein ist
somit eine Theilerscheinung des letzteren.
Die somatischen Veränderungen in Folge chronischen Alkoholismus sind
bekannt. Abnorme Fettbildung, sowohl im subcutanen Zellgewebe als
insbesondere in den inneren Organen, Leber, Nieren, willkürlicher
und unwillkürlicher Musculatur (Herz), sowie an den Gefässen als
körnige und fettige Degeneration derselben bildet die klinisch
und anatomisch am meisten hervortretende Veränderung. Ferner
chronische Catarrhe des Magens, der Lungen, auch des Rachens und
der Conjunctiven, Erweiterung der kleinen Gefässe mit consecutiven
Stasen, sowohl in der Haut, besonders des Gesichtes, als in den
inneren Organen, von denen namentlich die in der Pia meninx und
die consecutiven chronischen Oedeme der inneren Hirnhäute, die
Verdickungen derselben und die chronische Pachymeningitis zu
erwähnen sind. Verdauungsstörungen, Appetitlosigkeit, häufige
Kopfschmerzen, Schwindel, zunehmende Sehschwäche, gestörter Schlaf,
sensible und motorische Störungen, namentlich Muskelschwäche,
Tremores, Herzpalpitationen, in schweren Formen lähmungsartige oder
Collapsuszustände oder epileptische, beziehungsweise epileptiforme
Anfälle vervollständigen das Bild.
[Sidenote: Psychische Degeneration der Säufer.]
Die psychischen Störungen im Verlaufe des chronischen Alkoholismus
bestehen entweder in progressiv sich entwickelnder psychischer Schwäche
oder in intercurrirenden, mehr weniger anfallsweise auftretenden
Psychosen. Häufig sind Combinationen beider Zustände.
Die fortschreitende +psychische Schwäche der Alkoholiker+ pflegt
sich zuerst im Bereiche des sittlichen und ethischen Fühlens geltend
zu machen, indem sich in dieser Beziehung eine gewisse Stumpfheit
kundgibt, die bis zur moralischen Anästhesie sich steigern kann (Moral
insanity). Veränderung des Charakters ist hiervon die nächste Folge,
die desto mehr auffällt, je weniger sie zufolge des Standes, der
Erziehung und des früheren Verhaltens des Individuums erwartet werden
kann. Vernachlässigung der gewöhnlichen, früher auch beobachteten
Forderungen der Sitte, des Anstandes, der Reinlichkeit inauguriren die
geistige Decadenz und insbesondere jene sittliche und gesellschaftliche
Verkommenheit, in welche der Trunkenbold schliesslich verfällt.
Ungleich später zeigen sich auffallendere Zeichen von Beeinträchtigung
der Intelligenz als progressiver Schwachsinn, die schliesslich selbst
in Blödsinn übergehen kann. Exacerbationen und Remissionen machen sich
bemerkbar; erstere insbesondere nach neuerlichen Alkoholexcessen,
wobei die zunehmende Intoleranz gegen Alcoholica immer mehr sich
kundgibt. Erhöhte Reizbarkeit, häufiger unmotivirter Stimmungswechsel
und zeitweilige Anwandlungen von Sinnestäuschungen, besonders des
Gesichtes, sowie von Verfolgungswahnideen sind häufige Erscheinungen.
Charakteristisch ist die zunehmende Schwäche der Willenskraft, die den
Betreffenden trotz noch vorhandenen Einsicht in das Verderbliche seines
Gebahrens verhindert, dem physischen und psychischen Verfall durch
Aufgeben oder Mässigen des Alkoholgenusses sich entreissen und ihn
immer wieder den herantretenden Versuchen unterliegen lässt.
Man begreift, dass unter solchen Umständen die Fähigkeit,
verbrecherischen Impulsen zu widerstehen, frühzeitig eine
Beeinträchtigung erfahren muss und dass dieselbe, wenn die psychische
Degeneration bereits weiter gediehen ist, leicht vollständig aufgehoben
werden kann. Daraus erklärt sich auch das unverhältnissmässig grosse
Contingent, welches dem Trunke ergebene Individuen zur Zahl der
Verbrecher liefern und nicht minder die auffällig häufigen Recidiven
bei diesen.
[Sidenote: Delirium tremens.]
Von den transitorisch auftretenden psychischen Störungen der
Alkoholiker ist zunächst das +Delirium tremens seu potatorum+ zu
erwähnen. Man versteht darunter acut auftretende Anfälle maniakischer
Aufregung oder Angst von 2- bis 8tägiger Dauer mit specifischen
Delirien unter gleichzeitiger Exacerbation der somatischen Symptome
des Alkoholismus, besonders der Tremores. Die Anfälle werden
meist durch besondere Ursachen ausgelöst, so durch einen starken
Rausch, jedoch nicht immer im unmittelbaren Anschluss an diesen,
sondern häufig erst 2-3 Tage nach dem Excess, ferner durch heftige
Gemüthsaufregungen, durch Verletzungen, acute Erkrankungen, durch
epileptische Anfälle, aber auch durch die plötzliche Entziehung des
gewohnten Alkoholgenusses, überhaupt durch alle heftigen psychischen
oder physischen Eingriffe, und zwar desto leichter, je öfter bereits
Anfälle von Delirium tremens aufgetreten waren. In der Regel geht ein
kurzes (1-2tägiges) Prodromalstadium voraus, bestehend in Unwohlsein,
Kopfschmerz, gastrischen Erscheinungen und Schlaflosigkeit, worauf
rasch der Ausbruch des Deliriums erfolgt; der Kranke wird ungemein
aufgeregt, unruhig, ängstlich, sucht zu entfliehen, und es treten
Hallucinationen auf, besonders des Gesichtes, die sehr häufig
Thiervisionen, besonders grosse Mengen kleinerer, selten grösserer
Thiere (Mäuse, Käfer, Schlangen, Wölfe), aber auch andere durchwegs
schreckende Objecte fast immer in grosser Zahl, z. B. Schaaren von
Polizisten, Gespenster u. dergl. zum Gegenstande haben. Das Bewusstsein
ist nicht vollständig aufgehoben und man vermag auf lautes Anrufen
mitunter verständige Antworten zu erhalten, worauf jedoch alsbald
das Bewusstsein von den Hallucinationen occupirt wird. Auch die
Erinnerung besteht und der Kranke ist in der Lage, nach erfolgter
Genesung über die Vorgänge während des Deliriums ziemlich gut Auskunft
zu geben. Während der Dauer des Anfalles besteht Schlaflosigkeit; mit
dem ersten guten Schlafe verschwinden meist die Symptome, mitunter
aber halten sie noch einige Zeit in abgeschwächtem Grade an. Fieber
besteht nur ausnahmsweise, häufig dagegen Albuminurie. Das Delirium
tremens findet sich am häufigsten im Mannesalter (zwischen 30-50
Jahren), nur ausnahmsweise bei jüngeren Männern und noch seltener bei
Frauen. Habitueller Schnapsgenuss ist in dieser Beziehung ungleich
gefährlicher, als der von Wein oder Bier, vielleicht weniger des hohen
Alkoholgehaltes wegen, als wegen Mitwirkung des Amylalkohols (Fuselöls)
oder, wie beim Absynth, gewisser ätherischer Oele. Auch verdient
die Thatsache Beachtung, dass sowohl das Delirium tremens, als der
Alkoholismus überhaupt weniger bei solchen Individuen sich einstellt,
die isolirte Rausche sich antrinken, dazwischen aber immer nüchtern
bleiben, als bei jenen, die in verhältnissmässig kurzen Zwischenräumen
monate- oder gar jahrelang, wenn auch immer nur kleinere Quantitäten
alkoholischer Getränke geniessen und daher fast perpetuell unter dem
Einflusse des Alkohols stehen, wie z. B. Kellner, Gastwirthe, Kutscher
etc.
Während des Deliriums sind die Betreffenden sowohl sich als Anderen
gefährlich. Sich selbst theils wegen der gestörten Perception der
Aussenwelt, die sie z. B. veranlasst, Fenster für Thüren anzusehen,
theils in Folge der durch die schreckhaften Sinnesdelirien genährten
Angst, die sie zu lebensgefährlichen Fluchtversuchen und nicht selten
zum Selbstmorde treibt; Anderen durch Angsthandlungen, in Folge
hallucinatorischer oder illusorischer Verkennung der Personen und ihres
Gebahrens und der daraus sich ergebenden Wahnvorstellungen.
[Sidenote: Verfolgungswahn bei Säufern.]
Eine zweite forensisch besonders wichtige und verhältnissmässig
häufige Form von transitorischem Irrsein der Alkoholiker ist die des
+Verfolgungswahns+. Es kommt auf Grundlage der durch den Alkoholismus
bewirkten abnormen Sensationen und daraus entspringenden Illusionen
oder in Folge aufgetretener Hallucinationen zu hypochondrischer und
melancholischer Verstimmung und zu Verfälschungen des Bewusstseins
durch Wahnvorstellungen, welche durchwegs eine Bedrohung der eigenen
Persönlichkeit durch Andere zum Inhalte haben, ohne dass sonst die
Logik des Denkens wesentlich beeinträchtigt wäre. Wir haben es
demnach mit demselben Krankheitsbilde zu thun, wie wir es bereits als
eine, und zwar häufige Erscheinungsform der primären Verrücktheit
kennen gelernt haben. Es kommt eben dem Gehirn des Alkoholikers die
gleiche Geneigtheit zu, äussere Eindrücke und innere Sensationen
(Hallucinationen und Illusionen) unmittelbar zu Wahnvorstellungen
umzusetzen, wie dem anderweitig, insbesondere durch angeborene,
namentlich hereditäre Veranlagung defecten. Doch unterscheidet sich der
aus Alkoholismus entsprungene Verfolgungswahn von der gleichen Form der
primären Verrücktheit theils durch die Anamnese und das gleichzeitige
Bestehen anderer Symptome des chronischen Alkoholismus, vorzugsweise
aber durch das blos zeitweise oder wenigstens mit Exacerbationen und
Remissionen verbundene Auftreten der Verfolgungsideen, sowie auch durch
die fortschreitende psychische Decadenz, während der Verfolgungswahn
der primären Verrücktheit einen mehr habituellen psychischen Zustand
darstellt und durch das ganze Leben bestehen kann, ohne in Blödsinn
oder Schwachsinn zu übergehen. Die Hallucinationen und Illusionen,
sowie die daraus sich entwickelnden Wahnvorstellungen sind in beiden
Fällen dieselben. Auffallend häufig ist der Wahn ehelicher Untreue,
eine forensisch sehr beachtenswerthe Thatsache, weil gerade dieser
Wahn leicht zu Gewaltthaten führen kann. Auch der Vergiftungswahn ist
nicht selten und steht wahrscheinlich mit den so häufigen Catarrhen der
Schling- und Verdauungsorgane in einem Zusammenhange.
[Sidenote: Trance state.]
Eine besondere, allerdings noch weitere Prüfung erfordernde Form
transitorischen Irrseins der Alkoholiker sind die von +Crothers+
und +Beard+ (Virchow’s Jahrb. 1872, I, 489) als +Trance state+
beschriebenen transitorischen Zustände der Alkoholiker, während
welcher das Individuum sich wie ein bewusstes benimmt, aber
nachträglich für das, was in dieser Zeit geschah, keine Erinnerung
besitzt. Diese automatischen Zustände, welche in manchen Beziehungen
an die bei Hypnotismus oder bei Epilepsie auftretenden erinnern,
werden durch neuerlichen Alkoholgenuss hervorgerufen, der aber
keineswegs ein übermässiger zu sein braucht. Nach +Crothers+
und +Beard+ ist diese Erscheinung häufig; insbesondere hat
+Crothers+ dieselbe in 62 Fällen beobachtet und ist überzeugt,
dass eine Menge von verbrecherischen Handlungen in einem solchen
die Zurechnungsfähigkeit ausschliessenden „Trance state“ verübt
wurden und, obgleich sie häufig mit dem sonstigen Charakter des
Thäters im Widerspruche standen und auch sonst nicht motivirt
erschienen, doch in der Regel zur Verurtheilung führten, weil keine
schwere Berauschung nachgewiesen werden konnte und die behauptete
Amnesie keinen Glauben fand. +Crothers+ theilt seine Fälle in
drei Kategorien: erstens solche, in welchen die Geistesthätigkeit
während der „Trance“ in den gewohnten Bahnen des Denkens und
Handelns verblieb; zweitens solche, in denen ungewohnte Gedanken
und Handlungen sich äusserten; und drittens solche, in denen
verbrecherische Impulse bestanden.
[Sidenote: Dipsomanie.]
Die +Dipsomanie+ oder der sogenannte Quartalsuff, d. h. die meist in
längeren Intervallen paroxysmusweise sich einstellende Trinkwuth,
während welcher sich der Kranke, der in den Intervallen der
ordentlichste und nüchternste Mensch sein kann, dem sinnlosesten
Trinken ergibt, wobei es ihm schliesslich gar nicht mehr auf die
Qualität, sondern auf die Menge und Stärke des alkoholischen Getränkes
ankommt, findet sich vorzugsweise bei erblich Belasteten und dürfte,
wie vorzugsweise von +Magnan+ und +Tamburini+ (Virchow’s Jahrb.
1884, II, 52 und 1885, I, 515) ausgeführt wurde, nur eine der vielen
Formen des hereditären periodischen Irrseins darstellen, welche
mit paroxysmalen Trinkimpulsen einhergeht und mit Alkoholismus nur
insoferne eine Beziehung hat, als die wiederholten und gehäuften
Alkoholexcesse zu diesem und seinen Consequenzen führen können.
[Sidenote: Berauschende Gifte.]
Analoge psychische Störungen, wie wir sie nach übermässigem
Alkoholgenuss auftreten sehen, können auch in Folge der Einwirkung
anderer in die Classe der +narcotischen oder ihnen verwandten Gifte+
gehörenden Substanzen (der sogenannten Hirngifte) auftreten.
Zunächst kann man bei allen mit diesen zu Stande gekommenen
acuten Vergiftungen ein Excitations- und ein Depressionsstadium
unterscheiden und das erstere, welches nur beim Chloralhydrat
vollkommen zu fehlen scheint (+Schülle+), bietet im Allgemeinen das
Bild des Rausches mit mehr oder weniger entwickelter Aufregung und
Sinnesdelirien, während dessen Gewaltthaten leicht vorkommen können.
Am bekanntesten ist in dieser Beziehung der rauschartige Zustand und
die damit verbundene, mitunter hochgradige Aufregung in den ersten
Stadien der Chloroform- oder Aethernarcose und der Opiumrausch.
Aber auch nach grösseren Gaben von Morphium (0·015-0·05) wurden
solche Zufälle beobachtet, ferner nach Vergiftung mit Solaneen
(Hyosciamus, Belladonna, Datura etc.) oder giftigen Schwämmen;
ferner nach Einwirkung von Kohlenoxydgas (auch von SH: +Eulenberg+,
Gewerbehyg. 143), endlich auch nach Einwirkung der leichten
Kohlenwasserstoffe, besonders des Benzins (+A. Gabalda+, Sur les
accid. causés par la Benzine et la Nitrobenzine. Paris 1879),
wobei bemerkenswerth ist, dass maniakische Aufregungen auch erst
nachträglich, nachdem das Individuum aus dem Betäubungszustande
zu erwachen beginnt, auftreten können. Ein solcher Fall,
betreffend einen durch Leuchtgas vergifteten und während der
Wiederbelebungsversuche maniakalisch gewordenen Arbeiter, findet sich
im Jahresbericht f. Pharmacie, 1870, pag. 540, ein anderer von Manie
beim Erwachen aus einer Atropinnarcose in der Wiener med. Presse,
1878, Nr. 36.
[Sidenote: Morphinismus.]
Noch wichtiger ist die Thatsache, dass habitueller Missbrauch,
respective chronische Einwirkung einzelner der genannten Stoffe
analoge Veränderungen im Organismus, insbesondere analoge psychische
Störungen hervorbringen kann, wie wir sie beim chronischen
Alkoholismus kennen gelernt haben. Solche Zustände sind nach lange
fortgesetzter Einwirkung von Chloroform, Aether, Benzin, insbesondere
aber nach Missbrauch von Morphiuminjectionen beobachtet worden. Der
auf letztere Weise herbeigeführte Zustand ist als +Morphinismus+
bekannt. Man kann bei diesem ebenso wie beim Alkoholismus die
allmälig zu Stande kommende somatische und psychische Veränderung,
den Morphinismus im engeren Sinne, und gewisse intercurrirende,
dem Delirium tremens analoge Exaltationszustände unterscheiden.
Erstere ist im Allgemeinen ähnlich jener der Alkoholiker, doch fehlt
die abnorme Fettbildung und die Kranken magern im Gegentheile ab
(+Fiedler+, +Levinstein+). Die Hautfarbe wird blass und fahl, der
Gesichtsausdruck schlaff, der Blick ausdruckslos, verschwommen.
Unsicherer Gang und Tremores, besonders der Zunge, stellen sich ein.
Appetit und Geschlechtstrieb schwinden, sensorische und sensible
Anästhesie oder Hyperästhesie treten auf, ausserdem zunehmende
psychische Schwäche, besonders Abnahme des Gedächtnisses und der
Willensenergie, sowie Geneigtheit zu Illusionen und Hallucinationen
und zu unmotivirtem Stimmungswechsel.
Die dem Delirium tremens analogen Excitationszustände treten
insbesondere nach plötzlicher Entziehung der gewohnten
Morphiuminjectionen ein. Es kommt zu hochgradiger Aufregung,
Angst und Verzweiflung, Tremor, Hallucinationen und Neigung zum
Selbstmord, meist mit Collapserscheinungen beiläufig 12 Stunden nach
der Entziehung (+Levinstein+). Gewaltthaten gegen sich und Andere
können in einem solchen Aufregungszustande leicht vorkommen und mit
allem Grund empfiehlt +Levinstein+ bei seiner Behandlungsmethode
des Morphinismus durch plötzliche Entziehung des Morphiums die
sorgfältigste persönliche Ueberwachung seitens des Arztes. Beim
hiesigen Strafgericht sind bereits wiederholt Fälle vorgekommen,
in welchen der Morphinismus einmal eine Rolle spielte. Einmal bei
einem wegen Betruges zu 24stündiger Haft verurtheilten Photographen,
bei dessen vorschriftsmässig vorgenommener Leibesvisitation eine
Injectionsspritze und Morphiumlösung gefunden und trotz Protestation
des Gefangenen verwahrt worden war. Am anderen Tage befand sich der
Inhaftirte in der grössten Aufregung, tobte und schrie, er werde
wahnsinnig und konnte in keiner Weise beruhigt werden. Der Zustand
wurde als Morphinismus erkannt und, da die Haft abgelaufen war,
dem Manne das Spritzchen und die Lösung ausgefolgt, worauf sein
nächstes Beginnen war, sich noch auf dem Corridor des Gefängnisses
eine Injection beizubringen. In einem zweiten Falle hatte ein bei
einem Taschendiebstahl ergriffener Arzt (!) sich als Morphiophagen
ausgegeben und behauptet, die That in einer durch Morphiummissbrauch
(innerlich und durch Injectionen) bewirkten Geistesverwirrung
begangen zu haben. Sämmtliche diesbezügliche Angaben wurden als
Lügen constatirt und in dem gerichtsärztlichen Gutachten, als gegen
Morphinismus sprechend, mit Recht der Umstand hervorgehoben, dass
bei dem Betreffenden, obgleich er, während er sich in Beobachtung
befand, kein Morphin zu nehmen in der Lage war, gleichwohl nicht
jene Erscheinungen auftreten, die nach plötzlicher Entziehung des
gewohnheitsmässigen Gebrauches von Morphium unausbleiblich sind. --
Den Angaben neuerer Beobachter zufolge (+Schmidbauer+, +Garnier+,
+H. Smith+ u. A.) sind es vorzugsweise Hereditarier und andere
neuropathische Individuen, welche zu Morphinismus, respective zu
den dadurch veranlassten dauernden oder transitorischen psychischen
Störungen disponiren, was auch bei Beurtheilung forensischer Fälle in
Betracht kommen müsste.
[Sidenote: Fieberdelirium.]
Mit den durch toxische Stoffe bewirkten acuten und chronischen
psychischen Störungen haben in vielen Beziehungen diejenigen eine
Aehnlichkeit, welche durch +infectiöse Erkrankungen+ zu Stande
kommen können.
Wir meinen zunächst das +Delirium+ bei acuten Erkrankungen dieser
Art, welches in den fieberhaften Stadien bekanntlich zum Bilde vieler
derselben gehört. Allgemein bekannt ist das Typhusdelirium und das
Delirium bei den acuten Exanthemen, besonders der Scarlatina und
der Variola, ferner beim Gesichtserysipel. Aber auch viele andere
und darunter sehr gewöhnliche acute Erkrankungen können mitunter
mit Delirien einhergehen; so die croupöse Pneumonie, der acute
Gelenksrheumatismus und acute septicämische Processe, insbesondere
das Puerperalfieber. Aufregung, Sinnestäuschung und hochgradige
Bewusstseinsstörung bilden das gewöhnliche Bild des betreffenden
Fieberdeliriums, welches auf eine Reizung des Gehirns theils durch die
Infectionsstoffe selbst, theils durch die hohen Fiebertemperaturen
zurückgeführt werden kann. Für die wesentliche Mitwirkung des letzteren
Momentes spricht das Zusammenfallen der Delirien mit den höchsten
Temperaturssteigungen und die bei der Insolation (Sonnenstich) gemachte
Erfahrung, dass hohe Hitzegrade für sich allein nicht blos schwere
Störungen der Hirnfunctionen im Allgemeinen, sondern insbesondere acute
Geistesstörungen, theils depressiven, theils maniakischen Charakters
herbeizuführen vermögen. Das Delirium muss aber keineswegs auf der Acme
der Erkrankung eintreten, sondern kann bereits im Beginne derselben
sich einfinden, was insbesondere im sogenannten Ausbruchsstadium der
acuten Exantheme geschehen kann. Kinder und jugendliche Individuen
bieten am häufigsten diese Erscheinung, aber auch bei Erwachsenen kann
sie vorkommen, und es scheinen besonders Alkoholiker und überhaupt
solche Individuen dazu zu disponiren, deren Gehirn zu geistiger
Erkrankung eine originäre oder erworbene Geneigtheit besitzt.
So haben wir pag. 417 eines Kindes erwähnt, welches von seinem
eigenen Vater in Folge eines im Ausbruchsstadium der Blattern
aufgetretenen Deliriums aus dem Fenster geworfen worden war. Das
gerichtsärztliche Gutachten über den damaligen Geisteszustand
des Mannes hat +Zippe+ (Wiener med. Wochenschr. 1877, pag. 128)
mitgetheilt. Der Betreffende, M. E., 35 Jahre alt, hatte im Alter von
14 Jahren einen schweren Typhus durchgemacht und im 19. Jahre wurde
er von den Flügeln einer Windmühle erfasst und dabei so verletzt,
dass er durch mehrere Wochen bewusstlos gelegen haben soll. M. E. ist
wirthschaftlich ganz herabgekommen, hat sein eigenes und seiner Frau
Vermögen durchgebracht, ist dem Trunke ergeben und hat seit jeher
excessiv gelebt. Am 15. October ging er, obgleich sich schon unwohl
fühlend, wie gewöhnlich zur Arbeit, kam schon zeitlich Nachmittags
nach Hause mit zerrissenen und beschmutzten Kleidern und sah nach
Angabe seiner Kinder ganz verändert aus, als ob er krank wäre. Er
misshandelte seine Kinder in rohester Weise, wie er es bis dahin
nicht gethan hatte und drohte, sie Alle aufzuhängen. Abends erfolgte
Nasenbluten. Den ganzen anderen Tag blieb er im Bette und in den
ersten Morgenstunden der folgenden Nacht erfolgte die That, während
die übrigen Kinder schliefen. Kurz nach derselben fand man M. E.
angekleidet an sein Bett angelehnt und er antwortete auf die Frage,
wie sein Kind auf die Strasse komme, in roher Weise: „Weil ich es
heruntergeschmissen habe“, und weiter, dass er es nicht mehr ernähren
könne. Letztere Erklärung gab er auch am Polizeicommissariate ab,
woselbst er bis zum 19. Morgens verblieb, dann an das Landesgericht
abgeliefert wurde, wo man zahlreiche frische Blatternpusteln an
ihm bemerkte und sofort die Uebertragung in das Inquisitenspital
veranlasste. Bei der später durch die Gerichtspsychiater
vorgenommenen Untersuchung fanden sich zahlreiche noch frische
Blatternnarben im Gesicht, und sowohl das Aussehen des Mannes, als
die Anamnese liessen den Potator erkennen. Das Gutachten ging mit
Recht dahin, dass die That im ersten Fieberdelirium vor dem Ausbruche
einer Blatternerkrankung verübt wurde, und es wurde insbesondere
ausgeführt, dass M. E. offenbar schon am 15. October erkrankt war
und Fiebererscheinungen zeigte, die Vorboten des Blatternausbruches
waren und bereits auf das Bewusstsein des M. E. störend eingewirkt
hatten und noch mehr im weiteren Verlaufe einwirken konnten, um so
leichter, als bei ihm in Folge früherer schwerer Hirnerkrankungen und
der Trunksucht eine exquisite Disposition zu Bewusstseinsstörungen
vorhanden war.
[Sidenote: Geistesstörung in Folge schwerer Erkrankung. Traumzustände.]
Es können ferner die im Verlaufe der genannten Erkrankungen theils
als gewöhnliches Delirium, aber auch in Form melancholischer oder
maniakischer Psychosen auftretenden Geistesstörungen mit der Erkrankung
selbst exacerbiren und remittiren, wie dies insbesondere während
des acuten Gelenksrheumatismus wiederholt beobachtet und zuerst von
+Griesinger+ hervorgehoben wurde. In anderen Fällen kommt es erst in
der Reconvalescenz zu Geistesstörungen, vorzugsweise zu Melancholien
mit zeitweiligen Angstanfällen und schreckhaften Sinnesdelirien,
seltener zu maniakischen Störungen. Dieselben sind entweder
unmittelbare Folge der durch die Erkrankung gesetzten Erschöpfung
und Anämie oder letztere sind die Ursache, dass äussere Eindrücke,
insbesondere Gemüthsaufregungen, das psychische Gleichgewicht
leichter zu stören vermögen als sonst. Die meisten der sogenannten
Puerperalpsychosen dürfen sich auf diese Weise deuten lassen.
Bemerkenswerth sind die dauernden psychischen Schwächezustände, die
nach schweren Erkrankungen desto leichter zurückbleiben können,
je mehr und unmittelbarer dabei das Gehirn betheiligt war, noch
mehr die gesteigerte Labilität des psychischen Gleichgewichtes
und die Charakterveränderungen ad pejus, die, wie bereits bei der
Besprechung des „moralischen Irrseins“ erwähnt wurde, auf Verlust oder
Beeinträchtigung der Feinheit des moralischen Sinnes, des moralischen
und ethischen Fühlens zurückzuführen sind und in forensischer
Beziehung dieselbe Bedeutung besitzen, wie die angeborenen Defecte
im Bereiche dieser feinsten Leistung des Menschenhirns. Sämmtliche
dieser Folgezustände können in verschiedenen Graden ihrer Ausbildung
vorkommen, und es können insbesondere die niederen übersehen oder
nicht richtig gedeutet werden, während sie, wenigstens für den Arzt,
auffallen und verständlich werden, wenn er das psychische Verhalten
des Individuums mit demjenigen vergleicht, welches dasselbe vor seiner
Erkrankung dargeboten hatte.
[Sidenote: Traumzustände.]
Erwähnung verdient noch die +Schlaftrunkenheit+, weil auch in diesem
Zustande Gewaltthaten begangen werden können und thatsächlich
begangen wurden.[578] Man versteht unter Schlaftrunkenheit jenen
Zustand der Betäubung, in welchem man sich unmittelbar nach dem
Erwachen aus tiefem Schlafe befindet. Gewöhnlich dauert dieser
Zustand kaum einen Augenblick, um dann dem vollen Bewusstsein
Platz zu machen. Unter gewissen Umständen kann die Betäubung und
Unbesinnlichkeit einige Augenblicke andauern und durch die während
derselben auftretenden Vorstellungen zu Gewaltthaten führen. Diese
Vorstellungen sind entweder solche, die den Betreffenden gerade im
Traum beschäftigt hatten, oder sie wurden durch äussere Eindrücke
veranlasst, die in dem Augenblicke, in welchem sie das Erwachen
des Schlafenden bewirkten, verfälscht in’s Bewusstsein gelangten,
oder sie sind durch zufälliges Zusammentreffen beider Momente
entstanden. So kann es z. B. geschehen, dass Jemand, der gerade von
Mördern träumt, wenn er ganz unerwartet aus tiefem Schlaf geweckt
wird, den Weckenden als den ihn bedrohenden Mörder ansieht und ihn
darnach behandelt. So sehr man derartige Möglichkeiten zugeben muss,
so ist doch einschlägigen Angaben gegenüber die grösste Vorsicht,
insbesondere die sorgfältigste Erhebung und Berücksichtigung der
concreten Umstände angezeigt, zu welchen u. A. ausser der That
selbst und des Zeitpunktes ihrer Verübung, die Festigkeit des
Schlafes, die Art und Zeit des Aufweckens, sowie auch das Alter des
Individuums (junge Personen scheinen zu solchen Vorkommnissen mehr zu
disponiren), gehören würden, ferner von anamnestischen Momenten das
bisherige Verhalten des Individuums im Schlafe und die Erhebung, ob
nicht etwa aus pathologischen Gründen (psycho- oder neuropathischer
Constitution) eine abnorme Reaction auf die betreffenden Eindrücke
erfolgt sein konnte.
Das Vorkommen des sogenannten +Nachtwandelns+ soll nicht geleugnet
werden, ebensowenig, dass während eines solchen Zustandes eventuell
auch Gewaltthaten verübt werden können. Dass jedoch einschlägigen
Behauptungen noch weniger unbedingt Glauben geschenkt werden darf,
als den eben besprochenen, ist klar. Auch hier wird insbesondere auf
die Anamnese und auf etwaige psycho- oder neuropathische Constitution
besondere Rücksicht genommen werden müssen, einestheils weil
analoge Erscheinungen, insbesondere bei mit letzterer behafteten
Personen beobachtet wurden, andererseits weil, wie +Maudsley+ („Die
Zurechnungsfähigkeit der Geisteskr.“, pag. 243) richtig bemerkt, es
sehr verdächtig erscheinen müsste, wenn der somnambulische Zustand
damals, wo das Verbrechen verübt wurde, zum ersten Male aufgetreten
sein soll.
Allgemeines über die Untersuchung und Begutachtung von Individuen wegen
fraglicher Zurechnungsfähigkeit.
Die Grundlage und Vorbedingung einer richtigen Beurtheilung des
Geisteszustandes eines Individuums beim Begehen einer concreten
Handlung ist die Kenntniss der ganzen psychischen Persönlichkeit,
welche nur durch eine sorgfältige Erhebung der Anamnese und durch
genaue klinische Untersuchung erlangt werden kann. [579]
[Sidenote: Anamnese. Ursachen von Geistesstörungen.]
Die +Anamnese+ hat in erster Linie eventuelle erbliche Einflüsse im
Auge zu behalten, daher insbesondere zu erheben, ob in der Familie,
namentlich bei den Eltern, psycho- oder neuropathische Zustände
vorkamen, oder Erscheinungen, die auf solche den Schluss gestatten.
Ist Geistesstörung bekannt von Seite des Vaters, der Mutter, der
Geschwister oder anderer Familienmitglieder? Sind in der Familie
auffallende Charaktereigenthümlichkeiten vorgekommen und welche? Hat
ein Selbstmord oder Selbstmordversuch in der Familie stattgefunden,
welcher Art, bei welchem Familienmitgliede und in welchem Alter? Waren
die Eltern oder Grosseltern des Untersuchten zu einander blutsverwandt
und in welchem Grade? Waren die Eltern der Trunksucht ergeben? War
ein Familienmitglied mit einer Gehirn-, Rückenmarks- oder einer
anderen nervösen Krankheit (Lähmung, Convulsionen, Epilepsie, Chores,
Hysterie, Hypochondrie, Neuralgie etc.) behaftet? Leben die Eltern oder
Geschwister noch, welche sind gestorben, woran und in welchem Alter?
Dies sind die wichtigsten Fragen, welche sich ergeben, und es sind
dieselben, welche laut Erlass der niederösterreichischen Statthalterei
vom 4. November 1875 bei Abgabe eines Kranken in eine Irrenanstalt von
dem diese Abgabe vermittelnden Arzte schriftlich beantwortet werden
müssen.
Die weiteren Erhebungen haben sich zunächst zu beziehen auf den Gang
der physischen und psychischen Entwicklung des Individuums, namentlich
auf die Erziehung und die Erziehungsresultate.
Wie erwähnt, zeigen sich angeborene Schwächen der Intelligenz und
andere angeborene psychische Anomalien sehr frühzeitig, sowohl beim
Schulunterrichte, als bei der häuslichen Erziehung, und wenn auch das
durch sie bewirkte Verhalten des Kindes häufig genug nicht verstanden
und ganz unrichtig gedeutet wird, so ist doch gerade die nachträgliche
Constatirung dieses Verhaltens nicht selten geeignet, zum Verständnisse
des Falles beizutragen. In physischer Beziehung ist auf etwaige
Anomalien in dem Eintreten physiologischer Entwicklungserscheinungen,
wie des Gehens, Sprechens, Zahnens, insbesondere aber der
Geschlechtsreife zu achten, da solche auch als Theilerscheinung einer
fehlerhaften Organisation sich ergeben können.
Ebenso ist auf neuropathische Erscheinungen in der Kindheit oder
während der erwähnten Entwicklungsperioden zu reagiren, und es sind
dabei nicht blos schwere Zustände, z. B. die Epilepsie, im Auge zu
behalten, sondern auch die sogenannten Fraisen der Kinder, die Chorea,
dann die verschiedenen Formen der sogenannten epileptoiden Zustände,
denen, wie bei Besprechung des epileptischen Irrseins erwähnt wurde,
eine noch grössere Bedeutung zukommt als der eigentlichen Epilepsie.
[Sidenote: Klinische Untersuchung.]
Eine besondere Bedeutung besitzt der Nachweis solcher Vorgänge,
die erfahrungsgemäss Geisteskrankheiten herbeizuführen oder eine
Disposition zu diesen zurückzulassen vermögen. Es gehören hierher
insbesondere die Kopfverletzungen (vergl. pag. 318) und eine grosse
Reihe von Krankheiten, die die psychischen Centralorgane entweder
unmittelbar betrafen oder mittelbar auf dieselben einwirken konnten
(vergl. pag. 956), und es wäre hauptsächlich darauf zu achten, ob nicht
erst, seitdem solche Einflüsse eingewirkt haben, eine Veränderung des
Charakters und Gebahrens des Individuums bemerkt worden ist.
In gleicher Weise ist auf Trunkenheit (eventuell Intoleranz gegen
Alcoholica) und auf Onanie oder andere geschlechtliche Ausschweifungen
zu reagiren, endlich aber sind auch die äusseren Verhältnisse und
Schicksale des Betreffenden einer eingehenden Würdigung und Prüfung
zu unterziehen, da es bekannt ist, in welcher Weise dieselben auf die
psychische Entwicklung im Allgemeinen und wenn sie sich ungünstig
gestalten, auf die Entstehung von Geistesstörungen einzuwirken vermögen
und weil eben aus dem Gebahren des Individuums innerhalb der ihm
durch seine sociale Stellung angewiesenen Verhältnisse am ehesten die
Intelligenz und Gemüthsart, überhaupt der ganze Charakter desselben
erschlossen werden kann.
[Sidenote: Untersuchung d. körperl. Verhältnisse u. d. psych.
Grundthätigkeiten.]
Die +Untersuchung+ des Betreffenden hat sich nicht blos auf den
psychischen, sondern auch auf den somatischen Zustand zu beziehen
und hat überhaupt nach den Regeln streng klinischer Untersuchung zu
geschehen. In somatischer Beziehung ist insbesondere aufzunehmen: 1.
Das Alter, Körpergrösse und Körperbau, Ernährungszustand und Hautfarbe.
2. Schädelbildung, wobei insbesondere auf Abnormitäten derselben
(Asymmetrien, abnorme Form und Grösse) zu achten ist. Die betreffenden
Verhältnisse sind nicht blos durch allgemeine Beschreibung, sondern
auch durch Messungen zu constatiren. 3. Gesichtsbildung, und
zwar Verhältniss des Gesichtsskelettes zum Schädel, insbesondere
Kieferbildung und eventuelle Asymmetrien, Hasenscharten, Spaltung und
Asymmetrie des Gaumens, Gesichtsausdruck, motorisches Verhalten der
Gesichtsmuskeln (Facialislähmungen, mimische Krämpfe), vasomotorisches
Verhalten der Gesichtshaut (leichtes oder asymmetrisches Erröthen
bei geringen Veranlassungen), Verhalten des Kopfhaares und
Bartwuchses (vergl. pag. 902). 4. Sinnesorgane, besonders: Auge,
Blick, Verhalten der Pupillen und der Augenmuskeln (Strabismus,
eventuelle Gesichtsfeldeinengung, Daltonismus, Dyschromatopsie);
Ohren (angewachsene Ohrläppchen, Fehlen des Helix, henkelförmig
abstehende Ohrmuscheln. Gefühl: Hyperästhesien und Anästhesien.
Verhalten des Tast- und Wärmegefühles. Gegen Druck empfindliche
Stellen der Wirbelsäule besonders am Halse. 5. Verhalten der Zunge
beim Hervorstrecken (Zittern), Sprechen: ob Narben an derselben, wie
mitunter bei Epileptikern. 6. Verhalten der Musculatur, des Stammes und
der Extremitäten, Lähmungserscheinungen (Tremores, Ataxie locomotrice),
Zuckungen, automatische Bewegungen. 7. Geschlechtssphäre, Abnormitäten
der Genitalien (Hypo-, Epispadie, Kryptorchie, Zwitterbildung,
Verkümmerung der Genitalien, Mangel der Schamhaare), Menstruation,
hysterogene Zonen, pathologische Processe der inneren Genitalien,
insbesondere des Uterus, Aeusserung des Geschlechtstriebes. 8.
Verhalten der vegetativen Functionen.
Bei der Untersuchung des psychischen Verhaltens empfiehlt es sich, von
den psychischen Grundthätigkeiten, dem Vorstellen, Fühlen und Wollen
auszugehen.
Das Vorstellungs- (Denk-) Vermögen ist sowohl in formeller als
inhaltlicher Beziehung zu prüfen und daher einestheils zu untersuchen,
ob die Aufnahme und Verarbeitung der Vorstellungen in abnorm
beschleunigter Weise geschieht oder ob eine allgemeine oder einseitige
Behinderung (Hemmung) dieser Thätigkeiten sich bemerkbar macht, und wie
sich der logische Zusammenhang der einzelnen Vorstellungen gestaltet,
anderseits welcher Vorrath von Wissen und welchen Inhaltes vorhanden
ist, insbesondere aber ob Hallucinationen oder Illusionen oder spontan
entstandene (objectlose) Ideen bestehen und in diesem Falle, ob der
Betreffende sie noch zu corrigiren vermag oder ob sie den Charakter
von Wahnvorstellungen angenommen haben. Die Prüfung des Fühlens hat
sich nicht blos auf die Constatirung der (exaltirten oder deprimirten)
Stimmung und der Geneigtheit zu Gemüthsschwankungen (Affecten) zu
erstrecken, sondern auch auf das sittliche und ethische Fühlen, auf
das Verhältniss der egoistischen zu den altruistischen Gefühlen und
die dadurch bedingte Färbung des Charakters. Ferner auf das sinnliche
Fühlen, insbesondere auf das Verhalten des Geschlechtstriebes.
Bezüglich der Willenssphäre ist auf die Willensenergie zu reagiren,
insbesondere ob, wie beim Blödsinn, Schwäche des Willens, oder wie bei
melancholischen Zuständen Hemmung, oder wie bei maniakischer Exaltation
Ungebundenheit desselben oder impulsiver triebartiger Drang zu gewissen
Handlungen besteht und in welchem Grade der Untersuchte diese Antriebe
zu beherrschen vermag.
Die Aeusserungen der psychischen Grundthätigkeiten sind nicht blos
für sich allein zu erwägen, sondern auch in ihrem Zusammenhange mit
den übrigen und bezüglich des gegenseitigen Einflusses derselben,
insbesondere in der Richtung, ob zwischen ihnen ein logisch richtiges
Verhältniss besteht oder nicht.
[Sidenote: Vorgang beim Examen.]
Der Vorgang, welchen man einzuschlagen hat, um zu Erkenntniss der
besprochenen Verhältnisse zu gelangen, besteht in der Unterredung mit
dem Betreffenden und in der Beobachtung seines Gebahrens.
Es liegt in der Natur der einschlägigen Fälle, dass bei Einzelnen schon
eine einmalige Untersuchung genügt, um die Abgabe eines Gutachtens
über den Geisteszustand des betreffenden Individuums zu gestatten,
bei anderen aber, und dahin gehört die Mehrzahl, wiederholte, in
verschiedenen Zeitabschnitten vorzunehmende, oder eine längere
ununterbrochene Beobachtung hierzu nothwendig erscheint. Letzteres
ist wohl in der Regel nur in einer Irrenanstalt möglich, und dieser
Umstand hat auch die deutsche Strafprocess-Ordnung bestimmt, im §.
81 zu gestatten, dass behufs Vorbereitung eines Gutachtens über den
Geisteszustand eines Angeklagten Letzterer durch Gerichtsbeschluss
auf Antrag der Sachverständigen und nach Anhörung des Vertheidigers
in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werden
kann. Doch darf die Verwahrung daselbst 6 Wochen nicht überschreiten.
Ist die continuirliche Beobachtung in einer Irrenanstalt nicht möglich
oder nicht angezeigt, dann ist es Sache des Gerichtsarztes, sich durch
wiederholte Untersuchung (Vorbesuche) über den Geisteszustand des
Betreffenden zu instruiren, um dann (im Termin) sein schliessliches
Gutachten abgeben zu können.[580] Ueber den Vorgang beim Examen des zu
Untersuchenden lassen sich keine Regeln aufstellen; derselbe muss dem
Verständniss und dem Tacte des betreffenden Arztes überlassen bleiben.
Doch empfiehlt es sich, mit allgemeinen Fragen zu beginnen und erst
im weiteren Verlaufe des Gespräches auf Details, insbesondere auf die
incriminirte That überzugehen. Opportun erscheint es ferner, nach dem
Vorleben, den Familienverhältnissen, Schicksalen etc. des Untersuchten
sich zu erkundigen, einestheils weil man dadurch die Anamnese erhebt,
anderseits das Vertrauen des Betreffenden erweckt und mit diesen
Fragen häufig genug Verhältnisse berührt, die mit der betreffenden
Geistesstörung in irgend einem Nexus stehen und deren Schilderung
mitunter noch am ehesten den Kranken zur Aeusserung seines Charakters,
insbesondere aber von Wahnvorstellungen bewegen kann, die er vielleicht
sonst verbirgt. Dass man überhaupt auf Dissimulation von letzteren
gefasst sein muss, wurde a. a. O. vielfach hervorgehoben.
[Sidenote: Vorgang beim Examen. Geisteszustand zur Zeit der That.]
Nachdem der Gerichtsarzt durch Erhebung der Anamnese und eigene
Untersuchung der wichtigsten Anhaltspunkte für die Beurtheilung der
psychischen Persönlichkeit des Angeklagten in ihrer Gesammtheit
gewonnen, schreitet er zur +Beurtheilung des Geisteszustandes zur Zeit
der That+, wegen welcher der Betreffende in Anklage steht. Dieselbe
erfordert die Erwägung einestheils des psychischen Zustandes des
Betreffenden zur Zeit der That, sowie der äusseren Einflüsse, die
auf ihn gerade einwirkten, anderseits die der That selbst und des
Verhaltens des Thäters vor, während und nach derselben.
[Sidenote: Motiv.]
In erster Beziehung kommen sowohl physiologische, als pathologische
Zustände in Betracht; so das Pubertätsstadium, Menstruation,
Schwangerschaft, Entbindungszustand, Wochenbett, Klimacterium, ferner
eben bestehende acute oder chronische Erkrankung, sowie Trunkenheit,
eventuell toxische Einwirkungen anderer Art. Auch der Einfluss der
Hitze, die Ermüdung, Schlaftrunkenheit etc. wird nicht zu übersehen
sein, noch weniger aber jener, der aus Zusammenwirkung mehrerer
der genannten Momente, sowie dieser und äusserlich provocirter
Gemüthsaufregung resultirt.
In zweiter Beziehung ist zu bemerken, dass, wenn es auch keine
Handlungen gibt, die für sich allein den geisteskranken Zustand
des Thäters beweisen würden, da selbst das Ausgraben und Schänden
von Leichen, Menschenfresserei und Vampyrismus, Massenmord und
andere Ungeheuerlichkeiten nicht unter allen Umständen Aeusserungen
eines Geistesgestörten bilden, sondern auch ebenso, wie z. B. ganz
entsetzliche Selbstverstümmelungen, auch nur aus Aberglauben,
religiösem Fanatismus oder aus äusserlich bedingter Gemüthsrohheit
und selbst, wie z. B. der Massenmord, aus egoistischer Berechnung
hervorgegangen sein konnten, so ist doch bei dem Umstande, als
Gefühlsstumpfheit auch in Folge angeborenen Defectes vorkommen kann,
daran zu denken, ob nicht dieselbe und die durch sie bedingte That
aus einem solchen resultirt. Auch wird man sich, wenn z. B. an dem
betreffenden Opfer eine Unzahl von Verletzungen oder eine förmliche
Zerfleischung gefunden wird, oder mehrere Personen hingeschlachtet
wurden, erinnern, dass die Gewaltthaten gewisser Geisteskranker,
namentlich der Epileptiker, sich durch ungewöhnliche Brutalität
und blindes Wüthen auszeichnen, wenn wir auch zugeben müssen, dass
Aehnliches auch nur aus heftigen Affecten hervorgegangen sein konnte.
Aeusserlich ganz unmotivirte Affecthandlungen müssen desto mehr den
Verdacht von Geistesstörung erwecken, je schwerer der Charakter der
betreffenden Handlung war, je weniger sie daher etwa in die Kategorie
jener unbewussten oder halbbewussten Handlungen gerechnet werden
kann, die auch von Geistesgesunden aus Zerstreutheit, momentaner
„Gedankenabwesenheit“ begangen werden können. Wenn z. B. Jemand auf der
Strasse eine ihm ganz fremde Person ohne alle Veranlassung ersticht
oder erschiesst, so ist wohl gleich von vornherein die Vermuthung
gerechtfertigt, dass man es mit einem Geisteskranken zu thun habe und
insbesondere daran zu denken, dass solche Handlungen theils in Folge
von Wahnvorstellungen von Verrückten, Wahnsinnigen oder Epileptikern
und bei Mania transitoria, theils im Angstaffect von Melancholikern
und Epileptikern (bei Ersteren auch als indirecter Selbstmord.
d. h. in der Absicht, um hingerichtet zu werden), aber auch als rein
impulsive Acte, als Theilerscheinung gewisser hereditär überkommener
psychopathischer Zustände vorkommen können.
Ebenso werden gewisse Diebstähle, bei welchen der gestohlene Gegenstand
für den Thäter vollkommen werthlos ist und bei welchem auch kein Grund
für die Annahme besteht, dass die That nur geschah, um den Eigenthümer
zu schädigen oder zu ärgern, den Verdacht auf Geistesstörung erwecken,
und auch hier werden wir uns erinnern, dass derartige, im gewöhnlichen
Sinne ganz unmotivirte Handlungen für gewisse Formen von Geistesstörung
nahezu pathognomisch sind, so namentlich für die epileptische
Verwirrtheit und für gewisse Stadien des paralytischen Irrseins.
Ein blosses Missverhältniss zwischen Motiv der That und der Schwere
der letzteren beweist für sich allein durchaus nicht, dass dieselbe
in geistesgestörtem Zustande begangen wurde, denn es ist bekannt,
dass auch Geistesgesunde mitunter aus ganz unbedeutenden Beweggründen
schwere Verbrechen begehen, wovon insbesondere die sogenannten
Affecthandlungen zahlreiche Beispiele liefern. Morde wegen weniger
Gulden und selbst Kreuzer sind auch bei Geistesgesunden keine ganz
ungewöhnlichen Vorkommnisse, noch weniger Eigenthumsbeschädigungen,
welche den Eigenthümer auf das Empfindlichste treffen, ja ruiniren,
während der Thäter nur Unbedeutendes gewinnt. Es ist in solchen Fällen
nicht blos die allgemeine Bedeutung des Motives, sondern zunächst
diejenige zu erwägen, welche dasselbe für das betreffende Individuum
hatte. Dabei wird man allerdings, insbesondere Affecthandlungen
gegenüber, nicht vergessen, dass bei krankhaft erhöhter Reizbarkeit
unbedeutende Ursachen ungleich leichter schwere Handlungen provociren
können, als bei Gesunden, und dass solche ungewöhnliche Reactionen
sogar bei vielen Geistesstörungen zum ganzen Bilde derselben gehören.
Viele Handlungen sind schon deshalb auch für Laien auffällig, als sie
mit dem sonstigen Charakter des Individuums im Widerspruche stehen,
und es empfiehlt sich deshalb allerdings, wie +Casper+ hervorhob,
jedenfalls zu erwägen, ob man sich von dem betreffenden Individuum
einer solchen That versehen konnte oder nicht. Es wäre jedoch
irrig, blos auf diesen Umstand ein Gewicht zu legen, da einestheils
verschiedene Verhältnisse auch eine bisher tadellose Person zur
Begehung ganz unerwarteter Handlungen bewegen können, anderseits
weil eine habituell bestehende oder periodisch sich äussernde
Charakterschlechtigkeit auch nur den Ausdruck, beziehungsweise die
Theilerscheinung einer erworbenen oder angeborenen Geisteskrankheit
bilden kann, wie ja a. a. O. wiederholt hervorgehoben wurde.
[Sidenote: Planmässigkeit der That.]
Ein grosses Gewicht wird in der Regel darauf gelegt, ob die betreffende
That mit Ueberlegung, beziehungsweise mit einer gewissen Berechnung
oder gar Planmässigkeit geschehen ist, indem insbesondere das
Laienpublicum in dem Nachweis dieser Bedingungen das Hauptkriterion der
Zurechnungsfähigkeit erblickt. Dies gilt jedoch keineswegs unbedingt.
Auch Geisteskranke können mit Ueberlegung und Planmässigkeit handeln,
insbesondere alle jene, bei denen nur ein krankhaftes Fühlen besteht
oder isolirte Wahnvorstellungen vorhanden sind, ohne dass jedoch die
Fähigkeit zum sonst logisch richtigen Denken verloren gegangen wäre.
Insbesondere ist es von den an partieller Verrücktheit, namentlich
an Verfolgungswahn Leidenden bekannt, dass sie ihre Wahnideen und
auch die aus ihnen hervorgehenden Antriebe nicht blos lange zu
verbergen, sondern auch die betreffenden Handlungen mit Berechnung
und Planmässigkeit auszuführen verstehen. So berichtet +Dufour+
(Virchow’s Jahresb. 1880, I, 654) über einen mit Verfolgungswahn
behafteten Geisteskranken, der, um von seinen eingebildeten, ihn mit
angeblichen Vergiftungsversuchen bedrohenden Feinden nach Amerika
entfliehen zu können, ein altes, ihm als reich bekanntes Ehepaar
überfallen und lebensgefährlich verletzt hatte und dabei so planmässig
vorgegangen war, dass er schon mehrere Tage zuvor einen Hammer gekauft,
unmittelbar vor der That sich das Gesicht geschwärzt und sogar ein
eigenes Leinwandgewand über seine Kleider angezogen hatte, um, wie er
nachträglich eingestand, sich dessen leichter entledigen zu können,
falls er sich bei der That mit Blut besudeln würde. Ebenso wurde beim
hysterischen Irrsein hervorgehoben, dass von Hysterischen die aus ihrem
krankhaften Fühlen hervorgegangenen Handlungen nicht selten mit grossem
Raffinement ausgeführt werden, um den Verdacht auf Andere zu wälzen.
Auch Blödsinnige gehen gar nicht selten mit Berechnung und mitunter
mit einer gewissen Schlauheit vor, wie wir ja schon bei ganz kleinen
Kindern und selbst bei Thieren beobachten können. Anderseits sind
ja sehr viele von entschieden zurechnungsfähigen Individuen verübte
Handlungen Thaten des Augenblickes, bei welchen von einer längeren
Ueberlegung oder Planmässigkeit nicht die Rede sein kann.
[Sidenote: Verhalten nach derselben.]
Ein weiterer Werth wird auf das Verhalten des betreffenden Individuums
nach begangener That gelegt, und man ist insbesondere geneigt, aus
unmittelbar nach der Handlung eingetretener Ernüchterung, Aeusserungen
der Reue, Hilfeleistung, namentlich aber aus dem Bestreben, die That
zu verbergen oder sich auf andere Art, z. B. durch Flucht, der Strafe
zu entziehen, auf Zurechnungsfähigkeit zu schliessen. Man sieht jedoch
leicht ein, dass ein derartiges Gebahren zunächst nur beweist, dass
der Betreffende sich der bereits begangenen That bewusst geworden ist,
nicht aber auch, dass dies in gleicher Weise schon vor und während
der Begehung derselben der Fall gewesen war. Auch bei Individuen,
die eine That im Zustande hochgradiger Bewusstseinsstörung begangen
haben, kann nach derselben und durch dieselbe eine Ernüchterung
und eine gewisse Erkenntniss des Vorgefallenen mit den daraus
hervorgehenden Consequenzen von Reue, Flucht etc. sich einstellen.
Im hochgradigen normalen, sowie im pathologischen Affect begangene
Handlungen, zu welchen insbesondere die aus melancholischem Angstaffect
hervorgegangenen gehören, sowie manche in der Trunkenheit geschehenen,
liefern hiervon Beispiele, und auch bei entschieden Wahnsinnigen kann
es geschehen, dass sie ihre That zu verbergen oder zu entstellen
trachten.
Man wäre daher nicht berechtigt, aus dem Nachweis des bezeichneten
Verhaltens ohne Weiteres positive Schlüsse auf normalen Geisteszustand
des Thäters zu ziehen; dagegen läge es näher, an Geistesstörung
zu denken, wenn das Verhalten des Thäters nach geschehener That
in auffälliger Weise abweichen würde von demjenigen, wie es unter
ähnlichen Verhältnissen von einem normalen Menschen erwartet werden
sollte und in der Regel bei einem solchen beobachtet wird. Wenn Jemand
trotz der eben geschehenen blutigen That fortfährt zu toben und nicht
beruhigt werden kann, so müssen wir darin ein ebenso auffälliges
Symptom erblicken, wie darin, wenn in einem anderen Falle der Thäter
trotz dieser weder eine Aufregung, noch sonstige Gemüthsbewegung
erkennen lässt. Letzteres bekundet, dass sich der Betreffende der
begangenen Handlung entweder gar nicht bewusst geworden ist, oder
eine solche Gemüthsstumpfheit, die desto mehr eine pathologische sein
kann, je mehr sie den natürlichsten Regungen widerspricht. In dem
berüchtigten Falle +Hackler+ schlief derselbe, nachdem er seine
Mutter auf grässliche Weise ermordet und die Leiche unter dem Bette
versteckt hatte, in letzterem noch durch zwei Nächte, und zwar, wie
er bei der Hauptverhandlung erklärte, so ruhig und gut, dass zwischen
diesem und dem sonstigen Schlafe kein besonderer Unterschied zu
bemerken war. Die Zwischenzeit hatte der Bursche mit dem Besuch von
Wirthshäusern und Theatern ausgefüllt und nach seiner Verhaftung,
sowie bei der Hauptverhandlung keine Spur von Reue gezeigt, im
Gegentheil eine so hochgradige Gefühllosigkeit, dass er noch vor seiner
Hinrichtung ruhig schlief und unmittelbar vor dieser eine reichliche
Mahlzeit mit grossem Appetit zu verzehren vermochte! Unwillkürlich
drängt sich hier die Annahme auf, dass diese wahrhaft ungeheuerliche
Gefühllosigkeit einen pathologischen Grund gehabt haben konnte. In
anderen Fällen kann das Unterlassen jeglicher Vorkehrung, um die That
zu verbergen oder sich der Strafe zu entziehen, auf Geistesstörung
hinweisen, noch mehr aber verworrenes Reden und confuses oder ganz
unzweckmässiges Handeln. So wurde ein pensionirter Officier in einem
Kaffeehaus betreten, wie er sich einen fremden Winterrock aneignen
wollte. Schon am Tage vorher hatte er in demselben Kaffeehause
einen Rock entwendet. Mit diesem Rock bekleidet, war er nun wieder
erschienen, hatte dadurch selbstverständlich die Aufmerksamkeit auf
sich gelenkt und es leicht gemacht, ihn bei dem zweiten Versuche
zu ertappen. Die Untersuchung ergab weit gediehenen paralytischen
Blödsinn. Ueber die Amnesie und ihre Verwerthung, sowie über den nach
gewissen Paroxysmen auftretenden tiefen Schlaf haben wir bereits an
anderen Orten gesprochen.
[Sidenote: Simulation von Geistesstörung.]
+Simulation+ von Geisteskrankheit ist keineswegs so häufig, wie
gewöhnlich angenommen wird, einestheils weil, wie +Kreusser+ („Ueber
Simulation von Geisteskrankheiten.“ Württemb. med. Correspondenzbl.
1882, pag. 283) richtig bemerkt, der Explorand sich in der Regel wohl
bewusst ist, dass er, im Falle er für geisteskrank erklärt werden
sollte, in eine Irrenanstalt kommen würde, was er begreiflicher
Weise perhorrescirt, anderseits aber vorzugsweise deshalb, weil eine
gelungene, d. h. auch den Sachverständigen zu täuschen geeignete
Simulation einer Geistesstörung neben psychiatrischen Kenntnissen
eine Energie und Ausdauer, eine Entfaltung von psychischer und
physischer Anspannung erfordert, die kaum möglich ist.[581] In
der Regel provociren die Simulanten in der Meinung, dass bei
Geisteskranken Alles verkehrt sein müsse, die unsinnigsten Dinge,
wodurch sie sich eben verrathen. So antwortete ein von +Snell+
(„Ueber Simulation von Geistesstörungen.“ Allg. Zeitschr. f. Psych.
XXXVII, pag. 257) untersuchter Simulant auf die Frage, wie alt
er sei: „100 Kilometer“, legte sich Abends verkehrt in’s Bett,
behauptete, 5 Ohren, 5 Augen, 5 Pfund Nasen und 20 Finger zu haben,
nannte einen grossen Thorschlüssel Uhrschlüssel, multiplicirte „2 mal
4 ist 6 und 2 mal 5 ist 8“ u. s. w. „Vergessen der gewöhnlichsten
Dinge,“ sagt +Snell+, „kommt allerdings auch bei gewissen
Krankheiten, z. B. Blödsinn, Paralyse, vor. Wenn aber ein Mensch,
der noch vor wenigen Tagen oder Wochen im Besitze seiner vollen
Gesundheit war, vorgibt, nicht mehr schreiben oder lesen zu können,
Namen und Heimat nicht mehr weiss und consequent falsche Angaben
macht, so ist damit die Simulation erwiesen.“ In zweifelhaften Fällen
ist die Beobachtung in einer Anstalt angezeigt. Nicht zu übersehen
ist, dass auch Geisteskranke simuliren und dissimuliren können, und
dass Geisteskrankheit und Simulation sich keineswegs ausschliessen.
Auch wird von den meisten Beobachtern (+Lasègue+, +Snell+, +Garnier+,
+Fritsch+ s. Virchow’s Jahrb., 1888, I, pag. 464) die Häufigkeit des
Zusammentreffens von Simulation mit wirklicher geistiger Erkrankung
betont, und es scheinen namentlich die originär abnormen Individuen
hierbei das Hauptcontingent zu liefern.
[Sidenote: Begutachtung im Sinne des österr. St.-G. u. des §. 51 des
deutsch. St.-G.]
Mit dem Nachweise, dass die incriminirte Handlung unter dem Einflusse
eines anomalen Geisteszustandes geschehen ist, ist die Aufgabe
des Gerichtsarztes keineswegs abgethan, sondern es erübrigt noch,
einestheils den betreffenden Zustand unter die vom Gesetze gebrauchten
Ausdrücke zu subsumiren, zweitens aber gewissen, aus den auf die
Unzurechnungsfähigkeit bezüglichen Gesetzparagraphen sich ergebenden
Anforderungen zu entsprechen.
Der §. 2 des gegenwärtigen österr. St.-G. rechnet eine Handlung
oder Unterlassung nicht als Verbrechen zu: _a_) wenn der Thäter des
+Gebrauches der Vernunft ganz beraubt+ ist; _b_) wenn die That bei
+abwechselnder Sinnesverrückung+, zur Zeit, da die Verrückung dauerte,
oder _c_) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen +vollen
Berauschung+ oder einer anderen +Sinnesverwirrung+, in welcher sich
der Thäter seiner Handlung nicht bewusst war, begangen worden ist.
Dass diese Ausdrücke grösstentheils ganz veralteten Anschauungen
entsprechen, bedarf keiner Auseinandersetzung, trotzdem hat sich
der Gerichtsarzt denselben zu accommodiren. Dies ist insoferne
nicht schwierig, als, wie sowohl aus dem Sprachgebrauche, als
insbesondere aus der Fassung des ersten Absatzes des §. 134 der österr.
St.-P.-O. (v. pag. 875) und der darin enthaltenen Gegenüberstellung
der „Vernunftberaubung“ und der „Geistesstörung“ hervorgeht, der
Gesetzgeber unter ersterer zunächst die hochgradigen psychischen
Schwächezustände, insbesondere die schweren Formen des Blödsinns
verstanden haben wollte, wobei der Ausdruck „ganz“ hinzugesetzt
wurde, um solche Zustände von geringen Graden pathologischer und
anderweitiger Intelligenzschwäche, der „Schwäche des Verstandes“
auseinander zu halten, die im §. 46 nur als Milderungszustand,
keineswegs aber als Strafausschliessungsgrund erklärt wurden. Die
Ausdrücke „Sinnesverrückung“ und „Sinnesverwirrung“ sind daher auf
Geistesstörungen im engeren Sinne zu beziehen, und wird namentlich
die Unterbringung der mit Wahnvorstellungen, überstürztem Vorstellen
oder mit Unbesinnlichkeit, respective Verworrenheit verbundenen
Geistesstörungen unter diese Bezeichnung keinen Schwierigkeiten
unterliegen. Am schwierigsten ist die Einrangirung derjenigen
psychopathischen Zustände, die weniger oder gar nicht mit Störungen des
Intellects einhergehen, sondern vorzugsweise im abnormen Fühlen und
Streben beruhen, wie z. B. der reinen Melancholie, der maniakalischen
Exaltation, insbesondere aber der Formen des moralischen Irrseins.
In diesen Fällen wird es, wenn sich der Zustand nicht etwa als
„unwiderstehlicher Zwang“ im Sinne der lit. _g_ des §. 2 auffassen
lässt, angezeigt sein, eine solche Einreihung desselben unter die
genannten Bezeichnungen ganz aufzugeben und sich nur auf die Darlegung
und Beurtheilung des pathologischen Geistes- oder Gemüthszustandes als
solchen und in Bezug auf die incriminirte That zu beschränken, wie
dies auch der offenbar auf moderneren Anschauungen fussende §. 134 der
St.-P.-O. fordert.
Ueber die „volle Berauschung“ haben wir uns bereits a. a. O. (pag. 945)
geäussert.
Das +deutsche Strafgesetz+ (§. 51) kennt nur zwei psychopathische
Zustände, welche die Strafbarkeit einer That ausschliessen,
nämlich: „die Bewusstlosigkeit“ und die „krankhafte Störung der
Geistesthätigkeit“, wenn durch diese die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war.
Nach dieser Bestimmung ist vorhanden gewesene +Bewusstlosigkeit+
unter allen Umständen Strafausschliessungsgrund, möge sie nun durch
Krankheit (z. B. Delirium, Epilepsie) oder anderweitig, z. B. durch
Berauschung, Intoxication oder durch Schlaftrunkenheit, bedingt worden
sein, eine sonstige +Störung der Geistesthätigkeit+ zunächst nur
dann, wenn sie als +krankhafte+ erkannt wird, durch welches Epitheton
andere Störungen der Geistesthätigkeit, wie sie namentlich durch
gewöhnliche Affecte veranlasst werden können, ausgeschlossen sind,
welche, wenn sie sich innerhalb der Breite des Normalen abspielen, nur
als Strafmilderungsgrund aufgefasst werden, analog dem §. 46 lit. _d_
des österr. St.-G., der ausdrücklich als Milderungsgrund ansieht, wenn
der Thäter „in einer aus dem gewöhnlichen Menschengefühle entstandenen
heftigen Gemüthsbewegung“ sich zu dem Verbrechen hat hinreissen lassen.
Die genannten Bezeichnungen bedürfen keiner näheren Definition und ihre
ausdrückliche Erwähnung erleichtert die Aufgabe des Gerichtsarztes
ungemein. Trotzdem macht sich eine Lücke bezüglich der angeborenen
psychischen Schwächezustände, des angeborenen Blödsinns bemerkbar,
dessen Formen weder unter den Begriff der Bewusstlosigkeit, noch,
wenigstens nicht ohne einigen Zwang, unter den der krankhaften Störung
der Geistesthätigkeit gebracht werden können, da beide Zustände sowohl
nach dem allgemeinen Sprachgebrauche als in der im §. 51 gebrauchten
Fassung die Annahme einer früher bestandenen normalen Geistesthätigkeit
voraussetzen. Diese Lücke hat der §. 56 des österr. St.-G.-Entw. nach
unserer Meinung glücklich beseitigt, indem er dem Ausdrucke „krankhafte
Störung“ jenen der „krankhaften +Hemmung oder Störung+“ substituirte,
unter welchen Ausdruck nicht nur blos der angeborene Blödsinn, sondern
auch andere psychische Entwicklungshemmungen, insbesondere die
Taubstummheit, leicht und in wissenschaftlich ganz correcter Weise
untergebracht werden können, während im deutschen St.-G. bezüglich der
Zurechnungsfähigkeit der Taubstummen ein eigener Paragraph (§. 58)
aufgenommen werden musste.
[Sidenote: Schlussurtheil über freie Willensbestimmung u.
Zurechnungsfähigkeit.]
Ob mit der Erklärung, dass eine Handlung im Zustande krankhafter
Hemmung oder Störung der Geistesthätigkeit begangen wurde, die Aufgabe
des Gerichtsarztes beendigt sei, oder ob er noch zu erörtern habe, ob
durch dieselbe „die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“ (§. 51
deutsches St.-G.), beziehungsweise ob dieselbe es dem Thäter „unmöglich
machte, seinen Willen frei zu bestimmen oder das Strafbare seiner
Handlung einzusehen“ (§. 56 österr. St.-G.-Entw.), ist Gegenstand
vielfacher Erörterungen gewesen. In Deutschland scheint man weitere
Erörterungen von Seite des Arztes grundsätzlich zu perhorresciren, wie
insbesondere aus den Motiven zum §. 51 hervorgeht, in welchen erklärt
wird, dass man bei der gewählten Fassung des Paragraphen mit den
Schlussworten hat ausdrücken wollen, dass die Schlussfolgerung selbst,
nach welcher die freie Willensbestimmung in Bezug auf die Handlung
ausgeschlossen war, die Aufgabe des Richters ist (+Liman+, Handbuch.
I, 423). Dagegen heisst es im Motivenbericht zum §. 56 des österr.
St.-G.-Entw.: „Der Ausdruck „Unzurechnungsfähigkeit“ wurde im Gesetze
mit Absicht vermieden und dadurch die Unzuträglichkeit beseitigt, dass
der Gerichtsarzt gefragt wird, ob Jemand zur Zeit der Verübung einer
That zurechnungsfähig war oder nicht. +Die Zurechnungsfähigkeit ist
nämlich ein rein juristischer Begriff; der Arzt hat darüber nichts
auszusagen, sondern nur zu erklären, ob der Angeklagte zur Zeit der
Verübung der That derart geisteskrank war, dass er seinen Willen frei
zu bestimmen oder das Strafbare seiner Handlung nicht einzusehen
vermochte.+“ Diese Anschauung ist unstreitig die richtigere. Die
Einmischung des Arztes in die Fällung des Schlussurtheils, ob die
Handlung des Angeklagten zur Schuld und Strafe zuzurechnen sei oder
nicht, das ist es, was der Jurist vermieden wissen will und was stets
und mit Recht perhorrescirt worden ist; die Erörterung jedoch, ob
und welchen Einfluss eine krankhafte Störung, respective Hemmung
der Geistesthätigkeit auf die Einsicht und Willensbestimmung im
Allgemeinen, sowie insbesondere bezüglich der betreffenden Handlungen
ausgeübt habe, fällt zweifellos noch in das Bereich ärztlicher
Beurtheilung und dieselbe ist erfahrungsgemäss nicht blos den Richtern
und Geschworenen erwünscht, sondern geradezu unvermeidlich, ausserdem
auch deshalb ohne Beeinträchtigung des richterlichen Wirkungskreises
thunlich, weil ja schliesslich doch weder die Richter, noch die
Geschworenen an das Gutachten des Arztes gebunden sind, sondern nach
ihrer eigenen Ueberzeugung ihr Urtheil abzugeben haben. Für den
österreichischen Gerichtsarzt ist sogar ein solcher Vorgang durch die
St.-P.-O. ausdrücklich vorgeschrieben, da es im 2. Absatze des §. 134
heisst:
„-- Die Gerichtsärzte haben über das Ergebniss ihrer Beobachtungen
Bericht zu erstatten, alle für die Beurtheilung des Geistes- und
Gemüthszustandes des Beschuldigten einflussreichen Thatsachen
zusammenzustellen, sie nach ihrer Bedeutung sowohl einzeln, als
im Zusammenhange zu prüfen und, falls sie eine Geistesstörung als
vorhanden betrachten, die Natur der Krankheit, die Art und den Grad
derselben zu bestimmen und sich sowohl nach den Acten als nach
ihrer eigenen Beobachtung über den Einfluss auszusprechen, welchen
die Krankheit auf die Vorstellungen, Triebe und Handlungen des
Beschuldigten geäussert habe und noch äussere, und ob und in welchem
Masse dieser getrübte Geisteszustand zur Zeit der begangenen That
bestanden habe.“
Die heikle Seite bei der forensischen Beurtheilung einschlägiger
Fälle liegt auch gar nicht in der Frage, wem die Erörterung des
Einflusses des constatirt krankhaften Geisteszustandes auf die freie
Willensbestimmung, beziehungsweise Einsicht zukomme, sondern erstens in
der Unmöglichkeit einer genauen Definition und Abgrenzung des Begriffes
„+freie+ Willensbestimmung“ auch in der von uns (pag. 878) gegebenen
Auffassung, zweitens in dem Fehlen einer scharfen Grenze zwischen
geistiger Gesundheit und Krankheit, drittens in der Thatsache, dass
die Begriffe „krankhafte Störung (oder Hemmung) der Geistesthätigkeit“
und „Ausschluss, resp. Unmöglichkeit der freien Willensbestimmung
oder Einsicht“ sich keineswegs decken, sondern erstere bis zu einem
gewissen Grade auch ohne eine so intensive Beeinflussung des Willens,
beziehungsweise der Einsicht, bestehen kann, wie sie der Gesetzgeber
zufolge der Fassung der betreffenden Gesetzesstellen offenbar im Auge
hatte, wovon der „Schwachsinn“, die niederen Grade des Rausches,
insbesondere aber gewisse weniger intensive Grade theils angeborener,
theils erworbener erhöhter Reizbarkeit oder Perversität des Fühlens
zahlreiche und häufig vorkommende Beispiele liefern.
[Sidenote: Geminderte Zurechnungsfähigkeit.]
Dieser Thatsache gegenüber halfen sich einzelne Strafgesetze
entweder, wie z. B. das frühere bayerische, durch die ausdrückliche
Anerkennung einer „geminderten Zurechnungsfähigkeit“, oder, wie das
gegenwärtige österreichische (§. 46), durch Aufnahme wenigstens
einzelner solcher pathologischer Zustände (Verstandesschwäche) unter
die Milderungsumstände, während das deutsche St.-G. und ebenso der
österr. St.-G.-Entw. keines von beiden thun, indem sie offenbar
voraussetzen, dass, wenn einmal das Individuum als zurechnungsfähig
erkannt worden ist, die etwa trotzdem bestandenen pathologischen
Verhältnisse und ihr Einfluss auf die Begehung der That vom Gerichte
beim +Strafausmass+ werden in Betracht gezogen werden, da beide
Strafgesetze eben in Berücksichtigung der vielfachen Umstände, die eine
strafbare That bald in milderem, bald in schwererem Lichte erscheinen
lassen können, in dieser Beziehung dem Richter einen ungleich grösseren
Spielraum gewähren, als dies in anderen Strafgesetzen der Fall ist.
Es ist gegenüber dem gegenwärtigen Standpunkt der Strafrechtspflege
eine rein juristische Frage, welche der genannten Bestimmungen am
zweckmässigsten erscheint. Für den Gerichtsarzt ist es wichtig,
zu wissen, dass auch dann, wenn er anstehen muss, sich dafür
auszusprechen, dass die Willensbestimmung oder Einsicht unmöglich
(ausgeschlossen) waren, oder wenn das Gericht sein im letzteren Sinne
abgegebenes Gutachten nicht acceptirt, dennoch die pathologischen
Verhältnisse, die etwa die Begehung der incriminirten That
beeinflussten, nicht ganz unberücksichtigt bleiben, sondern beim
Strafausmass in die Waagschale gelegt werden, weil ihm diese Thatsache
die Begutachtung zweifelhafter Fälle wesentlich erleichtert, indem
sie ihn abhält, schon leichtere Beeinflussungen des Willens oder der
Einsicht, blos weil sie krankhafter Natur sind, in gleich rigoroser
Weise zu begutachten, wie dies gegenüber intensiveren angezeigt ist.
Die richtige Grenze zu treffen ist selbst bei der gewissenhaftesten
und sorgfältigsten Erwägung aller Umstände des concreten Falles nicht
leicht, und eben deshalb muss es den ärztlichen Sachverständigen
erwünscht sein, dass die endgiltige Entscheidung, ob die Willens-
oder Einsichtsbehinderung in der That in dem vom Gesetzgeber zur
Unzurechnungsfähigkeit erforderlichen Grade vorhanden war oder nicht,
dem Gerichte selbst, beziehungsweise der subjectiven Ueberzeugung der
Geschworenen vorbehalten bleibt.
II. Fragliche Dispositionsfähigkeit.
+Oesterr. Allg. bürgerl. G.-B.+
§. 21. Diejenigen, welche wegen Mangel an Jahren, Gebrechen des
Geistes oder anderer Verhältnisse wegen ihre Angelegenheiten selbst
gehörig zu besorgen unfähig sind, stehen unter dem besonderen Schutze
der Gesetze. Dahin gehören: Kinder, die das siebente, Unmündige, die
das 14., Minderjährige, die das 24. Jahr ihres Lebens noch nicht
zurückgelegt haben; dann Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige,
welche des Gebrauches ihrer Vernunft entweder gänzlich beraubt oder
wenigstens unvermögend sind, die Folgen ihrer Handlungen einzusehen.
§. 48. Rasende, Wahnsinnige, Blödsinnige und Unmündige sind ausser
Stande, einen giltigen Ehevertrag zu errichten.
§. 49. Minderjährige -- -- -- sind auch unfähig, ohne Einwilligung
ihres ehelichen Vaters (beziehungsweise der Gerichtsbehörde) sich
giltig zu verehelichen.
§. 173. Gerechte Ursachen, die Fortdauer der väterlichen Gewalt bei
Gericht anzusuchen, sind: wenn das Kind ungeachtet der Volljährigkeit
wegen Leibes- oder Gemüthsgebrechen sich selbst zu verpflegen oder
seine Angelegenheiten zu besorgen nicht vermag.
§. 176. Wenn ein Vater den Gebrauch der Vernunft verliert, -- -- --
so kommt die väterliche Gewalt ausser Wirksamkeit und es wird ein
Vormund bestellt.
§. 191. Untauglich zur Vormundschaft überhaupt sind diejenigen,
welche wegen ihres minderjährigen Alters, wegen Leibes- oder
Geistesgebrechen, oder aus anderen Gründen ihren eigenen Geschäften
nicht vorstehen können.
§. 269. Für Personen, welche ihre Angelegenheiten nicht selbst
besorgen und ihre Rechte nicht selbst verwahren können, hat das
Gericht, wenn die väterliche oder vormundschaftliche Gewalt nicht
Platz findet, einen Curator oder Sachwalter zu bestellen.
§. 270. Dieser Fall tritt ein: Bei Minderjährigen, die in einem
besonderen Falle von dem Vater oder Vormunde nicht vertreten werden
können; bei Volljährigen, die in Wahn- oder Blödsinn verfallen; bei
erklärten Verschwendern; bei Ungeborenen, zuweilen bei Taubstummen.
§. 273. Für wahn- oder blödsinnig kann nur derjenige gehalten
werden, welcher nach genauer Erforschung seines Betragens und nach
Einvernehmung der von dem Gerichte ebenfalls dazu verordneten Aerzte
gerichtlich dafür erklärt wird.
§. 275. Taubstumme, wenn sie zugleich blödsinnig sind, bleiben
beständig unter Vormundschaft; sind sie aber nach Antritt des
fünfundzwanzigsten Jahres ihre Geschäfte zu verwalten fähig, so darf
ihnen wider ihren Willen kein Curator gesetzt werden; nur sollen sie
vor Gericht nie ohne einen Sachwalter erscheinen.
§. 283. Die Curatel hört auf, -- -- -- wenn die Gründe aufhören,
die den Pflegebefohlenen an der Verwaltung seiner Angelegenheiten
verhindert haben. Ob ein Wahn- oder Blödsinniger den Gebrauch der
Vernunft erhalten habe, -- -- -- muss nach einer genauen Erforschung
der Umstände, aus einer anhaltenden Erfahrung und zugleich aus den
Zeugnissen der zur Untersuchung von dem Gerichte bestellten Aerzte
entschieden werden.
§. 310. Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben, sind
an sich unfähig, einen Besitz zu erlangen. Sie werden durch einen
Vormund oder Curator vertreten. Unmündige, welche die Jahre der
Kindheit zurückgelegt haben, können für sich allein eine Sache in
Besitz nehmen.
§. 565. Der Wille des Erblassers muss bestimmt, nicht durch blosse
Bejahung eines ihm gemachten Vorschlages, er muss im Stande der
vollen Besonnenheit, mit Ueberlegung und Ernst, frei von Zwang,
Betrug und wesentlichem Irrthum erklärt werden.
§§. 566 und 567 (Testirfähigkeit Geisteskranker vide später).
§. 569. Unmündige sind zu testiren unfähig. Minderjährige, die das
18. Jahr noch nicht zurückgelegt haben, können nur mündlich vor
Gericht testiren. Das Gericht muss durch eine angemessene Erforschung
sich zu überzeugen suchen, dass die Erklärung des letzten Willens
frei und mit Ueberlegung geschehe. Die Erklärung muss in ein
Protokoll aufgenommen und dasjenige, was sich aus der Erforschung
ergeben hat, beigerückt werden. Nach zurückgelegtem 18. Lebensjahre
kann ohne weitere Einschränkung ein letzter Wille erklärt werden.
§. 591. Die Mitglieder eines geistlichen Ordens, Frauenspersonen und
Jünglinge unter 18 Jahren, Sinnlose, Blinde, Taube oder Stumme, dann
diejenigen, welche die Sprache des Erblassers nicht verstehen, können
bei den letzten Anordnungen nicht Zeuge sein.
§. 597. Bei letzten Anordnungen, welche auf Schifffahrten und in
Orten, wo die Pest oder ähnliche ansteckende Seuchen herrschen,
errichtet werden, sind auch Mitglieder eines geistlichen Ordens,
Frauenspersonen und Jünglinge, die das 14. Jahr zurückgelegt haben,
giltige Zeugen.
§. 865. Wer den Gebrauch der Vernunft nicht hat, wie auch ein
Kind unter 7 Jahren, ist unfähig, ein Versprechen zu machen oder
anzunehmen.
+Oesterr. St.-G.-Entwurf.+
§. 84. -- -- -- für Minderjährige, für Geisteskranke und für
Körperschaften übt dieses Recht (die Verfolgung zu beantragen) deren
gesetzlicher Vertreter, und wenn dieser selbst der Schuldige ist,
jene Person, welche von der Pflegschaft oder von der Aufsichtsbehörde
hierzu bestimmt ist.
Minderjährige, welche das 18. Lebensjahr zurückgelegt haben, können
das Recht auch selbstständig ausüben.
+Deutsches St.-G.+
§. 65. Der Verletzte, welcher das 18. Lebensjahr vollendet hat, ist
selbstständig zu dem Antrage auf Bestrafung berechtigt.
So lange der Verletzte minderjährig ist, hat der gesetzliche
Vertreter desselben, unabhängig von der eigenen Befugniss des
Verletzten, das Recht, den Antrag zu stellen.
Bei bevormundeten Geisteskranken und Taubstummen ist der Vormund nur
zur Stellung des Antrages berechtigt.
+Preuss. Allgem. Landrecht.+
Thl. I, Tit. 1, §. 27. Rasende und Wahnsinnige heissen diejenigen,
welche des Gebrauches ihrer Vernunft gänzlich beraubt sind.
§. 28. Menschen, welche das Vermögen, die Folgen ihrer Handlungen zu
überlegen, ermangelt, werden Blödsinnige genannt.
§. 29. Rasende und Wahnsinnige werden, in Ansehung der von dem
Unterschiede des Alters abhängenden Rechte, den Kindern (unter
7 Jahren, vergl. Thl. I, Tit. 4, §. 23), Blödsinnige aber den
Unmündigen gleich geachtet.
§. 31. Diejenigen, welche wegen nicht erlangter Volljährigkeit oder
wegen eines Mangels an Seelenkräften ihre Angelegenheiten nicht
gehörig wahrnehmen können, stehen unter der besonderen Aufsicht und
Vorsorge des Staates.
Thl. I, Tit. 4, §. 28. Personen, welche durch den Trunk des
Gebrauches ihrer Vernunft beraubt wurden, sind, so lange ihre
Trunkenheit dauert, den Wahnsinnigen gleich zu achten.
§. 29. Den Wahnsinnigen gleich zu achten sind diejenigen, welche
durch Schrecken, Furcht, Zorn oder andere heftige Leidenschaften in
einen Zustand versetzt wurden, worin sie ihrer Vernunft nicht mächtig
waren.
Thl. I, Tit. 12, §. 21. Personen, die wegen Wahnsinns oder Blödsinns
unter Vormundschaft genommen worden, sind, so lange die Vormundschaft
dauert, letztwillige Verordnungen zu verrichten unfähig.
§. 20. Personen, die nur zuweilen ihres Verstandes beraubt sind,
können in lichten Zwischenräumen von Todeswegen rechtsgiltig
verordnen.
§. 147. Ist dem Richter bekannt, dass der Testator zuweilen an
Abwesenheit des Verstandes leide, so muss er sich vollständig
überzeugen, dass derselbe in dem Zeitpunkte, wo er sein Testament
aufnehmen lässt oder übergibt, seines Verstandes wirklich mächtig sei.
§. 148. Findet er dieses zweifelhaft, so muss er Sachverständige
zuziehen.
Thl. II, Tit. 1, §. 698. Raserei und Wahnsinn, in welchen ein
Ehegatte verfällt, können die Scheidung nur alsdann begründen,
wenn sie über ein Jahr ohne wahrscheinliche Hoffnung zur Besserung
fortdauern. (Blödsinn ist ein Scheidungsgrund.)
Tit. 18, §. 12. Wahnsinnige oder Blödsinnige, welche nicht unter
Aufsicht eines Vaters oder Ehemannes stehen, müssen vom Staat unter
Vormundschaft genommen werden.
§. 13. Wer für wahnsinnig oder blödsinnig zu erachten sei, muss der
Richter mit Zuziehung sachverständiger Aerzte prüfen und festsetzen.
§. 15. Taubstumm Geborene, ingleichen diejenigen, welche vor
zurückgelegtem 14. Jahre in diesen Zustand gerathen sind, müssen,
sobald sie nicht mehr unter väterlicher Aufsicht stehen, vom Staate
bevormundet werden.
§. 16. Diejenigen, welche erst in späteren Jahren taubstumm geworden
sind, müssen nur alsdann unter Vormundschaft genommen werden, wenn
sie sich durch allgemein verständliche Zeichen nicht ausdrücken
können und daher ihre Angelegenheiten zu besorgen ganz unfähig sind.
§. 815. Die Vormundschaft über Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige
muss aufgehoben werden, wenn dieselben zum völlig freien Gebrauch
ihres Verstandes wieder gelangen.
§§. 816-817. Ob dieses geschehen sei, muss das vormundschaftliche
Gericht sorgfältig untersuchen, wobei ein von dem Gericht ernannter
Sachverständiger zuzuziehen ist.
§. 818. Die Vormundschaft über Taubstumme hört auf, wenn bei
angestellter Untersuchung sich findet, dass sie zu der Fähigkeit,
ihren Sachen selbst vorzustehen, gelangt sind.
§. 819. Wenn daher auch der Fehler von Gehör und an der Sprache
gehoben worden, so muss dennoch erst untersucht werden, ob nicht
etwa Blödsinn oder Schwäche des Verstandes die Fortsetzung der
Vormundschaft nöthig machen.
Dispositionsfähig nennt man ein Individuum, welches die Fähigkeit
besitzt, seine Angelegenheiten selbstständig zu besorgen und seine
Interessen und Rechte selbst zu wahren; somit insbesondere sein
Vermögen zu verwalten und über dasselbe zu verfügen, rechtsgiltige
Verträge abzuschliessen, eine Ehe einzugehen und zu testiren.
[Sidenote: Bedingungen der Dispositionsfähigkeit.]
Die +Dispositions-+ oder +Verfügungsfähigkeit+, erfordert im
Allgemeinen dieselben Vorbedingungen, wie die Zurechnungsfähigkeit, d.
h. erstens einen gewissen Grad körperlicher und geistiger Reife und
zweitens einen normalen Geisteszustand.
[Sidenote: Unmündige, Wahn- und Blödsinnige.]
In +ersterer+ Beziehung unterscheidet das österr. bürgerl. Gesetzbuch
(§. 21) und ebenso die meisten anderen Gesetzgebungen, insbesondere
das Preuss. allgem. Landrecht (Thl. I, Tit. 4, §. 23): Kinder, die
das siebente, Unmündige, die das vierzehnte und Minderjährige, die
das 24. Jahr ihres Lebens noch nicht zurückgelegt haben. Erst mit
vollendetem 24. Lebensjahre, nach erlangter „Volljährigkeit“, besitzt
das Individuum die volle bürgerliche Selbstständigkeit, respective
Verfügungsfreiheit, während ihm dieselbe bis zum 7. Lebensjahre gar
nicht, zwischen dem 7. bis zum 24. nur in beschränkter Weise oder nur
bezüglich gewisser Acte zugestanden wird. So z. B. kann dasselbe schon
vom 7. Lebensjahre an Besitz erwerben oder ein Versprechen machen oder
annehmen (§. 310 und 865 österr. bürgl. Gesetzbuch), wird Mädchen
schon vom vollendeten 14. Lebensjahre die Fähigkeit vindicirt, ihre
Geschlechtsehre selbst zu wahren[582] und allen Individuen vom 14.
Jahre angefangen eine beschränkte und mit vollendetem 18. Jahre die
volle Testirfähigkeit eingeräumt (§. 569 österr. bürgl. Gesetzbuch).
Endlich sind auch Minderjährige, welche das 18. Lebensjahr zurückgelegt
haben, berechtigt, im Falle einer erlittenen Verletzung selbstständig
den Antrag auf Bestrafung zu stellen, während dies früher nur durch
ihren gesetzlichen Vertreter geschehen kann (österr. St.-G.-Entw. §.
84, deutsches St.-G. §. 65).
Das Gesetz lässt somit, analog wie bei der Zurechnungsfähigkeit, auch
die Dispositionsfähigkeit nur allmälig eintreten, gesteht aber die
volle bürgerliche Verfügungsfreiheit erst später zu als die volle
Zurechnungsfähigkeit, nämlich nicht wie diese schon mit vollendetem
20., sondern erst mit vollendetem 24. Lebensjahre, wobei dasselbe
offenbar von der gewiss begründeten Anschauung ausging, dass die zur
vollen Zurechnung erforderliche Einsicht in die Bedeutung strafbarer
Handlungen und die Fähigkeit der Beherrschung egoistischer Impulse
ungleich früher vorhanden ist, als das genügende Verständniss jener
complicirteren Verhältnisse, die bei der Handhabung und Wahrung der
bürgerlichen Rechte und Pflichten in Betracht kommen.
[Sidenote: Wahn- und Blödsinnige.]
In +zweiter+ Beziehung stellt das österr. allgem. bürgl. Gesetzbuch
diejenigen, welche wegen „Gebrechen des Geistes“ ihre Angelegenheiten
zu besorgen unfähig sind, unter den besonderen Schutz der Gesetze (§.
21) und bezeichnet als solche „Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige,
welche des Gebrauches ihrer Vernunft entweder gänzlich beraubt oder
wenigstens unfähig sind, die Folgen ihrer Handlungen einzusehen“,
erklärt (§. 48) Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige ausser Stande,
einen giltigen Ehevertrag abzuschliessen, stellt Wahn- und Blödsinnige,
sowie überhaupt Personen, welche den Gebrauch der Vernunft nicht
besitzen, unter Curatel (§§. 173, 269, 270, 275), erklärt sie für
unfähig, Besitz zu erlangen und (§. 310) ein Versprechen zu machen oder
es anzunehmen (§. 865), sowie zu testiren (§. 566).
Ebenso werden im Preuss. allgem. Landrecht Rasende und Wahnsinnige
den Kindern unter 7 Jahren, Blödsinnige aber den Unmündigen (Kinder
von 7-14 Jahren) gleich geachtet (Thl. I, Tit. 1, §. 19), unter
Vormundschaft und die besondere Aufsicht und Vorsorge des Staates
gestellt (Thl. I, Tit. 1, §. 31 und Thl. II, Tit. 18, §. 12) und zu
letztwilligen Verordnungen für unfähig erklärt (Thl. I, Tit. 12, §. 21).
[Sidenote: Taubstumme. Entmündigung. Oesterr. Gesetz.]
Ferner sind zufolge des preuss. allgem. Landrechtes Personen, welche
durch den Trunk des Gebrauches ihrer Vernunft beraubt worden, so lange
die Trunkenheit dauert, den Wahnsinnigen gleich zu achten, ebenso
diejenigen, welche durch Schrecken, Furcht, Zorn oder andere heftige
Leidenschaften in einen Zustand versetzt wurden, worin sie ihrer
Vernunft nicht mächtig waren (Thl. I, Tit. 4, §§. 28 und 29), und auch
das österr. allgem. bürgl. Gesetzbuch erklärt Rechtsacte, insbesondere
testamentarische Verfügungen für ungiltig, wenn dieselben im Zustande
der Trunkenheit geschehen sind (§. 566), endlich bestimmt das österr.
Gesetz (§. 275), dass Taubstumme nur dann beständig unter Vormundschaft
zu bleiben haben, wenn sie zugleich blödsinnig sind, dass ihnen aber,
wenn sie nach Antritt des 25. Jahres ihre Geschäfte zu verwalten
fähig sind, wider ihren Willen kein Curator gesetzt werden darf, und
verlangt blos, dass sie vor Gericht nie ohne Sachwalter erscheinen
sollen, und ebenso verfügt das preuss. allgem. Landrecht (Thl. II, Tit.
1, §§. 15 und 16), dass taubstumm Geborene, ingleichen diejenigen,
welche vor zurückgelegtem 14. Jahre in diesen Zustand gerathen sind,
vom Staate bevormundet werden sollen, ebenso auch diejenigen, die
erst in späteren Jahren taubstumm geworden sind, wenn sie sich durch
allgemein verständliche Zeichen nicht ausdrücken können und daher ihre
Angelegenheiten zu besorgen ganz unfähig sind, dass aber (§. 818) die
Vormundschaft über Taubstumme aufzuhören habe, wenn bei angestellter
Untersuchung sich findet, dass sie zu der Fähigkeit, ihren Sachen
selbst vorzustehen, gelangt sind.
[Sidenote: Entmündigung.]
Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass die Dispositionsfähigkeit
in Frage kommen kann: 1. wenn ein Individuum unter Curatel gesetzt,
beziehungsweise die bereits verhängte Curatel wieder aufgehoben
werden soll, und 2. wenn behauptet wird, dass ein nicht unter
Curatel stehendes Individuum zur Zeit eines von ihm ausgeführten
civilrechtlichen Actes sich in einem Geisteszustand befand, bei
Vorhandensein dessen das Gesetz solche Acte für ungiltig erklärt.[583]
Untersuchung auf Dispositionsfähigkeit wegen zu verhängender oder
aufzuhebender Curatel.
A. Verhängung der Curatel, Entmündigung.
Nach §§. 269 und 270 des +österr. allgem. bürgl. Gesetzbuches+ ist
für Personen, die in Wahn- oder Blödsinn verfallen, ein Curator oder
Sachwalter zu bestellen. Für wahn- oder blödsinnig darf nach §. 273
nur derjenige gehalten werden, welcher nach genauer Erforschung seines
Betragens und nach Einvernehmung der von dem Gerichte ebenfalls dazu
verordneten Aerzte dafür erklärt wird.
Zur Bestellung des Curators und zur Führung der Curatel ist das
Bezirksgericht des ordentlichen Wohnortes des Curanden berufen;
die Entscheidung über Verhängung oder Aufhebung der Curatel wegen
Geisteskrankheit steht aber jenem Landesgerichte zu, in dessen Sprengel
der ordentliche Wohnort des Curanden sich befindet (Jurisdictionsnorm
vom 18. Juni 1850, §. 96).
Der Antrag auf Stellung unter Curatel kann entweder von den Angehörigen
(eventuell dem Vormunde) oder ex offo erfolgen, und es ist insbesondere
ausdrücklich geboten (Hofkzld. vom 21. Juli 1825), dass, wenn eine
Person in eine öffentliche oder Privatirrenanstalt gebracht wird, die
Leitung verpflichtet ist, hiervon binnen 24 Stunden die Anzeige an den
Gerichtshof erster Instanz, in dessen Sprengel die Anstalt gelegen
ist, zu erstatten, und ebenso denselben von der Entlassung geheilter,
unter Curatel stehender Kranken in Kenntniss zu setzen. Weiter ist es
Pflicht der Gemeinde, Geisteskranke, welche nicht unter väterlicher
oder vormundschaftlicher Gewalt stehen, dem Gerichtshofe erster
Instanz, zu dessen Sprengel sie zugewiesen sind, behufs der weiteren
Verfügung namhaft zu machen, und sind anderseits die Gerichtsbehörden
verpflichtet, die Bestellung von Vormündern oder Curatoren für in
Irrenanstallten befindliche Geisteskranke diesen Anstalten bekannt zu
geben. (Verordnung des Ministeriums des Innern und der Justiz vom 14.
Mai 1874, R.-G.-Bl. Nr. 71, §§. 9, 12, 23 und 25 und vom 4. Juli 1878,
R.-G.-Bl. Nr. 87.)
Für das +deutsche Reich+ ist „das +Verfahren in Entmündigungssachen+“
im zweiten Abschnitt der Civilprocessordnung vom Jahre 1877 normirt.
Die wichtigsten dieser Bestimmungen lauten:
§. 593. Eine Person kann für geisteskrank (wahnsinnig, blödsinnig
u. s. w.) nur durch Beschluss des Amtsgerichtes erklärt werden.
Der Beschluss wird nur auf Antrag erlassen.
§. 594. Das Amtsgericht, bei welchem der zu Entmündigende seinen
allgemeinen Gerichtsstand hat, ist ausschliesslich zuständig.
§. 596. Der Antrag -- -- -- soll eine Angabe der ihn begründenden
Thatsachen und die Bezeichnung der Beweismittel enthalten.
§. 597. Das Gericht hat unter Benutzung der in dem Antrag angegebenen
Thatsachen und Beweismittel von Amtswegen die zur Feststellung des
Geisteszustandes erforderlichen Ermittelungen zu veranstalten und die
geeignet erscheinenden Beweismittel aufzunehmen.
Das Gericht kann vor Einleitung des Verfahrens die Beibringung eines
ärztlichen Zeugnisses anordnen.
Für die Vernehmung und Beeidigung der Zeugen und Sachverständigen
kommen die Bestimmungen im 7. und 8. Titel des ersten Abschnittes des
zweiten Buches (§. 367 ff.) zur Anwendung.[584]
§. 598. Der zu Entmündigende ist persönlich unter Zuziehung eines
oder mehrerer Sachverständigen zu vernehmen.
Die Vernehmung kann unterbleiben, wenn sie nach Ansicht des Gerichtes
schwer ausführbar oder für die Entscheidung unerheblich oder für den
Gesundheitszustand des zu Entmündigenden nachtheilig ist.
§. 599. Die Entmündigung darf nicht ausgesprochen werden, bevor das
Gericht einen oder mehrere Sachverständige über den Geisteszustand
des zu Entmündigenden gehört hat.
§. 604. Gegen den Beschluss, durch welchen die Entmündigung abgelehnt
wird, steht dem Antragsteller und dem Staatsanwalte die sofortig
Beschwerde zu.
§. 605. Der die Entmündigung aussprechende Beschluss kann im Wege der
Klage binnen der Frist eines Monates angefochten werden.
Das Recht zur Erhebung des Klage steht dem Entmündigten selbst, dem
Vormunde desselben und den im §. 595 bezeichneten Personen zu.
§. 606. Für die Klage ist das Landesgericht, in dessen Bezirke das
Amtsgericht seinen Sitz hat, ausschliesslich zuständig.
§. 612. Die Bestimmungen der §§. 598, 599 finden in dem Verfahren
über die Anfechtungsklage entsprechende Anwendung.
Von der Vernehmung Sachverständiger darf das Gericht Abstand nehmen,
wenn es das von dem Amtsgericht abgegebene Gutachten für genügend
erachtet.
[Sidenote: Oesterr. Entmündigungsverfahren.]
Aus diesen, sowie aus den bereits oben erwähnten Bestimmungen geht
hervor, dass die Aufgabe des österreichischen Gerichtsarztes bei
wegen Curatelverhängung aufgetragener Untersuchung darin besteht, zu
erklären, ob das betreffende Individuum für wahn- oder blödsinnig zu
halten sei (§. 273 allgem. bürgerl. Gesetzbuch). Wegen dieser stricten
Forderung des Gesetzes ist der Arzt gezwungen, alle Geistesstörungen,
die bezüglich der Verfügungsfreiheit in Betracht kommen können,
entweder in der Rubrik des Wahnsinns oder in der des Blödsinns
unterzubringen, wodurch er mitunter mit der modernen Begriffsbestimmung
und Eintheilung der Geisteskrankheiten in Conflict gerathen kann, da es
ja, wie wir wissen, Geistesstörungen gibt, die weniger die Intelligenz
als die Gefühls- und Willenssphäre betreffen (melancholische und
maniakische Verstimmungen und insbesondere die Formen der Folie
raisonnante), und dennoch die Dispositionsfähigkeit eines Individuums
wesentlich zu beeinträchtigen oder ganz aufzuheben vermögen. Es bleibt
jedoch nichts übrig, als auch in solchen Fällen der gesetzlichen, auch
für die weitere Behandlung des Falles massgebenden Terminologie sich
zu fügen und nach correct wissenschaftlicher Beleuchtung des Falles
den Geisteszustand je nach den vorwiegenden Erscheinungen im Bereiche
des Intellects unter den Begriff des Wahnsinns oder Blödsinns im
gesetzlichen Sinne zu subsumiren.
[Sidenote: Deutsches Entmündigungsverfahren.]
Noch schwieriger war in solchen Fällen die Stellung des preussischen
Gerichtsarztes, da das allgemeine Landrecht (Theil I, Tit. 18, §§.
12 und 13) nicht nur ebenfalls blos Wahnsinnige und Blödsinnige
unterscheidet, sondern weil im Gesetze (Theil I, Tit. 1, §§. 27
und 28) ausdrücklich angegeben ist, welche Individuen dasselbe als
Wahnsinnige und welche als Blödsinnige erachtet, diese Definitionen
aber noch antiquirter sind als die festgehaltene Unterscheidung
überhaupt. Durch die Civilprocessordnung für das deutsche Reich wären
diese Schwierigkeiten beseitigt, indem der §. 593 den Nachweis der
Geisteskrankheit überhaupt fordert und den Wahnsinn und Blödsinn nur
beispielsweise erwähnt.[585]
Strenge genommen, hat der Gerichtsarzt in allen hierher gehörigen
Fällen nur zu erklären, ob Geisteskrankheit, beziehungsweise
welche Form derselben besteht, während die weitere Verwerthung
dieser Erklärung für die Frage, ob das betreffende Individuum
dispositionsfähig sei oder nicht, respective entmündigt werden müsse
oder nicht, dem Gerichte zufällt.
Selbstverständlich wird jedoch der Arzt, da er nicht blos eine einfache
Diagnose, sondern ein fachmännisch motivirtes Gutachten zu geben hat,
bei der Beurtheilung und Motivirung des Falles auch den Zweck im
Auge behalten, zu welchem er Bericht und Gutachten verfasst, und es
kann dem Gerichte nur willkommen sein, wenn der Gerichtsarzt seinen
Bericht und sein Gutachten nicht einzig und allein vom allgemeinen
klinischen Standpunkte aus abgibt, sondern auch auseinandersetzt, ob
und in welchem Grade die erwiesene Geistesstörung das Individuum in
der Handhabung und Wahrung seiner bürgerlichen Rechte und Pflichten zu
behindern vermag.
[Sidenote: Blödsinn.]
Am häufigsten sind es +psychische Schwächezustände+, um welche es
sich handelt.
Die Beurtheilung der schweren Formen des angeborenen oder erworbenen
+Blödsinns+ unterliegt keiner Schwierigkeit. Nicht so leicht ist
die des Schwachsinns. Es gibt viele Individuen, die trotz angeborenem
Schwachsinn sich erfahrungsgemäss im Leben gut und selbstständig
fortbringen; man überzeugt sich jedoch bei näherer Erwägung meistens,
dass dieses nur deshalb der Fall ist, weil eben die äusseren
Verhältnisse des Individuums sehr einfach sich gestalten, respective
derart sind, dass die Orientirung innerhalb derselben nur ein
geringes Mass von Intelligenz erfordert, dass aber die intellectuelle
Insufficienz sofort zu Tage kommt, sobald complicirtere Verhältnisse
herantreten, und zwar desto evidenter, je raschere Entscheidung
dieselben erfordern. Mit anderen Worten: die Dispositionsfähigkeit,
respective Unfähigkeit, kann auch nur eine relative sein, eine
Thatsache, die am besten beweist, dass es nicht angeht, nur
Geistesschwäche (Geisteskrankheit) als solche zu constatiren, sondern
dass auch ihre Beziehung zu bestimmten äusseren Verhältnissen in das
Bereich der ärztlichen Erwägung gezogen werden muss. So kann z. B.
bei einem Taglöhner ein gewisser Grad von Schwachsinn existiren, ohne
dessen Dispositionsfähigkeit zu beeinträchtigen, während ähnliche und
vielleicht noch niedere Grade der psychischen Schwäche, wie sie z. B.
nach einer schweren Hirnerkrankung zurückbleiben, bei einem Banquier,
Kaufmann etc. die Entziehung der freien Verfügungsfreiheit nothwendig
machen, wenn nicht wichtige Interessen des Kranken selbst oder seiner
Familie, eventuell auch Anderer, Schaden leiden sollen.
In allen derartigen Fällen ist nicht blos die eventuelle Unfähigkeit
des Individuums zur selbstständigen und richtigen Führung seiner
Angelegenheiten im Auge zu behalten, sondern auch die mit dem
Schwachsinn in der Regel einhergehende leichtere Bestimmbarkeit und die
in Folge dessen mögliche Ausbeutung und absichtliche Irreführung des
Betreffenden, aus welcher häufig viel grössere Nachtheile erwachsen,
als aus den aus eigener Initiative des Individuums hervorgehenden
Handlungen.
[Sidenote: Erworbener Blödsinn.]
Es können, wie bereits angedeutet, sowohl angeborene, als erworbene
Blödsinns-, respective Schwachsinnsformen in Betracht kommen. Erstere
sind verhältnissmässig leichter zu beurtheilen, da sie frühzeitig,
insbesondere schon beim Schulunterrichte, auffallen und weil die
psychische Insufficienz successive noch deutlicher hervortritt, wenn
das Individuum nach zurückgelegtem Kindesalter auf eigene Füsse sich
stellen soll. Auch haben sie im Allgemeinen eine geringere Bedeutung,
weil solche Individuen eben in Folge ihres Intelligenzdefectes gewisse
Lebensstellungen gar nicht zu erlangen vermögen.
Vom erworbenen Blödsinn ist insbesondere der apoplectische und senile,
sowie der paralytische bemerkenswerth.
[Sidenote: Apoplectischer Blödsinn.]
Eine vollkommene Wiederkehr der früheren Intelligenz gehört nach
+apoplectischen+ Insulten, mögen denselben Hämorrhagien oder embolische
Processe zu Grunde gelegen haben, zu den seltenen Erscheinungen. In
der Regel bleiben Defecte derselben zurück, die allerdings bezüglich
ihres Grades sich verschieden gestalten. Die schweren Formen bieten
der Diagnose keine Schwierigkeit, und es kann auch nach Constatirung
derselben darüber kein Zweifel bestehen, dass die Betreffenden der
Dispositionsfähigkeit entbehren. Nicht so leicht ist die Sache in den
weniger ausgesprochenen Formen.
Häufig ist die Einbusse, die das Individuum an seiner Intelligenz
erlitten hat, nur eine relative, insofern als dasselbe nur weniger
psychisch leistungsfähig ist, als es vor der Erkrankung gewesen war,
ohne dass jedoch von absolutem Schwachsinn gesprochen werden könnte.
Der Intelligenzdefect ergibt sich hier überhaupt nur beim Vergleichen
der gegenwärtigen mit der früheren Intelligenz, und es kann deshalb ein
solches Individuum auf Jemanden, der dasselbe nicht früher kannte, sehr
wohl den Eindruck eines geistig normalen machen, während einem Anderen
die psychische Decadenz sofort in die Augen springt.
Es geht nicht an, solche Individuen für blödsinnig zu erklären und ihre
Dispositionsfähigkeit zu bestreiten, wenn wir auch zugeben müssen, dass
sie gegenwärtig ihre Angelegenheiten weder mit jener Energie, noch mit
jenem Verständniss zu führen vermögen, wie sie früher vermochten. In
anderen Fällen ist die Intelligenz entschieden unter die Norm gesunken,
und macht sich der betreffende Defect insbesondere durch Schwäche des
Gedächtnisses, durch Ideenarmuth, leichte geistige Ermüdung bemerkbar,
aber das Individuum ist noch im Stande, gewöhnliche Verhältnisse,
insbesondere ihn selbst betreffende Angelegenheiten, richtig
aufzufassen und seine Geschäfte, wenn auch nur mit einiger Anstrengung,
selbst zu besorgen.
Auch hier würde man zu weit gehen, wenn man solchen Individuen die
Fähigkeit zur Ausübung ihrer bürgerlichen Pflichten und Rechte ohne
Weiteres bestreiten und sie für blödsinnig erklären wollte.
Dagegen wäre man hierzu berechtigt, wenn der Untersuchte die
gewöhnlichsten Dinge vergisst, ihm bekannt gewesene Personen nicht mehr
erkennt, grobe Irrthümer begeht und selbst einfache Verhältnisse nicht
mehr oder nur schwierig zu begreifen vermag.
Bei der Beurtheilung aller Formen des apoplectischen Blödsinns,
respective Schwachsinns, ist die wichtige Thatsache nicht zu übersehen,
dass sich in vielen dieser Fälle mit der intellectuellen Schwäche noch
andere psychische Störungen combiniren, und dass diese schon mitunter
für sich allein, noch mehr aber im Zusammenhange mit ersterer die
Dispositionsfähigkeit des Kranken zu beeinträchtigen vermögen. Wir
meinen hier weniger die abnorme Reizbarkeit solcher Individuen und
die Geneigtheit zu unmotivirtem Stimmungswechsel, als vielmehr die
häufig bestehenden Defecte und Verkehrungen des moralischen Fühlens,
insbesondere aber die Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen, die
nicht selten auftreten und leicht zur Verrücktheit, namentlich unter
dem Bilde des Verfolgungswahns, führen können.
[Sidenote: Seniler Blödsinn.]
In analoger Weise sind die +senilen Zustände+ psychischer Schwäche zu
beurtheilen. So lange letztere nur in einer allmäligen, gewissermassen
physiologischen Abnahme der früheren psychischen Leistungsfähigkeit
besteht, hat sie nur eine untergeordnete Bedeutung. Denn, wenn auch mit
fortschreitendem Greisenalter das Gedächtniss allmälig abnimmt, die
intellectuelle Leistungsfähigkeit sinkt und auch die Willensenergie
sich successive vermindert, so erreicht doch die psychische
Schwäche selten einen so hohen Grad, dass dieselbe als Blödsinn zu
bezeichnen wäre und die tägliche Erfahrung lehrt, dass unter sonst
normalen Verhältnissen der Mensch trotz der merklichen und immer
vorwärtsschreitenden Abnahme seiner psychischen Leistungsfähigkeit bis
in’s höchste Alter hinein jenen geistigen Fond sich bewahren kann,
der zur selbstständigen Führung der eigenen Angelegenheiten erfordert
wird. Mitunter ist jedoch der psychische Verfall ein intensiver
und ein mehr weniger rapider. Letzterer Erscheinung liegen meist
Gelegenheitsursachen zu Grunde, insbesondere schwere Erkrankungen
verschiedener Art, von denen das Individuum zwar genest, aber von
diesem Zeitpunkte an einem schnellen Marasmus verfällt. Die im
Alter häufigen Pneumonien spielen in dieser Beziehung eine wichtige
Rolle. Auch ist begreiflich, dass Erkrankungen, die mittelbar oder
unmittelbar das Gehirn betrafen, bei Greisen leichter psychische
Störungen, insbesondere psychische Schwächezustände, zurücklassen
können als sonst. Unter solchen Umständen können sich hochgradige
Formen des Blödsinns entwickeln und vorzugsweise durch hochgradige
Gedächtnissschwäche bis zum Vergessen des eigenen Namens, Unfähigkeit
sich zu orientiren, Ideenarmuth und kindisches Wesen sich documentiren
und vollkommene Unfähigkeit zur Führung der eigenen Angelegenheiten
bedingen.
Nicht minder wichtig als der einfache senile Verfall der Intelligenz
sind anderweitige psychische Störungen, die sich mit demselben
combiniren können, von denen insbesondere jene im Bereiche des
moralischen Fühlens und die melancholische Verrücktheit für sich
allein die Dispositionsfähigkeit des Individuums zu beeinträchtigen,
respective aufzuheben vermögen. Defecte im Bereiche des ethischen und
sittlichen Fühlens sind bei Greisen keine seltene Erscheinung und die
dadurch bewirkte Veränderung des Charakters mitunter das erste Symptom
des hereinbrechenden geistigen Marasmus. Die Individuen beginnen die
Gesetze der Convenienz und des Anstandes zu verletzen, sich, wie man
sagt, gehen zu lassen, ergeben sich ungeordneter Lebensweise und fangen
an, lockere Verhältnisse anzuknüpfen, Bordelle aufzusuchen oder andere
sexuelle Excesse auszuüben, selbst solche, die, wie bereits an anderem
Orte erwähnt, sie mit dem Strafgericht in Collision bringen können.
Durch dieses Gebahren können die Betreffenden sich und die Interessen
Anderer wesentlich schädigen, und es ist insbesondere begreiflich,
dass ihr sexuelles Verhalten sie theils freiwillig, theils in Folge
berechneter Einwirkung Anderer zu Acten verleiten kann, die, wie z. B.
Eheversprechen, Heiraten, Schenkungen etc., eine grosse Tragweite und
Bedeutung besitzen.
[Sidenote: Melancholien.]
Melancholien mit Angstgefühlen sind bei Greisen eine verhältnissmässig
häufig Erscheinung, ebenso der aus ihnen sich entwickelnde
Verfolgungswahn, welcher sich nicht selten auf die nächste Umgebung
und die eigenen Verwandten bezieht. Das den Greisen eigenthümliche
misstrauische Wesen und die so häufigen hypochondrischen Anwandlungen
sind gewissermassen die ersten Anfänge der genannten Psychosen.
Beide Formen combiniren sich in der Regel mit bereits entwickeltem
Schwachsinn oder Blödsinn und treten meist anfallsweise auf, ebenso wie
mitunter Zustände maniakischer Aufregung. In diesen Stadien sind die
Betreffenden nicht blos sich und Anderen gefährlich, sondern können
unter dem Einflusse ihrer krankhaft veränderten Stimmung, insbesondere
aber unter jenem des Verfolgungswahns, in civilrechtlicher Beziehung
sich und Anderen den grössten Schaden zufügen, namentlich durch
Enterbungen der nächsten Anverwandten, durch in ihren Angstgefühlen
und daraus resultirenden religiösen Wahnsinn an Kirchen etc., gemachte
Legate, beziehungsweise Schenkungen u. s. w., um so leichter, da, wie
die Erfahrung lehrt, sich häufig Leute finden, die aus der geistigen
Schwäche und den sonstigen psychopathischen Zuständen der Greise
Vortheile zu ziehen verstehen.
[Sidenote: Paralytischer Blödsinn.]
Von allen Formen des Blödsinns und vielleicht von allen Psychosen
überhaupt ist in Bezug auf die Dispositionsfähigkeit die wichtigste
der +paralytische Blödsinn+, einestheils wegen der leichten
Verkennung des Initialstadiums des Leidens, welches, wie bereits
an anderem Orte erwähnt, ganz allmälig und anfangs unscheinbar
sich entwickelt und monatelange Remissionen zulässt, anderseits
weil diese Psychose, insbesondere die maniakische Exaltation und
der daraus resultirende, schon sehr frühzeitig sich manifestirende
und schliesslich ganz exorbitante Grössenwahn, die Ursache der
unsinnigsten Vermögensverschleuderungen und damit des finanziellen
Ruins des Betreffenden, eventuell ganzer Familien werden kann. Die
rechtzeitige Erkennung der Krankheit kann grosses Unheil verhüten, und
schon die frühesten Stadien derselben fordern dringend die Stellung
unter Curatel. Für den genau beobachtenden Arzt bieten sich, wie aus
dem an anderem Orte Gesagten hervorgeht, schon frühzeitig Symptome,
die wenigstens den Verdacht erwecken, dass paralytisches Irrsein
sich zu entwickeln beginne, und die weitere Verfolgung des Falles
lässt bald über die Natur des Leidens keinen Zweifel mehr aufkommen.
Leider wird gerade in diesen Fällen ärztliche Intervention meist sehr
spät herangezogen, da man in der Regel gar nicht daran denkt, dass
das Individuum geisteskrank sei, sondern das veränderte Gebahren
desselben sich anderweitig erklärt, und es kommt sogar vor, dass,
selbst nachdem von ärztlicher Seite der Zustand erkannt und als solcher
begutachtet worden war, Laien, selbst Richter, das Bestehen einer
Geisteskrankheit nicht anerkennen wollen, wenn der Betreffende das Bild
der Folie raisonnante darbietet, äussere Verhältnisse das Gebahren
desselben motivirt erscheinen lassen, oder gerade eine der hier so
häufigen Remissionsperioden besteht, während welcher bekanntlich
sowohl die psychischen, als die paralytischen Symptome zurückgehen
und selbst nahezu vollständig verschwinden können. Umsomehr ist es
Sache des Arztes, auf längerer und fortgesetzter Beobachtung zu
bestehen, den Beginn und Verlauf der Krankheit sorgfältig zu erörtern,
die Möglichkeit von Remissionen oder Intermissionen zu betonen und
insbesondere die eingetretene Charakteränderung, sowie das sonst
Unmotivirte derselben zu beleuchten. Da, wie bereits erwähnt, schon
in den ersten Stadien des paralytischen Irrseins das Gebahren des
Kranken die Signatur der psychischen Schwäche an sich trägt, die im
weiteren Verlaufe immer deutlicher zu Tage tritt, so ist insbesondere
auf die Eruirung und Darstellung der für diese Thatsachen sprechenden
Aeusserungen und Handlungen des Untersuchten ein Gewicht zu legen.
Bei Beurtheilung des Blödsinns oder Schwachsinns ist die Thatsache
zu beachten, dass es Zustände gibt, die für Blödsinn oder
hochgradigen Schwachsinn imponiren können, ohne es zu sein. Ausser
ganz vernachlässigter Erziehung gehört hierher insbesondere die
Taubstummheit und die Aphasie.
[Sidenote: Taubstummheit.]
Bezüglich der +Taubstummen+ verordnet das österr. bürgerl. Gesetzbuch
(§. 275), dass sie nur dann beständig unter Vormundschaft zu bleiben
haben, wenn sie zugleich blödsinnig sind. Es wurde jedoch bereits
bei Besprechung der Zurechnungsfähigkeit Taubstummer bemerkt, dass
Taubstumme, welche keinen Unterricht genossen haben, den Blödsinnigen
gleichzustellen sind. Derselbe Grundsatz wird wohl auch gegenüber der
Dispositionsfähigkeit aufrecht erhalten werden müssen. Aber auch bei
unterrichteten Taubstummen werden Unterscheidungen zu machen sein, da
der Effect des Unterrichtes ein sehr geringer sein kann, wenn eine
schwache Veranlagung bestand. Aus diesem Grunde ist die Verfügung des
preuss. allgem. Landrechtes zu billigen, zufolge welcher die staatliche
Vormundschaft über Taubstumme nur dann aufzuhören hat, wenn sich
findet, dass sie zu der Fähigkeit, ihren Sachen selbst vorzustehen,
gelangt sind, was somit in jedem einzelnen Falle erwiesen werden muss.
Dies muss durch die Erwägung des bisherigen Verhaltens des Individuums,
durch den Nachweis des erhaltenen Unterrichtes und die dabei gemachten
Fortschritte und durch specielle Untersuchung und Prüfung desselben
geschehen. Die Intervention eines Taubstummenlehrers oder einer anderen
der Taubstummensprache kundigen Person wird nur dann unterbleiben
können, wenn der zu untersuchende Taubstumme gut lesen und schreiben
kann. In allen anderen ist sie schon deshalb angezeigt, weil das
gegenseitige schwere Verständniss leicht für eine geistige Schwäche
des betreffenden Taubstummen imponiren könnte. Diese Schwierigkeit der
Verständigung ist auch der Grund, warum das österr. bürgerl. Gesetzbuch
(§. 275) bestimmt, dass selbst als dispositionsfähig erkannte
Taubstumme vor Gericht nie ohne Sachwalter erscheinen sollen.
[Sidenote: Aphasie.]
Ein anderer Zustand, der trotz vorhandener normaler Intelligenz
für Blödsinn gehalten werden könnte, ist die +Aphasie+, nämlich
der Verlust der Sprache, die nach gewissen Hirnaffectionen,
insbesondere nach (linksseitigen) Hirnhämorrhagien, aber auch nach
Hirnverletzungen zurückbleiben kann. Dieser auch in strafrechtlicher
Beziehung wichtige Zustand (pag. 331) ist bereits wiederholt wegen der
Dispositionsfähigkeit der damit behafteten Personen Gegenstand von
Erörterungen geworden.[586]
Es unterliegt keinem Zweifel, dass es Formen von Aphasie gibt, bei
welchen trotz ungetrübtem Intellect das Individuum nicht im Stande ist,
seinen Vorstellungen durch die Sprache Ausdruck zu geben, entweder
weil der Sprechapparat seinen Dienst versagt (atactische Aphasie),
oder weil für die einzelnen Begriffe die Worte verloren gegangen
sind (amnestische Aphasie). Im letzteren Falle vermag der Kranke ihm
vorgesagte Silben oder Worte nachzusprechen, im ersteren nicht. Beide
Zustände können vollständig oder nur partiell sein (A. universalis und
partialis) und mit ihnen kann mehr weniger vollständige Unfähigkeit,
sich auch auf andere Weise zu verständigen, verbunden sein (Agraphie,
Amimie), doch ist dies keineswegs unbedingt nothwendig; auch kann es
vorkommen, dass Aphasische, selbst mit Agraphie Behaftete, gewisse
andere Leistungen ohne Anstand verrichten, z. B. Karten oder Schach
zu spielen vermögen. Derartige Leistungen sprechen für intacte
Intelligenz und sind nicht etwa in gleiche Linie zu stellen mit den
einseitigen mechanischen Fertigkeiten, die wir, wie oben (pag. 888)
erwähnt, auch bei Blödsinnigen mitunter beobachten können. Ueberdies
sind von +Trousseau+, +Kussmaul+, +Maudsley+, +Blumenstok+ u. A.
Fälle beobachtet worden, in denen Aphasische ihre bürgerlichen
Angelegenheiten ganz gut zu versehen vermochten.
Die Fähigkeit hierzu würde wohl keinem Zweifel unterliegen, wenn
das betreffende Individuum sich durch Schreiben (wenn auch, wie
manchmal gesehen wurde, in Spiegelschrift) oder etwa wie in dem Falle
+Maudsley+’s mittelst eines Wörterbuches, oder durch Zeichen seine
Gedanken zum Ausdrucke zu bringen und dadurch seine intacte Intelligenz
zu documentiren im Stande wäre.
[Sidenote: Paraphasie.]
Häufig gestaltet sich aber die Sache viel complicirter. Abgesehen
davon, dass sich mit aphasischen Zuständen häufig auch mehr
weniger vollständige Agraphie und Amimie combinirt, ist besonders
bemerkenswerth, dass bei manchen Aphatikern das Vermögen, das
richtige Wort zu finden, in der Weise gestört ist, dass sich statt
des gesuchten Wortes andere einstellen, +Paraphasie+. Häufig werden
ähnlich lautende gebraucht; statt ausziehen wird anziehen, statt Kopf
wird Topf oder Ofen gesagt. Oder es kommt statt des gesuchten Wortes
eines, das einen gleichen oder ähnlichen Sinn hat, zum Vorschein, so
statt Kopf Haut, statt Daumen Zehe, statt Zehe Finger, oder ein mehr
weniger entgegengesetztes, so statt Hand Fuss, statt Kopf Fuss, statt
Tisch Stuhl, mitunter wieder statt des richtigen Wortes ein solches,
welches sprachlich mit demselben häufig verbunden vorkommt, z. B.
Stock statt Stein, Stein statt Bein, Land statt Leute. Doch kann das
Unvermögen, das richtige Wort zu finden, auch so bedeutend sein, dass
keine Verwandtschaft mehr zwischen dem gesuchten und dem gesprochenen
Worte zu finden ist und dass für den Hörer nur ein ganz regelloses
Durcheinander von gebräuchlichen und nicht gebräuchlichen Wörtern zur
Vernehmung kommt.[587]
Es liegt in solchen Fällen die Gefahr nahe, dass die unrichtige
Ausdrucksweise des Kranken als Beweis eines mangelhaften
Verständnisses, einer unrichtigen Auffassung äusserer Verhältnisse
gedeutet werden kann, desto mehr, je weniger derselbe im Stande
ist, seinen Ideen anderweitig Ausdruck zu geben. Fortgesetzte und
sorgfältige Beobachtung ist hier erforderlich. Auch ist zu beachten,
dass einestheils die Umgebung des Kranken durch beständigen Verkehr mit
diesem seine Sprache und seine Zeichen zu verstehen lernt, und dass
der Kranke selbst durch fortgesetzte Uebung beides mehr weniger zu
vervollkommnen vermag.
In einem von +Falret+ (l. c.) beschriebenen Falle vermochte
der Kranke bei der ersten Untersuchung nur die Silben: O, o, aqui
hervorzubringen und antwortete auf Alles mit diesen, doch konnte er
sich bereits durch verschiedene Betonung dieser Silben, sowie durch
verschiedene Zeichen mit der linken Hand und dem Kopf einigermassen
verständlich machen. Namentlich war dies seiner Frau gegenüber gut
möglich. Nach 3 Monaten hatte die Sprache insofern sich gebessert,
als er einige einsilbige Worte, wie: non, un auszusprechen vermochte,
statt neuf sagte er jedoch noon, statt deux dous. Er konnte bis
zehn an den Fingern zählen, die Worte stimmten jedoch nicht mit den
Zahlen, auch schaltete er zwischen jeder die Silbe aquo ein. Dagegen
hatte er bemerkenswerthe Fortschritte gemacht im Schreiben mit der
linken Hand und vermochte selbst und richtig die Summen einzutragen,
die er erhielt. Er machte täglich einen Spaziergang, besuchte ein
Kaffeehaus und zahlte jedesmal seine Zeche, ohne sich je zu irren.
Er gesellte sich gerne zu den kartenspielenden Gästen und gab sein
Verständniss des Spieles durch zweifellose Zeichen zu erkennen,
ja er nahm selbst die Karten in die Hand und spielte in ganz
correcter Weise. Unter diesen Umständen wurde das Gutachten dahin
abgegeben, dass der Untersuchte so viel Intelligenz und freien Willen
besitze, dass er im weiteren Genusse seiner bürgerlichen Freiheit
anstandslos belassen werden könne. Mit Recht wurde hervorgehoben,
dass die sichtliche und von deutlichem Erfolg begleitete Mühe des
Untersuchten, sich in der Zeichensprache und im Schreiben einzuüben,
den deutlichsten Beweis liefere, dass die Geisteskräfte sich
verhältnissmässig intact erhalten haben.
Immerhin erfordert die Beurtheilung solcher Fälle grosse Vorsicht,
da es bekannt ist, dass nach Hämorrhagien in’s Gehirn auch wenn sie
nicht von Aphasie gefolgt sind, sehr gewöhnlich psychische Schwäche
verschiedenen Grades zurückbleibt und häufig auch anderweitige
psychopathische Veränderungen (Defecte im moralischen Fühlen,
abnorme Reizbarkeit, häufiger und unmotivirter Stimmungswechsel und
consecutive Veränderung des ganzen Charakters, sowie Neigung zur
primären Verrücktheit), die wir bereits a. a. O. besprochen haben.
Das mitunter auffällig sich äussernde Bestreben der Aphatiker, für
geistig normal zu gelten, darf, wie +Blumenstok+ (l. c.) mit Recht
bemerkt, den Untersuchenden nicht beirren, denn ein solches Bestreben
ist bekanntlich auch bei notorisch Geisteskranken eine häufige
Erscheinung.
Ist es gelungen, nachzuweisen, dass ein Aphasischer normale Intelligenz
besitzt, dann ist die Frage nach dessen Dispositionsfähigkeit noch
keineswegs gegenstandslos geworden; denn es ist klar, dass zu dieser
sowohl im gewöhnlichen als im civilrechtlichen Sinne nicht blos normale
Intelligenz gehört, sondern auch die Fähigkeit, sie zur Geltung zu
bringen. Ist letztere gar nicht vorhanden oder in sehr hohem Grade
beeinträchtigt, dann ist das Individuum trotz erhaltener Intelligenz in
jeder Beziehung hilflos und daher auch nicht im Stande, seine eigenen
Angelegenheiten zu besorgen. Solche Fälle scheint das österreichische
Civilgesetzbuch im Auge gehabt zu haben, wenn es im §. 21 nicht blos
diejenigen, welche wegen Mangels an Jahren oder Gebrechen des Geistes
ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen unfähig sind, unter den
besonderen Schutz der Gesetze stellt, sondern auch diejenigen, welche
dieses „anderer Verhältnisse“ wegen nicht vermögen, und es liegt
nahe, zu vermuthen, dass Zustände, die wir gegenwärtig als Aphasie
bezeichnen, der Verfügung des preussischen Landrechtes (Th. II, Tit.
I, §. 16) zu Grunde lagen, zufolge welcher „erst in späteren Jahren
taubstumm Gewordene dann vom Staate bevormundet werden sollen, wenn sie
sich durch allgemein verständliche Zeichen nicht ausdrücken können und
daher ihre Angelegenheiten zu besorgen ganz unfähig sind“.[588] Bei der
Constatirung des letzteren Umstandes wird der Richter der ärztlichen
Intervention kaum entbehren können, umsoweniger, als auch die Frage
sich ergeben wird, ob die Fähigkeit, sich verständlich zu machen, eine
dauernde ist, oder eine Heilung oder wenigstens Besserung und binnen
welcher Zeit erwarten lässt. Dass beides möglich, lehrt die Erfahrung,
und es ist insbesondere bekannt, dass bereits wiederholt Aerzte, die an
Aphasie gelitten, nach mitunter monatelanger Dauer derselben genasen
und nachträglich über ihre Wahrnehmungen während des aphasischen
Zustandes zu schreiben vermochten.
Von den übrigen Formen des Irrseins, die bezüglich der
Dispositionsfähigkeit in Betracht kommen können, bedürfen nur die
angeborenen fehlerhaften Organisationen und die Verrücktheit einer
besonderen Besprechung.
[Sidenote: Affectives Irrsein.]
Jene von Haus aus abnorm angelegten Naturen, die wir bei Besprechung
des angeborenen +affectiven+ (moralischen und impulsiven)
+Irrseins+ kennen gelernt haben, sind ebenso wie bezüglich der
Zurechnungsfähigkeit, so auch bezüglich der Dispositionsfähigkeit
schwierig zu beurtheilen.
Die Schwierigkeit liegt insbesondere darin, dass intellectuelle
Störungen entweder gar nicht oder nicht in genügend ausgesprochener
Weise vorhanden sind, und dass sogar bei vielen dieser Individuen eine
solche Ausbildung der Intelligenz besteht, die den Laien zu imponiren
vermag und von welcher der Kranke zur Vertheidigung seines Gebahrens
und seiner geistigen Gesundheit und zur scheinbar plausiblen Darlegung
des ihm angethanen Unrechtes ausgiebigen Gebrauch zu machen versteht.
Es ist aber bekannt, dass solche Individuen auch schon in
intellectueller Beziehung vielfache Anomalien, insbesondere eine
gewisse Verschrobenheit und häufig entschiedenen Schwachsinn,
darbieten, anderseits ist nicht zu leugnen, dass das perverse Fühlen
dieser Personen, sowie die verkehrten Antriebe und Passionen und die
ganz abnorme Charaktergestaltung derselben, ebenso wie zu Collisionen
mit dem Strafgesetz, auch zu Handlungen führen können, welche die
civilrechtlichen Interessen des Kranken selbst oder anderer Personen
im höchsten Grade zu schädigen vermögen. Leider ist es selbst in
den ausgesprochensten Fällen dieser Art nicht leicht, die Laien von
dem geisteskranken Zustande des Betreffenden zu überzeugen, und es
liegen Beispiele vor, in welchen trotz übereinstimmendem Gutachten
verschiedener Aerzte das Gericht sich entweder nicht entschliessen
konnte, die Curatel zu verhängen, oder sich sogar bewogen fand, die
bereits anderweitig verhängte wieder aufzuheben.[589]
[Sidenote: Dispositionsfähigkeit Verrückter.]
Eine Unterscheidung leichter und schwerer Formen solcher
psychopathischer Constitutionen ist sehr angezeigt. Ersteren begegnet
man verhältnissmässig häufig und die Erfahrung lehrt, dass sie
bestehen können, ohne das Individuum in seiner Dispositionsfähigkeit
wesentlich zu beeinträchtigen, wie wir ja diese auch den Hysterischen,
den Hypochondern blos ihres abnormen Fühlens wegen nicht absprechen
werden, so lange das Individuum die daraus hervorgehenden Impulse
noch genügend zu beherrschen vermag. Erst in den schweren Formen ist
diese Fähigkeit so herabgesetzt, dass das Individuum den betreffenden
Impulsen unverhältnissmässig leicht unterliegt, desto leichter, je
mehr die Intelligenz in Mitleidenschaft gezogen ist, und dann ist es
geboten, dass der Kranke unter behördlichen Schutz genommen werde. Die
betreffende Geistesstörung wäre dort, wo das Gesetz nur Blödsinn und
Wahnsinn unterscheidet, unter ersteren zu subsumiren, obgleich, wie
erwähnt, die intellectuelle Schwäche nur ein nebensächliches Symptom
bildet und häufig gar nicht auffallend sich kundgibt.
Von den Formen der +Verrücktheit+ unterliegt die Beurtheilung der
secundären keiner besonderen Schwierigkeit, da ihre Erkennung durch
die vorhergegangene anderweitige Geistesstörung erleichtert wird und
die geistige Schwäche meist deutlich zu Tage tritt. Nicht so einfach
gestaltet sich die Sache gegenüber der primären Verrücktheit, da diese
nur auf einzelne Wahnvorstellungen beschränkt und wegen der sonst
erhaltenen Intelligenz und der hier sehr gewöhnlichen Dissimulation der
Wahnvorstellungen schon der Diagnose grosse Schwierigkeiten bieten kann.
Dies gilt weniger von den exaltirten Formen (Grössenwahn, religiöse
Exaltation), die ihrer Natur nach in der Regel schon frühzeitig zum
Ausdrucke kommen, sondern vorzugsweise vom Verfolgungswahn, der
lange bestehen kann, bevor er sich nach aussen kundgibt. Scheues,
verschlossenes Wesen ist zwar ein frühes Symptom und fällt mehr
weniger der Umgebung auf, aber erst der Nachweis von Wahnvorstellungen
gestattet die Diagnose, und gerade diese werden häufig dissimulirt.
Eine längere Beobachtung und wiederholte Untersuchung ist gerade
hier besonders angezeigt, ebenso sorgfältige Verfolgung des ganzen
Gebahrens des Individuums, aus welchem sich mitunter deutlicher
erkennen lässt, dass dasselbe an Verfolgungsideen leide, als aus seinen
Angaben. Es empfiehlt sich deshalb, auch beim Examen nicht direct auf
die vermeintliche Wahnvorstellung loszugehen, sondern auf Umwegen
dieselbe zu berühren. In weiter gediehenen Fällen geben allerdings die
Kranken ihre Verfolgungsideen kund und die Diagnose der Geistesstörung
unterliegt keiner Schwierigkeit. Wohl aber kann sich trotzdem und
noch mehr in den dissimulirten Fällen eine solche bezüglich der
Dispositionsfähigkeit ergeben, insoferne als nur eine partielle
Beeinträchtigung der letzteren behauptet werden könnte, in analoger
Weise, wie man ja solche Kranke nicht für absolut unzurechnungsfähig zu
halten geneigt ist, sondern nur bezüglich jener Handlungen, die mit der
betreffenden Wahnvorstellung in Verbindung stehen. Bei der secundären
Verrücktheit ist eine solche Annahme entschieden zurückzuweisen,
da auch ausserhalb der betreffenden Wahnvorstellung psychische
Schwäche besteht. Bei der primären Verrücktheit kann dieselbe nicht
ohneweiters negirt werden, da, wie oben erwähnt, die betreffenden
isolirten Wahnvorstellungen durch das ganze Leben ohne wesentliche
Beeinträchtigung der sonstigen Intelligenz bestehen können. Da aber
trotzdem in dem Umstande, dass der Kranke seine Wahnvorstellung nicht
zu corrigiren, eventuell die aus ihr resultirenden Impulse nicht zu
beherrschen vermag, ein Beweis psychischer Schwäche erblickt werden
muss und der Einfluss der Wahnvorstellung auf das Gebahren des
Individuums unberechenbar ist, so geht es desto weniger an, eine blos
partielle Dispositionsunfähigkeit anzunehmen, je provocirender sich die
Wahnvorstellung gestaltet und je häufiger sich dieselbe bemerkbar macht.
Ob bei Individuen, die periodisch Geistesstörungen unterworfen sind,
wie z. B. bei Epileptikern und Säufern, ausserhalb der betreffenden
Anfälle eine ungetrübte Dispositionsfähigkeit angenommen werden kann,
kann nur von Fall zu Fall mit Berücksichtigung des a. a. O. über das
habituelle Verhalten solcher Individuen Gesagten entschieden werden.
B. Wiederaufhebung der Entmündigung.
Nach §. 283 des österr. a. b. G.-B. hört die Curatel auf, wenn die
Gründe aufhören, die den Pflegebefohlenen an der Verwaltung seiner
Angelegenheiten verhindert haben. Wurde die Curatel wegen Wahn- oder
Blödsinn verfügt, so muss zufolge derselben Gesetzesstelle die Frage,
ob der Betreffende „den Gebrauch der Vernunft wieder erhalten habe,
nach einer genauen Erforschung der Umstände aus einer anhaltenden
Erfahrung und zugleich aus dem Zeugnisse der zur Untersuchung von dem
Gerichte bestellten Aerzte entschieden werden“.
Für das deutsche Reich ist das Verfahren durch folgende Paragraphe der
Civilprocessordnung vom Jahre 1877 normirt:
§. 616. Die Wiederaufhebung der Entmündigung erfolgt auf Antrag des
Entmündigten oder seines Vormundes oder des Staatsanwaltes durch
Beschluss des Amtsgerichtes.
§. 617. -- -- -- -- die Bestimmungen der §§. 596-599 finden
entsprechende Anwendung.
§. 620. Wird der Antrag auf Wiederaufhebung von dem Amtsgericht
abgelehnt, so kann dieselbe im Wege der Klage beantragt werden.
Die Aufhebung der behördlich verfügten Curatel kann entweder von
den Betheiligten, insbesondere von dem Entmündigten selbst oder
seinem Curator oder ex offo von der Personalinstanz des Betreffenden
eingeleitet, beziehungsweise beantragt werden, weshalb auch die Leiter
von Irrenanstalten, wie bereits erwähnt, die Verpflichtung haben,
von der Entlassung geheilter, unter Curatel stehender Kranken den
Gerichtshof erster Instanz binnen 24 Stunden in Kenntniss zu setzen.
Der formelle Vorgang, der dann einzutreten hat, ist im Allgemeinen
derselbe wie beim Entmündigungsverfahren und die Hauptaufgabe des
Gerichtsarztes besteht darin, zu constatiren, dass der Geisteszustand
des Individuums wieder ein normaler oder mindestens ein solcher
geworden sei, der dasselbe wieder befähigt, seine Angelegenheiten
selbst zu besorgen. Die Aufgabe ist keineswegs eine leichte.
Insbesondere wird niemals eine einzelne Untersuchung des Betreffenden
genügen, um zu erklären, dass Letzterer genesen sei, vielmehr ist
wiederholtes und zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen
Umständen vorzunehmendes Examen, und ebenso ein genaues Verfolgen
des gesammten Gebahrens des Individuums durch längere Zeit geboten,
insbesondere in solchen Fällen, in denen der Kranke nicht, wie dies
in Irrenanstalten der Fall ist, beständig unter ärztlicher Controle
stand. Am meisten ist zu beachten, dass nicht blosse Remissionen oder
Intermissionen, wie sie z. B., wie erwähnt, insbesondere im Verlaufe
des paralytischen Irrseins vorkommen, für Genesung gehalten werden,
ebenso die Geneigtheit zu Recidiven, die bekanntlich vielen und
vielleicht den meisten Geistesstörungen zukommt. Nach +Krafft+-+Ebing+
(Lehrb. d. gerichtl. Psychol., pag. 341) lassen sich als allgemeine
Kennzeichen einer wirklichen Genesung von Geisteskrankheit die
volle und offene Anerkennung der überstandenen Krankheit und die
Wiederherstellung der alten psychischen Persönlichkeit mit allen
ihren Charaktereigenthümlichkeiten, Vorzügen, Fehlern und Neigungen
betrachten. Wir möchten jedoch hinzufügen, dass eine so vollständige
Wiederherstellung, wie sie +Krafft+-+Ebing+ hier im Auge hat,
keineswegs häufig ist, dass vielmehr verhältnissmässig häufiger,
trotzdem man das Individuum als genesen betrachten muss, gewisse
Veränderungen zurückbleiben; so verminderte Leistungsfähigkeit
in intellectueller Beziehung, geänderte habituelle Stimmung und
insbesondere gewisse Charakterveränderungen, die namentlich auffallen,
wenn man das psychische Verhalten mit demjenigen vergleicht, welches
vor der Erkrankung bestand, die aber so gering sein können, dass von
einer Beeinträchtigung der Dispositionsfähigkeit durch dieselben
nicht die Rede sein kann. Dass es zwischen solchen und dem secundären
Blödsinn, beziehungsweise der secundären Verrücktheit vielfache
Uebergänge gibt, ist bekannt und trägt nicht dazu bei, die Aufgabe des
Gerichtsarztes zu erleichtern.
Nicht überflüssig ist die Bemerkung, dass der untersuchende Arzt die
Angaben der Angehörigen über angeblich vollständige Genesung nicht
ohneweiters acceptiren darf, da theils Egoismus, theils falsches
Mitleid mit dem unter Curatel Stehenden gerade die Anverwandten häufig
veranlasst, entweder den Zustand des Kranken in allzu günstigem Lichte
zu sehen, oder gar absichtlich als besser hinzustellen, als es wirklich
ist, und es ist in dieser Beziehung bekannt, dass bei in Irrenanstalten
untergebrachten Geisteskranken gerade die Angehörigen auf die
Entlassung drängen und dieselbe, wenn auch gegen sogenannten Revers,
durchzusetzen wissen, obgleich es gewöhnlich besser gewesen wäre, wenn
man den Kranken in der Anstalt belassen hätte. Noch beachtenswerther
ist die Thatsache, dass gewisse Geisteskranke ihre Wahnvorstellungen zu
dissimuliren verstehen und deshalb für gesund gehalten werden können.
Die so häufige Thatsache, dass eine Form der Geisteskrankheit in eine
andere übergehen kann, darf nicht unbeachtet bleiben, da es geschehen
könnte, dass, weil in Folge dieses Verlaufes gewisse Symptome, z. B.
Wahnvorstellungen oder gewisse Aufregungszustände, die vielleicht
zunächst die Veranlassung zur Verhängung der Curatel waren, nun
verschwunden sind, das Individuum für gesund oder wenigstens nicht mehr
für curatelbedürftig gehalten werden könnte. Auch wäre es denkbar,
dass, wenn in einem Falle, z. B. wegen Wahnsinn, die Entmündigung
veranlasst worden und dieser in Blödsinn übergegangen wäre, mit
Rücksicht auf den Wortlaut der bezüglichen Gesetze, Aufhebung der
Entmündigung wegen Wahnsinn und ein neuerliches Entmündigungsverfahren
wegen Blödsinns verlangt werden könnte. Gegenüber solchen in der
civilrechtlichen Praxis thatsächlich vorgekommenen Eventualitäten
muss man umsomehr begrüssen, dass neuere Gesetzgebungen, insbesondere
die deutsche Civilprocess-Ordnung, nicht mehr an gewissen Formen der
Geistesstörung starr festhält, sondern auf die Geistesstörung überhaupt
das Gewicht legt (§. 593). Für den österreichischen Gerichtsarzt würde
in einem solchen Falle das Hauptgewicht auf die im §. 285 des a. b.
G.-B. gestellte Frage zu legen sein: ob der Betreffende „den Gebrauch
seiner Vernunft erhalten habe“.
Gerichtsärztliche Beurtheilung civilrechtlicher Acte, die von nicht
entmündigten Personen ausgeführt wurden.
+Oesterr. allgem. bürgerl.+ G.-B.
§. 48. Rasende, Wahnsinnige, Blödsinnige und Unmündige sind ausser
Stande, einen giltigen Ehevertrag zu errichten.
§. 310. Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben, sind an
sich unfähig, einen Besitz zu erlangen.
§. 565. Der Wille des Erblassers muss bestimmt, nicht durch blosse
Bejahung eines ihm gemachten Vorschlages, er muss im Stande der
vollen Besonnenheit, mit Ueberlegung und Ernst, frei von Zwang,
Betrug und wesentlichem Irrthum erklärt werden.
§. 566. Wird bewiesen, dass die Erklärung im Zustande der Raserei,
des Wahnsinns, Blödsinns oder der Trunkenheit geschehen sei, so ist
sie ungiltig.
§. 567. Wenn behauptet wird, dass der Erblasser, welcher den Gebrauch
des Verstandes verloren hatte, zur Zeit der letzten Anordnung bei
voller Besonnenheit gewesen sei, so muss die Behauptung durch
Kunstverständige oder durch obrigkeitliche Personen, die den
Gemüthszustand des Erblassers genau erforschen, oder durch andere
zuverlässige Beweise ausser Zweifel gesetzt werden.
§. 865. Wer den Gebrauch der Vernunft nicht hat, wie auch ein Kind
unter 7 Jahren, ist unfähig, ein Versprechen zu machen oder es
anzunehmen.
+Preuss. allgem. Landrecht.+
Thl. I, Tit. 1, §§. 27, 28, 29, 31, Tit. 4, §§. 28 und 29 vide oben
(pag. 972).
Thl. I, Tit. 12, §. 20. Personen, die nur zuweilen ihres Verstandes
beraubt sind, können in lichten Zwischenräumen von Todeswegen
rechtsgiltig verordnen.
§. 147. Ist dem Richter bekannt, dass der Testator zuweilen an
Abwesenheit des Verstandes leide, so muss er sich vollständig
überzeugen, dass derselbe in dem Zeitpunkte, wo er sein Testament
aufnehmen lässt oder übergibt, seines Verstandes wirklich mächtig sei.
[Sidenote: Civilrechtliche Acte nicht entmündigter Personen.]
Es ist selbstverständlich, dass die verschiedenartigsten, eine
civilrechtliche Bedeutung besitzenden Acte nachträglich wegen eines
zur betreffenden Zeit angeblich bestandenen anomalen Geisteszustandes
in ihrer rechtlichen Giltigkeit angefochten werden können, z. B. Käufe
und Verkäufe, Schenkungen u. dergl.; am häufigsten sind es jedoch
Eheschliessungen und insbesondere Testamente, die in dieser Beziehung
in Betracht kommen. In allen diesen Fällen kann es sich entweder um
Acte handeln, die mehr weniger lange Zeit vor dem Tode, beziehungsweise
der zu diesem führenden Krankheit, ausgeführt wurden, oder um solche,
welche während letzterer insbesondere in extremis zu Stande kamen.
Fälle ersterer Art sind insoferne leichter zu beurtheilen, als sie
entweder bei Lebzeiten des Betreffenden zur Verhandlung gelangen und
daher noch eine klinische Untersuchung und Beobachtung gestatten, oder,
wenn der Fall erst nach dem Tode des Individuums gerichtlich verfolgt
wurde, das psychische Verhalten des Letzteren in der zwischen dem
Acte und dem Tode liegenden Zeit constatirt und für die Beurtheilung
verwerthet werden kann.
Es handelt sich entweder um Personen, die bis dahin für geistesgesund
gegolten hatten, und bei welchen man erst durch die Handlung oder
nachträglich auf die Vermuthung gerieth, dass eine Geistesstörung
bestehe, oder um solche, die bereits früher Zeichen von Geistesstörung
darboten, aber aus irgend einem Grunde nicht unter Curatel gesetzt
worden waren, und in beiden Fällen können die in Frage stehenden
Handlungen (Rechtsacte) entweder aus eigener Initiative des
Betreffenden hervorgegangen oder durch angeblichen Missbrauch des
geisteskranken Zustandes von Seite interessirter Personen veranlasst
sein.
Letzteres ist natürlich vorzugsweise bei psychischen Schwächezuständen
möglich, unter welchen der Altersblödsinn und die Dementia
apoplectica eine besondere Rolle zu spielen scheinen, aber auch bei
anderen Geistesstörungen, so z. B. in den Vorstadien der Manie,
des paralytischen Irrseins, bei Grössenwahn und beim hysterischen
Irrsein, wobei unter Anderem auch die sexuelle Erregung missbraucht
werden kann. Von den Geistesstörungen, die in mehr activer Weise
zu gewissen Acten Veranlassung geben können, gehören insbesondere
die mit Wahnvorstellungen verbundenen hierher, und zwar einerseits
der Grössenwahn, der seiner Natur nach zu den unsinnigsten
Vermögensverschleuderungen etc. führen kann, anderseits der
Verfolgungswahn, der, wie bereits erwähnt, sich nicht selten auf die
nächsten Angehörigen bezieht und schon wiederholt zu Enterbungen
Veranlassung gegeben hat.[590]
Allgemeine Regeln für die Beurtheilung aller dieser Fälle lassen sich
nicht aufstellen, vielmehr ist jeder concret zu behandeln. Jedenfalls
aber würden sich die Erhebungen nicht blos auf den Geisteszustand des
Betreffenden zur Zeit der beanstandeten Handlung erstrecken, sondern
auch auf denjenigen vor und nach derselben, wobei in ersterer Beziehung
Erblichkeitsverhältnisse, der gesammte psychische Entwicklungsgang
und Alles, was ihn beeinflussen konnte, ebenso sorgfältig zu
erheben und zu verwerthen sein wird, wie bei Untersuchungen wegen
fraglicher Zurechnungsfähigkeit. Die Constatirung des Gebahrens des
Betreffenden in der zwischen dem betreffenden Acte und dem Tode,
oder der ärztlichen Untersuchung verflossenen Zeit ist natürlich von
grösster Wichtigkeit, und nicht selten ist es erst dieses Gebahren,
welches den Verdacht erweckt, dass jener Act unter dem Einflusse
einer Geistesstörung geschehen ist, ein Verdacht, der natürlich desto
berechtigter erscheint, je deutlicher eine Geistesstörung nachträglich
zur Entwicklung gekommen ist. Darauf bezieht sich eine Bestimmung des
preuss. Allg. L.-R. (Thl. I, Tit. 12, §. 22), zufolge welcher, wenn
unter Vormundschaft genommene Wahn- oder Blödsinnige innerhalb eines
Jahres vor angeordneter Vormundschaft eine aussergerichtliche oder
privilegirte Verordnung über ihren Nachlass gemacht haben, derjenige,
welcher daraus einen nach den Gesetzen ihm nicht zukommenden Vortheil
fordert, nachweisen muss, dass der Verfügende damals, als er die
letztwillige Verordnung errichtete, seines Verstandes mächtig gewesen
sei.
[Sidenote: Testamente.]
Der Act als solcher kann wichtige Aufschlüsse ergeben, insoferne
als er den Stempel des Thörichten oder Unsinnigen an sich trägt,
wenn er in auffälligem Widerspruche steht mit dem früheren Charakter
und Gebahren des Individuums, die Interessen des Letzteren oder ihm
nahestehender Personen in unbegreiflicher Weise schädigt u. s. w. In
Schriftstücken zeigt mitunter der Inhalt und selbst die Form derselben
in deutlicher Weise die Geistesstörung; so ist z. B. besonders in
Testamenten der Einfluss des Verfolgungswahns mitunter unverkennbar,
einestheils, in der unbegreiflichen Enterbung bestimmter Personen,
oder in der Motivirung der ersteren, anderseits in Vermächtnissen an
fernstehende Personen, Kirchen u. s. w.[591] In anderen Fällen tritt
in solchen Schriftstücken der Schwachsinn oder die Verworrenheit
deutlich zu Tage, und letztere kann sich nicht blos inhaltlich,
sondern auch in der äusseren Form derselben kundgeben. So sind z. B.
Schriftstücke Maniakischer, der Epileptiker, namentlich aber jene von
an paralytischem Irrsein Leidenden sehr charakteristisch, einestheils
durch die mehr weniger erkennbare Verworrenheit des Inhaltes, durch
Auslassen einzelner Buchstaben, Worte und selbst ganzer Sätze,
durch orthographische und grammatikalische Fehler, anderseits durch
die eigenthümliche, schleuderische, unsichere, schliesslich ganz
unleserlich werdende Schrift (Zitter- und ataktische Schrift), Kleckse,
verschmierte Stellen u. dergl.[592]
[Sidenote: Sonderbare Testamente.]
Nicht jeder sonderbare Inhalt eines Testamentes berechtigt schon
für sich allein zur Behauptung, dass der Betreffende geisteskrank
gewesen sei. Es gibt bekanntlich Leute, die sich schon während des
Lebens durch eigenthümliche, mitunter extravagante Anschauungen,
durch gewisse Schrullen und Passionen, durch phantastisches oder im
Gegentheil pedantisches Wesen von anderen Menschen unterscheiden.
Solche Individuen gelten allerdings häufig als verrückt, ohne es
jedoch zu sein, weshalb der Verständige sich begnügt, sie als
„Sonderlinge“ zu bezeichnen, und es ist bekannt, dass gerade
geistig hochstehende Individualitäten nicht selten derartige
Eigenthümlichkeiten bieten, woraus allein sich schon ergibt, dass
letztere auch bei ganz ungetrübter Intelligenz bestehen können.
Solche „Sonderlinge“ wissen nicht blos während des Lebens, sondern
auch noch nach dem Tode durch ihre Testamente aufzufallen, ohne dass
man diese unbedingt als Producte eines kranken Gehirns aufzufassen
berechtigt wäre. +Legrand du Saulle+ (l. c. pag. 566 u. s. f.)
bringt eine Zusammenstellung von 25 solcher sonderbaren Testamente,
worunter insbesondere mehrere von Legaten an Pferde, Hunde, Katzen,
Papageien und sogar an -- einen Karpfen. In einem dieser Fälle hatte
ein reicher Londoner Bürger sein ganzes Vermögen einer jungen Dame
vermacht, „zum Dank für das unaussprechliche Vergnügen, welches ihm
durch volle 3 Jahre die Betrachtung ihrer liebenswürdigen -- Nase
gemacht hatte“. Erst an der Leiche erkannte die Dame den Mann als
denjenigen, der sie durch die ganze Zeit auf allen Spaziergängen
verfolgt und mit Schmeicheleien und sogar Versen auf ihre Nase
überhäuft hatte. Ein weiterer Fall betrifft den gelehrten Queensley
in Cambridge, einen grossen Bewunderer der griechischen Poeten,
welcher in seinem Testament bestimmt hatte, dass seine Haut, zu
Pergament verarbeitet, mit der Iliade Homer’s beschrieben und dann im
britischen Museum aufbewahrt werden solle. -- Ein höchst merkwürdiges
Testament einschlägiger Art lieferte 1866 ein 82jähriger Notar in
Neufchâtel, der ausser seinem Notariat auch einen kleinen Weinhandel
betrieben hatte. Mehrere Jahre (!) vor seinem Tode hatte er einem
Geistlichen ein versiegeltes Päckchen übergeben, mit dem Auftrage,
dasselbe erst nach seinem Tode öffnen zu lassen. Der Notar stirbt,
man öffnet das Päckchen und findet darin eine Schrift folgenden
Inhaltes: „Vertrag mit dem allmächtigen Gott einer- und einem seiner
demüthigen Diener anderseits. Art. 1. Zweck dieses Vertrages ist der
Handel mit Spirituosen. Art. 2. Mein grossmächtiger Associé wird
geruhen, als Einlagecapital seinen Segen zu geben. Ich meinerseits
werde mein Capital und meine Kraft dazu geben und über den Erfolg
Buch führen. Art. 3. Der Gewinn wird zur Hälfte zwischen mir und
meinem hohen Associé getheilt. Art. 4. Sobald mich Gott von dieser
Welt abberuft, soll die Liquidation unverzüglich meinem Neffen
anheimfallen und der Antheil meines hohen Associé den Geistlichen
von N. zu Missionszwecken übergeben werden.“ So sonderbar dieses
Testament ist, so kann man doch daraus nicht eine Geistesstörung
des Verfassers deduciren. Vielmehr erklärt sich sowohl Form als
Inhalt des Testamentes einestheils aus dem starken Glauben und
innigen Gottvertrauen des Mannes, anderseits aus seiner pedantischen
Genauigkeit, die ihn als Juristen veranlasste, seinem Legat die Form
einer Vertragsurkunde zu geben. In der That stellte sich heraus, dass
der Testator in den letzten Jahren keine Spur von Geistesstörung
dargeboten, sondern sowohl sein Notariat als seinen Weinhandel ganz
correct, allerdings mit pedantischer Gewissenhaftigkeit geführt
hatte. Es fanden sich auch die Bücher in vollkommenster Ordnung und
Gottes Antheil genau mit 7393 Francs eingetragen und verrechnet. Wenn
demnach das Gericht das Testament als rechtsgiltig erkannte, so kann
dem nur zugestimmt werden (+Krafft+-+Ebing+, Lehrbuch d. gerichtl.
Psych., pag. 371).
[Sidenote: Einfluss der letzten Krankheit auf das Testament.]
Die Beurtheilung von in der zum Tode +führenden Krankheit+,
insbesondere in extremis, +vollbrachten civilrechtlichen Acten+
(Eheschliessungen, Testamenten) hat insoferne etwas Eigenthümliches,
als der Einfluss einestheils der betreffenden Krankheit, anderseits der
Agonie auf den Geisteszustand des Individuums, respective auf dessen
Dispositionsfähigkeit in Betracht gezogen werden muss.[593]
Zunächst gibt es acute Krankheiten, bei welchen insbesondere auf der
Höhe ihrer Entwicklung das Bewusstsein aufgehoben oder mehr weniger
getrübt ist. Es gehören hierher zunächst die schweren Hirnerkrankungen,
namentlich apoplectische, embolische und meningitische Processe, dann
aber viele der acuten Infectionskrankheiten (Typhus, Exantheme), die
bekanntlich auf der Höhe des Fiebers sehr gewöhnlich mit Delirien sich
verbinden. Während des Bestandes der letzteren ist selbstverständlich
jedes freie und bewusste Handeln ausgeschlossen, wenn auch solche
Kranke mitunter auf Anschreien oder sehr laute Fragen einzelne
richtige, allerdings nur kurze Antworten geben. Da jedoch die
Delirien nicht immer continuirlich andauern, sondern ebenso wie die
Fiebertemperaturen Remissionen und Intermissionen zulassen, so muss
man zugeben, dass während der letzteren ungetrübtes oder wenigstens
nicht wesentlich getrübtes Bewusstsein bestehen kann. Ob dies jedoch
bei einem bestimmten Individuum wirklich der Fall war, kann nur aus der
genauesten Erhebung und Erwägung aller Umstände erkannt werden, und es
ist klar, dass man sich gegenüber in dieser Richtung gemachten fremden
Angaben nicht genug reservirt verhalten kann. Gleiche Vorsicht ist
gegenüber den Reconvalescenzstadien nach apoplectischen, embolischen
und meningitischen Processen zu beobachten, da hier das partielle
Erwachen des Bewusstseins für völlige Wiederkehr derselben genommen
werden kann und weil wir wissen, dass gerade nach diesen Erkrankungen
selbst nach vollständiger Genesung im gewöhnlichen Sinne intellectuelle
Defecte sehr gewöhnlich zurückzubleiben pflegen.
[Sidenote: Testamente b. schwerer Erkrank.]
Der Einfluss schwerer Erkrankungen auf die Stimmung ist nicht
zu unterschätzen: denn wenn sich dieser bekanntlich schon unter
gewöhnlichen Umständen bemerkbar macht, so ist dies noch mehr zu
erwarten, wenn durch die Natur der Erkrankung die Intelligenz in mehr
weniger wesentlichem Grade in Mitleidenschaft gezogen wird. Indifferenz
und consecutive grössere Bestimmbarkeit einerseits und erhöhte
Reizbarkeit (Empfindlichkeit) anderseits können sich entwickeln und
den Kranken in der Art beeinflussen, dass er Handlungen begeht, die er
sonst niemals begangen haben würde.
Noch wichtiger ist die Thatsache, dass im Verlaufe acuter Erkrankungen
und durch dieselben veranlasst typische Geistesstörungen auftreten
können, die vorwiegend als Manien mit Sinnestäuschungen, Unruhe,
Verworrenheit sich präsentiren, aber auch den Charakter von
Melancholien mit Angstanfällen oder den von Verfolgungswahn annehmen
können. Man hat solche Formen fast bei allen Arten von Erkrankungen
beobachtet, unter anderen auch wiederholt bei der gewöhnlichen
croupösen Pneumonie[594], und zwar selbst bei blos lobulären Formen.
Es scheint, dass derartige Geistesstörungen insbesondere bei zu
Psychosen veranlagten Individuen sich entwickeln, wie es bekannt ist,
dass acute Erkrankungen bei Alkoholikern zum Ausbruche des Delirium
tremens Veranlassung geben können. In welcher Weise durch derartige
Geistesstörungen und ebenso durch die sogenannten Erschöpfungspsychosen
die Dispositionsfähigkeit beeinträchtigt werden kann, bedarf keiner
weiteren Ausführung.
Handelt es sich um die Beurtheilung eines in extremis, d. h.
unmittelbar vor dem Tode vollbrachten Actes, so ist ausser den
erwähnten Einflüssen noch derjenige zu berücksichtigen, welcher
durch die Agone oder den sogenannten +Sterbezustand+ auf die
Selbstbestimmungsfähigkeit und das Unterscheidungsvermögen ausgeübt
wird.
[Sidenote: Dispositionsfähigkeit in der Agonie.]
Das Verhalten der Agonie ist keineswegs immer gleich, sondern
insbesondere bezüglich der Dauer und der psychischen Symptome variabel.
Ein wesentlicher Einfluss in beiden Beziehungen scheint der Natur
der betreffenden Erkrankung zuzukommen. Beim rein marastischen Tode,
sowie bei chronischen Krankheiten, wenn sie nicht etwa das Gehirn
selbst betreffen, verläuft die Agone häufig unter dem Bilde eines
allmäligen, mitunter aber mehr weniger unvermittelt eintretenden
Collapsus, der entweder plötzlich oder mit einem kürzeren oder längeren
soporösen Stadium in den Tod übergeht. Im ersteren Falle kann der
Sterbende bis zum letzten Augenblicke, im letzteren bis zum Eintritte
des Sopors sein Bewusstsein behalten und daher auch letztwillig
verfügen. In anderen Fällen wird die Agone durch einen somnolenten
Zustand eingeleitet, der entweder unmittelbar oder nach Uebergang
in Sopor zum Tode führt. Das Bild hat eine gewisse Aehnlichkeit mit
anderweitig erzeugter Narcose, wurde auch von älteren Autoren als
„Kohlensäurenarcose“ aufgefasst, während neueren Erwägungen zufolge
sich dasselbe schon aus der allmäligen Abnahme der Sauerstoffzufuhr
zum Gehirn erklärt. Während des somnolenten Stadiums besteht bereits
eine gewisse Betäubung und ausserdem mehr weniger ausgesprochene
Indifferenz, so dass civilrechtliche Acte selbstständig nicht mehr
unternommen werden können. Auch kann trotz des Umstandes, dass die
Betreffenden durch lautes Ansprechen, Rütteln u. dergl. aus ihrer
Somnolenz für einige Augenblicke erweckt werden können, dennoch ein
genügendes Begreifen der Bedeutung solcher Acte, zu denen die Kranken
etwa durch Andere aufgefordert werden, nicht mehr zugestanden werden;
am wenigstens aber dann, wenn, wie nicht selten, Spuren von Delirien
sich kundgaben, die dann meist den Charakter musitirender Delirien zu
haben pflegen. Bei acuten fieberhaften Krankheiten pflegt die Agone
gewöhnlich mit Collapsus zu beginnen und mit Sopor zu enden. Waren
schon früher Delirien vorhanden, so dauern sie gewöhnlich fort, indem
sie den Charakter musitirender annehmen. In anderen Fällen treten
solche erst während der Agone auf. Eine Erhaltung des Bewusstseins bis
zum letzten Moment kommt bei acuten Erkrankungen ungleich seltener vor
als bei chronischen, am ehesten bei solchen, die ohne oder nur mit
geringem Fieber einhergehen, bei welchen die Agone auch protrahirter,
insbesondere unter Somnolenz verlaufen kann.
Schon in älteren Schriften begegnen wir der Angabe, dass mitunter
bei Sterbenden ein gewisses Aufleuchten der Intelligenz und bei
Geisteskranken sogar eine Wiederkehr der Vernunft beobachtet wurde.
Auch +Krafft+-+Ebing+ (l. c. 358)und +Legrand du Saulle+ (l. c.,
pag. 116) berühren diesen Gegenstand, worauf sich offenbar auch
der oben erwähnte §. 567 des österr. allgem. bürgl. Gesetzbuches
bezieht, welcher bestimmt, dass, wenn behauptet wird, dass der
Erblasser, welcher den Gebrauch des Verstandes verloren hatte,
zur Zeit der letzten Anordnung bei voller Besonnenheit gewesen
sei, diese Behauptung durch Kunstverständige erforscht oder
durch andere zuverlässige Beweise ausser Zweifel gesetzt werden
muss. +Krafft+-+Ebing+ bezweifelt mit Recht die Richtigkeit
solcher Vorkommnisse, indem die Vermuthung nahe liegt, dass ein
blosses Zurücktreten der früher bestandenen Delirien mit einem
völligen Verschwinden derselben verwechselt wurde, wozu wir
hinzufügen möchten, dass anderseits in der Agone auftretende
Exaltationsphänomene für ein Wiedererwachen der Intelligenz genommen
werden können, in welche Kategorie auch so manche der von Sterbenden
ausgegangenen prophetischen etc. Sentenzen gehören werden, deren
+Legrand du Saulle+ erwähnt.
[Sidenote: Dispositionsfähigkeit von Selbstmördern.]
Eine besondere Erwähnung verdient die +Dispositionsfähigkeit der
Selbstmörder+, einestheils weil der begangene Selbstmord Zweifel
erwecken kann, ob gewisse vor Begehung desselben getroffene
Verfügungen, z. B. Testamente, im Zustande geistiger Gesundheit
geschahen, anderseits weil der Selbstmord als solcher gewisse
Rechtsfolgen für die Hinterbliebenen, insbesondere Verlust der
Ansprüche auf Pensionen oder Versicherungsprämien nach sich ziehen
kann, wenn erkannt wird, dass die That im geistesgesunden Zustand
geschah. Der Selbstmord beweist für sich allein keineswegs den
geisteskranken Zustand des betreffenden Individuums, obgleich es stets
Psychiater gab, die solches behaupteten, vielmehr muss sowohl aus
theoretischen Gründen, als mit Rücksicht auf zweifellose Erfahrungen
zugegeben werden, dass ein Selbstmord auch bei voller Ueberlegung und
ungetrübter Geisteskraft geübt werden kann. Es wird daher, wenn der
Geisteszustand eines Selbstmörders in Frage kommt, jeder Fall concret
beurtheilt werden müssen, zu welchem Behufe ausser den anamnestischen
Momenten die That als solche, dann die Prüfung eventuell hinterlassener
Schriftstücke und wenn möglich das Resultat der Obduction heranzuziehen
sind.
Die Anamnese hat sich nicht blos auf das Verhalten des Individuums
vor der That, sondern auch auf das gesammte Vorleben desselben zu
erstrecken. Was die That selbst betrifft, so ist allerdings zunächst
nach einem Motiv derselben zu forschen. Der Nachweis eines äusseren
Motivs genügt aber für sich allein nicht zum Ausschluss eines
geisteskranken Zustandes, sondern es ist in einem solchen Falle erst
zu erwägen, ob Motiv und That mit einander im Verhältnisse stehen,
anderseits aber im Auge zu behalten, dass alle jene äusseren Motive,
welche einen Geistesgesunden zum Selbstmord bewegen können, dieses
ungleich leichter bei einem Geisteskranken zu bewirken vermögen.
Gleiches gilt von somatischen Erkrankungen, insbesondere von
chronischen, schmerzhaften oder, wie z. B. die Syphilis, anderweitig
gefürchteten Krankheiten, die bekanntlich nicht selten den damit
Behafteten zum Selbstmord bewegen, wobei noch zu bemerken ist, dass
diese Krankheiten an und für sich, besonders aber bei dazu disponirten
Individuen, theils durch ihren physischen, theils durch den psychischen
Einfluss Geistesstörungen hervorzurufen vermögen. Die Selbstmordart
ist nur ausnahmsweise eine solche, dass sie für sich allein an
Geistesstörung denken lässt, so z. B. Selbstmord durch Hiebe gegen den
Kopf oder Einrennen desselben, während andere bequemere Selbstmordarten
leicht ausführbar waren, Selbstverstümmelungen oder zahlreiche ein
blindes Wüthen gegen sich selbst verrathende Wunden, Verbrennungen auf
einem Scheiterhaufen oder im Bette, Kreuzigung u. dergl.[595]
[Sidenote: Hinterlassene Schriften von Selbstmördern.]
Hinterlassene, insbesondere kurz oder unmittelbar vor dem Tode
geschriebene Schriftstücke sind natürlich höchst wichtige Documente,
indem sie häufig das Motiv des Selbstmordes enthalten, anderseits
aber aus Inhalt, Form etc. wichtige Schlüsse auf den Geisteszustand
des Selbstmörders gestatten können in analoger Weise, wie wir dies
bezüglich anderer Schriftstücke oben (pag. 993) bemerkt haben.
Ueber die letzten Empfindungen von Selbstmördern, wie sie von
denselben in ihren Schriften hinterlassen wurden, schrieb +Bierre de
Boismont+ (Annal. méd.-psych. Juli 1851; Schmidt’s Jahrb. 1852, LXXV,
pag. 91, und 1853, LXXX, pag. 358). Unter 4595 Selbstmördern fanden
sich 1328mal Briefe, Bemerkungen und sonstige Schriftstücke vor. Von
diesen zeigten 55 von verschiedenen Graden geistiger Störung, 34
trugen das Gepräge entschiedenen Wahnsinns an sich; 85 Selbstmörder
hatten ein Testament gemacht. Wir besitzen eine ansehnliche Sammlung
hinterlassener Briefe von Selbstmördern, unter denen sich mehrere
befinden, aus denen die Geistesstörung deutlich sich ergibt. So
hinterliess ein allgemein geachteter, in den besten Verhältnissen
lebender Staatsanwalt, der sich erschossen hatte, folgenden, an
seinen Vorstand gerichteten Brief: „Hochwohlgeborener Herr und
Gönner! Ich ertrage es nicht länger, ich bin zusammengebrochen. Ich
bin einem schrecklichen Lose anheimgefallen. Das Verhängniss hat
mich ereilt. Ich vermochte das Amt nicht in einen solchen Zustand zu
bringen, dass ich mit Ehren vor der Welt bestehen kann. Verzweiflung
ist mein Lohn und das treibt mich in den Tod. Möge mein Nachfolger
glücklicher sein. In der Casse ist meines besten Wissens kein Abgang.
Verurtheilen Sie mich nicht; bedauern Sie mich; mit patriotischer
Brust erglühte ich für Alles Edle und doch bin ich bei einem so
schrecklichen Ende angelangt! Gott erhalte Sie!“ Die melancholische
Geistesstörung ist hier unverkennbar und die Aeusserung der
Verzweiflung in Folge des grässlichen Gefühls der Unfähigkeit zur
gewohnten Arbeitsleistung (vergl. pag. 921) ebenso charakteristisch,
wie im folgenden Briefe, der von einem ausgezeichneten Koch eines
grossen Wiener Hauses stammt, der sich durch einen Schuss das Leben
nahm, weil er von dem Wahne befallen war, seinem Posten nicht mehr
gewachsen zu sein:
+Dienstag+, 8 Uhr Abends.
Theure, gute, beste aller Frauen! Dir, die Du so viel dafür gethan
hast, dass ich es zu etwas bringe, sagen zu müssen, dass ich so
elend geworden bin, dass ich im Begriffe bin, mir das Leben zu
nehmen! Ich sehe jetzt ein, dass ich Dich nicht mehr glücklich
machen kann. Unserer kleinen theuren Tochter, die ich so innig
liebe, wird Gott seinen Schutz angedeihen lassen, sowie Dir, meine
theure, gute Mathilde. Was mich anbelangt, so ist mein Entschluss
unerschütterlich, mir das Leben zu nehmen. Ich kann nicht mehr
leben, und wenn mir die Frau Baronin heute Abends keine Aufträge
bezüglich eines Diners gibt, das wir morgen haben sollen, bin ich
entschlossen, sofort zu sterben, denn ich kann nicht mehr ertragen,
was mich erwartet. Du weisst, was ich gelitten habe, und ich bin
überzeugt, dass mein Verstand von Tag zu Tag abnimmt, denn ich fühle
mich alle Tage schlechter. Ich vergesse Alles, was man mir sagt; ich
weiss nicht mehr, was ich mache, wie ein Toller laufe ich den ganzen
Tag herum, ohne jede Ursache. Es ist mir unmöglich, weiter zu leben,
da meine Stellung zu compromittirt ist. Ich muss mich für rettungslos
verloren betrachten; ich schwöre vor Gott, dass mein Schritt ein nur
allzu wohlbegründeter ist. Meine Existenz ist gänzlich vernichtet,
und ich kann es nicht über mich bringen, Dich leiden zu sehen und
unsere kleine Juliette. Mein Glück ist verloren für immerdar....
Ich bin ausser Stande, zu ertragen, zum Nichtsthun verurtheilt zu
sein. Heute ging ich aus, um Commissionen zu besorgen. Ich wusste
aber nicht, was ich that, was ich sprach.... Ich erwarte die
Antwort der Frau Baronin. Wenn sie mir diesen Abend keine Aufträge
geben will, ist Alles verfehlt. Ich bitte Dich, Tante Katherine
tausendmillionenmal für mich zu umarmen, sowie unsere Kleine. Du
weisst, dass die Schwierigkeiten, welche ich erleiden musste, sich
verschlimmert haben, und ich hatte nicht einen einzigen Bedienten,
der mir secundirt hätte -- das heisst, der mich unterrichtet hätte.
Schliesslich hätte das Niemandem etwas genützt, da ich Alles vergesse
und nichts mehr verstehe. Bevor ich krank werde, will ich lieber so
schnell als möglich meinem Leben ein Ende machen.
Adieu, meine Theure, Gott mache Dich glücklicher!
+Dein Julius, der Dich sehr geliebt hat.+
[Sidenote: Obduction von Selbstmördern.]
Die Obduction kann werthvolle Anhaltspunkte für die Beurtheilung
des Geisteszustandes eines Selbstmörders ergeben, doch ist sie nur
selten für sich allein im Stande, eine bestimmte Entscheidung nach
der einen oder anderen Richtung zu gestatten.[596] Bekanntlich ist
gerade bei den acuten Geistesstörungen der Sectionsbefund meistens
ein negativer, man ist daher auch nicht berechtigt, daraus, dass
keine wesentlicheren Veränderungen am Gehirne oder seinen Häuten
gefunden wurden, zu schliessen, dass das Individuum nothwendig ein
geistesgesundes gewesen sein müsse. Anderseits wissen wir, dass
mitunter selbst grobe pathologische Befunde am Gehirn und seinen
Häuten sich bei Leuten ergeben, an denen bis zu ihrem Tode keine
psychische Störung bemerkt wurde. Zu diesen gehören insbesondere die
Veränderungen und Trübungen und serösen Infiltrationen der inneren
Hirnhäute, die so häufig, namentlich bei Selbstmördern, als Beweis für
Unzurechnungsfähigkeit herhalten müssen, während niedere und mittlere
Grade derselben auch bei notorisch Geistesgesunden zu den gewöhnlichen
Obductionsbefunden gehören. Begreiflicher Weise werden am meisten
jene pathologischen Processe für bestandene Geistesstörung sprechen,
die das Grosshirn betreffen, und zwar ausser angeborenen Anomalien in
erster Linie solche der Hirnrinde, und zwar sowohl locale als diffuse,
ferner die so häufigen Herderkrankungen im Linsenkern, diffuse oder
localisirte Sclerosen, embolische und syphilitische Erkrankungen, graue
Degenerationen, traumatische Processe u. dergl.
Endlich werden auch angeborene oder erworbene Deformitäten des Schädels
und die bereits pag. 902 erwähnten sogenannten Degenerationszeichen,
besonders Bildungshemmungen, nicht unverwerthet bleiben dürfen.
Selbstmord im Fieberdelirium ist bekanntlich ein häufiges Ereigniss und
die Section ist dann im Stande, die häufig schon durch die Anamnese
klare, dem Delirium zu Grunde liegende Erkrankung nachzuweisen. Am
häufigsten sind es acute exanthematische Erkrankungen, insbesondere die
Blattern, ferner typhöse Processe, um die es sich handelt, mitunter
aber auch einfach entzündliche Erkrankungen, z. B. Pneumonien,
Pleuritiden, Gelenksrheumatismus, welche bei Individuen mit labilem
psychischen Gleichgewicht, unter welche namentlich die Alkoholiker
und jene Individuen gehören, bei welchen Pachymeningitis oder in
Folge einer überstandenen Meningitis Verwachsung der Meningen mit
der Hirnrinde besteht, oder welche mit Residuen einer anderweitigen
Hirnerkrankung (apoplectische Cysten, embolische Herde, geheilte
Contusionen etc.) behaftet sind, gehören, schon in den ersten
Stadien Delirien und dem entsprechende Handlungen, insbesondere auch
Selbstmord, bedingen können. Die Obduction solcher Fälle, deren
wir bereits eine ganze Reihe untersucht haben, ergibt dann ausser
den durch den Selbstmordact gesetzten Läsionen, die betreffende
acute Erkrankung (frische Pneumonie, Pleuritis etc.) und zugleich
als anatomisches Substrat des labilen psychischen Gleichgewichtes
die Zeichen des chronischen Alkoholismus oder einen der erwähnten
chronisch-pathologischen Processe im Gehirn. Dass unter solchen
Umständen ausser Selbstmord auch andere schwere Gewaltacten vorkommen
können, zeigte die Obduction eines Potators, der seinen 3 Kindern und
dann sich selbst den Hals durchschnitten hatte, welche eine frische
fibrinöse Pleuritis ergab.
Auch chronische Erkrankungen verschiedener Organe können theils auf
psychischem Wege, theils secundär, z. B. durch Ernährungs- oder
Circulationsstörungen, zu Geistesstörungen führen, weshalb der Bestand
solcher Erkrankungen ebenfalls in Betracht gezogen werden muss.
III. Fragliche Verhandlungsfähigkeit.
+Oesterr. St.-P.-O.+
§. 151. Als Zeugen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit ihrer Aussage
nicht vernommen werden: -- -- -- -- 3. Personen, die zur Zeit, in
welcher sie das Zeugniss ablegen sollen, wegen ihrer Leibes- oder
Gemüthsbeschaffenheit ausser Stande sind, die Wahrheit anzugeben.
§. 170. Folgende Personen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit des Eides
nicht beeidigt werden: -- -- -- 4. Die zur Zeit ihrer Abhörung das
14. Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben; 5. welche an einer
erheblichen Schwäche des Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögens
leiden.
+Deutsch. St.-P.-O.+
§. 56. Unbeeidigt sind zu vernehmen: Personen, welche zur Zeit
der Vernehmung das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet oder wegen
mangelnder Verstandesreife oder wegen Verstandesschwäche von dem
Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung haben.
Die Verhandlungs- oder Vernehmungsfähigkeit kommt in psychischer
Beziehung in Betracht, wenn Zweifel darüber bestehen, ob den Angaben
des betreffenden Individuums jene Verlässlichkeit und Beweiskraft
zugeschrieben werden kann, wie dies bei Geistesgesunden gewöhnlich
der Fall ist, demnach insbesondere, wenn es sich um die Fähigkeit zur
Zeugenaussage oder um die Glaubwürdigkeit von durch das betreffende
Individuum gegen sich selbst oder gegen Andere gerichtete Anklagen
handelt.
[Sidenote: Vernehmungsfähigkeit Geistesgestörter.]
Wie aus der oben angeführten Gesetzesstelle hervorgeht, fordert das
Gesetz von einem vollgiltigen, d. h. beeidungsfähigen Zeugen eine
gewisse Verstandesreife und ein normales Verhalten des Wahrnehmungs-
und Erinnerungsvermögens.
Die entsprechende Verstandesreife wird von der österr. St.-P.-O.
schon mit Vollendung des 14., von der deutschen mit beendetem 16.
Lebensjahre als vorhanden angenommen. Bezüglich des Wahrnehmungs- und
Erinnerungsvermögens scheint das Gesetz, wie aus dem Wortlaute der
betreffenden Stellen entnommen werden muss, nur die Schwäche dieser
Fähigkeiten, also den Schwach- oder Blödsinn, im Auge gehabt zu haben.
Es unterliegt jedoch keinem Zweifel, dass bezüglich der Fähigkeit zur
Zeugenaussage auch andere Geisteskrankheiten in Frage kommen können, da
ja Geisteskranke verschiedener Art zufälliger Weise Zeugen gewisser zur
straf- oder civilrechtlichen Verfolgung führender Geschehnisse gewesen
sein konnten, oder zur Zeit des Geschehnisses geistesgesund gewesene
Personen dann, wenn sie das Zeugniss ablegen sollen, geistesgestört
sein können.[597] Die alte preussische Gerichtsordnung hatte auf diese
Möglichkeiten ausdrücklich Rücksicht genommen, indem sie im Thl. I,
Tit. 10, §. 227, Rasende, Wahn- und Blödsinnige zur Ablegung eines
Zeugnisses unfähig erklärte. Auch im §. 151 der österr. St.-P.-O.
scheinen wenigstens bezüglich der zur Zeit, wo das Zeugniss abgelegt
werden soll, bestehenden Zustände auch andere Geistesstörungen gemeint
worden zu sein, da nicht wie im §. 170 nur von geistesschwachen,
sondern überhaupt von solchen Personen gesprochen wird, „die wegen
ihrer Leibes- oder Gemüthsbeschaffenheit ausser Stande sind, die
Wahrheit anzugeben“.
Bis zu welchem Grade Schwach- und Blödsinnigen oder anderweitig zur
Zeit des Geschehnisses geisteskrank Gewesenen oder nachträglich
geisteskrank Gewordenen die Fähigkeit zur Ablegung eines Zeugnisses
zugesprochen werden kann, kann nur von Fall zu Fall und mit Rücksicht
auf die concreten Verhältnisse entschieden werden.
Natur und Grad der Geistesstörung einerseits, Qualität dessen, worüber
auszusagen ist, anderseits, muss in Betracht gezogen werden, ebenso
die Zeit, die seit dem Geschehnisse verflossen ist. Im Allgemeinen ist
es analog wie bei der Zurechnungs- und Dispositionsfähigkeit auch hier
in letzter Linie Sache des Gerichtes, über die Vernehmungsfähigkeit zu
entscheiden, während dem Arzte nur die Aufgabe zufällt, einestheils
zu erklären, ob das Individuum geisteskrank ist oder war, und in
welchem Grade durch die Krankheit das Wahrnehmungs-, beziehungsweise
Erinnerungsvermögen, sowohl im Allgemeinen als bezüglich des in
Frage stehenden Actes beeinträchtigt ist oder gewesen war. Die
Unterscheidung, die das Gesetz zwischen Vernehmungsfähigkeit im
Allgemeinen und Beeidigungsfähigkeit macht, wird auch der Gerichtsarzt
nicht ausser Acht lassen.
Von letzterer kann keine Rede sein, sobald erklärt wird, dass das
Individuum an einer erheblichen Schwäche des Wahrnehmungs- oder
Erinnerungsvermögens leidet (litt) oder wegen seiner Verstandesschwäche
(oder anderweitiger Geisteskrankheit) von dem Wesen und der Bedeutung
des Eides keine genügende Vorstellung habe; dagegen kann ein solches
Individuum trotzdem unbeeidigt vernommen werden, und es bleibt dem
Richter, beziehungsweise den Geschworenen, überlassen, inwieweit sie
mit Rücksicht auf den Geisteszustand des Individuums dessen Aussagen
beim Urtheil verwerthen wollen oder nicht. Werden ja auch Kinder unter
14, beziehungsweise unter 16 Jahren zur Zeugenaussage zugelassen,
obwohl sie nicht beeidigt werden dürfen. In allen diesen Fällen wird
man nicht blos den Geisteszustand (Intelligenz) des Individuums
überhaupt erwägen, sondern auch die innere Glaubwürdigkeit der
concreten Aussage einer Prüfung unterziehen, die sich aus der Art der
Schilderung des Sachverhaltes, aus der Uebereinstimmung der Angaben mit
thatsächlich erhobenen Verhältnissen etc. ergeben muss.
Besondere Vorsicht ist gegenüber +spontanen Angaben+ von geisteskranken
Personen nothwendig, durch welche sich letztere selbst begangener
Verbrechen anklagen oder Andere solcher beschuldigen, da solche Angaben
nur auf Wahnvorstellungen, Fehlern der Reproductionstreue etc. beruhen
können.[598]
[Sidenote: Selbstanklagen Geisteskranker.]
+Selbstbeschuldigungen+ kommen, wie bereits a. a. O. erwähnt,
insbesondere bei Melancholie und bei (melancholischer) Verrücktheit
vor, bei Hysterie und Hysterodämonomanie[599], seltener bei secundärem
Schwach- oder Blödsinn.
Die der Selbstanklage zu Grunde liegenden Wahnideen können spontan,
d. h. ganz objectlos, entstehen oder unter dem Einflusse thatsächlicher
Vorkommnisse, die entweder früher Erlebtes betreffen oder kurz zuvor
sich abgespielt haben.[600] Letztere Fälle sind insoferne von grösserer
Bedeutung, als die allgemeine Thatsächlichkeit des Vorkommnisses
die betreffende Angabe glaubwürdig erscheinen lassen kann, während
im ersteren Falle schon die Objectlosigkeit der Selbstbeschuldigung
die Sache erledigt. Verhältnissmässig häufig bildet die Tödtung von
Kindern, namentlich der eigenen, Gegenstand der Selbstanklage und
liefert instructive Beispiele für das eben Gesagte.
So erschien in Innsbruck eine Person vor Gericht und gab an,
bereits zweimal geboren und jedesmal im Einverständnisse mit ihrem
Geliebten das Kind umgebracht zu haben. Da sie als Letzteren bald
einen Pfarrer, bald einen Italiener bezeichnete, das eine Mal
Zwillinge geboren haben wollte und ganz auffallend sich geberdete,
entstand sofort die Vermuthung, dass die Person geisteskrank sei.
In der That ergab die ärztliche Beobachtung, sowie die Anamnese
aus Melancholie hervorgegangene Verrücktheit und die Untersuchung
der Genitalien, dass die Person noch gar nicht geboren haben
konnte. Auch +Krafft+-+Ebing+ (l. c. 293) citirt zwei Fälle, in
denen Geisteskranke sich des Kindesmordes anklagten, während die
Untersuchung ergab, dass sie niemals geboren hatten, und dass die
Eine sogar noch Virgo war. -- Einen Fall zweiterwähnter Kategorie
berichtet +Maschka+ (Gutachten, IV, 274). Derselbe betraf eine
26jährige Gärtnerstochter, die sich anklagte, vor 7 Jahren ihre
damals 9jährige Schwester in einen Brunnen geworfen und ertränkt
zu haben. Das Kind war damals thatsächlich aus dem Hausbrunnen
todt hervorgezogen worden und man hatte allgemein geglaubt, dass
dasselbe zufällig hineingefallen sei. Die Angabe der Gärtnerstochter
schien plausibel, da Letztere die That in Abwesenheit der übrigen
Hausbewohner und aus dem Grunde begangen, haben wollte, damit
ihr allein die Wirthschaft der Eltern zufalle. Da sich jedoch
herausstellte, dass die Betreffende seit ihrem 9. Lebensjahre in
Folge einer überstandenen Gehirnaffection geistig zurückgeblieben
war, seit ihrem 18. Lebensjahre an epileptiformen Anfällen litt, kurz
zuvor einen Selbstmordversuch mit Arsenik gemacht hatte, sich in
ihrer Angabe vielfach widersprach, stets einen gutmüthigen Charakter
zeigte und ihrer Schwester in Liebe zugethan gewesen war, so wurde
das Gutachten dahin abgegeben, dass die Selbstanklage auf einer
Wahnvorstellung, die sich erst in der letzten Zeit entwickelte,
beruhen dürfte. -- Einschlägige Fälle dritter Kategorie liefern
mitunter die Puerperal- oder andere Erschöpfungsmelancholien. Wir
kennen aus eigener Erfahrung zwei Fälle, in denen bei Wöchnerinnen
die Wahnidee sich einstellte, ihre Kinder umgebracht zu haben, und
+Morel+ (+Krafft+-+Ebing+, l. c.) erzählt von einer jungen Frau,
welche, nachdem ihr ein 7jähriges rhachitisches Kind, welches sie
mit rührender Sorgfalt gepflegt hatte, gestorben war, in Folge
des Kummers gemüthskrank geworden war, eines Tages zu Gericht
ging und mit allen Details und plausiblen Angaben das Geständniss
ablegte, dass sie eine unnatürliche Mutter sei und ihr Kind durch
Misshandlungen umgebracht habe.
Der Thatsache, dass Erlebnisse aus früherer, insbesondere aber aus
jüngster Zeit in verschiedener Weise verfälscht als Wahnvorstellungen
auftreten, begegnet man nicht blos bei eigentlichen Geisteskrankheiten,
sondern auch bei den während gewisser acuter Erkrankungen auftretenden
Delirien und sie haben insoferne eine forensische Bedeutung, als
die daraus resultirenden Aeusserungen auch unter der Form von
Selbstanklagen sich ergeben können.
Insbesondere ist es schon vorgekommen, dass Angeklagte, obwohl
unschuldig, wenn nachträglich an Typhus etc. erkrankt, im Sinne
der Anklage delirirten (+Krafft+-+Ebing+, l. c. 293). Aehnliches
kommt ja sogar bei gewöhnlichen Träumen vor, und es wäre daher ganz
ungerechtfertigt, wenn etwa im Schlafe gesprochene Worte eines
Angeklagten als Beweis der Schuld desselben genommen werden würden. In
der 1878 stattgefundenen Hauptverhandlung, betreffend die Ermordung
einer Prostituirten (Balogh), wurde von einer Zeugin, die in der
Untersuchungshaft mit einer der Angeklagten in einer Zelle schlief,
angegeben, dass Letztere im Schlafe gerufen habe: „Mein Gott, mein
Gott, zwei sind’s, den Einen weiss ich, den Anderen nicht, aber ich
sage nichts.“ Mit Recht wurde auf diese Aussagen keine Rücksicht
genommen, obgleich es nicht unmöglich war, dass die Angeklagte wirklich
diese Worte im Schlafe gesprochen haben konnte.
Angaben von Hypnotisirten sind nach +Lombroso+ und +Algeri+ (1887)
nicht zu verwerthen, da der Verbrecher, auch der geisteskranke, in
der Hypnose ein eben solcher Lügner und Betrüger ist, wie ausserhalb
derselben. Dass auch durch ungeschickte Fragen Selbstanklagen
in Betäubte hineinsuggerirt werden können, beweist ein von
+Landgraf+ (Friedreich’s Bl. 1894, pag. 172) mitgetheilter Fall von
Kohlendunstvergiftung eines Ehepaares, in welchem der betäubt gefundene
Ehemann von den Hinzugekommenen beschuldigt wurde, sein Weib erschlagen
zu haben und dies auch zugestand, was sich jedoch als unwahr erwies.
[Sidenote: Beschuldigung Anderer.]
+Anschuldigungen Anderer+ sind bei Geisteskranken noch häufiger als
Selbstanklagen. Das Hauptcontingent liefern die verschiedenen Formen
der Verrücktheit und von diesen insbesondere der Verfolgungs- und der
Querulantenwahn und dann das hysterische Irrsein. Beim Verfolgungswahn
ergibt sich die Möglichkeit der Beschuldigungen Anderer aus der Natur
der betreffenden Wahnvorstellungen. Letztere sind in der Regel als
solche so ausgesprochen, und die Art und Weise, wie sie der Kranke
vorbringt, so charakteristisch, dass über den Fall kein Zweifel
bestehen kann. Schwieriger kann die Beurtheilung sich gestalten, wenn
die betreffenden Ideen eine gewisse äussere Berechtigung zu besitzen
scheinen und in Folge der sonst normalen oder gar mehr als gewöhnlich
entwickelten Intelligenz in plausibler, gewissermassen überzeugender
Weise vorgebracht werden (Folie raisonnante). Namentlich können Laien
getäuscht werden, und wiederholte Erfahrungen haben gelehrt, dass unter
diesen Umständen und nicht selten unter Mitwirkung allzu eifriger
Advocaten sich grosse Processe aus Angaben entwickeln können, die
schliesslich nur auf systematisirten Wahnvorstellungen beruhen. Eine
verhältnissmässig häufige Rolle spielen in dieser Beziehung Anklagen
wegen widerrechtlicher Einsperrung in Irrenanstalten, und diese
Anklagen können sowohl bei Individuen vorkommen, die zur Zeit, wo sie
oder Andere die Anklage erheben, wieder ganz gesund sind, als auch,
und zwar häufiger, bei Solchen, die noch an Geistesstörung laboriren,
aber für geistesgesund gelten wollen. Eine Cause célèbre dieser Art
war der bekannte Fall des 1872 verstorbenen Advocaten +Sandon+,
dessen Scandalprocess so viele Jahre Juristen und Aerzte und die
Regierung Frankreichs beschäftigte, bis endlich die in der letzten Zeit
eingetretenen Erscheinungen und die Obduction die von der Mehrzahl der
Aerzte schon lange vertretene Ansicht zur Evidenz brachte, dass man es
mit einen Geisteskranken zu thun gehabt hatte.[601]
Wie sehr Hysterische zu Beschuldigungen Anderer geneigt sind, wurde
bereits oben erwähnt und bemerkt, dass besonders häufig solche
sexuellen Inhaltes vorkommen, wobei einestheils die gesteigerte
geschlechtliche Erregbarkeit oder andere Abnormitäten des
geschlechtlichen Fühlens, anderseits die Geneigtheit zu Verfälschungen
gewisser Vorkommnisse im Bewusstsein eine wesentliche Rolle spielen.
In anderen Fällen sind die Anklagen auf die krankhafte Sucht,
Aufsehen zu erregen, oder das perverse Fühlen, insbesondere die meist
vorhandene, selbst bis zur moralischen Insensibilität entwickelte
Gemüthsstumpfheit zurückzuführen. Die Beschuldigungen können eben
so gut gegen ganz fingirte, als gegen bestimmte Personen gerichtet
sein, und es kann nicht überraschen, wenn im letzteren Falle dies
insbesondere solche sind, die wirklich mit den Hysterischen in irgend
einem Conflicte gestanden sind. Hierbei gehen Letztere in der Regel
mit grosser Schlauheit, ja sogar mit Raffinement vor, wissen nicht
blos die ihrer Anklage zu Grunde liegenden Handlungen zu erfinden,
sondern als wirklich vorgekommene darzustellen, respective gewissen
Personen zuzuschreiben, oder gar von ihnen selbst in wohlberechneter
Weise Begangenes diesen anzudichten und scheuen sich sogar nicht,
Verletzungen, die sie sich selbst beigebracht haben, Anderen zu
imputiren.[602]
Zu den auf pathologischer Grundlage beruhenden Beschuldigungen
Anderer gehören schliesslich noch die, welche nach dem Erwachen
aus zu ärztlichen Zwecken eingeleiteter Narcose, insbesondere nach
Chloroformnarcose, vorgekommen sind und die bereits a. a. O. (pag. 151)
erwähnt wurden.
In allen derartigen Fällen ist es Aufgabe des Gerichtsarztes,
zunächst zu constatiren, dass das betreffende Individuum in einem
psychopathischen Zustande sich befindet oder befand, und zu erörtern,
dass und in welcher Weise dieser zur Entstehung der betreffenden Ideen
Veranlassung geben konnte. In zweiter Linie ist die Unglaubwürdigkeit
der betreffenden Angaben darzulegen, wobei, wenn auch nicht
ausschliesslich, so doch vorzugsweise jene Seiten derselben geprüft
und beleuchtet werden müssen, deren Beurtheilung ärztliche Kenntnisse
erfordert, so z. B. das Verhalten der angeblich von fremder Hand
erlittenen Verletzungen, bei angeschuldeten unsittlichen Attentaten das
Verhalten der betreffenden Genitalien u. s. w.
Register.
(Die beigesetzten Ziffern bedeuten die Seitenzahl.)
A.
Abdrücke blutiger Hände und Füsse 422,
-- von Hemdkrägen etc. 563, 568.
Abort, Entbindung am -- 784, 798, 804.
Abortsjauche, Ertrinken in -- 572, 577, 578, 798,
-- mikroskopisch 783.
Abortivmittel v. Fruchtabtreibungsmittel.
Abortus 189,
Blutung bei -- 217, 219,
Diagnose des -- 216,
partieller -- 196,
spontaner -- 222,
Hymen bei -- 217,
crimineller -- 212, 225,
Mutter bei Verdacht auf -- 216,
Abgänge bei -- 218,
-- bei Erkrankung 222,
-- nach Verletzungen oder Misshandlungen 224, 494,
Eintritt des -- bei den einzelnen Fruchtabtreibungsmethoden 246,
249,
Sepsis nach 253.
Abreissung von Körpertheilen 284,
-- der Nabelschnur 799, 801.
Abscheu als Scheidungsgrund 48, 50, 70.
Absicht, feindselige 314, 324.
Accessorische Wundkrankheiten 341.
Acetonämie 625.
Aconitum 728.
Acteneinsicht 34.
Aderlässe, Fruchtabtreibung durch -- 251.
Aderndurchschneidung, Selbstmord durch -- 393, 403.
Adipocire 587, 832.
Adoption 75.
Aequivalent, psychisch-epileptisches 938.
Aether, Geruch des Mageninhaltes nach -- 630,
--ische Oele 238.
Aetzgifte und Aetzwirkung 632.
Aetzlaugenvergiftung 662.
Affecte, psychische -- 162, 321, 733,
-- bei Kindern 883,
-- bei Melancholie 919.
After bei Päderasten 173,
Verletzungen des -- 488,
Vergiftung durch den -- 620.
Agnoscirung von Leichen 833.
Agonie 625, 803,
Einfluss der Dauer der -- auf die Beschaffenheit des Leichenblutes
509,
Dispositionsfähigkeit in der -- 996.
Alcoholismus chron. 948,
Impotenz bei -- 62,
Einfluss des -- auf den Wundverlauf 341,
psychische Degeneration durch -- 949,
Verfolgungswahn bei -- 951,
Dispositionsfähigkeit bei -- 989.
Algenbildung auf Wasserleichen 586.
Alkaloide, Gegengifte gegen -- 620,
Schnelligkeit der Wirkung der -- 621,
Nachweisbarkeit der -- in faulen Leichen 648,
Fäulniss -- v. Ptomaine.
Alkohol, Betäubung durch -- 147, 150,
Angewöhnung an -- 622,
Intoleranz gegen -- 947,
Vergiftung durch -- 696,
acute Wirkung des -- (Rausch) 927,
Denaturirter -- 697.
Alkoholisches Irrsein 948.
Aloë 226, 239.
Altersbestimmung an Leichen und Knochen 839, 849,
-- aus Weichtheilen 856.
Ameisen, Benagung durch -- 359, 835.
Ammoniak, Vergiftung mit -- 664.
Amnesie, nach Mania transitoria 926,
-- beim epileptischen Irrsein 938,
-- beim hyster. Irrsein 942,
-- nach Berauschung 947,
-- nach Strangulation 571,
-- nach Ertrinken 587,
-- nach CO-Vergiftung 710,
-- nach Hirnerschütterung 1003.
Amnion 220.
Amygdalin 620.
Anamnese bei fraglicher Zurechnungsfähigkeit 958.
Anchylostomum duodenale 728.
Angewöhnung an Gift 622.
Angstanfall, melancholischer 918, 922.
Ansteckung mit Blennorrhoe 137, 160,
-- mit Syphilis 139,
-- mit weichem Schanker 140, 161,
psychische -- 942.
Anthropophagie 908.
Antiseptik 342,
Unterlassung der -- 343.
Aorta, Verletzungen der -- 312, 481.
Aphasie 331, 473,
Dispositionsfähigkeit bei -- 983.
Apnoë 753.
Apoplexie 371,
Blödsinn nach -- 979, 985.
Arnicatinctur, Vergiftung mit -- 696.
Arsen 677,
Vorkommen des -- im Organismus 641,
--hältige Medicamente 642,
--hältige Erde 646,
--säure 677,
--wasserstoff 678,
Schwefel-- 677.
Arsenicismus gastrointestinalis 671,
-- cerebrospinalis 671,
Aehnlichkeit des -- mit Cholera 624.
Arsenik 669,
-- als Abortivum 240, 674,
Vergiftung mit -- durch die Scheide 620, 675,
--esser 622,
Localisation des -- im Organismus 641, 644,
mit -- conservirte Leichen 646,
Selbstmord durch -- 653,
Krankheitsbild bei Vergiftung mit -- 671,
Sectionsbefund nach --vergiftung 673,
Ausscheidung des -- 676,
Wirkung des -- 675,
chronische --vergiftung 679,
Massenvergiftung mit -- 672,
--hältige Farben 645, 678,
Mumification durch -- 676.
Arzt, behandelnder 7, 19.
Asarum europaeum 239.
Aspermatozie 63.
Aspermie 63.
Asphyxie 503,
Wiederbelebung bei -- 569, 587,
-- der Neugeborenen 754.
Atavismus 902.
Athembewegungen, terminale 501, 575, 803,
vorzeitige -- 782.
Athmen nach der Geburt 738, 740,
-- während der Geburt 751,
-- nach Kopfverletzung 803,
Veränderung in den Lungen durch -- 739.
Atresie der Scheide 68, 78,
-- des Hymen 68, 105, 111.
Atrophie der Hoden 60,
-- der Ovarien 75.
Atropin, Vergiftung mit -- 726,
absichtliche Betäubung durch -- 149,
Immunität von Thieren gegen -- 649.
Auge, Verletzung des 331, 346, 465,
-- bei Erstickten 506,
-- bei Verbrannten 861,
Leichenveränderungen am -- 778, 819, 828, 861.
Augenschein 5, 14, 16, 17, 23,
Gegenstand des -- 25,
Aufbewahrung der Objecte des -- 32,
Wiederholung des -- 7, 38.
Ausgangsöffnung von Schusswunden 309,
-- von Stichwunden 297.
Aussetzung von Kindern oder hilflosen Personen 265, 817.
Autoritäten, Berufung auf -- 35.
Azoospermie v. Aspermatozie.
B.
Bandwurmmittel 728.
Bauchdecken Schwangerer 186,
-- Entbundener 204, 207, 218.
Bauchgeflechte, Erschütterung der -- 280, 357.
Bauchverletzungen 482,
-- penetrirende 487.
Baumwollfasern, mikroskopisch 448.
Barthaare 445.
Bartwuchs 86, 844, 902, 959.
Baryumsalze 679.
Becken bei Zwittern 88,
Fracturen des -- 484,
Geschlechtsunterschiede am -- 848.
Bedrohung, gefährliche 96, 99, 143.
Befruchtung, künstliche 79.
Befruchtungsfähigkeit der Kryptorchen 57, 60,
-- von Castraten 56,
-- von Knaben 58,
-- von Greisen 59.
Befruchtungsunfähigkeit v. Impotentia generandi.
Befund der Sachverständigen 7,
abweichender o. widersprechender -- 38.
Begattungsunfähigkeit v. Impotentia coëundi.
Behandlung, antiseptische 342,
lebensgefährdende 349, 350.
Beischlaf 48,
schmerzhafter -- 69,
gesetzwidriger -- 69, 100, 143,
v. Nothzucht, Diagnose des -- 101,
Begriff des -- 101,
Vereitlung des Zweckes des -- 47, 169, 215,
erzwungener -- 144,
-- an wehr- oder bewusstlosen Personen 147, 150, 201,
-- mit Blödsinnigen und Geisteskranken 156,
-- mit Schlafenden 153,
-- mit Hypnotisirten 154,
-- mit Kindern 157.
Beischlafsunfähigkeit v. Impotentia coëundi.
Belastung, erbliche 901, 958.
Belladonna 726.
Benzin 697,
Impotenz nach chronischer Vergiftung mit -- 63,
Geistesstörung durch -- 953.
Berauschung 944,
volle -- 945, 947,
durch narcot. Gifte 952.
Bernsteinöl als Abortivum 238.
Bertillonage 844.
Berufsunfähigkeit 315, 316, 349,
immerwährende -- 336.
Beschädigung, körperliche 8,
schwere körperliche -- 314.
Beschaffenheit, persönliche 200, 337, 491.
Beschneidung, rituelle 490.
Besessenheit 942, 944.
Betäubung, arglistige 96, 146,
zufällige -- 150,
-- durch Strangulation 147,
-- durch Chloroform etc. 147, 151.
Bewusstlosigkeit, Nothzucht im Zustande der -- 96, 99, 146, 151,
-- bei der Erstickung 502,
-- beim Erhängen 520,
-- beim Gebären 816,
-- im Rausch 945.
Bindehäute, Ecchymosen an den -- 505, 515.
Bisswunden 278.
Bittermandelöl 713,
falsches -- 720.
Blasenbildung durch Verbrennung 596, 598, 600,
-- durch Fäulniss 829,
-- durch Pemphigus 600,
-- bei Strangulation 528.
Blausäure 713,
Wirkung der -- auf Hühner 650,
Symptome der Vergiftung mit -- 715,
Sectionsbefund nach -- vergiftung 717,
Nachweis der -- 717, 720,
Wirkung der -- 717,
Geruch der -- 717.
Blei, Vergiftung mit -- 666,
Spuren von -- im Körper 642.
Blennorrhoe, Sterilität wegen -- 78,
Infection mit -- 137,
Differentialdiagnose der -- 137,
Verlauf der -- 142,
künstliche Erzeugung der -- 137.
Blindheit, angeborene 891.
Blitz, Tod und Verletzung durch -- 608,
--figuren 608.
Blödsinn, nach Verletzungen 319,
angeborener -- 886,
erworbener -- 928,
Greisen -- 929, 980,
paralytischer 930, 982,
apoplectischer 928, 979.
Blödsinnige, Geschlechtstrieb bei -- 51, 889,
geschlechtlicher Missbrauch von -- 156,
Dispositionsfähigkeit -- 978,
Zurechnungsfähigkeit -- 887, 929.
Blut, Gerinnung des -- in Suffusionen 368,
-- bei Erstickten 507,
-- bei Verbrannten 601,
-- Vergifteter 620, 638,
-- bei Erfrorenen 613, 615,
Farbe des Blutes in der Leiche 507,
-- im Magen 634.
Blutegelstiche 870.
Blutentziehungen, Fruchtabtreibung durch -- 251.
Blutkörperchen in Blutspuren 426,
Unterscheidung der -- 429.
Blutkrystalle v. Häminkrystalle.
Blutlaugensalz 714.
Blutleere des Herzens etc. in Folge von Fäulniss 354.
Blutschande 97.
Blutspuren 26, 28, 401, 418, 420,
-- an der Leiche 401, 418,
-- in Localen 420,
-- an Kleidern und Werkzeugen 424,
Blutkörperchen in -- 426,
Geruch von -- 430,
Farbe von -- 431,
Löslichkeit von -- 430,
spectrales Verhalten von -- 432,
Häminkrystalle aus -- 437,
Aufnahme und Conservirung von -- 423.
Blutung bei der Defloration 119,
-- aus Verletzungen der Clitorisgegend 120, 493,
-- bei der Entbindung 204, 205, 804,
-- bei Abortus 217, 219,
-- aus mehreren Verletzungen 336,
-- als Zeichen vitaler Reaction 364,
postmortale -- 365,
-- in die Schädelhöhle 451, 452, 461,
-- in seröse Höhlen 508,
-- in die Paukenhöhle 517,
-- aus den Ohren bei Erstickten 517, 523, 559.
Blutunterlaufungen 272,
postmortale -- 366,
Altersbestimmung von -- 275,
Differentialdiagnose von -- 276.
Botaniker als Sachverständige 242.
Botulismus 732.
Brandwunden v. Verbrennung und Verbrühung.
Branntwein v. Alkohol.
Brom, Hodenatrophie nach -- 62.
Bromäthyl 695.
Bronchitis, Erstickung durch -- 590.
Breslau’sche Magendarmprobe 764.
Brucin 725.
Brustdrüsen bei Zwittern 89,
-- bei Schwangeren 185,
-- nach der Entbindung 204, 205, 218,
-- bezüglich Geschlechtsbestimmung 846.
Brustverletzungen 473.
Brustwarzen bei Schwangeren 185,
-- bei Entbundenen 204, 205, 208,
-- nach Abortus 218,
-- bei Ertrunkenen 574.
Bubonen 140, 143.
C.
Calcinirung von Knochen 596, 604, 606.
Canthariden 239.
Caput succedaneum 774, 785.
Carbolsäure 659.
Carcinom nach Trauma 377.
Carotis, Durchschneidung der -- 394,
Compression der -- 519,
Ruptur der Intima -- 535.
Carunculae myrtiformes 130, 208.
Castraten, Begattungsfähigkeit von -- 56,
Befruchtungsfähigkeit der -- 56,
Charakter der -- 96.
Castration 489.
Cephalhämatom 786.
Cervix uteri bei Schwangerschaft 184,
-- nach der Entbindung 204, 209,
-- nach Abortus 217,
-- beim Coitus 80.
Chemiker, Gebühren der -- 10, 11, 13,
-- als Sachverständige 7, 8, 17, 19, 28, 616, 641,
-- bei Verpackung von Leichentheilen 616,
-- bei Exhumationen 647.
Chemische Untersuchung von Leichentheilen 641,
-- positiver Ausfall der -- 641,
-- negativer Ausfall der -- 647.
Chinin als Abortivum 229.
Chloralhydrat 696.
Chloroform, Betäubung durch -- 148, 151,
Vergiftung mit -- 692,
Berauschung durch -- 952.
Chloroformirung Schlafender 148,
Einfluss der -- auf die Frucht 228.
Chlorsaures Kali 667.
Chlorsaures Natron 669.
Cholera und Arsenikvergiftung 624.
Chorion 220.
Circumcision 490.
Civilprocess-Ordnung, deutsche, betreffend das Entmündigungsverfahren
976,
-- betreffend die Aufhebung der Curatel 989.
Clitoris, Excess der -- 84,
Blutung aus Verletzungen der --gegend 128, 492.
Cloakengas 712.
Coffein 226.
Coitus v. Beischlaf.
Colchicum 728.
Colostrum 204.
Conception, Unfähigkeit zur -- 71,
-- im höheren Alter 74,
-- bei Atresien 78,
-- bei Harnfisteln 80,
Physiologie der -- 80,
Zeitpunkt der -- 189, 193,
-- während der Schwangerschaft 194,
Vereitlung der -- 47, 169, 215.
Concurrenz der Todesursachen 377.
Conservirung von Leichen 645, 646, 827, 859.
Contusio cerebri 318, 452, 463,
-- des Kehlkopfs 471.
Convulsionen nach Nothzucht 161,
-- bei Erstickung 502, 542.
Cornea, Veränderung der -- durch Fäulniss, Hitze etc. 861.
Corpus luteum 210.
Creoline 661.
Cretinismus 891.
Curare 621.
Curatel, Verhängung der -- 975,
Aufgabe des Gerichtsarztes bei Untersuchung wegen --verhängung 977,
Aufhebung der 989.
Cyanide 714.
Cyankalium bei Untersuchung von Blutspuren 427, 435,
Zersetzung des -- 620,
Vergiftung mit -- 714, v. Blausäure.
Cyanmethämoglobin 720.
Cyanose bei Erstickten 504.
D.
Dämonomanie 942.
Dampf, Verbrühung durch heissen -- 595.
Dammrisse 127, 208.
Darm, Ruptur des -- 483,
Ausscheidung der Gifte durch den -- 628.
Darmschwimmprobe 764.
Daturin 147, 727.
Decidua menstrualis 219,
pathologische Processe der -- 200, 219, 223.
Defect des Penis 54,
-- der Hoden 56,
-- der Ovarien 76,
-- der Scheide und des Uterus 68, 76,
angeborener Haut-- 777,
Ossifications-- Neugeborener 810,
angeborener psychischer -- 897.
Defensionalsachverständige 41, 42.
Defloration, Zeichen der -- 117,
Blutung bei der -- 119,
partielle -- 117,
Subjective Symptome nach -- 130.
Degeneration, fettige 638,
-- psychische 897,
-- der Epileptiker 934,
-- der Alkoholiker 949,
--szeichen 902.
Delirium bei acuten Erkrankungen 954,
-- Sterbender 997,
-- tremens 949,
-- Einfluss des -- auf den Wundverlauf 341.
Dementia paralytica 930, 982.
Deputation, wissenschaftliche 39.
Diabetes, traumatischer 465.
Diffusion von Giften 636, 644.
Digitalis 727.
Diphtheritis der Genitalien 141.
Dipsomanie 952.
Dispositionsfähigkeit, gesetzl. Bestimmungen, betreffend die -- 971,
Bedingungen der -- 973,
-- jugendlicher Personen 973,
-- Geisteskranker 971, 974,
-- Taubstummer 971, 983,
wann kommt -- in Frage 975,
-- Blödsinniger 978,
-- bei Aphasie 983,
-- beim affectiven (moralischen und impulsiven) Irrsein 986, 987,
-- beim paralytischen Irrsein 982, 993,
-- bei Verrücktheit 988,
-- bei periodischem Irrsinn 989,
-- bei Verfolgungswahn 981, 988,
-- Testirender 991, 993,
-- schwer Kranker 995,
-- Sterbender 996,
-- der Selbstmörder 997.
Disposition, erbliche, zu Geisteskrankheiten 875, 958.
Dissimulation des Selbstmordes 392, 1007,
-- von Wahnvorstellungen 923, 964, 990.
Dosis toxica 618.
Drastica, abortive Wirkung der -- 239.
Drosseln v. Erdrosseln, -- Betäubung durch -- 147.
Druckmarken, zufällige am Halse 563, 568.
Dualin 312,
Vergiftung mit -- 722.
Duell, amerikanisches 391.
Duodenum, angeb. Verwachsung des -- 592, 795,
Verbrennungsgeschwür im -- 601.
Dynamit, Verletzungen durch -- 284, 312,
Vergiftung mit -- 722.
Dysenterie nach Quecksilbervergiftung 665.
Dysmenorrhoea membranacea 219.
Dyspnoe bei Erstickung 501.
E.
Ecchymosen bei Erstickten 505, 514, 517, 568,
-- bei anderen Todesarten 517,
postmortale Entstehung und Vergrösserung von -- 367, 506, 524,
Entstehung der -- 514,
Sitz der -- 514,
-- in den Schädeldecken Neugeborener 786.
Ei in den einzelnen Entwicklungsperioden 220,
Abgang des -- en bloc 251, 754.
Eierstöcke, s. Ovarien.
Eihäute, Geburt in den -- 754.
Eihautstich 245, 250,
Verletzungen beim -- 254.
Eindrücke, löffelförmige, durch den Geburtsact 787.
Eingangsöffnung von Stichwunden 288,
-- von Schusswunden 297.
Einsicht in die Strafbarkeit einer Handlung 877,
-- in die Acten 34.
Eisenbahn, Selbstmord auf der -- 418,
unsittliche und andere Attentate in --coupés 149,
--lähmung 476.
Eisenlungenprobe 762.
Eklampsie 223.
Ekstase 944.
Elektricität, Fruchtabtreibung durch -- 252,
Verletzungen durch -- 608, 610,
Hinrichtung durch -- 611.
Elephantiasis scroti 54, 61,
-- labiorum 68.
Embryo v. Frucht.
Embolien, Fett-- 356,
-- von Luft 260, 262, 356, 395,
-- der Lungenarterien 262, 500,
-- des Gehirns 928, 979.
Entbindung, Hymen bei der -- 116, 118, 130, 208,
Diagnose stattgehabter -- 204, 216,
Blutung bei der -- 204, 206, 788,
Leichenbefund nach -- 209,
-- im Stehen, Sitzen etc. v. Sturzgeburt.
Entmündigung v. Curatel.
Entstellung, bleibende 334, 348, 465, 468, 499.
Epidermis, Quellung der -- bei Wasserleichen 574, 584.
Epilepsie nach Schreck 161, 734,
-- nach Verletzungen 321, 462,
Irrsein bei -- 321, 462, 933,
larvirte -- 934,
Dispositionsfähigkeit bei -- 989,
periphere -- 321.
Epileptiker, habitueller Geisteszustand der -- 934,
transitorisches Irrsein der -- 934.
Epileptoide Zustände 934.
Epiphysen, Ossification der 221, 774, 792, 793, 853, 855.
Epispadie 67.
Erde, arsenhältige 646.
Erdrosseln 554,
Strangfurche nach -- 555,
Selbstmord durch -- 557,
Mord durch -- 557,
innere Befunde nach -- 555,
zufälliges -- 562.
Erdrücktwerden 283, 591.
Erection, physiologischer Vorgang der -- 49,
Behinderung der -- 49, 54,
-- Centren 52,
psychische Störungen der -- 53.
Erfrieren 612,
Sectionsbefund nach -- 614.
Ergotin 231.
Erhängen 518,
Selbstmord durch -- 538,
Mord durch -- 538,
Luftwege beim -- 518,
Compression der Halsgefässe beim -- 519,
Vagus beim -- 521,
Symptome beim -- 522,
-- an niedrigen Gegenständen 544, 551,
Strangmaterial beim -- 527,
Strangfurche nach -- 524,
Abreissen des Stranges beim -- 543,
zufälliges -- 562.
Erhängte, äussere Befunde bei -- 523,
innerer Befund bei -- 531,
Blutung aus den Ohren von -- 517,
Strangfurche bei -- 524, 525,
Rupturen der Muskeln bei -- 532,
Rupturen der Intima carotis bei -- 535,
Fracturen des Zungenbeines bei -- 534,
Kehlkopfbrüche bei -- 535,
Verletzungen bei -- 531, 539,
Stellungen von -- 525, 544,
Knebel im Munde bei -- 546,
gebundene Hände bei -- 545,
Verletzungen der Halswirbelsäule bei -- 536,
postmortal -- 539, 551.
Erkalten der Leiche 503, 819.
Erkrankung, Geistesstörung während und nach schwerer -- 954, 995.
Erschiessen, Selbstmord durch -- 407.
Erschöpfung 358,
-- nach der Entbindung 816,
--s-Melancholie 956, 996, 1005.
Erschütterung von Nervencentren 280, 356,
-- des Rückenmarkes 476,
-- des Gehirns 452,
-- der Bauchgeflechte 356,
-- des Labyrinths 467.
Erstechen, Selbstmord durch -- 404,
zufälliges -- 405.
Erstickung 357, 499,
Formen der -- 499,
Erscheinungen während der -- 501,
Bewusstlosigkeit bei -- 502,
Convulsionen bei -- 502,
Leichenbefund nach -- 503,
äussere Befunde nach -- 503,
innere Befunde nach 506,
Dyspnoe bei -- 501,
Cyanose bei -- 504,
Ecchymosen nach -- 505, 514,
Pupillen bei -- 506,
Spermaentleerung bei -- 506,
Blut nach -- 507,
venöse Hyperämien nach -- 510,
Entleerung der Excremente bei -- 506,
-- durch Strangulation 518,
-- durch Ertrinken 572,
-- durch Verschluss der Respirationsöffnungen 588,
-- durch fremde Körper 588,
-- während des Erbrechens 589,
-- durch Bronchitis 590,
-- durch Verschüttung und Erdrücken 591,
fötale -- 780,
Kindesmord durch -- 814.
Ertränkungsflüssigkeit 572,
-- in den Lungen 575,
-- im Magen 577,
-- im Darm 578,
-- in den Paukenhöhlen 578,
postmortales Eindringen der -- 578,
Resorption der -- 576, 587,
Transsudation der -- 587.
Ertrinken 572,
Selbstmord durch -- 579,
Vorgang beim -- 572,
Mord durch -- 579,
zufälliges -- 580,
-- in Fruchtwässern 782, 784.
Ertrunkene, äussere Befunde bei -- 503,
innere Befunde bei -- 506,
Epidermis bei -- 574, 584,
Gänsehaut bei -- 573,
vitale Verletzungen bei -- 580,
postmortale Verletzungen bei -- 582,
Strangfurchen bei -- 583,
gebundene Extremitäten bei -- 580,
wiederbelebte -- 587.
Erwerbsfähigkeit 315, 316.
Erwürgen 564,
äussere Befunde nach -- 566,
innere Befunde nach -- 567.
Erysipel bei Wunden 341.
Erythem durch Verbrennung 598, 602.
Erythema nodosum vel contusiforme 275.
Essigsäure 659.
Exaltation, maniakische 924,
-- nach Vergiftungen 952.
Excoriationen 270.
Exhibitionisten 910.
Exhumation 7, 20, 647.
Explosionen, Verletzungen durch -- 284, 312, 517,
Verbrennung durch -- 599.
Explosionsgase bei Schussverletzungen 297, 303.
Extractum filicis maris 728.
Extrauterinschwangerschaft 198.
Extravasate v. Sugillationen, intra- und extracranielle -- 451, 454.
Extremitäten, Verlust von -- 333, 345,
Verletzungen der -- 496.
F.
Facultätsgutachten 7, 38.
Fäulniss, äussere Erscheinungen der -- 828,
innere Erscheinungen der -- 829,
äussere Bedingungen der -- 831,
innere Bedingungen der -- 836,
-- Gase 829,
-- als Ablehnungsgrund 20, 25,
Blutleere des Herzens etc. durch -- 354, 830,
Resistenz der einzelnen Organe gegen -- 837,
-- bei Wasserleichen 584,
Blasenbildung durch -- 829,
trübe Schwellung durch -- 830,
-- bei Vergiftungen 645,
Bildung giftiger Körper (Ptomaine) durch -- 650, 731,
-- der Lungen Neugeborener 745,
Organismen bei -- 835,
Resistenz von Kleidern und Effecten gegen -- 842.
Fahrlässige Verletzung und Tödtung 265, 266, 268.
Farben, giftige 645, 646, 678.
Fehlgeburt v. Abortus.
Fettembolien 355.
Fettwachs 587, 832.
Fieberhafte Erkrankungen, Abortus bei -- 222,
Delirium bei -- 954, 995.
Filicinsäure 728.
Finger, Verletzungen der -- 315, 334, 345,
--nägel bei fraglicher Identität 871,
--nägelspuren 271, 566.
Fische, giftige 732.
Fissuren des Schädels 458,
in -- eingeklemmte Haare 461.
Fisteln der weibl. Genitalien 80, 494.
Flamme, Verbrennung durch -- 595, 599,
Dauer der Einwirkung der -- 606.
Fleischvergiftung 732.
Fötus v. Frucht.
Folie raisonnante 899,
Dispositionsfähigkeit bei -- 987,
Beschuldigungen Anderer bei -- 1007.
Fracturen, des Schädels 455,
-- des Kehlkopfes 330, 471, 524, 552, 568,
-- des Zungenbeines 471, 524, 567,
-- der Wirbelsäule 472, 473, 536, 584,
-- der Rippen 474,
-- des Beckens 484,
-- von Extremitäten 497,
-- bei Sturzgeburt 808.
Frucht in den einzelnen Perioden der Schwangerschaft 220,
Erkrankungen und Absterben der -- 224, 775,
Retention der abgestorbenen -- 225,
Wirkungen von Giften auf die -- 227,
Beschädigung der -- beim Eihautstich 250,
intrauterine Verletzungen der -- 775,
macerirte -- 225, 778.
Fruchtabtreibung 212,
gesetzliche Bestimmungen über -- 212,
Geschichte der -- 213,
Ursachen der -- 214,
gewerbsmässige -- 215,
Folgen der -- 252,
Diagnose der -- 216,
versuchte -- 216,
Statistik der -- 214,
-- durch innere Mittel 225,
-- durch mechanische Mittel 243,
-- durch Erschütterung des Bauches 244,
-- durch Massage 244, 250,
-- durch Eihautstich 245, 250,
-- durch Blutentziehungen 251,
-- durch Einführung fremder Körper in den Uterus 245, 247, 249,
-- durch Injectionen 246, 249, 260,
-- durch Elektricität 252,
subjective Empfindungen bei mechanischer -- 248,
Vergiftungen durch -- 253,
Verletzungen bei der -- 254,
Sepsis nach -- 253.
Fruchtabtreibungsmittel, innere 225,
Wirkungsart innerer 226,
Beurtheilung innerer 241,
ungeeignete -- 241,
mechanische -- 243.
Fruchtwasser, Aspiration von -- 782,
Ertrinken im -- 784.
Frühgeburt 190.
Fuchsin 678.
Fühlen, Anomalien des moralischen -- 52, 96, 170, 896,
des geschlechtlichen -- 903.
Fussspuren 422, 423.
G.
Gänsehaut 578.
Gangrän der Genitalien 54, 142, 489,
-- nach Vergiftungen 231, 684, 710.
Gasaustausch, Störung des fötalen -- 780.
Gase, giftige 621, 693, 699, 711,
Verbrennung durch heisse -- 595, 599,
Fäulniss-- 829.
Gastroenteritis toxica 624.
Gaumen, Verletzung des -- 330, 814.
Gebärmutter v. Uterus.
Gebühren der Gerichtsärzte 10, 11, 16,
-- der Chemiker v. Chemiker.
Geburt, fragliche 179, 204,
Athmen des Kindes während der -- 751, 782,
Absterben der Frucht vor der -- 224, 775,
während der -- 780,
nach der -- 790,
Sturz-- 796,
Ohnmacht bei der -- 816.
Geburtsgeschwulst 774, 785.
Gedächtniss bei Schwach- und Blödsinnigen 888, 978,
-- -Schwäche bei Zeugen 1002, 1003.
Gefässe für Leichentheile Vergifteter 616, 644.
Gegenwehr, Spuren geleisteter -- 146, 399, 538.
Gehirn, Erschütterung des -- 452,
Ruptur des -- 280,
-- Verletzung des -- 448,
Contusion 318, 319, 463,
-- -Substanz auf Werkzeugen 448,
-- bei Erstickung 512, Hodenatrophie
nach Verletzung des -- 62,
--windungen bei Neugeborenen 221, 772,
Fäulniss des -- 838.
Gehör, Verlust und Schwächung des -- 332, 346, 468.
Geisteskranke, geschlechtlicher Missbrauch von -- 156,
körperliche Anomalien bei -- 957,
psychische Grundthätigkeiten bei -- 960,
Examen der -- 961,
Selbstanklagen der -- 1004,
Beschuldigungen Anderer durch -- 1006,
Zurechnungsfähigkeit -- 886, 915,
Dispositionsfähigkeit --r 971,
Verhandlungsfähigkeit --r 1002.
Geistesstörung nach Nothzucht 162,
-- nach Verletzungen und Misshandlungen 318, 348,
unheilbare -- 321, 335,
Selbstmord bei -- 390,
Aufschub des Strafvollzuges wegen -- 874,
-- als Ehescheidungsgrund 874,
angeborene -- 886,
erworbene -- 915,
Eintheilung der --en 916,
Ursachen der -- 959,
Examen bei -- 961,
Allgemeines bezüglich der Untersuchung wegen -- 957,
Simulation von -- 966.
Geistesthätigkeit, krankhafte Störung der -- 968.
Geisteszustand vor Gericht 873,
-- der Zwitter 96,
-- vor der That 957,
-- zur Zeit der That 961,
-- nach der That 964.
Gelenksbeugen, Selbstmord durch Schnitte in die -- 403.
Genitalien, Entwicklung der -- 83,
jungfräuliche -- 102,
Deflorationszeichen an den -- 117,
Zerreissungen der -- 127, 166,
blennorrhoische Affection der -- 137,
ulceröse Processe an den -- 140,
künstliche Erweiterung der -- 160,
nach der Entbindung 204,
nach Abortus 217,
Verletzungen der -- 489,
-- bei faulen, verstümmelten oder verkohlten Leichen 837, 846.
Gerichtsarzt v. Sachverständige,
Gebühren des -- 10, 11, 16,
Vorbildung des -- 27,
Stellung des -- 44,
wann wird ein -- in Anspruch genommen? 47.
Gerinnung des Blutes 368, 507.
Geruch des Mageninhaltes etc. 630.
Geschäftsfähigkeit 986.
Geschlechtsbestimmung bei Zwittern 85,
-- bei faulen oder verstümmelten Leichen 837, 844, 846,
-- am Skelet 847.
Geschlechtsreife bei Knaben 58,
-- bei Mädchen 71.
Geschlechtstrieb, Fehlen des -- 51,
abnorme Aeusserungen des -- 51, 170, 903,
-- bei Zwittern 90, 94,
gesetzwidrige Befriedigung des -- 96.
Geschrei Neugeborener 739.
Geschwüre, virulente 140, 144, 160.
Gesetzbuch, österr. allgemeines bürgerliches, betreffend: die
Zeugungsfähigkeit 47,
-- die Schwangerschaft und Geburt 179,
-- Verletzungen und gewaltsamen Tod 267,
-- Dispositionsfähigkeit 971, 975, 991,
-- Testamente und Eheschliessungen 971, 991.
Gesicht, Verlust und Schwächung des -- 331, 346, 466,
Verletzungen des -- 335, 465,
--bildung 858,
Reconstruction des -- 865.
Gesundheitsstörung, gewaltsame 314, 335, 349, 733.
Gewalt, durch -- erzwungener Beischlaf 97, 145,
Spuren angethaner -- 146.
Gewebe, künstliche (Gewebsfasern) 448, 842.
Gewicht des Fötus 193, 220, 791,
-- der Placenta 221, 792, 818.
Gifte 28, 617,
-- als Abortiva 226, 240,
Selbstmord durch -- 652,
Verpackung von -- 617, 644,
Dosis der -- 618,
Weg der Einführung von -- 620,
Vehikel der -- 619,
Löslichkeit der -- 619,
Idiosyncrasie gegen -- 622,
Angewöhnung an den -- 622,
Ausscheidung der 628,
chemischer Nachweis der -- 640,
Spuren von -- im Organismus 641,
-- als Medicamente 642,
Beschäftigung mit -- 643,
in die Leiche gekommene -- 644,
Diffusion der - 636, 644,
-- in faulen Leichen 645, 650,
physiologischer Nachweis der -- 649,
mechanische -- 730,
organisirte -- 730.
Giftwirkung, Schnelligkeit und Intensität der -- 612, 618,
individueller Einfluss auf die -- 614,
Einfluss des Magenzustandes auf die -- 615.
Glas, gepulvertes 715.
Glied, Verlust eines wichtigen -- 347.
Glühwein als Abortivum 239.
Gonokokken 138.
Gonorrhoe v. Blennorrhoe.
Graberde, arsenhältige 646,
Uebergabe der -- an den Chemiker 647.
Greise, Befruchtungsfähigkeit der -- 59,
Blödsinn der -- 928, 980,
Verfolgungswahn der -- 929, 981.
Grössenwahn 927,
-- der Paralytiker 932.
Grünspan 667.
Grundthätigkeiten, psychische 960.
Guajakprobe auf Blut 434.
Gutachten 7, 32,
Form und Inhalt des -- 33,
abgesondertes -- 33,
Verlesung des -- bei der Hauptverhandlung 9, 43,
Mängel und Widersprüche im -- 38,
-- der Facultät oder einer Fachbehörde 7, 16, 17, 38,
mündliches -- bei der Hauptverhandlung 43,
-- bei Obductionen 33, 267,
-- bei körperlicher Beschädigung 268,
Prüfung des -- durch den Richter 37.
H.
Haare 27, 440,
Scham-- 87, 131, 445, 844,
-- von Thieren 442,
menschliche -- 411,
ausgerissene -- 447,
Woll-- 442,
-- von verschiedenen Körperstellen 445,
-- auf Werkzeugen 441,
Farbe der -- 442, 445, 859,
Endigungen der -- 446,
Frauenkopf-- 444, 844,
in Fissuren eingeklemmte -- 461,
Abgang der -- bei Wasserleichen 585,
-- bei faulen, verstümmelten oder verkohlten Leichen 859,
arsenhältige -- 645,
--wuchs bei Verbrechern 959.
Habitus bei Zwittern 86,
-- bei Leichen 857.
Hämatin 276, 435, 630, 637.
Hämatoidinkrystalle in Suffusionen 276.
Hämatom der Dura mater 371,
-- des Kopfnickers 814.
Hämatoporphyrin 431, 436.
Häminkrystalle 437.
Hämoglobin, Nachweis des -- in Blutspuren 432,
Spectrum des -- 433,
Dichroismus des -- 434,
Ozonübertragende Eigenschaft des -- 434,
Zersetzung des -- im Magen 630, 637.
Hände, Verlust der -- 330, 333, 345,
Waffe in den -- von Selbstmördern 402, 410,
Epidermis der -- bei Wasserleichen 564, 585,
Pulverschwärzung der -- 410,
Verletzung der -- bei Selbstmord durch Schuss 411,
Abdruck blutiger -- 422,
gebundene -- bei Erhängten und Wasserleichen 545, 580,
-- bei Leichen Unbekannter 870.
Haftpflicht 316.
Hallucinationen 151, 919, 950.
Hals, Verletzungen des -- 393, 471,
Compression des -- bei Strangulation s. diese,
zufällige Druckspuren am -- s. Druckmarken.
Halsabschneiden, Selbstmord durch -- 393,
Mord durch -- 397.
Hammer, Schädelverletzung durch -- 456.
Harn bei Vergiftungen 628.
Harnblase, Verletzungen der -- 484,
-- bei Neugeborenen 762.
Harnröhre, Anomalien der -- 65,
Stricturen der -- 68,
Verletzungen der -- 484.
Harnsäureinfarct 763.
Hauptverhandlung 8, 17, 40.
Haut, Resistenz der -- 283, 284,
grüne Färbung der -- 828,
Spaltbarkeit der -- 289,
Retraction der -- 363,
Ecchymosen der -- 365, 505, 683,
Berstungen der -- bei Verbrannten 604,
Vergiftungen durch die -- 620,
Farbe der -- bei Vergiftungen 629,
-- Vertrocknung postmortale 272, 828,
-- bei Ertrunkenen 573,
-- defecte, angeborene 776.
Hautaufschürfung 270,
Verhalten der -- in vivo und an der Leiche 271,
postmortale -- 272.
Helleborus 728.
Hepatitis haemorrhagica 687.
Herabstürzen, Verletzungen durch -- 285, 416,
Selbstmord durch -- 416,
Mord durch -- 417,
-- in’s Wasser 581.
Hermaphrodismus 82,
-- verus 83,
forensische Seiten des -- 85, 93.
Hermaphroditen v. Zwitter.
Hernien als Begattungshinderniss 54, 69,
-- des Zwerchfells 482,
-- nach Misshandlungen 484,
-- als Unfallsfolge 487,
Rupturen des Darmes in -- 483.
Herpes praeputialis 141.
Herz, Stichwunden des -- 474,
Lähmung des -- 355, 356,
Rupturen des -- 282, 474,
Schusswunden des -- 413, 481,
Ecchymosen am -- 514.
Herzschlag in der Asphyxie 503.
Herztöne der Frucht 185.
Hiebe mit Stöcken, Ruthen etc. 273.
Hiebwunden 287,
-- des Schädels 287,
Selbstmord durch -- 419.
Hinrichtung durch den Strang 534, 537,
-- durch Erdrosseln 554,
-- durch Elektricität 611.
Hirnerschütterung 452.
Hirnsubstanz auf Werkzeugen 448.
Hitzschlag 595, 926.
Hoden, Mangel der -- 56,
nicht erfolgter Descensus der -- 57,
Functionsfähigkeit der -- 58,
Atrophie der -- 60,
Verlust der -- 489.
Hodensack der Ertrunkenen 574, 585.
Hunger, Tod durch -- 592.
Hymen 104,
-- annularis 105,
-- semilunaris 106,
Atresie des -- 82, 105,
-- labiiformis 106,
Einkerbungen am -- 106,
-- fimbriatus 107,
gelappter -- 107,
-- septus 109, 120,
Entwicklung des -- 110,
-- partim septus 111,
-- cribriformis 112,
-- mit 3 Oeffnungen 113,
Festigkeit des -- 113,
Faltung des -- 114,
Erhaltung des -- trotz Coitus 115,
Dehnbarkeit des -- 13, 116,
Defloration des -- 117,
Verheilung des deflorirten -- 121,
Untersuchung des -- 122,
Verletzung des -- durch Sprung etc. 123,
Verletzung des -- durch fremde Finger 126, 166,
Verletzung des -- durch Onanie 124, 889,
Verletzung des -- von Innen 127,
Zerstörung des -- durch Geschwüre etc. 126,
Fehlen des -- 127,
-- bei der Entbindung 118, 130, 209,
-- beim Abortus 118, 218.
Hyosciamin 727.
Hypnose, Nothzucht während -- 155.
Hypospadie 66,
--, traumatische 490.
Hypostasen 820,
äussere -- 820,
innere -- 822.
Hysterisches Irrsein 940,
Beschuldigungen Anderer beim -- 1007.
IJ.
Identität 839.
Idiosyncrasie gegen Gift 622.
Illusionen 151, 919, 957.
Imbibition 820, 828, 829,
Blutleere des Herzens etc. durch -- 355, 830,
-- der Gifte durch den Magen in die Nachbarorgane 636, 644.
Immunität gegen Gift 623, 649.
Impotentia coëundi beim Manne 49,
-- in Folge psychischer Einflüsse 53,
-- während schwerer Krankheiten 55, 193,
-- bei Alkoholismus und Morphinismus 63,
-- bei traumatischer Neurose 477,
-- beim Weibe 68.
Impotentia generandi beim Manne 56,
-- beim Weibe 71, v. auch Conception.
Impotentia gestandi 80.
Inanition 592.
Infection virulente 136,
-- mit Tripper 137,
-- mit Syphilis 140,
-- mit weichem Schanker 140.
Injectionen, Fruchtabtreibung durch -- 246, 249, 260,
-- von Morphium v. dieses,
Spuren subcutaner -- 362.
Initialsclerose, syphil. 140.
Insolation 595, 926.
Intoleranz gegen Alkohol 319, 949.
Intoxication v. Vergiftung.
Involution des Uterus 205.
Inunctionscur, Einfluss auf die Schwangerschaft 229.
Jod, Hodenatrophie nach -- 62.
Jodkalium als Abortivum 229, 243.
Jodoform 699.
Irrenanstalten, Unterbringung zu Untersuchender in -- 961,
Anzeigepflicht der -- 976,
Beschuldigung widerrechtlicher Detention in -- 1005.
Irrsein v. Geistesstörung; traumatisches -- 318,
paralytisches -- 319, 930,
epileptisches -- 321, 933,
moralisches -- 896,
impulsives -- 911,
periodisches und circuläres -- 914,
complicirtes -- 930,
hysterisches -- 940,
alkoholisches -- 944.
Jungfernhäutchen v. Hymen.
Jungfrauschaft, Zeichen der -- 102.
Juniperus sabina v. Sabina,
-- virginiana 237.
K.
Kälte, Tod durch -- 612.
Käsegift 732.
Kali chloricum, Vergiftung mit -- 667.
Kalilauge, Vergiftung mit -- 662.
Kalk, Verbrennung durch -- 595, 599.
Kampher 239.
Kehlkopf bei Zwittern 88,
Verletzungen des -- 330, 471, 534, 559, 567,
Compression des -- 564,
Ecchymosen im -- 516,
Verknöcherung des --es 855.
Kellerasseln, Benagung der Leichen durch -- 360.
Kennzeichen, besondere, an Leichen Unbekannter 866.
Kephalotripsie, Athem nach -- 803.
Kinder, Beischlaf mit -- 158,
Absterben der -- vor der Geburt 775,
-- während der Geburt 779,
-- nach der Geburt 790,
Geisteskrankheiten der -- 884,
Mord der eigenen -- 921,
Zurechnungsfähigkeit der -- 880,
Dispositionsfähigkeit der -- 973,
Vernehmungsfähigkeit der -- 1002, 1004,
Selbstmord der -- 385, 884,
Morde durch -- 884,
Bestrafung der -- 885.
Kindesbewegungen 185, 189.
Kindesmord 736,
Fragen bei Verdacht auf -- 737,
-- durch activen Vorgang 808,
-- durch Unterlassung des Beistandes 815.
Kindestheile, Fühlen der -- 185.
Kindesunterschiebung 182, 183.
Kindesweglegung 182.
Kirchhoferde, arsenhältige, v. Graberde.
Kleesalz 661.
Kleider, Untersuchung der -- 28,
Aufbewahrung der -- 32,
Blutspuren an --n 425,
Schutz der -- gegen Verbrennung 599,
--reste an verfaulten oder verkohlten Leichen 842, 843,
Verzögernder Einfluss der -- auf die Fäulniss 831,
-- mit Rücksicht auf Identität 840.
Kleinkaliber-Gewehre 305.
Klimacterium 73, 203.
Kloakengas 712.
Kloakenstoffe 783.
Klysmen, Verletzung durch -- 488,
Vergiftung durch -- 620, 654.
Knaben, Befruchtungsfähigkeit von -- 58.
Knallquecksilber, Verletzungen durch Explosion von -- 312.
Knebel im Munde von Erhängten 546,
-- bei Erdrosselten 559, 562.
Knochen, Fäulniss der -- 838,
Fracturen der -- 284, 455, 497,
Lageveränderungen der -- 284, 497,
Hiebwunden der -- 288,
Stichöffnungen in -- 295,
Schussverletzungen der -- 304, 309,
Fettembolien nach Fractur der -- 355,
Widerstandsfähigkeit der -- 362,
Calcinirung der -- 596, 604, 606, 865,
Arsen in -- 628, 677,
Geschlechtsunterschiede der -- 847,
Altersunterschiede der -- 849, 853,
besondere Kennzeichen an -- 872.
Knochenkerne bei Neugeborenen 221, 792.
Körperlänge 843, 849.
Körperverletzung, schwere 322, 344,
-- leichte 348.
Kohlendunst 699,
Selbstmord durch -- 700.
Kohlenoxyd, Einfluss des -- auf die Frucht 228,
Selbstmord durch -- 388, 389, 700,
-- im Blute verbrannter Leichen 605,
Vergiftung durch -- 699,
Krankheitsbild bei Vergiftung mit -- 703,
-- Blut 705,
Ausscheidung des -- 706,
Wirkung des -- 703,
Sectionsbefund nach Vergiftung mit -- 704,
Nachweis des -- 705,
Differentialdiagnose der --vergiftung 708,
Folgen nach --vergiftung 710,
Amnesie nach --vergiftung 710.
Kohlensäure, Vergiftung durch -- 711.
Kokkelskörner 725.
Kopfgeschwulst 774, 785.
Kopfverletzungen 450,
Geistesstörung nach -- 318,
-- durch stumpfe Gewalt 454,
-- durch Hieb 288,
-- durch Stich 295,
-- durch Schuss 306, 310, 413,
Folgen der -- 318, 331, 462, 465.
Krampfwehen 781.
Krankengeschichte 35.
Krankheit, unheilbare 335.
Kropftod 590, 756.
Kryptorchie 57.
Kunstausdrücke 36.
Kupfer, Spuren von -- im Körper 642, 645,
--salze 667.
L.
Lähmung, Verfall in -- 346, 462, 497.
Landrecht, preussisches, betreffend: Zeugungsfähigkeit 47,
-- Zwitter 93,
-- Paternität 180,
-- die Dispositionsfähigkeit 972,
-- Testamente 972, 991.
Laudanum liqu. Sydenhami, Vergiftung mit -- 631, 690, 692.
Laugenvergiftung 662.
Leben des Kindes nach der Geburt 737, 768,
-- ohne Athmen 752,
--sproben 739, 742, 761, 762, 764.
Lebensfähigkeit 790.
Lebensgefährliche Handlungen, Werkzeuge und Umstände 324, 349,
-- Verletzungen 328.
Leberatrophie, acute 687.
Leberblutprobe 763.
Leberrupturen 280, 283,
-- bei Neugeborenen 813.
Leibesbeschaffenheit, eigenthümliche 338, 376, 461, 491.
Leichen, verstümmelte und zerstückelte, -- 360, 817, 844,
faule -- 20, 22, 26, 354, 640, 828,
verkohlte -- 605,
Identität von -- 839,
einbalsamirte -- 645, 646,
Erkalten der -- 819,
Schändung von -- 903,
Conservirung von -- 646, 859,
--schau 7, 16, 25, 818, 839,
--öffnung v. Obduction,
--erscheinungen 818,
--fett 832.
Leichentheile, Uebergabe und Verpackung von -- Vergifteter 617, 640,
647,
giftige Extracte aus -- 650.
Leichenwachs 832.
Leichnam 15.
Leinenfasern 448.
Letalitätsgrade 337.
Leuchtapparat, Tod durch den Strom eines elektrischen -- 610.
Leuchten von Nahrungsmitteln etc. 651.
Leuchtgas, Vergiftung durch -- 701,
Geruch von -- 702.
Ligroin 698.
Linea fusca 186.
Lipoide Umwandlung 779.
Lippen, Verletzungen der -- 471,
Vertrocknungen der -- 273.
Lithopädion 196, 779.
Lochfracturen des Schädels 456.
Lochien 206.
Localaugenschein 28,
Blutspuren beim -- 401, 421.
Luftathmen nach der Geburt 738,
-- während der Geburt 751.
Lufteinblasen bei Neugeborenen 747.
Luftembolie, s. Embolie.
Lungen, --embolie 355, 395,
Ruptur der -- 474,
Stichwunden der -- 478,
Hyperämien der -- bei Erstickten 510,
Oedem der -- 511,
Ecchymosen an den -- 514,
Veränderungen der -- durch Luftathmen 740,
Volumen lufthältiger und luftleerer -- 740,
Farbe der -- 740,
Consistenz der -- 742,
specifisches Gewicht der -- 742,
--schwimmprobe 743,
--blutprobe 761,
--bläschen, lufthältige -- 742,
faule -- 745,
luftleere -- 752,
aufgeblasene -- 747,
angeborene Krankheiten der -- 755, 758,
nachträgliches Luftleerwerden der -- 758,
Ertränkungsflüssigkeit in den -- 575.
Luxation der Halswirbel 472, 536, 581,
-- von Extremitäten 497,
-- durch Sturz in’s Wasser 582.
Lymphorrhagien 369.
Lynchen 328.
Lysol 660.
Lyssa 279.
M.
Maceration der Frucht 225, 778,
-- von Leichen 354, 577, 778, 585, 832.
Maden an Leichen 835.
Magen, Rupturen des -- 280, 482,
Ecchymosen im -- 516,
Erschütterung der --gegend 482,
Zustand des -- bei Vergiftungen 623,
Erweichung des -- 637,
Ertränkungsflüssigkeit im -- 577,
-- bei Neugeborenen 764,
Stichwunden des -- 296.
Mageninhalt bei Vergiftungen 623, 630, 634,
-- in den Luftwegen 589.
Magenwand nach Vergiftungen 630.
Malthusianismus 48, 169, 215.
Mandeln, bittere 713.
Manie 924,
Handlungen bei -- 925,
transitorische -- 926.
Mannlicher-Gewehr 306.
Mariscae 174.
Martern 274, 328, 351.
Masochismus 908.
Mastdarm bei Päderastie 173,
Verletzungen des -- 488,
fremde Körper im -- 488,
Vorfall des -- 488.
Meconium 762, 773, 782.
Medicamente, gifthältige 642.
Medicin, gerichtliche 1,
Geschichte der gerichtlichen -- 1, 2,
Umfang, Inhalt und Stellung der -- 2.
Medicinalcollegien 39.
Melancholie 917,
-- nach Nothzucht 162,
-- nach Verletzungen 320,
Zwangs- und Wahnvorstellungen bei -- 919,
Gewaltacte bei -- 921,
Erschöpfungs- -- 956, 996, 1005.
Menstruation, Eintritt der -- 71,
frühzeitige -- 72,
Ausbleiben der -- 73, 182, 203,
-- bei Zwittern 92,
Fortdauer der -- bei Schwangeren 183, 202,
-- nach Ovariotomie 195,
Simulirung der -- 184,
Deciduabildung bei -- 219.
Messer, Stiche mit -- 287, 290, 293, 295, 324, 349,
Schnitte mit -- 285,
-- in der Hand von Selbstmördern 402,
Hineinrennen in’s -- 405.
Metastasen, pyämische 374.
Methämoglobin 434.
Methylalkohol 697.
Miesmuscheln, giftige 733.
Milchsecretion, Eintritt der -- 185,
-- bei Entbundenen 205.
Milderungsumstände 874.
Milz, Ruptur der -- 281, 283,
-- bei Erstickung 513.
Milzbrand 732.
Missgeburt 795.
Mole 200, 224.
Monstra 795.
Mord 263, 268,
-- durch Halsabschneiden 397,
-- durch Schnitte in die Gelenksbeugen 403,
-- durch Erhängen 538,
-- durch Erdrosseln 557,
-- durch Erwürgen 566,
-- durch Ertränken 579,
-- durch Gift 651,
-- durch Verbrennung 601.
Morphin 689,
Betäubung durch -- 148,
Angewöhnung an -- 622, 691,
Nachweis des -- in faulen Leichen 648,
v. auch Opium.
Morphinismus 953,
Impotenz bei -- 63.
Mumification 676, 831.
Muscarin 728.
Muskeln, Retraction der verletzten -- 364,
Rupturen von -- bei Erhängten 532,
postmortale Reizbarkeit der -- 818.
Mutterkorn v. Secale cornutum.
Mutterkuchen v. Placenta.
Muttermund v. Cervix.
N.
Nabelbläschen 220.
Nabelgefässe 763, 770, 773, 800,
Abnormität der -- 807.
Nabelschnur, Länge der -- 220, 780,
Torsionen der -- 224,
Verhalten der -- nach der Geburt 770,
Ausreissen der -- 771, 798,
abgerissene -- 800,
abgeschnittene -- 801,
Compression der -- 780,
Vorfall und Umschlingung der -- 780,
Verblutung aus der -- 790, 886,
-- bei Sturzgeburt 798,
absichtliche Nichtunterbindung der -- 815,
Strangulation durch die -- 563,
velamentöse Insertion der -- 790.
Nachempfängniss 194.
Nachtwandeln 957.
Nacken, Verletzungen des -- 472.
Nägel, Abgang der -- bei Wasserleichen 586,
v. Fingernägel.
Narben am Hymen 121, 208,
-- nach Geschwüren 126,
Schwangerschafts-- 207,
-- am Muttermund 211,
entstellende -- 335, 465.
Narcotica, arglistige Betäubung durch -- 96, 147,
Symptome der Vergiftung mit -- 625, 691,
Einfluss der -- auf die Frucht 228.
Nase, Verlust der -- 465,
Ecchymosen und Blutungen an der Schleimhaut der -- 516,
-- bezüglich Identität 862.
Natronlauge 662.
Natronprobe 705.
Necrophilie 903.
Necrosen, symmetrische, nach CO-Vergiftung 710,
-- nach Phosphorvergiftung 684.
Nephritis, Abortus bei -- 223.
Neugeborenes, Leben des -- 737,
erster Athemzug des -- 738,
Geschrei des -- 739,
Resistenz des -- gegen Asphyxie 756,
Begriff des -- 769,
Kennzeichen des -- 769,
Haut der -- 770,
Verdauungstractus bei -- 772,
Todesursache des -- 775,
Lebensfähigkeit des -- 790,
Reife des -- 791,
absichtliche Tödtung des -- 808, 815,
zerstückelte Leichen -- 817.
Neurasthenie 913.
Neurose, traumatische 321, 476.
Nicotin 725,
Immunität gewisser Thiere gegen -- 649.
Nitrobenzol 720.
Nitroglycerin, Verletzungen durch -- 284, 312,
Vergiftung mit -- 721.
Noma 126, 141.
Nothzucht 97, 101, 144,
-- an wehr- oder bewusstlos Gemachten 147,
-- an anderweitig Wehr- oder Bewusstlosen 150,
-- im Schlafe 154,
-- im hypnotischen Zustand 155,
-- in der Chloroformnarcose 148, 151,
-- an Geisteskranken 156,
-- an Kindern 156,
-- an alten Weibern 158,
Folgen der -- 159,
Tod nach -- 162,
Conception nach -- 163.
Nymphen, Verhalten der -- 103, 127.
Nymphomanie 125.
O.
Obduction 7, 16, 22, 25, 26, 267,
-- Protokoll 26,
-- Bericht 16, 33,
-- bei Verdacht auf Vergiftung 616, 647,
-- Neugeborener 736, 743.
Oedem, Lungen-- bei Erstickten 511.
Oele, ätherische, als Fruchtabtreibungsmittel 235.
Oesophagus, Stricturen des -- nach Vergiftungen 636,
Erweichung des -- 637.
Ohr, Verletzungen des -- 332, 468,
Blutung aus dem -- bei Erstickten 517, 523, 560,
--enprobe 767.
Oleum sabinae 235.
Onanie, Einfluss der -- auf die Zeugungsfähigkeit 53, 61,
Folgen der -- 162, 903,
Verletzung des Hymen durch -- 124, 889,
Zeichen der -- 125, 167.
Opium 689,
Wirkung des -- bei Kindern 622,
Geruch nach -- 630, 692,
Symptome bei --vergiftung 691,
Sectionsbefund nach --vergiftung 692,
Impotenz nach -- 63.
Organisation, originär-psychopathische 894,
Dispositionsfähigkeit bei -- 987.
Organismen bei Fäulniss 835.
Ossification bei Neugeborenen 792, 793,
--slücken am Schädel Neugeborener 808,
-- des Skelettes in der Wachsthumsperiode 853.
Osteogenesis imperfecta 812.
Ovarien, Atrophie und Defect der -- 76.
Oxalsäure 661.
Ozonprobe auf Blut 434.
P.
Pachymeningitis vasculosa 371.
Päderastie 168,
Geschichte der -- 169,
Ursachen der -- 170,
active -- 171,
passive -- 172,
Mastdarmblennorrhoe nach -- 173, 175,
erzwungene -- 176,
Folgen der -- 176,
-- mit Thieren 179.
Päderasten, weibliche Gewohnheiten der -- 176,
psychischer Zustand der -- 170, 904.
Pancreas, Blutungen in das -- 356.
Paralytisches Irrsein 319, 930,
Dispositionsfähigkeit beim -- 982.
Paukenhöhlen, Ecchymosen in den -- 516,
--probe bei Neugeborenen 767,
-- bei Ertrunkenen 578.
Pemphigus für Verbrennung gehalten 600,
-- der Neugeborenen 779.
Penis, Erection des -- 49,
Defecte des Penis 54,
Verletzungen des -- 146, 489.
Pental 696.
Peritoneum, Ecchymosen am -- 516, 684.
Personsbeschreibung bei Leichen Unbekannter 839, 843.
Petroleum, Verbrennung mit -- 601, 698,
Vergiftung mit -- 697.
Pfropf in Schusswunden 309, 410.
Phimose 68, 172.
Phosphor als Abortivum 240,
Mord durch -- 652,
amorpher -- 680,
Wirkung des -- 685,
Nachweis des -- 688,
Arsengehalt des -- 689.
Phosphorvergiftung 680,
Ecchymosen bei -- 684,
Krankheitsbild bei -- 680,
Sectionsbefund nach -- 682,
Differentialdiagnose der -- 686,
Gangrän nach -- 684.
Photographie der Leichen Unbekannter 858.
Picrotoxin 725,
Wirkung des -- auf Fische 649.
Pigmentbildung bei Schwangeren 186.
Pilocarpin 230.
Pistolenschuss 297, 304, 306.
Placenta, Retention der -- 200, 204,
vorzeitige Lösung der -- 781,
Gewicht und Grösse der -- 221, 792, 818,
Krankheiten der - 224,
Zwillings-- 818.
Placentarathmung, Unterbrechung der -- 780.
Pleura, Ecchymosen unter der -- 514.
Plexus solaris, Erschütterung des -- 280, 357.
Pneumonie, Abortus bei -- 222,
-- nach Verbrennung 601,
-- im Verlaufe von Verletzungen 373,
-- alba 755, 795,
Contusions-- 473.
Prellschüsse 311.
Priorität der Todesart 377.
Prognose, bei traumatischer Geistesstörung 321,
-- nach Verletzungen 329, 380.
Projectil 301, 307, 311,
Formveränderung des -- 307,
-- bei Selbstmördern 407.
Protokoll über den Augenschein 5, 7, 29, 43.
Pseudohermaphrodisie 82.
Psychisches Verhalten, angeborene Unterschiede des -- 894.
Psychopathologie, gerichtliche 857.
Ptomaine 650, 732.
Pubertät 58, 71,
Selbstmord in der Zeit der -- 385,
Verhalten des Skelets in der -- 854,
Einfluss der -- auf Geistesstörungen 884, 903.
Puerperalpsychosen 956, 1005.
Pulverflamme 298, 303.
Pulvergase, unmittelbare Wirkung der -- 297, 300.
Pulverschwärzung 299, 301,
-- der Hände 410.
Pupillarmembran 791.
Pupillen beim Erstickungstod 506,
-- nach dem Tode 819,
-- bei Morphiumvergiftung 691,
-- bei Atropinvergiftung 726.
Pyämie 342, 358, 374.
Pyridinbasen 697.
Q.
Qualen, besondere 274, 328, 351.
Quecksilber, Einfluss von --curen auf die Schwangerschaft 229,
Schuss mit -- 409,
--haltige Medicamente 642,
-- im Körper von Spiegelarbeitern 643,
Vergiftung mit --salzen 665.
Quellung dicker Epidermislagen bei Wasserleichen 574, 577, 585.
Querulantenwahn 920.
Quetschwunden 277.
R.
Rachitis foetalis 812.
Railway-spine 476.
Rainfarren 239.
Raptus melancholicus 918, 922.
Rauch, Erstickung in -- 699.
Rausch 454, 947,
Zurechnungsfähigkeit im -- 945,
Dispositionsfähigkeit im -- 972, 989,
abnorme --zustände 947,
-- durch Chloroform etc. 952.
Raute 239.
Ratten, postmortale Benagung durch -- 359, 817.
Reactionserscheinungen, vitale 363.
Reagentien, Reinheit der -- 645.
Rectum v. Mastdarm.
Regulativ, preussisches, für gerichtliche Obductionen 20, 26, 34,
616, 640, 730.
Reife Neugeborener 792.
Respiration, Veränderung der Lungen todtgeborener Kinder durch
künstliche -- 747, 748.
Retina, Ecchymosen an der -- 516.
Retraction, vitale 363.
Retroflexion des Uterus v. Uterus.
Revision gerichtsärztlicher Protokolle und Gutachten 39.
Revolver, Verletzungen durch -- 298, 301, 303, 310.
Rippen, Fracturen der -- 474.
Rückenmark, Erschütterung des -- 476.
Ruptur der schwangeren Tuba 199,
-- des Uterus 200, 256,
-- innerer Organe 280,
-- der Leber 280, 283,
-- der Milz 281,
-- des Magens 283, 483,
-- der Gedärme 283, 483,
-- der Lungen 474,
-- der Nieren 280, 284,
-- des Herzens 283, 475,
-- des Trommelfells 469, 581,
-- der Halsmuskeln bei Erhängten 532,
-- der Trachea 472,
-- der Aorta 282, 475, 481,
-- der Intima carotis 482, 535,
-- der Harnblase 484,
-- der Haut verbrannter Leichen 604.
Ruta graveolens 239.
S.
Sabina 235,
Abortus durch -- 236,
mikroskopisches Verhalten von -- 238.
Sachverständige 1,
öst. St.-P.-O. betreffend -- 5,
öst. St.-G. betreffend -- 13,
deutsche St.-P.-O. betreffend -- 14,
deutsche C.-P.-O. betreffend -- 18,
Entlohnung der -- 10, 11, 16,
falsche Aussagen der -- 14, 18,
Nichterscheinen des -- 6, 9, 15, 17, 20, 42,
Ladung der -- 8, 10, 17, 41,
Wahl der -- 6, 14, 18,
Defensional-- 42,
Ablehnung von -- 6, 8, 14, 18, 42,
Schutz der -- 13, 45, 265,
Vernehmung der -- 9, 17, 18, 43, 45,
Professoren als -- 19,
Zeugen als -- 15, 19,
behandelnder Arzt als -- 19,
Oeffentlich angestellte Aerzte als -- 21,
Verpflichtung zur Function als -- 20,
Zahl der -- 21, 22, 25, 41,
-- Zeugen 18.
Sadebaum v. Sabina.
Salpetersäure 658.
Salzsäure 657.
Samenflecke 27, 131.
Samenwege bezüglich Potenz 64.
Saphismus 168.
Sarg bei Exhumationen 645, 647,
Verzögernder Einfluss des --es auf die Fäulniss 831,
--geburt 829.
Schaben, postmortale Benagung durch 359.
Schädel von Verbrechern 902,
Schusswunden am -- 304, 306, 310, 413,
Stichwunden des -- 295,
Hiebwunden am -- 288,
Verletzungen der --decken 278,
Verletzungen des -- 450,
postmortale Verletzungen des -- 808,
Fracturen des -- 457,
Lochfracturen des -- 455,
Fissuren des -- 458,
Ossificationslücken am -- 338, 462, 808,
Sprünge und Löcher am -- durch Verbrennung 604,
Berstung des -- durch Kälte 614,
--brüche im Mutterleibe 777,
--brüche durch den Geburtsact 787,
--brüche durch Sturzgeburt 802,
embryonale Spalten am -- 809,
Kindesmord durch Verletzung des -- 808,
Altersveränderungen am -- 856.
Schändung 97, 126, 164,
Folgen der -- 167,
-- von Leichen 903.
Schamhaare v. Haare.
Schamlippen vor und nach der Defloration 103.
Schanker, Infection mit -- 140,
Differentialdiagnose des -- 141.
Schaum, blutiger, in den Luftwegen 511,
-- bei Ertrunkenen 573, 575.
Scheide v. Vagina.
Schienen, Tod auf den -- 418.
Schlaf, Nothzucht im -- 154,
magnetischer -- 155,
--trunkenheit 956.
Schlamm an Wasserleichen 586.
Schleimhautpolster in den Paukenhöhlen 767.
Schmiere, käsige 769.
Schnittwunden 285,
Selbstmord durch -- 393,
Mord durch -- 397.
Schreck, Einfluss von -- auf die Erection 53,
Folgen von -- 162, 733,
Verlust der Sprache nach -- 331,
Geistesstörung nach -- 321, 733.
Schrift Schwachsinniger 888,
-- der Paralytiker 933, 993,
hinterlassene -- von Selbstmördern 999.
Schulterbreite 804.
Schusscanal 303.
Schusswaffen bei Selbstmord 407,
-- in der Hand von Selbstmördern 410,
Zerspringen der -- 411,
Lebensgefährlichkeit von -- 325.
Schusswunden 297,
Eingangsöffnung von -- 297, 407,
Pistolen-- 297, 304, 306,
Revolver-- 298, 301, 410,
-- des Schädels 310,
Pulverschwärzung bei -- 299, 301, 410,
-- aus der Nähe 297,
-- aus der Ferne 301,
-- mit Spitzkugeln 302,
-- mit Militärgewehren 304, 311,
-- der Knochen 304, 306, 311,
Ausgangsöffnung von -- 309,
Projectil in -- 307, 407,
Schrot-- 311,
rinnenförmige -- 312,
Selbstmord durch -- 407,
Pfropf in -- 309, 410,
mehrere -- bei Selbstmord 411,
durch blinde Schüsse 408,
-- des Herzens 409, 412, 481,
-- des Kopfes 413.
Schwachsinn, angeborener 886,
-- erworbener 928, 931, 978.
Schwächung der Sprache 330, 346,
-- des Gesichtes 331, 345, 465,
-- des Gehöres 332, 346, 368.
Schwangerschaft, fragliche 182,
Zeichen der -- 182,
Verheimlichung der -- 184,
Periode der -- 187,
Dauer der -- 189,
Anomalien der -- 194,
extrauterine -- 198, 779,
Conception während der -- 194,
-- im verkümmerten Horn eines zweihörnigen Uterus 199,
interstitielle -- 199,
Molen-- 200,
Verkennen der -- 201,
-- im Kindesalter 72,
--snarben 207,
Verletzungen während der -- 224, 244, 495.
Schwämme, giftige 728.
Schwefelsäure, Vergiftung mit -- 654,
Krankheitsbild bei --vergiftung 654,
Sectionsbefund nach --vergiftung 655,
Wirkung der -- 657,
Verbrennung durch -- 865, 595.
Schwefelwasserstoffvergiftung 712.
Schweinfurter Grün 678.
Schwellung, trübe, nach Verbrennung 600,
-- nach Vergiftung 638,
-- durch Fäulniss 830.
Schwingungen, Lufthältigwerden der Lungen durch Schultze’sche -- 748.
Secale cornutum 231,
Wirkung des -- 232,
Abortus durch -- 233,
mikroskopisches und chemisches Verhalten des -- 234.
Sehvermögen, Verlust des -- 331, 346, 466.
Seide, mikroskopisches Verhalten der -- 448.
Selbstanklagen Geisteskranker 1004.
Selbsterdrosslung 559.
Selbsthilfe, Verletzungen des Kindes durch -- 814.
Selbstmord 383,
Statistik des -- 384,
-- durch Erschiessen 387, 407,
-- durch Erhängen 387, 538,
-- durch Erdrosseln 557,
-- durch Erwürgen 565,
-- durch Ertränken 579,
-- durch CO 387, 388, 700,
-- durch Sturz 416,
-- durch Gift 652, v. die einzelnen Gifte,
-- durch Ueberfahrenlassen 419,
-- durch Halsabschneiden 393,
-- durch Schnitte in die Gelenksbeugen 403,
-- durch Stich 404,
-- durch Schuss 407,
-- durch Hiebwunden 419,
-- bei Geisteskranken 390, 921, 998,
-- durch Verbrennung 601,
combinirter -- 398, 400, 403, 405, 415, 420, 541, 556, 559, 580,
653,
Nachahmung bei -- 389,
Ursachen des -- 390, 985,
Umstände bei -- 391,
Wahl der --sart 387,
gemeinschaftlicher -- 389, 522,
Verheimlichung des -- es 392, 990.
Selbstmörder, Alter der -- 384,
Geschlecht der -- 384,
Waffen in der Hand von --n 402, 410,
Dispositionsfähigkeit der -- 997,
hinterlassene Schriften von --n 999,
falsche Angaben der -- 392,
Obduction der -- 1000.
Selbstverbrennung 607.
Septicämie 253, 342, 358.
Sexualempfindung, conträre 52, 170, 904.
Shock 355.
Siechthum, immerwährendes -- 335, 486,
Verfall in -- 346, 480.
Simulation der Menses 184,
-- der Stimmlosigkeit 331,
-- der Taubheit 470,
-- von Geistesstörung 966,
-- von Sehstörungen 467,
-- von Mastdarmvorfall 488,
-- von Amnesie 947,
Dis-- von Wahnvorstellungen 964, 990.
Sinnesmangel, angeborener 891.
Sinnestäuschungen 919.
Sinnesverrückung 967.
Sinnesverwirrung 967.
Skelet des Neugeborenen 774, 792,
Geschlechtsunterschiede am -- 887,
Altersunterschiede am -- 853.
Skopzen 56, 489.
Sodomie 177.
Somnambulie 957.
Sonnenstich 595, 926.
Spalten, embryonale, am Schädel Neugeborener 809.
Spätgeburt 191.
Spectrum des Farbstoffes von Secale cornutum 235,
-- des Oxy-Hämoglobins 432,
-- des reducirten Hämoglobins 433,
-- des Methämoglobins 434,
-- des Hämatins und reducirten Hämatins 435,
-- des Hämatoporphyrins 436,
-- des Kohlenoxydhämoglobins 705,
-- des SH-Hämatins 713.
Sperma bei Knaben und Greisen 58, 59,
-- bei Zwittern 92,
Nachweis von -- 131,
--nachweis bei Päderastie 173,
--nachweis bei Sodomie 179,
Abgang von -- bei Erstickten 506,
--torrhoe 63,
--tinkrystalle 132,
-- bei ermordeten Frauen 131.
Spermatozoiden 132,
Aufsuchung von -- 133,
Mangel der -- 64, 136,
Lebensfähigkeit der -- 133, 506, 819.
Spitzkugel 302, 308,
--schüsse 302, 308.
Sprache, Verlust und Schwächung der -- 339, 346, 733.
Spuren von angethaner Gewalt und geleisteter Gegenwehr 146, 399,
-- von Sperma v. Samenflecken,
-- von Blut v. Blutspuren,
-- von Meconium v. dieses,
-- blutiger Hände oder Füsse 422.
Starrkrampf nach Verletzungen 358,
-- nach Vergiftung 723.
Statistik der Verurtheilungen in Oesterreich 4,
-- der unzüchtigen Attentate 158,
-- der Schwangerschaftssymptome 186,
-- der Schwangerschaftsdauer 189, 191,
-- des spontanen Abortus 222,
-- der Fruchtabtreibung 214,
-- der Uterusrupturen 259,
-- des Selbstmordes 384.
Sterbezustand, Dispositionsfähigkeit im -- 996.
Stichcanal 296.
Stichwunden 288,
Eingangsöffnung von -- 289,
-- mit conischen Werkzeugen 289,
-- mit kantigen Werkzeugen 291,
-- im Knochen 295,
-- in Weichtheilen 295,
-- mit Messern 89, 295,
-- am Thorax 478,
-- an den Genitalien beim Eihautstich 254,
-- des Herzens 479,
-- der Lungen 478,
Selbstmord durch -- 404,
Mord durch -- 405.
Strafgesetz, deutsches, betreffend: Zeugungsfähigkeit 48,
-- gesetzwidrigen Beischlaf etc. 98,
-- Kindesunterschiebung 181,
-- Fruchtabtreibung 213,
-- Verletzungen und gewaltsamen Tod 268, 344,
-- Vergiftung 616,
-- den Kindesmord 737,
-- die Zurechnungsfähigkeit 876,
-- die Dispositionsfähigkeit 972.
Strafgesetz, österreichisches, betreffend Sachverständige 13,
-- Zeugungsfähigkeit 47,
-- gesetzwidrige Befriedigung des Geschlechtstriebes 96,
Strafgesetz, österreichisches, betreffend: Schwangerschaft und Geburt
180,
-- Fruchtabtreibung 212,
-- Verletzungen und gewaltsamen Tod 263,
-- Vergiftung 616,
-- den Kindsmord 736,
-- die Zurechnungsfähigkeit 874.
Strafgesetzentwurf, österr., betreffend: Zeugungsfähigkeit 47,
-- gesetzwidrige Befriedigung des Geschlechtstriebes 97,
-- Fruchtabtreibung 213,
-- Verletzungen und gewaltsamen Tod 265,
-- Vergiftung 616,
-- den Kindesmord 736,
-- Zurechnungsfähigkeit 875,
-- Dispositionsfähigkeit 972.
Strafprocessordnung, deutsche, betreffend: Augenschein und
Sachverständige 14,
-- Hauptverhandlung 17,
-- Strafaufschub wegen Schwangerschaft und Krankheit 181,
-- Vergiftung 616,
-- den Kindsmord 736,
-- die Zurechnungsfähigkeit 877,
-- Verhandlungsfähigkeit 1002.
Strafprocessordnung, österr., betreffend: Augenschein und
Sachverständige 5,
-- die Hauptverhandlung 8,
-- Strafaufschub wegen Krankheit und Schwangerschaft 180,
-- Verletzungen und gewaltsamen Tod 267, 336,
-- Vergiftung 616,
-- den Kindesmord 736,
-- die Zurechnungsfähigkeit 875,
-- Verhandlungsfähigkeit 1002.
Strangfurche 524,
-- Verlauf bei Erhängten 524,
Arten der -- 527, 529,
Verschwinden der -- 530,
Läsionen unter der -- 531,
vitale oder postmortale -- 552,
mikroskopisches Verhalten der -- 553,
-- bei Erdrosselten 555,
mehrfache -- 527, 553, 556,
-- an verkohlten Leichen 605,
-- bei Wasserleichen 583,
falsche -- 563.
Strangmaterial 528.
Strangulation 518,
Blutung aus den Ohren nach -- 517, 528, 560,
Arten der -- 518,
zufällige -- 562,
Kindesmord durch -- 814,
Betäubung durch -- 147, 565,
Erscheinungen nach Wiederbelebung bei -- 569.
Streifschüsse 311.
Struma v. Kropftod.
Strychnin 722,
Krankheitsbild bei --vergiftung 723,
Sectionsbefund nach --vergiftung 724,
Nachweis des -- 648, 724.
Sturz, Selbstmord durch -- 416,
Mord durch -- 417,
Verletzungen durch -- 280, 285,
-- in’s Wasser 581.
Sturzgeburt 796,
Verletzungen durch -- 801,
Untersuchung der Mutter bei -- 798,
Nabelschnur bei -- 798,
Lungen bei -- 802,
Umstände bei -- 803.
Sublimat 620, 665.
Suggestion 941.
Sugillationen s. Blutunterlaufungen.
Superarbitrium 39.
Superfoecundatio 194.
Superfoetatio 195.
Syphilis, Infection mit -- 140,
Abortus bei -- 224,
-- der Neugeborenen 224, 795.
T.
Tabak s. Nicotin.
Tätowirungen 867,
Verschwinden von -- 869.
Tanacetum vulgare 239.
Tarif, Gebühren-- v. Gebühren.
Taschenmesser, Stiche mit -- v. Messer.
Taubheit 468,
simulirte -- 469.
Taubstumme, Zurechnungsfähigkeit der -- 891,
Dispositionsfähigkeit der -- 983.
Taxus baccata 238.
Temperamente, Verschiedenheit der -- 894,
hysterisches -- 941.
Temperatur, prä- und postmortale 819.
Terpentinöl 239.
Testamente, Dispositionsfähigkeit, fragliche, bei Verfassung von --
972, 975, 991, 993, 995,
sonderbare -- 994.
Tetanus v. Starrkrampf.
That, Beurtheilung der -- 961,
Motiv der -- 962,
Verhalten vor und während der -- 963,
Verhalten nach der -- 964.
Thiere, Unzucht mit -- 177,
Päderastie mit -- 179,
postmortale Verletzungen durch -- 359, 817, 835,
Bisswunden von -- 279,
physiologischer Versuch mit Giften an -- 649,
Immunität von -- gegen Gift 649.
Thierhaare 442.
Thujaarten 238.
Thymusdrüse, Ecchymosen an der -- 516,
vergrösserte -- 590, 756.
Tobsucht 924.
Tod, gewaltsamer -- 351,
natürlicher -- 370,
Zeitpunkt des -- 377, 380, 818,
Priorität des --es 377,
Blut bei raschem und langsamen -- 500,
plötzlicher natürlicher -- 624, 651.
Todesursache, nächste -- 352,
primäre -- 353,
secundäre -- 358,
Zusammenhang der -- mit Verletzungen 358,
Ausschluss anderer -- 370,
concurrirende -- 377.
Todtenbeschau v. Leichenschau, österr. Vorschrift über gerichtl. --
25, 616, 839,
preussisches Regulativ betreffend die gerichtliche -- 25, 616, 743.
Todtenflecke 820,
-- bei Erfrorenen 614,
-- bei Ertrunkenen 573,
-- bei Erstickten 503,
-- bei Kohlenoxydvergiftung 705,
-- bei Blausäurevergiftung 720.
Todtenstarre 824.
Todtschlag 263, 265, 268.
Todtschläger, Verletzung mit einem -- 455.
Tödtliche Verletzung 263, 351.
Tollkirsche 726.
Toxine v. Ptomaine.
Trachea, Verletzungen der -- 472,
Ecchymosen in der -- 516.
Transsudation 829,
-- ätzender und anderer Flüssigkeiten 636, 644.
Traumatisches Irrsein 318, 335, 348.
Traumzustände 956.
Tribadie 167.
Trichinen 730,
mikroskopische Untersuchung auf -- 617.
Tripper 137, 143.
Trommelfell, Ruptur des 469, 517, 581,
Ecchymosen am -- 516, 523.
Trunkenheit 945, 948.
Tubarschwangerschaft 198.
Tuberculose, nach Trauma 375.
U.
Ueberfahren, Selbstmord durch -- 418.
Ueberfruchtung 195.
Ueberlebungsfrage 377.
Ueberschwängerung 194.
Ueberwältigung einer Frauensperson 96, 99, 145.
Umstände des Falles 35,
erschwerende -- bei Verletzungen 329,
besondere -- 337,
-- bei Vergiftungen 651,
-- bei angebl. Sturzgeburt 803.
Unfallversicherungsgesetz 315, 316, 487.
Unterleib, Verletzungen des -- 482.
Unterschiebung eines Kindes 182, 183, 198.
Untersuchung, gerichtsärztliche 24, 28,
Gegenstände der -- 25.
Unzüchtige Handlungen 164.
Unzucht wider die Natur 167,
-- mit Thieren 177,
-- mit Personen desselben Geschlechtes 168.
Urämie 358, 625.
Uterus, Defect des -- 76,
Geschwülste des 78,
-- während der Schwangerschaft 184,
Ruptur des -- 200, 256, 260,
Vorfall des -- 70, 127, 491,
Lageanomalien des -- 77, 212,
schwanger gewesener -- 211,
jungfräulicher -- 211,
doppelter -- 197,
zweihörniger -- 199,
entbundener -- 204, 217,
-- nach Abortus 217, 253,
Wirkung innerer Mittel auf den -- 226,
Reizbarkeit des -- 226, 230,
Verletzung des -- beim Eihautstich 254,
Resistenz des -- gegen Fäulniss 837.
V.
Vagina, Defecte und Stenosen der -- 68, 78,
Veränderungen der -- durch Coitus 129,
-- nach der Entbindung 209,
-- nach Abortus 217,
Vorfall der -- 70, 491,
Vergiftung durch die -- 620,
Verletzung der -- 129, 254, 492.
Vaginismus 69.
Vaginitis 137,
Künstliche Erzeugung von -- 139.
Vagitus uterinus 751.
Variola, Narben am Hymen durch -- 126,
-- oder Hautmetastasen 374,
-- haemorrhagica 687.
Vehikel eines Giftes 619.
Venen, Lufteintritt in die -- 262, 356, 395.
Veranlagung, erbliche 958.
Veratrum 728.
Verblutung 199, 353,
-- aus Verletzungen der Clitorisgegend 120, 492,
-- aus der Nabelschnur 790, 886.
Verbrannte, Verletzungen bei -- 603,
Identität --r 607,
kohlenoxydhältiges Blut bei -- 605.
Verbrecher, anthropologische Studien an -- 900, 902.
Verbrennung 595,
-- durch Pulverflamme 298, 303, 599,
-- von Leichen 603,
Grade der -- 598,
Lebensgefahr nach -- 597,
Todesursache nach -- 597,
äussere Befunde nach -- 598,
-- durch Flamme 599,
-- durch Kalk 599,
-- durch ätzende Flüssigkeiten 595,
-- durch schlagende Wetter 599, 600,
die Differentialdiagnose der -- 600,
innerer Befund nach -- 600,
Mord und Selbstmord durch -- 601,
vitale und postmortale -- 602,
Knochensprünge nach -- 604,
Berstungen der Haut durch -- 604,
Selbst-- 607.
Verbrühung 595, 599.
Verfall in Siechthum oder Lähmung 346, 462, 645,
-- in Geisteskrankheit 348.
Verfettung v. Degeneration, fettige,
-- der Placenta 224.
Verfolgungswahn 920,
-- bei Kindern 884,
-- bei Alkoholikern 951,
-- bei Greisen 929, 981.
Verfügungsfähigkeit v. Dispositionsf.
Vergiftung 8, 17, 616,
Selbstmord durch -- 652,
gesetzliche Bestimmung über -- 616,
Obduction bei -- 616, 647,
-- mit Trichinen 730,
septische -- 731,
Magen bei -- 630,
Diagnose der -- 623,
Krankheitsbild nach -- 623,
Eintritt der ersten Symptome nach -- 626,
remittirende Form der -- 627,
Genesung nach -- 627,
Sectionsbefund nach -- 629,
Localbefunde nach -- 630,
Allgemeinbefunde nach -- 638,
Mageninhalt nach -- 622,
Magenwand nach -- 630,
Darm nach -- 621, 628, 634, 634,
Blut nach -- 634, 638,
chemischer Nachweis bei -- 640,
Exhumation wegen -- 645,
physiologischer Nachweis bei -- 641, 647,
-- von Thieren durch Erbrochenes etc. 649,
Umstände des Falles bei -- 651,
eigene oder fremde Schuld bei -- 652,
v. auch die einzelnen Gifte.
Verhandlungsfähigkeit 1002.
Verhungern 592.
Verkohlung 596, 603, 605,
zur -- erforderliche Zeit 606,
-- der Gewebe durch Schwefelsäure 657.
Verletzung, gesetzliche Bestimmungen über -- 263,
-- von Sachverständigen 264,
leichte -- 348,
schwere -- 314, 322, 344,
tödtliche -- 351,
lebensgefährliche -- 328,
-- mit lebensgefährlichen Werkzeugen 324, 349,
Fragen bei -- 269,
-- mit stumpfen Werkzeugen 270,
postmortale -- 272, 359, 542, 582,
-- durch Biss 280,
-- durch Hieb 287,
-- durch Schnitt 285,
-- durch Stich 288,
-- durch Schuss 297,
strafrechtliche Classification d. -- 313, 344,
Geisteskrankheit nach -- 318, 335, 348,
Zusammenwirken mehrerer -- 336,
bedingt und unbedingt schwere etc. -- 337,
Concurrenz von -- 377,
Prognose von -- 329, 380,
Entstehungsursache von -- 382,
-- des Kopfes 450,
-- des Gesichtes 465,
-- des Auges 466,
-- des Ohres 468,
-- des Halses 471,
-- des Thorax 473,
-- des Unterleibes 482,
-- der Genitalien 489,
-- der Extremitäten 496,
-- durch Thiere 359, 817, 835,
-- durch Zusammenstürzen aus anderer Ursache 361,
-- an Wasserleichen 580,
intrauterine -- 775,
-- Schwangerer 224, 244, 494.
Verlust der Sprache 339, 346, 733,
-- des Gesichtes 331, 345, 465,
-- des Gehörs 332, 346, 468,
-- der Zeugungsfähigkeit 332, 346,
-- eines Auges 336,
-- von Gliedern oder Gliedmassen 333, 347,
-- der Nase 336.
Vernehmungsfähigkeit v. Verhandlungsfähigkeit.
Vernix caseosa 769.
Vernunftberaubung 967, 975.
Verrücktheit primäre 917,
secundäre -- 929,
Dispositionsfähigkeit bei -- 988.
Verschüttetwerden 285, 591.
Versetzung in einen willen- oder bewusstlosen Zustand 147.
Verstümmelung 333.
Vertigo, epileptischer 935.
Vertrocknungen, postmortale 372, 828.
Verunstaltung 334, 348, 465, 468, 499.
Virulente Infection 136,
-- beim Manne 143.
Visionär-ekstatische Zustände 944.
Vorbesuche 16, 961, 976.
Vorfall des Uterus und der Scheide nach Trauma 491,
-- des Mastdarms 488,
-- der Nabelschnur 780.
Vorkopf v. Kopfgeschwulst.
Vulvovaginitis 138.
W.
Wachholderöl 237.
Wärme, Tod durch Entziehung von -- v. Erfrieren,
prä- und postmortale --steigerung 820,
Einfluss der -- auf die Fäulniss 834.
Waffen 26,
lebensgefährliche Anwendung von -- 324, 349,
Schuss-- bei Selbstmördern 407,
-- in der Hand von Selbstmördern 402, 410,
vergiftete -- 621.
Wahnsinn, melancholischer 920,
exaltirter -- 927,
religiöser -- v. Dämonomanie,
Dispositionsfähigkeit bei -- 975, 977, 978.
Wahnvorstellungen 919.
Wahrnehmungsvermögen, Schwäche des -- 1002.
Warzen und Warzenhöfe bei Schwangeren 186,
-- bei Entbundenen 205, 208,
-- nach Abortus 218,
-- bei Ertrunkenen 574.
Wasser, Verletzungen durch Sturz in’s -- 581,
wie lange lag die Leiche im -- 585,
Schuss mit -- 408.
Wasserleichen v. Ertrunkene, Verletzungen an -- 580, 582,
Auftauchen von -- 584,
Strangfurchen an -- 583,
Macerationserscheinungen an -- 574, 585,
Schlamm- und Algenbildungen auf -- 586,
beschwerte -- 580, 585.
Weg der Beibringung von Gift 620.
Wege fötale 737.
Wehrlosigkeit, absichtlich herbeigeführte 147,
zufällige -- 150.
Werkzeuge, Untersuchungen von -- 26,
Bestimmungen der Art des -- 269,
lebensgefährliche -- 324, 349,
stumpfe -- 270,
lebensgefährliche Anwendung von -- 326, 350,
Blutspuren auf -- 424,
Haare auf -- 440,
Hirnsubstanz auf -- 448.
Wetter, schlagende -- 589, 600.
Widersprüche im Befunde 7,
-- im Gutachten 7.
Widerstandsfähigkeit der Körpertheile im Leben und nach dem Tode 362.
Willenlosigkeit, absichtlich herbeigeführte 147,
zufällige -- 150.
Willensbestimmung, Willensfreiheit 877,
Schlussurtheil über -- 969.
Wirbelsäule, Verletzungen der 472, 476, 536, 581,
-- postmortale Verletzung der -- 360.
Wismuth 666.
Wochenbett 204.
Wolle, Schaf-- 448,
Baum-- 448.
Wollhaare 442, 770.
Würgen v. Erwürgen, Betäubung durch -- 147,
Folgen von -- 569.
Würgespuren 566.
Würmer in exhumirten Leichen 835.
Wurmfarren 728.
Wunden durch stumpfe Werkzeuge 277,
-- durch Biss 279,
-- durch Schnitt und Hieb 285,
-- durch Stich 288,
Schuss-- 297,
Reactionserscheinungen an -- 362,
Vergiftung von -- aus 621.
Wundkrankheiten, accessorische 341, 358.
Wurstgift 732.
Z.
Zähne bei Neugeborenen 193,
Verlust von -- 471,
Durchbruch der -- 853, 854,
Abnützung und Ausfall der -- 855,
individuelle Eigenschaften der -- 864,
Calcination der -- 865.
Zeichnungen, Beigabe von -- 5, 31.
Zermalmungen 284.
Zeugen, sachverständige 18.
Zeugungsfähigkeit, gesetzliche Bestimmungen über -- 47,
Verlust der -- 332, 346, 489,
-- der Zwitter 95,
Bedingungen der -- 48,
-- beim Manne 49,
-- beim Weibe 68.
Zopfabschneider 911.
Zuckersäure 661.
Zündhölzchen 680,
schwedische -- 680.
Zunge, Verletzungen der -- 331.
Zungenbein, Brüche des -- 472, 534, 567.
Zurechnungsfähigkeit, fragliche -- 874,
Bedingungen der -- 877,
Aufhebung der -- 879,
-- von Kindern und jugendlichen Personen 880,
-- weiblicher Individuen 885,
Allgemeines über Untersuchung wegen -- 957,
Schlussurtheil über -- 969,
geminderte -- 970.
Zustand der Wehr- oder Willenslosigkeit 147, 150, 151,
besonderer -- der Verletzten 340.
Zwang, unwiderstehlicher 967.
Zwangsvorstellungen 923.
Zwerchfell, Verletzung des -- 482,
angeborene Hernien des -- 482, 756.
Zwerge 855.
Zwischenursachen bei Verletzungen 337.
Zwitter 82,
Geschlechtstrieb bei -- 90,
Sperma bei -- 91,
Menstruation bei -- 92,
gesetzliche Bestimmungen über -- 93,
Unsittliche Handlungen der -- 94,
Zeugungsfähigkeit der -- 95,
Geisteszustand der -- 96,
Geschlechtsbestimmung der -- 85,
Kehlkopf bei -- 88,
Brustdrüsen bei -- 89,
Becken bei -- 88,
Bartwuchs bei -- 86.
[Illustration]
Druck von Gottlieb Gistel & Comp. in Wien.
Fußnoten:
[1] Vide +Mende+, Handb. d. ger. Med. 1819, I; +A. O. Goeliche+,
Medicina forensis cui praemissa est introductio in historiam
litterariam scriptorum, qui medicinam forensem commentariis suis
illustrarunt. Francof. ad viadrum 1723; +C. L. Schweickhard+, Tentamen
catalogi rationalis dissertationum ad medicinam forensem et politiam
medicam spectantium ab anno MDLXIX ad nostra usque tempora. Frankfurt
a. M. 1796; +Heinroth+, System der psychisch-gerichtlichen Medicin.
1825, pag. 549; +J. B. Friedreich+, Handb. d. gerichtsärztl. Praxis.
1843, I, pag. 5; +Sonnenkalb+, Deutsche Zeitschr. f. Staatsarzneikunde.
1859, XIV. Bd., pag. 274; +Krahmer+, Handb. d. ger. Med. 1857, 2.
Aufl., pag. 14; +Legrand du Saulle+, „Leçons médico-légale sur la
folie. -- Antiquité -- Époque romaine.“ Gaz. des hôp. 1870, Nr. 6 v.
8. Sept., 5 v. 8. Nov.; +Ortolan+, „Débuts de la médecine légale en
Europe“. Annal. d’hygiène publ. 1872, XXXVIII, 358; +E. Buchner+,
Lehrb. d. ger. Med. 2. Aufl., 1872, pag. 7 u. s. f. (mit ausführl.
Literaturangabe); auch +A. Pauly+, „Bibliographie des sciences
médicales“, Paris 1874, III, pag. 1272 bis 1275; +O. Oesterlen+,
„Ueber die früheste Entwicklung der gerichtlichen Medicin“. Schmidt’s
Jahrb. d. gerichtl. Med. CLXXVI, 166; +Kopp+, „Skizze einer Geschichte
der gerichtlichen Arzeneikunde“. Kopp’s Jahrb. I, 176; +Chaumenton+,
„Esquisse historique de la médecine légale en France“. Im Original
abgedruckt. Ibidem. II, 269; +Ch. Desmaze+, Histoire de la médecine
légale en France. Paris 1880; +H. Haeser+, Lehrb. d. Gesch. d. Med.
1881, II, pag. 1080-86; +L. Blumenstok+, „+Fortunatus Fidelis+, der
erste gerichtsärztliche Autor“. Ref. in Virchow-Hirsch’ Jahresber.
pro 1873, I, pag. 306, und 1884, I, pag. 439; +Ch. Masson+, Essai sur
I’histoire et le développement de la médecine légale. Lyon 1884: +W.
Reubold+, Demonstration eines sogenannten „Leibzeichens“. Würzburger
Berichte, October 1893 und „Zur Geschichte der gerichtlichen Section“.
Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1894, Nr. 1. Werthvolle Daten
über die Geschichte des gerichtlich-medicinischen Unterrichtes in Wien
finden sich in +J. Bernt+’s „Beiträgen zur gerichtlichen Arzneikunde“.
Wien 1818.
[2] In dieser Beziehung entnehmen wir den von der k. k. statistischen
Centralcommission herausgegebenen Jahrbüchern, dass, abgesehen von den
bei den Militärgerichten verhandelten Fällen, in den Jahren 1872 bis
1876 in sämmtlichen im Reichsrathe vertretenen Ländern unter anderen
folgende +Verurtheilungen+ stattfanden wegen:
+=========================================+=====================+
| +Verbrechen+ | +Vergehen+ |
+----+------------------------------------+---------------------+
| |Nothzucht, |Fahrlässige |Summe|
| |Schändung |Tödtung | |
| |etc. | |Vergehen | |
| | |Kindsmord | |gegen die | |
| | | |Mord | |Sicherheit | |
| | | | |Todtschlag | |des Lebens | |
| | | | | |Abtreibung der | | | |
| | | | | |Leibesfrucht | | | |
| | | | | | |Weglegung | | | |
| | | | | | |des Kindes | | | |
| | | | | | | |Schwere | | | |
| | | | | | | |körperliche | | | |
| | | | | | | |Beschädigung| | | |
| | | | | | | | |Zwei- | | | |
| | | | | | | | |kampf | | | |
|----+---+---+---+---+---+---+----+-------+---+-----------+-----|
|1872|286| 97|137|287| 17| 33|3870| 9 |432| 5 | 5173|
| | | | | | | | | | | | |
|1873|346|110|185|309| 10| 37|4093| -- |408| 43 | 5541|
| | | | | | | | | | | | |
|1874|347| 99|171|245| 15| 30|3447| 2 |313| 7 | 4676|
| | | | | | | | | | | | |
|1875|465|103|166|296| 19| 32|4254| -- |409| 8 | 5752|
| | | | | | | | | | | | |
|1876|516| 96|198|235| 14| 30|4732| -- |452| 16 | 6289|
Bedenkt man, dass unter diesen Zahlen nur die Verurtheilungen subsumirt
sind, dass aber die Summe der Fälle, in denen eine gerichtliche
Untersuchung eingeleitet wurde, aber keine Verurtheilung stattfand,
sich ebenfalls hoch beläuft; erwägt man ferner die Menge der
civilgerichtlichen Fälle, welche ärztliche Begutachtung erfordern,
und rechnet dazu die zahllosen polizeilichen Untersuchungen von
Selbstmördern und verunglückten Personen (im Jahre 1873 kamen 1863
Selbstmorde und 6734 Verunglückungen und Todesarten aus unbekannter
Ursache vor), so kann man sich eine genügende Vorstellung davon machen,
wie häufig die gerichtsärztliche Thätigkeit in Anspruch genommen wird.
[3] Die betreffenden Paragraphe lauten:
§. 151. Als Zeugen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit ihrer Aussage nicht
vernommen werden:
* * * * *
2. Staatsbeamte, wenn sie durch ihr Zeugniss das ihnen obliegende
Amtsgeheimniss verletzen würden, insoferne sie dieser Pflicht nicht
durch ihre Vorgesetzten entbunden sind;
3. Personen, die zur Zeit, in welcher sie das Zeugniss ablegen
sollen, wegen ihrer Leibes- oder Gemüthsbeschaffenheit ausser Stande
sind, die Wahrheit anzugeben.
§. 152. Von der Verbindlichkeit zur Ablegung eines Zeugnisses sind
befreit:
1. Die Verwandten und Verschwägerten des Beschuldigten in auf- und
absteigender Linie, sein Ehegatte und dessen Geschwister, seine
Geschwister und deren Geschwisterkinder, Adoptiv- und Pflegeeltern,
Adoptiv- oder Pflegekinder, sein Vormund oder Mündel.
§. 170. Folgende Personen dürfen bei sonstiger Nichtigkeit des Eides
nicht beeidigt werden:
1. welche selbst überwiesen sind oder im Verdachte stehen, dass sie
die strafbare Handlung, wegen welcher sie abgehört werden, begangen
oder daran theilgenommen haben;
2. die sich wegen eines Verbrechens in Untersuchung befinden oder
wegen eines solchen zu einer Freiheitsstrafe verurtheilt sind, welche
sie noch abzubüssen haben;
4. diejenigen, welche schon einmal wegen falschen Zeugnisses oder
falschen Eides verurtheilt worden sind;
* * * * *
5. welche an einer erheblichen Schwäche des Wahrnehmungs- oder
Erinnerungsvermögens leiden;
6. die mit dem Beschuldigten, gegen welchen sie aussagen, in einer
Feindschaft leben, welche nach Massgabe der Persönlichkeiten und mit
Rücksicht auf die Umstände geeignet ist, die volle Glaubwürdigkeit
der Zeugen auszuschliessen.
[4] Die in diesem Tarife enthaltenen Gebühren für
+gerichtlich-chemische+ Untersuchungen haben insoferne eine
Abänderung erfahren, als das Justizministerium auf Vorschlag des
ob. Sanitätsrathes mit Erlass vom 30. Juni 1874 eine pauschalweise
Entlohnung der Chemiker empfohlen hat. Dieselbe beträgt incl.
der Vergütung für Vorauslagen: für die Untersuchung des Magens
und Darmcanals sammt Inhalt 35 fl., anderer Eingeweide 40 fl.,
von Ueberresten exhumirter Leichen 45 fl., von Erbrochenem,
Darmentleerungen oder Speisen 18 fl., von Getränken, Genussmitteln und
Toiletteartikeln 15 fl., von Harn 10 fl., von Blutflecken 5 fl., von
Graberde, eines bestimmten Giftes, von Sargholz, Kleidern etc. 10 fl.,
von anderen flüssigen oder festen Substanzen 5-10 fl.
[5] §. 22. Ein Richter ist von der Ausübung des Richteramtes kraft
Gesetzes ausgeschlossen:
1. Wenn er selbst durch die strafbare Handlung verletzt ist; 2. wenn
er Ehemann oder Vormund der beschuldigten oder der verletzten Person
ist oder gewesen ist; 3. wenn er mit dem Beschuldigten oder mit dem
Verletzten in gerader Linie verwandt, verschwägert oder durch Adoption
verbunden, in der Seitenlinie bis zum dritten Grade verwandt oder bis
zum zweiten Grade verschwägert ist, auch wenn die Ehe, durch welche die
Schwägerschaft begründet ist, nicht mehr besteht; 4. -- --; 5. wenn er
in der Sache als Zeuge oder Sachverständiger vernommen ist.
§. 24. Ein Richter kann sowohl in den Fällen, in denen er von der
Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch
wegen Besorgniss der Befangenheit abgelehnt werden.
[6] §. 51. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt: 1. der
Verlobte des Beschuldigten, 2. der Ehegatte des Beschuldigten, auch
wenn die Ehe nicht mehr besteht, 3... (wie in §. 22, 3).
§. 52. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt -- -- --
3. -- -- Aerzte in Ansehung desjenigen, was ihnen bei Ausübung ihres
Berufes anvertraut ist -- -- -- -- wenn sie nicht von der Verpflichtung
zur Verschwiegenheit entbunden sind.
[7] Zufolge Entscheidung des königl. Landgerichtes in Köln vom 20.
März 1890 ist eine in Gemässheit des §. 3 des Regulativs vorgenommene
äussere Besichtigung, respective Untersuchung einer Leiche als erster
Haupttheil einer Obduction anzusehen, und haben die Gerichtsärzte die
volle Obductionsgebühr zu beanspruchen, auch wenn gerichtlicherseits
von der inneren Besichtigung der Leiche Abstand genommen wird.
Zeitschr. f. Med.-Beamte. 1890, pag. 229. Nicht lebensfähige Früchte
werden nicht als „Leichname“ angesehen und dürfen daher für die
Besichtigung blos Taggelder und Reisekosten in Berechnung gebracht
werden. Ibidem, 1892, pag. 550.
[8] Die abgelaufenen Gebühren werden in Oesterreich unter allen
Umständen von Seite des betreffenden Gerichtes angewiesen und
ausbezahlt. Eine gleiche Einrichtung ist in Deutschland getroffen. Doch
haben die unmittelbar geladenen Sachverständigen auf eine Entschädigung
aus Staatsmitteln keinen Anspruch, sind aber nur dann zum Erscheinen
verpflichtet, wenn ihnen bei der Ladung die gesetzliche Entschädigung
für Reisekosten und Versäumniss baar dargeboten oder deren Hinterlegung
bei dem Gerichtsschreiber nachgewiesen wird (§. 219 der deutschen St.
P. O.).
[9] Die +bleibende+ Bestellung von Sachverständigen liegt in dem
Wirkungskreise des Gerichtes, für welches sie bestellt sind.
(Justiz-Min.-Erl. vom 1. Juni 1858, Z. 9744.)
[10] Es wäre dieses schon angezeigt wegen der dem Arzte gesetzlich
auferlegten Verpflichtung zur Wahrung des Geheimnisses seiner
Kranken. Gegenwärtig berechtigt diese Verpflichtung keineswegs zur
Verweigerung der Zeugenschaft oder der Uebernahme einer Function als
Sachverständiger, da der Arzt von derselben durch das Gericht entbunden
werden kann (§. 498 der österr. St. P. O., §. 52 deutsche St. P. O.,
Zusatz zu Alinea 3).
[11] Der Vollständigkeit wegen erwähnen wir noch mit Rücksicht auf den
zweiten Absatz des §. 127 der österr. St. P. O., der von eventueller
dringender Gefahr für die Gesundheit von Personen spricht, die an einer
Exhumation Theil nehmen sollen, dass von älteren Autoren in der That
die Frage discutirt wurde, ob hochgradige Fäulniss einer Leiche für den
Arzt einen Grund zur Verweigerung der amtlich geforderten Obduction
bilden könne (vide +Henke+’s Zeitschrift für Staatsarzneikunde.
1824, 1). Der §. 4 des preuss. Regulativs vom Jahre 1875 enthält
eine einschlägige Bestimmung, welche lautet: „Wegen vorhandener
Fäulniss dürfen Obductionen in der Regel nicht unterlassen und von
den gerichtlichen Aerzten nicht abgelehnt werden“; motivirt jedoch
dieselbe nur damit, dass auch bei faulen Leichen sich in gewissen
Beziehungen diagnostisch verwerthbare Befunde ergeben können. -- Wir
glauben nicht, dass Fäulniss oder eine andere Infectionsgefahr als
solche den Arzt berechtigen könne, die Vornahme einer Obduction zu
verweigern, denn eine gewisse Infectionsgefahr liegt in der Natur des
ärztlichen Berufes überhaupt, und sich ihr auszusetzen, gehört in den
Pflichtenkreis dieses Berufes. Doch muss man zugeben, dass mitunter
eine mehr als gewöhnliche Infectionsgefahr für den Arzt bestehen
und dann einen auch dem Gerichte einleuchtenden Ablehnungsgrund
bilden kann, z. B. bei Verletzungen an den Händen einerseits und
besonderer Infectionsfähigkeit des zu obducirenden Cadavers anderseits
(Milzbrand, Rotz, septische Processe). Auch müsste ein triftiger
Entschuldigungsgrund darin erblickt werden, wenn der Arzt sofort nach
einer mit besonderer Infectionsgefahr verbundenen gerichtlichen Section
geburtshilfliche oder grössere chirurgische Operationen vorzunehmen
hätte.
[12] +Friedreich+’s Blätter f. gerichtl. Med. 1870, pag. 336.
[13] Dass man auch von juristischer Seite einsah, dass an Gerichtsärzte
höhere Ansprüche in wissenschaftlicher Beziehung gestellt werden
müssen, beweist schon ein Decret des obersten Gerichtshofes vom 10.
Juni 1820 (+Hempel+-+Kürsinger+, Sammlung der Medicinalgesetze,
Artikel „Kunstgutachten“), welches bestimmt, dass die Criminalgerichte
bei der Auswahl gerichtlicher Kunstverständiger vom Sanitätsfach
bei criminalgerichtlichen Fällen mit aller Sorgfalt zu Werke zu
gehen haben, und dass bei offenbarer Unkenntniss eines zugewiesenen
Sanitätsindividuums um Abhilfe bei den höheren Behörden einzuschreiten
sei.
[14] Zweckmässig sind in dieser Beziehung die von +Laupp+ in
Tübingen herausgegebenen „Schemata zum Einzeichnen von Befunden bei
gerichtsärztlichen Untersuchungen“ (an Schädel und Gehirn).
[15] +Rulf+, Commentar zur St. P. O., pag. 126. Eine principielle
diesbezügliche Entscheidung des österr. Cassationshofes ist aus Anlass
eines speciellen Falles erflossen, in welchem, gegen das Gutachten
der Gerichtsärzte, der Angeklagte nicht wegen schwerer Verletzung,
sondern nur wegen Uebertretung nach §. 411 (leichte Verletzung bei
Raufhandel) verurtheilt wurde. Der Cassationshof, heisst es in der
Entscheidung, erkennt wohl, dass nach §. 258 St. P. O. die freie
richterliche Ueberzeugung auch in technischen Fragen entscheide,
dass ferner das Gericht befugt sei, den Befund und das Gutachten
der Sachverständigen sowohl in Ansehung ihrer persönlichen und
fachmännischen Vertrauenswürdigkeit, als nach Form und Inhalt zu
prüfen, dass es jedoch bei vorwaltenden Bedenken vorerst im Sinne
der §. 125 und 126 St. P. O. auf Beseitigung derselben hinzuwirken,
und wenn dieselbe nicht gelingt und in Folge dessen dem Befunde oder
Gutachten die beweismachende Wirkung versagt bleiben muss, jedenfalls
die hierfür eintretenden Gründe in der Urtheilsausfertigung anzugeben
habe. („Wiener med. Presse“, 1882, pag. 29.)
[16] Die genannten Fachbehörden haben aber noch eine andere, sehr
wichtige Aufgabe. Es müssen nämlich +alle+ Obductionsprotokolle
der preussischen Gerichtsärzte, sammt den betreffenden Gutachten,
ebenso alle Verhandlungen über Wahnsinns- und Blödsinnserklärungen
in civilrechtlichen Fällen zunächst an das Medicinalcollegium der
betreffenden Provinz und von diesem an die wissenschaftliche Deputation
zur +Revision+, resp. +Superrevision+ eingesendet werden, und die
Ergebnisse dieser werden sowohl dem betreffenden Medicinalcollegium als
den betreffenden Gerichtsärzten zur Kenntnissnahme, beziehungsweise
für letztere zur Belehrung oder als Anerkennung und Aufmunterung
mitgetheilt (+Casper+-+Liman+, Handb. der gerichtl. Med. 1876, II,
238). Es ist dies eine unseres Erachtens nach höchst erspriessliche
Einrichtung, die gewiss Nachahmung verdient, weil dadurch die
Thätigkeit der Gerichtsärzte gerade in den wichtigsten Functionen
von besonders Berufenen überwacht und die Heranbildung tüchtiger
Gerichtsärzte damit gefördert wird.
[17] Vide +Christison+ (London and Edinburgh Journ. of med. Science
Nov. 1851, pag 402), +Young+ (Jurist) in The Boston medical and
surgical Journ. 29. Juli 1869 und +Tuke+, Journ. of mental science
April 1882.
[18] Dagegen darf das in der Voruntersuchung von den Sachverständigen
abgegebene Gutachten nicht vorgelesen werden, ausser in den im §. 252
der österr. und §. 250 der deutschen St. P. O. angegebenen Fällen.
[19] Eine Mittheilung über andauernde Erection des Penis nach
Schussverletzung des Kleinhirns findet sich im Med. Centralbl.,
1865, pag. 910, ebenso andere Mittheilungen über Priapismus bei
Wirbelsäulenfractur von +Neumann+, +Rosenthal+ und +Bamberger+ in dem
Sitzungsber. der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom 24. Februar 1882.
[20] Bei einem von uns obducirten 62jährigen Israeliten fanden wir
ausgebreitete tiefe und wulstige Hautnarben in beiden Leistengegenden,
am Promontorium und an der Vorder- und Innenfläche des oberen Antheiles
beider Oberschenkel, die wie Narben nach Brandwunden aussahen. Vom
Penis war nur ein 2 Querfinger langer Stumpf vorhanden mit kaum
kenntlichem Eichelreste, an dessen unterer rechter Seite die Harnröhre
ausmündete. Der Mann war verheiratet und Vater eines Sohnes. Leider
konnte über die Provenienz des Defectes nichts erhoben werden.
[21] Dass in dieser Beziehung Unglaubliches geschehen kann, beweist
ein, Herrn Collegen G. +Henke+ vorgekommener und mir durch Herrn
Hofrath +Suchier+ in Birstein freundlichst mitgetheilter, einen
60jährigen Mann betreffender Fall: „Der Mann,“ schreibt Dr. +Henke+,
„bisher gesund, starker Trinker, doch kein Säufer, welcher den Coitus
fast täglich auszuüben pflegte, erkrankte an einer flotten croupösen
Pneumonie, und am 5. und 6. Tage, als er noch hoch fieberte, kam des
Morgens seine Frau zu mir und frug mich, ob der Coitus, der an dem Tage
vorgegangen war, ihm nicht schaden könnte. Es trat ganz sicher erst
später Entfieberung ein, die übrigens nicht von Dauer war, weil ein
anderer Lappen acut befallen wurde, woran dann der stark geschwächte
Mann auch zu Grunde ging.“
[22] Wie +Taylor+ angibt, fand +Marshall+ unter 1000 Recruten blos
einen Fall, in dem ein Hode in der Bauchhöhle zurückgeblieben war, und
unter 10.000 blos einen von beiderseitiger Kryptorchie.
[23] Auch +Liégeois+ vermisste bei einem 37jährigen kinderlosen
Kryptorchen trotz zahlreicher Untersuchungen die Samenfäden. An einem
alten Spirituspräparate des Wiener pathologisch-anatomischen Museums,
das von einem 23jährigen Kryptorchen herrührte und welches uns Prof.
+Heschl+ freundlichst zur Verfügung stellte, fanden wir einen normal
gebildeten, 6·5 Cm. langen, an der Wurzel mit dichten Schamhaaren
umwachsenen Penis, die Samenblasen gut entwickelt, beiderseits 4 Cm.
lang und 2 Cm. breit, die Hoden jedoch so klein wie bei Knaben von
10-12 Jahren. Der linke war platt und blos 2·2 Cm. lang, der rechte
mehr rundlich, von 2·5 Cm. Durchmesser. Weder in den Hoden, noch in
den Nebenhoden und Samenblasen konnten Spermatozoiden nachgewiesen
werden. Vor Kurzem fanden wir beiderseitige Kryptorchie bei einem sehr
kräftigen, 21jährigen, in Kohlendunst erstickten Mann. Die äusseren
Genitalien waren sonst gut entwickelt und beide Hoden gross, von
normalem Aussehen. Trotzdem enthielten weder sie, noch die Samenblasen
Spermatozoen.
[24] Wir hatten Gelegenheit, die Leiche eines gerade 14jährigen Knaben,
der an eitriger Meningitis gestorben war, zu obduciren. Obgleich der
Habitus noch ein vollkommen infantiler und am Schamberg erst ein
unbedeutender Flaum sichtbar war, fanden sich doch sowohl in den
Hoden, als in den Samenblasen gut entwickelte, allerdings aber noch
spärliche Spermatozoen. Von zwei 15jährigen Knaben, die beide gut
entwickelte Pubes zeigten, besass der eine reichliche, der andere gar
keine Samenfäden, und ebenso war der Befund bei zwei anderen 15jährigen
Knaben, von denen keiner noch Pubes besass. -- Ein 16jähriger Junge
ohne Pubes zeigte keine, von drei anderen mit spärlichen Pubes der
eine viele, die zwei übrigen spärliche Spermatozoen. Auch zwei weitere
16jährige Knaben mit gut behaartem Schamberg ergaben nur spärliche
Zoospermien. In der Leiche eines 17jährigen Burschen mit reichlichem
Schamhaar wurden reichliche Samenfäden nachgewiesen, ebenso in der
eines 18jährigen, dagegen wurden in der eines zweiten 18jährigen mit
ebenfalls gut behaartem Schamberg keine gefunden.
[25] Aehnliche Beobachtung von +Montmollin+ vide Virchow’s Jahrb. 1876,
II, 110.
[26] Interessant ist die Thatsache, dass auch bei Morphiumsucht,
sowie bei Opiumrauchern verhältnissmässig frühzeitig Impotenz sich
einstellt (+Lewinstein+, „Die Opiumsucht“. Monographie. Berlin 1877;
+Dudgeon+, „Opium in relation to population.“ Virchow’s Jahrb. 1877,
I, 436). Ob die Ursache dieser Erscheinung in allgemeinen oder in
blos localen Störungen zu suchen ist, muss vorläufig dahingestellt
bleiben. Thatsache ist, dass ebenso wie bei an Morphinismus leidenden
Männern Impotenz, bei Frauen Amenorrhoe und Sterilität sich einstellt.
+Gabalda+ („Étude sur la Benzin et la Nitrobenzin.“ Paris 1879) sah
auch bei chronischer Benzinvergiftung fast constant Impotenz eintreten.
[27] „Zur Histologie des menschlichen Sperma nebst forensischen
Bemerkungen über Aspermatozie.“ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N.
F. XXVII.)
[28] Unter die in ihren späteren Stadien mit Aspermatozie
einhergehenden Krankheiten der männlichen Sexualorgane gehört
nach +Marris Wilson+ und +Albert+ auch die Spermatorrhoe, bei
welcher schon in früheren Stadien die Begattungsfähigkeit sowohl
als die Befruchtungsfähigkeit durch allzu frühen Abgang des Samens
beeinträchtigt sein kann. +Zeissl+, Lehrbuch der Syphilis. 1875, I, 91.
[29] Prager Vierteljahrsschr. 1864, 82. Bd., 114. Siehe auch +Kopp+,
„Ueber Hypospadiäen und ihre Zeugungsfähigkeit“; mit ausführlicher
Literatur. +Kopp+’s Jahrb. III, pag. 228.
[30] Prager Vierteljahrsschr. 52. Bd., pag. 103; Wiener med.
Wochenschr. 1856. 18.
[31] Zwei derartige von +Ziemssen+ mitgetheilte Fälle siehe Monatschr.
f. Geburtsk. 1865, XXV, 240.
[32] Hierher gehört auch der von +Hillebrand+ (Arch. f. Gyn. III,
221) beschriebene Fall von Krampf des Levator ani, den eine junge,
sehr erregbare Frau jedesmal beim Coitus bekam, in der Art, dass der
Penis gegen die vordere Beckenwand angepresst und so durch einige
Zeit festgehalten wurde (Penis captivus). Zwei analoge Fälle wurden
von +Henrichsen+ (Ibid. XXIII, pag. 59) mitgetheilt. Der Coitus kann
übrigens auch wegen chronischer Erkrankung der inneren Genitalien zu
einem habituell schmerzhaften sich gestalten. So excidirte +Trenholm+
(Med.-chir. Centralb. 1877, pag. 240) ein chronisch entzündetes
Ovarium, welches den Coitus wegen damit verbundener Schmerzhaftigkeit
unmöglich gemacht hatte, und wir haben 1878 eine ehemalige noch junge
Prostituirte obducirt, von welcher die Anamnese ergab, dass sie ihr
Gewerbe aufgeben musste, weil ihr der Beischlaf immer heftige Schmerzen
verursachte. Die Obduction ergab beiderseitige chronische Salpingitis,
sonst normale Genitalien.
[33] Ein Seitenstück zu diesem Falle bildet ein von +Braxton Hicks+
(Virchow’s Jahresb. 1885, I, pag. 499) mitgetheilter, wo die Ausübung
des Coitus unmöglich war, weil die Frau wegen angeborener Verkürzung
der Adductoren die Beine nicht auseinander zu geben vermochte und auch
die Anziehung der Oberschenkel an den Bauch nur in beschränktem Grade
gestattet war.
[34] Belehrend in dieser Beziehung, sowie auch für die Frage der
Conceptionsfähigkeit ist ein von +Gusserow+ (Berliner klin. Wochenschr.
1879, Nr. 2) beschriebener, höchst interessanter Geburtsfall bei
gespaltenem Becken und -- hochgradiger Ectopia vesicae.
[35] +Krafft+-+Ebing+, Pollutionsartige Vorgänge beim Weibe. Wiener
med. Presse. 1888, Nr. 14 und +Hanc+, Wiener med. Blätter. 1888,
pag. 649. Als Curiosum sei hier die von +Mundé+ behandelte Patientin
erwähnt, welche jedesmal beim Coitus in tiefen comatösen Schlaf
verfiel. Es fand sich eine Narbe am Muttermund, deren Berührung sofort
jenen hypnotischen Zustand herbeiführte. Nach Excision der Narbe
Heilung (Virchow’s Jahresb. 1883, II, 553).
[36] Andere Fälle vide: Virchow’s Jahrb. 1876, II, 625; 1878, II,
555; 1884, II, 607 und +Wachs+, Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gyn.
I, 173, und einen von +Stocker+, Med. Centralbl. 1879, pag. 800,
der umso interessanter ist, als er ein Zwillingskind betrifft.
Schon im ersten Lebensjahre wurden geringe Blutspuren im Bettzeug
wahrgenommen. Regelmässige Menstruation seit dem 3. Jahre von stets
3tägiger Dauer. Das Kind ist körperlich stark entwickelt, doch von
geringerer Intelligenz als seine Altersgenossin. Wir selbst haben ein
2½jähriges, 74 Cm. langes Mädchen obducirt, welches blonde, ziemlich
dichte und bis 1½ Cm. lange Haare am Mons veneris und an den stark
entwickelten grossen Labien besass. Die inneren Genitalien aber zeigten
eine dem Alter entsprechende Entwicklung.
[37] Ein interessanter, vom königl. Medicinalrath in Calm begutachteter
Fall, in welchem es sich darum handelte, ob ein 12½jähriges Kind
abortirt habe oder nicht, findet sich von +Wiener+ mitgetheilt in
der Deutschen med. Wochenschr. 1876, Nr. 44-45; ein ähnlicher,
ein 10jähriges Mädchen betreffend, von +Molitor+ beobachtet, bei
+Oesterlen+ in Maschka’s Handbuch der gerichtl. Med. III, pag. 44.
[38] Aehnliche Fälle s. Wiener med. Ztg. 1875, pag. 85 und +Louis
Mayer+ (Virchow’s Jahrb. 1875, II, 595).
[39] Dass übrigens zurückgebliebene kleine Partien normalen Ovariums
noch eine Conception ermöglichen können, beweisen die von +Badlehner+
(1883), +Schatz+ (1885) und +Robertson+ (1891) mitgetheilten Fälle
von Schwangerschaft nach doppelseitiger Ovariotomie. Ueber das
„Geschlechtsleben castrirter Frauen“ berichtet +Keppler+ (Wiener med.
Wochenschr. 1891, Nr. 37).
[40] In einem von +Levi+ (Virchow’s Jahrb. 1888, II, 482) mitgetheilten
Falle entschied der Turiner Cassationshof, dass der Mangel des Uterus
einen Eheauflösungsgrund bilde.
[41] Die +künstliche Befruchtung+ ist bereits Gegenstand einer
gerichtlichen Verhandlung geworden, und zwar in einem von +Leblond+
(Ann. d’hyg. publ. 1884, pag. 89) mitgetheilten Falle, in welchem ein
Arzt in Bordeaux ein Honorar von 1500 Fr. für eine solche Operation
eingeklagt hatte, aber mit seiner Forderung vom Gerichte abgewiesen
wurde. Im Urtheil wurde erwähnt, dass der Kläger die Pflicht der
Geheimhaltung verletzt habe, dass es unverträglich mit der Würde
der Ehe wäre, wenn die künstliche Befruchtung aus dem Gebiete der
Wissenschaft auf das der Praxis übertragen würde, dass dieser Vorgang
im Falle des Missbrauches eine wirkliche sociale Gefahr bedingen und
dass daher die Justiz Verpflichtungen aus solchen Vorgängen nicht
sanctioniren könne. +Leblond+ gibt zu, dass eine Verletzung der
Pflicht der Geheimhaltung vorlag, da der Arzt, noch bevor das Gericht
eine Information verlangte, die Details mittheilte. Was aber die
künstliche Befruchtung als solche betrifft, so bemerkt er mit Recht,
dass zu dieser von verschiedenen Methoden, welche die Beseitigung
des Conceptionshindernisses bezwecken, z. B. der Erweiterung des
Muttermundes, nur ein Schritt ist, und dass sie dort indicirt sei,
wo letztere im Stiche lasse. Die Procedur werde von bedeutenden
Gynäkologen ausgeführt, könne sehr einfach und in decenter Weise
effectuirt werden und sei, wenn sie im gegenseitigen Einverständnisse
der Eheleute und nur mit dem (gesunden) Samen des Gatten geschehe,
nicht blos nicht zu verdammen, sondern im Gegentheil zu befürworten,
da sie zur Fortpflanzung der Gattung beitrage und die Erzielung von
Familienfreuden für solche ermögliche, welche sonst dieselben entbehren
müssten.
[42] +Debierre+ (l. c.) hat nicht Unrecht, wenn er, um solchen
Situationen vorzubeugen, verlangt, dass jedes neugeborene Kind
ärztlich untersucht, wenn das Geschlecht zweifelhaft ist, eine
entsprechende Bemerkung im Geburtsscheine beigefügt und die definitive
Geschlechtserklärung erst einer neuerlichen Untersuchung zur Zeit der
Pubertät vorbehalten werden möge.
[43] Handb. der pathol. Anat. 1876, I, pag. 732 und 744.
[44] +Beigel+, „Ueber abnorme Haarentwicklung beim Menschen“. Virchow’s
Archiv, XLIV, 418; +Durval+, „Zwei Fälle von bärtigen Frauen“.
Virchow’s Jahrb. 1877, II, 81.
[45] „Sopra un caso di apparenze virili in una donna.“ Il Morgagni.
1865.
[46] Virchow’s Jahrb. pro 1881, I, pag. 280, enthält mehrere neue
Fälle von versuchter Geschlechtsbestimmung bei „Zwittern“, darunter
einen Fall von +Steinmann+, ein erst 16jähriges Individuum betreffend,
welches schon dreimal Wandlungen seiner gesellschaftlichen Stellung
durchgemacht hat. Bei seiner Geburt wurde es als Knabe angesehen und
auf den Namen Joseph getauft, von den Eltern ward es als Mädchen
behandelt und Theresia genannt; im 10. Jahre wurde es ärztlicherseits
als Knabe recognoscirt, und +Steinmann+ wies ihm seinerseits jetzt
wieder seinen Platz in der Mädchenschule an. Aeusserer Habitus
weiblich, Hypospadie, regelmässige Menses, keine fühlbaren Sexualdrüsen
in den Labien.
[47] Hierher gehört auch der von +Klotz+ (Extraabdominale
Hystero-Cystovariotomie bei einem wahren Hermaphroditen. Langenbeck’s
Arch. 1879, XXIV, pag. 454) beschriebene Fall, in welchem der
betreffende, regelmässig alle vier Wochen aus der Harnröhre und einer
Fistelöffnung am rechten Hodensack menstruirende 24jährige „Zwitter“
gestand, seit mehreren Jahren von Zeit zu Zeit geschlechtliche
Beziehungen zu kleinen Knaben und Mädchen gehabt zu haben, welche
mit Erection seines Gliedes und Ejaculation ihren Abschluss fanden.
(+Oesterlen+, l. c. 81, woselbst auch ein weiterer Fall von
+Blumhardt+.)
[48] Vide +Maudsley+ („Vortrag über med. Psychologie.“ Deutsche Klinik.
1873, Nr. 2 und 3); ferner +Pelikan+, „Das Skopzenthum in Russland“,
pag. 104 u. ff. Ueber körperliche und geistige Veränderungen der Frauen
nach Castration und Uterusentfernung hat +Glaeveke+ (Arch. f. Gyn.
1889, pag. 89) geschrieben.
[49] Vide den über Verletzungen handelnden Hauptabschnitt.
[50] +Henke+’s Zeitschr. f. Staatsarzn. 1826, pag. 280.
[51] Ibid. 1874, 4. Heft. „Ueber Nothzucht“ von +Müller+.
[52] 24 und 25 Vict., c. 100, s. 63. +Taylor+, l. c. II, 464.
[53] +Goltdammer+’s Archiv, pag. 360, und Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. XXXVI, pag. 50.
[54] Zeitschr. f. ration. Med. von +Henle+ und +Pfeuffer+, XXVI.
[55] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XII, 329.
[56] Krankh. der weibl. Geschlechtsorgane. Ziemssen’s Handbuch der
spec. Pathol. u. Ther. 1874, X, pag. 42 u. s. f.
[57] Med. Centralbl. 1875, pag. 869, und Zeitschr. f. Geburtshilfe.
1884, XI, I. Nach O. +Schaeffer+ (Arch. f. Gyn. 1890) bildet sich das
Hymen im 5. Monat aus einer vorderen und hinteren Lamelle.
[58] Solche Hymenformen hat auch +Skrzeczka+ (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. N. F., V, pag. 54) beschrieben.
[59] 1871 und im Jahre 1872 in der Warschauer „Gazeta lekarska“ Nr. 3
et seq. in polnischer Sprache.
[60] Solche Fälle erwähnt +Parent+-+Duchatelet+ (La prostit. dans la
ville. Paris 1857), ebenso +Rosenberg+ in einem Berichte über die
Lustdirnen und das Bordellwesen in Petersburg (Schmidt’s Jahrb. 1848,
59. Bd., pag. 56).
[61] +Schröder+ (Lehrb., pag. 391) sagt: „Ein vollständig unversehrt
erhaltenes Hymen trifft man bei Erstgeschwängerten durchaus nicht
auffallend selten.“ +Credé+ (Verhandl. d. Gesellsch. f. Geburtsh. 1851)
sah sogar in einem Falle den Hymen trotz des Geburtsactes erhalten.
Einen Fall von Abortus eines viermonatlichen Embryo mit Erhaltensein
des halbmondförmigen Hymen nach demselben beschreibt +Steinhaus+
(Wiener Medicinalhalle. 1862, III, Nr. 16), und einen ähnlichen enthält
unser Museum.
[62] +Clemens+, Schmidt’s Jahrb. 1884, Bd. 43, pag. 202; ebenso
+Oldham+, Ibid. 1850. Bd. 66, 336.
[63] Handb. d. gerichtl. Med. IV, 436 und 444.
[64] Wochenblatt der Gesellsch. d. Aerzte. 1857, Nr. 42.
[65] Einen Fall von letaler Blutung in Folge eines wahrscheinlich beim
Coitus entstandenen, 2 Cm. langen, ziemlich seichten Risses zwischen
Clitoris und der Harnröhre und einschlägige früher beobachtete Fälle
theilt +Müller+ mit (Verh. der phys.-med. Gesellsch. in Würzburg. N.
F., V, 1873, pag. 178). Einen ähnlichen +Klapproth+, Monatsschr. f.
Geburtskunde. 1859, XIII, 1.
[66] Virchow’s Jahrb. 1873, II, 609.
[67] Auch +Tardieu+ war dieser Ansicht; in der letzten Auflage seiner
Attent. aux moeurs aber (1878, pag. 83) glaubt er, bei kleinen Kindern
eine derartige Möglichkeit zugeben zu können, indem er, jedoch ganz
flüchtig, zweier „zu seiner Kenntniss gekommener“ Fälle erwähnt,
in welchen beim Sturz kleiner Kinder bei gleichzeitigem heftigen
Auseinanderspreizen der Schenkel ein scharf begrenzter Einriss der
untersten Partie der Vulva entstand, den Hymen und einen Theil der
hinteren Commissur (Fourchette) begreifend. Diese Beobachtungen hätten
wohl verdient, etwas genauer beschrieben zu werden. Jedenfalls wird in
solchen Fällen früher die Commissur als der Hymen einreissen.
[68] Journ. f. Kinderheilk. Nov., Dec. 1860, XXVII, 321.
[69] Lancet. 14. April 1860, I.
[70] Wiener med. Wochenschr. 1865, Nr. 73, und 1866, Nr. 21 und 22.
[71] Separatabdruck, pag. 47.
[72] +Casper+-+Liman+, Handb. 1876, I, 121.
[73] +Weiss+, „Zerstörung des Hymen durch Diphtheritis.“ Prager med.
Wochenschr. 1878, pag. 234.
[74] +Barthelemy+, Erkrankungen der weiblichen Genitalien bei Variola.
Virchow’s Jahrb. 1881, II, pag. 535.
[75] Letzterer kann aber auch von anderen Ursachen herrühren. Siehe:
+Benike+, Vorfall der Harnröhrenschleimhaut bei jungen Mädchen.
Zeitschr. f. Geburtsh. XIX, pag. 301 und +Kleinwächter+, Ueber Prolaps
der weiblichen Harnröhre. Ibidem, pag. 40.
[76] Virchow’s Jahrb. 1870, I, 425, und vollständiger bei A. +Kocher+:
„La criminalité chez les arabes.“ Paris 1884, im Abschnitt: „Du viol
dans le mariage“, pag. 194; ausserdem mehrere andere einschlägige Fälle.
[77] Arch. f. Gyn. 1873, VI, pag. 132.
[78] In einem Falle von Ermordung einer Prostituirten (+Ballogh+)
fanden wir keine Spur von Spermatozoiden in den Genitalien. Trotzdem
konnten wir die Möglichkeit, dass die Ermordete kurz vor ihrem Tode
den Beischlaf zugelassen habe, nicht wegleugnen, weil bei dem Gewerbe
der Betreffenden das Fehlen des Sperma in den Genitalien sich auch
aus sofort nach dem Coitus erfolgter Ausspritzung oder daraus, dass
letzterer mit Condom ausgeübt wurde, erklären liess. In einem anderen
Fall von Raubmord an einer Prostituirten durch Halsabschneiden wurden
zahlreiche Spermatozoiden im Scheidenschleim vorgefunden. Der bald
eruirte Thäter gestand, den Mord in dem Momente begangen zu haben, als
die Betreffende eben zur Zulassung des Coitus sich anschickte, leugnete
jedoch entschieden, letzteren vollbracht zu haben, und es musste mit
Rücksicht auf das Gewerbe der Getödteten zugegeben werden, dass das
in ihrer Scheide gefundene Sperma auch von einem anderen kurz zuvor
erfolgten Beischlaf herrühren konnte.
[79] Das Haar in forensischer Beziehung. Leipzig 1869, pag. 79. Auch
auf Bettwäsche, Möbelüberzügen, Taschentücher u. dergl. können sich
Samenflecke ergeben. Ein Unicum ist ein Fall von +Langier+ (Ann. d’hyg.
publ. 2. sér., XLVII, 130), in welchem Spermaspuren auf Dielen sich
fanden und auch als solche constatirt wurden.
[80] Virchow’s Archiv. 1865, II.
[81] Nach +Filomusi+-+Guelfi+ (Virchow’s Jahrb. 1892, I, pag. 470)
zerstört nur die Salpetersäure die Samenfäden rasch, SO₃ erst nach
mehrtägiger, Salzsäure erst nach mehrmonatlicher Einwirkung. In Soda-,
Kali- und Sublimatlösung bleiben die Samenfäden erhalten.
[82] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., V, 347.
[83] Eine Uebertragung von venerischem Virus auf die Genitalien,
eventuell auch auf andere Körperstellen kann auch ohne Coitus erfolgen.
+Ryan+ berichtet über einen Fall, in welchem zwei Schwestern von
1 und 4 Jahren im Bade mit Gonorrhoe angesteckt wurden, und zwar
durch einen Schwamm, mit welchem sich kurz zuvor eine mit Tripper
behaftete Person die Genitalien gereinigt hatte. +Bosc+ und +Berggrün+
(Virchow’s Jahrb., 1893, I, pag. 475) und ebenso +Haberda+ in seiner
unten zu erwähnenden Arbeit über die Gonokokken theilen solche Fälle,
die insbesondere bei Kindern möglich sind, mit; es wird demnach bei
derartigen Untersuchungen auch die Möglichkeit einer solchen Provenienz
im Auge zu behalten sein. Vor einigen Jahren wurde ein 10jähriges
Mädchen und dessen Mutter auf die hiesige Klinik für Syphilis mit
breiten Condylomen und Macula syphil. aufgenommen. Das Kind hatte
angeblich die Mutter, mit der es in einem Bette zusammenschlief,
angesteckt und behauptete, von seinem Stiefvater missbraucht worden
zu sein. Bei letzterem, welcher mit seinem Weibe seit Monaten nicht
mehr geschlechtlich verkehrte, wurde keine virulente Affection
gefunden und er leugnete entschieden, das Kind missbraucht zu haben.
Bei der Hauptverhandlung entschlug sich dieses der Aussage, und da
sich herausstellte, dass die Familie im Hause eines vielbeschäftigten
Syphilidiaters wohnte, und dass der zur Wohnung gehörende Abort von
den Patienten des letzteren häufig benützt wurde, somit die Infection
des Kindes am Abort als möglich zugegeben werden musste, erfolgte
Freisprechung.
[84] +Pott+, Die specifische Vulvovaginitis im Kindesalter, Jahrb.
f. Kinderhk., XIX. +Brouardel+, Annal. d’hygiène publ. 1883, pag. 60
und 146. +Fränkl+, Virchow’s Archiv, IC, pag. 251. v. +Dusch+, Wiener
med. Presse, 1889, Nr. 48. +Späth+, Med. Centralbl., 1889, pag. 768.
+Vibert+ et +Bordas+, Annal. d’hygiène publ. 1891, pag. 443. +Epstein+,
Med. Centralbl., 1891, pag. 891. +Combry+, Ibid. 1892, XXVI, pag. 66.
[85] Arch. f. Gyn. 1891, XL und 1892, XLII.
[86] Gerichtsärztliche Bemerkungen über die Gonorrhoe und
ihren Nachweis. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII.
Supplementheft, pag. 227.
[87] Das Auftreten tuberculöser Geschwüre am Präputium mehrerer Kinder
nach der Beschneidung hat +Lehmann+ (Deutsche med. Wochenschr. 1886,
Nr. 9) beobachtet. Der hochgradig tuberculöse Beschneider hatte die
Wunden ausgesaugt.
[88] l. c. II, 447. Eine Reihe ähnlicher Fälle wird von
+Casper+-+Liman+, l. c. 136, citirt, ebenso von +Brouardel+ (l. c.).
[89] Quaestionum med. leg. Tom. III.
[90] System der gerichtl. Arzneiwissensch. 2. Aufl. 1799, pag. 325.
[91] Die Leipziger med. Facultät. +Mende+ l. c. I, 136.
[92] 3. Aufl. 1865, pag. 281.
[93] Vide einen solchen Fall in Casper’s Vierteljahrsschrift, 1854, von
+Reinhard+ mitgetheilt, und einen ähnlichen in +Buchner+’s Lehrbuch der
gerichtl. Med. II. Aufl., 197. Vom Schwurgericht in Linz wurde im Jahre
1879 ein gewisser Michael Ernst wegen Raub und Nothzucht verurtheilt,
die er an mehreren (wahrscheinlich gegen 40!) früher durch Würgen oder
Drosseln betäubten Individuen verübt hatte.
[94] Bei +Alberti+ findet sich (Syst. jurispr. méd. II, 200) ein
Fall, in dem eine Jungfrau „angeblich“ durch einen aus den Samen von
Datura bereiteten Schlaftrunk betäubt und stuprirt worden sein soll.
+Lombroso+ (sein Archiv. 1883, IV, pag. 335) berichtet über einen
50jährigen Wirth, welcher im Initialstadium der progressiven Paralyse
Mädchen attaquirte und eines davon, um es zu gebrauchen, mit Morphium
in Wein vergiftete, das er sich unter dem Vorwande, an Neuralgien zu
leiden, aus mehreren Apotheken verschafft hatte.
[95] l. c. II, 458, auch +Tourdes+, Gaz. hebdom. 1866.
[96] Wiener med. Wochenschr. 1854, Nr. 1.
[97] +Winkler+, „Ueber Chloroformirung zum Zwecke der leichteren
Verübung von Verbrechen“, Vierteljahrsschrift für gerichtl. Med. 1875,
23. Bd., pag. 98.
[98] Annal. d’hygiène publ. Januar 1874, XLI.
[99] In letzter Zeit berichtet +Potter+ (Wr. med. Presse, 1889, Nr.
42), dass es ihm gelang, einen Knaben, der sich im wachen Zustand nicht
narcotisiren lassen wollte, im Schlafe zu chloroformiren.
[100] Handbuch der gerichtl. Arzneikunde. 1846, 5. Aufl., pag. 72.
[101] Sammlung gerichtsärztl. Gutachten. 1867, III, pag. 300.
[102] Edinb. med. Journ. 1870, 220-230. Ein ganz analoger Fall kam
am 9. November 1877 vor den Assisen von Northampton zur Verhandlung.
Von der Vertheidigung war B. W. +Richardson+ beigezogen worden,
welcher mittheilte, dass einmal eine Dame in seiner Gegenwart, dann
in der ihres Vaters und ihrer Mutter, sowie eines Assistenten, von
einem Zahnarzte chloroformirt wurde und trotzdem nachträglich fest
behauptete, dass Letzterer an ihr ein unsittliches Attentat verübt
habe. In Folge dieser Auseinandersetzung wurde der angeklagte Arzt
freigesprochen, und der Vorsitzende fand sich veranlasst, sowohl
Klägerin als den Beklagten zu diesem Ausgange der Verhandlung zu
beglückwünschen. („Times.“ 14. Nov.)
[103] Entscheidung des obersten Gerichtshofes vom 7. October 1852.
+Herbst+, Commentar. I, pag. 282.
[104] l. c. II, 303.
[105] Psychologisch interessant ist die Thatsache, dass im Gegentheil
mitunter ganz alte, nichts weniger als anziehende Frauen Opfer solcher
Attentate geworden sind. +Tardieu+ berichtet über Nothzüchtigung
einer 63jährigen und +Casper+-+Liman+ über die einer ebenso alten und
überdies durch Pockennarben entstellten Person, und in Innsbruck wurde
im Jahre 1875 ein 18jähriger Bursche wegen Nothzucht verurtheilt, die
er an einem 70jährigen, ganz herabgekommenen Weibe begangen hatte,
ebenso in Wien am 19. October 1878 ein 16jähriger Fleischergehilfe, der
die That an einem 51jährigen und ein zweites Mal an einem 61jährigen
Weibe beging.
[106] +Weiss+ (Prager med. Wochenschr. 1878, pag. 234) berichtet
über eine Atresie der Vagina, die bei einem 15jährigen Mädchen durch
brutalen, von vier Personen hintereinander ausgeübten Coitus zu Stande
gekommen war.
[107] +Jacobi+ und +Hamilton+, „Nervöse Störungen bei masturbirenden
Kindern“. Virchow’s Jahrb. 1876, II, 611; ebenso +Fleischmann+, „Onanie
bei Säuglingen“. Wiener med. Presse. 1878, pag. 8.
[108] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1874, XXI, 60. Einen andern
Fall von +Tamburini+, „Lipemania suicida in sequito al oltraggio al
pudore“, vide Virchow’s Jahrb. 1876, II, 64, und einen neuen von
+Maschka+ (l. c., pag. 161).
[109] Besonders merkwürdig ist ein von +Blumenstok+ (Virchow’s Jahresb.
1887, I, 484) mitgetheilter Fall von Tod eines 24jährigen Mädchens
durch Aneurysma dissecans, dessen Entstehung auf ein 11 Tage zuvor von
zwei Männern ausgeübtes Nothzuchtsattentat zurückgeführt werden konnte.
[110] Im Jahre 1873 obducirte +Tardieu+ (l. c. 86) ein 14jähriges
Mädchen, welches an Bauchfellentzündung in Folge einer nach einem
Nothzuchtsattentate eingetretenen heftigen Vaginitis gestorben war.
+Brouardel+ (l. c.) fand bei der Obduction eines 15jährigen Mädchens,
welches, nachdem es von einem mit Tripper behafteten Manne wiederholt,
das letzte Mal 8 Tage vor dem Tode, gebraucht worden, an einem Oedem
der linken unteren Extremität erkrankt und plötzlich gestorben war,
ausser purulenter Metritis und Vaginitis eine Thrombose der Vena iliaca
sin. und eine Embolie der Pulmonalarterie durch ein losgerissenes Stück
des betreffenden Thrombus.
[111] +Casper+-+Liman+, 7. Aufl., 102.
[112] Andere unter den Begriff der „Schändung“ zu subsumirende
Unzuchtsacte sind verhältnissmässig selten. Nach +Tardieu+ (Attent. aux
moeurs, 1878, pag. 70) wurden 1866 mehrere Mägde und ihre Liebhaber
verurtheilt, welche mit einem 7jährigen Mädchen und einem 5jährigen
Knaben die schändlichste Unzucht getrieben hatten, indem sie ersterem
ausser den Fingern verschiedene fremde Körper, u. A. Rüben, in die
Scheide, letzterem ebensolche Gegenstände und selbst kleine Löffel, in
den Anus einführten; und +Fredet+ (Annal. d’hygiène publ. 1880, Nr.
21, pag. 247 u. ff.) berichtet über die Ligatur der Clitoris eines
8jährigen Kindes durch ein 18jähriges Mädchen. Es gehören hierher auch
die von weiblichen Individuen mit Knaben ausgeübten Beischlafsversuche
und die an Mädchen unter 14 Jahren, sowie an wehr- und bewusstlosen
weiblichen Individuen unternommene Päderastie.
[113] Entscheidung des ob. Gerichtsh. vom 3. Februar 1858 und 8. März
1864. +Herbst+, l. c., pag. 285.
[114] Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1865, N. F., II, pag. 355.
[115] Wie +Mayer+ (Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1875, 41)
mittheilt, berichtet Dr. +Fischer+, Hausarzt am Arbeitshause zu St.
Georgen, ein sehr erfahrener Gefängnissarzt, es komme gar nicht selten
vor, dass die an sexuelle Genüsse gewöhnten Mädchen in der Anstalt
selbst Liebschaften etabliren, und sobald sie irgendwie Gelegenheit
finden, sich zu vereinigen suchen. Ihre Leidenschaft entbrennt nach
dieser Richtung merkwürdig, und sie machen alle Qualen der Liebe und
Eifersucht durch, wie sie nur bei Verschiedenheit der Geschlechter
hier und da im Leben vorzukommen pflegt. Aehnliche Angaben, betreffend
Prostituirte und Inhaftirte, vide +Andronico+, Arch. di psich. scienze
penali ed anthropologia criminale. Vol. III, pag. 145. Als „Saphismus“
bezeichnet +Martineau+ („Leçons sur les déflorations vulvaires et
anales produites par la masturbation, le saphisme, la défloration et
la sodomie.“ Paris 1884) eine eigene Form der Tribadie, die in mit
Saugen verbundener Friction der Clitoris mit der Zunge besteht. Diese
Unzuchtsform soll in Paris häufig vorkommen und +Martineau+ erklärt,
dass dieselbe sogar als eine Form der Prostitution unter Frauen
existirt.
[116] Dies geht deutlich aus dem psychologisch höchst interessanten
Selbstbekenntniss eines den höheren Ständen angehörenden Päderasten
hervor, dessen Mittheilung wir +Casper+ verdanken (Liman’s
Handb. I, 183). Im Jahre 1870 wurde in Innsbruck der Vorsteher
eines Junggesellenbundes (in loco „Buben-Apis“ genannt) wegen
widernatürlicher Unzucht verurtheilt, die er mit einer grossen Zahl
halberwachsener Knaben getrieben hatte. Fast alle ihm zur Last
gelegten Handlungen liefen auf onanistische Manipulationen hinaus,
die er theils selbst an den Knaben vornahm, theils an sich vornehmen
liess. Nur einmal hatte er die Immissio penis in den Anus eines Jungen
unternommen, musste jedoch davon abstehen, als dieser wegen Schmerz zu
schreien anfing. -- Doch liegt eine Entscheidung des österr. Obersten
Gerichtshofes vom 13. Juli 1878 und ein Erkenntniss des deutschen
Reichsgerichtes vom Jahre 1884 (Virchow’s Jahrb. I, 440, +Wellenstein+)
vor, wonach Onanie zwischen Männern nicht unter den §. 129, resp. 175
fällt.
[117] Im +Cornelius Nepos+ finden sich folgende Stellen:
„Laudi in Graecia ducitur adolescentulis multos habere amatores.“ --
„Alcibiades ineunte adolescentia amatus est a multis more Graecorum.“
[118] Vide diese zusammengestellt von +Krafft+-+Ebing+, Arch. f.
Psych. 1877, VII, pag. 291, insbesondere aber in seinem bekannten
Werke „Psychopathia sexualis“ und eine ausführlichere Besprechung der
psychologischen Seite der Päderastie in unserem gleichbenannten Artikel
in +Eulenburg+’s Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde.
[119] Motive des deutschen St. G.-Entwurfes.
[120] F. +Frisch+, Gonorrhoea rectalis. Prager med. Wochenschr. 1892,
pag. 52.
[121] S. auch +Liman+, Berichte des X. intern. med. Congresses.
[122] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. VII, 193.
[123] Meist sind es grössere Säugethiere, insbesondere Stuten, Kühe
und Ziegen, seltener Hunde, die auf diese Weise missbraucht werden,
keineswegs aber ausschliesslich. So wurde nach +Tardieu+ (l. c. 10)
1876 in Paris ein 35jähriger Mann verurtheilt, der wiederholt --
Hennen missbraucht hatte und bei frischer That erwischt wurde, und
auch +Schauenstein+ (Lehrb. der gerichtl. Med. 1875, pag. 161) und
+Kowalewsky+ (Jahrb. für Psych. 1887, VII, 289) erwähnen solche Fälle.
[124] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1865, II, pag. 355.
[125] Das Haar in forensischer Beziehung. 1866, pag. 79.
[126] Lehrb. d. gericht. Med. 1875, 161. Ausführlicheres über die
Verbreitung der Sodomie mit männlichen Thieren in Paris findet sich bei
+Martineau+ (l. c.).
[127] Sonderbarer Weise gehört auch päderastische Unzucht von Männern
mit männlichen Thieren nicht in das Bereich der Unmöglichkeiten, denn
+Tardieu+ berichtet (l. c. 12) über einen solchen 1872 vorgekommenen
Fall, betreffend einen Bauer, der von einem anderen im Walde
überrascht wurde, als er, wie Letzterer positiv angab, von einem
grossen Hunde per anum sich gebrauchen liess. Der Angeklagte gestand
das Factum, soweit es die Position betraf, zu, behauptete jedoch, er
habe sich von dem Hunde blos belecken lassen, um die von einem Eczem
herrührenden Schmerzen zu lindern. Analoge Fälle werden von +Bouley+
und +Brouardel+ (Annal. d’hygiène publ. 1884, pag. 528), +Montalti+
(Virchow’s Jahresber. 1887, I, 483) und einem Anonymus (Ibid. 1888,
447) mitgetheilt. Im letzteren Falle war durch die Bemühungen des in
actu Ueberraschten, vom Hunde loszukommen, eine starke Zerreissung des
Afters entstanden.
[128] Lehrb. d. Geburtsh. 1855, pag. 111.
[129] Henke’s Zeitschr. Bd. 73, pag. 402.
[130] Med. Times. 4. Nov. 1871. Schmidt’s Jahrb. 1872, Nr. 1, pag. 49.
Neuere Fälle, in welchen aber die betreffenden Blutungen fast sämmtlich
als pathologische erkannt wurden, bringt +Lewy+: „Ueber Menstruation
während der Schwangerschaft.“ Arch. f. Gyn. XV, 361. Auch in den von
+Säxinger+ (Maschka’s Handb., l. c. 200) untersuchten Fällen konnten
die Blutungen auf pathologische Ursachen zurückgeführt werden.
[131] An der Leiche gelingt dies schon viel früher, mitunter, wie wir
uns wiederholt überzeugt haben, schon im zweiten bis dritten Monate,
und es verdient hervorgehoben zu werden, dass man auch bei während der
Menstruation verstorbenen jungfräulichen Individuen mitunter im Stande
ist, einen molkigen Tropfen aus der Brustdrüse herauszupressen.
[132] Statistische Resultate aus der Untersuchung von 3000 Schwangeren.
Christiania 1866.
[133] Nach +Ahlfeld+ (Monatsschrift für Geburtsk. XXXIV, 180) werden
die Kindesbewegungen durchschnittlich am 132·77. Tage gefühlt, und zwar
bei Erstgebärenden später (am 137·46. Tage) als bei Mehrgebärenden (am
130·73.).
[134] März, pag. 75 und November, pag. 354.
[135] Kritische Zusammenstellung älterer Angaben vide +Casper+-+Liman+,
l. c. 230 ff.
[136] Monthly Journ. Juli 1853. -- Schmidt’s Jahrb. 1853, II, 228.
[137] Arch. f. Gyn. 1872, III, pag. 456; v. auch +Cohnstein+, „Ueber
Prädilectionszeiten der Schwangerschaft“. Ibid. XV, 220.
[138] +Olshausen+ (Zeitschr. f. Geburtsh. 1889, XVI, pag. 202 und
207) verlangt, dass mindestens 310 Tage festgesetzt werden sollten,
und daneben die Zulässigkeit des Wahrscheinlichkeitsbeweises einer
320tägigen Schwangerschaftsdauer.
[139] In einem von +Rosenfeld+ (Wiener med. Presse. 1885, Nr. 34)
mitgetheilten Falle von Spätgeburt (letzte Menstruation 10. Februar,
Entbindung am 16. December) war das neugeborene Kind 59 Cm. lang und
5920 Grm. schwer, im Falle +Bensinger+’s (11monatliche Gravidität,
Centralbl. f. Gyn. 1893, Nr. 35) betrug die Länge 58 Cm. und das
Gewicht 6 Kgrm.
[140] +Lobstein+ (Kopp’s Jahrb. 1810, IX, pag. 282) fand bei einem
angeblich am 300. Tage geborenen Kinde sechs Schneidezähne in den
Kiefern. Nach +Dumur+ („Des dents dans les questions médico-légales“;
Lyon 1882) kamen unter 17.578 Neugeborenen der Pariser Maternité nur
drei Kinder mit Zähnen zur Welt.
[141] Bayr. med. Correspondenzblatt. 1844, Nr. 23 und 24.
[142] „Vom Mangel u. s. w. der Gebärmutter.“ Würzburg 1858, pag. 271
u. s. f. nebst ausführlicher Literaturangabe, bezüglich welcher auch
auf +Casper+-+Liman+’s Handb. I. 237 u. ff. verwiesen wird.
[143] Med. Centralblatt. 1873, 720. Auch +Weinlechner+ berichtete in
der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerzte vom 5. Jänner 1877 über
einen Fall, in welchem nach doppelseitiger Ovariotomie die Menstruation
noch durch neun Jahre fortdauerte.
[144] Fünf so benannte Fälle von +Brachet+ in Schmidt’s Jahrb. 1849,
63. Bd., pag. 213. Hierher gehören auch die Fälle, in denen die bereits
begonnene Entbindung wieder sistirte und Lithopädionbildung eintrat.
Von solchen Fällen, die mit zum Verständniss sowohl der Spätgeburt als
der Nachempfängniss beitragen und die bei Thieren häufiger vorkommen,
stellt +Oldham+ gegen 30 zusammen, wozu +Henning+ (Arch. f. Gyn. XIII,
292) einen neuen hinzufügt.
[145] +Kussmaul+, l. c., ebenso Schmidt’s Jahrb. 1854, II, 61.
[146] +Osiander+ (Handb. d. Entbindungsk., 1829) erwähnt eines Falles,
in welchem eine trotz langjähriger Ehe kinderlose Frau, die ein fremdes
Kind als das ihrige untergeschoben hatte, kurz darauf thatsächlich
gebar und nun die Sache als Ueberfruchtung darstellen wollte. Ueber
einen zweiten gerichtlichen Fall, in welchem auch an Superfötation
gedacht wurde, und der eine wegen Kindesmord in Untersuchung
befindliche Person betraf, die zwei Monate nach der betreffenden
Entbindung in der Untersuchungshaft angeblich ein degenerirtes Ei
gebar, berichtet +Fischer+ in der Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
N. F., V, pag. 22; über einen dritten +Friedberg+ (Virchow’s Jahrb.
1877, I, 378). Eine Frau gebar ein reifes Kind. Am dritten Tage fand
man in der Nachgeburt einen macerirten viermonatlichen Fötus und an der
Placenta zwei Nabelschnüre. Das Gericht dachte an eine Unterschiebung,
die jedoch seitens der Aerzte wegen des Vorhandenseins zweier
Nabelschnüre in Abrede gestellt wurde.
[147] Unter 45 von +Hecker+ zusammengestellten Fällen (Arch. f. Gyn.
XIII, 253) trat die Ruptur 26mal im zweiten, 11mal im dritten, 7mal im
vierten Monat ein, wozu +Fränkel+ einen neuen hinzufügt.
[148] Einen genau untersuchten solchen Fall siehe +Welponer+ u.
+Zillner+, Arch. f. Gyn. XIX, pag. 241.
[149] Aehnlich wie die Tubarschwangerschaft verhält sich die
Schwangerschaft in dem verkümmerten Horne eines Uterus bicornis
(+Kussmaul+, l. c.). Zur Unterscheidung einer solchen von einer
eigentlichen Tubarschwangerschaft empfiehlt sich, die Lage des
geborstenen Sackes zum Lig. rotundum zu beachten, das genau an
der Stelle abgeht, welche die Grenze zwischen Tuba und Uterus
bezeichnet. Ein solcher Fall kam uns im Juli 1877 vor und betraf ein
16jähriges Mädchen, welches unter Erbrechen und sich wiederholenden
Ohnmachtsanfällen im Laufe weniger Stunden gestorben war. Es bestand
Verdacht auf Schwangerschaft und durch medicamentöse Mittel versuchte
Fruchtabtreibung. Die Obduction ergab Gravidität am Ende des dritten
Monates in dem verkümmerten Horn eines zweihörnigen Uterus mit Berstung
desselben und hochgradiger Hämorrhagie in die Bauchhöhle; kein Zeichen
von Vergiftung. Einen ähnlichen Fall hat +Maschka+ (Prager med.
Wochenschr. 1882, Nr. 49) beschrieben und abgebildet, ebenso vier aus
der älteren Literatur H. +Coutagne+ (Des ruptures utérines pendant la
grossesse et de leurs rapports avec l’avortement criminel. Paris 1882,
pag. 9). Auch +Kaltenbach+ (Wr. med. Blätter. 1883, Nr. 52) theilt
eine solche Beobachtung mit, die anfangs für eine durch Misshandlung
entstandene Ruptur gehalten wurde.
[150] Arch. f. Gyn. XIX, 3 und „Das tuberöse subchoriale Hämatom der
Decidua. Eine typische Form der Molenschwangerschaft“, Wien 1892.
[151] Mitunter finden sich noch Eihautreste oder noch die Placenta.
Letztere kann selbst mehrere Tage zurückgehalten werden und frisch
bleiben. Ueber einen Fall von Retention der Placenta durch 3 Wochen,
der zur gerichtlichen Untersuchung Veranlassung gab, berichtet
+Thoresen+, und +Heger+ führt an, dass die Placenta bis 103 Tage nach
der Geburt der Frucht frisch im Uterus zurückgehalten werden kann
(Virchow’s Jahresb. 1874, II, 806).
[152] Die mit einer Entbindung verbundene Blutung hat auch insoferne
eine grosse forensische Wichtigkeit, als die Spuren, die sie
zurücklässt, sowohl für die Erkennung des Ortes, wo die Geburt
stattgefunden, als auch für die Begutachtung mancher anderer concreter
Verhältnisse des Falles brauchbare Anhaltspunkte zu gewähren im Stande
sind. Uns wurde wiederholt vom Gericht die Frage vorgelegt, ob mit
einer Entbindung nothwendig Blutung verbunden sein müsse, und wie
bedeutend dieselbe in der Regel wäre; so besonders in einem Falle,
in welchem die Angeklagte angab, dass sie hinter einem Plankenzaun
entbunden, und nachdem sie das angeblich todte Kind von sich abgetrennt
hatte, sofort über den Zaun wieder zurückgestiegen sei, während sich
an demselben unmittelbar darauf keine Spuren von blutigen Händen
vorfanden, dagegen bei der Obduction sich herausstellte, dass das
Kind lebend geboren und erwürgt worden sei. -- Blutung ist mit jeder
Entbindung verbunden, doch ist die Grösse derselben sehr verschieden.
Die Stärke der Blutung aus dem Uterus hängt zunächst ab von der
Energie, mit welcher sich derselbe nach der Ausstossung der Frucht
und später der Placenta zusammenzieht, und es ist in dieser Beziehung
die Angabe von +Schröder+ (l. c. 561) bemerkenswerth, dass gerade bei
sehr schnell verlaufenden Geburten (und viele heimliche Geburten sind
es) nach Ausstossung des Kindes eine Atonie des Uterus eintreten kann,
die stärkere Blutungen veranlasst. Ausserdem ist die Zahl und die
Ausdehnung der Einrisse des Muttermundes auf die Quantität des sich
ergiessenden Blutes von Einfluss, ferner auch jene der Einrisse am
Scheideneingang, von denen zu bemerken ist, dass sie bei Erstgebärenden
in der Regel zahlreicher und ausgebreiteter zu sein pflegen, sowie,
dass insbesondere die Schleimhautrisse zwischen Clitoris und Urethra,
wie wir bereits an einem anderen Orte erwähnt haben (pag. 120), und
wie auch +Schröder+ angibt (l. c. 567), des blutreichen und cavernösen
Gewebes wegen mitunter bedeutende Blutungen herbeizuführen vermögen.
Beachtenswerthe Untersuchungen über den „Blutverlust bei der Geburt“
hat +Schauta+ (Wiener med. Blätter. 1886, Nr. 11) angestellt.
[153] Dass ein solcher Vorgang und nicht, wie man meist annimmt, eine
subepidermoidale Zerreissung der Malpighi’schen Schichte stattfindet,
hat +Langer+ (Wr. med. Wochenschr. 1879, pag. 635) dargethan.
[154] Jena’sche Zeitschr. 1868, IV, pag. 577.
[155] Vierteljahrschr. f. gerichtliche Med. 1874, N. F., XXI, 229.
Ebenso fand +Fasbender+ (Zeitschr. f. Geburtsh. II, 43) bei 37·3
Procent der Erstgebärenden und bei 36·6 Procent der Mehrgebärenden das
Frenulum erhalten. Die Frequenz der Dammrisse steigt nach +Fasbender+
mit dem Alter der Erstgebärenden.
[156] Vide +Mayrhofer+, „Ueber die gelben Körper“ etc. Wien 1876.
Ebenso +Leopold+, Archiv f. Gyn. 1877, XI, pag. 110 und XXI, pag. 347.
[157] Nach +Henle+, Handb. d. Anat. 1864, II, 453, beträgt die Höhe
des jungfräulichen Uterus 6-8 Cm., der transversale Durchmesser des
Fundus 4-5, der grösste sagittale 2-3 Cm.; bei Frauen, welche geboren
haben, die Höhe 9 bis 19, der transversale Durchmesser 5½-6½, der
sagittale 3-3½ Cm.
[158] S. +Pichler+, Wiener Allg. med. Ztg. 1860, Nr. 42; R. +Lex+,
Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Med. 1866, N. F., IV, pag. 179 ff.;
+Ferri+, „Evolutione dell’ omicidio“. Lombroso’s Archiv. Vol. III,
296; E. +Verrier+, Ibid. 1884, pag. 496; H. +Ploss+, „Zur Geschichte
der Fruchtabtreibung“. 1883; +Galliot+, „Recherches histor. sur
l’avortement criminel“. Paris 1884.
[159] „Persien und seine Bewohner.“ Leipzig 1865, I, 216.
[160] Virchow’s Archiv. XXIII, 313 und LXII, 272.
[161] Virchow’s Jahresbericht. 1869, pag. 628.
[162] „Sur la décroissance de la population en Turquie.“ 1872.
+Ullersperger+ in Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1873, pag. 240.
[163] „Étude méd.-lég. sur l’avortement.“ Paris 1863.
[164] +Pfaff+, Zeitschr. f. Staatsarzneik. XXVI, 1. Heft. In einem
von +Gallard+ (l. c. 30) mitgetheilten Fall hatte ein Ehemann,
um die Frucht seiner schwangeren Frau abzutreiben, sich selbst
eine eiserne Uterussonde verfertigt und seiner Frau versprochen,
künftig eine silberne sich zu verschaffen und bei eventuellen neuen
Schwangerschaften anzuwenden. Unglücklicher Weise verletzte er gleich
das erstemal den Uterus, so dass die Frau zwar abortirte, aber in
Folge der Verletzung starb. Häufiger dürften andere Mittel in Gebrauch
sein, um übergrossen Kindersegen einzuschränken. Darüber berichten
+Lombard+ und +Toulemont+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, N.
F., 19, pag. 421 u. s. f.), und Letzterer bezeichnet die freiwillige
Unfruchtbarmachung der Ehe, den „Malthusianisme pratique“, geradezu
als ein „grand mal social“. -- Derartige Mittel hat das preuss.
Landrecht in dem oben (pag. 47) citirten §. 695 im Auge gehabt und
als Scheidungsgrund bezeichnet. Vide darüber auch +Beigel+, Wiener
med. Wochenschr. 1877, Nr. 36; +Pincus+, Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1879, XXX, pag. 377; Stille, Die Bevölkerungsfrage. Berlin 1879,
2. Aufl., +C. Hasse+, Ueber facultative Sterilität. Das Pessarium
occlusivum. Neuwied 1882-1883, 2 Theile, mit Abbildungen; +Steinbach+,
Internat. Rundschau. 1889, Nr. 1.
[165] +Ullersperger+, l. c. -- +Ovid+ (Amor. II, 14) erwähnt, dass
die römischen Damen die Frucht abtrieben, „ut careat rugarum crimine
venter“.
[166] Im Falle eines blossen Versuches, ob die Betreffende wirklich
schwanger sei oder gewesen ist. Es kommt gar nicht selten vor, dass
von Frauenspersonen Fruchtabtreibungsversuche unternommen werden, weil
sie glauben, schwanger zu sein, ohne dass dies thatsächlich der Fall
wäre. Durch letzteren Nachweis wird eine Anklage auf Fruchtabtreibung
gegenstandslos, da das Gesetz ausdrücklich von „Schwangeren“ spricht.
Zufolge Entscheidung des deutschen Reichsgerichtes vom 24. Mai 1880
ist jedoch die Strafbarkeit des Versuches der Kindesabtreibung dadurch
+nicht+ ausgeschlossen, dass der Thäter des beabsichtigten, aber nicht
eingetretenen Erfolges sich absolut untauglicher Mittel bedient hat,
und es ist ferner laut weiterer Entscheidung vom 10. Juni 1880 für
die Strafbarkeit des Versuches gleichgiltig, ob die Vollendung des
Verbrechens wegen Untauglichkeit des Objectes (z. B. todtes Kind)
möglich war oder nicht. In einem Wiener Falle liess sich nachweisen,
dass die Frucht zur Zeit des Eihautstiches schon todt (macerirt)
war, in einem anderen von +Paltauf+ (Archiv f. Gyn. XXX, 3. Heft)
mitgetheilten, in welchem Einspritzungen in den Uterus gemacht worden
waren, ergab die Obduction -- Extrauteringravidität. In beiden Fällen
wurden die betreffenden Hebammen nicht wegen Fruchtabtreibungsversuch,
sondern nur wegen fahrlässiger Tödtung verurtheilt.
[167] +Hausmann+, Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie. Berlin
1872, I, 155.
[168] +Leblond+ (Annal. d’hygiène publ. 1877, Nr 102, pag. 522),
besonders aber +Gallard+ (l. c. pag. 16 und 17).
[169] Auch +Hohl+ (l. c. 1862, 2. Aufl., pag. 283) erwähnt diese
Möglichkeit.
[170] Literatur über den Gegenstand vide +Hausmann+ (l. c.) und
+Beigel+, Arch. f. Gyn. IX, 84; +Kleinwächter+, Wiener Klinik. 1885, 2.
Heft.
[171] +Ziemssen+’s Handb. X, 312. Vide auch +Leopold+, Archiv f. Gyn.
1876, X, 293.
[172] +Hecker+, Ueber das Gewicht des Fötus und seiner Anhänge in den
verschiedenen Monaten der Schwangerschaft. Monatsschr. f. Geburtsk.
1866, XXVII, 266. +Schröder+ l. c. 35. +Casper+-+Liman+ l. c. II, 820.
+Toldt+, Ueber Altersbestimmung menschlicher Embryonen. Prager med.
Wochenschr. 1879, pag. 121.
[173] Nach +Whitehead+ abortirten 37 Procent aller Schwangeren. +Abegg+
zählt 1 Abortus auf 11, +Henning+ (Schmidt’s Jahrb. 1873, 160, pag.
261) einen schon auf 10 Geburten.
[174] +Whitehead, Lex+ (l. c. 211).
[175] Nach +Rican+’s Mittheilungen über die Pneumonia gravidarum
(Virchow’s Jahresb. 1875, II, 591) erfolgten bei 28 Pneumonien +vor+
dem 180. Schwangerschaftstage 23 Heilungen (6 mit, 17 ohne Abortus).
Dagegen kamen bei 15 +nach+ dem 180. Tage nur 8 Heilungen (5 mit, 3
ohne Frühgeburt) und 7 Todesfälle, unter denen nur 2 unentbunden,
vor. Den Untersuchungen +Runge+’s zufolge (Arch. f. Gyn. XII und XXV)
sind insbesondere hohe Fiebertemperaturen geeignet, ein Absterben der
Frucht und dadurch Abortus zu bewirken. Wurde die Temperatur trächtiger
Kaninchen längere Zeit auf 41·5 fixirt, so wurden regelmässig todte
Junge extrahirt und zugleich ergab sich, dass bei hohen Hitzegraden die
Jungen eher starben als das Mutterthier. Weitere Versuche +Runge+’s
(Ibid. XIII, 143) machen es auch wahrscheinlich, dass durch dauernd
erhöhte Temperaturen die Reizbarkeit des Uterus erhöht wird.
[176] Die acute Nephritis der Schwangeren verläuft in der Regel unter
dem Bilde der Eclampsie und veranlasst häufig nicht blos Abortus,
sondern auch den Tod der Schwangeren. Solche Fälle können dann den
Verdacht eines absichtlich, insbesondere durch innerlich genommene
Mittel veranlassten Abortus erwecken. Wir haben mehrere solche
Fälle beobachtet, und ein derartiger findet sich in +Maschka+’s
Gutachten. III, 234. Vide auch +Hofmeier+, Bedeutung der Nephritis
in der Schwangerschaft. Zeitschr. f. Geburtsh. III, 259. +Löblein+,
Bemerkungen zur Eclampsie-Frage. Ibid. IV, 89.
[177] +Fehling+, Habituelles Absterben der Frucht bei Nierenerkrankung.
Wr. med. Blätter. 1885, Nr. 42.
[178] Virchow’s Jahresb. 1874, II, 757.
[179] Die Ansicht +Ruge+’s (Zeitschr. f. Geburtsh. I, Heft I und
III, pag. 214), dass die Nabelschnurtorsionen bei macerirt geborenen
Früchten grösstentheils erst postmortal entstanden sind, wurde durch
+Martin+ (Ibid. II), +Dohrn+ und +Kehrer+ (Arch. f. Gyn. XIII)
ausführlich widerlegt.
[180] Fälle dieser Art finden sich bei +Schröder+ (l. c. 214)
zusammengestellt. Besonders interessant von diesen ist der von
+Fairbank+ publicirte, in dem eine Frau im sechsten Monate der
Schwangerschaft eine colossale Quetschung des Unterleibes und Fractur
des Beckens erlitt, aber von der damals abgestorbenen Frucht erst drei
Monate später entbunden wurde. -- Auch +M‛Clintok+ (Virchow’s Jahrb.
1875, II, 595) hat zwei Fälle beschrieben, in denen die Ausstossung
des abgestorbenen Eies erst drei, beziehungsweise sechs Monate später
erfolgte. Zwei Fälle von je fünf und zwei Monate dauernder Retention
finden sich im Arch. f. Gyn. 1877, XII, 482, und über einen von
Retention der im vierten Monate abgestorbenen Frucht bis zum normalen
Ende der Schwangerschaft berichtet +Roth+ (Med. Centralbl. 1879,
pag. 461), indem er gleichzeitig eine Reihe analoger Fälle aus der
Literatur zusammenstellt. Einen neuen Fall dieser Art, betreffend eine
fünfmonatliche Frucht, welche erst sechs Monate nach ihrem Absterben
geboren wurde, bringt +Depaul+ (Gaz. des hôp. 1881, Nr. 96).
[181] +Schröder+ (l. c. 224).
[182] Pflüger’s Archiv. IX, 552.
[183] Pflüger’s Archiv. IX, 552.
[184] Oesterr. med. Jahrb. 1874, pag. 1.
[185] Zeitschr. f. rat. Med. 5. Folge, II, 1.
[186] Wiener med. Jahrb. 1872, I.
[187] +Fehling+ (Arch. f. Gyn. XI, pag. 523) will zwar, wenn er
trächtige Thiere Kohlenoxyd athmen liess, dieses auch im fötalen
Blute gefunden haben; dieser Nachweis ist uns jedoch in einem
gemeinschaftlich mit Professor +Ludwig+ angestellten Versuche nicht
gelungen, vielmehr zeigten, obzwar das Mutterthier eine Stunde lang CO
geathmet hatte und in der CO-Atmosphäre verendet war, die fünf Jungen,
mit denen dasselbe trächtig sich erwies, gewöhnliches Erstickungsblut,
welches sowohl makroskopisch, als bei der spectralen Untersuchung ganz
anders sich verhielt als das Blut des Mutterthieres. Auch haben wir
ebenso wie +Falk+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1884) bei einer
an CO-Vergiftung verstorbenen Schwangeren wohl im natürlichen, nicht
aber im fötalen Blute CO gefunden. Wenn demnach +Breslau+ (Monatsschr.
f. Geburtsk. Juni 1859) einen Fall von frühzeitiger Geburt eines todten
Kindes nach Leuchtgasvergiftung mit Erhaltung der Mutter beschreibt, so
ist durchaus nicht erwiesen, dass das Leuchtgas auch in das Blut des
Fötus gelangte und diesen vergiftete; es lässt sich vielmehr der Tod
der Frucht auch einfach durch Erstickung erklären, welche erfolgte,
weil dem fötalen Blute von Seite der Mutter nicht die nöthige Menge von
Sauerstoff zugeführt wurde.
[188] Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, dass auch die
Quecksilbercuren, insbesondere Inunctionscuren schwangerer
Syphilitischer, als für die Frucht gefährlich bezeichnet wurden. Die
Erfahrungen der Syphilidologen (wir berufen uns insbesondere auf
diesbezügliche Mittheilungen Prof. +v. Sigmund+’s) lehren jedoch,
dass derartige Curen ohne Schaden für die Frucht vorgenommen werden
können, und dass, wenn Abortus eintritt, dieser in anderen Ursachen,
insbesondere in der Syphilis selbst, seinen Grund hat. -- +F. Weber+
(Med. Centralbl. 1875, pag. 528) hat das Verhalten der Schwangerschaft
bei den verschiedenen antisyphilitischen Behandlungsmethoden in 129
Fällen verfolgt. Die günstigsten Resultate erzielte die Schmiercur;
denn von den so behandelten 35 Weibern kam keine einzige vorzeitig
nieder, während bei anderen Methoden 15-36 Procent abortirten. Die
ungünstigsten Resultate lieferte die Behandlung mit Jodkalium, nämlich
36 Procent. +Tardieu+ citirt einen Fall, in welchem die Gerichtsärzte
nicht anstanden, den im vierten Monate erfolgten Abortus mit einer
genau vier Gramm Jodkalium enthaltenden Mixtur in causalen Zusammenhang
zu bringen. Dagegen bemerkt +Gallard+ (l. c. 20), dass er häufig noch
beträchtlichere Dosen von Jodkalium bei Schwangeren verordnet habe,
ohne den geringsten Schaden, will jedoch die abortive Wirkung des
Jodkaliums dennoch nicht ganz bestreiten! Auch dem Chinin wurde eine
abortive Wirkung zugeschrieben. Dagegen berichtet +Goth+ (Virchow’s
Jahrb. 1881, II, 561) über 46 wegen Malaria mit Chinin behandelte
Schwangere und bemerkt, dass selbst bei grossen Dosen eine schädliche
Einwirkung des Mittels auf die Frucht nicht beobachtet wurde.
[189] +Stockes+, Amer. Journ. 1871, pag. 599. -- Schmidt’s Jahrb. 1871,
151, pag. 166.
[190] Dass derartige individuelle Einflüsse eine wichtige Rolle
spielen, zeigen deutlich die in der neueren Zeit mit Pilocarpin, dem
wirksamen Princip der Folia Jaborandi, gemachten Erfahrungen (vide
diese zusammengestellt in +Kleinwächter+’s Aufsatz: „Mittheilungen über
die Verwendung des Pilocarpinum muriaticum in der Geburtshilfe.“ Wr.
med. Presse. 1879, Nr. 13 u. ff.). Während es einzelnen Geburtshelfern
gelang, durch subcutane Injection 2procentiger Lösungen von Pilocarpin
(bis 20 Milligramm pro dosi) Frühgeburt zu bewirken, und zwar im Ganzen
in fünf Fällen, erzielten andere keinen Erfolg. Später hat +Gigeollet+
durch Pilocarpininjection die künstliche Frühgeburt herbeigeführt, und
zwar zweimal bei ein und derselben Frau. Ferner hat +van der May+ durch
Thierversuche sich überzeugt, dass das Pilocarpin sowohl bei subcutaner
als bei intravenöser Injection Uteruscontractionen veranlasst
(Virchow’s Jahrb. 1881, I. 455). Neueres über Pilocarpinwirkung bei
Schwangeren siehe +Schauta+, Grundriss der operativen Geburtshilfe.
1885, pag. 48.
[191] Virchow’s Archiv. LVI, 505, und Beiträge zur Gynäkologie und
Geburtshilfe. 1874, III, 1.
[192] Reiche Literaturangaben bei O. +Egeln+: „Ist Secale cornutum ein
Abortivmittel?“ Diss. Bonn. 1892.
[193] Derselbe Fall wurde auch von +Neubert+ publicirt (+Husemann+’s
Toxikologie. 360).
[194] +Husemann+, l. c. Supplementh. 43.
[195] Zusammenstellung der Fälle (vide +Lex+, l. c. 243). Weitere
Beobachtungen über Vergiftung von Thieren mit Taxusblättern finden
sich in Virchow’s Jahrb. 1874, I, 489. Ebendaselbst eine nicht letal
abgelaufene Vergiftung eines fünfjährigen Mädchens mit Taxusfrüchten.
[196] Med. Centralbl. 1876, pag. 97.
[197] Eine letale Vergiftung mit diesem als Abortivum genommenen
Gewürz hat +Schmidtmann+ (Berl. klin. Wochenschr. vom 11. Juni 1888)
beobachtet.
[198] „Kurze Mittheilung einer acuten Phosphorvergiftung zum Zwecke
der Fruchtabtreibung.“ Mittheilungen des Vereines der Aerzte in
Niederösterreich. 1887, Nr. 15.
[199] +Miura+ (Virchow’s Archiv. XCVI, 1) hat gefunden, dass
bei Vergiftung trächtiger Kaninchen auch bei den Föten fettige
Degenerationen sich entwickeln.
[200] Entscheidung des obersten Gerichtshofes vom 7. Jänner und 22.
April 1852. +Herbst+, Strafrecht. I, 311. Ueber die modificirte
Anschauung des deutschen Reichsgerichtes s. pag. 216.
[201] +Lex+, l. c. 254, vide auch +Gallard+, l. c. pag. 24. Daselbst
auch ein Fall von Fruchtabtreibungs-Versuch durch zweimaliges sich
Hinunterkollernlassen von einer Stiege und durch Stösse gegen den Bauch.
[202] Dass Contractionen sowohl des schwangeren als des
nichtschwangeren Uterus nach mechanischen Reizen der Oberfläche
desselben erfolgen, davon haben wir uns bei Hündinnen wiederholt
überzeugt. Insbesondere war es der eigentliche Körper des Uterus,
dessen Reizung durch Reiben mit einer Sonde sehr constant Contractionen
desselben und jene Bewegungserscheinungen am Cervix hervorrief, die wir
gemeinschaftlich mit +v. Basch+ l. c. beschrieben haben.
[203] Henke’s Zeitschr. 1863, 122. +Lex+, l. c. 257.
[204] Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. I, 321, ebenso in zwei von
+Schoder+ (l. c.) publicirten.
[205] Zu diesen gehören auch die über die Gefühle, welche sie
angeblich bei der an ihnen eingeleiteten Operation, insbesondere beim
Eihautstich, empfunden haben. Gewöhnlich wollen die Schwangeren beim
Einführen von Instrumenten einen Stich oder ein Bohren empfunden
haben. P. +Berger+ (Des sensations perçues par les femmes pendant les
manoeuvres d’avortement. Annal. d’hygiène publ. pro 1881, Nr. 10, pag.
321) hat diesen Gegenstand sowohl bei leerem, als bei pathologische
Geschwülste enthaltendem, schwangerem Uterus verfolgt und fand,
dass sowohl der innere Muttermund, als das Collum uteri, sowie die
Innenfläche des Uterus unempfindlich sind, und dass daher, wenn Sonden
etc. vorsichtig eingeführt werden, die Betreffenden dabei keinen
Schmerz, ja nicht einmal ein auffälliges Gefühl verspüren. Schmerzen
treten aber sofort auf, wenn der Uterus gezerrt wird. Leicht dagegen
entstehen Schmerzen bei Manövern in der Vagina, die dann häufig
als „Stich“ empfunden werden. Schon die einfache Untersuchung mit
Instrumenten oder selbst mit den Fingern kann dieses Gefühl erzeugen.
Es ist auch begreiflich, dass die Schwangeren nicht immer präcise
Angaben über die an ihnen vorgenommenen Operationen zu machen vermögen.
So gab, wie +Liman+ (l. c. I, 248) berichtet, eine Abortirte an, dass
ihr die Hebamme eine Einspritzung mit Oel gemacht habe, während diese
geständig war, einen Katheter in Oel getaucht und in die Gebärmutter
eingeführt zu haben.
[206] +Hohl+ (l. c. 1862, pag. 741). Eine ausführliche Zusammenstellung
der Erfahrungen über den Zeitpunkt des Abortus nach den verschiedenen
mechanischen Fruchtabtreibungsmethoden bringt +Dölger+ (l. c.).
[207] Nach +Krause+ (+Lex+, l. c. 261) bis zu 22 Tagen. Wie schwer es
mitunter selbst Sachverständigen fällt, den Uterus zu Contractionen
anzuregen, geht aus der Mittheilung von +Baader+ (Virchow’s Jahrb.
1868, II, 633) hervor, der durch 11 Tage 43 Douchen anwandte, dazu noch
am fünften Tage Schröpfköpfe auf die Warzen setzte und schliesslich
doch zur Einführung des Katheters in den Uterus greifen musste, um am
dreizehnten Tage (!) die Entbindung zu bewirken.
[208] Virchow’s Jahresb. 1868, II, 632.
[209] S. Fig. 44. Einen solchen Fall hat +Winter+ in der Berliner
gynäkologischen Gesellschaft am 12. November 1886 vorgezeigt und
+Richardière+ (Virchow’s Jahresb. 1888, I, 516) berichtet über einen
anderen.
[210] Die Angaben über die Häufigkeit der spontanen Uterusruptur gehen
sehr auseinander. Einzelnen Beobachtern zufolge kommt schon auf 300
Geburten eine Ruptur des Uterus, nach anderen eine erst auf 113.138
Entbindungen (+Schröder+, l. c. 539). Wie auch in dieser Beziehung
statistische Berechnungen täuschen können, beweisen die Beobachtungen
in der Maternité in Paris, woselbst in den Jahren 1839-1848 trotz
31.560 Geburten kein einziger Fall von Uterusruptur sich ereignete,
während in den nächstfolgenden zehn Jahren bei blos 28.299 Geburten
11 Rupturen vorkamen (+Lex+, l. c. 254). +Braun+ (Lehrb. der Gyn.
1881, pag. 695) sah auf seiner Klinik vom Jahre 1857-1860 unter 16.425
Gebärenden blos 4 Spontanrupturen. Von 1861-1874 kamen unter 59.217
Geburten 31 Uterusrupturen vor, von 1875-1878 unter 11.432 Geburten
blos zwei.
[211] Monatschr. f. Geburtsk. XII, 408. Eine quere Cervixruptur im
sechsten Lunarmonat sah +Piering+ (Prager med. Wochenschr. 1888, Nr.
24).
[212] +Bandl+, Die Ruptur der Gebärmutter. Wien 1875. +Rheinstädter+,
Die Uterusrupturen in foro (besonders mit Rücksicht auf angeschuldete
Kunstfehler; mit reicher Literaturangabe). Vierteljahrschr. f. ger.
Med. 1882, XXXVII, pag. 80 und 247. +Loewy+, Uterusruptur in foro.
Diss. Breslau 1888.
[213] Nachträglich (1876) hinzugefügt.
[214] +Körber+ in Dorpat (Vierteljahrschr. für gerichtl. Med. 1883,
pag. 266) fand bei der Obduction zweier gelynchter Pferdediebe
unzählige mit Blut unterlaufene Striemen, bei dem einen auch eine
Schädelfissur und intermeningeale Hämorrhagie am Scheitel und meint,
dass in solchen Fällen der Tod zunächst durch Verblutung in Folge der
ausgebreiteten Blutaustritte unter die Haut erfolgt.
[215] Aehnlichen, mitunter auffallend blauen Stellen begegnen wir auch
bei abgemagerten Individuen dort, wo die dünne Haut über oberflächlich
liegende Muskelbäuche sich hinwegspannt und letztere durchscheinen. So
entsprechend dem M. tibilias ant. und über den Muskelbäuchen der kurzen
Strecker der Zehen und der Kopfnicker.
[216] Ueber derartige Hauthämorrhagien schrieb +v. Kogerer+, Zeitschr.
für klin. Med. X, 234.
[217] Vide über diesen Gegenstand unsere Besprechung der forensisch
wichtigsten Leichenerscheinungen: Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1877, XXVI, pag. 264; ferner: +Langhans+, „Beobachtungen über
Resorption der Extravasate.“ Virchow’s Archiv. 49. Bd. und +Cordua+,
„Ueber den Mechanismus der Resorption aus Blutergüssen.“ Med.
Centralbl. 1877, pag. 952. +Rokitansky+’s Handb. der pathol. Anatomie,
3. Aufl., I, 216; +Eschweiler+ (Deutsche Zeitschr. f. Chirurg. 1885,
XXIII, pag. 94), welcher entgegen den sonstigen Anschauungen findet,
dass die nach Blutextravasaten auftretenden Hautverfärbungen nichts mit
Umwandlungen des Blutfarbstoffes zu thun haben, sondern nur von der
mehr weniger oberflächlichen Lage und der Dicke der färbenden Schichte
abhängen, und +H. Dürk+, Zur Lehre von den Veränderungen und der
Altersbestimmung von Blutungen im Centralnervensystem. München 1892.
Diss. aus Bollinger’s Institut.
[218] Das Aussehen der durch Hundebiss gesetzten Wunden hat +H.
Coutagne+ („Notes sur les morsures des animaux domestiques considérées
au point de vue de la recherche médico-légale de l’identité.“ Annal.
d’hyg. publ. 1879, pag. 508) zum Gegenstande einer näheren Prüfung
gemacht, und zwar aus Anlass eines Falles, in welchem ein Mann bei
einem Raubanfalle von dem kleinen Hunde des Angefallenen gebissen wurde
und nach seiner Verhaftung, um sein Alibi zu beweisen, behauptete, dass
er die betreffende Bisswunde allerdings zu gleicher Zeit, aber an einem
anderen Orte und von einem grossen Neufundländer erhalten habe.
[219] An der Leber, seltener an anderen Organen, beobachtet man
mitunter centrale oder subseröse Rupturen. Einmal sahen wir eine
Ruptur des Ductus hepaticus und ein zweites Mal eine isolirte Ruptur
des Ductus choledochus nach Ueberfahren. In letzterem Falle erfolgte
der Tod erst nach 10 Tagen. Die Obduction ergab stark gallig gefärbtes
Exsudat in der Bauchhöhle und lehmfarbige Fäces.
[220] Virchow’s Jahresb. 1874, I, 291. Zwei ähnliche Fälle (Ueberlebung
einer Leberruptur durch 48 und einer Milzruptur durch 43 Tage; vide
Wiener med. Wochenschr. 1879. Militärarzt. Beilage zu Nr. 2).
[221] Sitzungsbericht der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien vom 26.
Januar 1877 und Wiener med. Blätter. 1878, Nr. 13. Ferner: +Hofmeier+,
Virchow’s Jahresb. 1876, I, 286.
[222] Vide +Maschka+’s Bericht über die Explosion der Dynamitfabrik bei
Prag. Wiener med. Wochenschr. 1871, Nr. 8.
[223] Innerhalb sieben Jahren kamen an unserem Institute 58 an
Stichverletzungen gestorbene Personen zur Obduction; siebenmal handelte
es sich um Selbstmord, dreimal um Zufall, in allen übrigen Fällen
um Mord oder Todtschlag. Das verletzende Werkzeug war vierzigmal
ein Taschenmesser, einmal ein Federmesser, einmal ein dolchartiges
Messer mit stellbarer Klinge, dreimal ein Fleischermesser, fünfmal ein
Küchenmesser, je einmal ein Infanteriesäbel, ein Bistouri (Selbstmord
eines Arztes durch Stich in die Art. femoralis), ein Schusterkneif,
ein Tischlerschnitzer, ein Meissel und ein myrthenblattförmiges
Polirinstrument, und in einem weiteren Falle musste unentschieden
bleiben, ob die Verletzung mit einem Taschenmesser oder einem
sogenannten Haubajonet beigebracht worden war. Endlich wurde eine
Frau obducirt, die durch zahlreiche, mit einem starken vierkantigen
Bilderhaken gegen Kopf und Hals geführte Stiche ermordet worden war.
[224] Näheres über den Gegenstand sammt entsprechenden Abbildungen von
+E. Hofmann+: „Ueber Stichwunden in Bezug auf das verletzende Werkzeug
und dessen Erkennung.“ Oesterr. med. Jahrb. 1881, Nr. 2, pag. 261.
[225] „Ueber die Einwirkung von Pulvergasen auf das Blut und einen
neuen Befund beim Nahschusse.“ Wiener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 51.
[226] „Observation de blessure mortelle fait an moyen d’un revolver
avec quelques remarques médico-légales sur ce genre de blessure.“
Strassburg 1870. Aehnliche Versuche von +Lombroso+, +Crespi+ und
+Tazon+. Rivista clinica di Bologna. 1875, Maggio, pag. 136 und Rivista
sperim. di freniatr. e med. leg. 1876, pag. 148, sowie von +Caselli+,
ibid., pag. 6, und +Du Mesnil+, Annal. d’hyg. publ. 1877, pag. 465 (mit
Abbildungen).
[227] In Friedreich’s Blättern, 1873, pag. 361, ebendaselbst, 1879,
pag. 145, bringt +Kuby+ einen höchst interessanten Fall, in welchem
wieder eine entschiedene Stichwunde für eine Schusswunde gehalten
worden war.
[228] l. c. pag. 281.
[229] Arch. f. klin. Chir. XVIII, pag. 201.
[230] Arch. f. klin. Chir. XVII, Heft 2 und XVIII, Heft 2.
[231] „Mechanik der Schussverletzungen.“ Ibidem. XVI u. XVII.
[232] „Ueber die Wirkungen der neueren Geschosse.“ Berliner klin.
Wochenschrift, 1874, Nr. 15.
[233] „Chirurgie der Schussverletzungen.“ Med. Centralbl. 1874, pag.
601.
[234] „Untersuchungen über die Wirkungen der modernen
Kleingewehrprojectile.“ Centralbl. f. Chir. Nr. 14 u. 15.
[235] Weitere Mittheilungen über die Geschosswirkung der
Mannlichergewehre wurden von +Bogdanik+ (Wiener Klinik, 1890, Heft 12)
und von +Habart+ („Die Geschosswirkung der 8 Millimeter-Handfeuerwaffen
an Menschen und Pferden.“ Mit 5 Lichtdrucktafeln. Wien 1892) und aus
dem Kriege in Chile (Wiener klin. Wochenschr. 1892, pag. 108) gebracht.
Nahschüsse mit den modernen Gewehren, wie sie bei Selbstmördern jetzt
häufig vorkommen, erzeugen, wie auch +Perko+ (Prager med. Wochenschr.
1894, Nr. 19) bestätigt, keine wesentlich anderen Effecte, wie die mit
gewöhnlichen Schusswaffen grösseren Kalibers.
[236] Auch die durch die „Züge“ des Laufes bewirkten Streifungen des
Projectils können mitunter eine Bedeutung besitzen. In einem von
+Lacassagne+ (Arch. de l’anthrop. crimin. 1889, pag. 70) untersuchten
Falle zeigte das in der Leiche eines Ermordeten gefundene Projectil 7
Längsstreifen und es wurde durch Waffenkundige sichergestellt, dass
der Lauf des beim Thäter gefundenen Revolvers abweichend von sonstigen
Revolverarten 7 Züge besass. In einem anderen Falle fand sich an
jedem der 3 im Körper aufgefundenen Projectile, obgleich das eine nur
Weichtheile durchdrungen hatte, eine auffallende Längsrinne, und die
Untersuchung des Laufes des saisirten Revolvers ergab, dass dieselbe
von einem Vorsprunge des Visirkornes herrührte.
[237] Ueber eine merkwürdige Schussverletzung und eigenthümliche
Formveränderung der Kugel, wobei die Frage wichtig war, ob erstere
durch directen Schuss oder durch Ricochetiren der Kugel entstanden
war, berichtet +Führer+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1877,
XXVII, pag. 222). Hier sei auch bemerkt, dass aus der Auffindung
einer Spitzkugel in einer Schusswunde nicht unbedingt auf ein
Hinterladergewehr geschlossen werden kann, da eine solche auch in eine
Schusswaffe alten Systems geladen worden sein konnte, wie uns bei
Selbstmördern bereits zweimal vorkam, die sich mit einer gewöhnlichen
Pistole erschossen hatten. Im zweiten Falle, wo sich eine hochgradige
Zertrümmerung der rechten Schläfegegend und im Schusscanal nebst einem
Papierpfropf eine kleine Spitzkugel fand, lautete der Polizeibericht:
Schrotschuss mit Doppelpistole. Offenbar war also der zweite Lauf mit
Schrot geladen gewesen.
[238] +Wahl+, Langenbeck’s Archiv. XV und XVII.
[239] +Herbst+, Commentar, pag. 317.
[240] Diese können allerdings auch in dem Bilde einer acuten
Geistesstörung bestehen, welche von +Wille+ und +Guder+ („Die
Geistesstörungen nach Kopfverletzungen.“ Jena 1886) als die acute Form
des primär traumatischen Irrsinns bezeichnet wird und eine günstige
Prognose bietet, da von 7 Fällen 6 genasen. Das Bewusstsein kehrt
vorübergehend zurück, nachher folgt Somnolenz, aus welcher die Kranken
in heftige hallucinatorische Angstzustände mit feindseligem Charakter
übergehen. Allmälig werden die Kranken ruhiger, haben noch Kopfschmerz
und allerhand Innervationsstörungen und genesen, indem sie für das
Geschehene Erinnerungslücken behalten oder diese erst später durch
die Erzählungen Anderer ausfüllen. Einen neueren solchen Fall von
acutem hallucinatorischem Wahnsinn bei einem 18jährigen, im Wachsthum
zurückgebliebenen und erblich belasteten Knaben nach Schlägen auf dem
Kopfe bringt +van Hoff+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1894,
VIII, pag. 311). Hier war das Trauma die Gelegenheitsursache zum
Ausbruch der Psychose, zu welcher bereits Veranlagung bestand.
[241] Zeitschr. d. k. k. Gesellsch. d. Aerzte in Wien. 1875, pag. 454.
[242] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1874, XXI, pag. 56, ebenso
ausser den bereits erwähnten Autoren +Hartmann+ (Arch. f. Psych. XV,
pag. 98) und +Legrand du Saulle+ (Les traumatismes cérébraux. Gaz. des
hôp. 1885, Nr. 103-112).
[243] +Maudsley+, „Physiologie und Pathologie der Seele.“ 1870, pag.
335. +A. Pick+, „Drei Fälle traumatischen Irrsinns“. Prager med.
Wochenschr. 1879, Nr. 40 u. s. f., insbesondere pag. 402.
[244] +P. Bruns+ („Die Laryngotomie.“ Berlin 1878) bezeichnet als die
häufigste und unangenehmste, in 50 Procent der Fälle eintretende Folge
der Laryngotomie die Beeinträchtigung oder den gänzlichen Verlust
der Stimme, welcher Misserfolg schon der Spaltung des Schildknorpels
allein zur Last falle. Noch leichter können diese Sprachstörungen
nach Traumen des Kehlkopfes zurückbleiben, und zwar sowohl nach
penetrirenden Wunden, als nach anderen Verletzungen. So beschreibt
+Schnitzler+ (Wiener med. Presse. 1874, Nr. 42 u. 44) bei einem Manne,
der gewürgt worden war und seitdem seine Stimme verloren hatte, Bruch
des Aryknorpels und Längsriss des rechten Stimmbandes.
[245] Schon +Galen+ war dieser als ein wichtiger Nerv für die
Stimmbildung bekannt, da er fand, dass, wenn er bei Schweinen denselben
beiderseits durchschnitt, dieselben nicht mehr schreien konnten
(+Brücke+’s Vorlesungen. II, 93).
[246] Auch die traumatischen, durch Erschütterung (directe sowohl als
per Contrecoup) erzeugten Blutungen im Pons und Medulla oblongata
(+Duret+).
[247] „Ueber transitorische Aphasie nach Gemüthsbewegungen.“
+Schlangenhausen+, Psych. Centralbl. 1876, pag. 26. -- „Ueber simulirte
Stimmlosigkeit und ihre Bedeutung für den Militär- und Gerichtsarzt.“
+Sidlo+, Wiener med. Presse. 1877, pag. 1611.
[248] Vide den Aufsatz von +Blumenstok+ in „Gerichtshalle“, 1873,
Nr. 35 und 39, in welchem allerdings B. die von juristischer Seite
aufgestellte Ansicht zu widerlegen sich bestrebt.
[249] „Zur Revision der Bestimmungen des Reichs-Strafgesetzbuches über
Körperverletzungen.“ Gerichtssaal. 1874, Heft 4.
[250] +Herbst+, l. c. pag. 322.
[251] Eine Entscheidung des deutschen Reichsgerichtes (+Wellenstein+,
V. f. gerichtl. Med. XXXVII, 353) lautet: „Verurtheilung aus §. 224 St.
G. B. hat zu erfolgen, wenn der schwere Erfolg auf die vorsätzliche
That als Ursache zurückzuführen ist, wenn auch Krankheitsanlagen des
Verletzten einwirkten.“
[252] Ist die Unterlassung der „Antiseptik“ dem behandelnden Arzte
als ein Verschulden oder „Kunstfehler“ anzurechnen? Einem aus der
neuen Schule hervorgegangenen und in ihren antiseptischen Principien
herangebildeten Arzt zweifellos, doch wäre es gewiss zu weit gegangen,
wenn man die Verpflichtung auf bestimmte Verbandmethoden, respective
auf die Anwendung ganz bestimmter antiseptischer Mittel, einengen
wollte, da, wie bekannt, über die Dignität der einzelnen Methoden
und Mittel noch vielfach gestritten wird und, wie es scheint, durch
verschiedene derselben Gleiches erzielt werden kann. Aerzten älterer
Schule kann, wenn sie sonst correct, insbesondere mit der unter allen
Umständen nöthigen Reinlichkeit vorgegangen sind, die Unterlassung der
Antiseptik nicht ohne Weiteres als Kunstfehler angerechnet werden,
sondern es wird zu erwägen sein, ob und in welchem Grade sie im Stande
waren, der Verpflichtung, sich über die Fortschritte der Wissenschaft
möglichst im Laufenden zu erhalten, zu genügen. Beachtenswerth ist eine
reichsgerichtliche Entscheidung (+Wellenstein+, Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. XLIII, pag. 365), welche einen Arzt wegen fahrlässiger
Tödtung, begangen durch Unterlassung der antiseptischen Behandlung,
verurtheilt. Der Fall betraf einen Knecht, der 25 Tage, nachdem er
einen Messerstich in der Brust erhalten hatte, an Pleuritis gestorben
war. Der Arzt hatte sowohl den hermetischen Verschluss als die
antiseptische Behandlung der Wunde unterlassen und das Reichsgericht
nahm als erwiesen an, dass durch diese Unterlassung die letale
Pleuritis veranlasst worden sei. „Das antiseptische Verfahren,“ heisst
es in der Entscheidung, „gilt als eine anerkannte Regel der Heilkunde.
Der ausübende Arzt muss sich so weit auf der Höhe der Wissenschaft
halten, dass er von den Regeln der fraglichen Art genaue Kenntniss
erlange und solche beobachte. Unterlässt er dieses, wie es hier
der Fall war, so muss ihm Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden.“
Unserer Ansicht nach war der Arzt allerdings strafbar, weil er die
antiseptische Behandlung unterliess, zur Begründung der „fahrlässigen
Tödtung“ aber fehlt der Beweis, dass die tödtliche Pleuritis wirklich
nur in Folge der Unterlassung der antiseptischen Behandlung eingetreten
ist, der im vorliegenden Falle um so schwieriger zu liefern gewesen
wäre, als gerade penetrirende Brustwunden verhältnissmässig häufig,
trotz sofort und energisch eingeleiteter Antisepsis, durch Pleuritis
zum Tode führen. -- Die Nichtbeobachtung antiseptischer Cautelen,
respective Nichtschonung des bereits angelegten antiseptischen
Verbandes von Seite der untersuchenden Gerichtsärzte hat bereits zu
unerquicklichen Auseinandersetzungen geführt (s. Virchow’s Jahrb.
f. 1880, I, 645). Unserer Ansicht nach muss die Entscheidung, ob
trotz angelegten Verbandes eine gerichtsärztliche Untersuchung der
Verletzung stattzufinden habe, in jedem einzelnen Falle dem Gerichte
im Einvernehmen mit dem Gerichtsarzte vorbehalten bleiben. Die
Heranziehung des behandelnden Arztes ist, wo thunlich, stets angezeigt.
Dass der Gerichtsarzt sowohl bei der Untersuchung einer frischen, als
einer bereits verbundenen Verletzung mit der grössten Reinlichkeit und
unter Beobachtung antiseptischer Vorsichten vorzugehen habe, ist eine
selbstverständliche Forderung.
[253] Bezeichnend für die Dehnbarkeit aller allgemeinen Bezeichnungen
ist der Umstand, dass in einem der von +Wellenstein+ erwähnten Fälle
von Seite eines Landgerichtes auch der Verlust eines Stückes des
Schädelknochens als „Verlust eines wichtigen Gliedes“ aufgefasst
wurde. Eine ausführliche Besprechung des §. 224, insbesondere seiner
Schwächen, siehe auch +W. Hauser+ (Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med.
XXXVIII, pag. 93).
[254] +Bischoff+ fand bei Erwachsenen 7·7, +Welker+ bei Kindern
5·2 Blut auf 100 Theile Körpergewicht, so dass also ein Mensch von
71·5 Kilo 5·5 Kilo Blut haben würde (+Brücke+, Vorlesungen. 1874,
I, pag. 120). Nach +Landois+ (Lehrbuch der Physiologie, pag. 73)
kann Erwachsenen der Verlust ihrer halben Blutmenge lebensgefährlich
werden. Thiere vertrugen nach +Maydl+’s Versuchen (Anzeiger d. Wiener
Gesellsch. d. Aerzte. 1884, Nr. 22) den Verlust der Hälfte ihres
Blutes fast ausnahmslos und mehr als die Hälfte der Versuchsthiere
überlebte sogar den Verlust von zwei Drittel ihrer Blutmenge. Dass
so starke und selbst stärkere Blutverluste vertragen werden, ist der
Wirkung der Vasoconstrictoren zu verdanken, durch welche in Folge
der Verengerung der Lumina gewisser Gefässe, insbesondere jener des
Splanchnicusgebietes, die noch zurückgebliebene Blutmenge den centralen
Nervenapparaten zu Gute kommt. Die Wirkung der Vasoconstrictoren
erfolgt bei acuten Verblutungen präciser und energischer als bei
allmäligen, weil bei letzteren das Regulirungsvermögen des Rückenmarkes
erlischt. Deshalb werden acute, wenn auch bedeutendere Blutverluste
besser vertragen, als eine länger andauernde, wenn auch schwache
Blutung (+v. Basch+, „Ueber die Regulirung der Blutspannung und
Blutvertheilung“. Vortrag, gehalten in der Jahresversammlung der
k. k. Gesellschaft der Aerzte am 29. März 1878). Ausführliches über die
physiologische Wirkung von Blutverlusten s. +Jürgensen+ in Ziemssen’s
Handb. 1880, I und +Oesterlen+, Tod durch Verblutung in Maschka’s
Handb. d. gerichtl. Med. I, 699.
[255] Nach einer unter den Auspicien +Bardeleben+’s publicirten, sehr
eingehenden kritischen Studie +Gröningen+’s über den Shok (Wiesbaden
1885) ist der Shok eine durch heftige Insulte bewirkte Erschöpfung der
Medulla oblongata und des Rückenmarks.
[256] „Ueber den Shok grosser Verletzungen.“ Vortrag im ärztl.
Bezirksverein in München. Wiener med. Presse. 1877, Nr. 16 und 17.
[257] +Bergmann+, +Czerny+, +Uffelmann+ und +Heschl+, ferner
+Riedl+, „Zur Fettembolie“. Zeitschr. f. Chir. VIII, 571. +Scriba+,
„Untersuchungen über Fettembolie“. Ibid. 1879, XII, 118, +Wiener+,
„Wesen und Schicksal der Fettembolie“. Arch. f. experim. Path. XI,
275 und +Ribbert+, „Ueber Fettembolie“. Med. Centralbl. 1894, Nr. 1.
Diese Fettembolien können sich sehr rasch bilden, insbesondere bei
Knochenfracturen schon unmittelbar nach der Verletzung, wovon wir
zahlreiche Beispiele anführen könnten. Auch nach Weichtheilwunden,
wenn sie fetthältige Organe betrafen, können Fettembolien entstehen.
So fand +Hamilton+ (Virchow’s Jahresber. 1877, I, 227) Fettembolien
in den Lungen eines Schiffsjungen, welcher einige Stunden nach einem
Fall aus beträchtlicher Höhe unter Dyspnoe und Coma gestorben war.
Die Autopsie ergab Fettleber und kleine Rupturen in derselben. In
einem von uns obducirten Falle von Leberruptur durch Ueberfahren
ergab sich Lungenembolie durch zertrümmerte Lebersubstanz als nächste
Todesursache. Auch bei Schädelfracturen wurden Fettembolien in der
Lunge beobachtet, aber nur dann, wenn gleichzeitig Quetschung des
Gehirns bestand, weshalb das Fett kaum aus der bekanntlich fettarmen
Diploë, sondern aus dem Gehirne selbst gestammt haben dürfte.
Hinzugefügt sei noch, dass auch durch Eintritt (Aspiration) von Luft in
die Venen erfolgter plötzlicher Tod für Shok imponiren kann (+Fischer+,
„Ueber die Gefahren des Lufteintrittes in die Venen“. Volkmann’s Samml.
klin. Vortr. Nr. 113. Ferner +Kézmarsky+, „Lufteintritt in die Venen
des puerperalen Uterus“. Arch. f. Gyn. 1878, XIII, 200 und +Bergmann+
[l. c.]).
[258] Postmortale Beschädigungen durch Ratten kommen ungemein häufig
zur Beobachtung, insbesondere bei aus Aborten herausgezogenen
Kindesleichen. In einem später zu erwähnenden Falle, betreffend
eine auf einer Canalstiege in liegender Stellung erhängt gefundene
Hadernsammlerin, waren ausgebreitete, durch Ratten veranlasste
Substanzverluste an den Händen für vital entstandene Wunden gehalten
worden. Aber auch durch ganz kleine Thiere bewirkte, nur oberflächliche
Benagungen können für vital entstandene Hautaufschürfungen imponiren,
und, besonders wenn sie am Halse oder im Gesichte vorkommen, zu
schwerwiegenden Täuschungen Veranlassung geben, wie namentlich
der bedauerliche Fall +Harbaum+ zeigt, in welchem Letzterer wegen
angeblicher Vergiftung seines unehelichen Kindes mit Schwefelsäure acht
Jahre im Kerker verbrachte, während sich nachträglich herausstellte,
dass postmortale Magenerweichung vorgelegen war, und dass gewisse,
theils rundliche, theils streifige, pergamentartige Vertrocknungen am
Kinn, am Halse etc., welche die Obducenten von Schwefelsäureeinwirkung
hergeleitet hatten, durch Benagung der Leiche durch Ameisen entstanden
waren, von denen einige noch bei der Obduction im Munde gefunden
wurden! (+Skrzeczka+, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1882, XXXVI,
pag. 193). Die Aufdeckung dieses Justizirrthums wurde durch einen von
+Maschka+ (Ibid. 1881, XXXIV, pag. 193) publicirten ähnlichen Fall
veranlasst, in welchem ebenfalls verschiedene, im Gesicht und am Halse
einer Kindesleiche gefundene, zum Theile schwärzlich aussehende und
sauer reagirende Excoriationen auf Schwefelsäureeinwirkung bezogen
wurden, während sie, wie die Erwägung der Umstände, der Befund einer
todten Ameise im Munde und der Nachweis von Ameisensäure in den
überschickten Hautstückchen erwies, von Ameisen hergerührt haben.
Ausserdem bringt +Maschka+ einen zweiten Fall, wo es sich um Schaben
handelte, am gleichen Orte, 1879, XXX, 238. Benagungen der im Sommer im
Keller aufbewahrten Leichen durch Kellerasseln kamen uns so häufig vor,
dass wir besondere Vorkehrungen dagegen treffen mussten.
[259] +Taylor+ (l. c. I, 520) berichtet über eine Dame, welcher
offenbar in gleicher Absicht der Hals durchschnitten wurde, nachdem
sie früher durch Erstickung getödtet worden war. Die verhältnissmässig
geringe Menge von Blut, welche aus der Wunde herausgeflossen war, hatte
zuerst den Verdacht erweckt, dass nicht ein Mord, sondern Selbstmord
vorliege.
[260] Handb. d. gerichtl. Med. 1864, 4. Aufl., II, 264.
[261] Handb. d. gerichtl. Med. 1875, 2. Aufl., 513.
[262] „Zur Frage der Widerstandsfähigkeit der Gewebe im Leben und nach
dem Tode.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, XVIII, 18.
[263] „Ueber die verschiedene Widerstandsfähigkeit der Knochen im
todten und lebenden Zustande.“ Arch. f. Anat. und Phys. 1874, 510.
Ebenso Med. Centralblatt. 1878, pag. 181, woselbst er unter Anderem
angibt, dass aufschlagende Kugeln bei frischen Knochen vorherrschend
auseinandertreibend wirken, während an trockenen vorherrschend Loch-
und Rinnenschüsse erzeugt werden.
[264] „Leichenerscheinungen.“ Wien 1854.
[265] „Die forensisch wichtigsten Leichenerscheinungen.“
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1876, XXV.
[266] Den Untersuchungen +Corin+’s („Ueber die Ursachen des
Flüssigbleibens des Blutes bei der Erstickung und anderen Todesarten.“
Vierteljahrschr. f. gerichtliche Med. 1893, V, 234) zufolge behält
das Blut seine postmortale Gerinnungsfähigkeit nur einige, allerdings
unbestimmt lange Zeit.
[267] Hierher gehört auch das sogenannte Hämatom der Dura mater, eine
sackartige, mit flüssigem, braunrothem, vor dem Spectralapparate
den Methämoglobinstreif zeigenden Blut gefüllte Auseinanderweichung
der Schichten einer pachymeningitischen Auflagerung, welcher eine
muldenförmige Abflachung der betreffenden Grosshirnhemisphäre
entspricht. Solche Hämatome werden oft überraschend lange vertragen,
ohne auffällige Symptome zu veranlassen.
[268] „Ueber concurrirende Todesursachen.“ Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1866, V, 284. +Liman+ (l. c. II, 60) gebraucht dafür
die Bezeichnung „Priorität der Todesart“. Obwohl diese Bezeichnung
ganz richtig ist, so liegt doch eine Verwechslung nahe mit der in
civilrechtlicher Beziehung wichtigen Frage nach der „Priorität des
Todes“, die sich ergibt, wenn Zweifel darüber entstehen: „welche
von zwei oder mehreren verstorbenen Personen zuerst mit dem Tode
abgegangen sei“ (§. 25 österr. b. G. B.), namentlich, „wenn zwei oder
mehrere Menschen ihr Leben in einem gemeinsamen Unglücke oder auf
andere Art gleichzeitig verloren haben“ (Preussisches allgemeines
Landrecht. I, Tit. 1, §. 39). Es verdient daher die von +Skrzeczka+
angegebene Bezeichnung den Vorzug. Einen Fall dieser Art, wo es sich
um die Verunglückung eines Ehepaares bei einer Kahnfahrt, respective
um die Ueberlebungsfrage, handelte, hat +Lacassagne+ („Question de
survie. Consultation médico-légale dans l’affaire Rivoire.“ Lyon 1883)
begutachtet.
[269] C. +Majer+, „Statistische Studien über den Selbstmord in Bayern“.
Friedreich’s Blätter f. gerichtl. Med. 1872, 155. Die ausführlichsten
Daten über die Statistik des Selbstmordes in Europa und den
aussereuropäischen Ländern enthält das schöne Werk von H. +Morselli+,
welches in deutscher Uebersetzung unter dem Titel: „Der Selbstmord.
Ein Capitel aus der Moralstatistik“ 1881 bei Brockhaus in Leipzig
erschienen ist.
[270] +Oesterlen+, „Handb. d. med. Statistik“. 1874, pag. 732.
[271] „Zeitschr. des königl. preuss. statist. Bureaus.“ 1871, pag. 98
u. s. f. +Majer+, l. c. 177.
[272] Annal. d’hygiène publ. 1875, II, 192.
[273] Darunter durch Kohlendampf 42.
[274] 823 Fälle von Erstickung bes. durch Kohlendunst. +Sedlaczek+,
l. c.
[275] Interessante Beispiele finden sich bei +Orfila+ (Lehrb. d.
gerichtl. Med., übersetzt von Knapp. 1848, I, pag. 442).
[276] Siehe auch +Morselli+, l. c. pag. 72 u. s. f. und P. +Gonzier+,
Action des courants telluriques, du magnétisme terrestre sur l’activité
cérébrale. Arch. de l’anthropol. criminelle. 1891, pag. 349 und 466.
[277] Selbst Anschuldigungen Dritter kommen vor, s. z. B. +Kuby+,
„Selbstmordversuch durch Halsabschneiden für Mordversuch ausgegeben“.
Friedreich’s Blätter. 1878, pag. 224. Wir selbst obducirten einen Mann,
der, schwer krank in’s Spital aufgenommen, angab, von mehreren Personen
misshandelt und in eine Senkgrube geworfen worden zu sein, und nach
wenigen Stunden starb, während die gerichtliche Section eine exquisite
Schwefelsäurevergiftung ergab.
[278] Damit stimmt auch die Statistik +Durham+’s (+Güterbock+, „Die
Verletzungen des Halses“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873,
19, pag. 33) über die Lage der Wunde bei 158 Fällen von theils durch
Mord, theils durch Selbstmord erzeugten Halsdurchschneidungen überein.
11mal lag die Wunde über dem Zungenbein, 45mal auf der Membrana
hyothyreoidea, 35mal auf dem Schildknorpel, 26mal auf dem Lig.
conoideum oder dem Ringknorpel, 41mal auf der Trachea.
[279] Ein derartiger Fall kam uns 1879 zur Beobachtung. Er betraf
eine Prostituirte, welcher, als sie eben zur Zulassung des Coitus
sich anschickte, von dem über ihr knienden Thäter mit einem unbemerkt
hervorgezogenen Fleischermesser der Vorderhals bis auf die Wirbelsäule,
eingestandenermassen in einem Zuge, durchschnitten worden war.
[280] Dass auch solche Befunde nicht absolut den Mord beweisen, zeigt
ein Fall von +Porter+-+Wornum+ (Virchow’s Jahresb. 1887, I, 506), der
zu einer Frau gerufen wurde, die sich den Hals durchschnitten hatte. Er
fand die Frau mit angeschnittener Trachea im Zimmer stehend, mit einem
Tischmesser in der Hand, womit sie sich noch in Gegenwart des Arztes in
den rechten Vorderarm Schnitte beibrachte. Das Messer wurde ihr leicht
genommen und die Frau in ein Spital gebracht, wo sie nach 9 Stunden
starb. Die Obduction ergab die Trachea bis auf eine schmale hintere
Brücke durchschnitten, zahlreiche Schnitte an beiden Vorderarmen und
Handgelenken und +jederseits einen Schnitt in der Falte zwischen Daumen
und Zeigefinger+!
[281] In unserem Museum bewahren wir den Schädel eines Ermordeten, an
dem sich namentlich am Hinterkopf mehr als 20 Stichwunden finden.
[282] +Tessier+ (Annal. d’hygiène publ. XXIV, pag. 5) sah bei einem
im Duell Gefallenen +eine+ Stichöffnung in der Brustwand und in der
vorderen Wand der Aorta, dagegen drei in einem Dreieck gestellte, nur
die oberen Schichten betreffende, in der Hinterwand der letzteren, und
erwähnt eine Beobachtung von +Coutagne+, wo sich bei einem verwundeten
Manne ein Stich in der Bauchwand und 2 in der Leber fanden.
[283] Auf weitere Distanzen ist von einem „Wasserschuss“ kein Effect
zu erwarten. Eine interessante diesbezügliche Angabe findet sich in
+Brehm+’s „Thierleben“, 1878, IV, 451: „In den alten Reisewerken und
Naturgeschichten steht zu lesen, dass man Kolibris blos mit Sand oder
Wasser schiessen könne. +Audubon+ hat sich verleiten lassen, dies zu
versuchen und gefunden, dass die aus Wasser bestehende Ladung wohl das
Gewehr einschmutzt, nicht aber Kolibris tödtet.“ Eine kurze Mittheilung
über einen Selbstmordversuch mittelst eines mit Wasser geladenen,
in den Mund abgefeuerten Terzerols, wodurch nur Einrisse an den
Mundwinkeln und Verwundungen der Mundschleimhaut entstanden, enthält
der Wiedener Spitalsbericht pro 1880, pag. 258.
[284] Neuere Versuche über die Wirkung „blinder Schüsse“ hat +Salzmann+
(Virchow’s Jahresb. 1881, II, 321) angestellt und gefunden, dass die
sogenannten Platzpatronen, wie sie bei den Militärmanövern benützt
werden, auf 2 Meter Schussdistanz leichte, auf 1 Meter schwere
Verletzungen bewirken und auf 30 Cm. Knochenwände zu durchschlagen
vermögen, wobei der Wachspfropf, mit dem die betreffenden Patronen
geschlossen waren, wie ein Projectil wirkte. Nach +Gerstacker+ (Prager
Zeitschr. f. Heilk. 1887, VIII, 376) sind Selbstmorde mit Platzpatronen
in der preussischen Armee häufig, wobei sich grosse Zerstörungen
ergeben.
[285] Im Februar 1877 kam ein derartiger Fall in Prag zur
Hauptverhandlung. Am 29. September war ein Heger im Walde erschossen
gefunden worden. Die Section ergab, dass der Schuss aus nächster Nähe
gegen die linke Brustseite abgefeuert worden war und Herz und Lunge
zertrümmert hatte. In der Brusthöhle wurden zahlreiche Schrote und
die Reste eines Papierpfropfens vorgefunden, welche als Stücke des
Nationalkalenders vom Jahre 1876 erkannt wurden. In der Wohnung des
der That verdächtigen Wilddiebes wurde ein solcher Nationalkalender
gefunden, aus welchem mehrere Seiten, darunter auch die, aus welcher
der Pfropfen bestand, herausgerissen waren, ein Umstand, der natürlich
den Angeklagten schwer gravirte, obgleich dieser den Todesfall als
Selbstmord hinzustellen sich bemühte.
[286] +Trelat+ (+Casper+-+Liman+, II, 75) berichtet über einen
Selbstmörder, der sich gleichzeitig zwei Pistolen an je einer Schläfe
ansetzte und abfeuerte, und einen analogen Fall (gleichzeitiger Schuss
gegen Kopf und Brust) findet man in Kopp’s Jahrb. d. St. A. K. XI, 123
(+Siebenhaar+’s Encyklop. Handb. I, 419). Auch in Wien hat sich 1893
ein Officier durch zwei gleichzeitig gegen die rechte und linke Schläfe
abgefeuerte Revolverschüsse getödtet.
[287] So wäre z. B. der Fall als Selbstmord klargestellt, wenn die
Obduction gleichzeitig Vergiftung ergeben würde, wie wir zwei solche
Fälle obducirten, von denen der eine einen Mann betraf, der, wie man
meinte, zufällig aus einem Dachfenster herabgestürzt war, und bei dem
ausser groben Verletzungen eine Schwefelsäurevergiftung sich fand;
der zweite ein Mädchen, welches zuerst Phosphor-Zündhölzchenköpfchen
genommen und dann aus dem dritten Stockwerke sich herabgestürzt hatte.
[288] Zahlreiche Beispiele von Eisenbahnverletzungen und deren Folgen,
sowie von und in Trains begangenen Verbrechen enthält das Werk von L.
+Borri+: L’esercizio delle strade ferrate nei suoi rapporti con la
medicina giudiciaria. Mailand 1894.
[289] Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass auch die Fixirung
anderer Fussspuren u. dergl. von Wichtigkeit sein kann, wobei besonders
der Gerichtsarzt im Stande ist, mit Rath und That behilflich zu sein,
so, wenn Fussstapfen oder andere Eindrücke in Erde, Staub, Koth oder
Schnee gefunden werden und ein Aufbewahren derselben nicht thunlich
erscheint. Zur Fixirung dieser hat man die Herstellung eines Abgusses
der Spur entweder mit Gyps oder mit einer Mischung von gleichen Theilen
Cement und Sand empfohlen. Diese Substanzen werden fein gepulvert
und mit ihnen am besten mittelst eines Siebes die Spur, aus welcher
man das etwa darin befindliche Wasser mit Fliesspapier vorsichtig
aufgesaugt hatte, ausgefüllt, so dass die Schichte das Niveau der Spur
etwas überragt. Hierauf wird die Oberfläche etwas getrocknet, ein
Leinwandlappen darüber gelegt und mittelst der Brause einer Giesskanne
vorsichtig mit Wasser übergossen, bis die ganze Masse durchfeuchtet
ist. Man gönnt hierauf der Masse die nöthige Zeit, um zu erstarren, und
hebt dann vorsichtig den Ausguss heraus, der nach Bestreichung mit Oel
wieder abgedrückt werden kann, so dass man einen genauen Abklatsch der
ursprünglichen Spur erhält.
Unter Umständen kann man den Gyps- oder Cementbrei unmittelbar in
die Spur eingiessen und erhärten lassen (+Krahmer+, +Hodann+).
+Hugoulin+ hat auch das Ausfüllen der Spur mit gepulverter Stearinsäure
empfohlen, nachdem erstere früher durch ein darüber gehaltenes
heisses Eisenblech erwärmt worden ist. +Jaumes+ (Virchow’s Jahrb.
1880, I, pag. 657) modificirt dieses Verfahren dahin, dass er die
Spur durch eine darüber gehaltene heisse Metallplatte erwärmt und
vorsichtig mit feinem Stearinpulver bestreut, welches schmilzt und
nach dem Erkalten die Erhöhungen und Vertiefungen der Spur in dünner
Schichte überzieht. Letztere wird nun mit Oel bestrichen und die so
bereitete Form mit nicht zu dickem Gypsbrei ausgegossen, welcher
erstarrend einen genauen und leicht aufzubewahrenden Abdruck des
Gegenstandes darstellt, von dem die Spur herrührt. Ausführlicheres
über diesen Gegenstand s. +Schauenstein+, „Untersuchung der Spuren von
Fussabdrücken und Werkzeugen“ in Maschka’s Handbuch der gerichtl. Med.
I, 541; W. +Zenker+, „Die Fussspuren des Menschen. Grundzüge einer
methodischen Untersuchung und forensischen Beurtheilung derselben.“
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. Nr. 4, XXX, pag. 80); +Masson+
(Annal. d’hygiène publ. 1886, XVI, 336), welcher auf die Verlängerung
der Spur eines und desselben Fusses, insbesondere des Abdruckes der
grossen Zehe beim Gehen aufmerksam macht; +Coutagne+ und +Florence+
(Arch. de anthropol. crim. IV, 25) und +Vocke+ (Friedreich’s Blätter.
1892, pag. 36).
[290] Im Innern mehrfach zusammengelegter Kleidungsstücke kann sich,
wie +Vibert+ hervorhebt, das Blut mitunter auffallend lange feucht
erhalten.
[291] „Untersuchungen über einige den Blutnachweis störende Einflüsse.“
Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1892, IV, 44.
[292] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F., XIX, 113. Ausführliche
Literaturangaben über forensische Untersuchungen von Blutspuren vide
unseren Artikel über „Blutspuren“ in +Eulenburg+’s „Real-Encyclopädie
der ges. Heilk.“
[293] Annal. d’hygiène publ. Januar 1885, 139.
[294] „Ueber das Verhalten des Blutes zu Kaliumhydroxyd.“ Mittheilungen
des Vereines der Aerzte in Steiermark, 1875-1876.
[295] Valore delle granulazioni ventrofile dei globuli bianchi nella
determinazione specifica dei sangue. 1894. Estratto dagli Atti del R.
Istituto Veneto. Tom. V, Ser. VII.
[296] Die ihrer Zeit viel besprochene Behauptung +Barruel+’s
(Annal. d’hygiène publ. 1829, Nr. 6 und 1854, pag. 413), dass man
bei Behandlung einer Blutspur mit Schwefelsäure aus dem dabei sich
ergebenden specifischen Geruche erkennen könne, ob das Blut vom
Menschen oder von einem Thiere und von welchem abstamme, hat nur
einen historischen Werth. Wichtig dagegen ist es, wenn es sich um die
Provenienz von Blutspuren handelt, auf Beimengungen zu achten. So gab
in einem unserer Fälle der Besitzer eines Messers an, dass die daran
befindlichen Blutspuren entstanden seien, als er einige Tage zuvor eine
Pferdeleber zerschnitt. In der That waren die Blutkörperchen klein
und deutlich Leberzellen nachweisbar. In einem anderen wurde uns ein
Papier mit Flecken übergeben, die grösstentheils gelblich, theilweise
aber verwaschen röthlich aussahen und für Blut gehalten wurden.
Der Angeschuldigte gab an, dass er auf diesem Papier geräuchertes
Fleisch verzehrt habe, wovon die Flecke herrühren. Die mikroskopische
Untersuchung bestätigte diese Angabe, da sie viel Fett, sowie Fetzen
von Bindegewebe und quergestreiften Muskelfasern ergab.
[297] Arch. f. path. Anat. und Physiol. 1862, XXIII, pag. 446.
[298] +Ladendorf+ (Berliner klin. Wochenschr. 1880, Nr. 35) empfiehlt
statt des Terpentinöls das Ol. Eucalypti. Wahrscheinlich sind die
meisten ätherischen Oele Ozonträger.
[299] Ueber die weiteren Eigenschaften dieses Körpers vide:
+Hoppe+-+Seyler+ (Handb. der physiol. und path.-chem. Analyse. 1865,
pag. 220); +Preyer+ (Blutkrystalle. 1871, pag. 191); +A. Jäderholm+
(Zeitschr. f. Biologie. XVI) und unsere oben citirte Arbeit, pag.
133. Als bestes Lösungsmittel für Methämoglobin, und gleichzeitig
für Oxyhämoglobin constatirte +Klein+ (Dissert., Dorpat 1889) mit
Kohlensäure gesättigtes destillirtes Wasser, welches schon +Struve+
(l. c.) zum Sichtbarmachen der Blutkörperchen empfohlen hatte.
[300] Philos. Magazin. Ser. 4, XXVIII, pag. 391.
[301] Vide unseren Aufsatz: „Zur Kenntniss der Befunde nach
Cyankaliumvergiftung.“ Wiener med. Wochenschr. 1876, Nr. 45 und 46. Als
eine angeblich neue Methode zur Entdeckung von Blutspuren empfiehlt
+Cazeneuve+ (Compt. rendus. 5. März 1877) den gleichen Vorgang mit
Ammoniak.
[302] +Tamassia+ erwärmt die Substanz über Wasserdampf, unter Zusatz
einer 3procentigen Kochsalzlösung, bedeckt mit einem Deckgläschen, und
gibt dann durch 15-20 Minuten Eisessig hinzu, wobei er den Zutritt
des Wasserdampfes vermindert. Dann wird das Object dem Verdampfen
überlassen. Mit diesem Verfahren konnte, auch wenn Seife, Fett oder
Fäulniss eingewirkt hatten, ein positives Resultat erhalten werden.
Neuere Mittheilungen über den Einfluss von Rost und organischen Säuren
siehe Virchow’s Jahrb. 1890, I, 488 und in der oben citirten Arbeit von
+Hammerl+.
[303] „Die Grenzen der Beweiskraft des Hämatinspectrums und der
Häminkrystalle für die Anwesenheit von Blut. Ein Beitrag zur Verhütung
von Justizmorden.“ 1892.
[304] Ueber die Untersuchung eines Fetzens mit besonderer Rücksicht
auf die Frage, ob die daran klebenden Haare von einem neugeborenen
Kinde herstammen, hat +Gallard+ berichtet (Annal. d’hygiène publ. 1879,
371). Neuestens behauptet +Jaumes+ (De la distinction entre les poils
de l’homme et les poils des animaux. Montpellier méd. April 1882,
etc.), dass er ausnahmsweise die Kopfhaare der Neugeborenen markhältig
gefunden habe.
[305] Vide unseren Aufsatz: „Ueber Haare in gerichtsärztlicher
Beziehung.“ Prager Vierteljahrschr. CXII, 67.
[306] Bezüglich der Farbe muss bemerkt werden, dass Farbendifferenzen
verhältnissmässig leicht zu constatiren sind, wenn ganze Haarbüschel
vorliegen, schwer an einzelnen Haaren, am schwierigsten aber durch die
mikroskopische Untersuchung, weil die Farbe desto weniger gesättigt
erscheint, mit je stärkeren Vergrösserungen man untersucht. Mitunter
trifft man, wie auch +Jaumes+ ausführt, Menschen, die ganz anomale
Haare besitzen, so z. B. scheckige oder knotige, von welchen letzteren
wir ein Beispiel in unserer Sammlung besitzen. In solchen Fällen wäre
die Constatirung, dass die gefundenen Haare von einem bestimmten
Individuum herrühren, wesentlich leichter, anderseits könnten aber eben
die ungewöhnlichen Eigenthümlichkeiten der Haare, wenn letztere allein
vorliegen, die Meinung erwecken, dass es sich um Thierhaare handle.
[307] Auch an falsche und künstliche Haare wäre in solchen Fällen zu
denken. Letztere sind gegenwärtig stark verbreitet und bestehen meist
aus Angorawolle (den Haaren der Angoraziege), die unter dem Mikroskop
sofort als solche erkannt werden kann.
[308] Als Beweis, wie umschriebene Läsionen des Gehirnes vertragen
werden können, möge der Geisteskranke dienen, über welchen +Carpenter+
berichtet (Virchow’s Jahresber. 1876, II, 71), der auf folgende Arten
versuchte, sich das Leben zu nehmen. 1. Er bohrte oberhalb des rechten
Ohres einen dicken Draht durch den Schädel 4¾ Zoll in das Gehirn
hinein. 2. Er stiess sich einen Pfriem in den Scheitel. Beides ohne
üble Folgen. 3. Durch die sub 1 gemachte Oeffnung bohrte er wieder
einen Draht bis zur gegenüberliegenden Seite des Schädels, worauf
eine linksseitige Hemiplegie erfolgte, die nach 14 Tagen verschwand.
Endlich (nach mehreren Monaten) vergiftete er sich mit Morphium. Bei
der Section fand man erstens im mittleren Lappen der rechten Hemisphäre
neben einander horizontal liegend ein 2 Zoll langes Stück Draht und
eine eingefädelte Nadel, zweitens im Vorderlappen vertical gestellt ein
2½ Zoll langes Stück Draht und daneben einen langen Nagel ohne Kopf.
[309] Auch durch wiederholte rasch aufeinanderfolgende Erschütterungen
des Kopfes können ähnlich wie bei den +Koch+-+Filehne+’schen
„Verhämmerungsversuchen“ die Symptome der Hirnerschütterung
hervorgerufen werden. +Seydel+ („Ueber Kopftraumen mit tödtlichem
Erfolge ohne makroskopische Veränderungen“, Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1894, VII, S. 75) hat einen solchen wahrscheinlich in
diese Kategorie gehörigen Fall begutachtet, der einen halbidiotischen
Knaben betraf, der nach wiederholten rasch aufeinanderfolgenden
Schlägen auf den Kopf bewusstlos wurde und nach etwa 6 Stunden comatös
starb, ohne dass makroskopische Veränderungen am Gehirn gefunden werden
konnten.
[310] Ausser in früheren Arbeiten auch in Friedreich’s Blätter. 1885,
pag. 81: „Ueber die gerichtlich-medicinische Bedeutung verschiedener
Knochenbruchformen.“ Weitere einschlägige Versuche wurden von +Wahl+
und +Greiffenhagen+ (Inaug.-Dissert. Dorpat 1887), sowie von +Körber+
(Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1889, XXIX, pag. 545) und dessen
Schüler v. +Knorre+ („Casuistische Studien über Schädelfracturen.“
Mit 4 Tafeln. Dorpater Dissertation 1890) angestellt. S. auch
+Flatten+, „Ueber einige bemerkenswerthe Brüche der Schädelbasis“.
Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1892, IV. Suppl., pag. 29.
[311] Nach +Körber+ (l. c.) beginnen bei doppelseitiger Compression
des Schädels, die auch bei einseitigem Angriffe stattfindet, wenn die
andere Seite auf einer festen Unterlage ruht oder durch die Wirbelsäule
unterstützt wird, die Berstungsbrüche im Aequator, klaffen dort am
meisten und verbinden beide Pole durch einen Meridian. Bei blos
einseitiger Compression beginnen die Berstungsbrüche in der Nähe des
Druckpols, klaffen dort am meisten und verjüngen sich, je mehr sie sich
vom Druckpol entfernen. Unserer Ansicht nach bildet auch in diesem
Falle eine vom Druckpol mehr weniger entfernte Partie des Schädels den
anderen Pol und die Berstung erfolgt zunächst an einer zwischen beiden
gelegenen Stelle. Klafft der Bruch am meisten an der Angriffsstelle
selbst, so ist er überhaupt kein Berstungs-, sondern ein Biegungsbruch.
[312] Siehe auch: „Drei Fälle von Schädelverletzungen mit Einklemmung
von Haaren“ von A. +Schlemmer+. Wiener med. Presse. 1876, Nr. 9-12.
[313] Eine häufige Folge von Fracturen oder Fissuren der Schläfegegend
ist die Ruptura der Arteria meningea media mit consecutivem
Blutaustritt zwischen Dura und den Knochen. Man findet dann ein
mächtiges kuchenförmiges, gegen die peripheren Partien linsenförmig
sich verdünnendes Blutgerinnsel zwischen Dura und Schädelwand, welches
erstere vorwölbt und dementsprechend das Gehirn verdrängt und an der
betreffenden Stelle muldenförmig abflacht.
[314] „Die Verletzungen des Auges in gerichtlicher Beziehung.“ Wiener
med. Wochenschr. 1874, Nr. 5 u. ff., und als Broschüre Wien bei
Braumüller. Ebenso +O. Bergmeister+, „Die Verletzungen des Auges mit
besonderer Rücksicht auf die Bedürfnisse des Gerichtsarztes.“ Wiener
Klinik. 1880, Heft 1 und 2 und +Hasner+, „Die Verletzungen des Auges
in gerichtsärztlicher Hinsicht“ in Maschka’s Handb. d. gerichtl. Med.
I, 307. +Ohlemann+, „Zur Frage der Aggravation von Augenverletzungen“.
Zeitschr. f. Medicinalb. 1893, pag. 493 und 591 und +Wilhelmi+, ebenda
pag. 591.
[315] Ein instructiver Aufsatz über Erkennung der Simulation
einseitiger Amaurose von +Schenkl+ findet sich auch im Prager ärztl.
Correspondenzbl. 1875, Nr. 28. Von +Haupt+ (Friedreich’s Blätter. 1887,
pag. 433) u. A. wird die Anwendung farbiger Gläser empfohlen. Man gibt
dem Betreffenden eine Brille, welche für das gesunde Auge ein rothes,
für das angeblich blinde ein weisses Glas enthält und lässt ihn grüne
Schrift auf schwarzem Grunde lesen. Der wirklich einseitig Blinde wird,
da rothes Glas grüne Strahlen resorbirt, nichts sehen können, der
Simulant aber wird die Schrift lesen und auch ihre Farbe angeben, weil
er mit dem gesunden Auge zu lesen glaubt, während er thatsächlich mit
dem anderen liest.
[316] +Hassenstein+, „Gerichtsärztliche Würdigung der Läsionen des
Gehörorganes durch Schlag.“ Berliner klin. Wochenschr. 1871, Nr. 9;
+Urbantschitsch+, „Das Hörorgan in forensischer Beziehung“. Wiener
Klinik, 1880, Heft 1 und 2; +Trautmann+, „Verletzungen des Ohres in
gerichtsärztlicher Beziehung“. Maschka’s Handbuch. I, pag. 379 und
+Sexton+, Virchow’s Jahrb. 1887, I, 486. +Hüttig+, „Verletzungen des
Ohres vom gerichtsärztlichen Standpunkt“. Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1891, VI, pag. 201.
[317] „+Der Feldarzt.+“ Beilage zur Allg. Wiener med. Ztg. 1875, Nr.
1-8. Hier sei bemerkt, dass Durchbohrung des Trommelfells auch als
Selbstverstümmlung vorkommt. +Karlinski+ (Deutsche militärärztl.
Zeitschr. 1888, pag. 66) berichtet über drei solche Beobachtungen.
[318] „Krankheiten des Halses.“ Pitha-Billroth’s Handbuch. III, I, pag.
58. Ebenso konnte +Bert+ (Arch. de physiol. norm. et path. 1869) durch
Zerdrücken der Trachea bei Thieren sofortigen Tod bewirken.
[319] „Zur Kenntniss der Entstehungsarten von Kehlkopffracturen.“
Wiener med. Wochenschr. 1887, Nr. 44 und 45.
[320] In den Berichten des Wiener Stadtphysikates aus den
Siebziger-Jahren wird ein von +Rokitansky+ secirter Fall mitgetheilt,
wo bei einem älteren an Herzverfettung leidenden Mann, der sich
erhängt hatte, eine Ruptur der linken Herzkammer gefunden wurde. Eine
solche fand auch +Haumeder+ einer mündlichen Mittheilung zufolge bei
einem an Haemorrhagia cerebri gestorbenen Individuum. In der Pariser
Société de médecine légale wurde im Jahre 1886 über einen von +Monier+
(Annal. d’hygiène publ. XV, pag. 77) mitgetheilten Fall verhandelt, der
ein angeblich erdrosseltes Kind betraf, bei dessen Section man eine
unvollständige Querruptur der Vorderwand der linken Kammer gefunden
hatte. +Brouardel+ untersuchte das aufbewahrte Herz und fand, dass die
Ruptur von einer ulcerösen Endokarditis und Myokarditis ausgegangen war
und die Erhebungen machten es wahrscheinlicher, dass das Kind nicht
erdrosselt, sondern aus seinem Bettchen herausgefallen war, neben
welchem man es sterbend am Boden liegend gefunden hatte.
[321] Eine von uns obducirte, von einem Gerüst gestürzte Taglöhnerin
starb erst nach 6 Stunden, obgleich die Obduction ausser
intermeningealer Hämorrhagie und Rupturen der Leber und Milz, auch eine
Ruptur des Herzbeutels und des linken Herzohres ergab. Nach +Schuster+
(l. c.) erfolgte der Tod bei 82 Fällen von Herzrupturen 24mal
augenblicklich, 29mal nach wenigen Minuten, so zwar, dass einzelne
der Verletzten noch eine Strecke zu gehen oder zu laufen vermochten,
in den übrigen Fällen erst nach längerer, selbst Stunden und Tage
betragender Zeit. V. auch unseren Fall pag. 282. Isolirte Einrisse der
Innenwand des Herzens oder des Septums sind selten, doch haben wir sie
wiederholt, allerdings stets combinirt mit Verletzungen anderer Organe,
beobachtet. Einmal fanden wir auch eine Zerreissung der mittleren
Aortenklappe. Solche isolirte Einrisse können möglicherweise ausheilen.
In einem von +N. Rosenthal+ (Berliner klin. Wochenschrift. 1883, Nr.
15) mitgetheilten Falle hatte ein zwischen Puffer gerathener Arbeiter
einen fingerweiten Riss des Septum ventriculorum durch 8 Tage überlebt.
[322] Ausführliche Angaben über die reiche Literatur des noch vielfach
controversen Gegenstandes und +Oppenheim+’s eigene Untersuchungen
finden sich in dessen Artikel „Railway-spine“ in der zweiten
Auflage von Eulenburg’s Real-Encyclopädie. XVI, pag. 384, in jedem
Jahrgang des Virchow-Hirsch’schen Jahresberichtes und in der von +S.
Placzek+ übersetzten Monographie von +Page+: „Eisenbahnverletzungen
in forensischer und klinischer Beziehung.“ Berlin 1892. +Vibert+,
„Traumatische Neurosen bei Kindern“. +Virchow+’s Jahresb. 1892, I,
459 und +Derselbe+, +Knapp+, +Higier+, ebenda 1893, 478. Besonders
instructiv über den gegenwärtigen Standpunkt der Lehre von den
„traumatischen Neurosen“ sind die am XII. Congress für innere Medicin
vorgetragenen Referate +A. Strümpell+’s und +K. Wernicke+’s über diesen
Gegenstand (Wiener med. Wochenschr. 1893, Nr. 23 und 25).
[323] Bei einem Manne, dem ein Zuckerhut auf die rechte Bauchseite
gefallen und der unter Erscheinungen von Perforations-Peritonitis
gestorben war, fanden wir Ruptur einer der +linken+ Leistengegend
anlagernden Schlinge des oberen Ileums. Die Ruptur war bohnengross
und sass an der dem Gekrösansatze gegenüberliegenden Darmwand und ihr
gegenüber fanden sich zwei dem Gekrösansatze parallel verlaufende, je
3 Cm. lange, zackige, mässig suffundirte Schleimhautrisse. Der Fall
ist von Interesse, weil die Ruptur wahrscheinlich durch Contrecoup zu
Stande gekommen ist und weil er beweist, dass ebenso wie im Magen,
auch im Darm durch heftige Erschütterungen isolirte Schleimhautrisse
entstehen können. Auch isolirte Einrisse des Peritonealüberzuges kommen
vor.
[324] +Roser+ hat seine Anschauungen in dieser Richtung in dem Satze
zusammengefasst: „Wer nicht von Geburt aus eine Hernie hat, bekommt
auch nie eine solche.“ Nach +Wernher+: „Geschichte und Theorie des
Mechanismus der Bruchbildung“ (Langenbeck’s Archiv. XIV, 2. und 3.
Heft) zeigt die äussere Leistenhernie, wenigstens beim männlichen
Geschlecht, in den ersten fünf Lebensjahren die grösste absolute
Verhältnisszahl der Frequenz, fällt aber von da an sehr rasch bis zum
10. Jahre und in einem grösseren Verhältnisse, als die Abnahme der
Bevölkerungszahl erklären kann. Am Ende des zweiten Quinquenniums ist
die Zahl der neuentstandenen Leistenhernien am kleinsten geworden,
steigt aber von da wieder und erreicht bei beiden Geschlechtern in dem
Alter von 25-30 Jahren die grösste absolute und relative Höhe.
[325] Friedreich’s Blätter f. ger. Med. 1873, pag. 26. Vide auch
ein Gutachten von +Nussbaum+, ibid. 1869, pag. 156 und von +Socin+,
Schweizer Correspondenzblatt. 1887, Nr. 18.
[326] Ein forensisches Interesse hat auch die Thatsache, dass fremde
Körper verschiedener Art auch in unzüchtiger Absicht in den eigenen
und fremden After eingeführt werden (Fälle vide u. A. bei +Tardieu+,
Attent. aux moeurs. 1878, pag. 231, und den unerhörten von +C. Majer+
in Friedreich’s Blättern f. gerichtl. Med. 1882, pag. 457, in welchem
ein 16jähriges Mädchen aus Geilheit 4 Kindern durch Bohren mit den
Fingern den Mastdarm zerrissen und das Gleiche auch an einer Kalbin
und an einem jungen Schwein ausgeführt hatte). Von Verbrechern wird
das Rectum nicht gar selten als Depôt für gestohlene Gegenstände,
Feilen etc. benützt. (+Albert+, Lehrb. der Chir. III, 565.) Endlich
gehört hierher auch die Simulation, respective künstliche Erzeugung
von Mastdarmvorfall, wie sie von +Tillenbaum+ bei galizischen Recruten
beobachtet wurde. („Der Militärarzt.“ Nr. 7 und 8; Beilage zu Nr. 16
der Wiener med. Wochenschr. 1878.) Eine ausführliche Zusammenstellung
von Mastdarmverletzungen bringt +Mantzel+, Vierteljahrschrift f.
gerichtl. Med. 1893, V, 249. Einen 10 Cm. langen Mastdarmvorfall
nach Quetschung der Kreuzbeingegend durch einen Scheunthorflügel hat
+Hirschberg+ (Berliner klin. Wochenschr. 1894, Nr. 14) beobachtet.
[327] Als Ursachen der Gangrän des Penis gibt +Fournier+ (Le Semaine
méd. 1883, Nr. 50) an: Diabetes (insbesondere Verletzungen bei
Diabetikern), Typhus, Malaria, acute Exantheme, Trauma, Paraphimosis,
Constrictionen durch Ringe, Ligaturen, Bajonnethülsen etc., Ligaturen
des Präputiums (um Bettpissen zu verhindern, in einem Fall, um
Befruchtungen zu vermeiden!), Phlegmone, fremde Körper in der Urethra.
Ob nach übermässigem Coitus oder Onanie Gangrän entstehen könnte,
lässt +Fournier+ unentschieden. Eine seiner Beobachtungen spricht
dafür: Ein junger Mann war nach mannigfachen Excessen im Bordell
eingeschlafen und wurde während des Schlafes von einem Mädchen intensiv
masturbirt. Am anderen Tage Gangrän, die Penis und Scrotum ergriff und
am neunten Tage tödtlich endete. +Fournier+ berichtet auch über einen
Fall von foudroyanter Gangrän des Penis, für welche gar keine Ursache
nachgewiesen werden konnte.
[328] Bezüglich dieser Apparate bemerkt +Martin+ („Ueber Scheiden-
und Gebärmuttervorfälle.“ Berliner klin. Wochenschr. 1872, IX, 30),
dass schon +Hohl+ die Ansicht zurückwies, dass die Gebärmutter von
der Scheide getragen werde. Die eigentlichen Träger der Gebärmutter
seien die an Muskelfasern sehr reichen Lig. sacro-uterina und
pubo-vesico-uterina. Die Lig. uteri lata und rotunda sind ihrer Lage
und Schlaffheit wegen zur Stütze des Uterus in Betreff des Höhestandes
nicht geeignet.
[329] Uebrigens zeigen gerade solche Fälle die Dehnbarkeit des
Begriffes der „eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit“. Da wir nämlich
zugeben müssen, dass bei +allen+ Frauen, die bereits geboren haben,
eine grössere Disposition zur Acquirirung von Vorfällen besteht, als
bei solchen, die noch nicht entbunden haben, eine solche Disposition
aber dann eine natürliche Folge physiologischer Vorgänge ist und
daher ebenso wie Schwangerschaft und Geburt als ein im Bereiche des
Normalen liegender Zustand aufgefasst werden muss, so könnte darüber
gestritten werden, ob ein solcher Zustand noch als „eigenthümliche
Leibesbeschaffenheit“ im Sinne der Strafprocessordnung genommen werden
kann, da das Gesetz höchst wahrscheinlich nur pathologische, nicht
aber auch physiologische Zustände dabei im Auge gehabt haben mag, wenn
auch viele dieser, wie z. B. das Pubertätsstadium, Wochenbett etc.,
zweifellos eine grössere Empfindlichkeit gegen gewisse Schädlichkeiten
bedingen, als dies ausserhalb derselben der Fall ist.
[330] Auch bei forensischer Beurtheilung von Verletzungen der
Genitalien ist die chirurgische Erfahrung im Auge zu behalten, dass
nach Operationen an den Geschlechtsorganen, selbst nach geringfügigen,
sich häufiger fieberhafte Zustände einstellen, als nach anderen. Es
scheint, dass das Auftreten solcher Processe vorzugsweise mit einer
acuten Erkrankung der Nieren zusammenhängt (acute Nephritis, Pyelitis),
welche wieder der Aufnahme septischer Stoffe von der Wunde aus ihre
Entstehung verdankt.
[331] Vide auch +Högyes+, „Ueber den Verlauf der Athembewegungen
während der Erstickung“. Arch. f. experim. Path. 1876, und +Stricker+,
Vorlesungen über allgemeine und experimentelle Pathologie. 1877, I, 177.
[332] Eine Reihe anderer derartiger Beobachtungen haben wir in der
Wiener med. Presse, 1878, Nr. 11-12, zusammengestellt.
[333] Vide E. +Hofmann+, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXV,
pag. 231; +Eberty+, Ebenda. 1892, III, pag. 175: Samenerguss mit
Erection noch 4-6 Stunden nach dem Tode, und +Heel+, Ueber postmortale
Ejaculationen. Dissert. Würzb. 1893.
[334] +Kotelevski+, +Hoppe+-+Seyler+ u. A. Vide auch unsere
Leichenerscheinungen. Eine Ausnahme macht der Tod durch Luftembolie,
wie er namentlich nach Verletzungen der Halsvenen und post partum
von den Uterusvenen aus erfolgen kann. Das Blut erscheint dann in
den Luftblasen enthaltenden Gefässgebieten, besonders, wie wir erst
unlängst bei einer Puerpera sahen, im rechten Herzen hellroth.
[335] Ueber das „Verhalten von Blutergüssen in serösen Höhlen“ hat
+Penzoldt+ (Arch. f. klin. Med. XVIII, pag. 642) interessante Versuche
angestellt, welche ergaben, dass das in die Pleurahöhle und in den
Bauchfellsack ergossene Blut nicht sofort gerinnt, sondern einige Zeit,
selbst bis 24 Stunden, flüssig bleibt.
[336] Neuere Untersuchungen über die Ursache des Flüssigbleibens des
Blutes bei der Erstickung und anderen Todesarten bringt +Corin+ in der
oben (pag. 369) citirten Arbeit.
[337] Experimentalpathologisches über das Lungenödem von +Welch+ und S.
+Mayer+ s. Med. Centralbl. 1878, pag. 726. Wie schon +Haller+ angab,
hört das rechte Herz später zu schlagen auf als das linke und davon
wurde auch die Häufigkeit des Lungenödems am Leichentische hergeleitet.
F. +Falk+, Zur Pathogenese des Lungenödems (Virchow’s Archiv. 1883,
XCI) scheint sich dieser Anschauung anzuschliessen, indem er zwei Fälle
von Herzverletzung (Schuss des linken, Ruptur des rechten Ventrikels)
bei jungen, gesunden Männern nebeneinanderstellt, die beide innerhalb
¼ Stunde zum Tode führten und hervorhebt, dass im ersten Falle
Lungenödem, im zweiten aber keines gefunden wurde.
[338] Ueber diese Erscheinung vide insbesondere die Arbeit von
+Betzold+ und +Gscheidlen+: „Die Locomotion des Blutes durch die
glatten Muskelfasern der Gefässe.“ Unters. aus dem Würzburger physiol.
Laborat. 1867, II, Heft 347.
[339] Aehnliche Angaben in +Virchow+’s „Sectionstechnik“, 1876,
pag. 38. Nach +Strassmann+’s Untersuchungen („Die Todtenstarre am
Herzen.“ Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1889, XLI, pag. 300)
findet sich auch bei Erstickung, Blausäurevergiftung und mancher
anderen gewaltsamen Todesart, selbst bei der Strychninvergiftung
unmittelbar nach dem Tode das Herz beiderseits in Diastole, weich und
blutgefüllt, ebenso wie bei dem Tode durch primäre Herzlähmung. Durch
die Todtenstarre ändert sich aber dieses Verhältniss auch bei primärer
Herzlähmung (wenn diese nicht durch parenchymatöse Degeneration
veranlasst wurde) wesentlich, indem man dann den linken Ventrikel fest
contrahirt und grösstentheils oder ganz seines Inhaltes entleert findet.
[340] Doch können solche wie Suffusionen aussehende Blutungen auch
erst bei der Herausnahme der Brustaorta aus den dabei durchtrennten
Gefässen, insbesondere den Intercostalarterien, entstehen.
[341] Observat. de suffocatis satura. 1753, und De infantibus in partu
suffocatis. 1760; v. +Schwarz+, „Die vorzeitigen Athembewegungen“.
1858, pag. 20.
[342] „Sur le mécanisme de la production des ecchymoses sous-pleurales
dans l’asphyxie aigue.“ Arch. de physiol. norm. et path. Januar 1894.
[343] Ueber den Entstehungsmechanismus der Verletzungen des Kehlkopfes
und des Zungenbeins beim Erhängen. Wiener med. Blätter. 1882, Nr. 24
und 25.
[344] Beim typischen Erhängen ist der Kopf nach vorn, beim atypischen
nach der dem Knoten entgegengesetzten Seite geneigt. In Folge
dieses Umstandes ist das Kinn, respective die betreffende Seite des
Unterkiefers dem Halse stark genähert, wodurch es geschehen kann, dass
diese Theile auf den Rand des Hemdbesatzes oder des Hemdkragens etc. zu
liegen kommen und gewissermassen gegen diesen angedrückt werden. Sind
letztere steif, so können dadurch furchenartige Eindrücke entstehen,
deren Deutung als Drosselmarken nicht unmöglich wäre!
[345] Der Bericht über diese Versuche findet sich in den „Mittheilungen
des Vereines der Aerzte von Niederösterreich“ vom März 1876.
[346] Hierher gehören auch die Beobachtungen von +Quincke+ und
+Wasylewski+ über mechanische Vagusreizung (Virchow’s Jahrb. pro 1875,
II, 88 und pro 1876, I, 234).
[347] Doch müssen wir ausdrücklich bemerken, dass auch in Fällen, wo
der sogenannte Knoten der Schlinge unmittelbar hinter dem Ohr lag, an
der abgenommenen Leiche der entsprechende Eindruck, respective der
Winkel der Strangfurchenenden vor dem Ohre liegen kann, weil, wenn die
Leiche abgenommen wird, die zugeschnürt gewesenen Theile wieder in
ihre frühere Lage zurückkehren. Man muss sich daher, um die Lage und
den Verlauf des Stranges richtig zu verstehen, den Hals zugeschnürt,
respective die Theile des Halses in jene Lage zurückgebracht denken,
welche sie während der Suspension hatten.
[348] +Casper+ und +Liman+ haben niemals eine sugillirte Strangfurche
gesehen, dagegen hat sie +Neyding+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1871, XII, 349) fünfmal beobachtet, und zwar bei unzweifelhaften
Selbstmördern.
[349] „Ueber die localen Befunde beim Selbstmord durch Erhängen.“
Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1881, XXXV, pag. 201 (mit 2
Tafeln). Auch +Nobiling+ (Aerztl. Intelligenzbl. 1884, Nr. 20) fand
bei einem corpulenten Mann, der sich an einer mit Draht umflochtenen
Rebschnur erhängt hatte und dabei etwa 15 Cm. hoch gefallen war, die
Kopfnicker, die am Zungenbein sich inserirenden und die obersten
hinteren Halsmuskeln zur Hälfte durchrissen und suffundirt.
[350] +E. Hofmann+, Ueber postmortale Rupturen des
Sternocleidomastoideus. Wiener med. Wochenschr. 1888, Nr. 39.
[351] Literatur vide bei +Simon+: „Ueber die Zerreissung der Intima
carotis bei Erhängten.“ Virchow’s Archiv. XI; ferner: +Faber+, Deutsche
Zeitschr. f. Staatsarzneikunde.“ 1870, Heft 1. Neuere Beobachtungen
dieser Art hat +H. Friedberg+ publicirt und daran werthvolle
Bemerkungen geknüpft („Gutachten“, pag. 222; P. Börner’s Deutsche med.
Wochenschr. 1876, Nr. 16, 18 und 22, und Virchow’s Archiv. 1878, LXXIV).
[352] „Zur Kenntniss der Befunde am Halse von Erhängten.“ Wiener med.
Presse. 1882, Nr. 48 u. ff.
[353] Näheres über die verschiedenen Hängemethoden v. +G. Hammond+: „On
the proper method of executing the sentence of death by hanging.“ The
New York med. Record. 1882, pag. 426. +A. Calcins+ in den Berichten
der gerichtsärztlichen Gesellschaft von New-York. 1882, pag. 254, und
+Friedreich+, Handbuch der gerichtsärztlichen Praxis. 1844, II, 1218.
Auch den Artikel „Hinrichtung“ in Eulenburg’s Real-Encyclopädie.
[354] Aehnlicher Befunde bei durch den Strang Hingerichteten erwähnt
+Taylor+, l. c. II, 40.
[355] Ganz unmöglich ist die Sache nicht. Beweis dessen die
sensationelle Affaire +Gouffet+ (Virchow’s Jahresber. 1890, I, pag.
496), der in der Wohnung einer Prostituirten von dieser und ihren
hinter einem Vorhang versteckten Geliebten in raffinirter Weise
mittelst eines vorbereiteten Apparates aufgehängt wurde. Die Sache
ging so schnell, dass, nach Geständniss der Thäter, G. keinen Laut
von sich gab und keine Spur von Gegenwehr merken liess. Auch erwähnt
+v. Krafft+-+Ebing+ (Friedreich’s Blätter. 1893, pag. 393) einer
schwachsinnigen Frau, die sich widerstandslos von ihrem Manne durch
Erhängen auf einem Baumast tödten liess.
[356] Literatur über solche Fälle nebst Mittheilung eines Falles von
Selbstmord, bei welchem Hände und Füsse gebunden waren und der Strick
zwischen den Schenkeln durchgezogen war, findet sich in +Bernt+’s
Beiträgen zur gerichtlichen Arzneikunde. IV, pag. 120. +Taylor+ erwähnt
eines Mannes, der sich vor dem Erhängen die Füsse mit einem Sacktuch
zusammengebunden und ausserdem mit zwei Eisenstücken beschwert hatte.
[357] +F. Strassmann+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLVI, 97)
gelang es, postmortal einen hyperämischen Hautstreifen zu erzeugen,
obgleich die betreffende Hautpartie hypostatisch nicht geröthet
war. Trotzdem muss Hypostase bestanden haben, da trotz gewöhnlicher
Stranganlegung die Erscheinung nur auf der einen Halbseite zu Stande
kam. Bei 12 suspendirten Leichen erzielte +Strassmann+ achtmal
Fracturen der Kehlkopfhörner und eine Fractur des Zungenbeines; einmal
war die Fractur etwas suffundirt! Aehnliche Resultate erhielt +Patenko+
(l. c.).
[358] Seitdem haben wir aber wiederholt auch bei einem notorischen
Selbstmörder einen ähnlichen Verlauf der doppelten Strangfurche
beobachtet. Doch betrug die Distanz nur wenige Centimeter. Ferner
fanden wir eine doppelte Strangfurche, trotzdem der Betreffende
an einem einfachen Strick hing, bei einem Manne, der, wie die
Localbesichtigung ergab, zuerst an einem Nagel und weil dieser
ausgerissen war, an einem Comptoirgitter sich erhängt hatte. Erwähnung
verdient auch hier der von +Orfila+ (l. c. II, 357) notirte Fall, in
welchem sich bei einem Erhängten deshalb eine horizontal um den Hals
und eine zweite gewöhnlich verlaufende Strangrinne ergab, weil derselbe
den Strang von hinten nach vorn um den Hals gelegt, die Enden am
Vorderhalse gekreuzt, dann hinter den Ohren nach aufwärts geführt und
daran sich suspendirt hatte. Solche Fälle haben wir wiederholt obducirt
und ausserdem einen, wo sich zwei circulär und ziemlich parallel um
den Hals verlaufende, zwischen Kehlkopf und Zungenbein sich kreuzende,
im Nacken einen Querfinger von einander entfernte rinnenförmige
Strangfurchen und noch eine dritte, wie beim typischen Erhängen
verlaufende, ergaben, weil der Betreffende den Strick sich von vorn um
den Hals gelegt, die Enden über den Nacken zurückgeführt, am Vorderhals
gekreuzt und dann erst am Nagel befestigt hatte. Derartige Fälle
wurden auch von +Freund+, Wiener klin. Wochenschr. 1893, Nr. 7, und
+Erhardt+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, 102) beschrieben
und abgebildet.
[359] Da bekanntlich in verschiedenen Gewerben verschiedene Methoden
der Knoten- und Schlingenbildung üblich sind (Seilerknoten,
Matrosenknoten etc.), so wäre es denkbar, dass die Art der
Knotenbildung den Thäter verrathen kann. Einen solchen Fall
(Artillerieknoten) bringt +Tardieu+ (Schmidt’s Jahrb. 1875, Nr. 2,
179). In unserer Sammlung besitzen wir eine Schlinge, woran sich
eine „Seidenknüpferin“ erhängt hatte. Der Knoten daran ist ebenso
kunstgerecht geknüpft, wie er sich an den Fransen von Shawltüchern zu
finden pflegt.
[360] „Du suicide par strangulation sans suspension.“ Troyes 1851;
Schmidt’s Jahrb. 1852, LXXV, 264.
[361] Zur experimentellen Pathologie des zehnten Gehirnnerven. Arch.
f. experim. Path. 1883, VII. Siehe auch: +Alpiger+-+Störck+, „Shock
nach Kehlkopfexstirpation.“ Langenbeck’s Archiv. 1890, XL, Heft 4, und
+Tamassia+, „Sulla irritazione cardiaco-respiratoria di Brown-Séquard.“
1891.
[362] Bei Neugeborenen können Hämatome unter der Scheide der Kopfnicker
durch Torsion des Kopfes bei Selbsthilfe oder durch den Geburtsact als
solchen entstehen. Aber auch bei Erwachsenen, die eines plötzlichen
natürlichen Todes starben, haben wir sie wiederholt gesehen. Sie können
zwar entstehen beim Zusammenstürzen durch zufällige Zerrung, sich aber
auch postmortal mit Ruptur von Muskelfasern durch die auf pag. 533
erwähnten Manipulationen bilden.
[363] +Ch. T. Hiecke+, De suspensorum in vitam restitutorum morte
subitanea ejusque causa, Jena 1799, hat bereits diese häufige Thatsache
besprochen. Angaben über zwei in Wien Justificirte und auf der Anatomie
wieder zu sich gekommene Gehenkte finden sich in der von +Lamboy+ aus
dem Lateinischen in’s Deutsche übersetzten Abhandlung +Anton de Haen+’s
„Ueber die Art des Todes der Ertrunkenen, Erhängten und Erstickten“.
Wien 1772, pag. 79.
[364] +Moebius+ (Münchener med. Wochenschr. 1892, Nr. 36 und
1893, Nr. 127) hält die Krämpfe und die Amnesie für hysterische
Symptome, die auch bei anderen Selbstmordsformen vorkommen und
durch die heftige Gemüthserschütterung veranlasst werden, welcher
Anschauung +Wagner+ (ibid. 1893, Nr. 5 und pag. 129) widerspricht.
Auch von +Seydel+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, pag.
89) wird über Wiederbelebung einer Erhängten berichtet, bei welcher
heftige eklamptische Anfälle, kleine und nach erlangtem Bewusstsein
vollständige retroactive Amnesie beobachtet wurde.
[365] „Zur Lehre vom Ertrinkungstode.“ Virchow’s Archiv. XLVII.
[366] Leçons sur la Physiol. comparée de la respiration. Paris 1870;
ausserdem +Cerardini+, „Della morte da sommersione“. Firenze 1873 und
+Bergeron+ und +Montano+, Annal. d’hygiène publ. 1877, pag. 332.
[367] +Brouardel+ und +Loye+ (Recherches expérim. sur la mort par
submersion brusque. Arch. de Physiol. 1889, 1., 2. und 3.) bestimmten
bei ihren Versuchen den Zeitpunkt und die Menge des Eindringens der
Ertränkungsflüssigkeit durch graphische Darstellung an einer rotirenden
Trommel. Sie notirten bei einem 25 Kilo schweren Hunde: in der 1.
Phase (7 Sec.) Eindringen von 210 Ccm. Flüssigkeit; in der 2. (23
Sec.) war nichts eingedrungen; in der 3. (15 Sec.) 407 Ccm.; nach 2
Minuten folgten 45 Ccm., 90 in der 3. Minute und 30 in den restlichen
40 Secunden. Der grösste Theil wird daher in der 3. Phase innerhalb
weniger Secunden eingeathmet.
[368] Nach +Brouardel+ und +Loye+ (l. c.) ist das Blut sofort nach dem
Tode coagulirt, die Gerinnsel lösen sich aber nach dem Tode rasch.
Die Flüssigkeit des Blutes sei daher nur eine Leichenerscheinung.
+Coutagne+ (1891) hat diese an sich unhaltbare Angabe durch positive
Beobachtungen widerlegt.
[369] +A. Paltauf+ (Berliner klin. Wochenschr. 1892, Nr. 13) versuchte
dieses auf chemischem Wege und fand, dass selbst das Meerwasser trotz
seiner 0·35 Procent Chlornatrium noch um mindestens ebenso viel an
Salzgehalt hinter dem der Transsudate zurückbleibt.
[370] Zu den gewöhnlichen Befunden gehört bei Ertrunkenen ein Oedem der
aryepiglottischen Falten. Ob dieses während des Ertrinkens oder, wie
wahrscheinlich, erst postmortal durch Imbibition mit Wasser zu Stande
kommt, ist noch unerwiesen.
[371] +Bougier+ (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 529) hat dieses Verhalten an
Leichen verfolgt, die in dem neuen Appareil frigorifique der Pariser
Morgue in gefrorenen Zustand versetzt wurden. Bei frischen Leichen
Ertrunkener fand er einen bis in die feinsten Bronchiolen reichenden
Eisbaum, der in einem Falle kleine Pflanzentheilchen enthielt, und
beträchtliche Eisklumpen im Magen, dagegen bei in fuchsingefärbtes
Wasser oder in Jodkalium- oder Ferrocyankalium-Lösung gelegten und dann
dem Gefrieren ausgesetzten Leichen die betreffenden Flüssigkeiten nur
in den Bronchien, niemals aber im Lungengewebe oder im Magen.
[372] „Zur Verwerthung der Ohrenprobe für die Diagnose des
Ertrinkungstodes.“ Friedreich’s Blätter. 1876, pag. 289.
[373] „Das Schleimhautpolster der Paukenhöhle beim Fötus und
Neugeborenen und die +Wreden+-+Wendt+’sche Ohrenprobe.“ Wiener med.
Blätter. 1883, Nr. 26 u. s. f.
[374] Es kann auch vorkommen, dass Jemand, der durch eine andere
Ursache zusammenstürzt, unter Wasser oder eine andere Flüssigkeit
geräth und erst in dieser stirbt. Alle jene Ursachen, welche in
natürlicher Weise plötzliche Bewusstlosigkeit oder plötzlichen Tod
bewirken können, wie Apoplexien, Herzlähmung, epileptischer Anfall,
Ohnmacht u. dergl., können auch eintreten, während Jemand am oder im
Wasser etc. sich befindet, und es ist insbesondere der natürliche Tod
im Bade keine Seltenheit. Gleiches kann aber auch aus gewaltsamen
Ursachen geschehen, so z. B. bei Kopfverletzungen oder wie beim
Ausräumen von Cloaken durch giftige Gase. Da bei den Betroffenen,
selbst wenn die Ursache des Zusammenstürzens für sich allein den Tod
in wenigen Augenblicken zu bewirken im Stande gewesen wäre, doch die
Agonie in der Flüssigkeit sich abspielt, insbesondere in dieser noch
Athembewegungen erfolgen, so finden sich auch bei solchen Leichen die
Zeichen des Ertrinkungstodes und es kann mitunter recht schwer sein,
die Frage zu beantworten, woran der Untersuchte zunächst gestorben
ist. Bei einer jungen, in ihrem von innen verschlossenen Badezimmer
unter Wasser todt gefundenen Frau ergab sich auffallend rothes Blut
und roth gefärbte Organe. Der Verdacht auf Kohlenoxydvergiftung wurde
durch die spectrale Untersuchung bestätigt. Das giftige Gas stammte
aus dem Heizapparat. Am 24. Januar 1881 obducirten wir einen im Eis
des Donaucanals eingefroren gefundenen alten, marastischen Mann.
Angeblich lag Selbstmord durch Ertrinken vor. Es fanden sich jedoch
massenhafte Gerinnsel im Herzen und den grossen Gefässen, woraus auf
einen protrahirten Tod geschlossen werden musste, und zwar entweder auf
natürlichen Tod durch Marasmus oder auf Erfrieren. -- Den Beobachtungen
+Naegeli+’s zufolge (Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte. 1880, Nr.
2) scheint die Ursache des Verunglückens Badender häufig darin zu
liegen, dass, weil sie mit vollem Magen in’s Wasser gingen, während
des Schwimmens Erbrechen und consecutive Aspiration des Erbrochenen
eintritt.
[375] +A. Paltauf+ (l. c.) weist auf diese Möglichkeit hin und wir
haben einen zweifellosen solchen Fall bei einem 19jährigen Burschen
beobachtet, bei welchem sich an beiden Oberarmen deutliche, vom
Anfassen herrührende Spuren fanden (s. auch pag. 568).
[376] Einen interessanten Fall von bei einem im Wasser Verunglückten
durch die Radschaufeln eines sich drehenden Mühlrades entstandener
Gekrös- und Darmruptur bringt +Kratter+ aus dem Grazer Institute für
Staatsarzneikunde (Friedreich’s Blätter. 1877, 1); ebenso Beispiele
von mannigfachen, insbesondere durch Dampfschiffsräder veranlassten
Beschädigungen von Wasserleichen: +Delens+, „Des fractures etc. que
l’on rencontre sur les cadavres retirés de la Seine.“ (Annal. d’hygiène
publ. 1878, pag. 433).
[377] +Hämmerle+, Gesetzsammlung. 1869, pag. 57.
[378] Die Leichen Ertrunkener tauchen desto früher auf, je günstiger
die Fäulnissbedingungen sind. Im Sommer kann dieses schon nach 2-3
Tagen, seltener schon nach einigen Stunden, geschehen, während im
Winter die Leichen wochen- und monatelang unter Wasser bleiben können.
Die Fettentwicklung, sowie die Menge der im Körper zur Zeit des Todes
gewesenen Luft (Lungen- und Darmluft) ist hierbei ebenfalls von
Einfluss. Enthielt der Körper keine Luft, wie z. B. bei todtgeborenen
Kindern, so bleibt derselbe verhältnissmässig länger unter Wasser, als
wenn Lungen und insbesondere der Darm Luft enthalten hatten. In manchen
Fällen können Wasserleichen unter Flösse etc. gerathen, oder durch
andere Gegenstände festgehalten werden, welche Möglichkeit ebenfalls
in Betracht gezogen werden muss. Gleiches kann eine Beschwerung der
Leiche bewirken, wie sie bei Selbstmördern, aber auch bei Beseitigung
von Leichen vorkommt. Dass selbst raffinirte derartige Vorkehrungen
das Aufsteigen der Leiche nicht absolut verhindern, beweist der im
August 1882 in Paris behandelte Fall Aubert, dessen Leiche nach
11 Tagen auftauchte, obgleich sie von den Mördern mit Bleiröhren
umwickelt, in die Seine geworfen worden war. Meistens scheint zuerst
der Oberkörper aufzutauchen, einestheils wegen der Residualluft in
den Lungen, anderseits wegen der raschen Gasentwicklung im subcutanen
Zellgewebe des Oberkörpers. In einem von +Freyer+ mitgetheilten Falle
(Virchow’s Jahrb. 1886, I, pag. 506) stand die Leiche im Wasser, was
zusammengenommen mit den übrigen Umständen des Falles den Verdacht
erregte, dass die Untersuchte erdrosselt und dann in das Wasser
gebracht worden war. In einem unserer Fälle war aber die Leiche eines
in einem See Ertrunkenen 3 Tage darnach plötzlich neben einem Schiffer,
der nach ihr gesucht hatte, aufgetaucht und stand senkrecht im Wasser.
Ob die Leiche mit dem Rücken oder mit der Vorderfläche nach oben
gekehrt im Wasser schwimmt und schliesslich auftaucht, wird vielleicht
von Zufälligkeiten abhängen. +Lacassagne+ (Virchow’s Jahrb. 1891, I,
pag. 520) behauptet, dass bei weiblichen Leichen meistens letzteres,
bei männlichen ersteres der Fall ist, da sich bei jenen meist die
Fersentheile, bei diesen meist die vorderen Partien der Beschuhung
abgewetzt finden. Auf der Wiener Naturforscherversammlung hat +Haberda+
über das Auftauchen der Wasserleichen und darüber angestellte
Beobachtungen berichtet.
[379] Mitunter werden die fester haftenden Haare an oder in der
Haut abgerissen oder abgebrochen, wodurch die Hautstelle ein wie
rasirtes Aussehen erhalten kann, ein Umstand, der bekanntlich im
Tisza-Eszlár-Fall eine Rolle spielte. Siehe unser Gutachten darüber,
sammt Abbildungen einer solchen Kopfhaut aus unserer Sammlung in der
Wiener med. Wochenschr. 1883, Nr. 25 u. ff.
[380] Das Schwurgericht Osnabrück fällte am 9. März 1878 das
Todesurtheil über eine Frau, welche den vier Wochen alten Knaben
ihrer Tochter dadurch getödtet hatte, dass sie ihm einen zugespitzten
Flaschenkork in den Rachen einpresste.
[381] Schmidt’s Jahrb. 1852, LXXIV, 242. Ebenso Versuche von
+Mattysen+, Tardieu, sowie der med.-chir. Gesellschaft in London in
+Tardieu+’s: „Sur la pendaison etc.“, pag. 292 u. ff., daselbst, sowie
in +Casper+-+Liman+’s Handb. II, 633, einschlägige Fälle.
[382] +Roth+ und +Lex+, Militärgesundheitspflege. 1875, II, 557.
[383] O. +Schultze+, „Zur Lehre vom Stoffwechsel bei Inanition“. Arch.
f. Anat. 1863, pag. 31; ebenso F. A. +Falk+, l. c. Eine fleissige
Zusammenstellung der „Veränderungen der Gewebe durch Inanition“,
insbesondere der Atrophie der Leber, enthält die Dissertation von G.
+Kulisch+, Halle 1891.
[384] So in England im berüchtigten „Penge-Fall“ 1877 und im Process
gegen die Familie +Barms+, die der gewerbsmässigen Kindervertilgung
angeklagt war (Prager med. Wochenschr. 1879, pag. 399).
[385] Eine ausführliche Darstellung der Theorien über die Ursache der
Insolation findet sich in dem Werke von +Jakubasch+, „Sonnenstich und
Hitzschlag“. Wien 1881.
[386] Wiener med. Wochenschr. 1867, pag. 144. Siehe auch die Arbeiten
von +Fraenkel+, Deutsche med. Wochenschr. 1889, Nr. 2 und +Silbermann+,
Med. Centralbl. 1889, Nr. 29.
[387] Ueber Verbrennungen durch schlagende Wetter, ein Mal 22, das
andere Mal 14 Kohlengrubenarbeiter betreffend, berichtet K. +Franz+,
Zeitsch. d. böhm. Aerzte. 1885, pag. 212 u. s. f., ferner +Bourget+,
Virchow’s Jahresb. 1877, II, 229.
[388] Prager Vierteljahrschr. 1864, LXXXII, 114.
[389] Gröberen durchscheinenden Gefässnetzen begegnen wir auch bei
postmortalen und dann vertrockneten Hautaufschürfungen.
[390] Wiener med. Wochenschr. 1875, Nr. 19 und 20, dann 1876, Nr. 7
und 8; ferner +Blumenstok+, Ibid. 1876, Nr. 15 und 16 und Friedreich’s
Blätter. 1878, pag. 347; +Jastrowitz+, Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. XXXII, pag. 1; die ausführliche Zusammenstellung der Befunde nach
Verbrennung von +Schjerning+ (Ibid. XLI und XLII) und die Arbeiten aus
unserem Institute über den Befund an den Wiener Ringtheaterleichen.
[391] Zusammenstellung der Arbeiten von +Graff+, +Günsburg+, +Bischoff+
und +Maschka+ vide in Schmidt’s Jahrb. 1853, I, 105.
[392] In +Sédillot+’s „Journ. génér. de méd.“ März 1813.
[393] Laut eines von +Anderle+ in der Sitzung der Section für
öffentliche Gesundheitspflege des Wiener med. Doctoren-Collegiums vom
7. Jänner 1885 vorgetragenen Protokolls über die „Feuerbestattung“
einer Frau dauerte die Verbrennung 1 Stunde 24 Minuten und das Gewicht
des grössten Theils aus ganz kleinen Knochenstückchen bestehenden
Rückstandes betrug 1·5 Kgrm. -- Aus Anlass des Processes +Pel+ haben
+Brouardel+ und +L’Hôte+ (Annal. d’hygiène publ. 1886, pag. 12 und 106)
sich durch den Versuch überzeugt, dass man in einem eisernen Kochherd
binnen 40 Stunden eine ganze, etwa 60 Kgrm. schwere, zerstückelte
Leiche verbrennen könne, wobei etwa 6 Kgrm. Asche zurückblieb, und
sich nach aussen kein auffälliger Geruch entwickelte. Die auf den
französischen Schlachtfeldern angestellten Versuche, Thiercadaver durch
Begiessen mit Theer und Petroleum zu verbrennen, haben entgegen den
Angaben +Créteur+’s ungünstige Resultate ergeben, da es der Metzer
Commission selbst nach fünfstündiger Bemühung und nachdem wiederholt
Theer und Petroleum aufgegossen worden war, nicht gelang, Pferdecadaver
vollständig zu verkohlen (+Roth+ und +Lex+, l. c., I, 556.
[394] Ausführliches über „Blitzschlag“ vide unseren gleichbezeichneten
Artikel in +Eulenburg+’s „Real-Encyclopädie der ges. Heilkunde“ und in
+Oesterlen+’s Arbeit über diesen Gegenstand in Maschka’s Handb. I, 795.
Auch +Eberty+: „Ueber Blitzverletzungen.“ Deutsche med. Wochenschr.
1891, Nr. 37. Mit lithographirten Abbildungen, und die Monographie von
+Vincent+: „Médecine légale des accidents de la fondre 1892. Gaz. des
hôp. Nr. 98-138.
[395] Ausser den einschlägigen Arbeiten von +Krajewski+, +Blosfeld+,
+Samson+-+Himelstiern+, +Dieberg+, +Hoeche+ und +Ogston+ siehe die
von +Pouchet+ (Med. Times. December 1865); +De Crecchio+ („Della
morte pel freddo.“ Morgagni 1866); +Beck+, Deutsche Klinik. 1868, Nr.
6-8; +Wertheim+, Wiener med. Wochenschr. 1870, Nr. 19-23; +Horwath+,
„Beiträge zur Wärme-Inanition“. Allg. Wiener med. Ztg. 1870, Nr. 38
und 41; +Colemann+ und +M’Kendwick+ (Virchow’s Jahrb. 1885, I, 239),
die Angaben von +Landois+ in seinem Lehrb. d. Physiol., pag. 413 und
+Paniénski+, Virchow’s Jahresb. 1890, I, 490.
[396] Med. Centralbl. 1873, pag. 33.
[397] Der von der Vorschrift für die gerichtliche Todtenbeschau vom 28.
Jänner 1855 im §. 105-107 vorgeschriebene Vorgang bei der Untersuchung
des Magens und Mageninhaltes und bei der Uebergabe der Leichentheile an
den Chemiker ist im Wesentlichen analog mit den sofort auszuführenden
Bestimmungen des §. 22 des preussischen Regulativs vom Jahre 1875 und
wir beschränken uns um so mehr auf diese hinzuweisen, als sie dem
gegenwärtigen Standpunkt der Toxicologie mehr angepasst sind als jene.
Auf die besonderen Bestimmungen bei Vornahme von Exhumationen werden
wir zurückkommen.
[398] Der Einfluss dieses Momentes ist insbesondere bei Digitalis und
Aconitum bekannt, und es wird behauptet, dass +Linné+ in Lappland
Aconitumkraut als Gemüse verspeist haben soll. (Virchow’s Jahrb. 1875,
I, 452.)
[399] Dass Substanzen erst durch das Vehikel zu Giften gemacht werden
können, zeigt das Amygdalin, welches für sich allein nicht giftig ist,
jedoch in Mandelmilch gebracht, durch das darin enthaltene Emulsin
schnell in Zucker, Bittermandelöl und +Blausäure+ zerfällt.
[400] Gegenüber Strychnin scheinen sich die Verhältnisse anders zu
gestalten, da nach +Falck+ in Kiel (Arch. f. d. ges. Physiologie.
XXXIV, pag. 531) bei neugeborenen Kaninchen nicht blos die
krampfmachende, sondern auch die letale Dosis eine auffallend höhere
ist als bei erwachsenen.
[401] Vide +Werber+ über Arsenikesser. Deutsche Klinik, 1870, 19;
ferner die Berichte der Grazer Naturforscherversammlung. +Binz+ und
+Schulz+, Arch. f. exper. Path. XI, 223 und +Knapp+, Med.-chir.
Rundschau. 1886, 1. Heft. Dass das „Arsenikessen“ auch vor Gericht
eine Rolle spielen kann, beweist der von +Dittrich+ (Vierteljahrschr.
f. gerichtl. Med. VIII, Suppl. pag. 212) begutachtete Fall, in welchem
ein Mann wegen Giftmord zum Tode verurtheilt, in einer neuerlichen
Verhandlung jedoch einstimmig freigesprochen wurde, weil sich durch
verlässliche Zeugen herausstellte, dass der Verstorbene Arsenik als
Genussmittel zu nehmen pflegte.
[402] +L. Herrmann+, Lehrb. d. exper. Toxicologie. 1874, pag. 94.
[403] Bemerkenswerth ist, dass auch schwere entzündliche oder
infectiöse Erkrankungen latent verlaufen und nachdem die Krankheit
bereits einige Zeit gedauert hatte, zum unerwarteten, selbst
plötzlichen Tode führen können. Vom Typhus ist dies längst bekannt,
unseren Erfahrungen zufolge gibt es aber ebenso wie einen Typhus
ambulatorius auch eine Pneumonia, eine Peritonitis und selbst eine
Meningitis ambulatoria, da uns vorgerücktere Stadien aller dieser
Erkrankungen bei Individuen vorkamen, die plötzlich -- einzelne davon
mitten in ihrer Arbeit -- gestorben waren, ohne bis dahin besonders
auffällige Erscheinungen gezeigt zu haben. Am häufigsten scheint die
Pneumonie einen solchen latenten Verlauf zu nehmen. In den hierher
gehörigen Fällen von Meningitis handelte es sich stets um Meningitis
cerebrospinalis und in einem derselben war der kräftige, junge Mann,
als er sich zur Arbeit begeben wollte, auf der Strasse zusammengestürzt
und in einigen Augenblicken gestorben. Auch +Lesser+ erwähnt im 1.
Heft seines Atlas der gerichtl. Med. einer Person, die plötzlich beim
Waschfass gestorben war und wo sich als Todesursache Peritonitis nach
Ulcus perforans ergab. Dass auch schwere chronische lebenswichtige
Organe betreffende Processe latent verlaufen können, zeigt u. A. ein
während der Vorstellung plötzlich gestorbener Circus-Clown (!), bei
dessen Section ein colossaler Hirntuberkel als Todesursache gefunden
wurde.
[404] +Langerhans+, Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 48. +Ungar+,
Tagblatt der Wiener Naturforscherversammlung, pag. 299 u. +Wachholz+,
ebenda.
[405] Vertretung von Kalksalzen der Knochen durch isomorphe Blei- und
Barytsalze und die Vertretung von phosphorsauren Salzen durch isomorphe
arsensaure. Lud. +Herrmann+, l. c. 44.
[406] Ueber die Schicksale dieser im Organismus sind die Acten
keineswegs geschlossen. So wird von +Boyer+ (Virchow’s Jahrb. 1881, I,
562) unter Berufung auf +Vulpian+ eine Zersetzung des Strychnins im
Blute als wahrscheinlich angenommen, von +J. Kratter+ („Untersuchungen
über die Ausscheidung von Strychnin durch den Harn.“ Wiener med.
Wochenschr. 1882, Nr. 8 u. ff.), sowie von +Ipsen+ („Untersuchungen
über das Verhalten des Strychnins im Organismus.“ Vierteljahrschrift
f. gerichtl. Med. 1892, IV, pag. 15) in Abrede gestellt. +Morphin+
wird nach +Landsberg+ (Pflüger’s Arch. XXIII und +Eliassow+, Diss.,
Königsberg 1882) bei kleinen Gaben im Organismus völlig zersetzt und
nur bei grösseren lässt sich unzersetztes Morphin im Harn nachweisen.
Auch +Donath+ (Wiener med. Presse. 1886, pag. 587) hat Gleiches
gefunden. Neuere Untersuchungen über den Gegenstand von +Pellacani+ s.
Virchow’s Jahresb. 1892, I.
[407] Solche Verfärbungen sind nicht mit unschuldigen von Nahrungs- und
Genussmitteln herrührenden zu verwechseln. So können grüne ausser von
Galle von grünem Gemüse, rothe und violette von Weinbeeren, Rothkraut,
Hollunderbeeren, rothen Rüben u. dergl. stammen. In dem gewöhnlich in
saurer Gährung begriffenen Inhalte des Coecum und Colon ascendens, wo
die Nahrungsstoffe auch länger verweilen, lösen sich die betreffenden
Farbstoffe besonders intensiv und färben dann durch Imbibition die
betreffenden Darmschlingen und das anstossende Peritoneum mitunter ganz
auffallend wein- oder anilinroth, wegen welcher Färbung in einem uns
mitgetheilten Falle von den Obducenten an eine Anilinvergiftung gedacht
und deshalb die chemische Untersuchung eingeleitet worden war.
[408] Die anatomischen Veränderungen des Verdauungscanales durch
Aetzgifte. Virchow’s Archiv. LXXXIII, pag. 193.
[409] Grosse Mengen wässerigen Mageninhaltes können bei schwacher
Concentration des genommenen Aetzgiftes dasselbe so verdünnen, dass
wohl Verätzung der Schleimhaut des Oesophagus, aber nicht mehr die
des Magens erfolgt, so dass letztere entweder ganz intact bleibt oder
nur irritative Veränderungen zeigt. Gleiches kann geschehen, wenn
das Gift chemisch durch den Mageninhalt gebunden oder neutralisirt
wird. Auch kann es unter solchen Umständen geschehen, dass die obere
concentrirtere und noch ätzungsfähige Schichte des Mageninhaltes
durch schnell eintretende Contraction des Magens noch in den Dünndarm
gelangt, so dass im letzteren noch Verätzungen gefunden werden können,
obgleich die Magenschleimhaut verhältnissmässig wenig beschädigt ist.
In der That bewahren wir in unserer Sammlung den Magen eines 53jährigen
Mannes, der 9 Wochen vor dem Tode Salzgeist (Salzsäure) irrthümlich
statt Rum getrunken hatte, in welchem Falle die Schleimhaut des Magens
mehrere longitudinale, schmale, in Form eines 3-10 Mm. breiten,
fast continuirlichen Streifens entlang der +kleinen+ Curvatur, von
der Cardia bis zum Pylorus ziehende und dort mit einer Ausbreitung
endigende, in Verheilung begriffene Substanzverluste zeigt, während
im übrigen Magen mit Ausnahme einiger unbedeutender Narben an der
Hinterwand des Fundus normale, im Duodenum aber wieder mit Narben
durchzogene Schleimhaut sich findet.
[410] Letztere können ausser durch Inanition auch durch Perforation zum
Tode führen, welche allerdings auch durch forcirte Sondirung, aber auch
ganz unabhängig von dieser durch Geschwürs- oder Divertikelbildung,
durch entzündliche Erweichung und durch periösophageale Abscesse zu
Stande kommen kann. Solche Vorgänge können längere Zeit latent bestehen
und es kann ihr Durchbruch zufällig mit einer Sondirung zusammenfallen
oder die Perforation mit der Sonde dadurch wesentlich begünstigt
werden. Bei Beurtheilung angeblich in dieser Richtung begangener
„Kunstfehler“ ist daher besondere Vorsicht angezeigt. Eine einschlägige
Beobachtung von +Schuberg+ wurde in Friedreich’s Bl. 1888. pag. 199 und
mehrere andere von uns mitgetheilt: Zeitschr. f. Medicinalbeamte. 1888,
pag. 353.
[411] Vide u. +A. Kossel+, „Zur Kenntniss der Arsenwirkungen“. Arch. f.
exp. Path. 1876, V, pag. 135, und +Fränkel+, „Ueber den Einfluss der
verminderten Sauerstoffzufuhr zu den Geweben auf den Eiweisszerfall
im Organismus.“ Med. Centralbl. 1875, pag. 739, und Virchow’s Archiv,
1876, LXVIII.
[412] Auch die acute Fettdegeneration bei Neugeborenen und Wöchnerinnen
ist zu beachten. Vide +Buhl+, Klinik der Geburtskunde. 1861, I, pag.
296. +Hecker+, Monatsschr. f. Geburtskunde. 1867, pag. 321 und Arch. f.
Gynäk. 1876. X, 537.
[413] Es empfiehlt sich, eine ganze Niere und etwa ein Drittel der
Leber zu nehmen, was wir ausdrücklich bemerken, weil in einem hierher
zur chemischen Untersuchung gelangten Falle von beiden Organen nur ein
nussgrosses Stückchen eingeschickt worden war.
[414] +Gorup+-+Besanez+ fand in der Leiche einer Frau, welche
Spiegelarbeiterin gewesen, aber bereits über ein Jahr vor ihrem Tode
den Dienst verlassen hatte, noch deutliche Spuren von Quecksilber.
Schmidt’s Jahrb. 1850, II, 144.
[415] Auch vor der Beerdigung können auf und in die Leiche Giftstoffe
hineingelangen, so durch „Balsamirung“, dann aber auch durch
Desinfection der Leiche mit Carbolsäure, Sublimat u. dergl.; diese
Stoffe können dabei auch in die Schling- und Respirationswege und von
da durch nachträgliche Imbibition tiefer hineingelangen.
[416] Handbuch der gerichtl. Chemie. 1869, pag. 144 u. s. f. Ferner
„Ueber die Verbreitung des Arseniks in der Natur“. Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. N. F., 1870, XIII, 169.
[417] Bekanntlich wurde zur „Einbalsamirung“ (Conservirung) der
Leichen häufig Arsenik verwendet. Ein solcher Vorgang macht nicht
blos die Erkennung einer stattgehabten Arsenikvergiftung bei der
betreffenden Leiche unmöglich, sondern kann auch Arsenik in die
Friedhofserde bringen. So berichtet +Edling+ (Monatsblatt für öffentl.
Gesundheitspflege und med. Statistik. Beilage zur Deutschen Klinik.
1874, Nr. 3), dass in Stockholm ein ganz enormer Consum von Arsenik
zur Conservirung von Leichen stattfinde, dass im Jahre 1872 allein
etwa 110 so conservirte Leichen begraben wurden, und dass, da für jede
Leiche durchschnittlich 278 Grm. Arsenik gebraucht werden, jährlich
etwa 63 Pfund Arsenik in die Friedhofserde gelangen! Seit 1876 ist
dieser Vorgang verboten. -- Die Thatsache, dass auch durch die Leichen
Vergifteter mineralische Gifte der Friedhofserde zugeführt werden,
ist insbesondere bei den Friedhöfen grösserer Städte und solchen mit
bereits wiederholtem Turnus nicht ausser Acht zu lassen.
[418] Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1872, XVI, 328.
[419] „Vergiftung mit Atropin durch Kaninchenfleisch.“ Med. Centralbl.
1865, 832.
[420] Diese Reaction ist bereits von Joh. Andreas +Scherer+ angegeben
worden: Abhandl. der böhm. Ges. der Wissensch. auf das Jahr 1876, pag.
254-271 und Wiener med. Jahrb. 1832, II, pag. 353.
[421] Med. Centralbl. 1875, pag. 176 und Friedreich’s Bl. 1876, pag.
166.
[422] Med. Centralbl. 1876, pag. 228.
[423] Das Leuchten von aufbewahrten Nahrungsmitteln im Dunkeln wird
mitunter durch Mikroorganismen veranlasst (+Forster+ und +Tilanus+,
1888). Wir haben dasselbe unlängst an noch ziemlich frischen
Kalbsknochen beobachtet.
[424] In einem unserer Fälle hatte ein 3jähriges Mädchen seinem in der
Wiege liegenden Brüderchen Laugenessenz zu trinken gegeben, welche
unter dem Bette stand, ebenso in einem zweiten ein 4jähriges Mädchen
ihrer 1½ Jahre alten Schwester Scheidewasser, welches zum Putzen
einer Uhrkette gekauft worden war.
[425] Eine zufällige Vergiftung von Mutter und Kind durch mit einem
Klysma beigebrachte Schwefelsäure theilt +Deutsch+ mit (Schmidt’s
Jahrb. 1849, LXIII, 174). Wir haben einen gleichen Fall bei einem
Kinde beobachtet, und einer, der eine gelähmte Frau betraf, welcher
möglicherweise das Schwefelsäure-Klysma nicht irrthümlich, sondern
absichtlich gesetzt worden war, findet sich in der älteren Literatur.
[426] Auch die unvorsichtige Darreichung von Gegenmitteln kann
Erstickung bewirken, da wir mehrmals Kehlkopf- und Luftröhre bis tief
in die Bronchien mit einem Brei von Magnesia usta ausgefüllt fanden,
welche allzu hastig und nur unvollständig mit Wasser verrührt gegeben
worden war.
[427] In einem sehr acuten Falle, wo offenbar grosse Mengen der
Säure genommen worden waren (die Abends noch gesunde Frau war früh
todt in ihrem Bette gefunden worden und vom Magen waren nur Fetzen
vorhanden), waren die Todtenflecke auffallend hellroth, so dass anfangs
an Kohlenoxydvergiftung gedacht wurde und das Blut himbeergeléeartig,
welche Farbe das Blut auch im Reagensglase erhält, wenn es mit
concentrirter SO₃ versetzt wird.
[428] Diese kann Salpetersäurevergiftung vortäuschen, wie ein von
+Wunschheim+ publicirter Fall zeigt (Virchow’s Jahresb. 1891, pag. 520).
[429] Auch forensisch bemerkenswerth ist das Absterben von Fingern und
Zehen nach unvorsichtiger äusserer Anwendung von Carbolsäure. Nach
+Freyer+ (Zeitschr. f. Medicinalb. 1891) kann dieses auch schon nach
2-3procentigen Lösungen erfolgen.
[430] +Stokvis+ in Amsterdam (Arch. f. exp. Path. XXI, 169) negirt
diese Reduction und Methämoglobinbildung, letztere erfolge vielmehr
erst am abgestorbenen Blute und sei nur ein postmortales Phänomen.
Die giftigen Eigenschaften des Kali chloricum beruhen nach ihm theils
auf der Kaliwirkung (Kalisalpeter bewirkt in einer Dosis von 25 Grm.,
Kaliumsulfat in einer solchen von 37·5 Grm. den Tod unter ähnlichen
Erscheinungen wie Kaliumchlorat in einer Menge von 30 Grm.), theils sei
sie keine andere wie die der Salze überhaupt, auch des gewöhnlichen
Kochsalzes, von welchem 8-10 Grm. auf ein Kilo Thier tödtlich wirken.
Durch neuere Untersuchungen von +Marchand+ u. A. (siehe diese
zusammengestellt in Virchow’s Jahrb. 1888, I, 389) ist jedoch die
vitale Bildung des Methämoglobins ausser Zweifel gesetzt. +Mittenzweig+
(Zeitschrift f. Medicinalb. 1888, pag. 265) konnte in einem Falle auch
das Auftreten kernhaltiger rother Blutkörperchen constatiren.
[431] Von den 63 Selbstmorden durch Gift, welche im Jahre 1874 in
Wien vorkamen, wurden 32 durch Cyankalium, 11 durch Schwefelsäure, 6
durch Laugenessenz, 7 durch Phosphor, 5 durch Morphium und nur 2 durch
Arsenik bewerkstelligt; und von den 1875 vorgekommenen (57) 1mal durch
Blausäure, 7mal durch Cyankalium, 3mal durch Morphium, 2mal durch
Strychnin, 6mal durch Schwefelsäure, 1mal durch Ammoniak, 11mal durch
Kalilauge und 6mal durch Phosphor. Eine Arsenikvergiftung kam nicht
vor, dagegen zweimal im Jahre 1876.
[432] „Die Gifte“, übersetzt von +Seydeler+, II, 196.
[433] Ueber die Ursache der Arsenikwirkung existirt eine beträchtliche
Anzahl von Arbeiten. So von +Böhm+ und +Unterberger+ (Arch. f. exp.
Path. II, 89), von +Lesser+ (Virchow’s Arch. 74. Bd.), +Binz+ und
+Schulz+ (Arch. f. exp. Path. XI, 212, XIV, 345, XV, 322), +Filehne+
(l. c.), +Dogiel+ und +Vrijens+ (Virchow’s Jahresb. 1881, I, 411)
und +Pistorius+ (Arch. f. exp. Path. XVI, 188). Letzerer fand bei
Hunden und Katzen nach Application per os als auffälligste Veränderung
pseudomembranöse Auflagerungen, welche den Dünndarm in grösserer oder
geringerer Ausdehnung überziehen und durch reichliche subepitheliale
Transsudation einer leicht gerinnbaren fibrinösen Flüssigkeit entstehen.
[434] Virchow’s Arch. XLVII, ferner +E. Hofmann+ (Arsenikvergiftung
für Cholera gehalten) ibidem, 4, 455. In einem von uns begutachteten
Falle, der eine nach 8 Jahren exhumirte Frau betraf, war der Tod zur
Cholerazeit erfolgt und deshalb nicht aufgefallen.
[435] Unter 6 von Prof. +Ludwig+ untersuchten Fuchsinsorten fand sich
nur eine arsenfrei; die übrigen enthielten 0·3-0·5 Procent arsenige
Säure. (Vide +E. Hofmann+ und +Ludwig+, „Ein Fall von chronischer
Arsenikvergiftung“. Wiener med. Jahrb. 1877.)
[436] +Stadelmann+, „Die Arsenwasserstoffvergiftung“. Ein weiterer
Beitrag zur Lehre vom Icterus. Arch. f. exp. Path. XIV, 221.
[437] Nach +Hessler+, welcher auf Grund von 48 eigenen Beobachtungen
die klinischen Symptome der Phosphorvergiftung zusammenstellte
(Vierteljahrschrift für gerichtl. Med. XXXV, 248), trat das Erbrechen
meist in den ersten 24 Stunden, nur ausnahmsweise am 2. bis 4.
Tage ein. Nur 6mal wurde Phosphor erbrochen, einmal war dieser im
diarrhoischen Stuhl nachweisbar.
[438] +Hessler+ beobachtete 26mal Icterus, und zwar 3mal am 2., 11mal
am 3., je 3mal am 4. und 6., 2mal am 5. Tage. Petechien in der Haut
kamen 3mal vor. Sehr häufig trat am 2. bis 3. Tage eine Besserung ein,
die 1 bis 2 Tage dauerte, worauf abermals Verschlimmerung, insbesondere
neuerliches Erbrechen. Diarrhöe trat nur 7mal ein, 16mal bestand
Verstopfung. 3mal traten Blutungen aus der Nase und 5mal bei Frauen
Blutungen aus den Genitalien auf. Der Tod trat ein nach 1 Tage in 3,
nach 2 in 1, nach 3 in 3, nach 4 in 8, nach 5 in 7, nach 6 in 3, nach 7
in 4, nach 8 in 1, nach 9 in 3, nach 10 in 2, nach 11 in 3, nach 12 und
15 Tagen in je 2 Fällen.
[439] Ein solcher auch durch den Befund in den Nieren interessanter
Fall kam uns im März 1887 vor. Er betraf einen 26jährigen kräftigen
Mann, wahrscheinlich Potator, welcher Abends, wie es schien, in schwer
berauschtem Zustande in’s Spital gebracht worden war und grosse Mengen
stark nach Wein riechender Flüssigkeit erbrach, die Nacht hindurch
schlief und am Morgen sich ruhig verhielt, dann aber zu toben anfing,
so dass er, weil er sich auch den Hals abzuschneiden versuchte, auf die
psychiatrische Abtheilung gebracht werden musste, wo er in Coma verfiel
und am Abend starb. Während des Transportes gab er an, Phosphorpasta
genommen zu haben. Die Obduction ergab zahlreiche und grosse Ecchymosen
im subcutanen Zellgewebe zwischen den Schulterblättern, im hinteren
Mediastinum, unter der parietalen Pleura und unter dem Pericard,
trübe Schwellung in Oesophagus und Magen, fettige Degeneration der
Thoraxmusculatur, des Herzens und der Leber, aber keinen Icterus und
auch im Darm gallig-gefärbten normalen Inhalt, in welchem Phosphor
chemisch nachgewiesen wurde. Die Nieren zeigten äusserlich normale
Färbung und mikroskopisch nur mässige parenchymatöse Degeneration,
dagegen waren die Pyramiden besonders in den Spitzenantheilen
eigenthümlich bleich und ähnlich wie dies bei den Harnsäureinfarcten
der Säuglinge der Fall ist, strahlig gestrichelt, und zwar durch ein
bleiches, in den geraden Harncanälchen abgelagertes, ausstreifbares
Sediment, welches fast nur aus Phosphaten und Fetttropfen bestand. Auch
der spärliche Harn in der Harnblase, der leider verloren ging, zeigte
ein kalkwasserartiges Aussehen.
[440] Virchow’s Jahrb. 1876, I, 404, insbesondere aber Med.-chir.
Centralbl. 1879, Nr. 32 (4 Fälle von P.-Vergiftung mit Genesung aus
+Halla+’s Klinik in Prag).
[441] Der Icterus kann ausnahmsweise auch bei protrahirteren Fällen
nicht vorhanden sein. So fehlte er in einem von +Reichel+ (Wiener klin.
Wochenschr. 1894, Nr. 9) publicirten, von +Kolisko+ secirten Fall,
obwohl der Tod erst 72 Stunden nach dem Genuss von in Oel aufgelösten
Köpfchen von 18 Päckchen Zündhölzchen eingetreten war. +Reichel+ leitet
dies von der Compression des Ductus thoracicus durch massenhafte
Ecchymosen ab. Der Tod war unter Erscheinungen der Vaguslähmung
(Tachykardie, Singultus) erfolgt und beide Vagi waren mit massenhaften
Blutaustritten durchsetzt. Auffallender Weise zeigte auch keiner der
von +Corin+ und +Ansiaux+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894,
VII, 1) subacut vergifteten Hunde Icterus.
[442] Den Untersuchungen von +Corin+ und +Ansiaux+ zufolge ist das Blut
nur bei subacuten Phosphorvergiftungen flüssig. Es zeichnet sich durch
Mangel von Plasmafibrinogen, Fibrinferment und Prothrombin aus.
[443] Anzeiger der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien. 1876, Nr. 23.
[444] +L. Herrmann+, l. c. 239. Da wässerige Aufgüsse von Phosphor
(Zündhölzchen) nicht selten zur Vergiftung benützt werden und die
Giftigkeit dieser bezweifelt wurde, hat +Fischer+ (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1876, XXV, 41) Versuche angestellt und gefunden, dass
solche wässerige Aufgüsse, selbst wenn sie wiederholt colirt wurden,
noch im Dunkeln stark leuchteten und eine Menge suspendirter feinster
Phosphorpartikelchen enthielten.
[445] Beachtenswerth ist die von unserem Collegen +Ludwig+ gemachte,
noch nicht publicirte Beobachtung, dass der gewöhnliche Phosphor
ansehnliche Mengen von Arsen enthält.
[446] +Tardieu+, l. c. 500; ein anderer Fall, in welchem 60 Grm.
Laudanum auf nüchternem Magen genommen wurden und trotzdem erst nach
1½ Stunden Erbrechen eintrat, doch weder der Tod, ja nicht einmal
Schlaf sich einstellte, ist von +Dobbie+ im Brit. med. Journ., 9. Juli
1870, pag. 33, mitgetheilt worden.
[447] Morphium sowohl als seine neutralen Salze geben mit +neutralem+
Eisenchlorid eine schön blaue Färbung. Bringt man zu den Krystallen
oder ihren Lösungen Chloroform und ein Körnchen Jodsäure, so färbt sich
ersteres beim Schütteln violett, da Morphium das Jod aus Jodsäure frei
macht und dieses in Chloroform sich löst.
[448] Deutlich war dies in den zwei zuletzt von uns obducirten Fällen.
Der erste betraf einen jungen Pharmaceuten, der wegen Gesichtsschmerz
sich zu chloroformiren pflegte. Eines Morgens wurde er todt in seinem
Bette gefunden, ein Tuch vor Mund und Nase haltend, während ein
Chloroformfläschchen auf dem Nachttische stand. Die Obduction ergab
Verdickung der inneren Meningen, excentrische Hypertrophie des linken
Herzens und starke Nierengranulose, Erstickungsbefunde; Chloroform
wurde vom Collegen +Ludwig+ im Gehirn und in den Nieren nachgewiesen.
Der zweite Fall betraf einen 14jährigen Knaben, der behufs Exstirpation
cariöser Fusswurzelknochen chloroformirt und in der Narkose plötzlich
gestorben war. Die Obduction constatirte einen ungemein aufgeschossenen
schlanken Körper von 167·5 Cm. Länge, Spitzentuberkulose, Endarteriitis
deformans, besonders an den Coronararterien, Hypertrophie und
Verfettung des linken Herzens. Möglicherweise begünstigt auch der
sogenannte „Status thymicus“ (siehe pag. 590) solche Todesfälle (vergl.
die einschlägige Debatte in der Sitzung der k. k. Gesellschaft d.
Aerzte vom 11. Mai 1894. Wiener klin. Wochenschr. Nr. 20).
[449] Eine Reihe solcher Fälle nach 5-8 und sogar nach 12·5 Grm. vide
Prager Vierteljahrschr. 1871, III, 131; Virchow’s Jahrb. 1876, I, 414
und +Schüle+ (l. c. 672). Der rasche Tod erklärt sich aus der exquisit
gefässlähmenden Wirkung des Giftes und scheinen, wie beim Chloroform,
insbesondere Alkoholiker dazu zu disponiren.
[450] Ueber eine CO-Vergiftung mehrerer Personen durch mehrere
Tage, veranlasst durch in der Wand glimmendes Balkenwerk, berichtet
+Berthold+, Zeitschrift f. Staatsarzneikunde. 1830, X, pag. 94.
[451] +A. Sudakoff+, „Ueber die Bewegung des Leuchtgases in der
Richtung geheizter Wohnungen“. Arch. f. Hygiene. 1886, V.
[452] +Gruber+ („Ueber den Nachweis und die Giftigkeit des Kohlenoxyds
und sein Vorkommen in Wohnräumen.“ Sitzungsber. d. k. bayr. Akad. 1881,
pag. 203) fand, dass Thiere schon beim Einathmen einer Luft von 0·06%
Kohlenoxyd leichte Intoxicationserscheinungen, insbesondere Vermehrung
der Respirationsbewegungen, zeigen, die bei 0·1% stärker auftritt und
bei 0·15% mit Bewegungsschwäche sich verbindet. Doch halten Thiere
selbst in einer Luft von 0·2-0·36% CO stundenlang aus. Steigt aber der
CO-Gehalt auf 0·4-0·5%, dann verläuft die Vergiftung sehr rapid. Die
Grenze der Schädlichkeit des CO liegt nach +Gruber+ wahrscheinlich bei
einer Verdünnung von 0·05, sicher aber von 0·02%. Eine Anhäufung von
CO im Organismus, wie +Fodor+ annimmt, findet nicht statt, da sich der
Körper theils durch Dissociation, theils durch Oxydation zu Kohlensäure
entledigt. Nach +Gaglio+ (Arch. f. experim. Path. XXII, pag. 235)
jedoch wird das CO vom Blute weder innerhalb, noch ausserhalb des
Organismus oxydirt.
[453] +Biefel+ und +Poleck+ (l. c.) halten die Ansammlung von
Kohlendunst in einem Raume für gefährlicher als die von Leuchtgas,
weil bei letzterem die Luft, respective der Sauerstoff nur einfach
verdrängt wird, während bei ersterem die chemische Zusammensetzung
der Luft auf Kosten des Sauerstoffes geändert wird. Die aus acht
Analysen berechnete mittlere Zusammensetzung des Kohlendunstes („die
durch unvollkommene Verbrennung von Kohlen veränderte atmosphärische
Luft eines abgeschlossenen Raumes“) ergab in 100 Volumtheilen: 6·75
CO₂, 0·34 CO, 13·19 O und 79·72 N, somit wesentliche Verminderung des
Sauerstoffes und starke Vermehrung der Kohlensäure, während die Analyse
der Leuchtgasatmosphäre nahezu normalen O-Gehalt im Versuchsraum ergab.
[454] „Ueber die Beziehungen der Arteria chorioidea anterior zum
hinteren Schenkel der inneren Kapsel des Gehirns.“ Sammlung von
Vorträgen der Wiener klin. Wochenschr. 1891.
[455] Auch in sonstigen Wasserreservoirs und Wasserleitungskästen.
So haben wir im September 1892 zwei Arbeiten secirt, die in einem
sogenannten Wechselkasten der Hochquellenleitung durch die dort
angehäufte Kohlensäure erstickt sind.
[456] Wenn man in frisches Blut SH einleitet, so wird das Blut bald
grünlich missfarbig, indem sich der SH mit dem Blutfarbstoff (Hämatin
oder Hämoglobin) zu einem grünlich gefärbten Körper verbindet. Das Blut
zeigt dann ein eigenes Spectrum, nämlich verwaschene Hämoglobinstreifen
und einen Absorptionsstreif in Roth. Dieses Spectrum wird bei in
SH verunglückten Menschen, wenn ihre Leichen frisch sind, niemals
gefunden, ebensowenig bei damit getödteten Thieren, und man überzeugt
sich durch Versuche leicht, dass zur Erzeugung sowohl der grünen
Verfärbung, als des eigenthümlichen Spectrums ein sehr hoher SH-Gehalt
des Blutes nothwendig ist, zu welchem es bei SH-Vergiftungen niemals
kommen kann. In einem unserer neueren Fälle, wo zwei Arbeiter beim
Ausräumen eines Canales erstickt waren, wurde behauptet, dass dieselben
nicht durch Cloaken-, sondern durch Leuchtgas um’s Leben gekommen
wären. Die Obduction ergab aber nur gewöhnliche Erstickungsbefunde und
aspirirte Cloakenstoffe, sehr dunkles Blut und in diesem keine Spur
von CO, so dass letztere Angabe als unbegründet zurückgewiesen werden
musste.
[457] In der That ist uns seitdem ein Fall vorgekommen, wo bei einem
Selbstmörder der im Glase zurückgebliebene Rückstand sowohl die
Reactionen der Blausäure, als die des Ferrocyankaliums ergab.
[458] Thatsächlich berichtet +Bělohradský+ (Prager Zeitschr. f.
Heilkunde. 1880, pag. 45) über einen Fall, wo irrthümlich Aetzkali
statt Cyankalium genommen wurde.
[459] Friedreich’s Blätter. 1870, pag. 454.
[460] Vide Ludw. +Hermann+, Med. Centralbl. 1867, pag. 270.
[461] Die Deutlichkeit des Blausäuregeruches im Magen etc. hängt
natürlich zuerst von der Menge der darin enthaltenen Blausäure ab.
Ausserdem kann der Geruch leicht durch Fäulniss oder anderweitige dem
betreffenden Mageninhalt (respective Giftvehikel) zukommende Gerüche
verdeckt werden. Auch ist derselbe unter sonst gleichen Verhältnissen
in acuten Fällen natürlich deutlicher, als in solchen, wo der Tod erst
nach längerer Zeit erfolgt. Die Zersetzlichkeit der Blausäure in der
Leiche ist keineswegs eine so hochgradige, wie gewöhnlich angegeben
wird. In einem, in unserem Institute obducirten, von +Zillner+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. October 1881) publicirten Fall
wurde bei einem erst nach 4 Monaten gefundenen Selbstmörder noch
Blausäure in der Leiche nachgewiesen, und die Literatur enthält mehrere
Fälle, in denen dieser Nachweis noch nach 15-100 Tagen gelang. +Struve+
vermochte sogar noch nach 18 Monaten in, mit Cyankalium versetztem und
vergrabenem Fleisch die Blausäure aufzufinden.
[462] Nach +Feser+ (Berliner Arch. f. Thierhk. 1881, VII, pag. 59)
werden 0·2 Mgrm. Strychninnitrat pro Kilogramm vom gesunden Hund
subcutan wohl noch vertragen, sind aber für kranke schon gefährlich;
0·3-0·4 Mgrm. pro Kilogramm erzeugen schon die stärksten Wirkungen mit
häufig tödtlichem Ausgang. Der eventuelle Tod trat nach 12 Minuten bis
1½ Stunden ein. Durch 0·5 Mgrm. pro Kilogramm wird jeder Hund sicher
getödtet. Tod in 10-50 Minuten. Innerlich bedingen schon 0·3-0·4 Mgrm.
pro Kilogramm manchmal, 0·5-0·6 immer heftige Wirkungen; 1 Mgrm. pro
Kilogramm wirkt bestimmt tödtlich.
[463] +St. Clair Gray+, Zusammenstellung von 143 in der Literatur
enthaltenen Fällen von Strychninvergiftung. Schmidt’s Jahrb. 1873, CLX,
pag. 15; ferner +Kratter+, „Fall von Strychninvergiftung“. Oesterr.
ärztl. Vereins-Ztg. 1880, Nr. 6 u. 7.
[464] Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1876, XXIV, 278. Der
Verstorbene hatte im Laufe von vier Wochen 137 Pillen mit ungefähr
16-17 Grm. Digitalispulver genommen.
[465] „Das Muscarin, das giftige Alkaloid des Fliegenpilzes“, Leipzig
1869, ferner „Ueber Fliegenpilzalkaloide“, +Schmiedeberg+ und
+Harnack+, Arch. f. experim. Path. IV, 168; Virchow’s Jahrb. 1876, I,
427 und +Jordan+, Arch. f. experim. Path. VIII, 15.
[466] Nach +v. Wettstein+ (Wiener klin. Wochenschr. 1890, Nr. 15) ist
die Angabe, dass auch die Speisemorchel (Morchella esculenta) giftige
Eigenschaften zeigen könne, ganz unbegründet, dagegen enthalte +jede+
Lorchel (Helvella esculenta), welche sich von der Morchel durch den
unregelmässig faltigen, nicht regelmässig grubigen, stumpfen und
dunklen Hut leicht unterscheidet, im frischen Zustande ein heftiges
Gift, das allerdings nach mehrmaligem Brühen schwindet und durch
Trocknen an Kraft verliert.
[467] „Eintritt und Ablauf der Krankheitserscheinungen bei Trichinose,
sowie Eintritt und Art des Todes bei derselben.“ (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. XXXIII, 284.)
[468] Wir hatten zweimal Gelegenheit, mehrere Tage anhaltende
Sprachlosigkeit nach plötzlichem Begiessen mit kaltem Wasser, ein
drittes Mal nach zufälligem Sturze in’s Wasser zu beobachten. In einem
der ersteren Fälle war das betreffende (chlorotische) Mädchen auf
diese Weise aus dem Schlafe geweckt worden. Einen einschlägigen Fall
(achttägige Sprachlosigkeit) bringt +Maschka+ (Gutachten. III, 33).
[469] Einen ähnlichen, von +Jelly+ berichteten Fall von plötzlicher
Lähmung einer 22jährigen Dame durch Schreck beim unerwarteten Abfeuern
einer Kanone in unmittelbarster Nähe vide Med. Centralbl. 1874, pag.
544.
[470] Ueber den Einfluss der Affecte auf die Cessation der Menses
vide +Schröder+, Krankheiten der weiblichen Genitalien (Ziemssen’s
Handb. X, 307). Anderseits werden Gebärmutterblutungen auch mit
Schreck und Gemüthsaufregung in ursächliche Verbindung gebracht
(+Rokitansky+, Wiener Klinik. 1875, IV, 129). Fälle von Unterbrechung
der Schwangerschaft durch ein Erdbeben werden im Arch. f. Gyn. IV, 372,
erwähnt.
[471] Eigentlich fötale, d. h. durch Athmung gar nicht veränderte
Lungen kommen bei reifen oder der Reife nahen Früchten sehr selten vor.
Da nämlich, wie wir hören werden, die meisten todtgeborenen Kinder
eines suffocatorischen Todes in Folge vorzeitiger Unterbrechung der
Placentarathmung sterben und vor dem Tode Athembewegungen machen, so
wird die ursprüngliche fötale Beschaffenheit der Lungen schon durch die
Todesart in mancher Beziehung geändert, namentlich aber ihr Blutgehalt
und damit auch die ursprüngliche Farbe und das ursprüngliche Gewicht.
[472] „Ueber die verschiedene Farbe der Lungen Neugeborener.“
Vierteljahrschrift f. gerichtl. Med. 1869, X, 1.
[473] Ausführliches hierüber findet sich in dem interessanten
Aufsatze +Blumenstok+’s: „Zum 200jährigen Jubiläum der Lungenprobe.“
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1883, XXXVIII, pag. 252. In der
unter Maria Theresia 1768 ausgegebenen oder vielmehr aus dem Jahre 1733
reproducirten Instruction für gerichtliche Wund- oder Todtenbeschau
wird die Lungenschwimmprobe noch gar nicht berücksichtigt. Dagegen
wird in der Sammlung „Medicinischer Gutachten“ von Dr. Joh. Gottlieb
+Kühn+, Adjunctus des kg. Collegii medici und sanitatis, Kreis- und
Stadtphysicus, Breslau und Hirschberg 1791 in den Sectionsprotokollen
über neugeborene Kinder die Lungenschwimmprobe ausdrücklich erwähnt und
beschrieben.
[474] Man hat behufs Beantwortung der Frage, ob die Lunge geathmet
habe oder nicht, das specifische Gewicht derselben auch volumetrisch
bestimmt und auch das Volum für sich allein verwerthet. Schon +Bernt+
(Handbuch der gerichtlichen Arzneikunde. 1846, 5. Aufl., 206 u. ff.)
hat dies gethan. Neuestens hat +H. Bernheim+ (Deutsche med. Wochenschr.
1869, Nr. 43) eine neue „Lungenathemprobe auf volumetrischem Wege“
angegeben. +Ungar+ (Ebenda, Nr. 49) fand jedoch diese Probe bei
minimalem Luftgehalt unsicher, ja bedenklich, bei reichlicherem aber
überflüssig.
[475] „Luft in den Lungen todtgeborener Kinder.“ Berliner klin.
Wochenschrift. 1882, Nr. 18 und Charité-Annalen. 1883, VIII, pag. 683.
[476] Auch in den von +Winter+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1887, XLVI, 81) mitgetheilten Fällen von fruchtlosen
Wiederbelebungsversuchen tief asphyctischer Kinder, die dann
lufthältige Lungen boten, hatten die vorwiegend aus Schwingungen
bestehenden Belebungsvorgänge lange (in dem einen Falle 1¼ Stunde)
gedauert, und es wurde auch die von uns a. a. O. geäusserte Befürchtung
bezüglich der Gefährlichkeit der Schwingungen bestätigt, da in allen
diesen drei Fällen Verletzungen zu Stande kamen, und zwar einmal
eine Hämorrhagie in die Bauchhöhle, das zweite Mal eine Leberruptur
und Bruch dreier Rippen, und das dritte Mal, wo auch die Methode
des Zusammenbiegens und Ausstreckens des Kindes zur Anwendung kam,
Leberruptur und Absprengung der Hinterhauptsschuppe (!). +Runge+
(Petersburger med. Wochenschr. 1887, Nr. 19) betont trotzdem die
Ungefährlichkeit der Schwingungen, indem er meint, dass jene
Verletzungen entweder bei der Extraction oder durch ungeschickte
Ausführung der Schwingungen entstanden seien. Doch haben auch +Körber+
und +Dittrich+ über solche Verletzungen berichtet.
[477] +Klein+ („Ueber einige forensisch wichtige Befunde Neugeborener.“
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1892, III, pag. 20) berichtet über
einen solchen, der aber nicht einwandsfrei ist, da ein Theil der Luft
schon intrauterin aspirirt worden sein konnte.
[478] Näheres darüber vide +E. Hofmann+, „Ueber vorzeitige
Athembewegungen“. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, XIX, 233 u.
s. f.
[479] „Ueber die Möglichkeit des vollständigen Entweichens der Luft aus
den Lungen Neugeborener.“ Arch. f. klin. Med. 1869, VI, 398.
[480] +Bossi+ (Virchow’s Jahrb. 1889, I, pag. 505) hat in 99 Fällen die
Dauer des apnoischen Stadiums verfolgt und constatirt, dass die Dauer
desselben 15mal kaum merkbar war, 22mal 1-20 Secunden, 18mal 21-40,
21mal 41-60, 8mal 61-80 und 1mal sogar 150 Secunden betrug.
[481] 1836, pag. 235 und 1837, pag. 280, 1840, Ergänzungsheft 203.
[482] 8monatliches Kind. Schmidt’s Jahrb. 1846, L, 235.
[483] Deutsches Arch. f. klin. Med. VI, 398.
[484] Virchow’s Archiv. 1867, XXXVIII, 135; 1868, XLIV, 472;
„Geschwülste“, II, 469.
[485] +Klebs+, Path. Anat. 658. Ferner Schmidt’s Jahrb. 1856, II, 313.
[486] +Winter+ (l. c.), +Eckervogt+ (Zeitschr. f. Medicinalb. 1892,
pag. 269), +Olshausen+ und +Pistor+, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
1892, IV, Suppl. 1.
[487] +Montali+ (Virchow’s Jahrb. 1887, I, 521 und 1890, I, 503) hat
dieses durch Versuche constatirt und gefunden, dass dabei Berstungen
der Alveolen zu Stande kommen, die sich nicht finden, wenn luftleere
Lungen, respective todt geborene Kinder der Hitze ausgesetzt worden
waren.
[488] „Ueber das Verhalten der Paukenhöhle beim Fötus und beim
Neugeborenen.“ Arch. f. Heilk. 1873, XIV, pag. 97. Vide ferner: +E.
Hofmann+, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1873, XIX, pag. 236 u.
253; +Wreden+, Ibid. 1874, XXI, pag. 208; +Blumenstok+, Wiener med.
Wochenschr. 1875, Nr. 40 u. ff.; +Liman+, l. c. 905; +Ogston+, Med.
Centralbl. 1876, pag. 144 u. +Moldenhauer+, Ibid. 905; +H. Schmaltz+,
Arch. d. Heilk. XVIII, pag. 251; +Tröltsch+, Lehrb. d. Ohrenhk. 1877,
6. Aufl., pag. 170 u. ff.; +Lesser+, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
XXX, 26.
[489] „Das Schleimhautpolster der Paukenhöhle beim Fötus und
Neugeborenen und die +Wreden+-+Wendt+’sche Ohrenprobe.“ Wiener med.
Blätter. 1883, Nr. 26-34. Brieflicher Mittheilung Prof. +Kotelewski+’s
zufolge ist auch Med. Stud. +J. Putermann+ in einer 1881 an der
Warschauer medicinischen Facultät gekrönten Preisschrift zu gleichen
Resultaten wie +Hněvkovský+ gelangt.
[490] Einen Fall, in welchem die Mutter behauptete, sofort nach der
heimlichen Entbindung das Kind gesäugt und dann erst getödtet zu
haben, theilt +Goeze+ mit (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1875,
XXII, pag. 262). In einem anderen von uns obducirten Falle hatte die
Mutter das heimlich, angeblich todtgeborene Kind vorläufig in einem
Kasten verborgen, nach einigen Stunden gewaschen, ihm die vorbereitete
Kinderwäsche angezogen und dann dasselbe im Keller vergraben, wo es
nach einer Woche aufgefunden und der Bekleidung wegen für ein Kind
gehalten wurde, welches schon einige Tage gelebt hatte.
[491] „Ueber intrauterine Verletzungen des fötalen Knochengerüstes.“
Monatsschrift f. Geburtskunde. 1857, IX, 321 und 401. Weitere Literatur
des Gegenstandes vide Buchner (Lehrbuch, 2. Aufl., 429), +Bergmann+
(Pitha-Billroth’s Handbuch. 1873, III, 26), +Casper+-+Liman+ (l. c. II,
930) und +S. Rembold+, Stuttgart 1881.
[492] Gaz. des hôp. 1858, 144. Schmidt’s Jahrb. 1859, CII, 42.
[493] +E. Hofmann+, „Zur Casuistik der intrauterinen Verletzungen
der Frucht“. Wiener med. Presse. 1885, Nr. 18 u. ff. Seitdem haben
wir wiederholt, in einem Falle sogar multiple solche Defecte
gesehen und auch +Dittrich+ hat einen solchen bei der Wiener
Naturforscherversammlung demonstrirt und +Hochstetter+ (Zeitschrift
f. Geburtsh. XXVIII, pag. 403) fand einen derartigen, in der Umgebung
narbigen Defect am Thorax. Die Mutter soll während der Schwangerschaft
von einer Treppe herabgefallen sein.
[494] +Braun+ (Arch. f. klin. Chir. XXXIV, pag. 668) und +P. Link+
(Arch. f. Gyn. XXX), Wiener med. Wochenschr. 1892, Nr. 36 und
+Sperling+, Zeitschr. f. Geburtsh. XXIV, 225.
[495] Nach +Runge+ („Die Veränderungen der brechenden Medien des Auges
bei macerirten Früchten.“ Berliner klin. Wochenschr. 1882, Nr. 34)
färbt sich einige Tage nach dem Tode zuerst der Glaskörper, dann, und
zwar centripetal, die Linse. Letztere zeigt nach 3 Wochen regelmässig
einen rothen Farbenton.
[496] +Oesterlein+, Handb. d. med. Statistik, pag. 100.
[497] Ibidem, pag. 101. Die Zahl der Todtgeborenen beträgt 4-5% aller
Geborenen, so dass durchschnittlich auf 20 Geburten eine Todtgeburt
kommt.
[498] Literatur des Gegenstandes vide Krahmer’s Lehrb., 1875, pag. 132.
+Hecker+, „Zur Lehre von der Todesart des Kindes während der Geburt.“
Verh. der Berliner Ges. f. Geburtsh. 1853, pag. 145. +Schwartz+, „Die
vorzeitigen Athembewegungen.“ Leipzig 1858. Böhr, „Ueber das Athmen der
Kinder vor der Geburt“. Henke’s Zeitschr. 1863, XLIII, pag. 1. +B. S.
Schultze+, „Zur Kenntniss von der Einwirkung des Geburtsactes auf die
Frucht etc.“ Arch. f. path. Anat. und Physiol. 1866, XXXVII, pag. 145.
+Senator+, „Ueber den Tod des Kindes in der Geburt“. Vierteljahrschrift
f. gerichtl. Med. 1886, IV, 99. +E. Hofmann+, „Ueber vorzeitige
Athembewegungen in forensischer Beziehung“. Ibid. 1873, XIX, 217.
+Schwartz+, Arch. f. Gyn. I, pag. 361.
[499] Das +Meconium+ besteht vorzugsweise aus Vernix caseosa und
Gallenfarbstoff, namentlich enthält es eine Menge schon makroskopisch
kennbarer Wollhaare. Es kann daher kein Zweifel darüber bestehen,
dass der Fötus auch noch in den späteren Perioden der Schwangerschaft
Fruchtwasser schluckt. Zu welchem Zwecke ist allerdings vorläufig
unbekannt. Bemerkt sei hier, dass nicht selten das Meconium nur in den
unteren Abschnitten des Dickdarms die bekannte dunkelgrüne, in den
oberen, namentlich im aufsteigenden Ast, eine gelblichbraune Farbe
zeigt. Letzteres, welches vorzugsweise die Elemente geschluckten
Fruchtwassers enthält, nennt +Huber+ (Friedreich’s Bl. 1884, pag. 24)
das M. amnioticum, ersteres aber das M. hepaticum, welches reichlichen
Schleim, Gallenfarbstoff und abgestossene Darmepithelien enthält.
Der Gallenfarbstoff findet sich theils diffus, theils in Schollen
(+Huber+’s „Meconkörper“), die vielleicht nur gallig imbibirte
gequollene Darmepithelien sind. -- Der Darminhalt der Neugeborenen ist
frei von Bacterien, doch finden sich solche schon 3-7 Stunden post
partum im Inhalte des Rectums (+Escherich+, Virchow’s Jahrb. 1886, I,
pag. 222).
[500] Untersuchungen über die Compression des Schädels bei der Geburt
vide +Fehling+, Arch. f. Gyn. 1874, VI, pag. 68.
[501] Virchow’s Arch. XXXVII, 519.
[502] +Skrzeczka+, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1869, XI, pag. 75.
[503] Behufs Untersuchung der Pupillarmembran ist der Bulbus zu
enucleiren und quer zu durchschneiden; hierauf wird unter Wasser die
Chorioidea sammt Ciliarkörper und Iris mit dem Griff des Scalpells
abgestreift, dann die Iris auf einem Objectträger ausgebreitet und die
Pupille theils mit freiem Auge, theils mit der Loupe untersucht.
[504] „Die Stirnfontanellen und der Horizontalumfang des Schädels.“
Arch. f. Gyn. 1875, VII, 506. +Fehling+ verwerthet den Horizontalumfang
auch für die Bestimmung der Lebensfähigkeit und ist der Meinung, dass
nur Früchte, die einen Horizontalumfang von mindestens 30 Cm. haben,
mit einiger Wahrscheinlichkeit als lebensfähig erklärt werden können.
Damit stimmen auch die sehr sorgfältigen Untersuchungen von +Körber+ in
Dorpat (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1884, XL, 225) über Gewicht
und Maasse Neugeborener mit Rücksicht auf die Frage der Lebensfähigkeit
überein.
[505] Eine neuere Arbeit „Ueber den Werth der einzelnen Reifezeichen
bei Neugeborenen“ von +Frank+ s. Arch. f. Gyn. 1894, XXVIII, pag. 163.
[506] Monatschr. f. Geburtsk. 1860, XVI, 75; 1862, XIX, 339 und
1865 XXVI, 348. Arch. f. Gyn. 1871, II, 48 (+Gregory+), dt. 1873, V
(+Kézmárszky+), pag. 547, Med. Centralbl. 1876, pag. 427 (+Ingerslev+)
und +Townsend+ (The so-called physiological lose in infants. Ibid.
1887, pag. 685.)
[507] Ein Fall von +freiwilliger+ Entbindung einer Frau im Stehen wird
von +Cordwent+ (Arch. f. Gyn. XIII, 212) mitgetheilt.
[508] Wir obducirten ein unreifes Kind, welches an Verbrühung durch
heissen Camillenthee gestorben war. Das Kind stammte von einem
16jährigen Mädchen, welches von seiner Mutter der vermeintlichen
Kolikschmerzen wegen auf ein mit dem Theeaufguss gefülltes Gefäss
gesetzt worden war und in dieser Lage entbunden hatte.
[509] Bei dem oben erwähnten, vor dem Wiener Gebärhaus im Stehen sammt
der Placenta geborenen Kinde fanden wir blos die Nabelvene, und zwar
innerhalb der Bauchhöhle unterhalb des Peritoneums durchrissen und
letzteres entlang des Gefässes in weitem Umfang blutig suffundirt.
Am Schädel fanden sich trotz vorhandenen Ossificationsdefecten nur
zwei unbedeutende Fissuren des inneren Randes beider Scheitelbeine.
Bei einem anderen im Hofe des allgemeinen Krankenhauses im Stehen
geborenen und unbeschädigt gebliebenen Kinde war die uns von Dr.
+Pritzl+ überlassene Nabelschnur ziemlich in der Mitte gerissen.
Auch +Koch+ bringt einen solchen Fall, wo sich ausserdem noch 3
andere Einrisse am portalen Theile der Nabelschnur fanden (solche hat
auch +Winckel+ mehrfach beobachtet) und einen anderen, wo sich bei
unverletzter Amnionscheide je eine Sugillation nahe am Nabel und an der
Placentarinsertion fand.
[510] Von einem auf +C. v. Braun+’s Klinik vorgekommenen Falle. Die
Frau war mit Zwillingen schwanger. Die Sturzgeburt erfolgte im Stehen
in dem Momente, als die Kreissende sich ankleidete, um auf den Abort
zu gehen. Die im Ganzen 42 Cm. lange Nabelschnur riss 12 Cm. vom
Nabel, das 2200 Grm. schwere Kind fiel auf den Boden und erlitt eine
Fissur des rechten Seitenwandbeines, blieb jedoch am Leben. Der zweite
Zwilling wurde normal geboren. Placenta und Nabelschnur wurden unserem
Museum überlassen.
[511] Wir haben ein Kind obducirt, welches, während sich die Hebamme
mit der Entbundenen beschäftigte, sich aus der +unterbundenen+
Nabelschnur verblutet hatte. Das Kind war nach der Abnabelung
eingewickelt und bei Seite gelegt worden, und als die Hebamme nach
etwa einer Stunde nachsah, war das Kind voll Blut und agonisirend.
Ein gleicher Fall kam 1894 zur Beobachtung. In diesen Fällen muss
untersucht werden, ob die Nabelschnur entweder gar nicht oder schlecht
unterbunden war. Doch es kann auch vorkommen, dass die gut angelegt
gewesene Schlinge durch Verdunstung oder Aufsaugung der Flüssigkeit des
Nabelschnurendes sich nachträglich lockert.
[512] Prager Vierteljahrschr. CXXIII, 53: „Zur Kenntniss der
natürlichen Spalten und Ossificationsdefecte am Schädel Neugeborener.“
[513] Ein anderer Fall, in welchem bei einem 6jährigen (!) Mädchen eine
embryonale Hinterhauptsspalte für eine Fissur gehalten wurde, findet
sich in Schmidt’s Jahrb. 1851, Bd. LXIX, 224.
[514] +O. Küstner+ (Jena’sche Zeitschr. f. Naturw. 1866, XX, Suppl.
I, pag. 9 und Centralbl. f. Gyn. 1886, Nr. 9 u. 25) hat die Bildung
eines solchen Hämatoms im linken Sternocleidomastoideus bei einer
Steissgeburt beobachtet, die ohne jeden Eingriff verlief und hat sich
durch Versuche überzeugt, dass erhebliche Dehnungen dieses Muskels
und daher solche Hämatome nicht durch Längsdehnung und Streckung des
Halses, sondern durch Torsion desselben mit dem Gesichte nach der
gleichnamigen Seite zu Stande kommen. Auch bei Selbsthilfe können sie
nur durch eine solche Torsion oder durch directe Quetschung sich bilden.
[515] Auch die Verwirrung kann die Mutter mitunter verhindern, das
richtige zu thun. So unterliess dieselbe in einem unserer Fälle, das
Kind aus einem Schaff, in welches dasselbe gefallen war, herauszuziehen
und rief statt dessen um Hilfe. Die Anklage behauptete, dass die Mutter
absichtlich unterlassen habe, das Kind zu retten, es kam aber hervor,
dass auch eine Zeugin, welche herbeigeeilt war und das Kind in der
Flüssigkeit liegen sah, statt dasselbe herauszuziehen, erschreckt aus
der Stube lief, um noch eine andere Frau herbeizuholen. Siehe auch den
auf pag. 805 mitgetheilten Fall.
[516] In der Agonie und kurz nach dem Tode erweitern sich die
Pupillen in der Regel, um sich dann wieder etwas zu verengern, welche
Verengerung nach +Marschall+ etwa 1 Stunde nach dem Tode beginnt,
und durch 3-4 Tage andauert. Häufig ist die Contraction ungleich.
+Schmeichler+ (Wiener med. Wochenschrift. 1885, Nr. 39) fand, dass
die Pupillen nach dem Tode immer etwas weiter werden als sie vor
dem Tode sind und dass bei einem Paralytiker, dessen rechte Pupille
während des Lebens seit längerer Zeit weiter als die linke war, bei
der Section der Befund gerade umgekehrt war. Es scheint, dass diese
postmortalen Veränderungen der Pupillenweite ausser durch Contraction,
respective Erschlaffung der Irismuskeln, auch durch Veränderungen
des intraoculären Druckes bedingt werden, dessen Abnahme auch
Formveränderungen der Pupille erzeugte. Siehe auch Virchow’s Jahresb.
1888, I, 162 (Beobachtungen an abgeschlagenen Köpfen) und 1887, I, 503
(Verhalten der Augenlider nach dem Tode).
[517] Das Wenige über das Verhalten der Temperatur beim acuten
gewaltsamen Tode Bekannte vide unsere „Leichenerscheinungen“.
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XXV, 236, ebenso die Arbeit von
+Schlemmer+ und +Tamassia+, „Del decorso della temperatura nelle morti
violenti“. Rivista sperim. di freniatria e med. legale. Anno II,
Fascicolo V, VI, und +Tamassia+, „Temperatura negl’ avvelenamenti“.
Ibidem, Anno III, Fasc. II, 265.
[518] Nach vernachlässigten Schulterlagen fanden wir wiederholt an dem
todt extrahirten Kinde ausser der Geburtsgeschwulst in der vorgelagert
gewesenen Schulter- und Brustgegend auch die betreffende Lunge dunkler
und blutreicher, so dass sie auffallend von der anderen abstach.
Offenbar handelte es sich ebenfalls um eine hypostatische Erscheinung.
[519] Die sogenannte Gänsehaut ist vielleicht eine Fixirung der
vitalen Contraction glatter Muskelfasern durch die Todtenstarre.
Bezüglich des Herzens hat +Strassmann+ (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1889, LI, 300) an Thieren constatirt, dass es bei
keiner Todesart zu einem systolischen Herzstillstand kommt. Immer,
selbst nach Strychninvergiftung, fand sich das Herz in Diastole und
weich. Erst durch die Todtenstarre ändert sich dieses Verhältniss
und man findet bei der späteren Untersuchung fast stets den linken
Ventrikel fest contrahirt und seines Inhaltes grösstentheils oder
ganz entleert. Wir dagegen haben bei eben getödteten Thieren das Herz
nicht selten contrahirt gefunden (Wiener med. Presse, 1890, Nr. 37).
+A. Paltauf+ (Prager med. Wochenschr. 1892, Nr. 6), fand, dass nach
Strychninvergiftung mit geringen Dosen die Todtenstarre in gewöhnlicher
Weise, nach grösseren schon nach 5 Minuten eintrete, ebenso nach
Vergiftung mit Picrotoxin, nicht aber mit Veratrin und Physostigmin.
In der Wiener Naturforscherversammlung berichtete aber +Schlesinger+
über zwei genau beobachtete Fälle von Tetanie bei Magenerweiterung, in
welchen der Tod im Krampfanfalle eingetreten war und sofortige Fixation
der Krampfstellung durch die Todtenstarre constatirt wurde. Da Trismus
bestanden hatte, öffnete sich auch der Mund an der Leiche nicht!
[520] Obgleich der erstarrende +isolirte+ Muskel thatsächlich sich
verkürzt, so wird doch, da an der Leiche gleichzeitig die Antagonisten
erstarren, durch den Rigor mortis keine Locomotion grösserer
Gliedmassen veranlasst. Auch die Locomotion kleiner Glieder, namentlich
ein leichtes Beugen der Finger durch diese Ursache, ist noch keineswegs
erwiesen, obgleich wegen Prävalenz der Beuger möglich. Zweifellos
kommen Locomotionen bei der „Wärmestarre“, besonders wenn sie die
Muskelgruppe ungleichmässig befällt, vor. An den Ringtheaterleichen
wurden thatsächlich solche Bewegungen beobachtet und auch für vitale
gehalten. Von den dadurch veranlassten Contractionen, welche, wie
+Becker+ (1894) fand, zunächst die oberflächlichen und massigen Muskeln
betreffen, rühren die mitunter grotesken Stellungen her, in welchen
halbverkohlte Leichen gefunden werden. Ob die nach Cholera beobachteten
postmortalen Zuckungen der Finger mit der Todtenstarre in Verbindung
stehen, ist noch fraglich.
[521] +Brown+-+Séquard+ (Compt. rendus. C. III, pag. 602; Med.
Centralbl. 1886, 948) zog in letzter Zeit diese Anschauung in Zweifel
und hält die Todtenstarre für eine wirkliche, letzte Contraction des
Muskels vor seinem Absterben. Auch +Bierfreund+ (Pflüger’s Archiv.
1888, XLIII, pag. 195) gelangt zu demselben Schlusse und ebenso glaubt
+Tamassia+ (Virchow’s Jahrb. 1884. I, 462) auf Grund seiner Versuche,
dass ausser physischen und chemischen Veränderungen des Myosins noch
andere, vorläufig unbekannte Einflüsse eine Rolle spielen. Unserer
Meinung nach wäre es, um endlich bezüglich des eigentlichen Wesens
der Todtenstarre in’s Klare zu kommen, angezeigt, mit dem angeblichen
Myosin als solchem Versuche anzustellen, insbesondere über die
Bedingungen, unter welchen es gerinnt und wieder sich löst.
[522] Ueber die Ursache dieser Verfärbung s. unsere
„Leichenerscheinungen“ und neuere Arbeiten von +Pellacani+ (Virchow’s
Jahresb. 1884, I, 463) und +Schrank+ (Grüne Färbung fauler Eier. Wiener
med. Jahrb. 1888, pag. 303).
[523] Bevor dies geschieht, können durch den Druck der Fäulnissgase
verschiedene Veränderungen geschehen. Eine der gewöhnlichsten ist das
Heraustreiben des Mageninhaltes durch den Oesophagus nach aussen,
wodurch dieser dann auch in die Luftwege gelangen kann. Ebenso
gewöhnlich ist die Vortreibung der Augäpfel. Weniger bekannt ist
die Vortreibung der Schleimhaut des Mastdarms und der weiblichen
Genitalien, welche Vorfälle vortäuschen kann. Mitunter können
aber auch bei weiblichen sehr faulen Leichen Eingeweide durch das
Becken herausgedrängt werden (+Swaving+ in Batavia: „Austritt von
Darmschlingen durch die Genitalien bei faulen Wasserleichen.“ Schmidt’s
Jahrb. 1855, LXXXVIII, pag. 368), oder bei Schwangerschaft die
betreffende Frucht. Dies scheint namentlich bei während der Entbindung
Gestorbenen leichter vorzukommen. Einen derartigen Fall nebst
Zusammenstellung zahlreicher Fälle von sogenannter „Sarggeburt“ bringt
+Bleisch+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1892, III, pag. 38) und
einen neueren von +Perrando+ und +Moriz+ (Virchow’s Jahrb. 1893, I,
pag. 490).
[524] Seitdem haben +Lehmann+ (Würzburger Sitzungsb. 1888, pag. 19)
und +Voit+ (Münchener Wochenschrift 1888, pag. 518) durch sorgfältige
Versuche gefunden, dass sich in der That aus Eiweiss Fett bilden könne.
Die Mengen sind aber so gering (nach +Lehmann+ 3·70 und nach +Voit+
2 Fettsäuren pro 100 Fleisch), dass dieser Vorgang bei der Bildung
compacter Fettwachsmassen keine wesentliche Rolle spielen kann.
[525] +Zillner+ hat auch die Vermuthung ausgesprochen, dass
diese Ortswanderung der Fette auch schon im früheren Stadium der
colliquativen Fäulniss eintreten könne. Unsere weiteren Beobachtungen
haben diese Vermuthung insoferne bestätigt, als wir fanden, dass,
wie schon +Tamassia+ (Virchow’s Jahrb. 1883, I, 517) erwähnt, schon
frühzeitig mit dem beginnenden putriden Zerfall der Gewebe insbesondere
im Fettgewebe massenhaft Fett frei wird, welches nicht blos in das
Zwischengewebe und in seröse Säcke, sondern auch in das Lumen der
Gefässe gelangen und in diesen sogar durch den Druck der Fäulnissgase
weiter befördert werden kann. So fanden wir bei einer an CO-Vergiftung
verstorbenen, erst mehrere Tage nach dem Tode in ihrer Wohnung
gefundenen hochgradig durch Fäulniss gedunsenen alten Frau grosse
Mengen wie geronnen aussehenden Fettes im rechten Sinus transversus,
in der rechten V. jugularis, im rechten Herzen, vorzugsweise aber im
oberen Antheil der Vena cava ascendens. Offenbar stammte das Fett aus
der hochgradig faulenden Leber.
[526] +Strassmann+ und +Strecker+, „Bacterien bei der Leichenfäulniss“.
Zeitschr. f. Medicinalb. 1888, pag 65. +Hoffa+, Münchner med.
Wochenschr. 1891, Nr. 14, +Ottolenghi+ und +Kijanicin+, Virchow’s
Jahrb. 1892, I, pag. 472.
[527] Ueber das Auftreten der Insecten und deren Larven in an
der Luft liegenden Leichen und die Verwerthung derselben für
Todeszeitbestimmungen hat insbesondere +Megnin+ (Virchow’s Jahrb.
1883, I, 517) geschrieben. Frühzeitig beginnen Fliegenmaden und
einzelne Coleopteren (Sylphen) ihre Arbeit, welche die Weichtheile
und das Fett aufzehren, dazu kommen die Larven von Dermestes, welche
die Ueberbleibsel des Fettes consumiren. Die mumificirten Reste
werden, und zwar gewöhnlich erst im zweiten Jahre, von Myriaden von
Anthrenen und Acarinen attaquirt, welche schliesslich eine die Knochen
bedeckende pulverige Masse zurücklassen, welche aus den Excrementen
der betreffenden Insecten und ihrer Larven, sowie aus deren Häuten
und Puppenhülsen bestehen. Weitere Angaben über die Gräberfauna von
+Reinhard+, +Megnin+, +Jovanovitsch+ und +Handlirsch+ vide Virchow’s
Jahrb. 1888, I, pag. 467 und 1894. Daselbst auch eine Mittheilung von
+Raimondi+ und +Rossi+ über Flohkrebse auf Wasserleichen.
[528] Flüssige Fette (Oele) dienen bekanntlich zur Conservirung
verschiedener fäulnissfähiger Nahrungsmittel. Wahrscheinlich wurde
im Alterthum das Oel hier und da auch zur Conservirung menschlicher
Leichen angewendet. Ein interessantes Beispiel davon scheint die von
+H. Thode+ (Mittheilung des Institutes f. österr. Geschichtsforschung.
1883, IV, pag. 75) besprochene „römische Leiche vom Jahre 1485“
gewesen zu sein, welche in der Via Appia in einem mit Blei verlötheten
Marmorsarkophage ausgegraben wurde, wohlerhalten war, biegsame Glieder
hatte, von einer eingedickten wohlriechenden Flüssigkeit umgeben war
und in der man +Cicero+’s Tochter +Julie+ vermuthet.
[529] „Wiener med. Wochenschr.“ 1879, Nr. 5-7: „Zwei aus dem Wasser
gezogene Skelette.“
[530] „Eine Zusammenstellung der Befunde an 45 exhumirten Leichen auf
dem Friedhofe zu Hohenwart im Jahre 1864.“ Aerztl. Intelligenzblatt.
1886, pag. 50.
[531] Elfter Jahresbericht des sächsischen Landes-Medicinal-Collegiums.
Leipzig 1881, pag. 174.
[532] Gerichtliche Ausgrabungen. II, pag. 431.
[533] Die Körpermessung zum Zwecke der Identification lebender und
todter Personen wurde von +A. Bertillon+ in ein System gebracht und
ist in Frankreich, besonders in der Pariser Polizeipräfectur, als
„Bertillonage“ eingeführt. Die Messungen betreffen nicht blos die
Körper als Ganzes (Länge, Spannweite, Sitzhöhe), sondern auch die
einzelnen Theile. Die Methode ist praktisch, leicht durchführbar
und hat sich bereits bewährt. Näheres darüber mit Abbildungen: „Das
anthropologische Signalement“ von +A. Bertillon+. Zweite Auflage.
Autorisirte deutsche Ausgabe von Professor +v. Sury+ in Basel. 1895.
[534] Eine ansehnliche Zahl von Fällen crimineller Zerstücklung von
Leichen haben +Lacassagne+ (Arch. de l’anthropol. crim. 1888, III, pag.
229) und +Ravoux+ (Lyoner These. 1888) zusammengestellt.
[535] Ueber die zuerst von +Zuckerkandl+ näher verfolgte Entwicklung
der „Zahnsäckchen“ und „Zahnscherbchen“ beim Embryo und Neugeborenen
siehe +Mauczka+: „Die Zähne vom gerichtsärztlichen Standpunkte.“
Oesterr. Vierteljahrschr. f. Zahnheilkunde, 1892, VIII.
[536] Dass sich diese Quernähte des Körpers des Brustbeins bis in’s
höhere Alter hinein erhalten, ist ein sehr seltenes Vorkommniss. In
unserem Museum befindet sich ein solcher Fall. Er betrifft das Skelet
eines 43jährigen Mannes, welcher sein Weib erstochen und dann sich
selbst ertränkt hatte.
[537] Im 20. Jahre ist die Verwachsung gewöhnlich vollendet, doch ist
die Epiphyse von der Diaphyse am Durchschnitt noch einige Zeit durch
hellere Farbe und lockeres Gefüge differenzirt und durch eine feine
Knochenleiste getrennt. Nach +Wachholz+ (l. c.) wird der vollständige
Schwund der Knorpelfuge bei Frauen zwischen 17 und 18, bei Männern
zwischen 20 und 21 Jahren beobachtet. Die Knochenleiste beginnt sich
um das 15., beziehungsweise 17. Jahr zu bilden und erhält sich meist
bis zum 30. Jahr. Die Diaphysen-Markhöhle reicht bei Frauen vom 28.,
bei Männern vom 30. Jahre an bis an’s Ende des Collum chirurgicum,
vom 35. an bis zur ehemaligen Epiphysengrenze. -- Interessant ist die
Thatsache, dass bei manchen Zwergen und bei manchen Individuen mit
verkümmerten Genitalien die Epiphysen auch im Mannesalter mit den
Diaphysen nicht verwachsen. +A. Paltauf+, „Ueber den Zwergwuchs etc.“
Wien 1891.
[538] Beim Weibe bleiben Kehlkopf- und Rippenknorpel häufig bis in’s
hohe Alter unverknöchert, respective unverkalkt, nur ausnahmsweise beim
Manne; so haben wir einen 73jährigen schwächlich gebauten Mann secirt,
bei welchem nur Verknöcherung der hinteren Bänder der Schildknorpel und
der basalen Theile der Schildknorpelhörner, sowie der Ringknorpelplatte
bestand und in den Rippenknorpeln nur Spuren davon sich fanden.
Ausführliche Untersuchungen über das Verhalten des Kehlkopfes in den
verschiedenen Lebensaltern und bei beiden Geschlechtern hat +Patenko+
(Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. XLI) angestellt. Es geht aus
denselben hervor, dass die Verknöcherung keiner Gesetzmässigkeit
unterliegt, sich aber im Allgemeinen beim Weibe langsamer und im
geringeren Grade entwickelt als beim Manne. Gleiches ergab sich
bezüglich der Rippenknorpel und bezüglich der Ankylose der grossen
Zungenbeinhörner mit dem Körper.
[539] Für die thunlichst häufige Anwendung der Photographie in solchen
Fällen, sowie bei der Aufnahme von Verletzungen und insbesondere
des sogenannten Localaugenscheines haben sich Aerzte und Juristen
wiederholt ausgesprochen, so +Odebrecht+, „Die Benützung der
Photographie für das Verfahren in Strafsachen“. Archiv f. preuss.
Strafrecht. 1864, pag. 660; +Sander+, „Die Photographie in der
gerichtl. Medicin.“ Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. N. F. II, 179;
+Vernois+, „Ueber Verwendung der Photographie zu med.-gerichtlichen
Zwecken.“ Annal. d’hygiène publ. 1870, pag. 239; „Die Photographie
im Dienste der Justiz.“ Wiener Juristen-Ztg. vom 15. April 1882 und
+Bertillon+ (l. c.), Anhang: „Die gerichtliche Photographie.“
[540] „Ueber die Pariser Morgue mit vergleichenden Hinblicken auf das
Berliner Institut gleichen Namens“, vide +Liman+, Vierteljahrschr.
f. gerichtl. Med. 1868, VIII, pag. 308. Ueber neuere Einrichtungen
daselbst (Appareils frigorifiques nach dem Systeme +Giffard+ und
+Berger+) siehe den Commissionsbericht von +Brouardel+ (Annal.
d’hygiène publ. 1880, pag. 69).
[541] Bemerkenswerth ist, dass in einem seinerzeit von uns
begutachteten Falle die durch Fäulniss und Liegen im Wasser bewirkte
Undurchsichtigkeit der Corneen eines von der Mutter ertränkten
Säuglings die Gerichtsärzte veranlasst hatte, das Kind für ein --
blindgeborenes zu erklären.
Die milchige Trübung der Cornea faulender Leichen wird durch
Bacteriencolonien erzeugt, indem zuerst weissliche punktförmige
Trübungen, besonders im Pupillarbereich, auftreten, die peripher sich
vergrössern, schliesslich miteinander verschmelzen. Von dieser Trübung
ist diejenige zu unterscheiden, welche durch Verlust der Spannung der
Cornea und epitheliale Desquamation zu Stande kommt. Vielleicht gehören
auch die von +Seydel+ (Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1890, LII,
pag. 262) bei Wasserleichen beobachteten Trübungen und Abhebungen des
Corneaepithels hierher. Wird der intraoculäre Druck nicht vermindert
und sind die Bedingungen für Bacterienvegetation ungünstig, so kann
die Cornea mitunter lange durchsichtig bleiben, respective das Auge
ein frisches Aussehen bewahren. So fanden wir bei einem Manne, der
sich im Winter in einem offenen Keller erhängt hatte und erst nach 20
Tagen gefunden wurde, das eine offene Auge collabirt und unkenntlich,
das andere geschlossen gewesene noch vollkommen frisch. -- Bei faulen,
respective blutig imbibirten Bulbis ergibt auch die innere Untersuchung
der letzteren keine positiven Aufschlüsse über die ursprüngliche
Farbe der Iris, da, wie unsere Versuche gezeigt haben, unter solchen
Umständen auch die pigmentlos gewesene, daher blau oder graublau
erschienene Regenbogenhaut durch verschwemmtes Chorioidealpigment und
Imbibition mehr weniger braun erscheint.
[542] Die durch Calcination bewirkten Veränderungen der Zähne sind
bisher unseres Wissens noch wenig gewürdigt worden. Nur bei +Dégranges+
(„Ueber das Verhalten verschiedener Körpertheile bei der Verbrennung.“
Schmidt’s Jahrbuch 1856, XC, pag. 97) finden wir die Angabe, dass
bei einer seiner verkohlten Leichen „die wohlerhaltenen Zähne in
hohem Grade brüchig waren, besonders die Schneidezähne“, ebenso die
Bemerkung, dass „die Knochensubstanz der Zähne frühzeitiger zerstört
wird als der Schmelz“. Dagegen treffen wir einschlägige Angaben in
einem Aufsatze von Friedrich +Küchenmeister+ in Dresden über die
Feuerbestattung (Allg. Zeitschrift für Epidemiologie, 1875, II, pag.
129), die sich auf Beobachtungen beziehen, welche beim Verbrennen von
Leichen im +Siemens+’schen Ofen gemacht wurden. „Die Zähne,“ heisst es
in diesem Berichte, „halten in ihren Alveolen stets sehr lange aus;
man erkennt sogar ihren Schmelz. Aber sobald der Schädel zerbröckelt
-- was schon beim Durchfallen durch den Rost in den Aschenraum erfolgt
-- fallen sie aus und zerbrechen selbst, so dass es selten gelingt,
dergleichen in der Asche aufzufinden.“ Und in einer Anmerkung zu
diesem Passus heisst es: „Dieses Umstandes wegen machte Herr +Siemens+
einmal den Versuch, Zähne von Pferden allein und in grösserer Menge zu
verbrennen. Auch hier fand sich kein einziger erhaltener Zahn in der
Asche. Zähne von jungen Thieren erhalten sich viel besser.“
[543] Ausführliches über Tätowirungen in forensisch-medicinischer
und anthropologischer Beziehung bringt +Lacassagne+ in „Ricerche sur
1333 tatuaggi di delinquenti.“ Archivio de Psychiatra, anthropologia
criminale e scienze penali. 1880, pag. 438 und „Les Tatouages,
étude anthropologique et médico-légale.“ Paris 1881 und 1886, sowie
in +Lombroso+’s „L’homme criminelle“, 1887 und dem dazu gehörigen
Atlas. +Lacassagne+ fand die betreffenden 1333 Tätowirungen an 360
Soldaten eines algierischen Strafbataillons und 18 Gefangenen der
Militärstrafhäuser. Diese Tätowirungen befanden sich 1mal auf beiden
Armen und am Bauche, 4mal auf beiden Armen und am Gesässe, 8mal auf
der Brust, 4mal am Bauche, 11mal am Penis, 29mal am ganzen Körper,
45mal auf beiden Armen und auf der Brust, 88mal am rechten Arme
allein, 59mal an linken Arme allein und 127mal auf beiden Armen
allein. In letzter Zeit hat +Leppmann+: „Die criminal-psychologische
und criminal-praktische Bedeutung des Tätowirens der Verbrecher.“
Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1894, VIII, pag. 193, diesen
Gegenstand behandelt.
[544] Vide +H. Auspitz+, „Ueber Resorption ungelöster Stoffe bei
Säugethieren“. Wiener med. Jahrb. 1871.
[545] Ueber die Persistenz von Blutegelbissnarben hat +De Castro+
(Annal. d’hygiène publ. 1887, XVIII, pag. 48) Untersuchungen angestellt.
[546] „Mémoire sur les modifications, que déterminé dans certaines
parties du corps l’exercice des diverses professions.“ Annal. d’hygiène
publ. 1849, XLII, 388.
[547] „De la main des ouvriers et des artisans au point de vue de
l’hygiène et de la médecine légale.“ Paris 1862.
[548] Derartige Schwielen finden sich bei einzelnen Berufsclassen auch
an anderen Stellen. Hierher gehören die Schwielen an den Oberschenkeln
der Schuster und die mit Verdickungen des Periost verbundenen Schwielen
über den Dornfortsätzen der ersten Brust- und der Lendenwirbel, die von
+Lombroso+ und +Cougnet+ („Studi sui segni professionali dei Facchini.“
Torino 1879) an Lastträgern beobachtet und zum Gegenstande besonderer
Studien gemacht wurden.
[549] +Tamassia+, „Gli ultimi studii italiani sulla imputabilità“.
Rivista sperim. di freniatr. e med. legale. Anno III, 646.
[550] +Wappäus+, „Allgemeine Bevölkerungsstatistik“. 1861, II, pag.
215. +A. Wagner+, „Die Gesetzmässigkeit der scheinbar willkürlichen
Handlungen“. Hamburg 1864. +Wendt+, „Grundzüge der physiologischen
Psychologie“. Leipzig 1874, pag. 834. Ferner: „Die Selbstmorde in
Preussen 1869-1872.“ Zeitschrift des preuss. statist. Bureaus. 1874,
Heft II u. III.
[551] +Tamassia+, l. c., pag. 680.
[552] Im §. 46, lit. a des österr. St.-G.-B. wird die vernachlässigte
Erziehung ausdrücklich als Milderungsumstand bezeichnet.
[553] Mittheilungen über Mörder im Kindesalter von +Man+ und +Kraus+
siehe Ortloff’s Sammlung von Gutachten, 1888, IV. Ueber kindliches
Irrsein vide Wiener med. Blätter, 1879, pag. 824 und +P. Moreau+: „Der
Irrsinn im Kindesalter.“ Deutsche Ausgabe von +Galatti+. 1889.
[554] Der Entwurf eines deutschen Gefängnissgesetzes kennt besondere
Anstalten für die Abbüssung von gegen jugendliche Individuen verhängten
Strafen, in welchen nur Personen unter 18 Jahren aufgenommen, aber nur
bis zum 20. Jahre festgehalten werden dürfen. Derselbe Entwurf bestimmt
auch (§. 15), dass Sträflinge unter 18 Jahren bis zur Dauer von 3
Monaten in Einzelhaft gehalten werden können. Zu einer Verlängerung
derselben bedarf es der Genehmigung der Aufsichtsbehörden.
[555] Die Zurechnungs- und Dispositionsfähigkeit unterrichteter Idioten
kam in einem von +Shuttleworth+ (Journ. of ment. sc. 1884, pag. 467)
mitgetheilten Falle zur Sprache. Im Royal Albert-Asylum hatte ein
blödsinniger Knabe einen anderen erschlagen, der ihm die Bettdecke
weggezogen hatte. Beim Coroner-Inquest wurden drei bei der That
gegenwärtig gewesene blödsinnige Knaben als Zeugen beeidigt (!) und
verhört, und der Thäter selbst vor die Assisen gebracht, wo erst die
Jury fand, dass „the prisoner was not able to plead“ und hinzufügte:
„that he was not answerable for his acts.“
[556] Beachtenswerth ist die von +Berkhan+ (Vierteljahrschr. f.
gerichtl. Med. 1894, pag. 106) gemachte Beobachtung, dass manche
Schwachsinnige eine auffällige Schreibweise zeigen, indem sie z. B.
einzelne Buchstaben, mitunter auch ganze Silben und Worte, auslassen,
verstellen oder durch andere ersetzen. Diese Schreibstörung hält er für
analog mit gewissen Sprachstörungen, z. B. dem Stammeln.
[557] Im Gegensatze zu diesen Erfahrungen bei männlichen Idioten fand
+Voisin+ („Conformation des organes génitaux chez les idiots et les
imbéciles.“ Annal. d’hygiène publ. 1894, XXXI, pag. 525), dass bei
weiblichen Idioten die Pubertät keineswegs verzögert, sondern mitunter
ungewöhnlich früh sich einstellt. Masturbation ist sehr häufig und
in etwa ¼ der Fälle fand +Voisin+ davon herrührende meist rechts
gelegene Hymenverletzungen.
[558] „Ueber die Verbreitung des Cretinismus im Böhmen.“ Aerztliches
Correspondenzblatt des Vereines deutscher Aerzte in Prag. 1875, Nr. 28.
[559] +R. Wagner+’s Handwörterbuch. V, 201.
[560] „Psychische Gesundheit und Irrsein in ihren Uebergängen.“
Schmidt’s Jahrb. 1846, II, pag. 263. „Entre un homme de génie et un fou
il n’y a pas l’épaisseur de six liards. Il faut que je prenne garde de
tomber entre vos mains,“ sagte Napoleon I. zu Pinel, und +Maudsley+
(„Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken.“ Leipzig 1875, pag. 46)
bemerkt: „Merkwürdiger Weise führt eine tiefer eingehende Untersuchung
zu dem Ergebniss, dass originelle Anregungen, entschiedene Aeusserungen
eines Talentes oder gar eines Genies vielfach von Individuen ausgingen,
die einer Familie entstammten, worin eine gewisse Prädisposition
zur Irrsinnigkeit vorkam, und es ist bekannt, dass den Visionen und
Ekstasen grosser Reformatoren pathologische Exaltationszustände zu
Grunde lagen und dass einzelne dieser und anderer berühmter Männer
(z. B. Mohamed, Cäsar) Epileptiker waren.“ Vide darüber auch +Lombroso+,
„Genio e Folia“, 2. edit. Milano 1872.
[561] +A. Holländer+ (Zur Lehre von der Moral insanity. Jahrb. f.
Psych. 1882, IV, pag. 1) fasst die sogenannte „Moral insanity“ als
einfachen Grössenwahn auf. „An letzteren schliesst sich, wenn er
auch nicht in fixirter Form zu Tage trat, jene sittlich incorrecte
Handlungsweise an, welche man mit dem Namen Moral insanity bezeichnet.
Wir haben es nicht mit Leuten zu thun, welche nicht sittlich handeln,
weil sie nicht altruistisch fühlen, keine sittlichen Vorstellungen
bilden können, sondern mit Kranken, bei welchen der Grössenwahn, ein
erhöhtes Machtgefühl die Wurzel ist, aus welcher sich der Kampf mit
den Satzungen der Gesellschaft naturgemäss entwickeln muss.“ Auch
+Klendgen+ und +Schlöss+ (1889) betrachten das sogenannte moralische
Irrsein nicht als eine eigene Irrsinnsform.
[562] Den Einfluss des Standes oder der Lebensschicksale auf die
Entwicklung oder Aeusserung des moralischen Irrseins hat namentlich
+Legrand du Saulle+ beleuchtet, „Les signes physiques de folies
raisonnantes.“ Annal. méd. psychol. Mai 1876.
[563] „L’uomo delinquente“ und das Organ der von ihm gegründeten
criminal-anthropologischen Schule: „Archivio di psichiatria, di
anthropologia criminale e di scienze penali.“ Ueber die im letzteren
enthaltenen Arbeiten wird seit 1881 in Virchow’s Jahrb. von uns
referirt. Eine analoge Tendenz verfolgen die von +Lacassagne+ und
+Coutagne+ herausgegebenen „Archives de l’anthropologie criminelle
et des sciences pénales.“ Siehe auch die Berichte über den
criminal-anthropologischen Congress in Rom 1886 und in Paris 1889.
[564] Derartige Schädelbildungen, von denen +Legrand du Saulle+
(l. c.) versichert, dass unter 100 Fällen 50mal zwischen ihnen und
Geistesanomalien eine Beziehung besteht, erinneren vielfach an
diejenigen niederer Menschenracen und jene von Thieren, insbesondere
von Affen, und werden deshalb von mehreren anderen Autoren als
Atavismus aufgefasst, d. h. als ein Rückfall in Verhältnisse, wie sie
in den früheren Entwicklungsstadien derselben Race bestanden. Hierfür
wurde auch herangezogen, dass manche habituelle Verbrecher noch andere
körperliche Eigenthümlichkeiten aufweisen, die sich bei niederen
Menschenracen als Norm finden, so nach +Lombroso+ eine dunklere Färbung
der Haut, ein auffallend dichtes und gekraustes Kopfhaar, spärliches
Barthaar, grosse, vom Kopf abstehende Ohren und eine grössere
Aehnlichkeit der Körperbildung beider Geschlechter. Die Anschauungen
sind nicht ohne Berechtigung, doch lässt sich darüber ebenso streiten,
wie über die Frage, ob die merkwürdigste Schädelmissbildung, die
Mikrocephalie, als Atavismus oder als pathologische Erscheinungsform im
engeren Sinne aufgefasst werden soll.
[565] +Westphal+, „Die conträre Sexualempfindung“, Arch. f. Psychol.,
II, 107, bemerkt in dieser Beziehung, dass er sich kaum einen Fall
von sogenannter Moral insanity gesehen zu haben erinnere, in welchem
nicht epileptische Anfälle zur Evidenz nachweisbar gewesen wären.
+Lombroso+ vertritt seit 1885 sogar die Identität der Epilepsie und des
moralischen Irrseins.
[566] Arch. f. Psych. u. Nervenkh. 1869, II, pag. 73.
[567] Dieser Umstand muss hervorgehoben werden, da in solchen Fällen
auch an die Möglichkeit gedacht werden muss, dass ein männliches
Individuum mit verbildeten äusseren Genitalien, eine Hermaphrodisie,
vorliegt. (Vide pag. 84, insbesondere den pag. 94 erwähnten Fall von
+Martini+, der eine Hebamme(!) betraf, die mit Wöchnerinnen und anderen
Weibern Unzucht getrieben hatte, bis sie als ein (männlicher) Zwitter
erkannt wurde. Auch die Integrität des Hymen trotz lange geübter Onanie
ist beachtenswerth und bestätigt das pag. 124 Gesagte.)
[568] Andere Fälle von +Hotzen+, +Schuchard+, +Freyer+ u. A. s.
Virchow’s Jahrb., 1890, I, pag. 482.
[569] Von zwei durch +Liman+ untersuchten Fällen (Vierteljahrschr.
f. gerichtl. Med. 1882, XXXVIII, pag. 193) betraf der eine einen
28jährigen Gymnasiallehrer, der mit entblössten Genitalien im
Thiergarten herumgelaufen war. Derselbe war erblich veranlagt, früher
Onanist, mit hypochondrischen Vorstellungen und Sensationen sexueller
Natur behaftet und zeitweilig von dem Triebe erfüllt, mit entblössten
Genitalien herumzulaufen, was ihm Erleichterung verschaffte. „Der
Untersuchte“, sagt +Liman+, „gehört zu einer Classe von Individuen
mit eigenthümlicher hypochondrischer Anlage, deren Aufmerksamkeit von
gewissen körperlichen Empfindungen und Vorgängen in abnormer Weise in
Anspruch genommen wird, welche über solche grübeln, allerlei sonderbare
Vorstellungen daran knüpfen und auf ebenso sonderbare Mittel zur
Bekämpfung ihrer Sensationen und Ideen verfallen.“ Im zweiten Falle
handelte es sich um einen 30jährigen Hereditarier mit unvollkommen
epileptischen Anfällen, periodischem Wandertrieb und Dämmerzustand,
während dessen er mehrmals in fremde Häuser ging, seine Genitalien
entblösste und Mädchen zeigte. Partielle Amnesie.
[570] Neuere Fälle dieser Art werden in den Annal. d’hygiène publ. 1890
und 1891 mitgetheilt.
[571] +Fritsch+, Casuistische Beiträge zur Lehre vom impulsiven
Irrsein. Jahrb. f. Psych. 1887, VII, pag. 196.
[572] +Meynert+ rechnet solche Fälle zu den complicirten
Geistesstörungen, und zwar zur „Geistesstörung mit Neurasthenie“.
Darunter subsumirt er die Hypochondrie oder Pathophobie und das reiche
Gebiet der Zwangsvorstellungen (Phobien): Grübelsucht, Fragesucht und
die „conträre Sexualempfindung“.
[573] „Die Lehre von der Mania transitoria“, Monographie, 1865, ferner
„Die Lehre von den transitorischen Störungen des Selbstbewusstseins“,
1868, und Lehrb. f. forens. Psychol., pag. 111; auch +Schwarzer+, „Die
transitorische Tobsucht, eine klinisch-forensische Studie“, Wien 1880.
[574] Von den zahlreichen einschlägigen Arbeiten sind insbesondere zu
erwähnen: +Falret+, De l’état mental des épil. 1861, +Morel+, D’une
forme de délire, se rattachant à une variété d’épilepsie, 1860 und Sur
épilepsie larvée. Annal. méd. psych. 1873, +I. Griesinger+, „Ueber
epileptoide Zustände“. Arch. f. Psych. 1868, +I. Legrand du Saulle+,
„Des actes commis par les épileptiques“. Annal. d’hygiène publ.
1875, pag. 412. +Legroux+, ibidem, pag. 220. +Samt+, „Epileptische
Irrseinsformen“. Arch. f. psychol. 1875, V. +Krafft+-+Ebing+, „Ueber
epileptische Dämmer- und Traumzustände“. Friedreich’s Blätter, 1876,
und Allg. Zeitschr. f. Psych., XXXIII, +Legrand du Saulle+, „Étude
médico-lég. sur les épileptiques“. Paris 1877. +Schüle+, Handbuch, pag.
407.
[575] Doch bringt +Tamburini+ (Rivista sperim. 1878, pag. 597 u. ff.:
„L’Amnesia non e caraterre costante dell’ epilessia larvata“) Fälle,
in welchen die Erinnerung für die psychischen Aequivalente vollständig
erhalten war.
[576] Dagegen findet sich der Ausdruck „volle Trunkenheit“ im §. 452
des österr. St.-G.-E., jedoch unter ausdrücklicher Beziehung auf den §.
56 des betreffenden Gesetzes.
[577] Dies hat auch der mit der Berathung des österr. St.-G.-E.
betraute Ausschuss zugegeben und beschlossen, die Worte „voller
Trunkenheit“ wieder aufzunehmen, mit der Motivirung, „weil einerseits
die Volltrunkenheit doch nicht als eine „krankhafte Hemmung“ der
Geistesthätigkeit betrachtet werden kann und weil anderseits die
Volltrunkenheit nicht zur Bewusstlosigkeit gehen muss, um eine darin
begangene strafbare Handlung als nicht strafbar zu erklären, da
der Volltrunkene straflos bleiben muss, wenn er auch ein gewisses
Bewusstsein noch beibehalten, die Trunkenheit aber doch einen solchen
Grad erreicht hat, dass der Thäter das Strafbare seiner Handlung nicht
einzusehen oder seinen Willen nicht frei zu bestimmen vermag“. Wir
selbst halten die specielle Erwähnung der Trunkenheit im §. 56 des
St.-G.-E. für überflüssig, da die durch die Trunkenheit veranlassten
Zustände ganz gut unter den Begriff „Störung der Geistesthätigkeit“
subsumirt werden können, zumal wenn man das Epitheton „krankhafte“
weglassen würde. Eine ähnliche Abänderung wäre auch im §. 51 des
deutschen St.-G. angezeigt.
[578] Literatur und Casuistik: +Arens+, Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. X, 327; +Schillinger+, ibidem. XII, 327; +Krafft+-+Ebing+, l. c.
249. Ferner: „Ein Gutachten der Wiener medicinischen Facultät.“ Prag.
Vierteljahrschr. 1857, LIV, pag. 107, Annal.
[579] Eine Untersuchung des Geisteszustandes eines Angeklagten findet
statt, wenn im Laufe des processualen Verfahrens, wie sich die österr.
St.-P.-O. (§. 134) ausdrückt, Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit
entstehen, und es hängt somit vorzugsweise von den Ansichten und
Eindrücken von Laien ab, ob eine Untersuchung des Geisteszustandes
des Inculpaten für nothwendig erachtet wird oder nicht. Unter diesen
Umständen ist es wohl begreiflich, dass entschiedene Geisteskranke
verurtheilt werden können, die nie gerichtsärztlich untersucht worden
sind. Umsomehr erscheint die bereits von verschiedenen Seiten (v.
+Krafft+-+Ebing+, +v. Wyss+, +Freymuth+ u. A.) aufgestellte Forderung
berechtigt, dass der Untersuchungsrichter in gewissen Fällen gesetzlich
verpflichtet werde, gerichtsärztlich einen genauen „Status“ erheben
zu lassen, der alle Momente zu berücksichtigen hätte, welche auf
die geistige Entwicklung und den Geisteszustand des Angeklagten
Beziehung haben. Die Aufnahme eines solchen Status sollte z. B.
ausnahmslos verlangt werden: bei allen, besonders schweren Verbrechen,
bei Verbrechen, die von Personen unter 18 Jahren begangen wurden,
bei Trunksüchtigen, Epileptikern, Hysterischen, nach überstandenen
Kopfverletzungen und schweren Erkrankungen u. s. w.
[580] „Ob zu einer verlangten fachkundigen Ermittlung besondere
Vorbesuche nothwendig sind, bleibt dem pflichtgemässen Ermessen der
Medicinalbeamten überlassen. Sie dürfen 3 Vorbesuche ohne besondere
Requisition des Gerichtes machen und dafür liquidiren. Findet der Arzt
mehr als 3 Besuche nothwendig, so hat er die Genehmigung der Behörde
zur Fortsetzung der Besuche einzuholen.“ +Liman+, Commentar zu §. 6 des
preussischen Gesetzes vom 9. März 1872, betreffend die Vergütung an
Medicinalbeamte für Besorgung gerichtsärztlicher etc. Geschäfte.
[581] Doch hat +Fürstner+ (Arch. f. Psych. 1888, XIX, pag. 601) von
25 Untersuchungsgefangenen, die ihm zur psychiatrischen Untersuchung
übergeben wurden, 12 als Simulanten erkannt. Drei davon hatten die
entsprechenden Geisteskrankheiten im Gefängnisslazareth kennen
gelernt. Auch +Lutzenberger+ (Virchow’s Jahrb. 1888, I, pag. 463)
erwähnt eines Säufers, der an 40mal wegen Delirium tremens in die
Irrenanstalt gebracht worden war und sich dort mit der Epilepsie und
psychopathischen Erscheinungen so vertraut gemacht hatte, dass er diese
später nicht ohne Geschick zu simuliren vermochte.
[582] Vergl. pag. 158.
[583] Da der §. 567 des österr. allgem. bürgerl. Gesetzbuches bestimmt,
dass, wenn behauptet wird, dass der Erblasser, welcher den Gebrauch
der Vernunft verloren hatte, zur Zeit der letzten Anordnung bei voller
Besonnenheit gewesen sei, diese Behauptung durch Sachverständige oder
durch obrigkeitliche Personen, oder durch andere zuverlässige Beweise
ausser Zweifel gesetzt werden soll, so wäre es nicht unmöglich, dass
trotz verhängter Curatel doch die Testirfähigkeit des betreffenden
Individuums noch Gegenstand einer besonderen ärztlichen Untersuchung
werden könnte.
[584] Dieselben sind conform den in der St.-P.-O. festgesetzten.
Bezüglich der Vorbesuche, sowie bezüglich der Abgabe der Gutachten ist
auch der Erlass des Min. f. geistliche Angelegenheiten vom 28. April
und 31. Mai 1887, betreffend das Entmündigungsverfahren, zu beobachten.
Siehe Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med., XLVIII, pag. 384 und 385.
[585] Besprechungen der auf Geisteskranke überhaupt und das
Entmündigungsverfahren insbesondere bezüglichen Bestimmungen des
Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich von
Roth, +Mendel+ und +Mittenzweig+ s. Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med.
XLVIII, pag. 1; XLIX, pag. 222 und L, pag. 101. Einer Entscheidung
des Reichsgerichtes zufolge (+Freyer+, Zeitschr. f. Medicinalbeamte,
1894, pag. 101) ist für den Begriff des „Wahnsinns“ das häufigere oder
seltenere Vorkommen der Tobsuchtsanfälle nicht massgebend und es wird
der §. 698 des Allg. Landr. Anwendung finden müssen, wenn der Beklagte
über ein Jahr ohne wahrscheinliche Hoffnung auf Besserung an zeitweilig
wiederkehrenden, mit gänzlichem Mangel des Gebrauches seiner Vernunft
verbundenen Tobsuchtsanfällen gelitten hat.
[586] +Falret+, „Rapport sur un cas d’aphasie, pour lequel on
demande l’interdiction.“ Annal. d’hygiène publ. 1869, pag. 431.
+Lefort+ (Avocat à la cour de Paris), „Remarques sur l’interdiction
des Aphasiques.“ Ibid. 1872, pag. 417. +Blumenstok+, „Ein Fall von
traumatischer amnestischer Aphasie und gerichtsärztliche Bemerkung über
Aphasie überhaupt“. Friedreich’s Blätter. 1878, pag. 363. Jolly, „Ueber
den Einfluss der Aphasie auf die Fähigkeit zur Testamentserrichtung“.
Wiener med. Bl. 1882, pag. 1168, und +Frischauer+, „Die Testirfähigkeit
Aphasischer“ nach österr. Rechte. Ibidem, pag. 1260.
[587] +R. Arndt+, Artikel „Aphasie“ in Eulenburg’s Real-Encyclopädie
der gesammten Heilkunde. I, 436.
[588] Der Entwurf eines neuen deutschen bürgerlichen Gesetzbuches
bedient sich des Ausdruckes „Geschäftsfähigkeit“.
[589] S. einen einschlägigen Fall Wiener med. Presse, 1878, Nr. 1,
und den Fall +Sandon+ (+Legrand du Saulle+, „Les signes physiques des
folies raisonnantes“. 1878, pag. 30, und „Étude médico-lég. sur les
testaments.“ 1879, pag. 482.
[590] Interessante Fälle vide +Legrand du Saulle+, „Étude méd.-lég. sur
les testaments“. 1879, pag. 354 u. ff.
[591] „Es ist traurig,“ sagt +Legrand du Saulle+ (l. c. 362), „dass wir
gestehen müssen, dass zwei Fünftel derjenigen, die ganz unerwarteter
Weise an Spitäler oder Anstalten Legate vermachen, nur unfreiwillige
Wohlthäter sind. Diese unvermutheten Menschenfreunde haben eine
Familie, die sie enterben, verdächtigen, anschuldigen und ohne Gnade zu
Gunsten jener Institute berauben, und es ergibt sich, dass sie während
des Lebens mürrische, misstrauische, egoistische und geizige Individuen
waren. Ich habe den Muth, zu gestehen, dass meine Ueberzeugung dahin
geht, dass die grossen Vermächtnisse an Hospitäler häufig nichts
Anderes sind, als der Ausdruck intellectueller moralischer oder
affectiver Läsion.“
[592] +A. Erlenmeyer+, „Die Schrift. Grundzüge ihrer Physiologie und
Pathologie.“ Stuttgart 1879. +Tardieu+, „Étude méd. lég. sur la folie.“
2me édition 1880. Beide Arbeiten mit zahlreichen Facsimiles. Ueber
Schreibstörungen bei Schwachsinnigen, s. pag. 888.
[593] Es kann auch vorkommen, dass der scheinbar sterbende genest und
selbst gegen die Rechtsgiltigkeit der von ihm während der schweren
Erkrankung abgeschlossenen Acte protestirt. Ueber einen solchen
seltenen Fall hat die königl. wissenschaftliche Deputation in Berlin
(Ref. +Leyden+) ein Gutachten abgegeben. Vierteljahrschr. f. gerichtl.
Med. 1890, LIII, pag. 217.
[594] +v. Schüle+ (l. c. 319 u. ff.). Wir haben in mehreren solchen
Fällen Verwachsungen der Meningen mit der Hirnrinde gefunden. In
mehreren derselben war der Delirien und Convulsionen wegen, unter
welchen der Tod eintrat, Meningitis diagnosticirt worden.
[595] Hierher gehört der von +Rokitansky+ (Schmidt’s Jahrb. 1855,
LXXXVII, pag. 85) beschriebene Selbstmord eines Melancholikers durch
Bauchaufschlitzen und Herausreissen der Gedärme, ferner auch der
sonderbare, im Wiener Physikatsberichte vom Jahre 1871, pag. 122,
erwähnte Selbstmord eines 56jährigen Sparcassabeamten, der sich dadurch
getödtet hatte, dass er einen mit Büchern schwer belasteten Kasten mit
Stricken versah und an letzteren anziehend denselben auf sich stürzte,
nachdem er sich mit dem Kopfe auf ein prismatisches Holzscheit gelagert
hatte.
[596] Zufolge der österr. Pensionsvorschriften, insbesondere zufolge
der Circ.-Verordnung des k. k. Finanzministeriums vom 30. August
1852, Z. 14.497, werden Witwen und Waisen jener Staatsdiener, welche
in der activen Dienstleistung als „freiwillige“ Selbstmörder ihr
Leben enden, ihrer Pensionsansprüche verlustig, und mit Erlass
des Ministeriums des Innern vom 17. October 1868, Z. 20.476, wird
bestimmt, dass in solchen Fällen von Selbstmord, in welchen bei einem
Staatsbeamten der zur Begründung der Versorgungsansprüche der Witwen
und Waisen erforderliche Nachweis über die Unzurechnungsfähigkeit
selbst durch die Leichen-Obduction geliefert werden kann und soll, eine
sanitätspolizeiliche Obduction vorzunehmen sei. Ebenso Verordnung des
Ministeriums des Innern und der Justiz vom 8. April 1857, R.-G.-Bl. Nr.
73.
[597] Es gehören hierher auch die Fälle, in denen Personen,
die schwere, von sofortiger oder nachträglich eingetretener
Bewusstlosigkeit gefolgte Misshandlungen, insbesondere mit
Hirnerschütterung verbundene Kopfverletzungen erlitten haben, nach
ihrer Genesung über das Vorkommniss aussagen sollen. Nach intensiven
Hirnerschütterungen ist auch nach vollständiger Restitutio ad
integrum die Erinnerung an die letzten Vorgänge in der Regel nur eine
summarische, in anderen Fällen kann die Erinnerung bis zum Moment
des Eintrittes der Bewusstlosigkeit erhalten bleiben. In einem von
uns begutachteten Falle hatte ein Mann, der sich nachträglich als
Paralytiker herausstellte, sein Kind mit der Hacke erschlagen und
seiner Geliebten die linke Schläfe zertrümmert. Die Frau lag mehrere
Wochen bewusstlos, genas jedoch schliesslich mit zurückbleibender
Lähmung der rechten Körperhälfte. Bei der Hauptverhandlung gab sie über
ihr Vorleben ganz präcise Auskunft, hatte jedoch von den Vorgängen
unmittelbar vor der That nur nebelhafte Erinnerung. Einen Schmerz hatte
sie nicht verspürt und weiss gar nicht, dass sie einen Hieb erhielt.
In allen solchen Fällen (vide einen einschlägigen in Friedreich’s Bl.,
1874, pag. 1) ist aber natürlich auch zu erwägen, ob nicht in Folge der
Verletzung psychische Defecte zurückgeblieben sind, die die richtige
Beurtheilung früherer Vorkommnisse beeinträchtigen oder ganz unmöglich
machen. Beobachtungen über Ausfall von Erinnerungsbildern nach Commotio
cerebri hat +Gussenbauer+ (Wiener klin. Wochenschr. 1894, Nr. 43)
mitgetheilt. Retroactive Amnesie findet sich auch bei nach Asphyxie
Genesenen, insbesondere nach Strangulation und nach CO-Vergiftung (vide
pag. 571, 587 und 710).
[598] Insbesondere bei der sogenannten Besessenheit. Instructive Fälle
dieser Art, wo die Betreffenden sich sogar auf den Scheiterhaufen
brachten, lieferten die mittelalterlichen Hexenprocesse. +S.
Leubuscher+, „Der Wahnsinn in den vier letzten Jahrhunderten“. Halle
1848.
[599] Eine solche Vorsicht ist auch gegenüber Kindern angezeigt, die
mitunter die schwersten Anklagen gegen sich oder andere vorbringen,
ohne dass dieselben objectiv begründet wären. Die pathologische
Grundlage solcher Angaben ist manchmal schwer oder gar nicht
nachweisbar. +Motet+ (Les faux témoignages des enfants dévant la
justice. Annal. d’hygiène publ. 1887, XVII) berichtet über solche Fälle.
[600] Bei Melancholischen können Selbstanklagen auch als indirecter
Selbstmordversuch vorkommen, d. h. in der Absicht geschehen, um
hingerichtet zu werden.
[601] +Legrand du Saulle+, „Folies raisonnantes“ (État mental de
Sandon). Paris 1878.
[602] Letztere Angabe kommt übrigens auch bei Nichthysterischen nach
verunglückten Selbstmordversuchen gar nicht selten vor, indem sich die
Betreffenden aus irgend welchen Gründen scheuen, zu gestehen, dass
sie einen Selbstmord begehen wollten. Doch wurden in solchen Fällen
unseres Wissens niemals bestimmte, sondern immer fingirte Personen
als Urheber der betreffenden Verletzung bezeichnet. Uns sind mehrere
einschlägige Fälle bekannt. Einer derselben betraf ein 25jähr. Mädchen,
welches in einem der hiesigen Parks Nachts liegend gefunden wurde. Sie
hatte 3 Messerstiche in der linken Brustseite, von denen jedoch keiner
penetrirte. Auf das Polizeicommissariat gebracht, gab sie an, dass,
als sie auf einer Bank ausruhte, plötzlich ein Mann aus dem Gebüsche
gesprungen sei, ihr ein mit einer betäubenden Substanz getränktes
Sacktuch unter die Nase gehalten und sie dadurch bewusstlos gemacht
habe. Nach dem Erwachen habe sie zu ihrem Schrecken bemerkt, dass sie
gestochen worden sei. Natürlich erschien diese Angabe unglaubwürdig und
die Betreffende gestand auch im Spitale, dass sie sich selbst das Leben
nehmen wollte und nur aus Scham den Ueberfall ersonnen habe. S. auch
pag. 392.
*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK LEHRBUCH DER GERICHTLICHEN MEDICIN ***
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